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Full text of "Archiv für slavische Philologie"

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3 


ARCHIV 

FÜR 

SLAVISCHE  PHILOLOGIE. 


UNTER  MITWIRKUNG 


VON 


A.  BRÜCOER,  A.  LESKIEN,      W.  NEHRING,     F.  FORTMATOV,, 

BERLIN,  LEIPZIG,                          BRESLAU,                     ST.  PETERSBURG, 

J.  GEBAÜER,  C.  JIRECEK,  ST.  NOVAKOVIÖ,  A.  SOBOLEVSKIJ, 

PRAG,  WIEN,                         BELGRAD,                    ST.  PETERSBURG.  , 


HERAUSGEGEBEN 


V.  J  A  G I  C. 


ACHTUNDZWANZIGSTER  BAND. 


5308G7 
BERLIN,  V    "^^' 

WEIDMANNSCHE  BÜCHHANDLUNG. 
1906. 


n 


I 

09- 


t^  /  -i>  V 


Inhalt. 


Abhandlungen.  Seite 

Ein  urslavisches  Entnasalierungsgesetz,  von  Norbert  Jokl  .    ...  1 

Einige  Streitfragen,  c.  7 — 9,  vonV.  Jagic 17 

Wortdeutungen,  von  Evald  Li  den 36 

Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Slovenischen,  von  J. M enc  ej  40 
Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanisclier  Dichter,  von  J.  Nagy  .    .  52 
Die  böhmische  Paraphrase  der  Distichen  des  Johannes  Pinitianus  zu 
Petrarka's  »De  remediis  utriusque  fortuuae«,  von  Oskar  Do- 
nath    '6 

Volksetymologische  Attribute  des  heil.  Kyrikos,  von  Em.  Kai  uz - 

niacki 84 

Wann  wurden  die  Reliquien  des  serbischen  heil.  Sava  verbrannt?, 

von  Aleksa  Ivic 90 

Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben,  mit  besonderer 
Berücksichtigung  des  Gedichtes  »Zähorovo  loze«  (Fortsetzung), 

von  Jaroslav  Sutnar 94,  292 

Cyrillo-Methodiana,  eingeleitet  von  V.  Jagic 161 

I.  Vita  Cyrilli,  von  V.  Lamanskij 162 

II.  Thesen  zur  Cyrillo-Methodianischen  Frage,  von  A.  Brück- 
ner   186 

III.  Beiträge  zur  Quellenkritik  der  cyrillo-methodianischen  Le- 
genden, von  Iv.  Franko 229 

Zur  Frage  nach  dem  Verhältnisse  der  Freisinger  Denkmals  zu  einer 

Homilie  von  Klemens,  von  W.  Vondräk,  mit  Zusatz  von  V.  J.  256 

Bemerkungen  zu  Prof.  Baudouin  de  Courtenay's  »Kurzem  Resume  der 

kasubischen  Frage«,  von  Julius  Koblischke 261 

Die  älteste  böhmische  Sprichwörtersammlung,  von  V.  Flajshans     . 
Urkundliche  Beiträge  zur  Biographie  des  Dichters  Relkoviö,   von 

Aleksa  Ivic 345 

Nicolaus  Krajacevic  —  Peter  Petretiö,  von  Martin  Hajnal  ....  315 

ProsperMerimee's  Mystifikation  kroatischer  Volkslieder,  von  T.  Ma- 

tid  (Fortsetzung  folgt 321 

Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch, 

von  K.  Strekelj 481 

Polonica,  von  A.  Brückner 539 

Rumänische  Beiträge  zur  slavischen  Götterlehre,  von  M.  Gaster  .    .  575 


IV  Inhalt. 


Seite 


Wer  ist  der  Übersetzer  der  >Neunzelin  serbischen  Lieder<  in  Försters 

Sängerfahrt?,  von  Stjepan  Tropsch 584 

Paul  Ritter  Vitezoviö,    Beiträge  zu    seiner  Biographie,    von    Fr. 

Snopek 59.3 

Badnak  und  Kolenda  in  den  ungarischen  Quellen,  von  Milan  von 

Sufflay 001 

Einige  Bemerkungen  zu  diesem  Aufsatz,  von  Oskar  Asböth  tilO 


Kritischer  Anzeiger. 

Ljapunov,  Die  Formen  der  altkirchenslav.  Deklination,  angez.  von 

V.  Jagic 117 

Hirt,  Der  ikavische  Dialekt  im  Königreich  Serbien,    angez.  von 

A.  Beliö 125 

Brückner,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  angez.  von  Alexis 

Wesselofsky 128 

Brückner,  Über  Nikolaus  Eej.    Kritische  Studien,  angez.  von  W. 

Nehring 139 

Grabowski,  Literarische  Studien  über  das  heutige  Kroatien,  angez. 

von  D.  Prohaska 142 

Lepki,  Polnische  Übersetzung  des  Igorliedes,  angez.  von  Bohdan 

Lewickyj 145 

Wallner,  Deutscher  Urmythus  in  der  tschechischen  Ursage,  angez. 

von  G.  Ad.  Thal •    .   .    .  150 

Sket,  Chrestomathie  der  sloven.  Literatur,  angez.  von  Fr.  Kidric    .  152 

Die  serbokroatische  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur  (Curcins 

Werk),  angez.  von  M.  Murko 351 

Zur  slavischen  Runenfrage  (Leciejewski's  Werk),  angez.  von  V.  Jagic  385 
Anna  Meyer,  Russische  Volksmärchen  in  deutscher  Übersetzung, 

angez.  von  G.  PoHvka 392 

Über  die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  böhmischen 

Literaturgeschichte,  angez.  von  Oskar  Donath 400 

Zamotin,  Romantik  in  der  russ.  Literatur,  angez.  von  D.  Prohaska  409 

Mitrovic  Studi  sulla  letteratura  serbo-croata,  angez.  von  J.  Nagy  .    .  416 

Nikoliö,  II  Serto  della  Montagna,  angez.  von  J.  Nagy 418 

Wilpert,  Le  pitture  della  basilica  primitiva  di  San  demente,  angez. 

von  M.  Resetar 421 

Ivanisevic,  Polica ;  Bratic  i  Dedic,  Igre,  angez.  von  M.  Resetar  .   .  430 

Kleinere  lexikalische  Hilfsmittel  für  die  slavischen  Sprachen,  angez. 

von  V.  Jagic 431 

Die  slavische  Liturgie  in  Polen  (anf  Grund  des  Werkes  von  Szczes- 

niak,  einer  Anz.  von  Ptaszycki  und  einer  Abb.  von  Sobolevskij), 

angez.  von  Fr.  Kidric 614 

Bartocha,  Böhmisches  an  der  Olmützer  Hochschule,   angez.  von 

Mil.  Hysek 623 


Inhalt.  V 

Seite 

Kleine  Mittheilungen. 

Iloiua  jaibu^apcKa  —  Posa  janicarska,  par  St.  Novakovic 158 

Cech.  kostel,  von  P.  Kretschmer 159 

Slavische  Etymologien,  I.,  von  G.  Iljinskij 160 

Drawäno-Polabisches,  von  Julius  K ob lischke 433 

Das  sogenannte  Müller'sche  Vaterunser  —  eine  plumpe  Mystifikation, 

von  Julius  Koblischke 444 

7  in  skythischen  Wörtern  bei  Herodot,  von  A.  Sobolevskij     .    .    .  449 

Slavische  Ftyraologien,  II. — VI.,  von  G.  Iljinskij 451 

napacnop-/7«^«(T7rooff,  par  St.  Novakovic 463 

Debrc  et  Kocejeva  en  Serbie,  au  sucl  de  la  Save,  par  St.  Nova- 

koviö 464 

Einige  Lehnwörter  im  Kroatischen,  von  P.  Skok 467 

Zur  serbokroatisch-protestantischen  Literatur  des  XVI.  Jahrhunderts, 

von  M.  Resetar 468 

Über  die  Provenienz  der  Kiever  Blätter  und  der  Prager  Fragmente, 

von  W.  Vondräk 472 

Wie  soll  man  I  B.  4 — 5  der  Prager  glagolitischen  Fragmente  lesen?, 

von  B.  Ljapunov 478 

f  Professor  Anton  Kaiina,  von  V.Jagic 480 

Ein  Brief  Palacky's,  von  Aleksa  Ivic 628 

Serbische  Volkslieder  über  den  Abgang  des  heil.  Sava  zu  den  Mön- 
chen, von  Vladimir  Corovid 629 

i  Alexander  Nik.Wesselofsky,  von  V.  Jagid 634 

T  Marin  St.  Drinov,  von  B.  Ljapunov      637 

f  Martin  Hajnal,  von  V.  Ja gic 640 

Sach-,  Namen- und  Wortregister,  von  A.Brückner 641 


Ein  urslaYisches  Entnasaliemngsgesetz. 


Dieser  Lautwandel  wird  durch  folgende  Etymologien  erwiesen: 

1)  ksl.  blazm  error,  scandalum,  hlaznh  scandalum,  russ.  hlazenh 
junger,  leicht  verführbarer  Mensch,  Spaßmacher,  Spaßvogel,  blaznh, 
^/a2;^^^  Verführung,  c.  hläzen  Y^a^xr^  Tor,  Spaßmacher  u.  s.  w. :  ksl. 
hlqsti.,  hlqdq  errare,  delirare,  nugari,  das  also  die  gleichen  Bedeu- 
tungsnuancen wie  hlazm  im  Ksl.,  bezw.  in  den  modernen  Slavinen 
zeigt.  Miklosich  Lex.  pal.-sl.  S.  30  (zweifelnd  im  E.  W.  s.  v.)  und 
Joh,  Schmidt,  Vocal.2, 117  stellen  hlazm  zu  russ.  i/ayoy  starrköpfig. 
—  Als  Grundform  für  hlazm  u.  s.  w.  hätten  wir  demnach  *^blqd-zn- 
anzusetzen.  Was  nun  das  q  anbelangt,  so  besteht  für  ^hlqd-zn-  wie 
für  hleßq  an  sich  die  Möglichkeit,  es  als  e-\-n  oder  als  sg.  nasalis 
souans,  die  konventionellermaßen  mit  n  bezeichnet  sei,  aufzufassen 
(Brugmann,  Grdr.  P,  390).  Die  folgende  Darstellung  wird  nun 
zeigen,  daß  die  erste  der  beiden  angeführten  Möglichkeiten  ent- 
fällt, wir  demnach  hlazm)  aus  hlnd-zn-  abzuleiten  haben.  Ebenso 
wird  sich  uns  eine  Zwischenstufe  zwischen  n  und  <?,  mit  andern 
Worten  eine  Vorstufe  des  <?,  soweit  es  aus  n  entstanden  ist,  er- 
geben. Das  suffixale  Element  -zn~  in  der  angesetzten  Form  ist  das- 
selbe wie  in  hojaznh^  6ajaznh^  ziznh  u.s.  w.  Russ.  hlaznh  zeigt  fakti- 
tive  Bedeutung,  wie  ja  auch  slov.  bluditi  (Miklosich,  Gramm.  2,437) 
transitiv,  ksl.  blqditi  intransitiv  ist. 

2)  russ.  glaz^  das  Auge:  ksl.  (/Iqdati,  glqdSti  videre,  rw.ss.glja- 
deth  sehen.  Neben  glaz^  findet  sich  im  russ.  das  gleichbedeutende 
gljadelka.  Matzenauer,  Cizi  slova  S.  167  hält  glazh  für  fremd  und 
zieht  anord.  glaezi  heran,  ähnlieh  stellt  es  Nehring  I.  F.  4,  402  zu 
mhd.  glaren.,  während  Zupitza  K.  Z.  37,  39S  Urverwandtschaft 
zwischen  dem  russ.  und  mhd.  Wort  annimmt.  —  Als  Grundform 
erhalten  wir  also  glqd-z-.  Den  suffixalen  Charakter  des  -;:-  zeigt  das 
Nebeneinander  der  beiden  gleichbedeutenden  Denomiuativa  russ. 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVUI.  \ 


2  Norbert  Jokl, 

verchogljädnidath  und  verchor/läzith  gaffen,  Maulaffen  feil  haben; 
verchof/lj'adnidatb  gebildet  wie  nachUhniöath  Kostgänger  sein.  — 
Das  Suffix  -z-  zeigt  sicli  auch  in:  russ.  näslüz%  sluz^  Aufwasser 
neben  nädüd^  slud%\  sluzy  (Tver)  eingefrorene  Pfützen  neben  sludy 
versumpfte  Wiesen ;  russ.  gruz^  Last  <a  grqd-z-  neben  (jrusth  Kum- 
mer <Cgrqd-t-\  lit.  f/rimsh),  grimzdaü,  ksl.  grqznqti.  Über  das 
Suffix  in  diesem  slav.  Worte  sowie  darüber,  daß  auch  für  das  slav. 
von  einem  *gremd-  auszugehen  sei,  vgl.  Zupitza,  K.  Z.  37,  398 
gegen  Walde,  K.  Z.  34,  518,  der  ein  sl.  greng-  angesetzt  hatte;  fer- 
ner kolozina  =  kolöda  (Dalt),  russ.  rymzä  der  Greiner,  Plärrer,  rym~ 
zäth  neben  rymomih]  russ.  gohjä  Zweig,  c.  haluz^  poln.  galqd,  gen. 
-^zi.  Weitere  Beispiele  für  dieses  Suffix  werden  wir  im  folgenden 
kennen  lernen. 

3)  Genau  wie  russ.  gIaz^  erklärt  sich  das  über  die  meisten  slav. 
Sprachen  verbreitete  laz- :  p.  iazy  urbar  gemachte  Fläche,  Sumpf- 
fläche, c.  laz  Lehde,  Bergfläche,  slov.  laz  Neubruch,  Rodeland,  s.-kr. 
laz  [=  kao  mala  nj'iva,  mj'esfo,  gdje  je  rmiogo  sume  isjedeiio],  russ. 
lazina  lichte  Stelle  im  Walde,  klr.  laz  kleineWaldwiese,  also  <C.lqd-z- : 
ksl.  Iqdina  terra  inculta,  russ.  JJädä  ein  mit  jungem  Holz  bewachse- 
nes Feld,  Neubruch,  Rodeland,  nasser  Boden,  Sumpffläche,  c.  ladem 
lezeti  brach  liegen,  slov.  ledina,  s.-kr.  ledina  ungeackertes  Land; 
deutsch  Land.  Die  Stufe,  die  wir  gemäß  dem  bei  hlaznh  Bemerk- 
ten für  das  vorauszusetzende  *led-z-  anzunehmen  haben,  nämlich  ^ 
findet  sich  auch  im  anord.  lundr  Hain,  apr.  lindan  Tal. 

4)  ksl.  naprashno  subitus,  praeceps,  russ.  napräsno  unnütz,  ver- 
gebens, Nordrußl.  unerwartet,  plötzlich:  ksl.  napredativimüxxQ.  Zur 
Bedeutungsentwicklung  ist  zu  vergleichen:  russ.  waÄ^J^om?»  mit  einem 
Ansatz,  Anlauf,  plötzlich.  Die  Grundform  ist  sohin :  *na-prnd-s-. 
Dieser  Fall  stellt  sich  den  vorigen  an  die  Seite,  da  ja  im  Slav.  die 
Gruppen  trnt-  und  trnt-  den  Lauten  nach  zusammenfielen.  Zupitza, 
K.  Z.  36,  54  ff. 

5)  c.  fMsiti  (das  Schwert)  ziehen,  zücken,  schwingen,  stoßen; 
russ.  täska  das  Ziehen,  Schleppen,  tazätb  an  den  Haaren  ziehen, 
zausen :  gr.  teLvco  ,  ai.  tanoti  dehnt,  spannt,  lit.  tlsis  der  Zug,  Fischzug, 
also  Grundform  tt^-s.  Miklosich,  Et.W.  S.  347  gibt  als  Bedeutung 
für  c.  tasiti  bloß  »schwingen,  stoßen«  an.  Eine  Widerlegung  dieser 
Ansicht  mit  Belegstellen  gibt  Kott  s.  v.  Cf  übrigens  auch  schon 
Jungmann  bei  dem  Compos.  vytasiti  (5,  368)  =  vytähnouti  heraus- 


Ein  urslavisches  Entnasalierungsgesetz.  3 

ziehen,    tasamj  =  frhamj.    Zur  Bedeutungsentwicklung  von  tasiti 
ist  deutsch  zücken,  Intensivum  zu  ziehen  zu  vergleichen. 

6)  c.  hasäk  Sense,  Rechensense:  ksl.  zeß^  Hnjq  demetere,  also 
gt^-s-.  Das  Wort  ist  beweisend  für  die  relative  Chronologie  unse- 
res Lautwandels,  der  demnach  vor  die  Zeit  des  ersten  Palatalismus 
fällt.   Ebenso  ist  zu  beurteilen 

7)  russ.  gasätb  ein  Pferd  tummeln,  c.  hasati  sich  herumtum- 
meln, hasäk  der  Unbändige:  \^^\.  gnati,  zenq  pellere  <^g/i-s-.  Hie- 
her gehört  auch  c.  hastros  Vogelscheuche  <^  g?i-s-[t)-r-os-  (mit 
einem  zwischen  s-  und  r~  sufi".  entwickelten  t)\  Miklosich,  Gramm.  2, 
S.  85.  —  Dieselbe  Funktion  des  6-Determinativs  wie  in  gasätb, 
nämlich  Verwendung  zur  Intensivbildung,  sehen  wir  in  c.  dräsafi 
ritzen:  ksl.  chrati,  dera.  (Miklosich,  Gramm.  2,  S.  475),  in  slov. />/a- 
saü  potenter  ardere:  ksl.  planq  (a.  a.  0.  S.  471),  ferner  in  russ. 
kromsäth  zerstücken,  zerfetzen:  kromith  abteilen.  Von  einem  sol- 
chen Verb  ist  auch  für  c.  hasäk  Sense  auszugehen. 

8)  russ.  (veraltet  u.  Westrußl.:  Pavlovskij)  pas^  ausgetretene 
Spur  (des  Wildes) :  Nordruss./j;a/mÄ&  Spur,  Fährte,  penh  Hasenspur, 
pnuth^  pinäth  einen  Fußtritt  geben,  mit  Füßen  treten.  Die  ganze 
Sippe  gehört  zu  gr.  yrarog,  \i.  pons,  sl.  'pqt'b.  pas^  geht  also  auf 
pnt-s-  zurück  (das  Suffix  -s-  wie  in  kqs^•.  lit.  kandü^  x\x%%.  prus^ 
Wander-,  Zugheuschrecke  <iprqd-s- :  pre^dati).  Für  die  Erkenntnis 
der  Lautgestalt  der  nasalis  son.  im  Slav.  wichtig  ist  russ.  pe7ih  <C 
pbnb.  *p'bnh  vereinigt  sich  mit  dem  aus  den  verwandten  Sprachen 
erschließbaren  pnt-  nur  als  pb7if-m,  enthält  demnach  ein  w-Suffix. 
Die  Assimilation  des  dentalen  Verschlußlautes  an  das  folgende  n 
(cf.  ksl.  povonh  diluvium:  vodo  :  vSnd,  sdva)  trat  also  hier  ein,  bevor 
im  slav.  Nasalvocale  entstanden.  *pbnf-nh  zu  dem  aus  pjatnikb 
erschließbaren  *p^t-hn-,  *p'bnt-bn-  wie  povonh  <C  povod-nb  :  povod- 
hnh.  Genau  dieselbe  Behandlung  der  Gruppe  Vocal  -j-  ntn,  ndn 
wie  penh  zeigt  c.  promj  rasch,  ungestüm  neben  dem  gleichbedeu- 
tenden/^?7^f//i;y,  also  <i,prond-n-,  ferner  russ.  kromj  Haspel,  Winde: 
ksl.  krqtiti,  <i  kront-n-^  cf.  d.  Winde,  s.-kr.  mtao  Winde,  endlich 
magy.  holony  Tollkirsche,  was  auf  ein  slav.  *blo7ib  als  Quelle  weist 
<^  hlond-n-.  Der  inlautende  Vocal  im  c.  und  russ.  zeigt,  daß  hier 
niemals  der  Nasal  q  gestanden  haben  kann.  Das  inlautende  b  in 
'^phnb  lehrt  nun,  daß  die  von  Pedersen,  K.  Z.  38,  32H  vorgetragene 
Ansicht,  wonach  ii  im  slav.  direkt  zu  <■  geworden  sei,  zu  moditizie- 


4  Norbert  Jokl, 

ren  ist:  dem  ?  muß  eine  Stufe  hn  voraufgegaugen  sein.  Zuzustim- 
men ist  jedoch  Pedersen,  wenn  er  bestreitet,  daß  der  lit.  und  der 
slav.  Reflex  der  nasalis  son.  von  in  als  gemeinsamer  Vorstufe  aus- 
gegangen seien.  Denn  in  der  Tat  hätte  in  im  slav.  nur  h  ergeben 
können,  so  %.  B.  im  accus,  sing,  der  i-Stämme,  kosth.  Hält  man  den 
accus,  kosth  mit  *phnh  zusammen,  so  ergibt  sich  die  Konsequenz, 
daß  in  in  n  schwand,  noch  bevor  idg.  i  zu  i  geworden  war.  Es  fragt 
sich  noch,  wie  das  erwähnte  Verbum  imuth  mit  pnt-  zu  vereinbaren 
sei.  jinuth  ist  natürlich  Neubildung,  wie  tnuth  gegenüber  ksl.  tqii^ 
c.  iiti  hauen ;  die  ursprüngliche  Form  ergibt  sich  noch  aus  dem 
iterat.  pinäth  und  aus  ksl.  zapqti  impedire.  Aber  auch  "^peti  kann 
nicht  die  lautgesetzliche  Form  sein ;  wir  erwarten  vielmehr  pqsti^ 
das  auch  tatsächlich  im  russ.  zapjasth  (neben  dem  analogischen 
zapjath  und  zap?mth)  vorliegt,  jjqti  ohne  s  erklärt  sich  daraus,  daß 
das  Verbum  im  aor.  mit  peti  spannen  zusammenfiel :  i>?(<)5- ;  vom 
aor.  aus  wurden  dann  Mose  Formen  neugebildet.  Im  Inf.  zapjasth 
konnte  sich  das  s  nach  Fällen  wie  zehsti  halten,  anderseits  auch 
zur  Bildung  von  kljasth  für  klj'ätb  beitragen. 

9)  ksl.  krasbm  pulcher,  formosus,  kraahno  adv.  ornate,  r.  krasä 
Schönheit,  Zierde,  Schmuck,  russ.  (usw.)  krämyj  schön,  rot:  ksl. 
krqnqti  deflectere,  krqtiti  torquere.  Die  Zugehörigkeit  von  krasa 
und  seiner  Sippe  zu  krenqti  zeigt  sich  in  folgenden  Bedeutungs- 
parallelen: russ.  krasith  schmücken,  zieren  —  krutä  Einfassung, 
Verzierung  an  Heiligenbildern,  krutith  neben  drehen,  winden  auch 
ankleiden,  aufputzen,  kruSeMöina  das  Weib,  welches  die  junge 
Frau  nach  der  Trauung  kämmt  und  ankleidet ;  j!?o^Tasa  Verzierung, 
Putz,  Schmuck,  Brautschmuck  —  pokrutith  nevestu  die  Braut  zur 
Trauung  ausschmücken ;  okräsa  Schmuck,  Ausschmückung  —  okrüta 
Kleidung,  Frauenkleid,  Kopfputz,  okrudäth  umwinden,  schmücken ; 
skrasitb  verzieren,  ausschmücken,  subst.  ski^aso  —  akrutith  auf- 
putzen, ankleiden  usw.  Aus  diesen  Tatsachen  soll  nicht  gefolgert 
werden,  daß  zur  Zeit  der  Bildung  der  erwähnten  Komposita  der 
Zusammenhang  zwischen  krasä  und  krutith  noch  gefühlt  wurde, 
wohl  aber  erhalten  wir  einen  Fingerzeig,  wie  krasa  zu  seiner  Be- 
deutung gelangt  ist;  die  Bedeutungsentwicklung  ist  also  ähnlich 
wie  in  gr.  otEcpw  umgeben, umschließen,  kränzen,  zieren,  schmücken. 
So  zeigt  auch  russ.  vSneco :  ksl.  viti  circumvolvere  Kranz,  Krone, 
dann   (ksl.  Pavlovskij)   Ehre,  Zierde,   wie  krasa  Übergang  von 


Ein  urslaviscbes  Entnasalierungsgesetz.  5 

einer  ursprünglich  konkreten  zur  abstrakten  Bedeutung.  Die  für 
okrüta,  skrutith^  krutith  angeführte  Bedeutung  des  Kleidens  ver- 
einigt sich  gut  mit  der  des  Schmückens,  wie  eben  deutsch 
schmücken,  mhd.  smücken  =  kleiden,  schmücken  zeigt.  Auch  an  die 
Bedeutungsentwicklung  von  ^^\.Up^  aptus,  decorus,  s.-kr.Ze/?  [lyep] 
schön  (»der  sich  anlegende,  anschmiegende«  Mikl.  E.  W.  S.  178: 
hpUiy  c.  Inouti  usw.)  sei  hier  erinnert.  —  Anders  etymologisiert 
krasa  Bezzenberger  K.  Z.  22,  478 :  anord.  hrös  Lob,  Kuhm,  welche 
Erklärung  aber  den  dargelegten  Bedeutungsverhältnissen  des  Russ. 
nicht  gerecht  wird.  Dasselbe  gilt  von  der  Zusammenstellung  mit 
ai.  krp  Bild,  lt.  corpus.  —  Aus  der  Bedeutung  schmücken  konnte 
sich  über  den  Begriff  des  Schminken s  auch  leicht  der  der  Röte  er- 
geben. Dazu  ist  zu  vergleichen :  lit.  grazylas  die  Schminke :  grazüs 
schön.  —  Wenden  wir  uns  nun  der  Lautgestalt  der  Gruppe  zu,  so 
gehört  krenqti  <^  kr^fnqti  zu  ai.  krnt-änü  »sie  drehen  den  Faden, 
spinnen«.  Die  Frage,  ob  krnt  oder  krnt  anzusetzen  sei,  ist  wegen 
des  Zusammenfallens  dieser  Lautkomplexe  im  slav.  für  uns  irrele- 
vant (Näheres  hierüber  Zupitza,  K.  Z.  36,  54  ff.);  auf  jeden  Fall 
aber  haben  wir  nach  dem  zu  *p'hnh  =  russ.  penh  Bemerkten  für 
krasa  von  einem  *krhnt-sa  auszugehen.  Da  nun  in  krqnciti  ur- 
sprünglich die  Gruppe  ntn  nach  Vocal  vorlag,  so  kann  nach  dem 
Früheren  in  krenqti  nicht  die  lautgesetzliche  Form  erblickt  werden; 
vielmehr  wurde  der  inlautende  Nasal  aus  Formen  wie  krqtati  ver- 
schleppt ;  wir  würden  ein  '^krtnqü  erwarten.  Sollte  nicht  ein  Reflex 
dieser  Form  in  ksl.  krinica  olla,  r.  krinka  irdener  Topf,  c.  okrin 
Napf,  slov.  krnica  rundes  Holzgefäß,  Wasserwirbel  (cf.  r.  krütenh 
Wasserwirbel),  Kesseltal,  s.-kr.  Krinßce  (Flurname)  vorliegen  ?  Zu 
den  Bedeutungen  des  slov.  Wortes  ist  gr.  dlvog  rundes  Gefäß, 
Wasserwirbel,  zur  gem.-sl.  Bedeutung  rundes  Gefäß  c.  okrouhUk 
Milchnapf:  kruh  zu  vergleichen.  Gründe  gegen  die  Annahme  Mi- 
klosichs,  daß  die  Sippe  aus  lt.  scrinium  stamme,  s.  bei  Matzenauer, 
Cizi  sl.  S.  52.  Wegen  des  inlautenden  i  gegenüber  h  von  *krbnqti 
vergleiche  man  klr.  zahyn^  mjhyn  Bug,  ohynafy  sa  sich  sputen 
(Mikl.  Gramm.  2,  466),  r.  (Nordr.)  vygim  Krümmung,  ausgebogener 
Gegenstand,  s.-kr.  näginjafi  inclinare  (a.  a.  0.  2,  464) :  ksl.  g%nqti, 
g^h-n-,  also  y  gegenüber  <&,  ferner  ksl.  ididb  fugax  :  hd-.    ' 

10)  russ.  machmUh  eilig  wohin  reisen,  smachdtb,  smachnüth 
schnell  hinlaufen,  hingehen:  ksl.  mqti^  mhnq,  russ.  mjVdb  kneten. 


6  Norbert  JokI, 

treten,  lit.  minü^  minti  treten,  demnach  <^mv-ch-^  rmn-ch-.  Zur 
Bedeutungsentwicklung  ist  zu  vergleichen  mhd.  trotten  =  laufen, 
Intensivum  zu  treten.  Das  ch-  Determinativ  hat  also  die  Bedeutung, 
die  wir  für  8-  bei  russ.  gasäth,  c.  hasati  (Nr.  7)  kennen  gelernt  ha- 
ben, machati  schwingen  neben  majati  ist  von  dem  genannten  Ver- 
bum  zu  trennen. 

1 1)  russ.  zapäska  Frauenschürze.  Das  gleichbedeutende  zapöm 
zeigt  deutlich  den  Zusammenhang  mit  peU  spannen.  Hierher  ge- 
hören ferner:  russ.  naötpah  aufgeknöpft  gegenüber  c.  odepnouti 
aufknöpfen,  russ.  otpächh  das  Zurückschlagen;  russ.  naraspäiku 
auf-,  losgeknöpft,  raspäika  Aufschlagen  der  Kleider  —  cech.  roze- 
pwoM?!«  aufknöpfen;  russ.  zapachnüth^  zapäcJiivath  einen  Schoß  des 
Kockes  über  den  andern  legen  —  c.  zapnouti  zuknöpfen,  zuheften 
(Pedersen,  K.  Z.  38,  345  bringt  das  genannte  russ.  Wort  mit  pa- 
chäth  pflügen  in  Zusammenhang,  was  begrifflich  fern  liegt)  ;  russ. 
3a/)a5*  der  Einschlag  usw.  in  zahlreichen  andern  Zusammensetzun- 
gen, ferner  das  gem.-slav.  pasmo  Gebinde  Garn,  poln.  auch  Kette, 
Reihe.  Der  Begriff  des  Bindens  tritt  auch  in  pqto  hervor.  Bisher 
verband  man  pasmo  mit  deutsch  Faser ^  ahd.  faso. 

1 2)  russ.  suräzina  gute  Ordnung,  guter  Fortgang,  suräznyj  an- 
sehnlich, stattlich:  ksl.  rech  <^rtid-  (Pedersen,  K.  Z.  33,  53  und 
K.  Z.  38,  310);  russ.  suräzica  der  mit  einem  andern  ein  Paar  aus- 
machende Gegenstand  (eigentlich  der  Gegenstand,  der  einem  an- 
dern »koordiniert«,  ihm  »zugeordnet«  ist),  ferner  russ.  rachoväthsja 
übereinkommen,  in  den  Bedingungen  einig  werden,  cf.  russ.  rj'äda 
Abmachung,  Vertrag,  srjäda  (Novgorod)  Abmachung,  Übereinkunft, 
zared^  (Miklos.,  Lex.  Palaeosl.)  pactum. 

13)  YM'^^.  prazgä  (veraltet.  Nordrußland,  Sreznevskij ,  Materialy, 
s.v.)  Pacht,  Arreude:  ksl. /»re^a  intendere,iungere,  sqprqg^  m^vim, 
s.-kr. preg?iuti,  demnach  <Cprng-zga,  prbtig-zga.  Das  Bild  des  Bin- 
dens, Aneinanderfügens  kehrt  in  Bezeichnungen  vertragsmäßiger 
Eechtsgeschäfte  oft  wieder,  z.B.  lat.  obligatio,  contractus,  pactum^). 


ij  Das  in  Olonect  übliche  brozgd  kann  gegenüber  den  Zeugnissen  des 
aruss.  und  des  heutigen  Dialekts  von  Archangelsk  für  die  Etymologie  nicht 
in  Betracht  kommen.  Wegen  des  inlautenden  o  cf.  Sobolevskij  Opytx  russk. 
dial.  S.32.  Das  anlautende  b  beruht  wohl  auf  Anlehnung  an  hrdtb  (cf.  imacka 
Pächterin). 


Ein  urslavisches  Entnasalierungsgesetz.  7 

14)  russ.  rachäth,  racJmütb  schleudern,  werfen:  ksl.  vrMti 
vrhgq,  ai.  vr;j\  vrnakti^  deutsch  werfen  (Kluge,  E.  W.^,  S.  421, 
Uhlenbeck, Got.W.,S.162)  <^vrng-^  vrhng-s-nqti.  Das  inlautende  a 
des  russ.  Verbums  weist  also  auf  Nasalinfix  auch  im  slav.;  die  Er- 
setzung des  Nasalinfixes  durch  das  Nasalsuffix  (c.  vrhnouti,  s.-kr. 
vrgnuti^  russ.  vergnüth)  stimmt  zu  den  in  historische  Zeit  fallenden 
Veränderungen:  cf.  ksl.  sedq,  Iqgq:  c.  sednu^  lehnu.  Das  anlautende 
r  von  rachäih  erklärt  sich  aus  ursprünglichem  vr  nach  Liden's  Ge- 
setz (Göteb.  hogsk.  Ärsskr.  5/4),  wonach  anlautendes  vr  im  slav. 
nicht  geduldet  wird.  Hierher  gehört  auch  slov.  rahel  locker,  klr. 
radial  laxus,  solutus,  rahel  verhält  sich  also  zu  r.  racJmütb  wie 
r.  rMc/<%' locker,  mürbe:  ruchniith  umwerfen,  umstürzen. 

15)  russ.  Ä^ras^!) Schrecken:  ksl.  tresq,  demnach  Präpos.  s  +  ^ms- 
th^  trhns-ib,  wie  ja  die  Abstracta  auf  -ti-  meistens  Verbalbilduugen 
sind  und  am  häufigsten  die  Tiefstufe  aufweisen.  —  Ebenso  erklärt 
sich  ksl.  usw.  strac/n  tremor,  timor:  russ.  trj'achnüth  =  trjasii, 
poln.  natrzqchac  (Kariowicz,  Slownik  gwar  polsk.  3, 272).  Daß  sich 
in  den  Denkmälern  nur  die  Schreibung  strachz  und  nicht  etwa  si- 
traclvb  findet,  wird  dieser  Deutung  wohl  kaum  entgegengehalten 
werden  dürfen.  Hat  ja  doch  auch  das  Ostromirsche  Evangelium  des 
öfteren  stvoriti,  was  nach  dem  von  Leskien  (J.  A,  27,  13)  zu  der 
analogen  sehr  häufigen  Schreibung  der  Sav.  kn.  Bemerkten  dahin 
zu  erklären  ist,  daß  die  Bedeutung  des  s^  hier  völlig  verblaßt  war. 
Nicht  anders  lag  aber  die  Sache  bei  straclvh.  Hiezu  kommt  noch, 
daß  durch  den  Lautwandel  das  Gefühl  des  Zusammenhanges  mit 
dem  zugehörigen  Verbum  notwendig  beeinträchtigt  wurde,  während 
bei  s^treßü  neben  trqsti  die  traditionelle  Orthographie  sich  leichter 
geltend  machen  konnte  (cf.  auch  Jagic,  J.  A.  2,  221).  Nebenbei  sei 
hier  an  strava  Totenmahl  (Jordanes,  c.  49)  erinnert,  das  bereits 
äafairik.  Über  die  Abkunft  der  Slaven  S.  131  in  die  Präp.  s  ■\-  traviti 
zerlegt,  demnach  mit  c.  usw.  strava  Nahrung,  Kost  identifiziert 
hatte.  Cf.  poln.  potrawa^  c.  otrava.  Sollte  dies  auf  so  frühen 
Schwund  des  ^  in  dieser  Stellung  und  Lautgruppe  weisen  ?  Hin- 
gegen ist  noch  bei  Constant.  Porphyrogen.  NsoGov^rr}  =  7ies7tpi 
(also  h  in  anderer  Stellung  und  Lautgruppe)  überliefert.  —  Anders 
urteilt  über  strasth,  sfrach^  Pedersen,  L  F.  5,  49  (lt.  sträges). 

16)  Mehrere  zujrfi  gehörige  Wörter: 

a)  ksl.  najaznh  praeceptum;   zur  Bedeutuugsentwickluug  ist 


8  Norbert  Jokl, 

das  eben  genanüte  lt.  Wort  zu  vergleichen,  /ist  hiattilgend  wie  in 
ksl.  nezajajn^  russ.  vnezapno  plötzlich :  lt.  opinor. 

b)  russ.  (veraltet)  bazlö  Kehle,  Schlund,  Rachen:  h.jicen  Kehle, 
Schlund,  ßcmj  gefräßig,  poln.  jqcy  und  jecy  (S^ownik  JQZ.  polsk. 
pod  red.  Kari^owicza  II,  170),  bei  Liude  hmx  Jecy  angenehm  zu 
essen,  ohjecy  vorax,  daneben  in  gleicher  Bedeutung  ii\)(Aw.  jency , 
dial.yecy  (a.  a.  0.  151).  Das  anlautende  h  von  hazlö  ist  zu  be- 
urteilen wie  russ.  huhenind  gebackener  Schinken,  c.  (dial.)  houzene 
maso  =  uzene  maso,  c.  hahniti  se  lammen  (weitere  Beispiele,  Gebauer, 
Hist.  mluv.  I,  424),  ksl.  hrqUa^  slov.  harati^  slovak.  hyskafi  (Mali- 
nowski,  Prace  fil.  3,  757),  sämtlich  aus  der  Präp.  oh  -\-  Verbum. 
Was  endlich  das  Suffix  in  bazlö  anbelangt,  so  stellt  sich  bazlö  neben 
najaznh  mit  ;^:;^-Suffix  zu  j'eti  wie  russ.  kuzlö  Schmiedearbeit  neben 
ksl.,  r.  kuznh  zu  c.  kuti^  p.  kuc  schmieden. 

c)  ksl.  jazh  stomachus,  canalis,  russ.  Jaz^  (daneben  iz^^  ezh) 
Fischzaun,  Fischwehr  (quer  durch  den  Fuß  gezogen,  um  Fische  zu 
fangen),  s.-kr.  jäz  Ableitkanal  neben  dem  Wehr,  slov.  j'ez  Damm, 
big.  j'az,  c.j'ez  Wehr,  p.  j'az,  bei  Linde  auch  j'es.  Pedersen,  K.  Z. 
38, 312  stellt  jazh  ebenso  wiejazva  foramen,  vulnus  wohl  mit  Recht 
zu  lit.  aiztjfi  aushöhlen,  gibt  jedoch  die  Möglichkeit  der  Vermischung 
mit  einer  andern  Sippe  zu:  lit.  eie  Feldrain;  so  auch  schon  Fortu- 
natov  J.  A.  11,  101  und  Bezzenberger,  B.B.  23,  298,  die  auch  noch 
lett.  efcha  Rain,  pr.  asy  heranziehen.  Näher  als  diese  baltische 
Sippe,  die  sich  mit  sl.  jaz  in  der  Bedeutung  keineswegs  deckt,  liegt 
c.ßmka  Fanggrube,  Notdamm,  Bedeutungen,  die  sich  zu  sämt- 
lichen angeführten:  Wehr,  Damm,  Kanal  recht  wohl  fügen.  Über 
den  Anlaut  des  aböhm.  j'ez  s.  Gebauer,  Hist.  mluv.  I,  96.  Pol.  jes 
zeigt  einen  nach  y(?c  wiederhergestellten  Nasal,  läßt  demnach  er- 
kennen, daß  auch  später  noch  unser  Substantiv  mit  dem  genannten 
Verbum  assoziiert  wurde. 

17)  russ.  ulaznyj  in  ulaznyj  medh)  Jungfernhonig,  Glashonig, 
der  weiß  und  klar  von  selber  aus  den  Waben  fließt:  ksl.  ulij  alveus, 
russ.  uUj  Bienenstock  usw.  Die  »nasalis  sonans«,  als  deren  Reflex 
wir  das  a  ansprechen,  zeigt  sich  noch  in  pr.  aulinis  Stiefelschaft. 

18)  ksl.  draziti  irritare  usw.  siehe  weiter  unten. 

Prüft  man  nun  die  Fälle,  in  denen  e  +  s,  z,  ch  vorliegt,  so  er- 
geben sich  mehrere  Gruppen: 


Ein  urslavisches  Entnasaliernngsgesetz.  '9 

I.  ■^est^,  densns :  Ht.  kimszfas,  kemszü;  jezykt  lingua:  lit. 
lezüvisj  pr.  insuwis.  vezati  ligare:  gr.  lyyvg  (Walde,  K.  Z.  31, 
518  vqzati  idg.  wig)^  p.  wiqz^  russ.  vjaz^^  c.  vaz  Ulme:  alb.  vid,  lit. 
mnkszna^  demuach  (/  (Pedersen,  K.Z.36,335,  Mikkola,  B.B.  22,247), 
p.  klqsnqc^  c.  klesati  hinsinken:  lit.  klemsziöti  ungeschickt  gehen 
(Mikl.,  E.  W.  S.  1 1 8).  Während  wir  es  also  in  den  obigen  Fällen 
mit  einem  ursprünglichen  5,  ;:;  zu  tun  hatten,  liegt  in  allen  diesen 
Beispielen  deutlich  ein  palataler  Guttural  vor.  Diese  Tatsache  läßt 
darauf  schließen,  daß  auch  in  nejesijtrb  vultur,  pelecanus,  das  zu 
syU  gestellt  wird,  ein  gutturales  h  enthalten  ist,  ein  weiterer  Beleg 
für  den  verschiedenen  Ursprung  von  syt-o  und  deutsch  «a^f«^,  \\X.  &otüs\ 
auch  bisher  wurden  diese  Wörter,  wenn  auch  nicht  allgemein,  we- 
gen des  inlautenden  Vokals  auseinander  gehalten,  so  Kluge,  Et. 
Wörterb.6,  S.328,  Vondrak,  ksl.  Gramm.  S.55  (gr.  iyy.vf.uov).  An- 
ders allerdings  Geitler,  Listy  fil.  2,  272. 

IL  In  andern  Fällen  entstand  z  erst  auf  slav.  Boden  (Baudouin 
de  Courtenay,  I.  F.  4,  45  ff.) :  fezati  obtrectare,  rixari  neben  f^gafi 
rixari,  dosezati  assequi  neben  dosesti,  dosqgq ;  Jeza  morbus :  lit. 
engiu  etwas  mühsam  tun,  nuenkti  abquälen.  Hierher  gehören  auch 
die  Lehnwörter  aus  dem  germ.  wie  kladezh,  Jcbnqzt^  pänqzh^  sklf^zh. 

III.  In  einer  weitern  Gruppe  von  Fällen  ist  q  vor  s,  z,  ch  =  ew. 
Hierher  gehören:  ksl.meso,  mezdro:  gotmimz,  Xsd.membrum'.,  trqsq: 
lt.  tremere^  ai.  trasati.  In  diesem  Verbum  sind  also  2  Stämme  zu- 
sammen geflossen  (Persson,  Wurzelerweiterung  S.  153).  1Lq\.  ple- 
sati  saltare:  e  zeigt  noch  pleskati  plaudere,  saltare.  (Zupitza,  K.  Z. 
36,  55  <Cplents:  Ttlarayr]  das  Klatschen.  xVnders  G.  Meyer,  B.  B. 
14,  55,  der  das  s  des  sl.  Wortes  auf  palatales  k  zurückführt.)  Ksl. 
istqsknqti  emacerari,  isteskh  emaceratus  <^isfqg~sk-nqti,  wozu 
istqskh  part.  prät.  IL  ist.  Der  ursprüngliche  Verbalstamm  tritt  noch 
deutlich  hervor  in  russ.  istjaznöj  ausgedehnt,  langgestreckt,  mager, 
c.  vytazek.,  vyfazetiec  aufgeschossener  Mensch,  somit  zu  tegati.  Das 
dazu  im  Ablautverhältnis  stehende  tqga,  p.  tqga.,  c.  touJui  macht  e 
in  istqsknqti  ebenso  wahrscheinlich  wie  russ.  toskä  <i  tng-ska  (Pe- 
dersen, K.  Z.  38,  395,  Mikkola,  B.B.  22,  254).  Über  den  verschie- 
denen Ursprung  dieser  Sippe  und  der  oben  (Nr.  5)  behandelten: 
Zupitza,  BB.  25,  89.  Ksl.  rqsa  inlus,  s.-cr.  7'esa  Kätzchen  am 
Baume,  Lappen,  Fetzen,  dann  Zäpfchen,  Fransen;  slov.  resa  Spitze 
der  Ähre,  c.  rasa  Augenwimper,  Falte  am  Kleide,  HasclnußblUte, 


10  Norbert  Jokl, 

Meergras,  Seegras,  p.  rzqsa  Augenwimper,  Zirbel  der  Haselnuß. 
Aus  dem  Slav.  entlehnt  sind  alb.  retskt  Lappen,  Fetzen,  ngr.  ^ivraa. 
Daß  wir  es  liier  mit  oi  zu  tun  haben,  zeigt  deutlich  russ.  remhe, 
remöh)  Fetzen,  Lap])en,  romönhe  Lappen,  Lumpen,  uröma  Haufen, 
Menge,  Masse,  Floßholz.  Wurzelverwandt  mit  allen  genannten 
Wörtern  und  nur  um  das  »Determinativ«  hh  erweitert  ist  rqhiti  se- 
care,  rqh^  paunus,  wie  denn  auch  russ.  rühiUe  grobe  Kleidung, 
Lumpen,  Fetzen  mit  rembe  in  der  Bedeutung  übereinstimmt.  Man 
vergleiche  weiter  russ.  rjäsina  Kniittel,  Prügel  <irem-s-  mit  ksl. 
rqbh  massula,  klr.  rubel j  Stange,  russ.  rjasnuth  einen  derben 
Schlag  versetzen  mit  rubith  fällen,  hauen,  dreinschlagen.  Eine 
Wurzel  rem-  ohne  das  genannte  Determinativ  zeigt  auch  das  ger- 
manische in  deutsch  lland^  ags.  rima^  reoma.  —  Hierher  gehört 
ferner  russ.  rjäsa  Schnur,  Reihe.  Zur  Entwicklung  der  Bedeutung 
Schnur  aus  dem  Begriff  des  Hauens,  Schiagens,  Schneidens  ist  zu 
vergleichen  It.ßmbria,  der  an  einem  Gewebe  gelassene  Ketten- 
faden, Faden,  Troddel:  j^w(/o,  fernei' ßbra  (Waide,  Lat.Et.Wörterb. 
S.  224,  221).  Auch  russ.  rubäska  zeigt  im  provinziellen  Gebrauche 
(am  Kaspischen  Meere)  eine  ähnliche  Bedeutungsentwicklung: 
Hauptleine  und  Schnur  der  Zugangel.  Cf.  auch  russ.  biöevka 
Schnur,  Bindfaden.  Bei  rjäsa  konnte  dann  allerdings  leicht  Ver- 
knüpfung mit  rJad^  eintreten  (r.  nerjächa  unsauberer  Mensch :  rj'ado^ 
c.  nerest  Unrat  =  neräd  eind  Analogiebildungen).  Zu  resa  gehört 
ferner  s.-kr.  ures  fin  Ragusa)  der  Schmuck.  Bei  der  Erklärung 
der  Bedeutung  hat  man  von  der  Bedeutung  Franse  auszugehen, 
wie  das  mit  ures  gleichbedeutende  näkit:  Jcita  Strauß,  Buseben, 
Quaste  zeigt.  Ähnlich  erklärt  sich  russ.  7'jäs7io  Geschmeide, 
Halsschmuck,  Halsband.  Daß  endlich  auch  russ.  rjäsnyj  dicht,  in 
dickten,  vollen  Trauben  hängend  hierher  und  nicht  etwa  zu  rjado 
gehört,  zeigt  die  poln.  Entsprechung  rzesisty  zahlreich,  häufig, 
dicht,  deren  Zugehörigkeit  zu  rzesa  Augenwimper  wohl  keinem 
Zweifel  unterliegt. 

lecJvb  nach  Ausweis  von  russ.  Ij'achi,  lit.  lenkas  wird  sohin 
gleichfalls  als  lend-cln  aufzufassen  sein. 

In  russ.  drjazg^  1)  Auskehricht,  Schutt,  Schmutz,  Fegsei, 
2)  Reisholz,  3)  leeres  Geschwätz,  Geklatsch,  Gezänk  sind  2  Worte 
zusammengeflossen,  deren  Scheidung  wegen  der  vielfach  in  ein- 
ander fließenden  Bedeutungen  nicht  leicht  ist.    drjazg^  Reisholz 


Ein  urslavisches  Entnasalierungsgesetz.  11 

steht  im  Ablautverhältnis  zu  dem  gleichbedeutenden  dmzgh,  was 
also  ursprünglich  e?i  wahrscheinlich  macht  und  gehört  zu  drjagäth 
zucken,  zappeln;  zur  Bedeutungsentwicklung  ist  zu  vergleichen 
deutsch  Reis:  got.  hrisjan  beben,  zittern  (ähnlich  ksl.  'oMth  ramus: 
cech.  mti^  väti  wehen,  fächern).  Aus  dem  Ksl.  gehört  hierher  drezga 
silva,  aus  dem  apoln.  drzazdiu  (gen.  sing,  eines  kollekt.  Neutrums) 
Reisig  (Brückner,  J.  A.  11,  126;  cf.  auch  Stownik  j^z.  polsk.  p.  red. 
Karlowiczal,  570  sub  drzqzdz).  Eine  semasiologische  Parallele  zur 
Bedeutung  des  ksl.  drqzga  gegenüber  der  Bedeutung  des  russ.  und 
poln.  Wortes  bietet  russ.  golja  Zweig,  golie  Reisig,  c.  hül  Stock : 
o.-l.-s.  hoTa  Wald.  —  Auch  die  Bedeutung  Schutt  vereinigt  sich 
gut  mit  der  Bedeutung  der  raschen  Bewegung,  die  für  den  zugrunde 
liegenden  Verbalstamm  slav.  dreng-  anzunehmen  ist.  Vgl.  deutsch 
Schutt:  ahd.  scuten^  sciitten  schütteln,  schwingen.  Zu  derselben 
Sippe  gehören :  russ.  vdrug^  plötzlich  (zur  Bedeutung  ist  das  oben 
erwähnte  napräsno  und  nahegorm  zu  vergleichen,  ferner  mähr., 
slovak.  ü(5e7  jetzt,  eigentlich  augenblicklich  zu  büij  regsam),  ferner 
ksl.  drqg^  tignum,  c.  drouh^  drouk  Hebebaum,  Hebestange,  Schlag- 
baum, Klotz,  russ.  druJc^  Stange,  Hebel,  Heubaum,  poln.  drqg 
Stange,  Hebebaum,  Klotz.  Wir  sehen  also  hier  einen  Wechsel  von 
g  und  k  (die  Bedeutungsentwicklung  ist  ähnlich  der  von  c.  Jmt). 
Weiter  russ.  drjägva  Morast  (zur  Bedeutung  ist  das  gleichbedeu- 
tende trjasina^  das  zu  trj'asti  gehört,  zu  vergleichen),  russ.  drjagä 
Krampf  (eigentlich  »das  Zucken«),  russ.  (prov.)  drj'anisöa  Fieber 
(cf.  trjasüdka  kaltes  Fieber).  Zu  dem  erwähnten  drqk-  stellt  sich 
a)  ksl.  drqditi  vexare,  affligere,  lacessere,  p.  drqczyc  quälen,  peini- 
gen, plagen,  russ.  drudith.  Die  Bedeutungsentwicklung  ist  dieselbe 
wie  in  lt.  vexare^  eigentlich  stark  bewegen,  schütteln,  erschüttern, 
dann  quälen  usw.  b)  drqdenije  fastidium.  Die  Bedeutuugsentwick- 
lung  von  rascher  Bewegung  über  »Furcht«,  «Schrecken«  zu  »Ab- 
scheu«, also  wie  in  dem  eben  genannten  deutschen  Wort.  Zu  dieser 
Sippe  gehören  auch  die  öfter  behandelten  Wörter :  drqs[e)h  moro- 
sus,  drqs^k^  tristis,  drechh  morosus,  tristis,  languidus,  russ.  drjäcldyj 
hinfällig,  altersschwach,  gebrechlich,  klr.  drjachlyj  zitternd.  Be- 
sonders deutlich  zeigt  sich  die  Grundbedeutung  in  der  zuletzt  ge- 
nannten klr.  Die  o-Stufe  zeigt  aruss.  druchh.  Die  ursprüngliche 
Bedeutung  von  drqs(e)h  schimmert  in  slov.  dreseliti  (Miklos.)  irri- 
tare  hindurch,  wo  wir  also  dieselbe  Bedeutungsentwicklung  wie  in 


12  Norbert  Jokl, 

dem  oben  erwähnten  drqMti  vexare,  lacessere  sehen.  Über  dr^seh, 
drechh  hat  zuletzt  Pedersen,  I.  F.  5.  56,  57  gehandelt.  Er  stellt 
die  Wörter  zu  gr.  ■S'Qaavg  kühn.  Dabei  bleibt  aber  die  lautliche 
Schwierigkeit,  daß  das  s  der  Gruppe  nsl  einmal  sein  s  behält,  das 
andremal  in  ch  übergehen  läßt.  Auch  morphologisch  ist  drqseh, 
drqchh  neben  drqs^kb  bei  Pedersens  Erklärung  nicht  durchsichtig. 
In  der  Tat  sind  dreß{e)h^  drqchh  eigentlich  participia  praet.  IL  Der 
verbale  Charakter  von  drqcJih  (adjektivisch  gebraucht  wie  ksl. 
smU^  audax :  smSti  andere,  russ.  unylyj  verzagt,  traurig)  geht  deut- 
lich aus  ksl.  drechnovemje  tristitia,  ferner  aus  russ.  drjächnuth  hin- 
fällig werden,  vor  Alter  schwach  werden,  apoln.  (Sophienbibel) 
sdr^chn^cz  [zdrecJm^c]  verschmachten  (Ogonowski,  J.  A.  4,  374) 
hervor.  Für  drqsh  werden  wir  von  einem  drqshiqti  <C  dre7ig-sk-nqti 
auszugehen  haben.  Die  Bildung  dieses  Verbums  gegenüber  russ. 
drjagäth  zucken  entspricht  genau  dem  bereits  erwähnten  istqshiqti 
<C  isteng-sk-nqti  gegenüber  tqgati.  In  drqsh  also  erhielt  sich  das  s 
wegen  des  nachfolgenden  ^,  welches  k  in  drqski  noch  erhalten  ist. 
drqsh%  ist  ein  mit  *-suff.  neben  dem  Verbalstamm  stehendes  Adjektiv 
wie  pleskb  strepitus  neben  pleskati  steht  (ein  formantischer  Unter- 
schied zwischen  Adjektiv  und  Substantiv  ist  den  idg.  Sprachen 
fremd),  wie  russ.  läsyj  schmeichlerisch:  läsith^  p.  lasy^  p.  slizki 
schlüpfrig:  slizkac.  Demnach  wäre  dresk^  und  nicht  drqs^k^  zu 
schreiben.  Die  Schreibung  ohne  das  erste  ^  findet  sich  auch  tat- 
sächlich in  Handschriften.  • —  Das  ch  von  drqchh  aber  kann  recht 
wohl  dadurch  erklärt  werden,  daß  wir  ein  *dreng-s-nqti  zugrunde 
legen.  Das  eine  der  beiden  Verba  zeigt  also  s^-Suffix,  das  andere 
s-Suffix,  was  auch  sonst  bei  Verben  derselben  Wurzel  vorkommt. 
Man  vergleiche  plesati,  pleskati,  <Cplent-s-,  plet-sk-. 

Auf  Grund  der  bei  drqHti,  slov.  dreseliti  beobachteten  Bedeu- 
tungsentwicklungen wäre  man  versucht,  auch  ksl.  drazditi  in  raz- 
drazditi  und  draziti,  c.  drazditi  und  dräziti  (Gebauer,  Hist.  mluv. 
I,  400,  409),  russ.  draznith^  p.  draznic^  slov.  drasöiti  und  drastiti 
zu  derselben  Wurzel  zu  stellen,  wobei  dann  ein  Ablautsverhältnis 
anzunehmen,  d.  h.  das  a  wie  in  den  oben  besprochenen  Fällen  zu 
erklären  wäre.  Demnach:  drng-,  drhng-  +  verschiedenen  s-Suf- 
fixen  (s-,  zd-,  -zn-^  -zt-)  drazditi:  slov.  drasöiti  =  russ.  dozdh:  p. 
deszcz.  (Die  Verba  sind  Denominative.)  Eine  Stütze  findet  diese 
Ansicht  in  der  Bedeutung,  die  russ.  draznith  nebst  der  schon  an- 


Ein  urslavisches  Entnasalierungsgesetz.  13 

geführten  hat :  draznenie  kupferstejna  das  Durchrühren  des  Kupfer- 
steines, draznith  mSdh  das  Kupfer  einrühren.  Hier  zeigt  sich  noch 
die  ursprüngliche  Bedeutung  in  (rasche)  Bewegung  setzen,  wie  denn 
auch  deutsch  rühren^  ahd.  ruoren  in  Bewegung  setzen  bedeutet. 
Die  Entwicklung  der  faktitiven  Bedeutung  von  draznith  gegenüber 
der  intransit.  von  drjagäth  wie  in  hlaznith  verführen:  hleßti. 

Nasallose  Formen  der  allen  bisher  genannten  Wörtern  zu- 
grunde liegenden  Wurzel  dreng  (mit  slav.  d]  sind  dargestellt  durch 
russ.  drogä  Schwung:  Lang-,  Lenk-,  Wagenbaum,  Verbindungs- 
stange der  Vorder-  und  Hinterachse  am  Wagen,  russ.  drögnuth  zit- 
tern, beben;  c.  drhati  beben  und  drkati  sebou  zucken;  s.-kr.  drkat 
das  Zittern,  der  Schauder.  Somit  kehrt  auch  hier  der  Wechsel  von 
g  und  k  wieder,  der  bei  den  Formen  mit  Nasal  beobachtet  werden 
konnte  (s.-kr.  drhat  zeigt  eine  etwas  abweichende  Bildung,  cf. 
kroat.  splahnuti  :\&\.  2>lciknqti  Geitler,  ßad,  41,  181),  lit.  drugys 
das  Fieber;  zur  Bedeutung  ist  das  oben  angeführte  r.  drjanisca  zu 
vergleichen.  In  russ.  drygäfh  fand  Übergang  in  die  w-Reihe  statt 
wie  bei  russ.  prygath  •.prqg-. 

Aus  dem  Germ,  ist  hierher  zu  stellen  norw.-dän.  dreng  Stock, 
Stütze,  anord.  (/re/i^r  dicker  Stamm,  Stock  (Johannson,  K.Z.  36, 374), 
aus  dem  Gr.  rad-oQvaao),  ravd^aqv^o)'  hes.  oeLo)  (Meillet,  M.  S.  L. 
10,  279:  l'element  radical;  dh  +  voyelle  +  r-).  Dies  beweist  aber 
für  alle  genannten  mit  d  anlautenden  slav.  Wörter  idg.  dh  als  An- 
laut. Wir  haben  somit  für  das  Slav.  von  einer  Basis  dhrengh, 
dhrenk,  dhrgJi,  dhrk  auszugehen. 

Hingegen  gehört  russ.  drjazg%  in  der  Bedeutung:  leeres  Ge- 
schwätz, Klatscherei,  Gezänk  zu  ksl.  dhrati,  derq  reißen,  schinden, 
schlagen.  Dies  beweist  die  Parallele  drjazgä  zänkisches  Wesen 
neben  dem  gleichbedeutenden  dradlivosth.  Hierher  auch  drjazgä 
schlagendes  Wetter  neben  drjäpnja  :  drjäpath  reißen,  kratzen.  Da 
aber  dhrati  nach  Ausweis  von  gr.  öiqto  idg.  d  im  Anlaute  hat,  so 
ist  diese  Sippe  schon  darum  von  der  oben  behandelten  gänzlich 
verschieden.  Dazu  kommt  aber  noch  eine  Verschiedenheit  des  In- 
lauts. Denn  das  ja  ist  in  russ.  drjazg^  Gezänk,  drjazgä  schlagen- 
des Wetter  eben  so  wenig  Reflex  von  q  wie  in  dem  ganz  gleich  ge- 
bildeten russ.  hrjäzgi  leeres  Geschwätz,  Geklatsch,  Zänkerei:  ksl. 
hrati^  borjq^  russ.  boröth^  horjü  kämpfen,  streiten,  welches  Subst. 
auch  in  der  Bedeutung  mit  drjazgä  tibereinstimmt.  Der  Bildung  nach 


14  Norbert  Jokl, 

ist  nämlich  drjaz(J^  Gezänk  mit  poln.  droliazg  Kleinigkeit  (cf.  russ. 
drohjäzniki,  Kurz-,  Detailware,  klr.  ^n^/acio/t)  zu  vergleichen,  drjazg^ 
steht  neben  dräka  wie  poln.  drohiazg  neben  c.  drobka.  Allerdings 
sieht  Sobolevskij,  Lekcii'',  S.  71  in  p.  drohiazg  altes  S.  Dagegen 
vergleiche  man  aber  die  dazu  angeführten  russ.  Wörter.  Ob  auch  p. 
drzazga  Kienspan,  Splitter,  c.  drizha  Span  hierher  gehören,  wofür 
p.  dranica  Dachspan,  Legschindel,  c.  dradka  Leuchtspan,  r.  dra- 
no^6epina  Kienspan  sprächen,  oder  mit  Miklosich,  E.  W.  sub  tresk  1 
als  Doubletten  von  trzaska,  triska  mit  tönend  gewordenen  Konso- 
nanten anzusprechen  sind,  läßt  sich  wohl  kaum  mit  Sicherheit 
bestimmen.  Wieder  anders  über  drzazga  Nehring,  L  F.  4,  399, 
Anm.  3. 

Ferner  gehört  hierher  das  von  Miklosich,  Lex.  pal.-sl.  und  von 
Amphilochius,  Slovart  izi.  pandekta  Autiocha  auf  Grund  der  russ. 
Handschriften  mit  q  geschriebene  drqzgnqti  vorare.  Die  Hand- 
schriften, denen  Miklosich  und  Amphilochius  das  Wort  entnehmen, 
verwechseln  e  und  y«.  Das  Verb  gehört  zu  drjazg-^  mittelbar  also 
zu  drath.  Die  Bedeutungsentwicklung  ist  ähnlich  wie  in  deutsch 
zehren^  das  eigentlich  mit  zerren  identisch  ist,  in  russ.  lupith  schä- 
len, hauen,  gierig  essen,  gr.  daiio  zerteilen,  zerlegen,  zerfleischen, 
verzehren. 

q  vor  s  zeigen  ferner  ksl.  chrqstzkz  cartilago,  chrestavbch,  russ. 
c^lrjas6^  Knorpel,  chrjasto  Knistern,  Knacken,  c.  chrast  Gerassel, 
Geklirr  usw.  Den  ursprünglichen  e-Vokal  zeigt  deutlich  lit.  kremsle 
Knorpel  (Miklosich,  E.  W.  S.  90,  Pedersen,  K.  Z.  38,  394).  Die 
o-Stufe  zeigen  russ.  chrusU  Geknister,  Knorpel,  Reisig,  c.  chrust 
Knorpel,  Eeisig.  grqznqti  erklärt  Zupitza,  K.  Z.  37,  398  wegen  p. 
grqdzidio  Gesenke  am  Grundgarn  und  lit.  grimstü^  praet.  grimzdaü, 
welches  auf  ein  ursprüngliches  praes.  *gremdu  weht,  aus  gremd-z-. 
Eine  ältere  Ansicht  (Prellwitz,  E.Wi.  54,  Petr,  B.B.21,  215)  knüpfte 
an  gr.  ßqexo}  an,  sah  also  in  sl.  z  palat.  gh. 

hrezdati,  hrqznqti  sonare  vergleicht  Nehring,  L  F.  4,  400  mit 
lit.  hrizgeti  brummen,  blöken,  murren  unter  Annahme  eines  Wech- 
sels von  hrezd^  hrezg.  Doch  könnten  auch  lt.  fremere,  gr.  ßgif-uo, 
ahd.  hreman  herangezogen  werden,  p.  brzmiec,  das  Bezzenberger, 
B.  B.  27,  183  zu  den  genannten  Verben  stellt,  ist  zu  beurteilen  wie 
p.  grzmiec  (Miklosich,  Gramm.  1,  522:  Gruppe  tret).  t;f/-Deternii- 
nativ  wie  mjazditi:  Wurzel /a  in  2^k^\.  pr^jamh  (Miklosich,  E.  W. 


Ein  urslavisches  Entnasalierungsgesetz.  15 

S.  99),  ferner  in  russ.  gromozdith  aufschichten:  s.-kr.  gromoran 
(Miklosich,  Gramm.  2,  206).  Eine  andere  Bildung  ist  hrekati\  mit 
Ä-Suffix  wie  russ.  zvjäkath  klirren,  klappern :  zveneth  klingen,  klir- 
ren. Da  nun  das  Zeugnis  der  verwandten  Sprachen  auf  e  in  dieser 
Sippe  hindeutet,  p.  hrzmiec  hingegen  brhm-  voraussetzt,  da  weiter 
aus  Irhnzd-  nach  dem  obigen  hrazd-  entstünde,  so  ergibt  sich  die 
Schlußfolgerung,  daß  brezdati  auf  Wahrung  des  ursprünglichen 
e-Vokals  zur  Zeit  der  oben  besprochenen  Entnasalierungsvorgänge 
weist,  ^.-kv.  jezgra  der  Kern  gehört  zu  aksl. /(^c/ro,  welches  Wort 
nach  Ausweis  von  ai.  andam  en  enthält. 

Nach  all  diesen  Beobachtungen  wird  es  wohl  auch  berechtigt 
erscheinen,  in  pestb^  dessen  e  man  bisher  allgemein  wegen  lit.  kicmste 
als  Reflex  von  Nasalis  son.  auffaßte,  eyi  anzusetzen.  Das  Wort 
stimmt  demnach  in  der  Vokalstufe  zu  ai.  panktis,  das  auf  *penktis 
oder  penkstis  zurückgehen  kann  (Saussure,  M.  S.  L.  7,  93). 

In  eine  Kategorie  gehören  ksl.  d(^stb  pars,  prqslica  fusus,  s.-kr. 
preslica  (daneben  auch  prsljhi  und  presljen)^  russ.  prjädica^  c.  pre- 
slice  usw.,  ferner  ksl.  predo  gradus,  russ.  prjäslo  Teil  eines  Zaunes 
zwischen  zwei  Pfosten,  Pflasterquadrat,  Spiudelwirtel,  Stangen- 
gerüst, Stockwerk,  c.  präslo  Strecke,  Gebiet,  s.-kr.  p>reslo  Tal  zwi- 
schen zwei  Bergen.  (Im  Akzente  stimmen  also  die  sl.  Wörter  unter- 
einander nicht  überein.)  In  allen  diesen  Fällen  ist  das  s  in  der 
Gruppe  dt  entstanden.  Während  nun  Miklosich,  E.W.,  S.  32  6esth  auf 
*^-ewc?-/«zurückführte(ähnlichFortunatov,J.A.  11,573)  stellt  gegen- 
wärtig Baudouin  de  Courtenay,  Prace  fil.  3,  471,  Solmsen,  K.  Z. 
34,  547  und  mit  ihm  Pedersen,  Materyaiy  i  prace  kom.  j^z.  I,  167 
das  Wort  zu  lit.  kandü  beißen,  ksl.  kqs^^  indem  sie  «?  als  Reflex  von 
Nasalis  sonans  fassen.  Da  nun  auch  preslo,  preslica,  die  zu  pri^dq 
gehören,  Nasalis  sonans  enthalten  können,  so  könnte  man  zu  der 
Ansicht  gelangen,  daß  die  Behandlung  der  Nasalis  sonans  im  Slav. 
vor  dem  aus  dentalem  Verschlußlaut  entstandenen  s  anders  war  als 
die  der  Nasalis  son.  vor  idg.  s.  Doch  sind  die  genannten  Fälle 
keineswegs  eindeutig.  Denn  dqsti  kann  tatsächlich  auch  e  enthal- 
ten: gr.  a-/.sdc(pvvi.u;  ebenso  kann /»r^s/ec«  in  der  Vokalstufe  mit  lit. 
sprendziu  übereinstimmen.   Wegen  c.  nerest  cf.  S.  10. 

Endlich  seien  noch  die  Aoriste  wie  pqs^^  mqsh,  Jqsh  hervor- 
gehoben. Nach  Ausweis  von  ksl.  vh^^  lt.  vexi,  ai.  a-väks-am  haben 
wir  hier  ein  e  anzusetzen,    en  auch  in  c.  däsen,  p.  dziitslo  Zahn- 


16  Norbert  JokI, 

fleisch,  Lange  Voc.  S.  55).  Das  q  der  Infinitive  wie  prqsti,  trqsti, 
in  denen  Lesl^ien,  J.A.  5,  520,  527  Tiefstufe  erblickt,  ließe  sich 
leicht  durch  Systemzwang  erklären.  Doch  vermutet  Zupitza, 
K.  Z.  36,  69  im  c^  Yon  prqsti  wegen  des  Akzents  \^.-k.Y.  presti-.pre- 
dem  e-Stufe. 

Überblickt  man  das  vorgeftihrte  Material,  so  bleiben  für  die 
oben  besprochenen  Beispiele  eines  Wechsels  zwischen  q  und  a  nur 
solche  Fülle  übrig,  wo  idg.  «Nasalis  sonans«,  sl.  hn  zugrunde  liegt 
und  slav.  s,  z  einem  idg.  s,  z  entspricht. 

Das  Lautgesetz  ist  demnach  zu  formulieren: 

Idg.  t},  bezw.  sl.  'b7i  ging  vor  sl.  5,  z,  insofern  diese 
Laute  idg.  s,  z  entsprechen,  ferner  vor  ch  in  a  über. 

Fragt  man  nun  nach  der  Ratio  dieses  Lautwandels,  so  ist  vor 
allem  hervorzuheben,  daß  er  ein  doppelt  bedingter  ist;  denn  weder 
geht  jedes  sl.  hn  in  a  über,  noch  wird  jeder  Nasal  vor  5,  z,  ch  ent- 
nasaliert. Pie  Beseitigung  des  Nasals  vor  Spiranten,  wie  es  die  in 
Rede  stehenden  sind,  ist  eine  auch  andern  Sprachen  wohlbekannte 
Erscheinung.  Man  denke  an  Schweiz,  gas  =  hochd.  Gans,  triche  = 
hochd.  trinketi,  an  das  altsächs.,  altfries.,  altnord.  (Brugmann, 
Grdr.  I^,  807),  das  lt.  und  rom.,  das  gr.  Wenn  nun  der  in  der  slav. 
Vertretung  der  Nasalis  son.  enthaltene  Vokal  einerseits  a  ergab, 
anderseits  den  nasalen  Klang  verlor,  während  dies  bei  ursprüng- 
lichem e  nicht  der  Fall  war,  so  schließen  wir  daraus,  daß  der 
im  Reflex  der  Nasalis  son.  enthaltene  Vokal  eine  velarere  Aus- 
sprache hatte  als  das  ursprüngliche  e.  Dies  stimmt  gut  zu  der 
in  französischen  Dialekten  zu  beobachtenden  Erscheinung,  daß  ve- 
lare  Vokale  der  Entnasalierung  viel  leichter  unterliegen  als  pala- 
tale  (Meyer-Lübke,  Gramm,  d.  Rom.  Spr.  1,  31ü),  stimmt  ferner 
auch  zu  der  physiologischen  Natur  solcher  velaren  Vokale.  Czermak 
zeigte  nämlich  (Sitzungsber.  d.  Wiener  Ak.,  matb.-nat.  KL,  24,  4 — 9, 
28,  575 — 578),  daß,  wiewohl  bei  nicht  nasaliert  gesprochenen  Vo- 
kalen das  Gaumensegel  anliegt,  die  Höhe  seines  Standes  und  die 
Dichtigkeit  seines  Verschlusses  doch  für  die  einzelnen  Vokale  ver- 
schieden ist.  Am  höchsten  steht  das  Velum  und  am  dichtesten 
schließt  es  bei  e,  weniger  bei  u,  noch  weniger  bei  o,  e,  am  wenig- 
sten dicht  ist  der  Verschluß  und  am  tiefsten  steht  das  Velum  bei  a. 
Praktisch  gesprochen:  Das  a  nähert  sich  seiner  Natur  nach  am 
meisten  den  nasalen  Vokalen.    (Dies  zeigt  sieh  auch  darin,  daß 


Ein  urslaviBches  Entnasalierungsgesetz.  17 

näselnde  Aussprache  infolge  habituellermaßen  niclit  absolut  luft- 
dichten Verschlusses  des  Gaumensegels  am  leichtesten  bei  a  ein- 
tritt.) Ist  nun,  wie  dies  vor  Spiranten  begreiflich  ist,  die  Nasalie- 
rung schwach,  so  konnte  der  in  Rede  stehende  velare  Vokal  sehr 
leicht  mit  a  zusammenfallen,  eben  weil  a  einem  solchen  schwach 
nasalierten  velaren  Vokal  phonetisch  nahe  steht.  So  begreift  man 
also,  daß  gerade  die  beiden  genannten  Bedingungen  zusammen  zu 
dem  im  obigen  Gesetz  ausgesprochenen  Ergebnis  führten. 

Endlich  wäre  noch  die  Frage  zu  beantworten,  warum  ursprüng- 
liches a  -\-  Nasal  nicht  analog  behandelt  wurde,  sondern  q  ergab, 
zumal  ja,  wie  Kretschmer,  J.A.  27,228  dargetan  hat,  auch  für  slav. 
0  von  a  auszugehen  ist.  Dieser  Einwand  erledigt  sich  dahin,  daß 
offenbar  a  in  der  Stellung  vor  Nasal  frühzeitig  anders  behandelt 
wurde  als  in  sonstiger  Stellung,  eine  weitere  Parallele  zwischen 
Slav.  und  Lett.,  welche  Sprache  entsprechend  slav.  o,  a  a,  ä,  für 
a«  aber  'u  hat  (Bielenstein  I,  139). 

Wien.  Norbert  Jokl. 


Einige  Streitfragen.' 


7.  Klassifikation  des  slavischen  Verbums. 

Es  ist  kein  Zufall,  sondern  ein  in  Verhältnissen  begründeter  Kau- 
salnexus, daß  der  Begründer  der  wissenschaftlichen  Grammatik  bei  den 
Slaven  —  Dobrovsky  —  ein  geschulter  Orientalist  war,  wenigstens 
soweit  für  das  wissenschaftliche  Bibelstudium  die  Kenntnis  des  Hebräi- 
schen und  Syrischen  schon  im  XVIII.  Jahrhundert  als  unentbehrlich  galt. 
Will  man  wissen,  worin  sich  seine  Einsicht  in  den  Organismus  der 
orientalischen  Sprachen  auf  dem  Gebiet  der  slav,  Grammatik  kund  gab. 
so  braucht  man  nur  das  große  Werk  »Institntiones  linguae  Slavicae« 
nachzuschlagen.  Nach  den  vorausgeschickten  orthographischen  Bemer- 
kungen folgt  als  erster  Teil  der  Grammatik  »de  vocum  formatione« 
S.  79 — 458,  ein  ganz  neuer  Bestandteil  der  grammatischen  Disziplin, 

*)  Vergl.  Archiv  XXIII,  113  ff. 

Archiv  für  slavischo  Philologie.    XXVni.  2 


18  V.  Jagic, 

der  früher,  so  lange  man  sich  auf  Orthographie,  Deklination,  Konjuga- 
tion, unflektierte  Redeteile  und  Syntax  beschränkte,  ganz  unbekannt  war. 
Nicht  weniger  als  178  Seiten  dieser  Lehre  von  »de  vocum  formatione« 
sind  den  »Hyllabae  radicales«  gewidmet,  die  er  in  verschiedene  Klassen 
einteilt:  I.  Wurzeln  aus  reinen  Vokalen  oder  aus  Konsonant  und  Vokal. 
IL  Wurzeln  aus  zwei  Konsonanten,  in  der  Mitte  Vokal,  oder  aus  Vokal 
und  Konsonant.  IIL  Wurzeln  aus  drei  und  mehreren  Konsonanten.  Die 
Konsonanten  spielen,  wie  man  sieht,  die  Hauptrolle,  die  Vokale  sind 
etwas  Nebensächliches.  Nach  Konsonanten  werden  weiter  die  einzelnen 
Wurzelklassen  gruppiert,  wobei  schon  wieder  die  Vokale  wenig  in  Be- 
tracht kommen.  Darin  spiegelt  sich  deutlich  der  orientalische  Einfluß 
auf  die  slav.  Grammatik  ab.  Diese  »orientalische«  Vernachlässigung  der 
Vokale  ließ  natürlich  die  Bedeutung  des  Vokalismus  nicht  aufkommen. 
Dobrovsky  schreibt  nicht  nur  ohne  Vokale  niis,  mhs,  aciis,  miv  (8.  83), 
MKHs-Mye  (S.  89),  bei  den  Pronominalformen  ma,  mh,  moh  (S.  S9)  genügte 
ihm  das  einfache  m,  ebenso  ax  bei  äxh«  (S.  94),  kb  bei  ateaTH  (S.  95) . 
MK,  TK,  ex  bei  mkhs,  TKns,  exHs  (S.  lOS),  Bp  6a  np  mh  Mp  pa  Tp  3p  acp 
für  die  Ableitungen  BpiTH  öa^th  np'LxH  mii^th  MpixH  paixH  xp^XH 
sp^XH  KpixH  (S.  108 — 109),  und  p>K  ^P  tk  3a  'aüji  cn  qjl  cc  th  für 
pataxH  ApaTH  XKaxn  s^axH  ^AaTii  cnaxH  cjaxH  ccaxH  rnaxH.  Wenn 
er  auch  wußte,  daß  bo3hxh  mit  bcss,  iianoä  mit  hhxh,  hokoh  mit  noiiio 
im  Zusammenhange  steht,  so  fragte  er  doch  nicht  weiter  nach  diesem 
Vokalwechsel.  Er  wußte  allerdings,  daß  in  formatione  verborum  itera- 
tivorum  o  zu  a  wird  (S.  36):  noHXH-iianaMXH,  jroMHXii-jiaMaxH,  noMors- 
noiviaraxH,  öo^s-öa^axH;  er  wußte,  daß  »in  formandis  iterativis  etfacti- 
tivis«  ezuo  wird:  bbas-boahxh,  Be3s-B03HXH,  xeKS-xouHXH,  und  auch 
H  zu  0  »si  sequitur  h«:  niio-HanoHXH,  rniio-riiOHXH,  selbst  ti  zu  o,  se- 
quente  b:  KptTio-KpoB  (S.  37).  Der  orientalische  Einfluß,  der  im  ganzen 
sichtbar  ist,  wird  nur  einmal  ausdrücklich  erwähnt;  Mope  läßt  Dobrovsky 
aus  MO  aqua  und  »syllaba  servili«  pe  entstanden  sein,  »si  orientales 
linguae  consulantur«. 

Durch  diese  Anlage  des  ganzen  Werkes  kam  Dobrovsky  nicht  dazu 
für  die  Deklination  etwas  Erhebliches  zu  leisten,  weil  er  überall  nur 
Konsonanten  berücksichtigte,  dagegen  gait  ihm  t  gar  nichts,  und  die 
übrigen  Vokale,  die  bei  den  consonantes  serviles,  d.  h.  bei  den  Suffixen 
sich  zeigen  (z.  B.  bei  h  zählt  er  sie  auf:  an  oh  oyn  hh  bh  hh  ah),  läßt 
er  in  ihrem  Wechsel  »ab  euphoniae  legibus«  abhängen  (S.  266).  Da- 
gegen für  die  Konjugation  gilt  er,   im  Gegensatz  zur  Sterilität  der 


Einige  Streitfragen.  1 9 

Deklination,  als  der  Begründer  der  Klassifikation  nach  dem  Infinitiv 
in  sechs  Klassen  (Inst.  348 — 374).  Auch  hier  konnte  er  sich  auf  Kon- 
sonanten stützen  (auf  f  des  Infinitivs  und  den  Konsonanten  der  Wurzel), 
mußte  aber  doch  auch  dem  vor  -ti  erscheinenden  Vokal  gerecht  werden. 
Manches  machte  ihm  bei  der  vorgenommenen  Klassifikation  Schwierig- 
keiten. Von  den  Verben  wie  a'^hth,  jraHXH,  ciMTH,  xaHTH,  ^laHTH, 
KaHTH  CA,  CMHMTH  CA,  die  cr  in  die  fünfte  Klasse  einreihte,  mußte  er  bei 
der  Zusammensetzung  mit  der  Präposition  solche,  wie  BOSA^TH-Boa^iio, 
in  die  erste  Klasse  setzen,  weil  es  im  Aoriste  lautet:  bosa^,  sa^i.  Auch 
Koyio,  CHoyio,  ö.irH)K),  njioio,  kjiiok)  machten  ihn  stutzig,  er  rechnete  sie 
zur  ersten  Klasse,  weil  er  die  radikale  Präsensform  berücksichtigte. 
Miklosich  zählt  bekanntlich  ÖJiBsaTH,  KJiLBaTH,  kobeth  zur  fünften  Klasse 
(II.  454),  doch  Koy-,  pio-,  cHoy-  auch  zur  ersten  Klasse  (II.  421).  Die 
nasalierten  Infinitive  waren  Dobrovsky  unverständlich,  weil  er  den  na- 
salen Charakter  des  Vokals  vor  -ti  nicht  erkannt  hatte:  nns,  tiis,  skiis, 
^Hj>  und  KjieHscA  nannte  er  anomala  formatio.  unklar  war  ihm  auch 
o^eatAs  und  *meAS,  das  er  wegen  h^s  von  *me  ablauten  zu  müssen 
glaubte,  obschon  er  den  Zusammenhang  zwischen  msA-  und  xoahth  er- 
kannt hatte.  Auch  betrefi's  der  Verba  psaxH,  SBaxH,  atBaxH,  öpaxH, 
npaxH,  ApaTH,  cpaxH,  rnaxH,  at^axH,  cxcaxn  drückte  sich  Dobrovsky 
ganz  vorsichtig  aus,  daß  sie  im  Aorist  und  Infinitiv  ein  a  einschalten 
»formam  quintam  imitando«.  Miklosich  hat  alle  diese  Verba  unbedenk- 
lich in  die  fünfte  Klasse  versetzt  (II.  454).  Man  kann  also  sagen,  daß 
die  Einteilung  Dobrovsky's  mehr  Rücksicht  auf  Präsens  nahm,  als  die 
spätere  Miklosich's. 

Die  Klassifikation  Miklosich's  kann  als  allgemein  bekannt  voraus- 
gesetzt werden.  Doch  einiges  zu  ihrer  Geschichte.  Im  Jahre  1850  (in 
der  Formenlehre  der  altsloven.  Sprache)  stellte  er  6  Abteilungen  der 
I.  Klasse  auf:  1.  x-a,  2.  3-c,  3.  n-6-B,  4.  K-r-x,  5.  h-m,  6.  a-ii- 
i-oy-xj.  Schon  in  der  zweiten  Auflage  (1856,  zugleich  erste  Auflage 
der  vergl.  Grammatik)  fügte  er  noch  eine  siebente  Abteilung  hinzu,  7 .  Mp. 
In  der  ersten  Auflage  (1850)  hatte  er  Verba  dieser  Gruppe  zur  III.  Klasse 
gerechnet  und  daraus  die  erste  Abteilung  gemacht,  während  er  ropiXH 
als  das  Paradigma  der  zweiten  und  rpixH  als  das  der  dritten  Abteilung 
dieser  Klasse  aufstellte.  Diese  Lehre  Miklosich's  erscheint  gegenüber 
Dobrovsky  insofern  als  Rückschritt,  als  dieser  in  Institutiones  S.  353 
MpK,  xps,  Kps  doch  zur  I.  Klasse  rechnete  und  nur  vom  Infinitiv  sagte, 
er  gehe  nach   der  III.  Klasse.     Später  hat  Miklosich  innerhalb   der 

2* 


20  ^'•  Jagiö, 

7  Abteilungen  der  I.  Klasse  nur  die  Reihenfolge  ein  wenig  geändert. 
Das  Paradigma  xp  wurde  zum  sechsten,  und  das  frühere  sechste  öh  zum 
siebenten  gemacht.  II.  Klasse  blieb  immer  unverändert.  III.  Klasse 
hatte,  wie  gesagt,  ursprünglich  drei  Abteilungen  Mp&,  ropM»  und  rpia, 
das  letzte  von  M.  in  rp-t-Wi  getrennt.  Nachdem  er  jedoch  die  erste 
Abteilung  ausgeschieden  und  als  siebentes  Paradigma  in  die  I.  Klasse 
eingereiht  hatte  —  so  als  siebentes  Paradigma  steht  Mpji  noch  in  der 
Formenlehre  in  Paradigmen  1874,  erst  1S76  in  der  vergleichenden 
Wortbildungalehre  stellte  er  mit  richtiger  Konsequenz  die  Gruppe  Mp  als 
das  sechste  Paradigma  auf,  d.  h.  6  und  7  tauschten  ihre  Reihenfolge 
—  entfernte  er  auch  das  Beispiel  rptim  aus  der  III.  Klasse,  das  er  einst 
rp-i-Mi  getrennt  hatte,  und  stellte  es  1S56  zum  sechsten  (später  sieben- 
ten) Paradigma  der  I.  Klasse  neben  öhth,  nnxH  usw.  Das  ist  auch  rich- 
tig, denn  das  Verbum  hat  aktive  Bedeutung  (vergl.  Supr.  399  rpiame  m»). 
Dafür  scheint  mir  das  Verbum  3p'£Mi  wegen  seiner  passivneutralen  Be- 
deutung «reifen«,  »reif  werden«  besser  in  die  III.  Klasse  zu  passen.  Aller- 
dings schreibt  man  es  in  den  späteren  Belegen  (in  den  ältesten  kommt  das 
Wort  nicht  vor)  ohne  schwachen  Vokal  zwischen  3  und  p,  aber  das  tut 
nichts  zur  Sache,  da  auch  sp^Tii  (stp^THi  -spHiun  häufig  so  geschrieben 
wird  und  doch  rechnet  man  es  zur  III.  2-Klasse.  Daß  nicht  alle  Verba 
der  ni.  1-Klasse  denominativ  sein  müssen,  zeigt  oacji^th,  roHixH,  ro- 
BixH,  H3Mi.acAaxH.  Die  IV.  Klasse  blieb  unverändert.  Die  V,  Klasse 
hatte  1850  bei  Miklosich  nur  zwei  Abteilungen.  Die  erste  umfaßte  öpaxn- 
öepA  neben  nHoaxH-numA,  ebenso  KJiaxH-KOJiMi  oder  öpaxn  CÄ-6opMi  cä 
neben  soBiii,  acHA^i.  Zur  zweiten  Abteilung  gehörten  A^jaim  u.  ä. 
Schon  1856  machte  er  jedoch  aus  dieser  Klasse  vier  Gruppen: 
1.  A^-^aMi,  2.  nnuiiii,  3.  6ep£ii-)KeH&,  4.  ßfim..  Die  Verba  KoaM», 
cxejiim,  öoptt  CA,  nopMi  wurden  jetzt  nicht  mehr  zur  dritten,  sondern 
zur  zweiten  Abteilung  gerechnet.  Dafür  schließt  er  K0BaxH-K0B&  an 
3'BBaxH  an,  während  njroB&-xpoB&  wegen  des  Infinitivs  in  der  I.  Klasse 
bleiben. 

Daß  gegen  diese  Klassifikation  Miklosich's  und  seiner  Anhänger 
vom  Standpunkte  des  Präsens,  um  das  es  sich  dort  hauptsächlich  han- 
delt, sehr  viel  eingewendet  werden  kann,  liegt  klar  auf  der  Hand.  Es 
gab  auch  sowohl  verschiedene  Verbesserungsversuche  wie  auch  prinzi- 
pielle Einwendungen.  Einen  kleinen  Verbesserungsversuch  machte  schon 
1856  Hattala,  indem  er  in  der  II.  Klasse  zwei  Gruppen  unterschied: 
minu^  trhnu,  und  in  der  III.  Klasse  drei  Gruppen  aufstellte:    umitn 


Einige  Streitfragen.  21 

(3.  pers.  pl.  umSJi),  horim^  drzim^].  Prinzipiellen  Standpunkt  nahm 
gegen  die  Miklosich'sche  Klassifikation  Schleicher  ein.  Nachdem  er  be- 
reits 1850  in  der  Zeitschrift  für  öst.  Gymn.  10.  Heft  726—749  den 
Gegenstand  besprochen  hatte,  führte  er  in  seiner  1852  erschienenen  alt- 
kirchenslavischen  Formenlehre  die  auf  der  Basis  der  Präsensbildung 
beruhende  Klassifikation  so  durch : 

A.  Primitiva.  I.  Klasse.  Reiner  Verbalstamm  in  Präsens:  a)  der- 
selbe in  allen  Formen:  nec/ii,  njeT/L,  rpeÖA,  neK&,  kjii.h&,  c-iobä,  Mp&; 
b)  der  zweite  Stamm  auf  a:  öepA.  II.  Klasse.  Präsens  mittels/:  a)  der 
zweite  Stamm  ist  der  reine  Verbalstamm:  ÖHa;  b)  der  zweite  Stamm 
mit  a:  Koyim,  njiiOK,  öopa,  nnmA,  CMn^a,  rji03KÄ&,  njiaiA.  III.  Klasse. 
Präsensstamm  w?^:  ABHriiÄ.  B.  Derivata.  IV.  Klasse  durchgehends  auf 
-H :  xBajiHTH.  V.  Klasse  mit  -i  im  zweiten  Stamme :  ropixH.  VI.  Klasse 
im  Präsens  auf  i  mit  J.  VII.  Klasse  durchgehends  im  Präsens  a  m\ij. 
VIII.  Klasse  auf  ov- :  KoynoBaTii.  Dann  folgt  noch  die  bindevokallose 
Konjugation. 

Die  Klassifikation  Schleicher's  hatte  das  Gute,  daß  sie  fürs  Präsens 
von  der  Präsensbildung  ausging.  Allerdings  konnte  er  nicht  umhin 
auch  den  zweiten,  d.  h.  Infinitivstamm  zu  berücksichtigen.  Obgleich  er 
meinte,  seine  Einteilung  sei  im  ganzen  und  großen  allgemein  angenom- 
men, war  das  faktisch  wenigstens  bei  den  slavischen  Grammatikern 
nicht  der  Fall.  Leskien  versuchte  das  Schleicher'sche  Einteilungsprinzip 
mit  dem  bei  den  slavischen  Grammatikern  üblichen  Dobrovsky-Miklo- 
sich'schen  nicht  gerade  in  Einklang  zu  bringen  —  das  wäre  ja  unmög- 
lich ■ —  sondern  sie  etwas  näher  aneinander  zu  rücken.  Das  geschah  in 
folgender  Weise,  die  man  nur  loben  kann:  Schleicher  hatte  die  Präsens- 
klasse mit  nu  (slav.  no-ne)  als  UI.  angesetzt,  Leskien  stellte  die  den 
slav.  Grammatikern  geläufige  IL  Klasse  wieder  her.  So  fallen  die  I.  in 
IL  Klasse  nach  beiden  Klassifikationen,  wenigstens  zum  großen  Teil, 
zusammen.  Die  Schleicher'sche  IL  Klasse  umfaßte  die  Miklosich'sche 
I.  7  und  V.  2,  bei  Leskien  gelangen  diese  Verba  in  die  III.  Klasse.  Die 
IV.  Klasse  bei  Schleicher  fiel  mit  der  Miklosich'schen  IV.  Klasse  zu- 
sammen.   Dagegen  bildete  er  eine  besondere  V.  Klasse  aus  den  Verben 


^)  Prof.  Gebauer  stellt  in  seiner  Historickä  mluvnice  III.  2  (1898)  auch 
bei  II  zwei  Gruppen  auf,  und  bei  V  unterscheidet  er  vier  Gruppen,  ganz  nach 
Miklosich,  die  dritte  ist  bei  ihm  durch  hräti-heru  und  kovati-kiiju  und  die 
vierte  durch  läti  vertreten.  Das  Nebeneinandersetzeu  in  dieselbe  Gruppe  der 
Paradigmen  beru  und  kuju  gefüllt  mir  nicht. 


22  V.  Jagic, 

wie  ropf.TH-ropHuiH  (Miklosich  III.  2),  Leskien  schlug  diese  Verba  zur 
IV.  Klasse,  als  zweite  Abteilung  derselben,  wegen  der  gleichen  Bildungs- 
art des  Präsens  mit  der  ersten  Abteilung.  Verba  auf  -iTH,  die  im  Prä- 
sens -t  wahren,  bildeten  bei  Schleicher  eine  besondere  (VI.)  Klasse. 
Leskien  stellt  sie  den  tlbrigen  mit  j  das  Präsens  bildenden  Verben  zur 
Seite,  und  macht  daraus  eine  sehr  umfangreiche  III.  Klasse,  die  er  in 
zwei  Gruppen  einteilt:  A.  in  primäre  Verba,  die  im  Präsens  -je  haben, 
und  B.  in  abgeleitete  Verba.  Zu  III  A  gehören  also:  snaxH,  hhth,  nii- 
caTH  usw.,  zu  III  B  A^JiaTH,  oy.M-fcTH,  KoynouaTH.  Schleicher  hatte  aus 
III  B  nach  der  Leskien'schen  Einteilung  nicht  weniger  als  drei  beson- 
dere Klassen  gemacht:  VI  cyMiH»,  VII  A'^-^am.,  VIII  KoynoyMi. 

Man  braucht  der  lieben  Theorie  nicht  gerade  alle  Rücksichten  auf 
die  Übersichtlichkeit  zu  opfern.  Ich  kann  mich  nicht  befreunden  mit 
der  Klassifikation,  nach  welcher  nuTH-ntMi,  nHcaTii-niiiiiA  und  Ä^jiaxH- 
;itJiaiA  in  dieselbe  Klasse  eingereiht  werden.  Mir  würde  es  besser  zu- 
sagen, in  die  Leskien'sche  III.  Klasse  nur  die  Hälfte,  d.  h.  die  primären 
Verba  zu  rechnen.  Dagegen  würde  ich  die  andere  Hälfte  der  dritten 
Klasse,  d.  h.  die  abgeleiteten  Verba  in  eine  besondere  V.  Klasse  ein- 
reihen. Nicht  bloß  um  die  übliche  Zahl  von  VI  Klassen  aufrecht  zu  hal- 
ten, würde  ich  außerdem  die  Verba  auf  -oyiffi,  -onaTH  aus  der  V.  Klasse 
(oder  nach  Leskien  III  B)  ausscheiden  und  sie  in  der  bisher  üblichen 
Weise  als  besondere  VI.  Klasse  aufstellen.  Es  sprechen  dafür  Er- 
wägungen lautlicher  Art.  Einmal  ist  KoynoBaTH-KoynoyMi  näher  dem 
Verbum  a^hth-a'5&Mi,  als  dem  Verbum  A^.iaTii-^'Sjraffi,  also  zu  den  für 
die  V.  Klasse  reservierten  Verben  stimmt  es  nicht.  Aber  auch  mit 
;i;'£hth,  jiaMTH  u.s.w.  haben  Verba  auf  -OBaxH  durch  ihren  offenkundig 
denominativen  Charakter  nicht  viel  gemeinsames.  Darnach  würde  das 
Schema,  unter  Anlehnung  an  die  Leskien'sche  Klassifikation,  so  aus- 
sehen. 

Primäre  Verba. 
I.  Klasse.    Präsensstamm  auf  e-o: 
A.  Der  zweite  Stamm  die  reine  Verbalwurzel : 
.    Be;i;/ti,  n.ieT&;    HeCit,  bbsa;   rpe6&,  tcha;    )khb&,  n.Ji0BÄ;   neKJi, 
5Ker& ;  a'bma,  ntHrt ;  Etp*,  Mbpji. 

B.  Der  zweite  Stamm  hat  die  thematische  Erweiterung  auf  -a: 
öepA-ötpaTH,  ateiiiäi-nbHaTH,  Kn^A-acMaTH,  xiKA-TtKaxH,  cscä- 

C^CaXH,  ptBÄ-p'LBaXH,  SOBA-StBaXH. 


Einige  Streitfragen.  23 

II.  Klasse.    Präsensstamm  auf  we-wo: 
ÄBHrnemH,  MHHemn,  TLiiemn,  ciXHemH  etc. ;  cTanemH  (ohne  cxa- 
iiiIjTh),  ^i'^Hemn  (ohne  a'^h&th). 

III.  Klasse.    Präsensstamm  auf /e. 

A.  Der  zweite  Stamm  die  reine  Verbalwurzel : 

a)  Vokalisch:   snaa-SHaxH,   ni>Mi-nHTH,  }s,iwi-ß,iTii,   cnim-cniTH, 

MKMi-MjHTH. 

b)  Konsonantisch:  Mejiift-MJiiTH  [*melti)^  KOJia-KJiaTH  [^kolti), 
6opMi  CA-öpaxH  {*borti)  cä,  atbiiffi-atATii. 

B.  Der  zweite  Stamm  hat  die  thematische  Erweiterung  auf  -a : 

a)  Vokalisch:  KaMi-KaMTH,  ^laMi— yaMTH,  B^Mi-EiMTH,  cia-ciMTH, 
n.iiOMi-njitBaTH,  ÖJiiOMi-övitBaTH. 

b)  Konsonantisch :  a.i'i^/ii-a.T:xKaTH,  BAacÄ-BÄsaxH,  opa-opaTH, 
nnuiÄ-nBcaTH,  Kjienaa-K.3enaTH,  2CA3K;i;/!i-acAAaTH,  mnT/ii-HCKaTH.  Dazu 
gehören  auch  viele  abgeleitete  Verba,  bald  denominativa,  wie  xpene- 
xaxH    (von   xpenexxj-xpenemxA,  bald  deverbativa,  wie  CKaKaxH  (von 

CKO^IHXh),  ABHSaXH  (von  ABHrHAXH). 

IV.  Klasse.     Präsensstamm  auf  -/. 

A.  Der  zweite  Stamm  auf  -e  (nach  Palataleu  -a) : 
ö^AHuiH-ßx^tixH,  ropumH-ropixH,    jexumH-.iexixH,   .leaciimu-.ie- 

/KaXH,  KpHyHmH-KpH^iaXH,   ÖOHIUH  CA-ÖOMXH  CA. 

Abgeleitete  Verba. 

B.  Der  zweite  Stamm  bleibt  auf  -i  auslautend : 
öoyAHmH-ÖoyAHXH,  XBaJiHum-XBaJiHXH,  cAAHmH-c&AHXH. 

V,  Klasse.  Präsens  auf  -je,  das  sich  an  den  vollen  zweiten  Stamm, 

der  auf  ~a  oder  auf  -e  auslautet,  anlehnt : 
A.  Der  zweite  Stamm  auf  -a  auslautend : 
A^jraiiii-AijiaxH,  Konaa-KonaxH,  3HaMenaa-3iiaMeiiaxH. 
B.  Der  zweite  Stamm  auf  -i  auslautend  (nach  Palatalen  -a) : 
atejiiiÄ  -  Keji'SxH,    oyjröim-oyMixH,    nHxiMi-niixtxH;    sex^maMi- 
BBTtmaxH,  oÖHHmxaa-oöflHmxaxH. 

VI.  Klasse.    Präsens  auf  -uj'e   [-juje],  der  zweite  Stamm  -ovati 

{-'evati) : 
KoynoyMi-KoynoBaxH,  ropiOMi-ropenaxH. 

Die  wenigen  themavokallosen  Verba  können  als  Anhang  zu  diesen 
VI  Klassen  behandelt  werden. 


24  V.  Jagic, 

Während  der  vorgelegte  Entwurf  sich  an  die  Leskien'sche  Eintei- 
lung anlehnt,  aber  zugleich  der  üblichen  Miklosich'schen  Klassifikation 
nahe  zu  bleiben  trachtet  —  daher  auch  VI  Klassen  — ,  befolgt  Von- 
dräk  die  Miklosich'sche  Einteilung,  sucht  sie  aber  noch  konsequenter  mit 
Rücksicht  auf  den  Infinitiv  durchzuführen.  Diese  Konsequenz  ist  zwar 
sehr  lobenswert,  allein  darunter  leidet  doch  das  Präsens,  um  das  es 
sich  zunächst  handelt.  Also  Vondrjik  beläßt  öi.paTH,  s-LBaTH  wegen  des 
Infinitivs  in  der  V.  Klasse,  wenn  auch  das  ganze  Präsens  öepiL,  30bj. 
zur  I.  Klasse  hinstrebt.  Dagegen  versetzt  er  ko.jim.,  öopa  ca,  Mejiw», 
nopMi,  actiiMi  wieder  wegen  des  Infinitivs  in  die  I.  Klasse,  mag  auch  die 
Präsensbildung  auf  -je  diese  Verba  anderswohin  ziehen.  Das  Präsens 
KO.IIM,  atBHRh,  öopijR  CA  Steht  doch  näher  den  Verben  3Hat;^&,  cTeüMi, 
CTBiiMi,  als  dem  Präsens  öepm,  sobä. 

Mag  die  Klassifikation  nach  dem  Infinitiv  noch  so  praktisch  schei- 
nen, was  zum  Teil  nur  die  Folge  der  Angewöhnung  ist,  vom  Stand- 
punkt der  geschichtlichen  Entwickelung  gebührt  dem  slavischen  Infinitiv 
die  Vorherrschaft  über  das  Präsens  ganz  und  gar  nicht,  weil  man  durch 
die  Vergleichung  mit  dem  Litauischen  leicht  konstatiren  kann,  daß  oft 
in  der  slavischen  Infinitivbildung  neue  thematische  Erweiterungen  auf 
-a,  zuweilen  auch  auf -i  vorliegen.  Das  ist  ein  mit  der  Vorherrschaft 
der  vokalischen  Stämme  in  der  Deklination  parallel  laufender  Hang  der 
Sprache.  Man  findet  volle  Übereinstimmung  der  beiden  Sprachen  in 
kepti  und  neinxH  {j^ekfi),  in  tepti  (schmieren)  und  tsth  (aus  tepfi,  auch 
TencTii),  zwischen  witi  und  uxii,  mirti  und  MpixH  (näher  eigentlich 
mp'bth),  mllszti  und  MJiicTH  (näher  wäre  m.i%cth,  vergl.  das  heutige 
serbokroatische  müsti).  Allein  im  Litauischen  steht  der  Infinitiv  auf 
älterem  Standpunkt  in  solchen  Beispielen,  wie  älkti  gegenüber  ajiKaxH, 
ärti  gegenüber  opaxH,  Z'cf/e  gegenüber  ötpaxH,  j^jer^i  gegenüber  nLpaxH, 
kqsti  [kändu]  gegenüber  K&eaxH,  jüsti  gegenüber  no-McaxH,  läkti 
gegenüber  -lOKaxH,  reszti  gegenüber  pisaxn,  szökti  gegenüber  cKaKaxn, 
hraükti  gegenüber  öpKoaxH,  lieszti  gegenüber  jiHsaxH,  mesti  gegenüber 
MBTaxH,  riesti  gegenüber  pnxaxii,  smükti  gegenüber  CMSKaxH,  suvpti 
gegenüber  ep-iöaxH,  sükti  gegenüber  coyKaxH,  spiäuti  gegenüber  njib- 
BaxH.  Oder  man  vergleiche  hekti  gegenüber  öiataxH  (wir  haben  nur 
no-ö5r-H/iTH,  allerdings  in  einzelnen  slav,  Sprachen  auch  hiec-bieg^), 
kläusti  gegenüber  cjnamaxH,  werkti  (auch  wirkti)  gegenüber  warczec 
(auch  xoarknqc]^  kwepti  [allerdings  auch  kivepeti)  gegenüber  KsniXH, 
renktis  [rengiüs]  gegenüber  *pA^axH  (pAniiiiXH),  id7'ti  (werdu)  gegen- 


Einige  Streitfragen.  25 

über  BtpiTH,  iverstis  {wercziüs)  gegenüber  BptTiTH  cä,  lipti  gegenüber 
jhniTH,  persti  gegenüber  npi.A^TH,  isz-wysti  (allerdings  auch  weizdeti) 
gegenüber  BH^iiTH,  gelsti  gegenüber  ac.Titx'^&TH,  uz-mtkti  gegenüber  ml- 
•/icaTH.  Da  fast  bei  keinem  dieser  Verba,  die  im  Slavischen  auf  -axii 
oder  -']&TH  den  Infinitiv  bilden,  die  infinitivische  Stammerweiterung  im 
Präsens  wiederkehrt  (vergl.  a-iiyeiuH,  opiemn,  öepemH,  nepeiim,  no- 
MineuiH,  jioqemH,  piateuiH,  CKa^iemii,  upKineiuH,  .inaceniH,  MemTeuiH, 
*pHinTemH  (sloven.  ridem),  womit  in  den  meisten  Fällen  das  litauische 
Präsens  übereinstimmt:  arm,  berm,  periü,  reiiü,  Iraukiü,  lieziü,  rie- 
c~iü,  vergl,  noch  icercziü  :  *ßphiuT/i>,  perdziu  :  *npt2C.A^,  so  darf  man 
wohl  behaupten,  daß  die  slav.  Infinitivthemen  sekundäre  Neubildungen 
sind,  in  der  Art  der  neuen  Infinitive  spiasiti  für  CLnacxH,  boriti  ae  für 
öpaxH  CA,  porifi  für  npaxH,  crpiti  oder  crpati  für  yptxii  (yptnÄ),  u.s.w. 
Die  Überwucherung  des  slav.  Infinitivs  mit  thematischen  Neubildun- 
gen sieht  man  auch  an  dem  Infinitiv  auf-H&xii,  der  keine  Parallele  im  Li- 
tauischen hat.  Gewiß  ist  der  litauische  Infinitiv  auf  älterem  Staudpunkte, 
wenn  er  dirkti  (praet.  dirgau)  gegenüber  ^o.-ß^^'hva.äiTw^jimkti  gegenüber 
Ha-BtiKHAXH,  saüsti  gegenüber  cixkäxh,  sekti  [senkü]  gegenüber  ca- 
KUAxn,  pa-bmti  gegenüber  bxs-ö^h&xh,  szwhti  gegenüber  CBbH&XH 
ioder  aber  cBLxixH),  stekti  [stegiu]  gegenüber  russ.  sa-cxernyxt,  minfi 
\menü)  gegenüber  no-3iAHiXH  (auch  no-MtuiXH),  uz-gesti  gegenüber 
racH&XH,  grimsti  (praet.  grimzdaü)  gegenüber  rpASHAXH,  lipti  gegen- 
über npn-.itHAXH  U.S.W,  bilden  und  gebrauchen  kann.  Ich  kann  mich 
daher  noch  immer  nicht  trennen  von  meiner  im  Archiv  VI.  288  vorge- 
tragenen Ansicht,  daß  der  Infinitiv  auf  -haxh  im  Slavischen  eine  Neu- 
bildung sei  —  einer  Ansicht,  die  Gebauer  III.  2.  68  durch  weitere 
Analogien  wie  pyiouii  (nach  pnu  oü&x pnou,  statt  ^«Ye),  jmouti  (nach 
jmu  o^Qxjmou,  statty^7^),  nadmouti  (nach  nadmu  oder  nadmoii^  statt 
douti)  stützen  kann.  Wenn  die  vergleichende  Grammatik  sich  weigert 
Analogieübertragungen  zuzugeben,  sobald  sie  in  anderer  Weise  der  Er- 
scheinung einer  Einzelsprache  beikommen  kann,  so  ist  das  ihr  volles  Recht. 
Doch  meines  Wissens  steht  sie  diesen  slavischen  Infinitiven  gegenüber 
ratlos  da.  Man  wird  doch  nicht  den  Erklärungsversuch  Pedersen's 
(KZ.  38.  347)  leicht  annehmen  wollen,  der  gelassen  ein  großes  Wort 
ausspricht,  indem  er  zuerst  ^ath  (ATbMiii)  aus  *a'I>xh  entstanden  sein  läßt 
(als  würde  nicht  die  Analogie  von  üaxh,  jkaxh,  xäxh  näher  liegen,  die 
vom  Präsens  aim/i.  gegenüber  >KbM&  von  selbst  zum  Vokal  ä  führte)  und 
dann  ebenso  AßKrii/iiXii  aus  *Ai{nriri.xii.    Zu  allen  diesen  gewaltsamen 


26  V.  Jagic, 

Konstruktionen  wurde  er  durch  die  Partizipien  auf  -noBeH'B  verleitet, 
deren  wegen  er  sich  nicht  mit  der  Zusammenstellung  des  slavischen 
ÄBHrHA-;iBHrHeiiiH  nur  mit  dem  griech.  y.auvio  oder  riuvo)^  lit.  aum'i, 
einü,  gäurM^  giumi,  szatmu,  maunu  u.  ä.  begnügt,  sondern  an  die  Pa- 
rallele zur  altindischen  fünften  Klasse  denkt,  d.  h.  noine  aus  "nu-nve 
ableitet.  Dafür  werden  allerdings  die  Formen  AptsnoBent,  kochobbh'b, 
ripHKOCiionciix,  OTTtpuHOBen'L  etc.  (Leskien  Gr.  141)  ins  Feld  geführt, 
die  schon  in  den  ältesten  Denkmälern  vorkommen.  Man  kann  auch 
Verba  wie  MHiionaTH  neben  mhhath,  AptSHOBaxH  neben  ^ptanATH  an- 
führen. Doch  scheint  mir  alles  das  noch  nicht  zu  beweisen,  daß  wir 
alle  Verba  auf  nojne  von  nu-nov-nte  ableiten  sollen.  Es  kann  auch 
ohne  den  bewußten  Zusammenhang  mit  den  uralten  nau-nu-nv,  die 
Analogie  nach  oyMiBeiit,  cüKp-iBeiit,  THOBeiix,  mtBeH-B,  die  selbst 
ihrerseits  Neubildungen  waren  neben  oy-ji-HTi.,  cLKpiiTi.,  ^oyTt,  mnxT., 
um  sich  gegriffen  haben.  Denn  es  ist  doch  zu  beachten,  daß  weder  die 
nordwestslavischen  noch  südwestslavischen  Sprachen  derartige  Parti- 
zipien oder  Substantiva  verbalia  kennen.  Im  Serbokroatischen  haben 
wir  allerdings  Neubildungen:  dobivcfi  (neben  älterem  dobit),  odj'even 
(neben  älterem  odj'et),  satrven  (neben  älterem  safrt),  allein  ein  ;i,pL3iio- 
BeHHie,  npHKociioBeiiHK,  AtxHOBeHHie  u.  ä.  sind  im  Altserbischen  fremde, 
literarische  Ausdrücke. 

Bekanntlich  nimmt  die  Präsensbildung  auf  no/ne  in  den  modernen 
slavischen  Sprachen  immer  mehr  Oberhand.  Namentlich  die  perfektiven 
Verba  I.  Klasse  lieben  den  üebergang  in  die  ne-K\a.sse  zu  bewerk- 
stelligen. Statt  CÄA&-CAAemH  findet  man  sedmt-sednem-eef[,Ri,,  darnach 
dann  teilweise  schon  im  Infinitiv,  c.  sediiouti.  Statt  na;i;&-najeiuH  sagt 
man  padnu-padnem^  c.  schon  im  Infinitiv  padnouti.  Man  sagt  nur 
pHsahnii-prisegnem^  c.  schon  im  Infinitiv  prisahnouti^  serbokr.  priseci 
und  prisegnuti.  Selbst  imperfektivisch  sagt  man  im  Polnischen  heute 
nur  rosne-rostiiesz-rosnqc  statt  des  älteren  roste-rosc.  Ebenso  nur 
kwitnqc-kwitnie^  altpoln.  kwüc  (vergl.  Flor.  ps.  71.  16  kwiscz  h^d^^ 
ib.  91.  12  kwiscz  b(^dze).  Für  das  alte  BjiaeTH-BJiaA&  c.  nur  nlädnouti- 
vlädnu.  Für  alte,  lafni  (auch  lehu)-lezes  jetzt  nur  lehnouti- lehne i^ 
serbokr.  legnem  aber  Inf.  noch  Zec^,  so  auch  poln.  legne  neben  lec.  Für 
jiÄKA-JiAmTH  altböhm.  leci-laku  (auch  leku)^  jetzt  lehiouti-leknei^  poln. 
leknq^  doch  noch  zlqkl  sie.  Für  npAmxH-npArA  altb.  prieci-pralm 
[prezes]  jetzt  zaprahnouti,  südsl.  zaprezes  und  zapregnes^  Inf.  zapre.ci 
und  zupregnuti.   Für  c.  zeci-zhu  sagt  man  jetzt  in  der  Zusammensetzung 


Einige  Streitfragen.  27 

roznu  (statt  rozlmu)^  poln.  ieV,  zaiegl  aber  zazegne  u.s.w.  Erwähnens- 
wert sind  die  Neubildungen  topniec  für  topnqc^  pachniec  füT  pachncic, 
zolhiieö  für  zolknqc  wegen  der  intransitiv-passiven  Bedeutung.  Alle 
diese  Erscheinungen,  die  uns  deutlich  den  Weg  zeigen,  auf  welchem 
sich  die  slavischen  Sprachen  bewegten,  wobei  deutlich  der  Infinitiv  dem 
Einfluß  des  Präsens  unterliegt,  sprechen  für  meine  Deutung  auch  des 
Infinitivs  auf -häth,  mag  sie  noch  so  einfach  und  natürlich  sein,  wes- 
wegen sie  auch  nicht  imponirt. 

8.   Nochmals  das  slavische  Imperfektum. 

Für  den  Ausdruck  des  Präteritums  hat  die  kirchenslavische  Sprache 
von  Be^Ä  nicht  weniger  als  vier  verschiedene  Formen:  1.  Be^t-BeA^, 
den  sogenannten  einfachen  Aorist,  2.  Bict-BicA,  den  ^-Aorist  älterer 
Bildung,  3.  BeAOX'B-Be;i;omA,  den  s-cA-Aorist  jüngerer  Bildung,  4.  bb- 
Aiax'B-BeA^axÄ,  das  Imperfekt.  Während  man  bbä'b  und  B^ct  ganz 
gut  erklären  kann,  muß  man  BeAOxx  als  eine  nach  Vorbild  von  BSÄont- 
BeAOMX  eingetretene  Neubildung  BOAOxoB'S-BeAOxoM'B  mit  Erweiterung 
des  Themavokals  o  über  alle  Personen  des  Duals  und  Plurals  auffassen, 
so  daß  man  neben  einem  Ai.Jax'B-A^jiaxoBi-A'fe-iacTa-AiJaxoMt-A'feJiaeTe- 
Ä'^JiamÄ  ein  BeAOXT)-Be;i;oxoB§-BeÄOCTa-Be;ioxoM'L-Be;iocTe-Be;i;om5.  be- 
kam. Diese  Neubildung  setzt  neben  BSAt-Btci.  schon  die  Aoriste,  \\ie 
Kpraxt-Ä^xx-^tBarH  AXTB-oyMix'B-ropixx-  xBajEHxt-  ÄiJlaxt  -  KoynoBaxt 
voraus.  Die  Vorliebe  der  slavischen  Sprachen  für  die  vokalisch  aus- 
lautenden Stämme  schuf  zu  b'EcT)  ein  Be^iioxi.,  zu  Bieoni  ein  Be^oxoBi,  zu 
BicoMi.  ein  Be;ioxoMX.  Merkwürdig,  die  Sprache  wollte  für  die  2.  uud 
3.  Pers.  sing,  nicht  nach  der  1.  Pers.  sg.  so  fortsetzen:  *BeAO  *BeA0, 
sondern  blieb  bei  dem  schon  von  Be;i,'i>  vorhandenen  neAe-Be^e.  Daß 
diese  Formen  dem  einfachen  Aorist  angehören  und  nicht  etwa  als 
vede-s-s  und  vede-s-t  zu  deuten  sind,  das  zeigt  das  Nichtvorhandensein 
der  2.  u.  3.  Pers.  sing,  von  Bicx  oder  pix-L.  Bezüglich  des  einfachen 
Aoristes  lese  ich  in  der  Abhandlung  Vondrjik's  in  Bezzenberger's  Bei- 
trägen XXIX,  S.  299,  es  könne  »kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  im 
Slavischen  einmal  der  sogenannte  einfache  Aorist,  wie  z.  B.  BeATb-seAe 
ursprünglich,  so  weit  er  von  durativen  Verben  gebildet  war,  als  ein  In- 
junktiv  die  Bedeutung  des  Imperfektums  hatte«.  Ich  möchte  diese  an- 
geblich keinem  Zweifel  unterliegende  Behauptung  dennoch  stark  be- 
zweifeln, da  ich  wirklich  keinen  Grund  einsehe,  warum  die  Sprache  bei 
der  Aufrechterhaltung  derselben  Form  von  der  einmal  vorhanden  ge- 


28  V.  Jagic, 

wesenen  Funktion  derselben  als  Imperfekt  abgegangen  wäre.  Ja  das  Auf- 
kommen neben  der  aor.  Form  MiCL  noch  des  Aor.  bgaoxx  hätte  noch  mehr 
die  Sprache  bezüglich  der  Form  ße^i  als  Imperfekt  bestärken  sollen,  wenn 
das  wirklich  einmal  so,  wie  es  Prof.  Vondnik  wünscht,  schon  vorhan- 
den gewesen  wäre.  Was  sehen  wir  aber?  Luc.  4.  0  steht  bbac  h  für 
den  griechischen  Aorist  i]yayev  avröv,  Matth.  17.  16  entspricht  dem 
H  IIB  Movfii  ero  HCii,tjiHTM  der  griech.  Aorist  ovy.  rjövvrjd-r]aüv.  Ebenso 
steht  xeye  für  tÖQaiiBV  Marc.  5.  6,  Luc.  24.  12,  xene  Jo.  19.  1  für 
eiiaoriytoaep.  Das  sieht  mir  nicht  nach  dem  Rezepte  Vondräk's  ge- 
macht, zumal  man  daneben  als  Doublette  die  Formen  xicxe  töoa^iov 
Matth.  28.  8,  b'£ca  vjayop  Luc.  4.  29,  22.  54,  23.  1  findet.  Man  wird 
doch  nicht  der  Sprache  zumuten  wollen,  daß  sie  mit  ihren  Formen  auf 
der  Leiter  der  Tempora  bald  nach  oben,  bald  nach  unten  sich  bewegte. 
Wenn  seAi»  je  ein  Imperfekt  gewesen  wäre,  so  hätte  die  Sprache  wegen 
BicL  und  üeAoxx  doppelten  Grund  gehabt,  bei  jener  Funktion  der 
Form  BSAt  zu  verbleiben.  Die  neue  Form  des  Imperfektes,  Be^^axTi- 
BBA^xi.,  konnte  nur  gegenüber  BicL  und  BeAOXx  eine  besondere  Gel- 
tung erhalten,  und  jene  zwei  Formen  in  der  Aoristanwendung  nur  be- 
stärken. Daß  dieses  neue  Imperfektum  auch  der  alten  Form  bba^  als 
einstigem  Imperfektum  das  Lebenslicht  hätte  ausblasen  können,  ist  wohl 
kaum  anzunehmen. 

Wie  ist  die  Imperfektform  BBAiax'L  zu  Stande  gekommen?  Ich 
hatte  in  dem  Anhang  zu  Codex  Marianus  an  eine  dem  altind.  Prekativ 
entsprechende  Bildung  gedacht  {deyäsam,  dliei/äsam),  also  das  Imper- 
fekt für  einen  sibilantischen  Optativ-Imperativ  erklärt,  wobei  ich,  um 
den  Parallelismus  zum  slavischen  Imperativ-Optativ  zu  gewinnen,  bei 
dieser  der  Erklärung  bedürftigen  Form  auf  die  Beispiele  ans  der  alt- 
kroatischen Sprache,  wie  mozecJn^  tececln^  ein  großes  Gewicht  legte. 
Auch  die  Anwendung  des  Imperfektes  in  den  hypothetischen  Sätzen 
wurde  zur  Stütze  der  subjunktivischen  Bedeutung  des  Imperfektes 
herangezogen.  Ich  gestehe,  die  altkroatischen  Formen  mit  c  z  vor  -ixx 
(statt  6-z]  noch  jetzt  als  eine  rätselhafte  Erscheinung  nicht  recht  zu 
verstehen.  Aber  die  Priorität  des  altslovenischen  Imperfektes  ne^iaaxt, 
Mo^aaxT)  befürwortet  die  altböhmische  Sprache,  wo  man  pebiech^  ne- 
moziechu  (wenn  man  die  Orthographie  -zyeffe,  -zyffe^  -zyechu  richtig 
mit  z  transskribirt)  u.s.  w.  nachweisen  kann;  ebenso  die  ober-  und 
iiiederlausitzserbische  Sprache,  wo  man  mozach,  cedech,  pjedech  findet 
(Mucke  §  261).    Auch  die  subjunktive  Anwendung  gewisser  Fälle  des 


Einige  Streitfragen.  29 

Imperfektes  muß  doch  erst  als  eine  weitere  Ableitung  aus  der  ursprüng- 
lichen Bedeutung  der  Dauer  in  der  Vergangenheit  angesehen  werden. 
Ich  habe  daher  meinen  Versuch  schon  seit  Jahren  aufgegeben.  In  neuer 
Zeit  hat  J.  Horäk  in  Listy  filologicke  Bd.  29,  S.232 — 23S  in  der  Studie 
»Ke  stupnoväni  ve  slovanstine  a  litevstinetf  auch  mit  dem  slav,  Imper- 
fekt sich  beschäftigt.  Er  geht  von  den  Stämmen  auf  -e  aus  und  meint, 
BH^fe'B  habe  in  Beziehung  zu  snacAA  gleich  die  Bedeutung  des  Aoristes 
erhalten,  iiecixi.  aber  in  Beziehung  zu  Hici.,  iiecoxi.  sei  als  Imperfekt 
aufgetreten.  Später  sei  noch  der  Unterschied  in  der  2.  u.  3.  Pers.  sing, 
hinzugetreten,  d.  h.  necixT.  habe  iiecj&me  entwickelt,  während  bha^xt. 
als  Aor.  bei  BiiAfi  blieb.  Parallel  zu  neeixt,  meint  er,  sei  aus  oyMiie 
ein  oyMiHX'L,  aus  A^-iaie  ein  A^JtaHxt  geworden,  die  Form  HeciMxi. 
faßt  er  als  spätere  Analogiebildung  auf.  Prof.  Vondräk,  der  auch  dem 
Imperfekt  einen  Erklärungsversuch  in  Bezz.  Beitr.  XXIX  widmet, 
nennt  diese  Erklärung  Horäk's  nicht  recht  wahrscheinlich.  Er  sagt, 
»wir  begreifen  absolut  nicht,  warum  gerade  die  Form  nesScJn  zu  der 
Bedeutung  eines  Imperfektums  kam,  trotzdem  ihr  ein  echter  Aorist  vi- 
däch%^  trhp&clvh  zur  Seite  stand«.  »Auch  die  thematische  Flexion 
tauche  hier  wie  ein  deus  ex  machina  auf«.  Ich  bin  mit  der  Erklärung 
Horak's  nicht  ganz  einverstanden,  allein  die  Einwendungen  Vondräk's 
ließen  sich  nach  meinem  Dafürhalten  leicht  beseitigen.  Ein  bha'£tii 
oder  TpLH'iTH  hat  überhaupt  zwei  lautabstufende  Themen,  BHAt-BH^ii, 
rphn^-Tpinn,  also  entsprechend  den  Aoristen  ßtct-pfex  wurden  ganz 
analog  auch  Aoriste:  Bii^tx^,  Tpfcnixi.,  A'^Jiaxt,  xBajnixt  gebildet. 
Das  Verbum  iiecA  hat  aber  im  Infinitiv  nee-,  im  Präsens  iieco/e  als 
Stamm.  Die  Bildung  eines  dritten  Stammes  auf  -Ii  konnte  also  sehr  gut 
gegenüber  irfecL  und  iiecoxi.  die  Bedeutung  des  Imperfektums  anneh- 
men. Auch  von  der  thematischen  Flexion  auf  -me,  -meTa-mexe-xm 
kann  man  angesichts  der  1.  Pers.  dual,  und  1.  Pers.  pl.  auf  coBi-xoBi, 
coM'L-xoM'B  doch  nicht  wie  von  einem  deus  ex  machina  sprechen !  Im 
Gegenteil,  ich  halte  dafür,  daß  uns  Prof.  Vondräk  für  seine  Behauptung, 
HeeixTE.  sei  ursprünglich  Aorist  gewesen,  den  Beweis  schuldig  geblieben 
ist.  Es  ist  keine  sichere  Beweisführung,  von  Verben  so  allgemeiner  Be- 
deutung wie  6ixTi-xoTix%  auszugehen,  aber  selbst  da  bin  ich  zn  an- 
deren Resultaten  gekommen  als  Prof.  Vondräk,  wovon  weiter  unten. 
Dagegen  für  iiec'LxT^-BeA'üx'L  eine  ältere  Aoristbedentung  nachzuweisen, 
ist  Niemand  im  Stande,  wenn  man  nicht  etwa  vom  Altböhmischen  aus- 
gehen will;  dann  müßte  man  aber  den  Aorist  necoxi.-BeAOX'i>  zuerst 


30  V.  Jagiö, 

fürs  Altkirchenslaviscbe  in  Abrede  stellen.  Prof.  Vondnik  gebt  also 
von  zwei  nicbt  erweislichen  Bebauptungen  aus:  1)  daß  BCÄt  Imper- 
fektum, 2)  daß  BeA'BxT,  Aorist  war.  Er  stellt  die  beiden  Formen  in 
Correlation :  ueAt  Imperfekt :  ueji.tx'h  Aorist.  Das  nenne  ich,  bitte  mich 
zu  entschuldigen,  verkehrte  Welt.  Wo  die  ältesten  feinfühligsten  Denk- 
mäler des  Altslovenischen  gerade  umgekehrt  neAi.  als  Aorist  und  se- 
Ä^xt,  eigentlich  BeAiaxx  (zwischen  beiden  Formen  ist  kein  Bedeutungs- 
unterschied  nachweisbar)  als  Imperfekt  fungieren  lassen.  Ich  weiß,  daß 
Prof.Vondnik  bei  seinem  »Aorist«  BeAfei  an  *Bep.i  als  2.  und  3.  Pers. 
sing,  denkt.  Aber  dadurch,  daß  er  unerwiesene  Behauptungen  häuft, 
werden  sie  nicht  beweiskräftiger.  Einen  »Aorist«  bga^xt.  gibt  es  nicht, 
die  Form  *Befl,i  existiert  überhaupt  nicht. 

Folgt  man  der  Sprache  nach  ihren  ältesten  für  uns  erreichbaren 
Belegen  —  und  diese  Methode  halte  ich  für  meinen  Teil  noch  immer 
für  sicherer  als  willkürliche  Aufstellung  von  nicht  belegbaren  Sprach- 
formen mit  Sternchen  — ,  so  nimmt  man  wahr,  daß  sie  gerade  bei  glei- 
chen Themen  sehr  fein  den  Aorist  vom  Imperfekt  durch  die  Personal- 
endungen unterscheidet.  Ich  will  das  durch  Beispiele  illustrieren.  Von 
dem  Verbum  öcji^th  lautet  öojtixx  als  Aorist  für  ^od-evrjaa  Matth. 
25.  36,  öo.ii  für  rjaS^errjas  Philipp.  2.  26.  27,  dagegen  ist  öojiiame  für 
riod-EVEi  angewendet  Jo.  4.  46,  11.  2.  Für  den  griech.  Aorist  XQ^^^^ 
eaxev  liest  man  Marc.  2.  25  xpiöoBa,  aber  xpiöoBaame  für  xQeiav  si- 
X€V  Jo.  2. 25.  Den  Aorist  Irölf-irjoev  übersetzte  man  cxMi  Matth.  22. 46, 
das  Imperfektum  IroX^a  durch  CLMiame  Marc.  12.  34,  Jo.  21.  12. 
Für  €iJ,aQTVQr]aev  steht  ciB^A^TejibeTBOBa  (öfters  so),  für  kfxaQrvQSi 
CBB^A'^TejitcTBOBaaine  Jo.  12.  17.  Für  rjyiovoav  liest  man  cjiKuiauiA 
Matth.  13,  15  und  öfters,  dagegen  für  7]zovov  cjrHmaax/ii  Marc.  6.  55. 
Ebenso  für  rj-aovoev  cjuaiua  Luc.  9. 7,  für  rj'/.ovev  cJiKuiaauie  Luc.  10. 39. 
Von  Verben,  die  nach  unserem  heutigen  Sprachgefühl  einfach  dauernd 
sind,  führen  aoristische  Formen  auch  die  Bedeutung  der  griechischen 
Aoriste.  Ich  erwähnte  bereits  oben  Be^e,  Tene,  Teqe,  man  vergl.  noch 
rtHafflÄ  H  Marc.  1.36  :  '/.axeduo'^av,  u.'feHHmÄ  Matth. 27.9  :  erifii^aavTOj 
oyiiH  CA  Matth.  27.  57  :  li^iad-rjxevoeVj  cpaMH  Matth.  22.  34  :  icpif-tm- 
asr,  CBATH  Jo.  10.  36  :  fjylaaev.  Das  Verbum  po^HTH  ist  immer  als 
po^H  aoristisch  eyevvrjoev,  po^nmA  eyevvrjoav,  po^H  cä  kysvvrj-9-r],  po- 
ÄHUiA  CA  eyevvrid-riGav.  Ebenso  npocn  fjTrjoaTO,  npocHUiA  STtrjQioTri- 
oav.  Vergl.  noch  njAca  w^;(?Jcrc<ro  Matth.  14.  6,  oder  Matth.  11.  17  : 
nncKaxoMt,  ne  naAcacxe,   n^iaKaxoMi.,  ne  pHAacxe  :  rjvlr]aai^ev^  ovv. 


Einige  Streitfragen.  3 1 

djQxrjf^aod-e,  €d^Qrjvr]aaf.iev,  ovv.  h.öipaad-e.  Ebenso  Luc.  7.  32.  Das 
einfache  iiece  Matth.  14.  11  entspricht  dem  griechischen  i]V£yK,ev.  Für 
edo^av  lesen  wir  Jo.  11,  13  MmiiuA,  und  für  €Öö-/.ovv  Luc.  24.  37,  Jo. 
13.  29,  Mi>Hiax&.  Ebenso  für  tßalov  y.lfiQOV  Jo.  19.24  MexaniÄ  atpi- 
6hu  und  Luc.  23.  34  offenbar  nach  der  stark  verbreiteten  Lesart  eßa'K- 
Xov  Mexaaxiii  atpiönm,  Sav.  knig.  hat  auch  hier  nach  der  Lesart  eßalov 
MexauiA.  Für  iKaleaev  Luc.  14. 16  steht  3T.Ba,  und  Jo.  7.37  für  £/.Qa- 
Cev  stBaame,  Matth.  21.9  ey.oaCov  3'i.Baaxrü,  Jo.  12,  13  i-/.qavyaLov 
stBaaxÄ.  Das  griechische  ed-avfiaasv  ist  ;;hbh  cä  Matth.  8.  10,  Marc. 
6.  6,  15.  44,  Luc.  11.  38,  so  auch  ;i;HBHmÄ  cä  e^avf.iaaav  Matth.  9.  33, 
21.  20,  22.  22,  Luc.  2.  18,  dagegen  ÄHBjiiaxÄ  cä  lB,eTclriOGOvro  Matth. 
19.  25,  Marc.  1.  22,  6.  2,  7.  37,  10,  26,  e&avua^ov  Marc.  5,  20,  Luc. 
4.  22,  9.  14  (mit  var.  id-av(.iaaav)^  Jo.  7.  15,  i^ioxavxo  Marc.  6,  51. 
Auch  die  kürzere  Form  begegnet  in  derselben  imperfektivischen  Be- 
deutung: AHBJIMX&  CA  l^s-/.lrioaovTO  Matth,  7,  28,  22.  23,  l^iaravro 
Matth.  12.  23. 

Aus  diesen  Beispielen,  wobei  lauter  einfache  Verba  ohne  Zusam- 
mensetzung mit  Präpositionen  ausgewählt  wurden,  solche,  die  nach  un- 
serem heutigen  Sprachgefühl  als  einfach  dauernde  Verba  gelten,  er- 
sehen wir,  daß  mit  wunderbarer  Regelmäßigkeit  die  Aoristformen  auch 
im  griechischen  Text  die  Aoriste  als  Vorlage  hatten,  dagegen  die  Im- 
perfektivformen auch  im  griechischen  Text  die  Imperfekte.  Wir  kennen 
jetzt  schon  zu  gut  die  älteste  Evangelienübersetzung,  als  daß  wir  be- 
haupten dürften,  diese  Unterscheidung  sei  mechanisch  vor  sich  ge- 
gangen, ohne  daß  das  Sprachgefühl  des  Übersetzers  mitgespielt  hätte. 
Nein,  den  ersten  Impuls  gab  ganz  gewiß  das  Sprachgefühl,  welches  da- 
mals dem  Übersetzer  für  ijvey/.ev  die  einfache  Form  iiece  als  ausrei- 
chend in  die  Feder  diktierte.  Ebenso  wie  es  ihm  für  ad-a'Ouaoev  das 
einfache  ahbh  cä  eingab.  Diese  Tatsachen,  glaub'  ich,  müssen  wir  hoch- 
achten. Sie  beweisen,  daß  sich  unser  heutiges  Sprachgefühl  mit  dem 
alten  nicht  gerade  immer  deckt.  Wenn  aber  alles  das  richtig  ist,  wenn 
man  diese  Logik  der  Tatsachen  zugeben  muß,  dann  meine  ich  nicht  irre 
zu  gehen,  wenn  ich  der  äußeren  Form  des  Imperfektes  großes  Gewicht 
beilege  und  sie  nicht  so  ohne  weiteres  aus  einer  Analogiebildung  her- 
vorgegangen sein  lasse.  Ich  kann  mich  daher  mit  der  leichthin  vorge- 
tragenen Entstehungsgeschichte  des  Imperfektes  nach  Vondräk  nie  und 
nimmer  einverstanden  erklären.  Er  sagt:  »Die  begriffliche  Verwandt- 
schaft führte  eine  formale  Beeinflussung  herbei.    Nach  ved^^  vede,  vedc 


32  V.  Jagid, 

wurde  dSlacliij^  cUlci^  dUa  zu  ^Ulach^^  dUa^e^  delase  umgeformt,  so  äaß 
jetzt  auch  alle  Formen  des  Singulars  eine  gleiche  Anzahl  von  Silben 
bekamen«.  Wenn  ich  richtig  verstehe,  so  will  uns  Prof.  Vondräk  glaub- 
haft machen,  daß  das  »Imperfektum«  (!)  Be^Tj-BeAe  durch  »begriffliche 
Verwandtschaft«  (I)  auf  ^ijiaxi-Ai-^a  auch  die  formale  Beeinflussung  (?) 
so  ausgeübt  habe,  daß  aus  A^-^a  nacli  Be^e  die  Form  A^-iame  entstand. 
Ich  wäre  begierig  zu  erfahren,  auf  wessen  Zustimmung  der  Verfasser 
bei  einer  so  ganz  und  gar  unwahrscheinlichen  Kombination  rechnet? 
Daß  eine  Endung,  wie  -chq^  aus  dem  Imperfekt  in  den  Aorist  eindringen 
kann,  das  findet  Jedermann  begreiflich.  Sie  war  ja  gegeben  und 
brauchte  nur  ihr  Anwendungsbereich  auszudehnen.  Allein  ein  BBA'iame 
aus  BBAe  durch  »formale  Beeinflussung«  abzuleiten,  das  geht  doch  wohl 
nicht.    Solche  Analogieübertragungen  sind  geradezu  unerhört. 

Prof.  Vondräk  gibt  selbst  zu,  daß  die  ältesten,  besterhaltenen 
altkirchenslavischen  Texte  die  Formen  des  Imperfektes  BeA'^axi.,  A'fe- 
itaaxt,  xBajiHaxi.  etc.  entschieden  bevorzugen,  und  doch  ignoriert  er 
diese  hochwichtige  sprachliche  Tatsache,  seine  Entstehungskombinatio- 
nen zwingen  ihn,  von  A'fe-aaxi>,  also  auch  von  BeA'Sxi)  auszugehen,  weil 
er  »das  Imperfektum  als  einen  ehemaligen  Aorist  auffaßt«.  (Das  sind 
seine  Worte.)  Er  läßt  die  Sprache  mit  den  Formen  ordentlich  herum- 
tanzen. Zuerst  war  milovach  Aorist  und  Imperfekt,  dann  differenzirte 
sich  milovase  als  Imperfekt  von  milova  als  Aorist.  Weiter  heißt  es  so : 
»Es  mußte  sich  offenbar  das  Bestreben  geltend  machen,  auch  in  den 
ersten  Personen  einen  formalen  Unterschied  zwischen  den  Imperfekt- 
und  Aoristformen  herbeizuführen,  wo  sie  sonst  durch  den  Stamm  nicht 
auseinandergehalten  wurden«.  Also  bei  Hscixx  war  das  nicht  notwen- 
dig, wohl  aber  bei  milovacJa.  Nun  sieht  er  sich  nach  einem  Vorbild 
dafür  um,  um  doch  auch  milovaach^  zu  gewinnen.  Dieses  bieten  ihm 
die  Imperfekte  um^achb^  dSlaach^^  die  er  als  »durch  den  Anschluß  an 
den  Präsensstamm  neu  entstandene  Formen«  bezeichnet  (S.  301/2), 
während  er  früher  (S.  300)  sagte,  daß  »ursprünglich  nicht  der  Präsens- 
stamm zugrunde  gelegt  wurde«.  Also  ursprünglich  nicht,  nachher  aber 
doch,  denn  »das  Bestreben,  die  Imperfektformen  von  jenen  des  Aoristes 
genau  zu  scheiden,  brachte  es  mit  sich,  daß  «rstere  allmählich  auch  vom 
Präsensstamme  gebildet  wurden».  Zu  »Anknüpfungspunkten«  rechnet 
er  nbHixi.,  das  von  ihm  wegen  leichterer  Aussprechbarkeit  aus  *pnrdch-b 
abgeleitet  wird,  so  hören  wir  noch  von  solchen  Formen  (allerdings  be- 
sternten) wie  mrrScJvh^  hrraclvb^  gnnaclvh.    Nicht  alles  ist  mir  in  dieser 


Einige  Streitfragen  33 

Darstellung  verständlich,  aber  so  viel  sehe  ich,  daß  der  Verf.  umSach 
aus  umSjSch  und  selbst  dilaacJn  aus  dUaj^ch^  ableitet,  d.  h.  bei  diesen 
Verben  von  dem  durch  Dehnung  erweiterten  Präsensstamm  ausgeht. 

Ich  gehe  in  Übereinstimmung  mit  den  ältesten  Sprachdenkmälern 
des  Altkirchenslavischen  von  dem  Imperfektum  Be^^axt,  Heciaxi.,  ro- 
piaxt,  Ä^-iaax'i.  aus.  Die  zusammengezogenen  Formen  bbä'Sx'l,  Hecix-i, 
ropfet,  A^jaxT.  sind  leichter  aus  den  längeren  zu  erklären,  als  das  um- 
gekehrte. Die  Behauptung,  daß  das  oberlausitzserbische  njesech  nicht 
aus  Heciax'B  hätte  entstehen  können  (S.  302),  verstehe  ich  nicht,  da 
auch  Mucke  an  eine  solche  Zusammenziehung  denkt.  Die  Silbe  -ach^ 
scheint  mir  beim  Imperfektum  sehr  wesentlich  zu  sein  und  ich  möchte 
darin  eine  an  den  vorausgehenden,  auf  -i  oder  -a  auslautenden  Stamm 
angelehnte  und  assimilierte  präteritale  Form  des  Verbums  bcmb  er- 
blicken, also  ungefähr  etwas  dem  lateinischen  eram  nahe  kommendes. 
Diese  Erklärung  ist  nicht  neu,  schon  Job.  Schmidt  und  A.  Leskien  haben 
sie  aufgestellt  und  vorgetragen.  Ich  möchte  nur  gerade  mit  Hinweis 
auf  das  lateinische  eram  nicht  von  einem  augmentierten  *ech^  aus- 
gehen, sondern  von  *ech^^  da  ja  auch  aus  Heet-ex'B,  nnTa-ex'B,  KoynoBa- 
ext  die  assimilierten  Formen  Heciax'B,  nnxaaxx,  Koynosaax'L  hervor- 
gehen können.  Der  Stamm  selbst,  wenn  er  nicht  im  Infinitiv  auf  -a 
ausgeht,  wie  bei  3iia-,  A'l^.ia-,  nfcca-,  a'^&h-,  Kpniia-,  KoynoBa— ,  oder  auf 
-'L,  wie  bei  CLuii-,  oy>ii-,  ropli-,  mußte  zu  -'S,  nach  Vokalen  zu  -h,  er- 
weitert werden,  also  necli-,  6hh-,  xeajiH-,  d.  h.  6hh  ist  ans  öni,  xBajiH 
aus  XBaJii'6  hervorgegangen.  Was  diesen  thematischen  Auslaut  auf  -e 
oder  -ä  anbelangt,  so  haben  schon  andere  auf  die  3.  Pers.  sing,  des 
litauischen  Präteritums  suko  (von  sukti)  und  auf  7iesze,  icedv,  ede  (von 
neszti,  westi,  esfi)  hingewiesen.  Bei  iieciax'B  denkt  man  ebenso  an 
legeham,  wie  bei  A'tJiaax'B  an  amä-bam^  bei  c^A'^axT.  an  sedeham  (vergl. 
Brugmann's  Grundriß  §  899,  II.  1267).  Was  sich  hinter  diesem  Stamm 
auf  -e  und  -ä  oder  -Ja  verbirgt  —  ein  Nominalelement,  ein  Infinitiv  ?  — , 
das  darf  ich  füglich  der  vergleichenden  Grammatik  überlassen,  die  bis- 
jetzt  nichts  sicheres  zu  Wege  gebracht  hat.  Ich  will  nur  die  Vorzüge 
dieser  Erklärung  kurz  berühren:  1)  wird  sie  den  beglaubigt  älteren 
Formen  des  Imperfektes  gerecht;  2)  ist  sie  nicht  gezwungen,  zu  höchst 
unwahrscheinlichen  Analogieübertragungen  Zuflucht  zu  nehmen; 
3)  braucht  sie  keine  gewaltsamen  Sprünge  aus  dem  Imperfektum  in  den 
Aorist  und  umgekehrt  zu  machen;  4)  knüpft  sie  an  das  Litauische  und 
Lateinische  in  passender  Weise  an.     Mau  darf  natürlich  nicht   auch 

Archiv  für  slavisclie  Philologie.    XXVIII.  3 


34  V.  Jagid, 

einen  heikligen  Punkt  dieser  Erklärung  ganz  mit  Stillschweigen  über- 
gehen, ich  meine  die  Annahme  einer  5-Form  des  Präteritums  von  ecMh, 
die  im  slavischen  und  selbst  lituslavischen  Sonderleben  nicht  nachgewie- 
sen werden  kann.  Allein  neben  einem  äsam,  rja-rjv  und  eram  darf  man 
ein  *es^  (nachher  *ech^)J  *ese  (nachher  *eche-eSe)  u.s.w.  ohne  große 
Kühnheit  der  Phantasie  als  einmal  vorhanden  gewesen  voraussetzen. 
Es  mag  durch  öiax'B-ö'Lame  verdrängt  worden  sein,  wie  der  Infinitiv 
und  das  Futurum  durch  die  Formen  des  Stammes  fjii-{j7,  verdrängt 
worden  sind.  Bei  ö'üxi.-öiax'L  gehe  ich  selbstverständlich  ebenfalls 
von  der  Form  Ö'feaxi  aus,  weil  der  echte  Aorist  ßtixt  lautet.  Daß 
neben  öiaxi.  die  zusammengezogene  Form  ö^xt.  nach  der  Analogie  der 
Verba  wie  BHA'txTj-BHAi  und  BHA^axii-BHAiaine  auch  die  kürzere, 
aoristische,  Konjugation  annahm,  das  fällt  am  Ende  nicht  sehr  auf,  zu- 
mal bei  einem  häufig  gebrauchten  Worte.  Selbstverständlich  geht  dann 
die  Konjugation  durch  alle  Personen  und  Zahlen  doppelreihig  fort,  also: 
öixt-öiaxi.,  öi-ßiame,  öixoßii-öiaxoBi,  öicTe-ö'SameTe,  6i&xoMX- 
öiaxoM'L,  6imÄ-6'feax&.  Prof.Vondräk  erklärt  nach  seiner  Kombination 
t'^'K.T,  für  den  Aorist,  legt  mehr  Gewicht  auf  die  zwei  Beispiele  (Luc.  13. 
2,  4),  wo  dem  öimA  griechisch  lyivovTO  zur  Seite  steht,  als  auf  die 
sieben  (nach  Vostokov  zum  Ostrom.  Evangelium)  oder  zehn  Beispiele 
(nach  meinem  Glossar  zu  Marianus),  wo  öimA  nichts  weiter  ist  als  das 
griechische  rjoav.  Die  Form  6t  für  r/i/  wird  öfters  gebraucht  in  dem 
Evangel.  Text  als  öiame  für  dasselbe  fiv.  Für  die  1.  Pers.  sing,  rn^iriv 
fand  ich  siebenmal  ö^xt,  nicht  ein  einziges  ötaxi.  Und  doch  ist  im 
Plural  ö'feaxdi  viel  häufiger  für  iioav  als  öimA.  Dieser  Gebrauch  bald 
der  längeren  bald  der  kürzeren  Form  immer  für  dasselbe  griechische 
^v-i][-irjv-fjaav  spricht  doch  nicht  für  die  ursprüngliche  aoristische  und 
imperfektivische  Auseinanderhaltung  der  Formen. 

Und  zuletzt  wie  steht  es  mit  dem  Verbum  xot^th?  Ich  finde  es 
für  TJd-slep,  zumal  in  den  negativen  Sätzen  oux  rjd-eXev  regelmäßig 
durch  He  xoTiame  ausgedrückt:  Matth.  18.  30,  27.  34,  Marc.  7.24, 
9.  30,  Luc.  15.  28,  18.  4.  13,  ebenso  hb  xoT^axA  ovk  ri&eXov  Matth. 
22.  3,  aber  auch  positiv  steht  es  für  7]&elev  (vi.  eCrjrsi)  xoTiame  h 
oyÖHTH  Marc.  6. 19,  oitov  7]d-elsg  HMoate  xoTiame  Jo.  21. 18,  ov  rji^e- 
lov  eroace  xoT^axA  Matth.  27.  15,  oaor  ij-9-eXov  bjeko  xoT^axA  Jo. 
6.  11,  vergl.  ib.  12,  7.  44,  auch  xot^xä  für  7]S^sXov  Jo.  16,  19.  Bei 
der  Wiedergabe  des  griechischen  Imperfektes  e[,ieXlov  steht  ebenfalls 
immer  im  Slavischen  das  Imperfekt.    Man  findet  aber  auch  xoxi  Marc. 


Einige  Streitfragen.  35 

3.  13,  6.  48,  aber  da  steht  auch  im  Griechischen  id-iXr^oeVy  und  Marc. 
9.  13  für  xoTiiuÄ  steht  in  der  griech.  Lesart,  die  gewiß  dem  slavischen 
Übersetzer  als  Vorlage  diente,  rjd^iXriaav. 

9.   Das  Futurum  des  Stammes  öh. 

Allgemein  ist  es  bekannt,  daß  die  slavische  Sprache  uns  sehr 
schwache  Spuren  des  5-Futurums  gerettet  hat,  während  dasselbe  Tem- 
pus im  Litauischen  von  allen  Verben  gebildet  werden  kann.  Ich  finde 
in  neuen  Lehrbüchern  die  schwachen  Reste  des  s-Futurums,  die  sich 
nur  in  der  Participialbildung  erhalten  haben,  nicht  richtig  beurteilt. 
Miklosich  sagt  (Vergl.  Gramm.  IIL  89):  »In  einigen  Denkmälern  finden 
wir  ein  Partie,  fut.  in  der  Form  öiamA  ÖramAmTH,  öumA  mit  der  Be- 
deutung ioöf-iBvog^  (.lü.Xtov,  y€v6f.i€vog;  6'muA  ist  eigentlich  bysjont, 
woraus  sich  ein  Indikativ  ÖHm^,  6'HmemH,  ÖHmext;  ÖHmesi,  öurneTa, 
ÖHmexe ;  öiameMt,  6'MuieTe,  Ö'muiat'b  erschließen  läßtc  Vondräk  sagt 
dasselbe  (S.  2 1 1)  Futurum  hätte  slavisch  bysq  2.  P.  byiesh  etc.  lauten 
müssen,  erhalten  habe  sich  nur  das  Participium  6'mmA.  neutr.  6'umax- 
mxere  th  (.isllor.  Auch  Leskien  •*  8.  159  führt  als  den  einzigen  Rest 
das  Part.  öiamA  neutr.  öiamÄiuTeie  zb  (jeXlop  an.  Alles  das  ist  nun 
aber  nicht  genau.  In  den  Reden  des  Gregorius  von  Nanzianz  finden  wir 
folgende  Participformen :  iOSy  ani;e  jih  6o  Bapmim  cä  caMT>  SHaMenmeMt 
H  ÖMmAmTG  oyTBpLAHmn,  108«:  Mtiii  fl,Si-jK.h  iiHiiimtHieie  a  6oy 
ÖMuiAmTere,  366;^:  a  ^poysHH  6 h m a m e e  npiac^e  oysiAima,  103  a: 
aKK  oynpaatiiAain;H  len  m^cto  h  hg  TpiöoyamA  ^jiojioöhm  h  ÖHmAu^H 
roptmH  OTT.  TptniHHH,  76«:  naue  ate  cb  MHpi>  npinoymaiomio  na- 
CTOAmHH  Kt  ÖTümAiniooyMoy,  87«:  cb  iiexoyAOM'L  npycoMt  o  ö-h- 
mAinHHuit,  358y:  H:Ke  OTt  ösman^aaro  niKa  npHAxoMt.  Diesen 
Beispielen  mit  a  oder  a  nach  m  stehen  zwei  gegenüber  mit  a:  354 (J: 
iie  aKii  HC  B'iA'i>uj,K)  6oy  ÖKuiAmaro,  366/:  aK-Bi  ei.  cAminiOTi  ci, 
ÖMUiAminiMH  CÄme.  Es  fragt  sich,  ob  die  letzten  Beispiele  richtig 
wiedergegeben  sind,  weil  der  Kodex  sonst  a  und  a  nicht  verwechselt. 
Der  Herausgeber  erwähnt  in  seiner  grammatischen  Analyse  (S.47)  aus- 
drücklich die  Stellen  354^  und  366/  unter  der  Form  des  Wortes  öu- 
mAU],GTe,  ohne  von  dem  befremdenden  Vokalwechsel  auch  nur  ein  Wort 
zu  sagen.  Die  Richtigkeit  der  Formen  mit  a  (=  russ.  a)  wird  durch 
die  Parallelen,  die  sich  aus  Gregorius  in  dem  Izbornik  Svjatoslava  vom 
J.  1073  nachweisen  lassen.    Da  lesen  wir  für  gr.  lOS«  im  Izborn.1073, 

3* 


36  V.  Jagic,  Einige  Streitfragen. 

151/152:  MH§  Aa^Kfc  ii^iHimBiieie  a  6oy  ötimaiuTeK  und  für  gr.  108/ 
ib.  152/?:  h  ßiimamere  oyxBbpMHuiH.  So  steht  auch  (nicht  aus  Gre- 
gorius)  im  Izborn.  1073.  159/:  Aa  oy>Ke  kahuom.  bt.  iieöximaiuTere 
oöoy^niBtH  CA  cyM-L  Hxt  TT,  >Ke  KT)  coymeMoy  6oy  bt>  HcxHHoy  npise- 
AOyTfc.  Auch  die  fein  geschriebene  Mineja  Putjatina  gibt  4^^:  öiimA- 
uiTHM'B,  die  ganze  Stelle  lautet:  napaK.3HTOBoy  th  öüaroA^Tb  HrepeMHie 
npHHMT)  BT>  ÖHinÄinTHMt  TH  ÖTäTHH  np^AHBtiio  naoyiH  CA.  An  der 
Richtigkeit  der  Partizipform  öi.imA-ö'LimAuiTH  kann  nicht  gezweifelt 
werden.  Dann  muß  aber  das  Futurum  nach  der  4.  Klasse  gehen, 
also :  ö-HiHÄ,  ÖKmEmH,  öhuihti.,  ÖHmnM'i,  ökiuhtb,  ö-MiuATt.  Das 
wird  aufs  genaueste  bestätigt  durch  das  litauische  Futurum,  wo  wir 
bekanntlich  haben  hüsiu-büs{i)-hüsiwa-büsita-hüsime-hüsite.  Das 
Litauische  also  und  das  Slavische  stimmen  auch  in  diesem  Detail  über- 
ein. Dasselbe  gilt  auch  für  das  Lettische,  wo  man  ebenfalls  Plur.  bü- 
sim,  büsit  sagt.  V.  J, 


Wortdentungen. 


1.  Asl.  sova  'noctua',  serb.  sova  'Eule,  Waldkauz',  slov.  sova 
'Nachteule',  cech.  sova,  poln.  sowa,  sorb.  sova,  russ.  sova  'Eule'  ver- 
binde ich  mit  abret.  couann  'noctua',  nbret.  kaouen,  kaouan  F.  'hihou', 
cymr.  cuan  F.  'an  owl,  rock  owl'. 

Aus  dem  Gallischen  stammt  spätlat.  cavannus  [cavanus]  'ulula': 
tristis  perspicua  sit  cum  perdice  cauannus  Poet. lat. min,  rec. 
Baehrens  V.  36219;  cauani  ulule  aues  Corp.  gl.  lat.  V.  353,  39; 
[ulula,  ullucus]  quam  auem  Galli  cauannum  nuncupant  Schol. 
Bern,  in  Buc.  VIIL  55,  s.  Loewe  Prodr,  416,  Goetz  Thes.  gl.  emend. 
L  194,  Holder  Alt-celt.  Sprachsch.  L  872,  Landgraf  ALL.  IX.  445. 
Das  Wort  ist  auch  ins  Roman,  übergegangen :  frz.  cJiouan  [chat-huant], 
picard.  cawan  u.s.w.  —  Das  Suffix  ist  echtkeltisch:  vgl,  mbret,  goelann, 
nbret.  gwelan  'mouette',  corn.  guilan  'alcedo',  cymr,  gwylan  F.  'a  gull, 
sea  mew',  air.  foilenn  'alcedo'  i). 

1)  Ob  frz.  milan  'Hühnergeier',  span.  milano,  ■gort. mtlhano  (zu  lattnilvus] 
dieses  kelt.  Vogelnamensufüx  übernommen  hat? 


Wortdeutungen.  37 

Slav.  sova  geht  also  auf  idg.  *kauä-  zurück.  —  Damit  verbindet 
Hirt  BB.  XXIV.  252  ahd.  hüwo  M.  'Eule'  (vgl.  ahd.  hüioila,  hiuwila 
F.  'ds.',  mhd.ÄtWew,  hiuweln  'heulen,  schreien',  ahd.  hiuimlön  'jubeln'). 

Die  Eule  ist  fast  immer  nach  ihrem  Geschrei  benannt.  Nun  haben 
bekanntlich  schallnachahmende  Lautkomplexe  einen  vielfach  schwan- 
kenden Lautbestand:  so  wechseln  häufig  r  und  /,  Labial  und  Guttural, 
Gutturale  verschiedener  Qualität  u.s.w.  ab,  und  zwar  ziehen 
sich  derartige  Varianten  häufig  durch  mehrere  Sprachfamilien  hin- 
durch 1).  Wir  haben  es  also  mit  uralten  lautähnlichen  Parallel  wür- 
ze In  zu  tun,  welche  in  den  Einzelsprachen  oder  bereits  in  proethnischer 
Zeit  sich  vielfach  gekreuzt  und  gegenseitig  beeinflußt  haben;  in  den 
wenigsten  Fällen  werden  die  Variationen  auf  rein  lautlichem  Wege 
(durch  Dissimilationen,  Assimilationen  u.dgl.)  zustande  gekommen  sein, 
und  zu  lautgeschichtlichen  Zwecken  sollten  derartige  Wörter  nur  mit 
der  größten  Vorsicht  in  Anspruch  genommen  werden,  eine  Regel,  wo- 
gegen nicht  selten  gefehlt  wird. 

So  bestehen  auch  in  unserem  Falle  Benennungen  der  Eule  oder 
anderer  durch  ihr  Geschrei  auffallenden  Vögel,  welche  auf  velarem  /c 
anlauten :  lit.  nakü-kova  'Nachteule'  oder  'Nachtrabe',  kövas  'Dohle', 
köna  und  kovä  'Saatkrähe'  2),  poln.  kawa^  kaivka,  slov.,  cech.  kavka 
'Dohle'  (asl.  Savüka^  serb.  davka  'ds.')  3),  vgl.  ai.  käuti  'schreit',  asl. 
kuj'ati  'murren'  u.  a. 

Neben  lit.  kaukiü  kaükti  'heulen',  ai.  köka-  'Wolf;  eine  Gansart' 
u.  a.  steht  lit.  szaukiü  szaükti  'schreien,  laut  rufen,  nennen'  mit  anlauten- 
dem k  wie  in  slav.  sova,  weiterhin  mit  anderen  Gutturalen  arm.  xausim 
'spreche'  aus  *qhauk-,  awnord.  gaukr,  ahd.  gouh  'Kuckuck'  und  nhd. 
gaukeln  u.  a.  aus  *gJiaug-,  ferner  gr.  y.avyäouat  'prahlen'  und  noch 
andere  Varianten  *]. 


1)  Eine  stattliche  Sammlung  einer  bestimmten  Art  dergleichen  Wörter 
stellt  Zupitza  Germ.  Gutt.  123  f.  zusammen. 

2)  S.  Leskien  Bild.  d.  Nom.  im  Lit.  343. 

3)  Daneben  bestehen  Formen  mit  idg.  g:    kiruss.  gai-a  'Krähe',  ahd., 
mndd.  kä,  nnd.  hauw  'Dohle'. 

*)  Unter  solchen  Umständen  hat  m.  E.  der  Versuch  Pedersen's  KZ. 

XXXIX.  335,  arm.  xausim  und  gr.  xccv/cofjut  näher  zu  verbinden,  nur  einen 

sehr  bedingten  Wert.  —  Gewiß  unrichtige  Vermutungen  über  xausim  bieten 

V.  Patrubäny  Sprachwiss.  Abh.  II.  221,  235,  Scheftelowitz  BB.  XXVIIL 

282,  312. 


38  Evald  Liden, 

2.  AsI.  zrmja  'Schlange',  zrmji  'Drache',  nsl.  zmija  F.,  zmij '^. 
'Schlange,  Drache,  Lindwurm',  auchzme?-;  zmijnica  'Landschildkröte', 
bulg.  zumija  'Schlange',  zme;' 'Drache',  serb.  zmija  PI.  zmij'e  'Schlange', 
zniaj  zmuj'a  'Drache';  cech.  zmij  M.,  zmije  F.  'Natter',  zmek  'Drache' ; 
poln.  zmija  'Natter' ;  russ,  zmej^  zmäjä  zmijä  zomija  'Schlange'. 

Daran  erinnert  alb.  demj'e  Fem.  'Raupe'  {h.dixTtiu'  Kavalliotis), 
dsmizs,  dimi-ze  (Deminutivformen  von  *defni)  'Fleischmade'. 

Zur  Bedeutungsverscliiedenheit  vgl.  got.  waurms  as.  wurm  nschw. 
orm  'Schlange',  aber  nhd.  wurm  ndän.  orm  'vermis'. 

Das  slav.Wort  verbindet  Hirt  BB.  XXIV.  255  mit  dem  idg.Namen 
für  Erde:  asl.  zemlj'a,  lit.  zeme,  gr.  yßm>^  xainai,  alb.  öe  u.s.w.,  und 
Gustav  Meyer  Etym.  Wb.  d.  alb.  Spr.  465,  Pedersen  KZ.  XXXVL 
335  sprechen  dieselbe  Ansicht  betreffs  des  alb.  Wortes  aus.  Bugge 
BB.  XVIII.  190  hält  die  alb.  Dialektform  vem  für  die  ursprünglichere. 
Die  Übereinstimmung  des  slav.  und  des  alb.  Wortes  scheint  für  Meyer's 
Auffassung  zu  sprechen. 

Die  Namen  bezeichnen  wohl  ursprünglich  ^humilis^  y_d-ai.iaX6Q\ 
das  Tier,  das  »auf  seinem  Bauch  geht«,  im  Gegensatz  zu  den  aufrecht 
gehenden  Tieren. 

3.  Lit.  mita  1.  'Stecken  zum  Netzestricken  (Mielcke);  2.  ein 
kleines  Brettchen,  das  mit  einer  Schnur  am  Ende  des  Netzsackes  be- 
festigt ist,  und  durch  seine  Lage  auf  dem  Wasser  die  Stelle  des  Netzes 
anzeigt,  Garnflügel'  (Nesselmann);  in  letzterer  Bedeutung  auch  mitas 
(Mielcke)  i). 

Die  eigentliche  Bedeutung  ist  gewiß  'Stecken'.  Das  führt  auf  Ver- 
wandtschaft mit  lit.  mUas  'Pfahl'  2),  lett.  mets  M.  'Pfahl,  Staken,  Hopfen-, 
Bohnenstange',  me-t  'bepfählen',  me-tüt  ds.,  m'etne  'die  Stützen  auf 
den  Schlittensohlen',  maidit  'Pfähle  od.  Maijen  in  die  Erde  stecken', 
maide  'Stange,  Angelrute',  mail'i^  mailmi  'Zaunstecken',  auch  lett. 
ml-tra^  mi-tra  'Buxbaum'  (s.  Liden  IF.  XVIII);  2d.may-uhha-  'Pflock', 
me-tU-,  me-dhi-  M.  'Pfeiler,  Pfosten',  mi-t-  F.  'Säule,  Pfosten'  zu 
mi-nö-ti  mi-mäy-a  'befestigt,  errichtet';  npers.  mex  'Pflock,  Nagel', 
oss.  mex^  mix  'Pfahl'  (iran.  *mai-xa-,  Hübschmann  Pers.  Stud.  99  f.); 
—  awnord.  meiör  M.  (urgerm.  *mai-pa-  od.  -da-)  'wachsender  Baum; 


1)  Prellwitz  Etym.  Wb.  201  bringt  das  lit.  Wort  mit  gx.  ixixos  'Ein- 
schlagfaden' zusammen,  aber  die  Bedeutungen  sind  nicht  zu  vereinen. 

2)  Belegt  bei  Leskien  Bild.  d.  Nomina  im  Lit.  535  f. 


Wortdeutnngen.  39 

Baumstamm,  Stange,  Galgen,  Schlittenkufe';  —  ir.  mede  'Nacken',  me- 
thos 'Grenzmark'  u.s.w.,  vgl.  Uhlenbeck  Altind.  etym.  Wb.  216,  231, 
Fick  Vergl.  Wb.  II*.  205  u.  A. 

Lit.  mitas,  mita  stimmt  mit  ai.  mi-tä-  'befestigt,  errichtet  u.s.w.' 
formell  überein. 

Nebenbei  fragt  es  sich,  ob  nicht  cymr.  mxjnaxcyd^  bret.  minaoued, 
mir.  menad^  gäl.  minidh  'Ahle,  Pfrieme'  (kelt.  *minav-eto-)  eigentlich 
'Stecken'  bedeutet  und  der  fraglichen  Wortsippe  (vgl.  besonders  ai. 
mi?iö-ti)  anzureihen  ist.  Anders,  begrifflich  nicht  überzeugend,  Stokes 
Fick  Vergl.  Wb.  II 4.  216. 

4.  Lit.  büde  Fem.  'ein  kleiner  Wetzstein,  der  z.  B.  zum  Schärfen 
der  Sense  gebraucht  wird'  (Nesselm.  335,  Kursch.  LDWb.  61),  auch 
budis  Fem.  'ds.'  (Kursch.). 

Es  erinnert  an  nschwed.  dial.  (Upland)  büda  'reiben'  (awnord. 
^bud-,  s.  Tiselius  Svenska  Landsmälen  XVIII.  5  :  74). 

Beide  Wörter  stehen,  so  viel  ich  weiß,  vereinzelt  da.  Ich  teile  die 
Zusammenstellung  mit,  um  weitere  Nachforschung  anzuregen.  —  Es 
wäre  auch  an  sich  möglich,  daß  das  lit.  Wort  zu  der  bei  von  Friesen 
De  germ.  mediagem.  89  ff.  zusammengestellten  Wortsippe  gehören 
könnte. 

5.  lAi.  perple  F.  'eine  Art  weißer  Hafffische'  (Nesselm.  286  nach 
Ruhig  und  Mielcke),  vgl.  nhd.  dial.  perpel^  parpel^  porpel  'Alosa  finta 
Cuv.',  2iViQ,h.  perdeVdiS.^  pardel  'ein  kleiner  Hering,  eigentlich  die  Sprotte' 
bei  Frischbier  Preuß.  Wörterb.  II.  121  f.,  123,  132,  134  nach  ver- 
schiedenen Quellen.  Daselbst  werden  als  lit.  Formen  auch  perpels  und 
perpele  bezeugt. 

Die  vielleicht  früheste  Erwähnung  des  Wortes  findet  sich  in  dem 
Werke  des  schwedischen  Erzbischofs  Olaus  Magnus  Historia  de  gen- 
tibvs  septentr.  (Rom  1555),  lib.  XXI,  cap.  50:  » [piscem]  quem  commu- 
niter  Thrissam,  ....  Romani  Lacciam  appellant,  ...  talem  etiam  hoc  anno 
in  Prussia  circa  mare  (vt  vocant)  recens  ...  videlicet  circa  castra  Balge  & 
Lockstede  in  maxima  multitudine  captum  esse  compertum  habetur.  Nam 
horum  piscium,  quos  Pruteni  Porpel  appellant, ...  piscator  quidem  duo- 
decim  millia  et  sexcentos...  mense  Maio  intra  quatuordecim  dies ...  cepit«. 

In  welcher  Sprache  das  Wort  ursprünglich  heimisch  gewesen  ist, 
bleibt  zu  bestimmen. 

Gotenburg  (Schweden),  im  Nov.  1905.  Evald  Liden. 


40 


Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Sloyenischen 
(Praesens  effectivum). 


Der  Einfluß  des  deutschen  Sprachelementes  auf  das  slovenische 
zeigt  sich  nicht  bloß  im  Wortschatze,  der  vorzugsweise  in  den  Städten 
voll  von  Germanismen  ist,  sondern  auch  in  syntaktischer  Hinsicht. 
Diese  syntaktischen  Verderbnisse  als  etwas  ursprüngliches,  speciell 
slovenisches  gegenüber  dem  Slawischen  wissenschaftlich  zu  verteidi- 
gen, bemüht  man  sich  umsonst.  Sie  sind  zwar  alt,  kommen  schon  in 
den  Freisinger  Denkmälern  vor,  man  kann  sie  bei  den  protestantischen 
Schriftstellern  lesen  und  sie  werden  heutzutage  in  Schrift  und  Sprache 
gebraucht,  doch  auch  die  Tradition  kann  einen  Fehler  nicht  ent- 
schuldigen. 

Nur  ein  imperfektives  Verbum  kann  bekanntlich  im  Slawischen 
ein  Präsens  bilden.  Ausnahmen  im  Aksl.,  Ob.-  und  Nied.-Laus.  vgl. 
Miklos.  Synt.  777.  Im  Slovenischen  dagegen  gibt  es  eine  lange  Reihe 
perfektiver  Verba  mit  dieser  Eigentümlichkeit.  Als  solche  nennt  man 
vor  allem  folgende:  J)pohvalim  te,  priporocim  se,  poklonim  se,  oblju- 
bim,  zahvalim  se,  zagotovim,  zapovem,  preklicem,  prisezem,  vkazem, 
sklenem,  zarotim  te,  odpovem  se,  izpovem  se,  obtozim  se,  pozdravim  te, 
povem,  pustim,  kupim,  dam  u.  s.  w.  (ich  belobe  dich,  empfehle  mich, 
verbeuge  mich,  verspreche,  danke,  versichere,  gebiete,  widerrufe, 
schwöre,  befehle,  schließe,  beschwöre  dich,  entsage  mich,  bekenne, 
klage  mich  an,  grüße  dich,  sage,  lasse,  kaufe,  gebe  u.  s.  w.)«.  Alle 
citirten  Verba  haben  auch  eine  imperf.  Form,  so :  hvalim  te,  priporo- 
cam  se,  poklanjam  se,  obljubujem  ^)  neben  obetam,  zahvaljujem  se,  za- 
gotavljam,  zapovedujem  u.  s.w.,  doch  diese  Form  bedeutet  im  Sloveni- 
schen eine  intensivere  Dauer  oder  Iteration.  Wer  z.  B.  sagt  priporocam 
se,  der  hat  dadurch  seinen  Empfehlungsakt  nicht  vollzogen,  mit  anderen 


1)  Diese  Form  ist  nicht  neu  geschmiedet  und  dem  Volke  unbekannt 
(Skrabec,  Cvetje  XVI.  8),  sondern  ist  sowohl  den  sloven.  Schriftstellern  seit 
Trubar,  als  auch  dem  Volke  sehr  gut  bekannt  und  gebraucht.  Daß  »oblju- 
blujem«  richtiger  wäre,  ist  zweifelhaft,  da  die  Trennung  der  Verba  der 
VI.  KI.  in  die  denominativen  und  deverbativen  nicht  anzunehmen  ist  (vgl. 
Jagid,  Synt.). 


Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Slovenischen.  41 

"Worten,  er  hat  nur  gesagt:  »icli  pflege  mich  zu  empfehlenc,  oder  ähn- 
liches. Dieses  intensive  oder  iterative  Gefühl  beim  Aussprechen  eines 
der  citirten  Verba  hat  sehr  richtig  betont  der  für  die  slov,  Phonetik 
hochverdiente  Slavist  P.  §krabec  in  Cvetje  XVI.  8— 10 ;  VII,  2,  XI.  1—3 
und  auch  im  Archiv  XXV.  554  sq.  erwähnt. 

Schon  in  den  Freisinger  Denkmälern  wird  von  dieser  Art  perf. 
Verba  das  Präsens  gebildet,  es  heißt  darin :  izpovede,  poroco,  zagla- 
goljo,  d.  h.  ich  bekenne,  ich  empfehle,  ich  entsage  mich.  Ähnlich  liest 
man  beim  ersten  slovenischen  Schriftsteller  Pr.  Trubar :  I.  Cor.  14,  18 
Gratias  ago  Deo  meo  —  Jest  zahualim  muiga  Boga,  ebenso  I.  Cor.  1,14; 
Job.  11,  41;  Luc.  18,  11;  ähnlich  übersetzt  Trubar  confiteor  gewöhn- 
lich mit  zahualim  neben  spoznam.  Act.  20,  32  Et  nunc  commendo  vos 
Deo  —  lest  uas  izroöim  Bogu.  Marc.  1 1,  24  ego  praecipio  tibi,  exi  ab 
eo  —  Jest  tebi  zapoueim^  de  ti  gres  uun  iz  znega,  ähnlich  Joh.  15,  7 ; 
Act.  16,  18;  I.  Cor.  7,  10.  Joh.  16,  7.  Sed  ego  veritatem  dico  vobis 
expedit  vobis,  ut  ego  vadam  —  Ampag  iest  uom  risnicno  poueim  .  .  ., 
ähnlich  Matth.  16,  18;  Luc.  12,  4;  Joh.  6,  53  u.  s.w.  Da  dieses  Verbum 
in  der  Bibel  unzählige  Male  vorkommt  für  das  lat.  dico,  aksl.  rjiaroJiMi, 
serbokr.  kazem,  russ.  roBopio  u.  s.  w.,  ist  es  unmöglich,  dabei  an  ein 
Futurum  zu  denken  (wie  Navratil),  obwohl  der  Inhalt  der  Aussage 
einigermaßen  als  zukünftig  gedacht  werden  kann ;  das  Fut.  lautet  bom 
povedal,  Rom.  16,  22  Saluto  vos  ego  Tertius  —  Jest  Tertius  vom  muio 
sluzbo  s/>OMe^m,  ebenso  I.  Kor.  16,  21;  Rom.  16,  1  Commendo  autem 
vobis  Phoeben  —  Jest  vom  poroHm  to  Febo.  u.  s.  w. 

Den  nämlichen  Gebrauch  der  erwähnten  perf.  Verba  finden  wir  bei 
den  Schriftstellern  späterer  Jahrhunderte  bis  zu  den  neuesten  Zeiten. 
Erst  als  sich  besonders  seit  Levstik  der  slawische  Einfluss  auf  die  slo- 
venische  Sprache  bemerkbar  machte,  begann  man  auch  in  diesem  Punkte 
andere  Slawen  nachzuahmen,  und  die  imperf.  Form  im  Präs.  zu  ge- 
brauchen. Z.B.  das  von  Stritar  übersetzte  und  von  der  bibl.  Gesellschaft 
ausgegebene  Neue  Testament  mit  Psalmen  bedient  sich  konsequent  im 
Präs.  nur  eines  imperf.  Verbums. 

Doch  die  alte  Schreibart  fand  und  findet  noch  immer  ihre  Vertei- 
diger, die  nicht  bloss  auf  die  Unmöglichkeit  des  Gebrauches  eines 
imperf.  Verbums  statt  des  perf.  in  diesen  Fällen  hinweisen,  sondern 
auch  bestrebt  sind,  den  Gebrauch  des  imperf.  Verbums  wissenschaftlich 
und  logisch  als  unberechtigt  zu  beweisen. 

Es  möge  zuerst  die  Frage  aufgeworfen  werden,  welche  perf.  Verba 


42  J-  Mencej, 

im  Slov.  haben  die  Eigentümlichkeit,  das  echte  Präsens  zu  bilden. 
Kopitar  und  nach  ihm  Metelko  behaupten  dasselbe  von  perf.  Verben 
tlberhaupt.  Zu  dieser  Behauptung  citirt  der  Erstere  Verba  wie:  »stre- 
lim,  sköcim,  vzdignem,  vmerjem,  zvözem,  sturim,vjämem,  verzem«  u.  s.w. 
Man  muss  wohl  zugeben,  dass  gerade  die  erwähnten  Verba  an  sich 
selbst  sehr  wenig  Futurisches  haben,  jedoch  echte  Praesentia  in  unse- 
rem Sinne  sind  sie  nicht;  sie  bedeuten  eigentlich  nur  eine  präsentische 
Potentialität  oder  Konditionalität.  Kopitar  übersetzt  sie  zwar:  jjieh 
schieße  (einmal),  springe,  hebe,  sterbe«  u.  s.w.,  doch  diese  deutsche 
Übersetzung  deckt  sich  keineswegs  mit  dem  Sinne  des  slov.  Verbums : 
sköcira,  vzdignem,  zvezem,  sturim,  vjämem,  verfem«  heißt  »ich  bin 
gegenwärtig  im  Stande  zu  .  .  .,  ich  kann  .  .  .«;  »vmerjem«  heißt  mehr 
»bin  bereit«.  Über  diesen  eigentümlichen  Sinn  vieler  perf.  Verba  im 
Praes.  spricht  auch  Miklosic  nach  Solar  (Synt.  774,  vgl.  auch  776).  Da 
im  Vorliegenden  nur  vom  Präsenssinne  die  Rede  sein  soll,  übergehen 
wir  diese  auffallende  Erscheinung. 

Der  Dichter  und  zugleich  Grammatiker  Val.Vodnik  stand  in  Bezug 
auf  das  Präs.  des  perf.  Verbums  auf  dem  deutschen  Standpunkte.  Seine 
Ansicht  charakterisirt  genügend  das  Paradigma  für  das  Präsens,  wel- 
ches er  in  seiner  Grammatik  (Pismenost  pag.  129)  aufgestellt  hatte: 
»ravno  sdaj  pridem  is  Gorize  ino  ti  pernesem  to  pismo«.  Navratil  (Bei- 
trag zum  Studium  des  slav.  Zeitwortes  1856)  will  jedem  Präsens  des 
perf.  Verbums  im  modernen  Slov.  einen  futurischen  Sinn  zuschreiben. 
Die  oben  erwähnten  » Praesentia  tf  Kopitar's  sind  ihm  Futura.  Solar 
(Gymnasialprogramm  von  Görz  1858,  pag.  19)  und  nach  ihm  Miklosic 
verwerfen  den  Gebrauch  der  perf.  Verba  für  das  Präsens  im  Slov. ;  der 
erstere  will  nur  einige  Ausnahmen  haben,  da  er  ähnliche  Erscheinungen 
schon  im  Griech.  und  Lat.  findet.  Diese  Ausnahmen  sind  unter  die 
obigen  Verba  eingereiht  (pohvalim,  prisezem,  povem  u.  s.  w.).  L.  Pintar 
(Lj.  Zvon  X)  stellte,  um  einige  syntaktische  Verderbnisse  zu  rechtferti- 
gen, ein  Präsens  mit  » faktischer  (t  Bedeutung  auf  (vgl.  V.  Bezek's  Ant- 
wort Lj.  Z.  XI). 

Skrabec  hat  jedoch  den  Präsensgebrauch  der  perf.  Verba  in  den 
erwähnten  Nr.  von  Cvetje  von  neuem  in  Schutz  genommen  und  gegen- 
über seinen  Vorgängern  diesen  Gebrauch  auf  bestimmte  Verba  und  be- 
stimmte Person  beschränkt.  Er  behauptet:  sobald  die  Tat  mit  dem 
Aussprechen  des  Wortes  auch  vollzogen  werden  soll,  möge  das  perf. 
Verbüm  oder  die  perf.  Form  desselben  im  Präsens  angewendet  werden. 


Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Slovenischen.  43 

Wenn  man  sagt  »ich  danke«,  hat  man  die  Tat  nicht  bloß  angekündigt, 
sondern  auch  schon  vollzogen,  d.  h.  der  Akt  des  Dankes  erscheint  hier- 
mit als  abgeschlossen,  und  beides,  die  Ankündigung  und  der  Akt  selbst, 
fallen  gleichsam  in  eins.  Deshalb  verlange  die  Logik  wegen  der  Kürze 
des  Momentes,  das  perf.  Verbum  zu  gebrauchen.  »Djanja,  ki  se  stori 
z  besedo,  s  ketero  se  imenuje,  Herbig  ne  omenja;  stari  poganski  Sloveni 
ga  najberz  tudi  niso  poznali;  ali  dandanasnji  se  ga  ne  moremo  ogniti. 
Treba  je  torej,  da  se  zagotovimo,  kako  ga  je  izrazati.  Cerkvena  slo- 
venscina  je  izvolila,  morehiü  po  vplivu  gerskega  vedno  nedoversenega 
sedanjika,  nedoversene  glagole,  prim.  eucholog.  sinait.  67  b:  ispovedaja, 
68  b:  otüricaja,  72  b:  predaja  i  t.  d.  To  velja  tudi  v  hervascini,  prim. 
ritual:  ja  te  odrjesujem  (ego  te  absclvo)  i  t.  d.  Kedor  zmirom  le  odve- 
zuje,  Bog  ve,  ali  bo  kedaj  kaj  odvezala.  »Es  ist  nun  sonderbar,  daß 
diesen  momentanen  Akt  die  meisten  slawischen  Sprachen  durch  Aus- 
sprechen des  Präsens  eines  imperfektiven  Verbums  vollziehen«. 

Weiter  bezeichnet  Skrabee  dieses  Präsens  der  perf.  Verba  im  Slo- 
venischen als  »Praesens  effectivum«,  da  wir  mit  ihm  die  Tat  auch 
vollenden  (»zversiti«)  wollen,  was  uns  bei  der  Anwendung  des  imperf. 
Verbums  nicht  gelingt. 

V 

Zu  dieser  Auseinandersetzung  Skrabee  s  soll  nun  bemerkt  werden, 
erstens,  daß  diese  perf.  Verba  einen  abstrakten  Begriff  haben  müssen, 
zweitens,  können  sie  ausschließlich  so  in  der  ersten  Person  Praes.  Ind. 
gebraucht  werden.  Denn  nur  in  der  ersten  Person  kann  der  Akt  mit 
dem  Aussprechen  des  Wortes  auch  vollzogen  werden,  ohne  etwas  Prä- 
teritales  oder  Referirendes  in  sich  zu  enthalten.  Man  muß  somit  diese 
zwei  Punkte  der  Behauptung  fest  im  Auge  behalteu. 

Skrabee  meint  endlich,  »unsere  Vorfahren  hätten  wahrscheinlich 
in  solchen  Fällen  nie  imperf.  Verba  gebraucht«.  Da  der  historische  Be- 
weis von  größter  Bedeutung  ist,  gehen  wir  gleich  auf  die  Untersuchung 
dieser  seiner  Meinung  über. 

Trubar,  der  sich  oft  eines  perf.  Verbums  im  Präs.  bedient,  wie 
oben  gezeigt  worden  ist,  wendet  auch  in  solchen  Fällen  das  imperf. 
Verbum  an.  I.  Cor.  7,  28  Ego  autem  vobis  parco  —  Jest  vom  pag  za- 
na&am  (Wolf:  perzanesem).  II.  Cor.  1,  23  Ego  autem  testem  Deum  in- 
voco  —  Jest  pag  Jclidem  na  Buga  kani  pryci  (Wolf:  poklidejn).  Rom. 
3,  31  Absit!  Sed  legem  statuimus  —  Nekarl  Temuc  mi  to  Postauo 
terdimo  (Wolf:  poterdimo).  Marc.  11,  71  nescio  homiuem  istum  — 
Jest  ne  znam  tiga  cloueka  (Trubar  braucht  für  »kennen  —  cognoscere« 


44  J-  Mencej, 

nur  znati,  heutzutage  ist  ausschliesslich  poznati  imperf. ;  Wolf:  poznam). 
Matth.  20,  G3  Adiuro  te  per  Deum  vivum  —  Jest  tebe  zaklinam  (Wolf: 
zarotim).  Joh.  20,  21  Sicut  misit  me  pater,  et  ego  mitto  vos  —  Koker 
ie  ta  Oca  mene  poslal,  taku  jest  uas  poHlem  (Wolf:  poiljem).  Luc.  10,  3 
ecce  ego  mitto  vos  sicut  agnos  —  Jest  uas  poülem  koker  ta  Jagneta 
(Wolf:  poUjem).  I.  Cor.  12,  3  Ideo  notum  vobis  facio  —  Za  tiga  volo 
vom  daiem  naznane  (Wolf:  na  znanje  dam),  ähnlich  II.  Cor.  8,  1.  Luc. 
2,  10  ecce  enim  evangelizo  vobis  gaudium  magnum  —  Pole,  Jest  ozna- 
nuiem  veliku  Vesselie  (Wolf:  oznanim),  I.  Cor.  15,  51  Ecce  mysterium 
vobis  dico  —  Pole,  lest  vom  prauim  eno  skriuno  rec  (Wolf:  povem), 
ähnlich  L  Cor.  15,  50.  Ebenso  Rom.  1 1,  1 ;  11,  11 ;  12,  3;  15,  8  u.s.w. 
Trubar:  prauim,  Wolf  dagegen:  redem.  Rom.  11,  13  Trubar:  gouorim, 
Wolf:  re6em.  II.  Cor.  8,  10  et  consilium  in  hoc  do  —  Inu  vetim  vom 
suetuiem  (Wolf:  svet  dam),  Luc.  23,  46  Pater  in  manus  tuas  commendo 
spiritum  meum  —  Oca  \Q&i poroöain  mui  Duh  vtuie  Roke  (Wolf:  per- 
porocim)  u.  s.  w. 

Diese  Beispiele  zeigen,  daß  in  Fällen,  wo  die  Tat  mit  dem  Aus- 
sprechen des  Wortes  auch  vollzogen  wird,  die  Wolf 'sehe  Bibel  richtig  das 
perf.  Verbum  anwendet,  daß  Trubar  jedoch,  der  300  Jahre  vorher  die 
Bibel  übersetzt  hat,  das  imperf.  Verbum  gebraucht.  Wenn  man  heutzu- 
tage anfragen  würde,  welche  Redeweise  klingt  natürlicher  —  sloveni- 
scher,  die  von  Trubar  oder  die  der  Wolf'schen  Bibel,  so  glaube  ich, 
wird  sich  die  Mehrzahl  für  das  letztere  entscheiden.  Wenn  Trubar 
schreibt:  zanasam,  zaklinam,  po&ilem,  fühlt  man  heutzutage  wirklich 
dasselbe  wie  im  deutschen :  ich  pflege,  ich  bin  gewohnt,  ich  bin  jetzt 
daran  beschäftigt  —  zu  schonen,  zu  beschwören,  zu  schicken.  Gegen 
den  Satz  »zjom  daiem  naznane'^.  wendet  Skrabec,  der  sich  für  »dam« 
entscheidet,  ein:  »morebiti  bi  mu  ta  odgovoril«  :  »Saj  se  ne  branim!« 
(=  ich  wehre  mich  ja  nicht).  Auch  in  -Dporodam«.  ist  nicht  das  aus- 
gedrückt, was  man  sich  wünscht,  denn  »koliko  casa  bo  Treba  cakati, 
da  bo  .  .  .  doverseno«. 

Nachdem  wir  zwei  durch  Jahrhunderte  entfernte  Schriftstücke  nur 
oberflächlich  verglichen  haben,  entsteht  die  Frage,  welches  von  beiden 
das  slovenische  Sprachgefühl  besser  getroffen  hat  ?  Trubar  ist  schwan- 
kend in  der  Anwendung  des  imperf.  oder  perf.  Verbums  (Luc.  23,  46 
poroöam,  Rom.  16,  1  porodim).  Die  Wolf 'sehe  Bibel  entscheidet  sich 
konsequent  für  das  letztere.  Auch  heutzutage  würde  man  sich,  ohne 
Berücksichtigung  des  slawischen  Standpunktes,  für  das  letztere  ent- 


Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Slovenischen.  45 

acheiden.  Trubar,  der  das  imperf.  Verbum  noch  fleißig  gebraucht,  bat 
diese  intensive  oder  iterative  Dauer,  welche  uns  heutzutage  auffällt,  be- 
stimmt nicht  oder  wenigstens  nicht  so  stark  gefühlt.  Diese  Erscheinung 
ist  etwas  secundäres. 

Auch  der  ungarisch-slovenische  Übersetzer  des  Neuen  Testamentes 
Stevan  Küzmics  steht  in  dieser  Frage  Trubar  zur  Seite.  Nicht  bloss 
an  diesen  Stellen,  wo  Trubar  das  imperf.  Verbum  anwendet,  stimmt  er 
mit  ihm  überein,  sondern  auch  sonst  gebraucht  er  als  Extrem  von  der 
Wolf'schen  Bibel  regelmäßig  wie  andere  slawischen  Übersetzer  das 
imperf.  Verbum.  An  den  früher  citirten  Stellen,  wo  Trubar  sich  eines 
perf.  Verbums  bedient,  heißt  es  bei  Küzmics  nur:  vadlüjem,  prepo- 
räcsam,  zapovidävam,  velim,  pravim,  pozdrdviam,  poräcsam.  Nur 
bei  dam-dajem  ist  er  schwankend ;  er  schreibt  gewöhnlich  hvälo  däjem^ 
jedoch  auch  hvälo  däm  (so  Joh.  11,  41),  ebenso  zapoved  däm  (Joh. 
13,  34),  razum  (=  Rat)  däm  (I.  Cor.  7,  25). 

Andere  Bibelübersetzer  nach  Trubar,  die  von  ihm  mehr  oder  we- 
niger abhängig  waren,  verwandeln  an  diesen  Stellen  nach  und  nach  die 
imperf.  Form  oder  das  imperf.  Verbum  in  die  perf.  Ausdrucksweise,  und 
es  ergibt  sich  aus  dem  Vergleiche,  daß  im  Slovenischen  das  Bedürfnis, 
sich  mit  dem  perf.  Verbum  auszudrücken,  seit  Trubar's  Zeiten  immer 
mehr  zugenommen  hat.  Man  wollte  damit  die  Einmaligkeit  der  Hand- 
lung betonen,  die  man  in  der  imperf.  Form  nicht  fand.  Und  so  drückt 
man  sich  heutzutage  lieber  mit  der  perf.  Form  aus,  da  die  entsprechende 
imperf.  Form  meist  eine  höhere  Intensivität  bedeutet.  Von  den  Verben, 
wo  die  letztere  noch  nicht  ganz  ausgebildet  ist,  hat  man  gleichsam  zwei 
Praesentia  (in  der  ersten  Person).  Das  Verhältnis  derselben  unter- 
einander stimmt  mit  dem  Verhältnisse  des  deutschen  einfachen  Verbums 
zu  seinem  Kompositum  überein.  Wenn  Pintar  neben  dem  gewöhnlichen 
Präsens  ein  Präsens  mit  »faktischer«  Bedeutung  aufstellt,  entspricht 
das  vollkommen  der  Wahrheit,  nur  sollte  er  noch  hinzufügen,  daß  das 
letztere  Präsens  ein  Germanismus  ist:  hvalim  te  (ich  lobe  dich  über- 
haupt), joo7iüa/«m  te  (ich  belobe  dich  einmal  jetzt),  svarim  te  (ich  mahne 
dich),  posvarim  te  (ermahne  dich),  klidem  te  (ich  rufe  dich\  poklidem  te 
(ieh  rufe  dich  auf),  ähnlich  opominjam  te  (ich  mahne  dich  überhaupt), 
opomnim  te  (ich  ermahne  dich  jetzt),  ebenso  ro^e'm-^aro^em  (beschwöre), 
vahim-povahim  (lade  ein),  6utim-ohdutim  (empfinde),  upayn-zaupam 
(vertraue),  morem-zamorem  (vermöge),  spom'mjam  se-npomnbn  sc  (ge- 
denke) u.  s.  w. 


46  J.  Mencej, 

Es  ist  ganz  ausgeschlossen,  aus  der  sloven.  Literaturgeschichte 
eine  ursprüngliche  sloven.  Eigenthümlichkeit  gegenüber  anderen  slawi- 
schen Sprachen  zu  konstatiren.  Aus  der  Zunahme  des  Gebrauches  des 
perf.  Verbums  im  Präs.,  dann  aus  Küzmics'  Bibel  ist  jedoch  ersichtlich, 
daß  die  Slovenen  in  diesem  Punkte  einst  mit  anderen  Slawen  überein- 
stimmten. 

Mit  der  Meinung,  dass  nur  die  Intelligenz,  nicht  aber  das  sloven. 
Volk  so  spreche,  gesprochen  und  geschrieben  habe,  muß  man  sehr 
distinguirt  umgehen.  Manches  kommt  wirklich  beim  Volke  nicht  vor, 
z.  B.  ein  zamorem  (Trubar  hat  dafür  premorem),  es  spricht  immer  nur  mo- 
rem ;  oft  kommt  ihm  die  Redeweise  in  der  ersten  Person  etwas  schwer- 
fällig vor,  es  versucht  sich  anders  auszudrücken;  statt  zahvalim  se  ist 
üblicher:  hvala  ti  bodi  oder  Bog  lonej;  statt  pozdravim  te  spricht  man 
lieber:  zdrav  ostani,  Bog  ti  daj  zdravja;  statt  prekolnem  te  sagt  jeder: 
preklet  bodi  u.  s.  w. 

Eine  große  Mehrzahl  der  bis  nun  in  der  ersten  Person  des  Präsens 
gebrauchten  perf.  Verba  ist  aber  im  Volke  so  sehr  eingewurzelt,  daß 
an  irgend  eine  Aenderung  durch  Beeinflussung  der  Literatur  unmöglich 
zu  denken  ist. 

Daß  die  Slovenen  den  Präsensgebrauch  der  perf.  Verba  dem  deut- 
schen Einflüsse  zu  verdanken  haben,  überzeugt  man  sich  ferner  am 
besten,  wenn  man  die  Zahl  solcher  Verba  möglichst  erweitert.  Diesem 
Mißbrauche  unterliegen  mit  geringer  Ausnahme  einheimischer  Verba 
lauter  Germanismen,  Slavismen  oder  neugeschmiedete  Verba.  Ich  nenne 
noch  einige:  zadrzim  se  (verhalte  mich),  predlozim  (nur  in  abstr.  Bed., 
lege  vor),  prekliöem  (widerrufe),  prepustim  (überlasse),  odstopim  (nur 
abstr.  trete  ab),  poterdim  (bestätige),  zamerim  (vermesse),  dopadem 
(gefalle),  odpustim  (entlasse),  zaverzem  (verwerfe),  zastopim  (verstehe), 
spoznam  (erkenne),  zapustim  (verlasse),  sprevidim  (sehe  ein),  odvezem 
(nur  abstr.  entbinde),  zavezetn  (nur  abstr.  verbinde),  izpovem  se  (be- 
kenne), vknjizim  (einverleibe),  odstavim  (nur  abstr.  setze  ab),  zanesem 
se  (verlasse  mich),  dopustim  (lasse  zu),  predstavim  (nur  abstr.  lege  vor), 
pozdravim  ^)  (begrüsse),  poljuhim  2)  (nur  abstr.  küsse),  pozovem  te  (ich 


1)  Skrabec  beruft  sich  sehr  gerne  auf  dieses  Verbum.  Es  ist  Trubar 
unbekannt,  dafür  schreibt  er  immer:  sluzbo  spoueidati.  Rom.  16.  Arg.  »(Paul) 
nakaterim  Rymskim  kershenikom  Sdra[u?]ie . . .  prossi,  Tu  ie  koker  mi  Crainci 
gouorimo,  sluzbo  spoueida«. 

2)  Beim  Volke  nur  »kusniti«  gebräuchlicb.    So  auch  bei  den  sloven. 


Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Slovenischen.  47 

rufe  dich),  ohjavim  oder  priobdim  (veröflFentliche),  opozorim  (ermahne), 
opazim  (bemerke),  priznam  (bekenne),  odklonim  (nur  abstr.  ich  lehne 
ab),  naznadim  (ernenne),  poklonim  se  (verbeuge  mich),  oprostim  ti 
(entschuldige  dich)  u.  s.  w. 

Es  sind  meist  Kulturwörter,  an  ihre  sloven.  » Ursprünglichkeit (f  zu 
denken,  ist  ausgeschlossen.  Berücksichtigt  man  noch  das  Princip  der 
deutschen  Syntax,  wornach  das  zusammengesetzte  Verbum,  ohne  den 
Verbalstamm  oder  die  Endung  wegen  der  Präfigierung  einer  Änderung 
zu  unterziehen,  das  echte  Präsens  bilden  kann  (vgl.  darüber  auch  Miklo- 
sich  Synt.  pag.  289  nach  Grimm),  so  ersieht  man,  daß  das  Slovenische 
wenigstens  in  diesen  Verba  mit  dem  Deutschen  übereinstimmt.  Andere 
slawische  Sprachen,  die  auch  nicht  frei  sind  von  Germanismen  und 
Latinismen,  haben  noch  genug  Stärke  gehabt,  dieselben  in  diesem 
Punkte  ihrer  Syntax  zu  accommodiren,  das  slovenische  Sprachgefühl, 
insbesondere  das  der  Intelligenz,  verhielt  sich  jedoch  einer  fremden 
Waare  gegenüber  zu  passiv,  um  das  zu  vollführen.  Der  sloven.  Über- 
setzer übersetzt  ein  deutsches  Wort  wörtlich,  d.  i.  den  Präfix  getrennt 
vom  Verbalstamme,  und  wenn  er  dann  beides  zusammensetzt,  nimmt 
er  keine  Änderung  des  Verbalstammes  mehr  vor,  um  das  Verbum  im- 
perfektiv zu  erhalten. 

Nach  der  Analogie  der  Germanismen  haben  sich  nicht  bloß  Sla- 
vismen,  die  bekanntlich  nur  in  der  schönen  Literatur  leben,  sondern 
auch  ein  paar  ursprünglich  slovenische  Verba  gerichtet,  —  soweit  man 
von  einer  Ursprünglichkeit  im  Gegensatze  zu  einer  fremden  Provenienz 
sprechen  kann,  so :  vkazem^  zapovem^  prepovem^  prisezem^  opomnim^ 
pustim  u.  s.w.  Bloß  diese  letzteren  Verba  für  den  Beweis  einer  sloven. 
Eigentümlichkeit  gegenüber  anderen  slaw.  Sprachen  heranzuziehen,  ist 
ungenügend.  Es  soll  bemerkt  werden,  daß  gerade  diese  Verba  vor- 
zugsweise in  Befehl-,  Schwur-,  Gebets-  und  anderen  Formeln  vorkom- 
men. Leute,  die  diese  Formeln  aus  dem  Deutschen  übersetzt  haben, 
waren  der  sloven.  Sprache  nur  oberflächlich  mächtig.  Die  einmal  falsch 
gebrauchte  perf.  Form  hat  allmählich  auch  im  Volke  Eingang  gefunden. 
So  erklären  wir  uns  die  Fehler  in  den  Freisinger  Denkmälern  und  den 
fast  regelmäßigen  Gebrauch  der  perf.  Form  bei  Trubar  in  zapoucim, 
zahvalim,  prise£em  u.  s.  w. 


Schriftstellern  bis  zur  Mitte  des  vorigen  Jahrh.    Trubar  bat  »kusniti«  oder 
»pusati«  =  Bussen,  Bussel  oberdeutsch  für  Kuß. 


48  J-  Mencej, 

Dieser  Gebrauch  hat  sich  jedoch  nicht  in  allen  Personen  des  Prä- 
sens gleichmäßig  ausgebreitet.  Es  ist  schon  oben  betont  worden,  dass 
Skrabec  denselben  nur  für  die  erste  Person  als  berechtigt  und  not- 
wendig betrachtet,  für  die  dritte  Person  verwirft  er  ihn  als  falsch  (vgl. 
Archiv  1.  c).  Beim  Aussprechen  der  dritten  Person  liegt  bekanntlich 
immer  auch  etwas  Präteritales  und  man  kann  diesen  Moment  nicht  so 
konstatieren,  wie  es  in  der  ersten  Person  den  Anschein  hat.  Statt  der 
dritten  Pers.  Praes.  können  wir  uns  meist  auch  des  Perfekts  bedienen. 
Der  Sinn  verliert  gar  nichts,  wenn  man  sagt  statt:  »ow  ti  odpusda 
grehea  oon  ti  Je  odptistil  grehea.  Neben  on  ti  odpuiöa  grehe^  wo 
imperf.  Form  steht,  hört  man  aber  auch  im  Sloven.  nach  Analogie  der 
ersten  Person:  on  ti  odpusti  grehe^  ti  mu  odpustis  grehe^  ebenso 
plur.,  ohne  daß  dabei  an  eine  Zukunft  gedacht  wird. 

Wir  teilen  alle  im  Präsens  gebrauchten  perf.  Verba  in  zwei  Grup- 
pen. Bei  einigen  Verba  hat  sich  dieser  Gebrauch  in  allen  Personen 
gleich  ausgebreitet,  wie:  zameriti^  zadrzati  se,  obstati^  dopasti^  za- 
stopiti^  pustiti^  sprevideti,  zanesti  se  u.  s.  w.  Diese  Verba  gelten  nun 
als  imperf.  Bei  anderen  Verba  ist  der  Gebrauch  schwankend.  In  der 
ersten  Person  steht  die  perf.  Form  und  das  Verbum  wird  da  deshalb 
auch  einigermaßen  imperf.  gefühlt,  doch  dieses  Gefühl  der  Imperfek- 
tivität  ist  noch  nicht  so  stark,  daß  die  perf.  Form  auch  in  anderen 
Personen  statt  der  imperfektiven  verwendet  werden  könnte.  Man  spricht 
heutzutage:  zapovem^ zahvalim  se,  povem,  oblj'ubim  u.s.w.,  die  imperf. 
Form  ist  oft  fast  unmöglich  anzuwenden,  doch  es  stört  einen  nicht  zu 
sagen :  on  zapoveduj'e,  on  se  zalivaljuje,  pravi,  obeta  oder  obljubuje 
u.  s.  w.  Bei  der  dritten  Person  fühlt  man  auch  keine  oder  höchstens 
eine  sehr  geringe  Iteration.  Oft  ist  man  im  Zweifel,  wofür  man  sich 
entscheiden  soll:  pozdravi  oAqx  pozd7'avlja^  naznani  oder  naznanja. 
odpusti  oder  odpu^6a,  obljubi  oder  obeta  \\.  s.  w.  Das  Volk  gebraucht 
beides. 

Zwischen  der  ersten  und  der  dritten  Person  macht  schon  Trubar 
einen  Unterschied.  Rom.  XVI.  22:  Saluto  vos  ego  Tertius  —  Jest  Ter- 
tius  vom  muio  sluzbo  spoveim,  aber  bald  darauf  23:  Salutat  vos  Caius 
—  Vom  sluzbo  spoveida  (statt  spovei),  21:  Vom  sluzbo  spouedaio  (statt 
spoueio),  ähnlich  I.  Cor.  XVI.  21:  Jest  Paulus  vom  sluzbo  spoveim,  doch 
etwas  oben  19:  Te  Cerque  vom  sluzbo  spouedaio  und  ta  Aquilas  inu 
Priscilla  sluzbo  spouedata  (statt  spouesta],  20:  spouedaio. 

So  geht  es  bei  Trubar  weiter.     Die  dritte  Person  lautet  bei  ihm 


Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Slovenischen.  49 

regelmäßig:  zapoueida^  zahvaluie  se,  oblubuie,  pravi  {pove  habe  ich 
nirgends  gefunden)  u.  s.  w. 

Gegenüber  Trubar  und  dem  heutigen  Sprachgebrauche  liebt  die 
Wolf'sche  Bibel  auch  in  der  dritten  Person  das  perf.  Verbum.  An  der 
obigen  Stelle,  wo  Trubar  noch  unterscheidet,  schreibt  diese  Bibel  nur : 
pozdravim,  pozdravi,  pozdravita,  pozdravij'o.  Für  das  regelmäßige 
pravi  bei  Trubar  schreibt  Wolf  unzähligemal  pove  oder  rede.  Ähnlich 
lesen  wir  schon  vorher  bei  Vodnik:  ta  telegram  pove,  cesar  ukaze,  on 
se  zaroti  u.  s.  w.  Schon  aus  einem  oberflächlichen  Nachschlagen  über- 
zeugt man  sich,  daß  unsere  Schriftsteller  im  Anfange  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zwischen  einem  perf.  und  imperf.  Verbum  oft  fast  keinen 
Unterschied  mehr  machten.  Das  Neue  Testament  von  Küzmics  ist  auch 
in  Bezug  auf  die  zweite  und  dritte  Person  konsequent  in  der  Anwendung 
der  imperf.  Form. 

Ebenso  wie  in  diesem  Präsens  steht  auch  in  dem  Präsens,  wo  eine 
Behauptung  in  der  Vergangenheit  ausgesprochen  ist,  aber  infolge 
schriftlicher  oder  mündlicher  Überlieferung  auch  der  Gegenwart  ange- 
hört, das  imperf.  Verbum  einzig  berechtigt.  Den  besten  Beweis  dafür 
liefert  uns  Trubar,  dem  es  eher  an  der  Hand  wäre,  das  perf.  Verbum 
zu  gebrauchen,  wenn  er  die  Einmaligkeit  der  Handlung  so  in  Betracht 
gezogen  hätte  wie  Pintar  (Lj.  Zvon  1.  c).  Gegen  das  eine  Beispiel  Pin- 
tar's  sprechen  Hunderte  bei  Trubar  (vgl.  besonders  Trubar's  Vorreden 
und  Argumenta  zu  den  Apostelbriefen).  Das  Praes.  histor.,  welches 
man  mit  diesem  Präsens  identifizieren  will,  ist  sehr  leicht  zu  unter- 
scheiden. 

Auch  in  den  Sätzen  mit  allgemeiner  Geltung,  wo  von  einer  Perfek- 
tivität  überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann,  da  sie  gleichsam  ein  Ver- 
hältnis, eine  Situation  angeben,  kann  nur  ein  Imperfekt.  Verbum  im 
Präsens  stehen.  Wenn  man  heutzutage  schreibt  pomeni  statt  pomenja, 
za6ne  statt  zaöety'a,  to  se  razloÖi  statt  razloöiije,  to  ohstoji  statt  oh~ 
stoj'a,  razume  se  statt  razumeva  se  u.  s.w.,  kann  man  sich  zwar  auf  die 
Tradition  berufen,  denn  schon  Trubar  schreibt  so,  jedoch  diese  fehler- 
haften Formen  wissenschaftlich  in  Schutz  zu  nehmen,  ist  verwerflich. 
Denn  sobald  man  diesen  alten  Verderbnissen  zuliebe  ein  neues  Princip 
des  Gebrauches  der  perf.  und  imperf.  Verba  aufstellt,  müssen  auch  an- 
dere richtige  Formen,  die  bis  jetzt  im  Volke  und  in  der  Schrift  gut  er- 
halten sind,  nach  diesem  Principe  verdorben  werden. 

Zum  Schlüsse  kommen  wir  auf  die  Haupteiuwände  Skrabec's  gegen 

Archiv  für  Blaviacho  rhiloloßie.     XXVlll.  4 


50  J-  Mencej, 

den  Gebrauch  der  imperf.  Verba.  Daß  in  den  Fällen,  wo  der  Akt  mit 
dem  Aussprechen  auch  vollzogen  wird,  das  perf.  Verbum  zu  gebrauchen 
ist,  kann  man  erstens  aus  der  Geschichte  der  sloven.  Sprache  nicht  be- 
weisen, zweitens  weiß  man  nicht,  in  welche  Rubrik  die  imperf.  Verba 
einzureihen  sind,  wo  auch  der  Akt  mit  dem  Worte  abgeschlossen  wird, 
so:  zelim  (wünsche),  prosim  (bitte),  vem  (ich  weiß),  kesam  se  (ich  be- 
reue), Ijubim  (ich  liebe),  tirjam  oder  zahtevam  (ich  verlange),  ugovarjam 
(nicht  ugovorim,  widerspreche),  pogresam  (nicht  pogresim,  vermisse), 
prikrivam  (nicht  prikrijem,  verheimliche)  u.s.w.,  überhaupt  abstrakte 
Verba. 

Wenn  man  zelim,  da  odides,  und  zapovem,  da  odides  parallel  stellt, 
wird  man  doch  nicht  behaupten,  daß  darin  ein  anderer  Unterschied 
vorliegt  als  der,  daß  der  eine  Satz  den  Wunsch,  der  andere  den  Befehls- 
akt vollzieht.  Ein  »effektives  Präsens«  müßte  Skrabec  entweder  für 
imperf.  und  perf.  zugeben,  oder  beweisen,  daß  die  oben  genannten 
Verba  perfektiv  sind. 

Es  ist  somit  nicht  »sonderbar,  daß  diesen  momentanen  Akt  die 
meisten  slawischen  Sprachen  durch  Aussprechen  des  Präsens  eines 
imperfektiven  Verbums  vollziehen«  (Arch.  XXV.  555),  denn  dasselbe 
geschieht  außer  in  Germanismen,  Slavismen  und  ein  paar  einheimischen 
Verba  auch  im  Slovenischen. 

Auch  das  ist  kein  Einwand,  daß  man  in  den  imperf.  Formen  eine 
stark  hervortretende  intensive  oder  iterative  Dauer  fühlt,  was  man  so 
gerne  betont.  Man  muß  bedenken,  daß  pozdravim,  zahvalim  se,  zapo- 
vem, obljubim  u.  s.  w.  durch  ihren  langen  falschen  Gebrauch  in  der 
ersten  Pers.  des  Präs.  gleichsam  als  imperf.,  spec.  einfach  durativ  ge- 
fühlt werden,  und  deswegen  mußte  die  entsprechende  längere  Form 
auf  eine  höhere  Zeitdauerstufe  erhoben  werden,  d.  i.  iterativ  gefühlt 
werden  (vgl.  darüber  Jagic,  Synt.  I.  H.  72  sq.).  Wenn  Skrabec  meint, 
andere  Slawen  denken  nicht  so  logisch  (!),  vgl.  Cvetje  1.  c,  so  ist  das 
vom  sloven.  Standpunkte  richtig.  Man  muß  jedoch  bedenken,  daß  bei 
ihnen  auch  diese  Störung  der  Zeitdauerstufe  nicht  vor  sich  gegangen  ist 
und  dazu  auch  kein  Grund  vorhanden  war.  Dieses  logische  Denken  im 
Sloven.  hört  aber  meistenteils  schon  bei  der  dritten  Person  auf. 

Daß  in  pozdravim  der  Begrüßungsakt  vollzogen  wird,  und  in 
pozdravljam  nicht,  ist  leicht  erklärlich.  In  jedem  beliebigen  Verbum 
zeigt  die  iterative  Form  weniger  Erfolg  —  soweit  wir  von  diesem  spre- 
chen können  — ,  als  die  entsprechende  durative  Form. 


Zur  Präsensfrage  perfektiver  Verba  im  Slovenischen.  51 

,  V 

Als  Praesentia  effectiva  bezeichnet  Skrabec  auch  zwei  echte  Pu- 
tura:  Na  to  ti  dam  izrocim,  posodim  . . .  und  kupim  (rus3.  Bot-b  a.  Te6i 
AaMt,  Kynjuo).  Der  Willensakt  bei  kupim  ist  wirklich  präsentisch,  doch 
gekauft  hat  der  Betreffende  gewiß  noch  nicht,  wenn  er  nur  dieses  Wort 
ausgesprochen  hat.  Übrigens  haben  wir  bei  diesen  zwei  Beispielen 
zwei  Dinge  zu  unterscheiden :  den  äußeren  Akt  und  den  denselben  be- 
gleitenden Akt  des  Aussprechens.  Somit  gehören  diese  Beispiele  über- 
haupt nicht  in  die  Gruppe  der  Verba,  von  welchen  oben  die  Rede  war. 

Mit  dem  Gebrauche  des  perf.  Verbums  im  Präs.  steht  im  Zusam- 
menhange auch  die  Frage  der  heute  allgemein  geltenden  Umschreibung 
des  Fut.  der  perf.  Verba  im  Sloven.  Diese  hält  Skrabec  für  ursprüng- 
lich slawisch  und  stützt  sich  dabei  auf  den  sloven.  Gebrauch.  Doch  da- 
gegen sprechen  nicht  bloß  Trubar,  seine  nächsten  Nachfolger,  Küzmics 
und  einigermaßen  auch  das  heutige  Volk,  sondern  auch  der  falsche 
Gebrauch  der  perf.  Verba.  Wenn  dieselben  in  der  Präsensform  durch 
den  deutschen  Einfluß  immer  mehr  als  echte  Praesentia  gefühlt  wur- 
den, so  war  die  natürliche  Folge,  daß  sie  sich  in  demselben  Verhält- 
nisse zum  Ausdrucke  der  Zukunft  des  gewöhnlichen  Hilfsverbums  bodem 
bedienen  mußten.  Der  Mißbrauch  der  perf.  Verba  kommt  vorzugsweise 
in  der  ersten  Person  und  zwar  bei  den  abstrakten  Verba  vor,  die  Um- 
schreibung hat  sich  jedoch  in  allen  Personen  gleich  ausgebreitet  und 
ging  allmählich  auf  alle  perf.  Verba  über  (vgl.  diesen  allmählichen 
Übergang  bei  den  protest.  Schriftstellern).  Infolgedessen  hat  sich  auch 
in  der  Präsensform  konkreter  Verba,  die  auf  diese  Weise  ihre  Futur- 
funktion einbüßte,  mit  der  Zeit  dieser  auffallende  konditionale  Sinn 
ausgebildet,  den  man  heutzutage  im  Slovenischen  als  Aorist  bezeichnet. 

/.  MenceJ. 


4* 


52 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter. 


In  der  Zeit,  als  die  kleine  Republik  Ragusa  ihrem  Ende  entgegen- 
ging, (im  Jahre  1806,  respektive  1808),  sind  in  ihrer  Literatur,  neben 
dem  alten  heimischen  Typu?,  wahrzunehmen  Spuren  von  Einflüssen  der 
neueren  Zeit,  der  fremden  Literaturen  und  philosophischen  Schulen,  zu- 
meist Frankreichs  und  Englands,  welche  selten  direkt,  aber  sehr  oft  auf 
dem  Wege  über  Italien  ihr  zugebracht  wurden.  Ein  ausgesprochener 
Kampf  gegen  die  Wirkung  der  alten  heimischen  Tradition  kommt  in 
Ragusa  gar  nicht  vor,  aber  ein  Gegensatz  im  Leben  und  Streben  läßt 
sich  ganz  gut  fühlen.  Nicht  nur  nach  dem  Fall  der  Republik,  sondern 
schon  am  Anfang  des  XVIII.  Jahrhunderts  ist  ein  Dualismus  in  der  An- 
schauung der  Welt  und  demnach  auch  in  der  Literatur  erkennbar. 
Dagegen  mußte  schon  der  Dichter  Ignatius  Gjorgjid  seine  Stimme  er- 
heben i),  und  später  am  Anfang  des  XIX.  Jahrh.  tadelt  der  lateinische 
Dichter  Junius  Resti  die  Dummheit,  die  die  Welt  beherrscht,  wie  er  selbst 
sagt,  und  noch  später,  wie  auch  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIX.  Jahrh. 
trachteten  die  Dichter  und  Schriftsteller,  wie  Antun  Kaznacic,  Antun 
Kazali,  Mato  Vodopic  und  Medo  Pucic  den  Erinnerungen  an  die  Republik 
und  ihrer  klassischen  Literatur  treu  zu  bleiben,  was  nicht  nur  der  Inhalt 
ihrer  Schriften,  sondern  auch  die  äußere  Form,  zumeist  die  bekannte 
Gewohnheit  in  lateinischer,  italienischer  und  serbokroatischer  Sprache 
zu  schreiben,  zeigt.  Auffallend  ist  es,  daß  sich  im  Kreise  solcher  Män- 
ner auch  der  Dichter  Marko  Bruere  Desrivaux  befand,  obwohl  er 
Sohn  jenes  Volkes  war,  das  die  Ragusaner  der  Freiheit  beraubt  hatte 
und  dessen  Weltanschauung  den  Aristokraten  als  etwas  verderbliches 
erscheinen  mußte. 

Festhaltend  an  den  Prämissen,  daß  das  große  Erdbeben  vom 
Jahre  1667,  welches  der  Stadt  Ragusa  und  ihrer  Bevölkerung  so  viel 


1)  Die  Stelle  im  Vorworte  »Stiocu«  der  Mandaljena  pokornica  (Agramer 
Ausgabe  vom  J.  1851,  S.VII):  ». . .  all  zasve  to  ne  minü  je,  tko  rece:  da  uzdi- 
sanje  Mandaljenino  nije  naravno,  1  da  tko  place  nazbiij  evoj  grieh,  nije  moguö 
ureseno  bolovati«  erinnert  uns  an  diejenige  französische  Schule,  die  behaup- 
tete, man  dürfe  nicht  in  Versen  Klagen  hervorbringen.  Auf  eine  solche  Auf- 
fassung dieser  Stelle  hat  mich  Dr.  Drag.  Prohaska  aufmerksam  gemacht. 


Marko  Braere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  53 

Schaden  verursacht,  die  kleine  Republik  in  tiefen  ökonomischen  Verfall 
gebracht,  auch  den  ersten  Anfang  eines  Verfalles  der  Literatur  bilde; 
sowie,  daß  mit  dem  Ende  des  Freistaates  auch  die  Literatur  aufgehört 
habe,  und  zuletzt,  daß  mit  den  Bewegungen  von  Vuk  und  Gaj  die 
neuere  Literatur  Ragusa's  ihre  locale  Bedeutung  verloren  habe,  liefern, 
mit  wenigen  Ausnahmen  2),  fast  alle  Arbeiten  über  die  Literatur  am 
Ende  des  XVIII.  und  am  Anfang  des  XIX.  Jahrh.  und  über  die  Männer, 
die  daran  teilgenommen  haben,  nur  ein  unklares  Bild.  Das  gilt  auch 
für  unseren  Bruere,  welchen  fast  alle  unsere  Literaturgeschichten  be- 
rücksichtigt haben.  F.  M.  Appendini,  sein  Zeitgenosse,  ist  ihm  dankbar 
wegen  der  Hilfe  beim  Übersetzen  aus  dem  Serbokroatischen  in  das 
Italienische  3].  Safarik  hat  ihm  als  Literaten  auch  eine  kurze  Biographie 
gewidmet*).  Eine  ziemlich  ausführliche  Biographie  des  Dichters  und 
eine  ebenso  genaue  Analyse  seiner  poetischen  Produkte  lieferte  der 
Ragusaner  Medo  Pucic^).  Das  bildete  die  Grundlage  für  unsere  bis- 
herigen Kenntnisse,  und  dasselbe  wurde  immer  und  tiberall  wiederholt 
oder  im  Auszug  mitgeteilt.  Mir  ist  während  meines  kurzen  Aufent- 
haltes in  Ragusa  im  September  des  Jahres  1904,  durch  die  Güte  des  vor 
kurzem  verstorbenen  Herrn  Anton  Fabris,  Redakteur  der  belletristischen 
Zeitschrift  Srd  und  der  politischen  Zeitung  Dubrovnik,  eine  Handschrift 
zur  Hand  gekommen,  deren  Analyse  ich  zum  Gegenstande  meines  Auf- 
satzes nehme. 

Sie  bildet  den  ersten  Theil  eines  großen  Codex,  dessen  Inhalt  sehr 
verschiedenartig  ist.  Dort  gibt  es  Abschriften  aus  ganzen  älteren  ge- 
druckten Ausgaben,  aus  denjenigen  des  Martecchini  in  Ragusa,  neben 
den  Sachen,  die  nie  gedruckt  erschienen  sind.  Von  den  ragusanischen 
Schriftstellern  ist  eine  ganze  Reihe  aus  älterer  und  neuerer  Zeit  vertre- 
ten, ohne  Unterschied  ob  diese  in  lateinischer,  italienischer  oder  serbo- 
kroatischer Sprache  geschrieben  haben.    Was  die  Schreiber  anbelangt. 


2)  An  das  fleißige  Studium  dieser  Periode  der  ragusanischen  Literatur 
hat  eich  in  den  letzten  Jahren  Dr.  Ivan  Kasumovic  geworfen.  Vgl.  seine  Auf- 
sätze im  Skolski  vjesnik  der  bosnisch -herzegovinischen  Landesregierung 
Jahrgang  1900  und  1904,  im  Nastavni  vjesnik  von  Agram  Jahrg.  1902  und  im 
Vienac  Jahrg.  1902. 

3)  Notizie  istorico-critiche.  Tomo  II.  S.  258. 

*)  Geschichte  der  südslawischen  Literatur.  II.  S.  97. 
'')  Marko  Bruere  D6rivaux,  pesnik  slovinski  u  Dubrovniku  im  Almanach 
Dubrovnik  für  das  Jahr  1851,  erschienen  in  Agram  1852. 


54  J-  Nagy, 

so  sieht  man,  daß  dort  mehrere  Hände  gearbeitet  haben;  hier  und  da 
ist  es  notirt,  daß  eine  oder  andere  Seite  Autograph  des  Autors  selbst 
sei.  Verschiedene  Teile  des  Codex  sind  auch,  der  Zeit  der  Nieder- 
schrift nach,  verschieden.  Manchmal  steht  das  Jahr  dabei,  manchmal 
wieder  nur  die  gewöhnliche  Bezeichnung  »u  raslika  vremena«.  Doch 
der  größte  Teil  dürfte  in  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrh.  nieder- 
geschrieben worden  sein.  Im  ganzen  ist  der  Codex  sehr  gut  erhalten. 
Der  volle  Titel  unseres  Teiles  lautet: 

Pjesni  Raflike 

spjevane 

pö  Marcu  Bruere,  Gradjaninu  Dubrovackomu 

i  Consulu  Franackomu 

ü  Travniku,  ü  Skadru  od  Arbanije,  i  ii 

Tripoli,  Gradu  od  Serie, 

gdi  primijnü  godiscta  1822. 

skuppjene  ü  red  vremenä 

pö  Marcu  Marinovichju,  Grad:  Dubruvackomu, 

ki  prilofgi  fgivot,  i 

raflike  svoje  Pjesni  u  hvalu  reccenoga  Pjesnika 

God:  1830. 

Schon  das  einfache  Nachschlagen  in  der  Handschrift  zeigt,  daß 
man  mit  zwei  Teilen,  mit  einem  sozusagen  primären,  und  einem  sekun- 
dären zu  tun  hat.  Man  ersieht  das  leicht  daraus,  daß  die  Seiten 
großentheils  paginiert  sind  und  dann,  zwischen  einzelnen  schon  pagi- 
nierten (primären)  Seiten,  andere  nicht  paginierte  (sekundäre)  einge- 
schoben wurden.  Zu  diesen  letzteren  gehören  auch  einige  Autographen- 
seiten desselben  Marko  Bruere.  Alles  das,  was  die  paginierten  Seiten 
enthalten,  findet  man  auch  in  einer  Handschrift,  die  sich  im  Privatbesitze 
von  Prof.  Resetar  befindet  und  deren  Titel  lautet: 

Poesie 

lUiriche,  Latine  ed  Italiane 

composte 

dal  Signor  Marco  Bruere, 

gia  Console  Generale  di  Francia 

in  Travnik,  Albania,  e  Tripoli  di  S^. 

Raccolte 

da  Marco  Marinovich 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  55 

e  dedicate 

all'  lUustrissimo  Signore 

U  Signor  Jeremia  Gaghicli 

Consigliere  Onorario  di  S.  M.  Imperatore 

di  tutte  le  Rufsie,  suo  Console  a  Ragufa,  e 

Cavaliere  di  S.  Anna  ^). 

Der  Schreiber  dieser  zwei  Handschriften,  Marko  Marinovic,  war 

ein   »gewissenhafter  und   fleißiger  Copist  und   Sammler  ragusinischer 

Manuscripte«. 

In  der  Erhebung  Ragusa' s,  in  den  Jahren  1813 — 1814,  spielte  er 
eine  sehr  bedeutende  Rolle,  wie  aus  dem  Gedenkbuche  über  dieses  Er- 
eignis des  ragusanischen  Patriciers  Marchese  Francesco  Bona  zu  er- 
sehen isf).  Er  hat  auch  zahlreiche  Gelegenheitsgedichte  in  serbo- 
kroatischer und  italienischer  Sprache  abgefaßt,  welche  großenteils 
ungedruckt  in  der  Bibliothek  des  Franciscanerklosters  in  Ragusa  und 
bei  Privaten  aufbewahrt  werden^).  In  seinen  späteren  Jahren  hat  er 
mit  Poesie  und  Prosa  an  der  damals  in  Zara  herausgegebenen  Zeitschrift 
»Zora  dalmatinska«  während  ihrer  ersten  drei  Jahre  (1S44 — 1847)  teil- 
genommen 9).    Er  im  Jahre  1871  in  Ragusa  gestorben. 

Die  citierten  Titel  der  Handschriften  erinnern  an  die  Titel  der 
damaligen  Ausgaben  in  Ragusa.  Daß  diese  Sammlung  von  Gedichten 
des  M.  Bruere  bestimmt  war  im  Druck  zu  erscheinen,  erfahren  wir  aus 
einem  Briefe  des  M.  Marinovic,  welcher  in  Ragusa  vom  2.  November 
1833  datirt  und  folgendermaßen  adressiert  ist: 

Air  Ulmo  Signore 
II  Sig^.  Jeremia  Gaghich  Console  di  S.  31.  Imperatore  di  tutte  le 
Russie^    e  Cavaliere  delV  Imperiale  Ordine  di  S.  Anna  di  Mussia, 


6)  Prof.  Resetar  hat  die  Güte  gehabt,  mir  diese  Handschrift  zur  Ver- 
fügung zu  stellen,  weswegen  es  mir  eine  angenehme  Pflicht  ist,  ihm  meinen 
Dank  auszusprechen. 

'^)  Vgl.  J.  Gelcich,  Ein  Gedenkbuch  der  Erhebung  Ragusas  in  den  Jahren 
1813—1814.  Wien  1882  (Akademie). 

8)  Eine  ziemlich  kleine  handschriftliche  Sammlung  der  Gedichte  des 
Marko  Marinovic,  von  ihm  selbst  niedergeschrieben,  habe  ich  bei  dem  Herrn 
Vicko  Adamovic,  dem  Autor  der  Schrift  »Grada  za  istoriju  dubrovacke  pe- 
dagogije«  und  anderer  kleineren  historischen  Monographien  über  die  Um- 
gebung von  Ragusa,  gesehen. 

«)  I.  Jahrg.  Nr.  10,  16,  23,  24,  40,  44,  53.  II.  Jahrg.  Nr.  20.  22,  35,  38,  47, 
48,  49.  III.  Jahrg.  Nr.  6,  7,  8,  19,  21,  27,  31. 


56  J.  Nagy, 

residente  a  Ragusa  ^^).  Derselbe  befindet  sich  in  den  Handschriften 
gleich  an  erster  Stelle  nach  dem  Citat  aus  dem  Cap.  III  von  Cicero's 
»Somnium  Scipionis:  Omnibus  qui  Patriam  conservarint,  adiuverint, 
auxerint,  certum  esse  in  coelo,  ac  definitum  locum  ubi  beati  aevo  sempi- 
terno  fruantur. 

Der  Brief  beginnt  mit  den  gewöhnlichen  Phrasen ,  dass  der  Name 
eines  Mannes,  der  dem  Vaterlande  und  dem  Volke  wohlwollend  war,  bei 
den  Nachkommen  unsterblich  bleiben  werde.  So  ein  Mann  war  auch 
der  »illustre  Cittadino  Raguseo  e  Console  Generale  Francese  Sig.  Marco 
Brufere«.  Marinovi(5  nennt  ihn  »mio  benefattore  e  liberatore«  und  erklärt 
diese  Benennungen  dadurch,  daß  er  erzählt,  wie  ihn  M.  Bruere,  der 
französischer  Consul  in  Scutari  war,  im  Jahre  1812  aus  dem  Kerker  des 
Ibraim  Beg  von  Antivari  befreite,  als  er,  unter  dem  Verdacht,  er  erzähle 
der  englischen  Regierung  von  Malta  das  Benehmen  des  Beg  in  den 
Handelsfragen,  eingekerkert  wurde.  M.  Bruere  führte  seine  philoso- 
phischen Studien  in  Ragusa  zu  Ende  und  ward  ein  guter  illyrischer 
Dichter.  Seine  dichterische  Begeisterung  zeigte  er  »scrivendo  in  versi 
lUirici  a  molti  suoj  amici  distanti  a  Ragusa  varie  Epistole«.  Diese  Send- 
schreiben mit  den  anderen  lateinischen,  italienischen  und  slavischen 
Gedichten  hat  Marinovic  in  eine  Sammlung  zusammengestellt  und  wid- 
met diese  »Raccolta  ossia  una  parte  delle  sue  Poesie«  dem  Jeremia 
Gagic,  der  ein  ausgezeichneter  Kenner  der  illyrischen  Sprache  sei  »e  fä 
vedere  in  certo  modo  di  essere  degno  Concittadino  dei  rinnomati  letterati 
Solaritsch,  Obradovich  etc.,  che  tanto  lustro  aggiunsero  coi  loro  talenti, 
e  cognizioni  letterarie  all'  incivilimento  dell'  ora  culta  Nazione  Serbica, 
che  gareggia  trä  le  altre  culte  Nazioni  dell'  Illirio«.  Der  Consul  Gagic 
interessirte  sich  im  allgemeinen  für  die  klassischen  Schriftsteller  Ragusas 
wie  Palmotic,    Gjorgjic,   Sorkocevic,   Cubranovic,   Ranjina,    Zlataric, 


10)  Diesem  russischen  Consul  Jeremia  Gagid  hat  ein  anderer  Mann  dieser 
Zeit,  Nikola  Androviö,  ein  Gedicht  gewidmet,  dessen  Titel  lautet:  Per  le 
faustissime  nozze  del  sig.  Geremia  Gaguitsch  coUa  sign.  Eustachia  Lucich.  Ra- 
gU8al826.  Vgl.  Kasumovid,  Dubrovacki  pjesnici  u  XIX  vjeku  prije  ilirskoga 
preporoda  im  bosn.  herc.  Skolski  vjesnik  Jahrg.  1904.  Gagic  korrespondirte 
gerade  in  der  Zeit,  als  ihm  Marinovid  den  Brief  adressierte,  mit  Safarik.  Vgl. 
J.  Jirecek,  Jedan  list  V.  Stef.  Karadzida  i  devet  listova  Jer.  Gagica  pok.  P.  J. 
Safariku  god.  1831—34  in  den  Starine  XIV.  B.,  S.  196—209.  Diesen  Gagid 
erwähnt  auch  Safarik  in  der  Geschichte  der  südslavischen  Literatur  III, 
S.  359 ;  eine  ausführliche  Biographie  ist  bei  Milidevic  im  IToMeHiiK  I.  B.,  S.  88 
bis  91  -zu  finden. 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  57 

Lukaric  und  besonders  für  Gundulic  »il  quäle  da  molti  illustri  letterati 
viene  onorato  col  titolo  di  Prmcipe  de^  Poeti  lllirici  in  premio  d'  un 
tale  Poema,  che  trä  la  Nazione  Illirica  tiensi  nello  stesso  pregio,  siccome 
appresso  i  Greci  l'Iliade  d'Omero(f.  Wichtig  ist  noch  der  Schluß  des 
Briefes,  wo  gesagt  wird,  daß  sich  Gagic  viel  abgab  mit  J)nella  compila- 
zione  del  bramato  Parnaso  Illirico^  colle  Stampe  del  Martecchini,  gia 
annunziato  col  suo  Manifeste  de  2  Maggie  1826«.  Sein  Urteil  über  die 
dichterische  Fähigkeit  des  Bruere  spricht  Marinovic  mit  den  Worten  aus, 
Bruere  bleibe  hinter  den  anderen  slavischen  Dichtern  seiner  Zeit  gar 
nicht  zurück,  da  er  die  lateinische,  italienische  und  serbokroatische 
Poesie  bis  zu  seinem  Tode  immer  mit  dem  besten  Erfolg  gepflegt  habe. 
Der  Brief  endet  mit  einem  großen  Kompliment. 

Also  die  Titel  der  Handschriften  und  der  Inhalt  des  Briefes  weisen 
deutlich  darauf  hin,  daß  man  in  den  Jahren  1830 — 1833  an  eine  Aus- 
gabe von  Bruere's  Gedichten  dachte,  die  aber  nie  zu  Stande  kam. 

Bevor  wir  zu  der,  diesem  Briefe  nachfolgenden  Biographie  unseres 
Dichters  übergehen,  wollen  wir  auf  den  französisch  geschriebenen  Be- 
richt über  den  Tod  des  Renato  Bruere,  seines  Vaters  eingehen.  Es  ist 
das  ein  Auszug  aus  einem  besonderen,  aus  Ragusa  am  5.  August  1817  da- 
tirten,  Briefe,  welcher  sich  in  Nr.  225  des  allgemeinen  Moniteurs  Frank- 
reichs vom  12.  September  1817  befand  ^i).  Das  Blatt,  auf  welchem  das 
geschrieben  ist,  gehört  zu  denjenigen,  welche  wir  als  sekundär  bezeich- 
net haben.  Mit  Bedauern  seien  die  Ragusaner  verpflichtet,  den  Verlust 
des  Herrn  Ritter  Rene  Charles  Bruere  Desrivaux,  Mitglied  der  Ehren- 
legion, ehemaligen  Generalkonsul  und  Geschäftsträger  Frankreichs  in 
Ragusa  12)  anzuzeigen,  der  in  der  Nacht  vom  2.  auf  den  3.  August,  im 
Alter  von  81  Jahren,  verschieden  sei.  Dieser  ehrenwerte  Greis  habe 
die  Hälfte  seines  langen  Lebens  in  Ragusa  verbracht  und  sei  für  den 
kleinen  Staat  ein  Schutzengel  in  mehreren  verhängnisvollen  Zeiten  ge- 
wesen. Es  wird  dann  im  kurzen  sein  Leben  dargestellt.  Renato  Bruere 
wurde  in  der  Guierche  (Departement  d'Indre  &  Loire)  am  5.  Juli  173(3 


")  Extrait  du  No.  225  du  Moniteur  Universel  de  France.  Paris  Vendredi 
12.  Septciubre  1817. 

12)  R.  Bruere  führte  den  Titel  »charg6  d'iiflfaires  et  commissaire  genöral 
des  relations  commerciales  de  hi  Republique  fran^aise  ä  Raguse«.  \'^\.  Kon- 
stantin Jirecek,  Poselstvi  republiky  dubrovnicke  k  cisarevne  Katerinö  II. 
V.  I.  1771 — 1775.  V  Pruze  1893  (Rozpravy  ceske  akadoraie.  Kocnik  II,  trida 
II,  cislo  2),  S.  79. 


58  J-  Nagy, 

geboren.  Im  Alter  von  14  Jahren  trat  er  in  die  diplomatische  Laufbahn 
ein  und  folgte  dem  Marquis  Havrinoourt  in  der  Gesandtschaft  vom 
Nord  als  Gesandtschaftssekretär.  Als  Havrincourt  starb,  ersetzte  er  ihn 
in  der  Eigenschaft  eines  Beauftragten  Seiner  Majestät  in  den  Nieder- 
landen und  setzte  daselbst  die  Funktionen  drei  Jahre  fort,  bis  er  durch 
den  Baron  Breteuil  ersetzt  wurde.  In  dieser  Zeit  wurde  er  von  Lud- 
wig XV.  zu  jener  kleinen  Anzahl  von  Ehrenleuten  des  berühmten  ge- 
heimen Briefwechsels  zugelassen.  Während  seiner  Konsulartätigkeit 
in  Ragusa  hatte  er  die  Ehre,  dort,  als  Bevollmächtigter  Ludwig's  XV., 
einen  Handelsvertrag  zwischen  Frankreich  und  der  Republik  Ragusa 
abzuschließen  und  zu  unterzeichnen,  bei  welclier  Gelegenheit  er  zum 
Geschäftsträger  S.  M.  in  der  erwähnten  Residenz  ernannt  wurde.  Zum 
Schluß  wird  sein  Leichenbegängniss  beschrieben  und  der  letzte  Satz 
dieses  Schreibens  lautet:  »Herr  Bruere  Desrivaux  hinterläßt  einen  ein- 
zigen Sohn,  der  ebenso  30  Jahre  hindurch  in  der  Konsularlaufbahn 
verwendet  wurde,  die  er  mit  Ehre  erfüllte,  und  es  ist  sehr  vorteilhaft, 
daß  er  bei  uns  bekannt  ist  durch  die  Leichtigkeit,  mit  welcher  er  spricht 
und  in  mehreren  Sprachen  in  Prosa  und  Reimen  schreibt,  unter  anderm 
der  slavischen  Sprache,  welche  er  ebenso  gründlich  beherrscht,  wie 
jeder  von  uns«. 

Der  Ton,  in  welchem  dieses  Schreiben  abgefaßt  ist,  entspricht 
freilich  der  Rolle,  welche  der  Vater  des  Dichters  M.  Bruere's  in  Ragusa 
spielte,  steht  aber  im  direkten  Gegensatz  zu  seinen  Briefen,  in  welchen 
er  die  Aristokratie  der  ragusanischen  Republik  feindselig  behandeltes). 
Die  intimste  Behandlung  seitens  der  patricischen  Familien  benutzte  er 
natürlich  im  Interesse  Frankreichs  ^^).  Über  die  Komplimente  der 
Ragusaner  dagegen  wundert  man  sich  nicht.  Man  begegnet  dieser  Art 
der  diplomatischen  Verhandlungen  immer  und  besonders,  wenn  sie  mit 
den  Franzosen  zu  tun  hatten  i^). 

Wie  gesagt,  dem  Briefe  folgt  eine  y>Breve  Necrologia  del  Sig'"'. 
Marco  Bruere^  giä  Console  ge)i^^.  cli  Francia  in  Scutari  e  Tripoli. 
Scritta  da  Marco  Marinovich  di  Ragusa  a.  Ich  will  hier  eine  Bio- 
graphie des  Dichters  zusammenzustellen  versuchen  mit  Hilfe  der  Notizen 


13)  J.  K.  Svrljuga,  Prinosi  k  diplomatskim  odnosajem  Dubrovnika  s 
Franceskom.   Starine  XIV,  S.  58—79. 

1*)  K.  Jirecek,  Op.  cit.  S.  69  und  Kirchmayer,  Das  Ende  des  aristokra- 
tischen Freistaates  Ragusa.    Zara  1900,  S.  33. 

15)  Svrljuga  Op.  cit.  S.  59—63. 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  59 

des  M.  Marinovic,  dem  es  angenehme  Pflicht  war,  wie  er  selbst  sagt, 
das  Leben  und  die  Verdienste  von  solchen  Männern,  die  sich  dem  Vater- 
lande und  der  Menschheit  gewidmet  haben ,  den  Nachkommen  zu  über- 
liefern, wie  das  auch  Plutarch  mit  seinen  Viten  gemacht  habe. 

Marko  Bruere,  geboren  zu  Lyon  in  Frankreich,  stammte  aus  einer 
achtbaren  Familie  ^^j.  Seine  ersten  Studien  begann  er  in  einem  CoUe- 
gium  von  Marseille  und  setzte  dieselben  in  dem  CoUegium  der  Piaristen 
von  Ragusa  fort,  wo  er  auch  seine  philosophischen  Studien  zu  Ende 
führte.  In  Ragusa  lernte  er  die  lateinische,  italienische  und  illyrische 
Sprache,  und  fing  an  in  allen  drei  zu  schreiben.  Im  Jahre  1800  wurde 
er  zum  französischen  Konsul  von  Travnik  in  Bosnien  ernannt.  Aus 
diesem  »innospite  luogo«  schrieb  er  Episteln  in  illyrischen  Versen  an 
manche  Freunde  in  Ragusa;  hier  stellte  er  manche  Spottgedichte  und 
Sonette  in  italienischer  Sprache  zusammen  und  übersetzte  aus  dem 
Griechischen,  Lateinischen  und  Illyrischen  ins  Italienische.  Noch  ist  zu 
erwähnen  «un'  Oda  Latina  dal  medesimo  composta  pella  nascita  del 
Re  di  Roma  (Francesco  Giusepe  Carlo  Napoleone)  che  venne  dai  dotti 
lodata«.  Außer  der  Poesie  beschäftigte  er  sich  auch  mit  Musik  und 
»spielte  seine  Zither  wie  Apollo«.  Im  allgemeinen  »wollte  er  wie  Epami- 
nondas  alles  kennen,  was  einem  guten  Bürger  von  Nutzen  sein  könnte«. 
In  Travnik  heiratete  er  eine  junge  Bosniakin  und  aus  dieser  Ehe  ent- 
stammten zwei  Kinder.  Da  seine  Frau  bald  starb,  so  heiratete  er  zum 
zweiten  Male :  die  zweite  Frau  war  eine  gewisse  Mara  Kisid,  gebürtig 
aus  Breno,  welche  früher  Dienstmädchen  im  Hause  des  Bruere  war. 

Endlich  konnte  er  jenen  »paese  estero  ed  innospite«  verlassen. 
Das  französische  Ministerium  ernannte  ihn  zum  französischen  General- 
konsul von  Scutari  in  Albanien.  Hier  ward  er  ein  intimer  Freund  des 
Pascha  und  hatte  die  Möglichkeit  die  Christen,  welche  in  jenen  Ort- 
schaften Handel  trieben,  gegen  die  Albanesen  in  Schutz  zu  nehmen. 


16)  Auf  die  Notizen  über  den  Vater  des  Dichters  wollen  wir  nicht  Rück- 
sicht nehmen,  da  über  ihn  schon  etwas  gesagt  wurde.  Es  wundert  uns  nicht, 
wenn  man  hier  auch  darüber  etwas  hört,  da  der  erwähnte  französische  Be- 
richt zu  den  sekundären  Blättern  der  Handschrift  gehört.  Es  sei  nur  er- 
wähnt, daß  in  der  Uandschrift  des  Prof.  Resetar,  als  das  Todesjahr  des  Re- 
nate Bruere,  1825  angegeben  wird,  aber  das  muß  eine  Verwechshing  mit  dem 
Todesjahre  des  Dichters  sein,  da  hier  auch  später,  wo  die  Rede  vom  Tode 
des  Dichters  ist,  das  Jahr  nicht  vollständig  angegeben  wird,  sondern  nur  die 
Ziflfern  182...  uotirt  sind. 


60  J-Nagy, 

Von  dem  neuen  Herrscher  Ludwig  XVIII.  wurde  er  im  Jahre  1814 
von  Scutari  nach  Ragusa,  als  provisorischer  Konsul  von  Franlireich  ver- 
setzt, aber  bald  nachher  nach  Frankreich  berufen.  Im  Jahre  1825 
wurde  er  wieder  zum  französischen  Generalkonsul  von  Tripoli  in  Soria 
eraannt,  wo  er  auch  in  demselben  Jahre  starb.  Bald  nach  ihm  starb 
auch  seine  Gattin.  Sein  Sohn  Renato  lebte  in  Frankreich  und  die  Toch- 
ter aus  der  ersten  Ehe  Namens  Teresa ,  die  mit  dem  Sohn  des  öster- 
reichischen Konsuls  in  Albanien  Tedeschini  verheiratet  war,  starb 
noch  vor  dem  Tode  des  Vaters.  Medo  Pucic,  in  seinem  erwähnten  Auf- 
satze (Dubrovnik  für  das  Jahr  1851),  sagt,  daß  eine  Tochter  aus  der 
zweiten  Ehe  mit  dem  Ragusaner  Paulus  Peric,  der  im  Dienst  des  fran- 
zösischen Königs  Louis  Philipp  stand,  verheiratet  war. 

So  erzählt  uns  M.  Marinovid  die  Biographie  des  Dichters!  Aus 
dieser  »Necrologia«  ist  es  wert,  noch  eine  Stelle  zu  zitieren,  die  sich  auf 
diese  Sammlung  der  Gedichte  Bruere's  von  Marinovic  bezieht,  und  fol- 
gendermaßen lautet:  »Egli  coltivo  la  Poesia  in  queste  tre  lingue,  non 
senza  oltimo  successo  avendo  dato  saggio  di  tali  sue  composizioni,  che 
per  cura  dello  stesso  Raccoglitore  si  sono  conservate,  e  riunite  in  questo 
libretto,  con  la  dispiacenza  perrö  di  non  aver  potuto  comprendere  tutte 
quelle  ch'  il  medesimo  compose  uegli  ultimi  anni  della  sua  vita«.  Mau 
sieht,  daß  diese  Sammlung  unvollständig  ist.  Zum  Schluß  werde  ich 
darüber  auch  ein  paar  Worte  sagen. 

Nach  dieser  biographischen  Einleitung,  welche  den  besten  Theil 
der  Handschrift  bildet,  kommen  einige  Gedichte,  an  M.  Bruere  von  seinen 
Zeitgenossen  und  Freunden  gewidmet.  An  erster  Stelle  sind  fünf  Ge- 
dichte, von  dem  Schreiber  der  Handschrift  gelegentlich  des  Todes 
Bruere's  verfaßt,  welche  nur  phraseologische  Lobpreisungen,  wie  schon 
aus  den  Überschriften  zu  ersehen  ist,  enthalten.  Nur  phraseologisch 
sind  auch  die  Anmerkungen,  welche  Marinovic  einzelnen  Gedichten 
hinzugefügt  hat.  Im  ersten  Gedichte,  überschrieben  »  U  hvalu  PriJ- 
fvarsnoga  Fjesnika^  %  Gradjmiina  Dubrovackoga  Marca  Bruere 
Consula  Franceskoga  ü  Tripoli  od  Serie  Marca  Marinovichja  PJe- 
san«  erinnert  sich  der  Dichter  eines  passierten  Ereignisses  bei  Ibrahim 
Beg  und  der  Verdienste  Bruere's  für  seine  Befreiung,  was  wir  schon 
erwähnt  haben.  Es  folgen  jetzt  zwei  Gedichte  »  U  smart  recenoga 
Bruera.  Istoga  Pjcsnikat^  welche  -oNadgrohnizev.  genannt  werden 
und  dann  eine  y)Ode  Anacreonticaa  in  italienischer  Sprache  mit  dem- 
selben Inhalt  und  Tendenz.    In  der  langen  Anmerkung  dazu  wird  die. 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  61 

Tugend  Bruere's  stark  hervorgehoben.  Noch  sind  sechs  serbokroatische 
Strophen,  welche  M.  Marinovic  für  ein  Porträt  des  Bruere  gedichtet  hat, 
zu  finden. 

Die  nächstfolgende  Gruppe  dieser  Widmungsgedichte  enthält  drei 
Epigramme  des  Junius  Resti.  Resti  bezeugt  dem  Freund  seine  ewige 
Freundschaft  und  schickt  ihm  als  Dichter  »ex  Insula  Media«  eine  »qua- 
druplicem  coronam  scilicet  ex  haedera,  laura,  olea  et  myrto  contextam« 
als  Symbole  der  Göttergaben  von  Laenaeus,  Phoebus,  Pallas  und  Venus. 
Nach  diesen  Gedichten  findet  man  die  Bemerkung,  daß  M.  Bruere  dem 
Resti  »con  l'inchiostro  di  China«  ein  Porträt  gezeichnet  und  dieser  ein 
lateinisches  Epigramm  von  vier  Versen  hinzugefügt  habe. 

Zuletzt  preist  den  M,  Bruere  sein  Zeitgenosse  Urbanus  Appendini, 
Bruder  des  Historikers  F.  M.  Appendini.  Im  Gedichte  »Ad  Marcum 
Bruerium  pro  Gallicorum  Imperaiore  apud  Alba?iiae  Dij7iastam 
negotiorum  gestorerrm.  fühlt  sich  Appendini  verpflichtet,  ihm  zu  danken, 
weil  er  ihn  als  ausgezeichneten  Dichter  gepriesen  hat.  Da  ihm  aber 
»non  faciles  favent  Camaenae«  so  kann  er  nur  seinem  Wunsch  Ausdruck 
geben,  daß  Bruere's  Sohn  dem  Vater  ähnlich  werde,  zur  Zierde  ihm 
und  dem  Vaterlande. 

Der  dritte  Teil  der  Handschrift  enthält  die  eigentlichen  Gedichte 
des  M.  Bruere  in  lateinischer,  italienischer  und  serbokroatischer  Sprache. 
Wegen  der  vielen  Nachträge  findet  man  manchmal  nebeneinander  Ge- 
dichte, die  inhaltlich  nicht  zusammenfallen.  Wir  wollen  dieselben  nach 
einigen  Gruppen,  mit  Rücksicht  auf  den  Inhalt,  durchnehmen. 

In  die  erste  Gruppe  sind  Gedichte  zu  rechnen,  deren  Inhalt  sich 
auf  das  ragusanische  Leben  bezieht  und,  mit  Ausnahme  von  einem 
kleinen  Faschingslied,  alle  in  serbokroatischer  Sprache  geschrieben 
sind.  Schon  bekannt  sind  die  zwei  Gedichte  über  die  Zeremonien,  welche 
für  die  Dienstmädchen  in  Ragusa  bestimmt  waren,  welche  M.  Bruere  im 
Jahre  1805  gedichtet  hat.  Das  erste  Gedicht  ist  überschrieben  Cuppe 
und  das  z^qMq  Spravjenize^'^).  Man  muß  hervorbeben,  daß  Bruöre 
mit  diesen  Gedichten ,  nicht  ein  Bild  der  ragusanischen  Familiensitten 


i'')  Cnpa  oder  cuniprelica  war  in  Ragusa  das  Dienstmädchen  vor  der 
sprava  genannt,  d.  h.  vor  dem  Fest,  welches  für  das  Mädchen,  das  im  Hause 
eines  Herrn  eine  bestimmte  Zeit  im  Dienst  geblieben  ist,  veranstaltet  wurde. 
Ausführlicheres  darüber  kann  man  bei  Vuk  im  Wörterbuch  unter  diesem 
Schlagwort  finden.  Den  Vuk  korrigiert  und  erweitert  in  dieser  Beziehung 
Metlo  Pucic  in  der  Biographie  des  Marko  Bruere. 


62  J-  Nagy, 

liefern  wollte,  sondern  nur  die  Meinungen  und  Wünsche  der  cupe  und 
spravljenice  darzustellen  trachtete.  Dieselbe  Tendenz  hatte  er  im 
nächstfolgenden  Gedichte,  Svjefdofnanzi  betitelt,  in  welchem  zwei 
Landstreicher  in  der  Nacht  von  ihren  astronomischen  und  astrologischen 
Kenntnissen  erzählen.  Diese  drei  Gedichte  waren  bestimmt  im  Fasching 
bei  den  Maskeraden,  für  welche  A.  Kazna^ic  (Dubrovnik  für  das  Jahr 
1868,  S.  124)  sagt,  daß  dieselben  noch  in  seinen  Jugendjahren  in  Mode 
waren,  von  den  Begleitern  gesungen  zu  werden.  Ein  Faschingslied  ist 
noch  V Arcolajo  Canzonetta  per  Musica  Composta  dal  Sig^.  Bruere 
a  Ragusa  nel  Carnevale  del  1810^  in  welchem  das  Glück,  die  Zeit 
und  das  Frauenherz  mit  einer  Winde  verglichen  werden  ^^j.  Wie  man 
aus  der  Überschrift  ersieht,  war  das  kleine  Gedicht  auch  bestimmt, 
öffentlich,  mit  musikalischer  Begleitung,  gesungen  zu  werden. 

Die  zweite  Gruppe  bilden  die  Gelegenheitsgedichte  und  Send- 
schreiben. Man  kann  beide  Arten  zusammenfassen,  da  dieselben,  dem 
Inhalt  und  der  Form  nach,  von  einander  fast  gar  nicht  verschieden  sind. 
Von  den  geistlichen  Produkten  Bruere's  bilden  sie  den  Hauptteil;  für  die- 
selben wird  sowohl  die  serbokroatische  als  auch  die  lateinische  und  italie- 
nische Sprache  angewendet.  Das  erste  Gedicht  ist:  Gosparu  Lovrj'enzu 
Giromelli.  Pjesan  rafgovorna.  JJ  smart  Ghiura  Detorres  Gljubo- 
7nudrofnaoza^  i  Ljecnika  Duhr.  Po  Marku  Bruere.  1802  betitelt; 
mit  diesem  gibt  der  Dichter  dem  Freund  den  Rat,  sich  trösten  zu 
wollen.  Desselben  Inhalts  ist  das  nächstfolgende  lateinische  Sapphicon 
und  im  italienischen  Sonett  Paria  il  Sig^' .  Dottore  Lorenzo  Giromella 
bringt  Bruere  die  Klage  des  Freundes  zum  Ausdruck.  Außer  diesem 
Dr.  Giromella,  war  ein  Freund  des  M.  Bruere  in  Ragusa  auch  der  latei- 
nische und  italienische  Dichter  Andreas  Altesti.  An  ihn  hat  er  aus 
Travnik  zwei  Sendschreiben  in  Versen,  ein  serbokroatisches  und  ein 
italienisches,  gerichtet.  Beide  gehören  zu  den  längsten  Gedichten 
Bruere's;  das  erste  enthält  96  Zehnsilber  und  das  zweite  156  »versi 
sciolti«.  Was  den  Inhalt  anbelangt,  so  erinnert  sich  der  Dichter  mit 
Zufriedenheit  der  schönen  Jugendjahre,  welche  er  mit  dem  Freund  in 
Ragusa  verbracht;  er  gratuliert  ihm  und  seinen  Eltern,  daß  er  glücklich 
von  der  Reise  nach  Hause  zurückgekehrt,  und  wünscht  ihm  schließlich 
Zufriedenheit  und  Genuß  im  ganzen  Leben.  Charakteristisch  sind  einige 
Details  der  Gedichte,  so  besonders  die  Äußerungen  über  Bruere's 
Aufenthalt  in  Travnik.    Im  serbokroatischen  Sendschreiben  sagt  er: 

IS)  Arcolaio  =  die  Winde. 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  63 

S'  tega  fcjalim  ghdje  ii  pustoj  tamnosti 
Od  ne  blaghe  innostranne  femglje 
Dni  prohode  od  moje  mladosti, 
Punni  brighe,  i  faludne  fceglje 

und  im  italienischen : 

Disgiunto  io  vivo 

Da  ogni  a  me  caro  objetto,  in  uiezzo  a  strane 
Barbare  genti,  ed  a  pigliar  costretto 
Barbaro  anch'  io  ed  abito  e  costume. 

Ragusa  nennt  er  sein  eigenes  Vaterland,  wo  er  im  Kreise  der  Freunde 
und  besonders  Feric's  den  Musen  diente.  Jetzt  fühlt  er  den  Unterschied 
in  dem  Aufenthalt  zwischen  hier  und  dort,  und  sagt  für  Ragusa:  Quel 
suol  che  abbondonai,  e  che  tant'  amo  e  in  vau  sospiro  ^^j !  Das  italie- 
nische Sendschreiben  ist  datiert  in  Travnik  am  27.  Juli  1795  und  ver- 
sorgt mit  einem  postscriptum,  in  welchem  M.  Bruere  sagt,  er  habe  dem 
Freund  den  Brief  in  Versen  geschrieben,  obwohl  der  Ort,  die  Nachbar- 
schaft und  seine  eigene  schlechte  Laune  ganz  anderes  erfordern  würden. 
Er  hoflft  doch,  die  Verse  werden  dem  Freund  gefällig  sein  und  ihn  an- 
regen, auch  in  Versen  zu  antworten.  Zum  Schluß  bittet  er  den  Altesti, 
den  Dichter  Feric  seinerseits  zu  grüßen.  Dieses  Sendschreiben  wurde 
dem  Altesti  nicht  direkt,  sondern  durch  den  Vater  Bruere's  gesendet, 
der  dazu  einen  kurzen  Brief  in  französischer  Sprache,  datiert  aus  Ragusa 
am  2.  August  1795,  hinzugefügt  hat.  Was  den  Text  anbelangt,  so 
findet  man  in  dem  serbokroatischen  Sendschreiben  in  unserer  Hand- 
schrift vier  Strophen  mehr,  als  in  derjenigen  des  Prof.  Resetar.  Das 
italienische  Sendschreiben  wieder  steht  auf  Seiten,  die  der  Pagination 
entbehren  und,  wie  im  allgemeinen  gesagt,  in  der  Handschrift  des  Prof, 
Resetar  findet  man  es  nicht. 

'  Von  den  zeitgenössischen  ragusanischen  Literaten  waren  Bruere's 
Freunde  noch  Peter  Aleti  und  Anton  Sorgo.  An  den  ersten  rich- 
tete er  zwei  Sendschreiben;  im  ersten  tadelt  er  ihn,  weil  er  nach  Paris 


19)  Ein  Analogen  zu  diesen  Äußerungen  Bruere's  über  Travnik  findet 
man  in  der  Korrespondenz  des  späteren  französischen  Konsuls  daselbst  Pierre 
David.  Wie  M.  Bruere,  so  stand  auch  dieser  in  sehr  freundscliaftlichen  Be- 
ziehungen zu  dem  Pascha,  aber  von  der  Bevölkerung  wurde  er  immer  ge- 
hasst.  Vgl.  Vjekoslav  Jclaviö,  Iz  prepiske  francuskog  gcneralnog  Konzulata 
u  Travniku  u  godinana  1807—1814  im  Glasnik  des  bosn.-herceg.  Landes- 
museums,  XVI.  Jahrgang  (1904),  S.  267—283  u.  457-484. 


64  J-  Nagy, 

abgereist  sei,  seine  Vaterstadt  Ragusa  und  seine  ganze  Habe  hinter- 
lassend ;  im  zweiten  dagegen  gibt  er  seinem  Schmerz  und  seiner  Sorge 
Ausdruck,  als  Aleti  aus  Ragusa  nach  Italien  vertrieben  wurde.  An 
Anton  Sorgo  schrieb  er  sein  Sendschreiben,  als  sich  dieser  für  die  Reise 
nach  Neapel  vorbereitete.  Er  fragt  ihn,  warum  er  liagusa  verlassen  will? 
Ist  ihm  das  Vaterland  zuwider  geworden  und  will  er  in  der  Welt  das 
Bessere  suchen,  so  möge  er  bedenken,  daß  es  nirgends  besser  als  im 
eigenen  Land  sein  kann,  und  daß  man  nirgends  eine  zweite  Mutter  oder 
andere  Schwestern  finden  werde.  Liegt  dagegen  die  Ursache  seiner 
Reise  im  Streben  nach  dem  Wissen,  so  wünsche  er  ihm  glückliche  Reise 
und  daß  er  als  ein  Besserer  und  Nützlicherer  zurückkehre. 

Zu  den  Gelegenheitsgedichten  Bru^re's  kann  man  noch  zwei  latei- 
nische hinzuzählen,  die  er  gelegentlich  eines  für  Ragusa  großen  Ereig- 
nisses, d.  h.  als  ein  Schiff  in  Gravosa  vom  Stapel  gelassen  wurde,  ge- 
dichtet hat.  In  der  Handschrift  steht  folgendes:  Nel  momento,  che  si 
doveva  varare  dal  cantiere  di  Gravosa;  cio^  nel  1816  la  nave  Ragusa 
distinta  col  nome  di  Bete,  ossia  del  celebre  antico  Matematico  Marino 
de  Ghetaldi  di  Ragusa,  fnrono  composti  varj  versi  Latini,  lUirici  ed 
Italiani,  tra  i  quali  i  seguenti  del  Sig^  Maro  Bruere,  allora  Console  di 
Francia  a  Ragusa«.  In  der  Biographie  des  Ragusaners  Faustino  Gagli- 
uffi  (1765 — 1834),  des  bekannten  Professors  der  Rechte  an  der  Uni- 
versität von  Genua  (Slovinac  1882,  S.  234 — 236)  wird  erzählt,  daß 
auch  er  für  diese  Gelegenheit  das  Gedicht  Navis  Ragusea  betitelt,  ge- 
dichtet habe,  und  daß  sich  dasselbe  in  einem  Büchlein  mit  allen  anderen 
Gedichten,  mit  welchen  die  ragusanischen  Literaten  das  neue  Schiff 
begrüßten,  befinde.  Das  erste  lateinische  Gedicht  Bruere's  ist  ein  Epi- 
gramm, und  das  zweite  ein  längeres  Gedicht,  nur  Hendecasyllabi  über- 
schrieben. In  beiden  wird  das  Schiff  als  das  schönste  und  beste  der 
illyrischen  Küste  dargestellt. 

0  pulcherima  navium,  quot  olim 
Fuere  lllyrica  atque  erunt  in  ora. 

Wie  in  der  besprochenen  »Necrologia«  erwähnt  wird,  lobten  die 
Gelehrten  jene  Gedichte,  welche  M.  Bruere  gelegentlich  der  Geburt  des 
Königs  von  Rom  dichtete.  Auf  den  paginierten  Seiten  51  und  52  sind 
vier  italienische  Sonette  unter  dem  Titel  Per  la  Nasdta  del  Re  di 
Homa  zu  finden,  die  aus  einer  gedruckten  Ausgabe  von  Martecchini  im 
Jahre  1811,  abgeschrieben  wurden.  Für  den  neuen  König  ist  Bruere 
sehr  begeistert  und  demnach  beginnt  er  das  erste  Sonett  mit  den  Versen : 


Marko  Bru6re  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  65 

Gloria  alla  nostra,  alle  altre  genti  pace 
Nascendo  arreca  del  mio  sir  la  prole. 

Während  die  ganze  Welt  wegen  dieses  Ereignisses  jubelt,  sinnt 
England,  das  hier  mit  dem  poetischen  Namen  Albion  bezeichnet  wird, 
wie  man  Europa  durch  Zwietracht  trennen  könnte.  Alles  ist  umsonst  1 
Es  gibt  kein  so  barbarisches  und  fremdes  Land  mehr,  das  sich  auf  den 
neuen  Stern  nicht  ft-euen  würde.  Auch  der  Brite  weiß  es  und  sieht, 
daß  mau  boshafte  Absichten  verlassen  soll.  Diese  Grundidee  spiegelt 
sich  in  allen  vier  Sonetten  wieder. 

Wie  früher  M.  Brufere  einem  Freund  neben  den  serbokroatischen 
und  italienischen  Gedichten  auch  ein  lateinisches  gewidmet  hat,  so  hat 
er  auch  jetzt  gelegentlich  der  Geburt  des  Königs  von  Rom,  ein  lateini- 
sches Sapphicon  verfaßt.  In  der  Handschrift  des  verstorbenen  Fabris 
ist  das  Gedicht  nicht  zu  finden,  aber  wohl  in  derjenigen  von  Prof.  Resetar 
unter  der  langen  Überschrift:  In  Regis  Romae  Natalibus  Vates  a 
Populorum  exultatione  admonitus  Gaudia  Magni  Napoleonis  celt- 
brare  conatur  sese  Imparem  confessus  ad  illius  Heroica  gesta  digne 
canenda.  Der  eigentliche  Titel  des  Gedichtes  lautet:  Ad  Ltjram  Sap- 
pliicon.  Hier  wird  dem  jungen  König  jedes  mögliche  Glück  und  alle 
Tugenden  prophezeit;  mit  ganz  klassischen  Ausdrücken  wird  er  geprie- 
sen und  unter  anderem  heißt  es,  daß  er  ein  Nacheiferer  von  Roniulus 
und  Numa  sein  werde. 

Die  Gelegenheitsdichtung  bildete  in  der  Zeit  des  M.  Bruere  den 
Hauptteil  der  ragusanischen  poetischen  Produkte  im  allgemeinen  und 
deshalb  wundert  man  sich  nicht,  wenn  er  dem  Sohne  Napoleons  die  er- 
wähnten zwei  Gedichte  gewidmet  hat.  So  ist  es  auch  gar  nicht  auf- 
fallend, wenn  er  Franz  I.  von  Österreich  mit  einem  lateinischen  Sonett 
(in  der  Handschrift  Sonidus)  begrüßt  hat,  da  es  bekannt  ist,  daß  die 
besten  Dichter  von  Ragusa  am  Anfang  des  XIX.  Jahrb.  eine  Sammlung 
von  eigenen  Gedichten  bei  Martecchiui  in  Ragnsa  herausgegeben  hatten, 
als  I'ranz  I.  im  Jahre  1818  ihre  Stadt  besuchte.  Nach  Kasumovic 
(Vienac  1902,  S.  443 — 444)  war  M.  Bruere  in  dieser  Sammlung  gar 
nicht  vertreten  und  doch  findet  man  in  unserer  Handschrift  das  er- 
wähnte Sonett,  in  welchem  der  Kaiser  größer  als  August,  Trajan,  Nerva 
bezeichnet  wird;  der  Dichter  wendet  sich  am  Schlüsse  an  den  Kaiser 
mit  der  Frage : 

Quis  nos  esse  tuos,  te  nostrum  esse  nogabit? 

Ein  Ganzes  unter  sich  bilden  vier  italienische  Sonette,  die  M.  Bruöre 

Archiv  für  slavischo  Philologie.    XXVIII.  5 


66  J.  Nagy, 

gelegentlich  des  Falles  der  Republik  Venedig  gedichtet  und  die  von  ihm 
selbst  niedergeschrieben  sind.  Daß  die  Seiten  der  Handschrift,  welche 
diese  Sonette  enthalten,  in  der  Tat  Autographen  des  Bruere  sind,  er- 
fahren wir  aus  einer  Note,  welche  Marinovic  einer  Übersetzung  Bruere's 
aus  dem  Griechischen  hinzufügte.  Es  heißt  dort:  Traduzione  (V  una 
canzonetta  Greco-volgare  fatta  da  M.  Bruere  e  trascritta  di  sua 
propria  mano.  Ein  graphischer  Vergleich  dieses  Liedes  mit  den  früheren 
Sonetten  zeigt,  daß  alle  von  einer  Hand  geschrieben  sind.  Was  die 
Gedankenreihen  in  denselben  anbelangt,  so  sagt  der  Dichter  im  ersten 
Sonette,  überschrieben:  In  Occasione  della  Democratizzazione  Del 
Governo  Veneto,  accaduta  nel  1797  Sotto  gl  auspicij  delT  Esercito 
Francese  Commandato  dal  Generale  Bonaparte  mit  sehr  trivialen 
Ausdrücken,  daß  Venedig  endlich,  wie  eine  alte  Dirne,  gefallen  sei. 
Im  zweiten,  das  einen  Dialog  zwischen  Venedig  und  Bonaparte  bildet, 
spricht  jenes,  es  könne  nicht  begreifen,  wie  Napoleon  den  Völkern  die 
Freiheit  schenken  und  Venedig  selbst  von  seinen  Tyrannen  nicht  be- 
freien wolle.  Im  dritten  will  Venedig  dem  General  Bonaparte  beweisen, 
daß  Adrias  Tochter,  die  so  lange  Zeit  ihre  Selbständigkeit  zu  bewahren 
imstande  war,  doch  der  Freiheit  am  würdigsten  wäre.  Zuletzt,  im  vier- 
ten, bittet  das  venetianische  Volk  Bonaparte,  es  von  seinen  hundert 
Unterdrückern  befreien  zu  wollen.  Der  Inhalt  dieser  Sonette  und  ihr 
Ton  führt  uns  zu  einem  auffallenden  Gedanken  und  zur  Frage,  wie 
konnte  ein  Mann,  der  der  Demokratisierung  im  französischen  Sinne  ganz 
und  gar  ergeben  war,  in  so  großer  Liebe  bei  den  Ragusanern  stehen, 
wie  das  bei  M.  Bruere  der  Fall  gewesen,  oder  wie  kam  er,  der  haupt- 
sächlich in  dem  aristokratischen  Ragusa  erzogen  war,  dazu,  das  Ende 
der  ebenfalls  aristokratischen  Republik  Venedig  zu  preisen  ?  Vielleicht 
waren  diese  Sonette  den  damaligen  Ragusanern  gar  nicht  bekannt,  da 
wir  auch  dieselben  im  Autograph  und  in  keiner  Kopie  besitzen.  Von 
anderer  Seite  ist  wieder  zu  bemerken,  daß  Bruere  seinem  französischen 
Patriotismus  nicht  untreu  werden  wollte,  und  daß  man  in  allen  seinen 
literarischen  Produkten  gar  keine  Stelle  finden  kann,  wo  er  sich  der 
glücklichen  Zeiten  der  ragusanischen  Republik  erinnert.  Wenn  er  ein- 
mal dem  Freund  Sorgo  gestanden  hat,  daß  er  nicht  imstande  sei, 
französische  Verse  zu  schreiben 20)^  so  hat  er  sich  anderseits  eines  armen 
französischen  Dichters  im  post  scriptum  zu  dem  italienischen  Send- 


20)  Slovinac  1878,  Nr.  14,  S.  157. 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  67 

schreiben  an  Andreas  Altesti  erinnert,  der  auch  seinem  Freund  schmerz- 
volle Verse  gesendet  hatte.  Wenn  er  also  kein  französischer  Literat 
war,  konnte  er  doch  ein  in  der  französischen  Literatur  belesener  Mann 
sein.  Bei  der  Lektüre  der  Sonette,  von  welchen  die  Rede  ist,  denkt  man 
unwillkürlich  an  die  Briefe  des  Vaters  des  Dichters ! 

Von  den  Gelegenheitsgedichten  des  M.  Bruere  sind  noch  drei  latei- 
nische Epigramme,  die  er  für  eine  Villa  der  Edelleute  Gozze  und  Basegli 
von  Canosa  dichtete,  zu  erwähnen.  Das  erste  befand  sich  auf  einem, 
zum  Andenken  des  Besuches  des  Kaisers  errichteten  Obelisk,  das  zweite 
am  Eingangstor  der  Villa  und  das  dritte  auf  einer  der  bekannten  Pla- 
tanen von  Canosa.    Der  Inhalt  entspricht  der  Tendenz! 

Als  dritte  und  letzte  Gruppe  der  literarischen  Tätigkeit  Bruere's 
sind  auf  Grund  der  Handschrift  seine  Übersetzungen  aus  dem  Griechi- 
schen, Lateinischen  und  Serbokroatischen  ins  Italienische  zu  besprechen. 
Es  ist  bekannt,  daß  er  sich  mit  dem  Übersetzen  aus  Horaz,  Properz, 
CatuU,  Martial  und  Plautus  beschäftigte,  aber  davon  ist  in  unserer  Hand- 
schrift nichts  zu  finden.  Was  das  Griechische  anbelangt,  so  übersetzte 
er  aus  dem  Vulgärgriechischen  ein  und  dasselbe  Gedicht  ins  Lateinische 
und  Italienische.  In  diesem  wird  die  Liebe  eines  Jünglings  zu  zwei 
jungen  Schäferinnen  dargestelft.  Wichtig  ist  der  Vergleich  beider 
Übersetzungen  in  metrischer  Beziehung.  Ein  lateinisches  Distichon 
wird  mit  einer  italienischen  Quartine  wiedergegeben.  So  z.  B.  gleich 
am  Anfang  steht  in  der  lateinischen  Übersetzung: 

Depereunt  geminae  me  aequali  ardere  puellae, 
Sorte  ego  sie  parili  cogor  amare  duas 

und  in  der  italienischen : 

Per  lue  d'  amor  si  struggono 
Due  vaghe  pastorelle; 
D'  uguale  ardor  per  eile 
Struggendo  auch'  io  mi  vö. 

In  demselben  metrischen  Verhältnis  steht  die  italienische  Über- 
setzung der  Elegie  De  laudihiis  Insulae  Mediae  von  Junius  Resti  zum 
Original,  d.  h.  ein  lateinisches  Distichon  von  Resti  wurde  von  Bruere 
mit  einer  Quartine  übersetzt.  Was  die  Bezeichnung  Elegie  anbelangt, 
so  muß  man  bemerken,  daß  dieselbe  nicht  nach  dem  heutigen  Begriff 
zu  fassen  ist.  Resti  widmet  seine  lange  Elegie 21)  «Ad  Clarissimum  Virum 


21)  Dieselbe  umfaßt  76  Distichen,  beziehungsweise  76  Quartinen  in  der 
Übersetzung  von  Bruere. 


68  J-  Nagy, 

Michaelem  Antonii  de  Sorgo  Romae  commorantem«  und  vergleicht  den 
Aufenthalt  in  Rom  mit  demjenigen  auf  der  Insel  Mezzo,  und  entzückt 
von  der  Schönheit  dieser  Insel,  will  er  dort  nicht  nur  immer  bis  zum 
Tode  bleiben,  sondern  auch  im  Schöße  derselben  das  eigene  Grab  fin- 
den. Die  Insel  Mezzo  (serbokroat.  Lopud)  gehörte  einmal  zum  Terri- 
torium der  Republik  von  Ragusa.  Dieselbe  mit  den  zwei  benachbarten 
Inseln  Giuppana  (serbokroat.  Sipan)  und  Calamotta  (serbokroat.  Kolo- 
cep)  bilden  eine  Gruppe  von  Inseln,  die  bei  Plinius  El  afiten  heißen. 
Diese  Bezeichnung  kommt  auch  bei  Resti,  beziehungsweise  Bruere,  sehr 
oft  vor. 

Was  Bruere's  Übersetzungen  aus  dem  Serbokroatischen  in  das 
Italienische  anbelangt,  so  findet  man  in  unserer  Handschrift,  wie  auch 
in  derjenigen  des  Prof.  Resetar,  drei  übersetzte  Volkslieder,  oder  Lieder, 
die  bei  Kacic  vorkommen  und  mit  Volksliedern  verwechselt  werden. 
1.  Das  Lied  über  die  Niederlage  der  Svaten  des  Stjepau,  Sohn  des 
Dogen ;  2.  Den  Klaggesang  von  der  edlen  Frau  des  Asan-Aga;  3.  das 
Lied  über  König  Radoslav.  Die  Übersetzung  des  ersten  Liedes  ist  aus 
Appendini's:  Notizie  istorico-critiche  Bd.  II.  S.  258 — 262  abgeschrieben. 
Appendiüi  hat  dieses  Lied  als  Beispiel  der  Volkspoesie  im  Kapitel  VI 
dieses  Bandes  unter  dem  Titel  »Poesia  dei  Dalmato-Slavi  mediterranei« 
angeführt  und  bemerkt  darüber  auf  S.  258  folgendes:  »Noi  qui  ripor- 
tiamo  una  Popjevka,  che  ci  ha  gentilmente  favorita  colla  traduzione  in 
versi  sciolti  il  Sig.  Marco  Bruere,  il  qnale  ha  raccolto  e  tradotto  in  di- 
versi  metri  quanto  vi  ha  di  migliore  in  questo  genere.  Verte  essa  sulla 
strage  degli  Svatti  (qnei,  che  sono  deputati  a  condurre  a  casa  le  novelle 
spose)  di  Stefano  detto  del  Doge«.  Der  Behauptung  Appendini's,  daß 
sich  M.  Bruere  mit  dem  Übersetzen  von  Volksliedern  eingehend  be- 
schäftigt habe,  entspricht  es,  daß  außer  dem  ersten  noch  das  dritte 
Lied,  das  sich  in  unserer  Handschrift  befindet,  d.  h.  dasjenige  über 
König  Radoslav,  zu  welchem  hier  bemerkt  wird:  »In  questa  Canzone, 
con  molta  felicitä  tradotta  dal  Bruere,  si  parla  di  due  giovani  Sarmate 
insieme  per  amore  azzuffatesi«  von  ihm  übersetzt  wurde.  Eine  Über- 
setzung der  Hasanaginica  dürfte  er  aber  nicht  veranstaltet  haben.  Wenn 
man  den  Text  dieser  Übersetzung  in  unserer  Handschrift  mit  dem- 
jenigen, der  sich  auf  den  Seiten  99 — 105  des  ersten  Bandes  des  Buches: 
Viaggio  in  Dalmazia  dell'  Abate  Alberto  Fortis  (Venedig  1774)  befindet, 
vergleicht,  so  sieht  man,  dass  beide  identisch  und  nur  eine  Arbeit  sind, 
da  man  als  kleine  Abweichungen  betrachten  kann,   wenn  in  unserer 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  69 

Handschrift  ein  Vers  fehlt  oder  wenn  man  statt :  trattienla  bei  Fortis, 
in  der  Handschrift  la  trattiene;  statt  la  giovine  gentil  wieder  la  gentil 
giovine  findet.  Miklosich  in  seiner  Abhandlung :  Ȇber  Goethe's  Klag- 
gesang von  der  edlen  Frauen  des  Asan  Aga((22j  sagt,  bei  der  Bespre- 
chung des  Textes  von  Fortis,  auf  S.  414  folgendes:  »Der  italienische 
Naturforscher  Abate  Alberto  Fortis  (1741  bis  1803)  schöpfte  seinen 
Text  unzweifelhaft  aus  der  angeführten  Spalatiner  Handschrift:  der 
slavischen  Sprache  unkundig,  verdankte  er  die  Übersetzung  der  Mit- 
theilung halbgelehrter  Eingebornencf.  Man  könnte  vielleicht  jetzt  den- 
ken, daß  unser  M.  Bruere  dem  Fortis  in  dieser  Beziehung  Hilfe  geleistet 
habe,  aber  der  einfache  Grund,  daß  das  Buch  von  Fortis  im  Jahre  1774 
erschienen  ist  und  M.  Bruere  damals  noch  nicht  in  Ragusa  war  (und  vor 
seiner  Ankunft  in  dieser  Stadt  kann  man  doch  bei  ihm  keine  Kenntnis 
der  serbokroatischen  Sprache  und  noch  weniger  der  serbokroatischen 
Volkspoesie  voranssetzen)  spricht  dagegen.  Wenn  man  den  Umstand, 
daß  das  Buch  von  Fortis  den  Titel  »Viaggio  in  Dalmazia«  führt  und 
Ragusa  im  Jahre  17  74,  als  Republik,  mit  Dalmatien  nichts  zu  thun 
hatte,  bei  Seite  läßt,  so  kann  man  doch  in  einer  Anmerkung  zu  der 
Übersetzung  der  Hasanaginica ,  den  Ausgangspunkt  für  die  Meinung, 
daß  hier  ein  Irrtum  von  Seiten  des  Schreibers  der  Handschrift  vor- 
liege, finden.  Es  heißt  nämlich  dort:  »Avvi  poi  di  questa  canzone  la 
traduzione  Latina  di  D.  Giorgio  Ferrich,  che  si  puo  osservare  a  pag.  17 
del  Libretto  delle  Epistole,  dirette  al  eh.  Sig*'.  Giov.  Muller,  Consigliere 
Aulico,  e  Console  della  Repub.  di  Rag.  a  Vienna«.  Hätte  Marinovic  das 
Buch  von  Fortis,  welches  24  Jahre  vor  dem  Büchlein  des  Feric  erschie- 
nen ist,  gekannt,  hätte  er  hier  auch  die  Übersetzung  der  Hasanaginica, 
die  sich  in  diesem  Buche  befindet,  erwähnt.  Er  wird  wahrscheinlich 
eine  Abschrift  dieser  Übersetzung  aus  dem  Buche  von  Fortis  gehabt 
und  demnach  auch  diese  Übersetzung  zu  den  anderen  übersetzten 
Volksliedern  des  M.  Bruere  gerechnet  haben.  Abschriften  aus  Fortis 
sind  noch  in  der  Bibliothek  des  Franciskanerklosters  in  Ragusa  zu  finden. 
Damit  haben  wir  auch  den  Inhalt  unserer  Handschrift  erschöpft. 
Wie  schon  erwähnt,  Marko  Marinovic  sagt  auf  zwei  Stellen,  daß  hier 
nur  ein  Teil  der  Poesien  Bruöre's  enthalten  sei.  Das  kann  man  auch 
ganz  gut  glauben,  wenn  man  einfach  den  Katalog  der  Bücher  und  Hand- 


22)  Sitzungsberichte  der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien. 

Bd.  ein. 


70  J-  Nagy, 

Schriften  des  Fra  Inocenz  (:üIi6^^],  die  sich  jetzt  in  der  Bibliothek  des 
Francisifanerklosters  in  Ragusa  befinden,  nachschlägt  und  dazu  auf  den 
gedruckten  Teil  der  poetischen  Produkte  Bruere's  Rücksicht  nimmt. 
Nach  demjenigen,  was  im  Katalog  der  Bibliothek  von  Cjuiic  notiert  ist, 
konnte  man  noch  zu  der  Gruppe  der  Gelegenheitsgedichte  nachtragen : 
1.  eine  lateinische  Ode  »Ad  Georgium  Ferrichium«;  2.  eine  Sammlung 
von  serbokroatischen  Gedichten  unter  dem  Titel :  Tamasne  Piesni  Slo- 
wene u  Dubrovniku  po  Marku  Bruerevicu  u  Poklade  lieta  1805  2*];  3.  Ad 
Junium  Resti  Musicae  artis  obtrectatorem.  Saphicon  Marci  Bruerii; 
4.  Epitaffio  da  porsi  suUa  pietra  sepolcare  di  Giunio  Resti,  lateinisch 
und  italienisch;  5.  Ad  Junium  Restium  Rhacusanae  Reipublicae  Recto- 
rem  renunciatum ;  6.  Elegia  in  mortem  Benedicti  Stay.  Die  beiden  letz- 
teren Gedichte  wurden  zuerst  lateinisch  geschrieben  und  dann  in  das 
Italienische  übersetzt.  Weiter  erfahren  wir,  in  Bezug  auf  die  Gruppe 
der  Übersetzungen  Bruere's,  aus  demselben  Katalog,  daß  er  Stellen 
und  größere  Partien  aus  Catull,  Properz,  Ovid  und  TibuU  in  das  Serbo- 
kroatische und  einige  lateinische  Gedichte  der  Ragusaner  Franz  Stay 
und  Stephan  Gradi  in  das  Italienische  übersetzte.  Zuletzt  wird  daselbst 
auf  Seite  177  eine  »Raccolta  di  poetici  componimenti  in  lingue  diverse 
di  M.  Bruere  Derivaux.  Autografo  dell'  autore«  erwähnt.  Von  allem 
diesem  Material  konnte  ich  in  der  Bibliothek  des  Franciskanerklosters 
nur  zwei  kleinere  Sachen  finden,  da  sich  nur  diese  noch  erhalten  haben. 
Zuerst  die  lateinische  Ode :  y>Ad  Georgium  Ferrichium  Musis  aeque 
ac  mihi  dilectissimum  virum»^  in  welcher  Bruere  dem  Freunde  sagt, 
daß  er  schon  alt  sei  und  er  rät  ihm  seine  Jugendjahre,  solange  die 
Zeit  es  ihm  erlaubt,  gut  zu  benützen  —  also  dasselbe  was  er  ein  anderes 
Mal  dem  Altesti  empfohlen  hatte.  Dann  fand  ich  noch  die  italienische 
Übersetzung  der  lateinischen  Ode  des  Stephan  Gradi:  De  Insulae 
Jupanae  amoenitate"^^]. 


23]  Biblioteca  di  Fra  Innocenzo  Ciulich  nella  libreria  de'  R.R.F.P.  Fran- 
cescani  di  Ragusa.  Zara  1860.  Dalla  Tipografia  Governiale. 

2*)  Es  sollten  das  die  Gedichte:  Cupe,  Spravljenice  und  Zvjezdo- 
znanci  sein. 

25)  Diese  Ode  ist  zu  finden  auf  S.  398  einer  Sammlung  lateinischer  Ge- 
dichte aus  dem  XVII.  Jahrb.,  deren  Titel  lautet:  Septem  illustrium  virorum 
poemata.  Editio  altera.  Priori  auctior  et  emendatior.  Amstelodami.  Apud 
Danielem  Elsevirium  CIOIOCLXXII.  Stephan  Gradi  kommt  in  dem  Büchlein 
an  sechster  Stelle  vor. 


Marko  Bruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  71 

Zur  Ergänzung  unserer  Handschrift  wollen  wir  noch  auf  das  Ge- 
druckte Rücksicht  nehmen.  Von  den  Gedichten  Bruere's  wurden  vor 
allem  seine  italienischen  Sonette:  Per  la  Nascita  del  He  di  Roma  bei 
Martecchini  in  Ragusa  im  Jahre  1811  herausgegeben.  Im  Jahre  1839 
erschien  bei  demselben  Martecchini  ein  Büchlein  unter  dem  Titel:  Ma- 
runko^  Scpotna-PJescm  Ignaz  Bernarda  Giorgi  opatta  Melitenshoga 
Dubrovcianma^  dessen  erster  Theil  den  »Marunko«  von  J.  Gjorgjic  ent- 
hält, der  zweite  die  »Dervisiada«  des  Gjiman  Gjorgjic  und  der  dritte 
die  »Cupe«  und  «Spravljenice«  von  M.  Bruere.  Das  erste  von  beiden 
letzten  Gedichten  ist  in  der  Ausgabe  um  zwei  Strophen  kürzer  als  in 
der  Handschrift  und  das  zweite  um  eine;  sonst  wären  keine  bedeutende 
Abweichungen  zu  erwähnen. 

Zu  der  Biographie  Bruere's  fügte  Medo  Pucic  noch  eine  ganze  Reihe 
von  Gedichten  desselben  hinzu.  Von  demjenigen,  was  in  der  Handschrift 
zu  finden  ist,  werden  hier  die  Sendschreiben  an  Peter  und  Andreas 
Aleti,  dann  an  Anton  Sorgo  gedruckt.  In  Bezug  auf  diese  Ausgabe 
muß  man  bemerken,  daß  Pucic  die  Gedichte  zuerst  ganz  jekavisiert 
(was  bei  Bruere  nicht  immer  der  Fall  ist)  wiedergeben  und  noch  in 
denselben  eine  Modernisirung  durchführen  wollte,  wobei  bei  älteren 
Ausdrücken  Formen,  Endungen  und  Wortstellungen  ziemlich  viel  ge- 
ändert wurde.  Durch  diesen  »Dubrovnik«  (1851)  lernt  man  noch  andere 
Sendschreiben,  welche  der  Dichter  an  die  Gattin  Mara  und  den  Arzt 
Grgurevic  richtete,  kennen  und  man  findet  noch  eine  ganze  Reihe  von 
speciellen  Gelegenheitsgedichten,  die  bis  jetzt  noch  nicht  erwähnt  wur- 
den, und  mit  dem  Gesamtnamen  Kolende  bezeichnet  werden.  Was  die 
Kolende  sind,  wann,  wo  und  wie  dieselben  vorgetragen  wurden,  ist  all- 
gemein bekannt  und  hier  hat  man  nur  noch  nachzutragen,  daß  das  eine 
sehr  beliebte  Art  von  Gelegenheitsgedichten  in  Ragusa  am  Ende  des 
XVIII.  und  am  Anfang  des  XIX.  Jahrhunderts  war,  und  daß  man  ge- 
wöhnlich annimmt,  M.  Bruere  habe  in  dieser  Beziehung  eine  Verbesse- 
rung durchgeführt,  da  er  gegen  den  früheren  raakkaronischen  Gesang 
aufgetreten  v/ar.  In  seinem  Fahrwasser  bewegten  sich  noch  zwei  Männer 
dieser  Zeit,  nämlich  der  sehr  wenig  bekannte  Dichter  Maro  Zlatari(5  und 
der  jüngere  Anton  Kaznacic,  welche  den  Kolenden  einen  nationalen  und 
lokalen  Charakter  gaben^^j  Auf  S.  55  —  57  desselben  )iDubrovnik« 
findet  man  noch  eine  im  klassischen  Metrum  gedichtete  serbokroatische 


Slovinac  1878,  Nr.  13,  S.  144. 


72  J-  Nagy, 

Satyra  des  M.  Bruöre,  deren  Tendenz  man  schon  nach  den  Einleitungs- 
versen erfahren  kann. 

Ti  koji  dni  trajas  i  noci  knjige  promecud, 
Pomnjivo  trazedi  slovinskog  naroda  slave; 
Bi  r  uzrok  man'  po  sreci  dokazati  znao 
S  pivnice  jer  svako  do  glasovita  Pregata 
Slavne  bi  ee  slatko  Lärvatske  odreko  starine? 
Jer  cupah  od  zupskieh  do  najponosne  vladike 
Stidi  sc  svak  jezik  slovinski  cisto  govorit? 

Wenn  Ranjina  und  Gundulic  sehen  könnten,  wie  sich  ihre  Geburts- 
stadt  vom  Slaventhum  losgesagt  hat,  würden  sie  sich  mit  der  linken 
Hand  bekreuzen.  Aber  man  sagt,  wenn  auch  die  nationalen  Sitten  und 
Gebräuche  von  ihrer  Bedeutung  verloren  haben,  daß  daneben  in  der 
Kultur  ein  mächtiger  Fortschritt  gemacht  wurde.  Auf  diese  Weise  will 
man  alles  Gute  und  Schlechte  entschuldigen.  Das  wäre  eins  der  interes- 
santesten Gedichte  Bruere's. 

J.  A.  Kaznacic  gab  im  »Dubrovnik«  für  das  Jahr  1868  das  Gedicht 
Zvjezdoznanci  heraus,  und  begleitete  diese  Ausgabe  mit  einer  Darstel- 
lung der  ragusanischen  Maskeraten.  Die  Ausgabe  selbst  nähert  sich 
mehr  unserer  Handschrift  als  jene  von  Medo  Pucic,  mit  Ausnahme,  daß 
hier  drei  Strophen,  in  welchen  der  Dichter  in  das  Triviale  tibergeht, 
ausgelassen  sind. 

Zuletzt  brachte  die  ragusanische  Zeitschrift  »Slovinac«  in  ihrem 
ersten  Jahre  (1878)  neben  der  Biographie  von  M.  Bruere,  welche  nur 
dasjenige  was  27  Jahre  früher  Pucic  geschrieben  hatte,  wiedergibt,  ein 
Sendschreiben  von  Bruere  an  Anton  Kaznacic  gerichtet,  als  er  ihm  das 
eigene  Porträt  zusandte,  das  nach  einer  Handschrift  von  Dr.  Ivan 
Kaznacic  gedruckt  wurde.  In  Bezug  auf  die  Komoedie  Bruere's  VJera 
iznenada,  welche  daselbst  auch  gedruckt  wurde,  scheint  Pucic's  Urteil : 
»u  njoj  je  svaki  prizor  smijesan,  a  ipak  sve  zajedno  nece  da  razveseli 
stioca;  obrazac  dubrovackoga  zivota,  a  sve  zajedno  ne  prestavlja  dubro- 
vacki  zivot«  richtig  zu  sein. 

Mit  Ausnahme  des  Buches  »Voyage  en  Grece«  (Paris  1820)  des 
französischen  Konsuls  von  Janina  Pouqueville,  das  ich  nur  dem  Titel 
nach  kenne,  in  welchem  auch  von  M.  Bruere  die  Rede  ist,  ist  es  mir 
nicht  bekannt,  daß  sonst  irgendwo  in  einer  Monographie,  oder  in  kür- 
zeren Aufsätzen  über  ihn  etwas  geschrieben,  oder  in  irgend  welchen 
Zeitschriften  andere  seine  Gedichte  herausgegeben  wurden. 


Marko  ßruere  Desrivaux  als  ragusanischer  Dichter.  73 

Der  Absicht,  über  eine  Handschrift  zu  referiren,  entspricht  es 
nicht,  den  Dichter  und  seine  literarische  Leistungen  einer  näheren  Prü- 
fung zu  unterziehen,  doch  darf  man  hervorheben,  daß  für  die  serbo- 
kroatische Literatur-  und  Kulturgeschichte  mehr  sein  Leben  in  Ragusa 
und  seine  Beziehungen  zu  den  Ragusanern  seiner  Zeit,  als  seine  Ge- 
dichte selbst  wichtig  sind.  Man  könnte  erwarten,  in  ihm  einen  der  auf- 
geklärten Vertreter  der  modernen  französischen  Weltideen  zu  finden, 
aber  in  der  Tat  ist  dies  nicht  der  Fall.  Er  dichtet  wie  auch  die  An- 
deren, und  unterscheidet  sich  in  den  literarischen  Kreisen  Ragusas  von 
diesen  gar  nicht;  seine  Zeitgenossen  und  Freunde  loben  ihn  ohne  wei- 
teres und  vergleichen  ihn  mit  Homer,  Horaz  und  anderen  Vertretern 
der  klassischen  Literatur.  Statt  uns  aus  Frankreich  etwas  Neues  nach 
Ragusa  zu  bringen,  schickte  er  zu  Weihnachten  dem  Freund  Anton 
Sorgo,  der  sich  im  Jahre  1820  in  Paris  befand  und  sich  für  die  Errich- 
tung eines  Lehrstuhls  der  slavischen  Philologie  daselbst  bemühte,  und 
er  selbst  sich  damals  dort  auch  befand,  eine  in  serbokroatischer  Sprache 
und  nach  ragusanischer  Art  gedichtete  Kolenda^'^),  Am  wichtigsten 
wäre  es  doch  für  die  Kenntnis  des  Charakters  Bruere's,  seine  Privat- 
briefe, wenn  dieselben  irgendwo  vorhanden  sind,  zu  prüfen.  Diejenige 
Sammlung  von  Briefen,  die  sich  unter  Nr.  1127  in  der  Bibliothek  des 
Franciskanerklosters  in  Ragusa  befindet  und  auf  S.  208  des  Katalogs 
der  Bibliothek  von  Culic  folgendermaßen  beschrieben  wird:  »Un  Fasci- 
colo  di  Corrispondenze  Epistolari  autografe  sopra  argomenti  letterarii 
e  scientifici,  di  diversi  letterati,  particolarmente  Dalmati  e  Ragusei, 
vissuti  verso  la  fine  del  secolo  XVHI  e  nella  prima  metä  del  XIX« 
liefert  uns  in  dieser  Beziehung  gar  nichts. 


Nachtrag. 
Je  öfter  ich  den  Katalog  der  Bibliothek  des  Franciskanerklosters 
von  Ragusa  (der  gewesenen  Bibliothek  von  Culic)  in  die  Hände  nahm, 
desto  mehr  konnte  ich  mir  die  Meinung  aneignen,  daß  man  sich  auf 
sein  Namensverzeichnis  gar  nicht  verlassen  kann.  Als  ich  nun  den 
Katalog  vom  Anfang  his  zum  Ende,  Seite  für  Seite  näher  durchprüfte, 
sah  ich  mich  gezwungen,  noch  auf  zwei  kleine  Büchlein  Rücksicht  zu 
nehmen,  in  welchen  vielleicht  auch  Gedichte  von  M.  Bruere  zu  finden 
wären.    Meine  Hofi'nung  ging  auch  tat  sächlich  in  Erfüllung. 


2")  Dubrovuik.  1851. 


74  J-  Nagy, 

Die  drei  Gedichte  auf  den  Tod  des  Arztes  Detorres  (vgl.  S.  62) 
wurden,  mit  Gedichten  anderer  Freunde  desselben,  in  einer  Sammlung, 
die  folgenden  Titel  hat,  gedruckt :  Versi  in  morte  di  Giorgio  Detorres 
Dottore  in  Filosofia  e  Medicina.  Ragusa  MDCCCII.  Presse  Antonio 
Martechini.  Das  lateinische  Gedicht  ist  auf  S.  14 — 15,  das  italienische 
auf  S.  28  und  das  serbokroatische  auf  S.  48 — 49  zu  finden. 

Aber  auch  andere  Gedichte  Bruöre's  wurden  schon  vor  seinem 
Tode  gedruckt,  so  jene  an  Ghetaldi's  Schiff  Bete  gewidmet  (vgl.  S.  64), 
und  zwar  das  Epigramm  auf  S.  14  der  Sammlung:  Nave  Ragusea  di- 
stinta  col  nome  del  celebre  antico  matematico  Marino  Ghetaldi.  Compo- 
nimenti  Latini,  Italiani  ed  Illirici.  Italia  (sie!)  IS  19.  Hier  hat  das  Ge- 
dicht zwei  Verse  mehr  als  in  der  Handschrift.  Was  die  Hendecasyllabi 
anbelangt,  so  muß  hervorgehoben  werden,  daß  sie  nicht  von  Bruere, 
sondern  von  Chersa  herstammen.  In  der  Sammlung  folgt  dem  erwähn- 
ten Epigramm  gleich  Folgendes:  »Antonii  Steph.  F.  Chersa  inter  arca- 
des  Salimbi  Magaridis  Hendecasyllabi«,  und  dann  »Ejusdem  Hendeca- 
syllabi«. Diese  letzten  sind  jene,  die  Marinovic  dem  Bruere  zugeschrie- 
ben hat;  es  ist  aber  klar,  daß  sich  jenes  »Ejusdem«  auf  Chersa  bezieht. 
Zu  den  Freunden  Bruere's  kann  man  noch  den  P.  Agic  hinzurech- 
nen. Von  diesem  finden  wir  auf  S.  161,  Nr.  661  des  Kataloges  der 
Franciskanerbibliothek Folgendes  notiert:  Ad  Marcum Bruyerium  (sie!) 
Elegiae  tres  auctore  P.  Agic.  Accedit  expositio  carminum  ad  Pium 
Papam  VH  et  Cardinalem  Carandinum.  Diese  Handschrift  ist  aber  in 
der  Bibliothek  nicht  mehr  zu  finden,  und  deshalb  muß  man  sich  mit  der 
Anführung  des  Titels  begnügen. 

Wir  wissen,  daß  Bruere  noch  den  bekannten  Gjuro  Feric  als 
Freund  bezeichnet  (vgl.  S.  63),  und  es  sei  hier  auch  darüber  eine  Notiz 
angeführt.  Nachdem  Feric  seine  sieben  Bücher  von  Epigrammen  fertig 
geschrieben  hatte,  setzte  er  folgende  Widmung  hinzu :  « Ad  Clarissimum 
Virum  Andream  Altestium«,  strich  aber  dann  die  letzten  zwei  Worte 
durch  und  schrieb  statt  dieser  »Marcum  Bruerium«.  Sobald  die  Sache 
so  geändert  wurde,  mußten  auch  die  folgenden,  am  Ende  der  Widmung 
sich  begegnenden,  Verse  wegfallen,  nämlich: 

Da  quaeso,  ipai  etenim  tuae  hoc  sorori, 

Gut  carus  puer  est,  placebit,  atque 

Ipse  sie  etiam  magis  placebo, 

Qui  jam  illi  placeo,  et  cui  lila  dotes 

Ob  tot  egregias  placet  vicissim. 

Scrip.  Anno  1808. 


Nachtrag. 


75 


Ich  verdanke  diese  Notiz  dem  Freunde  Stud.  phil.  Kolendic,  bei  dem 
sich  die  Handschrift  befindet. 

Noch  eine  Notiz  über  Bruere's  Sohn  Renato  (vgl.  S.  ^S6)\  Als  ich 
in  einem  Bande,  wo  eine  große  Anzahl  von  gedruckten  Einzelblättern 
zu  finden  ist  (Katalog  der  Franciskanerbibliothek  S.  300,  Nr.  1881,  der 
neuen  Pagination  Nr.  714)  nachschlug,  fand  ich  das  Programm  eines 
Festes,  gedruckt  in  Ragusa  bei  Martechini  im  Jahre  1811,  unter  folgen- 
dem Titel :  Tributo  di  rispetto,  e  di  omaggio  presentato  dagli  allievi  del 
liceo-convitto  di  Ragusa  a  S.  E.  il  Sig.  Governatore  generale  delle  pro- 
vincie  Ullriche  ....  in  occasione  della  di  lui  venuto  a  Ragusa.  An  diesem 
Fest  nahm  der  junge  Renato  Bruöre  aktiv  teil,  wie  man  aus  folgender 
Stelle  ersehen  kann :  Dialoghi  due  in  lingua  Francese,  coi  quali  il  Sig. 
Augusto  Bellier,  Tommaso  Martellini,  Renato  Bruere,  e  Nicolö  Ivich  si 
propongono  di  rendere  omaggio  al  valore,  alla  sapienza,  e  alla  bontä  di 
S.  E.  con  dei  sentimenti  di  ammirazione,  di  rispetto,  di  amore,  e  di  ri- 
conoscenza. 

Noch  etwas  muß  ich  dem  Freunde  Kolendic  verdanken,  nämlich 
eine  Genealogie  des  Schreibers  unserer  Handschrift,  die  ich  hier  mitteilen 
möchte,  weil  sie  uns  sichere  Daten  über  sein  Leben  und  seine  Stellung 
liefert,  woraus  es  klar  wird,  wie  er  zu  so  vielen  Handschriften  und  Bü- 
chern kommen  konnte: 

Niko  Marinovic,  Capitaine 

und  Marija  Terza  Kiriko  (Chirico) 

des  Vicko,  vermählt  in  Raguse 

den  12.  December  17i)0. 


Marko,  Baldo,  Ivan  geb.  in  Ragiisa 
den  31.  Oktober  1792,  gestorben  da- 
selbst am  13.  März  1871.  Am  25.  Mai 
heiratete  er  in  Crna  gora  am  Peljesac 
das  Dienstmädel  Marija  Radakovic. 
Zuerst  war  er  Gewerbsmann,  dann 
Diurnist  beim  Kroisgericht  in  Ragusa. 


Vicko,  Niko,  Melko 
geb.  in  Ragusa  am 
am  9.  Juli  1795, 
gestorben  ? 


Öalvator,  Marija     geb. 

Baldo ,      Ivo      in  Ragusa  am 
geb.  in    Ra-      11. Sept.  1837, 
gusa  am  25.      gest.   in  Ra- 
Jänner   1836,      gusa? 
lebt  noch. 

Ich  muß  gestehen,  daß  es  mich  sehr  gefreut  hat,  die  Handschrift 
vom  verstorbenen  Fabris  zum  eigenen  Gebrauch  bekommen  zu  haben. 


Marko,  Bal- 
do, Ivo  geb. 
in  Ragusa  am 
14.Märzl842, 
gest.  daselbst 
am  13.  Aug. 
1842. 


Katanca,  Ma- 
rijana geb. in 
Ragusa  am 
27.Aug.  1843, 
gest.  daselbst 
am  9.  April 
1844. 


Marko,  Bal- 
do, Ivo  geb. 
in  Ragusa  am 
21. Sept.  1848, 
lebt? 


76  J-  Nagy,  Nachtrag. 

Jetzt  bin  ich  sehr  zufrieden,  hervorheben  zu  können,  daß  dieselbe  sich 
in  der  Redaktion  von  Dubrovnik  und  Srd  befindet,  wo  sie  hoffentlich 
jedem,  der  sie  näher  prüfen  wollte,  zur  Verfügung  stehen  wird. 

/.  Nagy. 


Die  böhmische  Paraphrase  der  Distichen  des  Johannes 
Pinitianus    zn    Petrarka's    »De   remediis   ntrius(ine 

fortunae«. 

Von  Oskar  Donath. 


Es  hat  lange  Zeit  die  Meinung  geherrscht,  daß  die  Disticha,  die  in 
einigen  Drucken  der  Schrift  »Dialogus  de  remediis  utriusque  fortunae« 
des  Petrarka  den  einzelnen  Kapiteln  vorgesetzt  wurden,  das  Werk  Pe- 
trarka's sind.  Sie  wurden  wiederholt  abgedruckt  und  prangen  noch  in 
den  neuesten  italienischen  Ausgaben  von  Petrarka's  Schrift,  als  ob  sie 
einen  integrierenden  Bestandteil  des  Buches  bildeten.  Herr  Wukadi- 
novic  weist  in  seiner  Abhandlung  (Arch.  XXVI.  241)  nach,  daß  diese 
Verse  von  dem  Augsburger  Humanisten  Pinitianus  stammen  und  stützt 
sich  auf  eine  Äußerung  des  Petrarkaübersetzers  Stephanus  Vigilius  in 
der  Dedikationsvorrede  zu  dem  Werke  »De  remediis«  (8.  VIH),  die  da 
lautet:  »Es  hat  auch  der  eherwürdig  hochgelert  vnser  getrewer  lieber 
Preceptor  vnd  herr  Johan  Pinitian  hierinn  sein  fleyss  nicht  gespart,  diss 
kostlich  Buch  mit  seine  Versibus  vn  reyme  zu  zieren,  hat  eines  jegk- 
liche  Capitels  jnhalt  kürtzlich  zu  latein  vn  teütsch  verfasset «. 

Es  wird  nicht  uninteressant  sein,  über  Pinitianus,  der  in  der  deut- 
schen Literatur  nicht  zu  den  bekanntesten  Persönlichkeiten  gehört,  etwas 
Näheres  zu  erfahren. 

Joannes  Pinitianus,  nicht  Primitianus,  wie  Kassarus  irrtümlich 
behauptet,  anders  Joannes  Kening  Pinitianus  genannt,  wurde,  wie  aus 
seinem  Epitaphium  zu  ersehen  ist,  im  Jahre  1478  geboren.  Von  ihm 
selbst  und  von  Kassarus  erfahren  wir,  daß  er  mit  dem  Dichterkranze 
gekrönt  wurde. 

Pinitian's  Zeitgenosse  Joannes  Boeschenstein  berichtet,  daß  er  die 
Würde  eines  Geistlichen  bekleidet  hatte.  (Presbyteri  quoque  dignitate 
conspicuum  fuisse.)    Daß  er  aber  zum  geistlichen  Amte  nicht  sehr  be- 


( 


Die  böhm.  Paraphrase  der  Distichen  des  Johannes  Pinitianus  etc.      77 

fähigt  war,  sehen  wir  aus  einer  Anmerkung  des  jüngeren  Paul  v.  Stetten 
in  seinen  »Erläuterungen  der  Vorstellungen  aus  der  Geschichte  der 
Stadt  Augsburg«  S.  95:  »Um  das  Jahr  1515  war  hier  ein  gelehrter  Mann 
Joannes  Kening,  genannt  Pinitianus,  der  eine  ordentliche  Schule  hielte 
und  die  Jugend  in  Wissenschaften  und  Sprache  unterrichtete,  wiewohl 
er  dabei  von  schlechten  Sitten  gewesen  sein  soll«.  Wir  brau- 
chen zwischen  den  beidenÄußerungen  keinen  Widerspruch  anzunehmen. 

Wenn  wir  die  Literatur  des  XVI.  Jahrh.  näher  kennen  lernen,  so 
finden  wir,  daß  schlechte  Sitten  kein  hindernder  Umstand  waren,  ein 
geistliches  Amt  zu  bekleiden.  Die  Sprichwörtersammlungen,  Flug- 
schriften und  Volksbücher  des  XVI.  Jahrh.  zeigen  uns,  auf  welcher 
Moralstufe  die  Geistlichkeit  damals  stand.  Wenn  nun  Pinitianus  auch 
zu  solchen  Geistlichen  gehörte,  dann  macht  uns  doch  der  Inhalt  seiner 
von  ascetischem  Geiste  strotzenden  Verse  stutzig.  Auch  dieser  Umstand 
ist  nicht  schwer  zu  erklären. 

In  Pinitian's  Leben  dürfte  in  den  zwanziger  Jahren  des  XVI.  Jahrh. 
(Pinitian  hatte  damals  sein  40.  Lebensjahr  bereits  lange  überschritten) 
ein  Wandel  eingetreten  sein.  Dafür  spricht  ein  Brief  an  Veit  Bild  von 
Ende  August  1522.  Dort  heißt  es:  »Salve  mi  frater  in  evangelio  dilec- 
tissime«.  Er  wünsche  mit  Bild  sich  zu  besprechen  »de  praeseutibus  rebus 
et  evangelicis«.  «Totus  in  litteris  sacris  versor;  sordent  profecto 
omnia,  quae  antehac  maximo  in  pretio  mihi  fuere«.  Die  letzten 
Worte  sprechen  ganz  entschieden  für  einen  Wandel  in  der  Lebensweise. 

Das  Ideal  eines  Humanisten,  nämlich  trilinguis  zu  sein,  hat  Pini- 
tianus erreicht.  Er  war  linguae  latinao  callentissimus,  fore  etiam  grae- 
cam,  valde  hebraicami).   Wir  haben  dafür  Beweise. 

Wenn  Pinitian,  der  liebenswürdige  Grammatiker,  dem  Humanisten 
Veit  Bild  im  Jahre  1514  einen  Lehrer  im  Griechischen  in  Aussicht 
stellt 2),  so  ist  anzunehmen,  daß  er  sich  selbst  mit  der  griechischen 
Sprache  befaßte.  Auch  hebräisch  hat  Pinitian  gelernt.  Johann  Kaiser 
aus  Ingolstadt,  wo  der  berühmte  Hebraist  Johann  Boeschenstciu  als 
Lehrer  wirkte,  versah  Bild  und  dessen  Freund  Pinitian  mit  hebräischen 
Büchern.  Pinitian  gibt  in  der  Freude  über  den  Besitz  einer  hebräischen 
Grammatik  der  kühnen  Hoffnung  Ausdruck,  daß  er  sich  die  Sprache 
ohne  Lehrer  werde  aneignen  können.    In  einem  Briefe,  der  in  die 


1)  Bibliotheca  Augustana  S.  141. 

-)  Schröder:  Zeitschrift  des  bist.  Vereines  Schwaben  XX.  179  (Brief- 
wechsel des  Veit  Bild). 


78  Oskar  Donath, 

Wendezeit  des  Jahres  1513/1514  fällt,  schreibt  Pinitian  an  Bild,  Kaiser 
sei  heute  abgereist  und  habe  Pinitian  verschiedene  Bücher  gegeben, 
darunter  auch  »introductorium  in  hebraeas  litteras«.  Er  hoflfe  sich  die 
Sprache  ohne  fremde  Hilfe  aneignen  zu  können.  Pinilianus  war  ent- 
schiedener Anhänger  Luthers.    Das  beweisen  uns  mehrere  Umstände. 

1.  Ein  Buch  in  der  Lyzealbibliothek  zu  Dillingen,  enthaltend  ver- 
schiedene Schriften  Luthers,  trägt  auf  dem  Vorsetzblatt  die  Eigentums- 
bezeichnung: J.  Pinitianus  p.  1521.  cal.  Aug.  Dass  es  eifrig  gelesen 
wurde,  beweisen  die  zahlreichen  Randbemerkungen  Pinitian's^). 

2.  Er  befaßt  sich  mit  Dogmatik  und  fragt  Bild,  ob  die  Disputation 
am  Feste  der  heil.  Katharina  stattfinden  werde. 

3.  Unsere  Verse  sind  voll  von  lutherischer  Mystik. 

Sein  Lebensberuf  war  das  Lehramt.  Er  schreibt  Bücher,  nicht  so 
sehr  nach  Ruhm  strebend,  als  um  vielen  zu  nützen,  hauptsächlich  der 
Jugend  (»praecipue  tenerae  docilique  aetati«).  Seine  Lehrtätigkeit 
übte  er  in  Augsburg  aus  und  zwar  schon  im  Jahre  1512,  wie  er  in  der 
Widmung  seines  Werkes  »Leben  des  streytbarsten  Fürsten  und  Herrn 
Georg  Castrioten,  genannt  Scanderbeg«  bemerkt.  Bevor  er  nach  Augs- 
burg kam,  lehrte  er  die  lat.  Sprache  »Oeniponte,  urbe  Tyrolis,  minime 
ignobili«,  also  in  Innsbruck. 

Im  Jahre  1542  gestorben,  wurde  er  in  Augsburg  in  der  Kirche  zu 
St.  Stefan  begraben. 

Auf  seine  Werke,  deren  poetischen  Teil  sein  Biograph  in  Biblio- 
theca  Augustana  mit  den  Worten  »carmina  Nostri  (id  est  Pinitiani)  ad- 
hucdum  exstantia  loquuntur  mire  fluida,  tersa,  ingeniosa«  lobt,  will  ich 
mich  nicht  einlassen.  Sie  sind  in  Bibliotheca  Augustana  zitiert.  Es  ist 
nur  merkwürdig,  daß  die  Verse,  um  die  es  sich  uns  handelt,  dort  nicht 
angeführt  werden.  Wir  begreifen  diese  Lücke,  wenn  wir  bedenken,  daß 
die  Verse  früher  allgemein  dem  Petrarka  zugeschrieben  wurden.  Weller 
zitiert  in  seinen  Annalen  der  poetischen  Nationalliteratur  der  Deutschen 
(Bd.  I.  435)  unter  »Petrarka«:  »Zwei  schöne  newe  und  gar  edle  Trost- 
büchlein in  latein.  Carmin  und  deutsche  Reymen.  Cöln  1573(f,  worunter 
er  wohl  nichts  Anderes  als  eine  Sonderausgabe  der  Verse  Pinitians  meint  2). 

Es  liegt  der  Gedanke  nahe,  sich  um  etwas  Ähnliches,  wie  unsere 
Verse  sind,  in  der  deutschen  Literatur  umzusehen.    Da  fallen  uns  vor 

1)  Schröder:  Zeitschr.  des  bist.  Vereines  Schwaben  X.  211.  Der  Huma- 
nist Veit  Bild. 

2)  Wukadinoviö:  Archiv  f.  sl.  Phil.  XXVL  242. 


Die  böhm.  Paraphrase  der  Distichen  des  Johannes  Pinitianus  etc.       79 

allem  die  Disticha  Catonis  auf,  die  nicht  nur  technisch,  sondern  anch 
inhaltlich  mit  unseren  Versen  tibereinstimmen.  Diese  Disticha  Catonis 
waren  das  Faktotum  beim  Unterrichte  der  Jugend,  die  aus  ihnen  die 
Anfangsgründe  der  Grammatik,  Poesie  und  Moral  kennen  lernte,  sie 
blieben  meistens  ein  Lieblingsbuch  auch  noch  der  Erwachsenen.  Selbst 
nachdem  im  Reformationszeitalter  der  Jugendunterricht  eine  wesentliche 
Umgestaltung  erfahren  hatte,  und  die  Bedeutung  des  Kato  fast  ganz 
zurücktrat,  wirkte  jene  alte  Tradition  noch  in  so  hohem  Grade  fort,  daß 
die  Distichen  bis  tief  ins  XVIII.  Jahrh.  mit  einer  Verehrung  betrachtet 
wurden,  der  ihr  wirklicher  Gehalt  keineswegs  entsprach.  Es  scheint 
wahrscheinlich,  daß  der  Lehrer  Pinitianus  die  Disticha  Catonis  sehr  gut 
kannte.  Und  so  dürften  die  Verse  Pinitian's  von  den  Distichen  des  Kato 
nicht  unbeeinflußt  geblieben  worden  sein. 

Pinitianus  ist,  wie  schon  oben  erwähnt,  der  Verfasser  der  lat. 
Distichen  und  der  mit  diesem  vielfach  zugleich  angeführten  deutschen 
Vierzeiler.  Letztere  wurden  ins  Holländische,  Schwedische  und  Unga- 
rische übersetzt. 

Nun  hat  Herr  Dr.  Wukadinovic  in  der  Prager  Universitätsbibliothek 
eine  Reihe  von  böhmischen  Vierzeilern  (62  an  der  Zahlj  gefunden,  die 
eine  Paraphrase  der  Distichen  von  Pinitianus  sind.  Daß  dem  böhm. 
Verfasser  für  seine  Arbeit  nebst  den  lat.  Distichen  auch  ein  Exemplar 
mit  den  deutschen  Vierzeilern  vorgelegen  hat,  geht  aus  verschiedenen 
Übereinstimmungen  mit  diesen,  die  durch  die  lat.  Verse  keine  Begrün- 
dung finden,  ganz  sicher  hervor.  Trotzdem  läßt  sich  eine  gewisse 
Selbständigkeit  nicht  verkennen  und  manche  Strophe  benutzt  weder  die 
Distichen  noch  die  Vierzeiler  als  Vorlage. 

Ich  will  nun  die  Strophen  anführen,  von  denen  man  ganz  sicher 
behaupten  kann,  daß  sie  nicht  den  lat.  Distichen,  sondern  den  deut- 
schen Vierzeilern  nachgebildet  sind. 

Strophe  2)  Hier  hat  der  böhm.  Verfasser  gewiß  in  den  deutschen 
Text  eingesehen,  denn  die  ersten  2  Verse  des  böhmischen  und  die  ersten 
2  Verse  des  deutschen  Textes  decken  sich. 

Schön  bleibt  nit  lag  |  schön  fleucht 

behend  | 
Schön  nimpt  von  kleinem  wee  ein  end. 

Im  lat.  Text  ist  dieser  Gedanke  nur  mit  den  Worten  fragilis 
forma«  ausgedrückt. 

Str.  5)  Diese  Strophe  bietet  uns  einen  wichtigen  Anhaltspunkt  für  die 


Krasu  tiela  hrdau  Slycinost 
Neduh  hned  obrati  w  Mrzkost 


80  Oskar  Donath, 

Überzeugung,  daß  der  böLm.  Verfasser  nebst  der  lateinischen  auch  die 
deutsclie  Vorlage  vor  sich  hatte.  Sowohl  im  böhm.  als  auch  im  deut- 
schen Texte  wird  als  Typus  der  Stärke  Samson  angeführt.  (Im  lat.  Text 
gar  kein  Name).  Der  deutsche  Text  führt  auch  noch  Milo  an.  Der 
Umstand,  daß  der  böhm.  Verfasser  den  antiken  Namen  Milo  ausläßt 
und  den  Bibelnamen  Samson  beibehält,  spricht  dafür,  daß  er  kein  Hu- 
manist, sondern  ein  böhmischer  I3ruder  war. 

Str.  10)  So  sehr  der  böhm.  Text  vom  lat.  abweicht,  so  sehr  lehnt 
er  sich  an  den  deutschen  Text. 


Ein  grundtfest  recbter  Tugend  ist 

Demütigkeyt  on  argen  list. 

Zu  rechter  tugent  gehört  viel  mü. 


Grundt  a ')  Zaklad  Prawe  cztnosti 

Skala  gest  poni;^enosti 

Zlau  nawyklost  bdienim  Stalym 

Pr^emu^ess. 

Str.  12)  Für  die  Abhängigkeit  des  böhm.  vom  deutschen  Texte 
spricht  nicht  nur  die  große  Ähnlichkeit  des  Inhaltes,  sondern  auch  die 
gemeinsame  Steigerung  der  zweiten  Hälfte  gegenüber  der  ersten.  Der 
lat,  Text  entbehrt  nicht  nur  die  Steigerung,  sondern  ist  auch  inhaltlich 
ganz  verschieden. 


Str.  1 5)  Niekdy  ma  wlast  bude  -]  w  Nebi 
Blaze  kdo  gl  wiecinie  zdiedi 


Bey  Gott  ist  unser  vatterland 
Sälig  sey  der  |  der  soUichs  fand. 


Also  fast  wörtliche  Übersetzung. 

Str.  18)  Bylby  dnes  mnohej  na  i^ywie    |  Der  bringt  darum  der  kranckheyt  vyl 
Kdyby  se  bj'l  chowal  Striydmie.  |  Und  macht  seim  leben  kurtzes  zyl. 

27)  Die  Situation  ist  im  böhmischen  und  deutschen  Text  überein- 
stimmend :  f 

Auprkem  bieiy  kzahubie  1  Der  laufFt  auch  wol  zum  narrenzyl 

Ten  gen:^  Kostkam  hledi  kslu^bie  |  Der  all  sein  freud  hat  inn  dem  spyl. 
Str.  34)  Pallacze  domy  prostranne  1  Hohe  heuser  |  groß  palläste.  > 

Ze  tr^y  noh  priybytek  ]  sibenschühigs  grab. 

Wenn  auch  »sibenschuhig  mit  »ze  trzy  noh«  wiedergegeben  wird, 
so  ist  jenes  immer  eher  als  Vorlage  anzunehmen  als  das  lateinische 
»brevis  urua«. 

Das  Wort  »Pallacze«  schreibt  der  Verfasser  mit  doppeltem  l,  weil 
er  eine  deutsche  Vorlage  hatte,  wo  »Palläst««  mit  doppeltem  /  geschrie- 
ben wird. 
Str.  35)  Proti  Smrti  twrz  na  Skale       1  Vorm  tod  so  mag  nichts  sicher  sein. 

Neobhagi  ani  krale.  I  i 


1)  u  =  Druckfehler.  ^)  bade  =  Druckfehler. 


Die  böhm.  Paraphrase  der  Distichen  des  Johannes  Pinitianus  etc.      81 

Der  lat.  Text  enthält  keinen  ähnlichen  Gedanken. 

Str.  38)  Napog  w  Nadobie  hlynienny    i  Aus  einem  glaß  und  jrdin  krüg 
Nebegwa  zgedem  Smjsseny.       \  Darein  wirt  selten  gifft  vermischt. 

Den  Gedanken:  »Striybrne  zlate  pokaly 

Mnohyho  gsau  hrdlo  staly« 
enthält  nur  der  deutsche  Text : 

»Gold  Silber  glust  der  äugen  ist«. 
Der  lat.  Text  hat  nichts  Ähnliches. 

Str.  39)  »Wzacztneho  Kunstu«  ist  beeinflußt  durch  »großen  ktinsten«' 
nicht  durch  »acumina  mentis«. 

»Rzezba  Kamene«  ist  offenbar  die  wörtliche  Übersetzung  von  »stain- 
schneyden«. 

Str.  42)  Einen  sicheren  Beweis  der  deutschen  Vorlage  bietet  uns 
diese  Strophe. 

Der  lat.  Text  hat  »E  ligno  sapiat  non  minus  ipse  cibus«. 
Der  deutsche  Text:  Aus  holtz  und  erd  schmeckt  auch  die  speyß. 
Der  böhm.  Text  enthält  etwas,  was  im  lat.  Text  nicht,  wohl  aber 
im  deutschen  Text  enthalten  ist:   Tak  Skwostne  muzess  mit  hody  z 
Sproste  Jilyniene  nadoby. 

Von  »vasa  fictilia«  ist  hier  keine  Rede. 
Str.  44)     Sepsaliys  kdy  jake  Knihy 

Ne  hneds  Doktor  Loden  wiry 
steht  entschieden  den  deutscheu  Versen  näher: 

Was  hilftts  dich,  daß  vil  bücher  schreybst 
Darbey  ein  ungelerter  bleybst 
als  den  lateinischen:  Scriptorum  tot  sunt  monumenta  quot  aurea  coelo 
Sydera. 

Str.  48)  »Sam  czert  v  nich  (Wognach)  hody  miwa«  ist  beeinflußt 
durch  den  deutschen  Vers  «Kriegskinder  seind  des  Teufi'els  glid«. 

Str.  57)  Ciin  czo  wzem  prosyte  Zrno    I  Thü  wie  der  saam  in  gleicher  gstalt 
Genä  ti  Sty  dawa  za  gedno.     |  Der  gibt  für  eins  wol  hundert  falt. 

An  einer  wörtlichen  Übersetzung  aus  dem  Deutschen  ist  hier 
nicht  zu  zweifeln. 

Str.  58)  »Podniet«  ist  hier  im  prägnanten  Sinne  gebraucht  (Gelegen- 
heit, Anregung  zu  Ausschweifungen).  Der  böhm.  Text  kann  dann  nur 
durch  den  deutschen  beeinflußt  sein. 

Nemati  wssak  begt  za  podniet  |  Doch  raitzens  auch  menschlich  gemüt 

To  ciim  gcst  Buh  okrassiil  Swiet         I  Bey  lust  wirt  keüscheyt  übel  bhüt. 

Str.  60)    Der  böhm.  Text  kann  nur  aus  dem  deutschen  entstanden 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVIII.  g 


82  Oskar  Donath, 

sein.  Während  der  lat.  Text  »grandia  animaliac  enthält,  führt  der  deutsche 
Text  diesen  Ausdruclc  aus  in  »Helff'ant  und  Camelthier<f.  Dasselbe  tut 
der  böhm.  »slon  a  Welblaud«.  Das  ist  kein  Zufall,  sondern  Beeinflussung 
des  deutschen  Textes. 

Außer  diesen  inhaltlichen  Übereinstimmungen  sind  zwischen  den 
deutschen  und  böhmischen  Versen  noch  formale  Übereinstimmungen, 
welche  unsere  Behauptung  vollends  bestätigen. 

Sowohl  die  deutschen  als  auch  die  böhmischen  Verse  bestehen  aus 
vier  achtsilbigen  Zeilen,  die  durch  recht  hinkende  Reime  aa  bb  gebun- 
den sind. 

Nachdem  ich  gezeigt  habe,  daß  der  böhm.  Verfasser  nicht  nur  die 
lat.  Distichen,  sondern  auch  die  deutschen  Vierzeiler  als  Vorlage  be- 
nutzte, bleibt  mir  noch  die  Frage  offen,  wer  war  der  Verfasser  der  böh- 
mischen Verse,  und  in  welche  Zeit  sind  die  Verse  zu  versetzen? 

Was  die  erste  Frage  betrifft,  so  kommt  entweder  ein  Humanist  oder 
ein  böhmischer  Bruder  in  Betracht. 

Diese  2  Richtungen,  nämlich  der  Humanismus  und  die  Brüder- 
unität,  standen  anfangs  auf  ganz  entgegengesetztem  Standpunkte.  Das 
Ideal  der  Humanisten  war  ein  heidnisch-ästhetisches.  Ihr  Streben 
ging  dahin,  durch  hohe  Gelehrsamkeit,  durch  antike  oder  klas- 
sische Schönheit  sich  zu  emancipieren.  Das  Ideal  der  böhmischen  Brüder 
war  ein  christlich-moralisches.  Sie  wollten  aus  ihrem  eigenen 
Innern,  im  Geiste  der  christlichen  Liebe,  Einfachheit,  Demut 
und  Güte  zu  neuem  Leben  auferstehen,  zur  Religion  des  Herzens 
zurückkehren  und  ein  Gottesreich  auf  Erden  gründen. 

Trotzdem  beide  Richtungen  nichts  Gemeinsames  zu  haben  scheinen, 
haben  sie  sich  doch  im  Laufe  der  Zeit  genähert,  ja  sie  sind  sogar  in  den 
gemeinsamen  Reformationsbestrebungen  einander  begegnet.  Die  Namen 
Blahoslav,  Zerotin,  Comenius  bieten  uns  genügenden  Beweis.  In  diese 
Zeit  des  Begegnens  beider  Richtungen  versetze  ich  unsere  Verse. 

Wenn  wir  sie  nämlich  näher  betrachten,  so  sehen  wir,  daß  sie 
nicht  von  einem  Humanisten,  sondern  von  einem  böhmischen  Bruder, 
der  sich  aber  für  die  humanistischen  Wissenschaften  interessierte,  wie 
z.  B.  Blahoslav  und  Comenius,  stammen. 

Unser  Verfasser  steht  ganz  auf  dem  Programm  der  böhmischen 
Brüder  und  bekämpft  das  Programm  der  Humanisten.  Aus  unseren 
Versen  weht  ein  christlich-moralischer  und  ascetischer  Geist,  der  keinem 
Humanisten  eigen  war. 


Die  böhm.  Paraphrase  der  Distichen  des  Johannes  Pinitianus  etc.       83 

Der  böhmische  Verfasser  wettert  gegen  Gelehrtenstand,  gegen  Bü- 
cher, was  ein  Humanist  nicht  getan  hätte,  da  er  auf  seine  Gelehrsamkeit 
eingebildet  war.  Weiter  bekämpft  er  das  Leben  bei  Hofe  und  das  sich 
Bereichern  bei  Hofe.  Ich  möchte  fast  sagen,  daß  sich  das  gegen  die 
Humanisten  richtet,  die  auf  Fürstenhöfen  lebten  und  sich  von  ihren 
Fürstenherrn  unterstützen  ließen.    (Bettelbriefe  der  Humanisten). 

Der  böhmische  Verfasser  ermahnt  zur  Frömmigkeit,  Einfachheit 
und  Demut,  welches  Eigenschaften  der  böhmischen  Brüder  waren. 
Schließlich  spricht  noch  ein  Umstand  für  die  Autorschaft  eines  böhmischen 
Bruders.  In  Strophe  5  führt  Pinitianus  als  Typus  der  Kraft  Milo  und 
Samson  an.  Wäre  der  böhmische  Verfasser  ein  Humanist  gewesen,  er 
hätte  sicher  den  antiken  Namen  Milo  beibehalten  und  Samson  ausge- 
lassen. Nachdem  aber  das  Gegenteil  geschehen  ist,  nachdem  er  den 
antiken  Namen  ausließ  und  den  biblischen  beibehielt,  ist  es  wahrschein- 
lich, daß  er  ein  böhmischer  Bruder  war. 

Und  nun  kommen  wir  zur  Zeitbestimmung  unserer  Verse.  Herr 
Dr.  Wukadinovic  behauptet  (Arch.  XXVI.  S.  239):  »Der  Typus  der 
Schrift  ist  der  der  zweiten  Hälfte  des  XVII.  Jahrh.  Da  von  derselben 
Hand  sich  im  weiteren  Verlaufe  noch  andere  Eintragungen  vorfinden, 
die  das  Datum  1670  tragen,  wird  man  nicht  fehlgehen,  auch  diese 
Niederschrift  in  das  Jahr  1670  oder  kurz  vorher  anzusetzen.«  Dieser 
Meinung  kann  ich  keinesfalls  beistimmen.  Wenn  die  Verse  um  1670 
niedergeschrieben  wurden,  brauchen  sie  ja  in  dieser  Zeit  nicht  auch 
verfaßt  worden  zu  sein.  Und  daß  sie  abgeschrieben  wurden,  dafür 
spricht  ja  der  Umstand,  daß  sie  sich  in  Reinschrift  erhalten  haben. 

Unsere  Verse  sind  nach  dem  Jahre  1539  (Ausgabe  der  Verse  Pini- 
tian's  in  der  Petrarkaübersetzung  vonVigilius)  und  vor  dem  Jahre  1620 
(Schlacht  am  Weißen  Berge)  entstanden.  Wir  haben  gezeigt,  daß  der 
Verfasser  ein  böhmischer  Brader  war,  der  sich  aber  wie  Blahoslav  und 
Comenius  auch  mit  der  humanistischen  Wissenschaft  beschäftigte.  Er 
lebte  in  der  Zeit,  wo  sich  die  böhmischen  Brüder  dem  Humanismus  am 
meisten  näherten,  also  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVI.  Jahrh.  Seine 
Verse  sind  dann  höchstens  ins  Ende  des  XVI.  Jahrh.  zu  versetzen. 

Wenn  wir  unsere  Betrachtungen  kurz  resümieren  wollen,  so  müssen 
wir  sagen :  Die  böhmischen  Verse  sind  eine  Paraphrase  der  Distichen. 
Nicht  selten  aber  nimmt  der  Verfasser  die  deutschen  Vierzeiler  als  Vor- 
lage. Die  böhmischen  Verse  sind  das  Werk  eines  böhmischen  Bruders 
und  fallen  ins  Ende  des  XVI.  Jahrh, 

g* 


84 


Volksetymologische  Attribute  des  heil.  Kyrikos. 


Es  ist  schon  längst  erkannt  worden  i),  daß  die  Volksetymologie 
oder  die  Angleichung  zweier,  nur  dem  Klange  und  nicht  auch  dem  Ety- 
mon nach  verwandter  Wörter  ein  Faktor  ist,  mit  dem  die  Volkskunde 
unbedingt  rechnen  muß.  So  manche  Erscheinung  in  Sprache,  Über- 
lieferung und  Brauch  dos  Volkes,  die  sonst  unverständlich  bliebe,  hört 
es  auf  zu  sein,  sobald  man  sie  von  diesem  Standpunkte  aus  betrachtet.  In 
besonders  augenfälliger  Weise  tritt  dies  aber  bei  volksetymologischen 
Attributen  christlicher  Heiliger  zu  Tage.  Hier  ein  neuer  und,  wie  ich 
glaube,  sehr  instruktiver  Beleg  dafür. 

Am  15.  Juli  a.  St.  wird  von  den  Angehörigen  der  griechischen 
Kirche  das  Andenken  des  Märtyrers  Kyrikos  gefeiert.  Nun  ist  in  der 
Leidensgeschichte  dieses  Heiligen,  der  kanonischen  3)  wie  der  apokry- 
phen*), absolut  nichts  enthalten,  was  auf  irgend  eine  Beziehung  dessel- 
ben zur  Hühnerzucht  hinwiese.  Gleichwohl  wird  er  von  den  kleinrussi- 
schen Karpathenbewohnern,  insbesondere  aber  von  den  Huzulen  und 
den  Bojken,  als  der  Schutzherr  der  Hühner  verehrt.  Selbstredend  konnte 


1)  Ich  verweise  in  dieser  Hiusicht  vor  allem  auf  Förstemann,  der  den 
Ausdruck  »Volksetymologie«  zuerst  in  Schwang  gebracht  hat,  dann  auf  An- 
dresen,  Gubernatis,  Sobotka,  Kozier  u.  a. 

2)  Zwei  derartige  Beispiele,  die  Heiligen  Valentin  und  Vincenz  betref- 
fend, hat  bekanntlich  schon  Martin  Luther  in  seinen  »Decem  praecepta, 
Wittenbergensi  praedicta  populo«  vorgeführt  und  das  eigentümliche  Ver- 
hältnis, das  zwischen  den  volkstümlichen  Attributen  dieser  Heiligen  und 
deren  Namen  besteht,  in  durchaus  richtiger  Weise  gewürdigt.  Seit  dieser 
Zeit  ist  dank  dem  Aufschwünge,  den  die  einschlägigen  Studien  inzwischen 
genommen,  unsere  Kenntnis  von  derlei  Beispielen  erheblich  bereichert  wor- 
den, und  dürfte  es  gegenwärtig  kaum  eine  nennenswertere  folkloristische 
Publikation  geben,  die  nicht  auch  einige  Beiträge  dieser  letzteren  Art  ent- 
hielte. Eine  recht  hübsche  Zusammenstellung  von  hierher  gehörigen  Bei- 
spielen (allerdings  nur  den  markanteren)  ist  übrigens  auch  in  Kristoflfer  Ny- 
rop's  »Ordenes  Liv«,  deutsche  Übersetzung  von  Robert  Vogt  (Leipzig  1903), 
S.  222—228  zu  finden. 

3)  Sammt  der  einschlägigen  Epistel  des  Bischofs  von  Ikonion  Theodoros 
abgedruckt  in  den  Analecta  Bolland.  I,  S.  194  ff. 

*)  Zu  finden  in  den  Acta  SS.  unter  dem  16.  Juni. 


Volksetymologische  Attribute  des  heil.  Kyrikos.  85 

er  zu  diesem  Attribute  nur  im  Wege  der  Volksetymologie  gelangt  sein. 
Da  nämlich  griech.  KvQi/.og  in  kirchenslavischer  Umschrift  KvpHKx 
und  im  Volksmunde  schlechtweg  KypHKi,  (spr.  Kuryk)  lautet,  so  war  es 
für  die  Volksetymologie,  die  bekanntlich  ihre  eigenen,  von  denen  der 
•wissenschaftlichen  verschiedenen  Wege  wandelt,  ein  Leichtes,  besagten 
Namen  in  Zusammenhang  mit  Thema  Koypi.  (=  Huhn)  zu  bringen.  Im 
selben  Augenblicke,  da  dies  geschehen  war,  war  aber  auch  das  betref- 
fende Attribut  fertig.  Der  hl.  Kyrikos  wurde  seitdem  als  der  Schutzherr 
der  Hühner  angesehen,  und  steht  gegenwärtig  bei  den  kleinrussischen 
Karpathenbewohnern  allgemein  der  Brauch  in  Übung,  sich  seine  Gunst 
auf  diese  Weise  zu  sichern,  daß  man  seinen  Schützlingen  am  15.  Juli 
allerlei  Zärtlichkeiten  erweist  und  ihnen  besser  und  reichlicher  zu  essen 
gibt  als  sonst.  Allein  auch  abgesehen  von  dem  15.  Juli,  als  dem  spe- 
5?iell  dem  hl.  Kyrikos  gewidmeten  Tage,  haben  Hausfrauen,  die  Hühner 
züchten,  nach  der  Ansicht  der  kleinrussischen  Karpathenbewohner  die 
Pflicht,  denselben  mit  Liebe  und  Sorgfalt  zu  begegnen.  Geschieht  dies, 
dann  lohnt  es  der  hl.  Kyrikos  dadurch,  daß  Hennen  mehr  als  Hähne 
aus  den  Eiern  schlüpfen,  daß  Krankheiten  und  Unglücksfälle,  zu  denen 
unter  anderem  auch  der  Raub  durch  Habichte  und  Geier  gehört,  von 
den  Hühnern  ferngehalten  werden  u.  s.  w.  Wird  dagegen  obige  Pflicht 
nicht  eifrig  genug  geübt  oder  gar  versäumt,  dann  gibt  er  seine  Unzu- 
friedenheit zunächst  dadurch  zu  erkennen,  daß  Hähne  in  ungleich 
größerer  Zahl  ausgebrütet  werden  als  Hennen.  Hilft  auch  das  nicht, 
dann  läßt  er  die  junge  Brut  überhaupt  nicht  aufkommen  und  verschont 
durch  Zulassung  von  Krankheiten  und  Unglücksfällen  auch  die  etwa 
vorhandenen  älteren  Bestände  nicht.  Im  Falle  besonders  hartnäckiger 
Pflichtversäumnis  besitzt  er  außerdem  die  Befugnis,  den  Hennen  das 
Krähen  zu  gestatten.  Dies  ist  aber  etwas,  wovor  die  betreuenden  Volks- 
schichten die  größte  Angst  haben.  Denn  beginnt  eine  Henne  zu  krähen, 
so  hat  das  nach  einem  allgemein  bei  den  Slaven,  wie  tatsächlich  auch 
bei  ihren  deutschen  und  rumänischen  Nachbarn 2)  verbreiteten  Aber- 
glauben die  Bedeutung,  daß  jemand  von  den  Hausgenossen  sterben 
werde.  So  viele  Hennen  krähen,  so  viele  Sterbefälle  stehen  bevor.  Wohl 


1)  Es  besteht  zwar  daneben  auch  die  Schreibung  Kriqvxo^,  doch  setzen 
sowohl  das  lat.  Ci/ricus,  als  auch  das  kirchenslav.  Kvpuici.  mit  Evidenz  die 
P'orm  griech.  KvQixog  voraus. 

2)  Vgl.  Zeitsclirift  f.  üsterr.  Volkskunde  II  250,  III  213,  VI  110,  VIII  179 
u.a.  analoge  Publikationen. 


86  Kaluzniacki, 

kann  man  dieser  letzteren  Gefahr  mitunter  in  der  Weise  vorbeugen, 
daß  man  der  betreffenden  Henne  nach  Durchführung  eines  eigens  für 
diesen  Zweck  vorgesehenen  Verfahrens  ^)  entweder  den  Kopf  oder  den 
Schweif  abhaut,  aber  absolut  verläßlich  ist  dieses  Mittel  keineswegs. 
Sicherer  nach  der  Ansicht  der  kleinrussischen  Karpathenbewohner  ist 
es,  wenn  man  den  hl.  Kyrikos  gleichzeitig  um  Verzeihung  bittet  und 
ihm  verspricht,  den  Hühnern  fortan  die  schuldige  Sorgfalt  nicht  vorzu- 
enthalten. Hat  er  die  Überzeugung,  daß  das  Versprechen  gehalten 
werden  wird,  dann  kann  er  durch  seine  Fürsprache  bei  Gott  bewirken, 
daß  die  durch  das  Krähen  der  Hennen  angekündigte  Gefahr  nicht 
eintritt. 

Wie  man  also  sieht,  hat  sich  die  Volksetymologie  in  dem  hier  vor- 
liegenden Falle  als  besonders  fruchtbar  erwiesen.  Sie  hat  nicht  nur  ein 
neues,  in  der  hagiographischen  Überlieferung  ^j  nicht  begründetes  Attri- 
but veranlaßt,  sondern  damit  auch  Vorstellungen  und  Bräuche  in  Ver- 
bindung gebracht,  die  sich  zu  einem  vollständig  ausgebildeten  und  in 
sich  abgerundeten  Kyrikoskultus  zusammenschließen.  Vorkommnisse 
des  Hühnerlebens,  günstige  und  schlimme,  erscheinen  unter  ihrem  Ein- 
fluß als  Äußerungen  einer  speziell  dem  hl.  Kyrikos  zustehenden 
Machtbefugnis  aufgefaßt,  und  haben  diejenigen,  denen  es  an  dem  Ge- 
deihen ihrer  Hühner,  wie  mittelbar  auch  an  dem  eigenen  Wohlergehen 
gelegen  ist,  kein  anderes  Mittel  dies  Ziel  zu  erreichen  als  nur,  daß  sie 
sich  bestreben,  durch  schonende  und  sorgfältige  Behandlung  seiner 
Schützlinge  das  Wohlwollen  dieses  Heiligen  zu  verdienen. 

Nun  entsteht  aber  die  Frage  (und  wer  da  weiß,  daß  derlei  Fälle 
gar  nicht  zu  den  seltenen  gehören,  wird  die  Berechtigung  einer  solchen 


1)  Dasselbe  besteht  darin,  daß  man  die  betreffende  Henne  zunächst 
ihrer  ganzen  Länge  nach  ausstreckt  und  mit  ihr  sodann  den  Abstand,  der 
zwischen  der  Stirnwand  und  der  Thürschwelle  liegt,  durchmißt.  Kommt 
hierbei  der  Kopf  auf  die  Thürschwelle  zu  liegen,  so  haut  man  diesen,  sonst 
den  Schweif  ab. 

2)  Als  ein  weiterer  Bestandteil  dieser  Überlieferung  ist  übrigens  auch 
das  bereits  von  A.  Ehrhard  in  Krumbacher's  Gesch.  der  byzant.  Litteratnr^, 
S.  170  erwähnte  Enkomion  des  Patriarchen  von  Konstantinopel  Sisinios,  so- 
wie das  Enkomion  anzusehen,  das  nach  K.  Ch.  Dukakis,  Miya?  Iv^a^aoiati]; 
nävxiav  tüu  ctyiwf  etc.  VII,  S.  217,  Anm.  1  von  dem  Rhetor  Niketas  verfaßt 
worden  ist.  Es  soll  sowohl  in  der  großen  Laura,  als  auch  in  den  Klöstern 
Dionysiu  und  Vatopediu  auf  dem  Berge  Atbos  vorhanden  sein.  Das  zuletzt 
ewähnte  Enkomion  beginnt:  "üaneQ  ovx  'iaii  awexöixspoy  zu  Kvqlw  etc. 


Volksetymologische  Attribute  des  heil.  Kyrikos.  87 

Frage  nicht  in  Abrede  stellen),  ob  der  hl.  Kyrikos  nicht  vielleicht  an  die 
Stelle  einer  analogen  heidnischen  Gottheit  getreten  ist.  Ich  für  meinen 
Teil  trage  kein  Bedenken,  vorstehende  Frage  zu  bejahen.  Schon  die 
rein  theoretische  Erwägung,  daß  es  kaum  denkbar  sei,  daß  ein  derar 
alter  ^)  und  mit  allerlei  religiösen  Bräuchen  der  Vergangenheit 2,,  wie 
der  Gegenwart  3]  auf  das  innigste  verknüpfter  Zweig  der  Hauswirtschaft 


1)  Quellenmäßig  (vgl.  die  nächstfolg.  Anmerk.)  ist  das  Vorkommen  des 
Haushuhns  bei  den  Slaven  allerdings  erst  seit  dem  X.  Jahrb.  n.  Chr.  bezeugt. 
Wenn  aber  bedacht  wird,  daß  Spuren  desselben  im  mittleren  Europa  sich 
nach  Jeitteles,  Zur  Gesch.  des  Haushuhns  (Zoolog.  Garten  XIV,  S.  58  flf.)  bis 
in  das  Zeitalter  der  Bronze  zurückverfolgen  lassen,  so  wird  nicht  bezweifelt 
werden  dürfen,  daß  dieses  nützliche  Tier  auch  bei  den  Slaven  eines  zumin- 
dest eben  so  alten  Datums  sei.  Mußte  es  doch,  um  von  Iran  aus,  wo  es  nach 
W.  Geiger,  Ostiränische  Kultur  im  Altertum,  S.  366  seit  ältester  Zeit  zu 
Hause  ist,  nach  dem  mittleren  Europa  zu  gelangen,  zuerst  die  von  den  Slaven 
bewohnten  Gebiete  passirt  haben.  Daß  aber  das  Haushuhn  seinen  Weg  zu 
den  Slaven  in  der  Tat  von  Iran  aus  nahm,  beweist  außer  der  geographischen 
Lage  insbesondere  noch  die  auffällige  Übereinstimmung,  die  zwischen  der 
slaviscben  und  der  iranischen  Benennung  desselben  besteht.  Ein  in  neuerer 
Zeit  von  G.  A.  Iljinskij,  0  HifeKoropux'B  apxauaiiaxi  h  HOBOoöpaBOBaHiflxi  npa- 
cjaB.  flBbiKa,  S.  22  unternommener  Versuch,  slav.  KoypA  mit  dem  einheimischen 
Sprachschatze  zu  erklären,  ist  meines  Erachtens  als  verfehlt  anzusehen. 

2)  Ich  verweise  vor  allem  auf  die  diesfalls  in  dem  Berichte  des  Arabers 
Ibn-Fadhlan  (bei  A.  Harkavi  S.  97 — 101),  dann  in  dem  Geschichtswerke  des 
Byzantiners  Leon  Diakonos  (Corpus  scriptornm  bist,  byz.,  ed.  Bonn.  XI,  S.  149), 
sowie  in  einer  kirchenslav.  Handschrift  des  Rumjancev-Museums  in  Moskau 
(OnHcaHie  pyccK.  11  cjiaB.  pyKoniiceH  PyiiscuuiiB.  M — wa,  S.  228)  enthaltenen  Be- 
legstellen. Übrigens,  auch  der  im  Reiseberichte  des  afrikanischen  Juden 
Ibrähim-Ibn-Ya'küb  (nachzusehen  in  den  Memoiren  der  Petersb.  A.  d.  W., 
hist.-philolog.  Kl.  III,  Nr.  4,  S.  59)  erwähnte  Umstand,  wonach  die  Slaven  da- 
mals, d.  h.  im  J.  965,  den  Genuß  von  jungen  Hühnern  aus  Furcht  vor  Krank- 
heiten gemieden  hätten,  dürfte  bei  der  gänzlichen  Unschädlichkeit  dieser  Art 
von  Nahrung  eher  einen  rituellen  als  einen  sanitären  Beweggrund  gehabt 
haben.  Ist  es  doch  bekannt,  daß  auch  die  alten  Inder,  wie  nicht  minder  die 
Mysten  der  Demeter  in  Eleusis  und  die  alten  Brittannen  sich  des  Genusses 
von  Hühnerfleisch  enthielten,  und  war  der  Grund  dieser  Erscheinung  in  allen 
drei  Fällen  ein  ritueller. 

3)  Zu  den  bereits  von  J.  Hanus  im  Bajeslovny  kalendär  slov.,  S.  39,  123, 
129,  144,  156,  175,  185,  199,  214  u.  218  und  außerdem  von  A.  Athanasjev  in 
den  no3T.  B033ptui/i  CiaBaiix  iia  npupo^y  I  467 — 468,  518 — 525,  II  107,  117 — 
119,  259,  III  465,  788 — 800  reichlichst  zusammengetragenen  Einzellieiten  füge 
ich  hier  noch  die  einschlägigen  huzulisclien  Bräuche,  die  B.  Kozariscuk  in  der 
Zeitschrift  »liayKa«  pro  1891,  S.  86  ff.  mitgeteilt  hat,  hiuzu.    Der  eine  dieser 


88  Kaluiniacki, 

bei  den  heidnischen  Slaven  ohne  eine  besondere  Schutzgottheit  bestan- 
den haben  sollte,  spricht  eher  für  als  gegen  die  Zulässigkeit  obiger  Be- 
hauptung. Dazu  kommt,  daß  in  einigen  Gegenden  Rußlands  und 
namentlich  im  Gouvernement  Kostroma*)  sich  bis  heute  der  Brauch 
erhalten  hat,  in  Hühnerstallungen  unter  dem  charakteristischen  Namen 
der  Hühnergötter  (Kurjacie  bogi)  Steine,  auch  förmliche  Götzenbilder 
aus  Stein  2)  zu  dem  Zwecke  aufzuhängen,  um  hierdurch  Krankheiten  und 
insbesondere  die  schadenfrohen  Kikimoren  von  den  Hühnern  fernzu- 
halten. Übrigens,  auch  der  gegenwärtig  allerdings  aus  der  Übung 
gekommene,  aber  seinerzeit 3)  ziemlich  stark  verbreitete  Brauch,  an 
gewissen  Festtagen  lebende  Hähne  in  die  Kirchen  zu  bringen,  kann  nur 
den  Sinn  haben,  daß  es  in  der  heidnischen  Vorzeit  der  Slaven  Gott- 
heiten gegeben  hat,  denen  der  Hahn  heilig  war  und  von  denen  man 
daher  glaubte,  daß  sie  es  als  eine  ihnen  erwiesene  Huldigung  empfan- 
den, wenn  man  an  den  Stätten,  wo  sie  verehrt  wurden,  in  Begleitung 
dieses  ihres  Symbols  erschien  *). 


Bräuche  besteht  darin,  daß  man  in  ein  neuerbautes  Haus,  bevor  man  in  das- 
selbe einzieht,  für  dreimal  24  Stunden  eine  schwarze  Henne  einsperrt.  Hier- 
durch glaubt  man  zu  erreichen,  daß  das  Haus  von  Schlangen,  die  hier  offen- 
bar als  Symbole  der  bösen  Dämone  fnngiren,  rein  bleiben  werde.  Der  andere 
Brauch  (vgl.  diesbezüglich  auch  »Globus«  LXXVI,  S.  253)  besteht  dagegen  in 
nachstehender  Procedur :  Beginnt  im  Sommer  die  Dürre  gefährlich  zu  wer- 
den, dann  wird  mitten  im  Dorfe  am  Fluß-,  bezw.  Bachufer  ein  Hnhn  ge- 
schlachtet, sein  Blut  ins  Wasser  abgelassen  und  da  hinein  auch  der  Kopf 
geworfen.  Den  Kadaver  selbst  übergibt  man  vorübergehenden  Bettlern  oder 
man  verscharrt  ihn. 

1)  Vgl.  Dal,  IIocjioBimLi  1058,  und  Athanasjev,  IIost.  BoaspiHia  etc.  II 107 
u.  III  800. 

2)  ApxeMor.  B§cthiiki>  pro  1867,  IV  186. 

3)  Man  vergleiche  diesbezüglich  Krolmus,  Staroceske  povesti  I,  S.  379; 
Grohmann,  Abergl.  und  Gebräuche  aus  Böhmen  u.  Mähren  Nr.  531;  Hanus, 
Bajeslovny  kalendär  slov.  S.  175;  Athanasjev,  IToai.  Bosapiniii  I,  S.  468  u.a. 

*)  Was  dagegen  jenes  oben  geschilderte  Verfahren  anbelangt,  das  man 
gegen  krähende  Hennen  zur  Abwendung  der  durch  dieses  Phänomen  ange- 
kündigten Gefahren  anwendet,  so  hat  es  mit  der  vorauszusetzenden  einstigen 
Hühnergottheit  der  Slaven  schwerlich  was  gemein.  Es  ist  vielmehr  evident, 
daß  die  Henne  hier  als  Opfertier  fungiert,  welches  in  der  heidnischen  Vorzeit 
der  Slaven  die  Bestimmung  hatte,  auf  die  mythischen  Repräsentanten  der 
Macht,  zu  deren  grausamen  Befugnissen  es  gehörte,  Tod  und  Verderben  über 
die  Menschen  zu  bringen,  beschwichtigend  zu  wirken.  Wohl  hat  der  Mensch 
—  dies  ist  ungefähr  der  Sinn  des  Verfahrens  —  dadurch,  daß  er  eine  Gott- 


I 


Volksetymologische  Attribute  des  heil.  Kyrikos.  gQ 

So  wären  denn,  wie  zugegeben  werden  muß,  Anhaltspunkte  vor- 
handen, die  es  höchst  wahrscheinlich  machen,  daß  der  hl.  Kyrikos, 
dank  seinem,  für  volksetymologische  Deutung  zugänglichen  Namen,  in 
der  Tat  an  die  Stelle  einer  analogen  heidnischen  Gottheit  getreten  ist. 
Welcher  Art  aber  diese  Gottheit  gewesen  ist,  d.  h.  ob  sie  unter  die 
hervorragenderen  Erscheinungen  der  slavo-russischen  Götterwelt,  wie 
beispielsweise  Perun^  oder  unter  die  mythischen  Vorstellungsgebilde 
niederer  Gattung,  wie  etwa  der  DomovoJ  rangierte,  —  läßt  sich  bei  dem 
mangelhaften  Zustande  der  in  Betracht  kommenden  Behelfe  mit  Sicher- 
heit nicht  ermitteln.  Die  oben  erwähnte  Gepflogenheit  der  Bewohner 
des  Gebietes  von  Kostroma,  welche  an  dem  von  den  alten  Italern  ge- 
übten Brauche,  in  ihren  Ställen  in  einer  eigens  für  diesen  Zweck  am 
Hauptbalken  angebrachten  Nische^)  das  kleine  Sitzbild  der  Epona 
aufzustellen,  eine  sehr  dankenswerte  Parallele  hat,  würde  freilich  eher 
der  an  zweiter  Stelle  erwähnten  Eventualität  das  Wort  reden.  Mit 
Rücksicht  auf  gewisse  Nebenumstände  darf  man  indeß  auch  die  erst- 
genannte Eventualität  nicht  ganz  von  sich  weisen.  Denn  es  ist  Tat- 
sache, die  sowohl  Kozariscuk^]  als  auch  KaindP]  in  übereinstimmender 
Weise  bezeugen,  daß  zu  den  von  den  klein  russischen  Karpathenbewoh- 
nern  besonders  verehrten  Feuer-,  beziehungsweise  Donnerheiligen 
(oo/mevi,  hromovi  a^jeti]  außer  dem  hl.  Gabriel,  Prokopios,  Onuphrios 
u.  a.  auch  der  in  Rede  stehende  Kyrikos  gehört.  Mehr  als  das,  es  be- 
steht in  jenen  Gegenden  außerdem  die  Gewohnheit,  an  dem  dem  letz- 
teren Heiligen  gewidmeten  Tage  sich  aller  Arbeit,  zumal  der  im  freien 
Felde,  zu  enthalten,  und  wird  diese  Gewohnheit  nach  Kozaris6uk  aus- 
drücklich damit  motiviert,  daß  an  dem  Tage  der  Blitz  besonders  ge- 
fährlich sei  und  der  Biß  der  Schlange  heftiger  und  schädlicher  wirke 
als  sonst. 


heit  kränkte,  das  Leben  verwirkt,  aber  die  Götter,  die  dem  Reiche  des  Todes 
vorstehen,  können  sich  eventuell  auch  mit  dem  Leben  eines  Tieres  begnügen 
und  den  Menschen  selbst  von  der  Notwendigkeit  zu  sterben  entheben.  Im 
Grunde  genommen  also  ein  hilastischer  und  nobstbci  ein  kathartischer  Brauch. 

1)  Vgl.  diesbezüglich  Preller-Jordan,  Rom.  Mythologie  II  227. 

2)  ..HayKa«pro  1891,  S.  723. 

3)  »Festkalender  der  Rusnaken  u.  Huzulen«  in  den  Mittheil,  d.geograph. 
Gesellschaft  in  Wien  pro  ISDö,  S.  438. 

Kaluzniacki. 


90 


Wann  wurden  die  Ecliciuien  des  serbischen  hl.  Sava 

verbrannt  ? 


Bis  vor  kurzem  herrschte  in  der  serbischen  Geschichtschreibung 
die  Ansicht,  daß  die  Reliquien  des  hl.  Sava  von  Sinan-Pascha  in  Vracar 
bei  Belgrad  verbrannt  wurden.  Aber  im  Jahre  1883  nahm  diese  Frage 
der  verstorbene  serbische  Historiker  Archimandrit  Ilarion  Ruvarac  vor 
und  kam  zu  einem  anderen  Resultate.  Auf  Seite  29 — 47  seines  Werkes 
»0  nehKHM  naTpHJapcHMa  oa  MaKapnja  ao  Apcennjalll«  (1557 — 1690j 
befaßte  er  sich  mit  der  obgenannten  Frage  und  widerlegte  die  bis  dahin 
geltende  Ansicht  in  folgender  Weise: 

1.  In  der  Bibliothek  des  böhmischen  Museums  in  Prag  befindet 
sich  eine  Schrift  über  das  Datum,  wann  die  Donaustädte  in  die  Gewalt 
der  Türken  gerieten  und  da  steht  es: 

Bk  AfTO  A-3pß.  (7102=1594)  Kk  A"'"  ntp'cKaro  u,dpa  Kk- 

3fTk    CkICTk    CßtTHTfAk    GaRA    Kk    RtTaKk    ßEAHKkl,    O^BH    MH'S 

rp'Siu'HOiuiOY    (o.  c.    p.  46,    CnoMBHHK   cpn.   KpaA.    aKa^;.    Bd.  III, 
p.  105). 

2.  Wenn  Sinan-Pascha  den  hl.  Sava  im  J.  1595  hätte  verbrennen 
lassen,  so  würde  er  dies  nach  Eroberung  von  Raab  (29.  Sept.  1594) 
getan  haben,  aber  nach  der  Behauptung  von  Ruvarac  kehrte  das  Heer 
Sinans  in  diesem  Jahre  nicht  nach  Belgrad  zurück,  um  zu  überwintern, 
wie  es  im  Jahre  1593/4  tat,  und  Sinan  war  am  Ende  des  Jahres  1594 
und  Anfang  des  Jahres  1595  überhaupt  nicht  in  Belgrad. 

3.  Alle  Quellen  stimmen  darin  überein,  daß  Sinan-Pascha  den 
Befehl  gab,  den  Körper  des  hl.  Sava  zu  verbrennen.  Dies  konnte  aber 
keinesfalls  1595  geschehen,  weil  im  April  dieses  Jahres  Sinan-Pascha 
nicht  mehr  Großvezier  war,  sondern  Ferhad-Pascha,  während  der  alte 
Sinan  noch  Mitte  Februar  dieses  Jahres  nach  Klein-Asien  geschickt 
wurde.  Zum  Beweise  dafür  beruft  sich  Ruvarac  auf  Hammer  »Ge- 
schichte des  osmanischen  Reiches«  IV.  219 — 245,  Zinkeisen  III.  590 — 
599  und  Monumenta  Hungar.  bist.  Scriptores  vol.  XVII. 


Wann  wurden  die  Reliquien  des  serbischen  hl.  Sava  verbrannt?       9t 

Alle  diese  Beweise  führten  Ruvarac  dahin,  seine  Auseinander- 
setzungen folgendermaßen  zu  schließen : 

»Tejio  CB.  Gase  na  aanosecT  CnHaH-IIaine  o/tnemeHO  je  na  bbjihkh 
üexaK  HS  Man.  Mn^ieineBa,  h  cna^eHO  je  na  Bpaiapy  koa  Eeorpa^a 
27.  anpiiaa  1594.  q.  e.  d.«  (o.  c.  p.  47),  d.  h.  auf  Befehl  Sinan-Paschas 
seien  die  Reliquien  des  hl.  Sava  im  J.  1594  am  27.  April  auf  Vracar 
bei  Belgrad  verbraunt  worden. 

Dank  dem  großen  Ansehen  Ruvarac'  nahm  die  serbische 
Historiographie  seine  Berichtigung  sofort  an  und  seit  dieser  Zeit  galt 
der  2  7.  April  1594  als  der  Tag  der  Verbrennung  der  Reliquien  des 
hl.  Sava.  Und  doch  war  die  Beweisführung  des  unvergeßlichen  Gelehr- 
ten in  diesem  Falle  keine  richtige,  wie  man  aus  nachfolgender  Darlegung 
sich  überzeugen  wird. 

Ad  1.  Schon  die  zitierte  Inschrift  des  Prager  Museums  erregt 
Zweifel.  Die  Worte  «Kb  j^n'iH  iiep'cKaro  u,apa  Bk3tTK  KkiCTk  CKf- 
THTfAK  Gaßa«  drücken  den  historischen  Wert  dieser  Inschrift  stark 
herab.  Aber  es  gibt  noch  einen  Umstand,  der  ihre  vollkommene  Kritik- 
losigkeit beweist.  Vor  jenen  Worten,  die  sich  auf  den  hl.  Sava  beziehen, 
sind  dort  die  Daten  angegeben,  wann  folgende  Städte  in  die  Hände  der 
Türken  fielen:  Belgrad,  Peterwardein,  Ofen,  Temesvär,  Sziget,  Szegedin 
und  Becskerek.  Beinahe  bei  allen  hier  angeführten  Städten  ist  das 
Eroberungsjahr  falsch  angegeben.  So  z.  B.  bei  Ofen  7053  =  1545  statt 
1541,  bei  Temesvär  7061  =  1553  statt  1552,  bei  Sziget  7072  =  1564 
statt  1566,  bei  Szegedin  7080  =  1572  statt  1541  u.  s.  w.  Diese  In- 
schrift also,  welche  übrigens  einzig  und  allein  die  Verbrennung  der 
Reliquien  des  hl.  Sava  in  das  Jahr  1594  versetzt,  kann  und  darf  einem 
Historiker  nicht  als  Beweis  dienen. 

Ad  2.  Es  steht  nicht  fest,  daß  Sinan  nach  der  Eroberung  Raabs 
nicht  nach  Belgrad  gezogen  sei.  In  den  zeitgenössischen  Bemerkungen, 
die  in  der  Sammlung  Ludokiu  de  Hurmuzaki,  »Documente  privitöre  la 
storia  Romanilor«,  Volumul  III,  Bucuresci  1880  vorliegen,  befindet  sich 
ein  Brief,  datiert  aus  Coscha  vom  1.  Martij,  anno  1595,  worin  aus- 
drücklich gesagt  wird  :  »Da  nun  neulicher  Zeit  der  Sinan  Bassa  von 
Raab  zu  riegg  auf  griechischen  Weißenburg  gezogen  .  .  .  .«  (S.  228)  und 
in  demselben  Werke  bezeugen  noch  zwei  Nachrichten  die  Gegenwart 
Sinans  in  Belgrad,  eine  vom  25.  Januar  1595  (S.  223)  und  andere  vom 
10.  April  1595  (o.  c.  Vol.  XII,  S.  43). 


92  Aleksa  Ivic, 

Ad  3.  Sinan-Pascha  wurde  zwar  Anfang  März  seiner  Stellung  als 
Großvezier  enthoben  und  an  seine  Stelle  Ferhad-Pascha  eingesetzt,  aber 
schon  Anfang  Juli  stand  Sinan  an  der  Spitze  der  gesamten  türkischen 
Armee,  während  Ferhad  »stranguliert«  wurde  (Hurmuzaki,  Documente 
XII,  S.  56).  Die  Angabe  Hammers  dagegen,  daß  Sinan  zur  Zeit  des 
Vezierats  Ferhads  nach  Klein-Asien  verbannt  worden  sei,  wird  durch 
keine  zeitgenössische  Quelle  bestätigt.  Ruvarac  weist  zwar  auf  Zinkeisen 
und  Decius  Barovius  in  Mon.  hung.  hin,  aber  bei  ihnen  verlautet  nichts 
von  einer  Verbannung  Sinans ;  sie  registrieren  nur,  er  habe  seine  Stelle 
dem  Ferhad  eingeräumt.  Im  Gegenteil,  die  zeitgenössischen  Angaben, 
gesammelt  im  erwähnten  Werke  von  Hurmuzaki  sprechen  entschieden 
gegen  die  Angabe  Hammers.  So  z.  B.  in  einer  Schrift  vom  April  1595, 
sagt  man  vom  Sinan-Pascha,  daß  er  »ordinato  e  fato  condur  gran 
legniame  in  Alba  Grecha  per  far  il  ponte  sopra  il  Danubio,  a  poter 
passare  a  questa  banda  con  exercitti«  (o.  c.  p.  43).  Obwohl  Sinan 
während  dieser  2 — 3  Monate  das  Großvezierat  nicht  innehatte,  hatte 
er  trotzdem  in  jenen  bewegten  Zeiten  großen  Einfluß  und  große  Macht. 
Es  konnte  auch  nicht  anders  sein,  weil  Sinan,  der  langjährige  Groß- 
vezier des  türkischen  Reiches,  starke  Verwandtschafts-  und  Freund- 
schaftsverbindungen beim  Hofe  und  im  ganzen  Reiche  hatte  und  beim 
Volke,  Heer  und  auch  beim  neuen  Sultan  Mohammed  III.  sehr  beliebt 
war  (»si  cä  fovoritul  Sultanlui  noü(f  o.  c.  S.  36).  Der  beste  Beweis  da- 
für ist  die  Tatsache,  daß  der  Vezier  Ferhad  bald  ermordet  wurde  und 
an  seine  Stelle  wieder  der  achtzigjährige  Greis  Sinan  kam. 

Alle  verläßlichen  und  zeitgenössischen  Quellen  geben  ein- 
mütig an,  daß  Sinan-Pascha  den  Körper  (die  Reliquien)  des  hl.  Sava 
im  Jahre  1595  verbrennen  ließ.  Hier  führe  ich  einige  wichtigere 
Quellen  an : 

1.  Die  Doparter  Annalen:  Bh.  Airo  ;ir.3pr.  (7103  =  1595) 
ck^Kfroiuf  MoiuTH  cß6Taro  GaßH  apjCHtnHCKCtna  cpecKaro.  Gh- 
HaHK  nama  HSh,  luiaHacTHpa  MHaEiusBE  o^Hece  o\'  KOß46ro\'" 
no3/\aujTfHO\"    H    cfc^^KErcuiE    Ha    BpasapoY    khujc    lie/\Hrpa;i,a 

(CnoMeHHKin,  p.  127). 

2.  Die  Vrhobreznicer  Annalen :  Bh.  A'kTO  ^.spr.  (7103=  1595) 
OTHfCOliJf     To^fPUH     CKCTarO     GaBOY     H.3     MHAfmJKf,      MlvCtU,a 

luiäpTa  .1.  A*^""^?  ü^utTh.  Rtrw  Otso^si»   h  ca^Keroiuf  anpHaia 
.K3.  Ha  RpaMapoy  ko^«^  B'feaHrpaA^»  (o.  c.  p.  153). 


Wann  wurden  die  Reliquien  des  serbischen  hl.  Sava  verbrannt?       93 

3.  Die  Koviljer  Annalen:  Bti  A'Sto  /r.3pr.  (7103  =  1595)  Ck- 
H;croLii£  MOUJTH  cBfTaro  GaßH  npKBaro  ap\*'ifnHCKOYnd  cpkK- 
CKaro,  GHHaHk  nauia  HSh.  luioHacTHpa  MHAfiufKa  othic«  oy 
KOBMtroY  nosAaiuTfHoy  h  ck^kc^ke  Ha  BpaMapjßOY  ßwiuf  BeaH- 
rpa^a  (0.  c.  p.  147). 

Diesen  Angaben  unserer  Annalen  über  jene  Zeit  können  wir  voll- 
ständigen Glauben  schenken.  Ich  verglich  viele  Angaben  aus  dem 
XVI.  Jahrhundert  mit  fremden  Quellen  und  fand,  daß  die  Ereignisse  in 
unseren  Chroniken  aufs  Haar  genau  angegeben  sind. 

4.  Der  Zeitgenosse  dieser  Ereignisse,  Patrijarch  Paisije,  schreibt 
in  der  Vita  des  Garen  Uros,  daß  Sinan-Pascha  nach  der  Eroberung 
Raabs  die  Reliquien  des  hl.  Sava  am  17.  April  1595  verbrennen  ließ. 
Auch  ein  anderer  Zeitgenosse,  Ivan  Tomko  Mrnjavic,  in  der  Biographie 
des  hl,  Sava,  gedruckt  in  Rom  1630,  erwähnt,  daß  die  Reliquien  des 
Heiligen  im  Jahre  1595  verbrannt  wurden  (Arkiv  IX,  S.  243).  Und 
noch  ein  dritter  Zeitgenosse,  Du  Gange,  schreibt  in  seinem  Werke 
Illyricum  vetus  et  novum  p.  54  vom  hl.  Sava:  »quod  monachus  factus 
assumpsit,  summa  religione  colitur,  cujus  corpus  palam  comburi  jussit 
Bassa  Sinamus  a.  1595«. 

Nach  dem  Auseinandergesetzten  wiederhole  ich,  daß  die  Ansicht 
des  gelehrten  serbischen  Historikers  Ilarion  Ruvarac  in  dieser  Frage 
nicht  richtig  war.  Sinan-Pascha  ließ  den  Körper  des  hl.  Sava  am 
27.  April  1595  verbrennen. 

Wien,  den  21.  Januar  1906.  Aleksa  Ivic. 


94 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben, 

mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Gedichtes 

»Zähofovo  loze«. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  neucechischea  Prosodie  und  Metrik  von 
Jaroslav  Sutnar. 

(Fortsetzung.)  *) 


Aa.   Erben's  Yerse  mit  zweisilbigen  Füßeu. 

Falsche  Wortbetonung. 

Bei  der  Wortbetonung  nach  der  Lehre  Dobrovsky's  wird  nach 
unsrem  Dafürhalten  jene  Regel  den  größten  Zweifel  hervorgerufen  haben, 
der  zufolge  die  meisten  einsilbigen  Präpositionen  die  Betonung  der 
nachfolgenden  Wörter  immer  an  sich  reißen  sollen.  Man  hat  offenbar 
nicht  recht  begreifen  können,  warum  z.  B.  ein  zweisilbiges  und  inhalts- 
schweres  Nomen :  chrämu,  lesa  u.  s.  w.  zu  gunsten  einer  einsilbigen  und 
verhältnismäßig  belanglosen  Partikel :  do,  u  u.  s.  w.  die  Betonung  ein- 
büßen  müsse:  do  chrämu,  u  lesa  u. s.  w.  Besonders  unangenehm  dürfte 
man  berührt  gewesen  sein,  wenn  auf  diese  Weise  bei  den  von  einsilbigen 
Präpositionen  abhängigen  Wörtern  eine  natur-  oder  positionslange  Silbe 
der  Betonung  verlustig  ging.  Etwas  Ähnliches  bemerkte  man  auch 
bei  Nominal-  und  Verbal-Zusammensetzungen ,  worin  ein  größtenteils 
wichtiges  Wort  seine  Betonung  zu  gunsten  der  vorangehenden  einsilbi- 
gen Präposition  oder  Negationspartikel  oder  auch  eines  andern  voran- 
gehenden  einsilbigen  Wortes  verlor.     So  hieß  es:  zäry,  ciny  u.  s.  w. 

\_/        \y  \y 

und  bränil,   byla  u.  s.  w.,   aber  in   den  Zusammensetzungen:  pozäry, 

'^ v^ \y 

zlociny  u.  s.  w.  und  zabränil,  nebyla  u.  s.  w.  Natürlich  waren  auch  hier 
namentlich  diejenigen  Fälle  peinlich,  worin  der  Verlust  einer  Betonung 
die  natur-  oder  positionslange  erste  Silbe  eines  solchen  bedeutungsvollen 
Wortes  traf.  Hielt  man  sich  jedoch  an  die  Regeln  vom  Verluste  der 
Betonung  bei  präpositionalen  Verbindungen  und  bei  Zusammensetzungen 


*)  Vergl.  Archiv  XXVII,  S.  527—562. 


I 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  95 

wenigstens  teilweise,  glaubte  man  wiederum,  die  Betonung  der  erwähn- 
ten Fälle  auch  auf  die  mit  keiner  Präposition  verbundenen  und  nicht 

\y  ^     

zusammengesetzten  Wörter  anwenden  zu  dürfen.    Da  pod  bodäky,  na 

sätecek,  nemilemu,  zavolali  u.  s.  w.  betont  werden  sollte,  so  galt  auch 
die  Betonung  bodäky,  sätecek,  milemu,  volali  u.  s.  w.  als  zulässig. 
Selbstverständlich  schloß  man  sich  dieser  Ansicht  am  liebsten  bei  den 
Wörtern  an,  wo  die  zweite  Silbe  eine  Natur-  oder  Positionslänge  besaß. 
Solch  ein  Gedankengang  dürfte  mit  der  Zeit  eine  Reihe  von  »Grund- 
sätzen« gezeitigt  haben,  welche  wir  folgendermaßen  formulieren  wollen: 

I.  Die  einsilbigen  Präpositionen  brauchen  nicht  immer  die  Betonung 
der  nachfolgenden  Wörter  an  sich  zu  reißen. 

II.  In  mehrsilbigen  zusammengesetzten  Wörtern  kann  die  erste 
Silbe  als  erster  Bestandteil  der  Zusammensetzung  ihre  Betonung  an  den 
zweiten  Bestandteil  verlieren,  aus  dem  das  ganze  Wort  mittels  einer 
einsilbigen  Präposition,  Negationspartikel  oder  eines  andern  einsilbigen 
Wortes  zusammengesetzt  ist. 

III.  In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  ihre  Betonung 
zu  gnnsten  der  natur-  oder  positionslangen  zweiten  Silbe  einbüßen,  wenn 
diese  auch  nicht  die  erste  Silbe  des  zweiten  Bestandteiles  einer  Zusam- 
mensetzung bildet. 

IV.  In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  ihre  Betonung 
an  die  zweite  Silbe  verlieren,  wenn  diese  auch  nicht  die  erste  Silbe  des 
zweiten  Bestandteiles  einer  Zusammensetzung  bildet  und  auch  keine 
Natur-  oder  Positionslänge  enthält. 

Damit  wollen  wir  natürlich  durchaus  nicht  gesagt  haben,  daß  je- 
mand unter  den  Zeitgenossen  Erben's  sich  der  eben  besprochenen  »Prin- 
cipien«  in  einer  so  scharf  ausgeprägten  Form  bewußt  war  ^6). 


*^)  Schon  das  Buch  »Pocätkov6«  zeigt  uns  zur  Genüge,  daß  der  von 
uns  oben  skizzierte  Gedankengang  wirklich  stattfand,  und  daß  bei  der  An- 
zweifelung der  Betonungsgesetze  nicht  allein  die  Quantität  im  Spiele  war, 
wie  das  oflenbar  unter  dem  allzngroßen  Einflüsse  der  antiken  Prosodie  selbst 
von  dem  sonst  vorurteilsfreien  Kräl  angenommen  wird.  Dobrovsky  hat  näm- 
lich nur  bei  »einfachen«  Wörtern  die  Betonung  auf  der  ersten  Silbe  als 
»Stammsilbe«  begründet  und  die  Begründung  derselben  Betonung  bei  den 
mit  Präpositionen  verbundenen  und  den  zusammengesetzten  Wörtern  gänz- 
lich unterlassen.  (Denn  niclit  zu  finden  ist  die  von  Ferd.  Jokl  in  der  Ab- 
handlung »0  pi-izvuku  slovanskom,  zviästo  ^esk^m«  |Listy  filologickö  a 
paedagogicke.  Roc.  dvanäcty  (1885)   422 — 462]    citiorte  [436]  Begründung, 


96  Jaroslav  Sutnar, 

Allein  wir  werden  bei  unsrer  Einteilung  der  von  den  Regeln  Do- 
brovsky's   abweichenden   Stellen   in   den   Dichtungen   Erben's  —  der 


wenigstens  nicht  in  dieser  Form:  ». .  .  Dobrovsky  . . .  naysli  [u  Pelcla,  Grund- 
sätze der  böhiniselien  Grammatik.  2.  Aufl,  Prag,  179S,  §  84  (!)],  ze  v  cesk^m 
pHzvukoväni  moznä  je  videti  grammaticky  smysl,  protoze  prvä  siabika  je 
bud'  kraenem  slova,  bud'  praefixern  [Jim  (syntakticky)  je  zajiste  i  predlozka, 
kterä  ve  vsech  jazycich  si'  slovem  na  ni  zävislym  a  ji  ve  smysle  blize  urce- 
nym  tvori  jednotu  «päd  prcdlozkovy«]  nienicim  vyznam  slova«  .  .  .)  Durch 
diese  Lücke  wurde  dann  nur  noch  bestärkt  der  Zweifel  an  der  Richtigkeit 
der  Betonungagesetze,  welcher  ohnehin  von  den  präpositionalen  Verbindungen 
und  den  Znsammensetzungen  in  der  schon  oben  geschilderten  Weise  seinen 
Ausgang  nahm.  So  drehen  sich  die  bereits  citierten  Ausführungen  der  »Po- 
cätkove«  mit  ihrem  stellenweise  wohl  sehr  verschwommenen  Stil  ohnedies  nur 
um  diesen  scheinbaren  Widerspruch  in  den  Regeln  Dobrov.sky's,  wobei  die 
Quantität  ursprünglich  in  zweiter  Reihe  in  Betracht  kam  und  erst  später  nach 
gänzlicher  Verwerfung  des  Tonmasses  als  einzig  zurückgebliebenes  proso- 
disches  Princip  den  Ausschlag  gab.  Auch  Saf;irik  hielt  gleich  andern  die 
einsilbigen  Präpositionen  vor  Nominibus  in  seinen  accentuierenden  Dichtun- 
gen zuweilen  für  tonlos,  wie  das  nachzulesen  ist  bei  Kräl  (L.  f.  Roc.  2U.  [1893] 
212.  Roc.  21.  [1894]  22).  Die  seitens  der  »Pocätkovö«  zum  Teil  willkürlich 
bestimmte  Lehre  bezüglich  der  mittelzeitigen  Silben  (nur  in  zusammenge- 

setzten  Wörtern ! :  neben  Ausnahme  1  noch  zakvetly  [69],  weiter  auch  der 

<y 

präpositionale  Kasus:  do  kviti  [69],  dagegen  anderswo  [43]  wieder  die  Zu- 

sammensetzung  okrasa  im  Gegensatz  zu  dem  präpositionalen  Kasus  o  kräse?j 
bot  nach  unserm  Dafürhalten  neben  andern  Faktoren  den  willkommenen 
Anlaß  zu  verschiedenen  Freiheiten  in  beiden  Prosodien  und  half  natürlich 
später  beim  Hervorrufen  einer  fast  gänzlichen  Anarchie  im  Tonmaße  mit. 
Auch  sonst  gab  es  immer  genug  Theoretiker  mit  ähnlichen  Zweifeln  an  der 
Richtigkeit  der  Betonungsgesetze  in  Bezug  auf  die  mit  einer  Präposition 
verbundenen  und  die  zusammengesetzten  Wörter.  (Nach  Kräl  [L.  £  Roc.  20. 
(1893)  422]  sagt  1805  Vaclav  Stach:  ».  .  .  Slova  dvou  slabik,  maß-li  krdtke 
voJcdli/,  museji  ho  [ton]  preposicem  jedne  slabiky  odevzdat :  pred  domem,  za 
lesem,  od  tebe,  ze  z.eme,jmdc:  od  krdvy,  na  vüli.  [Stach  tuto  skanduje^— »-'] ...« 
S.  Hnevkovsky  nähert  sich  1820  —  nach  Kräl  [L.  f.  Roc.  21.  (1894)  166]  —  der 
folfi^eniien  Anschauung:  ». . .  v  trojslabicuyeh  slovich,  jez  slozena  jsou  s  krät- 
kymi  pfeillozkami  nebo  cästicemi,  po  nichz  näsleduji  jedna  nebo  dve  delky 
(na  pf.  vyddrd,  nelibi),  alejen  v  »rhythmich«,  t.  j.  metreeh  starovekych,  sia- 
bika prvä  mohla  [by]  se  uzivati  obojefne,  t.  j.  brzo  jako  prizvucnä,  brzo  jako 
nepfizvucnä  .  .  .  U  slov  troj[167]slabicnych  .  .  .  dlouhä  bez  veliköho  näsili 
sluchu  muze  prevziti  prizvuk  .  .  ,«  Fr.  Ray  mann  behauptet  nach  Kräl  [L.  f. 
Roc.  21.  (1894)  173]  in  demselben  Jahre  folgendes:  ».  .  .  [ja]  jsem  se  nemohl  o 
tom  presveiicit,  proc  by  melo  samo  sebou  krätke  predslovce,  na  p.  do,  na,  ze 
etc.,  od  pfirozeni  dlouhou  slabiku  v  krätkou  promenit;  u  p.  die  pfizvuku  eist 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  97 

größern  Übersichtlichkeit  wegen  —  als  Grundlage  diese  »Principien« 
benützen,  die  ja  damals  ohnehin  allen  maßgebenden  Dichtern  weniger 


se  mä,  do  kouta,  na  pousti,  zdaz  prirozeneji  nezni  do  kouta,  na  pousti?  .  .  .« 
J.  Nejedly  äußert  sich  1830  nach  den  Worten  Kräl's  [L.  f.  Koc.  21.  (1894)  248] 
folgendermaßen:  »Nekteri  novejsi  bäsuici  za  pricinou  rozmanitosti  uzivaji  ve 
versieh  daktylskych  i  u  dvou-a  trojslabicnych,  zvläste  slozenych  slov  prvni 
slabiky  jakozto  nepfizvucne,  kdyz  je  krätkä  a  kdyz  po  ni  näsleduje  slabika 
0  samohläsce  dlouhö  nebo  dvojhläsce;  meri  tedy  .  .  .  vydd  ]ako  v^— ,  podävd, 

dochdzi  jako  ^ .  .  .   Je-li  to  sprävno,  musi .  .  .  jeste  rozhodnouti  pokusy 

obratnych  bäsniku.«  Nach  Kräl  [L.f.Roc.  21.  (1894)  264]  behauptet  1853  Frant. 
Cupr:  "...  sila  posledni  dlouhe  slabiky  predchäzejiciho  viceslabicneho  slovce 
byvä  tak  vydatnä,  ze  casem  i  viceslabikove  näsledujici  slovo  prvui  proti  pra- 
vidlu  skracuje  [napotom  ovsem  druhou  prodluzuje,  treti  opet  skracuje  atd.]. 
To  se  vsak  deje  od  lepsich  bäsniküv  pouze  tenkrat,  kdyz  toto  viceslabicn6 
näsledne  slovo  v  prvni  slabice  prirozenou  krätkost'  [ac  düraz]  mä  aneb  ale- 
spon  s  lehkymi  cästicemi  a  nerozlucnyml  predslovci  atp.  pocinä  a  kdyz  ona 
posledni  slabika  hodne  silnä  jest,  n.  pr.  .  .  .  velikä  nehoda  —  ^  —  ^  —  ^  .  .  . 
atp.«,  worauf  Kräl  hinzufügt:  »Take  predlozky  roz-  vy-  pa-  pe-  [?]  ob-  mohou 
pry  [die  Cupra]  i  ve  spojeni  poklädati  se  za  neprizvucne«;  und  Cupr  führt 
weiter  aus:  ».  .  .  Nekdy  se  take  staue,  ze  ti-eba  i  jednoslahicne  metricky 
silne  slüvko  cini  prvni  slabiku  näsledujiciho  viceslabicneho  slova  kiätkou 
V  tychz  präve  [265]  uvedenych  okolnostech.  N.  pir.  mne  roznitü  —  ^  —  w,  tvä 
nemilost  —  ^  —  ^u,  worauf  Kräl  erwidert:  »To  neni  docela  nesprävn6,  ale 
melo  se  zrejme  vytknouti,  ze  se  tu  prlzvuk  slovny  posunuje  jen  tehdy,  kdyz 
tato  jednoslabicnä  slova  maji  zvläste  silny  prizvuk  vetny,  pHzvuk  recnicky.« 
Endlich  spricht  nach  Kräl  [L.  f.  Roc.  23.  (1896)  11]  1862  I.  I.  Kolär  von  der 
»Silbenbetonung«,  einem  grammatischen  Accent,  den  er  näher  bezeichnet  mit 
den  Worten:  »[Zaklädä  se]  na  pravidelnem  vyslovoväni  sylab  .  .  .  kazdeho 
slova  die  zäkona  JeÄo  vnitfni,  korenne  vyznamnosti«].  Außerdem  verdient  auch 
Erwähnung,  ja  eigentlich  sollte  für  unsern  Fall  hochinteressant  sein,  was 
V.  Flajshans  in  seiner  Abhandlung  »Ceskä  kvantita«  (L.  f.  Roc.  22.  [1895] 
66—90)  von  dem  Altcechischcn  zu  berichten  weiß:  »[68]  V  XIL— Xlll.stoleti 
.  .  .  prvotny  prizvuk  [praslovansky  ruznoniistny]  .  .  .  zacal  pomalu  ustupovati 
prizvuku  je<lnoinIstneinu  a  püvodno  zajistc  korenovemu:  jeste  v  dobe  staro- 
ceske  zastihujeme  historickou  fasi,  kdy  predlozky  a  negace  hlavne  u  sloves 
nemeiy  jeste  prizvuku,  byiy  proti  nim  v  pomeru  enklitik,  kdy  predpony  jako 
ne-,  ni-  byiy  atona,  .  .  .  kdy  se  —  jak  näs  staroceskä  rhythmika  uci  —  pH- 

zvukovalo  vyhradne  jeste  ...  osidio  atd.«  .  .  .  und  ähnlich:  »[78]  Jeste  v  pra- 
vopise  nejstarsich  paniätek  staroceskych  zastihujeme  fasi  jineho  prizvuku 
nez  novoceskeho.  Pi-edlozky  byiy  jeste  casto  enklitikami  .  .  .  [80]  Totoz,  co 
feceno  0  predlozkäch,  plati  v  mire  daleko  rozsählejsi  0  zäporkäch  7ie  a  ?ji.  Ni 
je  ve  8tc.  jeste  vüboc  atonon  ve  vete  .  .  .jeste  dlouho  na  pr.  nev61e  . . .,  neräd 
XVI.  stol.  .  .  .  nemälo  .  .  .  Slozenä  [slova  maji] . . .  zpravidia  pHzvuk  na  druhc 

Archiv  für  slavischo  l'liilologie.    XXVIII.  7 


98  Jaroslav  Sutnar, 

oder  mehr  deutlich  vorgeschwebt  haben  müssen.  Bei  der  Bestimmung 
der  natürlich  erst  auf  slavischem  Boden  zustande  gekommenen  Zusam- 
mensetzungen hielten  wir  uns  an  Franz  Miklosich  (besonders:  »Ver- 
gleichende Grammatik  der  slavischen  Sprachen«  [Wien]  Erster  Band 
[(Lautlehre)  Zweite  Ausgabe  1879]  Zweiter  Band  [(Starambildungs- 
lehre)  1875]  Dritter  Band  [(Wortbildungslehre)  Zweite  Ausgabe  1876] 
Vierter  Band  [(Syntax)  Zweiter  Abdruck  1883]  und  »Etymologisches 
Wörterbuch  der  slavischen  Sprachen  «[Wien  18S(i])  und  an  JanGebauer 
(hauptsächlich:  »Historickä  mluvnice  jazyka  ceskdho«  [V  Praze  a  ve 
Vidni]  DIU.  [(Hläskoslovi)  1894]  Dil  III.  [(Tvaroslovil  I  (Skloiioväni] 
189Ü  II  (Öasovani)  1898]  und:  »Slovnik  starocesky«  [V  Praze]  Dill. 
[1903]),  welche  jedoch  in  unsern  Fällen  von  dem  —  unserm  Dichter 
gewiß  recht  gut  bekannten  —  Wörterbuche  J.  Jungmann's  (Slovnik 
cesko-nemecky.  V  Praze  1835 — 1839)  nur  sehr  selten  abweichen. 
Maßgebend  bezüglich  der  Entscheidung  über  die  Quantität  einzelner 
Silben  war  für  uns  die  Schrift  «Pocätkove«,  die  sich  in  dieser  Hinsicht 
—  wenigstens  ihren  Hauptregeln  nach  —  damals  einer  fast  allgemeinen 
Anerkennung  erfreute.  Unter  die  Beispiele  mit  langer  zweiter  Silbe 
(und  später  bei  den  Versen  mit  dreisilbigen  Füßen  auch  unter  die  Bei- 
spiele mit  langer  dritter  Silbe)  reihen  wir  gleichfalls  die  Formen  der  so- 
genannten zusammengesetzten  Adjektiv-Deklination  ein  (vgl.  Miklosich : 
»Über  die  zusammengesetzte  Deklination  in  den  slavischen  Sprachen« 
[Sitzungsberichte  d.  phil.-hist.  Kl.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss.  (Wien).  Acht- 
undsechzigster Band  (1871)  133 — 156]  und  Gebauer:  »Hist.  mluvnice 
jaz.  cesk.«  Dillll./I532 — 564),  da  hier  zwei  Silben  zweier  verschie- 
dener Wörter  zu  einer  langen  Silbe  verschmolzen  sind.  Bei  Anführung 
der  Belege  wurde  ebenfalls  der  Kontext  nach  Möglichkeit  berücksichtigt, 
soweit  es  natürlich  der  Versschluß  oder  eine  durch  Interpunktionszeichen 
ausgedrückte  Pause  zuließ.  Innerhalb  der  oben  besprochenen  vier  Ab- 
teilungen ordnen  wir  die  Beispiele  weiter  darnach,  ob  sich  dieselben  im 
Versschluß  oder  im  Innenvers  oder  endlich  im  Versanfang  befinden.  Am 
verläßlichsten  ist  wohl  das  Metrum  im  Versschluß,  wo  größtenteils  noch 
ein  korrespondierender  Reim  den  geringsten  Zweifel  über  das  Versmaß 
verscheucht.  Dagegen  bietet  die  größte  Unsicherheit  gewöhnlich  der 
Versanfang,  denn  hier  ist  der  Takt  eigentlich  erst  im  Entstehen  be- 


cästi  slozeniny  . . .  zloräd  . . .«  (Diese  Ansicht  teilt  jedoch  neben  andern  auch 
Gebauer  nicht.  [Vgl.  Kräl  (L.  f.  Roc.  20.  [1893]  57)!]) 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  99 

griffen.  Wir  gehen  nun  überall  in  dieser  Weise  von  den  —  über  jeden 
Zweifel  erhabenen  —  ersten  Belegen  nach  und  nach  bis  zu  den  —  am 
meisten  fraglichen  —  zweiten  Belegen  über,  damit  die  —  zum  Zweck 
einer  gänzlichen  Überzeugung  —  vollzählig  angeführten  und  jetzt  noch 
übersichtlicher  geordneten  Unregelmäßigkeiten  uns  so  zugleich  mit 
einer  möglichst  zweifellosen  Sicherheit  bei  unsern  Auseinandersetzungen 
unterstützen  sollen. 

I. 

Die  einsilbigen  Präpositionen  brauchen  nicht  die  Be- 
tonung der  nachfolgenden  Wörter  an  sich  zu  reißen. 

y  ■^      \y 

1.  Versschluß:  K.  poznaly  .  .  maticku  po  dechu,  —  ütechn 
9,11;  Pok.  neustäle  —  däle  —  a  ve  skäle  I  84,  87  88,  90,  chvile  — 
stane  . .  jiz  u  eile.  187, 190,  maminka  —  cinkä  —  vlozi  dit^ti  do  klinka: 
221  228  232,  222  230,  227,  neohlizi  —  bllzi  —  stoji  s  nim  prä  ch"^zi. 
236,  238,  241,  lesu  —  a  ve  plesu  IV  86,  87;  S.k.  tys  se  mnou,  —  mnou 
99  133  169,  100  134  170;  H.  rüze  —  vozmi  mne  za  müze.  —  18,  20, 
neboztik  pod  zemi,  43,   kamenu — jl  na  jmenu   101,  103;   Vod.  pöci 

mäs  0  dit^,  IV  51 ;  D.  k.  tomu  —  chodival  k  näm  do  domu  41  43,  44 ; 

^  ^        \^    \y  \^      \_/ 

Vest.  stojice  po  boku,  —  toku  73,  75,  reky  —  souzenä  pred  veky,  89, 

91,  a  do  prohlubeni  —  zavznönl  —  neni  —  zneni  165,  167,  169,  171 ; 

\^    \y 

C.  h.  a  za  stolem  —  kolem  9,11. 

2.  Innen vers:  K.  a  do  hrobu  dana  1 ;  Pok.  zvouci  lid  do  chrämu 
pän^  I  8,  pospichä  do  chrämu  pän^  26,  po  sträni  k  lesu  185,  po  sträni 
V  plesu  239,  blaze  tu  pod  zemi,  11  48,  jakby  tak  od  vökü  stäla  IV  27, 
a  na  nädra  tlaci  81 ;  S.  k.  ruce  na  prsa  slozenö  12,  sestra  do  roka  ne- 
ziila  21,  na  zäspi  krokü  zvuk  60,  ze-tö  na  blizku  umrlec  94,  ze-t6  na 
blizku  nestcsti  122,  ji  za  nim  jiz  släbne  krok  160,  vez  se  zvonkem  nad 
strechou  191,  skoc  za  uzlem  pi'es  tu  zed  215,  ja  za  tebou  cestou  217, 
skoSil  do  vysky  sähii  pet  222,  jenom  po  bilem  obleku  224,  v  ni^m  na 
prkne—  235,  t^lu  do  hrobu  ph'slusi  240,  tu  na  dvöi'e :  242;  Z.  k.  zatim 
na  vörnou  mou  pamtitku  III  63,  skocil  na  vrance,  V  42,  kazdy  po  jodnö 
noze  nese  VI  14;  S.  d.  pülnoc  po  stcdrem  veceru  III  14,  klobouk  na 
stranu  -  26;  V.  ni  zdani  0  jejim  duchu  62;   L.  co  na  I*ece  dym  54; 

7* 


100  JaroBlav  Sutnar, 

V^st.  a  se  stromu  klesly  35,  tehda  na  sv^tlo  ze  propasti  89,  l^to  za  le- 

■^  ^  '^      —      ^y  ^        \y 

tem  bez  ustäni  bezi  97,  zima  za  zimou  uhdni  98,  tu  pod  nimi  z  rumu 
143,  urceno  jiz  od  prvni  chvile  145,  na  sträni  pod  zelenym  borem  149, 
vsak  do  chrämu  branou  chodi  181;  0.  z.  140.  aby  ....  jim  na  hlavu 
spadlo  22, 

3.  Versanfang:  K.  veskrovnou  ja  t^  kytici  zaväzu  17,  do  sirych 
zeml  cestu  ti  ukäzu  19;  Pok.  tut  na  blizku  lesni  sträne  I  27,  a  ke 
vchodu  az  pokroci  73,  krok  za  krokem  —  88  90,  a  do  klina  stribro  sklädä 
162,  a  ve  potu,  189,  a  do  klina  zlato  sklädä  205,  a  do  klina  rukou 
sahne  218,  a  do  klina  opet  sahne  225,  div  na  miste  neomdlela  265,  a 
ve  hroznem  plt-edtuseni  II  9,  jak  po  tom  pahorku  tekä  29,  tu  pod  zemi 
jsem  44,  kdyz  po  svatö  vsak  ob^ti  III  21,  a  do  dlane  celo  sklopi  30,  a 

^'__<^  '^    \y  \y    \y  

ve  strachu  a  v  nadeji  IV  33  49,  tu  po  jizbe  se  ohlizi  50,  a  ve  zufanli- 
vom  spßchu  59  79,   a  ve  strachu  a  ve  plesu  87;  S.  k.  na  st^ne  nizkö 

■^     ■^ \y    '^ 'w'       v_/ 

svetnicky  5,  do  eiziny  se  obrätil  25,  do  ciziDy  se  ubiral  27,  ve  svete 
sirem  40,  u  neho  zivot  jary  kvet  50,  bez  neho  vsak  me  mrzi  svet  51, 
na  te  jsem  vzdycky  myslila  69,   za  te  se  präve  modlila  70,   ve  dne  m6 

■v^    <y v^       \y  \y     v^ 

oci  tlaci  sen  80,  po  sipkovi  a  po  skali  125,  pres  vody,  152,  na  krku  na 

v/      \^    .^^  ■^    •^ 

te  tkanicce  180,  na  poloumrtvou  otoci  277,  u  syua  sv^ho  oroduj  279, 
na  boha  ze  jsi  myslila  299;  Pol.  ze  na  tebe,  15  ;    Z.  k.  na  vran^m  buj- 

nem  jede  koni  I  3,  na  vranem  bujnöm  jede  koni  II  3,  za  cizi  -  32,  na 
\y  ^  w   ^  ■'~y 

domov  nezpomenes  III  14,  za  nie  jin^ho  vsak  nedävej  IV  19  49  79,  za 
\j  v^   \y  \^    \_/  \y \j 

nohy?  31,   do  lesa  zpätky  spechalo  37  67  102,   za  luce!?  61,   za  oci, 

88,  za  oci!?  91,  ke  kolovrätku  chute  sedla  V  13,  od  lesa  k  hradu  poli 
län  VI  1,  na  vranem  bujnem  jedou  koni  3;  S.  d.  za  smutnych  zimnich 
vecerü  I  9,  mne  na  mysli  jineho  II  1 5,  snih  na  sede  hlave  20,  do  ohne  by 

^  \y     v^  \y        •'^ 

ji  k  vüli  sei  III  6,  na  prvni  zas  by  zapomnel  8,  ve  dvefich  muzskä  po- 
stava  24,  pro  boha!  40,  pred  sebou  cirou  temnotu  V  29 ;  Vod,  tarn  na 
zemi  V  hrobe  III  32,  tarn  na  zemi  za  kostelem  33,  a  ve  vode  pod 
hrn^cky  51,  a  po  treti  buch  buch  IV  41,  mne  o  tebe  vetsi  strach  52, 
mräz  po  tele  hrüzou  bezi  70 ;  V.  pän  u  baby  na  porade  52 ;  L.  na  jejim 
hrobe  , .  kvete  kvet  16,  pied  sluncem  jistou  ochranu  ti  dam  58,  na  nebi 
slunce  75;    D.  k.  tarn  za  branou  nad  vrsikem  36  38;   Vest.  na  skäle 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  101 

Krokuv  . .  hrad  58,  pod  hradem  dole  stavenicko  61,  ve  stnbroskvoucim 

oblece  64,  na  prahu  stäla  65,  na  ni  co  ditko  spocine  92,  za  rekou  musi 

dosähnout'  148,  na  poii  blize  Bystiice  158,  u  mostu  stäti  spatnte  200; 

S.  1.  u  sv6  maticky  mni  se  vidM  18;   P.  v.  ve  srdci  vdecn^m  .  .  se  ro- 

dice  18,  bez  srdce  byvä  vzatd  23,  ve  srdce  mnohä  37;    0.  z.  140.  a  na 

\y 

kazd6  räno  sbiraji  se  4. 

n. 

In  mehrsilbigen  zusammengesetzten  Wörtern  kann  die 
erste  Silbe  als  erster  Bestandteil  der  Zusammensetzung 
ihre  Betonung  an  den  zweiten  Bestandteil  verlieren,  aus 
dem  das  ganze  Wort  mittels  einer  einsilbigen  Präposition, 
Negationspartikel  oder  eines  andern  einsilbigen  Wortes 
zusammengesetzt  ist. 

1.  Versschluß:  K.  po  dechu-  v  nem  majic  ütechu,  9,  11,   ve 

v>     \^  \^'     _       V^ 

skrovnou  ja  t^  kytici  zaväzu,—  cestu  ti  ukäzu,  17,  19;  Pok.  kroky  zpet 
obraci,  -  vraci  139,40,  oci . .  si  protir:i,  -  blize  se  ubirä:  49  77,  50  78, 
ke  vehodu  az  pokroci,  -  oci  73,  74,  hladu  —  zde  tolik  t^ch  pokladü! 
133,  135,  stojl  -  ki-izem  se  ozbroji,  142,  144,  tam  polozi;  -  zdali  je 
zas  polozi?  -  bozi  -  slozi  147,  150,  153  163,  159,  je  prohlizi,  -  tizi 

v^ \y 

148,  149,  rozestirä-s  hromady  nabirä,  160  203,  161  204,  pacholete - 
pacholätko  jiz  dvoulete;  170,  172,  zas  pospichä;  -  dychä  188,  189, 
k  diteti  se  nakloni,  -  zvoni  217,220,  sahne  -  dva  penize  ven  vytähne,  - 
zlata  hrst  vytähne,  218  225,  219,  226,  v  plesu  -  k  lesu  -  lesü  -  stesti 
sv6  ponesu,  239,  240,  246,  248,  ve  dne  -  tam  pohledne.  -  259,  261, 
ach  nebözi,  -  leXl  11  10,  14,   vSje  -  tam  se  jiz  nepeje.  15,  18,   skala  — 

jakby  .  .  zde  nestäla.  25,  26,  ji  uchvati:  -  vräti  41,  42,   sumi  -  ucho 

'^  ,--^__  ._/  \^   \y 

mi  neporozumi.  45,  47,  blaze  —  na  mramorovö  podlaze,  48,  50,  mine  — 

\y  ._ 'w'  w'   \^ 

z  tydmi  mesic  se  vyvine,  III  1,3,  dnove  v  tyden  se  obräti,  —  pläti  2,  4, 

'■^    „  '~^'  ■^ \^  ^^ 

zvoneckem  pozvoni,  -  kloni   10,  12,    tu  osobu  -  dobu   13,  16,   ze  ne- 

_^^^  ^  ^      \^ ^  ^  •^' ^-/ 

dyse  —  tise  1 7, 1 9,  po  svatö  vsak  oböti  -  vid^ti  21,23,  bore  se  pomälu  - 

^'  -—    'v^'  ■^  \y 

skulu  25,  27,  blizi  se  znenahia,  -  skäly  t6  dosähla.  IV  18,  19,  lekä  - 

vsak  necekä,  28,  32,  jeji  -  a  v  nadeji  31  54,  33  49,  blizi  -  po  jizbe  se 

\y \y  \^ \^  ^- ^^ 

ohlizi.  -  aniz  se  ohii^i,  -  chyzi  48,  50,  85,  88,  k  nadräm  je  pritiskä,  - 


t02  Jaroslav  Sutnar, 

\y  ^ 

blyskä  94,  90,  aby  dite  si  pohialo,  -  mälo  -  stälo  99,  101,  102;   S.  k. 

nie  aeboj  !  —  hoj  204,205;  Pol.  zpet  pohlizi  —  pli'zi  33,  35;  Z.k.  zjasni- 

^  \^    \^  \^  _ 

provodls  dceru  svou  nevlastni  II  38,  39,   chvoj  -  neboj !    III  41,  42, 

-^   _   ^^  v^    \y 

V  cestu  -  privitä  matku  i  nevestu,  48,  49,  na  vernou  mou  pamätku  -  kolo- 

\_y \y  ^  >y-/  v_/  vy  \y 

vratku  63,  64,  jej  prodävej,  -  vsak  nedavej,  -  ji  prodävej,  IV  18  78, 
19  49  79,  48,  prilozil  -  zas  oXÜ,  -  zas  o'zll;  -  poloXil  41  71,  42,  72 
107,  106,  CO  pocit?  —  mit  96,  97,  sestru  jsi  zabila,  —  zbavila  —  nevestu 

V^  V^  V  ,  '^        ^^ 

jsi  zabila,  -  ucinila  V  18,  19,  28,  29;   S.  d.  kyvä  -  pod  ledern  ukryvä. 

■^     \y 

II  22,  24,  pfi  lun^  pochodni,  -  vodni  26,  28;  H.  zelela  -  pro  sv(5ho 
manzela:  —  jej  doproväzela. veselä  —  noveho  manzela.  5,  6,  8,  34,  36, 

\^  \^  v^_^y  v^     '^ 

tudy  naposled  7,  minul  —  pomalu  zahynul.  —  mesic  uplynul,  22,  24,  27, 

cesta  -  a  nevesta.  30,  32,  nevesta  v  objeti  35,   nevesto!   41,   vsak  ne- 

\y  '^ \_-'  \y \^  w w  \y  .^ 

mizi:  59,  na  jeho  pahorku  63,  kdo2  iislysi,  71,  nevolej,  77,  pisen  ukrutnä 

79,  nezaluj,  81,  toci  —  at  se  mi  rozskoci!  -  82,  84,  aneb  mi  zahoukej. 

83,  ji  byti  nemelo:  -  telo.  98,  100,  lezeti  -  spocivä  prokleti !  102,  104; 

\y  \y  ^-/ \y 

Vod.  stäni  -  ji  cos  pohani,  II  17,  18,  by  mi  .  .  zel  nebylo  lU  99,  beda  - 

\^ \^  ^y  -^ 

krev  uaedä:  IV  61, 62;  V.jest-li  nemoc  ta  zävada,  -rada  21,  22,  beda  - 

\y \y  ^  ^~y    

pani  zabil  jsem  neveda,  93,  94;  L.  postekot  —  plot  neplot:  25,26;  D.  k. 
holoubätko  to  nebylo,  —  holoubätko  to  nebylo promenilo  11,  13,14: 

\y v^  ^  ^ \y 

Vest.  oko  .  .  slzou  se  zaleje,  —  prinäsim  vetvici  nadeje,  1,  3,   pnouci  - 

okolo  hradu   kvetnati  palouci  -  57,  59,  v  hrobe  -  vstane  .  .  v  byvale 

\^    \y  \y  •^  ^v  —  ^' 

ozdobe,  125,  127,  ore  -  zpivaje  v  pokoire:  157,  159,  oräni  pi-ekazil,  - 

•^    w  ^ 

ky  dabei  .  .  .  .  co  primrazil?  161,  163,   do  problubeni  —  zalostne  za- 

\y  ■^ •^ 

vzneni:  —  neni  —  zneni  165,  167,  169,  171;  S.  1.  kam  se  tam  ubirä,  - 

sirä  1,  3,  slys  opustenou:  —  zlou  6,  8,  hilmä  —  ten  si  mne  nevsimä  —  9, 

11;  P.  a  m.  vychovävä  —  te  rovndho  nie  nestävä  —  6,  7 ;  A.  s.  i  v  ne- 

snäzi  —  cloveka  proväzi.  —  6,  8,  ze  neviditelne  7 ;  S.  v.  sedni  -  aj  po- 

hledni,  5,  7;  P.  v.  spis  piibyvä;  -  oci  si  zakryvä.  -    10,    12;    P.  J. 

\^ v_/  •^ ^/  ^~y  ^\y 

vpoli  -  byt  V  nevoli?  2,4,  chtel  bych  nest  okovy,  3,  krov  zapälim  19; 
S.  m.  zmähä  -  cisti  slova  ta  predrahä  17, 19 ;   T.  d.  kezby  .  ,  näm  loz- 

v^  \_/ \y \_/_  \y  \y  \y 

umel,  -  umel  7,  8,  mileho  -  löte  si  priväbenöho,  -  zime  si  pripoutaneho. 
14,  15,  16;  0.  z.  45.  tobe  -  slavnä  v  drahe  sve  ozdobe,  25,  27. 

2.  Innenvers:  Pok.  a  sousedni  viskou  I  4,  ve  tmavem  pahorku 


Prosodischea  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  103 

klinS  66,  cim  däl  prichäzi  zena  92,  po  tom  pahorku  tekä  II  29,  vehodu 
jiz  naiezti  neni  39,  a  sousedni  viskoa  III  8,  ana  se  s  pahorku  beie  24, 
traplive  opousti  loze  40,  a  sousedni  viskou  IV  4,  huhu!  62,  po  vehodu 
pamätky  nenl  74,  celä  v  rozkosi  plyne  95,  i  dozrälo  hrobu  V  6;  S.  k.  ty 
pocestne  zvetHli  92,  krizek  utrh  a  zahodil  186,  tvüj  dach  otravny  jako 
jed  202,  a  ukaz  mi  cestu  219,  skokem  preskocil  ohradu  220,  umrlce, 
244  258,  tu  poznovu-256,  kde  zävora  u  dveri  263,  umrlce!  272, 
panna  v  umrlci  komofe  295;   Z.  k.  mä  nevlastni  mäti  I  28,   kdoby  po- 

\y  \y    \y  vy  \y 

myslil  jak-te  ziv  II  17,  cot'  poroucim  ja  37,  jsi  podobna  t^  III  43, 
kräl  vyhlizi  z  okna  47,  panna  nevesta  samy  smich  52,  kdyz  zasvital 
osmy  den  56,  vstan  m6  pachole,  IV  16,  jdi  m6  pachole  k  polici  46, 
pravou  nev^stu  jsi  zabila  V  28,   abych  uslysel  jeste  vice  34,  panna  ne- 

\_/  y  ^'        "^  ^"^       ^-^ 

v^sta  jako  kvet  VI  7  ;  S.  d.  nikdo  nemüze  rozumet  III  4,  druhä  priklekä 
vedle  ni  30;  L.  piikop  neprikop  -  26,  podivnä  k  ni  mS  pudi  moc  44, 

\y  ^   \y  ^    \j  \y  ,  v^  —  vy 

nemeskej,  51,  tut  düveru  mäm  57,  jakoby  tusil  svou  nehodu  zlou  70, 

\y    \y  \j  >^  ^  \^ 

spatne  manzelku  jeho  strezila  74,  zhyn  obludo,  76;  Vest.  tehda  prinä- 

sim  vetvici  3,  z  nebet'  prichäzi  vesti  duch  6,  zäkon  nezbytny  ve  vsem  svete 

\j  .\j  \y \y  \y     v^ 

stoji  7,  svüj  zaplati  dluh  8,  pevnö  jsou  osudu  kroky  13,  v  sve  pochovä 
toky  15,  a  propustil  voly  25,  aby  zaplatil  stary  dluh  46,  ven  povolä 
voly  49,  vidim  pozäry  a  krvav^  boje  69,  tuto  spocivej,  79,  smutne  oseni 
vzki'isi .  .  pi'ival  85,  prv  nez  upHmnost  ceskou  1 19,   pak  utuchly  v  Ce- 

V    ^      — '^  V  V       ^ 

chäch  .  .  ctnosti  121,  tehdäz  uzrite  zlatych  casü  riino  131,  tehdäz  vy- 
ryje  prijdouc  .  .  svinc  141,  tak  urceno  jiz  od  prvni  clivile  145,  darmo 
nadeji  kojite  se  185;  S.  1.  pryc  vyhäni,  10;  C.h.  pominul  neveste  smich 

\y    \y  •■~y^    \y 

14;  0,  vei-  bezpecne  ji  10;  P.  v.  ale  v  nest'a3tn«5m  srdci  se  rodice  6; 
P.  J.  v  srdce  nüz  manzelce  vrazim  14,  kdo  töz  ucinit  leni  17  23 ;  cizinec 

>>^ \j  v^     \y  sy  v> 

pHvIastni  sobe  22;  0.  z,  45.  slovo  .  .  z  üst  vychiizi  v  jevy  2,  i  zapooien 
v  däli  30,  tv;i  pokvete  släva  36;  0.  z.  140.  od  rukou  ukrutnych  muze 

v^  __  >._/  ^  \y     \y^ 

bezboznika  6,  polökli  jsou  .  .  svä  osidla  na  mne  9,  stitem  pokryvas 
hlavu  14,  nedävej  bezboznym  vztyciti  se  19,  aby  jich  zloSinstvi  jim  na 
hlavu  spadlo  22. 

3,  Versanfang:    K.  zeml'ela  matka  1,   poznaly  ditky  maticku  9. 

\y     ^y  \y ^^  ■^     v^ 

poznaly  ji  10,  natrhal  jsem  te  15,  ozdobne  stuzkou  ovinu   18;    Pok.   a 


104  Jaroslav  Sutnar, 

V  üvale  ku  potoku  I  29,  i  zaphlvä  rudoskvele  70,  a  zastinic  dlani  oci  74, 
mni  uzHti  Jen  v  nebesku  101,  kdo  nevidel,  109,  a  dokud  tu  poklad  stane 
119,  a  zdali  je  za3  polo^i  150,  6  pi-ehroznöt  to  mämeni  276,  tu  nahore, 

^^     ■^  \y    v^  \^     

III  9,  üst  k  üamechu  nerozhi-älo  50,  pamätka  dne  IV  16,   zpöt  pohled- 

•^  ^  \^ ^  _  \y '^ ^> 

nouc  podesena  69;  S.  k.  potud  se  jesie  nevrätil  26,  zasej,  29,  zpominej 

na  me  30,   aneb  zivot  müj  .  .  skrat'  49,   pohnul  se  obraz  54,   aneb  ji- 

nöho  .  .  mäs  66,  pockej  Jen  do  dne  78,  povez,  101  135,  zahod  je  pryc 

111  113,  züstalo  krve  znameni  128,  zahod  jej  pryc  148,  pohrebni  pisen 

ski-ehoce  158,   hoho!    182,   zahod  to,  185,  netreba  jich  vic  nezli  dve 

\^ '■^  \^     v-^  \y  \y 

210,   pH'ehodil  na  hrob   213,   zablesklo  se  jest  225,   nenadäl  se  227, 

zavrzly  dv6re  230,  odstrc  mi  tarn  tu  zävoru  245,  nedejz  mne  d'äblu  251, 

zamhoui'il  oci  255,  natähnul  üdy  269,  umrly  vstävä  275,  nehodne  jsem 

\y \y  \-/ \y 

te  prosila  280,   v  üzasu  stäti  züstanou  293,   litrzek  z  novo  kosile  297  ; 

\^  ^  \y \y  ^ . 

Pol.  i  bodejz  te  srsen  14;  Z.  k.  okolo  lesa  pole  län  I  1,  vysla  divcina 
11,  nevidel  takö  kräsy  12,  prinesla  vody  13,  nemüze  oci  odvrc4titi  19, 
nikohot'  nevidim  27,  zejtra  se  s  dcerou  .  .  vräti  29,  okolo  lesa  pole  län 
II  1,  vysla  babice  11,  hoho  panäcku  16,  kdoby  pomyslil  17,  nähodou 
vcera  zavolän  22,  kdoby  se  nadäl  27,  ale  vsak  radu  31,  vykonej,  37, 
zejtra,   38,  provodis  dceru  39,  aby  se  nehneval  III  12,   vypichnem  oci 

v^  \y  \j   \^  \y  \J 

19,  useknem  knäty  24,  objimej  jeho  .  .  telo  33,  pohlizej  na  to  .  .  celo 
34,  nenechävej  jich  podI6  tela  38,  vychäzi  s  päny  48,  privitä  matku  49, 
navrätim-li  se  61,  omladne  nasi  läsky  kvet  62,  zatim  na  vernou  mou 
pamätku  63,  vzeslo  ji  nähle  stesti  moc  IV  6,  vezmi  ten  zlaty  kolovrat 
17,  pachole  v  bräne  sedelo  21  51  81,  ale  ja  chci  jej  miti  32,  pachole 
nohy  pi'ijalo  36,  podej  mi,  38  68  103,  vezmi  tu  zlatou  preslici  47,  ale 
ja  ji  chci  miti  62,  pachole  ruce  prijalo  66,  netreba  znäti  otce  93,  kdoby 
ho  hledal  94,  pachole  oci  prijalo  101,  mych  poslednich  slov  V  5, 
npred'  mi  z  läsky .  .  nit  12,  prisla  jsi  kräle  osidit  17  37,  nevlastnl  sesti'u 
jsi  zabila  18,   zahraj  mi,  23  33,  nevim,  24,   nejsi  tak,  32,   abych  usly- 

^  \y    \y  \y  ^    

sei .  .  vice  34,  ukradla  jsi  ji  chote  39,  kazdy  po  jedn6  noze  nese  VI  14  ; 
S.  d.  i  nahlednu  v  jezero  II  33,  nikdo  nemüze  rozumet  III  4,  pulnoc  po 
stedrdm  veceru  14;  H.  slys  rozumne  slovo  16,  co  nebylo,  55,  co  neboz- 
tik  lezi  62,  tu  vyplyvä  noha  89,   vsak  nelze  kamenu  101;  Vod.  püjdu, 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  105 

II  3,  züstan  dnes  doma  6,  nechod  deerusko  8  12  16,  nemä  dceruska  17, 
zavil-ilo  se  v  hlubine  24,  vyvalily  se  vlny  25,  roztähnuly  se  v  sfrä  kola 
26,  vsak  bezdeky  Jen  III  15,  müj  bezdecny  synu  26,  vsak  ani  se  nena- 

v_/    \y  ^      \y \_/  \y  ■^ 

däla  43,  nie  nezpivej,  65,  sie  ucinim  rybou  tebe  67,  jenz  pameti  nemä 
96,  vsak  poroucim,  111,  sie  pozemskä  tvoje  läska  115;  V.  snad  nekterä 

^       v^      •^  \y    ^-\y 

tebe  zhojl  24,  ac  bezduehä  na  svdm  loXi  39,   pän  ümysl  jiny  ehovä  48, 

■•^ \y  ^     \y    \y  \y    . \y 

jdi  k  potoku  pod  oborou  69,  at  neplace  ubozätko  106,  by  nevzalo 
zädne  skody  110,  az  doroste  hoch  111 ;  L.  umi-ela  panna  1  3,  nedävejte 

\y     '^ \y  \y 

mne  ve  vsi  na  hrbitov  5,  poehovejte  mne  v  pod-zeleny  les  9,  neminul 
jeste  .  .  rok  13,   nepi'islo  jeste  .  .  do  tri  let  15,  kazdöho  divny  pojal  .  . 

\y      \y  "  \y 

zel  18,  V  kazdem  se  touhy  plamen  roznitil  20,  pi-lkop  uepi'ikop  26,  ne- 
spasi  tebe  30,  v  zahrade  sv6  chci  tu  lilii  mit  39,  opatnij  mi  ji  43, 
opatroval  ji  jeden  45,  pospichä  sluha  48,  pospes,  51,  nezhyne  vek  tvüj 

\y    \y  \y  v/ ■'^  

57,  potreba  velkä  68,  oträvilajsi  ziti  m^ho  kvet  83,  bodejz  i  tobe  zcer- 

^' \y  \y \y 

nal . .  svet  84 ;  D.  k.  a  potrhän  je  tvüj  zhled  15,  zabila  jsem  detatko  16  18, 

\y \J  \y  ^\j  ^,         w    

sve  ubohe  zrozenätko  19,  bys  nenasla  mista  v  hrobe  59;  Vest.  tehda 
prinäsim  vetvici  3,  zäkon  nezbytny  ....  stoji  7,  praotce  slavnych  voj- 

\^'    \-J  'v_/' \y  \y      ^ 

vodü  18,  oblekli  odev  ....  jemu  23,  polozil  rndlo  25,  odkud  jste  vysli 

26,  aby  pucilo  v  list  28,   pojala  voly  29,   podnes  ji  znaci  30,   vydala 

\y      \j ^ \y  \y 

troji  .  .  prut  32,   nevzkrisivse  se  po  ten  den  36,   nastane  doba  39,  pri- 

nesou  blah^  ovoce  44,   aby  zaplatil  .   .  dluh  46,   Pi-emyslüv  zavrzeny 

•^ \y  \y \y v^' ^ 

pluh  48,  okolo  hradu  kvetnati  palouci  59,  polibila  ji,  75,  tiito  spocivej 

^^    ■^'  \y  \y  \y    

79,  povstane  novy  .  .  svet  82,  ponesou  zase  .  .  kvet  84,  tehda  na  svetlo 

\y v^  ^  \y \y  \^ \_/ 

89,  düvera  ma  vsak  nepohnute  lezi  99,  nejeden  nenavväti  102,  prolomi 

\j -^  \y  ^  '^  

pod  sanemi  104,  piibylo  novych  oudü  106,  tehda  Libuse  113,  ukryl  se 

\y  . \y  'v^     '^         

kostel  123,  odtekout'  jednou  126,  tehdäz  uzHte  ....  räno  131,  uschne 

a  zetlic  padne  139,  tehdiiz  vyryje  141,  posledni  zbytky  142,  zdali  zvon 

takö  jiz  je  na  sv6  pouti  153,  zdali  v  cas  eile  dospeje  154,   bodejz  se  i 

\^' \^  '^ \y \y  \y 

s  nim  propadlo  164,  zapadal  prouikavy  blas  166,  nenaiikejte,  173,  ro- 

[zummysi  se  nestali  176,  nezbudete  svyeh  psot  186,  dokavad  ye(^«oM 

\y \y  \y     \^ 

chodfvati  branou  187,   nebude  tvrdy  .  .  lid  188,   nemluvte  marne  205, 

v.^ \y  \y ^y  ^' 

osudnö  jesti  znameni  208,  s  nadeji  nie  se  nenoste  210;  S.  I.  auiz  je 
jitro  .  .  zvolalo  22;  P.  m.  n.  präh  popclem  posypejme  SO;  C.  h.  a  ne- 


106  Jaroslav  Sutnar, 


\_/    \y 


v6sta  Jen  se  smjila  3,  host  neznäny  tu  se  vzal  10,  s  nevcstou  trikrät 
kolem  1 1,  a  nevesta  bez  pameti  23;  A.  s.  mne  nejvic  to  tesi  11 ;  S.  v. 

v^ \^  \y  Ky  •^     ^\^ 

z  nichz  vynese  detskö  kosti  15;  P.  v.  zähubu  nese  3,  nehledajit'  jich  v 
mori  5,  ale  v  nest'astndm  srdci  se  rodice  0,  dosti  tech  perel  ve  svete  je 
9,  neubyvat' jich,  10,  ejhle  ted  o  Tvdm  ....  plese  29,  nejsou  to  peiiy 
32,  ale  jsou  perly  33,  pnjmiz  ten  vinek  39,  düstojnä  Tvöho  ....  cela 
40;  S.  m.  tmy  pokryly  pole  2,  tu  zasustne  cos  7;  Z.  pnlitla  8  nebe  5, 

v> \^  \y  \y 

pi-ilitla  cernä  .   .  vräna  9;  T.  d.  nez  opustim  ja  mil^ho  14;  0.  z.  45.  a 

\y \^  ^         \y    \y '^ 

V  närodech  tvä  pokvete  släva  36;  0.  z.  140.  jed  ukryvajice  v  hloubi 
srdce  3. 

ni. 

In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  ihre  Be- 
tonung zu  gunsten  der  natur-  oder  positionslangen  zweiten 
Silbe  einbüßen,  wenn  diese  auch  nicht  die  erste  Silbe  des 

zweiten  Bestandteiles  einer  Zusammensetzung  bildet. 

■^ \y 

1.  Versschluß:  Pok.  jako  .  .  svit  mesicka;  —  jakby  zäpad  to 

\y \j  \y  \y 

slunicka.  I  69,  71,   blesku  -  mnl  uznti  jen  v  nebeskul    100,  101,  tim 

■^ \y  ^  \y ^  \y. \y 

smelejsi:  —  v  skrejsi  152,  154,  bezic  ve  stranu  protejsi:  —  je  ji  milejsi, 
200,  201,  CO  to  mä  maminka!  —  cinkä  —  do  klinka  —  co  ti  da  maminkal 

-  hned  se  vräti  zas  maminka.  221,  222  230,  227,  228,  232,  döt'ätko!  - 
pockej  .  .  Jen  drobätko.  233,  234,  nejdou  spat  ocinka:  —  cinkä  II  53, 
55,  vrouci  —  vizte  slzy  ty  kanouci!  IV  89,  91,  za  mrazu  sedävä,  —  po- 
vidävä  V  10,  11 ;  S.  k.  CO  deläs?  —  znsis  —  mäs  64,  65,  66,  co  pravis^ 

-  jiz  75,  76,  mä  milä?  -  usila  208,  209,  hou  -  podej  .  .  tu  zivou!  272, 

273 ;  Pol.  hie  husar  a  kocärek i  husärek  9,  1 1,  hrisnici  -  Polednici ! 

26,28;  Z.  k.  v  milosti  vasT!  II  30,  hedblv!  35,  jako  kdy  prvd.  IV  105; 

H.  objimej  mileho,  45,  träva  —  na  doubku  sedävä  —  sedävä,  65,  67,  69, 

doubek  -  beloucky  holoubek.  66,  68;  Vod.  siju  si  boticky  -  do  vodicky 

^  \^ \y  \^ 

I  5,  6,  pätek  —  siju  si  kabätek:   9,  10,   k  jezeru  vzdy  ji  cos  nuti,  —  po 

chuti  II  19,  20,  m6  det'ätko,  III  25,  maly  Vodnicku !  -  na  maticku  38, 

40,  muj  synäcku  53,   nevdala  se  tvä  maticka  55,  nemä  .  .  zde  radosti, 

^ v^  ^  vy ^y 

59,  jake  bylo  by  shledäni  IV  3,  pläce-li  tv^  det'ätko  55;  V.  na  kolebku 
vloz  det'ätko,  -  ubozätko  105,  106,  doroste  hoch  malicky,  -  pistalicky 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  107 


111,  112;  D.  k.  zabila  jsem  det'ätko,  -  zrozenätko  16  18,  19;  S.  1.  pla- 
kalo  .  .  studenö  perlicky,  —  sklonilo  se  na  hrob  sv6  maticky,  13,  15, 
spalo  sen  radostny:  —  jeji  to  milostny:  17,  19,  spalo  sen  tichounk^,  — 
vykopän  mu  hrobecek  nizounky,  21,  23  ;  P.  a  m.  vinek  -  routa  dodä  a 
barvinek.  10,  12;  C.  h.  co  bledne  mä  milenka?  -  Zdenka  17,  19;  A.  s. 

V>  \^  V  V  "^v— V     ^ 

zlatä  maticka,  -  andelicka  2,  4,  andelickü  -  mily  bozicku!  14, 16;  P.v. 

\y \y  .V  '^ '^ 

V  nest'astnem  srdci  se  rodice  —  lice  —  ve  srdci  vdecnöm  .  .  se  rodlce  6, 
8  20,  18 ;  S.  m.  na  milenku  —  zasustne  cos  v  okenku  5,  7 ;  T.  d.  opustim 

\y v^ 

ja  milöho,  —  priväbenöho  —  pripoutanöbo  14,  15,  16. 

^     ^^ \y 

2.  Innenvers:  K.  duse  jeji  se  vrätila  6,  v  nem  majic  ütechu  11 ; 

\y \y  Ky ^-f' 

Pohl,  a  zalostne  place  1212,  o  peniz  penizem  zvoni  220;  S.  k.  kdyz 

\y v^  \-/ \y  \y 

slzicka  upadla  15,  vrat  mi  mileho  z  ciziny  46,  aneb  zivot  müj  nable 
skrat'  49,  mä  p'ane^nko,  62  63  64  105  139  192  193  198,  aneb  jYnöbo  v 
srdci  mäs  66,  müj  mily!  67,  vitr  buräci,  77,  vitr  buräcel  jedine  88, 
mrtvi  s  zivymi  chodi  130,  cistä  svetnicka?  137,  modrä  svetelka  laskuji 
154,    CO  mäs  v  uzliku,  208,   boze  svaty!    250,   vsecka  kohouti  druzina 

\y  \_/  \y \y  \y \y 

287;    Z.  k.  otevi'te,  II  8,   hoho  panäcku,  16,   vstävej  dcerusko!    III  l, 

sestricko  moje  6,   pojd  jiz  Dornicko  nase  11,   maticko !   16,   sestHcko! 

v-/ \^'    ^  -^ ^^'       , 

21,  za  nie  jinöho  vsak  nedävej  IV  19  49  79,  zlaty  kolovrat  drzelo  22, 

\y \y  \y  \y 

kupte  panicko!   28  58,  jdete  mamicko  do  komory  33  63,  köz  bych  tu 

pi-eslicku  mela  54,   vstante  mamicko  s  lavice  56,  vstante  mamicko,  86, 

mamicko!  96,  kdyz  byly  tri  nedele  V  1,  ta  slova  kräl  uslysel  41,  kde  s 

mä  Dornicko!    44;    Vod.  ranicko  panna  vstala  II  1,   maticko,   3,   ne- 

,      vy ^  \y  \y \y  \^ 

chod  dcerusko  k  vode  8  12  16,  hil6  saticky  smutek  taji  13,  nemä  dce- 

ruska,  17,  mä  maticka  zlatä  III  35,  matku  svou  obejme  zase  IV  6,  mä 

yy -^  \y v^  \y        \y 

maticko  zlatä  11,    matiSko  zlatä  47  63;  V.  to  malickö  ditö  17,   koma 

vy \y  y      ^ ^   \y  \y  ^   vy 

zui  hodinka,  86;  L.  jasne  slunecny  svitne  paprslek  55,  i  synäcka  jcmu 
povila  62,  tu  mu  krälovsky  posel  nese  list  64,  tu  mu  zalostnä  v  üstrety 

^  ^y  \y  \y  .    \y 

jde  vest  78;  Vest.  svö  bodadio  zarazil  27,  zlatou  kolöbku  podaly  74,  a 

vy  \y  \y    . \y  ^y__^' 

V  bezednöm  toku  75,  v  m6m  otcovsköm  dvoi'e  83,  zlatä  kolöbka  vyplyne 

•^^^\y  \j         v_/  \y ^\y 

90,  kdo  znajice  otcü  .  .  ciny  197;  S.  1.  maticko!  5,  tys  pryc  odesla,  7, 
von  dcerusku  tvou  10,  müj  taticek,  11,  mä  maticko!  12,  u  sv6  maticky 
mni  se  videti  18,  mä  devecko,  20;  P.  m.  n.  kvetnaty  vitejme  mäj   11; 


1 08  Jaroslav  Sutnar, 

0.  3  düveiou  pojim  i€z  nadoji  12,  mysi  mä  pevnä-te  jako  skäla  13,  P.v. 
telo  hynouci  ozive  15,   perly  vdecnosti  —  34;  8.  m.  to  nebeskö  oko  14; 

\J V^  ^  '^ \J 

T.  d.  kdyby  müj  miläcek  prisel  1 ;   0.  z.  140.  od  hada  litöho,  7. 

■^ _  '^    

3.  Versanfang:  Pok.  i  hoH  to  jasnobele  I  68,  i  vidouc  to  zena 

zasne  72,  strop  rubiny  vylo^eny  105,   syn;icku!   180  215  229,  dva  pe- 

nize  ven  vytabne  219,  ji  radosti  srdce  skäce  224,  z  t^  otcovskd  stiechy 

247,   CO  pani  me  budou  ctiti  255,   blas  ticbounky  vetrem  sumi  II  45,  i 

desi  se  -  IV  32,  3trop  rubiny  vyloXeny  39,  a  hrüzou  se  celä  trese  58  78, 

ji  V  patäch  ve  vrchu  kline  63,  ji  v  pattich  se  bori  GG,  lodicko  bozi  po- 

moz  67,  0  jake  tu  vzdavä  89,  jak  celä  v  rozkosi  plyne  95;  S.  k.  rodicky 

\_/ \y '^ 

bozi  7,  zelem  se  üädra  zdvihaly  14,  mela  jsem,  23,  zivot  bych  dala  24, 

\^ \^    '^ 

tesii  me,  28,  prvni  rok  prädla  hledivej  31,  druhy  rok  plätno  polivej  32, 

treti  kosile  vysivej  33,  niilöho  z  ciziny  mi  vrat'48,  moznä,  58,  moznä  i- 

\y \j  \^ v^ \y 

59,  mesicek  sviti  73,  musim  te  za  svou  pojmouti  82,  mesicek  svitil  86, 

V—  ^—  .  v^—  V.V 

peknä  noc,  95  129  165,  mrtvl  s  zivymi  chodi  130,  cistä  svetnicka  137, 

züzi  te,  147,  modrä  svetelka  laskuji  154,  jako  kdyz  s  telem  .  .  jdou  156, 

\^  '^ v^, <^ 

hoste  cekaji  177,   bodä  te  —  184,   üzkä  a  dlouhä  .   .  jsou  190,   divy  a 

hiozny  je  201,  uzlik  ji  vzal  212,  skokem  preskocil  ohradu  220,  skocil  do 

^  ■^  _  w ,  v^      __    w  ^ 

vysky  222,  jenom  po  bll^m  obleku  224,  stojit  tu,  228,  nizouckö  dv^re 

229,  mesic  listami  seril  233,  sumi  a  kolem  klapaji  238,  buräci  z  venci 

243,   vstävej,  244  258  272,  sbirä  se,  248,   boze  svaty  250,   otevri  mi 

svou  komoru  259,  mrtvy  se  zdvihä  261,   smihij  se  v  bide  265,   pädem 

\y \^ 

se  na  zem  povalil  289,   zmizel  dav,  291,   räno  kdyz  lide  .   .  jdou  292; 

\y  \^  \y     . .  \^'      v^  

Pol.  ty  cikäue,  4,  nez  kohout,  11,  a  vinouc  je,  33;  Z.  k.  zbloudil  jsem 

pri  loveni  I  9,  divi  se  tenke  18,  svobodna-li  jest  21,   spatnä  je,  II  36, 

vstävej  dcerusko  III  1,  v  krälovskem  hrade  bude  hoj  7,   nizko  mne,  9, 

kterak  dve  zeny  naklädaly  29,   nyni  se  s  panem  krälem  tes   31,   ma- 

micko,  36,  v  krälovskem  hrade  jej  prodävej  IV  18  78,   zlaty  kolovrat 

drzelo  22,   krälovna  z  okna  vyhlizela  23  53  83,  v  krälovskem  hrade  ji 

prodävej  48,   zlaty  kuzelik  drzelo  82,   üdiiv  a  oei  ji  zbavila  V  19,  jaky 

^  w ^  v^ 

to  kolovrätek  mäs  21,  chtela  jsi  kräle  osidit  27,  pravou  nevestu  jsi  za- 

bila,  28,  sestra  tvä  v  lese  38,  skocil  na  vrance  42,  jakou  ted  pisen  bude 

hrät  VI  22;  S.  d.  vernym  ti  muzem  budu  I  15,  svatebnl  sije  kosile  19, 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  109 

ty  tajemny  svätku  II  2,  a  zlatousky  na  steau  11,  ode  vsi  primo  k  jezeru 

\y .  ^  \y \^ 

III  16,  jakö  tarn  vidls  videni  20,  klobouk  na  stranu  26,  druhä  pnklekä 

30,  jak6  ty  vidls  videni  32;  H.  nez  mesic  uplynul  27,  jen  kämen  veliky 

99;  Vod.  svit' mesicku,  13  7  11  15,   sätecky  sobe  vyperu  II  4,   perly 

jsem  tobe  vybirala  9,  bile  jsem  tebe  oblikala  10,  v  suknicku  jako  z.  .pen 

11,   hi[6  saticky  smutek  taji  13,   v  perläch  se  slzy  ukryvaji  14,   prvni 

sätecek  namocila  21,  tu  slunecko  nezahrivä  III  5,    dvür  Vodniküv  pro- 

stranny  13,  a  zenuska  jeho  23,  ja  zalobti  hynu  28,  ty  radostne  vyplnäs 

29,   müj  maly  Vodnicku  38,   a  druzicky  -  48,   bojim  se  vecera  IV  12, 

vrah  jezerni  nemä  23,  kdy^  klekäni  odzvonili  25,  ach  maticko !  45,  ach 

maticko,  61,  tim  pläcem  mi  krev  usedä  62,  a  telicko  bez  hlavy  72;  V. 

dve  leta  jsme  spolu  7,  ni  zdani  o  jejim  duchu  62,  a  z  detatka  v  tüz  ho- 

dinu  95,  dej  prkönek  narezati  103;  L.  jako  kdyz  uschne  2,  srdöcko  m6 

by  .  .  hynulo  8,  srdecko  moje  bude  plesati  12,  mysll  a  mysli  35,   vüni 

ci  touhou  36,  divnä,  44,  vstävej,  49,  jasne  slunecny  svitne  paprslek  55; 

vy \y  \y  ^  ^v^ 

D.  k.  jen2  cbodlval  k  näm  44,  a  s  tebou  se  tesival  45 ;  Vest.  z  nebet'  pri- 
chäzi  6,  plamen  se  k  nebi  temeni  10,  jiste  a  pevne  jsou  13,   druhy  zas 

■W  '^'  ^ 

na  svet  vynese   16,   vzdelaval  zeme  ürodu  20,   druhö   dva  svadly  35, 

zmohou  se  sire  42,  vidim  pozäry  69,  ostry  mec  tebe  probode  70,  vidim 

tvou  bidix  71,   zlatou  kolebku  podaly  74,   z  temneho  luna  81,   smutnö 

^  ^  \y \^    -^ 

oseni  vzkrisi .  .  prival  85,  zlatä  koldbka  vyplyne  90,  vzdychäväm:  105, 

'^ _  \^ ^>  ^  Ky  

vstanon  i  mrtvi  112,  rozerval  litych  väsni  shon  120,  novy  les  vitr  zaseje 

134,   zjevi  se  zase  144,   zlat6ho  zvonu  zalostne  zavzneni  167,   zlat^lio 

zvonu  uslysis  172,  bujnymi  sady  .  .  otocenou  179,   tisic  let  iislo  193, 

svornosti  ucil  194,   moudreho  slova  .  .  zvuk  196,   hlava  zv^trala  201; 

S.  1.  devecka  tvä  to  6,  perlicky  jemu  ocka  stizily  14;  P.  m.  n.  müj  va- 

läsek  utlkä  77 ;  P.  a  m.  te  rovneho  nie  nestäva  7;  C.  h.  svüj  ^ivot  bych 

a  to  dal  12,  ci  lekä  se  pameti  18;  A.  s.  ma  zlata  maticka  2,  müj  bo- 
Jlöku  mily  9,  müj  mily  boJicku  16;  S.  v.  holecku,  5,  nä  jabiicko !  7  ; 
?.  v.  proudi  se  hojne  7,  kämen  se  pohne  14,  vzäcnö  to  perly  21,  perly 
rdecnosti  34;  P.  J.  a  v  horoucim  zhynu  hrobe  20;  S.  m.  a  hvezdicky, 
15,  ty  hvezdicko  luhü  35;  0.  i.  45.  chot  krälovskä,  26,  dci  krälovskä, 

0;  0.  i.  140.  ty  stitem  pokryväs  hlavu  14. 


110  Jaroslav  Sutnar, 

IV. 

In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  ihre  Be- 
tonung an  die  zweite  Silbe  verlieren,  wenn  diese  auch 
nicht  die  erste  Silbe  des  zweiten  Bestandteiles  einer  Zu- 
sammensetzung bildet  und  auch  keineNatur-  oder  Positions- 
länge enthält. 

\^ w 

1.  Versschluß:    K.  mile  —  natrhal  jsem  tc  na  dävnö  mohyle — 

v^ \y  ^y  . \y 

13,  15;  Pok.  kryje  -  zplvajl  pasije.  I  14,  16,  konci  se  sklepeni:  -  neni 
94,  97,  mramorovö  -  hori  dva  ohhove;   108,  110,   zpamatuje  -  v  dusi 

v^ ^y  \y v^ 

svö  rokuje:   129,  131,  zlata  -  byla  bych  bohata,  136,  139,  hrstku  z  t6 

\^    \y  ^  \y \y  ■■^ 

hromadj' —  tady  138,  141,  zhresiti  bych  musela,  —  mela  156,  157,  ka- 
meni,  —  prehroznöt  to  mämeni !   274,  276,  leti  —  sträni  ji  videti,  II  11, 

\^ \y  \y  \y 

12,   od  kostela  -  ta  zmizela!  22,  24,   hluboko!  -  oko  44,  46,   obeti - 

\y \y  '  \y    \^ 

temi  buky  ji  videti,  III  21,  23,  mramorove  -  pbipolaji  dva  ohnov^:  IV 
42,  43 ;  S.  k.  V  tu  dobü  -  ze  hrobu  -  ke  hrobu  95  165,  96,  166,  pirec 
-  zdräv  je  tvüj  otec?  101,  102,  sv6  oci  -  otoei  276,  277;  Z.  k.  v  krä- 

\y  ^y  \y  

lovskem  hrade!  III  5,  z  ryziho  zlata!  IV  25,  vec-tvüj  otec?  -  91,  92, 

\y \^  V  "^    '^ 

zabila  -  oci  ji  zbavila  -  V  18,  19;    S.  d.  hluboko,  -  v  oko  II  34,  36, 

'^ v_/  \y v^  ^  _ 

kryje  -  panenskä  lilie!  -  ubohä  Marie  1  IV  24,  26,  29,  sije  -  hnije  — 

\y \y  ^,  \y \y 

ubohä  Marie!  V  17,  19,20;  H,  okolo  hrbitova  -  üvozovä  -  vdova  1  29, 

\y  \^  \_/  ^^ 

2,  4,  plakala  -  den  plakala,  -  hräla  -  smäla  -  namichala  3,  21,  38,  40, 

\y \y  v_/ \^ 

51,  zelela  —  manzela  —  doproväzela  —  a  veselä:  5,  6  36,  8,  34,  jako 
hodina;  —  vina  58,  60,  tri  roky  minuly,  61,  mezi  vlnami  87,  cesty  pe- 
siny  95,   kämen  veliky  99,  nelze  kamenu  —  na  jmenu  101,  103,  tezko 

v^ «^  ^     ^^ \y 

lezeti,  -  prokleti  102,  104;    Vod.  ja  bych  se  rads  videla  III  31,  muz 

Ky  . v^  \y  \_/ 

zeleny  -  zastrceny  IV  17,  19;  V.  v  tüz  hodinu  -  sirotinu  95,  96,  kolö- 
bati  -  bude  je  chovati.  107, 108;  Vest.  dospel  .  .  jich  jeden;  -  den  34, 

\j  \y 

36,  pod  skalinou  -  kdyz  se  .  .  s  veselou  druzinou  101,  103,  vidim  horu 
nad  jine  zvysenou —  otocenou  177,  179,  ciny  -  pul  hrdiny  197,  199  ; 

\y \y  \y     \J 

A.  s.  mne  likala  1,  z  tech  mi  dej  jednoho,  15;  S.  m.  ziitelnice  —  obraz 

\y \y  "  \y \y 

nadzemskö  device,  49,  51,  leti  -  jiz  jen  v  noci  Ize  videti.  50,  52,  bylo  - 
rosou  te  krmilo  53,  55. 

2.  Innenvers:  Pok.  s  veze  pak  slyseti  zvuky  I  3,  z  kostela  sly- 


\ 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  J  H 

seti  peni  32  192,  kde  truhlice  byla  269,  a  znovu  se  desi  II  57,  vetrem 

\y '^  v^,^^^        ^  \y^—\y     ^       ^ 

pak  slyseti  peni  IV  10;  S.  k.  tfeti  kosile  vysivej  33,  ty  kosile  usijes  34, 
jiz  jsem  kosile  usila  36,  nech  modleni  —  71,  ten  lüzenec  z  klokoci  145, 

\y     \-/  ^v^  ■^  ^     v> w 

to  kapradi  zelenö  163,  hostd  cekaji,  177,  skoc  vesele  pres  tu  zed'  199, 

v^ \^  ^  ^       \^ \y  ^       \y 

mesic  listami  seril  233;  Z.  k.  vysla  divcina  jako  kvet  111,  vysla  ba- 

v^  \y  \y  \^  \y 

bice,  II  11,   tu  sekeru  nesete  III  22,   zlaty  kiizelik  drzelo  IV  82;  Vod, 

y^— v^  V  V     '^—  \^_W 

prvni  sätecek  namocila  II  21,  lec  tebe,  III  60;  L.  chci  tu  lilii  mit  39, 

'^  \y  \-/  ^  \^ \^  \y  \^ 

pane  muj!  49,   ty  hadice  zlä  81;  Vest.  aby  pucilo  v  list  28,   a  ovoce 

\y \^  \^  \y 

nesly  33,   knezny  Libuse  kvetny  sad  60,   vidim  pozäry  a  krvav^  boje 

\y \y  vy  \^  \^      

69,  tehdä  Libuse  u  veliköm  pluku  113,  hlava  zvetrala  i  splächly  ji 
deste  201. 

\-/ \^  \y^ 

3.  Versanfang:  K.  siroty  po  ni  züstaly  2,  duse  jeji  se  vratila  6, 

\y \y  •^ ^^         ^  v_/  

mateil-douskou  nazvaly   12,   mateii-dousko  13,  komu  mäm  tebe  pri- 

nesti  16;  Pok.  a  zena  se  bere  däle  I  87,  dva  ohnovd  tuto  hofi  111,  a 

bylabychnejst'astnejsi  140,  a  zdarenim  tim  smelejsi  152,  i  zhresiti  bych 

^^ ^j  w \y 

musela  156,  a  k  diteti  se  nakloni  217,  ach  diie!  II  6,  a  znovu  se  zena 

desi  40,  ach  beda  mi!   61  III  42,  co  zdrzuje  dnes  ji  IV  15,  a  zena  se 

•■^ v^  \y  v^ 

toho  lekä  28,  a  s  oboji  strany  41,  a  2ena  se  s  hiüzou  blizi  48,  ac  da- 
leko  za  ni  skäla  84,  to  zlato,  98,  lec  dekujic  bohu  104,  räd  starecek 
povidävä  V  11;  S.  k.  videii  pannu  10,  klecela,  11,  ruce  na  prsa  slozenö 
12,  slzy  ji  z  oci  padaly  13,   sestra  de  roka  nezila  21,   bratra  mi  koule 

\^  \y  ^  vy ^y  \^      

zabila  22,  venecek  z  routy  povijes  35,  Maria,  44  52  282,  lampa,  56, 
prskla  a  zhasla  57,  vitr  buruci  77,  byla  noc,  85,  vitr  burjicel  88,  vstä- 

\^  \y \_/    \^ ^ 

vaji  mitvi  96,   nesu  si  kniXky  110,   kni^ky  ji  vzal  115,   skalami,  118, 

'■^ v^^  ^y ^y  \^ 

divokö  feny  stekaly  120,  rü^enec  s  seboo  vzala  jsem  144,  jako  had  tebe 
otoci  146,  rüXenec  popad  149,  ostHce  divku  161,  britvami  reXe  162, 
spöchaji  Xivi  166,  kriJek  utrh  186,  staveni  stoji  189,  veselot' u  mne 
205,  masa  dost  -  206,  kosile,  209,  staveni  skrovnö  232,  staveni  pevnö 
234,  hrobovych  oblud  .  .  pluk  237,  telu  do  hiobu  piislusi  240,  beda,  24  1, 

v^ \y        y  \y \y  v-/ >^  v^     

silnöji  tluce  257,  Maria  panno  278,  kokrhä  kohout  285,  vsecka  kohouti 
äruXina  287,  panna  v  umrici  komore  295,  dobi-e  ses,  298,  bylo  by  co  ty 

,,  ^^     ^y  vy vv 

kosile  304;  Pol.  vichfice  podoba  24,  jiX  ztaliuje  po  nöm  ruku  37;  Z.  k. 

\^ —\y  y  v^_  w    _    w  \^  \^ 

i^esele  podkovicky  zvoni  14,  hola  hej  1  8,  stydlivo   sedla    11,    divcinu 


112  Jaroslav  Sutnar, 

k  boku . .  vine  23,  vesele  podkovicky  zvoni  II  4,   hola!  8,   nesu  ti,  13, 

pekne  väs  vitam  18,  vysoko  jai  se  podivala  III  8,  matko,  16,  sestro,  21, 

\y \y  ^-^ \^    

aekera  dobiä  23,  hory  a  doly  zaplakaly  28,  panna  nevesta  samy  smich 

\y w Wy  \y      

52,  plesy  a  hudby  bez  ustäni  54,  v  hlubokö  pustö  krovine  IV  1,  nyncko 

v_/__  y \^  _^^ 

ji  hrozi  7,  telo  jiz  chladne  8,  beda  t6  dob«;  9,  staiecek  nevidany  vzal  12, 

\^ "^  \y \^  

«edivö  vousy  po  kolena  13,  jdete  se  matko  pozeptat  26,  kupte  panicko 

\y ^  V_/  \y  Vy \_/ 

28  58,  jdete  mamicko  33  63,  jakoby  vzdycky  bylo  celo  44  74,  presiici 
V  rukou  drXelo  52,  vstante  mamicko  56  86,  ptejte  se,  57  87,  mämo,  96, 
jdete  tarn  zase  98,  jediny  mezi  kolovraty  V  8,  presiici,  9,  hledai  a  volal 

^-y vy  ^  \y     v^     

43,  vesele  podkovicky  zvonI  VI  4,  panna  nevesta  jako  kvet  7,  hudby  a 
plesy  bez  ust:ini  9,  z  hlavy  Jim  oci  vynaty  16,  ruce  i  nohy  utaty  17, 
toho  ted  na  se  docekaly  19;  h.  d.  v  svetnici  teplo  I  2,  devcata  predou 
4,  rekne:  13,  panny  jak  jarni  rüze  kvet  III  2,  jako  co  Väcslav  ostävä 
22,  vsecko  je  mlhou  zatmele  34,  v  svetnici  teplo  V2,  devcata  zase  pre- 

^v^  v_/  \y  \y  \^ 

dou  4;  H.  sla  tudy,  3,  neb  tudy  naposled  7,  ty  zädanö  lice  50,  co  by- 
valo,  56,  rok  jako  hodina  58,  tri  roky  minuly  61,  tvä  pisen  ukrutnä  79, 
a  mezi  vlnami  87,  kde  cesty  pesiny  95,  ji  byti  nemelo  98,  tak  tezko  le- 

^y ^y    \^  v^ 

zeti  102;  Vod.  räno,  II  1,  prädlo  si  v  uzel  zaväzala  2,  k  jezeru  vzdy  ji 

\y \y  •^ \y 

cos  pohäni  18,  k  jezeru  vXdy  ji  cos  nuti  19,  zeleny  muzik  zatleskal  28, 
a  place -li  tve  detatko  IV  55,  kdo  leknuti  vypravi  68,  dve  veci  tu 
vkrvilezi69;  V.öpane  müj,  33,  co  souzeno  pri  zrozenl  35,  co  Sudice 

\y  ,  \y \y 

komu  käze  37,  a  vrba  at  v  zemi  hnije  76,  vzal  sekeru  na  ramena  77,  ö 
beda  mi,  93 ;  L.  skoda  ji,  4,  ptäckov^  mi  tarn  budou  zpivati  11,  lilie  bilä 

\y \y  \y '^  \y ^^  v./  

17,  lilie  vonnä  19^  halohou!  25  29,  zdvizeno  räme  31,  räme  mu  kleslo 

\y \^  \^ v^__ 

34,  zivotem  vrätkym  .  .  zivoiim  53,  rosa  i  pära  56,  vdala  se  za  nej  61, 

\^ ^  \y \_/^,  ^  \y  . 

smutne  se  loucil  69,  jakoby  tusil  svou  nehodu  70,  spatne  mu  matka  vüli 

^  ^^     \y vy 

plnila  73,  spatne  manzelku  .  .  stiezila  74;  D.  k.  a  smiriti  bozi  bnev  25, 
a  zbourenou  chladi  krev  30,  a  draze  te  chovala  55;  Vest.  feka  si  hledä 

H  —  "^    —  V  / 

konce  sveho  9,  slyste  a  vezte  37  129  183,  vlozte  je  pilne  na  pamet  38, 

^-^ ^  v^    ■^    ^  \y   \^ 

obe  ty  vetve  41,  bujne  se  zastkvi  54,  knezny  Libuse .  .  sad  60,  kneznina 

läzen  62,  patiila  v  mutny  .  .  proud  66,  cetla  tarn  slova  67,  slyste  a  vezte 

slota  77,  siroke  lipy  83,  z  noci  se  zrodi  .  .  den  86,  leto  za  letem  .... 

\^ ^ \y 

bezi  97,  zima  za  zimou  uhäni  98,  slyste  a  vezte  .  .  zvest  110,  vira  i 


y 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  113 

^y Ky  w  \y  \y 

läska  122,   borovi    toto   dospeje    136,   vezte,  149  207,   vysoky,   151, 

\^    \y \y     

z  biäzdy  se  vymklo  162,  hora  ta  dobre  znäma  178,  darmo  nadejl  kojite 

w \y  v-/  \y^ . 

se  185,  jimi  se  rädi  chlubite  198,  zpukrelö,  206,  slyste  a  pilne  vazte  .  . 

w    \-/ \~y 

slova  209;  S.  1,  matko,  5,  plakalo  ditko  studene  perlicky  13;  S.v.  hluk 

v.^ '^  v^ —  \y vy 

slyseti  s  praskotem  2;  P.  v.  telo  hynoucl  ozive  15,  vstupuji  na  svet  19, 

Ky  \y  \y  ^y  ■^      . 

perlovy  vinek  ....  nese  30,  perlovy  vinek  31;  Z.  vsickni  se  lide  roz- 

\y  \y ^y \y 

plakali  1,  snesla  se  k  pani  6,  zvala  ji,  7,  zvala  ho,  11;  T.  d.  müj  sou- 
zeny  kdyby  prisel  2,  ni  pecinek  nechci  13;  0.  z.  140.  a  rerave  uhli  je- 
jich  pokryvadlo  24. 

In  all  diesen  umfangreichen  Rubriken  stehen  Trochäen  und  Jamben 
neben  einander,  da  sie  bis  auf  den  Unterschied  im  Anlaut  als  dasselbe 
Metrum  aufgefaßt  werden  dürfen.  Hier  finden  wir  nun  unter  den  zu- 
sammengesetzten Wörtern  auch  zwei-  und  dreifache  Zusammensetzungen, 
wo  die  erste  Präposition  u.  s.  w.  als  erste  Silbe  die  Betonung  an  eine  zweite 
Präposition  u.  s.  v/.  als  zweite  Silbe  mit  Außerachtlassung  des  letzten 
und  wichtigsten  Bestandteiles  verliert.  Das  betrifft  die  Doppelzusam- 
mensetzungen: do-pro-väzela,  na-po-sled,  ne-prf-kop,  za-po-men,  ne- 
na-dal,  ne-ne-chävej,  ne-pri-slo,  ne-na-sla,  ne-na-nkejte,  ne-u-byvat', 
sowie  das  auch  von  der  dreifachen  Zusammensetzung:  ne-po-roz-umi 
gilt.  Es  werden  in  derartigen  Fällen  die  Zusammensetzungen  so  behan- 
delt, als  würde  eigentlich  die  zweite  Präposition  u.  s.  w.  in  Verbindung 
mit  den  übrigen  Bestandteilen  schon  den  zweiten  Bestandteil  selbst 
bilden.  Wir  geben  übrigens  in  folgenden  Zeilen  eine  kurze  Übersicht 
der  in  diese  Rubriken  einschlägigen  Belege,  woran  noch  ein  paar  Bemer- 
kungen geknüpft  werden  sollen. 

I.  /.  3  Fälle  mit  einsilbiger  Präposition  und  einsilbigem  Nomen 
(alle  mit  langer  Silbe  des  Nomons,  aber  nicht  rein  quantitierend),  14  Fälle 
Imit  einsilbiger  Präposition  und  zweisilbigem  Nomen  (darunter  5  mit 
langer  erster  Silbe  des  Nomens,  aber  nur  2  rein  quantitierend),  1  Fall 
mit  einsilbiger  Präposition  und  viersilbigem  Nomen  (mit  langer  erster 
Silbe  des  Nomens,  aber  nicht  rein  quantitierend);  2.  1  Fall  mit  einsilbiger 
Präposition  und  einsilbigem  Nomen  (rein  quantitierend),  37  Fälle  mit 
jinsilbiger  Präposition  und  zweisilbigem  Nomen  (darunter  22  mit  langer 
jrster  Silbe  des  Nomens,  aber  nur  2  rein  quantitierend);  3.  9  Fälle  (1  in 
Trochäen  und  8  in  Jamben)  mit  einsilbiger  Präposition  und  einsilbigem 

Archiv  für  sl;ivischo  PhiloloRie.     XXVIII.  g 


1J4  Jaroslav  Sutnar, 

Nomen  (darunter  7  mit  langer  Silbe  des  Nomens,  aber  nur  6  rein  quan- 
titierend),  72  Fälle  (31  in  Trochäen  und  41  in  Jamben)  mit  einsilbiger 
Präposition  und  zweisilbigem  Nomen  (darunter  21  mit  langer  erster 
Silbe  des  Nomens,  aber  nur  4  rein  quantitierend),  3  Fälle  (nur  in  Jam- 
ben) mit  einsilbiger  Präposition  und  dreisilbigem  Nomen  (darunter  1  rein 
quantitierend),  5  Fälle  (2  in  Trochäen  und  3  in  Jamben)  mit  einsilbiger 
Präposition  und  viersilbigem  Nomen  (darunter  1  mit  langer  erster  Silbe 
des  Nomens,  aber  nicht  rein  quantitierend). 

II.  1.  7  Fälle  mit  zweisilbiger  Zusammensetzung  (darunter  3  rein 
quantitierend),  105  Fälle  mit  dreisilbiger  Zusammensetzung  (darunter 
53  mit  langer  zweiter  Silbe,  aber  nur  19  rein  quantitierend),  1  Fall  mit 
viersilbiger  Zusammensetzung  (rein  quantitierend),  5  Fälle  mit  fünfsilbi- 
ger  Zusammensetzung  (darunter  2  rein  quantitierend);  2.  3  Fälle  mit 
zweisilbiger  Zusammensetzung  (darunter  1  rein  quantitierend),  76  Fälle 
mit  dreisilbiger  Zusammensetzung  (darunter  52  mit  langer  zweiter  Silbe, 
aber  nur  14  rein  quantitierend);  3.  85  Fälle  (G  in  Trochäen  und  79  in 
Jamben)  mit  zweisilbiger  Zusammensetzung  (darunter  53  mit  langer 
zweiter  Silbe,  aber  nur  35  rein  quantitierend),  128  Fälle  (45  in  Trochäen 
und  83  in  Jamben)  mit  dreisilbiger  Zusammensetzung  (darunter  57  mit 
langer  zweiter  Silbe,  aber  nur  17  rein  quantitierend),  14  Fälle  (nur  in 
Jamben)  mit  viersilbiger  Zusammensetzung  (darunter  8  mit  langer  zwei- 
ter Silbe,  aber  nur  2  rein  quantitierend),  2  Fälle  (1  in  Trochäen  und  1 
in  Jamben)  mit  ftinfsilbiger  Zusammensetzung  (darunter  1  mit  langer 
zweiter  Silbe,  aber  nicht  rein  quantitierend). 

III.  /.  8  Fälle  mit  zweisilbigem  Worte  (darunter  7  rein  quantitie- 
rend), 47  Fälle  mit  dreisilbigem  Worte  (darunter  31  rein  quantitierend), 
l  Fall  mit  viersilbigem  Worte  (nicht  rein  quantitierend);  2.  9  Fälle  mit 
zweisilbigem  Worte  (darunter  8  rein  quantitierend),  77  Fälle  mit  drei- 
silbigem Worte  (darunter  36  rein  quantitierend);  3.  118  Fälle  (25  in 
Trochäen  und  93  in  Jamben)  mit  zweisilbigem  Worte  (darunter  67  rein 
quantitierend),  73  Fälle  (41  in  Trochäen  und  32  in  Jamben)  mit  drei- 
silbigem Worte  (darunter  29  rein  quantitierend). 

IV.  1.  8  Fälle  mit  zweisilbigem  Worte,  45  Fälle  mit  dreisilbigem 
Worte;  2.  4  Fälle  mit  zweisilbigem  Worte,  27  Fälle  mit  dreisilbigem 
Worte;  5.  116  Fälle  (24  in  Trochäen  und  92  in  Jamben)  mit  zweisilbi- 
gem Worte,  89  Fälle  (23  in  Trochäen  und  66  in  Jamben)  mit  drei- 
silbigem Worte. 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  115 

Übersichtstabelle. 


Wörter. 

Zweisilbig. 

Dreisilbig. 

Viersilbig. 

Fünf  silbig. 

I. 

l. 

3:3 

14:5:2 

1:1 

2. 

1:1:1 

37:22:2 

3. 

9:7:6          (1+8) 

72:21:4         (:il+4l) 

3:1:1    (+3) 

5:1      (2+3) 

18:11:7         (1+8) 

123:48:8          (31+41) 

3:1:1    (+3; 

6:2      (2+3) 

II. 

1. 

7:3:3 

105:53:19 

1:1:1 

5:2:2 

2. 

3:1:1 

76:52:14 

3. 

85:53:35      (6+79) 

128:57:17        (45+83) 

14:8:2  (+14) 

2:1      (1+1) 

108:68:46       (7+87) 

432:210:58      (76+124) 

18:10:4  (+17) 

13:5:2(3+4) 

11. 

1. 

8:8:7 

47:47:31 

1:1 

2. 

9:9:8 

77:77:36 

3. 

118:118:67    (25  +  93) 

73:73:29        (41+32) 

243:2it3:  128(32  +  180) 

629:407:154(117+156) 

19:11:4  (+17) 

13:5:2(3+4) 

[V. 

1. 

8 

45 

2. 

4 

27 

3. 

116                  (24+92) 

89                    (23+66) 

371:203:128(56+272) 

790:407:154(140+222) 

19:11:4  (+17) 

13:5:2(3+4) 

1193 


Wie  wir  aus  der  vorstehenden  Tabelle  ganz  deutlich  ersehen,  sind 
leben  einer  sehr  ansehnlichen  Anzahl  zweisilbiger  Wörter  weitaus  am 
tärksten  die  dreisilbigen  Belege  vertreten.  Eine  lange  zweite  Silbe 
commt  in  den  ersten  zwei  Abteilungen  ziemlich  häufig  vor  (ungefähr  in 
ler  Hälfte  der  Belege),  wogegen  man  natürlich  die  rein  quantitierenden 

E'örter  in  den  ersten  drei  Abteilungen  seltener  findet  (kaum  in  der 
älfte  der  Belege  mit  langer  zweiter  Silbe).  Die  meisten  Unregelmäßig- 
eiten  bieten  sich  uns  im  Verseingang  dar,  wo  häufig  die  trochäischen 
eihen  mit  steigendem  Ivhytlimus  und  die  jambischen  Reihen  mit  fallen- 
em  Rhythmus  anheben.  Übrigens  wird  an  Zahl  der  Abweichungen  auch 
er  Trochäus  durch  den  der  cechischen  Sprache  weniger  zuträglichen 

8* 


1 16  Jaroslav  Sutnar,  Prosodisches  u.  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  epi. 

Jambus  weit  übertroffen  (in  Erben's  Gedichten  1509  Trochäenverse 
gegen  1004  Jambenverse),  wie  man  es  in  dem  für  beide  Versarten  so 
charakteristischen  Versanfang  verfolgen  kann  (im  Jambus  mehr  als 
doppelt  so  viel).  Außerdem  zeigen  wohl  die  meisten  Fälle  bis  auf  ge- 
ringe Ausnahmen'*'')  zur  Genüge,  daß  von  irgend  einer  regelmäßigen 
Beeinflussung  dieser  Belege  durch  ihre  nächste  Nachbarschaft  im  allge- 
meinen kaum  die  Rede  sein  kann. 


«)  Ein  besonders  starker  Einfluß  auf  die  nachfolgenden  Wörter  scheint 
den  einsilbigen  Pronominibus  possessivis,  demonstrativis,  interrogativis 
u.  s.w.,  sowie  den  einsilbigen  Adverbiis  demonstrativis  u.s.w.  innezuwohnen. 
(Beachtung  verdient  auch:  pane  muj!  mit  Rücksicht  auf  die  ganz  ähnlichen 
Fälle  später  im  Zühorovo  loze.)  Abgesehen  von  den  bereits  angeführten  zwei 
Bemerkungen  Kräl's  (bezüglich  der  tonlosen  einsilbigen  Präpositionen  in 
Anmerkung  8)  und  in  Anmerkung  46)  gelegentlich  der  Behauptung  Cupr's) 
gehören  hieher  Kräl's  Worte  über  den  sogenannten  »Nachdruck«  (L.  f.  Roc. 
25.  [1898]  38):  »Tento  düraz  [pirizvuk  vetuy,  od  obvykleho  odchylny  a  proto 
i  silnejsi]  byvä  nekdy  tak  siluy,  ze  i  slovny  prizvuk  slov,  näsledujicicb  po 
slov6  düraznem,  posinuje.  Deje  se  to  tehdy,  jestlize  dürazne  slov o  ie  Jedno- 
slabicne;  slovo  takove  splyvä  pak  s  näsledujicim  slovem  treba  viceslabicnym 
V  jedinou  skupinu,  [39]  a  vedlejsi  prizvuky  teto  skupiny  ridi  se  pak  . ..  poctem 
slabik  cele  skupiny.  —  Pronesu-li  ve  vete:  »Ja  slysim,  ale  vy  neslysVte«  slovo 
vy  se  zvlästnim  durazem,  splyvaji  slova  »vy  neslys7te«  v  jedinou  skupinu, 
majici  miru  -  -^  ^  -  '.^.  Chceme-li  zachovati  hlavni  prizvuk  slova  neslysite, 
musime,  abychom  nabyli  sily  a  casu  k  sesileni  dechoveho  proudu,  po  düraz- 
nem yy  uciniti  malou  pirestävku.  Podobne  je  ve  vetäch  jinych,  kde  vyskytä 
se  jednoslabicn6  slovo  silne  dürazne: 

Co  povic/ali? 

(_   v^  ^  _  w) 

Zpomente  sl  na  svä  mlada  leta. 

(—      ^   ^  —^) 

Snad  jeste  ted'  nebudete  ??i?/slit? 

( ■^  \j ^ 

Jak  pak  »iMzete  vy  odtud  wekoho  hnät? 

(-     ^  ^) 
Plast'  odnesl  a  ne  Äobät. 
J   -      ^  -^)    ^  ^ 

—  Takovych  mer  treba  ovsem  pH  versoväni  uzivati  s  opatrnosti,  a  to  jen 
tehdy,  kdyz  düraz  je  znacne  silny  a  kdyz  vskutku  se  Jim  prizvuk  slovny  po- 
sinuje.« (Ahnliches  bei  Kral  [L.  f.  Roc.  23.  (1896)  400]  über  den  trochäischen 
Vers:  »Chräm  opousti  zhanobenä«  und  den  jambischen:  «a  v  blankyt  roj 
vychäzi  hvezd«  mit  Nachdruck  auf  den  Wörtern:  »chrdma  und  »roja). 

(Fortsetzung  folgt.) 


Kritischer  Anzeiger. 


B.  M.  JlanyHOBi..  $opMLi  cKjoneHiH  bi.  cxapocjiOBflHCKOM'i.  hsbik^. 
I.  CKJioiieHie  HMen'B.  O^ecca  1905.  8^  70  (B.  M.  Ljapunov.  Die 
Formen  der  altkirchenslavischen  Deklination.    I.  Die  Deklination 

des  Nomens). 

Diese  kleine  Monographie,  aus  den  Universitätsvorlesungen  in  Odessa 
hervorgegangen,  wo  der  Verfasser  das  Fach  der  slavischen  Philologie  ver- 
tritt, verdient  mit  einigen  Worten  besprochen  zu  werden.  Sie  stellt  sich  die 
Aufgabe,  die  Kasusbildung  des  slavischen  Nomens  vom  Standpunkte  der 
vergleichenden  Grammatik  zu  beleuchten,  wobei  nicht  bloß  auf  die  seit  Bopp 
bis  in  unsere  Tage  gemachten  oder  versuchten  Erklärungen,  die  der  Verf. 
fleißig  studiert  hat,  Rücksicht  genommen  wird,  sondern  auch  die  den  meisten 
Sprachforschern  nur  sehr  fragmentarisch  zugänglichen  Ansichten  Fortuna- 
tovB,  dessen  treuer  Schüler  und  Anhänger  der  Verfasser  ist,  uns  mitgeteilt 
werden.  Prof.  Ljapunov  registriert  sozusagen  von  Jahr  zu  Jahr  die  von  bor- 
tunatov  gegebenen  Erklärungen,  die  ihm  bald  in  lithographierten  Heften, 
bald  in  gedruckten,  aber  noch  nicht  herausgegebenen  Bogen  vorlagen.  Den 
Geist  und  die  Methode  der  Fortunatovschen  Forschung  im  Bereiche  der  ver- 
gleichenden Grammatik  hat  er  schon  als  sein  Schüler  sich  anzueignen  ge- 
trachtet. In  der  vorliegenden  Schrift  gibt  sich  das  schon  äußerlich  dadurch 
kund,  daß  er  im  Gegensatz  zu  der  heute  üblichen  Bezeichnung  der  kurzen 
Vokale  e,  o,  a,  vom  Standpunkt  des  altindischen  Vokalisnius  mit  Fortunatov 
immer  von  «,  ä,  a,  ausgeht,  daß  er  sehr  häufig  vom  irrationalen  Vokal  spricht, 
der  mit  »  bezeichnet  wird,  daß  er  eine  ganze  Reihe  von  Vokalübergängen 
nach  der  Lehre  Fortunatovs  in  Anwendung  bringt,  deren  Berechtigung  wir 
nach  diesen  bei  verschiedenen  Anlässen  mitgeteilten  Bruchstücken  nicht  in 
der  Lage  sind  zu  kontrollieren.  Ich  wundere  mich,  aufrichtig  gesagt,  daß 
Prof.  Ljapunov  nicht  selbst  das  Bedürfnis  gefühlt  hat,  bei  solchen  Aui- 
zählunj^en  von  Lautübergäugen,  die  nicht  zu  den  gewöhnlichen  gehören,  doch 
ein  Wort  der  Erklärung  seinerseits  hinzuzufügen.  Das  um  so  mehr,  als  er 
hie  und  da  ausdrücklich  seinen  Lehrer  in  einem  gewissen  Gegensatz  zu  den 
»westeuropäischen«  Vertretern  des  Faches  zitiert.  Man  muß  ja  doch  anneh- 
men, daß  er  nicht  urteillos  die  Ansichten  seines  Vorbildes  anbetet,  somlern 
aus  Überzeugung  von  ihrer  Richtigkeit  sich  zu  ihnen  bekennt,  folglich  die 


118  Kritischer  Anzeiger. 

BewetfgrUnde  Fortunatovs  kennt,  während  sie  uns,  aus  dem  Zusammenhange 
lierausf^er'iBHen,  vielfach  nnveistündlich  bleiben,  ja  den  Eindruck  einer  Ge- 
hoimlehre  erzeuj;en.  Prof.  Ljapunov  geht  soweit,  daß  er  einige  Male  selbst 
die  zu  verschiedenen  Zeiten  in  vi;r8chiedener  Weise  vorgebrachten  P^rklärungen 
Fortunatovs  anführt,  ohne  die  Gründe,  die  nicht  immer  einleuchtend  sind,  für 
die  geraachte  oder  vorgeschlagene  Brichtigung  hinzuzufügen.  So  macht  die 
Schrift  nicht  gerade  den  Eindruck  einer  lichtvollen  Darstellung  und  man 
muß  sich  bedenklich  fragen,  ob  die  Zuhörer  in  der  Lage  waren,  einem  solchen 
Vortrag  mit  Verständnis  zu  folgen. 

Ich  kann  selbstverständlich  nicht  auf  alle  Einzelheiten  eingehen.  Das 
Thema  ist  trotz  der  reichen  Beteiligung  vieler  Sprachforscher  wenig  dank- 
bar. Es  ist  nicht  verlockend,  sagt  selbst  ein  solcher  Virtuose  wie  Prof.  Pe- 
dersen,  das  Gebiet  der  Auslautsgesetze  zu  betreten,  wo  man  immer  viel  Ge- 
schrei und  wenig  Wolle  findet  (li.Z.  38.  321).  Prof.  Ljapunov  bringt  seiner- 
seits wenig  neues  vor,  drückt  also  den  Preis  des  reichlich  vorhandenen  Vor- 
rats nicht  durch  neue  Angebote  herab.  Zumeist  sind  es  die  Erklärungen 
seines  Lehrers,  denen  er  weitere  Geltung  zu  verschaffen  trachtet,  so  weit  sie 
nicht  schon  »im  Westen«  bekannt  waren.  So  gleich  bei  der  Erklärung  des 
Nominativs  sing,  der  ^/o-Stämme  besteht  er  auf  dem  »Gesetze«  Fortunatovs, 
das  er  in  aller  Kürze  so  veranschaulicht:  o  und  od  =  slav.  o,  os  und  om  = 
slav.  %.  Mit  diesem  Gesetze,  von  dem  jetzt  auch  Brugmann  KVgr.  S.  376, 
Anm.  1  Gebrauch  macht,  muß  man  allerdings  bei  der  nächsten  Station  halt 
machen,  d.  h.  alle  Neutra  a,iü  om/on  ausschließen,  da  sie  mit  ihrem  o- Auslaut 
der  Analogie  des  Pronomens  to  folgen  (Ljap.  6).  Dasselbe  gilt  für  den  Nomi- 
nativ-Akkusativ sing,  der  neutralen  -es  (-os)-Stämme,  wo  nach  dem  »Gesetze» 
Fortunatovs  sonst  ebenfalls  ein  ■&  hätte  zum  Vorschein  kommen  müssen  (man 
vergl.  lat.  genus  neben  lupus),  wenn  nicht  die  Kategorie  des  Genus  im 
Spiele  gewesen  wäre.  Welche  Rolle  die  Kategorie  des  Genus  gerade  in  der 
slavischen  Deklination  spielt,  ist  allgemein  bekannt.  Sie  hat  z.  B.  die  mas- 
kulinen b/i-Stämme  in  die  weiche  oder  harte  7./o-Deklination  getrieben,  sie 
hat  die  femininen  Stämme  auf -?w  (für  u  =  ü)  und  auf  -r  zum  Teil  der  femi- 
ninen b/i-,  zum  Teil  der  femininen  «/ä-Stämme  in  einzelnen  Kasus  sich  an- 
schließen lassen,  während  die  neutralen  -n-,  -s-,  -^-Stämme  von  den  neutralen 
o/o-Stämmen  angezogen  wurden.  Um  sich  der  Kategorie  des  Genus  unterzu- 
ordnen, muß  neben  dem  maskulinen  put  im  SerDokr.  das  slovenische  Wort 
pot,  um  in  der  5/<-Deklination  verbleiben  zu  können,  das  Genus  wechseln  und 
feminin  werden.  Nur  darum  übte  das  Pronomen  to  eine  so  starke  Anziehungs- 
kraft aus,  weil  ihm  eben  die  Kategorie  der  Unterscheidung  nach  dem  Genus 
helfend  zur  Seite  stand.  Gegenüber  dem  Neutrum  fxid^v-mädhu  mußte  bei  uns 
MQKh  maskulin  werden,  ebenso  schlüpften  unsere  Substantiva  sapx,  ABop-B 
gegenüber  öüqoi',  forum  nach  dem  Auslautsgesetz  durch,  büßten  aber  dafür 
das  Genus  ein.  Auf  diese  Weise  hätte  das  Slavische  ebenso  wie  das  Litauische 
nach  dem  lautgesetzlichen  Vorgange  das  Neutrum  verloren,  wenn  sich  nicht 
die  Kategorie  des  Genus  widersetzt  und  als  mächtiger  erwiesen  hätte.  Gerade 
darum  ist  mir  der  große  Gewinn  des  Fortunatovschen  Gesetzes,  wenn  man  sich 
ausschließlich  auf  den  Standpunkt  der  lautgesetzlichen  Vorgänge  stellt,  sehr 


I 


* 


Ljapunov,  Die  Formen  der  altkirchenslav.  Deklination,  angez.  v.  Jagid.     119 

fraglich.  Man  muß  ja,  um  es  für  on  —  z  und  os  =  z  aufrecht  zu  halten,  alle 
Neutra  ausschließen,  so  daß  uro  statt  *iirx,  cjiobo  statt  *cjioBt  dem  Vorbilde 
des  To  sein  Dasein  verdankt.  Wieviel  bleibt  da  von  dem  Gesetze  noch  übrig? 
In  der  Deklination  hauptsHchlich  der  Nominativ  sing,  der  maskulinen  z/o- 
Stämme,  für  die  ja  auch  die  maskulinen  ^/w-Stämme  bei  der  Bestimmung  des 
Nominativauslautes  vorbildlich  sein  konnten,  um  auf  diese  Weise  den  Nomi- 
nativ zu  retten  und  nicht  aus  lautgesetzlichen  Rücksichten  in  den  Akkusativ 
zu  verfallen. 

Für  den  Genetiv  sing,  auf -a  der  i/o-  und  o/o-Stämme,  den  man  gewöhn- 
lich als  den  Reflex  des  alten  Ablativs  auf  -öd  (altind.  -ät)  ansieht,  macht  auch 
Ljap.  auf  die  Abweichung  des  Litauischen  mit  o  statt  des  erwarteten  ü  auf- 
merksam. Daß  er  sich  so  leicht  der  Ansicht  anschließt,  die  das  Litauische  u 
je  nach  der  Intonation  bald  ii  bald  a  sein  läßt  (S.  9),  nimmt  mich  Wunder. 
Ich  hätte  geglaubt,  daß  unser  -u  in  Kaana  oder  öep-a,  ch  nicht  auf  der  bestimm- 
ten Intonation  beruht,  sondern  auf  dem  Übergang  des  ön  in  ün,  während  das 
litauische  akmü  mit  seinem  ü  auf  ö  zurückgeht,  da  das  Litauische  den  Über- 
gang von  on  in  un  und  ön  in  ün  im  Auslaute  nicht  mitmacht.  Auch  andere 
Sprachforscher  nahmen  an  dem  litauischen  o  statt  des  erwarteten  ü  Anstoß, 
z.  B.  Pedersen  möchte  von  äd  ausgehen,  »das  latein.  -öd  ist  eine  leicht  ver- 
ständliche Analogiebildung«  meint  er  KZ.  38.  404.  Doch  hat  er  damit  wohl 
nicht  viele  überzeugt,  vergl.  Sommer  S.  375  Anm.,  Brugmann  KVgr.  S.  382 
Anm.  Ljapunov  schließt  sich  auch  hier  seinem  Lehrer  an,  der  den  lituslav. 
Genitiv  a/o  mit  dem  altindischen,  griechischen  etc.  echten  Genitiv  in  Zusam- 
menhang bringt.  Freilich  um  unseren  Auslaut  a  und  lit.  o  mit  -asi/a  leichter 
zusammenzustellen,  nimmt  Fortunatov  zu  einer  Hypothese  Zuflucht,  er  läßt 
bei  den  Stämmen  auf  -o  zwei  Genitivsuffixe  nebeneinander  bestehen,  mit 
s:  osjxi,  ohne  s:  oio,  so  daß  er  Ivxoio  vom  ersten,  i.vxov  (aus  Xvxoo)  vom  zwei- 
ten Paradigma  ableitet.  Solche  Annahmen  ad  hoc  sind  die  starke  Seite  For- 
tunatovs,  die  sich  vielleicht  in  der  Wirklichkeit  als  schwache  Seite  seiner 
sonst  sehr  scharfen  Unterscheidungen  herausstellen.  Selbst  angenommen,  daß 
seine  Hypothese  vielen  einleuchten  wird,  läuft  die  Ableitung  unseres  Genitivs 
auf  -a  von  einer  angenommenen  Urform  -ojo  keineswegs  glatt. 

Auch  die  Schwierigkeiten  der  Erklärung  des  Dativs  sing,  auf -oy  der 
^/o-  und  o/o-Stämme  werden  von  Ljapunov  unter  den  Fittigen  Fortunatovs, 
dem  jetzt  die  Erklärung  Pedersens  sehr  nahe  kommt,  behoben.  An  der  Iden- 
tität des  slavischen  Auslauts  -oy  mit  dem  litauischen  -ui  und  selbstverständ- 
lich mit  dem  griechischen  -w  festhaltend,  erklärt  Ljapunov  mit  Fortunatov 
unsere  tatsächliche  Form  durch  diese  Reihe  von  Übergängen:  öt  sei  durch  öm 
zu  öu,  dieses  zu  ou  geworden,  und  ou  ergab  natürlich  den  faktischen  Auslaut 
-oy  (Ljap.  S.  12).  Pedersen  weicht  von  dem  eingeschlagenen  Wege  etwas  ab, 
aber  steuert  auf  dasselbe  Ziel  los.  Er  setzt  diese  Etappen  der  Lautbewegung : 
öi  wurde  zu  üi,  dann  zu  üii,  dieses  zu  öii  oder  uu,  und  dieses  zu  ou —  also  -oy. 
Das  wird  ein  »vorwärts  wirkender  Umlaut«  genannt  (KZ.  38. 324/5).  Gewiß  ist 
das  Bestreben,  den  litauischen,  slavischen  und  griechischen  (weiter  auch  la- 
teinischen) Dativ  mit  dem  altindischeii  (im  Pronomen  sichtbaren)  äi  zusam- 
menzustellen, lobenswert,  allein  wenn  Prof.  Ljapunov  das  slavische  -oy  »eine 


]  20  Kritischer  Anzeiger. 

regelmäßige  phonetische  Entwickelung  des  indoeurop.  Diphthonges  äi«  nennt 
■Ljap.  S.  11),  was  man  wohl  von  dem  litauisclien  ui  sagen  kann,  wenn  man 
es  durch  Mi  aus  Ol  abliütof,  so  hätte  wahrscheinlich  jeder  seiner  Zuhörer  den 
stillen  Wunsch  gehegt,  für  jene  Keihe  der  lautlichen  Übergänge  einige  Er- 
läuterungen zu  bekommen.  Sind  das  alles  lautgesetzliche  Vorgänge,  so  war 
es  nicht  schwer,  sie  durch  Parallelen  zu  belegen.  Damit,  daß  man  diese  an- 
geblich »regelmäßige  phonetische  Entwickelung«  aufs  Papier  setzt,  ist  so 
lange  nichts  erklärt,  bis  man  nicht  einleuchtende  lielege  dafür  womöglich 
aus  dem  Bereiche  der  Sprache,  in  welcher  man  jene  "Entwickelung«  voraus- 
setzt, beigebracht  hat.  Prof.  Ljapunov  war  um  so  mehr  verpflichtet,  die  .Sache 
zu  erläutern,  als  ja  Fortunatov  und  Pedersen  nicht  ganz  übereinstimmen. 
Bis  das  nicht  geschieht,  darf  man  immerhin  den  slav.  Dativus  auf -oy  zu  den 
casus  dubii  rechnen. 

Beim  Instrum.  sing,  auf  -omb  ergeht  sich  Prof.  Ljapunov  in  langer 
Erörterung  darüber,  ob  -omb  auf  dem  Stammesauslaute  o  der  ?,/o-Stämme 
beruht,  er  ist  bereit,  diese  Annahme  —  zu  verneinen.  Dieser  Verneinung 
könnte  ich  nicht  beistimmen.  Die  Instrumentalbildung  mit  -mb  ist  ja 
nicht  so  jung,  daß  man  nicht  theoretisch  öofomb  von  6oro-  und  c'i.iin.MB  von 
c'MH'L-  ableiten  dürfte.  Nichts  hindert  uns,  glaub'  ich,  anzunehmen,  daß  im 
Verlaufe  der  Zeit  für  die  Mehrzahl  der  slavischen  Sprachen  (nordwestlichen 
und  östlichen)  der  Instrumentalis  auf -t.mb  von  den  ^/w-Stämmen  ausgehend 
eine  Verallgemeinerung  auch  für  die  ^/o-  und  o/o-Stämme  erfahren  hat,  wäh- 
rend in  den  südslavischen  Sprachen  (Slovakisch  gehört  dazuj  der  Auslaut 
-OMB  der  ^/o-  und  o/o-Stämme  den  den  7./M-Stämmen  zukommenden  Auslaut 
verdrängte.  Was  speziell  das  Wort  chh-b  anbelangt,  so  darf  man  vielleicht 
erinnern,  daß  es  in  den  ältesten  Evang.  Texten  keinen  Genitiv  CHHoy,  nur 
zwei  sichere  Dative  cmhobh  (neben  viel  zahlreicheren  CHHoy)  gibt.  Im  Psalter 
71. 1  hat  sin.  und  bon.  ciaHoy,  pog.  und  sof.  chhobh.  Eben  darum,  weil  chh-b 
so  entschieden  in  einigen  Kasus  sing,  zu  den  ^/o-Stämmen  hinneigt,  finde  ich 
nichts  überzeugendes  in  der  Annahme,  daß  das  o  des  chuomb  (oder  Dat.  plur. 
CHHOMX)  eine  Analogieübertragung  aus  den  Formen  cxihobh,  chhobg,  c-huob-b  sei. 
Noch  weniger  gefällt  mir  die  Annahme,  daß  die  Endung  -t-mb  bei  den  ^/o- 
Stämmen  von  dem  Nominativ-Akkusativ  auf  -t.  herrühre.  Bei  den  Beispielen 
auf  -"BMB  der  o/o-Stämme,  die  ja  ebenfalls  vorkommen,  ist  eine  solche  Anleh- 
nung ohnehin  ausgeschlossen. 

Bei  dem  Dualsuffix  -Ma  spricht  Ljapunov  (S.  16)  von  einer  Neubildung 
bezüglich  des  Vokals  a.  Diese  angebliche  Neubildung  könnte  aber  doch  sehr 
alt  sein,  wenn  man  sich  der  fürs  Iranische  angesetzten  uralten  Parallelendung 
Skui -bhyä  erinnert  (Brugm.  KVGr.  §  475). 

Der  Nominativus  plur.  der  7./o-Stämme  beruht  wohl  auf  einem  i,  das  aus 
bestimmten  Gründen  in  u  umlauten  mußte.  Die  von  Fortunatov-Ljapunov 
zuletzt  für  beide  i  (i  =  e  und  i  =  oi]  postulierte  Aussprache  ie  könnte  ich 
nur  von  dem  Zeitpunkte  an  gelten  lassen,  nachdem  schon  das  einst  diphthon- 
gische und  später  monophthongisch  gewordene  i  den  bekannten  sekundären 
Palatalismus  durchgeführt  hatte.  Denn  eine  schon  vollzogene  lautliche  Gel- 
tung ie  hätte  nicht  u  s  c  erzeugt.    Also  erst  das  vollzogene  Resultat  konnte 


Ljapunov,  Die  Formen  der  altkirchenslav.  Deklination,  angez.  v.  Jagic.    121 

unter  bestimmten  Gründen  im  absoluten  Auslaute  an  die  Stelle  von  ni  si  ci 

die  Lautgruppen  uu,  sh,  ch  eintreten  lassen.   Anders  faßt  die  Sache,  wenn  ich 

richtig  verstehe,  Pedersen  KZ.  3S.32(J  auf.  Was  nun  den  Grund  des  Umlautes 

von  -i  im  Auslaut  des  Nominativus  plur.  in  -h  betrifft,  so  stimme  ich  insofern 

den  neuesten  Forschern,  darunter  auch  Fortunatov  und  Ljapunov,  bei,  als 

auch  ich  in  der  Qualität  der  Betonung,  in  der  Intonation  wie  man  sagen 

könnte,  den  Grund  des  Unterschiedes  zwischen  -i  und  -h  suche.    Es  handelt 

sich  selbstverständlich  um  die  Auslautsstelluug.    Ich  lasse  mich  bei  der  Be- 

JL  ~ 

Stimmung  der  Intonation  auf  4  =  ot,  d.  h.  ob  steigend  öl  oder  fallend  öi   ich 

spreche  davon  im  Sinne  der  griechischen  und  siavischen  Betonung,  die  litaui- 
sche lasse  ich  beiseite),  von  der  griechischen  Sprache  und  ihren  Tatsachen 
leiten,  wobei  ich  die  Übereinstimmung  des  griechischen  Akuts  auf  langen 
oder  diphthongischen  Silben  mit  dem  serbokroatischen  '  und  des  griechischen 
Zirkumflexes  ~  mit  dem  serbokroatischen  ^  voraussetze.  Vergleicht  man  nun 
unseren  Nominativ  plur.  i!.!n.mi,  öosii  mit  dem  griechischen  Nominativ  plur. 
(priyoi^  O^Eoi  neben  olxoi,  Srjfxoi  und  unseren  Lokal  sing.  B.;n>ut,  öost  mit  dem 
griech.  Lokal  o'ixoi,,  lad^/uol,  so  kommt  man  zu  dem  Schluß,  daß  der  slavische 
im  Auslaut  für  oi  stehende  i-Vokal  (statt  i)  der  griechischen  steigenden,  und 
der  für  oi  im  Auslaut  stehende  slavische  i- Vokal  der  griechischen  fallenden 
Länge  entspricht.  Das  ist  nun  freilich  das  gerade  Gegenteil  von  dem,  was 
andere  Sprachforscher  und  nach  ihnen  auch  Ljapunov  behauptet.  Er  sagt 
ausdrücklich,  nur  jenes  i  habe  sich  im  Siavischen  erhalten,  das  eine  »äjh- 
TejBuaa  Äojrora«  (also  steigende  Intonation)  hatte,  dagegen  aus  der  »npepti- 
BHCTaa  ÄOjroTa«  (also  fallenden  Intonation)  sei  i  entstanden  (S.  19).  Auch  Pe- 
dersen kommt  (KZ.  38.  327)  zu  den  von  Ljapunov  angenommenen  Resultaten. 
Für  meine  Auffassung  scheinen  mir  neben  dem  oben  angeführten  Parallelis- 
mus im  griech.  und  slav.  Nom.  plur.  noch  zu  spre  hen  die  Parallelen  ifuol :  mh, 
aoi:  th;  ferner  der  Dativ  ;^«,M«t  und  die  Infinitive  tif/neyat,  Jo^me»'««  verglichen 
mit  dem  siavischen  Dativ  cuuobu  gegenüber  dem  altindischen  sündve,  das 
griech.  toi  und  slav.  tu.  Daß  eine  fallende  Länge  aus  §  ein  c  macht,  das  zeigt 
das  böhmische  vira  gegenüber  dem  serbischen  vjera  (vergl.  Berh.  l^räva,  böhm. 
krdva  und  russ.  Kopöna).  Auch  den  Unterschied  zwischen  6epu  und  6epiTe, 
abgesehen  von  der  Auslautsstellung,  möchte  ich  aus  der  einst  steigenden  Be- 
tonung öeptre,  sing.  6epii  ableiten.  Daß  es  nicht  angelit,  das  griech.  nya&oi 
mit  der  russischen  Neubildung  Tt  zusammenzustellen  (so  Pedersen  KZ.  38. 
327),  das  hat  auch  Ljapunov  nicht  übersehen  (S.  53),  der  mit  der  Ansieht  For- 
tunatovs,  nach  welcher  im  Lokal  sing,  der  ^|o-  und  o/o-Stämme  und  Dat.  und 
Lok.  sing,  der  a/ä-Stämme  die  »Ä.iHTe.flBnafl«  (d.  h.  steigende)  Länge  war,  im 
Dat.  sing,  der  ■a/o-  und  o/o-Stämme,  im  Genitiv  plur.  aller  Stämme  und  im  Im- 
perativ dagegen  die  »npopwiiHCTaa«  (also  fallende)  Länge  nichts  anzufangen 
weiß,  sondern  um  Aufklärung  bittet. 

Die  auch  von  Ljapunov  zugegebene  Identifizierung  der  Formen  Marn, 
Äinnu  mit  den  litauischen  Formen  mote,  dukic.  fö.  20)  ist  mir  doch  nicht  ein- 
leuchtend; für  ein  i  würden  wir  doch  nur  f.,  resp.  nach  Palatalen  a  erwarten, 
also  *MaTi,  *Ä'imTa.  Doch  selbst  zugegeben,  daß  hier  wirklieh  -u  für  das  er- 
wartete -i  steht,  80  dürfen  wir  schon  wegen  nairJQ  die  steigende  Intonation 


122  Kritischer  Anzeiger. 

des  i  voraussetzen,  also  wäre  auch  hier  der  Ersatz  des  t  durch  -u  ganz  ent- 
sprechend. Bekanntlich  lautet  auch  der  Vokativ  von  äxuith  ebenso,  wie  der 
Nominativ  (vergl.  Matth.  9.  22,  Mark.  5.  31,  Luk.  8.  48,  Jo.  12.  15,  Ps.  44.  11). 
Vifllciclit  ist  die  Form  auch  ursprünglich  Vokativ  gewesen? 

Gonitivus  plur.  auf  -j.,  dessen  Endung  sonst  nicht  wenig  Schwierig- 
keiten bereitet,  wird  vou  Ljapunov  mitllille  der  LautiibiTgänge,  die  er  uns 
nach  den  Vorscliriften  seines  Lehrers  zeichnet,  ganz  glatt  erklärt:  m.  ist  un- 
mittelbar aus  ü,  dieses  aus  dem  nasalierten  u  fd.  h.  w),  das  letztere  aus  im 
hervorgegangen,  welches  dank  der  Kürzung  eines  jeden  langen 
Vokals  in  geschlossener  Silbe  vor  den  Nasalkonsonanten  oder 
überhaupt  in  diphtliongischer  Verbindung  und  im  Diphthonge,  aus  ün  ent- 
standen ist,  dessen  ü  aus  ö  mit  fallender  Länge  im  Auslaute  und  n  aus  m  ab- 
geleitet werden  muß«.  liier  sind,  wenn  ich  richtig  ül)ersetzt  habe,  in  einem 
Atemzuge  ganz  bekannte  Lautiibergänge  mit  sehr  auffallenden  und  näherer 
Erklärung  bedürftigen  zusammengeworfen.  Denn  daß  -h  auf  ein  ü,  eventuell 
auf  ün  zurückgeht,  das  weiß  Jedermann;  auch  daß  ün  aus  6n  hervorgeht,  darf 
als  bekannt  vorausgesetzt  werden.  Wo  steht  es  aber,  daß  ein  jeder  langer 
Vokal  in  geschlossener  Silbe  vor  dem  Nasalkonsonanten  gekürzt  wird? 
Haben  wir  in  KaMu,  cm  von  gekürzten  Vokalen  zu  reden?  beruht  /Kcha  auf 
gekürztem  Vokal?  liier  steckt  offenbar  irgend  ein  Mißverständnis,  das  ich 
nicht  herausfinden  kann.  Wenn  für  alles  Gesagte  ein  einfacher  Hinweis  auf 
Fortunatovs  Vergleichende  Phonetik  1902,  S.  219—220  (das  Werk  ist  mir 
nicht  zugänglich,  scheint  überhaupt  noch  nicht  erschienen  zu  sein?)  hin- 
reicht, wo  wahrscheinlich  alles  so  dargestellt  ist,  daß  es  von  Prof.  Ljapunov 
als  bewiesen  angesehen  wird,  dann  möchte  ich  fragen,  wozu  war  es  nötig, 
noch  Streitberg  IF.  I.  2S9  und  Osthoff  heranzuziehen,  die  neben  öm  auch 
noch  6n  als  Genitivsuffix  zugeben?  Entweder  oder.  Ist  die  Existenz  eines 
uralten  plur.  Genitivsuffixes  -oni  erweislich,  dann  braucht  man  die  Erklärung 
Fortunatovs  nicht.  Kann  man  aber  ohne  Schwierigkeiten  mit  Fortunatov 
unser  x  aus  öm  ableiten,  um  so  besser.  Dann  sollte  man  überhaupt  nichts 
von  der  Endung  -öm  reden.  Nur  hätten  wir  erwartet,  daß  die  Gleichstellung 
unseres  t  mit  griechischem  -wj'  und  litauischem  -ü  nicht  als  etwas  selbstver- 
ständliches angesehen  werde.  Nach  den  serbokroatischen  Neubildungen 
könä,  zeiiä  kann  man  nur  auf  die  Betonung  der  Ultima  in  den  alten  Genitiven 
auf  --h  schließen.  Sollte  die  Länge  des  ä  dabei  irgend  eine  Rolle  spielen,  dann 
könnte  man  aus  dem  gedehnten  x  auf  den  fallenden  Ton,  d.  h.  auf  die  grie- 
chische Intonation  üif  schließen.  Doch  ist  alles  das  höchst  unsicher.  Für 
mich  bleibt  auch  dieser  Kasus  noch  immer  unaufgeklärt. 

Den  Akkusativ  plur.  der  t,/o  Stämme  auf -u  (nach  den  weichen  Konso- 
nanten auf -a)  führt  Prof.  Ljapunov  auf -o«s  {-uns)  zurück,  von  einer  Dehnung 
des  Vokals  sagt  er  nichts.  Hätten  wir  nicht  bei  der  Voraussetzung  des  -ons 
ein  -&  (wie  in  der  3.  Person  plur.  uä&),  oder  wenn  s  früher  abfiel,  ein  -t  er- 
wartet? Ich  finde  das  richtige  bei  Brugmann  KVgr.  §  362.  9  und  das  altind. 
-an  spricht  entschieden  für  -5n,  woraus  über  -ün  unser  -h  hervorging.  Bei  -*ön 
ergab  sich  früher  ^eti  als  ö  zu  ü  geworden  war,  daher  M&acA,  wie  ntH,  öbö, 
numa.   An  dieser  altbackenen  Lehre  halte  ich  noch  immer  fest. 


Ljapunov,  Die  Formen  der  altkirchenslav.  Deklination,  angez.  v.  Jagid.     123 

Der  Instrumentalis  plur.  der  ^|o-  und  o/o-Stämme  wird  auch  von  Lja- 
punov mit  dem  altind.  Auslaut  -äts,  weiter  lit.  -ais  identifiziert,  betreffs  der 
Einzelheiten  folgt  er  der  Erklärung  Fortunatovs,  die  von  -ähis  ausgehend 
ein  lituslavisches  -ois  ansetzt,  woraus  das  faktisch  vorhandene  litauische  -ais 
leicht  zu  erklären  ist,  für  das  Slavische  aber  diese  Lautskala  gegeben  wird: 
aus  -ois  wurde  -wts,  aus  -uis  wurde  -uns,  daraus  -üs  und  der  faktische  Auslaut 
-■H  ist  fertig.  Prof.  Ljapunov  faßte  hier  einen  bei  ihm  nicht  erwarteten  Mut 
und  macht  die  Bemerkung,  daß  die  Annahme  eines  Überganges  von  o  zu  m 
(d.  h.  -uis  und  -uns  aus  -ois)  »der  schwierigste  Punkt  der  Erklärung«  sei 
(S.24J.  Und  doch  bewegt  sich  in  derselben  Richtung,  wenn  auch  auf  anderen 
Pfaden  vorwärtsschreitend,  die  Erklärung  Pedersens  (KZ.  38.  325).  Er  geht 
von  -bis  aus  (wegen  des  altindischen  -äis)  und  läßt  dieses  zu  -M^s,  weiter  -üus 
werden.  Man  muß  bedauern,  daß  Ljapunov  zu  diesen  zwei  in  Einzelheiten 
abweichenden  Erklärungen  nicht  Stellung  genommen.  Ich  glaube,  daß  Pe- 
dersen  berechtigt  war,  sowohl  beim  Dativ  sing,  wie  beim  Instr.  plur.  von  ö  aus- 
zugehen, weil  dieser  lange  Vokal  gegenüber  dem  zweiten  Teil  des  Diph- 
thonges -bis  widerstandsfähiger  war,  als  das  bei  der  Annahme  von  -ois  als 
dem  Ausgangspunkte  der  weiteren  Entwickelung  der  Fall  gewesen  wäre. 
Warum  aber  ein  -bi  (Dat.  sing.)  bei  uns  -oy,  ein  -bis  (Instr.  plur.)  bei  uns  -la 
ergab,  das  finde  ich  weder  bei  Fortunatov  noch  bei  Pedersen  befriedigend 
erklärt.   Die  Intonation  ist  ja  doch  in  beiden  Fällen  dieselbe  —  fallende. 

Bei  der  o/e-Deklination  werden  sonst  bekannte  Sachen  wiederholt,  auf 
die  ich  nicht  einzugehen  brauche,  doch  betreffs  der  sehr  üblichen  Formen  des 
Dativs  Bpaiio,  m&jkio,  otbuio,  die  nach  der  üblichen  Ansicht  die  stark  ver- 
nehmbare Weichheit  der  Silben  —cn,  -zu,  -du  ausdrücken  sollten,  wird  uns 
eine  recht  sonderbare  Vermutung  Fortunatovs  vorgetragen,  d.  h.  hier  sei  der 
Laut  u  »wahrscheinlich  ein  eigenartiges  m«  gewesen  (Ljap.  28).  Aus  der  wei- 
teren Auseinandersetzung  hebe  ich  die  Ansicht  Ljapunovs,  von  der  ich  nicht 
sicher  sagen  kann,  ob  sie  sich  auf  Fortunatov  stützt,  heraus,  nach  welcher 
der  Akkus,  plur.  maää,  kohl\  auf  -iims  und  -ins  zurückgeführt  wird  (S.  31). 
Ich  hätte  gemeint,  daß  man  diese  Ansätze  sehr  gut  entbehren  kann. 

Dagegen  hätte  ich  erwartet,  daß  Prof.  Ljapunov  auf  die  Formen  Dat. 
sing.  Hceui,  Lok.  sing.  /Kcui,  ÄA6f.,  Dual  nom.  akk.  /Kciii,  ce.ii  näher  eingehen 
würde,  um  die  Frage  zu  beantworten,  warum  die  o-Stämme  und  a-Stämme 
gleiche  Auslautsvokale  erzielt  haben,  während  man  doch  im  Altindischen  ein 
maskul.  Lokal  alt-e,  feuiin.  aSväyäm,  maskul.  Dativ  ahäya,  Dual  fem.  und 
neutr.  auf  -e  [kanye,  üsye)  vorfindet.  Vergl.  auch  lit.  mergai  aber  mergoje. 
Pedersen  sieht  sich  genötigt,  den  maskulinen  Lokal  ««uöt  nach  dem  femininen 
aceui  sich  richten  zu  lassen  (KZ.  38. 326/7),  weil  ihm  die  Intonation  öi  bei  dem 
maskulinen  Lokalis  (oixot,  la&^ol)  nach  seiner  Theorie  störend  im  Wege 
steht.  Ljapunov  hat  bei  dem  Lokal  BJitui  (S.  15/16)  übersehen,  dazu  Stellung 
zu  nehmen.  Daß  er  wegen  der  steigenden  Intonation  den  i-Vokal  gewahrt 
sein  läßt,  stimmt  zu  der  schon  oben  berührten  Theorie  (vergl.  S.  33),  während 
Pedersen  die  Wahrung  des  i;  bei  den  «/«-Stämmen  im  Lokal  aus  -äi  erklärt, 
was  ich  nur  billigen  kann.  Nur  das  Neutrum  dual.  ccä\.  würde  mau  nach 
meiner  Auffassung  auf -h  erwarten,  weil  hier  allem  Anschein  nach  eine  stei- 


124  Kritischer  Anzeiger. 

gendo  Betonung  anzusetzen  ist.    Ich  erkläre  auch  U3t  durch  die  Analogie  der 
femininen  a/«-Stiiinine. 

Der  so  achwierige  Genitiv  .sing,  der  a/ü-Siämuie:  H^iina-ÄoyiuA  geht  bei 
Ljapunov  so  gut  wie  leer  aus.  Es  handelt  sich  einerseits  um  die  phonetische 
Erklärung  der  Form,  anders'Mts  um  die  Frage  nach  der  semasiologischen 
Übertragung  einer  Kasusform  aus  dem  Plural  in  den  Singular.  Mein  Sprach- 
gefühl sträubt  sich  gegen  die  von  Ljapunov  gebilligte  Annahme,  daß  die 
Form  des  Nominativs-Akkusativs  plur.  für  den  Genitivus  singul.  sozusagen 
im  übertragenen  Wirkungskreise  verwendet  wurde.  Es  ist  zwar  richtig,  daß 
auch  im  Litauischen  gen.  sing,  auf-os  mit  dem  nom.  plur.  auf-os,  bald  mit 
bald  ohne  Betonungsgleichheit  sich  deckt.  Aliein  dieses  Zusammenfallen  i.<t 
hier  ebenso  lautgosetzlich  berechtigt,  wie  im  Slavischen  etwa  gen.  sing,  mau:  und 
nom.  plur.  wne.  Das  ist  doch  etwas  ganz  anderes,  als  die  Übertragung  einer 
Pluralform  in  den  Singular  für  einen  Kasus,  wo  sich  kein  Anlaß  dazu  findet. 
Bekanntlich  hat  selbst  der  Nom.  plur.  der  a/ä-Stärame  auf -xi  (-a)  keine  Exi- 
stenzberechtigung als  Nominativ,  sondern  nur  als  Akkusativ.  Die  Übernahme 
der  Funktion  des  Nominativs  plur.  durch  den  Akkusativ  plur.  hat  in  der  Ge- 
schichte der  slavischen  Sprachen  viele  Analogien,  allein  die  Übertragung 
dieses  Nominativ-Akkusativs  plur.  in  den  Singular  zur  Übernahme  der 
Funktionen  des  Genitiv-Ablativs  —  das  scheint  mir  ohne  Analogie  dazu- 
stehen. Darum  kann  ich  solchen  Erklärungsversuchen,  wie  dem  von  Prof. 
Zubaty  (Archiv  XV),  nach  welchem  diese  innere  UnWahrscheinlichkeit  wenig- 
stens teilweise  ferngehalten  wird,  meine  Sympathie  nicht  versagen.  Bekannt- 
lich kommt  dabei  neben  dem  festsitzenden  Genitiv  yRCü-u  für  die  weichen 
Stämme  außer  «oyiuA  noch  die  Form  «oyiui  in  Betracht.  In  welcher  Weise 
Prof.  Zubaty  die  Form  auf  -i  als  echten  Genitiv,  dem  litauischen  kati-s, 
szwenles  entsprechend  zu  erklären  trachtete,  setze  ich  als  bekannt  voraus. 
Prof.  Ljapunov  gab  sich  nicht  einmal  die  Mühe,  etwas  Stichhaltiges  gegen 
diese  Erklärung  vorzubringen  (S.36).  Ihm  genügt  es,  die  Formen  jKCH'H-ÄoyiuA 
als  Genitive  sing,  ganz  bei  Seite  zu  schieben  und  nur  von  dem  Akkusativ 
plur.  zu  sprechen,  und  zwar  hält  er  dafür,  daß  acenia  unmittelbar  auf -«s  -uns. 
dieses  auf  -ons  zurückgehe,  »das  iirslavische  -ons  gehe  aber  im  gegebenen 
Falle  nicht  direkt  auf  indoeurop.  -ans,  sondern  auf  baltoslavische  Neubildung 
-uns  zurück,  das  sich  zu  -ans  kürzte«.  Ein  Muster  der  Deutlichkeit  könnte 
ich  diese  Erklärung  nicht  nennen.  Ich  begnüge  mich  damit,  daß  ich  sage, 
sowohl  accHTü  wie  ÄoyiuA  sind  eigentlich  Analogieübertragungen  von  den  Ak- 
kusativen  der  ■a/o-Stämme.  Da  jedoch  neben  aoyiuA  auch  die  Form  Äoyuii 
belegt  ist,  und  Fortunatov  beide  auf  eine  Quelle  zurückführen  möchte,  so 
will  ich  seine  Erklärung,  von  welcher  Ljapunov  sagt,  »die  Ehre  der  genauen 
linguistischen  Erklärung  dieser  Formen  (nämlich  ÄoyiuA  und  Äoymi)  gebühre 
Fortunatov«  hier  nach  Ljapuuovs  Fassung  anführen:  »a  in  ÄoyiuA  und  mahca 
ist  unmittelbar  aus  if  hervorgegangen,  das  man  aus  ü  durch  die  Vermittlung 
von  ö,  5  gewann«,  d.  h.  (ich  glaube,  jetzt  fängt  Ljapunovs  Kommentar  an 
»hier  kam  ein  nasaliertes  i  zum  Vorschein,  das  in  einigen  Dialekten  der  ur- 
slavischen  Sprache  in  das  nasalierte  e,  d.  h.  in  a,  in  anderen  in  das  reine  t 
überging«.    Ich  überlasse  es  den  vergleichenden  Sprachforschern,  über  diese 


Ljapunov,  Die  Formen  der  altkirchenslav.  Deklination,  angez.  v.  Jagiö.    125 

»linguistische  Erklärung«  ein  Urteil  zu  sprechen;  was  ich  vor  vielen  Jahren 
betreffs  der  Formen  auf -i  als  Parallelen  oder  Ersatz  zu  a  gesagt  habe  (cf. 
Archiv  VI.  153),  scheint  mir  durch  alle  diese  »linguistischen  Erklärungen" 
noch  immer  nicht  beseitigt  zu  sein. 

Bezüjilich  der  Lokalforiuen  auf  -ox-b  (S.  41)  muß  man  dem  Verfasser 
recht  geben,  daß  die  altpolnischen  Formen  nicht  auf  phonetischem  Wege, 
sondern  nur  durch  die  Analogieübertragung  (von  -otn  auf  -och]  erklärt  werden 
können.  Allein  das  schließt  nicht  die  Möglichkeit,  ja  geradezu  die  Wahr- 
scheinlichkeit aus,  daß  in  den  ältesten  altkirchenslav.  Denkmälern  die  spo- 
radisch begegnenden  Formen  auf  -oxx  doch  nur  auf  phonetischem  Wege  aus 
-'hTL'h  hervorgegangen  sind. 

Der  Nom.  plur.  koct«  möchte  Prof.  Ljapunov  nicht  als  Akkus,  plur.  auf- 
fassen, was  ich  für  das  wahrsclieinlichste  halte,  sondern  aus  dem  Nom.  plur. 
auf  -ies  ableiten.  Da  jedoch  der  altindische  Nominativ  auf  -ayas,  d.  h.  der 
europäische  Reflex  davon  -eies  schon  in  unserem  n&Ture  vorliegt,  so  ziehe  ich 
vor,  KOCTH  für  den  Akk.  plur.  zu  halten  (Ljap.  44/5). 

Es  wäre  noch  manches  zu  dieser  sehr  gewissenhaft  ins  Einzelne  ein- 
gehenden, aber  wenig  Selbständigkeit  verratenden  Mono;iraphie  zu  sagen. 
Ich  muß  jedoch  abbrechen  und  nur  zu  S.  60  betreffs  der  Form  .iioö-h  den 
Verfasser  darauf  aufmerksam  machen,  daß  es  jetzt  nicht  mehr  angehe,  sich 
auf  meine  in  Marianus  S.  438  gemachte  Darlegung  zu  beruft-n,  da  ich  ja  im 
XXIV.  Bande  des  Archivs  S.  580  darüber  gehandelt  habe.  Mir  liegt  nicht 
viel  daran,  daß  man  sich  auf  meine  seit  Jahren  in  den  Vorlesungen  vertrete- 
nen Ansichten  über  einzelne  grammati:>che  Fragen  berufe,  aber  wenigstens 
das  im  Archiv  Gedruckte  sollten  slavische  Philologen  lesen  und  —  soweit  es 
nötig  ist,  widerlegen,  wenn  sie  es  freilich  der  Widerlegung  wert  finden. 

V.J. 


H.  Hirt.   Der  ikavische  Dialekt  im  Königreich  Serbien.    S.A.  aus 

den  Sitzungsberichten  der  K.  Akademie  der  Wiss.   phil.-hist.  Kl. 

B.  CXLVI,  V.  Wien  1903.  56  S. 

Es  ist  schon  langeher  bekannt,  daß  in  einigen  Gegenden  Westserbiens, 
nämlich  entlang  dem  Drina-Fluß,  dann  im  Uzicaer  Ivreis,  statt  der  üblichen 
je,  ije,  e,  für  i  i  gebraucht  wird.  Auf  dem  Terrain  selbst,  wo  uns  diese  in- 
teressante Erscheinung  der  serbischen  Dialekte  begegnet,  mit  welcher  mög- 
licherweise auch  andere  Züge  eines  neuen,  uns  noch  bis  jetzt  unbekannten 
Dialekttypus  in  näherer  Verbindung  stehen,  hat  Prof.  ilirt  im  Auftrage  der 
Wiener  Akademie  seine  Forschungen  angestellt,  und  seit  einiger  Zeit  liegt  vor 
uns  dies  Büchlein  als  Resultatseiner  Arbeit.  Es  hat  einen  etwas  zu  weitgreifen- 
den Titel,  als  hätten  wir  wirklich  mit  einem  einheitlichen  Dialekt  zu  tun,  doch 
enthält  es  kaum  mehr,  als  einige  neue  Belege  für  den  erwähnten  Übergang  des 
t.  zuiin  der  Azbukovica  und  den  angrenzenden  Dörfern.  Die  Beisinele  dieser 
Art  bilden  den  Mittelpunkt  dieser  Abhandlung  (S.  12 — 22)  und  eigentlich  das 
wertvollste,  was  in  derselben  dargeboten  ist.    Aber  auch  diese  ihre  Seite  ist 


126  Kritischer  Anzeiger. 

ni'-ht  einwandfrei.  Die  phonetische,  insbesomlere  aber  die  accentologische 
Aufzeichnunf^  der  Beispiele  ist  unvollkommen  und  ungenau,  und  zwar  nicht 
nur  in  diesem  Teile  der  Abhandlung,  sondern  im  ganzen  Buche.  Die  Druck- 
fehler, die  in  I"'iillo  vorliariden  sind,  die  Unzulän^^lichkeit  und  üngenauigkeit 
der  phonciischcn  Wiedergabe;,  die  sich  ebenso  in  dii;ser  Arbeit  kundmachen, 
und  endlich,  uiüglicherweise,  auch  wirkliche  Abweicliunj^en  dicHer  Dialekte 
von  den  übrigen  —  gesellen  siih  zu  einem  überaus  bunten  Bild  grammati- 
scher Inkon.-<equenzen,  die  zweifelsohne  in  dieser  Weise  nirgends  in  den  ser- 
bischen Dialekten  vorliegen.  So  schreibt  Hirt:  htjelo  st.  hijelo  od.  bijelo,  d'i- 
vojka  st.  divöjka,  zapivämn  st.  zäpivämo,  küdilja  (oft)  St.  küdilja,  ozltditi  st.  02/^- 
diti,  r'ijeka  st.  rijeka,  sv'ije6a  st.  svijeca,  vrica  st.  vrica,  n'ikäko  st.  nikäko, 
nikoliko  st.  niknlikn,  bdivämo  st.  odlvämo,  vidi6emo  st.  vididemo,  tijesiti  st.  tjeiiti, 
tieme  st.  fjeme  u.  a.  m.  (s.  auch  unten). 

Es  scheint,  daß  Prof.  Hirt  kein  Gefühl  für  die  musikalische  Seite  der 
serbischen  Accente  hat;  sonst  könnte  man  nicht  erklären,  warum  er  die  mu- 
sikalisch so  ausgeprägten  Unterschiede  zwischen  verschiedenen  serbischen 
Accenten  der  Quantität  nach  definiert.  Daraus  erklärt  sich  auch  der  Umstand, 
daß  in  den  Hirtschen  Aufzeicimungen  die  üblichen  kurzen  Accente  oft  ver- 
längert erscheinen:  das  verschiedene  Tempo  der  Rede  und  andere  wohlbe- 
kannte Bedingungen,  unter  welchen  die  serbischen  Accente  zu  stehen  pflegen, 
beeinflussen  sie  auch  in  Bezug  auf  ihre  Quantität;  das  ist  aber  von  neben- 
sächlicher Bedeutung,  da  in  diesen  Fällen  auch  die  langen  Accente  zu  über- 
langen werden.  Das  einzige,  was  hier  fest  bleibt,  ist  die  musikalisch-expira- 
torische Seite  der  Accente,  die  aber,  wie  gesagt,  Prof.  Hirt  nicht  genug 
charakteristisch  schien.  Ebenfalls  vermissen  w  ir  bei  H.  die  Längen  nach  dem 
Hochton  auch  dort,  wo  sie  auch  in  diesen  Dialekten  vorhanden  sein  sollten 
(Beispiele  s.  unten). 

Unter  den  angeführten  ikavischen  Beispielen  finden  wir  auch  solche, 
die  für  den  ikavischen  Dialekt  nicht  genug  charakteristisch  zu  sein  scheinen, 
da  man  sie  ausnahmslos  auch  in  dem  jekavischen  Dialekt  gebraucht,  der  sich 
aber  bis  zu  dem  ikavischen  ausdehnt  und  ihm  auch  einige  seiner  andern  Züge 
überreicht.  Z.  B.  dio,  smijati  se,  stria,  vidio,  donio,  tio,  griota,  sij'ati,  samlio 
u.  a.  m.  (vgl.  auch  S.  12).  Da  in  diesem  Dialekt  auch  ekavische  Formen  vor- 
kommen (S.  21 — 22),  ist  es  begreiflich,  warum  hier  neben  den  Formen  mit 
altem  i  (i,  's)  auch  solche  mit  e  vorhanden  sind:  z.  B.  levada,  lepa  (S.  Ui), 
kuleba,  koleko  (S.  24)  statt  livada  etc.,  so  daß  man  für  eine  so  einfache  Erschei- 
nung nicht  so  fernliegende  und  strittige  phonetische  Erklärung  zu  suchen 
brauchte,  wie  es  Hirt  getan. 

Noch  eine  Eigenschaft  dieses  Dialektes  muß  ich  hervorheben,  nämlich 
}  statt  l  vor  dunklen  Vokalen.  Ob  das  die  einzige  Lage  ist,  wo  dieser  Laut 
zum  Vorschein  kommt,  wie  es  Prof.  Hirt  meint  (S.20),  möchte  ich  bezweifeln, 
weil  ich  ihn  bei  den  aus  dem  Drina-Gebiet  eingewanderten  Bauern  des 
Valjevo-Kreises  auch  vor  andern  Vokalen  gehört  habe.  Das  ist  aber  für  die 
Entstehung  dieser  Laute  sehr  wichtig. 

Das  übrige  Material  hat  H.  unter  dem  Titel  »Zur  Lautlehre  (S.  22—37 
und  »Zur  Flexionslehre«  (S.  37 — 45)  zusammengestellt;  doch  finde  ich  darin 


Hirt,  Der  ikaviache  Dialekt  im  Königreich  Serbien,  angez.  von  Beliö.    127 

sehr  wenig  dessen,  was  für  diesen  Dialekt  von  Interesse  und  Belang  wäre: 
alles  das  kann  man  auch  in  andern  serbischen  Dialekten,  ja  sogar  in  der 
Schriftsprache,  finden. 

Doch  auf  einen  Punkt  muß  ich  den  Leser  aufmerksam  machen,  nämlich 
auf  die  Beispiele,  die  unter  dem  Vokalwechsel  (S.  25)  untergebracht  sind.  In 
den  meisten  Fällen  hat  man  wohl  verschiedene  Formen,  die  gar  nichts  mit 
der  Assimilation  zu  tun  haben.  Z.  B.Jamciti  und  jemciti  stellen  jbmciti  und 
jemciti  (mit  e  ausjeti)  dar,  Ijuhazan  und  Ijuhezan  —  serbische  und  serbisch- 
rus8isch)kirchliche  Form;  daJje  und  dilje  —  zwei  verschiedene  Formen  (vgl. 
sloven.  dtlj  adv.  «ohne  Unterbrechung«),  mavje  und  minje  ebenso  u.s.  w. 

S.  45  ist  »Lexikalisches«  mitgeteilt.  Ich  habe  es  sorgfältig  durchge- 
lesen, doch  konnte  ich  nicht  das  Prinzip  ausfindig  machen,  nach  dem  diese 
meistens  bekannten  und  von  Vuk  aufgenommenen  Wörter,  wie :  ajcar,  ojgir, 
amha?-,  aps,  artijd,  astctl  u.s.w.  hier  angelührt  worden  sind.  Unter  den  auf 
neun  Seiten  aufgezeichneten  Beispielen  gibt  es  wohl  kaum  deren  20 — 25,  die 
in  irgend  welcher  Weise  interessant  sind;  doch  muß  ich  auch  diesbezüglich 
einiges  bemerken. 

Neben  (jajhuni  habe  ich  auch  gajhüni  gehört ;  ditic  ist  wohl  unmöglich ; 
dusema  nicht  gerade  »Bank«,  sondern  »der  in  die  Höhe  gehobene  und  zur 
Bank  gemachte  Teil  des  Fußbodens«  oder  manchmal  auch  »der  Fußboden« 
selbst;  esajjun  (wohl  esäp'im)  bei  Vuk  auch  unter  es-;  zährlte  accentuell  un- 
sicher, wohl  eher  zdbrSe  oder  auch  zäbrde ;  u  zli  cas  wohl  unrichtig  st.  it  zll  cas 
(oder  auch  u  zli  cas,  vgl.  ü  zö  cas);  mir  ist  tstäl  (bei  Hirt  UtaC]  als  Adverb  be- 
kannt: nisam  tstäl  »ich  habe  keinen  Appetit«;  statt  Jükli  [jükli  wäre  wohl 
besser)  habe  Ich  jüklik  oder  ^uch.  jukük  gehört;  kavästura  (accentologisch 
soll  es  eigentlich  kavästura  heißen)  ist  wohl  das  bekannte  kaljustura  oder  ka- 
lästura;  kända  =  ka[n)[o\ii[o)da;  kärde  (d.h.  kärde)  nom.  kdrda  —  Kosename 
zu  kardas;  kackin  —  mir  käckin  bekannt;  knkbsnjak  (besser  kokösnjäk)  hat 
nicht  die  Bedeutung  wie  kokosmjak,  sondern  »Hühnermist«;  külaca  —  mir 
nur  külaca  (bei  Vuk  ebenso)  mit  Bedeutung  »Bauernhaus,  ein  einfaches  Haus« 
bekannt;  loska  wohl  st.  Töska;  Ijüdi  st.  Ijüdi;  nätuniat  —  ist  nicht  klar,  ob  es 
nätunjati  od.ev  nacnrijati  heißen  soll;  perda  —  m\x  pcrda,  Yuk  ])c7-da  bekannt; 
pUska  —  mir  pl'iska  bekannt;  pülic  (bei  Vuk  auch  so)  liabe  ich  auch  polic 
sprechen  gehört;  poslänik  »Lehrer«  —  dem  Accent  und  der  Bedeutung  nach 
zweifelhaft;  rühina  soll  wohl  ruhhia  (bei  Vuk  ebenso)  heißen;  riuhiik  wird 
wohl  rüdnik  accentuiert  vgl.  Ortsname  Rüdnik  bei  Vuk);  säplak  mir  säpläk 
(bei  Vuk  ebenso)  bekannt;  sedmica  —  wohl  sedmica;  »sevise«  »ich  habe  ver- 
gessen«—  scheint  mir  mißverstanden  zu  sein;  es  ist  kein  Adverb,  sondern 
das  Verbum  vseviti  se«,  »seolm  seu,  mit  der  Bedeutung  »ich  erinnere  mich«; 
sokäk  —  wohl  sdkäk;  tähüt  —  mir  ohne  Länge  [täbut)  und  mit  der  Bedeutung 
»Sarg«  bekannt;  täoan  —  wohl  täran;  tiicno  — gewöhnlicher  iäcno;  tez'nia 
in  der  Bedeutung  »der  Hanf«  nur  tezina  gebräuchlich;  Ustica  mir  aber  tesüca 
(bei  Vuk  ebenso  »Usüjca»)  bekannt;  tomärati  =  tumärati;  tükli —  die  Be- 
deutung und  der  Accent?;  dzäda  —  mir  dzäda  bekannt;  ^ümär  —  nicht  un- 
möglich (vgl.  nücäp  in  Macva  st.  tiücüp  u.  ähnl),  mir  aber  (so  auch  bei  Vuk' 
nur  sümär  bekannt. 


1  28  Kritischer  Anzeiger. 

Auch  bei  der  Anj^abe  anderer  Wörter  sind  allerlei  kleine  Unrichtig- 
keiten zu  verzeichnen;  doch  mag  auch  das  auKefilhrte  genügen.  DaHselbe 
gilt  auch  von  dem  auf  S.  55  gedruckten  kleinen  Texte:  es  gibt  wohl  F'ormen, 
die  accentologirtch  grnau  angeführt  sind,  doch  ist  auch  dieser  Text,  streng 
genonuiien,  nicht  zuverlässig. 

Die  Schwierigkeiten,  mit  welchen  Prof.  Hirt  zu  kämpfen  hatte,  waren 
recht  groß.  Seine  Ausdauer  bewundern  wir,  sehen  uns  aber  zugleich  genötigt, 
mit  ßedaui'rn  festzustellen,  daß  ihr  die  erzielten  Resultate  nicht  entsprechen. 

Der  Ikavismus  Westserbiens  bleibt  uns  auch  nach  dieser  Abhandlung 
ebenso  unklar  wie  vorher.  Stellt  er  die  letzten  Übeneste  eines  ikavisch- 
stokavischen  Diakktes  dar  oder  nicht?  In  welcher  Beziehung  steht  er  zu 
den  bosnischen  ikavisch-stokavischen  Dialekten,  die  noch  immer  die  Mutter- 
sprache der  bosnischen  oder  hercegovinischen  Katholiken  und  Mohammedaner 
sind.  Ist  er  in  dieser  Gegend  alt  oder  neu?  Alles  das  könnte  man  allerdings 
nicht  bloß  auf  Grund  des  sprachlichen  Materials  des  Azbukovica- Kreises  er- 
klären; dazu  müßte  man  sich  auch  nach  dem  Ikavismus  anderer  Gegenden 
Serbiens  [Jadar,  Tamnava,  Valje.vo-  und  Uzice-K.T&\ä  u.  and.)  umsehen,  dann 
aber  auch  nach  den  alten  Inschriftea  und  andern  Denkmälern,  den  Ansiede- 
lungsverhältnissen und  der  Provenienz  der  Bewohner  derselben.  Doch 
müssen  in  erster  Linie  die  sprachlichen  Reste  genau  festgestellt  und  unter- 
sucht werden. 

Belgrad.  A.  Belic. 


Geschichte  der  russischen  Litteratur.    Von  Dr.  A.  Brückner,  ord 
Professor  in  Berlin.   Leipzig,  Amelang,  1905. 

Das  rege  Interesse,  hervorgerufen  durch  unsere  neuere  Literatur  jen- 
seits der  Grenzen  Rußlands,  hat  in  der  Wissenschaft  des  Westens  nicht 
wenige,  den  hervorragenden  Vertretern  unserer  Literatur,  die  sich  europäi- 
schen Namen  erobert  haben,  gewidmete  Monographien  erzeugt.  Für  einen 
Gogol  (dem  im  Jubiläumsjahre  eine  spezieile  Studie  in  einer  französischen 
Dissertation  zuteil  wurde),  einen  Turgenjew,  Dostojewskij,  Leo  Tolstoj,  dann 
(unter  den  Schriftstellern  der  neuesten  Zeit)  für  Cechov  und  M.Gorki,  fanden 
sich  Biographen,  Kritiker  und  Kommentatoren.  Doch  im  Gegensatz  zu  dieser 
detaillierten  und  abgesonderten  Behandlung  einzelner  Fragen  ist  auffallend 
gering  die  Zahl  allgemeiner  literaturgeschichtlicher  Übersichten,  die  vor  dem 
uneingeweihten  größeren  Publikum  (für  eine  streng  wissenschaftliche  Be- 
handlung ist  die  Zeit  augenscheinlich  noch  nicht  gekommen)  das  Bild  der 
schöpferischen  Kraft  des  russischen  Volkes,  die  zur  jetzigen  literarischen 
Bewegung  geführt  hat,  aufrollen  würden,  die  sein  Ureigentum  bestimmen, 
kulturelle  Einflüsse,  Erfolge  des  nationalen  Selbstbewußtseins,  den  Zusam- 
menhang der  Literatur  mit  der  Entwicklung  des  Gemeinwesens,  die  Bildung 
von  Schulen  und  Richtungen,  die  Evolution  literarischer  Gattungen,  die 
Wechselbeziehungen  zwischen  den  Volks-  und  individuellen  Elementen  dar- 
stellen, die  Schriftsteller  in  richtigen  Zusammenhang  mit  ihrer  Zeit  bringen 


Brückner,  Geschichte  der  russ.  Litteratur,  angez.  von  Wesselofsky.      129 

und  vor  dem  Leser  eine  lebendige,  zusammenhängende,  vergeistigte  Chronik 
des  jahrhundertelangen  Lebens  entwerfen  würden.  Im  Kreise  der  Leistungen 
dieser  Art  konnten  solche  populäre  Übersichten  sich  Bedeutung  verschaffen, 
wie  das  Buch  von  Alexander  Reiiihold,  die  Arbeit  eines  eifrigen,  dem  Werke 
ergebenen  und  viel  belesenen  Dilettanten;  da  erschienen  auch  die  eilfertigen 
Verallgemeinerungen  eines  K.  Waliszewski;  aus  den  acht  öffentlichen,  im 
J.  1901  in  Lowell  Institute  zu  Boston  gehaltenen  Vorlesungen  ging  das  zu 
Anfang  des  Jahres  1905  erschienene  Buch  von  P.  Kropotkin  »Ideals  and 
realities  in  russian  literature«  (jetzt  auch  in  deutscher  Übersetzung)  hervor, 
das  nur  flüchtig  mit  dem  Altertum  und  selbst  mit  der  Literatur  des  XVIII. 
Jahrh.  bekannt  macht,  um  dafür  eingehender  das  XIX.  Jahrb.  und  die  Cha- 
rakteristik einzelner  Schriftsteller  (insbesondere  Turgenjew's  und  Leo  Tol- 
stoj's)  auszuarbeiten,  und  viele  richtige  und  tiefsinnige  Bemerkungen  und 
Beurteilungen  zu  bieten. 

In  den  Kreis  ähnlicher  Arbeiten  trat  jetzt  der  neueste  Band  der  Leip- 
ziger Serie:  »Die  Litteraturen  des  Ostens  in  Einzeldarstellungen«  ein.  Die 
wissenschaftliche  Autorität  des  Berliner  Slavisten,  der  die  Lösung  der  Auf- 
gabe übernommen,  ließ  natürlich  erwarten,  daß  beim  Studium  der  russischen 
literaturgeschichtlichen  Fragen,  dieselben  Eigenschaften  zum  Vorschein 
kommen  werden,  die  auch  sein  anderes  Werk  in  der  genannten  Serie  u.  d.  T. 
»Geschichte  der  polnischen  Litteratur«  kennzeichnen  —  nämlich  eingehende 
Erforschung  des  Gegenstandes,  Selbständigkeit  und  Tiefe  des  Urteils  im 
Zusammenhang  mit  dem  Glanz  und  der  Klarheit  der  Darstellung,  die  dem 
Werke  Prof.  Brückners  eine  ehrenvolle  Stelle  in  der  im  Westen  nicht  reichen 
Literatur  des  Gegenstandes  einräumen.  Wissenschaftliche  Objektivität, 
frei  von  nationalen  Vorurteilen  und  Voreingenommenheiten,  stand  außer 
Frage,  und  die  Tatsache  selbst,  daß  die  erste  w'issenschaftliche  und  zu  glei- 
cher Zeit  allgemein  zugängliche  Geschichte  der  russischen  Literatur  in  den 
literarischen  Verkehr  Europas  gerade  durch  einen  polnischen  Gelehrten 
eingeführt  wird,  kann  besondere  Anziehungskraft  ausüben. 

Aus  den  einleitenden  Worten  des  ersten  Kapitels  (»die  Anfänge«),  in 
welchem  die  große  kulturelle  und  erzieherische  Bedeutung  der  Literatur  für 
das  russische  Volk  erörtert  wird,  nimmt  man  die  nachsinnende  Sympathie  des 
Verfassers  für  den  Gegenstand  wahr.  Dieser  Eindruck  steigert  sich,  je  weiter 
der  Verfasser  das  Wachstum  und  die  Entwicklung  des  selbständigen  natio- 
nalen Schaffens  verfolgt;  als  er  aber  zu  Anfang  des  XX.  Jahrhunderts  die 
schließlich  sichergesrellte  Bedeutung  der  russischen  Litcraturströnning  in 
der  Wcltkultur  charakterisiert,  da  erscheint  dies  Mitgefülil  als  feierlicher 
Schlußakkord  in  d(;r  Äußerung,  die  den  Abschluß  des  Buches  bildet:  die 
Welt  kann  ihrer  nicht  mehr  entbehren.  Im  Einklang  mit  diesem  Verhältnis 
des  Verfassers  zu  seinem  Werke  steht  nicht  nur  der  große  Umfang  des  ge- 
gebenen Überblickes,  der  von  den  ersten  Denkmälern  bis  zu  den  Erschei- 
nungen des  gestrigen  Tages  (nicht  nur  bis  Öechov,  sondern  auch  bis  .Maxim 
Gorkij  und  Leonid  Andrejcv;  reicht,  sondern  auch  das  Interesse  für  alle  her- 
vorragenden Erscheinungen  der  gesellschaftliclien  Kraftentfaltung  und  die 
Verurteilung  der  verderblichen  Wirkung  der  Autokratie,  Willkür  und  Be- 
Archiv für  sflavische  rhilolojjie.    XXVIII.  () 


130  Kritischer  Anzeiger. 

drückung.  Der  Verfasser  trachtet  die  Geschichte  der  psychischen  Seite  her- 
vorragender Schriftsteller  zu  schreiben  und  nicht  selten  schafft  er  künst- 
lerische Porträts.  Er  analysiert  nacherzählend  viele  Werke  und  hinter  den 
von  ihm  gezeichneten  Skizzen  und  Bildern  steckt  nicht  geringe  Gelehrsam- 
keit, viel  energische  Arbeit.  So  ist  im  Stande  zu  schreiben  nicht  ein  gleich- 
giltiger,  teilnahmsloser  Chronist  über  das  ihm  fremde,  nationale  SchaflFen, 
Bondern  ein  Freund  und  Mitempfinder  desselben. 

Das  ist  der  allgemeine  Eindruck,  solange  er  sich  nur  auf  die  Konturen 
und  Ilauptumrisse  beschränkt  und  der  Schluß,  der  Epilog  des  Buches,  krönt 
ihn  in  würdiger  Weise.  Dieser  Eindruck  zieht  an,  lockt  in  die  Tiefe  der  um- 
fangreichen und  an  Fakten  reichen  Erzählung,  beistimmt,  den  ganzen  Weg 
mit  dem  Umschauhaltenden  Schritt  für  Schritt  mitzumachen,  mit  ihm  die 
Mühe  der  erzielten  Resultate,  Detinitionen,  und  Charakteristiken  zu  teilen. 
Doch  in  dem  Maße,  in  welchem  die  von  voller  Sympathie  getragene  Analyse 
dessen,  was  so  harmonisch,  ausdrucksvoll  und  farbenreich  sich  vor  dem  Leser 
emporhebt,  fortschreitet,  beginnen  auch  die  Unebenheiten,  Lücken,  strittige 
Behauptungen  aufzutauchen,  —  und  immer  augenscheinlicher  zeigt  sich  die 
Schwierigkeit,  bei  der  Entfernung  von  den  Quellen  und  Hilfsmitteln  und 
schließlich  von  dem  Lande,  inmitten  dessen  die  behandelte  Literatur  entstand 
und  sich  entwickelte,  —  eine  erschöpfende  Beherrschung  des  Gegenstandes 
und  unbedingte  Genauigkeit  der  Darstellung  zu  erreichen. 

Der  Plan  des  Werkes  von  Prof.  Brückner  war  augenscheinlich  bedingt 
durch  die  Notwendigkeit,  der  allgemeinen  Verständlichkeit  Opfer  zu  bringen; 
dieses  gestattete  ihm  nicht,  in  die  Einzelheiten  sich  einzulassen,  verhinderte 
die  Gleichheit  und  Harmonie  zwischen  den  Abrissen  einzelner  Perioden,  um  so 
die  größte  Vollständigkeit  für  die  neueste  zeitgenössische,  in  den  Augen  des 
europäischen  Lesers  wichtigste  Periode  der  Literatur  aufzusparen.  Dadurch 
muß  man  manchen  Mißstand,  manche  Lücke  mit  in  Kauf  nehmen.  Der  ein- 
leitende Abschnitt,  bis  zum  XVIIL  Jahrh.,  ist  besonders  knapp  und  kurz  ab- 
getan. Übrigens  macht  der  Verfasser  selbst  den  Leser  darauf  aufmerksam, 
daß  er  aus  der  alten  russischen  Literatur  nur  die  wichtigsten  Züge,  «sprin- 
gende Momente«  herauszuheben  gedenke.  Wenn  man  sich  auf  diesen  Stand- 
punkt stellt,  erwartet  man  natürlich  eine  feine  Auswahl  von  Tatsachen, 
grundlegenden  Themen  und  Ideen,  von  Literatur-  imd  Gedanken-Richtungen, 
als  anschauliches  Anzeichen  eines  stufenmäßigen  literarischen  Wachstums 
der  vorpetrinischen  Epoche.  Doch  ist  dieser  Abriß  eilig  abgefaßt  und  wort- 
karg. Unterwegs  wird  hie  und  da  halt  gemacht,  so  z.  B.  um  eine  derbe  Ver- 
dammung über  das  Werk  von  Cyrill  und  Method  auszusprechen,  oder  um  den 
»angeborenen  Anarchismus  des  russischen  Volkes ^<  und  dessen  Unfähigkeit, 
»einen  festen  Staatsorganismus  zn  bilden«,  hervorzuheben,  während  man  sonst 
an  den  wichtigen  Erscheinungen  vorbeieilt  oder  sie  nur  flüchtig  berührt. 

Die  Volkspoesie  verdiente  unbedingt  eine  andere  Charakteristik  als 
die,  welche  die  ritiiellen  Lieder,  geistliche  Verse,  historische  Lieder  (ihrer 
wird  nur  mit  zwei,  drei  Worten  gedacht),  das  Wesen  der  Spielleute  und 
Pilger,  den  Reichtum  des  Folklors  beiseite  lassend,  nur  bei  den  Bylinen 
(epischen  Liedern)  verweilt,  und  dabei  nur  allgemeine  und  in  dem  Grade  den 


Brückner,  Geschichte  der  russ.  Litteratur,  angez.  von  Wesselofsky.      131 

in  der  Wissenschaft  spruchreifen  Urteilen  ausweichende  Mitteilungen  macht, 
daß  ohne  Rücksicht  auf  die  Forschungen  über  den  geschichtlichen  Hinter- 
grund des  Heldentums,  die  Behauptung  aufgestellt  wird,  die  Hauptpersön- 
lichkeiten des  Epos  seien  in  der  Geschichte  unbekannt,  und  angesichts  zweier 
an  Resultaten  reichen  Schulen,  die  den  orientalischen  uud  europäischen  Ein- 
fluß auf  die  Bylinen  konstatiert  haben,  die  Vermutung  geäußert  wird,  hier 
sei  »vielleicht  fremder  Einfluß«  gewesen.  Aber  auch  für  die  bedeutenden 
Leistungen  des  alten  russ.  Schrifttums  wird  bei  der  grausamen  Knappheit  des 
Abrisses  keine  Ausnahme  gemacht.  Das  Bittgesuch  des  Daniel  »Zatocnik«, 
wurde  mit  keinem  Worte  erwähnt,  und  von  dem  »Berichte  vom  Zuge  Igors« 
wurde  eine  so  oberflächliche  Charakteristik  entworfen,  daß  hier  weder  die 
künstlerische  noch  die  ethnographische,  weder  die  politische  noch  die  pole- 
mische Bedeutung  des  Denkmals  im  gehörigen  Lichte  zum  Vorschein  kommt. 
Schon  wegen  der  treffenden  und  lebhaften  Schilderungen,  die  der  Verf.  im 
Folgenden  den  Wechselbeziehungen  zwischen  der  sozialen  Bewegung  und 
der  Literatur  zuteil  werden  läßt,  wäre  es  jedenfalls  wünschenswert  gewesen, 
auf  solche  Vorboten  aus  dem  entfernten  Altertum  hinzuweisen,  wie  der  Be- 
richt über  Igors  Zug  oder  das  Bittgesuch  des  »Zatocnik«.  Die  Anzeichen 
eines  selbständigen  religiösen  Gedankens  sind  gleichfalls  ungenügend  be- 
achtet. Das  Auftauchen  der  Sekten  wird  ans  Ende  des  XV.  Jahrh.  versetzt, 
und  mit  der  Lehre  der  » Judaisierenden«  in  Verbindung  gebracht;  ihre  Vor- 
gänger »Strigolniki«  des  XIV.  Jahrb.,  deren  religiös-soziale  Lehren  inmitten 
der  republikanischen  Einrichtungen  Novgorods  sich  entwickelt  haben,  ver- 
mißt der  Leser  gänzlich.  Überhaupt  der  so  eigenartig  im  Grunde  des  alten 
Schrifttums  sich  ausnehmende  lokale  Novgoroder  Einschlag,  der  auf  alles 
was  nur  innerhalb  der  Grenzen  »der  Republik«  geschah,  sein  Gepräge  auf- 
drückte, so  auf  Lied,  Erzählung,  Chronik,  religiöse  Bewegung,  blieb  ganz  im 
Schatten,  und  nachdem  der  Literaturhistoriker  bemerkt,  daß  Novgorods  An- 
teil wenigstens  an  der  Literatur  ein  »sehr  bescheidener«  gewesen  sei,  trat  er 
später  von  diesem  Urteilsspruch  nicht  zurück. 

Das  XVI.  Jahrb.,  als  Zeit  des  Überganges,  lenkt  schon  größere  Auf- 
merksamkeit des  Verfassers  auf  sich,  es  gelingt  ihm  die  erste  einheitliche 
Charakteristik  zu  entwerfen  —  das  Bild  Maxim  Grek's  zu  zeichnen,  doch 
•neben  diesem  geschieht  nicht  mit  einem  Wort  Erwähnung  der  aufopfernden 
Persönlichkeit  des  ersten  Druckers  Iwan  Fedorov,  der  von  dem  den  Aposteln 
der  typographischen  Kunst  eigentümlichen  Idealismus  erfüllt  war.  Anderer- 
seits, ungeachtet  der  Notwendigkeit,  die  konservative  Richtung  zu  indivi- 
dualisieren, wird  dem  Domostroj  die  Bedeutung  eines  Moralkodex  der  gan- 
zen Periode,  des  ganzen  Volkes  zugeschrieben,  und  nicht  als  Ausdruck  der 
konservativen  Meinungen  eines  Teiles  der  Nation  betrachtet;  das  Denkmal 
selbst  aber,  das  die  Mehrheit  der  Forscher  dem  Silvester  zuschreibt,  wird 
hier  mit  dem  Namen  Adasev's  in  Verbindung  gebracht.  Noch  einen  raschen 
Schritt  vorwärts,  und  das  XVII.  Jahrhundert  steht  vor  dem  Verfasser  mit 
der  für  seinen  Plan  wesentlichen  Aufgabe,  die  Vorbereitungen  zur  petrini- 
schen Reform  zu  erforschen  und  die  zunehmende  Annäherung  an  das  west- 
liche Europa  zu  untersuchen.    Von  diesem  Kapitel  an  wird  das  Werk  au 

9* 


132  Kritischer  Anzei^'cr. 

Tatsachen  reicher,  die  Äluilichkeit  zwisclien  der  noch  immer  flüchtigen  Auf- 
nahme und  dem  tatsächlichen  Gehalt  der  Periode  nimmt  sichtlich  zu,  doch 
nebenbei  findet  man  noch  iiumer  lue  und  da  Lücken  und  nicht  zu  Ende  aus- 
gesprochene Gedanken.  Eini^^e  von  ihnen  beziehen  sich  auf  spezielle  Fragen, 
daher  sind  sie  von  geringerer  Wichtigkeit.  So  \verdt;n  zu  dieser  Zeit  nicht 
nur  »Schwanke"  allein  aus  lioccaceio  übersetzt,  —  das  Prototyp  des  Shake- 
Bpcareschen  »(Jyuibeline",  die  Erzählung  von  dem  Kaufmann  Bernabo  von 
Genua  mit  ihrem  stark  dramatischen  Sujet  und  die  Novelle  von  Gismonda 
und  Guiskard  passen  nicht  unter  die.se  Definition.  In  der  Historie  vom  Frol 
Skobejev  ist  die  Episode,  die  dem  Verfasser  als  «Don  Juan  «-Motiv  vorkommt, 
nicht  nach  Moskau  »versetzt«,  sondern  spielt  sich  in  der  abgelegenen  Pro- 
vinz des  Novgoroder  Gebiets  ab.  Gänzlich  unerwähnt  blieben  die  Verhand. 
hingen  der  ersten  russischen  Gesandtschaft  nach  Deutschland  in  Sachen  des 
Theaters  und  der  Schauspieler,  mit  einem  so  hervorragenden  Bühnenver- 
treter wie  Johann  Veiten,  der  die  Reform  der  deutschen  8chaul)iihne  plante. 
Die  aus  Anlaß  der  Maskeraden  des  Pseudodemetrius  in  Moskau  ausge- 
sprochene Meinung  von  der  Feindschaft  des  russischen  Volkes  gegen  die 
Umkleidungeu  und  Vermummungen  ist  vollständig  übertrieben,  —  dagegen 
sollte  erwähnt  werden  die  weite  Verbreitung  der  Fest-  und  Karnevalsspiele, 
insbesondere  aber  verdienten  Erwähnung  die  berühmten  Novgoroder  »Mas- 
ken«, ihre  grandiosen  Aufzüge  und  Auffahrten  auf  den  mit  Vermummten 
besetzten  »Schiffen«  durch  die  Gassen  Novgorods  u.s.w.  Wichtiger  sind  jene 
Lücken  und  Unebenheiten,  durch  die  der  Ideen-Gehalt  der  behandelten 
Literaturperiode  verkümmert  wird.  Die  Bedeutung  der  Verkünder  der  gei- 
stigen Wiedergeburt,  die  auf  Grund  der  Neubelebung  der  Gesellschaft  auf- 
traten, ist  viel  zu  deutlich  mit  den  späteren  Tatsachen  gleicher  Art  verknüpft 
—  und  Prof.  Brückner  berührte  zwei  hauptsächliche  Vertreter.  Doch  wäh- 
rend von  der  typischen  Persönlichkeit  Kotosichins  eine  ziemlich  treue 
Silhouette  gegeben  wird,  wobei  der  Kauzler-Emii;rant  den  Namen  eines  Vor- 
gängers Herzen's  bekommt,  bieten  die  dem  Jurij  Krizanic  gewidmeten  kaum 
mehr  als  zwanzig  Zeilen,  wo  von  seinem  Pauslavismus,  seiner  Neigung  zur 
Gelehrsamkeit  und  zu  reformatorischen  Ideen  die  Rede  ist,  einen  nur  ober- 
flächlichen Begriff  von  einer  der  beachtungswertesten  Persönlichkeiten  des 
alten  Slaventums,  mit  seinem  komplizierten  geistigen  Reichtum,  der,  man 
sollte  es  glauben,  durch  die  neueren  Forschungen  hinreichend  erforscht  wor- 
den ist.  Krizanic  gegenüber  hätte  der  Verfasser  dasselbe  Verfahren  anwenden 
können,  das  ihm  bei  der  Charakteristik  Maxim  Grek's  glückte  (mit  welchen 
er  ihn  auch  vergleicht) ;  wenn  Kotosichin  bei  ihm  zum  Vorgänger  Herzen's 
geworden  ist,  so  konnte  er  (abgesehen  von  vielen  anderen  Rechtsansprüchen 
auf  Berücksichtigung)  in  der  Tätigkeit  des  kroatischen  Apostels  der  Auf- 
klärung der  Russen  die  ersten  Vorboten  der  Ideen  des  Slavophilentums  auf- 
decken. 

Mit  der  richtigen  Beurteilung  der  petrinischen  Reform  als  des  Resultates 
der  vorhergehenden  Bewegung  in  der  Richtung  der  westlichen  Kultur  schließt 
der  der  alten  russischen  Literatur  gewidmete  Abschnitt  ab.  Die  »springenden 
Momente«,  bei  denen  der  Verfasser  länger  zu  verweilen  vorgezogen  hatte, 


Brückner,  Geschichte  der  russ.  Litteratur,  angez.  von  Wesselofsky,      133 

trugen  nicht  dazu  bei,  um  in  kurzen,  aber  dennoch  ausdrucksvollen  und  hell 
beleuchteten  Übergängen  die  Entfaltung  der  schöpferischen  Kraft  und  der 
Ideen,  und  die  Hebung  des  Selbstbewußtseins  im  Zeitraum  von  Jahrhunderten 
darzustellen.  Eiligen  Schrittes  bewegte  er  sich  vorwärts,  und  während  dieses 
forcierten  Ganges  blieb  vieles  im  Schatten. 

Das  XVIII.  Jahrhundert  hat  unvergleichbar  stärker  die  Aufmerksam- 
keit des  Literaturhistorikers  gefesselt.  Das  Bild  wird  vollständiger  und  um- 
fangreicher; die  Persönlichkeiten,  Leistungen,  Richtungen  werden  dem 
Wesen  nach  studiert  und  beurteilt;  das  Tempo  des  Vortrages  gestaltet  sich 
langsamer,  der  Hintergrund  des  Gemäldes  und  die  aus  demselben  hervor- 
tretenden Personen  sind  deutlicher  geworden.  Jedoch  des  Strittigen  und 
Ungenauen  gibt  es  noch  immer  nicht  wenig.  Für  die  komplizierte,  originelle 
Persönlichkeit  des  Iwan  Pososkov,  bei  welchem  die  konservativen  Sorgen 
nationalen  und  religiösen  Charakters  mit  der  aufrichtigen  Ergebenheit  an 
die  Aufklärung  und  Reform  sich  paarten,  ist  die  Bezeichnung:  »ein  Mann 
der  guten  alten  Zeit«  gänzlich  unpassend.  Seine  scharfsichtigen  ökonomi- 
schen Ansichten,  deren  Anziehungskraft  insbesondere  darin  besteht,  daß  er 
den  Wohlstand  des  Landes  nicht  in  der  Häufung  der  Reichtümer  allein  sieht, 
sondern  in  kulturellen  Gütern,  in  geregelter  und  gerechter  Staataeinrichtung, 
in  humaner  Gesetzgebung  u.s.w.,  werden  ausschließlich  zu  den  Sorgen  um 
den  Reichtum  des  Volkes  herabgesetzt.  Die  tragische  Lösung  aber  der 
Schicksale  dieses  Schwärmers  und  Projektmachers,  dessen  Handschrift  des 
»Buches  von  Armut  und  Reichtum«,  wo  lügenhafte  und  schädliche  Mitarbeiter 
Peters  entlarvt  wurden,  nach  dem  Tode  des  Zaren  in  die  Hände  der  Feinde 
des  Verfassers  geraten  war  und  seine  Verhaftung,  Einkerkerung  und  den 
Tod  in  der  Festung  verursachte  —  ist  so  unbestimmt  dargestellt,  daß  sie 
leicht  als  undankbare  Vergeltung  des  Reorganisators  selbst  an  einem  von  den 
ihm  herzlich  ergebenen,  aufgefaßt  werden  könnte.  Die  eigenartige  Figur 
eines  solchen  Verehrers  der  Gewissensfreiheit  wie  Tweritinov  (nicht  »Arzt«, 
sondern  nur  ein  belesener  Aiiothekerlehrling  war  er)  mit  seiner  protestanti- 
schen Propaganda,  huscht  nur  so  vorbei  und  wurde  nicht  gewürdigt.  Die 
Persönlichkeit  eines  anderen  typischen  Vertreters  der  Volksenergie  (solche 
Persönlichkeiten  sollten,  glaub'  ich,  im  Abriß  insbesondere  hervorgehoben 
werden),  des  Begründers  des  regelmäßigen  russischen  Theaters,  des  Fedor 
Woikov,  ist  blaß  und  flüchtig  dargestellt,  und  jenes  merkwürdige,  den  Ge- 
schmack des  Zuschauers  verderbende  Repertoir  fremder  Dramen,  womit  er 
die  neue  Bühne  zu  beschenken  trachtete  —  die  besten  Stücke  von  Moliere, 
Lessing,  Diderot  u.  a.,  —  entspricht  nicht  dem  harten  Urteil:  »alte  Stücke«. 
Wenn  Inder  Würdigung  der  kulturellen  Bedeutung  der  Tätigkeit  der  Kaiserin 
Katharina  II.  solche  Gegensätze  miteinander  kämpfen,  wie  das  Mißtrauen 
bezüglich  ihrer  Aufrichtigkeit  im  Dienste  des  Fortschritts,  und  anderseits  die 
Äußerung,  daß  sie  «ihrer  ganzen  Umgebung«  gegenüber  höher  stand  doch 
nicht  etwa  der  höfischen  Umgebung?  Das  heißt  also,  sie  wird  über  Männer 
von  solcher  sittlichen  Kraft,  tiefer  Überzeugung  und  Reinheit  des  Geistes 
wie  Radiscev  oder  Novikov  gestellt  .  .  .),  so  nehmen  wir  in  der  Beurteilung 
und  Verurteilung  ihrer  bedeutendsten  Zeitgenossen  nicht  geringeres  Schwan- 


134  Kritischer  Anzeiger, 

ken  wahr.  »Dem  Feinde  der  Sklaverei«  Radiscev  darf  man  nicht  »Respekt 
vor  der  Autokratie«  zuschreiben  und  die  Behauptung  aufstellen,  als  ob  in 
diesem  Charakterzug  die  Ursache  seines  Selbstmordes  zu  suchen  sei  —  wäh- 
rend er  doch  nach  der  Rückkehr  aus  seiner  langen  Verbannung  immerhin  als 
unverbesserlicher  Freidenker  sich  bewährte,  mit  seinem  Radikalismus  die 
Mitglieder  der  Alexandrinischen  Reorganisationskommission  überraschte  und 
nur  infolge  eines  hypochondrischen  Anfalls,  den  er  sich  in  Sibirien  zuzog,  die 
Hand  an  sich  legte.  Sein  leidenvolles  Buch,  das  ein  ganzes  Programm  der 
humanen,  liberalen  Reformen  enthält,  wie  die  Befreiung  der  Bauern,  die 
Freiheit  der  Presse,  und  das  die  Grundlagen  der  Autokratie  erschütterte, 
kann  man  schwerlich  »ein  unschuldiges  Buch«  nennen,  und  einige  Seiten 
weiter  behaupten:  »Radiscev's  Name  bleibt  unsterblich«.  —  Dem  Vertreter 
der  entgegengesetzten  russophilen  Richtung,  dem  Fürsten  Scerbatov,  der  den 
Ruhm  und  die  Sittlichkeit  der  alten  Zeit  verherrlichte,  ist  ebenfalls  eine  ihm 
nicht  zukommende  Rolle  zugedacht  worden  —  und  noch  dazu  an  der  Seite 
einer  Anhängerin  der  europäischen  Kultur  und  Freundin  der  westeuropäi- 
schen Philosophen,  der  Präsidentin  der  Akademie  und  aktiven  Mitarbeiterin 
an  den  Journalen,  der  Fürstin  Daschkov.  Sie  beide  sind  dazu  auserkoren, 
um  zwei  typische  vonwisinische  Charaktere  des  runden  Unwissens  zu  veran- 
schaulichen (»Sie  spielten  die  Prostakov  und  Skotinin,  das  heißt,  die  biedere 
Moral  der  vorpetrinischen  Zeit«)! 

Auch  dem  Vonwisin  selbst  ist  es  nicht  besser  ergangen.  Die  Kathari- 
nische  Satire,  in  deren  Bereiche  eine  der  wichtigsten  Stellen  diesem  Manne 
unbedingt  gebührt,  traf  nach  der  Meinung  des  Verfassers  gar  nicht  die  wunde 
Stelle —  so  daß  die  dunklen  Bilder  der  Leibeigenschaft  im  »Junker«,  vor- 
treffliche Dorfbriefe  in  Nowikovs  »Maler«,  scharf  satirische  Seiten  bei  Ra- 
discev, —  zu  den  unschuldigen  Stilübungen  über  den  schon  längst  abge- 
urteilten und  ohnmächtigen  Gegner  sich  gestalten.  Dabei  fließen  bei  Vonwi- 
sin die  Bilder  aus  dem  Leben  in  den  Augen  unseres  Literaturhistorikers  in 
einem  einseitig  spottsüchtigen  Kolorit  zusammen,  wie  bei  dem  vortrefflichen 
Komiker  »taugen  die  Väter  ebensowenig  wie  die  Söhne«,  —  und  auf  diese 
Weise  geht  der  ganze  Sinn  einer  für  Vonwisin  so  wichtigen  Gegenüberstellung 
des  neuen  verdorbenen  Geschlechtes  gegenüber  den  älteren  Vorgängern  vom 
Typus  eines  Starodum,  Prawdin,  Nelstecov,  gänzlich  verloren. 

Noch  einige  Ungenauigkeiten.  Einige  der  zweimal  zehn  Komödien  S.  Su- 
marokvs  verwandelten  sich  in  Hunderte  von  Komödien;  die  travestierte 
Aeneide  von  Kotlarewskij  ist  nicht  im  »Volksdialekt«  abgefaßt,  d.i.  als  wäre 
sie  im  volkstümlichen  großrussischen  Dialekt  geschrieben,  sondern  erschien 
als  erstes  Werk  der  selbständigen  kleinrussischen  Literatur;  Sternes 
Einfluß  auf  Karamsin  unterliegt  absolut  keinem  Zweifel  und  ist  von  ihm 
selber  in  den  »Schriften  des  russischen  Pilgers«,  in  Erzählungen  u.s.w.  be- 
zeugt —  und  damit  geht  der  Abschnitt  der  Literatur  des  XVIIL  Jahrhunderts 
zu  Ende,  in  welchem  gleichzeitig  mit  den  angezeigten  Mängeln  richtige  und 
treffende  Urteile  und  Charakteristiken,  z.B. in  der  Schilderung  des  russischen 
Freimaurertums,  oder  der  Parallele  zwischen  der  brüderlichen  Einfachheit 
bei  Lopuchin  und  den  Ideen  Tolstoj's  u.s.w.  angedeutet  werden. 


Brückner,  Geschichte  der  russ.  Litteratur,  angez.  von  Wesselofsky.      1 35 

Der  Literatur  des  XIX.  Jahrhunderts  als  dem  Vorboten  und  Prolog  der 
neuesten  zeitgenössischen  Literatur,  die  als  Schwerpunkt  des  ganzen  vom 
Verfasser  in  Anspruch  genommenen  Grundrisses  dient,  ist  eine  noch  wür- 
digere Stellung  eingeräumt,  als  den  Tatsachen  der  aufklärerischen  Periode. 
Dieser  Teil  des  Werkes  ist  ausführlicher  und  rfichhaltiger;  einige  spezielle 
Fragen  sind  sorgfältig  auf  Grund  neuer  Arbeiten  ausgeführt;  allgemeine  Be- 
hauptungen sind  weit  weniger  anfechtbar.  —  Doch  die  Einzelheiten  lenken 
auf  sich  die  Aufmerksamkeit  der  Kritik,  und  man  kann  nicht  umhin,  auf  sie 
zu  verweisen,  wenn  auch  die  Aufzählung  derselben  nicht  gerade  gering  aus- 
fallen wird. 

Der  Lehrer  und  Vorgänger  Puschkin's,  der  sich  in  der  Literatur  unver- 
gleichlich früher,  als  die  ersten  nur  einigermaßen  hervorragenden  Leistungen 
seines  genialen  Schülers  erschienen,  einen  Namen  erworben  hatte,  Batjuskov, 
wird  als  Nachfolger  Puschkins  bezeichnet  '»Puschkins  Schule  hatte  auch 
Batjuskov  durchgemacht").  Der  feurige  Dichter- Bürger,  ein  Mann  von 
energischer  Tat,  der  Dekabrist  Eylejev,  wird  als  Pessimist  charakterisiert ; 
auf  »verweichlichtes  Geschlecht  der  Slaven«  wirkend,  flößte  er  ihnen  nicht 
Kummer  oder  Verzweiflung  ein,  sondern  bürgerlichen  Mut  und  Selbstverleug- 
nung. Der  größere  Teil  des  Lebens  Gribojedov's,  während  dessen  er  im 
diplomatischen  Dienste  in  Persien  oder  Kaukasus  verweilte,  hat  beim  Ver- 
fasser den  Charakter  einstweiliger  »Aufträge«  bekommen,  mit  welchen  er 
»nach  dem  Kaukasus,  nach  Tiflis,  nach  Teheran«  geschickt  wurde.  Den  Plan 
der  Komödie  »Verstand  schafft  Leiden«  faßte  er  nicht  im  Jahre  1816,  sondern 
zur  Zeit  seiner  Universitätsstudien,  das  heißt,  vor  dem  Jahre  1808.  Cackij  ist 
nach  der  Piege  gar  kein  Verwandter  von  Famusov,  nur  Sohn  seines  Freundes. 
Gribojedov  wurde  niemals  und  von  niemandem  der  Denunziation  der  Deka- 
bristen beschuldigt.  Die  Bemerkung  bezüglich  der  Krylovschen  Fabel  »Das 
Pferd  und  der  Reiter«,  daß  sie  nicht  gegen  Dekabristen  geschrieben  sei  — 
wird  gegenstandslos,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  genannte  Fabel  in  das  Jahr 
1814  gehört.  Puschkin  wurde  nicht  nach  Odessa  verbannt  und  nicht  dort  be- 
gegnete er  der  Familie  Rajevskij.  Jekaterinoslaw,  die  Reise  nach  dem  Kau- 
kasus, in  die  Krym,  das  Leben  in  Bessarabien,  d.  h.  im  ganzen  volle  drei 
Jahre,  gingen  seiner  Transferierung  nach  Odessa  voraus.  Die  Behauptung 
des  Verfassers,  daß  Puschkin  die  Benennung  russischer  Schriftsteller  als 
»unverdiente  Kränkung«  für  seine  Person  betrachtete,  daß  er  sich  aus  vollem 
Herzen  nach  dem  Kammerherrntitel  sehnte  (»heißersehnter  Kammerherrn- 
titcl«),  daß  er  schließlich  ...  Verehrer  von  Knute  unnd  Zensur  (!)  wurde, 
widersprechen  der  Wirklichkeit.  Weder  Pusclikins  Genosse  Baratinskij  — 
»Hamlet«  —  noch  der  einst  populär  gewesene  Verfasser  der  gefühlvollen 
Lieder:  Nelcdinskij  —  Melezkij  führten  den  Titel  »Fürst«.  Lermontov  wurde 
nicht  von  der  Universität  ausgeschlossen,  die  »Frau  des  Kassierers«  ist  nicht 
auf  einer  Episode  »seines  Garnisonlebens  in  Tambov«  begründet,  weil  er 
niemals  und  nirgends  iu  einer  großrussischen  Provinz  mit  dem  Regimente 
stationierte.  Lermontovs  Mörder  Martinov  war  kein  Freund  von  ihm,  diente 
ihm  nur  als  Ziel  seiner  Angriffe  und  Spötteleien. 

In  der  Disposition  der  Biographie  Gogols  finden  sich  viele  Ungenauig- 


136  Kritischer  Anzeiger. 

keiten.  Die  Entbehrungen  und  Mißerfolge  Gogols  in  Petersburg  fanden  nicht 
»trotz  aller  erdenklichen  Förderung  durch  Freunde  und  Gönner«  statt,  son- 
dern vor  diesen  Förderungen  seitens  seiner  Freunde,  da  er  noch,  niemandem 
bekannt,  den  Kampf  ums  Dasein  führte;  seit  der  Annäherung  aber  an  Pusch- 
kin und  Zukovskij  änderte  sich  sein  Los  gänzlich.  Der  dem  Puschkin  zuge- 
stoßene Vorfall,  der  als  eine  Quelle  des  »Revisor «-Themas  diente,  ereignete 
sich  nicht  in  Novgorod,  sondern  zur  Zeit  seiner  Reise  we^'-en  Sauiuielns  der 
Materialien  für  die  Geschichte  Pugacevs.  Der  peinliche  Eindruck  nach  der 
ersten  Aufführung  »Revisors«  wurde  bei  Gogol  nicht  dadurch  hervorgerufen, 
daß  das  Publikum  den  Zweck  der  Komödie  nicht  verstand  und  unaufhörlich 
lachte,  sondern  dadurch,  daß  dieser  Zweck  sehr  gut  verstanden  wurde  und 
als  Ursache  der  Erbostheit  gegen  den  Verfasser  diente.  »Heirat«  ist  kein 
Einakter  aus  einer  zugrundegegangenen  Komödie,  sondern  ein  unabhängiges 
Stück  in  zwei  Aufzügen.  Von  Rußland  reiste  Gogol  nicht  direkt  nach  Italien ; 
der  Aufenthalt  am  Rhein,  sein  Verweilen  in  der  Schweiz,  wo  er  die  Arbeit  an 
»Toten  Seelen«  wieder  aufgenommen,  der  in  Paris  zugebrachte  Winter, 
gingen  seiner  Ankunft  in  Italien  voraus;  nach  Rom  kam  er  ein  Jahr  nach 
seiner  Abreise  aus  Rußland.  —  Puschkin  »erdachte«  nicht  den  Einkauf  der 
»Toten  Seelen«  als  Disposition  für  den  Roman,  sondern  erzählte  Gogol  das 
zufällig  vernommene  Gespräch  zweier  Affairisten  und  äußerte  sich  über  die 
Tauglichkeit  eines  derartigen  Motivs  zu  einer  sittenschildernden  Erzählung. 
Schließlich  der  quäl-  und  schmerzvolle  Zustand  Gogols  in  den  letzten  Jahren 
seines  Lebens,  die  Schwerfälligkeit  bei  der  Arbeit  am  zweiten  Bande  der 
»Toten  Seelen«,  welche  durch  verschiedene  Angaben  von  ihm  selbst  bestätigt 
wird,  und  der  Umstand,  daß  er  die  Arbeit  an  dem  genannten  Roman  mehr- 
mals wieder  aufnahm,  und  sozusagen  in  der  Mitte  des  VS^ortes  abbrach,  alles 
das  läßt  die  Behauptung  nicht  aufkommen,  daß  der  Tod  ihn  »scheinbar  aus 
frischestem  Schaffen«  hinwegraffte. 

In  eine  Reihe  mit  diesen  Unrichtigkeiten,  die  wie  zufällig  um  den  Kreis 
der  dem  Gogol  speziell  gewidmeten  Fragen  sich  gruppieren,  muß  man  not- 
wendig auch  diejenigen  stellen,  die  in  anderen  Kapiteln  des  Grundrisses  der 
neuen  Literatur  sich  finden.  Zu  solchen  gehört  z.  B.  die  Meinung,  als  ob 
Bielinskij  »mit  Freuden«  die  literarische  Tätigkeit  und  den  philosophi- 
schen Freundschaftskreis  in  Moskau  verlassen  hätte,  um  nach  Petersburg  zu 
ziehen,  während  er  in  Wirklichkeit  gebrochenen  Herzens  dorthin  übersie- 
delte, —  als  ob  die  Slavophilen  an  Cicikov  des  zweiten  Bandes  der  toten 
Seelen  erinnerten,  —  als  ob  der  Nihilismus  in  aristokratischen  und  officiellen 
Salons  nach  dem  Jahre  1840  seinen  Ursprung  genommen  hätte,  —  als  ob  Ba- 
zarov  und  Rudin  Zeitgenossen  wären,  —  als  ob  im  Jahre  1852  die  Bazarovs 
schon  existierten  (während  doch  der  demokratische  Charakter  des  Pro- 
testes keinem  Zweifel  unterliegt  —  und  die  grundlegende  Idee  des  Nihilis- 
mus, —  Verbreitung  der  neuen  Naturkunde  und  sozialer  Doktrinen  —  direkt 
mit  dem  Anfang  der  sechziger  Jahre  verbunden  ist),  —  als  ob  Iwan  Turgenjev 
»Sänger«  »des  alten  Rußlands  vor  der  Emanzipation«  gewesen  wäre  (eine 
Behauptung,  die  von  dem  Verfasser  selber  kurz  nachher,  S.  333,  widerlegt 
wird),  —  als  ob  Herzen  nach  seiner  Abreise  nach  England  auf  immer  von 


Brückner,  Geschichte  der  russ.  Litteratur,  angez.  von  Wesselofsky.      137 

liberalen  Illusionen  geheilt  worden  wäre,  —  als  ob  die  Universitätsjugend 
einstmals  den  Katkov  himmelhoch  gepriesen  hätte  u.s.w.  — 

Schwankungen  und  Unebenheiten  in  der  Ausfiilirung  des  vorgefaßten 
Planes  schädigen  bisweilen  die  Klarheit  des  Eindrucks  und  erschüttern  die 
Standhaftigkeit  der  formulierten  Urteile.  So  z.  B.  in  der  Erforschung  der 
schöpferischen  Tätigkeit  Puschkins  im  Zusammenhang  mit  den  Fakten  aus 
seinem  Leben,  geschieht  der  unmittelbare  Übergang  von  seinen  Jugend- 
dichtungen zu  den  Erzeugnissen  der  reifen  Periode,  ohne  Hinweis  auf  einen 
so  entscheidenden  Moment,  wie  die  Aussöhnung  des  Dichters  mit  den  offi- 
ciellen  Einrichtungen,  Kräftigung  der  Objektivität  und  des  Dienstes  der 
reinen  Kunst;  nachdem  die  aus  verschiedenen  Lebensperioden  des  Dichters 
in  eine  Masse  zusammengeflossenen  Werke,  den  Unterschied  in  der  Richtung 
und  im  Aufbau  bloßlegten,  wird  der  Rückzug  in  die  Zeit  des  Kompromisses 
gemacht,  wodurch  die  Lücke  in  der  Biograpiiie  wieder  ausgefüllt  wird;  durch 
Vermeidung  derselben  hätte  die  anschauliche  Konsequenz  der  Kunst-  und 
Ideenevolution  Puschkins  dargelegt  werden  können.  In  anderer  Beziehung 
beeinträchtigen  das  Bild  die  Widersprüche,  die  zwischen  dem  Endresultate 
und  den  beiläufig  geäußerten  Ansichten  über  Tätigkeit  oder  Bedeutung  dieses 
oder  jenes  Schriftstellers  fühlbar  sind.  Aus  diesem  Grunde  hat,  wie  wir  ge- 
sehen haben,  die  Einheitlichkeit  des  Bildes  Radiscevs  viel  eingebüßt,  für  den 
sonst  der  Verfasser  ein  richtiges  und  mitempfindendes  Urteil  an  den  Tag  legt. 
Auch  Puschkins  Charakteristik  konnte  nicht  umhin,  darunter  zu  leiden,  daß 
nach  der  strengen  Verurteilung  seiner  persönlichen  Eigenschaften,  seines 
Ideenretrogradentums,  ja  sogar  seiner  moralischen  Eigenschaften,  zuletzt 
dennoch  das  Resultat  herauskommt,  das  dem  Dichter  eine  hohe  Stellung  in 
der  Literatur  zuteil  werden  läßt.  Ebenso  hat  auch  die  Würdigung  Turgenjevs 
Einbuße  erlitten:  der  Dichter  wird  zuerst  unter  die  Sänger  des  vorreformier- 
ten Rußlands  versetzt,  dann  wird  er  des  Kleinmuts  beschuldigt,  den  er  in 
den  Jahren  1876 — 77  an  den  Tag  gelegt  haben  soll,  es  wird  ihm  die  Fähigkeit 
abgesprochen,  Bedürfnisse  der  Zeit  verstehen  zu  können,  über  seine  »Dich- 
tungen in  Prosa«  mit  ihrem  unzweifelhaften  Anklang  an  diese  Bedürfnisse, 
wird  sehr  zurückhaltend  geurteilt,  und  zum  Schluß  wird  dennoch  der  Urteils- 
spruch abgegeben,  der  an  die  Anerkennung  der  Verdinste  Puschkins  erinnert. 

Doch  neben  ähnlichen  Unebenheiten  und  ungeachtet  der  Ungenauig- 
keiten,  deren  Beispiele  soeben  vorgeführt  wurden,  kann  man  nicht  umhin,  in 
dem,  der  Literatur  des  XIX.  Jahrhunderts  gewidmeten  Abschnitt  ein  her- 
vorragendes, bedeutendes  Stück  der  künstlerisch  ausgeführten,  psychologisch 
feinen  Charakteristiken  der  Schriftsteller  und  ihrer  Werke,  der  Zeiciinungeu 
verschiedener  Momente  aus  dem  Leben  der  Gesellschaft,  die  als  Grundlage 
der  literarischen  Bewegung  dienten,  zu  erblicken  und  zu  loben.  Zu  solchen 
gehört  z.  B.  in  der  Art  abgesonderter  Episoden  die  Charakteristik  Lermon- 
tovs,  Studien  über  innere  Geschichte  Gogols,  über  Herzen,  Cernysevskij  und 
seinen  Roman  «Wastun»,  über  Dobroljubov,  und  insbesondere  über  Saltikov 
und  sein  Zeitalter;  die  Undankbarkeit  gegen  den  großen  Satiriker  von  Seite 
der  ihm  nächststchenden  Generation  ist  mit  großer  Heftigkeit  und  Kraft  dar- 
gestellt. 


138  Kritisclier  Anzeiger. 

Der  feine  Sinn  des  Verfassers  für  dieldeenentwickelung,  für  die  sozialen 
und  kiinstlerisclicn  Triebfedern,  der  sich  in  dem  Maße  der  Annäherung  eeiner 
geschichtlichen  Erzähiiing  an  die  zeitgenössische  Epoche  immer  stärker  gel- 
tend macht,  verleiht  d(!m  letzten  Abschnitt  seines  Haches  größere  Bedeutung 
inf()l;;^e  der  Vollständigkeit  der  Darstell unj,',  der 'JVeue  des  Grundtones,  der 
'rrefflichkeit  und  Aufrichtigkeit  der  Beurteilungen.  Seine  leitendige  Cha- 
rakteristik der  Entfaltung  der  selbBtäiidigen  Volkskraft  in  der  Literatur  der 
neuesten  Periode  hat  sich  unendlich  weit  entfernt  von  der  paradox  lautenden 
Behauptung  noch  am  Anfang  des  Buches,  als  ob  in  Rußland  jegliche  litera- 
rische Revolution  »von  Oben  auf  Befehl  kommt«,  —  eine  Behauptung,  die  dem 
Verfasser  schwer  fiele,  durch  die  Tatsachen  zu  beweisen  (es  müßte  bewiesen 
werden,  daß  die  romantische  Bewegung,  der  Byronismus,  die  Entwicklung  der 
naturalistischen  Schule,  und  der  siegreiche  Fortschritt  des  Realismus,  die 
social-politische  Richtung  der  sechziger  Jahre,  durch  irgend  einen  Wink  von 
oben  in  Gang  gesetzt  worden  waren).  In  dem  kurzen  Zeitraum  zwischen  der 
Beendigung  des  Werkes  und  seiner  Veröffentlichung  blieb  der  mit  der  Frei- 
heitsbewegung sympathisierende  Verfasser  hinter  den  rasch  vorüberziehen- 
den Ereignissen  zurück;  auf  seine,  ihm  durch  die  Erfahrungen  des  Vergange- 
nen eingeflößte  zweifelnde  Frage,  ob  nicht  nach  der  zeitweiligen  Anstrengung 
die  Volksenergie  erschlaffen,  ob  nicht  die  Wellen  der  Bewegung  von  neuem 
im  Sande  sich  brechen  und  verlaufen  werden,  —  gab  das  Leben  eine  die  Er- 
Erwartung übertreffende,  alle  Zweifel  zerstreuende  Antwort.  Doch  die  leb- 
hafte Literaturchronik  führt  den  Leser  jedenfalls  bis  zum  letzten  entschei- 
denden Moment,  bis  vor  die  Türe  der  heranbrechenden  revolutionären  Pe- 
riode, und  hierdurch  wird  die  Möglichkeit  geboten,  in  der  Mitte  von  kompli- 
cierten  Erscheinungen  und  Richtungen  des  heutigen  Tages  sich  zurechtzu- 
finden. (Einige  kleine  Ungenauigkeiten  werden  dabei  von  keinem  Belang  sein.) 

Bei  so  lebendigfrischer  Erzählung  nehmen  wir  von  diesem  ersten  literar- 
historischen Versuch  Abschied,  der  den  doppelten  Zweck,  den  der  wissen- 
schaftlichen Reife  und  AUzugänglichkeit  für  ein  uneingeweihtes  europäisches 
Publikum  vor  Augen  hatte,  der  große  Studien  erforderte,  dem  nicht  geringe 
Schwierigkeiten  im  Wege  standen  und  der  in  wunderschöner  Form  erscheint 
(die  an  die  besseren  Seiten  der  Darstellung  bei  Wilhelm  Scherer  erinnert). 
Natürlich  konnte  die  Aufgabe  nicht  auf  einmal  vollständig  ausgeführt  wer- 
den; Fehler  und  Auslassungen  beim  ersten  Versuch  waren  unvermeidlich. 
Doch  umgearbeitet  im  Geiste  einer  großen  Proportionalität  und  Harmonie 
zwischen  der  Behandlung  des  Altertums,  der  Neuzeit  und  der  Gegenwart, 
folglich  die  Hauptphasen  der  literarischen  und  socialen  Evolution  organisch 
verfolgend,  frei  von  zufällig  eingeschlichenen  Fehlern,  ist  das  Buch  Prof. 
Brückners,  das  schon  jetzt  ein  reges  Interesse  erweckt,  bestimmt,  in  folgen- 
den Ausgaben  unbedingt  eine  hervorragende  Stelle  in  der  europäischen  Lite- 
ratur der  Slavistik  einzunehmen.  Alexej  Wesselofskij. 


i 


Brückner,  Über  Nikol.  Rej,  krit.  Stud.,  angez.  von  Nehring.  ]  39 

Alexander  Brückner,  Mikolaj   Rej  studyum  krytyczne.    Krakau 
1905,  418  SS.  in  80  m. 

Im  laufenden  Jahre  gehen  vier  Jahrhunderte  zu  Ende,  seitdem  der  erste 
polnische  Dichter  Nikolaus  Rej  geboren  wurde,  einer  der  grüßten  unter  den 
gleichzeitigen  slavischen,  der  sicher  auch  den  bedeutenden  Geistern  des 
XVI.  Jahrhunderts  beigezählt  werden  kann.  Die  Krakauer  Akademie  der 
Wissenschaften  hat  eine  Jubiläumsfeier  zu  Ehren  Rejs  für  das  Ende  des 
laufenden  Decembermonats  angeordnet,  welche  durch  so  manches  Werk  ver- 
herrlicht werden  wird :  in  Warschau  wird  ein  Sammelwerk  vorbereitet  i],  in 
welchem  u.  a.  eine  erschöpfende  Monographie  über  Martin  Bielski,  einen  äl- 
teren Zeitgenossen  Rejs,  von  J.  Chrzanowski  erscheinen  soll,  und  gegenwärtig 
ist  das  in  der  Überschrift  genannte  und  im  Auftrage  der  Krakauer  Akademie 
verfaßte  Buch  von  A.  Brückner  erschienen. 

Die  Literatur  über  Nikolaus  Rej  ist  schon  zu  einem  namhaften  Umfange 
gediehen;  das  Meiste  und  Trefflichste  hat  Prof.  Ptaszycki  (über  den  Psalter, 
den  Wizerunek  u.  a.)  vorgearbeitet;  Brückner  gibt  eine  Übersicht  dieser  Ar- 
beiten, Monographien  und  synthetischen  Lebensbildern  von  Siemienski  an 
bis  zu  dem  trefflichen  Buche  von  St.  Windakiewicz  (Mikolaj  Rej,  Krakau 
1895);  nichts  ist  in  dieser  prüfenden  Übersicht  vergessen,  auch  nicht  das 
sonst  in  Literaturgeschichten  kaum  noch  erwähnte  Büchlein  von  Bronislaw 
Zawadzki,  welches  in  der  Tat  über  Belcikowski  nicht  hinausgeht,  im  Grunde 
eine  Analyse  der  Werke  Rejs.  Das  Buch  von  Windakiewicz  kann  sicher  als 
das  erste  gelungene  literarische  Porträt  Rejs  bezeichnet  werden.  Ich  könnte 
getrost  die  warme  Anerkennung  wiederholen,  welche  ihm  von  Brückner 
S.  16  f.  mit  Recht  gezollt  wird;  es  ist  in  der  Tat  eine  recht  gelungene  Zeich- 
nung des  Schriftstellers  Rej,  in  der  knappen,  gedrängten  Form  treffend  und 
eindrucksvoll,  mag  auch  das  Buch  in  seiner  Voraussetzungslosigkeit  die  Mit- 
wirkung und  die  Verdienste  der  Vorgänger  nicht  besonders  hervortreten 
lassen;  richtig  ist,  daß  der  Verfasser  sich  durch  »die  Richtung  der  bisherigen 
Studien«  nicht  zu  binden  brauchte,  doch  ungern  vermißt  man  die  Beleuchtung 
der  Quellen,  aus  denen  unsere  Nachrichten  über  Rej  fließen,  nicht  einmal  die 
Biographie  Rejs  von  seinem  Freunde  Andreas  Trzecieski,  die  erste,  auf  der 
alle  Studien  über  Rej  fußen,  ist  besonders  genannt,  sondern  als  bekannt 
vorausgesetzt.  Indeß  muß  hervorgehoben  werden,  daß  der  Verfasser  tat- 
sächlich Trzecieski  zum  Führer  wählt,  und  auch  die  früheren  Arbeiten  über 
Rej  sorgfältig  prüft  und  benutzt. 

Das  neue  Werk  Brückners  macht  die  Arbeit  von  Windakiewicz  durch- 
aus nicht  entbehrlich,  es  ist  von  einem  anderen  Standpunkt  geschrieben  und 
auf  ein  anderes  Ziel  gerichtet:  während  Windakiewicz  sich  zur  Aufgabe 
macht,  den  Dichter  Rej  dem  Leser  näher  zu  bringen,  indem  er  in  mehreren 
abgeschlossenen  Bildern  sein  Temperament,  sein  ethisches  Ideal,  seine  lite- 
rarische Tendenz,  sein  Talent  und  seine  Sprache  zeigt,  will  Brückner  uns  in 


1)  Aus  Äußerungen  Brückners  S.  403  und  415  ersehe  ich,  daß  dieses 
Sammelwerk  schon  erschienen  ist. 


140  Kritischer  Anzeiger. 

das  Verständnis  seiner  Werlcc  einführen,  zeigt  uns  den  Inhalt  und  den  Wert 
dersellien  in  meisterhaften  Analysen,  und  indem  er  in  dieser  Wanderung 
durch  die  Werke  Kcjs  zeigt,  wie  man  sie  lesen  soll,  hat  er  ein  grundlegendes 
Wcirk  geschalTen,  in  welchem  wir  liej  leljcndig  und  leibhaftig"  vor  uns  zu 
sehen  glauben.  Dieser  eigenartige  Dichter  spricht  hier  in  den  umständlichen 
Analysen  seilest,  mit  seinen  eigenen  Gedanken,  mit  eigenen  Worten  und  — 
man  verzeihe  den  Ausdruck  —  in  eigener  Manier  zu  uns.  Durch  diese  Un- 
mittelbarkeit worden  wir  direkt  in  die  Schaffenssphäre  des  Dichters  geführt. 
Aber  in  diesem  Gesamratbilde  wird  nicht  nur  Rej  vorgeführt,  sondern  auch 
das  geistige  Streben,  Drängen  und  Schaffen  der  Zeit,  in  welcher  Rej  lebte. 
Dabei  treten  überall  zwei  Momente  in  den  Vordergrund,  einerseits  ein  uni- 
verseller Gesichtspunkt:  es  ist  nichts  vergessen,  was  jener  denkwürdigen 
Zeit  den  eigenartigen  Stempel  nufgedrückt  hat,  andererseits  ist  dieses  Ge- 
samtbild, welches  ich  mit  einem  musivischen  Werke  vergleichen  möchte,  be- 
lebt durch  neue  Gedanken  und  Urteile,  Streiflichter  und  Vergleichungen  an 
Stellen,  welche  irgend  ein  tertium  comparatiouis  bieten;  überall  sieht  man 
den  weiten  umfassenden  Gesichtskreis  des  Verfassers. 

Vor  allem  ist  der  urwüchsige,  überschäumende  Charakter  des  unge- 
wöhnlichen, man  möclite  sagen  impulsiven  Mannes,  der  in  seiner  Ungebunden- 
heit  vor  allem  die  persönliche  Freiheit  walten  ließ  und  im  übrigen  sich  um 
nichts  übermäßig  kümmerte,  aber  auch  heftig  werden  konnte,  wenn  die  Sachen 
nicht  nach  seinem  Sinne  gingen,  in  trefflicher  Weise  gezeichnet,  vorbildlich 
für  den  Schrii'tsteller.  Rej  nahm  den  Geist  der  Reformation  der  kalvinischen 
Richtung,etwa  in  dem  Sinne  einer  Verinnerlicliungdcs  Christentums,  sowie  auch 
die  neue  Weltanschauung  jubelnd  in  sich  auf  und  setzte  sie  sozusagen  in  Klein- 
münze für  sein  Volk  in  nationaler  Sprache  um,  in  dem  Bestreben,  das  durch 
den  menschlichen  Geist  Gewonnene,  die  »reine  Lehre«  von  Gott  und  den  Meu- 
seheupflichten  zum  Gemeingut  des  polnischen  Adels  zu  machen;  das  herrliche 
Buch  des  Humanisten  Palingenius  »Zodiacus  Vitae«  bildete  er  nach  eigener 
Fa§on  gemeinverständlich  um,  in  d'-m  Bestreben,  die  geläuterte  Weltan- 
schauung seineu  Landsleuten  zu  vermitteln.  Aber  diese  neuen  Lehren  und 
Grundsätze  kleidete  er  in  mittelalterliche  Formen,  den  modernen  Geist  ließ 
er  etwa  die  Sprache  der  Psalmen  und  der  Bibel  sprechen.  Er  erscheint  uns 
in  dieser  Beleuchtung  durchaus  als  ein  Anachronismus.  In  dieser  Beziehung 
ist  der  letzte  Abschnitt  des  Buches  »Ogölne  uwagi«  sehr  beachtenswert:  man 
übersieht  gern  die  Wiederholungen  und  hat  einen  wahren  Genuß  an  der 
Lebendigkeit  und  Trefflichkeit  der  Charakteristik  Rejs  als  Mensch  und 
Schriftsteller. 

Es  ist  schon  bemerkt  worden,  daß  das  Werk  über  Rej  mit  Liebe  und 
Hingebung  an  den  Gegenstand  geschrieben  ist,  der  Verfasser  geht  in  ihm  auf 
und  bringt  seine  Gedanken  fast  in  der  Sprache  Rejs  und  seiner  Zeitgenossen 
zu  Worte;  die  oft  langen  Zitate  bringen  dem  Leser  die  Person  des  im  spru- 
delnden Wortschwall  sich  gefallenden  Dichters  in  unmittelbare  Nähe  ;  eigen- 
artig nimmt  sich  dabei  die  dem  Verfasser  selbst  eigene  Knappheit  der  Dar- 
stellung aus,  in  der  manches,  ja  vieles  nur  angedeutet  ist,  für  den  Kenner 
gewiß  ausreichend.   Darum  bewahrt  das  Werk  den  streng  wissenschaftlichen 


Brückner,  Über  Nikol.  Rej,  krit.  Stud.,  angez.  von  Nehring.  141 

Charakter,  trotz  des  Fehlens  eines  gelehrten  Apparates  von  Fußnoten,  Titel- 
zitaten und  Exkursen  (in  den  sechs  Beilagen  sind  einige  treffliche  Exkurse 
z.B.  über  Entlehnungen  aus  Cicero  und  Seneca);  an  populären  Bearbeitungen 
und  Kommentaren  wird  es  wohl  nicht  fehlen. 

Bei  den  lebendigen  Schilderungen  des  polnischen  Geisteslebens  des 
XVI.  Jahrb.  vermißt  man  ungern  eine  eingehendere  Würdigung  von  Martin 
Bielski,  einem  älteren  Zeitgenossen  Rejs,  der  doch  ebenfalls  ein  Mitbegründer 
der  polnischen  Literatur,  ebenfalls  ein  Aufklärer  und  Lehrer  seines  Volkes 
war,  der  aber  durch  gelegentliche  abfällige  Urteile  des  Verfassers  in  den 
Schatten  gedrängt  wird. 

Es  ist  auch  schon  hervorgehoben,  daß  die  Persönlichkeit  Rejs  so  sach- 
gemäß und  farbenreich  gezeichnet  ist,  es  hätten  aber  die  S.  19  besonders  ge- 
nannten Abschnitte  in  der  Postille  und  Zwierciadio,  in  denen  Rej  sich  über 
sich  selbst  äußert,  wörtlich  oder  in  gedrängter  Wiederholung  zitiert  werden 
können.  Wir  erfahren  nicht  einmal,  wo  Ks.  Jiiszynski  gegen  die  Postille 
Rejs  eiferte.  —  Daß  das  Lob  auf  Rejs  Postille  etwas  überschwänglich  aus- 
gefallen ist,  sei  nur  nebenher  gesagt  (sie  ist  sehr  früh  in  Vergessenheit  ge- 
raten, weil  sie  so  wenig  salbungsvoll  war),  daß  aber  in  dem  Abschnitt  über 
Wizerunek  die  Charakteristik  Rejs  und  seiner  Neigungen  besondere  Be- 
achtung gefunden  hat  statt  in  dem  allgemeinen  Kapitel  VIII  Ogölne  uwagi, 
entspricht  der  Symmetrie  nicht.  Übrigens  sei  hier  nachgetragen,  was  offenbar 
vergessen  ist,  daß  der  Name  des  Autors  des  Zodiacus  vitae  1537,  nämlich 
Marcellus  Palingenius,  ein  Anagramm  ist,  gebildet  aus  dem  Namen  des 
Kryptoprotestanten  Pier  Angelo  Manzolli,  der  auf  dem  Hofe  Hercolos  II.  ge- 
lebt hat.  Wichtiger  scheint  mir  die  Unterlassungssünde  zu  sein,  die  darin 
liegt,  daß  der  Verfasser  die  V(;rse  Trzecicskis  von  Rej  »Hie  noster  est  Dan- 
tes« U.S.W,  nicht  erklärt  hat;  bekanntlich  ist  diese  Stelle  der  einzige  Hinweis 
auf  die  Bekanntschaft  Dantes  in  Polen  in  früherer  Zeit,  und  meines  Erachtens 
hat  sie  Bezug  auf  den  Umstand,  daß  Rej  der  erste  war,  welcher  die  nationale 
Sprache  in  die  Literatur  einführte.  Auf  kleinere  Unachtsamkeiten,  wie  z.  B. 
die  Exemplificierung  auf  die  treulose  Frau  Ilijas  statt  Svjatogors  in  russi- 
schen byliny,  ist  kein  Gewicht  zu  legen.  —  Es  sei  noch  besonders  auf  den 
Psalter  Rejs  hingewiesen.  Es  ist  ein  bleibender  Gewinn,  daß  hier  endgiltig 
die  Existenz  dieses  Psalters,  von  dem  Trzecieski  erzählt,  der  aber  stets  un- 
findbar  gewesen,  außer  Zweifel  gesetzt  ist.  Dies  hat  Brückner  nach  dem 
Vorgange  Ptaszyckis  schon  in  Literatura  religijna  w  Polsce  sredniowiecznej  II 
getan,  wo  er  die  Meldung  Trzecieskis,  man  habe  Rejs  Psalter  »gesungen« 
(der  Psalter  ist  in  Prosa  geschrieben),  für  einen  Irrtum  hielt,  jetzt  hält  er  das 
Singen  für  möglich.  Freilich  ist  diese  Behauptung  ohne  Beweis  und  ohne 
einen  Versuch  von  überzeugender  Begründung  geblieben. 

Über  die  Sprache  Rejs  spricht  sich  der  Verfasser  wiederholt  aus.  Bei 
der  Besprechung  des  Psalters  führt  er  Psalm  18  an  und  ist  von  der  Schön- 
heit der  Sprache  entzückt:  »co  za  cudowna  proza,  sagt  er  S.  49,  piesci  nasze 
ucho«;  S.  54  ist  zu  lesen:  »nie  tylko  wierszem,  ale  i  proz^  wbidal  swietnie«. 
In  weiteren  Kapiteln  ist  dieses  Urteil  sehr  gemäßigt:  in  dem  VIII.  Abschnitt 
»Ogölne  uwagi«  wird  zwar  gesagt,  Niemand  habe  die  grobe  polnische  Sprache 


142  Kritischer  Anzeiger. 

80  glatt  geformt  (wypolerawalj,  wie  Kej,  und  diese  wird  für  mustergiltig  er- 
klärt (wyborowa  polszczyziiaj,  aber  fast  unmittelbar  darauf  heißt  es,  daß 
Rej  in  ungewöhnlicher  Weise  die  Form  vernaciilässigt,  daß  er  Gedanken  und 
Reime  zu  sehr  mechanisch  behandelt  habe,  daß  er  mit  Konjunktionen  sich 
nicht  Rat  wisse,  daß  er  kunst-  und  geschmacklos,  daß  er  überhaupt  so 
schrieb,  wie  er  sprach  und  noch  schlimmer.  Ich  glaube,  daß  der  letzte  Aus- 
spruch das  Richtige  trifft,  und  ich  habe  genau  dasselbe  Urteil  ausgesprochen 
in  einem  Aufsatze  über  die  polnische  Sprache  des  XVI.  Jahrh.  1900,  wo  ich 
meinte,  daß  man  Rej  zu  den  Schöpfern  und  Meistern  der  polnischen  Schrift- 
sprache nicht  zählen  könne.  Dabei  bleibt  das  lobende  Urteil  über  die  Sprache 
ReJB  im  Psalter  und  in  der  Postilie  bestehen,  wie  ich  meinen  möchte,  weil  es 
die  entwickelte  religiöse  Sprache  des  XV.  Jahrh.  war.  W.  Nehring. 


Tad.  Stan.  Grabowski:    Wspötczesna    Chorwacya,    Studya  lite- 
rackie.  I.  Lwöw  1905.  8«.  IX,  252. 

So  dringt  die  Kunde  von  der  kulturellen  Tätigkeit  der  Kroaten  nach 
geringem  Zeiträume  abermals  zu  den  Polen ').  Die  lebhafte  gegenseitige  Sym- 
pathie beider  slavischen  Stämme  mag  auf  gewisser  Wahlverwandtschaft  be- 
ruhen, denn  zwischen  dem  »heutigen  Kroatien«  und  den  heutigen  Polen  gibt 
es  so  manche  Berührungspunkte.  Der  Kulturkampf  hat  hier  und  dort  ähn- 
liche Daseinsbedingungen.  In  solcher  Einsicht  mag  auch  dieses  Werk  ge- 
schrieben worden  sein.  Es  will  »einen  wertvollen  Baustein  zum  Tempel  einer 
edleren  und  vernünftigeren  Verbrüderung  und  zugleich  eine  Stufe  höher  zur 
allgemein-menschlichen  Vereinigung  bilden«  (Vorr.  V).  Dieser  Standpunkt 
ist  denn  auch  durchwegs  eingehalten;  von  allem  wird  da  nur  mit  Liebe  und 
Verehrung  gesprochen.  Und  das  in  lebhaft  polnischer  Weise:  es  gibt  wohl 
nichts  Kroatisches  über  Gjalski,  das  so  begeistert  sprechen  würde,  wie  das 
der  polnische  Verfasser  tut.  Er  versteht  es,  seinen  literarisch  wählerischen 
Landsleuten  die  geringeren  kroatischen  Brüder  in  Sonntagskleidern  vorzu- 
stellen: er  bespricht  das  »heutige  Kroatien«  nicht  in  aller  Breite,  Licht  und 
Schatten  berücksichtigend,  sondern  beschränkt  sich  auf  drei  literarische  Re- 
präsentanten:  S. Gjalski,  S.Kranjceviö  und  I.Vojnovic.  Im  vorliegen- 
den Bande  ist  nur  Gjalski  behandelt,  über  die  zwei  Letzteren  soll  demnächst 
ein  zweites  Bändchen  erscheinen.  Der  Autor  kennt  seinen  Gegenstand  aus  un- 
mittelbarer Erfahrung,  denn  er  weilte  selbst  längere  Zeit  »in  Dichters  Lande«. 
Er  ist  daher  gut  über  den  Zwiespalt  zwischen  den  »Alten  und  Jungen«  in  der 
kroat.  Lit.  (S.  6  ff.)  unterrichtet  und  begreift  die  Lage  objektiver  als  z.  B. 
J.  Hranilovic  in  einem  Aufsatze  darüber,  der  vor  zwei  drei  Jahren  im  üeTonuc 
Mai.  cpn.  veröffentlicht  wurde.  Die  Auflehnung  gegen  alle  Regel  a  priori,  die 
Freisprechung  des  Individualismus,  und  der  enge  Anschluß  an  moderne 
westliche  Vorbilder  (auch  slavische)  bilden  die  Charakteristik  der  Jungen,  zu 


1)  Vergl.  Archiv  XXV.  S.317. 


Grabowski,  Lit.  Stud.  über  das  heutige  Kroazien,  angez.  von  Prohaska.    143 

denen  auch  Gjalski  (S.  18)  gerechnet  wird.  —  Über  ein  reichhaltiges  bio-  und 
bibliographisches  Material  hinweg,  betreffend  die  Alten,  gelangen  wir  zu  dem 
eigentlichen  Gegenstande  der  Studie,  zu  Gjalski.  Eine  hübsche  Phototypie 
ersetzt  jede  persönliche  Beschreibung:  eine  gebogene  Nase,  halbgesenkte 
Augenlider,  ausgeprägte  Züge  um  den  Mund,  die  hohe  Stirn  und  der  kurz 
geschorene  Schädel,  alles  das  macht  einen  aristokratischen  Eindruck,  den 
man  auch  aus  der  Biographie  (Kap.  I),  welche  bis  zum  Jahre  1898  aus  einer 
Autobiographie  geschöpft  wurde,  gewinnt.  Es  ist  zugleich  eine  typische 
Dichterbiographie:  mehrere  politische  Phasen,  Mißerfolge  im  Staatsdienste, 
schließlich  Zurückgezogenheit  und  vorwiegend  Landaufenthalt.  Der  Verf. 
bemüht  sich,  den  biographischen  Perioden  auch  literarische  Epochen  anzu- 
gleichen, und  zwar  unterscheidet  er:  eine  romantisch-idealistische, 
eine  entschieden  realistische  und  eine  moderne  Epoche  in  Gjalski's 
Schaffen.  Diese  Dreiteilung  ist  etwas  gezwungen,  denn  man  kann  ganz  ge- 
lassen erwidern,  daß  Gj.  wohl  gar  keine  Richtung  ausgebildet  hat.  Beginnt 
er  doch  auf  Anregung  Turgenjev's  zu  schreiben,  er  will  also  für  einen  Rea- 
listen gelten,  de  facto  ist  er  aber  kein  ruhiger  Beobachter,  sein  lyrisch  re- 
flexives Wesen  mengt  sich  ein  .  . ;  beide  Strömungen  dieses  Wollena  und 
Könnens  erscheinen  nur  mit  der  Zeit  ausgeprägter,  individueller,  und  da- 
her wieder  der  Schein  des  Modernismus.  —  Die  Besprechung  der  Werke  folgt 
nun  in  chronologischer  Reihenfolge  nach  bestimmten  Gruppen.  Man  könnte 
diese  vereinfachen  und  eine  Sonderung  rein  nach  Inhaltsmomenten  vorneh- 
men, da  die  Chronologie  des  Entstehens  von  Gj.'s  Werken  keine  sichere  ist. 
Ich  hätte  zusammen  die  Erzählungen  lokalen  Charakters  (Zagorien)  be- 
sprochen, für  sich  als  »problematische  Naturen«  J.  Borislavid,  Radmilovic 
u.  ähnl.  behandelt  und  schließlich  soziale  und  historische  Erzählungen  für 
sich  betrachtet.  In  solche  Gruppen  getrennt,  hätte  sich  Gj.'s  Realismus  als 
von  dem  Stoffe,  nicht  von  der  Entwicklungsperiode  abhängig  erwiesen.  Die 
Reihe  eröffnen  die  frühesten  Erzählungen  aus  Zagorien  (Kap.  II).  Die 
Poesie  des  lokalen  zagorianischen  Lebens  wird  hier  treu  dem  poln.  Leser 
vermittelt.  Das  folgende  Kapitel  soll  den  psychologischen  Prozess  Gj.'s  zum 
Realismus  hin  erklären.  Walka  ducha  behandelt  den  Faustroman  Gj.'s 
»Janko  Borislavid«.  Der  Vergleich  mit  dem  Goetheschen  Faust  ergibt  dem 
Verf.  den  vorauszusehenden  Schluß,  daß  Gj.'s  Borislavic  eine  slavische  Seele 
besitzt.  Hier  haben  wir  also  den  Glauben  an  die  Racentheorie!  Der  ge- 
schichtliche Standpunkt  wird  so  unberücksichtigt  gelassen;  wenn  man 
nämlich  Schiller  mit  Slovacki  (S.  92  ff.)  und  Faust  mit  Borislavic  bloß  auf 
den  nationalen  Charakter  hin  vergleicht,  vergißt  man  einen  viel  tieferen 
Gegensatz,  den  geschichtlichen,  den  zwischen  Klassizismus  und  Romantik. 
In  dem  mystischen,  überwiegend  empfindsamen  Wesen  Borislaviös  sieht  der 
Verf.  den  Schwerpunkt  von  Gj.'s  Unabhängigkeit  gegenüber  Goethe  —  und 
darin  läge  das  slavische?  (S.  91  ff.).  —  Viel  besser  scheint  mir  das  folgende 
Kapitel  «Von  der  Morgenröte  zur  —  Nacht«  (S.  97  IT.)  geraten  zu  sein.  Es 
behandelt  die  historischen  und  sozialen  Romane  Gj.'s.  In  den  letzteren  tritt 
der  Realismus,  wie  ich  meine,  deshalb  hervor,  weil  dies  in  der  Natur  der 
Sujets  —  der  Gegenwart  —  liegt.    Klar  und  schwungvoll  wird  dem  polnischen 


]  44  Kritischer  Anzeiger. 

Publikum  die  illyrische  Periode  (nach  »Osvit«)  zu  Gemüte  {geführt.  Mit  dem 
Realismus  in  den  sozialen  Studien  Gj.'s  nimmt  auch  ein  f^ewisser  Pessimis- 
mus zu.  In  »Kfidmilovid«  ist  die  Schopenhauerisclie  Weltanschauung  durch- 
gedrungen. Der  Held,  ein  Dichter  und  Idealist,  erfährt  in  der  Liebe  wie  in 
der  Arbeit  Mißerfolge  und  geht  im  Wahnsinn  zu  Grunde.  Hier  wie  bei  Be- 
sprechung anderer  Stücke  enthält  sicli  der  Verf.  zu  sehr  einer  kritischen 
Analyse  und  beschränkt  sich  mehr  auf  ein  Reproduciren  und  Nachempfinden. 
Wir  verstehen  das  aus  der  oben  ausgesprochenen  Tendenz  des  Verf.,  ein 
Werk  der  Liebe  zu  stiften.  An  dieser  Stelle  darf  man  jedoch  auch  ein  Auge 
für  die  Schwächen  G.'s  haben.  Vor  allem  dünkt  mir  Gj.  in  diesen  Werken 
zu  dogmatisch;  sein  Realismus  leidet  unter  einer  gewissen  Tendenziosität. 
Neben  Scenen  voll  Leben  viel  Gezwungenes,  Hypothetisches.  Auf  eine 
enge  kulturelle  Basis,  wie  es  die  kroatische  ist,  verpflanzt  er  Ideen,  denen 
dieses  beschränkte  Leben  keine  adäquate  Nahrung  zuführen  kann.  So  sind 
Borislavid,  Radmilovic,  ja  selbst  Gjurgjica  Agideva  theoretischer,  als  dies 
der  fremde  Leser  in  Erfahrung  bringen  kann.  Auch  in  der  Technik  eine 
Rückwirkung  des  Gekünstelten,  der  Dichter  wirkt  da  mit  starken  Kon- 
trasten. Besonders  in  Gjurgjica  Agiceva  ist  diese  Methode  durchsichtig. 
Auf  eine  Freude  erfolgt  gewiß  ein  Leid,  in  diesem  eöektvollen  Auf  und  Ab 
geht  seine  Heldin  mehr  physisch  als  psychisch  zu  Grunde.  Die  Charaktere  : 
Engelsgüte  und  Lilienreinheit  einerseits,  Haß  und  Gemeinheit  andererseits. 
—  In  der  sozialen  Novelle  treten  diese  Mängel  nicht  so  sehr  an  den  Tag.  — 
Das  VI.  Kapitel  »Zwischen  Himmel  und  Erde«  beschäftigt  sich  mit  den 
spiritistischen  Erzählungen  Gj.'s.  Diese  Art  von  Produkten  wird  sehr 
hübsch  aus  biographischen  und  literarischen  Einflüssen  erklärt,  nur  möchte 
ich  ersteres  gegenüber  dem  letzteren  betonen.  —  Das  letzte  Kapitel  (VII.) 
kehrt  zum  Ausgangspunkte  zurück  —  »Von  neuem  Zagorien«!  Der  Verf. 
hat  dieser  Rückkehr  mir  einen  refrainartigen  Charakter  beigemessen  —  sie 
bedeutet  aber  viel  mehr!  «Was  man  in  der  Jugend  wünscht,  hat  man  im 
Alter  die  Fülle«  kann  man  auch  für  Gjalski  behaupten.  In  diesen  späten 
Produkten  findet  sich  geradezu  der  Dichter  selber.  Die  zu  gründe  gehende 
adelige  Welt  Zagoriens  hat  in  Gj.  ihren  lit.  Repräsentanten  gefunden.  »Na 
rodenoj  grudi«,  »Iz  varmedjinskih  dana«  und  »Diljem  doma«  werden  sich 
lebensfähiger  erweisen,  als  J.  Borislavic,  Radmilovid  und  selbst  »U  noci«. 
Diese  Sachen  sind  Literatur,  jene  eine  Konfession.  Ich  finde,  daß  die  kroa- 
tische Erzählung  eine  lokale,  provinzielle  Phase  durchgemacht  hat;  vor- 
treffliche slavonische,  küstenländische,  zagorische,  bosnische  Erzähler  reihen 
sich  an  Gjalski  an.   Gelungene  Romane  größeren  Horizontes  fehlen  noch. 

Im  Buche  T.  Grabowski's  sind  eine  Menge  feiner  Beobachtungen  zer- 
streut, die  wert  sind  gelesen  zu  werden.  Leider  wird  das  Wesentliche  seiner 
Gedanken  von  einem  synonymischen,  rhetorischem  und  in  Bildern  schwelgen- 
den Stile  überwuchert.  Es  ist  zu  viel  Licht  und  Farbe  da  und  das  Portrait 
schimmert  zum  Nachteil  der  Plastik.  Das  tritt  besonders  im  Resume 
[Zakonczenie  S.  238]  hervor,  der  Verf.  hat  darin  nicht  das  Beste  und  Wich- 
tigste seiner  Beobachtungen  zusammengefaßt.  In  diesem  Falle  urteile  man 
also  nicht  nach  dem  Schlußworte !  —  Der  Verf.  erinnert  da  wieder  an  den 


Grabowski,  Lit.  Stud.  über  das  heutige  Kroazien,  angez.  von  Prohaska.    145 

Einfluß  Turgenjev's,  ich  hätte  hier  lieber  den  Unterschied  zu  diesem  Vor- 
bilde beleuchtet,  nicht  etwa  um  zum  Schluß  einen  großen  Maßstab  an  den 
Dichter  zu  legen,  sondern  um  Präciseres  über  seine  Eigenart  zu  gewinnen. 
Schon  im  Stile  ein  großer  Unterschied.  Turgenjev  ist  viel  kürzer,  er  er- 
schöpft die  Charakteristik  gerne  im  Dialog  und  läßt  der  Reflexion  nur  ge- 
ringen Raum  übrig.  Gj.  schweigt  geradezu  in  einer  Breite  des  Schilderns 
und  stellt  lange  Btitraclitungen  lyrischen  Inhaltes  an.  Die  Technik  ist  auch 
eine  andere:  Gj.  heftet  an  das  Erscheinen  seiner  Gestalten  zugleich  die  ge- 
naueste Charakteristik  —  Turgenjev's  Figuren  werden  erst  in  der  Folge  klar 
und  interessant.  Es  sieht  oft  aus  bei  Gj.,  als  ob  die  Personen  nur  die  Konse- 
quenzen ihrer  Charakteristik  in  verschiedenen  Situationen  ziehen  würden. 
(Es  liegt  darin  etwas  absichtlich  Dramatisches,  Unruhiges  bei  Gj.)  Ideelle 
Gegensätze  lassen  uns  noch  mehr  (ij.  erkennen:  Turgenjev  huldigt  dem 
Westen  —  Gj.  dem  Slavcntum.  Gj.  glaubt  an  eine  slavische  Seele,  der  er 
gegenüber  der  germanischen  gerne  den  Vorzug  gibt.  Leider  findet  der 
Dichter  für  diese  Idee  keinen  dankbaren  Boden  auf  dem  von  deutscher  Kul- 
tur getränkten  kroatischen  Gebiete !  So  sehr  auch  Gj.  psychologisch  vorgeht, 
spielen  doch  äußere  Motive  bei  ihm  eine  viel  bedeutendere  Rolle,  als  bei 
Turgenjev.  (Man  vgl.  hierin  Nt  zdanov  mit  Kadmilovic.)  —  Ein  wesentlicher 
Charakterzug  Gj.'s  ist  ferner  ein  ausgesprochener  Feminismus.  Kein  kroa- 
tischer Erzähler  weiß  sich  so  in  das  weibliche  Wesen  zu  vertiefen,  wie 
Gjalski.  Die  Begeisterung,  mit  welcher  sein  Held  Radrailovic  die  individuelle 
Schönheit  seiner  Geliebten  in  Worten  verewigen  will,  ist  eine  persönlich 
Gjalski'sche  Saite.  Seine  Frauen  sind  denn  auch  viel  tiefer  und  wahrer  ge- 
zeichnet als  die  Männer.  —  Was  Gj.'s  Pessimismus  anbelangt,  so  stimme  ich 
dem  Verf.  darin  bei,  dass  er  diesen  Zug  nicht  mehr,  als  es  gelegentlich  not- 
wendig schien,  hervorhob.  Das  Leben  G.'s  ist  ein  unausgesetztes  Ringen 
nach  Kulturgütern  gewesen  —  wo  da  der  wahre  Pessimismus  ?  —  Dieses  pol- 
nische Buch  wird  dem  erfahrungsreichen  Idealisten  zum  Trost  und  zurGenug- 
tuung  dienen.  Es  ist  aus  Liebe  zu  ihm  entstanden  und  wird  Liebe  für  ihn 
erzeugen.  —  Ich  hoffe,  daß  der  Verf.  bald  seinem  Versprechen  nachkommen 
und  seiner  Nation  ebenso  interessant  über  I.  Vojnovic  und  S.  Kranjceviö 
berichten  wird.  D.  Prohaska. 


Eine  poln.  Übersetzung  des  Igorliedes:  »Cjiobo  o  njnbKy  HropsBi«. 

Im  Programm  des  Gymnasiums  zum  hl.  Jakob  in  Krakau  erschien  eine 
neue  polnische  Übersetzung  des  berühmten  altrussisclien  Denkmals  »Ciobo  o 
n.n>Ky  IlropeBi«  vom  rutlienischen  Dichter  Bohdan  Lepki.  Die  Übersetzung 
liegt  uns  auch  im  Separatabdruek  vor  u.  d.T.  »Slowo  o  pulku  Igora,  przeloiyl 
Bohdan  Lepki«  (Krakau  19().i). 

Es  mag  schon  gleich  am  Anfang  bemerkt  werden,  daß  der  Ausdruck 
»przeloiyl«  d.  h.  »übersetzt«  an  dieser  Stelle  eigentlich  unpassend  ist,  da  es 
sich  hier  1)  nicht  um  eine  wortgetreue  Übersetzung  handelt,  und  2)  der  Über- 

Ai-cliiv  für  .«laviHche  riiilologie.    XXVIIl.  10 


146  Kritischer  Anzeiger. 

setzer  den  Text  in  Versen,  mitunter  in  verschiedenem  Versmaß,  wiederge- 
geben hat. 

Es  gab  Zeiten,  wo  das  Denkmal  auch  bei  den  Polen  Interesse  fand  und 
schon  im  Jahre  1821  wagte  sich  Kyprian  Godebski  an  die  Cberaetzung  des 
Denkmals  ins  Polnische.  Aber  dieser  Mann  gehörte  zu  den  hartnäckigsten 
Skeptikern  bezüglich  der  Echtheit  unseres  Denkmals,  kein  Wunder  also,  daß 
er  seiner  nach  der  französischen  Vorlage  verfertigten  Übersetzung  die  Über- 
schrift setzte:  »Wyprawa  Igora  na  Potowcöw  ,poema  Alexandra  Iwanowicza 
Puszkina«*).  Krasinskis  Übersetzung  vom  J.  1856  erfreute  sich  ebenfalls 
keines  Erfolges  und  es  bleibt  noch  die  im  J.  1833  geleistete  Umdichtung  des 
»C-ioBo«  von  Bielowski  übrig,  die  wenn  auch  die  beste  aller  polnischen  Über- 
setzungen (natürlich  handelt  es  sich  hier  um  die  versifizierten  Übersetzungen) 
gegenwärtig  als  veraltet  angesehen  werden  muß.  Von  den  Übersetzungen 
neuerer  Zeit  in  anderen  Sprachen  mag  die  russische  von  Longinow  2)  und 
die  deutsche  vonAbicht^)  genannt  werden.  Die  beiden  letztgenannten  Über- 
setzer bestreben  sich,  das  Denkmal  in  dem  von  ihnen  entzifferten  Metrum  des 
Originals  zu  übersetzen. 

H.  Lepki  hat  seiner  Übersetzung  eine  Vorrede  vorausgeschickt  (»Od 
tlomacza«.  S.  1 — 7),  wo  er  in  kurzen  Worten  die  Entdeckungsgeschichte  des 
Denkmals  durch  Musin -Puskin  (1795)  zusammenfaßt  und  der  wichtigsten 
Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  gedenkt.  Die  obenerwähnten  polnischen  Über- 
setzungen befriedigen  ihn  nicht,  er  habe  sich  bestrebt,  die  Übersetzung  den 
Ergebnissen  der  neueren  Forschung  anzupassen,  und  das  Denkmal  in  der 
Gestalt  zu  vermitteln,  wie  er  es  verstanden  und  empfunden  habe.  Nach 
dieser  Vorrede  folgt  die  Übersetzung  (S.  9—40)  und  zum  Schluß  merkwür- 
digerweise »Uwagi  wstepne«  (»Einleitende  Bemerkungen"),  die  wir  gleich  am 
Anfang  erwaitet  hätten.  S.  46 — 54  kommen  noch  »Objasnienia«,  d.  h.  Erklä- 
rungen zu  einzelnen  Stellen  der  Übersetzung.  In  den  »Vorbemerkungen« 
wird  nach  der  Chronik  die  Geschichte  des  unglücklichen  Heereszuges  Igors 
vom  J.  1185  erzählt  und  dazu  einige  Bemerkungen  über  den  unbekannten 
Verfasser  des  Denkmals,  die  Zeit  der  Entstehung,  den  Dialekt  und  das  Alter 
der  letzten  Niederschrift  hinzugefügt.  Was  den  unbekannten  Verfasser  an- 
belangt, so  nimmt  Lepki  mit  Weltmann  an,  er  müsse  ein  Mann  gewesen  sein, 
der  in  der  Nähe  des  Fürsten  lebte,  ihn  verehrte,  und  an  dem  Zuge  teilnahm. 
Doch  die  Annahme,  daß  der  Dichter  sich  an  dem  Zuge  beteiligte,  ist  nicht 
notwendig.  Der  ganze  Zug  und  die  Schlachtschilderung  wird  nur  in  Haupt- 
zügen gegeben  und  die  Beschreibung  von  Igors  Flucht  ist  wohl  als  Bild  der 
gestaltungsreichen  Phantasie  des  Dichters  anzusehen,  ähnlich  wie  er  Jaro- 
slawnas  Klage  nachempfindet  oder  die  Unterredung  zwischen  Gzak  und 
Koncak  schildert.  Richtig  ist  die  Bemerkung  Lepkis  (S.42),  daß  es  sich  dem 
Dichter  nicht  darum  handelte,  ein  Bild  der  Greuel  des  Kampfes  darzustellen 


1)  »Dziela  wierszem  i  proza«.  Warschau  1821.  II.  S.  308  flF. 

2)  »HcTop.  HscjiiÄ.  0  nox.  eis.  KHasa  Uropa  CBSTociaBHia  o.   OÄCCca  1893. 
Als  Beilage. 

3)  »Das  Lied  von  der  Heeresschar  Igors«.  Leipzig  1895. 


Lepki,  Poln.  Übersetzung  des  Igorliedes,  angez.  von  Lewickyj.      147 

oder  die  Polowcer  in  gehässiges  Liebt  zu  setzen,  sondern  daß  der  unbekannte 
Verfasser  sich  weit  über  die  Parteikämpfe  der  Fürsten  erhebt  und  die  Liebe 
zum  unglücklichen  Vaterlande  ihm  die  hinreißend  poetische  Rede  entlockt. 
Die  Entstehungszeit  des  Denkmals  setzt  Lepki  —  wie  es  gemeiniglich  ge- 
schieht —  zwischen  das  Jahr  1185  und  1187,  da  in  diesem  Jahre  Jaroslaw 
Osmomysl  starb,  der  im  »Gjiobo«  unter  den  lebenden  Fürsten  genannt  wird. — 
In  Bezug  auf  den  Dialekt  des  Denkmals  beruft  sich  der  neue  Übersetzer  auf 
Polewoj  und  Maksimowic,  die  das  Denkmal  in  » ukrainischem  Dialekt«  abgefaßt 
wissen  wollten.  Doch  weder  Polewoj,  noch  Maksimovic,  noch  Lepki  haben 
uns  den  Beweis  für  diese  Behauptung  erbracht.  Ja  man  könnte  auch  die  ent- 
gegengesetzte Behauptung  aufstellen  und  sich  bezüglich  der  Sprache  des 
Denkmals  und  deren  nahen  Zusammenhanges  mit  der  großrussischen  Volks- 
poesie auf  Kolosov,  Smirnov  und  Barsov  berufen!  Und  doch  wird  für  die 
Sache  dadurch  nichts  gewonnen.  Dagegen  ist  es  richtig,  daß  der  innerliche 
Aufbau  des  Denkmals  und  der  lyrisch-epische  Ton  seinen  Wiederhall  in  den 
kleinrussischen  Dumen  findet.  Die  letzte  Niederschrift  des  Denkmals  glaubt 
Lepki  in  die  zweite  Hälfte  des  XVL  Jahrh.  —  wie  es  Barsov  tut  —  versetzen 
zu  müssen  (S.  45). 

Die  Übersetzung  zerfällt  in  XVI  Abschnitte,  und  in  jedem  Abschnitt 
ist  das  Versmaß  dem  Tone  des  Liedes  angepaßt.    Selbstverständlich  war  es 
auf  diese  Weise  unmöglich,  eine  wortgetreue  Übersetzung  zu  liefern,  und  es 
ist  wirklich  ein  wichtiges  Zeugnis  für  die  Begabung  des  Übersetzers,  wenn 
er  dort,  wo  er  ein  plus  gegenüber  dem  Original  gibt,  nicht  aus  dem  Geiste 
und  Niveau  dieser  alten  Zeit  herausfällt.    Unglücklich  gewählt  ist  nur  das 
Bild  von  der  Überschwemmung  des  Flusses  Stugna: 
»0  bo  Stuhna  ju?.  nie  taka! 
Sama  ladajaka, 
Lecz  wchlon^wszy  obce  wody 
Zalewa  ogrody«  (S.  35). 

Abgesehen  davon,  daß  im  Original  von  überschwemmten  Gärten  keine 
Rede  ist  und  die  Worte  »zalewa  ogrody«  nur  des  Reimes  wegen  angewendet 
zu  sein  scheinen,  ist  der  Sinn  des  betreffenden  Abschnittes  unrichtig  wieder- 
gegeben. Mag  die  Stelle  »Cxyriia  xy^y  crpyio  uMia,  noacpT.niH  qyacH  py^tu,  u 
CTpyrbi  pocTpo  iia  Kycry.  yuomy  Khabk)  PocTiic.3aBy  aaTBopu  ^uinpi,  xCMHi 
Cepasi.  JlÄim.arcn  Mani  PocxuciaBa  no  yiioiim  Khasu  P.«  (B^aÄUMipoBt  ^pcBH. 
Pycc.JIiiT.  S.  42)  noch  so  verschieden  kommentiert  werden  —  so  ist  es  zweifel- 
los, daß  der  Fluß  Stuhna  nur  darum  dem  freundlichen  Donec  gegenüberge- 
stellt wird,  weil  der  Fürst  Rostislaw  darin  ertrank.  Und  wenn  Lepki  weiter 
dichtet:  »Nawet  Dniepr  nasz  ojciec  stary, 

»Zamknt}!  brzegi,  jary 

»Dia  nilodego  Rostyslawa«  . . ., 
so  wird  den  Sinn  der  Stelle  nimand  verstehen. 

Am  schwächsten  ist  dem  Übersetzer  Kapitel  II  geraten:  Begegnung 
Igors  mit  dem  Bruder  Wsewolod.  Die  Apostrophe  an  Bojan,  die  im  Original 
so  ergreifend  klingt,  ist  ganz  matt  ausgefallen.  Die  Stelle  »0  Eoaue  coJOBiw 
CTaparo  BpcMeuH«  u.s.w.  lautet  in  der  Übersetzung  folgem'ermaßen: 

10* 


148  Kritischer  Anzeiger. 

....  »0,  wieszczy  Bojanie, 
»Slowikij  wieköw  minionych!  Twej  piesni 
»Trzebaby  tutaj.   Ty  po  mysli  drzewic, 
»Swobodnie  latasz,  jak  ptaszkowie  Icini«  u.s.w. 

Der  tapfere  Fürst  WsewohxJ  flößt  gleich  bei  der  Begegnung  dem  durcii 
da8  böse  Zeichen  der  Öonnenfinsternis  gebückten  Igor  kiiegerischen  Mut  ein, 
indem  er  ihn  anspricht:  "Ojuiil  Opan,,  oähh'I' ciitri.  CBtT.)iuH  tbi  Hropio,  o6a 
asi  CBHTXCJaB^iuqa;  ciÄJiaM,  öparc  cboii  6pT,3Hii  komohh«  u.s.w.  Vergleichen 
wir  dagegen  die  Übersetzung,  so  ist  die  Munterkeit  des  Buj-Füreten  in  seiner 
Rede  nicht  mehr  zu  finden: 

"Ach  Bracie  niöj  jedyny, 
»Obydwaj  przi'cie  my,  synowie  Swi^toslawa! 
»Kaz  siodlad  konie  swe,  bo  luoje  ci  dru^.yny 
»Jui  opuscily  Kursk.   A  wiedz,  wojenna  sprawa 
»To  jest  rzemioslo  ich  . . .«  (sie!)  (S.  12), 

Bekanntlich  schlägt  der  Ton  im  alten  Liede  auf  Schritt  und  Tritt  um, 
lyrische  Stellen  sind  nicht  selten  zu  finden  —  und  in  diesem  liegt  all  die 
Schönheit  des  Igorliedes.  Da  aber  der  Übersetzer  jedes  Kapitel  in  beson- 
derem Versmaß  übersetzt,  so  gehen  oft  die  schönsten  lyrischen  Stellen  in  der 
Übersetzung  verloren.  Daß  hier  das  Versmaß  so  verhängnisvolle  Ketten 
dem  Übersetzer  angelegt  hat,  kann  man  sich  leicht  überzeugen,  wenn  man 
gleich  die  Naturschilderungen  oder  Ausmalungen  von  Situationen  zum  Ver- 
gleich heranzieht,  wie  sie  sich  prächtig  in  der  Übersetzung  ausnehmen.  Die 
Worte:  »Toraa  BtcrynK  Hropt  Khksl  bt.  3.3aTi>  cxpeMCHL  h  noixa  no  qiiCTOMy 
no.510»  —  lesen  wir  in  gelungener  Übersetzung  wiedergegeben: 

»Slyszac  to  Igor,  w  strzemiona  zlociste 
»Wst^pil  i  ruszyl  po  polu  rozlogiem. 
»Byl  wieczör.   Slonce  zacmione  i  mgliste 
»Gaslo.  Noc  czarna  westchnieniem  ziowrogiem 
»Budzila  ptactwo«  u.s.w.  (S.  13). 

Am  schönsten  ist  die  Übersetzung  von  Jaroslawnas  Klage  gelungen. 
Die  Klage  und  Schmerz  nach  dem  gefangenen  Fürsten-Gatten,  dieses  Ge- 
misch von  Liebe  und  Verehrung,  finden  wir  in  der  neuen  Übersetzung  pracht- 
voll zum  Ausdruck  gebracht.  Jaroslawna  (Igors  Gattin)  wendet  sich  an  die 
Sonne  mit  den  Worten:  »CBiTjroe  h  TpecBixjioe  cjitHuel  BciMt  leiuio  h  RpacHO 
cch:  leMy  rocnoÄnae  npocipe  ropaiioio  cboh)  Jiyqio  Ha  Jiaai  bok?  b-b  nojii  6e3- 
BOAH§  acaacseio  HMt  Jiyiu  cinpHace,  lyroio  uait  Ty.iii  saiqe«  (B.iiaÄHM.  S.  39). 
Lepki  dichtet  das  um : 

»Slonce,  möj  jasny,  trzykroc  jasny  panie, 

»Zrödlo  ciepla  piekny  gospodynie  ! 

»Pocö^  swoje  gor^ce  promieuie 

»Skierowales  na  miejsce  gdzie  slawny 

»Stai  pulk  mego  m^fa? 

»Poco  rzeki  i  strumienie 

»Wypites  a  w  iolnierzach  zbudziles  pragnienie 

»Tak,  ie  nie  mieli  sll  chwycic  ore^a?«  (S.  33). 


\ 


Lepki,  Poln.  Übersetzung  des  Igorliedes,  angez.  von  Lewickyj.      149 

Das  Verhältnis  der  Übersetzung  zum  Original,  wie  man  schon  aus  den 
angeführten  Stellen  ersehen  kann,  ist  sehr  frei,  daneben  aber  findet  man  Aus- 
lassungen und  Zusätze,  mitunter  ganz  unbegründete  und  mit  dem  Texte  in 
keinem  Zusammenhang  stehende.  So  z.B.  im  Kapitel  II  (S.  11)  läßt  der  Über- 
setzer den  Dichter  sich  mit  den  Worten  an  Bojan  wenden:  »Poradz  ze  mi 
przecie,  \  Jak  mam  Igora  spiewac!  Czy  slowami:  |  »Hej,  nie  burza-i  to  po 
szerokim  swiecie  |  P^dzi  sokoly — nie  stadai  gawronöw.  . .«  Das  ist  ein  neuer 
an  die  antiken  Apostrophen  erinnernder  Zug  gegen  das  einfache  des  Origi- 
nals: »(EojiHC,)  IliTH  61.1J10  nicB  HropeBU  xoro  (Ojitra)  BHyKy:  »ne  6ypa  cokojih« 
U.S.W.  Das  gleiche  findet  man  im  dritten  Kapitel  (S.  13),  wo  der  Übersetzer 
den  Div  zu  den  Heiden  rufen  läßt:  »Czujcie!  Nieszczescie  nie  drzemie!«  Im 
Original  findet  sich  davon  kein  Wort.  Die  raschen  Übergänge,  wie  sie  in  un- 
serem Denkmal  so  häufig  zu  finden  sind,  suchte  der  Übersetzer  durch  einge- 
schaltete Sätze  zu  vermitteln  oder  die  Sätze,  die  im  Texte  scheinbar  ohne 
Zusammenhang  stehen,  reiht  er  später  an  die  durch  den  Inhalt  verwandten 
an.  So  wird  z.  B.  Igors  Angst  und  Unruhe  vor  der  Flucht  in  kurzen  Sätzen 
geschildert:  »Hrop  cnurt,  Hrop  öähti,,  Hrop  Mi.icjiiio  nosa  MipHTB  OTt  se^HKaro 
4oHy  ao  MaJioro  iloHua.  EoMonb  e^  hojihohu.  Osjiypx  CBHcay«  u.s.w.  Lepki  läßt 
an  dieser  Stelle  den  Satz  »komoiil  et,  nMHoqii«  aus  und  schaltet  ihn  erst 
später  im  engeren  Zusammenhange  ein : 

»Pölnoc,  cicho!  Wtem  gwizd  jakis 

»Cöz  to  za  gwizdanie? 

»Oto  Owlör  daje  znaki, 

»Ze  czas  wstawac,  panie, 

»Ze  czas  lostmvac  ydi/z  kon  czeka 

»Gotowy  do  drogi«  (Kap.  XIV,  S.  34). 

Eine  recht  schwere  Arbeit  bei  der  Übersetzung  dieses  in  jeder  Hinsicht 
so  interessanten  Denkmals  bildet  die  richtige  Wiedergabe  der  sog.  dunklen 
Stellen.  In  der  Einleitung  sagt  der  neue  Übersetzer,  daß  er  getrachtet  habe, 
die  neuesten  Forschungen  über  das  Denkmal  seiner  Übersetzung  zunutze  zu 
machen.  Doch  aus  den  Literaturangaben  ersieht  man,  daß  er  über  Barsovs 
Werk  nicht  hinausgegangen  ist.  Ja,  was  noch  zu  bedauern  ist,  das  ist  der 
Umstand,  daß  dem  Übersetzer  kein  anderer  Text  zu  Gebote  gestanden  zu  haben 
scheint,  als  der  von  Ogonowski  redigierte  in  seiner  Ausgabe  des  Denkmals 
vom  Jahre  1876!  Nun  ist  aber  der  wörtliche  Abdruck  des  Textes  aus  der 
ersten  Ausgabe  des  Denkmals  (vom  J.  1800)  bei  Wladirairov  in  »npu.ioHceHiH<< 
zu  seiner  »ilpcEnaa  PyccKaa  JIuTeiiaxypa  KiescKaro  nepio^a«  (KicBi.  1901)  leicht 
zugänglich. 

Was  die  sog.  dunklen  Stellen  anbelangt,  so  ist  darüber  bei  einer  so 
freien  Übersetzung  wie  die  von  Lepki  nicht  viel  zu  sagen.  So  z.  B.  die  dunkle 
Stelle  »u  BT.  Mopt  norpysucTa  11  iiejiuKOO  öyücrBO  nojacTL  \uhobii«  übersetzt 
Lepki  ganz  frei  und  setzt  sich  leicht  über  die  schwierige  Stelle  hinweg:  »Jui 
pot^ga  tonie  w  morzu,  chan  rosnie«.  Gänzlich  verfehlt  ist  auch  die  Über- 
setzung der  folgenden  dunklen  Stelle:  «Pckx  Eoaut  11  xoau  na  CBni-BCJiaBJiJi 
nicTBopua  cxaparo  BpoMCiiu  ii\)0CAa.Bji!i   OjitroBa   Koran«   xoru«   (Bjiaa.  S.  44). 


1 50  Kritischer  Anzeiger. 

Lepki  —  wahrscheinlich  dem  Ogonowski  folgend  —  nimmt  an,  daß  hier  von 
zwei  Sängern  die  Rede  sei  und  übersetzt: 

»Rzekl  niegdys  Bojan  wieszczy 

»Do  piewcy  Swiatoblawa, 

»Co  spiewal  stare  cz  isy  Ole^a,  Jaroslawa, 

»A  byl  ksi^zecym  druhem«  (Kap.  XVI,  S.  39). 

Doch  ist  hier  nur  von  Bojan  die  Rede  und  jede  andere  Deutung  (z.  B. 
von  Longinov,  Wladimirov)  wäre  besser  als  die  vom  Übersetzer  gewählte. 
Auch  andere  Freiheiten  hat  sich  der  Übersetzer  erlaubt,  die  gänzlich  unnütz 
sind.  So  z.B.  wenn  es  in  dem  Original  heißt:  »kojih  Hropx  coko.iom  nojieri, 
TOFÄa  Bjypx  bjt>komx  noieic«,  so  war  es  ganz  unnötig  zu  übersetzen:  «Kiedy 
Igor  leci  ptakiem  |  Owlor  ko7mo  goni«  (Kap.  XIV,  S.  .^5). 

Obwohl  in  der  Übersetzung  <Lepkis  an  einigen  Stellen  Änderungen  oder 
Berichtigungen  wünschenswert  wären,  so  ist  sie  doch  eine  dankenswerte 
Leistung,  da  sie  heute  gewiß  die  erste  Stelle  unter  den  Umdichtungen  des 
Denkmals  in  polnischer  Sprache  behaupten  darf.  —  Bohdan  Lewickyj. 


Dr.  Anton  Wallner:  Deutscher  Urmythus  in  der  tschechischen  Ur- 
sage.    Laibach  1905.    Kleinmayr  und  Gemberg.  3.5  S.   [Sonderab- 
druck aus  dem  Jahresbericht  der  St.  0.  R.  Laibach.] 

Immer  wieder  verlockt  die  boshafte  Sphinx  »tschechischer  Urmythus 
und  Ursage«  neue  Rätsellöser,  denn  immer  noch  sucht  man  nach  dem  Bei- 
spiele Jakob  Grimms  in  den  Chronisten  Böhmens  nach  (dem)  uralten  Mythen- 
stoflf.  Alle  diese  vergeblichen  Versuche  blieben  erspart,  wollte  man  nach 
dem  Vorgange  Lipperts  [Die  tschechische  Ursage  und  ihre  Entstehung.  Ge- 
meinnützige Vorträge  Nr.  41],  der  doch  vom  Verfasser  benützt  wurde,  ohne 
jede  Romantik  mit  kritischem  Blicke  zunächst  die  Quellen  prüfen.  Eine  Be- 
rufung auf  Palackys  »Würdigung....«  genügt  nicht,  ein  klein  wenig  Umschau 
in  den  Chronisten  selbst  ist  schon  förderlicher. 

Der  Autor  vorliegenden  Schriftchens  [Text  33  Seiten]  druckt  zunächst 
Rasmanns  Übersetzung  einer  Partie  der  Thidrekssaga  [S.3— 6],  dann  Koamas 
lib.  I,  10—12  [S.  8—11],  und  dazu  Hajeks  Version  anno  863,  867,  868  [S.  13— 
20]  ab,  behandelt  hier  Hajek,  wie  auch  die  übrigen  Chronisten  nach  Kosmas 
als  brauchbare  Quellen.  Hajek  zitiert  er  namentlich  wegen  dessen  Angaben, 
daß  der  böhmische  Held  Tyr,  nach  Wallner  =  Isung,  eine  Personifikation  des 
Winters,  am  10.  Mai  fällt,  eine  Angabe,  die  auch  von  den  beiden  Gelehrten 
Weleslawin  und  Lupacius  ernst  genommen  werde!  (S.  35).  Wenn  dieses 
Datum  sagenecht  sei,  was  Wallner  sehr  gerne  annehmen  möchte,  dann  fiele 
erst  ein  volles  Licht  auf  den  dreitägigen  Kampf  zwischen  Hertnid  und  Nor- 
dian  etc.  .  .  .  Wallner  hätte  nur  beachten  müssen,  wie  skrupellos  Hajek  nicht 
nur  andere  »historische  Tatsachen«  fälscht,  sondern  namentlich  auch  genaue 
Daten  über  sein  »Werk«  verschwenderisch  ausstreut,  wie  gedankenlos  ein 
Chronist  vom  andern  abschreibt. 


Wallner,  Deutach.  Urmythns  in  tschech.  ürsage,  angez.  von  Thal.     151 

Und  nun  die  Sagen  selbst.  In  der  Thidrekssaga  wird  König  Hertnid  im 
Kampfe  gegen  Isung  von  Bertangenland  durch  das  Löwen-,  Bären-  und 
Drachenheer  seiner  Gemahlin  Ostacia  unterstützt,  die  von  ihrer  Stiefmutter 
Hexenkünste  erlernt  hat.  Nach  dem  Siege  findet  Hertnid  sie  todwund,  er  er- 
kennt, daß  sie  ebenfalls  als  Drache  am  Kampfe  teilgenommen,  sie  stirbt  nach 
drei  Tagen  mit  geringem  Nachruhm,  als  Hexe  natürlich  [Thidrekssaga 
um  12  50!].  Hier  möchte  W.  eine  Parallele  zur  böhmischen  Sage  konstruieren 
und  motivieren,  »weil  sie  gegen  ihre  Verwandten  gekämpft  hat«,  doch  seiner 
Mythologie  zuliebe  gibt  er  diese  Konjektur  auf. 

In  der  böhmischen  Sage  I.  kündet  Herzog  Wlastislaw  dem  Pragerherzog 
Neklan  den  Krieg  an,  befiehlt  seinen  Leuten,  Raubvögel  mitzunehmen; 
W.  sieht  darin  die  Drachen  der  Ostacia,  diesem  Motiv  stünden  die  böhmi- 
schen Chronisten  mit  sichtlicher  Befremdung  gegenüber  und  versuchten 
allerlei  Deutungen  (S.  32);  Kosmas  wendet  sicherlich  hier  nur  das  alte  antike 
Motiv  der  vßQi^  an.  II.  Das  ganze  Heer  geht  zugrunde,  nur  einer  entkam 
(biblisches  Motiv),  es  zu  melden.  Auf  den  Rat  der  Stiefmutter  haut  er  dem 
ersten  Gegner  die  Ohren  ab,  flieht,  findet  zuhause  sein  Weib  tot,  die  Ohren 
fehlen  ihr,  ein  altes  Hexenmotiv;  diese  Frau  entspricht  nach  W.  der  Ostacia. 
III.  Der  Sieg  der  vormals  feigen  Prager  wird  durch  ein  Eselsopfer  (hiefür 
keine  Parallele)  und  durch  den  Helden  Tyr  bewirkt,  der  in  des  feigen  Herzogs 
Neklan  Rüstung  kämpft  und  fällt,  nach  W.  Seitenstück.  Isung  beruft  seine 
Freunde  Thetleif  und  Fasold,  gewaltige  Kämpen,  zu  Hilfe.  Die  Parallele  zu 
Patroklos-Achilles  liegt  doch  für  Kosmas  näher. 

Ebensowenig  besagen  die  übrigen  Ähnlichkeiten,  deren  Fülle  W.  nicht 
dem  Zufall  aufbürden  mag,  daß  man  zu  dem  Heereszug  beiderseits  ein  Heer 
rüstet,  ein  gewaltiges,  daß  beide  Kriege  mit  Plündeiungen  beginnen 
[S.  22]  etc. 

Es  handelt  sich  also  in  beiden  Sagen  um  Hexenmotive,  die  doch  sehr 
verschieden  sind,  von  einer  Abhängigkeit  der  tschechischen  Sage  finde  ich 
keinen  Beweis. 

Jegliche  Beweiskraft  verlieren  jedoch  diese  Parallelen,  namentlich  für 
die  mythologische  Ausdeutung,  wenn  man  sich  die  Entstehung  der  böhmi- 
schen »Ursagen«  betrachtet.  Aus  dem  Namen  »Dövin«  wird,  wie  schon  Lip- 
pert  darlegt,  eine  Mädchenburg,  aus  der  Benennung  Vysehrad  eine  höhere, 
eine  Männerburg  erschlossen,  Devin  ist  zerstört,  folglich  haben  die  Männer 
der  Mädchenherrachaft  ein  Ende  gemacht.  Wie?  Das  erzählt  Kosmaa  frei 
nach  dem  Raube  der  Sabinierinnen,  melir  nicht,  keinen  Namen.  Dalimil  er- 
zählt schon  einen  ganzen  7jährigen  Krieg,  mit  einer  Menge  Namen  und  Epi- 
soden, alles  teils  nach  Ortsnamen  erfunden,  teils  Variationen  des  Motivs  der 
trügerischen  Frauengunst,  sehr  viel  Nachbildung  der  Amazonensagen,  My- 
thologisches weder  bei  Dalimil,  noch  bei  Kosmas,  es  liegt  vielleicht  im  Na- 
men, nicht  in  der  Sage,  die  nur  »gelehrte«  Konstruktion  ist. 

Kosmas  ist  ferner  ein  Geistlicher,  die  Libusaasage,  soweit  er  sie  vot- 
fand,  und  nicht  etwa  sell)st  zusammensetzte,  schmückt  er  mit  antiken  nnd 
biblischen  Motiven  aus,  eigentlich  ist  Libuasa  für  ihn  eine  Hexe.  Auch  hier 
bildet  die  Grundlage  die  Deutung  der  topischen  Bezeichnung,  Tetin,  Ka&in, 


1 52  Kritischer  Anzeiger. 

Libuäin;  das  Motiv  vom  eisernen  Tisch,  der  so  vielfach  Anlaß  gab,  Przemysl 
gleich  Perun  =  Donar  zu  setzen,  findet  sich  erst  bei  Dalimil,  kann  wohl 
schwerlich  von  Kosmas  vergessen  worden  sein  oder  aus  ungenauer  Kenntnis 
der  Volkssage  ersetzt  worden  sein,  es  ist  ja  auch  nur  eine  Entlehnung  des  in 
der  Antike  bewanderten  Dalimil  aus  dem  gelesensten  Buche  des  Mittelalters 
nach  der  Bibel,  der  Aeneis  des  Vergil,  der  Stelle,  wo  Aeneas  die  Prophe- 
zeiung der  Herrschaft  erhält,  sobald  seine  Gefährten  vor  Hunger  die  Tische 
verzehren  würden. 

So  ist  endlich  die  ganze  Tyrsage  aus  dem  Namen  »Turske  pole«  und 
dem  Grabhügel  hergeleitet,  wie  Kosmas  sagt:  unde  et  hoc  die  nominatur 
militis  acerrimi  bustum  Tyri,  dazu  der  Name  des  Neklan,  als  »unerprobt, 
feig«  gedeutet,  antike,  biblische,  Hexenraotive  dazu,  und  eine  Sage  ist  fertig. 

Somit  geben  die  Berichte  des  Kosmas,  und  also  noch  viel  weniger  die 
späteren  phantasiebegabten  Chronisten,  durchaus  nicht  eine  feste  Handhabe 
zu  mythologischer  Deutung,  und  bei  der  Thidrekssaga  müßte  ja  auch  die 
Umwandlung  des  alten  Sagengutes  unter  der  Hand  des  christlich  gesinnten 
Bearbeiters  in  Rechnung  gezogen  werden. 

Die  kühnen  Etymologien  seien  nebenher  erwähnt. 

Dr.  Gust.  Ad.  Thal. 


Dr.  Jakob  Sket,   Slovenska  slovstvena  citanka  za  sedmi  in  osmi 

razred  srednjih  sol.  druga  predelana  izdaja.  NaDunaju.  V  cesarski 

kraljevi  zalogi  solskih  knjig.  19u6.  482,  8^. 

Als  im  Jahre  1893  Prof.  Sket  seine  für  die  zwei  letzten  Klassen  der 
Mittelschulen  bestimmte  slovenische  Chrestomathie  mit  einem  Abrisse  der 
slov.  Literatur  das  erste  Mal  in  die  Welt  geschickt  hatte,  konnte  er  sich  mit 
Recht  des  Bewußtseins  freuen,  eine  sehr  bemerkbare  Lücke  im  Unterrichte 
des  Slovenischen  als  Muttersprache  ausgefüllt  zu  haben.  Da  die  Slovenen 
noch  keine  Literaturgeschichte  hatten,  war  seinem  Buche  auch  außerhalb  des 
Schulzimmers  eine  freundliche  Aufnahme  gesichert. 

Unter  diesem  Eindrucke  standen  auch  die  Besprechungen  des  Buches. 
Prof.  V.  Korun  begrüßte  es  mit  Freude  in  Erinnerung  daran,  daß  er  vordem 
die  literaturgeschichtlichen  Notizen  mit  Mühe  hatte  sammeln  und  seinen 
Schülern  diktieren  müssen,  gab  eine  kurze  Übersicht  des  Inhaltes  —  hegte 
aber  sonst  keinen  Wunsch  (Popotnik,  Glasilo  »Zaveze  slovenskih  uciteljskih 
drustev«.  Marburg.  XIV  [1893],  S.  233—234). 

Auch  Dr.  Oblak  begrüßte  das  Buch  als  eine  mit  Verständnis  zusammen- 
gesetzte Chrestomathie,  hob  aber  auch  seine  Mängel  hervor.  Die  Zergliede- 
rung der  Literaturepochen  war  ihm  zu  künstlich  (Mittelalter  VI. — XVI.  Jahrh. ; 
protestantische  Periode  1550 — 1595;  kath.  Per.  1595 — 1765;  Wiedergeburt 
1765—1843:  A.  Übergangsperiode  1765—179.5,  B.  Per.  Vodniks  1795—1830, 
C.  Per.  Preserens  1830—1843;  Per.  d.  Volksauf klärung  1843-1893),  die  Be- 
sprechung von  Levstik  und  Jurcic  fand  er  zu  wenig  eingehend  und  tadelte 


Sket,  Sloven.  Chrestomathie,  angez.  von  Kidric.  153 

mit  Recht  das  gänzliche  Fehlen  des  nationalen  Erzählers  Erjavec.  Die  Be- 
urteilung Koseskis  schien  ihm  zu  panegyrisch  und  Vraz  kam  viel  zu  kurz 
davon.  Den  älteren  Teil  wünschte  sich  Oblak  weni^rer  breit  gegenüber  dem 
neueren.  Für  sein  Festhalten  an  der  pannonischen  Hypothese  bekommt  Sket 
einen  Verweis,  und  schließlich  notiert  Oblak  noch  einige  Unrichtigkeiten 
unsere  Zeitschrift  XVI  [1S94],  S.  477—481). 

Der  »Ljubljanski  Zvon«  stellte  zwar  eine  Anzeige  in  Aussicht  (XIII 
[1893],  S.  442),  vergaß  aber  darauf.  Die  slovenische  Öffentlichkeit  kümmerte 
sich  weiter  nicht  um  das  Buch  .... 

Die  Chrestomathie  liegt  nun  in  zweiter  nmgearbeiteter  Auf  läge  vor.  So 
ist  es  auf  dem  Titelblatte  zu  lesen. 

In  der  Tat  aber  sind  die  Änderungen  sehr  formeller  Natur. 

Die  oft  interessanten  und  inhaltsreichen  Bemerkungen,  welche  früher 
einen  Anhang  von  S.  357 — 411  bildeten,  haben  einen  passenderen  Platz  be- 
kommen und  sind  auf  diese  Weise  vielleicht  dem  früheren  Schicksale  ent- 
gangen, als  minderwertig  von  den  Professoren  nicht  beachtet  und  von  den 
Schülern  nicht  gelesen  zu  werden.  In  der  neuen  Ausgabe  stehen  sie  entweder 
klein  gedruckt  unter  dem  Texte  oder  sind  gar  zu  selbständigen  Nummern 
erhoben  worden,  wie  die  Auszüge  aus  Valvasor  (96 — 101),  die  Abhandlung 
über  die  Entwicklung  der  Passionsspiele  bei  den  Slovenen,  oder  das  wenige, 
was  Sket  über  Levstik,  Jenko,  Jurcic  und  Stritar  zu  sagen  wußte  und  weiß. 

Das  Bestreben  des  Verfassers,  auf  Kosten  der  Schriftstellerei  vor 
Preseren  die  Zahl  der  Lesestücke  aus  Preseren  und  der  neueren  Literatur  zu 
vermehren,  kann  man  nur  billigen.  So  finde  ich  aus  den  Freisinger  Denk- 
mälern nur  noch  das  erste  Fragment  abgedruckt  und  dann  mit  wenig  Aus- 
nahmen bis  Preseren  jeden  Schriftsteller  durch  wenigere  oder  kürzere  Bei- 
spiele vertreten,  als  in  der  ersten  Ausgabe.  Hingegen  kommt  bei  Preseren 
unter  anderem  der  ganze  Sonettenkranz  neu  hinzu,  Jurcic  ist  neu  vertreten 
durch  vier  Kapitel  aus  seinem  Romane  Rokovnjaci,  Stritar  durch  den  Essai 
über  Jurcic  und  ein  Kapitel  aus  dem  Romane  Sodnikovi,  Askerc  durch  einige 
Beiner  besten  Gedichte;  Dr.  Tavcar,  Janko  Kersnik  (Aus  der  Erzählung: 
Ocetov  greh)  Janez  Trdina  (Vila  in  junak  Petrovic,  und  etwas  aus  den 
Hrvatski  spomini),  Fran  Mesko  (aus  der  Skizze:  Cigancek.  1904),  Oton  Zu- 
pancic  (9  Gedichte)  —  alles  das  sind  neue  Erscheinungen  der  zweiten  Aus- 
gabe. Ein  schweres  Opfer  hat  Sket  gebracht  und  sich  von  der  bei  uns  noch 
immer  beliebten  Einbildung  vom  pannonischen  Ursprünge  des  Altkirchen- 
slavischen  verabschiedet  (S.  22).  Mit  Rücksicht  darauf,  daß  sich  in  seiner 
»Staroslovenska  citanka«  für  die  7.  und  8.  Gymnasialklasse  noch  immer  die 
pannonisclie  Hypothese  breit  macht,  hätte  Prof.  Sket  hier  seine  Bekehrung 
wohl  etwas  näher  auseinandersetzen  sollen. 

Wenn  ich  noch  hinzufüge,  daß  nach  Kos  die  Regierungszeit  Samos'  statt 
627 — 061  in  die  Jahre  623 — 6.')8,  das  erste  Auftauchen  des  Namens  Carniola 
statt  73S  ins  Jahr  ca.  670  versetzt  wird  (6),  und  daß  die  Namen  der  Kärntner 
Wojwoden  Vojnomir  Ingo,  Pribislav,  Semika,  Stojmir,  Etgar  (ibid.)  in  der 
ersten  Ausgabe  nicht  zu  finden  sind,  so  ist  hiermit  der  Vorrat  dessen,  worin 
sich  die  neue  Ausgabe  als  eine  Umarbeitung  äußert,  so  ziemlich  erschöpft. 


J  54  Kritischer  Anzeiger. 

Prof.  Sket  hat  es  nicht  für  notwendig  erachtet,  seinen  vor  12  Jahren 
geachriebenen  Abriß  der  slovenischen  Literatur  auch  nur  durch  einen  ein- 
zigen neuen  Strahl  zu  beleuclitcn,  hat  die  berechtigten  Wünsche  Oblaks  be- 
züglich Kopitar,  Levstik,  Jurcic  und  Eijavec  vollständig  ignoriert,  und  ver- 
kündet der  Welt,  daß  er  sein  Buch  umgearbeitet  habe.  Es  kann  doch  nur 
von  einer  kleinen  Erweiterung  die  Rede  sein,  obwohl  eine  Umarbeitung  so- 
wohl möglich  als  auch  notwendig  gewesen  wäre. 

Deun  während  dieser  letzten  12  Jahre  hat  man  nicht  einmal  im  Slo- 
venenlande  auf  der  ganzen  Linie  den  Schlaf  des  Gerechten  geschlafen.  Seit- 
dem ist  die  slov.  Literaturgeschichte  von  Glaser  erschienen,  die  zwar  niclit 
dem  modernen  Ideale  einer  Literaturgeschichte  entspricht,  aber  doch  eine 
Menge  Material  bietet  und  dem  Nachfolger  bedeutend  die  Arbeit  erleichtert. 
Dr.  Murko  hat  für  den  Slovnik  naucny  Otto's  (sub  Jihoslovaii6)  in  kurzen 
Zügen  den  Gang  der  slovenischen  Literatur  gezeichnet  und  besonders  den 
fremden  Einfluß  hervorgehoben.  In  den  slovenischen  Zeitschriften  wurde  so 
manche  Frage  slovenischer  Literatur  erörtert.  Und  ich  kann  wirklich  nicht 
verstehen,  warum  ein  für  das  leichtgläubige  Schülerpublikum  bestimmtes 
Buch  solche  Winke  nicht  verwerten  dürfte !  Nicht  alle  haben  ja  im  späteren 
Leben  Gelegenheit,  Literaturgeschichte  zu  studieren,  und  das  nach  den  An- 
gaben des  Schulbuches  gezeichnete  ßild  wird  bei  so  manchem  durch  kein 
anders  gefärbtes  ersetzt!  Daher  sollte  man  glauben,  daß  sich  der  Verfasser 
eines  solchen  Buches  zur  Aufgabe  stellen  werde,  alle  sicheren  Resultate  ein- 
schlägiger Studien  zu  einem  einheitlichen  Bilde  vereinigt  in  möglichst 
kurzer,  aber  doch  alles  zum  Verständnisse  Notwendige  enthaltender  Form 
wiederzugeben ! 

Die  Scheidung  der  Literaten  in  solche,  welche  an  üblicher  Stelle  mit 
üblichen  Lettern  gewürdigt  zu  werden  verdienen,  und  solche,  die  sich  mit 
einigen  klein  gedruckten  Sätzen  unter  der  Zeile  begnügen  müssen,  acheint 
mir  nicht  besonders  passend.  Man  stelle  nur  folgende  Parallele:  der  Verse- 
schmied Koseski  an  üblicher  Stelle  (S.  282 — 287);  die  Dichter  Gregorcic  und 
Askerc  unter  der  Zeile  (413  Anm.  1;  432  Anm.  1)!  Ich  wage  es  auch  zu  be- 
haupten, daß  es  dem  Zwecke  des  Buches  nur  nützen  könnte,  wenn  der 
literaturgeschichtliche  Teil  ganz  von  der  Chrestomathie  getrennt  für  sich  ein 
fortlaufendes  Ganze  bilden  würde  (jetzt  wechseln  literaturgeschichtliche 
Notizen  mit  Lesestücken  aus  den  betreffenden  Schriftstellern),  etwa  in  der 
Form  der  Strucne  dejiny  literatury  ceske,  ein  Hilfsbuch  für  Mittelschulen 
und  Lehrerbildungsanstalten,  dessen  ersten  Teil  Dr.  Jaroslav  Vlcek  und  Dr. 
Emil  Smetänka  voriges  Jahr  im  k.  k.  Schulbuchverlage  zu  Prag  herausgaben. 
Daß  man  aber  auch  in  der  von  Sket  bevorzugten  Form  seine  Aufgabe  ganz 
anders  lösen  kann,  als  er  es  tat,  davon  kann  er  sich  überzeugen,  wenn  er 
etwas  Aufmerksamkeit  den  Wypisy  polskie  dla  klas  wyiszych  von  St.  Tar- 
nowski  und  Josef  Wöjcik  (LT.)  und  St.Tarnowski  und  Fr.  Prochnicki  (ILT.), 
Lemberg  1894  schenken  will. 

Prof.  Sket  hat  es  nicht  verstanden,  das  meist  von  verschiedenen  Literar- 
historikern (Levec,  Perusek,  Lendovsek,  Wiesthaler  u.s.w.)  stammende  Mate- 
rial gehörig  abzurunden,  das  Zusammengehörige  an  einem  Punkte  zu  ver- 


Sket,  Sloven.  Chrestomathie,  angez.  von  Kidric.  I55 

einigen  und  so  dem  Ganzen  ein  einheitliches  Gepräge  zu  geben.  Und  so 
kommt  es,  daß  über  den  Volksschriftsteller  und  Pädagogen  Bischof  Slomsek 
auf  S.  256—263  ausführlich  gesprochea  wird,  seine  pädagogische  Schrift- 
stellerei  aber  auf  S.  273  noch  einmal  behandelt  werden  muß.  Über  den  Pfarrer 
Volkmer  wird  auf  S.  128  das  Notwendige  gesagt,  auf  S.  145  ist  ein  Lied  aus 
seiner  »Basni  in  pesni«  abgedruckt  mit  einer  Anmerkung  über  die  Ausgaben 
seiner  Lieder  und  auf  der  nächsten  Seite  folgt  wieder  eine  Abhandlung 
Slomseks  »Über  den  berühmten  Dichter  der  Wind.  Bücheln  und  seine  Zeit« 
(146 — 148).  Über  Kopitar  ist  auf  S.  151  und  dann  wieder  auf  S.  223  Anm.  1 
etwas  zu  lesen.  Die  illyrische  Bewegung  wird  an  mehreren  Stellen  berührt 
(S.  200,  246  Anm.  1,  247  Anm.  1,  249—251,  274,  309—310),  aber  eine  klare 
Vorstellung  über  ihre  Entstehung  und  Bedeutung,  über  die  Triebfedern  und 
Hemmnisse  ihres  Hinübergreifens  auf  den  Stamm  der  Slovenen  geht  daraus 
nicht  hervor.  Die  Krainer  huldigten  ja  einem  Individualismus,  dem  gegen- 
über sich  auch  der  Name  Slovene  erst  Geltung  verschaflFen  mußte,  und  der 
Bewegung  arbeiteten  auf  slovenischem  Boden  historische  und  politische  Mo- 
mente entgegen.  Dies  und  Ahnliches  wird  aber  nicht  erwähnt.  Ich  bin  über- 
zeugt, daß  jene,  welche  einst  nach  diesem  Buche  slovenische  Literaturge- 
schichte studierten,  aber  später  nicht  selbständige  Studien  machten,  die 
Tätigkeit  eines  Vraz,  Trstenjak,  Jarnik,  Majar  u.s.w.  nie  verstanden  und  nie 
verstehen  werden,  wenn  nicht  zufällig  ihr  Professor  mehr  wußte  als  das  Buch 
und  es  ihnen  auch  sagte,  was  bei  uns  nicht  immer  zu  geschehen  pflegt. 

Aber  dem  jungen  Slovenen  wird  noch  manches  andere  unverständlich 
bleiben. 

Er  wird  in  der  Schilderung  der  mittelalterlichen  Periode  erfahren,  wie 
groß  das  Ansehen  der  slovenischen  Sprache  gewesen  sein  soll,  da  die  Kärnt- 
ner Herzöge  auf  dem  deutschen  Reichstage  in  slovenischer  Sprache  sich  ver- 
teidigen durften  und  die  Kärntner  Ritter  im  Jahre  1227  Ulrich  von  Lichten- 
stein mit  den  Worten:  Buge  was  primi,  gralwa  Venus  begrüßten,  wird  aber 
umsonst  eine  Erklärung  dafür  suchen,  wieso  es  kam,  daß  trotz  dieses  An- 
sehens für  die  Pflege  der  slovenischen  Sprache  fast  soviel  wie  nichts  geschah. 

Er  wird  hie  und  da  im  Buche  von  Schulen  auf  slovenischem  Gebiete 
hören,  aber  nie  erfahren,  wie  jeweilig  so  ein  Ding  aussah,  was  man  dort  hörte 
und  lernen  konnte. 

Der  Zusammenhang  der  Literatur  des  slovenischen  Volkes  mit  der 
Geistestätigkeit  seiner  Nachbarn  wird  ihm  fast  ganz  unbekannt  bleiben.  Und 
doch  war  es  das  italienische  Vorbild,  nach  dem  Ende  des  XVII.  Jahrh.  in 
Laibach  die  Academia  opcrosorum  ins  Leben  gerufen  wurde,  die  für  diesmal 
zwar  bald  einschlief,  aber  Endo  des  XVIII.  Jahrh.  aufs  neue  erweckt  wurde 
und  ihre  Erwecker  zugleich  die  Erwecker  der  sloven.  nationalen  Literatur 
waren.  Der  Einfluß  Klopstocks  auf  den  sympathischen  Vertreter  der  Auf- 
klärungsperiode Linhart  und  der  Einfluß  der  deutschen  Romantik  auf  Pre- 
leren  und  seine  Zeit  findet  im  Buche  Skets  keinen  Platz.  Vergebens  sucht 
man  darin  den  Namen  eines  Kollär,  dessen  Einfluß  auf  den  Grazer  Kreis  sich 
in  den  30er  Jahren  bemerkbar  machte,  umsonst  den  eines  Mickiewicz,  mit 
dem  die  polnischen  Emigranten  die  Slovenen  bekannt  machten. 


156  Kritischer  Anzeiger. 

Hier  möge  ein  Schjittenbild  unseres  literarischen  Unterrichtes  erwähnt 
werden!  Für  ein  Schatteuhild  halte  ich  es  nämlich,  daß  jun;,'e  Slovenen  das 
Gymnasium  verlassen,  ohne  im  literaturgeschiclitlichen  Unterrichte  aus  ihrer 
Muttersprache  jemals  nur  die  Namen  der  größten  G(!istebheld''n  anderer 
Slaven  gehört  zu  haben.  Ich  glaube,  es  wäre  doch  kein  so  großes  Staatsver- 
breclien,  dies  irgendwo  in  möglichster  Iviirze  anzudeuten,  sei  es  zur  lilustrie- 
rung  einzelner  Perioden  in  der  Form,  wie  Tarnowski  und  Wojcik  die  aus- 
ländische Literatur  im  XVI.  Jahrh.  andeuteten  (o.  c.  I.  183),  sei  es  durch  Auf- 
nahme von  Übersetzungen  in  die  Chrestomathie,  was  besonders  im  Lesebuche 
für  die  5.  und  6.  Klasse  geschehen  könnte,  wo  einzelne  Dichtungsgattungen 
erklärt  werden. 

In  der  Abhandlung  über  die  Passionsspiele  (lOö  ff.)  vermisse  ich  die  Er- 
wähnung der  Passionsspiele  in  slovenischer  Sprache  schon  im  Jahre  1700  zu 
Maria  Rast  bei  Marburg  a/D.,  also  21  Jahre  vor  dem  von  iSket  hervorgehobe- 
nen Beispiele  zu  Bischolslack. 

Es  sollte  im  Buche  das  Faktum  und  die  Zeitperiode  angedeutet  werden, 
da  die  deutschen  Komödiautt^n  und  die  italienische  Oper  den  Weg  nach  Lai- 
bach fanden  (XVII.  Jahrh.).  Liuhart,  der  sich  um  das  slovenische  Theater  so 
bedeutende  Verdienste  erwarb,  liätte  eine  eingehendere  Besprechung  ver- 
dient. Die  Oberflächlichkeit  aber  und  Unaufmerksamkeit,  womit  Sket  die 
slovenische  dramatische  Literatur  behandelt,  auf  S.  278  fünf  Namen  auf- 
zeichnet und  von  ihnen  nur  berichten  kann,  daß  sie  schöne  Erfolge  erzielt 
hätten,  ohne  nur  ein  einziges  Lesestück  aus  dem  slovenischen  Drama  in  seine 
Chrestomathie  aufzunehmen,  verdient  wohl,  öffentlich  gerügt  zu  werden. 

Überhaupt  behandelt  Sket  die  Literaten  nach  Preseren  viel  zu  stief- 
mütterlich, ausgenommen  Koseski.  Erjavec  wird  man  bald  in  England  besscj. 
kennen,  als  ihn  nach  Skets  Meinung  die  slovenische  Intelligenz  zu  kennen 
braucht.  Die  rege  literarische  Tätigkeit  des  letzten  Dezenniums  (18!)3 — 1903) 
wird  auf  S.  277 — 278  in  21  Zeilen  behandelt  und  gesagt,  in  Poesie  und  Prosa 
habe  sich  ein  neuer  Geist  geltend  gemacht,  der  aber  nicht  im  heimatlichen 
Boden  wurzelt,  sondern  in  der  moderneu  Strömung  anderer  Weltliteraturen. 
Worin  dieser  fremde  Geist  sich  äußere  und  ob  diese  slovenische  Moderne 
mit  dem  heimatlichen  Boden  wirklich  nichts  Gemeinsames  habe  als  die 
Sprache,  darüber  wird  geschwiegen.  Ich  verlange  nicht,  daß  die  neueste 
Literatur  und  die  zum  Teil  noch  lebenden  Schriftsteller  so  ausführlich  be- 
handelt werden  sollen  wie  die  der  früheren  Perioden,  aber  mit  solchen  nichts- 
sagenden Phrasen  soll  man  die  Jugend  nicht  füttern,  unter  welchen  man  sich 
alles  und  nichts  vorstellen  kann,  und  gerecht  soll  man  sein.  Prof.  Sket  hätte 
konsequent  bleiben  und  sich  von  dem  traditionellen  Nichtanerkennen  unserer 
jüngeren  Talente  von  Seiten  der  älteren  slovenischen  Professorengeneration 
frei  machen  sollen,  zumal  wenn  diese  Talente  schon  im  Grabe  ruhen,  wie  die 
beiden  Dichter  Mnrn-Aleksandrov  und  Kette;  letzterer  wird  im  Buche  nur 
genannt  (278),  Murn-Aleksandrov  dazu  noch  mit  einem  Satze  unter  der  Zeile 
ausgezeichnet  (468  Anm.  3),  ohne  daß  Prof.  Sket  nur  ein  einziges  von  ihren 
Gedichten  der  Aufnahme  würdig  erachtet  hätte,  obwohl  einige  zum  Besten 
gehören,   das   die   slovenische  Literatur  stolz  ihr  Eigentum  nennen  kann. 


Sket,  Sloven.  Chrestomathie,  angez.  von  Kidric.  157 

Ebenso  hätte  Sket  neben  Mesko  und  Zupancic  auch  für  Ivan  Cankar  ein 
Plätzchen  finden  sollen,  denn  wenn  man  die  Literatur  bis  in  ihre  neuesten 
Produkte  verfolgt,  muß  man  zufällig  eben  auch  den  anerkanntesten  und  in- 
dividuellsten Schriftsteller  der  Gegenwart  gebührend  berücksichtigen.  Der 
sondeibare  Umstand,  daß  einmal  ein  hypereifriger  Bischof  den  ganzen  Verlag 
von  Cankars  Gedichten  um  klingende  Münze  gekauft  und  so  konfisciert  hat, 
darf  nicht  in  die  Wagschale  fallen.  Cankar  ist  ja  sehr  fruchtbar  und  Sket 
hätte  gewiß  etwas  geeignetes  finden  können. 

Bis  auf  die  angeführten  Lücken  ist  ja  dieAuswahl  der  Lesestücke  recht 
glücklich  getroffen.  Dr.  Tavcars  juristische  Abhandlung  »über  das  Steuer- 
buch und  dessen  zwei  wichtige  Eigentümlichkeiten«  (418)  ist  zwar  nicht  das 
charakteristischeste  Erzeugnis  seiner  Feder,  aber  wie  ich  nachträglich  aus 
dem  letzten  Heft  des  Ljubljanski  Zvon«  (Jänner  1906;  erfahre,  hat  das  Mi- 
nisterium selbst  ein  solches  Stück  verlangt. 

Auf  S.  5  vermisse  ich  die  beiläufige  Grenze  zwischen  Kroaten  und  Slo- 
venen  in  Istrien.  Das  Fragment  aus  den  Freisinger  Denkmälern  ist  abge- 
druckt in  der  Orthographie  des  Originales  und  in  neuslovenischer  Trans- 
scriptioD.  Doch  wenn  Prof.  Sket  die  Schreibweise  des  Originales  wiedergeben 
will,  darf  er  uiclit  das  dort  zusammengeschriebene  beliebig  trennen,  die  Inter- 
punktionen ganz  nach  dem  heutigen  Gebrauche  setzen  und  die  sogenannten 
Accentzeichen  bald  anbringen  bald  auslassen.  S.  3028  ist  wohl  sinic(s)tve  und 
nicht  cinistve  zu  lesen.  Voudräks  Ausgabe  der  Freis.  Denkmäler  scheint 
Sket  nicht  zu  kennen.  Da  Sket  die  Werke  der  ältesten  Schriftsteller  durch- 
wegs in  der  Original-Schreibweise  abdruckt,  und  z.  B.  auch  mylhost  (=  mi- 
lost)  und  pustill  unverändert  läßt  (S.  53),  hätte  er  konsequent  auch  die  Wie- 
dergabe der  slovenischen  c-  und  c-Laute  unverändert  lassen  sollen,  zumal 
diese  den  Protestanten  die  größten  Schwierigkeiten  bereiteten.  Als  letztes 
slov.  prot.  Buch  muß  der  Katechismus  .  .  .  Jansha  Snoilfhika,  Tübingen  1595 
hervorgehoben  werden.  In  Nestor  pflegt  man  heutzutage  nicht  mehr  jenen 
Verfasser  von  Viten  und  der  russ.  Chronik  bis  1113  zu  sehen,  wie  anno  dazu- 
mal und  bei  Sket  S.  181  Anm.  1,  sondern  möglicherweise  einen  Mitarbeiter 
jener  mehreren  Mönche,  als  deren  Produkt  die  sogen.  Nestorsche  Chronik 
erscheint. 

Es  lag  mir  fern  der  Gedanke,  die  Verdienste  Skets  als  des  tätigsten 
Herausgebers  slovenischer  Schulbücher  zu  schmälern.  In  dieser  Hinsicht 
kann  er  seinen  Kollegen  aus  anderen  Fächern  ein  nachahmenswertes  Beispiel 
^eben.  Man  soll  vielmehr  meine  Sprache  als  einen  im  Namen  vieler  gegen 
lie  abtötende  Manier  des  Unterrichtes  aus  unserer  Literatur  gerichteten 
Protest  betrachten !  Mit  Jahreszahlen  und  Titeln  vollgestopft  schleppte  man 
ins  vor  den  grünen  Tisch  der  Prütungskommission,  aber  einen  Einblick  in 
iie  geistige  Werkstätte  unseres  Volkes,  in  den  Ideengang  der  Literatur  ge- 
währte uns  das  Buch  Skets  nicht,  Professoren  finden  sich  aber  noch  immer, 
leren  Unterricht  im  bequemen  »von  da  —  bis  da«  besteht.  Und  bei  den 
'.  Stunden,  die  der  slovenischen  Sprache  gegönnt  sind,  ist  es  oft  auch  nicht 
.nders  möglich.  Fr.  Kidrii. 


Kleine    Mittheilungen. 


Iloma  jaüHiapcKa  —  Poia  Janidarska. 

Le  dictionnaire  de  Vuk  St.  Karadziö  donne  deux  significations  du  mot 
posa;  ce  serait  une  espece  de  cravate  einßornes  Haktuch,  colloris  getius;  c'eat 
aussi  une  espece  de  chale  dont  les  Turcs  entourent  leur  turban,  ein  schwarzer 
mit  Gold  diirchicebter  Turban,  tiara  nigra  auro  i?itexta.  Le  texte  de  Vuk  se 
tronve  reproduit  chez  Ivekoviö  et  Broz;  ils  ajoutent  seulement  que  le  mot 
est  ötranger.  Ivekovid  et  Broz  citent  aussi  deux  exemples,  tires  des  chan- 
sons  de  geste  serbes,  pour  demontrer  qu'il  j  avait  deux  especes  de  posa : 
poSa  stamholija,  la  posa  de  Constantinople  et  i^o^C'  janicarska  la  posa  des 
janissaires. 

hsi  posa  janicarska  est  mentionnee  dans  la  littörature  et  dans  les  docu- 
ments  du  commencement  du  XIX  siecle.  Dans  les  rapports  verbaux  de 
rhonjme  de  confiance  de  Karageorges,  le  buljubasa  Pierre  Jokic,  il  est 
question  de  \ü  janicarska  posa  ä  deux  reprises;  une  premiere  fois,  en  racon- 
tant  les  cadeaux  faits  par  Karageorges  (avant  1804)  au  janissaire  de  son 
viilage  (soubacbe),  Ibrahim,  on  parle  d'une  janicarska  posa;  et  il  en  est 
question  une  seconde  fois,  dans  le  rapport  sur  la  mort  d'un  janissaire  auquel 
un  insurge  serbe  a  enlevö  le  pistolet  et  la  janicarska  posa  ').  Dans  les  mate- 
riaux  qu'on  recueille  ä  TAcademie  de  Beigrade  pour  le  dictionnaire  du  serbe 
litteraire  2),  on  mentionne  d'aprfes  le  livre  Gr.Lazic  Histoire  Naturelle^  la 
prise  en  1792  sur  le  Cap  de  Bonne  Esperauce  d'un  faucon  avec  une  posa  en 
soie  autour  du  cou.  Dans  un  livre  de  V.  Vrcevid  *)  on  mentionne  la  posa 
blanche  que  pouvaient  porter  seulement  les  ul6mas. 

Nous  devons  citer  aussi  l'ouvrage  d'un  frangais,  F.  Beaujour,  ancien 
consul  de  France  ä  Salonique,  intitule  »Tableau  du  commerce  de  la  Grece. 
Paris  1800«.  I,  422.    En  enumerant  tout  ce  qui  se  fabrique  en  soie  de  Mace- 


1)  C. K.AKaAeMHJa,  IV,  MHJinheBHh  Y).'K.  UpH^aibe  IXeipa  JoKHha,  10  et  20. 

2)  Les  mat6riaux  ont  et6  mis  aimablement  ä  ma  disposition  parm.Mom- 
cilo  Ivaniö. 

3)  IIpocTa  HapaBHa  ucTopin.  ByAHMi.  1836. 

*)  IToMaibe  cpncKe  HapoAHe  CBeqaHOCiH.  ITaH^^eBO,  1888. 


Kleine  Mittheilungen.  1  59 

doine,  on  parle  de  »Xa.  fabrication  de  pochs  qui  sont  des  especes  de  chäles  dont 
les  jauissaires  entourent  leur  turban«. 

Pour  terminer  cette  recherche  lexicologique  sur  un  mot  appaitenant  au 
passe,  qu'on  doit  considerer  comme  mort  et  faisant  partie  plutot  des  archivt'S 
de  la  langue,  nous  pourrions  en  preciser  le  resultat  ainsi: 

La  signification  preiniere  et  originaire  doit  provenir  de  quelque  mot 
oriental,  turc  probablement,  indiquant  le  chäle  en  soie  (de  couleur  et  epais- 
seur  variees)  fait  pour  envelopper  le  chapeau  —  turban  —  des  janissaires, 
ulemas  etc.  Chaque  ordre  se  distinguait  par  la  couleur  ou  l'ornementation 
Selon  les  prescriptions  de  l'etiquette  turque  pour  la  tenue. 

Comme  le  meme  chäle  pourait  etre  employe  en  guise  de  cravate  autour 
du  cou,  cet  usage  preta  au  mot  sa  seconde  insignification,  presque  oubliöe 
autant  que  la  premiere  dans  la  langue  courante. 

Posa,  en  ce  sens,  devait  signifier  une  cravate  legere,  comme  un  chäle 
pli6,  Sans  forme  precise  et  sans  ressemblances  avec  celles  qui  se  portent 
actuellement. 

Beigrade,  le  17  dec.  1905.  St.  Novakoviö. 


Cech.  kos  fei. 


In  Kuhns  Zeitschr.  XXXIX.  54.5  habe  ich  cech.  kostel  'Kirche'  =  lat. 
castellum  zweifelnd  aus  der  äußeren  Ähnlichkeit  der  von  einer  Mauer  um- 
gebenen Kirche  mit  einem  Schloß  erklärt.  Mein  Kollege  Rud.  Much  wies  in- 
dessen gelegentlich  eines  Vortrages,  den  ich  auf  dem  Indogermanischen 
Abend  in  Wien  hielt,  auf  die  wirklich  nach  Art  von  Kastellen  gegen  feind- 
liche Angriffe  befestigten  mittelalterlichen  Kirchen  hin,  die  die  cechische 
Bezeichnung  verständlich  machen.  Ich  habe  seitdem  selbst  die  1279  gegrün- 
dete gotische  Pfarrkirche  von  Eisenerz  gesehen,  die  von  starken  Mauern  und 
Türmen  mit  Schießscharten  umgeben  ist.  Auch  das  Blasienmünster  in  Ad- 
mont  ist  mit  einer  von  Schießscharten  gekrönten  Mauer  befestigt.  Inzwischen 
hat  H.  Lewy  K.Z.  XL.  205  auch  auf  die  Kirchenburgen  Siebenbürgens  hin- 
gewiesen, wie  es  deren  z.B.  in  Mediasch,  Elisabethstadt,  Ilararuden,  Tartlau, 
Broos,  Grossau  noch  gibt.    Der  cechische  Ausdruck  setzt  jedoch  voraus,  daß 

ill  solche  Kirchenkastelle  gerade  in  Böhmen  besonders  häufig  gewesen  sind. 

t|  Ich  habe  indessen  nur  ein  einziges  Beispiel  dafür  gefunden,  die  1350  als 
Pfarrkirche  erwähnte  Filialkirche  des  Heil.Martinus  in  Tozitz  (Bezirk  Selcan), 
die  nach  lllävka's  Topographie  der  histor.  und  Kunstd.  im  Kgr.  Böhmen  III 
Prag  1899),  S.  144  »auf  einer  Anhöhe  inmitten  des  mit  einem  wehrhaften 
Mauerring  und  mit  einem  teilweise  noch  erhaltenen  Graben  umgebenen  Kirch- 
hofes« steht.  Es  ist  zu  vermuten,  daß  es  solcher  befestigter  Kirchen  in  Böh- 
men noch  mehrere  gibt,  die  vielleicht  bessere  Kenner  dieses  Landes  nach- 
weisen können. 

Wien.  r.  Kretschmvr. 


]  ()0  Kleine  Mittheilungen. 

Slavische  Etymologien. 
I. 

Ural.  *{>enh,  *i>thih  und  *tSn/b. 

Diesen  dnn  Worten  wiumete  in  einem  der  letzten  Hefte  von  Bezzen- 
bergers  »Beiträgen«  (II.— III.  Heft  d.  XXIX.  B.  [S.  14:5-178])  Dr.  Voudräk 
eine  spezielle  Untersuchiuig.  Wodi-;r  ist  er  mit  Miklosich  (EW.)  einverstjinden, 
der  ohne  weiteres  die  Formen  tenb  und  serih  aus  stenb  ableitet,  noch  mit  Brug- 
mann  Gr. 2  546,  der  im  Urslavischen  doppelte  Formen  annimmt,  nämlich 
*skenb  (woraus  *senb)  und  skenb  (woraus  sthib).  Herr  Voiidräk  weist  mit  vollem 
Rechte  darauf  hin,  daß  der  letzteren  Etj'mologie  nicht  nur  das  Vorhanden- 
sein von  CT'kHt  in  den  ältesten  altkirchenslavisclien  Denkmälern  wider- 
spricht, die  in  anderen  Fällen  die  Gruppe  .s/c  in  sc  umwandein,  sondern  auch 
der  Übergang  derselben  Form  im  Westslavischen  in  sc  (v.  altksl.  CHlvTATv 
»solus«  bei  altcech.  sciehly,  poln.  szczegöl).  In  Anbetracht  alles  dessen  billigt 
Herr  Vondräk  Brugmanns  Etymologie  von  *senb,  glaubt  aber  für  *tenb  einen 
andern  Ursprung  annehmen  zu  müssen  und  erklärt  *tenb  phonetisch  aus 
*te/n-7ib  (vev^\.*pomen-t7qti)  nC>M'k»A'\TH).  *s/enb  ist  dai;egen  nach  Vondräks 
Meinung  aus  einer  Kombination  von  *te/ib  und  *se)ib  entstanden. 

Selbst  wenn  diese  Etymologie,  phonetisch  betrachtet,  ganz  richtig  wäre, 
auch  dann  hätte  sie  wenig  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  weil  ihr  Verfasser 
einige  diesen  Worten  der  Form  wie  der  Bedeutung  nach  sehr  nahestehende 
Bildungen  anderer  idg.  Sprachen  außer  Acht  gelassen  hat.  Denn  kaum  ist 
wohl  zu  bezweifeln,  daß  ursl.  *stenb  sich  so  zu  *tenb  verhält,  wie  z.  B.  altind. 
stäyät  »verborgen  sein«  zu  altind.  täyus  »Dieb«,  zend.  täyis,  altksl.  TAKhy 
TaTK,  gr.  TrjTKü),  dor.  Turäco  »raube«  Hirt,  Ablaut  §  77.  Der  Wechsel  der 
Gruppe  st-  und  /-  im  Wortbegian  im  idg.  gibt  uns  das  Recht,  für  die  einheit- 
liche Herkunft  von  *stenb  und  *te7ib  einzutreten,  und  der  eventuelle  Schwund 
des  nichtsilbenbildenden  Elementes  in  Diphthongen  vor  Vokalen  in  derselben 
Sprache  erlaubt  uns  mit  diesen  Worten  slav.  TaTk  und  gr.  tktkw  in  Ver- 
gleich zu  stellen.  Interessant  ist  es,  daß  sich  im  Altindischen  sogar  die  redu- 
zierte Form  der  Wurzel  *stüi\m  Substantiv  stenü-s  »Dieb«,  »Räuber«  erhalten 
hat,  dessen  Ähnlichkeit  mit  dem  altksl.  CTlvllk  umsomehr  auffällt,  als  das 
letztere  Wort  gleichfalls  eine  Form  masc.  g.  war. 

Seine  Hypothese  sucht  Vondräk  durch  den  Hinweis  auf  slov.  zatb» 
»Sonnenuntergang«,  slov.  töna  »Schatten«  zu  bekräftigen;  doch  ist  nur  das 
große  Interesse  an  seiner  Hypothese  schuld,  daß  er  eine  semasiologische 
Schwierigkeit  sieht  in  der  Annäherung  dieser  Worte  an  sl.  zatöniti  »ins  Was- 
ser tauchen«,  zatbn  »lusel«,  russ.  tohs,  die  aus  *topn-  abzuleiten  sind.  Noch 
problematischer  ist  Herrn  Vondräks  Etymologie  des  Wortes  *telo  aus  Hemslo 
»Spiegelung  des  Schattens«:  ungeachtet  äußerster  Künstelung  und  Gesucht- 
heit in  Betreff  der  ihr  zugelegten  Bedeutung  hat  sie  phonetische  Schwierig- 
keiten im  Gefolge,  da  Hemslo  im  ursl.  *t^slo,  doch  nicht  telo  lauten  müßte. 
Übrigens  gibt  Herr  Vondräk  im  Nachtrage  auf  S.  248  diese  Etymologie 
selber  auf.  (Fortsetzung  folgt.) 

S  t.  P  e  t  e  r  s  b  u  r  g.  G.  Iljinskij. 


Cyrillo-Methodiana. 


In  neuerer  Zeit  ist  eine  Reihe  von  Betrachtungen  kritischer  Art 
über  die  große  kulturhistorische  Frage,  die  an  die  Kamen  Konstantin, 
vulgo  Kyrill,  und  Method  geknüpft  ist,  erschienen.  Unsere  Zeitschrift 
soll  dieser  Kritik  nicht  aus  dem  Wege  gehen,  wenn  auch  der  Umfang 
der  Einzelforschungen  nicht  gestattet,  sie  vollinhaltlich  dem  Leser  vor- 
zulegen. Wir  müssen  uns  mit  den  Auszügen  und  Resum^s,  die  wie  ein 
kurzer  Rechenschaftsbericht  aussehen,  begnügen,  die  uns  zum  Teil  von 
den  Verfassern  selbst  (Prof.  Brückner,  Dr. Franko)  eingesendet,  zum  Teil 
von  der  Redaktion  (d.  h.  von  mir)  geliefert  werden.  Nach  dem  einmal, 
vor  beinahe  hundert  Jahren,  von  Dobrovsky  dem  Kopitar  gegenüber 
(die  ja  gerade  in  dieser  Frage  immer  auseinandergingen)  gemachten 
Ausspruch  »judicia  sunt  libera«,  sollen  auch  hier  alle  Ansichten,  mögen 
sie  uns  gefallen  oder  nicht,  frei  zum  Ausdrucke  kommen.  Es  ist  nicht 
zu  befürchten,  daß  die  Wahrheit  dadurch  unterdrückt  oder  auf  falsche 
Bahnen  gelenkt  werden  könnte.  Der  subjektive  Hintergrund  einzelner 
Forscher  vermag  zwar  den  geschichtlichen  Tatsachen  verschiedene  Be- 
deutung und  Tragweite  beizumessen,  doch  solche  Färbungen  verblassen 
mit  der  Zeit,  das  Wesentliche,  die  Materie  bleibt.  Ob  man  bei  der  Be- 
urteilung eines  weltgeschichtlichen  Ereignisses  gerade  seinen  persön- 
lichen Stimmungen  frei  die  Zügel  schießen  lassen  soll,  diese  Frage 
könnte,  wie  es  einmal  beim  ersten  Erscheinen  der  römischen  Geschichte 
Mommsens  der» Fall  war,  auch  jetzt  angesichts  der  Einfalle  und  Kom- 
binationen Lamansklj's  oder  Brückners  aufgeworfen  werden.  Docli 
weder  hat  die  römische  Geschichte  Mommsens  der  Geschichtsforschung 
zum  Schaden  gereicht,  noch  wird  unsere  große  Frage  durch  die  er- 
wähnten Exkurse  geschädigt.  Im  Gegenteil,  es  eröflfnen  sich  neue  Ge- 
sichtspunkte, die  manchen  bisher  noch  dunklen  Winkel  beleuchten  oder 
wenigstens  das  Vorhandensein  desselben  aufdecken,  und  der  weiteren 
Forschung  fällt  die  Aufgabe  zu,  die  laut  werdenden  Zweifel  oder  Be- 
denken zu  beseitigen.    Ich  wollte  mir  erlauben,  hie  und  da  eine  kurze 

Archiv  für  slavische  Philologie.    KXVIII  11 


162  V.  Jagiö, 

Bemerkung  unter  dem  Texte  hinzuzufügen,  doch  unterließ  ich  es,  um 
nicht  den  Eindruck  der  Selbstüberhebung  oder  des  Hanges  nach  Maß- 
regelung fremder  Urteile,  die  ich  immer  hochachte,  hervorzurufen. 
Selbstverständlich  würde  durch  solche  Bemerkungen  nicht  gleich  die 
Sache  abgetan  sein,  da  sie  ja  nur  kurze  Schlagworte  oder  Anspielungen 
enthalten  müßten,  deren  jede  zu  einer  ganzen  kritischen  Abhandlung 
anwachsen  könnte.  Ich  zog  es  daher  vor,  meine  Gegenbemerkungen 
zu  unterdrücken.  V.  J. 

I.    Tita  Cyrilli. 

Kritische  Bemerkungen  (Fortsetzung). 

III.*) 

(J.  d.  M.  d.  Aufkl.  1903,  April,  S.  359—374).  Die  Motive  der 
Reise  Konstantins  nach  Cherson  gleichen  auffallend  jenen  der  Mission 
zu  den  Sarazenen.  Den  Zweck  beider  bildete  eine  religiöse  Disputation. 
Dort  war  die  Zeit  ungefähr  bestimmt,  hier  wird  sie  nicht  angegeben. 
Nur  zufällig  erfahren  wir  auch  das,  daß  Konstantin  auf  dieser  Reise 
den  Bruder  Methodios  zum  Begleiter  hatte.  Dieser  soll  den  ausführ- 
lichen Bericht  Konstantins  über  seine  Disputation  mit  den  Chazaren 
aus  dem  Griechischen  ins  Slavische  tibersetzt  haben.  Aus  dem  Wortlaut 
der  Legende  kann  man  aber  folgern,  daß  der  Verfasser  der  letzteren 
jene  Schrift  selbst  nicht  näher  gekannt  hat.  Wann  fand  nun  die  Über- 
setzung Methods  statt?  In  der  Krym,  auf  dem  Rückwege  oder  in  Kon- 
stantinopel? Doch  wohl  nicht  auf  der  Fahrt  nach  Mähren.  Übrigens 
ist  nirgends  gesagt,  daß  Konstantin  selbst  alle  die  Gespräche  mit  den 
Chazaren  niedergeschrieben.  Vielleicht  ist  auch  die  Notiz,  daß  die 
Übersetzung  von  Methodios  herrührt,  eine  spätere  Einschaltung.  Der 
Verfasser  der  Legende  legte  auf  die  ganze  Chazarenmission  kein  zu 
großes  Gewicht.  Manches  mag  er  von  Methodios  selbst  gehört  haben, 
aber  ohne  alles  richtig  wiedergegeben  zu  haben.    In  der  Erzählung  von 


*  *)  Der  Anfang  dieser  Abhandlung  ist  im  XXV.  B.  des  Archivs  S.  544 — 
553  erschienen.  Die  Fortsetzung  der  sehr  ausführlichen,  noch  immer  nicht 
zu  Ende  geführten  Darstellung  zwingt  mich,  aus  Raumersparnis  den  weiteren 
Verlauf  der  Beweisführung  nur  in  kurzem  Auszug  mitzuteilen.  Wer  sich  um 
die  Einzelheiten  interessiert,  wird  sie  leicht  nach  den  genauen  Angaben  der 
Bände  und  Seitenzahlen  der  russischen  Zeitschrift  im  Original  nachschlagen 
können.  F.  J. 


Cyrillo-Methodiana.  163" 

der  Erlernung  der  hebräischen  Sprache,  von  der  Begegnung  Konstantins 
mit  einem  Samaritaner  und  von  der  Entdeckung  der  Bücher  mit  »russi- 
schen Buchstaben«  spielt  augenscheinlich  ein  Wunder  mit.  Wollte  man 
nämlich  der  Legende  aufs  Wort  glauben,  so  hätte  Konstantin  in  der 
kurzen  Zeit  seines  Aufenthaltes  in  Cherson  erlernen  müssen :  1)  hebräisch, 
2)  samaritanisch,  3)  chazarisch,  4)  russisch,  d.  h.  skandinavisch,  und 
5)  gotisch.  Selbst  der  genialste  Mensch  ist  nicht  im  Stande,  alles  das 
im  Verlaufe  von  einigen  Wochen  zu  leisten.  Das  Chazarische,  wovon 
übrigens  die  Legende  nicht  ausdrücklich  spricht,  könnte  Konstantin 
allerdings  schon  in  Konstantinopel  erlernt  haben.  Betreffs  des  Hebräi- 
schen meinte  Malysevskij,  daß  es  Konstantin  ebenfalls  schon  von  früher 
her  bekannt  sein  konnte  (vergl.  in  TpyAW  Kieß.  Ayx.  Akra.  1878  Juni- 
heft: EnpeH  BX  I02KH0H  Pocciii  h  Kießi).  Es  ist  glaubhaft,  daß  Kon- 
stantin in  der  Tat  hebräisch  und  samaritanisch  schon  in  Konstantinopel. 
aus  Gründen  eines  tieferen  biblischen  Studiums,  gelernt  hatte.  Doch 
was  die  Benutzung  einer  Grammatik  oder  des  Lexikons  des  Hebräischen 
im  IX.  Jahrh.  anbelangt,  waren  Malysevskij  und  Bodjanskij  falsch  be- 
raten. Die  erste  Grammatik  kam  erst  im  X.  Jahrh.  zustande  Näheres 
auf  S.  367/9),  Konstantin  hätte  also  nur  durch  den  persönlichen  Verkehr 
mit  den  Juden  das  Hebräische  sich  aneignen  können.  Das  war  bei  dem 
damaligen  Antisemitismus  nicht  so  leicht,  und  seit  der  Ankunft  Kon- 
stantins nach  Konstantinopel  reichte  auch  seine  Zeit  kaum  aus,  um 
solche  Studien  zu  treiben,  da  er  gewiß  schon  damals,  während  seiner 
Besuche  bei  der  Mutter  in  Saloniki  und  bei  dem  Bruder  Methodios  zur 
Zeit  seiner  weltlichen  Amtstätigkeit,  auf  seine  große  slavische  Mission 
bedacht  war,  (Folgt  eine  Parallele  aus  dem  Leben  des  heil.  Origenes 
und  des  heil.Hieronymus.)  Der  Legende  ist  also  in  diesem  Punkte  nicht 
zu  glauben.  »Die  Erlernung  der  hebräischen  Sprache  wurde  von  dem 
Biographen  an  Cherson  geknüpft,  vielleicht  darum,  um  sich  und  dem 
Leser  begreiflich  zu  machen,  wieso  Konstantin  mit  den  Chazaren- 
Hebräern  disputieren  und  sich  verständlich  machen  konnte.  Wahr- 
scheinlich glaubte  der  Verfasser  der  Legende,  daß  Konstantin  in  hebräi- 
scher Sprache  mit  ihnen  Gespräche  führte.  Unmittelbar  nach  der  Er- 
zählung von  den  hebräischen  Studien  Konstantins  spricht  die  Vita  auch 
von  einer  samaritanisclien  Handschrift,  wahrscheinlich  darum,  weil  ihr 
die  nachfolgende  Mitteilung  von  der  durch  den  Philosophen  erfolgten 
Entzifferung  einer  Inschrift  auf  einem  Kelch  vorschwebte.  Diese  In- 
schrift war  nämlich   mit  hebräischer  und   samaritanisoher  Schrift  ge- 


1^4  V.  Lamanskij, 

schrieben.  Niemand  konnte  sie  entziffern  und  lesen.  Der  Philosoph  las 
sie  als  Kenner  der  hebräischen  und  samaritanischen  Bücher.  Von  seiner 
Vertrautheit  mit  diesen  Sprachen  war  gerade  darum  schon  vorher  die 
Rede,  bei  der  Erwähnung  seines  Aufenthaltes  in  Cherson. 

IV. 

(Ib.  S.  374 — 379).  Es  handelt  sich  um  die  Bedeutung  der  «russi- 
schen« Schrift,  in  welcher  angeblich  ein  Evangelium  und  Psalter  ge- 
schrieben und  von  Konstantin  vorgefunden  wurden.    Die  übliche  Deu- 

V 

tung  dieäer  Benennung  wird  seit  Safarik  auf  Waräger-Russen  bezogen 
und  diese  werden  mit  den  Krymgoten  identifiziert.  Die  Erklärung  Va- 
siljevskij's  lautet  zwar  etwas  anders,  doch  im  wesentlichen  kommt  auch 
sie  auf  dasselbe  hinaus,  d.  h.  man  dachte  an  die  bekannte  Übersetzung 
Vulfiia's. 

V. 

(Ib.  S.  379 — 385).  Die  Abweichungen  in  den  Ansichten  zwischen 
Golubinskij  und  Malysevskij  einerseits  und  Vasiljevskij's  andererseits 
werden  näher  besprochen.  Vasiljevskij  glaubte,  daß  in  der  vorausge- 
setzten griech.  Vorlage  der  pannonischen  Konstantinlegende  statt  der 
»russischen«  Schrift  der  Ausdruck  »tauroskythisch«  stand.  Die  Ansicht 
Voronov's  bezüglich  der  griech.  Vorlage  der  Legende  zurtickweisend, 
lehnen  wir  auch  die  Benennung  »tauroskythisch«  ab.  Die  Wahrschein- 
lichkeit einer  Verwechselung  der  barbarischen  Russen  mit  den  in  Kon- 
stantinopel schon  längst  bekannt  gewesenen  orthodoxen  Goten  ist 
äußerst  gering.  (Das  wird  näher  ausgeführt.)  Wenn  der  fern  von  der 
Mündung  der  Donau  lebende  Walafrid  Strabo  (f  849)  die  Möglichkeit 
hatte  zu  erfahren,  daß  bei  den  Goten  der  Gottesdienst  in  ihrer  Sprache 
verrichtet  wurde,  so  mußte  um  so  mehr  Konstantin  etwas  davon  wissen. 
Möglicherweise  trug  er  schon  in  Konstantinopel  Sorge  dafür,  um  die 
gotische  Übersetzung  in  die  Hand  zu  bekommen,  was  ihm  der  gelehrte 
Photios  leicht  verschaffen  konnte,  so  daß  er  mit  der  gotischen  Schrift 
und  Sprache  schon  vor  seiner  Reise  nach  Cherson  bekannt  werden 
konnte. 

VI. 
(Journ.  d.  M.  d.  Aufkl.  1903,   Mai,   S.  136—142).     Die  Beweis- 
führung betreffs  der  Asowschen  und  Pontischen  Russen  und  ihrer  angeb- 
lichen  nahen  Verwandtschaft  mit   den   Krymschen   Goten   wird    einer 


Cyrillo-Methodiana.  Iß5 

näheren  Prüfung  unterzogen,  wobei  die  Darstellung  Golubinskij's  der 
kritischen  Betrachtung  dieser  Frage  zugrunde  gelegt  wird.  Alle  von 
Golubinskij  angeführten  arabischen  Zeugnisse  betreflfs  einer  Stadt 
»Russiac  am  Don  und  betreffs  des  Schwarzen  als  russischen  Meeres 
datieren  aus  dem  XI. — XIV.  Jahrh.,  also  aus  einer  Zeit,  da  man  unter 
Russland  schon  das  slavische  Land  und  das  slavische  Volk  verstand. 
Inzwischen  wurde  gerade  das  älteste  und  glaubwürdigste  Zeugnis  des 
arabischen  Schriftstellers  Ibn-Chordad-be  von  Golubinskij  außer  Acht 
gelassen.  Aus  diesem  ergibt  sich,  daß  er  den  Don  für  slavisch  hielt : 
»le  Tanais  le  fleuve  des  Slaves«;  er  spricht  von  russischen  Kauflenten 
und  fügt  hinzu:  »les  Russes  qui  appartiennent  aux  peuples  slaves  se 
rendent  aux  rögions  les  plus  ^loignees  de  Qaklaba«.  Das  Schwarze 
Meer  nennt  er  dagegen  öfters  Chazarisches  Meer  (la  mer  des  Khazares). 
Diese  Belege  des  Ibn-Chordad-be  sprechen  nicht  zugunsten  der  An- 
nahme Golubinskij's  von  einem  besonderen  Asowschen  und  Schwarz- 
meer-Russland, das  nicht  lange  vor  839  neben  den  Tetraskytben  und 
taurischen  Goten  sich  niedergelassen  hätte  und  mit  diesen  in  eins  zu- 
sammengeflossen wäre,  so  daß  man  Gotisch  auch  Russisch  und  Russisch 
auch  Gotisch  genannt  hatte.  »Eindringend  in  das  Zeugnis  eines  so 
nüchternen  Mannes,  wie  es  Ibn-Chordad-be  war,  kommen  wir  zu  dem 
Schlüsse,  daß  schon  846/7  einige  Russen  (d.  h.  Normannen)  in  unserem 
Lande  so  fest  ansässig  erscheinen,  daß  sie  sogar  bilingues  waren,  neben 
ihrer  Muttersprache  auch  slavisch  sprachen,  und  auf  Grund  dieser 
Kenntnis  bei  den  einflußreichen  slavischen  Eunuchen  am  Hofe  Bagdads 
Privilegien  erlangten  als  Kauf  leute.  Dieser  Umstand  spricht  dafür,  daß 
die  Normannen  nicht  erst  seit  Rurik,  sondern  wohl  schon  viel  früher  bei 
uns  auftraten.  Wenn  das  Auftreten  Ruriks  und  die  sogenannte  Grün- 
dung des  russischen  Staates  nicht  gerade  in  das  Jahr  862  versetzt  wer- 
den muß,  sondern  auch  beliebig  früher,  so  ist  es  auch  nicht  notwendig 
darauf  zu  bestehen,  daß  Askold  oder  eigentlich  die  Russen  mit  Askold 
nicht  schon  vor  862  hätten  Kijew  besetzen  können  und  daß  die  Kijewer 
Russen  nicht  im  Stande  gewesen  wären,  sich  zu  dem  Ausfall  vom 
18.  Juni  860  vorzubereiten.« 

VII. 

(Ib.  S.  142 — 150).  Dieses  ganze  Kapitel  ist  den  ältesten  Beziehun- 
gen der  Ostslaven  (späteren  Russen)  zu  den  Finnen,  Litauern  und  Letten 
und  zugleich  mit  diesen  zu  den  Normannen  gewidmet  und  bezweckt. 


166  V.  Lamanskij, 

dem  Leser  nahe  zu  legen,  daß  die  Ostslaven  viel  früher,  als  man  ge- 
wöhnlich annimmt,  schon  an  Handelsbeziehungen  mit  dem  Orient  und 
dem  Süden  (Chazaren,  Griechen)  sich  beteiligten. 

VIII. 

(Ib.  S.  150 — 152).  Früher,  als  man  gewöhnlich  annimmt,  traten 
die  Ostslaven  auch  aus  ihrer  Stammeseinteilung  heraus  und  vereinigten 
sich  mehrere  Stämme  zu  einem  staatlichen  Ganzen.  Vor  den  Normannen 
waren  die  Chazaren  daran  beteiligt.  Gardhariki  ist  als  eine  germanische 
ümdeutung  für  das  Chazarenland  aufzufassen.  Als  Beweis  dafür  könnte 
das  sonst  gänzliche  Schweigen  der  nordischen  Sagen  betreflFs  der  Cha- 
zaren angesehen  werden. 

IX. 

(Ib.  S.  152—154).  Für  die  Annahme,  daß  der  Überfall  Konstan- 
tinopels am  18.  Juni  1860  nicht  von  den  Russen  der  Halbinsel  Krym 
ausging,  sondern  aus  dem  Inneren  Rußlands,  aus  der  Kijewer  Gegend, 
zustande  kam,  werden  neue,  aus  der  den  Griechen  gegenüber  verborge- 
nen Lage  des  Kijewer  Gebietes  geschöpften  Argumente  gesucht. 

X. 

(Ib.  S.  154 — 156).  Über  das  Verhältnis  der  nordischen  Sprache 
zur  gotischen  (nach  fremden  Forschungen). 

XI. 

(Ib.  S.  156 — 157).  Weitere  Betrachtungen  über  das  Verhältnis 
der  Goten  zu  den  Russen. 

XII. 

(Ib.  S.  157 — 161).  Dieses  ganze  Kapitel  besteht  aus  Zitaten  aus 
dem  Buche  Hildebrand's:  Das  heidnische  Zeitalter  in  Schweden,  zur 
Beleuchtung  des  Alters  der  nordischen  Geschichte  und  der  nordischen 
Sagen. 

xni. 

(Ib.  Juni,  S.  350^ — 360).  Da  man  im  IX.  und  X.  Jahrh.  die  Russen 
nie  mit  den  Goten  der  Krym  verwechselte,  so  können  auch  unter  den 
russischen  Buchstaben  der  Legende  nicht  die  gotischen  gemeint  sein. 


i 


Cyrillo-Methodiana.  167 

Aber  auch  die  Annahme  einer  späteren  Einschaltung  dieser  Stelle  in 
die  Legende  hat  nicht  viel  für  sich.  Vielleicht  ist  das  nur  eine  spä- 
tere Umarbeitung  einer  an  sich  richtigen  Tatsache,  wovon  weiter  unten. 
Früher  noch  etwas  über  die  Chazaren  und  ihre  einstige  große  Macht 
(nach  Grigorjev).  »Wir  würden  uns  nicht  entschließen,  die  slavische 
Legende  von  der  chazarischen  Gesandtschaft  nach  Byzanz  mit  der 
Bitte,  ihren  Glaubensboten  zu  schicken,  für  glaubwürdig  zu  halten, 
wenn  nicht  auch  Gauderichs  Zeugnis  dafür  vorhanden  wäre.  Im  Zu- 
sammenhange jedoch  mit  der  Encyklika  des  Photios,  in  welcher  von 
der  Bekehrung  der  Rhos  zum  Christentume  die  Rede  ist,  gewinnt  die 
Erzählung  von  der  Gesandtschaft  der  Chazaren  nach  Konstantinopel 
den  Sinn,  daß  darunter  die  Russen  Askolds  zu  verstehen  sind,  die  nach 
der  vor  Konstantinopel  erlittenen  Niederlage  eine  Gesandtschaft  nach 
Byzanz  schickten,  um  Glaubensboten  zu  bekommen,  die  sie  zum 
Christentume  bekehren  könnten.  Diese  Glaubensboten  waren  Konstantin 
und  Methodios,  sie  gingen  in  das  Chazarenland  (darunter  war  das 
Kijewerland  inbegriffen)  mit  der  schon  fertig  gestellten  slavischen  Über- 
setzung. Unter  den  an  der  Gesandtschaft  beteiligten  Menschen  fand 
Konstantin  den  einen  oder  anderen  slavisch  sprechenden  Russen,  dem 
er  seine  schon  fertige  Übersetzung  des  Evangeliums  und  Psalters  vorlas. 
Ein  späterer  Umarbeiter  der  Legende  veränderte  den  ursprünglichen 
Text  derselben,  indem  er  aus  mährischem  oder  pannonischem  Patriotis- 
mus die  Fabel  von  der  Erfindung  der  Schrift  und  der  Übersetzung  des 
Evangeliums  erst  um  das  J.  863,  unmittelbar  vor  der  mährischen  Reise, 
erdichtete.  Um  die  Modifikation  wahrscheinlich  zu  machen,  mußte  die 
ursprüngliche  Fassung,  in  welcher  von  dem  seitens  Konstantins  mitge- 
nommenen Evangelium  und  Psalter  nach  Chazarien  die  Rede  war,  so 
umgeändert  werden,  daß  der  mährische  oder  panuonische  Redaktor 
f^anz  tendenziös  aus  dem  Russen  ein  mit  russischer  Schrift  geschriebenes 
Evangelium  machte.  Konstantin  lag  aber  vermutlich  viel  daran,  sich 
zu  überzeugen,  inwieweit  die  slavische  Sprache  der  makedonischen 
Slaven,  in  welcher  er  die  Übersetzung  zustande  brachte,  den  »chazari- 
schen«, d.  h.  russischen  Slaven  verständlich  war.  Aus  dem  Gespräch 
mit  den  Russen  konnte  er  auch  die  lautlichen  Eigentümlichkeiten  der 
russischen  Sprache  kennen  lernen.  »Auf  diese  Weise  können  die  (in 
der  Legende  erwähnten)  russischen  Buchstaben  als  Beweis  dienen, 
daß  Konstantin  der  Philosoph  und  Methodios  in  das  Chazarenland  reisten 
mit  den  Segnungen  des  Patriarchen  Photios,  d.  h.  zu  jenen  Russen,  die 


jßg  V.  Lamanskij, 

kurz  vorher  auf  Konstantinopel  Überfälle  machten  und  zuletzt  einen 
christlichen  Glaubenslehrer  von  dort  sich  erbaten«. 

Aus  dem  »Slovo«  von  der  Auffindung  der  Reliquien  des  h.Klemens 
und  dem  darin  enthaltenen  Datum  31  (23).  Jänner  861  kann  man  er- 
schließen, daß  Konstantin  und  Method  Ende  Dezember  oder  Anfangs 
Jänner  861  nach  Krym  gelangten.  Die  Voraussetzung  Malysevskij's,  daß 
Konstantin  drei  oder  zweieinhalb  Jahre  in  Cherson  zugebracht  habe, 
hält  vor  der  Kritik  nicht  stand.  Der  erbitterte  Gegner  des  Photio,s 
Mitrophanes  Metropolit  von  Smyma,  der  damals  in  Verbannung  lebte, 
hätte  es  nicht  unterlassen,  den  Bibliothekar  Roms,  Anastasius,  auf  die- 
sen Umstand  aufmerksam  zu  machen,  um  daraus  gegen  Photios  neue 
Anschuldigungen  zu  schmieden,  daß  er  einen  ihm  so  nahe  stehenden 
Menschen,  wie  Konstantin,  so  lange  Zeit  in  einem  öden  Orte  sich  auf- 
zuhalten nötigte.  Anastasius,  der  auch  auf  Photios  nicht  gut  zu  sprechen 
war,  hätte  das  gewiß  weiter  dem  Bischof  Gauderich  mitgeteilt. 

XIV. 

(Ib.  S.  361—369).  Die  Angabe  Chrabr's  über  die  Zeit  der  Er- 
findung der  slavischen  Schrift  ist  nach  der  üblichen  Berechnung  mit 
855  anzusetzen  (d.h.  nach  Abzug  von  6363  der  üblichen  byzantinischen 
Zahl  der  Jahre  5508).  Für  diese  Berechnung  kann  eine  Wiener  Hand- 
schrift russischer  Provenienz  aus  dem  J.  1549  herangezogen  werden,  in 
welcher  die  Abhandlung  Chrabr's  enthalten  ist  mit  einem  Zusatz  bei  der 
Jahreszahl,  der  so  lautet:  »in  den  Zeiten  des  Kaisers  Michael  und  seiner 
Mutter  Theodora«.  Theodora  war  aber  im  September  856  schon  ins 
Kloster  verbannt,  folglich  fällt  die  Schriftabfassung  vor  diese  Zeit,  also 
855.  In  diesem,  und  fast  in  allen  Texten  Chrabr's  wird  Konstantin 
heilig,  Methodios  aber  bloß  Bischof  Mährens  genannt.  Soll  das  nicht 
vielleicht  bedeuten,  daß  zur  Zeit  der  Abfassung  der  Apologie  Chrabr's 
Methodios  entweder  noch  lebte  oder  die  Nachricht  von  seinem  Tode 
Chrabr  unbekannt  geblieben  war.  In  unserem  (d.  h.  Wiener)  Texte  folgt 
nach  dem  Namen  des  Kaisers  Michael  und  der  Kaiserin  Theodora  noch 
der  Zusatz,  daß  »diese  zwei  die  Orthodoxie  wiedereinsetzten  und  den 
ersten  Fastensonntag  als  solchen  anordneten,  44  Jahre  nach  dem 
7ten  Konzil«.  Da  nicht  das  siebente,  sondern  das  Konzil,  in  welchem 
KvQiayir]  oQd-odo^iag  eingesetzt  wurde,  im  Jahre  842  oder  am  11.  März 
843  stattfand,  so  könnte  die  Jahreszahl  843 -j- 44  die  Zeit  der  Abfassung 
der  Apologie  887  oder  886  enthalten.    »Doch  in  einem  einzigen  Jahre 


Cyrillo-Methodiana.  169 

konnte  Konstantin  nicht  alles  leisten,  darum  bestimmen  wir  dafür  die 
Jahre  850 — 855.  Man  kann  vermuten,  daß  er  nach  seiner  Rückkehr 
von  der  Mission  zu  den  Sarazenen  seine  literarische  Arbeit  fortsetzte 
und,  z.  B.  den  Apostolns,  die  Morgen-  und  Abendgebete  und  das  Meß- 
officium  jetzt  übersetzte  für  den  Fall,  daß  das  Evangelium  und  der 
Psalter  bereits  früher  fertig  waren  .  . « 

XV. 
(Ib.  S.  369 — 371).  In  einem  bulgarischen  Synodik  steht  nach  der 
Darstellung  Drinov's  unter  dem  Trnover  Konzil  des  Jahres  1211  eine 
Notiz,  die  »ewiges  Angedenken«  dem  Konstantin  zuruft,  der  unter 
Kaiser  Michael  und  der  Kaiserin  Theodora,  die  die  Orthodoxie  wieder 
aufrichteten,  die  heil.  Schrift  aus  dem  Griechischen  ins  Bulgarische 
übersetzte  und  das  bulgarische  Volk  erleuchtete.  Diese  in  die  Notiz 
über  das  Trnover  Konzil  eingeschaltete  Erwähnung  Konstantin's  als 
Erleuchters  der  Bulgaren  zugleich  mit  der  Erwähnung  des  Kaisers  Mi- 
chael und  seiner  Mutter  Theodora  kann  auf  alten  Erinnerungen,  die  sich 
in  verschiedenen  Klöstern  erhalten  haben,  beruhen.  Ein  weiteres 
Zeugnis  dafür,  daß  Konstantin  während  der  Mission  zu  den  Chazaren 
slavische  Bücher  schon  mit  sich  hatte,  kann  man  aus  den  Worten  Gau- 
derich's  schöpfen,  wonach  Rostislav  gehört  hatte,  quod  factum  fuerat  a 
Philosopho  in  provincia  Cazarorum .  .  Wenn  Rostislav  und  seine  Mährer 
nur  von  der  mündlichen  Predigt  Konstantin's  und  Method's  gehört 
hätten,  so  würden  sie  keinen  Anlaß  gehabt  haben,  eine  Gesandtschaft 
nach  Konstantinopel  zu  schicken,  um  einen  Lehrer  zu  bekommen,  der 
sie  selbstverständlich  in  den  slavischen  Büchern  unterrichten  sollte. 
Die  mährischen  Slaven  konnten  aus  ihren  beständigen  Beziehungen  zu 
den  chazarischen  Slaven  leicht  erfahren  haben,  daß  die  von  Konstantin 
mitgebrachten  Bücher,  wenn  sie  den  chazarischeu  Slaven  verständlich 
waren,  auch  ihnen,  den  Mährern,  verständlich  werden  würden  .  .  Wenn 
aber  die  Nachricht  von  der  Wirksamkeit  Konstantin's  bei  den  Chazaren 
so  bald  zu  Ohren  Rostislav's  kommen  konnte,  so  muß  man  annehmen, 
daß  unser  Apostel  nicht  in  Bosphorus,  nicht  in  Kafa,  nicht  in  Sarkel, 
sondern  irgendwo  mehr  gegen  Westen  von  Don  und  Donetz  sich  auf- 
hielt. Könnten  nicht  die  Griechen  mit  ihrer  durch  die  von  Chagan  ge- 
schickte chazarischo  Mannschaft  verstärkten  Escorte  am  Donetz  zu  Schift' 
und  weiter  am  Ufer  desselben  bis  zu  irgend  einer  größeren  Niederlassung 
jenes  Gebietes  vorgedrungen  sein,    das  später  nebst  dem  Land  der 


170  V.  Lamanskij, 

Kijewer  Poljanen,  par  excellence  den  Namen  Rußland  führte,  d.  h.  in 
das  spätere  Perojaslaver  Fürstentum,  wo  vielleicht  Askold  selbst  oder 
seine  Abgesandten  mit  ihnen  zusammentrafen  ?  Fand  nicht  da  irgendwo 
die  erste  Bekehrung  der  Russen  statt  (wenn  nicht  geradezu  in  Kijew), 
von  welcher  Photios  spricht? 

XVI. 

(Ib.  S.  371 — 382).  Die  Legende  weiß  allerdings  von  alledem  nichts. 
Dafür  gibt  sie  ganz  genau  den  Inhalt  der  Gespräche  Konstantin's.  Sehr 
wahrscheinlich  ist  diese  Episode  nach  einer  slavischen  Übersetzung 
irgend  eines  noch  unbekannten  griechischen  Traktats  über  die  Disputa- 
tionen mit  den  Sarazenen  und  Hebräern  später  in  die  Legende  einge- 
schaltet worden.  In  der  ursprünglichen  Redaktion  der  Legende,  wenn 
diese  zu  Ende  des  IX.  oder  Anfang  des  X.Jahrh.  verfaßt  wurde,  können 
solche  Einschaltungen  noch  nicht  vorgekommen  sein.  Freilich  sagt  die 
Legende,  daß  diese  Erzählung  aus  dem  Referate  Konstantin's  in  der 
Übersetzung  Method's  im  Auszug  mitgeteilt  sei.  Doch  kann  ein  merk- 
licher Unterschied  zwischen  einzelnen  Bestandteilen  dieser  Einschaltung 
beobachtet  werden.  Die  erste  Erzählung  trägt  mehr  einen  literarischen 
Charakter,  erinnert  an  die  später  ins  Slavische  übersetzten  Traktate 
über  die  Disputationen  mit  den  Hebräern  und  Mohammedanern.  In  der 
Wirklichkeit  zu  Gast  bei  dem  Chagan  wären  solche  Disputationen  kaum 
angebracht  und  geziemend  gewesen,  da  die  griech.  Gesandtschaft  doch 
auf  die  freundliche  Stimmung  seitens  der  Chazaren  angewiesen  war. 
Die  zweite  Erzählung,  wie  es  scheint  stark  gekürzt,  versetzt  uns  in  eine 
ganz  andere  Atmosphäre,  setzt  eine  andere  Szene  voraus.  Hier  werden 
Gespräche  irgendwo  im  Freien  geführt,  vielleicht  am  Ufer  eines  Flusses. 
Hier  bekennt  sich  der  Chagan  weder  zu  der  hebräischen,  noch  zu  der 
mohammedanischen  Konfession.  So  auch  sein  erster  Ratgeber.  Wir 
werden  in  eine  heidnische  Gegend  versetzt,  wo  gleichmäßig  der  hebräi- 
sche wie  der  mohammedanische  Glaube  verkündet  werden  konnte.  Das 
könnte  eine  von  den  vielen  ausgebreiteten  Provinzen  zwischen  Don  und 
Dniepr,  Dniestr  und  Bug  gewesen  sein,  die  schon  damals  von  den  später 
als  Russen  bezeichneten  Slaven  besiedelt  waren.  Vom  Ende  des  VII. 
ibis  zur  Hälfte  des  IX.  Jahrh.  stand  beinahe  dieses  ganze  Gebiet  in  der 
Gewalt  der  Chazaren,  bei  welchen  neben  der  hebräischen  die  moham- 
medanische Religion  herrschte,  zwei  monotheistische  Religionen,  zwei 
selbständige  Kulturen,  in  mancher  Beziehung  überragend  selbst  die 


Cyrillo-Methodiana.  171 

mittelalterliche  lateinische,  zum  Teil  auch  griechische  Bildung.  Eine 
Menge  von  kufischen,  auf  russischem  Boden,  in  Gotland  und  Schweden 
gefundenen  Münzen,  weist  auf  die  hohe  Entwickelung  des  Handels  und 
auf  den  ausgebreiteten  Einfluß  der  arabisch-mohammedanischen  Kultur 
hin.  Die  arabischen  Kaufleute  und  die  mohammedanischen  Perser 
werden  sich  der  unter  ihnen  lebenden,  zum  Islam  bekehrten  Slaven  bei 
ihren  Handelsbeziehungen  mit  den  Slaven  des  Binnenlandes  bedient 
haben.  Die  von  Vladimir  erzählte  Umschau  und  Auswahl  unter  den 
verschiedenen  Religionen  kann  auf  die  russischen  Slaven  seit  dem  Ende 
des  Vn.  Jahrh.  bis  zur  wirklichen  Annahme  des  Christentums  bezogen 
werden.  Dazu  gesellte  sich  dann  das  unruhige  normannische  Element. 
Bald  erfolgte  der  plötzliche  Überfall  Konstantinopels  und  seine  Folgen 
(wird  sehr  ausführlich  erzählt).  Die  rein  psychologischen  Erwägungen 
bestimmen  uns  anzunehmen,  daß  bald  nach  der  vor  Konstantinopel  er- 
folgten Katastrophe  die  Waräger  Askolds  ihre  von  Photios  erwähnte 
Gesandtschaft  nach  Byzanz  schickten.  Das  war  eben  jene  von  den  Cha- 
zaren  ausgesandte  Botschaft,  die  Gauderich  in  seinem  Brief  und  auch 
die  slavische  Legende  erwähnt.  Vielleicht  kam  Askold  noch  gar  nicht 
bis  Kijew,  als  er  schon  nach  Konstantinopel  die  Botschaft  schickte. 
Jeder  Aufschub  hätte  einen  Umschlag  in  der  Stimmung  verursachen 
können.  So  dürfte  die  Botschaft  schon  zu  Anfang  November  nach  Kon- 
stantinopel gelangt  sein  und  in  der  zweiten  Hälfte  des  Dezember  mach- 
ten sich  die  slavischen  Apostel  in  der  Begleitung  der  russischen  Abge- 
sandten auf  die  Reise  nach  der  Krym  und  weiter. 

Die  Nichterwähnung  der  Russen  in  der  Legende  erklärt  sich  da- 
raus, daß  für  die  Griechen  in  Konstantinopel  Gardhariki  der  Russen  als 
XataQr]xrj  galt.  Das  Dnieprgebiet  wurde  zum  Chazarenland  gerechnet. 
Gauderich  aber  verschwieg  die  Sache  aus  anderem  Grunde.  Ihm  und 
dem  Verfasser  der  Legende  war  Photios  als  der  vom  Papst  Nikolaus  mit 
Bann  belegte  Invasor  ecclesiae,  homo  scelestissimus  sehr  verhaßt. 
Darum  übergingen  sie  die  russische  Episode  von  860  bis  862  mit  Still- 
schweigen. Im  XII.  Jahrh.  hat  der  russ.  Mönch- Chronist  diese  erste 
Bekehrung  mit  der  zweiten  verwechselt.  Philosoph  Konstantin  erscheint 
vor  dem  Fürsten  Vladimir,  dieser  selbst  knüpft  angebliche  Verbindungen 
mit  Photios  an. 

XYII. 

(Ib.  S.  382 — 388).  Für  die  Beteiligung  Konstantins  an  der  Be- 
kehrung der  Russen  wird  auch  ein  zuerst  von  ßanduri,  neuerdings  von 


1  72  V.  Lamanskij, 

Regel  in  vollem  Umfang  gefundener  griechischer  Bericht  herangezogen,  in 
welchem  Regeis  Analyse  das  Durcheinanderwerfen  dreier  Erzählungen 
entdeckte:  die  erste  bezog  sich  auf  die  Bekehrung  der  Russen  unter 
Photios,  die  zweite  auf  die  Bekehrung  derselben  unter  Vladimir,  die 
dritte  auf  die  Erfindung  der  slav.  Schrift  durch  Konstantin.  Bei  dieser 
Analyse  Regeis  stand  ihm  das  eine  hinderlich  im  Wege,  daß  die  Zeit 
der  ersten  Taufe  der  Russen  in  das  Jahr  860  oder  867  gesetzt  wurde. 
Damals  aber  waren  Konstantin  und  Methodios  schon  in  Pannonien  oder 
auf  dem  Wege  nach  Rom  oder  vielleicht  gar  schon  in  Rom.  Ganz  anders 
sieht  die  Sache  aus,  wenn  man  die  erste  Bekehrung  in  die  Zeit  Ende 
860  bis  862  setzt. 

XVIII. 

(Ibid.  Dezember.  S.  370 — 375).  Die  von  Photios  herrtihrende  Be- 
schreibung d^r  Grausamkeiten  der  Russen  Askolds  vor  Konstantinopel 
wird  auch  vom  Papst  Nikolaus  I.  in  einem  Briefe  an  den  Kaiser  Mi- 
chael in.  nebenbei  berührt.  Prof.  de  Boor  bezieht  in  der  Byz.  Zeit- 
schrift (Der  Angriff  der  Rhos  auf  Byzanz)  1895.  460 — 461  eine  darin 
enthaltene  Anspielung  betreffs  der  Ereignisse  vor  Konstantinopel  auf 
die  kretischen  Araber,  womit  ich  mich  nicht  einverstanden  erklären 
kann.  Kunik  hielt  daran  fest,  daß  das  Sendschreiben  des  Papstes  in 
den  ersten  Tagen  des  Septembers  865  geschrieben  wurde,  als  Antwort 
auf  ein  Schreiben  des  Kaisers  Michael,  das  der  Papst  zu  Ende  August 
jenes  Jahres  erhalten  hatte,  während  Askolds  Russen  nach  der  Berech- 
nung Kuniks  im  Juni  oder  im  Sommer  865  vor  Konstantinopel  erschienen 
wären  (Bull,  de  l'acad.  imper.  StPetersbourg.  XXVIII.  1881.  436). 
Kunik  hatte  nicht  Recht  mit  seinen  chronolog.  Bestimmungen,  wie  das 
die  von  Cumont  (Anecdota  Bruxellensia)  gemachte  Publikation  gezeigt 
hat.  Ein  zweites  Zeugnis  betreffs  der  Waräger-Russen  gehört  dem  Ni- 
ketas  von  Paphlagonien,  dem  Verfasser  der  Vita  des  Patriarchen  Igna- 
tios  an  (Migne  105,  S.  213),  worin  der  Raub-  und  Plünderungszug  der 
Rhos  erwähnt  wird,  auch  von  einem  Erdbeben  (860  oder  861)  und  von 
der  Bekehrung  der  Bulgaren  die  Rede  ist.  »Seitdem  wir  wissen,  daß 
die  Russen  am  18.  Juni  860  vor  Konstantinopel  waren  und  wenn  das 
im  August  begonnene  Erdbeben,  wovon  Niketas  von  Paphlagonien  be- 
richtet, in  das  Jahr  860  und  nicht  861  fällt,  könnte  dieses  Naturereignis 
einer  der  Hauptbeweggründe  des  Rückzugs  der  Russen  gewesen  sein, 
d.  h.  der  Rückzug  hätte  spätestens  im  September  (nach  der  damaligen 


Cyrillo-Methodiana.  173 

Rechnung  zu  Anfang  des  Jahres  861)  stattgefunden.  Doch  die  Russen 
waren  kaum  imstande,  in  den  1 1  Junitagen  und  im  Verlaufe  des  Monats 
Juli  so  viel  Unheil  anzustiften,  so  viel  Raub  und  Plünderung  zu  ver- 
richten. Und  während  des  Elementarereignisses  selbst  würden  sie  kaum 
ihr  Handwerk  fortgesetzt  haben.  Photios  erwähnt  in  seinen  Reden  das 
Erdbeben  gar  nicht.  Wenn  aber  dieses  861  geschah,  dann  könnte  der 
Rtickzug  vor  August  861  geschehen  sein.  Bischof  Porphyrius  führt 
aus  einem  griech.  Synaxarium  (in  der  Handschrift  des  Jahres  1249; 
folgende  Notiz  unter  dem  5.  Juni  an:  »Erinnerung  an  die  Befreiung 
von  dem  Überfall  der  Heiden  durch  die  Gebete  der  allerreinsten  Jung- 
frau Maria«.  Wenn  darunter  die  Befreiung  von  den  Russen  Askolds 
gemeint  ist,  so  daß  der  Rückzug  auf  Anfang  Juni  861  fallen  würde, 
dann  könnte  die  russische  Gesandtschaft  nach  Konstantinopel  betreffs 
der  Bekehrung  in  den  August  oder  Anfang  September  fallen,  d.  h.  nach 
der  byzantinischen  Zeitrechnung  in  das  Jahr  862.  Die  Abreise  der 
byz.  Missionäre  hätte  im  Oktober  oder  November  861  stattfinden  können 
und  die  Taufe  selbst  zu  Anfang  des  Jahres  862«. 

XIX. 

(Ib.  S.  376—380).  Weitere  Zeugnisse  betreffs  des  Überfalls  der 
Askold'schen  Russen  auf  Konstantinopel  werden  durchgenommen  der 
Fortsetzer  des  Georgius  Hamartolus,  Leo  Grammaticus,  Symeon 
Magister). 

XX. 

(Ib.  S.  380 — 391).  Näheres  Eingehen  auf  die  Schilderung  des 
Überfalls  der  Russen  auf  Konstantinopel  nach  dem  Werke  Vasiljev's, 
wobei  die  Frage  über  die  Anwesenheit  des  Kaisers  Michael  in  Kon- 
stantinopel während  der  Bedrängnis  einer  kritischen  Prüfung  unter- 
zogen wird. 

XXI. 

(Ib.  S.  391 — 396).  Besprechung  der  Ansicht  De  Boors  über  das- 
selbe Ereignis  mit  Hervorhebung  abweichender  Auffassung,  was  den 
Zeitpunkt  der  Bekehrung  der  Russen  anbelangt.  De  Boor  meint 
nämlich,  daß  nicht  sogleich,  sondern  nach  Ablauf  von  mehreren  Jahren 
(etwa  6)  die  Russen  sich  entschlossen  hätten,  an  die  Griechen  in  Byzauz 
eine  Gesandtschaft  zu  schicken  behufs  ihrer  Bekehrung  zum  Christen- 
tume. 


174  V.  Lamanskij, 

XXII. 

(Ib.  S.  396 — 399).  Um  zur  chazarischen  Mission  Konstantins 
zurückzukehren,  für  die  Hypothese,  daß  die  Gesandtschaft  nicht  von 
den  Chazaren,  sondern  von  den  Russen  ausging,  denselben  von  deren 
Bekehrung  Photios  spricht,  sprechen  verschiedene  Zeugnisse.  1.  Das 
erste  ist  negativer  Art.  Es  ist  keine  Nachricht  sonst  von  der  Bekehrung 
der  Chazaren  zum  Christentum  in  dieser  Zeit  vorhanden.  2.  Der  Pa- 
triarch Nikolaos  Mystikos  (901 — 7,911 — 15)  erwähnt  ausdrücklich, 
daß  Chazaren  zuerst  von  ihm  einen  Bischof  verlangten.  3.  Photios  in 
seiner  Encyklika  vom  J.  866 — 67  spricht  von  der  Gesandtschaft  der 
Russen  behufs  ihrer  Bekehrung  zum  Christentum.  4.  Das  Verzeichnis 
der  autokephalen  Patriarchen  und  Metropoliten  und  ihrer  Diözesen, 
herausgegeben  von  De  Boor  (Notitiae  episcopatuum) ,  verfaßt  vor  dem 
7ten  ökumenischen  Konzil  788,  wo  eine  gotische  Eparchie  mit  mehreren 
Bischöfen,  darunter  u  Toj-iatägy^a  (das  russische  Tmutarakan)  erwähnt 
wird.  Wenn  das  alles  vor  den  Zeiten  des  Photios  vorhanden  war,  so 
kann  nicht  erst  unter  Photios  dorthin,  d.  h.  in  das  Land  der  Chazaren, 
ein  Bischof  geschickt  worden  sein,  sondern  anderswohin,  d.  h.  in  das 
Gebiet  der  Askoldischen  Russen. 

XXIII. 

(Ib.  S.  399 — 405).  Dank  der  Auffindung  Cumonts  wissen  wir  jetzt 
den  terminus  a  quo,  es  handelt  sich  nur  um  den  terminus  ad  quem. 
Wenn  unsere  oben  gegebene  Berechnung  richtig  wäre,  wonach  die  bei- 
den von  Photios  geschickten  Glaubensboten  (nach  unserer  Auffassung 
Konstantin  und  Methodios)  im  Oktober — November  861  aus  Konstanti- 
nopel  aufgebrochen  wären,  so  würde  das  zur  Auffindung  der  Reliquien  des 
hl.  Klemens  (im  Januar  861)  nicht  stimmen  Man  muß  also  das  Datum  des 
erwähnten  Synaxars  (5.  Juni  861)  aufgeben  und  sagen,  daß  die  Belagerung 
Konstantinopels  nur  2 — 3  Monate  dauerte  und  daß  die  Glaubensboten 
zu  den  Russen  schon  anfangs  Dezember  860  aufbrachen.  Nach  der 
pannonischen  Legende  handelt  es  sich  dabei  freilich  um  die  Chazaren. 
Aber  ist  es  wahrscheinlich,  daß  um  dieselbe  Zeit  zwei  Gesandtschaften 
abgingen,  die  eine  nach  der  Legende  zu  den  Chazaren,  die  andere  nach 
Photios  zu  den  Russen?  Wenn  aber  Konstantin  nicht  zu  den  Chazaren, 
sondern  zu  den  Russen  kam,  warum  erwähnt  die  Legende  nichts  davon? 
»In  den  Jahren  867 — 868  sah  Bischof  Gauderich  die  Apostel  Konstantin 
und  Methodios  nebst  ihren  Schülern  in  Rom  und  zwischen  ihnen  kam 


Cyrillo-Methodiana.  175 

mittelbar  oder  unmittelbar  ein  tacitus  consensus  zustande,  Rußland 
nicht  zu  nennen,  sondern  die?en  Namen  durch  den  der  Chazaren  zu  er- 
setzen. Noch  vor  kurzem  gehörte  ja  das  Dnieprgebiet  zu  Chazarien  und 
die  dem  Chagan  untergeordneten  Slaven  waren  unter  dem  Namen  Cha- 
zaren bekannt.  Der  Umtausch  des  Namens  Rußland  durch  Chazarien 
war  keine  direkte  Täuschung  oder  Lüge,  das  war  nur  eine  diplomatische, 
eine  Zensurberichtigung  per  euphemiam.  Die  Bekehrung  der  Russen 
war  ja  mit  dem  Namen  des  Photios  aufs  engste  verknüpft.  Wie  man 
Photios  in  Rom  beurteilte,  haben  wir  schon  erwähnt  (Papst  Nikolaus  j 
13,  Nov.  867).  Die  slav.  Apostel  hatten  schon  in  Rom  von  dem  Tode 
Michaels  III.  (f  23.  Sept.  867)  erfahren  und  von  dem  Sturz  des  von 
ihnen,  namentlich  von  Konstantin  hochverehrten  Photios  (25. Sept. 867). 
Ende  867  oder  Anfangs  868  kamen  nach  Rom  Briefe  des  Kaisers  Ba- 
silios  und  des  rehabilitierten  Ignatios  (Dez.  867).  Die  kaiserlichen  Ge- 
sandten hatten  auch  das  Aktenbuch  der  Kirchensynode  vom  J.  867,  in 
welcher  Papst  Nikolaus  verurteilt  worden  war,  mit  sich  nach  Rom  ge- 
bracht. Ein  byzantinischer  Ablegat,  der  Metropolit  Joannes,  warf  vor 
dem  Papst  Hadrian  das  Buch  zu  Boden  und  sprach:  »du  warst  in  Kon- 
stantinopel verdammt,  werde  es  auch  in  Rom  .  .  .«  Der  andere  Ablegat 
sagte:  »ich  glaube,  daß  der  Teufel  darin  steckt,  der  durch  den  Mund 
seines  Gesellen  Photios  sich  erkühnte  das  zu  sprechen,  was  er  selbst 
nicht  den  Mut  hatte  zu  sagen«.  Ob  Konstantin,  wenn  er'^nicht  schon  tot 
war,  bei  diesen  Vorgängen  anwesend  war,  das  wissen  wir  nicht,  doch 
hätte  er  von  dem  Benehmen  seiner  Landsleute,  der  Ignatianer,  Kunde 
haben  können.  Diese  Verhöhnung  des  Photios  kann  selbst  seinen  Tod 
beschleunigt  haben.  Die  Eröffnung  der  Synode  (Juni  869)  erlebte  er 
nicht.  Es  wird  ausführlich  erzählt,  was  auf  der  Synode  vor  sich  ging. 
Dabei  spielte  auch  Gauderich  eine  Rolle,  der  mit  Konstantin  in  Rom 
bekannt  geworden  war.  Er  wußte,  wie  hoch  Konstantin  Photios 
schätzte,  .  .  er  fühlte  die  schwierige  Lage  Konstantins  in  Rom.  Er  ver- 
stand delikat  zu  sein  .  .  .  Der  Wunsch,  das  begonnene  Werk  fortzu- 
setzen, beseelte  Konstantin,  geduldig  zu  ertragen  alle  Niedrigkeiten 
und  Blödheiten  seiner  Landsleute  und  alle  boshaften  Verhöhnungen 
ihres  hochverehrten  Photios  seitens  der  Römer.  So  war  es  nicht  Kon- 
stantin, wohl  aber  seinem  Bruder  Methodios,  der  ihn  um  viele  Jahre 
überlebte,  für  lange  Zeit  beschieden,  stumm  zu  sein  vor  der  Ungerechtig- 
keit, und  nicht  selten  schweren  Herzens  unaufrichtig  Achtung  zu  be- 
zeugen und  sich  vor  Machthabern  zu  beugen,  die  man  nicht  lieben,  nicht 


176  V.  Lamanskij, 

achten  konnte«.  Gauderich  begriff  diese  Stimmung  und  zwischen  ihnen 
kam  allmählich  ein  Einvernehmen  zustande,  bald  etwas  mit  Stillschwei- 
gen zu  übergehen,  bald  es  nicht  mit  offenen  Worten  auszusprechen. 
Auch  die  Schüler  der  beiden  Apostel,  die  griechische  Bildung  hatten, 
waren  in  dieses  freundschaftliche  Verhältnis  mit  Gauderich  eingeweiht 
und  begriffen  die  Situation.  Doch  die  Schüler  aus  Mähren  und  Panno- 
nien  vermochten  weder  klar  zu  begreifen  noch  lebhaft  zu  fühlen  die 
tragische  Lage  ihrer  Lehrer.  Diese  Beziehungen  unserer  Apostel  und 
ihrer  Schüler  zu  Gauderich  erklären  am  besten  die  Ähnlichkeit  mancher 
Stellen  zwischen  der  Darstellung  Gauderichs  und  der  Konstantin-Le- 
gende, welche  gewiß  ein  mit  griechischer  Bildung  ausgerüsteter  Schüler 
schrieb.  Darum  sind  ungehörig  und  zwecklos  alle  Hypothesen  darüber, 
wer  von  wem  entlehnt  hat,  ob  der  Verfasser  der  Konstantin-Legende 
von  Gauderich  oder  der  letztere  von  dem  slavischen  Biographen  dort, 
wo  ihre  Erinnerungen  von  dem  großen  Manne  so  nahe  zusammentreffen. 

XXIV. 

(Ib.  Jännerheft  1904,  S.  137 — 147).  Wenn  die  über  Konstantinopel 
im  Sommer  860  hergefallenen  Russen  nicht  irgendwo  am  Schwarzen 
Meere  oder  in  Tmutarakan  wohnten,  sondern  im  Kijewer  Rußland 
Askolds,  so  waren  sie  nach  den  Worten  des  Photios  von  nun  an  Iv 
V7tr]yt6b)V  iavrovg  y,ccl  TtQO^evwv  Ta^et,  dvTi  Tfjg  Ttqh  fiMQOv 
•/.ad-'  rj/xüv  XsrjlaGlag  -/.ai  tov  i^ieyalov  Tol/x^fiazog  dyaTtrjTwg 
kY.y.araoTi]oavrEgj  mit  einem  Bischof  an  der  Spitze.  Ist  es  aber  rich- 
tig, daß  das  Kijewer  Rußland  mit  seinen  Poljanen  im  J.  861  die  Taufe 
annahm,  warum  erzählt  dann  der  älteste  russische  Chronist,  der  uns  so 
viele  Daten  über  Oleg,  Igor,  Olga,  Svjatoslav  übermittelte,  nichts  da- 
von? Als  Antwort  auf  diesen  Einwurf  wird  der  Charakter  der  ältesten 
russischen  Cronik  als  einer  offiziellen  Darstellung  der  Begebenheiten  im 
Sinne  der  Gegner  Askolds  und  Dirs,  ganz  nach  dem  Geschmack  und 
Wunsch  Olegs  und  Igors  bezeichnet.  Das  alles  nämlich  hat  ein  vor- 
sichtiger Chronist,  der  Christ  und  Slave  war,  geschrieben.  Auch  jene 
Überlieferung  von  der  Einladung  der  Normannen  mit  den  berühmten 
Worten  »Unser  Land  ist  groß  und  reich,  aber  es  herrscht  keine  Ord- 
nung« rührt  von  einem  offiziellen  Schreiber  her.  Die  ganze  Erzählung 
von  dem  Zug  Olegs  gegen  Konstantinopel  findet  keinen  Widerhall  in 
der  byzantinischen  Historiographie  (beim  Fortsetzer  des  Theophanes), 
der  Zug  fand   wohl  statt,   aber  nicht  so,   wie  er  von  dem  offiziellen 


Cyrillo-Methodiana.  177 

Verfasser  prunkbaft  beschrieben  ist,  mit  allerlei  phantastischen  Zutaten. 
(Diese  ganze  Darstellung  lautet  im  russ.  Original  viel  ausführlicher). 

XXV. 

(Ib,  S.  147 — 173).  Unsere  offizielle  Chronik  begann  zu  Ende  des 
IX.  Jahrb.,  etwa  zwanzig  Jahre  nach  der  ersten  Einführung  des  Christen- 
tums durch  Konstantin  und  Methodios,  auf  Grund  der  im  J.  855  ver- 
faßten Schrift.  In  etwa  zwanzig  Jaliren  vermochte  die  kleine  bei  zwei- 
hundert Seelen  zählende  Gemeinde  unter  dem  duldsamen  Askold  sich  zu 
entwickeln.  Die  Verträge  der  Rut:sen  mit  den  Griechen,  wo  vom  heid- 
nischen und  christlichen  Glauben  die  Rede  ist,  lassen  vermuten,  daß  die 
christliche  Gemeinde  vorzüglich  slavisch  war.  Wäre  die  daselbst  er- 
wähnte Elias-Kirche  warägisch  gewesen,  etwa  mit  gotischem  Gottes- 
dienste, so  würden  auch  die  ältesten  Nachrichten  der  Chronik  entweder 
gotisch  oder  wenigstens  mit  gotischen  Buchstaben  geschrieben  worden 
sein.  Die  Aufzeichnungen  über  Askold  und  Dir,  über  die  Regierung 
Olegs  und  Igors  und  die  Verträge  mit  den  Griechen  bestätigen  unsere 
Auffassung  von  der  in  der  Legende  erwähnten  Mission  zu  den  Chazaren 
und  lassen  vermuten,  daß  in  der  Periode  von  Anfang  der  60  er  Jahre 
des  IX.  Jahrh.  bis  zur  Mitte  des  X.  Jahrb.,  von  der  ersten  Bekehrung 
zum  Christentum  unter  Askold  bis  zur  Taufe  Olgas  die  Mehrzahl  der 
Christen  Kijews  aus  Slaven  bestand,  d.  h.  aus  den  Besiegten  und  nicht 
den  Siegern.  Die  Konstantinlegende  spricht  von  den  Bekehrten  als  dem 
einfältigen  Volke  mit  Weibern  und  Kindern,  diese  kannten  in  der  Tat 
auch  die  Predigt  in  einer  sehr  nahe  verwandten  Sprache  leichter  ver- 
stehen, als  die  Riissen-Waräger.  In  der  ältesten  offiziellen  Dai  Stellung 
findet  sich  kein  Wort  des  Bedauerns  über  den  Untergang  AskoKls  und 
Dirs.  Das  entspricht  allerdings  nicht  der  Siiiumung  der  äiteöieu  Christen. 
Das  Stillschweigen  über  die  Bekehrung  zum  Christentum  und  den 
christlichen  Bischof  erklärt  sich  eben  aus  dem  offiziellen  Charakter  der 
ersten  Aufzeichnungen,  die  ungefähr  durch  hundert  Jahre  unter  der 
Regierung  der  heidnischen  Fürsten  (Oleg,  Igor,  Svjatoslav,  Vladimir  bis 
zur  Bekehrung  derselben)  geführt  wurden.  Der  Bischof  und  die  ihn  um- 
gebenden Mönche,  zum  Teil  Griechen,  mußten  im  Interesse  der  Er- 
haltung der  christlichen  Gemeinde  zur  Vorsicht  in  allen  Äußerungen 
raten.  Folgt  eine  Charakteristik  der  ersten  Fürsten  von  Oleg  bis  auf 
Vladimir,  unter  welchem  ein  letzter  Ansturm  des  Heidentums  gegen  das 
Christentum  stattfand,  womit  die  gleichartigen  Erscheinungen  bei  den 

Archiv  für  slavisoh»  Philologie.    S:XVI1I.  12 


1 78  V.  Lamanskij, 

Slaven  Norddeutschlands  in  Zusammenbang  gebracht  werden.  Den 
Ausgangspunkt  bildet  die  Erzählung  von  der  Ermordung  der  zwei 
warägischen  Christen  unter  Vladimir  und  die  Stimmung,  die  dieses 
Ereignis  bei  Vladimir  und  Dobrynja  erzeugt  haben  mag,  die  ihn  zuletzt 
zur  Annahme  des  Christentums  führte.  Der  an  den  Tag  gelegte  Eifer 
zur  Erhaltung  des  alten  heidnischen  Glaubens  war  für  die  damaligen 
Zustände  Russlands  schon  etwas  unzeitgemäßes,  verspätetes.  Er  kam, 
man  möchte  es  glauben,  vom  Westen  her,  entfacht  durch  den  ausge- 
brocheneu Phanatismus  bei  den  Dänen  und  Oderslaven.  Wie  konnte 
aber  aus  den  um  das  J.  990  auf  den  Befehl  des  Fürsten  getauften 
Knaben  nach  einigen  30 — 40  Jahren  in  Rußland  eine  ganze  Reihe  von 
bekannten  und  unbekannten  Vertretern  der  christlichen  Kultur  und 
Literatur  hervorgehen :  Abschreiber  alter  Handschriften,  wie  ein  Upyr' 
Lichoj  (die  kommentierte  Prophetenübersetzung  abgeschrieben  1047), 
ein  Diakonus  Grigorius  (Schreiber  des  Ostromir-Evangeliums  1057)? 
In  der  Erzählung  Nestors  über  Boris  und  Gleb  (f  1015)  wird  von  der 
Lektüre  Boris'  der  Legenden  und  Martyrien  erzählt  und  in  der  Erzählung 
Jakovs  heißt  es,  er  habe  über  das  Martyrium  des  heil.  Niketas  (des 
Goten)  und  heil.  Wenzeslaus  (des  Böhmen)  nachgedacht.  Die  letztge- 
nannte Vita  kam  nach  Rußland  nicht  aus  Bulgarien,  sondern  wahr- 
scheinlich aus  Böhmen,  vielleicht  noch  vor  der  Bekehrung  zum  Christen- 
tum durch  Vladimir.  Vom  Fürsten  Jaroslav  (f  1054)  wird  erzählt,  daß 
er  Bücher  liebte  und  selbst  übersetzte.  Man  sagt,  gleich  nach  der  Ein- 
führung des  Christentums  habe  man  mit  der  Belehrung  des  Volkes,  Er- 
bauung der  Kirchen  begonnen,  es  seien  aus  Griechenland  und  Bulgarien 
geeignete  Personen  bestellt  worden.  Allein  die  Griechen  waren  der 
slavischen  Sprache  nicht  mächtig,  die  Bulgaren  konnten  selbst  nicht 
viele  Lehrer  liefern  und  das  Andenken  Svjatoslavs  wird  sie  kaum  nach 
Rußland  gelockt  haben.  Die  Griechen  konnten  sich  als  höhere  Hie- 
rarchie, dann  als  Künstler,  Lehrer  der  griechischen  Sprache  oder  des 
Kirchengesanges  nützlich  erweisen,  ihre  Einwirkung  war  auf  die  höheren 
Gesellschaftskreise  beschränkt.  Für  die  Masse  der  Bevölkerung  muß  der 
Einfluß  von  jenen  russischen  Slaven,  die  der  alten  christlichen  Gemeinde 
angehörten,  ausgegangen  sein.  Die  einfache,  in  reiner  russischer 
Sprache  gegebene  Darstellung  des  Erzbischofs  Lukas  ^idjata  zeigt  es, 
daß  es  um  die  Mitte  des  XL  Jahrb.  in  Rußland  Menschen  gab,  die  nicht 
nur  in  kirchenslavischer  Sprache,  etwas  russifiziert,  sondern  auch  in  der 
Volkssprache  frei  sich  auszudrücken  verstanden.    Das  setzt  aber  eine 


Cyrillo-Methodiana.  \  79 

Reihe  vorausgegangener  Versuche  voraus,  das  heißt  nicht  nur  Väter, 
sondern  auch  Großväter  eines  Upyr'  Lichoj,  oder  des  Abschreibers  des 
Ostromirschen  Evangeliums,  des  Izbornik  1073,  der  Nowgoroder 
Offizien-Menäen,  und  unserer  ältesten  zufällig  erhaltenen  SchriftsttUer. 
eines  Jakov,  Nestor,  Theodosios,  Ilarion,  Lukas  ZiiJjata.  Die  Geläufig- 
keit und  Zuversicht  in  der  Behandlung  der  Sprache  dieser  Schriftsteller 
veranlaßt  uns,  den  Anfang  des  russi  chen  Schrifttums  nicht  nur  in  den 
Anfang  des  X.,  sondern  selbst  ans  Eode  des  IX.  Jahrb.  zu  setzen.  Das 
führt  uns  zu  der  Behauptung,  daß  schon  bei  der  ersten  Bekehrung 
Rußlands  (im  J.  861)  die  slavische  Schrift  und  der  slavische  Gottes- 
dienst uns  beigebracht  wurden.  Ohne  slavischen  Gottesdienst  hätte  das 
Christentum  nimmermehr  einen  so  großen  und  schnellen  Erfolg  in  Alt- 
rußland haben  können,  während  doch  schon  in  der  ersten  Hälfte  des 
XL  Jahrh.  das  Mönchtum  stark  verbreitet  war.  Man  denke  an  die  ersten 
werktätigen  Männer  des  Kijewer  Höhlenklosters,  an  Antonius,  der  schon 
vor  1050  nach  Athos  ging  und  dort  geraume  Zeit  blieb,  an  Nikita,  der 
Theodosius  um  das  Jahr  10  55 — 56  einkleidete,  an  Varlaam,  der  das 
Studion-Kloster  in  Konstantinopel  besuchte.  Die  Fürstin  Olga,  die 
15  Jahre  als  Christin  zubrachte  (f  969),  besuchte  Konstautinopel  schon 
als  Christin  und  stellte  sich  als  solche  dem  Kaiser  vor,  auch  ihre  Reise- 
begleitung wird  aus  Christen  bestanden  haben.  Sie  betete  gewiß  nicht 
normannisch,  sondern  slavisch-russisch.  Auch  der  gewaltsame  Ver- 
dränger Askolds  und  Dirs  erkannte  die  slavisch-russische  Sprache  als 
das  offizielle  Organ  seines  Fürstentums  an.  Die  Verträge  Olegs  (907. 
011),  Igors  (944 — 45)  und  Svjatoslavs  mit  den  Griechen  hatten  zwei 
offizielle  Texte,  den  griechischen  und  den  slavischen.  Es  folgt  eine  Be- 
trachtung über  die  verhältnismäßig  große  Verbreitung  der  slavischen 
Sprache  damals  in  Konstantinopel  und  die  nochmalige  Betonung,  daß 
Rußland  durch  die  von  Photios  geschickten  Slavenapostel  Konstantin 
und  Methodios  das  Christentum  mit  slavischem  Gottesdienste  bekam. 
Wäre  im  J.  861  das  Christentum  nach  Rußland  in  griechischer  Sprache 
eingedrungen,  so  würde  kaum  die  unter  Photios  gegründete  christliche 
Gemeinde  Wurzel  gefaßt  haben,  deren  Fortbestand  durch  die  bekannten 
Umstände  unter  Olcg,  Igor  und  Olga  bezeugt  ist.  Erst  während  der  heid- 
nischen Reaktion  unter  Vladimir  mag  ein  Nachfolger  des  durch  Photios 
eingesetzten  Bischofs  aus  Kijew  (oder  Perejaslavl)  vertrieben  worden 
sein.  Darauf  mag  sich  auch  die  von  Solovjev  hervorgehobene  Nachricht 
der  Nikonischen  Chronik    beziehen,    nach   welcher  nach   Cherson   zu 

12* 


180  V.  Lamanskij, 

Vladimir  ein  Metropolit  Michail  kam,  der  die  Leitung  der  neuen  russi- 
schen Kirche  zu  übernehmen  hatte.  Der  Ausdruck  neu  wird  nur  im 
Sinne  der  ganz  neuen  Umstände,  unter  welchen  jetzt  das  Christentum 
zur  Geltung  kam,  aufzufassen  sein.  Folgen  Betrachtungen  über  die  aus 
der  Erklärung  des  Christentums  als  Staatskirche  für  die  Reinheit  seiner 
Lehre  und  seiner  Ideen  sich  ergebenden  Resultate  und  als  reine  Re- 
präsentanten der  christlichen  Ideen  werden  Konstantin  und  Methodios 
hingestellt.  »Sie  fühlten  die  soziale  Ohnmacht  Byzanz'  und  setzten  ihre 
Hoffnungen  auf  die  Wiedergeburt  der  morschen  byzantinischen  Welt 
durch  die  Zuführung  dem  Christentum  des  frischen,  munteren,  zahl- 
reichen slavischen  Volksstammes,  dessen  Sprache  und  Sitten  sie  schon 
von  Jugend  auf  kennen  gelernt  hatten.  Sie  fanden  eine  mächtige  Stütze 
an  dem  Patriarchen  Photios,  einem  Mann  von  großem  Geist  und  starkem 
Charakter,  welcher  das  der  christlichen  Aufklärung  drohende  Unglück 
von  den  zunehmenden  Ansprüchen  des  römischen  Bischofs  auf  Selbst- 
herrschaft im  Sinne  eines  römischen  Autokrators  und  von  dem  Versuch, 
den  den  europäischen  Osten  ausfüllenden  slavischen  Volksstamm  in 
derselben  Weise  seinem  Einfluß  und  seiner  Vormundschaft  zu  entziehen, 
wie  der  von  den  romanischen  und  germanischen  Völkern  bevölkerte 
Süden  und  Westen  Europas  schon  längst  gewohnt  war,  Rom  noch  von 
heidnischen  Zeiten  her  zu  gehorchen,  voraussah.  Byzanz,  die  Regierung 
und  die  Gesellschaft,  namentlich  aber  das  Mönchtum,  das  Photios  seine 
umfangreiche  Bildung  und  seine  nicht  zunftmäßig-mönchische  Richtung 
nicht  verzeihen  konnte,  wußten  nicht  und  waren  nicht  imstande,  Pho- 
tios zu  begreifen  und  zu  würdigen.  Um  ihn  zu  beseitigen,  gingen  sie 
auf  ein  Bündnis  mit  Rom  ein  und  trugen  auf  diese  Weise  nicht  wenig 
zur  Vernichtung  des  großen  Werkes  der  slavischen  Apostel  und  des 
Photios  in  westslavischen  Ländern  bei«.  Nur  in  Rußland  ging  das 
große  Werk  des  Patriarchen  nicht  zugrunde.  Dank  sei  es  den  von  ihm 
geschickten  Lehrern  hat  das  von  ihnen  bei  einem  Handvoll  von  Men- 
schen angepflanzte  Christentum  (861)  Wurzel  gefaßt  und  stufenweise, 
wenn  auch  langsam,  im  Laufe  von  mehr  als  120  Jahren  sich  entwickelt. 
Wenn  nachher,  seit  dem  Auftreten  Vladimirs  und  seines  Oheims  Do- 
brynja,  eine  verhältnismäßig  erfreuliche  Blüte  der  jungen  christlichen 
Kultur,  wie  wir  sie  seit  der  Mitte  des  XI.  Jahrh.  in  Rußland  wahrneh- 
men, eintrat,  so  muß  das  der  vorausgegangenen,  vernünftigen  und  freien 
Einführung  des  Christentums  zugeschrieben  werden.  »Mag  auch  die 
Dankbarkeit  des  russ.  Volkes  einem  Vladimir  gegenüber  ganz  begreif- 


Cyrillo-Methoäiana.  Igl 

lieh  erscheinen,  so  weiß  doch  die  Geschichte,  daß  nichts  neues  und 
großes  im  Leben  der  Völiser  plötzlich  geschieht,  am  wenigsten  auf  Be- 
fehl einer  sei  es  noch  so  mächtigen  Hand,  sondern  langsam  sich  vor- 
bereitet, im  Stillen  wächst«. 

XXVI. 

(Ib.  1904  Aprilheft,  S.  215—220).  Die  Sprache  der  Verträge  mit 
den  Griechen  vom  J.  907  u.  911  und  die  annalistischen  Aufzeichnungen 
des  IX.  Jahrh.  bezeugen  die  Anwesenheit  in  den  Jahren  des  X.  Jahrh. 
einiger  Christen  in  Kijew,  die  Slaven,  aber  mit  der  griechischen  und 
kirchenslavischen  Sprache  vertraut  waren.  Die  zufällige  Erwähnung 
der  Eliaskirche  zur  Zeit  Igors  spricht  dafür,  daß  wenn  nicht  diese,  so 
eine  andere  Kirche  in  Kijev  schon  unter  Oleg  und  Askold  vorhanden 
war.  Über  die  Taufe  der  Russen  unter  dem  Kaiser  Michael  III.  und 
Photios  (861)  haben  wir  vielleicht  auch  ein  altrussisches  Zeugnis  in 
einem  Prolog  der  Rumjancovschen  Bibliothek  des  XIII. — XIV.  Jahrh,, 
wo  von  einem  aus  Konstantinopel  von  Olga  heimgebrachten  Kreuze  die 
Rede  ist,  das  »nun  in  Kijew  in  der  heil.  Sophia  am  Altar  auf  rechter 
Seite  stehe « :  oöhobhca  b%  Poyin&cT^H  3eM.iH  KptcTt  5;  Ojihva  6jito- 
BipHLie  KHerHHH  Mxpe  CTocjiaBJe.  Das  Wort  o6hobhca  scheint  auf 
die  frühere  Bekehrung  unter  Photios  anzuspielen.  Noch  einmal  werden 
dann  die  schon  früher  gemachten  Kombinationen  betreflfs  der  Deutung 
der  Legende  im  Sinne  der  Mission  nicht  zu  den  Chazaren,  sondern 
nach  Kijew  wiederholt,  und  selbst  die  Worte  Gauderichs,  in  welchen 
von  der  Danksagung  seitens  der  Chazaren  an  den  byzantinischen 
Kaiser  die  Rede  ist,  mit  der  Äußerung  des  Photios  beztlglich  der  Russen 
in  Zusammenhang  gebracht. 

XXVII. 

(Ib.  S.  220 — 231).  Die  bekannten  Behauptungen  Friedrichs  be- 
treflfs Konstantins  sind  zurückzuweisen.  Die  Verfassung  der  Schrift  und 
die  Übersetzung  gehören  zusammen.  Doch  die  Darstellung  der  Legende 
von  der  späteren  E^ntstehung  der  slav.  Schrift  ist  eine  mährische  patrio- 
tische Interpolation.  Die  Auktorität  Safariks  hat  sie  bei  den  Westslavcn 
aufrecht  gehalten,  denen  zuletzt  auch  einige  Russen  folgten.  Schon  vor 
Dobrovsky  stand  Lequien,  nachher  Gorskij,  Hilferding  und  Kunik  der 
Wahrheit  nahe.  Lequien  verwickelte  sich  in  Widersprüche  dadurch, 
daß  er  die  sogenannte  chazarische  Mission  Konstantins  in  die  Regierungs- 


182  V.  Lamanekij, 

zeit  Basilios  I.  (867 — 886)  und  des  zweiten  Patriarchats  des  Ignatios 
(867 — 878)  versetzte.  Darnach  könnte  Konstantin  erst  nach  dem 
23.  Okt.  867  die  Mission  übernommen  haben.  Hilferding  betonte  we- 
nigstens die  Wichtigkeit  des  slavischen  Elementes  in  der  sogenannten 
chazarischen  Mission,  weswegen  sich  an  ihr  Männer  beteiligten,  die  sich 
die  Bekehrung  der  Slaven  zum  Ziel  setzten.  Er  sah  auch  in  der  Über- 
setzung der  von  Konstantin  verfaßten  Polemik  gegen  die  Mohammeda- 
ner und  Juden  bei  den  Chazaren,  welche  Methodios  machte,  ein  Zeugnis 
für  das  den  Slaven,  zumal  aber  auch  den  russischen,  schon  vor  der 
mährischen  Reise  gewidmete  Interesse  (vergl.  seine  Werke  I.  307 — 312). 
Auch  Hilferding  verwickelte  sich  in  chronologische  Schwierigkeiten  da- 
durch, daß  er  die  chazarische  Mission  ins  Jahr  858  und  die  erste  Be- 
kehrung der  Russen  in  das  Jahr  866  versetzte,  die  er  eben  darum  der 
Reihe  nach  als  die  zweite  Bekehrung  ansah.  Recht  hatte  er  aber  darin, 
daß  er  die  legendäre  Nachricht  von  der  Abfassung  der  slavischen  Schrift 
erst  unmittelbar  vor  der  Reise  nach  Mähren  verwarf.  Gorskij  gab  Ein- 
schaltung von  späteren  Zusätzen  zu  und  rechnete  dazu  die  Episode  von 
den  Sprachstudien  Konstantins  in  Cherson,  »Das  Hauptverdienst  Hilfer- 
dings besteht  aber  darin,  daß  er  den  Rückschritt  unserer  Wissenschaft, 
seitdem  sich  äafarik  im  J.  1855  von  seinen  früheren,  von  Dobrovsky 
vertretenen  Ansichten  lossagte,  erkannte.  Leider  folgten  Safarik  nicht 
nur  die  westslavischen  (Miklosich,  Racki,  Jagic),  sondern  auch  die 
Mehrzahl  der  russischen  Gelehrten  (Bodjanskij,  Voronov,  Golubinskij, 
Sreznevskij)«.  Die  Kritik  Hilferdings  gegen  diese  Schwenkung  Safariks 
(ib.  S.  313 — 314)  verleiht  ihm  einen  Ehrenplatz  in  der  Cyrillo-Metho- 
dianischen  Frage.  Hätte  er  gewußt,  daß  der  Überfall  Askolds  auf  Kon- 
stantinopel im  Sommer  860,  und  daß  die  Mission  zu  den  Chazaren  erst 
860  oder  861  stattfand,  so  würde  schon  er  die  Vermutung  Lequiens, 
daß  die  erste  Bekehrung  der  Russen  durch  die  Slavenapostel  zustande 
kam,  sichergestellt  und  soweit  nötig  berichtigt  haben.  Nun  kommt 
Kunik  an  die  Reihe,  es  wird  eine  Parallele  zwischen  ihm  und  Prof. 
Brückner  zu  Ungunsten  des  letzteren  gezogen  und  seine  Ansicht  betreffs 
der  ersten  Tätigkeit  der  Slavenapostel  an  der  Bregalnica  nebst  seiner 
Abwehr  der  entgegengesetzten  Ansichten  Racki's  und  Miklosichs  billi- 
gend hervorgehoben. 

XXVIII. 
(Ib.  S.  231 — 239).    Jetzt  wird  die  durch  die  Bestimmung,  daß  die 
Russen  am  18.  Juni  860  vor  Konstantinopel  waren,  geschaffene  neue 


Cyrillo-Methodiana.  1 83 

Gruppierung  und  Beleuchtung  der  Tatsachen  nochmals  hervorgehoben 
und  darnach  die  frtiheren  irrigen  Ansichten  Knniks  und  Gorskijs  be- 
richtigt. Die  Notiz  Gauderichs  und  die  Erzählung  der  Legende  von 
der  Begegnung  mit  einem  Russen  werden  im  Sinne  der  älteren  Dniepr- 
Poljanen  zusammengestellt,  und  der  nach  der  Legende  laut  gewordene 
Wunsch  Rostislavs,  einen  ähnlichen  Lehrer  für  sein  Volk  zu  bekommen, 
auf  die  zu  diesem  gelangte  Kunde  von  der  Tätigkeit  der  Apostel  bei 
den  Russen  zurückgeführt.  Da  vor  Oleg  die  Kijewer  Gegend  Chazarien 
hieß  und  unter  Askold  sie  Gardhariki  benannt  worden  sein  mag,  so 
haben  vielleicht  die  Griechen  durch  volksetymologische  Umdeutung  aus 
dem  ihnen  unbegreiflichen  Namen  »Chazarien«  gemacht.  Die  Griechen 
können  aber  auch  später  noch  das  mittlere  Dnieprgebiet  Chazarien  ge- 
nannt haben.  Wenn  sie  im  J.  860  von  den  gefangenen  Russen  den 
Namen  Gardhariki  hörten,  so  konnten  sie  leicht  diesen  Namen  mit  ihrem 
Xa^aQUTj  identifizieren.  Die  Stelle  der  Legende  von  dem  mit  russischen 
Buchstaben  geschriebenen  Evangelium  ist  insofern  wichtig,  als  sie  be- 
weist, 1)  daß  die  Evangelienlektionen  schon  861  übersetzt  waren,  2)  daß 
die  Notiz  Chrabrs  betrefi's  der  Abfassungszeit  der  slav.  Schrift  (855) 
und  die  Überlieferung  von  der  Bregalnica  kein  Irrtum,  keine  Erfindung 
ist,  3)  daß  die  sogenannte  Chazarische  Mission  in  der  Wirklichkeit  eine 
russische  Mission  war,  und  4)  daß  die  in  der  Legende  gemachte  Ein- 
schaltung und  Modifikation  nicht  später,  als  in  der  ersten  Hälfte  des 
X.  Jahrh.  zustande  kam.  Derjenige,  der  von  den  russischen  Buchstaben 
des  angeblich  von  Konstantin  in  der  Krym  aufgefundenen  Evangeliums 
schrieb,  muß  das  Wort  russisch  als  etwas  fremdes,  unverständliches 
aufgefaßt  haben.  Vom  Beginn  des  XL  Jahrh.  an  wurden  aber  mit  die- 
sem Ausdruck  schon  Slaven  bezeichnet.  Die  Stelle  kann  nur  als  spätere 
Umarbeitung  erklärt  werden.  In  ursprünglicher  Fassung  mag  von  einem 
der  Abgesandten,  mit  welchen  die  Apostel  die  Reise  unternahmen,  die 
Rede  gewesen  sein,  der  ein  Slave  aus  dem  Dnieprland  war.  Der  Zweck 
der  Umarbeitung  war,  jede  Anspielung  auf  Russen  und  darauf,  daß 
Konstantin  zu  den  russischen  Slaven  als  Missionär  geschickt  worden,  zu 
beseitigen.  Diese  nicht  nach  der  Mitte  des  X.  Jahrh.  gemachte  Um- 
arbeitung wird  weder  von  einem  Ost-  noch  von  einem  Siidslaven  her- 
rühren, sondern  einem  mährischen  Slaven  angehören,  demselben,  der 
auch  die  bekannte  Fabel  von  der  Erfindung  der  Schrift  unmittelbar  vor 
der  Abreise  nach  Mähren  erdichtete.  Diese  einfältige  Einschaltung 
eines  mährischen  Patrioten  dient  als  neuer   wiclitisrer  Beweis  für  die 


1  84  V.  Lamanskij, 

Richtigkeit  der  von  Lequien  ausgesprochenen  Vermutung,  daß  die 
Slavenapostel  nicht  zu  den  Chazaren,  sondern  zu  den  Russen  reisten. 
Da  die  Mission  in  das  Jahr  861  fiel,  so  war  Photios  und  nicht  etwa 
Ignatios  derjenige,  der  sie  veranlaßte.  Begreiflich  wählte  Photios  den 
Philosophen  Konstantin  dazu  aus,  dessen  Lehrer  und  Freund  er  war, 
den  er  als  Kenner  und  Freund  der  Slaven,  als  Erfinder  der  slavischen 
Schrift  und  Übersetzer  des  Evangeliums  kannte,  den  er  für  den  fähig- 
sten für  die  Verbreitung  des  Christentums  unter  den  Russen  hielt.  Nach 
Hause  zurückgekehrt  erzählten  die  beiden  Männer  von  dem  unbekannten 
Lande,  und  man  kann  mit  Sicherheit  behaupten,  daß  sie  zu  jenen  schätz- 
baren Nachrichten  des  Kaisers  Konstantin  Porphyrogenitus  über  Alt- 
rußland den  ersten  Grund  legten. 

XXIX. 

(Ib.  1904,  Mai,  S.  131—134).  Gegen  die  Bedenken  Gorskijs  wird 
die  Errichtung  des  Episkopats  in  Rußland  in  Schutz  genommen.  Oleg 
war  zwar  nicht  selbst  Christ,  doch  bediente  er  sich  der  einheimischen 
Christen,  die  der  kirchenslavischen  Sprache  mächtig  waren.  Die  christ- 
liche Gemeinde  wird  ihr  Leben  in  Kijew  auch  während  der  späteren 
Jahre  nach  Oleg  und  Igor  bis  Vladimir  nicht  unterbrochen  haben. 

XXX. 

(Ib.  S.  134 — -142).  Von  der  Diatyposis  des  Kaisers  Leo  X.  aus- 
gehend, deren  Analyse  Gorskij  früher  gab  als  Geizer  und  De  Boor,  wird 
die  Nichterwähnung  des  russischen  Bistums  in  derselben  an  der  Hand 
paralleler  Erscheinungen  als  nicht  beweisend  gegen  die  Annahme  eines 
russischen  Bistums  schon  im  IX.  Jahrh.  ausführlich  begründet.  Es  ist 
auch  von  den  Beziehungen  Altrußlands  zu  Byzanz  die  Rede. 

XXXI. 

(Ib.  S.  142—144).  Die  Nachrichten  der  Legende  über  die  Rück- 
kehr der  beiden  Apostel  von  ihrer  chazarischen  Missionsreise,  nament- 
lich der  Vorgang  mit  der  Eiche  im  Lande  PhuUae  werden  einer  ab- 
fälligen Kritik  unterzogen. 

XXXII. 

(Ib.  S.  145 — 152).  Das  Kapitel  behandelt  die  Stelle  von  dem  an- 
geblich Salomonischen  Kelch  mit  der  hebräischen  und  samaritanischen 
Inschrift,  es  wird  die  Erklärung  Prof.  Pastrneks  zur  Stelle  zitiert  und  ein 
ausführliches  Zitat  aus  der  Londoner  Encyclopaedia  biblica  IV.  s.  v. 
Writing  gegeben. 


Cyrillo-Methodiana.  185 

XXXIII. 

(Ib.  S.  152 — 159).  Der  angeblich  Salomonische  Kelch  wird  weiter 
verfolgt,  nirgends  bei  den  mittelalterlichen  Beschreibern  der  Sehens- 
würdigkeiten Konstantinopels  geschieht  seiner  Erwähnung,  dagegen 
wird  in  einer  apokryphen  Prophezeiung  Salomons  über  Christus  ein 
Kelch  erwähnt,  samt  samaritanischer  und  hebräischer  Inschrift  (ein  sla- 
vischer  Text  dieser  apokryphen  Erzählung  wird  hier  mitgeteilt).  Aus 
einer  solchen  Erzählung  mag  der  spätere  Interpolator  der  Legende  die 
Biographie  Konstantins  ausgeschmückt  haben.  Die  Interpolation  steht 
im  offenbaren  Zusammenhang  mit  den  erzählten  angeblichen  Studien 
Konstantins  in  der  hebräischen  Grammatik  und  einer  samaritanischen 
Handschrift  in  Cherson. 

XXXIV. 

(Ib.  S.  159 — 168).  Nach  der  Entzifferung  der  angeblichen  In- 
schriften auf  dem  Salomonischen  Kelch  durch  Konstantin  folgt  in  der 
Legende  die  Erzählung  von  der  Gesandtschaft  Rostislavs  au  den  Kaiser 
Michail.  In  dieser  halte  ich  die  ganze  Darstellung,  angefangen  von  den 
Worten  »wenn  sie  Buchstaben  haben  in  ihrer  Sprache«  für  eine  spätere 
Einschaltung  (bis  zu  dem  Zitate  aus  dem  Johannesevangelium  inclusive). 
Die  dem  Kaiser  Michail  in  den  Mund  gelegten  Worte,  daß  sein  Vater 
und  Großvater  nicht  die  Schrift  bei  den  Slaven  fanden,  können  nicht 
von  ihm  herrühren,  weil  sein  Großvater  (Michail  II.)  und  sein  Vater 
(Theophil)  wütende  Ikonoklasten  waren.  Dagegen  wußte  Rostislav 
schon  von  dem  slavischen  Gottesdienste  und  verlangte  eben  darum  die- 
sen oder  einen  anderen  Lehrer  auch  für  sein  Volk.  Das  wußten  noch 
früher  die  makedonischen,  dann  die  thrakischen  und  mysischen  Slaven. 
Auch  Kaiser  Michail  wußte  es,  da  er  in  dem  Antwortschreiben  an 
Rostislav  ausdrücklich  sagt,  »daß  in  jenen  Tagen  dieses  große  Ereignis 
(die  Erfindung  der  slav.  Schrift  und  slav.  Übersetzung)  zustande  kam. 
BX  npi.BaM  jiiTa«  (d.  h.  während  er  von  842  bis  856/7  mit  der  Mutter 
Theodora  zusammen  regierte).  Die  Antwort  Michails  sieht  aus,  als 
wäre  sie  von  Photlos  abgefaßt  gewesen.  Die  darin  ausgesprochene 
große  Wertschätzung  der  slav.  Schrift  und  der  Übersetzung  des  Evan- 
geliums spricht  entschieden  dagegen,  daß  erst  jetzt  das  ganze  Werk 
Konstantins  für  die  Slaven  begonnen  worden  wäre.  Man  muß  nur  die 
von  uns  als  Interpolation  angesehenen  Worte  ausschalten.  Hätte  Kon- 
stantin erst  ganz  kurz  vor  der  Abreise  nach  Mähren  die  Schrift  abge- 


186  V.  Lamanskij, 

faßt,  so  würde  sich  der  Kaiser  der  LobeserhebuDgen  enthalten  haben 
und  auch  die  Legende  würde  nicht  gleich  nach  seiner  Ankunft  in 
Mähren  von  seinem,  den  gesammelten  Schülern  erteilten  Unterricht  er- 
zählen. Nach  der  gewöhnlichen  Version  (der  sogenannten  pannonischen 
Legende)  hat  Konstantin  die  Schrift  in  Konstantinopel  abgefaßt,  nach 
einer  anderen,  die  wir  für  älter  und  ihren  mährischen  Ursprung  treuer 
abspiegelnd  halten  (in  der  altruss.  Chronik  erhalten),  machte  er  sich 
erst  in  Mähren  an  diese  Arbeit.  Nach  dieser  Version  wäre  Konstantin 
nach  vollendeter  Mission  in  Mähren  nach  Bulgarien  heimgekehrt. 
Offenbar  erinnerte  man  sich  im  X. — XL  Jahrb.  in  Mähren,  daß  Kon- 
stantin in  Bulgarien  war,  und  da  man  ihn  vor  allem  für  sich  haben 
wollte,  so  schickte  man  ihn  erst  nachher  nach  Bulgarien  i). 

V.  Lamanskij. 

II.  Thesen  zur  Cyrillo-Methodianischen  Frage. 

Erneutes  Studium  der  einschlägigen  Denkmäler  hat  zu  Ergeb- 
nissen und  Auffassungen  geführt,  die  den  hergebrachten  entgegenstehen. 
Ohne  auf  irgendwelche  Polemik  und  Diskussion  einzugehen,  mit  der 
ganze  Bände  gefüllt  werden  könnten,  namentlich  wenn  alle  Literatur 
berücksichtigt  werden  sollte,  begnüge  ich  mich  mit  dem  Aufstellen  und 
Begründen  von  Thesen,  die  das  Werk  der  Slavenapostel  in  einem  etwas 
neuen,  hoffentlich  wahrhafteren  Lichte  erscheinen  lassen. 

Folgendes  wird  behauptet: 

L  Die  drei  Legenden,  die  lateinische  (die  sog.  italische)  und  die, 
ursprünglich  natürlich  glagolitisch  geschriebenen  Vita  Cyrilli  und  Me- 
thodii  sind  das  Werk  eines  einzigen  Autors,  Methods,  mag  er  auch  den 


1)  Soweit  reicht  die  bisherige  Auseinandersetzung  Lamanskijs.  Wir 
bedauern,  wegen  Raummangel  aus  seiner  allerdings  sehr  breit  gehaltenen 
und  den  Hauptgedanken,  der  darin  kulminiert,  daß  die  Mission  Konstantins 
zu  den  Chazaren  in  Wirklichkeit  zu  den  Poljanen  im  Dnieprgebiet,  zu  den 
Küssen  Askolds  stattgefunden  habe,  immer  wieder  zur  Sprache  bringenden 
kritischen  Studie  nur  einen  ganz  kurzen  Auszug  geben  zu  können.  Vieles, 
namentlich  die  ganz  subjektiv  gehaltenen  Reflexionen  des  Verfassers  über 
die  bisher  dieser  Frage  gewidmeten  Forschungen,  wobei  sein  echt  slavo- 
philer,  d.  h.  die  Westslaven  geringschätzender  Standpunkt  stark  zum  Aus- 
druck kommt,  mußten  ganz  mit  Stillschweigen  übergangen  werden.  Die 
ganze  Arbeit  ist  glänzend  nach  dem  Grundsatz  stat  pro  ratione  voluntas 
durchgeführt.  V.  J. 


Cyrillo-Methodiana.  187 

Inhalt  der  lateinischen  Legende  bloß  diktiert  haben  und  mögen  die 
letzten  Sätze  der  Vita  Methodii  (Tod  und  Begräbnis)  von  einem  Schüler 
herrühren.  Die  drei  Legenden  repräsentieren  somit  nur  eine  einzige 
Quelle  und  Auffassung. 

IL  Die  drei  Legenden  sind  somit  vor  der  Vertreibung  der  Metho- 
dianer  entstanden,  die  Cyrillslegenden  vor  879,  die  Vita  Methodii  ist 
noch  885  abgeschlossen.  Wir  können  alle  drei  mährische  Legenden 
benennen;  der  bisherige  Terminus  pannonisch,  für  die  beiden  slavi- 
schen  gebräuchlich,  ist  falsch. 

III.  Die  drei  Legenden,  namentlich  die  beiden  slavischen,  sind 
nicht  etwa  bloß  hagiographische  Denkmäler,  in  lehrhafter  und  frommer 
Absicht,  nur  zur  Erbauung  der  Schäfchen,  zur  Verherrlichung  der 
Heiligen,  zum  Preise  des  Herrn  geschrieben,  sondern  sind  ausgesprochene 
Tendenzschriften,  die  Tatsachen  unterschlagen  oder  erdichten,  ganz 
wie  es  ihre  Tendenz  erforderte,  die  dahin  ging,  die  Neuerung,  die  Ein- 
führung der  slavischen  Liturgie,  von  jeglichem  Makel  rein  zu  halten. 

IV.  Die  in  diesen  Legenden  vorkommenden  Briefe  und  Reden, 
Lobeserhebungen  und  Motivierungen  des  Kaisers,  der  Päpste  u.s.w.  sind 
zu  diesem  Zwecke  erdichtet  oder  ausgeschmückt. 

V.  Die  Anerkennung  der  slavischen  Liturgie  durch  Rom  ist  nur 
einmal  und  zwar  dem  griechenfreundlichen,  auch  den  Photius  anerken- 
nenden Johannes  VIII.  abgerungen  worden.  Eine  ähnliche,  angebliche 
Rolle  Hadrians  II.  ist  fingiert. 

VI.  Den  Angaben  der  Legenden  sind  zweierlei  Schemata  willkür- 
lich zugrunde  gelegt:  das  eine  Schema  für  die  Missionsreisen  der  Brü- 
der unter  Arabern,  Chazaren,  Mährern;  das  andere  für  ihre  Reisen  zu 
Kaiser,  König  und  Papst;  beiderlei  Schemata  sind  erfunden,  um  die 
eigentlichen  Beweggründe  verschwinden  zu  lassen. 

VII.  Das  blinde  Vertrauen  auf  den  bloßen  Wortlaut  der  Legenden 
hat  zu  den  sonderbarsten  Widersprüchen,  zu  handgreiflichsten,  un- 
glaublichsten Irrtümern  verleitet;  so  hat  man  z.  B.  aus  einem  gottes- 
fürchtigen,  christlichen,  deutschen  König  einen  wilden,  ungewaschenen 
Magyarenhäuptling  gemacht,  Disputationen  in  Venedig  erfunden,  die 
verunglückte  Chazarenmission  für  die  mährische  Mission  Anlaß  werden 
lassen  u.s.w.  Die  Kritik  muß  diesen  »Lügenden ;<  gegentiber  wieder  zu 
Ehren  gebracht  werden. 

VIII.  Cyrill's  Bedeutung  ist  gegen  die  Method's  hierbei  überschätzt 
worden;  Cyrill  z.  B.  hat  selbst  nur  griechisch  das  geschrieben,  was  erst 


1 88  A.  Brückner, 

sein  Bruder  ins  Slavische  tibersetzt  hat;  Cyrill  hat  zwar  das  Werk  be- 
gonnen, aber  die  oigentlicho  und  schwierigste  Hauptarbeit  leistete  Method, 
der  eigentliche,  unermüdliche,  unerschrockene  Vorkämpfer  der  slavi- 
schen  Liturgie,  einer  übrigens  im  Grunde  ziemlich  zwecklosen  Sache. 

IX.  Beide  Brüder  waren  Photianer  und  die  unversöhnlichsten 
Feinde  Roms;  namentlich  Method  haßte  Rom,  obwohl  er  ihm  alles, 
nicht  nur  seine  erzbischöfliche  Würde,  sondern  seine  Freiheit,  ja  sein 
Leben  verdankte;  Method  zerriß  auch  die  letzten  ihn  mit  Rom  verbin- 
denden Fäden,  verfluchte  den  römischen  Glauben  und  ist  dafür  unter 
römische  Heilige  aufgenommen  worden. 

X.  Svetopeiks  Verfahren  gegen  die  Methodianer  war  ein  weises, 
gerechtes  und  mildes ;  alle  gegenteiligen  Auslassungen  sind  tendenziöse 
Entstellungen  des  Sachverhaltes. 

XL  Das  Errichten  einer  griechischen  Filiale  fast  im  Herzen  des 
römischen  Abendlandes  war  von  vornherein  zweck-  und  aussichtslos ; 
dieses  Werk  mußte  in  Mähren  scheitern,  hat  sich  auch  niemals  einer 
größeren  Popularität  in  Mähren  selbst  zu  erfreuen  vermocht. 

Xn.  Die  Zurückführung  von  Hus  u.  dgl.  auf  methodianische  Ele- 
mente, Anklänge  oder  Traditionen,  wie  sie  noch  heute  von  Phrasen- 
dreschern beliebt  wird,  ist  kindische  Fabelei. 

Ich  habe  nun  die  Wahrheit  dieser  Thesen  zu  erweisen,  wobei  ich 
mich  öfters  kurz  fassen  kann,  da  ich  zu  Wissenden  spreche. 

I.  Auf  die  widerspruchsvollen  Annahmen  über  Zeit  und  Ent- 
stehung, gegenseitiges  Verhältnis,  ursprüngliche  Niederschrift  u.  dgl. 
der  einzelnen  Legenden,  brauche  ich  nicht  einzugehen.  Die  Fülle  und 
Genauigkeit  der  Angaben  erweist  zur  Genüge  —  ihr  hohes  Alter;  die 
vielen  wörtlichen  Übereinstimmungen  —  ihren  gemeinsamen  Ursprung, 
der  nur  auf  Method  selbst  zurückgeführt  werden  kann.  Ich  zitiere  z.  B. 
nur  einen  Satz  (der  Bequemlichkeit  halber  nach  der  Ausgabe  von  Prof. 
Pastrnek):  coeperunt  (fratres)  ad  correptionem  diversorum  errorum, 
quos  in  populo  illo  (Moravico)  repererant,  falcem  eloquiorum  suorum 
inducere  sicque  ahrasis  et  extirpatis  de  agro  illo  pestifero  multifariis 
vitiorum  sentihus  divini  verbi  gramina  Seminare  =  vseze  se  (nämlich 
diese  errores)  jako  i  trnij'e  pos^k  slovesnyim  ognjem  popali;  gerade 
die  Legenden  verwenden  mit  ausgesprochener  Vorliebe  Bilder  des 
Ackerbaulebens;  man  merkt,  daß  ihre  Verfasser  nicht  in  den  Mauern 
Konstantinopels  auferwachsen  sind,  z.  B.  das  bekannte  az  na  lese  pa- 
daja,  oder  Vergleiche  in  den  Argumentationen  u.s.  w.    Die  innigen  Be- 


4 


Cyrillo-Methodiana.  189 

Ziehungen  zwischen  der  »italischen«  und  der  Cyrillslegende  sind  längst 
beobachtet  worden;  man  wollte  ja  eine  aus  der  anderen  (aber  wie  und 
wann?)  schöpfen  lassen  —  diese  Beziehungen  erklären  sich  am  natür- 
lichsten aus  dem  Umstand,  daß  Method  eben  die  italische  Legende,  auf 
Grund  seiner  Informationen,  abfassen  ließ,  vielleicht  den  des  Latein 
kundigen  Gorazd;  er  nahm  sie  dann  bei  seiner  zweiten  Romreise  S79 
mit  und  so  kam  sie  nach  Italien  und  verblieb  daselbst;  dies  ist  mir 
wahrscheinlicher,  als  die  Annahme,  sie  wäre  schon  S69  oder  S70  in 
Rom  durch  Method  veranlaßt  worden ;  sie  setzt  nämlich  den  slavischen 
Text  voraus. 

Die  italische  Legende  war  für  die  Römer  bestimmt  und  daher 
überging  sie  manches  wichtigere  mit  Stillschweigen,  rückte  dafür  an- 
deres unwichtigere  in  den  Vordergrund,  gab  unmögliche  Motivierungen, 
verwickelte  sich  in  Widersprüche  mit  den  m mährischen «t  (slavischen) 
Legenden;  aber  diese  Eigentümlichkeiten  und  Widersprüche  erklären 
sich  aus  dem  einfachen  Grunde,  daß  beiderlei  Vitae  für  ganz  andere 
Leser  und  Zwecke  berechnet  waren.  Für  die  Römer  rückte  die  italische 
Legende  die  Aufündung  der  Klemensreliquien  an  die  erste  Stelle, 
förmlich  als  ob  dies  der  Lebenszweck  Cyrills  gewesen  wäre;  dafür  ver- 
schwieg sie  wohlweislich  die  Einführung  der  slavischen  Liturgie,  das 
eigentliche  Lebenswerk,  vollständig;  sie  spricht  ja  nur  vorsichtig  und 
flüchtig  von  Cyrills  Übersetzung  des  Evangeliums  in  die  Landessprache, 
denn  daran  allein  konnte  man  in  Rom  keinerlei  Anstoß  nehmen,  gab  es 
doch  schon  längst  derartige  Übersetzungen,  altirische,  althochdeutsche 
u.  s.  w.  auch  in  der  abendländischen  Kirche.  Um  das  auffällige  Auf- 
tauchen der  beiden  Griechen  mitten  im  römischen,  als  solchem  stets  un- 
bedingt anerkannten  Sprengel  zu  bemänteln,  erfindet  die  italische  Le- 
gende nicht  nur  die  Aufforderung  und  Gesandtschaft  des  Rostic  nach 
Byzanz,  sondern  motiviert  noch  dieselbe  durch  die  Nachricht  vom  an- 
geblichen Chazarenerfolge:  audiens  Rostislaus  quod  factum  fuerat  a 
philosopho  in  provincia  Cazarorum  etc.  liier  wird  uns  ganz  oflenkundig 
ein  Kindcrraärchen  aufgebunden :  zwischen  Mähren  und  Chazarien, 
zwischen  der  March  und  dem  Kaspisee  gab  es  keinerlei  Verkehr;  von 
Chazaven  hätten  die  Mährer  gewiß  nie  etwas  erfahren,  außer  etwa  durch 
jüdische  Händler,  die  Sklaven  handelnd  auch  von  Mährern  zu  Cha- 
zaren  kamen ;  diese  Juden  hätten  sich  wohl  gehütet,  etwas  von  etwaigen 
Erfolgen  der  griechischen  Mission  vcrl;iutli:iren  zu  lassen.  Zudem  gab 
es  ja  keinerlei  Erfolge:  die  mit  solchem  Pomp  angetretene  Mission  en- 


1 90  A.  Brückner, 

digte  ja  mit  einem  totalen  Fiasko ;  ein  paar  getaufte  Chazaren  und  los- 
gelasseno  Griechen  ersetzten  nicht  die  getäuschten  Erwartungen  auf 
Bekehrung  des  Chagan  und  seines  ganzen  Volkes  selbst.  Mit  richtigem 
Blicke  hat  es  Method  gar  nicht  gewagt,  diese  so  leichte  Motivierung 
des  lateinischen  in  seine  slavischen  Texte  aufzunehmen ;  da  hätten  doch 
die  Mährer  etwas  ilmen  ganz  unbekanntes  erfahren  können;  statt  dessen 
reichte  ihm  für  sie  das  bogom  ustim  aus,  womit  sich  die  argwöhnische- 
ren Römer  nicht  so  leicht  hätten  abspeisen  lassen.  Im  Vertrauen  auf 
das  kurze  Gedächtnis  der  Römer  wagte  dann  die  italische  Legende  noch 
den  Satz :  daß  der  Papst  die  Brüder  zu  Bischöfen,  ihre  übrigen  Schüler 
zu  Priestern  und  Diakonen  weihen  ließ ;  denn  zu  dem  päpstlichen  Be- 
grüßungsjubel stimmte  schlecht  das  ärmliche  Resultat,  die  Weihe  bloß 
dreier  Priester  und  zweier  Anagnosten. 

II.  Erst  auf  Kocels  Bitte  wurde  Method  auf  den  Sitz  des  h.  Andro- 
nikus  geweiht,  aber  der  Tätigkeit  Methods  inPannonien  machte  deutsche 
Eifersucht  und  Herrschbegier  ein  rasches  Ende;  es  folgte  das  Gericht 
über  Method  vor  König  Ludwig,  seine  Einkerkerung,  hierauf  nach 
dritthalb  Jahren  die  Befreiung  durch  den  Papst  —  aber  nach  Pannonien 
ist  Method  nie  zurückgekehrt,  hat  in  Pannonien  nie  mehr  kirchliche 
Autorität  ausgeübt.  Der  Papst  mußte  hierin  offenbar  nachgeben,  Method 
mit  dem  bloßen  Titel  eines  pannonischen  Erzbischofs  —  ich  hätte  bei- 
nahe gesagt  in  partibus  infidelium  —  sich  begnügen.  Wenn  nun  Mähren 
vor  868  und  nach  872  der  ausschließliche  Schauplatz  der  Tätigkeit 
Cyrills  und  Methods  war,  so  ist  es  doch  die  reinste  Willkür,  »pannonische« 
Legenden,  statt  »mährischere,  darüber  berichten  zu  lassen.  Wir  wissen 
ja,  welche  vorgefaßte  Meinungen,  seit  Kopitars  Zeiten,  diesen  unglück- 
lichen Terminus  eingeschmuggelt  haben,  aber  bei  dem  offenkundigen 
Irrtum  zu  verharren,  wäre  Eigensinn. 

III.  Der  Grund,  daß  man  die  Legenden  und  ihre  Angaben  bisher 
völlig  falsch  beurteilt  hat,  liegt  darin,  daß  man  die  Tendenz  derselben 
völlig  verkannte.  Man  hielt  sie  ja  naiver  Weise  für  hagiographische 
Schriften ,  denen ,  bis  auf  das  erbauliche  und  wundertätige  Beiwerk, 
ohneweiteres  zu  trauen  wäre;  man  freute  sich  außerordentlich,  als  die 
Papstbriefe  des  Britischen  Museums  die  Angaben  der  Vita  Methodii  be- 
stätigten —  aber  gleich  bei  dieser  Bestätigung  hätte  man  sich  fragen 
sollen,  warum  denn  die  Vita,  statt  die  schlimme  Wahrheit,  wie  wir  sie 
aus  den  Papstbriefen  kennen,  rückhaltslos  zu  enthüllen,  die  unwürdigen 


Cyrillo-Methodiana.  191 

Verfolgungen  des  Method  zu  brandmarken,  wie  sie  es  verdienten,  die- 
selben mit  einem  diplomatischen,  nichtssagenden  drbzas^  vertuschte. 

Die  slavischen  Vitae  —  die  lateinische  schweigt  sich  ja  über  die 
ganze  Sache  wohlweislich  aus  —  haben  den  Zweck,  die  Schaffung  der 
slavischen  Liturgie  als  ein  gottgefälliges  und  rechtgläubiges  Werk  dar- 
zustellen; ihre  Tendenz  geht  dahin,  jeglichen  Makel  von  demselben 
fernzuhalten,  keinerlei  Bedenken  aufkommen  zu  lassen.  Denn  die  Sache 
war  ja  ganz  neu,  bisher  nicht  in  der  Kirche,  bei  den  heiligen  Vätern, 
dagewesen,  und  da  jegliche  Neuerung  in  der  Kirche,  auch  wo  sie  von 
autoritativer  Seite,  z.  B.  vom  Papst  ausging,  eo  ipso  schon  eine  Ketzerei, 
ein  Greuel  war  —  solche  Neuerungen  brachten  ja  die  beginnende  Ent- 
fremdung der  beiden  Kirchen  zum  Abschluß  — ,  so  mußte  Method,  da 
Cyrill  frühe  starb,  auf  das  ängstlichste  bedacht  sein,  sein  Werk  über 
jeglichen  Zweifel,  über  jegliche  Neuerungssucht,  die  der  Grieche 
schlimmer  als  die  Pest  fürchtete,  erhaben  werden  zu  lassen;  der  Zu- 
stand der  ungeteilten  Kirche  spiegelt  sich  dann  darin  wieder,  daß  Me- 
thod nicht  nur  die  Anerkennung  Ostroms,  sondern  auch  die  Westroms 
unumgänglich  erschien.  Daher  mußte  von  dem  Werke  jegliches  Zei- 
chen persönlichen  Eingreifens,  Hervorrufens  durch  die  Brüder  selbst, 
entfernt  werden  —  die  Mährer  selbst  mußten  mit  ihren  Wünschen 
kommen,  von  denen  sie  sich  nie  hätten  träumen  lassen  können; 
daher  mußten  in  der  Anerkennung  desselben  Kaiser  und  Pati'iarch, 
Papst  und  König  wetteifern.  Die  Legende  erwähnt  z.  B.  die  zweite 
(respektive  dritte)  Romreise  des  Method,  vom  Jahre  879,  mit  keinem 
Sterbenswörtchen  —  mit  gutem  Grunde,  denn  wie  schlecht  hätte  es 
dieser  ihrer  Tendenz  entsprochen,  daß  Method  —  wegen  seiner  Irr- 
lehren vor  Johannes  VIIL  zitiert  war.  Sie  erwähnt  auch  nicht  die 
schlechte  und  unwürdige  Behandlung  Methods  durch  die  deutschen 
Bischöfe,  damit  auch  so  nicht  ein  Verdacht  oder  Makel  auf  denselben 
falle.  Sie  hütete  sich  zu  sagen,  warum  der  Kaiser  Method  zürnte;  dafür 
erfand  sie  allerlei  Briefe  und  Reden  namentlich.  Bei  einem  einzigen 
Falle  sind  wir  in  der  Lage,  die  Angaben  der  Vita  mit  einem  echten 
Briefe  vergleichen  zu  können.  In  dem  Streite  mit  dem  römisch  recht- 
gläubigen Wiching  trägt  Method  den  Inhalt  eines  Briefes  Johannes  VIII. 
vor  (seine  Legende  nennt  niemals  Namen,  diese  setzen  wir  immer  ein): 
der  Papst  nennt  darin  Method  seinen  Bruder,  heilig  und  rechtgläubig, 
sein  Tun  ein  apostolisches,  wen  er  vcrllut  ht,  der  sei  verflucht  u.  s.  w. 
Im  echten  Briefe  dos  Johannes  hat  dagegen  davon  nichts  gestanden. 


192  A.  Brückner, 

aber  Method  hat  Wiching,  wie  wir  aus  einwandsfreien  Quellen,  aus  dem 
Briefe  Stephans  und  der  Vita  Clementis  wissen,  verflucht,  und  daher  ist 
dieser  Passus  in  die  Vita  hineingeschmuggelt  worden,  um  zu  zeigen,  wie 
rechtmäßig,  auf  päpstliche  Autorität  hin,  Method  vorgegangen  wäre, 
aber  wie  der  Papst  darüber  dachte,  wissen  wir  allerdings  besser,  denn 
von  Stephan  V.  selbst.  Diesen  echten  Brief  des  Johannes,  allerdings 
mit  Erweiterungen,  hatte  aber  unsere  Vita  schon  einmal  früher,  als 
Brief  Iladrian  II.  gebracht;  sie  schwieg  ja  von  der  Piorareise  S79,  aber 
das  Resultat  derselben,  jener  Brief  an  Svqtopeik  von  SSO,  war  ein  zu 
unschätzbarer  Erfolg,  als  daß  er  hätte  vorenthalten  oder  gar  unter- 
schlagen werden  können.  Daher  wurde  dieser  (teilweise  geänderte) 
Brief  Hadrian  II.  bereits  zugeschoben,  wobei  dann  aus  dem  echten 
Briefe  selbst  wichtiges,  z.  B.  die  Zuerkennung  lateinischer  Messe,  jedem 
der  es  in  Mähren  wünschte,  entfernt  wurde,  weil  es  in  den  Kram  Me- 
thods  nicht  paßte.  Über  die  Auflehnung  der  lateinischen  Prister  in 
Mähren  gegen  die  slavische  Liturgie  gleiten  die  Vitae  mit  wenigen 
Worten  hinweg;  es  lag  ja  nicht  in  ihrem  Interesse,  die  Schärfe,  Leb- 
haftigkeit und  Dauer  dieses  Protestes  ausführlich  darzustellen.  Nun 
hatte  Cyrill  in  einem  schriftlichen  Gutachten  die  Rechtgläubigkeit  der 
slavischen  Liturgie,  allerdings  ganz  vergeblich,  zu  erweisen  versucht: 
sein  Bruder,  der  mit  allen  schriftlichen  Leistungen  des  Philosophen  viel 
Aufhebens  machte  —  er  zitierte  diese  griechischen  Schriften,  z.  B.  die 
Geschichte  der  Klemensauffindung,  oder  gab  sogar  ausführliche  Proben 
aus  ihnen,  wie  aus  den  acht  »Slovo«  gegen  die  Juden  und  aus  der  eben 
erwähnten  Apologie  —  wollte  uns  dieses  Slovo  nicht  vorenthalten,  aber 
wo  sollte  er  es  einreihen?  In  Mähren?,  da  tat  er  zu  viel  Ehre,  legte  zu 
viel  Gewicht  den  lateinisch-deutschen  Gegnern  bei,  die  möglichst  igno- 
riert werden  sollten.  In  Rom?  aber  nach  seiner  Behauptung  haben  ja 
Nikolaus  I.  und  Hadrian  II.  aus  reiner  Freude  über  der  Griechen  Wirk- 
samkeit (!!)  sie  dorthin  berufen,  nicht  um  sie  sich  verantworten  zu 
lassen.  So  entstand  der  Gedanke,  lieber  auf  irgend  einer  anderen  Reise- 
etappe den  Streit  ausfechten  zu  lassen ;  Venedig  empfahl  sich  dafür 
durch  irgend  einen  zufälligen  Umstand,  weil  man  hier  wirklich  rasten 
mußte  oder  sonst  warum,  und  so  kam  in  die  Legende  die  Angabe  von 
den  Bischöfen,  Priestern  und  Mönchen,  die  hier  wie  Krähen  auf  den 
Falken  Cyrill  stießen;  was  hat  man  nicht  alles  ersonnen,  nur  um  die 
eigentliche  Veranlassung  für  diesen  Streit  zu  eruieren  —  aber  wir  kön- 
nen die  Biographen  beruhigen;  in  Venedig  kümmerte  sich  keine  Katze 


Cyrillo-Methodiana.  ]  93 

um  die  slaviscbe  Liturgie  und  niemand  hat  um  dieselbe  zu  streiten  sich 
ereifert;  und  eher  hätte  alles  andere  auf  dieser  Welt,  nur  nicht  dieses,  die 
Venetianer  aus  dem  Häuschen  gebracht ;  vielleicht  hat  Cyrill  in  Venedig 
nur  die  angeblichen  Gründe,  mit  denen  er  in  Mähren  focht,  zuerst  zu 
Papier  gebracht;  denn  daß  sie  nur  schriftlich,  nicht  mündlich,  vorge- 
bracht werden  sollten,  beweist  schon  das  ellenlange  Zitat  aus  dem 
Korintherbriefe. 

Wie  vorsichtig,  jeglichem  Einwand  von  vornherein  die  Spitze  ab- 
brechend, der  Text  der  Legenden  von  Method  hergestellt  wurde,  lehren 
andere  Beispiele.  In  der  Vita  Methodii  stellt  bekanntlich  der  Kaiser 
selbst  den  Thessaloniern  das  Zeugnis  aus,  daß  sie  alle  cisto  slov^nsky 
besedujat.  Ich  habe  an  einer  anderen  Stelle,  in  der  Beilage  zur  Mün- 
chener Allgemeinen  Zeitung  vom  23.  Juli  d.  J.  (1903,  in  einem  Artikel 
»Die  Wahrheit  über  die  Slavenapostel«),  angegeben,  was  von  diesem 
Zeugnis  zu  halten  ist.  Ich  will  hier  nicht  wiederholen,  daß  in  der 
griechischesten  aller  Städte  einfach  niemand  slavisch  gesprochen  hat, 
daß  der  Kaiser  ebensogut  über  die  Reinheit  der  chinesischen  Sprache 
hätte  urteilen  können,  daß  Method  jedoch  dieses  Zeugnis  unbedingt 
brauchte,  um  den  mit  seinem  mazedonischen  Slavisch  unzufriedenen 
Mährern,  die  nicht  einsehen  konnten,  warum  sie  z.  B.  nost  statt  noc 
sagen  sollten,  die  Spitze  zu  bieten  mit  der  angeblichen  kaiserlichen  Ent- 
scheidung, vor  der  sich  ja  die  ganze  orthodoxe  Welt  einfach  zu  beugen 
hatte,  nicht  daran  kritteln  und  mäkeln  durfte. 

Ebenso  tendenziös  erfunden  ist  z.  B.  die  Angabe,  daß  die  Mährer 
um  873  alle  deutschen  Priester,  die  unter  ihnen  lebten,  wegen  ihrer 
politischen  Umtriebe  verjagt  hätten.  Die  deutschen  Quellen  handeln 
gerade  damals  sehr  ausführlich  und  eingehend  über  mährische  Sachen; 
ich  erinnere  nur  an  die  Geschichten  mit  Slavomir  und  Sv(^topelk,  an 
die  mährische  Hochzeitsgeschichte  und  die  Überrumpelung  —  sie  hätten, 
wenn  sie  auch  sonst  über  die  mährischen  Interna  schweigen,  ein  so  auf- 
sehenerregendes Ereignis  gewiß  aufzeichnen  müssen;  es  hätte  j:i 
unzweifelhaft  durch  diesen  Schritt  das  neue  mährische  Christentum  in 
deutschen  Augen  auf  das  bedenklichste  erschüttert  werden  müssen. 
Keine  Spur  davon;  die  Angabe  der  Vita  ist  erfunden  oder  ein  verein- 
zeltes Faktum  ist  absichtlich  generalisiert  worden.  Ich  habe  in  jenem 
Artikel  sogar  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  Method  mit  dieser 
Angabe  von  einer  vermeintlichen  Vertreibung  der  deutschen,  d.  i.  de 
lateinischen  Priester,  die  Halsstarrigkeit  der  Mährer,  die  Notwendig- 

Aiihiv  für  sLavischa  l*liilolo^;io.    XXVIll.  13 


194  A.  Brückner, 

keit,  ihnen  entgegenzukommen,  wenn  man  die  Sache  des  Christentums 
bei  ihnen  und  ihren  Nachbarn  nicht  gefährden  wollte,  vor  Popst  Jo- 
hannes gebracht  und  damit  seinen  ofienbaren  Ungehorsam,  das  sla- 
vische  Liturgieren  betreffend,  den  eigenmächtigen  Bruch  seines  eigenen 
Versprechens,  der  offiziell  festgestellt  ist  und  den  keine  Interpretierkunst 
der  Welt  beseitigen  wird,  zu  erklären  und  zu  entschuldigen  versucht 
hat.  Daß  lateinische  Priester  stets  in  Mähren  verblieben  sind,  wissen 
wir  von  der  nächsten  Umgebung  des  Svqtopeik  und  müssen  wir  aus  der 
Opposition  erschließen,  welche  Methods  Werk  in  Mähren  selbst  immer 
gefunden  hat  und  der  es  unterliegen  sollte,  als  das  Paar  Augen  ge- 
schlossen wurde,  welches  über  der  slavischen  Liturgie  in  Mähren 
rastlos  wachte. 

Die  von  uns  angedeutete  Tendenz  durchzieht  nun  wie  ein  roter 
Faden  beide  mährische  Legenden.  Man  lese  ja  nur  die  Einleitung  zur 
Vita  Methodii.  Wer  hätte  sich  nicht  an  deren  Übertreibungen  gestoßen! 
Alle  Propheten,  Abraham  und  Moses,  alle  Apostel,  Väter,  Heiligen 
aufzurufen,  mit  ihnen  Method  wegen  des  bischen  Slavisch  (dasselbe  hat 
Ulfilas  geleistet!)  auf  eine  Stufe  zu  stellen  —  wäre  einfach  unbegreif- 
lich, wenn  nicht  gerade  durch  diese  Gleichstellung  seine  absolute  Recht- 
gläubigkeit erhärtet,  die  Rechtmäßigkeit  der  slavischen  Liturgie  über 
alle  Zweifel  erhoben  werden  sollte.  Auf  die  großen  Ökumenischen  Kon- 
zile, die  die  Dogmen  gegen  die  Häretiker  verteidigt  und  erstritten 
haben,  läßt  Gott  den  —  Method  folgen  !  Oder  man  lese  den  angeblichen 
Brief  des  Kaisers  an  Rostic  über  Cyrill  und  sein  Werk.  Man  mag  ja 
byzantinische  Überschwänglichkeiten  noch  so  sehr  in  Rechnung  ziehen, 
aber  daß  der  griechische  Kaiser  einem  kleinen  Barbarenhäuptling,  der 
ihm  nie  gefährlich  werden  konnte,  die  Ehre  eines  Vergleiches  mit  dem 
großen  Kaiser  Konstantin,  dessen  Gewänder  er  selbst  trug,  antun  sollte, 
heißt  unserer  Leichtgläubigkeit  doch  allzuviel  zumuten.  Außerdem 
spricht  ja  der  Kaiser  in  diesem  Briefe  offenkundige  Unwahrheiten:  als 
Orientale  wußte  er  am  besten,  und  Cyrill  würde  ihn  selbst,  falls  es 
nötig  gewesen  wäre,  immer  daran  erinnert  haben,  wie  viele  Landes- 
sprachen und  Alphabete  für  die  Liturgie  im  Oriente  es  gab,  und  nun 
behauptet  er  auf  einmal,  ignorierend  armenische,  gotische  und  so  viele 
andere  Schriften  und  Liturgien,  daß  Gott  jetzt  auch  die  slavische  offen- 
bart hätte,  was  nur  in  den  ersten  Jahren  (der  Christenheit)  ge- 
schehen wäre,  auf  daß  die  Slaven  den  großen  Völkern  (gemeint  sind  die 
bekannten  drei)  beigezählt  würden. 


Cyrillo-Methodiana.  1 95 

Wenn  hier  der  orthodoxe  Kaiser  die  slavische  Liturgie,  die  ihm  im 
besten  Falle  arg  zuwider  war,  in  den  siebenten  Himmel  erheben  muß, 
so  bleibt  auch  der  Papst  nicht  zurück  und  wir  finden  in  dem  angeblichen 
Briefe  Hadrians  IL,  d.  h.  in  der  VerballhornuDg  des  echten  Briefes 
Johannes  VIU.,  einen  Passus  eingeschmuggelt,  über  den  man  in  Rom 
höchst  erstaunt  gewesen  wäre.  Dieser  Passus  L-t  natürlich  gegen 
Wiching  gemünzt:  wenn  unter  euren  Lehrern  etwelche  die  slavische 
Liturgie  tadeln  sollten,  sollen  sie  gebannt  sein,  denn  das  sind  Wölfe  im 
Schafsfell  u.  dgl. 

Wir  wiederholen:  jede  einzelne  Angabe  der  Legenden  muß  auf 
das  cui  bono  untersucht  und  geprüft  werden;  nichts  ist  in  diesen  Le- 
genden naiv,  zufällig,  gleichgiltig.  Sogar  das  Herausstreichen  Cyrills 
wird  erklärlich,  durch  das  Bestreben,  den  Überlebenden  zu  entlasten, 
die  Initiative  des  Werkes  auf  den  Toten  abzuwälzen,  der  ja  bei  den 
Römern  selbst  im  Gerüche  der  Heiligkeit  stand;  dadurch  hatte  der 
Lebende  leichteres  Spiel. 

Jeglicher  Verdacht  persönlichen  Hervortretens,  Ruhmsucht  u.  dgl. 
wurde  entfernt,  wenn  es  gelang,  jegliche  Spur  der  eigenen  Initiative  zu 
verwischen,  alles  als  das  Walten  der  Vorsehung  allein  hinzustellen. 
Jegliche  der  drei  Missionen  hat  Cyrill  allein  eingefädelt  —  die  Legende 
behauptet  jedesmal  das  entgegengesetzte;  sie  setzt  ein  Schema  fest  und 
nach  diesem  führt  sie  die  Missionen  mit  wörtlichen  Wiederholungen 
durch.  Das  Schema  ist  von  rührender  Naivität:  die  Araber,  Chazaren, 
Mährer  haben,  offenbar  aus  Langeweile,  nichts  gescheiteres  zu  tun,  als 
nach  Byzanz  um  Glaubensboten  und  Belehrung  zu  schicken;  bei  den 
Arabern,  die  über  solches  kindische  Treiben  erhaben  waren,  sogar  in 
den  Augen  der  Slaven,  wird  die  Sache  ein  bischeu  anders  gedreht,  sie 
fordern  nämlich  zur  Disputation  über  die  christliche  Vielgötterei  die 
Griechen  auf.  Und  immer  ist  guter  Rat  teuer,  immer  Konstantin  der 
einzige  Grieche,  der  in  dieser  Not  gegen  die  Andersgläubigen  wie  ein 
zweiter  Ilja  von  Murom  gegen  das  Idolisce  zu  helfen  weiß,  mit  den 
Segenswünschen  des  Kaisers  auszieht  und  die  Mission  erfolgreich  durch- 
führt. Was  von  der  arabischen  Mission  zu  halten  ist,  hat  Prof.  Lam:in- 
skij,  den  doch  niemand  der  Voreingenommenheit  gegen  Cyrill  und  sein 
Werk  zeihen  wird,  enthüllt  —  es  hat  einfach  keine  derartige  Mission, 
am  wenigsten  eine  Aufforderung  von  Seiten  der  Araber  selbst  gegeben. 
Genau  ebenso  verhält  es  sich  mit  den  beiden  anderen  Missionen. 
Sagt  nicht  bezüglich  der  Chazarenmission  eher  der  lateinische  Brief  des 

13* 


196  A.  Brückner, 

Anastasius  die  Wahrheit  (Constantinus  philosophus  a  Michaele  impera- 
tore  in  Gazaram  pro  divino  praedicando  verbo  directus)  ?  Die  Chazaren 
hatten  ja  in  Konstantinopel  alle  möglichen  Anliegen,  Griechen  mußten 
ihnen  ihre  Festung  bauen  u.  dgl. ;  es  konnte  sich  nun  Konstantin,  wie 
er  es  bei  den  Arabern  ^etan  hatte,  einer  solchen  Gesandtschaft  an- 
schließen und  sein  Glück  auf  eigene  Faust  versuchen  —  wie  bei  den 
Arabern  und  im  Grunde  mit  nicht  besserem  Erfolge.  Natürlich  leugnen 
wir  die  Keise  selbst  nicht  —  wir  haben  sogar  ihr  eine  ausschlaggebende 
Bedeutung  für  die  slavische  Mission  zugeschrieben,  weil  jetzt  vielleicht 
erst  Cyrill  die  gewaltige  Ausbreitung  der  Slavenwelt  richtig  erkannt 
haben  mag,  mit  Ostslaven  im  Heere  des  Chan  zusammentreffend,  von 
Ostslaven  als  Tributpflichtigen  des  Chan  erfahrend.  Wir  glauben  nur 
niemals,  daß  die  Initiative  zu  dieser  Reise  von  den  Chazaren  ausge- 
gangen wäre,  denen  es  nicht  einfallen  konnte,  sich  ihren  Glauben  aus 
Byzanz,  wie  etwa  die  Ingenieure  und  Architekten,  zu  verschreiben:  aber 
in  Byzanz  mochte  man  die  Festsetzung  des  Judaismus  bei  dem  Freunde 
und  Bundesgenossen  scheelen  Auges  sehen  und  versuchte  einen  Vorstoß 
gegen  denselben,  der  jedoch  zu  nichts  geführt  hat;  die  Chazaren  ließen 
sich  durch  theologische  Scharmützel  nicht  aus  ihrem  Geleise  bringen. 
Hier  erschöpfte  dafür  Cyrill,  was  er  an  antijüdischen  Argumenten  auf- 
treiben konnte  und  siegte  auf  dem  Papiere  wenigstens  auf  der  ganzen 
Linie;  der  wichtigste  Erfolg  der  Chazarenmission  war  auch  nur  ein 
papierner,  er  gab  nämlich  das  Modell  ab  für  den  angeblichen  Glaubens- 
streit vor  Vladimir  in  der  Chronik. 

Und  mit  noch  größerer  Sicherheit  können  wir  behaupten,  daß  es 
den  Mährern  nie,  auch  nur  im  Traume,  eingefallen  ist,  nach  Konstanti- 
nopel in  Glaubenssachen  sich  zu  wenden.  Das  Schema  der  Legende 
ist  hier  wörtlich  dasselbe,  wie  bei  den  Chazaren:  die  Chazaren  baten 
den  Kaiser,  trauend  in  fiele  vestra  ac  veteri  amicitia,  ut  dignaretur 
mittere  eruditum  virum,  qui  eos  fidem  catholicam  veraciter  edoceret, 
quoniam  nunc  ludaei^  modo  Saraceni  ad  suam  nos  convertere  moliun- 
tur  . .  ignorantes  ad  quos  nos  transferamus.  Die  Mährer  behaupten: 
sat  V  ny  vsli  ucitelje  iz  Vlach  i  iz  Grhk  i  iz  Nemhc^  uceste  ny  razlic 
a  mij  prosta  6ed  .  .  posli  maz,  ize  ny  ispravit  vsjaka  pravda  .  .  ,  ot  vas 
bo  na  vse  strany  vsegda  dobr^J  zahon  ishodit  —  man  sieht,  die  Mährer 
urteilen  ebenso  kompetent  und  kühn  über  das  wahre  Christentum,  wie 
der  Kaiser  über  das  wahre  Slavisch. 

Hier  hat  sogar  die  Unbefangenheit  unserer  Forscher  ein  starkes 


Cyrillo-Methodiana.  197 

Leck  erhalten;  niemand  glaubt  an  diese  Motivierung  und  jedermann 
unterschiebt  dem  Rostic  politische  Motive :  er  hätte  eine  von  Rom  und 
den  Deutschen  unabhängige  Landeskirche  erstrebt  und  wandte  sich 
darum  nach  Konstantinopel.  Aber  das  ist  nur  ein  verzweifelter  Ver- 
such, das  Märchen  der  Legende  von  der  mährischen  Gesandtschaft  mit 
den  Forderungen  der  einfachsten  Wahrscheinlichkeit  auszusöhnen;  der 
Przemyslide  Christian,  der  über  das  Cyrillmethodianische  Werk  gut 
unterrichtet  war  und  ihm  die  größte  Sympathie  entgegenbrachte,  wußte 
besser  Bescheid,  als  er  die  Initiative  des  Rostic  leugnete  und  einfach 
Cyrill  aus  eigenem  Antriebe  nach  Mähren  (Pannonien  überging  er  mit 
Recht,  noch  hatte  kein  Kopitar  sein  Urteil  benebeln  und  verwirren 
können)  kommen  ließ. 

Weder  die  Erklärung  der  Legenden  (hier  wiederholen  sich  alle 
drei  wörtlich;  es  war  nicht  ratsam,  die  Erfindung  variiren  zu  lassen), 
noch  die  Unterstellung  der  modernen  Forscher  treffen  das  Richtige.  Die 
Legenden  treffen  darum  am  Ziel  vorbei,  weil  Rostic  offenbar  nicht  von 
den  Griechen  für  sich  und  seine  Slaven  dasjenige  verlangen  oder  er- 
warten konnte,  was  die  Griechen  für  ihre  eigenen  Slaven  niemals  unter- 
nommen hätten;  die  Griechen,  habe  ich  schon  einmal  ausgeführt,  hatten 
ftlr  die  Slaven  unter  ihnen  nicht  einmal  das  getan,  was  die  Deutschen 
bereits  für  die  fremden  Slaven  geleistet  hatten;  die  Deutschen,  nicht 
die  Griechen,  haben  ja  zu  Cyrills  slavischer  Kirchenterminologie  den 
Grund  gelegt.  Hauck  vermutet  nicht  ohne  Grund,  daß  bereits  ein  Salz- 
burger Erzbischof  zu  Zwecken  der  Mission  slavisch  erlernt  hatte.  Wie 
konnte  somit  Rostic  auch  nur  auf  den  Gedanken  kommen,  in  Konstanti- 
nopel zu  suchen,  was  ihm  dieses  nie  gewähren  konnte?  Lag  es  ihm 
an  Unterweisung  in  der  eigenen  Sprache,  so  mußte  er  junge  Mährer  in 
Deutschland  und  Rom  hierzu  ausbilden  lassen  —  ein  anderer  Weg  stand 
nicht  offen.  Wäre  ihm  aber  der  abenteuerliche  Gedanke  gekommen, 
sich  von  der  römischen  Obödienz  loszusagen,  d.  h.  zu  den  bereits  vor- 
handenen Schwierigkeiten  seiner  Lage  sich  noch  neue  überflüssigerweise 
zu  schaffen,  dafür  die  griechische  aufzusuchen,  etwa  in  Nachahmung 
und  auf  Anregung  seiner  bulgarischen  Nachbarn,  die  zwischen  Rom 
und  Byzanz  eine  Zeit  lang  oszillierten,  so  war  auch  so  für  die  Forde- 
rung einer  nationalen  Kirche  kein  Platz:  auch  die  Bulgaren  forderten, 
weder  von  Rom  noch  von  Byzanz,  eine  nationale  Kirche,  eine  natio- 
nale Liturgie;  sie  forderten  nur  autonome  Bischöfe,  ja  Patriarchen.  Die 
Unbedeutendheit  des  Auftretens  der  Brüder,  ihre  kleinen  Anfänge,  die 


198  A.  Brückner, 

bei  den  Deutsehen  keinen  Widerhall  wecken,  lassen  mich  vermuten,  daß 
Christian  Recht  hat,  daß  die  Mälirer  selbst  nichts  unternommen  haben, 
daß  Cyrill  und  Method  im  Gegenteil,  aus  eigener  Initiative,  vielleicht 
von  Pliotius  angespornt,  nach  Mähren  gezogen  sind.  Man  beachte 
nämlich  folgenden  Umstand.  Nach  den  Legenden  hat  Cyrill  erst  die 
Glagolica  —  nur  von  dieser  kann  vernünftigerweise  die  Rede  sein  — 
erfunden,  nachdem  die  mährische  Gesandtschaft  erschienen  war  und  er 
die  naive  Frage  an  den  Kaiser  gestellt  hatte,  ob  denn  diese  Slaven  ihre 
eigene  Schrift  hätten,  und  als  er  das  Gegenteil  erfuhr  —  er  wußte  es 
tausendmal  besser,  als  der  Kaiser,  aber  die  Tendenz  forderte  die  an- 
gebliche Unwissenheit  Cyrills  — ,  erbetete  er  sich  die  Ofifenbarung  der 
Glagolica  vom  Himmel,  und  Lapotre  ist  so  naiv  gewesen,  wirklich  an- 
zunehmen, daß  Cyrill  in  einigen  Tagen  die  Glagolica  erfunden  hätte ! 
Man  braucht  sie  nur  anzusehen,  der  Feinheit  der  Buchstabenbezeich- 
nung, der  Nuancen  aller  Laute  nachzugehen  —  keine  Sprache  auf  der 
ganzen  Welt  besaß  damals  etwas  ähnliches,  es  ist  dies  die  glänzendste 
sprachwissenschaftliche  Leistung  mehrerer  Jahrhunderte  —  um  zu  er- 
kennen, daß  es  sich  nicht  um  ein  Werk  weniger  Tage,  plötzlicher  Ein- 
gebung handeln  kann.  Nicht  die  angebliche  mährische  Gesandtschaft  hat 
die  Glagolica  hervorgerufen  —  Lamanskij  hat  vollkommen  recht,  die 
Glagolica  war  von  Cyrill  längst  vor  863  fertiggestellt.  Wäre  sie  nämlich 
erst  durch  diese  Gesandtschaft  hervorgerufen,  so  hätten  wir  bestimmt 
erwartet,  daß  Cyrill  wenigstens  irgend  eine  Rücksicht  auf  den  west- 
slavischen  Dialekt,  für  den  er  doch  wirken  sollte,  genommen  hätte;  statt 
dessen  ignoriert  er  ihn  vollständig,  als  wäre  das  mazedonische  Slavisch 
die  einzige  Norm  für  alle  Slaven;  ein  triftiger  Beweis,  daß  er  sein  Al- 
phabet und  seine  Übersetzung  nicht  erst  für  die  Mährer,  nicht  erst  auf 
ihren  Auftrag  hin,  unternommen  hat ;  daß  Alphabet  und  Übersetzung 
der  Evangelien,  ohne  jeglichen  Gedanken  an  Mährer  und  deren  Bedürf- 
nisse, nur  aus  der  nächsten  Umgebung  und  für  diese  entstanden  sind. 

Wie  sind  Cyrill  und  Method  auf  den  Gedanken  einer  slavischen 
Liturgie,  vor  jeglicher  »Gesandtschaftcf,  gekommen? 

Cyrill,  denn  dem  griechischen  Mezzofanti  und  dem  bedeutendsten 
Philologen  der  Zeit  gebührt  das  philologische  Verdienst,  war  weder  von 
gewöhnlichem  irdischen  Ehrgeiz  erfüllt,  war  kein  Ämterjäger  noch 
Politiker:  noch  lockte  ihn  Wissenschaft,  weltliche,  heidnische  wie  theo- 
logische um  ihrer  selbst  willen;  noch  genügte  es  ihm,  im  aszetischen 
Hinbrüten  in  der  Klosterzelle  zu  versauern:   dazu  war  er  eine  allzu 


Cyrillo-Methodiana.  1 99 

energische,  kampfesfreudige  Natur,  die  sogar  die  Gebrechen  des  Kör- 
pers tiberwand.  Er  hatte  nur  einen  Ehrgeiz,  der  Verbreitung  seiner 
alleinseligmachenden,  orthodoxen,  griechischen  Kirche  —  nicht  umsonst 
war  er  Intimus  des  Photius  —  zu  dienen.  Aber  ihr  Spielraum  war  ein 
sehr  beschränkter  geworden :  in  Asien  und  Afrika  war  für  sie  nur  alles 
noch  zu  verlieren,  nichts  mehr  zu  gewinnen  —  davon  hatte  sich  Cyrill 
schon  bei  seiner  kleinasiatischen  Escapade  hinlänglich  überzeugen  kön- 
nen; auch  an  der  Grenze  von  Europa  und  Asien  hatte  sich  die  werbende 
Kraft  des  Christentums  nicht  bewährt,  bei  den  Chazaren,  wo  Juden  zum 
ersten  und  letzten  Male  triumphierten;  so  blieb  nur  Europa  übrig,  dessen 
größeren  Teil  bereits  Rom  für  immer  okkupiert  hatte,  das  sich  nunmehr 
anheischig  machte,  sogar  alten  mösischen  und  dakischen  Boden  Byzanz 
vor  der  Nase  wegzukapern.  Die  Einbußen,  welche  die  griechische  Kirche 
erlitten  hatte  und  immer  noch  erleiden  sollte,  konnten  nur  in  Europa, 
natürlich  nicht  bei  Franken  und  Lateinern,  sondern  bei  den  —  Slaven 
wettgemacht  werden;  von  der  Ausdehnung  der  Slaven,  nicht  nur  auf 
dem  Balkan,  sondern  nördlich  und  östlich  der  Donau,  hatte  Cyrill  auch 
auf  der  Chazarenreise  sich  unterrichten  können;  von  Juden  wird  er 
sicherste  Kunde  über  die  großen  slavischen  Flüsse,  Elbe,  Weichsel, 
Dniepr,  erlangt  haben.  Diese  Slaven,  von  den  Toren  des  heimischen 
Saloniki  an  bis  an  die  Nordmeere  hinüber,  konnten  für  die  griechische 
Kirche  gewonnen  werden,  wenn  man,  nach  dem  Muster  anderer  orien- 
talischer Kirchen,  ihnen  bot,  was  Rom  nicht  gewähren  konnte,  eine 
Liturgie  in  heimischer  Sprache. 

Die  Gründe,  die  Bibelzitate,  welche  sich  Cyrill  zusammensuchte, 
um  die  Einführung  slavischer  Liturgie  zu  rechtfertigen,  reichen  nicht  im 
mindesten  dazu  aus.  Es  war  nämlich  ganz  etwas  anderes,  zur  Unter- 
weisung des  Volkes  nach  seiner  Sprache  zu  greifen  —  das  tat  und  ver- 
langte Rom  selbst;  und  etwas  ganz  anderes,  in  die  Liturgie,  die  nur  der 
Priester  vor  sich  hin  verrichtete,  an  der  die  Gemeinde  unbeteiligt  war, 
eine  neue,  unbekannte  Sprache  einzuführen.  Gerade  darnach  verlangte 
Cyrill,  nach  dem  novum,  das  die  römische  universale  Kirche  niemals 
zugeben  konnte,  das  die  ohnmächtige  griechische  Kirche  im  Orient  still- 
schweigend sich  gefallen  lassen  mußte.  Nur  die  slavische  Liturgie,  die 
Rom  nie  gewähren  würde,  konnte  die  Slaven  für  Byzanz  gewinnen. 
Aber  ebensogut  wußte  Cyrill,  daß  ihm  niemals  gestattet  wäre,  das 
slavische  Experiment  etwa  vor  den  Toren  Salonichis  oder  Konstanti- 
nopela  zu  erproben;  der  heil.  Demetrius  selbst  hätte  den  Frevler  ver- 


200  A.  Brückner. 

jagt  oder  gelähmt.  Weit  weg  von  Konstanlinopel,  ja  sogar  weit  von  Bul- 
garien, mußte  der  erste  Versuch  gemacht  werden.  Aber  es  wäre  un- 
fruchtbar gewesen,  damit  zu  ii  gend  einem  ob.skuren,  bis  dato  heidnischen 
slavischen  Stamm,  zu  Polanen  oder  Wislanen  etwa,  zu  eilen;  es  mußte 
eine  autoritativere  Stelle  gefunden  werden,  eine  Art  organisierten  Staates 
mit  einem  respektableren  Fürsten,  die  das  Werk  gutheißen  und  anneh- 
men sollten;  von  ihnen  konnte  man  sich  Wirkung  in  die  Ferne  ver- 
heißen. Und  so  kam  Cyrill  auf  Rostic  und  Mähren,  von  denen  er  noch 
in  By/anz  oder  auf  seinen  Reisen  erfahren  haben  kann.  Daß  die  Mund- 
art, die  er  seit  früher  Kindheit  kannte  —  obwohl  er  die  Brust  der  sla- 
vischen Amme  ausgeschlagen  hatte,  auch  anderen  slavischen  Stämmen 
verständlich  bleiben  könnte,  hatte  er  unter  Ostslaven  erprobt,  und  daher 
verblieb  er  bei  ihr,  verstand  sich  zu  keinerlei  Nachgeben  anderweitigen, 
z.  B.  mährischen  Forderungen  gegenüber;  es  brauchte  ja  das  Idiom  der 
Kirchensprache  nicht  mit  jedem  Bauernidiom  zusammenzufallen,  das 
wußte  er  vom  griechischen,  lateinischen  u.  s.  w.  her.  Für  seinen  Ge- 
danken, der  römischen  Kirche  bei  den  Slaven  Abbruch  zu  tun,  fand  er 
williges  Verständnis  bei  Photius,  und  mit  den  Segenswünschen  von 
Kaiser  und  Patriarch  ausgestattet,  machte  er  sich  mit  seinem  Bruder 
auf  den  Weg,  nicht  ohne  kaiserliche  Unterstützung.  Über  Bulgarien, 
auf  den  Pfaden  der  Salzkarawanen,  eilte  man  nach  Mähren.  Hier  war 
der  Anfang  schwer  und  langsam,  aber  die  ungeahnte  Neuheit  frappierte; 
gegen  die  lateinischen  Priester  trat  er  auf  mit  seiner  slavischen  Liturgie 
—  denn  er  las  die  Messe,  nicht  umsonst  berichtete  die  Legende  honorem 
sacerdotii  est  adeptus;  trat  er  auf  mit  seinem  aszetischen  Eifern  gegen 
jegliches  Verletzen  strikter  Gesetze,  gegen  jegliche  Laxheit  in  matri- 
monialen und  anderen  Verhältnissen;  so  imponierte  er  durch  seine 
hohen  Forderungen,  denen  sein  eigener  Lebenswandel  wie  der  seiner 
Gefährten  sich  anpaßte,  durch  seine  Betonung  des  wahren  Christentums, 
durch  die  nationale  Schrift  und  Sprache  in  Kirche  und  Schule  —  denn 
bald  vertraute  man  ihm  Jünglinge  und  Knaben  sogar  zum  Unterrichte  an. 
Bald  wurden  die  lateinischen  Priester  der  Eindringlinge  gewahr,  bald 
merkten  sie,  hier  wie  in  Pannonien,  wie  der  Eindringling  linguam  latinam 
doctrinamque  romanam  philosophice  superducens,  vilescere  fecit  populo 
missas  et  evangelia  ecclesiasticumque  officium  illorum  qui  hoc  latine 
celebraverunt.  Sie  erhoben  Geschrei,  woher  diese  unerhörte  Neuerung,  wo 
die  Autorität  dafür,  wer  verbürge,  ob  nicht  Ketzerei  dahinter  stecke;  nie- 
mals hätten  sie  auch  nur  einen  slavischen  Jünger  der  Griechen  zum  Priester 


CyrlUo-Methodiana.  201 

geweiht  und  bestritten  ihnen  jegliches  Recht,  in  der  fremden  Diözese 
aufzutreten.  Ihre  Anschuldigungen  verhallten  nicht  ungehört;  be- 
unruhigt durch  die  fortwährenden  Beschuldigungen  der  Ketzerei  —  die 
die  Griechen  mit  gleichen  vergalten  — ,  verlangte  Rostic,  dai^  sich  die 
Griechen  mit  päpstlicher,  römischer  Autorisation  ihres  Treibens  ver- 
sahen, sahen  die  Griechen  selbst  ein,  daß  ohne  römische  Approbation 
ihrer  Kirchensprache  und  Weihe  ihrer  Geistlichen  auf  die  Dauer  nicht 
auszukommen  wäre,  und  machten  sich  daher  schweren  Herzens  auf  den 
Weg  nach  Rom;  aber  sie  beeilten  sich  nicht  übermäßig,  benutzten  gern 
die  Gelegenheit,  um,  deutschen  Pfaden  ausweichend,  einen  Umweg  über 
Pannonien  und  Venedig  zu  machen;  in  Pannonien  hofften  sie  ja  neuen 
Spielraum  für  ihr  Wirken  zu  finden  und  fanden  bei  Kocel  noch  viel 
willigeres  Gehör  als  bei  Rostic.  Unterdessen  hatte  die  lateinische  Geist- 
lichkeit des  Landes  (Mähren)  in  Rom  über  die  griechischen  Eindring- 
linge, die  beim  Landesherrn  und  Volk  Zustimmung  fanden,  Klage  er- 
hoben und  der  beunruhigte  Papst  entbot  die  Griechen  zu  sich;  sein 
Brief  traf  wohl  noch  zusammen  mit  der  Forderung  des  Rostic,  aus  Rom 
das  Zeugnis  der  Rechtgläubigkeit  beizubringen. 

So  deute  ich  mir  den  Verlauf  der  Begebenheiten  zwischen  863  und 
868.  Wie  das  Märchen  von  der  mährischen  Gesandtschaft  entstehen 
konnte,  weiß  ich  nicht  zu  sagen;  die  Mährer  hatten  ja  ganz  andere, 
näherliegende  Sorgen,  nicht  um  Byzanz,  Chazaren  oder  Chinesen  sich 
zu  kümmern;  oder  sollten  Cyrill  und  Method,  die  ewigen  Reisenden, 
ihren  mährischen  Aufenthalt  unterbrechend  mit  Mährern  einmal  nach 
Konstantinopel  gekommen  sein  (vizvratiste  se  iz  Moravy)?  Wir  gehen 
am  sichersten,  wenn  wir  die  Gesandtschaft  der  Mährer  nach  dem  Schema 
der  arabischen  und  chazarischen,  schlankweg  erfunden  sein  lassen. 
Schon  der  Umstand,  daß  Mährer  sich  über  verschiedene  Lehren  be- 
klagen —  das  ging  noch  für  Chazaren  an,  bei  dem  Wettstreit  jüdischer, 
arabischer,  christlicher  Missionäre,  nicht  jedoch  für  Mährer  —  läßt  die 
Gewagtheit  der  ganzen,  anscheinend  so  plausiblen,  Erzählung  hervor- 
treten, die  erfunden  werden  mußte,  um  die  persönliche  Initiative  der 
Brüder  verschwinden  zu  machen. 

Wir  greifen  hier  des  Zusammenhanges  wegen  gleich  zu  anderen 
Thesen  hinüber. 

Wie  für  die  Missionen  das  Scliema,  im  Bureau  würde  man  sagen, 
der  Schimmel  A,  so  gilt  für  das  Vorladen  vor  alle  möglichen  Persönlich- 
keiten und  Tribunale,  das  Schema  B.    Alle  sind  gleichmäßig  entzückt. 


202  A.  Brückner, 

wollen  den  Engel  Gottes  sehen,  auch  wenn  sie  ihn  direkt  der  Ketzerei 
beschuldigen  und  ilim  mit  dem  Tode  drohen!  zelajq  videti  ja  jako 
angela  bozija  =  valde  laetus  =  velmi  tebe  zelaj^  videti  dondeze  jesi 
na  sem  svotc  i  molitva  tvoja  priimem  =  vxsholo  ji  videti  .  .  .  pomeni 
m^  V  svotyih  molitvah  tvoih  prisno.  In  Wirklichkeit  lud  sie  Papst  Ni- 
kolaus I.  und  Johannes  VIII.  vor  ihren  Richterstuhl,  damit  sie  wegen 
schwerer  Anschuldigung  sich  verantworten,  und  der  Kaiser  (Basilius) 
zürnte  wegen  der  slavischen  Liturgie,  die  schon  in  Bulgarien  griechi- 
schen Besitzstand  abzubröckeln  drohte;  in  Mähren  raunten  sich  aucli 
zu  Methods  Gegner,  die  zahlreicher  als  seine  Freunde  waren,  daß  er 
nicht  mit  heiler  Haut  die  Reise  zum  Kaiser  wagen  könnte.  Bei  der 
Deutung  ihrer  Reisen  und  ihrer  Zielpunkte  ist  Dümmler  ein  ganz  un- 
glaublicher Irrtum  passiert  —  allerdings  ist  noch  viel  unglaublicher, 
daß  dieses  komische  Mißverständnis  anstandslos  wiederholt  wird. 

Ich  muß  vorausschicken,  daß  die  Vita  Methodii  nach  echt  griechi- 
schem zeremoniösen  Wesen,  in  den  Titulaturen  äußerst  konsequent  und 
vorsichtig  ist.  Der  eigene  mährische  Landesfürst  Rostic  sowohl  wie  der 
ungleich  mächtigere  Svetopeik,  ist  ihr  immer  nur  Fürst  —  knedz,  nie 
mehr,  und  mit  vollem  Recht,  wie  wir  es  ans  der  Geschichte  wissen; 
erst  spät  kam  ein  rex  Svetopeik  auf.  Der  griechische  Herrscher  heißt 
ihr  immer  cesar;  der  deutsehe  König  immer  kralj.  Von  dieser  Nomen- 
klatur weicht  die  Vita  Methodii  niemals  ab.  Daraus  folgt  mit  absoluter 
Sicherheit,  daß  der  kralj,  vor  dem  Method  mit  den  Bischöfen  disputierte, 
der  deutsche  König,  Ludwig  der  Deutsche,  sein  muß  —  wäre  dies  Sve- 
topeik, so  müßte  es  knedz  heißen.  Daraus  folgt  weiter,  daß  die  Stelle, 
(der  Teufel)  vi.zdvize  srdce  vragu  MoravsJcago  hralja  nan  s  vsemi 
jepiskupy,  verdorben  sein  muß:  gemeint  ist  nur,  dem  (deutschen)  Könige, 
und  ich  meine,  in  der  Urschrift  stand  nur  vizdvize  srdce  kralju; 
vragu  ist  aus  der  vorigen  Zeile  hereingekommen,  kralja  dann  verbessert 
und  moravskago  hinzugefügt,  ganz  falsch,  denn  vorläufig  ist  gar  nicht 
von  Mähren,  nur  von  Pannonien  die  Rede;  Method  dürfte  kaum  schrei- 
ben lassen:  der  Teufel  regte  auf  das  Herz  dem  Könige,  dem  Feinde 
des  pannonischen  Fürsten  (Kocel  war  ja  Ludwigs  Untertan)  —  es  heißt 
auch  gleich  darauf,  rekse  Koctlju.  Aber  wie  auch  die  Verderbnis  ent- 
standen sein  mag,  sicher  ist,  daß  der  kralt  selbst  niemand  anderer  als 
der  deutsche  König  sein  kann.  Wie  Bretholz  das  Gegenteil  behaupten 
konüte,  ist  unerfindlich  —  Svetopeik  war  damals  noch  gar  nicht  Herr- 
3cher  von  Mähren !   Längst  haben  andere,  Dümmler,  Dudik  u.  s.  w.  den 


Cyrillo-Methodiana.  203 

»König«  richtig  bestimmt;  wer  wären  dann  die  Bischöfe  des  Königs, 
wenn  dies  Svetopeik  hätte  sein  sollen  ?  Aber  Dümmler  hat  dafür  einen 
anderen,  noch  viel  unglaublicheren  Schnitzer  begangen;  unglaublich, 
wenn  man  bedenkt,  daß  das  Studium  des  IX.  Jahrh.  sein  hauptsächlich- 
stes Lebenswerk  war. 

Im  vorletzten  Passus  der  Vita  Methodii  lesen  wir  von  einem  be- 
deutsamen Zusammentreffen:  prisbdsu  ze  na  strany  dunajskyjq  kralju 
({grskujemu  vtshote  ji  videti  etc.  Nach  dem  obigen  muß  unter  kralj 
der  Deutsche  König  verstanden  werden;  jeglicher  Zweifel  ist  ausge- 
schlossen. Der  Inhalt  des  folgenden  paßt  dazu  einzig :  der  König  zürnt 
ihm  (dem  Feinde  der  deutschen  Bischöfe)  und  Methods  Gegner  oder 
Freunde  freuen  sich  über  oder  fürchten  die  Begegnung.  Aber  der 
König  nahm  ihn  auf,  wie  es  einem  Herrscher  geziemt,  unterhielt  sich 
mit  ihm  würdevoll,  beschenkte  ihn  und  empfahl  sich  seinen  Gebeten. 
Ein  solcher,  majestätisch  auftretender  Christ -König  soll  nun  nach 
Dümmler  ein  —  ungarischer  Hordenführer  gewesen  sein !  Gab  es  denn 
vor  885  ungarische  »Könige«?  seit  wann  sind  denn  diese  getauft? 
solchen  haaren  Unsinn  leistete  sich  Dümmler,  felsenfest  auf  das  »unga- 
risch« der  Vita  bauend.  In  den  mährischen  Legenden  ist  ja  von  Ungarn 
die  Rede  —  aber  jako  vlcsky  vyjaste,  von  Ungarn  anderer  Art,  von 
christlichen  Königen,  wissen  weder  die  Legenden  noch  irgend  eine  an- 
dere Quelle  auf  der  Welt !  Der  kralj  agr'Lskij  ist  natürlich  der  deutsche 
König;  wie  sonst  immer,  kann  man  annehmen,  daß  auch  hier  in  der  Ur- 
schrift einfach  prisbdsu  na  strany  dunajskyjt;  kralju  es  hieß;  die  Le- 
genden meiden  ja  jegliche  Namen.  Ein  Leser  oder  Kopist  hat  in  seiner 
Weisheit,  als  er  strany  dunajskyj^  las,  den  agr-iskij  hinzukalkuliert. 
Man  könnte  auch,  aber  dies  ist  gar  nicht  nötig,  statt  agrskij  ein  älteres 
bavorskij  vermuten.  Karlmann  hieß  man  mit  Vorliebe  den  bairischen 
König;  im  XL  oder  XII.  Jahrh.  ersetzte  man  dann  das  nunmehr  unbe- 
kannte bavorskij  mit  ugorskij.  Doch  reicht  jene  erste  Vermutung  voll- 
ständig hin,  im  IX.  Jahrh.  gab  es  für  Griechen  und  Slaven  auf  der 
Welt  nur  einen  kralj,  wie  nur  einen  c^sart  und  zahllose  kn^dzi,  und 
aus  dem  IX.  Jahrh.  stammt  ja  unsere  Vita.  Es  wird  uns  also  nicht  ein- 
fallen, ungarischen  heidnisch-tierischen  Horden,  vor  Arpad,  einen  König 
und  noch  dazu  einen  Christen  aufzudisputieren.  Dazu  sind  wir  nicht 
naiv  genug.  Hier  führe  ich  alle  Stellen  aus  der  Vita  an,  die  die  eigenen 
Landesfürsten  nennen :  Rostislav  kn^dz  slovonsk,  Sv^toplk  kn^dz  s  Mo- 
ravljany,  pogansk  knc^dz,  Mothod  segnet  cesarja  i  knt^dzia,  oblast  mo- 


204  A.  Brückner, 

ravska  —  also  bleibt  für  einen  kralj  moravskij  oder  ugorskij  keine 
Möglichkeit. 

Da  wir  mm  unzweifelhaft  festgestellt  haben,  daß  der  unmögliche 
»ungarische«  König  der  deutsche  ist,  gewinnen  wir  einen  hübschen  Bei- 
trag zur  Charakteristik  der  Zeit  und  fragen  unwillkürlich,  läßt  sich 
nicht  bestimmen,  wann,  mit  welchem  König  Method  an  der  Donau  zu- 
sammengetroffen ist?  Ich  glaube  ja;  nur  ist  der  kralj  des  vorletzten 
Passus  nicht  derselbe  kralj,  vor  dem  die  Bischöfe  über  Method  zu  Ge- 
richte gesessen  haben.  Die  Legende  spricht  ja  immer  nur  von  cesar 
und  apostolik,  obwohl  Michael  und  Basilius,  Nikolaus,  Hadrian  und 
Johannes  gemeint  sind;  ebenso  sind  es  zwei  Könige  gewesen,  Ludwig 
der  Deutsche  und  —  wahrscheinlich  Karlmann,  wahrscheinlich  im  Jahre 
877.  Karlmann  rüstete  sich  damals  zu  seinem  italienischen  Zuge,  auf 
dem  ihn  slavische  Schaaren  begleiteten,  Dümmler  meint  Karantanen, 
ich  meine  eher  Mährer;  um  Sold  standen  Deutsche  in  mährischen, 
Mährer  in  deutschen  Diensten.  877  weilte  Karlmann  im  Osten  seines 
Reiches  und  kann  auch  an  die  Donau  gekommen  sein  und  den  Wunsch 
geäußert  haben,  Method,  von  dem  er  als  Gegner  der  Deutschen  viel 
gehört  hatte,  persönlich  kennen  zu  lernen ;  Karlmann  war  kein  Barbar, 
wie  viele  seiner  Bischöfe  es  waren,  und  die  Zusammenkunft  verlief  aufs 
würdigste,  für  mich  der  beste  Beweis,  daß  die  Persönlichkeit  des  Method 
eine  achtunggebietende,  imposante,  wirkungsvolle  war;  als  dieser  per- 
sönlichen Autorität  sein  Werk  durch  den  Tod  beraubt  wurde,  stürzte 
dasselbe  sofort  zusammen,  getragen  offenbar  durch  die  Macht  der  Person, 
nicht  durch  inneren  Wert  noch  die  Zuneigung  des  Volkes.  Allerdings 
könnte  man  noch  neben  Karlmann  an  Arnulf  denken :  von  der  Intimität 
Svetopelks  mit  Arnulf  zeugte  ja  schon  der  Name  des  Lothringer- 
königs (und  Bastards  Arnulfs)  Zwentibald. 

IV.  Aus  der  vorherigen  Darstellung  ist  bereits  ersichtlich,  wie  viel 
wir  an  der  Echtheit  der  Schriftstücke  und  Reden,  der  Gesandtschaften 
und  Berufungen  auszusetzen  haben.  Wir  haben  gesehen,  wie  Method 
den  Brief  Johannes  VIII.  behandelte,  ihn  Hadrian  II.  zuschob,  einen 
wichtigen  Passus  ausließ,  einen  ganz  anderen  dafür  einschmuggelte;  als 
Brief  des  Johannes  eine  Vollmacht  für  sein  Anathema  gelten  ließ.  Wir 
beanstandeten  das  Schreiben  Michaels  an  Rostic,  seinen  Ausspruch  über 
die  Reinheit  des  salonischen  Slavisch,  die  Briefe  des  Chagan,  des  Rostic 
u.  s.  w.  Bekanntlich  ist  die  Frage  der  Fälschungen  sehr  umstritten, 
gerade  in  unserem  Archiv  könnte  ich  auf  lange  Auseinandersetzungen 


Cyrillo-Methodiana.  205 

darüber  verweisen.  Wie  ist  man  mit  Wiching  umgesprungen,  was  für 
einen  Roman  hat  z.  B.  Lapotre  über  den  angeblichen  Falsarius  ausge- 
sponnen —  man  glaubt  ein  Kapitel  aus  dem  Ewigen  Juden  zu  lesen. 
Andere  haben  Johannes  VUI.  eines  Doppelspieles  angeklagt.  Wieder 
andere  haben  den  Brief  Stephan  V.  bestritten  —  als  ob  etwas  echteres 
auf  der  Welt  zu  finden  wäre  !  Alles  zu  Unrecht.  Daß  der  Brief  Stephans 
echt  war,  hat  seine  Wirkung  gezeigt;  er  setzt  bereits  den  Tod  Methods 
voraus.  Wiching  brauchte  nichts  zu  fälschen  noch  zu  erfinden:  der 
Vertraute  des  Svetopelk  kannte  und  besaß  unfehlbar  den  Brief  Jo- 
hannes VIII.  an  Svetopelk  von  879,  worin  sich  Johannes  sehr  wunderte, 
daß  Method  anders  lehre,  als  er  dem  Papste  gelobt  hat;  Wiching  wird 
wohl  auch  den  Inhalt  des  gleichzeitigen  päpstlichen  Briefes  an  Method 
selbst,  mit  dem  ausdrücklichen  Verbot  der  slavischen  Liturgie  und  der 
Beschuldigung  von  Irrlehren,  durch  Priester  Johannes,  den  Vertrauten 
Svetopetks,  herausbekommen  haben.  Darauf  sich  stützend  konnte  er 
ohne  weiteres  Method  des  Ungehorsams  und  der  Irrlehren  beschuldigen, 
brauchte  nicht  erst  päpstliche  Briefe  besonders  zu  fälschen,  er  ignorierte 
einfach  die  spätere  Entscheidung  zugunsten  des  Method  als  eine  er- 
schlichene, und  Method  konnte  wanken  und  zweifeln,  ob  denn  der  Papst 
nicht  hinter  seinem  Rücken  Wichings  Treiben  begünstige.  Das  Vor- 
zeigen dieses  späteren  Briefes  wirkte  nur  vorübergehend ;  Wiching  ließ 
nicht  los  von  seinen  Beschuldigungen,  bis  Method  auf  ihn  den  Bann- 
strahl warf,  und  damit  sich  selbst  und  sein  Werk  aufs  schwerste  schä- 
digte, wie  die  nächste  Zukunft  lehren  sollte. 

Ich  glaube  somit  au  keine  Wichingschen  Fälschungen,  weil  er 
ihrer  gar  nicht  bedurfte,  auch  ohne  solche  sein  Ziel  erreichte  —  hatte 
doch  Papst  Johannes  in  jenem  Briefe  ganz  allgemein  die  Rechtgläubig- 
keit des  Method  ausgesprochen,  war  nicht  auf  die  Einzelheiten,  auf  die 
es  wesentlich  ankam  (Fasten;  Filioque)  eingegangen  —  das  holte  erst 
Stephan  V.  in  einer  für  Methods  Rechtgläubigkeit  vernichtenden  Weise 
nach.  Ja,  der  Brief  des  Johannes  konnte  Wiching  selbst  den  Beweis 
liefern,  daß  Method  sich  etwas  anmaßte,  was  ihm  gar  nicht  zustand, 
nämlich  den  Bann  über  den  Bischof  auszusprechen,  während  er  nur 
über  einfache  Priester  und  Kleriker  diese  Macht  hatte;  noch  unbe- 
quemer für  Method  war  der  ausdrückliche  Befehl  des  Papstes,  nieman- 
dem die  lateinische  Messe  vorzuenthalten,  wodurch  die  Autorität  der 
slavischen  Liturgie  in  Frage  gestellt  wurde,  ein  peinliches  Schwanken 
sich  einstellen  mußte,  das  nur  zu  heilloser  Verwirrung  führen  konnte. 


206  A.  Brückner, 

V.  Daß  Papst  Hadrian  II.  die  slavische  Liturgie  feierlichst  ge- 
stattet und  geweiht  hätte,  ist  einfach  unwahr.  Das  tiefe  Schweigen  der 
italischen  Legende  über  diesen  Punkt  ist  sehr  charakteristisch,  ebenso 
das  ausdrückliche  Verbot  Johannes  VIII.  im  Jahre  S73.  Wäre  diese 
Liturgie  869  so  feierlich  erlaubt  gewesen,  so  wäre  Johannes  873  und 
879  bei  den  ausdrücklichen  Verboten  vielleicht  irgendwie  darauf  zurück- 
gekommen. Oder  hätte  man  dies  in  Rom  nach  kaum  vier  Jahren  so 
vollständig  vergessen?  Ungleich  eher  konnte  Stephan  V.  S85  die  Er- 
laubnis von  880  ignorieren,  weil  sie  äußerst  verklausuliert  war,  Jo- 
hann VIII.  mit  halber  Hand  zurücknahm,  was  er  eben  mit  voller  ge- 
spendet hatte  (Forderung  der  Vorausschickung  der  lateinischen  Lektio 
und  Nichtvorenthaltung  der  lateinischen  Messe  jedem  Wünschenden), 
Method  diese  Bedingungen  vielleicht  gar  nicht  gehalten  hat,  sodaß  man 
sich  in  Rom  an  nichts  mehr  gebunden  fühlte  und  zu  dem  älteren  Zu- 
stand von  879  und  873  zurückgrifF —  wobei  allerdings  Wiching  auch 
mit  erdichteten  Einzelheiten,  z.  B.  dem  angeblichen  Schwur  des  Method, 
nicht  zurückhielt.  Wir  haben  allen  Grund  anzunehmen,  daß  die  Brüder, 
als  Verehrer  des  h.  Klemens  in  Rom  feierlich  empfangen,  von  der  sla- 
vischen  Liturgie  in  Mähren  möglichst  wenig  sprachen,  in  Allgemein- 
heiten, nötiger  Unterweisung  des  unwissenden  Volkes  u.  dgl.  sich  be- 
wegten ;  erst  die  Klagen  der  deutschen  Geistlichkeit,  die  immer  lauter 
erklangen,  ließen  Rom  stutzig  werden  und  mit  dem  Verbot  der  slavi- 
schen  Liturgie  873  vorgehen,  das  879  erneuert  werden  sollte. 

Statt  dessen  kam  das  unglaubliche,  entgegengesetzte;  Method 
brachte  triumphierend  die  päpstliche  Autorisierung  der  slavischen  Li- 
turgie heim ;  Rom  hatte  sein  eigenes  universale  Prinzip  unnütz  preis- 
gegeben, den  Slaven  eine  unerhörte  Konzession  gemacht,  die  es  Kelten 
und  Germanen  verweigert  hätte.  Es  muß  Method  viel  Mühe  gekostet 
haben,  dem  widerstrebenden  Papst  diese  Erlaubnis  abzuringen.  Die 
Argumente,  die  er  brauchte,  sind  zum  Teil  aus  dem  päpstlichen  Briefe 
selbst  ersichtlich  (die  Textstellen  stammen  aus  der  Apologie  des  Cyrill. 
die  Berufung  auf  ähnlichen  Brauch  in  anderen  —  natürlich  orientali- 
schen —  Kirchen,  das  sicut  in  quibusdam  ecclesiis  fieri  videtur,  stammt 
aus  der  Information  des  Method),  zum  Teil  leicht  hinzuzudenken.  Den 
Papst  lockte  vor  allem  die  Aussicht,  ein  ganzes  großes  Land  (mit  der 
Anwartschaft  auf  ein  noch  größeres)  unmittelbar  vom  päpstlichen  Stuhle 
abhängig  zu  sehen ;  der  Fehlschlag  mit  Pannonien,  das  trotz  der  rö- 
mischen Ansprüche  deutsch  verblieb,  lehrte  zur  Genüge,  wie  prekär  die 


Cyrillo-Methodiana.  207 

Anrechte  des  päpstlichen  Stuhles  waren,  wie  gering  sie  von  den  Macht- 
habern  geachtet  wurden.  Dazu  zeigte  Method,  stark  übertreibend,  wie 
die  Slaven  hartnäckig  wären,  wie  man  ihnen  entgegenkommen  müßte 
(das  Märchen  von  der  Vertreibung  der  lateinischen  Priester  hätte  hier 
eingefügt  werden  können),  wenn  man  nicht  das  Gedeihen  der  novella 
plantatio  gefährden  wolle,  wie  Rücksicht  auf  die  Nachbarn,  die  dann 
desto  leichter  dem  Christentume  (und  dem  päpstlichen  Stahl)  zu  gewin- 
nen wären,  andere  Bedenken  zurücktreten  lassen  müsse :  dieses  Argu- 
mentes hatte  sich  ja  schon  Rostic  in  dem  angeblichen  Gesandtschafts- 
schreiben nach  Konstantinopel  bedient  —  in  etwas  verdächtigem 
apostolischen  Eifer  (es  ist  ihm  einfach  ein  Argument  Cyrills  in  den 
Mund  gelegt  worden).  Ja  die  Gründe  waren  billig  wie  Brombeeren,  mau 
könnte  noch  eine  ganze  Reihe  nennen,  die  Method  dem  Papste  vorge- 
tragen haben  mag:  so  habe  ich  z.  B.  die  Rücksicht  auf  die  slavischeu, 
für  Rom  zu  sichernden  Bulgaren  vollkommen  aus  dem  Spiele  gelassen 
oder  die  Möglichkeit,  daß  Method  selbst  die  slavische  Liturgie  nur  als 
ein  zeitweiliges  malum  necessarium,  für  ein  Übergangsstadium,  hin- 
stellte. Am  entscheidendsten  wirkte  ein  ganz  anderes  Motiv  mit:  die 
sträfliche,  leichtsinnige  Connivenz  des  Papstes  wegen  der  Griechen ! 
wie  Photius,  ist  auch  Methodius  in  Gnaden  zugelassen  worden  und  Me- 
thodius  hat  sich  dafür  ebenso  dankbar  erwiesen,  wie  Photius!  Stephan  V. 
erst  räumte  mit  diesen  Schwächen  seines  Vorgängers  gründlich  auf; 
statt  des  weibischen  Aufgebens  römischer  Prinzipien  forderte  der  Mann, 
allein  richtig,  die  Durchführung  derselben,  und  damit  hatte  sofort  das 
letzte  Stündlein  für  das  griechische  Experiment  in  Mähren  geschlagen; 
Svc^'topeik  zog  nur  die  Konsequenz  davon. 

Bei  den  Thesen  VI  und  VII  brauche  ich  nicht  besonders  zu  ver- 
weilen: sie  ergeben  sich  aus  dem  Vorhergehenden;  ich  brauchte  nur 
noch  einmal  zusammenzustellen,  die  Texte  vergleichend,  wie  gleich- 
förmig die  Formeln  für  die  Missionen  und  die  Reisen  zu  den  gekrönten 
Häuptern  lauten,  aber  jeder  Leser  der  Legenden  ist  mit  dieser  Erschei- 
nung vertraut.  Ich  weiß  wohl,  daß  die  drei  Vitae  keine  historischen 
Denkmäler  darstellen,  von  denen  wir  genaueres  (Daten,  Namen,  chro- 
nologische Folge  der  Ereignisse)  erwarten  und  verlangen  könnten ;  ich 
weiß,  daß  die  Vitae  im  hagiographischen  Rahmen  und  Schema  sich  be- 
wegen. Daher  nennen  sie  mögliciist  wenig  Namen  (Kaiser,  König,  Cha- 
gan,  Papst  u.s.w.  ganz  allgemein);  daher  beachten  sie  nicht  streng  die 
Chronologie  (der  Besuch  des  Method  beim  Deutschen  König  wird  noch 


208  A.  Brückner, 

nach  der  endgiltigen  Abkehr  vom  Welttrubel  und  der  Fortführung  des 
Übersetzungswerkes  erzählt,  obgleich  er  offenbar  früher  sich  abspielte), 
verkleinern  die  Intervalle  von  Zeit  und  Raum,  generalisieren;  daher 
vor  allem  weisen  sie  überall  auf  göttliche  Intervention :  das  langwierige 
Werk  Cyrills,  die  Glagolica,  wird  in  einer  Ilerabkunft  göttlicher  Inspi- 
ration geboren,  Gott  hat  die  Mährer  zu  jener  Gesandtschaft  inspiriert, 
in  Gottes  Hand  ist  das  Herz  des  Kaisers  gelegen.  Folglich  mußte  die 
persönliche  Arbeit  und  Initiative  der  Brüder  vollständig  zurückgedrängt 
werden ;  folglich  mußten  diejenigen,  die  in  Wahrung  berechtigter  In- 
teressen, in  der  Verteidigung  römischer  Prinzipien,  gegen  die  Brüder 
auftraten,  als  Werkzeuge  des  staryj  vrag  gebrandmarkt  werden;  die 
Verquickung  von  Hagiographie  und  Tendenz  erleichterte  ganz  außer- 
ordentlich die  Arbeit  des  Biographen,  der  jeglichen  weltlichen  und  per- 
sönlichen Beweggrund  auszuschalten  vermochte  und  eine  ganz  einsei- 
tige, vorurteilsvolle  Darstellung  als  ein  naives,  unbefangenes,  lauteres 
Denkmal  griechischer  Wahrheitsliebe  noch  den  neueren  aufdisputiert 
hat.  Dem  gegenüber  machte  ich  einfach  das  Prinzip  der  Kritik,  die 
sich  auch  durch  die  salbungsvollste  Darstellung  nicht  imponieren  läßt, 
geltend ;  sind  die  Vitae  nicht  bloße  Legenden,  sondern  auch  Geschichts- 
quellen, so  müssen  sie  darnach  behandelt  werden.  Ich  raube  nicht  dem 
Gläubigen  das  Recht,  sich  an  dem  Bilde  gottesfürchtiger  Männer  und 
ihrem  Wirken  zu  erbauen;  es  würde  mir  aber  nie  einfallen,  an  Legen- 
den der  Heiligen  Zustände  des  römischen  Reiches  oder  römische  Kaiser 
studieren  zu  wollen,  aber  wo  in  Ermangelung  anderer  Quellen  Legen- 
den als  historische  Denkmäler  sich  einführen,  müssen  sie  sich  kritische, 
zersetzende  Analyse  gefallen  lassen;  ich  verlange  nicht  die  Entfernung 
Cyrills  und  Methods  aus  dem  slavischen  Pantheon  oder  dem  römischen 
Heiligenkalender,  aber  kein  pretium  alfectionis,  kein  Heiligenschein, 
kein  Respekt  vor  der  Tradition  darf  uns  hindern,  der  Wahrheit  auf  die 
Spur  zu  kommen. 

Auch  bezüglich  VIII  kann  ich  mich  kurz  fassen.  Ich  habe  keinen 
Anstand  genommen,  die  philologische  Arbeit  auf  Cyrill  zurückzuführen, 
auf  sein  —  gerade  bei  Griechen  ganz  außerordentliches,  ganz  außer- 
gewöhnliches Sprachtalent,  Sprachsinn,  dessen  vollständiges  Fehlen 
sonst  die  Griechen  auszeichnet,  seit  Homer  bis  heute.  Ebensowenig 
möchte  ich  verkleinern  das  Verdienst  der  Brüder,  doppelt  groß  auf 
griechischem  Boden,  sich  anzunehmen  jezyka  nasego  (die  Worte  hat 
ein  Slave  geschrieben,  nicht  Method  noch  Klemens)  o  niemie  s^  ne  be 


I 


Cyrillo-Methodiana.  209 

niktoze  nikolize  popekl  —  obwohl  ich  über  die  Nützlichkeit  der  slavi- 
schen  Liturgie  mein  eigenes  Urteil  habe,  das  dem  hergebrachten  ent- 
gegengesetzt  ist.     Als   nun  Cyrill    zur    SchaflFung   einer   liturgischen 
Sprache  für  die  Slaven,   nach   dem   Beispiel    orientalischer  Kirchen, 
heranging,  mußte  er,  eben  nach  diesem  Beispiel,  sein  neues  Werk  mit 
dem  Schaffen  eines,  wenn  auch  nur  scheinbar  selbständigen  Alphabetes, 
krönen  —  daher  ersann  er  die  Glagolica,  die  Cyrillica  hätte  für  seine 
Zwecke  gar  nicht  ausgereicht.   Koptische,  syrische,  armenische  und  an- 
dere Beispiele,  auf  die  er  sich  stets  berief,  verlangten  gebieterisch  eine 
besondere,  auf  den  ersten  Blick  schon  unabhängige,  eigene  Schrift  — 
die  gleichzeitigen  Quellen,  die  einstimmig  von  den  litteras  sclaviniscas 
(nicht  graecas!)  a  Constantino  repertas  (und  Johannes  VUI.   kannte 
trefflich  griechische  Schrift)  oder  noviter  (!)  inventis  sclavinis  literis 
(des  Graecus  Methodius)  sprechen,  lassen  darüber  keinen  Zweifel  auf- 
kommen; eine  These  aufzustellen,  daß  Cyrill  die  glagolitische,  nicht  die 
cyrillische  Schrift  erfunden  hat,  hieße  heute  offene  Türen  einrennen  zu 
wollen.    Hier  könnte  ich  jedoch  auch  das  paläographische  und  pliilolo- 
gische  Gebiet  abstreifen :  bei  der  künstlichen  Erfindung  der  Schrift  ist 
der  Gedanke  gar  nicht  abzuweisen,   ob  nicht  der  treffliche  Kenner 
orientalischer  Alphabete,  der  Entzifferer  altsamaritanischer  Inschriften, 
sich  nicht  auch  in  ihnen  nach  Material  für  sein  Alphabet  umgesehen 
hat,  wie  er  aus  alten  Zeiten  das  Zeichen  für  das  a  aufgeklaubt  hat: 
hierüber  hat  bereits  unser  Archiv  berichtet.    Ich  möchte  noch  fragen,  ob 
die  Regulierung  der  Halbvokale  nicht  auch  etwas  künstliches  und  sche- 
matisches  ist;  ich  bezweifele,  daß  der  salonische  Slave  S60  ein  zwei- 
silbiges (oder  meinetwegen  anderthalbsilbiges)  bogt  gekannt  hätte ;  er 
sprach  es  gewiß  einsilbig  aus,  die  Schreibung  und  Unterscheidung  der 
auslautenden  und  vieler  inlautenden  Halbvokale,  z.  B.  vl^kt,  tr-Lgt  (die 
unmögliche  Stellung)  ist  vielleicht  weniger  auf  eine  phonetische,  als  auf 
eine  orthographische  Eigentümlichkeit   oder  Marotte  zurückzuführen, 
wenn  ich  bedenke,    daß  es  schon  im  V.  oder  VI.  Jahrh.  z.  B.  t.fruca, 
nicht  sutrava  geheißen  hat,   doch  liegt  dies  unserer  eigentlichen  Auf- 
gabe fern;  man  könnte  manches  erklären  aus  einer  sonst  richtig  be- 
obachteten Vorliebe  der  Slaven  für  vokalischen  Silbenschluß,  die  ver- 
allgemeinert worden  wäre  sogar  auf  die  Schreibung  von  Fromdwürtern, 
wie  olttart,  das  natürlich  trotz  der  vier  Vokalsilbeu  nur  zweisilbig  ge- 
lautet hat,  u.  dgl.  m.  (das  ^  =  ja  u.  a.). 

Bei  allen  Verdiensten  und  Initiativen  Cyrills  darf  die  Wirksamkeit 

Archiv  für  slavixclie  IMiilologip.    XXVlll.  14 


210  A.Brückner, 

Methods  nicht  unterschätzt  werden,  wie  dies  allgemein  beliebt  wird; 
sogar  bei  der  Festsetzung  der  Schrift  und  Übersetzung  hatte  ja  Cyrill 
Helfer,  wie  die  Legende  selbst  es  eingesteht.  Ich  habe  schon  hervor- 
gehoben, daß  Cyrill,  abgesehen  von  dem  Beginn  der  Übersetzung,  nur 
griechisch  geschrieben  hat,  so  die  historiola  und  die  Hymnen  auf  Kle- 
raens,  die  Disputationen  mit  den  Juden,  vielleicht  auch  die  Apologie 
der  slavischen  Liturgie,  das  slovo  gegen  die  Dreisprachler;  daß  der  Zu- 
schnitt des  Cyrill,  seiner  Gedanken  u.  s.  w.,  ein  ausschließlich  griechi- 
scher war.  Ich  möchte  daher  fragen,  ob  der  Gedanke  einer  slavischen 
Liturgie  nicht  zuerst  bei  Method  aufgetaucht  ist,  der  von  seiner  Be- 
schäftigung mit  Slaven  ungleich  eher  darauf  kommen  konnte,  als  der 
dem  Leben  des  Volkes  entrücktere  Askete.  Daß  dies  in  den  Legenden 
nicht  hervorgekehrt  wird,  hat  seinen  guten  Grund  in  der  Bescheidenheit 
des  Method  und  seiner  Bruderliebe,  sowie  in  dem  Umstände,  daß  Cyrills 
Name,  schon  wegen  der  Klemensepisode  (obwohl  ich  mir  keine  richtige 
Vorstellung  davon  machen  kann,  wie  die  Brüder  diese  Reliquien  be- 
handelt haben  mögen;  ließen  sich  die  Chersonianer  dieselben  so  ohne- 
weiteres entführen?  wo  blieb  man  damit  in  Konstantinopel?),  bei  den 
Römern  so  trefflich  augeschrieben  war,  das  neue,  verfängliche  Werk  so 
trefflich  empfahl.  Method  allein  faßte  somit  den  Gedanken,  nur  die  Aus- 
führung desselben  vertraute  er  dem  Philologen  an ;  er  hätte  die  cyrillische 
Liturgie  nicht  nur  inspiriert,  sondern  er  hat  sie  auch  recht  eigentlich 
ins  Leben  eingeführt,  sich  dafür  ganz  eingesetzt  und  Zeit  seines  Lebens 
erfolgreich  verteidigt;  daß  der  mit  Prophetengabe  bedachte  gerade  das 
nächste  und  sicherste  übersah,  nicht  ahnte,  wie  rasch  und  vollständig 
in  Mähren  sein  Werk  entwurzelt  werden  sollte  —  ähnlich  erging  es 
auch  anderen  Propheten. 

IX.  Für  die  prinzipielle,  unversöhnliche  Gegnerschaft  der  beiden 
Photianer  (die  Legenden  hüten  sich,  den  Namen  des  Photius,  außer  ein- 
mal en  passant,  auch  nur  auszusprechen,  und  doch  nennt  eine  einwands- 
freie  Quelle  Cyrill  den  fortissimus  amicus  des  Photius !)  gegen  Rom  lie- 
fern die  slavischen  Legenden  unzweideutige  Beweise.  Bekanntlich  hat 
z.  B.  Ginzl  die  Photianer  zu  ergebensten  Römlingen  umzumodeln  ver- 
sucht; es  lohnt  sich  nicht,  ihn  zu  widerlegen.  Andere  haben  den  Um- 
stand der  noch  ungeteilten  Kirche  allzusehr  ausgebeutet ;  dieser  Um- 
stand wirkte  eben  nur  darin,  daß  die  Legenden  den  apostolicus  noch 
mit  der  schuldigen  Hochachtung  nennen,  daß  sie  in  ihm  noch  den 
Nachfolger  des  wahren   Petrus,   nicht  des   Scheinpetrus,   des  Petrus 


Cyrillo-Methodiana.  211 

gagnivyj,  anerkennen ;  daß  ihnen  noch  viel  gelegen  ist  an  der  päpst- 
lichen, römischen  Anerkennung  der  Rechtgläiibigkeit  Methods  Man 
bedenke  zudem,  daß  Method  persönlich  dem  Papste  alles  verdankte, 
daß  ohne  des  Papstes  energisches  Eingreifen  nicht  nur  M«thod  den 
»schwäbischen«  Kerker  nie  verlassen  hätte,  soudern  auch  die  slavische 
Liturgie  nie  auf  die  Beine  gestellt  worden  wäre  —  alles  doch  Grund 
genug,  um  von  dem  apostolicus  nur  mit  den  Worten  höchster  Verehrung 
zu  handeln!  Aber  gegen  die  Lateiner,  d.  h.  gegen  Rom,  traten  die 
Griechen  von  den  ersten  Tagen  ihrer  mährischen  Wirksamkeit  rück- 
sichtslos auf;  sie  zögerten  nicht,  auch  mit  den  unmögliclisten  \or dürfen 
sie  zu  überhäufen  und  zu  schmähen.  Daß  die  Verteidigung  des  römi- 
schen Standpunktes  ihnen  einfach  Teufelswerk  war,  sagen  sie  in  den 
Legenden  ganz  unv  erblümt.  Daß  die  laxere  Auffassung  der  kanonischen 
Ehegebote,  wie  sie  Römer  Neophyten,  namentlich  Fürsten  und  Vor- 
nehmen gegenüber,  beobachteten,  den  asketischen  Grieclien  ein  Greuel 
war,  nehmen  wir  auch  als  selbstverständlich  hin ;  aber  wenn  die  Vita 
Cyrilli  den  römischen  Klerus  manichäischen  Lehren  Vorschub  zu  leisten 
beschuldigt,  hört  die  Gemütlichkeit  auf,  und  wenn  sie  behauptet,  daß 
der  lateinische  Klerus  lehrte,  der  Mord  eines  Menschen  würde  durch 
dreimonatliches  Trinken  aus  einer  Holzschale  gesühnt,  so  ist  das  eine 
unverschämte  Lüge,  welche  nur  beweist,  welch  Geistes  Kind  ihr  Erfinder 
ist,  wie  er  von  der  römischen  Geistlichkeit  und  ihrer  Lehre  dachte. 

Manichäische  Lehren  fanden  in  Europa  frühzeitigen  Eingang;  die 
Lehre  von  dem  guten  und  bösen  Prinzip  ist  so  verführerisch  einfach, 
erklärt  alles  so  trefflich,  daß  sie  dem  Verständnis  des  Unmündigsten 
entspricht.  Auch  nach  Mähren  kann  ähnliches  gekommen  sein,  die  Er- 
zählungen von  dem  Teufel-Schöpfer,  den  Schlangen,  seinen  Geschöpfen, 
den  Verdiensten  (Sündenvergebung)  des  Veitilgers  der  Teufelsbrut: 
solches  kursierte  im  gemeinen  Volk  zumal ,  mit  dem  die  Vertreter  des 
(aristokratisierenden)  Katholicismus  auch  schon  wegen  geringer  Sprach- 
kenntnisse, sich  ausnahmsweise  nur  berührten.  Übrigens  waren  Cyrill 
und  Method  gerade  von  ihren  Balkanslaven  her  mit  derlei  Lehren  ver- 
traut und  fanden  nur  in  Mähren,  wenn  sie  es  nicht  erfanden,  gute  Be- 
kannte. 

Mit  dem  ne  branjachf^  JSrtv  tvoriti  po  prvujemu  obycaju  hatte  es 
auch  sein  besonderes  Bewenden.  Wie  jener  Fabeln,  achtete  vielleicht 
gar  nicht  recht  die  fremde,  lateinische  Geistlichkeit,  wie  es  mit  den 
irtvy  zuging;  es  mußten  j;i  die  Haus-  und  Flurgölter  bedacht  werden, 

14* 


212  A.Brückner, 

ebenso  die  Ahnen,  und  Pferdefleisch  —  das  liebste  den  Göttern  — 
wurde  immer  noch  verzehrt  und  von  jedem  Rinde  u. s.w.  kamen  noch 
die  Stückchen  an  die  alte  heidnische  Adresse.  Daher  enthielten  sich 
skrupulösere  Leute  aller  festlichen  Mahle,  deren  Zubereitung  ihnen  nicht 
einwandsfrei  war.  Noch  im  Jahre  924  :  dum  plurimi  ad  immolandum 
demoniis  nefanda  properarent  sacrificia  cibisque  ex  ipsis  potibusque 
simul  inquinarentur,  nunquam  Venceslaus  horum  consenciens  contami- 
nabatur  verum  in  cunctis  se  subtraxit  occasione  facta  qualibet  —  wir 
können  uns  vorstellen,  wie  es  in  der  nächsten  Nachbarschaft  864  zu- 
ging. Und  wiederum  waren  die  Brüder  von  ihrer  salonischen  Umgebung 
mit  diesen  Resten  des  Heidentumes  vertrauter,  also  argwöhnischer,  als 
die  fremden  lateinischen  Geistlichen,  die  oft  gar  nicht  den  Zusammen- 
hang des  Brauches  ahnen  mochten  und  gar  nicht  strafend  eingriffen. 
Und  wenn  gar  Cyrill  den  Lateinern  vorwarf  als  besttstije,  daß  nach 
ihnen  unter  der  Erde  Großköpfe  wohnten,  so  ist  sein  böser  Wille  offen- 
kundig, der  für  Volksmärchen  —  schade,  daß  er  nicht  von  psoglavci 
gesprochen  hat  —  die  nichts  ahnenden  Lateiner  verantwortlich  machen 
wollte.  Die  Deklamationen  über  die  Humanität  Cyrills  und  Methods, 
dieser  griechischen  Rigoristen,  die  nichts  »unkanonisches«  den  Menschen 
gönnten,  erleiden  dadurch  einen  ungleich  stärkeren  Stoß,  als  die  Repu- 
tation der  Römer. 

So  dachte  Cyrill  über  die  Lateiner;  er  starb  ja  auch  mit  einer 
Verfluchung  der  trLJezycnaja  jeres  (pogubü).  UndMethod?  Wie  dieser 
über  Rom  dachte,  wissen  wir  aus  den  einwandsfreiesten  Quellen.  Seinen 
Diözesanen,  Wiching,  weil  er  den  römischen  Standpunkt  vertrat,  ver- 
fluchte er  und  stieß  ihn  aus  der  Kirche,  aber  mit  Wiching  traf  er  die 
Römer  zugleich  und  den  zu  ihnen  haltenden  Svetopel:k;  daher  konnte 
die  spätere  Tradition,  noch  bei  Christian,  von  einer  Verfluchung  Sveto- 
pelks  und  seines  ganzen  Landes  durch  Method  und  von  den  furchtbaren 
Folgen  dieses  Fluches  fabeln.  Daher  schrieb  der  empörte  Stephan  V. 
an  Svetopeik:  anathema  vero  pro  contemnenda  catholica  fide  qui  in- 
dixit,  in  caput  redundahit  eins !  Die  Römer  schieden  fortwährend  und 
mit  Recht  die  notwendige  Belehrung  des  Volkes  in  der  Landessprache 
von  der  Sprache  des  liturgierenden  Priesters,  zwei  Sachen,  die  nichts 
miteinander  zu  tun  haben,  die  zweite  ist  für  die  Christianisierung  des 
Volkes  ganz  überflüssig ;  ebenso  konsequent  warf  Methodius  beiderlei 
absichtlich  zusammen.  Und  schließlich  streifte  er  ganz  seine  Maske 
ab:  er  machte  endgiltigeu  Frieden  mit  Byzanz,  reiste  zu  Kaiser  und 


Cyrillo-Methodiana.  213 

Patriarch,  überzeugte  sie  mit  denselben  Gründen,  die  er  unlängst  vor 
Johannes  VIII.  debitiert  hatte,  von  der  Notwendigkeit  der  sprachlichen 
Konzession,  wenn  man  Rom  aus  dem  Felde  schlagen  sollte,  und  siegte 
auf  der  ganzen  Linie;  es  überzeugten  sich  Kaiser  und  Patriarch,  daß 
ihr  Argwohn  unberechtigt,  das  Perhorreszieren  slavischer  Liturgie  un- 
begründet war;  für  den  schwindenden  griechischen  Einfluß  öffneten 
sich  ungeahnte  Aussichten.  Getrost  konnte  Method  einen  Priester  und 
Diakon  mit  slavischen  Büchern  in  Konstantinopel  zurücklassen;  hier 
war  sein  Spiel  gewonnen.  Und  auf  seinem  Sterbelager  zog  er  die  Kon- 
sequenz; er  segnete  —  Kaiser,  Fürst  und  Volk;  er  verwies  Gorazd  gar 
nicht  an  den  Stuhl  des  h.  Petrus,  vom  apostolik  kam  nichts  über  seine 
Lippen;  Method  war  fertig  mit  Rom,  aber  Rom  auch  mit  ihm;  der 
haereticus  war  endgiltig  entlarvt  und  nur  der  Tod  rettete  ihn  vor  den 
Konsequenzen,  doch  nicht  seine  Anhänger,  die  Griechen  im  römischen 
Sprengel. 

X.  Die  letzte  Etappe  des  methodianischen  Werkes  in  Mähren  hat 
zu  den  grundlosesten  Verdächtigungen  und  Verunglimpfungen  des  großen 
Sv^topelk  geführt;  ich  verzichte  hier  auf  den  billigen  Triumph,  alle 
diese  Expektorationen  dem  verdienten  Spott  preiszugeben.  Man  ließ 
sich  von  der  Vita  Clementis  irreführen ;  weil  der  erboste  Methodianer 
einen  Kübel  schmutzigster  und  gehässigster  Vorwürfe  über  Svetopelk 
ausschüttete,  glaubte  man  ihm  aufs  Wort;  sogar  deutsche  Historiker, 
wie  Dümmler,  stimmten  in  den  komischen  Chorus  ein ;  man  begreift 
nicht,  wie  und  wozu?  Und  doch  schimmert  durch  die  Anwürfe  des 
Biographen  die  einfache  Größe  des  Fürsten  durch :  vergebens  mahnt  er 
zu  dem  fratres  habitare  in  unum ;  er  ist  kein  Theologe  und  will  sich 
keine  Autorität  in  theologicis  anmaßen ;  aber  er  ist  Fürst  und  verant- 
wortlich für  den  Frieden  im  Lande  und  wird  ihn  erzwingen  —  dazu 
fühlt  er  sich  Mannes  genug.  Die  streitenden  Parteien,  die  Überzahl  der 
Römer  und  die  Minorität  der  Gräkoslaven,  bezichtigten  sich  gegenseitig 
der  Ketzerei;  dem  treuen  Sohne  der  römischen  Kirche  war  sein  Weg 
längst  vorgezeichnet,  aber  er  wollte  nicht  die  gesetzlichen  Normen,  die 
Prozeßformeln  verletzen.  Darum  kam  es  zur  Rcchtsverhandlung  und 
zur  legitimen  Entscheidung  durch  den  Eid;  wer  die  rechte  römi.sche 
Lehre  bekenne,  leiste  darauf  den  Eid;  einen  solchen  Eid  konnten  die 
Methodianer,  wenn  sie  sich  noch  so  beeilt  hätten,  nie  leisten  ■ —  der 
Brief  Stephan  V.  in  Wichings  Händen  vertrat  ja  schon  das  Gottesurteil; 
auf  ihn  sich  berufend  leistete  Wiching  den  verlangten  Eid ;  die  Metho- 


214  A.  Brückner, 

dianer  waren  somit  der  Ketzerei  überwieaen  und  mußten ,  da  sie  die- 
selbe nicht  Jibscliwören  wollten,  das  Land  verlassen,  das  sonst  durch 
sie  in  den  verhaßten  und  gefürchteten  Ruf  der  Ketzerei  gebracht  wor- 
den wäre.  Das  ist  der  natürliche  Hergang  der  Sache  gewesen;  so  und 
nicht  anders  mußte  es  kommen,  wenn  Svc^'topelk  auf  den  Titel  eines 
filius  carissimus  Roms  nicht  leeren  Anspruch  erhob.  Was  hat  nicht  die 
Vita  Clementis  daraus  gemacht!  wie  schimpft  sie  über  den  Barbaren,  in 
Weiberlüste  verstrickten,  schmutzigen  und  verstockten,  den  Mahnungen 
Methods  unzugänglichen  Verächter  alles  Heiligen  —  nun,  das  ist  kein 
Wunder,  der  unterliegende  schimpft  auf  den  gerechtesten  Richter  (vgl. 
Libussa),  Wunder  nimmt  nur,  daß  jemand  dies  einen  Augenblick  lang 
glauben  konnte. 

Wir  wollen  gar  nicht  leugnen,  daß  es  zu  Konflikten  zwischen  zwei 
herrischen  Naturen,  wie  Method  und  Svetopeik  es  offenkundig  waren, 
seit  jeher  schon  gekommen  war;  schon  die  Rigorosität  des  Griechen  in 
matrimonialen  Angelegenheiten  (beide  Legenden  bezeugen  dies  aus- 
drücklich) entfremdete  ihm  Svetopeik,  der  zur  milderen  römischen  Praxis 
hielt  —  wir  wissen,  wie  Rom  noch  viele  Dezennien  später,  zumal  bei 
Neophyten,  nicht  ein,  sondern  manchmal  beide  Augen  zudrückte.  Es 
mußte  somit  schon  der  asketische  Rigorismus  (die  sogenannte  Humanität) 
des  Methodius  zu  Zerwürfnissen  führen.  Dazu  kam  wichtigeres.  Sveto- 
peik war  in  der  Verehrung  des  lateinischen  Ritus  und  Dogmas  aufge- 
wachsen ;  die  griechisch-slavischen  Neuerungen  waren  ihm  unerwünscht ; 
er  scheint  ja  trotz  Method  an  der  lateinischen  Messe  festgehalten  zu 
haben ,  wie  er  auch  Wiching  nicht  fallen  ließ  —  daher  mußte  es  zu 
fortwährenden  Reibungen  mit  Method  kommen;  Svetopeik  konnte  sich 
von  der  Zweckmäßigkeit,  Notwendigkeit,  Heiligkeit  der  slavischen 
Liturgie  und  des  griechischen  Dogma  wie  Ritus  durchaus  nicht  über- 
zeugen. Als  daher  Method  ganz  offenkundig  die  hyiopatorische  Häresie 
verdammte,  gegen  römischen  Fastenbrauch  sich  aussprach,  die  latei- 
nische Liturgie  geringschätzte,  da  war  es  nur  der  Respekt  gegen  den 
greisen  Erzbischof,  gegen  die  Autorität  seines  tadellosen,  heiligen 
Lebenswandels,  seines  rastlosen  Eifers,  die  ihn  hinderte,  gegen  Method 
energisch  vorzugehen.  Aber  Method  verließ  immer  offenkundiger  den 
römischen  Standpunkt;  seine  Reise  nach  Konstantinopel  gab  seinen 
Anklägern  Recht  und  vielleicht  hat  nur  der  baldige  Tod  Methods  Sve- 
topeik verhindert,  nach  dem  rechten  zu  sehen.  An  eine  Bestätigung 
Gorazds  dachte  er  keinen  Augenblick;  er  wartete  nur  noch  eine  kurze 


Cyrillo-Methodiana.  215 

Frist  ab,  um  Rom  (Stephan  V.)  das  entscheidende  Wort  sprechen  zu 
lassen,  und  zog  dann  die  Konsequenzen,  ohne  Übereilung,  die  Rechts- 
normen wahrend  —  sein  Verfahren  ist  einfach  tadellos  gewesen ;  nur 
ein  Grieche  konnte  daran  irgend  etwas  auszusetzen  haben. 

XI.  Wie  man  nicht  müde  wurde,  des  großen  Sv^topeik  —  seine 
Größe  bezeugen  seine  deutschen  Feinde  —  Andenken  Method  zuliebe 
zu  verunglimpfen,  so  übertrieb  man  konsequent  die  Popularität  und 
Bedeutung  der  slavischen  Liturgie  in  Mähren.  Von  dieser  Popularität 
ist  aber  herzlich  wenig  in  den  Quellen  zu  merken,  das  sieht  man  ja 
schon  dem  Berichte  der  fanatischen  Klemensbiographie  an.  Es  regte 
sich  einfach  in  ganz  Mähren  keine  einzige  Hand  zugunsten  der  Gräko- 
slaven;  der  Fürst  ist  abwesend,  und  trotzdem  denkt  niemand  daran, 
ihnen  beizuspringen;  die  fürstlichen  Soldaten  —  unter  ihnen  gab  es 
auch  gegen  Sold  dienende  Deutsche  —  eskortierten  sie  (böse  Zungen 
könnten  behaupten,  um  die  Ketzer  vor  dem  Unwillen  der  Mährer  zu 
schützen)  zur  Donau  und  ließen  sie  bald  laufen  —  auch  jetzt  noch  scheu 
wie  Diebe,  auf  heimlichen  Pfaden  eilen  sie  dem  gelobten  Lande,  ihrem 
Bulgarien,  zu.  Der  prahlerische  Grieche  wagte  es  gar  nicht,  eine  Re- 
gung des  Volkes  zu  ihren  Gunsten  zu  verzeichnen,  von  Wehklagen  über 
ihren  Abzug,  tatkräftiger  Hilfe  u.  dgl.  zu  fabeln.  Und  die  Zahl  dieser 
Gräkoslaven?  Der  prahlerische  Grieche  gibt  sie  auf  200  an,  was  blut- 
wenig ist  nach  über  zwanzigjähriger  Wirksamkeit,  man  vergleiche  doch 
damit  die  kolossalen  Zahlen,  deren  sich  auf  kleinerem  Territorium,  kein 
Erzbischof  dazu,  Klemens  in  Mazedonien  in  ungleich  kürzerer  Zeit 
brüsten  konnte. 

Ich  glaube  nicht  zu  übertreiben,  wenn  ich  behaupte,  daß  Svc^topeJk 
und  alle  Mährer  herzlich  froh  waren,  als  die  Gräkoslaven  das  Land 
verlassen  hatten ;  ja,  sie  wollten  später  an  diese  ganze  Episode  gar 
nicht  erinnert  werden.  So  erkläre  ich  mir  das  absolute  Schweigen  der 
deutschen  Bischöfe  über  diesen  Punkt  in  ihrem  haßerfüllten  Memorial 
an  Johannes  X.  vom  J.  900.  Die  Mährer  haben  sich  offenbar  nur  auf 
Wiching  berufen,  verschwiegen  das  pannonische  Erzbistum  und  den 
Griechen  —  sonst  hätten  doch  die  Deutschen  diesen  Punkt  aufgegriflFen. 
reden  sie  doch  von  Wiching.  Somit  sehwiegen  sich  die  Mährer  wohl- 
weislich darüber  aus;  ja,  wer  weiß,  vielleicht  hat  es  Wiching  durchge- 
setzt, daß  die  Leiche  des  ketzerischen  Erzbischofs  aus  dem  Dome  wie- 
der entfernt  worden  ist.  Nicht  in  Mähren,  nur  in  der  Nachbarschaft, 
zumal  bei  den  Böhmen,   verblieb  das  Andenken  an  den  Schafl'er  der 


216  A.  Brückner, 

slavischen  Liturgie;  wie  dankbar  gedenkt  seiner  der  Przemyslide 
Christian;  Slavniks  Sohn  verhielt  sich  dagegen  ablehnend,  gerade  wie 
der  Mojmiride  selbst.  Über  der  Donau  erst  wuchs  die  Saat,  die  auf  dem 
römiach-mäbrischen  Boden  nicht  recht  keimen  wollte,  üppig  auf  —  der 
Anfang  dazu  wird  schon  bei  Methode  Lebzeiten  gemacht  worden  sein, 
obwohl  seine  Vita  darüber  schweigt  —  wir  wüßten  sonst  nicht,  warum 
die  vertriebenen  Jünger  nur  den  einen  Wunsch,  Bulgarien  zu  er- 
reichen, hatten.  Auf  seinen  Reisen  (nach  Byzanz  etwa)  mag  der  Erz- 
bischof Gelegenheit  gefunden  haben,  Propaganda  für  sein  Werk  zu 
machen.  In  Mähren  wurde  er  vergessen,  in  Rom  gedachte  man 
seiner  nur  als  des  haereticus.  Von  der  Cyrillslegende  mußte  eine 
lateinische  Fassung  —  sie  mutet  uns  an,  trotz  ihrer  Zusätze  in  gratiam 
Romanorum,  als  eine  gekürzte  Übersetzung  aus  der  slavischen  Vita, 
das  ist  vielleicht  das  Probestück  des  ucen  dobr^  v  latinskyj^  knigi,  des 
Gorazd  —  hergestellt  werden,  von  der  Vita  Methodii  war  dies  natürlich 
nicht  mehr  nötig. 

XIL  Bei  der  letzten  These  kann  ich  mich  am  kürzesten  fassen: 
statt  Gründe  gibt  es  hier  nur  Phrasen  zu  bekämpfen.  In  Method 
den  unentwegten,  unbeugsamen,  starrsten  Vertreter  der  Orthodoxie  zu 
erkennen  und  zu  feiern  —  das  ist  selbstverständlich;  Method  eilt  förm- 
lich der  Zeit  voraus,  eskomptiert  schon  das  erst  kommende  Schisma, 
ist  noch  mehr  Photius  als  Photius  selbst.  Aber  was  das  mit  Hus  oder 
Humanität  zu  tun  hätte,  ist  unerfindlich;  mit  demselben  Rechte  könnten 
wir  den  Lehrer  des  Hus,  Meister  Wikleff  oder  Savonarola  und  Doktor 
Luther  als  Metliodianer  bezeichnen.  Methodius  ist  unduldsamer  Askete, 
der  blinden  Gehorsam  forderte,  nirgends  nachgab,  dadurch  sein  eigenes 
Werk  schädigte,  bei  Sv^topetk  und  den  Mährern,  denen  schon  das  eigen- 
sinnige, rechthaberische  Verharren  am  salonischen  Slavisch  nichts  we- 
niger als  gefallen  konnte.  Es  war  dies  ein  urfrommer  Mann,  von  muster- 
haftem, heiligen  Lebenswandel,  aber  solcher  gab  eä  in  Europa  mehr; 
er  brachte  nichts  neues,  bedeutete  keinen  Fortschritt,  denn  daß  er  eigen- 
sinnig darauf  bestand  —  nicht  slavisch  dem  Volke  exponere  evangelia 
et  apostolum,  was  auch  Rom  unbedingt  anpries  — ,  sondern  slavisch  den 
Priester  liturgieren  zulassen,  bedeutete  keinerlei  Fortschritt;  die  Folge- 
zeit hat  ja  gezeigt,  was  die  slavische  Liturgie  den  Slaven  auch  bringen 
sollte:  den  Ausschluß  von  reicheren  Bildungsquellen,  die  geistige  Iso- 
lierung.   Den  böhmischen  Märtyrer  lasse  man  hübsch  aus  dem  Spiele: 


Cyrillo-Methodiana.  217 

er  war  nur  auf  römischem  Boden  möglich,  unmöglich  in  der  geistigen 
Knechtschaft  der  Photius  und  Methodius. 

Um  meine  Darstellung  nicht  übermäßig  anschwellen  zu  lassen, 
habe  ich  manche  Einzelheit  über  den  Weichselfürsten  u.  a.  übergangen. 
So  dürfte  auch  die  Szene  jenes  mährischen  vece,  wo  der  Papstbrief 
(Johannes  VIII.)  verlesen  wurde,  weniger  dramatisch  verlaufen  sein  und 
vor  allem  täuscht  dabei  die  Legende  über  die  Widerstandskraft  der 
Lateiner:  die  mgla,  in  der  sie  zerflossen  sein  sollten,  verdichtete  sich 
ja  umgehends  zur  Wetterwolke,  deren  Strahl  Methods  Werk  zertrümmern 
sollte.  Statt  solcher  und  anderer  Einzelheiten  verweise  ich  noch  kurz 
auf  die  neue  kostbare  Quelle,  die  aus  dem  Schutt  von  anderthalb  Jahr- 
hunderten durch  Dr.  Jos.  Pekar  uns  wieder  neu  erschlossen  ist,  auf  die 
Wenzelslegende  des  Przemysliden  Christian  (Nejstarsi  kronika  ceskä. 
Prag  1903,  zum  Teil  Abdruck  aus  dem  Öasopis  historicky,  202  SS.). 
Obwohl  sie  erst  993  verfaßt  ist,  ist  sie  ein  sehr  interessanter  Widerhall 
der  böhmischen  Vorliebe  für  das  mährische  Werk,  widmet  sie  doch 
diesem  ihre  ersten  Abschnitte.  Christian  hat  die  Methodlegende  nicht 
mehr  gekannt,  wohl  aber  die  des  Cyrill,  d.  h.  ihren  Inhalt,  von  zweiter 
oder  dritter  Hand  her;  es  ist  interessant,  bei  ihm  das  Anwachsen  der 
Sv^topeiksage  zu  konstatieren. 

Methods  Fluch  muß  doch  eine  mächtige  Wirkung  geübt  haben, 
flößte  doch  das  Leben  und  Treiben  des  Erzbischofs  großen  Respekt 
ein;  das  Volk  muß  in  diesem  Fluche  ein  Unglücksomen  gesehen  haben, 
das  man  nur  zu  bald,  in  Mährens  heilloser  Zerstörung  eingetroffen,  er- 
kannte. Später  verschob  sich  das  Objekt:  das  Land  litt,  folglich  mußte 
das  Land  (und  sein  dux  vel  rex)  verflucht  gewesen  sein,  also  wegen  sei- 
ner Sünden;  so  entstand  das  Märchen  von  der  Sündhaftigkeit  des  Svc- 
topeJk,  das  schon  Christian  breit  ausspinnt ;  noch  später  ließ  man  dann 
SvQtopelk  selbst  seine  Sünden  als  Einsiedler  abbüßen.  Irrigerweise  läßt 
Christian  die  Bulgaren  früher  Christen  geworden  ^ein,  als  die  Mährer: 
warum,  ist  leicht  einzusehen  —  weil  der  Grieche  Cyrill  bulgarische 
Sprache  und  Schrift  nach  Mähren  gebracht  hätte.  Die  Angabe  vom 
Augustinus,  unter  dem  (in  römischen  Zeiten)  Mähren  das  Christentum 
angenommen  hätte,  beruht  auf  einer  Verwechslung  der  Markomannen 
mit  den  Mährern,  doch  waren  damals  Legenden  von  zeitiger  Einführung 
des  Christentumes  in  den  verschiedensten  Gegenden  Deutschlands  sehr 
im  Schwange.  Die  Erzählung,  daß  Rostic  Gift  ohne  Schaden  zu  nehmen 
getrunken  hätte,  ist  vielleicht  auch  nur  Reminiszenz  aus  der  Cyrills- 


218  A.Brückner, 

legende.  Als  interessantestes  bleibt  nur  die  ungeheuchelte  Sympathie, 
mit  der  der  Regensburger  Zögling  von  der  slavischen  Liturgie  handelt, 
weil  multe  ex  hoc  anime  Christo  domino  acquiruntur.  Das  Hauptgewicht 
der  Legende  Christians  liegt  freilich  auf  böhmischem,  nicht  auf  mähri- 
schem Boden.  A.  Brüchier. 


Nachtrag.  Vorliegender  Artikel  war  bereits  im  August  1903 
niedergeschrieben.  Seitdem  folgten  von  mir  einige  eben  darauf  bezüg- 
liche Publikationen  in  polnischer  Sprache,  im  »PrzegU)d  Polski «  (Sep- 
teraberheft  1903);  in  den  »Roczniki«  der  Posener  Gelehrten  Gesellschaft 
(Band  XXX :  Legendy  o  Cyrylu  i  Metodym  wobec  prawdy  dziejowej) ;  im 
Feuilleton  des  «Slowo  Polskie«.  Meine  Ausführungen  stießen  überall 
auf  den  schärfsten  und  einmütigsten  Widerspruch ;  Jesuiten  und  Alt- 
ruthenen,  der  Slavische  Klub  in  Krakau  und  Agramer  Zeitungen,  über- 
häuften mich  mit  Schmähungen  und  Verdächtigungen;  in  einem  neuen 
Feuilleton  des  »Slowo  Polskie«  habe  ich  die  vorlautesten  Schwätzer 
etwas  unsanfter  auf  die  Finger  geklopft.  Die  Gegner  beachteten  nämlich 
nicht,  daß  es  mir  nur  um  die  Wahrheit  ging,  daß  mir  aber  völlig  gleich- 
giltig  war,  wo  ich  mit  dieser  Wahrheit  Anstoß  erregen  würde,  in  Rom 
oder  Petersburg,  in  Krakau  oder  Moskau,  in  Prag  oder  Agram.  Ein 
volles  Jahr  ist  seit  meinem  ersten  Auftreten  vergangen;  von  seiner 
Richtigkeit  habe  ich  mich  nur  immer  mehr  überzeugen  können.  Das- 
selbe gewährt  aber  noch  weitere,  interessante  Ausblicke,  und  ich  will 
hier  noch  einiges  andeuten :  mag  es  noch  so  problematisch  oder  phan- 
tastisch erscheinen,  es  bringt  jedenfalls  völlig  neue  Gesichtspunkte 
auch  in  Fragen,  deren  alle  Möglichkeiten  bereits  erschöpft  schienen. 
Z.  B.  in  der  Frage  der  Alphabete. 

Die  unbedingtesten,  überzeugtesten  Verehrer  der  salonischen  Brü- 
der haben  sich  bekanntlich  mit  der  Erfindung  der  Glagolica  durch  Kon- 
stantin-Cyrill  nie  recht  befreunden  können ;  sogar  Prof.  Lamanskij  sagt 
ohneweiteres  (Izvestija  1901,  VI,  4,  317):  »wenn  Cyrill  die  Glagolica 
erfunden  hat  ...  so  hat  er  einen  großen  Fehler  begangen;  unsere  tiefe 
Verehrung  des  lichten,  hellen,  künstlerischen  Geistes  Konstantins  läßt 
nicht  die  Annahme  zu  (daß  er  die  Glagolica  erfunden  hätte)  .  .  .  und  es 
macht  dem  Geiste  und  Geschmack  der  Ostslaven  nur  Ehre,  daß  sie  die 
Glagolica  sich  abgeschüttelt  haben«.  Prof.  Lamanskij  hat  vollständig 
Recht;  dem  Cyrill  selbst  war  die  Glagolica  ebenso  ein  Greuel,  wie  dem 


Nachtrag.  219 

Petersburger  Professor  —  er  wählte  sie,  der  Not  gehorchend,  nicht  dem 
eigenen  Triebe,  gezwungen  und  widerwillig. 

Gewiß  lag  Cyrill  viel  daran,  für  die  Slaven  ein  offenkundig  grie- 
chisches Alphabet,  ohne  die  häßlichen  und  lästigen  Verzerrungen  und 
Verschnörkelungen  der  Glagolica,  zu  schaffen;  er  hat  auch  vielleicht 
das  cyrillische  Alphabet  zuerst  erfunden.  Aber  mit  einem  griechischen 
Alphabet  war  auf  römischem  Boden,  in  Mähren,  nichts  anzufangen:  der 
Verdacht,  daß  man  es  zu  tun  habe  mit  einem  Griechen,  der  die  mähri- 
schen und  andere  Slaven  von  Rom  abspenstig  machen  und  Byzanz  zu- 
führen wolle,  hätte  ja  sofort  die  greifbarste  Gestalt  und  Begründung 
angenommen  und  den  Erfolg  des  Unternehmens  von  vorn  herein  aufs 
höchste  gefährdet.  Für  die  mährische  Mission  erfand  daher  Konstantin 
die  Glagolica  —  damit  man  das  griechische  Alphabet  nicht  erkenne ! 
denn  erkennen  und  verwerfen  war  eins.  Sehr  richtig  bekämpften  daher 
die  lateinischen  Geistlichen  das  Alphabet:  die  Schaffung  dieser  kultur- 
feindlichen, die  Slaven  nur  isolierenden  Künstelei  war  vollkommen 
zwecklos.  Wäre  Konstantin  an  dem  Wohl  der  Mährer  selbst  etwas  ge- 
legen gewesen,  so  hätte  er  in  ihrer  und  nicht  in  der  salonischen 
Sprache  und  in  einem  lateinischen,  nicht  in  einem  griechischen  oder 
verkünstelt-barbarischen  Alphabet  seine  Schriften  für  sie  verfaßt :  aber 
er  verfolgte  eben  ganz  andere  Ziele.  Nicht  um  das  Wohl  und  Wehe 
ging  es  dem  Griechen;  der  Photianer  wollte  einen  tödlichen  Schlag 
gegen  Rom  führen :  diesem  Rom,  dem  man  das  lUyricum  abgenommen 
hatte,  das  sich  jetzt  für  Bulgariens  Gewinnung  rüstete,  sollte  an  seiner 
eigenen  Schwelle,  im  Westen,  das  Wasser  abgegraben  werden;  es  sollte 
um  jeden  Preis  der  mögliche  Anfall  der  Slaven  an  das  verhaßte  Rom 
verhindert  werden.  Zu  diesem  Zwecke  ging  man  zu  den  Slaven  mit 
dem  Köder  der  eigenen,  slavischen,  Schrift  und  Sprache,  aber  die 
Sprache  war  die  vor  den  Toren  von  Byzanz  gesprochene  und  die  Schrift 
trotz  ihres  bizarren  Typus  nach  gj-iechischem  Muster  zugeschnitten  und 
diese  Sprache  und  namentlich  Schrift  sollte  die  endgiltige,  uneiureiß- 
bare  Mauer  bilden,  sollte  die  Slaven  von  dem  verhaßten  Westen  für 
immer  trennen.  War  die  Sache  in  diesem  Sinne  später  einmal  entschie- 
den, waren  die  Slaven  griechische  Anhänger,  so  konnte  die  Glagolica 
auf  dem  jetzt  gesicherten  Terrain  zugunsten  der  rein-griechischen  Schrift 
sogar  wieder  aufgegeben  werden  und  vielleicht  hat  Method  in  diesem 
Sinne  den  Kaiser  und  den  Patriarchen  beruhigt,  wenn  diese  sich  über- 
haupt Skrupel   machten,    worauf  die   Andeutung   des  Biographen   von 


220  A.  Brückner, 

einem  Zürnen  des  griechischen  Kaisers  und  seiner  Besänftigung  zu 
gehen  scheint. 

Die  sonst  ganz  überflüssige  Glagolica  ist  somit  nur  zu  dem  Zwecke 
einer  Täuschung  Roms  erfunden  worden.  Wie  richtig  Cyrill  kombi- 
nierte, bewies  ja  die  Zukunft:  nur  die  lateinischen  Slaven  haben  die 
Glagolica  behalten  und  behalten  müssen,  die  griechischen  haben  sie  als 
überflüssig,  daher  schädlich,  frühe  aufgegeben;  die  lateinischen  durften 
nicht  das  cyrillische  Alphabet  annehmen,  sonst  wären  sie  griechischer 
Velleitäten  überführt  gewesen ;  es  rettete  ihre  besondere  Liturgie  die 
Fremdartigkeit  ihrer  Schrift,  die  man  schließlich  auch  einem  Hierony- 
mus  in  die  Schuhe  schieben  konnte.  Cyrill  und  Method  waren  eher 
selbst  Gegner  der  Glagolica,  die  ihnen  nur  als  Feigenblatt  für  Roms 
Augen  galt ;  betrachteten  sie  nur  als  notgedrungene  Konzession,  oder 
Ausflucht  vor  Rom  und  seinem  Argwohn ;  als  Method  auf  seinem  Sterbe- 
lager jegliche  Beziehungen  zu  Rom  trennte,  kann  er  auch  seine  Schüler 
auf  die  nunmehrige  Überflüssigkeit  der  Glagolica  hingewiesen  haben. 

Man  wird  mir  entgegnen,  diese  Kombination  sei  unmöglich;  da- 
gegen streite,  daß  ja  mindestens  noch  ein  ganzes  Jahrhundert  nach 
Methods  Tode  die  Glagolica  bei  den  griechischen  Slaven  sich  nach- 
weislich erhalten  hat.  Man  vergißt  dabei,  daß  durch  die  dreißigjährige 
Übung  die  Glagolica  bereits  festen  Fuß  gefaßt  hatte;  daß  nicht  alle 
Slaven  bereit  waren,  sich  unbedingt  dem  griechischen  Einfluß  mit  Hän- 
den und  Füßen  auszuliefern;  daß  einige  von  ihnen  sogar  mit  schrift- 
lichen Argumenten  zugunsten  der  nun  einmal  lieb  gewonnenen  Schrift 
gegen  die  griechische  auftraten  —  so  ist  ja  Chrabrs  Schriftchen  zu  ver- 
stehen, wie  ganz  richtig  V.  Pogorelov  (Ivestija  VI,  4,  1901,  S.  340 — 
345)  erkannt  hat:  Chrabr  verteidigt  darin  die  glagolitische  Schrift 
gegen  die  cyrillische  vor  den  Slaven  selbst,  denn  nicht  für  die  Griechen, 
die  der  ganze  Streit  nichts  anging,  die  nichts  davon  verstanden,  war 
seine  Schrift  bestimmt.  Daß  Chrabr  nur  an  das  glagolitische,  nicht  an 
das  cyrillische  Alphabet  (gegen  alle  früheren  Erklärer)  gedacht  hat,  hat 
Pogorelov  treflfend  hervorgehoben. 

Damit  ergeben  sich  nun  weitere  Gesichtspunkte,  z.  B.  für  die  Be- 
urteilung der  Notwendigkeit  oder  auch  nur  Nützlichkeit  des  griechi- 
schen Alphabetes  für  die  Slaven:  ich  brauche  sie  gar  nicht  anzudeuten, 
um  nicht  noch  mehr  Anstoß  und  Widerspruch  zu  erregen ;  ich  versichere 
nur  den  Leser,  daß  je  schärfer  er  das  Urteil  gegen  dieses  Alphabet 
formuliert,  desto  näher  er  an  meine  Auffassung  herankommt. 


Nachtrag.  22 1 

Aber  die  Kreise  lassen  sich  noch  weiter  ziehen.  Für  die  Kirchen- 
geschichte, für  die  Geschichte  des  großen  Schisma,  für  die  Frühe  der 
unvereinbaren  Gegensätze,  ergeben  sich  jetzt  neue  Gesichtspunkte.  Als 
Hergenröther  seinen  Photius  schrieb,  ahnte  er  nicht,  daß  er  die  gi-ava- 
mina  der  Griechen  gegen  die  Römer  schon  aus  der  Vita  Cyrilli  hätte 
bereichern  können ;  nicht  erst  Photius  oder  Cerularius  oder  der  biedere 
Nestor  (S.  70  ed.  Miklosich)  haben  zum  Teil  ganz  unsinnige  Beschuldi- 
gungen gegen  die  Römer  vorgebracht,  Cyrill  ist  ihnen  darin  mit  leuch- 
tendem Beispiel  vorangegangen.  Denn  was  anderes  sind  die  Anklagen 
gegen  die  lateinische  Geistlichkeit  im  XV.  Kap.  der  Vita  Cyrilli  ?  Daß 
sie  von  den  veleglavi  unter  der  Erde  lehre,  ist  ein  genau  ebenso  schö- 
ner Vorwurf,  wie  die  Verehrung  der  »mater'  Erde«  bei  Nestor;  als  mich 
Prof.  Pastrnek  fragte,  was  dies  dreimonatliche  Trinken  aus  Holz  statt 
aus  Glas  bedeute,  suchte  ich  ganz  umsonst  nach  ethnographischen  Pa- 
rallelen: das  ist  ja  nichts  weiter  als  die  Verhöhnung  des  römischen,  so 
außerordentlich  abgestuften  Pönitentialwesens  durch  den  Griechen,  etwa 
wie  Nestor  das  spätere  Indulgentienwesen  verdammte  (»prascajut  ze 
grechy  na  daru,  jeze  jest'  zleje  vsego«).  So  gewinnt  die  mährische 
Episode  eine  ganz  neue  Bedeutung  für  die  Kirchengeschichte  Europas: 
sie  wäre  ein  wohldurchdachter,  trefflich  ausgeführter  Vorstoß  der  grie- 
chischen Kirche  gegen  Rom,  ein  Meisterstück  des  Photius  vielleicht 
eher  als  des  Cyrill,  der  dann  nur  sein  Werkzeug,  Handlanger,  gewesen 
wäre;  Rom  ließ  sich  wirklich  überrumpeln  und  täuschen,  zumal  der 
schwächliche  Johannes  VHI.,  aber  schließlich  wurde  die  impostura  ent- 
deckt und  Sv^topeik  entledigte  sich  der  lästigen  Diener  einer  fremden 
Kirche;  was  nicht  im  Westen,  gelang  ihnen  im  Osten,  und  die  Slaven 
haben  die  Kosten  der  griechisch-römisclien  Rivalität  bis  heute  zu  be- 
streiten. Daß  man  im  Rom  Leos  XHI.  die  Zusammenhänge  völlig  ver- 
kannt hat,  ist  nicht  die  einzige  Täuschung,  der  man  sich  dort  hinge- 
geben hat:  besser  wußte  es  Bischof -Lubienski,  als  er  1644  an  die 
Kardinäle  schrieb :  sunt  iidem  omnino  Graeci  qui  a  saeculis  toties  sedi 
apostolicae  imposuerunt  —  et  Slavis,  würde  ich  hinzufügen. 

Das  ist  meine  Anschauung  von  der  mährischen  Mission,  ihrem 
eigentlichen  Zweck  und  den  sie  begleitenden  Umständen;  daß  ich  den 
diese  Mission  bekämpfenden  lateinischen  Geistlichen  des  IX.  Jahrb., 
ihrer  trij^zycznaja  jeres'  (die  sich  nicht  so  sehr  gegen  die  Sprache,  als 
—  und  mit  vollem  Grunde  —  gegen  die  Schrift,  eine  zwecklose  und 
schädliche  Neuerung,  wandtel  alles  Recht  zuspreche,  Cyrill  und  Method 


222  A.  Brückner, 

jegliches  Recht  abspreche,  ist  ohneweiteres  ersichtlich.  Wie  lange  ich 
diese  den  heutigen  Anschauungen  diametral  entgegengesetzte  Meinung 
allein  vertreten  werde,  ob  und  wann  ich  Billigung  kompetenter  Be- 
urteiler (an  der  grubaja  (^ad'  liegt  mir  gar  nichts)  finden  werde,  wird 
die  Zukunft  lehren. 

Berlin,  18.  VI.  1904.  A.  Brückner. 


Zweiter  Nachtrag.  Meine  Thesen,  vor  zwei  Jahren  niederge- 
schrieben, erfuhren  teilweise  Zurückweisung  in  dem  Studium  des  Kra- 
kauer Historikers,  K.  Potkanski,  Konstantyn  i  Metodyusz,  Krakau 
1905,  145  S.  8".  Die  bisherige  Armut  der  polnischen  Literatur  an  ein- 
schlägigen Werken  erfährt  durch  diese  höchst  umsichtige  und  gewissen- 
hafte, interessant  geschriebene  Arbeit  eine  wesentliche  Bereicherung; 
im  Hauptteile  gibt  der  Verfasser  eine  Art  erschöpfenden  Kommentars 
zu  dem  Bericht  der  »Legenden«  (wir  vermeiden  den  Terminus  »panno- 
nische«  als  einen  nur  irreführenden),  um  im  Schlußteil,  von  S.  120  an, 
zu  allgemeinen  Erörterungen  sich  zu  erheben.  Der  historische  Hinter- 
grund ist  breit  gezeichnet;  einbezogen  sind  die  gleichzeitigen  Konflikte 
des  Papsttums  mit  dem  deutschen  Episkopate ;  die  finanzielle  Abhängig- 
keit der  Päpste  von  deutschen  Bischöfen,  die  auf  die  Entschlüsse  der 
Päpste  so  lähmend  einwirkte ;  die  Tendenzen  der  abendländischen  Kirche, 
die  auf  das  Monopol  des  Latein  wie  auf  das  Filioque  hinzielten ;  sogar 
irische  Verhältnisse  werden  verglichen;  es  ist  dies,  mit  einem  Worte, 
eine  sehr  anregende  und  lesenswerte  Schrift ;  sie  hält  sich  von  jeglicher 
Polemik  fern,  sucht  nur  durch  die  Macht  der  Tatsachen,  wie  sie  sie 
darlegt,  zu  wirken,  erstrebt  die  größte  Objektivität.  Trotzdem  ist  der 
Versuch,  die  herkömmliche  Auffassung  der  Einzelheiten  des  merkwür- 
digen geschichtlichen  Vorganges,  eines  wahren  unicum  in  der  Weltge- 
schichte, zu  rechtfertigen,  völlig  mißlungen  und  meine  Einwände  da- 
gegen bleiben  zu  Recht  bestehen. 

Der  Grundfehler  von  Potkanski  wie  von  der  traditionellen  Dar- 
stellung besteht  darin,  daß  die  Angaben  der  Legenden  nicht  zuvor  auf 
ihre  Möglichkeit  oder  Wahrscheinlichkeit  geprüft,  sondern  als  baare 
Wirklichkeit  genommen  wurden,  zu  der  man  nur  noch  die  Erklärung 
nachzuliefern  hätte.  Sprach  z.  B.  die  Legende  von  einem  »ungarischen 
König«,  so  wurde  nicht  zuerst,  wie  die  einfachste  Kritik  es  erfordern 
würde,  nach  der  bloßen  Möglichkeit  eines  christlichen  ungarischen 
Königs  an  der  Mitteldonau  um  880  gefragt,   sondern  Dümraler  nahm 


Zweiter  Nachtrag.  223 

diese  Unmöglichkeit  unbesehen  hin  und  suchte  nur,  das  unmögliche  und 
unsinnige  irgendwie  möglich  zu  machen.  Oder  gaben  die  Legenden  an, 
daß  Rostislav  Boten  nach  Konstantinopel  in  Glaubenssachen  abgeschickt 
hätte,  so  wurde  wiederum  nicht  nach  der  bloßen  Möglichkeit  eines  sol- 
chen unerhörten  Vorganges  gefragt,  sondern  die  Angabe  wieder  ohne- 
weiteres als  wahr  unterstellt,  und  es  blieb  nur  noch  dem  Historiker  die 
Aufgabe,  eine  plausible  Erklärung  des  unerklärbaren  nachzuliefern, 
wobei  man  dann  ruhig  einem  Manne  des  IX.  Jahrh.  Tendenzen  des 
XIX.  Jahrh.  unterschob.  Und  so  verfuhr  man  auf  Schritt  und  Tritt: 
man  glaubte  ja  den  Legenden  sogar  eine  Versicherung  des  griechischen 
Kaisers,  daß  »die  Saloniker  insgesamt  rein  slavisch  sprechen«,  während 
die  Saloniker,  ohne  erst  auf  Basilius  zu  warten,  eher  selbst  den  Kaiser 
ermordet  hätten,  als  daß  sie  die  Verunglimpfung  ihrer  griechischen  Ge- 
fühle ruhig  hingenommen  hätten.  Doch  wozu  die  Beispiele  häufen,  was 
für  Unmöglichkeiten  in  den  Berichten  der  Legenden  gläubigst  hinge- 
nommen wurden. 

Rostislav  hat  niemals  Boten  nach  Konstantinopel  in  Glaubens- 
sachen hingeschickt.  Strebte  er,  der  noch  keine  politische  Selbständig- 
keit besaß,  schon  nach  einer  kirchlichen,  so  gab  es  für  ihn  nur  einen 
kurzen  und  geraden  Weg,  denselben,  den  Method  S69,  den  Svetopelk  I. 
873,  den  Mojmir  II.  vor  900  gegangen  sind:  über  die  Köpfe  der  Deut- 
schen hinweg  und  trotz  aller  ihrer  Proteste  mußte  er  sich  an  Rom  direkt 
wenden  und  sein  Land  als  ein  Patrimonium  dem  h.  Petrus  zu  Füßen 
legen.  In  Konstantinopel  hätte  er  auch  nicht  die  geringste,  weder 
materielle  noch  moralische,  Hilfe  finden  können ;  Rom  hätte  ihm  wenig- 
stens eine  moralische  gewährt.  Freilich,  besaß  er  keine  politische  Macht 
und  Selbständigkeit,  so  hätte  ihm  auch  Roms  Beistand  nur  wenig  ge- 
nützt; wir  sehen  dies  an  »Pannonien«.  Nichts  half  die  Intervention  des 
Papstes,  noch  seine  angedrohten  Bannsprüche :  die  Deutschen  verlach- 
ten einfach  Johann  VIII.  und  der  panuonische  Erzbischof  durfte  nie 
wieder  nach  870  Pannonien  betreten,  blieb  in  partibus  infidelium,  ein 
bloßer  Titularbischof,  eben  weil  die  Deutschen  Pannonien  als  ihren  Be- 
sitz ansahen  und  keinen  Einspruch  des  Papstes  zuließen.  Methodius 
wurde  von  ihnen  nur  nach  Mähren  fortgelassen,  aber  die  Deutschen 
respektierten  den  archiepiscopus  Maravensium,  nicht  so  sehr  aus  Furcht 
vor  Rom,  als  aus  Furcht  vor  dem  Schwerte  des  Sv(^>topelk.  Als  aber 
dieses  Schwert  wieder  abgestumpft  schien,  reklamierten  sie  sofort  auch 
Mähren  als  ihr  Besitztum  und  richteten  jenes  Schreiben  von  900  an  den 


224  A.  Brückner, 

Papst,  das  man  olineweiteres  als  Gipfel  aller  Frechheit  bezeichnen 
kann;  bezeichneten  sie  doch  vor  dem  Papste  dessen  autoritative  Ver- 
fügungen als  widerrechtlich  und  nur  durch  Bestechung  erschlichen,  die 
sie  nie  anerkennen  würden ! 

Rostisluv  hatte  andere  Sorgen,  drückendere,  näher  liegendere,  als 
die  um  die  Selbständigkeit  seiner  Kirche;  der  Vergleich  mit  dem  Ver- 
li;ilten  des  Boris,  den  F^tkanski  wiederholt,  paßt  auf  ihn  in  keinerlei 
Weise;  Boris  war  Heide,  zudem  ein  mächtiger  Herrscher,  vor  dem 
Konstantinopel  zitterte,  und  als  er  endlich  das  Christentum  annehmen 
sollte,  war  es  nur  zu  natürlich,  daß  er  einen  Augenblick  lang  zwischen 
Kom  und  Byzanz  schwankte;  Rostislav  war  dagegen  deutscher  Vasall 
und  Katholik  bereits  und  hätte  durch  einen  Abfall  nach  dem  fernen  und 
ohnmächtigen  Byzanz  seine  Stellung  den  Deutschen  gegenüber  nur  noch 
verschlechtern  und  schwächen  können.  Aber  wie  war  ein  Abfall  nacli 
Konstantinopel  für  ihn  möglich,  wenn  sogar  die  beiden  Griechen  selbst 
alsbald  die  Notwendigkeit  einsahen,  nach  Rom  zu  gehen !  Dazu  zwang 
sie  schon  die  lateinische  Geistlichkeit  in  Mähren,  die  seit  jeher  im  Lande 
war  und  hier  blieb.  Die  Legende  behauptet  zwar,  die  Mährer  hätten 
diese  Geistlichen  als  Verräter  vertrieben,  aber,  wie  so  oft,  hat  auch 
diesmal  die  Legende  nur  ihren  frommen  Wunsch  für  die  Wahrheit  aus- 
gegeben :  wir  kennen  doch  beim  Namen  lateinische  Geistliche  in  Mähren 
(Johannes,  Wiching)  und  woher  wären  denn  auf  einmal  nach  885  soviel 
lateinische  Geistliche  nach  Mähren  gekommen,  daß  sie  die  Vertreibung 
der  Methodianer  ohneweiteres  durchzusetzen  vermochten  ?  Diese  latei- 
nische Geistlichkeit  verdächtigte  dem  Rostislav,  wie  nachher  dem  Sveto- 
pelk,  die  Griechen  als  Ketzer,  und  wir  können  uns  leicht  denken,  daß 
bereits  Rostislav  die  Griechen  aus  seinem  Lande  herauskomplimentierte: 
sie  mußten  erst  Roms  Autorisierung  beibringen,  ehe  er  ihr  Treiben 
weiter  duldete.  Um  dies  zu  erlangen,  um  den  Vorwurf  der  Ketzerei 
(und  in  diesem  Punkte  war  das  IX.  Jahrh.  sehr  empfindlich)  abzuwehren, 
gingen  die  Brüder  nolens  volens  nach  Rom.  Ihr  Erfolg  in  Mähren  war 
ein  höchst  bescheidener :  die  Freilassung  einiger  hundert  Sklaven,  der 
Unterricht  einiger  Jünglinge.  Erst  Kocel  zeigte  mehr  Interesse  für  die 
slavische  Liturgie  —  er  hatte  freilich  keine  politischen  Sorgen;  aber 
auch  er  verlangte  römische  Billigung. 

Auch  bei  Hadrian  II.  erzielten  die  Brüder  nur  weniges.  Wohl  seg- 
nete der  Papst  ihre  Übersetzung  des  Evangeliums  —  dasselbe  würde  er 
1905  auch  getan  haben,  aber  von  einer  Anerkennung  einer  slavischen 


Zweiter  Nachtrag.  225 

Liturgie  war  keinerlei  Rede  gewesen;  hätte  man  nämlich  in  Rom  S68 
diese  zugestanden  und  schon  873  dieses  Zugeständnis  wieder  ganz  ver- 
gessen, so  hätte  jedenfalls  Method  dem  Paul  von  Ankona  gegenüber  auf 
ein  Zugeständnis  Hadrians  II.  sich  berufen  müssen,  und  Johann  VIII. 
hätte  auch  darauf  einzugehen  gehabt;  suchte  er  in  der  Urkunde  von 
880  nach  allen  möglichen  Gründen,  um  die  Erlaubnis  der  slavischen 
Liturgie  plausibel  zu  machen,  Gründe,  die  ihm  erst  Method  soufflierte 
(z.  B.  das  sicut  in  quibusdam  ecclesiis  fieri  videtur,  verglichen  mit  Vita 
Constant.  Gap.  XVI) ,  so  hätte  er  doch  auch  eine  Erlaubnis  Hadrians 
nicht  unerwähnt  gelassen.  Die  Dürftigkeit  dieser  Erfolge  reizte  nun 
Method  zu  einem  weiteren  Schritte,  zum  Vorschlage  einer  Wieder- 
errichtung des  pannonischen  Erzbistums  durch  Rom.  Mit  Freuden  ging 
man  in  Rom  darauf  ein,  boten  sich  doch  glänzende  Aussichten  für  einen 
Zuwachs  des  Katholizismus,  aber  freilich,  diese  Wiedererrichtung  schloß 
noch  keinerlei  Erlaubnis  zur  slavischen  Liturgie  ein  und  der  Papst  ver- 
bot dieselbe,  als  er  von  ihr  durch  die  Deutschen  erfuhr,  aufs  nachdrück- 
lichste und  zitierte  den  ungehorsamen  Erzbischof,  der  längst  aus  einem 
pannonischem  zu  einem  mährischen  geworden  war,  vor  seinen  Richter- 
stuhl. Erst  880  erlangte  endlich  Method,  wonach  er  bisher  vergebens 
gestrebt  hatte,  den  letzten  und  größten  Erfolg  seines  Lebens,  die  Ge- 
stattung der  slavischen  Liturgie,  ein  unicum,  das  erste  und  letztemal  in 
diesem  Umfang  in  denAnnalen  der  römischen  Kirche;  aber  Johann  VIII. 
nahm  wieder  mit  der  andern  Hand,  was  er  mit  der  einen  gegeben  hatte: 
denn  nicht  nur  verlangte  er  die  lateinischen  Lektionen  bei  der  slavi- 
schen Messe,  sondern  befahl  die  ganze  lateinische  Messe,  falls  sie 
Svctopeik  und  seine  Großen  sich  wünschten.  —  Daß  diese  sie  nun 
wünschten,  war  selbstverständlich,  sonst  hätte  diese  Bestimmung  keinen 
Zweck,  und  wir  kennen  ja  Sv^topelks  Verhalten,  das  identisch  war  mit 
dem  des  Rostislav  —  die  traditionelle  Darstellung  konstruiert  zu  Un- 
recht ein  gegensätzliches  Verhalten  beider  Fürsten  ! ;  es  war  dies  selbst- 
verständlich zu  einer  Zeit,  die  sogar  über  die  Wirksamkeit  eines  Ge- 
betes (geschweige  denn  der  Messe !)  in  einer  anderen  als  der  lateini- 
schen Sprache  zweifelte,  vgl.  Potkanski  a.a.O.  Damit,  mit  dieser  fakul- 
tativen lateinischen  Liturgie,  war  der  konfessionelle  Konflikt  in  Mähren 
in  Permanenz  erklärt:  Method,  um  die  notwendige  kirchliche  Einheit 
zu  wahren,  mußte  gegen  die  lateinische  Liturgie  nach  Kräften  wirken, 
sie  zu  verhindern  trachten;  die  lateinischen  Geistlichen  verwirrten  wie- 
der das  Volk,  indem  sie  auf  die  Unwirksamkeit  der  slavischen  Messe 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVIII.  15 


226  A.  Brückner, 

hinwiesen ;  wenn  ich  meine  Phantasie  nicht  zügeln  würde,  könnte  ich 
sagen,  daii  Wiching,  den  ja  der  mißtrauische  Papst  dem  Method  als 
Aufpasser  zugesellt  hatte,  über  Methods  Befehdung  der  lateinischen 
Messe  nach  Rom  berichtete,  worauf  dann  noch  Johannes  VIII.  selbst  die 
slavische  Liturgie  endgiltig  verboten  und  die  lateinische  für  die  einzig 
berechtigte  erklärt  hätte  (vergl.  die  Angabe  im  Commentatorium  Ste- 
phan V.)  —  aber  das  bleibt  Phantasie,  so  lange  ein  solches  Verbot  nicht 
zu  finden  ist.  Das  autoritative  Einschreiten  Stephan  V.  entschied  endlich 
den  konfessionellen  Streit;  die  Methodianer  mußten  das  Land  verlassen 
—  ohne  das  geringste  Leidwesen  der  Mährer.  Wenn  somit  von  einem 
Sehwanken  Roms  zu  reden  ist,  so  kann  sich  dies  nur  auf  das  Verhalten 
des  nachsichtigen,  zu  Kompromissen  stets  geneigten  Johannes  VIII.  von 
880  beziehen;  dessen  wertvolle  Urkunde  hat  Method  wohl  gehütet,  eine 
Übersetzung  davon  mit  ganz  erheblichen,  willkürlichen  Einschiebungen 
und  Veränderungen  angefertigt  und  die  Urkunde  unter  Hadrians  Auto- 
rität gestellt,  die  sicherer  zu  sein  schien,  als  die  von  Johannes  VIII.,  der 
ja  selbst  ebendieselbe  slavische  Liturgie  schon  einmal  strikte  verboten 
hatte.  Die  Vergleichung  der  echten  päpstlichen  Urkunde  mit  der  slavi- 
schen  Übersetzung,  mit  ihren  Zusätzen  und  Verdrehungen  (z.  B.  wem 
und  wofür  der  Kirchenbann  angedroht  wird),  ihren  Behauptungen  (von 
der  Wendung  auch  nach  Konstantinopel !)  ist  außerordentlich  lehrreich, 
enthüllt  uns  schonungslos  die  graeca  fides. 

Potkanski  geht  auf  das  weitere,  nach  dem  Tode  Methods,  nicht 
mehr  ein;  behandelt  nicht  einmal  das  bairische  Schreiben  von  900.  Er 
läßt  sich  auch  nicht  ein  auf  das  Verhältnis  der  Legenden  zu  einander; 
ich  denke,  daß  Method  die  Vita  Constantini  verfaßte  und  aus  dieser 
Vita  den  lateinischen  Auszug  für  Rom  879  herstellen  ließ;  für  die  Vita 
Methodii  hat  er  seinem  künftigen  Biographen  (Clemens  ?)  eine  Anleitung 
gegeben,  was  etwa  im  Anfange  zu  berücksichtigen  wäre,  welches  Schrei- 
ben des  Papstes  und  wo  einzuschalten,  was  über  andere  Einzelheiten, 
die  weder  Clemens  noch  Gorazd  wissen  konnten,  zu  sagen  wäre,  z.  B. 
über  die  Zusammenkunft  mit  dem  »ungarischen«  König  oder  mit  Kaiser 
Basilius,  oder  über  den  Streit  mit  den  deutschen  Bischöfen  (wo  die 
Worte  »meinen  Method,  der  verschwitzt  ist«  erfunden  sind,  um  die 
Anekdote  von  dem  Philosophen  anknüpfen  zu  können).  So  entstammen 
die  drei  Legenden  einer  einzigen  Quelle  und  stellen  ein  einziges  Zeugnis 
dar  —  ihre  gegenseitigen  Widersprüche  u.  dgl.  erklären  sich  aus  den 
verschiedenen  Zwecken,  die  sie  verfolgen.    So  schweigt  z.  B.  der  latei- 


Zweiter  Nachtrag.  227 

nischeText  wohlweislich  von  der  feierlichen  Anerkennung-  der  slavischen 
Liturgie  in  Rom  durch  Hadrian  II.,  der  slavische  wieder  schweigt  von 
einem  Eindruck  der  chazarischen  Mission  auf  Rostislav  u.  s.  w.  Die 
Eigenart  der  Vita  Constantini,  ihr  Umfang  namentlich  gegentiber  der 
des  Method,  ist  erklärlich  durch  das  Ziel,  das  ihr  Method  setzte:  es 
sollte  nämlich  diese  Vita  nicht  bloß  hagiographischen  Inhaltes  sein;  sie 
sollte  den  einfachen,  literaturlosen  Slaven  eine  Art  Kompendium  der 
Apologetik  sein,  sie  lehren,  wie  man  Einwänden  der  Sarazenen,  Juden 
und  Katholiken  zu  begegnen  habe.  Am  ausführlichsten  wendet  sie  sich 
gegen  die  Juden;  an  den  Katholiken  bekämpft  sie  nur  die  »Dreisprach- 
lerei «  und  die  laxere  Handhabung  der  Ehegebote ;  eine  Ergänzung  dazu 
stellt  der  Anfang  der  Vita  Methodii  dar,  wo  überflüssigerweise  die 
sieben  Kirchenversammlungen  aufgezählt  werden:  was  nach  diesen 
nämlich  in  der  römischen  Kirche  neu  aufkam  (z.  B.  die  Abstammung 
des  h.  Geistes  u.  a),  ist  eo  ipso  null  und  nichtig,  mit  der  heiligen  Ortho- 
doxie unverträglich.  Was  übrigens  die  chazarische  Disputation  betrifft, 
glaube  ich  gar  nicht,  daß  sie  in  Wirklichkeit  stattgefunden  hätte :  Kon- 
stantin wird  vielleicht  gar  nicht  weit  über  die  chazarische  Grenze  ge- 
kommen sein  und  nur  zu  literarischen  Zwecken  ein  Colloquium  mit  den 
Juden  fingiert  haben.  Was  mich  zu  dieser  Annahme  bewog,  ist  der 
Umstand,  daß  der  Aufenthalt  in  Cherson  und  der  Krim  mit  charakte- 
ristischem Detail  ausgestattet  ist,  während  alle  Einzelheiten  von  Land 
und  Leuten  ganz  aufhören,  sowie  sich  Konstantin  in  das  Schiff  setzte, 
das  ihn  angeblich  zu  den  Chazaren  entführte :  der  Disput  vor  den  Cha- 
zaren  gehört  wie  der  Araberdisput,  bloß  der  Literatur  an.  Zwang  doch 
vielleicht  gerade  der  Überfall  der  ungarischen  »Wölfe«  Konstantin,  von 
der  weiteren  Mission  abzustehen. 

Auch  anderes  übergeht  Potkanski  völlig,  z.  B.  das  auffallende 
Totschweigen  der  Salonischen  Brüder  durch  die  griechischen  Quellen, 
was  doch  mit  ihrer  angeblichen  Rolle  in  Byzanz  sich  nicht  leicht  ver- 
einen läßt ;  der  einzige  Grieche,  der  wenigstens  des  Konstantin  gedenkt 
(ich  sehe  natürlich  von  den  Kiemensiegenden  ab),  ist  ja  Mitrophan,  der 
dem  Anastasius  nur  den  Bericht  des  Konstantin  selbst  über  die  Auf- 
findung des  heil.  Klemens  wiederholt,  also  kein  neuer,  unabhängiger 
Zeuge  ist. 

Es  ändern  somit  die  Ausführungen  Potkanski's  nichts  an  meinem 
Beweise,  daß  die  drei  Legenden  eine  höchst  einseitige  und  tendenziöse 
Darstellung  enthalten,  der  man  nie  trauen  darf.    Diese  Legenden  ver- 

15* 


228  A.  I5rückner, 

folgen  nämlich  nicht  nur  hagiographische  Ziele,  d.  h.  übertreiben  die 
Einzelheiten  (gehört  nicht  auch  hierher  die  Angabe  tiber  Methods  Bibel- 
werk ?),  schieben  alles  auf  göttliche  Gnade  und  Erleuchtung,  stellen  die 
Gegner,  mögen  sie  noch  so  berechtigte  Interessen  verfechten,  nur  als 
Werkzeuge  des  Teufels  dar.  Aber  sie  haben  auch  noch  eine  andere 
Tendenz.  Die  beiden,  jeder  Neuerung  aus  dem  Wege  gehenden  Griechen 
empfanden  das  novum  der  slavischen  Liturgie  tief  und  setzten  alles 
daran,  daß  ja  kein  Zweifel  an  der  Orthodoxie  und  Askese  der  Urheber 
dieses  novum  aufkäme;  die  Legenden  leugnen  daher  ständig  jegliche 
persönliche  Initiative  der  Biüder,  belassen  sie  stets  in  der  Zelle  und 
beim  Studium,  und  immer  ist  es  die  Welt,  Kaiser,  Patriarch,  Papst 
U.S.W.,  die  sie  ihrer  Beschaulichkeit  entreißt.  Der  konventionelle  hagio- 
graphische Stil  wie  diese  spezielle  Tendenz  legen  uns  somit  bei  der  Be- 
nutzung der  drei  Legenden  die  größte  Zurückhaltung  auf,  lassen  sie 
auf  keinen  Fall  in  eine  Reihe  mit  Papstbriefen  oder  der  Conversio  Ca- 
rantanorum  treten;  man  erinnere  sich  nur  z.  B.,  wie  die  Vita  Methodii 
die  letzte  Romreise  (879)  und  vor  allem  den  Streit  um  die  Liturgie 
wohlüberlegt  verschwiegen  hat. 

Meine  Ausführungen  treten  dem  genialen  Plane  und  Werke  der 
Griechenbrüder  in  nichts  zu  nahe,  lassen  ihnen  völlige  Gerechtigkeit 
widerfahren  und  entkleiden  sie  nur  von  allerlei  romantischem  Beiwerk. 
Konstantin  und  Method  sind  gewiß  Vertreter  der  geeinten,  universalen 
Kirche,  nur  verstehen  sie  darunter  das  Aufgehen  Roms  in  den  Bahnen 
der  Griechen  und  als  statt  dieses  Aufgehens  nur  noch  eine  Verschärfung 
der  längst  bestehenden,  nicht  erst  durch  Photius  geschaffenen  Gegen- 
sätze eintrat,  ging  die  Spaltung  mitten  durch  das  Slaventum  und  teilte 
dieses  in  zwei  einander  fremde  Welten,  deren  Entfremdung  ebenso 
heute  noch,  wie  vor  einem  Jahrtausend,  besteht. 

Gerne  räume  ich  ein,  daß  meine  Ausführungen  keine  tatsächliche 
Bereicherung  unseres  Wissens  bedeuten,  keinerlei  historische  oder 
philologische  Fakta  beibringen,  daß  ich  denselben  Gegenstand  nur 
anders  beleuchte  und  Schatten  in  die  Lichtflächen  hereinzeichue;  man 
kann  mir  vorwerfen,  daß  ich  nur  einer  subjektiven  Auffassung  das 
Wort  rede,  nur  Gezanken  und  Kasuistik  Vorschub  leiste.  Trotzdem 
glaubte  ich,  nicht  schweigen  zu  dürfen,  meine  Deutung  der  mährischen 
(nicht:  pannonischen)  Legenden  veröffentlichen  zu  müssen,  da  neben 
meiner  subjektiven  Auffassung  oder  gerade  infolge  derselben  die  Inter- 
pretation der  Einzelheiten  selbst  mir  wesentlich  gefördert  erschien :  es 


Cyrillo-Methodiana.  229 

gibt  in  meiner  Beleuchtung  keine  einzige  undeutliche,  auffällige,  rätsel- 
hafte Stelle  in  den  Legenden  mehr.  Mit  mehr  Recht  könnte  man  gegen 
mich  einen  andern  Vorwurf  richten,  daß  ich  nämlich  statt  einer  zu- 
sammenhängenden, systematischen  Darstellung  mit  bloßen  Aphorismen, 
Fragmenten,  Einzelheiten  mich  begnügt  habe.  Aber  einmal  konnte  ich, 
mit  anderem  beschäftigt,  dieser  Frage  nur  ab  und  zu  Aufmerksamkeit 
zuwenden,  und  dann  widerstrebte  mir,  da  ich  keinerlei  neue  Quellen 
gefunden  habe,  die  Breittretung  desselben,  bis  zum  Überdrusse  behan- 
delten Gegenstandes ;  meine  Ausführungen,  mögen  sie  sich  auch  viel- 
fach wiederholen,  zeichnet  wenigstens  eins,  die  Kürze,  aus. 

September  1905.  A.  Brüchier. 

in.  Beiti'äge  zur  Quellenkritik  der  cyrillo-metliodiauisclieu 

Legenden. 

I. 

Zu  den  weiter  unten  dargelegten  Ansichten  bin  ich  auf  einem  Um- 
wege gekommen.  Im  J.  1902  begann  ich  in  den  SanncKH  HayK.  Tob. 
iitfeHH  nieB^ieHKa  die  Publikation  einer  Arbeit  über  den  gesamten  Le- 
gendenkomplex, der  sich  seit  dem  zweiten  Jahrhundert  der  christlichen 
Aera  um  die  durchaus  unhistorische  Person  des  Klemens  Romanus,  des 
dritten  oder  vierten  Papstes  nach  dem  Apostel  Petrus  gerankt  hat. 
Dieses  Thema  führte  mich  natürlich  nach  Chersouesus  Taurica,  wo  das, 
ebenfalls  durchaus  uuhistorische  Martyrium  des  Klemens  in  einer  ver- 
hältnismäßig späten  Zeit  (noch  Gregor  von  Tours  weiß  nichts  von  die- 
sem Ort)  lokalisiert  wurde.  Kategorische,  wenn  auch  nicht  näher 
motivierte  Versicherungen  des  Leo  AUatius  und  seiner  späteren  Nach- 
schreiber (Coteler  u.  A.),  die  bekannte  Legende  über  das  Wunder  des 
heil.  Klemens  mit  einem  Knaben,  welcher  von  seineu  Eltern  im  Grab- 
tempel des  Heiligen  am  Meeresgrunde  zurückgelassen  und  dann  vom 
Wasser  überflutet,  nach  Jahresfrist  bei  der  wunderbaren  Wasserebbe 
lebend  im  Tempel  wiedergefunden  wurde,  stamme  von  einem  Ephraem 
episcopus  Chersonensis,  veranlaßte  mich,  nach  den  Spuren  dieses 
Ephraem  und  weiter  nach  den  Überresten  des  chersonesischen  Schrift- 
tums zu  suchen.  Die  Notiz  des  AUatius  erwies  sich  als  pure  Phantasie, 
da  jener  Ephraem,  welcher  im  IV.  Jahrh.  gelebt  haben  soll,  gar  keine 
historische,  sondern  eine  legeudarische  Persönlichkeit  ist,  einer  der 
»sieben  chersonesischen  Heiligen  und  Märtyrer«,  welcher  dazu  in  Cher- 


230  Iv.  FraLko, 

sonesus  nach  dem  Wortlaut  der  Legende  nie  gewesen  war.  Nun  zeigte 
sich  aber,  daß  wir  in  der  Legende  über  diese  chersonesischen  Heiligen, 
die  sich  in  einem  alten  griechischen  Codex  Mosquensis  erhalten  hat  und 
sehr  nachlässig  in  Bd.  XI  der  3anncKn  OAeccKaro  o6u[.  hct.  u  ApemiocTeH 
veröffentlicht  wurde,  höchst  wahr.scheinlich  ein  Überbleibsel  des  cher- 
sonesischen Schrifttums  vor  uns  haben,  da  sich  diese  Legende  als  ein 
im  Interesse  der  Autokcphalie  der  Chersoneser  Kirche  gegenüber  dem 
Konstantinopeler  Patriarchat  (sie  wird  als  eine  jerusalemitische  Grün- 
dung aus  dem  IV.  Jahrb.  dargestellt)  aus  verschiedenen  Quellen  zu- 
sammengestöppeltes Machwerk  erweist;  Fragmente  davon,  aber  in  einer 
den  Interessen  des  Patriarchats  entsprechenden  Umarbeitung,  haben 
sich  in  den  Konstantinopeler  Menologien  des  XII. — XIII.  Jahrh.  erhalten 
und  sind  auch  in  die  kirchenslavischen  IIpojiorH  hinübergegangen.  Da 
diese  Legende  nicht  älter  ist,  als  das  VI. — VII.  Jahrb.,  so  kann  auch 
die,  einem  ihrer  Helden,  dem  heil.  Ephraem  zugeschriebene  griechische 
Legende  über  das  Wunder  des  heil.  Klemens  mit  dem  Knaben  am 
Meeresgrunde  ')  nicht  älter,  aber  auch  nicht  viel  jünger  sein;  das  älteste 
Zeugnis  über  ihre  Existenz  im  Osten  haben  wir  bei  Klemens  Velickij  in 
seiner  bekannten  IIoxBa.ia  CBÄTOMoy  KjHMeHToy  PnMCKOMoy.  Diese  grie- 
chische Legende,  offenbar  in  Chersouesus  geschrieben,  wäre  ein  zweites 
Überbleibsel  des  chersonesischen  Schrifttums.  Die  Konstatierung,  daß 
ein  solches  Schrifttum  in  Chersonesus  wirklich  existierte  und  daß  sich 
Brocken  davon  teils  in  griechischen  Texten,  teils  in  kirchenslavischen 
Übersetzungen  bis  auf  unsere  Zeit  erhalten  haben  2],  scheint  mir  auch 
für  die  weiteren  Ausführungen  nicht  ohne  Interesse  zu  sein. 

Zu  der  Wiederauffindung  des  Körpers  des  heil.  Klemens  in  Cher- 
sonesus übergehend  '^) ,  stieß  ich  vor  Allem  auf  den  folgenden  kleinen, 
in  einem  Peremysler  Prologus  aus  dem  XVI.  Jahrh.  gefundenen,  in  ge- 


1)  Ihr  Prototyp  ist  übrigens  lateinisch  und  kommt  schon  bei  Gregor 
von  Tours  vor,  selbstverständlich  ohne  Lokalisation  in  Chersonesus. 

2)  Ein  interessanter  Brocken  dieses  Schrifttums,  welcher  nur  in  kirchen- 
slaviscber  Version  auf  uns  gekommen  ist,  scheint  mir  die  in  die  Vita  der 
heil.  »öescpeöpcHHHKu«  Kosmas  und  Damian  eingeschobene  Erzählung  über 
ein  »Trinkerwunder  in  Korsunj«  zu  seiu,  welcher  ich  eine  spezielle  Abhand- 
lung gewidmet  habe  (oanucKU  h.  T.  Im.  lU.Bd.  44). 

3)  Beiläufig  bemerkt,  auch  keine  absolute  Neuigkeit,  da  Körperteile  des 
heiU  Klemens  in  Westeuropa  schon  im  VI.  Jahrh.  bekannt  waren.  Gregor  von 
Tours  erzählt  ein  hübsches  Wunder,  welches  eine  unbekannt  woher  gebrachte 
Kippe  dieses  Heiligen  in  seinen  Tagen  in  Lemovicinum  bewirkt  haben  soll. 


Cyrillo-Methodiana.  231 

druckten  IIpojtorH,  so  viel  ich  weiß,  nicht  vorkommenden  kirchenslavi- 
schen  Text:  Bt».  toh:*;«  A'"*  np'bHCceHif  iiioi|jem  ctto 
KAHMeHkTa   kG   rAC»\'BHHKi    luiwpA    KTv   Kc>p^c;f»H'k.     Bt». 

l^pTßO    MHKO^Opa     SaTBCtpH     C/!V     rJIWp«,     HA'tHif     E'U\?f.     UOl\lli 

CTro  KAHMEHTa  KT».  Kopco^"",  "  0^^"'^"'^''»^  K*^  ^'^  ^'^  CTaro 
cBoero,   taKOJK  nHUiCT.    h  n€^/^^(u  kwk  B£a'MH  FtwpriH  fnm». 

Kopc;?vHCKKI    HA«  KT».  KOCT/ÄHTHH  Ppa^    H    HBßllCTH  RaTpiap^y. 

H  TT»,  nocaa  c  HHru!  bi  KAHpoc  CTKia  Gc^i/Ä.  H  npiHAOiu;^  ßiv 
K'kp'c;^n,   H  TO\r  cKKpaß'me  c/ä  kch  aioAMf?  h;i,c»uj;i^  Ha  Kpaft 

MOp/ft  CT»,  4''*'^^l^l^  H  nlvCH'lUIH,  HOAShMTH  :Kf/\atlllOe  CTkKpOKHUJf. 
H   H6  paCT/l^RH    C/Ä    HIUl    BW^'*-    BaUlEAU'^  ^^^  C/\HHA\  KTvC'k^i.OUj;*» 

BTk   Kopacak.    a   ktv    noa^^HOniH   btiCia   hiui    ck'St   (U  imopA  h 

raKH  CA    HIUI    np'KBOE    VAAßä,    nOTOlUlJKf  H  BCS  IUIOI4JH  cTaro  KaH- 

MfHTa.  H  B'kseLiiiJ«  A  CTIH  noAOH^Hiua  BT».  KOpacAh.  H  npH- 
BC31UE  A  BT»,  rpa^  BT^aoM^ima  bt^  paKS  h  noaojKHUi^^  btv  u,pkbh 
an'ATvT'KH.  MaHEHiiiHM  JKf  airTopVi;?»  luiHwra  Bkiiij;r^  HW^eca: 
ca'kniH  nposp'Sm;!^,  K'kcki  nporHam;^  [ca]  h  ^poiuiiH  h  kat^hTh 

3J\,pAE.H    BKlUi;^    CO    MABKk    lUiaTBaiUlH    CTPO    KaHIUIfHTa  1). 

Diese  kleine  Erzählung  schien  mir  in  mancher  Hinsicht  interessant 
zu  sein.  Zuerst  das  sich  daraus  ergebende  Datum.  Es  ist  ja  offenbar, 
daß  der  unbekannte  Verfasser  das  Ereignis  in  die  Zeit  des  byzantinischen 
Imperators  Nikephor  I.  verlegt,   welcher  802 — Sil  regierte  und  am 


*)  Gedruckt  in  meiner  Sammlung  Anoicpio-u  i  jiörcHaii  3  {yKpaiHCBKHX  py- 
KonaciB,  Bd.  III,  S.  312 — 313.  Ich  finde  diese  Erzählung  soeben  in  einem  an- 
deren kirchenslavischen,  aber  viel  älteren  Prologus  fim  Lemberger  Narodnyj 
Dom,  Handschriftensammlung  des  Domherrn  Petrusevyc  Nr.  69)  und  zwar 
unmittelbar  nach  einer  kurzen  Passio  Clementis,  wo  erzählt  wird,  derselbe 
sei  in  Ancyra  in  die  Stadtmauer  lebendig  vermauert  worden,  wurde  dort  von 
den  Gläubigen  durch  einen  winzigen  Spalt  mit  gekochten  Weizenkörnern 
genährt  (woher  auch  die  Koyria  abgeleitet  wird),  und  sei  erst  nach  seinem 
Tode  aus  der  Vermauerung  hervorgeholt  imd  ins  Meer  geworfen  worden. 
Eine  merkwürdige  Etappe  in  der  Wanderung  der  Klemenslegende  von  Rom, 
resp.  Sardinien  nach  Osten,  verursacht  durch  die  Attraktion  einer  anderen 
Legende  über  den  Klcmens  Ancyranus,  den  »meistgeprügelteu  Märtyrer«  — 
sein  Martyrium  soll  ja  28  Jahre  gedauert  haben.  Siehe  darüber  mein  soeben 
erschienenes  Buch  Cbbhthh  K^iumcht  y  Kopcyiii. 


232  Iv.  Franko, 

26.  Juli  Sil  in  einer  blutigen  Schlacht  mit  den  Bulgaren  fiel.  Als  sein 
Zeitgenosse  wird  der  chersonesische  Bischof  Georgios  genannt.  Nun 
wissen  wir  aber,  daß  ein  chersonesischer  Bischof  Georgios  auch  in  dem 
Cjoßo  iia  irpeiieceiiie  MOineJI  npec;iaßiiaro  K^iHMeiiTH  sowie  in  der  Itali- 
schen Legende  eine  Rolle  spielt;  in  der  Vita  Constantini  wird  der  cher- 
sonesische  Erzbischof  nicht  genannt.  Da  aber,  wie  weiter  dargelegt 
werden  soll,  die  Erzählung  der  Italischen  Legende  von  dem  ("./iobo 
Ha  npeiieceiiie  (richtiger,  von  dessen  griechischem  Original^  abhängig 
ist,  so  erschien  es  mir  ganz  natürlich,  die  obige  Erzählung  mit  dem  In- 
halt des  Cjiobo  zu  vergleichen.  Leider  ist  dieses  Ciobo,  nur  ans  einer 
einzigen  späten  Handschrift  von  Gorskij  im  J.  1856  zuerst  im  Mockbh- 
THHHHx  publiziert  und  dann  18  (»5  im  Pogodinschen  KiipHJUio-MeeoAiea- 
CKiä  CöopHnKt  abgedruckt,  in  einer  ziemlich  wertlosen  Gestalt  auf  uns 
gekommen,  und  die  von  mir  (nach  dem  Fingerzeig  Golubinskijs)  her- 
beigezogene Abschrift  eines  älteren  und  etwas  korrekteren  Textes  (siehe 
3anHCKH  n.  T.  iir.  ILIeB^i.  Bd.  LX,  S.  246 — 256)  hat  bei  weitem  nicht 
einen  tiberall  klaren  und  lesbaren  Text  geliefert.  Soviel  aber  scheint 
mir  aus  meiner  ziemlich  eingehenden  Untersuchung  dieses  Denkmals 
(für  die  Details  verweise  ich  auf  den  oben  zitierten  Band  der  BanHcioi) 
hervorzugehen,  1)  daß  das  Cjiobo  na  npeiieceme  eine  mühsame  und 
mangelhafte  Übersetzung  aus  dem  Griechischen  ist;  2)  daß  wir  darin 
einen  in  Chersonesus  gehaltenen  Sermon,  also  wieder  ein  Stück  cherso- 
nesischen  Schrifttums  vor  uns  haben;  3)  daß  das  C.iobo  und  die  oben 
zitierte  Prologus-Erzählung  von  einem  und  demselben  Ereignis,  von 
einem  und  demselben  Georgios  handeln  und  in  den  Worten  des  Cjiobo 
»naif  >Ke  B'SpHaro  nacTwpA  r«vvprrd  c''Hhkh$opwiuii^  CAaßHWM, 

c          .  , 

Tc»r;i,a  i^pTßiA  ./^oKp-k  h  KpoTKO  npiHMiiia  KopMHAa  rpa^\,CKaa« 

keineswegs  ein  chersonesischer  Proteuon  oder  Strategos  Nikephor,  son- 
dern eben  der  in  der  Prologus-Erzählung  genannte  byzantinische  Impe- 
rator Nikephor  I.  zu  verstehen  ist,  welcher  hier  ausdrücklich  als  i|,pTBie 
npiHMiiia  bezeichnet  wird  (das  Wort  rpa^CKaa  wäre  ein  späteres  An- 
hängsel), während  an  einer  anderen  Stelle  der  chersonesische  Strategos 
ganz  richtig  KroAM»K6U,Tv  KH<ASk  rpa^CKKiH  (op.  cit.  S.  252)  tituliert 
wird ;  4)  daß  die  Prologus-Erzählung  eine  kurze  und  wieder  im  Interesse 
des  Konstantinopolitanischen  Patriarchats  gemachte  Umarbeitung  des 
chersonesischen  Sermo  ist  (siehe  das  kindische  Anhängsel,  Georgios 
habe  das  Werk  nicht  selbst  vollbracht,  sondern  zuerst  den  Segen  des 


Cyrillo-Methodiana.  233 

Patriarchen  dazu  erbeten,  und  dieser  habe  ihm  außer  seinem  Segen 
noch  den  gesamten  Klerus  der  Sophienkirche  nach  Chersonesus  ge- 
schickt, welcher  Klerus  übrigens  in  dem  weiteren  Verlauf  des  Ereig- 
nisses keine  Rolle  spielt).  Ist  dies  richtig,  so  stehen  wir  vor  der  ziem- 
lich interessanten  Tatsache :  in  Chersonesus  gab  es  eine  seit  dem  Anfang 
des  IX.  Jahrh.  populäre  und  schriftlich  fixierte  Tradition  über  die  Auf- 
findung und  Übertragung  des  Körpers  des  heil.  Klemens;  diese  Auf- 
findung wurde  auf  Initiative  eines  uns  dem  Namen  nach  unbekannten 
Priesters  (seinen  vermutlichen  Namen  werden  wir  später  aus  einer  ganz 
unverhofften  Quelle  erfahren)  und  unter  Mitwirkung  des  chersonesischen 
Bischofs  Georgios  bewerkstelligt  und  die  gefundenen  Reliquien  wurden 
in  der  Hauptkirche  der  Stadt  beigesetzt.  Mit  Konstantin  aus  Thessalo- 
nich hatte  die  Sache  gar  nichts  gemein,  da  sie  ja  ein  halbes  Jahrhundert 
vor  seiner  Anwesenheit  in  Chersonesus  geschehen  war. 

Diesen  Schlußfolgeruugen,  welche,  ich  bekenne  es  offen,  an  einem 
sehr  dünnen  Haar,  an  jener  späten,  vielleicht  korrumpierten  Pi'ologus- 
Erzählung  hängen,  stellt  sich  nun  die  Autorität  der  Italischen  Legende 
entgegen,  welche  ausdrücklich  sagt,  Konstantin  sei  derjenige  gewesen, 
welcher  den  chersonesischen  Metropoliten  zur  Auffindung  des  Körpers 
des  heil.  Klemens  bewogen  habe.  Und  wenn  auch  die  Autorität  dieser 
Legende  in  den  letzten  Decennien  des  XIX.  Jahrh.  nach  den  Analysen 
des  Voronov  und  Lavrovskij  nicht  allzu  hoch  angeschlagen  werden 
konnte,  so  erfuhr  die  Sache  seit  der  Entdeckung  des  Prof.  Friedrich  in 
München  eine  jähe  Änderung ;  es  zeigte  sich,  daß  hinter  der  Italischen 
Legende  die  Autorität  eines  Zeitgenossen  des  heil.  Konstantin,  eines 
hochgebildeten  und  hervorragenden  Mannes  steht,  des  Anastasius  Biblio- 
thekarius.  Es  zeigte  sich,  daß  diese  Legende  größtenteils  auf  den  von 
ihm  gesammelten,  resp.  aus  dem  Griechischen  übersetzten  Materialien 
und  auf  seinem  Brief  an  Gauderich  von  Velletri  gegründet  ist.  Und 
trotzdem  wage  ich  zu  behaupten,  daß  diese  Autorität  an  dem  von  mir 
aufgedeckten  fadenscheinigen  Tatbestande  zerschellt. 

Prüfen  wir  nun  die  Italische  Legende  auf  ihre  unmittelbare  Quelle, 
auf  den  Brief  des  Anastasius  hin.  (Ich  zitiere  nach  der  Ausgabe  des  Prof. 
Pastruek).  Kap.  1  lassen  wir  einstweilen  bei  Seite.  Kap.  2 :  Konstantins 
Nachfragen  unter  den  Chersonesern  nach  den  Reliquien  des  Klemens 
und  die  Schilderung  des  trostlosen  Zustandes  der  Gegend.  Die  einzige 
Quelle  dieses  Kapitels  ist  Kap.  2  des  Briefes  des  Anastasius.  Und  was 
sehen  wir  aus  dem  Vergleiche?    In  diesem  Kapitel  des  Briefes  wird 


234  Iv.  Franko, 

eine  Erzähhiug  (storiola)  des  Konstantin  selbst  tiber  Chersonesus  zitiert. 
Von  sich  selbst,  von  seinen  Nachfragen  nach  den  Reliquien  sagt  liier 
Konstantin  kein  Wort;  er  sagt  nur  allgemein,  daß  das  Wunder  des 
marini  recessus  bei  dem  Körper  des  beil.  Klemens  vor  vielen  Jahren 
aufgehört  hat  und  die  Einwohner,  von  Barbareneinfällen  geplagt,  die 
Arche  und  den  Tempel  ganz  vergessen  hatten.  Nichts  mehr !  Was 
macht  daraus  der  Verfasser  der  Ital.  Legende?  Er  beginnt  seine  Er- 
zählung mit  den  Nachforschungen  des  Konstantin,  worüber  er  aus  einer 
anderen,  uns  einstweilen  unbekannten  Quelle  etwas  erfahren  mußte, 
behauptet  dann  schnellfertig,  die  Einwohner  hätten  ihm  keine  Kunde 
geben  können,  weil  sie  «utpote  non  indigenae,  sed  diversis  ex  gentibus 
advenae«  waren  —  ein  purer  Unsinn,  wenn  man  seine  direkte  Quelle, 
die  »storiola«  des  Konstantin  vor  Augen  hat,  wo  ausdrücklich  gesagt 
wird,  daß  in  Chersonesus  von  der  alten  Bevölkerung  nur  der  Bischof 
»cum  non  plurima  plebe  remansisset«  und  daß  diese  griechischen  Ein- 
wohner in  den  Mauern  der  Stadt  nicht  wie  Bürger  in  ihrer  Stadt,  son- 
dern wie  Gefangene  saßen.  Hätte  sich  Konstantin  bei  diesen  seinen 
Landsleuten  erkundigt,  so  hätte  er  von  der  alten  Tradition  doch  etwas 
erfahren  müssen  ;  hat  er  sich  aber  mit  Außerachtlassung  seiner  Lands- 
leute, welche  doch  den  alten  Kern  der  Bevölkerung  bildeten,  nur  an  die 
Fremdlinge  und  Barbaren  gewendet,  so  war  er  mit  Fleiß  an  die  falsche 
Adresse  gegangen.  Die  Quelle  dieses  Unsinns  sowie  der  Erzählung 
über  Konstantins  erfolglose  Nachfragen  haben  wir  in  Kap.  3  des  Briefes 
des  Anastasius  in  der  Erzählung,  welche  Metrophanes  von  Smyrna  für 
ihn  geschrieben  haben  soll.  Anastasius  rekommandiert  uns  diesen  Me- 
trophanes als  einen  »virum  sanctitate  ac  sapientia  darum«,  doch  wer- 
den wir  gut  tun,  unser  Urteil  über  seine  Wahrheitsliebe  erst  nach  der 
Analyse  seines  Zeugnisses  abzugeben.  Dieser  Metrophanes  also,  wel- 
cher zur  Zeit  des  (wahrscheinlich  zweiten)  Patriarchats  des  Photios 
(876 — 886)  einige  Zeit  in  Chersonesus  in  der  Verbannung  lebte,  will 
dort  erfahren  haben,  Konstantin  habe  unter  den  accolae  (also  Nach- 
barn) der  Stadt  Chersonesus  nach  den  Reliquien  des  heil.  Klemens  ge- 
forscht und  nichts  erfahren  können,  was  ganz  richtig  sein  mag,  da  jene 
accolae  wirklich  Ankömmlinge  und  Barbaren  waren.  Der  Verfasser  der 
Legenda  Italica  machte  aus  den  accolae  —  incolae,  und  der  Unsinn 
war  fertig. 

Kap.  IIL     Konstantin   betet  zu  Gott,   animiert  den  Metropoliten 
Georgios  und  noch  mehrere  chersonesische  Bürger  zu  Nachforschungen. 


Cyrillo-Methodiana.  235 

An  einem  bestimmten  Tage  begeben  sie  sich  ans  Meer  und  segeln  zu 
einer  Insel,  in  qua  videlicet  aestimabant  saneti  corpus  Martyris  esse, 
und  nach  einer  Untersuchung  des  Ortes  beginnen  sie  dort  zu  graben. 
Als  Quelle  dieses  Kapitels  diente  zum  Teil  wieder  die  Erzählung  des 
Metrophanes  (Brief  des  Anastasius  Kap.  3),  aber  nur  zum  Teil,  da  in 
dieser  Erzählung  der  Bischof  von  Chersonesus  nicht  genannt  wird  und 
kein  Metropolit  ist,  von  eiuer  Segelpartie  nach  einer  Insel  keine  Rede 
ist,  im  Gegenteil  ganz  ausdrücklich  gesagt  wird,  die  Leute,  durch  die 
Erzählungen  des  Philosophen  ermuntert,  haben  sich  omnes  ad  illa  lit- 
tora  fodienda  geworfen.  Woher  nahm  nun  der  Verfasser  der  Legenda 
Italica  die  abweichenden  Details  ?  Einen  Fingerzeig  gibt  uns  der  Brief 
des  Anastasius  (Kap.  4),  welcher  sagt,  er  besitze  drei  Dokumente,  von 
Konstantin  selbst  verfaßt,  nämlich  einen  Hymnus  auf  den  heil.Klemens, 
den  er  aber  aus  dem  Griechischen  nicht  zu  übersetzen  wagte,  eine  bre- 
vem historiam  und  einen  sermonem  declamatorium,  die  er  beide  über- 
setzte und  seinem  Brief  an  Gauderich  beifügte.  Die  Texte  dieser  beiden 
Übersetzungen  sind  uns  separat  nicht  erhalten  und  wir  können  auf  ihren 
Inhalt  nur  aus  jenen  Details  schließen,  welche  daraus  in  die  It.  Legende 
übergingen  und  in  den  Kap.  2  und  3  des  Briefes  des  Anastasius  nicht 
enthalten  sind.  Solche  Details  sind :  der  Name  des  Metropoliten  von 
Chersonesus  Georgius  (im  Kap.  5  der  Leg.  It.  wird  aus  diesem  Per- 
sonennamen vielleicht  durch  eine  Corruptel  des  dem  Anastasius  vor- 
liegenden griechischen  Textes,  Georgia  oder  Gloria  metropolis  gemacht), 
sowie  der  Name  des  Nicephorus,  welcher  hier  per  nefas  mit  dem  im 
Cjobo  na  npeneceiiie  ohne  Namen  erwähnten  khäsb  rpaACKLin  identifi- 
ziert wird.  Hieher  gehört  weiter  der  ganze  Inhalt  der  Kap.  4  und  5  der 
Ital.  Legende,  also  das  Graben  nach  den  Reliquien,  das  stufenweise 
Auffinden  der  Gebeine,  wobei  zuerst  eine  Rippe,  dann  der  Kopf,  später 
andere  Glieder  und  zuletzt  der  Anker  zum  Vorschein  kommen ;  weiter 
die  feierliche  Rückkehr  in  die  Stadt,  wobei  der  Bischof  die  Büchse  mit 
den  Reliquien  charakteristischerweise  auf  dem  Kopfe  trägt,  das  Ent- 
gegenkommen des  Stadtoberhauptes  mit  dem  Gefolge,  das  Niederlegen 
der  Reliquien  zuerst  in  der  Vorstadtkirche  des  heil.  Sozont  und  dann 
das  Übertragen  in  die  Kirche  des  heil.  Leontius.  Alle  diese  Details 
und  in  derselben  Ordnung  sind  in  dem  Ciobo  iia  npeiiecenie  enthalten, 
dessen  griechisches  Original  wir  somit  ganz  sicher  (natürlich  verschie- 
dene stilistische  Abweichungen  mit  in  den  Kauf  genommen)  mit  dem  von 
Anastasius  erwähnten  Sermo  declamatorius  identifizieren  können.    Für 


236  Iv.  Franko, 

die  brevis  liistoria,  welche  von  der  von  Anastasiud  im  Kap.  1  erwähn- 
ten, von  Konstantin  aelbst  verfaßten  (oder  nur  mündlich  erzählten) 
Storiola,  deren  Inhalt  im  Kap.  2  dos  Briefes  wiedergegeben  ist,  offenbar 
ganz  verschieden  war,  und  welche  wir  uns  als  eine  kurzgefaßte  Synaxar- 
ErzJihlung,  ähnlich  der  aus  dem  Peremysler  Prologus,  vorzustellen 
haben,  bleibt  uns  kein  Detail,  welches  nicht  im  Ciobo  iia  npenecBHie 
enthalten  wäre.  Entweder  wies  sie  wirklich  nichts  Neues  auf,  oder 
wurde  vom  Verfasser  der  Ital.  Legende  einfach  ignoriert. 

Der  Vergleich  der  Ital.  Legende  mit  dem  Briefe  des  Anastasius 
und  dem  Cjiobo  iia  npeiiecenie  führt  mich  noch  zu  einer  Vermutung 
über  die  von  Anastasius  erwähnte,  quasi  von  Konstantin  verfaßte  Hym- 
nologie  ad  laudem  dei  et  beati  Clementis.  Was  Anastasius  von  dieser 
Hymnologie  sagt,  daß  von  ihr  «graecorum  resonant  scholae»,  ist  ein 
oflfenbarer  Humbug:  nirgends  in  dem  griechischen  Schrifttum  ist  eine 
Spur  dieser  Konstantinischen  Hymnologie  geblieben.  Aber  auch  für 
diese  windige  Behauptung  des  Anastasius  finden  wir  eine  Grundlage  im 
Ojobo  Ha  npenecBHie:  dort  wird  ja  eine  Hymnologie  auf  den  heil.  Kle- 
mens  einigemale  zitiert  und  sogar  ihre  Stropheuzahl  (mindestens  16) 
angegeben;  die  Verlnutung  liegt  nahe,  daß  Anastasius  von  dieser 
Hymnologie  auch  nichts  mehr  als  jene  Zitate  im  griechischen  Original 
des  C.iOBO  in  den  Händen  hatte  und  darum  auch  mit  gutem  Fug  auf 
ihre  Übersetzung  verzichtete.  Im  CaoBO  na  npeneceme  wird  einigemale 
ausdrücklich  gesagt,  der  Initiator  der  Aufsuchung  der  Reliquien  sei 
auch  der  Verfasser  des  Sermons.  Daß  Anastasius  diesen  Verfasser  mit 
Konstantin  identifizierte,  wissen  wir  aus  seinem  Brief  an  Gauderich. 
Auf  welcher  Grundlage  tat  er  dies  ?  Daß  er  dies  von  Konstantin  selbst 
nicht  erfahren  hat,  sehen  wir  aus  seinen  eigenen  Worten  in  dem  Briefe 
an  Gauderich,  wo  er  von  Konstantin  sagt,  dieser  praedictus  philosophus 
fugiens  arrogantiae  notam  habe  nie  von  seinem  Anteil  an  der  Auffin- 
dung der  Reliquien  erzählt.  Aus  dem  Kontext  des  Kap.  3  des  Briefes 
scheint  zu  folgen,  daß  Metrophanes  dem  Anastasius  auf  dessen  eifrige 
Nachfragen  den  Konstantin  als  Verfasser  des  Sermo,  der  brevis  historia 
und  des  Hymnus  angegeben  hatte.  Da  aber  Konstantin  der  Verfasser 
des  griechischen  Originals  des  Cjiobo  Ha  npenecsHie  schon  aus  dem 
Grunde  nicht  sein  konnte,  weil  dieser  Sermo  in  Chersonesus  eine  ge- 
raume Zeit  nach  der  Auffindung  der  Reliquien,  vielleicht  an  einem 
Jahrestage  des  Ereignisses  vorgetragen  wurde,  und  Konstantin  in  Cher- 
sonesus doch  nicht  so  lange  verweilte,   so  konnte  er  aus  demselben 


Cyrillo-Methodiana.  237 

Grunde  auch  der  Urheber  der  Auffindung  der  Reliquien  nicht  sein.  Mit 
anderen  Worten,  dank  der  unzweifelhaften  und  bekannten  Tatsache, 
diiß  er  mit  seinem  Bruder  im  J.  868  die  Reliquien  des  heil.  Klemens 
nach  Rom  brachte,  wurde  die  um  ein  halbes  Jahrhundert  ältere  cherso- 
nesische  Lokallegende  auf  ihn  übertragen  und  er  zum  Verfasser  cher- 
sonesischer  Schriftstücke  gemacht.  Metrophanes,  welchen  Anastasius 
während  seines  Aufenthaltes  in  Konstantinopel  nach  Klemens  und  Kon- 
stantin ausfragte,  wußte  ihm  von  dem  Letzteren  nur  seine  persönlichen 
(irrigen)  Kombinationen,  von  dem  Ersteren  aber  nicht  selbstgesehene 
Tatsachen,  sondern  den  Inhalt  und  vielleicht  auch  die  Texte  der  cher- 
sonesi sehen  schriftlichen  Tradition  mitzuteilen.  Das  wäre  die  ganze 
Autorität  dieses  Zeitgenossen  und  Gewährsmannes  der  Ital.  Legende. 

Wie  behandeln  die  pannonischen  Legenden  diese  Details?  Die 
Vita  Methodii  weiß  von  Konstantins  Verweilen  in  Chersonesus,  von  der 
durch  ihn  bewirkten  Auffindung  der  Reliquien  und  sogar  von  ihrer 
Übertragung  nach  Rom  gar  nichts.  Der  chazarischen  Mission  Konstan- 
tins wird  einmal  (Kap.  4)  gedacht,  aber  in  einer  Weise,  welche  sehr  ge- 
eignet ist,  unseren  Verdacht  zu  erwecken.  Am  Schluß  des  Kap.  3  lesen 
wir,  Methodius  habe  sich  in  ein  Kloster  zurückgezogen,  nocTpHr'k  CA 
CBA'tHE  C/iV  ß'K  MpkHHÜ  pHBIJ  H  B'K  nOBHHOYlA  CA  nOKOpCMh. 
ClvBp'KUJaiA  BKCK  HCnAlkHfa.  nilkHHmkCKklH  MHH'K,  A  K'kHHraY'i^ 
npHAEH^a.  4.  üpHKJio^tmoy  me  ca  BpiMBHH  TaKOMoy  h  nocBJia  i^icapb 
no  <i>Hjioco<i>a  öpaxpa  lero  bi.  Kosapu,  ;i:a  noKVTx  n  et  coöomi  na  no- 
moihl;  6iax/ii  6o  xaMo  aciiAOBe  xptcTBHHLCKAMk  Bip&  BejiLMti  xoy- 
jrÄU];e.  oh-l  ata  peKT>,  mko  roTOB^b  lecMb  3a  xptcTtHLCKAim  Bip&  oyM- 
piTH.  H  He  ocioyma  ca,  ho  uibat»  cjioyatH  mko  paö'L  MtHtmio  öpaxpoy 
noBUHoyts.  ca  leivioy;  et  ate  mojhtbohi  a  <i>Hjroeo<t>T>  cjobbcm  npinioace 
H.  H  nocpaMHCTc.    BH;i,'feß'k   JKf  L^'fccapk  h  naTpHapyTi  noyi.BHr'K 

l€rO    ^\OGpT».    Ha    ROH^kH    n;RTK,     K'R.A.HIIIA    H,     JV,A    BHUJ/^    H    CB/ä- 

THAH  ap^HienHCKcyna  Ha  MkCTkHOie  luiliCTC»  u.s.w.  Lesen  wir 
diese  Worte  mit  Weglassung  der  von  uns  in  gewöhnlicher  Schrift  wieder- 
gegebenen Erzählung,  so  sehen  wir,  daß  der  Gedankenfaden  nicht  nur 
nicht  zerrissen,  sondern  geradezu  klarer  wird.  Method,  welcher  bisher 
eine  hohe  weltliche  Stellung  eingenommen  hatte,  tritt  in  ein  Kloster  ein, 
erfüllt  fleißig  die  Ordensregeln,  vertieft  sich  in  die  Lektüre  theologischer 
Bücher.  Der  Kaiser  und  der  Patriarch  sehen  bei  ihm  eine  Neigung 
zum  geistlichen  Stande  und  da  sie  aus  früherer  Zeit  seine  administrative 
Fähigkeit  kennen,  wollen  sie  ihn  zum  Erzbischof  weihen,  worauf  er 


238  Iv.  Franko. 

aber  nicht  eingehen  will.  In  dietien  logischen  Zu.sammenhang  reißt  die 
Notiz  über  die  cLazarische  Mission  Methods  ganz  abrupt  ein.  In  einer 
nicht  näher  bestimmten  Zeit  schickt  der  Kaiser  Method  zu  den  Cha- 
zaren,  damit  er  auf  eine  nicht  näher  bestimmte  Weise  seinem  Bruder 
dem  Philosophen  i)  helfe.  Ans  der  weiteren  Erzählung  sieht  man  gar 
keine  konkrete  Grundlage  für  eine  solche  nachträgliche  Mis-sion.  Die 
Behauptung,  Method  habe  seinem  jüngeren  Bruder  »wie  ein  Sklave  ge- 
dient«, ist  zu  allgemein  und  charakterisiert  schablonenhaft  Method  als 
Mönch,  welcher  das  Gelübde  der  Demut  und  des  Gehorsams  abgelegt 
hat,  läßt  sich  aber  nicht  gut  mit  der  Schilderung  der  Vita  Constantini 
reimen,  wo  ausdrücklich  gesagt  wird,  Constantin  sei  zu  den  Chazaren 
mit  kaiserlicher  Bedienung  und  Gefolge  (skCTHO  h,\h  C'K  u^'kcapk- 
ckoIt^  noMOi|iKi2(\)  geschickt  worden,  habe  also  Sklavendienste  seines 
Bruders  nicht  benötigt.  Die  weiteren  Worte,  daß  zum  Erfolg  der  Mis- 
sion Method  mit  seinen  Gebeten  beigetragen  habe,  zeigen  nur,  daß  der 
Schreiber  dieser  Worte  über  den  Anteil  Methods  an  dieser  Mission  gar 
nichts  Konkretes  zu  sagen  wußte.  Und  überhaupt  ist  der  ganze  logische 
Bau  dieser  Notiz  nichts  weniger  als  glänzend.  Nachdem  der  Verfasser 
über  die  Aussendung  Methods  durch  den  Kaiser  zu  den  Chazaren  er- 
zählt hatte,  erinnert  er  sich  plötzlich,  daß  sein  Leser  über  die  Mission 


1)  In  seiner  lateinischen  Übersetzung  der  Vita  Methodii  gibt  Miklosich 
diese  Stelle  so  wieder:  »accersivit  imperator  philosophum  fratrem  eins,  ut  in 
Kozaros  eum  assumeret  secum  in  auxilium«,  was  aber  unrichtig  ist,  da  nocx^a 
gar  nicht  accersivit  (berief),  sondern  misit  bedeutet,  no  *ii.ioco*a  nicht  einfach 
durch  philoäophum  übersetzt  werden  kann,  sondern  höchstens  ad  philoso- 
phum erfordert,  u  aber  nicht  einfaches  und,  sondern  eum  sei.  Um  den  Wort- 
laut »ut  in  Kozaros  eum  assumeret«  herauszubringen,  setzt  Miklosich  will- 
kürlich ein  Komma  vor  bt,  Kosapia,  wodurch  ein  unnatürlich  gebauter  Satzteil 
herauskommt:  bi  Kosapiä  Aa  noiAxt  i  ci.  coöohi  —  eine  dem  slavischen  Sprach- 
geiste ganz  antipathische  Wendung.  Wenn  man  dem  Texte  keine  Gewalt 
antun  will,  so  wird  man  sehen,  daß  bi>  Kosapti  zu  nocBjra  gehört,  noaxt  aber 
eher  acciperet,  als  assumeret  bedeuten  wird.  Das  heißt,  die  einfache,  naive 
Interpretation  des  Textes  ergibt,  daß  der  Kaiser  Method  erst  dann  nach  Cha- 
zarien  schickte,  als  Konstantin  bereits  dort  war,  also  eigentlich  eine  zweite 
Gesandtschaft  ausrüstete,  eine  Darstellung,  welche  vom  historischen  Stand- 
punkt aus  ganz  in  der  Luft  schwebt,  und  sogar  vom  Standpunkte  der  Vita  Kon- 
stantini, wo  der  friedliche  und  freundliche  Charakter  der  Mission  hervorge- 
hoben wird,  ganz  überflüssig  erscheint.  Dies  soll  aber  noch  ein  Grund  mehr 
sein,  dieses  Einschiebsel  als  unauthentisch,  resp.  als  eine  später  in  den  Text 
eingeschobene  Glosse  zu  betrachten. 


Cyrillo-Methodiana.  239 

Konstantins  und  deren  Zweck  noch  gar  nichts  weiß,  und  erläutert  diese 
kurz  und  ungenau :  dort  waren  Juden,  welche  den  christlichen  Glauben 
sehr  verhöhnten.  Der  Verfasser  grifif  nur  ein,  und  zwar  gar  nicht  das 
wichtigste  Moment  aus  dem  heraus,  was  in  der  Vita  Constautini  gesagt 
ist,  wobei  er  sich  ein  grobes  Mißverständnis  zu  schulden  kommen  ließ, 
denn  wie  konnten  die  Juden  das  Christentum  verhöhnen  in  einem 
Lande,  wo  es  gar  kein  Christentum  gab  und  wo  dergleichen  Verhöhnun- 
gen eine  Predigt  vor  tauben  Ohren  gewesen  wären  ?  und  stellte  die 
ganze  Mission  ganz  falsch  dar,  als  wäre  ihr  einziger  Zweck  gewesen  — 
die  Juden  zu  überdisputieren  und  zu  beschämen.  Das  Wichtigste  — 
die  Bekehrung  der  Chazaren  zum  Christentum  —  erwähnt  der  Verf. 
gar  nicht.  Und  unmittelbar  nach  dieser  Erläuterung  des  Zieles  der 
Mission,  ohne  eine  vorhergehende  Ansprache  des  Kaisers  notiert  zu 
haben,  läßt  der  Verf.  den  Method  die  ganz  unpassenden  Worte  sagen, 
er  sei  bereit  für  den  christlichen  Glauben  zu  sterben,  obwohl  die  Mis- 
sion nach  der  Schilderung  der  Vita  Constautini  ja  einen  ganz  fried- 
lichen, mehr  ehrenvollen  als  gefährlichen  Charakter  hatte.  Offenbar 
sind  diese  Worte  nur  eine  inepte  Reproduktion  der  Worte  Konstantins 
in  der  Vita  Const.,  er  sei  bereit  auf  eine  solche  Mission  zu  Fuß  und 
barfuß  zu  gehen.  Ich  meine  hiermit  bewiesen  zu  haben,  daß  der  An- 
fang des  Kap.  4  der  Vita  Methodii  bis  zu  den  Worten  KH;k,'SK'K  JKe 
H'Jicapk  eine  von  späterer  Hand  gemachte  Interpolation  sei  und  daß 
der  ursprüngliche  Verfasser  dieser  Vita  von  einem  Anteil  Methpds  an 
der  chazarischen  Mission  Konstantins  gar  nichts  gewußt  hat.  Den 
Grund  zur  Interpolation,  und,  man  kann  sagen,  auch  ihren  ganzen  In- 
halt gab  eine  Stelle  im  Kap.  12  der  Vita  Constantini,  wo  gesagt  wird, 
daß  Konstantin  auf  seiner  Rückkehr  von  Chazarien  in  eine  wasserlose 
Wüste  kam,  vom  Durst  gequält  eine  Salzwasserlache  fand  und  pene  Kl^ 
luie*C>^\Kio  KpaTpo\j'  CKOiemioy,  er  möge  ihm  von  diesem  Wasser  rei- 
chen; nachdem  er  davon  geschöpft  hatte,  OKp'STfTa  \x^  Ct\A,\K?i^,  raKO 
H  Mt^voKkH;^,  H  CTOYA*"'^  (Pastmek  195).  Diese  Notiz  war  also  für 
den  Interpolator  ein  Beweis,  daß  Method  zusammen  mit  Konstantin  an 
derChazarenmission  teilnahm,  und  da  er  ihm  Wasser  reichte,  so  machte 
der  Interpolator  sogleich  daraus  den  allgemeinen  Satz :  er  diente  ihm 
wie  ein  Sklave.  Unterdessen  ist  das  ganze  Kap.  12  der  Vita  Constantini 
aus  verschiedenen  legendarischen  Motiven  zusammengeflickt  mit  der 
Tendenz,  aus  Konstantin  einen  Wundertäter  und  Propheten  zu  machen, 
und  die  historische  Bedeutung  dieses  Kapitels  ist  fast  gleich  Null. 


240  Iv.  Franko, 

Sogar  die  (Jberbringung  der  Klemensreliquien  nach  Rom,  dieser 
Glanzpunkt  im  Leben  der  beiden  Brüder,  wird  in  der  Vita  Methodii  gar 
nicht  erwähnt.  Das  Kap.  6  dieser  Vita,  wo  von  der  Komreise  der  Brü- 
der erzählt  wird,  paßt  mit  seinen  Anachronismen  'es  ist  Papst  Nikolaus, 
welcher  die  Brüder  in  Rom  empfängt,  ihr  Werk  belobt  und  ihre  Wider- 
sacher [die  Lateiner]  sogar  verflucht)  und  seinen  Widersprüchen  gegen 
die  Vita  Constantini  (der  Streit  um  die  »trilingue  Häresie«  wird  hier  in 
Rom,  dort  in  Venedig  geführt,  das  Bonmot  HHAaTHHKH  m  TpHwaTvis- 
HHKH,  dort  von  Konstantin  erfunden,  wird  hier  dem  Papst  selbst  in  den 
Mund  gelegt;  dort  weihen  zwei  Bischöfe  die  slavischen  Jünger  zu 
Priestern,  hier  nur  einer  und  dazu  ein  Gegner  der  slavischen  Kirchen- 
sprache) sehr  schlecht  in  den  übrigen  Text  dieses  bündig,  aber  durch- 
gehends  logisch  und  nüchtern  geschriebenen  Denkmals.  Das  Urteil  des 
Prof.  Jagic  (Zur  Entstehungsgeschichte  S.  15),  es  sehe  so  aus,  als  sei 
zwischen  Kap.  5  und  6  etwas  ausgefallen,  möchte  ich  dahin  modifizieren, 
das  Kap.  6  sehe  aus  wie  zusammengeflickte  Fetzen  einer  ausführlicheren 
Erzählung,  wo  an  verschiedenen  Stellen  Phrasen  oder  ganze  Sätze  zu- 
sammengestrichen wurden  und  daraus  ein  grammatisch  zwar  einwand- 
freies, inhaltlich  aber  ganz  haltloses  Ganze  gemacht  wurde.  Wie  es  aus 
der  Hand  des  Originalverfassers  hervorging,  wissen  wir  nicht;  jeden- 
falls sei  konstatiert,  daß  die  uns  erhaltenen  Überreste  keine  Erwähnung 
der  von  beiden  Brüdern  nach  Rom  gebrachten  Reliquien  enthalten  ^), 

Man  wird  einwenden,  dies  sei  dennoch  der  Fall,  da  ja  in  dem  be- 
kannten Papstbriefe  Hadrians,  welcher  im  8.  Kap.  der  Vita  Methodii 
steht,  sich  der  Ausspruch  über  beide  Brüder  findet:  KpOM'S  KaHOHa 

Hf   CKTßOpHCTa    HHM'kCCJKf,    HT^    Kl%.    HAUls.    nßHJ{,<!'CTA   H  CBATa- 

i€ro  KaHluifHTa  M0L|JH  HEc;Ki|Ja  (Pastrnek  228).    Ich  lasse  die  Frage 


1)  Es  sei  hier  gleich  erwähnt,  daß  auch  das  offenbar  in  Bulgarien,  aber 
bald  nach  Methods  Tode  geschriebene  Cjioeo  noxBajitHo  na  naMAii.  crsMa  oy- 
^HiejieMa  cjtoBincKoy  ßs-HRoy  (der  Verfasser  spricht  von  Mähren  und  Panno- 
nien:  b%  sanaÄBHuxi.  cTpaHaxt),  dort  wo  die  Wirksamkeit  der  beiden  Brüder 
ziemlich  ausführlich  charakterisiert  wird  (siehe  die  Moskauer  ^Tenia:  1899, 
Bd.  189,  S.  134),  weder  die  Auffindung  der  Klemensreliquien  in  Chersonesus 
durch  Konstantin,  noch  die  Überführung  derselben  nach  Rom  durch  beide 
Brüder  auch  nur  mit  einem  Worte  gedacht  wird.  Dasselbe  muß  auch  von 
der  dem  Klemens  zugeschriebenen  IToxüajia  ÖJiHceHHaaro  oua  nraero  ii  oy^HTCJiH 
cioBiHCKaro  Kupuj:a  *H.ioco*a  gesagt  werden  (vergl.  Moskauer  '^TeHifl  1895, 
S.  34—38). 


Cyrillo-Methodiana.  241 

tiber  die  Echtheit  oder  Unechtheit  dieses  Briefes  einstweilen  bei  Seite 
und  möchte  nur  hervorheben,  daß  der  Text  dieses  Briefes  ursprünglich 
nicht  zum  Texte  der  Vita  Methodii  gehörte  und  gegenwärtig  darin  als 
eine  Interpolation  späterer  Hand  steht.  Noch  mehr,  der  Verfasser  der 
Vita  Methodii  scheint  mir  einen  Text  des  Hadrianbriefes  vor  sich  ge- 
habt zu  haben,  welcher  von  dem  interpolierten  wesentlich  verschieden 
war  und  dessen  Inhalt  er  kurz  skizzierte.  Ich  bitte  folgende  Worte, 
welche  jetzt  als  Rahmen  des  Kap.  8  der  Vita  Methodii  teils  am  Anfang, 
teils  am  Schluß  desselben  stehen,  in  einem  Zusammenhang  zu  lesen: 
Hoc'KAaB'k  7K.(  Koi^iiAb  KT».  anocTOAHKOV  npocH  A\f«^OAt^ra 
KAa^KtHaiero  oY^HTtAra  Haiufro,  a**  k"  "  »einoY  OT'KnoycTHA'k. 

H  pfMf  anOCTOAMKlk:  »Hf  TfE-t  l€AHHOMO\'  T'kK'KMO,  HTv  H 
BkCbM'h,     CTpaHamik    TIvIUIT».    CAOßÜHkCK'WHM'k    CT^AKR     H    O^MH- 

T6Ak  OTT».  Kora  H  OTTtk  CBATAiero  anocTOAA  IlfTpa,  npkKaierc» 

HaCTOAkHHKa  H  KAKtM(APk>KkU,a  l^lvCapkCTBkK»  HfBeCkCKOy- 
l€MO\|'«-    npHhÄTk  H;«   H  KoU^kAk  Ck  BfAHKOKR  HkCTküR  U.S.W.     Die 

von  mir  in  Anführungszeichen  gefaßten  Sätze  dürften  wenn  nicht  ein 
wort-,  so  doch  gewiß  ein  sinngetreues  Zitat  aus  dem  ursprünglichen 
Hadrianbriefe  sein.  Nach  ihnen  und  vor  dem  npHi^ATTv  steht  gegen- 
wärtig der  interpolierte  Brief  mit  der  kurzen  Einleitungsformel:  h 
HAfikcaB'k  cnHCTOAHiiR  Cki*,  ein  überflüssiges  Anhängsel,  da  doch 
das  die  vorhergehenden  Worte  des  Papstes  einleitende  pfHf  offenbar 
dieselbe  Bedeutung  hat,  da  ja  der  Papst  an  den  entfernten  Kocel  nicht 
wirklich  mündlich  sprechen  konnte.  Meine  Ansicht,  daß  der  ausführ- 
liche Hadrianbrief  in  seiner  gegenwärtigen  Form  zum  ursprünglichen 
Texte  der  Vita  Methodii  nicht  gehört  hat,  sondern  erst  nachträglich 
interpoliert  wurde,  wird  von  der  von  verschiedenen  Forschern  erlangten 
Überzeugung,  er  sei  kein  Authentikum,  sondern  ein  Falsifikat,  nur  be- 
kräftigt, wobei  wir  aber  nicht  gleich  den  Verfasser  der  Vita  Methodii 
als  Fälscher  zu  brandmarken  haben. 

Zur  Vita  Constantini  übergehend  und  uns  an  die  Episode  über  den 
Chersoneser  Aufenhalt  Konstantins  sowie  die  Auffindung  der  Klemens- 
reliquien  wendend,  können  wir  uns  vor  Allem  einer  gewissen  Über- 
raschung nicht  erwehren.  Diese  Episode,  welche  in  der  Ital.  Leg.  so 
ausführlich  behandelt  war,  wird  hier  in  10  Zeilen  abgemacht.  Die  Vita 
beruft  sich  zwar  auf  irgend  ein  geschriebenes  ORp'kTf  Hki€,  wahrschein- 
lich auf  eine  Version  des  Ciobo  na  npeiieeeiiie,  traut  aber  offenbar 
dieser  Relation  nicht  sehr,  da  sie  in  einigen  wichtigen  Einzelheiten  da- 

Archiv  für  slaviscliG  Philologie.    XXVIII.  16 


242  Iv.  Franko, 

von  abweicht.  So  sagt  die  Vita,  entsprechend  der  älteren  Legende  über 
das  Martyrium  des  heil.  Klemens  und  im  Widerspruch  zum  C.tobo  na 
npenecenie  und  zur  Italischen  Legende,  der  heil.  Klemens  liege  im 
Meere  und  Konstantin  hoffe  h  H3HtCTH  hstv  Mopid.  Ebenso  wider- 
spricht die  Vita  Const.  der  Ital.  Leg.  noch  in  einem  Detail :  während 
dort  Konstantin  in  Chersonesus  selbst  nach  den  Reliquien  zu  forschen 
beginnt  und  Niemand  ihm  etwas  davon  sagen  kann,  so  daß  er,  ein 
Fremder,  auf  Grund  der  Bücher  und  Schriften  über  chersonesische 
Heiligtümer  mehr  weiß,  als  die  Chersoneser  selbst,  ein  Umstand,  wel- 
cher den  Verfasser  der  Italischen  Legende  zu  der  absurden  Behauptung 
führte,  diese  Chersoneser  seien  gar  keine  Eingeborene,  sondern  fremde 
Eindringlinge  gewesen,  —  weiß  die  Vita  Constantini  über  diese  Nach- 
forschungen Konstantins  gar  nichts.  Im  Gegenteil,  sie  sagt  ganz  aus- 
drücklich, wenn  auch  ganz  lakonisch,  Konstantin  habe  in  Cherso- 
nesus gehört,  die  Reliquien  seien  da  und  lägen  im  Meere.  Zweifellos 
muß  man  dem  Verfasser  der  Vita  Constantini  mehr  Logik  zuerkennen, 
als  dem  Verf.  der  Leg.  Italica.  Leider  wüßte  dieser  Verf.  auch  nicht 
viel  authentisches  über  dieses  Ereignis  und  hatte  außer  einer  Version 
des  Cjobo  Ha  npeHeceHie  offenbar  auch  keine  andere  Quelle.  Aus  dieser 
Version  nahm  er  aber  auch  nicht  viel:  die  Notiz  davon,  daß  Konstantin 
den  Chersoneser  Erzbischof  und  Klerus  zum  Anteil  an  der  Suche  nach 
Reliquien  beredete,  die  Erwähnung  der  Segelfahrt  zu  einem  näher  nicht 
bestimmten  Orte  und  die  Erwähnung  des  Grabens.  Dabei  erwähnt  der 
Verf.  der  Vita  gar  nicht  den  CAa>KEHai€ro  OTOKa,  wo  die  Reliquien 
angeblich  vergraben  waren,  noch  ihre  teilweise  Auffindung,  noch  den 
Stadtfürsten,  notiert  nicht  den  Namen  des  Bischofs  und  schweigt  von 
den  Festlichkeiten  nach  der  Auffindung  der  Reliquien.  Aus  ausdrück- 
lichen Andeutungen,  die  Reliquien  lägen  im  Meere,  sowie  aus  der  un- 
klaren Wendung :  rdßHUJ^A  C/Ä  CB/ÄT'hi/Ä  MOi|iH  könnte  man  vermuten, 
dem  Verf.  der  Vita  wäre  eine  andere  Version  der  Legende  bekannt,  wo 
die  Wiederauffindung  der  Klemensreliquien  mehr  entsprechend  den  äl- 
teren Legenden  als  eine  wunderbare  Erscheinung,  ohne  irgend  ein 
Graben  dargestellt  war,  wie  wir  es  in  unserer  Prologus-Erzählung 
sehen  i). 

Aus  dem  Gesagten  scheint  mir  noch  eines  zu  folgen:    die  be- 


'    1)  Dieses  Detail  wird  in  der  späteren,  der  sog.  Mährischen  Legende  re- 
produziert. 


Cyrillo-Mothodiana.  243 

treffenden  Absätze  der  Vita  Constantini  sind  unabhängig  von  der  Ital. 
Legende  geschrieben,  wenn  sie  auch  häufig  dieselbe  Quelle  benützen. 
Ich  möchte  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  die  Behauptung  wagen, 
das  Umgekehrte  sei  das  Richtige,  die  Italische  Legende  sei  von  der  Vita 
Const.  durchaus  abhängig.  Angesichts  der  von  deutschen  Gelehrten 
hervorgehobenen  Wichtigkeit  der  Italischen  Legende,  welche  ja  ein 
Produkt  der  unmittelbaren  Zeitgenossen  Konstantins  und  Augenzeugen 
seines  Aufenthalts  in  Rom  sein  soll,  scheint  mir  die  Reihe  der  von  mir 
gemachten  Beobachtungen,  was  man  auch  über  ihre  Richtigkeit  zu  sagen 
haben  wird,  doch  einiger  Aufmerksamkeit  wert  zu  sein. 

Beginnen  wir  gleich  mit  dem  IX.  Kap.  der  Italischen  Legende, 
welche  ja  eben  am  ehesten  alle  Anzeichen  der  Augenzeugenschaft  sein 
sollte,  und  vergleichen  wir  sie  mit  Kap.  XVII  der  Vita  Constantini. 
Sieht  denn  die  Erzählung  der  Italischen  Legende  nicht  aus  wie  ein 
blasser  und  ziemlich  flüchtiger  Auszug  aus  der  Vita  ?  Alle  konkreten 
Tatsachen,  welche  in  diesem  Kap.  IX  erwähnt  werden,  haben  wir  auch 
im  Kap.  XVII  der  Vita  —  mit  Ausnahme  eines  einzigen  Details,  welches 
dazu  phantastisch  ist.  Nur  daß  die  Vita  Const.  solcher  konkreten  und 
zweifellos  authentischen  Details  weit  mehr  hat:  Papst  Hadrian  geht 
den  Reliquien  feierlich  entgegen,  bei  denselben  geschehen  Wunder,  ein 
Kranker  wird  gesund  und  Besessene  werden  von  Dämonen  frei ;  der 
Papst  weiht  die  slavischen  Bücher  in  der  Kirche  der  heil.  Marie,  welche 
Fatni  heißt;  dann  befiehlt  er  zwei  Bischöfen,  Formosus  und  Gauderich, 
slavische  Jünger  zu  weihen;  bei  ihrer  Weihe  wird  die  slavische  Liturgie 
in  verschiedenen  spezifizierten  Kirchen  gesungen;  viele  Römer  und  ein 
Jude  disputieren  mit  Konstantin.  Lauter  Details,  welche  wir  am  ehesten 
von  Gauderich  oder  Anastasius  erwarten  dürften  und  welche  beweisen, 
daß  der  Verf.  dieses  Kap.  der  Vita  Const.  entweder  selbst  Zeuge  der 
Ereignisse  war,  oder  aus  einer  ihnen  sehr  nahen  Quelle  schöpfte.  Da- 
gegen macht  das  Kap.  IX  der  Italischen  Legende  entschieden  den  Ein- 
druck eines  Auszuges,  und  das  einzige  Selbständige,  was  es  bringt, 
nämlich,  daß  Konstantin  auch  zum  Bischof  in  Rom  geweiht  wurde,  ist 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  falsch;  weder  Anastasius  noch  Gauderich 
konnte  dies  geschrieben  haben. 

Ebenso  gering  ist  der  historische  Wert  aller  anderen  Zusätze  des 
Verfassers  der  Ital.  Legende,  besonders  in  der  ersten  Hälfte  des  Kap.I. 
Aus  dem  Briefe  des  Anastasius  wußte  der  Verfasser  dieses  Kapitels, 
daß  Konstantin  in  Saloniki  geboren  und  Philosoph  genannt  wurde ; 

IG* 


244 


Iv.  Franko, 


daran  knüpft  er  aus  Eigenem  zwei  Einzelheiten,  welche  beide  unrichtig 
sind:  1)  er  wurde  Philosoph  genannt  Jjob  mirabile  ingenium'f,  während 
es  ein  offizieller  Titel  Konstantins  als  Lehrer  an  der  hohen  Schule  in 
Konstantinopel  war,  und  2)  er  wurde  schon  als  erwachsener  Jüngling 
(cum  adolevisset)  von  seinen  Eltern  nach  Konstantinopel  gebracht,  wäh- 
rend er  nach  der  Vita  Const.  seinen  Vater  vor  dem  siebenten  Lebens- 
jahre verliert  und  im  Alter  von  14  Jahren  von  einem  Logotheten  nach 
Konstantinopel  berufen  wird.  Die  Ital.  Legende  ist  hier  wirklich  unab- 
hängig von  der  slavischen  Vita,  doch  verdient  die  Vita  entschieden 
mehr  Glauben. 

Woher  nahm  aber  der  Verf.  der  Italischen  Legende  den  zweiten 
Teil  des  L  Kapitels?  Prof,  Friedrich  erklärt  das  ganze  L  sowie  die 
von  ihm  weggelassenen  Kap.  X — XII  als  spätere  Anhängsel  an  die  ur- 
sprüngliche Schrift  Gauderichs.  Götz  verteidigt  die  Authentie  des 
Kap.  I,  nach  meiner  Meinung  erfolgreich,  aber  wie  bei  Kap.  IX,  so 
stellte  er  sich  anch  hier  nicht  die  Frage,  woher  denn  der  Verf.  der  Ital. 
Legende  jene  Details  genommen  hat,  die  ihm  Anastasius  nicht  lieferte? 
Gewiß,  das  Einfachste  wäre  zu  denken,  er  habe  ja  als  Zeitgenosse  und 
persönlicher  Bekannter  der  Slavenlehrer  von  ihnen  selbst  oder  von  ihrer 
Umgebung  diese  Einzelheiten  erfahren.  Leider  steht  einer  solchen  An- 
nahme die  Tatsache  entgegen,  daß  aus  Konstantins  Erzählung  in  der 
Ital.  Legende  nur  dies  verwertet  ist,  was  in  dem  Briefe  des  Anastasius 
vorkommt;  wo  aber  der  Verf.  von  jenen  Spuren  abweicht,  schreibt  er 
lauter  leere  Phrasen  oder  Irrtümer,  —  und  zweitens  die  Tatsache,  daß 
manche  von  diesen  Zusätzen  nur  zu  sehr  ihre  Abhängigkeit  von  einer 
literarischen  Quelle,  und  zwar  von  der  slav.  Vita  Const.  verraten.  Wir 
sahen  dies  bereits  beim  Kap.  IX,  sehen  es  auch  hier  bei  der  zweiten 
Hälfte  des  ersten  Kapitels.  In  dem  Briefe  des  Anastasius  oder  eigent- 
lich in  der  dort  reproduzierten  Erzählung  des  Metrophanes  wurde  von 
der  Gesandtschaft  der  Chazaren  an  Kaiser  Michael  nichts  gesagt.  Nun 
bitte  ich  die  Erzählung  der  Italischen  Legende  mit  der  ersten  Hälfte  des 
Kap.  VIII  der  Vita  Constantini  zu  vergleichen  —  ich  gebe  hier  beide 
Texte  lateinisch,  damit  die  Ähnlichkeiten  desto  besser  sichtbar  werden : 


Italische  Legende. 
Tunc   temporis    ad   praefatum 
imperatorem  Cazarorum  legati  ve- 
nerunt,  orantes  ac  supplicantes,  ut 


Vita  Constantini. 
Venerunt  autem  legati  ad  im- 
peratorem a  Kozaris  dicentes:    A 
principio  unum  Deum  agnoscimus, 


Cyrillo-Methodiana. 


245 


dignaretur  mittere  ad  illos  aliquem 
eruditum  virum,  qui  eos  fidem 
catholicam  edoceret ;  adjicientes 
inter  cetera,  quoniam  nunc  Judaei 
ad  fidem  suam,  modo  Saraceni  ad 
suam  nos  e  contrario  moliuntur. 
Verum  nos  ignorantes,  ad  quos  po- 
tissimum  nos  transferamus,  prop- 
terea  a  summo  et  catholico  Impera- 
tore  consilium  quaerere  nostrae 
fidei  ac  salutis  decrevimus,  in  fide 
vestra  ac  veteri  amicitia  plurimum 
confidentes.  Tunc  Imperator  simul 
cum  Patriarclia  consilio  habito, 
praefatum  pMlosophum  advocans 
simul  cum  legatis  illorum  ac  suis 
honorificentissime  transmisit  illuc, 
optime  confidens  de  prudentia  et 
eloquentia  ejus. 


qui  est  super  omnia,  et  eum  vene- 
ramur  ad  orientem,  et  mores  nos- 
tros  alios  turpes  tenentes.  Hebraei 
vero  suadent  nobis,  ut  fidem  eorum 
et  actiouem  accipiamus;  Saraceni 
autem  in  aliam  partem,  pacem 
oflferentes  et  munera  multa,  trabunt 
nos  ad  suam  fidem  dicentes:  Nostra 
fides  est  melior  (fide)  omnium  gen- 
tium. Ideo  mittimus  ad  vos,  vete- 
rem  amicitiam  et  fidem  servantes. 
Gens  enim  magna  cum  sitis,  impe- 
rium  a  deo  tenetis,  et  vestrum  con- 
silium exquirentes  petimus  virum  in 
literis  eruditum  a  vobis,  ut  si  refu- 
taverit  Hebraeos  et  Saracenos,  ve- 
stram  fidem  sequamur.  Tunc  quae- 
sivit  Imperator  pbilosopbum,  et 
postquam  invenit,  communicavit  ei 
Kozarorum  orationem  u.s.w. 


Wenn  Dr.  Götz  die  Originalität  und  Authentie  des  I.  Kap.  der 
Ital.  Leg.  verteidigend  schreibt:  »denn  gerade  darin,  daß  diese  biogra- 
phischen Notizen  kurz  sind,  nur  Tatsächliches  bringen  und  sich  dadurch 
eben  von  der  Vita  Constantini  unterscheiden  i),  liegt  eine  Gewähr,  daß 


1)  Wie  gründlich  das  Urteil  über  die  Kürze  und  Knappheit  der  Dar- 
stelhmg  der  Ital.  Leg.  im  Vergleich  mit  der  Vita  Const.  ist,  möge  die  folgende 
Beobachtung  zeigen.  Im  zweiten  Teil  des  Kap.  I  der  Ital.  Leg.  werden  in 
99  Worten  folgende  logische  Tatsachen  dargestellt:  1)  Ankunft  der  Legaten, 
2)  ihre  Bitte  um  einen  Lehrer,  3)  ihre  Darstellung  der  religiösen  Wirren  in 
Chazarien,  4)  der  Entschluß  der  Chazaren,  sich  auf  den  byz.  Kaiser  zu  ver- 
lassen, 5)  Beratung  des  Kaisers  mit  dem  Patriarchen,  6)  Berufung  des  Philo- 
sophen, 7)  seine  Aussendung,  8)  des  Kaisers  Zuversicht,  also  durchschnittlich 
12  Worte  für  eine  (logische)  Tatsache.  Dagegen  gibt  der  slavische  Text  der 
ersten  Hälfte  der  Vita  Const.  (bis  zu  den  Worten:  aöBie  ace  hath  ca  iatt.)  in 
196  Worten  folgende  logische  Tatsachen:  1)  Ankunft  der  Legaten,  2)  ihre 
Aussprache,  3)  Schilderung  ihres  Volksglaubens,  und  zwar  a)  Monotheismus, 
b)  Anbetung  gegen  Osten,  c)  ekle  Sitten;  4)  religiöse  Wirren,  worunter  a)  die 
Saracenen  verlocken  die  Chazaren  zu  ihrem  Glauben  u.  s.  durch  Geschenke 
und  b)  sie  halten  ihren  Glauben  für  den  besten;  5)  die  Gesandtschaft  der 


246  Iv.  Franko, 

sie  wohl  von  Gauderich  selbst  stammen  können«  (Slavenapostel  28),  so 
muß  man  doch  fragen:  gibt  der  Verf.  der  Ital.  Legende  mehr  Tatsachen, 
als  die  VitaConst.  ?  sind  diese  von  ihm  kürzer  gegebenen  Tatsachen  auch 
richtig  gegeben  oder  nicht  ?  und  schließlich  sind  sie  in  einer  von  der  Vita 
Const.  unabhängigen  Form  gegeben  ?  Untersuchen  wir  nun  in  Hinsicht 
auf  diese  Fragen  beide  Parallelstellen.  In  der  VitaConst.  charakterisieren 
die  chazarischen  Gesandten  vorerst  ihren  Glauben  und  geben  zu  erkennen, 
daß  er  ihnen  nicht  ausreicht.  Sie  kommen  zum  griech.  Kaiser  mit  der  Bitte, 
ihnen  einen  weisen  Mann  zu  geben,  welcher  ihnen  zeigen  soll,  welcher 
von  den  beiden  Glauben,  der  hebräische  oder  saracenische,  besser  ist, 
und  sind  eventuell  bereit,  auch  den  dritten,  den  griechischen,  anzuneh- 
men, wenn  er  sich  noch  besser  erweisen  sollte.  Sie  bitten  die  Griechen 
um  Rat,  weil  ihnen  die  Größe  ihres  Imperiums  imponiert  und  weil  sie 
sich  dazu  auch  durch  die  alte  Freundschaft  vex'pflichtet  glauben.  Dies 
ist  eine  wirklich  logische  Ansprache,  gehalten  im  Geiste  der  Männer, 
welche  sich  in  ihrem  kleinen  Reiche  dennoch  selbständig  fühlen  und 
noch  auf  keiner  Seite  engagiert  sind.  Und  was  sehen  wir  in  der  Ital. 
Legende?  Die  chazarischen  Gesandten  kommen  mit  einer  untertänigen 
Bitte  (orantes  et  supplicantes) ;  sie  haben  schon  im  voraus  beschlossen, 
den  katholischen  Glauben  anzunehmen,  und  bitten  nur  um  einen  Lehrer; 
sie  kommen  zum  griechischen  Kaiser  als  zum  höchsten  und  katholischen 
Machthaber  und  anerkennen  eo  ipso  seine  Oberherrschaft;  die  Dispu- 
tation mit  den  Juden  und  Saracenen  ist  eigentlich  nur  eine  eitle  For- 
malität, denn  die  Chazaren  haben  bereits  beschlossen,  im  griechischen 
Glauben  ihr  Heil  zu  suchen.  Wir  sehen,  mit  etwas  kürzeren  Worten 
vermochte  der  Verf.  der  Italischen  Legende  die  Ansprache  der  Legaten 
ganz  falsch  wiederzugeben  und  ihre  Gesandtschaft  in  einem  ganz 
unmöglichen  Lichte  darzustellen.  Und  man  sage  doch  nicht,  der  Verf. 
der  Ital.  Legende  habe  sich  auf  irgend  welche  abweichende  Relationen 

Chazaren  mit  alter  Freundschaft  begründet,  sowie  dadurch  6)  daß  den  By- 
zantinern ihr  Gott  ein  großes  Reich  gegeben  hat,  folglich  ein  großer  Gott 
sein  muß ;  7)  Bitte  um  einen  Polemisten,  8)  Versprechen  den  sieghaften  Glau- 
ben anzunehmen;  9)  der  Kaiser  sucht  den  Philosophen,  10)  legt  ihm  das  An- 
liegen der  Chazaren  dar,  11)  ermuntert  ihn  dorthin  zu  gehen,  12)  meint,  Nie- 
mand sonst  könne  dies  besser  tun;  13)  Antwort  des  Philosophen,  14)  er  ist 
bereit  zu  Fuß  und  barfuß  zu  gehen,  15)  Replik  des  Kaisers,  16)  die  Gesandt- 
schaft soll  mit  kaiserlichem  Gefolge  gehen.  Also  gerade  zweimal  so  viel 
Tatsachen  mit  fast  derselben  (genau  bei  der  It.  Leg.  12*375,  hier  12-5)  Durch- 
schnittszahl der  Worte  für  eine  Tatsache. 


Cyrillo-Methodiana.  247 

über  diese  historische  Tatsache  gestützt.  Die  Tatsache  der  chazarischeu 
Gesandtschaft  vom  J.  851  ist  in  der  in  beiden  Legenden  überlieferten 
Form  durchaus  unhistorisch.  Bitte  mich  nicht  zu  mißverstehen, 
ich  meine  die  überlieferte  Erzählungsform  und  nicht  den  möglichen 
historischen  Kern.  Chazarische  Gesandte  konnten  wirklich  im  J.  851 
in  Konstantinopel  anwesend  sein,  aber  das,  was  beide  Legenden  ihnen 
in  den  Mund  legen,  haben  sie  gewiß  nicht  gesprochen.  Wir  haben  hier 
mit  keiner  historischen  Tatsache,  sondern  mit  einem  durchaus  literari- 
schen Erzeugnis,  mit  einer  wandernden  Legende  zu  tun.  Orienta- 
lische Literaturen  aus  dem  VIII. — X.  Jahrb.,  jener  Zeit  der  großen 
religiösen  Krise,  weisen  eine  Anzahl  ähnlicher  Legenden  auf;  die  spä- 
teste und  meistbekannte  dürfte  die  über  den  Kijever  Fürsten  Vladimir 
den  Gr.  sein  ^).  Es  ist  sehr  wenig  wahrscheinlich,  daß  hier  beide  Verf. 
unabhängig  von  einander  eine  allgemein  bekannte  historische  Tatsache 
erzählten;  eine  literarische  Anleihe  zugegeben,  besteht  m.  E.  kein 
Zweifel  darüber,  daß  der  Verf.  der  Ital.  Leg.  die  Relation  der  Vita  vor 
Augen  hatte  und  dieselbe  nach  gutem  journalistischen  Brauch  »gekürzt 
und  verschönt«,  d.  h.  verhunzt  hat.  Das  Umgekehrte  ist  ja  ganz  un- 
zulässig 2). 

Im  Kap.  II  der  Ital.  Legende  schöpft  der  Verf.,  wie  wir  gesehen 
haben,  aus  dem  Briefe  des  Anastasius  und  der  darin  eingeschalteten 
Erzählung  des  Metrophanes.  Bitte  aber  ein  Detail  zu  merken.  Metro- 
phanes  sagt,  die  Entdeckung  der  Klemensreliquien  sei  nicht  mit  einem 
Schlag  geschehen,  sondern  indem  Konstantin  Cersonam,  quae  Chaza- 
rorum  terrae  vicina  est,  pergens  ac  rediens  frequentaret.  Ob  dies  ein 
Echo  wirklicher  Tradition,  oder  eine  persönliche  Kombination  des  Me- 
trophanes ist,  jedenfalls  ist  die  Kombination  in  Anbetracht  der  vielen 
Nachforschungen  Konstantins  logisch  gedacht  und  verrät  auch  einige 
Lokalkenntnis.  In  der  Ital.  Legende  wird  diese  logische  Spur  verlassen 
und  die  Entdeckung  der  Reliquien  vor  die  Reise  nach  Chazarien  ge- 
setzt. Warum  ?  Ich  sehe  keine  andere  Ursache  als  die,  daß  der  Verf. 
eine  andere  geschriebene  Relation  vor  sich  hatte,  der  er  nicht  zu  wider- 


1)  Darüber  sowie  über  einige  orientalische  Parallelen  siehe  M.Hrusev- 
skij,  Geschichte  der  Ukraine,  Bd.  I,  deutsche  Ausgabe,  S.  629 — 630. 

2)  Noch  ein  kleines  Detail  möge  angemerkt  werden:  die  Bitte  der  Le- 
gaten referierend  sagt  die  Ital.  Leg.:  adjicientes  inter  cetera  —  ein  untrüg- 
liches Zeichen,  daß  der  Verf.  eine  ausführlichere  literarische  Vorlage  vor 
Augen  hatte. 


248  Iv.  Franko, 

sprechen  wagte,  und  welche  die  Sache  geradeso  darstellte.  Und  eine 
solche  Relation  haben  wir  eben  in  Kap.  VIII  der  Vita  Const. 

Die  Vevgleichung  der  beiden  Kelationen  über  den  Chersoneser 
Aufenthalt  Konstantins  ist  auch  sonst  lehrreich  für  das  Verhältnis  bei- 
der Quellen  zu  einander.  Der  längere  Aufenthalt  Konstantins  in  Cher- 
sonesus  wird  in  der  Vita  Const.  ziemlich  ausführlich  und  den  historischen 
Umständen  entsprechend  motiviert.  Wir  lesen  da  gleich  von  zwei  Über- 
fällen auf  Chersonesus  —  von  Chazaren  und  Ungarn,  welche  Konstantin 
und  das  byzantinische  Gefolge  von  Chersonesus  abwenden  mußte.  Die 
Wege  waren  also  unsicher  und  die  Gesandtschaft  mußte  in  der  befestig- 
ten Stadt  so  lange  sitzen,  bis  sich  die  Gegend  beruhigt  hatte.  Diese 
Zwangslage  benützte  Konstantin  für  Sprachstudien:  soll  er  inChazarien 
mit  Juden  disputieren,  so  vertieft  er  sich  vor  Allem  in  die  Lektüre  jüdi- 
scher Bücher,  wobei  sich  ihm  eine  Gelegenheit  darbietet,  sich  auch  mit 
dem  samaritanischen ,  bekanntlieh  vom  Aramäischen  nicht  allzu  ent- 
fernten Dialekt  bekannt  zu  machen.  Hier  erscheint  ihm  eine  Gelegen- 
heit, auch  die  »russische«  (Manche  wollen  —  gotische)  Schrift  und 
Sprache  kennen  zu  lernen.  Ohne  uns  in  die  Frage  einzulassen,  wie  viel 
historischen  Kern  diese  Details  enthalten,  müssen  wir  doch  sagen,  daß 
sie  sehr  entsprechend  gewählt  sind  zur  Charakteristik  des  lebhaften 
Naturells  und  der  Rastlosigkeit  Konstantins,  sowie  sie  auch  die  viel- 
stämmige und  vielsprachige  Bevölkerung  einer  solchen  Grenzstadt  wie 
Chersonesus  sehr  gut  charakterisieren.  Aus  diesem  ganzen  lebensvollen 
und  farbensatten  Bild  ist  in  der  Ital.  Leg.  nichts  geblieben ;  als  einziges 
Motiv  des  längeren  Aufenthalts  Konstantins  in  Chersonesus  erscheint 
der  Wunsch,  die  chazarische  Sprache  zu  erlernen.  Wie  gegenstandslos 
dieses  Motiv  ist,  sehen  wir  erst,  wenn  wir  bedenken,  daß  Konstantin 
am  Hofe  des  chazarischen  Kagans  mit  Juden  und  Saracenen  jedenfalls 
nicht  in  barbarischer  chazarischer  Sprache,  sondern  wahrscheinlich 
griechisch  disputierte,  welches  ja  damals  in  ganz  Vorderasien  die  Sprache 
der  Diplomatie  und  der  Gelehrten  und  gewiss  auch  für  chazarische 
Machthaber  verständlieh  war. 

Selbstverständlich  ist  die  Sicherheit  des  Anastasius  und  des  Verf. 
der  Ital.  Legende,  und  nach  ihnen  auch  der  modernen  Kritiker  in  Bezug 
auf  Konstantins  Autorschaft  des  Cüobo  hr  npenecenie  (richtig,  seines 
griechischen  Originals)  für  uns  sehr  erschüttert.  Wissen  wir  einmal, 
daß  der  Chersoneser  Bischof  Georgius  kein  Zeitgenosse  Konstantins, 
sondern  des  Kaisers  Nikephoros  I.  war  und  daß  es  in  Chersonesus  schon 


Cyrillo-Methodiana. 


249 


vor  Konstantin  eine  Legende  über  die  wunderbare  Auffindung  der 
Klemensreliquien  gab,  so  wird  uns  mit  einemmale  klar,  warum  Kon- 
stantin nacli  dem  Zeugnisse  des  Anastasius  von  diesem  Ereignis  fugiens 
arrogantiae  notam  referre  non  passus  est;  er  tat  dies  nicht  aus  tiber- 
mäßiger Bescheidenheit,  welche  hier  gar  nicht  am  Platze  gewesen 
wäre  ^),  sondern  er  konnte  als  ehrlicher  Mensch  ein  Werk  nicht  als  das 
seinige  beanspruchen,  welches  er  nicht  vollbracht  hatte. 

Eine  Stelle  der  Ital.  Legende  scheint  dieses  Käsonnement  umstoßen 
zu  wollen :  nicht  Konstantin,  wohl  aber  Methodius  habe  öffentlich  ge- 
sagt, sein  Bruder  habe  diese  Reliquien  gefunden.  So  lesen  wir  im 
Kap.  XII  der  Ital.  Legende,  Methodius  habe  sich  nach  dem  Tode  seines 
Bruders  an  den  römischen  Klerus  mit  der  »kleinen  Bitte«  (petitiuncula) 
gewendet,  denselben  in  der  Kirche  des  heil.Klemens  zu  bestatten,  cuius 
corpus  multo  suo  labore  ac  studio  repertum  huc  detulit  Pastrnek  224). 
Leider  wird  die  Beweiskraft  dieser  Stelle  dadurch  aufgehoben,  daß  sie 
offenbar  wieder  keine  Aussage  eines  Angenzeugen,  sondern  eine  Re- 
produktion einer  geschriebenen  Vorlage,  und  zwar  wieder  derselben 
Vita  Const.  ist,  wie  aus  folgender  Nebeneinanderstellung  leicht  zu  er- 
sehen ist : 


Italische  Legende  XII. 

Methodius  .  .  .  oravit  iterum : 
Obsecro  vos,  domini  mei,  quando- 
quidem  non  est  placitum  vobis 
meam  petitiunculam  adimplere,  ut 
in  ecclesia  B.  Clementis,  cuius 
corpus  multo  suo  labore  ac  studio 
repertum  huc  detulit,  recondatur. 


Vita  Constantini  XVIIL 
Dixit  vero  frater  eius  :  Quia 
me  non  audivistis,  neque  dedistis 
mihi  eum,  si  vobis  placat,  jaceat  in 
ecclesia  sancti  Clementis,  quocum 
etiam  huc  venit  2). 


Also  gerade  die  Worte  »multo  suo  labore  ac  studio  repertum« 
finden  sich  in  der  Vorlage  nicht  und  entpuppen  sich  als  eine  Kombi- 
nation des  Verf.  der  Ital.  Legende  selbst. 

In  der  Erzählung  von  den  Erfolgen  der  Mission  Konstantins  bei 
den  Chazaren  weicht  die  Ital.  Legende  wieder  von  der  Vita  Const.  ab  — 


*)  Vergleiche  den  in  damaligen  Viten  sehr  oft  gebrauchten  Ausdruck : 
Des  Kaisers  Geheimnis  zu  wahren  ist  gut,  doch  Gottes  Wunder  zu  verhehlen 
ist  unklug. 

-)  Was  wird  wohl  Herr  Götz  zu  der  Knappheit  der  Leg.  Ital.  im  Ver- 
gleich mit  der  Loquacität  der  Vita  Const.  bei  dieser  Stelle  sagen? 


250  Iv.  Franko, 

und  wieder  einmal  ins  Absurde  hinein.  Der  Erfolg  war  gar  nicht  glän- 
zend und  der  Verf.  der  Vita  Const.  versucht  auch  nicht,  ihn  zu  beschö- 
nigen; für  den  Verf.  der  Ital.  Legende  gibt  es  kein  Zaudern,  er  sagt 
geradewegs:  »convertit  omnes  illos  ab  erroribus,  quos  tarn  de  Sarace- 
norum,  quam  de  Judaeorum  perfidia  retinebant«.  Damit  nicht  genug, 
läßt  er  sogar  alle  Chazaren  »se  ob  eam  rem  imperio  eins  (des  byzant. 
Kaisers)  semper  subditos  et  fidelissimos  de  cetero  velle  manere«.  Irgend 
eine  Tendenz  einer  Verherrlichung  Konstantins  in  dieser  Blague  zu  sehen 
hieße  ihr  zu  viel  Ehre  antun ;  es  ist  nur  die  Inerz  der  Schablone,  welche 
die  Feder  des  Verfassers  geführt  hat :  es  kostet  nichts  und  klingt  doch 
gut.  Sogar  an  Stellen,  wo  wir  von  dem  Verf.  der  Ital.  Leg.,  wenn  es 
Gauderich  oder  ein  unter  seiner  Aufsicht  Schreibender  wäre,  am  meisten 
lebendige,  der  Autopsie  entnommene  Züge  erwarten  müßten,  also  bei 
der  Schilderung  der  Übertragung  der  Klemensreliquien  nach  Rom, 
sehen  wir  etwas  ganz  Anderes.  Coeperunt  interea,  —  lesen  wir  im 
Kap.  IX  —  ad  praesentiam  sanctarum  reliquiarum  per  virtutem  omni- 
potentis  Dei  sanitates  mirabiles  fieri:  ita  ut  quovis  languore  quilibet 
oppressus  fuisset,  adoratis  pretiosi  martyris  reliquiis  sacrosanctis,  proti- 
nus  salvaretur  (Pastrnek  243).  Für  einen  Bericht  des  Augenzeugen  ist 
diese  Erzählung  im  vorhinein  zu  schablonenhaft  und  allgemein  gehalten ; 
kein  Zweifel  aber  kann  über  ihren  Charakter  aufkommen,  wenn  wir  die 
analoge  Erzählung  der  Vita  Const.  lesen:  h  aekie  Koriv  HoyA*^**  npli- 

CAAßHA  CKTBOpH  TOy :  OCAaBAieHTi  KO  HAOB'tK'K  TOy  HCI^tAlv, 
H  HHH  MliHOSH  OTT^  paSAHHh.H'hJHY'k  HfA^^Tv  HCM^'kAHUJA  C/Ä, 
raKOHCC  ndM£  H  HA'bHKHHl^H  XpHCTd  HAfifK'KUM  H  CKATdlCrO 
KAHMfHTd,  RA'KHkLUHY'K  H^li.  H3EAEHIUA  C/Ä.  Auch  hier  ist  die 
Erzählung  der  Vita  Constantini  konkreter,  ursprünglicher;  leider  dürfen 
wir  auch  ihr  nicht  trauen :  die  von  uns  am  Anfang  dieses  Artikels 
zitierte  kirchenslavische  Prologus-Erzählung,  welche  wir  als  einen  Aus- 
zug aus  der  ursprünglichen  Form  der  chersonesischen  Legende  über  die 
Auffindung  der  Klemensreliquien  charakterisiert  haben,  hat  auch  einen 
analogen  Absatz,  wo  aber  von  den  in  Chersonesus  und  nicht  in  Rom 
geschehenen  Wundern  erzählt  wird:  HAMCHiiiH  jk«  ArTi'pri';i;  MHiura 
BKiuj;i;  Mto^Eca:    CAl^nm  npo3pt:uj;f>,   B'bcki  npopHdiu;^  [c/a]  h 

YPOMIH    H   BA'KH'm  3J^ßAß\i  BhJLU;«;  (0  MAKI^    MATBAMH    CTPO  KaH- 

Mf  HTA.  Das  kirchenslavische  Cjiobo  na  npsHeceme  in  seiner  jetzigen 
Gestalt  hat  diesen  Passus  nicht,  doch  war  er  gewiß  in  seinem  Prototyp 
enthalten. 


Cyrillo-Methodiana.  251 

Und  noch  ein  interessantes  Detail.  Als  Beweis  der  großen  Alter- 
tümlichkeit der  Ital.  Leg.  und  ihrer  Verfassung  durch  Gauderich  oder 
Johannes  Levita  wird  gewöhnlich  Leo  Ostiensis,  der  Benediktinermönch 
von  Monte-Cassino,  zitiert,  welcher  um  das  Jahr  1115  als  Bischof  starb 
und  in  seiner  verloren  gegangenen  Chronik  angeblich  die  Ital.  Legende 
zitiert  hat.  Dies  wird  auf  Grund  späterer  Schriftsteller  behauptet, 
nämlich  Jacobus  de  Voragine,  welcher  in  seiner  Goldenen  Legende  im 
Epilog  zur  Vita  Clementis  davon  spricht,  und  Petrus  de  Natalibus,  wel- 
cher in  seinem  Catalogus  Sanctorum  sich  auf  Leo  beruft.  Merkwürdig 
genug  haben  sich  die  bisherigen  Forscher  darauf  beschränkt,  nur  die 
Goldene  Legende  einzusehen,  wo  gesagt  wird:  »Leo  Bischof  von  Ostia 
erzählt,  daß  zu  Zeiten  des  Imp.  Michael  ein  Priester,  welcher  wegen 
seiner  Weisheit  noch  im  jungen  Alter  den  Namen  Philosoph  erhalten 
hatte,  nach  Chersonesus  kam  und  hier  bei  den  Einwohnern  dieses  Lan- 
des darnach  forschte,  was  die  Geschichte  des  heil.  Klemens  betriflft.  Sie 
antworteten  ihm,  sie  wüßten  nichts,  da  sie  eher  Fremdlinge  als  Einge- 
borene seien.  Denn  wirklich  hatte  sich  seit  langer  Zeit  das  Wunder 
des  Meeresabflusses  nicht  wiederholt,  und  in  der  Zeit,  als  es  geschah, 
gab  es  Barbareneinfälle,  der  Tempel  wurde  ruiniert  und  die  Arche  mit 
dem  Körper  wurde  durch  Meereswellen  überflutet  für  die  Sünden  der 
Einwohner.  Darüber  verwundert,  ging  der  Philosoph  in  eine  kleine 
Stadt,  genannt  Georgia,  mit  dem  Bischof,  Klerus  und  Volk,  und  begab 
sich  zu  einer  Insel,  wo  nach  seiner  Meinung  der  Körper  des  Märtyrers 
lag,  um  dort  die  schätzbaren  Überreste  zu  suchen.  Man  begann  zu 
graben  unter  Absingung  von  Hymnen  und  Gebeten,  und  Gott  gab  ihnen, 
daß  sie  den  Körper  des  heil.  Klemens  fanden  sowie  den  Anker,  mit  dem 
er  ins  Meer  geworfen  wurde,  und  alles  nach  Chersonesus  brachten. 
Später  kam  der  Philosoph  nach  Rom  mit  dem  Körper  des  heil.  Klemens, 
welcher  viele  Wunder  bewirkte  und  mit  Ehren  in  der  Kirche  beigesetzt 
wurde,  welche  noch  bis  jetzt  den  Namen  des  Heiligen  trägt(f. 

Wer  die  freie  Art  des  Jacobus,  mit  seinen  Quellen  umzuspringen, 
kennt  (und  die  Vergleichung  obiger  Erzählung  mit  der  Ital.  Leg.,  aus 
der  sie  ja  geschöpft  sein  soll,  illustriert  diese  Art  nur  zu  gut),  sollte 
doch  auch  in  Bezug  auf  seine  Berufung  auf  Leo  Ostiensis  etwas  miß- 
trauisch werden.  Das  Mißtrauen  zeigt  sich  ganz  berechtigt,  wenn  wir 
mit  dem  obigen  Zitat  dies  vergleichen,  was  Petrus  de  Natalibus  aus  Leo 
erfahren  haben  will:  »Leo  Ostiensis  tradit,  quod  tempore  Michaelis  im- 
peratoris   Constantinopolitani   quidam    Philippus   sacerdos   Chersonam 


252  Iv.  Franko, 

veniens,  de  his,  quae  narrantur  in  historia  S.  Clementis,  de  maris  ape- 
ritione  habitatores  interrogavit.  Qui  nihil  de  hoc  scire  professi  sunt,  eo 
quod  advenae  magis  quam  indigenae  erant.  Nam  miraculum  marini 
recessus  jam  longe  desierat  et  incursionibua  barbarorum  templum  erat 
destructum.  Tunc  assumpto  episcopo  Georgiae  civitatis  cum  clero  et 
populo  accesserunt  ad  insulam,  in  qua  putabant  esse  martyris  corpus. 
Ubi  divina  revelatione  fodientes  corpus  invenerunt  et  anchoram,  cum 
qua  fuerat  in  marc  projectum.  Quod  Chersonam  reportantes  ibidem  se- 
pelierunt.  Tempore  vero  Nicolai  papae  corpus  ipsum  a  sancto  Cy- 
rillo,  Slavorum  episcopo,  inde  sublatum  et  Romam  delatum«  ^). 

Wie  man  auch  diese  Erzählung  beurteilen  mag,  eines  ist  sicher: 
ihr  Verfasser  hat  die  Italische  Legende  nicht  vor  Augen  gehabt.  Weder 
die  römische  Translation  unter  Papst  Nikolaus,  noch  den  Cyrill  Bischof 
der  Slaven,  noch  auch  den  Prieser  Philipp,  den  Entdecker  der  Reliquien 
in  Chersonesus  konnte  er  in  der  Ital.  Leg.  gefunden  haben.  Wir  haben 
hier  offenbar  eine  nach  Westen,  speziell  nach  Monte  Cassino  verschla- 
gene Spur  einer  neuen  Abzweigung  jener  chersonesischen  Legende  vor 
uns,  deren  andere  Abzweigungen  uns  in  dem  C.iobo  na  npenecenie  so- 
wie in  der  Erzählung  des  Peremysler  Prologus  vorliegen.  Nur  daß  wir 
in  dieser  Abzweigung  zufällig  auf  ganz  verblaßtem  Hintergrunde  den 
Namen  des  eigentlichen  Entdeckers  der  Reliquien  und  Urhebers  der 
chersonesischen  Legende  finden.  Priester  Philippus,  kein  Chersoneser 
von  Geburt,  aber  dort  in  irgend  einer  Angelegenheit  geschickt  —  viel- 
leicht verschickt;  Chersonesus  war  ja  seit  jeher  ein  beliebter  Ver- 
bannungsort. Der  Name  sagt  uns  zwar  nichts,  aber  es  ist  doch  ein 
Name  und  klingt  gar  nicht  wie  Konstantin. 

Was  folgt  aus  diesen  Bemerkungen  für  die  Gesamtdarstellung  des 
Lebens  und  der  Wirksamkeit  der  »Slavenapostel«?  Ich  möchte  nichts 
Voreiliges  sagen.  Noch  ist  ja  das  gesamte  Material  nicht  durchforscht 
und  Manches  noch  zu  entdecken.  Sollten  die  Konstantinopeler  Archive 
auf  die  Geschichte  der  chersonesischen  Kirche  kein  Licht  werfen  und 
die  Lebenszeit  jenes  Bischofs  Georgius  nicht  näher  bestimmen  lassen? 
Noch  soll  ja  in  der  Bibliothek  von  Monte  Cassino  das  ganze  Buch  über 
Klemens  von  Johannes  Levita  in  der  Handschrift  vorliegen  (vergl.  Cle- 
mentinorum  epitomae  duo  . . .  cura  Alb.  Rd.  Max  Dressel,  Lipsiae  1859, 


*)  Ich  zitiere  mangels  des  Catalogus  aus  Baronius,  Annales  eccle- 
siastici,  t.  X,  Venetiis  1711,  S.  328. 


Cyrillo-Methodiana.  253 

S.  101)  und  zufällige  Funde  wie  der  von  Prof.  Friedrich  gemachte  sind 
ja  auch  nicht  ausgeschlossen.  Auch  die  handschriftliche  Überlieferung 
der  pannonischen  Legenden  ist  noch  nicht  völlig  erschöpft,  und  vielleicht 
fällt  auch  von  hier  ein  neuer  Strahl  auf  den  historischen  Kern  der  Le- 
genden. Was  mir  aus  dem  Vorhergehenden  klar  hervorzugehen  scheint, 
ist  vor  Allem,  daß  die  Italische  Legende  als  historische  Quelle  hinter 
den  Brief  des  Anastasius  (mit  oben  gemachten  Distinktionen  seines 
Quellenbestandes)  und  hinter  beide  pannonische  Legenden  zu  setzen 
ist  1).  Angesichts  der  auch  gegen  die  Vita  Const.  vielfach  vorgebrachten 
Bedenken  erhebt  sich  die  gedrängte,  nüchterne  Erzählung  der  Vita  Me- 
thodii  (auch  mit  Beachtung  der  oben  angedeuteten  Vorsichtsmaßregeln) 
in  die  erste  Reihe  der  Quellen  für  die  Darstellung  unseres  Gegenstandes. 
Ihre  Nachrichten,  besonders  wenn  sie  von  einer  anderen  Quelle  be- 
stätigt werden,  gewinnen  für  uns  ein  besonderes  Gewicht.  Was  dies  zu 
bedeuten  hat,  möchte  ich  an  zwei  Beispielen  spezifizieren.  Erstens  die 
in  ihren  Zwecken  und  Erfolgen  bisher  so  widersprechend  beurteilte 
j)Slavische  Mission«  vom  J.  863.  Wie  hat  man  sich  gequält,  um  aus 
den  Worten  der  Legenden  Rastislavs  große  kirchenpolitische  Pläne 
herauszulesen  —  einzig  und  allein  auf  dieser  Grundlage,  weil  in  der 
Vita  Constantini  steht,  die  Slaven  haben  um  einen  Bischof  gebeten. 
Weder  die  Vita  Methodii,  noch  die  Ital.  Legende  wissen  hier  etwas  von 
einem  Bischof  und  auch  in  der  Vita  Const.  kann  dies  Wort  leicht  eine 
Glosse,  ein  späteres  Einschiebsel  sein.  Dagegen  sprechen  alle  drei  Le- 
genden einmütig  davon,  die  Slaven  hätten  um  einen  Lehrer  gebeten 
und  einen  solchen  erhalten,  —  dieser  Gedanke  aber  konnte  keinem 
Forscher  einleuchten.  Ist  er  denn  so  absurd  ?  Wird  er  denn  nicht  durch 
den  weiteren  Lauf  der  Erzählung  auch  in  der  Vita  Const.  bestätigt? 
Enthält  denn  irgend  eine  Quelle  auch  nur  die  leiseste  Andeutung  da- 
von, daß  Konstantin  unter  den  Slaven  Jemanden  vom  Heidentum  be- 
kehrt oder  getauft  hat?  Keine  Spur.  Sobald  er  nach  Mähren  kommt, 
gibt  man  ihm  Schüler  zu  unterrichten,  dies  ist  alles.  Von  diesen 
Schülern  sollte  nur  ein  geringer  Teil  zu  Priestern  geweiht  werden,  die 
Anderen  blieben  offenbar  im  weltlichen  Stande.  Wie  man  sich  dieses 
Vorgehen  mit  sonstigen  Taten  und  Plänen  des  Rastislav  und  Svjatopolk 


1)  Die  von  Prof.  Friedrich  und  Götz  eröfl'nete  Diskussion  über  die  Au- 
thenticität  ihrer  einzelnen  Teile  ist  ganz  gegenstandslos,  da  sie  ja  im  Ganzen 
gar  kein  Werk  Gauderichs  ist. 


254  Iv.  Franko, 

zusammenreimen  muß,  dies  ist  eine  andere  Frage,  aber  hier  ist  nur  eine 
Antwort  möglich:  forschen  wir  weiter. 

Aber  die  Einführung  der  alavischen  Sprache  in  die  Liturgie!  Das 
ist  ja  doch  ein  kirchenpolitischer  Schritt.  So  wird  man  mir  einwenden. 
Ganz  richtig,  ein  kirchenpolitischer  Schritt,  und  konnte  nur  von 
einem  Politiker,  nicht  aber  von  einem  Theologen  gemacht  werden.  Dem 
selbstlosen,  weitabgewandten  und  dem  Wissen  ergebenen  Konstantin 
diesen  Gedanken  in  die  Schuhe  zu  schieben,  scheint  mir  ein  völliges 
Mißverstehen  seiner  Natur  zu  sein.  Rastic  oder  Svjatopolk,  einer  von 
ihnen  hat  diesen  Gedanken  gefaßt,  vielleicht  als  die  salonischen  Brüder 
bereits  in  Mähren  waren;  der  Enthusiast  Konstantin  entbrannte  für  ihn, 
kämpfte  für  ihn  bis  an  sein  Lehensende  —  ganz  ohne  politische  Hinter- 
gedanken, nur  aus  reinem  Doktrinarismus.  Methodius  verhielt  sich  an- 
fangs skeptisch,  —  dies  kann  man  aus  der  Ermahnung  herauslesen,  die 
ihm  Konstantin  auf  seinem  Sterbebette  gibt,  er  möge  das  Werk  unter 
den  Slaven  nicht  verlassen.  Der  Gedanke  war  gewiß  in  Mähren  er- 
wacht unter  dem  politischen  Sturm  und  Drang  und  im  Kopfe  eines 
Politikers,  was  Konstantin  nie  gewesen  ist. 

Zweitens:  die  Romreise  und  der  venetianische  Aufenthalt  der  Brü- 
der. Wie  viel  vergebliche  Mühe  haben  den  Forschern  diese  Episoden 
gekostet  und  doch  ist  es  bisher  nicht  gelungen,  aus  einander  wider- 
sprechenden Relationen  eine  widerspruchslose  Geschichte  herauszu- 
schälen. Wo  bekamen  die  Brüder  die  Zitation  zum  Papste :  in  Mähren 
(nach  der  Ital.  Legende)  oder  in  Venedig  (nach  der  Vita  Const.)  ?  Was 
hatten  sie  überhaupt  in  Venedig  zu  schaffen  ?  Erschienen  sie  in  Rom 
als  Angeklagte  oder  als  Triumphatoren  ?  Dies  sind  nur  einige  aus  den 
verzwickten  Fragen,  welche  uns  die  Quellen  entgegenweisen.  Ist  das 
oben  Dargelegte  richtig,  sa  haben  wir  vor  Allem  die  Vita  Methodii  zu 
Rate  zu  ziehen.  Und  da  bemerken  wir  zugleich  in  dem  Schlußsatz  des 
Kap.  V  eine  bisher  von  den  Forschern  eben  dank  der  Erzählung  der 
Vita  Const.  ganz  außer  Acht  gelassene  Notiz,  die  Brüder  TpTs>rJl'K  A'k- 
TOMTi    HlU'KAT^lUfy'K   K'K3KpaTHCT6  CA    H3  MopaKTÜ  OYHtHHK'KI 

HaOYHkiiia.  Die  einfachste  Auslegung  dieser  Stelle  ist  doch  nur  die, 
daß  sie  nach  drei  Jahren  wieder  nach  Konstantinopel  zurückkehrten. 
Hier  erst  trifft  sie  offenbar  die  Botschaft  des  Papstes,  von  hier  begeben 
sie  sich  nach  Rom,  von  hier  —  um  es  auch  gelegentlich  beizufügen  — 
und'.nicht  von  Chersonesus  tragen  sie  nach  Rom  die  Klemensreliquien, 
nicht  als  ein  Privatgeschenk  Konstantins,  sondern  als  ein  Emblem  irgend 


Cyrillo-Methodiana.  255 

einer  großen  politischen  Aktion.  Es  sei  ja  äaran  erinnert,  daß  zwischen 
dem  J.  863,  da  sie  nach  Mähren  zogen,  und  sogar  näher,  zwischen  dem 
J.  866,  da  sie  von  Mähren  zurückkehrten,  und  ihrer  Ankunft  in  Rom  im 
Frühling  des  J.  868  sich  in  Konstantinopel  solche  Sachen  ereigneten, 
wie  der  Bruch  des  Photius  mit  Rom,  die  Ermordung  des  Bardas,  dann 
des  Kaisers  Michael,  der  Sturz  des  Photius  und  der  Sieg  der  unions- 
freundlichen Partei.  Eine  Manifestation  dieses  Sieges  war  eine  Fest- 
gesandtschaft nach  Rom,  mit  welcher  wahrscheinlich  auch  Konstantin 
und  Method  nach  Rom  kamen.  Dies  würde  uns  den  in  den  Legenden 
geschilderten  festlichen  Empfang  erklären.  Die  von  der  Vita  Const.  in 
Venedig  gesetzte  Disputation  mit  den  Trilinguisten  dürfte  in  Wirklich- 
keit ein  Echo  der  in  Rom  bei  der  päpstlichen  Kurie  über  diese  und  an- 
dere einschlägige  (bulgarische!)  Fragen  geführten  Pertraktationen  sein, 
welche  nicht  unter  dem  Druck  der  theologischen  Argumente,  sondern 
durch  den  Zwang  politischer,  uns  vielleicht  nur  zum  kleinsten  Teil  be- 
kannter Verhältnisse  zugunsten  der  slavischen  Liturgie  und  der  Autono- 
mie der  mährisch-pannonischen  Kirche  ausfielen.  Die  venetianische 
Episode,  nur  von  der  Vita  Const.  allein  überliefert  und  dazu  noch  offen- 
bar einzig  zu  dem  Zwecke,  das  Wissen  und  den  Witz  Konstantins  hier 
noch  einmal  glänzen  zu  lassen,  muß  von  der  historischen  Tatsachen- 
reihe gestrichen  werden. 

Hiermit  habe  ich  die  Reihe  meiner  Beobachtungen  vorläufig  er- 
schöpft. Aus  der  Natur  der  von  mir  analysierten  Quellen  folgt,  daß  ich 
den  zweiten  Teil  der  Vita  Methodii  (vom  Kap.  IX  angefangen)  in  das 
Bereich  meiner  Bemerkungen  gar  nicht  miteinbezogen  habe.  Dies  ist 
eine  anders  geartete  kritische  Aufgabe. 

Iv.  Franko. 


256 


Zur  Frage  nach  dem  Verhältnisse  des  Freisinger 
Denkmals  zu  einer  Homilie  von  Klemens. 


In  meiner  »Studie«  (S.  5 — 18)  suchte  ich  zu  beweisen,  daß  Klemens 
einen  slav.  Text,  wie  er  —  allerdings  in  ziemlich  verstümmelter  Form  — 
in  den  Freis.  Denkmälern  enthalten  ist,  bei  der  Abfassung  seiner  Ho- 
milie benutzte.  Prof.  Jagic  analysierte  neuerdings  diese  Denkmäler 
(A.  f.  sl.  Phil.  XXVII,  S.  395—412)  und  kam  zu  dem  Schluß,  man  könne 
durchaus  keine  sicheren  Beweise  dafür  anführen,  daß  Klemens  gerade 
den  Text  des  Freis.  Denkmals  vor  Augen  gehabt  oder  bewußt  aus  ihm 
geschöpft  hat  (S.  411).  Ich  prüfte  noch  einmal  meine  Deduktionen  und 
die  gegen  sie  erhobenen  Einwendungen  und  muß  gestehen,  daß  ich  lei- 
der auch  jetzt  noch  das  Verhältnis  der  beiden  Denkmäler  nicht  anders 
beurteilen  kann,  als  ich  es  in  der  » Studie  (f  getan  habe.  Es  tut  mir  sehr 
leid ,  daß  ich  mich  da  im  Widerspruche  zu  meinem  verehrten  Meister 
befinde,  aber  da  ich  ihn  zu  gut  kenne  und  weiß,  daß  er  stets  die  per- 
sönliche Überzeugung  eines  anderen  und  überhaupt  die  wissenschaftliche 
Selbständigkeit  des  Mannes  achtete,  was  leider  so  selten  anzutrefien  ist 
und  was  uns,  seinen  Schülern  und  Jüngern,  stets  ungemein  impo- 
nierte, so  erlaube  ich  mir,  hier  meine  gegenteilige  Ansicht  kurz  zu  be- 
gründen. 

Daß  Klemens  abhängig  war  vom  slavischen  Text,  wie  er  etwa  im 
Freisinger  Denkmal  vorliegt,  zeigt  sich  mir  deutlich  im  folgenden.  Im 
Freisinger  Denkmal  heißt  es :  gemu  he  fiti^  ftarofii  ne  prigemlioki, 
was  bei  Klemens  lautet:  leMO^"  btüac  ;khthi6  .  .  .  crapocTH  h« 

npHI€MAhM|JE  .  .  . 

In  den  Freis.  Denkmälern  ist  die  Konstruktion ye5#  mit  dem  Infi- 
nitiv sehr  beliebt  und  wiederholt  sich  hier  häufig  (vgl.  meine  »Studie« 
S.  16);  auch  in  dem  von  uns  zitierten  Texte  ist  sie  am  Platze  und  hat 
den  Sinn  etwa  »es  wäre  ihm  beschieden,  zuteil  geworden,  zu 
leben«.  Nun  habe  ich  gezeigt,  daß  Klemens  diese  Konstruktion  meidet 
(S.  137 — 138).  Sie  kommt  nur  einmal  in  der  Method-Legende  und  je 
einmal  in  zwei  Homilien  vor  (S.  146,  150).    Seine  Sprache  stimmt  da 


Zur  Frage  nach  d.  Verhältnisse  des  Freis.Denkm.  zu  einer  Hom.  v.Klem.  257 

merkwürdigerweise  mit  der  ältesten  Redaktion  der  aksl.  Texte  überein, 
denn  auch  da  finden  wir  sie  nicht  (erst  in  der  Sav.  kn.  kommt  sie  einmal 
vor).  Da  nun  Klemens  die  Konstruktion  wo  möglich  mied,  machte  er 
z.\x.%jemu  bylo  ziti  ein  iCMoy  KiviAO  jkhthi€,  allein  das  hat  nicht  mehr 
den  Sinn,  den  wir  hier  erwarten  und  der  im  Freis.  Denkmal  richtig 
wiedergegeben  ist.  Sein  Text  heißt  einfach  »er  hätte  das  Leben  ge- 
habt« (wie  z.  B.  obydaj  he  igumenu,  Ostr.),  es  soll  aber  heißen:  ihm 
wäre  zuteil  geworden  u.  dgl. 

Dadurch  aber,  daß  statt  des  Infinitivs  ein  Substantivura  (>KHTHI€) 
gesetzt  wurde,  ist  auch  das  Partie.  npHi€MAK»HJt  hier  nicht  recht  am 
Platze,  und  Klemens  hätte  es  aus  eigenem  gewiß  nicht  gesetzt,  denn  wir 
haben  eine  parallele  Stelle,  auf  die  ich  S.  137  aufmerksam  mache  und 
die  uns  zeigt,  welche  Konstruktion  Klemens  selbständig  gebrauchte. 
Sie  lautet:  pO/KAi^uJC^V  ^^  A*^^'^''^"''"*»^  K'kith  h  TorA*»  MAOBlvMk- 
CKOi€  A'^'^iP«  Tpi^n-kTH  AK>KO  A<5Kpo  /\K>BC»  3/\o.  Hier  erklärt  also 
das  Ger.  ^'^'^4^*  näher  den  Infinitiv,  wie  es  auch  in  dem  Freisinger 
Denkmal  der  Fall  ist.  Die  Horailie  {na  krtsf.),  aus  welcher  dieses  Zitat 
stammt,  gehört  zu  den  unzweifelhaften  des  Klemens. 

Unter  solchen  Umständen  ist  natürlich  auch  die  Übereinstimmung 
zwischen  starosti  neprijemJJoci  und  crapocTH  Hf  npHi6MAHM|j£  sehr 
bezeichnend  und  man  kann  mir  hunderte  von  Phrasen  mit  npHHMATH 
und  den  verschiedenen  Objekten,  die  dabei  möglich  sind,  aus  den  aksl. 
Denkmälern  zitieren:  bei  dieser  Sachlage  beweist  es  eben  nicht  viel. 
Selbstverständlich  ist  auch  sehr  bezeichnend :  ni  slzna  telese  imoci  und 
HH  CAbSHA  TlvAA  HMO^Mif.  Auch  das  kann  ich  hier  für  keinen  Zufall 
halten. 

Auf  anderes  glaube  ich  hier  nicht  näher  eingehen  zu  müssen  und 
verweise  einfach  auf  meine  Arbeit.  Ich  behaupte  also  nach  wie  vor, 
Klemens  habe  einen  slav.  Text,  wie  er  uns  im  zweiten  Freisinger  Denk- 
mal —  allerdings  verstümmelt,  erhalten  ist,  bei  der  Abfassung  seiner 
Homilie  benutzt  oder  er  ist  ihm  wenigstens  hiebei  zu  statten  gekommen 
etwa  so,  daß  er  ihn  z.  B.  wiederholt  gehört  hatte  und  daß  einzelnes  in 
seiner  Erinnerung  haften  blieb.  Es  muß  allerdings  auffallen,  daß  er 
hier  Beichtgebete  verwendete  (S.  17),  aber,  wie  ich  eben  darauf  hin- 
weise, zeigt  sich  überhaupt  in  seinen  Schriften  sehr  stark  der  Einfluß 
der  Beichtgebete. 

Daß  die  bewußte  Homilie  wirklich  von  Klemens  herrührt,  beweise 
ich  auf  S.  20 — 22.    Unter  anderem  hebe  ich  auf  S.  21  ein  Zitat  hervor, 

Archiv  für  slavieclie  Philologie.    XXVIII.  17 


258  ^^-  Vondräk, 

das  sich  sonst  auch  bei  Klemens  wiederholt  und  von  ihm  eine  spezifische 
Modifikation  erlitten  hat,  so  daß  uns  dadurch  auch  in  zweifelhaften 
Fällen  seine  Autorschaft  verraten  wird.    Es  lautet:   »u  o\fKOH'i'f   C/A 

OTTv    OI|'KHIia»A;i|IHY'»*    T'ÜAA    A    A^V"'"     "*    MCrAUjIHM'k   ...    H'k 

naMf  oyKOHTf  C/A  .  .  .  (U  Toro  oyKOH'i'f  ca.  Ich  sah  darin  den 
Reflex  des  Mattli.  lü.  28.  Nun  meint  Prof.  Jagic  8.  410,  daß  allen 
meinen  Kombinationen  die  Spitze  abgebrochen  wird  durch  den  Hinweis 
auf  eine  andere  Stelle,  das  ist  Luk.  12.  45  (soll  heißen:  12.  4 — 5),  die 
Klemens  bei  seinem  Zitat  vorschwebte.  Daraus  hätte  er  sowohl  den 
»bedeutsamen  Zusatz«  CH  TOro  0\fKOHTe  C/ä  als  auch  die  Worte  oy- 
KOHTC  CA  Hluioyi|Jdro  K/\aCTK,  die  bei  Matthäus  nicht  in  dieser  Form 
ausgedrückt  wären.  Man  könne  daher  nicht  von  der  freien  Benutzung 
der  Zitate  bei  Klemens  sprechen.  Aber  im  Gegenteil,  meine  Kombina- 
tionen gewinnen  jetzt  erst  recht  an  Beweiskraft.  Das  Zitat  lautet  näm- 
lich bei  Luk.  12.  4 — 5  folgendermaßen:  Ht  0YK0HT6  ca  OTT».  oyKU- 
Bau^LIJHY'k  t'Sao  h  noTOlUlk  Hf  iuior;i;i|ieM'k  ah^a  mko  cktko- 
pHTH  .  .  .  oifKOHT«  C/Ä  HM;^i|iaaro  KaacTK  no  oyKktHHH  b^k- 
Bp'kijJH  K'K  rfOH;s^  .  .  .  (»  Toro  oykohtc  C/ä.  Man  wird  auf  den 
ersten  Blick  bemerken,  daß  hier  bei  Luk.  von  der  A<^V^**  überhaupt 
nicht  die  Rede  ist,  die  jedoch  bei  Matth.  10.  28  vorkommt  i).  Daher 
habe  ich  eher  an  diese  Stelle  gedacht.  Nun  stellt  sich  aber  durch  die 
freundliche  Mitwirkung  des  Prof.  Jagic  heraus,  daß  Klemens  zwei 
Zitate,  zwei  Stellen  des  Evangelientextes  zu  einer  verquickt  hat  und  daß 
er  diese  freiere  Auffassung  der  Zitate  konsequent  zur  Anwendung 
bringt  (man  findet  das  ;i,Oif  lua  in  allen  von  mir  angeführten  Citaten  aus 
Klemens).  Es  kommt  also  mitunter  bei  ihm  auf  eine  kleine  Konfusion 
hinaus,  aber  wir  wollen  ihm  beileibe  nicht  deshalb  irgend  welche  Vor- 
würfe machen,  im  Gegenteil,  wir  sind  ihm  sehr  dankbar  dafür,  denn  auf 
diese  Art  hat  er  sehr  viel  dazu  beigetragen,  daß  es  uns  jetzt  ermöglicht 
wird,  seine  Anonymität  ein  wenig  zu  lüften.  Ich  will  hier  nur  beispiels- 
weise anführen,  daß  es  auch  ein  so  spezifisch  modifiziertes  Zitat  ist 
(Matth.  11.  12),  das  wir  in  seiner  Homilie  na  v^krhs.  15.  5,  aber  auch 
in  der  Beichtordnung  des  Euchologium  sin.  69  b,  Z.  14 — 16  finden,  so 
daß  es  für  mich  einer  der  wichtigeren  Gründe  ist,  die  auch  hier  für  die 


1)  Bei  Matth.  10.  28  heißt  es:   H  Hf  0\'KOHTe  CA   oyKHßaKRlIiHY'k 
t'Kao  h  a^V^U''^  "*  Mor;Ri[jk  oyehth.  bohts  JKe  ca  naM«  mo- 


Zur  Frage  nach  d.  Verhältnisse  des  Freis,  Denkm.  zu  einer  Hom.v.Klem.  259 

Autorschaft  des  Klemens  sprechen  (vgl.  bei  mir  S.  35 — 36).  Bei  meinen 
Studien  habe  ich  überhaupt  vor  allem  als  maßgebende  Kennzeichen  des 
klementinischen  Stiles  folgende  aufgefaßt:  1)  Wiederholung  bestimmter 
Zitate  aus  der  heil.  Schrift,  insbesondere,  wenn  sie  eine  spezifische 
Färbung  aufweisen ;  2)  Wiederholung  derselben  Gedanken,  namentlich 
wenn  sich  darin  der  Einfluß  der  Beichtgebete  zeigt;  3)  sprachliche 
Eigentümlichkeiten,  ein  bestimmter  Wortvorrat  u.  dgl.,  worüber  ich 
wieder  bei  mir  nachzulesen  bitte  (allgemeine  Charakteristik  seiner 
Schriften).  So  naiv  bin  ich  nicht,  daß  ich  glauben  würde,  wenn  sich  in 
zwei  Schriften  derselbe  Gedanke  wiederholt,  daß  sie  vom  selben  Autor 
sein  müßten. 

Gern  möchte  ich  hier  auch  auf  die  Frage  nach  der  Autorschaft  der 
beiden  sog.  pannonischen  Legenden  näher  eingehen,  aber  ich  müßte 
weiter  ausholen ;  das  würde  nun  viel  mehr  Zeit  erfordern  und  an  der 
fehlt  es  mir  eben  jetzt.  Doch  hoflfe  ich  noch  nach  Absolvierung  anderer 
Arbeiten  darauf  zurückkommen  zu  können.  Hier  will  ich  nur  folgendes 
bemerken.  Als  das  wichtigste  Moment  bei  dieser  Frage  sehe  ich  den 
Zusammenhang  der  Methodlegende  (bez.  ihrer  Einleitung)  mit  einer 
Homilie,  die  offenbar  auch  Klemens  geschrieben  hat,  den  ich  S.  142  — 
150  nachgewiesen  habe.  Allein  solche  Arbeiten  wie  meine  »Studie« 
sind  jetzt  noch  in  der  Slavistik  undankbar.  Man  liest  solche  Sachen 
nicht,  man  hat  seine  —  fast  möchte  ich  sagen  —  aprioristischen  Kon- 
struktionen, worin  sich  niemand  stören  lassen  will.  Ich  will  ja  ihre 
Berechtigung  nicht  leugnen,  aber  die  tägliche  Erfahrung  zeigt  uns,  daß 
solche  Erwägungen  allgemeinerer  Art  dadurch,  daß  neue  Tatsachen 
bekannt  werden,  auf  dem  Gebiete  aller  wissenschaftlichen  Disziplinen 
über  den  Haufen  geworfen  werden  können.  So  würde  wahrscheinlich 
der  von  mir  hervorgehobene  Zusammenhang  ganz  unberücksichtigt 
bleiben,  wenn  ich  selbst  nicht  noch  einmal  darauf  aufmerksam  machen 
möchte.  Hier  ist  bei  unserer  Frage  der  Hebel  anzusetzen,  hier  wird 
man  hoffentlich  zum  Ziele  kommen.  Freilich  wäre  es  erwünscht,  daß 
sich  ein  größeres  Interesse  für  unsere  Frage  zeige  und  daß  sich  mehr 
befähigte  Mitarbeiter  melden  möchten,  insbesondere  in  Rußland.  Was 
sich  aber  dort  meldet,  ist  nicht  immer  frei  von  gewissen  störenden  Vor- 
urteilen. So  las  ich  eine  von  Golubinskij  herrührende  Recension 
meiner  Arbeit  (in  den  Izvi'stija),  welche  den  dort  herrschenden  Stand- 
punkt der  Slavistik  so  recht  illustriert.  H.  Golubinskij  hat  meine  Vor- 
rede gelesen,  das  muß  ich  konstatieren,  wahrscheinlich  auch  die  einzel- 

17* 


260  W.  Vondräk,  Zur  Frage  nach  dem  Verhältnisse  des  Freis.  Denkmals  etc. 

nen  Kapitelüberschriften,  denn  nur  so  ist  er  zu  einem  Kapitel  gekom- 
men, welches  von  dem  Verhältnis  des  Klemens  zur  Glagolica  handelt. 
Als  er  nun  hier  las,  daß  Klemens  ein  Anhänger  der  älteren,  ursprüng- 
licheren Glagolica  war,  da  bekam  er  Krampfanfälle  und  hat  in  diesem 
Zustande  Ansichten  vorgebracht  i),  die  nur  ein  mitleidiges  Lächeln  her- 
vorrufen müßten,  wenn  sie  nicht  ein  trauriges  Symptom  dafür  wären, 
in  welchem  Stadium  sich  die  Slavistik  heutzutage  in  Rußland,  wo  einst 
ein  Vostokov,  Pogodin  und  and.  wirkten,  befindet.  Solche  Mitarbeiter 
habe  ich  nun  oben  nicht  im  Sinne  gehabt. 


1)  Zu  seiner  Entschuldigung  muß  allerdings  hervorgehoben  werden,  daß 
H.  Golubinskij  eigentlich  kein  Slavist  ist,  aber  seine  Anschauungen  werden 
von  den  dortigen  Slavisten  fast  allgemein  geteilt. 

W.  Vo7idräk. 


Mein  Zusatz.  Ich  habe  in  der  langen  Reihe  der  Beweise,  die 
zugunsten  einer  größeren  Selbständigkeit  Klemens'  als  des  Verfassers 
jener  Homilie,  die  man  seit  Vostokov  mit  einem  Freisinger  Stück  in 
Zusammenhang  bringt,  sprechen  sollen  —  der  Redewendung  »jemu  be 
ziti«  allerdings  etwas  zu  wenig  Beachtung  geschenkt.  Mit  Recht  greift 
Prof.  Vondräk  diesen  einen  Punkt  heraus,  bei  dem  ich  richtiger  einen 
solchen  unverkennbaren  Parallelismus  hätte  zugeben  sollen,  wie  bei  der 
Phrase  «ni  slzna  telese  imoci(c  (Archiv  XXVII.  400/1).  Doch  auch  diese 
zweite  Parallele  zwischen  der  Homilie  und  dem  Freisinger  Denkmal 
ohne  weiteres  zugegeben,  kann  und  muß  ich  noch  immer  an  meiner 
Voraussetzung  »irgend  einer  dritten  Vorlage«  (ib.  396.  400)  festhalten, 
höchstens  die  Annahme  des  Vorhandengewesenseins  dieser  dritten  Vor- 
lage in  slavischer  Fassung  (wovon  ich  S.  401  sprach)  gewinnt  dadurch 
größere  Wahrscheinlichkeit.  Da  nun  jetzt  auch  Prof.  Vondräk  (oben 
S.  257)  nur  von  »einem  slavischen  Text,  wie  er  uns  im  zweiten  Frei- 
singer Denkmal  —  allerdings  verstümmelt  —  erhalten  ist(f,  spricht, 
so  ist  in  diesem  Punkte  die  Verschiedenheit  unserer  Ansicht  durchaus 
nicht  so  groß.  Einen  Zusammenhang  der  beiden  Texte  leugnet  keiner 
von  uns  beiden ,  nur  leite  ich  diesen  auf  wenige  Stellen  beschränkten 
Zusammenhang  von  einer  dritten  Vorlage  ab,  die  endlich  und  letzlrch 
auch  Prof.  Vondräk  insofern  zugibt,  als  er  ja  das  Freisinger  Stück  als 
verstümmelt  ansieht.    Das  Hauptgewicht  meiner  Beweisführung  war  die 


V.  Jagic,  Mein  Zusatz.  261 

Ehrenrettung  des  Schriftstellers  Klemens,  den  die  Darstellung  Vondräks 
etwas  zu  niedrig  geschätzt  hatte.  Das  scheint  mir  selbst  in  den  Augen 
meines  Herrn  Kollegen  doch  einigermaßen  gelungen  zu  sein.  Damit 
kann  auch  diese  Meinungsdifferenz  als  abgeschlossen  betrachtet  werden. 
Was  die  Person  des  Verfassers  der  Legenden  oder  Biographien  über 
Konstantin -Kyrill  und  Method  anbelangt,  darüber  haben  uns  die 
diesen  Bemerkungen  vorausgehenden  Referate  dreier  Gelehrten  so  viel 
neues  eingebröckelt,  daß  es  vielleicht  gut  sein  wird,  ein  wenig  abzii- 
warten,  um  zu  sehen,  in  welchem  Umfange  das  neu  Angebotene  verdaut 
werden  kann.  V.  J. 


Bemerkungen  zn  Prof.  Bandouin  de  Courtenay's 
»Kurzem  Eesume  der  kasubisclien  Frage«. 


Die  Ausführungen  des  um  die  Lösung  der  »kaschubischen  Frage« 
hochverdienten  Sprachforschers  sind  geradezu  epochemachend;  gegen 
§21  (Dreiteilung  des  «lechischen«  Sprachgebietes)  läßt  sich  wissen- 
schaftlich nichts  einwenden :  Lorentz  gegenüber  wird  mit  vollem  Rechte 
an  der  Einheit  des  Kasubischen  und  Slovinzischen  festgehalten,  anderer- 
seits aber  Ramult's  allzu  kühne  Zusammenfassung  des  Kasubischen  und 
Polabischen  als  »Pomoranisch«  zurückgewiesen,  Wohl  scheint  —  wie 
Prof.  Baudouin  de  Courtenay  selbst  bemerkt  —  bereits  K.  Nitsch  mit 
manchem  das  Richtige  getroffen  zu  haben,  allein  dadurch  wird  Prof. 
Baud.  d.  Court. 's  Verdienst  nicht  geschmälert:  er  hat  uns  endlich  die 
richtige  Definition  des  Wortes  »Pomoranisch«  als  »Strandpolnisch,  See- 
küstepolnisch«  im  Gegensatze  zu  »Festlandpolnisch  oder  Polnisch  im 
engeren  Sinne«  geboten,  und  die  Sprachwissenschaft  wird  gut  daran 
tun,  an  den  drei  technischen  Ausdrücken:  Polnisch  im  engeren  Sinne, 
Pomoranisch,  Polabisch  endlich  festzuhalten.  Die  Einführung  der  Be- 
zeichnung »Ostseewendisch«  (Mikkola)  statt  des  schon  längst  einge- 
bürgerten »Polabisch«  ist  durch  nichts  zu  rechtfertigen.    Nebenbei  be- 


262  Julius  Koblischke, 

merkt,  muß  auch  gegen  Mikkola's  neueste  Ansicht  (Archiv  1904),  das 
Lüneburgisch-Weudische  sei  ein  Grenzdialekt  gegen  das  Sorbische,  pro- 
testiert werden :  die  Übereinstimmungen  zwischen  Drawänisch  und 
Sorbisch  erklären  sich  einfach  aus  dem  Charakter  des  ganzen  pola- 
bischen  Sprachstammes,  da  eine  direkte  Berührung  zwischen  Dra- 
wänen  und  Sorben,  geographisch  und  historisch  betrachtet,  rein  un- 
möglich ist. 

Einen  breiten  Raum  nimmt  im  »Resumö"  die  gelegentlich  ziemlich 
scharfe  Polemik  ein,  und  zwar  gegen  das  politische  Alipolentum  und 
gegen  Brückner's  in  verschiedenen  Abhandlungen  des  Archivs  vertrete- 
nen Staudpunkt.  Wer  das  chauvinistische  Kesseltreiben  gegen  den 
unabhängigen  Forscher  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte,  wird  die 
Schärfe  dieser  Polemik  begreiflich  finden.  Anders  aber  verhält  es  sich 
mit  den  deutlieh  gegen  Brückner  gerichteten  Ausfällen.  Brückner's 
«Randglossen«  sind  an  einzelnen  Stellen  wohl  schwach,  manches 
in  der  Hitze  des  Gefechts  allzu  rasch  abgegebene  Urteil  wird  wohl 
eingeschränkt  werden  müssen,  aber  ihren  Wert  haben  sie  bis  heute 
nicht  verloren:  auch  sie  haben  zur  Lösung  der  kasubischen  Frage 
ebenso  wesentlich  wie  Baudouin's  groß  angelegtes  »Resumö«  bei- 
getragen. 

Im  Folgenden  sollen  nur  einzelne  Punkte  des  »Resum^s«  näher  be- 
leuchtet werden. 

Eine  Einschränkung  verlangt  zunächst  die  Behauptung  (S.  372/73): 
»Wenn  man  mit  etymologisch  dunkeln  und  bloß  von  den  deutschen 
Chronisten  und  Urkundenschreibern  aufbewahrten  Eigennamen  ope- 
riert, verfährt  man  unkritisch«.  Bei  der  Erforschung  des  Altpomorani- 
schen  (das  jetzige  Kasubisch-Slovinzische  verhält  sich  zum  Altpomo- 
ranischen  genau  so  wie  das  Drawänische  zum  Polabischen,  da  das 
Pomoranische  und  Polabische  —  eben  die  zwei  Reste  [Drawänisch — 
Kasubisch — Slovinzisch]  ausgenommen  —  ziemlich  gleichzeitig  bereits 
um  1400  vollständig  erloschen  waren)  sind  wir  ja  ausschließlich  auf 
die  Urkunden  angewiesen,  die  uns  nicht  einen  einzigen  zusammen- 
hängenden Satz,  wohl  aber  eine  große  Menge  von  Eigennamen  neben 
vereinzelten  Appellativen  überliefert  haben.  Wie  will  denn  überhaupt 
die  Sprachwissenschaft  die  Begriffe  «Polabisch«,  »Altpomoranisch«  mit 
Inhalt  erfüllen?  Kann  es  anders  geschehen  als  durch  ausschließliche 
Ausbeutung  der  so  verpönten  Urkunden  ?  Prof.  Baudouin  de  Court,  hat 
uns  ja  selbst  mit  seinem  monumentalen  Werke  über  die  altpoln.  Sprache 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court's  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.  263 

vor  mehr  als  30  Jahren  den  einzuschlagenden  Weg  gewiesen,  ja  im 
»Resume«  selbst  verweist  er  auf  die  geographische  Verbreitung  der 
Ortsnamen  von  der  Form  tart^  z.  B.  Naugard  (Novogard),  Stargard. 
Leider  ist  die  Ortsnamenforschung  noch  so  unvollkommen,  daß  die 
Philologie  bisjetzt  gar  keinen  Gewinn  daraus  ziehen  konnte.  Der  erste 
Versuch,  das  vielfach  so  spröde  Urkundenmaterial  philologisch  zu  ver- 
werthen,  ist  gerade  von  Prof.  Baud.  de  Court,  im  J.  1870  ausgegangen, 
doch  muß  heute  gerade  das  für  die  Erkenntnis  der  Verwandtschafts- 
verhältnisse wichtige  Kapitel,  die  Vergleichung  des  Altpoluischen  mit 
dem  Polabischen,  als  zur  Hälfte  mißlungen  betrachtet  werden;  wäre 
damals  bereits  das  Wesen  des  Polabischen  richtig  erfaßt  worden,  so 
hätte  die  lechische  Frage  überhaupt  nicht  zum  Gegenstande  erbitterten 
Streites  werden  können ! 

Kein  gewissenhafter  Forscher  wird  also  auf  diesem  dunklen  Ge- 
biete die  obligatorische  Forderung  des  ürkundenstudiums  verkennen; 
worauf  es  nur  ankommt,  das  ist  die  kritische  Scheidung  zwischen  Ent- 
stellungen, die  vielfach  in  der  niederdeutschen  Aussprache  begründet 
sind,  und  wesentlichen  Eigentümlichkeiten  der  Sprache  selbst.  Bau- 
douin's  Bemerkung  ist  übrigens  wohl  nur  gegen  das  unvorsichtige 
Operieren  mit  Eigennamen  gerichtet,  das  gelegentlich  in  den  »Rand- 
glossen« wahrzunehmen  ist.  Hier  sei  ein  Beispiel  gegeben!  Brückner 
nimmt  fürs  Polabische  sporadische  Metathese  der  Formel  tlot  [glowa] 
an  und  will  auch  bei  tret  (sorb.-lechisch :  breg)  vereinzelte  Fälle  von 
Metathese  wahrgenommen  haben.  Der  großpoln.  O.-N.  Koldrqh  (aus 
Klodrqb^  heoh.. Kladruh)  scheint  diese  Ansicht  zu  rechtfertigen;  allein 
bei  näherer  Betrachtung  erweist  sich  die  angebliche  Metathese  als 
volksetymologische  Anlehnung  an  kotdra  (Decke,  Mantel),  wobei  gewiss 
auch  der  gleichfalls  großpoln.  O.-N.  Szoldry  einen  gewissen  Einfluß 
ausübte.  Wenn  also  schon  das  großpoln.  Ortsnamenmaterial  mit  Vor- 
sicht zu  gebrauchen  ist,  wie  muß  es  dann  erst  mit  dem  altpomorani- 
schen,  polabischen  und  sorbischen  beschaffen  sein,  das  durch  die  Ger- 
manisierung so  stark  gelitten  hat  ?  Dr.  Hey  (Die  slav.  Ansiedelungen  in 
Sachsen)  hat  auch  für  das  sorbische  Gebiet  einige  sichere  Beispiele  dieser 
Metathese  nachweisen  können  [Moldewitz  aus  Mlodovici)^  und  er  zieht  aus 
der  Tatsache,  daß  der  wirklichen  sorb.  Sprache  eine  solche  Metathese 
ganz  und  gar  fremd  ist,  den  einzig  richtigen  Schluß,  dass  dieser  Wan- 
del in  der  slav.  Sprache  selbst  nie  begründet  war,  sondern  ausschließ- 
lich dem  deutschen  Einflüsse  zugeschrieben  werden  muß.    In  der  Tat, 


264  Julius  Koblischke, 

der  Beweis  läßt  sich  leicht  erbringen  !  Es  handelt  sich  nämlich  nur 
um  unbequeme  Konsonantenverbindungen,  die  der  deutseben  Sprache 
fehlen:  ml-,  wl-.  Da  der  Deutsche  ml-  einfach  nicht  aussprechen 
konnte,  half  er  sich  auf  zweierlei  Art:  entweder  wurde  ml-  zu  hl  (cf. 
slav.  Kostomlat,  cech.  Kostomlaty^)  [Knochendrescher],  germanisiert 
bei  Teplitz  Kostenblatt,  niedersorb.  Kosomiot,  german.  Kossenhlatt, 
poln.  Kostomlot,  jetzt  germ.  Kostenhlut),  oder  es  trat  die  erwähnte 
Metathese  ein:  Moldewitz  (sorb.  Mlodovici),  Molstow  in  Pommern 
[poTaox3LU.Mlodestowo).  Auch  durch  Einschaltung  eines  e  machte  man 
pie  fremde  Konsonantengruppe  gefügiger :  es  sei  hier  auf  die  Wiedergabe 
des  drawänischen  mläka  durch  melauka  verwiesen.  Aus  Prevlaka"^)^ 
lechisch  Pretloka,  wurde  im  Lüneburgischen  zunächst  Priwelok, 
woraus  sich  das  jetzige  Privelack  entwickelt  hat.  Derselbe  O.-N.  kehrt 
in  Mecklenburg  in  der  zweiten  Form  (Metathese)  als  Priwolk  wieder ! 
Schließlich  konnte  wl-  im  deutschen  Munde  auch  zu^  werden:  z.  B. 
Wlotoioo  :  Flatoio.  Noch  ein  zweiter  Beleg  sei  gegeben  für  die  Tat- 
sache, daß  erst  im  deutschen  Munde  die  von  Brückner  mit  unrecht  der 
slav.  Sprache  zugesprochene  Metathese  eingetreten  ist :  aus  Wlostowo 
(häufiger  poln.  O.-N.,  cech.  Vlastov)  entstand  in  der  Altmark  Wal- 
stotve :  der  O.-N.  findet  sich  auch  sonst  auf  polab.  Gebiete  und  lieferte 
die  durch  Volksetymologie  entstellten  Eigennamen  WalstafiF,  Bahlstaff, 
Wollstoff!  Aber  gerade  in  derselben  Altmark  findet  sich  im  O.-N. 
Wlasteiske  (drawänischer  Name  für  Arendsee  :  *idostiska)  die  echt- 
slavische  Form,  selbstverständlich  ohne  Metathese !  Die  draw.  Sprach- 
reste, die  doch  die  wirkliche  Volkssprache  wiedergeben,  bieten  ebenso 
wie  das  Polnische  und  Sorbische  nicht  ein  einziges  Beispiel  der  angeb- 
lich slav.  Metathese  tlot  zu  tolt !  Sie  ist  eben  rein-deutsches  Produkt ! 
Leider  hat  Prof.  Brückner  auch  die  O.-N.  Pritzwalk  und  Pasewalk 
hierher  gezogen ;  trotzdem  er  neuerdings  3)  mit  apodiktischer  Gewiß- 
heit erklärt,  mit  volk  Wolf  hätten  diese  O.-N.  nichts  zu  tun,  im  übrigen 
aber  über  die  Etymologie  wohlweislich  schweigt,  ist  es  doch  jedem  Un- 
befangenen klar,  der  die  urkundl.  Formen  polab.  Pristaivolh,  sorb. 
den  Lautgesetzen  entsprechend  Pristaivelk,  jetzt  Priestählich,  ferner 
das  häufige  Vorkommen  des  O.-^.Prestavlky  auf  cech.  Gebiete  berück- 


1)  Der  O.-N.  Kostomlaty  kommt  im  cech.  Teile  Böhmens  häufig  vor. 
'2)  Häufiger  O.-N.,  Bezeichmmg  der  Überfahrt  zwischen  zwei  Flüssen. 
3)  Cf.  Deutsche  Erde,  Heft  1,  1905. 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court. 's  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.   265 

sichtigt,  daß  hier  Zusammensetzungen  mit  volk  (sorb.  üelk)  Wolf  tat- 
sächlich vorliegen:  Prestavljc,  Pozdovlk  (weil  urk.  Posduwolk,  Pos- 
doicolk):  zu  letzterem  cf.  Pozdimir.  Aber  nicht  nur  die  Urkunden 
sprechen  für  volk  Wolf,  sondern  auch  die  Tradition  (Vita  Vigberti  über 
Volk  und  seine  Stadt  Posduwolk)  und  das  Stadtwappen  !  Und  bedeutet 
schließlich  die  Autorität  eines  Hilferding,  Beyersdorf,  Baudouin  de 
Court,  nichts,  die  alle  Posduwolk  als  Pozdovolk  erklären  ?  Infallibel  — 
Baudouin  spricht  ausdrücklich  von  einem  Infallibilitätsglauben  mancher 
Forscher  —  ist  niemand,  besonders  auf  dem  schwierigen  Gebiete  der 
Ortsnamenforschung!  Der  Nachweis  für  die  Existenz  einer  slav,  Meta- 
these tlot  zu  tolt  ist  von  Brückner  nach  dem  Gesagten  nicht  erbracht 
worden,  weil  er  überhaupt  nicht  erbracht  werden  kann,  da  die  Erschei- 
nung, ausschließlich  auf  ml-^  ivl-  (also  nicht  wie  im  großpoln./l-o/c^m5!; 
beschränkt,  nur  in  der  deutschen  Aussprache  begründet  ist.  Ebenso 
sind  analoge  Erscheinungen  der  Form  tret  zu  erklären :  lechisch 
drezpian-  (jenseits  der  Plana  Peene)  wurde  von  den  deutschen  Ur- 
kundenschreibern (Klerikern !),  wenn  sie  genau  sein  wollten,  durch  die 
noch  annehmbare  Schreibung  zerezpan-  (also  mit  Einschaltung  des  e 
wie  in  mel-  für  ml-^  wel-  für  wl-)  wiedergegeben:  die  Form  circipan-, 
auf  die  sich  Brückner  allein  stützt,  ist  nichts  anderes  als  eine  Latinisie- 
rung (Anlehnung  an  circa^  circi-ter)\ 

Ferner  ist  wohl  zu  beachten,  daß  neben  4 — 5  mal  wiederkehren- 
dem Predöhl  (sl.  Predoly  oder  Predolije)  nur  einmal  Pevdöhl  auf- 
taucht: allein  selbst  dieser  O.-N.  lautet  noch  1194,  1230  richtig  Pre- 
dole,  womit  der  Beweis  erbracht  ist,  daß  die  Metathese  tatsächlich 
erst  im  deutschen  Munde  eintrat. 

Da  nun  einmal  die  Ortsnamenforschung  zur  Aufhellung  sprach- 
licher Prozesse  beisteuern  mußte,  sei  hier  eine  Antwort  gegeben  auf 
Brückner's  Excurs  in  der  «Deutschen  Erde«  (Heft  1,  1005),  der  sozu- 
sagen als  Vermächtnis  an  alle  Ortsnamenforscher  (die  jetzigen  —  »ihre 
Vorgänger  und  Nachfolgercf)  aufgefaßt  werden  muß.  Prof.  Brückner, 
der  Begründer  der  wissenschaftlichen  Erforschung  des  polab.  Ortsnamen- 
materials, predigt  jetzt  Resignation :  die  Ortsnamen  aus  Personennamen 
sieht  er  als  minderwertig  an  und  rät,  auf  ihre  Deutung  ganz  zu  ver- 
zichten ;  da  ist  doch  die  Frage  erlaubt,  ob  er  nicht  selbst  in  der  Deu- 
tung von  Mieszka,  Lestkovid,  Krak  eine  »Bereicherung«  des  slav. 
Namenmaterials  gesehen  hat?  Kann  bei  dieser  Resignation  die  ohne- 
dies  ganz   vernachlässigte  Ortsnamenforschung   überhaupt   vorwärts- 


266  Julius  Kobliscbke, 

schreiten?  Soll  das  von  Miklosich  erst  angefangene  Werk  nicht  voll- 
endet werden  ?  Prof.  Brückner's  fernere  Bemerkung:  »Diese  Veröffent- 
lichungen mehren  sich  fast  in  erschreckender  Weise«  ist  wohl  nicht  als 
ein  allgemeines  Verdammungsurteil  aufzufassen  —  das  wäre  entschie- 
den zu  weit  gegangen  — ,  sondern  Brückner  wollte  nur  die  oft  kaum 
glaublichen  plumpen  Mißgriffe  der  Forscher,  die  nota  bene  oft  nicht 
eine  einzige  slav.  Sprache  kennen,  ein  für  allemal  brandmarken;  im 
Interesse  der  Wissenschaft  ist  es  jedoch  erwünscht,  daß  noch  mehr 
Werke  über  polabische,  pomoranische  oder  sorbische  Ortsnamen  er- 
scheinen, da  sie  —  mag  die  Deutung  noch  so  elend  sein  —  stets  als 
Sammlungen  des  Materials  höchst  willkommen  sein  müssen. 

Doch  gehen  wir  an  der  Hand  des  »Resumöscf  zur  Besprechung  der 
Eigentümlichkeiten  der  lechischen  Sprachzweige  über ! 

Da  tritt  uns  zunächst  die  Frage  der  Palatalisation  entgegen ;  leider 
hat  hier  Prof.  Baudouin  de  Court,  verschwiegen,  wie  es  sich  damit  im 
Polabischen  verhielt.  Die  drawänischen  Sprachdenkmäler  belehren  uns, 
daß  es  in  diesem  Dialekte  keine  Erweichung  der  Konsonanten  vor 
palatalen  Sonanten  gab.    Die  bekannten  5  Fälle: 

«  :  pjäs  [pzsü] 

-ja  :  vülja  [volja) 

jia  (aus  e)  :  siö?iu  [siano] 

\id 

-Ju  :  Ij'äudi  [Ij'udije) 

jiq  (aus  <?)  :  diwjungte  [devety). 

\jung  (aus  ang) 

kommen  hier  nicht  in  Betracht,  da  dies  nicht  die  «Weichheit«  des  Pol- 
nischen, Sorbischen  und  Großrussischen  ist.  Mit  Recht  hat  sich  Schlei- 
cher —  diese  5  Fälle  selbstverständlich  ausgenommen  —  gegen  die 
»Polonisierung  des  Polabischen«  gesträubt,  allein  seine  Meinung,  erst 
unter  dem  mächtigen  Einflüsse  des  Deutschen  sei  Entpalatalisierung  des 
ne  ie  t'i  etc.  eingetreten,  hat  nichts  für  sich,  da  sich  aus  den  Schrei- 
bungen der  Urkunden  kein  Beweis  für  die  Palatalisation  beibringen 
läßt.  Wenn  wir  bedenken,  daß  der  großrussischen  Weichheit  die 
kleinrussische  Härte  schroff  gegenübersteht,  ja  sogar  das  Westslavische 
in  dieser  Beziehung  nicht  ganz  einheitlich  vorgeht  (cech.  ne  gegenüber 
slovak.  poln.  sorb.  we),  so  können  wir  auch  fürs  Altpolabische  unbe- 
denklich absolute  Härte  wie  im  Südslav.  u.  Kleinruss.  annehmen :  dafür 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.  267 

sprechen  nicht  nur Polanski's  Ausführungen  über  die  Entwickelungs- 
bedingungen  der  Palatalisation  (ein  anschauliches  Beispiel  cech.  te  7ie 
gegenüber  td  tiS  t'i  ni],  sondern  auch  das  deutliche  Streben  des  Drawä- 
nischen,  selbst  berechtigte  ursprüngliche  Weichheit  vor  palatalen  So- 
nanten  zu  tilgen:  aus  vydanij'e  vydanj'e  wird  voidöne  [ne  hart  zu 
sprechen,  im  Gegensatze  zum  kleinruss.  ne  in  öuvanel),  aus  zerke  (für 
zemq)  entsteht  zimq  zimang. 

Die  Annahme  von  Halbweichheit  fürs  Urslav.  ist,  wie  Polanski  mit 
Recht  bemerkt,  ein  bequemes  Ausfluchtsmittel;  die  Gutturalen  kommen 
selbstverständlich  nicht  in  Betracht,  da  diese  Konsonanten,  wie  die 
Übereinstimmung  aller  slav.  Sprachen  in  diesem  Punkte  beweist,  seit 
jeher  im  Slavischen  überhaupt,  im  Lechischen  insbesondere,  eine  Son- 
derstellung einnehmen,  gegen  palatale  Sonanten  ungemein  empfindlich 
sind.  Daß  im  Ursl.  die  nichtgutturalen  Konsonanten  vor  palatalen  So- 
nanten kaum  anders  als  in  den  westeuropäischen  Sprachen  lauteten, 
dafür  scheinen  folgende  zwei  Erwägungen  zu  sprechen : 

Aus  großruss.  ti  und  kleinruss.  ty  kann  sich  fürs  Urruss.  nur  ti 
als  Resultante  ergeben,  da  ein  Übergang  von  ti  zu  ty  rein  unmöglich 
ist.  —  Neben  chwala  und  Ijud  [polje)  gab  es  ein  indifi'erentes,  nach 
westeuropäischer  Art  gesprochenes  l  in  chvaliti:  wenn  hier  das  Pol- 
nische, Sorbische  und  Großrussische  chvaVi  sprechen,  so  merkt  man 
unschwer,  dass  hier  eine  sekundäre  Erscheinung,  nämlich  Zusammen- 
fall des  indifferenten  li  mit  /;',  vorliegen  muß.  Verfehlt  wäre  es  daher, 
fürs  Urruss.  clwaVit'i  anzusetzen,  da  sich  damit  kleinruss.  clivaiyty 
(hier  ist  umgekehrt  das  indifferente  /  zu  ^  geworden!)  unmöglich  in 
Einklang  bringen  läßt.  Wenn  im  Kleinrussischen  sogar  aus  ^^oT/e  pole 
wurde,  so  beweist  dies  deutlich,  dass  es  in  der  Sprache  keine  Verbin- 
dung Te  gab,  sondern  nur  indifferentes  /e,  an  das  sich  eben  das  verein- 
zelt dastehende  jjolj'e  anschließen  mußte.  Mit  dem  indifferenten  /  zu- 
gleich geschah  dann  die  Weiterentwickelung  des  Wortes  zm.  pofe. 

Ich  ziehe  also  aus  dem  Gesagten  die  Schlußfolgerung:  Das  ver- 
schiedene Verhalten  (im  Punkte  der  Palatalisation)  der  russischen 
Sprachzweige  berechtigt  uns  auch,  eine  ähnliche  Spaltung  innerhalb  des 
Lechischen  anzunehmen;  das  Drawänische  weist  absolute  Härte  auf, 
und  da  sich  in  einer  Sprache  wohl  einzelne  Laute,  z.B.  s  z,  entpalatali- 
sieren  lassen,  niemals  aber  systematisch  alle  Konsonanten,  so  haben  wir 
schon  fürs  Altpolabische  den  Zustand  des  Drawänischen  vorauszu- 
setzen.   Zwischen  Kasubisch-Polnisch  und  Polabisch  (Drawänisch)  liegt 


268  Julius  Koblischke, 

eine  ungeheuere  Kluft  in  dieser  Beziehung,  so  daß  wir  es  eigentlich 
unbegreiflich  finden  müssen,  wie  Ramult  gerade  Polabisch  und  Pomo- 
ranisch  zu  einer  näheren  Einheit  gegenüber  dem  Polnischen  zusammen- 
schweißen wollte.  Brückner's  Zitat  aus  Krylov:  slona-to  ja  ne  pri- 
metil  bleibt  darnach  in  Kraft. 

Prof.  Baudouin  de  Courtenay  bemerkt:  «Die  kasubisch-polnische 
Weiterentwickelung  des  ursl.  r  zu  ar  {tri  zu  tarf)  wiederholt  sich,  aber 
im  Grunde  genommen  nur  scheinbar,  im  Niederlausitzisch- Sorbischen". 
Dazu  wäre  zu  ergänzen,  daß  auch  das  Polabische  in  dieser  Hinsicht 
vollkommen  mit  dem  Kasubo-Polnischen  übereinstimmt.  Wir  haben  es 
mit  einer  gemein-lechischen  Weiterentwickelung  zu  tun,  die  bisjetzt 
noch  nicht  genügend  Beachtung  gefunden  hat,  da  Schleicher  den  wahren 
Sachverhalt  nicht  richtig  erfaßt,  durch  seine  Autorität  aber  alle  For- 
scher irregeführt  hat.  Bei  Dr.  Mucke  findet  sich  zwar  (Niedersorb. 
Gramm.  S.  123)  ein  Verweis  auf  das  Polabische,  allein  Mucke's  Rekon- 
struktionen in  seinen  Szczatki  j^zyka  polabskiego  zeigen  klar,  daß  auch 
er  noch  nicht  zur  richtigen  Erkenntnis  der  wirklich  vorliegenden  Ver- 
hältnisse gelangt  ist.  Ursl.  frt  auch  im  Polabischen  =  tarf,  draw.  fort. 
Belege  fürs  Polabische  ^) : 

Zarneglowe  (Vorpommern)  \  poln.  Carnogloicy, 

Zarnewanz  (Vorpomm.,  2  mal  in  Mecklenbg.)  /  Carnowqs. 

Sarnßecke  (Lüneburg)  =  poln.  [Zarnoseky)  Zarnosieki. 
Diese  2  Fälle,  die  eigentlich  zu  tri  gehören  {cf.  russisch  6ern-  zern-), 
sind  hier  nur  deshalb  erwähnt,  weil  das  Resultat  von  ursl.  trt  in  diesem 
Falle,    nämlich  nach  ^j  i,  s,  vollkommen  mit  dem  Ergebnis  von   trt 
übereinstimmen  muß. 

Karchoiv  [Meckleuhg.)  zum  P.-N. /farcÄ,  cech.krch,  osorh.  koi'ck 
Linkhand  :  poln.  Karclwxo. 

Kargoio  (Mecklenbg.)  :  poln.  Kargöiv. 

Karhow  (Mecklenbg.)  :  poln.  Karhoioo. 

trt  ist  ferner  ganz  zu  trt  geworden  in  den  2  O.-N.  (Mecklenbg.) 
Tarnoio  (poln.  Tarnöw,  Tarnomca  etc.)  und  Twardulino,  jetzt 
Warlin  (cf.  poln.  txoardy,  sttdsl.  P.-N.  Tvrdilo,  urk.  Tverdiio], 

Echtes  trt  liegt  wieder  vor  in  den  O.-N. : 


1)  Die  O.-N.  sind  aus  Kühnel's  Werken  über  Mecklenburg  und  das  Wend- 
land geschöpft. 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Eesume  der  kas.  Frage«.   269 

Warffalitz,  Wardow  :  TVargalitz  zum  P.-N.  Wargal  (poln. 
warga  »Lippecf,  daher  war^a/ «Großlippiger«  wie  tcasal  »Großbart« 
zu  wqs). 

Wardow  :  P.-N.  Warda  =  poln.  war  da  »Linktatz«. 

Im  Drawänischen,  dem  organischen  Fortsetzer  des  Altpolabischen, 
muß  natürlich  dieselbe  Weiterentwickelung  auftreten,  mit  dem  einzigen 
Unterschiede,  daß  sich  das  a  in  tart  zugleich  mit  allen  sonstigen  a  in  ü 
verwandelt  hat.  Es  war  daher  ein  gewaltiger  Irrtum  Schleicher's, 
wenn  er  görnak  (polnisch  garnek  Topf)  als  *gärnak  transskribierte, 
da  bereits  im  Altpolabischen  in  vollkommener  Übereinstimmung  mit 
der  ganzen  lechischen  Sprachgruppe  garn-ük  vorlag.  Hier  sei  gleich 
die  Entwickelung  des  altpolab.  Öarny  angedeutet:  die  zu  erwartende 
Form  corne  findet  sich  tatsächlich  bei  allen  Aufzeichnern,  Schleicher's 
c\irne  ist  also  in  doppelter  Hinsicht  falsch :  ä  hat  keine  Berechtigung 
und  die  Erweichung  findet  nur  eine  scheinbare  Stütze  an  einer  Schrei- 
bung Pfeffinger's:  tschiurna.  Alle  übrigen  Quellen  bieten  nur  cörne 
(ohne  ^),  und  selbst  Pfeffinger  hat  noch  eine  zweite  Schreibung 
tschoorne,  die  allein  als  die  richtige  angesehen  werden  muß;  daß  i 
tatsächlich  nur  graphisch  ist,  beweist  auch  die  Schreibweise  tschiöra 
für  tschör a  {(jöra-gora)  bei  demselben  Aufzeichner.  Eine  Form  dorn 
ist  schon  deshalb  unmöglich,  weil  nach  z,  i,  d  im  Lechischen  die  Er- 
weichung sozusagen  im  Zischlaute  aufgeht:  daher  zqdlo  (poln.)  zundlü 
(polab.,  ursl.ie(//o,  woraus  zunächst  ziadlo^  dann  zqdlo),  tiocungl  naöql 
(er  fing  an,  aus  ursl.  nadql). 

Hierher  gehört  auch  ein  von  Schleicher  arg  verkanntes  Wort.  Das 
von  Hennig  überlieferte  hvrs,  harsch  »eher«  ist  natürlich  nicht  prezde, 
sondern  der  Comparativ  zum  gemein-lechischen  harzo  (polnisch  jetzt 
hardzo)^  *barze  »rascher,  früher,  eher«,  daher  zu  transskribieren  durch 
börz,  börz. 

Dem  poln.  smarkac  (obersorb.  smorkac]  entspricht  polab. -draw. 
smarkat-smorkat^  das  ja  tatsächlich  in  der  Wendung  SMjad/  voismdrkat 
(mit  o  geschrieben!)  vorliegt. 

Schließlich  sei  hier  noch  die  einzig- mögliche  Etymologie  von 
ivsiW.  porg  Bofist  gegeben.  Durch  die  Ähnlichkeit  des  Klanges  ver- 
leitet, stellten  es  die  bisherigen  Forscher  ohne  weiteres  zu  poln.  pur- 
chawka,  parch^  ohsorh.  ^^orchawa.  Mucke  rekonstruiert  säuberlich 
))porch  oder  pärcha,  ohne  zu  beachten,  daß  Parum-Schulze  nur  g 
schreibt.    Die  Worte  des  Parum-Schulze  müssen  uns  den  richtigen  Weg 


270  Julius  Koblischke, 

weisen :  f>porg  —  wenn  man  darauf  tritt,  dann  berstet  es  und  spritzet 
Dreck  heraus«,  d.  h.  der  Bofist  heißt  im  Draw.  deshalb  porg^  weil  er 
berstet  .  .  .;  bersten  aber  heißt  draw.  purgnot^  Nebenform  pirgnqt, 
po\Vi.  pierzgncfc.  Es  liegt  also  ursl.  j^r^-  zu  Grunde:  wie  nun  aus 
trn-  tarn-  [Tarnow  gemeinlech.),  aus  twrd-  poln.  twardy  fpolab. 
nur  im  P.-N.  Tioardula)  wurde,  ebenso  trat  in  der  Wortableitung 
neben  prg-  perg-  (Zeitwort)  auch  prg  (Hauptwort),  woraus  sich  eben 
altpolab.  pary,  draw.  porg  entwickeln  musste.  Das  draw.  Wort  für 
Bofist  steht  also  in  keinem  Zusammenhange  mit  purchawka^  parch 
(Räude!),  porchawa,  seine  eigentliche  Bedeutung  ist  « Berstpflanze » 
(zum  Stamme  prg-  2)rgnqH). 

Es  ergibt  sich  also,  daß  die  Weiterentwickelung  des  t)^t  zu  tart 
eine  allgemein-lechische  Erscheinung  ist,  und  zwar  ist  sie  nur  diesem 
Sprachstamme  eigen,  da,  wie  Prof.  Band,  de  Court,  richtig  bemerkt,  das 
niedersorb.  tart  nur  scheinbar  hierher  gehört :  es  ist  erst  eine  sekundäre 
Bildung  für  ursprüngliches  tert. 

Auch  Punkt  6  erheischt  eine  nähere  Ausführung:  »Die  Aufbe- 
wahrung der  Nasale  ist  gemein-lechisch,  obgleich  jedes  Gebiet  Eigen- 
gestaltungen aufweist«.  Das  Polabische  ist  wieder  recht  konservativ, 
es  stimmt  mit  dem  ursl.  Zustand  vollkommen  überein  bis  auf  zwei  Pro- 
zesse, die  diesen  Zustand  etwas  ändern.  Der  erste  Prozeß,  nämlich  die 
Steigerung  des  e  zu  iq  [deveti :  deviqty)  muß  in  die  urlech.  Zeit  zurück- 
reichen, da  diese  Erscheinung  auch  dem  Kasubisch-Polnischen  eigen 
ist.  Der  zweite  Prozeß  aber,  der  Ersatz  des  q  durch  e  nach  allen  wei- 
chen Lauten,  ist  spezifisch  polabisch :  pojangk  (altpolab.  pajek)  gegen- 
über ursl.  pqjqk^  zimang  [zemq  aus  zemq)  gegenüber  ursl.  zemjq,  plo- 
zang  [plade)  gegenüber  ursl.  pla6q\  diese  weiche  Endung  der  Prima 
Sglris  und  Tertia  Pluralis  wurde  dann  im  Polab.  (Draw.)  auf  alle  Zeit- 
wörter übertragen :  eidang^  plitang  {*idq,  *pletq,  aber  durchaus  nicht 
identisch  mit  poln.  ide  pliote,  dessen  §  —  wie  wir  bald  sehen  werden  — 
tatsächlich  auf  «  zurückgeht!). 

Gegenüber  dieser  Einfachheit  der  Verhältnisse  im  Polabischen 
müssen  die  polnischen  Abweichungen  vom  ursl.  Zustande  als  ziemlich 
kompliziert  bezeichnet  werden.  Für  ursl.  q  finden  wir  bald  q,  bald  e,  und 
nur  der  Umstand,  daß  e  stets  hart  bleibt,  deutet  an,  daß  es  sich  tat- 
sächlich um  den  Ersatz  des  urslav.  q  handelt.  Quantitative  und  qualita- 
tive, durch  Accent  oder  Kontraktion  (gelegentl.  Ersatzdehnung) 
bedingte  Unterschiede  des  q  liegen  der  poln.  Vertheilung  von  q  und  ? 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Resumß  der  kas.  Frage«,  27 1 

zu  Grunde.  Die  Dififerenzierung  von  kladq  kladci  (ursl.  kladq  kladqü) 
beruht  z.  B.  auf  einer  durch  Ersatzdehnung  kladq  (aus  kladqü^  dessen 
ti  bekanntlich  im  Westslav.  abgefallen  ist)  hervorgerufenen  Wert- 
änderung des  ursl.  q\  als  Resultat  der  Ersatzdehnung  «  stellt  sich  die 
Bewahrung  des  q  («schwerer«  Laut)  dar,  gegenüber  dem  quantitativ 
schwächeren  q  der  1.  Sg.,  das  durch  eine  andere  Nuance  des  Nasal- 
lautes, hartes  q  (» leichter  (f  Laut),  wiedergegeben  wird.  Ähnlich  ver- 
hält es  sich  mit  wodq  —  wodq^  wo  wieder  die  Kontraktion  vodojq  )  vodq 
die  Bewahrung  des  q  herbeigeführt  hat.  Das  Polnische  geht  in  dieser 
Beziehung  mit  dem  Cech,  Hand  in  Hand,  während  das  Polabische  und 
Sorbische  quantitative  und  qualitative  Unterschiede  bei  q  getilgt  haben, 
da  hier  jedes  q  nur  o  {ung)  resp.  u  ergibt. 

Poln.  Made  vodq  :  cech.  kladu^  vodu  = 

Poln.  kladq  vodq:  cech.  kladü  kladou  vodü  vodou. 

Dasselbe  Verhältnis  liegt  auch  vor  in  den  Fällen,  wo  ohne  Zweifel 
die  ursprüngliche  Verschiedenheit  des  Accentes  der  maßgebende 
Faktor  war: 

»Schwerer«  Laut  q,  cech.  ti,  ou. 

kqt  —  kout.  dqhek  —  douhek. 

krqzek  —  krouiek.  mqka  —  mouka. 

dqbrowa  —  doubrava.  mqdry  —  moudry. 

pajqk  — pavouk.  gqska  —  houska. 

krqgly  —  okrouhly.  sqd  sqdu  —  soud. 

Aus  poln.  gq^6,  cech.  JiouH  und  serb.  gidta  ergibt  sich  der  Grund 
der  Erscheinung ;  ursl.  q  war  in  den  angeführten  westsl.  Wörtern  be- 
tont, und  erst  unter  dem  Einflüsse  des  Accentes  traten  die  einander 
wohl  ähnlichen,  aber  durchaus  nicht  identischen  Prozesse  des  Poln. 
und  Cech.  ein ;  das  Polnische,  das  ja  die  Nasale  bewahrt,  deutete  den 
urspr.  qualitativen  Unterschied  (betontes  </,  unbet.  q)  genau  so  an 
wie  den  urspr.  quantitativen  [vodq  vodq  aus  vodojq)^  nämlich  durch 
den  «schweren«  (a)  und  »leichten«  [q)  Laut;  das  Cechische,  das  den 
Nasal  durch  u  ersetzen  mußte,  andererseits  aber  den  quantitativen 
Unterschied  von  kladq  kladq  vodq,  vodq  vodq  auch  nach  dem  Ersätze  des 
Nasals  durch  u  festhielt  [vodu — vodü  vodou,  kladu — kladü  kladoK), 
deutete  nun  auch  den  qualitativen  Unterschied  zwischen  q  (betont)  und 
q  (unbet.)  durch  ü  [ou]  und  w  an,  genau  so  wie  es  bei  kräoa  —  russ. 
koröva,  stokav.  krilva  gegenüber  strana  —  russ.  storonä  verfährt. 


272  Julius  Koblischke, 

Einige  Beispiele  für  den  »leichten«  Laut  <?,  cech.  u: 
kqs  —  kus.  kr(ipxj  —  krupy. 
prqt  — prut.    pajqiijna  — pwoudina  (gegenüber  paj'qk  — 

pavouk). 
hqheti  —  buhen,  pqp  — pup  (gegenüber /;r^/?/e  —  poupS). 
glqboki  —  hluboky  (die  erste  Silbe  war  schon  im  Ursl.  unbe- 
tont, cf.  stokav.  dübok,  6ak.  dubok). 
rqha  —  ruka,  cf.  russ.  rukä,  aber  poln.  rqdka,  russ.  rüdka. 
Iqk  —  luk,  geba  —  huba  (Maul)  etc. 

Nur  eine  scheinbare  Ausnahme  bilden  die  Wörter  dqh,  krag,  blqd, 
golqh^  galqz,  bqd  (Gefäss),  mqz,  denen  cech.  u  gegenübersteht :  dub, 
kru/i,  blud,  holiib,  haluz,  sud^  muz\  das  Polnische  bietet  aber  wieder 
in  vollkommener  Übereinstimmung  mit  dem  Cech.  Gen.  debu,  kregu, 
blqdu,  golebia,  gaiezi,  sedu,  mqza.  Da  cech.  suk,  sup  =  poln.  sqk, 
sqp  (nicht  *sqk,  *sqp],  ist  es  klar,  daß  es  sich  hier  um  einen  ähnlichen 
Wechsel  wie  bei  tniöd —  niiodu  handelt:  die  genannten  Wörter  dqb, 
krag  etc.  enden  sämmtlich  auf  ursprüngl.  tönende  Konsonanten  (J,  g,  d, 
b,  z,  z)  und  der  Nasal  befindet  sich  stets  in  geschlossener  Silbe.  Wie 
nun  miod  zu  7niöd  wurde,  so  bekam  auch  der  Nasal  in  der  geschlossenen 
auf  ursprüngl.  tönende  Konsonanten  ausgehenden  Silbe  einen  höheren 
Wert  als  in  der  offenen  Silbe  [golqbia  sedu  —  miodu,  liody) :  daher 
der  »schwere«  Laut  q  im  Nominativ  Sgl.  Das  cech.kolub,  kruli  ist  da- 
her das  Ursprüngliche  (cf.  russisch  gölul)),  der  polnische  Wechsel  go- 
iqb  —  golqbia  konnte  sich  erst  entwickeln,  nachdem  ä  und  /  gefallen 
waren. 

Wir  sehen  also  das  Polnische  in  der  Frage  des  q  ganz  auf  der 
Seite  des  Cechischen,  während  das  Polabische  hier  auf  dem  Stand- 
punkte des  Sorbischen  steht;  anders  aber  gestalten  sich  die  Schicksale 
von  q'.  da  kommt  die  lechische  Verwandtschaft  wieder  zur  Geltung. 

Auch  bei  e  haben  wir  zwischen  urspr.  betontem  e  und  unbetontem 
zu  unterscheiden : 

I.  devety  ^)  betontes  e  vor  folgender  Härte. 

IL   tqza^) jeti    »      q    »  »  Weichheit. 

IIL  Jqzyk  (cf.  russ.  jazyk)  unbetontes  e  vor  folgender  Härte. 

IV.  devqü  (cf.  russ.  devjati)      «  q    »  »         Weichheit. 


Cf.  russ.  devjdtyj.  ~)  tjdza. 


Bemerk,  zu  Prof.  Band,  de  Court.'s  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.  273 

Fürs  Polabische  fallen  IL  und  IV.  zusammen,  d.  h.  das  Polabische  ver- 
fährt hier  konsequent  wie  bei  «,  wo  ebenfalls  ä  und  unbetontes  q  nicht 
geschieden  werden:  das  Polnische  und  Cechische  beachtet  aber  den 
Unterschied  wohl.  In  I.  und  III.  herrscht  vollkommene  Übereinstim- 
mung zwischen  Polnisch  und  Polabisch,  aber  auch  das  Cechische  schließt 
sich  ähnlich  wie  bei  q  [pajqk  — pavouk)  ungemein  eng  an,  die  Fälle 
sind  analog. 

Das  Sorbische  gehört  zu  I.  nur  durch  den  ausgestorbenen  Sorauer 
Dialekt  (Jakubica).  Betrachten  wir  nun  die  Entwickelung  der  einzelnen 
Fälle !  Aus  clevety  wird  zunächst  durch  Einfluß  des  Accentes  ein  de- 
vHy  (Dehnung),  hierauf  tritt  1)  im  Cech.  Ersatz  des  Nasals  durch  ia 
(eine  aus  eä  iä  hervorgegangene,  durch  den  gutturalen  Charakter  der 
folgenden  Silbe  bestimmte  Lautgestalt)  ein,  daher  *devjäty^  deväty\ 

2)  im  Lechischen  eine  ähnliche  Spaltung  des  e  ein,  wie  sie  beim 
nicht-nasalen  e  stattfindet. 

Aus  ursl.  mesto  wird  im  Lechischen  miasto  (dieselben  Bedingungen 
dieser  Spaltung  wie  bei  devety:  Länge  des  e-Lautes  (e)  und  folgende 
Härte!),  daher  aus  devety  :  deviqty.  Selbstverständlich  kann  va.jqzyk 
(in.)  diese  Spaltung  nicht  eintreten,  weil  hier  die  erste  Hauptbedingung 
nicht  erfüllt  ist,  es  fehlt  die  an  den  Accent  geknüpfte  Länge  des 
Nasals:  daher  richtig  poln.ye^y^,  cech.  j'azyk  (a  kurz!).  Wenn  das 
Drawänische  trotzdem  jqzik  [Jungsik]  bietet,  so  ist  dies  eine  verhält- 
nismäßig junge  Analogiebildung  nach  Wörtern  wie  gljungdat  (poln. 
glqdac\  wjungzat  (poln.  wiqzac)  etc.,  wo  die  Bedingungen  des  Wan- 
dels gegeben  waren;  nach  Verlegung  des  Accentes  nach  vorne:  *jezyk 
[ansj^zyk]  trat  dann  wie  in  gledat — gljungdat  auch  Umformung  zu 
jüngzik  ein.  Auf  die  alte  Betonung  von  westslaw.  mqsö  weisen  poln, 
miqso^  cech.  mciso  [a  wieder  kurz  wie  mjazyk)^  polab.  mangsil  [mqsö). 
Der  Sorauer  Dialekt  des  Sorbischen  bietet  die  Analogieform  mjuso  aus 
*miqso  nach  gljudac  wjuzad. 

Beispiele:  draw.  siüante,  poln.  iwiqty,  cech.  svaty. 
(=  svqty)  cf.  russ.  svjatöj. 

dagegen  fem. :  sjunta  (Analogiebildung  nach  Verlegung  des  Accentes, 

poln.  nur  ^wiqta,  cech.  svatä)^  poln,  swiqtek,  cech.  sväfek. 
draw,  sist  disjungt  (60),  poln.  szeic  dziesiqt,  cech.  ^cdesäf. 
draw.  gljimgdat.!  poln.  gJqdac^  cech.  hlidati  (diflferenziert  hledati]  aus 

hliädati  )  hliedati. 

Arcliiv  für  slaviscLe  Philologie.    XXVllI.  18 


274  Julius  Koblischke, 

draw.  wjungzatj  poln.  wiifzaö,  cech.  väzati. 

draw.  zungdlu  (Accent  verlegt),  poln.  zqdlo^  cech.  Hello  (aua  iiädlo). 

poln.  iqdac,  cech.  zädati. 

Die  Fälle  II.  u.  IV.  sind  nur  fürs  Polabische  identisch:  ein  podl-ti 
und  dev^ti  (vorslav.  Betonung  devetis,  peniis)  ergeben  pücangt,  di~ 
va7igt^  anders  im  Poln.  und  Cech.  Im  Poln.  kann  die  Spaltung  des  q  zu 
iq  in  unbetonter  Silbe  nicht  vor  sich  gehen :  der  Nasal  bleibt  wegen 
der  folgenden  Weichheit  'er.  dziewiqc  pieö.  Im  Cech.  tritt  aus  demselben 
Grunde  (wegen  des  palatalen  Charakters  der  folgenden  Silbe  oder  des 
folgenden  Lautes)  nicht  ia  als  Ersatz  des  Nasals  auf,  sondern  te,  daher 
jpet^  devSt^  die  nicht  mit  Gebauer  als  *pjat^  devjat  aufzufassen  sind. 
Wenn  nun  ein  solches  durch  folgende  Weichheit  bedingtes  iq,  cech.  ^ 
betont  war,  wie  in  poöeti,  vqze  (er  bindet),  so  verfuhren  die  Sprachen 
genau  so  wie  bei  ä'.  im  Poln.,  das  quantitative  Unterschiede  wenig  be- 
achtet, trat  wieder  die  bekannte  Scheidung  zwischen  «schwerem«  und 
»leichtem«  Laut  ein:  m piqc  iq  urspr.  unbetont,  daher  bleibt  der  leichte 
Laut  iq\  in  poöeti  aber  muss  iq  erscheinen:  podqc,  viqze.  Es  ist  so- 
mit dieser  Wandel  des  iq  zu  iq  wohl  zu  scheiden  von  dem  gemein-lech. 
Wandel  devqü  :  dev'qty  (cech.  deväty),  wo  gerade  die  Härte  der  folg. 
Silbe  die  conditio  sine  qua  non  ist.  Für  den  zweiten  spezifisch  poln. 
Wandel  bietet  wieder  das  Cech.  ein  Analogen :  im  Cech.  ergibt  poöefi 
veze  zunächst  poöieti  vieze,  die  sich  vom  unbet.  ie  in  pqU  durch  die 
Länge  des  Nasals  unterscheiden:  daher  jetzt ^0(5^7^  vize,  Uze  (poln. 
ciqza).  Poln.  rqd  rqdu  (Regierung)  =  cech.  räd  rädu\  aber  rqd  rqdu 
(Reihe)  beruht  eigentlich,  wie  das  cech.  fem.  rada  [a  kurz)  beweist,  auf 
^rqdü.  Das  Verhältnis  zwischen  rqd  Nom.  und  rqdu  ist  genau  dasselbe 
wie  in  Mqdz  ksiedza  (cech.  nur  knez  kn^ze)^  JastrqJj  Jastrqbia,  die  alle 
so  zu  erklären  sind  wie  die  analogen  Fälle  dqh  debu,  krqg  kregu. 

Prof.  Baudouin  de  Court.'s  Bemerkung:  »Außerdem  unterlag  im 
Kas.,  im  Gegensatze  zum  Poln.,  der  urslav.  Nasalvokal  q  einer  Spal- 
tung .  .  .«  verlangt  eine  Zurückführung  aufs  richtige  Maß;  es  handelt 
sich  hier  augenscheinlich  um  den  kas.  Wandel  pryslc  :  prysegac\  weit 
entfernt  einen  Gegensatz  zum  Poln.  darzustellen,  beruht  die  »Spaltung« 
nur  auf  lautlicher  Modifikation  der  zu  Grunde  liegenden  allgemein-poln. 
przysiqc  — prysiqgac  (aus  iq  wurde  über  iu[n)-i,  aus  iq  —  e\). 

Schließlich  sei  noch  hervorgehoben,  daß  die  Entpalatalisierung  des 
e  im- Kas.  nicht  mit  dem  polab.  q  auf  die  gleiche  Stufe  gestellt  werden 
kann,  da  dem  polab.  q  der  palatale  Charakter  {'q)  überhaupt  fremd  war. 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Kesume  der  kas.  Frage«.   275 

In  Punkt  7  ist  die  Rede  von  der  »Spaltung«  des  e,  e,  t .  Da  diese 
Bezeichnung  leicht  irreführen  kann,  empfiehlt  es  sich,  den  Ausdruck 
»Spaltung«  nur  auf  die  zwei  gemein-lech.  Fälle  e  =  e'a,  e  über  e  =  iq 
(Bedingung:  Ton  und  folgende  Härte)  zu  beschränken,  da  darin  eine 
wirkliche  Zerlegung,  Spaltung  desselben  Lautes,  des  einfachen  oder 
nasalen  e,  zum  Ausdruck  kommt.  Die  »Doppelform«  e  —  'o  ist  eine  sehr 
späte  Erscheinung,  da  sie  dem  Polab.  ganz  fehlt  (poln.  kas.  Iroza  aus 
hreza,  Polab.  nur  hreza^  hrizaina]  und  erst  im  Altpoln.  in  der  Ent- 
wickelung  begriflFen  erscheint.  Die  wesentliche  Bedingung  dieses  Um- 
lautes (e — o)  ist  die  Weichheit  des  e-Lautes,  daher  ist  dieser  Prozeß 
auch  im  Sorb.,  Großruss.  anzutreffen;  dem  Cech.,  dem  weiches  e  ganz 
fehlt,  ist  der  Umlaut  unbekannt;  da  nun  auch  das  Polab.  nicht  die  ge- 
ringste Spur  aufweist,  so  müssen  wir  darin  wieder  einen  Beweis  für  die 
absolute  Härte  des  e  erblicken. 

Prof.  Baud.  de  Court,  hätte  aber  hervorheben  müssen,  daß  die 
Spaltung  e — la  (draw.  e — ^o,  nach-  und  zwischen  tonig  ia  niiceidial 
nemdel^  wäüjadun  =  vyjadäno]  allen  lech.  Sprachzweigen  eigen  war. 
Leider  hat  man  bisher  noch  immer  nicht  klar  erkannt,  daß  das  Polab. 
in  der  Behandlung  des  e  mit  dem  Polnischen  vollkommen  übereinstimmt. 
Dr.Kalina's  Ausführungen  (Slownik  jezyka  poiabskiego  —  Par. Schnitze) 
über  die  Schicksale  des  ursl.  e  im  Polab.  sind  im  Prinzipe  ganz  verfehlt : 
Dr.  Kaiina,  selbst  ein  guter  Kenner  des  Bulgarischen,  hat  aus  dem 
Polab.,  einer  lechischen  Sprache,  eigentlich  einen  bulgar.  Dialekt  ge- 
macht, da  er  ganz  verkennt,  daß  sich  die  Gutturalen  und  Labialen 
gegenüber  dem  e  im  Polab.  genau  so  verhalten  wie  im  Polnischen : 
wenn  er  wie  einst  Hilferding  das  clavak  der  draw.  Sprachdenkmäler  als 
*6lovJak  (cf.  bulgar.  orjacli^  -s?^«^)  faßt,  so  ist  das  vom  Standpunkte  des 
Polab.  eigentlich  eine  sprachliche  Ketzerei:  das  draw.  clavak  ist  die 
regelrechte  Weiterbildung  eines  früheren  clavelc,  da  es  im  Draw.  das 
Lautgesetz  gab:  »Nachtoniges  e  im  Inlaute  (und  häufig  auch  im  Aus- 
laute) und  nicht  selten  zwischen  toniges  e  werden  über  ü  zu  a«. 
Beisp.:  clovek  )  clavak  vübasen  [obcsen),  jni  zeimci  {po  zime). 

Die  Spaltung  des  e  vor  folgender  Härte  zu  ia  muß  zu  den  ältesten 
Lautprozessen  des  Lechischen  überhaupt  gerechnet  werden :  sie  ist  im 
Vereine  mit  der  analogen  Wandlung  des  q  zu  iq  [decajy)  sozusagen  die 
wissenschaftlich  unanfechtbare  Grundlage  der  »lechischen«  Theorie. 

Aber  auch  die  Doppelform  fert —  ^art,  tart  für  ursl.  trt  ist  dem 
ganzen  lech.  Sprachgebiete  eigen.    Es  ist  ja  auch  nicht  anders  zu  er- 

18* 


276  Julius  Koblischke, 

warten,  da  wir  bereits  die  Gleichung  tp.  =  tart  auf  dem  ganzen  Ge- 
biete nachweisen  konnten.  Lange  genug  hat  die  Wissenschaft  im 
Finstern  getappt,  und  noch  im  Archiv  1904  (Dr.  Mucke  —  Sprachgrenzen 
des  Sorbischen)  wird  von  Dr.  Mucke  allen  Ernstes  fürs  Altpolab.  *varch 
gegenüber  sorb.  verch  angesetzt :  man  hat  sich  eben  noch  immer  nicht 
von  Schleicher  emanzipiert,  der  wohl  vieles  richtig  erfaßt,  im  einzelnen 
aber  ganz  gewaltige  Schnitzer  begangen  hat.  Nach  dem  übereinstim- 
menden Zeugnis  der  Urkunden  und  O.-N.  lautete  ursl.  trt  auch  im 
Polab.  nur  tei't  (bei  folgender  Palatalität). 

O.-N.  Werben,  Verhitz  (poln.  tvierzha,  wierzbica), 

O.-N.  Ferch  bei  Potsdam, 

Ferchesar  [=■  Verchjezere)  bei  Brandenburg  und  Rathenow, 

Ferchlippe  (Altmark  =  Verchlipe)^ 

Werchau,  Ferchau  (Altm.), 

urk.  Werchlafi  (Mecklenbg.,  identisch  mit  kas.  O.-N.  V'erchlas), 

Verdien  (Vorpommern)  etc.  etc.,  überall  nur  verch. 

Der  poln.  Wechsel  6arny —  6ernic  kehrt  auch  im  Altpolab.  wie- 
der: Zernikow  Schernikau  =  derniköio, 

aber  Zarnekoio  =  poln.  O.-N.  Carnkowo,  Ort  des  Carnek^ 

neben  Zernin  Zernitz  findet  sich  Zar  rentin,  urk.  Zarneiin  = 
poln.  Carnotino. 

Erwähnt  sei  schließlich  noch  urk.  1272  Smerdele  (jetzt  Schmarl, 
Mecklenburg),  das  sich  mit  dem  poln.  smierdziel  vollkommen  deckt. 

Im  Drawänischen  hat  sich  aus  diesem  altpolab.  er  (=  sorb.  poln.  'er) 
das  sekundäre  ar  är  entwickelt.  Daß  ar  är  (beachtenswert  ist  der 
Umstand,  daß  die  Quellen  fast  stets  nur  a  ä  schreiben,  nie  6  wie  in 
cörne,  görnak,  hörz,  gemein-lech.  öarny,  garnük,  barzy)  tatsächlich 
auf  älteres  er  zurückgeht,  beweist : 

1)  loärdot  (Lehnwort)  aus  deutsch,  werd-en, 

2)  die  Bewahrung  des  er  als  ir  und  selbst  als  er  neben  der  ge- 
wöhnlichen Umgestaltung  zu  är:  neben  värch,  smärde,  särsin  (poln. 
sersen),  pärde  (poln.  'pierdzi)  finden  wir  dirze  (poln.  dzierzy),  wirgne 
(poln.  wierzgnqc),  pärgne  und  pirgne  (poln.  pierzgnqc),  cärwene  und 
cerwene,  cärkai  [crky]  und  cerkweica.  Es  ist  also  vereinzelten 
Wörtern  gelungen,  sich  dem  allgemeinen  Wandel  des  er  zu  är,  der 
erst  im  Drawänischen  eintrat,  zu  entziehen. 

Zu  diesem  Wandel  ist  die  Neigung  deutscher  (besonders  nieder- 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.  277 

deutsclier)  Dialekte,  er  in  «?•  übergehen  zu  lassen,  am  nächsten  zu  ver- 
gleichen. 

Schleicher  hat  es  sich  also  sehr  bequem  gemacht  mit  der  Darstel- 
lung des  ursl.  trt  durch  *turt,  da  ttlrt  erst  aus  älterem  tert  hervorge- 
gangen ist:  draw.  värch^  altpolab.  verch. 

Aber  noch  weiter  geht  die  Übereinstimmung  zwischen  Polabisch 
und  Polnisch-Kasubisch. 

Wenn  auf  trt  Härte  folgte,  konnte  das  Lechische  zwei  Wege  ein- 
schlagen ;  entweder  wurde  die  Weichheit  des  r  ganz  getilgt  und  damit 
der  Zusammenfall  mit  trt — tart  herbeigeführt:  Tarn-oic  (polab.  und 
poln.)  Tarneßtz  (poln.  Tarnowica)  gegenüber  tern  [eiern],  poln.  ticardy 
(aber  twierdzic),  polab.  P.-N.  Twardulam  Tivardulino  (1170,  jetzt 
Warlm  in  Mecklenbg.), 

oder  es  wurde  tart  erweicht:  tart\  Prof.Baudouin  de  Court,  will 
diese  Wiedergabe  des  trt  durch  t!art  nur  dem  Kasub.  zuschreiben, 
allein  die  Übereinstimmung  des  Polnischen  und  Polabischen  in  dem 
Worte  ziarno,  zjornii  (nur  mit  6  geschrieben  wie  gornak,  cörne, 
börz)  läßt  keinen  Zweifel  an  der  allgemeinen  Geltung  des  Lautgesetzes 
zu :  nicht  nur  für  das  Polabische  und  Urkasub.  ist  ziarno  (kas.  daraus 
sekundäres  zarno,  da  z  nicht  erweicht  werden  kann)  anzusetzen,  son- 
dern auch  fürs  Polnische  ist  ziarno  die  organische  Lautform.  Wir 
dürfen,  wo  Polnisch  und  Polabisch  übereinstimmen,  nicht  eine  Analogie- 
bildung annehmen.  Nach  Prof.  Baud.  de  Court,  soll  *zarno  die  echt- 
polnische Form  sein,  die  erst  durch  ziarnisty  zu  ziarno  umgestaltet 
worden  sei.  Das  ist  schon  deshalb  unmöglich,  weil  sich  aus  zrnisty 
niemals  *ziarmsty,  sondern  nur  *ziernisty  entwickeln  kann  (cf.  cier- 
nisty\  pierdziec,  smierdziec  stehen  in  jedem  poln.  Wörterbuche,  was 
soll  also  die  Stelle  heißen :  »man  behauptete,  es  konnten  diese  Wörter 
nicht  existieren«?);  die  Sache  verhält  sich  also  umgekehrt:  nicht  *  ziar- 
nisty hat  ein  nie  bestandenes  *zarno  beeinflußt,  sondern  das  orga- 
nisch gebildete  ziarno  hat  die  organische  Form  ^ziernisty  zu  ziarnisty 
umgestaltet.  Auch  piard  (Subst.),  piardnqc  (Vb.)  verhält  sich  z\xpier- 
dziec  wie  ziarno  zu  *ziernisty,  wie  6arn  zu  6crnic.  Prof.  Brückner  hat 
recht,  wenn  er  bemerkt,  das  Kasubische  habe  nur  einige  Beispiele  tart 
mehr,  während  das  Poln.  die  gänzliche  Entpalatalisierung  vorziehe. 

Das  Polabische  stimmt  wieder  genau  zum  Kasubischen :  kas.  vu- 


Schleicher's  Schreibung  £arnü  grundfalsch. 


278  Julius  Koblischke, 

miarti  —  polab.  eimiörte  (dies  die  richtige  von  P,  Schulze  überlieferte 
Form),  kas.  öivardi  —  polab.  tjörde  aus  tvjorde  (wieder  6  —  nicht  a !), 
altpolab.  *tvjardy^  kas.  df'orti  —  polab.  citjorte  aus  ^etvjar'ti.  Das 
Polnische  bietet:  marty,  twardy^  <^töar^y  (entpalatalisiert);  dagegen 
herrscht  Übereinstimmung  bei  zpio:  poln.  ziarno^  kas.  zarno  (aus 
ziarno)  —  polab.  ziarno^  ziörnü. 

Wir  sehen  also  die  i^ar^-Form  in  allen  lechischen  Sprachzweigen 
reichlich  vertreten;  gerade  dieser  Umstand  brachte  es  nun  mit  sich, 
daß  ihr  noch  ein  weiteres  Gebiet  zugewiesen  wurde,  wo  sie  ursprüng- 
lich keine  Berechtigung  hatte.  Es  soll  nun  die  Frage  nach  dem  so 
heiß  umstrittenen  Ursprung  der  polab.-kasub.  Formation  gard^  draw. 
natürlich  görd  (poln.  grod)  beantwortet  werden. 

Es  ist  zunächst  als  feststehende  Tatsache  anzusehen,  daß  dem 
Polnischen  eigentlich  nur  die  Formel  trot  von  allem  Anfange  au  eigen 
war:  das  ist  die  echte  Metathese,  die  —  wie  Prof.  Baudouin  de  Court, 
bemerkt  —  nur  durch  die  Tendenz,  alle  geschlossenen  Silben  zu  be- 
seitigen, hervorgerufen  wurde;  tort  ward  zu  trot  wie  tolt  :  tlot^  telt : 
tlet,  tert  :  tret. 

Wie  verhalten  sich  nun  dieser  Metathese  gegenüber  die  einzelnen 
lechischen  Sprachzweige  ?  Das  Polnische  steht  ebenso  wie  das  Sorbische 
auf  dem  sozusagen  korrekten  Standpunkte : 

herg  :  Ireg. 

melko  :  mleko\  daneben  aber  findet  sich,  was  wohl  zu  beachten 
ist,  sporadischer  Zusammenfall  des  telt  mit  tolt  :  tlot,  z.  B.  in  der 
Schriftsprache  wlohe  neben  Inf.  wlec. 

golva  :  glowa. 

gord  :  grod.  Hier  ist  im  Polnischen  ebenfalls  die  gemeiu-slav. 
Metathese  durchgedrungen,  diese  Entwickelung  können  wir  daher  als 
die  organische  bezeichnen.  Nur  ganz  sporadisch  tritt  im  Polnischen 
Zusammenfall  der  Formel  tort  mit  tart  ein:  das  ist  bestimmt  der  Fall 
in  dem  nicht  hinwegzuleugnenden  Worte  karw.,  das  dem  gesamten 
polnischen  Sprachgebiete  im  engeren  Sinne  angehört.  Prof.  Band, 
de  Court.'s  Behauptung:  »Kurz  und  gut,  es  lassen  sich  keine  echt 
polnischen  Worte  mit  zart  nennen«  trifft  also  nicht  zu.  Wie  haben 
wir  uns  die  Entwickelung  dieses  Wortes  *koriü  zu  denken  ?  Es  war  ihm 
wohl  gelungen,  sich  der  Metathese  {^krotv)  zu  entziehen,  vielleicht  weil 
die  Sprache  differenzieren  wollte  zwischen  »Ochs«  und  /Kuh«  {krowa), 
aber  bei  der  im  Slavischen  tief  eingewurzelten  Tendenz  nach  Beseitigung 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.   279 

der  geschlossenen  Silbe  tort  war  auch  die  Duldung  eines  *korw  absolut 
ausgeschlossen:  es  mußte  —  das  war  der  einzige  Ausweg  aus  diesem 
Dilemma  —  Anschluß  an  die  ähnlich  klingende,  im  Lechischen  weit 
verbreitete  ^ar^-Formel  eintreten  :  so  war  einerseits  die  Metathese  um- 
gangen und  die  unerträgliche  tort-Form  überhaupt  beseitigt,  anderer- 
seits aber  die  ursprüngliche  Lautfolge  beibehalten :  karto  wie  gemein- 
lech.  harzo^  garnuk^  tarn-.  Es  gibt  überhaupt  nur  diese  zwei  Möglich- 
keiten bei  Beseitigung  der  geschlossenen  Silbe  tort:  entweder  Metathese, 
wofür  sich  das  Polnische  gleich  den  meisten  anderen  slav.  Sprachen 
entschieden  hat^),  oder —  was  nur  auf  lechischem  Gebiete  eintreten 
konnte  —  Zusammenfall  der  Form  tort  mit  tart^^  im  Poln.  allerdings 
nur  sporadisch  zu  beobachten.  Übrigens  sei  noch  ein  poln.  O.-N. 
angeführt,  der  gewiß  auch  hierher  gehört.  Für  Charlupia  (in  Russ. 
Polen)  bietet  uns  das  Altsorbische  gerade  die  regelrechte  poln.-sorb. 
Form  Chrolupe^  Chrolipe^  jetzt  Krölpa  in  Thüringen.  Mit  dem  alt- 
sorb.  O.-N.  Kralup  (jetzt  Kralapp  bei  Rochlitz  in  Sachsen,  cf.  cech. 
Kralupy  «Schollenspalter«),  dem  auch  im  Poln.  mit  kra  zusammenge- 
setzte O.-N.  entsprechen,  hat  Chrolupa  natürlich  nichts  zu  tun.  Die 
Form  erscheint  gesichert,  mag  auch  die  Bedeutung  noch  dunkel  bleiben. 
Auf  polabischem  Gebiete  kehrt  der  poln.  O.-N.  Charlupa  wieder  in 
urk.  Garlop^i  jetzt  Garlippe^i  Garlip  (Altmark) :  schon  Hilferding  hat 
mit  Recht  diesen  O.-N.  mit  dem  poln.  Charlupa  identifiziert,  wozu  nun 
auch  der  altsorb.  O.-N.  Chrolupa  gezogen  werden  muß. 

Doch  wenden  wir  uns  dem  zweiten  lech.  Sprachgebiete  zu,  dem 
Kasub.-Slovinzischen  !  Mit  dem  Poln.  stimmt  das  Pomoranische  überein 
in  hreg  und  glowa ;  anders  schon  steht  es  mit  ielt :  was  im  Poln.  nur 
sporadische  Erscheinung  war,  nämlich  der  Zusammenfall  von  telt  und 
tolt^  ist  hier  schon  ziemlich  häufig  anzutreflfen.  Es  wiederholt  sich  also 
Ähnliches  wie  bei  fm^t^  wofür  das  Poln.  vereinzelt  t'art  [ziarno]  neben 
gewöhnl.  tart  [ttcardy]  bietet,  während  das  Kasubische  eine  Vorliebe 
für  iart  besitzt:  Sforti^  vumiarti  etc.  Die  Beispiele  für  tlot  statt  tlet 
sind:  allgem.kas.  mloc^  P^^c^  im  Slovinz.  noch  mloko^i  plova^  bei  einem 
Worte  finden  sich  sogar  beide  Formen:  mlod  und  mied.  Sonst  herrscht 
aber  auch  im  Kasub.  die  regelrechte  tlet-Fovm:  wir  sehen  bloß  eine 
Steigerung  der  sporadischen  Erscheinungen  des  Polnischen.  Genau  so 


')  Das  russische  Polnoglasije  kann  nur  als  eine  besondere  Abart  der 
Metathese  gefaßt  werden. 


280  Julius  KobliBchke, 

verhält  es  sich  auch  mit  der  heiß  umstrittenen  Formel  tart  für  trot. 
Was  im  Poln.  ganz  sporadisch  ist  {Karw,  C/iarlupa],  hat  im  Kas.  eine 
weite  Ausbreitung  erfahren,  daneben  aber  besteht  auch  die  gemein-poln. 
Metathese  ungeschwächt  fort,  denn  Kasub.  ist  ja  nur  Strandpolnisch, 
nicht  eine  streng  abgeschlossene  sprachliche  Individualität :  an  eine 
nachträgliche  massenhafte  Importierung  polnischer  Wörter  mit  der  ti'ot- 
Form,  die  noch  dazu  die  gewöhnlichsten  Begriffe  des  täglichen  Lebens 
bezeichnen,  ist  gar  nicht  zu  denken.  Wohl  zu  beachten  ist  auch,  daß 
wir  neben  Stargard  und  Beigard  auch  Stargrod  und  Belgrod^)  ge- 
schrieben finden;  neben  Vartislaus  erscheint  vereinzelt  Vrotislac. 
Es  ist  eben  das  charakteristische  Merkmal  des  Kasub.,  daß  es  wohl 
sporadische  Erscheinungen  des  Polnischen  steigert,  niemals  aber  den 
Zusammenhang  mit  dem  Poln.  verliert:  daher  tlot  neben  flet  (charak- 
teristisch mloö  und  mled)^  tart  neben  trot.  Die  Tendenz,  das  tauto- 
syllabische  [tort)  or  durch  Metathese  zu  beseitigen,  war  eben  auf  pomo- 
ranischem  Gebiete  nicht  mehr  so  lebhaft  als  auf  echt-polnischem;  auf 
polabischem  Gebiete  nun  läßt  sich  diese  Tendenz  allerdings  auch 
nachweisen,  sie  ist  ja  etwas  Allgemein-slavisches,  aber  die  große  Ent- 
fernung brachte  es  mit  sich,  daß  diese  Tendenz  hier  äußerst  schwach 
war :  die  Sprache  entschied  sich  für  die  zweite  Möglichkeit,  sie  tilgte 
das  tautosyllabische  or  [tort]  durch  Einsetzung  der  allgemein-lechischen 
^ar^-Form. 

Wir  erhalten  also  folgendes  Schema : 


trot  und  tart. 


Polnisch :  Kasubisch : 

Ausschließliche  Herrschaft  der  Form  trot, 
sporadisch  tart  :  Kariv,  Charlupa. 

Polabisch: 
Ausschließliche  Herrschaft  der  Form  tart, 
sporadisch  trot  :  hroda. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  Schicksalen  von  telt,  während 
bei  tolt  und  tert  [hreg,  glowa,  hreg)  Übereinstimmung  herrscht : 

Polnisch :  Kasubisch : 

Au%%Q\A\QS>Y\Qla.  tlet:  mleko,  wlec.  \    .■,  .      ,  .t  . 

,.    ,      ^  ,  '         '  >  Üet  und  tiot. 

sporadisch  wiokq.  ) 


*)  Altpomoranische  O.-N. 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.  281 

Polabiscli : 
AuS3chließI.  tlot^  draw.  tlät  :  mlaka  (cf.  slovinz.  mloko) 

mlät 

vläct 

pläva  pldvoy  (poln.  plewa). 
Ferner  ist  noch  zu  vergleichen : 

Polnisch : 
Scheidung  zwischen  tlt  und  tl't. 
t^t  fast  ausschließlich  teU,  weil  ü  poln.  e  :  peiny,  peik  (Swietopelk) 
nur  ganz  sporad.  ü  durch  o  wiedergeg.  molwic  )  möwic,  pölk 
(puik); 
nur  Wörter  wie  dlgi,  stip  weisen  in  Übereinstimmung  mit  Cechisch 

und  Niedersorbisch  In  auf:  diugi,  slup\ 
tl't  =  tili  :  lüilk,  mildec. 

Kasub.-Slovinzisch :  Polabisch : 

diugi,  ship  wie  im  Polnischen  nur  oi  (a^), 

sonst  ol  durchgeführt:  poiny.  daher  dolg-stolp. 

Neben  wilk  volk. 

schon  tcolk  (d.h. Entpalatalisierung  d.  tVt). 

Wir  sehen  also  deutlich  die  vermittelnde  Stellung  des  Kasubischen : 
das  Kasubische  steigert  sporadische  Erscheinungen  des  Polnischen,  das 
Polabische  wieder  verallgemeinert  diese  »Kasubismen«.  Das  mitleidige 
Lächeln  der  Forscher  über  die  bereits  von  Prof.  Baud,  de  Court,  und 
Ramuit  ausgesprochene  Hypothese,  gard  und  garnek  {*gord  u.  *grnük) 
seien  gleich  weiterentwickelt,  war  berechtigt,  so  lange  man  in  Schlei- 
cher's  falschen  Bahnen  wandelte  und  das  hörz  görnak  smorkat  fjörde 
ziörnü  der  Quellen  durch  die  grundfalschen  (von  dem  monströsen  p'ordz 
sei  ganz  abgesehen!)  gdrnak  t'drde,  sf7idrkat  zarmi  wiedergab,  wäh- 
rend in  Wirklichkeit  die  konsequente  Schreibweise  der  Quellen  mit  6 
auf  die  gemein-lech.  Formen  :  barzo,  garnük^  smarkati,  tviardy,  ziarfio 
zurückführt.  Es  kann  ja  gar  nicht  anders  sein:  die  draw.  horz,  gör/uik 
(ursl.  b^'z,  gpiük)  weisen  dasselbe  6  aus  altpolab.  a  auf  wie  görd  (ursl. 
*gord)j  görch  (urslav,  *gorch),  wörnö  (urslav.  *vorna)j  die  einst  <7arc? 
[Stargard  Mecklenbg.,  Putgarden  Rügen),  warna  (O.-N.  Warnow). 
garch  lauteten. 

Was  also  Prof.  Baudouin  de  Court,  mit  der  Bemerkung:  »Warum 
statt  des  polab.  toi-t  im  Kasub.  ausschließlich  tart  steht,  ist  bis  jetzt 


282  Julius  Koblischke, 

nicht  klar«  eigentlich  meint,  ist  schwer  zu  ermitteln,  da  doch  die  Sache 
ganz  durchsichtig  ist.  »Polabisches  fort^'  gibt  es  gar  nicht:  im  Alt- 
polabischen  gab  es  nur  dasselbe  tart  wie  im  Kasubischen;  im  Drawä- 
nischen  mußte  natürlich  dieses  tart  zu  to^^t  werden.  Prof.  Baudouin  de 
Court,  wird  doch  nicht  etwa  annehmen,  «polab.«  tort  sei  das  urslav. 
tort  ?    Die  Bewahrung  eines  tort  ist  im  Slavischen  einfach  unmöglich  I 

Die  Argumentation  des  genannten  Forschers  ist  aber  noch  in  zwei 
Fällen  keine  glückliche  zu  nennen,  Prof.  Brückner  hatte  in  den  Rand- 
glossen mit  vollem  Rechte  darauf  hingewiesen,  daß  auch  im  Polabischen 
neben  ta7't  die  poln.-sorb.  Form  trot  zu  finden  sei.  Prof.  Baudouin  de 
Court,  spricht  gleich  wegwerfend  von  einem  Misch-masch  und  ist  bereit, 
seine  Vergangenheit  zu  verleugnen  und  die  Partei  der  »Lautgesetzler« 
zu  ergreifen.  Wie  erklärte  er  aber  einst  selbst  kropla  aus  altpoln. 
krop'a'?  »Die  Tendenz,  p'  zu  pl' zm  verwandeln,  wie  im  Süd-Ost-slav., 
bestand  auch  im  Westslav.,  war  aber  zu  schwach,  um  überall  durch- 
dringen zu  können«.  Dasselbe  läßt  sich  von  den  polab.  »Ausnahmen« 
(z.  B.  hroda)  sagen :  Auch  im  Polab.  bestand,  wie  im  Slavischen  über- 
haupt, die  Tendenz,  das  tautosyllabische  or  [tort)  durch  die  Metathese 
zu  tilgen,  sie  war  aber  in  dieser  Sprache  nur  schwach  entwickelt,  wes- 
halb sie  eine  sporadische  Erscheinung  blieb.  —  Prof.  Baud,  de  Court, 
muß  also  das  alltägliche  Wort  hröda^)  erst  durch  sorbischen  Einfluß 
erklären !    Eine  sachliche,  geographisch-historische  Unmöglichkeit. 

Wir  können  jetzt  die  Form  trot  auch  im  Polabischen  gut  belegen, 
da  uns  die  Arbeiten  Kühnel's  und  Mucke's  über  das  hannover.  »Wend- 
landcf  neues  Material  bieten.  Ich  habe  aber  das  ganze  obodritisch- 
Ijuticische  Gebiet  berücksichtigt:  urslav.  "^dorg  erscheint  als  darg  in: 

Dargehell  (=  Dargohyl,  O.-N.  in  Vorpommern). 

Dargehand  [■=  Dargohqd^  jetzt  Darhein  Mecklenbg.). 

Dargomysl  urk.  Mecklenbg. 

Dargun  (Mecklenbg.  =  Dargun  wie  Milun,  Raduü). 

Dargelin  Vorpommern  =  altpoln.  O.-N.  DrogoUn. 

drog  ist  zu  belegen  in:  Dragovit^  Cealodrag^  Ceadrag  (schon 
von  Brückner  erwähnt). 


1)  Poln.  broda,  draw.  ist  nur  bröda,  nicht  brüda  zu  schreiben,  da  ursl. 
0  zu  M  (Weichstufe)  oder  ö  (Hartstufe)  wird,  genau  nach  demselben  Prinzipe, 
das  die  Verteilung  von  e  —  ia  regelt:  büg  [bog)  —  lekar,  pcl  [pol)  —  biöle 
biaii/,  siiböta  [sohota]  —  liotü  [Itato]  —  dewa  cep. 


Bemerk,  zu  Prof.  Baud.  de  Court.'s  »Kurzem  Resume  der  kas.  Frage«.    283 

Im  Lüneburgischen  heißt  ein  Ort  Dragalm  =  Drogany.  auf 
sorb.  Gebiet  ist  dieser  O.-N.  ziemlich  häufig. 

Der  Lüneburg.  Flurname  i)ra<7mn-Stücke  will  nichts  anderes  be- 
sagen als  »die  Stücke  bei  dem  eingegangenen  Orte  Dragimm  =  poln. 
O.-N.  Droginia  (kirchensl.  Dragyna). 

Neben  Dargola  (in  Dargelin)  findet  sich  im  Lüneburgischen  Dra- 
guhl  (Draguhl's  Feld). 

Im  Gau  Semdici  ^)  gab  es  ein  Droganiz  (so  ist  das  Di'ogauiz  der 
Urkunden  zu  lesen,  mahi  Drogavizl)^  noch  jetzt  Drogentz]  ebenso 
hieß  und  heißt  ein  Wald  bei  Eberswalde  (Brandenbg.) :  Droghenize^ 
Drogentz^  Drögenitz. 

Neben  Stargard,  Naugart[en),  Sagard^  Putgarten  begegnet  uns 
Wiligrad  (=  Mecklenburg)  und  Potgrot  [Podgrod^  jetzt  Podegrund^ 
Altmark). 

Wir  haben  also  in  dem  überlieferten  hröda  (altpolab.  broda)  ein 
polabisches  Eigenprodukt,  nicht  einen  importierten  sorbischen  Artikel 
zu  sehen. 

Damit  erscheint  wohl  die  ganze  ^ar^-Frage  endgültig  gelöst:  der 
Accent  spielt  hier  keine  Rolle  und  ebenso  müssen  alle  Torbiörnsson- 
Enzelin'schen  Erklärungsversuche  als  zu  gekünstelt,  ja  geradezu  als 
phantastisch  energisch  zurückgewiesen  werden.  Prof.  Baud.  de  Court, 
hat  uns  eine  ausführliche  Behandlung  der  »Kasubischen  Frage«  ver- 
sprochen: möge  er  die  hier  vorgebrachten  zwanglosen  Bemerkungen 
eines  strengen  kritischen  Blickes  würdigen ! 


1)  Er  lag  an  der  Havel,  wie  schon  Hilferding  ermittelt  hat;  Brückner 
wußte  offenbar  davon  nichts,  da  er  die  Lage  des  Gaues  nicht  mit  voller 
Sicherheit  bezeichnet. 

Julius  Kohlischke^ 
Realschulprof.  Warnsdorf  (Böhmen). 


284 


Die  älteste  böhmische  Sprichwörtersammlung. 


Es  ist  den  Lesern  des  Archivs  aus  dem  gründlichen  Artikel 
Brückners  («Zur  slavischen  Pnrömiographie«,  A.f.  sl.Phil.  XVIII,  193 
bis  203)  hinreichend  bekannt,  daß  sich  die  ältere  böhmische  Literatur 
eines  verhältnismäßig  großen  und  alten  Reichtums  an  Sprichwörter- 
sammlungen rühmen  kann,  daß  aber  die  jetzigen  Sammlungen  fast  alles 
noch  zu  wünschen  übrig  lassen.  Neuere  böhmische  Literatur  kann 
nicht  nur  kein  solches  monumentale  Werk  (wie  es  etwa  für  die  Deutschen 
Wander  mit  seinem  riesigen  Sprichwörterlexikon  oder  für  die  Rumänen 
Zanne  mit  seinen  bändereichen  Proverbele  Romänilor  geleistet  hat) 
aufweisen,  aber  nicht  einmal  ein  zuverlässiges  Handbuch,  wie  es  in 
Adalbergs  Ksiega  przyslöw  die  Polen  oder  in  Stechers  Dictionnaire 
des  Spots  die  Wallonen  besitzen,  existiert  heute  in  der  böhmischen 
Literatur.  Celakovskys  Mudroslovi  bietet  auch  in  der  neuen  Ausgabe 
(s.  über  sie  Brückner  a.a.O.)  nur  ein  kleines  Bruchstück  unserer  Sprich- 
wörtertradition, und  zwar  so  unzuverlässig  und  fast  ohne  jede  Quellen- 
angabe, daß  die  Benützung  dieses  Handbuchs  eher  irreführt  als  aufklärt. 

Es  wäre  müßig,  den  Wert  einer  kritischen  Sprichwörtersammlung 
allzulange  zu  schildern.  Ich  kann  mich  bloß  mit  dem  Hinweis  begnügen, 
daß  in  neuerer  altböhmischen  Sprachforschung  zuviel  die  Büchersprache 
und  Schreibertradition  berücksichtigt  wird,  als  die  nie  versiegende  und 
rein  erhaltene  Volkstradition.  Ich  kann  nur  die  Fragen  von  der  Wort- 
folge, Satzgefüge,  Enklise  u.  s. w.  nennen,  welche  ohne  eine  solche 
Sammlung  gar  nicht  erörtert,  geschweige  denn  gelöst  werden  können 
(Bernekers  bekanntes  Buch  mußte  hier  eben  resultatlos  die  Segel  strei- 
chen). Zu  einer  solchen  künftigen  Sammlung  will  ich  hier  nur  einen 
kleinen  Baustein  liefern.  — 

Bis  heute  (siehe  z.  B.  Vlcek's  und  Smetänka's  Strucne  dejiny  lite- 
ratury  ceske,  1905,1,38)  führt  man  in  böhmischen  Literaturgeschichten 
die  bekannte  Sprichwörtersammlung  Flaska's  (in  einer  Handschrift  der 
zweiten  Hälfte  des  XV.  Jahrb.  erhalten,  1826  von  Palacky  in  Wittingau 
gefunden,  von  ihm  im  Casopis  Ceskeho  Musea  1827,  II,  62 — 70,  heraus- 
gegeben) als  erste  und  zwar  nur  Volkstümliches  bietende  an.  Und  zwar 
trotzdem  schon  Brückner  im  Archiv  (a.a.O.),  in  den  Krakauer  Rozprawy 


Die  älteste  böhmische  Sprichwörtersammlung.  285 

(Filol.  XXII,  XXIII),  im  Ateneum  (1895,  III,  160)  u.s.w.  hinlänglich 
bewiesen  hat,  daß  die  Ansicht  von  der  Priorität  Flaska's  wahrscheinlich 
irrig  ist,  trotzdem  schon  Feifalik  (in  den  Wiener  Sitzungsberichten, 
Phil.-hist.  Kl.  XXXII,  68S)  unzweifelhafte  Bücherweisheit  in  diesen 
»rein  volkstümlichen«  Sprichwörtern  nachgewiesen  hat.  Ich  habe  in 
Öasopis  Öesköho  Musea  (1905,  298 — 299)  beide  Einwendungen  gegen 
die  hergebrachte  Meinung  wiederholt;  jetzt  kann  ich  —  an  der  Hand 
der  Fingerzeige  Brückners  —  die  wirklich  älteste  böhmische  Sprich- 
wörtersammlung nachweisen  und  abdrucken. 

Es  ist  bekannt,  daß  man  schon  in  den  ältesten  böhmischen  Versen 
(z.  B.  in  den  Bruchstücken  der  Apostellegende,  des  Marienlebens,  der 
Passion  u.s.w.)  mit  Recht  Sprichwörter  vermuten  kann;  in  der  Reim- 
cbronik  Dalimils  sind  sie  verhältnismäßig  am  zahlreichsten  und  am 
reinsten  erhalten,  während  sich  die  Alexandreis  mehr  an  die  künstliche 
Spruchdichtung  anschmiegt.  Aber  die  älteste,  absichtlich  nur  Volks- 
tümliches wählende,  Sammlung  der  Volksweisheit  und  Volkslist  gehört 
doch  erst  der  zweiten  Hälfte  des  XIV.  Jahrh.  an. 

Es  hat  schon  Brückner  in  seinen  soeben  angeführten  Studien  mit 
Recht  die  Anfänge  der  böhmischen  Parömiographie  an  den  Namen 
Konrads  von  Halberstadt  (etwa  um  das  Jahr  1360)  gekettet  (S. 
Rozprawy,  filol.,  XXII,  46  —  50  und  XXIII,  318).  Er  hat  gezeigt,  daß 
dieser  Mönch  sein  unvollendetes  «Tripartitus  moralium«  (nur  den  ersten 
Band  »Poetarum  et  philosophorum  dicta«  finden  wir  in  den  Hdss.)  haupt- 
sächlich nach  ähnlichem  Handbuche  Jeremias  von  Montagnone  (etwa 
um  das  Jahr  1300)  zusammenstellte  und  daß  in  den  böhmischen  Hand- 
schriften wahrscheinlich  böhmische  Sprichwörter  hinzukamen.  Dies 
schloß  er  —  wie  richtig,  werden  wir  gleich  sehen  —  zuerst  (in  den 
Rozpr.  XXII,  50)  aus  sechs  polonisierten  Sprichwörtern,  welche  er  in 
zwei  Krakauer  Hdss.  entdeckte,  bekräftigte  es  durch  weitere  vier,  wel- 
che er  in  einer  weiteren  Hds.  fand  (Rozpr.  XXUI,  318)  und  prophezeite 
endlich  (Ateneum,  1895,  III,  160)  wörtlich:  ))Mysl9,  ze  w  praskich  od- 
pisach  dziela  Konrada,  ktorych  dott\d  nie  widzialem  —  Czesi  o  tem 
dziele  nie  wiedza  nie  —  bqdzie  przysiöw  wi^cöj  <f. 

Seine  Prophezeiung  ist  —  allerdings  erst  nach  einem  Dezennium  — 
mehr  als  glänzend  in  Erfüllung  gegangen.  Die  Prager  Univers. -Biblio- 
thek (s.  J.  Truhläi-,  Catalogus  codd.  mss.  latinorum  .  .  I,  1905,  S.  48 
Nr.  130  und  229  Nr.  556)  besitzt  zwei  Handschriften  von  Konrads  Tri- 
partitus:  I  C  37  (hier  weiter  als  C  zitiert)  und  III  H  3  (als  //"weiter); 


286  V.  Flajshans. 

die  erste  aus  dem  Ende  des  XIV.  Jahrh.,  die  zweite  anfangs  des  XV. 
Jahrh.  geschrieben.  Beide  Hdss.  sind  böhmischen  Ursprungs  (was  von 
der  ersten  auch  der  neue  Catalogisator,  Herr  Gustos  J.  Truhlär,  er- 
kannte) —  und  in  beiden  finden  wir  (was  bisher  alle  Benutzer  und  Be- 
schreiber  übersahen)  nicht  nur  alle  zehn  Sprichwörter  Brückners,  son- 
dern auch  mehr  als  die  doppelte  Anzahl  weiterer  Sprichwörter.  Beide 
gehen  auf  eine  gemeinsame  Quelle  zurück,  beide  eröffnen  Perspektive 
auf  weitere  in  anderen  Hdss.  möglich  zu  findende  Sprichwörter,  beide 
bieten  uns  also  —  wie  Brückner  richtig  vorausgesehen  hat  —  die 
älteste  böhmische  Sprichwörtersammlung,  etwa  aus  dem 
dritten  Viertel  des  XIV.  Jahrhunderts. 

Brückner  fand  zuerst  sechs,  später  zehn  Sprichwörter;  die  Hand- 
schrift C  bietet  26,  die  Hds.  H  34,  beide  nahezu  40  Nummern.  Von 
diesen  40  Fällen  kann  man  zwar  ein  Sprichwort  (gyz  toho  nenye)  als 
eine  bloße  Glosse  des  späteren  Abschreibers  hinstellen,  ein  anderes 
(sobye  rzit  lowka)  wird  bloß  wiederholt;  aber  es  bleiben  immerhin 
36  Sätze,  welche  die  altböhmische  Volkssprache  etwa  um  die  Hälfte 
des  XIV.  Jahrh.  so  klar  charakterisieren,  wie  kein  anderes  Dokument 
(denn  die  böhmische  Sprache  in  den  Stadtbüchern,  Urkunden  und 
Volksliedern  ist  erst  späteren  Datums).  Nach  dem,  was  hier  gesagt 
worden,  ist  uns  in  diesen  36  Sätzen  nicht  Alles  erhalten,  was  in  der 
Prager  Rezension  Konrads  vorkam;  nach  Polen  sind  sogar  nur  10  ge- 
kommen. Aber  die  Existenz  dieser  Sammlung  ist  doch  außer  allem 
Zweifel, 

Ich  lasse  nun  die  vollständige  Sammlung  nach  Konrads  Reihen- 
folge und  nach  der  älteren  Hds.  C  (mit  Ergänzungen  und  Varianten 
von  H)  folgen ;  bei  jedem  Sprichwort  zitiere  ich  die  älteren  Belege.  Die 
Hds.  C  enthält  unsern  Tripartitus  auf  fol.  l'a — 124^b;  der  Text  ist  un- 
vollständig, von  späterer  Hand  des  XV.  Jahrh.  ergänzt  (besonders  auf 
fol.  73—96).  Sie  gehörte  im  XVIH.  Jahrh.  dem  Kloster  Goldenkron, 
aus  welchem  sie  in  die  Clementina  kam.  Die  Hds.  H  enthält  unsern 
Tripartitus  zweimal:  auf  fol.  1 — 59  gekürzt,  ohne  böhmische  Sprich- 
wörter, auf  fol.  60 — 221  ganz,  aber  unvollständig  (nur  bis  »Uxoris 
dileccio«).  Beide  Hdss.  bieten  die  böhmischen  Sprichwörter  gewöhnlich 
zu  Ende  der  Absätze.  Das  Werk  Konrads  ist  bekanntlich  in  alphabe- 
tisch geordnete  Sticliwörter  (abicere — zelus)  eingeteilt,  in  welchen  be- 
sonders' die  Stellen  der  Klassiker  und  der  Bibel  häufig  vorkommen;  zum 
Schluß  dieser  Artikel  werden  dann  nach  »Proverbium«  die  böhmischen 


Die  älteste  böhmische  Sprichwörtersammlung.  287 

Sätze  angeführt.    Eine  Null  in  Klammern  zeigt,  daß  das  Sprichwort  in 
der  andern  Hds.  fehlt. 

1.  (C  12''a,  H0)  »Appetitus Tereneius  in  Andria:  Quoniam 

non  potest  fieri  id,  quod  vis,   id  velis,   quod  possis  ne  yakz  cJitye^  ale 
yakz  moliav.  (sonst  unbelegt). 

2.  (C  13'^a,  H  74'')  »Ars  .  .  Secundum  poetas  .  .  Proverbium  htoz 
naywyecze  z  rzemefla  vmye^  nayioyecze  we pfi  bywa«  (in  H  naywy- 
ecz;  und  z  fehlt).  Vgl.  die  Sammlung  Srnec  Nr.  336  «kdoz  nejvice 
remesl  umi,  nejspis  ve  psi  byvä«. 

3.  (C  15^b;  H0):  »Adulator  .  .  .  Proverbium:  Vendit  oleum. 
Postawuye  maloivane  hankyn  (sonst  unbelegt). 

4.  (C  29^a,  H  SP):  »Certitudo  ..  Secundum  poetas  ..  Plus  valet 
in  manibus  passer  quam  sub  dubio  grus  lepy  (jeden  ptah  lo  ruku  nezly 
dwa  leczycze  lo  czaff  (in  H  ...  letyecze  . .).  Vgl.  Flaska  124:  »Lepsi 
ptäk  V  rnce  nezli  dva  letiece«. 

5.  (C  0,  H  9F):  »Cura  .  .  Secundum  poetas  .  .  .  Plus  alios  quam 
se  quis  nisi  stultus  amat  Proverbium :  Tak  praivy  foivka  fobye  rzyt 
lowkan.  S.  unten  Nr.  9;  auch  in  zwei  Krakauer  Hdss.  (bei  Brückner 
1.  c);  sonst  unbelegt. 

C.  (C  41'^a,  H  ö?""):  «Delectacio  ...  variacio  ...  Plus  mellis  habet 
variata  voluptas  Proverbium  A7ieb  hy  fye  med  przyegel  (H:  Ano  .  .  . 
przygyedl)  (sonst  unbelegt). 

7.  (C  4Pb,  H  102'"):  »Dicta  ridiculosa  ..  Proverbium:  Zagy- 
eczyeho  fkoku^  mramoroiceho  olegye  [d\  fwonoiueho  zxouku  \a  k  tomu 
komaroweho  fadld\  dohuda  hudess  zdraw  [nebudely  tebe  nycz  bolety] « 
(in  H  fehlen  die  eingeklammerten  Worte ;  ebenso  in  den  zwei  Krakauer 
Hdss.)   (sonst  unbelegt). 

8.  (C  42'a,  H  lOö"^) :  »Diligencium  absencia  .  .  .  Czo  zuoczy, 
io  [take  y^fmyßyii.  (Worte  in  Klammern  fehlen  in  II;  .  .  iToczy  .  .  H  ; 
sonst  auch  in  einer  polnischen  Hds.).  Vgl.  IIus,  1415,  in  einem  lateini- 
schen Briefe:  »Co  s  oci,  to  z  mysli«  (bei  Palacky,  Documenta  Mg.  J. 
Hus  .  .,  S.  102). 

9.  (C  0,  H  105"^):  )iDileccio  .  .  .  Plus  alios  quam  se  (quis)  nisi 
stultus  amat.   Proverbium:  sobye  rzit  lowkau.   S.  oben  Nr.  5. 

10.  (C  0,  H  lOG'):  »Disciplina  .  .  .  Disco  puer,  dum  tempus 
habes,  ne  tempora  perdes.  Proverbium :  vczfye  a  budcs  knyczcm «  (auch 
in  einer  polnischen  Hds.).  Vgl.  'knihy  hlubokych  mudrcu':  »uf  se,  aby 
byl  maudry«  (in  Casopis  Cesköho  Musea,  1S63,  75). 


288  V.  Flajshana, 

11.  (C0,  H107''):  »Disciplina.,.Disce  puer,  dum  tempushabes, 
dum  sufficit  etas.  Proverbium  yaks  ffkragyeno  aj'fyto^  tak  muffy  ze- 
drano  hyty<i  (sonst  unbelegt). 

12. — 14.  (C  37''a,  H  110"^):  Diviciarum  utilitas  .  .  .  secundum 
poetas.    Proverbium : 

Tat  rzecz  nefpomuoz^  penyez  lepe  muoz. 
Ktoz  nema  penyez^  ten  [ale]  huhy  gez. 
Bez  penyez  na  trh^  hez  foly  domuoio. 
(Alle  drei  kommen  auch  in  einer  Krakauer  Hds.  vor).    Sonst  un- 
belegt; nur  das  14.  hat  eine  Parallele  bei  Flaska  194:  »bez  penez  na 
trh,  bez  soli  domöv«  —  wie  schon  Brückner  bemerkte. 

15.  (C  ST'^b,  H  IIP):  »Diviciarum  conservacio  —  Prover- 
bium: Lecliczyecjye  [gyeft\fwozu  metaty  nezly  na  icuoz  klafty^^  (auch 
in  einer  Krakauer  Hds. ;  statt  klafty  bietet  H  wkladaty,  die  Krakauer 
Hds.  mytaczy).  Vgl.  Flaska  72:  kdy  jeden  na  vöz  naklädä  a  dva  s 
vozu,  nebrzo  ho  nakladü. 

16.  (C  SQ'^b,  H  113'):  ». .  Donum  .  .  De  abstinencia  .  .  Diogenes: 
michi  a  sole;  non  obstes.  Proverbium:  stup  my  f  plafftkun  (auch  in 
einer  polnischen  Hds.;  in  H  plaffczku,  in  der  Dabröwka-Hds.  placzku). 
Sonst  unbelegt. 

17.  (C  29^a,  H  118"^):  »Experiencia  .  .  .  Proverbium  {Experto 
crede  Ruperto  in  H)  Bywal  ale  nehude.  Vgl.  dasselbe  Sprichwort  in 
einer  Hds.  des  XV.  Jahrh.  der  Prager  Metropolitan-Domkapitelbiblio- 
thek,  sign.  0  LXXUI,  fol.  172':  Byval  ale  nebude. 

18.  (C  46%  H  119'):  »Fallere  .  .  .  Fallere  fallentem  de  racione 
potes  Proverbium:  wet  melio  czymz  tymz(.(.    Sonst  unbelegt. 

19.  (C0,  H  155^):  »Loqui  mala  de  aliis... Proverbium:  zly  zazik 
(sie!)  hlawye  neprzyegea.  Bei  Flaska  169  unvollständig:  jazyk  hlave 
nepreje. 

20.  (C  0,  H  156'):  »Loqui  mala  de  aliis  ...  Quid  invat  ad  surdas 
si  cantent  plurimi  aures.  Proverbium:  netrzeha  we  mlynye  huftya. 
Vgl.  Flaska  209  :  ve  mlyne  hudba  neplati. 

21.  (C  0,  H  156"^):  »Ludus  ...  secundum  poetas  ..  Sum  nudus  ut 
passer,  hoc  fecit  tasser  et  asser.  Proverbium :  ottecz  fam  hragye  na- 
czem  mu  ftrata  na  hagyed  (man  kann  auch  lesen  'na  hagye').  Sonst 
unbelegt  und  dunkel. 

22.  (C  83^,  H  162^^):  »Modus  .  .  secundum  poetas  .  .  .  modus  est 


Die  älteste  böhmische  Sprichwörtersammlung.  289 

certissima  virtus.    Proverbium:  wffye  whod  dohroa.    Ein  wohlbekann- 
tes Sprichwort;  auch  bei  Flaska  17  5. 

23.  (C  75'',  H  164''):  «Morum  coniectura  .  .  secundum  poetas  .  , 
Ex  feda  testa  fetidus  exit  odor.  Proverbium :  Po  runye pofnaty  kuotyen 
lin  H  ..  kacze  poznaty).  Sinnverwandte  Sprichwörter  sind  nicht  selten; 
in  dieser  Form  jedoch  unbelegt. 

24.  (C  76^b,  H  0):  «Miseria  .  .  .  Solacium  est  miseris  socios  ha- 
bere penarum.  Proverbium:  Czyzye  horze  lydem  Jmyechi..  Ein  be- 
kanntes Sprichwort;  auch  bei  Flaska  50  (wörtlich). 

25.  (C  75''"a,  H  IGS""):  »Multitudinis  acceptabilitas  .  .  Sed  qua 
non  prosunt  singula,  multa  iuvant.  Proverbium:  Pomalu,  pomalu, 
azffye  naydev..    Sonst  unbekannt. 

26.  (C  Sl^'b,  H  0):  »Odium  ..  secundum  Philosophos.  Gyz  toho 
tienyea  (vielleicht  kein  Sprichwort,  nur  ein  Glossem  des  späteren  Ab- 
schreibers). 

27.  (C  82^a,  H  169"^):  »Obsequium  .  .  .  Obsequio  removetur 
amor.  Proverbium:  vmyefolkoioaty^'.  Sonst  unbelegt;  sinnverwandte 
neuere  zahlreich. 

28.  (C  74^a,  H  174^):  «Ordo  .  .  .  certo  procedit  vestigio  qui  gra- 
datim  desiderio  potitur  accepto.  Proverbium:  znenahla  rzadem  gytya. 
Sonst  nicht  belegt. 

29.  (C  84''a,  H  175^):  »Parentes  .  .  secundum  poetas.  Prover- 
bium: Qualis  pater,  talis  filius  nedaleko  padne  od  yablonye  yahlko(i. 
Ein  wohlbekanntes  Sprichwort,  auch  in  der  Sammlung  Öervenka's  (und 
Blahoslav;  vor  dem  J.  1570)  wörtlich  (in  Öasopis  Öesk^ho  Musea  1829, 
IV.  62). 

30.  (C  0,  H  177^):  »Paupertas:  Libertas  pauperis  haec  est: 
Pulsatus  rogat  et  pugnis  concisus  adorat,  ut  liceat  paucis  cum  dentibus 
inde  reverti  Dyekuy  panua  (auch  in  einer  Krakauer  Hds.  in  der  Va- 
riante 'podzekuy  panom').    Sonst  unbekannt. 

31.  (C  96^b,  H  18r):  »Petere  .  .  Vocis  iusta  petencium  tribuat 
efiectus.  Proverbium:  yakohy  my  darmo  daU^  iin  H:  'akomu  darmo 
dal  nebe  nechtyel).    Sonst  unbekannt. 

32.  (C  0,  H  200'"):  »Sacietas  .  .  Dum  satur  est  suculus,  libens 
cum  gelnua  ludit.  Proverbium:  Syte  praffyc  wyecJitem  /ira^f.  Dasselbe 
Sprichwort  wörtlich  bei  Flaska  213,  mit  kleinen  Abweichungen  sehr 
bekannt. 

33.  (C  0,  H  202^) :  »Secretum  . . .  non  bene  secretum  mulier  tenet 

Archiv  für  slavische  Philologie.   XXVJII.  19 


290  ^-  Flajshans, 

ymmo  revelat.  Proverbium:  yaJcohij  hyrzicy  dal  dica  haier zyev.  Ein 
bekanntes  Spricliwort:  'jakoby  birici  gros  dal'  bei  Srnec  Nr.  8,  Ko- 
mensky  Maudrost  starych  predkii  (ed.  Noväk)  Nr.  169S  u. s.w. 

34.  35.  (C  0,  n  205''):  »Sero  .  .  .  Proverbium  Patella  edificantur 
turres.  Proverbium:  Pozdye  Jiodye  —  vgela  hodyenafklyczya.  Das 
erste  ist  wohlbekannt;  schon  in  der  Alexandreis  (vgl.  Gebauer,  Slovnik 
starocesky  I.  443  s.  hod)\  das  zweite  gänzlich  unbekannt. 

36.  37.  (C  0,  H  207'):  «Societas  .  .  .  Consonus  esto  lupis,  cum 
quibus  esse  cupis  Proverbium :  S  wlky  wlczky  wyczy.  Aliud :  Rowne 
k  rownemu^  zla  zena  chudemim.  Beide  Sprichwörter  sind  wohlbe- 
kannt; das  erste  hat  sich  bis  heute  erhalten  (s.  die  zahlreichen  Belege 
bei  Jungmann,  Slovnik  V,  134,  s.  v.  vik),  das  zweite  schon  bei  Flaiska 
97  in  folgender  Form:  jedno  k  druh^mu,  zlä  zena  chuddmu;  komu  se 
dostane,  vzdy  jemu  bieda  bude. 

38.  (C  116'',  H  21  P):  »Tempus  ...  omnia  fructificant,  cum  venit 
apta  dies.  Proverbium:  kdyz  czeho  cza/fa.  Sinnverwandtes  zahlreich; 
in  dieser  Form  unbelegt.  — 

Aus  diesen,  leider  wenigen,  Sätzen  der  Volksweisheit  lassen  sich 
interessante  Folgerungen  ziehen.  Es  seien  hier  rasch  nur  einige 
skizziert. 

Das  erste,  was  dem  Leser  auffällt,  ist  der  rasche  Wechsel  der 
Tradition ;  fast  die  Hälfte  dieser  Trümmer  ist  uns  unbekannt  und  schon 
bei  Flaska  finden  wir  ein  anderes  Bild  der  Volksweisheit.  Auch  dies 
bestätigt  die  bekannte  Brücknersche  Hypothese  von  dem  Unvermögen 
des  Volkes,  eine  Tradition  ohne  schriftliche  Fixierung  zu  bewahren  und 
unverändert  weiterzutragen. 

Das  zweite,  was  ebenso  auffällt,  ist  die  frappante  Übereinstimmung 
der  zweiten  bekannten  Hälfte  unserer  Sprichwörter  mit  der  aus  dem 
folgenden  Jahrhundert  stammenden  Sammlung  Flaska's.  Ich  habe  schon 
für  Flaska  eine  unbekannte  Sammlung  vorausgesetzt  (in  CCM.  a.  a.  0.) : 
man  kann  jetzt  getrost  Konrad  von  Halberstadt  zu  den  Quellen  Flaska's 
zählen.  Neben  Konrad  hat  er  freilich  auch  die  Bibel,  den  Alan,  Dali- 
mil  U.S.W,  ausgebeutet;  aber  Konrad  war  gewiß  an  erster  Stelle.  Kon- 
rad ist  also  das  erste  Kettenglied  der  böhmischen  Parömiographie ;  mit 
ihm  fängt  unsere  Tradition  an. 

Außerdem  fällt  auch  der  Reichtum  der  Volkssprache  gegenüber 
der  leeren  Schriftsprache  sehr  auf.  Um  nur  bei  den  Worten  zu  bleiben: 
man  würde  es  nicht  glauben,  daß  in  diesen  paar  Sätzen  eine  Reihe  neuer 


Die  älteste  böhmische  Sprichwörtersammlung.  291 

Wörter  vorkommt,  welche  bei  Gebauer,  Slovnik  starocesky,  fehlen. 
Die  Wörter  Hodhia^  byval  (.  .  ale  nebude),  banky  (postavovati),  chudy 
(=  malus),  lovka^  öimz-tymz  u.  s.  w.  würden  wir  in  dem  großen 
Werke  vergebens  suchen  \folkovati  hat  nur  Belege  aus  dem  XV.  Jahrh. ; 
fast  alle  bekannten  Sprichwörter  fehlen  (so  z.  B.  jabloü-jablko,  biric- 
halör  U.S.W.).  Für  die  Volkssprache  des  XIV.  Jahrh.  läßt  uns  also 
Gebauers  Werk  im  Stich;  die  so  kernigen  und  farbigen  Wörter  und 
Phrasen  unseres  Volkes  kamen  in  den  matten  Übersetzungen  und  Nach- 
ahmungen der  Literaturwerke  nicht  vor  . . . 

Und  noch  eine  Lehre  kann  man  aus  dieser  kleinen  Sammlung  be- 
herzigen. Ich  habe  schon  in  der  Vorrede  meiner  'Nejstarsi  pamätky 
jazyka  i  pisemnictvi  ceskeho'  (1903,  14 — 15)  auf  die  Wichtigkeit  des 
Studiums  der  lateinischen  Literatur  für  das  Verständnis  der  altböhmi- 
schen Texte  hingewiesen  und  Brückners  polnische  Arbeiten  als  Muster 
hingestellt.  Aus  unserer  Sammlung  kann  in  dieser  Hinsicht  Nummer  29 
'Nedaleko  padne  od  jablone  jablko'  als  Schulbeispiel  dienen. 

Dieses  Sprichwort  zitiert  nämlich  Konrad  als  Volksgut  gegenüber 
dem  lateinischen  'Qualis  pater,  talis  filius'.  Schon  bei  Hns  finden  wir 
(Erbens  Ausgabe,  IL  Bd.,  322  :  a  ze  jakyz  otec,  taciz  synovö  a  küpiece 
darmo  nedadie  .  .  und  I,  24G :  a  jakyz  otec,  taciz  synove:  on  jich  ne- 
tresce)  die  böhmische  Übersetzung  dieses  lateinischen  Sprichworts, 
welche  dann  im  XVI.  Jahrh.  in  die  böhmische  und  im  XVUI.  Jahrh.  in 
die  polnische  Schriftsprache  (s.  Adalberg  s.  v.  ojciec)  überging.  Nun  hat 
K.  Noväk  in  den  Listy  filologickö  (1S89,  XVI,  234—235)  eine  Samm- 
lung aller  böhmischen  Sprichwörter  bei  Hus  abgedruckt;  er  hat  im 
ganzen  15  gesammelt,  darunter  auch  dieses.  Aber  es  ist  offenbar 
falsch,  zur  Volkstradition  künstliche  Übersetzung  lateinischer  Sprich- 
wörter zu  rechnen:  so  beschaffen  ist  aber  fast  die  Hälfte  der  Sammlung 
—  lauter  gelehrte  Imitation  und  Übersetzung  aus  dem  Lateinischen,  wie 
die  lateinischen  Schriften  Hus'  ganz  evident  dartun.  Dagegen  fehlt  in 
der  Sammlung  Noväks  die  nicht  unbeträchtliche  Anzahl  ganz  sicher 
volkstümlicher  Sprichwörter,  welche  in  den  lateinischen  Schriften  Hus' 
vorkommen  —  natürlich  böhmisch.  Eins  aus  seinen  Briefen  ('co  s  öci, 
to  z  mysli')  ist  oben  zitiert  worden;  andere  finden  wir  in  seiner  Kepor- 
tata  ('neiiekaj  hup,  az  preskocis'j,  in  den  Bethlehem-Predigten  ('strach, 
by  S(5  neosvetil',  'nodävi  tebe  crt  za  dva'  u.s.w.  Das  vermeintliche  alt- 
böhmische  Sprichwort  'jakyz  otec,  taciz  synove'  ist  also  zu  tilgen  — 
volkstümlich  war  nur   'Nedaleko  padne  od  jablone  jablko',   welches 

19* 


292        V.  Flajshans,  Die  älteste  bühmische  Sprichwörtersammlung. 

nach  Konrad  im  XV.  Jahrh.  Herr  Ctibor  z  Cimburka,  im  XVI.  die 
Sammler  Cervenka  und  Srnec,  im  XVII.  Komensky  —  und  nach  diesen 
alle  neueren  Wörterbücher  (so  z.  B.  Jungmann  I,  558 — 559  u.  gabloü 
gablko,  Kott  I,  594  u.  s.w.  —  nur  bei  Gebauer  fehlt  es)  und  Sprich- 
wörtersammlungen kennen  (z.  B.  Liblinsky,  Celakovsky  u.s.  w.).  Da.«- 
selbe  Sprichwort  finden  wir  schon  Anfangs  des  XVII.  Jahrh.  im  Polni- 
schen bei  Rysinski  und  dann  in  unzähligen  Varianten  (s.  Adalberg, 
Ksi^ga  przystow  177 — 178):  seine  Varianten  decken  sich  fast  vollstän- 
dig mit  den  böhmischen ;  man  wäre  fast  versucht,  eine  urwestslavische 
gemeinsame  Grundform  zu  erschließen,  wenn  nicht  die  nachhaltige 
Warnung  Brückners  diese  Neigung  schon  im  Keime  erstickte  —  und 
wenn  nicht  eben  Konrad  von  Halberstadt  mit  eben  diesem  böhmischen 
Sprichworte  nicht  schon  im  XV.  Jahrh.  ein  sehr  beliebtes  Erbauungs- 
buch in  Polen  gewesen  wäre.  — 

V.  Flajihans. 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben, 

mit  besonderer  Berücksichtigung  des  (jedichtes 

»Zähofovo  loze«. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  neucechischen  Prosodie  und  Metrik  von 
Jaroslav  Sutnar. 

(Fortsetzung.)*) 


Ab.   Erben's  Yerse  mit  zweisilbigen  Füßen. 

Falsche  Satzbetonung. 

In  diesen  Zeilen  kann  natürlich  von  einer  Satzbetonung  nur  inso- 
fern die  Rede  sein,  als  hier  ein  einsilbiges  Wort  seine  Betonung  durch 
die  Satzstellung  einbüßt  (gleichwie  bei  der  regelrechten  Satzbetonung) 
an  ein  zweites  ein-  oder  mehrsilbiges  Wort,  welches  meistens  —  ein 
mehrsilbiges  immer  —  vorangeht  und  weniger  häufig  —  ein  einsilbiges 


*)  Vergl.  Archiv  XXVII,  S.  527—562;  XXVIII,  S.  94—116. 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.         293 

im  jambischen  oder  trochäischen  Versanfang  oder  auch  im  Innenvers 
—  nachfolgt.  Das  Bestimmen  dieser  falschen  Satzbetonung  müssen  wir 
in  manchen  Fällen  als  äußerst  schwierig  und  bei  aller  Sorgfalt  immer 
doch  mehr  oder  weniger  subjektiv  bezeichnen,  aber  wir  suchten  uns  zu 
helfen,  indem  wir  bei  den  einschlägigen  Belegen  nach  Möglichkeit  den 
Fingerzeigen  Dobrovsky's  bezüglich  der  Satzbetonung  und  dem  Gehöre 
selbst  mit  gebührender  Berücksichtigung  der  ausführlichen  Regeln 
Kräl's  (L.  f.  Roc.  25.  [1S9S]  31-39)  folgten.  Besonders  müssen 
jedoch  angeführt  werden  die  von  Dobrovsky  (»Regeln  f.  d. 
troch.  Versart«  4.)  mit  Unrecht  gutgeheißenen  Unregelmäßig- 
keiten mit  zwei  einsilbigen  Wörtern  von  gleicher  Wichtig- 

keit  (Muc,  bij,  oder  auch:  bij,  muc):   1.  Innenvers.  Pok.  mlc,  mlc, 

I  180  215  229,  äch,  ach,  213;  S.  k.  buch,  buch,  242  256  270;  Z.  k. 
klop,  klop,  II  7;  Vod.  o  pülnoci  buch  buch!  IV  33,  po  treti  buch  buch! 
41.     2.  Versanfang.   Pok.  bTe  hkd',   1221  228,  ein  ein!   222  230 

II  55,  a  tresk,  tresk!  IV  62;  Pol.  bouch,  bäc!  12,  pojd  ,  vem  si  ho  18; 
Z.  k.  hola  hej !  18;  Vod.  buch  buch!  IV  20.  (Dagegen  wollen  wir  den 
Gesetzen  Dobrovsky^s  gemäß  als  eine  verhältnismäßig  harmlose  Licenz 
gelten  lassen  die  zahlreichen  Fälle  mit  wichtigen  einsilbigen  Wörtern, 
welche  im  jambischen  Versanfang  —  und  demzufolge  auch  stellenweise 
im  Innenvers  nach  einer  Cäsur  beziehungsweise  Diäresis  —  ihre  Be- 
tonung angesichts  der  Betonung  des  folgenden  mehrsilbigen  Wortes 
verlieren.)  Die  übrigen  Belege  werden  in  zwei  Klassen  eingeteilt,  je 
nachdem  es  lange  oder  kurze  Silben  sind,  zu  deren  gunsten  die  wich- 
tigen einsilbigen  Wörter  ihre  Betonung  mit  Unrecht  einbüßen.  Inner- 
halb dieser  zwei  Klassen  wird  wieder  noch  darauf  Rücksicht  genommen, 
ob  der  Beleg  im  Innenvers  oder  im  Versanfang  steht,  wodurch  es  zur 
Bildung  von  zwei  weitern  Unterabteilungen  kommt. 

I. 

Ein  wichtiges  einsilbiges  Wort  verliert  seine  Betonung 

an  eine  lange  Silbe. 

^  ^' 

1.  Innenvers:  Pok.  klekne  a  klin  rozestini  I  100  203,  lice  a  rty 

zesinale  III  18,  po  cely  rok  oplakane  IV  55;   S.  k.  prvni  rok  pradla 

^    w   '  ^  w 

hledivej  31,  druhy  rok  platno  polivej  32,  pöknä  noc,  95  129  165,  zmi- 

zel  dav,  i  zly  jeji  druh  291 ;  Z.  k.  s  sebou  ten  nüi  böi'ete  HI  17,  ty  jsi 


294  Jaroslav  Sutnar, 

ten  had,  27;  Vest.  druhe  dva  svadly  35,   ostry  mec  tebe  probode  70, 

\_/  >^  ^       \-/      ^ 

novy  les  vitr  zaseje  134,  bodeji  se  i  s  nim  propadlo  1G4,  tisic  let  uslo 

■^  ^,  y 

193;  0.  i.  45.  pomazal  Buh  uad  tv6  soucasniky  24;   0.  z.  140.  i  zly 

jejich  vüdce  20. 

w  ^  _    w  w 

2.  Versanfang:  Pok.  a  dnes  velky  pätek  I  12,  a  hie!  17,  a  zde 

\y  >^  \y         \^  \y  ^ 

tolik  tech  pokladü  135,  a  jde,  145,  a  hie,  170,  a  kde  sine  II  24,  a  slysl 

IV  1,  ähb!  5  20  36  70  96, ä  dnes  velky  pätek  8 ;  S.  k.  jTz  js^m  kosile 

usila  36,  jiz  jsem  je  v  truhle  sloSila  37,  coz  bych  se  biila  99  133,  jak  je 

tvüj  domek  upraven  136;  Pol.  a  hie,  19,  tu  slys:  41;    Z.  k.  vsak  jsem 

ja  ani  netusila  III  3,  pojd  jiz  Dornicko  11,  tes  se  s  uim,  32,  köz  bych 

<^      ^  ■^  

ten  kolovrätek  mela  24,  k^z  bych  ten  kuzelicek  mela  84 ;  Vod.  tu  se 

\^  ^  \^     

s  ni  lävka  prolomila  II  22,  a  chces-li  mne  rybou  miti  III  93;  L.  tu  mu 

krälovsky  posel  nese  list  64;  D.  k.  a  kde  najdes  .  .  kvetu  31  33;  0.  z. 

45.  a  rty  tvoje  milost  .  .  dys!  8. 

II. 

Ein  wichtiges  einsilbiges  Wort  verliert  seine  Betonung 
an  eine  kurze  Silbe. 

V  —     ^    /  /  ^ 

1.  Innenvers:  S.  k.  skoe  a  pojd  a  me  doprovod  72,  byla  noc, 
85,  jako  had  tebe  otoei  146,  masa  dost  —  206;  Pol.  vüz  i  husärek  11 ; 
L.  i  müj  zhyne  vek  56;  Vest.  a  co  rok  roste  100;  0.  budiz  i  ty  stälä 
15;  0.  z.  45.  slysizävTz,  29. 

2.  Versanfang:  Pok.  a  tarn,  I  65,   a  tak  v  dusi  sv6  rokuje  131, 

a  ja  byla  bych  bohata  139,  jak  se  tu  zena  lekä  II  27,  co  den  zneji  UI  7, 

\^    ^  \^'    \y  ^    

ach  tot' se  tak  modli  tise  19;  S.  k.  ziv-li  a  zdräv  43,  vrat  mi  mileho 

46,  skoc  a  pojd  a  me  doprovod'  72,  ze-te  na  bllzku  umrlec  94,  ziv-li 
a  zdräv  je  102,  jest-li  mi  postaciti  chces  114,  ze-te  na  blizku  nestestl 
122,  nie  se,  204,  vsak  jsi  ty  vzdy  byl  prede  mnou  216,  vsak  jsi  byl  na- 
pi-ed  217,  skoc  a  ukaz  mi  cestu  219;  Z.  k.  stroj  se,  III  6,  mej  se  tu 
dobre  58,  jak  se  tam  vedlo  divcine  IV  2,  z  nicbz  se  ji  zivobytl  lilo  4, 
tak  mi  dal  otec  poruceni  89,  pojd  se  mä  pani  posadit  V  11,  pak  ho  jiz 
nikdo  neuvidel  VI  24;  S.  d.  zdä  mi  se  byti  v  kostele  III  36,  vsak  mi  se 

—    ^  y  —      ^ 

rozednlvä  38;  Vod.  a  ja  bych  se  rads  videla  III  31,  a  nie  jsi  mi  po  tu 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  295 

\_/  \j    \^'    

dobn  75,  co  dis,  92  ;  V.  kde  se  ci  nemoc  rodi  55 ;  L.  chce  mi  sc  na  lov 

\^'    \-^    

22  23,  zdä  mi  se,  24  40,  tu  mu  zalostnä  v  üstrety  jde  vest  78 ;  D.  k.  a 

\^^  _  \y  ^,  \y  ^ 

CO  minis  uciniti  21  23,  a  co  vzkäzes  hochu  41  43,  a  co  nechäs  .  .  matce 

V         ^       —  o  V  ^v    —  V 

51  53;  Vest.  tu  se  muj  vesti  ozve  blas  4,  proc  si  je  palcem  zacpäväs 

^■■■^    \^ 

190;  P.  V.  vsak  jsi  je  v  srdce  sam  byl  .  .  nasil  36;  P.  J.  a  ja  chtel  bych 

nest  okovy  3,  a  ja  mäm  jich  jazyk  tajit  9. 

Unter  den  eben  aufgezäblten  Belegen  finden  wir  —  abgesehen  von 
den  2  Fällen  mit  vorangehendem  dreisilbigen  Wort  iminnenversi 
—  durchgehends  solche  mit  vorangehendem  (8  +  5  mal  im  Innen- 
vers und  19  +  15  mal  im  trochäischen  Versanfang)  oder  nachfolgen- 
dem (ausnahmslos:  12  -1-  28  mal  im  jambischen  Versanfang,  ausnahms- 
weise: 3  mal  im  trochäischen  Versanfang  II  und  1  mal  im  Innenvers  II) 
einsilbigen  Wort  oder  mit  einem  —  dem  einsilbigen  Worte 
hier  fast  gleichzustellenden  —  vorangehenden  zweisilbi- 
gen Wort  (nur  im  Innenvers  10  -|-  3  mal),  wobei  die  einsilbigen  Wörter 
ihre  Betonung  in  20  +  31  Fällen  an  eine  lange  Silbe  verlieren  und  nur 
in  8  -|-  1 7  Fällen  mit  Hilfe  der  letztern  reine  Quantität  erzielen.  Die 
meisten  Unregelmäßigkeiten  kommen  natürlich  wieder  im  Versanfang 
vor:  31  -f-  46  gegen  20  +  9  im  Innenvers.  Man  könnte  freilich  unter 
diesen  Abweichungen  noch  einiges  —  durch  Annahme  eines  besonders 
starken  Nachdruckes  —  für  korrekt  erklären,  aber  diesem  Nachdrucke 
wichen  wir  —  wegen  seiner  stellenweise  ziemlich  großen  Unbestimmt- 
heit —  grundsätzlich  aus.  Überhaupt  sieht  man  bei  den  Unregelmäßig- 
keiten wenig  von  Rücksicht  auf  die  Quantität  der  betreflfenden  Silben. 
Eher  werden  wir  —  durch  Vergleichung  der  Gesamtzahl  der  Abwei- 
chungen (106)  mit  der  verhältnismäßig  geringen  Zahl  der  Belege  in  I 
(51)  —  zu  der  Ansicht  gelangen,  daß  dieselben  ihre  Existenz  größten- 
teils bloß  einem  blinden  Zufall  zu  verdanken  haben. 

Ba.   Erben's  Verse  mit  dreisilbigen  Füßen. 

Falsche  Wortbetonung. 

Die  dreisilbigen  Versfüße  kommen  bei  unserm  Dich- 
ter—  abgesehen  von  den  zweifüßigen  Daktylen  (vor  Pausen 
eigentlich  Kreticis  nach  Kräl's  Regeln  [L.  f.  Roc.  25.  (1898)  3S])  in  der 
P.  m.  n.  36—43  —  nur  in  Verbindung  mit  zweisilbigen  Vers- 
füßen vor  (ausnahmsweise  ein  Daktylus  im  Trochäenvers:  Vod.  113' 


296  Jaroslav  Sutnar, 

Anapäste  in  Jambenversen :  Z.  k.  II  1 1  ;  h.  d.  I  7  mit  der  Unregel- 
mäßigkeit :  blizouoko  [IUI  stedry  den,   V  3 1   mit  den  Abweichungen  : 

v-',  ^^  ^>     '■^"  ^,,  \^       ••^  ^ ^ 

straaiivou  [IVj  poznati  [II]  jistotu;   Vest.  5:  nechtejte  ;II]   väJiti  [IV] 

••^ . ^^  ^         ^  _  ^y 

lehce  reci  moji,    17:  videla  [IV]  jaem  mu2e,  21  :  prisli  poslov^  [IV]  od 

^-^ \y  v^ v_/ 

valnöho  snemu,  57  :  videla  [IV]jsem8kälu,  63  :  videla  [IV]J3emkneznu,78, 

■^ \u  -^ ^y  -^ ^^ 

93:   videla  [IV]  jsem  tebe,    117:  videla  [IV]  jsem  kostel,   118:  slyseia 

[IV]  jsem  jeho  .  .  zvon),  wobei  die  so  zusammengesetzten 
Verse  noch  ziemlich  spärlich  vertreten  sind  (außer  den  be- 
reits erwähnten  Versen  noch:  §.  d.  1,  3,  5,  G,  8,  10,  12,  14,  16,  18. 
20,  21;  III  1,  3,  5,  7,  9,  11,  13,  15,  17,  19,  21,  23,  25,  27,  29,  31, 
33,  35,  37,  39;  IV  5,  6,  12,  13,  19,  20,  27,  28;  V  1,  3,  5,  6,  25,  26, 
28,  30;  P.  m.  n.  [1,  2]  5,  7,  10  [12, 13]  15,  16,  18,  19,  20,  22,  24,  26, 
27,  28,  29  [30,  31]  44,  45,  46  [48,  49]  54,  55,  56,  58,  59,  60,  61,  63, 
65  [66,  67]  73,  74,  75,  76,  78,  79,  81,  83  [84,  85]  90,  92  [94,  95]; 
S.  13-16  ==  zusammen  102  Fälle).  Auch  hier  kommen  natürlich  Un- 
regelmäßigkeiten zum  Vorschein,  welche  sich  jedoch  in  zweierlei  Rich- 
tung bewegen.  Die  einen  entsprechen  vollkommen  den  in  zweisilbigen 
Versfüßen  giltigen  «Principien«  mit  dem  Unterschiede,  daß  bei  vier-  und 
mehrsilbigen  Wörtern  der  unbetonten  ersten  Silbe  statt  der  Trochäen 
in  den  zweisilbigen  Versfüßen  hier  ein  Daktylus  folgt.  Auch  die  andern 
verdanken  ihr  Sein  denselben  Beweggründen,  die  bei  Entstehung  der 
besprochenen  «Grundsätze«  mitgewirkt  haben.  Aber  sie  sind  eine 
Eigentümlichkeit  der  Verse  mit  dreisilbigen  Füßen,  da  hier  überall  zwei 
tonlose  Silben  neben  einer  betonten  stehen.  In  diesem  zweiten  Falle 
verliert  nämlich  bei  drei-  und  mehrsilbigen  Wörtern  die  erste  Silbe  ihre 
Betonung  zu  gunsten  der  dritten  Silbe,  mit  denselben  vier  Abstufungen, 
wie  sonst  die  erste  Silbe  ihre  Betonung  an  die  zweite  verliert.  Fassen 
wir  nun  die  beiden  Arten  von  Unregelmäßigkeiten  zusammen,  so  können 
wir  die  darin  enthaltenen  »Principien«  folgendermaßen  stilisieren: 

I,  Die  einsilbigen  Präpositionen  brauchen  nicht  immer  die  Betonung 

\^'  \_/    v_/       \^        \^  -^ 

der  folgenden  Wörter  an  sich  zu  reißen  (z.B.  bez  pnkladu,  ve  hlubinäch 
u.  8.  w.);  gar  nicht  vertreten  sind  jedoch  die  —  theoretisch  gleichfalls 
zulässigen  —  Fälle  mit  (tonlosen)  zwei  einsilbigen  Präpositionen. 

II.  In  den  mittels  einer  einsilbigen  Präposition,  Negationspartikel 
oder  eines  andern  einsilbigen  Wortes  zusammengesetzten  Wörtern  kann 
die  erste  Silbe  als  erster  Bestandteil  der  Zusammensetzung  ihre  Betonung 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.         297 


\_/ \^v-/       \y  v^  \_/ 


an  den  zweiten  Bestandteil  verlieren  (z.  B.  zalövali,  pohledeni  u.  s.  w.), 
was  auch  bei  denselben  Wörtern  (selbstverständlich  nur  Nominibus)  mit 
vorangehender  einsilbiger  Präposition  und  den  mit  Hilfe  zweier  ein- 
silbigen Präpositionen  oder  einer  einsilbigen  Präposition  und  einer 
einsilbigen  Negationspartikel  u.  s.  w.  oder  eines  zweisilbigen  Wortes 
zustande  gekommenen  Zusammensetzungen  bezüglich  der  ersten  zwei 
Silben  geschehen  kann  (z.  B.  na  pokäni,  po  nemoci  u.s.w. ;  rozprostiral, 
nerozumem  u.  s.  w. ;  obeznämil,  okamzeni  u.s.w.). 

III.  In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  (z,  B.  behävali 
u.  s.  w.)  oder  die  ersten  zwei  Silben  (z.  B.  miloväni  u.  s.  w.)  ihre  Beto- 
nung an  die  natur-  oder  positionslange  zweite  beziehungsweise  dritte 
Silbe  verlieren,  wenn  diese  auch  nicht  die  erste  Silbe  des  zweiten  be- 
ziehungsweise dritten  Bestandteiles  einer  Zusammensetzung  bildet. 

IV.  In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  (z.  B.  protivila 
u.  s.  w.)  oder  die  ersten  zwei  Silben  (z.  B.  uciteli  u.  s.  w.)  ihre  Betonung 
an  die  zweite  beziehungsweise  dritte  Silbe  verlieren,  wenn  diese  auch 
nicht  die  erste  Silbe  des  zweiten  beziehungsweise  dritten  Bestandteiles 
einer  Zusammensetzung  bildet  und  auch  keine  Natur-  oder  Positions- 
länge enthält. 

Abgesehen  von  den  oben  angeführten  Versen  mit  ausnahmsweise 
vorkommendem  dreisilbigen  Fuße  sowie  den  Zweifüßlern  in  der  P.  m.n. 
36-43  ^mit  der  Unregelmäßigkeit:  s  oseni  -  mdmu  poteseni  [II]  41,  43) 
und  im  S.  13—16  befinden  sich  fast  alle  Verse  im  Besitz  einer  dem  Sinn 
entsprechenden  und  häufig  noch  durch  Interpunktionszeichen  erhärteten 
Diäresis,  welche  sich  regelmäßig  nach  dem  zweiten  Versfuß  einfindet. 
Mit  Ausnahme  des  siebenmal  sich  wiederholenden  Verspaares :  Mäjovä 
nocl  mäjova,  noc!  prvni  majovd  uoc !  bestehen  diese  Verse  durch- 
gehends  aus  vier  akatalektischen  oder  katalektischen  Füßen,  wobei  ein 
Daktylus  —  mit  oder  ohne  Auftakt  —  entweder  im  ersten  oder  im 
dritten  Versfuß  oder  auch  in  beiden  zugleich  den  Trochäen  im  zweiten 
und  vierten  Versfuße  gegenübersteht.  Die  45  Verse  mit  anakrusischem 
oder  nichtanakrusischem  Daktylus  im  ersten  und  dritten  sowie  akata- 
lektischem  Trochäus  im  zweiten  und  vierten  Fuße  (§.  d.  I  1,  3,  12  ; 
III  und  IV:  alle  daktylisch-trochäischen  Verse;  V  1,  3,  6,  20,  2S :  P. 
m.  n.  24,  26,  27,  54,  56,  58,  60,  76,  78)  werden  durch  die  Diäresis  in 
zwei  gleiche  Hälften  geteilt,  von  denen  sich  auch  jede  im  Bedarfsfalle 


298  Jaroslav  Sutnar, 

—  gleich  den  zweifüßigen  Daktylo-Trochäen  im  S.  13-16  —  als  ein 
selbständiges  Ganzes  auffassen  läßt.  (In  24  Fällen  stimmt  die  Inter- 
punktion mit  der  Diäresis  überein,  und  nur  in  3  Fällen  entspricht  die 
Diäresis  dem  Sinne  nicht  vollkommen).  Deshalb  und  der  größern  Ein- 
fachheit wegen  haben  wir  auch  nach  der  Diäresis  im  dritten  Fuße  die 
Möglichkeit  eines  Auftaktes  angenommen,  obwohl  man  sonst  den  Vier- 
füßler mit  nichtanakrusischem  Daktylus  im  ersten  und  anakrusischem 
Daktylus  im  dritten  Fuße  ganz  gut  auch  einen  vierfüßigen  Daktylus  mit 
trochäischem  Ausgang  nennen  und  den  hier  nicht  vertretenen  Vierfüßler 
mit  anakrusischem  Daktylus  im  ersten  und  dritten  Fuße  sogar  als 
»überschüssigen«  vierfüßigen  Anapäst  (vgl.  Westphal  [214])  mit  jambi- 
schem Anfange  messen  könnte.  Verse  mit  Auftakt  im  ersten  Fuße 
kommen  unter  den  Daktylo-Trochäen  überhaupt  nur  in  7  Fällen  (ö.  d. 
I  8,  10,  12,  14,  18;  P.  m.  n.  18,  19)  vor,  wogegen  der  Auftakt  im 
dritten  Fuße  doch  13  mal  (S.  d,  I  3;  III  11,  15,  27;  IV  5,  6,  12,  13, 
20,  27,  28;  V  3;  P.  m.  n.  90)  vertreten  ist.  Weiter  müssen  wir  wohl 
auch  die  ganz  seltenen  Fälle  mit  der  dem  Zusammenhange  des  Satzes 
nicht  ganz  entsprechenden  Diäresis  entschuldigen,  da  solch  ein  kühnes 
Enjambement  zur  Entstehungszeit  unsrer  Dichtungen  sogar  im  Vers- 
schlusse  nicht  als  unmöglich  galt.  Schließlich  sollen  noch  die 
Unregelmäßigkeiten  in  den  vierfüßigen  Daktylo-Trochäen 
mit  nur  einem  Daktylus  gleich  hier  oben  aufgezählt  wer- 
den  (1.  Versschluß  [mit  Reim]:  S.  d.  kolovrätku  -  jiz  na  krätku  [I] 
15  20,621;  P.  m.n.  vence  -  sv^  milence  [III]  62,  63.  2.  Innenvers 
a)  vor  der  Diäresis:  S.d.  ejhle  adventu  [III]  I  6,  mllo-te  devceti 
[IV]  8,  vsak  jest  adv"entu  [III]  21,  nezli  budoücn'ost  [III]  V  30;  P.m.  n. 
chvostata  [IV]  18,  smäcejte  ve  smole  [I]  19,  kazdy  na  poctu  [I]  63,  ve- 
chet  serednd  [III]  65,  sednu  na  chvoste  [I]  74,  a  hej  kominem  [III]  7.^, 

\y v^ 

vetvi  mäjovych  [IV]  81;  b)  nach  der  Diäresis:  0.  3.  Versanfang: 
S.  d.  milo[IV]  -te  devceti  I  8,  budiz  [III]  ty  mi  zinkou  14 ;  P.  m.  n.  smd- 
cejte  [III]  ve  smole  19),  so  daß  dann  zur  systematischen  Auf- 
zählung der  Unregelmäßigkeiten  in  den  Vierfüßlern  mit  je 
einem  Daktylus  in  beiden  Vershälften  geschritten  werden 
kann.  (Die  Abweichungen  im  Innenvers  werden  hier  zum  Unterschiede 
von  denen  bei  den  zweisilbigen  Versfüßen  noch  in  zwei  Unterabteilungen 
geteilt,  je  nachdem  sie  sich  vor  oder  nach  der  Diäresis  befinden.) 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.         299 

I. 

Die  einsilbigen  Präpositionen  brauchen  nicht  die  Be- 
tonung der  folgenden  Wörter  an  sich  zu  reißen. 

V  ^  V-' 

1.  Versschluß  (mit  Reim):  S.  d.  kolovrätku  —  zase  na  krätku, 
V  5,  6. 

2.  Innen  vers  a)  vor  der  Diäresis  :  S.d.vseckot  ve  sveteV  26; 

b)  nach  der  Diäresis:  S.  d.  od  kostela  z  rana  IV  5. 

3.  Versanfang:  0. 

II. 

In  den  mittels  einer  einsilbigen  Präposition,  Negations- 
partikel oder  eines  andern  einsilbigen  Wortes  zusammen- 
gesetzten Wörtern  kann  die  erste  Silbe  als  erster  Bestand- 
teil der  Zusammensetzung  ihre  Betonung  an  den  zweiten 
Bestandteil  verlieren,  was  auch  bei  denselben  Wörtern 
(selbstverständlich  nur  Nominibus)  mit  vorangehender  ein- 
silbiger Präposition  und  den  mit  Hilfe  zweier  einsilbigen 
Präpositionen  oder  einer  einsilbigen  Präposition  und  einer 
einsilbigen  Negationspartikel  u.  s.  w.  oder  eines  zweisilbigen 
Wortes  zustande  gekommenen  Zusammensetzungen  bezüg- 
lich der  ersten  zwei  Silben  geschehen  kann. 

V  V-/     V^      'w' 

1.  Versschluß  (mit  Reim):  S.  d.  kolovrätku  -  jen  na  obnitku. 
V25,  26. 

2.  Innenvers  a)  vor  der  Diäresis  (mit  Reim):  P.  m.  n.  a  na 

v-/        W 

rozchäzku  —  läsku  56  ; 

b)  nach  der  Diäresis:   S.  d.  okolo  pastyre  III  11,  v  osudne 

\y_\y  \y  \j     _    \y  \y 

t6  dobe  IV  12,  zaliväna  rosou  27,  podsecena  kosou  28. 

3.  Versanfang:  0. 

III. 

In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  oder  die. 
ersten  zwei  Silben  ihre  Betonung  an  die  natur-  oder  po- 
sitionslange zweite  beziehungsweise  dritte  Silbe  verlieren, 
wenn  diese  auch  nicht  die  erste  Silbe  des  zweiten  be- 
ziehungsweise dritten  Bestandteiles  einer  Zusammen- 
setzung bildet. 


300  Jaroslav  Sutnar, 

1.  Versschluß  (mit  Reim):  S.  d.  sire  -  okolo  pastyi-e,  III  9,  11, 
llcko  -  zlatö  srdicko  !  17,19,  temnö  —  co  dostal  ode  mne-  25,27,  mezi 

bilymi nimi  37,  39,  z  riina  —  kvitim  osypäna  IV  5,  G,  svice  —  trouby 

hiaho'irce'l9,  20. 

2.  Innenvers  a)  vor  der  Diäresis:  S.  d.  jako  ovecky  III  11, 

Hani^ko,  19,  jsou  to  druzicky,  39,  bilö  driizicky,  IV  19,  bedoväni,  20, 

vsak  jest  udventu  V  G ; 

b)  nach    der  Diäresis:    S.  d.  starä  podnmuje   I  3,   sve^i 

\^  „  v^  _.  \_/ 

stopu  znäti  III  15,  kvitim  osypäna  IV  G,  domü  vede  k  sobe  13,  trouby 

<y  _ 

hlaholice  20,  starä  polehuje  V  3. 

3.  Versanfang:  0. 

IV. 

In  mehrsilbigen  Wörtern  kann  die  erste  Silbe  oder  die 
ersten  zwei  Silben  ihre  Betonung  an  die  zweite  be- 
ziehungsweise dritte  Silbe  verlieren,  wenn  diese  auch 
nicht  die  erste  Silbe  des  zweiten  beziehungsweise  dritten 
Bestandteiles  einer  Zusammensetzung  bildet  und  auch 
keine  Natur-  oder  Positionslänge  enthält. 

1.  Versschluß  (mit  Reim):  S.  d.  duje  —  starä  podnmuje,  I  1,  3, 

\y \^  ^y\^  \y 

bije  -  zlatä  Marie!  III  29,  31,  duje  -  starä  polehuje,  V  1,  3;  P.  m,  n. 

^/  V-^  _  v^ 

na  rozloucenl  —  me  poteseni !  54. 

V  y  '^         V_/ 

2.  Innen vers  a)  vor  der  Diäresis:  S.  d.  prijde  mlädenec  I  12, 
tak  videla  jej  IV  12; 

b)  nach  der  Diäresis:  0. 

3.  Versanfang:  0. 

In  Übereinstimmung  mit  der  geringen  Anzahl  der  hieher  gehörigen 
Verse  sind  auch  die  Unregelmäßigkeiten  spärlich  vertreten,  so  daß  sogar 
in  einigen  Abteilungen  kein  einziger  Beleg  vorkommt.  Auch  bei  Heran- 
ziehung dieser  Abweichungen  haben  wir  natürlich  den  Zusammenhang 
berücksichtigt,  soweit  es  der  Versschluß  oder  die  Diäresis  oder  die 
durch  Interpunktionszeichen  augedeuteten  Pausen  zugelassen  haben. 
(S.  auch  Anmerkung  47)!)  Trotz  der  kleinen  Anzahl  der  Unregel- 
mäßigkeiten halten  wir  es  doch  mit  Rücksicht  auf  die  weitern  Ausfüh- 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  30 1 

rangen  nicht  für  überflüssig,  wenn  im  folgenden  ein  kurzer  Überblick 
über  diese  Belege  gegeben  wird. 

1,1.  1  Fall  mit  einsilbiger  Präposition  und  zweisilbigem  Nomen 
(mit  langer  erster  Silbe  des  Nomens,  aber  nicht  rein  quantitierend); 
2.  a)  1  Fall  mit  einsilbiger  Präposition  und  zweisilbigem  Nomen  (ohne 
lange  erste  Silbe  des  Nomens),  2.  b)  1  Fall  mit  einsilbiger  Präposition 
und  dreisilbigem  Nomen  (mit  langer  erster  Silbe  des  Nomens,  aber  nicht 
rein  quantitierend);  3.  0. 

II.  /.  1  Fall  mit  einsilbiger  Präposition  und  dreisilbiger  Zusammen- 
setzung :  mit  Betonung  auf  d.  zweiten  Silbe  des  Nomens  (rein  quantitie- 
rend); 2.a)  1  Fall  mit  einsilbiger  Präposition  und  dreisilbiger  Zusam- 
mensetzung: mit  Betonung  auf  d.  zweiten  Silbe  des  Nomens  ^mit  langer 
zweiter  Silbe,  aber  nicht  rein  quantitierend),  2.  h)  2  Fälle  mit  dreisilbi- 
ger Zusammensetzung  und  mit  Betonung  auf  d.  zweiten  Silbe  (darunter  1 
mit  langer  zweiter  Silbe,  aber  nicht  rein  quantitierend),  2  Fälle  mit 
viersilbiger  Zusammensetzung  und  mit  Betonung  auf  d.  zweiten  Silbe  (da- 
runter 1  mit  langer  zweiter  Silbe,  aber  nicht  rein  quantitierend) ;  3.  0. 

III. /.  l  Fall  mit  zweisilbigem  Worte  (rein  quantitierend),  3  Fälle 
mit  dreisilbigem  Wort  und  mit  Betonung  auf  d.  zweiten  Silbe  (darunter  1 
rein  quantitierend),  2  Fälle  mit  viersilbigem  Wort  und  mit  Betonung  auf 
d.  dritten  Silbe  'rein  quantitierend);  2.a)  5  Fälle  mit  dreisilbigem  Wort 
und  mit  Betonung  auf  d.  zweiten  Silbe  (darunter  4  rein  quantitierend),  l  Fall 
mit  viersilbigem  Wort  und  mit  Betonung  auf  d.  dritten  Silbe  (nicht  rein 
quantitierend),  2.  h)  6  Fälle  mit  zweisilbigem  Worte  (darunter  1  rein 
quantitierend);  3.  0. 

IV.  /.  1  Fall  mit  dreisilbigem  Wort  und  mit  Betonung  auf  d.  zweiten 
Silbe,  3  Fälle  mit  viersilbigem  Wort  und  mit  Betonung  auf  d.  dritten  Silbe ; 
2.a)  2  Fälle  mit  dreisilbigem  Worte:  1  mit  Betonung  auf  d. zweiten  und 
1  auf  d.  dritten  Silbe,  2.b)  &\  3.  0. 

Die  beigefügte  Tabelle  zeigt  uns,  daß  hier  im  Gegensatz  zu  den 
wenigen  zweisilbigen  Belegen  nach  der  Diäresis  (nur  1  mal  im  Vers- 
schluß) am  stärksten  die  dreisilbigen  Wörter  mit  Betonung  fast  durch- 
gehends  auf  der  zweiten  Silbe  (nur  1  mal  mit  Betonung  auf  der  dritten 
vertreten  sind.  Die  weniger  zahlreichen  viersilbigen  Belege  stehen  zur 
überwiegenden  Mehrheit  mit  Betonung  auf  der  dritten  Silbe  im  Versschluß 
oder  vor  der  Diäresis  und  nur  in  wenigen  Fällen  mit  Betonung  auf 
der  zweiten  Silbe  nach  der  Diäresis  —  möglich  auch  im  Versanfang  — , 


302 


Jaroslav  Sutnar, 

Übersichtstabelle. 


Wörter. 

Z 

weisilbig. 

Dreisilbig. 

Viersi 

Ibig. 

I. 
u. 

/. 

1:1          n+  )  1 

■2.a) 

1          fl+  ) 

■2.b) 

1:1 

(1+   )  1 

3. 

2:1              (2+   ) 

1:1 

(1+   i 

1. 

1:1  :1 

(   +1) 

2.a) 

1:1 

(  +1) 

2.b] 

2:1              (24-  ) 

2:1 

(2+   ) 

3. 

4:2              (4+   ) 

5:4:1 

''H  +  2j 

III. 

1. 

1:1:1 

3:3:1         (3+   ) 

2:2:2 

(   +2) 

2.a) 

5:5:4         (5+  ) 

1:1 

(   +1) 

2.b) 

6:6:4 

3. 

7:7:5 

12:10:5     (12+   ) 

8:7:3 

(3+5i 

IV. 

1. 

1                 (1+    ) 

3 

1    +3, 

2.a) 

2                  (1  +  1) 

2.b) 

3. 

7:7:5 

15:10:5     (14  +  1) 

11:7:3 

(3  +  8) 

wie  überhaupt  in  diesen  Versen  auf  der  einen  Seite  Versschluß  und 
Innenvers  vor  der  Diäresis  und  auf  der  andern  Seite  wiederum  Innen- 
vers nach  der  Diäresis  und  Versanfang  sich  mehrfach  ähneln.  Auch 
hier  hat  in  den  ersten  zwei  Klassen  verhältnismäßig  sehr  oft  die  Länge 
der  betreffenden  Silbe  (natürlich  mit  geringerer  Anzahl  rein  quantitie- 
render  Belege  in  den  ersten  drei  Klassen)  auf  die  Unregelmäßigkeiten 
eingewirkt,  unter  denen  die  verhältnismäßig  meisten  (1 1  von  den  13  Fällen 
im  ganzen)  bei  den  anakrusischen  Daktylen  (nach  der  Diäresis  im  ganzen 
12  und  im  Versanfang  im  ganzen  1)  wegen  ihres  Auftaktes  vorkommen. 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erbeo  etc.  303 

Bb.   Erben's  Terse  mit  dreisilbigen  Füßen. 

Falsche  Satzbetonung. 

In  dieser  Abteilung  schließen  sich  bei  den  Versen  mit  dreisilbigen 
Füßen  den  tonlosen  einsilbigen  Wörtern  begreiflicherweise  auch  noch 
tonlose  zweisilbige  Wörter  an,  wo  man  natürlich  von  einer  Satzbetonung 
auch  nur  insoweit  reden  kann,  als  diese  Wörter  gleichfalls  ihre  Betonung 
an  die  unmittelbar  vorangebenden  (oder  ausnahmsweise:  nachfolgenden) 
Silben  gänzlich  verlieren.  Ursprünglich  waren  —  unter  Einfluß  der 
Quantitätslehre  —  diese  Silben  wohl  lang,  wogegen  die  zweisilbigen 
Wörter  selbst  kurze  Silben  besaßen.  Aber  später  ging  man  weiter,  in- 
dem man  auch  die  Kürze  der  vorangehenden  (oder  ausnahmsweise:  nach- 
folgenden; Silben  und  lange  Silben  in  dem  zweisilbigen  Worte  zuließ  ^^j. 
Wir  zählen  zum  Schluß  wieder  noch  die  Belege  in  den 
Versen  mit  nur  einem  Daktylus  auf  (1.  Zweite  Vershälfte: 
P.m.n.  lec  na  tu  chvili  45,  at'  bude  zdrävo  92.  2.  Erste  Vershälfte: 
S.  d.  ja  tobe  muzem  I  16;  P.  m.  n.  a  kolem  ohne  16,  tak  jako  stastnä 
29,  a  hej  kominem  75  [S.jsounase  präva  14,  kdos  o  ne  s  nämi  15]), und 
die  Unregelmäßigkeiten  in  den  Daktylo-Trochäen  mit  zwei  Daktylen 
teilen  wir  im  folgenden  je  nach  der  Länge  oder  Kürze  der  vorangehenden 
(oder  ausnahmsweise:  nachfolgenden)  Silbe  in  zwei  Abteilungen,  wobei 
noch  darauf  Rücksicht  genommen  wird,  ob  sich  dieselben  in  der  ersten 
oder  in  der  zweiten  Vershälfte  befinden. 


48)  Nach  KrsU  (L.f.Roc.  20.  [1893]  194,  197)  will  selbst  Dobrovsky  in  der 
ersten  Auflage  der  Pelzel'schen  Grammatik  (wir  haben  sie  nicht  benützen 
können)  jene  zweisilbigen  Wörter  als  Pyrrhichien  gelten  lassen,  bei  denen 
zwischen  zwei  kurzen  Vokalen  nur  ein  einziger  Konsonant  steht.  Auch  noch 
in  der  zweiten  Auflage  derselben  Sprachlehre  (212)  ist  er  nicht  ganz  abge- 
neigt, «nach  einer  stark  betonten  Silbe  einige  zweisilbige  Wörter  als  Pyrrhi- 
chien zu  gebrauchen'-.  Außerdem  ist  auch  interessant,  was  J.  Nejedly  in  der 
dritten  verbesserten  Ausgabe  seiner  »Praktischen  böhmischen  Grammatik 
für  Deutsche«  (Prag  1821)  sagt  (320):  »In  daktylischen  Versarten  kann  man 
auch  . . .  zur  Abwechslung  des  Verses  die  zweisilbigen  Wörter,  und  bei  mehr- 
silbigen die  ersten  zwei  Silben  als  Pyrrhichius  .  .  .  gebrauchen.  Allein  dies 
muß  mit  der  größten  Behutsamkeit  und  Delikatesse  geschehen,  da  es  doch 
nur  immer  eine  poetische  Freiheit . . .  ist.  Die  Silben,  die  man  als  Pyrrhichius 
gebrauchen  will,  dürfen  nur  einen,  höchstens  zwei  Mitlaute  zwischen  ihren 
geschärften  [kurzen]  Selbstlauten  haben,  und  in  der  Aussprache  gleichsam 
dahin  schlüpfen.  Dergleichen  sind :  tobe, . .  .  otce  . . .»  (S.  auch  Kräl  [L.  f.  roi. 
21.  (1894)  248]  bezüglich  der  vierten  Auflage  desselben  Buches!) 


304  Jaroslav  Sutnar, 

I. 

Ein  wichtiges  (ein-  oder)  zweisilbiges  Wort  verliert 
seine  Betonung  an  eine  lange  Silbe. 

1.  Zweite  Vershälfte:  B.  d.  mrnz  v  okna  duje  I  1,  dve  jmena 
milä  UI  1,  vsech  noci  msiti  13,  svezi  stopu  znati  15,  vidim  dv^re  23, 
domü  vede  k  sobe  IV  13,  mniz  v  okna  duje  V  1. 

2.  Erste  Vershälfte:  S.d.  ach  vidim  domek  111  21,  ach  vidim, 
33,  vsak  16pe  v  mylne  V  28;  P.  m.  n.  tak  jako  slunce  27,  hej  paui 
matky  78. 

II. 

Ein  wichtiges  (ein-  oder)  zweisilbiges  Wort  verliert 
seine  Betonung  an  eine  kurze  Silbe. 

1.  Zweite  Vershälfte:  S.d.  je  mlhy  mnoho  111  33,  a  mezi  nimi 
39;  P.  m.  n.  tu  nasi  läsku  56,  co  byla  v  mlädl  60. 

2.  Erste  Vershälfte:  S.  d.  tma  jako  v  hrobe  I  1,  ta  jedna  kleci 
in  17,  a  za  ni  hejsa  IV  6;  P.  m,  n.  kdo  ve  sv^  sily  24. 

Wir  wollen  wieder  in  einigen  Worten  eine  Sichtung  des  uns  hier 
gebotenen  Materials  vornehmen.  Die  durchweg  zweisilbigen  Belege 
kommen  mit  vorangehender  langer  Silbe  6  mal  —  und  1  mal  mit  folgen- 
der langer  Silbe  —  in  der  zweiten  und  5  mal  in  der  ersten  Vershälfte 
vor,  aber  es  befindet  sich  unter  ihnen  nur  ein  einziger  rein  quantitieren- 
der  Fall:  mit  langer  vorangehender  Silbe  und  mit  kurzen  Silben  des 
zweisilbigen  Wortes.  Mit  vorangehender  kurzer  Silbe  finden  sich  in 
den  beiden  Vershälften  je  4  Belege  4^). 


*9)  Über  die  als  Pyrrhichien  zu  messenden  zweisilbigen  Wörter  sagt 
Kräl  in  seinen  Regeln  (L.  f.  Eoc.  25.  [1898]  37)  folgendes:  »Take  slova  dvoit- 
slabicnd  mohou  nekdy  temer  docela  tratiti  pfizvuk,  stoji-li  pred  slabikou 
nebo  za  slabikou  s  prizvukem  vetnym.  Ale  mohou  to  byti  jen  slova  obsazne 
mälo  zävaznä  a  vice  formälniho  vyznamu :  ano,  ale,  veru,  nebo,  tedy,  tudy,  zase, 
bt/chom,  byste  a  j.;  na  pr.  Ja  veru  nevim.  bli  bychom  radi  .  .  .  Ale  on  to 
wechce.  Veru  Ärozne  se  wylis.  ilfZcim;  nebo  wZcet  je  zZato.  To  aby  cer<  vzal. 
Jd  jenom  nechci.  —  Po  silnem  prizvuku  a  pred  pfizvukem  rovnez  silnym 
mohou  i  jinä  slova- arei  ve  vete  nezävaznä-  tratiti  skoro  svüj  prizvuk:  Jak 
kräl  tomu  mohl  jen  rerit?  Ja  za  to  nemohu.  Ty  o  ne  westojis.  —  Tireba  vsak 
vzdy  miti  na  pameti,  ze  Ize  uzivati  slova  dvouslabicneho  jako  pyrrhichia  jen 


Prosodisches  und  Metrisches  bei  Karel  Jaromir  Erben  etc.  305 

Nach  dieser  Übersicht  wollen  wir  uns  endlich  —  ausgerüstet  mit 
den  aus  den  übrigen  Dichtungen  Erben's  abstrahierten  prosodischen 
und  metrischen  Regeln  —  unserm  Gedichte  Zähorovo  loze  zuwenden, 
welches  hier  mit  Bezeichnung  des  Metrums  und  mit  prosodischer  Ana- 
lyse vollständig  zum  Abdruck  gelangt,  da  wir  es  —  zur  bessern  Kon- 
trolle seitens  der  Leser  über  die  Ausführungen  im  folgenden  Abschnitt 
—  für  unerläßlich  hielten. 


tehdy,  kdy  vskutku  pfizvuk  temer  docela  trati.  Je  to  v  pripadech  iKdkych,  a 
zvläste  na  pocätku  vety  [38]  jen  slova  velmi  luälo  obsaznä  a  stojici  pred  velmi 
silnym  prizvukem  mozno  tak  meriti.«  (S.  auch  Kräl:  L.  f.  Eoc.  2().  [Ii9'6]  351. 
352  u.  s.  w.!) 

(Fortsetzung  folgt.) 


Urkundliche  Beiträge  zur  Biographie  des  Dichters 

Eelkovic. 


Während  meiner  Beschäftigung  in  dem  Wiener  Hof-Kriegs- Archive 
fand  ich  zufällig  einige  Notizen,  die  sich  auf  den  serbokroatischen 
Dichter  Mathias  Anton  Relkovic  beziehen.  Ich  sammelte  diese  Daten 
und  veröffentliche  sie  in  der  Hoffnung,  daß  sie  etwas  dazu  beitragen 
werden,  um  unsere  geringen  Kenntnisse  über  das  Leben  dieses  bedeu- 
tenden Mannes  zu  ergänzen. 

Das  Leben  und  die  Werke  Relkovic's  waren  wiederholt  Gegenstand 
der  Forschungen  und  Studien  der  südslavischen  Schriftsteller.  Als 
wichtigere  Abhandlungen  über  sein  Leben  erwähne  ich  die  folgenden : 
Kratki  ispis  zivota  privridnoga  gospodina  M.  A.  Relkovi(5a  von  Adam 
Filipovic  Heldentalski,  in  Versen,  als  Vorwort  zur  HI.  Auflage  »Satirs« 
(Esseg  1822);  Nesto  o  zivotu  i  knjiXevnom  radu  M.  A.  Relkovica  von 
B.  P.,  als  Beilage  zu  den  gesammelten  Werken  des  Dichters  (Vinkovci 
1875);  Relkovi(^  u  hrvatskoj  knjizevnosti.  Knjizevno  povjesni  ogled  od 
Ivana  Milcetica  (Vienac  1881);  0  knjizevnom  radu  M.  A.  Relkovica. 
Literaturna  studija  von  Tomo  Malid  (Vienac  1893);  Nesto  o  Xivotu  i 

Archiv  für  slavischo  Philologie.    XXVIII.  20 


306  Aleksa  Ivid, 

knjizevnom  radu  M.  A.  Relkovica  von  Martin  Senekovi6  als  Vorwort  zur 
IX.  Auflage  des  »Satire  (Zagreh  ISO."));  Pisma  lielkoviceva,  prikupio 
D.  Bogdanovi(;  (Vienac  1890);  Matija  Ant.  Kelkovic,  von  D.  Boranic 
(Narodne  Novine  1898);  Zivot  M.  A.  Relkovica  von  dr.  Ivan  Sercer 
(Nastavni  Vjestnik  1899).  Schließlich  sei  noch  des  neuesten  sorgfältig 
ausgearbeiteten  Beitrags  »Marnja  Auryii  TejiKoiiuli«  in  der  Abhandlung 
»CpncKa  KiiHJKeBHOCT  oa  BSJiHKe  ceorte  ao  AocHTeja  OöpaÄOBHha«  von 
Tihomir  Ostojic  (Karlowitz  190."))  gedacht. 

Nach  den  Angaben  der  aufgezählten  Werke  wurde  Kelkovic  im 
Jahre  1732  zu  Svinjar  in  Slavonien  geboren.  Seine  Schulbildung  be- 
gann er  im  Kloster  Cernik,  wohin  er  von  seinem  Vater,  einem  Gränz- 
officier,  gebracht  wurde,  als  derselbe  in  den  Krieg  nach  Italien  zog. 
Später  setzte  der  junge  Mathias  seine  Studien  in  Budim  (Ofen)  fort  und 
im  17.  Jahre  trat  er  in  den  Militärdienst.  Anfangs  diente  er  im  Gra- 
diskaner  Regiment,  wo  er  im  Jahre  1750  Fähnrich  wurde  und  als 
solcher  heiratete.  Darauf  wurde  er  zum  Broder  Regiment  versetzt,  mit 
welchem  er  als  Lieutenant  im  siebenjährigen  Kriege  teilnahm.  In  der 
Schlacht  bei  Breslau  (1757)  wurde  er  vom  Feinde  gefangen  genommen 
und  in  die  Stadt  geführt.  Infolge  einer  ungünstigen  Schlacht  war  das 
feindliche  Heer  Breslau  zu  räumen  genötigt  und  die  gefangen  genom- 
mene österreichische  Miliz,  darunter  auch  Relkovic,  wurde  freigelassen. 
Nach  der  Schlacht  bei  Leiten  nahmen  die  Preußen  den  Relkovic  zum 
zweitenmal  gefangen  und  führten  ihn  nach  Frankfurt  a.  0.  Da  blieb 
Relkovic  längere  Zeit,  lernte  auch  die  französische  Sprache  und  studierte 
das  Leben  des  deutschen  Volkes.  Nach  dem  erfolgten  Frieden  tauschten 
die  Gegner  ihre  Gefangenen  aus  und  so  erlangte  Relkovic  wieder  seine 
Freiheit.  Auch  am  späteren  bayerischen  Erbfolgekrieg  im  Jahre  17  78 
und  1779  hatte  er  teilgenommen.  In  seinem  Vaterland  wechselte  er  die 
Dienstposten  häufig,  indem  er  in  Nemci,  Samac,  Bosnjaci  und  Babina 
Greda  gedient  hatte.  Gegen  das  Jahr  1785  wurde  er  als  Hauptmann 
pensioniert  und  allem  Anscheine  nach  bei  dieser  Gelegenheit  in  den 
Adelsstand  mit  dem  Titel  »von  Ehrendorf«  erhoben.  Bei  der  Pensio- 
nierung wollte  er  um  den  Majorstitel  nicht  einkommen,  wie  aus  einem 
Briefe  ersichtlich  ist,  wo  er  schreibt:  »Kad  nisam  postao  majorom  dok 
sam  mogao  majoricirat,  sto  ce  mi  sada  prazan  titul«.  Nachdem  er  pen- 
sioniert wurde,  zog  er  sammt  der  Frau  nach  Vinkovce  und  dort  starb 
er  im  Jahre  1798. 

Unser  Beitrag  wird  manchen  Fehler  in  der  so  dargestellten  Lebens- 


Urkundliche  Beiträge  zur  Biographie  des  Dichtere  Relkovic.        307 

beschreibung  Relkovic's  korrigieren  und  vielleicht  einiges  dazu  bei- 
tragen, um  die  Umstände  nnd  die  Lage,  in  welcher  der  verdienstvolle 
Autor  ))Satir«-s  gedichtet  hatte,  besser  zu  verstehen. 

Mir  ist  nicht  bekannt,  wie  der  Vater  Relkovic's  geheißen  hat.  Allem 
Anscheine  nach  wird  es  Stipo  Relkovic  sein,  dessen  Namen  ich  oft  in 
den  Akten  des  Hof-Kriegs-Archivs  gefunden  habe.  Dieser  Stipo  war 
auch  aus  Svinjar  in  Slavonien  und  ist  im  Jahre  1750  wegen  seiner 
Verdienste  im  türkischen  und  «Welschenkriege«  Hauptmann  geworden. 
Die  Witwe  dieses  Stipo,  Maria  Relkovic,  geborene  Despacsevic,  bittet 
im  Jahre  1773  um  Pension.  In  dem  Gesuche  erwähnte  sie,  daß  sie 
einen  Solm  habe,  der  selbst  schon  ein  Invalid  sei  {<6ö — 616). 

In  den  Akten  des  Hof-Kriegs- Archivs  werden  auch  die  zwei  Söhne 
des  Mathias  erwähnt.  Der  eine  war  Pfarrer  und  Katechet  in  Vinkovci 
und  er  hatte  im  Jahre  1 79S  »einen  größeren  Cathechismus  in  die  Illyrische 
Landes  Sprache«  übersetzt  (Nr.  224,ö)  und  im  August  1800  J.  wird 
vom  slavonischen  General-Commando  gemeldet,  daß  der  Cathechismus 
in  1000  Exemplaren  gedruckt  wurde.  Der  zweite  Sohn  Johann  wird 
einigemale  in  nachfolgenden  Beiträgen  erwähnt.  Außerdem  findet  man 
in  den  Akten  auch  eine  Nachricht,  nach  welcher  dieser  Relkovic  als 
Unterlieutenant  das  Proviant  veruntreut  hätte,  aus  welchem  Grunde  er, 
höchst  wahrscheinlich,  aus  dem  Militärdienste  entlassen  worden  war. 

1)  Am  12.  Juli  1758  wurde  Unterlieutenant  des  Brooder  Regiments, 
Matho  Relkovich,  durch  allerhöchste  Entsclilleßunjj  zum  Oberlieutenaut  er- 
nannt. 61—323. 

2)  Vorschlags -Tema  über  eine  bey  dem  Kay.  Königl.  Slavonischen 
Brooder  Gränitz  Infanterie  Regiment  Waccant  gewordene  Haubtmanns 
Charge  als  hierzu  wird  vorgeschlagen  anstatt  den  zum  Raupten  vorgeschla- 
genen Capit-Lieutenant  Franz  Flaig  oberlieuteuant  1.  Randes  im  Regiment 
Mathias  Relkovich.  Er  dient  als  oberlieutenaut  seit  21,  Julie  1758;  41  Jahre 
alt,  geboren  in  Slavonien  zu  Sviuiar,  religion:  Catholisch,  Stand:  verheura- 
thet,  4  Kinder,  Dienst  Monathe  und  in  welchen  Chargen:  als  gemeiner  13,  als 
gefreiter  2,  als  corporal  10,  als  fähnrich  6,  als  Unterlieutenant  57,  als  ober- 
lieuteuant 184  Monath,  lebet  von  der  gage.  Natürliche  Talente:  ganz  beson- 
dere, redet  Sprachen  yilyrisch,  teutsch,  latein  und  französisch,  hat  Eyfer  iin 
Dienst:  besonders  vielen,  Geschicklichkeit:  im  Exerciereu  ganz  besondere; 
in  der  Adjustirung:  besondere;  in  Dressirung  seiner  untergebenen:  vortretf- 
liche;  im  Dienst  emsig,  ferme,  accurat,  streng;  in  sonstige  wissenschafft: 
übersetzet  sehr  gut  aus  dem  teutsch  ins  Illyrische,  Companie  tabel:  im  Re- 
giment ja;  mit  der  Artillerie  Ja;  Conduite:  ein  guter  Wirth:  ja;  verdient  das 
Avancement:  allerdings;  unruhigen  gemüths:  gar  nicht;  Spieler:  nein;  dem 

20* 


308  Aleksa  Ivic, 

Trunk  ergeben:  nein.   Esscg  den  17.  Deceuibris  1773,  Freyh.  von  Mathesen. 
Praes.  auf  Hof-Kriegs  Rath  am  24.  Deceiabris  1773. 

65—616. 

3)  Hochlöblich  k.  auch  k.  k.  Hof-Kriegs-Rath!  Die  Anleitung  zur  bes- 
seren Schafzucht,  wovon  Eine  hochlüblichen  Instanz  diesoni  General  Cornanclo 
untern  12*''"  Decenibris  vorigen  Jahrs  einige  Exomplarien  mitzutheilen  ge- 
ruhete,  ist  nunniehro  von  des  Brooder  Regiments  Hauptmann  v.  Relkovich, 
auch  in  die  hiesige  Landes  Sprache  übersezet  worden;  man  ist  hicrorths  des 
gehorsambsten  Dafürhaltens,  dass  diese  Übersezung  einen  grösseren  Nuzen 
schaffen,  und  mehrere  zur  Pflegung  der  Schaafe  den  Regimentern,  als  sammt- 
lichen  Commitaten  einige  Abdrucke  mitgetheilet  würden,  als  wenn  selbe  nur 
mündlich,  oder  schriftlich  den  liebhabern  einer  besseren  Schaafzucht  bekannt 
gemacht  werden  sollte. 

Da  der  hiesige  Buchdrucker  für  die  Auflag  und  Druckung  500  Exem- 
plarien  70  fl.  verlanget,  so  daß  ein  Exemplare,  welches  10  Bögen  enthält, 
nicht  höcher  als  81/4  ar,  mithin  ein  Bogen  nur  33/4  er.  kosten  würde. 

So  solle  ich  nur  dero  hocbgefüUige  Entschlüssung  in  Unterthänigkeit 
erbietten,  ob  die  Druckuug  sothaner  übersezung,  folglich  auch  die  Bezahlung 
des  diessfäiligcn  Betrags  aus  dem  Proventen  fundo  gnädig  verwilliget  wer- 
den wolle,  womit  ich  in  Einfester  Unterthänigkeit  ersterbe. 

Eines  Hochlöblichen  k.  und  k.  k.  Hof  Kriegs  Raths  unterthänig  gehor- 
samster Freyh.  v.  Mathesen,  Esseg  d.  5.  Decembris  1775.  —  A  tergo:  Sclav. 
General  Commando  dt.  Essegg  S^en  Decemhris  1775  fraget  sich  an,  ob  nicht 
gnädig  verwilliget  werden  wolle,  dass  die  von  des  Brooder  Regiments  Haupt- 
mann Relkovich  verfertigte  Übersezung  der  untern  12t«'n  Decembris  vorigen 
Jahrs  anher  mitgetheilten  oeconomischen  Schaafzucht  in  Druck  geleget,  und 
dafür  der  Betrag  aus  den  Proventen  fundo  mit  70  fl.  bezahlet  werden  därfte. 
—  Praes.  13.  Decembris  1775.  —  Dies  wurde  nach  dem  Vorschlag  Liebenfels 
verwilligt.  42,  86. 

4)  Hochlöblich -Kay:  auch  Kay:  Königlicher  Hof  [Kriegs -Rath  !  Da- 
schon  untern  22ten  Juny  1770  geruhete  Ein  Hochlöblicher  Hof-Kriegs-Rath 
die  von  dem  Landts-Buchhalter  in  Boheim  Baul  verfasste  Anleitung  zur  Ver- 
besserung der  Schafzucht  sowohl,  als  die  derselben  angehängte  Weigandische 
Tabaksbau- Abhandlung  in  teutscher  Sprache  zur  erspriesslichen  Nuzniessung 
für  hierlaufige  graniz-Truppen  mit  dem  Auftrag  anhero  zu  senden,  dass  diese 
Abhandlung  in  hiesiger  Graniz  übliche  Landessprache  durch  ein  capables 
Subjectum  übersezet  in  proportionirter  Anzahl  in  Druck  beförderet  werden 
sollen,  und  diessfälligen  Auftrag  untern  20tM  Decembris  1775  zu  erneuern. 

Zur  Erreichung  der  hohen  Intention  hat  das  General  Commando  Anno 
1770  den  nunmehrigen  Brooder  Regiments  Capitaine  Lieutenant  Relkovich, 
welcher  zur  selbigen  Zeit  den  Caracteur  eines  Oberlieutn.  begleitete,  zu  Über- 
sezung der  allerersteren  Auflage  als  ein  geschicktes  Subjectum  ausersehen; 
man  hat  dahero  denselben  auch  zur  gegenwärtige  verbesserten  Übersezung 
und  Correctur,  wovon  Einem  Hochlöblichen  Hof-Kriegs-Rath  J.Exemplarien 
zur  hohen  Einsicht  gehorsamst  überstellet  werden,  als  ein  geprüften  —  der 


Urkundliche  Beiträge  zur  Biographie  des  Dichters  Relkovic.        309 

teutschen  —  und  Landessprache  wohl  kündigen  Mann  neuerdings  fürgewählet 
und  verwendet; 

Wie  nun  gemelter  Capitaine-Lieutenant:  bey  ersterer  übersezung  40 
und  mit  lezterer  41,  zusammen  81.  Tage  zugebracht,  so  bittet  er  in  gnädige 
Betrachtung  zu  ziehen,  dass  er  vom  Regiment  abwesend  alle  zweymal  für 
baares  Geld  gelebet,  und  anstatt  der,  nach  gethaner  seiner  eigenen  Schuldig- 
keit geniessenden  Ruhe,  öfters  auch  bey  der  Nacht  in  dieser  mühsamen 
Translatirung  gearbeitet,  womit  ihme  die  Caracteurmässigen  Diurnen,  wo 
nicht  ganz,  doch  wenigstens  zur  Halbscheide  zugestanden  werden  möchten; 

Das  General  Commando,  welches  ihme  das  zeugnüss  beyleget,  dass  Er 
in  diesen  beeden  Arbeiten  viele  Mühe  angewendet,  unterleget  dessen  Gesuch 
Einer  hochlöblichen  Instanz  zur  gnädigsten  Eiitsclilüssung; 

In  tiefesten  respect  erlassend  Eines  üochlöblichen  iKay:  auch  Kay: 
Königl:  Hof-Kriegs-Rath  unterthänig-gehorsamste  Freyh.  v.  Mathesen.  Esseg 
den  22.Martij  1776.  —  A  torgo:  Slavonisches  General  Commaudo  etc.  Esseg 
den  22.Martij  1776.  unterstüzet  die  Bitte  des  Brooder  Regiments  Haubtmann 
Relkovich  um  Erfolglassung  deren  wegen  übersezung  der  Buchhalter  Bauli- 
schen  Schaf-Zucht  und  Tabackbau- Anleitung  aus  dem  teutschen  in  die  Illy- 
rische Sprache,  wovon  Einem  Hochlöblichen  Hof-Kriegs-Rath  von  denen 
bereits  im  Druck  beförderten  Exemplarien  4.  Stücke  zur  hohen  Einsicht  bey- 
geschlossen  werden,  durch  81.  Tage  ins  verdienen  gebrachten  Caraeteurs- 
mässigeu  —  wo  nicht  ganz  doch  halbscheidigen  Diurnen.  Praes.  d.  Gten  April 
1776.  —  Hof  Kriegs  Rath  fasste  den  Beschluss,  wodurch  dem  Relkovich  ein 
Praemium  von  100  fl.  aus  dem  Gräniz  Extra  Proventen  verabfolget  werde. 

42,  36. 

5)  Slavonisches  General  Commando  vom  7.  hujus:  begleitet  das  Ansuchen 
des  Brooder  Regiments  Hauptmann  Relkovlz  um  Erlaubnis,  die  verwittibte 
Hauptmanin  Catharine  Basslinovich  ehligen  zu  dörfeu,  mit  der  Anmerkung, 
dass  die  Heuraths  Caution  zwar  weder  mit  Geld,  noch  in  Realien  sicherge- 
stellt werden  könne,  doch  der  Hauptmann  von  beeden  so  viel  besitze,  dass 
nach  Äusserung  des  Regiments  die  Witwe  mit  den  Kindern  in  Communione 
leben  könne. 

Bevor  das  General  Commando  zu  dieser  Ileurath  die  Bewilligung  er- 
theilet,  wird  die  gerichtliche  Fürmerkungs-Urkund  der  zu  Esseg  sicherge- 
stellten Capitals  Posten  sowohl  als  auch  ihrer  zur  Helfte  beschehenen  Cession 
zur  Heuraths  Caution  des  Brooder  Regiments  Hauptmann  Relkovich  gewär- 
tiget.  —  Dieser  Beschluss  wurde  am  22.  Jäner  gefasst  und  an  das  Slavoni- 
sche  General  Conunando  expedirt.  —  Praes.  14.  Januarii  1780. 

Nr.  92. 
6)  Slavonisches  General  Commando  vom  2J.Martii  übersendet  in  Folge 
Verordnung  vom  22.  Januar  No.  92  die  zur  Ergänzung  der  Heuraths  Caution 
des  Brooder  Regiments  Hauptmann  Relkovich  abverlangte  gerichtlich  vor- 
gemerkte Obligation  gr.  765  H.  nebst  dem  Cessions  Instrument,  mit  der  weite- 
ren Anfrage,  ob  nunmehro  iiime  Supplicanteu  der  Vcrohligungs  Consens  er- 
theilet  werden  könne? 


310  Alek-Balvid, 

Hierzu  wird  die  Bewilli{,^uiijj^  ertheilet  id.  ISt'»  April  1780'  und  über  die 
von  dem  Ilaiiptiuann  Kolkovich  bcy  dem  Maurer  Pollicr  Matzkof  zu  Essej^g 
anliegen  habende  315  fi.  die  original  Obligation  nebst  der  Cession,  ilann  das 
Intabulatione  Instrument  über  die  von  dem  Hauptmann  zur  Heuratiis  Cautioa 
bestimmte  und  gerichtlich  fiirgemerckte  Immobilien  erwartet. 

Nr.  603. 

7)  Am  21.  Februar  1T78  wurde  Capitain  lieuthn.  Relkovich  durch  aller- 
höchste Entschliessung  zum  Hauptmann  ernannt. 

8)  [SlavonischesBanat.  General-Commando]  Dt.QtenMärz  1785  unterleget 
vorwortlich  das  Besuch  des  Brooder  Rej^Muients  Ilaujjtmanns  Relkovics  um 
die  Erhebung  in  den  Adelstand  mit  dem  Ehrenwort  Ehrendorf.  5  Anlagen, 
worunter  1  Wappen  Entwurf. 

Dieses  Gesuch  wird  der  Vereinigten  B.O.  Hof  Kanzley  und  Kammer  zur 
Bedachtnehmung  mitgetheilt.   Erled.  d.  SOt^n  Martij  785. 

Nr.  560. 

9)  Vereinigte  Politische  und  Cameral  Hofstelle  dt.  Itfn  April  eröffnet, 
es  haben  S""  Maytt.  den  Brooder  Regiments  Hauptmann  Mathias  Anton  Rel- 
kovich mit  allen  seinen  Erben  beederley  Geschlechts  in  den  Adelstand,  mit 
dem  Ehrenworth  von  Ehrendorf  zu  erheben  geruhet. —  Erled.  d.  31.  Aug.  1785. 

Nr.  1737. 

10)  Slavonisches  Banat.  General  Commando  dt.  14.  Sept.  1785  unterleget 
die  superarbitriiungs  Lista  des  zu  einem  Garnisons  Regiment  für  tauglich 
erkannten  Brooder  Regiments  Hauptmann  Relkovics  mit  der  Bitte,  denselben 
dem  Regiment  baldest  abnehmen  lassen  zu  wollen,  um  statt  seiner  einen 
anderen  tauglichen  officier  vorschlagen  zu  können.    1.  Anlaage. 

Zu  erwiedern,  es  werde  auf  die  Abgebung  dieses  Hauptmanns  zu  einem 
Garnisons  Regiment  bey  Gelegenheit  die  Rucksicht  genommen  werden.  — 
Exped.  an  das  Slavonische  Bannat.  Gränz  General  Commando.  —  Erled.  d. 
28."Sept.  1785.  Nr.  1935. 

11)  Relkovich  von  Ehrendorf  Hauptmann  von  dem  Brooder  Regiment 
bittet,  seine  Standes  Erhebung  in  der  Slavonisch.  Banat.  gränze  publicieren 
zu  lassen. 

Die  gebettene  Publication  wird  durch  das  General  Commando  veran- 
lasset. —  Praes.  13ten  octobris  1785.  —  Exped.  an  das  Slavon.  Banatische 
General  Commando.   Erled.  d.  19.  Octobris  1785. 

Nr.  2079. 

12)  Slavonisch-Banatisches  Gränz  General  Commando  sendet  Super- 
arbitrirungs  Consignation  der  untauglichen  Officieren.  In  seinem  Beschlüsse 
Hof-Kriegs-Rath  an  das  General  Commando  stellt  folgende  Frage :  Indessen 
erscheint  in  diesen  Superarbitrirungs  Listen  weder  der  Hauptmann  Relko- 
vich, noch  der  oberlieutn.  Basslinovich,  wovon  doch  der  erstere  vermög  der 
Conduite  Listen  wegen  Körperlichen  Gebreche  zur  Dienstleistung  ganz  un- 
vermögend, und  letzterer  mit  der  hinfallenden  Krankheit  behaftet  seyn  soll. 
Praes.  27.  Martij  1786.   Erled.  30.  Martij. 

Nr.  798. 


Urkundliche  Beiträge  zur  Biographie  des  Dichters  Relkovic.        311 

13)  Slavonisch-Banatisches  General  Commando  dt.  8ten  April  berichtet 
auf  den  Befehl  vom  30.  Martij  Nr.  798,  dass  über  die  im  vorigen  Jahr  No.  1741 
und  1935  eingesendete  Snperarbitrirungs  Listen  der  Brooder  Regiments 
Hauptmann  Relkovich  und  oberlieutenant  Basslinovich  die  Weisung  ertheilet 
worden  seye,  dass  auf  die  Abgabe  des  ersteren  zu  einem  Garnisons  Regiment 
bey  Gelegenheit  der  Bedacht  genommen  werden  würde,  von  der  Abnahme 
des  lezteren  aber  es  von  selbsten  abzukommen  habe  und  haltet  sieh  bevor 
die  Superarbitrierungs  Lista  der  nemlichen  Regiments  Oberlieutenant  Br. 
Seczujacz  nachzutragen. 

Wenn  weder  der  Hauptmann  Relkovich,  noch  der  Oberlieutenant  Basli- 
novich  ihrer  Gebrechen  halber  als  real  Invalid  angesehen  werden  können, 
sind  selbe  noch  bey  dem  Brooder  Regiment  allerdings  beyzuhalten  und  nach 
dem  circular  befahl  vom  27t«i  Martii  nach  ihren  Eigenschaften  zu  Gränz 
Dienst  zu  verwenden.  Erled.  d.  22.  April  1786,  exped.  an  das  Slav.  Banat. 
General  Commando.  Nr.  9S5. 

14j  Slavonisch-Banatisches  General  Commando  dt.  18.  Sept.  berichtet, 
dass  zwischen  anderen  auch  Hauptmann  Relkovich  bey  dem  superarbitrio  als 
real  Invalid  befunden  wurde. 

Auf  Grund  dessen  Hof  Kriegs  Rath  fasste  den  Beschluss  am  7.0ct.  1786 
Relkovich  zu  pensioniren.    Praes.  25.  Sept. 

Nr.  3012. 

15)  Relkovich  jubilirter  Hauptmann  dt.  4ten  August  1787  bittet  um  Be- 
förderung seines  bey  Johann  Palfy  als  Gemeiner  5  Jahr  dienenden  und 
schon  im  Jahr  ri84  zum  k.  k.  ordin.  vorgemerkten  Sohns  Johann  Relkovich. 

Das  General  Commando  hat  diesen  jungen  Relkovich  bey  nächster  Ge- 
legenheit zum  k.  k.  Cadeten  in  Vorschlag  zu  bringen ;  wovon  auch  der  Sup- 
plicirende  Vater  verständiget  wird.  Exped.  an  das  slav.  Banat.  General 
Commando  und  mittelst  bescheid  an  den  Hauptmann  Relkovich.  Erled. 
22.  Aug.  1787.  Nr.  1857. 

16)  Mitrowsky  Feldzeugmeister  und  Commandirender  General  in  der 
Slavonischen  banatischen  Gränze  dt.  Mitrowitz  den  8tei  Septembris  1790 
berichtet  auf  den  Befehl  vom  28*^"  elapsi  sub  No.  1108  dass  von  denen  um 
Verleihung  des  hungarischen  Adels  eingekommene  officiers,  als  jubilierten 
Oberlieutenant  Lovrich,  Hauptmann  Relkovich,  fähnricli  Slivarich,  Haupt- 
mann Koperczanovich,  oberlieutenant  Igyanovich,  Hauptmann  Ignaz  Csi- 
vich,  welche  für  ihre  Verdienste  pro  Praeterito  schon  mit  dem  teutsch 
erbländischen  Adelstand  belohnt  worden  sind,  nur  der  Hauptmann  Koper- 
zanovich  und  der  Oberlieutenant  Igyanovich  wegen  ihrer  neuerlichen  Ver- 
diensten auch  zu  überkommnung  der  hungarischen  Adelschaft  geegnet  wären. 
13  Anlaageu. 

Die  hieher  mitgetheilten  Bittschriften  werden  der  U.  S.  Hof  Kanzley  mit 
dem  Bemerken  remittiret,  dass  hierorts  keine  zureichende  Beweggründe  vor- 
handen seyen,  um  für  diese  ofticicrs  zu  überkommnung  des  hungarischen 
Adelstandes  einzuschreiten.  Erled.  25.  Sept.  1790,  exped.  an  die  U.  S.  Hof 
Kanzley.  Nr.  1274. 


312  Aleksalvid, 

17)  Hof-Krieg8-Rath  dt.  5.  juni  1792  fasste  den  Beschluss,  mehrere  pen- 
sionirte  Officiers,  unter  anderen  den  Hauptmann  Relkovich,  zu  Garniaons 
Regiment  nach  Italien  zu  schicken. 

Nr.  1300. 

18)  Relkovitscli  pensionirter  Hauptmann  vom  Broodor  Regiment  von 
Vinkovcze  den  23t'n  Juni  1792  verbittet  die  ihm  sub  Nr.  l.iOO  zugedachte 
Übersezung  zum  2ten  garnisons  Regiment  nach  Italien  wegen  aufhabenden 
Leibes  Gebrechen,  jedoch,  wenn  er  gleich  wohlen  dahin  abgehen  solte,  so 
bittet  er  um  eine  Zeit  Frist,  um  sein  Haus,  und  den  wittiblichen  Unterhalt  in 
Ordnung  bringen  zu  können  und  ihn  dann  zu  verständigen,  wo,  und  bei  wem 
er  sich  in  Italien  zu  melden  habe. 

Die  Supl.  wird  dem  Slavonisehen  General  Commando  mit  der  Bemer- 
ckung  zugeschickt,  dass,  wenn  sich  die  angegebene  Umstände  bestätigen,  es 
von  der  angeordneten  übersezung  dieses  Officiers  zum  zweyten  Regiment 
wieder  abkommen  könne;  worüber  die  Anzeyge  gewärtiget  würde,  um  wegen 
anderweiter  Besetzung  der  Hauptmanns  Stelle  bey  gedachten  Var.  Regiment 
die  Verfügung  trefen  zu  können.  —  Exped.  an  das  Slav.  General  Commando 
d.  7.  Juli.  Nr.  l.jol. 

19)  Am  21.  Juli  1792  berichtet  Slavonisch-Banat.  General  Commando, 
dass  Relkovich  für  den  Dienst  gänzlich  untauglich  seye  und  Hof  Kriegs  Rath 
am  31.  Juli  zog  sein  Beschluss  zurück  und  den  Relkovich  auch  weiters  in 
Pension  Hess.  Nr.  1627. 

20)  Jagosch  Leopold  pensionirter  oberlieutenant  und  Caserne  Verwalter 
zu  Theresien  Stadt  den  9teii  August  1792  bittet  nm  Erlaubnis,  seine  Tochter 
Katharina  mit  dem  Unterleutn.  Relkowiz  von  Jellachich  Infanterie  gegen 
Verzichts  Revers  verheurathen  zu  därfen.    1  Anlage. 

Zu  bescheiden:  ohne  den  Erlaag  der  normalmässig  caution  könne  die 
Heuraths  Licenz  nicht  ertheilet  werden. 

Nr.  1763. 

21)  Slavonisches  General  Commando  dt.  Peterwardein  am  ISten  März 
1797  unterleget  vorwortlich  das  mittelst  des  Broodev  Cautons  einbegleitet 
wordene  Gesuch  des  pensionirten  Hauptmanns  Relkovich  von  Ehreudorf  um 
Verleihung  des  Majors  Characteurs  ad  Honores.  4  Anlaagen.  Gesuch  lautet : 

Euer  Majestät!  Unterzeichneter  fing  im  Jahre  1748  bei  dem  löbl.  Gra- 
discaner  Regiment  im  M^en  Jahre  seines  Altefs  als  Gemeiner  zu  dienen  an, 
wurde  auf  16  Monaten  Gefreyter,  avancirte  stuffenweise  die  untern  Chargen, 
bis  er  nach  Verlauf  7  Jahren  als  Uuterlieutenant  zu  dem  löbl.  Brooder  Regi- 
ment kam;  daselbst  4  Jahre  9  Monaten  in  dieser  Charge,  15  Jahr  5  Monaten 
als  Oberlieutenant,  4  Jahr  als  Capitain,  10  Jahre  als  wirklicher  Hauptmann, 
dann  seit  seiner  im  Jahre  1786  erfolgten  Jubilätiou,  laut  den  Zeugniss  A)  bei 
dem  in  Slavonien  erreichtet  wordenen  Landes  Defensious-Corps,  bis  zu  des- 
sen Disolvirung  dienste  leistete,  dann  wie  Zeugniss  B)  beweist,  bei  der  im 
Lande  gewütheten  Pestsuche  die  Einrichtung  und  Direction  der  nächst  Win- 
koveze  angelegten  Coutumatz  ganz  auf  sich  gehabt,  seit  der  Stillung  dieses 
Uibels  das  hiesige  Districts  Commanho  führte  und  noch  führet,  welches  ge- 


Urkundliche  Beiträge  zur  Biographie  des  Dichters  Relkovic.        313 

wiss  wegen  den  häufigen  unzähligen  Geschäften  mit  seinen  geringen  Kräften 
und  hohen  Alter  in  keinem  Verhältnisse  stehet;  dennoch  ist  Unterzeichneter 
in  seinem  itzigen  66.  Alter  nach  zurückgelegten  49jährigen  treuen  Diensten, 
die  noch  erübrigende  Lebenszeit  bis  in  seinem  letzten  Hauch  aus  allen  Kräf- 
ten zu  dienen  bereit;  damit  aber  Er  dereinst  seinen  Kindern  die  offenbare 
Merkmale  seiner  sogestaltigen  vieljährigen  treuen  Dienste  zu  ihrer  Aneife- 
rung  vorstellen  könne,  bittet  er  Unterthänigst,  womit  Euer  Majestät  dem 
Unterzeichneten  in  Rücksicht  seiner  39  jährigen  Dienste  in  der  Wirklichkeit 
und  10jährigen  im  Stande  der  Jubilation,  den  Tittel  eines  kay:  königlichen 
Majors  allergnädigst  zu  ertheilen  geruhen  mögen.  Winkovce  am  3ten  März 
1797  allerunterthänigst  treu  gehorsamster  Knecht  Matthias  Anton  v.  Relko- 
vich,  pensionirter  Hauptmann  bei  Slavonischen  Brooder  Regiment. 

A  tergo :  An  seine  Kais.  König.  Majestaet  den  Kaiser.  Pensionirter 
Hauptmann  Relkovich  vom  Slavonischen  Brooder  Regiment  bittet  um  einen 
Majors  Tittel. 

Anlaage  A)  lautet: 

Zeugniss.  Kraft  welcher  Unterzeichneter  auf  geziemendes  Ansuchen  des 
pensionirten  Herrn  Hauptmann  v.  Relkovich  löbl:  Brooder  Regiments  hiemit 
bezeuget,  dass  derselbe  während  dem  letzten  Türkenkriege  vom  Anfang  bis 
zu  den  darauf  erfolgten  Frieden,  als  Deffensions  Divisions  Commandant  am 
Save-Cordon  gedienet,  und  dabei  seine  Pflicht,  wie  es  einem  rechtschaffenem 
Officiers  zustehet,  mit  aller  Zufriedenheit  seiner  Vorgesetzten  erfüllet  habe. 
Urkund  dessen  meine  fertigung  und  Pettschatt.  Winkovce  den  Sten  Martij 
1797  V.  Gvozdanovich  m.  p.  Pensionirter  Major.    /^%. 

vV 

Anlage  B)  lautet:  ^ — / 

Zeugniss.  Als  im  Monathe  Aug.  1795  in  mehrern  umliegenden  Gegenden 
eine  Art  Pestsuche  zu  wütheii  anfieng,  und  das  diesortige  Cantons  Commando 
einen  Cordon  und  Contumaz  Station  zur  Verhüttung  der  weitem  fortflanzung 
dieses  Uebels  hier  errichten  lassen  musste,  ward  in  der,  zu  diesem  Ende  zu- 
sammengesezt  wordenen  Coramission  der  auch  Unterfertigter  beyzuwohnen 
hatte  Herr  Hauptmann  v.  Relkovich  als  ein  bekanter,  diensteifriger,  emsiger 
H.  Officier  zum  Director  dieser  Contumaz,  und  des  Cordons  ernennt;  da  nun 
Unterfertigter  Augenzeuge  dieses  ganzen  Geschäftes  war,  und  vorzüglich 
Gelegenheit  hatte  den  Herrn  Director  durch  die  ganze  dauer  dieses  Geschäf- 
tes zu  beobachten;  So  kann  Unterzeichneter  auch  nicht  umhin  demselben 
hiemit  das  untrügliche  Zeugnüss  eines  für  das  Wohl  des  Landes  ungemein 
eifrigen,  thätigen,  um  das  allgemeine  Beste  sehr  verdienten  Herrn  Officier 
auf  sein  Ansuchen  zu  ertheilen.  Zur  Urkund  dessen  hat  der  Ansteller  dieses 
eigenhändig  geschriebene,  und  gefertigte  Zeugnüss  mit  seinem  eigenen  In- 
aiegel  bekräftiget.  Vinkovcze  den  3ton  Februar  1797  Michael  Felix,  Erster 
Auditor  des  löbl.  Brooder  Regiments. 


Dasselbe  Gesuch  hat  auch  Brooder  Canton  und  die  Brigade  des  Gränz 
General  Commando  empfohlen.  Bericht  der  Brigade  lautet: 


314    Aleksa  Ivid,  Urkundliche  Beiträge  zur  Biogr.  des  Dichters  Relkovid. 

Die  Brigade,  welche  tag-täglich  von  dem  ausserordontlicheu  Diensteifer 
dos  6G.  Jahr  alten  und  49  Jahre  gut  und  rechtschafFon  Dienenden  Herrn  Haupt- 
mann Relkovich  v.  Ehrendorf,  welcher  zur  Stunde  das  hiesige  Districts  C'om- 
mando  mit  allem  Fleisa  und  Eifer  führet,  Aii^^enzei^  ist,  muss  auch  gegen- 
wärtige —  von  dem  Cantons  Commando  uuter.slütztc  Bitte  beitretten,  weil 
hierunter  weder  ein  Nachtheilichen  allerhöchsten  Aerario,  noch  dem  Officiers 
De  Corps  zugehet  und  die  Absicht  des  im  dienstjahren  alt  und  grau  geworde- 
nen gedachten  Herrn  Hauptmann  nur  dahin  gehet,  dass  seine  zurücklassende 
Familie  von  seinem  auch  in  Jubilazions  stände  fortleistenden  guten  Diensten 
überzeuget  seyn  möge,  dass  er  fortan  rechtschaffen  gedienet  habe,  wedwegen 
die  Brigade  Ein  hohes  Gränz  General  Commando  um  das  mächtige  Eürwort 
bei  Einem  hochlüblichen  Hof-Kriegs  rath  gehorsamst  bittet,  damit  dieser 
Mann  auf  seine  wenige  lebenstage  mit  seiner  Bitte  beglücket  möge.  Win- 
kovze  den  4.  Merz  1797.  la  Abwesenheit  des  Herrn  Generallen  Brigadiers 
Milutinovich,  Obrist.  Nr.  1199. 

22)  Allerunterthänigster  Vortrag!  Das  slavonische  General  Kommando 
hat  beiliegendes  an  Euer  Majestät  gestelltes  Gesuch  des  pensionirten  Haupt- 
manns Mathias  Relkovich  v.  Ehrendorf  um  die  Verleiliung  des  Majors  titel  ad 
honores  einbegleitet,  von  dem  Brooder  Kantons  Kommando  und  von  der  Bri- 
gade werden  die  langjährige  gute  Dienste  dieses  Hauptmann  nücht  nur  be- 
stättigt,  sondern  es  wird  auch  derselbe  besonders  nachdrücklich  anempfohlen  ; 
Der  Hof-Kriegsrath  erbitti  t  sieh  dahero  in  Unterthänigkeit  die  allerhöchste 
EntSchliessung,  ob  Euer  Majestät  diesem  Gesuch  zu  willfahren  geruhen 
wollen,  in  Ermanglung  eines  Kriegspräsidenten,  Graf  Tige,  Gen.  der  Cavalle- 
rie,  Wien,  den  24.  März  1797. 

Allerhöchste  Entschliessung  lautet: 

Da  bei  dem  Hauptmann  Relkovich  keine  besondere  Beweggründe  vor- 
kommen, die  für  sein  Gesuch  das  Wort  sprechen,  um  ihm  den  Majorstitel  zu 
verleihen,  welches  nur  in  besonderen  Fällen  stattfinden  kann;  so  kann  dieses 
sein  Gesuch  ihm  nicht  gewähret  werden.    Franz. 

Nr.  1442. 

23)  Slavonisch-Banat.  Appellations  Gericht  sub  dt°  16.  oct.  1798  sendet 
an  Hof-Kriegs  Rath  einen  Bericht,  in  welchem  unter  anderen  schreibt  »Für 
den  am  22tpii  Jäner  a.  c.  im  Brooder  Kanton  verstorbenen  pensionirten 
Hauptmann  Mathias  Relcovich  v.  Ehrendorf«. 

Nr.  732. 

Wien,  den  8.  XII.  1905.  Aleksa  Ivic. 


J 


315 


Nikolaus  Krajacevid  —  Peter  Petretic. 

(Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  kajkroatischen  Literatur.] 


Krajacevic,  auch  Savtorius  genannt,  war  ein  ungemein  tätiger 
Jesuit,  der  durch  seine  schriftlichen  Werke,  besonders  aber  durch  seine 
Predigten  wesentlich  dazu  beigetragen  hat,  daß  in  Kroatien  die  Refor- 
mation erfolglos  verbreitet  wurde. 

Was  sein  Leben  anbelangt,  ist  uns  kaum  etwas  näheres  über  ihn 
bekannt.  J.  Stoeger  erwähnt  nicht  einmal  seinen  Namen  in  seinem 
Werke:  Scriptores  Provinciae  Austriacae  S.  J.  ab  ejus  origine  ad  nostra 
usque  tempora.  Vienae  1856.  In  der  Literaturgeschichte  von  Surmin 
(Povjest  kujizevuosti  hrvatske  i  srpske  1898)  ist  ungefähr  das  nämliche 
über  Krajacevic,  was  sich  über  ihn  in  der  Kukuljevic'schen  Bibliografija 
hrvatska  l.  findet.  Kukuljevic  und  nach  ihm  auch  Surmin  erwähnen 
zwei  Werke  von  Krajacevic :  Hasnovita  knjizica  und  Manuale  sodali- 
tatis.  Das  Meiste  finden  wir  noch  über  Kr.  in  dem  Werke:  »Bibliotheque 
de  la  compagnie  de  Jdsus  —  Premiere  Partie :  Bibliographie  par  les 
Peres  Augustin  et  Aloys  de  Backer,  Paris  1896«  in  welchem  es  Bd.  VIL 
S.  654  heißt:  »Sartorius  Nikolas  ne  ä  Sissek  'Croatie)  le  29  novembre 
1582,  entr(3  le  17  avril  1615,  fut  23  ans  prödicateur,  recteur  ä  Agram, 
penitencier  ä  Rome  et  mourut  ä  Agram  le  9  mars  1653.  Son  veritable 
nom  serait  Krajacic  ou  Krajacevic.  1)  Manuale  sodalitatis  (Ex.croate) 
Pozun  1639.  2)  Knizica  molitvena  (Libellus  precum  et  christianarum 
exercitationum)  Pozun  1639«.  —  So  in  dem  erwähnten  Buche.  Das 
Biographische  in  dieser  Notiz  wird  jedenfalls  richtig  sein,  aber  von 
der  literarischen  Tätigkeit  war  der  Verfasser  nicht  gut  informiert,  was 
wir  schon  auch  daraus  sehen  können,  daß  er  im  IV.  Bande  seines  Wer- 
kes bei  dem  Namen  Krajacevic  über  dessen  Leben  das  nämliche  sagt, 
wie  VIL  654,  wogegen  die  Angabe  in  Bezug  auf  seine  schriftstellerische 
Tätigkeit  mit  der  obigen  Angabe  nicht  vollkommen  übereinstimmt  — 
außerdem  folgt  hier  noch  eine  kleine  Bemerkung  »Le  P.  Lempl,  S.  J.  a 
vu  indiquer  cette  edition  come  la  seconde.  L'autenr  signe  ces  deux 
ouvrages:  »»Jedan  pop  iz  reda  Jezuitanskoga««  c.  a.  d.«.  — 

Da  ich  während  meiner  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  kaj- 
kroatischen   Literatur    in    Bezug   auf   Krajacevic's    schriftstellerische 


316  Martin  llajnal, 

Tätigkeit  zu  einer  Ansicht  gekommen  bin,  welche  von  der  bisherigen 
Auflassung  wesentlich  abweicht,  will  ich  darüber  einige  Bemerkungen 
hier  folgen  lassen.  — 

In  der  Bibliothek  der  südsl.  Akad.  befindet  sich  ein  Buch  (Sign.  IV. 
a.  18)  mit  folgendem  Titel:  «Molitvene  Knjisicze  Vfzcm  Christusevem 
V^rnem  Szlovenfzkoga  Jezika  priztoyne  i  hafznovile  —  z  dopuscsenjem 
gornyeh  drng(jcs  obilneh  pifzane  i  ftampane.  Vu  Posonc  na  MDCXL 
Leto«.  —  In  der  Vorrede  spricht  der  Verfasser  des  Buches  darüber, 
wie  es  nötig  sei,  daß  man  bete  und  zwar  daß  man  richtig  bete,  de.ihalb 
baten  schon  die  Apostel  den  Herrn:  Domine  doce  nos  orare!  Dieser 
Umstand  veranlaßte  ihn,  daß  er  als  »duhovni  Paztir«,  was  er  schon 
durch  einige  Jahre  predigte  und  lehrte  »cfizto  Szlovenzkem  jezikom 
zpravil  (Janusa  Rucficsa  Spanzke  megy^  Orfaafkoga  Vicefpana  ztrof- 
kom  i  pobofnum  dareslivoztjum)«.  —  Das  Werk  selbst  teilt  der  Verf.  in 
5  Teile  ein;  im  5-teu  befinden  sich  die  gewöhnlichen  alltäglichen  Ge- 
bete, damit  diese  »djeca  i  profzti  lyudi  onak  od  recfi  do  recfi«  und  nicht 
»poleg  fzvoje  glave  nepravdenem  i  nefzlofnem  zakonom«  beten  sollen; 
am  Ende  gibt  er  auch  einige  Kirchenlieder,  daß  man  sie  »po  Nedelye 
te  fzvetke  i  doma  i  vune  i  drugde  gdegode  mezto  neefizteh  i  fzramotno 
lyubezliveh  popevkih«  singen  soll.  Der  Verfasser  meint,  daß  sein  Buch 
»hafznovita«  wird  sein  »vnogofele  lyudem,  mladem  i  ztarem«  sogar 
auch  den  Pfaffen,  besonders  jenen  »ki  vu  Dijacfkom  jezike  nefzu  glu- 
boko  gazili,  nitifze  vu  fzvetom  Pifzme  vnogo  potili«,  wegen  dieser  hält 
er  auch  für  nötig  die  lateinischen  Zitate  zu  übersetzen  »da  nikay  ne 
pacfe  Szlovenzkomu  pisfmu,  ko  tak  ravuo  tecfe,  kak  dabi  nijedne  Di- 
jacfke  recfi  megy  nyim  nebilo«.  —  Die  Vorrede  endet  so:  «Bog  te 
zdrav  derfi  —  Tvoy  Brat  i  fzluga  nedoztojen  vu  Gozponne  Chriftufe, 
Jeden  Pop  iz  Reda  Jezuitanzkoga«.  — 

Aus  dem  Buche  selbst  läßt  sich  nicht  bestimmen,  wer  der  Verfasser 
desselben  ist,  denn  weder  auf  dem  Titelblatt  oder  in  der  Vorrede,  noch 
sonst  irgendwo  im  Buche  ist  das  angegeben.  Daß  aber  der  Verfasser 
dieses  Buches  N.  Krajacevic  ist,  das  erfahren  wir  aus  einem  anderen 
Buche,  welches  sich  in  der  Universitätsbibliothek  zu  Agram  (Sign.  Sm. 
14.  E.  46)  befindet;  diesem  Exemplar  fehlt  das  gedruckte  Titelblatt, 
das  geschriebene  wieder  lautet:  »P.  Mikloussa  Krajachevicha  redovnika 
reda  Jezuitanzkoga:  Molitvene  knjisicze  vfzem  Christusevem  V^rnem 
Szloyenszkoga  jezika  priztoyne  i  hasznovite  —  po  M.  B.  redovnika  Je- 
zuiti   znovich  na  hafzen   zlovenskoga  naroda   pod  stampom  szkupa  z 


Nikolaus  Krajacevic  —  Peter  Petretic.  317 

ovem  fto  prida  naszlofene.  Mjesto  stampe?  god.  1653?«*).  —  In  der 
Vorrede  heißt  es,  daß  Krajacevic  schon  ein  ausgezeichnetes  Gebetbuch 
herausgegeben  hat,  deshalb  wird  man  das  jetzt  auch  für  die  Mitglieder  der 
in  Agram  von  den  Jezuiten  gegründeten  »bratouchina«  gebrauchen,  nur 
wird  man  noch  einen  kleinen  Teil  dazugeben,  die  Regel  des  »na  liafzen 
i  pomoch  Horvatzkoga  i  Szlovenszkoga  Orfzaga«  gegründeten  »bratou- 
chinac,  worin  man  »uzeuffi  peldu  iz  Bratoucliine,  koteroie  Gofzpodin 
Jurai  Lippay  Esztergomfzki  Ersek  bil  pred  tem  toga  vu  Posonu  podi- 
gnul«.  —  Auch  dieses  Buch  hat  die  nämliche  Einteilung,  wie  das  oben 
von  Krajacevic  erwähnte  »Molitvene  knjisicze  etc. «  und  abgerech- 
net den  I.Teil,  worin  die  Regeln  der  Bruderschaft  enthalten  sind,  stimmt 
dieses  ganze  Buch  von  Wort  zu  Wort  mit  dem  ersten  überein,  so  d?.ß 
das  einfach  eine  zweite  Ausgabe  des  ersten  Buches  ist,  obzwar  man  auf 
Grund  des  ersten  Teiles  gewohnt  war,  es  als  ein  zweites,  vom  ersten 
verschiedenes  Werk  unter  dem  Titel  »Manuale  sodalitatis«  zu  betrachten. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  ersehen  wir  also,  daß  Krajacevic  ein 
Werk  geschrieben  hat  »Molitvene  knjisicze  ....  1640«,  diesem  hat 
dann  ein  anderer  Jesuit  —  Balthazar  Milovac  (?)  —  noch  einen  kleinen 
Teil  dazugegeben,  und  so  vergrößert  gab  er  das  Werk  von  Krajacevic 
zum  zweitenmal  im  Jahre  1657  heraus,  und  diese  zweite  Ausgabe  ist, 
was  die  Literaturgeschichte  unter  dem  Titel  »Manuale  sodalitatis«  als 
zweites  Werk  von  Krajacevic  betrachtete.  — 

Wir  werden  aber  sehen,  daß  wir  doch  ein  zweites  Werk  von  Kra- 
jacevic haben.  Denn  wie  es  sich  herausstellen  wird,  spricht  alles  dafür, 
daß  wir  das  Werk,  welches  nach  allgemeiner  Auffassung  als  das  Werk 
von  dem  Agramer  Bischof  Peter  Petretic  gilt,  Krajacevic  zuzuschreiben 
haben,  so  daß  nach  meiner  Auffassung  Peter  Petretic  aus  dem  Kreise 
der  kroatischen  Schriftsteller  einfach  zu  streichen  ist,  indem  er  nur  ein 
Werk  geschrieben  hat,  und  auch  für  dieses  Werk  läßt  sich  nachweisen, 

*)  Valjavec,  der  dieses  Exemplar  in  der  Hand  hatte,  meinte,  daß  dieser 
Jesuit  B.M.BalthazMr  Milovac  sei.  —  Wann  diese  zweite  Ausgabe  erschienen 
ist,  läßt  sich  mit  IliU'o  einer  Kombination  feststellen:  sicher  ist,  daß  sie  vor 
dem  Jahre  165.'5  nicht  erscheinen  konnte,  weil  dieses  Jahr  als  solches  iu  der 
Vorrede  erwähnt  ist,  wann  die  Bruderschaft  {gegründet  wurde.  Da  kommt 
uns  zu  Hilfo  der  Kalender  am  Anfange  des  Buches;  daraus  ersehen  wir,  daß 
jenes  Jahr,  als  das  Buch  erschienen  ist,  z.  B.  der  Frohuleichnamstag  am  3 1 .  Mai 
fiel,  aus  anderen  Kalendern  wieder  aus  jener  Zeit  ersehen  wir,  daß  zu  jener 
Zeit  der  Frohnleichnamstag  am  31.  Mai  nur  im  Jahre  1657  war,  daraus  foIü;t 
also,  daß  diese  zweite  Ausgabe  1057  erschienen  ist.  — 


318  Martin  Iliijnal, 

daß  er  im  ganzen  nur  soviel  Verdienst  bei  der  Entstehung  des  Werkes 
hatte,  daß  er  es  auf  eigene  Kosten  drucken  ließ.  — 

Von  dem  Werke  Petretic's  befindet  sich  ein  Exemplar  auch  in  der 
Agramer  Universitätsbibliothek  (Sign.  Sm.  14.  E.  36)  mit  folgendem 
Titel:  »Szveti  evangeliomi,  koteremi  fzv^ta  Czlrkva  Zagrebecska  Szlo- 
venzka,  okolu  godifcsa  po  Nedelye  te  Szvetke  live:  z-iednem  kratkem 
catechifmusem  za  nevmetelne  lyudi  hafznovitem:  Szvetloga  i  Vifzoko 
poftuvanoga  Gozpodina  Gozpodina  Petra  Petreticsa  bifkupa  Zagra- 
becskoga,  Oblaztjiim  i  ztrolkom  i  fzlovenzkem  fzlovom  na  fzvetlo  vun 
dani  i  ftampani.  Z-dopufcsenyem  Gornyeh  vu  Nemskom  Gradcze.  Na 
jezero  fsezt  zto  petdefzöt  i  pervo  leto.  Pri  Ferencze  Widmanstadiuse 
ftampare(f.  — 

Die  Vorrede  des  Werkes  ist  so  eigentümlich  stilisiert,  daß  man 
sich  vergebens  bemüht  herauszufinden ,  wer  der  Verfasser  sei.  Nach 
der  äußerlichen  Form  urteilend  müßten  wir  denken,  daß  die  Vorrede 
(und  auch  das  Werk)  Petretic  selbst  geschrieben  habe:  es  wird  in  erster 
Person  gesprochen  und  zwar  sagt  er,  daß  er  Agramer  Bischof  geworden 
»kotere  ja  nigdar  niti  izkal  niti  profzil  nefzem,  bojecsifze  velike  pazke 
i  truda  Blskupzkoga  na  ovom  Szvöte  i  racfuna  ztrafsnoga  na  fzmertnom 
vremene«,  und  weil  er  gesehen,  daß  auch  andere  Bischöfe  sich  so  um 
ihre  Schafe  sorgen,  daß  sie  Katechismen  schreiben,  wie  Robert  Bellar- 
min, oder  wie  das  getan  hat  »jedan  drugi  gluboko  vucfeni  i  vifzoko 
müdri  Bifkup  i  Arkibifkup  Vugerzkoga  orfzäga,  imenom  Pazman  Peter, 
vfzem  fzerdczem  felöcsi  vekivecsnoga  zvelicsenija  Paztirom  i  Ovczam 
fzvoje  pazke  podlofnem  i  preporucfeuem,  je  bil  zpravil  i  ftampati  vcfi- 
nil  Vugerzkem  jezikom  vifzoko  vucfene  i  gluboko  mudre  Prodeke«  — 

deshalb  sagt  er  weiter  »Ja  takäyfe hotevfsi  pomocsi  i  kolikö 

tolikö  zlehkotiti  vu  Vafse  takäyfe  Paztirzke  clazti  i  düfnozti,  jefzem 
zboga  Vafz  i  za  radi  vafse  potrebocse  vcfinil  (ne  fzam  po  fzebe  nego) 
po  drugeh  gluboko  vucl'eneh  i  vifzoko  mudreh  Redovneh  Lyudeh  i  Paz- 
tireh  Czirkveneh;  näypervlye  Recsi  fzveteh  Evangeliomov  (kiifzu  vu 
Szlovenzkom  orfzage  okolu  godifcsa  obicfni  i  navadni)  iz  Dijacfkoga  te 
Vugerzkoga  textusa  na  nafse  pravo  Szlovenzko  Zagrebecsko  fzlovo 
pravdenö  (poleg  moje  ftime)  prenesti;  od  recsi  do  recsi  gde  je  bilo  mo- 
gucse,  te  je  Szlovenfcsina  prepustila«.  —  Dann  bemerkt  er  noch:  »Na- 
zopet  jefzem  vcfinil  k  Recsem  fzvetoga  Evangelioma  pridati  nekotere  Po- 
pevke  duhovne«,  und  zwar  deshalb,  damit  «fze  detcza  obojega  zpola  i 
drugi  pobofni  lyudi  budu  vucfili  i  popevali  vu  priliclneh  meztäh  i  vre- 


Nikolaus  Krajacevic  —  Peter  Petretic.  319 

meneh  navlaztitö  po  Nedelye  te  Szvetke  meztö  necfizteh  te  fzramotneh 
popevkih«,  außerdem  »vcfinil  poztaviti  Molitve  obcfinzke  kerfcsänzke 

vü  to  ime,  da  fze  mala  detcza  i  drugi  preprozti  neumetelni  lyudi 

vucse  cfteti  i  moliti  ove  Molitve  onak  od  recsi  do  recsi  ....  pokehdöb 
vnogi  nafsi  Szlovenczi  ove  Moiitve  cltu  i  mole  vfzaki  poleg  fzvoje  giave, 
nefzlosnem  i  nepravdenem  zakonom«.  Dann  weiterhin  weist  er  darauf 
hin,  wem  dieses  Buch  »hafznovita«  sein  werde  und  endet  die  Vorrede 
mit  den  Worten:  »Väfseh  Milozteh  Brat  i  Izluga  vu  Gozponne  Chriftuse 
Peter  Petretics  Biskup  Zagrebecski«.  — 

Wie  ich  schon  erwähnte,  in  dieser  Vorrede  ist  nirgends  ausdrück- 
lich gesagt,  wer  der  Verfasser  des  Werkes  sei,  und  auf  Grund  dieser 
Vorrede  hält  man  doch  für  den  Verfasser  auch  heute  noch  Petretic. 
Man  kann  aber  einige  äußerliche  Beweise  liefern,  um  diese  Ansicht  zu 
widerlegen  und  zu  beweisen,  daß  nicht  einmal  die  Vorrede  Petretic 
selbst  geschrieben,  sondern  verfertigen  ließ  und  dann  einfach  seinen 
eigenen  Namen  unterschrieben  habe.  Solche  Beweise  sind:  1)  daß  Pe- 
tretic, gebürtig  aus  Lika,  nicht  so  vollkommen  den  kajkavischen  Dialekt 
beherrschen  konnte;  2)  die  Orthographie  des  Werkes,  worüber  später 
die  Rede  sein  wird,  und  3)  eine  Bemerkung  eines  anderen  Jesuiten,  der 
ebenfalls  schriftstellerisch  tätig  war,  die  Bemerkung,  welche  J.  Habdelic 
in  seinem  Werke  «Pervi  otcza  naffega  Adama  greh  i  salosztno  po  nyem 
vfze  chlovechanszke  natvre  porvssenye«  (V  Nemskom  Gradczv,  Lato 
1674)  im  259-en  Kapitel  über  Krajacevic  macht*).  —  In  diesem 
Kapitel,  »Pefzme  od  Lyubavi«  betitelt,  spricht  Habdelic  darüber,  daß 
man  darf  singen,  aber  nur  heilige  Lieder,  deshalb  sind  solche  in  jeder 
Sprache  »i  nafem  fzlovenfzkem«  verfertigt,  der  Verfasser  war  »poftu- 
vani  negda  otac  Mikula  Sartorius  ili  Krajachevich«;  diese  Lieder 
hat  —  sagt  Habdelic  —  Krajacevic  im  Werke  »Szveti  Evangeliomi« 
ausgegeben:  «Od  keh  ovak  on  fzäm  govori  pag.  211:  Ove  popeuke 
jefzu  oude  pofztaulyene  vu  to  ime  da  fze  popevaju  ne  lifztor  u 
czirkvah,  po  fzvetkeh,  pod  mel'ami  ali  na  proceffiah  od  czirkve  do 
czirkve  putujuchi  nego  i  po  delatneh  vu  ufzake  feie  mefzteh;  rexi  na 
polyu  kofzechi,  orjiichi,  fenyuchi.  Na  goriczah  kopajuchi,  kolechi 
mefzto  navadneh  negdasnyeh  fztareh  poganfzkeh  i  fzramotneh  popev- 
kih«.   Also   nach  Habdelic   spricht   im   Werke  «Szveti  Evangeliomi«, 

*)  Auf  diesen  ZuaaramenbaDg  habe  ich  schon  kurz  verwiesen  im  Archiv 

XXVI,  S.  595.   Betreffs  des  Textes  der  Evangelien  und  Episteln  vergl.  Archiv 

XXVII,  S.  5S5,  wornach  weiter  geforscht  werden  müßte.  V.  J. 


320  Martin  IlajnaJ, 

Seite  211  .  .  Sartorius  nhkmv.  Wenn  wir  jetzt  weiter  das  ganze  Werk 
nach  dem  Inhalte,  dem  Slil  und  mit  Rücksicht  auf  die  dem  Krajacevic 
charakteristischen  Ausdrücke  mit  dem  oben  besprochenen  Werke  von 
Krajaeevi(;  vergleichen,  werden  wir  einsehen  müssen,  daß  nicht  nur 
Seite  211,  sondern  im  ganzen  Werke  Sartorius  "Czam«  spricht.  Schon 
aus  den  kurzen  Auszügen  aus  der  Vorrede  der  beiden  Werke  läßt  sich 
gewissermaßen  feststellen,  daß  beide  Vorreden  von  dem  nämlichen  Ver- 
fasser stammen.  —  Beide  Werke  machen  schon  auf  den  ersten  Blick 
den  Eindruck,  daß  sie  einander  dem  Stil  und  den  vielen  charakteristi- 
schen Ausdrücken  nach  ungemein  ähnlich  sind,  und  wenn  wir  dann  noch 
die  anderen  zwei  Argumente  berücksichtigen,  wird  es  nicht  schwer 
sein,  ein  entscheidendes  Urteil  in  Bezug  auf  den  Verfasser  zu  fällen. 

Unter  den  äußerlichen  Beweisen,  mit  welchen  ich  meine  Ansicht 
über  den  Verfasser  dieses  Werkes  rechtfertigen  will,  ist  ein  nicht  unbe- 
deutender die  Orthographie  des  Werkes.  Am  Ende  des  Werkes  finden 
wir  ein  Kapitel  »Appendix  ad  declarandam  editionem  hujus  Libelli 
orthographicam«,  aus  welchem  wir  erfahren,  daß  ihn  zur  neuen  Ortho- 
graphie {rs  für  ch)  »movit  me  auctoritas  Eminentissimi  quondam  Cardinalis 
et  Archiepiscopi  Strigonensis  Petri  Pazmanij,  viri  vere  in  omni  doctrina- 
rum  genere  eminentissimi,  qui  in  suo  doctissimo  Sacrarum  Concionum 
tomo  et  saepius  recuso  Controversiarum  Hodoego,  Hungarico  idiomate 
confcripto,  easdem  CS  unitas  prioribus  (nämlich:  CH)  melioris  sonigratiä, 
rejecto  antiquo  Hungaricorum  scribendi  modo«.  —  Das  leitet  der  Verf. 

mit  Worten  ein :  »Quandoquidem  nostra  Natio  Croatica  et  Sclavonica 

nullas  regulas  Grammatieales  atque  orthographicas  communes  habet,  sed 
unusquisque  pro  suo  sensu  private  varium  incertumque  scribendi  modum 
tenet:  notum  facio  Posteris  me  in  hoc  et  aliis  prioribus  posterioribusque 
opusculis  meis  Sclavonicis  ä  vulgari  Sclavonico  Croaticoque  orthogra- 
phismo  seu  scribendi  modo  ....  nonnihil  receffiffe«.  —  Daraus  erfahren 
wir,  daß  der  Verfasser  des  Werkes  auch  früher  schon  welche  Bücher  ge- 
sehrieben hat  (was  wieder  gegen  Petretic  spricht!)  und  daß  er  auch  in 
diesen  früheren  Werken  der  nämlichen  Orthographie  sich  bediente,  welche 
Peter  Päzmäny  gebraucht  hat.  Wenn  ich  jetzt  bemerke,  daß  vor  dem 
Werke  »Szveti  Evangeliomi«  nur  in  einem  einzigen  Buche  eine  solche 
Orthographie  sich  befindet,  im  Buche  von  Krajacevic  »Molitvene  knji- 
sicze«  —  so  wird  jedermann  einsehen,  daß  auch  damit  meine  Ansicht 
unterstützt  wird,  nämlich  daß  der  Verfasser  des  Werkes  »Szveti  Evan- 
geliomi«  nicht  Petretic,  sondern  Krajacevic  war.  —  Aber  Krajacevic 


Nikolaus  Krajacevic  —  Peter  Petretic.  321 

irrte  sich,  wenn  er  glaubte,  ctaß  er  der  erste  sei,  der  die  ungarische 
Orthographie  bei  den  Kroaten  eingeführt  hat,  das  ist  nur  soweit  richtig, 
daß  bei  den  Ungarn  statt  ch  zuerst  Peter  Päzmäny  es  schrieb  und  nach 
ihm  bediente  sich  des  es  auch  Krajacevic;  aber  sonst  hat  schon  J.  Per- 
gosic  die  charakteristischen  Zeichen  der  ungarischen  Orthographie  in 
seinem  »Decretom  etc.  1574«  verwertet:  cz  v  c,  sz  v  6-,  eto  v  o,  ?/  v  ^, 
y  V  i  etc.,  wie  er  das  im  Werke  von  Blasius  Weres  (erschienen  15  6.5  in 
Debrecen)  gefunden,  dessen  Werk  *  er  fast  von  Wort  zu  Wort  übersetzt, 
wie  ich  das  in  meiner  Abhandlung  »Madarski  utjecaj  na  kajkavsku 
knji^evnost«  bewiesen  habe. 

[*  Das  Werk  von  Blasius  Weres  ist  eine  Übersetzung  des  »Tripartitum« 
von  St.  Werbewczi,  doch  aber  keine  treue  Übersetzung,  indem  Weres  seinem 
Zwecke  gemäß  sehr  viele  Paragraphen  verkürzte,  manche  wieder  umarbei- 
tete. Das  kroatische  Werk  von  Pergosic  ist  keine  Übersetzung  des  Wer- 
bewczi'schen  Textes,  sondern  eine  ganz  treue  Übersetzung  des  Werkes  von 
Weres.] 

(Budapest).  Martin  Hajnal. 


Prosper  Merimce's  Mystifikation  kroatischer  Volkslieder. 

Von  T.  Matic. 


I. 

Die  ersten  Jahre  des  XIX.  Jahrhunderts  sind  durch  die  imposante 
Erscheinung  Bonapartes  gekennzeichnet.  Das  durch  ihn  zu  stände  ge- 
brachte französische  Kaiserreich  ließ  im  europäischen  Leben  Spuren,  die 
man  Jahrzehnte  hindurch  sowohl  im  politischen  als  überhaupt  im  kultu- 
rellen Leben  Europas  konstatieren  kann.  Je  mehr  man  die  darauf  sich 
beziehenden  Studien  vertieft,  desto  fester  wird  die  Überzeugung,  daß  der 
Einfluß  der  Napoleonscheu  staatlichen  Schöpfung  auch  in  solche  Sphären 
hinübergreift,  wo  man  ihn  a  priori  kaum  erwarten  würde.  Es  konnte  ja 
anders  auch  nicht  sein.  Heute,  weit  entfernt  von  den  Zeiten,  wo  man 
sich  von  Sympathien  oder  Antipathien  zu  schroff  auseinandergehen- 
den Urteilen  über  Bonaparte  hinreißen  ließ,  gibt  man  allgemein  zu,  daß 
Napoleon  eine  Erscheinung  ersten  Ranges  war,   die  das  ganze  öffent- 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVlll.  21 


322  T.  Matic, 

liebe  Leben  des  damaligen  Europa  beberrschte,  und  eine  solche  Er- 
scheinung kann  nicht  über  eine  Nacht  spurlos  verschwinden.  Wenn  auch 
von  der  ganzen  Welt  verlassen,  ja  zum  großen  Teile  gehaßt,  lebte  Napo- 
leon noch  lange  in  seinen  Werken,  in  den  Folgen  der  von  ihm  geschaffenen 
Zustände.  Daß  das  erste  Kaiserreich  an  der  französischen  Literatur 
seiner  Zeit  nicht  spurlos  vorübergegangen,  ist  leicht  zu  verstehen.  Bei 
den  Deutschen  steht  die  ganze  Literatur  der  Befreiungskriege  in  einem 
untnittelbaren  Zusammenhange  mit  der  Geschichte  der  Napoleonsclien 
Eroberungszüge.  Auch  die  Slaven  blieben  selbstver.ständlich  nicht  un- 
berührt, zumal  im  Süden  ein  Teil  derselben  —  die  südvpestlichen  Kroaten 
und  Slovenen  —  nach  dem  Preßburger  (1805)  und  noch  mehr  nach  dem 
Schönbrunner  Frieden  (1809)  unter  das  Szepter  des  französischen  Kaisers 
gelangten.  Durch  diese  Eroberungen  wurden  die  Franzosen  auf  die  süd- 
slavischen  Länder,  an  die  man  früher  in  Frankreich  kaum  dachte,  auf- 
merksam gemacht  —  es  mag  unser  Land,  welches  für  die  gebildeten 
Franzosen  der  damaligen  Zeit  schon  als  ein  Stück  Orients  galt,  eben 
deswegen  ein  gewisses  Interesse  geweckt  haben. 

Auch  im  litei'arischen  Leben  des  westlichen  Europa  vollzog  sich  in 
den  ersten  Dezennien  des  XIX.  Jhs.  ein  Umsturz:  die  neue  romantische 
Strömung  feierte  den  Sieg  über  die  s.  g.  klassische  Literatur,  die  Be- 
herrscherin der  letzten  Jahrhunderte.  Die  romantische  Richtung  kam 
natürlich  nicht  unerwartet  und  plötzlich,  sie  wurde  vielmehr  in  der  zweiten 
Hälfte  des  XVIII.  Jhs.  durch  manche  literarischen  Erscheinungen  an- 
gekündigt. Abgesehen  von  den  anderen  Merkmalen  der  neuen  Rich- 
tung gehört  wohl  unzweifelhaft  zu  den  charakteristischsten  Zügen  der 
Romantik  die  Vorliebe  für  das  Volkstümliche  ohne  Unterschied  der  Pro- 
venienz —  also  sowohl  für  die  Produkte  der  vorgeschrittenen  Nationen 
als  auch  für  die  geistigen  Schöpfungen  der  in  der  Kultur  zurückgeblie- 
benen Völker.  Ein  Denkmal  dieser  Bestrebungen  sind  die  Volkslieder 
Herders.  Aus  dieser  Vorliebe  für  das  Volkstümliche  und  dem  Wimsche, 
einem  in  der  Literatur  längst  vergessenen  Volke  ein  ehrendes  Denkmal 
zu  errichten,  erklärt  sich  die  bekannte  Mystifikation  Macphersons.  Der 
englische  Dichter  blieb  nicht  ohne  Nachfolger:  patriotisch  gesinnt,  ge- 
dachte Hanka  für  sein  Volk  etwas  ähnliches  zu  schaffen,  und  der  Wunsch 
wurde  zu  Tat. 

Diese  zwei  Momente  nun,  die  französische  Eroberung  »Illyi-iens« 
und  das  dadurch  für  diese  nach  den  Begriffen  des  damaligen  Europa 
halborientalischen  Länder  geweckte  Interesse  einerseits  und  andererseits 


Prosper  Mcrimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  323 

die  Vorliebe  der  damaligen  literarischen  Welt  für  das  Volkstümliche  und 
die  daraus  entstandenen  Mystifikationen  —  diese  zwei  Momente  habe  ich 
besonders  hervorheben  wollen,  denn  wenn  man  das  nicht  außer  acht  läßt, 
so  werden  uns  einige  mit  der  kroatischen  Volkspoesie  und  Literatur- 
geschichte überhaupt  zusammenhängende  Erscheinungen  der  damaligen 
französischen  Literatur  als  ein  ganz  natürliches  Produkt  ihrer  Zeit  er- 
scheinen. 

Vor  Napoleon  lassen  sich  in  französisch  geschriebenen  Werken  nur 
hie  und  da  schwache  Spuren  wahrnehmen,  die  auf  das  südslavische  Volks- 
leben hinweisen.  Im  Jahre  1778  wurde  zu  Bern  eine  französische  Über- 
setzung des  Werkes  Fortis'  Viaggio  in  Dalmazia  veröffentlicht,  in 
welcher  auch  die  bekannte  Lettre  ä  Mylord  Comte  de  Bute  sur  les 
mceurs  des  Morlaques  und  die  Chanson  sur  la  mort  de  Villustre  epouse 
d'Ascm-Aga  enthalten  sind*).  Zehn  Jahre  später  (17SS)  erschien  eine 
der  russischen  Kaiserin  Katharina  II.  gewidmete  Erzählung  aus  dem 
»morlakischen«  Volksleben  Les  Morlaques  von  J.  Wynne  comtesse  des 
Ursins  &  Rosenberg.  Unter  den  teils  mündlichen  teils  schriftlichen  Quellen, 
deren  sich  die  Schriftstellerin  nach  eigener  Aussage  bedient  haben  soll, 
wird  namentlich  nur  das  Werk  Fortis'  erwähnt.  Auf  Grund  einiger  rein 
äußerlichen,  zum  großen  Teil  Fortis  entlehnten  Momente  konstruierte  die 
Gräfin  unter  dem  Einflüsse  der  von  Rousseau  gepredigten  Ideen  von  der 
Rückkehr  zur  Natur  eine  ideale  arkadische  Morlakei,  die  uns  durch  ihre 
Unnatürlichkeit  und  Abgeschmacktheit  vielfach  an  die  paatoralen  Romane 
des  XVI.  und  XVII.  Jhs.  erinnert.  In  diesem  Lande  nun,  wo  die  »jouis- 
sances  paisibles  d'une  vie  conforme  aux  goüts  de  la  nature«  (p.  4)  und 
«une  douce  ^galit^  sociale«  (p.  12)  herrschen,  wo  in  der  Erziehung  der 
Kinder  die  Ideen  des  Emile  zur  Geltung  kommen,  schwärmt  das  Volk 
für  seine  kriegerische  Stammesgenossin,  die  Velika  Catherina  (Katharina 
die  Große).  Die  morlakischen  Bauern  glauben  fest  daran,  daß  sie  die 
Türken  aus  Europa  vertreiben  werde,  uud  verbeugen  sich  voll  Begeiste- 
rung und  Ehrfurcht  vor  einer  aus  Stroh  hergestellten  und  )^ä  la  morlaque« 
gekleideten  Statue  der  Kaiserin,  die  vom  Morlaken  Pervan  in  einem  Walde 
errichtet  wurde.    Die  Darstellung  der  Schriftstellerin  grenzt  also  bereits 


1)  In  seiner  Monographie  Das  serbische  VoUcslied  in  der  dcutsclun Literatur 
(Leipzif?  1905)  hebt  Dr.  6urcin  den  Umstand  hervor,  daß  die  Berner  franzö- 
sische Übersetzung  des  Viai/f/io  —  trotzdem  es  auf  dem  Titelblatte  »traduit 
de  ritalicn«  heißt  —  doch  hauptsächlich  nacli  der  deutschen,  ITTd  erschiene- 
nen Übersetzung  desselben  Werkes  hergestellt  wurde. 

21* 


324  T.  .Alatic, 

ans  Komische In  die  Erzählung  sind  zehn  »morlakische  Volks- 
lieder (f  cingeHochten  —  alle  in  französischer  Prosa  ); wiedergegeben«. 
Diese  angeblichen  Volkslieder  passen  vollkommen  in  den  Ton  der  ganzen 
Erzählung'). 

Wie  bereits  gesagt,  datiert  ein  intensiveres  Interesse  der  eigentlichen 
französischen  Literaten  für  unsere  Volkspoesie  und  unser  Volksleben  erst 
von  der  Napoleonschen  Eroberung  lUyriens,  besonders  seit  der  bekannte 
französische  Romantiker  Charles  Nodier  als  Redakteur  die  Leitung  des 
Laibacher  Telegraphe  ofßciel  übernommen  hatte.  Mit  Nodiers  Tätig- 
keit auf  diesem  Gebiete  und  mit  den  späteren  Mystifikationen  und  Über- 
setzungen unserer  Volkslieder  in  der  französischen  Literatur  befaßte  sich  in 
der  neueren  Zeit  Dr.  Skerlicin  CpncKH  KitnaceBiiE  r.iaciiHK  [üpocnep 
MepHMB  II  iLeroBa  MHCTH<j>HKai];HJa  epncKHX  iiapo^iinx  necama  in  C.  k.  r. 
IV.  5;  <I>paHi];yeKH  poMaiiTn^iapH  h  cpncKa  iiapo^iia  noe3nja  in  C.  k.  r. 
XII.  2 — 3 ;  Joui  je^HOM  o  »rycjiaiviacf  IIpocnepaMepHMea  in  C.  k.  r.  XII.  5]. 
In  der  vorliegenden  Einleitung  zum  Gegenstande  meiner  eigentlichen  Stu- 
dien werde  ich  mich  daher  in  bezug  auf  die  von  Dr.  Skerlic  behandelten 
Momente  etwas  kürzer  fassen,  zugleich  aber  will  ich  zur  Darstellung 
Dr.  Skerlics  neue  Beiträge  liefern  und  auf  einige  Ungenauigkeiten  in 
seinen  Aufsätzen  aufmerksam  machen. 

Im  Januar  1813  wird  Nodier  im  TeUcjraplie  ofßciel  als  »directeur 
.  .  .  Charge  de  la  redaction  du  texte  frangois«  (p.  32)  angegeben.  In  der 
Nummer  29  des  Telegraphe  vom  11.  April  1513  beginnt  eine  Serie  von 
Artikeln  unter  dem  Titel  Poesies  illyriemies.  Bereits  im  ersten  Artikel 
wird  dem  Wunsche  Ausdruck  gegeben,  man  möge  die  Produkte  der  illyri- 
schen Muse  sammeln  und  im  Drucke  erscheinen  lassen:  »Pourquoi  un 
homme  instruit,  spirituel  et  sensible  ne  s'occuperoit-il  pas  de  recueillir 
ces  vieux  monumens  de  la  poesie  illyrique  et  de  les  faire  imprimer  en 
Corps?  Ce  seroit  peut-etre  le  moyen  de  faire  renaitre  l'amour  de  cette 
belle  langue  nationale,  qui  a  aussi  ses  classiques  et  ses  chefs-d'ceuvre. « 
Dieser  Wunsch  wurde  also  eben  in  dem  Jahre  ausgesprochen,  in  welchem 
Vuk  Serbien  verließ  und  sich  nach  Wien  begab^  wo  bald  darauf  seine 


I)  Hier  die  Titel  der  »Volkslieder  <■:  Chanson  dePecirep.  Histoire  d'Anka. 
Epithalame  de  Radomir  aux  noces  de  Jervaz.  Epithalame  de  Dascia  aux 
nöces  de  Jervaz.  Friere  ä  Timage  de  Catherina.  Chanson  de  mort  de  Dabro- 
mir.  Chanson  de  la  bienbeureuse  Dianiza.  Chanson  de  Tiescimir  et  Vukossava. 
Chanson  de  mort  pour  le  Starescina  de  Rostar.  Chanson  de  la  mort  de 
Jervaz. 


Prosper  Mörimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  325 

Tätigkeit  auf  diesem  Gebiete  begann  —  denn  daß  unter  den  »vieux  mo- 
numens  de  la  poesie  illyi-iquec  vor  allem  Volkslieder  zu  verstehen  sind, 
gebt  aus  dem  Kontexte  deutlich  hervor.  —  Im  zweiten  und  dritten  Artikel 
wird  die  X.alostna  Piesanza  Plemenite  Asan-Agliinize  besprochen. 
Diese  Analyse  gewinnt  an  Interesse,  wenn  man  sie  mit  der  späteren  von 
Nodier  stammenden  Bearbeitung  dieses  Gedichtes  vergleicht  —  worauf 
wir  später  zurückkommen  werden.  —  Der  letzte  (vierte)  Artikel  der 
Poesies  illyriennes  (erschienen  am  20.  Juni  1813)  enthält  Übersetzung 
eines  Gedichtes  von  Ignat  Dordic:  Le  ver  luisanfA).  Dies  wäre  somit  die 
erste  von  Nodier  mitgeteilte  Übersetzung  eines  kroatischen  Gedichtes  — 
also  gerade  das  Gegenteil  von  dem,  was  Dr.  Skerlic  annimmt  (i)nocJieAH>a 
ciOBSHCKa  necMa  Kojy  je  Ho^ije  caonmTHo«),  welchem  dieses  Gedieht 
nur  in  der  späteren  Übersetzung  Nodiers  bekannt  zu  sein  scheint.  Sehr 
interessant  ist  es  aber,  daß  die  in  der  Ausgabe  der  Werke  Nodiers  vom 
Jahre  1832  enthaltene  Übersetzung  desselben  Gedichtes  von  der  im  Tele- 
graphe  officiel  mitgeteilten  entschieden  abweicht:  das  sind  eigentlich 
zwei  Paraphrasen  von  I^ordics  Zgoda  l^viena.  Bekanntlich  wurde  dieses 
Gedicht  von  Dr.  StuUi  ins  Italienische  übersetzt  und  nebst  dem  Original- 
texte in  Appendinis  Notizie  iaforico-crificJie  (II.  296)  abgedruckt.  Die 
italienische  Übersetzung  unterscheidet  sich  schon  in  ihrer  äußeren  Form 
vom  Originale  dadurch,  daß  sie  in  Strophen  von  sechs  Achtsilbnern  ver- 
faßt ist,  während  Dordic  durchwegs  aus  vier  Achtsilbnern  bestehende 
Strophen  anwendete.  Es  ist  daher  sehr  leicht  begreiflich,  daß  StuUi, 
dessen  Übersetzung  überhaupt  sehr  frei  ist,  sich  vielfach  veranlaßt  fand, 
dem  Original  hie  und  da  einen  oder  zwei  Verse  eigener  Erfindung  hinzu- 
zufügen. Da  sich  diese  Zusätze  des  italienischen  Textes  und  dessen 
Abweichungen  vom  Originale  sowohl  in  dem  im  Telegraphe  officiel 
veröffentlichten  Ver  luisant  als  auch  in  der  in  späteren  Ausgaben  der 
Werke  Nodiers  enthaltenen  Luciole  reflektieren,  so  unterliegt  es  keinem 
Zweifel,  daß  die  beiden  französischen  Übersetzungen  von  Bordics  Zgoda 
luvena  auf  die  italienische  Übersetzung  Stullis  zurückzuführen  sind.  So- 
wohl T^er  luiscmt  als  Luciole  sind  in  Prosa  geschrieben  und  in  kleine 
den  Strophen  des  Originals  bezw.  der  italienischen  Übersetzung  ent- 
sprechende Absätze  eingeteilt.  In  Luciole  zerfielen  sogar  einzelne 
Strophen  des  italienischen  Textes  (die  fünfte  und  die  sechste)  in  je  zwei 


1)  In  der  Ausgabe  Gaj's  Pjesni  razlike  (Zagreb  185r.)  das  Gedicht  Zgoda 
luvena  (auf  der  Seite  10]. 


326  T.  Mutic, 

Teile,  sodaß  diese  Übersetzung  gegenüber  den  1 4  Strophen  des  Originals 
und  des  italienischen  Textes  IG  den  Strophen  entsprechende  Absätze  auf- 
weist, während  Ver  luisant  in  dieser  Beziehung  der  italienischen  Über- 
setzung treu  folgt.  Beide  französische  Texte  sind  frei  nach  der  ohnehin 
schon  sehr  freien  Übersetzung  Stullis  übersetzt  —  wenn  man  sie  daher 
in  Bezug  auf  die  Treue  der  Wiedergabe  direkt  mit  dem  Originale  ver- 
gleicht, so  kann  das  Resultat  selbstverständlich  kein  befriedigendes  sein. 

Im  Jahre  IS  18  veröffentlichte  Nodier  anonym  einen  Koman  angeb- 
lich aus  dem  illyrischen  Leben  unter  dem  Titel  Jean  Shogar.  Dieser 
Roman  steht  mit  dem  südslavischen  Leben  eigentlich  in  keinem  Zusammen- 
hange, denn  Jean  Sbogar  ist  der  Ende  desXVIIL  und  Anfang  des  XIX.  Jhs. 
in  der  westeuropäischen  Literatur  so  beliebte  Mann,  der,  selbst  mit  der 
Welt  zerfallen,  seiner  Seelenstimmung  in  stürmerischer  Weise  Ausdruck 
gibt  und  wie  Schillers  Karl  Moor  Räuberhauptmaun  wird.  Mit  Illyrien 
hat  Nodier  seinen  Helden  bloß  in  einen  äußerlichen  Zusammenhang  da- 
durch gebracht,  daß  Jean  Sbogar,  aus  Spalato  stammend,  bei  der  unver- 
dorbenen Bevölkerung  Montenegros  eine  von  der  Welt  weit  entfernte 
Zufluchtsstätte  sucht  und  sich  in  Istrien,  wo  man  die  »gusle«  hören  kann, 
als  Räuberhauptmann  niederläßt. 

Drei  Jahre  später  (1821)  gab  Nodier  Smarra  ou  les  Demons  de  la 
nuit.  So7iges  romantiques^  traduits  de  Vesclavon  du  comte  Maxime 
Odin^  ein  recht  sonderbares  Werk,  heraus.  Es  enthält  eigentlich  Ge- 
schichte eines  Traumes:  Lorenzo  kommt  nach  Thessalien,  wird  dort  von 
den  schauderhaftesten  Gesichten  geplagt,  bis  er  endlich  —  von  seiner 
Gemahlin  Lisidis  aus  dem  Schlafe  geweckt  wird.  Noch  sonderbarer  aber 
ist  die  Vorrede,  io  welcher  es  unter  anderem  heißt:  »L'ouvrage  singulier 
dont  j'offre  la  traduction  au  public  est  moderne  et  meme  recent.  On  l'at- 
tribue  generalement  en  lUyrie  ä  un  noble  Ragusain  qui  a  cache  son  nom 
sous  celui  du  comte  Maxime  Odin,  ä  la  tete  de  plusieurs  poemes  du  meme 
genre.  Celui-ci,  dont  je  dois  la  communication  ä  l'amitiö  de  M.  le  Cheva- 
lier Födorovich  Albinoni,  n'etait  point  imprime  lors  de  mon  sejour  dans 
ces  provinces.  II  l'a  probablement  ete  depuis.  —  Smarra  est  le  nom 
primitif  du  mauvais  esprit  auquel  les  anciens  rapportaient  le  triste  ph^- 
nomene  du  cauchemar.  Le  meme  mot  exprime  encore  la  meme  idee  dans 
la  plupart  des  dialectes  slaves « i).    So  hieß  es  in  der  ersten  Ausgabe  (1821). 


^     1)  In  Lovrich's  Osservazioni  sopra  diversi  pezzi  del  Viaggio  in  Dalmazia 
del  Signor  abate  Alb.  Fortis  (Venezia  1776)  findet  sich  (p.  201)  ein  Kapitel  be- 


1, 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  327 

Später  (1832)  warf  Nodier  seine  Maske  weg  und  gestand  offen,  daß  er 
der  einzige  Autor  ist  und  die  Autorschaft  Maxime  Odins  ins  Reich  der 
Fabel  gehört.  Ganz  ungeniert  nennt  er  seine  Vorbilder  (vor  allen  Apu- 
läus)  und  bekennt,  sein  Werk  habe  keinen  Erfolg  gehabt,  denn  die  fran- 
zösischen Literaten  seien  schon  im  voraus  gegen  alle  Produkte  barbarischen 
Ursprungs  (in  unserem  Falle  gegen  das  Werk  eines  angeblichen  Ragusa- 
ners)  zu  sehr  eingenommen  gewesen  —  sie  hätten  ja  damals  gar  nicht 
gewußt,  daß  Ragusa  auf  dem  Gebiete  der  lateratur  solche  Fortschritte 
aufweisen  könne  und  daß  es  im  XVIII.  Jh.  );le  demier  temple  des  muses 
grecques  et  latines«/  gewesen  sei. 

Die  Persönlichkeit  des  angeblichen  »Chevalier  Födorovich  Albinoni«, 
der  Nodier  das  kroatische  Original  von  Smarra  mitgeteilt  haben  soll, 
scheint  eine  reale  Grundlage  zu  haben.  Darunter  wird  der  Autor  des 
Werkes  Memorie  per  la  storia  della  Dalmazia  (Zara  1809)  Giovanni 
Kreglianovich  Albinoni  zu  verstehen  sein,  der  sein  historisches  Werk 
über  Dalmatien  dem  Vizekönig  von  Italien,  Eugen  Napoleon,  gewidmet 
hatte  (cf.  Valentinelli,  Bibliogralia  della  Dalmazia  e  del  Montenegro,  Za- 
gabria  1855,  p.  10).  Im  Telegraphe  ofßciel  (Jhg.  1813,  N.  15  u.  16) 
erschien  ein  ziemlich  ausführliches  Referat  über  die  Memorie  Ki-egliano- 
vichs  —  ein  Beweis,  daß  Kreglianovich  wenigstens  literarisch  Nodier 
bekannt  war.  Inwieweit  und  ob  Ki'eglianovich  überhaupt  am  Zustande- 
kommen von  Smarra  tatsächlich  beteiligt  war,  entzieht  sich  unserer 
Beurteilung.  Die  Behauptung  Dr.  Skerlics  aber,  nicht  nur  Fedorovieh 
Albinoni,  sondern  sogar  auch  der  von  Nodier  als  Autor  von  Memoiren 
über  Dalmatien  genannte  Conte  Kriglianovich  seien  aus  der  Luft  gegi'iffen 
(cf.  Cpn.  Kit.  r.i.  XU.  3.  p.  849),  ist  entschieden  unrichtig. 

Im  Anhange  zu  Smarra  sind  drei  Gedichte  abgedruckt,  die  Nodier 
ebenfalls  insgesamt  für  authentisch  gelten  lassen  wollte,  was  wieder  nicht 
vollkommen  den  Tatsachen  entspricht,  denn  während  das  zweite  und  das 
dritte  Gedicht  wirklich  —  indirekt  wenigstens  —  auf  kroatische  Originale 
zurückzuführen  sind,  ist  das  erste  von  den  drei  Gedichten,  Le  bey  Spa- 
lafin^  eine  Mystifikation.  Nodier  bezeichnet  es  als  Dune  de  ces  romances 
nationales  qui  ne  sout  conservees  que  par  la  memoire  des  hommes.  Celle- 
ci  est  divisöe  en  tercets  qui  se  chantent  ordinairement  ä  deux  voix 
alternatives  sur  un  air  extremement  monotone,  mais  que  les  Morlaques 


titelt  »Incubo  o  Smara«-,  als  morlakiscber  Name  wird  aber  nur  »morra"  au- 
gegeben. 


328  '!"•  Matic. 

n'cntendent  pas  sans  pleurer«.  In  G!)  solchen  tercets  (die  natürlicb  in 
frauzösischc  Prosa  »übersetzt«  wurden)  wird  vom  liajduken  Pervan  er- 
zählt, der  Zetim,  die  Burg  des  alten  Bey  Spalatin,  eroberte  und  dessen 
Enkelin  Iska  gefangen  nahm.  Um  das  Mildchen  vor  Schande  zu  bewahren, 
kam  der  alte  Bey  als  Guslaspieler  verkleidet  vor  die  Burg  und  sang  von 
den  Siegen  des  »fameux  bey  Skender«.  Iska  erkannte  den  Großvater  an 
der  Stimme  und  kam  zu  ihm.  Der  Greis  stieß  dem  Mädchen  seinen  Dolch 
in  die  Brust.  Selbst  verwundet,  fürchtete  er  den  Tod  nicht  mehr,  denn 
er  hatte  seine  Enkelin  vor  Schande  gerettet.  Die  Kinder  nahmen  den 
verwundeten  Großvater  mit  und  flohen  vor  den  verfolgenden  liajduken 
in  die  neue  Heimat  Pago.  Um  seinen  Kindern  die  Flucht  nicht  zu  er- 
schweren, warf  sich  der  sterbende  Greis  ins  Meer. 

Das  zweite  Gedicht  im  Anhange  zu  -6'marrw,  La  femme  iPAsa?i, 
ist  die  bekannte  Hascm-aginica,  mit  der  ich  mich  später  befassen  werde, 
und  das  dritte,  La  htciole,  die  schon  erwähnte  Ü))ersetzung  von  Bordics 
Zgoda  l,uvena. 

Doch  das  bedeutendste  Werk  auf  dem  Gebiete  der  französischen 
Mystifikationen  unserer  Volkslieder  erschien  anonym  1S27  zu  Straßburg 
unter  dem  Titel:  La  Guzla  ou  choix  de  poesies  iUyriques  recueillies 
dans  la  DalmaUe,  la  Bosnie^  la  Croafie  et  VHerzegovine'^).  Der 
Anonymus  erzählt  in  der  Vorrede,  er  habe  in  seiner  Jugend  lange  in  den 
illyrischen  Provinzen  gelebt,  und  seine  Mutter  selbst  sei  eine  Morlakin 
aus  Spalato  gewesen.  Mehrere  Jahre  hindurch  habe  er  mehr  illyi-isch  als 
italienisch  gesprochen  und,  selbst  ein  großer  Freund  von  Reisen,  seine 
freie  Zeit  dazu  benutzt,  das  Land,  in  welchem  er  lebte,  kennen  zu  lernen. 
Von  Triest  bis  Ragusa  gebe  es  wenig  Dörfer,  Berge  und  Täler,  die  er 
nicht  besucht  hätte  —  er  habe  sogar  größere  Ausflüge  nach  Bosnien  und 
in  die  Herzegovina  unternommen,  wo  die  illyrische  Sprache  am  reinsten 
sei,  und  dort  habe  er  mehrere  interessante  Fragmente  von  alten  Liedern 
gefunden.  Er  selbst  sei  ein  Italiener,  schon  lange  aber  wohne  er  in 
Frankreich,  so  daß  er  französisch  ziemlich  leicht  schreibe,  aber  als  Frem- 
der wohl  wisse,  daß  sich  sein  französischer  Stil  durch  keine  Eleganz  aus- 
zeichne. Während  seines  Aufenthaltes  in  lUyrien  habe  er  auch  Volkslieder 
gesammelt  —  und  erzählt  selbst,  wie  er  später  dazu  gekommen  sei,  die- 


1)  Die  Seitenzahlen  der  Zitate  aus  der  Guzla  sind  nach  der  zu  Paris  ^Cal- 
man  L6vy)  1885  erschienenen  Ausgabe  der  Werlve  Merimees  angegeben,  der 
Text  wurde  aber  durchweg  mit  der  ersten  Ausgabe  (1827)  verglichen  und  an 
abweichenden  Stellen  nach  dem  ursprünglichen  Texte  korrigiert. 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  329 

selben  herauszugeben:  »Depuis,  remarquant  le  gofct  qui  se  repand  tous 
les  Jours  pour  les  ouvrages  etrangers.  et  surtout  pour  ceux  qui,  par 
leur  forme  meme,  s'öloignent  des  chefs-d'ceuvre  que  nous  sommes  habituös 
ii  admirer,  je  songeai  ä  mon  recueil  de  chansons  illyriques.  J'en  fis  quel- 
ques traductions  pour  mes  amis,  et  c'est  d'apres  leur  avis  que  je  me 
basarde  ä  faire  un  choix  dans  ma  collection  et  a  le  soumettre  au  juge- 
ment  du  public«  i).  Die  illyriscben  Provinzen  wolle  er  nicht  beschreiben: 
«Je  m'imagine  que  les  provinces  illyriques^  qui  ont  ete  longtemps  sous 
le  gouvernementfran^ais^  sotit  assez  bien  connues  pour  qu'il  soit  inutile 
de  faire  precöder  ce  recueil  d'une  description  geographique,  politique, 
etc. «2).  Er  beschränkte  sich  bloß  darauf,  in  kurzen  Zügen  den  Leser  mit 
den  sla vischen  »Barden«,  ^tn  joueurs  de  guzla^  bekannt  zu  machen. 

Nach  der  Vorrede  folgt  eine  ziemlich  ausführliche  Notice  su?'  Hya- 
cinthe  Maglanovich^  den  Sänger  der  schönsten  unter  den  Liedern  unserer 
Sammlung.  Zu  Zuonigrad  geboren,  sei  Maglanovich  im  Alter  von  8  Jahren 
von  Zigeunern  nach  Bosnien  entführt  und  zum  Islam  bekehrt  worden. 
Unter  den  Muhamedanern  habe  er  nicht  lange  ausgehalten;  getauft  von 
einem  Mönche,  sei  er  mit  ihm  nach  Sinj  in  Dalmatien  entflohen  und  habe 
sich  in  der  neuen  Heimat  durch  seine  Lieder  bekannt  und  beliebt  gemacht. 
Bald  habe  sich  unser  Sänger  in  ein  Mädchen  verliebt  und,  weil  er  Gegen- 
liebe gefunden  habe,  den  Sitten  des  Landes  folgend  die  schöne  Helene 
Zlarinovich  entführt.  Bei  dieser  Gelegenheit  aber  habe  er  das  Unglück 
gehabt,  seinen  Rival  zu  erschießen,  und  sich  deshalb  vor  der  Rache  der 
mächtigen  Verwandten  des  Ermordeten  ins  Gebirge  flüchten  müssen.  Mit 
seiner  Frau  habe  er  unter  den  Ilajduken  mehrere  Jahre  zugebracht  und 
sich  endlich  mit  der  Familie  in  der  Gegend  Kotari  in  der  Nähe  des  Dorfes 
Smocovich'^)  niedergelassen.  Unser  Sammler  sei  mit  ihm  1816  zu  Zara 
bekannt  geworden  und  im  darauf  folgenden  Jahre  als  Gast  in  seinem 


1)  Guzla,  p.  135.  2j  Ib.,  p.  i:56— i:i7. 

3)  Die  in  der  Biographie  Maglanovichs  angegebenen  Ortscliaften  Livno, 
Sin  und  Smokovic  (in  der  Gegend  Kotari  in  Norddalmatien,  südlich  von 
Zara)  passen  in  Jeder  Beziehung  ganz  gut  in  den  Rahmen  der  Erzählung. 
Merkwürdigerweise  gibt  Dr.  Skerlic  in  seinem  Aufsatze  Ilpocncp  Älepime  ii 
iberoua  MiiCTn*nKaiiuja  cpiicKHX  uapoÄimx  uecaivia  (in  GpncKU  KibUJKCBuu  rjac- 
iiiiK  IV,  5)  diese  geographischen  Daten  vollkommen  verkehrt  an:  Maglano- 
vich sei  von  Livno  nach  Sen  in  Dalmatien  entflohen  und  habe  sich  später 
in  der  Nähe  von  Kotor  niedergelassen.  Im  französischen  Texte  steht  ganz 
deutlich  Scign  (nicht  Seign,  wie  es  Dr.  Skerlic  zitiert,  denn  ein  Sen  gibt  es 
überhaupt  nicht  in  Dalmatien)  und  »dans  le  Kotar  pres  de  Smocovich«. 


330  T.  Matid, 

Hause  gewesen.  Der  alte  Sänger  habe  ihm  mit  Guzlabegleitung  mehrere 
Balladen  unserer  Sammlung  vorgetragen. 

An  dieser  ganzen  Geschichte  vom  Sammler  und  vom  Sänger  ist  keine 
einzige  Silbe  wahr,  denn  alle  diese  Gedichte  —  bis  auf  zwei,  auf  die  wir 
später  zurückkommen  werden  —  sind  ein  Produkt  des  bekannten  franzo- 
sischen Novellisten  Prosper  Mörimöe.  Der  Dichter  konnte  mit  dem  lite- 
rarischen Erfolg  seiner  Mystifikation  recht  zufrieden  sein.  Aus  der  Vor- 
rede zur  zweiten  Ausgabe  der  Guzla  erfahren  wir,  daß  Mi-rimöe  «deux 
mois  apres  la  publication  de  la  Guzlai  vom  englischen  Staatsmann  und 
Schriftsteller  John  Bowring,  der  selbst  im  Jahre  1827  eine  Sammlung 
serbischer  Volkslieder  in  englischer  Übersetzung  herausgegeben  hatte, 
einen  Brief  erhielt,  in  welchem  ihn  der  Engländer  bat,  er  möge  ihm  die 
Verse  des  Originals  seiner  Guzla  mitteilen:  »M.  Bowring,  auteur  d'une 
anthologie  slave,  m'öcrivit  pour  me  demander  les  vers  originaux  que 
j'avais  si  bleu  traduits«  ^). 

Gerade  um  diese  Zeit  arbeitete  Gerhard  an  einer  deutschen  Über- 
setzung serbischer  Volkslieder.  In  der  Vorrede  zu  seiner  bekannten 
Sammlung  Wila.  Serbische  Volkslieder  und  Heldenm'drchen  (Leipzig 
1828)  erzählt  Gerhard  selbst,  sein  Büchlein  hätte  schon  im  vorigen 
Sommer  (also  1827)  erscheinen  sollen^  sei  aber  durch  mancherlei  Zufälle 
verspätet  worden.  «Einer  davon  —  fährt  er  fort  —  kam  indeß  dem  Werke 
insofern  zu  gute,  als  er  eine  Bereicherung  seines  Inhaltes  veranlaßte.  Es 
wurden  nämlich  dem  Verfasser  durch  die  Güte  des  Herrn  Berger-Levrault 
aus  Straßburg,  dessen  persönliche  Bekanntschaft  er  zu  jener  Zeit  machte, 
die  ersten  Aushängebogen  des  in  seiner  Verlagshandlung  seitdem  unter 
dem  Titel:  La  Guzla ^  ou  le  choix  de  poesies  illyriques  recueillies 
dans  la  Dalmatie,  la  Bosnie,  la  Croatie  et  V Herzegoioine  erschienenen 
Werkchens  mitgeteilt.  Sein  Inhalt  zog  ihn  so  sehr  an,  daß  er  sich  auf 
der  Stelle  entschloß,  die  von  dem  anonymen  Herausgeber,  einem  gebornen 
Italiener  und  nationalisierten  Franzosen,  im  Lande  selbst  niedergeschrie- 
benen und  Wort  für  Wort  in  französischer  Prosa  überlieferten  Lieder 
rhythmisch  zu  übertragen.  Vertraut  mit  dem  Periodenbau  serbischer 
Rhythmik,  ward  ihm  die  Arbeit  leicht,  und  so  gab  er  sie  als  Anhang  zu 
dem  zweiten  Bande  gegenwärtiger  Sammlung  mit  Ausnahme  der  zuletzt 
darin  abgedruckten  Trauerhallade  von  der  edlen  Gattin  des  Asan- 
Aga.  Wie  hätte  er  auch  wagen  sollen,  diese  herrliche  Dichtung  einem 
Meister  nachzudichten  ?  (f 


1)  Guzla,  p.  133. 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  33 1 

Recht  auffallend  ist  daher  die  Behauptung  Dr.  Skerlics,  Merimee 
hätte  1835  im  Briefe  an  Sobolevskij  die  ganze  Angelegenheit  in  bezug 
auf  Gerhard  unrichtig  dargestellt  und  zu  Gunsten  seiner  M3^stifikation 
übertrieben,  denn  Gerhard  hätte  sich  zwar  vorübergehend  iiTeführen 
lassen,  doch  von  Goethe  über  den  tatsächlichen  Sachverhalt  aufgeklärt, 
diese  unglückseligen  Übersetzungen  (»xe  Hecpehiie  upeEO^e«  Cpn.  kh>.  rjr. 
Xn.  5.  p.  984)  nie  veröffentlicht.  Die  Wahrheit  bezüglich  der  Über- 
setzungen Gerhards  war  schon  Miklosic  bekannt  und  wurde  auch  von 
Dr.  Curcin  ganz  richtig  hervorgehoben. 

Während  also  Gerhard  von  dieser  französischen  Übersetzung  der 
angeblichen  illyrischen  Volkslieder  so  sehr  entzückt  war,  daß  er  sie  ins 
Deutsche  tibertrug  und  im  II.  Bande  seiner  TVüa  veröffentlichte,  erschien 
noch  in  demselben  Jahre  (1828)  über  Guzla  ein  kurzes  Referat  Goethes 
(Über  Kunst  und  Altertum  VI,  2),  welches  in  einem  ganz  anderen  Tone 
geschrieben  war.  Sowohl  hier  als  auch  später  (1830)  in  den  Gesprächen 
mit  Eckermann  hob  Goethe  den  nicht  zu  bestreitenden  poetischen  Wert 
dieser  Gedichte  hervor,  doch  das  ganze  Werk  nennt  er  »eine  beim  ersten 
Anblick  auffallende,  bei  näherer  Betrachtung  aber  problematische  Er- 
scheinung« ....  und  fährt  weiter  fort:  ».  .  .  .  Wir  wurden  aufmerksam, 
daß  in  dem  Werke  Guzla  der  Name  Gazul  verborgen  liegt,  und  jene 
verkappte,  spanische,  schauspielerische  Zigeunerin  kam  uns  in  die  Ge- 
danken, die  uns  vor  einiger  Zeit  so  liebenswürdig  zum  Besten  hatte  .... 
Es  hat  von  jeher  in  der  Kunst  dieser  fromme  Betrug  gegolten,  daß,  wenn 
irgend  etwas  großen  Beifall  erhielt,  man  durch  Fortsetzungen,  zweite 
Teile  oder  sonstig  Angeschlossenes  Aufsehen  erregen,  Zustimmung  ge- 
winnen wollte  und  dadurch  ein  erst  getäuschtes  Publikum  zu  einem  höhe- 
ren Grad  von  Kennerschaft  erhob  ....  Herr  Merimee  wird  es  ims  also 
nicht  verargen,  wenn  wir  ihn  als  den  Verfasser  des  Theaters  der  Clara 
Gazul  und  der  Guzla  hiemit  erklären  imd  sogar  ersuchen,  uns  mit  der- 
gleichen eingeschwärzten  Kindern,  wenn  es  ihm  irgend  beliebt,  aufs  neue 
zu  ergötzen.« 

Damit  ist  die  Geschichte  der  Mystifikation  Merimees  nicht  zu  Ende 
—  es  war  ihr  beschieden,  in  den  Werken  eines  der  größten  slavisehcn 
Dichter  Spuren  zu  hinterlassen.  In  den  Jahren  1832 — 1833  üborsetzte 
Puskin  aus  der  Guzla  elf  Balladen  ins  Russische  und  veröffentlichte  die- 
selben in  seinen  Il'Iiciin  3aiia;iiiuxTi  cjiaBflUTt).  Die  Übersetzungen  Puskius 
bewegen  sich  frei,  viel  freier  als  die  Gerhardschen  ^).   Doch  der  Glaube 

1)  Von  den  Balladen  Merimees  übersetzte  Puskin:  La  vision  de  Tho- 


332  T.  Matid, 

des  russischen  Diclitcrs  an  die  Echtheit  der  von  ihm  übersetzten  Gedichte 
war  bald  erschüttert,  und  er  bat  S.  A.  Sobolevskij,  er  möge  sich  bei 
Mörimöe  .über  den  Ursprung  der  in  der  Guzla  veröffentlichten  Balladen 
erkundigen.  In  einem  zu  Paris  am  IS.  Januar  1835  geschriebenen,  an 
Sobolcvskij  gerichteten  Briefe')  gestand  Merimöe  seinen  literarischen  Be- 
trug ganz  offen.  «Je  röpondrai  candidement  ä  vos  questions.  La  Guzla 
a  €i€  composöe  par  moi  pour  deux  motifs,  dont  le  premier  6tait  de  me 
moquer  de  la  couleur  locale  dans  laquelle  nous  nous  jetions  ä  plein  coUier 
vers  l'an  de  gräce  1827.  Pour  vous  rendre  compte  de  l'autre  motif,  je 
suis  Obligo  de  vous  conter  une  histoire.  En  cette  m§me  annöe  1827,  un 
de  mes  amis  et  moi  nous  avions  formö  le  projet  de  faire  un  voyage  en 
Italie.  Nous  ötions  devant  une  carte,  tracant  au  crayon  notre  itineraire. 
Arrivös  ä  Venise,  sur  la  carte  s'entend,  et  ennuyes  des  Anglais  et  des 
Allemands,  que  nous  rcncontrions,  je  proposai  d'aller  ä  Trieste,  puis  de 
lä  ä  Raguse.  La  proposition  fut  acceptöe,  mais  nous  ötions  fort  l^gers 
d'argeut  et  cette  »douleur  nompareille«,  comme  dit  Rabelais,  nous  arretait 
au  milieu  de  nos  plans.  Je  proposai  alors  d'ecrire  d'avauce  notre  voyage, 
de  le  vendre  a  un  iibraire  et  d'employer  le  prix  ä  voir  si  nous  nous  ötions 
beaucoup  tromp6s.  Je  demandai  pour  ma  part  ä  colliger  les  poösies  po- 
pulaires  et  ä  les  traduire;  on  me  mit  au  defi,  et  le  lendemain  j'apportai  ä 
mon  compagnon  de  voyage  cinq  ou  six  de  ces  traductions.  Je  passai 
l'automne  ä  la  campagne.  On  döjeunait  ä  midi  et  je  me  levais  ä  dix  heures ; 
quand  j'avais  fume  un  ou  deux  cigares,  ne  sachaut  que  faire,  avant  que 
les  femmes  ne  paraissent  au  salon,  j'^crivais  une  ballade.  II  en  rösulta 
un  petit  volume,  que  je  publiai  en  grand  secret  et  qui  mystifia  deux  ou 
trois  personnes  ....  Voilä  mon  histoire.  Faites  mes  excuses  ä  M.  Pouch- 
kine.    Je  suis  fier  et  honteux  ä  la  fois  de  l'avoir  attrappe.  (f 


mas  II.,  roi  de  Bosnie  —  La  Flamme  de  Perrussich  —  Le  combat  de  Zenitza 
Velika  —  La  belle  Helene  —  Le  Morlaque  <ä  Venise  (auch  von  Mickiewicz  ins 
Polnische  übersetzt;  den  russischen  und  den  polnischen  Text  dieser  BaUade 
druckte  Kulakovskij  in  A.  C.  üyiuKunt  bt.  cüaBKucKuxi.  nepeso^axt, 
BapmaBa  1899,  neben  einander  ab)  —  Les  braves  heyduques  —  Chant  de  mort 
—  Constantin  Yacoubovich  —  Les  Montenegrins  —  Jeannot  —  Le  cheval  de 
Thomas  IL  Puskins  Übersetzung  der  ersten  l3  Verse  der  Hasan-aginica  ist 
nicht  auf  Merimees  Guzla  zurückzuführen.  Über  die  Übersetzungen  Puskins 
aus  der  Guzla  cf.  IT.  Ky.iaKOBCKii'r,  CjiaBflucKie  motubm  bt,  xBopiecTBi 
Jlyi^KHHa  (BapmaBa  1899)  und  IT.  A.  JlaBpoBt,  IlyniKUHi.  u  cjaBHHc 
(ÜÄedca  1900). 

1)  Abgedruckt  in  der  Vorrede  zu  Puskins  ITicHu  sanaÄnLixt  ciaBaHrb. 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  Jsroat.  Volkslieder.  333 

In  der  zweiten  Ausgabe  der  Guzla  ^j  machte  Merimee  aus  seinem 
Namen  und  dem  Ursprünge  der  angeblichen  Volkslieder  kein  Hehl.  Da 
wird  die  Entstehungsgeschichte  der  Guzla  genau  in  derselben  Weise  er- 
zählt wie  in  dem  Briefe  an  Sobolevskij  —  zum  großen  Teil  werden  sogar 
dieselben  Ausdrücke,  ja  ganze  Sätze  wörtlich  wiederholt,  nur  tritt  hier 
der  ironische  Ton,  den  man  schon  in  dem  erwähnten  Briefe  merkt,  noch 
stärker  hervor.  Ganz  besonders  wird  da  gegen  die  romantische  couleur 
lorule  losgezogen.  Die  Opfer  seiner  Mystifikation  werden  nicht  geschont: 
Bowi'ing,  Gerhard,  Puskin  —  für  alle  hat  Merimee  eine  ironische  Bemer- 
kung: »Les  Allemands  d^couvrent  bien  des  choses,  on  le  sait«  sagt  er 
von  der  Gerhardschen  Entdeckung  der  Verse  des  Originals  in  der  franzö- 
sischen Prosa,  und  die  Übersetzung  Puskins  »peut  se  comparer  ä  Gil 
Blas  traduit  en  espagnol  et  aux  heitres  d\ine  religieuse  porttigaise 
traduites  en  portugais.«^). 

Filon  sagt,  M^rimöe  habe  in  der  zweiten  Ausgabe  »cinq  poemes 
concus  dans  le  meme  genre«  hinzugefügt.  Nach  dem  Vergleich  der  neueren 
Ausgaben  mit  der  ersten  Ausgabe  der  Guzla  wären  das  die  Balladen: 
Le  fusil  enchantö  —  Le  ban  de  Croatie  —  L'heiduque  mourant  —  die 
in  einer  Marginalnote  enthaltene  Übersetzung  eines  griechischen  Liedes 
La  jeune  fiUe  en  enfer  —  und  Milosch  Kobilich^). 

II. 

Bevor  wir  zur  Behandlung  einzelner  Punkte  unserer  Sammlung  über- 
gehen, wird  es  wohl  ratsam  sein,  einen  kurzen  Überblick  des  ganzen 
Werkes  zu  geben,  um  uns  zuerst  in  seinem  Inhalte  zu  orientieren.  Die 
ganze  Sammlung  enthält  32  größtenteils  epische  Gedichte,  die  alle  ins- 
gesamt —  bis  auf  die  zwei  letzten  —  Produkte  i\[6rimees  sind  und  mit 
der  kroatischen  Literatur  in  keinem  direkten  Zusammenhange  stehen.  Die 
erwähnten  zwei  Gedichte  kroatischen  Ursprungs  sind  Triste  ballade  de 
la  noble  epouse  d^Asan-A(/a  und  Milosch  Kobilich  —  also  zwei  von 
denjenigen  Gedichten,  die  durch  die  Vermittlung  Fortis'  in  die  Herder- 


1)  In  seiner  Monographie  über  Merimöe  (Les  grands  6crivains  fran^ais, 
Bd.  40,  Paris  18i)8)  gibt  Aug.  Filon  als  Jahr  der  zweiten  Ausgabe  der  (iuzla 
1842  an;  Dr.  Skerlic  und  Dr.  Curcin  zitieren  das  Jahr  1810.  Mir  war  diese 
Ausgabe  nicht  zugänglich. 

^)  GUizla,  p.  13;!. 

•')  Cf.  auch  Skerlic  in  CpncKu  kilu/kccuu  r.iacuuK,  XII/5,  p.  983. 


334  !'•  Matid, 

sehen  Volkslieder  kamen  und  zum  erstenmal  die  Aufmerksamkeit  des 
westlichen  Europa  auf  unsere  Volkspoesie  lenkten. 

Die  ganze  Sauimlung  Mcrimecs  ist  in  Prosa  »übersetzt«  und  es  sind 
fast  alle  Gedichte  in  kleine  Abschnitte,  die  den  Strophen  des  angeblichen 
Originals  entsprechen  sollten,  eingeteilt,  was  der  äußeren  Form  der  süd- 
slavischen  Volkspoesie  keineswegs  entsprechen  würde. 

An  der  Spitze  der  Sammlung  steht  das  Gedicht  Vauhepine  de  Ve- 
liko  (1)  mit  der  einleitenden  Strophe:  »L'Aubepine  de  Veliko,  par  Ilya- 
cintlie  Maglanovich,  natif  de  Zuonigrad,  le  plus  habile  des  joueurs  de 
guzla.  Pretez  l'oreille« ').  Der  Bey  Jean  Veliko  wird  von  seinen  Feinden, 
die  aus  dem  Osten  kamen,  verfolgt;  seine  elf  Söhne  sind  im  Kampfe  ge- 
fallen, und  mit  dem  jüngsten  flüchtet  sich  der  alte  Bey  über  den  Fluß 
Mresvizza  zu  George  Estivanich,  der  mit  ihm  als  Symbol  der  Gastfreund- 
schaft Salz  und  Brot  ißt  und  seinen  neugeborenen  Sohn  auf  den  Namen 
Jean  taufen  läßt.  Doch  die  Feinde  begnügen  sich  nicht  damit,  daß  der 
Alte  das  Haus  seiner  Väter  verlassen  mußte,  sie  kommen  mit  einer  Schar 
ihrer  Leute  zu  Estivanich  und  verlangen  von  ihm  die  Auslieferung  Jeans 
und  seines  Sohnes.  Da  George  aber  die  heiligen  Gesetze  der  Gastfreund- 
schaft nicht  verletzen  will,  wird  er  von  ihnen  getötet,  und  die  P'einde 
dringen  in  das  Haus  Estivanichs.  Der  alte  Bey  fällt  unter  ihren  Säbel- 
hieben ;  sein  Sohn  wäre  auch  getötet  worden,  hätte  die  Frau  Georges  nicht 
ihren  kleinen  Sohn  Jean  an  die  Stelle  des  Alexis  Veliko  den  Feinden 
unterschoben  und  so  das  eigene  Kind  geopfert,  nur  um  den  unter  dem 
Schutze  der  Gastfreundschaft  stehenden  Sohn  Velikos  zu  retten.  Zehn 
Jahre  später  fragte  einmal  der  junge  Alexis  seine  Mutter  (denn  so  nannte 
er  die  Frau  Estivanichs,  Th^rese  Gelin),  was  die  »robes  sanglantes  sus- 
pendues  ä  la  muraille«  zu  bedeuten  haben.  »C'est  la  robe  de  ton  pero, 
Jean  Veliko,  qui  n'est  pas  encore  veng6;  c'estlarobe  de  Jean  Estivanich, 
qui  n'est  pas  venge,  parce  qu'il  n'a  pas  laisse  de  fils«2j.  Der  junge  Mann 
war  seit  dem  Tage  in  Gedanken  vertieft  —  er  kaufte  Pulver  zu  Segna, 
ging  über  Mresvizza,  tötete  die  Feinde  und  kehrte  voll  Freude  zu  seiner 
Pflegemutter  zurück:  «Enlevez,  enlevez  ces  robes  sanglantes!  Les  beys 
de  l'est  sont  morts.  Jean  et  George  sont  venges.  L'aub^pine  de  Veliko 
a  refleuri;  sa  tige  ne  perira  pas!«^). 

Nach  diesem  Gedichte  folgt  Lamort  de  Thomas II ^roi de Bosniei^). 
Die  Ungläubigen  bringen  den  Kopf  des  jungen  Etienne  auf  einer  Lanze 

1)  Guzla,  p.  145.  2)  Ib.  p.  153.  3)  Ib.  p.  154. 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  335 

gepflanzt  vor  die  Mauern  der  Stadt  Kloutch,  wo  sein  Vater  Thomas  11. 
belagert  wird.  Der  König  verfällt  in  Verzweiflung;  es  gibt  für  ihn  keine 
Hoffnung  mehr,  denn  die  Griechen  und  die  »agreables  ä  Dieu«  (in  der 
Anmerkung:  »en  illyrique  bogou-mili«)  haben  ihn  verraten.  In  einer  schlaf- 
losen Nacht  dringt  durch  den  Plafond  ein  Gespenst  ins  Zimmer  des 
Königs:  es  ist  sein  Vater  Thomas,  den  er  ermordet  hat.  »Quand  cesse- 
ras-tu  de  me  persecuter?«  fragt  der  Sohn,  und  der  Geist  antwortet: 
»Quand  tu  te  seras  remis  ä  Mahomet.«  und  der  König  ging  ins  Zelt 
Mahomets,  lehnte  den  Islam  ab,  wurde  lebendig  geschunden,  und  aus 
seiner  Haut  wurde  ein  Sattel  gemacht. 

Das  darauf  folgende  Gedicht  La  viaion  de  Thomas  11^  roi  de  Bo6- 
nie,  par  Hyacinthe  Maglanovich  (3)  hängt  inhaltlich  mit  dem  voran- 
gehenden innig  zusammen.  Voll  Sorgen  geht  Thomas  in  seinem  Zimmer 
auf  und  ab.  Alles  um  ihn  herum  schläft,  er  allein  wacht  und  beobachtet 
den  Feind.  In  dieser  Stille  «la  chouette  seule  pleure  au-dessus  de  son 
palais,  parce  qu'elle  pr^voit  que  bientöt  eile  sera  oblig^e  de  chercher  une 
autre  demeure  pour  ses  petits. «  In  der  Kirche  von  Kloutch  erschallen 
Pauken  und  Trompeten  —  der  König  geht  hin.  Auf  dem  Boden  liegen 
Leichen,  das  Blut  strömt  wie  im  Herbst  die  Wildbäche  vom  Berge  Pro- 
logh:  es  ist  das  Blut  der  Christen,  es  sind  die  Leichen  seiner  Treuen.  In 
der  Mitte  sieht  er  Türken  und  Tartaren  mit  den  Bogou-mili^  den  Rene- 
gaten. Vor  dem  Mahomet  kniet  Thomas  I.  und  reicht  seine  Krone  dem 
Feinde  des  Christentums;  es  kniet  vor  dem  Sultan  auch  der  Verräter 
Radivoi'.  Mahomet  nimmt  die  königliche  Krone,  zertritt  sie  mit  den  Füßen 
und  ernennt  Radivoi  zu  seinem  heglier-hey  über  Bosnien.  Und  der  Ver- 
räter »se  prosterna,  et  il  baisa  la  terre  inondee  de  saug«  —  darauf  wird 
ihm  ein  Kaftan  gegeben,  der  aus  der  Haut  des  bosnischen  Königs  gemacht 
ist.  Thomas  fühlt  schon  die  Hände  der  Ungläubigen,  die  ihn  schinden; 
er  sieht  schon  Radivoi,  der  sich  mit  Freuden  mit  seiner  Haut  schmückt. 
»Tu  es  juste,  mon  Dieu!  tu  punis  un  üls  parricide;  de  mon  corps  dispose 
ä  ton  grö,  mais  daigne  prendre  pitiö  de  mon  äme,  6  divin  J^sus!«^)  Die 
Vision  verschwand,  der  König  trat  aus  der  Kirche,  und  da  fiel  die  erste 
Bombe  —  das  Signal  zum  Angriff  .... 

Jje  Morlaque  ä  Ve?dse  (4)  ist  ein  rührendes  lyrisches  Gedicht. 
Dmitri  war  traurig,  weil  seine  geliebte  Prascovie  ihm  unti-eu  geworden. 
Ein  ruse  Dalmate  redete  ihm  zu,  in  die  reiche  Lagunenstadt  zu  gehen; 

1)  Guzla,  p.  164. 


336  T.  Matid, 

dort  würde  er  reich  werden,  dann  könne  er  in  die  Heimat  zurückkommen 
und  CS  würde  ihn  wohl  kein  Mädchen  zurückweisen.  Der  Morlak  hat  sich 
überreden  lassen  und  nun  ist  er  unglücklich;  ein  unübervvindbares  Heim- 
weh überfällt  ihn:  »Les  femmes  se  rient  de  moi  quand  je  parle  la  langue 
de  raon  pays,  et  ici  les  gens  de  nos  montagnes  ont  oublic?  la  leur,  aussi 
bien  que  nos  vieilles  coutumes:  je  suis  un  arbre  transplantc  en  ctö,  je 
s^che,  je  meurs. 

Dans  ma  montagne,  lorsque  je  rencontrais  un  homme,  il  me  saluait 
en  riant,  et  me  disait:  «Dieu  soit  avec  toi,  fils  d'Alexis!«  Mais  ici  je  ne 
rencontre  pas  une  figure  amie,  je  suis  comme  une  fourmi  jet6e  par  la 
brise  au  milieu  d'un  vaste  etang. « i). 

Chant  de  mort  (5)  wäre  ein  von  Hyacinthe  Maglanovich  nach  einem 
von  den  Panduren  erschossenen  Hajduken  improvisiertes  Klagelied.  Der 
Sänger  bittet  den  Toten,  seinem  verstorbenen  Vater  alles,  was  in  ihrer 
Familie  nach  dessen  Tode  vorkam,  zu  erzählen.  Dreimal  kehrt  die  refrain- 
artige Strophe  wieder:  »Adieu,  adieu,  bon  voyage!  Cette  nuit  la  lune  est 
dans  son  plein,  on  voit  clair  pour  trouver  son  chemin,  bon  voyage!« 

Seigneur  Mercure  (6)  ist  ein  ziemlich  umfangreiches  Gedicht,  wel- 
ches den  tragischen  Tod  eines  von  der  Gattin  betrogenen  Helden  erzählt. 
Mercure  muß  in  den  Krieg  gegen  Ungläubige  ziehen.  Vor  der  Abreise  gibt 
er  seiner  Gattin  Euphemie  eine  Ambraschnur:  »Prends  ce  collier  d'ambre; 
si  tu  m'es  fidele,  il  restera  entier,  si  tu  m'es  infidele,  le  fil  cassera  et  les 
grains  tomberont. «  Nach  drei  Wochen  kommt  sein  Verwandter  Spiridion 
Pietrovich  mit  der  Nachricht,  Mercure  sei  im  Kampfe  gefallen.  In  ihrer  Ver- 
zweiflung tröstet  Spiridion  die  Witwe.  »Le  chien  de  Mercure  hurlait  apres 
son  maitre,  et  son  cheval  hennisait;  mais  sa  femme  Euphemie  a  s^che  ses 
larmes,  et  la  meme  nuit  eile  a  dormi  avec  le  traitre  Spiridion.  «2)  —  Der 
König  schickt  Mercure  mit  einer  Botschaft  zur  Königin  nach  Clissa.  Beim 
See  von  Cettina  läßt  sich  Mercure  nieder,  um  ein  wenig  auszuruhen.  Auf 
dem  See  liegt  ein  dichter  Nebel,  der  aber  bald  verschwindet,  und  nun 
sieht  man  auf  dem  Wasser  Zwerge  reiten:  je  näher  sie  dem  Ufer  kommen, 
desto  größer  werden  sie  und  endlich  erreichen  sie  die  Größe  der  Gebirgs- 
bewohner von  Douare.  Einer  von  diesen  fordert  Mercure  zum  Zwei- 
kampfe heraus,  wird  aber  von  ihm  besiegt.  »Mercure,  Mercure,  Mercui-e, 
tu  m'as  vaincu,  dit  le  fantome.  Pour  ma  rancon,  je  veux  te  donner  un 
conseil:  ne  retourne  pas  dans  ta  maison,  tu  y  trouverais  la  mort.  «3). 

')  Guzla,  p.  168.  2)  Ib.  p.  175.  3)  Ib.  p.  178. 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  337 

In  der  Nacht  reist  er  beim  Mondschein  weiter  und  kommt  auf  den 
Friedhof  von  Poghosciami:  da  sieht  er  viel  Leute  um  eine  Leiche,  deren 
Kopf  mit  einem  schwarzen  Schleier  bedeckt  ist.  Auf  seine  Frage  ant- 
wortet ihm  der  chiaoua,  dies  sei  die  Leiche  des  Seigneur  Mercure.  Nach 
Hause  gekommen,  verlangt  Mercure  von  seiner  Frau  die  magische  Ambra- 
schnur —  da  diese  aber  gebrochen  war,  hatte  die  Frau  eine  ganz  gleiche 
anfertigen  lassen,  deren  Körnchen  vergiftet  waren.  Diese  Schnur  bringt 
nun  die  Gattin  und  fordert  Mercure  auf,  die  Körnchen  zu  zählen,  um 
sich  zu  überzeugen,  ob  alle  da  sind.  Mercure  zählte,  um  aber  leichter 
zählen  zu  können,  benetzte  er  von  Zeit  zu  Zeit  seine  Finger  mit  Speichel 
—  »et  le  poison  subtil  se  glissait  ä  travers  sa  peau. «  Als  er  zum  sechs- 
undsechzigsten Körnchen  kam,  sank  er  entseelt  zu  Boden. 

Les  hraves  heyduques  (7)  bezeichnet  wieder  M^rimee  als  eine  Bal- 
lade Maglanovichs,  und  zwar  aus  der  Zeit,  als  er  selbst  ein  Hajduk  war. 
Der  alte  Mladin  Christich  ist  mit  seiner  Gattin  Catherine  und  zwei  Söhnen 
von  Feinden  in  einer  Höhle  umringt.  Sie  wollen  lieber  Hunger  leiden  als 
den  Feinden  sich  übergeben.  Nach  drei  Tagen  stirbt  die  Mutter;  den 
vierten  Tag,  als  die  Sonne  das  in  den  Ritzen  der  Steine  angesammelte 
Wasser  auftrocknete,  Avurde  der  ältere  Sohn  wahnsinnig  und  schaute  auf 
die  Leiche  der  Mutter  »avec  des  yeux  comme  ceux  d'un  loup  qui  voit  un 
agneau.  (f  Alexandre,  der  jüngere  Bruder,  öfihete  sich  mit  seinem  hanzar 
eine  Ader  am  Arme  und  sagte  zum  Bruder:  )jBois  mon  sang,  Christich, 
et  ne  commets  pas  un  crime.«  Da  erhebt  sich  der  Alte:  »Enfants,  debout! 
mieux  vaut  une  balle  que  l'agonie  de  la  faim.«  Jeder  tötete  zehn  Feinde, 
jeder  wurde  von  zehn  Kugeln  in  die  Brust  getroffen. 

Im  Gegensatz  zu  diesem  düsteren  Gedichte  singt  in  dem  darauf  folgen- 
den Uamante  de  Dannisich  (8)  ein  Mädchen  von  der  Liebe,  mit  der  es 
Dannisich  liebt.  Eusebe,  Wlodimer  bringen  ihr  Geschenke,  beide  sind 
schön,  Dannisich  aber  ist  ihr  der  liebste.  «Eusebe  m'a  embrjissee,  et  j'ai 
souri ;  Wlodimer  m'a  embrassee,  il  avait  l'haleiue  douce  comme  la  violette; 
quand  Dannisich  m'embrasse,  mon  cceur  tressaille  de  plaisir. «  Dannisichs 
Guzlaspiel,  seine  Lieder  sind  die  schönsten  —  er  soll  unter  ihr  Fenster 
kommen,  mit  ihm  wird  sie  fliehen. 

»Asseyez-vous  autour  de  Jean  Bietko,  vous  tous  qui  vouloz  savoir 
l'histoire  lamentable  de  la  ])elU'  Helene  et  de  Theodore  Khonopka,  son 
mari.  Jean  Bietko  est  le  meilleur  joueur  de  guzla  que  vous  ayez  ontoudu 
et  que  vous  entendrez  jamais«  ^)  —  mit  dieser  selbstbewußten  Einladung 

1)  Guzla,  p.  187. 

Archiv  für  slavist-ho  l'liilologio.    XXVlIi.  22 


338  T.  Matic, 

fängt  das  näcljste  Gedicht  La  belle  Helene  (9)  an.  Helene  hat  als 
Mädchen  den  Ileiratsantrag  Piero  Stamatis  verschmäht  und  Theodore 
Khonopka  geheiratet  »parce  que  Theodore  ^tait  beau  et  que  Piero  (itait 
laid  et  mcchant. «  Einmal  reiste  ihr  Oatte  auf  ein  Jahr  nach  Venedig  ab ; 
da  kam  Piero  zu  Helene  mit  seinen  Liebesanträgen,  da  er  aber  kein 
Gehör  fand,  wollte  er  Gewalt  anwenden.  wHcilfene  <3tait  grande  et  folgte. 
Bien  lui  prit  d'etre  grande  et  forte  ....  Stamati  est  tombö  sur  le  dos. « 
Der  verschmähte  Liebhaber  will  sich  rächen  und  verabredet  mit  einem 
Juden,  was  sie  tun  werden.  Piero  fand  unter  einem  Grabsteine  eine  Kröte; 
deren  Kopf  wird  nun  vom  Juden  mit  Wasser  begossen  und  die  Kröte 
selbst  Jean  getauft.  »Alors  ils  ont  lard(5  le  crapaud  avec  la  pointe  de 
leurs  ataghans  jusqu'a  ce  qu'un  venin  subtil  sortit  de  toutes  les  piqüres ; 
et  ils  ont  recueilli  ce  venin  dans  une  fiole  et  l'ont  fait  boire  au  crapaud. 
Ensuite  ils  lui  ont  fait  l(5cher  un  beau  fruit.«  i).  Diese  Frucht  nun  ließ 
Stamati  der  schönen  Helene  schicken,  als  ob  es  ein  Geschenk  von  seiner 
Frau  wäre.  Nachdem  Helene  die  Frucht  gegessen  hatte,  war  ihr  so,  als 
ob  sich  in  ihrem  Bauche  eine  Schlange  regte.  Seit  diesem  Tage  fing  ihr 
Bauch  an,  allmählich  zu  schwellen.  Nach  einem  Jahr  kam  ihr  Gatte  von 
Venedig  zurück  und,  als  er  die  angebliche  Unti'eue  seiner  Gattin  sah, 
enthauptete  er  sie  mit  einem  Säbelhiebe,  obgleich  sie  ihm  versicherte,  sie 
sei  unschuldig.  Das  Kind  der  sündigen  Liebe  sei  nicht  schuld,  es  soll 
leben,  dachte  Theodore  Khonopka,  öffnete  den  Bauch  seiner  Gattin  und 
fand  eine  Kröte.  Jetzt  sah  er  ein,  was  er  getan,  hob  den  Kopf  der  Frau 
auf  und  küßte  ihn  ....  »Soudain  cette  tete  froide  a  rouvert  les  yeux, 
ses  levres  ont  tremble,  et  eile  a  dit:  »Je  suis  innocente,  mais  des  enchan- 
teurs  m'ont  ensorcelee  par  vengeance  avec  un  crapaud  noir.  Parce  que 
je  suis  restee  fidele,  Piero  Stamati  m'a  jet6  un  sort,  aide  par  un  mechant 
juif  qui  habite  dans  la  vallee  des  tombeaux.«  Alors  la  tete  a  ferme  les 
yeux,  sa  langue  s'est  glacee,  et  jamais  eile  ne  reparla«'-).  Piero  Stamati 
und  der  Jude  wurden  vom  Gatten  getötet. 

Maxime  et  Zoe  ( 1 0)  wird  wieder  als  ein  von  Hyacinthe  Maglanovich 
herrührendes  Gedicht  bezeichnet.  Jede  Nacht  kommt  vor  das  Fenster  der 
schönen  Zoe  Jellavich  ein  unbekannter  Jüngling,  der  zur  Gusle  seine  Liebe 
singt.  Der  Unbekannte  läßt  aber  nie  sein  Gesicht  sehen.  Den  Tag  über 
treibt  er  sich  jagend  im  Walde  umher  und  bringt  abends  seiner  Geliebten 
Steinbockhörner  zum  Geschenk:    »Porte  ces  cornes  avec  toi,    et  puisse 


1)  Guzla,  p.  190.  2)  Ib.  p.  195. 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  339 

Marie  te  preserver  du  mauvais  oeil!«  Endlich  fordert  ihn  das  junge  Mäd- 
chen auf,  mit  ihr  zu  entfliehen  —  er  möchte  es  gleich  in  der  Nacht,  sie 
will  es  aber  beim  hellen  Tag  zur  Zeit,  als  ihre  Hausgenossen  in  der  Kirche 
sind.  Auf  einem  weißen  Ross  kommt  der  Unbekannte;  seine  Stirne  ist 
mit  einem  Schleier  bedeckt.  Zoe  flieht  mit  ihm ;  er  fragt  sie,  ob  sie  die 
Hörner  vom  Steinbock  mitgenommen  habe.  Sie  verneint  es  und  verlangt 
von  ihm,  er  soll  doch  den  Schleier  wegnehmen  nnd  sie  anschauen.  Er 
sträubt  sich  dagegen,  da  sie  aber  hartnäckig  bei  ihrem  Verlangen  beharrt 
und  sich  vom  Roß  hinunterstürzen  will,  wirft  er  den  Schleier  weg  und 
schaut  sie  an;  ehe  er  sie  aber  umarmen  konnte,  fiel  sie  bewußtlos  zu 
Boden.  Sein  Blick  war  tötend,  denn  er  hatte  zwei  Augäpfel  in  jedem 
Auge,  er  hatte  ein  mauvais  mil. 

Das  gleiche  Grundmotiv  behandelt  auch  das  nächstfolgende  Gedicht 
Le  mauvais  mil  (1 1).  Ein  Kind  ist  schwer  krank,  seine  Mutter  sitzt  neben 
ihm  und  singt  ihm.  Sie  flucht  dem  bösen  Fremden,  der  die  Schönheit  des 
Kindes  gelobt  hat,  denn  dieses  Lob  hat  auf  das  arme  Kind  einen  Zauber 
ausgeübt  —  jetzt  ist  es  todkrank,  und  wenn  der  Fremde  da  wäre,  so 
würde  sie  ihn  zwingen,  auf  die  Stirne  des  Kindes  zu  spucken.  So  aber 
ist  sein  Onkel  nach  Starigrad  gefahren,  um  vom  Grabe  des  Heiligen  ein 
wenig  Erde  zu  bringen,  und  ihr  Vetter,  der  Bischof,  hat  ihr  eine  Reliquie 
gegeben,  die  wird  sie  um  den  Hals  des  Kindes  hängen,  und  es  wird  genesen. 

Dem  Gedichte  La  flamme  de  Perrussich^  par  Hyacinthe  Magla- 
novich  (12)  liegt  der  Gedanke  des  pohraiimsfvo  (Wahlbrüderschaft)  zu 
Grunde.  In  der  Kirche  zu  Perrussich  sclilossen  Janco  Marnavich  und 
Cyi-ille  Pervan  den  Bund  des  pobratimstvo.  Später  entstand  bei  einem 
Festmahle  ein  Streit  und  Janco  feuerte  auf  einen  von  seinen  Feinden  ab, 
erschoß  aber  seinen  pohratim  Cyrille.  Seit  dem  Tode  des  pohratim  trieb 
sich  Janco  ganz  verwildert  umher;  endlich  kam  er  in  seine  Heimat  zurück 
und  begab  sich  in  die  Kirclie  von  Perrussich,  avo  er  lauge  bitter  weinte. 
Nach  Hause  gekommen,  bat  er  in  der  Nacht  dreimal  seine  Gattin  zu 
schauen,  ob  man  in  der  Gegend  von  Perrussich  etwas  sehe.  Zuerst  sah 
sie  nichts,  dann  bemerkte  sie  im  Nebel  ein  schwaches  zitterndes  Licht 
und  endlich  sah  sie  ein  helles  Licht,  das  sich  rasch  ihrem  Hause  näherte. 
Nach  den  ersten  zwei  Antworten  betete  Janco  inbrünstig  für  die  Seele 
seines  jiohratim^  nach  der  dritten  fiel  er  tot  zu  Boden.  Die  mysteriöse 
Flamme  war  ein  Zeichen,  daß  die  Seele  des  Verstorbenen  anwesend  war. 

Das  darauffolgende  Lied  HarcaroUc  [\'.\)  ist  wirklich  nichts  anderes 
als  eine  gewöhnliche  BarcaroUe,  ohne  irgend  was  besonderes  an  sich  zu 


340  T.  Matiö, 

haben.  Dagegen  Le  combat  de  Zenitza-Velika  (14)  ist  zwar  ein  kleines 
Oedicht,  aber  doch  interessant  wegen  des  von  Mörim^e  hervorgehobenen 
Gegensatzes  zwischen  den  Dalmatinern  (den  IJewohnern  der  Küste)  und 
den  Morlaken  aus  dem  Binnenlande.  Der  Bey  BadivoT  führte  seine  Hel- 
den in  den  Kampf  gegen  Ungläubige.  j\lit  ihm  zogen  auch  Dalmatiner 
gegen  den  Feind  des  Christentums,  sobald  sie  aber  das  herannahende 
Heer  des  he(jlier-hey  von  Banialouka  sahen,  ließen  »ces  mis(;rables  pol- 
trons«  den  alten  Radivoi  im  Stiche.  Die  Morlaken  kämpften  tapfer,  aber 
der  Feind  war  weit  überlegen  an  der  Zahl.  Kadivoi  erlaubte  seinen  Hel- 
den, sich  zu  retten,  wer  nur  kann ;  er  selbst  blieb  mit  zwanzig  von  seinen 
Treuen  am  Schlachtfelde  und  ging  mit  ihnen  zu  Grunde. 

La  helle  Sophie  (15)  ist  eigentlich  ein  Hochzeitchor,  in  welchem 
abwechselnd  die  svati  (Hochzeitgäste),  Sophie,  ihr  Bräutigam  Bey  de 
Moina,  ihr  verlassener  Liebhaber  Nicöphore,  junge  Mädchen  und 
Jünglinge  au  die  Reihe  kommen.  Sophie  wurde  dem  jungen  Nicephore 
untreu  und  reichte  dem  alten,  reichen  Bey  de  Moina  ihre  Hand.  Nice- 
phore  erschießt  sich,  und  die  schöne  Sophie  stirbt  noch  in  der  Brantnacht, 
denn  ihr  Bräutigam  ist  ein  Vampir. 

Eine  Vampir-Geschichte  ist  auch  das  folgende  Gedicht  Jeannot  (16), 
welches  aber  in  einem  ganz  anderen  Tone  gehalten  ist.  Jeannot  geht  zur 
Nachtzeit  durch  einen  Friedhof  — ■  da  hört  er  etwas  nagen  und  glaubt,  es 
sei  ein  Vampir,  der  in  seinem  Grabe  fresse.  Das  einzige  Mittel  dagegen 
ist,  Erde  von  dem  betreuenden  Grabe  zu  essen;  Jeannot  bückt  sich  also 
und  will  ein  wenig  Erde  nehmen,  da  aber  der  Hund,  der  da  an  eiuem 
Knochen  nagte,  glaubt,  Jeannot  wolle  ihm  sein  Nachtmahl  wegnehmen, 
springt  er  auf  ihn  und  beißt  ihn  in  die  Wade. 

Improvisation  cVHyacintJw  Maglanovich  (17)  ist  ein  Lied,  in 
welchem  der  alte  Sänger  seine  jungen  Rivale  zu  einem  Wettgesang  auf- 
fordert: er  werde  sie  alle  besiegen.  »Qnand  le  vieux  poete  sera  mort, 
qui  osera  prendre  sa  guzla  et  en  tirer  des  sons  ?  Non,  l'on  enterre  un 
guerrier  avec  son  sabre :  Maglanovich  reposera  sous  la  terre  avec  sa  guzla 
sur  sa  poitrine«  ^). 

Cotistantin  Yacoicbovich  (IS)  führt  uns  wieder  ins  Reich  der  Ge- 
spenster. Zu  Constantin  kommt  ein  junger  verwundeter  Krieger  und 
stirbt  in  seinem  Hause;  Constantin  läßt  ihn  im  Friedhofe  begraben  »sans 
s'inquieter  si  la  terre  latine  souffrirait  daus  son  sein  le  cadavi-e  d'un  Grec 


1)  Guzla,  p.  248. 


J 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  341 

schismatique«.  Nach  einer  Woclie  erkrankt  das  Kind  Constantins;  ein 
heiliger  Einsiedler  kommt  und  bemerkt  am  Halse  des  kleinen  Kranken 
■einen  roten  Fleck,  die  Spur  vom  Zahne  eines  Vampirs.  Man  gräbt  den 
fremden  Krieger  aus  und  findet  an  seiner  Leiche  alle  Zeichen  eines 
vukodlak:  sein  Bart  und  seine  Nägel  sind  gewachsen,  sein  Mund  blutet 
und  der  ganze  Sarg  ist  tiberschwemmt  mit  Blut.  Man  will  ihn  mit  einem 
Pfahl  durchstechen,  er  schreit  aber  auf  und  entflieht  in  den  Wald.  Mit 
dem  Blut  und  der  Erde  aus  seinem  Grabe  wird  dem  Kind  der  Hals  ge- 
rieben. Noch  drei  Abende  nach  einander  kommt  der  Vampir:  zuerst  als 
ein  Riese,  dann  in  der  gewöhnlichen  Menschengröße  und  zuletzt  als  ein 
Zwerg,  jedesmal  aber  wird  er  durch  das  Gebet  des  Einsiedlers  vertrieben. 
Die  dritte  Erscheinung  ist  zugleich  die  letzte  —  das  Kind  wird  gesund. 

Impromptu  (19)  ist  ein  einfaches,  aber  sehr  anziehendes  Lied,  in 
welchem  die  Schönheit  eines  Mädchens  gepriesen  wird.  Nur  ein  paar  Zeilen 
enthält  es,  darum  werde  ich  es,  ohne  etwas  auszulassen,  hier  folgen  lassen : 
»La  neige  au  sommet  du  Prolog  n'est  pas  plus  blanche  que  n'est  ta  gorge. 
Un  ciel  sans  nuage  n'est  pas  plus  bleu  que  ne  sont  tes  yeux.  L'or  de  ton 
Collier  est  moins  brillant  que  ne  sont  tes  cheveux,  et  le  duvet  d'un  jeime 
cygne  n'est  pas  plus  doux  au  toucher.  Quand  tu  ouvres  la  bouche,  il  me 
semble  voir  des  amandes  sans  leur  peau.  Heureux  ton  mari !  Puisses-tu 
lui  donner  des  fils  qui  te  ressemblent«  ^). 

Le  Vampire  (20)  verrät  schon  durch  den  Titel  seinen  Inhalt.  In 
einem  Sumpfe  liegt  die  Leiche  des  verdammten  Venetianers,  der  Marie 
verführt  hat.    Drei  Tage  liegt  er  schon  tot,  aber  sein  Körper  ist  noch 


1)  Guzla,  p.  255.  In  Gerhard's  deutscher  Übersetzung  lautet  das  Lied: 
Schnee  vom  höchsten  Prolokgipfel 
Ist  nicht  weißer  als  dein  Busen, 
Und  ein  Himmel  ohne  Wolken 
Blauer  nicht  als  deine  Augen. 
Deiner  Kette  Gold  erglänzet 
Minder  schön  als  deine  Haare, 
Und  der  Flaum  des  Jungen  Schwanes 
Ist  nicht  weicher  anzufühlen. 
Wenn  du  deine  Lippen  öffnest, 
Seh  ich  Mandeln  ohne  Schalen. 
0  wie  glücklicli  ist  dein  Gatte! 
Möchtest  du  ihm  Söhne  schenken, 
Söhne,  die  dir,  IloUle,  gloiciion! 

(AV.  Gerhard,  Wihi.  Leipzig  1828,  v.  II.  p.  157.) 


342  T.  Matid, 

nicht  im  Verwesen  begriffen,  an  ihm  zeigen  sich  vielmehr  alle  Zeichen 
eines  Vampirs.  »Sa  barbe  a  crü,  ses  ongles  ont  pouss^;  les  corbeaux 
s'eloignent  de  lui  avec  effroi,  tandis  qu'ils  s'attachent  aux  braves  hey- 
duques  qui  jonchent  la  terre  autour  de  lui«  i).  Sein  Mund  l)lutet  —  jetzt 
soll  Marie  kommen  und  sehen,  wem  zu  Liebe  sie  ihrem  Volke  untreu  ge- 
worden —  jetzt  soll  sie  seinen  bleichen,  blutenden  Mund  küssen  .... 

La  quereile  de  Lepa  et  de  'Tchernyeyor  (21j  ist  angeblich  dem 
morlakischen  Hajdukenleben  entnommen.  Lepa  und  Tchernyegor  sind 
echte  llajduken:  j)IIs  prennent  beaucoup  d'objets  precieux  aux  riches 
faineants  des  villes;  raais  ils  sont  gönereux  pour  les  joueurs  de  guzla, 
comme  les  braves  doivent  l'eti'e;  ils  fönt  I'aumone  aux  pauvi-es.«2)  Ein- 
mal fanden  sie  in  einer  erbeuteten  Barke  ein  schönes  Brokatkleid  und 
jeder  von  beiden  wollte  es  für  seine  eigene  Gemahlin  haben;  dadurch  ent- 
stand ein  Streit,  in  welchem  Tchernyegor  den  Pagen  Lepas  erschoß.  In 
dem  darauf  folgenden  Handgemenge  Avurden  auf  beiden  Seiten  viele  Hel- 
den getötet.  Ein  alter  Joucur  de  guzla  kam  und  sah  das  schauerliche 
Bild  —  der  Alte  zerriß  in  kleine  Stückchen  das  Brokatkleid.  Die  Gegner 
gingen  auseinander:  Lepa  dachte  an  die  Rache,  weil  Tchernyegor  seinen 
Pagen  erschossen  hatte,  und  Tchernyegor  wollte  sich  ebenfalls  rächen, 
weil  er  im  Kampfe  um  einen  Mann  mehr  verloren  hatte  als  Lepa.  Dieser 
ging  nun  zu  Nastasia,  der  Frau  Tchernyegors,  nahm  sie  gefangen  nnd 
verkaufte  sie  den  Piraten,  die  sich  zufälligerweise  dort  einfanden.  Tcher- 
nyegor war  eben  nicht  zu  Hause,  weil  er  zu  derselben  Zeit  um  Yevekhi- 
mia,  die  Frau  Lepas,  ging  —  er  bot  sie  denselben  Piraten  um  600  Dukaten 
an,  sie  wollten  aber  nicht  so  viel  geben  und  sagten,  sie  hätten  soeben  um 
500  Dukaten  eine  schönere  Frau  gekauft.  Tchernyegor  gibt  Yevekhimia 
um  500  Dukaten  unter  der  Bedingung,  man  soll  ihm  diese  gekaufte  Frau 
zeigen,  und  er  erkennt  in  ihr  seine  eigene  Gattin.  Nun  versöhnten  sich 
die  beiden  Hajduken,  griffen  mit  ihren  Helden  die  Piraten  an  und  be- 
freiten ihre  Gattinnen,  vergaßen  aber  den  Piraten  den  Kaufpreis  zurück-  1 
zugeben. 

Uamant  en  houteille  (22)  erinnert  lebhaft  an  die  Zaubereien  der 
Tausend  und  einen  Nacht.  Die  schöne  Khava  von  Trebigne  will  keinem 
Manne  ihre  Liebe  schenken,  weil  sie  in  einem  Fläschchen  ihren  Geliebten 
hat  und  dieser  ihr  alles  erfüllt,  was  sie  nur  zu  wünschen  vermag.  Der 
Bischof  erfuhr  es,  ließ  dem  Mädchen  ihr  Fläschchen  nehmen,  machte  über 


1)  Guzla,  p.  258.  2)  Ib.  p.  261. 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  343 

demselben  ein  Kreuzzeichen  und  schlug  mit  einem  Hammer  darauf.  Das 
Fläschchen  ging  in  Stücke,  aber  Blut  spritzte  aus  ihm  —  Khava  schrie 
auf  und  verschied. 

Cava- Ali  le  vampire  (23)  gehört  auch  in  den  Kreis  der  Gespenster. 
Cara-Ali,  von  Basile  Kaimis  gastfreundlich  aufgenommen,  verführte  dessen 
Gattin  Jum^li  und  entfloh  mit  ihr.  Auf  der  Flucht  wurde  Ali  vom  ver- 
folgenden Gatten  erschossen;  sterbend  gab  er  Jumeli  einen  Koran.  Wer 
das  Buch  liest,  wird  reich  und  geliebt  von  Frauen,  wer  die  Seite  66  auf- 
schlägt, hat  alle  Geister  in  seiner  Macht.  Mit  diesem  Geschenke  erbat 
sich  Jumeli  Gnade  von  ihrem  Gatten.  Basile  schlug  das  Buch  auf,  es  er- 
schien Cara-Ali  als  Gespenst,  packte  den  Unglücklichen  und  biß  ihn  am 
Halse  —  er  ließ  ihn  erst  dann  frei,  als  seine  Adern  kein  Blut  mehr  hatten. 

Les  pohratimi  (24)  ist  eine  Verherrlichung  der  Wahlbrüderschaft. 
Jean  Lubovich  aus  Trau  und  Cyrille  Zborr  aus  Vorgoraz  sind  pobrafimi 
geworden.  Von  Feinden  bedroht  schickte  Cyrille  einen  Boten  zu  seinem 
Freunde  und  Jean  kam  ihm  zu  Hilfe.  Die  Feinde  wurden  fortgejagt  und 
eine  reiche  Beute  wurde  den  Wahlbrüdern  zu  teil.  Alles  teilten  sie  brü- 
derlich, da  war  aber  eine  türkische  Sklavin,  und  beide  hatten  sich  in  sie 
verliebt.  Als  ihre  Wahlbrüderschaft  daran  zu  scheitern  drohte,  zogen 
beide  ihre  hanzars  und  senkten  sie  zugleich  in  den  Busen  der  Sklavin: 
»Perisse  l'infidele  plutot  que  notre  amitie!«^) 

Hadagny  (25)  wäre  ein  Volkslied  aus  dem  montenegrinischen  Leben. 
Zwei  Stämme,  Serral  und  Ostrowicz,  bezogen  einander  mit  Krieg.  Die 
junge  Hcilfene  vom  Stamme  Serral  wurde  von  ihrem  Vater  gesendet,  die 
Lage  des  Feindes  und  seine  Stärke  zu  erspähen.  Hadagny,  der  jüngste 
unter  den  Ostrowicz,  bemerkte  den  Feind  in  der  Finsternis  und  feuerte 
ab.  Man  hörte  einen  Schrei,  und  der  Vater  Hadagnys  erkannte  an  der 
Stimme,  daß  es  eine  Frau  war.  Für  einen  Helden,  ja  sogar  für  seinen 
ganzen  Stamm  ist  es  eine  Schande,  ein  Weib  aus  dem  feindlichen  Lager 
zu  töten  —  und  Hadagny  hat  es  getan,  aber  was  noch  mehr  ist,  er  hat 
die  erschossene  Helene  Serral  geliebt.  Seit  dem  unglücklichen  Tage  ver- 
schwand er  spurlos.  —  Nach  langer  Zeit  kam  ein  schöner  junger  Mann 
in  die  Gegend  von  Ostrowicz  und  erfuhr  von  einem  Hirten  das  Unglück, 
welches  den  Stamm  seit  der  pjrmordung  Hclenens  verfolgt.  Der  alte 
Bietko,  als  er  den  Untergang  seines  Stammes  unvermeidlich  vor  sich  sah, 
stürzte  sich  von  einem  Felsen  in  den  Abgrund.    Als  der  fremde  Jüngling 

1)  Guzla,  p.  284. 


344  T.  Matic, 

(las  hörte,  seufzte  er  tief  und  in  v.'mcui  Nu  verschwand  auch  er  im  Ab- 
grunde.   Es  war  Iladagny. 

Aus  derselben  Sphäre  wäre  auch  das  folgende  (jedicht  Les  Monte- 
negrins  (26).  Napoleon  ist  fest  entschlossen,  diese  Leute,  die  sich  er- 
dreisten, ihm  zu  widerstehen,  zu  besiegen,  und  sendet  seine  Soldaten 
gegen  die  Montenegriner.  Doch  die  schlauen  (iebirgsleute  führen  die 
französischen  Truppen  irre,  indem  sie  auf  die  Lanzen  ihre  roten  Kappen 
aufsetzen,  selbst  aber  auf  die  Erde  sich  niederlegen.  Die  Franzosen 
nehmen  ihre  Kappen  als  Ziel,  so  daß  die  Montenegi-iner  ohne  eigene 
Gefahr  auf  die  Feinde  schießen  können. 

Zur  bosnischen  Gruppe  (cf.  2  u.  3)  gehört  auch  das  Gedicht  Le 
cheval  de  Thomas  II  [21).  Der  König  fragt  sein  Ross,  warum  es  weine 
und  so  traurig  wiehere.  Das  Roß  antwortet,  es  weine  darum,  weil  ihm 
der  Ungläubige  die  silbernen  Hufeisen,  die  goldenen  Nägel  und  die  sil- 
bernen Glöcklein  nehmen  und  aus  der  Haut  des  Königs  von  Bosnien  für 
dessen  Roß  einen  Sattel  machen  soll. 

In  der  ersten  Ausgabe  (1827)  folgt  auf  das  Gedicht  Le  cheval  de 
Thomas  II  gleich  Triste  hallade  de  la  noble  epouse  d^ Asan-Aga. 
Später  aber  wurden  zwischen  diese  zwei  Gedichte  noch  drei  andere  ein- 
geschaltet. Das  erste  von  diesen  Le  fusil  enchante  (28)  ist  zugleich  das 
letzte  größere  von  Mörimee  stammende  Gedicht  der  ganzen  Sammlung. 
Der  Bey  Sawa  hat  ein  Zaubergewehr,  dessen  Kugeln  alle  ohne  Ausnahme 
Tod  bringen.  Dawoiid,  der  schönste  unter  den  Bosniaques,  verstand  es, 
die  Tochter  Sawas,  die  schöne  Nastasie,  für  sich  und  seine  Liebe  zu  ge- 
winnen. In  einer  Nacht  sagte  er  ihr,  die  Hajduken  hätten  ihn,  als  er  zu 
ihr  ging,  angegriffen  und  nun  würden  sie  wohl  auf  ihn  lauern ;  wenn  er 
das  Zaubergewehr  ihres  Vaters  hätte,  würde  er  niemanden  fürchten. 
Ahnungslos  stahl  Nastasie  das  Gewehr  und  gab  es  dem  Geliebten.  Seit 
der  Nacht  wartete  sie  vergebens  auf  den  schönen  Dawoüd.  Da  sie  an  die 
Stelle  des  Zaubergewehrs  das  ganz  ähnliche  Gewehr  Dawoüds.  gestellt 
hatte,  bemerkte  ihr  Vater  den  Betrug  nicht.  Eines  Tages  drangen  die 
Ungläubigen  in  die  Gegend  Sawas  ein  und  an  ihrer  Spitze  war  Dawoüd- 
Aga.  Der  alte  Bey  zog  gegen  die  Feinde ;  im  kritischen  Momente  versagte 
sein  Gewehr  imd  er  wurde  von  Dawoüd  erschossen.  Man  enthauptete  ihn 
und  trug  seinen  Kopf  auf  einer  Lanze  umher.  Nastasie  sah  es,  aber  sie 
weinte  nicht;  sie  zog  die  Rüstung  ihres  Bruders  an  und  ging  auf  Dawoüd 
los.  Vom  Zaubergewehr  wurde  auch  sie  nicht  verschont,  und  einer  von 
den  Ungläubigen  brachte  ihren  Kopf  zu  Dawoüd.    Der  junge  Aga  er- 


Prosper  Merimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  345 

kannte  sie  und  brach  in  bittere  Klagen  aus.  Das  Zaubergewehr  warf  er 
in  den  Brunnen  von  Vostina. 

Es  folgt  jetzt  ein  Le  ban  de  Croatie  (29)  betiteltes  Gedicht,  in 
welchem  von  einem  Banus  erzählt  wird,  der  auf  dem  linken  Ohre  taub 
und  auf  dem  rechten  Auge  blind  war:  mit  dem  linken  Ohr  hörte  er  die 
Klagen  der  Vojvoden  an  und  mit  dem  rechten  Auge  schaute  er  das  Elend 
des  Volkes.  Den  reichen  Humanay-Bey  und  den  vowcode  Zambolich  ließ 
der  Banus  enthaupten  und  nahm  ihre  Güter  für  sich.  Ihre  Geister  aber 
geben  ihm  keine  Ruhe:  jede  Nacht  kommen  sie,  verbeugen  sich  vor  dem 
Banus,  und  dann  fallen  ihre  Köpfe  auf  den  Teppich.  Endlich  forderten 
sie  einmal  den  Banus  auf,  er  möge  ihren  Gruß  erwidern.  Zitternd  erhob 
sich  der  Banus,  verbeugte  sich  —  und  sein  Kopf  rollte  auch  auf  den 
Teppich  hinunter. 

Vheyduque  mourant  (30)  ist  das  letzte  von  den  drei  nachträglich 
eingeschalteten  Gedichten.  Gabriel  Zapol  liegt  im  Sterben  und  bittet  einen 
weißen  Adler,  er  möge  seine  leere  Patrontasche  zu  seinem  Bnider  ti'agen, 
damit  er  ihn  räche  und  den  Pandur  Botzai  töte.  Das  gestickte  Tuch  soll 
der  Adler  zur  schönen  Khava  tragen,  sie  möge  den  verstorbenen  Geliebten 
beweinen.  Der  Adler  erfüllte  den  Wunsch  des  Sterbenden :  seinen  Bruder 
George  fand  er  von  Branntwein  betrunken  imd  seine  geliebte  Khava 
feierte  gerade  ihre  Vermählung  mit  Botzai. 

Die  von  M^rim^e  stammenden  Balladen  sind  damit  zu  Ende,  denn 
sowohl  die  Triste  hallade  (31)  als  das  in  der  späteren  Ausgabe  hinzu- 
getretene Gedicht  Milosch  Kobilich  (32)  beruhen  —  wie  es  schon  er- 
wähnt wurde  —  in  der  Tat  auf  kroatischen  Originalen.  Da  ich  diesen 
zwei  Gedichten  je  ein  besonderes  Kapitel  widmen  werde,  verzichte  ich  hier 
auf  alle  weitere  Bemerkungen. 

III. 

Giizla  kann  also  nur  als  ein  Produkt  Merim(5cs  gelten  und  nur  als 
solches  darf  sie  in  der  Literaturgeschichte  beurteilt  werden.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  müssen  wir  dem  Dichter  unsere  voUe  Anerkennung 
zollen.  Einfach  und  vielfiich  doch  ergreifend  schön  gehören  gerade  diese 
Gedichte  zu  den  schönsten  Produkten  der  Mdi'imöescheu  Muse.  Es  ist 
eine  beachtenswerte  Erscheinung,  daß  die  Mystitikatoren  sich  selir  oft 
als  begabte  Dichter  gezeigt  haben,  und  wenn  auch  ihre  AVerkc  schon 
längst  niclit  mehr  für  das  gehalten  werden,  wofür  sie  ihre  Autoren  gelten 
lassen  wollton,  so  werden  sie  jedoch  als  Produkte  moderner  Dichter  ge- 


346  T.  Matiö, 

schätzt  (Ossian,  Koniglnhofer  Handschrift .  Dasselbe  kann  man  auch 
von  Mdrimees  (Juzla  mit  vollem  Rechte  sagen.  Sowohl  :ius  dem  Stile  als 
aus  der  Form  (Prosa  in  kleine  den  Strophen  des  angeblichen  Originals 
entsprechende  Abschnitte  eingeteilt)  ersieht  man,  dati  Merimöe  insbeson- 
dere Nodier  vor  Augen  schwebte.  Wer  aber  nur  oberlläddich  die  kroa- 
tische Volkspocsie  kennt,  wird  den  Balladen  der  (Juzla  auch  bei  einer 
flüchtigen  Lektüre  den  südslavischen  volkstümlichen  Charakter  absprechen . 
Doch  das  wird  Merimee  niemand  leugnen,  daß  er  den  Ton,  der  in  der 
romantischen  Zeit,  insbesondere  unter  dem  Einflüsse  der  nebelhaften  Bal- 
laden Ossians,  eminent  für  volkstümlich  galt,  vorti-efflich  getroß"en  hatte. 
Einige  unter  den  Balladen  Merimees  sind  in  ihrer  Schönheit  einfach  und 
naiv  —  und  heute  noch,  nachdem  man  die  Volkspoesie  der  verschiedensten 
Nationen  einem  eingehenden  Studium  unterzogen  hat,  gelten  gerade  die 
Einfachheit  und  die  Naivetät  als  die  hervorragendsten  Merkmale  der 
volkstümlichen  Produkte. 

Die  Irreführung  Bowrings,  Gerhards  und  Puskins  mag  an  und  für 
sich  beachtenswert  und  interessant  sein,  doch  meines  Erachtens  geht  Filon 
entschieden  zu  weit,  wenn  er  in  Bezug  auf  Puskin  sagt:  »Ce  fait  donne 
a.  reflechir.  Lorsque  le  genie  d'une  grande  race,  represente  par  son  poete 
le  plus  illustre,  se  reconnait  dans  une  manifestation  littöraire,  personne 
n'a  plus  le  droit  de  mepriser  cette  manifestation,  pas  meme  celui  qui  en 
est  l'auteur«!).  Der  geniale  russische  Dichter  war  eben  in  dieser  Be- 
ziehung auch  ein  Kind  seiner  Zeit. 

In  der  Vorrede  zur  zweiten  Ausgabe  der  Guzla  spottete  Merimee 
selbst  über  seine  Mystifikation  und  insbesondere  über  die  couleur  locale 
seiner  illyi'ischen  Balladen.  An  diese  Verurteilung  der  Guzla  seitens  des 
Autors  selbst  dachte  Filon,  als  er  das  eben  zitierte  Urteil  über  das  Werk 
Merimees  fällte.  Um  das  Jahr  1S40  hatte  der  Dichter  die  romantischen 
Ideale  seiner  Jugend  aufgegeben.  Es  kommt  zwar  nicht  so  selten  vor, 
daß  die  Menschen  gerade  über  die  Ideale  ihrer  Jugend  lachen,  es  soll 
aber  bei  Merimee  noch  etwas  dagewesen  sein,  was  ihn  insbesondere  ver- 
anlaßte,  den  Bruch  mit  seiner  literarischen  Vergangenheit  möglichst  stark 
hervortreten  zu  lassen  —  Filon  weist  auf  Merimees  Kandidaturen  in  der 
Academie  fr  an  gaise  hin  2] . 

Merimee  kannte  die  kroatische  Volkspoesie  nicht.  Wie  er  selbst  im 
Briefe  an  Sobolevskij  und  in  der  Vorrede  zur  zweiten  Ausgabe  gesteht, 

>)  Filou,  o.  c.  29.  2)  Ib.  28. 


Prosper  M^rimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  347 

war  seine  Hauptqiielle  die  bekannte  Reisebeschreibimg  des  Abbe  Fortis, 
die  im  Jahre  17  74  unter  dem  Titel  Viaggio  in  Dalmazia  zu  Venedig  in 
zwei  Bänden  erschien.  In  diesem  Werke  befaßte  sich  der  Autor  haupt- 
sächlich mit  den  Sachen,  die  vom  naturwissenschaftlichen  Standpunkte 
von  Interesse  sind,  vergaß  aber  nicht  das  Land  und  die  Leute,  da  er  im 
I.  Bande  (p.  43 — -105)  ein  verhältnismäßig  treues  und  unparteiisches  Bild 
des  Lebens  unseres  Volkes  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVIII.  Jhs.  entwarf. 
Es  muß  besonders  hervorgehoben  werden,  daß  Fortis,  der  selbst  ein  Ita- 
liener, also  ein  Fremder  war,  sich  von  den  Vorurteilen  seiner  Zeit  über 
die  »wilden  Morlakena  nicht  hinreißen  ließ,  denselben  vielmehr  energisch 
entgegentrat  und  trachtete,  frei  von  den  Vorurteilen  unsere  dalmatinische 
Landbevölkerung  kennen  zu  lernen  und  das  Wahrgenommene  treu  darzu- 
stellen. Merimee  hatte  sich  also  —  wohl  ohne  eigenes  Verdienst  —  einen 
guten  Führer  gewählt,  beschränkte  sich  aber  keineswegs  auf  das  von 
Fortis  Gebotene,  sondern  ließ  seiner  Phantasie  volle  Freiheit:  fügte  so 
manches  Neue  hinzu  und  gestaltete  das  Alte  so  um,  daß  man  es  stellen- 
weise kaum  wieder  zu  erkennen  vermag. 

Schon  aus  den  Inhaltsangaben  wird  man  wohl  bemerkt  haben,  daß 
die  Personennamen  der  Guzla  den  Südslaven  meistens  fremd  sind.  Ein 
paar  Namen  wurden  dem  Viaggio  entnommen,  folglich  sind  diese  wirk- 
lich kroatischen  Ursprungs,  z.  B.  Marnavich,  Pervan,  Janco  usw.  Auf- 
fallend ist  die  Tatsache,  daß  unverhältnismäßig  viele  Namen  an  die  üb- 
lichen russischen  Personennamen  erinnern:  Alexis,  Fedor,  Prascovie, 
Dmitri,  Spiridion,  Pietrovich,  Alexandre,  Wlodimer,  Nastasia  usw.  Es 
kommt  da  einem  unwillkürlich  in  den  Sinn,  daß  Merimee  mehrere  Werke 
Puskins,  Gogoljs  und  Turgenevs  ins  Französische  übersetzte;  doch  die 
russischen  Namen  in  der  Guzla  kann  man  damit  nicht  in  Zusammenhang 
bringen,  weil  die  russischen  Studien  M6rim6es  in  eine  viel  spätere  Zeit 
fjillen,  denn  aus  der  Korrespondenz  Merimees  geht  hervor,  daß  er  erst 
184S  russisch  zu  lernen  anfing.  »J'apprends  le  russe«  schreibt  er  im 
Dezember  1S48  und  fügt  hinzu:  ».  .  .  .  cela  me  servira  peut-etre  a  parier 
aux  Cosaques  dans  les  Tuileries«!).  Fast  ebenso  zahlreich  wie  die  russi- 
schen sind  andere  Namen,  die  —  sehr  oft  dunklen  Ursprungs  —  manch- 
mal recht  sonderbar  klingen:  Stamati,  MoTna,  Valathiano,  Ziani,  Kaimis, 
Chipila,  Hadagny,  Guntzar  Wossieratsch,  Delhi,  Dawoüd,  Botzai  usw. 
Sowohl  die  einen  als  die  anderen  Namen  hat  ]\[erimce  ganz  zufällig  bald 

1)  Filon,  o.  c.  141. 


348  T.  Matid, 

diesem  bald  jenem  Buche  entnommen,  ohne  darauf  zu  achten,  ob  diese 
Namen  iji  «eine  xillyrisclien»  Balladen  recht  passen  —  so  z.  B.  hat  er  in 
dem  Werke  Balthasar  Bekkers  Le  monde  ciir/iante  (Amsterdam  1G'J4) 
eine  Geistergeschichte  gefunden,  die  sich  in  Polen  1597  zugetragen  haben 
solP)  und  in  der  ein  weiblicher  Käme  Bietka  \orkommt;  oline  Bedenken 
macht  Merimee  daraus  einen  männlichen  Kamen  Bietko  und  gilit  ihn  al.s 
Zunamen  dem  ill3a*ischen  Sänger,  von  dem  er  angeblich  die  Ballade  La 
belle  Helene  gehört  hätte.  In  Iladacpiy  wieder  wird  ein  alter  Montene- 
griner mit  diesem  Namen  benannt.  Die  Personennamen  zeigen  uns  also, 
daß  M(5nm6e  sich  keine  Mühe  gab,  wenigstens  dem  Äußeren  seiner  Balla- 
den einen  wirklich  »illyrischen«  Charakter  zu  verleihen.  Natürlich,  bei 
Fortis  fand  er  der  Natur  des  Viur/gio  entsprechend  nicht  so  viele  Namen, 
als  er  notwendig  hatte,  und  nahm  deswegen  sein  Gut,  wo  er  es  eben  fand. 
Nur  so  ist  es  begreiflich,  daß  seine  Balladen,  während  sie  in  den  Personen- 
namen sich  ganz  frei  bewegen,  in  den  geographischen  Benennungen  und 
der  Lokalisation  der  Gedichte  ziemlich  genau  sind.  Fortis  hat  selbst- 
verständlich die  zum  Zwecke  der  naturwissenschaftlichen  Stndien  bereisten 
Gegenden  in  seinem  Viaggio  genau  beschrieben  und  dem  Werke  sogar 
zwei  geographische  Karten  üalmatiens  Ijeigegeben,  sodaß  M(5rim^e  in 
dieser  Beziehung  in  gar  keiner  Verlegenheit  war.  Es  kommen  zwar  einige 
Namen,  die  ich  weder  auf  den  Karten  Fortis  noch  sonst  in  den  neueren 
statistischen  Publikationen  und  geographischen  Spezialkarten  konstatieren 
konnte,  ihre  Zahl  aber  ist  ganz  klein:  Tchaplissa  (170;  Caplina?),  Jemizza 
(ein Binnenfluß  176),  Vrachina  (237),  Stavila(256),  Vostina(300;  Vostane 
in  der  Gemeinde  Sin?),  Poghosciami  (179;  ich  habe  an  Fortis"  Pacostiane 
unweit  des  Vrana-Sees  gedacht,  doch  diese  Annahme  stimmt  mit  der  sonst 
geographisch  genau  angegebenen  Reise  des  Seigneur  Mercure  im  gleich- 
namigen Gedichte  nicht  überein,  denn  nach  derselben  müßte  sich  dieses 
Dorf  Poghosciami  irgendwo  in  der  Nähe  des  Flusses  Cetina  in  der  Rich- 
tung gegen  Klis  befinden).  Sonst  aber  bewegte  sich  Merimee  im  Anschluß 
an  die  geographischen  Karten  Fortis  auf  dem  ihm  selbst  unbekannten 
Boden  ziemlich  sicher.  Eines  ist  aber  in  dieser  Beziehung  auffallend  — 
es  gibt  unter  seinen  Balladen  auch  solche,  deren  Handlung  nicht  in  Dal- 
matien  vor  sich  geht,  sondei-n  in  das  benachbarte  Kroatien  und  Bosnien 
hinübergreift  und  somit  den  geographischen  Rahmen  des  Werkes  Fortis 
überschreitet;  so  z.  B.  gleich  das  erste  Gedicht  Uauhepine  de  Veliko 


1)  Cf.  Guzla,  p.  271. 


Prosper  M^rimee's  Mystifikation  kroat.  Volkslieder.  349 

spielt  in  Kroatien  und  mit  ein  wenig  Kombination  kann  man  es  ziemlich 
genau  zwischen  Glina  und  Sen  lokalisieren.  Daraus  aber  folgt,  daß 
Merimee  sich  auch  über  Kroatien  etwas  genauer  unterrichtet  hatte,  und 
da  wird  er  wohl  die  in  der  Vorrede  zur  zweiten  Ausgabe  der  Guzla  in 
ganz  allgemeinen  Ausdrücken  erwähnte,  von  einem  Sektionschef  im 
französischen  auswärtigen  Ministerium  verfaßte  Statistik  der  illyrischen 
Provinzen  benützt  haben.  Meine  Bemühungen,  diese  » statistique  des  an- 
ciennes  provinces  illyriennes«  ausfindig  zu  machen,  blieben  erfolglos  ^j. 
Was  die  Volkssitten  und  den  Aberglauben  anbelangt,  da  war  natür- 
lich wieder  Fortis  die  Hauptquelle  Merimees.  Alles,  was  der  italienische 
Forscher  über  die  Sitten  der  Morlaken  und  ihre  Lebensweise  erzählt,  hat 
Merimee  ziemlich  geschickt  zu  verwerten  verstanden,  nur  hat  er  vielfach 
manches  — jedenfalls  um  seinen  « illyrischen « Balladenein  recht  exotisches 
Aussehen  zu  verleihen  —  übertrieben  und  mit  seinen  manchmal  baroken 
Zusätzen  ausgeschmückt.  Wenn  der  Dichter  glaubte,  daß  irgend  eine  auf 
die  morlakischen  Sitten  sich  beziehende  Stelle  der  Guzla  dem  west- 
europäischen Leser  unklar  sein  könnte  oder  daß  die  betreffende  Sitte 
schon  an  und  für  sich  verdiene,  hervorgehoben  und  näher  beschrieben  zu 
werden,  so  gab  er  darüber  in  besonderen  am  Ende  des  Gedichtes  sich 
befindenden  Anmerkungen  genaue  Aufklärungen  und  sehr  oft  eine  aus- 
führliche Beschreibung  der  ganzen  Sitte  —  selbstverständlich,  immer 
nach  Fortis,  sodaß  er  ihm  öfters  Wort  für  Wort  folgt.  Ich  glaube,  daß 
die  Irreführung  Gerhards  und  Puskins  eben  darauf  zurückzuführen  ist, 
daß  Merimee  die  wirklich  bestehenden  Sitten  und  Gebräuche  der  Süd- 
slaven mit  den  reellen  geogi'aphischen  Namen  und  den  meistens  doch 
slavisch  klingenden  Personennamen  zu  verflechten  verstand  und  dadurch 


1)  Im  Briefe  an  Sobolevskij  (1835)  erwähnt  Merimee  als  seine  Quelle 
neben  dem  Viacjgio  Fortis'  »une  petite  brocliure  d'iin  consul  de  France  ä  Ba- 
nialouka.  J'en  ai  oublie  le  titro,  Tanalyse  en  serait  facile.  L'auteur  cherche 
a  prouver  que  les  Bosniaques  sont  de  fiers  oochous,  et  il  eu  donne  d'assex 
bonnes  raisons.  II  cite  par-ci  par-lä  quelques  mots  illyriques  pour  faire  paradc 
de  son  savoir  (il  en  savait  peut-Ctre  autant  que  moi\  J'ai  recueilli  ces  mots 
avec  soin  et  je  les  ai  mis  dans  mes  notes«.  In  seinem  bereits  zitierten  Auf- 
satze (CpncKH  khjU>kcbhii  r.aaci[UK  IV,  5,  pag.  364)  weist  Dr.  Skerlic  auf  das  1S22 
zu  Paris  erschienene  Buch  Voi/age  en  Bosnie  dans  les  annees  ISU7  et  ISOS,  pur 
AmecUe  Cltaumettc-Des-Fosses.  In  der  Zeitschrift  Zora  (Mostar  1^98)  referiert 
Dr.  M.  Vesnic  über  eine  in  der  Hofbibliotlick  zu  Koponhai}:on  befindliche  Ab- 
schrift dieses  Werkes  und  bezeichnet  dessen  Inlialt  als  interessant,  ohne  aber 
etwas  davon  mitzuteilen.   Mir  war  das  AVcrk  nicht  zueräni'lich. 


350  'i'-  Matic, 

dem  ohnehin  schon  naiven  Ton  seiner  Gedichte  einen  anscheinend  süd- 
slavischen  volkstiimliclien  Charakter  verlieh.  Denn  sonst  wäre  es  doch 
auffallend,  wie  Uerliard,  der  doch  vorher  mit  8ima  Milutinovic-  ziemlich 
viel  aus  den  serbischen  Volksliedern,  dem  liazgovor  Karies  und  der 
Serhijaulia  Milutinovic^s  übersetzt  hatte,  folglich  auch  die  serbische  oder 
kroatische  Volkspoesie  kannte,  sich  dazu  bätte  verleiten  lassen,  nebst  den 
wirklich  volkstümlichen  Gedichten  auch  die  Übersetzungen  der  lialladen 
Mörimees  in  seiner  Wila  zu  ver(iffentliclien. 

In  den  Anmerkungen  zum  ersten  Gedichte  der  Sammlung  erwähnt 
Mdrimöe  die  Rache  und  sagt,  sie  werde  bei  den  Morlaken  als  eine  heilige 
Pflicht  betrachtet,  zitiert  das  Sprichwort:  wKo  ue  ae  osveti  onnc  ne  po- 
sveti«  und  fügt  hinzu:  »Osveta,  en  illyrique,  signifie  vengeance  et  sancti- 
ficatioutf  —  alles  bis  auf  die  kleinsten  Fehler  treu  nach  Fortis  (I.  60; 
cf.  Guzla  154  u.  263).  Ganz  so  verhält  es  sich  mit  dem  Mädchenraub 
(otmica;  Fortis  68,  MMmöe  171),  den  Amuletten  (zapis;  F.  66,  M.  174), 
der  sonderbaren  Weise,  wie  die  Panduren  ihre  Gefangenen  ins  Gefängnis 
führen,  indem  sie  ihnen  die  Hosen  bis  auf  die  Knie  fallen  lassen,  damit 
sie  nicht  entfliehen  können  (F.  54,  M.  1S3).  Die  Hochzeitsbräuche  und 
überhaupt  die  gesellschaftliche  Stellung  der  Frauen  bei  den  Morlaken 
sind  ebenfalls  nach  Fortis  dargestellt  (F.  56,  67 — 6S,  74 — 76,  78,  80; 
M.  184—185,  238—239,  242—243,  249).  Sowohl  in  den  Balladen 
Merimdes  als  im  Werke  seines  italienischen  Meisters  finden  wir  manche 
Sitten,  die  heute  —  wenn  sie  vielleicht  auch  wo  bestehen  - — ■  doch  wenig- 
stens nicht  so  allgemein  zu  sein  scheinen,  wie  es  in  der  zweiten  Hälfte 
des  XVni.  Jhs.  nach  Fortis  der  Fall  wäre.  So  sagt  in  der  Ballade  il/wa;/me 
et  Zoe  das  heiratslustige  Mädchen:  ».  .  .  .  il  y  a  longtemps  que  je  porte 
des  opanke;  je  veux  avoir  des  pautoufles  brodees«  und  der  Dichter  be- 
merkt dazu:  «Allusion  ä  la  coutume  qui  oblige  les  filles  ä  porter  cette 
espece  de  chaussure  grossiere  avant  leur  mariage.  Plus  tard  elles  peuvent 
avoir  des  pantoufles  comme  Celles  des  femmes  turques«.^)  Die  Bemerkung 
beruht  natürlich  auf  Fortis  ^j.  Im  Anschluß  an  die  Ballade  La  ßamme 
de  Perrussich  wird  in  einer  ziemlich  umfangreichen  Anmerkung  die 
Wahlbrüderschaft  geschildert  (cf.  Fortis  58),  wobei  unser  Dichter  die  in 
Viaggio  nebenbei  erwähnte  Chiesa  di  Perrussich  die  Titelrolle  spielen  läßt. 

1)  Guzla,  p.  203.  -]  Lovrich  tritt  in  seinen  Osservazioni  dieser 

Behauptung  Fortis'  ganz  entschieden  entgegen.  A^on  einem  halbgebildeten 
Manne  hörte  ich,  diese  Sitte  bestehe  in  Konavli,  doch  Herr  Vid  Vuletic- 
Vukasovic  versicherte  mir  das  Gegenteil. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Kritischer  Anzeiger. 


Die  serbokroatische  Volkspoesie  in  der  deutsclien  Literatur. 

1)  Dr.  Milan  Curciu,  Das  serbische  Volkslied  in  der  deutsehen 
Literatur.  Leipzig-  1905.  8».  220  S. 

2}  Peterostopni   (srpski)   trohej.     Srpski   Kiiizevni   Glasnik 

B.  XV.  Heft  6,  7,  8,  S.  442—451,  527—531,  604—1)13.  Bel- 
grad 1905. 

3)  Camilla  Lucerna,  Die  südslavische  Ballade  von  Asan  Agas 
Gattin  und  ihre  Nachbildung  durch  Goethe.  Berlin  1905 
(u.  a.  T. :  Forschungen  zur  neueren  Literaturgeschichte, 
herausgeg.  von  Dr.  Franz  Muncker,  XXVIII). 

Ein  ungemein  anziehendes  und  dank- 
bares Thema  wählte  sich  Curcin  zum 
Gegenstände  einer  Wiener  germanisti- 
schen Dolitordissertation,  welche  deutlich 
die  Schule  R.  Heinzel's  und  J.  Minor's 
verrät  und  über  das  übliche  Maß  solcher 
Arbeiten  weit  hinausgeht.  Mit  außer- 
ordentlichem Fleiß  und  richtigem  Ver- 
ständnis sichtete  und  bearbeitete  6.  die 
umfangreiche  deutsche  Literatur  über 
die  »morlackischen«  Stücke  in  Herder's 
»Volksliedern«,  über  das  erste  serbo- 
kroatische Volkslied,  das  durch  Goethe's 
Nachbildung  ein  Bestandteil  der  Welt- 
literatur geworden  ist,  über  das  unge- 
wöhnliche Interesse,  das  die  serbischen 
Volkslieder  in  der  Sammlung  von  Vuk 
Karadzic  in  Deutschland,  speziell  bei 
Jakob  Grimm  und  Goethe  erregton, 
über  die  Übersetzungen  des  Frl.  Talvj 
und  W.  Gerhardts,  die  eine  europäische  Begeisterung  für  das  serbische 
Volkslied  zur  Folge  hatten,  und  würdigt  noch  kurz  die  übrigen  Übersetzer 
in  deutscher  Sprache  (Wesely,  Goetze,  L.  A.  Frank),  Siegfried  Kapper 
und  J.  N.  Vogl).  Slavischen  Philologen  sei  daher  die  zusammenfassende  Ar- 
beit C.'s,  abgesehen  von  dem  Interesse,  das  sie  für  sie  besitzt,  auch  deshalb 


/^^!^^^^^>^^^^ 


352  Kritischer  Anzeiger. 

empfohlen,  weil  sie  daraus  lernen  können,  wie  die  deutsche  Literaturge- 
Bchiclite  gepflegt  wird,  ('.'.'s  Darstellung  zeigt  auch,  daß  das  Interesse  für  das 
Volkslied  der  Kroaten  und  Herben  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVIII.  und  in 
der  ersten  desXIX.Jalirh.ini  innigsten  Zusaninienhang  mit  den  europäischen 
(ieistesströnuingen  steht,  während  die  Produkte  der  Volk-smuse  von  den  Ein- 
heimischen im  Zeitalter  der  Aufklärung  und  sogar  der  Romantik  vielfacli 
gering  geschätzt  wurden,  was  des  Kontrastes  wegen  mehr  hervorgehoben  zu 
werden  verdiente.  Allerdings  fand  (^.  in  der  deutschen  Literatur  auch  viel 
Verkehrtes  vor  (Unglaubliches  haben  z.  B.  der  Redakteur  der  Ilerderscheu 
Volkslieder  in  der  Henipel'schen  Ausgabe  oder  verschiedene  Herausgeber 
und  Kommentatoren  des  Klaggesanges  geleistet,  vgl.  besonders  S.  3.'j,  84,, 
was  er  als  Serbe,  der  sich  auch  in  der  slavischen  Literatur  umgesehen  hat, 
berichtigen,  vieles  aber  neu  erklären  konnte.  An  seiner  Vermittlerrolle  — 
das  sei  gleich  bemerkt  —  hat  der  Slavist  allerdings  sehr  viel  auszusetzen. 

Wenn  schon  in  C.'s  Arbeit  die  Goethe-Philologie  den  Löwenanteil  da- 
vonträgt, so  will  die  Monographie  des  Frl.  Lucerna  Lehrerin  am  Landcs- 
Mädchenlyzeum  zu  Agrara)  über  Goethe's  »Klaggesang  von  der  edlen  Frauen 
des  Asan  Aga«,  die  J.  Minor'«  Anregung  zu  verdanken  ist,  nur  »in  dieses 
entlegene  Winkelchen«  derselben  »eine  etwas  größere  Klarheit«  hineintragen, 
und  die  Verfasserin  hegt  die  Hoffnung,  »gleichzeitig  einem  edlen  und  mäch- 
tigen poetischen  Motiv  zu  seinem  Recht  auf  Verständnis  verholfen  zu  haben«. 
Das  ist  ihr  »mit  Hilfe  höchst  schätzbarer  Vorarbeiten«  in  der  Tat  gelungen'), 
denn  namentlich  in  Bezug  auf  die  künstlerische  Auffassung  des  »Klag- 
gesanges«, für  die  sie  auch  in  dem  Agramer  Ästhetiker  Fr.  Markovic  einen 
Führer  hatte,  übertrifft  sie  (vgl.  namentlich  die  Kapitel  über  das  Metrum,  die 
zusammenfassenden  Bemerkungen  über  das  Verhältnis  der  Nachbildung  zur 
Vorlage  [S.  34 — 37],  Erläuterung  und  Gliederung  des  Inhaltes)  die  Vorgänger 
und  hebt  richtig  hervor,  daß  das  Lied  sich  von  Anfang  an  deshalb  einer  solchen 
Wertschätzung  zu  erfreuen  hatte,  weil  es  ein  neues  tragisches  Motiv  (2)  und 
»einen  Beitrag  zur  Entwickelungsgeschichte  der  Gefühle«  (42,  enthielt.  Ihre 
feinsinnige  Erläuterung  des  Inhaltes  kommt  zu  dem  Schluß  (46):  »So  um- 
schließt das  Lied  von  der  edlen  Frau  des  Asan  Aga  nicht  allein  die  Tragödie 
des  gebundenen  Weibes,  sondern  auch  die  Tragödie  des  Mannes,  der  im 
Widerspruch  mit  der  herrschenden  Sitte,  von  seinem  Weibe  nicht  leidenden 
Gehorsam,  sondern  tätige  Liebe,  nicht  die  Form,  sondern  die  Seele  begehrt«. 
Mit  der  ersten  selbständig  erschienenen  Arbeit  (die  »Izvestija«  des  Seminars 
für  slavische  Philologie  in  Sophia  für  die  J.  1904  und  190-5  bringen  auch  drei 
Beiträge  von  zwei  Studentinnen)  hat  diese  Kroatin  die  südslavischen  Frauen 
in  die  slavische  Philologie  entschieden  gut  eingeführt. 

Ich  kann  hier  auf  den  Inhalt  der  beidea Schriften  natürlich  nur  insoweit 


1)  Ungerecht  ist  das  Urteil  im  »Savremenik«  I.  307 — 309  und  »Nastavni 
Vjesnik«  XIV.  539,  wenn  im  Vergleich  zu  ihrer  Schrift  der  »wissenschaftliche 
Charakter«  der  Arbeit  C.'s  gerühmt  wird,  denn  auch  L.  kann  man  ihn  nicht 
absprechen. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  353 

eingehen,  als  sie  die  slaviscbe  Philologie  berühren  i),  und  will  meinen  Bemer- 
kungen auch  verschiedene  Ergänzungen  hinzufügen. 

Zur  Entdeckungsgeschichte  der  südslavischen  Nationalpoesie  sei  er- 
wähnt, daß  C.  (38 — 39)  und  L.  (58)  allzu  schüchtern  darauf  verweisen,  daß  der 
Wiener  Nachahmer  Klopstocks,  M.  Denis,  seine  ersten  Nachrichten  über  die 
»illyrischen  Barden«  dem  lateinischen  Übersetzer  2j  und  Fortsetzer  Kacic's, 
Emerich  Pavic  (Descriptio  .  .  .  heroum  Slavinorum  seu  Illyricorum,  Budae 
1764,  Supplementum  .  .  1768)  zu  verdanken  hat,  denn  eine  andere  als  diese 
aktuelle  Quelle  konnte  er  1768  über  die  geschichtlichen  Gesänge  der  gens 
Illyrica  nicht  haben.  Mit  dem  ragusanischen  Lateindichter,  dem  Canonicus 
P.  Feric,  trat  jedoch  Denis  nicht  sofort  in  Verbindung.  Die  von  6.  in  das 
Jahr  1797  versetzte  Ad  clarissimum  virum  Michaelem  Denisium  Vindelicum 
Georgii  Ferrich  Epistola,  wird  von  Appendini,  Ljubic  und  dem  Biographen 
Feric's,  T.  Chersa,  in  das  Jahr  1798  (gedruckt  in  Wien)  verlegt  3),  ist  aber  bis- 
her nur  in  einem  Kagusaner  Nachdruck  vom  J.  1824  bekannt,  der  mir  in  der 
Agramer  Universitätsbibliothek  in  die  Hände  kam,  unterdessen  aber  bereits 
von  J.Kasumovic*)  beschrieben  worden  ist.  Daß  wir  es  mit  einem  Nachdruck 
zu  tun  haben,  obwohl  das  nicht  gesagt  wird,  folgt  daraus,  daß  Denis  1800 
und  Ferid  1820  gestorben  ist.  Die  Epistel  scheint  hauptsächlich  den  Zweck 
zu  verfolgen,  das  an  Österreich  (lene  .  .  .  Francisci  Imperium  S.  4)  heimge- 
fallene Dalmatien  und  sein  Volk  in  Wien  zu  empfehlen;  u.  a.  zählt  er  die  be- 
rühmtesten dalmatinischen  Schriftsteller  auf,  zu  denen  er  auch  Mathias 
Flaccius  Iliyricus  (aus  Istrien!)  zählt,  rühmt  seine  »illyrische«  Sprache,  die 
von  den  vier  alten  (!)  Sprachen  allein  fortlebe,  und  entwickelt  überhaupt  sehr 
viel  »illyrischen«  Patriotismus  im  Geiste  M.  Orbini's,  Kacic's  und  anderer 
Ragusaner  und  Dalmatiner,  die  ja  dem  Agramer  Illyrismus  längst  vorange- 
gangen sind;  zuletzt  umarmt  er  Denis  und  Müller  (tui  similis). 

Der  Übersetzer  Ossians,  von  dessen  Kuhm  Feriö  in  einer  Anmerkung 
spricht,  erfuhr  daraus  wenig  über  die  illyrischen  Barden.  Viel  mehr  gab 
Ferid  in  seiner  bekannten  Epistel  an  Joh.  v.  Müller  (Ragusa  1798),  der  ihm 
in  einem  Briefe  vom  5.  April  1796  (abgedruckt  am  Schluß  S.  59 — 61)  ent- 
sprechende Fragen  gestellt  hatte.  Über  die  darin  lateinisch  übersetzten 
Volkslieder  ist  C.  eine  Abhandlung  von  Kasumovicö)  entgangen.  Die  An- 
regungen Müllers  trugen  aber  noch  weitere  beachtenswerte  Früchte.  Eine 
C.  unbekannte,  von  L.  aber  nicht  gehörig  gewürdigte  Ad  clarissimum  virum 


1)  Eine  Besprechung  der  Arbeit  Öurcin's  vom  germanistischen  Stand- 
punkt aus  wird  von  mir  im  »Euphorion«  erscheinen. 

2)  Vgl.  darüber  J.  Forko  im  Programm  der  ORealschule  in  Esseg  1SS9. 

3)  Der  Sachverhalt  wird  übrigens  klar  aus  den  Worten  Chersa'a  (Delhi 
ita  e  delle  opere  di  monsignore  Giorgio  Ferrich,  Ragusa  1824,  S.28!:  In  una 
Cpistola  i?idintta  (adressiert)  nel  1797  a  Michel  Denis,  ed  alliisiva  al  passag- 
10,  che  in  quell'  anno  aveafatto  la  Dalmazia  .  .  .  Questa  epistola  vuh  la  luce 
>i  Vienna  Vaimo  1708. 

•»)  Nastavni  Vjesnik  X.  (1902),  573—577. 
5)  Skolski  Vjesnik  VIL  81  ff. 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVIII.  23 


354  Kritischer  Anzeiger. 

Julium  Bajamontium  Spalatensem  Georgii  Ferrich  Ragusini  Epiatola  ij  (Ex- 
cudobat  Andreas  Trevisan  Ragusii  1709;  außer  diesem  Druck  in  {^r.-8'J  21  S. 
sah  ich  in  der  Ijibliotiiek  der  siidalaviachen  Akademie  in  Agram  noch  einen 
Ausschnitt  mit  derselben  Epistel  in  kl. -8"  imf  8.  07 — 88,  woher?]  bietet  den 
ersten  und  gar  nicht  üblen  Vergleich  der  »illyrischen«  Volkslieder  mit  — 
Homer,  also  lange  vor  J.  Grimm,  Kopitar  und  S.  Vater.  Den  Anstoß  dazu  gab 
aber  Bajamonti,  Arzt,  Komponist  und  Dichter  in  Spalato,  in  einer  nur  aus 
dem  Auszug  bei  Ferid  bekannten  .Schrift,  worin  er  ausführte,  daß  sich  die 
Morlacken  in  den  Gesängen  Homers  wiedererkennen  würden,  und  dafür 
nichts  weniger  als  zwölf  Gruppen  von  Vergleichen  zum  besten  gab.  Für  uns 
ist  am  wichtigsten  die  Tatsache,  daß  diesem  Spalatiner  bereits  die  Wolf 'sehe 
Liedertheorie  genau  bekannt  war  2),  so  daß  er  in  diesem  Sinne  in  den 
ersten  drei  Punkten  Homer  mit  den  illyrischen  Gesängen  vergleicht:  auch 
sie  wurden  zuerst  nicht  aufgeschrieben,  sondern  nach  alter  löblicher  Sitte, 
die  jetzt  immer  seltener  wird,  in  Versammlungen  und  bei  Gelagen  von  Blin- 
den zu  den  Gusle  oder  simplice  voce  vorgetragen;  von  ihrem  Dichter  gibt  es 
keine  Spur,  man  möchte  glauben,  daß  alle  von  einein  herrühren,  so  sind  sie 
einander  ähnlich.  Solche  Dichter  finden  sich  auch  heute,  wenn  sie  nur  Stoff 
haben:  Kriege,  Zweikämpfe,  Mädchenraub  u. s.w.  Das  besingen  sie  sofort 
ex  improviso  nach  alten  Liedern,  die  sie  auswendig  lernen  und  für  ihren 
Gegenstand  herrichten.  Später  fanden  sich  auch  Gelehrte,  die  diese  Gedichte 
aufzuschreiben  und  herauszugeben  begannen  (er  kennt  Fortis,  Lovric,  offen- 
bar wußte  er  auch  von  solchen  Handschriften,  wie  es  die  Spalatiner  mit 
dem  »Klaggesang«  ist) ;  doch  da  gibt  es  noch  sehr  viel  zu  tun,  es  ist  kaum 
ein  löblicher  Anfang  gemacht  worden.  Ganz  gut  sind  die  Beobachtungen 
über  die  epische  Breite  und  die  epitheta  ornantia.  In  den  weiteren  neun 
Punkten  werden  die  Sitten  und  die  Zustände  der  alten  Griechen  mit  denen  der 
Morlacken  verglichen.  Bajamonti  ist  es  jedoch  nicht  verborgen  geblieben, 
daß  nicht  allein  die  Morlacken  solche  Lieder  haben,  sondern  auch  nordische 
Völker,  und  daß  es  auch  Unterschiede  zwischen  den  homerischen  Zuständen 
und  denen  der  Morlacken  gibt.  Damit  ist  nun  Feri<5,  der  sich  zuerst  auf  seine 
Epistel  an  Müller  beruft,  nicht  einverstanden,  verlangt  von  Bajamonti,  er 
möge  seine  Ausführungen  näher  begründen,  und  hält  daran  fest,  daß  die 
Morlacken  dem  Heldenzeitalter  am  nächsten  stehen  und  ihrer  Väter  Sitten 
viel  besser  bewahrt  haben  als  andere  Völker.  Er  verlangt  auch,  daß  diese 
alten  Sitten  erhalten  und  durch  fremdes  Wesen  nicht  verdorben  werden,  so- 
daß  er  sogar  den  Handel  und  Verkehr  mit  anderen  Völkern  ablehnt.  Auch  die 
fremden  Sprachen  sollen  nicht  bevorzugt  werden,  aber  morlackische  Jüng- 
linge sollen  Latein  und  Griechisch  lernen,  damit  Homer  illyrico  carmine 
wiedergegeben  werden  kann,  denn  eine  solche  Übersetzung  werde  alle  bis- 


1)  S.  eine  genaue  Analyse  von  J.  Kasumovid  im  Nastavni  Vjesnik  X. 
451—458. 

2]  Vgl.  auf  S.  4 :  .  .  adeo  ut  non  unicua  ipse, 

At  plures  alii  et  diverso  tempore  cantus 
Illos  ediderint,  qui  uni  tribuuntur  Homero. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  355 

herigen  übertreffen.  Zuletzt  bittet  der  Ragusaner,  dem  oifenbar  Volkslieder 
nicht  besonders  zugänglich  waren,  den  Spalatiner  Bajamonti,  er  möge  ihm 
getreu  aufgezeichnete  veteres  cantus  ac  carmina  nostrae  gentis  senden,  die 
er  von  Freunden  und  Freundinnen,  von  Ammen  und  Mägden  und  von  den 
»Nymphen«  auf  dem  Lande  erhalten  könne. 

Man  sieht  daraus,  daß  Feric,  einer  der  letzten  Ausläufer  des  ragusani- 
schen  Humanismus,  höhere  Anschauungen  von  den  Volksliedern  und  auch 
einen  besseren  Willen  hatte,  sie  der  Nachwelt  zu  erhalten,  als  man  nach  sei- 
nen bekannten  lateinischen  Übersetzungen  der  Sprichwörter  und  einzelner 
Lieder  erwarten  könnte.  Bajamonti  und  Feric  müssen  viel  mehr  als  bisher 
mit  Ehren  in  der  Geschichte  der  Auffindung  des  serbokroatischen  Volks- 
liedes genannt  werden.  Wenn  noch  20  Jahre  später  ein  Werk  erschien 
»II  Morlachismo  d'  Omero«,  so  war  das  keine  »wunderliche  Frucht«  (L.  60,  2). 

Überhaupt  ließe  sich  noch  manches  Zeugnis  anführen,  daß  die  Volks- 
lieder im  XVIIl.  Jahrh.  den  einheimischen  Gebildeten  doch  bekannt  waren 
und  auch  nachgeahmt  wurden,  vor  allen  in  Gesängen,  welche  die  Taten  kroa- 
tischer Grenzerregimenter  und  ihrer  Führer  in  den  Kriegen  der  Kaiserin  Maria 
Theresia  und  namentlich  im  Türkenkrieg  Josef  II.  feierten  (vgl.  N.  Andrid, 
Iz  ratnicke  knjizevnosti  hrvatske,  Zagreb  1902). 

Das  ist  wichtig,  denn  nur  aus  solchen  fliegenden  Blättern  und  Bro- 
schüren (ich  sah  viele  in  der  Agramer  Universitäts-  und  in  der  Akademie- 
Bibliothek)  und  aus  den  Erzählungen  der  Offiziere  konnte  Kopitar,  der  Ent- 
decker Vuk  Karadzic's,  wissen,  daß  die  »Serben  und  Kroaten«  einen  Lieder- 
schatz haben,  »wie  vielleicht  kein  anderes  Volk«  (Brief  an  Musicki  1/11.1811). 
Diese  und  eine  ähnliche  Äußerung  Kopitar's  aus  dem  J.  1811  (Kl.  Schriften 
140:  »woran  diese  Serben  und  Kroaten  so  reich  sind«),  so  wie  das  auf  ihn 
zurückgehende  klassische  Rundschreiben  des  Agramer  Bischofs  Verhovac, 
der  von  seiner  Geistlichkeit  in  Kroatien  und  Slavonien  die  Einsendung  von 
Volksliedern  und  anderen  Erzeugnissen  des  Volksgeistes  in  demselben  Jahre 
(1813)  verlangte,  in  dem  Vuk  Karadzic  nach  Wien  kam,  hätte  Ö.  (S.  97)  er- 
wähnen müssen. 

Die  schöne  Monographie  von  Zivaljevlö  über  Kaciö  (Letopis  Mafice 
Srpske  kn.  171 — 174)  scheint  C.  unbekannt  geblieben  zu  sein,  denn  sonst 
hätte  er  über  den  verdienstvollen  kroatischen  Mönch,  aus  dem  die  Ilerder'- 
schen  Übersetzungen  der  »morlackischen«  Lieder  entnommen  sind,  noch  mehr 
und  besser  sagen  können')  (falsch  ist  das  Geburtsjahr  1G90,  wahrscheinlich 
1696,  ja  sogar  1702  kommt  in  Betracht;  die  Ausgabe  des  Razgovor  von  1756 
ist  sichergestellt,  aber  auch  noch  nicht  entdeckt);  namentlich  aber  mußte 
betont  werden,  daß  seine  Behandlung  des  Volksliedes  dem  Herder'schen  Be- 
griffe der  »Nationalliedcr«  nicht  so  fern  stand  wie  der  späteren  romantischen 
Auffassung  der  Erzeugnisse  des  Volksgeistes. 


1)  Wichtig  ist  eine  Anmerkung  auf  S.  28:  das  von  Theodor  Vetter  aus 
einer  Pariser  Hs.  im  Archiv  VI,  121  ff.  veröffentlichte  Lied  über  Milos  Kobilic 
und  Vuk  Brankovic  ist  einfach  eine  Abschrift  aus  Kaciö  und  die  italienische 
Übersetzung  von  Fortis ! 

%\* 


356  Kritischer  Anzeiger. 

Mit  O.'s  verdienstvollen  Erläuterungen  zu  Ilerder's  Übersetzungen  (29 — 
37)  kann  man  nicht  immer  einverstanden  sein.  Die  »ugrischen«  Ileldennamen 
sind  nicht  erst  bei  den  Dalmatinern  und  in  Kroatien  in  das  Volkslied  einge- 
drungen, »obwohl  sie  gar  nicht  (!;  hineingehören «.  In  dieser  Frage  hätte  sich 
Ö.  schon  in  den  Ausführungen  Soerenson's,  den  er  ja  kennt,  über  den  »unga- 
risch-serbischen Liederkreis«  fArcliiv  XV)  Belehrung  holen  können.  Übri- 
gens sind  ungarische  Helden  der  Türkenkriege  sogar  zu  den  Slovenen,  die 
wirklich  mit  Ungarn  nichts  zu  tun  hatten,  vorgedrungen.  So  wurde  König 
Mathias  Corvinus  auch  bei  den  Slovenen  im  Görzer  Gebiet  schon  um  die  Mitte 
des  XVI.  Jahrh.  als  einer  ihrer  Nationalhelden  besungen!  Zenta  ist  bei  Kacid 
ebenso  eine  gelehrte  Form  wie  servijanski.  In  »Radoslaus«  ist  der  fehlende 
V.  1(5  falsch  übersetzt:  »und  das  edle  kroatische  Reich",  denn  im  Original 
heißt  es:  Odbize  nas  Lika  i  Krbava,  Flemenita  hrvatska  drzava,  was  doch 
heißt:  verloren  sind  uns  gegangen  Lika  und  Krbava,  edler  kroatischer  Be- 
sitz (drzava  =  possessio,  provincia,  regio,  s.  lljecnik  der  Agramer  Akade- 
mie). Die  nach  V.  47  fehlenden  vier  Verse  hat  Fortis  nicht  »mit  Recht«  als 
»überflüssig«  ausgelassen,  denn  solche  Wiederholungen  gehören  doch  zum 
epischen  Stil.  »Eine  gute  Felsengöttin  (33,  auch  114)  im  Original  Vila«  gibt 
keine  richtige  Vorstellung  von  Vila  posestrima  S  Velebita  visoke  jjlmiine,  so 
daß  »Felsengöttin«  keine  freie  Erfindung  Herder's,  bezw.  von  Fortis  ist. 

Falsch  ist  die  Erklärung  von  zemlja  latinska  und  noch  mehr  die  Bemer- 
kung (33):  »Ursprünglich  bezeichneten  die  orthodoxen  Serben  damit  die 
Katholiken,  d.  h.  die  des  lateinischen  Glaubens,  dann  überhaupt  Fremde  und 
Ausländer,  entsprechend  etwa  dem  »Barbar«  des  übrigen  Europas.  Da  sie 
unter  Ausländern  und  Katholiken  am  meisten  mit  Venetianern  zu  tun  hatten 
und  dabei  nicht  immer  die  besten  Erfahrungen  nachhause  brachten,  so 
knüpfte  sich  bald  an  den  Begriff  auch  eine  nicht  eben  schmeichelhafte  Be- 
deutung: der  Lateiner  ist  falsch,  alles  üble  erwarte  man  von  Lateinern.  Die 
Ragusaner,  großenteils  (früher  doch  alle!)  Katholiken,  als  ihnen  das  Volks- 
lied zukam,  vermieden  (!!)  sorgfältig  diese  Benennung«. 

Man  kann  von  einem  jungen  Germanisten  nicht  verlangen,  daß  er  z.  B. 
den  Lyriker  D.  Ranina,  der  in  den  Fesseln  einer  Latinka  schmachtete,  und 
andere  Ragusaner  gelesen  habe,  bei  denen  wie  bei  den  Dalmatinern  über- 
haupt alle  Italiener  ohne  Beigeschmack  Latini  genannt  werden,  was  schon 
vor  der  Trennung  der  beiden  Kirchen  der  Fall  gewesen  sein  dürfte,  aber  das 
große  Wörterbuch  der  südslavischen  Akademie  in  Agram  kann  jedermann 
einsehen.  Ebenso  ist  es  nicht  »nur  Zufall  —  des  Mönches  Kacic  Neigung  nach 
Rom  —  daß  der  König  nach  Rom  gelangt«  (34);  zwischen  Dalmatien  und  Rom 
bestanden  doch  die  lebhaftesten  Beziehungen,  ähnliche  Familienbande  gab 
es  in  der  Tat  zwischen  den  kroatischen  Herrschern  —  das  Gedicht  bezieht 
sich  ja  auf  die  alte  kroatische  Geschichte  —  und  in  Rom  starb  selbst  die 
letzte  Königin  von  Bosnien.  Ö.  möge  sich  doch  die  vortreffliche  Komödie 
Dundo  Maroje  des  Ragusaners  Marin  Driic  (XVI.  Jahrh.)  ansehen,  der  Dal- 
matiner verschiedener  Städte  mit  ihren  lokalen  Dialekten  in  Rom  zusammen- 
kommen und  sogar  römische  Wirte  serbokroatisch  radebrechen  läßt.  Man 
kann  eben  nicht  alle  Volkslieder  und  ihre  Nachahmungen  vom  serbisch- 


Die  aerbokroat.  Volkspoesie  iu  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  357 

orthodoxen  Standpunkt  beurteilen!  Die  erwähnten  Auslassungen  Ö.'s  sind 
so  recht  bezeichnend  für  jenen  serbischen  Patriotismus,  der  ihm  so  häufig 
den  Blick  trübt. 

»Die  schöne  Dolmetscherin«  heißt  nicht  Dragomana,  sondern  im  Text 
doch  öfters  Dragoman  divojka,  Po  imenu  Dragoman  divojka  (überdies  ist 
divojke  Dragomana  in  der  Überschrift  ein  deutlicher  Genitiv!),  wobei  ein 
Gattungsname  (dragoman  =  Dolmetscher)  zu  einem  Nomen  proprium  gewor- 
den ist.  Hier  steht  der  deutsche  Übersetzer  W.  Gerhard  («Das  Dragoman- 
Mädchen«)  höher  als  der  serbische  Philologe  Ö.  Die  Ausführungen  über  die 
Einführung  eines  neuen  Motivs  sind  mir  nicht  ganz  klar,  aber  jedenfalls  sind 
die  Zweifel  Ö.'s  über  die  Echtheit  dieses  einzigen  Volksliedes,  das  Herder 
aus  Kacic  hatte  (34 — 35),  beachtenswert.  Von  Gra(h)ovo,  »das  zwischen 
Herzegovina  und  Montenegro«  liegt,  ist  in  diesem  Liede  gewiß  nicht  die 
Rede,  sondern  von  einem  dalmatinischen  bei  Sibenik  (s.  Vuk  Karadzic  Srp. 
nar.  pj.  III^,  Nr.  54)  oder  irgendwo  weiter  im  Norden  an  der  kroatisch-bosni- 
schen Grenze,  denn  Mujstaj  Beg  aus  der  Lika  ist  der  Hauptheld  der  moham- 
medanischen Volkslieder  aus  dem  nordwestlichen  Bosnien;  auch  Soerensen 
(Entstehung  der  kurzzeiligen  serbokroatischen  Liederdichtung,  56)  verlegt  es 
nach  Türkisch-Kroatien.  Die  V.  76 — 78  »Auf  grünem  Grase  will,  o  Herr,  ich 
lieber  mit  dir  stehen,  Als  mit  Zekulo  auf  roter  Seide«  hat  auch  6.  nicht  richtig 
gedeutet,  denn  im  Original  steht  doch  u  svili  (=  in  Seide;  daß  es  sich  um 
eine  Art  Jacke  handelt,  lehren  V.  25— 26:  Na  nju  metnu  lipo  obilizje.  Tri 
sadaka  od  svile  crljene).  Nach  seiner  Erklärung  könnte  W.  da  Fonsecca  noch 
weiter  kommentiren:  auf  roter  Seide  =  der  Teppich  bei  Hochzeiten!  Falsch 
ist  auch  die  Übersetzung  des  »echt  Kacic'schen  Verses«  Gdi  je  Isus,  lipa  dika 
moja  mit:  Wo  bleibt  Jesus,  dein  schöner  Geliebter?  dika  heißt  decus,  bonos, 
gloria  (Rjecnik  der  Agramer  Akademie  IL  394),  die  metonymische  Bedeutung 
Geliebter  ist  aber  nur  aus  der  Backa  belegt,  aus  der  Heimat  des  Verfassers, 
was  zu  seiner  Entschuldigung  bemerkt  sein  möge.  Der  Vers  ist  übrigens 
ganz  gut  am  Platze,  da  vom  Abfall  des  Mädchens  zum  Mohammedanismus  die 
Rede  ist,  weshalb  ihn  Herder,  wahrscheinlich  schon  Fortis,  nicht  »mit  Recht« 
weggelassen  hat.  Man  kann  entsprechende  Parallelen  auch  aus  Vuk  Ka- 
radzic's  Srpske  nar.  pj.  beibringen,  z.  B.  V*.  S.  123:  Nocu  kralja,  neöu  bana 
Neg'  Isusa  milosnoga,  S.  122:  Bozja  sluga,  zarucnik  Boije  majke. 

Ähnliche  Flüchtigkeiten,  Mängel  und  sogar  grobe  Fehler  finden  wir  in 
C.'s  Übersetzung  der  Quelle  des  Goethe'schen  »Klaggesanges«  (Asan-Agi- 
nica),  wo  doch  besondere  Sorgfalt  geboten  war.  6.  will  zwar  durch  möglichst 
getreue  Übersetzung,  sogar  durch  Beibehaltung  der  Wortstellung,  den  Ger- 
manisten die  Vorlage  Goethe's,  die  er  ja  gesehen  hatte,  zugänglich  machen, 
doch  muß  ich  gestehen,  daß  sich  L.  mehr  den  Dank  der  Goethe-Forscher  ver- 
dienen wird,  obwohl  sie  sich  keinen  solchen  Zwang  antut,  denn  sie  stellt  in 
sehr  übersichtlicher  Weise  nebeneinander:  links  das  Original,  eine  wörtliche 
Übersetzung,  und  Goethe's  Text,  rechts  die  italienische  Übersetzung  von 
Fortis  und  die  deutsche  von  Werthes,  die  eigentliche  Quelle  Goethe's;  dazu 
übersetzt  L.  nicht  bloß  verständlicher  und  schöner,  sondern  iu  den  meisten 
Fällen  auch  richtiger.    Ich  will  hier  nur  einiges  hervorheben.   C.  geht  iu  dem 


358  Kritischer  Anzeiger. 

Bestreben  nach  wörtlicher  Übersetzung  so  weit,  daß  er  kniga  nicht  mit  Brief 
sondern  Buch  wiedergibt  (warum  dagegen  dvor  mit  Schloß?},  V.  81  cohu  do 
poljane  —  Tuchzeug  bis  zur  Wiese  (Loden  bis  zum  Boden  L.),  V.  91  uput  se 
je  s  dusom  rastavila  —  imterivcgs  (!)  ist  sie  von  der  Seele  geschieden  (mit  eins 
trennte  sie  sich  von  der  Seele  L.)-  Dagegen  übersetzt  0.  stala  V.  lö,  41)  trotz 
des  handschriftlichen  stäla  (sogar  Fortis  41  stäla)  und  trotz  der  Erklärung 
Miklosich's  »für  stajala  aus  stojala«:  ist  stehen  geblieben  (L.  41  blieb,  15  ist 
.  .  gestanden).  Trotz  Miklosich  und  selbst  Vuk  übersetzt  0.  die  Imperfecta 
gledaju,  izhogiaju,  govoriaju  (V.  69 — 71,  Vuk:  gledahu,  izhoöahu,  govorahu) : 
die  zwei  Tüchter  .  .  schauen,  die  zwei  Söhne  .  .  entgegen  kommen  . .  sprechen. 

6.  fordert  aber  die  slavische  Philologie  auch  direkt  in  die  Schranken, 
denn  er  schwört  auf  Vuk  Karadzics  Änderungen  des  Fortis'schen  Textes, 
obwohl  derselbe  unterdessen  durch  die  Spalatiner  Handschrift  (herausg.  von 
Miklosich)  an  Authentizität  gewonnen  hat.  Gegen  Miklosich's  und  Jagiö's 
Kritik  beruft  sich  6.  (57)  einfach  auf  Jakob  Grimm's  Urteil,  der  Vuk's  Text 
(vgl.  jetzt  Nar.  pj.  III'*,  S.  513  ff.)  als  »genauer  und  besser«  bezeichnet  hat. 
In  diesen  Fragen  kann  natürlich  von  Grimm's  Kompetenz,  namentlich  heute, 
keine  Rede  sein.  Wie  könnte  man  auch  Vuk's  Änderungen  w  ie  V.  2  snijeg 
für  snjezi,  V.  7  od  Ijutijeh  rana  —  u  ranam  Ijutimi,  V.  11  poruci  —  poruca, 
V.  21  aga  —  ago  (widerspricht  sogar  der  häufigen  Verwendung  des  Vokativs 
in  den  Volksliedern),  V.  45  najvise  —  najvece  (nicht  bloß  cakavisch,  wie  Vuk 
meint,  sondern  auch  bei  ragusanischen  Schriftstellern  belegt),  V.  61  nek  ne 
vidi  —  da  ne  vidi,  V.  76  svata  —  svatov,  V.  93  gledajuö  sirote  —  sirota  und 
andere  ähnliche  rechtfertigen?  Von  der  Verwischung  des  i  für  i  sehe  ich 
dabei  ganz  ab.  Daß  sich  Vuk  nach  unseren  heutigen  Begriffen  unzulässige 
Eingriffe  erlaubt  hat,  unterliegt  keinem  Zweifel  und  es  entsteht  nur  die 
Frage,  ob  er  in  vielen  Fällen  so  verfuhr,  um  einen  nach  seinem  Gefühl  ästhe- 
tisch und  sprachlich  korrekten  Text  herzustellen. 

Geradezu  auf  den  Kopf  stellt  C.  den  wirklichen  Sachverhalt  mit  der  Be- 
hauptung, »  daß  Eigentümlichkeiten  des  cakavischen  Dialektes  in  den  Text 
erst  später  eingeführt  worden«,  daß  sich  Änderungen  »die  schriftgelehrten 
Öakavcen,  die  nur  wenig  Begriff  von  den  Volksliedern  hatten,  beim  Abschrei- 
ben erlaubt  haben«  (57),  denn  die  ganze  Sprachgeschichte  beweist  das  Gegen- 
teil: vom  ersten  kroatischen  Grammatiker,  dem  auf  der  Insel  Veglia  ge- 
bürtigen Jesuiten  Bartholomäus  Kasic  (Cassius,  Institutionum  linguae  lUyri- 
cae  libri  duo  —  Romae  1604),  also  dem  denkbar  ausgesprochensten  Cakavac 
angefangen,  suchen  dalmatinische  Lexikographen  und  Grammatiker,  am 
meisten  aber  viele  Schriftsteller  selbst,  die  schönste  und  reinste  Sprache  im 
stokavischen  Bosnien,  so  daß  wir  einen  systematischen  Rückgang  des  caka- 
vischen Dialektes  in  der  Volkssprache  und  in  der  Literatur  beobachten  kön- 
nen i);  im  XVIII.  Jahrh.  kamen  aber  noch  Rücksichten  auf  das  früher  als  bei 
den  Serben  russifizierte  Kirchenslavische  der  kroatischen  Glagoliten  hinzu, 
was  von  Fortis'  Lehrern,  Grubisic  und  Sovic  (dieser  hatte  seine  Jugend  in 


1   Eine  Darstellung  dieses  Prozesses  wäre  eine  schöne  Arbeit  für  einen 
vorurteilslosen  Philologen. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.v.Murko.  359 

Rußland  zugebracht)  ausdrücklich  bezeugt  wird  (L.59 — 60,63,64);  von  Soviö 
wird  uns  überdies  berichtet,  daß  ihm  das  Bosnische  besser  klingt  als  das 
Küstenländische,  das  er  für  verdorben  erklärt  (L.  64).  Diese  gelehrten  Freunde 
Fortis'  haben  in  der  Tat  das  Lied  auch  zu  jekavisieren  gesucht,  denn  die 
Spalatiner  Hs.  enthält  allein  in  den  ersten  fünf  Versen  zwanzigmal  den  Laut 
i,  der  Text  bei  Fortis  nur  zehnmal  (vgl.  L.  35).  Und  was  sind  das  überhaupt 
für  cakavci,  die  im  ganzen  Lied  das  Hauptmerkmal  ca  gar  nicht  angebracht 
haben?  Überdies  sind  nach  unseren  heutigen  linguistischen  Begriffen  ein  ab- 
geschlossener einheitlicher  stokavischer  und  cakavischer  Dialekt  ein  leerer 
Wahn  und  alle  Identifizierungen  der  Serben  und  Kroaten  mit  irgend  welchen 
dialektischen  Merkmalen  haben  doch  kläglichen  Schiffbruch  gelitten.  Wie 
viel  höher  als  die  Philologen  des  XIX.  Jahrh.  standen  doch  alle  dalmatini- 
schen und  ragusanischen  Schriftsteller,  die  sich  trotz  der  ihnen  ganz  gut  be- 
kannten dialektischen  Unterschiede  als  Angehörige  einer  Sprache  betrach- 
teten und  dabei  immer  auch  das  weite  Hinterland  im  Auge  hatten !  C.  und  ihm 
ähnliche  Philologen  bedenken  gar  nicht,  daß  sie  mit  ihren  Theorien  auf  die 
ragusanische  Literatur  ganz  verzichten  müßten,  während  diese  trotz  aller  ihrer 
Cakavismen  bei  den  meisten  doch  Gnade  zu  finden  scheint. 

Ebenso  ist  es  ganz  verkehrt,  wenn  6.  aus  denselben  Gründen  auch  die 
ursprüngliche  Heimat  des  Klaggesanges  nicht  bei  den  »Morlacken«  sucht, 
sondern  »tiefer  in  Bosnien  .  .  dort,  woher  wir  die  schönsten  Lieder  haben« 
(65).  Gerade  die  geringe  und  zeitlich  beschränkte  Verbreitung  des  Liedes, 
die  auch  (^.  nicht  leugnet,  und  die  dialektischen  Merkmale  sprechen  dafür, 
daß  es  dort  entstanden  ist,  wo  sich  die  Handlung  abspielt  (um  Imoski),  also 
im  ikavisch-stokavischen  Küstenlande  von  Makarskai),  das  ja  in  jener  Zeit 
auch  türkisch  war  (Gornje  Primorje  von  1499 — 1646,  Imoski  wurde  aber  erst 
1717  von  den  Venetianern  erstürmt),  wovon  zu  Fortis'  Zeiten  Spuren  sichtbar 
waren  und  noch  heute  sind.  Wie  sollte  ein  Gebiet,  das  einen  Kaciö  hervor- 
gebracht hat,  nicht  auch  eine  solche  Ballade  lokalen  Charakters  geschaffen 
haben?  N.  Petrovskij  (0  couaucni/ixt  Jlcrpa  TcKTopoBuia,  158 — 159)  hat  noch 
ein  anderes  wichtiges  Zeugnis  für  die  Blüte  des  Volksliedes  um  Makarska  zu 
Anfang  des  XVIII.  Jahrh.  ans  Licht  gezogen.  1727  erschien  in  Venedig  zum 
ersten  Mal  Pisna  od  pakla  .  .  .  koju  .  .  slozi  u  Hrvatski  jezik  i  pivanje  Otac 
F.  Lovro  iz  Ljubuskoga2);  dieser  Franziskaner,  der  sein  Werk  »u  Makar- 
skoj«  schrieb  und  überhaupt  in  Dalmatien  wirkte,  wollte  durch  sein  »Lied 
von  der  Hölle«  die  im  Volke  stark  verbreiteten  »pisne  od  Kraljevica  Marka, 
Muse  Arbanasa,  Relje  Bosnjanina,  od  Vojske,  junastva,  kralja,  kapitana  i 
ostali;  takojer  lipote  Divojke,  od  Rujnoga  Vina  i  od  ostalih  brczkoristnih 


1)  Der  cakavische  Dialekt  beginnt  nördlich  von  der  Cetina  (M.  Resetar, 
Archiv  XIII,  179)  und  selbst  da  ist  noch  der  südliche  Teil  von  Poljica  stoka- 
visch  (Fr.  Ivanisevid,  Zboruik  za  nar.  zivot  i  obicaje  VII,  247). 

2)  D.  i.  LovroSitoviö,  Sohn  eines  Mohammedaners  aus  dem  horzego- 
vinischen  Grenzort  Ljubuski,  der  auch  eine  öfters  aufgelegte  Grammatica 
latino-illyrica  (1.  Ausg.  Venedig  1713)  schrieb.  Kukuljevic,  Hrv.  bibliografija 
86,  149,  Surmin,  Povjest  knjizevnosti  121. 


360  Kritischer  Anzeiger. 

pisanä«  verdrängen.  Und  Fortis  selbst  genoß  noch  die  Gastfreundschaft  eines 
Vojvoden,  der  in  seiner  Jugend  viele  heroische  Gesänge  und  Liebeslieder 
verfaßt  hatte  (vgl.  L.  62) ;  zu  beachten  ist  auch  sein  Zeugnis,  daß  der  Mor- 
lacke,  besonders  wenn  er  zur  Nachtzeit  über  die  wüsten  Gebirge  reist,  »die 
alten  Taten  der  slavischen  Ritter  und  Könige,  oder  irgend  eine  tragische 
Geschichte«  singt. 

Alle  diese  Ausführungen  Ö.'s,  der  überhaupt  Daimatien  und  andere 
westliche  Gebiete  von  der  schöpferischen  Teilnahme  am  Volksliede  aus- 
schließen möchte  (dagegen  u.  mehr),  sind  einfach  eine  stille  Polemik  gegen 
Miklosich's  Behauptung  (Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie,  CHI.  B., 
S.418  [SA.  8],  daß  Vuk  »den  Text  von  Fortis  serbisiert«  hat,  und  weiter: 
»Daß  das  Lied  den  Serben  von  jeher  als  ein  Volkslied  bekannt  gewesen  sei, 
ist  eine  grundlose  Behauptung«.  Statt  einfach  zu  sagen,  daß  die  ganze  von 
Miklosich  selbst  übrigens  nie  konsequent  durchgeführte  Theorie  von  einer 
serbischen  und  (statt  oder)  kroatischen  Sprache  falsch  ist,  natürlich  auch 
Vuk's  dem  Volksbewußtsein  widersprechende  Beschränkung  der  Kroaten  auf 
die  iakavci  und  kajkavci,  und  daß  Vuk  Karadzic  den  Text  der  Asan-Aginica 
nur  vukisiert  hat,  werden  die  nächstliegenden  Tatsachen  verkannt  und 
verdreht. 

Deutsche  und  andere  fremde  Leser  können  sich  wirklich  nicht  klar 
werden,  wie  die  »morlackischen«  Liedernach  der  heutigen  Terminologie  zu 
benennen  sind  i).  Miklosichs  Kroatismus  setzt  Ö.  den  Serbismus  entgegen 
und  L.  (66)  meint:  »Kroaten  und  Serben  scheiden  sich  vor  allem  nach  Reli- 
gion, Dialekt  und  Schrift;  bei  den  bosnischen  und  herzegowinischen  Moham- 
medanern verlaufen  diese  Unterschiede«.  Wenn  man  die  historischen  und 
faktischen  Verhältnisse  in  Betracht  zieht,  so  kommt  man  mit  diesen  Kriterien 
absolut  nicht  aus ;  beim  Volkslied  fällt  überdies  die  Schrift  weg  und  beim 
mohammedanischen  verwischt  die  Religion  noch  den  augenscheinlichsten 
Unterschied.  Interessant  ist  es  nur,  wie  L.  dabei  der  durch  Jahrhunderte  aus- 
gebildeten kroatischen  Tradition  folgt,  die  unter  verschiedenen  Namen  immer 
eine  höhere  Einheit  vor  Augen  hatte,  und  wehmütig  bemerkt  (66) : » Im  Hinblick 


1)  Hier  muß  ich  mich  selbst  korrigieren,  denn  in  der  Wiener  »Zeit«  B.XX. 
(1899),  Nr.  256,  S.  134  schrieb  ich,  daß  man  sich  unter  Morlacken  »hauptsäch- 
lich die  orthodoxen  Einwohner  des  Hochlandes  von  Zara  bis  zur  Narenta  vor- 
zustellen hat«,  da  auch  6.  (22)  diese  falsche  Definition  (»die  größtenteils 
orthodoxen  Einwanderer  Dalmatiens«)  bringt.  Fortis  selbst  verstand  darun- 
ter alle  Bewohner  des  Festlandes  (vgl.  L.  65),  unter  denen  die  Orthodoxen 
in  bedeutender  Minderzahl  sind;  sogar  die  Inselbewohner  möchte  er  ihnen 
zuzählen,  wie  das  Kapitel  »Verschiedenheit  des  Ursprunges  der  Morlacken, 
derer,  die  an  den  Ufern,  und  derer,  die  auf  den  Inseln  wohnen«  zeigt.  In  der 
Tat  werden  solche  einen  verächtlichen  Beigeschmack  habenden  Namen,  wie 
morlak,  vlah  von  der  Bevölkerung  verschieden  gebraucht,  z.  B.  von  den  In- 
sulanern für  die  Uferbewohner,  von  diesen  wieder  für  ihre  Nachbarn  im  Ge- 
birge U.S.W.  Über  den  Ursprung  des  viel  umstrittenen  Namens  Morlacken  ist 
jetzt  zu  vergleichen  K.  Jirecek,  Die  Romanen  in  den  Städten  Dalmatiens, 
Denkschriften  der  Wiener  Akademie  XLVIII,  34 — 35. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  361 

auf  diese  fließenden  Grenzen  bediene  ich  mich  für  die  kroatische  Dichtung 
des  einigenden  Ausdruckes  südslavisch  und  bedauere  nur,  daß  der 
schöne,  alte  und  gute  Name  illyrisch  sich  auch  in  der  Literatur  nicht 
durchzusetzen  vermocht  hat«.  Der  Ausdruck  südslavisch  ist  bei  einer  so  lo- 
kalen Ballade  am  wenigsten  angebracht  und  überhaupt  irreführend,  weil  man 
unter  dem  geographischen  Begriff  Südslaven  nicht  bloß  Kroaten  und  Serben, 
sondern  auch  Slovenen  und  Bulgaren  versteht.  Der  auf  gelehrter  Kombi- 
nation beruhende  Name  illyrisch  war  aber  trotz  seines  Alters  und  seiner 
Verbreitung  in  der  Literatur  nicht  lebensfähig,  umsomehr  als  die  alten  Illy- 
rier  keine  Slaven  waren. 

L.  und  Ö.  hätte  in  diesem  Falle  Jakob  Grimm  den  Weg  weisen  können, 
über  dessen  Vorrede  zu  Vuk  Karadzics  kleiner  serb.  Grammatik  6.  (116) 
sagt,  daß  daraus  nicht  bloß  ein  Deutscher,  »sondern  auch  ein  geschulter  und 
gebildeter  Serbe  noch  heute  sich  Klarheit  über  den  eigenen  Stamm  und  die 
eigene  Sprache  holen  kann«.  Fiat  applicatio!  In  derselben  Vorrede  schreibt 
J.  Grimm,  trotzdem  es  ihm  selbst  schien,  daß  es  »keinen  rühmlicheren  Namen 
für  alle  Südslaven«  geben  könne,  als  den  serbischen,  auf  S. XX  also:  »A.  For- 
tis,  der  einige  gefühlvolle  morlachische  (d.  h.  serbisch-kroati  sehe) 
Lieder  bekannt  machte«. 

Viel  besser  sind  die  sachlichen  Erläuterungen  C.'s  ausgefallen.  Er  hat 
Recht  mit  der  Behauptung,  daß  Miklosich  und  Geiger  nicht  genügend  her- 
vorgehoben haben,  wie  Goethe  in  der  Tat  »mit  Ahnung  des  Rhythmus  und 
Beachtung  der  Wortstellung  des  Originals«  übertrug  (51 — 52,  78  zu  V.  22),  für 
das  Epitheton  aber  nicht  das  richtige  Verständnis  besaß  (77).  Ö.  (89 — 90)  und 
L.  (34—37)  zeigen  auch  gut,  wie  Goethe  dem  Original  näher  gekommen  ist. 
Daß  Goethe  jedoch  auch  die  Cäsur  nach  der  vierten  Silbe  beachtet  hätte  (6.79), 
die  nur  in  fünf  Versen  fehle  (Srp.  kn.  Glasnik  XV,  ü09),  ist  nicht  wahrschein- 
lich, denn  man  kann  z.  B.  die  zahlreichen  Fälle,  in  denen  sie  nach  dem  Ar- 
tikel vor  seinem  Substantivum  fallen  würde,  nicht  übersehen.  Auch  mit  der 
Ansicht,  daß  Goethe  zuerst  den  »serbischen  Trochäus«  in  die  deutsche  Lite- 
ratur eingeführt  habe  und  nicht  Herder  (ib.  610),  dürfte  er  nicht  Recht  be- 
halten, denn  die  an  dem  Gegenteil  festhaltenden  Ausführungen  L.'s  sind  viel 
überzeugender  (16 — 18);  damit  hängt  auch  die  Frage  der  Datierung  der  Über- 
setzung, ob  1775  oder  1776,  zusammen.  Die  viel  erörterte  Frage,  wie  Goethe 
auf  den  trochäischen  Rhythmus  gekommen  sei,  suchte  L.  (19)  durch  Ver- 
suche mit  Personen,  weiche  des  Slavischen  unkundig  waren,  zu  lösen,  die 
»aufs  Natürlichste«  zugunsten  der  Betonung  auf  der  ersten  Silbe  ausgefallen 
Bind.  Ich  möchte  bemerken,  daß  nicht  ich  auf  den  Namen  Asan-Aga  im 
Versschluß  hingewiesen  habe,  denn  das  hat  Bartsch  getan,  dagegen  habe  ich 
hinzugefügt,  daß  es  im  Original  Verse  gibt,  die  nur  aus  zweisilbigen  Wörtern 
bestehen,  und  daß  die  Zahl  der  Verse  mit  überwiegend  zweisilbigen  Wörtern, 
die  ein  Deutscher  naturgemäß  trochäisch  liest,  besonders  groß  ist"). 

Auch  darin  kann  ich  Ö.  nicht  zustimmen,  daß  der  Aga  die  Kinder  der 
verstoßenen  Gattin  entgegengeschickt  (64 — 65)  und  das  Wiedersehen  iu- 


Chronik  des  Wiener  Goethe- Vereins,  XII.  51. 


I 


362  Kritischer  Anzeiger. 

szeniert  habe  (85,  vgl.  dagegen  u.  zwei  derartige  Lieder),  halte  aber  nicht 
mehr  an  der  Behauptung  fest,  daß  die  Frau  an  die  Beschenkung  ihrer  Waisen 
im  voraus  gedacht  habe;  das  Richtige  dürfte  L.  (J 4)  getroffen  haben,  daß 
»das  Hervortreten  der  Kinder  für  den  Ilochzeitszug  ein  unvorhergesehener 
Zwischenfall,  für  die  Mutter  aber  geradezu  furchtbar«  ist.  Nur  geht  L.  in 
ihrer  Analyse  zu  weit,  wenn  sie  zuletzt  von  einer  »gebundenen,  gebannten 
Liebe«  (sc.  zum  Manne)  der  unglücklichen  Mutter  spricht  (46),  welche  nur  das 
Wiedersehen  ihrer  Waisen  und  der  furchtbare,  ungerechtfertigte  Vorwurf, 
daß  sie  für  sie  kein  Gefühl  habe,  getötet  hat  (vgl.  u.  ähnliche  Motive). 

L.  hätte  auch  hier  ihrem  Führer  Fr.  Markovic  [Rad  jugosl.  akademije, 
138.  B.,  182 — 184)  folgen  sollen,  der  den  Charakter  der  Asan-Aginica  konse- 
quent folkloristisch  erklärt  und  besonderes  Gewicht  auf  den  Schlußvers  legt : 
(sie  starb)  aus  Trauer  ihre  Waisen  schauend.  Allerdings  hat  Goethe  die 
Katastrophe  besonders  verdunkelt,  indem  er  Fortis'  schlechte  Übersetzung 
noch  verstärkte:  als  sie  ihre  Kinder  vor  sich  fliehen  (1)  sah.  Für  die 
mohammedanische  Frau  kann  es  nur  Mutterliebe  geben,  Liebesgefühle  für 
den  Mann  müssen  ihr  vor  der  Welt  fremd  sein.  Das  pflichtgemäße  Scham- 
gefühl i),  das  zur  Trennung  der  Gatten  geführt  hat,  ist  ja  selbst  bei  den 
christlichen  Frauen  üblich,  wofür  sich  noch  mehr  Beispiele  anführen  lassen, 
als  bei  L.  (39 — 40).  Ihr  Schlußresultat  von  der  »Tragödie  des  gebundenen 
Weibes«  (46)  ist  daher  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  richtig:  »die  Tra- 
gödie des  Mannes«,  der  gegen  die  Sitte  tätige  Liebe  begehrt,  bleibt  da- 
gegen wahr. 

Bezüglich  djevojka  (=  Mädchen),  das  als  Bezeichnung  für  eine  Mutter 
von  fünf  Kindern  Vuk,  Miklosich  und  Jagic  noch  sonderbar  vorkam,  verweist 
6.  (82)  darauf,  daß  der  Ausdruck  nur  dort  gebraucht  wird,  wo  die  verstoßene 
Frau  als  Braut  erscheint  (darüber  vgl.  u.)  und  daß  im  Volke  überhaupt  die 
Benennung  Mädchen  auch  auf  verheiratete  Frauen  übertragen  wird.  M.  Stoj- 
kovid  aus  Podgora  bei  Makarska,  also  aus  der  in  Betracht  kommenden 
Gegend,  der  in  meinem  Seminar  wertvolle  Ergänzungen  zu  L.'s  Schrift  vor- 
brachte, verweist  darauf,  daß  im  mittleren  Dalmatien  (Primorje,  Vrgorac, 
Imoski)  divojka  allgemein  üblich  für  Mädchen  und  Braut  ohne  Altersunter- 
schied sei ;  für  eine  Frau  wird  es  gebraucht  in  Mazuranic's  Hrv.  nar.  pjesme, 
101,  Iskra,  Zadar  1893,  S.  124.  Übrigens  hat  schon  A.  Pavid  (Rad  XLVII,  99) 
daraufhingewiesen,  daß  in  Nr.  5  der  vor  Miklosich  veröffentlichten  »Volks- 


1)  Aus  einer  herzegowinischen  Stadt  ist  mir  der  Fall  bekannt,  daß  die 
junge  Frau  eines  höheren  mohammedanischen  Beamten  ihren  Mann  vom 
Amte  abzuholen  begann,  aber  dadurch  einen  so  großen  Skandal  hervorrief, 
daß  sie  ihre  Besuche  bald  aufgeben  mußte.  Wie  sehr  die  Frauen  in  Bosnien 
noch  in  der  Furcht  des  Herrn  erzogen  sind,  zeigt  ein  Vorfall,  den  ich  auf 
einer  Station  der  Bahn  Novi-Banjaluka  beobachtete:  die  Ankunft  des  Zuges 
erwarteten  mehrere  vornehme  Mohammedaner,  die  Frau  eines  von  ihnen 
stand  aber  in  einiger  Entfernung  mit  dem  Rücken  gegen  den  Zug  und  rührte 
sich  auch  nicht,  als  sich  letzterer  in  Bewegung  setzte.  Das  soll  man  im 
übrigen  Europa  erleben ! 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  363 

epik  der  Kroaten«  (Denkschriften  XIX)  die  Frau  des  Milos  Kobilovic  djevojka 
genannt  wird  (s.  die  V.  26,  43,  47,  72). 

Gegen  L.  Zore  und  die  Belgrader  Ausgabe  der  Werke  Vuk's  vertritt  6. 

SS,  ähnlich  L.  68)  die  offenkundige  Eichtigkeit  des  Ausdruckes  uboske  haljine 
=  Waisenkleider;  ebenso  die  weniger  glaubwürdige  Konjektur  Vuk's  noze 
für  das  handschriftliche  nozve  und  für  das  von  Jagic  vorgeschlagene  mestve 

sti — 87),  für  welches  ich  noch  anführe:  Dado(h)  rodu  mestve  i  papuce  A. 
Mangi,  Zivot  i  obicaji  Muslimana  u  Bosni  i  Hercegovini,  195);  L.  (68)  plaidiert 
für  nazuvke.  Unter  uzinati  versteht  C.  das  Essen  oder  Mahl  überhaupt,  sein 
Beispiel  aus  Jukid  spricht  für  das  Essen  um  die  Mittagszeit.  In  solchen 
Dingen  sind  jedenfalls  Unterschiede  nach  den  einzelnen  Gegenden  vorhanden. 
Nach  M.  Stojkovic  gibt  es  im  mittleren  Dalmatien  drei  Mahlzeiten  (abgesehen 
vom  »zagristi«  vor  Beginn  der  Arbeit):  rucak  um  9  Uhr,  uzina  um  2 — 3  Uhr 
und  vecera.  Ähnlich  fällt  wenigstens  in  manchen  Gebieten  der  Hercegovina 
das  uzinane  auf  2  Uhr  Nachm.  Beim  V.  86  hätte  sich  6.  ohne  Zaudern  dafür 
Liitscheiden  sollen,  daß  srca  argiaskoga  auf  das  griech.  xcüqiaTTjs  zurückzu- 
führen und  nicht  in  rcljavoga  (so  namentlich  L.  68 — 69)  zu  verbessern  ist  (vgl. 
im  akadem.  Rjecnik  horjadski,  orjadski,  horjaski,  horjatski,  orjatski,  ho- 
rjacki;  schon  die  verschiedenen  Formen  weisen  auf  ein  Fremdwort  hin);  die 
Bedeutung  haben  Fortis  und  Goethe  richtig  erfaßt;  »schlecht  und  feige« 

L.45,  auch  in  der  Übersetzung  V.  88)  ist  verfehlt,  speziell  feig  trägt  etwas 
hiaein,  wovon  keine  Rede  sein  kann. 

Dem  rätselhaften  podkliuvaz  (V.  59),  das  aber  von  Anfang  richtig  mit 
Schleier  übersetzt  wurde,  können  wir  heute  schon  beikommen.  L.  (67)  verweist 
auf  duvak  und  puliduvak,  A.Hangi  (Zivot  i  obicaji  Muslimana)  führt  an  puhli 
dnvak  (1S3),  alduvak,  duvak  (217,  221),  Mehmed  F.  beg  Kulinovid  im  Zbornik 
za  narodni  zivot  i  obicaje  duvak  III,  147,  pulliduvak  [nasarani  duvak,  also 
bunter  Schleier)  IV,  29.    Vgl.  überdies  die  Belege  im  akad.  Rjecnik  II.  907 

darunter  auch  purli  duvak).  Auszugehen  ist  von  podclavac  der  Spalatiner 
8.  (vgl.  Miklosich  1.  c,  29  [439]),  das  Fortis'  Freunde  in  podkliuvaz  veränder- 
icu,  wahrscheinlich  mit  Anlehnung  an  kljuvati,  kljuv;  auf  mich  wenigstens 
machte  die  Verhüllung  der  Mohammedanerinnen  in  Mostar  immer  den  Ein- 
druck, als  ob  sie  einen  Schnabel  oder  eine  Wäschklammer  im  Gesichte 
I  rügen.  In  dem  handschriftlichen  podcluvac  braucht  man  nur  c  an  Z  zu 
liicken  und  man  hat  das  erwartete  duvak;  ähnlich  wurde  pod  aus  pul  ver- 
siliricben  (der  eine  Strich  von  ii  wurde  umgekehrt  mit  l  zu  d)  und  mißdeutet; 
(las  einsilbige  pul  ist  bezeugt  durch  pulcazi  (L.  67)  in  Hrv.  nar.  pjesme,  izd. 
iMatica  llrvatska,  IV.  249,  309. 

Die  Verschleierung  (zavijati)  einer  mohammedanischen  Braut  in  Bos- 
nien und  Herzegowina  beschreibt  A.  Ilangi  (221)  also:  man  nimmt  eine  sehr 
l'idne,  aber  undurchsichtige  weiße  Leinwand  und  bedeckt  mit  ilir  das  Kinn, 
den  Mund  und  die  Hälfte  der  Nase;  diese  Leinwand  heißt  ja*'»*«/«'.  Darauf 
nimmt  man  eine  andere,  etwas  dickere  und  noch  mehr  weiße  Leinwand,  wirft 
sie  dem  Mädchen  über  den  kleinen  Fes  so,  daß  sie  den  Kopf,  die  Stirne,  die 
Ohren  und  einen  sehr  kleinen  Teil  der  Nase  bedeckt,  das  nennt  man  rcmher. 
Zwischen  dem  cember  und  jasmak  bleibt  ein  sehr  kleiner  Kaum,  iu  der  Breite 


364  Kritischer  Anzeiger. 

eines  oder  zweier  Finger,  so  daß  man  hindurchschauen  kann.  Über  den 
Rücken  bekommt  sie  dio  f er edia,  ein  langesOberkieid  fkajiUt,  von  schwarzem 
oder  grünem  Loden,  ähnlich  einem  Havelock  mit  Armein.  Auf  die  feredza 
wirft  man  ihr  die  haolija,  eine  weiße  zottelige  Leinwand,  ungefähr  2  m  lang, 
bis  zu  Im  breit,  die  man  mit  einer  Stecknadel  auf  dem  Kopfscheitel  so  be- 
festigt, daß  die  Breite  über  die  feredia  herunterfällt  und  die  Länge  die 
Schultern  und  Hände  bedeckt.  Darüber  kommt  der  duvak  oder  aldu- 
vak,  eine  große,  sehr  dünne  und  durchsichtige  Leinwand.  Auch  der  duvak 
wird  am  Kopfe  befestigt  und  das  eine  Ende  vorn  bis  zum  Gürtel,  hinten  aber 
noch  niedriger  gebunden. 

In  ähnlicher  Weise  verhüllen  sich  aber  auch  die  verheirateten  Frauen, 
wenn  sie  ausgehen,  nur  tragen  sie  keinen  duvak  auf  dem  Kopfe;  der  duvak 
gebührt  nur  den  Mädchen,  wenn  sie  zur  Vermählung  ziehen 
(ib.  222).  So  wird  auch  die  Bitte  der  geschiedenen  Frau  an  ihren  Bräutigam 
begreiflich,  daß  er  einen  langen  puliduvak  mitbringen  möge,  so  erfährt  auch 
der  Gebrauch  des  Ausdruckes  djevojka  nur  in  diesem  Abschnitt  (V.  56,  .59, 
64,  65)  eine  tiefere  Begründung:  die  Frau  will  eben  wie  ein  Mädchen  behan- 
delt werden  (nach  Hangi,  o.  c.  244  sind  bei  der  Vermählung  einer  Witwe  auch 
dieselben  Hochzeitsgebräuche  üblich,  doch  über  den  duvak  wird  man  sich 
aus  dieser  und  der  obigen  Nachricht  nicht  klar),  damit  sie  ihre  Waislein  nicht 
sehe,  wenn  sie  am  Hofe  des  Aga  vorüberkommt.  Natürlich  muß  der  pulidu- 
vak nicht  als  so  durchsichtig  gedacht  werden,  wie  ihn  Hangi  schildert.  In 
dieser  Hinsicht  kann  die  Verschleierung  früher  viel  strenger  gewesen  sein 
(man  vgl.  die  behördlichen  Maßnahmen  gegen  das  Überhandnehmen  des 
französischen  Schleiers  in  den  letzten  Jahren  in  Konstantinopel),  und  Hangi 
berichtet  auch  direkt  (222),  daß  in  früheren  Jahren  eine  Mädchenbraut,  die 
zu  Roß  nach  einem  anderen  Orte  zog,  eine  peca,  einen  kleinen,  durchsichti- 
gen, sehr  dünn  gewebten  Loden  trug,  damit  der  Raum  zwischen  jasmak  und 
öember  ausgefüllt  würde,  so  daß  sie  von  weitem  schwarze  Augengläser  zu 
tragen  schien;  »heute  hat  das  jedoch  fast  ganz  aufgehört«. 

Da  alle  folkloristischen  Details  für  die  Erklärung  des  Gedichtes  von 
Bedeutung  sein  können,  will  ich  noch  darauf  verweisen,  daß  ein  Mann,  der 
seine  Frau  entlassen  hat,  sofort  wieder  heiraten  kann,  seine  Frau  (pusöenica, 
der  Schriftsprache  gemäß  pustenica)  aber  erst  nach  Verlauf  des  Iddet,  d.  h. 
nach  vier  Wochen  und  zehn  Tagen,  wie  das  auch  für  Witwen  vorgeschrieben 
ist  (Hangi,  78).  Für  die  vollständige  Tadellosigkeit  der  Gattin  Asan-Aga's 
spricht  auch  der  Umstand,  daß  ein  Kadi,  der  Hüter  des  Gesetzes,  um  sie  freit 
(M.  Stojkovic). 

Da  die  Ballade  von  Asan-Aga's  Gattin  trotz  eifrigem  Suchen  im  Volke 
nicht  mehr  gefunden  wurde,  ist  die  Frage  wichtig,  ob  Beziehungen  zu  an- 
deren Volksliedern  vorhanden  sind.  Ö.  (60)  meint,  das  Gedicht  stehe  »ver- 
einzelt, ohne  naheverwandte  Geschichten  da«.  Näher  ist  auf  die  Frage  L. 
(50—56)  eingegangen.  Auch  sie  fand  kein  Lied,  das  das  Grundmotiv  mit  dem 
unsrigen  gemeinsam  hätte.  Dafür  kommt  der  Name  Asan-Aga's  häufig  vor 
(weil  mohammedanische  Vornamen  überhaupt  nicht  zahlreich  sind,  muß  man 
bemerken),  doch  die  mit  demselben  verknüpften  weiblichen  Charaktere  sind 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  365 

sehr  verschieden,  so  daß  ich  diese  Parallelen  als  ganz  belanglos  erklären 
muß;  nur  ein  scheinbar  ganz  junges  herzegowinisches  Lied,  das  schon  vom 
gedruckten  Klaggesang  beeinflußt  sein  könnte,  ist  bedeutsam,  weil  man  den 
Schmerz  der  Mutterliebe  aus  ihm  heraushört  (mitgeteilt  von  Roda  Roda  in 
Über  Land  und  Meer  1904,  I,  37).  Für  den  berühmten  Eingang  bringt  L.  Pa- 
rallelen, namentlich  aus  einem  bulgarischen  Lied;  der  Fundort  desselben, 
Kukus,  durfte  aber  nicht  mit  einem  Rufzeichen  versehen  werden,  denn  der 
Ort  existiert  nördlich  von  Saloniki,  links  vom  Vardar,  so  daß  wir  es  mit  einer 
zweifellos  bulgarischen  Gegend  zu  tun  haben. 

So  trostlos  ist  aber  das  Suchen  nach  Liedern  mit  ähnlichen  Motiven 
nicht,  wie  man  meinen  könnte.  M.  Stojkovic  fand  zwei  ähnliche  Lieder,  in 
denen  der  Mann,  der  seine  Frau  verstoßen  hatte,  Reue  empfindet,  beim 
Wiederannäherungsversuch  an  die  im  Hochzeitszug  befindliche  Frau  zurück- 
gewiesen wird  und  an  gebrochenem  Herzen  stirbt.  In  den  Hrvatske  narodne 
zenske  pjesme  (muslimanske)  von  Mehmed  Dzelaluddin  Kurt  hat  Nr.  6  folgen- 
den Inhalt:  Ali-beg  entläßt  seine  Frau,  weil  die  Schwiegermutter  sie  ver- 
leumdet, und  der  Untreue  angeklagt  hat.  Die  geschiedene  Frau  nimmt  ihre 
Habe  und  kehrt  in  ihr  Haus  zurück,  wo  sie  drei  Freier  findet.  Den  Mann  über- 
fällt Reue  und  er  schickt  seine  Kinder  vor  das  Hoftor,  damit  sie  die  Mutter 
um  Rückkehr  bitten;  sie  beschenkt  die  Kinder:  dem  dreijährigen  Sohne  gibt 
sie  Messer  (vgl.  Vuk's  Konjektur  noze)  und  Handschare,  der  siebenjährigen 
Tochter  Dukaten  von  ihrem  Hals,  und  zieht  weiter;  die  Tochter  nimmt  dem 
Bruder  die  Messer,  ersticht  ihn  und  sich  selbst,  damit  sie  nicht  ohne  Mutter 
als  Waisen  zurückbleiben  müßten.  Vor  Schmerz  stürzt  Ali-beg  zusammen. 
Mit  einem  Fluch  gegen  seine  Mutter  schließt  das  Gedicht,  in  dem  nur  das 
Alter  der  tragisch  handelnden  Tochter  auffällig  erscheint. 

In  der  Iskra,  Zadar  1893,  S.  124  veröiTentlichte  Abdulselam  Beg  Hras- 
nica  ein  Volkslied  unter  dem  Titel  »Hasanaginica«.  Diese  verleugnet  sich 
so  sehr,  daß  sie  für  ihren  Mann  eine  zweite  Frau  freit.  Einmal  beleidigt  sie 
die  zweite  Frau,  weil  diese  übermütig  geworden  war.  Hasanaga  schlägt  und 
entläßt  sie  mit  ihrer  Habe.  Der  Bruder  führt  die  liebe  Schwester  nach 
Hause.  Sie  heiratet  Ali-pasa.  Als  sich  der  Hochzeitszug  dem  Hofe  Hasan- 
aga's  nähert,  steht  dieser  auf  seiner  Kuhi  und  sieht  ihn.  Als  er  vorüber- 
zieht, nimmt  Hasanaga  seinen  Sohn  Mohammed,  geht  vor  das  Hoftor  und 
nüliert  sich  seiner  Frau  mit  den  Worten: 

Cujes  li  me,  moja  vjerna  Ijubo, 
Evo  tebi  sina  Muhameda, 
Na  poklon  ti  dvori  i  timari  I 

Doch  er  bietet  ihr  umsonst  den  Sohn  und  seine  Habe  an,  sie  will  nicht 
einmal  einen  Blick  darauf  werfen  und  treibt  ihr  Pferd  an.  Als  Hasan-Aga 
(lies  sah,  zersprang  ilim  das  Herz.  Das  Lied  zeichnet  sich  durch  ähnliche 
Prägnanz  aus  wie  der  Klaggesang;  der  angeführte  Schluß  umfußt  nur  vier 
X'orse. 

Zwei  andere  von  M.  Stojkovid  herausgefundene  Lieder  besingen  die 
Mutterliebe,  die  im  Klaggesang  eine  so  wichtige  Rolle  spielt.  Diese  Lieder 
sind:   »Tesko  se  majka  s  cedom  rastajo",  Kolo  IX.  (Zagreb  1853),  S.  63,  und 


366  Kritischer  Anzeiger. 

»Ljuba  Malog  Radojice«  in  Vuk  Karadzid's  Srp.  nar.  pj.  I*,  Nr.  739.  Das  bei 
Senj  (Zengg)  aufgezeiclinete  Lied  im  »Kolo«  liat  folgenden  Inhalt:  Der  junge 
Radojica  beschwürt  sterbend  seine  Frau,  vor  drei  Jahren  nicht  zu  heiraten, 
bis  ihr  .Säugling  aufgewachsen  ist.  Doch  nacli  der  Reihe  kommen  die  beiden 
Brüder,  die  Mutter  und  zuletzt  der  Vater,  um  sie  zur  Heimkehr  zu  bewegen. 
Alle  fordert  sie  auf  zu  warten, 

Dokle  uspim  siroticu  moju. 

Da  ne  vidi,  kud  mu  ide  majka, 

Da  ne  strieija  ocima  za  majkom. 
Bei  der  Trennung  bittet  sie  die  beiden  jungen  Schwäger,  ihre  Waise 
zu  beschützen  und  nach  drei  Jahren  nicht  in  Scharlach  und  Seide,  sondern 
ganz  schwarz  zu  kleiden, 

Da  se  znade  da  je  sirotica, 

Sirotica  bez  otca  i  majke. 
Mit  dem  Vater  und  der  Mutter  tritt  sie  die  Rückreise  an,  aber  mitten  im 
dunklen  Waldgebirge  schreit  sie  auf  und  fragt  die  Mutter,  wer  ihre  Waise 
pflegen  werde.  Der  Hinweis  auf  zwei  Tanten  des  Kindes  beruhigt  sie  nicht 
und  sie  stirbt  unter  einer  grünen  Tanne.  In  der  aus  dem  ekavischen  Osten 
stammenden  Variante  bei  Vuk  tröstet  die  Mutter  die  junge  Witwe,  daß  eine 
Tante  und  die  Schwiegermutter  für  das  Kind  sorgen  werden.  Der  zur  Heim- 
kehr einladende  Vater  fehlt.  Die  Frau  wartet  bis  zum  Sonnenuntergang, 
stillt  das  Kind  und  schläfert  es  ein. 

Da  ne  gleda,  kud  joj  ode  majka. 

Da  ne  cezne  ocima  za  majkom, 

Da  ne  gleda,  otkud  <5e  joj  doci, 

Otkud  li  ce  slatke  sise  dati. 
Die  Schwäger  fehlen.    Zu  Hause  fragt  die  Frau  nach  einer  Woche  den 
Mond  um  das  Befinden  des  Kindes.    Der  Mond  antwortet,  daß  es  gut  ver- 
sorgt sei,  aber  sich  nach  ihrer  Pflege  sehne.    Vor  Schmerz  schreit  sie  auf  und 
fällt  tot  zu  Boden. 

Ein  Volkslied  bei  S.  Mazuranic,  Hrv.  nar.  pj.  119,  gibt  der  Abneigung 
des  Volkes  gegen  die  Wiederverheiratung  —  in  diesem  Falle  eine  erzwun- 
gene —  der  Mutter  kleiner  Kinder  Ausdruck,  die  sie  also  begleiten: 

Cvile,  placu  nejake  sirote : 

»Sijaj,  sunce,  na  cetiri  strane, 

AI  ne  sijaj,  kud  nam  ide  majka!« 
Die  beste  und  für  die  slavische  Philologie  wichtigste  Partie  in  C.'  sWerk 
ist  der  zweite  Teil,  in  dem  das  Aufblühen  der  Pflege  des  serbischen  Volks- 
liedes« »in  der  romantischen  Zeit«  zum  ersten  Mal  eine  auf  reiches  Quellen- 
material gestützte  zusammenfassende  Darstellung  erfährt.  Im  Vordergrunde 
steht  allerdings  die  Geschichte  der  Beschäftigung  mit  dem  serbischen 
Volksliede.  Aus  den  herrlichen  Recensionen  Jakob  Grimm's,  der  so  feines 
Verständnis  für  die  poetischen  Schönheiten  des  serbischen  Volksliedes  be- 
wies und  zu  dessen  Triumphzug  durch  Deutschland  und  die  ganze  gebildete 
Welt  den  Anstoß  gab,  möchte  man  doch  Näheres  erfahren  und  auch  eine 
kritische  Würdigung  seiner  Anschauungen  beanspruchen.    Nach  C.  (110) 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.Murko.  367 

hätten  allerdings  Jakob  Grimm's  Arbeiten  über  das  serbische  Volkslied  als 
Ergänzung  zu  Vuk's  Tätigkeit  »absolute  Gültigkeit  als  Aussprüche 
eines  der  besten  Kenner  der  Sprache  und  Volksdichtung«.  Der  Germanist  6. 
hätte  uns  gerade  aufklären  sollen,  daß  Jakob  Grimm's  mystische  Ansichten 
über  die  Entstehung  der  Volkspoesie  und  anderer  Produkte  des  »Volks- 
geistes«,  speziell  auch  der  Mythologie,  unhaltbar  sind,  daß  auch  in  Bezug  auf 
das  deutsche  Volkslied  gegenüber  dem  Gelehrten  Jakob  Grimm  der  Dichter 
Achim  von  Arnim  im  Recht  geblieben  ist  und  daß  J.  Grimm  namentlich  für 
die  sehr  verdienstvolle  Übersetzungstätigkeit  der  Romantik  kein  Verständnis 
hatte,  so  daß  wir  uns  in  dieser  Hinsicht  auch  bezüglich  des  serbischen 
Volksliedes  entschieden  auf  die  Seite  Goethes  und  des  Frl.  Talvj  stellen 
müssen:  J.  Grimm's  Recensionen,  mögen  sie  noch  so  schön  und  innig  sein, 
und  seine  wörtlichen  Übersetzungen,  die  sogar  irreführend  sind  (124),  hätten 
dem  serbischen  Volkslied  nie  jene  allgemeine  Teilnahme  eingetragen,  die  es 
gefunden  hat.  Gar  sonderbar  nimmt  sich  Ö.'s  (117)  Klage  aus,  daß  eine  »sehr 
fruchtbare  Beobachtung«  J.  Grimm's  »von  den  slavischen  Forschern  nicht 
genug  ausgebeutet  wurde,  nämlich  daß  die  Lieder  manche  Spuren  altslavi- 
schen  Glaubens  liefern«.  Ein  Historiker  der  slavischen  Philologie  muß  im 
Gegenteil  ausrufen:  Leider  zu  viel  und  allzu  lange!  C.  hätte  sich  aus  der 
von  ihm  übrigens  unvollständig  angeführten  Literatur  (vor  allem  fehlt  Mä- 
chars Näkres  slovanskeho  bäjeslovi)  Brückners  »Mythologische  Studien«  im 
»Archiv«  (XIV.  161)  näher  ansehen  sollen,  denn  da  wäre  er  bezüglich  des 
slavischen  Olymps  wohl  skeptischer  geworden.  Um  übrigens  6.  ein  beson- 
ders naheliegendes  Beispiel  anzuführen,  verweise  ich  ihn  auf  die  Abhand- 
lungen Nodilo's  »Religija  Srba  i  Hrvata«,  die  nutzlos  so  viele  Bände  des 
»Rad«  der  südslavischen  Akademie«  füllen.  Auch  brauclite  er  es  nicht  mehr 
den  Gelehrten  zu  überlassen,  »wieweit  sich  die  Geschichte  oder  Hypothese 
mit  der  slavischen  Heimat  des  Orpheus  u.s.w.  als  haltbar,  resp.  unhaltbar  er- 
weisen wird«  (109),  denn  dagegen  verhielten  sich  die  meisten  Slavisten  doch 
von  Anfang  an  ablehnend  und  definitiv  sind  darüber  die  Akten  von  L  Sis- 
manov  (Archiv  XXV)  geschlossen  worden. 

Interessant  ist  es  nur,  daß  sich  Verkovic  auch  auf  J.  Grimm  hätte  be- 
rufen können !  Auch  die  Charakterisierung  des  von  einem  mazedonischen 
Lehrer  betrogenen  Mystifikators  mit  »ein  gewisser  Verkovic«  (21)  nimmt  sich 
im  Munde  eines  Serben  sonderbar  aus  gegenüber  dem  Manne,  der  aus  Bosnien 
stammte,  sich  im  Agramer  geistlichen  Seminar  seine  Bildung  und  die  Ideale 
des  Illyrismus  aneignete  und  dann  unter  den  Südslaven  die  erste  größere  und 
gute  Sammlung  bulgarischer  Volkslieder  in  Belgrad  (1800)  herausgab,  seine 
letzten  Tage  als  bulgarischer  Pensionär  beschloss  und  in  Sophia  auf  Staats- 
kosten begraben  wurde. 

Viel  Gutes  und  manches  Verkehrte,  auch  Übersetzungen  ganzer  Lieder, 
schreibt  aber  Ö.  J.  Grimm  mit  Unrecht  zu,  da  er  eine  ausfülirlieho  Recension 
des  zweiten  Teils  der  ersten  Wiener  Ausgabe  der  Vuk'schen  Volkslieder 
(aus  der  »Wiener  Allgemeinen  Literaturzeitung«  1816,  Nr.  2Ü,  21)  für  das 
Eigentum  J.  Grimm's  (in  dessen  »Kleineren  Schriften«  IV,  4.'{7 — 455)  hält, 
während  sie  Koi)itar  gehört  und  von  Miklosich  tatsächlich  auch  in  dessen 


368  Kritischer  Anzeiger. 

»Kleinere  Schriftena  (347 — 300)  aiif(,'enoinmen  worden  ist.  Meine  Klarstellung 
im  »Kuphorion«  XI.  (lOG — 120)  ist  für  ihn  zu  8|jät  erschienen.  Wie  notwendig 
sie  war,  zeigt  an  vielen  Stellen  gerade  die  Arbeit  Ö.'s,  der  dieses  Irrtums 
wegen  J.Grimm  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  kommen  läßt  flü4, 100).  Aller- 
dings kann  sich  (!J.  nur  mit  schwerem  Herzen  von  J.  Grimm  trennen  (100), 
aber  wir  müßten  froh  sein,  wenn  wir  in  der  Philologie  das  Richtige  aus  in- 
neren Gründen  immer  so  genau  beweisen  könnten,  wie  im  vorliegenden  Falle. 
Überhaupt  kommt  Kopitar  noch  immer  zu  kurz,  indem  sein  Einfluß  auf  den 
Entwicklungsgang  Vuk's  und  auf  die  slavistischen  Studien  zu  wenig  hervor- 
gehoben wird:  nicht  bloß  die  Volksliedersammlung,  sondern  auch  der  Kampf 
um  die  Volkssprache,  die  Grammatik  und  die  erste  Ausgabe  des  Lexikons 
(1818),  in  dem  so  viel  Belehrungen  über  das  serbische  Volkstum  —  dadurch 
bildete  es  lange  ein  Unicum  unter  den  Wörterbüchern  —  Unterkunft  fanden, 
die  J.  Grimm,  der  Wissenschaft  überhaupt,  und  den  Übersetzern  des  serbi- 
schen Volksliedes  zugute  kamen,  sind  ohne  Kopitar  undenkbar,  ebenso 
J.  Grimm's  schöne  und  inhaltsreiche  Vorrede  zur  »Kleinen  serb.  Grammatik«. 
Hätte  6.  Kopitar's  »Kleinere  Schriften«,  auch  die  noch  nicht  gesammelten*), 
deren  Verzeichnis  aber  in  J.  Marn's  Kopitarjeva  Spomenica  [110 — 111)  zu 
finden  ist,  studiert  oder  sich  wenigstens  in  Lj.  Stojanovi6's  akademischer 
Festrede  über  die  grammatische  und  orthographische  Tätigkeit  Vuk  Kara- 
dzid's  (Glas  srpske  kr.  akademije,  LV)  Belehrung  gesucht,  so  hätte  er  vieles 
besser  begriffen  und  vor  allem  einen  argen  Fehler  vermieden:  J.Grimm  über- 
setzte nicht  die  Grammatik  von  1814  (111),  sondern  die  aus  dem  Lexikon 
(1818),  zwischen  denen  ein  gewaltiger  Unterschied  besteht.  Über  die  Un- 
brauchbarkeit  der  Übersetzung  Tirol's  für  J.  Grimm  (114)  sind  wir  auch  von 
Vuk  Karadzic  selbst  (Gramaticki  i  polemicki  spisi  III.  121 — 122)  unterrichtet. 
Besonders  fühlbar  ist  aber  der  Mangel,  daß  Ö.  die  große,  inhaltsreiche  und 
viel  benutzte  Eecension,  welche  Kopitar  der  Leipziger  Ausgabe  der  Volks- 
lieder widmete  und  dabei  zum  zweiten  Male  J.  Grimm  in  schönster  Weise 
ergänzte  (Jahrbücher  der  Literatur,  1825,  B.  XXX.  159 — 274),  nur  in  einer 
Anmerkung  (116)  und  in  der  Bibliographie  erwähnt.  Hier  (S.  161)  stehen 
Kopitar's  prophetische  Worte,  die  auch  von  J.  Grimm  und  Goethe  variiert 
wurden:  »Durch  Vuk's  Wörterbuch  und  Grammatik  und  diese  neue,  in  Or- 
thographie mit  dem  Wörterbuch  harmonierende  Ausgabe  der  Lieder  ist  also 
die  serbische  Literatur  in  Beispiel  und  Regel  begründet;  und  wir  können  ihre 
Fortentwicklung  ruhig  ihrer  eigenen  innewohnenden  Lebenskraft  überlas- 
sen«. Es  verdiente  auch  erwähnt  zu  werden,  wie  sehr  der  Ruhm  der  Volks- 
lieder und  namentlich  die  Teilnahme  J.  Grimm's  und  Goethe's  Vuk  Karadzid's 
reformatorische  Bestrebungen  gefördert  haben. 

Da  6.  J.  Grimm's  Aussprüchen  über  die  serb.  Volkspoesie  »absolute 
Gültigkeit«  zuschreibt,  so  wird  es  begreiflich,  daß  er  auch  für  Vuk  Karadzid 
kein  Wort  der  Kritik  findet.  Beim  Klaggesang  sieht  er  zwar,  daß  man  mit 
Vuk's  Einteilung  der  »Heldenepen«  in  mythologische,  geschichtliche  und  le- 


1)  Es  wäre  eine  Ehrenpflicht  der  slavischen  Philologie  diese  Lücke  bald 
auszufüllen. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  369 

gendenhafte  nicht  auskommt  und  daß  diese  Ballade  besser  unter  die  »Fa- 
milienlieder« einzureihen  wäre  (58 — 59),  aber  dabei  bleibt  er  stehen.  Daß  sich 
auch  die  Einteilung  in  Frauen-  und  Männerlieder  nicht  bewährt,  daß  man 
die  mythologische  Gruppe  geradezu  streichen  kann,  sei  nur  erwähnt.  Für 
die  Unhaltbarkeit  der  Vuk'schen  Anschauungen  über  die  Volkslieder  liefert 
einen  Beweis  auch  die  Belgrader  Ausgabe  derselben,  die  von  vier,  bezw. 
sechs  1)  Bänden  auf  neun  angewachsen  ist,  durch  ihre  zahlreichen  Lieder,  die 
Vuk  als  von  »schlechten  Sängern«  herrührend  bei  Seite  gelegt  hat.  Für  Vuk 
waren  dabei  nicht  bloß  sprachliche,  stilistische  und  ästhetische  Rücksichten 
maßgebend,  sondern  er  nahm  sogar  am  Inhalt  Anstoß,  wenn  derselbe  mit 
»  dem  gesunden  Menschenverstände  «  nicht  in  Einklang  war.  Klassisch  ist  seine 
Begründung  2),  daß  ein  von  Steic  herausgegebenes  Lied  von  Kraljevic  Marko 
schlecht  sei,  weil  der  Held  darin  ein  Gewehr  trägt,  was  mit  der  Geschichte 
und  einem  anderen  Liede,  dem  zufolge  Marko  freiwillig  die  Welt  verließ,  als 
das  Gewehr  aufkam,  im  Widerspruch  stehe.  Solche  Strenge  gegenüber  Ana- 
chronismen übte  allerdings  Vuk  Karadzic  selbst  nicht  immer,  weil  er  zum 
Glück  mit  dem  historischen  Hintergrund  der  Lieder  zu  wenig  vertraut  war. 
Manche  Schwächen  Vuk's  können  jedoch  gerade  durch  den  Hinweis  auf  die 
Anschauungen  seiner  Lehrer  entschuldigt  werden.  So  billigten  Kopitar  und 
Grimm  auch  seine  Herstellung  sprachlich  korrekter  Texte,  weil  es  sich  darum 
handelte,  das  Muster  für  eine  aus  dem  Volke  hervorgegangene  Schriftsprache 
im  Gegensatz  zum  kirchenslavisch-russisch-serbischen  Gemisch  zu  schaffen. 
Dieser  Zweck  ist  auch  erreicht  worden;  im  Vergleich  damit  haben  allerdings 
unsere  heutigen  Bedenken  gegen  seine  Textbehandlung  wenig  zu  bedeuten, 
nur  soll  Vuk's  Methode  nicht  verschwiegen  werden. 

Am  besten  sind  0.  die  Kapitel  gelungen,  in  denen  er  das  Interesse  und 
die  besonders  folgenreiche  Teilnahme  des  alten  Goethe  für  das  serbische 
Volkslied  schildert,  was  ich  ihm  hoch  anrechne,  obgleich  ihm  die  Goethe- 
Philologie  gründlich  vorgearbeitet  hatte.  Zu  den  bekannten  Artikeln  Goethe's, 
welche  das  serbische  Volkslied  betreffen,  kommt  ein  neuer  Aufsatz  aus  dem 
J.  1824  unter  dem  Titel  »Serbische  Literatur«,  der  erst  in  den  Lesarten  der 
Weimarer  Ausgabe  aus  Goethe's  Handschriften  1903  veröffentlicht  worden 
ist  (127—129).  Noch  vor  der  Übersetzungstätigkeit  Talvj's  wollte  Goethe  in 
seiner  Zeitschrift  »Über  Kunst  und  Altertum«  die  Veröffentlichungen  Vuk's 
empfehlen  und  verweist  auf  J.  Grimm's  Recension,  aus  deren  erstem  Drittel 
er  einen  längeren  Auszug  bringt.  Mit  Rücksicht  auf  die  Teilnahme,  die  sein 
Klaggesang  gefunden  hatte,  fühlte  er  sich  verpflichtet,  »eine  Sprache,  die 
uns  nun  durch  Grammatik,  Lexikon  und  so  viel  Mustergedichte  zugänglich 
geworden,  dringender  zu  empfehlen«.  Nur  cum  grano  salis  ist  dagegen  der 
folgende  Satz  (12S)  zu  nehmen:  »Nie  hab"  ich  aufgehört,  mich  mit  Geilichten 
aus  serbischen  Dialekten  bekannt  zu  machen,  aus  Übersetzungen  freilich 


1)  In  seiner  Bibliographie  übersieht  6.  (213)  das  fünfte  Buch  der  Hel- 
denlieder (über  die  Kämpfe  der  Montenegriner),  Wien  18G5,  und  die  Frauen- 
lieder aus  der  Herzegowina,  Wien  1S6G. 

2)  Srp.  nar.  pj.IV.*XXXL 

Arcliiv  für  slavische  Philologie.    XXVIII.  24 


370  Kritischer  Anzeiger. 

nur,  womit  mich  meine  ungarischen  Freunde  versahen«.  Unter  den  «ungari- 
schen Freunden»  sind  aber  nicht  "Serben  aus  Ungarn,  speziell  Vuk  (I;  und 
seine  J'reunde«  zu  verstehen,  sondern  Jenenser  protestantische  Theologen, 
und  zwar  Slovaken  (vgl.  S.  122,  meinen  Aufsatz  im  »Euphorion«  XI.  115;. 
Kopitar's  Übersetzung  der  ersten  Lieferung  der  serbischen  Volkslieder,  die 
im  Goethe-Archiv  ruht,  vordient  eingesehen  zu  werden,  wobei  auch  festge- 
stellt werden  könnte,  ob  die  Widmung  »eines  Slavcn«  von  Kopitar  selbst 
herrührt  oder  Vuk  von  ihm  diktiert  wurde. 

In  einem  auffallenden  Gegensatz  zur  Vorliebe  Ö.'s  für  J.  Grimm  steht 
eine  gewisse  Abneigung  gegen  Talvj,  gegen  die  »hochbegabte  und  durch 
herrliche  Charaktereigenschaften  hervorragende  Frau«,  auf  deren  »im  Ganzen 
vortrefflichen  Übersetzungen«  lange  Jahre  »fast  alle  Kunde  der  gebildeten 
Welt  von  den  serbischen  Volksliedern«  beruhte,  die  bezüglich  des  serbischen 
Volksgesanges  »nach  dem  berühmten  Sammler  .  .  .  das  grüßte  Verdienst  für 
sich  in  Anspruch  nehmen  darf«.  So  urteilte  Miklosich  (Über  Goethe  Klag- 
gesang 52— 53  =  Sitzungsberichte  der  phil.-hist.Klasse  der  Wiener  Akademie 
CHI.  462 — 463),  doch  O.'s  ganze  Darstellung  lehnt  sich  dagegen  auf.  Miklo- 
sich war  wahrlich  kein  schöngeistiger  —  von  der  dort  nur  in  Bruchstücken 
veröffentlichten  Korrespondenz  Talvj's  mußte  ich  ihm  als  Abschreiber  man- 
ches Stück  abringen  —  und  für  das  Frauenzimmerhafte,  um  mit  J.  Grimm  zu 
reden,  begeisterter  Philologe,  aber  er  behält  Recht,  wenn  er  sich  gegen  Ko- 
pitar, Vuk  und  J.  Grimm  auf  ihre  Seite  stellt,  wo  wir  auch  Goethe  und  alle 
Zeitgenossen  finden,  die  sich  aus  ihren  Übersetzungen  für  das  serbische 
Volkslied  begeisterten.  Ö.  glaubt  uns  etwas  ganz  Neues  zu  sagen,  wenn  er 
Talvj  vorwirft,  daß  für  ihre  Beschäftigung  mit  dem  serbischen  Volkslied  als 
Hauptmoment  der  Wunsch  in  Betracht  gekommen  sei,  eine  Verbindung  zwi- 
schen ihr  und  Goethe  herzustellen  (132;;  daraus  machte  sie  ja  selbst  kein  Ge- 
heimnis, daß  ihre  Verehrung  für  Goethe  sie  zur  Arbeit  angeregt  und  sein  In- 
teresse an  derselben  sie  zur  Ausdauer  ermuntert  hat.  Und  wie  viele  Menschen 
suchten  sich  Goethe  zu  nähern,  die  ihm  keine  derartige  Gabe  bringen  konn- 
ten! Übrigens  war  Goethe's  Interesse  für  das  serb.  Volkslied  nicht  bloß  für 
Talvj,  sondern  auch  für  Männer  wie  Ranke  maßgebend  (185).  Auch  weicht 
Talvj  von  ihren  Grundsätzen  nicht  allzu  sehr  ab  (133 — 134),  wenn  sie  Goethe 
auf  seinen  speziellen  Wunsch  (146)  ein  etwas  frivoles  Gedicht  übersetzt  hat. 
Desgleichen  darf  man  ihr  nicht  allzusehr  »weibliche  Ziererei«  vorwerfen,  wenn 
man  selbst  hervorhebt ,  daß  auch  Vuk  mit  Rücksicht  auf  die  Großherzogin 
von  Weimar  im  I.  Buch  der  Leipziger  Ausgabe  mehr  als  50  geplante  Stücke 
mit  Zustimmung  J.  Grimm's  ausgelassen  hat  (113).  Bei  aller  Verehrung  für 
Goethe  wahrte  sie  sich  aber  auch  ihm  gegenüber  ihr  selbständiges  Urteil, 
manchmal  sogar  sehr  energisch  (139,  142,  149,  150).  Die  allgemeine  Charak- 
teristik der  Übersetzungstätigkeit  Talvj's  (157—160)  ist  ganz  ansprechend, 
aber  es  müßte  bewiesen  werden,  wie  sie  die  Übersetzungen  der  Brüder  Grimm 
(und  Kopitar's !)  benützt  habe,  worin  sich  der  Mangel  ihrer  dichterischen 
Begabung  und  das  Handwerksmäßige  ihrer  Übersetzung  zeige,  und  daß  sie 
J.  Grimm  »im  großen  ganzen  nicht  überboten  habe«. 

Dagegen  kommt  bei  C.  W.Gerhard  zu  seinem  Recht  (163  ff.),  der  bei 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  augez.v.Murko.  371 

Goethe  Talvj  mit  besonderem  Erfolge  ablöste  und  mit  seiner  »Wila«  eine 
gelungene  Ergänzung  zu  ihren  Übersetzungen  lieferte,  natürlich  abgesehen 
von  seiner  Übersetzung  nicht  volkstümlicher  Stücke  und  der  Mystifikation 
Prosper  Merime's,  deren  Geschichte  für  die  Slavisten  besonders  interessant 
ist,  da  ihm  auch  Mickiewicz  und  Puskin  auf  den  Leim  gegangen  sind.  Ich 
möchte  noch  kurz  hinzufügen,  daß  der  abenteuerliche  Phantast  Sima  Miluti- 
novid  nicht  bloß  Goethe  mythologische  Schnurren  und  sogar  die  Fabel,  daß 
sich  »die  Abstammung  des  Schwarzen  Georg  von  dem  unüberwundenen 
Marko«  werde  nahezu  mit  historischer  Gewißheit  nachweisen  lassen,  aufge- 
bunden, sondern  auch  W.  Gerhard,  dem  er  bei  der  Übersetzung  behülflich 
war,  dazu  verleitet  hat,  daß  er  in  seine  Vorrede  Etymologien  wie  Sakontala 
=  zakon  dala  (!)  aufnahm.  Auf  diese  Weise  konnte  er  in  den  serbischen 
Volksliedern  auch  den  Geist  der  alten  Inder  (über  die  Verwandtschaft  der 
nordischen  und  serbischen  Mythologie  vgl.  6.  175)  wiederfinden.  Also  auch 
durch  Gerhard's  Wila  wurde  die  Phantasterei  von  der  Herkunft  der  Slaven 
aus  Indien  i)  verbreitet ! 

Über  den  Erfolg  der  ersten  Übersetzungen,  namentlich  der  beiden  Bände 
des  Frl.  Talvj,  hätte  C.  mehr  berichten  sollen.  Die  Namen  der  vorzüglichsten 
Köpfe,  welche  in  Berlin  das  serbische  Volkslied  mit  Enthusiasmus  aufnahmen 
(155),  sind  sehr  interessant  (Hitzig,  Raupach  [W.  Alexis]  Häring,  Streckfuß, 
Stägemann,  Houwald,  Varnhagen,  Fouqu6  etc.,  d.  h.  das  ganze  literarische 
Berlin,  das  im  romantischen  Lager  stand),  nicht  minder  die  Tatsache,  »daß 
strenge  Juristen,  die  sonst  die  schöne  Literatur  ziemlich  an  den  Nagel  ge- 
hängt haben,  wie  z.  B.  Savigny  —  sich  innig  mit  ihnen  befreundet  haben  und 
sie  wiederholt  lesen«  (Talvj's  Brief  an  Kopitar  vom  4.  Nov.  1826).  Vor  allem 
sollte  aber  der  zahlreichen  Recensionen  gedacht  werden,  deren  schnelles  Er- 
scheinen in  den  Literaturzeitungen 2)  Talvj  »fast  unerhört«  nennt,  doch  Ö.  hat 
nicht  einmal  die  von  W.  Müller  (sie  steht  in  der  Allgemeinen  Literatur-Zei- 
tung, Halle  und  Leipzig  1826,  II,  Bd.,  Nr.  117,  Mai,  S.  99— 103j  herausgesucht, 
derentwegen  Talvj  von  Kopitar  geneckt  wurde.  Die  Meinung  des  Übersetzers 
und  Nachahmers  der  Griechenlieder  über  die  serbische  Volkspoesie  wäre 
doch  im  höchsten  Grade  interessant  und  Ö.  hätte  daraus  ersehen,  daß  auch 
dieser  bedeutende  Vertreter  der  Literatur  gegen  J.  Grimm  zugunsten  Talvj's 
polemisiert.  Auch  blieb  es  ihm  nicht  unbekannt,  daß  es  noch  in  Greuz- 
Kroatien  und  Dalmatien  Lieder  gebe,  denn  er  hatte  sich  eben  von  Kopitar 
belehren  lassen,  dessen  vortreffliche  Übersicht  (in  den  Wiener  Jahrbüchern) 
er  rühmt. 

Die  übrigen  fünf  Übersetzer  des  serb.  Volksliedes  in  deutscher  Sprache 
oder  wie  0.  schreibt  »in  Deutschland«  (vier  waren  Österreicher,  darunter 
Wesely  ein  Ccche  mit  nationalem  Bewußtsein,  Kapper  schlug  sich  aber  aus 
der  Gruppe  der  schriftstellernden  böhmischen  Juden  zu  den  Cecheu,  eiuer 


')  Vgl.  meinen  Artikel  über  die  ersten  Vcrgleicher  des  Sanskrit  mit  den 
slavischen  Sprachen,  iiV/r/ jugosl.  akademije,  132.  Bd.,  S.  106,  107—110,  114 — 
115;  Deutsche  EinHüssc  auf  die  Anfänge  der  böhmidchen  Romantik  49—51. 

-)  Mohr  darüber  im  »Euphorion«. 

24* 


372  Kritischer  Anzeiger. 

Doutsch-Russc)  verdienten  immerliin  eine  genauere  Würdigung  und  Charak- 
terisierung, da  sie  zum  Teil  wenig  bekannte  Männer  sind;  über  Wesely  und 
Goetze  macht  (!'.  eigentlich  nur  bibliographische  Angaben.  Wesely,  der  seine 
Arbeit  vor  Talvj  fertig  hatte,  ist  vom  ästhetischen  Standpunkt  aus  wohl  der 
schlechteste  Übersetzer,  den  die  serbische  Volkspoesie  gefuuden  hat,  aber 
seine  Vorrede  zeigt  richtiges  Verständnis  für  den  Gegenstand  und  verdient 
Beachtung  wegen  seiner  Nachrichten  über  das  Fortleben  des  Volksliedes  in 
Slavonien  (die  Art  des  Vortrages  schildert  er  aus  eigener  Anschauung,,  Syr- 
mien  und  Backa.  Gewidmet  war  die  Übersetzung  dem  bekannten  serbischen 
Mäzen  »Sabbas  Tökely,  dem  Beförderer  der  Kunst  und  Wissenschaft". 

Bezüglich  des  russischen  Staatsrates  F.  von  Goetze  verläßt  sich  6, 
blindlings  auf  das  Urteil  Talvj's,  die  ihm  »ein  höchst  unbescheidenes  Plagiat« 
vorwirft.  Die  Sache  steht  jedoch  nicht  so  einfach.  Goetze  lieferte  eine  von 
der  russischen  Kritik  als  gelungen  bezeichnete  Übersetzung  russischer 
Volkslieder  (Stimmen  des  russischen  Volkes  in  Liedern,  Stuttgart  1828), 
dachte  an  eine  Sammlung  »Stimmen  der  slavischen  Völker  in  Liedern«,  ver- 
kehrte 1819  tatsächlich  mit  Vuk  Karadziö  in  Petersburg  und  erhielt  von  ihm 
auch  handschriftliches  Material,  denn  in  seinen  »Serbischen  Volksliedern« 
steht  ein  Lied,  das  ich  in  Vuk's  Werken  nicht  finden  konnte,  als  ich  mich 
Vorjahren  damit  beschäftigte  (derzeit  war  mir  das  Büchlein  unzugänglich). 
Es  ist  auch  begreiflich,  daß  es  ihm  noch  leichter  fiel,  sich  in  das  Serbische 
hineinzuleben,  als  Talvj,  obgleich  auch  ihre  russischen  Kenntnisse  größer 
gewesen  sein  müssen,  als  sie  vorgibt.  Beim  Vergleichen  einiger  Lieder  in 
der  Übersetzung  Talvj's  und  Goetze's  kam  ich  zu  keinem  bestimmten  Urteil ; 
oft  ist  Goetze  von  Talvj  in  der  Tat  sehr  abhängig,  aber  z.  B.  die  Erbauung 
Skadars  übersetzt  er  V.  121 — 178  nach  dem  Grundtext,  Talvj  dagegen  nach 
einer  Variante. 

6.  ist  es  entgangen,  daß  zu  den  ersten  Übersetzern  des  serb.  Volks- 
liedes auch  Anastasius  Grün  gehört;  seine  aus  dem  Jahre  1828  stammenden 
Proben  sind  erst  von  F.  v.  Radics  (Serbenlieder,  Leipzig  1879)  herausgegeben 
worden,  doch  veröffentlichte  A.Grün  selbst  einige  Lieder  im  Horraayer'schen 
»Taschenbuch  für  die  vaterländische  Geschichte«,  so  B.XXIX  (1840),  S. 418 — 
425,  vgl.  B.  XXXVI  (1847),  S.206.  In  Gerhard's  Vorwort  wird  auch  Herloß- 
sohn  als  Übersetzer  genannt. 

Bei  L.  A.  Frankl  wäre  nachzutragen ,  daß  seine  Einleitung  und  die 
höchste  Treue  anstrebenden  Übersetzungen  deshalb  so  gut  ausfallen  konnten, 
weil  er  im  lebhaftesten  Verkehr  mit  Vuk  Karadzic  und  seiner  Tochter  »der 
geistvollen  Serbin«  stand.  Auch  Miklosich  gehörte  zu  dem  Kreise. 

Als  der  beste  Übersetzer  nach  Talvj  wird  von  Ö.  mit  Recht  S.  Kapper 
erklärt.  Er  bereiste  jedoch  nicht  bloß  Serbien  und  Bosnien,  sondern  hielt  sich 
zuerst  in  Kroatien  als  Arzt  in  Karlstadt  auf,  wo  er  im  Verkehr  mit  Drag.  Kusljan, 
Ivan  Mazuraniö  und  I.Tkalac  das  Leben  und  die  Literatur  der  Südslaven  stu- 
dierte i).  Seinem  Zyklus  »Lazar  der  Serbenzar«  und  I.N.  Vogl's  Marko  Kralje- 
vits  sind  jedoch  ähnliche  Versuche  von  Serben  selbst  vorangegangen :  Pesme 


Ottüv  Slovnik  naucny  XIII,  974. 


^. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Marko.  373 

Kralevica  Marka,  sovokuplene  iz  razliciti  pesnarica,  Pest  18361)  (80,  135  S., 
erlebte  bis  1857  acht  Auflagen  2])  und  I.  J.  pl.  Novic,  Lazarica  ili  boj  na  Ko- 
sovu,  Novi  Sad  1847,  doch  sind  beide  Ausgaben  nur  Nachdrucke  aus  Vuk 
Karadzic's  Volksliedern  3),  die  aber  immerhin -den  beiden  Übersetzern  als 
Vorlage  gedient  haben  können. 

Die  Bemerkungen  C.'s  (190  ff.)  gegen  die  Kontaminierungs-  und  Unifor- 
inierungssucht  der  einzelnen  Volkslieder,  um  daraus  ein  Volksepos  zu  schaf- 
fen, verdienen  Beifall.  Nur  sollte  C.  sich  selbst  treu  bleiben  und  sich  nicht 
ein  einheitliches  Idealbild  vom  Kraljevic  Marko  bilden,  an  dem  niemand 
rütteln  dürfte,  denn  er  schlägt  sich  gar  zu  eifrig  mit  allen  (Goethe,  Talvj, 
Gröber)  herum,  die  an  ihm  etwas  auszusetzen  hatten.  An  den  Namen  und  die 
Persönlichkeit  haben  sich  ja  im  Laufe  der  Jahrhunderte  im  weiten  slavischen 
Süden  die  verschiedenartigsten  Motive  geknüpft,  so  daß  wir  an  Marko  die 
widersprechendsten  Züge  konstatieren  können.  Nach  der  neuesten  Unter- 
suchung von  M.  Chalanskij  iCranu  no  cjraBHnoEiAiuiH)  der  russ.  Akademie  L 
113  ff.)  werden  nicht  weniger  als  neun  Motive  bloß  mit  dem  Tode  Marko's  in 
Zusammenhang  gebracht.  Übrigens  informiert  C.  die  wissenschaftliche  Welt 
auch  liier  ungenau,  wenn  er  bloß  von  der  »rührenden  Liebe  aller  Serben  für 
ihren  Marko«  (140)  spricht;  sie  ist  ja  nicht  geringer  bei  den  Kroaten  4)  und 
Bulgaren,  und  selbst  zu  den  Slovenen  sind  Markolieder  vorgedrungen;  in  den 
»Hrvatske  narodne  pjesme«  der  »Matica  hrvatska«  ist  ja  der  ganze  U.  Band 
(Agram  1897j  den  Marko-Liedern  gewidmet,  in  denen  beachtenswerte  Va- 
rianten und  neue  Lieder  vorkommen  (vgl.  die  oben  genannte  Abhandlung 
Chalanskij's),  und  in  jüngster  Zeit  wurden  wir  auch  von  bulgarischer  Seite 
mit  einer  ähnlichen  Publikation  (samt  Einleitung)  beschenkt:  V.  Jurdanov, 
KpajiH  MapKO  et.  öi-irapcKara  napOAua  enuKa  (B.  I  des  CöopuuKt  ua  Et^irapcKOTO 
Knu/KOBHO  ÄpyacccTBO;,  Sofija  1901.  Vor  allem  hätte  aber  C.  das  dreibändige 
""A'crk  über  Kraljevid  Marko  des  Russen  M.  Chalanskij  (lOacuocjiaBKHCKia  cKa- 
■sAiLifi  0  Kpa.;ieBiiqi  MapKi,  Warschau  1893 — 1895),  das  bedeutendste  Werk 
über  die  südslavische  Volkspoesie,  erwähnen  müssen,  umsomehr,  als  er  die 
kleinere  Arbeit  über  den  Kosovo-Zyklus  zitiert.  Trotz  des  ausführlichen 
kritischen  Referates  von  T.  Maretic  im  »Rad«  (132.  Bd.)  und  der  Anzeigen 
Jaii:ic's  im  Archiv  (XVL  und  XVIL)  scheint  das  Werk  bei  den  Südslaven  den 
vi>n  Maretid  erwarteten  Umschwung  im  Studium  ihrer  Volkspoesie  nicht 
rocht  herbeizuführen;  für  die  Frage  der  internationalen  Motive  in  der  süd- 
slavischen  Volkspoesie  hätte  C.  (vgl.  5 — 7)  daraus  sehr  viel  lernen  können. 

Für  eine  philologische  und  ästhetische  Würdigung  der  deutschen  Über- 
setzungen serbokroatischer  Volkslieder  bleibt  also  noch  manches  zu  tun. 


1)  Fehlt  in  St.  Novakovic's  Srpska  bibliografija. 

2)  St.Ciszowski,  Wisla  VI  (Warschau  1892),  31.  Daß  man  die  beste  Über- 
jiicht  der  serbokroatischen  Folkloristik   in   einer   polu.   Zeitschrift  suchen 

miß,  sei  für  C.  und  andere  serb.  und  kroat.  Ilausphilologeu  auch  augemerkt. 

3)  Ib.  35. 

*)  C.  kann  es  doch  nicht  ont,i;-angen  sein,  daß  selbst  in  Novi  Sad  und 
'aucevo  Nachdrucke  von  Markoliederu  in  lateinischer  Schrift  existieren. 


374  Kritischer  Anzeiger. 

Vor  allem  wäre  aber  zu  wünschen,  daß  ein  genaues  und  übersichtliches  In- 
ventar der  Übersetzungen  wenigstens  aller  von  Vuk  Karadzid  herausgegebe- 
nen Volkslieder  angelegt  werde,  denn  abgesehen  von  dem  Interesse,  von 
wem,  wann  und  wie  oft  einzelne  Lieder  übersetzt  worden  sind,  würde  es 
heute  den  westeuropäischen  Folkloristen,  welche  in  das  Original  nicht  Ein- 
sicht nehmen  können,  wesentliche  Dienste  für  die  Heranziehung  des  serbi- 
schen Materials  leisten.  C.  würde  sich  die  wissenschaftliche  Welt  zum  Dank 
verpflichten,  wenn  er  seine  Arbeiten  in  dieser  Hinsicht  fortsetzte.  Die  Zeit 
der  romantischen  Begeisterung  für  das  Volkslied  ist  vorüber,  doch  in  dem 
ethnographisch  vielfach  so  frischen  slavischen  Süden  liegen  sehr  viele  Schätze 
für  vergleichende  Studien  und  auch  für  spezielle  wissenschaftliche  Erfor- 
schung der  Psyche  und  der  geistigen  Erzeugnisse  der  Südslaven,  wofür  sie 
aber  selbst  viel  mehr  beitragen  müssen.  Die  einschlägigen  Arbeiten  der  Groß- 
und  Klein-Russen  wie  Veselovskij,  Chalanskij,  Dragomanov,  I.  Franko  (von 
den  beiden  letzteren  im  bulgarischen  Sbornik  za  narodni  umotvorenija),  des 
Böhmen  J.  Polivka  u.  a.  liegen  ja  als  lehrreiche  Muster  vor. 

Ö.  schlägt  überhaupt  einen  falschen  Ton  an,  wenn  er  klagt  (118),  daß 
besonders  die  »wort-  und  formenreiche,  bildsame  und  edle«  serbische  Sprache 
unter  den  slavischen  stiefmütterlich  behandelt  werde,  »trotzdem  sie  der 
Vater  der  historischen  Sprachforschung  so  warm  allen  ans  Herz  legte«. 
Erstens  ist  die  serbische  Sprache  ein  Teil  der  slavischen  Linguistik,  die  auch 
im  Verhältnis  zur  vergleichenden  Sjjrachforschung  durchaus  nicht  »bisher 
nur  Anläufe  zu  verzeichnen«  hat,  zweitens  ist  aber  gerade  die  serbische 
Sprache  vielfach  Gegenstand  von  Spezialabhandlungen  auch  deutscher 
Sprachforscher  gewesen,  namentlich  wegen  ihrer  Betonung. 

Ö.  will  überhaupt  bezüglich  aller  möglichen  Fragen  der  slavischen 
Philologie  seine  eigene  Meinung  haben,  wofür  ihm  die  Begründung  fehlt.  So 
behauptet  er  auch  (202),  Dobrovsky  habe  »den  Wert  des  serbischen  Volks- 
liedes nicht  ganz  verkannt,  wie  es  aus  seinen  Briefen  zu  ersehen  ist«.  Aus 
welchen?  Hier  müssen  wir  besonders  um  wissenschaftliche  Genauigkeit 
bitten,  denn  die  Stellung  des  Patriarchen  der  Slavistik,  eines  Auf  klärungs- 
menschen (er  erwartete  vom  slavischen  »Um«  das  Heil  der  Welt!),  zur  Volks- 
poesie ist  eine  Frage  von  prinzipieller  Wichtigkeit.  Was  wir  jedoch  darüber 
wissen,  ist  in  meinen  »Deutschen  Einflüssen  auf  die  Anfänge  der  böhmischen 
Romantik«  (S.  22,  dazu  noch  V.  Jagic,  Briefwechsel  zwischen  Dobrovsky  und 
Kopitar,  S.  557 — 558,  wo  nicht  bloß  von  »Gassenhauern«,  sondern  weniger 
ein  wandsfrei  auch  von  »serbischen  Bänkelsängern«  die  Rede  ist)  gesammelt; 
dort  konnte  C.  auch  erfahren,  daß  uns  Dobrovsky's  Ausfall  gegen  den  Kultus 
mit  den  serbischen  Volksliedern,  den  er  nur  aus  zweiter  Hand  kennt,  und 
deshalb  aus  dem  Serbischen  ins  Deutsche  zurückübersetzt,  Celakovsky  i)  ' 
überliefert  hat.  Von  demselben  Celakovsky  ist  auch  eine  »andere  Sammlung« 
von  »Slovanske  narodni  pisne«  (d.  i.  närodni  pisne),  die  dem  Forscher  über 
das  serbische  Volkslied  in  der  romantischen  Zeit  schon  bekannt  sein  sollte, 
denn  das  sind  »Stimmen  der  slavischen  Völker  in  Liedern«,  deren  III.  Band 


1)  Sebrane  Listy,  199. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  375 

(1827)  überdies  Vuk  Karadziö  gewidmet  war,  der  mit  dem  böhmischen  Ro- 
mantiker 1823  und  1824  in  Prag  verkehrt  hatte  (s.  meine  Deutschen  Ein- 
flüsse 69}. 

Ö.  hat  auch  zur  Frage  der  Entstehung  des  Volksliedes  der  Serben  und 
Kroaten  und  ihres  Metrums,  also  zu  einem  der  kompliziertesten  Probleme 
der  slavischen  Philologie,  in  seiner  Art  Stellung  genommen.  Wie  der  Klag- 
gesang können  seiner  Meinung  nach  auch  andere  Volkslieder  (v^l.  S.  36)  nur 
tiefer  in  Bosnien  und  Serbien  gesucht  werden,  Dalmatien  habe  »die  toten  und 
gekünstelten  15 — 16-Silber«  (112),  die  Dalmatiner  erhielten  »das  Volkslied 
mit  dem  Zehnsilber  aus  Bosnien  und  Serbien«  und  »versuchten  sich  dann 
auch  selbst  an  ihm«  (79),  Das  ist  auch  der  kurze  Sinn  seiner  Geschichte  des 
Zehnsilbers  im  Srpski  KnizevniGlasnikXV.  443flf.,  wo  Ö.  allerdings  eine  noch 
entschiedenere  Sprache  führt:  der  deseterac  drängte  den  längeren  Genossen 
zurück  »u  umetnicku  pesmu,  otkuda  je  upravo  i  dosao  bio«  445).  Ö.  sieht, 
daß  von  der  Volkspoesie  doch  etwas  den  Kroaten  überlassen  werden  muß, 
und  so  opfert  er  ihnen  die  bugarstice  und  weicht  von  Miklosich  nur  insofern 
ab,  als  er  nicht  zugeben  kann,  daß  der  »kroatische  Vers«  älter  sei  als  der 
Zehnsilber.  Dafür  wird  er  aber  trotz  Bogisic  und  Jagic,  die  mit  guten  Grün- 
den beide  Versarten  den  Kroaten  und  Serben  zusprechen,  zu  einem  Antipoden 
des  Prof.  Pavid,  dessen  »patriotische  Rücksichten«  er  beim  Lob  der  kroati- 
schen Volkslieder  übel  vermerkt  (Das  serbische  Volkslied  112),  und  weiß  den 
größtenteils  im  südlichen  Dalmatien  aufgezeichneten  bugarstice,  trotzdem 
sie  Bogisid  sogar  cyrillisch  umgeschrieben  hat,  nur  Schlechtes  nachzusagen: 
sie  pressen  verschiedene  Motive  zusammen  und  vermengen  sie,  die  historischen 
serbischen  Helden  heißen  bei  ihnen  »Ugri«  und  »ugarska  gospoda«  (C.  möge 
sich  darüber  von  Historikern  belehren  lassen!),  mythologische  Motive  kennen 
sie  nicht,  weil  die  frommen  Katholiken  alles  Gottlose  vermeiden  mußten,  und 
noch  verschiedene  andere  Erscheinungen  verraten  mönchischen  Einfluß;  der 
epische  Stil  ist  in  diesen  Liedern  im  Vergleich  zu  »den  echten  Volksliedern« 
ganz  unvolkstümlich,  sie  verraten  den  Einfluß  der  westlichen  Kultur  (Ritter- 
tum, Courtoiaie,  feudale  Elemente,  was  Bogisic  hervorgehoben  hat),  offen- 
kundig ist  die  Berührung  der  Kunstpoesie  mit  diesen  »sogenannten  Volks- 
liedern«, während  »vom  deseterac  das  noch  niemand  gesagt  hat«  (449).  Was 
Bogisid  nur  vermutete,  ist  bereits  seine  feste  Überzeugung,  daß  der  15 — 16- 
Silber  aus  zwei  trochäischen  Achtsilbern  der  lateinischen  Kirchenlieder  ent- 
standen sei. 

Ich  müßte  eine  ganze  Ahhandlung  schreiben,  um  alle  diese  so  apodik- 
tisch vorgetragenen  Anschauungen,  die  sich  wie  eine  Variation  des  Schlag- 
wortes der  russischen  Slavophilen  der  vierziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhun- 
derts vom  »ftiulen  Westen«  auf  südslavischem  Gebiete  bei  einem  modernen 
Germanisten  sehr  sonderbar  ausnehmen,  gehörig  zu  beleuchten  und  zu  wider- 
legen. Ich  möchte  ihm  aber  nur  einige  Tatsachen  entgegenhalten.  Das  ver- 
hältnismäßig hohe  Alter  der  Laugzeile  ist  durch  die  älteste  Aufzeichnung  der 
Volkslieder  bei  Hektorovid  und  durch  Krizanid  bezeugt,  für  den  Zehnsilber 
besitzen  wir  höchstens  Ansätze  bei  Hektorovid  (Ribanje  V.  233  Mnjka  mu 
je  lipo  ime  dila,  V.235  Lipo  ti  je,  brajo  pogletlati  im  Wechsel  mit  S-  und  9-sil- 


376  Kritischer  Anzeiger. 

bigen  Versen,  die  aber  in  der  Originalausgabe  in  Langzeilen  zusammenge- 
zogen sind).  Die  Charakterisierung  der  langzeiligcn  Gedichte  srbskim  naci- 
nom  bei  Ilektoroviö,  die  einschlägigen  Stellen  aus  Barakovic  und  Gundulic, 
der  Name  bugarstica,  pjesan  bugarska  bei  Bogisid  (75,  78,  52)  sprechen  doch 
für  die  Herkunft  aus  dem  Osten.  Dem  Umstände,  daß  Langzeiler  in  der 
Poesie  so  vieler  Völker  das  Ursprüngliche  sind,  will  ich  keine  besondere  Be- 
deutung beimessen,  aber  es  fällt  ins  Gewicht,  daß  Barakovic  in  seiner  Vila 
Slovinka  (gedruckt  1013)  die  Achtsilber  Halbzeilen  (u  poluredke)  nennt  fStari 
pisci  hrv.  XVII,  S.IX, XI).  In  der  gesamten,  so  umfangreichen  dalmatinisch- 
ragusanischen  Kunstdichtung  gehören  15 — 16-Silber  zur  größten  Seltt^nheit 
und  kommen  meist  nur  in  solchen  Gedichten  vor,  die  sieh  stark  an  das  Volks- 
lied anlehnen,  speziell  in  den  Tanzliedern  (pjesan  od  kola,  D.  Ranina  SP. 
XVIII,  S.  157 — 160).  Abgesehen  von  den  von  Bogisid  veröffentlichten  Lie- 
dern wissen  wir,  daß  die  bugarstice  im  südlichen  Dalraatien  noch  im  XVII. 
Jahrh.  so  «tot  und  gekünstelt«  waren,  daß  ein  Bochese,  der  spätere  Erz- 
bischof von  Antivari,  Zmajevid,  vor  seinem  Abgang  nach  Kom  (um  1640 — 42) 
die  höchste  Leistung  der  ragusanischen  Kunstpoesie,  Gundulic's  Epos  »Os- 
man«,  teilweise  aus  Acht-  in  Sechzehnsilber  umarbeitete.  Ich  muß  auch  fra- 
gen, inwieweit  sind  die  daselbst  nicht  viel  später  oder  sogar  gleichzeitig  auf- 
gezeichneten Lieder  im  Zehnsilber,  welche  mit  den  langzeiligen  identisch 
sind  (ich  lasse  die  Frage,  welche  das  Original  bilden,  bei  Seite),  besser  als  die 
vielgeschmähten  bugarstice.  Ö.  bedenkt  auch  nicht,  wie  sehr  er  in  sein  eigenes 
Fleisch  schneidet,  denn  Vuk  Karadzic  hat  namentlich  später  doch  aus  ver- 
schiedenen Gegenden  Dalmatiens  epische,  besonders  aber  viele  lyrische  Lie- 
der aus  Ragusa  und  seinem  Territorium  und  aus  den  Bocche  di  Cattaro,  ja 
ganze  Gruppen  von  Liedern  nur  aus  diesem  Gebiet  gebracht  (vgl.  Nar.  pj. 
B.  I  und  V).  Durch  welches  Wunder  haben  sich  nun  die  Kulturzustände  und 
die  Psyche  dieser  Bevölkerung,  die  auch  weiter  unter  abendländischem  Ein- 
fluß, speziell  unter  dem  noch  verstärkten  der  katholischen  Geistlichkeit 
blieb,  so  geändert,  daß  nach  anderthalb  Jahrhunderten  dort  so  gute  Lieder 
gefunden  werden  konnten? 

In  rührender  Unschuld  weiß  6.  nichts  davon,  daß  gerade  der  Russe  M. 
Chalanskij,  vor  dem  er  doch  Respekt  hat,  weil  er  »überall  ohne  Rückhalt  dem 
serbischen  Volkslied  vor  allen  slavischen  die  erste  Stelle  einräumt«  (8),  auch 
sein  Nationalheiligtum,  den  heroischen  Zehnsilber,  für  ein  Produkt  »un- 
mittelbar westeuropäischen  Einflusses«  erklärt  und  seine  Wege  seit  der 
Epoche  der  Kreuzzüge  angedeutet  hat  (lOacuocjiaB.  CKasaniH  o  Kpa.!ieBuq§ 
MapKi  II.  246,  III.  793—794).  Derselben  Anschauung  huldigt  der  Bulgare 
I.  Sismanov,  dessen  Abhandlung  »Das  Lied  vom  toten  Bruder  in  der  Poesie 
der  Balkanvölker«  (CöopHUKi.  sa  HapoÄHH  yMOTEopenuH,  Sophia,  B.  XIII  u.  XV, 
in  Betracht  kommt  speziell  XV.  579 — 584)  natürlich  mit  der  übrigen  Literatur 
über  den  LenorenstofF  erwähnt  werden  mußte  i)  und  methodisch  besonders 
interessant  ist,  weil  sie  zeigt,  wie  man  die  verschlungenen  Wege  eines  Volks- 


1)  6.  konnte  sich  darüber  wenigstens  aus  dem  Agramer  akademischen 
Zbornik  za  narodni  zivot  i  obicaje  juznih  Slavena,  IV.  151 — 160  unterrichten. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  377 

liedes  verfolgen  soll.  Dabei  konnte  sich  Sismanov  noch  auf  einen  Russen, 
den  durch  sein  Werk  über  den  LenorenstofF  in  der  slavischen  Volkspoesie 
bekannten  Prof.  Sozonovic  berufen.  Als  seinen  ärgsten  Gegner  hätte  sich 
aber  Ö.  A.  Soerensen  etwas  näher  ansehen  sollen,  der  schon  in  seinen  Studien 
im  »Archiv«,  namentlich  aber  in  seiner  Schrift  »Entstehung  der  kurzzeiligen 
serbokroatischen  Liederdichtung  im  Küstenland«  (Berlin  1895),  in  der  viel 
Lehrreiches  steckt,  obwohl  ich  nicht  alles  billige,  die  kurzzeilige  Dichtung 
aus  der  langzeiligen  hervorgehen  läßt  (führt  eigentlich  nur  einen  Gedanken 
Jagic's  weiter)  und  der  Blüte  der  bosnisch-herzegowiuischen  Dichtung  in  der 
zweiten  Hälfte  des  XVIIL  Jahrh.  eine  «küstenländische  aus  dem  Anfang  des 
XVIIL  Jahrb.,  deren  Wurzeln  aber  ins  XVII.  zurückreichen«,  meist  als  Quelle 
vorausschickt. 

Und  damit  das  Maß  voll  werde,  muß  ich  Ö.  aufmerksam  machen,  daß 
der  schwedische  Dichter  und  Literarhistoriker  Alfred  Jensen  in  seinem 
vortrefflichen  Werke  »Gundulic  und  sein  Osman«  (Göteborg  19ü0)  sehr  fein  an- 
gedeutet hat  (363 — 371),  daß  man  über  der  lyrischen  Schönheit  der  serbokroat. 
Volkslieder  ihre  künstlerische  Eigenart  vergaß  und  sich  gar  nicht  um  ihre 
Entstehung  kümmerte.  Wie  die  serbokroatischen  Volkslieder  am  Anfange 
des  XIX.  Jahrh.  von  Vuk  Karadzic  aufgezeichnet  wurden,  »sind  sie  nicht  nur 
die  vielleicht  schönsten  Volkslieder  der  Weltliteratur,  aber  vor  allem  die  un- 
bestritten künstlerischesten«.  Den  Grund  dafür  sucht  aber  Jensen  nicht  etwa 
in  einer  größeren  poetischen  Fähigkeit  der  Südslaven  vor  anderen  Völkern, 
sondern  in  unverkennbaren  romanischen  Einflüssen.  L.  Zima  hat  in  seinem 
scheinbar  trockenen  Werk  »Figure  u  nasem  narodnom  pjesnistvu«  für  ihn 
«nichts  weniger  als  die  ungemein  wichtige  Tatsache«  bewiesen,  »daß  Reime, 
AUitterationen,  Wortspiele,  Concetti's  und  die  Blumensprache  der  Trouba- 
doure der  südslavischen  Volkspoesie  nicht  fremd  waren«  (36-5;.  Und  zum  Ge- 
dichte »Mädchenurteil«  (V.  Karadzid  S.  nar.  pj.  I*.  Nr.  548,  eine  Variante, 
Nr.  549,  stammt  aus  Ragusa  !)  bemerkt  er  (370),  daß  er  es  wagt,  die  ursprüng- 
liche Echtheit  dieses  köstlichen  Liedes  [ein  Jüngling,  der  drei  Mädchen  Blu- 
men zertreten  hat,  macht  ihrer  Beratung,  wie  sie  ihn  strafen  sollen,  mit  dem 
Vorschlage,  ihn  »am  schlimmen  Baum,  dem  Mädchenhals i)«  aufzuhängen,  ein 
Ende]  in  Zweifel  zu  ziehen;  hier  ist  das  nicht  mehr  die  natürliche  Naivität  — 
es  ist  Kunst  und  zwar  eine  recht  hohe.  Daß  ein  solches  Lied  wirklich  po- 
pulär werden  konnte,  zeugt  aber  vorteilhaft  von  dem  feinen  poetischen  Ge- 
Bchmack  der  südslavischen  Landbevölkerung«. 

Da  wird  die  Vorliebe  Goethe's  für  die  lyrischen  Lieder,  mit  deren  ge- 
fälligen Übersetzung  ihn  besonders  W.  Gerhard  erfreute,  begreiflich,  ebenso 
sein  Vergleich  mit  der  Lyrik  der  Franzosen,  mit  ihrem  Hauptvertreter 
Böranger,  und  die  Meinung,  »daß  ein  halbrohes  Volk  mit  dem  durchgeübtesten 
gerade  auf  der  Stufe  der  leichtfertigsten  Lyrik  zusammentrifft«  (ItiS).  Nur 
steckte  nicht  soviel  »allgemeine  Woltpocsie«  dahinter,  sondern  wenigstens 
zum  Teil  die  hohe  Kultur  der  dalmatinischen  Städte  mit  ihrer  bedeutenden, 


•)  Mit  denselben  und  ähnlichen  Worten  »flucht«  ein  Mätlchon  dem  Jüng- 
ling vor  der  Mutter  in  V.  Karadziö's  S.  nar.  pj.  l**.  Nr.  531  und  V.  354. 


378  Kritischer  Anzeiger. 

von  Italien  beeinflußten  Renaiastinceliteratur.  Wenn  schon  die  neugriechische 
Volkspoesic  auf  eine  Vermengung  der  griechischen  voliistiimlichen  Richtung 
mit  den  romanischen  Kulturelementen  zurückgeführt  wird  fK.  Dieterich,  Ge- 
schichte der  byzantinischen  und  neugriechischen  Literatur,  15.1  ff.),  so  ist  das 
in  viel  höherem  Grade  bezüglich  der  serbokroatischen  und  teilweise  auch  der 
bulgarischen  der  Fall. 

Wie  in  Italien  waren  auch  in  Ragusa  und  Dalmatien  die  Wechselwir- 
kungen zwischen  Volks-  und  Kunstpoesie  viel  stärker  als  man  glaubt.  Am 
meisten  werden  noch  die  Spuren  des  Volksliedes  in  der  Kunstpoesie  zuge- 
geben. Außerdem  haben  wir  direkte  interessante  Zeugnisse  für  das  Blühen 
der  Volkspoesie  in  den  dalmatinischen  Städten  im  XV.  und  XVI.  Jahrh.  Be- 
sonders beachtenswert  ist  der  Bericht  des  Humanisten  I.  Sisgoric  (Georgius 
Sisgoreus)  in  seiner  Schrift  De  situ  Illyriae  et  civitate  Sibenici  a.  14B7  (Grada 
za  povjest  knizevnosti  hrv.II.  10— 11),  wo  verschiedene  Gattungen  der  Volks- 
lyrik den  höclisten  klassischen  Mustern  gleichgestellt  werden  z.  B.:  amato- 
rium  Carmen  ...  quäle  vix  cultus  TibuUus  aut  blandus  Propertius  aut  lascivus 
Licoridis  Gallus,  aut  Lesbia  Sappho  decantaret).  Nach  Berichten  an  den 
Senat  von  Venedig  (S.  Ljubid,  iSa«^  XL,  141 — 144)  war  1574  in  Spalato  una 
piesma,  welche  der  Unzufriedenheit  mit  einer  Regierungsmaßregel  Ausdruck 
gab,  sofort  in  aller  Munde,  und  als  wahrscheinlicher  Verfasser  wird  ein  poeta 
e  litterato  Francesco  Boctuli  genannt,  welcher  litterato  e  filosofo  auch  die 
unglückliche  Liebe  eines  Mädchens  aus  angesehener  christlicher  Familie  zu 
einem  schönen  und  reichen  türkischen  Jüngling  besang;  dieses  Lied  mit  dem 
Refrain  Bidna  Mare  fand  ebenfixlls  starke  Verbreitung.  Über  die  Entstehung 
der  Volkslieder  wußte  man  also  im  XVI.  Jahrh.  besser  Bescheid  als  am  An- 
fang des  XIX. !  Aus  derselben  Stadt  wird  1547  berichtet,  daß  ein  alter  blin- 
der Soldat,  von  seiner  Tochter  geführt,  ein  Marko-Lied  saug,  welches  das 
ganze  Volk  begleitete  (ein  unbeachtetes  Detail),  weil  es  Alle  kannten. 
Der  Provveditore  von  Sebenico  rühmt  1574  den  Heldenmut  seiner  Unter- 
tanen im  Vergleich  zur  Feigheit  der  italienischen  Scharen  und  erzählt  von 
Türken,  die  sich  retteten  und  dann  ihre  Tapferkeit  in  ihrem  Lande  (d.  h.  in 
der  nächsten  Nähe  von  Sebenico)  im  Liede  feierten.  Auch  ein  Spottgedicht 
auf  zwei  Türken  wird  erwähnt,  die  von  zwei  Christenmädchen,  welche  sie 
davongeschleppt  hatten,  kastriert  wurden.  Das  lyrische  und  epische  Volks- 
lied hat  also  in  Dalmatien  eine  lange  beglaubigte  Geschichte  und  man  sieht, 
wie  zwischen  Stadt  und  Land  in  dieser  Hinsicht  kein  solcher  Unterschied  be- 
stand wie  im  XIX.  Jahrh. 

Der  Einfluß  der  Kunstdichtung  auf  das  Volkslied  ist  bisher,  trotzdem 
in  neuester  Zeit  auch  mehrere  halbstädtiscbe  Sammlungen  (aus  Ragusa,  Spa- 
lato), in  denen  er  besonders  deutlich  hervortritt,  herausgegeben  worden  sind, 
von  Einheimischen  fast  gar  nicht  untersucht,  ja  nicht  einmal  für  möglich  ge- 
halten worden,  weil  man  allgemein  im  Banne  der  romantischen  Anschauung 
vom  singenden  Volk  und  der  Originalität  des  Nationalgeistes  steht.  Einen 
schönen  Anfang  hat  jedoch  in  jüngster  Zeit  Kasandric  in  einer  Analyse  der 
Liebeslieder  von  H.  Lucic  gemacht  (Glas  Matice  Dalmatinske  II.  391—392). 
Icli  will  auf  Einzelheiten  nicht  eingehen,  sondern  verweise  nur  darauf,  daß 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  aDgez.v.Murko,  379 

ein  dankbares  Material  für  solche  Untersuchungen  namentlich  die  von  Vuk 
Karadzic  und  Anderen  gesammelten  Lieder  aus  dem  südlichen  Dalmatien 
bieten  würden.  Um  nur  ein  argumentum  ad  hominem  anzuführen :  die  zahl- 
reichen schönen  Lieder,  in  denen  der  Orangenbaum  und  andere  Vertreter  der 
adriatischen  Küstenflora  eine  so  große  Rolle  spielen,  sind  natürlich  nicht 
irgendwo  »tiefer  in  Bosnien«  in  den  schluchtartigen  Tälern  der  Bosna  und 
des  Vrbas  entstanden,  von  den  Waldhöhen  und  schneebedeckten  Bergen  gar 
nicht  zu  reden. 

Mit  diesen  Anschauungen  steht  die  Tatsache,  daß  viele  epische  Lieder, 
namentlich  aber  Liederstoffe  (das  ist  ein  wichtiger  Unterschied  I)  vom  Osten 
nach  Westen  gewandert  sind,  in  keinem  Widerspruch.  Das  epische  Zeitalter 
der  Südslaven  waren  die  Zeiten  der  Kämpfe  mit  den  Türken,  so  daß  selbst 
die  Slovenen  denselben  ihre  schönsten  Balladen  verdanken.  Der  Kampfplatz 
wurde  im  Laufe  der  Zeiten  aus  Altserbien  und  Mazedonien  nach  Donau-Serbien, 
nach  Ungarn  und  Slavonien,  dann  aber  an  die  kroatischen  und  dalmatinischen 
Grenzgebiete  verlegt,  seit  dem  Ende  des  XVIL  Jahrh.  tritt  auch  Montenegro 
in  den  Vordergrund  i),  zu  Anfang  des  XIX.  Jahrh.  brachten  die  Befreiungs- 
kämpfe in  Serbien  neues  Leben  in  die  Volkspoesie,  am  meisten  wurden  aber 
im  Verlauf  des  XIX.  Jahrh.  die  Kämpfe  der  Montenegriner  besungen.  Mit  diesen 
geschichtlichen  Phasen  ging  auch  die  Entwicklung  der  Heldenlieder  einher. 

Die  große  Mehrzahl  der  aufgezeichneten  Lieder  stammt  nun  aus  den 
westlichen  Gebieten  2),  was  besonders  bei  den  letzten  fünf  Bänden  der  Bel- 
grader Ausgabe  der  Volkslieder  Vuk  Karadziö's  auffällt.  Natürlich  rechne 
ich  zu  diesem  Westen  auch  die  westliche  (nach  der  heutigen  administrativen 
Einteilung  eigentlich  die  ganze)  Herzegowina  und  ebenso  das  eigentliche 
Montenegro 3)  samt  dem  serbischen  Gebiet  von  Skutari,  die  seit  jeher  unter 
abendländischen  Einflüssen  standen,  trotzdem  die  römische  Kirche  seit  der 
Verlegung  des  Schwergewichtes  des  serbischen  Staates  durch  Stefan  Ne- 


1)  In  dem  großen  österreichisch-polnisch-venetianischen  Türkenkrieg 
seit  1683  stellte  sich  Montenegro,  das  bis  dahin  faktisch  unter  türkischer 
Oberhoheit  stand,  auf  die  Seite  der  Venetianer  und  wurde  dann  erst  selb- 
ständig. Auf  Grund  der  diese  Ereignisse  besingenden  Volkslieder  bildete 
sich  eine  sagenhafte  Geschichte  Montenegros  aus,  welche  Uarion  Ruvarac  in 
seinen  Montenegrina  (1897 — 98,  2.  Aufl.  1S99)  zerstört  hat.  Das  Werk  sei 
allen  empfohlen,  die  sich  für  das  Verhältnis  des  epischen  Volksliedes  zur  Ge- 
schichte interessieren.  Lehrreich  ist  auch  der  heilige  Zorn,  den  II.  Ruvarac 
auf  sich  geladen  hat,  weil  er  vor  der  svetiiia  srpskih  gusala  (L.  Tomanovic, 
H.  PyBapau  u  Montenegrina,  S.  110)  nicht  Halt  machte. 

2)  Vuk  Karadziö  (Srp.Nar.pj.  I-*.  XXXVI)  selbst  hat,  bevor  er  Kroatier, 
Dalmatien  und  Montenegro  bereist  hatte,  schon  angemerkt,  daß  die  Helden- 
Lieder  in  Serbien  mit  der  Entfernung  von  der  Donau  gegen  Bosnien  und 
Herzegowina  immer  besser  werden,  ebenso  westlich  von  Syrmien  über  Sla- 
vonien gegen  Kroatien  und  Dalmatien  immer  mehr  im  Volke  üblich  simi. 

3)  Ich  bemerke,  daß  der  von  den  Montenegrinern  besungene  Zano 
Grbljicic  od  Grblja  [v^^l.  über  ihn  Uarion  Ruvarac,  o.  c.  78  ff.)  seinen  Vor- 
namen in  venetianisch-dialektischor  Form  führt  (z  für  z). 


380  Kritischer  Anzeiger. 

manja,  der  in  der  Gegend  des  heutigen  Podgorica  noch  katholisch  getauft 
worden  war,  in  das  Binnenland,  nacli  Rascien,  auch  in  der  Küstenregion  zu- 
rückgegangen war.  Ebenso  stammt  die  Mehrzahl  der  epischen  Lieder  der 
Mohammedaner  aus  dem  nordwestlichen  Bosnien  oder  aus  der  lange  von  den 
Türken  beherrschten  Lika  in  Kroatien.  Es  handelt  sich  dabei  gewöhnlich  um 
keine  großen  Kämpfe  (z.  B.  gibt  es  auf  mohammedanischer  Seite  kein  Lied 
über  die  Eroberung  Bosniens),  sondern  um  Plänkeleien  an  der  Grenze,  um 
Streif-  und  Raubzüge,  Entführungen  von  Mädchen  und  Frauen;  die  Kämpfe 
der  Montenegriner,  von  denen  die  Lieder  melden,  drehten  sich  oft  um  elende 
Hirtenhütten  auf  den  Almen.  Daß  nun  solche  Lieder  auch  nach  dem  Osten 
wanderten,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Schon  Vuk  Karadzic  (Nar.  pj.  III*.  167) 
ist  es  aufgefallen,  daß  von  Ivo  Senjanin  (Ivo  von  Zengg)  »in  unserem  ganzen 
Volk«  gesungen  wird.  Recht  bezeichnend  für  die  Wanderungen  nach  Süd- 
osten ist  der  Umstand,  daß  in  ijekavischen  Gegenden  aus  Sen,  senski  Sijene 
(neben  Sene,  das  auch  schon  eine  Umbildung  ist) ,  Sijenanin,  sijenski  (1.  c. 
Nr.  26,  29)  geworden  ist.  Da  viele  Lieder  über  diesen  und  andere  Zengger 
Helden  eine  ausgesprochene  serbisch-orthodoxe  Färbung  i]  verraten,  so  war 
für  mich  trotz  Bogisic's  Urteil,  daß  Ivo  Senjanin  ein  xut  i'ioyr]v  kroatischer 
Held  sei,  doch  überraschend  das  Zeugnis  des  Zengger  Domkapitels  über  ihn 
und  seine  Genossen:  da  Jesu  dobri  krstjani  i  katolici  i  Ijubili  crkve  i  redov- 
nike  -).  Wie  es  sich  mit  den  viel  besungenen  Helden  von  Kotari  (bei  Zara) 
verhält,  weiß  ich  nicht  und  verweise  nur  auf  die  offiziellen  Ausdrücke  der 
Venetianer  Governatore  della  Nation  Croata,  idioma  croato  (dem  Smiljanic 
soll  ein  Schreiben  darin  mitgeteilt  werden),  auf  I.  Barakovid's  Bezeichnungen 
vlaski  sin  hrvatskoga  jezika,  cista  hrvatska  krv  (für  ganz  Kotari) 3;.  Weiter 
für  den  Süden  ist  charakteristisch  der  Umstand,  daß  Kacic  und  Lovro  iz  Lju- 
buskoga  Franziskanergeistliche  waren.  Auf  jeden  Fall  war  in  Dalmatien  das 
Verhältnis  zwischen  Orthodoxen  und  Katholiken  auch  damals  nicht  viel  ver- 
schieden vom  heutigen  (Orthodoxe  I6O/0).  Übrigens  ist  diese  Frage  neben- 
sächlich. Die  Türken  machten  keinen  Unterschied  zwischen  kaurin,  vlah, 
vlase  und  ebenso  fühlten  sich  die  Christen  als  eine  Einheit  in  diesen  Kämpfen 
und  wurden  als  Raja  von  den  Türken  gründlich  nivelliert,  so  daß  die  Unter- 
schiede zwischen  morgen-  und  abendländischer  Kultur,  soweit  sie  überhaupt 
vorhanden  waren,  in  den  Hintergrund  traten,  was  viel  dazu  beigetragen  hat, 
daß  Serben  und  Kroaten  auch  eine  ethnische,  nicht  bloß  sprachliche,  Einheit 
geblieben  sind. 


1)  Vgl.  in  Zenidba  Iva  Senanina  (V.Karadzic,  Nar.pj.  III*,  Nr. 26)  V.  179, 
234  dizu  cetu  na  Srbina,  V.  304 — 305  Da  cuvaju  strazu  od  Srbina,  da  Udbinu 
Srbi  ne  haraju,  in  Nr.  31  verkündet  den  Tod  desselben  Helden  protopop  Ne- 
dejko  (V.  13),  pricesti  vinom  crvenijem  (V.  40,  44). 

2)  Vgl.  A.  Soerensen,  Entstehung  der  kurzzeiligen  serbokroatischen 
Liederdichtung  im  Küstenlande,  72—73.  Wahrscheinlich  ist  hierher  auch 
»das  längste  serbische  Volkslied«  zu  stellen:  Zenidba  Senanin  Tadije,  Srpska 
junacka  najduza  pjesma,  isp.  Milan  Obradovic,  Beograd  1891. 

3)  L.  Jelic,  Licki  sandzakat,  Narodni  Koledar,  Zadar  1898,  S.  102—104. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  381 

Auf  die  Frage,  wo  und  wann  der  Zehnsilber  entstanden  und  wie  er  zum 
spezifischen  heroischen  Vers  geworden  ist,  lege  ich  dabei  nicht  das  Haupt- 
gewicht. Chalanskij  und  Sismanov  denken  an  ältere  Zeiten,  andere  ungefähr 
an  das  XVII.  Jahrb.,  wobei  aber  betont  werden  muß,  daß  er  zu  Anfang  des 
XVIII.  Jahrh.  im  mittleren  Dalmatien  bereits  allgemein  üblich  war,  wie  das 
Zeugnis  des  Lovro  iz  Ljubuskoga  i)  beweist.  Auch  das  bleibt  fraglich,  ob 
der  Zehnsilber  direkt  aus  dem  Romanischen  stammt,  oder  in  den  küstenlän- 
dischen Gebieten  aus  dem  in  der  Literatur  lange  fast  alleinherrschenden 
Zwülfsilber,  wie  er  noch  in  den  epischen  Liedern  der  Kroaten  in  Ungarn  fort- 
lebt, entstanden  ist  (Soerensen),  oder  aus  dem  Achtsilber  4  -|-  4  mit  Flick- 
wörtern), wie  Sismanov  meint  (1.  c.  584),  oder  was  besonders  nahe  liegt,  aus 
dem  italienischen  endecasillabo;  den  Weg  würde  im  letzten  Falle  eine  naive, 
aber  beachtenswerte  Erklärung  des  Lovro  iz  Ljubuskoga  andeuten,  der  be- 
züglich seiner  Verse,  die  nicht  10,  sondern  11  Silben  aufweisen,  sagt:  Tad 
s  prva  jednu  sillabu  valja  zgrist,  to  jest  brzo  reci^);  i  tako  öe  dobro  ostale 
sillabe  izaci  i  otiöi.  Man  »beißt«  also  dem  endecasillabo  am  Anfange  eine 
Silbe,  sagen  wir  den  Auftakt,  weg  und  der  deseterac  mit  trochäischem  Rhyth- 
mus ist  fertig!  Dazu  würden  auch  die  Accentverhältnisse,  der  allmähliche 
Übergang  von  der  jambisierenden  Betonung  der  cakavischen  Dialektengruppe 
zur  trochaisierenden  der  stokavischen  stimmen.  Mir  ist  es  nur  auffällig,  daß 
der  endecasillabo  in  der  dalmatinisch -ragusanischen  Kunstdichtung  nicht 
häufig  vorkommt;  doch  kann  der  Volksvcrs  auch  unabhängig  davon  entstan- 
den sein  und  wurde  in  der  Literatur  ebenso  selten,  wenn  auch  häufiger,  ange- 
wendet wie  der  Langvers  der  bugarstice.  Metrische  Fragen  gehören  ja  zu 
den  schwierigsten  und  gerade  über  den  romanischen  Zehnsilber  gehen  die 
Meinungen  auch  weit  auseinander. 

In  echt  philologischer  Weise  hat  man  auch  in  dieser  Frage  das  Schwer- 
gewicht auf  die  Form  und  nicht  auf  den  Inhalt  gelegt.  Die  Hauptsache  bleibt, 
daß  der  ganze  Westen  des  serbokroatischen  Sprachgebietes  im  XVII.  und 
XVIII.  Jahrh.  eine  reich  blühende  epische  Dichtung  hatte,  welche  hier  ihren 
künstlerischen  und  rhetorischen  Charakter  erhielt.  Man  vergleiche  nur  die- 
jenigen epischen  Lieder,  deren  Ursprung  auf  Mazedonien  vor  allem  Kraljevic 
Marko-Lieder!)  und  auf  Altserbien  hinweist:  sie  sind  mager  und  trocken, 
kommen  aber  der  historischen  Wahrheit  am  nächsten,  dagegen  sind  ihre  Fas- 
sungen aus  dem  Westen  im  höchsten  Grade  künstlerisch  (vgl.  z.  B.  die  Ana- 
lyse des  herrlichen  Liedes  Zenidba  Vukasina  bei  Chalanskij,  lOyKnoc.i.  cnasa- 
Hifl  0  Kpa^enn^ii  MapKi  I.  6 — 27).  Auf  diesem  Gebiete  kann  die  Forschung 
ohne  besondere  Schwierigkeiten  viel  leisten;   natürlich  muß  man  auf  die 


1)  Illyrici  generis  utriusque  sexus  populis  solemnia  sunt  quaedam  car- 
mina  syllabica  dimensione  dena,  solita  quaedam  modulamina  olementari  com- 
prehensione  ligata  .  .  .  Vgl.  N.  Petrovskij,  0  00^1.  II.  roKiopomnia,  15'J. 

2)  In  ähnlicher  Weise  »hüpfen«  bekanntlich  auch  heute  die  Sänger  über 
Daktylen  an  Stelle  von  Trochäen  hinweg,  so  daß  der  reine  Zclinsilber  durch- 
aus nicht  so  Regel  ist,  wie  man  meint,  bezw.  in  den  gedruckten  Sammlungen 
vorgibt. 


382  Kritischer  Anzeiger. 

Sichtung  und  Gruppierung  des  Materials,  auf  eine  mügliclist  genaue  Topo- 
graphie der  Lieder  und  auf  die  Bewahrung  ihrer  dialektischen  Merkmale 
mehr  Gewicht  legen  als  bisher.  Ich  bemerke  noch,  daß  die  slavischen  Be- 
wohner der  Adria  vom  kroatischen  Küstenhinde  angefangen  das  Fabulieren 
lieben  und  besonders  in  manchen  Gebieten  wahre  Gascogner  unter  den  Süd- 
slaven vorstellen.  Dazu  ist  ihnen  in  vielen  Gegenden  ein  Hang  zu  ritterlichem 
Wesen  und  Aristokratismus  eigen,  was  Bogisic  speziell  bezüglich  der  Bo- 
chesen,  der  Russe  Rovinskij  aber  über  die  Montenegriner  hervorgehoben  hat. 
Ö.  hat  auch  auf  internationale  Motive  hingewiesen,  welche  die  serbische 
Volkspoesie  mit  dem  Pentamerone,  den  Gesta  Roraanorum  und  auch  mit  der 
deutschen  und  germanischen  Sage  gemeinsam  hat,  meint  aber  wenigstens 
bezüglich  der  germanischen,  daß  »eine  mittelbare  oder  unmittelbare  gegen- 
seitige Beeinflussung  dabei  nur  in  den  seltensten  Fällen  anzunehmen«  sei.  Ich 
bin  durchaus  nicht  ein  bedingungsloser  Anhänger  der  Wandertheorie  (vgl. 
darüber  auf  slavischer  Seite  das  schöne  Werk  von  J.  PoHvka,  Poliädkoslovne 
Studie,  Band  X  des  Närodopisny  Sbornik  Ceskoslovansky,  Prag  1904),  aber  be- 
züglich der  Südslaven  hat  sie  viel  mehr  Geltung,  als  man  häufig  meint,  speziell 
bei  ihnen  selbst,  weil  ihre  Literatur-  und  Kulturgeschichte  noch  im  Argen  liegt. 
Ganz  Dalmatien  bildete  ein  Einfallstor  für  romanische  Einflüsse,  seitdem  die 
Kroaten  und  Serben  bis  zur  Adria  vorgedrungen  sind,  lange  pendelten  auch 
die  Serben  zwischen  Rom  und  Bj^zanz  hin  und  her  und  selbst  der  konsoli- 
dierte serbische  Staat,  in  dem  die  Orthodoxie  zur  Staatsraison  geworden  war, 
unterhielt  rege  Beziehungen  zu  Dalmatien  (vgl.  z.  B.  die  Illustrationen  im 
Miroslavovo  evangelije  und  die  ältesten  Bauwerke  der  serbischen  Herrscher 
trotz  ihres  byzantinischen  Stils),  noch  mehr  war  aber  das  bei  Bosnien  und 
Herzegowina  der  Fall;  die  Ragusaner  Consuln  (auch  Finanzminister  in  Ser- 
bien), Kauf  leute,  Zollpächter  und  Bergwerksbesitzer  mit  ihrem  Gefolge  weil- 
ten nicht  spurlos  lange  im  Innern  der  Balkanländer  (selbst  in  den  Bibliothe- 
ken von  Sophia  und  Philippopel  i)  sind  mir  schon  mehrfach  Handschriften 
aufgefallen,  deren  Sprache  auf  ragusanische  Herkunft  hinweist).  Am  wichtig- 
sten ist  aber  die  Tatsache,  daß  der  größte  Teil  von  Dalmatien  jahrhunderte- 
lang unter  venetianischer  Herrschaft  stand  und  daß  ganz  Dalmatien  eigent- 
lich eine  geistige  Provinz  Italiens  bildete  und  speziell  in  den  Zeiten  des 
Humanismus  und  der  Renaissance  die  ganze  damalige  italienische  Literatur 
und  Kultur  aufnahm  (auch  selbst  zu  ihrer  Bereicherung  durch  Gelehrte  und 
Dichter,  durch  Maler  und  Architekten  beitrug)  und  auf  diesem  Grunde  seine 
eigene  slavische  Literatur  schuf. 


1)  Vgl.  die  von  K.  Radcenko  herausgegebenen  apokryphen  Texte  Iloie- 
Tue  CBuexa,  HsBicxiii  otä.  pyGCK.  h3.  u  cjob.  VIII.  kh.  3, 349 — 352,  und  Enucxojiia 
0  Hcaijii  in  den  Jüxonucii  ucTop.-<i>uji.  06m.  npH  Him.  HoBop.  yHiiB.  X,  Ojecca 
1902  (S.  13 — 17  des  SA.).  Diese  Texte  vermehren  die  der  cyrillischen  Hand- 
schrift von  1520  aus  Ragusa  (s.  V.  Jagid,  Prilozi).  Eine  Fassung  der  Apo- 
kalypse Pauli  (J.  Polivka,  Starine  XXI,  218—221)  und  einige  noch  nicht  ver- 
öffentlichte Texte  der  genannten  Ragusaner  Handschrift  sind  aus  dem  Italie- 
nischen übersetzt. 


Die  serbokroat.  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.v.Murko.  383 

Man  vergleiche  nur  ein  Verzeichnis  lateinischer  und  italienischer  Bü- 
cher, welche  1549  nach  Ragusa  zum  Verkauf  geschickt  wurden  (veröffentlicht 
von  K.  Jirecek,  Archiv  XXI,  511 — 515).  Da  wird  der  Weg  auch  für  ver- 
schiedenartige mittelalterliche  romantische  Stoffe  begreiflich,  ganz  abge- 
sehen davon,  daß  Jongleure  auch  den  Balkan  besuchten  und  der  deutsche 
Spielmann  auch  in  älteren  südslavischen  Texten  vorkommt  (Miklosich,  Lex. 
palaeoslov.  s.  v.  mnuirBMaui,).  Übrigens  haben  wir  auch  eine  romantische 
serbische  Alexandersage,  bei  den  kroatischen  Glagoliten  wurde  die  Sage  vom 
Trojanischen  Krieg  in  abendländischer  Fassung  übersetzt,  die  dann  ihren 
Weg  zu  den  Bulgaren  und  Russen  fand,  ja  nach  Russland  kamen  selbst 
Tristan  und  Buovo  d'Antona,  der  zu  einem  russischen  Volksbuch  (Bovä  Ko- 
rolevic)  geworden  ist,  »iz  serbskih  knig«,  die  wir  gar  nicht  kennen;  ohne 
Zweifel  sind  diese  Übersetzungen  in  den  westlichen  Gebieten  des  serbokroa- 
tischen Sprachgebietes  entstanden  ebenso  wie  die  der  »Sage  vom  indischen 
Reich«  (Epistel  des  Presbyter  Johannes);  eine  Prosaübersetzung  der  Reali 
di  Francia  ruht  noch  in  der  Franziskanerbibliothek  in  Ragusa.  Um  speziell 
die  verschiedenen  kleinen  heiteren  Erzählungen,  die  Vuk  Vrcevic  im  süd- 
lichen Dalmatien  und  in  den  anliegenden  Gebieten  der  Herzegowina  und  von 
Montenegro  gesammelt  hat,  richtig  würdigen  zu  können,  muß  man  den  No- 
vellino,  Boccaccio's  Decamerone  und  überhaupt  die  gesamte  italienische 
Novellenliteratur  studieren.  Auch  in  der  Türkenzeit  reichte  der  dalmatinische 
Kultureinfluß  weit  hinein  nach  Bosnien  und  selbst  nach  Slavonien,  da  die 
drei  Länder  lange  eine  Ordensprovinz  der  Franziskaner  bildeten,  welche  für 
die  literarische  Zusammengehörigkeit  dieselbe  Rolle  spielte  wie  anderswo 
die  staatliche  Gemeinschaft;  diese  Franziskaner  druckten  ihre  Erbauungs- 
bücher und  Predigtsammlungen  mit  zahlreichen  Beispielen  aus  manchem 
Speculum,  Fiore  und  ähnlichen  Werken  auch  in  cyrillischer  Schrift,  so  daß  sie 
auch  den  Orthodoxen  zugänglich  waren. 

Übrigens  sind  auch  direkte  mitteleuropäische  Einflüsse  selbst  in  Serbien 
bezeugt,  noch  mehr  kamen  sie  aber  über  Istrien  und  Kroatien  auf  den  Balkan. 
Sogar  bei  dem  ersten  Troubadour  von  Ragusa  (Sisko  Mencetic  finden  wir 
zweimal  frava  der  deutschen  Minnesänger  und  im  XVI.  Jahrh.  konnte  sich 
daselbst  Mavro  Vetranic  über  die  Sauflust  der  deutschen  Trompeter  und 
Pfeifer  aus  eigener  Anschauung  lustig  machen  (Stari  pisci  hrv.  III.  24S— 250, 
vgl.  besonders  die  Ausdrücke:  potrinkamo,  trinkajuci.  potriukati,  se  trinka). 
Das  bilikum  (=  Willkomm)  und  die  deutschen  Saufgebräuchc  fanden  also 
ihren  Weg  nicht  bloß  bis  nach  Kroatien!  Mir  eröffnete  in  Bezug  auf  die 
mitteleuropäischen  Einflüsse  meine  Arbeit  über  das  volkstümliche  Haus  der 
Südslaven  1)  ganz  neue  Gesichtspunkte:  wenn  man  bis  zu  den  Vasojevici  in 
der  südöstlichen  Ecke  von  Montenegro  und  bis  nach  Altserbien  denselben 
llaustypus  findet  wie  in  den  Alpen,  so  gibt  das  über  die  Möglichkeit  von 
Kulturübertragungen  viel  zu  denken. 


1)  Mitteilungen  der  Anthropologischen  Gesellschaft  in  Wien,  Bd.  XXXV 
'1905),  S.  308—330;  XXXVI  (1900),  S.  12—40,  92—129.  Auch  separat  erschie- 
nen im  Verlage  der  genannten  Gesellschaft. 


384  Kritischer  Anzeiger. 

Für  (las  XVIII.  Jalirli.  und  die  erste  Hälfte  des  XIX.  ist  noch  hervorzu- 
heben, daß  sich  das  Kulturleben  in  Dalmatien  überwiegend  in  italienischer 
Sprache  abspielte.  Dazu  bedenke  man,  daß  die  Dalmatiner  als  Kapitäne  und 
Matrosen  alle  Länder  des  mittelländischen  Meeres  und  auch  darüber  hinaus 
besuchten  und  italienisch  sprachen.  So  blieben  Stadt  und  Land  fortwährend 
im  Zusammenhang  mit  der  Kulturwelt.  Wie  sehr  auch  die  materielle  Kultur 
von  Italien  beeinflußt  wurde,  zeigen  auffallend  unter  anderem  die  schönen 
Trachten,  die  aus  den  Städten  auch  auf  das  Land  drangen.  So  urteilen  Rei- 
sende über  die  Mädchen  aus  der  Umgebung  von  liagusa,  daß  sie  sich  so 
niedlich  ausnehmen,  wie  man  sie  im  Theater  zu  sehen  gewohnt  ist,  oder  daß 
sie  sehr  an  die  Mädchen  von  Venedig  oder  Spanien  gemahnen.  Natürlich  hat 
Ragusa  nicht  bloß  Moden  in  seinem  Territorium  i)  und  darüber  hinaus  ver- 
breitet, ebensowenig  wie  Frankreich  im  XVIII.  und  XIX.  Jahrh. 

Man  kann  alles  das,  was  ich  nur  kurz  angedeutet  habe,  nicht  genug  be- 
tonen, damit  sich  die  Forscher  vom  serbokroatischen  Volkstum  und  speziell 
auch  von  jenen  serbischen  Volksliedern,  die  durch  Vuk  Karadziö  und  die 
deutsche  Vermittlung  in  der  gebildeten  Welt  bekannt  geworden  sind,  ein 
richtiges  Bild  machen.  Man  denkt  bei  serbisch  zu  viel  an  das  heutige  Serbien 
und  allenfalls  noch  an  das  Innere  von  Bosnien,  ebenso  wegen  der  Zugehörig- 
keit zur  griechischen  Kirche  allzustark  an  die  Abhängigkeit  vom  byzantini- 
schen Kulturkreis,  was  vielfach  falsche  Vorstellungen  erweckt. 

6.  betont  in  seiner  Einleitung,  wie  notwendig  es  bei  der  Behandlung 
seines  Gegenstandes  sei,  den  Germanisten  und  Slavisten  in  Einklang  zu 
bringen.  Meine  Besprechung  hat  wohl  gezeigt,  daß  er  als  Slavist  versagt  hat, 
zum  großen  Teil  deshalb,  weil  er  sich  unnötiger  Weise  an  die  verschieden- 
artigsten und  schwierigsten  Probleme  der  slavischen  Philologie  heranwagt, 
die  man  bloß  mit  jugendlichem  Eifer  und  patriotischen  Gefühlen  nicht  lösen 
kann.  Niemand  verlangt  speziell  von  einem  Anfänger,  was  über  seine  Kraft 
und  Zeit  hinausging;  dafür  hätte  er  in  seinen  eigentlichen  Gegenstand  vom 
slavistischen  Standpunkt  tiefer  eindringen,  richtiger  übersetzen  und  die 
wissenschaftliche  Welt  genauer  informieren  sollen.  Seine  Darstellung  könnte 
allerdings  den  Anschein  erwecken,  daß  die  slavische  Philologie  bezüglich 
des  Volksliedes  —  denn  nicht  bloß  vom  serbischen  kann  die  Rede  sein  — 
über  Jakob  Grimm  »nocht  nicht  weit  hinausgekommen  ist«  (4).  Dagegen 
müssen  wir  uns  doch  verwahren,  auch  mit  Rücksicht  auf  das  serbische  allein. 
Übrigens  steht  C.  mit  seinen  slavistischen  Schwächen  nicht  vereinzelt  da,  er 
ist  vielmehr  in  mancher  Hinsicht  eine  typische  Erscheinung,  die  den  ganzen 
Jammer  der  kleinlichen  südslavischen  Verhältnisse  offenbart.  Ein  Mann,  der 
einen  der  universellsten  Germanisten  zum  Lehrer  hatte,  verkriecht  sich  in 
das  Schneckenhaus  einer  engherzigen  serbischen  Philologie  und  streckt  seine 
Fühler  nicht  einmal  nach  dem  Agramer  akademischen  Wörterbuch  aus 
s.  Latini,  dika,  drzava);  ein  Mann,  der  weiß,  wie  die  deutsche  Heldensage 


'  1)  So  hat  L.  Kuba  das  Vorhandensein  einer  besonderen  Leier  (vijalo)  nur 
auf  dem  Territorium  der  Republik  Ragusa  konstatitrt.  Slovansky  Prehled. 
VIII,  345. 


I 


Die  serbokroat.Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur,  angez.  v.  Murko.  385 

wanderte  (ebenso  die  russische  und  französische),  hat  für  ähnliche  Erschei- 
nungen auf  südslavischem  Gebiete  kein  Verständnis  und  will  sogar  den 
Kraljevic  Marko  zu  einem  exclusiven  serbischen  Helden  stempeln;  ein  Mann, 
der  über  die  Großen  der  deutschen  Literatur  und  Wissenschaft  so  tüchtig 
schreibt,  verliert  auf  heimischem  Boden  die  nötige  wissenschaftliche  Euhe 
und  Objektivität,  er  kann  eine  politisch-  und  sogar  religiös-nationale  Be- 
fangenheit und  Eifersüchtelei  nicht  abstreifen  und  möchte  auch  auf  dem  Ge- 
biete der  Volkspoesie  zwischen  Serben  und  Kroaten  Grenzsteine  und  Schran- 
ken errichten,  ohne  zu  wissen,  wo  und  wie,  weil  das  Volk  vernünftiger  war 
und  noch  heute  ist,  als  große  Kreise  der  Intelligenz  und  sogar  —  Gott  sei  es 
geklagt  —  der  Philologen.  Ich  wäre  glücklich,  wenn  meine  ausführliche 
Besprechung,  die  ein  Beweis  meiner  Wertschätzung  der  Leistung  6. 's  sein 
soll,  auch  den  Zweck  erreicht  hätte,  ihn  auf  eine  höhere  Warte  zu  heben, 
denn  von  seinem  Wissen,  Talent  und  Fleiß  können  wir  gewiß  noch  manche 
schöne  Arbeit  auf  dem  Gebiete  der  deutsch-slavischen  Beziehungen  erwarten. 
Graz.  31.  3Iurko. 


Zur  slaTischen  Runenfrage. 

Dr.  Jan  Leciejewski.  Runy  i  runiczne  pomniki  slowiaiiskie.  Lwow 

1906.  80.  207. 

Nach  einiger  Pause  taucht  wieder  eine  der  slavischen  Kunenfrage  ge- 
widmete Schrift  auf.  Wer  einigermaßen  mit  den  Publikationen  im  Bereiche 
der  slavischen  Altertumskunde  vertraut  ist,  wird  schon  im  voraus  die  Ver- 
mutung wagen,  daß  diese  Schrift  von  einem  polnischen  Gelehrten  herrührt. 
So  merkwürdig  sind  die  großen  Fragen  des  slavischen  Altertums  unter  die 
einzelnen  slavischen  Völker  verteilt.  Die  Runen,  diese  mystische  Seite  der 
Altertumskunde,  bilden  den  beliebten  Tummelplatz  des  Scharfsinnes  der 
polnischen  Gelehrten.  Es  genügt,  auf  einen  Narbutt,  Graf  Potocki,  Suro- 
wiecki,  Kucharski,  Lelewel,  Wolanski,  Cybulski,  Przyborowski,  GrafPrzez- 
dziecki,  Szulc,  Malecki,  Piekosinski  hinzuweisen,  um  die  hauptsächlichsten 
Vorgänger  des  Verfassers  der  oben  zitierten  neuesten  Schrift  auf  diesem 
Forschungsgebiete  zusammenzuhaben.  Prof.  Leciejewski,  ich  will  es  gleich 
heraussagen,  überragt  alle  die  genannten  Vorgänger  durch  die  Intensivität 
des  Studiums  des  Gegenstandes,  mit  voller  Berücksichtigung  der  einschlägi- 
gen Literatur.  Seine  Schrift  ist  eine  im  modernen  Sinne  gehaltene  wissen- 
schaftliche Monographie  über  die  slavischen  Runen,  beruhend  auf  fleißigem 
Studium  und  ausreichender  Bekanntschaft  der  deutschen,  dänisch-skandina- 
vischen und  englischen,  mit  Runen  sich  befassenden  Literatur.  Das  große 
Werk  von  George  Stepliens  war  ihm  eben  so  treuer  Ratgeber,  wie  das  allge- 
mein bekannte  Werk  Wimmers  in  deutscher  Übersetzung  von  Uoltzhausen, 
seinen  einleitenden  Auseinandersetzungen  zugrunde  liegt.  Ein  wohltuender 
Geist  kritischer  Nüchternheit  beherrscht  wenigstens  den  ganzen  ersten  Teil 
der  Schrift,  der  wesentlich  referierend  über  die  Runenfrago  iin  Allgouieineu 
sich  ergeht.   So  werden  die  Runen,  soweit  sie  bei  den  Slaven  bekannt  waren. 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVIH.  25 


386  Kritischer  Anzeiger. 

ohne  weiteres  als  von  den  Germanen  zu  den  Slaven  gebracht  aufgefaßt,  im 
Gegensätze  zu  den  phantastischen  Kombinationen  des  verstorbenen  Kasimir 
Szulc.  Ihre  Boltanntschaft  wird  hauptsächlich  bei  jenen  Nordwestslaven  als 
sehr  verbreitet  gewesen  angenommen,  die  mit  den  dänisch-skandinavischen 
Ländern  Grenznachbarn  waren,  also  bei  den  Pommcrschen,  Elbe-  und  Oder- 
slavcn,  speziell  auch  bei  den  Polen  Großpolens.  Wenn  der  Verfasser  nicht 
immer  in  den  Grenzen  dieser  Grundauffassung  bleibt,  wenn  er  z.  B.  die  be- 
kannte Stelle  Chrabr's,  die  vom  Gebrauch  der  ipxnj  und  ])i3Ta  spricht,  für 
die  Vertrautheit  auch  der  Südslaven  mit  den  Runen  als  Beweis  in  Anspruch 
nimmt,  so  möchte  ich  doch  zur  Vorsicht  raten,  da  aus  dem  etwaigen  Ge- 
brauche gewisser  Striche  und  Kerben  zum  Zählen  oder  Wahrsagen  nicht 
gleich  die  Bekanntschaft  mit  der  Runenschrift  abgeleitet  werden  kann.  An 
eine  Verbreitung  der  Runen  bei  allen  Slaven,  etwa  vor  ihrer  Bekehrung  zum 
Christentume,  ist  gewiß  nicht  zu  glauben,  selbst  wenn  man  theoretisch  zu- 
geben kann,  daß  die  Normannen  oder  Russen  als  Beherrscher  der  Slaven  des 
Ostens  auch  Runen  gekannt  haben.  Durch  diese  ganz  unbegründete  Verall- 
gemeinerung hat  der  Verfasser  unnötiger  Weise  den  guten  Eindruck,  den 
sonst  einzelne  Teile  seiner  Schrift  hervorbringen,  stark  beeinträchtigt.  Den 
guten  Eindruck  leite  ich,  abgesehen  von  der  allgemeinen  Einleitung,  nament- 
lich auch  davon  ab,  daß  er  unter  den  angeblich  mit  slavischen  Runen  ver- 
sehenen Gegenständen  zunächst  mehrere  ausscheidet,  die  gar  nichts  Slavi- 
Bches  an  sich  haben  oder  zweifelhaften  Ursprungs,  ja  geradezu  Falsifikate 
sind.  Zu  letzteren  zählt  er  ohne  Bedenken  die  noch  jetzt  in  Neustrelitz  auf- 
bewahrten Steine  und  Götzenbilder  mit  den  Runen,  die  selbst  nach  der  ver- 
suchten Verteidigung  im  Jahre  1850  durch  Jan  KolLär,  der  triumphierend 
seiner  Frau  schrieb:  »Alles  staunt  über  die  Wichtigkeit  dieses  Schatzes.  Die 
Eulen  verkriechen  sich  nun«  (vergl.  den  Vestnik  der  k.böhm.  Akademie  1904, 
Nr.  7),  und  nachdem  später  noch  Kas.  Szulc  eine  Lanze  zur  Verteidigung 
ihrer  Echtheit  gebrochen  (Posen  1876),  doch  von  Malecki  und  mir  (im  V.Bde. 
dieser  Zeitschrift),  wie  ich  glaube,  endgiltig  beseitigt  worden  sind.  Daß  sie 
noch  einmal  Piekosinski,  als  «möglicherweise  echt«  in  Schutz  nahm,  darf 
eben  so  wenig  Wunder  nehmen,  wie  daß  ein  Boguslawski  (Historya  Slowian 
II,  S.  187  ff.)  lieber  einem  Szulc  und  Piekosinski  als  einem  angeblichen  Ver- 
treter der  »Berlinisch-österreichischen  Schule«  (sie!)  Glauben  schenkt.  Lecie- 
j  ewski  tat  wohl  daran,  daß  er  der  Autorität  Piekosinski'a,  die  in  den  Fragen  der 
Genealogie  und  Diplomatik  groß  sein  mag,  aber  in  der  Runendeutung  viel  zu 
wünschen  übrig  läßt,  nicht  nachgab.  Leider  blieb  er  auf  dem  halben  Wege 
stehen.  Denn,  wie  wir  gleich  hören  werden,  in  der  Verteidigung  der  Echtheit 
der  Mikorzyner  Steine  steht  er  noch  immer  auf  demselben  Standpunkte  wie 
Szulc  und  Piekosinski. 

Hier  geht  auch  meine  Zustimmung  zu  dem  Werke  Leciejewski's  und 
seiner  Beweisführung  zu  Ende.  Wo  er  einmal  das  angeblich  slavische  Runen- 
gebiet betritt  und  den  Scharfsinn  seiner  Deutungen  leuchten  läßt,  kann  ich 
ihm  leider  nicht  mehr  mit  gleicher  Befriedigung,  wie  früher,  folgen.  Ich  halte 
es  ja  grundsätzlich  nicht  für  ausgeschlossen,  daß  auf  slavischem  Boden  ein- 
zelne mit  Runen  beschriebene  Gegenstände,  wie  z.  B.  Urnen  oder  auch  Steine, 


Leciejewßki,  Zur  slavischen  Runenfrage,  angez.  von  Jagic.  387 

könnten  vorhanden  gewesen  sein,  sei  es  als  Entlehnungen  aus  fremden  Län- 
dern, durch  Verkehr  und  Handel  von  den  Nachbarn  zu  den  Slaven  gebracht, 
sei  es  selbst  als  einheimische,  aber  den  fremden  Vorbildern  nachgemachte 
Erzeugnisse.  Allein  um  die  eventuellen  Gegenstände  letzterer  Art  für  sla- 
visch  zu  erklären,  dazu  genügt  noch  nicht  der  Provenienznachweis,  daß 
nämlich  die  Gegenstände  auf  slavischem  Boden  gefunden  worden  sind.  Es 
muß  noch  irgend  ein  anderes  untrügliches  Merkmal  hinzutreten.  Vor  allem 
wäre  es  ausschlaggebend,  wenn  man  unter  Anwendung  kritischer  Vorsicht 
betreffs  der  Echtheit,  eine  ohne  jeden  Zwang  als  echt  slavisches  Wort  er- 
kennbare Inschrift  entziflfern  und  herauslesen  könnte.  Leider  steht  es  damit 
gerade  nach  dem  Zeugnisse  dieser  letzten,  den  slavischen  Runen  gewidmeten 
Forschung  sehr  traurig,  um  nicht  zu  sagen  ganz  verzweifelt.  Bei  aller  Aner- 
kennung der  ehrlichen  Mühe,  die  sich  Prof.Leciejewski  gab,  um  auf  einzelnen 
Objekten  slavische  Worte  herauszubekommen,  muß  ich  doch  offen  gestehen, 
daß  ich  in  keinem  einzigen  Punkte  von  seinen  Erklärungsversuchen  einen 
befriedigenden  Eindruck  gewonnen  habe,  dagegen  die  von  ihm  zur  Gewinnung 
einer  gewünschten  slavischen  Deutung  angewendeten  Mittel  für  ganz  un- 
statthaft halte.  Ich  will  das  an  den  hauptsächlichsten  Objekten,  die  den 
Gegenstand  seiner  Forschung  und  Deutung  bilden,  näher  ausführen.  Unter 
Nr.29  ist  beiLeciejewski  einBrakteat  ausWapno  (imPosenschen)  abgebildet, 
mit  welchem  sich  schon  Müllenhoff  beschäftigte  und  die  auf  demselben  be- 
findlichen fünf  Runen  von  rechts  nach  links  (mit  umgedrehter  Stellung  ein- 
zelner Runen)  als  SABAR  las.  Mit  dem  so  gewonnenen  Worte  wußte  er 
freilich  nichts  anzufangen.  Leciejewski  möchte  die  Legende  für  die  slavische 
Sprache  in  Anspruch  nehmen.  Er  faßt  den  ersten  Buchstaben,  das  umge- 
drehte ^,  in  der  lautlichen  Geltung  eines  Z  auf;  die  zweite  und  vierte  Rune 
ist  auch  ihm  das  umgedrehte  |s  als  A,  die  dritte  Rune  das  umgedrehte  ^,  nur 
die  fünfte  Rune  ist  unsicher,  Müllenhofl'  sah  R,  umgedreht  als  51,  ich  könnte 
auch  ^  (umgedreht  ^)  zugeben.  Leciejewski  dagegen  liest  die  letzte  Rune 
als  P,  also  umgedreht  aus  ^  für  W.  So  bekommt  er  freilich  ZABAW,  doch 
auf  Kosten  der  Wahrscheinlichkeit,  da  der  Augenschein  zeigt,  daß  die  letzte 
Figur  der  Rune  unter  ^  noch  einen  Strich  hat.  Aber  auch  das  gewonnene  Wort 
flößt  uns  kein  großes  Vertrauen  ein.  Wir  hätten  doch  ZABAWA  erwartet. 
Der  Versuch,  die  auch  in  der  polnischen  Heraldik  nachweisbare  Familie 
ZABAWA  als  Genit.  sing,  von  einem  Masculinum  ZABAW  abzuleiten,  schei- 
tert an  der  Übereinstimmung  aller  slavischen  Sprachen  in  der  femininen  En- 
dung ZABAWA.  Eine  Stelle  in  der  serbischen  Urkunde  des  XIII.  Jahrb., 
wo  in  der  Tat  3aR<\ßK  steht  (Mikl.  Mon.  serb.  28),  kommt  bei  der  sehr  un- 
regelmäßig gehandhabten  Sprache  jener  Urkunde  wenig  in  Betracht.  Mir 
ist  also  selbst  dieser  Brakteat,  der  noch  am  besten  allen  Anfechtungen  wider- 
steht, doch  als  Beweisstück  für  die  Anwendung  der  Runen,  im  Dienste  der 
slavischen  Sprache  nicht  so  sicher,  wie  es  nach  der  Darstellung  Leciejewski's 
den  Anschein  hat.  Man  darf  auch  nicht  übersehen,  daß  die  Runen  dieses 
echten  Brakteata  anders  beschaffen  sind,  als  die  anderen  vermeintlich  sla- 
vischen.   Z.  B.  weder  f5  noch  ^  noch  P  begegnen  in  slavischen  Runen. 

Viel  schwieriger  und  bedenklicher  gestaltet  sich  die  Frage  bei  einer  silber- 


388  Kritischer  Anzeiger. 

nen  Medaille,  die  unter  Nr.  30  u.  31  abgebildet  ist.  Dieses  Stück  soll  man  nach 
dem  Wortlaut  LeciejewBki's  einer  Mitteilung  Piekosinski's  (Herold  Polski  I, 
S.  XXVI — XXXIVJ  verdanken.  Piekosinski  las  auf  einer  Seite  der  Medaille, 
wo  ein  bartloser  Kopf  in  sehr  rohen  Zügen  abgebildet  ist,  die  Runen  0DA 
als  MTliZ,  gegenüber  von  oben  nach  unten  folgen  die  Runen  ^  ^  Ti  '>jK,  die 
Piekosinski  als  BELOBK  deutete.  Auf  der  Rückseite,  wo  ein  männlicher 
Kopf  (Schnurrbart!)  mit  einer  Mütze  versehen  abgebildet  ist,  las  Piekosinski 
■;i'/lHT4'K  =  EASTAN  und  gegenüber  (von  oben  nach  untenj  51  KXi-T  = 
RKAST.  Natürlich  befriedigt  diese  Lesung  Niemanden,  das  beweist  aber 
doch  noch  nicht,  daß  sie  nicht  so  ziemlich  richtig  die  einzelnen  Runen  wie- 
dergibt. Ich  muß  freilich  hinzufügen,  was  Prof.  Leciejewski  nicht  mitteilt 
(ob  es  bei  Piekosinski  steht,  weiß  ich  nicht,  da  mir  Herold  polski  nicht  zur 
Hand  ist),  daß  wir  es  hier  mit  demselben  Stücke  zu  tun  haben,  welches  vor 
etwa  35  Jahren  bereits  Przyborowski  bekannt  war  und  in  seinen  Augen  keine 
Gnade  fand.  Ich  lese  nämlich  in  der  Monographie  K.  Szulc's,  Autentycznosd 
kamieni  Mikorzynskich  (Poznan  187G),  auf  S.  20  eine  briefliche  Äußerung 
Przyborowski's  vom  18.  März  1873  an  K.  Szulc  gerichtet  folgenden  Inhaltes: 
»Kr6tky  proces  zrobilem  z  moneta,  opatrzonjj  runicznym  napisem  slowian- 
skim,  ktora  si^  tutaj  przed  dworaa  laty  pojawila.  Wydalem  jej  wezwany 
takie  swiadectwo,  ie  jej  tu  nikt  nabyc  nie  chciai.  Falszerstwo  hyio  hezczclne, 
kaMy  uzna,  kto  sie  zastanowi  nad  napisem:  Bielbog  Eastan  Talar.  Bielbog 
na  monecie,  i  Talar  runicznem  pismem.  Zdaje  sie,  iQ  mikorzyfiskie  slabo 
lepsze  od  tej  monety  runicznej«.  Ob  man  gerade  »Talar«  lesen  soll  oder 
nicht,  jedenfalls  hätte  sich  Prof.  Leciejewski  eher  die  Frage  von  der  Möglich- 
keit der  Fälschung  vor  Augen  halten  sollen,  bevor  er  sich  in  seine  äußerst 
künstliche  und  im  hohen  Grade  unwahrscheinliche  Deutung  dieses  rohen 
Stückes  einließ.  Die  Runen  sind  doch  zumeist  weit  von  einander  stehend 
geschrieben,  sie  verraten  sehr  große  Ähnlichkeit  mit  den  Zeichen  auf  den 
Prillwitzer  Götzenbildern,  und  der  Versuch  einer  künstlichen  Erklärung 
mit  Anwendung  der  sogenannten  ßinderunen,  ja  sogar  noch  der  diakritischen 
Zeichen,  ist  bei  einem  solchen  Stück  sehr  schlecht  angebracht.  Die  Runen 
ODA,  die  Piekosinski  als  MThZ  deutete,  könnten  mit  größerem  Rechte  als 
MDZ  gelesen  werden  (übrigens  kommen  diese  drei  Runen  auch  auf  einer  der 
Prillwitzer  Figuren  vor!),  Leciejewski  macht  daraus  M(a)6Y,  wobei  die  Um- 
deutung  des  D  als  C  eine  reine  Willkürlichkeit  des  Verfassers  ist.  Auch  /j^ 
als  Y  statt  I  für  i  ist  wenigstens  auffallend,  nachdem  wir  aus  der  Darstellung 
Wimmers  erfahren,  in  welcher  Weise  ungefähr  J^  zur  Bedeutung  von  Y  ge- 
kommen ist.  Aber  noch  willkürlicher  ist  die  Erklärung  der  anderen  Inschrift 
auf  derselben  Seite.  Die  erste  Rune  X.  ist  eigentlich  unter  den  skandinavi- 
schen nicht  nachweisbar,  doch  mit  Recht  hat  Piekosinski  darin  das  nicht 
voll  ausgeführte  ^  erblickt,  d.  h.  die  übliche,  nach  Klüver  gemachte  Rune 
für  B.  Was  macht  aber  Leciejewski  daraus?  Er  sucht  darin  die  Figur  <  (eine 
sehr  alte  Rune  für  C  =  K.  die  in  diese  neuartigen  Zeichen  nicht  hineinpaßt), 
und  den  kleinen  Querstrich  erklärt  er  als  diakritisches  Zeichen  an  K  ange- 
bracht, um  aus  K  ein  C  zu  machen.  Den  Runenschreiber  denkt  sich  also 
Leciejewski  als  einen  tüchtigen  vergleichenden  Sprachforscher,  der  aus  K 


Leciejewski,  Zur  slavischen  Runenfrage,  angez.  von  Jagic.         3S9 

durch  kleine  Wandlung  C  zu  machen  verstand !  Er  war  schon  damals  so  klug, 
den  Laut  c  durch  ein  Zeichen  auszudrücken,  während  noch  heute  die  Polen 
dafür  ztvei  Buchstaben  verwenden!  Ich  staune  überLeciejewski,  daß  er  keinen 
Anstand  nahm  einen  solchen  Einfall  aufs  Papier  zu  setzen  und  zu  veröffent- 
lichen. Nicht  minder  auffallend  ist  die  Erklärung  der  nächstfolgenden  Rune  >J, 
einer  lieben  Bekannten  von  Klüver,  durch  die  Prillwitzer  Götzenbilder  verewigt 
als  E.  Prof.  Leciejewski  ist  freilich  diese  Verwandtschaft  nicht  angenehm, 
er  weicht  ihr  aus  und  sucht  dem  Zeichen  anders  beizukommen.  Und  zwar 
auf  eine  durchaus  nicht  überzeugende  Weise.  Er  stellt  die  Rune  statt  ihrer 
offenbar  geneigten  Stellung  aufrecht  und  bekommt  dadurch  Jungefähr;  das 
A  in  der  Figur  f  (nach  Wimmers  Auffassung  Vereinfachung  des  Zeichens 
^),  den  unteren  Querstrich  faßt  er  dagegen  schon  wieder  als  diakritisches 
Zeichen  auf,  wodurch  die  Rune  für  A  eine  nasalierte  Funktion  bekommen 
sollte.  Abgesehen  davon,  daß  die  von  den  Slaven  angeblich  viel  gebrauch- 
ten Runen  (was  ja  gar  nicht  erwiesen  ist)  endlich  und  letzlich  doch  ein  frem- 
des Gut  sind  und  darum  der  vermeintliche  polnische  Schreiber  zur  Unter- 
scheidung des  reinen  und  nasalierten  A  von  dem  germanischen  Vorrat  'f  für 
a,  ^  für  ^  hätte  Gebrauch  machen  können  (Wimmer  S.  201),  möchte  ich  doch 
den  Verfasser  fragen,  welchen  Gewinn  er  von  dieser  Deutung  des  Zeichens  ^ 
als  all  erzielt  hat?  Glaubt  er  denn  wirklich,  daß  es  im  VIII.  oder  IX.  Jahrh. 
in  der  polnischen  Sprache  eine  Form  caTalovck  für  das  spätere  czlowiek)  ge- 
geben hat?  Die  dritte  Rune  wird  von  allen  Erklärern  als  h  =  L  aufgefaßt. 
Die  vierte  ebenfalls  von  Piekosinski  und  Leciejewski  als  0,  obwohl  die  Figur 
auffallend  ist,  mindestens  als  umgedreht  oder  auf  den  Kopf  gestellt  ange- 
sehen werden  muß,  d.  h.  ^  etwa  statt  des  üblichen  Zeichens  ^,  Der  Fälscher 
kann  aber  auch  mit  dem  mißlungenen  Zeichen  einen  Konsonanten  (vielleicht 
B?)  gemeint  haben.  Denn  die  nächste  Rune  wäre  nach  den  Zeichnungen,  die 
dem  Fälscher  in  der  LeleweTschen  Polska  wiekow  srednich  Poznan  1846, 
Tafel  zur  S.  410)  vorlagen,  am  natürlichsten  als  X  für  0  aufzufassen.  Das 
verlangt  auch  der  gewünschte  Zusammenhang,  denn  die  letzte  Rune  ist  un- 
streitig K  für  K  —  also  das  ganze  lautet  BEL(B)OK.  Doch  bei  Leciejewski, 
der  dem  BELBOK  gern  aus  dem  Wege  gehen  möchte,  wird  das  Zeichen  X 
ganz  anders  erklärt.  Er  denkt  schon  wieder  an  eine  Binderune,  wobei  er  die 
Bindung  von  fl  =  u  oder  v  und  -f*  =  E  annmimt,  ohne  an  das  Unwahrschein- 
liche einer  solchen  Erklärung  Bedacht  genommen  zu  haben.  Wie  er  aus  den 
kaum  sichtbaren  vier  Stummeln  unter  dem  Kinne  des  Bildes  die  Runen  für 
D  W  C  A ,  das  er  D(e)W(i)CA  liest,  herausbekommen  hat,  das  überlasse  ich 
dem  Leser  in  dem  Buche  selbst  nachzusehen.  Die  zwar  viel  deutlicheren 
Runeninschriften  auf  der  Rückseite  der  Medaille,  in  denen  Piekosinski 
RKAST  EASTON,  Przyborowski  EASTON  TALAR  las,  erklärt  Lecie- 
jewski so,  daß  er  flK  von  den  übrigen  drei  Runen  KJ-T  trennt  (ohne  ein 
sichtbares  Trennungszeichen  nachweisen  zu  können,  eine  gewisse  Distanz 
zwischen  den  ersten  zwei  und  letzten  drei  Runen  ist  allerdings  sichtbar\  und 
die  letzten  drei  Runen  als  WIT  liest,  wenn  auch  das  erste  Zoiclion  f^  für  W 
recht  auffallend  ist,  man  würde  vorziehen  es  als  N  zu  lesen,  und  i  erklärt 
Lee.  selbst  für  ungewöhnlich,  nur  '^  als  T  ist  ganz  üblich.    Auf  der  linken 


i 


390  Kritischer  Anzeiger. 

Seite  des  männlichen  Kopfes,  wo  zwei  bisherige  Erklärer  EASTAN  fanden, 
will  Leciejewski  aus  den  ersten  zwei  Zeichen  schon  wieder  eine  Binderune 
machen,  ungefähr  in  der  Figur  "tji  (ich  würde  vorziehen  zwei  selbötändige 
Zeichen  darin  zu  finden),  und  er  liest  sie  SE.  Allein  selbst  wenn  man  an  eine 
solche  Ligatur  glauben  könnte,  so  wäre  sie  als  ES  zu  lesen,  da  ja  das  ver- 
meintliche f  (E)  auf  der  vorderen  Seite  des  nächsten,  nicht  als  S  aussehen- 
den Zeichens  angebracht  ist.  In  der  Tat,  bei  Stephens,  auf  den  sich  Lee. 
beruft,  wird  *>  als  ES  gelesen.  Wie  kommt  man  also  dazu,  bei  uns  diese 
angebliche  Ligatur  als  SE  zu  deuten  ?  Natürlich  nur  dadurch,  daß  Leciejewski 
mit  Hinzuziehung  der  zwei  Runeu  von  der  anderen  (rechten)  Seite  des 
Kopfes,  die  ganze  Runengruppe  als  KRSESTOW  (also  KRZESTOW)  ent- 
ziffern zu  können  glaubt.  Der  Leser  ahnt  schon,  wie  der  Verfasser,  wenn  er 
schon  krzestow  und  wit  herausgebracht  hat,  das  letztere  Wort  ergänzen 
wird.  Natürlich  zu  witalidz!  Ich  vermag  jedoch  diesem  »Kreuzritter«  kein 
Leben  zu  prognostizieren.  Die  ganze  Medaille  ist  eben  ein  gefälschtes  langes 
Machwerk. 

Ich  übergehe  die  unter  Nr.  32  abgebildete  Figur  (als  Amulet),  wo  Prof. 
Leciejewski  seiner  Phantasie  sehr  weiten  Spielraum  gelassen  hat,  um  zu  den 
Mikorzyner  Steinen  überzugehen,  die  er  zu  meinem  großen  Erstaunen  für 
echt  hält  (abgebildet  Fig.  33,  vergl.  schon  im  II.  Bande  unserer  Zeitschrift 
S.  391 — 2).  Es  ist  mir  unerfindlich,  wie  man  den  innigen  Zusammenhang  dieser 
Steine  mit  den  Priilwitzer  Götzenbildern  übersehen  kann.  Da  hilft  die  ganze 
ausführliche  Auffindungsgeschichte,  die  uns  ja  schon  Kazimierz  Szulc  1876 
geliefert  (vergl.  auch  Archiv  B.  II,  S.  386 — 8),  gar  nichts.  Ähnliches  wurde  auch 
seiner  Zeit  von  der  Königinhofer  Handschrift  erzählt.  Auf  beiden  Steinen  liest 
man  tendenziös  das  Wort  HTlR,  gewiß  ist  damit  beidemale  irgend  etwas, 
was  mit  dem  Worte  Mupt  im  Zusammenhang  stehen  soll,  gemeint.  Nur  ja 
nicht  cxMpBTB  !  Leciejewski  möchte  aber  die  beiden  Worte  verschiedenartig 
auffassen.  Die  stark  gebrochene  Linie,  die  den  oberen  Teil  der  Rune  R 
bildet,  will  er  auf  dem  Steine  mit  menschlicher  Figur  als  r  lesen !  Also  schon 
wieder  ein  diakritisches  Zeichen ! !  Es  sind  aber  alle  drei  R  so  ziemlich 
gleichartig  gebrochen  und  der  Grund  von  dieser  Gestalt  liegt  in  der  Zeich- 
nung bei  Lelewel,  wo  sowohl  dieses  R  wie  auch  das  für  P  auffallende  und 
sonst  nicht  nachweisbare  M  seinen  Erklärungsgrund,  d.  h.  seine  unmittelbare 
Vorlage  findet.  Prof.  Leciejewski  hätte  diesen  so  offenkundigen,  über  jeden 
Zweifel  erhabenen,  auf  keine  andere  Weise  erklärbaren  Zusammenhang  nicht 
außer  Acht  lassen  sollen.  Freilich  geht  dann  sein  ganzes  Bestreben,  die  Mi- 
korzyner Steine  als  echt  zu  retten,  in  die  Brüche.  Sie  sind  auch  unecht,  ganz 
so  wie  die  Priilwitzer  Götzenbilder,  nur  war  dort  Klüver,  hier  Lelewel  die 
unmittelbare  Bezugsquelle.  Wer  verkennt  den  Zusammenhang  zwischen  der 
Figur  8  auf  der  Tafel  Lelewel's  und  derselben  Figur  auf  dem  Mikorzyner 
Steine?  Wer  sieht  nicht,  daß  die  auf  dem  Mikorzyner  Steine  gemachten 
Runen  MR^ff^  ganz  genau  mit  derZeichnung  bei  Lelewel  übereinstimmen? 
Darauf  habe  ich  ja  schon  im  Archiv  II,  S.  390  hingewiesen.  Statt  des  un- 
zweifelhaften (freilich  gefälschten)  PROWE  und  des  ebenso  unzweifelhaft 
zu  lesenden  4'4'iT  als  KMET  muß  Leciejewski,  um  den  Verdacht  der  Fäl- 


Leciejewski,  Zur  slavischen  Kunenfrage,  angez.  von  Jagic.  391 

schung  zu  beseitigen,  schon  wieder  zu  dem  System  der  Binderunen  Zu- 
flucht nehmen  und  aus  M  zwei  Runen  machen,  //  =  S  und  |  =  I,  wofür 
nicht  der  geringste  Anhaltspunkt  oder  Wahrscheinlichkeitsgrund  vorliegt. 
Ebenso  ist  ^  als  0  durch  Lelewel's  Zeichnung  gesichert,  wo  in  dem  Worte 
Prowe  und  dem  darunter  gezeichneten  BELBOK  zweimal  dasselbe  Zeichen 
für  0  begegnet.  Wie  künstlich  und  fern  liegend  ist  dem  gegenüber  die  Deu- 
tung Leciejewski's,  daß  ^kdieRuneTsei  (die  Rune  für  T  steht  ja  das  gerade  ^ 
und  nicht  gesenkt  wie  hier)  und  der  Querstrich  soll  E  andeuten,  er  liest  das 
ganze  Zeichen  als  ET.  Daß  auch  O  für  W  auf  Lelewel's  Vorlage  beruht,  wo 
in  dieser  Gestalt  die  Rune  öfters  gezeichnet  ist,  während  sonst  f\  übliche  Form 
ist,  davon  kann  sich  jeder,  der  die  Tafel  Lelewel's  in  die  Hand  nimmt,  ganz  genau 
überzeugen.  Das  Ganze  liest  Leciejewski  SIRETW4  (d.  h.  ^ertw^  !).  Natür- 
lich gefällt  Leciejewski  auch  KMET  nicht,  er  zieht  vor,  auch  bei  diesen  so 
breit  auseinander  gehaltenen  vier  Runen  mit  lauter  Ligaturen  zu  operieren. 
Er  geht  beim  Lesen  von  unten  nach  oben  und  dreht  die  Zeichen  unbarmherzig 
herum,  bis  er  das  Gewünschte  herausbekommt.  Die  erste  Rune  (nach  der 
üblichen  Deutung  die  letzte,  d.  h.  "f ,  aus  den  Prillwitzer  Gestalten  als  T  be- 
kannt) dreht  er  so,  daß  er  LE  bekommt  (sie  !),  wobei  doch  wohl  von  der  Lage 
t  für  L  auszugehen  ist.  Nun  wie  paßt  dazu  die  nächste  ganz  bekannte  Rune 
^ ,  die  er  wieder  so  drehen  muß,  um  ^  zu  gewinnen,  und  der  Querstrich,  der 
nach  der  wirklichen  Zeichnung  recht  lang  ist,  gilt  Leciejewski  als  diakriti- 
f^ches  Zeichen  zu  X  =  G,  und  zwar  hat  der  gelehrte  Runenschreiber  dadurch 
G  zu  DZ  oder  DZ  gemacht !  Die  Rune  Y  dreht  er  um  zu  ^,  wodurch  er  das 
oben  besprochene  Y  bekommt,  die  letzte  Rune  ist  ihm  'j^  =  T,  also  das 
Ganze  liest  er  ledfyt  (für  das  kirchenslavische  jinyKST-h) !  Nicht  minder  will- 
kürlich ist  die  für  den  anderen  Stein  vorgeschlagene  Lesung.  7J^X4^i^ 
wollte  der  Fälscher  unzweifelhaft  als  BOGDAN  oder  vielleicht  BOGODAN 
lesen  (das  letztere  scheint  mir  übrigens  nicht  glaubhaft),  während  Leciejewski 
durch  eineReihe  sehr  künstlicher  und  unwahrscheinlicher  Kombinationen  dazu 
gelangt,  in  den  erwähnten  Runen  NOGO-ÖEC  zu  lesen.  Die  erste  Rune  ist 
ihm  nämlich  'j«,  d.h.  N,  mit  dem  diakritischen  unten  angebrachten  Querstrich, 
wodurch  N  nach  seinem  Dafürhalten  zu  N  wird,  das  Zeichen  =^  identifiziert  er 
als  0  mit  dem  späteren  ^  (Lelewel  hat  ^  als  0),  X  ist  für  G  bekannt  (auch 
bei  Lelewel),  bei  4^  nimmt  er  die  Bindung  des  D  mit  0  an,  dessen  Anwesen- 
lieit  er  in  den  zwei  hinausragenden  Strichen  vermutet,  die  für  D  übliche 
Rune  ist  ihm  auch  hier  C,  von  'I,  das  für  A  eigentlich  in  der  Form  -j  üblich 
ist,  meint  er,  es  bedeute  E,  ohne  Gründe  dafür  zu  haben,  h.  bedeutet  ihm  C 
(das  ist  richtig,  aber  als  C  =  K).  Die  hier  unter  dem  Pferde  stehenden 
Runen  liest  er  WOIU  (er  zieht  U  der  Lesung  N  vor)  und  die  sechs  rechts 
seitwärts  befindlichen  Runen  liest  er  LUTEWOI,  indem  er  im  Zeichen  f 
statt  des  einfachen  T  abermals  eine  Binderune  für  TE  erblickt.  So  lautet  ihm 
die  ganze  Inschrift:  SMIRNOG-0-ÖIEC  LUTEWOI  WOIU  S.  Die  kuriose 
Form  Smiriiogo  versucht  der  Verfasser  sogar  zu  verteidigen  und  zwar  merk- 
würdig genug  durch  den  altpolu.  Genitiv  togo,  Dativ  tomu  (S.  148)  statt  dos 
üblichen  tego,  tomu.  Er  übersieht  dabei  die  Kleinigkeit,  daß  togo,  tonnt 
regelrechte  ältere  Formen  sind,  die  sehr  früh  aliordiuga  den  AnalogiebiUluu- 


392  Kritischer  Anzeiger. 

gen  tego-temu  weichen  mußten.  Kann  er  dasselbe  von  Smirnogo  behaupten? 
Selbstverständlich  ist  auch  das  Adjektiv  smirni  statt  smirny  nicht  nach- 
weisbar. 

So  traurig  ist  es  mit  den  »polnischen  Runen«  bestellt.  Sie  sind  wohl 
alle  zusammen  nicht  einen  Pfifferling  wert.  Dasselbe  gilt  wohl  auch  von  dem 
»böhmischen«  Runenstein,  den  der  phantastische  Archäolog  Wäclaw  Krol- 
mus  1852  entdeckt  (im  Jungbunzlauer  Kreise)  und  1857  beschrieben  hat.  Ich 
weiß  nicht,  was  wahres  hinter  diesem  Phantasiestück  steckt.  Ilaben  ihn  im 
Keller  die  Kartoffeln  unkenntlich  gemacht,  wie  Prof.  Loci ejewski  befürchtet? 
Interessant  ist  das  äußere  Bild  des  Steines  zu  betrachten  —  offenbare  Nach- 
a,hmung  einer  cyrillischen  Vignette,  aus  Ligaturen  und  in  Stockwerken  auf- 
gelagerten Buchstaben  bestehend!  Ich  wundere  mich,  daß  Prof.Leciejewski, 
der  ja  doch  echte  Runensteine  wenigstens  in  treuen  Abbildungen  gesehen  (z.  B. 
bei  Stephens  und  Wimmer),  diese  für  die  Runen  ganz  abnorme  Übereinander- 
stellung  nicht  sogleich  für  höchst  verdächtig  erklärt  hat.  Ja,  er  gibt  sich  noch 
die  Mühe,  den  Unsinn  zu  entziffern,  wobei  er  keinen  Gott  herausliest,  sondern 
etwas  anderes,  nicht  minder  Ergötzliches:  KNEZE  RADEK  OBA  KAM(e)- 
NY  UKUL  SI  VE  S(lavu)  BPATRUSI  SV(e)MU  SY(no)V(i). 

Die  mit  großer  Mühe  unter  Anwendung  von  allerlei  möglichen  und  un- 
möglichen Erklärungskünsten  versuchte  Rettung  einiger  Objekte  mit  Runen- 
inschriften als  echte  slavische  Runendenkmäler  ist  dem  Verfasser  leider 
nicht  gelungen.  Nicht  jeder  Feldherr,  der  in  den  Krieg  zieht,  kehrt  als 
Sieger  heim,  ohne  daß  man  deswegen  seinen  persönlichen  Mut  in  Zweifel 
ziehen  darf.  So  erging  es  auch  dem  Verfasser  dieser  Schrift.  Er  hat  mit 
großem  Mute  den  Kampf  um  die  Echtheit  der  slavischen  Runen  aufgenom- 
men, ohne  nach  meiner  festen  Überzeugung  den  Sieg  davon  getragen  zu 
haben.  V.  J. 


Russische  Volksmärchen.  Gesammelt  von  Alexander  N.  Afanasjew. 
Deutsch  von  Anna  Meyer.  Wien  1906.  E.W.Stern.  Verlag.  S.  304. 

Ein  eigentümliches  Geschick  verfolgte  Afanasjev's  berühmte  Märchen- 
sammlung: trotzdem  bereits  1831  von  A.Dietrich  eine  Anzahl  sogenannter 
»Volksmärchen«  aus  Volksbüchern  in  die  deutsche  Literatur  unter  der  Patro- 
nanz  eines  Jakob  Grimm  eingeführt  wurden,  fand  Afanasjev's  Ausgabe  der 
russischen  Volksmärchen  bis  in  die  neueste  Zeit  noch  nicht  Eingang,  obgleich 
sie  sogar  in  die  englische  und  französische  Sprache  tibersetzt  wui'den.  Nur 
einiges  wenige  wurde  aus  diesen  reichen  Schätzen  dem  deutschen  Publikum 
mitgeteilt  in  den  60-er  Jahren  von  A.  Schiefner  und  von  Gustave  Chavannes. 
Und  obzwar  bereits  1866  R.  Köhler  (vgl.  nun  Klein.  Schriften  I,  401)  lebhaft 
diesen  Mangel  bedauerte,  schaffte  noch  lange  Niemand  eine  Besserung.  Erst 
jetzt,  nachdem  bereits  ein  halbes  Jahrhundert  seit  dem  Erscheinen  des  ersten 
Heftes  dieser  Sammlung  verflossen  ist,  erschien  eine  größere  Auswahl  der- 
selben in  deutscher  Übersetzung,  die  sich  eigentlich  als  das  erste  Heft  einer 
vollständigen  Ausgabe  derselben  in  deutscher  Sprache  ankündigt. 


i 


Anna  Meyer,  Eussische  Volksmärchen,  angez.  von  PoHvka.         393 

Bevor  wir  in  die  Besprechung  dieser  Übersetzung  eingehen,  sei  gedacht 
einer  etwas  älteren,  an  Zahl  geringen  Auswahl  aus  Afanasjev's  Sammlung,  die 
in  der  Literatur  so  ziemlich  unbemerkt  geblieben  ist.  Als  Beilage  zum  Jahres- 
bericht des  Städtischen  Eealprogymnasiums  zu  Görlitz  für  Ostern  19ü3  er- 
schien eine  mit  märchenwissenschaftlichen  Anmerkungen  eingeleitete  Über- 
setzung »Sechs  russischer  Volksmärchen«  von  Oberlehrer  Dr.  Max 
Müller  ;S.  61).  Und  zwar  wurden  hier  übersetzt  als  Nr.  1  »Ein  unbedachtes 
Wort«  =  Afanasjev  ij  Nr.  126»,  als  Nr.  2  »Geh  hin  —  weiß  nicht  wohin,  hol 
das  —  weiß  nicht  was«  =  Afan.  Nr.  122  ^,  als  Nr.  3  » Der  Schatz « =  Afan.  Nr.  144, 
als  Nr.  4  »Von  dem  ungläubigen  Mamai«  =  Afan.  Nr.  182,  als  Nr.  5  »Prin- 
zessin Kröte«  =  Afan.  150^,  als  Nr. 6  »Iwan  Aschensohn«  =  Afan.  Nr.  75.  Zur 
Übersetzung  selbst  ist  nicht  viel  zu  bemerken.  Das  Märchen  Nr.  126  a  hat  auch 
Anna  Meyer  übersetzt  unter  Nr.  42,  S.  294  f.,  aber  im  Ganzen  weniger  gelungen, 
wenn  sie  auch  dem  von  Max  Müller  begangenen  Fehler  ausgewichen  ist.  Epo- 
ciLiucB  ÄOroH/iTL  uxT.  HeiucTLio  »OiouiCMi),  KpiiiaTX,  uauiy  ÄlBuuy ! «  ill,  82) 
übersetzte  Herr  Max  Müller:  Da  machten  sich  die  Bösen  auf,  sie  einzuholen. 
»Totschlagen  (!)  wollen  wir«,  so  riefen  sie,  »unser  Mädchen«.  Frl.  Meyer 
hat  diese  Stelle  ausgelassen,  sie  sagt  bloß  S.  298):  »Die  Teufel  wollten  ihnen 
nachjagen«.  In  Nr.  6,  S.  59  übersetzte  H.  Max  Müller  no;i;t  moctomt,  »unter 
dem  Fußboden«,  freilicli  im  Vertrauen  auf  Afanasjev  selbst,  der  das  Wort  in 
der  Anmerkung  (I,  153)  ausdrücklich  mit  noÄ-h  glossierte.  Es  ist  wohl  kaum 
möglich,  wie  sich  ein  so  tapferer  Held,  der  3-,  6-  und  12-köpfige  Drachen 
überwindet,  unter  einem  Fußboden  verstecken  kann.  Der  Vergleich  mit  an- 
deren Märchen  und  Versionen,  wo  dieses  beliebte  Motiv  vorkommt,  vgl. 
Wollner's  Anmerkung  in  Leskien  &  Brugmann's  Litau.  Volkslied.  u.Märch.  557 
(neuestens  V.  Tille  Povidky  na  Valassku  Nr.  12)  zeigt,  daß  hier  nur  an  eine 
wirkliche  Brücke  zu  denken  ist.  Vgl.  z.B.  bei  Romanov  Bi.iopyc.Cö.VI,  S. 64: 
ynaEX  Äcpuöt  .  .  .  KyxapcKUHyiiy  Ilsauy  na  nepBVio  iioil  na  Kapasy^ii.  uuu  ki> 
KaJiHHyByMy  Mociy  km  ruauofi  pa^^.  Vgl.  auch  die  Szene  bei  Afan.  Nr.  7  7,  S.  164, 
Nr.  78,  S.  168:  npiixajiu  ohu  kx  orneHnoü  piKi,  lepeai.  piKy  moctx  JueauiTi),  a 
KpyroMt  piKir  orpoMHLifi  jiici..  In  diesem  Walde  schlug  der  Held  Iwan  der 
Bauernsohn  mit  seinen  Leuten  das  Zelt  auf,  diese  hüten,  ob  nicht  Jemand  über 
diesen  Fluß  kommt,  Iwan  hütet  unter  der  Brücke.  Vgl. E.Lemke  Volkstüml.  in 
Ostpreußen  II,  149.  — 

Anna  Meyer  übersetzte  folgende  Stücke  aus  Afanasjev's  Sammlung  Nr.  1 
a  und  b  (Nr.  1,  Var.  1  u.  2),  Nr.  2  c  (Nr.  2),  Nr.  6a  (Nr.3),  Nr.  8  (Nr.  5),  Nr.  9  (Nr. 6;, 
Nr.  loa  (Nr.  7),  Nr.  11  (Nr.  8),  Nr.l5  (Nr. 9),  Nr.  36  (Nr.  10),  Nr.  47  (Nr.  II),  Nr. 48 
(Nr.  12),  Nr.  50  (Nr.  13),  Nr.  51  (Nr.  14),  Nr.  52a  (Nr.  15),  Nr.  57  (Nr.  16),  Nr.  58* 
und  '•  (Nr.  18,  Var.  I  u.  II),  Nr.  59  (Nr.  19),  Nr.  611»  (Nr.  20),  Nr.  65  (Nr.  21;, 
Nr.  66d  (Nr.  22,  A'ar.  I  ,  Nr.  67a  (Nr.  23;,  Nr.  70  (Nr.  24),  Nr.  71  (Nr.  25), 
Nr.  76  (Nr.  27),  Nr.  81  (Nr.  28),  Nr.  84a  (Nr.  29),  Nr.  85  (Nr.  30),  Nr.  88  (Nr.  31), 
Nr.  91  (Nr.  32),  Nr.  92  (Nr.  33),  Nr.  93 1>  (Nr.  34),  Nr.  95  (Nr.  35),  Nr.  96  ,Nr.  36\ 


1)  Wir  zitieren  die  dritte  unter  der  Redaktion  von  E.  A.  Gruzinskij  er- 
schienene Ausgabe  1897. 


394  Kritischer  Anzeiger. 

Nr.  98  (Nr.  37),  Nr.  100=^  (Nr.  38),  Nr.  103a  (Nr.  39),  Nr.  104a  (Nr.  40),  Nr.  105» 
(Nr.  41j,  Nr.  126^  (Nr.  42),  Nr.  181  (Nr.  43). 

Außerdem  wählte  die  Übersetzerin  einige  Nummern  aus  den  in  Afana- 
ßjev's  Anmerkungen  mitgeteilten  Varianten,  so  als  Nr.  22,  Var.  2  nahm  sie  die 
aus  dem  Kreise  Bobrov.  Gouv.  Voronez  in  der  Anm.  zu  Nr.  66, 1,  S.  107  mit- 
geteilte Version;  zu  Nr.  24  führte  sie  die  von  Afan.  I,  123  aus  Chudjakov's 
Sammlung  entnommene  Version  an;  unter  Nr.  26  gibt  sie  nicht  eine  von  Afa- 
uasjev  unter  der  Nr.  74  aus  dem  Volksmunde  entnommene  Erzählung,  sondern 
die  in  der  Anm.  zu  diesem  Märchen  I,  149  aus  der  recht  trüben  Quelle  der 
Sammlung  Bronicyn's  geschöpfte  Variante;  auch  unter  Nr. 38  wählte  sie  nicht 
die  zweite  volkstümliche  Version  zu  Nr.  100,  sondern  die  einem  Volksbuche 
entnommene  Version  100  a,  Nr.  16  findet  sich  nicht  in  Afanasjev's  Samm- 
lung, sondern  ist  Danilevskij's  »Steppenmärchen«  entnommen,  wie  aus  Afa- 
nasjev's Anm.  zu  Nr.  55,  I,  S.  76  zu  ersehen  ist.  —  Nr.  4  «Der  kranke  Löwe« 
ist  endlich  überhaupt  keine  russische  Fabel;  die  Übersetzerin  wußte  wohl 
nicht,  was  sie  sich  vorstellen  sollte,  als  sie  »Chorutanskisches  (üj  Märchen« 
unter  dieselbe  schrieb.  Afanasjev  führt  diese  Version  in  seinem  Kommentar 
(I,  S.  20)  ausdrücklich  als  aus  der  bekannten  Märchensammlung  des  Valjavec 
entnommen  an.  Frl.  Meyer  ahnte  nicht,  daß  sie  da  eine  kroatisch-slovenische 
Fabel  vor  sich  hatte.  Ein  sprachlicher  Schnitzer  ist  auch,  nebenbei  bemerkt, 
wenn  die  deutsche  Übersetzerin  Grodnensker  Gouvern.  S.  34  schreibt;  sie 
zeigt  uns,  daß  sie  mit  der  russischen  Geographie  nicht  besonders  vertraut  ist. 
Übrigens  scheint  sie  eine  besondere  Vorliebe  für  russische  Suffixe  zu  hegen, 
so  versuchte  sie  die  in  Nr.  98  (I,  246)  vorkommenden  Namen  3Miü  SMiüBHix, 
BopoTii.  BopoHOBHix,  KoKOTT.  KoKOTOBHix  mit  Uhnlicheu  Bildungen  wie  Drache 
Drachenowitsch,  Eabe  Kabenowitsch ,  Hahn  Hahnowitsch  wiederzugeben 
(S.  252). 

An  der  Übersetzung  des  Frl.  Anna  Meyer  wäre  recht  viel  auszusetzen. 
Sie  hat  sich  wohl  nicht  in  den  deutschen  Märchenstil  eingelesen,  denn  sonst 
hätte  sie  doch  einigermaßen  treffend  den  eigenartigen,  wunderbar  schönen 
Stil  und  Ton  des  russischen  Märchens  wiedergegeben.  Auch  sonst  hätte  sie 
sich  an  ähnliche  Gestalten  des  deutschen  und  westeuropäischen  Märchens 
erinnert,  und  z.  B.  nicht  den  Heldennamen  McÄBiaKo  Nr.  81  mit  Bärchen  in 
Nr.  28  übersetzt,  noch  die  eigene  russische  Färbung  des  allgemein  verbreiteten 
Spruches  »ich  rieche,  rieche  Menschenfleisch«  pyccKHM-B  ayxoM'B  naxHeii. 
Nr.  58,  Var.  a,  I,  S.  60,  Nr.  59, 1,  S.  86  so  recht  geschmacklos  übersetzt  »da  riecht 
es  nach  Russen«  (S.  60,  73)  ähnlich  S.  222,  223,  da  gekürzt  caMt  no  PycH  Jie- 
Tajt,  pyccKaro  ayxa  naxBata-icfl  —  oti>  leöa  pyccKUMt  ayxoMT.  h  naxHCix 
(I,  223)  —  »du  flogst  ja  selbst  über  Rußland  hin,  daher  riecht  es  nach  Rus- 
sen« (223).  — 

Es  wäre  vielleicht  übertrieben,  wenn  man  von  einer  Übersetzung  fremder 
Märchen  eine  ganz  genaue,  wortgetreue  Wiedergabe  des  Originales  fordern 
würde,  aber  man  muß  unbedingt  fordern,  daß  der  Übersetzer  einerseits  treu 
den  Inhalt  und  die  Form  des  Originals  wiedergibt  —  auch  das  Märchen  hat 
seinen  besonderen  Stil,  seine  eigene  Form  —  und  wenn  er  auch  nicht  Wort 
für  Wort  übersetzt,  so  doch  andererseits  keine  groben  Fehler  sich  zu  Schulden 


Anna  Meyer,  Russische  Volksmärchen,  angez.  von  Polivka.         395 

kommen  läßt,  welche  vielfach  zu  einem  Mißverständnis  ganzer  Szenerien 
führen  kann.  Leider  ist  auch  von  diesem  Standpunkt  aus  die  Übersetzung 
des  Frl.  Anna  Meyer  durchaus  nicht  einwandfrei.  Wir  konnten  zwar  nicht 
die  Übersetzung  von  Anfang  bis  zu  Ende  Wort  für  Wort  verfolgen,  aber  auch 
bei  unserem  oberflächlichen  Vergleich  kamen  wir  auf  einige  recht  grobe  Ver- 
stöße gegen  das  Original.  In  der  russischen  Version  des  Märchens  vom  wil- 
den Mann,  vom  Eisenhans  bei  Grimm  Nr.  136,  Afanasjev  Nr.  67, 1,  S.  109  ff. 
übersetzte  sie  MyacnKx-.iimiii  S.  100  »Waldbauer«,  was  eine  ganz  falsche 
Vorstellung  bei  des  Russischen  unkundigen  Lesern  hervorrufen  muß.  In 
Nr.  91,  Bd.  I,  S.  209  lesen  wir  bei  Afan.  »J[a,  Ctua  eme  y  co^waia  CKpunna;  bx 
Äocyacce  BpeMa  oh-b  na  hcü  paaiitiH  nicHu  urpa.zn.,  CKyKy  par.roHiij'B ;  das  wurde 
S.  184  übersetzt:  »Auch  eine  Geige  hatte  er  und  während  er  wartete 
spielte  er  ein  Liedchen,  um  sich  die  Zeit  zu  vertreiben».  In  demselben  Mär- 
chen sagt  der  Teufel  dem  Soldaten,  als  er  sich  weigert,  seine  Geige  mit  des 
Teufels  Buche  umzutauschen  » y  weHa  laKaa  KHura,  kto  hu  nocMOTpuri,,  bcakom 
npouHxaiB  cyMieii«;  Frl.  Meyer  übersetzte  das  »wer  mein  Buch  hat,  kann 
alles  lesen,  was  er  ansieht«  (S.  185).  Das  Wort  paxB  übersetzte  sie  in  Nr.  35, 
S.  228  »Ritter«,  S.  229  »Kämpfer«.  Im  Original  lesen  wir  I,  234,  Nr.  95:  Suiobx, 
ifuioBT),  aact  rJi.iiuTB,  jIH/Khtb  paTB-cii.aa  naöuiaa.  Johi.  11  cnpamuBaa:  A  xto 
xyiauKa  cctb  acuBtiir,  ck'i^ch,  kto  naöuBi.  cioh»  paTB?  .  .,  dafür  bei  Frl.  Meyer 
228  f.  Er  ging  immer  geradeaus  fort.  Da  fand  er  einen  Ritter  verwundet 
am  Boden  liegen,  den  fragte  er:  »Wenn  du  noch  lebst,  sage  mir,  wer  dich 
schlug?«  und  mio  yci  xpH  paxH  naöiaiiJia  AHacxaciH  IIpeKpacHaH  ib.  S.  234 
wurde  übersetzt  (S.  229)  »den  Anastasia  die  Wunderschöne  alle  drei  Kämpfer 
besiegt  habe«.  BaöymKa-saÄBopimKa-aruHumiia  11,270  (Nr.  181)  wurde  übersetzt 
ganz  in  das  prosaische  Alltagsleben  »Die  alte  böse  Haushälterin«  (S.  301).  In 
Nr.  120  ■'i  bei  Afan.  wird  erzählt,  wie  das  Liebespaar  aus  dem  Wasserpalast  des 
Teufels  floh:  sie  gingen  vom  See  weg  immer  rücklings,  bis  sie  auf  die  große 
Straße  kamen.  Als  nun  die  Teufel  ihnen  nacheilten,  konnten  sie  ihre  Spuren 
nicht  finden  »uixi  cjitnoBt  otx  oaepa,  Bci  cjiiaBi  BCRyx-B  Bt  boäv«  (II,  82),  es 
gab  keine  Spuren  vom  See  weg,  sondern  alle  führten  in  das  Wasser.  Dr.  Max 
Müller  übersetzte  das  ganz  richtig,  aber  Frl.  Meyer  mißverstand  vollständig 
diese  Szene  und  erzählte  etwas  ganz  auderes,  als  wir  bei  Afan.  lesen:  auf  ein- 
mal war  der  See  verschwunden  und  keine  Spur  des  Wassers  zurückgeblie- 
ben (!)  S.  298. 

Den  eigentümlichen  Ton,  die  stilistische  Färbung,  die  Phraseologie  des 
russischen  Märchens  vermissen  wir  fast  durchgehends  in  dieser  Übersetzung. 
Alles  klingt  so  entsetzlich  trocken,  schal  und  fahl,  einen  Satz  wie  mcuü  ^ra 
yxamiijia  3a  xT;  ropi.i  3a  KpyxLiR,  sa  xt  jif.ca  na  lüMiu.ie,  3a  tT.  cxo.nn  3a  rycuuonBin 
(I,  90,  Nr.  61  'j)  gut  wiederzugeben,  erfordert  wie  eine  gründliche  Kenntnis  der 
russischen,  so  eine  meisterhafte  Behandlung  der  deutschen  Sprache.  Unsere 
Übersetzerin  sagte  hiefür  » Jaga  schleppt  mich  über  steile  Berge,  durch  dunkle 
Wälder,  über  die  Steppe  hin  . .  (S.  83).  Für  hiikxo  iic  laiHexx,  iio  ivi.AaeT'i..  hukto 
110  öepcxcji  cKasaxr.  (I,  151,  Nr.  76)  sagt  sie  ganz  einfach  »doch  keiner  konnte 
ein  Mittel  sagen«  (S.  137,  Nr.  27).  Dafür  gelang  ihr  nicht  übel,  »cKopo  cKasua  cku- 


396  Kritischer  Anzeiger. 

3LiBaeTCH,  iie  CKopo  A^^-^o  aIäüctch«  wiederzugeben:  »Rasch  erzählt  man,  lang- 
sam erlebt  man«  (S.  138  u.  a.). 

nie  und  da  hat  sie  etwas  ausgelassen,  obwohl  es  nicht  unwichtig  war, 
z.  B.  I,  S.'Ji),  Nr.  65  »uc  no  uyipy  ouh  Oliäh  -jäoü  ii?,AbMt;  icaKt  6li  hxt,  H3BecTU, 
Äa  ÄO  xyÄa  äoboctk,  ÄyMa.aa  ona  ii  npasyMaja:  CKHuy.iaci.  TaKoä  Jiacoä, 
npuiiijia  KT.  iixT.  MaTcpir  a  roBopuTt«  —  dafür  lesen  wir  (S.  86):  »Eine  böse 
Hexe  konnte  sie  aber  nicht  leiden  und  überlegte,  wie  sie  die  beiden  ins  Un- 
glück stürzen  könnte.  Deshalb  ging  sie  zu  der  alten  Fürstin  und  sprach-;  der 
echt  märchenhafte  Zug  wurde  einfach  ausgelassen.  An  einer  anderen  Stelle 
finden  wir  für  Htoöt.  Kt  saBxpaMy  cto  Kyjieä  ötjoapoii:  nmcHmiLi  6u.io  no 
BcoMy  'iiicroMoy  nojio  pasöpocano  (I,  263,  Nr.  103 a)  bei  Frl.  Meyer  .  .  morgen 
100  Maiskörner  im  freien  Feld  verstreuen  zu  lassen  (S.  269). 

Es  sind  auch  verschiedene  Unebenheiten  in  der  Übersetzung  vorhanden, 
die  von  einer  Unsicherheit  der  Übersetzerin  zeugen,  wie  auch,  daß  keine  letzte 
Eevision  Hand  angelegt  hat.  So  ist  z.  B.  cji.iÄ3,jiu  maroBt  et  ÄBaauaiL-nona- 
ÄaoTC/T  iiMX  iia  Bcrpiny  nciucroii  ayxx  bt.  qcjiOBiiecKOMt  oopasi  (I,  104,  Nr. 66^) 
übersetzt  (S. 94):  » Nach  etwa  zwanzig  Schritten  trafen  sie  einen  unsaube- 
ren Geist  in  menschlicher  Gestalt«,  später  ist  tot-e  ace  ne^ucxLiii  richtiger 
übersetzt  (S.  95)  »denselben  Teufel«;  HeHarjraaHyio  Kpacoiy  I,  220  ist 
zweimal  (S.  212,  213)  übersetzt  »eine  unvergleichliche  Schönheit",  das  dritte- 
mal (S.  215)  besser  »die  unvergleichliche  Schönheit«.  Nur  aus  mangelhafter 
Korrektur  ist  erklärlich  der  Satz:  »Der  Rabe  den  Falk  im  Garten  gefangen 
nicht  hat!«  (S.  304)  für  »ue  yMijia  tbi  Bopoua  coKO.Ta  bx  casy  coiiMaTB«  (H,  271, 
Nr.  181). 

Für  die  vergleichenden  Märchenforscher  wäre  es  gewiß  sehr  erwünscht 
gewesen,  wenn  ein  ausführlicherer  Auszug  aus  dem  reichen  Kommentar  Afa- 
nasjev's  den  einzelnen  Nummern  beigelegt  worden  wäre,  natürlich  ohne  dessen 
mythologisierenden  Ausführungen,  sowie  Auszüge  aus  den  nicht  übersetzten 
Varianten.  Für  die  Stoffwissenschaft  würden  ja  überhaupt  bloße  Regesten 
genügen,  wie  sie  z.  B.  Adolph  Gerber  in  seinem  Buche  » Great  Russian  Animal 
Tales«  1891  gegeben  hat.  Wer  die  russischen  Märchen  nach  ihrem  formalen 
Charakter,  nach  ihrer  Stilistik  studieren  will,  muß  notwendig  zum  Original 
greifen,  da  ja  keine  fremde  Sprache  auch  in  der  vollendetsten  Übersetzung 
alle  ihre  stilistischen  Feinheiten  wiedergeben  kann.  G.  PoUvka. 


rajrHu;tKO-pyciKi  napo^Hi"  npHnOBiAKH.  Siöpas,  ynopHAKyBaB  i  noHCHHB 
/I^p.  IßaH  $paHKO.  Tom  nepinnä  (A — Aith).  y  übbobI  1901 — 1905. 
S.  XXV  +  600  (ExHor'pa*.  SöipHHK  HayK.  tob.  m.  IIIeB^HKa  t.  X, 
XII).  (Volkssprichwörter  der  Ruthenen  in  Galizien.  Gesammelt, 
geordnet  und  erklärt  von  Dr.  Iwan  Franko  I.) 

In  diesem  Werke  entsteht  uns  eine  der  großartigsten  Sprichwörter- 
sammlungen nicht  bloß  in  den  slavischen  Literaturen !  Der  nun  beendete 
I.Bd.,  der  fünfte  Teil  des  ganzen  Werkes,  enthält  bereits  an  10.000  Nummern. 


Franko,  Volkssprichwörter  der  Euthenen  in  Galizien,  angez.  v.  Polivka.    397 

Und  alles  Material,  Sprichwörter,  Eedensarten,  Verwünschungen,  Prognostica 
u.  ä.  wurde  bloß  bei  der  ruthenischen  Bevölkerung  Galiziens  gesammelt. 
Dalj's  berühmte  Sprichwörtersammlung,  welche  Material  aus  dem  ganzen 
russischen  Reich  enthält,  zählt  an  30.000  Nummern.  Die  Sammlung  slovaki- 
Bcher  Sprichwörter  und  Eedensarten  von  P.Zäturecky  zählt  nicht  ganze  10.500 
Nummern. 

Dr.  Iw.  Franko  schildert  in  der  Einleitung  die  Entstehung  seiner  Samm- 
lung und  gibt  damit  zugleich  ein  Stück  Autobiographie.  Schon  als  Gymna- 
siast sammelt  er  volkstümliches  Material  in  seinem  Geburtsort,  Nahujevyci,  in 
der  nächsten  Umgebung,  und  bei  den  Bürgern  der  Stadt  Drohobyc.  Der  spä- 
tere eifrige  politische  Agitator  vergißt  nie  die  Aufgabe  des  Folkloristen,  und 
bei  den  Debatten  ist  immer  der  Bleistift  bei  der  Hand,  den  Eednern  aus  den 
Bauemkreisen  entfliegende  Sprichwörter  und  Eedensarten  sogleich  zu  notie- 
ren. Schon  in  der  Hälfte  der  80-er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  hatte  er 
eine  ziemlich  starke  Sammlung  aufgespeichert  und  bereitete  sie  zum  Drucke 
vor.  Verschiedene  Umstände  vereitelten  deren  Veröffentlichung  und  der  un- 
ermüdliche Gelehrte  faßte  einen  anderen  Plan,  nämlich  die  Herausgabe  einer 
allen  Anforderungen  der  Wissenschaft  entsprechenden  Gesammtausgabe  der 
Sprichwörter  der  Euthenen  Galiziens.  Er  stellte  alle  gedruckten  Sammlungen 
zusammen  von  der  ersten  in  dem  Anhange  der  ruthenischen  Grammatik  Le- 
vickyj's  aus  dem  J.  1834  an,  und  aus  einer  bedeutenden  Anzahl  handschrift- 
licher Sammlungen.   Deren  Verzeichnis  wird  auf  S.  VH— X  angeführt. 

Wichtig  war  die  Frage  nach  der  Ordnung  des  Materials,  um  nicht  bloß 
den  Anforderungen  der  Wissenschaft  zu  genügen ,  sondern  auch  die  Orientie- 
rung zu  erleichtern.  Ein  so  kolossales  Material  zu  ordnen,  daß  es  allen  An- 
sprüchen genügt,  war  gewiß  harte  Arbeit.  Franko  kam  zu  der  Überzeugung, 
daß  die  praktischeste  Anordnung  der  Sprichwörter  ihre  alphabetische  Zu- 
sammenstellung ist,  aber  natürlich  nicht  nach  dem  Anfangsbuchstaben,  son- 
dern nach  den  wichtigsten,  hauptsächlichsten  Wörtern,  nach  Schlagwörtern, 
und  darin  folgte  er  dem  Beispiele  des  Wander'schen  »Deutschen  Sprich- 
wörterlexikons«. Entschieden  sprach  er  sich  gegen  die  «philosophische  <  Zu- 
sammenstellung aus,  welche  bei  den  slavischen  Herausgebern  (Cclakovsky, 
Dalj,  neuestens  Zäturecky  u.  a.)  besonders  beliebt  war.  Freilich  kann  wieder 
sich  darin  ein  Widerspruch  geltend  machen,  welches  Wort  als  Schlagwort 
■aufzufassen  ist.  So  z.  B.  ist  das  Sprichwort  nopoaciiuü  ropiicut.  apciiiuT  a  noB- 
■HHii  MOB'iuT  S.  424  unter  dem  Schlagwort  ropuouL  angeführt.  Nun  braucht 
■nicht  bloß  ein  leerer  Topf  zu  dröhnen,  sondern  ein  leeres  Faß  dröhnt  noch 
(■mehr,  ein  solches  wird  S.  113  s.  v.  öonica  angeführt  »nopoHciia  uoqKa  ryuun.,  a 
noBiia  MOB'iiiTT. «,  wie  bei  Celakovsky  42  »hhul  pn'izdnä  bccka,  plnä  ticha  stoji«, 
bei  Zäturecky  48  »i)r:izdnä  bocka  najhorsie  dudn:i«.  Es  ist  also  eigentlich  die 
Frage,  ob  das  Gefäß  leer  oder  voll  ist,  und  so  soll  das  Sprichwort  vielleicht 
Bher  unter  das  Schlagwort  nopo>Kiuiii  gesetzt  werden.  Das  Sprichwort  pi'uioro 
3.0ÄH  HC  iiaHocuT  Icscu  wir  S.  249  unter  dem  Schlagwort  »Bo,ia«,  und  doch  liegt 
las  Schlagwort  im  Sieb  und  nicht  im  Wasser.  Manchmal  war  sich  der  Heraus- 
jeber  selbst  nicht  klar,  so  reihte  er  z.  B.  «bo.iocö  mu  crajio  iia  ro.ioBi«,  «bojioc 
ropy  nimoB«  S.  253  unter  dem  Schlagwort  »bo.ioc«  ein,  und  »Bcia-io  öu  tu 


, 


398  Kritischer  Anzeiger. 

BOJioctii  Ha  rojiOBi«  finden  wir  S.  279  unter  dem  Schlagworte  »ECTaTii«.  Doch 
haben  wir  solche  Beispiele  sehr  selten  gefunden.  In  der  Bestimmung  eines 
Wortes  als  Schlagwort  wird  gewiß  bei  jedem  Herausgeber  ein  starkes  subjek- 
tives Gefühl  zum  Ausdruck  kommen,  und  Dr.  Franko  ist  sich  recht  wohl  be- 
wußt aller  Schwierigkeiten,  welche  dieses  Einteilungssystem  bietet.  Er  betont 
besonders,  daß  in  manchen  Sprichwörtern  mehrere  charakteristische  Wörter 
vorkommen.  Daher  verspricht  er  in  seiner  Vorrede,  am  Schlüsse  seines  Wer- 
kes ein  Register  aller  Schlagwörter  beizulegen,  welches  dem  Wander'schen 
Werke  fehlt,  um  nur  die  Benutzung  seines  Werkes  künftigen  Gelehrten  zu 
erleichtern. 

Franko  scheidet  nicht  in  seinem  Werke  die  eigentlichen  Sprichwörter 
von  anderen  Redensarten  ab,  er  gibt  alle,  sogar  Beschwörungsformeln,  Be- 
schimpfungen, Wetterregeln  u.  a.  promiscue  unter  den  betreffenden  Schlag- 
wörtern. Hier  glaube  ich,  ist  ein  gewisser  Mangel  dieser  so  verdienstvollen 
Sammlung  nicht  zu  verkennen.  Beschwörungsformeln,  Wetterregeln  u.  ä. 
wären  gewiß  sehr  leicht  in  eigene  Rubriken  zu  scheiden  gewesen,  und  wäre 
dem  gelehrten  Publikum  ohne  Zweifel  viel  willkommener  gewesen.  Wetter- 
regeln und  Wirtschaftsregeln  findet  man  natürlich  besonders  unter  den  be- 
treffenden Festtagen,  Jahreszeiten  u.  a.,  z.  B.  öjiaroBimeHe  S.  59,  BejuKjieHB 
S.  144,  Nr.  4,  BöCHa  S.  152,  BOBCÄöHHe  S.  234  u.  a.,  aber  auch  unter  anderen 
Schlagwörtern,  z.  B.  öi'ö  S.  35,  Nr.  3  »6i6  ipeöa  cihth  b  nicHUH  Äeni.,  to  b  him 
HC  6yae  Myx«,  6y.ii.Ka  S.  129  »aac  6y.ii.KH  na  Boai  ctoht«  bedeutet  einen  langen 
Regen,  Bopoöem.  S.  258,  Nr.  8  »hk  Bopoöeni.  Hane  ca  b  BoBeÄeuiio  b  ÄOÖHiiaqiM 
cjüKj  BOÄH,  TO  ca  Hanace  xyÄOÖa  äo  Ips  xpaBir«  u.  a.  Es  ist  gewiß  mißlich,  wenn 
der  Forscher,  welcher  sich  eben  bloß  mit  dem  Studium  der  im  Volksleben 
geltenden  Wetterregeln  beschäftigt,  zu  diesem  Zwecke  die  ganze  große 
Sammlung  durchlesen  muß.  Dasselbe  gilt  bei  dem  Studium  der  Beschwörungs- 
formeln u.  a. 

Zum  Unterschiede  von  anderen  großen  Sammlungen  fügte  Dr.  Franko 
iedem  einzelnen  Sprichworte  u.  s.  f.  erläuternde  Anmerkungen  bei,  die  oft 
recht  wertvolle  volkskundliche  Bemerkungen  enthalten.  So  finden  wir  da  Bei- 
träge zur  Kenntnis  der  Rechtsgebräuche,  z.  B.  s.  v.  büit  S.  213,  zum  Sprich- 
worte nia  ÄcpHOM  pycBKa  npiicara  S.  545  ist  bemerkt,  daß  in  Grenzstreitig- 
keiten die  Leute  mit  einem  Stück  Rasen  am  Kopfe  schwuren;  S.  548  s.v.  asBiH 
Nr.  2  über  den  ehemals  in  Drohobyc  gepflogenen  Brauch,  gefallene  Mädchen 
zu  strafen.  Zahlreich  sind  Anmerkungen  über  Aberglauben,  z.  B.  Regenbogen 
8.  V.  Becejima  S.  149,  Nr.  1,  über  den  Wechselbalg  S.  209,  von  der  Macht  des 
Speichels,  den  bösen  Geist  zu  vertreiben  S.  210  s.  v.  BianeKaTHCK,  über  Zau- 
bereien S.  211  f.,  über  den  Ursprung  der  Epilepsie  S.  29  s.  v.  6uth,  über  Mittel 
gegen  Tollsucht  S.  259,  Nr.  16,  von  Ertrunkenen  und  Selbstmördern  S.259,  von 
Mitteln  gegen  Fieber  S.  299  s.  v.  BienHxu,  vom  Hausgeist  S.  375  s.  v.  roaosa- 
Hent,  von  Hunger  vertreibenden  Steinen  S.  404,  Nr.  19,  Mittel  gegen  Hagel- 
schlag S.  442—443,  über  die  Marter  der  ungetauften  Kinder  S.  569  u.  m.  a. 
Sehr  interessant  sind  die  Beschwörungsformeln  z.  B.  gegen  Schlangenbiß 
S.  307  s.  V.  raauHa,  S.  438  s.  v.  rocxeiiB,  S.  454  6oaa-c  is  rpoöy  pyny  EucTaBUB !, 
welches  auf  dem  verbreiteten  Glauben  beruht,  daß  das  Kind,  welches  die 


Franko,  Volkssprichwörter  der  Ruthenen  in  Galizien,  angez.  v.  Polfvka.    399 

Eltern  schlug,  die  Hand  aus  dem  Grabe  steckt.  Interessant  ist  die  Redensart : 
B  ripKuii  gepen  san^ia^em  S.  330.  Franko  erblickt  darin  einen  Rest  des  Brau- 
ches, dem  Leichnam  in  das  Grab  kleine,  mit  Thränen  gefüllte  Gefäßchen  mit- 
zugeben. 

Weiter  finden  wir  noch  Sprüche,  die  mit  Kinderspielen  zusammenhängen, 
und  der  Herausgeber  beschreibt  solche  in  den  beigefügten  Anmerkungen,  z.  B. 
s.  V.  BuixaTu  S.  172,  Nr.  1,  S.  351,  Nr.  12,  S.425,  Nr.  20.  Aus  dem  Alltagsleben, 
so  über  Dreschen  s.  v.  öutu  S.  31,  Nr.  46. 

Recht  häufig  sind  sprichwörtliche  Redensarten,  die  auf  allgemein  be- 
kannten Märchen,  Sagen,  Anekdoten  beruhen,  und  diese  gaben  dem  Heraus- 
geber Anlaß  zu  eingehenden  Bemerkungen,  obzwar  nicht  überall,  wo  wir  es 
erwartet  hätten.  Vgl.  s.  v.  6apau  S.  22,  Nr.  2,  s.  v.  6iaa  S.  47,  Nr.  142,  S.  49, 
Nr.  167,  S.  51,  Nr.  200,  s.  v.  Bor  S.  78,  Nr.  204,  S.  86,  Nr.  320,  s.  v.  6yru  S.  131, 
Nr.  5,  s.v.  B.iaÄiiKa  S.  232,  Nr.  1,  s.v.  BOJiOBuii  S.  252,  Nr.  1,  s.v.  BopoöeuL  S.  257, 
Nr.  2 :  es  gibt  eine  rumänische  Sage  vom  hohen  Alter  des  Sperlings,  vgl.  Revue 
des  trad.  pop.  YllI,  102,  s.  v.  By^ByÄ  (Wiedehopf)  S.  293,  Nr.  2;  S,  294,  Nr.  15 
»no  Bycax  tckjo,  b  poTi  cyxo  6iij:o«  hätte  bemerkt  werden  können,  daß  es  eine 
allgemein  verbreitete  Schlußformel  des  Märchens  ist;  mit  der  bekannten  Anek- 
dote von  dem  Dummkopf,  der  aus  dem  Kürbis  einen  Hasen  ausbrütete  u.  ä., 
hängt  der  Spruch  )i6oÄair  Baii  rapöya  otmubcT«  S.  321  zusammen;  mit  dem  be- 
kannten Schildbürgerstreiche  von  dem  Messen  des  Brunnens  u.  ä.  hängen  die 
Sprüche  »rjiTöoKO  ua  ipii  ryny.3ii«,  »r./iyöoKO  Ha  nnri.  x.iona«  S.  340  zusammen 
und  Franko's  Erklärung  derselben  ist  kaum  zutreffend ;  mit  der  alten  Schul- 
anekdote, die  ich  in  der  Zs.  f.  österr.  Vk.  XI,  158  flf.  untersuchte,  hängen  zu- 
sammen die  Sprüche  »A  awB^i  rpa')Jii  ak  jijcrjjiu  no  ^oäi»,  »He  CTaBaü  na 
rpaöjiT,  60  «icTaucni  no  qojii«  S.442.  Der  auf  S. 415  angeführte  Spruch  »roplBKa- 
aiÄtqe  HaciuBii«  hängt  gewiß  mit  der  verbreiteten  Sage  zusammen,  daß  der 
Branntwein  vom  Teufel  erfunden  wurde. 

Stellenweise  treffen  wir  in  den  Sprichwörtern  Spuren  historischer  Tra- 
ditionen, so  von  den  Tatareneinfällen  S.  381,  wie  auch  aus  der  neueren  Lokal- 
geschichte, so  schrieb  sich  tief  in  das  Gedächtnis  des  Volkes  die  Tätigkeit 
eines  allzu  eifrigen  böhmischen  Beamten,  Namens  Hrdlicka,  ein,  so  daß  sich 
sogar  ein  Fluch  »repj'üiKOBa  (m  tu  iicBo.üii  noöujia !  S.  323  bildete. 

Interessant  ist  eine  S.434  angeführte  Charakteristik  der  slavischen  Spra- 
chen: Gott  sprach  zu  Adam  russisch,  Adam  zu  Eva  böhmisch,  und  der  Teufel 
zu  Eva  polnisch,  wo  also,  wie  Dr.  Franko  es  erklärt,  die  russische  Sprache  als 
klar,  leicht  verständlich,  die  böhmische  als  kurz  und  befehlerisch,  die  polni- 
sche als  einschmeichelnd  betrachtet  wird.  Übrigens  ist  als  Ursprungsort  dieses 
Sprichwortes  Lemberg  angegeben,  und  es  wird  kaum  als  echt  volkstümlich 
ungesehen  werden  können. 

Wie  unsere  kurzen  Bemerkungen  zeigen,  hat  dieses  Werk  des  Dr.  Iw. 
Franko  einen  sehr  großen  Wert  nicht  bloß  für  die  Sprichwörterkunde,  son- 
dern auch  für  Jeden,  der  sich  mit  volkskuudlichen  Studien  üborhaui)t  abgibt. 
Wir  hegen  den  lebhaftesten  Wunsch,  daß  es  dem  unermüdlich  tätigen  Heraus- 
geber ermöglicht  wird,  das  Werk  in  Bälde  zu  Ende  zu  führen. 

G.  Tolicka. 


400  Kritischer  Anzeiger. 

Über  die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
böhmischen  Literaturgeschichte. 

Ci6ne  dSjiny  Uteratury  deske.    Jako   pomocnou   knihu   skolam 
strednim  a  üstavüm  ucitelskym  sepsali  Dr.  Jaroslav  Vlcek  a 
Dr.  Emil  Smeh'inka.     Dil  prvni:  doba  stara.    V  Praze  1905. 
'     C.  K.  skolni  knihosklad. 
Prehled  dSßn  Uteratury  deske  s  düleziti^JHmi  ukäzkami.    Pro  ob- 
cliodni    akademie   a   üstavy   pribuzne    upravil  Fr.  Mejsnar. 
I.  Doba  staräj  II.  Doba  stfedEi.    Hradec  Krälove  1905.    Na- 
kladem  spisovatelovjm. 
Vyhor  z  Uteratury  öeske.   Za  citanku  pro  vyssi  tridy  skol  strednich 
upravil  Dr.  Jan  V.Novak.    Dil  L,  doba  staroceska.   S.  10  ukäz- 
kami staroceskych  rukopisü.    V  Praze  nakladem  ceskö  gra- 
ficke  akc.  spolecnosti  »Unie«  1906. 
Struöne  dejiny  Uteratury  öeske  sestavil  Vaclav  Stanek.  V  Olomouci 

1906.  Nakladem  Prombergra. 
Literatura  öeskä  devatenäcteJio  stoleii.  Dilu  tretiho  cast  prvni.  Od 
K.  H.  Machy  ke  K.  Havlickovi.  Napsali :  Josef  Hanns,  Jan 
JakubeCj  Jan  Kabelik,  Jaroslav  Kamper,  Arne  Novak,  Josef 
Pekar,  Zdenek  Tobolka,  Jaroslav  Vlcek.  V  Praze  1905.  Na- 
kladem Jana  Laichtera. 

Die  bühm.  Literaturgeschichte  befand  sich  mehrere  Dezennien  hindurch 
in  Stagnation.  Die  Literarhistoriker  waren  durch  den  Handschriftenstreit  so 
in  Anspruch  genommen,  daß  sie  für  ein  Gebiet,  welches  außerhalb  der  Hand- 
schriftenfrage lag,  keine  Muße  fanden.  In  einer  solchen  Zeit  konnte  natürlich 
kein  größeres  Werk  entstehen.  Mit  Freuden  können  wir  nun  konstatieren, 
daß  sich  die  Verhältnisse  in  den  letzten  Jahren  wesentlich  gebessert  haben. 
Es  sieht  aus,  als  ob  unsere  Wissenschaft  ihre  Schleusen  geöffnet  hätte.  In 
Strömen  kommen  kleine  und  große,  belanglose  und  bedeutungsvolle  Aufsätze 
zum  Vorschein.  Es  fehlt  aber  auch  nicht  an  monumentalen  Werken ;  und  ein 
solches  liegt  uns  vor  in  dem  3.  Bande  der  Liteiaturgeschichte  des  XIX.  Jahrb. 

Aber  nicht  nur  für  die  höhere  Wissenschaft  wurde  gesorgt.  Man  richtete 
auch  das  Augenmerk  auf  die  Schule  und  suchte  den  Schülern  womöglich  gute 
Lehrbücher  in  die  Hand  zu  geben.  Das  taten  in  letzter  Zeit  Vlcek  und  Sme- 
tjxnka  mit  ihrem  Grundriß  der  altböhm.  Literatur,  Mejsnar  mit  seiner  Über- 
sicht der  altböhm.  und  mittelböhm.  Literatur  und  in  den  allerletzten  Tagen 
J.  V.  Noväk  mit  seinem  » Vybor  z  Uteratury  staroceske«. 

Das  erstgenannte  von  diesen  kleineren  Werken  besteht  aus  3  Kapiteln. 
Das  I.  Kapitel  umfaßt  die  geistigen  Produkte  seit  den  ältesten  Zeiten  bis  zur 
ersten  Hälfte  des  XIII.  Jahrh.  Das  IL  Kapitel  (von  Premysl  Ottokar  II.  —  Johann 
V.  Luxenburg,  1253—1346,1  und  das  III.  Kapitel  (von  Karl  IV.  —  Auftreten 


Neueste  Erschein,  auf  cl. Gebiete  d.  böhm.Literaturgesch.,  ang.v. Donath.  401 

Hussens,  1346 — 1409)  zerfällt  inhaltlich  in  folgende' Abschnitte :  IjEpik,  2;LyTik 
und  Drama,  3)  Tendenzpoesie,  4j  Dalimil,  ö)  Prosa.  Das  III.  Kapitel  macht  im 
5.  Abschnitt  noch  4  Unterabteilungen:  a)  Unterhaltungsprosa,  bj  Geschichte  und 
Keisebeschreibung,  c;  Erbauungsprosa,  d)  Kechtsprosa.  Das  Büchlein  ist  eine 
sehr  willkommene  Ergänzung  zu  dem  in  der  6.  Gymnasialklasse  benützten  »Vy- 
bor  z  literatury  ceske,  doba  starä«  von  Pelikan.  Letzter  enthält  wohl  Proben 
aus  verschiedenen  Denkmälern ;  die  Proben  sind  aber  nicht  imstande,  ein  voll- 
ständiges Bild  des  Denkmales  zu  geben.  Das  Buch  von  Vlcek  und  Smetunka 
ergänzt  nun  jenes  von  Pelikan,  indem  es  den  vollen  Inhalt  eines  jeden  Denk- 
males sehr  ausführlich  mitteilt.  Wenn  ein  Denkmal  Fragment  ist,  konstruieren 
die  Verfasser  den  Inhalt  mit  Hilfe  der  Vorlage.  Der  Vorzug  des  Buches  be- 
steht darin,  daß  1)  der  historische  und  im  historischen  der  stoffliche  Faden 
konsequent  verfolgt  wird,  2)  daß  es  wegen  des  lebendigen  und  leicht  faßlichen 
Stiles  sowie  wegen  der  außerordentlichen  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  die 
Schüler  fesseln  muß,  3)  daß  es  die  Resultate  der  neuesten  Forschung  ver- 
wertet, 4)  daß  der  geringe  Preis  von  4uh  das  Buch  leicht  zugänglich  macht. 


Ein  ungleiches  Seitenstück  des  besprochenen  Buches  ist  ebenfalls  ein 
Grundriß  der  böhm.  Literatui-  u.  zw.  der  alten  und  mittleren  Zeitperiode  von 
Fr.  Mejsnar.  Er  besteht  aus  einer  ganz  kurzen  literarhistorischen  Übersicht 
und  aus  Textproben,  die  mit  einigen  Biographien  untermischt  sind.  Die  literar- 
historische Übersicht  ist  leider  etwas  trocken,  so  daß  sie  kaum  die  Schüler 
anziehen  dürfte.  Ja  ich  befürchte  noch  mehr,  daß  nämlich  das  monotone  Auf- 
zählen der  Dichter  resp.  ihrer  Werke  den  Schülern  das  Studium  der  böhm. 
Literatur  verleiden  wird.  Es  ist  wohl  wahr,  daß  sich  der  Verfasser  den  Lehr- 
plan einer  Handelsschule  und  ähnlicher  Fachschulen  vor  Augen  halten  mußte, 
der  dem  Lehrer  der  böhmischen  Literatur  nur  eine  geringe  Zeit  einräumt.  Aber 
gerade  deshalb,  weil  sich  die  Schüler  an  den  Handelsschulen  nur  wenige  Stun- 
den in  der  Woche  mit  Literaturgeschichte  beschäftigen  können,  muß  sie  ihnen 
so  interessant  als  möglich  vorgetragen  werden.  Das  Buch  hätte  gewonnen, 
wenn  die  Biographien,  die  in  den  Text  eingestreut  sind,  in  die  Übersicht  ge- 
kommen wären.  Auch  hätte  es  nicht  geschadet,  wenn  der  Verfasser  die  Zahl 
der  Biographien  noch  um  einige  vergrößert  hätte  (z.  B.  Jan  Hasistejnsky  z 
Lobkovic,  Kchor  Hruby  z  Jeleni,  Vaclav  Häjek  z  Libocan  u.  a.).  Die  Text- 
proben sind  glücklich  gewählt,  der  Verfasser  hätte  aber  zugunsten  der  literar- 
historischen Übersicht  so  manches  auslassen  können. 

Was  die  Einzelheiten  betrifft,  so  ist  meines  Wissens  Mejsnar  der  erste, 
der  als  Geburtsjahr  Hussens  das  Jahr  1373  oder  1375  annimmt.  Es  scheint 
mir  aber  kein  glücklicher  Gedanke  zu  sein,  das  ai)odiktisch  zu  behaui)ton,  was 
seine  Quelle,  Flajshans,  nur  mutmaßlich  ausgesprochen  hat  '!. 

Ich  möchte  übrigens  die  Jalireszald  13(i!1,  die  sich  auf  ein  Zeugnis  dos 
Kodizillus  gründet  und  sowohl  von  Palacky  als  auch  von  Tomok  augonommou 
wurde,  den  mathematischen  Kombinationen  Flajshans'  vorziehen.    Sonst  ist 


1)  Mistr  Jan  receny  Hus  z  Husince,  S.  15:  S  jistoton  miizeme  Hei  Jen,  ie 
Hus  se  narodil  mezi  rokem  13()4— l.'j7G,  suad  r.  1373  nebo  137."). 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVUI.  2i) 


I 


402  Kritischer  Anzeiger, 

aber  das  Leben  und  Wirken  Ilussens  von  Mejsnar  sehr  hübsch  beschrieben. 
Auch  die  Biographic  Komcnsky's  verdient  Anerkennung. 


Das  3.  Schulbuch,  eine  altbühm.  Anthologie  von  J.  V.  Noväk,  soll  an 
Stelle  des  bisher  in  der  6.  Gymnasialklasse  benutzten  Buches  von  Pelikan 
treten.  Ob  es  in  der  Lage  sein  wird,  das  letztere  zu  verdrängen,  bleibt  eine 
Frage  der  Zeit.  Der  Vorzug  des  Buches  von  Noväk  besteht  in  den  sehr 
schönen  Faksimilien  (Anfang  von  Kosmas'  Kronik,  Stitny's  "Reci  nedelni  a 
svätecni«,  Judaslegende,  das  Neuhauser  Fragment  der  Alexandreis  u.  a.  m.), 
die  dem  Buche  beigefügt  sind  und  die  nicht  nur  den  Forderungen  des  An- 
schauungsunterrichtes nachkommen,  sondern  auch  auf  die  Schüler  sehr  an- 
regend wirken  dürften.  In  der  Wahl  der  Texte  weicht  Noväk  sehr  wenig  von 
Pelikan  ab.  Auf  S.  157 — IGT  befindet  sich  ein  Kommentar,  der  den  Schülern 
die  Lektüre  der  Texte  erleichtern  soll.  Dafür  ist  aber  das  Wörterbuch  bei- 
weitem nicht  so  ausführlich  wie  bei  Pelikan.  Der  Grundriß  der  altböhmischen 
Grammatik  hat  eine  starke  Einbuße  erhalten.  Wohl  sagt  der  Verfasser  etwas 
über  die  Entwicklung  der  böhmischen  Sprache  und  über  die  altbühm.  Ortho- 
graphie (was  bei  Pelikan  nicht  vorhanden  ist),  dafür  aber  hat  er  die  Lautlehre 
zu  stiefmütterlich  (auf  21/2  Seiten)  behandelt.  Ich  bezweifle,  daß  sich  ein 
Schüler  wird  daraus  ein  ungefähres  Bild  der  altböhmischen  Lautlehre  machen 
können. 

Was  die  Transskription  der  Texte  betrifft,  so  bemühte  sich  der  Verfasser, 
dem  Original  womöglich  nahe  zu  kommen.  Er  verfiel  aber  dabei  in  das  andere 
Extrem,  indem  er  offenbare  Schreibfehler  des  altböhm.  Schreibers  aufnahm 
(z. B.  S.  IG,  V.  7 :  sirdce,  V.  .53 :  krrt).  Auch  die  Konsequenz  im  Transskribieren 
des  V  mit  u  (v  morzi  :  u  mori:  und  des  iv  mit  v  (w  nyeczem  :  v  necem)  halte  ich 
für  überflüssig,  zumal  es  dadurch  zu  rhythmischen  Störungen  kommt  (S.  16, 
V.  25,  V.  27). 

S.  16,  V.  10  fif. :      »Smyslem  nemohu  dosieci: 

kdez  se  clun  u  vodäch  plazi, 

a  kdez  had  po  skaläch  lazi, 

kdez  orel  vstüpi  v  oblaky;« 
Hier  ist  nicht  j)lazi,  lazi  (praes.),  sondern  plazi,  lazi  (aor.)  anzunehmen.  Der 
Dichter  der  Alexandreis  kann  mit  seinem  Geiste  nicht  erfassen:  wo  der  Kahn 
auf  dem  Wasser /»Ar  (da  das  geteilte  Wasser  wieder  zusammenkam),  wo  die 
Schlange  auf  dem  Felsen  kroch  (da  sie  keine  Spur  zurückläßt).  Im  Falle  einer 
präsent.  Auffassung  würde  der  Erkenntnis  nichts  im  Wege  stehen.  Übrigens 
spricht  auch  vstüpi  dafür,  daß  man  plazi,  lazi  zu  lesen  hat,  da  sonst  der  Pa- 
rallelismus gestört  würde. 

Nur  der  Vollständigkeit  wegen  erwähne  ich  noch  ein  4.  Buch  literar- 
historischen Inhaltes.  »Strucne  dejiny  literatury  ceske«  von  Vaclav  Stanek  1 
Umfassen  die  Zeitperiode  ven  den  ältesten  Zeiten  bis  auf  die  Gegenwart  und 
sind  alphabetisch  geordnet.  Durch  die  Anordnung  hat  eo  also  eine  Ähnlich- 
keit mit  Brünner's  Lexikon  deutscher  Dichter  (bei  Reklam  erschienen),  mit 
dem  es  aber  einen  Vergleich  keineswegs  aushält.    Das  Buch  steht  nicht  auf 


Neueste  Erschein,  auf  d.  Gebiete  d.  bühm.  Literaturgesch.,  ang.  v.  Donath.  403 

der  Höhe  der  Zeit,  da  es  nicht  nur  prinzipiell  einen  konservativen  Standpunkt 
einnimmt,  sondern  auch  die  Resultate  der  neuesten  Forschung  mißachtet.  Zu 
loben  wäre  höchstens  das  mit  Fleiß  gesammelte  bibliographische  Material. 


Und  nun  kommen  wir  zur  neuesten  Errungenschaft  der  Literaturge- 
schichte. Einen  Wendepunkt  in  der  böhmischen  Poesie  bildet  K.H.Mächa,  der 
den  Geist  der  byronischen  Dichtung  nach  Böhmen  verpflanzte  und  so  die  er- 
starrte böhmische  Muse  zu  neuem  Leben  erweckte.  Mit  ihm  setzt  der  3.  Band 
der  »Literatura  19.  stoleti«  ein  und  umfaßt  auf  nicht  weniger  als  T2ü  Seiten 
eine  verhältnismäßig  kleine  Zeitepoche,  nämlich  bis  K.  Havlicek,  also  kaum 
2  Dezennien.  Der  große  Umfang  hat  seinen  Grund  in  2  Tatsachen:  1)  Die 
Redaktion  hat  einen  Einwand  Arne  Noväk's  berücksichtigt,  den  er  anläßlich 
der  Rezension  der  ersten  2  Bände  machte  '■].  Noväk  führt  dort  als  Grund- 
mangel au,  daß  den  ersten  zwei  Bänden  (besonders  aber  dem  ersten  Bande)  jene 
kulturelle  und  gesellschaftliche  Atmosphäre  abgehe,  worin  die  moderne 
Literaturwissenschaft  so  gerne  ihre  Bilder  einrahmt.  Und  er  stellt  gleich  ein. 
Programm  auf,  um  dem  Übel  im  nächsten  Bande  vorzubeugen:  »Es  wäre«, 
schreibt  Noväk,  «nicht  nur  ein  breites  Zeitgemälde,  sondern  auch  gesell- 
schaftliche Kleinmalerei  zweckmäßig  gewesen,  die  Ausmalung  jener  Klein- 
städte, jenes  Prag,  jener  Familie,  welche  Ort  und  Gegenstand  dem  Roman  und 
der  dramatischen  Produktion  liehen».  Nun  wurde  Noväk  mit  der  Ausführung 
seines  Programms  betraut  und  er  rechtfertigte  das  in  ihn  gesetzte  Vertrauen, 
indem  er  im  Kap.  V  den  kulturellen  Hintergrund  der  böhmischen  Novellistik 
in  den  40er  und  50er  Jahren  sehr  scharfsinnig  beschrieb.  Noväk  versieht  auch 
seine  übrigen  Abhandlungen  mit  kulturhistorischen  Einleitungen  und  seine 
Kollegen  Kabelik  und  Vlcek  beherzigten  ebenfalls  seine  Worte.  2)  Wenn  wir 
die  Forderung  Noväk's  anerkennen  und  gegen  die  durch  den  1 .  Grund  (kultur- 
historische Einlagen)  verursachte  Breite  nichts  einzuwenden  haben,  so  können 
wir  uns  mit  dem  2.  Grunde  der  Breite,  nämlich  mit  den  häufigen  überflüssi- 
gen Wiederholungen,  nicht  einverstanden  erklären.  Sie  treten  in  der  Partie 
über  die  böhmische  Literatur  in  Mähren  und  in  den  Partien,  die  von  zwei  Ge- 
lehrten behandelt  wurden  (wie  z.  B.  das  Kapitel  über  Palacky  und  EavHcek) 
besonders  kraß  hervor.  Da  wäre  es  Sache  der  Redaktion  gewesen,  die  Wie- 
derholungen mit  aller  Energie  hintanzuhalten. 

Der  Mangel  an  Symmetrie,  der  sich  bereits  in  den  ersten  2  Bänden  gel- 
tend machte,  ist  auch  hier  vorlianden.  Diesem  Übel  ist  eben  schwer  dort  ab- 
zuhelfen, wo  so  viele  Mitarbeiter  sind. 

Das  wären  aber  so  ziemlich  alle  Mängel  der  Literatui-geschichte.  Sie 
verschwinden  ganz,  wenn  wir  uns  auf  der  anderen  Seite  die  enormen  Vorzüge 
vor  Augen  halten.  Eine  Masse  von  Material  ist  hier  zusammengetragen  und 
bis  ins  kleinste  Detail  verarbeitet  worden.  E;^  wird  nicht  vorkommen,  daß 
wir  irgend  eine  kulturelle  oder  literarische  Erscheinung  dieser  Zoitperiode 
Buchend,  von  der  Literaturgosclüchte  im  Stiche  gelassen  werden.  Die  Kcdak- 
tion  wußte  jeden  Gelehrten  auf  den  richtigen  Ort  zu  stellen.    Fast  alle  Mit- 


1)  Archiv  für  slav.  Philologie  XXVI.  4.54  f. 

26* 


404  Kritischer  Anzeiger. 

arbeiter  haben  über  die  von  ihnen  bearbeiteten  Partien  schon  früher  ein- 
gehende Studien  gemacht.  Der  Erfolg  konnte  unter  solclien  Umständen  nicht 
ausbleiben.  Wie  in  den  früheren  Bänden  so  wird  auch  hier  das  Suchen  durch 
ein  sehr  fleißig  angelegtes  Kegister  erleichtert.  44  Abbildungen  bilden  eine 
schöne  Zierde  des  Buches. 

Im  Kap.  I  schildert  Kamper  das  traurige  Leben  Mächa's  (4 — 19)  i).  Schon 
in  seiner  frühesten  Jugend  wirkte  auf  ihn  die  düstere  Umgebung  des  Wohn- 
hauses, eine  altertümliche  Kirche,  eine  nahe  Todtenkammer  und  finstere  Lau- 
ben (6).  In  seinen  späteren  Jahren  war  er  Zeuge  aller  Hinrichtungen  und 
häufiger  Gast  des  Kirchhofes  (10).  Er  liebte  unglücklich  und  gelangte  zum 
Ausspruche,  er  habe  Ideale  in  Frauengestalt  gesucht,  habe  aber  Frauen  in 
idealen  Gestalten  gefunden  (12).  Unter  ganz  ungewöhnlichen  Umständen 
raffte  den  26  jährigen  Dichter  der  Tod  hinweg  (19).  Die  literarischen  Einflüsse, 
die  auf  Mächa  wirkten,  waren  die  deutschen  Eitterromane,  die  romantische 
Märchenwelt  und  Goethe  (6—7).  Sein  nationales  Bewußtsein  wurde  gestärkt 
durch  die  Königinhofer  Handschrift,  durch  die  Dichtungen  Kollär's,  Celakov- 
sky's,  Hnevkovsky's  und  Kamaryt's  (7 — 8).  Am  stärksten  war  der  Einfluß 
Byron's,  den  er  aus  den  polnischen  Romantikern  kennen  lernte  (8—9).  Kamper 
hätte  vielleicht  die  Einflüsse,  die  nebst  Byron  auf  Mächa  wirkten,  etwas  mehr 
betonen  sollen,  wenigstens  die  böhmischen  Dichter,  von  denen  Kollär  ganz 
entschieden  Mächa's  kleinere  Gedichte  beeinflußte.  Im  2. Teile  des  I.Kapitels 
bespricht  der  Verfasser  Mächa's  »Mäj«  (21 — 28),  indem  er  sowohl  auf  die  Vor- 
züge (in  der  Komposition)  als  auch  auf  die  Mängel  (Armut  in  der  Zahl  des 
Reimes,  Unklarheit  in  den  Situationen)  hinweist  (22,  24),  ferner  die  kleinen 
Gedichte  Mächa's  (28—30)  und  schließlich  die  Prosa  (31—35). 

Das  nächste  Kapitel  »Jan  Erazim  Vocel  jako  bäsnik«  some  7  Abschnitte 
des  III. Kapitels  »Frant.  Palacky  v  letech  1823 — 1848«  stammt  von  dem  geist- 
reichen lind  modernen  Literarhistoriker  Arne  Noväk,  der  trotz  seiner  Jugend 
ein  vorzüglicher  Kenner  nicht  nur  der  böhmischen,  sondern  auch  der  deut- 
schen Literaturgeschichte  ist.  Die  Qualität  seiner  Arbeiten  hat  unter  der 
immensen  Produktivität,  die  er  in  letzter  Zeit  entfaltet,  nicht  zu  leiden.  Er 
allein  füllt  ungefähr  den  vierten  Teil  des  dritten  Bandes  der  Literaturge- 
schichte aus.  Vocel's  Biographie  ist  hier,  abgesehen  von  der  Biographie  in 
Riegers  Lexikon,  zum  erstenmale  abgefaßt.  Über  die  Novellen,  die  Vocel  in 
deutscher  Sprache  verfaßte,  und  von  denen  die  bedeutendsten  »Der  letzte 
Orebit«  und  »Der  Krystallograph«  von  ihm  selbst  ins  Böhmische  übersetzt 
wurden,  handelt  Noväk  auf  Seite  41 — 43.  Strenge  geht  der  Verfasser  zu  Ge- 
richt mit  Vocels  epischem  Zyklus  »Premyslovci«  (44 — 50),  »Meca  kalich«  (50 — 
54)  und  »Labyrint  slävy«  (54 — 61). 

Ein  großes,  in  Monographien  zerstreutes  Material  verarbeitete  Noväk 
mit  Geschick  in  Kapitel  III,  wo  er  über  Palacky's  Aufenthalt  in  Prag  und 
seinen  Verkehr  in  den  vornehmsten  Prager  Kreisen  (62 — 70),  über  seine  ästhe- 
tischen und  philosophischen  Studien  (70 — 78)  berichtet.    Palacky's  Name  ist 


1)  Bedeutet  die  Seitenzahl. 


A 


Neueste  Erschein,  auf  d.  Gebiete  d.  böhm.  Literaturgesch.,  ang.v. Donath.  405 

mit  der  Geschichte  der  Gründung  des  Prager  Museums  enge  verknüpft  (83 — 
S6;.  Das  Museum  erfreute  sich  im  Anfange  keines  besonderen  Aufblühens. 
Palacky  wies  bei  einem  Besuche  im  Hause  Sternberg  am  20.  Dezember  1825 
auf  die  Ursache  der  Stagnation  hin  ;86  und  schlug  zur  Hebung  des  Museums 
die  Herausgabe  von  zwei  Zeitschriften,  einer  böhmischen  und  einer  deutschen, 
vor  (SS).  Er  selbst  entwarf  ein  Programm  der  herauszugebenden  Zeitschriften, 
das  bis  heute  erhalten  ist.  Durch  dieses  Progi-amm  bewies  Palacky,  daß  er 
der  fähigste  Leiter  der  Zeitschriften  wäre,  und  er  wurde  tatsächlich  am  15./V. 
1826  zum  Redakteur  beider  Zeitschriften  ernannt,  welche  Stellung  er  bis  zum 
Jahre  1838  bekleidete  (90-9S). 

Als  Redakteur  mußte  Palacky  häufig  in  die  Sprachenfrage  eingreifen 
und  wurde  so  auf  das  Gebiet  der  Sprachwissenschaft  geführt  (9S — 104i.  Auch 
seine  kritischen  Arbeiten  (109 — 111)  hängen  mit  der  Redaktionsstellung  zu- 
sammen. Zu  dem  literarhistorischen  Produkte  »An-  und  Aussichten  der  böh- 
mischen Literatur«  (105 — 108)  gab  Kopitar  den  äußeren  Anlaß.  Daß  Palacky 
ein  Meister  in  der  literarhistorischen  Monographie  war,  zeigte  er  in  seiner 
Studie  "0  pranostikäch  a  kalendärich  ceskych,  zvläste  v  XVI  stoleti«  (108). 
Mit  der  literarhistorischen  Tätigkeit  steht  die  herausgeberische  im  Zusammen- 
hang (111 — 113).  Sein  organisatorisches  Talent  zeigte  Palacky  sowohl  bei  der 
Gründung  der  »Matice  ceskä«  (114 — 1 18),  als  auch  bei  der  Reorganisation  der 
«Ueenä  spolecnost«  und  des  Museums  (118 — 121).  Im  letzten  (achten)  Ab- 
schnitte des  III.  Kapitels  (121 — 130)  behandelt  Pekar  Palacky's  historische 
Vorbereitung  und  die  Anfänge  seiner  historischen  Tätigkeit. 

Das  IV.  Kapitel  "Rozvoj  literatury  ceske  na  Morave  do  roku  1848«  ist 
von  dem  vorzüglichen  Kenner  der  böhmischen  Literatur  in  Mähren,  Jan  Ka- 
belik.  Selbst  ein  Mährer,  ging  er  mit  Liebe  und  Hingebung  an  die  Abfassung 
dieses  Kapitels,  das  eine  eingefügte  Monographie  ist.  Den  Mangel  eines  lite- 
rarischen Zentrums  bezeichnet  Kabelik  als  Hauptgrund,  daß  sich  die  Literatur 
in  Mähren  nicht  in  dem  Maße  entwickelte  wie  in  Böhmen  (131 — 134).  Sie  reicht 
aber  sehr  weit  zurück,  denn  schon  um  die  Mitte  des  X\TII.  Jahrh.  befindet 
sich  in  Olmütz  eine  »societas  incognitorum«,  welche  Auszüge  aus  gelehrten 
Büchern  der  verschiedensten  Gattungen  herausgab  (142).  Noch  in  das  XVin. 
Jahrh.  gehört  die  Tätigkeit  des  Historikers  Magdoald  Ziegelbauers  (142)  und 
der  Schriftsteller,  welclie  sich  mit  Vatcrlandskunde  beschäftigten,  wie  Fry- 
beck,  Monse,  Piter,  Habrich,  Schwoy,  Pilar,  Moravoc,  Steinbach  (142 — 146). 
Sehr  wohltuend  wirkten  auf  dem  Gebiete  der  Volkslekture  Tomas  Frycaj, 
Hermann  Agapit  Galas  und  Jlatej  Josef  Sychra  (147 — 154),  ferner  Alois  Voj- 
tech  Scmbera  (162—104)  und  Frant.  Trnka  (165).  Letzterer  nimmt  nebst  Vin- 
cenc  Zak  Interesse  für  sich  in  Anspruch  wegen  seiner  separatistischen  Be- 
strebungen (165—168).  Wichtiger  als  die  erwähnten  Pcrsönliohkeiten  ist 
Frantisek  Kläcel  (168—179),  ein  Augustiner,  der  bereits  im  27.  Lebensjahre 
Professor  der  Philosophie  in  Brunn  war,  wegen  seiner  freiheitlichen  und 
patriotischen  Bestrebun,i;cn  vom  Katheder  entfernt  wurde  (170).  Sein  an 
Verlenindungen  und  Verfolgungen  reiches  Leben  (171)  beschloß  er  im  J.  1882 
in  Amerika  (172).  Als  Lyriker  wandelt  er  in  den  Fußstapfen  Klopstocks  und 
Kollars  (172 — 174).   Seine  politischen  und  philosophischen  Anschauungen  cnt- 


40  G  Kritischer  Anzeiger. 

halten  »Jahüdky  ze  slovanskych  lesü«  (175 — 176;,  «Ferina  Lissik«  (170 — 177) 
und  »Biijky  Bidpajovy«  (177).  Bedeutend  ist  Kläcel  auch  auf  dem  Gebiete 
der  Philosophie  (1  TS— 179).  Weit  hinter  Kläcel  steht  Vincenc  Furch  (18ü,  und 
der  bekannte  Sammler  mährischer  Volkslieder  Frant.  Susil  (181 — 188). 

Die  beiden  nächsten  Kapitel,  wieder  von  Arne  Noväk,  sind  der  böhmi- 
schen Novellistik  gewidmet.  Das  erste  von  ihnen:  »Zivotni  a  kulturni  pozadi 
ceskc  novellistiky  let  ctyricätych  apadesätych  (189 — 211  ,  das  ich  bereits  ein- 
mal erwähnte,  bildet  die  Voraussetzung  zu  den  Novellen  von  Rubes,  Hajnis 
und  Fllipek  (212 — 233),  welche  Männer  gemeinsam  den  »Palecek«  herausge- 
geben haben  (216 — 217). 

Verhältnismäßig  zu  viel  Raum  wird  von  J.  Hanus  im  VII.  Kap.  Jan  Pra- 
voslav  Koubek  und  im  VIII.  Kap.  Vaclav  Bolemir  Nebesky  gewidmet.  Über 
beide  hat  Hanns  bereits  einmal  gehandelt,  und  zwar  über  Koubek  in  der 
»Ceskä  Revue«  1904,  über  Nebesky  in  seinem  Buche  »Vaclav  Bolemir  Ne- 
besky«, Prag  1896.  Koubek  (234—281)  hat  weder  als  Dichter  noch  als  Gelehr- 
ter Bedeutung.  Sein  Verdienst  besteht  1)  in  der  Förderung  des  cechischen 
Polonophilentums,  2)  in  seiner  Charakterfestigkeit,  da  er  in  der  Zeit  der  ärgsten 
Reaktion  dem  Patriotismus,  der  Freiheitsliebe  und  den  fortschrittlichen  Be- 
strebungen treu  blieb ,  3)  im  Bahnbrechen  der  modernen,  durch  Mächa  inspi- 
rierten Poesie  (234 — 236).  Eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  Koubek  hat  Nebesky 
(282 — 353).  Er  übertrifft  ihn  aber  sowohl  als  Dichter  wie  auch  als  Gelehrter. 
Als  Dichter  kommt  er  hauptsächlich  in  Betracht  mit  seinem  lyrisch-epischen 
Gedichte  »Protichüdci«,  wo  er  mit  Mächa  wetteifernd  das  Leben  seiner  eige- 
nen Seele  und  ein  Stück  der  Geschichte  des  menschlichen  Geistes  überhaupt 
poetisch  verkörpern  will  (301 — 305).  Mit  seinen  literarhistorischen  Arbeiten 
aller  Art  (hauptsächlich  aber  Abhandlungen  über  altböhm.  Texte)  füllte  er  die 
Hefte  des  Ö.C.M.  (323—335,  342—346).  Während  seines  Aufenthaltes  in  Wien 
(310 — 322)  schickte  Nebesky  zahlreiche  Briefe  für  »Kvety«  und  »'Ceskä  Vcela«, 
die  den  ersten  Versuch  des  böhmischen  Feuilletons  bilden  (316).  Aus  seiner 
Freundschaft  mit  Siegfried  Kapper  und  David  Kuh  entwickelte  sich  die  Be- 
wegTing  des  Czechojudentums  (319—322).  Das  Jahr  1848  riß  ihn  auf  die 
politische  Laufbahn  fort  (335—337),  aber  nicht  lange  wandelte  er  auf  ihr,  denn 
schon  im  Februar  1849  habilitierte  er  sich  als  Dozent  für  griechische  Literatur 
und  Geschichte  der  böhmischen  Poesie  (338).  Das  größte  Vertrauen  wurde 
Nebesky  bekundet,  als  man  ihn  zum  Redakteur  der  Musealzeitschrift,  zum 
Sekretär  des  Museums  und  der  »Matice«  sowie  zum  Kassier  der  Musealkassa 
wählte  (338).  In  die  letzte  Periode  seines  Lebens  fällt  die  Übersetzungstätig- 
keit aus  dem  Alt-  und  Neugriechischen,  Spanischen  und  Finnischen  (347 — 
351).  Sein  Lebenswerk  krönte  er  mit  der  » Geschichte  des  böhmischen  Landes- 
museums« (352). 

Im  Kapitel  IX  »Lyrika  a  didaktika  v  rukäch  epigonü«  begegnen  wir 
abermals  Arne  Noväk.  Er  hat  sich  hier  der  ebenso  undankbaren  als  schwie- 
rigen Aufgabe  unterzogen,  ganz  vergessene  Dichternamen  an's  Tageslicht 
hervorzuziehen  und  sie  in  objektiver  Weise  zu  beleuchten.  Hierher  gehören: 
Jan  Herzog,  Jan  Kociän,  Vaclav  Räb,  Frant.  Turinsky  und  Karel  Symeon 
Machäcek  (357 — 363).    Ferner  handelt  er  über  die  Klostersentimentalität  in 


Neueste  Erschein,  auf  cl.  Gebiete  d.  böhm.Literaturgesch.,  ang.  v.  Donath.  407 

der  Poesie  der  Anna  Pedälovä  (364—366)  und  des  Boleslav  Jablonsky  (366— 
369).  Die  Bedeutung  des  letzteren  liegt  eigentlich  in  der  philosophisch-didak- 
tischen Gedichtsammlnng  «Moudrost  otcovskä«  (369 — 374).  Interessant  ist 
der  Exkurs  über>  die  böhmische  Fabel  zur  Zeit  der  Wiedergeburt  und  ihre 
Pflege  durch  Vincenc  Zahradnik  (374—378).  Ganz  offen  zeigt  uns  Noväk,  wie 
sich  später  die  Reaktionäre  Vinaricky  (378—388)  und  Stulc  (388—390)  der  di- 
daktischen Poesie  zu  Ausfällen  gegen  moderne,  soziale,  kulturelle  und  litera- 
rische Bestrebungen  bedienten. 

Ein  schönes  Gesamtbild  der  slovakischen  Literatur  der  30er  und  40er 
.Jahre  befindet  sich  im  Kap.  X  von  dem  durch  seine  Monographie  »Dejiny  lite- 
ratury  slovenskej«  wohl  bekannten  Jaroslav  Vlcek.  Der  Verfasser  bespricht 
zuerst  die  literarischen  Gesellschaften,  aus  denen  die  bedeutendsten  Männer 
der  Slovakei  hervorgingen  (391 — 397);  unter  den  Gesellschaften  erfreuten  sich 
Ijesonderen  Namens  die  Preßburger  mit  der  Zeitschrift  »Hronka«  (397 — 403) 
und  die  Leutschauer  (Levoc)  mit  der  »Jitrenka«  (404—407).  Der  geistige 
Führer  der  Preßburger  Gesellschaft  war  Ludevit  Stur  (408 — 420)  und  nach 
dessen  im  Jahre  1838  erfolgten  Abreise  aus  Preßburg  nach  Halle  ;432— 435) 
BenjaminPravoslavCervenak  ;421— 422;  und  Miloslav  Hurban  (422 — 432.  Stiir 
war  als  Mitglied  der  Preßburger  Gesellschaft,  die  unter  dem  Einflüsse  Kollär's 
und  Safai-ik's  stand  (397),  anfangs  gegen  die  Trennung  der  slovakischen 
Sprache  von  der  böhmischen.  Als  aber  die  Slovaken  von  der  ungarischen 
Regierung  gemaßregelt  wurden,  verband  er  sich  um  die  Wende  des  Jahres 
1842/43  mit  der  Gegenpartei,  deren  Führer  Bernolak  war  (4|0)  und  gab  so  die 
Gemeinschaft  mit  Böhmen  auf  (439 — 4461.  Wenn  auch  Stur  unter  seinen 
Jüngern  Anklang  fand  (442 — 444),  so  erweckte  er  doch  bedeutenden  Wider- 
spruch bei  KoUär  (446—448),  Safarik  (448—451),  Palkovic,  Lanstjäk  und 
Launer  (451—452).  Gegen  ihre  Ausfälle  wurde  Stiir  verteidigt  von  Hurbau 
( 152—453)  und  Hodza  (453—454).  Die  Leidenschaft  des  Kampfes  beider  Par- 
teien legte  sich,  sobald  es  galt,  gemeinsame  slavische  Interessen  gegenüber 
den  Magyaren  zu  vertreten.  Ein  Überbleibsel  dieses  Streites  war  die  Ver- 
söhnung der  protestantischen  Slovaken  mit  den  katholischen  (455 — 456). 
Wichtig  für  das  geistige  Leben  in  der  Slovakei  sind  die  publizistischen 
Schöpfungen  von  Sti'ir  (457 — 460)  und  Hurban  460—464).  Dort  konzentrierte 
sich  die  Tätigkeit  der  slovakischen  Dichter:  Ondrej  Slädkovic  (464 — 476),  Samo 
C'halupka  (477—481),  Janko  Kräl  (481— 4S4),  Jan  Botto  (484—489)  und  der 
Novellisten,  deren  Hauptvertreter  Jan  Kalincäk  ist  (489 — 496). 

Schwere  Zeiten  kamen  über  das  Land  Böhmen  in  den  Jahren  1  *^4S  und 
1849.  Die  Revolution  brachte  wohl  einen  Schimmer  von  Freiheit  mit  sich. 
IJmsomehr  empfand  man  aber  die  Reaktion,  die  noch  im  J.  184S  einsetzte. 
Diese  Zeitperiode  und  ihren  Einfluß  auf  die  böhmische  Literatur  behandelt 
Tobolka  in  Kap.  XI  (502—537).  Damals  spielte  nebst  Palacky  und  Rieger 
Karel  Havlicek  eine  hervorragende  Rolle.  Seine  Biographie  und  politische 
Tätigkeit  behandelt  ebenfalls  Tobolka  in  Kap.  XII  (539 — 670\  seine  dichte- 
rische Tätigkeit  Jan  Jakuljoc  in  Kap.  XIII  (670—720).  Havlicek's  Leben  war 
nicht  eintönig.  Den  ersten  Seoleukoullikt  hatte  er  im  Prager  Alumnat  zu  be- 
^<tehen.  Durch  die  Lektüre  Lamennais  machten  sich  bei  ihm  antihierarchischo 


408  KJitischer  Anzeiger. 

Ansichten  geltend  (549),  was  die  Ausschließung  aus  dem  Seminar  zur  Folge 
hatte  (550).  Als  er  sich  vergebens  um  eine  Professur  an  einer  Mittelschule 
umgesehen  hatte,  bereitete  er  sich  zur  Schriftstellerei  vor  (550 — 552).  Damals 
wandte  eich  zufällig  der  Moskauer  Professor  Pogodin  an  Safarik  wegen  eines 
ccchischen  Erziehers  und  Safarik  empfahl  den  jungen  Havllcek  (553).  Sehr 
ausführlich  beschreibt  nun  Tobolka  Havlicek's  Reise  nach  Rußland,  seinen 
dortigen  Aufenthalt  und  seine  dortige  Tätigkeit  ;553— 577).  Nach  seiner  Rück- 
kehr aus  Rußland  war  Havllcek  Mitarbeiter  der  »Ceskä  Vcela".  Dort  ver- 
öffentlichte er  die  Kritik  von  Tyl's  »Posledni  Cech«,  die  ihn  mit  einem  Schlage 
berülimt  machte  (579—582).  Sie  war  es,  die  ihm  die  Bahn  zur  Redaktion  der 
»Öeskä  Vcela«  und  der  »Prazske  Noviny«  ebnete  (583 — 595).  Als  Politiker  war 
er  sowohl  praktisch  (590—598)  als  auch  publizistisch  tätig.  Er  ist  der  Begrün- 
der der  ersten  böhmischen  unabhängigen  Tageszeitung,  der  »Närodni  No- 
viny« (598 — 610).  Als  die  «Närodni  Noviny«  im  Jänner  1850  von  der  reaktio- 
nären Regierung  eingestellt  wurden,  gab  er  vom  8.  Mai  1850  —  14.  September 
1851  in  Kuttenberg  zweimal  wöchentlich  seinen  »Slovan«  heraus,  der  in  der 
Zeit  der  drückendsten  Verhältnisse  als  einziges  Organ  offen  und  energisch 
seine  Stimme  gegen  die  Reaktion  erhob  (613 — 619).  Natürlich  konnte  diese 
Zeitung  auch  keinen  langen  Bestand  haben.  Das  wußte  Havlicek  recht  wohl. 
Um  für  den  Fall  der  Einstellung  das  Volk  nicht  ohne  Lektüre  zu  lassen,  faßte 
er  einzelne  früher  erschienene  Kapitel  aus  den  »Närodni  Noviny«  und  dem 
«Slovan«  in  Broschüren  zusammen,  die  dann  unter  dem  Titel  »Duch  Närodnich 
Novin«  und  »Epistoly  Kutnohorske«  erschienen  (620 — 624). 

Die  politischen  Grundsätze  (624 — 649)  brachten  Havlicek  in  Konflikt  mit 
der  Regierung  (649 — 652).  Er  wurde  fortwährend  zu  Gericht  zitiert ;  trotzdem 
er  immer  freigesprochen  werden  mußte  und  trotzdem  sich  die  öffentliche  Mei- 
nung für  ihn  aussprach,  wurde  er  doch  am  16.  Dezember  1851  nach  Brixen 
deportiert  (656).  Seine  literarische  Tätigkeit  in  Brixen  bedeutet  nicht  viel, 
denn  er  konnte  sich  zu  keinem  größeren  Werke  entschließen.  Seinem  Leiden 
in  Brixen  (664 — 668)  wurde  erst  ein  Ende  bereitet,  als  man  ihm  im  J.  1855  die 
Erlaubnis  erteilte,  in  seine  Heimat  zurückzukehren.  Nicht  lange  war  es  ihm 
vergönnt,  sich  des  Lebens  in  der  Heimat  zu  erfreuen,  denn  schon  im  J.  1856 
erlag  er  einer  Lungentuberkulose  (668). 

Was  Havlicek's  dichterische  Tätigkeit  betrifft,  so  liegt  seine  Bedeutung 
hauptsächich  auf  dem  Gebiete  des  Epigramms  (677 — 685).  Der  Verfasser 
dieses  Schlußkapitels,  Jan  Jakubec,  nennt  ihn  ebenso  den  Typus  des  böhmi- 
schen Witzes,  wie  Voltaire  des  französischen  und  Heine  des  jüdisch-deutschen 
Witzes  (678).  Seine  politischen  Parodien  wurden  deshalb  populär,  weil  er  sie 
den  Volksliedermelodien  anpaßte  (698 — 699).  Havlicek's  größtes  poetisches 
Werk  ist  das  rationalistisch-philosophische  Gedicht  »Krest  sv.  Vladimira« 
(700—704).  Die  Geschichte  seiner  Deportation  nach  Brixen  mit  satirischen 
Ausfällen  auf  die  Politik  Bach's  enthalten  die  »^Tyrolske  Elegie«  ("06 — 709). 
Zu  erwähnen  wären  noch  die  Gedichte  »Kräl  Lavra«  (709 — 711),  »Zivot  vecny« 
und  »Hrob«  (711).  Mit  einer  allgemeinen  Charakteristik  von  Havlicek's  Poesie 
(712 — 720)  findet  dieser  Teil  der  Literaturgeschichte  seinen  Abschluß. 

Osliar  Donath. 


Zamotin,  Romantik  in  der  russ.  Literatur,  angez.  von  Prohaska.      409 

H.   II.  BaMOTnil-B:     1)    P0MaHTH3MX  ÄBaÄD;aTtIX'B  TO^OB'h  XIX  CTQjli- 

TiH  Bt  pyccKoii  jiHTepaTypi.  Bapinasa  1903.  8*^.  VIII,  377;  XXVI.  — 

2)  ÜHTepaTypuBifl  9noxH  XlX-ro  cxojiiTi;!.  OiepKii  no  ncxopin  pyccKOH 

.iHTepaxypLi  I— VI.  BapmaBa  1906.  8».  II,  123. 

Diese  beiden  Schriften  Zamotins  bilden  ein  zusammenhängendes  Ganze. 
Die  letztere  führt  das  Thema  »Die  Eomantik  der  20er  Jahre  des  XIX.  Jhs.  in 
der  russischen  Literatur«  bis  in  seine  weitesten  Folgerungen  fort  und  wieder- 
holt für  ein  breiteres  Publikum  das  bereits  in  der  ersteren  Dargelegte.  Daher 
dürfte  es  an  diesem  Orte  nicht  überflüssig  erscheinen,  das  Versäumte  nach- 
zuholen und  auch  über  das  schon  vor  drei  Jahren  erschienene  erste  Werk  des 
Verfassers  kurz  zu  berichten. 

I. 

Unter  Romantik  versteht  der  Verf.  erstens  jene  literarische  und  soziale 
Entwicklung  Europas,  die  um  die  Wende  des  XVIIL  und  XIX.  Jhs.  vor  sich 
ging.  Eine  andere  Bedeutung  habe  diese  Bezeichnung  nach  Bjelinski,  wenn 
man  sie  im  Allgemeinen  auf  alle  Zeiten  anwendet  und  darunter  ein  bestimmtes 
Innenleben  der  Seele  und  des  Herzens,  gewisse  idealistische  Motive  der  Form 
versteht.  Zamotins  Auffassung  deckt  sich  also  durchaus  nicht  mit  der  deutschen 
Bezeichnung  Romantische  Schule,  denn  in  den  Rahmen  der  russischen  Ro- 
mantik fällt  die  ganze  deutsche  Literatur,  die  nach  Gottsched  mit  dem  Pseudo- 
klassizismus,  der  dank  dem  französischen  Einfluß  auch  in  Rußland  herrschte, 
zerfiel  und  ihre  eigenen  Wege  ging,  also  die  ganze  Epoche  von  Klopstock  und 
Lessing  bis  Goethe  und  Schiller.  Es  wäre  nicht  überflüssig  gewesen,  wenn  dies 
der  Verf.  der  Klarheit  wegen  konstatiert  hätte,  da  man  im  Westen  mit  der  Ro- 
mantik speziell  andere  Vorstellungen  verknüpft.  Und  aus  der  Geschichte  der 
russ.  Romantik  sieht  man  auch,  daß  der  Begriff  durchaus  schwankend  war.  Die 
Gegner  derselben  beschrieben  sie  im  Sinne  Heines  oder  legten  den  Finger  auf 
das  Verworrene,  Verzerrte,  Sturmunddrangartige  an  ihr.  Erst  nach  vielen 
Kämpfen  und  Mißverständnissen  gelangt  Nadezdin  zu  einer  Erkenntnis  von 
einer  neuen  Poesie,  die  er  durchaus  nicht  romantisch  nennen  will,  die  aber 
von  der  berühmten  Schlegelschen  Definition  der  Romantik  nicht  wesentlich 
abweicht. 

Zamotins  Verdienst  besteht  hauptsächlich  darin,  daß  er  die  russischen 
Journale  der  2Uer  Jahre  heranzog  und  so  eine  eingehende  Geschichte  der 
Aufnahme  fremder,  meist  deutscher  romantischer  Einflüsse  geben  konnte.  Es 
handelt  sich  in  seiner  umfangreichen  Studie  um  die  Erschöpfung  dieser  Quellen 
und  daher  ist  hier  mehr  von  der  romantischen  Theorie  als  der  Dichtung  jener  Zeit 
die  Rede.  Zufällig  beschäftigte  sich  gleichzeitig  mit  demselben  Material  auch 
N.  Kozmin  im  >Kypir.  mihi.  iiap.  npocn.  l!)i>.{  Januar-März-ITeft,  aber  dieser  gibt 
bloß  Auszüge,  olme  jode  Gliedonmg  nacli  inneren  Momenten,  ohne  jeden  Ver- 
such, eine  Entwicklung  im  ganzen  aufzuweisen.  Eines  scheint  mir  aber  auch 
Zamotin  außer  acht  gelassen  zu  haben,  er  beschäftigt  sich  nicht  genug  mit  der 
Geschichte  der  Formen,  der  Metrik  und  des  Stils,  ein  Kaintel,  das  in  der 
Romantik  eine  wichtige  Rolle  spielt.  Die  Bemerkungen  hierüber  unterlaufen 


410  Kritischer  Anzeiger. 

nur  episodenhaft,  besonders  hätte  im  Anschluß  an  die  Schlegelsche  Theorie 
nach  Goethes  Wilhelm  Meister,  von  dem  gelegentlich  gesprochen  wird,  die 
Form  des  russisclien  Romans,  der  zu  dieser  Zeit  entstand,  erörtert  werden 
können.  Vielleicht  widersprach  einer  solchen  Beschäftigung  die  stramm  ge- 
gliederte Komposition  des  ganzen  Werkes,  das  in  geradezu  dramatischer  Ge- 
schlossenheit die  Schicksale  der  russischen  Romantik  vorführen  will.  Dem- 
nach behandelt  Kap.  I  die  Vorboten  der  Romantik  im  XVIII.  Jh.  zur  Zeit 
Katharina  II.  —  Kap.  II.  Deutsche  romantische  Einflüsse.  —  Kap.  III.  Fran- 
zösische Einflüsse.  —  Kap.  IV.  Zwiespalt  zwischen  Romantikern  und  Klaesi- 
zisten.  Kap.  V.  Krisis  und  Ausweg.  —  Nicht  so  lebhaft  ist  der  Stil  des  Verf., 
er  spricht  breit  und  behaglich,  wiederholt  und  punktiert  gerne. 

Uns  interessieren  die  deutschen  Einflüsse.  Sie  sind  zwar  bereits  bisher 
oft  von  Zamotins  Vorgängern  berührt  worden,  sehr  viel  hat  diesbezüglich 
Pypin  geleistet,  aber  mit  dieser  Gründlichkeit  wie  Zamotin  ging  noch  niemand 
zu  Werke. 

Zunächst  sind  es  Ossian  und  Shakespeare,  die  den  Weg  über  Deutschland 
nach  Rußland  nahmen.  Die  Poesie  Batjnskovs  und  Derzavins  ist  getränkt 
mit  ossianischen  Stimmungen.  Karamzin  schreibt  über  Shakespeare  nach 
Lessing.  In  der  Zeitschrift  Korifej  (1802 — 1807)  wird  der  Name  Goethes  und 
Schillers  noch  unsicher  herangezogen. 

Wichtiger  war  für  den  Anfang  die  Theorie  Herders.  Nach  ihm  spricht 
Derzavin  von  einer  Poesie  aller  Völker  und  nicht  nur  von  jener  der  Griechen 
und  Römer  (S.  65).  In  der  Zs.  Lyzeum  (J.  1806;  wird  ein  Bruchstück  aus  Les- 
sings  Laokoon  mitgeteilt.  Und  im  Jahre  1S09  erschien  von  Zukovskij  eine 
Abhandlung  über  den  moralischen  Gewinn  von  der  Poesie  nach  Schillers 
ästhetischen  Briefen.  Ferner  bedient  man  sich  der  Vorschule  Jean  Pauls  und 
des  Werkes  der  Frau  v.  Stael. 

Mit  der  eigentlichen  romantischen  Doktrine  wird  das  russische  Publikum 
erst  durch  die  Zs.  der  20er  Jahre  bekannt  gemacht.  Mnemosyne  (1824 — 1825) 
popularisiert  die  Philosophie  Schellings  und  Okens,  liefert  Aufsätze  über  die 
Naturphilosophie,  über  Kant,  bringt  Aphorismen.  Im  Jahre  1825  erscheint 
von  J.  Galic  ein  Grundriß  der  schönen  Wissenschaften,  worin  die  deutsche 
Romantik  in  kurzer  Fassung  zum  Worte  gelangt.  Der  Verf.  hörte  nämlich  im 
Ausland  Schelling,  Schlegel  und  kennt  die  Handbücher  von  Bouterwek,  Ast  und 
Bachmann.  Poetische  Universalität  und  universeller  Eklektizismus,  die  nach 
Sevyrevs  Meinung  die  Grundzüge  deutschen  Wesens  sind,  spielen  hier  als 
Schlagworte  eine  Rolle  gegenüber  dem  regelmäßigen,  engherzigen  Pseudoklas- 
sizismus.  In  einem  anderen  Werke:  »Geschichte  der  philosophischen  Systeme« 
legt  Galic  Schellings  System  des  transzendentalen  Idealismus  aus,  was  jetzt 
nach  25  Jahren  in  Rußland  noch  immer  von  starker  Wirkung  ist.  Besonders 
fruchtbar  erwies  sich  1.  der  Gedanke  von  der  Freiheit  des  künstlerischen 
Schaffens,  als  Ausdruck  der  höchsten  moralischen  Kraft  und  2.  der  Gedanke 
von  dem  göttlichen  Wesen  dieses  Schaffens.  In  dieser  Idee  fand  Puskins 
reine  Kunst  ihre  philosophische  Begründung. 

Das  Zentralorgan  der  deutschen  Romantik  in  Rußland  war  die  Zs.  Mos- 
kovskij  Vestnik  (1827—1830).    Dem  Herausgeber  P.  Pogodin  imponierte  die 


Zamotin,  Eomantik  in  der  russ.  Literatur,  angez.  von  Prohaska.       411 

deutsche  Allseitigkeit  sehr.  In  seinem  Journal  wird  viel  Goethe  übersetzt 
(Aus  Faust,  Wilhelm  Meister,  Goetz  vonBerlichingen'.  Aus  ihm  lernt  Pogodin 
den  richtigen  Klassizismus  vom  Pseudoklassizismus  unterscheiden.  Auch 
aus  Schiller  (Wallenstein;  Maria  Stuart  ,  Tieck  und  Hofmann,  und  den  theore- 
tischen Schriften  Schlegels  wird  hier  übersetzt.  Besprochen  werden  Herders 
Ideen  und  die  Werke  Goethes.  Sevyrjevs  Erklärung  der  Helena  in  Faust  hat 
Goethes  Beifall  gefunden.    'Abgedr.  hier  aus  Mosk.  Vestnik  1S2'^.  IX.,  S.  132'. 

Interessant  ist  die  Stellungnahme  der  russischen  Kritik  gegenüber  der 
Eomantik.  N.  Nadezdiu  will  sie  nur  für  das  Mittelalter  gelten  lassen,  und 
eine  Wiederbelebung  der  mittelalterlichen  Poesie  sei  ebenso  Pseudoromantik, 
wie  die  Nachahmung  der  antiken  Welt  Pseudoklassizismus  ist.  Sein  Gegner 
im  Mosk.  Vestn.  glaubt  hingegen,  daß  auch  die  neuere  Poesie  Byrons  und 
Goethes  eine  romantische  genannt  werden  könne,  sie  sei  weder  Pseudoroman- 
tik noch  Blüte  der  Romantik,  sondern  eher  ihr  Abschluß  (!).  Gegensätze  bilden 
überhaupt  nicht  mehr  klassisch  und  romantisch,  sondern  innerhalb  der 
neuen  Dichtung  idealistisch  und  realistisch.  (Nach  A.  W.  Schlegels 
Berliner  Vorlesungen).  Klassizismus  und  Romantik  seien  keine  begrifflichen, 
sondern  historische  Gegensätze ;  woraus  ein  wichtiger  Schluß  für  die  praktische 
Anwendung  derselben  folgte:  man  studiere  daher  die  klassische  Literatur 
unmittelbar  und  nicht  durch  die  Brillen  der  Pseudoklassiker.  —  Mit  der  ro- 
mantischen Poetik  faßt  auch  die  Form  des  Romans  festen  Boden. 

Die  konservativen  Elemente  versammelte  um  sich  der  Vestnik  Evropy,  ein 
Journal  von  größter  kultureller  Bedeutung  für  Rußland,  das  heute  liberale 
Tendenzen  vertritt.  Man  nahm  hier  die  solide  klassische  Bildung  gegen  die 
grüne  Freiheit  der  Romantiker  in  Schutz  und  verwies  mit  Vorliebe  auf  die 
klassische  Literatur  Frankreichs;  man  sah  gerne  in  den  Theorien  der  Ro- 
mantiker das  Dunkle,  Ungereimte  und  erlaubte  sich  Ausfälle  auf  die  abstrakte, 
verschrobene  deutsche  Philosophie. 

Charakteristisch  ist  der  versöhnliche  Ausgang  des  ganzen  Streites.  Der 
j\Iann  der  Situation  war  der  erwähnte  junge  Kritiker,  der  zu  beiden  Lagern 
Beziehungen  hatte  und  dessen  Bildung  ebenso  klassisch  als  seine  Gesinnung 
romantisch  war  —  gemeint  ist  N.Nadez  diu.  In  seiner  Dissertation  De  origine, 
natura  et  fatis  poeseos,  quae  Romantica  audit  M.  lS3ü  rechnet  er  mit  beiden 
Scliulen  ab  und  öffnet  den  Ausblick  auf  eine  neue  Poesie.  Nach  einer  ge- 
schichtliclien  Einleitung  sucht  er  die  Romantiker  aus  ihren  Grundsätzen  selbst 
zu  widerlegen.  Natürlich  greift  er  da  die  Auswüchse  und  Extremitäten  der 
Schule  an  und  hält  ihnen  die  reine  romantische  Doktrine  vor.  Er  billigt  die 
freie  Phantasie,  die  Begeisterung,  die  Natürlichkeit,  erklärt  eich  ebenfalls  für 
das  Prinzip  Kunst  für  Kunst  und  die  Anerkennung  der  gesetzgebenden  Genia- 
lität, da  diese  mit  den  ewigen  Gesetzen  der  Natur  immer  übereinstimme.  Daß 
man  gegen  diese  Grundsätze  gesündigt  habe,  daran  seien  oft  große  auswärtige 
Vorbilder  schuld,  besonders  Byrons  Naturalismus  habe  viele  zur  l'bertroibung 
verleitet.  Byron  habe  aus  der  lächelnden  Cliaritiu  der  Poesie  eine  starre 
Meduse  gemacht,  doch  sei  er  aus  seinem  Milieu  verständlich  —  was  alter  ent- 
schuldige seine  Nachahmer?  Und  schließlich  kommt  N.  zum  Begriff  der  neuen 
Poesie:  »Es  scheint,  daß  uns  (Russen)  die  Natur  selbst  zur  Lösung  der  großen 


412  Kritischer  Anzeiger. 

Aufgabe  bestimmt  hat  —  den  polaren  Gegensatz,  der  durch  jene  'Richtungen, 
Klassizismus  und  Romantik)  entstand,  in  einer  mittleren  Vereinigung  aufzu- 
lösen, und  zwar  nicht  durch  mechanisches  Zusammenschließen,  sondern  durch 
eine  innere  dynamische  Angliederung,  durch  ein  Verwachsen,  so  daß  alle 
dunklen  Widersprüche,  aus  denen  schwere  Verirrungen  droliten,  aufgehoben 
würden,  und  der  helle  Tag  des  Friedens,  der  Ruhe  und  der  Harmonie  trium- 
phire.«  Das  habe  auch  schon  der  große  Genius  Schillers  vorausgeahnt,  seine 
Braut  von  Messina  sei  ein  Präludium  dieser  Vereinigung.  Auch  Goethe  möge 
den  Russen  als  aneiferndes  Vorbild  dienen,  denn  seine  Iphigenie  sei  ein  leben- 
diges Beispiel,  wie  voll  des  antiken  Geistes  er  war  und  wie  meisterhaft 
wieder  er  durch  ihn  seine  Persönlichkeit  zum  Ausdruck  zu  bringen  wußte.  — 
Und  nun  verlangt  Nadezdin,  daß  sich  die  neue  Poesie  im  russischen  Geiste 
vollziehen  möge. 

Bescheidener  schrieb  Rotcev  in  der  klassizistischen  Zs.  Athenaeum.  Er 
beschäftigte  sich  mit  dem  gegenseitigen  Verhältnis  von  klassisch  und  roman- 
tisch und  macht  über  Schillers  Tragödien  vortreif  liehe  Bemerkungen.  Die  Braut 
von  Messina  sei  eine  gezwungene  Vereinigung  klassischer  und  romantischer 
Formen,  während  Wilhelm  Teil  auch  den  Geist  dieser  Vereinigung  repräsen- 
tiere. Das  Kolorit,  das  Plastische,  der  Stil,  die  Komposition  sei  hier  klassisch, 
die  Freiheitsidee,  der  Idealismus  romantisch.  —  Zamotin  konstatiert  angesichts 
solcher  Bestimmungen  ein  Schwanken  der  Zs.  zwischen  beiden  Strömungen, 
was  ich  nicht  einsehe,  da  man  die  Ausführungen  Rotcevs  auch  heute  gelten 
lassen  kann.  — 

Nach  dem  Jahre  1830  tritt  plötzlich  ein  Stillstand  ein,  die  meisten  Zeit- 
schriften gehen  ein.  Nadezdin  gründet  eine  eigene,  den  Teleskop,  und  behan- 
delt die  Romantik  als  einen  überwundenen  Standpunkt.  Er  entwirft  allmählich 
sein  Programm  der  neuen  Poesie.  Sein  oberster  Grundsatz  ist  nun  die  Wahrheit, 
und  Gegenstand  der  Poesie  ist  das  ganze  grenzenlose  Leben.  Er  verlangt  die  Ver- 
einigung der  Künste  mit  der  Poesie,  wie  das  bereits  die  deutsche  Romantik  tat. 
Die  gegenwärtige  Poesie  müsse  aber  besonders  eine  künstlerische  Ver- 
wirklichung des  nationalen  Lebens  und  Geistes  sein.  Jetzt  spricht 
bereits  Hegels  Philosophie  mit  und  auch  die  nationale  Bewegung  vom  Jahre 
1812  her  wird  mit  Verständnis  gewürdigt.  Die  gewünschte  Poesie  des  »natio- 
nalen Lebens«  ist  inzwischen  bereits  entstanden.  Bjelinski  bespricht  im 
Teleskop  —  die  Erzählungen  Gogols.  Er  übernimmt  hier  die  Idee  seines 
großen  Lehrers  und  entdeckt  die  neue  Poesie  in  concreto. 

Von  da  an  ist  die  deutsche  Poesie  abgetan,  man  vergißt  sie  und  wagt  es, 
selbst  Goethe  in  Heines  Weise  zu  bemängeln.  Man  ironisiert  die  engroman- 
tischen Manieren  Hoffmanns.  Nur  vor  der  deutschen  Universalität  hat  man 
noch  Respekt.  Auch  V.  Hugo  wird  hierin  bewundert.  Unter  Hegels  Einfluß 
gewinnt  Bjelinski  die  oben  erwähnte  Definition  der  Romantik  «als  einer  inneren 
Welt  der  menschlichen  Seele,  als  ein  geheimnisvolles  Leben  des  Herzens«, 
einer  Poesie,  die  überall  und  zu  allen  Zeiten  möglich  ist,  wenn,  nach  Hegel, 
die  Idee  über  den  Stoif  Oberhand  gewinnt.  So  schließt,  wie  Zamotin  bemerkt, 
die  russische  Romantik  unter  demselben  Einflüsse,  unter  welchem  sie  entstan- 
den ist  —  unter  dem  deutschen. 


Zamotin,  Romantik  in  der  russ.  Literatur,  angez.  von  Prohaska.      413 

Vergleicht  man  die  russische  Romantik  mit  der  deutschen  bezüglich  ihres 
Verlaufes,  so  ergibt  sich  ein  Unterschied.  Das,  was  in  Deutschland  allmählich 
und  stufenweise  —  Sturm  und  Drang,  Klassizismus,  RomantUc  —  hervor- 
gebracht wurde,  dringt  in  Rußland  auf  einmal  ein.  Daher  ist  die  Geschichte 
der  Romantik  hier  komplizierter  und  verworrener.  Ihre  Entwicklung  nimmt 
hier  einen  entgegengesetzten  Gang  gegenüber  der  deutschen,  was  in  der  Natur 
jeder  Nachahmung  liegt ;  wie  bei  einer  Kunstblume  entsteht  da  erst  der  bunte 
Kelch,  aus  den  mannigfaltigsten  und  exotischesten  Farben  der  Originale  zu- 
sammengesetzt, die  Manierirtheit  herrscht  in  der  Form  wie  in  der  Theorie. 
Allmählich  bekommt  diese  Blume  eine  natürliche  Form,  sie  setzt  Blätter  und 
Wurzel  an,  es  folgen  Erörterungen  über  die  wesentlichen  Bestandteile  der  roman- 
tischen Doktrine.  Dann  verwirft  man  sie,  denn  man  gewann  durch  Studium 
und  Kämpfe  die  Einsicht,  daß  für  die  gewünschte  Pflanze  der  Samen  auf  eige- 
nem Boden  gesät  werden  muß.  Der  Prozeß  ist  also  ein  \imgekehrter,  allmählich 
dringt  man  von  oben  in  den  Kern  der  Sache  ein;  die  russische  romantische 
Doktrine  verläuft  in  einer  Analyse  eines  gegebenen  Phänomens,  die  deutsche 
ist  die  Synthese  desselben  gewesen.  Und  so  gleicht  wirklich  diese  Periode 
einem  krausköpfigen,  ungestümen  Jungen,  wie  sie  Bjelinski  nennt;  wir  sehen 
nun  aus  Zamotins  Darstellung,  daß  diesem  Jungen  die  phantastische  Fabel, 
welche  er  aufgenommen,  allmählich  klar  wird,  er  versteht  ihren  Sinn  und  ge- 
wahrt plötzlich  sein  großes  und  weites  Ziel.  Nadezdins  neue  Poesie  ist  dieses 
Ziel,  seine  Theorie  das  Fluidum,  zu  welchem  man  durch  Analyse  gelangte. 
Dieser  retrospektive  Charakter  des  Gegenstandes  kommt  bei  Zamotin  nicht 
recht  zum  Ausdruck,  wie  wir  gesehen,  baut  er  seine  Darstellung  ganz  synthe- 
tisch auf;  um  ungestört  zum  Ziele  zu  kommen,  muß  er  daher  hie  und  da  Ver- 
schiebungen und  gezwungene  Erklärungen  machen,  die  bei  einem  näheren 
Eingehen  auf  das  Detail  seines  Werkes  erst  hervortreten  würden. 

Noch  ein  Zug  ist  für  die  russische  Romantik  der  20er  Jahre  charakte- 
ristisch. Sie  ist  mehr  negativer  Art  als  die  deutsche,  der  Kampf  gegen  das 
Alte  ist  heftiger  als  die  Arbeit  für  das  Neue.  Diese  beginnt  erst  mit  Bjelinski, 
mit  dem  die  Romantik  schon  überwunden  ist.  Auffallend  und  aus  dem  Ganzen 
recht  verständlich  ist  auch  der  Umstand,  daß  die  Dichter  dieser  Zeit,  besonders 
aber  Puskin  sich  wenig  mit  der  Theorie  abgeben.  Für  sie  lag  das  Romantische 
sozusagen  in  der  Luft,  sie  gaben  es  fast  unbewußt  wieder. 

II. 

In  seiner  zweiten  Schrift  zieht  der  Verf.  die  Konsequenzen  der  Romantik 
für  die  russische  Literatur.  Er  will  ihre  Grundzüge  im  XIX.  Jh.  auf  ursprüng- 
lich romantische  Embryen  zurückfUliren.  Seine  Studie  ist  also  eine  skizzen- 
hafte Biologie  der  romantischen  Ideen  im  XIX.  Jh.  Man  könnte  seine  Aus- 
führungen durch  Einwürfe  anderer  Art  ebensosehr  unterstützen  als  entkräften, 
besonders  wenn  man  seinen  Ideen  soziale  und  persönliche  Motive  au  die  Seite 
stellen  würde. 

Der  Verf.  unterscheidet  drei  Hauptmomente  in  der  Geschichte  der  neuen 
russischen  Literatur:  die  Romantik  —  den  Realismus  —  den  Natura- 
lismus und  schließlich  die  heutige  Reaktion  gegen  letzteren.  Und  alle  diese 


414  Kritischer  Anzeiger. 

Strömungen  sind  latent  in  der  Romantik  enthalten,  sie  ist  ihm  ein  Knäuel  von 
Fäden,  die  sich  im  XIX.  Jh.  abwickeln  und  ganze  Richtungen  abgeben  'S.  4  . 
Besonders  heute  sei  es  notwendig,  das  Gedächtnis  der  Romantik  neuzubeleben, 
weil  ihr  Idealismus  der  heutigen  Literatur  nur  frommen  könne. 

Der  Realismus  entwickele  sich  aus  der  Romantik,  weil  in  deren  Individua- 
lismus seine  Wurzel  liegt:  die  Anerkennung  des  eigenen  Ichs  bringt  auch  die 
Würdigung  alles  dessen  mit  sich,  was  den  Menschen  berührt,  und  die  roman- 
tische Poetik  erlaubt  wieder  die  größte  Freilieit  im  künstlerischen  Schaffen, 
somit  auch  die  Beschreibung  des  alltäglichen  Lebens  —  den  Realismus.  Fr 
bildet  sich  erst  in  Frankreich  aus  (Balsac,  George  Sand) ,  gelangt  über  Deutsch- 
land —  Jungdeutschland  —  in  den  40  Jahren  nach  Rußland.  Die  Utilitarität 
löst  hier  die  deutsche  metaphysische  Philosophie  ab.  Ein  weiterer  Faktor  des 
Realismus  ist  der  romantische  Nationalismus.  Die  typ.  Vertreter  sind:  Tur- 
genjev,  Goncarov,  Ostrovskij,  Dostojevskij  und  Tolstoj.  Merkwürdig,  daß 
Gogol  fehlt,  denn  gerade  seine  Dorfgeschichten  —  wie  die  Auerbachs  in 
Deutschland  —  übten  großen  Einfluß  auf  die  Zeitgenossen,  ja  sie  sind  es 
gerade,  die  den  realistischen  Sinn,  die  scharfe  Beobachtung  für  das  kleinliche 
Alltägliche  weckten. 

Den  Naturalismus  faßt  Zamotin  als  eine  weitere  Entwickelnngsstufe  des 
Realismus  auf  Er  nimmt  seinen  Ausgangspunkt  in  Frankreich  mit  Zola  und 
Maupassant,  dringt  nach  Deutschland  und  schafft  allmählich  eine  pessimistische 
allgemein  europäische  Stimmung.  In  Rußland  findet  er  fruchtbaren  Boden  in 
den  eigentümlichen  Verhältnissen  einer  deprimierten  Gesellschaft,  eines  ge- 
knechteten Volkes.  Cechov  und  Boborykin  sind  die  typischen  Vertreter,  der 
eine  zeichnete  Gestalten  von  hamletischen,  neurasthenischen  Anlagen,  der 
andere  Hochstapler,  Aventuristen,  Lebemänner.  Diese  Literatur  entsteht  in 
den  Jahren  70 — 90. 

Interessant  ist  das  Resümee  des  Verfassers.  Diese  drei  Phasen  der  russ. 
Literatur  bezeichnet  er  durch  drei  homogene  Schlagworte :  die  Romantik  nennt 
er  Selbsterhebung,  den  Realismus  Selbstanalyse,  den  Naturalismus 
Selbsterniedrigung.  Alle  diese  Momente  seien  Erscheinungsfolgen  des 
romantischen  Idealismus  einerseits  und  des  Realismus  andererseits.  In  der 
Synthese  dieser  beiden  Pole  unserer  seelischen  Magnetlinie  sieht 
der  Verf  das  Ideal  der  zukünftigen  Kunst.  Er  fühlt  bereits,  wie  in 
Europa  und  Rußland  immer  stärker  der  Puls  des  Lebens  schlage,  wie  überall 
der  Sinn  zur  Wahrung  der  realen  und  idealen  Weltanschauung  zunehme,  man 
beschäftige  sich  bereits  intensiver  mit  den  Problemen  des  Idealismus. 

Die  übrigen  Kapitel  bauen  diesen  skizzenhaften  Grundriß  aus ;  der  Verf. 
beschäftigt  sich  eingehend  mit  der  Entwicklung  der  Romantik.  Das  zweite 
Kapitel  weist  jene  Elemente  auf,  die  zur  Zeit  Katharina  IL  aufkeimten  und  die 
Romantik  vorahnen  lassen.  Natürlich  geschieht  in  dem  Nachspüren  des  Verf. 
nach  den  ersten  Ansätzen  neuer  romantischer  Tendenzen  zur  Zeit  der  Auf- 
klärung mancher  Mißgriflf.  Es  ist  ja  richtig  z.  B.,  daß  Katarina  IL  bereits 
Völkslieder  in  ihre  Operetten  aufnahm,  daß  sie  historische  Schauspiele 
nach  Shakespeare  verfertigte,  aber  ihr  eigenes  Verhältnis  zu  diesen  Neuerungen 
kann  durchaus  nicht  im  Sinne  der  späteren  Romantik  gedeutet  werden.  Sie 


Zamotin,  Romantik  in  der  russ.  Literatur,  angez.  von  Prohaska.      415 

sab  im  Volksliede  nicht  das  poetische,  natürlichschöne,  sondern  das  komische, 
drollige  Element  —  sie  war  auch  hier  Aufklärerin.  In  den  historischen  Dramen, 
in  denen  vom  historischen  Milieu  keine  Spur  zu  finden  ist,  philosophieren  die 
altrussischen  Fürsten  über  Volksbeglückung  u.  dgl. ;  und  die  Technik  Shake- 
speares wurde  nur  darum  angewendet,  weil  dies  Ausstattungsstücke  waren, 
in  denen  der  Szenenwechsel  an  und  für  sich  notwendig  erscheint.  Außer  dem 
Szenenwechsel  ist  hier  eben  nichts  nach  Shakespeare.  Diesen  unromantischen 
Charakter  Katarinas  hat  der  Verf.  nicht  gefühlt. 

Im  III.  Kapitel  beschäftigt  sich  der  Verf.  mit  dem  Vordringen  des  Indi- 
vidualismus und  Idealismus  in  Europa.  Die  Ausführungen  schließen  hier  an 
Brandes  Hauptströmuugen  an.  In  seinem  Sinne  wird  »  Werther «,  »DieEäuber«, 
Chateaubriands  »Rene.<  und  die  englische  Eomantik  herangezogen.  Charak- 
teristisch für  diese  Bewegung  sei  1.  die  Persönlichkeit,  2.  der  Idealismus, 
3.  die  Sehnsucht  nach  der  ursprünglichen  Natur. 

Diese  Strömung  dringt  nach  Rußland  unter  Kaiser  Alexander  I.  (Kap.IV.) 
Eine  Skizze  der  russischen  Gesellschaft  ist  hier  nach  Pypins  Monographie  ent- 
worfen. Die  russische  Poesie  erobert  jetzt  neue  Gebiete:  den  Orient,  das  Alter- 
tum, die  Volkspoesie,  die  Religion,  die  Wissenschaft  und  Psychologie. 

Hübsch  und  selbständig  ausgearbeitet  ist  das  Kapitel  über  die  roman- 
tischen Elemente  in  der  Poesie  Zukovskijs,  Puskins  und  Gogols  Kap.  V). 
Zamotin  las  mit  wahrem  Verständnis  ihre  Werke  und  zeigt  ihre  romantische 
Weltanschauung,  ihr  romantisches  Verliältnis  zu  Kunst  und  Religion,  ihre 
Ansicliten  über  persönliche  und  soziale  Glückseligkeit.  Besonders  gut  fühlt 
man  Vorstudien  des  Verf.  zu  diesem  Kapitel  heraus,  wo  er  über  die  »blaue 
Blume «  in  Zukovskijs  Poesie  und  Leben  spricht,  wo  er  den  Idealismus  an 
Puskins  Tatjana  aufweist. 

Das  letzte  Kapitel  bringt  in  gedrängter  Form  die  Ergebnisse  des  obigen 
ausführlichen  Werkes  über  die  Romantik  der  zwanziger  Jahre.  Zum  Schlüsse 
dieses  Kapitels  gibt  der  Verf.  in  seiner  soliden  Weise  noch  einmal  eine  syste- 
matische Übersicht  der  Hauptmomente  der  romantischen  Theorie.  Er  macht 
besonders  auf  die  Punkte  Eigentümlichkeit  und  Nationalität  aufmerk- 
sam, denn  beide  seien  für  die  modenie  Poesie  von  grundlegender  Bedeutung. 
Zu  diesen  Prinzipien  werde  die  russische  Literatm-  immer  und  immer  zurück- 
kehren müssen,  im  reichen  Schatze  der  Volkspoesie  werde  sie  immer  neue  An- 
regungen und  Motive  finden  (S.  Ou). 

Auf  diese  Weise  wiederholt  eigentlicli  Zamotin  das  Programm  Xadozdins, 
der  ebenfalls  einen  mittleren  Weg  —  wie  hier  der  Verf.  zwischen  Idealismas 
und  Realismus  —  einschlug,  um  zur  nationalen  Kunst  als  dem  liöchsten  Ideal 
zu  gelangen. 

Doch  diesmal  bedarf  dasselbe  Programm  doch  einer  näheren  Aus- 
fühning,  denn  wir  sehen,  daß  trotz  dem  nationalen  Postulat  Zamotins  gerade 
jene  russischen  Sciuiftstellcr  zu  Hause  wie  in  der  ganzen  Welt  den  größton 
Wert  haben,  die  am  wenigsten  national  und  am  meisten  rein  menschlich 
fühlen  und  schreiben,  die  zu  den  "DiMikmiilcni  der  Volkspoesie  ^<  (S.  I5:r  in  gar 
keiner  Tradition  stehen  (Gorkij  und  Tolstoj  .  Und  so  fasse  ich  die  Denkweise 
Zamotins  als  eine  symptomatische  Erscheinung  auf.    Es  ist  hier  wieder  der 


416  Kritischer  Anzeiger. 

Ruf  nach  nrsprilnglicher  Schlichtheit,  nach  der  Volkspoesie  laut  geworden, 
der  jener  romantischen  Sehnsucht  nach  der  Natur  gleicht,  und  der  ebenso  wie 
jene  nach  einer  hochentwickelten  literarischen  Epoche  kam,  nach  gi-oßer  An- 
spannung der  geistigen  Kräfte  eintritt.  Die  Romantiker  sj)rachen  aber  dabei 
zugleich  von  einer  Poesie  in  zweiter  Potenz,  sie  wollten  die  traditionellen 
Elemente  im  Sinne  des  zeitgemiißen  Geschmackes  ästhetisch  gehoben  und 
neubelebt  wissen.   Vielleicht  denkt  auch  Zamotin  ähnlich?  — 


Seine  Arbeit  verdient  seitens  der  ausländischen  Literatur  das  grüßte  In- 
teresse, denn  sie  unternahm  es,  jenen  allgemeinen  Kreislauf  von  Ideen  aufzu- 
decken, der  zwischen  Europa  und  Rußland  besteht  und  dem  eine  so  seltsame, 
originelle  und  große  Literatur  entsprungen  ist,  daß  der  Uneingeweihte  ohne 
solche  historischen  Nachweise  kaum  ihren  genetischen  Zusammenhang  mit 
den  westeuropäischen  Literaturen  ahnt. 

Zagreb.  Dr.  I).  Prohaska. 


Bartolomeo  Mitrovic,  Studi  sulla  letteratura  serbo-croata.  Firenze. 
Bernardo  Seeber  libraio-editore.  1903.  8°.  S.  118. 

Obwohl  die  Italiener  sehr  oft  an  den  Beispielen  der  Franzosen  und 
Deutschen  Anlaß  fanden,  ihre  Augen  den  reichen  Produkten  der  neueren 
russischen  und  polnischen  Literatur  zuzuwenden,  gebührt  doch  der  Verdienst, 
beim  lesenden  Publikum  das  Interesse  für  diese  zwei  slavische  Literaturen  er- 
weckt zu  haben,  in  erster  Linie  ihnen  selbst.  Mit  der  serbokroatischen  Lite- 
ratur dagegen  steht  die  Sache  ganz  anders.  Soll  diese  über  die  Grenze  des 
eigenen  Bodens  heraustreten,  so  finden  sich  gleich  bei  den  Kroaten  und  Serben 
Männer,  die  bereit  sind,  den  Italienern  vor  allen,  im  Kleide  ihrer  Sprache  die 
Früchte  der  eigenen  Literatur  zugänglich  zu  machen.  So  stand  die  Sache  vor 
Dezennien,  so  steht  sie  auch  heutzutage  und  dementsprechend  steht  die  Er- 
scheinung eines  Giovanni  de  Rubertis,  der  manche  Gedichte  des  Medo  Pucic 
ins  Italienische  übersetzte,  vereinzelt  da. 

Vielleicht  mehr  als  das  Interesse  der  Italiener  für  die  serbokroatische 
Literatur  gab  der  Zustand  am  italienischen  Hofe  den  Kroaten  und  Serben  An- 
laß, in  den  letzten  Jahren  an  eine  intensivere  Verbreitung  der  Kenntnisse  ihrer 
Literatur  in  Italien  zu  denken.  Tatsächlich  kann  man  sich  überzeugen,  daß 
die  Arbeit  nicht  ohne  Erfolg  blieb.  Die  seit  dem  Jahre  1903  in  Florenz  er- 
scheinende belletristische  Zeitschrift  »Nuova  rassegna«  schöpft  das  Material 
für  die  Abteilung  »Letterature  straniere«  zumeist  aus  unserer  Literatm*:  das 
Verdienst  dafür  gebührt  zuerst  dem  Autor  der  hier  zui*  Sprache  kommenden 
Schrift,  nämlich  dem  Spalatiner  Prof  Bartolomeo  Mitrovic. 

Das  Buch  Mitrovic's  ist  bekanntlich  nicht  die  erste  italienisch  geschriebene 
Geschichte  der  serbokroatischen  Literatur,  aber  bezüglich  der  Tendenz  ist  es 
wohl  von  den  Notizie  Appendiuis  und  der  Storia  della  letteratura  slava  von 
Lucianovic  zu  unterscheiden,  da  sie  bestimmt  ist,  die  Italiener  selbst  in  eine  ganz 


Mitrovic,  Studi  sulla  lett.  serbocroata,  angez.  von  Nagy.  417 

fremde  Literatur  einzuführen.  Ein  schönes  Prinzip,  das  aber  zur  vollen  Durch- 
tiihrung  nicht  gelangte.  Es  darf  zuerst  der  Titel  des  Buches  »Studi«  nicht  zu 
dem  Gedanken  führen,  daß  es  sich  hier  um  ein  Bild  der  ganzen  Literatur  han- 
delt. Nein,  bloß  die  Stellung,  die  der  Verfasser  gegenüber  dem  Ganzen  ein- 
nimmt, ist  damit  bezeichnet.  Er  wollte  sich  in  der  Behandlung  des  Stoffes  frei 
bewegen  und  sich  nach  Belieben  bei  einer  Partie  mehr,  bei  der  anderen  weniger 
aufhalten.  So  entstand  auch  die  Einteilung  des  Stoffes  in  folgende  drei  Teile: 
1 .  Bild  der  serbokroatischen  Literatur.  2.  Montenegro  in  der  serbokroatischen 
Literaturgeschichte.  3.  Über  die  serbokroatischen  Volkslieder.  Wenn  man 
auf  den  Umfang  eines  jeden  von  diesen  Hauptteilen  Rücksicht  nimmt,  wird 
man  sehen,  daß  dieselben  in  Bezug  auf  die  Behandlung  des  Stoffes  von  einan- 
der verschieden  sind  und,  wenn  man  das  ganze  Buch  durchliest,  wird  man  sich 
überzeugen,  daß  der  erste  Teil  der  schwäcliste  ist.  Es  seien  einige  Beispiele 
,'ingeführt.  Auf  S.  28  wird  erzählt,  wie  die  Eeformen  Vuks  den  Sieg  davon- 
trugen, aber  von  Daniele  und  von  dem  an  literarischen  Produkten  so  frucht- 
baren Jahre  1847  wird  nicht  ein  Wort  erwähnt.  So  wird  auch  die  Stellung  der 
^'erfechter  der  illyrischen  Bewegung  gegenüber  den  anderen  slavischen  und 
fremden  Literaturen  mit  keinem  Worte  charakterisiert  (S.  29).  Die  Zeitschrift 
»Zora  dalmatinska«  wird  wohl  erwähnt  (S.  30),  aber  Pucic,  Kazali  und  Kaznacic 
von  ihr  ganz  getrennt  (S.  39).  Das  VL  Kapitel,  nämlich  dasjenige,  in  welchem 
von  Vraz,  Trnski,  Preradovic,  Radicevic,  Mazuraniö,  Demeter  u.  a.  die  Rede 
ist,  ist  sehr  karg  ausgefallen.  Dort  ist  nur  eine  Anreihung  von  Namen  und 
l'iteln  zu  finden,  aber  keine  allgemeine  Charakteristik  der  verschiedenen  Rich- 
1  ungen  und  Beziehungen  der  Dichter  zueinander,  wobei  man  manchmal  selbst 
auch  das  Hauptsächlichste  (wie  z.B.Preradovics  Oden  «Bogu«  und  »Slavenstvu«) 
übersah. 

Aus  dem  Gesagten  und  vielen  anderen  Beispielen  sieht  man,  daß  der 
Verf.  über  so  Manches  unklare  Vorstellungen  hat.  So  z.  B.  sagt  er,  daß  sich 
Vuk  mit  der  Ausgabe  glagolitischer  Denkmäler  beschäftigte  (S.  12^;  daß  in 
Uagusa  zuerst  das  Kroatische  und  später  das  Serbische  gesprochen  wurde 
(S.  13);  daß  Kacic  die  altdalmatinische  Literatur  mit  der  neuen  serbischen  ver- 
einigt (S.  22);  zwei  Autoren  einer  seiner  benutzten  Quellen,  nämlich  Pypin  und 
Spasovic,  vereinigt  er  zu  einer  Person  (. .  .  osserva  lo  stesso  Pypine-Spasovic 
heißt  es  auf  S.  81)  usw. 

Wenn  im  Buche  manches  Notwendige  fehlt,  so  findet  sich  auch  manches 
I  berflüssige.  Dazu  rechne  ich  die  große  Anzahl  von  allein  stehenden  Namen, 
welche  dem  Verf.  seine  Quelle,  nämlich  Surmins  Literaturgeschichte,  zur  Vor- 
fügung stellte.  Eine  für  die  Italicner  gescliriebcne  Geschichte  der  serbokroat. 
Literatur  sollte  zu  den  einheimischen  Arbeiten  in  dem  Verliiiltnis  stehen,  in 
welchem  sich  die  neueste  russische  Literaturgeschichte  von  Prof  Brückner  zu 

dem  benutzten  Material  befindet. 

J.  Nagy. 


Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVIII.  27 


418  Kritischer  Anzeiger. 

II  Serto  della  Montagna.   Quadro  storico  del  secolo  XVII  di  P.  Pe- 

trovich-Njegus.    Traduzione  dal  Serbo  di  Giovanni  Nikolic.   Fa- 

briano,  prem.  Stab.  tip.  Gentile  1903.  8^  S.  175. 

Wenn  ein  Freund  der  serbokroat.  Literatur  jetzt  eine  solche  Übersetzung 
des  Gorski  Vijenac  zu  Stande  bringen  will,  daß  sich  in  derselben,  so  gut  wie 
möglich,  die  Schönheiten  und  besonders  die  Züge  der  Eigentümliclikeiten  des 
Originals  wiederspiegeln,  so  befindet  er  sich  doch  nicht  in  derselben  Lage,  in 
der  sich  Kirste  befand,  als  er  mit  seiner  deutschen  Übersetzung  »des  Berg- 
kranzes« beschäftigt  war.  Kirste  konnte  freilich  schon  acht  Ausgaben  des 
G.  V.  benutzen,  aber  kommentiert  war  die  einzige  von  Ljubisa  (Zaralb68),  doch 
auch  diese  ungenau  und  unvollständig;  von  den  anderen  waren  zwei  (Wien  1876 
und  Pancevo  1881)  nur  mit  einem  Anhang,  in  welchem  einzelne  Worte  erklärt 
wurden,  versehen.  Eine  Übersetzung  des  ganzen  Werkes  gab  es  damals  nicht, 
sondern  nur  eine  ungenaue  italienische  einzelner  Teile  desselben  von  G.  Chiu- 
dina  (Cantidelpopoloslavo.  Florenz  1878;  Storia  delMontenero.  Spalato  1882j. 
Nikolic  dagegen  fand  ein  ganz  anderes  Terrain  vor :  die  zwei  musterhaft  kommen- 
tierten Ausgaben  von  Prof.  Resetar  (Agram  1890,  Belgrad  1892]  konnten  ihm 
den  serbischen  Text  ganz  geläufig  machen  i)  und  die  Literatur  über  den  Dichter 
und  seine  Werke  konnte  ihn  daran  mahnen,  was  auch  in  einer  Übersetzung 
nicht  verloren  gehen  darf.  Trotz  alledem  muß  man  sagen,  daß,  indem  Kirste 
auch  den  Serben  und  Kroaten  den  Weg  zur  richtigen  Auffassung  des  genialen 
Werkes  zeigte,  Nikolic  auch  bei  den  Italienern  sehr  wenig  Interesse  für  die 
Originalität  Montenegros  und  seiner  Literatur  erwecken  kann. 

Bei  Nikolic  geht  dem  Gedichte  selbst  (S.  5 — IG),  als  Vorwort  an  den 
Leser,  eine  ziemlich  knappe  Betrachtung  über  den  Dichter  und  seinen  G.  V. 
voraus,  welche  sich  auf  die  Abhandlung  Vulovics  (Fojumftuua  Ij  stützt.  Es  ist 
nicht  zu  billigen,  daß  auf  einer  Seite  der  Dichter  als  Herrscher  seines  Landes, 
auf  der  anderen  sein  G.  V.  mit  grellen  Farben  idealisiert  wird  und  daß  der 
übrigen  geistigen  Produkte  des  Vladika  und  seiner  Stellung  in  der  neueren  ser- 
bischen Literatur  nicht  mit  einem  Worte  gedacht  wird.  G.  V.  ist  für  Nikolic 
wie  für  Vulovi6  eine  Auswahl  von  lyrischen  Blumen  Montenegros  und  wie  für 
den  zweiten  necaia  e&a  necMaMa  (S.  335) ,  so  für  den  ersten  »la  Bibbia  del  popolo 
montenegrino «  (S.  13). 

Vergleicht  man  die  vorliegende  Übersetzung,  um  sie  näher  zu  kennen, 
mit  dem  Original,  so  überzeugt  man  sich  leicht,  daß  das  sehr  freie  Übertragung 
ist,  in  welcher  einerseits  vollständig  oder  teilweise  unübersetzte  Verse,  Miß- 
verständnisse im  Inhalt  und  Sprache,  nicht  notwendige  Erweiterungen  verschie- 
dener Stellen  begegnen;  andrerseits,  daß  dieselbe  ein  unklares  Bild  des  Ori- 
ginals bietet  und  sich  um  die  Wiedergabe  seiner  Originalität  gar  nicht  kümmert. 


1)  Prof.  Resetar  hat  uns  unlängst  mit  zwei  anderen  Ausgaben  beschenkt, 
einer  bei  Hartmann  in  Agram  (19ü4)  und  einer  anderen  (1905)  bei  der  kroatischen 
Btichhandlung  in  Zara.  Beiden  liegt  die  Belgrader  Ausgabe  zu  Grunde  und  die 
kleinen  Änderungen  in  der  Einleitung  haben  ihren  Grund  darin,  daß  die  Aus- 
gaben für  den  westlichen  Teil  des  Volkes  bestimmt  sind. 


Nikolic,  II  serto  della  Montagna,  angez.  von  Nagy.  419 

Das  alles  wird  uns  zuerst  durch  den  einfachen  Umstand,  daß  das  Original  2S19 
iiud  die  Übersetzung  2702  Verse  umfaßt,  bestätigt.  Ohne  bestimmten  Grund 
liat  also  der  Übersetzer  117  Verse  unübersetzt  gelassen.  Wenn  nur  das  wäre, 
könnte  man  noch  zufrieden  sein,  aber  die  Zahl  der  unübersetzten  Verse  ist 
mehr  als  drei  Mal  so  groß;  so  viel  ich  gesehen  habe,  sind  etwa  3G0  V.  in  der 
Übersetzling  mit  gar  keinem  Wort  wiedergegeben  und  dabei  wird  die  Widmung, 
die  auch  hier,  wie  bei  Kirste,  unübersetzt  geblieben  ist,  nicht  mitgezählt.  Auch 
sonst  ist  die  Übersetzung  nicht  vollständig;  etwa  50  V.  ungefähr  werden  nur 
mit  einem  oder  zwei  Worten  kurz  angedeutet.  Stellt  man  nun  die  Frage,  was 
für  Verse  es  sind,  von  denen  sich  der  Übersetzer  fem  hielt,  so  muß  man  ant- 
worten, daß  es  nicht  nur  Stellen  sind,  die  in  der  originellen  Ausdrucksweise 
einen  Sinn  haben  (vgl.  38,  359,  433,  729,  1174  u.  a.)  oder,  wie  Sprichwörter 
lauten  (vgl.  306,  524,  525,  533,  538,  540  u.  a.)  oder  Vergleiche  ausdrücken  ;vgl.  10, 
]i)21,  1553,  1558  u.  a.)  und  ähnliches,  sondern  auch  solche  Verse,  durch  die  der 
'iang  der  Erzählung  fortgeführt  wird  (vgl.  1445—1505,  2599—2603,  2720—2729 
u.  a.),  die  man  also  auf  keinen  Fall  auslassen  durfte. 

Sehr  auffallend  ist  noch  etwas,  was  ein  gewissenhafter  Übersetzer  nicht 
tun  darf.  Unser  Übersetzer  kürzte  dann  und  wann  den  Text,  indem  er  alles,  was 
ilim  überflüssig  schien,  beiseite  ließ.  So  z.  B.  verfuhr  er  dort,  wo  ein  Vers  den 
im  Vorhergehenden  ausgesprochenen  Gedanken  näher  präzisiert  vgl.  146,  160, 
1 69, 199,755  u.  a.).  Das  tat  er  vielleicht,  weil  ihm  die  Übersetzungsarbeit  irgend- 
wolche  Schwierigkeiten  bereitete,  auf  keinen  Fall  aber  durfte  er  die  im  Texte 
vorkommenden  prosaischen  Stellen  auslassen,  und  doch  blieben  von  diesen  16 
ganz,  22  teilweise  unübersetzt.  Bekanntlich  haben  diese  Stellen  in  bezug  auf  den 
G.  V.  eine  ziemlich  große  Bedeutung,  da  in  denselben  die  Handlung  mehr  als 
iu  den  Gesprächen  der  Personen  zum  Ausdruck  kommt.  Auf  S.  11  sagt  der 
Übersetzer: ».  .  .  se  a  un  dramma  togliete  Tazione  e  la  tessitura  drammatica  — 
( io  che  manca  appunto  al  Gorski  Vienaz  —  non  vi  i-esta  altro  che  il  contenuto 
iiiico«  und  nach  dieser  Auffassung  schien  ihm  vielleicht  gerechtfertigt  zu  sein, 
die  Handlung  noch  mehr  bei  Seite  zu  schieben!  Ich  glaube,  daß  niemand  mit 
ihm  in  bezug  auf  diese  Kürzung  des  Textes  einverstanden  sein  kann,  da  er 
eine  vollständige  Übersetzung  zu  stände  bringen  wollte  und  nicht  das  im 
.lalire  lb91  in  Vidin  erschienene,  bulgarische:  HaB^i^CHHe  h3  FopcKifi  Biueu-B 
von  Ivanov  nachahmen. 

Wenn  man  den  Umfang  des  Originals  und  den  der  Übersetzung,  ferner 
die  Anzahl  der  in  der  letzteren  fehlenden  Verse  berücksichtigt,  so  sieht  man, 
daß  uns  der  Übersetzer  mit  etwa  25ii  Versen  eigener  l'hantasie  beschenkt  hat, 
die  aber  nur  angehäufte  nicht  notwendige  Worte  enthalten.  Es  seien  dafür 
mir  zwei  Beispiele  angeführt!  Orig.  V.  9.j:  ^a  qucniMo  scM.i.y  oa  iicKpcru?  Über- 
setzung S.  23 :  Per  ch'  abbiano  a  purgar  dalla  fatale — Idra  islamita  la  natia  cou- 
trada?  Orig.  V.  2013:  Ccaum  upaTax,  cbu  ccaum  jeaiiaiui.  Übersetzung  S.  12b: 
Sette  e  valenti  a  par  dell'  infelice  —  Omai  domato  dalla  morte.  Vgl.  noch  22, 
^46,  49,  81,  107,  360,  404,  475,  637,  709,  836,  1393,  1583,  1586,  1720,  1830,  2228, 
2550,  2551,  2554,  2769,  2774  u.  a. 

Mit  welcher  Rücksicht  auf  die  scrbokroat.  Sprache  und  mit  welcher  Sorge 
?lir  die  Genauigkeit  in  der  Wiedergabe  des  sachlichen  Inhaltes  mau  an  der 


420  Kritischer  Anzeiger. 

vorliegenden  Übersetzung  arbeitete,  beweisen  gerade  jene  Stellen,  die  sich 
vom  Originale  am  wenigsten  entfernen.  Es  muß  vor  allem  ins  Auge  fallen, 
wie  der  Vers  15'  übersetzt  ist.  Im  Original  lautet  er:  r.icAa  jckom  rpa^a  cTpa- 
liiiiuora  und  wenn  man  ihn  selbst  liest,  oder  noch  besser,  mit  den  nahe  stehen- 
den Versen  zusammen  nimmt,  sieht  man,  daß  dort  vom  Hagel  und  von  keiner 
Stadt  die  Rede  ist;  für  unseren  Übersetzer  aber  ist  das  eine  Stadt  Stravica. 
Er  übersetzt  die  Stelle  auf  S.  '20:  Fino  a  Stravizza,  ove  rigonfie  appieno  —  A 
vuotarsi  cadeau.  An  dieses  so  störende  Mißverständnis  könnte  man  viele 
andere  Stellen  anknüpfen,  welche  in  der  Übersetzung  unrichtig  oder  untreu 
wiedergegeben  sind.  Warum  soll  man  z.  B.  im  V.  15S4  EoKa  mit  Cattaro  über- 
setzen, wenn  schon  der  V.  1612  zeigt,  daß  das  unmöglich  ist?  Auch  hier 
sind  wieder  die  prosaischen  Notizen  zu  erwähnen,  in  welchen  das  Echte  ver- 
wischt wird. 

Im  Zusammenhang  mit  der  Ungenauigkeit  in  der  Wiedergabe  einzelner 
Stellen  steht  die  Wahl  der  Ausdrücke.  Der  Ausdruck  o/i,  hckpcth  (V.  95)  ist 
nicht  passend  mit  Idra  islamita  zu  übersetzen,  da  sich  die  Stelle  nicht  auf  die 
Türken,  sondern  auf  die  montenegrinischen  Renegaten  bezieht.  Warum  sagt 
man  quattrocento  für  nei  ctothh  (V.  111),  famiglie  für  rjraBc  (nach  V.  197), 
onore  für  aanoH  (V.  200),  inimico  campo  für  CTanaK  (V.  315)  usw.?  Solche  Un- 
genauigkeiten  führen  auch  viele  andere  mit  sich.  Der  Montenegriner  stützt 
seine  Meinungen  und  Wünsche  auf  die  Lehre  seiner  Religion,  auf  seine  Ge- 
wohnheiten und  Übei'lieferungen  und  auf  eine  Moral,  die  ihm  die  Erfahrungen 
des  Alltagslebens  zueigen  machten  und  so  wendet  er  in  seinen  Gesprächen  Aus- 
drücke und  Redewendungen  an,  die  seiner  Weltanschauung  entsprechen.  Im 
G.  V.  findet  man  so  etwas  auf  Hunderten  von  Stellen,  aber  in  dieser  Über- 
setzung nie.  Folgende  drei  Beispiele  mögen  zeigen,  daß  der  Übersetzer  gar 
keinen  Unterschied  machte,  ob  es  ein  Montenegriner  oder  ein  Italiener  aus 
Florenz  undSiena  reden  würde.  Orig.  V.  133 — 134:  Häaa  HCMa  nyaco  uu  y  Kora 
—  3,0  y  6ora  u  y  CBoje  pyKe.  Übersetzung  S.  24:  Sorgi  adunque,  con  noi,  sorgi, 
e  da  forte,  —  In  Dio  fidando,  a  ravvivar  ci  guida  —  L'alta  nostra  speranza. 
Orig.  V.  1040:  Hena  KyMCTca  öes  KpiuTCHa  KyivicTBa,  Übersetzung  S.  74:  Anticri- 
stiano  nodo  —  Punto  non  tiene.  Orig.  V.  1912:  s&KÄajia.  ra  nyuiKa  upnoropcKa. 
Übersetzung  S.  122:  Ferma  ho  fede  perö,  che  un  archibuso  —  Montenegrino 
finirä  quel  tristo.  Vgl.  weiter  V.  179—180,  184— 1S7,  310,  321,  368,  452,  457, 
490,  613,  705,  848,  1016,  1206,  1264  u.  a. 

Für  die  Kololieder  sagt  der  Übersetzer  auf  S.  12,  daß  dieselben  an  die 
griechischen  Tragödien  erinnern  und  vielleicht  aus  dieser  Auffassung  glaubte 
er  dieselben  nach  seinem  eigenen  Geschmack  übersetzen  zu  dürfen.  Das  erste 
übersetzte  er  in  Strophen  zu  sechs  Elfsilbern,  auch  das  dritte  und  sechste  sind 
in  Reimen  übersetzt.  Alle  zusammen,  sei  es,  daß  sie  in  Reimen  übersetzt  sind 
oder  nicht,  nähern  sich  mehr  den  Finalen  in  den  Opern  Verdis  oder  Donizettis 
als  dem  Originale  von  Njegus. 

Als  ich  diese  Übersetzung  in  die  Hände  nahm,  faßte  ich  die  Absicht,  die- 
selbe mit  dem  Originale  so  zu  vergleichen,  wie  dies  für  Kirstes  tT)ersetzung 
Vulovic  in  der  CaivioynpaBa  1886,  Jagic  im  Archiv  X  und  Resetar  im  Archiv  XI 
gemacht  haben,  aber  dabei  hätte  ich  nichts  anderes  tun  können,  als  die  Über- 


Wilpert,  Le  pitture  della  basilica  S. demente,  angez,  von  Resetar.    421 

Setzung  neben  das  Original  zu  stellen;  deshalb  mußte  ich  mich  mit  diesen 
einzelnen  Bemerkungen  begnügen.  Jedem  Kenner  des  G.  V.  ist  es  aus  eigener 
Ki'fahruüg  bekannt,  mit  welchen  Schwierigkeiten  die  Lektüre  des  Textes  aus 
einer  unkommentierten  Ausgabe  verknüpft  ist.  Eine  Übersetzung  femer,  die 
mit  gar  keinen  Erklärungsnoten  versehen  ist,  wie  diese  Nikolics,  kann  man 
a  priori  als  verfehlt  bezeichnen.  J.  Nugy. 


Das  Gral)  und  die  Gral)insclirift  des  hl.  Cyrill  in  Rom. 

Wilpert  Giuseppe,  Le  pitture  della  basilica  primitiva  di  San  Cle- 

ineute.   Rom  1906,  8*^,  61  S.  mit  5  pbototypisclien  Tafeln  (S.A.  aus 

den  Melanies  d'Areheologie  et  d'Histoire  publies  par  lEcole  fran- 

9aisedeRome,  T.XXVI).*) 

Als  man  einige  Jahre  vor  der  tausendjährigen  Gedenkfeier  des  Todes 
des  hl.  Cyrill  in  Rom  in  der  Kirche  des  hl.  Klemens,  wo  Cyrill  bestattet  wor- 
den war,  Ausgrabungen  durchführte,  um  sein  Grab  zu  finden,  da  entdeckte 
man  die  nunmehr  unterirdische  ursprüngliche  Kirche  des  hl.  Klemens,  über 
welcher  die  gegenwärtig  bestehende  gebaut  und  im  Mai  1128  eingeweiht 
wurde.  Bei  dieser  Gelegenheit  fand  man  in  der  unterirdischen  Kirche  auch 
einige  Wandmalereien,  die  von  dem  bekannten  Archäologen  De  Rossi  mit 
Cyrill  und  Method  in  Verbindung  gebracht  wurden,  wobei  er  auch  ein  Grab, 
das  in  unmittelbarer  Nähe  einiger  dieser  Malereien  sich  befand,  vermutungs- 
weise als  die  ursprüngliche  Bestattungsstätte  des  hl.  Cyrill  bezeichnete.  Die 
von  De  Rossi  gegebene  Deutung  dieser  Malereien,  sowie  die  von  ihm  nur  ver- 
mutungsweise ausgesprochene  Meinung  über  das  ursprüngliche  Grab  des 
lil.  Cyrill  wurden  fast  von  allen  späteren  Forschern  in  der  Hauptsache  an- 
genommen, so  daß  nur  im  Detail  der  Erklärung  Meinungsverschiedenheiten 
auftraten.  Die  vorliegende  wichtige  Schrift,  welche  den  bekannten  Forseber 
der  altchristlichen  Kunst  und  der  Katakombenmalerei,  den  päpstlichen  l'roto- 
notar  Josef  Wilpert,  zum  Verfasser  hat,  weicht  von  der  bisherigen  allgemein 
angenommenen  Meinung  stark  ab  und  gelangt  zu  ganz  anderen  Resultaten 
sowohl  in  Bezug  auf  die  Deutung  der  Bilder,  die  auf  Cyrill  und  Method  be- 
zogen wurden,  als  auch  in  Bezug  auf  die  Stelle  des  Grabes  Cyrills  in  der 
u uterirdischen  Kirclie. 

Was  zunächst  das  letztere  anbelangt,  so  sucht  W.  nachzuweisen,  daß 
der  Sarkophag  Cyrills,  bevor  derselbe  in  die  neue  (oberirdische)  Kirche  iiber- 


*)  Ich  bin  Monsignorc  J.  Wilpert  für  die  große  Liebenswürdigkeit,  mit 
der  er  mich  von  seiner  oben  zitierten  wiclitigen  Studio  in  Kenntnis  setzte 
und  ihre  Besprechung  in  unserer  Zeitschrift  ermöglichte,  zu  großem  Danke 
verpflichtet.  Die  nachiblgende  Besprechung  Prof.  Resetars  referiert  über  den 
wesentlichen  Inhalt  der  Monograidiie,  die,  wie  mir  ihr  Verfasser  mitteilt,  auch 
in  cechischer  Übersetzung  nächstens  erscheinen  wird.  V.  ./• 


422  Kritischer  Anzeiger. 

tragen  wurde,  an  einer  Stelle  der  älteren  (unterirdischen]  Kirche  sich  befand, 
die,  genau  unterhalb  der  betreffenden  Stelle  in  der  neuen  Kirche  liegend,  unter 
einer  Wandmalerei  sich  befindet,  die  von  ihm  als  die  ursprüngliche  Grab- 
malerei und  Grabinschrift  Oyrills  gedeutet  wird.  Das  Bild  war  schon  im 
J.  1864  von  De  Rossi  als  eine  Grabraalerei  bezeichnet  worden;  da  er  aber  die 
ursprüngliche  Bestattungsstätte  Cyrills  an  einer  anderen  Stelle  der  Kirche 
vermutete  und  jene  Malerei  sich  nach  ihm  auf  mehrere  Verstorbene  bezog, 
so  brachte  er  sie  in  keine  weitere  Verbindung  mit  dem  Grabe  Cyrills;  trotz- 
dem faßten  sie  die  anderen  Forscher  als  ein  Votivbikl  der  beiden  Brüder 
aiif,  ja  Dr.  L.  Jelic  ging  so  weit,  in  derselben  ein  Werk  der  angeblichen 
Malerkunst  Methods  zu  sehen!  Die  Unsicherheit  in  der  Deutung  des  Bildes 
rührt  daher,  daß  man  die  Mühe  sich  nicht  nahm,  die  unter  demselben  über  fünf 
Zeilen  sich  erstreckende  Inschrift,  welche  gut  zur  Hälfte  zerstört  ist,  zu  ent- 
ziffern ;  W.  konnte  folgendes  lesen : 

Zeile  1 VS.VS...EX 

»2 V.AC CESNRAS 

»    3 NE  SCTRV  TVORV  SOCI 


«4 M  DMN.RM  QVIV.NT.RE< 

»5 PECCATORI<REQV N.  .Ä 

Diese  Fragmente  der  Inschrift  ergänzt,  bezw.  erklärt  W.  folgendermaßen : 

Z.  1  [ i]us[t]u8  [iud]ex. 

»  2  [Deus pre'ces  nostras 

»  3  [exaudi .  ut  Cyrillus  in  tuo  nomi'ne  ^]  sanctorum  tuorum  soci- 
»  4  [etate  laetetur.  Per  Jesum  Christu^m  dominum  nostrum  qui  venturus  est 
»  5  [iterum.  Lector  die:  Deus  da  Cyrillo]  peccatori  requiem  aeternam.  Amen.2) 

Die  Worte  iustus  iudex  in  der  ersten  Zeile  faßt  W.  als  die  Schlußworte 
des  ersten  Teiles  der  Inschrift  auf,  die  nach  ihm  oberhalb  des  Bildes  anfing 
und  in  den  Worten  aus  Timotheus  4,  7  bestand:  "Bonum  certamen  certavi, 
cursum  consummavi,  fidem  servavi.  In  reliquo  reposita  est  mihi  corona  iusti- 
tiae,  quam  reddet  mihi  in  illa  die  Dominus  iustus  iudex«.  Man  muß  zugeben, 
daß  W.  mit  großem  Scharfsinn  aus  den  wenigen  geretteten  Worten  und  Buch- 
staben eine  recht  annehmbare  und  dem  verfügbaren  Räume  entsprechende 
Grabinschrift  rekonstruierte ;  nur  die  zweite  Zeile  wollte  es  ihm  nicht  gelingen, 
gehörig  auszufüllen.  Nichtsdestoweniger  erscheint  diese  Rekonstruktion  W/3 
unsicher  und  man  ist  nicht  gezwungen,  sie  gelten  zu  lassen.  Von  dem  von  ihm 
vorausgesetzten  oberen  ersten  Teile  der  Inschrift  ist,  glaube  ich,  kaum  not- 
wendig zu  sprechen,  denn  in  einer  Grabinschrift  konnte  der  iustus  iudex,  der 
über  den  im  Grabe  Bestatteten  zu  richten  hatte,  in  vielen  und  verschiedenen 
Verbindungen  erwähnt  werden,  so  daß  es  nur  eine  zwar  sehr  scharfsinnige, 


1)  Oder  [tua  miseratio]ne. 

2)  Nach  einer  späteren  Mitteilung  ergänzt  W.  die  beiden  ersten  Zeilen 
folgendermaßen :  [reddet .  mihi .  in  illa  die  .  dominus  .  iustus  iudex  |  d(ominu)s 
hominu^m) .  reparator  .  benignus  ac  rector  pre>es  n(ost;ras.  V.  J.       i 


Wilpert,  Le  pitture  della  basilica  S.  demente,  angez.  von  Resetar.    423 

aber  doch  gewagte  Vermutung  bleibt,  wenn  man  diese  Worte  gerade  der  er- 
wähnten Stelle  aus  Timotheus  entnimmt,  wodurch  dann  auch  die  Notwendig- 
keit der  Annahme  eines  ersten  Teiles  der  Inschrift  oberhalb  des  Bildes,  sowie 
einer  von  W.  selbst  zugestandenen  Änderung  in  der  Wortfolge  dieser  Stelle 
sich  ergibt.  Vielleicht  gerade  deswegen,  weil  W.  bei  iustiis  iudpx  den  Schluß 
des  «ersten«  Teiles  der  Inschrift  ansetzt,  ist  es  ihm  auch  nicht  gelungen,  unter 
den  mittelalterlichen  christlichen  Grabformeln  eine  solche  zu  finden,  die  es 
ermöglicht  hätte,  die  Worte  iustus  iudex  mit  precps  nostras  zu  verbinden.  Es 
scheint  aber  überhaupt  fraglich  zu  sein,  ob  die  erste  Zeile  mit  den  Worten 
in!ifus  iudex  abschließt,  denn  —  insofern  nach  einer  phototypischen,  natürlich 
stark  verkleinerten  Reproduktion  über  eine  sehr  beschädigte  gemalte  In- 
schrift gesprochen  werden  kann.  —  möchte  ich  sagen,  daß  weder  vor  dem 
ersten  VS  ein  I,  noch  vor  dem  EX  ein  D  sichtbar  ist.  Auf  dem  Originalbilde 
könnte  man  vielleicht  noch  einige  Buchstaben  entziffern;  so  glaube  ich  in  der 
zweiten  Zeile  ungefähr  an  vierter  Stelle  nach  AC  ein  ziemlich  deutliches  0  zu 
sehen;  doch  dadurch  wird  wenig  an  der  Tatsache  geändert,  daß  man  aus  der 
sehr  schlecht  erhaltenen  Inschrift  gar  nicht  mit  Sicherheit  folgern  kann,  daß 
dieselbe  samt  dem  Bilde  und  dem  einst  darunter  stehenden  Sarkophage  wirk- 
lich dem  hl.  Cyrill  gewidmet  war.  Das  Einzige,  was  man  mit  ziemlicher 
Sicherheit  behaiipten  kann,  ist,  daß  die  Inschrift  eine  Grabinschrift,  und 
zwar,  wie  W.  wegen  der  deutlich  lesbaren  singularischen  Form  peccatori  mit 
Recht  hervorhebt,  für  eine  Person  bestimmt  war.  Dafür  aber,  daß  die  In- 
,  ehrift  doch  wirklich  auf  Cyrill  sich  beziehen  kann,  spricht  stark  der  Umstand, 
daß  auf  dem  nach  W.  gleichzeitigen  Gemälde  ein  Mönch  dargestellt  ist,  der 
unter  dem  Schutze  des  hl.  Andreas,  des  Schutzpatrons  der  Griechen,  und  dem- 
jenigen des  hl.Klemens  steht,  so  daß  man  mit  Recht  in  dem  Mönche  den  hl.  Cy- 
rill sehen  kann,  der  von  Geburt  ein  Grieche  war  und  die  Reliquien  des 
hl.  Klemens  nach  Rom  zurückgebracht  hatte.  Das  ist  aber  auch  Alles,  was 
man  für  diese  Annahme  vorbringen  kann,  da  die  Inschrift  leider  gerade  an  der 
Stelle,  bezw.  an  den  Stellen  verwischt  ist,  wo  der  Name  des  Verstorbenen  zu 
losen  war.  Wenn  aber  W.  (S.  37.  :58)  in  Bezug  auf  die  Inschrift  dieses  Gemäldes 
;uich  die  Meinung  vorbringt,  sie  sei  von  Cyrill  selbst  verfaßt,  weil  sonst  Nie- 
mand, nicht  einmal  sein  Bruder,  von  ihm  in  so  schlichten  Worten  gesi)rochen 
und  ihn  einen  peccnior  genannt  hätte,  so  glaube  ich  nicht,  daß  er  damit  auf 
allgemeine  Zustimmung  rechnen  kann.  Wir  Slavisten  wenigstens  hätten  selbst- 
verständlich vor  allem  erwartet  und  gewünscht,  daß  die  ursprüngliche  Grab- 
inschrift des  Slavenapostels  auch  in  slavischer  Sprache  verfaßt  worden  wäre, 
weil  dadurch  auch  die  Frage  über  das  slavische  Alphabet,  dessen  sich  Cyrill 
bediente,  endgiltig  und  unwiderleglich  gelöst  worden  wäre.  Tatsächlicli  stieg 
in  slavistischen  Kreisen  eine  solche  leise  llotVnung  auf.  als  die  Tagosblättcr 
die  Nacliricht  bracliten,  es  sei  das  ursprüngliche  Grab  und  die  ursprüngliche 
Grabinschrift  des  hl.  Cyrill  entdeckt  worden.  Doch  ist  es  immerhin  sehr 
liegreiflich,  daß  im  lateinischen  Rom  auch  für  den  Slavenapostel  weder  eine 
slavische,  noch  eine  griccliische,  sondern  oben  nur  eine  lateinische  Inschrift 
verfaßt  wurde.  Soll  sie  aber  wirklich  Cyrill  selbst  diktiert  haben?  So,  wie 
sie  geschrieben  ist,  nämlich  in  latciuisclier  Sprache,  wissen  wir  nicht,  ob  sie 


I 


424  Kritischer  Anzeiger. 

von  Cyrill  selbst  herrührt,  da  wir  ja  nicht  sagen  können,  ob  und  in  welchem 
Grade  Cyrill  überhaupt  des  Lateinischen  mächtig  war.  Wenn  wir  dies  zu- 
geben, was  olmcweiters  für  einen  gelehrten  Mann,  wie  es  Cyrill  war,  auch 
zugegeben  werden  kann,  so  scheint  doch  ein  anderer  Grund  dagegen  zu 
sprechen,  daß  die  Inschrift  von  dem  bestatteten  peccator  selbst  und  nicht  von 
einem  Anderen  in  seinem  Namen  verfaßt  wurde,  ich  meine  den  Ausdruck 
preces  nostras  der  zweiten  Zeile,  der  deutlich  zeigt,  daß  es  Mehrere  sind, 
die  ihre  Bitten  für  den  verstorbenen  Sünder  zu  Gott  erheben.  Warum  sollte 
aber  eine  schliclite  Inschrift  nicht  auch  von  Method  herrühren  können?  Er 
war  ja  doch  kein  hochmütiger  Mann,  der  auf  der  Grabinschrift  seines  Bruders 
mit  dessen  apostolischem  Wirken  hätte  prahlen  wollen,  an  welchem  er  selbst 
teilgenommen  hatte  und  dessen  Gelingen  auch  zu  seinem  eigenen  Lobe  ge- 
reichte. Übrigens,  seien  wir  aufrichtig,  wissen  wir  denn,  was  eigentlich  die 
Inschrift  enthielt,  besonders  wenn  sie  so  umfangreich  war,  wie  W.  gerne  an- 
nehmen möchte? 

Viel  besser  begründet  erscheint  mir  die  Erklärung,  welche  W.  vom  Ge- 
mälde gibt.  Er  faßt  es  nämlich  als  ein  Einzelgericht  auf,  in  welchem  über  das 
Loos  des  Bestatteten  entschieden  werden  soll.  Im  Hintergrunde  sitzt  Christus, 
ihm  zur  Rechten  stehen  der  hl.  Michael  und  der  hl.  Andreas,  zui-  Linken  der 
hl.  Gabriel  und  der  hl.  Klemens ;  mehr  vorne  stehen  zur  Rechten  Christi  ein 
Priester,  der  auf  dem  entfalteten  Manipel  [mappa]  den  Kelch  trägt,  zur  Linken 
ein  mit  dunkler  Paennla  und  der  weißen  tunica  talaris  bekleideter  Mann  mit 
herabgelassener  Rechte  und  einem  Buche  in  der  Linken,  auf  welchen  der 
Erzengel  Gabriel  seine  Rechte  schützend  legt.  Die  Erklärung,  welche  W. 
vom  ganzen  Bilde  gibt,  ist  sehr  natürlich:  Christus  hält  Gericht  über  Cyi-ill, 
für  den  die  vier  Heiligen  als  Fürsprecher  auftreten,  während  der  noch  lebende 
Method,  der  kurz  vor  dem  Tode  Cyrills  die  Priesterweihe  erhalten  hatte,  für 
den  verstorbenen  Bruder  mit  seinen  Bitten  bei  der  Darbringung  der  Messe 
eintritt.  Wenn  das  Bild  wirklich  Cyrill  und  Method  darstellt,  so  könnte  man 
kaum  eine  ansprechendere  Deutung  desselben  geben;  ich  sage  aber  wenn, 
weil,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  W.  selbst  uns  gelehrt  hat,  in  den  Wand- 
malereien der  S.  Klemens-Kirche  nicht  so  ohne  weiteres  Darstellungen  zu 
sehen,  die  sich  auf  die  beiden  Brüder  beziehen.  Nur  ein,  vielleicht  unwich- 
tiges Detail  erregt  bei  mir  als  Laien  Anstoß.  Wenn  Christus  über  Cyrill 
Urteil  hält  und  Method  für  ihn  betend  eintritt,  so  würden  wir  eher  erwarten, 
daß  die  Beiden,  zunächst  aber  Cyrill  selbst  vor  dem  Gott  Richter  knieen, 
während  W.  ganz  bestimmt  behauptet,  daß  sie  stehen,  was  auf  der  photo- 
typischen Reproduktion  nicht  zu  sehen  ist;  wenn  sie  aber  wirklich  stehen,  so 
muß  hervorgehoben  werden,  daß  ihre  Figuren  viel  kleiner  als  diejenigen  der 
Heiligen  gezeichnet  sind.  Man  sollte  ferner  erwarten,  daß  Cyrill  seine  Hände 
bittend  zu  Christus  erhebe,  während  er  mit  der  oifenen  Rechten  » eine  Gebärde 
macht,  die  —  wie  W.  (S.  34)  sagt  —  gut  den  Worten  Bonum  certamen  certavi 
etc.  entspricht,  welche  im  Anfange  seiner  Grabinschrift  standen".  Die  Stellung 
somit,  welche  der  Künstler  dem  hl.  Cyrill  gegeben  hat,  entspricht  nicht  gut 
der  von  W.  angenommenen  Situation,  denn  anstatt  um  die  Gnade  Gottes  zu 
flehen,  weist  er  selbstbewußt  auf  sein  Wirken  hin;  es  wäre  daher  nicht  über- 


Wilpert,  Le  pittiire  clella  basilica  S. demente,  angez.  von  Eesetar.    425 

riüssig  gewesen,  wenn  W.,  um  uns  von  der  Eichtigkeit  seiner  Erklärung  voll- 
kommen zu  überzeugen,  auf  Parallelen  in  der  altchristlichen  Kunst  verwiesen 
hätte,  wo  der  Sünder  vor  Christus  in  einer  solchen  Stellung  steht. 

Wenn  wir  mm  auch  annehmen  können,  daß  auf  diesem  Bilde  die  Slaven- 
apostel  dargestellt  sind,  so  glaube  ich  dennoch  nicht,  daß  wir  zwei  Porträts 
derselben  vor  uns  haben.  Der  Künstler,  wohl  ein  Mönch  des  der  S.  Klemens- 
Kirche  beigegebenen  Klosters,  hatte  vielleicht  den  Cyrill  bei  Lebzeiten 
einige  Male  gesehen  und  Method  dürfte  ihm  kaum  zur  Aufnahme  gesessen 
haben,  deswegen  kann  ich  der  Meinung  W.'s,  daß  das  Bild  Cyrills  ,ein  echtes 
Porträt  zu  sein  scheint  (S.  3.5)'  und  daß  die  Züge  Methods  , einige  Ähnlichkeit 
mit  dem  Bruder  zeigen  (S.  36)',  nicht  beipflichten.  Die  Sache  würde  allerdings 
ganz  anders  stehen,  wenn  man  die  von  W.  ausgesprochene  Meinung  annehmen 
könnte,  daß  Cyrill  ein  Mönch  gerade  dieses  Klosters  geworden  war;  W.  findet 
dies  »sehr  wahrscheinlich«  (S.  38)  und  ein  »kostbares  Zeichen«  dafür  findet  er 
iu  dem  Umstände,  daß  Cyrill  in  der  Kirche  desselben  Klosters  bestattet  wurde 
S.  50).  Was  das  letztere  anbetrifft,  so  braucht  man  wirklich  nach  keinem 
zweiten  Grunde  zu  suchen,  weswegen  Cyrill  gerade  in  der  St.  Klemens-Kirche 
bestattet  wurde,  sobald  man  weiß,  daß  er  die  Reliquien  dieses  Heiligen  in 
Cherson  gefunden  und  nach  Rom  gebracht  hatte;  daß  aber  Cyrill  in  ein  römi- 
sches Kloster  förmlicli  als  Ordensbruder  eingetreten  sei,  scheint  mir  wenig 
wahrscheinlich  zu  sein,  denn  dadurch  hätte  er  auf  jede  weitere  Tätigkeit  als 
Slavenapostel  verzichtet  und  das  von  ihm  begonnene  Werk  gerade  in  einem 
Momente  aufgegeben,  wo  er  diesem  am  meisten  notwendig  war;  und  wenn  er 
seine  Tätigkeit  in  Rom  im  J.  869  dennoch  beschloß,  so  tat  er  es  nicht  aus 
freien  Stücken,  sondern  weil  ein  frühzeitiger  Tod  ihn  dahinraffte.  Ich  glaube 
daher,  daß  wir  keinen  Grund  haben  anzunehmen,  daß  Cyrill  und  sein  treuer 
Gefährte  und  Mitarbeiter  Metliod  in  irgend  welche  nähere  Beziehungen  zu 
dem  St.  Klemens-Kloster  getreten  seien.  Es  gibt  dagegen  wohl  einen  Um- 
i^tand,  der  mich  bestimmt  zu  glauben,  daß  der  Maler  die  beiden  Brüder  auf 
dem  Bilde  so  darstellte,  wie  er  sie  sich  dachte,  ohne  auf  die  tatsächlichen 
Verhältnisse  Rücksicht  zu  nehmen.  Es  fällt  zunächst  auf,  daß  Cyrill  auf  dem 
Bilde  als  einfacher  Mönch  und  nicht  als  Bischof,  als  welcher  er  starb,  darge- 
stellt ist;  doch  diesbezüglicli  erinnert  W.  mit  Reclit  daran,  daß  auch  die 
l'äpste  und  der  Bibliothekar  Anastasius  Cyrill  nicht  als  Bischof  bezeichnen, 
wohl  deswegen ,  weil  er  nur  kurze  Zeit  vor  seinem  Tode  Bischof  war  und 
kaum  in  die  Gelegenheit  kam,  bischöfliche  Funktionen  zu  verrichten;  übrigens 
liabe  er,  als  er  Mönch  wurde,  ipso  facto  auf  die  bischöflichen  Ehren  verzichtet 
(S.  42.  43);  außerdem  bemerkt  W.,  die  Darstellung  eines  Einzelgerichtes  eigne 
sich  wenig,  um  die  bischöflichen  Insiguion  zuröcluiu  zu  stellen  S.l-Anm..  und 
verweist  auf  IMiniatureu,  wo  Bischöfe  ebenfalls  als  einfache  Geistliche  darge- 
stellt sind  (S.  ;{."),  Anm.  2).  Wir  können  somit  ruhig  hinneiinien,  daß  Cyrill  auf 
dem  Bilde  nicht  als  Bischof  erscheint,  umsomehr  muß  es  uns  aber  befremden, 
daß  Cyrill  als  römischer  Mönch,  daher  mit  der  Tonsur  (S.  38),  Method  aber 
als  römischer  Priester,  daher  mit  Tonsur  und  ohne  Bart  (S.  36),  auf  dem 
Bilde  erscheinen.  Allerdings  können  wir  bei  der  Si)ärlichkeit  der  Nacliricliten 
über  den  Aufenthalt  der  beiden  Brüder  iu  Rom,  die  Möglichkeit  des  Über- 


426  Kritischer  Anzeiger. 

trittes  der  Slavenapostel  zum  römischen  Ritus  nicht  ohne  weiteres  bestreiten, 
tlocli  wenn  man  bedenkt,  daß  sie  als  geborene  Griechen  von  Haus  aus  dem 
griechisclieu  liitus  augehörten  und  —  was  kaum  bezweifelt  werden  kann  — 
letzteren  auch  in  die  von  ihnen  gegründete  slavisch-christliche  Kirche  einführ- 
ten, so  ergibt  sich  von  selbst  die  Unwahrscheinlichkeit  eines  solchen  Über- 
trittes, der  von  Rom  hätte  kaum  gefordert  werden  können,  da  Rom  nur  in  der 
lateinischen  Kirche  an  dem  römischen  Ritus  festhielt  und  noch  immer  fest- 
hält, wälirend  es  in  anderssprachigen  Kirchen  einen  vom  römischen  verschie- 
denen Ritus  immer  duldete.  Wenn  somit  auf  dem  Bilde  die  beiden  Slaven- 
apostel als  römische  Geistliche  dargestellt  sind,  so  beweist  das  nicht,  daß 
sie  es  auch  tatsächlich  waren,  sondern  nur,  daß  der  Maler  den  Mönch  Cyrill 
und  den  Priester  Method  so  darstellte,  wie  Mönche  und  Priester  in  Rom  zu 
seiner  Zeit  gewöhnlich  ausschauten. 

Ein  zweites  Bild  der  ursprünglichen  St.  Klemens-Kirche,  welches  von 
Anfang  an  auf  Cyrill  bezogen  wurde,  ist  die  schöne  Darstellung  der  Über- 
führung des  Körpers  eines  Heiligen.  Leider  fehlt  auch  hier  der  obere  Teil  der 
Inschrift,  so  daß  nur  der  untere  erhalten  ist,  welcher  lautet:  »huc  a  Vaticano 

fertur  (nämlich  corpus  Sanrti )  pia  pfa)  Nicoiao  imnis  divinis  q;uo)d  aromati- 

b(us)  sepelivit",  darunter  in  einer  zweiten  Zeile  die  Angabe,  daß  »Maria  ma- 
cellaria«  das  Bild  verfertigen  ließ.  De  Rossi  sah  in  dieser  Darstellung  die 
Überführung  der  Leiche  des  hl.  Cyrill,  die  zuerst  im  Vatikan  beigesetzt, 
später  aber  in  die  St.  Klemens-Kirche  überführt  worden  sei.  Mit  einer  ein- 
zigen Ausnahme,  die  unberücksichtigt  blieb  [vielleicht  deswegen,  weil  das  be- 
treffende Werk  in  englischer  Sprache  geschrieben  war),  wurde  diese  Erklä- 
rung De  Rossi's  von  allen  späteren  Forschern  voUinhaltUich  akzeptiert.  Auf 
S.  41  ff.  widerlegt  W.  diese  Ansicht  auf  eine  ebenso  einfache,  wie  schlagende 
Weise:  der  auf  der  Bahre  liegende  Heilige  trägt  das  pallmm  sacrum,  letzteres 
tragen  auf  den  Bildern  des  XL  Jahrhunderts  in  San  demente  nur  Päpste, 
folglich  ist  dieser  Heilige  ein  Papst,  also  unmöglich  der  hl.  Cyrill,  vielmehr 
der  hl.  Klemens,  dessen  Körper,  nachdem  ihn  die  Slavenapostel  im  Vatikan 
dem  Papste  Hadrian  (in  der  Inschrift  irrtümlich:  Nikolaus)  im  Vatikane  über- 
geben hatten,  von  diesem  in  feierlichem  Zuge  in  die  nach  dem  Heiligen  ge- 
nannte Kirche  überführt  wurde.  Wenn  aber  diese  Konstatierung  so  einfach 
und  so  notwendig  ist ,  wie  kommt  es ,  daß  —  mit  Ausnahme  des  Engländers 
P.  Mullooly  —  keiner  der  übrigen  Forscher,  auch  ein  De  Rossi  nicht,  zu  dem- 
selben so  zwingenden  Resultate  gelangte  ?  Oder  hat  erst  W.  konstatiert,  daß 
das  pallium  sacrmn  —  etwa  zu  dieser  Zeit  —  ein  ausschließlich  den  Päpsten 
zukommendes  Ornat  sei?  Auf  einen  Laien  in  der  Geschichte  des  altchrist- 
lichen Ornates  muß  diese  grobe  Mißdeutung  des  hierarchischen  Standes  des 
aufgebahrten  Heiligen  einen  merkwürdigen  Eindruck  machen,  umsomehr,  als 
auf  demselben  Bilde  unter  den  vielen  Geistlichen  nur  der  zweimal  abgebildete 
Papst,  der  die  Überführung  veranlaßte,  beide  Male  mit  demselben  jmlUum 
sacrum  versehen  ist,  das  den  Heiligen  auf  der  Bahre  ziert.  Doch  es  könnte 
eine  Erklärung  auch  dafür  geben :  drei  von  den  Wandmalereien  der  ursprüng- 
lichen St.  Klemens-Kirche  wurden  bald  nach  ihrer  Entdeckung  zum  großen 
Teile  restauriert,  d.  i.  —  wie  dies  W.  an  mehreren  Stellen  hei-vorhebt  und  be- 


Wilpert,  Le  pitture  della  basilica  S.  demente,  angez.  von  Resetar.    427 

weist  —  verdorben,  indem  der  ungeschickte  oder  leichtsinnige  Restaurator 
nicht  selten  ziemlich  starke  Änderungen  sich  erlaubte.  Speziell  auch  das  vor- 
liegende Bild  wurde  in  seiner  oberen  Hälfte  ganz  übermalt,  wobei  der  Restau- 
rator mehreres  verdarb;  so  machte  er  aus  dem  einen  der  vier  die  Bahre 
tragenden  Diakonen  eine  Frau,  die  mit  aufgelöstem  Haar  und  verzweiflungs- 
voll erhobenen  Händen  der  Bahre  nacheilt  usw.  ;S.  41).  Wäre  es  nun  nicht 
möglich,  daß  der  Restaui-ator  aus  Eigenem  auch  dem  aufgebahrten  Heiligen 
das  palliicm  sacrum  geschenkt  hat?  Es  ist  dies  eine  Vermutung,  die  noch  mehr 
an  Wahrscheinlichkeit  gewinnen  würde,  wenn  der  Restaurator  unter  der  An- 
leitung desselben  P.  MuUooly  gearbeitet  hat,  der  die  sehr  schlechten  Kopien 
dieser  Wandmalereien  anfertigen  ließ  und  der  schon  im  J.  ISG!)  die  Ansicht 
vertrat,  daß  dieses  Bild  die  Überführung  des  Papstes  Klemeus  darstelle. 
Jedenfalls  würde  uns  diese  Vermutung  die  recht  auffallende  Tatsache  erklä- 
ren, daß  sogar  ein  De  Rossi  in  dem  aufgebahrten  Heiligen  einen  Papst  nicht 
erkennen  konnte.  Wenn  aber  der  aufgebahrte  Heilige  von  Ursprung  an  das 
Pallium  sacrum  hatte  und  wenn  es  richtig  ist,  daß  dieses  nur  Päpste  tragen 
durften,  so  hat  W.  vollkommen  Recht  und  wir  müssen  uns  dazu  bequemen,  in 
diesem  Bilde  die  Überführung  nicht  des  hl.  Cyrill,  sondern  diejenige  des 
hl.  Klemens  zu  sehen.  Übrigens  schwindet  dadurch  Cyrill  von  dem  Bilde 
nicht,  denn  dann  ergibt  sich  von  selbst  die  von  W.  gezogene  Folgerung,  daß 
die  beiden  den  Papst  Nikolaus  (d.i.Hadrian!)  begleitenden  Bischöfe  die  beiden 
Slavenapostel  sind,  welche  den  Körper  des  hl.  Klemens  nach  Rom  gebracht 
hatten.  Allerdings  war  zur  Zeit  dieser  Überführung  nicht  einmal  Cyrill  Bischof, 
doch  eine  ganz  genaue  Kenntnis  der  Verhältnisse  können  wir  von  einem 
Künstler  aus  dem  Ende  des  XI.  Jahrb.,  denn  aus  dieser  Zeit  stammt  das  Bild, 
(S.  12),  nicht  verlangen;  er,  bezw.  sein  Gewährsmann,  hatte  ja  in  der  Inschrift 
auch  Papst  Nikolaus  anstatt  des  Papstes  Hadrian  genannt;  es  ist  daher 
nicht  zu  verwundern,  wenn  er  schon  für  diese  Zeit  nicht  nur  Cyrill,  sondern 
auch  Method  als  Bischöfe  darstellt.  Cyrill  hat  außerdem  das  Beizeichen  eines 
Heiligen,  nämlich  den  Nimbus,  Method  dagegen  nicht,  was  nach  W.  soviel  be- 
deutet, daß  am  Ende  des  XI.  Jahrh.  Jletliod  in  Rom  nocli  nicht  als  Heiliger 
verehrt  wurde,  obschon  W.  auch  die  Möglichkeit  zugibt,  daß  auf  dem  Bilde  in 
seinem  ursprünglichen  Zustande  auch  Method  den  Nimbus  haben  konnte,  den 
dann  der  Restaurator  einfach  wegließ  (S.  4;i). 

Im  Zusammenhange  mit  seiner  Erklärung  dieses  Bildes  gibt  W.  eine  an- 
dere Deutung  einer  Stelle  der  Legimda  ifalica,  aus  welcher  bis  jetzt  allgemein 
gefolgert  wurde,  daß  Cyrill  zuerst  im  Vatikan  und  dann  in  der  >St.  KUnueus- 
Kirche  bestattet  wurde;  es  ist  dies  die  Stolle,  wo  bei  der  Boschreihung  dos 
feierlichen  Leichenbogäiignisses  Cyrills  gesagt  wird,  daß  "siiiiul  cum  locello 
marmoroo,  in  quo  pridom  illuin  pniedictus  Papa  'Hadrianns  11.^  oondidorat, 
posuerunt  in  monuraonto  ad  id  praei)arato  in  basilica  B.  Clementis  ad  dexte- 
ram  partem  altaris  ipsius«.  Nach  W.  soll  sich  der  letzte  Satz  »posuerunt .  .  .« 
auf  die  Übertragung  des  Sarkoiiliages  Cyrills  aus  der  alten  in  die  neue  St.  Kle- 
meus-Kirche  Ende  des  XI.  Jalirh.  beziolion  (S.  -K»,  vgl.  auch  S.  i^].  Mir  or- 
sclioint  diese  Deutung  etwas  kühn,  denn,  wenn  dio  Lci/nidd  italica,  wie  auch 
W.  annimmt,  zu  Anfang  dos  XII.  Jalirh.  ihre  Vollendung  erhielt  (nach  W. 


428  Kritischer  Anzeiger. 

von  einem  Mönche  des  St.  Klcmens-Klosters,  S.  5U),  so  hätte  der  Verfasser, 
der  vielleiclit  ein  Augenzeuge  dieser  zweiten  Bestattung  Cyrills  sein  konnte, 
dieselbe  als  ein  zu  seiner  Zeit  stattgefundenes  Ereignis  hervorgehoben.  Doch 
da  mir  hier,  wo  ich  diese  Zeilen  schreibe,  jeder  Behelf,  zunächst  die  Legendu 
italica  selbst  fehlt,  so  begnüge  ich  mich  damit,  diese  Interpretation  W.'s  zu 
erwähnen. 

Wiilirend  für  die  beiden  bis  jetzt  besprochenen  Bilder  W.  nur  eine  an- 
dere Deutung  der  Darstellung,  bezw.  ihrer  Widmung  gab,  sonst  aber  ihren 
Zusammenhang  mit  den  beiden  Slavcnaposteln  anerkannte,  verhält  er  sich 
zwei  anderen  Bildern  gegenüber,  die  speziell  auf  Cyrill  bezogen  wurden,  voll- 
kommen ablehnend.  Es  ist  dies  zunächst  ein  Bild  (S.  21  ff.),  das  einen  thronen- 
den Kaiser  oder  König  zeigt,  vor  welchem  eine  mit  dem  Nimbus  versehene 
Person  kniet;  da  neben  letzterer  in  senkrechter  Linie  ACIRILL  zu  lesen  ist, 
so  glaubte  man  allgemein,  daß  das  Bild  eine  Szene  aus  dem  Leben  Cyrills  dar- 
stellt, und  zwar  zumeist  seine  Entsendung  durch  Kaiser  Michael  IIL  zu  den 
Slaven.  Von  den  bisherigen  Forschern  wurde  aber  nicht  bemerkt,  daß  der 
Heilige  ganz  neu  gemalt  ist,  weil  das  ursprüngliche  Bild  wegen  einer  an  der 
Mauer  vorgenommenen  Arbeit  sich  von  derselben  losgelöst  hatte  und  zu  Boden 
gefallen  war;  dabei  ging  das  ursprüngliche  Bild  des  Heiligen  ganz  in  Stücke, 
so  daß  es  ganz  von  neuem  gemalt  werden  mußte,  und  zwar  von  demselben  unge- 
schickten Künstler,  der  bei  der  Restaurierung  auch  die  übrigen  Bilder  so  sehr 
beschädigte;  von  ihm  rührt  auch  die  gegenwärtige  Inschrift  ACIRILL  her. 
Zum  Glück  hat  sich  eine  Kopie  des  ursprünglichen  Bildes  erhalten,  die  vor 
der  Vernichtung  desselben  gemacht  wurde;  allerdings  war  der  Künstler,  der 
die  Kopien  dieses  und  der  übrigeu  Bilder  auf  Veranlassung  des  P.  Mullooly 
verfertigte,  ein  ganz  schlechter  Kopist,  ein  klassisches  Beispiel  von  dessen 
Unfähigkeit  gibt  W.  auf  S.  10 — 19,  wo  ein  sehr  verwischtes  Bild  des  jüngsten 
Gerichtes  besprochen  wird,  aus  welchem  dieser  Kopist  Szenen  aus  dem  Leben 
der  hl.  Katharina  und  des  jungen  Tobias  herauskoustruierte !  Doch  da  sowohl 
das  ueugemalte  Bild  als  auch  die  Kopie  des  ursprünglichen  Bildes  die  vor  dem 
Kaiser  knieende  Person  mit  einem  breiten,  mit  Perlen  und  Edelsteinen  gezier- 
ten Kragen  versehen  zeigen,  kann  man  ohneweiters  annehmen,  daß  auch  auf 
dem  ursprünglichen  Bilde  die  knieende  Person  mit  demselben  Kragen  ver- 
sehen war.  Und  nun  überrascht  W.  den  in  der  altchristlichen  Kunst  unbe- 
wanderten Leser  mit  einer  zweiten,  ebenso  einfachen  wie  schlagenden  Beweis- 
führung: dieser  breite,  reichgestickte  Kragen  ercheint  in  der  altchristlichen 
Kunst  schon  im  V.,  vielleicht  IV.  Jahrb.,  er  wird  aber  nur  von  vornehmen 
Frauen  und  Mädchen  getragen,  ergo  ist  die  vor  dem  Kaiser  knieende 
Person  eine  Frau,  somit  unmöglich  Cyrill !  Da  müssen  wir  uns  mit  Verwun- 
derung ein  zweites  Mal  fragen :  wie  konnte  ein  De  Rossi  dies  nicht  wissen 
oder  nicht  sehen?  Item  W.  versichert  uns,  daß  einen  solchen  Kragen  nur 
Frauen  tragen,  also  müssen  wir  ihm  glauben.  Aber  die  Inschrift  ACIRILL? 
Zun^ichst  konstatiert  W.,  daß  das  zweite  L  von  dem  Künstler  herrührt,  der 
das  Bild  neu  malte;  auf  der  Kopie  des  ursprünglichen  Bildes  steht  nur 
ACIRIL.  Doch  auch  diese  Lesart  ist  nicht  sicher,  denn  De  Rossi,  der  noch 
das  ursprüngliche  Bild  sah,  sagt  nach  W.  ;S.  23),  daß  nur  die  drei  ersten 


Wilpert,  Le  pitture  della  basilica  S.  demente,  angez.  von  Eesetar.    429 

Buchstaben  «fast  ganz»,  der  vierte  aber  »halb  venviacht  war«,  — ja,  und  der 
fünfte  und  sechste,  in  welchem  Zustande  waren  sie?  Wurden  sie  von  De  Rossi 
(  rgünzt?  Statt  einer  Auskunft  darüber  wird  von  W.  die  Vermutung  ausge- 
isprochen,  »daß,  wenn  eine  Kontrolle  möglich  wäre,  es  sich  vielleicht  heraus- 
stellen würde,  daß  der  erste  Buchstabe  A,  nur  ein  Überbleibsel  des  Attributes 
s'A,  den  Tatsachen  entspricht«.  So  Herr  Wilpert,  da  aber  De  Rossi  auch 
einige  Übung  in  der  Lesung  altchristlicher  Inschriften  hatte,  so  sollte  man 
\  ielleicht  die  von  ihm  gegebene  Lesart  ACIRIL  nicht  so  leichten  Herzens 
verwerfen.  Dies  tut  aber  W.  und,  unbekümmert  um  dieselbe,  sieht  er  in  dem 
Bilde  die  vor  Ahasver  knieende  Esther,  welche  ebenso  als  Heilige  dargestellt 
ist,  wie  in  einem  anderen  Bilde  derselben  St.  Klemens-Kirche  der  Prophet 
Daniel  mit  dem  Nimbus  und  der  Bezeichnung  SCS  DANIHEL  erscheint. 
Wahr  ist  es  immerhin,  daß  es  W.  gelungen  ist,  die  Ansicht  wahrscheinlich  zu 
machen,  daß  auf  der  Wand,  wo  sich  dieses  Bild  befindet,  nur  einander  ent- 
sprechende Szenen  aus  dem  Alten  und  Neuen  Testamente  abgebildet  waren. 
Nichtsdestoweniger  ist  die  Frage  von  der  Entstehung  der  Inschrift  ACIRIL 
noch  nicht  genügend  erklärt,  weswegen  auch  die  ganze  von  W.  für  dieses  Bild 
vorgeschlagene  Interpretation  weniger  überzeugend  wirkt. 

Nahe  diesem  Bilde,  welches  nach  W.  Ahasver  und  Esther  darstellt,  be- 
findet sich  ein  nur  zur  Hälfte  erhaltenes  Bild  eines  Geistlichen,  der  einen  (fast 
uanz  verwischten)  Neophyten  tauft;  wegen  der  Nähe  mit  dem  (angeblichen) 
lülde  des  Cyrill  vor  Kaiser  Michael  III.  sah  De  Rossi  auch  in  diesem  Bilde 
( 'yrill,  andere  Method.  Wilpert  bedient  sich  auch  hier  seiner  uns  schon  be- 
Iviinnten  Beweisführung  (S.  26.  27):  der  Geistliche  trägt  das  pulUum  sacrum 
und  den  campagns,  folglich  ist  es  ein  Papst,  und  zwar  der  hl.  Klemens,  »der  in 
i.'llen  Malereien  der  Basilik  denselben  Tj'pus  aufweist  (S.  26)«.  Je  einfacher 
die  Beweisführung,  desto  größer  in  uns  die  Verwundening,  daß  De  Rossi  das 
Bild  eines  Papstes  von  demjenigen  eines  einfachen  Mönches  nicht  zu  unter- 
scheiden vermochte!  Übrigens  nimmt  für  diese  beiden  zuletzt  besprocheneu 
ililder  W.  wegen  der  Form  des  pallinm  sacrum  an,  daß  sie  in  die  Zeit  gehören, 
wo  Cyrill  nach  Rom  kam. 

Aus  dieser  Übersicht  des  Inhaltes  der  Schrift  W.'s  ergibt  sich  zur  Genüge 
deren  große  Wichtigkeit  speziell  auch  für  uns  Slavisten;  wenn  W.  in  allen 
Punkten  das  Richtige  getroffen  hat,  so  müssen  wir  ihm  danken,  daß  wir  end- 
lich die  ursprüngliche  Ruhestätte  des  «ersten  Slavisten«  und  seine  leider  nur 
sclir  fragmentarisch  erhaltene  Grabinschrift,  dann  die  richtige  Bedeutung 
einiger  Bilder  kennen  gelernt  haben,  die  zum  'J'eil  falsch,  zum  Teil  ungenau 
auf  ihn  und  seinen  treuen  Mitarbeiter  bezogen  wurden. 

Cilli,  den  24.  Juli  1006.  M.  Resetar. 


430  Kritischer  Anzeiger. 

Frano  Ivanif^evic,  Polica.  Narodni  zivoti  obicaji,  Agram  1903 — 
19ü6,  8",  640  Seiten  mit  1  geographischen  Karte  und  60  Bildern 
(SA.  aus  dem  ethnogra])hischen  Zbornik  der  südslavisclien  Akade- 
mie, Band  VIII— X). 

Der  Verfasser,  selbst  ein  geborner  Po|icaner  und  Pfarrer  in  seinem  Ge- 
burtsort Jesonice,  hat  in  sehr  ausführlicher  und  liebevoller  Weise  das  Volks- 
leben und  die  Volksbräuche  in  der  ehemaligen  »Republik«  Pojica  beschrie- 
ben, die  eigentlich  eine  unter  der  Oberherrschaft  Venedigs  stehende  freie 
Bauerngemeinde,  südöstlich  von  Spalato  in  Dalmatien,  war  und  sich  bis  zum 
Untergange  der  Republik  Venedig  nach  ihrem  eigenen,  in  der  philologischen 
Welt  bekannten  Statute  regierte.  Da  die  kleine  Gemeinde  dank  ihrer  günsti- 
gen natürlichen  Lage  (sie  ist  an  den  Abhängen  des  hohen  Mosor-Gebirges 
gelegen  und  von  drei  Seiten  durch  das  Meer  und  den  zwischen  hohen  Ufern 
fließenden  Cetina-Fluß  begrenzt;  und  durch  die  Tapferkeit  ihrer  Bewohner 
nie  von  den  Türken  unterw^orfen  werden  konnte,  so  blieb  auch  in  ihr  zumeist 
die  ursprüngliche,  altkroatische  Bevölkerung  erhalten,  wie  dies  schon  an  der 
Sprache  der  Bevölkerung  zu  erkennen  ist,  die  —  trotzdem  sie  von  allen  Seiten 
von  reinen  si!o-Sprechern  umgeben  ist,  in  dem  zwischen  dem  Meere  und  dem 
Mosor  gelegenen  Teile  noch  immer  an  ihrer  alten  cakavischen  Mundart  fest- 
hält. Deswegen  ist  auch  eine  so  eingehende  ethnographische  Darstellung  der 
Po|ica  von  großer  Wichtigkeit,  weil  dies  die  einzige  Gegend  auf  dem  dalma- 
tinischen Festlande  ist,  wo  die  altkroatische  Bevölkerung  sich  ziemlich  intakt 
erhalten  hat.  Außerdem  hat  aber  Iv.  verstanden,  seinen  Gegenstand  in  sehr 
anziehender  Weise  darzustellen :  es  ist  keine  trockene  Darstellung  des  Volks- 
lebens, so  wie  es  ein  fremder  Beobachter  sehen  würde,  Iv.  sucht  vielmehr 
überall  den  Leser  erkennen  zu  lassen,  was  das  Volk  dabei  denkt  und 
fühlt;  deswegen  ist  auch  seine  Ausdrucksweise  eine  recht  volkstümliche:  er 
hat  sich  auch  zum  großen  Teile  die  verschiedenen  Volksgebräuche  und  Mo- 
mente im  Volksleben  von  Leuten  aus  dem  Volke  selbst  erzählen  lassen  und 
es  ist  ihre  Darstellung,  die  er  in  trefflicher  Weise  nacherzählt.  An  geeigneten 
Stellen  wird  der  Text  durch  eine  große  Zahl  von  zumeist  recht  gelungenen 
Bildern  illustriert.  Dagegen  vermisse  ich,  speziell  bei  einer  Schilderung  der 
Pojica,  ein  wenn  noch  so  kurzgefaßtes  Kapitel  über  die  Geschichte  dieser 
auch  in  letzterer  Beziehung  so  interessanten  Gegend;  Iv.,  der  auch  auf  diesem 
Gebiete  schon  gearbeitet  hat,  hätte  dies  leicht  machen  können.  Etwas  knapp 
ist  auch  das  Kapitel  über  die  Sprache  (S.  61 — 09)  gehalten,  immerhin  finden 
wir  auch  hier  einige  interessante  Notizen,  so  z.  B.  daß  auch  hier  im  mehr 
cakavischen  Teile  der  Gegend  langes  e  und  o  vor  silbenschließendem  Nasal 
zu  i-u  wird  [ijrin  =  J"'?«,  zin  =  zen,  jmlinta  =  puienta,  ktui  =  ko/i,  tobum  = 
iöböin),  oder  daß  im  Dat.,  Instr.,  Loc.  pl.  neben  der  gewöhnlichen  Endung  -in, 
-an  (für  -im,  -am),  -ima  nur  als  echte  Dualendung  vorkommt:  ocima,  usima, 
prsima.  Doch  für  den  Dialektologen  bildet  das  ganze  Buch  eine  reiche  Fund- 
grube, denn  es  ist  durchwegs  im  Po^icaner  Dialekt  geschrieben,  und  zwar,  wie 
Iv.  auf  S.  65  erklärt,  nach  der  Mundart  der  mittleren  Pojica,  welche  eine 
Mittelstellung  zwischen  der  ausgesprochen  cakavischen  unteren  und  der  sto- 


Ivanisevic,  Po^ica;  Bratic  i  Dedic,  Igre,  angez.  von  Resetar.         431 

kavischen  oberen  Pojica  einnimmt;  da  Iv.  aber  aus  der  unteren  Pojica  ge- 
bürtig ist  und  dort  noch  immer  lebt,  so  ist  es  fraglich,  ob  es  ihm  gelungen  sei, 
wirklich  überall  die  von  ihm  gewählte  Mundart  richtig  zu  treffen;  entschieden 
sicherer  und  für  philologische  Zwecke  wertvoller  wäre  es  gewesen,  wenn  er 
so  geschrieben  hätte,  wie  ihm  der  Schnabel  gewachsen  ist.  Entschieden  un- 
richtig ist  aber  die  auf  S.  37G  ausgesprochene  Behauptung,  daß  die  in  der 
Po^ica  bis  zum  Anfange  des  XIX.  Jahrh.  übliche  Schrift  die  glagolitische 
gewesen  sei,  vielmehr  war  dies  die  cyrillische  Kursive,  die  man  heutzutage 
gewöhnlich  die  »bosnische  Cyrillschrift«  nennt;  glagolitisch  geschrieben 
waren  nur  die  für  den  Kirchendienst  notwendigen  Bücher,  weil  es  für  die 
Katholiken  nur  solche  gab.  Doch  Iv.  liat  uns  in  seinem  Werke  so  vieles 
und  so  flott  erzählt,  daß  man  solche  kleinere  Mängel  gerne  verzeiht, 

M.R. 


T.  A.  EpaTHh  H  Ct.  /I^eAHh,  Hapo^He  nrpe   ca   CHJe;ia  h  söopa  y 

ropüoj  XepueroBHHii,   Sarajevo  1906,  gr.-8",  120  8.  (SA.  aus  dem 

Glasnik  des  Landesmuseums  in  Sarajevo,  Band  XVII!.) 

Der  Aufsatz  enthält  eine  Beschreibung  nebst  guten  Bildern)  von  Gesell- 
schafts-  und  gymnastischen  Spielen,  welche  in  der  oberen  Hercegovina, 
hauptsächlich  in  Gacko  und  Nevesine,  zumeist  während  der  langen  Winter- 
abende, gespielt  werden.  Nach  einigen  Bemerkungen  über  die  Gelegenheiten, 
wo  gespielt  wird  (S.  1 — 5),  sowie  über  die  Spiele  im  Allgemeinen  (S.  5 — 13), 
von  welchen  nur  die  ersteren  etwas  neues  bringen,  folgt  die  Schilderang  der 
einzelnen  Spiele,  itnd  zwar  zunächst  derjenigen,  die  an  Winterabenden  im 
Zimmer  gespielt  werden  (S.  13 — 73),  dann  derjenigen,  die  an  Kirchweihtagen 
U.8.W.  im  Freien  geübt  werden  (S.  73 — 120).  Unter  den  ersteren  fällt  die  große 
Zahl  der  Spiele  auf,  die  eigentlich  aus  mehr  oder  weniger  komischen,  drama- 
tiscli  dargestellten  Szenen  bestehen,  und  bei  welchen  selbstverständlich  viel- 
fach auch  recht  schlüpfrige  Scherze  erlaubt  sind.  —  Die  Darstellung  hätte 
vielleicht  etwas  lebhafter  sein  können  und  am  Schlüsse  wäre  ein  Verzeichnis 
der  Spiele  angezeigt  gewesen.  31.  Jt. 


Kleinere  lexikalische  Hilf smittel für  die  slavischen  Sprachen. 

Neben  den  großen  lexikalischen  Leistungen,  die  innerhalb  der  einzelnen 
slavischen  Sprachen  teils  langsam  fortschreiten  (in  Agram,  Warschau,  Prag, 
Petersburg],  teils  erst  geplant  werden  (Belgrad,  Sofia,  Prag),  erheischt  das 
tägliche  Leben,  der  gesteigerte  Verkehr  und  die  immer  größere  Bcrülirung 
unter  den  Völkern  verschiedener  Zunge,  die  Fertigstellung  von  kleinereu  oder 
sogenannten  Taschenwörterbüchern,  deren  Zweck  es  ist,  den  Bedarf  des 
Augenblicks  zu  befriedigen,  die  Lektüre  gewöliuliciier  moderner  Texte  in  vor- 
Hchiedcnen  Sprachen  zu  ermögliclicn.  In  neuerer  Zeit  sind  mehrere  solche 
Bücher  erschienen,  deren  einige  hier  genannt  werden  sollen.  So  ist  neben  dem 


432  Kritischer  Anzeiger. 

bekannten  Taschenwörterbuch  der  böhmischen  und  deutschen  Sprache  von 
Josef  Kauk,  dessen  sechste  Auflage  im  J.  18'.).j  erschienen  war,  aus  neuerer 
Zeit  zu  erwälinen  das  im  Verlage  von  Otto  Iloltze's  Nachfolger  in  Leipzig 
erscliienene  TascJicinvUrtcrhuch  ehr  hliliynisclien  und  deuinchen  Sprache  von  Frnf. 
Dr.  I.  V.  Stcrzinr/er,  in  zwei  Teilen  zusammengebunden.  Der  erste,  deutsch- 
böhmische Text  umfaßt  432,  der  zweite,  böhmisch-deutsche  Text  502  Seiten. 
In  demselben  Verlage  erschien  bereits  1896  ein  Taschenwörterbuch  der  böh- 
mischen und  englischen  Sprache  von  Pro/. Dr.  V.E.Mourek:  Pocket  dictionary 
of  tl>e  Bohetniam  and  ünglish  Lamjuages.  Der  erste  Teil  (bohemian-english) 
umfaßt  482,  der  zweite  (english-bohemian)  407  Seiten.  Endlich  erschien  in 
demselben  Verlage  neuestens  (1906)  ein  Taschenwörterbuch  der  polnischen  und 
französischen  Sprache, von  Prof.  Oskar  Callier :  Dictionnaire  de  poche  Francais- 
Polonais  et  Polonais-francais.  Der  erste,  französisch-polnische  Teil  umfaßt 
478,  der  zweite,  polnisch-französische  Teil  ebenfalls  478  Seiten.  Die  Angabe 
der  Seitenzahlen  zeigt,  daß  alle  diese  Ililfsmittel  zo  ziemlich  nach  gleichen 
Grundsätzen  und  in  gleichem  Umfange  ausgearbeitet  sind.  —  lu  V.  Behr's 
Verlag  in  Berlin  ist  in  letzter  Zeit  das  wohlbekannte  Taschenwörterbuch 
der  polnischen  und  deutschen  Sprache  von  Lukaszexcski  und  Mosbach  neu 
herausgegeben  worden :  Deutsch-polnisches  und  polnisch-deutsches  Wörterbuch 
zum  Schul-  und  Handgebrauch  . . .  vollständig  neu  bearbeitet . . .  von  Dr.  Ludomit 
German  (Berlin  1906).  Der  deutsch-polnische  Teil  umfaßt  886,  der  polnisch- 
deutsche  1126  Seiten.  Ein  flüchtiger  Vergleich  dieser  Ausgabe  mit  der  in 
meiner  Bibliothek  befindlichen  vom  J.  1865  zeigt  in  der  Tat  starke  Bereiche- 
rung des  Wortvorrats  und  auch  sonstige  Verbesserungen.  —  Endlich  hat  das 
Unternehmen  Toussaint-Langenscheidt  auch  ein  Taschenwörterbuch  der 
russischen  und  deutschen  Sprache  (mit  Angabe  der  Aussprache  nach  dem  pho- 
netischen System  der  Methode  Toussaint-Langenscheidt)  von  Karl  Blattner 
herausgegeben.  Der  erste  mir  vorliegende,  russisch -deutsche  Teil  umfaßt 
972  Seiten.  Die  genau  sein  wollende  phonetische  Transskription  entfernt  sich 
allerdings  sehr  weit  von  den  in  den  slavischen  Sprachen  üblichen  Bezeich- 
nungen. Man  müßte  von  den  Individuen,  die  nach  dem  Buche  (35  Briefe  nebst 
Beilagen)  Toussaint-Langenscheidts  russisch  gelernt  haben,  beurteilen,  ob  sich 
diese  phonetische  Bezeichnungsweise  der  sehr  schwierigen  russischen  Aus- 
sprache bewährt.  Dem  Verfasser  des  Wörterbuches  könnte  man  nahelegen, 
daß  wenn  er  schon  für  c  sich  entschlossen  hat,  er  kein  Verbrechen  begangen 
hätte,  falls  er  auch  s  und  z  aufgenommen  hätte.  Sehr  zu  loben  ist,  daß  die 
Betonung  bei  den  Verben  neben  der  1  ten  auch  die  2te  Person  sing,  angibt. 
Warum  aber  nicht  bei  den  Substantiven  die  gleiche  Berücksichtigung  des 
Genitivs  stattfand,  ist  mir  unerfindlich.  V.  J. 


Kleine    Mitteilungen. 


Drawäno-Polabisches. 

Priz  »ohne«. 
»Ohne«  wird  in  den  bekannten  Denkmälern  durch  priz  %\iedergegeben: 
priz  rungice  (ohne  Hsiiiö.;,  prizmior-  (ohne  Maß;.  Schleicher  wollte  den  Bedeu- 
tungswandel von  prez  [lech. prez}  'über  —  ohne'  begreiflich  machen,  allein 
seine  Argumentation  muß  als  verfehlt  bezeichnet  werden.  »Ohne«  hieß  im 
Altpolabischen  ebenso  wie  in  den  übrigen  slav.  Sprachen  bez;  man  vergleiche 
die  O.-N.  Bisdede  (==  altpoln.  Bezdiady]  und  Bisdamiz  (=  Bezdomici).  Wie  im 
Neuslovenischen,  trat  aber  bald  Anlehnung  des  bez  an  crez  und  prez  ein,  so 
daß  bez  durch  die  analoge  Form  brez  verdrängt  wurde,  eine  Erscheinung,  die 
auch  im  Altpolnischen  gelegentlich  beobachtet  werden  kann :  O.-N.  Bresmir  = 
Bezmir.  Doch  mit  dieser  neuen  Form  brez  war  erst  recht  der  Anstoß  zu  einer 
weiteren  Entwickelung  gegeben.  Brez  und  prez  berührten  sich  lautlich  so 
nahe,  daß  sie  vom  Volke  jbeständig  vei-wechselt  wurden,  bis  schließlich  die 
Yormprez  (in  der  Bedeutung  »ohne«!)  als  alleiniger  Sieger  hervorging.  Ken- 
ner des  polnisch-schlesischen  Dialektes  wissen,  daß  das  Volk  bez  und  przez 
ganz  willkürlich,  wenn  auch  unbewußt,  immer  vertauscht;  sehr  interessant 
ist  in  dieser  Hinsicht  die  Geschichte  des  schlesischen  Ortsnamens  Przezchlebie: 
um  1490  heißt  er  noch  richtig  Bezchlehic,  die  moderne  Form  Przezchlebie 
beruht  also  auf  der  volkstümlichen  Vertauschung  des  bez  {brez)  mit  przez.  Im 
Drawänischen  gibt  es  überhaupt  kein  bez  mehr,  hier  hat  wie  im  Schlesisch- 
Polnischen  prez  {jjriz)  vollkommen  die  Bedeutung  »ohne«  angenommen.  Es 
handelt  sich  also  nicht  um  einen  selbständigen  Bedeutungswandel  des  prez, 
wie  Schleicher  annahm,  sondern  um  eine  lautliche  Angleichung  und  einen  eben 
dadurch  herbeigeführten  Zusammcnfall  ursprünglich  verschiedener  Wörter. 

Rüzplasteite  =  rozplaSfite. 
In  dem  berühmten  Tierliede  Ki\tü  mOs  ninka  baut  finden  wir  den  Impe- 
rativ rüzplasteite  (von  Heunig  wiedergegeben  durch  »schlagt  auseinander"). 
Schleicher  hat  das  polabische  Wort  mit  dem  russischen  ritzplastiV  (von  plast) 
»in  Flächen  zerlegen«  identifiziert,  allein  seine  Annahme  ist  unhaltbar.  Das 
Wort  deckt  sich  genau  mit  dem  polnischen  rozplasdijc  (von  phtshi)  »flach 
machen,  flach  schlagen«;  das  gibt  auch  den  richtigen  Sinn  der  Stolle  wieder 
nicht  um  ein  »Auseinandcrsclilageu«  handelt  es  sich,  sondern  um  ein  "Flaeh- 
Bchlagen  des  Podex«,  damit  ein  Tisch  für  die  'riorgesellschaft  bereitet  worde. 
Dem  \)o\n.r()zplaHcijc  entsprach  im  Altpolabischen  rozpla.stlt,  im  Drawäiiischeu 
müßte  der  Infinitiv  rüzpldstit  lauten.  In  der  zweiten  Person  Iniperat.  Tlur. /Vj;- 
plaitite  ist  das  a  zwischentonig  und  widersteht  daher  uadi  einem  vielfach  zu 

Archiv  für  sliivischo  Philologie.    XXVIII.  28 


434  Kleine  Mitteilungen. 

konstatierenden  Lautgesetze  ')  dem  Übergänge  in  o;  wir  haben  also  als  regel- 
rechte Entsprechung  des  rozjiluititc  das  vorliegende  rlizplasteite  aufzufassen. 

Im  Anschlüsse  an  dieses  Wort  mit  k  (poln.  U)  sei  bemerkt,  daß  polabi- 
sches  st  vor  folgenden  palatalen  Vokalen  selbstverständlich  hart  ist,  nie  eine 
Erweicliung  aufweist:  sidleiste  [sedliUe],  wistareiöa  aus  älterem  loisteraUu  = 
*wcsterica  im  jeMerica.  Sobald  aber  gutturale  Vokale  folgen,  wird  k  [at]  genau 
so  erweicht  wie  im  Cechischen:  peistJolA-a  coth.  pistalka,  sfjeiiko  'sfjäuhd) 
altcech.  siuka  jetzt  kika  Hecht.  Schleicher  kannte  dieses  Lautgesetz  nicht,  da 
er  für  das  vonParum-Schulze  überlieferte  hrezdjdje  »es  tagt«  eine  unzutreffende 
Erklärung  gab.  Das  Wort  ist  abgeleitet  vom  Substantiv  hrezg  fpolabisch  und 
poln.  briazg,  hrzazg  brzask)  mittels  der  Endung  -jati:  hrhg  +  jati  =■  br^zdati, 
daher  ganz  richtig  brezdjöje  =  briHdaje. 

Über  die  Stelle  ytglupzit  tjarla. 

Im  Tierliede  heißt  es:  Joz  jis  wiltje  glupzit  tjarl  »ich  bin  ein  sehr  heim- 
tückischer Kerl".  Hilferding  hat  im  guten  Glauben  an  die  Slavizität  des 
Wortes  glupzit  säuberlich  ein  *glupcit  rekonstruiert,  das  sich  doch  sofort  als 
unslavische  Bildung  erkennen  läßt!  Die  Endung  -it  liegt  in  Wirklichkeit  hier 
gar  nicht  vor,  da  das  t  von  tjarl  irrtümlicherweise  doppelt  geschrieben 
wurde ;  wir  haben  es  mit  einer  falschen  Silbenteilung  zu  tun,  die  uns  ja  häufig 
in  den  Aufzeichnungen  entgegentritt  2).  Richtig  ist  bloß  die  Lesart:  glupzi 
tjarl.  Ist  aber  glupzi  slavisch?  Können  wir  an  Bewahrung  des  altpolabischen 
Lautstandes  gerade  bei  diesem  Worte  glup-  im  Ernste  glauben?  Glupi  (dumm, 
draw.  auch  mit  der  Bedeutung  »jung«)  ergibt  die  belegte  Form  glüupe^  das 
sonderbare  glupzi  läßt  sich  absolut  nicht  mit  den  Lautgesetzen  des  Drawäni- 
schen  in  Einklang  bringen.  Aber  auch  die  Bedeutungen  gläupe  =  dumm, 
jung,  glupzi  =  heimtückisch,  hinterlistig  sind  einander  diametral  entgegen- 
gesetzt, die  eine  Bedeutung  läßt  sich  aus  der  anderen  nicht  ableiten:  ein 
»dummer«  Mensch  gilt  überall  in  der  Welt  als  synonym  mit  »gut«,  niemals 
aber  mit  »heimtückisch«.  In  der  Tat  sind  die  zwei  Wörter  streng  von  einan- 
der zu  sondern :  der  ganze  Ausdruck  glupzi  tjarl  ist  nichts  anderes  als  der 
ohne  große  Veränderungen  direkt  aus  dem  Plattdeutschen  in  den  wendischen 
Jargon  herübergenommene  nglüj)^sche  Kerl«  (=  heimtückischer  Kerl).  Glupzi 
entspricht  Laut  für  Laut  dem  niederdeutschen  glup' seh :  wir  haben  es  ghip>si 
zu  lesen,  das  i  (eigentlich  ein  zwischen  e  und  i  schwankender  Laut  c)  der  En- 
dung ist  nach  dem  Muster  der  slav.  Adjektiva  z.  B.  dilbre  [dobry]  angehängt. 

Auch  Brückner  hatte  die  falsche  Meinung,  der  niederdeutsche  Ausdruck 
ghip'sch  glüpisch  »heimtückisch«  sei  dem  slav.  glüp  entlehnt:  nach  dem  Ge- 
sagten ist  das  unmöglich;  dazu  kommt  aber  noch  ein  positiver  Beweis.  Das 
Wort  findet  sich  in  der  Form  glilpsk  »heimtückisch«  auch  im  Friesischen  der 
Insel  Helgoland  und  damit  ist  dessen  deutscher  Ursprung  sichergestellt. 

Andere  Verwechslungen  von  Deutsch  und  Slavisch. 
V  Wenn  Hilferding  und  Brückner  gelegentlich  ein  Wort  für  slavisch  er- 
klären, das  sich  bei  näherer  Untersuchung  als  deutsch  entpuppt,  so  kann  man 

1)  Cf.  iipaden  :  eüpaden.  ^)  Cf.  kam  man  =  ka  man. 


Kleine  Mitteilungen.  435 

das  noch  begreiflich  finden.  Staunen  muß  man  aber  darüber,  daß  sogar 
Schleicher  sich  solche  Verwechslungen  zu  Schulden  kommen  ließ.  Im  Drawä- 
nischen  finden  wir  neben  dem  echt  slav.  Worte  vömö  (altpolab.  varna)  auch 
ein  röwan.  Schleicher  muß  natürlich  alle  möglichen  Verdrehungskünste  an- 
wenden, um  r-öwan  auf  vornö  zurückzuführen.  Die  nüchterne  Wissenschaft 
wird  fragen:  Warum  soll  sich  die  Sprache  solchen  Luxus  mit  Doubletten  er- 
lauben? Röwan  hat  in  Wirklichkeit  mit  vörno-varna  nichts  zu  tun,  es  ist  viel- 
mehr die  lautgesetzliche  Wiedergabe  des  niederdeutschen  iJaven  (hochdeutsch 
=  Rabe) :  a  wurde  zu  0,  die  nachtonige  Endung  en  zu  an  wie  in  tjüssan  aus 
Küssen,  jetzt  Kissen  (Polster),  niederdeutsches  v  =  draw.  iv. 

Das  zweite  von  Schleicher  fälschlich  für  slavisch  gehaltene  Wort  ist 
stjütäl.  Er  sieht  darin  s  +  kottl,  ohne  zu  bedenken,  daß  kottl  im  Drawänischen 
nur  tjütjal  [helegtl)  mit  erweichtem  ä  lauten  kann.  Außerdem  ist  die  Be- 
deutung von  stjütäl  »Gefäß«  mit  »Kessel«  gar  nicht  in  Einklang  zu  bringen. 
Wir  haben  es  einfach  mit  dem  altniederdeutschen  sküttel  (hochdeutsch  Schüs- 
sel, selbst  wieder  ein  Lehnwort  aus  lateinisch  scutellä]  zu  tun:  aus  sküttel 
wird  sfcütäl,  stjütäl,  natürlich  ohne  Ei'weichung.  da  ///  auf  die  unbetonte 
deutsche  Endung  -el  zurückgeht. 

Dr.  Kaiina  leitete  draw.  stäul  auf  sfol  stöl  zurück;  allein  dem  wider- 
spricht nicht  nur  die  Bedeutung  »Stuhl«  [slav.  stol  müßte  im  Draw.  slöl  lauten, 
ist  aber  vom  Fremdwort  deiskö  aus  disk  ganz  verdrängt  worden],  sondern 
auch  die  Lautform :  üit  kann  nur  aut  u  zurückgehen,  stäul  ist  nur  die  draw. 
Umformung  des  deutschen  StuJd  {stül). 

Doch  der  ärgste  Mißgriff  Schleichers  war  die  Behauptung,  das  draw.  De- 
minutivsuffix -ka  bei  männlichen  Substantiven  (z.  B.  tonika  »der  kleine 
Thurra,  niederd.  IWn»)  sei  slavischen  Ursprungs.  Um  die  Slavizität  des  -ka 
zu  retten,  beruft  sich  Schleicher  auf  russisch  hutjuska,  sorb.  braska.  Da  über- 
sieht er  ganz,  daß  dies  verkleinernde  Koseformen  sind,  ihrem  Ursprünge 
nach  also  ganz  verschieden  sind  von  den  Fällen,  wo  -ka  unmittelbar  an  das 
einfache  Substantiv  tritt.  Eine  weibliche  Deminutivendung  -ka  bei  männlichen 
Substantiven  ist  für  das  slav.  Sprachgefühl  eine  solche  Ungeheaerlichkeit, 
daß  man  billigerweise  über  das  Schweigen  zu  Schleichers  Erklärung  staunen 
muß.   Hier  sei  endlich  die  Lösung  dieses  Rätsels  gegeben! 

Im  Niederdeutschen  lautet  das  dem  hochdeutschen  »chen«  entsprechende 
Verkleinerungssuffix  »-kea,  z.  B.  Reineke,  Reinke,  Hanske,  Lifke  (Leibchen, 
Mieder).  Die  Drawäncn  übernahmen  nun  bei  ihrer  allmählichen  Germanisation 
dieses  beliebte  niederdeutsche  Suffix  entweder  unverändert  in  der  Form  -ke^) 
oder  in  der  auf  die  Nebenform  -kin  (z.  B.  nü[/elki/i]  hindeutenden  Nuance  -ki. 
Dr.  Mucke  kann  sich  dieses  -ki,  das  noch  heute  ein  charakteristisches  Merk- 
mal des  »Wendisch-Platt«  bildet,  nicht  erklären.  Mit  dem  slav.  -ka  kann  -ki 
nichts  zu  tun  haben,  -ki  ist  nur  das  im  drawänischen  Munde  etwas  ver- 
änderte allgemeine  niederdeutsche  -ke :  hrUtki  =  Brötchen,  putki  =  Pötke, 
kleiner  ,Pot'  (Topf),  lütki  =  niederdeutsch  lütkc,  Ufki  =  lifke  Leibchen ;  pol- 
luitzki  ist  daher  nicht  ein  slav.  *^jo//c/.-«,  sondern  slav.  ;jo/f/z  {=  polica) -^ 


1)  Z.  B.  patinatz  +  ke  bei  Henuig  (»Vögel chen«\ 

28* 


436  BJeine  Mitteilungen. 

niederdeutsch  -he^  draw.  -ki:  »kleine  Poleiz«  [Büchse,.  Dr.  Mucke  mag  sich 
trösten,  da  ja  aucli  der  große  Schleicher  das  in  den  drawänischen  Sprach- 
denkmälern überlieferte  ^ojanyaki  allen  Ernstes  alsPlur.  2«_yVc/i(I  rekonstruiert 
hat,  trotzdem  die  gewissenhaften  Aufzeichner  ausdrücklich  den  Singular  »nas- 
chen, kleiner  Hase«  anführen.  Sojanyiiki  ist  eben  rIhv. zojangc  'zajqc)  -\-  nieder- 
deutsch-draw.  kc-ki.  Wie  jmleitzki  ist  auch  zojanijcki  ein  klassischer  Beweis 
für  die  Verquickung  von  Slavisch  und  Deutsch,  für  den  allmählichen  Über- 
gang des  draw.  Jargons  in  das  heutige  »Wendisch-Platt«. 

Als  die  Sprache  aber  noch  mehr  Kraft  besaß,  da  begnügte  sie  sich  nicht 
mit  der  einfachen  Übernahme  des  -ke  als  -h:  und  -ki,  sondern  gab  dem  nieder- 
deutschen Suffixe  wenigstens  eine  slavische  Form,  indem  es  dasselbe  an  das 
slavische,  aber  nur  für  weibliche  Wörter  verwendete  Deminutivsuffix  -ka 
[zenka  zu  zena)  anschloß :  -ke  wurde  also  zu  -ka  und  ging  selbstverständlich 
nach  der  weiblichen  Deklinationsart  i).  So  besitzen  wir  also  das  niederdeutsche 
Lifke  (Leibchen,  Mieder)  nicht  nur  in  der  noch  heute  üblichen  Form  Ufki,  son- 
dern auch  (bei  Parum-Schulze)  in  der  slavischen  Form  lifka,  Akkus,  lißcung. 

Der  fremde  Ursprung  dieses  -ka  gibt  sich  aber  schon  dadurch  zu  erken- 
nen, daß  es  eben  an  männliche  Hauptwörter  tritt :  Ufnazu  Uf{LQi\i],  llanska 
(niederdeutsch  Hanske  Häuschen;  zu  Hans,  tornka  iTorn  =  Turm),  klitzka  (zu 
Klitz  =  Mütze),  ramka  (niederd.  Ramke  zu  Rani  »Schafbock <'),  hutzka  »schläf- 
riger Mensch«,  eigentlich  »kleine  Schlaf kammer«  zu  niederd.  hutz  etc.  etc. 

Interessant  ist  die  Form  wnucka  »Wölfchen« :  sie  ist  wohl  aus  dem  slav. 
wäucuJc  (altpolab.  volcok)  gebildet,  aber  die  Endung  nahm  ganz  die  Form  des 
niederd.-draw.  ka  [ke]  an:  toäucäk^  waucka. 

Die  Geschichte  des  niederdeutschen  Suffixes  -ke  im  Drawänischen,  wo 
es  als  -ke,  -ki  und  -ka  erscheint,  ist  gewiß  geeignet,  ein  helles  Licht  auf  das 
Wesen  dieses  slavo-deutschen  Jargons  zu  werfen. 

Zum  Schlüsse  sei  hier  noch  ein  Irrtum  Dr.  Mucke's  richtiggestellt.  Das 
noch  jetzt  im  Dialekt  des  Wendlandes  fortlebende  dörjai  (Schlagbaum,  Tür) 
ist  nicht  auf  dviri  (Tür)  zurückzuführen,  da  letzteres,  den  Lautgesetzen  des 
Drawänischen  entsprechend  nur  dcurai  ergeben  kann  (Form  belegt!;.  Dörjai  [d 
und  die  Erweichung  ist  wohl  zu  beachten!)  hat  mit  dvärai  [dviri]  nichts  zu 
tun:  es  ist  ein  Lehnwort  aus  dem  Niederdeutschen  und  zwar  mit  dör  door 
(=  Tor)  zu  identifizieren  ^).  Das  fremde  d  wurde  bewahrt  wie  in  vielen  anderen 
Lehnwörtern  (cf.  kdma,  hdlja)  und  im  Plural  •*ddr-y  *ddr-ai  die  gerade  bei 
Wörtern  fremden  Ursprungs  beliebte  Erweichung  vorgenommen:  ddrjai  (cf. 
gloso  glosj'o  Glas). 

Beeinflussung  des  Drawänischen  durch  das  Deutsche. 
Überhaupt  war  die  Sprache  der  Drawänen  vor  ihrem  Erlöschen  schon 
ganz  vom  deutschen  Sprachgeiste  beseelt.    Die  niederdeutschen  Spracheigen- 
tümlichkeiten wurden  ohne  weiteres  auf  das  Slavische  übertragen.    Hier  sei 
nur  auf  zwei  von  Schleicher  nicht  festgestellte  Tatsachen  aufmerksam  gemacht. 

*  1)  Genau  dasselbe  geschah  im  Niedersorb.  Aus  »Fäßchen«  wird,  faska, 
aus  »Mäßchen«  maska  (G.  Mucke,  Niedersorb.  Gramm.). 

2)  Hennig  gibt  ausdrücklich  an:  Thor  dorö,  aber  Thür  dwaray. 


Kleine  Mitteilungen.  437 

Bekanntlich  unterscheidet  das  Niederdeutsche  und  mit  ihm  das  Englische 
den  Dativ  und  Akkusativ  der  Pronomina  gar  nicht :  Englisch  I  have  him  ich 
habe  ihn,  I  give  him  ich  gebe  ihm.  Daher  finden  wir  auch  im  Drawänischen 
mdmejim  =  mamejemii  statt  momejig  mame  jego  .  Schleicher  wußte  sich  mit 
dem  rätselhaften y»n  nicht  zu  helfen,  da  er  es  doch  nicht  wagte,  es  zu  jime  = 
iemljet  siidslav.  zu  stellen.  Wir  können  also  auch  den  Dativ  Jemw,  draw.  jV?n 
in  den  Denkmälern  belegen. 

»Von«  regiert  mundartlich  im  Deutschen  den  4.  Fall;  so  lesen  wir  bei 
Par.-Schulze:  »etliche  von  die  Wenden«.  Derselbe  Fehler  wiederholt  sich 
dann  im  wendischen  Jargon:  ceiste  wit  griclie  =  *cisty  vot  grechy  ganz  wie 
dialektisch  »frei  von  die  Sünden«. 

Über  das  überlieferte  Vaterunser. 

Die  plumpen  Germanismen  gestatten  uns  auch  ein  festes  Urteil  über  das 
wendische  Vaterunser,  von  dem  Dr.  Mucke  in  den  Szczatki  behauptet,  es  reiche 
noch  in  die  katholisc  e  Zeit  zurück.  Zunächst  eine  historische  Erwägung!  In 
der  katholischen  Zeit  können  wendische  Gebete  vorhanden  gewesen  sein,  lei- 
der ist  davon  nichts  auf  uns  gekommen.  Seit  der  Reformation  aber  ist,  nach 
dem  ausdrücklichen  Zeugnisse  Hennigs,  die  wendische  Sprache  niemals  in 
Amt  oder  Kirche  gebraucht  worden.  In  der  Kirche  betete  man  bloß  deutsch, 
ein  Bedürfnis  nach  einem  wendischen  Vaterunser  war  also  in  der  protestanti- 
schen Zeit  gar  nicht  vorhanden.  Sollte  also  das  überlieferte  Vaterunser  wirk- 
lich noch  aus  der  katholischen  Zeit  stammen?  Daran  zu  glauben,  verbietet 
schon  die  Form  des  überlieferten  Gebetes:  eine  kirchlich  autorisierte  Über- 
setzung aus  der  katholischen  Zeit  müßte  ganz  anders  aussehen;  die  vorlie- 
gende Übersetzung  ist  nicht  nur  ungenau  (so  fehlt  z.B.  »sondern «),  unbeholfen 
im  höchsten  Grade,  sondern  auch  mit  groben  Germanismen  überladen.  Eine 
Stelle  beweist  klar,  daß  die  Übersetzung  erst  im  XVII.  Jahrh.  mit  Hilfe  eines 
alten  Wenden,  dem  man  den  deutschen  Text  vorsagte,  mühsam  hergestellt 
wurde.  »Unser  täglich  Brot  gib  uns«  wurde  von  dem  Alten,  der  ein  wendi- 
sches Vaterunser  natürlich  gar  nicht  kannte,  sklavisch  übersetzt  mit 

nösü  (geschrieben  nosi)  tcissedaneisna  stjeiba  doj  — . 
nosi  [nösü]  =  Neutrum,  da  im  Deutschen  »unser  Brot«  (sächlich)  vorliegt;  nösü 
(nosi)  gebildet  wie  miß  {miijü)  ==  mnjd,  analogische  Form  für  organ.  innje;  cf. 
tijijcimang  =  tvojojimo. 

wissi'claneisna  stjeiha:    Nominativ  statt  des  Akkusatives,  da  im  Deutschen 
beide  Fälle  zusammenfallen  ('>unser  Brot«). 

Zur  Form  wissedaneisna  (auch  getrennt  geschrieben  tcisse  darteistw)  wäre 
noch  zu  bemerken,  daß  hier  nicht  das  organische  dhüsna  vorliegt,  da  dieses 
nur  dändsna  ergeben  könnte  (cf.  ovisny  :  wüirdsnc];  die  Wandlung  eines  1  zu 
ei  wäre  unerhört!  Wie  schon  die  Schreibweise  wisse  daiifisna  anzudeuten 
scheint,  haben  wir  BceinHussung  des  zusammengesetzten  Adjektivs  ^nsedi- 
m.hia  durch  die  pluralische  Wendung  visc  dini  (letzteres  oigentl.  Akkusat.): 
draw.  tviss6  dänäi  »alle  Tage«  anzunehmen;  es  handelt  sich  also  um  eine 
Kreuzung  der  Formen  vUedlnUna  :  —  dändsna 

vts(J  dini :  tcisse  ddndi,  als  deren  Resultat  eben  das  vor- 


438  Kleine  Mitteilungen. 

liegende  tvi.ssedanaisna  ersclieinti).  Auch  das  sächliche  vUe  liegt  dem  ersten 
Teil  dfs  Kompositums  nicht  zugrunde,  da  es  im  Draw.  stets  in  der  analogi- 
schen Form  vtsd  :  wissü  erscheint. 

Wie  ist  gölumhj'e  [djölumhge]  aufzufassen  ? 
In  den  Quellen  finden  wir  zu  (jülumhäh  ({jolqhiik  Täubchen)  als  Plural  rjö- 
lumbgc,  zu  lesen  (julumhje,  angegeben.  Schleicher  bemerkt  dazu:  »die  Schrei- 
bung läßt  zu  viele  Mijglichkciten  der  Deutung  zu,  daher  sehe  ich  von  dieser 
Form  ab«.  Allein  dieAufzeiclinung  ist  genau,  daher  nur  eine  einzige  Deutung 
möglich:  die  vorliegende  Form  ist  zwar  nicht  der  Nominativ  Pluralis  (der 
mvi^iQ*(jülum'bci  lauten!),  wohl  aber  der  Akkus.  Plur.,  der  ja  häufig  von  den 
Aufzeichnern  für  den  Nomin.  gesetzt  wird.  Golqhly  =  draw.  (jölumhlhj  = 
(jüliimhtje;  da  nun  häufig  für  dj  tj  einfaclij  geschrieben  wird  [(ti.jöra  =  (jöra^ 
püjön  =  j:;M(/6'n  :  pocjon),  so  hat  die  Schreibweise  gülumhje  für  rjölumbtje  nichts 
Befremdendes  an  sich. 

Deklination  der  Verbalsubstantiva. 

Große  Schwierigkeiten  bereiteten  Schleicher  die  Verbalsubstantiva. 
Über  ihre  Deklination  hat  er  zwei  verschiedene  Ansichten  geäußert:  sein 
Scharfblick  führte  ihn  anfangs  auf  die  richtige  Fährte,  leider  entschied  er  sich 
zuletzt  für  die  falsche  Auffassung.  Hier  sei  die  Sache  endlich  richtiggestellt! 

Aus  -anije,  -enije  wurde  im  Drawänischen  zunächst  -anje,  -evje.   Die  von 
Haus  aus  berechtigte  Erweichung  ging  aber  verloren,  da  vor  den  Palatallauten 
e  und  i  im  Drawänischen  kein  jotierter  Konsonant  stehen  darf;  man  vergleiche : 
kirchenslav.yem()iV^,  lechisch je?/ye,  aber  draw.ymae 

»  zemjq,  polab.  zemjp^  aber  draw.  zwir,  zimang. 

Somit  erscheint  als  die  lautgesetzliche  Form  des  Nominativ- Akkusativs  der 
Verbalsubst.  -6ne  (aus  -anje),  -ine  (aus  -enje],  die  sich  ja  tatsächlich  belegen 
lassen  [ßeutöne  das  Flöten).  Bei  Par.-Schulze,  der  bekanntlich  den  Auslaut 
der  slav.  Wörter  gern  abwirft,  z.  B.  glaw,  sidleist  für  allein  richtiges  gläwa, 
sidleiste,  altpolab.  glowa,  sedliste,  erscheint  natürlich  -one,  -ine  als  -6n,  -in. 

Der  Genetiv  läßt  sich  ohne  weiteres  erschließen ;  er  mußte,  je  nach  der 
Betonung,  -öyija  oder  -6nj6  lauten,  da  vor  gutturalen  Vokalen  die  berech- 
tigte Erweichung  wieder  erscheint.  Ebenso  läßt  sich  der  Instrumental  mit 
völliger  Sicherheit  erschließen:  voidonjäm  nach. püljam,  nihisjäm. 

Für  den  Dativ  und  Lokal  gibt  es  im  Gemeinslavischen  zwei  verschiedene 
Formen:  vydaniju  und  vydanii;  im  Drawänischen  aber  finden  wir  für  beide 
Fälle  -önje  oder  -onja.  Schleicher  glaubte  nach  langem  Schwanken  darin  die 
Eeflexe  von  vydanju  vydanii  zu  sehen,  da  im  Draw.  der  unbetonte  Auslaut 
stets  verflüchtigt  werde. 

Für  den  Dativ  könnte  man  Schleichers  Auffassung  gelten  lassen,  ganz 
unmöglich  aber  ist  sie  für  den  Lokal :  aus  vydanii,  vydanji  kann  sich  nach  dem 
oben  genannten  Lautgesetze  nur  *voidöne  ohne  Erweichung  ergeben. 


1)  Die  Richtigkeit  der  Ableitung  wird  bestätigt  durch  Hennigs  zänäi 
:mwie  im Niedersorb.  »die Ernte»)  und  das  davon  abgeleitete  Adj.~änam2e.' 


Kleine  Mitteilungen.  439 

Die  einzig-richtige  Erklärung  der  draw.  Formen  ist  die  von  Schleicher 
selbst  zuerst  gegebene,  ehe  ihm  unberechtigte  Bedenken  aufstießen.  Im 
Drawänischen  des  Verfalles  fielen,  wie  Schleicher  selbst  nachgewiesen  hat, 
Dativ  und  Lokal  der  Neutra  vollkommen  zusammen:  dune:  ku  d'äne,  d'äna 
(auslautendes  unbetontes  e  wird  sehr  häufig  zu  a\],  ebenso  nö  d'äne,  d'äna. 

voidöne  [vydanije,  vydanje)  schließt  sich  nun  analogisch  den  harten  Stäm- 
men an,  doch  beweist  die  vor  dem  </  auftretende  Erweichung  kä  voidonje  ganz 
klar,  daß  hier  eben  keine  organische  Form  vorliegt.  Genau  so  verhält  es 
sich  ja  mit  den  männlichen  weichen  Stämmen :  für  urslav.  na  pqti  tritt  im 
Drawänischen,  wo  die  i-Stämme  mit  koni  zusammenfallen,  nach  wa  dvore  die 
analogische  Form  no pungtje  ein,  aber  mit  sekundärer  Erweichung!  Dadurch 
wird  eben  auf  den  ursprünglichen  Charakter  des  Stammes  deutlich  hinge- 
wiesen. Nach  kä  d'äne  d'äna,  nö  däne  däna  erhalten  wir  also  die  analogischen 
Dativ-Lokalformen  mit  Erweichung : 

kä  voidonje  oder  voidönja 

kä  peifje  oder  peitja 

vä  peitje  oder  peitja. 
Schleicher  ließ  sich  durch  diese  erweichten  Formen,  die  nur  im  Dativ-Lokal 
begründet  sind,  auch  zur  Erweichung  des  Nominativs  verleiten ;  daß  ein  -öiie 
als  Nominativ  mit  den  Lautgesetzen  des  Drawänischen  unvereinbar  ist,  haben 
wir  bereits  gezeigt. 

a  bei  Pav.-Schulze  =  ai  [oi  aus  urslav.  y). 

Der  geniale  Hilferding  hat  schon  erkannt,  daß  Schulze  für  die  betonte 
Pluralendung  ai  oi  aus  y  fast  konsequent  die  Schreibung  a  gebraucht.  Schlei- 
cher und  Dr.  Kaiina  haben  leider  Hilferdings  Deutung  nicht  beachtet,  ihre 
Erklärungen  sind  abzuweisen.  Wiederholtes  aufmerksames  Lesen  der  Schulze- 
schen Handschrift  und  Vergleichungen  mit  den  anderen  Quollen  überzeugen 
aber  jeden  Unbefangenen  von  der  Richtigkeit  der  Ansicht  Hilferdings.  Hier 
seien  aus  der  Unmenge  bloß  einige  Beispiele  herausgegriffen : 

Schulze:  cara  —  die  andern  Quellen:  karoi  {karai)  aus  *kHnj  kry  (Blut\ 

»    sumha  (ausdrückl.  als  PI.  bezeichnet)  —  die  and.  Quellen:  sumboi  [sum- 
bai)  =  zqbi/. 

»     tjöta  =  tjötai,  tjütoi  =  koty  (die  Katze). 
Pidjana  (bei  Schulze)  für  älteres  püdjöna  ist  tatsächlich  pihjüna)  =  poyony  (zu 
Singl.  ^jMVyön  =  jjnyoii  Trift;.    In  der  Stelle  tidje,  zena,  cite  mine  schwöret  ist 
zena  also  ganz  bestimmt  der  Plural  zenal  zeny,  worauf  ja  nicht  nur  das  cite 
{chcete),  sondern  auch  die  deutsche  Übersetzung  »Frauen«  hinweisen. 

An  dieser  Stelle  sei  die  richtige  Lesart  des  Wortes  'Toh/a  angegeben.  In 
seiner  Chronik  spricht  Schulze  von  der  Ausbreitung  der  wendischen  Flur- 
namen: Arendsee,  Sdhtvedel,  f/lzen  und  Blekede  seien  die  äußersten  Hren/.- 
punkte  des  Wendenlandes  gewesen.  Bei  dieser  Gelegenheit  wird  aucli  der 
Flurname  Tohla  angeführt.  Dr.  Kaiina,  der  zu  seiner  Zeit  noch  keine  riditigo 
Kenntnis  der  draw.  Flurnamen  besitzen  konnte,  las  ToMa  als  täl=^iyl; 
selbstverständlich  dürfte  diese  Deutung  niemanden  befriedigen.  Da  wir  nun 
bereits  zwei  Sammlungen  der  draw.  Flurnamen  von  Mucke  und  Kühnel  be- 


440  Kleine  Mitteilungen. 

sitzen,  kann  es  uns  nicht  schwer  fallen,  das  Tohla  endlich  richtig  zu  deuten. 
Die  Tennis  steht  —  wie  das  so  oft  in  den  Aufzeichnungen  der  deutsch 
sprechenden  Sammler  vorkommt  —  für  die  richtige  slav.  Media:  wir  haben 
ddla  zn  lesen,  und  da  nach  Schulzes  Schreibweise  döla  =  döldi  doloi,  so  er- 
scheint dieses  Wort  als  identisch  mit  dem  so  häufig  auftretenden  Flurnamen 
Dolai,  Dulai  =  doVi/,  die  Täler,  die  » Talstücke «.  Noch  heute  wird  bekannt- 
lich das  Wort  dohl  im  Wendlande  häufig  gebraucht. 

Über  die  eigenartige  Bildung  der  Iterativa  im  Spätdrawänischen, 
Die  Zeitwörter  ricat,  z'äzat  (verbrennen  ,  vübortat  (umdrehen,  wenden), 
plitöt  (flechten)  sind,  wie  schon  Schleicher  richtig  vermutet  hat,  tatsächlich 
Iterativa,  befremden  aber  den  Slavisten  auf  den  ersten  Blick  durch  ihre 
sonderbare  Form. 

Im  Altpolabischen  lauteten  diese  Iterativa  gewiß  so  wie  im  Gemein- 
lechischen:  rekati  [ricati  ist  bloß  südslavisch!),  vohracat  (poln.  wracac,,  zSgat, 
pUatat  (aus pltltai).  Im  Drawänischen  standen  sich  nun  gegenüber: 
rice  (aus  rece;  der  weiche  Stamm  überall  durchgeführt!)  —  *rekat 
viibörte  (cf.  sorb.  tvobroci,  altpolab.  voharti)  —  *vübrÖcat 

z'äze  (aus  ztze)  —  —  —  *zegat,  zegat 

plite  (aus  plete)  —  —  —  *pli6tot. 

Das  Spätdrawänische  hat  nun  diese  gewaltigen  Unterschiede  zwischen  dem 
einfachen  Verb  und  seinem  Iterativum  durch  Formalausgleichung  vollständig 
getilgt:  nach  rece    wurde  das  organ.  *re/ca^      z\x  ricat 

»      z'äze  n         »         ))        *zegat         »    z'äzat 

»      viibörte    »         «         »        *viibröcat  »    vübortat 
»      plite         »         »         »        *2^^^ötöt      »   plitöt. 
Die  Analogie  spielt  also  hier  wie  in  so  vielen  anderen  Fällen  eine  be- 
deutende Rolle.  Hier  sei  gleich  ein  weiteres  Beispiel  gegeben ! 

Den  Infinitiv  voizinet  (hinausjagen)  konnte  sich  Schleicher  nicht  erklä- 
ren. Das  Organ.  *voignat  {—  vygnati)  sticht  lautlich  von  seinem  Präsens  voi- 
zine  (=  vyzene)  so  bedeutend  ab,  daß  eine  Neubildung  bei  dem  geschwächten 
Sprachbewußtsein  der  Drawänen  fast  unausbleiblich  war : 

nach  züne  (=  zvotii],  Infinitiv  zünit  [zcomti],  wurde  zu  voizine  (=  vyzene) 
der  Infinitiv  voizinet  neu  gebildet i).  Übrigens  haben  wir  den  Stamm  gna- 
belegt  in  gnol  [gnal). 

Über  die  rätselhafte  Endung  -äf. 
Die  weiblichen  Substantiva  auf  -y  (z.  B.  raky  Sarg,  crlxy  Kirche)  haben 
sich  im  Drawänischen  besser  behauptet  als  in  den  anderen  slav.  Sprachen: 
räTcai  od.  räfjäu,  cdrtjäu  od.  cärtjai  etc.  Daneben  aber  findet  sich  auch  die  in 
den  westslav.  Sprachen  übliche  Ersetzung  des  Nominativs  auf  -?/  durch  den 
Akkus,  auf  -iivi,  draw.  äv,  äf  [dv,  äf).  Nun  herrscht  im  Draw.  gerade  die 
eigentümliche  Gepflogenheit,  die  fremden  Namen  von  Stoffen  u.  Werkzeugen 
nach  der  weiblichen  «/-Deklination  gehen  zu  lassen:  das  deutsche  «Kohl«  er- 
scheint also  als  köläu  {*kol-y),  und  da  sich  die  Endung  -üu  (aus  -y)  mit  -äv,  -äf 

1)  Selbst  im  Poln.  finden  sich  die  Neubildungen  zenqc  und  sogar  zenic 
neben  gnaö;  im  Obersorb.  haben  wir  icobröceö  (=  tvohrotjat)  statt  icobräcac! 


Kleine  Mitteilungen.  441 

aus  -tiv'i)  in  dieselbe  Funktion  teilt,  finden  wir  natürlich  auch  die  Form  köldf 
verzeichnet.  Schleicher  wollte  darin  den  Plural  des  Genitiv,  partit.  sehen, 
allein  seine  Ansicht  findet  in  den  Tatsachen  keine  Stütze. 

Diese  weiblichen  Substantiva,  die  im  Nominativ  bald  -äu  (-y),  bald  -äf 
-üvi)  hatten,  gaben  nun  den  Anstoß  zu  einer  gewaltigen  Analogieerscheinung. 
Viele  männliche  Stoffnamen  endigten  auch  im  Draw.  im  Genetiv,  part.  sing, 
auf  -u  (draw.  -äu, :  medü-mediiu.  Dieses  medäu  fiel  in  seiner  Form  vollkommen 
mit  den  weiblichen  Substantiven  rätjäu-*räkäv  [raky-ral;nvT]  zusammen,  so 
daß  schließlich  zu  medätt,  fälschlich  als  Nominativ  aufgefaßt,  die  analogiache 
Form  medäf  (belegt!)  trat.  Nun  war  der  Stein  im  Rollen!  Es  bildete  sich  im 
geschwächten  Sprachbewußtsein  die  Vorstellung  aus,  daß  zu  jedem  -äu  aus 
->i)  auch  die  Nebenform  -äf  treten  könne ;  daher  finden  wir  friedlich  neben- 
einander vdnäii  =  vünü  »draußen«  und  vininf^  *vünüvi;  dunäu  =  dnnü 
»hinein«)  und  das  analogische  dänäf.  Selbstverständlich  trat  zu  hogü  Dativ; 
=  hügäu,  hüdjüu  die  Neubildung  büdjdf^),  worin  die  von  hüdjüu  herrührende 
Erweichung  beachtenswert  ist.  Der  Dativ  des  Lehnwortes  tjurl  (aus  KerV, 
ursprünglich  *tjärlUu  =  kerlü  lautend,  wiirde  durch  das  analogische  tjnrläf 
ganz  verdrängt;  schon  Hilferding  hat  mit  seinem  Scharfsinn  erkannt,  daß  in 
dem  Satze  zenajang  tj arid f  püdr äug  [zena  *J^  *kerl-uvi  podrug)  nur  ein  Dativ 
vorliegen  könne.  Baudouin  de  Courtenay  meinte  wieder,  hier  sei  ein  Adjectiv. 
possess.  auf-orl'c  anzunehmen.  Schleicher  sah  ebenfalls  einen  Dativ  in  tjdrldf, 
das  er  richtig  als  *tjdrl-un  rekonstruierte,  während  Hilferding  das  -df  dem 
Dativ  -ovi  gleichsetzte.  Heute  können  wir  in  die  Sache  volles  Licht  bringen. 
Weder  die  Dativform  auf  -o  vi  noch  die  adjektiv.  Form  -ov  liegt  zugrunde,  da 
beide  nur  -Ute  ergeben  könnten;  ci.Ljuchmv,  häufiger  poln.  0.-N.,draw.  Ljäu- 
chü{iv],  geschrieben  T/jäuchi,  deutsch  Lüchow,  3Icichaliiioe  =  3Iichalotüy, 
torJinwe  =  tnrk-oicy  türkisch.  Schleicher  verlangte  also  mit  Recht  die  An- 
setzung  der  Dativform  -df  [uvi);  leider  beging  er  einen  argen  Schnitzer  mit 
der  Behauptung,  diese  von  ihm  erschlossene  Endung  -üct,  -dv  sei  der  eigent- 
liche, organische  Dativ  der  -«-Deklination!  Jeder  Anfänger  in  der  Indo- 
germanistik weiß  heute,  daß  dieser  Fall  gerade  nur  -ovi  lauten  muß;  Sclilei- 
chers  Ansicht  steht  somit  ohne  Stütze  da,  es  gibt  überhaupt  nur  die  einzige 
Erklärung  für  -dv,  nämlich  daß  es  eine  durch  das  äu-df  der  weibl.  »/-Deklina- 
tion hervorgerufene  analogische  Bildung  ist. 

Es  sei  ein  Übersichtsschema  dieses  Entwickelungsganges  gegeben : 
Nom.  rakäu  [raky],  daneben  Akkus.  *rakdv. 
Darnach  medätt  (=  mcdu),  daher  meddf. 

»  vanäu  (=  viinü),       »       vandf. 

»  danäii  {=  diinti],       »       dcmdf 

»  hügäu  [=  bogi(\        »       büdj'df,  daher  auch  tjarldf. 

Was  sind  hräde  und  gräme  ? 

Das  überlieferte  hrade  »er  watet«  geht  nach  Schleicher  auf  hrodi  zurück. 
Wieder  ein  Irrtum!  Aus  hrodi  kann  nur  hrüde  werden,  wie  der  lüneburgische 

Ist  belegt! 


442  Kleine  Mitteilungen. 

Flurname  Brüdak  =  hrodiik,  cech.  poln.  hrodek  .^kleine  Furt",  klar  beweist. 
Über  daa  hrude  gibt  uns  das  Altcechische  volle  Aufklärung,  das  bekanntlich 
für  das  organ.  hrvde  die  nach  cite  cte  gebildete  Analogielbrm  hrd<:  aufweist. 
Genau  so  verhält  es  sich  im  Draw.  Nicht  ein  hrodi  von  hroditi  liegt  in  unserem 
Worte  vor,  sondern  die  nach  cäte  [cite]  gebildete  Form  brade  {*bnde  für  organ. 
hrede,  draw.  *hride). 

gräme,  von  den  Aufzeichnem  irrtümlich  als  Substantiv  «Donner«  über- 
setzt, ist  nicht  grom,  das  nur  (iriim  lauten  kann,  sondern  das  Zeitwort  (jrhni, 
woraus  eben  Laut  für  Laut  (irdmc  entstehen  muß.  Daß  ein  Zeitwort  durch 
ein  Substantiv  und  umgekehrt  ein  Substantiv  durch  ein  Verb  von  den  der 
slav.  Sprache  ganz  unkundigen  Aufzeichnern  übersetzt  wird,  ist  eine  gewohn- 
liche Erscheinung. 

Prositi  — pra^ati  im  Drawänischen. 

Schleicher  sah  in  dem  überlieferten  [dcwka  tn  tllu)  prüsal  ein  *prosil. 
Nach  den  Lautgesetzen  des  Draw.  könnte  diese  Form  nur  priisäl  lauten,  cf. 
das  belegte  loan  prüsi-  [—  prosi).  Man  hat  ganz  übersehen,  daß  in  der  Über- 
setzung prösal  ausdrücklich  durch  »gefraget«  wiedergegeben  ist.  Dr.  Kaiina 
schwankt,  ob  er  prosal  als  prosit  oder  prasal  auffassen  soll ;  in  Wirklichkeit 
gibt  es  hier  keinen  Zweifel:  »fragen«  hieß  im  Draw.  genau  so  wie  im  Sorb. 
prasati,  prösat,  daher  das  Partizip  prösal  [^  jjrasal).  Ebenso  ist  das  ander- 
wärts aufgezeichnete  2)r6sei  »fragen«  kein  Imperativ  *prosi  (könnte  nur  *prüs 
oder  höchstens  priise  lauten),  sondern  entweder  3.  Pers.  Sing.  Präs.  ^rosaj-e 
[prasaje]  oder  Imperat.  prösaj  [präsaj]. 

Warum  loühe^  aber  ivclbyich? 

Urslav.  0  wird  im  Drawänischen  entweder  G  oder  ii,  und  zwar  ist  diese 
Vertretung  von  denselben  Bedingungen  abhängig,  die  den  Wechsel  des  ia 
[io] — e  herbeiführen:  folgende  Härte  verlangt  ö,  folgende  Weichheit «.  Voraus- 
gehendes rt' hindert  bekanntlich  diesen  Prozeß :  u-än,  wäkü  [oko,  icoko);  folgt 
jedoch  Weichheit,  so  verliert  das  ic  seinen  Einfluß: 

würe  aus  tvürje,  ivorje  aber  wärat,  tv'ärac  [ivorat,  worac). 
Aus  2üo5e  kann  nur  wiihe  werden;  wenn  Schleicher  aus  *icoMch  die  verzeich- 
nete Form  wäbyich  »beiderlei«  hervorgehen  lassen  will,  so  können  wir  ihm 
nicht  beistimmen.  Wähyich  beruht  ani  tvobojich  (cf.  oboje],  woraus  eben  Laut 
für  Laut  ivähüjich  werden  muß,  das  ä  weist  mit  voller  Bestimmtheit  auf  folgen- 
den gutturalen  Laut. 

Beweis  für  den  Wandel  des  altpolab.  er  (aus  /)  zu  clr.  \ 

Die  Urkunden  bieten  uns  als  Vertreter  des  r  stets  er:  O.-N.  Smerdeh  (cf.  ' 
Smrdelje  in  Dalmatien,  poln.  smierdziel),  Ferch,  Ferchesar,  Werchlaß,  Verchen- 
tin  (identisch  mit  poln.-kas.  Wiefchucin,  das  -e)itin  nach  Gutturalen  ist  nur 
sekundär,  die  echt-slav.  Form  ist  *Verchuti7i;  cf.  Techeniin,  alt  richtig  Te- 
chutin).  Im  Drawänischen  ging  nun  dieses  er  in  är  über:  smärde,vdrch,  värba 
etc.  Die  deutschen  Lehnwörter  bieten  uns  den  sicheren  Beweis  für  diesen 
Wandel.  Wem  das  Beispiel  werden  >>  ivdrdöt  nicht  beweiskräftig  genug  er- 


I 


Kleine  Mitteilungen.  443 

scheint,  der  muß  wohl  jeden  Einwand  gegen  das  folgende  Beispiel  verstum- 
men lassen:  Das  deutsche  «Kerl«  wurde  zunächst  in  dieser  Form  übernom- 
men, nur  mußte,  dem  Lechischen  entsprechend,  das  k  vor  dem  palatalen 
Laute  erweicht  werden:  Ä'er/;  daraus  entwickelte  sich  später  kjärl,  tjarl. 
Die  Erweichung  des  k  wäre  rein  unbegreiflich,  wenn  nicht  kerl,  sondern  ein 
dialekt.  deutsches  Karl  zugrunde  läge.  Auch  im  Niedersorbischen  beweisen 
gerade  die  Wörter  mit  Guttural  +  r,  daß  die  Formel  tartin  diesem  Dialekte 
erst  aus  tert  entstanden  ist:  während  im  Polnischen  und  Polabischen  seit 
jeher  nur  skarh  gesagt  wurde,  stellt  sich  das  niedersorbische  skjarb^)  eben 
wegen  der  Erweichung  als  sekundäre  Form  aus  älterem  skjerb  [skerh)  dar. 

Vertretung  des  ^  im  Polabischen. 

Schleicher  vermochte  nicht  zu  ermitteln,  warum  das  urslav.  i  bald  durch 
rt,  bald  durch  ( a)  ja  ersetzt  wird.  Zu  dün  [dhn)  verglich  er  das  serbokroat.  dan 
und  wollte  überhaupt  die  Laute  identifizieren.  Da  ist  aber  zu  bedenken,  daß 
der  serbokroat.  Laut  ein  reines  a  ist,  während  der  draw.  Laut,  ein  Mittellaut 
zwischen  a  und  0,  nach  dem  Zeugnis  der  Urkunden  und  Ortsnamen  auf  o 
zurückgeht.  Der  Halbvokal  ü  ist  durch  0  vertreten  z.  B.  in  wosoj?  (poln.  osej)). 
Auch  die  O.-N.  Dolgemost,  Tolstefanz  (cech.  O.-N.  Tlustovous)  sind  als  Be- 
lege für  ü  aufzufassen.  Der  Wandel  des  alten  o  (aus  u]  zu  ä  hat  nichts  Be- 
fremdendes an  sich;  wir  wissen,  daß  yläica  aus  glowa  entstanden  ist:  O.-N. 
Lupeglowe  [Liipeglowij,  südsl.Name  ie^po^/ai'),  Zarneglowe  [Carnoglowy],  Glowe 
auf  Rügen;  wie  sich  nun  glowa  und  slowo  verschieden  entwickelten  {gläwa- 
slüwü},  ebenso  gingen  altpolab.  slovo  u.  dolg  später  auseinander:  slüicü-däug. 
Das  polab.  ü  ist  also  vom  serbokroat.  a  seinem  Ursprünge  und  seiner 
Lautnuance  nach  verschieden.  Aber  noch  ein  weiterer  wichtiger  Unterschied 
läßt  sich  feststellen.  Während  im  Serbokroatischen  i  und  n  durch  dasselbe  a 
ersetzt  werden,  also  zusammenfallen,  liegt  im  Polabischen  das  echt-lechische 
Prinzip  vor,  daß  ^  mit  ü  nur  bei  folgender  Weichheit  zusammenfällt:  da- 
her dün  [dini],  pän  [pini],  divärai  [doiri].  Bei  folgender  Härte  und  unter  dem 
Tone  wird  i  im  Polabischen  durch  erweichtes  ä  (also  Ja)  ersetzt: 
oril  >•  würjäl 
koUl  ^  kütjul 
OVIS  >•  wüwjäs,  mit  Vereinfachung  des  tcj  ]>y  ivvj'äs,  aber  wihcäsue  weU 

ovtstny) 
ptsü'^j)Jäs,  ailiGT  VluraX  jnsl  =  pasa't ,  wie  Hennig  ganz  richtig  anführt. 
Schleicher's  Korrektur  in  *pjasai  ist  zu  verwerfen. 
Überhaupt  bietet  sich  hier  wieder  im  Niedersorbischeu  eine  Parallele: 
liier  geht  'e  (aus  t]  vor  folgender  Härte  und  unter  dem  Tone  in  Ja  über:  es 
stimmen  also  scheinbar  2)  überein 

niedersorb.  pjas  (aus  p'es)  —  draw.  pjäs. 

')  Im  O.-N.  Skjarhosc  (ältere  Form  Skerbosr),  aber  poln.  nur  Skarhi'szcwo. 

2)  Die  Geschichte  des  'i  im  Altpolab.  u.  Draw.  ist  von  mir  in  einem  an- 
deren Aufsätze  beliandclt  worden;  ich  betone  nochmals,  daß  a  und  n  dorn 
Altpolab.  ganz  unbekannt  sind. 


444  Kleine  Mitteilungen. 

Das  Gesetz  der  zwischentonigen  Silbe. 

Im  Draw.  wurden  die  zwischentonigen  Silben  anders  behandelt  als  die 
betonten  und  vortonigen.  Die  nachtonigen  Silben  teilen  zumeist  die  Schick- 
sale der  zwischentonigen. 

Zwischeutoniges  a  widersteht  dem  Übergange  in  6: 
üpaden'^  eüpaden,  aber  eupödäl  [upadl  mit  sekundärem  ü  wie  im  Slovak. 

upadol) ; 
üzasen  (zu  uzasiti)  ]>•  eüzasen. 
Die  zwischentonigen  e-Laute:  e,  ö  (aus  o]  und  e  gehen  sehr  häufig  in  a  über: 
Itndtaroma  =  mäterina 

Ipolab.  wbsteri6a  {2MB  jesterida)  QYgiht  wistarei6a. 
..  f  na  mori  =  no  mürai  =  no  inai'ai 
\pogony  =  pügöndi  =  pug andi,  bei  Schulze  natürlich  püdjana  geschrieben. 
^1  ivohäsen  =  wühasen 
(wungsaneica  aus  wqsSnica. 

Warnsdorf.  Julius  KoUischke. 


Das  sogenannte  Müller'sche  Taterunser  —  eine  plumpe 
Mystifikation. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  polabischen  Sprachstudien  infolge  der  mangel- 
haften Aufzeichmingsweise  der  Denkmäler  in  argen  Mißkredit  gekommen 
sind;  es  bedurfte  erst  der  Anregung  der  Jablonowskischen  Akademie,  um  das 
geschwundene  Interesse  der  Slavisten  wieder  auf  die  überlieferten  Sprach- 
denkmäler zu  lenken.  Es  läßt  sich  leicht  nachweisen,  daß  die  Überlieferung 
im  ganzen  besser  ist  als  ihr  Euf ;  ein  eingehendes,  streng-kritisches  Studium 
der  Aufzeichnungen  wird  die  großen  Verdienste  Mithofs,  Pfeffingers,  Do- 
meiers,  Hennigs  und  Parum-Schulzes  erst  in  das  richtige  Licht  setzen.  Alle 
diese  Sammlungen  sind  wertvoll  und  wurden  auch  von  dem  bekannten  Arzt 
Jugler  bei  Herstellung  seines  bis  heute  noch  ungedruckten  Wörterbuches  zu 
Rate  gezogen. 

Die  Schmerzenskinder  der  Forscher  sind  aber  zwei  Aufzeichnungen  ge- 
ringeren Umfanges:  das  Wörterverzeichnis  von  Hiutz  (aus  d.  Jahre  17S6)  und 
das  »Wendische  Vaterunser«  samt  »Wendischer  Beichte«  von  Müller. 

Hilferding,  dem  nur  ein  Fragment  des  Parum-Schulze'schen  Wörter- 
buches vorlag,  konnte  natürlich  nicht  wissen,  daß  das  Wörterverzeichnis  des 
Sekretärs  Hintz  nur  eine  Abschrift  aus  dem  Schulze'schen  Originale  i)  war, 
und  schrieb  daher  diesem  Denkmal  eine  Bedeutung  zu,  die  ihm  gar  nicht  zu- 
kommt: er  bezeichnete  es  als  die  letzte  Aufzeichnung  der  »lebenden«  Sprache, 
was  selbstverständlich  ein  gewaltiger  Irrtum  war.  Um  17S6  konnte  man,  um 
ein  Wort  Hennigs  zu  gebrauchen,  selbst  um  Geld  keinen  Wenden  mit  seiner 


1)  Dieses  ist  jetzt  nicht  mehr  vorhanden ;  glücklicherweise  besitzen  wir 
davon  eine  Abschrift,  jetzt  in  der  Ossolinskischen  Bibliothek  zu  Lemberg. 


Kleine  Mitteilungen.  445 

Sprache  hören.  Ebenso  ist  es,  wie  bereits  der  kritische  Jugler  ahnte,  pure 
Fabelei,  daß  um  1799  ein  Landwirt  namens  Wan-atz^)  noch  das  wendische 
Vaterunser  beten  konnte. 

Hilferdings  Lrtum  hinsichtlich  der  Hintze'schen  Aufzeichnungen  er- 
scheint aber  immerhin  begreiflich  und  ist  übrigens  von  geringerer  Bedeutung. 
Ganz  anders  verhält  es  sich  aber  mit  den  Müller'schen  Sachen.  Ich  kann  es 
hier  gleich  aussprechen :  In  diesem  Falle  handelt  es  sich  um  eine  dreiste,  zy- 
nische Mystifikation,  der  auf  die  Spur  zu  kommen,  mir  endlich  gelungen  ist. 

Dieses  famose  «Wendische Vaterunser«  samt  »Wendischer  Beichte«  war 
Jugler  (um  1 809)  noch  unbekannt ;  wir  können  getrost  sagen,  daß  sein  Spür- 
sinn es  aufgefunden  hätte,  wenn  es  zu  jener  Zeit  überhaupt  irgendwo  existiert 
hätte.  Bezeichnenderweise  erschien  es  erst  im  Jahre  18  22  im  »Neuen  Vater- 
land. Archiv«  (Lüneburg).   Interessant  ist  die  Art  der  Veröffentlichung: 

Nachdem  der  »wendische«  Text  gegeben  wird,  bemerkt  ein  gewisser 
Müller,  er  habe  das  wendische  Vaterunser  und  die  Beichte  nach  den  Worten 
seiner  Großmutter  Emerentia  Wehlings  aufgezeichnet,  da  ein  Verwandter  von 
ihr  der  erste  deutsche  Prediger  zu  Bühlitz  gewesen  sei. 

Nach  dieser  mit  Müller  gezeichneten  Bemerkung  ist  zu  lesen: 

Dieser  Müller  war  Bürgermeister  in  Lüchow  (f  1755);  unter  seinem 
Nachlasse  befand  sich  auch  das  vorhergehende  alte  Manuskript.  Mir  ist  das- 
selbe im  Jahre  1789  von  dem  Herrn  Lieutenant  Korff  unter  dem  Wendischen 
Landregimente,  der  zu  Lüchow  wohnte,  geschenkt  worden. 

C.  F.  G.  Hempel. 

Doch  besehen  wir  uns  einmal  dieses  »wendische«  Vaterunser.  Es  lautet: 

Eyta  nossi  tang  toy  bist  en  Neby,  Sjenta  werde  tija  geyny,  kommoja 
tija  Eitge,  tija  Wilja  blyoye  kock  en  Neby  koick  en  Simea,  nossi  wisse  dan- 
neisna  stjeiba  dogeyra  nöss  däns,  un  schenkös  nossi  weineck,  kock  wy 
Schenkot  nossi  weinecker,  un  bringoye  nos  en  wienick  wersücke,  sseze  die 
sölva  nus  de  ggreck,  wiltiya  blift  to  Eitge,  ti  Mocht  un  warchene  Büsatz  ni- 
gangka  un  nirugnissa  Amen. 

Die  sogen.  »Beichte«  ist,  ein  einziges  Sätzchen  [Tu  Christe  wirdje  Ritzt] 
ausgenommen,  nur  eine  an  einzelnen  Stellen  variierte  Wiederholung  des 
Vaterunsers : 

Eyta  nossi  tang  toy  bist  en  Nebj^  vyenta  tija  geyny,  kommoja  tija  Eitje, 
tija  wilja  blyoye  kock  en  Neby,  un  schenkot  nossi  weineck,  kock  wy  Schen- 
ckot  nossi  weinecker,  un  brinyoya  nos  en  niewick,  Tu  Christe  wirdje  Eitzt, 
schenckot  nossi  weineck  un  brinyoye  nos  niem  wersöcke  ssetze  die  Solva  in 
dina  warb  fit  Ty  sy  et  blift  to  Eitge  ti  Mocht  un  warnche  Büsatz  un  Nagangka 
Tzu  Jesu-Christ  Amen. 

Der  Slavist,  der  die  im  allgemeinen  vortreflfliche  Überlieferung  der 
kirchenslavischen  Denkmäler  keunt,  muß  einem  solchen  Hokuspokus  gegen- 
über ratlos  dastehen.    Es  sei  daher  der  Humbug  sogleich  entlarvt ! 

Der  Mann,  der  die  Mit-  und  Nachwelt  foppen  wollt 0,  —  mag  er  nun 


')  Dieser  Name,  noch  jetzt  im  »|Wendlando«  häufig  vorkommend,  ist  sla- 
visch;    ]\'arratz  =  tofi'rac  =  uwrac,  cf.  cech.  Familienname  Voräc. 


446  Kleine  Mitteilungen. 

Müller,  Korff  oder  ITempel  heißen  —  hat  diese  famosen  Sachen  nicht  nacli 
den  Worten  eines  »üroßiuütterchens"  niedergeschrieben,  sondern  mit  Uilfe 
des  Hennig'Bchen  Wörterbuches  (höchstwahrscheinlich  nach  der  Platow- 
Absclirift,  da  diese  einige  Jahre  später  in  demselben  »Neuen  vaterl.  Archiv« 
abgedruckt  wurde!)  selber  fabriziert.  Das  läßt  sich  in  geradezu  schlagender 
Weise  dartun. 

Beweis. 

Vater :  Während  die  zwei  echten  Vaterunser  (von  Mithof  u.  Hennig)  das 
deutsche  »Vater  unser«  durch  Nos  tvader  (letzteres  deutsch)  wiedergeben, 
bietet  uns  dieses  Machwerk  niclit  nur  die  Nachsetzung  des  »unser«  nach  dem 
Deutschen,  sondern  auch  das  Wort  etjta  für  Vater,  das  eben  bei  Hennig  neben 
Ijöija  und  wader  gleich  an  erster  Stelle  angegeben  ist.  Nebenbei  bemerkt,  ist 
eyta  kein  slav.  ota  [otic),  sondern  niederdeutsch. 

unser:  Im  Hennig'schen  Wörterbuch  ist  es  durch  nös  (mascul.  7ias)  und 
nössi  (analogisches  Neutrum  *nasö  nösü,  cf.  müj'ü  =  *mojö  nach  io)  übersetzt. 
Der  Mystifikator  hatte  natürlich  keine  Ahnung  von  der  Bedeutung  des  nossi 
und  setzte  es  einfach  überall  für  das  deutsche  »unser«,  »unsere«,  »unseren« 
ein;  daher  eyta  nossi,  nossi  stjciba,  nossi  weineck,  nossi  weinecker. 

der :  Da  haben  wir  wieder  einen  eklatanten  Beweis  der  Fälschung.  Bei 
Hennig  ist  »der,  die,  das«  durch  tang,  to,  ti  übersetzt.  Dieses  tang^  wofür 
eigentlich  ^e^njr  zu  lesen  wäre  (cf.  tüng  kriecht  der  Knecht,  bei  Schulze^))  er- 
scheint natürlich  auch  in  unserem  Machwerke ! 

du  :  Wie  bei  Hennig  toy. 

bist:  Dafür  findet  sich  bei  Hennig  natürlich  keine  Übersetzung.  Der 
Mystifikator,  den  wir  X.  nennen  wollen,  war  nun  in  Verlegenheit;  doch  da 
man  im  »Wendlaude«  vielfach  unter  »Wendisch«  bloß  das  Plattdeutsche  ver- 
steht und  das  Hennig'sche  Wörterbuch  außerdem  Plattdeutsches  in  Hülle  und 
Fülle  bietet,  nahm  er  kurz  entschlossen  seine  Zuflucht  zum  Deutschen.  Das 
folgende  »in«  hätte  er  im  Hennig'schen  Wörterbuche  auffinden  können,  aber 
das  Wörtchen  schien  ihm  zu  unbedeutend.  Er  übersetzte  also  »bist  in«  durch 
»bist  6)1«. 

Himmel :  Während  die  echten  Fassungen  des  Vaterunsers  u-a  nihisjeu 
=  wü  *nehesju)  aufweisen,  konnte  X.  natürlich  nur  das  von  Hennig  überlieferte 
(unflektierte  Neby  an  die  Stelle  setzen. 

Heilig :  Hennig  hat  sjimta,  X.  liest  u  als  e,  daher  bei  ihm  sjenta,  woraus 
durch  weitere  Verballhornung  in  der  »Beichte«  vyenta  wird! 

dein  :  Wie  bei  Hennig  tija. 

Name :  Hennig  gibt  gnmang  und  geirty  an,  aus  letzterem  hat  X.  durch 
falsches  Lesen  geyny  gemacht ! 

komme  :  X.  schlug  bei  »kommen «  nach  und  schrieb  dann  die  von  Hennig 
gegebene  Form  kommoja  (eigentlich  1.  Pers.  Sg.  Präs.  für  komojang  oder 
3.  Pers.  Sg.  Präs.  für  komoje,  also  »ich  komme,  er  kommt«)  genau  ab! 

Reich :  Wieder  ein  äußerst  interessanter  Fall !  Eeich  =  regnum  heißt  nach 
dem  Ausweis  der  beiden  echten  Vaterunser  ImDraw.rtZ;  (aus  dem  Deutschen); 

1)  Ferner  tungsame  (derselbe)  bei  Hennig ! 


Kleine  Mitteilungen.  447 

Hennig  hat  nun  dieses  Reich  =  regnum,  draw.  rik  in  sein  Wörterbuch  nicht 
aufgenommen,  wohl  aber  das  Eigenschaftswort  »reich,  ein  Reicher«),  was 
durch  Rüge  (ebenfalls  deutsch,  aber  mit  slav.  Endung  *rili-y)  übersetzt  wird. 
Der  Mystifikator  X.  setzte  daher  in  plumper  Weise  für  Reich  =  regnum  das 
Hennig'sche  Reich,  ein  Reicher  =^  Ritge  ein ! 

Wille :  Hennig  Willja,  darnach  X.  Wilfa. 

geschehe:  Da  X.  kein  »geschehen«  fand,  ersetzte  er  es  durch  das  Hen- 
nig'sche  »bleiben  =  Bli/öye«  (eigentlich  »er  bleibt«).  X.  schreibt  ebenfalls 
hlyoye,  läßt  nur  den  Akzent  weg. 

wie:  Hennig  und  darnach  X.  hock;  man  beachte  die  Übereinstimmung 
in  der  Schreibung  mit  ck ! 

als  :  Dafür  bietet  Hennig  kack,  X.  las  es  fälschlich  als  koick ! 

Erde :  Genau  nach  Hennig  Simea ! ! 

täglicli :  Genau  wie  Hennig  wisse  danneisna ! 

Brot :  Nach  Hennig  genau  stjeiba  (Nominativ,  während  der  Zusammen- 
hang den  Akkusativ  verlangt;  abgeschrieben. 

gib  :  Heunig  bietet  unter  »geben«  die  Form  dogeim  (=  *daji  mi  gib  mir!), 
X.  entstellt  diese  Form  zu  dogeyraW 

uns:  X.  ersetzte  es  durch  »unser",  wofür  Hennig  eben  nos  an  erster 
Stelle  bietet. 

heute :  Nach  Hennig  ddns. 

vergib :  X.  suchte,  da  das  Wort  bei  Hennig  fehlt,  das  sinnverwandte 
»schenken«  nach.  Die  angeführte  Form  szenköt  (Infinitiv!)  setzte  er  einfach 
ein;  das  scknikös  ist  nur  ein  Druckfehler,  da  dieselbe  Stelle  in  der  »Beichte« 
und  auch  das  zweimal  vorkommende  »wir  vergeben«  durch  schenköt  übersetzt 
werden. 

Schuld:  Bei  Hennig  lesen  wir:  Schuld  (debitum)  daug,  Schuld  culpa) 
Weineck  (letzteres  eigentlich  loinnik  Schuldner!).  X. verstand  das  Lateinische, 
darauf  weisen  übrigens  auch  das  TuChriste  und  solva,  und  schrieb  das  iceinech 
genau  ab.  Nach  dem  Muster  des  deutschen  »Schuldig- er«  bildete  er  ein 
weineck-  e  r ! 

wir :  Fehlt  bei  Hennig,  daher  durch  plattdeutsches  tvi  wiedergegeben. 

Die  Bitte  »und  führe  uns  nicht  in  Versuchung«  übersetzte  er  nur  einmal 
halbwegs  verständlich:  un  hrinyoye  nos  niem  (richtig  zu  lesen:  ni  en)  icersöcke. 
hri)iyoye,  wofür  er  die  beiden  anderen  Male  hringoye,  hrinyoya  schreibt,  ist 
natürlich  wieder  aus  Hennigs  Würterbucli,  das  für  »bringen«  an  zweiter  Stelle 
eben  dieses  hringoye  (»er  bringt«)  bietet.  Auch  das  ni  geht  zurück  auf  Hennigs 
»nicht  niv-  ...  (an  erster  Stelle).  Sonst  ließ  er  das  »nicht"  einfach  weg,  so  daß 
seine  zwei  anderen  Übersetzungen  der  Bitte  eigentlich  das  Gegenteil  besagen 
würden :   un  briugoye  nos  en  wienick  wersöcke ! 

un  bringoya  nos  en  niewick  (verschrieb,  f.  wienick) ! 
Für  »Versucliung«  setzte  er  einmal  loicnick  und  wersöcke  (ganz  plattd.,  lieißt 
»ich  versuclie«!),  dann  wieder  ivienick  allein,  in  der  dritten  endlich  gebrauchte 
er  nur  das  yxücrsücke".  Man  sieht,  der  Mann  liatte  Sinn  lür  Abwechslung! 
Wienick  ist  natürlich  das  obige  tocineck,  und  zur  Bildung  des  u-ersöcke 
(deutsch,  doch  mit  drawän.  Anlaut  w  für  v)  gab  ihm  Hennigs  »versuchen  rrar- 


448  Kleine  Mitteilangen. 

sikol«  den  Anstoß.  —  »sondern  erlöse  uns  von  dem  Übel«  war  für  X.  eine  zu 
harte  Nuß.  Beim  Blättern  im  Wörterbuche  stieß  er  auf  <-  Entgegen  i)  =  ssize«. 
Dieses  »entgegen«  schien  ihm  dem  »sondern«  nahezukommen;  daher  sein 
88eze\  Man  beachte  die  Doppelschreibung  des  s ! 

die  sülou,  in  der  Beichte  die  Solva,  ist  nichts  anderes  als  das  drei  Zeilen 
unter  dem  -sseze  stehende  ilirsolsa  (=  iJerzal  sq  er  hielt  sich,  enthielt  sich  , 
woraus  X.  teils  durch  Verlesen,  teils  unter  dem  Einfluß  lateinischer  Reminis- 
cenzen  die  sölva,  die  Solva  machte;  die  Anknüpfung  an  »solve,  Sünden 
absolv-ieren«  lag  ihm  nahe,  da  er  »Übel«  durch  »Sünde«  ggrUck  wiedergab; 
dieses  entspricht,  von  dem  Schreibfehler  ck  für  ch  abgesehen,  genau  dem 
Hennig'schcn  ggrech.  Die  für  Hennig  charakteristische  Schreibweise  gg  =  g 
kehrt  also  bei  X.  wieder! 

de  ist  niederdeutscher  Artikel,  wil  =  hochdeutsch  weil,  hlift  =  hoch- 
deutsch bleibt. 

Die  Artikel  to,  ti  sind  dem  Wörterbuch  entnommen:  Hennig  tang,  to,  ti. 

Ebenso  entsprechen  sich: 

X.  3föcht,  Hennig  »Macht  und  Gewalt  =  Mocht". 

X.  Warchene  Büsatz,  Hennig  »Höchste  Gott  =  Warchene  Büsatz«,  in 
der  ,Beichte'  wamclie  B. ! 

Doch  nun  kommt  der  kuriose  Schluß : 

nigangka  un  nirugnissa.  Der  gewissenhafte  Hilferding,  der  das  Hempel- 
sche  Machwerk  abdi'uckte,  bemerkte,  daß  er  auch  niragnissa  statt  nirugnissa 
geschrieben  gefunden  habe,  vermochte  jedoch  die  Stelle  nicht  zu  erklären. 
Dr.  Pfuhl  in  den  »Pomniki  Polobjan  Slowjansciny«  teilt  diese  wichtige  An- 
merkung Hilferdings  mit,  erklärt  aber  auch:  »könc  nigangka  un  nirugnissa 
(besser  niragnissa)  njeda  so  zrozymjec«. 

Auch  zu  diesem  Eätsel  bietet  uns  das  Hennig'sche  Wörterbuch  den 
Schlüssel.  Der  Mystifikator  hat  ganz  willkürlich  zwei  Wörter  aus  seiner 
Quelle  hergesetzt. 

Das  jiigangka  findet  sich  wieder  unter  dem  Buchstaben  F,  U  und  zwar 
als  »unausstehlich  =  iii  gang  ka 

woygarninja«. 
Die  von  Hennig  gegebene  Übersetzung  ist  natürlich  grundfalsch;  wir  haben 
zu  lesen:  unaussprechbar  =  ni  jang  ka  woygarninja  =  7ie  je  kä  *wygar- 
njenj-e;  über  diese  Form  habe  ich  bereits  in  dem  Aufsatze  » Drawäno-Polabi- 
sches«  gehandelt.  Das  Zeitwort  lautete  im  Altpolab.  ivygamit,  sorb.  ivygronic 
(ein  Wort  der  tort-Foxml);  im  Drawän.  laiitete  der  Infinitiv  tvoygömit,  das 
Verbalsubstantiv  %7/f/ßnyeHj7e  bewahrt  natürlich  das  zwischentonige  a: 
looy garnine.  Doch  kehren  wir  zum  Mystifikator  ziu'ück!  Dieser  begnügte  sich 


1)  Hier  liegt  ohne  Zweifel  ein  Irrtum  Hennigs  vor,  wie  öfter  in  seinem 
Wörterbuche.  Der  befragte  Wende  (Janieschke  aus  Klenow)  dachte  beim 
Wprte  »entgegen«  das  Hennig  mit  einer  Handbewegung  begleitet  haben 
wird,  an  »hauen«  und  übersetzte  es  daher  durch  sece  =  stce. 

Cf.  zusammen :  leissa  [aus  *piicanglai  sq,  -li  sp\. 

Die  richtige  Deutung  dieses  leissa  rührt  schon  von  Schleicher  her. 


Elleine  Mitteilungen.  449 

zu  seinem  edlen  Zwecke  mit  ni  gang  ka,  das  Substantiv,  das  in  der  nächsten 
Zeile  stand,  ließ  er  einfach  weg ! 

Gleich  in  der  Nähe  dieses  ni  gang  ka,  nämlich  9  Zeilen  weiter  unten,  fin- 
den wir  auch  das  geheimnisvolle  nh-ngnissa  [recte:  niragnissa)  wieder!  Wir 
lesen:  »unbeweglich  =  7nrag7i{ssa«.  Etymon:  deutsches  regen,  sich  regen 
(=  sich  bewegen);  »er  regt«  würde  wan  ragne  lauten,  »er  regt  sich  nicht«  also 
7ii  ragni  sq  =  *ne  regne  sf ;  zum  Wandel  des  deutschen  e  zu  a  cf.  Esel :  asal, 
Krewet  (hochdeutsch  Kreiveß,  jetzt  Krebs)  :  Ki-awat,  zum  Wandel  des  e  zu  i 
vor  sf  cf.  eidisa  =  ide  sf ,  kok  eidisa  vom  ?  :  kak  ide  sf  vam  ? 

Es  erübrigt  noch  zu  bemerken,  daß  in  der  »Beichte«  lucus  a  non  lu- 
cendo!)  das  Ritzt  auf  das  Hennig'sche  «Andeuten  =  Ritzt<(  (Etymon:  *rect, 
reci,  cf.  cech.  riet]  zurückgeht. 

Damit  ist  die  Beweiskette  geschlossen  und  die  plumpe  Mystifi- 
kation zur  Evidenz  nachgewiesen.  Es  freut  mich  aufrichtig,  durch  die  Ent- 
larvung dieses  dreisten  Schwindels  den  so  verrufenen  Polabicis  wieder  eine 
etwas  würdigere  Stellung  verleihen  zu  können. 

Was  schließlich  die  Person  des  Mystifikators  anbelangt,  so  scheinen  alle 
Umstände  auf  Hempel  zu  weisen.  Die  lüneburgischen  Lokalpatrioten,  die  die 
plumpe  Fopperei  natürlich  gar  nicht  merkten  und  ;man  staune!)  gerade  dieses 
sogen.  Müller'sche  Vaterunser  mit  immer  neuen  Fehlern  in  die  Kirchenbücher 
eintrugen,  um  eine  Reliquie  aus  der  Wendenzeit  zu  haben,  mögen  die  Spur 
des  Mystifikators  weiter  verfolgen !  Julius  Koblischke. 

Nachtrag. 

Weitere  Nachforschungen  ergaben,  daß  die  zwei  Machwerke  bereits  im 
Jahre  17S9  vorhanden  waren,  wie  Hempel  berichtet.  Er  sorgte  natürlich  für 
die  weitere  Verbreitung  der  Sachen  und  fand  schon  im  Jahre  1794  einen 
Mann,  der  in  die  Falle  ging:  es  war  dies  der  polnische  Graf  I.  Potocki,  der 
das  Vaterunser  (Beichte)  zugleich  mit  dem  Hennig'schen  Wörterbuch  (Platow- 
Abschrift)  in  seinem  berüchtigten  Werke  Voyage  daus  la  Basse-Saxe  ab- 
drucken ließ.  Dieser  erste  Abdruck  gewinnt  dadurcli  an  Bedeutung  für  die 
Feststellung  der  Mystifikation,  der  Text  wäre  in  dieser  Hinsicht  noch  zu  unter- 
suchen! Hempel  selbst  brachte  erst  im  Jahre  1822  sein  Machwerk  zur  Ver- 
öffentlichung in  dem  schon  genannten  Archiv  und  zwar  bezeichnenderweise 
in  einem  Aufsatze :  »Beiträge  zur  Kenntnis  des  hannoverschen  Wendlandes«. 


y  in  skythischen  Wörtern  bei  Herodot. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Aufzeichner  der  Wörter  einer  unbekannten 
Sprache  sehr  oft  die  ihnen  fremden  Laute  mehr  oder  weniger  ungenau,  aber 
mit  einiger  Konsequenz  wiedergeben.  Wir  sind  der  Ansicht,  daß  auch  Ucrodot 
bei  der  Wiedergabe  skythischcr  Namen  das  der  griechischen  Sprache  fremde  y 
häufig  durch  y  ausdrückte. 

rioQOi,'.  Ohne  uns  in  die  Analyse  der  Worte  Ilerodots  einzulassen, 
wollen  wir  bezüglich  der  Lage  des  herodoteischen  Flusses  f't(><)o>;  nur  die 

Archiv  für  slaviscbo  rhilologie.    XXVlll.  29 


I, 


450  Kleine  Mitteilungen. 

neueste  Ansicht  des  Forschers  der  sla vischen  Altertümer,  Prof.  Niederle, 
anführen.  Er  sagt:  »ich  schließe  mich  am  liebsten  der  Ansicht  jenerGelehrten 
an,  welche  in  Gerros  einen  östlichen  Nebenfluß  Dnieprs  ...  am  eljesten  Samara 
erblicken«  (Slov.  Star.  170).  Nehmen  wir  nun  an,  daß  Uerodot  j  durch  ;'  wieder- 
gab und  zwischen  den  zwei  q  einen  stummen  Vokal  «  ausließ,  so  bekommen 
wir  als  die  skythisclie  Form  des  Flußnamens  jV/>-«r-,  und  das  würde  mit  der  alt- 
russ.  Benennung  eines  östlichen  Nebenflusses  des  Dnicjjrs,  etwas  nördlicher 
von  Samara,  in  der  Form  Epi;.3i.  übereinstimmen  'die  Dissimilation  der  zwei 
aufeinander  folgenden  ?--r  in  r-l  ist  allgemein  bekannt,.  Jetzt  heißt  der  Fluß 
Orel  (Opcat). 

Dieselbe  Benennung  A'^()0),-  oder  im  Plural  Fiqqoi  führte  eine  Ürtlichkeit 
am  Dniepr:  /^t^Qi  fvy  FtQ^ov  xmqov  If  top  reaaEQCixovTa  Tj/ueQtwy  n'f.öos  iaxi 
(IV.  53),  Tr((pai  d'f  liöi'  ßaailiwf  h'  rinQoial  etat,  i^  o  o  BonvaO^ivr^g  iaxl  nQoa- 
nkoixög  (IV.  71).  Altrußland  kannte  einen  Ort  mit  dem  Namen  Epe.iL,  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  auf  dem  Flusse  Erel.  Die  russ.  Chron.  meldet  unter 
dem  J.  1183  »Ha  Micii  napuuae.Mi.Mij  Epc^L,  ero/Kc  Pyci>  sobctb  YroJiT.«  (Hypat. 
Chron.). 

^Qyiu7T((<T(e,  Name  der  skj'thischen  Ovqavir]  'hpnodir?-,  ist  allem  An- 
scheine nach  nichts  anderes  als  ^aryäma-jyasa;  vergl.  awest.  auru.ia-häzav 
weißarmig,  uyra-hüzav  starkarmig  (Bartholomae  Altir.  Wb.  191.  380),  das  grie- 
chische homerische  lev/.oiliyr,  (als  Epitheton  Heras,  i).  Vergl.  noch  die  altind. 
Eigennamen  Aryama-deva,  Aryama-datta  usw. 

M^ymnaloi ,  der  Name  eines  skythischen  Volkes,  bis  zu  welchem  die 
griechischen  Kauf  leute  kamen,  entspricht  wahrscheinlich  in  seinem  ersten  Be- 
standteil demselben  aryama^  den  zweiten  Teil  kann  man  mit  awest.  ;;«//ai- 
Hüter,  Schützer,  Schirmer  (Barthol.  888  zusammenstellen.  Die  Bedeutung 
wäre:  die  schönen,  edlen  Beschützer.  Man  vergl.  den  Namen  'Aoiudarjoi  [av- 
f^oeg  /tiovi'o(p&(i}.fjoi  Herodot.  IV.  13),  als  Aryam'a]-aspä,  die  Schönxossigen. 
Der  griechische  Name  KallmlSai  (Herod.  IV.  17)  ist  nui*  griech.  Übersetzung 
dieser  skythischen  Benennung.  Man  vergleiche  noch  die  Benennung  der 
mitten  unter  den  Skythen  ansässig  gewesenen  'Euuoiei  [oi  ccyÖQoyvi^oi,  rrju 
l4(pQodmp'  acpi  liyovai  /ucij^uxr^f  dovvcci  Herod.  IV.  67)  als  An-äryä,  d.  h. 
Nichtarier  oder  die  Unedlen. 

"Yqyig,  ein  Flußname,  ein  Nebenfluß  von  Don,  läßt  sich  erklären  mit 
Hilfe  des  awestischen  hurä  (ein  Getränke,  kumys),  altind.  surä.  Vergl.  altruss. 
Benennung  eines  Flusses  im  Fürstentum  Cernigov  Mo.io^Ha  (Annal.  s.  a.  1169), 
und  neuruss.  Molocnaja  mündet  in  das  Asowsche  Meer)  -). 

Taqyixaog,  der  Name  des  mythischen  Ahnherrn  der  Skythen  (Herodot 
IV.  5)  erinnert  im  ersten  Wortteil  an  den  altind.  Namen  Daryaka  (über  den 
zweiten  Bestandteil  vergl.  Archiv  XXVH.  242). 


1)  Daß  pasa  skythische  Form  des  alten  haza  sei,  darüber  vergl.  Archiv 
XXVn.  242. 

2)  Herodot  kennt  einen  in  Maeotis  mündenden  Fluß  Ivoyig.    Einige 
Herausgeber  Herodotos  ändern  hier  -voyig  in 'YQyig. 


Kleine  Mittheilungen.  451 

EnuQYun£iS-r]i,  der  Name  eines  skythischen  Königs,  enthält  im  ersten 
Teil  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  spärya-  (vergl.  den  Eigenn.  Inuoä-doy.os 
neben  dem  Volksnamen  ^luä-ö'oy.oC.  Die  Awestasprache  kennt  das  Epitheton 
spära-dasta-  mit  unbekannter  Bedeutung.  Der  zweite  Bestandteil  des  Namens 
ist  unzweifelhaft  das  awest.  j)aiti  =  altind.  pati-.  A.  SoboUvskij. 


Slavische  Etymologien. 

n.*) 

ürsl.  *Jedro^  *j(^zdro^  *jezgro. 

Das  erstere  Wort,  welches  in  allen  slavischen  Sprachen  die  Bedeutung 
»nucleus«,  »testiculns«,  »Kern«,  »Hode«  hat,  wurde  schon  von  Miklosich 
(E.W.)  mit  dem  altiud.  awf/a-  »Ei«,  »Kern«  in  Verbindung  gebracht.  In  der 
Tat  liegt  die  Bedeutung  dieser  Worte  so  nahe,  daß  vom  semasiologischen 
Standpunkte  diese  Etymologie  kaum  bestritten  werden  kann.  Auch  sprach- 
lich kann  sie  nur  wenig  Zweifel  erwecken,  weil  r  nach  d  im  Ai.  zuweilen 
ausfällt  und  in  der  Cerebralisieruug  des  letzteren  seine  Spur  hinterläßt. 
Vergl.  ved.  danda  =  gr.  Sevö'noi'.  Thumb,  Handbuch  §  122,  t.  Was  an  angeht, 
so  mag  an  mit  der  indogerm.  Präp.  *en  »in«  (gr.  iV,  lat.  in,  altlat.  en,  got.  in, 
lit.  i-,  in-)  in  Verbindung  treten. 

Wenn  diese  Etymologie  richtig  ist,  so  würde  slav.  und  ai.  das  Wort  »das, 
was  sich  im  Innern  des  Baumes  befindet«,  »das  Baummark«  bedeuten  und  so 
auf  das  Beste  dem  Begriffe  »Kefn«  entsprechen.  Darum  müssen  wir  sie  un- 
serer Meinung  nach  der  Etymologie  Ficks  Wb.3  1. 12  und  Prellwitz'  Et.Wb. 
d.  gr.  Spr.  4  vorziehen,  die  sl.  y^dro  mit  gr.  adQos'  »dick«,  »dicht«  und  ai. 
Sandra  (in  derselben  Bedeutung)  zusammenbringen,  ohne  die  ganze  Reihe  der 
damit  verbundenen  phonetischen  Schwierigkeiten  und  Vergewaltigungen  in 
Betracht  zu  ziehen.  Frei  von  dem  letzteren  Vorwurf  ist  der  Vergleich  Lidöns 
(Studien  zur  altindischen  und  vergleichenden  Sprachgeschichte  50  ff.);  er 
bringt  unser  Wort  mit  ved.  ädri-  »Stein«,  »Felsen«,  »Berg«  und  mit  altir.  ond 
»Stein«  zusammen,  aber  desto  mehr  Schwierigkeiten  hat  diese  Etymologie  in 
semasiologischer  Hinsicht :  denn  in  keiner  slavischen  Sprache  hat  *jrdro  die 
Bedeutung  »Stein«,  und  obgleich  Lidon  aus  anderen  Sprachen  scliüne  Pa- 
rallelen einer  ähnlichen  Bedeutungsentwicklung  vorführt  (vergl.  nhd.  Stein 
»Kern  gewisser  Früchte«,  testiculus  und  andere),  so  bleibt  doch  immer  noch 
unverständlich,  warum  slav.  *j{-dro  die  Bedeutung  von  »etwas  Liegendem,  im 
Innern  Verborgenen«  haben  soll.  Dieser  Maugel  ist  augenscheinlich  auch  für 
Lid6n  selbst,  denn  er  spricht  die  Vermutung  aus  (ib.  57),  daß  i(ig.  *n-dri  zu- 
nächst eine  allgemeinere  Bedeutung  gehabt,  etwa  »gerundeter  Körper« ;  aber 
dann  muss  er  sich  damit  einverstanden  erkliireu,  daß  das  slavische  Wort 
richtiger  und  besser  die  Bedeutung  gewahrt  als  altindisch  oder  altirisch. 
Wenn  dem  so  ist,  so  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Bedeutung  «Stein« 
im  altind.  ddri-  sich  aus  der  Bedeutung  «Baummark«  entwickelte:  das  letz- 


Vergl  oben  S.  160. 

20* 


452  Kleine  Mitteilungen. 

tere  zeichnet  sich  bekanntlich  durch  ^roßo  Festigkeit  und  Härte  aus  und 
konnte  darum  metaphorisch  leicht  die  Bedeutung  »Stein-,  »Felsena  erhalten. 
Was  altind.  cujdu-  angeht,  so  bekämi)ft  Lidcii  ib.  82  ff.  die  Zusammenstellung 
diesea  Wortes  mit  »l.jrdro,  für  welche  nach  Miklosich  noch  Prcllwitz  a.  a.  0., 
Bugge  IF.  I.  442,  Bartholomae  IF.  III.  175  und  Wackernagel  Alt.  Gr.I,  §  147, 
151  eintraten.  Lid6n  geht  in  seiner  Etymologie  nicht  von  andd-,  sondern  von 
der  älteren  Form  ändä-  aus.  Die  cerebrale  Aussprache  von  -nd-  ist  seiner 
Meinimg  nach  durch  den  Ausfall  von  /  bedingt;  als  Urform  nimmt  er  *ül-ndo- 
an,  die  ihrerseits  nach  dem  Ausfall  von  e  und  der  Ersatzdehnung  von  o  aus 
*olend-  entstanden.  Die  Wurzel  öl-  findet  sich  nach  Lidens  Ansicht  im  lett. 
üla  »Steinchen«,  lit.  tda  »Fels«.  Doch  wie  scharfsinnig  auch  diese  Hypothese 
sein  mag,  man  kann  sich  damit  nur  sehr  schwer  einverstanden  erklären,  weil 
sie  erstens  einen  noch  wenig  untersuchten  Faktor  der  Ursprache,  wie  die  Syn- 
kope mit  Ersatzlänge,  in  Anwendung  bringt;  weil  zweitens  im  gegebenen  Falle 
das ->?(Zo- allzu  vereinzelt  dasteht;  drittens  endlich  weil  altind.  «//(/a-  sein  langes 
ä  unter  dem  Einflüsse  der  an  Bedeutung  der  Präp.  *en  nahestehenden  Präp.  ä 
(=  idg.  ü  Br.  KVGr.  §  593)  erhalten  konnte.  Eine  andere  Erklärung  s.  unten. 
Überhaupt  ist,  so  einfach  im  gegebenen  Falle  die  Etymologie  von  Miklo- 
sich ist,  Lidens  Etymologie  kompliziert. 

Neben  dem  substantivischen  *jpdro  ist  in  den  slavischen  Sprachen  auch 
das  adj.  *Jpdr'h  in  der  Bedeutung  »kräftig«,  »stark«,  »schnell«  usw.  gebräuch- 
lich. Vergl.  altksl.  hÄ^piv  »hurtig«,  »schnell«,  bulg.  CÄ-Bpi.  »dick«,  »impo- 
sant«, »ausgewachsen«,  serb.  jc;iap  »dick«,  »stark«,  slov.  j^drn  »kernig«, 
»schnell«,  »hurtig«,  cech. Jddrny  »kernig«,  »jierb«,  »kräftig«,  »markig«,  obs. 
jadrny  »kiesig«,  »steinig«,  poln.  jiidmy  »kräftig«,  »stark«,  russ.  Hapeatiii 
»dick«,  »groß«,  »voll«,  »gesund«,  »stark«.  Miklosich  in  seinem  Et.Wb.  und 
unter  seinem  Einflüsse  augenscheinlich  auch  Pletersnik  halten  ursl.  *j(;drz  in 
der  Bedeutung  »stark«  für  etymologisch  verschieden  von  *j^dri  »schnell«, 
wobei  ersteres  (wenigstens  von  Miklosich)  auf  eine  mit  dem  ursl.  *ji^dro  ge- 
meinsame Wurzel  bezogen  wird.  Aber  aus  der  Bedeutung  » kräftig«,  »stark« 
konnte  leicht  auch  die  südslavische  Bedeutung  »schnell«  hervorgehen,  weil 
ein  starker  Mensch  gewöhnlich  auch  energisch  und  schnell  zu  sein  pflegt. 
Fast  zu  derselben  Bedeutung  kommt  auf  dem  gleichen  Wege  auch  das  Adjekt. 
däru-nä-s,  das  von  däru-  »ein  Stück  Baum«  hergeleitet  ist  und  das  nicht  nur 
»hart«,  »rauh«,  »unwirsch«,  »streng«,  »unbarmherzig«,  sondern  atich  »heftig, 
intensiv«,  »schmerzhaft«,  »schrecklich,  fürchterlich,  grauenerregend«  be- 
deutet. Vergl.  Osthoff  Etymolog.  Parerga  100  ff.  Dagegen  überschritt  das 
lat.  robustus  (bei  rohur  »Kernholz«)  in  seiner  Bedeutung  nicht  die  Grenze,  auf 
der  westslavisch  (ausschließlich)  und  südslavisch  (teilweise)  *J(dro  »stark« 
steht.  Osthoff  o.  c.  71  ff. 

Wenn  aber  dem  so  ist,  so  kann  man  von  *j\-dr-o  unmöglich  auch  das 
altksl.adv.  hÄ;\,po  »rfi/i«  abtrennen  (Meillet  Etudes  403),  das  ohneZweifel 
eine  Versteinerung  des  ersteren  darstellt.  Die  etymologische  Gleichheit  der 
beicien  Worte  wird  besonders  anschaulich  in  zusammengesetzten  Worten: 
lA;i,ponHCkU,k  »Schnellschreiber«  und  S'kAOWi^l.p'k  »citus  ad  malum« 
Mikl.  Lex.  Paleosl. 


Kleine  Mitteilungen.  453 

Aber  neben  dem  adv.  I/A^po  findet  sich  in  einigen  altksl.  Denkmälern 
—  allerdings  späterer  Redaktion  —  auch  das  adv.  lAS^pO  in  ganz  derselben 
Bedeutung.  Mikl.  ib.  Wohl  kaum  stimmt  dieses  Wort  nur  zufällig  an  Form 
und  Bedeutung  mit  dem  ersten  überein,  und  die  volle  Gleichsetzung  stört  nur 
der  Laut  3  nach  hA.   Woher  dieses  3? 

Obgleich  wir  die  vorliegende  Etymologie  slav.  *j(;dro  und  *j^drTj  schon 
in  kürzerer  Form  in  unserem  Buche  »Über  einige  Archaismen  und  Neubil- 
dungen der  urslav.  Sprache«  (Prag  1902),  S.  13 — 14,  aussprachen,  war  uns 
doch  damals  und  noch  lange  später  die  Beziehung  von  ksl.  hÄ3^pO 
zu  diesen  Wörtern  nicht  klar;  und  das  Wort  wäre  uns  vielleicht  für  immer 
rätselhaft  geblieben,  wenn  uns  nicht  unerwartet  das  Buch  Herrn  Endselin's 
»JlaTMmcKio  npe^-ioru«  (Jurjew  1905)  geholfen  hätte.  In  diesem  schönen 
Buche  gibt  uns  der  Verfasser  eine  scharfsinnige  Etymologie  der  lettischen 
Präposition  iz  »in«,  »auf«  aus  *in-z  »in«:  die  Formen  iz  »in«  und  iz  »auf«  sind 
aus  %z  in  proklitischer  Stellung  verkürzt  (S.  105).  Nach  Endselin's  Meinung 
(ib.  S.  89)  ist  mit  dieser  Präp.  *in-z  auch  lit.  /«-.identisch,  das  »eine  Zusam- 
menrückung der  Präp.  in  mit  der  Part.  z{i)«.  darstellt,  die  ihrerseits  mit  dem 
bekannten  Affix  -zi,  slav.  Präpositionen  in  nächster  Verwandtschaft  steht, 
z.  B.  *vi-s?,,  */-z7.,  *ra-£ö,  *he-zz  usw.  Diese  Etymologie  ist  in  der  Tat  sehr 
wahrscheinlich:  wenn  aflf. -r-ö  schon  im  Baltisch-slavischen  sich  mit  einigen 
Präpositionen  verband,  so  konnte  darunter  auch  leicht  sich  Präp.  *n  oder  *en 
befinden;  als  Ergebnis  ihrer  Verknüpfung  mußte  dann  Präf.  nz-  erscheinen, 
das  im  Slavischen  nur  *fz-  lauten  konnte.  In  der  weiteren  Entwicklung  der 
slavischen  Sprachen  verlor  sich  der  selbständige  Gebrauch  des  Präfixes  fs, 
und  es  erhielt  sich  nur  in  einzelnen  zusammengesetzten  Worten.  Zur  Anzahl 
dieser  Worte  gehörte  auch  *j(zdro,  das  auf  diese  Weise  sich  von  *jrdro  nur 
durch  ein  anderes  (nämlich  zusammengesetztes)  Präfix  unterscheidet.  Nun 
ist  es  sehr  möglich,  daß  auch  ai.  ündä-  aus  *e»g-dro  entstanden  ist  und  daß 
folglich  ai.  ädri- :  ai.  ündä-  =  slav-^fc^ro  :  jc^zdro.    Vergl.  Brandt  ^on.  saM,  78. 

Man  könnte  uns  in  Betreff  dieser  Etymologien  entgegnen,  daß  das  adv. 
jqzdro  in  seiner  Bedeutung  nicht  mit  dem  Substantiv  *ji;dro  übereinstimme. 
Aber  wir  sahen  oben,  daß  als  bindendes  semasiologisches  Glied  zwischen  den 
beiden  Worten  im  Altbulgarischen  adj.^Vf/r'ö  »stark«,  »schnell«  und  adv. jVtfro 
»schnell«  erscheinen. 

Übrigens  kann  man  als  Nebenbeweis  für  die  Existenz  des  Subst.  *j{zdro 
im  Urslavischen  das  bulg.  learpo  und  serb.  ^\x\t%t.  jhepa  »Kern«  anführen.  In 
seiner  Bedeutung  fällt  dieses  Wort  ganz  und  gar  mit  der  Bedeutung  von 
*jidrn  zusammen;  es  steht  ihm  dazu  ganz  nahe  in  seiner  Form,  und  sogar  3 
nachye  kann  uns  jetzt  keine  Schwierigkeiten  machen,  da  wir  die  Etymologie 
von  *jozdro  wissen:  je.w  ist  hier  aus  dem  Präf.  *{iz-  =  *ji;z-  abzuleitcu.  Aber 
jetzt  erhebt  sich  ein  neues  Rätsel,  nämlich  warum  statt  d  in  ji^^pa  <•  er- 
scheint? 

Miklosich  war  in  seinem  Etym.  Wörterbuch  augenscheinlich  geneigt,  es 
phonetisch  aus  d  zu  erklären.  Aber  im  Serbischen  geht  f)  nach  3  niemals  in  g 
über,  was  schon  daraus  ersichtlich  ist,  daß  in  keinem  serbischen  Denkmal 
und  in  keinem  serbischen  Dialekte  Formen  anzutreffen  sind,  wie  etwa  z.  B. 


454  Kleine  Mitteilungen. 

*je3sumu  zitdi  jejdumu.  Warum  sollte  denn  gerade  nur  in  dem  Worte  *j(^dro 
d  in  g  übergehen  ? 

Da  wir  also  unmöglich  *j^zgro  aus  *jp^zdro  phonetisch  erklären  kijnnen, 
bleibt  uns  nichts  Anderes  übrij^,  als  für  -gra  eine  von  -dro  verschiedene 
Herkunft  anzunehmen.  Ob  man  hier  nicht  dieselbe  Wurzel  erblicken  kann, 
die  sich  im  altbulg.  rp'KM'K  »cfviouu^  »Gebüsch«,  serb.  rpM  »Art  Eiche«, 
slov.  grm  »Strauch«,  »Busch«,  »Ilaselnußstaude«,  »die  grüne  Stechpalme«, 
bulg.  rpiMOÄP'Bue  »Dorn«  verbirgt?  Im  bejahenden  Falle  wäre  subst.  *jfiz- 
gro,  das  sich  zudem  in  allen  den  Sprachen  findet,  in  welchen  wir  *yrzmz  an- 
treffen, parallel  mit  *J{'dro  und  *jpzdro  nicht  nur  seiner  Bildung  nach,  sondern 
auch  nach  Form  und  Bedeutung:  alle  drei  Wörter  würden  in  ihrer  ersten 
Bedeutung  »das  Baummark «,  »Kern«  (jwpo)  bezeichnen. 

Was  die  Form  der  Wurzeln  *dro-  und  *gro-  betrifft,  so  bietet  die  erstere 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  Schwundstufe  der  zweisilbigen  Wurzel 
*dereu  *dru.  Die  zur  Familie  dieser  Wurzel  gehörenden  Glieder  sind  schon 
von  Osthoff  in  seinem  Buche  Etym.  Parerga  I.  138 — 145  betrachtet.  Indem 
wir  den  Leser  in  bezug  auf  Einzelheiten  auf  dieses  Buch  verweisen,  heben 
wir  hier  nur  hervor,  daß  nach  Osthoff  unter  anderm  die  Wurzel  *dreu  sich  in 
dem  zweiten  Bestandteil  des  griech.  Subst.  Jir-Joeo-j'  (o.  c.  145)  birgt.  Neben 
der  letzteren  Form  wird  griech.  Siv-S^tos  und  öty-d^ov  gebraucht,  deren  -öqos 
und  -dQoy  unserem  -dro  entspricht.  Um  -tFooi-  und  -iffioy  aus  -(foeof  zu  er- 
klären, stellt  Osthoff  ziemlich  künstliche,  kühne  und  hauptsächlich  über- 
flüssige Hypothesen  auf;  denn  idg.  *drti  konnte  schon  in  der  Ursprache  sich 
in  -drom  unter  dem  Einfluß  der  Stämme  auf  -o-  verwandeln.  Analog  *dru 
bildete  sich  auch  wahrscheinlich  *gro  (slav.  *j^zgro)  aus  der  Schwundstufe 
*gru  der  Wurzel  *gercm.  Und  genau  so  wie  Wurzel  *dereu  in  Verbindung 
mit  dem  Suffix  -mo-  gr.  ^Qv/xd  »Wald«,  ai.  drumd-s  »Baum«  und  vielleicht 
auch  russ.  äpom%  »Waldschlucht«,  »Reisig«  (woher  mittelst  Volksetymologie 
Äpe^Mt  »apsMyiiä  JiicB«  Pogodin,  CiiÄW  KopHeM-ocHOB'B  257 — 258)  —  bildete 
Wurzel  *gereti  das  Substantiv  gr^ni'b.  Auf  Grund  einzelner  Formen  auf -m  im 
Altbulg.  und  Serb.  zählt  Meillet  Etudes  I.  427  sie  zu  den  Stämmen  auf  -u-, 
aber  wie  Leskien  Handbuch"*  §  57  bemerkt,  konnten  diese  Formen  unter  dem 
Einflüsse  der  Subst.  auf  -u  entstehen. 

Wurzel  *gro-  aus  -gereii  herleitend,  möchten  wir  auf  den  vollen  Paralle- 
lismus oder  sogar  die  volle  Übereinstimmung  der  Bildung  von  *jQdro  und 
*j^zgro  hinweisen.  Aber  es  versteht  sich  von  selbst,  daß  unsere  Etymologie 
auch  dann  nicht  erschütter*-,  würde,  wenn  Wurzel  *gr%  mit  den  Stämmen  auf 
-o  oder  -ä  zu  verbinden  wäre.  Im  letzteren  Falle  könnte  man  sie  mit  dem 
ursl.  *gora  in  Verbindung  bringen.  Bekanntlich  bedeutet  dieses  Wort  in  den 
südslavischen  Sprachen  zum  Teil,  im  Lit.  aber  [glre]  ausschließlich  »Wald«. 
Gleich  vielen  andern  Wörtern  fem.  g.  auf  -ä,  konnte  auch  *gora  zunächst 
kollektive  Bedeutung  haben:  »Mengen  oder  Massen  von  Bäumen«.  Da  aber 
in  Berggegenden  die  Abhänge  und  Felsen  deckenden  Wälder  fast  immer 
einen  scharfen  Gegensatz  zu  den  Tälern  und  Ebenen  bilden,  so  konnte  die 
Bezeichnung  »Wald«  metany misch  oder  metaphorisch  auf  das  übertragen 
werden,  was  der  »Wald«  bedeckt,  nämlich  auf  »Berge«  und  »Felsen«.    Wenn 


Kleine  Mitteilungen.  455 

dem  so  ist,  wird  es  erklärlich,  warum  die  Litauer,  deren  Land  kein  Bergland 
ist,  unser  Wort  nur  in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  bewahrt  haben. 

m. 

Ursl.  *svhsth. 

Wie  Meillet  Etudes  286  richtig  bemerkte,  ist  dieses  Wort,  das  »die 
Schwester  der  Frau«  bedeutet  und  durch  altruss.  cbbcti.,  serb.  CBäcT,  slov. 
svast,  poln.  swieic  belegt  ist,  nicht  recht  klar.  Aber  es  ist  nicht  in  seinem 
Wurzelteile  unklar,  welchen  die  Forscher:  JlaBpoECKiü  Kopenuoc  sna^eHie  bx 
iiasBauiflxt  po;i;cTBa  y  ciaBHUi.  78,  Mikl.  Et.  Wtb.,  Schrader  IF.  XVII.  22  und 
andere  schon  längst  mit  dem  pron.  *siioi-  zusammenbrachten;  sondern  im 
Suffixe,  wo  Meillet  I.e.  dieses  Wort  zu  den  Substantiven  mit  Suffix  -th  bezieht, 
zu  denen  er  auch  die  zahlreichen  slavischen  Abstracta  auf -5^6  rechnet,  wie 
z.  B.  G/XarOCTk,  Y'KlTpctCTK,  HHCTOCTK  USW.  Die  Entstehung  der  letz- 
teren erklärt  er  folgendermaßen :  N.  Akk.  der  Subst.  auf  -s-  (z.  B.  solcher  wie 
*ü)ighos)  erhielt  analog  den  zahlreichen  Abstracta  auf  -ti-  deren  Suffix  zur 
Verstärkung  ihrer  abstrakten  Bedeutung.  Von  den  Subst.  *f/zos-<6  usw.  wurde 
dann  das  Suff,  -stb  abstrahiert,  das  schon  im  Urslavischen  eine  produktive 
Bedeutung  bekam. 

Diese  Hypothese  ist  jedoch  sehr  unwahrscheinlich:  abgesehen  schon 
davon,  daß  sie  ganz  und  gar  nicht  den  Vokalismus  -o-  in  der  Mehrzahl  un- 
serer Subst.  erklärt,  —  denn  die  s-Stämme  im  Ursl.  haben  gewöhnlich  das 
Suff,  -es-  und  nicht  -os-,  —  macht  Meillet  in  seiner  Hypothese  zwei  metho- 
dologische Fehler.  Meillet  sagt  allerdings  die  Wahrheit,  wenn  er  betont,  daß 
die  Substantiva  auf -5^6  in  den  slav.  Sprachen  gewöhnlich  abstrakte  Bedeu- 
tung haben,  aber  er  fragt  sich  leider  nicht,  ob  diese  immer  vorhanden  war 
oder  (sei  es  auch  schon  in  der  idg.  Zeit)  aus  einer  andern,  konkreteren  Be- 
deutung entstand.  Denn  aus  der  Geschichte  des  Gedankens  wie  aus  der  Ge- 
schichte der  Sprache  ist  es  bekannt,  daß  die  abstrakte  Bedeutung  in  der 
großen  Mehrzahl  der  Fälle  sich  aus  der  konkreten  entwickelt,  und  wo  haben 
wir  die  Garantie,  daß  im  gegebenen  Falle  nicht  dasselbe  zutrifft?  Zweitens 
geht  Meillet,  um  die  Kategorie  der  Subst.  auf -s('6  zu  erklären,  von  einem 
oder  zwei  Worten  aus,  in  betreff  derer  man  mit  Sicherheit  sagen  kann,  daß 
sie  im  idg.  wie  die  Stämme  auf -os-  dekliniert  wurden.  Doch  ist  die  Zahl  der 
Subst.  auf -5^6  in  den  slav.  Sprachen  so  groß,  daß  es  ungewiß  bleibt,  ob  nicht 
*qzosti>  analog  nach  dem  andern  Subst.  auf  -stb  gebildet  ist.  Und  in  solchem 
Falle  braucht  *qzo-  mit  dem  alten  Stamme  auf  -os-  nichts  Gemeinsames  zu 
haben  .  .  . 

Von  diesen  beiden  nietliodologischen  Mängeln  —  dem  Ignorieren  der 
allmählichen  Bedeutungsevolution  und  der  unkritischen  Abtrennung  eines 
einzigen  Wortes  aus  hundert  anderen  wie  eines  quasi  altertümlichen  (nämlich 
*qzostb),  ist  gänzlich  die  Hypothese  frei,  nach  welcher  sich  Suff,  -stt,  in  ety- 
mologischer Verwandtschaft  mit  der  Verbahvurzel  -st{/i)(i-  »stohen«  befindet : 
auch  in  der  Gegenwart  haben  die  zalilreichou  Subst.  auf-s^.  in  ihrer  Bedeutung 
»einen  Zustand«  zugrunde  liegend,  und  z.  B.  in  meinem  lebendigen  Sprach- 
gefühl bedeuten  die  Subst.  *qzostb,  *hlagostb,  *dobljcstb  usw.  auch  jetzt  nicht 


456  Kleine  Mitteilungen. 

nur  »das  Enge«,  "Gute«,  »Tapfere«  in  abstracto,  als  auch  gerade  den  Zu- 
H  tand  »dos  Engen«,  »der  Güte«,  «der  Tapferkeit«  usw.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  ursprünglich  SufF.  -stb  noch  konkreter  «das  Stehen«  ausdrückte; 
daraus  konnte  sich  leicht  im  Laufe  der  Zeit  (vielleicht  schon  im  idg.,  wenn 
nicht  z.  B.  lit.  kelkcstis,  ga'destis  oder  arm.  aruest  »ars«,  arar/ast  »Vorhang« 
Neubildungen  darstellen)  zunächst  »der  Eigenschaftsznstand«  und  endlich 
»die  Eigenschaft  überhaupt«  entwickeln.  Eine  schöne  Parallele  einer  der- 
artigen BedeutungBentwicklung  in  einem  Worte,  gebildet  mittelst  eines 
Suffixes  derselben  etymologischen  Herkunft,  zeigt  das  d.  Trost,  das  nach  der 
neuesten  Forschung  (Osthoff  Etym.  Parerga  129)  aus  idg.  *drou-stho-  herzu- 
leiten ist  (vergl.  npers.  durust  »gesund«  aus  dru-sth-o-s)  und  ursprünglich  »im 
Zustande  eines  Baumes  befindlich«  bedeutete.  Außer  Trost  führt  Osthoflf  in 
seinem  Buche  (130  u.  ff.)  auch  andere  nicht  weniger  deutliche  Beispiele  der- 
selben Art  an. 

Aber  wenn  die  konkrete  Bedeutung  in  den  Subst.  auf  -sti  auch  leicht  in 
die  abstrakte  überging,  so  konnte  dieses  doch  nicht  immer  geschehen:  in 
einigen  Worten,  deren  Wurzel  mehr  oder  weniger  isoliert  war,  konnte  die 
ursprüngliche  konkrete  Bedeutung  sich  bis  heute  erhalten.  Ursl.  *svhsth,  wo 
die  Wurzel  die  Tiefstufe  der  pronominalen  Wurzel  *siioi-  darstellt,  stand 
vereinsamt  inmitten  der  Mehrzahl  anderer  Subst.  mit  Suff,  -stb  und  Stamm 
auf -0-.  Daher  konnte  auch  sein  Suff,  -stb  sich  auf  der  ursprünglichen  Stufe 
seiner  Bedeutung  erhalten,  i^olglich  bedeutete  unser  Wort  anfänglich  »die 
in  der  Schwägerschaft  befindliche«,  also  dasselbe,  was  jetzt  das  russ.  Syno- 
nym dieses  Wortes  » CBoaieHHua«  bedeutet.  Dieselbe  Bedeutung  hatte  auch 
ursl.  *svestb  (altruss.  cbIctb,  ceeh.  svesf),  das  sich  von  *svbstb  nur  durch  die 
Hochstufe  seiner  Wurzel  unterscheidet  (vergl.  lit.  swal-nis,  sicaJ-nius, 
sioai-ne).   Vergl.  Brandt  ^on.  saiM.  159. 

Ist  diese  Etymologie  richtig,  so  würden  ursl.  *svbsfb  und  svestb  in 
ihrer  Bildung  sehr  an  urä].  *nevesta  erinnern,  dessen  Etymologie  (Archiv 
XXIV.  227 — 228)  ich  auch  jetzt  trotz  der  Einwendungen,  die  man  dagegen 
erhob,  für  richtig  halte.  Die  Bemerkung  Pogodin's  (CjiiÄBi  KopHeä-ocHOB-B 
218),  daß  meine  Erklärung  des  Wortes  als  »in  novo  stans«  Schwierigkeiten 
semasiologischen  Charakters  hervorrufe,  verwundert  mich  nicht  wenig,  weil 
doch  die  Ehe  im  Leben  des  Weibes  wohl  bei  allen  Völkern  und  auf  allen 
Stufen  der  Kultur  eine  ungeheure  soziale  Bedeutung  hatte.  Die  Etymologie 
Pogodin's  selbst  (in  demselben  B.  S.  220),  der  *iievesta  in  *nev-esia  zerlegt,  ist 
nämlich  sehr  wenig  wahrscheinlich,  weil  das  Suff,  -esta  sicherlich  eines  sehr 
jungen  Ursprunges  ist  und  man  das  einzige  unzweifelhaft  ursl.  Wort  *boUsth 
(ksl.  KOA'RCTk,  montenegr.  bölljest)  wohl  richtiger  in  *boIe-sfb  (»Krankheits- 
zustand«) zerlegt.  Eine  weit  wichtigere  Entgegnung  erhob  Jagic  (Archiv 
XXIV.  229),  daß  nämlich  nach  den  Gesetzen  der  slav.  Phonetik  wir  ein  *)>o- 
venia,  nicht  aber  *nevesta  zu  erwarten  hätten.  Allein  in  den  slav.  Sprachen 
gibt  es  einige  Beispiele  (russ.  olon.  HeBeHHtiii  (»mager«,  serb.  HeBen  »Todten- 
bluihe«  und  einige  andere,  s.  Pogodin,  ib.  221),  die  beweisen,  daß  das  Gesetz 
vom  Übergänge  des  Diphthongen  eu  in  ou  in  den  slav.  Sprachen  nicht  unbe- 
dingte Gültigkeit  hatte,  und  sogar  den  Gedanken  Meillet's  (Recherches  86) 


Kleine  Mitteilungen.  457 

rielitig  erscheinen  lassen,  daß  eii  vor  palataler  Silbe  bewahrt  blieb.  Was  die 
Bemerkung  Jagic's  angeht,  warum  wir  im  Shiv.  nicht  *7ievosta  fänden,  wie 
wir  *starosta  haben,  so  ist  auf  diese  Frage  ebenso  schwer  zu  antworten,  wie 
z.  B.  auf  die  Frage,  warum  wir  statt  31\A'K-^k  nicht  *3'kA0-^li  (wie 
STiAO-Bb;   finden. 

"Wir  haben  endlich  auch  keinen  Mangel  an  Parallelen  zu  unseren  Ety- 
mologien *svbstb  und  *nevesta.  Ich  verweise  nur  auf  die  allerdeutlichsten, 
auf  altksl.  l/Ä3lv-CTH-ßTv  aegrotus  (Lex.  Mikl.),  wo  l/Ä3li-  augenscheinlich 
den  LI  von  IA3i\  morbus  darstellt,  und  auf  lat.  caelestis  =  »in  caelo  stans« 
Schmidt,  Die  Pluralbildungen  346). 

IV. 

Ursl.  ^chbtHi. 

Soweit  uns  bekannt,  wurden  zur  Erklärung  des  %  an  Stelle  des  zu  er- 
wartenden 0  in  diesem  Worte,  das  in  allen  slavischen  Sprachen  ohne  Aus- 
nahme bekannt  (vergl.  altbulg.  j("KUJTf(T'k)  Supr.,  \"KUIT;s;  ib.,  nbulg. 
lUTX  aus  *x'BiuTib,  serb.  xTJeTu,  cm,  slov.  htki,  co,  cech.  hiiti,  oberlaus,  chcec, 
poln.  chciec,  aruss.  xTf,-n>),  folgende  Hypothesen  vorgeschlagen: 

1)  -o  konnte  nach  der  Meinung  einzelner  Gelehrter  schon  in  urslav.  Zeit 
aus  dem  unbetonten  o  entstehen.  Diese  Meinung  vertritt  z.  B.  Sobolevskij 
(ilpeBHe-iiepKOBHocjiaB.  mhiKi,  87),  aber  die  andern  analogischen  Fälle,  die  er 
zur  Bekräftigung  vorführt,  sind  alle  fraglich ')  und  erklären  in  keinem  Falle, 

1)  So  können  ursl.  *t^(/da,  k%gda  und  ähnliche  Formen  bei  *togda,  *kogda 
auch  anders  erklärt  werden.  Vergl.  unsere  CioacHtia  .Mici.  2  109  u.  ff.  —  Ursl. 
*k7,tefö  bei  *koton  enthält  in  sich  als  Bestandteil  das  Pronomen  (föu-  (vergl. 
lat.  nter  aus  *qy:u-ter  Sommer  PTandbuch  §  295)  oder  erhält  sein  %  in  Analogie 
nach  *k'oto.  —  Ursl.  *koShm,  das  Sobolevskij  mit  ursl.  casz  aus  *kes-o  zu- 
sammenstellt, kann  auch  anders  erklärt  werden.  Vergl.  Gjioaciiwfl  Micx.  2  66. — 
\Jr^\.*t-cp%tati  faltbulg.  TTvIlTiTaTH,  nbulg.  no-xxn-KaMX,  slov.  teptati,  cech. 
depfac,  obl.  teptac,  poln.  deptac,  teptac  bei  ursl.  topotati  (nbulg.  xonaBuiia,  serb. 
TonoiaTu,  slov.  topotati,  russ.  TonTaxB,  klruss.  xinxaxu  ist  nicht  überzeugend 
wegen  des  augenscheinlichen  onomatopoetischen  Ursprungs.  Für  den  letz- 
teren spricht  auch  die  mannigfaltige  Vokalisation  der  Wurzel  einiger  anderer 
Wörter,  die  man  unmöglich  von  den  anderen  treuueu  kann :  vergl.  bulg.  xo- 
naBuua,  lonaEima,  xynaMX,  slov.  cepctati,  ceptati,  cepitati,  poln.  ifpac,  iiipac, 
klruss.  lynoxB,  «ynoxi,,  xynKaxu.  —  Ursl.  *pncb  (cech.  prec,  poln.  p>-ecz)  bei 
*procb  (altbulg.  npOHHH,  russ.  npoiiii)  verhalten  sich  augenscheinlich  in 
ihren  Stämmen  zueinander  wie  *pro-s  (gr.  noös-)  zu  *pro  igr.  rjnö,  lat.  j>ro, 
slav.  ^jro  usw.).  —  Ursl.  *7n^?w^/^  bei  got.  manogs  ist  zweifelhaft  1)  infolge  der 
Unklarheit  seiner  Etymologie  und  2)  infolge  der  Möglichkeit  der  Entlehnung 
aus  dem  Got.  »Die  entlehnten  Wörter«,  wie  Joh.  Schmidt  richtig  bemerkte, 
»oft  ganz  eigene  verschlungene  Wege  gehen"  (Zur  l^ritik  30).  —  \Jivs,\.*)m,it(ijq 
bei  lit.  mamje  stellt  vielleicht  eine  Art  von  Silbenassimilatiou  dar:  vergl.  to- 
hojq  anst.  teöojtf.  —  Altbulg.  ^\,OK'KA'k'l'M  muß  wohl  ,\,OliKA'kTH  gelesen 
werden,  und  in  -KKA-  hat  man  wohl  die/Iicfstufe  der  Wurzel  *uel  zu  sehen 
(vergl.  altind.  iä/a/<  »Wunsch«  Meillet  l^tudes  224).  Endlich  konnten  ursl. 
*vz,  *v%n,  s-o,  s7,n,  die  Sobolevskij  mit  gr.  «j-,  ay  lat.  an,  lit.  san-  zusammen- 
stellt, Ursprünglich  im  Auslaute  entstehen. 


458  Kleine  Mitteilungen. 

warum  denn  nicht  i  auch  z.  L.  in  *(jorä,  *codü,  *nofi'iti  und  vielen  andern  auf- 
tauchte. 

2)  1,  stellt  in  bezug  auf  o  eine  Ablauts-stufe  dar.  So  denkt  z.  B.  Leskien 
in  seinem  Handbuch*  §  II,  wo  er  *cJn,(eti  mit  *tzgda,  *k-b(jda,  *dzmq  (bei  *d(iti 
=  *domti),  *ch)zrmiqti  (bei  *chroim],  auf  eine  Reihe  stellt.  Den  Wert  der  bei- 
den ersteren  Beispiele  sahen  wir  schon  oben.  Was  *dqti  betrifft,  so  ist  es 
nicht  aus  *domti,  sondern  aus  *di,mti  herzuleiten;  d.  h.  es  kann  in  seiner 
Wurzel  den  Stamm  *di.-m-  (vergl.  dyrm  Zubaty  Arch.  XVI,  31)2,  enthalten,  und 
folglich  braucht  ■&  in  *d^7nq  nicht  als  aus  o  entspringend  zu  erklären  zu  sein. 
Dasselbe  muß  von  *chr^nlnqti  gesagt  werden,  wo  -r^-  ein  dem  Altbulgarischen 
normales  r  sonans  —  die  Tiefstufe  der  Wurzel  *chro-  darstellen  kann. 

3)  ^  entstand  aus  einem  besonderen  idg.  «irrationalen"  Laute  »a«  — 
welche  Meinung  Fortunatov  in  Xa^iaTrota  489 — 490  vertritt.  Aber  wenn  wir 
die  Beispiele,  wo  wir  an  Stelle  eines  idg.  e  in  den  slavischen  Sprachen  ein  '. 
finden,  die  auch  eine  andere  Geschichte  als  *choteti  haben  können,  bei  Seite 
lassen,  so  finden  wir  in  den  slavischen  Sprachen  auch  nicht  die  geringste  zu- 
verlässige Spur  dieses  (überdies  ganz  und  gar  hypothetischen)  Lautes.  Denn 
die  beiden  Worte,  auf  die  Fortunatov  sich  stützt,  —  *k%(jda  und  *ki,ter-h  sind 
für  uns  zufolge  der  schon  dargelegten  Gründe  nicht  überzeugend. 

4)  %  in  *ch-oteti  wird  durch  »eine  Schwächung«  von  q  des  \\vi\.*chqth 
(vergl.  poln.  ch{'c,  cech.  chut')  erklärt.  Diese  Meinung  treffen  wir  bei  Miklosich 
in  seinem  Et.Wb.  88  an,  und  sie  hat  hier  vielleicht,  weil  sie  in  einem  Wörter- 
buche ausgesprochen,  einen  völlig  dogmatischen  Charakter. 

5)  Diesen  Mangel  suchte  Meillet  M.S.  L.  VIII.  315  auszufüllen.  Er  nimmt 
an,  daß  ursl.  *chqib  vom  idg.  *sonti~  (vergl.  lat.  sentiö)  herzuleiten  ist,  ursl. 
*cJroteti  aber  von  idg.  *snte-  (vergl.  ahd.  sin],  das  etwa  im  Ursl.  *cMnte-  geben 
mußte,  da  nach  n  nur  ein  Konsonant  folgte.  In  dem  Falle  dagegen,  wenn 
nach  n  zwei  Konsonanten  folgten,  wie  in  der  Form  *chnfjq,  gab  n  ein  o.  Dann 
fanden  zwischen  *c7(t.<e(!j  und  *c/;o/;V/  gegenseitige  Ausgleichungen  statt.  Doch 
ungeachtet  dessen,  daß  ^7  im  Ursl.  nicht  zwei  Laute,  sondern  nur  einen  Laut 
darstellte,  daß  also  folglich  *ehntjq  nach  Meillet's  Theorie  gleichfalls  ch^tjq 
hätte  ergeben  müssen,  so  bedarf  schon  allein  das  Gesetz  des  Überganges  von 
ursl.  n  klarere  Beweise,  als  ursl.  *s-hto,  H-omk^,  *og)ib,  *vbton  usw.  Dasselbe 
muß  man  über  die  gewöhnliche 

6)  Hypothese  von  Brandt  /Ion.  saM.  70  zu  wiederholen. 

7)  Später  zog  Meillet  M.S.L.  IX.  153  eine  nähere  Parallele  zum  ursl. 
*c7iqtb  —  näml.  arm.  xind,  G.  xndi,  xndam  »ich  freue  mich«,  xndir  »cerca«, 
»questione«,  xand,  G.  xandny  oder  xandi  »ardente  brama«.  Mit  dieser  Ety- 
mologie war  Pedersen  K.Z.  XXXVIII.  388  einverstanden :  ».r  und  ch  sind  aus 
idg.  kh  entstanden,  an  und  7,  vertreten  nasalis  sonans  (und  da  -o  vor  einem 
mouillierten  Konsonanten  steht,  muß  dieser  Sonaut  schon  vorslavisch  2<-Fär- 
bung  gehabt  haben);  arm.  xind  und  p.  ch^c  enthalten  zwei  verschiedene  Voll- 
stufen [e-  und  o-Stufe)«.  Um  ursl.  *ch'bt-  und  *chot-  aus  vorsl.  *chnt  zu  erklä- 
ren, denkt  sich  Pedersen  ein  besonderes  phonetisches  Gesetz,  kraft  dessen 
ein  betontes  vorsl.  n  im  Urslavischen  ^,  ein  unbetontes  aber  o  ergab,  a.  a.  0. 
397,    Leider  sind  die  Fakten,  auf  die  Pedersen  sein  Gesetz  stützt,  in  ihrer 


Kleine  Mitteilungen.  459 

ITerleitung  nicht  unanfechtbar;  wir  führen  außerdem  die  Worte  Uhlenbecks 
I.F.  XVII.  9G  an:  «Wie  chec-chqf  sich  zu  choteti  verhält,  ist  keineswegs  so 
selbstverständlich  wie  Pedersen  annimmt,  denn  das  t  kann  ja  sehr  gut 
wurzelhaft  sein,  und  abgesehen  von  dem  Nasal  könnte  das  Verhältnis  von 
*chqtb  zu  *clnteti  ähnlich  aufgefaßt  werden,  wie  dasjenige  von  gall.  avi-  zu 
lat.  avere  oder  von  ai.  havi  zu  lat.  cavere«. 

8)  Mit  der  Meinung  Pedeisens  deckte  sich  fast  die  Auffassung  Vondräks 
B.B.  XXIX.  200—210;  nur  nimmt  er  im  Widerspruch  mit  der  Meinung  Peder- 
sens  nicht  an,  daß  0  »der  direkte  Fortsetzer  eines  n«  wäre,  sondern  hegt  die 
Vermutung,  daß  es  aus  betontem  z  (aus  n]  entstand.  So  war  die  ursprüngliche 
Flexion  unseres  Verbums  nach  Vondräk  folgende:  l.p.  *c7rofjq  (serb.  cw), 
2.p.  chöfjesb  (russ.  xoieiuL),  S.p.chöfjeh,  inf.  ch^tet^.  Leider  beruht  auch  dieses 
phonetische  Gesetz  auf  Tatsachen,  die  noch  nicht  eine  allgemeingültige  Er- 
klärung gefunden. 

Wie  verschieden  auch  an  sich  die  vorliegenden  Hypothesen  seien,  so 
haben  sie  doch  alle  einen  gemeinsamen  Zug,  nämlich  das  Bestreben,  um 
jeden  Preis  unser  Wort  auf  ein  phonetisches  Gesetz  zurückzuführen,  das 
gewöhnlich  dabei  ad  hoc  gebildet  wird.  Und  zur  Erreichung  dieses  Zieles 
machten  die  Forscher  zuweilen  nicht  einmal  vor  solchen  Absurden  halt,  wie 
es  die  Annahme  ist,  daß  schon  im  Urslavischen  ^  zuweilen  in  o  überging 
(vergl.  die  eben  erst  vorliegende  Meinung  Vondräks)!  Aber  unterdessen  ver- 
gessen im  gegebenen  Falle  die  Forscher  ganz  und  gar  die  Tatsache,  daß  spo- 
radische Abweichungen  von  den  phonetischen  Gesetzen  nicht  nur  infolge 
phonetischer  Ursachen  statthaben,  sondern  auch  infolge  psychologischer 
Ursachen,  d.  h.  des  Einflusses  des  einen  auf  das  andere  Wort  kraft  einer 
Laut-  und  semasiologischer  Association.  Und  während  in  der  Wissenschaft 
ein  ganzer  embarras  de  richesses  von  phonetischen  Erklärungen  des  Verbums 
^cJroteti  vorhanden  ist,  so  ist  doch  bis  jetzt,  soweit  es  mir  bekannt,  noch 
keine  psychologische  Erklärung  ausgesprochen  worden. 

Denn  man  kann  unterdessen  auf  ein  Verbnm  hinweisen,  das  in  seinen 
Lauten  und  in  seiner  Bildung  dem  Verb.  *cJroteti  so  nahe  kam,  daß  es  auf 
letzteres  schon  in  vorslavischer  Zeit  einen  bestimmten  Einfluß  ausüben 
konnte.  Dieses  Verb  ist  *chytiti  oder  —  wenn  die  Wurzel  auf  der  Tiefstufe 
stand  —  *cMtiti  »rapere«,  »prehendere«.  Den  letzteren  Begriffen  liegt  der 
Begriff  eines  starken  Strebens,  eines  mehr  oder  minder  mächtigen  und  ele- 
mentaren Willensaktes  zugrunde,  d.  h.  ganz  derselbe  Begriff,  der  dem  Verb 
*chnteti  zugrunde  liegt  (vergl.  riiss.  oxora  »Wunsch«  und  »Jagd«).  Folglich 
konnte  schon  in  urslavischcr  Zeit  der  Austausch  der  beiden  Verben  unter 
einer  Kontamination  vorsichgelien,  deren  Resultat  auch  das  sl.  Verb  *ch-hteti 
ist.  Violleicht  verdanken  derselben  Kontamination  ihren  Ursprung  auch 
folgende  Formen,  die  Miklosich  in  seinem  Et.  Wörterb.  unter  der  Rubrik  der 
Wurzel  *cAo;(/:-  anführt:  \'KimTn"K  ^YOIIITrr'K?  im  Psalter  Mlndeno- 
vid's,  kleinruss.  oxura  =  xnia,  grruss.  xlitji  =  xotji.  Leider  gibt  Miklosich 
nicht  die  Quelle  an,  woher  or  das  letztere  Wort  schöpfte,  und  ohne  diese 
Bedingung  können  wir  uns  nicht  völlig  darauf  verlassen,  weil  es  leicht  pho- 
netisch aus  xoTH  in  den  »akasierenden«  Dialekten  entstehen  konnte.    Doch 


460  Kleine  Mittellungen. 

dieses  kann  das  von  Miklosich  nicht  aufgenommene  montcnegr.  Adverb  xuq 
»Wunsch«,  »Wille«  ersetzen:  Ja  iicMaw  xaq,  Äajiiji^M:  »icli  habe  keinen  Ap- 
petit« ;  a  iiH  XH^  I  »nicht  im  geringsten«  (PoBiiucKift,  Hopnoropia  III.  [1905]  683). 
Die  volle  Gleichsetzung  dieses  Adverbs  mit  der  Wurzel  *ch%t-  hindert  nur 
das  -6-  der  erstcrcn,  an  dessen  Stelle  wir  ein  h  zu  erwarten  hätten:  *xuh. 
Wenn  es  nicht  infolge  einer  ungenauen  Aufzeichnung  Herrn  PomiiKidii's  hier 
fehlt,  80  könnte  man  es  vielleicht  unter  dem  Einflüsse  des  ursl.  SufT,  -cb  er- 
klären: vergl.  altcech.  c/i<ie«l  »Begierde«  Gebaucr  Slovnik  starocesky. 

V. 

West-  und  südsl.  *do-sti  und  *do-sta. 

In  den  westslavischen  Sprachen  finden  wir  ein  ziemlich  interessantes 
Adverb  *closti  »ziemlich«,  »hinreichend«,  »genug«;  vergl.  cech.  dosti,  nieder- 
sorb.  dosci,  poln.  dosci.  Von  den  südslav.  Sprachen  ist  es  nur  dem  Slov.  be- 
kannt: dosti,  woneben  auch  dosta  (in  gleicher  Bedeutung)  gebraucht  wird,  das 
seinerseits  ausnahmslos  im  Serb.  und  Bulg.  sich  findet. 

Gewöhnlich,  —  vergl.  z.  B.  Gebauer,  Eist.  ml.  I.  1,  286,  —  erklärt  man 
diese  Formen  als  »Verkürzungen«  aus  *do  syti  und  *do  syta.  Und  wirklich 
trifft  man  in  altcech.  Denkmälern  neben  der  Form  dosti  auch  adv.  do-sijti 
(s.  Gebauer,  Slovnik  starocesky),  und  in  den  zeitgenössischen  polnischen 
Dialekten  kommt  neben  dem  Adverb  dosci  auch  adv.  dosyc  und  dosi/ci  vor 
(Karlowicz,  Slownik  gwar  polskich);  im  Altruss.  gab  es  adv.  ^OCKITH  und 
^OCKITk  (CpesHüBCKiii,  Mai.).  Allein  man  könnte  sich  mit  dieser  Etymologie 
nur  in  dem  Falle  zufriedengeben,  wenn  ihre  Anhänger  eine  bestimmte  pho- 
netische oder  morphologisch-psychologische  Ursache  einer  derartigen  »Ver- 
kürzung« aufwiesen.  Solange  wir  dieses  nicht  haben,  hat  diese  Etymologie 
nicht  das  Recht,  eine  »Erklärung«  zu  heißen  in  der  eigentlichen  Bedeutung 
des  Wortes,  denn  an  Stelle  des  einen  Unbekannten  erhalten  wir  ein  anderes 
Rätsel,  anstatt  a;  erhalten  wir  y:  »die  Schwierigkeit  wird  verschoben,  aber 
nicht  gehoben!« 

Prof.  Brandt,  JlonojiKiiTCÄhnhi}!  saMiiaHifl  161,  meint,  daß  die  beiden  Ad- 
verbia:  do-sti  und  do-sta  im  Verhältnisse  des  Ablautes  zu  dem  adj.  *syto 
stehen  (altbulg.  CKITT\,  neubulg.  cur,  serb.  cum,  slov.  slt,  cech.  syty,  obsorb. 
syty,  poln.  syt,  russ.  chtt.):  denn  das  letztere  kann  man  wohl  nicht  von  dem 
lit.Adj. so^?/s  »sättigend«  trennen,  demgot.  söJ5s  »Sättigung«,  söpjafi  »sättigen« 
(Hirt  Ablaut  §  117),  die,  wie  bekannt,  von  einer  idg.  Wurzel  *s5ut-  herzuleiten 
sind.  Und  wenn  ursl.  *syt-  als  eine  Schwundstufe  dieser  Wurzel  erklärt 
wird,  so  stellten  ursl.  *s^t^  und  *s%tb  (deren  GG  sich  nach  dieser  Hypothese  in 
den  adv.  dosti  und  dosta  erhalten  haben  würden),  in  diesem  Falle  die  Tief- 
ßtufe  derselben  Wurzel  dar.  Allein  gegen  eine  derartige  Hj-pothese  könnte 
man  gleich  zwei  wichtige  Einwendungen  machen:  1)  bis  jetzt  ist  noch  in 
keiner  Sprache  die  Stufe  *süt-  »sättigen«  nachgewiesen,  obgleich  sie  an  und 
für  sich  möglich  wäre;  2)  der  stumme  Vokal  müßte  in  diesem  Falle  im  cech. 
Adv.  dost',  niederwend.  dose,  poln.  dose  in  einen  reinen  übergehen,  aber  nicht 
ausfallen. 


Kleine  Mitteilungen.  461 

Man  kann  also  nicht  das  fehlende  y  im  adv.  dosti  und  dosta  phonetisch 
hinreichend  erklären.  Aber  vielleicht  kann  man  leichter  auf  die  psycholo- 
gische Ursache  des  Schwundes  von  y  in  unseren  Adverbien  hinweisen? 

Uns  will  es  scheinen,  daß  auf  unsere  Adverbien  das  Zeitwort  *dostati 
»sufficere«  und  seine  vielzähligen  Bildungen  Einfluß  haben  konnte  'altbulg. 
^OCT^TH,  nbulg.  ÄOcxaTH,  serb.  ÄÖCTaxH,  slov.  dodati,  cech.  dostäti,  ober- 
sorb.  dosfac,  poln.  dostac,  russ.  aocTaxLj.  Einzelne  Bildungen  standen  ganz 
parallel  den  adv.  do-syta  und  do-syti.  Vergl.  z.  B.  die  3.  pers.  des  Aor.  *dosta 
und  adv.  do-syta;  d.  Inf.  dostati  und  adv.  do-syti;  sup.  *dostato,  das  altcech. 
Subst.  dostat  (G.  dostata)  »Fülle,  Überfluß«  und  das  poln.  dosyt;  das  russ.  adv. 
ÄO-CTaTB  und  west-  u.  siidal.  dosta;  russ.  ÄOCxaTOKx,  poln.  dostatek  und  altruss. 
ÄO-CLixoKi.,  poln.  dosytek  «Sattheit«  usw.  Bei  der  großen  Ähnlichkeit  der 
Formen  aller  dieser  Bildungen  und  bei  der  fast  völligen  Gleichheit  ihrer  Be- 
deutungen konnten  ihre  Wurzeln  leicht  untereinander  verwechselt  werden, 
und  das  wenn  nicht  in  der  ursl.  Epoche,  so  doch  schon  in  einer  sehr  alten 
Epoche  des  getrennten  Lebens  der  slavischen  Sprachen. 

Vom  ursl.  ^do-syti  muß  man  altpoln.  und  dial.  poln.  *dosici,  dosic  trennen. 
Obgleich  letztere  mit  poln.  dosyci  und  dosyc  völlig  gleichbedeutend  sind,  so 
kann  man  ihr  i  doch  nicht  aus  dem  y  dieser  Formen  herleiten.  In  Anbetracht 
dessen  muß  man  annehmen,  daß  dosici  und  dosie  aus  dusyci  und  dosyö  gleich- 
falls nicht  phonetisch  herzuleiten  sind,  sondern  unter  dem  Einflüsse  des  D. 
ethicus  des  reflexiven  Pronomens  si  oder  demonstr.  pron.  *sb  Plus  der  be- 
kannten Partikel  *ti,  *tb  (poln.  ci,  c),  in  Bezug  auf  die  vergl.  unsere  »Cjio'yKnbia. 
MicxouMeiiiat',  25 — 26. 

VI. 

Mittelbulgarisch  MkTOMOif  =  MflUOY- 

In  meiner  Dissertation  »GaoacHtia  MicxonMCHia«  (2.  Aufl.  Moskau  1905, 
S.  56)  wies  ich  unter  anderm  darauf  hin,  daß  sich  in  einigen  der  ältesten 
mittelbulgarischen  Texte  zusammengesetzte  Formen  des  pron.  MkTO  finden. 
So  treffen  wir  im  Evangelium  Dobromiri  des  XII.  Jahrb.,  das  von  Jagic  be- 
schrieben, den  Gen.  sing.  HKTCrC»  in  dem  Ausdruck  Hk'roro  pa^\,H ;  in 
(1;  uiselben  Denkmal  finden  wir  deu  L. sing.  0  HKTOMK,  den  man  auch  in  der 
Urkunde  Johanns  Asenj  1230  (unsere  Ausgabe,  S.  3),  in  derüicxBima  d.  J.  1334 
(Lex.  Mikl.),  in  den  »CjioBa  uaKa3axejii.iiun  Hiroa«  des  XVI.  Jahrb.,  die  un- 
längst von  Prof.  P.  A.  Lavrov  (S.  XXVI)  herausgegeben  wurden,  aufweisen 
kann;  endlicli  ist  in  einem  Apostel  d.  XIV.  Jahrh.  der  Sammlung  Verkovic's 
in  der  Kaiserl.  ÖfFentl.  Bibliothek  von  Prof.  Lavrov  (IlauopiiiiKi.  KicBCKiü, 
S.  06)  die  Form  d.  I.  sing.  CC>  lUTHMK  aus  *C'K  MkT'kMK  nachgewiesen, 
wo  'k  unter  serbischem  Einflüsse  durch  i  ersetzt  ist  (der  »Apostel«  ist  in 
,  M.icedonien  geschrieben).  Der  Umstand,  daß  solche  Formen  sich  iu  mehreren 
I  Denkmälern  finden,  widerlegt  den  Gedanken  Jagic's  (S.  64),  daß  etwa  die 
'Formen  des  Evangeliums  Dobromiri  einfache  Schreibfehler  darstellten.  An- 
(Irrcrseits  konnten  auch  die  Formen  HUCOrO,  MKCOMK  auf  die  Bildung  von 
'iK'l'OrO,  MKTtMUlK  schon  allein  darum  nicht  einwirken,  weil  sie  seibor 
wdlil  kaum  um  diese  Zeit  in  lebender  Sprache  gebraucht  wurden.  Wenn  man 


462  Kleine  Mitteilungen. 

indessen  beachtet,  daß  im  Litauischen  ganz  analog  d.  pron.  Hz'ttas  «dieser« 
dekliniert  wird,  so  bleibt  uns  als  einziger  Ausweg  nur  übrig  anzunehmen,  daß 
die  Formen  HK'l'OrO,  Hk'l'OMK  normale  Deklinationsformen  von  HKTO 
als  eines  zusammengesetzten  Pronomens  bieten,  die  Formen  Hiro,  HtMk 
aber,  etymologisch  als  Casus  des  pron.  HK  erscheinend,  nur  an  Stelle  der 
erstercn  adoptiert  wurden,  als  diese  in  einem  bestimmten  Dialekt  des  Alt- 
bulgarischen  oder  vielleicht  sogar  des  Ursluvischen  verschwanden. 

Um  von  einem  vollen  Paradigma  der  ursprünglichen  Deklination  des 
pron.  HkTO  reden  zu  können,  fehlte  uns  nur  die  Form  des  D.siug.  HkTOMOy. 
Und  jetzt  können  wir  sie,  glaube  ich,  im  Kiewer  Fragment  des  Slep- 
censkij  Apostel  d.  XII.  Jahrh. nachweisen.  Dieses  Fragment  war  schon  im 
J.  1895  von  Prof.  Vladimirov  in  »Othctli  HMnepaiopcKaro  OömccxKa  JTiouHxcjieii 
ÄpuBiieft  niicBMciiiiocTu«  vom  J.  1894 — 1895,  S.  05 — 70,  herausgegeben  worden, 
aber  die  äußerste  Ungeuauigkeit  und  Nachlässigkeit  dieser  Ausgabe  ' vergl. 
Jagiö's  Rez.  Arch.  XIX,  294)  erlaubte  uns  nicht,  ihr  zu  vertrauen.  Erst  im 
Anfange  des  September  1905  konnten  wir  in  Kiew  das  Kirchlich-Archäolo- 
gische Museum  besuchen,  wo  das  Fragment  aufbewahrt  wird,  und  mit  dem 
Original  die  uns  interessirende  Steile  vergleichen.  Und  wir  fanden  wirklich 
auf  d.  2.  Bl.  die  Form  HkTOlUloy  in  dem  Satze  (Rom.  VIII.  24;:  OX'nOKaUHf 
:Kf  RH,\Miiic»  :  HUCTTv  oij'"'^'^^""*  •  ^''^^  ^'^  ^y\j^y\T'K  kto  h  o\'no- 
liafTT»,  :  MIvTOMOY  yKO.  Im  Christiuapoler  Apostel  d.  XII.  Jahrh.  (ed. 
A.  Kalu^niacki,  Vindobonae  MDCCCXCVI,  p.  124)  lautet  letzterer  Satz  etwas 
anders:  l€H;e  KO  KH^HTk  KTO,  HTO  0\'nOBai€Tk.  So  lautet  sie  auch 
im  ToüKOBtiH  AnocTOJiT.  d.  J.  1220,  der  von  Herrn  G.  Voskresenskij  seiner  kri- 
tischen Ausgabe  der  »IIocjiaHia  AnocTO.aa  IlaBJia  k-b  PuMJHHaMT.«  Ccpr.  IIoc. 
1892  (S.  138 — 139)  zugrunde  gelegt  worden.  In  späteren  Abschriften,  wie 
man  dieses  aus  der  Ausgabe  Voskresenski's  ersehen  kann,  findet  man  nur 
folgende  Varianten  des  letzteren  Satzes:  MTO  H  Ha^'S^TkCA  oder  HTC>  H 
OlfnOßatTk.  Übrigens  haben  wir  noch  eine  Variante:  HHM'K  Ha;k,1vfTk  CA 
(Voskresenski,  ebenda),  doch  in  keiner  findet  sich  HkTO  fllilOY,  was  uns  das 
Recht  gäbe,  unser  HkTOIUlOy  als  einen  Schreibfehler  an  Stelle  von  MkTO 
CMOy  zu  erklären. 

Die  Variante  des  Slepcenskij-Apostels  bedeutete  also  folglich  »wozu 
denn  er  vertraut«,  und  die  Form  nkTOIHOy  gäbe  uns  die  Möglichkeit,  das 
volle  Paradigma  der  Deklination  des  pron.  HkTO  herzustellen: 

N.       HkTO 

G.     MkTcro 

D.  HkTO  MOV 

A.  HkTO 

I.  HkTliMk 

L.  HkTOIUlk. 

S  t.  P  e  t  e  r  s  b  u  r  g.  G.  Iljinskij. 


Kleine  Mitteilungen.  463 

üapacnop  —  UaqaGTioQcc. 

La  terminologie  byzantine  concernant  las  tenanciers  des  domaines  de 
l'ancien  empire  peut  etre  recberchee  ou  dans  les  sources  documentales  ou 
dans  l'usage  du  peuple  qui  a  conserve  une  masse  des  choses  ä  travers  les  cinq 
siecles  de  Tinvasion  turque. 

C'est  cette  derniere  source  qui  nous  a  decouvert  l'usage  de  parasjjor  ou 
paraspur,  terme  grec  employe  encore  en  bulgare  et  en  serbe  pour  certains 
droits  ou  redevances  en  usage  chez  les  metayers  ou  autres  tenanciers  au  centre 
de  la  presqu  ile  de  Balkan. 

En  faisant  la  description  des  departements  cedes  ä  la  Serbie  par  le  Con- 
grös  de  Berlin  (1S78)  M.  G.  Milicevid  parle  de  l'ancien  Systeme  feodal  qui  y  etait 
exerce  par  les  spahis  turcs.  Entre  autres  redevances  habituellement  exigees 
des  tenanciers  des  terres  des  spahis  il  y  avait  aussi  la  redevance  de  cultiver  les 
paraspurne  /live.  Sous  ce  terme  on  comprenait,  d'apres  les  renseignements  de 
M.  G.  Milicevic,  la  redevance  des  colons  de  cultiver  la  terre  seigneuriale  que  le 
seigneur  exploitait  en  propre  regle  et  qui  lui  etait  reservee,  et  de  remettre  la 
r6colte  au  seigneur.  Dans  ce  cas  les  colons  de  ces  contrees  payaient  les  rede- 
vances convenues  pour  des  terres  ccdees  ä  eux  et  au  lieu  de  i'ancienne  angaria 
ils  etaient  obliges  de  cultiver  la  terre  du  seigneur  dite  paraspurna,  reservee 
pour  son  propre  usage  *). 

Quatre  ans  plus  tard  nous  rencontrons  le  meme  terme  dans  les  conditions 
agraires  observees  par  le  Dr  K.  J.  Jirecek  ä  Custendil  en  Bulgarie.  Le  celebre 
historien  i*elate  qu'on  y  nomme  paraspor  ou  2)araspur:  dem  Arbeiter  als  Teil 
des  Lohnes  angewiesene  Acker.  C'est  pourquoi  on  nomme  parasponji  »auf 
fremdem  Gut  sich  ernährenden  Dorfbewohner« 2;. 

On  voit  que  les  deux  explications  ne  concordent  pas  l'une  avec  Tautre. 

A  la  suite  de  mon  dernier  voyage  (juillet  190-5)  ä  Skopie  ;Uskub)  en 
Macedoine  dont  les  impressions  ont  6t6  publikes  dans  la  Godisi'iica  Nikole 
6upi(5a  XXV,  on  m'a  envoyc  un  rapport  tres  detaille  sur  le  domaine  seigneu- 
rial  Bardovce  (10  klm.  de  Skopie >  Mes  recherches  siu-  ce  domaine  et  les  im- 
pressions de  mon  passage  lä-bas  se  trouvent  dans  les  cliapitres  VII  et  VIII, 
p.  32—46  de  l'article  Deuxjours  ä  Skopie  dans  la  Godisnica  XXV.  Le  rapport 
trfes  d6taille  provient  du  eure  serbe  du  village  Bardovce  Atanas  Petrovic.  natif 
de  Kuceviste  (Skopska  Crna  Gora) ,  en  mCme  temps  pretre  serbe  ä  Skopje. 

Les  Colons  du  domaine  de  Bardovce  (Serbes,  chretiens)  s'appellent  ispol- 
(/ije,  les  metayers.  Ils  ont  le  devoir  d'ensemencer  et  recoltcr  en  gardant  la 
moitic  des  fruits:  le  seigle,  le  ble,  l'orge  et  le  ma'is.  Pour  reusemencemeut  des 
c6r6ales  mentionnces  on  distribuait  la  semence,  et  apres  la  recolte  et  avant  le 
partage  en  deux  on  deduisait  la  quantite  distribuee.  Mais  il  etait  i)ermi8  d'en- 
semencer  d'autres  choses  encore.  Et  ceci  s'appelait /e^nrös^wr.  Aujourd'hui 
on  emi)loie  /e  paraspur  seulement  pour  le  hostau  (melons  et  pastöques  et  pour 
les  Icgumes  qu'on  ensemeuce  habituellement  auprcs  des  maisous.   Et  le  pro- 

1)  M.  G.  Milidevic,  KiicHCciniua  Cpftuja.  Homi  K|>ajeru.  Ecorpa.i  18^4,4."). 
-)  Cesty  po  Bulharsku.  •  Prag  1888,  130;  das  Fürstentum  Bulgarien,  Wien 
1891,192. 


464  Kleine  Mitteilungen. 

prictairc  donne  pour  lo  hosian  un  /mi7c  {yolvi^  chenice;  de  terre,  ^-a  veut  dire 
autant  qu'on  peut  ensemencer  par  un  smik  du  bl6.  Actuellement  le  sitiik  a 
Bardovcc  auprrs  de  Skopje  pese  10  ocquee  turquos  '.\2H'M  kg.:  i)  II  y  a  encore 
un  caa  oi'i  on  dormo  de  la  terre  en  parasjnir.  C'est  lorsque  la  femine  d'un  colon 
ou  d'un  ouvrier  accepte  de  faire  la  cuisine  ou  de  pctrir  ou  cuire  Ic  paiu  pour 
les  employcs  du  proprictaire;  eile  obtient  comme  recompense  de  la  terre  pour 
j)araspur  DU  du  ble. 

C'est,  comme  nous  voyons,  la  troisieme  explication  du  parmpor  qui  me 
parait  la  plus  explicite  et  la  plus  conforme  ä  la  signification  du  terme  grec. 
En  rcalito  les  mots  grecs  n«()fcffTin()('(  et  7i<ci>i((S7i()i)(ii^  ne  significnt  d'apres  leur 
composition  qu'un  ensemencement  secondaire,  aupres  ou  ä  cot6  d'un  autre. 
Le  dictionnaire  Du  Gange  Glossarium  mediae  graecitatis  connait  seulement  la 
forme  iiui^uanoQLu  —  peculium  castrense.  E.  A.  Sophocle  Greek  Lexicon  of 
the  roman  and  byzantine  periods,  New  York  1904  cite  nuQccanogu  («j-,  ;;)  et 
explique:  a  sowing  beside,  mingling  with.  Les  sources  d'apres  lesquelles  il 
donne  son  explication  sont:  Galenus  A.  D.  200.  Charterius.  Lutetiae  1679,  et 
aprüs:  Sextus  A.  D.  20.5  Bekker,  Berolini  1842.  D^K.  J.  Jirecek  cite  le  mot 
oixofxoSonanäano^iov  d'apres  une  lettre  imperiale  du  commencement  du  XIII 
si^cle,  adressee  au  duc  du  theme  twj/  Gqcc/./jgioji'.  L'empereur  y  exhorte  le 
duc  a  agir  aupres  des  colons  du  village  MrjXa  qui  appartenait  au  monastere 
TÜi'  AifAßwv  'Iva  &cdüjat  xal  xo  oixofxo^onuoüßnoQop^].  On  voit  seulement 
que  c'est  un  tribut  et  il  est  impossible  d'en  dechiffrer  le  mode  et  la  nature. 
Dr  K.  J.  Jirecek  cite  encore  une  nouvelle  de  l'empereur  Tibere  (-578 — 582)  neol 
nccQuanoQiTwi'.  Malheureusement  la  nouvelle  s'est  perdue  et  ce  n'est  que  le  titre 
qui  nous  en  est  reste.  II  est  tres  curieux  de  noter  que  Mortreuil,  Histoire  du 
droit  byzantin  et  du  droit  romain  dans  l'empire  d'Orient,  Paris  1842,  I.  86  fait 
mention  de  la  meme  nouvelle  ne^l  nanaanooiTwi'  en  ajoutant  au  lieu  d'une 
traduction  le  signe  d'interrogation,  tellement  la  chose  lui  etait  inconnue. 

Dans  cette  penurie  des  sources  grecques  on  peut  voir  encore  un 
exemple  comment  les  sources  d'usage  et  de  tradition  orale,  mOme  parmi  les 
peuples  heterogenes,  peuvent  etre  utiles  dans  les  recherches  des  questions  epi- 
neuses  du  passe  byzantin. 

1)  Au  moyen  äge  on  mesurait  de  la  meme  fa§on  par  le  modtus  —  mbtb. 

2)  Miklosich  et  J.  Müller  Acta  et  diplomata  graeca  IV,  182. 

Beigrade,  le  3  avril  1906.  St.  Novakovic. 


Debrc  et  Koceleva  en  Serhie^  au  sud  de  la  Save. 

Deux  noms  de  villages  dans  le  departement  de  Sabac,  oü  je  suis  ne,  m'ont 
intrigue  depuis  longtemps. 

C'est,  premierement,  le  village  Debrc. 
\    II  se  trouve  ä  mi-cbemin  entre  Sabac  et  Beigrade,  en  face  de  deux  villages 
de  la  Syrmie  meridionale,  Obrez  et  Kupinovo.  La  Save  y  d^crit  une  longue 
courbe  —  kljuc  —  et  parait  avoir  coule  autrefois  par  une  courbe  encore  plus 


Kleine  Mitteilungen.  465 

prononc^e  au  nord  et  plus  eloignee  de  la  frontiere  actuelle  de  la  Serbie.  A  cette 
epoque  le  pays  circonscrit  par  la  courbe  otait  situe  sur  la  rive  droite  de  la  Save, 
tandis  qu'il  se  trouve  actuellement  sur  la  rive  gauche.  Le  village  de  Debrc  est 
ä  deux  ou  trois  kilometres  du  rivage  de  la  Save  d'aujourd'hui,  ä  droite  de  la 
Chaussee  en  allant  de  Sabac  ä  Beigrade.  Vuk  Karadzic,  originaire  aussi  de 
notre  departement,  notait  dans  son  dictionnaire  qaon  trouve  des  restes  d'une 
liabitation  humaine  entre  le  village  Debrc  et  la  Save.  La  Save,  seien  Vuk,  se 
deplace  sans  cesse  ä  droite,  abandonnant  sa  rive  gauche.  On  voit  sortir  de  la 
terre  des  restes  d'un  ancien  etablissement,  des  monnaies  anciennes,  des  osse- 
ments,  des  pieces  de  vases  comme  partout  dans  les  ruines  d'un  chäteau  delaisse. 
La  tradition  est  encore  vivante  dans  le  peuple  qu'il  y  avait  lä  autrefois  un 
chäteau  grec  (rpiKu  rpas).  Vuk  ajoute  aussi  que  le  premier  historien  serbe 
J.  Raid  avait  tort  de  placer  le  chäteau  Ätöpmi.  —  Dahrac  de  Syrmie  oü  le  roi 
Dragutin  Nemanic  a  st^journe  apres  son  abdication)  ä  Dobrinci  dans  la  SjTmie 
actuelle,  et  se  declarait  en  meme  temps  pour  Debrc.  En  eflfet  l'ancienne  bio- 
graphie  de  Dragutin,  ccrite  par  l'archevGque  Danilo  dans  la  premiere  moitie 
duXIV  siecle,  mentionne  ä  plusieurs  reprises  cjiaBi.Htiu  ÄBopi  lero  ii>Ke  bb  Cpisii, 
MicTO  peKOMO  ^BÖptuB  Ic  palais  magnifique  en  Syrmie,  qu'on  appelle  JtilpmB). 
La  Syrmie  s'etendait-elle  au-delä  de  la  Save?  On  doit  repondre  affinna- 
tivement  ä  cette  question.  Depuis  l'c'poque  romaine  on  considerait  que  la 
Syrmie  englobait  les  deux  rives  de  la  Save  toutes  les  fois  qu'elles  se  trouvaient 
reunies  sous  une  mcme  souverainete.  On  commenca  de  bonne  heure  ;i  dis- 
tinguer  sous  le  nom  de  Macva  la  partie  de  la  Syrmie  situee  sur  la  rive  droite 
de  la  Save.  Ainsi  l'archeveque  Danilo,  dans  la  biographie  de  Dragutin,  ecrit: 

BLCTaBB   H   HSe    BB  OÖ.üaCTB  ÄpBHCaBBl  CBOICrc,    BB  3611.110  HapHuaRiMoyio  Ma'IBBa  lO/Ke 

ÄajiB  KMoy  6i  TBCTB  rero  KpajiB  oyrpBCKLi  (edition  Daniele,  2S).  Mais  plus  loin, 
le  mcme  pays  est  appele  OpIiMB  ou  cpiMBCKa  scmjim  ä  plusieurs  reprises.  On  le 
voit  dans  les  belles  pages  sur  la  visite  de  la  reine  Simonide,  la  fille  de  l'em- 
pereur  Andronic,  :i  Beigrade  (p.  97 — DS)  oü  l'on  dit  que  lu  reine  fut  saluöe  ä 
Beigrade  par  les  delegucs  du  roi  de  Hongrie.  On  considerait  donc  Beigrade 
comme  ville  limitrophe  du  royaume  de  Dragutin.  C'est  encore  plus  clair  ä  la 
page  115,  dans  le  recit  de  la  guerre  de  Branicevo  (au-delä  de  la  Morava)  qua 
Dragutin  a  du  faire  avec  l'aide  de  son  fröre  le  roi  Milutin.  Les  pays  de  Bosnie, 
Usora  et  Soli,  que  Dragutin  avait  obtenus  de  son  beau-pcre,  sont  mentionnes 
comme  se  trouvant  ü  l'ouest  de  la  Syrmie  mcridionale  ou  Macva.  sous  l'autorite 
de  Dragutin.  En  racontant  l'abdication  de  Dragutin,  le  biographe  dit  que 
Dragutin  s'est  rendu  de  Dezevo  (en  Easka]  en  Macva,  obtenue  de  son  beau-pere 
le  roi  de  Hongrie.  II  est  certain  que  le  roi  Dragutin  n'a  pu  se  rendre  en  dehors 
de  son  domaine,  et  que  MauBBa  et  CpiMB  signifient  la  mcme  proviuce:  Macva 
ayant  peut-Otre  une  ctendue  plus  rcstreinto,  limitce  du  cutc  Nord  par  la  Save, 
la  Syrmie  embrassant  le  pays  entier  en-dccä  aussi  bien  qu'au-dela  de  la  Save. 
U  est  mcme  permis  de  supposer  ([ue  le  domaine  de  Dragutin  no  ö'cteudait  pas 
sur  la  rive  gauche  de  la  Save.  Bref,  nous  somiucs  tout-ä-fait  d'accord  avec  Vuk 
que  ^töpBui.  de  Danilo  avait  le  memo  emplacement  que  le  Debrc  d'aujourd'hui 
et  que  les  ruines  dont  on  y  trouve  les  traces  provenaient  du  chäteau  et  du 
palais  de  Dragutin. 

Archiv  für  slavische  Philologio.  XXVIU.  30 


466  Kleine  Mitteilungen. 

Mais  ä  prcsent  vient  pour  nous  la  question  principale. 

^Lfipmi.  de  Danilo  doit  ctre  prononce  en  serbe  moderne  J[aiC>i<a.u  comme 
le  faisait  aussi  Vuk  cn  le  transcrivant  de  teile  faf;on  en  serbe.  Le  village,  ce- 
pendant,  s'appclle  /lefipu.  Nous  Tavons  ainsi  entendu  appeler  depuis  notre 
enfance.  Comment  expliquer  une  prononciation  d'aprös  un  autre  dialecte  dang 
un  pays  oü  Ics  lois  de  la  phonologie  serbe  sont  ob8ervt;es  avec  une  rigourosite 
parfaite?  II  nous  semble  qu'il  n  y  a  qu'une  seule  explication.  Dulrc  pro\ient 
d'une  autre  tribu  slave  qui  y  s^journait  auparavant  et  qui  s'est  transformee  en 
Serbes,  ou  doit  dater,  si  c'est  possible,  d'une  c'poque  de  la  langue  serbe  oü  une 
teile  modification  phonologique  etait  encore  possible.  En  tout  cas  nous  nous 
trouvons  en  presence  d'une  petrification  d'un  dialecte  slave  diffurent  du  serbe. 
qui  est  restee  intacte  grace  ä  la  constance  des  noms  topographiques,  constance 
dont  on  trouve  partout  de  nombreux  exemples.  On  doit  donc  classer  Lehre 
comme  tel,  pour  ne  pas  forcer  ou  falsifier  les  lois  phouologiques  du  serbe.  De 
la  mßme  fagon  en  Albanie,  en  Epire,  en  Thessalie,  en  Hcllade  et  en  Mort-e  ou 
en  Koumanie  et  mCme  en  Hongrie,  oü  les  Slaves  ont  disparu  depuis  longtemps, 
une  grande  quantite  de  noms  topographiques  slaves  est  prononcee  machinale- 
ment,  selon  la  loi  de  la  conservation  des  noms  topographiques,  par  des  bouches 
qui  n'en  comprennent  pas  une  syllabe! 

II  y  a  mGme  encore  des  noms  qui  rappellent  par  leur  son  quelque  ancien 
dialecte.  C'est l'eglise  Ohrid —  OhridskaCrkva  non  loin  de  l'embouchure  de  la 
riviere  Dohrava,  a  l'endroit  oü  le  dernier  mamelon  des  montagnes  se  perd  dans 
les  mar6cages  de  la  Save.  Comment  sonnait  le  nom  Dobrava  au  temps  oü 
^BöptuB  recevait  la  forme  phonologique  de  Debrc?  On  trouve  encore  une 
Dobrava  au  nord  de  Kosovo,  qui  est  citee  dans  le  diplurae  du  roi  Milutin  au 
couvent  Banska  non  loin  de  Zvecan  et  de  Mitro vica.  Aujourd'hui.  la  /I  l  6  p  l  x  a  b  a 
des  redacteurs  de  Milutin  sonne  .JoöpaBai).  C'est  tres  instructif  comme  coup 
d'ceil  dans  l'histoire  des  dialectes  et  de  leurs  ü-ansformations. 

*  * 

* 

Une  vingtaine  de  kilometres  plus  au  sud,  dans  la  mOme  contree,  on  trouve 

encore  un  vestige  d'un  dialecte  qui  n'est  plus  connu  dans  ces  parages.   C'est 

le  village  Koce/eva,  sur  les  contreforts  de  Vlasic.    Le  mot  Koue.t  se  trouve 

encore  dans  la  langue  serbo-croate.  On  pent  le  voir  dans  la  notice  de  V.  Jagic: 

Zur  Entstehungsgeschichte  der  kLrchenslavischen  Sprache,  Wien,  1900,  S.  85. 

II  faut  seulement  ajouter  que  le  mot  n'est  pas  connu  partout.  Vuk,  dans  son 

dictionnaire,  en  lui  donnant  la  signification  alumen-ahm,  dit  que  le  mot  se 

parle  dans  les  parties  meridionales  de  la  langue,  et  ajoute  qu'il  y  a  un  village 

Koceleva  dans  le  departement  de  Sabac.  En  citant  le  nom  du  village  ä  cette 

place,  il  parait  que  Vuk  a  voulu  suggerer  que  le  mot  a  ete  connu  avec  la  meme  , 

signification  d'alun  aussi  en  Serbie.   En  verite  le  mot  Koye.t  est  ä  present  tout- 

ä-fait  inconnu  en  Serbie.  Dans  un  autre  livre,  tres  sür  pour  ces  choses-lä,  on 

affirme  que  Koue.t  signifiant  l'alun  se  dit  en  Dalmatie*.  Les  geologues  qui  ont 


1)  rosHiuibuiia  HuKO./ie  Hynnha  XXV,  177. 

2)  ]^0Ka  IIonoBuh,  üosHaBaHi  poöe  uJin  Hayna  o  po6u  iproBa^Kofi.  Beorpas'Bj 
1852,  page  100. 


Kleine  Mitteilungen.  4ß7 

explore  Vlasic  nous  assurent  qu'il  n'y  a  aucune  trace  d'alun  ni  de  sei  dans  les 
couches  calcaires  et  sablouneuses  dont  se  composent  les  contreforts  de  Vlasic 
sur  lesquels  Kocejeva  est  situee '; . 

II  ne  reste  donc  qu'ä  deduire  le  nom  du  village  Koce^eva  du  nom  per- 
sonnel  KoceJ  pour  lequel  V.  Jagic  ajoute  d'apres  P.  Budmani  qu'on  le  ren- 
contre  encore  ä  Raguse.  lei  dans  le  bassin  de  la  Save  nous  aurons  plutot  ä 
taire  avec  quelquo  Koce|  pannonique.  Dans  ma  collection  de  noms  personnels 
du  bas  moyen  age  CpncKu  noMcuimu  r.iaciiuK  XLII  le  nom  Koue.T>  ne  se  recontre 
Jamals.  II  n'y  en  avait  nulle  part  dans  les  dyptiques  dont  on  s'est  servi  pour 
la  collection  des  CpncKu  noMeuumi.  D'autres  hypotheses  pourraient  se  fonder 
sur  le  feminin  de  la  Kocejeva  peut-Gtre  Koceleva-vas)  mais  nous  preferona 
nous  arreter  ici. 

Les  evolutions  ethnographiques,  dans  les  cadres  des  tribus  congcneres 
surtout,  pourraient  donner  Heu  ;i  une  ctude  des  plus  interessantes.  Mais  la  vie 
passe  rapidement  et  ne  nous  laisse  que  quelques  rares  petrifications,  süffisantes 
pour  piquer  notre  curiosite  mais  non  pour  expliquer  les  evolutions  dont  alles 
sont  les  effets. 


1)  J.  M.  iKyjoBiih,  Teojioruja  Cpöujc.  Eeorpaa  1893,  I,  p.  283—290. 

St.  Novakovic. 

Einige  Lehnwörter  im  Kroatischen. 

1.  zalacTtja  «Siilze«, 

In  manchen  Gegenden  des  kajkaviscben  Sprachgebietes  (ich  habe  es 
auch  bei  den  Ikavci  in  Sichelburg,  Bezirk  Jaska,  gehört)  und  im  kroatischen 
Küstenlande  hört  man  für  Sülze  neben  ladetinu  i)  noch  zalacUja.  Auch  Belo- 
stenec  Gazophyhicium  II.  473  kennt  das  Wort.  Das  Wort  ist  venezianischen 
Ursprungs.  Boerio,  Dizionario,  verzeiclmet  für  schriftitalienisch  gelatina 
zeladia,  zeladina  (coUa z  dolce).  Der  Übergang  von  venez.  z^z  ist  gang  und 
gäbe,  vgl.  in  Ragusa  Rad  LXV,  S.  164  huziti,  S.  163  htza,  Rad  CXVIII,  S.  19 
mazurana,  S.  \ß  jrrzun.  Doch  e  >>  a  macht  Schwierigkeiten,  da  sonst  das  e 
bleibt,  vgl.  cebüla  »Zwiebel«,  cedula  in  Sichelburg.  Es  könnte  vielleicht  ein 
Einfluß  von  ladetina  sein,  aber  auch  eine  Art  Angleichung  an  das  zweite  a, 
vgl.  in  Ragusa  Rad  LXV,  S.  104  halancana  >  melauciana,  und  S.  105  salatar  «< 
serratojo '-). 

2.  grändav  »ranzig«. 

Dieses  Wort,  welches  im  kroat.  Küstenlande  (iräncljiv  lautet,  hörte  ich 
auch  in  Sichelburg;    es  hängt  offenbar  mit  rancidus  >  venez.  //ra;;:/^,  wo- 


1)  Neben  Jtladetina,  ladetina  hört  man  hie  und  da  auch  züljica,  was  auf 
d.  Sülze  zurückgeht.  Deutsches  /geht  reclit  gerne  in  //  über:  Spiegel  <^  ipe- 
galj,  Mehl  <C  mclja,  Halbe  (Knuj)  <^  huljha  (ein  Maß  für  Flüssigkeiten)  etc. 
Der  Ausgang  des  Wortes  wurde  durch  das  Suffix  -ica  verdeutlicht. 

-)  Vgl.  in  Ragusa  galatina  =  Sülze  (vgl.  Rjecnik  III.  93),  was  wahr- 
scheinlich wegen  des  bewahrten  (/  eine  altdalmatischo  Form  ist. 

30* 


468  Kleine  Mitteilungen. 

neben  auch  ranzio  vorkommt,  zusammen.  Boerio  bezeichnet  hier  z  als  »aspra«. 
An  zy>  6  ist  nicht  zu  denken.  liier  könnte  man  denselben  P'all  sehen  wie  in 
(fvUan  (welches  Wort  ich  in  Sichelburg  hörte)  sicher,  was  offenbar  auf  deutsch 
(jewiß  +  das  Suffix  -Jan  (vgl.  Maretiö,  Gramatika  i  stilistika,  S.  305  b)  zurück- 
geht. In  (jrancav  kann  also  entweder  das  Suffix  -jav  'vgl.  Marotic,  1.  c.  e)  an 
(jranz-  angehängt  worden  sein  oder  -av  allein  auf  yranzi-,  was  dasselbe  er- 
geben hätte.  Die  ragusanische  Form  rankdiv  Kad  LXV,  S.  102  zeigt  das- 
selbe Suffix  wie  grancljiv,  stammt  aber,  wie  das  c''  >  k  zeigt,  aus  dem  Alt- 
dalmatischen her  1). 

3.   vadljati  jj wetten«,  vildlja  »Wette (f. 

In  Bezug  auf  dieses  Wort  wird  in  Archiv  XXVII,  S.  583  auch  auf  deut- 
sches »wetten«  verwiesen.  Unser  Wort  läßt  aber  auf  eine  viel  ältere  Stufe 
schließen,  da  ihm  offenbar  eine  unverschobene  und  nicht  uuigelautete  Form 
zugrunde  liegt;  also  kann  man  es  nur  mit  got.  [ga]ivadj6n  vergleichen.  Doch 
im  Vergleiche  mit  anderen  Wörtern  zeigt  die  Vokalisation  manches  auf- 
fallende; wie  sk'öda  <<  scado  (vgl.  Vondräk,  Altksl.  Grammatik,  S.  42)  zeigt, 
müßte  man  auch  hier  o  erwarten.  Zeigt  dies  Wort  vielleicht  nicht,  daß  das 
germ.  «  in  dieser  Stellung  eine  andere  Färbung  hatte  (weil  ja  ein y  folgte]? 
Vgl.  übrigens  auch  värdati,  livärdati  »splihen«,  wo  allerdings  die  Möglichkeit 
einer  Entlehnung  aus  dem  Venezianischen,  wo  bekanntlich  das  germ.  w  als  v 
bleibt,  in  Betracht  kommt.  —  Auch  das  Subst.  vädlja  existiert  -]. 

1)  Man  kann  nicht  annehmen,  daß  c  in  grancav  dem  tosk.  rcmcido  zuzu- 
schreiben ist.  Der  schriftitalienische  Einfluß  hätte  doch  frtiher  in  der  küsten- 
ländischen Form  grancljiv  platzgreifen  sollen  ! 

2)  ivadjön  >  vadijäti  wurde  mir  durch  romanische  Formen  frz.  gage^  gager, 
ital.  gaggio,  prov.  gazi  nahegelegt.  Man  könnte  allerdings  an  das  mittellatei- 
nische vadium,  welches  auch  auf  wadi  zurückgeht,  denken,  doch  bezeichnet 
vadium  immer  nur  »Pfand«.  —  Wegen  dj~^dlj  könnte  man  allerdings  nicht  an 
das  so  hohe  Alter  (aus  dem  Gotischen!)  denken;  eher  vielleicht  an  das 
mittellat.  vadium,  welches  auch  germ.  Ursprungs  ist. 

P.  Skok. 


Zur  serhokroatisch-protestantischen  Literatur  des  X  VI.  Jahrh. 

Im  Jahrgang  1896,  Nr.  VI,  des  Anzeigers  der  philos.-histor.  Klasse  der 
Wiener  Akademie  der  Wissenschaften  hat  Jagic  in  dem  Aufsatze  «Ein  vierter 
bibliographischer  Beitrag«  neben  der  im  J.  1564  gedruckten  Übersetzung  der 
Propheten,  welche  er  nach  dem  einzigen  geretteten  Exemplar  im  J.  1897  neu 
herausgab,  noch  zwei  kleinere  slavisch-protestantische  Werke  kurz  beschrie- 
ben, von  welchen  ebenfalls  nur  je  ein  Exemplar  (beide  in  der  kgl.  Hof  biblio- 
thek  in  Dresden)  bekannt  ist,  nämlich  die  württembergische  Kirchenordnung 
(Czrikveni  Ordinalicz)  und  die  Apologie  der  Augsburgischen  Konfession 
[Bramha  augusztanszke  szpovedi],  welche  beide  ebenfalls  im  J.1564  in  Tübingen 
mit  lateinischen  Lettern  gedruckt  wurden.  Vor  kurzem  habe  ich  bei  einem 
Wiener  Antiquar  auch  ein  glagolitisches  Exemplar  des  Crikveni  ordinalic  ge- 


Kleine  Mitteilungen.  469 

sehen,  dessen  Existenz  nach  Schnurrer  (S.  109)  ohne  weiteres  vorausgesetzt 
werden  konnte,  den  aber  Niemand  Von  den  neueren  Forschern  bisjetzt  ge- 
sehen hatte.  Ich  habe  das  Buch,  bevor  es  ins  Ausland  wanderte,  auf  kurze 
Zeit  in  den  Händen  gehabt,  so  daß  ich  eine  summarische  Beschreibung  dieses 
neuentdeckten  glagolitisch-protestantischen  Unikums  geben  kann.  Der  Titel 
lautet  (in  der  usuellen  cyrillischen  Transskription:,  wie  folgt: 

lIPHKB^B-iHH  OPÄHHAJIHII,  |  KAKOCE  BnPABOH  KA-|To.!iH^acKou  i), 
XcxiiHCKOH  IIpuKBH,  |  XpuecTBa  EupTCMÖepcKora  |  Bce  npase  Boacie  cjiy-jacöe 
onpasjaio  u  |  cjiyace.  ||  Caai  naHnpBO  BixpBaxcKU  f,3iiKi  |  npeoöpameH  h  miaMnaH.  || 
SBürtcmbcrgifd^e  .ttrcf)enorbmmg  /  in  bie  ]  drabatifd^e  Sprad)  tierttert,  önb  |  mit  Gra* 
batijd)en  58U(^l'taben  |  getrudt.  ||  a.  EaKopun  e.  |  /Ipyrora  ^yu^aMCUTa  3a  ucTUHy 
HUKTO-|pe  HGMope  uojioyRUTu,  Hero  obi  Kii|nojo2teH  ecx.  HOXT.  \n  npo^.  || 
B  TyEHH^II.^*^7I^ 

Der  Titel  ist  in  einem  architektonischen  Rahmen  eingefaßt  und  das 
Format  ist  kl.-So  (mit  etwas  über  14  cm  Höhe  und  fast  9  cm  Breite,  jedoch  ist 
das  sonst  vorzüglich  erhaltene  Exemplar  beschnitten,  da  es  in  neuester  Zeit 
eingebunden  wurde).  Dem  Titelblatte  folgen  weitere  15  nicht  numerierte, 
dann  94  mit  glagolitischen  Lettern  numerierte  und  dann  noch  einmal  zwei 
nicht  numerierte  Blätter,  so  daß  das  ganze  Werk  aus  1 1 2  Blatt  besteht.  Nach 
dem  (auf  der  Rückseite  leeren)  Titelblatte  steht  zunächst  auf  (nicht  numer.) 
fol.  2a— -a  eine  deutsche  Vorrede:  »58orreb  |  ?(n  bte  rcd)t  Eriftlid)*  en  S3erfom< 
lungen/bnb  jre  |  Siener  in  ßrabaten«  mit  der  Unterschrift  (auf  fol.  7-') :  »(S.@e= 
l^orfame  Wiener/ 1  9tntoniug  Satmata.  |  8tep{]anu§  ^fterreic^cr.  1  @corg  ^uritfi^itic^.", 
worauf  dieselbe  Vorrede  auf  fol.  T'j — l^y^  in  serbokroatischer  Sprache  sich 
wiederholt:  nPE;irO-|BOP.  |  nPABOMY  KPGTi'LHCKOMy  3E0Pnni-|my  u 
HHx  cjiyacaöimKOM  Bxp-|BaTCKOu  Scm^ih.  mit  der  Unterschrift  (auf  fol.  15^):  Uox- 
JIOJKHH  cjiyre  Baum.  |  Ahtohi  ilaJiMaTHiii.  |  CxHnaiir  HcTpuiui.  |  K)paH  TOpnqiimt 
H31  I  BiiHoao^ia.  Fol.  1 5''  ist  leer,  ebenso  fol.  1 0'',  während  fol.  1 C-"^  unter  ^ITOE 
nOrPHinE-;HO  BA  TOH  KHHrH.  das  Druckfehlerverzeichnis  enthält.  Auf 
den  numerierten  Blättern  1—94  steht  der  eigentliche  Text  der  Kirchenord- 
nung, welcher  auf  Bl.  1^  mit  den  Worten  anfängt:  IIACIE-IÄVE  IIAPEJBA  | 
OBora  OpÄuiia^ÄHua.  |  OA  HAYKA  H.  nPO-|ÄHKaiiii.  und  auf  61.94''  mit  den  Worten 
schließt:  rocnoAuuiEon  Äau  pacxe-inuc  uyMiiOyKeiiie  CBohoiiIlpuKBU.  H  [ly  oxpauu 
H  ■^yuaH,  paAH  rociiOAu-|ua  iiaiuera  HCXTA  b  npaBOU  |  Bepu,  ca  Cbctum  ily-|xoMi 
AMEH.  I  Koiiam  IXpiiKBliiiora  |  0pÄUiia.3ima.  |  h  <i>  m  r.  Die  letzten  zwei  nicht 
numerierten  Blätter  enthalten  auf  den  drei  ersten  Seiten  (die  vierte  ist  leer!)  das 
Inhaltsverzeichnis :  PEriI(V|TAP  IIJIII  yKA3  |  nOFJIABHTlIX  M'LCT  |  ir 
HayKOBi,  Ka  co  nao-|F.oMi  0pÄiiiia.3iiuy  |  y^piKC. 

Auf  Grund  der  seinerzeit  von  Jagic  gemachten  Aufzeichnungen  konnte 

1)  Mit  einem  unter  den  Buchstaben  gesetzten  Bogen  habe  ich  die  Liga- 
turen bezeichnet.  Einfache  vertikale  Striche  bezeichnen  das  Endo  einer  Zeile, 
doppelte  dagegen  den  Schluß  eines  Absatzes.  Die  oborhall»  der  Linie  sttehou- 
den  Zeichen  stehen  so  im  Original. 


470  Kleine  Mitteilungen. 

ich  konstatieren,  daß  der  Text  der  beiden  Ausgaben  des  OnUnalic  wörtlich 
übereinstimmt. 

Aus  der  Vorrede  ist  folgender  Satz  wichtig  (fol.  4*'  ^der  glagolit.  Aus- 
gabe]):  »SBcil  bann  bcr  gtümädjtifl  ®ott  bnnb  3Satter  tinjcrä  .^erren  ^ei"  ü^f)rifti/baä 
l\t6)i  feinet  SBortt^  ünA)  Ifi)  ün^  (Irabatcn  angcäünbet/....  '^\i  meber  ben  Siirc^en» 
orbnungcn  /  fo  bei)  ben  (Sf]riftlid;en  reformierten  KirdEje  |  (fol.  5^)  gebreüc^Uc^  'önb 
gIci(i)rt)ofI  alle  in  ber  Sub^tauä  önb  SBefen  bncc^auf3  einig)  bije  erftölct  Dnb  in  bie 
Srabatiid)c  ©prad)  üerbotmetid)et/fo  in  bem  §er{5ogt()umb  SBürtcntberg/auc^  ben 
ned)ft  btnbltgenben  gür[tentl)umb  /  Öraff  önb  .öerrfdjafften  /  9{et(^  ünb  gretiftetten 
geljalten«,  bezw.  fol.  11'*:  Ka^i  xa^a  EccMoryinn  Uon  u  Oram  FocnoMHa  uamera 
HCXTA  OBy  cbhtjiocti  neroBa  cJOBa  TaKaiime  npn  uac  XjjTaTOB  (sicij  cot  Ea>K- 
TaÄi/ ....  EcTi  Meio  IIpiiKBenuMH  opaHua.3Hmi  (ku  uoäu  KpciiiucKux  nonpaB.3eHHX 
IIpuKBaxi  oÖHiaH,  HHiuxapi  Maiic  ecu  Ea  CyöcTaimuu  ii  iiayKy  bäujig  ecy  paBHu  u 
eaHHii)  obb  HBBOJieHi,  BixpBaTCKH  fcHKB  HC-i  (fol.  1 23')  TJiMaieHi,  KOH  yB.3aaainio 
EHpxeMÖepcKOM  TaKauiue  no  Bcyaa  noju  Khcsh  h  FocnoÄCTBa  ffpa^am  ecTi.  Damit 
man  die  Identität  beider  Ausgaben  ersehe,  gebe  ich  letztere  Stelle  auch  aus 
der  lateinisch  gedruckten  Ausgabe  wieder:  »Kad'  tada  vßemoguchi  Bog  i 
Otacz  Goßpodina  naffega  Jßukrßta  ovu  ßvitloßt  ßegova  ßlova  takaiffe  pri  naß 
Hrvatov  yeßt  vasgal .  .  .  Yeßt  meyu  Czrikvenimi  ordinaliczi  koi  poli  krßtian- 
ßkih  popravlenih  Czrikvah  obitsai  niltarmane  vßi  va  ßubßtanczij  i  nauku 
vdilie  yeßu  ravni  i  yedini)  ov  izvolien  i  V  hrvatßki  yasik  ißtkaatsen  .  .  .« 

In  der  kgl.  Hofbibliothek  in  Dresden  hat  sich  auch  das  einzige  bekannte 
Exemplar  der  slovenisch-protestantischen  Kirchenordnung  erhalten  'unter  der 
Signatur  Litt.Belg.  10^),  welche  ebenfalls  in  Tübingen  im  Jahre  1564  gedruckt 
wurde.  Das  Exemplar  ist  leider  defekt :  es  fehlt  das  Titelblatt  und  das  Vor- 
wort, so  daß  der  Text  mit  dem  die  drei  letzten  Blätter  einnehmenden  Register 
175  Blatt  Groß-Oktav  umfaßt  (vgl.  eine  kurze  Notiz  darüber  von  Dr.  Fr.  Vidic 
im  Laibacher  Zvon  vom  J.  1S96,  S.  514—515);  aus  dem  erhaltenen  ersten  Blatt 
ersieht  man  aber,  daß  diese  Übersetzung  den  Titel  Cerkouna  ordnmga  führte. 

Es  ist  nun,  wie  sonst  bei  den  südslavischen  protestantischen  Büchern, 
möglich,  daß  für  die  serbokroatische  Übersetzung  auch  die  slovenische  ver- 
wendet wurde,  wofür  in  diesem  speziellen  Falle  schon  die  Form  Ordinalic 
sprechen  würde,  wenn  sie,  wie  ich  vermute,  slovenischen  Ursprunges  ist;  dann 
aber  müßte  es  eben  in  der  slovenisch-protestantischen  Literatur  neben  der 
Cerkovna  ordninga  auch  einen  Ordinalic  gegeben  haben,  denn  die  erstere  ist 
höchst  wahrscheinlich  ein  ganz  anderes  Werk  als  letzterer.  Schon  der  Unter- 
schied im  Umfange  ist  ein  auffallender:  der  glagolitische  Ordinalic  zählt  bloß 
94  Blatt  Klein-Oktav,  mit  3  Seiten  Register,  während  die  slovenische  Ordninga 
172  Blatt  mit  3  Blatt  Register  umfaßt;  dann  besteht  letztere  aus  zwei  Teilen 
(auf  Bl.  66  fängt  der  zweite  Teil  unter  der  Aufschrift  an:  TA  DRVGI  DELL 
TE  CERKOVNE  ORDNINGE  . . .),  während  der  Ordinalic  nur  aus  einem  TeUe 
besteht.  Leider  kann  man  nur  den  Anfang  der  beiden  Texte  vergleichen,  da 
Dr.  Vidic  nui-  die  ersten  Sätze  der  Ordninga  abschreiben  konnte,  und  da  er- 
gibt es  sich,  daß  tatsächlich  dieser  Anfang  in  beiden  Werken  ein  ganz  ver- 
schiedener ist;  man  vergleiche  mit  dem  im  Zvon  abgedruckten  Text  den  fol- 


Kleine  Mitteilungen.  471 

genden  glagolitischen:  BoacacTseHy  Pu^t  h  HeöecKii  HayKi  npoÄiiKaTir,  hh 
u3H.!iOEiiiacKora  aoMHUiJiemi  nsanuro  u  HaiuacTo:  Hero  oäi  caMora  rocnoauHa 
Bora  nocraB^iHo  h  oa^yieno.  Ecti  TaKoe  oai  Bora  laKo  Äparo  u  bhofo  iieHOBuxo 
ÄpjKaHO  II  npouuHiHO,  Äa  e  OBy  c^yjKöy  HiroBO  Bi^ruiacxBO  snoie^iy  caMO  sa^e^io: 
IToTOMi  lora  Kaaa  roau  Aare^iOMi,  ii  home  CBeiuMi  üaTpuipxoMi  u  üpopoKOMi, 
TaKoe  CEOMy  eÄHHopoeHOMy  CHHy,  TocnoÄHHy  Hameiny  H-(B1.  l^jcyKpciy  Kaai 
q.iOBUKi  nocia,  u  ly  uciy  AnycTOJioMi  onpaBura  napyin-ii  u  sanoBt^ajn  ecii.  — 

Allerdings  müssen  die  beiden  Werke  inhaltlich  wenigstens  zum  Teil 
übereinstimmen.  Nach  dem  Register  besteht  der  glagolitische  Ordinalic  aua 
39  (weder  im  Register  noch  im  Texte  durch  Ordnungszahlen  bezeichneten) 
Kapiteln,  von  welchen  ich  mir  folgende  notiert  habe:  1.  Oai  nayKa  h  npoauKana 
iia  Kap.  .a.,  2.  Oäi  Cxora  Xcia  Ha  KapxH  .ä-,  3.  Oäi  HarJiora  Xcia  Ha  Kap.  .aci., 

4.  Oäi  KaiexHCMa.  na  Kap.  .na.,  5.  BjxaÄaxejieMi  OBora  ÜBHia  Ha  Kapm  .hb.,  6.  CyÄ- 
HCMi.  Ha  KapiH  .hb.  ...  10.  PoAHTCJiiMi  ...  15.  ^HBOHKaMi  ....  20.  KaTexHCMycr 
....  25.  HaiHHi  onmeHHxi  Mo^iuTaBi  h  JteiaHHH  ....  30.  Oäi  IIpiiKBiunxi  cbht  .  . 
.  .  35.  Ha^uHi  KaKoce  saKOHHHKii  BupuKaBi  cnpoBaiio  .  ,  .  37.  KaKOce  HMaio  saKOH- 
HUKU  BiipHKBH  Ha  npeaHK.?tHHHH  HaBHCTUT.  Ha  Ka.  38.  Oä  noxoenii  u  npn- 
^loiumeni  öojihukoe.  ua  Kap.  O/K.,  39.  Haiiiii  norpeöa.  na  Kap.  n5.  Insofern 
dieses  unvollständige  Kapitelverzeichnis  einen  Vergleich  mit  den  wenigen  aus 
der  Ordninga  angegebenen  Kapitelaufschriften  zuläßt,  sieht  man,  daß  der 
Inhalt  wenigstens  zum  Teil  derselbe  ist,  denn  Kap.  2o  des  Ordinalic  erscheint 
in  der  Ordninga  auf  Bl.  100  ff.  als  «Ta  kratki  Wirtemberski  Catehismus«, 
Kap.  25  auf  Bl.  11"  ff.  als  »Ordninga,  koku  sc  imaio  gmain  lytanie,  tu  ie,  mo- 
lytue  inu  proshne. ..  dopernashati«,  Kap.  37  auf  Bl.  130  ff.  als  »Ordninga,  koku 
se  ty  Sakoniki  imaio  poklyzati  inu  porozhiti«  und  Kap.  39  auf  Bl.  163  ff.  (eben- 
falls als  letztes?)  als  »Orduinga  od  tiga  pogreba«. 

* 
*  * 

Sehr  wenig  bekannt  ist  auch  die  glagolitische  Übersetzung  von  Dr.  M. 
Aulbers  Predigten  vom  Hagel;  doch  Safarik  (Gesch.  der  südslav.  Lit,  Bd.  I, 

5.  187,  Nr.  84)  war  es  wenigstens  bekannt,  daß  ein  Exemplar  davon  ebenfalls 
in  der  kgl.  Bibliothek  zu  Dresden  vorhanden  ist;  Jagic  hatte  es  gleichzeitig 
mit  den  beiden  im  Eingange  erwähnten  Werken  auf  kurze  Zeit  in  den  Händen 
und  auf  seinen  Aufzeichnungen  beruht  folgende  kurze  Beschreibung:  Das 
Büclilein  zählt  nur  14  nicht  numerierte  Blätter  in  Klein-Quart,  deren  29  zeilige 
Kolumnen  15 — 15-0 cm  hoch  und  9-5 cm  breit  sind.  Der  Titel  lautet:  E^HA 
KPAT|Ka  cyMMa,  iihkiix  npo-|ÄiiKi  oäi  T.11C  u  oäi  ^apnum  kc  ey  npoÄUKano 
B-|cTO.iiioMi  Eapoiuy  BapiCMÖcpcKe  scMJii,  Mnctua  |  anryoTa,  ji^to  no  poucxBy 

rocnoÄHua  uaiuera  |  HCXA,  i.*. m.6.  H  ho  lOphio  lOpHquuiy  SBuuo-JÄOJia,  Au- 
■muy  ilaj[Maiuny  11  Cxunauy  Hcxpniuy,  |  ns  HUMiuKora  nucMa  b  xpBaxcioi  iauKi 
Oäi  I  pnqu  äo  pu'ui,  Bopno  ucx.iManenc :  |  u  c  xpBaxcKHMU  cjo-'bh  uixaMnaiio.  ||  Sine 
Sumä  ctltd^er  ^rc|btgcn  bom  .^agct  tinb  58ut)olbcn/  |  auf}  bem  Ieutfcf)cn  in  bie 
Grobntifd)c  |  ©^rarf)  üetbotnietjd)t,   bnb  mit  |  ISrobatifdjcn  bud)fto=|ben  getrucft.  || 


472  Kleine  Mitteilungen. 

Hcaiii  .HC.  I  Fähc  Kajacy  BiieBO.aaxi  TaKO  oim  leöi  iiiumy:  iia  Kaaa  th  uhxi  CKa- 
lUTHry  yqiiiiii,  laKO  ouh  Bxyraxi  Banmo.  ||  B  TyEHIirH  |  h.^.u.b.  —  Auf  der 
Rückseite  des  Titelblattes  steht  zunächst :  /lEBTEPO  .hs.  |  Be.3HKo  ciMCHa  Ha 
UHBy  nociemi  a  Ma.JO  }iaM-|jiaTHmi,  KajH  m.  ciapu  nociemi,  Ty  CÄaiii  HaM-jaxiimt, 
H  npöil  Nun  folgt  eine  Xylographie :  ein  Engel  mit  einer  Trompete  aus  den 
Wolken  schwebend  bläst  zur  Stadt  herab,  und  unterhalb  derselben:  MHXEÜ.  e.  | 
Ilociciui,  ajiii  HcCyaemi  accjii,  h  oai  njioja  BH-|uorj)ajOBi,  ii  yjiit  ueuyjcmi  yacinsajii, 
pajH  TBO-|hHxi  rpHxoBi,  H  npoq.  Jetzt  beginnt  mit  Fol.  2  (mit  der  Signatur  An) 
der  Text  mit  den  Worten:  OBora  ITpopoKi  EpcMHi  ua  acu.  Kan.  saMauii  ue  roBopu. 
'^Ijiov.u^acKo  cpÄHe  ecii  öaipno  ii  CTpani.z[iiBO :  rao  e  aiope  c^ynÄaMenia  HsucKaiH? 
Epece  OBO  sa  BcarflaHHOM  npaTiiKaHiio  Mope  JiaKo  nosnaxH :  KaKo  obo  ecii  laKoe  cam 
EpeMHi  Ha  HiroBOMi  B.5ameMi  jijiky  u  npoauKe  nodyiuarejnix  noaua.ii,  «a  ^.iobu- 
lacKo  cpaae  HeMope  hu  3Jia  hh  ao6pa  hocuth  u  Tpnixu.  B  cpumu  ii  KaÄahuM  Äo6po 
rpe,  TaKO  cy  oxo-ie  mhcjih,  Äpsii  ii  ßaxpHH,  a  BHecpimu  ii  BcynpoTUBHOciii  cy  Äypn, 
CTpaniJCHBH  H  noöHCHH:  esaHi  Kpaii  hhxi  HHKxope  neiviope  npiiMopaTH  ii  na  ysaii 
apHcaxH,  Äpyra  Kpax  hnxi  naKH  HHKxope  neMope  sasoBOJiHO  ÄBiirHyxH  n  TinmiH. 
OsaKOBa  MH  AananiHH  ffani  6yÄH  Bory  mh-io  npeai  oiHMa  bhähmo.  Ako  naMi  Hami 
MH./IOCXHBII  aoöpn  FocnoÄUHi  Eon  aa,  cäho  poaoBHxo  Jiixo :  xano  mh  niroBy  Mhjocti 
H  oxaqacKe  Äapn,  Ka  BcaKou  biicokh  oxojih  mhcj:u,  b  xamtHsy  h  öaxpHEO  yauiBaMO  u 
HC  MapHMO  3a  TÄHaEora,  hh  sa  oBora  cia  Focno^a.  IIoxoäh  jiti  naioi  ohi  naci  Kaaa- 
roÄH  3Hen.!roÄHHMi  JiixoMi  na  äomi,  h  sa  naniuxi  rpuxoBi  bojh)  aonycxn  njioß.i  na 
Hamiixi  HUBaxi  u  saci  njioai  seujii,  Kne  K^iroBuiacKOMy  acuBJiiHiio  u  xpaHU  no- 
TpHöaHi,  fla  CKpo3u  xjqy  h  xy/to  BpuMi  KongaHi  u  saxpeni  öyae :  xaKO  Äpyrora  hh 
Meio  HaMH,  Hero  jihcto  nja^ii,  xyaceHue,  yöoucxBO  Ha  yöoHCiBO  Bannio.  Haie  Kaja- 
roÄH  xaKoe  K-iixBa  u  npaceraHie  u  obo  gxo  ecxi  nauxye,  aa  |  (Fol.  All  retro)  Ha 
rocnoÄHHH  Eory  u  na  niroBou  Mujeocxubou  noMomii  6e3y*aK), 

M.  Resetar. 


Über  die  Provenienz  der  Kiever  Blätter  und  der  Prager 

Fragmente. 

(Zur  Abwehr.) 

Herr  K.  K.  Grunskij  schließt  seine  Publikation  »Prazskie  glagoli- 
ceskie  otryvki«  St. Petersburg  1905  mit  einer  etwas  unfreundlichen  Notiz  ab, 
welche  meine  Arbeit  »0  puvodu  kijevskych  listu  a  prazskych  zlomku  .  .  .« 
V  Praze  1904  betrifft  und  mich  zwingt,  gegen  die  dort  vorgebrachte,  teils 
offene,  teils  versteckte  Pauschalverdächtigung  Stellung  zu  nehmen,  obzwar 
die  auf  diese  Antwort  verwendete  Zeit  viel  besser  anderweitig  verwertet 
werden  könnte  und  die  geneigten  Leser  dieser  eminent  wissenschaftlichen 
Zeitschrift  mehr  auf  Belehrung  als  Polemik  reflektieren.  Ich  muß  daher  um 
Entschuldigung  bitten,  wenn  ich  diesmal  mit  solchen  Schlacken  für  die 


Kleine  Mitteilungen.  473 

Wissenschaft  und  mit  solcher  Kost,  die  nicht  einmal  dadurch,  daß  man  sie 
ein  wenig  pfeffert,  für  den  Leser  verdaulicher  gemacht  werden  kann,  komme. 

Herr  Grunskij  behauptet,  daß  meine  Arbeit  einige  Details  enthalte, 
welche  früher  von  ihm  ausgesprochen  worden  wären.  Meine  Berufung  auf 
seine  mündlichen  Mitteilungen  (sie!)  wäre  unvollständig  und  ungenau.  Er 
verweise  insbesondere  auf  das  1.  Heft  seiner  Arbeit  über  die  Kiever  Bl.,  das 
1903  gedruckt  und  früher  im  Slav.  Seminar  der  Wiener  Universität  vor- 
gelesen wurde,  und  dann  auf  die  folgenden  Hefte  2 — 3,  welche  1904  gedruckt 
wurden.  Das  wären  alle  jenen  Stellen,  die  hier  in  Betracht  kommen.  Auf  das 
weitere  habe  ich  keinen  Grund  zu  reagieren,  denn  es  kennzeichnet  selbst  zur 
Genüge  den  wissenschaftlichen  Fond  seines  Autors.  Man  wird  bemerken,  daß 
es  nicht  mehr  ein  in  Schranken  gehaltenes  Gewehrgeknatter  ist,  sondern 
H.  Grunskij  ist  hier  gleich  mit  seinem  groben  Geschütz  aufgefahren. 

Es  muß  allerdings  konstatiert  werden,  daß  sich  einzelne  Berührungs- 
punkte in  unseren  Arbeiten  konstatieren  lassen  und  zwar  dort,  wo  es  sich  um 
die  Feststellung  einzelner  Eigentümlichkeiten  des  in  Betracht  kommenden 
Denkmals  handelt.  Ich  muß  gestehen,  daß  ich  selbst  ein  wenig  überrascht 
war,  als  ich  die  mir  jetzt  erst  vorliegende  Arbeit  Grunskij's  —  er  hatte  die 
Güte,  sie  mir  jetzt  zu  übersenden  —  las.  Freilich,  in  der  Erklärung  der  be- 
treffenden Eigentümlichkeiten  gehen  wir  auseinander,  wie  denn  auch  die 
Resultate,  zu  denen  wir  kommen,  fast  diametral  entgegengesetzt  sind.  Es 
handelt  sich  nur  um  die  betreffenden  Details  und  da  meint  offenbar  H.  Grun- 
skij, daß  es  keine  andere  Möglichkeit  gäbe,  als  daß  sie  ihm  entlehnt  worden 
sind.  Hat  er  ja  darüber  vorgelesen,  sein  1.  Heft  soll  schon  1903  erschienen 
sein,  und  dazu  kommen  noch  seine  »Mitteilungen«.  Ich  muß  mir  daher  er- 
lauben, auf  diese  näher  einzugehen  und  die  Genesis  meiner  Arbeit  ein  wenig 
zu  beleuchten. 

Was  die  Konstatierung  des  Akzentes  in  den  Freisinger 
Denkmälern  und  Kiever  Blättern  anbelangt,  so  wird  es  mir 
H.  Grunskij  gütigst  zugestehen  müssen,  daß  ich  wenigstens 
ihm  gegenüber  die  Priorität  in  Anspruch  nehme,  weil  er  da- 
rüber schon  in  meiner  Ausgabe  der  Freisinger  Denkmäler 
(Prag  1896,  S.  35 — 38)  lesen  kann.  Ich  glaube,  damals  dürfte  sein  erstes 
Heft  noch  nicht  erschienen  sein,  und  bin  selbst  einigermaßen  überrascht,  daß 
er  in  seiner  Arbeit  dieses  Umstandcs  keine  Erwähnung  tut,  vielmehr  meint, 
daß  er  selbst  zuerst  auf  die  Akzente  in  den  Kiever  Blättern  aufmerksam 
gemacht  hätte  (l.IIeft,  S.40  sagt  er:  »Na  udarenija  v  K. C.bylo  uze  obrasceuo 
vnimanie  mnoju,  a  zatom  g.  Karinskim«).  Ich  bitte  ihn  nur  gütigst  in  meiner 
Ausgabe  der  Freisinger  Denkm.  S.  38  nachzulesen.  Auch  das,  was  er  über 
dieses  Denkmal  hinsichtlich  des  Akzentes  (1.  Heft,  S.  54 — 56)  sagt,  läßt 
nicht  erkennen,  zu  welchen  Resultaten  ich  schon  in  meiner  Ausgabe  kam, 
obzwar  ihm  diese  bekannt  sein  mußte,  da  er  sie,  wie  ich  jetzt  bei  ihm  i^S.  56, 
Anm.  1)  lese,  rezensiert  hat.  Übrigens  fand  es  auch  II.  Kariuskij  nicht  der 
Mühe  wert,  in  seiner  diesbezüglichen  Abhandlung  darauf  zurückzukommen. 
Ich  würde  selbstverständlich  das  alles  stillscliweigond  üborgohou,  wenn  nicht 
H.  Grunskij  so  sehr  bemüht  wäre,  seine  angeblichen  Verdienste  um  die  Er- 


474  Kleine  Mitteilungen. 

forschung  unseres  Denkmals  auf  Kosten  fremder  Leistungen  in  den  Vorder- 
grund zu  stellen.  In  meiner  Ausgabe  habe  ich  ferner  konstatiert,  daß  es  im 
ersten  Denkmal  zweierlei  Akzentzeichen  gibt  (S.  37),  und  daß  in  den  Frei- 
singer Denkmälern  neben  dem  Akzente  auch  die  Quantität  bezeichnet 
sei,  daß  aber  dieser  Unterschied  nicht  konsequent  durchgeführt  i8t(S.  36),  und 
ich  bin  nicht  wenig  überrascht,  dieselben  Gedanken  nun  bei  Grunskij  (Heft  1, 
S.  55  f.)  ohne  Angabe  der  Quelle  zn  finden.  An  eine  Quantitätsbezeichnung 
in  den  Kiever  Bl.  dachte  ich  damals  bei  den  verschiedenen  Zeichen  dieses 
Denkmals  auch  schon.  Ein  miloslwy,  vecbni),  chstnügo,  hlazenümu,  dann  tnqce- 
mka,  zakoHhuika  u.s.  w.,  was  wir  alles  schon  auf  der  ersten  Seite  des  Denk- 
mals finden,  wird  ja  wohl  auch  bei  andern,  die  sich  mit  diesem  Denkmal  auch 
nur  oberflächlich  beschäftigt  haben,  den  Gedanken  angeregt  haben,  ob  wir 
es  hier  nicht  mit  Quantitätsbezeichnungeu  zu  tun  haben.  Woher  sollte  aber 
dieselbe  ihren  Ursprung  haben,  da  die  anderen  Zeichen  für  einen  griechischen 
Einfluß  sprachen,  ein  Zusammenhang  oder  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit 
den  Freisinger  Denkmälern  dagegen  noch  nicht  nachgewiesen  werden  konnte? 
Ich  meinte  daher,  daß  das  Zeichen  "  über  y  wahrscheinlich  nur  einen  graphi- 
schen Wert  habe  (S.  38,  es  ist  merkwürdig,  daß  H.  Grunskij  dieselbe  Ansicht 
dann  auch  in  einem  Aufsatze  vertrat,  den  er  im  1.  Heft,  S.  44  zitiert),  daß 
nämlich  die  Laute  nicht  etwa  diphthongisch  zu  lesen  seien.  In  den  übrigen 
Fällen  konnte  ich  noch  nicht  zu  einem  endgiltigen  Resultate  kommen;  es  war 
damals  noch  nicht  auf  einen  Umstand  hingewiesen  worden,  der  mich  dann 
meinem  Ziele  näher  bringen  sollte.  Mit  unseren  Denkmälern  beschäftigte  ich 
mich  dann  noch  wiederholt  (vgl.  meine  »Studie  z  oboru  cksl.  pis.«),  aber  spe- 
ziell in  der  Akzent-  und  Quantitätsfrage  kam  ich  nicht  weiter. 

Unterdessen  erfuhr  ich  aus  dem  leider  schon  eingegangenen  Vestnik 
slov.  fil.  a  Star.  II,  S.  38,  daß  in  Rußland  zwei  Abhandlungen  über  den  Akzent 
in  den  Kiever  Blättern  erschienen  sind,  nämlich  von  Karinskij  in  den 
Izvest.  russ.  jaz.  und  von  Grunskij  im  Russ.  fil.  Vestnik.  Diese  war  mir  in 
Wien  nicht  zugänglich  und  so  war  ich  nur  auf  die  kurze  Inhaltsangabe  im 
Vestnik  angewiesen.  Daraus  ersah  ich,  daß  sich  H.  Grunskij  auf  Holzwegen 
befindet.  Vollends  deprimiert  war  ich  aber,  als  ich  Karinskij's  Abhandlung, 
die  mir  hier  zugänglich  war,  las.  Ich  sah  es  als  meine  Pflicht  an,  jetzt  auch 
ein  Wort  mitzureden  und  dafür  zu  sorgen,  daß  jene  Frage,  mit  der  ich  mich 
schon  so  lebhaft  beschäftigt  habe,  wieder  aus  dem  trostlosen  Stadium,  in 
welches  sie  durch  diese  Abhandlungen  geriet,  herausgebracht  werde. 

Da  kam  H.  Grunskij  nach  Wien  und  ich  machte  seine  Bekanntschaft 
bei  Hofr.  Jagic.  Ich  hörte  hier  zwar,  daß  er  sich  mit  der  Erforschung  der 
Kiever  Blätter  und,  wenn  ich  nicht  irre,  auch  der  Prager  Fragmente  beschäf- 
tige, aber  aufrichtig  gestanden,  versprach  ich  mir  nach  der  oben  erwähnten 
Probe  nicht  viel.  Ich  sah  ihn  dann  häufig  in  der  Handschriftenabteilung  der 
Hof  bibliothek  sitzen  und  benutzte  einmal  die  Gelegenheit,  um  von  ihm  etwas 
näheres  über  die  erwähnte,  mir  nicht  zugängliche  Abhandlung  zu  erfahren. 
Aus  seiner  Rede  gewann  ich  den  Eindruck,  daß  er  an  ihrem  Inhalte  nicht 
mehr  festhalte  i).    Er  hatte  vor  sich  die  Kiever  Blätter.    Ich  meinte,  es  wäre 

1)  So  habe  ich  auch  darüber  berichtet  (S.  6),  und  wenn  H.  Grunskij  die 


Kleine  Mitteilungen.  475 

wichtig  zu  konstatieren,  ob  die  Bohemismen  früher  oder  bei  der  letzten  Ab- 
schrift in  das  Denkmal  gerieten  (eine  Frage,  die  ihm,  wie  ich  sehe,  nicht  viel 
Kopfzerbrechen  machte,  da  er  eigentlich  Bohemismen  darin  nicht  sehen  will), 
ob  die  Schrift  auch  einheitlich  sei  'mir  schien  die  erste  Seite  eine  andere 
Schrift  zu  enthalten).  Da  meinte  er,  daß  die  Schrift  des  ersten  Schreibers  bis 
IIb,  Z.  7  reiche.  Hier  mußte  ich  ihm  Recht  geben  und  habe  mich  auch  später 
von  der  Eichtigkeit  dieser  Ansicht  überzeugt  (vgl.  in  meiner  Schrift  »0  pü- 
vodu  Kievskych  listu  etc.«  S.  5).  Dagegen  mußte  ich  mich  ablehnend  ver- 
halten, wenn  er  in  den  Kiever  Blättern,  wie  er  zeigte,  die  Bezeichnung  von 
langen  Akzenten  sehen  wollte.  Wie  ich  nun  aus  seiner  Arbeit  ersehe,  hat  er 
sich  überhaupt  nicht  zu  einer  klaren  Ansicht  emporgearbeitet,  was  die  be- 
treffenden Zeichen  in  unserem  Denkmal  bedeuten  sollen,  denn  einmal  soll  es 
den  langen  Akzent,  dann  wieder  vorwiegend  die  Länge  kennzeichnen,  dann 
soll  damit  wieder  auch  nur  der  lange  Akzent  im  Slavischen  bezeichnet  wer- 
den (das  alles  kann  man  Heft  1,  S.  44  finden).  Diese  Unklarheit  ist  zum  Teil 
dadurch  veranlaßt,  daß  er  nolens  volens  in  den  Zeichen  den  Reflex  des 
griech.  Perispomenon  erblicken  muß  i),  wobei  er  also  eigentlich  mit  Karin- 
skij,  den  er  so  lebhaft  bekämpft,  dieselbe  Ansicht  vertritt.  Das  Gespräch 
wurde  auf  ein  praktisches  Gebiet  gelenkt,  H.  Grunskij  ersuchte  mich  näm- 
lich ,  ich  möchte  ihm  durch  meine  Intervention  einige  Schriften  von  der 
böhm.  Akademie  (es  handelte  sich,  glaube  ich,  um  meine  eigenen  dort  er- 
schienenen Schriften)  verschaffen  2),  wobei  ich  mich  aus  verschiedenen  Grün- 
den leider  ablehnend  verhalten  mußte.  Das  war  das  ganze  Gespräch,  seine 
ganzen  »ustnyja  soobscenija«.  Für  mich  waren  sie  irrelevant,  sie  brachten 
mich  bei  der  Frage  nach  der  Herkunft  der  Kiever  Blätter  nicht  weiter.  Daß 
er  über  dieses  Denkmal  im  Slav.  Seminar  vorgelesen  hatte,  erfahre  ich  jetzt 
erst  aus  seiner  Mitteilung,  da  ich  ja  mit  diesen  Vorlesungen  nichts  zu  tun 
hatte.  Ich  weiß  auch  nicht,  in  welche  Zeit  dieser  Vortrag  fiel,  ob  er  schon 
vor  unserer  Begegnung  oder  nach  derselben  stattfand.  Sie  selbst  fand  ent- 
weder im  Frühjahr  oder  im  Sommer  1903  statt.  Ebensowenig  war  mir  be- 
kannt, wann  und  ob  überhaupt  etwas  über  die  Kiever  Blätter  weiter  er- 
scheinen werde.  Wie  gesagt,  habe  ich  mir  nicht  viel  versprochen,  und  daß 
ich  mich  zum  großen  Teile  nicht  getäuscht  habe,  ersehe  ich  jetzt  aus  dem 
Vorliegenden. 

Im  selben  Sommer  (1903)  hatte  ich  einen  Artikel  über  das  Rheimser 
Evang.  für  Ottos  Slovnik  naucny  zu  schreiben.  Als  ich  dazu  das  Material  zu- 

Ausdrücke  »unvollständig  und  ungenau a  darauf  bezieht,  so  kann  ich  nicht 
dafür,  denn  aus  seinen  Worten  konnte  ich  nicht  klug  werden  und  auch  eine 
halbwegs  befriedigende  Auskunft,  die  ich  haben  wollte,  nicht  erhalten. 

1)  Er  beruft  sich  diesbezüglich  darauf,  daß  unsere  Zeiclien  nicht  über 
die  zweite  Silbe  hinaus  gesetzt  werden  (S.  44),  allein  wir  haben  hier  bqdom, 
s/iiz/ji/  (oder  haben  die  Halbvokale  nach  G.  keine  lautliche  Geltung?)  und 
vollends  mokosti.  Dieser  Einfluß,  falls  er  auch  hier  wirklich  in  Betracht  kom- 
men sollte,  wäre  also  erst  sekundär.  Sonst  kann  man  den  Eiufluß  der  griech. 
(iraphik  hier  vielfach  beobachten,  was  ja  ganz  natürlich  ist. 

'-)  Die  Mitglieder  beziehen  sie  zu  billigeren  Preisen. 


476  Kleine  Mitteilungen. 

sammenstellte  und  in  meinen  Sammlungen  nach  einem  Facsimile  suchte,  stieß 
ich  wieder  auf  die  photographische  Reproduktion  der  Freis.  Denkm.,  die  ich 
schon  so  oft  in  den  Händen  hatte.  Wiederum  zogen  sie  mich  mächtig  an, 
ich  las  von  Anfang  an,  ich  kam  auf  der  ersten  Seite  zum  Worte  vu?;/  und  zu 
milozHvt  in  der  nächsten  Zeile.  Da  wurde  ich  stutzig,  ich  sah,  daß  die  Zei- 
chen, namentlich  beim  letzten  Worte,  die  Gestalt  eines  nach  unten  geöffneten 
Halbbogens  haben.  Nun  erinnerte  ich  mich,  dass  Jagiö  dieses  vues  mit  po- 
clasb  der  Kicv.  BI.  verglichen  hatte  (Arch.  f.  sl.  Phil.  XX,  S.  11).  Ich  sah  im 
Denkmal  nach  und  fand,  daß  dieses  ^o(/as&  über  dem  a  ebenfalls  einen  Halb- 
bogen, der  allerdings  nach  oben  offen  war,  hatte;  desgleichen  fand  ich  auch 
bei  milostivy,  nur  daß  hier  der  Halbbogen  auch  nach  unten  zu  sich  öffnete. 
Ich  fand  noch  einige  andere  Berührungspunkte  zwischen  den  Kiever  Blättern 
und  den  Freis.  Denkm.,  und  da  letztere  hinsichtlich  ihrer  Graphik  so  stark 
vom  Deutschen  beeinflußt  sind,  war  es  mir  klar,  daß  auch  das  in  zweifacher 
Form  auftretende  Zeichen  der  Kiever  Blätter  desselben  Ursprungs  sei. 
Welche  Geltung  konnte  es  haben?  Es  konnte  hier  nur  die  Periode  vor  Notker 
(+  1022)  in  Betracht  kommen,  wo  nach  der  Graphik  des  Hrabanus  maurus 
mit  dem  Circumflex  die  Länge  der  betonten  wie  unbetonten  Silben  bezeichnet 
wurde  (vgl.  »0  puvodu  Kievskych  listü  etc.«  S.  7,  Anm.  5).  Das  betreffende 
Zeichen  der  Kiever  Blätter,  das  sporadisch  auch  in  den  Freisinger 
Denkm.  vorkommt,  dient  also  nur  dazu,  um  die  Länge  zu  be- 
zeichnen. Es  handelte  sich  aber  darum,  was  für  eine  Länge  es  sei.  Böh- 
misch war  mir  ausgeschlossen,  andererseits  konnte  ich  wegen  der  Form  tu- 
zitm  nicht  mehr  zugeben,  daß  die  Bohemismen  erst  bei  der  letzten  Abschrift 
in  dieses  Denkmal  hineingerieten.  So  komplizierte  sich  diese  Frage.  Vieles 
wies  nach  dem  Süden.  Schon  als  ich  mich  mit  der  Ausgabe  des  Glag.  Cloz. 
beschäftigte  (oder  bald  darauf)  schrieb  ich  Oblak,  daß  ich  an  Böhmen,  an 
böhm.  Kolonien,  bei  den  Kroaten  denke  und  mit  der  Möglichkeit  rechne,  daß 
bei  dem  Einfalle  der  Magyaren  sich  einzelne  Teile  (Kolonien)  der  Slovaken 
(oder  Böhmen)  nach  dem  Süden  zu  den  Kroaten  flüchteten.  Oblak  mußte 
natürlich  in  diesem  Falle  opponieren  und  er  meinte,  daß  die  Betreffenden 
ihren  Gegnern  gerade  in  die  Arme  gelaufen  wären.  An  einzelne  Jünger  der 
Slavenapostel,  die  sich  dahin  geflüchtet  hätten,  dachte  ich  damals  noch  nicht. 
Aber  als  ich  meine  »Studie  z  oboru  cksl.  pisemn.«  schrieb,  beschäftigten  mich 
auch  die  Bohemismen  einzelner  slav.  Denkmäler  intensiver  und  damals  rech- 
nete ich  schon  mit  der  Möglichkeit,  daß  vielleicht  einzelne  Böhmen  als 
Jünger  der  beiden  Slavenapostel  zu  den  Kroaten  gerieten  und  hier  jene  Bohe- 
mismen (Glag.  Cloz.,  Mar.,  das  Orig.  des  Psalt.  sin.)  verschuldet  hätten.  Und 
nun  wiesen  auch  die  Kiever  Bl.  auf  ein  serb.  Gebiet,  und  so  nahm  jetzt  alles 
mehr  greifbare  Formen  an.  Das  ist  die  Genesis  meiner  Arbeit.  Daß  einzelne 
Details  in  zwei  Arbeiten,  die  sich  mit  demselben  Denkmale  beschäftigen, 
gleich  sein  können,  ist  ja  begreiflich.  Ich  habe  Nachdruck  daraufgelegt,  daß 
in  den  Kiever  Blättern  nur  ni/  st.  my  vorkommt,  und  finde  nun  auch  bei 
Grunskij,  daß  er  diese  Tatsache  hervorhebt.  Daß  )ii/  (od.  eig.  ni)  auch  im 
Glag.  Cloz,  vorkommt,  kann  man  aus  Miklosichs  Lex.  pal.  S.  457,  unserer 
immer  noch  unerschöpflichen  Quelle,  erfahren.    Wie  man  oft  zu  demselben 


{ 


Kleine  Mitteilungen.  477 

Eesultate  gelangen  kann,  zeigt  in  unserem  Falle  z.  B.  die  Erklärung  des  pjpm- 
tikostie  der  Prager  Fragmente.  Ich  erkläre  es  als  durch  Umlaut  aus  pftikostija 
entstanden  (S.  60—61)  und  finde  nun  auch  eine  analoge  Erklärung  bei  Grun- 
skij  (Prazskie  Glag.  otr.  S.  22),  zum  Glück  in  einer  Arbeit,  die  nach  dem  Titel- 
blatt 1904  erschien,  wo  also  H.  Grunskij  eine  Veranlassung  zu  Verdächti- 
gungen nicht  haben  kann.  Nach  der  fortlaufenden  Zählung  wäre  es  sein 
4.  Heft,  und  von  dem  spricht  er  gar  nicht.  Wann  überhaupt  sein  1.  Heft,  das 
die  Jahreszahl  1903  trägt,  erschienen  ist,  weiß  ich  nicht.  Ich  weiß  nur  soviel, 
daß  meine  Arbeit  über  die  Kiever  Blätter  im  Sommer  1903  vor  den  Ferien 
fertig  war.  Nach  den  Ferien  schrieb  ich  noch  die  Partie  über  die  Prager 
Fragmente  dazu  und  sandte  das  Manuskript  noch  im  J.  1903  nach  Prag. 
Da  ich  mich  nämlich  damit  um  das  Jubiläumshonorar  bei  der  Kgl.  Gesell- 
schaft der  Wissenschaft  bewarb,  mußte  die  Arbeit  nach  den  Statuten  vor 
dem  1.  Januar  1904  eingeliefert  werden.  Gegen  Ende  des  Sommers  1904  ist 
dann  die  Arbeit  erschienen.  Ich  muß  das  alles  hier  ausdrücklich  konstatie- 
ren, weil  H.  Grunskij  sogar  auf  sein  2.  und  3.  Heft,  die  1904  erschienen  sein 
sollen,  hinweist.  Aus  diesen  feststehenden  Tatsachen  die  weiteren  Konse- 
quenzen zu  ziehen,  überlasse  ich  den  geneigten  Lesern.  Ich  bedauere  nur, 
daß  mir  Herrn  Grunskij's  1.  Heft,  als  ich  meine  Abhandlung  schrieb,  nicht 
vorlag  1),  denn  ich  hätte  wenigstens  seine  Leistungen  entsprechend  würdigen 
können,  wie  ich  es  bei  Karinskij  getan  habe.  Mit  einigen  Worten  möchte  ich 
es  aber  hier  doch  noch  nachträglich  tun.  Seine  ganze  Arbeit  macht  über- 
haupt einen  merkwürdigen  Eindruck:  überall  macht  sich  der  Zug  einer 
kleinlichen  Rechthaberei  geltend,  es  wird  nach  rechts  und  links  darauf  los- 
polemisiert, als  ob  das  die  höchste  Aufgabe  der  Wissenschaft  wäre.  Selbst  auch 
gegen  Safafik  werden  die  kleinlichsten  Vorwürfe  in  recht  täppischer  Weise 
(S.  3)  erhoben.  Und  welch  ein  Unterschied  zwischen  einem  Safarik  —  und 
einem  Grunskij  !  Als  Safai-ik  im  J.  1857  die  Prager  Fragmente  herausgab,  da 
kam  er  damals,  obzwar  eine  ganze  Reihe  maßgebender  Denkmäler  noch  nicht 
bekannt  war,  doch  zu  einem  bestimmten  Resultate:  die  Fragmente  konnten 
nur  bei  den  Böhmen  oder  Slovaken  entstehen  (S.59).  Dieses  Resultat  können 
pl  wir  heutzutage  nur  ein  wenig  modifizieren.  Und  zu  welchem  Resultat  kommt 
IL  Grunskij?  Zu  gar  keinem!  Nachdem  er  den  geduldigen  Leser  über  Stock 
und  Stein  gefülirt  hat,  überläßt  er  ihn  schließlich  in  der  grüßten  Finsternis 
seinem  Schicksale.  Eine  Lösung  oder  wenigstens  Erörterung  jener  wichtigen 
Fragen,  die  bei  den  Prager  Fragmenten  in  Betracht  kommen  müssen,  finden 
wir  bei  ihm  —  NB.  in  einer  Ausgabe  des  Denkmals  —  nicht.  Man  muß  uur 
staunen,  wie  leicht  das  alles  auf  S.  26  abgetan  wird.  Noch  schöner  ist  das 
Resultat  bei  den  Kiever  Blättern.  In  dem  »Zakljucenie«  des  3.  Heftes  gesteht 
IL  Grunskij,  nachdem  er  uns  auf  so  und  so  viel  Seiten  bewiesen  hat,  daß  er 
nicht  weiß,  was  mit  den  Kiever  Blättern  anzufangen,  sein  Unvermögen  plötz- 
lich mit  den  Worten:  mi/  otkazycajenisja  ot  oprcdelenija  ecjo  (seil,  panijutuika) 


1)  Da  von  dem  1.  Hefte  11.  Grunskij  bei  unserer  Begegnung  nichts  er- 
wähnte, so  ist  es  offenbar  erst  nach  dem  Souinier  1903  ersciiienon,  als  ich  also 
schon  mit  meiner  Arbeit  über  die  Kiever  Blätter  fertig  war. 


478  Kleine  Mitteilungen. 

rodiny.  Verwundert  muß  sich  d;i  der  Leser  fragen,  ob  er  nicht  bis  hierher 
gefoppt  wurde.  Wenn  er  es  wenigstens  gleich  zu  Anfang  sagen  würde !  Das 
Resultat  ist  also  traurig,  das  Material  wußte  H.  Grunskij  nicht  entsprechend 
zu  bearbeiten.  In  der  Tat,  das  ist  keine  Methode,  das  ist  keine  Wissenschaft, 
das  ist  nur  eine  Sucht  zu  polemisieren,  eine  kleinliche  Rechthaberei  und  eine 
bedenkliche  Armut  an  eigenen  Gedanken. 

Wien,  den  24.  Nov.  1905.  W.  Vondrdk. 


Wie  soll  man  I B.  4 — 5  der  Pracjer  glagolitischen  Fragmente  lesen  ? 

Diese  Stelle  kann  man  jetzt  in  cyrillischer  Transskription  nur  so  lesen: 
nhÄH'kTHKOCTHf  CTillv  rphÄ|;i,'kT  (hier  findet  sich  im  Pergament  ein 
längliches  Loch,  was  phototypische  und  photographische  Reproduktionen,  die 
sich  in  Beilagen  zu  den  Werken  Höfler  —  Safarik's,  Vondrak's  und  Grunskij's 
finden,  ersichtlich  machen,  noch  deutlicher  sieht  man  es  aber  beim  ersten  Blick 

auf  die  Handschrift  selbst)  i)  KlUH  nOHh.T'feM'K  AYT»-  CTT^H.  Da  gewiß 
nach  T  an  der  jetzt  fehlenden  Stelle  noch  ein  Buchstabe  folgen  mußte,  so 
waren  die  Herausgeber  und  Forscher  des  Denkmals  bestrebt,  diesen  Buch- 
staben zu  erraten.  Und  da  allen  Forschern  die  Form  rphÄ^liT  als  dritte 
Person  Sing.  Indik.  Präs.,  also  als  Prädikat  zu  flhÄHTHKOCTHS,  worin  sie  i 
aus  U  unter  dem  böhmischen  Einfluß  erklärten  und  eine  Nominativform  er- 
kannten, zu  gelten  schien,  so  hielten  sie  diesen  fehlenden  Buchstaben  für  k 
oder  1%  (Safarik  imd  nach  ihm  Vondrak  in  der  Ausgabe  lasen  rpiA^'kTk, 
doch  letzterer  in  seiner  Abhandlung  rpbÄ/l,1\T'K;  Grunskij  setzt  nur  rpMi- 
A'kT,  ohne  die  Lücke  nach  T  auszufüllen).  Aber  um  eine  solche  Lesart  an- 
zunehmen, waren  sie  genötigt,  in  dieser  Form  unregelmäßigen  Gebrauch  des 
Buchstabens  'S  statt  (  vorauszusetzen,  für  den  sich  kein  anderes  Beispiel  mehr 
in  diesem  Denkmal  angeben  läßt.  Prof.  Vondräk  (0  püvodu  Kijevsk.  1.  a  Pr. 
zl.,  60)  suchte  sieh  dieses  'S  irgendwie  zu  erklären  und  brachte  die  bekannte 
slovakische  Aussprache  ie  statt  e  in  einigen  Formen  Präs.  Ind.,  z.  B.  vediem,  in 
Erinnerung,  sogleich  aber  lehnte  er  diese  Voraussetzung  2)  mit  Recht  ab,  weil 


1)  Dieses  Loch  war  gewiß  schon  bei  der  Entdeckung  des  Denkmals  im 
Jahre  1755  da,  wie  uns  dessen  Ausgabe  von  Safarik — Höfler  (1S57)  deutlich 
zeigt.  Jetzt  kann  man  keine  Spur  eines  Buchstabens  auch  auf  entsprechender 
Stelle  des  Einbandes,  an  welchem  das  glagolitische  Denkmal  früher  angeklebt 
war,  bemerken.  Ich  möchte  hier  meine  herzlichste  Dankbarkeit  Herrn  Kano- 
nikus Dr.Ant.  Podlaha  äußern,  dessen  Freundlichkeit  ich  verpflichtet  bin,  daß 
ich  das  berühmte  glagolitische  Denkmal  in  der  Bibliothek  des  Prager  metro- 
politischen Kapitels  ansehen  konnte.  Herrn  Prof.  Zubaty  danke  ich  für  die 
freundliche  Vermittlung. 

2)  Die  Voraussetzung  eines  speziell  slovakischen  Einflusses  könnte  viel- 
leicht eine  frühere  Meinung  Oblak's  (Archiv,  B.XVIII)  über  mehr  östliche,  slo- 
vakische Provenienz  der  Prager  Fragmente  bestätigen.  Prof.  Vondräk  kommt 
dagegen  zu  dem  Schlüsse,  daß  sie  innerhalb  des  Böhmischen  im  engen  Sinne 
geschrieben  worden  sind. 


Kleine  Mitteilungen.  479 

wir  sonst  keine  derartigen  Beispiele  finden,  und  weil  auch  die  betreffende  Er- 
scheinung der  slovakischen  Sprache  nicht  sehr  alt  sein  mag,  daher  erkannte 
Prof.  Vondräk  hier  nur  einen  Schreibfehler.  Noch  unwahrscheinlicher  würde 
die  Voraussetzung,  wenn  eine  solche  von  Jemandem  gemacht  worden  wäre, 
eines  südrussischen  'S  erscheinen,  welches  statt  i  in  der  Form  der  3.  Pers. 
Sing.  Präs.  Ind.  in  manchen  südrussischen  (»galizisch-volynischen«)  Denk- 
mälern von  Prof.  Sobolevskij  schon  längst  gefunden  worden  ist  (')Oq:epKu  hs-b 
iicTopiH  pyccKaro  h3.«  1884,  S.4,  8j.  Sie  wäre  nur  dann  möglich,  wenn  wir  noch 
andere  zweifellose  Merkmale  russischer  Vorlage  hier  nachweisen  könnten,  und 
zwar  hatte  Prof.  Dr.  V.  Jagic  eine  bulgarisch-russische  Vorlage  für  die  Prager 
glagol.  Fragmente  vorausgesetzt  (Zur  Entstehungsgeschichte  der  kirchenslav. 
Spr.,  I.  H.,  57),  doch  wurde  russischer  Einfluß  von  Dr.  Vondräk  (0  puvodu, 
51 — 52),  wie  es  scheint,  nicht  ohne  Grund  verneint,  worin  dann  auch  V.  Jagid 
sein  Recht  anerkannt  hat  (Archiv  f.  sl.  Phil.  XXVII,  44())*):  gewiß  kann  die 
Vertretung  von  lA  (A)  durch  1?  (=  n  und  m  und  a  in  Prager  Fragmenten 
(XII.  Jahrh.),  wenn  auch  sie  nicht  ganz  regelmäßig  von  dem  Standpunkte  der 
jetzigen  böhmischen  Sprache  vorgeht,  als  keine  notwendig  russische,  son- 
dern echt  böhmische  gelten;  betreffs  der  Unregelmäßigkeit  der  Anwendung 
vergl.  Prager  Gregoriusglossen,  s.  V.  Jagic,  Kirchenslavisch-böhmische  Glossen 
Saec.  XI — XII,  S.  33,  Denkschr.  der  kais.  Akad.  B.  L. 

Was  aber  nötigt  uns,  hier  3.  Pers.  Sing.  Präs.  Ind.,  und  nicht  eine  andere 
Form  zu  suchen  ?  Es  scheint  mir  nämlich  sehr  wahrscheinlich,  daß  hier  2.  Pers. 
PI.  Imper.  gewesen,  d.  b.  daß  nach  T  ein  f  geschrieben  worden  war.  Diese 
Voraussetzung,  solange  wir  keine  griechische  Vorlage  betreffender  Stelle  un- 
seres Denkmals  kennen,  scheint  mir  nicht  nur  ebenso  zulässig,  wie  die  frühere, 
zu  sein,  sondern  sich  auch  auf  einige  kirchliche  Lobgesänge,  welche  zwar 
andere  Festtage  beti-effen,  doch  sich  zum  Vergleich  sehr  wohl  eignen,  zu 
stützen.  So  hat  Prof.  A.  P.  Dobroklonskij  in  Odessa  mich  auf  eine  ähnliche 
Redensart  in  dem  bekannten  Osternlobgesange:  Uvuaiüaews  r;uior..  'lauTiQvy- 
■O-wuEi'  l(f.oi aufmerksam  gemacht.  Allerdings  konnte  er  in  den  bekann- 
ten, den  Mittwoch  der  vierten  Woche  nach  Ostern  betreffenden  griechischen 
Texten  verschiedener  Klosterordnungen  keinen  entsprechenden  oder  ähnlichen 
Lobgesang  finden,  sondern  nur  solche,  welche  eher  zugunsten  der  Form  der 
3. Pers.  Sing.  Präs.  Ind.,  wie  eines  Prädikats  zum  Namen  des  Festes,  sprechen : 
nÜQEOTiv  i]  fiBQoxi;;  rjfxBQMv  (^UMUTpieBCKifi,  Onucauie  JiUTypruqecKui'i.  py- 
Koniiceii  ÄpeBHaro  BocTOKa,  t.  I.  Tvnix('c,  S.  576,  Energetische  Klosterordnung 
des  XII.  Jahrb.),  nevTTjxoarij  IcpiaT/jxet'  (ibid.  575)  u.  dergl. ;  dessenungeachtet 
müssen  wir  schon  angesichts  des  'S  die  Richtigkeit  der  Lesart  Safarik's,  Srez- 


*)  Ich  habe  zwar  wegen  der  Vorherrschaft  des  1».  halb  und  halb  der  An- 
nahme Vondrük's  zugestimmt,  doch  ist  die  Sache  noch  immer  nicht  siclior. 

Denn  solche  Fälle  wie  Mp'kC'raKfHllf  i;n1v  und  llOMhAAUl  könnten  sehr 
gut  auch  Formen  russischer  Vorlage  Rein.  Die  angeblicl»  (■ccliisclien  Umlauts- 
formen auf  -e  (statt  -Id)  können  auch  Vokative  sein.  Ich  will  damit  nur  sagen, 
daß  über  diesen  Punkt  die  Diskussion  noch  nicht  als  abgeschlossen  anzu- 
sehen ist.  } '.  J. 


480  Kleine  Mitteilungen. 

nevskij's,  Vondnik's,  Grunskij's  bezweifeln  und  in  rp»»Ä^\1vT<  dagegen  wört- 
liche Übersetzung  eines  in  den  griechischen  Lobgesängen  so  häufigen  (^evte 
annehmen,  z.  B.  d'evie  aya^/AiaaM/uEO-fc  zw  Kv()io)  Antiphonie  3  in  der  Liturgie 
am  Mittwoch  der  vierten  Woche  nach  Ostern,  /[ii.MiiTpiciiCKiü,  ib.,,  dem  in  spä- 
teren slavischen  liturgischen  Büchern  npm^V'kT«  (z.  B.  npm,\,1iTf 

pOlfKaiUlH    KKCriA'kllUH, TpKIKKCTKÖHMk 

in  Cod.  slav.  serb.  XVIIL  J.  Nr.  13  der  kaiserl.  Hofbibliotliek,  F.  127b,  i28a), 
in  unseren  gegenwärtigen,  in  kirchlichem  Gebrauch  befindlichen  np"lH^\,HTf 
(z.  B.  in  einem,  im  Kijcver  Hühlcnkloster  im  Jahre  1813  gedruckten,  IlfHT'l"- 
KOCTapVOH'k  der  Kirchenbibliothek  der  Universität  in  Odessa,  S.  237,  254 
und  and.)  entspriclit. 

Die  soeben  vorgebrachte  Textdeutung  hat  Jedenfalls  wenigstens  den 
Vorzug,  daß  sie  uns  der  Notwendigkeit,  unregelmäßige  Anwendung  des  'S  in 
rphÄ/l,'kT(e)  anzunehmen,  enthebt. 

Arosa,  9/22.  VIIL  1906.  B.  Ljapunov. 


]•  Professor  Anton  Kalina. 

Am  5.  Mai  dieses  Jahres  starb  in  Lemberg  der  dortige  Vertreter  der  slavi- 
schen Philologie,  ein  fleißiger  Mitarbeiter  an  unserer  Zeitschrift  in  ihren  ersten 
Jahrgängen,  Professor  Dr.  Anton  Kalina.  Geboren  im  J.  1846  im  Groß- 
herzogtum Posen,  studierte  er  an  der  Universität  Berlin,  promovierte  1872  in 
Halle  auf  Grund  der  Dissertation :  De  fontibus  apud  veteres  scriptores,  qui 
ad  Sauromatarum  res  pertinent.  Später  besuchte  er  Prag,  Belgrad  und  Peters- 
burg. In  unserer  Zeitschrift  sind  von  ihm  Anecdota  palaeopolonica  (Bd.  III 
u.  VI)  und  eine  Abhandlung  Über  die  Nasalvokale  in  den  altpoln.  Denkmälern 
(Bd.  IV)  erschienen.  Im  J.  1878  habilitierte  er  sich  in  Lemberg  und  arbeitete 
fleißig  an  verschiedenen  meist  sprachlichen  Fragen  innerhalb  des  Polnischen. 
Das  bedeutendste  Werk  in  dieser  Richtung  war  sein  im  J.  1883  erschienener 
erster  (und  einziger)  Band  der  Geschichte  der  polnischen  Sprache.  Die  Aus- 
sichten auf  Erlangung  einer  Professur  der  Slavistik  führten  ihn  dazu,  sein 
Forschungsgebiet  zu  erweitern.  Mit  einer  Reiseunterstützung  versehen,  kam 
er  um  diese  Zeit  nach  Bulgarien,  studierte  dort  die  bulgarische  Sprache  und 
gab  in  Folge  davon  später  in  den  Krakauer  Rozprawy  Bd.  XIV — XV  (1891) 
»Studien  zur  Geschichte  der  bulgarischen  Sprache«  heraus,  deren  kritische 
Würdigung  von  Dr.Oblak  im  Archiv  (B.XVII)  herrührt.  Wichtig  ist  auch  seine 
Publikation  des  Polabischen  Wörterbuches  von  Parum  Szulce  (in  den  Roz- 
prawy Serya  II,  t.  III  und  VI,  1894).  In  späteren  Jahren  verlegte  er  sich  ganz 
auf  die  Ethnographie,  gründete  in  Lemberg  die  Gesellschaft  Towarzystwo 
ludoznawcze,  deren  Seele  er  war.  Er  leitete  auch  das  Organ  derselben  Gesell- 
schaft «Lud«  (bis  zum  J.  1905).  Man  rühmt  seinen  Eifer  auch  auf  dem  Gebiete 
des  mittleren  und  höheren  Schulwesens  in  Galizien.  Prof  Kalina  war  ein  sehr 
fleißiger  Arbeiter,  doch  in  der  Behandlung  wissenschaftlicher  Fragen  mußte 
man  ihm  Mangel  an  strenger  Methode  zum  Vorwurf  machen.  Schon  im 
ly.  Bande  unserer  Zeitschrift  (S.  37)  fand  ich  in  dieser  Beziehung  an  der  Art  der 
Beweisführung  Kalina's  etwas  auszusetzen.  Doch  diese  Mängel  sollen  das 
Gesamtbild  des  Mannes  nicht  trüben.  V.  J. 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen 

Wörterbuch. 


A.  Einheimisches. 

hedak. 
Das  serbokr.  hedak  bedeutet  'homo  stultus,  Tor'.  Das  Wort  findet 
sich  nur  beim  Serben  Dos.  Obradovic;  der  Slavonier  Blagojevic  und  der 
Cakavac  Mikulicic  gebrauchen  das  Adjektiv  bedast  'stultus',  das  jetzt  im 
Kajkavischen  allgemein  üblich  ist  und  schon  bei  Belostenec  und  Jambresic 
belegt  ist.  Kristianovic  kennt  auch  ein  hedariti  'schwärmen,  vei-worrene 
dunkle  Vorstellungen  zum  Bestimmungsgrunde  seiner  Urteile  und  Hand- 
lungen machen'.  Daniele  -wollte  die  beiden  ersten  Wörter  im  Rjecnik  I. 
220,  221  aus  türk.  bed  'schlecht,  garstig'  ableiten,  welcher  Ansicht 
Miklosich  (Türkisch  I.  23)  widerspricht,  ohne  seine  alte  Erklärung  von 
hMa  (Lexicon  palaeosl.  s.  v.)  zu  wiederholen  oder  zu  verteidigen.  Im 
Archiv  XIV.  516  wollte  ich  es  mit  ital.  bedano  'dummer  Mensch'  in 
Verbindung  bringen.  Das  Wort  ist  indes  kaum  entlehnt.  Daniele  kam 
zu  seiner  Ansicht,  weil  er  das  Wort  in  seinen  Quellen  überall  mit  c  ge- 
schrieben fand.  Indes  ist  dies  nur  Zufall;  denn  die  Schriftsteller,  die  es 
bieten,  sind  eben  keine  —  wenigstens  keine  konsequenten  —  ikavci  oder 
ijekavci.  In  derselben  Bedeutung  kennen  das  Wort  auch  die  Slovenen; 
sie  behielten  aber  auch  noch  die  ursprüngliche  Bedeutung  'elender,  armer 
Mensch' :  Naj  bo  tolar  al  petak,  vse  rad  vzeme  ti  bedak  (Slov.  nar.  pesmi 
III.  5399);  bei  den  Weißkrainern  lautet  es  bedjak^  was  für  *bednjak 
steht.  Auch  im  Poln.  bedeutet  biedak  nur  'czlowiek  biodny,  ubogi'.  Der 
Übergang  von  der  Bedeutung  'elend,  bedrängt,  arm'  in  'töricht,  blöde'  ist 
unschwer  begreiflich :  von  'elend  =  arm  an  irdischen  Gütern ,  darin 
beschränkt'  ist  nur  ein  Schritt  zu  'beschränkt  überhaupt',  dann  namentlich 
'beschränkt  im  Geiste,  arm  im  Geiste,  dumm,  blöd'.  Beachte  das  d.  hlödi , 
I  das  ja  ursprünglich  auch  nur  'schwach,  kraftlos,  gebrechlich',  wofür  man 
|ja  so  oft  auch  'elend'  sagen  hört,  bedeutete  (Kluge  *'  49).  Wir  haben 
also  an  der  alten  Ableitung  Miklosichs  von  h(^da  'Not,  Drangsal,  Armut'. 
das  zu  got.  [ga)haidjau.  'drängen,  nötigen'  gestellt  wird,  festzuhalten. 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVIII.  31 


482  K.  §trekelj, 

hurka. 
Das  slov.  hurka  'die  Posse,  der  Scherz';  burke  uganjati  'Possen 
reißen';  ie/rÄ-as^ 'possenhaft,  schnackisch',  iwr^a^e 'Possen  reißen'.  Da 
das  Wort  wegen  des  Ausgangs  -ka  nicht  auf  ital.  hurla  'Posse',  burlare 
'scherzen',  burlesco  'scherzhaft,  komisch'  beruhen  kann,  stelle  ich  es  zu 
dessen  Grundwort  [hurla  aus  hurrula  vom  lat.  hurra).  Im  Lat.  bedeutet 
hurrae  gleichfalls  'läppisches  Zeug,  Possen',  das  reduplizierte  hahurrus 
ist  'stultus,  ineptus',  gr.  ßaßvqrag-  6  TtaQcc^iioQog  Hes.  (Walde,  Lat. 
Et.  Wtb.  76,  60).  In  der  Bedeutung  'lärmen,  brausen,  tosen,  murren, 
murmeln'  gehören  die  slavischen  Verba  burkati,  hurknqc,  hurczec,  hur- 
datt/y  hurkathy  burknuth,  huröaih  hingegen  zu  slav.  hurja  'Sturm,  Auf- 
ruhr', lai.furOy  gr.  cpvQO)  (Walde,  o.  c.  255). 

denOy  dhnjaky  duÖ,  dupe. 

Im  Osorb.  und  Nsorb.  bedeutet  deno  'Buchmagen,  Kanzen  der  Rin- 
der und  Schafe'.  Das  Bulg.  kennt  nach  Miklosich,  Et.  Wtb.  546  d^njak 
(neben  g^zno  von  cpza  aus  gqza^  serb.  guz^  guznica)  in  der  Bedeutung 
'Leerdarm'.  Im  Slovenischen  haben  wir  dänka  neben  denka  'Mastdarm; 
Großwurst  (Plunze) ;  Schimpfwort  für  einen  gefräßigen  Menschen' ;  dieses 
ist  als  d^nka  auch  dem  Bulg.  bekannt  ('kolbasa  iz  svinogo  mjasa',  Duv.). 
Die  zuerst  genannten  Wörter  führt  Miklosich,  1.  c.  auf  ein  *dhno  zurück 
und  meint:  »Vor  n  wird  ein  Konsonant  ausgefallen  sein,  da  sonst  das 
Wort  dno  lauten  würde. «  Der  erste  Teil  dieser  Vermutung  ist  wohl 
richtig,  deren  Begündung  aber  kaum  zutreffend,  indem  ja  in  dno  (ksl. 
dwio)  nach  allgemeiner  Annahme  gleichfalls  ein  Konsonant  ausgefallen 
ist,  das  Wort  aber  doch  nicht  deno  lautet.  Slov.  danka  neben  denka 
und  bulg.  d^nkay  d^njak  weisen  entschieden  auf  einen  Halbvokal  nach  d\ 
seine  Bewahrung  als  e  haben  wir  im  Sorbischen  dem  Einfluß  der  Formen 
mit  einem  zweiten  Halbvokal  nach  n  zuzuschreiben,  indem  auch  in  For- 
men d^n  -\-  Vokal  die  Formen  d^n^-y  wo  das  erste  ^  regelrecht  zu  e 
ward,  den  Sieg  davontrugen:  deno  verdankt  demnach  sein  e  dem  gen. 
pl.  deti  :  *dim,  dem  *d^n^ko  =  denko,  dem  *d^n^kafy^  =  denkaty 
und  ähnlichen  Bildungen. 

Es  fragt  sich  nun,  welcher  Konsonant  ist  vor  n  ausgefallen  ?  Das 
im  Nsorb.  neben  deno  vorkommende  heno  'Magen  des  Rindes,  vom 
menschl.  Magen  nur  im  verächtlichen  Sinne'  (Zwahr)  hilft  uns  für  die 
Erklärung  des  deno^  da  es  selbst  dunkel  ist,  gar  nichts;  lautgesetzlich 
kann  ja  heno  nicht  aus  deno  entstanden  sein,  sondern  könnte  nur  einer 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    483 

Volksetymologie  sein  Dasein  verdanken ;  vgl.  prd.  Bön^  Bän^  Bänen  m. 
'der  Boden,  oberes  Zimmer,  Vorratskammer'  (der  Buchmagen  also  gleich- 
sam als  Vorratskammer  aufgefaßt?)  oder  plattd.  hön^  bönne  'drinnen'.  — 
Betrachtet  man  die  für  'Bauch',  'Magen',  'Darm'  üblichen  Bezeichnungen, 
so  findet  man  diese  Körperteile  vielfach  mit  demselben  Namen  belegt,  ja, 
häufig  kommt  ihnen  noch  die  Bedeutung  von  'After,  Steiß'  und  von  'Mutter- 
leib, Vagina'  hinzu.  So  bedeutet  '&Qxh6kx.kuljen  'Bauch,  Magenwnrst  (muß 
daher  früher  auch  Magen  bedeutet  haben)  und  Blinddarm' ;  zu  ai.  kuksis 
'Bauch,  Mutterleib,  Scheide'  stellt  man  laX.cülus,  gr.y.vTTaQog  'änus',  y.v- 
aög :  Ttvytj  und  yvvai/.bg  alöolov^  cymr.  cwthe  'After,  Mastdarm' ;  des- 
gleichen lat.  hotulus  'Darm,  Magenwurst,  Wurst'  zu  ^.ßuvros'  yvvaiy.bg 
aiöolov,  got.  quipus  'Bauch,  Mutterleib'  .  .  .  Wenn  wir  nun  sehen,  daß 
'Bauch'  mit  Ausdrücken  für  'Höhlung,  Wölbung'  bezeichnet  wird  (vgl.  ai. 
kuksis,  das  neben  den  angeführten  Bedeutungen  auch  mit  'Höhlung' 
tibersetzt  wird,  gr.  y.vrraqog  -/.vraQog  'Höhlung,  Wölbung',  ir.  cuthe 
'Grube'),  so  liegt  es  nahe,  für  unsere  obigen  Wörter  von  der  'höhlen'  be- 
deutenden idg.  Wurzel  *cl/tub-  auszugehen,  woraus  wir  als  urslav.  Form 
*chhno  mit  der  Bedeutung  'Höhlung,  Vertiefung'  (vgl.  lit.  dübe  'Grube, 
Loch')  erhalten.  Die  Ansicht  Miklosichs,  daß  dem  lit.  dubiis  'tief  und 
hohl',  dubti  'hohl  werden'  im  Slavischen  kein  d^b-  entspräche,  wäre  dem- 
nach durch  die  obige  Annahme  {*d^no  'Bauch'  aus  *dhbno)  als  unrichtig 
zurückzuweisen.  Daß  eine  Form  *d^bno  (mit  b)  anzusetzen  ist,  zeigt  uns 
die  auf  der  höheren  Vokalstufe  stehende  slav.  Bildung  *dubb,  die  im 
poln.  dub  vorliegt  und  außer  'Höhlung  im  Baume'  auch  'podex'  be- 
deutet. Für  unsere  Annahme  sprechen  aber  auch  jene  slav.  Wörter,  die 
mit  Tennis  statt  Media  gebildet  sind,  ein  Parallelismus,  der  häufig  be- 
obachtet werden  kann :  Wie  im  Germanischen  (cf.  Kluge "  sub  tief)  haben 
nämlich  auch  die  Slaven  eine  Wzl.  dhup,  von  welcher  merkwürdiger- 
weise gleichfalls  Wörter  gebildet  sind,  die  ganz  in  unsere  Kategorie 
fallen :  s.  dupe  'After',  p.  klr.  dupa  'Steiß',  wr.  kurdupyj  für  das  r.  kur- 
guzyj.    Man  beachte  endlich  auch  p.  dno  'Gebärmutter'. 

*D^no,  dtcb,  dupe  gehören  demnach  zusammen  und  bedeuteten  ur- 
sprünglich 'die  Höhlung'.  Neben  dem  Neutrum  *dino  findet  sich  bisweilen 
auch  das  Femininum  *d^na,  so  im  Klr.,  wo  es  (vgl.  poln.  dno)  die  Be- 
deutung 'Gebärmutter'  hat.  Gewöhnlich  bedeutet  jedoch  *dhna  eine 
Krankheit;  so  »asl.«;  bei  Megiser  ist  dna  croatice  (=  kajk.)  mit 
'Darmgicht'  übersetzt,  poln.  bedeutet  dna  'Hüftweh'  und  'Gicht'  (letzteres 
auch  im  Öech.) ;  im  Russ.  ist  dna  (bei  Dalb  mit  Fragezeichen  versehen) 

31* 


484  K.  Strekelj, 

'Bandwurm'.  Ich  vermute  nun,  daß  auch  diese  Bedeutung  mit  dem  oben 
besprocheneu  *d^no  zusammenhängt:  die  Krankheit  ward  nach  dem 
schmerzenden  Körperteil  benannt.  "^Lh^no  ward  mit  Rücksicht  auf  andere 
feminine  Bezeichnungen  für  'podex',  deren  ja  das  Volk  mehrere  gleich- 
zeitig zur  Verfügung  hat  (poln.  dupa^  zadnica^  rzyc  .  .  .),  gleichfalls  zu 
einem  Femininum.  Das  poln.  dna  'Hüftweh'  weist  nämlich  noch  auf  eine 
dort  jetzt  ungewöhnliche  Bedeutung  von'di.no',  'podex',  hin :  auch  'podex' 
und  'Hüfte'  werden  vielfach  vertauscht.  Aus  dem  'Hüftweh'  konnte  sich 
dann  die  'Gicht'  entwickeln,  zumal  diese  häufig  mit  Rheumatismus  ver- 
wechselt wird.  Betreffs  der  Bedeutung  'Bandwurm'  verweise  ich  auf  die 
lat.  Bezeichnung  der  Darmgicht  als  verminatio  eig.  'Würmerkrankheit'. 

Das  urslav.  dubtio  'Höhlung'  war  wohl  mit  Ursache,  daß  sich  das 
aus  ViY\äg.*b/tudhno  (ai.  bud/i?iäh,  Isd.fundus  etc.)  'Grund,  Boden'  ent- 
wickelte urbaltischslav.  *budno  ihm  assimilierte,  d.  h.  eine  Metathese  der 
zwei  ersten  Konsonanten  eintreten  ließ,  weil  sich  die  Bedeutungen  wenig- 
stens teilweise  (z.  B.  bei  einem  Tal)  deckten,  vgl.  Meillet,  MSL.  XH.  430. 

Zu  govSti. 
Die  richtige  Etymologie  des  Wortes  hat  gegen  Miklosich,  der  darin 
ein  Lehnwort  aus  dem  ahd.  gaioilijan  'sanctificare'  sah,  Brugmann  Ber. 
d.  Sachs,  Ges.  der  Wiss.  1889,  47)  gegeben,  der  es  zu  \2X.fave0  stellt; 
die  weitere  Literatur  und  Verwandtschaft  siehe  nun  bei  Walde,  Lat.  Et. 
Wtb.  211.  Uns  interessiert  hier  das  Wort  wegen  seiner  Bedeutungen. 
Nach  dem  Et. Wtb.  Miklosichs  pag.  75  sind  es  folgende:  1.  'verehren' 
(aksl.,  r.),  2.  'fasten'  (bulg.,  klr.,  r.),  3.  'willfahren,  zu  Willen  sein' 
(serbokr.),  4.  'pflegen,  Nachsicht  haben'  (cech.);  5.  'günstig,  dienlich 
sein'  (os.),  6.  'schwach,  kraftlos  werden'  (serbokr.).  Keine  dieser  Be- 
deutungen ist  indes  ursprünglich,  was  schon  deren  meist  abstraktes 
Wesen  zeigt.  Ich  glaube  nun,  daß  auch  beim  \2X.  faveo  die  gewöhnlich 
an  letzter  Stelle  angeführte,  'schweigen',  die  ursprüngliche  ist;  denn  nur 
aus  ihr  lassen  sich  mit  einiger  Ungezwungenheit  die  anderen  ableiten, 
nicht  aber  umgekehrt :  schweigen  =  still  sein  -^  sich  aus  Respekt  der 
Rede  enthalten  ->  ohne  Rede  seinen  Beifall  ausdrücken  ->  klatschen  — >- 
seine  Gunst  bezeigen  -^  begünstigen,  unterstützen.  Von  der  gleichen  Be- 
deutung hat  man  auch  im  Slavischen  auszugehen.  Einerseits  haben  wir: 
schweigen  =  nicht  sprechen  ->  *  durch  Reden  nicht  quälen  ->  Nachsicht 
haben  -^  zu  Willen  sein  ->-  dienlich  sein  ->  pflegen  ->  verehren,  andrer- 
seits aber :  schweigen  -^  sich  der  Rede  enthalten  ->  sich  enthalten  über- 
haupt — >>  sich  der  Speise  enthalten,   fasten  -^  kraftlos  werden.     Und 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    485 

merkwürdigei-weise  kommt  das  slav.  Verbum  noch  heute  in  der  urspiüng- 
lichen  Bedeutung  vor.  Die  venezianer  Slovenen  kennen  goveti  in  der  Be- 
deutung 'mürrisch  schweigen',  die  Bulgaren  aber  in  der  Bedeutung  'nicht 
sprechen" ;  vgl.  Arkiv  za  povj.  jugosl.  VIII.  26G  f.  im  Lied  » CjitHiiOBa  a:e- 
iiHTÖa  na  xyöaBA  rpos^aHKiii«,  abgedruckt  aus  Rakovskijs  »Pokazalec«: 
^eBATB  Micen;«  ;i;a  roBinmi.  *Ha  CBenpa  n  Ha  CBBKtpB/t,  *Ha  ntpBO 
JHÖe  B^HTiaHO*  .  .  .  A  FposAanKH  ca  /^o^iiojio,  *^eBÄTfc  Mtcei^ii  Aa  ro- 
Bin!  *^JS.  e  rpo3AaHKa  roBijia  */^eBATt  roAHHLi  na  CBeKpa,  *Ha  CBBKpa 
H  Ha  CBeKi>pB&,  *Ha  nbpBO  Jinöe  GjvhwmMß  .  .  .,  wozu  der  kroat.  Über- 
setzer (?)  die  Bemerkung  anfügte:  >  Pripovjedaju,  da  je  nevjesta  u  staro 
doba  nosila  bulu  devet  mjesecih,  t.  j.  dok  nije  rodila,  i  za  to  doba  je 
govjela,  t.  j.  nista  nije  govorila  svekru  i  svekrvi.  Ovaj  obicaj  se  je  sa- 
cuvao  i  do  danas  na  mnogih  mjestih,  t.  j.  da  govjeju  mlade  bnlke  nje- 
koliko  danah  i  to  ne  samo  svekru  i  svekrvi,  nego  i  svim  ostalim,  koji  su 
prisustvovali  na  svadbi,  kao  i  kumu  i  kumici,  koji  moraju  da  ju  zovu 
u  opredieljeno  vrieme  na  »prosku«  (prosnju)  i  da  ju  nadare  cim  god.  I 
to  se  zove,  da  nevjesta  govjeje;  a  sa  zenihom  ne  govori  prvi  vecer,  dok 
ju  ne  oprosti  i  ne  podari  cim;  i  ovaj  podarak  cuva  ona  kroz  cieli  svoj 
zivot,  kao  kakovu  svetu  stvar«.  Hätte  Miklosich  diese  Bedeutung  im 
Auge  behalten,  so  wäre  er  kaum  je  auf  die  Ableitung  unseres  Wortes 
von  ahd.  gawilijan  gekommen. 

korh. 
Das  r.  korh  f.  bedeutet  'Masern':  ont  v^  v  kori  'er  hat  Masern', 
horjücl>a\  korjuiki  'id.';  klr.  kir^  gen.  koru^  und  kur  'id.';  poln.  kör, 
kor  und  kur,  chör  'zarnice,  odra,  ospica,  spchlice' ;  im  Polnischen  hat 
sich  ö  [u]  aus  dem  nom.  sg.  in  die  übrigen  Kasus  verbreitet,  während 
rhör  im  Anlaut  an  chor,  chortj  'krank'  angelehnt  ist.  Schon  Matzenauer 
hat  (Listy  fil.  VUI.  204)  zu  den  slav.  Wörtern  lit.  karas,  pl.  karai  'va- 
riolae  siccae,  Stoinpocken'  gezogen.  —  Korh,  *kon  gehört  zur  Wz. 
*{s)qe7'-  'abschneiden,  abtrennen,  spalten',  wovon  mehrere  'Haut, 
Feir  bedeutende  Wörter  abgeleitet  sind,  z.  B.  lat.  scortum,  corium, 
cortex,  slav.  kora  'Rinde',  ahd.  herdo  'vellus'  (vgl.  Walde,  Et.Lat.Wtb. 
!*9,  143).  Die  Masernkrankheit  ist  also  als  'Ilautabtrennnng,  Häutung' 
zu  deuten,  worauf  auch  eiu  anderer  slav.  Name  dafür  hinweist:  poln.  udra 
;iu3  *o-\-dhra  von  der  Wz.  *dhr-,  *der-  (vgl.  griech.  öeg^ta,  doga  'ab- 
gezogene Haut') ;  auch  der  Namo  ospa,  ospirc,  OÄe/;;??V 6' u. s.w.  bezeichnet 
die  Krankheit  als  eine  solche,  die  die  äußere  Haut  abschuppt,  abblättert, 
in  dünnen  Schichten  ablöst:  s^pc{  'spargere'. 


486  K.  Strekelj, 

Zu  derselben  Wurzel  *{s)qer-  'schneiden,  spalten,  scheren'  (gr. 
yceiQtOj  -/.aQfjrai^  lit.  kertü  'haue  scharf,  ahd.  scermi  'schneiden,  ab- 
schneiden') gehört  r.  korh  f.  in  der  Bedeutung  'Motte:  molh,  tlja':  korh 
vsö  suby  isportila.  Die  Motte  ward  als  'Schererin,  Schneiderin'  aufge- 
faßt; vgl.  serbokr.  grizlica,  grizalica  'Schabe'  von  gryzq  'beißen'.  So- 
wohl in  der  ersteren  wie  in  dieser  Bedeutung  ist  demnach  korh  ein 
nomen  actoris. 

Von  unseren  Wörtern  ist  jedoch  zu  trennen  r.  koriy,  gen.  krja^  da 
es  einem  *k^rh,  c.  ker  'Staude'  entspricht,  worüber  die  Ausführungen 
Matzenauers  (Listy  fil.  IX.  42)  zu  vergleichen  sind. 

koprvadlo. 
Matzenauer,  Cizi  slova  214,  knüpft  das  ac.  koprvadlo  'poklicka, 
Deckel'  an  ital.  coprire  'bedecken'.  Gebauer,  Stc.  slovnik  II.  100,  an  lat. 
cooperio^  cooperculum  an.  Kott  hat  schon  im  ersten  Bande  seines 
Wörterbuchs  das  Richtige  vermutet,  indem  er  an  Umstellung  des  ein- 
heimischen ^o^ri/?;a(//o  'prikryvadlo,  vlko,  poklicka,  Deckel'  dachte.  Ich 
glaube,  daß  schon  die  unmögliche  Ableitung  von  coprire,  woher  wir  auf 
keinem  Wege  zu  koprvadlo  gelangen  können,  diese  Ansicht  stützt.  Die 
Lautversetzung  ist  ja  namentlich  zwischen  p  und  k  sehr  beliebt;  den 
umgekehrten  Fall  [kopr-  wird  pokr-)  finden  wir  gar  in  drei  slavischen 
Sprachen  bei  demselben  Worte  bezeugt.  Im  Poln.  ward  nämlich  altes 
koprzytva  'Brennessel'  allgemein  zu  pokrzywa^  ebenso  in  den  Dialekten 
Mährens  [pokriva  aus  kopriva]  und  im  resianischen  Dialekt  [pükryiva 
für  das  sloven.  kopriva^  kropiva).  Daß  man  bei  pokryvadlo-koprvadlo 
an  eine  starke  Beeinflussung  des  häufigen  Präfixes  ^jo-  zu  denken  nicht 
berechtigt  ist,  so  daß  dieses  eine  Umstellung  verhindert  haben  müßte,  zeigt 
prikopa  'Graben',  welches  trotz  der  Häufigkeit  des  pH  gleichwohl  zu 
kripopa  umgestellt  ward.  Für  die  Ursprünglichkeit  des  pokryvadlo 
spricht  namentlich  auch  das  gleichgebildete  7Jr«^r?/yac;?/o  'Decke,  Deckel'. 
Bezüglich  des  Schwundes  des  y,  das  man  ja  im  Resultat  der  Umstellung 
[*kopryvadlo)  erwartet  hätte,  ist  zu  bemerken,  daß  auch  in  der  Lautgruppe 
tryt  das  y  bisweilen  eliminiert  erscheint :  trz7iiti-tryzniti^  mlnär-mlynär 
(Gebauer,  Hist.ml.  I.  §  220);  es  ist  überdies  nicht  unwahrscheinlich,  daß 
Wörter  wie  koprnik^  koprka  mit  eingewirkt  haben. 

reber. 
Das  Wort  reher  'Abhang  eines  Hügels  oder  Berges,  Seite'  ist  im 
Slovenischen    meist  feminin:    na  strmi  rebri   (Jurcic),   v  reber  zeleno 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    487 

(VolksL);  daher  demin.  rebrica  'kleiner  Abhang'.  Doch  erscheint  es 
auch  masculin  (gen.  rebra)  und,  was  besonders  wichtig  ist,  neutral  ge- 
braucht [rehro^  besonders  im  Plural).  Die  dem  Wort  hänfig  zugeschriebene 
Bedeutung  'Anhöhe,  Hügel'  ist  nicht  ganz  entsprechend;  schon  Belostenec 
hat  II.  458  bemerkt:  »reber  cliviis,  collis,  proprie  sublimitas,  1.  decli- 
vitas  collium«.  Als  'Anhöhe,  Hügel'  ist  es  nur  insoferne  aufzufassen,  als 
damit  nicht  gerade  die  Erderhebnng  mitsamt  ihrer  Spitze,  als  vielmehr 
nur  die  Erderhöhung  mit  Rücksicht  auf  deren  aufsteigende  Seiten  in  Be- 
tracht kommt.  Auch  im  Kroatischen  findet  sich  rebar  m.  in  der  Bedeu- 
tung 'Talhang,  Abhang,  Talgehänge,  Abfall,  Seitenabfall  des  Berges', 
rebrenica  'Halde  =  geneigte  Seite  eines  Berges,  Berghang' ;  serb.  rebriti 
bedeutet  'auf  Seitenwegen  wandeln',  d.  h.  auf  Wegen,  die  im  Berghang 
verlaufen,  da  der  Hauptweg  gewöhnlich  im  Tale  dahinzieht.  Slov.  rebren^ 
rebrna^  o  bedeutet  'steil':  tod  je  zelo  rebrno;  navkreber  'bergauf  hat  sein 
Je  von  der  Präposition  kb :  k  rebri ;  nachdem  der  Ausdruck  k  rebri  als 
Adverb  zu  kreber  geworden  (cf.  die  vielen  -or  aus  -re  [-ie]),  ward  ihm 
zunächst  die  Präposition  v^^  späterhin  noch  wa  vorgesetzt.  —  Miklosich 
vergleicht  (Fdwörter  121,  Et.Wtb.274)  mit  unserem  Wort  das  österr.-d. 
leber  'Grenzhtigel',  das  auf  mhd.  leiver  'Hügel,  hügelartiger  Aufwurf  als 
Grenzzeichen'  (pl.  zu  le  'Hügel')  zurückgeht.  Nachdem  indes  das  slavische 
Wort,  wie  gezeigt  wurde,  nicht  'Hügel',  sondern  zunächst  nur  'Berghang, 
Abfall  eines  Berges  oder  Hügels'  bedeutet,  ist  die  Zusammenstellung  un- 
richtig, zumal  wir  die  Bedeutungsentwicklung  aus  einem  einheimischen 
Wort  unschwer  erweisen  können.  Wir  haben  nämlich  von  rebro  'Rippe' 
auszugehen;  die  Genusunterschiede  traten  nur  infolge  der  Bedeutnngs- 
diflferenzierung  hervor  und  haben  ihren  Ausgangspunkt  wohl  im  loc. 
rebri^  rebrih^  der  sowohl  einem  o-,  wie  einem  {-Stamm  zukommen 
konnte.  Daß  der  Begriff  'Rippe'  über  den  Begriff  'Seite'  in  den  von  'Ab- 
liang'  übergehen  kann,  zeigen  uns  hinlänglich  die  romanischen  Sprachen: 
ital.  Costa  bedeutet  'Rippe'  (costola),  'Seite',  dann  'Abhang  (terreno  in 
pendio)'  und  'Küste  (riva  del  mare)';  ähnlich  heißt  friaul.  cuesfe  außer 
'Kippe  (costa,  costola)'  auch  'costa  di  mare'  und  'lato  di  monte  di 
salita  poco  ripida';  das  Deminutiv  zum  frz.  cöte  'Rippe'  cuteau  (cö- 
teau)  bedeutet  gleichfalls  'Abhang',  dann  'Hügel'  und  rumän.  cösiä 
desgleichen  neben  'Rippe'  auch  'Seite,  Flanke',  und  sodann  auch  'Ab- 
hang eines  Berges'  und  'Küste'  (Tiktin  1.422);  costi.süri  'Abhang 
eines  Berges'.  Die  Abhänge  eines  Berges  werden  also  als  dessen  'Seiten, 
Flanken',  als  dessen  'Rippen'  aufgefaßt. 


488  K.  Strekelj, 

rysh. 
Der  slavische  Name  des  Luchses  rysh  {rys,  ris,  risa,  risev^  risva) 
wird  fast  allgemein  zu  lit.  lüszis,  lett.  lüsis,  pr.  luysis,  ahd.  luhs,  gr.  ).vy^ 
gestellt  und  an  dessen  Verwandtschaft  mit  ai.  rürant-  'licht,  hell'  ge- 
dacht, als  ob  der  Luchs  ein  lichtes  Fell  hätte.  Dem  widerspricht  aber 
außer  dieser  Tatsache  auch  das  slavische  r  (vgl.  Pedersen,  IF.  V.  39, 
Fick  4  L  540,  Kluge  ^  s.  Luchs).  Brandt  meint  in  seinen  Bemerkungen 
zum  Et.Wtb.  Miklosichs  (RFV.  XXIV.  145),  r  sei  hei-vorgegangen  durch 
eine  Anlehnung  an  die  slav.  Wz.  ^rtjk-  [rykati  'brüllen');  aber  von  einem 
»Brüllen,  Heulen«  des  Luchses  habe  ich  nirgends  etwas  gehört  oder  ge- 
lesen, so  daß  man  es  als  sein  Charakteristiken  hinstellen  könnte.  Was 
Miklosich  im  Et.Wtb.  darüber  sagt  (aus  *ryksh)^  befriedigt  noch  weniger, 
weil  dann  auch  das  s  unerklärt  bliebe.  Außer  dem  r  bietet  aber  hier  auch 
das  y  Schwierigkeiten,  da  es  ja  nicht  auf  dieselbe  Stufe  mit  den  eingangs 
erwähnten  Formen  der  verwandten  Sprachen  gestellt  werden  kann,  wie- 
wohl ich  mir  nicht  verhehle,  daß  das  Slavische  hier  seine  eigenen  Wege 
gewandelt  sein  könne.  Das  im  Cakav.  in  der  Bedeutung  'Vampyr'  vor- 
kommende ris  (Nemanid  I.  8)  hilft  uns  nichts,  indem  dies  erst  eine  vom 
blutdürstigen  Luchs  auf  den  blutsaugenden  Vampyr  übertragene,  spätere 
Benennung  ist.  Mit  *luq-  'leuchten'  (»von  den  leuchtenden  Augen  des 
Tieres«)  kann  das  Wort  nicht  zusammenhangen,  weil  wir  mit  Suff,  sh-  im 
Slav.  *lycJi'b  und  daraus  *lyH  erwarteten.  All  den  aufgezählten  Schwierig- 
keiten kann  man  steuern,  wenn  man  die  Ansicht  an  eine  Verwandtschaft 
unseres  Wortes  mit  den  eingangs  erwähnten  Benennungen  dieses  Tieres 
aufgibt  und  dessen  Etymologie  anderswo  sucht.  Ich  glaube  nämlich,  daß 
nicht  ai.  rüg-  noch  rukgäs  'hell'  noch  luq-  [luceo]  unserem  Worte  zugrunde 
liege,  sondern  daß  es  auf  der  slav.  Wurzel  *rüd-  (idg.  *rüdh-)  'rot  sein' 
beruht;  der  Luchs  hat  ja  in  der  Tat  ein  rötlichbraunes  Fell  mit  unregel- 
mäßigen dunklen  Streifen.  Von  dieser  Wurzel  *r«c?  haben  wir  auf  der- 
selben Lautstufe  im  Slavischen  noch:  s.  risulja  'ein  Kuhname  (wohl 
einer  rötlichen  Kuh)',  c.  rysy^  rysavy  'rötlich',  p.  rysaivy  'id.',  alles  ge- 
bildet aus  *rüdh-so-.  Im  Slav.  war  das  Wort  nicht  bloß  ein  z'-Stamm, 
sondern,  wie  risva,  risev  zeigt,  auch  ein  w-Stamm. 

socha. 
Die  Bedeutungen  dieses  Wortes  gehen  in  den  einzelnen  slavischen 
Sprachen  stark  auseinander.    Sie  lassen  sich  in  folgenden  Gruppen  unter- 
bringen : 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    489 

I.  a)  'Pfahl,  Pfeiler,  Säule,  Pfosten,  Stütze,  Balken,  Stange,  Hebebaum, 
Galgen'  —  im  Aksl.  ('/«o«^  vallus'),  Bulg.,  Serbokr.,  Sloven., 
Ru3S.  und  Cech. ; 

b)  'Strunk'  —  im  Öech. ; 

c)  'Götzenbild'  —  im  Cech.  (im  Polnischen  soll  es  in  dieser  Be- 
deutung aus  dem  Cech.  entlehnt  sein,  Archiv  VI.  179) ; 

d)  'Stab,   Stecken,   Stock,  Knüttel'  —  im  Aksl.  ('^vlov  fustis'), 
Russ.  (pösoch),  Cech.  {socko?-,  sochürek); 

II.  'Hakenpflug'  —  im  Poln.  und  Russ.,  'Pflugsech'  im  Poln.,  'Balken 
beim  Pfluge'  im  Russ.,  'Pflugsterz,  Handhabe  oder  Rüster  beim 
Pflug'  im  Öech. ; 
ni.  'Gabelförmiges  Holz,   Forkel,  Zwiesel'  —  im  Serbokr.,  Sloven., 
Cech.,  Poln.  und  Russischen. 

Die  richtige  Etymologie  wird  sich  nur  durch  Aufklärung  der  Entwick- 
lung dieser  drei  Hauptbedeutungsgruppen  finden  lassen;  wie  verhalten 
sie  sich  demnach  zu  einander? 

Meringer  geht  (IF.  XVII.  117)  von  der  ersten  Gruppe  aus,  woraus 
sich  zunächst  die  zweite  und  aus  dieser  die  dritte  entwickelt  habe.  Er 
nimmt  an,  daß  5oc//a  ursprünglich  'Pflock',  d.  i.  der  beschnittene  Baum, 
'Pfahl'  bedeutet  habe.  »Das  war  auch  der  Urpflug.  Als  die  Zoche 
(=  socha)  mit  ihrem  doppelten  Stachel  auftrat,  entstanden  die  anderen 
Bedeutungen,  die  auf  Gabelholz  zurückgehen.  Die  selbstgeschnittenen, 
spitzigen  Stachel  der  Zoche  wurden  schneidend  in  ihrer  Verwendung.« 
Nach  dieser  Annahme  war  demnach  der  Hakenpflug  (=  die  Zoche  = 
socha)  zunächst  'der  beschnittene  Pfahl',  dann  erst  ward  daraus  'der 
schneidende  Pfahl',  aus  dem  Passivum  ein  Aktivum;  die  Bedeutung 
'Baumstamm,  Pfahl'  ist  also  das  Prius,  'die  Schneide'  das  Posterius. 
Meringer  könnte  sich  für  seine  Auffassung  auf  Ausdrücke  wie  d.  Grab- 
scheit, slov.  drevo  'Pflug'  berufen,  wo  jedenfalls  'das  Gespaltene,  Spalt- 
bare' die  Grundbedeutung  ist,  welche  dann  in  die  Bedeutung  des  'Gra- 
benden, des  Pfluges'  überging.  Indes  gibt  es  auch  Fälle,  wo  das 
entgegengesetzte  der  Fall  ist:  'das  grabende,  aufreißende,  die  Erde  auf- 
kratzende *)  Gerät'  ward,  weil  Holz  dazu  verwendet  ward,  zu  'Pfahl, 
Stamm,  abgeschnittener  Stamm,  Klotz,  Wurzelende'.    Wir  sehen  dies 


1)  Das  Pflügen  ist  noch  jetzt  in  manchen  Gegenden  dos  Balkans,  beson- 
ders auf  Stellen,  wo  Schafherden  ihren  Standplatz  hatten,  nur  ein  Aufkratzen 
der  Erde  mit  dem  primitiven  IIakeni)flng. 


490  K:.  Strekelj, 

z.  B.  bei  slavischen,  auf  der  Wurzel  *rü-  (ry-)  beruhenden  Aus- 
drücken, indem  ryh,  rt/lo,  rylhch^  rylica^  ryÖ  'Haue,  Jäthacke,  Stech- 
schaufel —  ligo,  sarculum,  vanga'  —  und  'Rüssel',  außerdem  aber 
auch  'Stamm  (cf.  ^ech. :  100  ryluov  na  prkna  üdelal),  Stammstück,  Stock, 
Klotz,  der  untere  Teil  des  Baumes'  bedeutet.  Hier  kann  wohl  un- 
möglich von  der  letzteren  Bedeutung  ausgegangen,  kein  Übergang  vom 
Passivum  zum  Aktivum  gefunden  werden,  d.  h.  man  kann  nicht  'das 
herausgegrabene,  herausgewühlte'  zum  'Grabscheit,  Wühler,  Wender' 
stempeln.  Ähnlich  ist  d.  Stecken  und  Stange  ursprünglich  'das  Stechende', 
und  dann  erst  ist  es  zu  'Stock,  Pfahl'  geworden.  Dasselbe  gilt  von  gr. 
;ja(>a^ 'Pfahl',  das  zu  lat. /wrra  'Gabel,  Galgen,  Engpaß'  gestellt  wird 
(Prellwitz,  Gr.  Etym.  Wtb.  2  502)  und  mit  got.  gilpa  'Sichel',  ai.  haläs^ 
haläm  'Pflug  (auch  als  Waffe)',  arm. ßem  'furche,  pflüge'  verbunden 
wird  (von  emer  Wz.  *y hei-  'schneiden',  Walde,  Lat.Et.  Wtb.  255,  Uhlen- 
beck,  PBrB.  XXVII.  120  f.).  Ist  dem  aber  so,  so  behindert  uns  nichts, 
auch  bei  socha-Zoche  denselben  Weg  einzuschlagen  und  demnach  nicht 
von  der  passiven,  sondern  von  der  aktiven  Bedeutung  auszugehen,  darin 
also  das  'Schneidende,  Aufreißende,  Kratzende,  Grabende,  Hauende' 
zu  suchen,  woraus  erst  die  Bedeutung  'der  Pfahl,  Stamm,  Stange,  Stock, 
Klotz,  Strunk,  Säule'  sich  so  entwickelte,  wie  bei  ryh  etc.,  weU  zur  Be- 
reitung des  schneidenden  Gerätes  Holzbestandteile  von  der  Form  eines 
Pfahls,  Stamms,  Stamms  mit  Wurzel,  Stamms  mit  zwei  Wurzeln  u.s.w.  ver- 
wendet wurden.  Es  ist  uns  demnach  der  Hakenpflug  socha  zunächst  nur 
»der  schneidende«,  wie  es  r.  kosülja  von  kosä  'Sense'  ist,  mag  nun  dieses 
auf  die  Wz.  '^qes-  'kratzen,  scharren'  [desatii  lit.  kasyti  'kratzen'  neben 
kasü,  kästi  'graben'),  wovon  wir  kosa  'Haar'  haben,  oder  auf  der  Wz. 
*qop-  'schneiden,  hacken,  hauen,  graben'  {kopafi,  skopiti. .)  beruhen 
(Grundform  *(joj)iiä),  was  mir  bei  dem  nicht  leicht  zu  vermittelnden  Be- 
deutungsunterschied der  sonst  gleich  betonten  Wörter  ('Haar'  —  'Sense, 
Schneide')  wahrscheinlicher  dünkt.    Beti'achtet  man  die  Formen  des  ür- 

pfluges,  wie  sie  Meriuger  (IF.XVII.  129)  sehr  instruktiv  zusammengestellt 

h 
hat,  so  sehen  wir  gleich  bei  der  ersten  Figur  7^,,  daß  diese  einer 

Haue  und  Sense  formell  nahe  kommt:  der  Hauptteil  des  Gerätes  ist  der  mit 

a  bezeichnete.    Dieser  ist  beim  Sensengerät  [kosd]  die  eigentliche  Sense; 

doch  wird  jetzt  auch  das  ganze  Gerät  samt  dem  Stiel  und  den  Handhaben 

mit  dem,  eigentlich  nur  dem  schneidenden  Teil  (a)  zukommenden  Namen 

benannt.    Ähnliches  muß  schon  sehr  früh  beim  Urpflug  der  Fall  gewesen 

sein:  der  Teil  a  schneidet,  gräbt  die  Erde,   kratzt  sie  auf,  er  ist  der 


ä 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    491 

eigentlich  aktive  Bestandteil;  beide  Teile,  die  Schneide  a  und  der  Balken 
/;,  bildeten  zusammen  das  aqoxQov  avxöyviov^  den  Hakenpflug,  wurden 
aber,  wie  bei  der  Sense,  zunächst  nach  dem  Hauptteil  socha-Zoche  be- 
nannt, zumal  sie  vielfach  ein  Stück  bildeten.  Erst  später,  als  die  socha 
nach  Hinzutreten  der  Sterze,  des  Sechs,  der  Pflugschar,  der  Griessäule, 
des  Pflugbrettes  u.  s.w.  vervollkommnet  ward  und  sohiik  (russ.)  'Pflug- 
schar, Pflugeisen,  Sech'  als  der  besser,  gründlicher  schneidende  Be- 
standteil die  alte  socha ^  die  nun  zum  'Haupt'  [plaz)  niedersank,  ersetzt 
hatte,  ward  ihr  Name  auch  auf  andere  Teile  des  Pflugs  übertragen,  so 
namentlich  auf  die  Pflugsterze  (die  Handhaben)  und  den  Balken  (Grindel). 
Die  Verwendung  des  Namens  des  Hakenpfluges  für  die  Handhaben  konnte 
um  so  leichter  eintreten,  als  die  ganze  socha  in  ihrer  ältesten  Gestalt  ja 
die  Form  eines  Knieholzes  hatte  und  dieses  also  nach  ihr  eine  Bezeichnung 
erhielt.  Indem  in  weiterer  Entwicklung  die  Handhaben  gleichfalls  eine 
Gabel,  ein  Knieholz  bildeten,  konnte  der  Name  socha  ganz  gut  auch  auf  sie 
übergehen;  doch  glaube  ich,  daß  diese  Bezeichnung  der  Handhaben  mit 
socha  eher  deswegen  eintrat,  weil  die  Handhabe  (ursprünglich  ^ine)  mit 
d(n-  socha  gewöhnlich  aus  einem  Stücke  bestand,  indem  ein  Stamm  mit 
zwei  Wurzeln  dazu  verwendet  ward.  Nicht  belanglos  scheint  dafür  auch 
d(>r  Ausdruck  r.  razsöcha  zu  sein,  dessen  sloven.  Betonung  räzsoha 
darauf  hinweist,  daß  es  ein  Kompositum  des  Nomens  socha  mit  raz  und 
nicht  eine  Ableitung  von  einem  mit  raz-  präfixierten  Verbum  ist.  Heute 
unterscheidet  sich  razsöcha  von  socha  als  'Zwiesel,  Gabel'  nicht,  doch 
muß  sie  einst  die  'Nebensocha,  Seitensocha'  bedeutet  haben,  so  daß  sie 
als  jene  Handhabe  anzusehen  ist,  die  mit  der  Socha  nicht  aus  einem 
Stück  bestand,  sondern  daran  erst  befestigt  ward.  Ja  im  Russischen  er- 
setzte razsöcha  geradezu  die  ursprüngliche  sochä,  indem  dieser  Name 
für  den  ganzen  Hakenpflug  gebräuchlich  ward.  Diese  letztere  Verwen- 
dung von  socha  ist  zugleich  der  Grund  für  die  spätere  Einschränkung 
des  Wortes  auf  den  Pflugbalken  oder  Grindel,  indem  dieser  als  der  beim 
Pflügen  am  meisten  sichtbare  Teil  des  Pfluges  ziinächst  auffiel.  Vom 
PUugbalken  oder  Zochenpfahl  ward  dann  zuletzt  der  Begrifl'  socha  als 
,'Pfahl,  Balken,  Stange,  Pfeiler,  Säule,  Strunk,  Stab,  Stecken,  Stock, 
[Knüttel'  abstrahiert;  aus  'Pfahl,  Balken'  ist  fernerhin  einerseits  'Galgen', 
jaudrerseits  'Götzenbild'  geworden. 

Meringer  nimmt  au,  daß  die  Bedeutung  'Gabelholz,  Zwiesel'  erst  zu 
einer  Zeit  auftauchte,  als  die  Zocho  einen  doppelten  Stachel  erhielt.  Dies 
trat  aber  wohl  ziemlich  spät  ein,  zu  einer  Zeit,  wo  socha  bei  den  Slaven 


492  K.  Strekelj, 

als  'Gabelholz'  sicher  schon  allgemein  verbreitet  war,  selbst  dort,  wo 
man  heute  von  einer  Zoche  nichts  mehr  weiß,  weil  sie  dem  vollkomme- 
neren Pflug  weichen  mußte.  Ich  glaube  daher,  die  Entwicklung  der  Be- 
deutung 'Gabel'  schon  in  eine  viel  frühere  Zeit  verlegen  zu  müssen,  wo 
die  'Zoche'  nur  einen  Stachel  hatte,  also  ein  wirkliches,  ganz  primitives 
uQOTQOv  avtöyviop,  ein  Knieholz  war.  Diese  Bedeutung  reicht  wie  bei 
IsLt.yurra  'zweizinkige  Gabel'  neben  xcega^  'Pfahl',  got.  gilpa  'Sichel', 
ai.  /lalds  'Pflug  (auch  Waffe)'  schon  in  eine  recht  weite  Zeit  zurück. 

Das  Resultat  meiner  Auseinandersetzung  fasse  ich  also  kurz  in  die 
Worte  zusammen :  S'ocha-Zoche  ist  zunächst  das  kratzende,  schneidende, 
hauende  Ackergerät ;  daraus  entwickelte  sich  nach  dessen  uralter  Form 
einerseits  die  Bedeutung  'Gabelholz,  Gabel',  andrerseits  'Balken,  Pfahl, 
Pfeiler,  Pflock,  Säule',  aus  diesem  wieder  'Strunk'  und  'Götzenbild'. 

Wenn  aber  socha  'das  Kratzende,  Schneidende,  Hauende,  die 
Schneide',  geradeso  wie  das  dem  x\i^'s,.kosülja  'Hakenpflug'  zugi-unde  lie- 
genderes« ist,  so  muß  es  auf  einen  Verbalstamm  zurückgehen,  der  'kratzen, 
schneiden'  bedeutet.  Ich  habe,  bevor  ich  noch  Zupitza's  Schrift  «Die 
germanischen  Gutturale ((  und  die  Abhandlung  Uhlenbecks  »Die  Ver- 
tretung der  Tenues  aspiratae  im  Slavischen«  (IF.  XVH.  93  f.)  kannte, 
worin  als  Grundform  des  slavischen  Wortes  *soksä  (Zupitza  o.  c.  138, 
Uhlenbeck  o.  c.  99)  aufgestellt  wird,  selbständig  an  eine  Grundform 
^sdksä  gedacht,  wozu  an.  sax,  ags.  seax^  ahd.  sahs  'Messer,  Schwert' 
und  lat.  saxum  so  genau  wie  möglich  paßt  ^).  Aus  *sdksä  konnte  im 
Slavischen  eben  nichts  anderes  als  socha  hervorgehen;  zudem  stimmt 
dazu  auch  die  oben  dargelegte  ursprüngliche  aktive  Bedeutung  des 
Wortes.  Sämtliche  andere  Ableitungen  sind  meines  Erachtens  zu- 
rückzuweisen: Mit  lit.  szakäj  ai.  gäkha^  got.  hölm  kann  das  Wort 
nicht  in  Verbindung  stehen,  weil  das  ch  von  socha  dem  entgegensteht 
und  das  entsprechende  slavische  Wort  mit  n -Infix  aksl.  sakh  'Ast' 
lautet  (doch  vgl.  Foy,  IF.  VI.  324,  wo  an  ai.  ^amku  'Pfahl,  Pflock',  ir. 
ffec  aus  kanquä  gewiesen  wird).  Ebensowenig  kann  es  aus  dem  gleichen 
Grunde  zu  ai.  gäscimi  (Brugmann,  VG.  I.  444)  'schneide'  gehören,  wie 


1)  Vgl.  Detter,  Deutsches  Wtb.  XII:  ^^sahs  'Messer  .  .  .,  das  man  direkt 
mit  saxum  'Fels'  zusammenstellt.  Beide  Wörter  sind  mit  secare  'schneiden' 
verwandt;  aber  lat.  saxum  zu  secare  wird  man  wohl  am  besten  vergleichen 
mit  \a,t.rüpes  'Fels'  zu  rumpere  'zerreißen',  Riff  zu  anord.  n/a  'spalten',  Schere 
'Klippe'  zu  schereil.«.  —  Vgl.  auch  slav.  shala  'Fels,  Stein,  Abgrund'  aus  sqel- 
'schneiden,  spalten'  (lat.  süex). 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.     493 

schon  Pedersen  (IF.  V.  49,  50)  hervorgehoben  hat.  Aus  ahd.  suohha, 
fiuohhili  'aratiuncula''  kann  es  gleichfalls  nicht  entlehnt  sein,  weil  dieses 
*suky  ergeben  hätte  (cf.  buky-buohha).  Meringer  will  es  (IF.  XVII.  1 1 7  f.) 
aus  einem  germ.  *sayä  erklären  und  zwar  deswegen,  weil  es  auch  bei 
den  Romanen,  im  Französischen,  ein  soc  'Pflugschar',  souche  'Stamm, 
Wurzelende'  gibt.  Gegen  diese  Annahme  könnte  man  nichts  einwenden, 
wenn  das  Germanische  wirklich  eine  Grundform  hätte,  aus  welcher  so- 
wohl das  slavische  wie  das  romanische  Wort  ableitbar  wäre.  Dies  ist 
aber  nicht  der  Fall,  vielmehr  ist  Meringer  gezwungen,  eine  solche  Grund- 
form erst  zu  konstruieren,  und  zwar  nicht  bloß  6ine,  sondern,  was  be- 
sonders mißlich  ist,  deren  zwei,  die  eine  für  die  östlichen,  die  andere  für 
die  westlichen  Nachbarn  der  Germanen :  für  die  ersteren  ein  *sayü^  für 
die  letzteren  *socc  (aus  *sogn-).  Von  Entlehnung  könnte  man  reden, 
wenn  sowohl  socha  als  soc  auf  eine  und  dieselbe  germ.  Grundform  sich 
zurückführen  ließen;  dies  trifft  aber  durchaus  nicht  zu,  und  aiLßerdem 
fehlt  ein  Grund  zu  einer  solchen  Annahme.  Diese  braucht  man,  da  sich 
die  Ablauts  Verhältnisse  ja  auch  ohne  sie  unschwer  erklären  lassen, 
überhaupt  nicht.  Die  Wurzel  *seq-  ist  ja  im  Slavischen  auch  sonst 
nicht  unbekannt;  wir  haben  neben  sSkq  z.  B.  osoka  'carex  acuta',  eig.  'das 
Kratzende,  Schneidende',  vgl.  ags.  secg  'Rohr,  Schilf,  Ried',  engl,  sedge^ 
cjmr.hesq  'lesche',  hesgen  'carex'  (nach  Fick-Stokes  II.  "*  202  von  *seskä 
'liinsen'  aus  *sekska).  Ob  das  frz.  soc^  souche  wirklich  nur  durch  An- 
nahme einer  Mischung  des  germ.  *socc  {*sog?i)  mit  kelt.  kucc  aus  sukko 
'Schweinsschnauze'  erklärbar  ist,  dies  entscheiden  zu  wollen  maße  ich 
mir  nicht  an.  Gleichwohl  halte  ich  dafür,  es  sei  natürlicher,  für  das  frz. 
Wort  eher  Entlehnung  aus  dem  Keltischen  anzunehmen,  da  man  noch 
jcitzt  bret.  souch  'soc'  und  neuir.  soc  als  'Pflugschar'  und  'Schweins- 
schnauze' hat;  letztere  Bedeutung  ist  nur  eine  Fortbildung  der  ersteren, 
wie  slov.  rilec  'Schweinsschnauze'  aus  älterem  rgh  'ligo'.  Das  ir.  soc^ 
dt'ssen  s  im  Anlaut  vor  sonantischen  Vokalen  wie  im  Gallischen  erhalten 
blieb,  kann  ganz  gut  zur  Wz.  *scq-  (lat.  secare  'hauen,  spalten',  aksl. 
■•<ekq)  gehören,  so  daß  soc  'das  die  Erde  durchschneidende,  durchwüh- 
lende' bedeutet.  Die  Entwicklung  zu  'Pfahl,  Stamm,  Wurzelende'  wäre 
dann  dieselbe  wie  im  slav.  ryh  (frz.  souche,  catal.  soca,  davon  sorur 
einen  Baum  umhauen',  ital.  zocco  'Baumstumpf,  frz.  so"/e  'der  Sockel 
einer  Statue').  Von  Italien  konnte  sich  das  romanisiorte  keltisolu'  Wort 
viel  leichter  zu  den  Griechen  (/t,'ö)toi,')  verbreiten,  als  von  Deutschland 
aus,  wo  es  überhaupt  nicht  nachweisbar  ist;  für  den  Wog  Jlber  Italien 


494  K-  Strekelj, 

spricht  auch  das  rC  und  das  x  des  griech.  Wortes  (cf.  G.  Meyer,  Neugriech. 
Stud.  IV.  93).  Auf  die  deutsche  Form  Zocke  ist  nämlich  nichts  zu  geben. 
Das  vorausgesetzte  Meringersche  ^sayia  müßte  ja  ein  *Sache  ergeben, 
und  in  alter  Zeit  ist  anlautendes  s  vor  Vokalen  im  Deutschen  nicht  zu  z 
geworden,  was  geschehen  sein  müßte,  wenn  man  griech.  rUjy.og  daraus 
ableiten  will,  da  ja  in  diesem  Falle  slav.  Vermittlung  auszuschließen  wäre, 
indem  slav.  s  und  ch  im  Griechischen  nicht  zu  t'Q,  resp.  x  wird.  Das  d.  Zoche 
ist  vielmehr  aus  dem  slav.  socha  entlehnt,  wie  Meringer  nachträglich  (IF. 
XVIII.  279)  zuzugeben  geneigt  ist  und  als  Beispiel  dafür  d.  Zobel  aus 
r.  sohöl  anführt.  Die  Beispiele  lassen  sich  jedoch  noch  vermehren ;  vor- 
vokalisches,  besonders  anlautendes  slavisches  s  finden  wir  als  z  im  Deut- 
schen noch:  mhd.  ziaimih,  zisel  aus  r.  susol^  suslik  'mus  citellus',  prd. 
Wunzen,  Wonzen  aus  poln.  wqsy^  prd.  Zock  aus  poln.  r.  suka  'Hündin', 
Zant,  Zander  neb,  Smider  aus  p.  sedacz^  sqdecz^  gotsch.  Zure  'Langwiede' 
aus  slov.  sora  (*szvora),  ferner  in  zahlreichen  Ortsnamen :  Zauche,  Zauch^ 
Zauchtal  =  Suha,  Suhodol^  Zehiitz  =  Selnica,  Zinsat  =  SSnoieth, 
Zopoten,  Zoputen  =  S'opota,  Zell  =  Selo  u.s.w. 

Auf  das  cech.  sochar  'Bildhauer'  ist  nicht  zu  viel  Gewicht  zu  legen, 
da  es  erst  eine  moderne  Bildung  zu  socha  ist.  Dieses  konnte  zur  Bedeu- 
tung 'Figur,  Statue'  erst  nachträglich  aus  der  Bedeutung  'Pflock,  Pfeiler' 
gelangen,  nachdem  Götzenbilder  vielfach  mit  Ausdi'ücken  belegt  wurden, 
die  'Pflock,  Balken,  Stamm,  Klotz'  bedeuten  und  auf  Wurzeln  beruhen, 
die  die  Begriffe  'beschneiden,  behauen,  bearbeiten,  abmeißeln,  abreiben' 
in  sich  schließen.  Der  göttlich  verehrte  Pfahl  wird  ja  wohl  ursprünglich 
wenig  menschenähnlich  gewesen  sein,  wie  Meringer  in  seinen  schönen 
Studien  über  diese  Dinge  hervorhebt.  Im  Cakavischen  ist  sdha7'  nur 
'carnifex,  der  Galgenmeister,  Scharfrichter'  (Nemanic  I.  30). 

Das  Resultat  dieser  Untersuchung  ist :  socha  ist  einheimisch  und 
entspricht  einem  ^saksä  der  idg.  Grundsprache ;  d.  Zoche  'Hakenpflug', 
mhd.  zoche  'Knüttel,  Prügel'  ist  aus  dem  Slavischen  entlehnt. 

struna. 
Miklosich  leitet  struna  'Saite'  von  der  bekannten  ai.  Wurzel  gru- 
'hören'  ab,  und  schreibt  ihm  als  Grundbedeutung  »die  tönende«  zu.  Diese 
Etymologie  hat  als  unmöglich  —  für  das  r  von  gru-  haben  die  europäi- 
achen  Sprachen  ein  /  —  bereits  R.Brandt  (RFV.  XXIV.  183)  zurück- 
gewiesen und  das  Wort  mit  lat.  struo  verknüpft,  indem  er  als  Grundform 
*streugnä  ansetzt,   so  daß  er  struna  die  'ustroennaja  (eingerichtete), 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    495 

prilazennaja  k  instrumentn  (dem  Instrumente  angepaßte)  ili  nalaSennaja, 
strojnaja  (gestimmte)'  auffaßt.  Sowohl  Form  als  Bedeutung  des  Wortes 
widersprechen  einer  solchen  Annahme.  Das  g  hat  sich  ja  erst  analogisch 
ins  lateinische  Verbum  struo,  struxi  hineinentwickelt  (cf.  Walde,  Lat. 
Et.  Wtb.  602)  und  von  struo  'bauen'  aus  'übereinanderschichten'  ist  es 
wohl  nicht  leicht  zu  'stimmen'  zu  kommen,  abgesehen  davon,  daß  man 
dabei  ganz  die  moderne  Saitenbehandlung  im  Sinne  hat,  was  wohl  kaum 
angeht. 

Meines  Erachtens  hat  Miklosieh  die  andere,  in  einigen  slavischen 
Sprachen  vorkommende  Bedeutung  von  struna:  slov.  'das  lange  Pferde- 
haar', serbokr.  'das  Haar,  Roßhaar,  Ziegenhaar'  mit  Unrecht  bei  Seite 
gelassen  und  sie  nur  beim  Worte  struyija,  das  er  abgesondert  behandelt, 
erwähnt.  Zwischen  struna  und  strunja  besteht  kein  anderer  Unterschied, 
;ils  daß  beim  letzteren  für  ä  ein  iß  eingetreten  ist,  vielleicht  weil  es  einst 
lieben  struna  ein  ^siranh  f.  gegeben  hat.  Beide  Wörter  sind  demnach 
identisch.  Geht  man  nun  von  der  Bedeutung  'Roßhaar,  das  lange  Pferde- 
liaar'  aus,  so  entwickelt  sich  daraus  für  alte  Zeiten  die  Bedeutung 
'Saite'  auf  die  natürlichste  Weise :  denn  das  lange  Haar  von  Tieren  gab 
ja  zunächst  das  Material  zu  Saiten  her,  wie  dies  noch  heute  bei  den  ser- 
bischen Gusle  stets  der  Fall  ist,  indem  daran  sowohl  die  Saite  wie  die 
Bogensehne  aus  Roßschweifhaaren  verfertigt  ist.  Saiten  aus  Gedärmen 
sind  erst  eine  spätere,  wenn  auch  schon  sehr  alte  Erfindung.  Dem  struna 
kommt  demnach  ursprünglich  gar  nicht  die  Bedeutung  'Saite',  sondern 
nur  die  Bedeutung  'langes,  steifes  Haar',  'das  starke  Haar  der  Tiere,  das 
stiafl'  herunterhängt  oder  starr  emporragt'  zu.  Daher  denn  strunja  im 
Serbokroatischen  als  'Borste,  starkes  Haar  der  Tiere,  Ziegenwolle,  Ziegen- 
haar', strun^  strunjav  als  'hären,  haarig,  borstig'.  Unter  dieser  Voraus- 
setzung läßt  sich  nun  struna^  strunja  auf  urslav.  *strupna  (aus 
*stroupnü)  zurückführen,  dessen  Wurzelbestandteil,  allerdings  mit 
andersstufigem  Wurzelvokal,  wir  im  ahd.  strnhcn  'starr  stehen,  starren, 
sträuben',  mhd.  strup{b)  'rauh  emporstehend',  mhd.  strobeleltt  'struppig', 
ulid.  Gestrüpp  wiederfinden,  womit  Kluge ^  380  aksl.  stnjnfii  'aspcri- 
tas,  varietas',  str^p^thm>  'asper',  sir7>in>fifi  'asperum  reddcre',  r.  stro- 
/)()th,  ströpota  'Rauhigkeit,  Krümmung',  sfropfitih  'widerspänstig,  störrig' 
vergleicht.  Das  0  der  russischen  Formen  beruht  auf  ?< :  stropot^  ist  eine 
Kontamination  des  nom.  *strpof7>  und  dos  Gas.  obl.  *,strapfa,  *stroptu 
etc.;  ströpota  kann  nach  stropoth  oder  auch  aus  einem  ehemaligen  Adj. 
sfropi)  aus  *str^p^,  femin.  *strpa  gebildet  sein.  Meine  Zusauimenstollung 


I 


496  K.  Strekelj, 

von  struna  mit  atrühen  wird  auch  durch  x-strop-b  'Schlinge'  sowie  durch 
die  Bedeutung  'Krümmung'  und  'krumm',  die  wir  beim  r.  ströpota^  stro- 
potkij\  atropotlwy  finden,  gestützt:  Schlingen  werden  ja  mit  Vorliebe 
aus  Pferdehaaren  [struna^  iima)  gemacht.  In  unserem  Worte  ist  der 
Schwund  des  Labials  vor  p  ganz  regelrecht.  Die  im  Slovenischen  dem 
Adjektiv  sirim,  strunast  zukommende  Bedeutung  'mager,  schmächtig, 
schlank'  scheint  erst  relativ  jung  zu  sein :  eig.  'dünn  und  lang  wie  ein 
Pferdehaar'. 

stvohj  cvoh;  dbol. 

Das  in  einigen  slavischen  Sprachen  gangbare  Wort  stvohj  cvoh  ist 
meines  Wissens  bis  jetzt  noch  nirgends  aufgeklärt.  Miklosich  bezeichnet 
es  VG.  II.  8  als  dunkel,  VG.  I^.  70  aber  vergleicht  er  damit  lit.  stülis 
'Baumstamm'.  Daniele  denkt  im  Rjecnik  I.  874  an  die  Wurzel  stva  von 
stu  'stehen'.  Würde  dies  angehen,  so  erwartete  man  für  stvoh  ein 
*stvah,  das  aber  nirgends  vorkommt.  Daß  stvoh  auf  eine  mit  st-  an- 
lautende Wurzel  für  'stehen'  zurückgeht,  ist  indes  offenbar,  nur  hat  noch 
niemand  gezeigt,  wie  es  daraus  erwachsen  ist. 

Was  bedeutet  stvohj  cvoh  ?  In  altkirchenslav.  Denkmälern  ist  es 
nicht  zu  finden;  was  nämlich  Miklosich  im  Et.Wtb.  s.v.  als  »asl.«  angibt, 
ist  nach  den  Zitaten  des  Lexicon  pal.-sl.  883,1104  nur  in  einem  serbischen 
Kodex  des  XVI.  Jahrb. ,  woraus  es  von  Miklosich  möglicherweise  ganz 
unrichtig  mit  'folium'  wiedergegeben  wird  (hb  oöpiToxoy  ch^cth  nn^e- 
coate  TiKtMO  ii;LB0.jtt  TpaBoy  cejitHoy :  'außer  Schachtelhalmen,  Feld- 
gras', das  zweite  als  Erklärung  des  ersteren),  und  in  einem  die  Propheten 
enthaltenden  russ.  Kodex  des  XV.  Jahrh.  an  der  Stelle  Esaia  55,  13,  wo 
stvolije  für  'Nessel,  Urtica  ■Kovvta.\  nach  anderen  für  'Dorne'  steht.  Im 
Bulgarischen  cvol^  cvoUe  'Halm,  Stengel'  {'stalk  of  grain'  steblö,  cvoH 
bei  Morse).  —  Im  Serbokroatischen  hat  cvolika  die  Bedeutung:  1)  Sten- 
gel: stablo  u  prorasla  crnoga  luka,  na  kojemu  je  göre  sjeme;  2)  Schien- 
bein :  golijen,  tibia ;  3j  Pflanzenname :  Schierling  (cicuta,  conium  macula- 
tum);  in  letzterer  Bedeutung  findet  sich  dafür  auch  cvölina^  wie  denn 
für  cvolika  'Stengel'  auch  camöUka  gesprochen  wird:  'deblo,  krupna 
trava  osobito  od  duvana  i  boba'  (Rjecnik  I.  152).  Im  Russischen  kommt 
stvohj  stvoUna  in  folgenden  Bedeutungen  vor:  1)  Röhre,  röhrenartiger 
Stengel,  Schacht,  2)  Stengel,  Stamm,  Baumstamm  (rjiaBHBiH,  Kopennoä 
noöirt  pacTBHta,  Aopeea,  cxeöejib,  xjh.ict'b,  JiicHHa,  roJioMH,  b^b  koto- 
poM^  ecTt  nycTOTa  jh6o  eep;i;ii;eBHi];a),  3)  Pflanzenname:  Pastinaca, 
Conium,   Anthriscus.  —   Das   cech.  stvol  ist  in  neuerer  Zeit  aus  dem 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    497 

Kussischen  entlehnt;  echt  rechisch  ist  sthol  (richtiger  *zdhol)^  dessen  Be- 
deutung aber  nicht  ganz  klar  ist:  'jeleni  koieni  mä  koren  cerny  a  4tbol 
uslechtily'  bei  Kott  III.  945,  wo  es  zweifelnd  mit  strboul^  das  mit  'Kraut, 
Ivräutig'  wiedergegeben  wii'd,  nach  den  dabei  und  beim  gleiches  be- 
deutenden strbel  stehenden  Beispielen  aber  auch  'Trieb,  Stengel'  be- 
deuten muß,  wobei  letzteres  auch  als  'knolliges,  in  die  Höhe  ragendes 
il (irres  Zeug'  erklärt  wird.  —  Zu  merken  ist  endlich  noch  kroat,  stevelj 
Halm',  das  bei  Filipovic  gebucht  ist.  Das  Slovenische  kennt  stvol  in 
it-r  Bedeutung  'Röhre,  bes.  Pflanzenröhre',  stvolika  und  cv>olina  als 
Wasserschierling'  und  cmolje  [cmulje]  in  der  Bedeutung  'Simse,  juncus'. 
Die  Grundbedeutung  des  Wortes  ist  demnach  oflfenbar  'röhrenförmi- 
ger Stengel,  Halm,  Schaft,  Stamm,  Baumstamm';  daraus  erst  haben  sich 
die  übrigen  entwickelt,  indem  bei  den  damit  bezeichneten  Gegenständen 
(Pflanzen)  deren  Stengel,  Schaft,  Stamm  in  hervorragendem  Maße  auf- 
fällt. Ist  dem  aber  so,  dann  steht  unser  Wort  in  engster  Verwandtschaft 
mit  einem  zweiten  slavischen  Wort  von  der  Bedeutung  'Schaft,  Stengel, 
Stamm',  d.  i.  mit  sthblo^  sthbh^  von  dem  es  meines  Erachtens  nur  durch 
das  Suffix  verschieden  ist:  sthblo  =  *st/nbh-lom,  sibblb  =  *st/iibh-l7^oi>, 
stcoh  hingegen  =  *sthb-oh  aus  *stMbh-ol-os.  Das  kroat.  stevelj  ist 
schwer  zu  beurteilen,  da  man  nicht  weiß,  aus  welcher  Gegend  Kroatiens 
es  stammt;  mir  scheint  es  kajkavisch  zu  sein  und  ich  vermute  daher,  daß 
sein  e  in  stev-  nach  stehlo  aus  sthblo  rekonstruiert  sei,  wo  es  wieder 
nach  dem  gen.  pl.  sthbh  =  stebl  in  ein  älteres  *stblo,  gen.  sg.  stbia 
:dblOj  zdbla  etc.)  übertragen  ward.  Diese  Vermutung  drängt  sich  mir 
wegen  des  Ersatzes  des  b  durch  v  auf,  welcher  sonst  nicht  begreiflich 
wäre.  Wir  haben  daher  bei  stvolb  von  der  aus  der  Wurzel  ^stlm-  ge- 
bildeten baltisch-slavischen  Wurzel  *stib-  'das  starre,  feststehende'  aus- 
zugehen, die  wir  im  lett.  stiba  'Rute,  Stock'  (cf.  r.  stcoh  'chystx  =  Gerte, 
Hute'),  stibt  'ohnmächtig,  eig.  stan*  werden',  stibät  'schwer  gehen,  hin- 
ken', stibü  'strecken',  lit.  sfcbas  'Stock,  Pfosten,  Bildsäule,  Halm'  (siehe 
Zubaty  in  den  SB.  der  k.  bühm.  Ges.  d.  Wiss.  1895.  XVI.  19)  finden,  im 
Slavischen  aber  außer  in  Bildungen  mit  -/o,  -lio  auch  in  solchen  mit  -e/-, 
0I-:  *sthbeh^  *sthboh.  Derartige  Dubletten  mit  c  und  0  im  Suffixe  sind 
namentlich  in  Verbindung  mit  Liquiden  nichts  seltenes :  vgl.  c.  mrtcola 
tteben  r.  MepTBejii.  'cadaver',  p.  pierdola  *qui  pedit'  neben  J.  prdel  'po- 
iex',  3.  prdelj  'Blutkraut';  p.  modzel^  slov.  mozel  neben  0.,  slov.  mozoJ 
Schwiele';  aksl.  (?)  pipela  'sambuca'  und  pipola  'tibia';  slov.  grbcla 
rnd  hrpela  'Buckel'  und  c.  hrl)ol  'Höcker';  auch  -('/-  wechselt  mit  -0I-: 

Archiv  für  slavische  Philologie.    XXVI II.  32 


498  K.  Strekelj, 

Tßola. pierdziei-pierdoia,  bulg.  Bitola,  Bitolja  On.,  das  auf  ohitMh  'mo- 
nasterium,  deversorium^  zurückgeführt  wird;  für  die  ^-Suffixe  verweise 
ich  auf  die  Dublette  aksl.  r.  kofonji-koteryt,  kroat.  zuber-zubor^  das 
Distributivsuffix  ero-oro'.  öetvero^  öetcoro  u.s.w. 

Als  altslavische  Bildungen  haben  wir  demnach  für  stcol^  stevelj  die 
Formen  *sfhbohj  *äihbeh  vorauszusetzen,  die  neben  stiMo,  sthbh  müssen 
gebraucht  worden  sein.    Durch  den  Schwund  des  wurzelhaften  Halbvokals 
mußte,  sobald  im  Anlaut  die  stimmlose  Konsonanz  st  erhalten  werden 
wollte,  das  stimmhafte  h  eine  Wandlung  erfahren.    Die  Wahl  lag  nur  zwi- 
schen /;  und  V.   Vor  Vokalen  wählte  die  Sprache  meist  das  letztere,  wie  wir 
es  aus  mehreren  ähnlichen  Prozessen  ersehen,  deren  ich  einige  anführen 
will:  Aus  b%6ela  ward  nsl.  6hbeJa^  6'iela^  letzteres  zwar  so  geschrieben, 
in  Wirklichkeit  aber  dzbela  gesprochen.    Wo  jedoch  diese  Aussprache 
nicht  durchdrang,  mußte  h  zvl  o  werden ;  so  spricht  man  in  Cirkno  6mcla 
'Biene',  in  einem  Liede  aus  Luza  im  Pöllandertal  in  Oberkrain  lese  ich: 
[roze]  dajo  öveJrum  med.    Aus  ,si-bb<i  für  ^6/^ba  'Stube'  ward  im  Osorb. 
stwa^  stwica  'Beistube';  ähnlich  haben  wir  im  Slovenischen  ^a;"Ä7«;a  aus 
d.  Badstube  'Gebäude,  in  dem  der  Flachs  vor  dem  Brechein  geröstet  wird, 
es  dient  auch  zum  Waschen,  als  Backofen,  sogar  als  Taglöhnerwohnung' 
(Unger-Khull,   Steir.  Wortschatz  44) ;    die  Mittelformen  sind  *pa6tula^ 
pustuba,  *pastba,   '*pusfv<i  und  (mit  j  nach  dem  Akzente  ")  paj'sfva. 
Ähnlich  mußte  b  auch  nach  einzeln  stehendem  t  zm.  v  werden,  sobald  das  ■ 
Grundwort  unverändert  erhalten  werden  wollte:   nsl.  tatva  für  tafhbaA 
tatvina  für  iafhOina.    Für  öbbam  ist  6ram  nur  durch  die  Annahme  er- 
klärbar, daß  zur  Zeit,  als  denn  auftrat,  der  Halbvokal  schon  verstummt 
war  und  daß,  wenn  dhvan^  geschrieben  wird,   hierin  Altes  und  Neues 
vermischt  ist :  <5t)a//,  övanja^  s.  uzban^  zbun  etc.;  wenn  cech.  6ber  %'if\ 
schrieben  wird,  so  ist  dies  nur  etym.  Schreibung  statt  dzber  (aus  dbbwb)^' 
welche  Neigung  sogar  Schreibungen  wie  t/xifi  für  das  richtige  dbäii  her-i 
vorbrachte;  das  Os.  hat  bei  S  regelrecht  v  dafür:  dcor,  överjen  'Zuber-j 
Stange'. 

Auf  gleiche  Weise  wie  in  öoela,  stioa^  pnjstxa^  6van  kam  nun  auchi 
in  sthbeh,  stbboh  das  v  auf:  *sfveh^  stool.  Das  erstere  erlitt  dieii 
Anlehnung  an  stehlo,  das  letztere  konnte  sein  st  in  c  wandeln.  Dies  ge^ 
schah,  wie  uns  das  serbokr.  cublo^  caklo  aus  cblo^  cklo  für  sthblo^  sthklo] 
•belehrt,  nicht  »izgubivsi  t  i  promijenivsi  s  na  c«,  wie  Daniele  im  Rjecnik 
I.  152  meinte,  sondern  durch  Vorwegnahme  der  ersten  Explosiva,  um  den 
schwer  sprechbaren,  unmittelbar  folgenden  zweifachen  Verschluß,  den  des 


.i 


Vermiachte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    499 

i  und  des  ^,  bzw.  h  [p)  zu  vermeiden  ^).  Das  oben  angeführte  serbokr. 
camolika  und  das  slov.  cmolj'e  (aus  cvolje)  verdankt  sein  m  der  Neigung 
des  Slavisschen,  für  sü,  sv^  et),  6v  ein  6m,  sm^  cm,  dm  eintreten  zu  las- 
sen (vgl.  nsl.  6mela  aus  övela,  c.  cmera  'podmäsli',  slov.  cmer  aus  cvera: 
shDera,  kr,  cmara  aus  cvara  :  sJcvara,  slov.  cmila  aus  cvila,  cmod  aus 
ii)nod,  svod,  c.  smoudem  =  svoudem\  slov.  cmela  aus  cveYa  'Winslerin' 
U.3.W.).  In  camolika  ist  a  parasitisch  zwischen  c  und  m  eingeschoben,  da 
gewissen  Dialekten  die  Gruppe  C7?i  unbeliebt  ist,  vgl.  slov.  dial.  cemreka 
für  cmreka,  smreka. 

Wie  bei  sfbblo,  *sthhica  (vgl.  Archiv  XXVU.  6 1 )  auch  die  progressive 
Assimilation  eintreten  kann,  so  daß  wir  c.  zdblo,  zblo^  kroat.  zhica  er- 
halten, konnte  ihr  in  gleicher  Weise  auch  *stbboh  unterliegen:  *zdhol. 
Daraus  erkläre  ich  mir  das  slovakische  dbol,  dbolec  'Bienenstock',  in- 
dem in  der  Verbindung  ze  zdbolu,  ze  zdbolem  (=  *iz^  stbbola,  Si  sth- 
holomh)  das  z  des  Substantivs  als  Auslaut  der  Präposition  zes^  sez  (=  izo 
und  67.,  vgl.  auch  slov.  und  bulg.  s^s)  aufgefaßt  und  dann  nur  dbol  als  Sub- 
stantiv angesehen  ward.  Die  Bedeutung  des  Wortes  widerspricht  unserer 
Auffassung  nicht,  wenn  man  bedenkt,  daß  hohle  Baumstämme  als  Bienen- 
stöcke benutzt  wurden  (cf.  nsl.  bdenj). 

^dapt. 
j  Russ.  A'<5a/J2)  'Stutzer,  Zierling',  ^öäpith,  idäpsivovatb  'prangen,  Staat 

'  machen,  paradieren',  sdäplen/'e  'Luxus,  Staat'  ist  meines  Wissens  bis  jetzt 
unerklärt.  Miklosich  hat  im  Lex.  psl.  1135  aus  Quellen,  die  alle  jung 
und  russisch  sind,  mit  st  (statt  id)  noch  angeführt:  söapiti  'luxuriöse 
vivere',  söapljenije  'vestis  elegans,  pigritia,  moUities'  (pianstvo  i  scaple- 
uie),  Sdaplivo  'elegans',  ^öapovstvo  'luxuria',  s<)aphstvo  'elegautia,  pi- 
lAiitia',  ^6apstvhn^k^  'mollis'  (aus  den  ksl.  Lexicis  der  Akad.,  Alekseevs, 
IJeryndas  und  Polykarps) ;  im  Et.Wtb.  3  12  b  erwähnt  er  sub  stav-2  noch 
■srapliDyJ  'schwelgerisch'  und  sdapiti  i  drociti  sja.  —  Aus  'Eleganz, 
Staat,  Luxus'  konnte  sich  unschwer  die  Bedeutung  'moUities,  pigritia' 
entwickeln.  Was  ist  aber  die  Etymologie  und  ursprüngliche  Bedeutung 
des  Wortes,  nachdem  die  Bedeutung  'Zierling,  Luxus'  ihm  sicher  nicht 


i 


1)  Andrerseits  berulit  der  Übergang  des  «,  .v  vor  Spiranten  in  (\  c  auf  der 
Neigung,  mit  einem  Verscliluß  anzufangen,  bzw.  denselben  vorwegzunehmen, 
wobei  er  dann  doch  noch  wiederholt  und  erst  in  der  Folge  aufgegeben  wird : 
cvara  aus  skvara  über  *tskvnra,  tsrara;  vgl.  d.  dial.  hiklaf  'Sklave'  in  Graz 
gehört). 

32* 


500  K-  StrekelJ, 

von  altersher  anhaften  kann?  Wenn  man  sich  gegenwärtig  hält,  daß  r. 
s6ap^  auch  'Anbau,  Anhieb  eines  Baumes'  bedeutet,  so  wird  man  kaum 
diese  Bedeutung  bei  Erklärung  des  Wortes  bei  Seite  schieben  dürfen;  ja 
ich  glaube  sogar,  daß  wir  von  ihr  aus  die  Entwicklung  der  weiteren  Be- 
deutungen zu  verfolgen  haben.  Etymologisch  ist  das  Wort  mit  der  Wurzel 
*sqep-  zu  verknüpfen,  die  uns  im  griech.  oyJ.TtaQov  'Beil'  vorliegt,  doch 
müssen  wir  für  unsere  Wortform  eine  Dehnform  dieser  Wurzel,  *sqep-^  an- 
nehmen, aus  welcher  sich  ^öajn  regelrecht  entwickeln  mußte.  Dieselbe 
Wurzel  finden  wir  in  abgetönter  Gestalt  vor  im  slav.  skop-iti  'verschnei- 
den', lit.  skapöti  'schaben,  schnitzen',  giiech.  o/xtrcrio  'grabe,  behacke', 
got.  shahan  'schaben,  scharren,  die  Haare  abschneiden' ;  ohne  anlauten- 
des s  begegnet  sie  uns  im  slav.  kopati  'graben',  gr.  xo7Crw  'schlagen', 
xö/rofi/or 'Mosserkeule',  -AOTtig  'Messer',  -/.OTtag  'beschnitten,  gestutzt  (von 
Bäumen)'.  Die  ursprüngliche  Bedeutung  dieser  Wurzel  ist  den  angeführ- 
ten Wörtern  entsprechend  als  'schlagen,  hauen,  hacken,  schneiden'  an- 
zusetzen :  daher  r.  s^ap^  'der  Anhieb,  Anschnitt'.  Wie  d.  Stutzer  von 
stutzen  'schneidend  verkürzen,  dem  Objekt  den  rechten  Schnitt,  die  ge- 
hörige Fa9on  geben  . . .,  so  daß  es  die  erforderliche  oder  gewünschte  Art 
des  äußeren  Erscheinens  hat  . . .,  zunächst  von  der  Tätigkeit  des  Baders, 
dann  verallgemeinert'  (Sanders),  so  ist  auch  r.  s6ap^  aus  *sqep-os  ein 
'beschnittener,  zugestutzter,  geschnigelter  Mensch',  und  wie  d.  stutzen 
die  Bedeutung  von  'prangen,  in  Putz  erscheinen,  sich  so  bewegen'  (San- 
ders) annimmt,  so  auch  r.  sdapith^  das  wohl  ursprünglich  'zusehneiden, 
zu  einem  scapt  machen'  bedeutet  haben  muß. 

Wir  haben  demnach  in  s6ap%  'Anhieb'  und  söapo  'Stutzer'  die  gleiche 
Wurzel  und  Bildung  wie  im  aksl.  stajyh,  slov.  s6ap^  serbokr.  scap^  itap'i 
U.S.W,  'baculus,  Stab'  (cf.  Zubaty,  Archiv  f.  sl.  Phil.  XVI.  414).    Fassen] 
wir  also  stap^  als  den  beschnittenen,  behauenen  Stamm,  Pfahl  —  mitu 
'Stamm,  Pfahl'  wechselt  vielfach  die  Bedeutung  'Stab'  ab  — ,  dann  braucht 
man  keineswegs  mit  Walde  550  (sub  scamnum)  an  Entlehnung  des  slavi- 
schen  Wortes  aus  dem  gr.  oyifjjrrQov,  Gy.i]jTiov  zu  denken,  welche  Ent- 
lehnung in   eine  Zeit  versetzt  werden  müßte,  wo  von  einem  Verkehr^ 
zwischen   Griechen  und   Slaven   keine  Rede   sein  kann,    während  wir 
andrerseits  in  einer  späteren  Periode  nur  *sfipi  oder  gar  nur  *skip^ 
hätten.    Und  wie  sollte  man  dann  r.  söapo  in  der  Bedeutung  'Anhieb' 
ei'klären  ? 

Übrigens  kennt  das  Slavische  auch  Ableitungen  von  der  ungedehn- 
ten Wurzel  ^sqep-.   Hierher  zähle  ich  die  sloven.  Wörter  s6ep  m.,  söepa 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    50  t 

f.,    sdepioa^   sdepeJc  m.,   söepha  f.  'Holzspan,  Holzsplitter,  Holzscheit'; 
v>iire  e  hier  Vertreter  des  ft,  so  müßte  man  in  Gegenden,  wo  diese  Wörter 
\orkommen,  *sdap,  *s6apa,  ^sdapek,  *s6apka  erwarten;  nachdem  dies 
nicht  der  Fall  ist,  haben  wii*  von  e  auszugehen.     Das  gleiche  gilt  vom 
kroat.  oStepak  'Hobelspan'.    Für  das  Sloven.  und  Serbokroat.  in  diesen 
Wörtern  von  *'scep-  auszugehen,  geht  deswegen  nicht  an,  weil  wir  in 
diesen  Sprachen  gar  kein  altes,  sicheres  Beispiel  für  die  Entwicklung  des 
.vre'-  in  s6e-,  He-  kennen,  wie  sie  für  das  Cechische,  Polnische  und  Russ. 
Hiigenommen  wird  (cf.  scegH  —  p.  szczegoJ,  r.  scegolbnyj;  ceriti  —  p. 
szczerzyc,  r.  sceritb  sja).    Auch  in  den  zuletzt  genannten  Sprachen  wer- 
den sicher  nicht  alle  s6e^  stS  auf  sce-  beruhen.    Da  bei  alten,  schlechten 
(i träten  das  Abhauen  mehr  ein  Abspalten  als  Abschneiden  gewesen  sein 
muß,  konnte  die  Sprache  die  Wurzel  für  'hauen,  schneiden'  (*sqep-)  von 
icr  für  'spalten'  {*sqip-^  *sqoip-),  welche  auch  'kneipen,  greifen'  be- 
leutet,  nicht  stets  auseinanderhalten,  und  es  muß  daher  ziemlich  früh 
niie  Vermischung  beider  eingetreten  sein,  worauf  kroat.  scepati  'weg- 
icbmen,  entwenden',  scepac  'Zange',  slov.  usdeniti  'kneipen',  presdenjen 
(■ingekerbt,  gezwickt'  hinweist,  wo  man  nur  scipati^  scipac,  u^öänjeh^ 
resöänjen  erwartete,  was  ja  daneben  vorkommt.    Bei  dieser  Sachlage 
st  es  schwer  zu  sagen,  ob  in  r.  sdepeth  'Staat,  Putz,  peinliche  Sauber- 
;rit,   kleinliche  Akkuratesse,   Sorgfalt  auf  das  Äußere,   seitlicher  Aus- 
diuitt  am  Sarafan   für  die  Tragbänder'  durch   Bildungen  von  sdep- 
iis  scep-  beinflußt  ist  und  eigentlich  älteres  iöap-  repräsentiert,  indem 
l)i'rdies  die  meisten  Ableitungen  davon  den  Akzent  nicht  auf  der  Silbe 
'Wy?-  tragen  [sdeptith,  s^epet^nn^k^,  sdepefilbfiyj,  ^depetlwi/j,  idepli- 
>jj\  ^öepetUvosth^  Sdepetüm^  sdepetücha  .  .  .) ,   oder  ob  wir  hier  eine 
»bleitung  von  *sqep-  (in  der  ungedehnten  Form)  haben. 

idavyj. 
Das  russ.  Havyj  'nichtig,  eitel'  ist  aus  *t^,sdaviij  verkürzt,  einer 
vlileitung  aus  ti>s6a  'Leerheit',  wovon  iiöefa  'Eitelkeit'  und  cech.  (^t^icy 
nanis'  herkommt.  Schon  des  Sinnes  wegen  ist  davon  zu  trennen  r.  iÖa- 
11/  in  der  Bedeutung  'freigebig,  üppig,  luxuriös',  welches  mit  altr.  sdavh- 
'do  'mollities,  pigritia,  lascivia',  .sduübstcovatl  'pigrum,  moUem  esse'  auf 
5aya  aus  *6hdava  von  der  Wz.  *siq-  'harnen',  aksl.  *shcati  beruht.  Der 
usdruck  für  'Harn'  {*shdara)^  welcher  scharfe  Salze  und  Säuren  enthält, 
ard  zur  Bezeichnung  des  Mineralwassers  und  einer  scharfen  Flüssig- 
ffiÄeit  überhaupt  verwendet.    Da  nun  letztere  vielfach  zur  Erwoiclumg 


502  K.  Strekelj, 

von  Gegenständen,  z.  B.  Häuten  u.  dgl.  dient,  ward  S6ava  zum  Ausdruck 
der  Erweichung,  Weichheit,  zunächst  im  konkreten,  dann  auch  im  über- 
tragenen, moralischen  Sinne  verwendet.  Die  Zugehörigkeit  von  r.  Sdi 
'Art  saure  Suppe'  und  Mava  zu  sw-aii  hat  schon  Brandt  im  RFV.  XXIV. 
192  vermutet. 

stekar. 

Die  Bewohner  des  Jauntales  werden  von  den  übrigen  Slovenen 
Kärntens,  weil  sie  die  Pronomina  und  Adverbia  demonstrativa  to,  to^  fu, 
teka  (=  tukaj)  durch  Ha^  sto,  Hu,  Heka  ersetzen,  mit  Hekarji  be- 
zeichnet (Scheinigg,  Obraz  roz.  nar.  na  Koroskem  im  Kres  I.  1881.412); 
dieses  Hekanje  greift  nach  Tominsek  (Narecje  v  Bocni,  Program.  Gymn. 
Krainburg  1903.  6)  auch  nach  Steiermark  in  einen  Teil  der  Sulzbacher 
Alpen  über.  Wir  haben  hier  abermals,  wie  bei  Bojki,  ein  Beispiel 
dafür,  daß  Bewohner  ganzer  Gegenden  nach  einem  bei  ihnen  häufig  ge- 
brauchten Wörtlein  oder  einer  sehr  beliebten  Ausdrucksweise  benannt 
werden.  Unsere  Uekarji  führen  ihren  Namen  vom  Gebrauch  des  steka 
für  tuka  her.  Hier  ist,  wie  in  ta,  to,  ftt,  ein  den  Nachbarn  nicht  mehr 
verständliches  *■  vorangetreten,  das  offenbar  nur  ein  Überbleibsel  eines 
einst  selbständigen  Wortes  ist.  Ich  sehe  darin  das  im  Slovenischen  so 
häufig  gebrauchte  vU  aus  vidis  'siehe',  das  ursprünglich  nur  fragend 
('siehst  du?'),  mit  der  Zeit  aber  Imperativisch  ('siehe')  Avard.  In  der  Pro- 
klise  ward  aus  vidis  zunächst  vis,  daraus  aber  nach  Schwund  des  /  und 
nach  Bilabialisierung  des  v  zunächst  w§,  wobei  vor  folgendem  s  das  tv  (wj 
gleichfalls  verstummen  konnte.  Auf  dieselbe  Stufe  wie  sta,  sto,  stu  kann' 
man  letä,  letö,  letü  aus  glej-ta,  gleJ~to,  glej-tü  stellen;  nur  konnte 
dieses  sowohl  dem  Pronomen  ii)  als  om  auch  nachgestellt,  am  Karst 
sogar  verdoppelt  werden :  ta-le,  to-le,  tu-le,  oni-le,  ona-le,  ono-le,  ta- 
le-le,  to-le-le  u.s.w.  Unser  sta,  letä  ist  auf  dieselbe  Stufe  zu  stellen  wie 
lat.  eccum  aus  ecce  *]ium  [hun-c]  (Walde,  Lat.  Et.Wtb.  190). 

toro/n,  raztoropnyj. 
Bereits  Miklosich  hat  im  Et.Wtb.  355,  359  das  poln.  stropic  si^ 
'sich  entsetzen',  klr.  foropit  'Schauder',  gr.  torpHh  'erschrecken',  oio- 
rop^  'panischer  Schrecken',  potoro'p'b  'Bestürzung',  welche  Wörter  er  mit 
terp-1  [utnpSti  'erstarren')  als  Ablautsformen  verknüpft,  richtig  zu  lat. 
iorpeo,  torpor  gestellt  (vgl.  Fick  I^  444,  Walde  631;  bezüglich  der 
strple  ovce  'gelte  Schafe'  und  steriUs  siehe  den  zweiten  Absatz  bei  tor- 
peo  in  Waldes  Wtb.).    Von  diesen  angeführtem  Wörtern  trennt  Miklo- 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    503 

sich  mit  Recht  unter  torp-3  das  r.  iorop^  'Eile,  Hast,  Sturmwind',  toro- 
pitb  'beschleunigen',  toropäth  'eilen',  toroplivyj  'hastig,  eilfertig',  toro- 
pyga  'eilfertiger  Mensch',  klr.  toropiyvost  'Eile',  auf  ihre  Etymologie 
lilßt  er  sich  aber  nicht  ein. 

Diese  Wörter  beruhen  auf  einer  Wurzel,  die  zwar  lautlich  identisch 
ist  mit  der  Wurzel  von  torpeo  (Miklosichs  torp-2)^  davon  aber  der  Be- 
deutung nach  abweicht.  Sie  bieten  nämlich  den  Ablaut  einer  Basis, 
welche  Hirt  (Ablaut  585)  in  der  Form  terep-  'drehen'  ansetzt  und  die  in 
gr.  Teq7tiy.eqavvog  'fulmina  torquens',  TQe/tio  'wenden,  drehen,  lat.  ire- 
pit  'vertit',  ai.  fräpate  'schämt  sich,  wird  verlegen',  ion.  tocittw  'wende' 
vorliegt.  Demnach  ist  a)  r.  torojn  ursprünglich  'das  Drehen,  das  Wen- 
den', 'das  sich  drehende,  der  Wirbelsturm,  der  Sturmwind',  b)  toropith 
ursprünglich  'machen,  daß  sich  etwas  drehe,  wende',  c)  toropeth  aber 
'sich  drehen,  sich  wenden'.  Aus  diesen  ursprünglichen  Bedeutungen  ent- 
wickelte sich  sehr  leicht  aus  a)  die  von  'Hast,  EUe',  aus  b)  die  von  'in 
Bewegung  setzen,  antreiben,  beeilen',  toropithsja  'sich  sputen,  hasten', 
aus  c)  die  von  'in  Bewegung  versetzt  werden,  sich  sputen,  eUen'.  Wer  eilt, 
wendet  sich  schnell  hin  und  her  wie  ein  Kreisel.  Daß  der  Begi'ifif  'flink, 
schnell'  mit  Verben,  die  'sich  drehen,  wenden'  bedeuten,  ausgedrückt 
wird,  sehen  wir  auch  an  anderen  slavischen  Wörtern.  Zunächst  r.  pro- 
rornyj  'flink,  behend',  das  zur  Wz.  «er-  'biegen,  drehen,  krümmen'  (wo- 
von vert-^  lat.  verto  nur  eine  Variation  ist,  so  daß  vot^  nnd  vrHta  nicht 
bloß  der  Bedeutung  ['Sack'],  sondern  auch  den  Wurzeln  nach  aufs  engste 
verwandt  sind).  Das  slov.  okreten  'regsam,  flink,  gewandt'  beruht  auf 
Icr  slav.  Wz.  krqt-:  ohrqnqti  'wenden,  drehen'.  Auch  das  c.  rychly^ 
r.  ryclilyj  'schnell',  kh*.  rychlyj  'beweglich',  gehört  mit  p.  ruc]i  'Be- 
wegung' zur  slav.  Wurzel  ruch-^  die  zunächst  'wenden,  umdrehen,  um- 
wenden', dann  erst  'solvere,  diruere'  bedeutet:  das  'Zerstören'  ist  wie 
rijti  'wühlen'  im  Grunde  genommen  'ein  Umwenden,  Umdrehen'.  Diese 
Beispiele  stützen  zur  Genüge  die  semasiologische  Entwicklung  von  torop-b 
'Drehen,  Wenden'  in  'Hast,  Eile'.  Die  gleiche  Entwicklung  trat  bei  der 
Wz.  des  Wortes  torop^  [^.\\.terp-)  auch  in  anderen  verwandten  Spraclien 
ein':  ai.  frpräs^  trpälas  'hastig',  gr.  EVTqäjcehxi  'beweglich'  aus  'sich 
leicht  drehend'. 

Die  bei  Miklosicli  unter  torp-1  angeführten  Wörter  pohi.  roztropny 
'klug'  und  r.  7-azforop>/yj  a'mA,  wie  schon  Brandt  (RFV.  XXIV.  200)  be- 
merkt hat,  der  auf  aksl.  rhytn,  'listig,  klug'  und  serb.  Jiitar  'schnell' 
hinwies,  von  dem  eben  behandelten  f<)ro/>7,  'Eile'  aus  der  Basis  fenp- 


504  K."  Strekelj, 

'drehen'  riiclit  zu  trennen.  R.  raztoropnyj  bedeutet  ja  außer  'flink,  be- 
hend, geschwind'  auch  'gewandt',  woraus  sich  leicht  'klug'  ableiten  läßt. 
Gerade  die  Bedeutung  gewandt  (von  wenden^  mhd.  wenten^  vgl.  gr. 
vcoXvTQOJtog  'vielgewandt,  verschlagen,  listig']  weist  geradezu  mit  dem 
Finger  auf  die  angeführte  Basis  tercp-^  gr.  cQtitio  'drehen,  wenden'  hin. 

trag. 
Im  Altserbischen  bedeutet  trag~o  'posteri',  jetzt  'vestigium  Fußstapfe', 
traga  'Tierrasse',  natraga  'Anwuchs',  natrazke  'räcklings',  ostrag  'hin- 
ten', straznj'i  'hinterer',  traziti  'suchen'.  Das  Wort  ist  auch  im  Slov.  und 
Bulg. bekannt:  ^loY.trag  'Spur',  ^!röi^7^ 'investigare  spüren'  (Unterkrain), 
bulg.  traza  'spüren'.  Das  Kasub.  kennt  nach  Mikl.  Et.Wtb.  360  tragi 
und  tregi  'nazadb'.  Diese  letzteren  Formen  veranlaßten  Miklosich,  als 
urslavische  Grundform  *tragü  anzusetzen.  Doch  scheint  mir  gerade 
deren  Zweifachheit  (mit  a  und  e)  dahinzuweisen,  daß  der  Aufzeichner 
des  Wortes  einen  Laut  gehört  habe,  der  vielleicht  weder  a  noch  e  ist. 
Man  beachte,  daß  im  Slovinzischen  a  nur  nach  anlautendem  alleinstehen- 
den r  zu  e  wird.  Bei  Ramuit  fehlt  das  Wort  überhaupt.  Berka  (Biskup- 
ski)  vergleicht  (Prace  fil.  VII.  651)  mhd.  torugge  'zurück',  doch  bleibt  es 
unklar,  ob  nur  als  Parallele  oder  als  Stammwort.  Nehmen  wir  an,  der 
Aufschreiber  habe  trögi  gehört,  so  würde  es  zu  slovinz.  drögi=  p.  drögi^ 
srögt==p.srögi  so  stimmen,  daß  man  für  *irag^  von  *torgo  auszugehen 
hat.  Ist  jedoch  ti'egi,  tragi  aus  dem  D.  entlehnt  [*torugge\  betreffs  des 
u  cf.  derny-durny,  dregi-drugi)^  dann  kommt  es  überhaupt  nicht  in  Be- 
tracht, und  man  kann  für  die  südslav.  Wörter  gleichfalls  ohne  Bedenken 
von  torgh  ausgehen.  Ist  dem  aber  so,  dann  stimmt  zu  unserem  Worte 
das  nicht  abgetönte  lat.  tergum  'Rücken',  tergus  'Rückenleder,  Haut, 
Fell',  gr.  regcpog  ateQcpog  'Fell,  Leder,  bes.  die  Rückenhaut  der  Tiere' 
(Walde,  Et.Wtb.  623);  bezüglich  des  Übergangs  der  Bezeichnung  eines 
Körperteils  in  die  des  Leders,  das  aus  der  Haut  auf  diesem  Körperteil  ge- 
wonnen wird,  vgl.  türk.  sagre  'die  Kruppe',  dann  auch  'gekörntes  Leder, 
Chagrin'  (Miklosich  im  Archiv  XI.  HO  f.).  Die  Grundbedeutung  von 
alav.  trag^  ist  demnach  'Rücken';  cf.  natrazke  'rücklings'.  Daraus  ent- 
wickelte sich  die  Bedeutung  'das  was  hinten  ist',  aus  dieser  'der  Nach- 
wuchs, die  Nachkommenschaft',  andrerseits  aber,  weU  man  beim  Spüren 
einem  nachgeht,  ihm  im  Rücken  ist,  auch  die  Bedeutung  'spüren,  Spur'. 
Das  alav.  natrag  entspricht  daher  der  Bedeutung  nach  genau  dem  d.  zu- 
rück (von  Rückest)  und  engl,  back  (zurück,  Rücken). 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    505 

umor. 
Das  serbokr.  umor  'Müdigkeit,  Ermüdimg,  Erschöpfung',  umoran 
'müde,  erschöpft',  umoriti  'matten,  abmatten,  müde  machen'  wird  im 
Et.  Wtb.  nicht  erklärt,  obwohl  dies  der  Bedeutung  wegen  hätte  geschehen 
sollen;  mit  mehreren  licxikographen  wird  es  nämlich  mancher  von  umor 
'Mord,  Ermordung'  trennen  wollen,  wiewohl  dies  nicht  angeht.  Auch 
das  Cech.-Slovak.  kennt  umoreny^  umoren  'abgeplagt,  entkräftet'  neben 
'getötet' :  cekala  som,  nespala  som,  cekala  som  po  tri  noci,  pre  teba  sü 
umorene  moje  oci  (sind  meine  Augen  müde).  Im  Sterbenmüssen  und  in 
der  völligen  Erschöpfung  liegt  der  Berührungspunkt  beider  Bedeutungen, 
was  wir  übrigens  auch  im  lat.  enectus  'erschöpft'  und  eneciare  'um- 
bringen, töten'  von  neco  'töten'  sehen  (Walde,  Lat.  Et. Wtb.  408);  vgl. 
auch  den  deutschen  Ausdruck  Hodmüde^  mordsmüde' .  Im  Deutschen 
kann  ich,  von  dieser  letzteren  Verbindung  abgesehen,  keine  Anwendung 
von  Mo7'd,  morden  in  der  Bedeutung  'Ermüdung,  ermüden'  nachweisen; 
merkwürdig  ist  daher  c.  umordovati  'sehr  ermüden,  abplagen',  poln. 
mordoivac  'müde  machen,  strapazieren,'  umord  'Ermüdung',  hez  umordu 
unermüdet,  rastlos',  umordoicac  'sehr  ermüden,  sehr  müde  machen',  die 
nit  ihrem  d  ganz  entschieden  auf  das  d.  mord  hinweisen.  Es  scheint 
jrst  auf  slavischem  Boden,  nachdem  nach  Entlehnung  von  7nord  für  das 
iinheimische  moriii  'töten,  morden'  das  aus  dem  entlehnten  mord  ab- 
geleitete mordovati  eingetreten  war,  auf  dieses  auch  die  alte  Bedeutung 
les  slav.  moriti  'ermüden'  übergegangen  zu  sein. 

r.  verzti,  verzith. 

Das  r.  verzti^  verzith  'etwas  lange  Zeit,  aber  töricht  tun  oder  sagen', 

faseln,  lügen';   'phantasieren',  wr.  verzci,  klr.  verzty  'faseln'  zieht  Mi- 

:losich  im  Et.  Wtb.  383 a  zur  Wz.  *Der-^  von  der  er  das  r.  vru^  vrath 

Dlauschen,   schwatzen,  lügen,  faseln',  vrum,  vrah  u.s.w.  ableitet  und 

ie,  wie  Solmsen  (Untersuchungen  zur  griech.  Laut-  und  Verslehre  263  f.) 

lar  nachgewiesen  hat,  auch  dem  Subst.  vradi,  'Arzt'  und  vraJca  'leeres 

(Cschwätz'  zugrunde  liegt,  so  daß  man  daher  im  Aksl.  die  Schreibung 

vhraH  (wie  auch  *i>ed^lo,   *tnet7>la  .  .  .)  erwarten  würde.    Trotz  der 

vhnlichkeit  der  Bedeutung  ist  Miklosichs  Annahme  nicht  zu  billigen,  da 

unerklärt  bliebe  und  das  Wort  kaum  dazu  als  «Wurzel Variation«  von 

Dcr  [tiQio,  verbum,  wort  . ..)  aufgefaßt  werden  kann.     Die  russ.  Wörter 

eisen  auf  eine  Wz.  urslav.  *üirz  hin,  und  ich  glaube  nicht,  daß  mau 

e  von  jenem  *vhrz  werde  trennen  müssen,  das  im  r.  ofccrzfi  'öffnen', 


506  K.  Strekelj, 

aksl.  -vrhzq,  -vrhti  'binden',  othtiristi  'öffnen,  eig.  losbinden'  vorliegt. 
Denn  unsere  Wörter  passen  ganz  gut  in  die  Gruppe  von  r.  hä-verza^ 
kd-verza  'Ränke,  Grübelei',  kd-verzitt)  'Ränke  schmieden,  intrigieren', 
kä-verznja  'Lüge,  Klatscherei',  das  ja  auch  Miklosich  selbst  zu  *vhrz- 
(verz-1)  stellt.  Wenn  wir  nämlich  sehen,  daß  der  Russe  für  'lügen,  flun- 
kern, faseln,  Unsinn  reden'  auch  das  Verbum  plesfi  (es  geschieht  dies 
auch  bei  andern  Slaven,  poln.  plesc  'plauschen,  salbadern,  schwatzen, 
närrisches  Zeug  reden',  slov.  plesti  u.s.w.)  gebraucht^  also  ein  Wort,  das 
eigentlich  'Hechten,  schlingen,  winden'  bedeutet,  so  konnte  dafür  ebenso 
leicht  auch  ein  anderes  Wort  ähnlicher  Bedeutung  einti'eten,  -vrhzcfy  -vrisli, 
das  'binden,  verknüpfen'  bedeutet;  vgl.  d.  stricken  'in-  oder  aneinander 
schlingen,  flechten,  knüpfen:  einzelne  Bäume  eines  Flosses  oder  ganze 
Flöße  aneinander  stricken  =  sie  mit  einander  verbinden'  (Schmeller- 
Frommann  IL  S09).  Das  Binden  {-vrhti)  ist  ja  nicht  anders  möglich,  als 
durch  das  Schlingen  oder  Winden  des  Bindemittels  {pov?•az^).  Wie  nun 
d.  '■Hanke'  von  renken  (faktitiv  zu  icrengan^  ringen)  'drehen,  winden', 
so  ist  kä-verza  'Ränke'  von  *vhrz-  'binden'  abgeleitet:  die  Ränke  sind 
Schlingen,  die  einem  gelegt  werden,  damit  er  sich  darin  verfange,  daher 
slov.  kroat.  mreze plesti^  slov.  zapleta  'Verwicklung,  Schlinge';  zapleie 
delati  'intrigieren',  zapletki  'die  Intriguen'.  Vgl.  auch  die  deutschen 
Ausdrücke  'etwas  skiisspinnen,  SLUzetfehi,  Siuibinden\  Demnach  gehört 
r.  verztij  verzith  'faseln,  lügen'  zur  Wurzel  *vhrz-,  got.  ivruggö  'schlinge', 
mhd.  erwergen^  nhd.  würgen^  ae.  wriggmi  'drehen,  pressen' ,  lit.  verziü 
'schnüre'  (Zupitza  206),  und  russ.  kä-verza  ist  dem  d.  Bank^  Ränke 
sowohl  der  Wurzel  wie  der  sinnlichen  Entwicklung  nach  aufs  engste 
verwandt. 

Auch  das  serbokr.  uvrzti^  uvrzem  'einfädeln,  einziehen,  einfügen: 
uvrzti  konae  u  iglu'  braucht  nicht  von  Miklosichs  verz-\  geti'ennt  zu 
werden.  Die  ursprüngliche  Bedeutung  ist  'den  Zwirn  in  die  Nadel  ein- 
knüpfen, ihn  mit  der  Nadel  verbinden',  um  damit  zu  nähen;  der  in  die 
Nadel  eingezogene  Faden  bildet  ja  gleichfalls  eine  Art  Schlinge,  wenn 
auch  keine  geschlossene. 

vrveti,  vreva. 

Slov.  vrvSti,   vrvim  'wimmeln' :   Ijudstvo  vrvi  'concurrit  populus', 

vrvnja   'Gewimmel,    Gedränge',   vrvetäti  'hin-  und  herschweben    (von 

Schneeflocken)';  serbokr.  vrviti  'schwärmen,   wimmeln,  wogen':    snijeg 

vrvi  'stöbern',  vrvljeti  'wohin  strömen',  vrva  'Menschengewühl,  Gewim- 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    507 

mel,  Gedränge,  Schwärm',  vreva  'Menschengewühl,  Sturm,  Tumult, 
Lärm';  bulg. «rv/'a  'gehen',  vinivSz  'Gang':  vojska  provri.velo,  vr^volica 
'Schwärm'  —  diese  Wörter  läßt  Miklosich  im  Et.Wtb.  3S6,  wo  er  für  sie 
von  einer  Grundform  vei^v-  auszugehen  geneigt  ist,  unerklärt.  Vergleicht 
man  die  slov.  Ausdrucksweise  'Ijudje  so  privreli  od  vseh  strani  =  kamen 
herbeigeströmt',  'voda  je  privrela  =  kam  siedend,  sprudelnd,  wallend 
hervor',  'Ijudje  v7'o  vkup  =  laufen,  strömen  zusammen',  ^vr^ti  =  in 
Menge  und  schnell  sich  hin  und  her  bewegen',  ^izvreti  =  entquellen, 
hervordringen,  hervorspringen'  mit  den  obigen  Anführungen  und  hält 
dazu  noch  slov.  vrvrati^  vrvrSti  'sprudeln,  wallen:  voda  vre  in  vrvra  v 
loncu,  iz  zemlje',  poln.  ivrzec  'brausen,  kochen,  unruhig  sein',  lorzenie 
mrowek  'das  Gewimmel  der  Ameisen'  u.s.w.,  so  ist  leicht  ersichtlich,  daß 
die  ersteren  Wörter  nichts  anderes  sind  als  Ableitungen  von  der  redupli- 
zierten Wurzel  *ver-  auf  deren  Reduktionsstufe,  die  auch  im  Präsens  vor- 
liegt: aksl.  vhrjci,  vbri^i  ^sieden,  wallen,  in  unruhiger  Bewegung  sein',  nur 
ist  darin  das  ;•  der  nächsten  Silbe  durch  das  r  der  ersten  dissimilatorisch 
verdrängt  worden.  Es  ergab  demnach  *vhrvhr-Stij  III.  Sgl.  vhrvb7'-ih 
zunächst  *vrvbrM?\  ^•rvh7'^t^,  welche  Form  im  slov.  vi'vrUi  noch  vorliegt; 
daraus  ward  mit  Verdi-ängung  des  zweiten  r  vrveft,  vrvi,  serhokr.  vrvj'eti 
(woraus  mit  epenthet.  /  trotz  des  sekundären  Charakters  der  Lantgruppe 
vrvJjeti)  und  vrviti.  Von  v7'vHi  ist  weiter  abgeleitet  vrvnja^  vrvetafi, 
vr^vizJ  vr^volica.  Ähnlich  ward  sl,  *vhrvwa  zu  vrvhra  (erhalten  in 
vrvraii)  und  daraus  vrva.  Hingegen  beruht  vrSva  nicht  auf  redupli- 
ziertem ver-,  da  daraus  nur  *vrevera  entstanden  wäre;  abgeleitet  ist  es 
vielmelir  nach  der  das  ältere  Iterativ  -virati  ersetzenden  Neubildung  vri- 
vaii  (gebildet  zu  vhrSti  wie  ogrSvaü  zu  grHt,  veUcati  zu  veUti  u.s.w.), 
die  namentlich  durch  das  Aufkommen  des  neueren  Präsens  r7vw,  vreS, 
vre  für  älteres  vhrjq^  vhrüi,  virifh  befördert  ward  (vgl.  auch  prem-pbrja, 
zrem-zfcrja).  Das  i^oln.  wrzawa  mit  a  für  das  erwartete  e  (vor  Labialen!) 
ist  wohl  gleichfalls  eine  erst  verhältnismäßig  junge  Bildung  statt  urzeiva^ 
wie  rozdziazüuc  aus  rozdiaioa  für  rozdzieioa  =  *razzdüa\  hervorge- 
rufen ist  sie  wahrscheinlich  durch  das  Partizip  ivrzai,  wrza^a,  wrzaio. 

Mit  \&i.  ferveo,  ei'e,  fei'vo,  ^re  (Wz.  *bheru-)  lassen  sich  unsere 
Wörter  trotz  der  Ähnlichkeit  der  Bedeutung  nicht  verknüpfen,  nußer  daß 
alte  Assimilation  des  anlautenden  h  an  das  folgende  ii  im  Slavischen  an- 
genommen würde;  indes  sprechen  Formen  wie  vrvrafi,  crvrdti  entschie- 
den für  die  obige  Erklärung. 


508  K-  Strekelj, 

15.   Entlehntes. 

barnast. 
Belostenec  übersetzt  I.  593  das  lat.  fuscus  mit  *hkur,  temen,  siv, 
suern,  harnast^  vuoje  färbe'.  Im  Kajkavischen  kommt  harna,  harnülja 
als  Kuhname,  harnek  als  Ochsenname  vor  (Valjavec  im  Rad  45,  41,  43, 
46^  13).  —  Das  "Wort  ist  aus  magy.  harna  'braun,  brunet'  entlehnt,  wel- 
ches die  Magyaren  ihrerseits  aus  dem  d.  braun.,  mhd.  orAn  'dunkelfarbig' 
entnommen  zu  haben  scheinen. 

burlafi. 
Das  serbokr.  burlati  bedeutet  'heulen',  burlikcmj'e  'Art  heulenden 
Weinens';  burijati  'kollern':  burljaju  mi  crieva  'es  kollert  mir  im  Leibe, 
der  Bauch  knurrt'.  —  Entlehnt  aus  dem  Rom.:  friaul.  burlä  'romoreg- 
giare,  rimbombare,  ululare;  ruzzolare,  muoversi  rotolando'  (Pirona  s.v.). 
Das  ital.  burlare  'rotolare,  gettare  via',  altital.  barullare  'rotolare'  aus 
*barrotulare  'in  schlechter  Weise  hin-  und  herdrehen,  kreiseln'  (Körting  ^ 
130,  Nr.  1248)  paßt  nur  für  burijati.  Beruht  frl.  burlä  'romoreggiare, 
ululare'  nicht  auf  [a)b-ululare?  Ululare  ergab  bekanntlich  urlare.  Vgl. 
burtati. 

burtati. 

Das  serbokr.  burtati  bedeutet  'cornu  petere,  bosti  rogom' :  koza  me 
je  burtala,  iind  'nauseare,  stuzivati  se  na  moru'  (Rjecnik  I.  742).  Das 
erstere  ist  wohl  aus  dem  Romanischen ;  friaul.  sburtä  'spingere,  sospin- 
gere,  pignere:  far  forza  di  rimuovere  da  se,  o  di  cacciare  oltre  checches- 
sia;  urtare,  spignere  incontro  con  impeto'  (Pirona  s.  v.).  Das  frl.  Wort 
ist  wohl  als  *ex-ab-urtare  aufzufassen;  urtare  'stoßen'.  Vgl.  burlati. 

cafolet. 
Das  cech.  cafolet  m.  (in  der  mährischen  Walachei)  'kapesni  satek, 
Sacktuch'  ist  umstellt  aus  dem  \t2\.  fazzoletto  'Taschentuch'  (cf.  Kör- 
tings 381,  Nr.  3720). 

cäkati. 
Das  cech.  cäkati  bedeutet  'uderiti,  schlagen,  stoßen,  anfallen,  an- 
greifen, berennen,  unvernünftig  reden' ;  cäkal  =  kdo  cäkä.  Das  Wort 
ist  deutsch;  vgl.  zecken  'einen  leichten  Stoß  geben,  necken,  reizen,  joco 
convellere' ;  zecken  'di'etzen,  reizen,  lacesso' ;  Vilmar,  Kurhess.  Idiot.  463 : 
zacken,  henneb.  zuckern;   cf.  auch  zicken  'mit  schnellem,  kurzen  Stoß 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.     509 

berühren' ;  gezicken  einen  oder  an  einen  'ihn  leise  berühren'  (Schmeller- 
Frommann  IL  1081  —  1082). 

cahk^  czanka. 
Das  cech.  cank,  canh  m.  bedeutet  'Gebiß  (udidio),  Brechzaum'; 
cankär  'udidlär  Gebiß-,  Zaummacher',  cankovati  'das  Gebiß  anlegen'; 
poln.  czanha  ist  'drazek  u  munsztuka  konskiego,  Stange  am  Pferdezaum'. 
KarJowicz,  Wyrazy  obc.  poch.  1 1 1  vermutet  darin  eine  Abkürzung  aus 
*(h^6anka  von  (hska^  was  kaum  richtig  ist,  weil  es  poln.  in  diesem 
Falle  *szczmika  lauten  müßte.  Auch  mit  d.  Zaum  {zäm,  zum,  zoum) 
hängt  das  Wort  kaum  zusammen,  trotz  der  Ähnlichkeit  der  Bedeutung; 
im  Cech.  würden  wir  ja  dann  sicher  *caiiek^  *canek  haben,  wenn  das  k 
erst  auf  slavischem  Boden  angetreten  wäre.  Ich  sehe  in  unserem  Wort 
das  d.  Wort  für  Zacken,  mit  einem  n  erweitert,  wie  wii-  solche  Formen 
in  bair.-österr.  Dialekten  finden :  bau*.  Zanken,  Zangken,  'Zacken,  klei- 
ner Zweig',  Zainken,  Zuenken  'id.';  steird.  Zacke  f.  und  Zanken.  Es 
ist  also  rank  der  Zacken  am  Gebiß,  an  dem  der  Zaum  befestigt  ist,  dann 
das  Gebiß  selbst,  vgl.  die  Abbildungen  des  Gebisses  (munsztuk)  mit  dem 
Pferdezaumstangen  bei  Dorohostajski,  Hippika  albo  ksiega  o  koniach 
(Biblioteka  polska  213),  p.  131  f.  Deutsches  z  konnte  im  Polnischen  zu 
6  [cz]  werden;  siehe  Korbut,  Prace  filologiczne  IV.  447. 

carboch. 

Das  cech.  carboch  'bricho  nadut^,  pandero,  Wampen'  ist  wohl  nichts 
anderes  als  d.  '^ Zärhauch,  '^ Zehrbauch  für  Schmerbauch ;  wie  nämlich 
für  JVagenschmer  'Wagenschmiere'  auch  Wagenzehr  gesagt  wird,  so 
konnte  auch  in  Schmerbauch  das  Bestimmungswort  durch  Zehr-  ersetzt 
werden;  vgl.  Zehr  m.  'Theer'  Vilmar,  Kurhess.  Idiot.  465  f.,  Schmeller- 
Frommann  11.  1145. 

carda,  cdr,  cära. 

Das  ceah.  carcla  m.,  'clovek  vesely,  lustiger  Kerl,  Spaßvogel,  Schlau- 
kopf ist  gebildet  von  carati,  auch  courati^  entlehnt  aus  d.  zeren,  bair. 
zm'''n  'ziehen,  reißen',  das  besonders  auch  in  der  übertragenen  Bedeutung 
gebraucht  wird :  einen  zär''n  oder  an  einem  zärhi  'ihn  reizen,  necken,  ihn 
durch  Spotten,  auch  wohl  Bitten  quälen';  einen  abzlirren,  auf  zurren 
(Schmeller-Frommann  II.  I14ü),  'ihn  aufziehen',  was  ja  der  Possenreißer 
gerne  tut  (vgl.  das  Wort  skumpa  in  meiner  Schrift  »Zur  slavischen  Lohn- 
wörterkunde,  Denkschriften  WAW.  L«).  —  Ein  anderes  carda  f.  'das 


510  K.  Strekelj, 

Mädchen,  das  Mensch'  ist  wohl  abgeleitet  von  cära  'Schlampe,  Schmu- 
del',  dieses  von  cär  'Hader,  Lumpen,  Fetzen'  aus  d.  Zar  'der  RIß",  dann 
wohl  auch  'das  Zerrissene,  lacinia',  wie  denn  überhaupt  Ausdrücke  für 
'Fetzen'  häufig  zur  Bezeichnung  unordentlicher  Frauenzimmer  angewandt 
werden  (vgl.  meine  zitierte  Schrift  I  S  snh ßaka^  siehe  aber  auch  unten 
cqdra).  Von  diesem  carda  haben  wir  weiter  c.  cardati  'cmyrati,  pant- 
schen'. —  Andere  cech.  Ableitungen  von  carati  ^reißen,  ziehen,  schlep- 
pen, schlendern'  sind:  cäradka  'schlechte  Hausfrau',  cärovnire  'zenska 
sem  täm  chodici,  zadn^ho  stanu  nikde  nemajici',  sowie  das  augmentative 
caragula  'starula  starä  (hepice)'.  Zu  cär  in  der  Bedeutung  'Umschweif: 
nedolati  mnoho  caru,  k  cemu  tolik  carü  'wozu  so  viele  Umschweife  ? '  ver- 
gleiche das  bair.  sich  zirren  'sich  weigern,  sich  spreizen',  niederd.  türen 
'zögern',  sich  tieren  'sich  geberden,  anstellen'  bei  Schmeller-Frommann 
n.  1146,  1148. 

cqdra. 
Das  poln.  cqdra  'dziewczyna  publiczna,  Hure'  ist  wie  c.  cundra 
'zenska  nepekne  spravenä',  cunda  'necistä,  spinavä  zenska'  aus  magy. 
condra  'Fetzen,  Hure',  woraus  auch  kajk.  condrati  Vagari',  condranje 
'vagatio'  entlehnt  ist.  Bei  magy.  condra  ist  von  der  Bedeutung  'Fetzen' 
als  der  ursprünglicheren  auszugehen.  Fraglich  ist  es  freilich,  ob  das 
Wort  von  Haus  aus  magy.  ist;  wir  haben  nämlich  das  slov.  r ander  m., 
candra  f.  'Fetzen,  der  Zerlumpte,  die  Zerlumpte,  unordentliches  Frauen- 
zimmer U.S.W.'  nicht  außer  Acht  zu  lassen.  Dieses  hat  allerdings  schon 
Matzenauer  1.  s.  128  mit  magy.  cowt^ra,  rowf/or  verknüpft,  aber  Pletersnik 
hat,  zweifelnd  zwar,  doch  nicht  ohne  Berechtigung  das  kärntd.  zalder, 
zader  'etwas  Faserichtes'  zur  Vergleichung  angezogen.  Aus  zalder 
konnte,  abgesehen  davon,  daß  in  Fremdwörtern  vielfach  unorganisches  n 
vor  /",  d  sich  einstellt,  ganz  gut  rander  hervorgehen;  was  die  Bedeutungs- 
entwicklung betrifft,  ist  der  Übergang  von  'faserig'  zu  'zerrissen'  leicht 
begreiflich,  wie  denn  Zader  im  Steirerdeutsch  nicht  bloß  'sehniges  mit 
Muskeln  und  Fett  durchzogenes  Stück  Fleisch',  sondern  im  Ennstal 
geradezu  'zerrissenes  Tuch,  Fetzen'  (Unger-KhuU  641)  bedeutet,  während 
zaderef  alleweil  noch  nur  'faserig'  ist.  Das  magy.  Wort,  das  zunächst 
'Zerfasertes,  Zerrissenes,  Fetzen'  bedeutet  haben  mochte,  könnte  also  ganz 
gut  aus  dem  Deutschen  stammen.  Sache  der  Germanisten  wäre  es,  das 
d,  Wort  zu  erklären.  Andere  slov.  Formen  des  W^ortes  sind  cundra  und 
cendra.  Trstenjak  wollte  in  Novice  1880.71  das  erstere  davon  mit  d.  Zun- 
der in  Verbindung  bringen,  das  nach  ihm  'Lappen'  bedeuten  soll,  eine 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    511 

Behauptung,  die  ich  nirgends  bestätigt  finde  und  die  nur  aus  dem  Um- 
stand zu  erklären  ist,  daß  häufig  Lappen  als  Zunder  benutzt  werden. 

ceniti. 
Das  cech.  cetiiti  zuby  'die  Zähne  fletschen',  ceniti  'weinen'  ist  nicht 
aus  cetSti  'ringi'  (cf.  Miklosich,  Et.Wtb.  299:  sker-)  entstellt,  sondern 
aus  dem  Deutschen  entlehnt:  bair.  zennen,  za7iiie?i  '(von  Teilen,  die  ge- 
schlossen sein  sollten,  besonders  vom  Munde  und  seinem  Gebisse)  aus- 
einanderstehen, hiare;  sie  auseinanderstehen  machen:  gaflen, hohnlachen, 
grinsen;  insonderheit:  weinen',  Schmeller-Frommann  II.  1127. 

di/j'a,  dila. 
Das  ziemlich  allgemein  'Brett'  bedeutende  Wort  (slov.  dilja,  dila, 
slovak.  dil\  p.  f/y/,  dyle  'podtaga',  klr.  dyle,  coli,  defyna,  ns.  dela)  wird 
gewöhnlich  (Miklosich,  Et.Wtb.  46,  Uhlenbeck  im  Archiv  XV.  4S6)  auf 
ahd.  dilla,  dil,  dilo  'Brett,  Bretterwand,  bretterner  Fußboden'  (womit 
slav.  thlo  verwandt  ist)  zurückgeführt.  An  der  Entlehnung  von  dilja  aus 
dem  Germanischen  ist  sicher  nicht  zu  zweifeln,  entschieden  muß  man  indes 
der  Annahme  entgegentreten,  daß  das  Wort  bereits  in  so  alter  Zeit,  in 
ahd.  Periode,  von  den  Slaven,  die  es  gebrauchen,  aufgenommen  worden 
sei.  Dagegen  spricht  vor  allem  das  d  im  Polnischen  und  Nsorbischen, 
welches  bei  einer  Entlehnung  vor  dem  XIII.  Jahrh.  vor  folgendem  Palatal- 
vokal hätte  erweicht  werden  müssen.  Das  W^ort  kann  zu  den  Slaven  erst 
nach  dem  XIII.  Jahrh.  gelangt  sein.  Gerade  die  Beibehaltung  des  d  hat 
die  Wandlung  des  i  in  ij  und  daraus  in  e  zur  Folge  gehabt. 

frajati. 
Das  Wort  frajät  führt  Milcetic  in  seiner  Abhandlung  » Cakavstina 
kvarnerskih  otoka«  (Rad  121,  131)  unter  jenen  an,  die  aus  dem  Deut- 
schen entlehnt  sind,  weil  man  daselbst  yV-o;'  'snubljenje',  yW/yV/r  'Freier' 
und  frajut  'freien'  gleichfalls  gebraucht;  es  bedeutet  indes  auch  'trositi 
bez  potrebe'  (unnütz  vergeuden)  und  in  dieser  Bedeutung  ist  es  dem  Ital. 
entnommen:  triest./n«a  'baldoria,  crapula,  gozzoviglia,  oTg\ii\  fraiada 
'gozzovigliata',  fruiar  'crapolare,  gozzovigliare;  far  brigata;  dilapi- 
dare,  dissipare,  fondere,  scialacquare,  spargere,  sperperare'  (Koso- 
vitz  2  ISO);  iv\ü\\\.  frajc  [frage,  fradaje)  'brigata,  compagnia,  uuione 
di  persone  a  fine  di  sollazzo  e  di  gozzoviglia;  gozzoviglia,  pusigno,  couvito 
in  brigata,   e  propriamcnte  (luello  che  si  fa  dopo  ceua';  frajä  'frater- 


512  K.  Strekelj, 

nizzare,  gozzovigliare,  sgnazzare  ne'  cibi'.  Das  rom.  Wort  hat  nichts  mit 
d.  freien  zu  tun ;  schon  das  frl.  fradaje  weist  auf  den  Zusammenhang 
mvi  fratellus^  f rater  hin  (=  confraternitas). 

Zu  goheJja^  gohela,  gombela. 
Dieses  Wort,  welches  'Radfelge',  'der  Bogen  über  der  Wiege'  be- 
deutet, habe  ich  bereits  in  meiner  Schrift  «Zur  slav.  Lehnwörterkunde« 
20  als  Entlehnung  aus  dem  Roman,  (istroit.  gavej'a)  erwiesen.  Die  dort 
erwähnte  Ableitung  Ives  aus  *gaveUo  ist  aber  wohl  zurückzuweisen,  wenn 
man  ptg.  camha  'Radkrümmung,  Felge'  und  rambaio  'krummbeinig' 
(Gröber  im  Archiv  f.  lat.  Lex.  IL  432),  sowie  bret.  camhef  an  rot  'cant 
de  roue'  aus  *kambitos  'Felge'  (Stokes-Fick  •*  IL  7S)  dazuhält. 

Jiohtra,  hidslra. 
Ac.  holstra^  hulstra  f.  wird  erklärt  mit  'pouzdro  na  pusku,  Gewehr- 
futteral' (Gebauer,  Stc.  slovnik  I.  455);  liohtra  'pouzdro  na  pistole,  va- 
gina,  Pistolenhalfter',  holstra  k  rucnicim  'Handgewehrfutteral'  (Brandl, 
Gloss.  519).  Gebauer  zitiert  zum  Wort  noch  aus  Diefenbachs  Glossar: 
»cornicus  =  pharetra,  arnbrustscheit,  bogenkocher«  und  vergleicht  nach 
Kluge  sub  Halfter  das  niederl.  halser  (richtig  halst  er)  'Halfter,  Strick'. 
Im  neueren  Cechisch  bedeutet  holstra  'velikä  buchta  nadivanä  povidly 
nebo  makem  große  mit  Zwetschkenmus  oder  Mohn  gefüllte  Wuchtel' 
(Kott  VI.  329,  nur  aus  Neu-Bydzov  bezeugt).  —  Die  zuletzt  angeführte 
Bedeutung  —  die  man  doch  nicht  aus  so  weiter  Ferne,  wie  die  Nieder- 
lande es  sind,  erhalten  haben  kann  und  womit  man  ähnliche  Benennungen 
anderer  Mehlspeisen  wie  c.tasky  'Taschen,  Art  Knödel',  ksivt-i.  Tascheln 
oder  slovak.  poln.  klr.  r.  jnrog,  wahrscheinlich  von  pira,  jjSra  'Beutel, 
Tasche'  (slovak.  piroJty,  pery  neboli  tas/d;  poln.  ph'z  'Tornister,  Reise- 
tasche': griech.-lat.  7rij(>a-pera)  u.s.w.  vergleichen  möge  —  gibt  uns 
einen  Fingerzeig  an  die  Hand,  daß  das  c.  Wort  auch  in  den  anderen 
Bedeutungen  'Futteral,  Hülle,  Köcher'  gleicherweise  dem  Deutschen, 
nicht  aber  entfernteren  germanischen  Sprachen,  wo  das  Wort  noch 
heute  vorkommt  [näl.holster,  engl,  holster  'Fistolenhalfter',  schw.hylster 
'theca'  u.s.w.)  entlehnt  sei,  daß  also  holster  einst  auch  im  Deutschen  be- 
kannter gewesen  sein  muß.  Schmeller-Frommann  I.  1097  führt  aus  dem 
nieders.  Dönekenbok  199  Holdster  für  Holster  in  der  Bedeutung  'Reise- 
sack' an.  Wie  im  ahd.  hülst  'Decke,  Hülle'  vorkommt,  so  muß  also  einst, 
nach  dem  cech.  holstra  zu  schließen,  auch  holster,  hulster  f.  tiefer  in 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    513 

Süddeutschland  gesprochen  worden  sein.  Dieses  zu  got.  hulistr  'Hülle, 
Decke'  aufs  genaueste  stimmende  Wort  ist  jedoch  in  Deutschland  jetzt 
durch  liolfter^  hulfter  ersetzt,  wie  denn  schon  frtih  neben  ahd.  hülst 
auch  ahd.  hulft^  hulaft  erscheint.  Das  d.  holsfer^  huhter  konnte  durch 
Jiolfter^  hulfter^  dessen  ursprüngliche  Bedeutung  'Hülle,  Köcher'  natur- 
gemäß erst  in  nhd.  Periode  zu  'Pistolenbehältnis  am  Sattel'  geworden  ist 
(cf.  KJuge*'  sub  Holfter),  um  so  leichter  verdrängt  worden  sein,  als  das 
letztere  an  einem  ähnlich  lautenden  Wort  eine  Stütze  fand,  das  seinerseits 
vielfach  dem  Einfluß  von  holster^  huhter-  unterlag  und  davon  ein  at  für 
ft  tibernahm.  Es  ist  dies  das  Wort  Halfter  f.,  m.  (ahd.  halftra),  das 
uns  mit  s  nicht  bloß  im  ndl.  hahtcr^  sondern  auch  auf  hochd.  Boden  be- 
gegnet, indem  im  Bairischen  neben  Halfter  'Hosenträger,  brachiale'  auch 
Huhter  f.  (Schmeller-Frommann  I.  1097),  in  Unterkärnten  gar  haschier 
(Lexer  131)  gesprochen  wird,  eine  Form,  die  neben  der  Form  Halfter 
auch  ins  Slavische  Eingang  fand:  ns.  hal'ötra  und  halftra^  üov.asterztlj 
neben  uvsterzilj  'Hosenträger'  (aus  huhter  [unterkämt,  haschier^  und 
Sil  (nicht  SeU^  wie  Pletersnik  meint ;  cf.  Kopitars  Mitteilung  bei  Schmel- 
1er  1.  c.)  und  galtra  [ydwtra)  'Halfter,  capistrum'.  Die  Kreuzung  bleibt 
im  Deutschen  nicht  dabei  stehen,  sondern  das  a  von  Halfter  verdrängt 
teilweise  das  o  von  Holfter,  wenn  der  selteneren  Schreibung  Halfter 
'Futteral'  eine  reale  Aussprache  zugeschrieben  werden  darf. 

hona6,  lionak. 
Das  03.  hona6^  honalc  m.  'Hahn',  honaöik  'Hähnchen'  soll  nach 
Pfuhl  eine  onomatopoetische  Bildung  sein.  Es  ist  nichts  anderes  als  das 
mit  -ad,  -ah  erweiterte  deutsche  Halm,  mhd.  hau  mit  o  für  d.  «,  wie 
etwa  popla  für  Pappel  (bapele)  'Malve'  oder  blota  für  blate  'Platte', 
hoka  für  Haken  u.s.w.  Welche  Schalluachahmung  aus  dem  Hahnen- 
geschrei soll  denn  auch  in  honad  vorliegen  ? ! 

hora. 
Das  slov.  hora  f.  'Schwein',  horica^  horika  'id.',  hör  'Ruf  an  die 
Schweine:  hör  na!'  ist  aus  dem  Deutschen  entlehnt:  steird.  Horscinccin 
'das  Schwein,  das  sich  im  Kote  des  Schweinestalles  wälzt,  also  im  Stalle 
gehaltenes  Schwein'  (alt.  Spr.)  von  Hör  neben  Har  und  Harb  'Kot,  bes. 
Straßenkot',  Horluke  'Kotlache,  Sumpf,  horbig,  yehorbig  'sumpfig, 
kotig,  schmutzig'  (Unger-KhuU  35G);  mhd.  Jtor,  höre,  gen.  Iionccs  n. 
'kotiger  Boden,   Kot,   Schmutz'.     Auch    in    Deutschsteiermark    werden 

Archiv  für  slavische  l'hilolouio.    XXVIII.  33 


514  K.  Strekelj, 

Schweine  zum  Weiden  mit  dem  Zuruf  Tlora^  Hora!  ermuntert.  Das  d. 
Wort  gehört  zu  lat.  mu[$)cerda  'Mäusekot',  su{s)cerda  'Schweinekot', 
griech.  ycoQeo)  'fege',  lett.  särni  'Schlacken,  sich  absondernde  Unreinig- 
koiten';  ich  vermute  Verwandtschaft  des  d.  Wortes  mit  r.son  'Schmutz', 
Dünger'  und  serb.  slov.  serem,  srati  'cacare';  anders  Pokrowskijs  KZ. 
XXXV.  232,  der  es  zu  lat.  sordeo  stellt  (vgl.  Walde,  Lat.  Et.Wtb.  5S5). 

j'asduii)^  st'u7',  szczur. 

Das  russ.  jäs6ur^  m.  'mus  avellanarius,  die  Haselmaus'  versuchte 
Potebnjä  im  RFV.  VU.  230  mit  ai.  äkliü  'Maus,  Ratte'  von  ä  und  khan 
'wühlen'  abzuleiten,  wobei  kh  aus  sk  gedeutet  ward.  Die  Schwierigkeiten 
dieser  Etymologie  sind  indes  so  bedeutend,  daß  man  sie  füglich  übergehen 
kann.  Daß  das  Wort  mit  dem  Präfix  ja  und  einem  Substantiv  *i6ur^ 
zusammengesetzt  ist,  vermuteten  bereits  Matzenauer  (Listy  fil.  VIII.  26) 
und  Miklosich  (Et.Wtb.  344a),  die  in  letzterem  richtig  das  poln.  szczur 
'mus  rattus'  (iapka  na  szczury  'Rattenfalle'),  kas.  sur  (gen.  iere),  cech. 
st'ür  'potkan,  die  Ratte',  und  söm^  'nemeckä  mys,  Ratte'  (in  Mistek,  bei 
Kott)  erblickten.  Matzenauer  1.  c.  23,  24  hält/a-  für  eine  jüngere  Form 
des  alten  je-.  Doch  sprechen  gegen  die  Identifizierung  beider  Präfixe 
die  polnischen  und  serbischen  Formen  in  Wörtern  wie  jarebh  'perdix', 
jasterh  'lacerta'.  Meillet  (Etudes  sur  l'etymologie  et  le  vocabulaire  du 
vieux  slave  I.  168  f.)  dachte  bei/e-  an  Identität  mit  idg.  w,  lat.  ^V^,  gr.  cf, 
avy  hat  aber  diese  Ansicht  p.  506  mit  Rücksicht  auf  Pogodins  Ausfüh- 
rungen (Sledy  kornej  osnovx  130),  der  darin  ein  verbales  Element  (cf. 
jf^ti)  sucht,  aufgegeben.  Miklosich  stellt  das  Präfix /a-  annehmbarer  zu 
aind.  ä,  lett.  ?,  so  daß  es  also  aus  ursl.  d  zu  erklären  wäre.  Nach  Matze- 
nauer bedeutet /as^Mr?)  ein  'zvire,  ktere  se  podobä  na  krysu,  mensi  kiysa'. 
Eine  ähnliche  Bedeutung  läßt  sich  auch  aus  Miklosichs  Annahme  vom 
Ursprung  des  ja-  herausschälen :  wenn  ai.  lauhita-  'rot',  alauhita-  aber 
'rötlich',  lett.  dzeris  'betrunken',  edzeris  aber  'angetrunken'  bedeutet,  so 
ist  die  Bedeutung  der  Komposita  mit  ä,  e  in  den  angeführten  Beispielen 
beider  Sprachen  eigentlich  'nicht  ganz  rot',  'nicht  ganz  betrunken'  oder 
'an  der  Grenze  von  Rot,  an  der  Grenze  von  Trunkenheit  angelangt'. 
Dieser  Erklärung  gemäß  wäre  also  jaiömi)  ein  scuri,  der  noch  kein 
wirklicher  scuri.  ist,  sondern  ihm  durch  gewisse  Eigenschaften  nur  nahe 
kommt.  Mit  einer  solchen  Erklärung  ist  die  hier  folgende  Darlegung  sehr 
gut  vereinbar. 

Was  der  zweite  Bestandteil  des  russ.  Kompositums  [-sÖurb]  ist,  das 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    515 

besagen  uns  weder  Matzenauer  noch  Miklosich ;  doch  trennt  es  dieser  von 
anderen  gleichlautenden  Substantiven  seiner  Bedeutung  wegen  vorsichtig 
ab.  Ich  erblicke  darin  nichts  anderes  als  das  griech.  a/.lovQog  'Eich- 
hörnchen', mag  dessen  Etymologie  welche  immer  sein  (vgl.  darüber 
0.  Schrader  in  BB.  XV.  127  f.,  Prellwitz,  Et.  Wtb.  der  gr.  Spr.2  418, 
R.  Much  in  HZ.  42^  1G3).  Der  Umschlag  der  Bedeutung  'Eichhörnchen' 
in  die  Bedeutung  'Hausratte,  mus  rattus'  kann  nicht  überraschen,  nach- 
dem beide  Tiere,  ebenso  wie  die  Haselmaus  (Mus  avellanarius)  in  die  ge- 
meinsame Klasse  der  Nagetiere  gehören,  also  von  Haus  aus  viel  gemein- 
sames besitzen.  Man  findet  bei  Ausdrücken  für  'Eichhörnchen'  einen 
ähnlichen  Bedeutungswandel  auch  sonst  in  europäischen  Sprachen,  ja  es 
werden  häufig  damit  sogar  die  nicht  verwandten  Marderarten  bezeichnet, 
weil  ihre  Lebensweise  zum  Teil  der  der  Eichhörnchen  ähnlich  ist.  So 
heißt  im  Sardischen  schirru  aus  lat.  sciurus  (vom  griech.  oy.iovQog)  jetzt 
'Marder' ;  das  vom  lat.  vwerra,  welchem  häufig  das  slav.  vever-ica  'Eich- 
hörnchen' als  Grundwort  unterstellt  wird  (doch  vgl.  Brugmann  VG.  U  2.  1 . 
pg.  128)  und  im  Lateinischen  'Frettchen'  (Mustela  furo)  bedeutet,  abgeleitete 
valsaonische  hera^  monferratische  vinvera^  gi'uy.  vyardzä^  Schweiz. -rom. 
verdjassa  u.s.w.  hat  noch  die  Bedeutung  'Eichhörnchen',  während  viiivara 
in  Cuneo  zur  Bezeichnung  des  Wiesels  (Mustela  vulgaris)  vorkommt,  also 
der  Bedeutung  des  lat.  Wortes  noch  ziemlich  nahe  ist  (vgl.  Nigra,  Note 
etimologiche  e  lessicali  I.  im  Archivio  glott.  XIV.  270  f.).  Das  dem  slav. 
v^veiTb  (slov.  vHer  'Eichhörnchenmännchen',  c.  vever)  entsprechende  lit. 
viawaras  (vaiveris)  ha.  jetzt  die  Bedeutung  'Iltisraännchen  (Mustela  puto- 
rius)'.  Ferner:  mit  frzt  helete  'Wiesel'  und  dessen  kymrischem  Grundwort 
hele  'Marder'  wird  d.  Buch  'Myoxus  glis',  ahd.  hilih  {B\a.y.pIbch^)  und  — 
kaum  mit  Recht  —  russ.  bMka  'Eichhörnchen'  (Kluge  ^  sub  Buch),  sowie  lat. 
felis,  das  außer  'Katze'  auch  'Marder'  und  'Wiesel'  bedeutet,  in  Verbindung 
gebracht  (Johansson  KZ.  XXX.  351).  Ich  sagte  soeben  hinsichtlich  des 
russ.  b^ka  »kaum  mit  Recht«;  vgl.  hierüber  die  Ausführungen  Uhlen- 
becks  in  Sievers  Beiträge  20,  und  beachte  außer  bUica  auch  bHb  und 
hUaja  vSoerica  (in  der  russ.  Chronik)  sowohl  in  der  eigentlichen  Bedeu- 
tung 'Eichhörnchen',  wie  auch  'metallisches  Silbergeld':  in  Nordeuropa 
ist  das  Eichhörnchen  jetzt  weißgrau;  die  weiße  Spielart  ist  schon  sehr 
selten,  wahrscheinlich  wegen  des  geschätzten  Felles.  Was  die  oben  er- 
wähnten Bedeutungswandlungen  weiter  betrifft,  hat  man  auch  zu  beachten, 
daß  der  dem  Eichhörnchen  nächstverwandte  Bilch  bei  dou  Römern 
geradezu  glis  hieß  und   slav.  plbch^    in    Bulgarien    überhaupt   'luitti'' 

a:J* 


516  K.  Strekelj, 

ist.  Dort  hat  diese  Bedeutung  auch  der  Name  ftlr  ein  anderes,  zoologisch 
zu  den  Hörnchen  (Sciuriua)  gerechnetes  Tier,  den  unterirdisch  lebenden 
Spermophilus,  angenommen,  so  daß  bulg.  A^Ät7,  6^sur  heute  neben  'Eich- 
hörnchen' auch  'Ratte'  bedeutet,  während  das  russ.  süsoh,  südikh,  das 
cech.  sysel^  syslik  noch  die  Bedeutung  'Spermophilus  citillus,  Ziesel,  Erd- 
ziesel' (von  s^sati^  s%skati.,  .sysafi,  susufi  'zischen']  beibehalten  hat  (d. 
Ziesel  ist  aus  dem  Slav.  entlehnt,  cf.  Schrader  in  den  IF.  XVII.  29). 
Nach  all  diesen  Bedeutungswandlungen  kann  uns  die  Anwendung  des 
Wortes  axiüVQogy  das  im  Slavischen  eben  zu  sdun,  Hur^  werden  mußte, 
für  das  Tier  Mus  rattus  nicht  überraschen,  und  so  hat  denn  auch  russ. 
jäs^ur^  'Mus  avellanarius'  als  ein  Tier,  das  weder  ein  eigentliches  Eich- 
hörnchen noch  eine  eigentliche  Ratte  ist,  eine  ganz  passende  Benennung 
erhalten,  wenn  man  es  als  das  dem  Eichhörnchen  ähnliche  bezeichnet  hat. 

karära. 
Das  kroat.  karara  f.  ist  'puteljak  u  selu,  sto  vodi  cijoj  kuci'  (Kusar, 
Rapski  dijalekat  im  Rad  118,  27).  —  Das  Wort  ist  ital.  carraja,  car- 
riera  (vgl.  Canello,  Archivio  glott.  III.  SOG),  rum.  carare  aus  lat.  *car~ 
raria  (via)  von  carrus  'Wagenweg,  fahrbarer  Weg,  Straße,  Bahn'  (Kör- 
ting, Lat.  rom.  Wtb.2  217,  Nr.  1967). 

kavtre. 
Nach  Pletersnik  bedeutet  kavtre  f.  pl.  inUnterkrain  und  im  Poljana- 
tal dasselbe,  was  vrnila,  demnach  'hölzerne  Hoftüre,  lesa,  ki  zapira 
vi'zel;  eine  von  selbst  zugehende  Feldtüre'.  —  Das  Wort  ist  wohl  nichts 
anderes  als  das  d.  Gatter  'Gitter'  und  'Zauntor':  «dim.  Gätterlein 
[Gddd^l)  und  das  Gaffer  {GädcJ^)  sind  darin  verschieden,  daß  jenes  ein 
mehr  kunstloses,  aus  groben  Holzstäbeu,  ja  selbst  Stangen  bestehendes 
Gatter,  welches  mitunter  als  Falltor,  Hoftor,  Zauntor  dienen  kann,  das 
Gatter  aber  wie  Gitter,  ein  Gatter  künstlicherer  und  feinerer  Art  bezeich- 
net« (Schmeller-Frommann  1.95  7);  kärutd.  gätter,  im  Mölltale  fem.  dim. 
gätterle  'ein  Zauntor  über  Fahrwege,  oft  so  eingerichtet,  daß  es  aufge- 
macht von  selbst  zufällt'  (Lexer  110).  Für  meine  Zusammenstellung 
spricht  auch  der  Umstand,  daß  im  Slovenischen  das  bair.  Saggattern 
[Säggddo'n)  'in  der  Sägemühle  das  Viereck  von  Balken,  in  welchem  der 
Sägeblock  auf-  und  niedergeht'  (Schmeller  1.  c.)  gleichfalls  mit  einem 
Ausdruck  bezeichnet  wird,  der  wie  im  Deutschen  auch  zur  Bezeichnung 
des  Zauntores  verwendet  wird.   Pletersnik  bietet  nämlich  aus  Pohlin  einen 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    517 

Ausdruck  verile  'hlodi,  v  katerih  se  zagi  pri  zaganju  jarem  gori  in  doli 
pomice'.  Ich  glaube,  daß  hier  —  verile  wäre  eine  unerhörte  Bildung  — 
ein  Druckfehler  Pohlins  statt  *vernile  vorliegt  und  daß  dieses  zu  vrnile 
(wie  es  im  Poljanatal  und  in  Dürrenkrain  gesprochen  wird)  gehört.  Das 
slov.  vrnila  f.  steht  für  vrlina  (über  dieses  siehe  Miklosich,  Et.  Wtb. 
384a:  verl-2)  'Zaunöffnung,  aus  Brettern  gemacht,  Gartentor';  das  sg. 
vmilo  n.  ist  erst  aus  dem  pl.  vruile  unrichtig  erschlossen,  weil  das  neutr. 
pl.  heute  gleichfalls  auf  e  ausgeht.  Diese  parallele  Bedeutung  bei  d.  Gat- 
ter und  slov.  vrnile  gibt  uns  einen  Fingerzeig,  daß  auch  in  kavtre 
'Zauntor,  Feldtür'  das  d.  Gatter  gesucht  werden  müsse.  Einige  Schwierig- 
keit liegt  in  den  Lauten,  doch  ist  sie  nicht  unüberwindlich.  Dem  Slo- 
venen  erscheint  der  Unterschied  zwischen  d.  g  und  k  viel  geringer  als 
dem  Deutschen,  daher  finden  wir  auch  sonst  k  für  deutsches  g :  krompir 
aus  Grundbirn^  kaiömer  aus  steird.  Galzier  'Galzenschneider,  Sau- 
schneider'; ja  selbst  in  einheimischen  Wörtern  gibt  es  Doubletten  wie  slov. 
kusder  neben  asl.  gusterh^  krmizljav  neben  gr^mezd'b  u.s.w.  Das  v  in 
kavtre  ist  erklärbar,  wenn  bedacht  wird,  daß  in  sloven. Dialekten  (z.B.  am 
Karst)  für  A.gatter  neben  gatre  auch  <7«r^re  gesprochen  wird;  schon  bei 
Dalmatin,  Exodus  27,  38  findet  man  garter^  gen.  gartra  für  'Gitter'  der 
Übersetzung  Luthers.  Aus  letzterem  ist  durch  Dissimilation  des  ersten  r 
in  /,  das  vor  dem  Konsonanten  hart  war  und  daher  zu  ii  [w  =  v)  ward, 
unsere  Form  kavtre  entstanden.  Warum  das  r  in  gartre  auftrat,  ist 
allerdings  schwieriger  zu  sagen;  ich  sehe  darin  eine  Vorwegnahme  des 
auslautenden  r-Lautes,  der,  um  das  Wort  nicht  unkenntlich  zu  machen, 
gleichwohl  auch  an  der  ihm  zukommenden  Stelle  abermals  gesprochen  ward. 

Das  cech.  katr  'miize',  katry  'mrözky,  vysivane  dirkovand  cipy  u 
zastery  zvl.  nebo  u  sätku'  leitet  Kott  von  d.  Gitter  ab ;  in  Wahrheit  ist 
es  das  d.  Gatter]  davon  katrovati  'miizkovati,  pisek  prohazovackou 
cistiti'. 

klojec. 

Das  slov.  klojec^  g.  klojca  bedeutet  'gedörrte  Obstspalte,  die  Klötze' ; 
daß  es  mit  dem  letzteren  d.  W^orte  zusammenhängt,  hat  bereits  Pletersnik 
erkannt,  der  auf /f/oca  'Klötze'  hinweist.  Woher  aber  dasy"?  Richtiger 
ist  für  klojec  vom  bair.-d.  klotzen  m.  'gedörrte  Birne,  gedörrtes  Obst'  aus- 
zugehen, mhd.  klozhire  'gedörrte  Birne'.  Das/  ist  im  Sloven.  » parasi- 
tisch (f,  wie  wir  es  namentlich  nach  der  Betonung  ",  '^  häufig  finden,  vgl. 

y 

meine  Bemerkungen  im  Caaopis  za  zgod.  in  nar.  L  32 — 3  1.  Es  lautete 
also  im  Slovenischen  zunächst  ^kloc^  darauf  kh]jc\    das  bewegliche  e 


518  K.  Strekelj, 

erhielt  es  erst  nach  Analogie  anderer  Substantiva,  die  es  als  den  Vertreter 
des  alten  t  haben.  Das  erwähnte  « parasitische  «y  muß  im  Sloven.  stets 
beachtet  werden,  weil  man  sonst  falsche  Schlüsse  über  die  Wirkung  der 
Lautgesetze  ziehen  könnte;  so  wäre  man  z.  B.  geneigt,  aus  drujcja  = 
drugiga,  wie  es  am  Fuße  des  Bacherngeb.,  um  St.  Georgen  a.  d.  Südbahn 
U.8.W.  in  Steiermark  gesprochen  wird,  zu  folgern,  auch  daselbst  gelte  das 
für  Oborkrain  und  Kärnten  bestehende  Gesetz  von  der  (zweiten)  Palatali- 
sation  des  k  in  d,  g  mj  vor  e,  was  durchaus  falsch  wäre:  das  steirisclie 
druj'ga  beruht  auf  drüga  (aus  drugega  haplologisch  verkürzt),  in  wel- 
chem/»parasitisch«  ist. 

klonek,  könk. 

Slov.  klondk^  -nka  m.  wird  erklärt  mit  'neka  priprava  v  ptirjo  lov' 
(um  Idria);  Gutsmann  hat  259  sub  Schlinge:  'klupa,  klank,  progla, 
mreza';  die  Rosentaler  sprechen  kwank,  wie  aus  Drabozniks  Weiberlitanei 
ersichtlich  ist.  Schon  diese  Form  des  Wortes  weist  uns  auf  d.  klmik^ 
gen.  klankes  m.  'Schlinge',  steird.  klank  'Schlinge,  Masche,  in  der  Jäger- 
sprache auch  Vogelnetz,  am  Ende  mit  einer  Masche  versehener  Sti'ick' 
(Unger-Khull  390b);  bair,  Klank,  Klänkal,  Klängdl  'die  Schleife,  in 
welche  ein  Band,  ein  Strick  u.  dgl.  geschlungen  wird,  Schlinge'  (Schmeller- 
Frommannl.  1335);  kärntd./i;/äwX-,^-/a«^ 'Schleife,  Schlinge'  (Lexer  154), 
Klang  'die  Schlinge,  welche  den  Vögeln  gelegt  wird,  sie  zu  fangen'  (Über- 
felder 153).  Das  Wort  ist  auch  ins  Cech.  eingedrungen,  wo  wir  kloheh, 
gen.  kloiiku  als  'kousky  testa,  z  nichz  se  housky  delaji'  finden,  außerdem 
aber  parallel  zu  d.  klenken  'flechten,  verflechten'  auch  klonkovaU,  klun- 
kovati  'housky  pldsti,  Semmeln  flechten',  woraus  man  für  klohek  auch 
auf  die  Bedeutung  'Geflecht,  Schlinge'  schließen  darf.  Das  Obersorb. 
besitzt  für  'Schlinge,  Dohne'  unter  mehi'eren  anderen  Wörtern  auch 
zyndel,  -e  f.  von  zynk,  'Klang,  Ton',  zynüec  'klingen';  dieses  zyndel  ist 
ofi"enbar  eine  falsche  Übersetzung  des  d.  klank  'Schlinge',  das  mit  klang 
'Ton'  verwechselt  ward.  Das  slov.  und  cech.  Wort  ist  von  klonja  'Vogel- 
falle' (von  der  Wz.  *klop-)  zu  scheiden. 

Desgleichen  ist  von  klonek  zu  ti'ennen  das  os.  klönk  'Wetzkitze, 
Kitze;  Schröpfkopf',  da  es  Pfuhl  pg.  1075,  1077  als  nicht  existierend 
streicht  und  an  dessen  Stelle  kÖ7ik  einsetzt,  womit  er  ns.  kön  'Köcher, 
Wetzkitze,  Schlotterfaß  der  Mäher'  (bei  Zwahi-  kon  und  konk)  und  cech. 
konev  vergleicht,  wie  dies  auch  bei  Mucke,  Laut-  u.  Formenlehre  268 
{^konov^k^)  geschieht.  Aber  kaum  mit  Recht;  ich  vermute  vielmehr  in  den 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    519 

sorbischen  Wörtern  diminuiertes  mhd.  komp^  kump^  kompe^  nd.  Komme^ 
Kumme  i.  'tiefes  schüsselartiges  Gefäß,  Napf  (bei  Frischbier,  PreuJß.Wtb. 
445),  bair.  Kumm  m.  'Trog',  Kumpf  'hölzernes  Gefäß,  das  der  Mäher 
anhängt,  den  Wetzstein  damit  zu  netzen  und  zu  verwahren  (Schmeller- 
Frommann  I.  1252),  Aus  *kömpk^  *k6mk  entstand  (wie  Hadank  abes 
Hadamk)  könk  und  daraus  kön.  An  Entlehnung  des  os.  könk  aus  dem 
bei  Schmeller-Frommann  I.  1256  aus  einer  einzigen  Quelle  erwähnten 
kon  »ein  Geschirr:  obba,  ein  kohn^  ketschen«  zu  denken,  kann  ich  mich 
bei  der  sonstigen  Dunkelheit  dieses  Wortes  nicht  entschließen.  Wie  sich 
kumpf  aus  cijmbus  zvftßog  vielfach  mit  kufe  aus  cüppa,  cüpa  ver- 
mischt (z.  B.  mhd.  kumpf  ^dle  einzelnen  Zwischenräume  eines  oberschläch- 
tigen  Mühlrades',  rum.  cüpä  'Schaufel  des  Mühlrades'  u.s.w.),  so  möchte 
ich  noch  die  zweite  Bedeutung  des  sorb.  Wortes  'Schröpfkopf'  (von 
kump-cymhus]  dem  kroat.-slov.  kupica^  magy.  köpöJy  'Schröpfkopf  (von 
cüpa^  cupola]  zur  Seite  stellen, 

c.  kohka. 
Ac.  kohka  'Gemach'  (kobka  teges  =  parva  domus),  'Verkaufsladen' 
(pekar  aby  zädny  nepekl  lec  sobe  kobku  zjednä);  nc.  kobka,  kuhka  'sin, 
pristresl  (Vorlaube)  ku  pr.  u  kostela  (=  babinec),  pred  domem,  pokojik 
(kleines  Gemach),  hornicky  domek  'Berghütte'  ist  aus  dem  Deutschen 
entlehnt,  wo  wir  mhd.  kohe  m.,  md.  kove  'Stall,  Schweinestall,  Käfig, 
Höhlung'  finden,  dessen  Weiterbildung  mit  -el  der  Bedeutung  nach  dem 
cech.  Wort  näher  kommt,  indem  kohel  'enges  schlechtes  Haus,  Kasten 
zu  einem  Kobelwagen  (Kutsche,  Kammerwagen)',  kobeler,  köbler  'Häus- 
ler' bedeutet;  steird.  kobel  'schlechte  Hütte,  bes.  Hütte  für  Haustiere 
(Hunde,  Geflügel  u.  dgl.),  =  Kobehvagen'.  Das  d.  Wort  liegt  auch  dem 
slov.  kobada  zugrunde  (cf.  Archiv  XIV.  527,  Zur  slav.  Lehnwörterkunde 
19),    Über  das  d.  Wort  vgl.  Kluge**  sub  Koben. 

kolajna. 
Das  slov.  und  serbokr.  kolajna,  kölxijna  'Halskette,  Denkmünze, 
Medaillon,  monile,  catella'  haben  als  romanisch  bereits  Miklosich  und 
Budmani  konstatiert,  nur  stimmt  mit  ital.  collana  der  Ausgang  nicht 
vollständig.  Hier  haben  wir  es  mit  keinem  » parasitischen  «y  zu  tun,  son- 
dern der  Ausgang  -aina  findet  sich  bereits  auf  roman.  Boden:  friaul.  «70- 
läinc  neben  goläne,  colänc  'catenella  che  si  porta  al  coUo  per  oruamonto' 
(Pirona).    Daß  das  friaul.  W^ort  aus  dem  Slavischen  wäre,  wie  Pirona 


520  K.  Strekelj, 

vermutet,  ist  unglaublich;  es  ist  wohl  das  ganze  eine  einheimische  roma- 
nische Bildung  aus  *collänea^  ^voraus  zunächst  rollaina  (=  friaul.  go- 
läine),  dann  collana  ward  (vgl.  «ait.  capitanio^  das  über  capitaino  zu 
capiiano  werden  mußte«,  Meyer-Lücke,  RG.  II.  §  449).  Im  Serbokroati- 
schen ist,  wie  das  Versmaß  zeigt,  kölaßna  viersilbig  zu  lesen,  was  zur 
romanischen  Bildung  noch  besser  paßt,  indem  wir  in  capitanio  (wie  in 
stranio)  es  mit  dem  Vokal  i,  nicht  mit  dem  Konsonanten  {  zu  tun  haben. 

korpeJj'n. 
Im  Slov.  wird  'das  Ilolzkohlenmagazin  in  der  Kohlenbrennerei'  kor- 
peljn  m.  genannt  (Dom  in  svet  19U5,  40).  Das  Wort  hat  offenbar  ein 
fremdes  Aussehen:  es  ist  das  d.  Koldharm  'Scheune,  worin  bei  Hütten- 
werken die  Kohlen  (das  Kol)  aufbewahrt  werden'  (Schmeller-Frommann 
I.  278),  'das  zweckmäßig  eingerichtete  Magazin  zur  Ansammlung  und 
Aufbewahrung  der  Kohle'  (Scheuchenstuel ,  Idiotikon  der  Berg-  und 
Hüttensprache  142).  Im  Slovenischen  trat  Metathese  von  /  und  r  ein; 
statt  härm  wird  nämlich  auch  im  Deutschen  schon  hurn  gesprochen 
(woraus  slov.  parna  neben  parma).  An  mhd.  körbelin^  kurhelin  ist  der 
Bedeutung  wegen  ('Reuse')  nicht  zu  denken. 

krimpet. 
Die  Kajkavci  nennen  'das  Tischgestell'  krUpet  [kreispet]  m. :  » tri- 
f'zpet  vulgo  krifzpet  trapezophorus «  bei  Belostenec  H.  547,  geschrieben 
mity^;  wie  trifzto  =  tristo^  H.  1 85  aber  krifpet.  Das  Wort  ist  das  altital. 
trespede^  trispede  'Dreifuß',  im  alten,  von  Mussafia  benutzten  Vocabular 
mit 'drispicz' tibersetzt;  dieser  Forscher  vergleicht  weiter:  y>trespi  'Schrä- 
gen', ven.  trespio  Avohl  statt  trespido^  bresc.  trespec  'Dreifuß',  ebenso  sen. 
trespide\  ital.  trespolo  'Schrägen,  dreieckiges  Tischgestell'  [d  zu  /  durch 
Einfluß  der  beliebten  Endung  -ö/o),  sie.  tre&pitu  id.,  comsk.  tresped 
'sorta  di  telajo  che  porta  il  colatojo  di  latte',  wohl  ebenfalls  in  der  Form 
eines  Dreifußes«  (Mussafia,  Beitrag,  Denkschr.  WAW.  XXII.  216).  Das 
slavische  krispet^  krispet  mit  seinem  k  zeigt  uns,  daß  es  aus  einer  dial. 
Form  wie  bresc.  trespec  entlehnt  ist,  in  welcher  der  anlautende  und  der 
auslautende  Konsonant  umstellt  wurden. 

kr7iata. 
'   Das  Istrocak.  kennt  für  'Wurst'  den  Ausdruck  krnäta^  krnätina 
(Nemanic  11.39,53).    Das  Wort  scheint  von  den  Rumänen  Istriens  ent- 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    521 

lehnt  zu  sein.  Das  Rum.  (Meld.)  kennt  drnat  'Wurst',  welches  Pn^cariu 
aus  *carnaceum  ableiten  will.  Das  Dakorum.  kennt  cirnät,  das  me- 
glenit.  cärndt;  nach  Puscariu  (Et.Wtb.  Nr.  374)  sind  dies  falsche  Singular- 
bildungen; hält  man  indes  das  ital.-sassaresische  cariiatu  'salsiccia  o 
altro  di  simile'  dazu,  von  dem  zwar  Guarnerio,  Gli  statuti  della  rep.  sas- 
sarese,  Archivio  glott.  XIII.  1 17  sagt:  »carnatu  .  .  .  e  carnigu  non  hanno 
fisionomia  indigena«,  so  ist  es  zumindest  nicht  unmöglich,  vom  lat.  Ad- 
jektiv f.  g.  *carnata  (span.  carnada  'Stück  Fleisch')  auszugehen,  wobei 
das  Substantiv  salsiccia  oder  lucanica  als  überflüssig  unterdrückt  wurde 
'die  'Fleischwurst'  im  Gegensatz  zur  'Blutwurst');  vom  ital.  Lehnwort 
>nirde  man  die  Form  krnäda  erwarten. 

lavor^  lovor,  lorhega^  vavrin. 

Das  slov.,  serbokr.  lavor^  lovor  'Lorbeer'  ist  aus  lat.  laurus^  it.  lauro 
unmittelbar  nicht  erklärbar,  da  man  daraus  '^lavr%^  lovn^  d.h.  im  Sloven. 
und  Serbokroat.,  nach  Analogie  von  vHn  ^  vHdr^  vj'etar,  ein  *lav9r^ 
^looar^  *lovar  erAvartete,  cf.  russ.  lam•^.  Der  Ausgang  -or  ist  dabei  unbe- 
greiflich. Man  muß  deswegen  für  das  slov.  und  serbokr.  Wort  von  einer 
anderen  Grundform  ausgehen.  Eine  solche  ist  das  ital.  dial.  lavor  (mai- 
länd.),  das  sich  in  den  dem  slavischen  Gebiet  nächsten  ital.  Dialekten  in 
der  Form  lävarno  (istroit.  bei  Ive  34,  triest.  bei  Kosovitz^  226 b)  findet, 
wofür  das  Venezianische  bereits  lavrano  besitzt.  Das  ^rodX.  Javor^  Ja- 
vorika  'laurus  nobilis'  (in  Nerezine  auf  Losin,  Let.  Mat.  slov.  1S82/83, 
290)  scheint  keine  volksetym.  Verwechslung  mit  Javor  'Ahorn'  zu  sein, 
sondern  hat  sich  vermutlich  regelrecht  aus  *l'avor  entwickelt;  hingegen 
beruht  os.  lawrjenc  für  'Lorber'  sicher  auf  der  Einmischung  von  Lau- 
renz in  das  Wort  *iawrin^  welches  wir  auch  für  das  Cechische  vavrin 
annehmen  müssen,  entlehnt  aus  lat.  laurlnus,  indem  für  i  das  u  eintrat 
(obaloväni,  Gebauer  I.  §  283). 

Die  Slovenen  nennen  den  Lorber  auch  lorbe/c  und  lorhcga :  'Fige, 
rozice  za  mlade  deklice,  starim  babam  pa  lorbege'  (oberhalb  Marburg); 
die  gewöhnlichste  Form  ist  allerdings  lorber  aus  d.  Lorbeer^  resp.  das 
daraus  entstandene  lojbcr\  im  Istrorak.  findet  sich  luinbcr  ^h^QQH  laurea' 
(Nemanic  1.29),  woxmijarbol  neben y«wÄo/- 'malus',  finnhan  für  iurban 
zu  vergleichen  ist.  Die  Formen  lörbega^  lorbek  sind  jedoch  nicht  auf  d. 
lorbeer  zurückzuführen,  was  nur  durch  Annahme  einer  Suftixvortauschung 
[^k^)  möglich  wäre,  die  ja  bisweilen  eingetreten  ist.  Ich  glaube  vielmehr  an 
Entlehnung  aus  dem  Italienischen,  wo  allerdings  das  anlautende  /,  das 


522  K.  Strekelj, 

al3  Artikel  aufgefaßt  ward,  vielfach  verloren  ging:  \t.orbacca,  tir. bresc. 
orbaffa,  berg.  rübuya  aus  lauri  bacca  'Lorbeere'.  Ein  e  für  a  zeigen 
aital.  orbega  'lorper',  veron.  orbeche^  friaul.  rubeghe  neben  rubäghe 
'bacca  d'alloro'),  bad.  (nach  MitteiTutzner)  robegula  (Mussafia,  Beitrag, 
Denkschriften  WAW.  XXII.  184,  Salvioni,  Postille  12). 

lit. 
Das  kajkavische  lit  f.,  g.  litt  'der  Saft  vom  Obst,  Most'  (Valjavec), 
litnica  'kos  ali  reseto,  skozi  katero  se  mok  preceja'  ist  meines  Erachtens 
entlehnt.  Man  könnte  zwar,  wie  aus  der  Basis  *'meja-  (Hirt,  Ablaut 
Nr.  369)  mih  entstand,  so  auch  von  lit  sagen,  es  sei  die  Reduktions-  und 
Schwundstufe  einer  Basis  *leja-  'gießen'  (Hirt  372);  namentlich  würde 
die  2-Deklination  des  Wortes  dafür  sprechen.  Indes  gibt  es  Wörter,  die 
erst  verhältnismäßig  spät  in  die  ^-Deklination  übergegangen  sind  (cf. 
stran),  so  daß  dieser  Grund  keineswegs  schwer  ins  Gewicht  fällt.  Die 
Zusammensetzungen  slov.  litkeb  =  likeb^  litu&  =  litovz,  likof  =  lükif 
geben  uns  jedoch  einen  deutlichen  Fingerzeig,  daß  wir  ein  Fremdwort 
vor  uns  haben :  mhd.  lU  'Obst-,  Gewürzweiu',  ahd.  lul^  got.  leijm  'Obst- 
wein', wovon  die,  obigen  slov.  Wörtern  zugrunde  liegenden  Kom- 
posita :  mhd.  litgehe^  bair.  Leitgeb  'Schenkwirt',  mhd.  lUJms,  bai]-.  Leit- 
haus 'Schenke',  mhd.  Utkouf,  bair.  LeiJikcmf  'Gelöbnistrunk  beim  Ab- 
schlüsse eines  Handels'  gebildet  sind.  Das  letzte  ist,  indem  /  als  Artikel 
aufgefaßt  ward,  auch  ins  Italienische  tibergegangen:  istr.  inküfo  'me- 
renda  data  ai  lavoranti  ad  opera  compita'  neben  linköfo  (Ive  64). 

majzar. 
Das  slov.  majzar^  -rja  m.  bedeutet  in  den  Windischen  Bücheln  das- 
selbe wie  azar  'Tasche'.  Das  letztere  ist  bekanntlich  bair  Aser^  schwäb. 
Aüser  'Sack  zum  Umhängen',  mhd.  eser  neben  neser  'Speisesack  zum 
Umhängen,  Tasche'.  Wie  im  Deutschen  neser  das  n  der  Ausgang  des 
Akkusativs  des  männl.  Artikels  (den)  ist,  indem  die  Silben  von  den  eser 
in  de-ne-ser  geteilt  wui'den,  so  faßte  man  das  d.  im  aser  als  i{m)-maser 
mit  Silbenschluß  in  der  Mitte  des  Spiranten  m  auf.  Das/ von  majzar 
hat  sich  unter  der  Betonung  "  regelrecht  entwickelt. 

mäseka. 
•  Das  slov.  mäseka  f.  'neka  sekira,  s  katero  slanino  (speh)  sekajo'  ist 
nur  volksetymologisch  an  sdkati  'hauen,  schneiden'  angelehnt  und  stammt 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    523 

aus  dem  d.  Mafihacke  f.  'große,  schwere  Hacke,  um  Baumstämme  zu 
klaftern ;  ihr  Stiel  hat  eine  bestimmte  Länge,  die  selbst  zugleich  als  Maß 
für  die  Größe  der  herzustellenden  Holzscheite  dient'  (Unger-Khull,  Steir. 
Sprachschatz  453). 

mosuna. 
Das  istrocak.  mosuna  f.  'stabulum  cum  tecto  in  medio  aperto'  (Ne- 
manic  IL  40)  ist  romanisch.  Am  besten  paßt  dazu  das  leccesische  ma- 
sunu  'covile,  Höhle,  Lager',  welches  von  Salvioni,  Post.  13  (siehe  Kör- 
ting ^  5898)  mit  frz.  maison  etc.  zu  lat.  jnZmsid^  mänsiönem  von  mauere) 
gestellt  wii'd:  'Der  Kaum,  in  dem  man  bleibt,  wohnt,  das  Haus,  die 
Bleibe' ;  mastmu  hat  darnach  als  der  Ort,  wo  man  bleibt,  ausruht,  über- 
nachtet, die  Bedeutung  'covile'  angenommen.  Das  sardische  masone  be- 
deutet 'die  Herde';  für  die  Möglichkeit  dieses  Bedeutungsüberganges 
lassen  sich  aus  dem  Slavischen  etliche  Ableitungen  von  der  Wurzel  sfa  an- 
führen :  slov.  stau  'Viehstandort,  Hürde,  Stall'  und  'Herde'  (bei  Megiser, 
Kastelec,  Zalokar,  bei  letzterem  ist  stan^=^  40  Schafe);  ]sh.staja  'Herde' 
und  'Stall',  gr.  staja  'Zug  Vögel'  (d.  i.  =  Herde)  und  'Stall'.  Daß  der 
Ort  des  Stehenbleibens,  des  Bleibens,  die  »Bleibe«  für  den  Stall  selbst 
angewendet  wird,  das  zeigen  slav.  Bildungen  wie:  ksl.  stoilo  'Stall',  klr. 
stijlo  'Stall',  staja  'Stall',  p.  stajnia  'Stall'.  Das  s  in  mosuna  ist  regel- 
rechter Vertreter  des  ital.  *■  aus  si\  n  vor  s  schwand  schon  sehr  früh 
(Meyer-Täibke,  Rom.  Gr.  I.  §  403  c).  Fraglich  bleibt  es  indes,  ob  die 
Cakavci  das  Wort  aus  dem  Italien,  und  nicht  vielmehr  aus  dem  Rumäni- 
schen entlehnt  haben;  die  Rumänen  waren  ja  ehemals  in  Istinen  ver- 
breiteter als  jetzt  und  auch  bei  ihnen  findet  man,  zwar  kein  *musu/Hi, 
aber  wohl  ein  mas  m.  'die  Schlafstelle',  das  im  Arum.  geradezu  'Schlaf- 
stelle der  Schafe'  bedeutet  {=  slov.  stan) ;  ?}ias  geht  auf  monstun  (von 
mauere)  zurück  (it.  7naso^  friaul.  prov.  kat.  mas^  afrz,  mes^  cf.  Pu.?cariu, 
EtWtb.  der  rum.  Spr.  I.  Nr.  1039). 

muSon. 
Das  'slov.  muSgn  m.  'die  Bremse'  ist  bei  Pletersnik  mit  C.  =  Caf 
bezeichnet;  dieser  hat  es  wohl  von  seinem  Resianer,  der  ihm  so  vieles 
über  seinen  Heimatdialokt  mitgeteilt  hat.  Baudouin  de  Courtenay  bietet 
in  seinen  Materialien  I.  281  aus  Resia  musün:  »po  mocili.h,  pro  vodäh 
so  te  voelyke  musüuove;  ni  so  oerui.,  duhiiw,  was  er  so  übersetzt :  )ian  den 
Quellen  (Morästen?)  sind  große  Fliegen;  sie  sind  schwarz,  laiig;i  außer- 
dem erklärt  er  das  Wort  nach  seinem  Gewährsmann  mit  ital.  moscoiie 


524  K.  Strekelj, 

(d.  i.  Schmeißfliege)  und  hat  es  wohl  deswegen  mit  'große  Fliege'  über- 
setzt. —  An  slav.  nm/ia  ist  nicht  zu  denken,  da  wir  dann  ^muhon  hätten. 
Das  Wort  ist  das  ven.  musson  'zanzara,  insetto  volatile  che  punge' 
(Boerio  41^5),  also  'Stechmücke'.  Trotz  der  teilweise  ungleichen  Bedeu- 
tung hat  man  an  der  Idendität  der  beiden  Wörter  festzuhalten:  'Bremse' 
und  'Stechmücke'  haben  ja  doch  viel  gemeinsames,  und  es  ist  außerdem 
fraglich,  ob  das  mit  dem  augmentativen  on.  gebildete  musaon  schon  von 
Haus  aus  die  kleine  Stechmücke  bezeichnet  habe.  Zu  beachten  ist  auch, 
daß  schon  das  rätorom.  nicht  augmentierte  mosQha,  mob^he  (eig.  'Fliege') 
gleichfalls  schon  'Bremse'  bedeutet  (wie  Gröber,  Archiv  f.  lat.  Lex.  IV.  1 24 
mitteilt);  das  veuez.  ss  ist  gleich  einem  i,  wie  wir  ja  für  lat.  mu^ca  in  der 
Tat  in  einigen  raetorom.  Dialekten  (doch  nicht  iru  Friaulischen)  neben 
mösty^a^  mosty^e  auch  mösa,  möse  finden  (cf.  Gärtner,  Raetor.  Gramm, 
p.  ISl ;  vgl.  Ascolis  Ausführungen  im  Archivio  glott.  XIIT.  '2SG  2^  Meyer- 
Lübke,  Rom.  Gr.  I.  §  469). 

oklor. 
Das  slov.  oMoi'  n.  'Art  Mantel,  der  um  den  Hals  geti'agen  wird' 
(Innerkrain),  oJcolor^  holor  'Art  Mantel'  (Oststeiermark)  vergleicht  Ple- 
tersnik  s.  v.  mit  Rücksicht  auf  holor  mit  lat.  coUare.  Das  Wort  ist  aus 
dem  d.  Bocklor^  Rockelor^  dieses  aus  frz.  roquflaure  'Art  Überzieher, 
Regenrock'  entlehnt ;  in  der  slov.  Schriftsprache  hat  es  mit  Beibehaltung 
des  anlautenden  r  schon  J.  Zupan  (Krajnska  Cbelica  HI.  4 1 :  Na  torbi 
roklor)  gebraucht.  Im  Munde  des  Volkes  erfuhr  es,  weil  mit  r  anlautend 
und  auslautend,  Dissimilation,  resp.  volksetymologische  Angleichung,  in- 
dem das  anlautende  r  vernachlässigt,  das  verbleibende  *okelor^  *üklor 
aber  an  okolo  'um-herum',  und  später  an  kolo  'Rad'  angeknüpft  ward, 
wohl  durch  Einspieluug  des  Begriffes  'Radmantel'. 

pinja. 
Das  slov.  pinja  'Rührfaß,  Butterfaß'  vergleicht  Pletersnik  mit  ital. 
pignetta.  Näher  liegt  friaul.^)r/we  'zangola  (Rührfaß,  Rührkübel),  speccie 
dl  secehia  molto  profonda  in  cui  si  dibatte  il  fior  di  latte  per  fare  il  burro' 
(Pirona  s.  v.,  der  auch  ein  span.  pina  anführt);  friaul.  pignbtt  ist  'batude' 
latte,  da  cui  si  e  tratto  il  burro'.  Im  Ladinischen  finden  wir  pegna  und 
pegna:  torne  la  pegna  'Rührkübel'  (Alton,  die  lad.  Idiome  285).  Das 
obwald.  penaglia^  engad.  panaglia^  lomb.  panagia  führt  Salvioni,  Rom. 
XXVni.  1 0 1  a.uf pa?i?ia,  pan?iäcula  'Butterfaß'  zurück,  womit  die  ersteren 
Wörter  pig?ia,  pegna  kaum   zusammenhängen   dürften;    beachte  sard. 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    525 

pinqu  'Schmalz,  Fett',  valtell.,  valbreg.  ■pe7ik  'Butter',  von  laX.  pinguis. 
Levstiks  Bemühungen  (Ljublj.  Zvon  I.  30  f.),  da3  slov.  Wort  miiVd. penas 
'Milch'  zu  verknüpfen,  halte  ich  für  mißglückt.  Aus  slov.  pinja  scheint 
das  steir.-d.  Pimi"  in  Milch pinne  'Milchkanne'  (Unger-Khull  462)  zu 
stammen.    Die  Milchkanne  (Milchkübel)  ist  dem  Rührkübel  sehr  ähnlich. 

prnat. 

Das  istrocak.  prnät  m.  'strues  mergitum'  habe  ich  (Zur  slav.  Lehn- 
wörterk.  49)  mit  istroital.  parnaio  zusammengestellt.  Das  Wort  kennen 
auch  die  Rumänen  Istriens ,  die  es  wohl  wie  -die  Cakavci  aus  dem  Ita- 
lienischen haben:  covone  (Garbe):  perxät  köp^«  (Gärtner  bei  Miklosich, 
Rumun.  Untersuchungen  I.  62,  Denkschr.  WAW.  XXII).  Das  ital.  Wort 
gehört  indes  kaum  zu  lat.  perna^  wie  Ive  1 6 1  vermutet :  wie  könnte  da 
die  Bedeutung  vermittelt  werden?  Es  ist  wohl  selbst  ein  Lehnwort;  vgl. 
ahd.  paron  'coacervare',  mhd.  harnen  'einen  Barn  machen'  und  nhd. 
ha7'n:  yihaerm  hoys  meta  foeni«,  das  Schmeller-Frommann  I.  278  ver- 
zeichnet. Die  'meta  foeni  =  Heuhaufen'  entspricht  genau  dem  istrorum. 
Synonym  kopq  für  pernät^  aus  slav.  köpa  'Heuhaufen'  und  auch  'Garben- 
haufen' (im  Küstenland). 

rabelj. 

Das  slov.  raheJj\  raheljn^  rahlin  'der  Scharfrichter'  ist  bis  jetzt  un- 
erklärt. Miklosich,  Fdw.  121  dachte  an  das  d.  rahen^  raffen  und  Itahen- 
stein\  aber  das  « ^dieser  Wörter  wäre  im  Slov.  kaum  a  geblieben,  sondern 
zu  0  geworden,  zumal  wir  es  mit  einer  älteren  Entlehnung  zu  tun  haben. 
Außerdem  hat  keines  dieser  d.  Wörter  eine  ganz  entsprechende  Bedeu- 
tung. —  Die  richtige  Stammform  scheint  mii*  in  einer  Glosse  zu  stecken, 
die  Schmeller-Frommann  II.  65  unter  liaiff' '■RqW  verzeichnet:  weipliari 
tortor«.  'Tortor'  ist  'Peiniger,  Folterknecht',  also  ein  Synonym  zu  'car- 
nifex,  Scharfrichter  und  Schinder' ;  reiphari  geht  zurück  auf  reif  'funus, 
funiculus,  lorum,  rudens',  anord.  reip^  ags.  rap,  engl,  rope  'Seil,  Tau', 
demnach  ist  reifäri  der  Mann  des  Seils ,  Strickes ,  des  Halsbandes ,  wo- 
mit er  einen  Verurteilten  aufknüpft;  ähnlich  haben  wir  im  ital.  manigol- 
do  'der  Henker'  aus  ahd.  manogold^  manogolt  'der  Halsbandwart'  islov. 
daraus  magoli).  Die  Bedeutung  würde  demnach  stimmen,  nicht  so  glatt 
läßt  sich  indes  die  Form  erklären.  Man  könnte  vermuten ,  daß  das  an- 
lautende und  auslautende  r  eine  Dissimilation  erfahren  mußte  (beachte 
die  übliche  Erklärung  des  slav.  Suffixes  -/e/6),  so  daß  das  auslautende  r 
zu  /  ward:  reifar  —  *rcifer^  ^räfer,  *rufel  worauf  rabclj  und  nach 


526  K.  Strekelj, 

anderen  deutschen  Lehnwörtern  auf  lin :  rahJJin ,  raheljn  ward.  Indes 
ist  auch  möglich,  daß  schon  das  Deutsche  ein  Deminutiv  *reifarUn 
kannte,  aus  welchem  das  zweite  r  durch  Dissimilation  schwand:  *reife- 
lin:  rähljin. 

ref^  reta. 

Das  ccch.  ret  -u  m. ,  reta  -y  f.,  slovak.  rata  bedeutet  'pomoc, 
piispcni  na  pomoc,  Rettung,  Hilfe':  Na  ret,  na  retu  volati  (Kom.),  pii- 
behnuti  (Rgs.);  reta!  reta!  'pokrik  v  turnaji'  Smil;  kricel  o  retu  fKott. III. 
59,  V.  573).  —  Es  ist  das  d.  Retf-io  Hilfe!  Rettung!  «Rettio  schreyen; 
0  retio,  o  mordio !  schrie  die  Schwester  des  Horatius  unter  dem  Schwerte 
desselben  (H.  Sachs)«  bei  Schmeller-Frommann  II.  175. 

saJJia. 
Das  slovak.  sajha  f.  'klamfa,  flandra,  eine  Schlampe'  (Kott.  III. 
251  aus  Bernolak)  ist  Lehnwort  aus  magy.  szajha  'die  Hure,  die  Buhl- 
dirne, die  Metze'.  Ob  aber  das  Wort  echt  magy,  ist,  zweifle  ich:  es  kann 
ins  Magy.  aus  dem  D.  entlehnt  sein:  steir.-d.  Seiche  f.  'vagina  mulierum' 
von  seichen  'harnen'.  Ausdrücke  für  feminal  werden  häufig  verwendet, 
um  damit  verächtlich  ein  Weib  zu  bezeichnen;  cf.  hair.  ftwimel  'feminal' 
und  'femina',  Zuscl  'weibl.  Genitalien'  und  'Schimpfbenennung  einer 
Weibsperson'  bei  Schmeller-Frommann  I.  719,  II.  1157,  wo  sich  noch 
mehr  dergleichen  Beispiele  finden  dürften,  da  das  Wörterbuch  dank  seiner 
für  die  Jahre  seiner  Erscheinung  unschätzbaren,  auch  auf  sonst  in  Wör- 
büchern,  namentlich  russischen,  minder  beachtete  Dinge  gerichteten  groß- 
artigen Vollständigkeit  ungemein  reich  daran  ist.  Vgl.  auch  slov.  cuca 
'feminal',  magy. cuca  'Geliebte,  alb.  tsutse  'junges  Mädchen'  (Miklosich, 
Et.Wtb.  30)  und  kroat.  puca  'kleines  Mädchen',  slovak.  puca  'cunnus', 
mm. pufa  'Glied  und  Scham  kleiner  Kinder'  (Puscariu,  Et.Wtb.  d.  rum. 
Spr.  I.  1416;  anders,  aber  kaum  richtig  Miklosich,  Et.Wtb.  266). 

supa. 
Das  slov,  supa  f.  bedeutet  im  Görzschen  'die  Brotschnitte  in  der 
Suppe;  Brotschnitten  aufgeweicht,  mit  Käse  überstreut  und  mit  Butter 
angemacht'  (am  Karst  auch  hrovatica  genannt).  —  Das  Wort  ist  nicht 
aus  d.  Suppe^  welches  zupa  'Suppe'  ergab,  sondern  aus  ital.  zuppa :  vgl. 
frz.  soupe  'Brotschnitte',  span.  sopa  'mit  Fleischbrühe  übergossene  Brot- 
rinde, Suppe  mit  Brot';  im  Triestiner  Dialekt  sopa:  se  non  xe  sopa 
(=  suppa,  zuppa)  xe  pan  smoiä  =  essere  una  zuppa  e  un  pane  molle 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    527 

(Ko3ovitz2  3.  V.);  friaul.  söpe  'zuppa,  suppa,  intriso  di  pane  nel  brodo 
0  nel  vino,  minestra  fatta  con  pane  messo  nel  brodo';  dem  ital.  zuppo 
'durchweicht,  durchtränkt'  entspricht  das  slov.  nasupiti  'das  Brot  durch- 
weichen'. 

Zu  slov.  safti  'kaum,  schwerlich'. 
Pletersnik  vermutet  richtig  Entlehnung  des  Wortes  aus  [dem  Deut- 
schen; auch  J.  Baudouin  de  Courtenay  druckt  es  in^den  Materialy  I  zum 
Zeichen,  daß  es  ein  deutsches  Lehnwort  ist,  in  Frakturschrift  ab;  erklärt 
ist  aber  die  Form  bis  jetzt  noch  nirgends.  Lautlich  darf  man  es  von  iaft  f. 
'letztwillige  Verfügung'  (Dalmatin)  aus  mhd.  geschaht  'das  Vermächtnis, 
Testament,  Mandat'  nicht  trennen.  Schwierigkeiten  bietet  der  Anlaut, 
der  Auslaut  und  die  Bedeutung.  Was  den  ersten  betrifft,  so  mußte  d. 
geschaft  'Geschäft'  im  Sloven.  wie  im  Cechischen  zunächst  ksaft  ergeben 
(cf.  acech.  Ho/i?  'Testament').  Das  Sloven.  meidet  aber  die  Lautgruppe 
Jcs  teils  durch  Eliminierung  des  k  teils  durch  Metathese  von  deren  Kom- 
ponenten (vgl.  span  'Genosse'  aus  d.  gespmi  'Milchbruder'  [wovon  span 
'Haushälter'  zu  trennen  ist,  da  dieses  aus  magy.  iapän  'Kastner,  Schaff- 
ner' entlehnt  ist,  das  einerseits  auf  slav.  zupam  zurückgeht,  Miklosich, 
Magyarisch,  Nr.  955],  ferners  pusa  :  puska  aus  puksa^  Ales  aus  Aleks, 
^ker  aus  kser^  Mir  'Geschirr',  puspan  aus  pukipam  'Buxbaum',  cf.  Zur 
slav.Lehnwürterk.  61).  Auf  diese  Weise  schwand  das  k  auch  in  unserem 
Worte,  das  meist  wohl  mit  einer  Präposition  verbunden  gebraucht  ward, 
etwa  *is  Mafti.,  wodurch  ks  in  den  Inlaut  zu  stehen  kam.  Im  auslautenden 
i  sehe  ich  ein  Casussuffix  der  z-Deklination,  und  zwar  das  des  gen.  sg., 
indem  ich  vermute,  daß  man  nach  Analogie  von  iz  fezka  (s  tezka)  'schwer, 
mit  Mühe'  (os.  zcezka  'kaum,  schwerlich')  zunächst  *iz  Mafti  bildete, 
woraus  nach  Abschleifung  des  i  und  Eliminierung  des  k  zunächst 
*siafti^  daraus  *Mafti  und  zuletzt  safti  ward,  das  in  einigen  Gegenden 
zu  Sahti  (Karst,  Resia),  in  anderen  durch  Schwund  des  auslautenden  / 
zunächst  *iaft  und  daraus  mit  Einführung  des  beweglichen  Vokals  in 
die  auslautende  Doppelkonsonanz  zu  safat  ward  (im  Dialekt  der  Sloveneu 
von  S.  Pietro  im  Venezianischen:  Perbako,  tua-le  san  zej  jist  mislu,  pa 
bo  safat  kjek  [etwas],  Slovenija  1 8 19  pg.  1 00).  Was  endlich  die  Bedeutung 
betrifft,  haben  wir  uns  vor  Augen  zu  halten,  daß  'kaum  =  schwerlich'  in 
vielen  Sprachen  durch  Ausdrücke,  die  'Arbeit,  Mühe,  Beschwerde,  Plage' 
bedeuten,  ausgedrückt  wird  [ci.^x.^iöyig  zu  i^töyog  'Mühe,  Arbeit',  i.i()?.ig 
zu  [.udXog  'Anstrengung,  Mühe,  Kampf,  lat.  vi.r  wohl  zu  vis,  ai.  t'ici\i/i 
veiati  'ist  tätig,  wirkt,  richtet  aus',  Wi.  vcka^  slov.  ri^ki,  'Kraft',  it.  appcfia, 


528  K.  Strekelj, 

frz.  ä  peine  v.  poena,  woraus  d.  Pein  'Plage,  Qual',  kroat.  tezke  muhe 
'kaum',  mii6no  je  vjerovati  'ea  ist  kaum  glaublich',  r.  si.  trudorm^  7iasilu)y 
und  daß  ferner  der  Begriff  'Verrichtung,  Arbeit'  vielfach  mit  'Mühe,  Plage, 
Qual,  Zwang'  abwechselt.  Demnach  ist  auch  das  mhd.  geachaft^  ge- 
schefte^  das  neben  anderen  Bedeutungen  auch  die  von  'negotium,  Ver- 
richtung, Beschäftigung,  Arbeit,  Aufgabe'  besitzt,  leicht  für  die  mit  der 
Arbeit  verbundene  Mühe  und  Qual,  für  die  Mußarbeit  verwendet  worden. 
Das  Wort  ist  in  ersterer  Bedeutung  noch  im  Resianischen  erhalten ,  wo 
es  heißt:  nicon  moet  sahtH  z  niköhör  'ich  will  mit  niemandem  zu  tun  fein 
Geschäft,  eine  Arbeit,  Plage)  haben',  mäsa  mu  sahtb  za  pysat  'ein  recht 
schweres  Geschäft  (eine  recht  große  Mühe:  mu  gleich  moc,  slov.  mo6^ 
am  Karst  muc^  vor  s  schwand  c:  masa  moc  saftij  zu  schreiben'  (Baudouin 
de  C,  Materialy  I.  98,  555).  Der  Genitiv  ist  als  der  zumeist  gebrauchte 
Casus,  wie  beim  Adverb  Sahti,  auch  zu  einem  indeklinablen  Wort  ge- 
geworden: kaj  za  no  sahti  ni  majo  'was  für  ein  Geschäft  (Arbeit,  Be- 
schäftigung) haben  sie'?  (ibid.  281);  am  moel  no  sahti  za  rumunet  z  ni 
muzom  'er  hatte  (ein  Geschäft,  eine  Arbeit,  einen  Auftrag)  zu  sprechen 
mit  einem  Mann'.  Man  beachte  auch  d.  schaffen  'arbeiten,  sich  beschäf- 
tigen, sich  plagen'. 

ikaram. 
Für  das  serbokr.  ^karam^  gen.  Skarma^  'Ruderholz,  Ruderpflock, 
Dolle,  Hengst  (an  Kähnen)',  bei  Mikalja  ^karam  od  broda  'schelmo,  pala- 
schermo,  scalmus',  gibt  Miklosich  im  Et.Wtb.  340b  'Schirm'  als  Bedeu- 
tung an;  diese  finde  ich  indes  nirgends  angeführt,  und  sie  dürfte  nur  auf 
einem  Versehen  Miklosichs  beruhen,  indem  er  darauf  aus  ital.  schermo 
schloß.  Unser  Wort  ist  aber  ital.  scarmo  'Ruderring,  Rudernagel'  neben 
scalmo  aus  lat.  scalmus  (frz.  echamne^  span.  escalmo)^  wie  dies  bei 
Miklosich  Frdw.  125  richtig  hervorgehoben  ist,  nur  daß  er  da  das  Wort 
unrichtig  skaram  schreibt.  Durch  Einfluß  des  nur  im  Wurzelvokal  ver- 
schiedenen ital.  schermo  'Schutz,  Schild'  (aus  ahd.  skirm]  ist  der  alte 
Wurzelvokal  a  im  ital.  Worte  zu  e  geworden,  zunächst  in  der  Form  mit 
r:  schermo j  dann  aber  auch  in  der  mit  l:  schelmo. 

spata^  spatny. 
Das  c.  spata  bedeutet  'Häßlichkeit,  Abscheulicheit,  ünförmlichkeit, 
auch  schlechter  Mensch',  spatiti  'häßlich  oder  schlecht  machen,  kpaio- 
vati  'schimpfen,   tadeln',    spatrnj  (das  bei   Miklosich,  Et.Wtb.  342  er- 
wähnte spatny  ist  Druckfehler)  'gering,  schlecht,  elend,  erbärmlich,  böse, 


^i 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    529 

niederträchtig;  häßlich  (bei  den  Slovaken)'.  Im  Osorb.  haben  wir  spatny 
'schlecht,  gering,  geringfügig',  spatnic  'schlecht,  geringfügig  machen', 
spatnik  'geringfügiger  Mensch,  Feigling'.  Das  Polnische  kennt  szpatny 
'häßlich,  garstig,  widerlich',  szpacic  'entstellen,  verunstalten,  besudeln, 
beschmutzen,  häßlich  machen,  beflecken,  zur  Schande  gereichen,  Schande 
machen'.  Aus  dem  Polnischen  ist  entlehnt  lit.  azpotnas,  szpotnus  'gar- 
stig, unreinlich'  (Brückner,  Fdw.  143).  Neben  ipat-  existieren  auch 
i/?e^-Formen :  cech.  (in  Mähren — Schlesien)  spetiti  'schlecht  machen, 
verschlechtern',  spetn^ ^  spetny  'garstig';  poln.  szpcfny^  szpefnie^ 
szpetno^  szpecic  mit  der  gleichen  Bedeutung  wie  die  entsprechenden 
szpat-Fo\vQ.Qn ;  szpeciqg  'straszydio'.  Diese  poln.  Formen  mit  ihrem  e 
weisen  auf  fremden  Ursprung  des  Wortes  hin,  da  es  keine  Vokalabstufung 
^-a  gibt.  Aus  dem  Polnischen  haben  sich  derartige  Formen  zu  den 
Weißrussen  [spetnyj\  specic  'lästern'),  zu  den  Großrussen  (wenn  man 
auf  das  bei  Dalb  mit  Fragezeichen  versehene  otspetith  'obrugatb'  bauen 
darf)  und  zu  den  Letten  [spetns^  neipetns  (siehe  Miklosich  o.  c.)  ver- 
breitet. Ich  glaube,  daß  die  Formen  mit  spet-  aus  den  spat-FovmQn 
hervorgegangen  sind,  indem  sporadisch  a  zu  e  wird:  cech.  meskara  aus 
maskara^  teky  aus  taky^  hehno  aus  hahno  (Gebauer,  Hist.  ml.  I. 
§  106.  3),  polp  heia  aus  Ballen^  belka  aus  Balken^  reja  aus  Bähe  .  .  . 
Einwirkung  oder  Ableitung  von  d.  spöttisch^  woran  Korbut  (Prace  filolo- 
giczne  IV.  449)  denkt,  oder  von  d.  Gespött^  spöttlich  (fpedle)  'schlecht, 
treulos'  (Schmeller- Frommann  IL  691)  braucht  nicht  angenommen  zu 
werden,  da  wir  davon  noch  viel  schwieriger  zu  den  .v/>«Y-Formen 
kämen,  abgesehen  davon,  daß  dann  einige  konkretere  Bedeutungen  nicht 
leicht  erklärt  werden  können.  Ich  bringe  die  slav.  Wörter  mit  d.  Spaf^ 
Spatz  in  Verbindung,  das  früher  masc.  und  fem.  war,  jetzt  masc.  und 
neutral  ist,  und  das  einst  kurzen  Vokal  hatte,  der  erst  seit  Adelung  lang 
erscheint;  das  Wort  bedeutet  eine  Krankheit  der  Pferde  'die  Kniesucht', 
wird  aber  auch  von  ähnlichen  Krankheiten  anderer  Tiere  gebraucht 
(Ochsen,  Schweine  u.s.w.).  In  Baiern  hat  nun  das  Wort  auch  die  Be- 
deutung 'ungesundes  Aussehen',  'spätzig  (fpazi)'  ist  in  Nürnberg 
'kränklich'  (Schmeller-Frommann  IL  689,  692).  Kränklichkeit  ruft 
schlechtes,  häßliches  Aussehen  hervor,  daher  denn  spata  'Häßlichkeit, 
szpatny  'häßlich,  garstig,  unreinlich',  azpadc  'häßlich  machen,  besudeln'. 
Aus  den  konkreten  entwickelten  sich  sehr  leicht  die  abstrakten  Bezeich- 
nungen für  moralische  Defekte:  'schlecht,  elend,  gering,  böse,  schänden,, 
lästern'. 

Archiv  für  slavische  Pbilologio.    XXVIII.  34 


530  K.  Strekelj, 

Urop^  Hropa^  sztrofa. 
Serbokr.  Strop  m.,  Atropa  f.  'das  Seil,  mit  welchem  das  Ruder  an 
den  Nagel  gebunden  wird'  (»vezano  je  veslo  s  konopcicem  koga  zove 
Strop  [a]  pri  jednoj  palici,  koja  je  ntvrdjena  u  ladjinu  stranu,  nju  zove 
skaram«,  Zore,  Ribanje  im  Arkiv  10^  326),  poln.  sztrofa  'lina,  ktöra  sta- 
tek  u  pachoJköw  od  budy  bywa  uwiazany'.  Matzenauer,  Cizi  slova  412 
leitet  das  poln.  Wort  (nur  dieses  ist  ihm  bekannt)  vom  holl.  strop^  schwed. 
stropp^  engl,  strop^  ags.  strojyp  ab,  die  er  richtig  mit  griech.  ovQÖcpog 
verknüpft.  Doch  schon  das  /'  des  poln.  Wortes  zeigt,  daß  nicht  die  an- 
geführten germanischen  Sprachen  dem  Polnischen  das  Wort  geliehen 
haben  können.  Das  Wort  ist  vielmehr  zu  den  Slaven  aus  dem  Romani- 
schen gekommen.  »Ital.  stropa  'wid  gert';  lat.  stroppus^  struppus  bei 
Gellius  'Bandriemen';  zunächst  ein  aus  Zweigen  geflochtenes  Band  (bei 
Festus :  Struppi  vocantur  fasciculi  de  verbenis  factis  qui  pro  deorum  ca- 
pitibus  ponuntur),  dann  jenes  (gewöhnlich  aus  Wieden  verfertigtes)  Band, 
mit  welchem  das  Ruder  an  den  Pflock  gebunden  wird  (Isidorus:  'strup- 
pos  esse  dicit  vincula  quibus  remi  ad  scalmos  alligantur'  mit  einem  Bei- 
spiele aus  Livius  Andronicus;  bei  Vitruvius :  remi  circa  scalmos  stropliis 
religati),  auch  stropha  und  siroppus^  dasselbe  Wort.  Die  allgemeine 
Bedeutung  findet  sich  noch  im  Ital.,  zunächst  in  den  Mundarten:  ven. 
stropo  'campanella  fatta  di  vimini  con  cui  si  stabilisce  il  remo  allo 
scalmo';  vgl.  frz.  estrope^  etrope  'SeU,  Tau,  cordage  qui  sert  ä  r^tenir 
les  avirons  sur  le  bolets,  anneau  de  cordage',  port.  estropo  'circolo  de 
cordas  que  seguram  o  ramo  ao  tolete,  onde  Joga  quando  se  rema',  span. 
estrovo.  Vgl.  auch  Diefenbach,  wo  struppus  n.  s.  zunächst  durch  'Ruder- 
seil' glossiert  wird.«  (Mussafia,  Beitrag  in  den  Denkschriften  WAW. 
XXII.  212).  Miklosich,  Et.Wtb.  326b,  hat,  wie  ich  nachträglich  ersehe, 
ein,  wie  es  scheint,  unrichtig  verzeichnetes  strop  (anstatt  strop]  'uzica', 
das  er  richtig  auf  ital.  stroppo  zuiUckführt. 

suhlja^  Supa. 
Das  slov.  suhlja  f.,  ns.  supa  'die  Schaufel'  leitet  Miklosich,  Et.Wtb. 
344  aus  ahd.  scüvala  in  derselben  Bedeutung  ab.  Dieser  Zusammen- 
stellung widerspricht  teils  i,  teils  (im  sorb.  Wort)  auch  p.  Zunächst  kann 
das  slov.  Wort  höchstens  aus  mhd.  schuf el^  schüvel^  schuf ele  f.  'Schau- 
fel' stammen,  wenn  es  nicht  gar  aus  einem  dial.  nhd.  schuffei  'hölzerne 
Schaufel',  das  Schmeller-Frommann  II.  386  anführt,  entlehnt  ist,  indem 
für  das  Sloven.  das  ndd.  schuf  el  nicht  in  Betracht  kommen  kann.  Davon 


i! 


Vermischte  Beiträge  zum  sla\ischeii  etymologischen  Wörterbuch.    53 1 

ist  ns.  hipa  ganz  zu  trennen.  Wollte  man  es  gleichfalls  davon  ableiten, 
so  wäre  der  Verlust  der  Schlußsilbe  -e/,  -ele  auffallend.  Die  bisweilen 
erlaubte  Annahme  einer  Rekonstruktion  eines  neuen  Grundwortes  aus 
einem  vermeintlichen  Deminutiv  braucht  hier  nicht  platzzugi-eifen,  weil 
ims  ein  fränk.  ostnd.  ndd.  schuppe  'Schaufel',  ndl.  schup^  schop  'Schuppe, 
Spaten',  prd.  Schuppe  und  Schöpe^  Schoj)  f.  'kleine  Schaufel'  (Frisch- 
bier 11.  311)  viel  näher  liegt  und  den  Sachverhalt  genugsam  erklärt. 
Ks.  supka  'Schüppmesser  zum  Zeideln  der  Bienen',  sowie  os.  und  ns. 
siipica  'Pflugreute,  rallum'  ist  natürlich  nur  ein  Deminutiv  dieses  supa^ 
von  welchem  os.  supa  aus  dem  d.  Schuppe  'Schale,  dünnes  Blättchen' 
v>  ohl  zu  trennen  ist. 

taler^  talir^  taljur. 

Der  Ursprung  der  slavischen  Bezeichnungen  für  'Teller'  wird  von 
IMiklosich  (Fdw.  131,  Et.  Wtb.  346)  nicht  klar  genug  angedeutet:  es 
werden  d.  teller^  it.  tagUere^  frz.  tailloire^  ngr.  raMqi  angeführt,  ohne 
zu  zeigen,  wie  sich  die  einzelnen  slav.  Ausdrücke  dazu  verhalten.  Daß 
silmtliche  auf  romanischen  Grundformen  beruhen,  ist  ja  richtig,  doch 
Dicht  alle  Grundformen  sind  zu  allen  Slaven  und  auf  demselben  Wege 
gekommen.  Im  Romanischen  hat  man  zwei  Ausgangsformen  für  den  Be- 
giüT 'Teller'  angenommen:  a)  *taliür{um  'Gerät  auf  dem  gehackt  oder 
geschnitten  [taliare)  wird,  Hackbrett',  woraus  ital.  tagUere  'Hackbrett, 
Anrichteteller',  und  b)  *taUüto7',  -orem  'der  Schneider,  Schlächter',  wo- 
raus provenz.  talhadors^  afrz.  tailleour,  nfrz.  tail/oh'^  altit.  tagh'adore, 
gcnues.  taggou^  altlorab.  taglaor  (Salvioni,  Archivio  H.  436)  stammt, 
letzteres  ursprünglich  ein  nomen  actoris,  dann  in  die  Bedeutung  des 
Werkzeugs  verschoben  (Meyer-Lübke,  RG.  H.  530  f.). 
,  Die  auf  altit.  tagliadore  (vgl.  inter  li  tagiaori  e  inter  le  scuele  = 
Isui  taglieri  e  nelle  scudele,  Parodi,  Archivio  XV.  79)  beruhenden  Formen 
sind  durchsichtiger,  als  die  auf  tagUere  zurückgehenden.  Zu  den  ersteren 
[gehören:  kroat.  taljur^  bulg.  falur^  alb.  tal'ur^  ngr.  raXiayougi.  Das 
Igeschlossene  roman.  0  geht  in  den  Balkansprachen  in  zi  über;  d  ist  in 
higliadore  schon  auf  ital.  Boden  geschwunden.  Durch  Dissimilation  mit 
!'•  ward  /'zu  n  und  so  erhielt  man  Formen  wie  scrb.  tanjur^  tanur  (vgl. 
'bulg.  talur). 

Die  auf  tagUere-* taliarium  zurückgehenden  Formen  sind  deswegen 
^chwe^er  zu  beurteilen,  weil  das  Wort  auch  im  Deutschon  vorkommt, 
A'olier  es  leicht  zu  den  Slaven  verbreitet  werden  konnte.    Kluge  fiilirt  das 

34* 


532  K.  Strekelj, 

d.  Teller  in  der  6.  Aufl.  S.  392  auf  ndl.  teljoor  (fiz.  tailloir)  zurück, 
während  er  früher  die  Ableitung  von  it.  tarjUcre  annahm,  was  mit  Rück- 
sicht auf  das  bair.  Tälli>\  kärntd.  tdllar,  tir.  tuller  wohl  richtiger  ist, 
indem  das  a  dieser  Form  auf  ä  beruht,  das  aus  a  vor  folgendem  «-Laut 
umgelautet  ist;  aus  teljoor  kann  man  sich  dieses  ä-a  kaum  erklären. 
Die  bair.-öst.  Formen  zwingen  uns  demnach,  auch  für  das  Deutsche  ein 
*talier  zu  supponieren,  das  uns  aber  dann  die  Wanderung  der  slav.  For- 
men zu  erklären  nur  noch  erschwert,  indem  wir  zwei  gleiche  Ausgaiigs- 
formen  vor  uns  haben.  Der  Akzent,  resp.  die  Quantität  der  slav.  Formen 
spricht  indes  eher  für  die  ital.  Grundform,  als  für  das  d.  *talier^  das 
höchstens  für  cech.  talir^  taler,  poln.  talerz,  talerzyk,  woraus  weiter 
klr.  tal'ir,  taril\  wr*  talerka,  r.  talerka,  lit.  torelius,  tarelius,  also  für 
den  Norden  in  Anspruch  genommen  werden  kann.  Das  slov.  taler  (in, 
Kärnten  talir  [Kres  II.  629],  bei  Gutsmann  talier  [dessen  delier  ist  nur 
eine  «gelehrte  Volksetymologie»,  infolge  von  Anknüpfung  an  cleliti  'tei- 
len'], talierski  319),  serbokr.  tälijer^  gen.  talijera  (Ragusa),  taljeric^ 
bulg.  talerka  'plate',  ngr.  ralegi.  weist  hingegen  entschieden  auf  ital. 
Provenienz.  Rum.  taler  ist  nicht  einheimisch,  sondern  irgend  einer  Nach- 
barsprache entlehnt,  was  schon  das  l  beweist.  Zu  ital.  falliere  gehören 
auch  die  /-dissimilierenden  Formen  serbokroat.  tanjir  und  magy.  tänyery 
das  die  Kleinrussen  Ungarns  als  tanir  übernahmen. 

Vom  slov.  taler  ist  endlich  zu  scheiden  slov.  iäler,   das  auf  dem 
oben  angeführten  bair.-öst.  Täll»  beruht. 

tir. 
Vuk,  Rjecnik  740  schreibt:  »^?rm.  'mah.  Stoß'  (uDubr.):  odprvoga 
tira  dobroga  sina  —  tako  cestitaju  mladencima  poslije  vieneanja  bez 
ikakoga  ustrucivanja  —  i  sam   svestenik  u  crkvi«;    cak.  pusken  tir  , 
'sclopeti  jactus,   Schuß,  Wurf:    in    ersterer  Bedeutung  ist  das  Wort! 
obscön.  —  Miklosich,  VG.  II.  10  will  das  Wort  auf  die  Wurzel  *ter  [tr). 
zurückführen.    Es  ist  aus  ital.  tiro  'colpo.  Stoß'. 

tovornik. 
Das  slov.  tovor?iik  'der  Weinhändler',  tovornica  'die  Weinhändlerin* 
ist  wegen  seiner  Bedeutung  etymologisch  von  tovornik  'Saumtiertreiber,  \t 
Säumer,  Warenführer'  zu  scheiden,  da  es  nicht  wie  dieses  auf  tovarb^  m 
tovor  'Ware  u.s.w.'  beruht,  sondern  daran  nur  volksetymologisch  ange-  |ii 
lehnt  ist.    Es  sollte  "^tovernikj  *tovermca  (aus  ^toverti  -wiikh,  -wiica) 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    533 

lauten,  zurückgehend  auf  ital.  rtr.  taverna^  nicht,  wie  Miklosich  meint 
(Et.Wtb.  360),  auf  d.  tafern^  woraus  das  Slovenische  die  Formen  mit  b 
entlehnt  hat:  toberna^taberna  'krcma',  ^oJerwa^« 'krcmariti':  Moj  fantic 
pa  po  rajzi  hodi,  *Sladko  vince  domu  vozi;  *Jaz  pa  doma  tobrnam,  *Pa 
druge  fante  rada  imam  (Slov.  nar.  pesmi  II.  21 16).' 

trabun. 
Das  serbokr.  trabun  f.  bedeutet  'Faselei,  Träumerei,  alucinatio' : 
u  trabuni  govoriti;  trabüniti  'faseln,  alucinor'  (Vuk),  bei  Filipovic  'ver- 
wirrt reden,  phantasieren,  fiebern,  faseln,  kauderwälsches  Zeug  reden'. 
Das  Wort  beruht  auf  lat.  turbare  'verwirren,  irre  machen',  dessen  Um- 
stellung in  trubare  weitverbreitet  ist.  Welche  nahe  Sprache  die  unmittel- 
bar darleihende  ist,  ist  schwer  zu  sagen,  da  keine  eine  ganz  entsprechende 
Wortform  zeigt,  etwa  ein  Substantiv  auf  -ow,  wie  es  gal.  torbon^  span. 
turbön^  ast.  torbon  'Platzregen'  ist  (Schuchardt,  Rom.  Etym.  11.  183). 
Ein  solches  muß  aber  auch  für  das  Rumän.,  resp.  das  Albanes.  angenom- 
men werden,  da  man  nur  an  diese  als  darleihende  Sprachen  denken  kann: 
alb.  torbon  'mache  wütend',  terbonem  'bin  wütend',  terbim  m.  'Himds- 
wut';  tiirbui,  trubui  'trübe,  Trübsinn',  rum.  turbä  'wütend  machen', 
mac.-rum.  trub7i  'bin  wütend',  turbtire  'trüb'  (aus*turbulus).  Das  serbokr. 
trabun  ist  zunächst  das  Phantasieren  des  Kranken,  z.  B.  infolge  von 
Sinn  es  Verwirrung  durch  eine  Vergiftung ;  vgl.  die  rum.  Pflanzennamen: 
turbure  'chaerophyllum  teraulum,  berauschender  Kälberkropf  und  ttü'- 
harie  'Datura  stramonium,  Stechapfel'  (Schuchardt  o.  c.  1S4). 

traca. 
Das  slov.  traca  bedeutet  'irdene  Bratpfanne'.  Indem  hier  das 
Hauptmerkmal  auf  irdene  ruht,  hängt  das  Wort  offenbar  mit  lat.  *ter- 
raceus  'zur  Erde  gehörig,  irden'  zusammen,  wiewohl  die  in  Beti-acht 
kommenden  romanischen  Sprachen  und  Dialekte  kein  tcrrazza  in  der 
Bedeutung  'irdene  Schüssel  oder  dergl.'  besitzen,  sondern  nur  die  Be- 
deutung 'Erderhöhung,  Altane,  Balkon,  zunächst  ein  solcher  mit  einem 
Estrich  mit  eingelegten  Scherben  {tcrrazzoy  aufweisen.  Einem  solchen 
flupponierton  tcrrazza  * -Schüssel'  aus  *ierrarca  kann  mau  das  frz.  fcr- 
rine  'Art  irdenes  Geschirr'  aus  *terrina  an  die  Seite  stellen.  Der 
iSchwund  des  c  ist  im  slovenischen  Worte  wohl  auf  eine  Analogiewirkung 
zurückzuführen  (vgl.  tracelj  'Tresse,  Borte'  aus  Tresse^  das  wohl  zu- 
nächst *  traca  ergeben  hatte),  wenn  nicht  bereits  in  der  darleihenden 


534  K.  Strekelj, 

Sprache  das  aus  dem  masc.  terazzo  hervorgegangene  trass  (d.  Ti'afi  aus 
ndl.  tras^  tiras,  tieras^  engl-  tarracce^  tarras  . . .)  'aus  zersetzten  vulka- 
nischen Gesteinen  entstandene  Masse,  in  frischem  Zustande  ziemlich 
weich  und  wie  Torf  mit  dem  Spaten  gestochen  u.s.w.'  (Sanders  III.  1 384c} 
den  Schwund  des  e  befördert  hat. 

tracjlje^  traJj'e. 

Slov.  traglje^  trage  f.  pL,  serbokr.  tralje  f.  pl.,  iralja  f.  neben 
tranja^  poln.  tragi^  slovak.  tragl'e^  alles  in  der  Bedeutung  'Tragbahre, 
feretrum'  ist  in  lautlicher  Beziehung  noch  nicht  befriedigend  erklärt. 
Matzenauer,  C.  s.  350,  vergl.  tralje  mit  mlat.  trela^  trillia,  trila^  trilla 
'clathri,  cancelli',  frz.  treille^  treillis  'Gitter',  niederd.  tralje^  tralle  'id.', 
was  indes  wegen  der  Bedeutung  und  teilweise  wegen  der  Form  durchaus 
nicht  paßt,  außerdem  für  das  die  gleiche  Form  bietende  Serbokroatische 
zu  weit  entlegen  ist.  Miklosich  erkannte  im  Et.Wtb.  360  a  richtig  deutschen 
Ursprung.  Doch  gehen  nicht  sämtliche  angeführten  Wörter  auf  dieselbe 
Grundform  zurück.  Slov.  trage^  poln.  tragi  beruht  allerdings  auf  dem 
d.  Trage  f.,  hingegen  ist  tragJJe  das  d.  Tragel  (in  Obersteiermark)  'Holz- 
trage mit  vier  Handhaben  und  Netzbeutel'  (Unger-KhuU  165).  Daß  für 
traglje  von  dieser  d.  Form  auszugehen  ist  und  nicht  von  einem  *^ra- 
gulje^  zeigt  slovak.  tragl'e^  indem  im  Slovak.  ein  *tragulja  das  u  nicht 
zu  verlieren  brauchte,  wie  dies  im  Slovenischen  geschehen  kann.  Das 
d.  Neutrum  sg.  ward  im  Slav.  zu  einem  PI.  tant.  wegen  der  doppelten 
Handhaben  an  beiden  Enden,  zu  deren  Bedienung  überhaupt  stets  zwei 
Personen  erforderlich  sind;  vgl.  auch  skarje- Schere.  Aus  der  slav. 
Form  traglje  hat  Miklosich  richtig  das  magy.  taraglya  abgeleitet 
(Magy.  859);  auch  Melich,  Die  deutschen  Lehnwörter  im  Magy.  252,  ist 
geneigt,  diese  Entwicklung  anzunehmen,  hält  aber  doch  die  Sache  für 
zweifelhaft,  weil  traglje  angeblich  nur  in  Ungarn  vorkäme.  Dies  ist  in 
Wirklichkeit  nicht  der  Fall,  da  traglje  sogar  im  slov.  Westen,  im  Küsten- 
lande, bekannt  ist.  Andrerseits  müßten  die  Slovenen  und  Slovaken,  wenn 
sie  das  Wort  aus  dem  Magyarischen  entlehnt  hätten,  statt  traglje  ein 
*taraglje  haben,  wie  sie  ja  auch  saraglj'e  äaroglj'e  für  d.  Schrägen 
nach  dem  magy.  saraglya  sprechen. 

Schwieriger  ist  das  serbokr.  tralje  'Art  Heutrage'  [traljii.  'feretrum' ' 
bei  Nemanic  H.  23)  zu  deuten,  weil  der  Schwund  des  g  nicht  klar  ist.' 
Man  könnte  sich  allenfalls  auf  trlja  'mulus  barbatus'  (Miklosich,  Et.Wtb. , 
360  sub  trelj'a^  wo  jedoch  sowohl  dieser  Ansatz  wie  auch  der  Heimat- 


i 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    535 

schein  des  Wortes  nsl.  [statt  serbokr.]  falsch  ist)  neben  trglja  (bei  Vuk) 
berufen,  wenn  jenes  samt  trija  (Zore  im  Arkiv  10^  338)  nicht  auf  ital. 
triglia^  dieses  aber  samt  trigla  (Zore,  1.  c.)  nicht  auf  griech.  rqiyXr^  be- 
ruhte. Noch  größere  Schwierigkeiten  als  tralj'e  bietet  das  in  Crna  gora 
gebräuchliche  tranja  [trand]^  indem  darin  die  Lautabwechslung  /'  ^  n 
nicht  gut  erklärt  werden  kann.  Vuk  umschreibt  es  mit  dem  türk. 
tezgere  (t^zg^re),  Jukic  621  mit  tralje.  Die  sporadische  Lautabwechs- 
lung dürfte  —  ein  deutsches  Wort  ist  auch  in  Montenegi'o  nicht  uner- 
hört —  auf  einer  Kreuzung  mit  Substantiven  auf  -/y'a,  -na  benihen.  Hat 
vielleicht  nicht  auch  ital.  träino^  traino  'Ladung,  Last,  Fuhre,  Schleife' 
mit  eingewirkt? 

Das  serbokr.  tralje  in  der  Bedeutung  'Fetzen,  Lumpen,  Hadern, 
Lappen  (am  Schnabel  der  Hühner)'  ist  natürlich  von  obigem  tralje  zu 
trennen  und  eine  einheimische,  wenn  auch  etwas  ungewöhnliche  Bildung 
von  der  Wz.  thr  :  trSti.  Entstanden  ist  es  nach  tkalja^  pralja^  ursl. 
*t^kadlJa^  *i:>hracllja.  Wie  praJJa  dem  phrati^  perq  entgegensteht,  so 
ward  wegen  dreti  neben  dhrati^  derq^  dhra  auch  zu  trUi^  thra  ein  *thrati 
vorausgesetzt  und  daraus  tralja  'das  abgeriebene,  abgeschabte,  das  schä- 
bige Kleid,  d.h.  Fetzen'  gebildet.  Ein  solches  *thrati  setzt  auch  das  slov. 
tra^a  'Handtuch'  (neben  tirada)  und  poln.  tracz  'Sägemüller'  voraus. 
Das  neben  tralja  vorkommende  trulj'a  'lacinia'  ist  wie  vruJj'a  keine 
Bildung  mit  -Ij'a  —  wie  Miklosich  VG.  H.  106  meint  — ,  sondern  gehört 
unter  die  Bildungen  mit  dem  Suffix  -iilj'a  wie  odrpuJj'a  'pannus',  grebuJJa 
und  ähnliche,  worunter  wir  bei  Miklosich  VG.  H.  112  dem  crulj'a  neuer- 
dings begegnen. 

Zu  trs. 

Ich  habe  über  trs  'vitis  etc.'  bereits  im  Archiv  XIL  471  f.  gehandelt 
und  dem  dort  gesagten  nur  hinzuzufügen,  daß,  ähnlich  wie  die  Slovenen, 
auch  die  Italiener  den  Kukuruzkolben  mit  torsolo  (dol  grano  turco)  be- 
zeichnen und  daß  man  auch  in  der  d.  Oststeiermark  Durse  und  Turse 
(Turs)  f.  'Strunk,  Stumpf  spricht  und  Tursenpfanne  'Bez.  für  eine  be- 
sondere Art  strunkartig  geformter  Pfannen'  in  einer  steii\  Urkunde  aus 
dem  Jahre  16S0  vorkommt.  (Unger-KhuU  185).  Bei  Mikl.  Et.Wtb.  findet 
sich  das  Wort  auf  S.  364  b,  aber  unerklärt.  Neuerdings  hat  sich  mit  dem 
Wort  Ferd.  Sommer,  Griech.  Lautstudien  57,  beschäftigt  und  es  als  echt 
slavisch  mit  gr.  ^ouna  •  IqijceXoi^  Iv  I'^Q'^^^fj  (Hesych)  verknüpft,  welches 
er  auf  *trismri  zurückführt.  Ein  *tn'i>o-j  das  mau  dann  dem  shiv.  Wort 
zu  gründe  legen  müßte,  würde  aber  nur  ein  *trbchh  ergeben.  Die  slavischen 


536  K.  Strekelj, 

Wörter  trs  'Strunk,  Rebe'  sind  daher  nach  wie  vor  als  fremd  anzusehen 
und  zu  tliyrsuf!^  tursua,  ^vQOog  'Strunk,  Thyrsusstab'  zu  stellen,  cf.  Kör- 
ting 2  pg.  859,  860,  Nr.  9532. 

tru^ec. 
Im  slov.  traiec  'Speisenträger'  (Miklosich,  Et.Wtb.  303b  sub  truk- 
casij)  ist  der  Ausgang  ec  nicht  das  eigentl.  slavische  -hcb\  sondern  es  ist 
nur  durch  Übertragung  (Volksetymologie)  aus  der  deutschen  Endung 
-{s)oeze  in  tru/isceze  entstanden,  wie  etwa  h^op^c  aus  d.  Sch7iaps.  Dieses 
trusec  (*triisbci>)  ward  in  der  Folge  als  nomen  actoris  aufgefaßt  und  da- 
zu ein  Verbum  trusuti  gebildet,  das  seinerseits  den  Stamm  für  die  Neu- 
bildung trusar  'Truchseß,  Speisenträger'  abgab.  Das  slov.  h'im^ar  dürfte 
daraus  mit  Einwirung  von  traiisiruü^  tr arder ati  'tranchiren'  entstanden 
sein.  In  truiec  ist  das  dem  d.  chs  {//a)  entsprechende  ki  zu  i  verein- 
facht worden,  wie  auch  soust  häufig  (pusa  —  puksa  etc.,  vgl.  oben  iafti). 

urhas. 

Das  slov.  urhas  m.  bedeutet  'Oberleder  der  Schuhe'.  Pletersnik 
führt  s.  V.  aus  Cafs  Nachlaß  ein  schlesisch-d.  Fürhufi  'Vorschuh'  zur 
Vergleichung  an.  Das  Wort  ist  das  d.  Fürfuß^  das  im  deutschen  Teile 
Steiermarks  gleichfalls,  wie  im  Sloven.,  'Oberleder  für  Schuhe'  bedeutet 
(Unger-Khull  259).  Aus  Fürfuß -Vorfuß  bildete  der  Slovene  zunächst 
*horbus^  ^biirbus,  *vurbiis^  *urbtis,  daraus  durch  die  Mittelstufe  lo'bos 
endlich  iirbas^  indem  das  0  dem  a  der  Endung  des  gen.  und  iusti-.  sg.  [am] 
assimiliert  ward. 

vadvadka  f. 

Das  slov.  vachadka^  welches  Megiser  mit  'Watsack,  bolgia,  tasca, 
bisaccia'  erklärt,  habe  ich  in  der  Schrift  »Zur  slav.  Lehnwörterkunde«  7 1 
betreffs  des  ersten  Teiles  falsch  erklärt.  Das  Wort  ist  nichts  anders  als 
das  steir.-d.  WeidicafscJtker  m.  'die  Weidtasche'  (Üuger-Khull  625)  von. 
Weid  'Weg,  Jagd'  und  Watschger  'Reisetasche,  Felleisen'  mnd.  iceske, 
we[t)&cher^  wetsker.  auch  loatscher^  worüber  Tamm  in  den  IF.  IV.  397 
handelt:  vadka  entstand  aus  Wafsckker  [Watschger),  indem  das  aus- 
lautende er  wie  ein  unbestimmter  Vokal  9(e)oder  ^  klingt. 

vetrih^  wytrych. 
Das  slov,  vetrih  m.  'Nachschlüssel,  Diebesschlüssel,  Beischlüssel', 
poln.  loytrych  'id.',  lit.  loitrikas  ist  nicht  unmittelbar  aus  dem  d.  Diet- 
rich (urspr.  Personenname,  vgl.  Kluge ^  7S),  das  in  cech.  detrych  vor- 
liegt, sondern  aus  Formen  ohne  das  anlautende  d.   Eine  solche  kann  ich 


Vermischte  Beiti-äge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    537 

aus  dem  Steirischdeutschen  nachweisen:  v^Jetrich:  hette  er  von  einem 
Tradt  ein  J.  gemacht«  (Unger-Khull  364).  Im  Pohl,  scheint  allerdings 
auch  das  Präfix  wy  mit  eingewirkt  zu  haben  (Korbut,  Prace  fil.  IV.  3S2, 
385,  4  55);  doch  muß  dies  erst  später  der  Fall  gewesen  sein,  indem  der 
Personenname  Dietrich  zu  icieb-zych  (Wietrzychowice)  ward  (neben 
Dzietrzech).  Daß  w  im  Anlaut  selbst  vor  einem  palatalen  q  antiitt,  zeigt 
poln.  Wegelsztejn  aus  Engelstein  ^  doch  war  hier  sicher  tcegle  'Kohle' 
mit  im  Spiele.  Was  der  Grund  für  den  Schwund  des  anlautenden  d  im 
Deutschen  ist,  ist  dunkel ;  vielleicht  haben  Wörter  mit  it,  einer  alten  Vor- 
silbe, dem  lat.  re-  entsprechend,  eingewii-kt,  z.  B.:  it-rucken,  itaru- 
chan,  itterichen  'ruminare'  etc.  (Schmeller-Frommann  I.  176). 

vsegarica. 
Das  slov.  vSegarica  'babica,  die  Hebamme,  Geburtshelferin',  vsegar- 
stvOj  segarstvo  (segärstvo)  'die  Kunst  einer  Hebamme',  vsegtirim  'zur 
Geburt  helfen'  schien  mir  ein  von  Pohlin  gebildetes  Wort  zu  sein.  Ich 
tat  dem  Mann  Unrecht;  die  lautliche  regelrechte  Entwicklung  zeigt,  daß 
das  Volk  es  entlehnt  hat  und  zwar  aus  dem  Deutschen:  steir.-d.  Be- 
seher-ei  'Wartung  einer  Wöchnerin' :  »was  ich  in  Psechereyen  gewonnen«; 
Beaeher-in  [BsecJmerin]  'Weib,  das  eine  Wöchnerin  bedient,  Wärterin 
für  eine  Kindbetterin,  Hebamme',  Besehschaft  'Hebammendienst'  (Unger- 
Khull  72);  bair.  Beseh-Amm^  Besech-Amm^  Bsechnerin,  Bse7i7iei'in 
'Frau,  welche  einer  Wöchnerin  beisteht  imd  die  ersten  4  oder  5  Wochen 
hindurch  die  Warte  des  Kindes  besorgt;  piseJian  =  hesehen  ein  Kint 
oder  ein  wibe;  der  Bsehlier^  Bsehherin^  Schmeller-Frommann  I.  246; 
nöst.  Bsenarin  'Wochenbettwärterin'  (Castelli  98);  mhd.  hesehen  'be- 
schauen, besuchen,  besorgen,  für  etw.  sorgen'.  Aus  hesehen^  hsechen 
entstand  zunächst  *p^zeguti,  pSegati\  dies  ergab  dann  *viegatij  wovon 
viegar,  vsegarica^  zuletzt  segm'sivo,  (wie  aus  phh7io, psefio,  vSeno^ietio^ 
aus  phsenica  —  v^enica,  setiica)  ward.  Ähnlich  ist  das  d.  Präfix  hc-  ge- 
schwunden in  Hant:  v  stant  dati  'verpachten',  das  nicht  das  d.  Staud, 
sondern  das  ^.Bestand  ist:  pHant  (cf.  Öasopis  za  zgod.  in  nar.  1.  II»  aus 
d.  J.  1775),  woraus  *vslant  und  daraus  erst  stant  ward.  Bei  Beurteilung 
des  Schwundes  von  Präfixen  oder  anlautenden  Silben  hat  man  überhaupt 
vorsichtig  zu  sein.  Würde  jemand  sagen,  slov.  s/amt  'Geige,  Violine' 
sei  aus  Dishant  durch  Abfall  von  di-  entstanden,  so  würde  er  damit 
kaum  eine  richtige  Vorstellung  von  dem  ganzen  Vorgang  beweisen;  viel- 
mehr ist  das  unbetonte  i  der  ersten  Silbe  zunächst  zum  Halbvokal  herab- 


538  K.  Strekelj, 

gesunken  und  dann  geschwunden,  worauf  ^d^kant  zu  *t.^kantj  darin  aber 
die  Lautgruppe  iik  [Ök]  zu  ^k  vereinfacht  ward. 

Zu  ieljar. 
Das  sloven.  zeljar^  slovak.  zeliar^  c.  ielir  u.s.w.  'Inwohner,  Häus- 
ler' habe  ich  bereits  Archiv  XIV.  554  f.  erklärt  und  hingewiesen,  daß  es 
auf  einer  Form  des  d.  Seidner,  Seider  'Bewohner  eines  Seidhauses'  be- 
ruht, worin  Id  zu  II  ward.  Man  findet  dies  z.B.  auch  im  Personennamen 
Fellner,  Feller  für  Feldner,  Felder.  Nun  kann  ich  diesen  Lautwandel 
bei  unserem  Worte  selbst  nachweisen :  steird.  GesöUer  'Bezeichnung  für 
gewisse  Knechte  bei  der  Meierei  Seckau'  (Unger-KhuU  289);  auch  der 
Häusler  oder  Inwohner  ist  gegenüber  dem  Besitzer,  auf  dessen  Boden  er 
wohnt,  zu  gewissen  Arbeiten  und  Leistungen  verpflichtet.  Die  i  enthal- 
tenden Formen  unseres  Wortes  in  einigen  Sprachen,  so  im  magy.  aillyer, 
zsiller,  woraus  das  serb.  ziljer  stammt,  lassen  sich  aus  dialektischen  d. 
Formen  wie  steird.  Sille  =  Seide  (Unger-KhuU  596)  erklären. 

zlombrt. 
Ich  habe  in  meiner  Abhandlung  »Zur  slav.  Lehnwörterkunde«  76 
(Denkschriften  WAW.  L.)  das  istrocak.  Wort  zlombrt  'pars  carnis  por- 
cinae  dorsalis'  aus  dem  d.  Lungenbraten  mit  Vorschlag  des  &  (slav.  i) 
wie  in  den  benachbarten  ital.  Dialekten,  wo  es  auf  ex,  dis  beruht,  er- 
klären zu  können  geglaubt.  Diese  Ableitung  ist  im  ganzen  ersten  Teil 
unrichtig.  Das  Wort  ist  identisch  mit  dem  in  einer  Glosse  vorkommenden 
d.  -Dschlcnnbrat  lumbus«  (das  aw-ow  undeutlich),  ))sloucprato  vel  scubi- 
linc,  inductilis«,  y)Schlaclipratte<i ,  «porci  sclilagbradalesui ,  aUes  bei 
Schmeller-Frommann  II,  518,  der  von  *Schlaug  ausgehen  will;  näher 
scheint  indes  zu  liegen  mhd.  sluch,  sluoch  'die  Haut,  der  Schlauch',  und 
wenn  man  bei  SchmeUer  die  Stelle  aus  der  Münchner  Schlachtordnung 
V.  1529  betrachtet,  wo  es  heißt  »Hochrucken,  Schlachpratte  und  das 
Abprät  umb  3  dn.«,  so  ist  damit  wohl  der  sogenannte  'Netzbraten'  ge- 
meint ,  der  in  der  Gedärmenetzhaut  wie  in  einem  Schlangenschlauch  ge- 
braten wird.  Später  erst  ward  daraus  die  aus  Schweinefleisch  gemachte 
Wurst  [slovbrate  farcilio).  Verschieden  davon  ist  »lumbus  slierbraten« 
bei  Schmeller-Frommann  II.  533  sub  Schlier;  an  ein  *sUet?iprato  'Braten 
in  der  Netzhaut  (=  sliemy  zu  denken  verbietet  das  o  des  slavischen 
Wortes.  In  zlombrt  wird  m  demnach  ein  sekundär  vor  b  entwickelter 
Konsonant  sein,  worüber  meine  zitierte  Schrift  pg.  10,  11,  79  zu  ver- 
gleichen ist. 


i 


Vermischte  Beiträge  zum  slavischen  etymologischen  Wörterbuch.    539 

zveniuljica. 
Das  cak.  zventuljica  'Fächer,  ventaculum'  (Nemanic  II  52)  ist  aus 
dem  Italien,  entlehnt:  triest.  sventola  'ventaglio',  stentola  del  fogoler 
'ventola',  sventolar  'soffiare,  ventolare'  (Kossovitz^  457b);  istroit.  (rov) 
zguentula  'ventaglio'  (Ive  34);  in  der  ital.  Schriftsprache  sventolare 
'lüften'  aus  *exventilare. 

Graz.  K.  Strekelj. 


Polonica. 


Nach  längerer  Pause  nehmen  wir  die,  Archiv  XXV,  S.  74 — 101, 
unterbrochene  Berichterstattung  wieder  auf,  wobei  wir,  um  den  in  fast 
vier  Jahren  aufgehäuften  Stoff  bewältigen  zu  können,  größte  Knappheit 
der  Berichte  uns  zur  Regel  machen  müssen.  Wir  erledigen  vorerst  die 
Fortsetzungen  der  bereits  a.  a.  0.  besprochenen  Publikationen.  Von 
K.  Estreichers  Bibliographie  ist  Band  XIX  und  XX  erschienen,  der 
Buchstabe  K,  4S7  S.,  1903;  436  und  XXII  (Nachträge)  S.,  1905;  immer 
weniger  vermag  der  Literarhistoriker  dieses  Werkes  zu  entbehren,  immer 
dringender  wird  der  Wunsch  nach  einer  rascheren  Förderung  dieses 
Grundfundamentes  der  Literatur  von  1500 — 1800.  Das  große  War- 
schauer Wörterbuch,  Slownik  jf^zyka  polskiego,  ist  bis  Heft  20  gediehen, 
bis  Pifel^  d.  i.  Band  IV,  S.  25 — 184;  nach  dem  vorzeitigen  Tode  des 
Mitarbeiters  und  Herausgebers  (Karlowicz,  vgl.  Nekrolog  in  Bd.  XXVI) 
wird  das  Werk  von  A.  Krynski  und  Wlad.  Nied/'wiedzki  gezeichnet; 
der  III.  Band,  mit  0  abschließend,  zählte  935  S.,  doppelspaltiges  Lexikon- 
format mit  sehr  engem  Druck.  Von  dem  Mundartenlexikon  von  J.  Kar- 
lowicz,  Slownik  gwar  polskich,  ist  nach  dem  Tode  des  Verfassers  und 
als  der  folgende  Herausgeber,  Wi.  Taczanowski,  in  der  Mandschurei 
gefallen  war,  der  IV.  Band  durch  Prof.  J.  ?iOs  besorgt  worden  (Slownik 
gwar  polskich,  IV,  Krakau,  Akademieverlag  1906,  Buchstabe  P  bis  S); 
von  desselben  Verfassers  Lehnwörterbuch,  Slownik  wyi-azow  obcego  a 
mniej  jasnego  pochodzcnia,  kam  das  Schlußlicft  (3,  Krakau  1905,  S.  333 
bis  408),  die  Buchstaben  L,  -L,  M  und  einzelne  Ausdrücke  von  N  bis  Z 
umfassend;  so  bleibt  das  sehr  verdiente  W^erk  leider  ein  Torso.   Von  der 


540  A.  Brückner, 

Historischen  Bibliographie  von  Prof.  Lud.  Finkel  erschienen  zwei  neue 
Hefte,  das  treffliche  Werk  geht  einem  raschen  Abschlüsse  entgegen; 
Teil  III,  S.  1143 — 1671,  enthält  die  Bearbeitungen  der  politischen  Ge- 
schichte, bis  1830 ;  hierauf  von  S.  14 1 7  ab  die  zahlreichen  Berichtigungen 
und  Nachträge  (Literatur  bis  1 90(i);  es  steht  noch  ein  Heft  aus  (Geschichte 
von  Personen  und  Ortschaften,  sowie  das  Autorenverzeichnis).  Um  mit 
Bibliographien  aufzuräumen,  sei  erwähnt,  daß  im  Auftrage  der  Akademie 
Prof.  Korn.  Heck  die  Bibliographie  von  1880 — '<  900  (die  Estreicher  sehe 
des  XIX.  Jhs.  hatte  ja  nur  bis  1  8SU  gereichtj  in  erschöpfender  und  muster- 
gültiger Weise  herausgibt;  bisher  erschien  der  I.  Band,  A — F,  190G. 
Von  bibliographischen  Hilfsmitteln  sei  der  bewährte  Przewodnik  biblio- 
graficzny  genannt,  den  nach  dem  vorzeitigen  Tode  von  Kustos  Wi  Wis- 
tocki  Prof.  K.  Heck  weiter  herausgibt;  einen  knappen  Przeghid  Biblio- 
graficzny  giebt  die  bekannte  Warschauer  Firma  Gebethner  und  Wolff 
unter  der  Redaktion  von  H.  Galle  heraus;  die  Warschauer  Ksiaika 
(Redaktion  von  Ad.  Mahr  burg)  hat  sich  trefflich  eingebürgert,  ist  jetzt 
in  ihrem  VI.  Jahrg.,  bringt  wie  die  Deutsche  Literaturzeitung  nament- 
lich gefertigte  Rezensionen;  besonders  reichhaltig  ist  der  literarhistorische 
und  belletristische  Teil  vertreten.  Von  Zeitschriften  sei  erwähnt  der 
Kwartalnik  historyczny,  jetzt  unter  der  Redaktion  von  Direktor  A.  Sem- 
kowicz,  von  dem  eben  ein  Doppelheft  vom  XX.  Jahrg.  erschienen  ist, 
39  5  S. ;  aus  dem  reichen  Inhalt  sei  wenigstens  hervorgehoben  Prof. 
0.  Balzers  eingehende  Kritik  des  neuen  Handbuches  von  St.  Kutrzeba, 
Historya  ustroju  Polski  w  zarysie,  Lemberg  1905  (Polens  Verfassimgs- 
geschichte,  ein  sehr  nützliches,  trefflich  orientierendes  Werk),  und  die 
Arbeit  von  Kopysiianski  über  Michajtuszka  Zygmuntowicz,  den  li- 
tauischen » Großfürsten  y  und  sein  tragisches  Ende.  Neben  dem  Lem- 
berger  Kwartalnik  ist  in  Warschau  ein  Bruderorgan  entstanden,  der  von 
J.  K.  Kochanowski  in  Zweimonatsheften  herausgegebene  Przegl^d 
historyczny,  der  Rezensionen  neuer  Publikationen  dem  Kwartalnik  über- 
läßt und  selbst  in  monographischen  Skizzen  allerlei  Fragen  polnischer 
Geschichte  behandelt,  zumal  Verfassungs-  und  Lokalgeschichtliches ;  er 
hat  sich  bereits  bestens  eingeführt.  Auch  ^er  Pamictnik  literacki  ent- 
wickelt sich,  unbeschadet  eines  völligen  Redaktionswechsels,  vorti'efflich, 
unter  Prof.  T.  Pini,  jetzt  im  IV.  Jahrg.,  ein  besonders  stattliches  Heft  war 
dem  ,Rej  Jubiläum  gewidmet;  darin  finden  wir  z.  B.  das  Studium  von 
Jözef  Ujejski,  Pojecia  Reja  dotyczace  Polaka  i  Polski,  60  S.,  u.  a. ; 
das  Heft  erschien  auch  besonders,  Pamieci  Mik.  Reja  z  Naglowic  1505 


Polonica.  541 

bis  1569,  Lemberg  190G,  193  S.  S^;  die  Charakteristik  des  Dichters 
durch  Prof.  St.  Dobrzycki  eröffnet  das  Heft.  Von  den  alten  bewähi-ten 
Zeitschi'iften,  der  Biblioteka  Warszawska,  dem  Lemberger,  meist  histo- 
risches Material  bringenden  Przewodnik  naukowy  i  literacki  von 
dem  Krakauer  Przeglad  Polski  unter  der  Redaktion  von  Graf  Prof. 
Mycielski  und  Przeglad  Powszechny,  herausgegeben  unter  der 
Redaktion  von  P.  Pawelski  soc.  Jes.,  sei  nur  der  ungestörte  Fortgang 
hervorgehoben.  Weniger  erfreulich  steht  es  um  unsere  ethnogi'aphischen 
und  archäologischen  Publikationen;  die  Warschauer  Wisla  und  der  Swia- 
towit  (VI.  Band,  Warschau  1905,  206  S.  und  14  Tafeln,  ausschließlich 
der  Archäologie  gewidmet,  mit  reichem  bildnerischen  Schmuck  in  allen 
Bänden),  unter  der  Redaktion  von  Erazm  Majewski,  sowie  der,  bald 
Lemberger,  bald  Krakauer  Lud  (unter  wechselnden  Redaktionen),  kämpfen 
noch  immer  um  ihre  Existenz;  die  Kränklichkeit  von  Majewski,  der 
Tod  von  Prof.  A.  Kaiina  in  Lemberg  gefährden  die  Weiterfühi-ung,  doch 
ist  jetzt  Hoffnung  vorhanden,  daß  nach  der  endlichen  Milderung  des  über 
Warschau  lastenden  vierzigjährigen  Druckes  der  Bildung  polnischer  ge- 
lehrter Vereine  keine  unübersteigbaren  Hindernisse  mehr  den  Weg  ver- 
legen dürften  und  an  solche  könnte  dann  die  Herausgabe  der  Wisla  an- 
gelehnt werden.  Ihrem  Begründer,  Kariowicz,  dessen  letzte  gedruckte 
Arbeit,  0  cziowieku  pierwotnym,  Lemberg  190;',,  S.  163,  S^,  der  von 
ihm  so  eifrig  gepflegten  Ethnographie  wieder  entnommen  war,  widmete 
pietätsvoll  die  Wisla  eine  besondere,  von  Fachmännern  (Krynski,  Lo- 
paciuski  u.a.)  gemeinschaftlich  (nach  den  Disziplinen:  Grammatik, 
Folklore  u.  a.)  bearbeitete,  ausführliche  Gedenkschrift,  Zycie  i  prace  Jana 
Kariowicza  1836  —  1903,  Warschau  1904,  379  S.,  gr.  S«.  Vorläufig, 
wir  wollen  hoffen,  nicht  auf  allzulange  ist  die  weitere  Herausgabe  der 
Wisia  mit  dem  XIX.  Bande  (Warschau  1905,  VIU  und  567  S.,  8»)  ein- 
gestellt worden.  Ähnlich  schlimm,  wie  der  Wisia,  ergeht  es  den  Prace 
Filologiczne  in  Warschau,  deren  VI.  Band  seit  Jahren  gedruckt,  aber 
nicht  herausgegeben  ist;  A.  Krynski  ist  so  überhäuft  durch  Arbeiten 
am  Wörterbuch  und  an  der  Großen  Warschauer  Enzyklopädie,  daß  er 
für  die  Redaktion  der  Prace  keine  Äluße  mehr  erübrigen  kann.  Auch 
der  Poraduik  j(^zykowy,  ein  periodisch  erscheinender  Brusi  (Prager 
seligen  Andenkens!),  unter  der  Redaktion  von  Dir.  Rom.  Zawilinski, 
gedeiht  materiell  nicht  am  ))esten,  doch  ist  die  Notwendigkeit  eines  solchen 
Organs,  zumal  unter  unseren  verfahrenen  Schulverliältnissen,  so  evident, 
daß,  falls  dies  Organ  nicht  existierte,  ein  anderes  ähnliches  neu  geschaffen 


I 


542  A.  Brückner, 

werden  müßte;  63  bietet  eine  Fülle  von  Belehrung,  mögen  auch  einzelne 
Positionen  oder  gar  Grundsätze  noch  so  anfechtbar  sein.  In  diesem  Zu- 
sammenhange sei  auch  genannt  Prof.  Ar.  Passender  fers  lexikalisch 
geordnete  Bit^dy  j\zykowe,  2.  vermehrte  Ausgabe,  Lemberg  1904,  VIU 
und  23S  S.  S",  ein  sehr  nützlicher  und  praktischer  Wegweiser  im  In- 
garten  polnischer  Orthographie  und  Orthoepie,  falls  ich  diesen  Terminus 
in  übertragenem  Sinne  (von  Wort  und  Phrase  namentlich)  anwenden  darf. 
Der  Kuriosität  halber  nenne  ich  eine  nordamerikanische  Publikation :  ein 
patriotisch  gesinnter,  um  das  nationale  Empfinden  und  —  Sprechen  be- 
sorgter Lehrer,  B,  E.  Göral,  gibt  in  St.  Francis,  Wiscountin,  schon  im 
zweiten  Jahrgang  einen  Orijdownik  J^zykowy  (Sprachwalt  oder  Sprach- 
wart) dla  wychodztwa  polskiego  w  Ameryce  allmonatlich  heraus;  neben 
populärem  Lesestoff  (heimische  Bräuche,  Anekdoten  u.  dgl.)  werden  die 
gewöhnlichsten  Fehler  des  Zeitungs-  und  Verkehrspolnisch  in  Amerika 
unnachsichtlich  gerügt.  Man  gewinnt  so  einen  Einblick  in  ganz  ungeahnte 
Verhältnisse. 

Unter  neuen  Zeitschriften  sei  der  Posener  Przeglad  Koscielny,  Mo- 
natsschrift, herausgegeben  von  St.  Okoniewski,  jetzt  im  fünften  Jahr- 
gang erwähnt.  Diese  in  erster  Reihe  den  Bedürfnissen  der  Geistlichkeit 
dienende  Publikation  bietet  so  hervorragende  historisch-literarische  Bei- 
träge, daß  sie  nicht  übergangen  werden  darf.  Zu  ihren  Zierden  gehört 
das  quellenmäßige  Studium  von  Warminski  über  Samuel  Andrea  und 
Jan  Seklucjan,  die  ersten  Posener  Protestanten,  nachher  in  Preußen  bei 
Herzog  Albrecht  tätig,  Seklucjan  auch  als  Drucker  (Evangelien  usw.); 
man  muß  diese  Studie  mit  der  fast  gleichzeitigen  des  Pastor  Theodor 
Wotschke  in  der  Zeitschrift  der  historischen  Gesellschaft  für  die  Provinz 
Posen  XVII,  1902,  vergleichen,  um  den  kolossalen  Vorzug  der  polnischen 
zu  würdigen;  ich  nenne  gleich  hier  die  übrigen  Arbeiten  von  Wotschke 
in  derselben  Zeitschrift  über  polnische  und  litauische  Protestanten  aus 
der  Mitte  des  XVI.  Jhs.,  Eustach  Trepka,  Lismanini,  Abraham  Culvensis, 
weil  sie,  aus  den  ungehobenen  Schätzen  des  Königsberger  Archivs  haupt- 
sächlich geschöpft,  manches  neue  und  wichtige  bieten;  in  derselben  Zeit- 
schrift ist  zuletzt  auch  des  verstorbenen  Breslauer  Professors  J.  Caro 
nachgelassene  Schrift  über  Andreas  Fricius  Modrzewski,  den  berühmten 
Reformschriftsteller,  erschienen,  leider  eine  unvollendete  Arbeit.  Da  wir 
schon  bei  Protestanten  sind,  nenne  ich  eines  Petersburgers  Herrn,  H.  M., 
treffliche,  aus  urkundlichem  Material  der  Synodalakten  zusammengestellte 
Übersicht  aller  polnischen  protestantischen  Kirchen  und  Großwürden- 


Polonica.  543 

träger,  samt  ausführlicher  Mappe  (Zbory  i  senatorowie  protestantcy  w 
dawnej  Rzeczypospolitej,  Warschau,  1905,  8^). 

Doch  kehren  wir  zum  Przeglad  Koscielny  zurück.  Von  anderen  uns 
interessierenden  Arbeiten  seien  genannt  Beiträge  zur  humanistischen  Ge- 
schichte des  lic.  Kazim,  Miaskowski  (über  Petrus  Ridzinius  u.  a.); 
Kataloge  der  Handschriften  der  Posener  Seminarialbibliothek ;  besonders 
jedoch  des  Bischofs  Henr.  Likowski,  des  bekannten  Historikers  der 
ruthenischen  Kirchenunion,  Studie,  Kwestja  unji  Koscioia  wschodniego  z 
zachodnim  (in  Konstanz,  über  Camblak,  die  Angaben  von  dessen  neuesten 
russischen  Biographen,  Jacimirskij ,  Grigorij  Camblak,  ocerk  jego  zizni 
etc.,  Petersburg  1904,  ergänzend  u.  a.),  eine  treffliche,  streng  objektive, 
eine  Menge  von  Quellen  verarbeitende  Studie  (noch  unvollendet).  Neben 
einer  theologischen  Zeitschrift  darf  wohl  die  bei  Gelegenheit  der  Marien- 
feier (Jubiläum  des  Dogma  von  der  unbefleckten  Empfängnis)  heraus- 
gegebene Ksiega  pamiatkowa  Marjanska,  in  drei  starken  Bänden,  genannt 
werden:  Der  erste,  einleitend,  schildert  die  Feier  selbst,  317  S. ;  der 
zweite,  A,  687  S.,  erläutert  den  polnischen  Muttergotteskult  in  Literatur, 
Kunst,  Musik,  im  allgemeinen  wie  nach  den  einzelnen  Orden;  der  zweite, 
B,  gibt  auf  300  Seiten  eine  polnische  »Mariologiett,  d.  i.  die  biblio- 
graphische Übersicht,  3546  Nummern,  durch  Prof.  Wilh.  Bruchnalski 
(mit  Ausschluß  von  Handschriften  und  Aufsätzen  in  Zeitschriften;  nui- 
Einzeldrucke);  auf  400  Seiten  endlich  die  Geschichte  der  einzelnen  pol- 
nischen Muttergottesbilder  und  deren  Kulte,  nach  den  einzelnen  Provinzen 
geordnet  (Lemberg  1905).  Hierher  gehört  auch  die  schöne  Schrift  von 
Prof.  Jozef  Tretiak,Najswi^tszaPannawpoezji  polskiej,  Krakau  1904, 
117  S.,  im  Grunde  ausgewählte  Kapitel  aus  der  literarischen,  zumal 
poetischen  Geschichte  dieses  Kultes,  vom  XIU.  Jh.  an  bis  Ujejski  und 
Lenartowicz. 

Von  spezielleren  periodischen  Publikationen  sei  genannt  der  Rocznik 
Krakowski,  wydawnictwo  Towarzystwa  milosnikow  historji  i  zabytkow 
Krakowskich  (Redakteur  Prof.  St.  Krzyzanowski,  dem  wir  die  treff- 
liche Ausgabe  der  Krakauer  Schöffenbücher  1365 — 1376  und  1390  bis 
1397,  Ksic^'gi  iawnicze  krakowskie,  1904,  verdanken),  VU.  Bd.,  Krakau 
1905,  272  S.,  gr.  S«.  Der  Band  enthält  u.  a.  die  treffliche  Monographie 
von  Pta^nik  über  die  berühmte  Familie  der  Bonary  (verwandt  mit  dem 
deutschen  Fabeldichter  Boner?),  die  nach  Krakau  eingewandert,  reich 
geworden,  zu  Kunstmäzenen  und  Großwürdenträgern  der  Ropulilik  ge- 
worden sind;  in  früheren  Bänden  gab  es  ähnliche  Untersuchungen  von 


544  A.  Brückner, 

Prof.  Krzyzanowski  über  die  noch  heute  lebende,  gräfliche  Familie 
Morsztyn,  einstige  Krakauer  Bürger  Mornstein,  von  Kutrzeba  über  die 
Familie  des  berühmten  Wierzynek  (Wirsing).  Sonst  finden  wir  in  dem 
Bande  eine  Studie  von  E.  Diugopolski  über  die  Rebellion  des  Krakauer 
Vogtes  Albert  von  1312,  von  L.  Ry  mar  über  Krakaus  Beteiligung  an  den 
großen  und  kleinen  Tagungen  der  Republik  u.a.  DerV.,  ein  Jubiläums- 
band, gab  eine  Geschichte  von  Krakaus  Kultur  nach  allen  Richtungen 
(Architektur,  Skulptur,  Malerei  usw.  von  Fachmännern,  K.  Gorski  u.  a.). 
Warum  wir  dies  alles  erwähnen,  s.  u. 

Neben  der  Krakauer  Publikation  verdient  Erwähnung  die  am  weitesten 
nach  Westen  vorgeschobene  der  Thorner  (polnischen)  gelehrten  Gesell- 
schaft, obwohl  sie,  mit  richtigem  Verständnis,  nur  die  lokale  Geschichte 
und  Altertumskunde,  ungleich  seltener  auch  Philologie  und  Ethnographie 
pflegt.  Ihre  Fontes,  zuletzt  Band  IX,  Thorn  1905,  S.  595 — 78G,  bringen 
die  für  die  Lokalgeschichte  (Kirchen-  und  Kulturgeschichte)  schätzbaren 
Visitationes  Episcopatus  Culmensis  Andrea  Olszowski  culmensi  et  Pome- 
saniae  episcopo  a.  1667 — 1672  factae,  die  Dr.  theol.  Bruno  Czapla 
herausgibt.  Ihre  Roczniki,  Band  X,  Thorn  1903,  268  S.;  XI,  1904, 
265  S.;  XII,  1905,  S.  129—466,  S»  enthalten  vor  allem  die  erschöpfende 
Monographie  von  St.  Kujot,  wer  denn  die  Pfarreien  in  der  heutigen 
Kulmer  Diözese  gegründet  hätte  (nicht  der  deutsche  Orden,  wie  einseitig 
angenommen  wird) ,  mit  einer  Fülle  topographischer  nnd  historischer  An- 
gaben aus  Urkunden  und  allen  erreichbaren  Quellen.  Daneben  finden  wir 
archäologische  Exkurse,  Abdnick  alter  Inventare  (der  Starosteien  u.  dgl.), 
lokalgeschichtliche  Aufzeichnungen  und  vor  allem  eine  erschöpfende 
Bibliographie  aller  auf  die  polnische  Bevölkerung  in  Pommern  und  West- 
und  Ostpreußen  bezüglichen  Arbeiten,  mit  kritischen  Bemerkungen,  z.  B. 
mit  richtiger  Zurückweisung  der  Lorenzschen  phantastischen  Einfälle. 
Die  Publikationen  der  polnischen  Poseuer  gelehrten  Gesellschaft  be- 
sprechen wir  in  den  einschlägigen  Rubriken  und  gehen,  von  periodischen 
Zeitschriften  und  Veröffentlichungen,  zu  selbständigen  Werken  über. 

Zuerst  sei  eben  ein  im  Aufti-age  der  Posener  gelehrten  Gesellschaft 
erschienenes  grundlegendes  Werk  genannt.  Aus  den  oben  erwähnten 
Studien  von  Prof.  Dr.  J.  Warminski  ging  ein  stattlicher  Band  hervor, 
der  schönste,  gediegenste  Beitrag  Posens  zur  Rejfeier  (s.  u.):  Audrzej 
Samuel  i  Jan  Seklucjan,  Posen  1906,  XVI  und  550  S.  gr.  8"  (von  S.  482 
ab  Ännexa,  ungedi-uckte  Briefe  und  Memoiren  der  Zeit).  Eine  geradezu 
ausgezeichnete  Leistung,  die  erst  jetzt  den  ganzen  Umfang  der  Tätigkeit 


Polonica.  545 

Seklucjans,  auch  auf  Grund  vorher  ganz  unbekannter  oder  verschollener 
Drucke  und  Schriften,  erkennen  läßt.  Der  gelehi'te,  objektive  Verfasser 
zerstört  alle  Märchen,  die  z.  B.  über  Seklucjan  noch  Lubowicz  in  seiner 
sonst  so  genauen  Reformationsgeschichte  dem  iiukaszewicz  nachge- 
sprochen hatte,  und  widmet  erfreulicherweise  gerade  der  literarischen 
Tätigkeit,  zumal  der  Evangelienübersetzung  (Anteil  des  Murzynowski, 
alte  Vorlage  u.  dgl.) ,  sowie  der  theologischen  Polemik  des  Posener  Ex- 
zöllners  und  Königsbergers  Propagandisten  die  eingehendste,  streng 
quellenmäßige  Untersuchung.  Die  Lektüi-e  dieses  auf  jeder  Seite  von 
dem  milden  und  gerechten  Urteil  eines  erfahrenen,  vorsichtigen  Gelehrten 
bestens  zeugenden  Buches  gewährt  hohen  Genuß;  es  bleibt  einer  der 
schönsten  Beiträge  zur  Religionsgeschichte  und  den  konfessionellen 
Kämpfen  des  XVI.  Jhs.  in  Polen,  jedenfalls  der  gründlichste,  den  wir 
besitzen  —  in  gleicher  Ausführlichkeit  und  Genauigkeit  ist  keine  andere 
Episode  bisher  behandelt  worden.  Das  Werk  ist  Bischof  Likowski  zu- 
geeignet. 

Wir  bleiben  vorläufig  im  Bereiche  des  so  fesselnden,  vielförmigen, 
literarischen  Treibens  dieser  Zeit. 

Die  von  der  Krakauer  Akademie  herausgegebene  Biblioteka  Pisar- 
zow  Polskich  hat  unter  der  Redaktion  des  schaffensfreudigen,  keine  Mühe 
scheuenden  Schuh-ats  Prof.  emer.  J.  Czubek  einen  außerordentlichen 
Aufschwung  genommen;  es  wird  jetzt  ungleich  mehr  und  ungleich  besser 
herausgegeben;  die  eigentliche  Last  des  Druckes  übernimmt,  auch  still- 
schweigend, der  eben  Genannte.  Ich  verzeichne  die  neu  erschienenen 
Nummern:  Nr.  42  gab  der  Warschauer  Literarhistoriker  Ign.  Chrza- 
nowski  zum  ersten  Male  vollständig  die  Gedichte  (auch  die  handschrift- 
lichen, erotischen)  des  jüngeren  Zeitgenossen  und  Rivalen  des  Kocha- 
nowski  Mikoiaj  Szarzynski  heraus;  ebenderselbe,  Nr.  4."i,  dieErotika 
und  Fazetien  eines  anonymen  Protestanten  von  1570;  besonders  die  Fa- 
zetien  und  Lebensbilder  (Tatareninkursion;  Zechgelage  und  dessen  Stören- 
fried u.  dgl.)  sind  durch  ihre  Originalität  und  Frische  bemerkenswert. 
Nr.  41,  des  Bart.  Paprocki  Kolo  rycerskie  (Ritterkreis  d.i.  Versamm- 
lung, Bearbeitung  in  Versen  des  mittelalterlichen  Dialogus  croatnrarum) 
gab  Prof.  W.  Czermak  heraus.  Ich  veröffentlichte  die  Nummern  45, 
47,  48:  Sejm  piekielny  (Teufelstag,  nach  der  Ausgabe  von  1622),  inter- 
essant wegen  der  Fülle  folkloristischcn  Materials,  in  Versen,  satirisch  und 
moralisierend  zugleich;  sowie  zwei  Auekdotensammlungen,  Faceoye  pul- 
skie,  nach  einer  Ausgabe  von  1021  (die  erste  und  ältere  ist  unbekannt; 

Archiv  für  fllavischo  rhiloloBie.    XXVIII.  35 


546  A.  Brückner, 

in  die  russische  Übersetzungsliteratur  des  XVII.  Jhs.  ist  eine  Auswahl 
dieser  Fazetien  übernommen),  die  meist  fremdes  Gut  enthalten,  aber  in 
einer  vortrefflichen,  naiv  frischen  und  täuschend  volkstümlichen  Bear- 
beitung; sowie  Co  Nowego,  nach  einer  Ausgabe  von  1650,  die  zum  Unter- 
schiede von  den  Facecye  fast  ausschließlich  einheimisches  Gut  (mit  Nen- 
nung von  Namen  u.  dgl. )  bietet,  weniger  humoristisch  als  charakteristisch 
für  Land  und  Leute.  Nr.  46  gibt  den  zweiten  (Schluß)  Teil  des  Tasso- 
schen  Goffred  in  der  Übersetzung  des  Piotr  Kochanowski,  besorgt 
durch  Dr.  Luc.  Rydel.  Nr.  49  ist  die  »höfische  Komödie«  des  P.  Ba- 
ryka,  Z  chlopa  krol  (der  aus  Shakespeare  und  Hauptmanns,  Schluck 
und  Jau,  bekannte  Stoff  von  dem  Betrunkenen,  der  als  König  erwacht), 
vom  Jahre  1637,  herausgegeben  von  Dr.  Lud.  Bernacki.  Nr.  50 — 52 
enthält,  aus  Handschriften,  ein  Hauptwerk,  desselben  Piotr  Kocha- 
nowski, der  das  befreite  Jerusalem  1618  übersetzte  und  di'uckte,  Über- 
setzung des  Rasenden  Roland;  die  polnische  ist  unter  den  europäischen 
die  vierte  und  geht  der  deutschen  voran;  sie  zeichnet  sich  durch  eine 
energische  Diktion  aus,  doch  fehlt  der  letzte  Schliff.  Gedi-uckt  waren 
bisher  von  ihr  nur  die  ersten  25  Gesänge,  nach  einer  einzigen  Hand- 
schrift, 1799  (durch  Przybylski  in  Krakau);  jetzt  hat  alle  46  Gesänge, 
auf  Grund  von  acht  Handschriften  Prof.  J.  Czubek  veröffentlicht  und 
seine  recht  schwierige  Aufgabe  meister-  und  musterhaft  gelöst,  in  di-ei 
stattlichen  Bänden,  mit  den  Variae  lectiones,  Erläuterungen  und  reich- 
lichen Indices  von  Namen  und  Worten  (Band  III,  S.  398 — 474).  Nr.  53 
ist  Abdruck  eines  verstümmelten  Unicum,  Spraua  a  lekarstua  konskie 
Conrada  krolewskiego  kowala  1532,  ein  (übersetztes)  Buch  von  Pferde- 
krankheiten, herausgegeben  und  erklärt  von  Dr.  Andr.  Berezowski, 
1905,  48  S.  Neben  dieser  Veterinärschrift  sei  genannt  die  neu  aus  einer 
Handschrift  der  Jageilona  herausgegebene  Übersetzung  zweier  Abschnitte 
aus  dem  Enchiridion  Medicinae  des  Simeon  de  Lowicz,  1537  (Krakau 
1904),  Rezepte  für  allerlei  Krankheiten:  ich  erwähne  daraus  die  »kaschu- 
bisehen«  Genetive plur.  hrodawk^psmk  (für  »polnisches«  brodatvekusw.), 
häufiges  uterty,  nicht  utarty. 

Von  der  Biblioteka  zapomnianych  poetow  i  prozaikow  polskich  XVI 
— XVIH  w.  des  Warschauer  Professors  T  e  0  d.  Wierzbowski  erschienen: 
Nr.  XVI,  St.  Orzechowski,  opowiadanie  upadku  przyszlego  polskiego  von 
15,60  (Umarbeitung  eines  schon  früher  gekannten  Briefes,  mit  einer  sang- 
lanten  Antwort  des  Angegriffenen,  Krowicki,  eines  Protestanten) ;  nr.  XVH, 
Kiermasz  wiesniacki  (Dorfkirmeß,  Erotisches  und  Fazetien,  im  Volkston, 


Polonica.  547 

in  Versen,  um  1615);  Nr.XVIII,  Komedya  rybaltowska  (Ribaldenkomödie, 
satirischen  Genres,  auf  das  Treiben  der  adeligen,  konföderierten  Solda- 
teska, außerordentlich  frisch  und  witzig  durchgeführt)  i  Soitj^s  z  Klecha 
von  IG  16,  Jesuitenkomödie,  eigentlich  komische  Intermedien  zu  Schul- 
dramen (der  Latein  lernende  Bauer  u.  ä.).  Nr.  XIX,  Piesni,  tance  i  pa- 
dwany  XVII  wieku,  Abdruck  von  drei  Brochüren  aus  der  ersten  Hälfte 
des  XVII.  Jhs.,  die  Liebeslieder,  manches  im  Volkston,  manches  in  klein- 
russischer Sprache,  einiges  obszön,  enthalten ;  ein  und  das  andere  davon, 
wie  auch  aus  der  Dorfkiiineß  von  1615,  ist  bis  heute  im  Volksmund  er- 
halten geblieben  —  ein  nicht  uninteressanter  Beitrag  und  Beleg  zur  Ge- 
schichte des  Volksliedes,  das  mehr  aus  gedruckten  Texten,  d.  h.  solchen 
individuellen  Schaffens  schöpft,  als  man  gemeiniglich  anzunehmen  beliebt. 
Nr.  XX  ist  Dyalog  albo  Rozmowa  Flisa  z  Kursorem,  vom  Jahre  1611, 
eine  Jesuitenschrift  gegen  das  Vorgehen  des  Danziger  Magistrates  in 
Sachen  einer  Klosterrevision,  frisch  vorgetragen.  Nr.  XXI  Wolnosc  Pol- 
ska  etc.,  eine  politische  Schrift  von  zirka  17  30,  im  Dialoge  zwischen 
einem  Polen  und  einem  Franzosen  das  Wesen  der  goldenen  Freiheit, 
richtiger  Anarchie  und  Unfreiheit,  freimütig  erläuternd.  Nr.  XXII  enthält 
Briefe  des  Kardinals  Dönhoff,  aus  Italien,  an  seine  Schwester,  die  Woje- 
wodin  Katska,  von  1686 — 1697  gerichtet,  unbedeutenden  Inhaltes.  Der 
Herausgeber  kann  nicht  mehr  viel  Muße  dieser  Sammlung  widmen,  da 
ihn  einerseits  die  Herausgabe  der  Regesten  zu  dem  Urkundenschatz  des 
Warschauer  Kronarchives  beschäftigt,  wovon  der  erste  Band  (lateinisch) 
erschienen  ist,  umfassend  die  Regierungszeit  Kasimir  IV. ;  andererseits 
gibt  er  eine  Fülle  von  Quellen  zur  Geschichte  des  polnischen  Schulwesens 
im  ausgehenden  XVIH.  Jh.  heraus,  unter  dem  Gesamttitel:  Komisya 
edukacyi  narodowej,  1780 — 1793,  das  sind  die  Protokolle  der  Schul- 
visitationen und  die  Rapporte  der  Schulpräfekten,  die  alljährlich  an  die 
Edukationskommission  (d.  h.  eine  Art  Unterrichtsministerium)  aus  den 
Bezirksschulen  Warschau  (1782—1789,  V  und  86  S.),  tfczyca  usw. 
gerichtet  wurden ;  der  Inluilt  ist  etwas  einförmig,  wie  bei  Schulgeschichten 
überhaupt,  aber  für  die  Erfolge  des  neuen  Unterrichtswesens  sowie  für 
die  Schwierigkeiten,  die  es  zu  bekämpfen  hatte,  sehr  charakteristisch. 
Bisher  erschieueu  sieben  Hefte,  von  denen  das  letzte  das  ausführlichste. 
Erwähnt  sei,  daß  die  große  Sammlung  von  Schulgesohichton,  die  in 
Warschau  zur  Säkularfeier  der  Jagellonenuniversität  Krakau  eingeleitet 
war  (Geschichte  der  Akademien  Wilno,  Zamosi-,  der  Warschauer  llaupt- 
schule  u.  a.)    durch  die   Herausgabe   einer  wohl    dokumentiorten    (Jo- 

35* 


548  •^-  Brückner, 

schichte  der  Jesuitenakademie  in  Potock  (1818 — 1832)  zum  Abschlüsse 
gebracht  ist;  die  Schrift  ist  etwas  einseitig  für  den  Orden  eingenommen 
und  etwas  mechanisch  abgefaßt  (Materyaly  do  dziejow  akademji  poiockiej 
i  szkol  od  niej  zaleznych,  von  J.  G.,  Krakau  1905,  S.  288,  S^). 

Unter  größeren  literarischen  Unternehmungen  stand  im  Vordergi-unde 
des  Interesses  die  Rejsche  Säkularfeier,  d.  i.  die  Feier  eines  Pfadfinders 
der  polnischen  Literatur  (geboren  1505).  Sie  hat  ungleich  reicheren  Er- 
trag gebracht,  als  etwa  die  Kochanowskifeier  von  1SS4  ;  sie  machte  wett, 
daß  1869  (Todesjahr  des  »Dichters«  1569)  ohne  Sang  und  Klang  für  ihn 
verstrichen  war.  Die  Krakauer  Akademie  hat  ganz  besonderes  geleistet. 
Sie  ließ  das  «Zwierciadto«  von  1567,  die  größte  prosaische  Arbeit  des 
Dichters,  wenn  wir  von  seiner  Postille  absehen,  wie  im  Faksimiledruck 
herstellen;  sie  gab  meine  ausführliche  Reymonographie,  die  bereits  im 
Archiv  eine  sehr  wohlwollende  Besprechung  gefunden  hat,  heraus.  Eine 
außerordentliche  Tat  ist  dann  Prof.  Jan  Czubeks  Riesenband,  Pisma 
polityczne  z  czasow  pierwszego  bezkrolewia,  Krakau  1906,  XXXVII  und 
765  S.  gr.  8^;  es  ist  dies  die  erste  derartige  Publikation.  Das  Interreg- 
num nach  dem  Aussterben  der  Jagellonen  (1572),  von  dem  man  in  Polen 
alles  mögliche,  den  nahen  Untergang,  befürchtete  und  das  man  glänzend 
bestand,  ohne  die  geringste  Einbuße  an  Macht  und  Ansehen,  rief  eine 
Flut  lateinischer  und  polnischer  Memoiren,  Repliken,  Dupliken,  Dialoge, 
Pamphlete,  Verse,  politischen  und  moralisierenden  Inhalts,  hervor; 
manches  davon  war  ja  gleichzeitig  gedruckt,  manches  später  aus  Hand- 
schriften veröffentlicht,  als  Prof.  Ulanowski  in  Krakau  den  Plan  faßte, 
die  ganze  einschlägige,  erreichbare  zeitgenössische  Literatur  zu  sammeln 
und  abzudrucken;  durch  andere  Arbeiten  verhindert,  trat  er  Plan  und 
Stoff  an  Prof.  Czubek  ab,  der  die  Aufgabe  in  glänzender  Weise  gelöst 
hat.  Er  hat  nicht  weniger  als  64  prosaische  Schriften  und  17  poetische 
veröffentlicht,  alles  aus  einem  Zeitraum  von  nur  dritthalb  Jahren,  das 
meiste,  interessanteste  ganz  neu  gedi'uckt.  Die  Schriften  sind  größten- 
teils anonym;  in  der  Vorrede  sucht  er  nun  die  Verfasser  zu  ermitteln. 
Mit  seinen  sorgfältigen  und  bedächtigen  Kombinationen  kann  man  sich 
meist  einverstanden  erklären.  Die  meisten,  effektvollsten,  populärsten 
Schriften  gehören  dem  J.  D.  Solikowski  an,  dem  nachmaligen  Lem- 
berger  Erzbischof,  der  sich  als  Pamphletist  ersten  Ranges  entpuppt;  die 
Schriften,  mit  denen  er  für  Heinrich  von  Valois  eintritt,  sind  die  glän- 
zendsten der  ganzen  Sammlung.  Dann  kommt  Dudithius  mit  lateini- 
schen Dialogen  für  die  Habsburger;  Mycielski,  vorher  ganz  unbekannt, 


Polonica.  549 

mit  ungeschlachten  Versen  für  die  Kandidatur  Johann  IV.  des  Ge- 
strengen, führt  sich  bereits  nach  russischer  Weise  mit  dem  Vaternamen 
auf  wicz  ein  usw.  Es  ist  dies  die  namhafteste  Bereicherung  altpolnischer 
politischer  Literatur  seit  langer  Zeit,  besonders  durch  ihre  systematische 
Ausführung,  die  treffenden  Erläuterungen,  die  Fülle  des  Stoffes  vorbildlich 
für  zukünftige  Leistungen  der  Art.  Noch  verdient  ein  kleiner  Beitrag  zur 
Literatur  des  XVL  Jhs.  besondere  Erwähnung,  als  glänzendes  Muster  der 
Leistungsfähigkeit  Krakauer  Druckereien:  Prof.  St.  Ptaszycki  hat  aus 
einem  handschriftlichen  Gebetbuch  für  Frauen  (polnisch,  Prosa,  erste 
Hälfte  des  Jahrhunderts)  ein  beträchtliches  Stück  abdrucken  lassen  (Mo- 
dlitewnik  dla  kobiet  z  w.  XVI,  Krakau  1905),  ganz  in  der  Art  der  Zeit, 
mit  ihrer  Orthographie,  mit  den  Randleisten  und  Initialen,  nur  die  »goti- 
schen« mit  «lateinischen«  Buchstaben  ersetzend,  wie  dies  auch  beim 
Zwierciadio  des  Rej  geschehen  ist.  Zum  Jubiläum  sind  auch  zwei  weitere 
Bände  des  Archiv  für  Kultur-  und  Literaturgeschichte  fertiggestellt  worden. 
Endlich  ist  auf  den  Anfang  Juli  1906  eine  Zusammenkunft  polnischer 
Sprach-  und  Literaturforscher  nach  Krakau  anberaumt;  sie  konnte  nicht, 
wie  geplant  war,  190'),  wegen  der  dauernden  politischen  Wirren  in 
Russischpolen,  abgehalten  werden;  ihr  wird  zur  Beschlußfassung  auch 
ein  von  mir  ausgearbeitetes  Projekt  der  Vereinfachung  und  Vereinheit- 
lichung der  polnischen  Orthographie  unterbreitet;  ich  hielt  die  »Reform« 
in  den  bescheidensten  Grenzen  [ja  für  ya\  im,  ym,  imi,  ymi  für  alle 
Maskulina  und  Neutra;  atrzec,  nicht  strzedz\  upadszy,  nicht  upadlszy 
und  einiges  andere). 

Die  Akademie  regte  auch  den  Gedanken  einer  Inventarisierung 
sämtlicher  polnischer  Handschriften  an;  Besitzer  schicken  ihr  Kataloge 
ein,  die  in  der  Akademiebibliothek  allgemein  zugänglich  sind;  selbst 
ging  sie  mit  dem  besten  Beispiel  voran,  indem  sie  den  rastlos  tätigen 
Prof.  Czubek  den  Katalog  ihrer  eigenen  Handschriftensammlung  heraus- 
geben ließ,  Katalog  R(;kopisow  Akademji  Umiej(^'tnosci  w  Krakowie,  1906, 
III  und  313  S.  &ö  (sorgfältige  Register  von  S.  271  ab);  die  Sammlung 
umfaßt  1588  Nummern,  die  meisten  gehören  späteren  Jahrhunderten  an, 
Correspondenzen  und  Archivalieu  aller  Art;  für  uns  die  interessanteste 
ist  Nr.  1588,  aus  dem  ersten  Viertel  des  XVI.  Jhs.,  Sammlung  polnischer 
Rechtsdenkmäler  in  polnischer  Sprache,  die  Gesetzgebung  von  Wislica, 
die  Magdeburger  Urteile,  mosaisches  Recht  (aus  dem  Deuteronomium)  und 
ausgewählte  Regule  iuris,  ebenfalls  polnisch;  am  Schluß  die  Geschichten 
von  der  Judith  (S.  359—414)  und  Susauna  (415 — 423)  —  eine  nicht  un- 


550  A.  Brückner, 

wesentliche  Bereicherung  altpolnischer  Literatur  darstellend.  Und  neben 
diesen  außerordentlichen  Publikationen  erscheinen  die  regelmäßigen,  über 
die  wir  unten  noch  mehrfach  zu  berichten  haben.  Wie  man  sieht,  ist  die 
Tätigkeit  der  Akademie  eine  sehr  rege  und  fruchtbare,  emsige  und  viel- 
seitige —  ein  großer  Teil  dieses  Verdienstes  gebührt  ihrem  unermüd- 
lichen Generalsekretär,  Prof.  Ulanowski,  dessen  bewunderungSAvürdige 
Energie  und  nie  versagender  Fleiß  mit  dem  wachsenden  Umfang  der 
Arbeit  sich  nur  zu  verdoppeln  scheinen.  Und  immer  mehr  hebt  sich  der 
Charakter  Krakaus  als  einer  Zentrale  polnischer  Kunst,  Wissens  und 
Literatur;  die  Tradition  der  Stadt,  die  architektonischen  und  anderen 
Kunstschätze  dieses  Nürnbergs  des  Ostens,  ihre  Traditionen  haben  sie 
dazu  ausersehen.  Es  strömt  immer  neues  hinzu;  das  im  Werden  begriffene 
Nationalmuseum,  das  einst  die  alte  Königsburg  der  Plasten  und  Jagellonen 
füllen  wird,  besitzt  schon  heute  durch  Schenkungen  privater  Sammlungen 
(z.  B.  die  große  Lemberger  der  Frau  Helene  Dabczanska),  eine  be- 
neidenswert reiche  Bibliothek,  die  neben  der  Universitätsbibliothek  und 
den  Sammlungen  der  Fürsten  Czartoryski  und  des  Grafen  Czapski,  die  er 
der  Stadt  geschenkt  hat,  Platz  sich  erobert  hat. 

Wir  bewegen  uns  noch  immer  im  Zeichen  des  Rej.  Die  Unmasse 
von  Gelegeuheitsschriften,  Vorträgen  u.  dgl.  sei  übergangen,  auch  die 
schöne  Literatur  hat  sich  des  Stoffes  bei  dieser  Gelegenheit  bemächtigt, 
zumal  der  treffliche  Satiriker  A.  Nowaczynski,  der  neben  einer  Ko- 
mödie, Pan  Rej  w  Babinie  (die  bekannte  Witz-  und  NaiTenakademie,  bei 
Lublin,  des  Pszonka) ,  ein  Bild  des  Menschen  und  Autors  geliefert  hat,  das 
an  Drastik,  Lebhaftigkeit  und  Sicherheit  seinesgleichen  sucht,  Wizeruuek 
M.  Reja,  Warschau  1905,  97  S.  —  es  ahmt  in  Stil  und  Ausstattung  pol- 
nische Bücher  des  XVI.  Jhs.  nach.  Noch  viel  weiter  ging  der  Warschauer, 
durch  seine  erstmalige  Herausgabe  polnischer  Ex  libris  bekannte  Samm- 
ler Wiktor  Wittyg;  seine  Erneuerung  der  Figliki  des  Rej,  d.  i,  des 
Schlußteiles,  der  Fazetien,  aus  dem  Zwierzyniec  des  Dichters  von  1562 
und  1574,  ist  eine  Meister-  und  Musterleistung.  Der  Zwierzyniec  war 
schon  in  der  Biblioteka  pisarzow  polskich  durch  Prof.  Bruchnalski 
erneuert  worden,  aber  ohne  die,  vielfach  sehr  zotigen,  aber  höchst  inter- 
essanten Figliki;  Wittyg  hat  sie  nun  faksimiliert  herausgegeben;  die 
Ausgabe  ist  wunderbar  geraten,  vom  Original  (1574)  nicht  zu  unter- 
scheiden, einige  Exemplare  sind  sogar  auf  Papier  des  XVI.  Jhs.  (!)  ge- 
druckt. Zu  dem  Faksimile  hat  Prof.  H.  Lopacinski  höchst  dankens- 
werte  Erklärungen,    ethnographische    Parallelen,    grammatisches   und 


Polonica.  551 

lexikalisches  auf  66  Seiten  beigesteuert.  Das  ganze  ist  wieder  ein  Triumph 
der  Krakauer  Universitätsdruckei'ei  (unter  der  Oberaufsicht  von  Prof. 
Ulanowski).  Dagegen  seien  Liebhaber  alter  Sachen  gewarnt  vor  dem 
«Ucieszne  teatrum  albo  sprawiedliwe  niektorych  niewiast  karanie  u  War- 
szawy«  des  Herrn  Mar.  Wawrzeniecki  (Warschau  1906);  trotz  des 
genauen  Berichtes  über  die  Auffindung  der  defekten  Handschiift  in  Rawa, 
die  aus  einem  Einband  stamme,  ist  das  ganze  mit  seiner  altertümlichen 
Sprache,  naivem  StU  und  den  prächtigen  gothischen  Buchstaben  nur  ein 
loser  Scherz  des  Finders,  Entzifferers  und  Herausgebers  dieses  Berichtes 
aus  der  Warschauer  chronique  scandaleuse  von  1527;  ich  erwähne  dies, 
weil  schon  manche  auf  den  Leim  gegangen  sind;  t3^ographisch  ist  die 
Sache  eine  Meisterleistung. 

So  sind  wir  auf  dem  Gebiete  von  Fälschungen  angelangt;  und  un- 
willkürlich reihen  wir  hier  die  äußerst  gewissenhafte  und  sorgfältige,  aber 
in  ihren  Ergebnissen  nicht  haltbare  Arbeit  von  Dr.  Jan  Leciejewski 
ein,  Runy  i  niniczne  pomniki  stowianskie,  Lemberg  1906,  V  und  207  S. 
Wer  denkt  nicht  an  die  Sponholzschen  Fälschungen,  die  Prillwitzer  und 
Neustrelitzer  Götzen!  Wohl  weist  sie  der  Verf.  nachdrüchlichst  ab,  aber 
ist  er  nicht  selbst  in  einem  schweren  Irrtum  begiiflfen,  wenn  er  die 
böhmischen  Runen  des  Krolmus  und  den  slovakischen  Grenzstein  mit 
seinen  unglaublichen  Raumbestimmungen  ernst  nimmt?  Und  wenn  ich 
die  Echtheit  der  berühmten  oder  berüchtigten  Mikorzyner  Steine  voll  zu- 
geben möchte,  die  Lesung  ihrer  Runen,  die  der  Verfasser  siegesbewußt 
vorträgt,  erweckt  in  mir  Zweifel.  Es  wird  wohl  im  Archiv  von  kundigerer 
Hand  —  ich  bin  kein  Runologe  —  Auskunft  über  das  mit  äußerstem 
Fleiß  und  Umsicht  und  Scharfsinn  ausgearbeitete  Werk  erfolgen;  mir 
scheint  ein  und  das  andere  Denkmal  gar  nicht  polnischen  oder  slavischen 
Ursprunges  zu  sein  (z.  B.  der  Brakteat  von  Wapno  ist  eher  schwedisch 
als  polnisch;  die  Krakauer  Medaille  haben  skandinavische  Runologen  nur 
deshalb  für  slavisch  erklärt,  weil  sie  sie  nicht  zu  entziffern  vermochten, 
etwa  nach  dem  Grundsatz:  was  man  nicht  deklinieren  kann,  sieht  mau 
als  ein  Neutrum  an).  Der  Annahme  des  Verf.  einer  besonderen  slavisch- 
polnischen  Runenschule,  deren  Schreiber  sogar  für  alle  slavischen  Laute, 
z,  rz  usw.  besondere  Zeichenvariationen  eingeführt  hätten,  widerstreitet 
der  absolute  Mangel  an  einschlägigen  Denkmälern ;  was  beweisen 
denn  vier  Nummern,  von  denen  noch  dazu  drei  probleniatiscli  sind! 
Wenn  Polen,  Russen,  Böhmen  Runendenkmäler  liaben,  warum  sind  nie 
welche  auf  dem  Boden  der  Oder-  und  Elbeslaven  gefunden  worden,  in 


552  A.  Briickner, 

Kügen  oder  Pommern,  deren  Beziehungen  zum  Norden  doch  noch  inniger 
waren?  Daß  des  Chrabr  certy  und  rezy  auf  Runen  gingen,  ist  absolut 
unerweiälich,  denn  Itunen  geben  ein  Alphabet,  während  er  ausdrücklich 
das  Vorhandensein  slavischer  pismena  leugnet.  Trotz  aller  Anerkennung 
des  Scharfsinns  des  Verf.  kann  ich  seinen  Ausfühinngen  nicht  zustimmen; 
sie  sind  nur  irreführend.  Doch  kehren  wir  von  dieser  Abschweifung 
wieder  zu  llej  und  dem  XVI.  Jh.  zurück. 

Trotz  aller  Wirren  blieb  auch  Warschau  nicht  hinter  Krakau  in  der 
Rejfeier  ganz  zurück;  wissenschaftliche  Anstalten  oder  Vereinigungen 
muß  hier  freilich  Initiative  und  Opferwille  einzelner  privater  Personen  er- 
setzen. Ihr  entsprang  der  Plan  einer  Jubiläumspublikation;  unter  der 
Redaktion  des  tätigen,  kenntnisreichen,  methodisch  bestgeschulten  Ig  na cy 
Chrzanowski  ward  denn  auch  ein  stattlicher  Quartband  herausgegeben: 
Z  wieku  Mikoiaja  Reja.  Ksi(jga  Jubileuszowa  1505 — 1905.  Warschau 
1905,  VIII  und  328  und  114  S. ;  die  doppelte  Paginiernng  scheidet  Ab- 
handlungen und  Materialien.  Unter  letzteren  finden  wir  den  Abdruck 
einer  Rejschen  Übersetzung  (der  Briefe  des  Lipoman  und  Radziwii,  die 
der  Protestant  Verger  zu  Zwecken  akatholischer  Propaganda  veröffentlicht 
hatte) ;  der  böhmischen  Verse  seines  Dialoges  Warwas  (uns  nur  in  dieser 
böhmischen  Übersetzung  bekannt;  ich  versuchte  in  groben  Zügen  das 
Rejsche  Original  darnach  wiederherzustellen);  eines  protestantischen 
Pamphlets  (nach  1556)  über  die  Judenverbrennung  inSochaczew;  außer- 
dem Briefe  und  Archivalien,  sowie  die  Analyse  eines  protestantischen 
polnischen  Kantionais  (des  B.  Grod^icki  von  1558,  Unikum);  dem  Bear- 
beiter desselben,  Br.  Chlebowski,  verdanken  wir  auch  eine  treffliche 
Studie  über  protestantische  Kantionale  des  XVI.  Jhs.  im  Rejhefte  des  Pa- 
mi^tnik  literacki,  s.  o.  Unter  den  Abhandlungen  ist  die  ausführlichste 
von  J.  Chrzanowski  über  Marcie  Bielski;  um  die  hier  noch  fehlenden 
Kapitel  erweitert  ist  sie  als  besonderes  Buch  erschienen:  Marcin  Bielski, 
studyum  literackie,  Warschau  1906,  280  S.,  4<).  Eine  der  erschöpfendsten 
Monographien,  die  einem  älteren  Schriftsteller  gewidmet  sind,  der  weder 
Dichter  noch  Politiker  war;  neben  moralisierenden  und  satirischen  Sckrif- 
ten,  Dialogen,  Komödien  u.  a.,  hat  er  als  erster  Verfasser  einer  polnischen 
Weltohronik  (1551,  drei  Ausgaben,  mehrfach  im  XVI.  und  XVII.  Jh.  ins 
Russische  übersetzt)  das  Verdienst  sich  erworben,  neben,  ja  noch  vor  Rej, 
Schöpfer  einer  nationalen  Literatur  geworden  zu  sein  und  den  Bildungs- 
hunger der  Zeit  nach  Kräften  gestillt  zu  haben.  Chrzanowski  fertigt 
mit  Recht  das  uninteressante  Leben  möglichst  kurz  ab;  desto  ausführ- 


Polonica.  553 

lieber  verweilt  er  bei  der  Analyse  der  einzelnen  Werke,  ibrer  Quellen,  des 
damaligen  Zustandes  der  europäiscben  Literatur  (z.  B.  im  Punkte  der 
Univers alges cbicbte) ,  des  Wertes  und  der  Art  der  Arbeit,  um  mit  einer 
Syntbese  des  Verf.  und  Menseben,  sowie  mit  Urteilen  der  Nacbwelt  ab- 
zuscbließen.  Von  anderen  Abbandlungen  sei  eine  treffliebe  Syntbese  des 
Scbriftstellers  Rej,  seines  literariscben  Temperamentes,  Verdienstes,  Er- 
folges, von  Br.  Cblebowski  besonders  bervorgeboben ;  andere  betreuen 
Einzelheiten  der  Werke  oder  Daten  des  Lebens  oder  endlicb  Zeitgenossen 
(Grodzicki  und  seine  Recbtsanscbauungen ;  Jan  Zamoyski  u.  a.),  mancb- 
mal  in  etwas  losem  Zusammenbange  mit  dem  eigentlicben  Tbema,  aber 
den  Boden  des  XVI.  Jbs.  nicbt  verlassend  und  daber  streng  einbeitlicben 
Cbarakters.  Es  ist  dies  eine  bleibende  Bereicherung  der  Literatui-ge- 
scbicbte  des  XVI.  Jbs. 

Von  J.  Cbrzanowski  erhielten  wir  auch  eine  neue  Ausgabe  der 
acht  Reichstagspredigten  des  Skarga  soc.  Jes.,  die  von  1597  bis  1903 
zwölfmal  aufgelegt  wurden;  dies  ist  die  13.  Ausgabe:  Kazania  Sejmowe, 
Warschau  1903,  aus  der  Biblioteka  dziet  cbrzescjanskicb,  herausgegeben 
vom  Prälaten  Z.  Cheimicki;  die  Einleitung  von  Cbrzanowski  umfaßt 
136  S.  &o  und  ist  eine  vollendete  Studie  über  Aufbau,  Gedankengang, 
Tendenz  des  Verfassers,  die  aktuellen  Beziehungen,  den  politischen  Hinter- 
grund, die  prophetische  Literatur,  endlicb  über  die  vollendete  Kunst  des 
begeisterten  Gewissensmabners  —  das  erschöpfendste  und  beste,  was  über 
dieses  Meisterwerk  politischer  Homiletik  gesagt  worden  ist. 

Wir  verbleiben,  durch  Rej  bewogen,  noch  immer  beim  XVI.  Jb.  und 
nennen  einen  Neudruck  des  verdienten  Archäologen  und  Sammlers  Zygm. 
Gloger,  Nieznany  spiewnik  historyczny  polski  z  konca  XVI  wieku, 
Warschau  1905,  55  S.  im  gotischen  Faksimile  und  in  der  Transkription ; 
ohne  Anfang  und  Ende,  je  zwölf  Verse  auf  polnische  Fürsten  und  Könige, 
vom  Lech  bis  Sigismund  III.,  unter  deren  (meist  phantastischen)  Porträts. 
Der  unermüdliche  Bibliophil  und  Altertumsforscher  hat  seine  große  En- 
cyklopedia  Staropolska  Illustrowana  in  vier  starken  Bänden  beendet, 
3000  Artikel  (einzelne  auch  viele  Seiten  lang,  förmliche  Exkurse]  und 
800  Illustrationen,  alle  Einzelheiten  altpolni.scben  öflfentlichen  und  privaten, 
religiösen  und  kriegerischen  Lebens  besprechend.  Unter  seinen  noch  mehr 
populären  Schriften  erwähne  ich  die  neueste,  deren  Thema  allen  Slavisten 
und  Freunden  der  Volksweisen  nahe  liegt:  Czy  lud  polski  jeszcze  spiewa? 
21  S,,  Warschau  1905.  Die  Antwort  lautet  sehr  pessimistisch,  das  pol- 
nische Volk  singt  nicbt  mehr,  der  Zug  nach  den  Städten,  Fabriken,  Arne- 


554  A.  Brückner, 

rika  verdrängt  die  alten  Lieder  durch  moderne  Gassenhauer  —  eine  all- 
gemeine Klage;  ein  zweiter  0.  Kolberg  würde  heute  nicht  mehr  die 
10  300  Volkslieder  auftreiben  können,  die  der  erste,  allerdings  innerhalb 
eines  halben  Säkulum  zusammengebracht  hat  ( 1840 — 1 S90).  Dem  drohen- 
den Untergang  des  Volksliedes  sucht  Gloger  nach  Kräften  zu  steueni, 
durch  Sammlungen  und  Einzelausgaben  von  guten,  alten  Texten  und 
Melodien,  wovon  an  150  000  Exemplaren  im  Umlaufe  sind;  die  ausführ- 
lichste Sammlung  waren  die  treif liehen  Piesni  ludu,  Krakau  1892  (18S2 
Lieder);  daraus  ist  der  dritte  Abschnitt  (dumy  i  dumki,  164  an  der  Zahl), 
1905  neu  abgedruckt.  Erwähnt  seien  noch  seine  archäologischen  Wan- 
derungen, Dolinami  Rzek  (Weichsel,  Niemen,  Bug,  Biebrza),  Warschau 
1903,  219  S.,  äußerst  flott  erzählt,  mit  interessanten  Aufnahmen. 

Kehren  wir  zur  Literaturgeschichte  zurück.  Ein  junger  Gelehrter, 
St.  Kossowski,  trat  mit  Studya  do  dziejow  renesansu  i  reformacyi  w 
Polsce  auf,  deren  erste  Krzysztof  Hegendorfin  w  akademji  Lubranskiego 
wPoznaniu,  1530—1535,  betraf  (Lemberg  1905,  111  und  IV  S.  8»  (aus 
dem  Przewodnik  Naukowy  i  Literacki).  Hegendorfer,  wandernder  Huma- 
nist und  Protestant,  aus  Leipzig  nach  Posen  berufen,  wo  infolge  religiös- 
literarischer  Kämpfe  sein  Bleiben  nicht  von  Dauer  sein  konnte,  Verfasser 
einer  Unzahl  von  Schriften,  trotz  seines  frühen  Todes,  ist  für  die  Posener 
Verhältnisse  der  Zeit  recht  charakteristisch;  sein  Kampf  mit  dem  Grzegorz 
Szamotulczyk  u.  a.,  wird  flott  erzählt,  aber  der  Verfasser  hat  seinen  Gegen- 
stand nicht  völlig  erschöpft  und  war  nicht  vorsichtig  genug  in  seinen  Auf- 
stellungen. Büchern  des  XVI.  Jhs.,  einer  Phrasensammlung  aus  Terenz, 
dem  »Mönch«  des  Kromer,  dialektischen  alten  und  neuen  Texten  entnahm 
ich  meine  Przyczynki  do  siownictwa  polskiego,  im  XXXVtU.  Bande  der 
Krakauer  Abhandlungen,  S.  289 — 397;  frühere  Aufsätze  von  mir  über 
Protestanten,  Laski,  Czechowic,  Krowicki  u.  a.,  sind  gesammelt  und  be- 
richtigt erschienen  als  Roznowiercy  polscy,  szkice  obyczajowe  i  literackie, 
Warschau  1905,  III  und  280  S. ;  von  meiner  Literatura  religijna  w  Polsce 
sredniowiecznej  (in  den  Bänden  der  Biblioteka  Dziel  Chrzescjanskich, 
vgl.  0.)  ist  Bd.  U,  die  h.  Schrift  und  Apokryphe,  Warschau  1903,  164  S., 
und  Bd.  III,  Legenden  und  Gebetbücher,  Warschau  1904,  187  S.,  er- 
schienen. 

So  sind  wir  aufs  Mittelalter  zurückgekommen.  Die  wei^tvollste  Be- 
reicherung erfuhren  wir  durch  das  Werk  von  Dr.  Adam  Babiaczyk, 
Lexikon  der  altpolnischen  Bibel  1455  (Sophienbibel,  Ausgabe  von  Ma- 
lecki)  bearbeitet  sowie  mit  einer  textkritischen  Einleitung  versehen,  Bres- 


Polonica.  555 

lau  1906,  353  S.  8".  Wir  hatten  bisher  nur  öin  altpolnisches  Lexikon, 
(las  Glossar  von  Prof.  Nehring  zu  seiner  Psalterausgabe  1884,  jetzt  er- 
halten wir  von  seinem  Schüler  ein  zweites.  Es  ist  sehr  sorgfältig  gearbeitet, 
der  lateinische  Vulgatatext  jedem  Zitat  beigeschrieben,  Vergleiche  mit 
dem  Leopolitatext  (1561,  respektive  1574)  beigefügt,  böhmische  Texte 
nach  Möglichkeit  verglichen;  in  der  mühevollen  Arbeit  steckt  eine  Menge 
1  Jelehrung.  In  der  Einleitung  werden  frühere  Arbeiten  über  die  Sophien  bibel, 
Xehring,  Ogonowski  u.  a.,  besprochen,  das  Verhältnis  zu  böhmischen 
Texten  erörtert,  eine  Menge  von  Glossen  erwiesen.  Eine  und  die  andere 
Erklärung  bestreiten  wir,  in  der  Annahme  lexikalischer  Entlehnungen  aus 
dem  Böhmischen  geht  der  Verf.  viel  zu  weit,  aber  sonst  ist  die  Arbeit 
grundlegend,  gestattet  erst  jetzt  einen  wirklichen  Gebrauch  des  Sprach- 
schatzes der  leider  so  unvollständigen  Bibel.  Ungleich  geringeres  Lob 
verdient  die  Schrift:  De  biblii  polonicis  quaeusque  ad  initium  saeculiXVTI 
in  lucem  edita  sunt  commentatio  biblica  critica  a  StephanoZwolski  s. 
theol.  Dre.  conscripta,  Posen  1904,  130  S.  S^>.  Die  mittelalterlichen  Texte 
(Psalter  und  Bibel)  sind  flüchtig  gestreift;  es  handelt  sich  hauptsächlich 
ura  die  Drucke  des  Seklucjan,  Leopolita  und  Wujek,  sowie  einige  andere, 
akatholische  zumeist;  die  Ausführungen  über  Leopolita  (1561)  haben  uns 
nicht  überzeugt;  der  Verf.  begnügt  sich  oft  mit  einer  Zusammeustellung 
von  Stichproben,  erschöpft  nicht  das  Material,  aber  seit  Ringeltaube  (1744!) 
ist  es  die  erste  zusammenfassende  Bearbeitung  des  Gegenstandes. 

Um  die  Bogurodzica,  das  Marienlied  von  circa  1280,  ist  ein  heftiger 
Kampf  entbrannt.  Von  musikgeschichtlichem  Standpunkte  behandelte 
das  Lied  und  seine  Melodie  Aleks.  Polinski,  Piesn  Bogarodzica  pod 
wzglcdem  muzycznym,  Warschau  1903,  139  S.  mit  Notenbeilagen;  er 
wollte  Albertus  Magnus  bei  dessen  Krakauer  Besuch  1263  die  Verfasser- 
xhaft  der  Melodie  der  ersten  Strophe  (die  zweite  ist  nur  Erweiterung 
derselben)  zuschreiben.  Gegen  seine  Darstellung  trat  ein  anderer  Musik- 
kundiger auf,  in  der  Warschauer  Musikzeitschrift  Lutnista,  1906,  März- 
lieft und  folgende,  den  Verfasser  aufs  heftigste  bekämpfend:  Adolf 
Chybinski,  z  badan  nad  »Bogurodzicfj.«.  Prof.  Bruchnalski  hat  eine 
viiUig  neue  Auffassung  des  Liedes,  vorläufig  nur  skizziert,  nicht  begrün- 
det, in  der  oben  erwähnten  Marienpublikation;  das  Lied,  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  XIV.  Jh.,  soll  Litanei  aller  Heiligen  sein,  folglich  in  den  drei 
(nicht  zwei)  ältesten  Strophen  nur  den  Anfang  enthalten.  Ich  hatte 
wegen  der  bei  Katholiken  ganz  ungewöhnlichen,  nur  den  Orthodoxen 
eigentümlichen  Bezeichnung  Bogurodzica  =  QeÖToxog  =  Bogorodica 


556  A.  Brückner, 

und  wegen  der  Zusammeustellung,  Jesus  zwischen  Maria  und  dem  Täufer, 
an  die  Deisus  orthodoxer  Kirchen  gedacht;  ein  Kleinrusse  in  Lemberg, 
Swistun,  behauptete  dann  den  russischen  Ursprung  des  Liedes,  das 
sich  Polen  fälschlich  angeeignet  hätten:  der  Herr  vergaß,  daß  es  in  der 
orthodoxen  Kirche  keinen  populären  Gemeindegesang  gegeben  hat;  da 
ich  aber  seine  Ausfülirungen  nur  aus  einem  kurzen  Zeitungsbericht  vor- 
läufig kenne,  vermag  ich  seine  Argumentation  nicht  zu  prüfen. 

Demselben  Liede,  dem  Ausgangspunkte  der  ganzen  nationalen 
Literatur  in  noch  viel  höherem  Maße,  als  es  das  Hospodine  pomiluj  ny 
für  die  böhmische  wurde,  ist  gewidmet  die  Schrift  von  Prof.  Korneli 
Heck,  uwagi  krytyczne  nad  najstarszymi  tekstami  i  kompozycja  piesni 
Bogurodzica,  und  Prof.  Adam  Chmiel,  uwagi  archiwalno-paleograficzne 
nad  piesnia  Bogurodzica  w  r^kopisie  Bibl.  Jagielonskiej  nr.  1619,  Ab- 
handlungen Band  XL,  S.  155—196  und  197—208.  Chmiel  liefert  nur 
den  Nachweis,  daß  der  älteste  Text  des  Liedes  erst  nach  14 OS  (nach 
dem  Einbinden  einer  Handschrift  von  1408,  auf  einem  leeren  Blatte  des 
Deckels),  eingetragen  ward,  während  man  früher  das  XIV.  Jh.  annahm 
—  dieses  Resultat  ist  unanfechtbar.  Desto  anfechtbarer  sind  die  Aus- 
führungen von  Heck,  der  auch  die  beiden  ersten  Strophen  erst  um  die 
Mitte  des  XIV.  Jhs.,  vielleicht  in  Gnesen,  entstanden  sein  läßt,  aber  man 
braucht  nur  die  Worte :  Twego  dziela  Chrzciciela  Bozijce  mit  dem  Eingang 
der  nächsten  Strophe  Nas  dla  wstaJ  z  martwych  syyi  Bozy  (nicht :  nas  dziela 
wstal  z  martwych  Boiyc)  zu  vergleichen,  um  das  hohe  Alter  der  beiden 
ersten  Strophen  zuerkennen;  auf  dieses  Argument  bleibt  Heck  jede  Ant- 
wortschuldig; das  folgende  Osterlied  läßt  er  erst  zwischen  1410 — 1420 
entstanden  sein,  die  folgenden  Strophen  noch  später ;  seine  Ausführungen 
bedeuten  keinerlei  Fortschritt,  vgl.  meine  ausführliche  Entgegnung  im 
Pamietnik  literacki  IH,  586 — 596,  wo  ich  auch  den  verdorbenen  Text 
[zazmerne  u.  a.)  berichtet  und  erläutert  habe. 

Sonst  sind  wir  bezüglich  des  Mittelalters  auf  polnische  Texte  in  la- 
teinischen Aufzeichnungen,  Schwurformeln  u.  dgl.  angewiesen.  Es  er- 
schienen ihrer  zwei  größere  Sammlungen.  Der  unermüdliche  Heraldiker 
und  Rechtshistoriker  Prof.  Franc.  Piekosinski  gab  als  sechsten  Band 
seiner  neuen  Studja,  rozprawy  i  materjaiy  z  dziedziny  historji  polskiej  i 
prawa  polskiego  eine  Auswahl  großpolnischer  Gerichtseintragungen  heraus, 
Krakau  1902,  XVI  und  414  S. ;  die  1447  Nummern  gehören  den  Jahren 
1400 — 1411  an.  Über  den  sprachlichen  Eiirag  derselben  will  ich  an 
anderer  Stelle  besonders  handeln;  ebenso  wie  über  den  von  J.  K.  Ko- 


Polonica.  557 

chanowski  in  den  Teki  Pawinskiego  (d.  i.  der  Nachlaß  des  verstorbe- 
nen Warschauer  Historikers  und  Archivdirektors)  herausgegebenen  Band 
Gerichtsakten.  Die  von  Prof.  B.  Ulanowski  herausgegebenen  Aus- 
züge aus  den  Acta  capitulorum  der  Polnischen  Diözesen,  die  bis  in  das 
XVI.  Jh.  (1530)  hineinreichen,  enthalten  eine  Fülle  von  Angaben  für 
Kultur-  und  Sittengeschichte,  für  die  Sprache  fällt  nur  gelegentlich  etwas 
ab;  ungleich  mehr  für  die  Literatur:  der  bloße  Besitz  polnischer  Evan- 
gelien brachte  um  die  Mitte  des  XV.  Jhs.  in  den  Geruch  der  Ketzerei  — 
so  sehr  war  der  Geistlichkeit  hussitischer  Schrecken  in  die  Glieder  ge- 
fahren, vgl.  Acta  Capitulorum  nee  non  iudiciorum  ecclesiasticorum  se- 
lecta,  tom.  II,  Acta  .  .  .  dioecesum  gneznensis  et  poznaniensis  1403 — 
1530,  Krakau  1903,  XU  und  953  S.  4»,  wo  unter  dem  Jahre  1455 
(S.  521  —  524)  wegen  der  Epistolae  dominicales  et  evangelia  in  vulgari 
und  dreier  anderer  polnischer  Bücher  gegen  den  Geistlichen  in  Pakosc 
und  Pfarrer  in  Klecko,  Stanislaus  de  Budziszewo,  eine  hochnotpeinliche 
Untersuchung  angestellt  wird ;  es  zeigt  sich,  daß  er  in  Prag  war  und  eine 
Predigt  des  Rokycana  gehört  hat. 

Aus  dem  Inhalte  der  Krakauer  akademischen  Abhandlungen,  soweit 
er  unsere  Ziele  betrifft ,  mit  Übergehung  klassischer,  romanischer  u.  a. 
l'liilologie,  sei  erwähnt  Band  XXXV,  1902,  204  S.,  der  enthält:  Emma- 
nuel Swieykowski,  studya  do  historyi  sztuki  i  kultury  wieku  o- 
slcmnastego  w  Polsce,  Monografja  Dukli  (Sitz  der  Mniszech,  reich  an  Kunst- 
schätzen ;  Pflege  des  Theaters ;  1 6  Komödien,  die  hier  aufgeführt  wurden, 
I  774 — 1778,  bietet  eine  Handschrift  der  Krakauer  Akademie,  nr.  390), 
mit  prächtigen  Illustrationen.  Band  XXXVI,  1903,  417  S.,  nannten  wir 
itreits  Archiv  XXV  wegen  der  fesselnden  Studie  von  St.  Windakie- 
^\  icz  über  das  alte  polnische  Volkstheater;  Prof.  A.  Miodonski  gab 
iiiedita  des  Philippus  Callimachus  und  Gregor  von  Sanok  heraus,  Prof. 
Fijatek  einen  Beitrag  zur  Geschichte  gräzistischer  Studien  in  Italien, 
die  Promotion  des  J.  Argyropulos  in  Padua  1484,  der  auch  mit  Polen 
ISeziehungen  unterhielt.  Band  XXXVII,  1903,  395  S.,  brachte  auf  S.  1  — 
'A  7  6  den  zweiten  und  dritten  Teil  der  Monographie  über  Simon  Simonides 
von  Prof.  K.  Heck,  über  deren  ersten  Teil  wir  Archiv  XXV  berichtet 
h.itten ;  dieselbe  alles  erschöpfende  Gründlichkeit,  Vielseitigkeit  zeichnet 
neben  Lebhaftigkeit  und  Fluß  der  Darstellung  den  Schluß  der  Arbeit  aus; 
^vir  bekommen  eine  Totalanschauung  des  Philologen  und  Dichters,  des 
Humanisten  und  Pädagogen,  des  Beraters  des  großen  Kauzlers  iZamoy- 
ski).    Zamoyski  steht  im  Vordergrunde  einiger  moderner  Publikationen; 


558  A.  Brückner, 

Dr.  Wacl.  Sobieski  gibt  im  Auftrage  der  gräflichen  Familie  aus  deren 
reichen  Archiven  wie  aus  denen  des  In-  und  Auslandes  die  vollständige 
Korrespondenz  des  großen  Politikers,  Feldherrn  und  Humanisten  aus; 
der  erste  Band  ist  bereits  erschienen,  Archiwum  Jana  Zamoyskiego  I, 
Warschau  1904;  Sobieski  behandelte  auch  das  Eingreifen  des  Poli- 
tikers —  Anfängers  in  dem  Wahlkampf  nach  1572,  Trybun  ludu  szla- 
checkiego,  1905  (auf  Zamoyski  geht  zurück  die  Losung  der  Königswahl 
durch  den  Adel  viritim,  nicht  durch  Abgeordnete,  wie  es  Rej  vorge- 
schlagen hatte).  Prof.  Heck  wirbelte  viel  Staub  auf  durch  die  Behaup- 
tung, daß  es  nur  6men  Dichter  Zimorowir.  (Barttomiej)  gegeben  habe, 
daß  die  unter  dem  Namen  des  früh  verstorbenen  Bruders  des  Dichters 
(Szymon)  1654  erschienenen  Hochzeitscarmina,  Pioksolanki,  das  Produkt 
des  älteren  Bruders  wären,  der  ja  auch  seine  eigenen  Sielanki  1663  unter 
dem  Namen  des  Szymon  gedruckt  hatte,  dem  seine  Jahre  und  Stellung 
zur  Bekenntnis  seiner  Verfasserschaft  jener  Erotica  hinderlich  waren. 
Am  ausführlichsten  tat  er  dies  in  dem  Studium,  Kto  jest  autorem  Rokso- 
lanek,  pod  imieniem  Szymona  Zimorowica  wydanych,  Abhandlungen  XL, 
S.  324 — 386,  1905  (vorher  im  Krakauer  Przeglad  Powszechny  1904, 
Juliheft,  gegen  das  Jubiläum  protestierend,  das  1904  zu  Ehren  des  an- 
geblichen Geburtsjahres,  1604,  von  Simon  Zimorowic,  gefeiert  werden 
sollte) ;  gegen  ihn  trat  Dr.  Kaz.  Jarecki  im  Pami^tnik  literacki  III — IV 
auf.  Die  Argumente  von  Prof.  Heck  sind  sehr  bestechend,  doch  hat  er  das 
letzte  Wort  in  diesem  Streite  sich  noch  vorbehalten ;  behält  er,  was  immer 
wahrscheinlicher  wird,  Recht,  so  haben  wir  es  mit  einem  außerordentlich 
gelungenen  falsum  in  der  Literatur  zu  tun,  das  seinesgleichen  nicht  fin- 
den könnte  und  250  Jahre  auf  seine  Aufklärung  gewartet  hat. 
Band  XXXVIII  enthält  den  Slowacki  des  Prof.  J.  Tretiak  (s.  u.)  und 
meine  Przyczynki  (vgl.  o.),  1904,  397  8.  Band  XXXIX,  1904,  36S  S., 
enthält  Abhandlungen  aus  klassischer  und  romanischer  Philologie  (ihr 
Verfasser,  der  Romanist  M.  Kawczynski,  ist  in  diesem  Frühjahr  ver- 
storben). 

In  die  Kulturverhältnisse  des  polnisch-roti'ussischen  Bodens  in  der 
ersten  Hälfte  des  XVII.  Jhs.  führt  uns  Wladysiaw  Lozinski  in  seinem 
Prawem  i  lewem,  obyczaje  na  Czei"wonej  Rusi  za  panowania  ZygmuntaHI., 
Lemberg  1903,  672  S.  8"  ein;  schon  1904  wurde  eine  neue  Auflage  in 
zwei  Bänden,  reich  illustiüert,  nötig.  Nicht  leicht  wäre  ein  fesselnderer 
historischer  Roman,  oder  richtiger  Kriminalroman,  aufzufinden,  denn 
Per  fas  et  nefas  können  wir  den  Titel  des  Buches  übersetzen,  das  aus 


J 


Polonica.  559 

Gerichtsakten  ausschließlich  schöpfend  das  Leben  d,  h.  Prozesse  und 
Kriminalfälle  des  p.  t.  Adels  nach  Provinzen  und  Jahren  erzählt;  die 
dämonische  Gestalt  des  »Teufels  Stadnicki«  nimmt  die  Hauptmasse  von 
Raum  und  Interesse  in  Anspruch.  Der  Verfasser  hatte  sich  als  trefflicher 
Kulturhistoriker  durch  seine  Studien  über  das  Lemberger  Patriziat  und 
Bürgertum  des  XVI.  und  XVII.  Jhs.,  über  die  Lemberger  Kunst  und 
Kleinkunst  derselben  Zeit,  bereits  bewährt;  jetzt  tritt  die  Kunst  seiner 
Darstellung  noch  mehr  in  den  Vordergi-und.  Als  eine  Ergänzung  nach 
einer  anderen,  der  konfessionellen  Seite,  kann  die  interessante,  flott  ge- 
schriebene Arbeit  von  Dr.  W.  Sobieski,  nienawisc  wyznaniowa  tlumow 
za  rzadow  Zygmunta  III.,  Warschau  1902,  199  S.,  bezeichnet  werden, 
die  Geschichte  der  nicht  offiziellen  Protestanten -pogromy  und  deren 
offizielle  Duldung  oder  Beschönigung,  samt  dem  Kampf  um  die  »Kon- 
föderation ff,  d.  h.  um  Gewissensfreiheit.  Zur  Literaturgeschichte  des 
Jahrhunderts  gehört  noch  die  sehr  fleißige  Monographie  über  einen 
Dichter  minorum  gentium  von  Leszek  M.  Dziama,  Jan  Gawinski,  stu- 
dyum  literackie,  Krakau  1905,  146  und  \T;I  S.  gr.  8'';  wesentliche  Be- 
reicherung erfahren  zwar  weder  die  biographische  noch  die  literarische 
Seite,  aber  wir  sind  dankbar  für  alles  Zusammenstellen,  Berichtigen  und 
Ergänzen  und  wünschten  nur  ähnliche  Arbeiten  für  andere  Schriftsteller 
der  Zeit. 

Für  das  XVIII.  Jh.  nennen  wir  die  fleißige  und  umsichtige  Studie 
von  Dr.  Bronisiaw  Gubrynowicz,  Romans  w  Polsce  za  czasow  Sta- 
nistawa  Augusta,  Lemberg  1904,  167  S.  8^,  eine  erschöpfende  Charak- 
teristik und  Bibliographie  der,  wie  im  gleichzeitigen  Rußland,  meist  in 
Übersetzungen  gepflegten,  von  der  offiziellen  Ästhetik  noch  nicht  aner- 
kannten Kunstgattung;  eine  Ergänzung  kann  genannt  werden,  obwohl 
sie  hauptsächlich  dem  XIX.  Jh.  angehört,  die  Studie  von  Dr.  K.  Woj- 
ciechowski.  Werter  w  Polsce,  Lemberg  1904,  175  S.  8^:  über  das 
Fortwuchern  (bis  etwa  1840)  des  Werthermotivs  in  der  polnischen  Lite- 
ratur. Eine  sehr  verdienstliche  Leistung  ist  die  Sammlung  der  poetischen 
Schriften  des  Franciszek  Zablocki,  den  wir  hauptsächlich  als  Komödien- 
schriftsteller und  Übersetzer  kennen,  von  dem  Posener  Museumskustos 
Dr.Bol.Erzepki,  Pisma  Franciszka  Zablockiego,  Posen  1903,  VIII  iiml 
400  S.  kl.  S<>,  aus  Handschriften  des  XVIII.  Jhs.  sorgfältig  geschöpft 
und  verglichen;  die  Schwierigkeit  bestand  hauptöäclilich  in  der  Ernie- 
rung  und  Begründung  des  Verfassers  bei  den  meist  ganz  namenlos  'oder 
unter  verschiedenen  Autornamen)  cirkulierenden  politischen  Pamphleten 


560  A.  Brückner, 

und  Epigrammen;    der  Herausgeber  hat  vielleicht  in   einem  speziellen 
Falle  nicht  das  richtige  getroffen,    aber  seine  Arbeit  bildet  eine  sehr 
schätzenswerte  Bereicherung  der  so  bewegten  Literatur  (um  17  90)  und 
ihres  Eingreifens  in  die  politischen  Kämpfe  und  Machinationen  des  Tages. 
Wir  fügen   gleich   eine  Posener  Jubiläumsausgabe   hinzu,    des  genialen 
Andrzej  Sniadecki  Theorie  der  organischen  Wesen  (zweimal  ins  Deutsche 
übersetzt,  1810  und  1S21),  die  im  Auftrage  der  Posener  Ärzte  (Redaktion 
der  »Medizinischen  Nachrichten  —  Nowiny  lekarskic)  Adam  Wrzosek 
besorgte,   J.  Sniadeckiego  Teorya  jestestw  organicznych ,   Posen  1905, 
LXVI,  120  und  219  S.  S».     Die  Einleitung  gibt  die  Biographie  des  Wil- 
noer  Chemikers  und  eine  Würdigung  seines  Werkes.    Einer  anderen  her- 
vorragenden Persönlichkeit  des  XVIII.  (und  XIX.)  Jhs.,  dem  glühenden 
Patrioten  und  gemäßigten  Bürger,  Gelehrten  und  Politiker,  Forscher  und 
Dichter,  Abbe  Staszic,  widmete  A.  Kraushar  eine  größere  Publikation; 
er  fand  in   der  Warschauer  Universitätsbibliothek  die  Handschrift  des 
Verfassers  und  veröffentlichte  sie  u.  d.  T. :  Dziennik  podrozy  ks.  Sta- 
nislawa  Staszica  (1777 — 1791),  Austrya,  Niemcy,  Hollandy a,  Anglia, 
Francya,  Szwajcarya,  Wiochy,  Warschau  1903,  zwei  Bände,  292  und 
281  S.  8"^;  es  ist  nur  zu  bedauern,  daß  bei  der  Armut  der  polnischen 
Literatur  an  Reisebeschreibungen  diese  Handschrift  mit  ihren   äußerst 
genauen,  statistischen  u.  a.  Angaben,  so  lange  Zeit  ganz  unbekannt,  ja 
völlig  verschollen  war;  als  pendant  dazu  aus  dem  Anfange  des  Jahr- 
hunderts sei  eine  andere  Reisebeschreibung  genannt,  herausgegeben  von 
demselben  A.  Kraushar  im  Lemberger  Przewodnik  naukowy  i  literacki, 
die  Reise  des  »Grafen  von  der  Lausitz«,  d.  h.  des  polnischen  Königs- 
sohnes und  nachherigen  Königs,  August  IH.,  in  den  Jahren  1711  — 1717, 
nach  dem  Tagebuch  seines  Mentors,   des  Marienburger  Wojewoden  und 
Hauptes  der  sächsischen  Camarilla  in  Polen,  Joh.  Georg  Przebendowski, 
Exkalviners  (wie  sein  Herr  und  König  Exlutherauer  war  und  aus  den- 
selben Gründen);  es  ist  eine  ganz  höfische  Reise,   mit  Notierung  aller 
Zeremonien  und  Aufwartungen,  deren  Fortsetzung,  am  Hofe  des  sterben- 
den Louis  XIV.  und  in  Italien,   besonders  interessant  zu  werden  ver- 
spricht.    Einer  anderen,   weniger  als  Staszic  einheitlichen,   aber  nicht 
minder  patriotischen  und  genial  veranlagten  Persönlichkeit  des  ausgehen- 
den XVIII.  Jhs.,  dem  Exunterkanzler  und  Exdiktator  Kollataj  widmete 
Waciaw  Tokarz  eine  Art  Rehabilitationsschrift,  Ostatnic  lata  Hugona 
Kollataja,   zwei  Bände,    347  und  269  S.,   Krakau   (Akademieausgabe) 
1905,  die  das  Olmützer  Gefängnisleben  und  die  Periode  der  folgenden 


Polonica.  561 

Vereinsamung  des  Denkers  und  Pädagogen,  des  Memoiristen  und  Pro- 
jektenmachers, des  Historikers  und  Sittenschilderers  auf  Grund  fast  ganz 
unbekannten,  handschriftlichen  Materials  schüdern. 

Wir  haben  eben  den  Namen  Alexander  Kraushar's  genannt. 
Wollten  wir  alle  seine  Studien  und  Skizzen  nennen,  wtirden  mehrere 
Seiten  nicht  alle  die  Titel  fassen;  ein  glücklicher  Finder,  ein  unermüd- 
licher Sucher,  hat  er  die  Literatur-  und  namentlich  Kulturgeschichte  um 
eine  Menge  intereressanten  Details  bereichert.  Sein  umfangreichstes 
Werk,  acht  starke  Bände  hat  er  unlängst  vollendet:  Towarzystwo  Kro- 
lewskie  Przyjacioi  Nauk  1800 — 1832,  über  die  ersten  Bände  haben  wir 
bereits  berichtet  gehabt,  jetzt  liegen  vor  Band  IV,  die  Sitzungen  und 
Tätigkeit  der  Gesellschaft  1816 — 1S20,  Krakau  und  Warschau  1902, 
408  S.  80;  Band  V,  die  Sitzungen  von  1820—1824,  Krakau  und  War- 
schau 1904,  476  S.;  Bd.  VI,  1824—1828,  1905,  501  S.;  Band  VU, 
die  letzten  Jahre,  1828—1830,  1905,  531;  Band  VIU,  der  Epilog, 
1831  —  1836,  1906,  513  S.,  da  die  Gelehrte  Gesellschaft  das  odium 
ihres  Präsidenten,  des  Russophoben  Niemcewicz,  und  des  Aufstandes 
von  1831  auf  sich  nehmen  mußte;  die  Berichte  der  Untersuchungskom- 
missionen, die  recht  unwürdige  RoUe  des  Exmitgliedes  der  Gesellschaft, 
Linde,  die  systematischen  Verfolgungen  bis  zu  der  von  vornherein  vom 
Kaiser  beschlossenen  Aufhebung  der  Gesellschaft  füllen  die  traurigen 
Blätter  dieses  Bandes.  So  ist  nach  Generationen  eine  erschöpfende  Dar- 
stellung der  Tätigkeit  dieser  unter  den  schwierigsten  Umständen  ins 
Leben  gerufenen,  mit  den  widrigsten  Verhältnissen  kämpfenden,  aus- 
schließlich auf  die  Opferwilligkeit  der  eigenen  Mitglieder  angewiesenen, 
zuletzt  von  der  Regierung  geplünderten  Gesellschaft  gegeben,  eine  alte 
Dankesschuld  gelöst  worden.  Wir  nennen  noch  von  demselben  Heraus- 
geber seine  Obrazy  iWizerunki  historyczne,  Warschau  1906,  422  S.,  eine 
Sammlung  von  zerstreut  in  den  letzten  Jahren  erschienenen  Skizzen,  über 
Rylejev  und  Niemcewicz,  Fedor  Lysenko,  der  Kosciuszko  bei  Maciejo- 
wice  verwundete  u.s.w.,  im  buntesten  Durcheinander,  von  einer  Relation 
über  den  Tod  von  Sigismund  August  1572  bis  zum  Neki'olog  eines 
Brüsseler  Buchhändlers  und  Dichters  (Merzbach),  alles  reich  illustriert;  die 
Illustrationen  bilden  auch  einen  Ilauptschmuck  seines  Werkes  über  das 
Towarzystwo. 

Zum  XVIII.  Jh.  sei  noch  genannt  die  neue  Ausgabe  des  Glos  wolny, 
der  Reformschrift  des  Königs  Stanislaw  Leszczynski,  die  A.  Rembow- 
ski  auf  Grund  des  Originals  von  der  Iland  des  Königs  besorgt  hat,  als 

Archiv  für  slavischo  l'hilologie.    XXVIll.  36 


562  A.  Brückner, 

XIX.  Band  des  Muzeum  Konst.  Swidzinskiego,  Warschau  1903,  LXXXIV 
und  114  S.  40.  Es  waren  nämlich  Bedenken  über  die  Autorschaft  der 
denkwürdigen  Schrift  aufgetaucht,  das  Datum  ihres  polnischen  Druckes 
1733  (die  französische  Übersetzung  ist  von  1749)  erregt  begründete 
Zweifel  —  alles  zerstreut  die  treffliche  Publikation  mit  ihrer  eingehen- 
den Würdigung  der  Gedanken  und  Projekte  des  Königs. 

Beim  Eintritt  in  das  XIX.  Jh.  nennen  wir  eine  Materialiensammlung, 
die  der  gesammten  Literaturgeschichte  sich  zuwendet,  den  zweiten  Band 
von  den  Materja^y  do  dziejow  pismiennictwa  polskiego  i  biografji  pi- 
sarzow  polskich  zebral  Teodor  Wierzbowski,  Warschau  1904,  XXV 
und  249  S.  4";  der  Band  reicht  vom  Mittelalter  bis  1831,  bringt  Briefe, 
Privilegien  der  Buchhändler,  Quittungen,  Testamente  (des  Stanislaw 
Orzechowski  u.  a.),  Nobilitationen,  Vorlesungsprogramme  u.  dgl.,  wesent- 
liches und  unwesentliches  in  buntem  Durcheinander;  in  der  Vorrede 
polemisiert  der  Herausgeber  mit  (dem  heutigen  Senator)  G.  Sänger,  mit 
Prof.  Ptaszycki  und  mit  mir  wegen  der  Ausstellungen,  die  wir  an  dem 
Text  des  ersten  Bandes  gemacht  haben. 

Aus  den  Reihen  der  Literaturhistoriker  hat  der  Tod  den  unermüd- 
lichen Ai'beiter,  Piotr  Chmielowski,  vorzeitig  herausgerissen,  ließ 
sich  ihn  nicht  lange  des  endlich  erreichten  Universitätskatheders  freuen ; 
jeder  unserer  früheren  Berichte  hatte  ja  eine  lange  Reihe  seiner  Publi- 
kationen zu  nennen  gehabt.  Von  der  Historya  Literatury  Polskiej  des 
Grafen  Stanislaw  Tarnowski  ist  Band  VI,  erster  Teil,  erschienen, 
Krakau  1905,  XI  und  367  S.  8»,  umfassend  die  Jahre  1850—1863,  d.i. 
das  romantische  Epigonentum,  die  Literatur  der  W.  Pol,  Syrokomla  (über 
den  unlängst  eine  recht  sorgfältige,  pietätsvolle  Monographie-Synthese 
erschienen  ist,  A.  Drogoszewski,  Wladystaw  Syrokomla  1823 — 1862, 
Warschau  1905,  119  S.  8''),  Lenartowicz,  Korzeniowski,  Klaczko  —  die 
zumeist  vergessenen  Rezensionen  desselben,  Meisterstücke  der  Invektive 
und  Intuition  zugleich,  frischte  unlängst  Ferdynand  Hoesick  auf, 
Juliana  Klaczki  pisma  polskie,  Warschau  1902,  305  S.  8^,  freilich  mit 
der  nötigen  Rücksicht  auf  den  Drachen  Zensur;  er  schrieb  auch  ein 
Lebensbild  des  Verfassers,  Juljan  Klaczko,  rys  zycia  i  prac  1825 — 1904, 
Krakau  1904,  246  S.  klein  8*^,  ganz  populär  gehalten;  die  französischen 
Aufsätze  dieser  glänzenden  Feder  tibersetzten  Graf  St.  Tarnowski, 
J.  Jablonowski  und  Ant.  Potocki,  und  gaben  sie,  Warschau  1904, 
heraus:  szkice  i  rozprawy  literackie,  XXVII  (Vorrede  von  Tarnowski) 
und  439  S.  8";  erst  auf  diese  Weise  ist  flüssig  geworden  das, in  den  ver- 


Polonica.  563 

gilbten  Jahrgängen  der  Wiadomosci  polityczne  oder  der  Revue  de  deux 
mondes  verscharrte  Edelmetall  von  Gedanken  und  Analysen.  Die  be- 
kannten Vorzüge  der  Darstellungsweise  des  Tarnowski,  seinen  feinen 
ästhetischen  Sinn,  den  umfassenden  Blick,  die  vollendete  stylistische 
Form  weist  dieser  Band  schon  darum  weniger  auf,  weil  er  meist  von 
Kleinem  handelt;  wir  sind  gespannt  auf  den  zweiten  Teil,  der  auch  die 
neueste  Literatur  umfassen  soll. 

Ich  nenne  meine  Dzieje  literatury  polskiej  w  zarysie,  zwei  Bände, 
Warschau  1903,  476  und  lU  sowie  497  und  X  S.  80;  der  erste  Band 
behandelt  die  Literatur  bis  1800,  der  zweite  die  des  XIX.  Jhs. ;  mit 
meinem  deutschen  Buche  gleichen  Titels  hat  dieses  polnische  nichts 
gemein,  bestimmt  für  andere  Leser  und  Bedürfnisse;  das  Buch  hat  wohl- 
wollende Aufnahme  von  Seiten  der  Kritik  gefunden ;  es  drängt  das  bio- 
und  bibliographische  Moment  ganz  in  den  Hintergrund,  bevorzugt  etwas 
gar  einseitig  das  kulturhistorische  und  ist  ohne  alle  Anmerkungen,  d.  h. 
ohne  alle  Belege  für  Behauptungen.  Die  glänzendste  Leistung  polnischer 
Kritik,  selbst  ein  Kunstwerk  hohen  Ranges,  ist  des  Herausgebers  der 
Krakauer  Monatsschrift  Krytyka,  Wilh.  Feldman,  Pismiennictwo  pol- 
skie  1880 — 1904,  Lemberg  1905,  vier  Bände,  in  dritter  Auflage  er- 
schienen, 292,  251,  243  und  454  S.  8'^  mit  vielen  Portraits  und  anderen 
Illustrationen;  in  der  dritten  Auf  läge  ist  der  vierte  Band,  die  Geschichte 
der  zeitgenössischen  Kritik  enthaltend,  neu  hinzugekommen.  Ein  ähn- 
liches Werk  besitzt  z.  B.  die  russische  Literatur  gar  nicht,  unter  deren 
Kritikern  nur  Volynskij  und  Merezkovskij,  wenn  sie  das  rein  ästhetische 
und  den  sozialen  Hintergrund  mehr  berücksichtigen  würden,  herankom- 
men könnten.  Allerdings  werde  ich  Feldman's  Synthese  keine  objektive 
nennen,  sein  Temperament  verführt  ihn  bis  zu  ki-asser  Einseitigkeit  in 
der  Beurteilung  oder  richtiger  Verurteilung  der  Gegner,  aber  sein  Nach- 
empfinden der  Intentionen  eines  jeden  Werkes,  die  tief  dringende  psy- 
chologische, ästhetische,  sozialpolitische  Analyse,  das  Hervorkehren  des 
Individuellen  und  Charakteristischen  mit  Übergehung  alles  minder  be- 
deutsamen, der  weite  vergleichende  Blick,  die  umfassende  Belesenheit 
und  die  geradezu  vollendete  Darstellung  gewähren  bei  der  Lektüre  einen 
hohen  Genuß;  man  mag  über  manches  und  manche  ganz  anderer  An- 
sicht sein,  einen  fesselnderen  und  bewährteren  Führer  im  Irrgarten  der 
Modernen  wird  man  gewiß  nicht  auftreiben.  Eine  besondere  Schrift,  aus 
Vorlesungen  in  den  Ferienkursen  in  Zakopane  entstanden,  ist  seine,  die- 
selben Vorzüge  —  ohne  die  Fehler  aufweisende,  ganz  vortrelTüche  Clia- 

36* 


564  -A^-  Brückner, 

rakteristik  von  Wyspianski  und  Zeromski,  den  beiden,  einander  so  ent- 
gegengesetzten Koryphäen  der  modernen  Literatur,  0  tworczosci  St.  Wy- 
spianskiego  i  Stef.  i^eromskiego ,  Krakau  1905,  168  S.  S*^,  sowie  das 
maß-  und  verständnisvolle  Studium  über  Ibsen,  1906,  216  S.  8^. 

Das  Studium  von  Dr.  Tadeusz  Grabowski,  Poezja  polska  po 
roku  1863,  Krakau  1903,  bleibt  hinter  dem  eben  genannten  Werke 
zurück,  trotzdem  der  Verfasser,  der  sich  vorher  namentlich  mit  französi- 
scher Literatur  und  mit  polnischen  Kritikern  beschäftigt  hatte,  ein  siche- 
res ästhetisches  Empfinden  verräth.  Noch  viel  weniger  vermochte  seiner 
Aufgabe  gerecht  zu  werden  Tadeusz  Sierzputowski,  Romantyzm 
polski,  jego  fazy,  istota  i  skutki,  proba  syntezy,  Lemberg  1905,  278  S.  8", 
aus  dessen  Ausführungen  die  über  die  kritische  Literatur  der  polnischen 
Romantik  am  gelungensten  ausfielen,  während  die  eigentliche  Synthese 
der  Romantik  nur  am  äußerlichen  haften  bleibt.  Eine  der  letzten  Ar- 
beiten von  Piotr  Chmielowski  war  gerade  der  Geschichte  der  Kritik 
in  Polen  gewidmet,  Dzieje  krytyki  literackiej  wPolsce,  Warschau  1902, 
XVII  und  III  und  553  und  X  S.  8^;  hier  bewegte  sich  der  Verfasser  im 
eigensten  Fahrwasser,  doch  löste  er  auch  hier  die  Darstellung  in  Einzel- 
bilder auf  und  charakterisierte  vielleicht  allzu  reichlich  die  Kritiker  nur 
mit  ihren  eigenen  Worten;  in  einem  Anhang  (von  S.  473  ab)  gab  er  aus- 
führlicher die  Ansichten  der  Kritiker  über  Roman  und  Drama  wieder. 

Vermischte  Aufsätze  und  Studien  werden  in  besonderen  Sammlungen 
der  Vergessenheit  entrissen;  so  gaben  die  Schüler  des  früh  verstorbenen, 
verdienten  Pädagogen  Ant.  Gust.  Bem,  Studya  i  szkice  literackie  ihres 
Lehrers  pietätsvoll  heraus,  Warschau  1904  (mit  einer  Einleitung,  einer 
Würdigung  der  Lebensarbeit,  durch  J.  Chrzanowski),  316  S.  gr.  8^  — 
sie  umfassen  einiges  aus  der  älteren  Literatur  (Rej  u.  a.)  und  sind  beson- 
ders Erscheinungen  des  XIX.  Jhs.  gewidmet  (Zaleski;  Messianismus ; 
Asnyk  u.a.).  Ign.  Chrzanowski  gab  Okruchy  literackie  heraus,  War- 
schau 1903,  aber  nur  das  Format  (206  S.  kl.  8^)  ist  en  miniature  ge- 
halten, nicht  die  Skizzen  selbst  (Konarski;  Zmichowska,  deren  besonderer 
Verehrer  der  Kritiker  ist;  Ujejski  u.  a.).  Dr.  St.  Zdziarski  gab  Szkice 
literackie  heraus,  Lemberg  und  Warschau  1903,  VUI  und  311;  er  pflegt 
mit  Vorliebe  Berührungen  zwischen  polnischen  und  russischen  Dichtern 
(hier  z.  B.  Witwicki  und  Zukovskij's  Svetlana;  Mickiewicz  und  Lermon- 
tov,  nachgehend  den  oft  recht  zweifelhaften  Spuren  des  polnischen  Dich- 
ters) sowie  Einzelnheiten  zu  Zaleski  u.  a.  Höher  stehen  die  kritischen 
Skizzen,  nur  der  Moderne  gewidmet,  eines  Jan  Sten  (Pseudonym  eines 


Polonica.  565 

Naturforschers),  Dusze  wspotczesne,  Lemberg  1903;  Pisarze  polscy, 
ebds.  1903;  Szkice  krytyczne,  ebds.  1906,  207  S.  8"  (besonders  aus- 
führlich über  Wyspianski);  sie  verraten  ein  tiefes  Verständnis,  haben 
eine  gediegene  Form,  doch  sind  es  mitunter  nur  Wiedergaben  eines  Im- 
pressionisten, der  bloß  das  Medium  zwischen  Autor  und  Leser  sein  will. 
Am  höchsten  erhebt  sich  der  Warschauer  Kritiker  Ignacy  Matuszew- 
ski,  ein  gründlicher  Kenner  aller  Literaturen  sowohl  wie  der  modernen 
Evolution  von  Psychologie  und  Kritik;  aus  seinen  gesammelten  Auf- 
sätzen nenne  ich:  Swoi  i  obcy,  pokrewienstwa  i  roznice,  zarysy  literacko- 
estetyczne,  Warschau  1903,  432  S.  (über  Prus,  Sienkiewicz,  Siowacki, 
Byron  in  der  polnischen  Poesie  u.  a.) ;  Tworczosc  i  Tworcy,  Warschau 
1904  (ti-effende  theoretische  Ausführungen  in  »Ziele  der  Kunst«  »Psy- 
chologie der  Kritik«;  sowie  über  einige  moderne  Schriftsteller);  seine 
Vorliebe  für  weit  ausgreifende  Parallelen  bewies  namentlich  sein  Djabel 
w  poezji,  zweite  stark  erweiterte  Ausgabe,  Warschau  1900,  ein  eigen- 
artiges Studium  über  Verkörperung  des  »Bösen«,  zu  allen  Zeiten,  mit  be- 
sonderem Hervorheben  des  Sinkens  seines  Niveau  auf  slavischem  Boden. 
Andere  Sammlungen,  von  A.  Potocki,  Prof.  J.  Kallenbach  (mit  ein- 
zelnen schönen  Skizzen,  z.  B.  über  Lenartowicz],  Marja  Konopnicka 
u.s.w.,  müssen  wir  übergehen.  Ebenso  lassen  wir  unbesprochen  eine 
Menge  von  Aufsätzen,  die  einzelnen  Dichtern,  großen  und  kleinen,  in 
Zeitschriften,  Biblioteka  Warszawska  (Studien  von  J.  Tretiak  u.  a.) 
U.S.W. ,  gewidmet  sind,  mögen  sie  auch  noch  so  interessantes  Detail  ent- 
halten. Wir  nennen  zum  Schlüsse  nur  noch  des  verdienten  Publizisten, 
Zygm.  Wasilewski,  Sladami  Mickiewicza,  Lemberg  1905,  III  und 
300  S.  kl.  8'',  die  wirklich  »szkice  i  przyczynki  do  dziejow  romantyzmu« 
sind,  wie  der  Untertitel  lautet,  obwohl  der  Messianismus  (ToAvianski) 
überwiegt,  sowie  die  »Befreiung«  von  demselben,  wie  sie  sich  Wyspian- 
ski, ein  »neuer  Konrad«  denkt;  Wasilewski  verdanken  wir  auch  das 
Unternehmen  einer  Gesamtausgabe  der  Werke  des  Goszczynski,  die  deren 
bisherigen  Umfang  um  das  Doppelte  übertreffen  sollen:  Pisma  Seweryna 
Goszczynskiego,  wydanie  kompletne,  uzupeluione  Pismami  posmiertnemi, 
I,  Lemberg-Warschau  1904,  XI  und  317  S.  S". 

Während  die  letzten  Jahre  die  Mickiewiczliteratur  nicht  besonders 
bereichert  haben  (am  meisten  brachte  neues  und  wertvolles  der  Nachweis 
des  Einflusses  vom  alten,  gefeierten  Patrioten  und  Dichter  Niemoowicz  auf 
Mickiewicz,  wie  ihn  Prof.  Wilh. Bruchnalski  im  Pamic^tnik  literacki  IV 
und  V  durchführte),  erfuhr  die  Literatui-  über  Siowacki  und  Krasinski  außer- 


566  A.  Brückner, 

ordentliche  Förderung.  So  gab  Prof.  TadeuszPini,  mit  Unterstützung  der 
gräflichen  Familie,  d.  i.  des  Enkels  des  Dichters  und  Herausgebers  der 
Biblioteka  Warszawska,  Graf  Adam  Krasiuski,  eine  vollständigere  Samm- 
lung der  Werke  des  Zygmunt  Krasiuski  und  in  sorgfältigerer  Form,  als 
wir  sie  bisher  gehabt  haben,  Jugendschriften  sowohl  wie  die  Lyrik  der 
Mannesjahre,  die  bisher  verschollen  oder  unbekannt  waren,  in  sechs 
Bänden  (Lemberg  1904);  als  7.  und  8.  Band  erschien  hierzu  von  Prof. 
Jozef  Kallenbach  eine  Biographie  des  Dichters:  Zygmunt  Krasiuski, 
zycie  i  tworczosc  lat  miodych  1812 — 1838,  auf  Grund  nur  ihm  zugäng- 
licher Quellen,  des  Briefwechsels  zwischen  Sohn  und  Vater  (dem  napoleo- 
nischen General  und  russischen  Statthalter),  anderer  eigenhändiger  Auf- 
zeichnungen des  Dichters ;  der  Herausgeber  seines  Briefwechsels  mit  dem 
Engländer  Reeve,  seiner  meist  französischen  Jugendschriften,  war  wie 
niemand  anderer  zur  Erfüllung  dieser  Aufgabe  berufen. 

Die  Literatur  wie  der  Kultus  von  SJ:owacki,  der  jetzt  erst  ein  ver- 
ständnisvolleres Publikiun  gefunden  hat,  als  zu  seinen  Lebzeiten  dies 
möglich  war,  da  man  seiner  Poesie  ratlos  meist  gegenüber  stand,  sind  im 
steten  Aufstieg  begriffen.  Die  treffliche  Arbeit  von  Matuszewski,  die 
ausführlich  den  Zusammenhang  der  Modernen  mit  Siowacki,  dessen  vor- 
ahnendes Erfüllen  ihres  Programmes  begründete,  erschien  in  zweiter, 
vermehrter  Auflage  (1904);  aus  dem  Nachlaß  des  Dichters  wird  immer 
neues  publiziert,  z.  B.  sein  Drama,  phantastisch  und  geheimnisvoll  wie 
alles  aus  seinen  späteren  Jahren,  Samuel  Zborowski  (an  dem  nur  der 
Titel  als  historisch  gelten  kann)  gab  der  Literarhistoriker  Henr.  Biegel- 
eisen heraus  (Warschau  1903,  215  S.  8");  seinen  Zawisza  Czarny,  von 
dem  dasselbe  gelten  muß,  Artur  Gorski  (Warschau  1906,  199  S.  S"); 
die  Erzählung  der  Mokryna  Mieczysiawska  mit  Varianten  Biegeleisen 
u.  a. ;  eine  kritische  Studie  über  den  Zborowski  verdanken  wir  Dr.  Wik- 
tor Hahn,  Lemberg  1905,  71  S.  gr.  8^.  In  diesen  bewundernden  Chorus 
fiel  als  ein  etwas  schriller  Mißton  herein  das  außerordentlich  lebhaft  und 
fesselnd  geschriebene  Werk  von  Prof.  Jozef  Tretiak,  Juliusz  Siowacki, 
Historja  ducha  poety  i  jej  odbicie  w  poezji,  Krakau  1904,  Band  I,  VIH 
und  494,  BandU,  504 S.  8^.  Es  rief  die  schärfste  Polemik  hervor;  Piotr 
Chmielowski  nannte  den  ersten  Band  «ein  vom  Scheine  kritischer  Wür- 
digung beschönigtes  Pamphlet«,  ihm  trat  der  Verfasser  W  obronie  wia- 
snej  ksiazki  entgegen  (24  S.);  die  Polemik  zog  weitere  Kreise,  vgl.  das 
Schriftchen  von  Z.  Wasilewski,  Spor  o  Stowackiego  jako  zagadnienie 
nauki  i  kultury,  Lemberg  1905,    37  S.;    sie   führte   auch   zum  jähen 


Polonica.  567 

Wechsel  in  der  Redaktion  des  Pami^tuik  literacki.  Der  Verfasser  hatte 
allzusehr  das  persönliche  Moment  herausgehoben,  sich  zum  Gewissens- 
richter des  Dichters  aufgeworfen  und  mußte  daher  Anstoß  erregen;  an- 
dererseits beachtete  man  nicht  die  Verdienste  und  Vorzüge  des  Werkes, 
das  Lösen  manchen  Rätsels  in  den  Schöpfungen  des  Stowacki,  in  denen 
bewußter  und  unbewußter  Antagonismus  zu  Mickiewicz  vor  1840  ein 
wichtiges  Moment  bildet,  das  eben  Tretiak,  vielleicht  allzu  stark,  allzu 
einseitig  zugunsten  des  großen  Rivalen  betonte.  Der  zweite  Band,  der 
viel  unbefangener,  würdevoller  die  letzte,  entscheidende  Evolution  des 
Dichters  behandelte,  die  ungeheuchelte,  volle  Anerkennung  des  Zaubers 
seiner  Poesie,  litt  bereits  unter  dem  Eindrucke,  den  der  erste  gemacht 
hatte;  die  Angriffe,  deren  starkes  Echo  wir  auch  bei  Feldman  finden, 
eines  T.  Pini  u.a.,  gingen  entschieden  viel  zu  weit,  gefielen  sich  in  unge- 
heuerlichen Verdächtigungen  sogar.  Andere  kleinere,  doch  wertvolle 
Beiträge  zur  Siowackiliteratur  eines  K.  Jarecki  (über  W  Szwajcarji  des 
Dichters,  aus  der  Biblioteka  Warszawska),  u.  a.  müssen  wir  tibergehen. 

Gegenüber  dieser  Fülle  von  literarhistorischen  und  kritischen  Ai'- 
beiten,  die  wir  ja  nur  zum  Teil  erschöpfen  konnten,  sticht  der  Mangel  an 
linguistischen  Studien  ab.  Grammatische,  namentlich  syntaktische,  pflegt 
seit  jeher  Prof.  Jan  tos,  so  auch  in  seiner  neuesten  Schrift,  Funkcye 
narzqdnika  w  j((Zyku  polskim,  Abhandlungen  Band  XL,  1904,  S.  94 — 
154,  doch  ist  seine  Beispielsammlung  für  den  Gebrauch  des  Instrumen- 
talis nur  aus  mittelalterlichen  Texten  geschöpft;  besonders  venveilt  er 
natürlich  bei  dem  prädikativen  Instr.,  widerlegt  die  Erklärungen  eines 
Potebnja  oder  Malecki,  erklärt  sich  gegen  Herleitung  aus  dem  modalen 
Brauch  und  denkt  an  den  distributiven  sowohl  wie  den  der  «Hilfsmotive« 
(eigentlicher  Instrumental).  Kleinere,  in  deutscher  Sprache  erschienene 
Arbeiten  von  Benni  oder  Uiaszyn,  sind  bereits  im  Archiv  angezeigt 
worden ;  zu  letzterer  sei  nachträglich  bemerkt,  daß  das  Material  (für  die 
sog.  »Entpalatalisierung«,  einfacher  gesagt,  für  den  Umlaut  ie-io  und 
ie-ia)  wohl  zusammengestellt  ist,  dagegen  die  Einzelausführungen  ver- 
fehlt sind.  Ich  bekämpfe  «falsche«  Analogien  —  die  Sprache  kennt  nur 
«richtige«,  nur  Linguisten  operieren  mit  falschen  —  dann,  wenn  sie 
eben  unrichtig  sind,  wenn  sie  das  Wesen  der  Erscheinung  nicht  treffen. 
Wenn  ich  meinte,  daß  im  Polnischen  nicht  hez^  sondern  bicz  zu  erwarten 
wäre,  so  habe  ich  *bioz  (wie  lautlich  verlangt  werden  könnte)  darum 
nicht  angesetzt,  weil  es  auch  nur  ein  przez,  kein  *przoz  gibt,  was  seinen 
guten  Grund  hat;  przez  und  *bicz  [bez]  berühren  sich  aber  seit  jeher 


568  A.  Brückner, 

näher.  Ich  hahe  Respekt  nur  vor  Fakten,  nicht  vor  Lautgesetzen,  die 
sich  nach  den  Fakten  zu  richten  haben,  nicht  umgekehrt;  Lautgesetz- 
reiterei ist  ebenso  unrichtig,  wie  (falsches)  Analogieschmieden ;  ich  kenne 
nur  eines  —  historische  Betrachtung.  Und  diese  wird  nie  die  Erklä- 
rungen, die  Uiaszyn  vorträgt,  zugeben,  z.  B.  2)owiedac  sei  aus  dem 
Böhmischen  entlehnt,  was  leicht  zu  behaupten,  aber  unmöglich  wahr- 
scheinlich zu  machen  ist;  ebenso  verhält  es  sich  mit  tvier^  im  Akkusativ; 
wenn  »die  Geschichte  keinen  Fall  von  Veränderung  unter  dem  Einflüsse 
des  Localis  kennt«  (S.  17),  woher  sind  die  e  von  krzesio^  na  wiesne 
genommen?  u.s.w.  Neues  brachten  die  Materyaly  i  prace  komisyi  j^zy- 
kowej  Akademji  Umiejetnosci  w  krakowie,  bis  jetzt  drei  Bände,  1904 
und  1905.  Das  beste  leistete  Kazimierz  Nitsch  durch  seine  groß 
angelegten  und  systematisch  ausgeführten  Dialektstudien  im  Nordwesten 
des  Sprachgebietes  {westpreußische  und  kaschubische  Dialekte);  hierher 
gehören  namentlich  seine  Beschreibung  des  Lusiner  Dialektes,  I,  221  ff. 
und  seine  «Polnische  Dialekte  in  Westpreußen«,  III,  101 — 284,  mit 
Dialektmappe;  hier  behandelt  er,  von  Pfarrei  zu  Pfarrei  fortgehend, 
kaschubisch-polnische  Grenzdialekte,  sowie  die  polnischen  Dialekte  der 
Krajna  (Krajniacy)  oder  wie  er  ihn  nennt  zlotowski,  der  Tuchler  Haide 
(tucholski,  sonst  Dialekt  der  Borowiaken),  des  Kociewie  mit  seinen  Unter- 
dialekten. Der  zweite  Teil,  die  polnischen  Dialekte  Westpreußens  auf 
dem  rechten  Weichselufer,  ist  ebenfalls  bereits  erschienen  (Materyaly 
in,  1905,  S.  305 — 395);  es  ist  das  Ergebnis  einer  Bereisung  der  Gegend 
im  Sommer  1905,  etwas  knapper  gehalten  als  der  vorhergehende  Teil. 
Zwei  Mappen  mit  genauer  Eintragung  der  Dialekte  (verschiedene  Farben 
aller  Ortschaftsnamen)  gewähren  ein  anschauliches  Bild.  Es  ist  unmög- 
lich, hier  aufmerksam  zu  machen  auf  alle  interessanten  Erscheinungen  in 
der  Lautlehre  zumal,  auch  im  Glossar,  wo  zähes  Festhalten  an  alten, 
ganz  vereinzelten  Worten  auffällt,  z.  B.  blewiezic  plappern  [hlewqzgac 
auch  für  lästern  kommt  schon  im  XV.  Jh.  vor) ;  cluzy  duzny  für  groß  in 
Westpreußen  kann  ohne  weiteres  gegen  kleinrussische  Entlehnung  des 
Wortes  aufgeführt  werden;  chluba  für  Gerte,  cigedz  für  Schatten,  za- 
manqwszy  für  zeitweilig  u.  dgl. ;  sehr  interessante  Beobachtungen  lassen 
sich  für  Entlehnungen  aufstellen,  in  lautlicher  wie  in  semasiologischer 
Beziehung  (z.  B.  zala  Sohle,  skowron  heißt  auch  Lärche  =  Tannen- 
baum!). Auch  hier  kommt,  wie  anderwärts  der  Dunaj\  WisJa  für  Fluß 
überhaupt  vor  —  aber  dadurch  wird  die  Etymologie  von  Wisia  =  Fluß, 
die  bekanntlich  Rozwadowski  aufgestellt  hat,  mit  nichten  gestützt.    Auf 


Polonica.  569 

die  eigentlich  mazurischen  Dialekte,  die  scipiq  (d.  i.  c,  5  für  cz,  sz  sagen) 
und  moziq  (d.  i.  z  aus  wz  für  w  sprechen,  zirzha  =  wierzha^  do  zizy- 
nio  =  do  widzenia,  zilk,  zino  —  trotz  Schriftsprache!!),  erstreckt  sich 
der  Bericht  nicht  mehr.  Authentische  Texte,  Briefe  z.  B.,  erläutern  das 
Gesagte. 

Die  Fülle  und  Genauigkeit  der  Beobachtungen  gemahnt  an  die 
ihrerzeit  grundlegenden,  schlesischen  Aufzeichnungen  von  Malinowski; 
auf  Mitteilung  von  Texten  ist  allerdings  geringeres  Gewicht  gelegt,  desto 
mehr  auf  erschöpfende  Charakteristik  der  phonetischen  Seite ;  auch  der 
lexikalische  Teil  geht  nicht  leer  aus.  Aus  Anlaß  des  Artikels  von  Lo- 
rentz  über  die  Verwandtschaftsverhältnisse  der  westslavischen  Sprachen 
im  Archiv  schreibt  er  über  dasselbe  Thema,  III,  1 — 57  ;  aus  diesen  Aus- 
einandersetzungen kommt  nichts  heraus,  wohl  aber  muß  man  sich  über 
manche  Bemerkung  baß  verwundern,  z.  B.  daß  «in  Pommern  der  Wider- 
stand gegen  die  Metathese  (tort  zu  trot)  aus  oft  äußeren  Umständen  folgen 
konnte,  wie  die  Nachbarschaft  der  Preußen,  bei  denen  diese  Gruppe 
(tort)  gewöhnlich  war«  (S.  57;  ich  übersetze  wörtlich,  damit  man  mich 
nicht  fauler  Witze  zeihe;  die  Abneigung  der  Polaben  gegen  trot  ist 
dann  wohl  von  der  Nachbarschaft  der  Deutschen  gekommen  u.  s.w.?). 
Gegen  diese  Fülle  von  neuem  und  interessanten  dialektischem  Material, 
wie  es  uns  seit  Malinowski's  Zeiten  nicht  mehr  geboten  ward,  kommen 
kurze  Schilderungen  einiger  Lokaldialekte,  von  Witek,  Dobrzycki  u.a. 
nicht  auf.  Prof.  Rozwadowski  teilt  altes  Material  mit;  gibt  eine  ge- 
nauere Abschrift  des  bekannten  Polykarpdialoges  vom  Tode  und  der 
alphabetischen  Todtenklage  aus  der  Mitte  des  XV.  Jhs.  sowie  den  un- 
bedeutenden sprachlichen  Ertrag  aus  einer  Nonnenregel  von  1540,  an 
der  mir  am  meisten  der  Gebrauch  des  slovakisch-magyarischen  cidek  für 
Distrikt  aufgefallen  ist;  er  wie  Prof.  Baudouin  de  Courtenay  gaben 
auch  allgemeine  Anleitungen  für  dialektische  Aufzeichnungen  und  Cha- 
rakteristiken der  polnischen  Phonetik.  J.  Leniek  teilt  ein  paar  belang- 
lose böhmische  Texte  (Haupt-Gebete)  aus  einem  lateinischen  Gebetbuch 
von  1424  (heute  in  Przemyls)  mit,  samt  dem  Salve  Regina.  Holger 
l'cdersen  begründet  (S.  165  flf.)  die  Zusammenstellung  von  gqba  mit 
Schwamm  (aus  zgitomhho-]  und  gibt  noch  einige  slavo-deutsche  Paralle- 
len: inij  und  h  (wobei  dann  litauisches  ]/ms  als  entlehnt  fallen  muß], 
szczeka  und  skandinavisch  ahegg  Bart,  sowie  spon^  verschlagsam,  mit 
spar-en.  Die  ausführlichste  Arbeit  gehört  Prof. K.E.Mucke  au,  szczatki 
jvzyka  poiabskiego  Wendow  Lüneburskich,  I,  313 — 569,  gesammelt  in 


570  ^-  Brückner, 

den  Jahren  1901  und  1902;  es  sind  dies  Orts-,  Feld-  (Flur-)  und  Per- 
sonennamen, festgestellt  auf  Wanderungen  von  Ort  zu  Ort  und  auf  Grund 
der  Katastermappen;  die  mühevolle  Arbeit  von  Mucke  traf  zeitlich  zu- 
sammen mit  der  Publikation  von  P.  Kühnel,  die  slavischen  Orts-  und 
Flurnamen  im  Lüneburgischen,  Hannover  1902  (aus  der  Zeitschrift  des 
historischen  Vereins  für  Niedersachsen).  Mucke  konnte  feststellen,  daß 
Hoffnungen  auf  etwaige  polabische  Eintragungen  in  Gerichtsbüchern  oder 
sonstige  Sprachdenkmäler  ganz  vergeblich  sind;  desto  energischer  nützte 
er  die  einzige,  noch  nicht  versiegte  Quelle,  die  Namen  aus,  alle  zugleich 
deutend,  um  das  polabische  Wörterbuch  vollständig  zu  machen;  ob  er 
sie  alle  auch  richtig  gedeutet  hat,  ob  nicht  manch  deutscher  Terminus 
als  slavischer  sich  einschlich,  lassen  wir  bei  der  Schwierigkeit  der  Materie 
dahingestellt ;  verdienstlich  bleibt  die  mühevolle  Arbeit  jedenfalls,  bringt 
bleibenden  Gewinn  schon  durch  die  bloße  Stoffsammlung. 

Noch  zwei  Rubriken  hätten  wir  zu  behandeln,  um  halbwegs  dem 
Stoffe  gerecht  zu  werden,  ethnographische  Publikationen  (z.  B.  in  der 
Akademie)  und  historische.  Gerade  unter  den  letzteren  ist  eine  Fülle 
bahnbrechender  Arbeiten  zu  nennen,  so  die  von  genialem  Spürsinn  zei- 
genden Szkice  historyczne  jedynastego  wieku  von  Prof.  Tadeusz  Woj- 
ciechowski,  Krakau  1904,  346  S.  8*^,  die  auf  die  Anfänge  polnischer 
Kultur,  die  Arbeit  des  Eremitenordens,  die  politischen  Verwicklungen  in 
der  zweiten  Hälfte,  zumal  unter  Boleslaw  H.,  auf  das  Gerichtsverfahren 
gegen  Bischof  Stanislaw  von  Krakau,  der  offenbar  des  Hochverrates 
überführt  ward,  Licht  werfen  sollen ;  die  Stanislawfrage  wurde  auch  von 
anderer  Seite  (Krotoski  in  einer  Reihe  von  Arbeiten)  gleichzeitig  be- 
handelt und  in  anderem  Sinne  entschieden  (erster  Zusammenstoß  welt-i 
lieber  und  geistlicher  Macht).  Prof.  Abraham's  Werk  über  die  Anfängei 
katholischer  Kirchenorganisation  auf  russischem  und  orthodoxem  Bodeni 
überhaupt,  Powstanie  organizacji  kosciola  lacinskiego  na  Rusi,  I,  Lem- 
berg  1904,  XVI  und  418  S.  8^,  ist  eine  Meister-  und  Musterleistung,  auf 
die  ich  gerade  russische  Kirchenhistoriker  aufmerksam  mache ;  wie  wird  1 
durch  die  Darstellung  des  polnischen  Historikers  die  von  GoJubinskij  j 
überti'offen,  wo  sich  beide  überhaupt  vergleichen  lassen!  Alle  ihm  er-| 
reichbaren  russischen  Quellen  hat  der  Verfasser  gewissenhaft  benützt;! 
die  Arbeit  reicht  bis  Jagello;  der  zweite  Band  wird  sie  abschließen;  das| 
ganze  ist  nur  Fortsetzung  der  früheren  » Organizacja  Koscioto  w  Polsce  i 
do  polowy  XII  wieku «  (zwei  Auflagen).  Im  Anschlüsse  daran  nenne  ich  i 
die  sorgfältige  Arbeit  von  Wlad.  Szczesniak  mag.  theol.,   Obrzadekl 


Polonica.  571 

slowianski  w  Polsce  pierwotnej,  rozwazony  w  swietle  dziejopisarstrsva 
polakiego,  Warschau  1904,  207  S.  8*^,  wo  mit  den  Phantasien  der  älteren 
Protestanten  (Wegierski  und  Friese),  sowie  der  jüngeren  polnischen 
Historiker,  Maciejowski,  Bielowski,  GumploAvicz,  scharf  aber  treflend,  zu 
Gerichte  gegangen  und  der  mit  dem  slavischen  Ritus  in  Polen  getriebene 
Humbug  enthüllt  wird. 

Aus  dem  Werke  Prof.  Abraham's  sei  noch  hervorgehoben  die  be- 
hutsame Behandlung  der  interessanten  Frage,  wie  das  Bistum  Lebus  an 
der  Oder  zum  Bistum  für  die  Katholiken  Rotrußlands  erhoben  werden 
konnte  u.  a.  In  anderer  Art  grundlegend  ist  das  Werk  von  Dr.  Fryde- 
ryk Papöe,  Polska  i  Litwa  na  przeiomie  Aviekow  srednich,  Tom  I, 
ostatnie  dwunastolecie  Kazimierza  Jagiellonczyka,  Ki-akau  1903,  422  S. 
80;  es  handelt  sich  vor  allem  um  den  Nachweis,  warum  der  Jagellone 
vor  dem  Ruriksohne  überall  zurückweichen,  nicht  nur  auf  Nowgorod  und 
Pskow  verzichten  mußte;  die  Beschränktheit  seiner  Mittel  und  die  Un- 
zuverlässigkeit  seiner  russischen  Fürsten  zwangen  ihm  die  wohlerwogene 
Reserve  wider  WiUen  auf;  sehr  breit  ist  der  kulturhistorische  Hinter- 
grund dieser  Kämpfe  gezeichnet,  die  inneren  Verhältnisse  in  Litauen  und 
in  der  »Krone«.  Einem  Ausschnitte  dieses  Kulturlebens  ist  gewidmet 
der  zweite  Band  des  groß  angelegten  Werkes  von  Antoni  Karbowiak, 
das  nach  über  einem  halben  Jahrhundert  die  alte  Schulgeschichte  von 
Jlukaszewicz  endlich  ersetzen  soll:  Dzieje  wychowania  i  szkol  w 
Polsce,  n  (Mittelalter,  zweiter  Teil;  dritte  Periode),  von  1364 — 1432; 
Petersburg  1904,  VIII  und  490  S.  S^]  das  Enddatum  ist  nicht  glücklich 
gewählt,  da  es  keinen  wesentlicheren  Einschnitt  bezeichnet;  die  Dar- 
stellung ist  etwas  weitschweifig  und  wiederholt  sich;  manches  (z.  B.  Ver- 
zeichnis der  Universitätsprofessoren  und  ihrer  Lebensdaten)  dürfte  über- 
flüssig sein,  wichtigeres  dagegen  fehlen;  im  Mittelpunkte  des  Bandes 
steht  natürlich  die  Gründung  und  Organisation  der  Universität.  Soviel 
nur  sei  aus  der  historischen  Literatur  erwähnt.  Aber  wie  vieles  andere, 
Werke  und  Skizzen,  beanspruchten  Nennung  i);  es  sei  nur  hervorge- 


1)  Eine  russische  Studie  sei  erwähnt,  A.V.  Storozenko,  Stefan  Batorij 
1  dnieprovskije  kozaki,  Kiev  190  1,  ;{27  S.  b«,  eine  sehr  8orfi:f:iltij|;e  Arbeit,  weil 
sie  einen  unbekannten  polnischen  Druck  von  1^84,  ein  Epicedion  (in  etwa 
i;{Oü  Versen)  auf  den  Tod  des  Kiever  Kastellaus  Michael  Wisuiewiecki,  wört- 
lich abdruckt.  Außerdem  die  Skizzensammlung  von  Dr.  Waclaw  Sobieski, 
szkice  historyczne,  Warschau  19114  ;U6  S.  kl.  b»),  weil  ihre  zweite  Skizze  «dem 
ersten  Protektor  des  Pseudodemetriua«  gewidmet  ist,  d.  i.  dem  Siiulcr  und 


572  A.  Brückner, 

hoben,  daß  dem  früher  ganz  vernaclilässigten  XIX.  Jh.  endlich  Rechnung 
getragen  wird;  so  hat  Prof.  Smolka  längst  Jagello  und  die  Unions- 
geschichte aufgegeben,  um  sich  der  Tätigkeit  des  Ministers  Lubecki  zu 
widmen;  Prof.  Askenazy  pflegt  selbst  und  durch  seine  Schüler  dieselbe 
Zeit.  Wenigstens  sei  nicht  verschwiegen,  daß  die  polnische  Rechtsge- 
schichte nach  langer  Pause  äußerst  energisch  gefördert  wird;  ihr  Haupt- 
vertreter, Prof.  Oswald  Balzer  in  Lemberg,  ist  zwar  durch  Editor- 
sorgen in  Anspruch  genommen ;  er  bereitet  eine  neue,  vollständige  Aus- 
gabe der  Konstitutionen  Sigismund  I.  vor  und  hat  uns  darin  auch  eine 
polnische  Übersetzung  des  armenischen  Statutes  von  1528  abgedruckt, 
indem  er  (nach  dem  lateinischen  Original  von  1519)  die  drei  handschrift- 
lichen polnischen  Übersetzungen,  die  von  1528  und  1595  sowie  1601, 
neben  einander  abdruckt  (S.  401 — 538,  4^)^  mit  der  genauesten  Sorg- 
falt. Er  steht  an  der  Spitze  des  neuen,  rührigen  Towarzystwo  dla  po- 
pierania  nauki  polskiej  in  Lemberg,  dem  wir  eine  Reihe  trefflicher  Werke 
(z.  B.  das  oben  genannte  von  Prof.  Abraham)  verdanken;  in  seinem 
»Archiwum  naukowe«  erschienen  auch  die  rechtsvergleichenden  Studien 
von  Dr.  Przemysiaw  Dabkowski,  die  Bürgschaft  im  polnischen 
mittelalterlichen  Recht  (Rekojemstwo  etc.,  255  S.  gr.  8°,  1904),  die  Ein- 
lagerung nach  demselben  (ZaJoga  etc.,  1905,  49  S.),  Bestätigung  von 
Kontrakten  unter  Androhung  des  Scheltens  (0  utwierdzeniu  umow  pod 
groza  lajania  etc.,  1903,  75  S.),  der  Leihkauf  (Litkup,  studjum  z  prawa 
polskiego,  68  S.,  1906):  der  Verfasser  berücksichtigt  namentlich  das  alt- 
böhmische Recht,  aber  ebenso  gründlich  das  deutsche  —  so  tritt  die 
polnische  Rechtsgeschichte  aus  ihrer  einstigen  Isolierung  (trotz  Hube  und 
Maciejowski)  auf  gesündere  Bahnen  der  Entwicklung;  mit  bestem  Bei- 
spiel ging  ja  Prof.  Balz  er  selbst  vor,  sowohl  in  seiner  ausführlichen 
Verteidigung  einer  gemeinslavischen  Zadruga  gegen  die  Angriffe  Peis- 
kers,  0  zadrudze  siowianskiej  im  Kwartalnik  historyczny  1899,  wie  in 
seiner  Historya  porownawcza  praw  siowianskich. 


Poseur  Kniaz  Jadam  (Wisniowiecki) :  aus  dem  Kanzlerarchiv  (der  Zamoyski) 
veröffentlicht  auch  Sobieski  die  erste  Erwähnung  des  Pseudodemetrius  in  Polen, 
den  Brief  Adams  Wisniowiecki  an  den  Kanzler  Zamoyski  vom  7.  November 
1603  aus  Wisniowiec;  er  fragt  um  Rat,  gesteht,  mit  der  Sache  gezögert  zu 
haben,  weil  er  selbst  sehr  in  dubio  darüber  gewesen ;  er  hätte  sich  endlich 
dazu  entschlossen,  weil  in  letzter  Zeit  mehrfach  Moskauer,  über  zwanzig,  hier- 
her gekommen  wären  und  dem  Demetrius  seine  Anrechte  bestätigt  hätten. 
Die  Antwort  des  Kanzlers  ist  bekannt,  sie  stellte  Wisniowiecki  nicht  zufrieden. 


I 


Polonica.  573 

Zum  Abschluß  unserer  tiberlangen  Ausführungen  —  wir  übergehen 
wichtige  Beiträge  z.  B.  zur  Geschichte  Preußens  und  des  Ordens,  nament- 
lich die  Studie  von  Dr.  Wojciech  von  K^trzynski,  Der  deutsche 
Orden  und  Konrad  von  Masovien  1225—1235,  Lemberg  1904,  188  S.  8» 
(vorher,   kürzer,   polnisch  erschienen  in  den  Krakauer  Abhandlungen, 
histor.-philosoph.  Klasse,  Band  XLV),  mit  dem  Nachweis  der  Urkunden- 
fälschungen en  gros  von  Seiten  des  Ordens;  Studien  von  A.  Prochaska 
im  Kwartalnik  historyczny  zu  Mindowe   (über  den  wir  jetzt  eine  Frei- 
burger Doktordissertation  von  Toturaitis  besitzen)  u.  a.  —  erwähnen 
wir  drei  den  Bereich  polnischer  Historiographie  weit  überschreitender 
Werke.    Zuerst  eine  ausgezeichnete  archäologische  Studie  (^v^e  sie  seit 
den  Grafen  Tyszkiewicz  vernachlässigt  war),  von  dem  trefflichen  polni- 
schen  Ethnologen    Ludwik   Krzywicki,   Zmudi   starozytna,    dawni 
imudzini  i  ich  warownie,  Warschau  1906,  89  und  IV  S.  8",  eine  Unter- 
suchung der  litauischen  Burgen,  d.  i.  Aufschüttungen,  pilü^  ihrer  Lage 
und  Bestimmung,  mit  allerlei  interessanten  Ausführungen  über  Volks- 
"»lüberlieferung  und  ihren  Wandel,  Zähigkeit  der  Namen  u.  dgl.  —  die 
'Untersuchung  ist  noch  nicht  abgeschlossen,  sie  ist  außerordentlich  lesens- 
wert durch  ihre  Lebhaftigkeit,  gute  bildliche  Aufnahmen  ergänzen  sie. 
Aber  während  Samogitien  noch  immer  in  den  Bereich  polnischer  histo- 
,rischer  Forschung  (seit  Narbut!)  gehört,  wandten  sich  zwei  andere  Werke 
iGegenden  zu,  die  ihr  entlegener  zu  sein  pflegen.    Der  junge  Warschauer 
Historiker,  Kazimierz  Wachowski,  hat  in  seinem  Werke  Siowian- 
i/.czyzna  zachodnia.  Study a  historyczne,  LBand,  Warschau  1903,  271  S. 
Is^j  einen  von  dem  verstorbenen  General  Wilhelm  Bogusiawski  be- 
reits   behandelten    Gegenstand   wieder    aufgenommen ;    seine    eindring- 
ichen  Untersuchungen  treffen  vor  allem   die  Anfänge  der  staatlichen 
Organisation,   namentlich  in  Pommern,  mit  besonderer  Hervorhebung 
liier  lokalen  Unterschiede  —  ein  methodischer,  wohl  durchdachter  Auf- 
lau  auf  Grund  genauester  Quellenforschung.     Im  Wiener  Verlag  von 
Vv.  Bondy,  dem  wir  auch  die  reich  illustrierte  polnische  Literaturge- 
icliichte  des  Dr.  Henryk  Biegeleisen  verdanken,  erscheint  Ilustro- 
*vane  Dzieje  Polski  von  Prof.  Wiktor  Czermak,  LBand,  Od  poczatkow 
lo  X  wieku,  Wien  1905,  VllI  und  337  S.  gr.  8"  engen  Druckes.     Eine 
)()luische  Geschichte  somit,   deren  erster  Band,  ein  Drittel  des  ganzen 
vVcrkes,   noch   nicht   einmal   von  Popiel   und  Piast  handelt,   ist  etwas 
virklich  neues.     In  drei  Abschnitten  behandelt  der  Verfasser  die  vor- 
listorischen  Zeiten,  d.  h.  das  rein  archäologische  Material,  das  fossile 


I 


574  A.  Brückner, 

Archiv  des  Landes,  hierauf  das  Slaventum  vor  dem  VI.  .Jh.,  endlich  die 
Slavenwelt  bis  zum  X.  Jh.  Er  will  durch  diese  breite  Behandlung  sla- 
vischer  Urverhältnisse  einen  sichereren  Boden  für  die  nachfolgende  pol- 
nische Geschichte  gewinnen  und  doch  möchte  ich  bezweifeln,  daß  dieser 
vergleichende  Weg  uns  dem  Ziele  näher  bringen  wird.  Man  vergißt  bei 
dieser  vergleichenden  Betrachtung  zweierlei :  Analogie  ist  kein  Beweis  — 
daß  es  z.  B.  in  Böhmen  so  war,  beweist  noch  nichts  für  Polen;  und 
zweitens  (ein  Hauptfehler,  an  dem  alle  Slavisten,  d.  h.  Forscher  slavi- 
scher  ältester  Geschichte,  leiden),  die  Mannigfaltigkeit,  Vielförmigkeit 
uralter  Institutionen  wird  zu  wenig  eingeschätzt;  Ethnologie  lehrt,  daß 
bei  einem  und  demselben  Volke,  zu  gleicher  Zeit,  unter  fast  gleichen  Be- 
dingungen, sogar  auf  engem  Räume,  die  vielförmigsten,  einander  direkt 
widersprechenden  und  ausschließenden  Kombinationen  staatlicher  Orga- 
nisation entstehen.  Slavisten  dagegen  setzen  stillschweigend  voraus,  daß 
eine  süd-  oder  westslavische  Einrichtung,  wenn  sie  nur  recht  alt  ist, 
ohneweiteres  auf  alle  Slaven  übertragen  werden  kann;  man  erinnere  sich 
nur  an  die  heute  recht  diskreditierte  Wirtschaft  mit  der  zadruga  oder  mit 
den  zupen,  die  man  z.  B.  auch  Böhmen  aufdisputiert,  während  Böhmen 
sie  nie  gekannt  hat.  Eine  »Synthese«  altslavischer  Geschichte  erregt  da- 
her von  vorn  herein  prinzipielle  Bedenken  und  ich  glaube  nicht,  daß 
auch  Czermak  sie  überwunden  hat,  aber  bei  dem  geringen  Interesse, 
das  bisher  polnische  Leser  allen  slavicis  entgegenbrachten,  ist  schon  sein 
Versuch  einer  populären  und  doch  streng  wissenschaftlichen  Darstellung 
alles  dessen,  was  wir  von  den  alten  Slaven  wissen,  dankbar  aufzunehmen. 
Der  Verfasser  berücksichtigt  auch  russische  Literatur  (zumal  Hruszew- 
skij,  Sergiejevic  u.  a.),  am  wenigsten  die  südslavische  (natürlich  außer 
Jirecek,  Wlainac  u.  a.),  ungleich  genauer  die  böhmische  und  deutsche; 
er  ist  sehr  vorsichtig  in  seinen  Aufstellungen  und  bekämpft  jede  Ein- 
seitigkeit, z.B.  in  der  Frage  über  die  westlichen  Ursitze  der  Slaven,  über 
die  zadruga  u.  a. ;  reiche,  sorgfältig  ausgewählte  Illustrationen  beleben 
die  etwas  trockene  und  weitschweifige  Darstellung.  Das  Werk  von  Prof. 
Potkanski  über  Cyrill  und  Method  besprachen  wir  bereits  oben, 
S.  222  ff. 

Wir  sind  am  Ziele,  das  wir  nur  erreichen  konnten,  preisgebend  alle 
kleineren  Arbeiten,  die  in  Zeitschriften  verstreut  sind;  alle  speziellen 
Monographien  z.  B.  über  einzelne  Orte  und  deren  Geschichte,  wie  das 
archivalische  Studium  von  Dr.  Zofja  Daszynska-Golinska,  Uscie 
solne,  przyczynki  historyczno-statystyczne  do  dziejow  nadwislanskiego 


Polonica.  575 

miasteczka,  Krakau,  Akademieverlag  1906,  165  S.  8*^  (ähnliche, 
auch  umfassendere  Monographien  sind  vielfach  ersfchienen) ;  alles,  was 
Kunstgeschichte  anbelangt  und  wovon  manches  uns  speziell  angehen 
könnte  (z.  B.  über  Miniaturen  polnischer  Codices  in  Petersburg,  von 
Du'ektor  St.  Kopera,  Arbeiten  von  Prof.  M.  von  Sokoiowski,  z.  B. 
tiber  castella  —  Kirchen  u.  dgl.,  vereinigt  vielfach  in  den  Berichten, 
Sprawozdania,  der  Kunstkommission  der  Akademie);  verschiedenes,  z.B. 
des  M.  Bersohn  Lexikon  polnischer  gelehrter  Juden  des  XVI. — XVIII. 
Jahrhunderts  u.s.w.  Aber  auch  das,  worauf  wii'  uns  beschränkten,  ge- 
währte ein  Abbild  von  dem  regen  wissenschaftlichen  Leben,  das  trotz 
aller  Ungunst  von  Zeiten  und  Verhältnissen,  in  Krakau,  Lemberg,  War- 
schau sich  entwickelt  und  reiche  Früchte  trägt,  noch  reichere  in  sicherer 
Aussicht  bringt.  Ethnographische  Publikationen  stellen  wir  für  die 
nächste  Jahrestibersicht  zurück,  die  weniger  geschwellt  sein  dürfte. 

A.  Brückner. 


Eumänische  Beiträge  zur  russischen  Götterlehre. 

Von  M.  Gaster  (London). 


In  meinem  Kodex  Rum.  Nr.  7  3  findet  sich  eine  anonyme  Geschichte 
der  Russen,  die  mit  Noah  anfängt  und  mit  dem  Fürsten  (Kniaz)  Teodor 
Alexievic  von  Kiev  endet.  Diese  Schrift  wird  von  V.  A.  Ureche  dem 
Rum.  Chronisten  Nicolae  Costin  zugeschrieben,  der  zu  Anfang  des  XVIII.  Jb. 
in  der  Moldau  geblüht  hat.  Ich  weiß  nicht,  worauf  Ureche  sein  Urteil 
ätützt,  indem  er  dieses  Werk  Costin  zuschreibt.  Es  ist  ohnehin  unendlich 
jchwer,  seine  Werke  von  denen  seines  berühmten  Vaters  Miron  Costin  zu 
ächeiden.  Noch  viel  schwieriger  ist  es,  die  Frage  von  der  literarischen 
Tätigkeit  des  einen  oder  des  andern  zu  begrenzen.  Wenn  nun  die  Gc- 
chichte  der  Russen  einen  Costin  zum  Verfasser  hat,  was  auch  mir  nicht 
»ehr  zweifelhaft  ist,  so  würde  ich  sie  eher  dem  Vater  als  dem  Sohne  zu- 
ichreiben.  Der  ältere  Costin  hatte  ein  viel  tieferes  Wissen  und  war  mit 
äen  slavischen  Sprachen  gut  vertraut. 

Ein  Kapitel  dieser  Geschichte  handelt  nun  von  den  Göttern  der  Slaven. 
[eh  teile  es  hier  in  wörtlicher  Übersetzung  und  zwar  aus  einem  doppelten 


576  M.  Gaster, 

Grunde  mit.  Soweit  mir  bekannt  ist,  ist  das  der  einzige  Hinweis  auf  die 
slavische  Mythologie,  den  ich  bisher  in  alten  rumänischen  Schriften  gefun- 
den habe,  und  der  Nachweis  seiner  slavischen  Quelle  wird  auch  Licht  auf 
die  Quellen  dieses  rumänischen  Werkes  werfen.  Andererseits  ist  es  ein 
nicht  uninteressanter  Beitrag  zu  den  slavisch-rumänischen  kulturgeschicht- 
lichen Beziehungen.  Der  Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden  Völkern 
und  der  Übergang  von  einem  Volke  zum  andern  wird  an  der  Hand  dieses 
und  eines  zweiten  ähnlichen  Textes  aufs  Neue  bezeugt.  Ich  habe  nämlich 
außerdem  in  einem  kleinen  Kodex  miscellaneus  in  der  Bibliothek  der 
rumänischen  Akademie  eine  merkwiü'dige  Parallele  gefunden.  Es  ist  eine 
in  allgemeinen  Grundzügen  der  Version  des  Costin  oder  Version  A,  wie 
ich  es  vorziehen  würde  sie  zu  nennen,  ziemlich  ähnliche  Darstellung  der 
heidnischen  Götter.  Diese  Version  B  weicht  aber  in  manchen  Punkten 
von  A  ab  und  beweist  dadurch  ihre  Unabhängigkeit  von  A.  Nicht  nur 
sind  die  Slaven  zu  »Elenen«  geworden,  sondern  (und  darin  liegt  die 
Bedeutung  dieses  Textes)  für  den  Verfasser  derselben  haben  diese  Götter 
und  diese  heidnischen  Sitten  auch  in  Rumänien  Eingang  und  Nachahmung 
gefunden.  Er  giebt  Beispiele  und  Sitten  an,  die  ihm  als  heidnisch  er- 
scheinen und  die  er  auf  jene  alten  zurückführt.  Ich  muß  es  unbestimmt 
lassen,  ob  wir  es  hier  mit  einer  Homilie  oder  mit  einem  Pastoralschreiben 
zu  tun  haben.  Der  rumänische  Ursprung  der  letztern  Version  im  Text  B 
kann  nicht  bestritten  werden.  Es  sind  lauter  rumänische  Sitten  und  Ge- 
bräuche und  auch  die  Namen  der  Spiele  und  Personen  sind  rumänisch, 
wie  ich  das  nachher  ausführen  werde.  Der  Kodex  der  Geschichte  der 
Russen  dürfte  ca.  1740 — 1750  abgeschrieben  worden  sein,  vielleicht  aus 
einem  Texte  aus  dem  Ende  des  XVII.  Jhs.,  und  Text  B,  den  ich  im  No- 
vember 1884  kopiert  habe,  aus  einer  12*^.-Hs.,  die  in  der  rum.  Akademie 
vergraben  liegt,  ist  in  1754  geschrieben.  Das  betreffende  Kapitel  aus  A 
habe  ich  seinerzeitinmeinerChrestomatieRomanaVol.il,  1891,p.50 — 53 
veröffentlicht.  Ich  lasse  nun  die  wörtliche  Übersetzung  dieser  beiden 
Texte  folgen. 

A.  Ton  ihren  Götzen. 

Zuerst  haben  sie  einen  großen  Götzen  errichtet  mit  Namen  Perun, 
den  Gott  des  Donners  und  des  Blitzes  und  der  Regenwolken,  auf  einem 
hohen  Hügel  in  der  Nähe  des  Flusses  Buriu,  in  Menschengestalt.  Sein 
Körper  war  gegossen  aus  Silber,  die  Ohren  waren  von  Gold,  die  Füße 
von  Eisen,  in  den  Händen  hielt  er  einen  Stein  und  zwar  den  Donnerstein, 


I 


Eumänische  Beiträge  zur  russischen  Götterlehre.  577 

geschmückt  mit  Rubinen  und  Anthrax  (ein  Stein  dem  Feuer  ähnlich).  Vor 
ihm  brannte  immer  ewiges  Feuer.  Wenn  aber  durch  die  Nachlässigkeit 
des  Ministranten  das  Feuer  ausging,  so  bestraften  sie  ihn  mit  dem  Tode 
als  einen  Feind  Gottes.  Der  zweite  Götze  war  Volos,  der  Gott  der  Tiere. 
Der  dritte  Pozvizdu,  einige  nannten  ihn  Pohvint,  andere  Vihor,  denn 
sie  bezeugten,  daß  er  der  Gott  der  Luft,  des  guten  und  schlechten  Wetters 
sei.  Der  vierte  Götze  war  Lado,  den  hielten  sie  als  den  Gott  der  Hoch- 
zeit und  alles  Glückes,  und  alle,  die  sich  verheiraten  wollten,  brachten 
ihm  Opfer,  indem  sie  hofften,  daß  mit  der  Hilfe  von  Lado  sie  eine  gute 
Hochzeit  und  ein  Leben  voller  Liebe  haben  würden.  Und  dieser  Greuel 
stammt  von  alters  her,  von  den  alten  Götzendienern,  welche  einige  der 
Götter  Lelie  und  Polelie  nannten.  Dieser  von  Gott  gehaßte  Name  hat 
sich  noch  bis  heute  in  einigen  Plätzen  erhalten,  wo  sie  in  Versammlungen 
und  in  Spielen  singen  Lelio,  Lelio  und  Polelio,  wie  sie  bei  uns  auch 
noch  singen  »Lelio,  Lelio«,  und  wo  sie  auch  die  Mutter  von  Lelia  und 
Polelia,  Lado  besingen  und  zwar  »Lado, Lado«.  Und  diese  alte  teuflische 
Täuschung  dieses  Götzen  hat  sich  noch  erhalten  bei  Hochzeitsfeierlich- 
keiten, wo  sie  in  die  Hände  klatschen  und  auf  den  Tisch  klopfen  und 
singen.  Davor  muß  jeder  orthodoxe  Christ  sich  in  jeder  Weise  in  acht 
nehmen,  damit  er  Gottes  Strafe  nicht  auf  sich  ziehe. 

Der  fünfte  Götze  war  Cupalo,  den  sie  betrachteten  als  den  Gott 
der  Erdfrüchte  und  in  dem  Dunkeln,  durch  die  Täuschung  des  Teufels 
brachten  sie  Danksagungen  und  Opfer  am  Anfange  der  Ernte.  Bis  heute 
hat  sich  noch  die  Erinnerung  an  diesen  Gott  Cupalo,  oder  wie  ich  ihn 
besser  nennen  soll,  Teufel,  in  einigen  Teilen  von  Rußland  erhalten,  beson- 
ders am  Abend  der  Geburt  des  heil.  Johannes  des  Täufers.  Die  jungen 
Knaben  und  Mädchen  versammeln  sich  und  flechten  sich  Kränze  von  einer 
gewissen  Pflanze  und  setzen  sie  sich  aufs  Haupt  und  machen  sich  auch 
Gürtel  davon.  Und  bei  jenem  teuflischen  Spiel  zünden  sie  Feuer  an  und 
indem  sie  sich  bei  der  Hand  fassen,  tanzen  sie  um  das  Feuer  herum  und 
laufen  herum  wie  Unreine  und  singen  Lieder  dem  unheiligen  Cupalo,  und 
indem  sie  ihn  häufig  anrufen  und  über  das  Feuer  springen,  bringen  sie 
sich  selbst  als  Opfer  jenem  Teufel  Cupalo.  Und  sie  tun  auch  andere  gott- 
lose Sachen  in  jenen  uuheiligen  Versammlungen,  die  kaum  zu  beschreiben 
sind.  Der  Teufel  stellt  auch  seine  Falle  durch  die  Schaukel,  von  dem 
Feste  des  Johannes  des  Täufers  bis  zu  der  Feier  der  heiligen  Apostel 
Peter  und  Paul.  Denn  es  trifft  sich,  daß  manche  von  denen,  die  sich 
mehrmal  schaukeln,   hiuuntcrfallen  auf  die  Erde  und  so  ihre  Seele  auf 

Archiv  für  slavischo  Pliilolügie.    XXVlll.  37 


578  M-  Gaster, 

elende  Weise  ohne  Reue  aufgeben.  Darum  muß  jeder  Gläubige  sich  hüten 
vor  diesen  Schaukeln  als  Schlingen  des  Teufels,  daß  er  nicht  hineinfalle 
und  sich  darin  verwickele. 

Einige  von  den  Heiden  brachten  in  alter  Zeit  Opfer  den  Quellen  und 
Teichen  zur  Vermehrung  der  Früchte  des  Bodens  und  manchmal  haben 
sie  Menschen  dafür  im  Wasser  ertränkt.  In  einigen  Teilen  KuElands  hat 
sich  bis  heute  noch  die  Erinnerung  an  diese  gottlose  Tat  frisch  erhalten ; 
denn  an  dem  Tage  der  Auferstehung  Christi  versammeln  sich  Jung  und 
Alt,  Männer  und  Frauen  und  einer  wirft  den  andern  ins  Wasser  als  eine 
Art  von  Spielerei.  Und  es  trifft  sich  manchmal  durch  das  Werk  des 
Teufels,  daß  manche  von  denjenigen,  die  hineinfallen,  auf  einen  Stein 
oder  ein  Holz  anstoßen  und  elendiglich  ihre  Seele  aufgeben.  Andere, 
wenn  sie  auch  nicht  ins  Wasser  geworfen  werden,  werden  mit  Wasser 
begossen.  Auf  diese  Weise  bringen  sie  wieder  das  Opfer  denselben  Teu- 
feln nach  alter  Gewohnheit.  Und  wenn  dieses  auch  nun  geschieht  in  der 
Form  eines  Spieles  und  nicht  als  Götzendienst,  so  wäre  es  doch  besser, 
wenn  es  nicht  weiter  geschähe. 

Der  sechste  Götze  Coleada,  der  Gott  der  Festlichkeit,  dem  sie  eine 
große  Feier  brachten  am  24.  Dezember,  und  obzwar  das  russische  Volk 
durch  die  heilige  Taufe  erleuchtet  worden  ist  und  seine  Götzen  zerstört 
hat,  so  haben  doch  einige  bis  heute  nicht  aufgehört  den  Teufel  Coleda 
zu  erwähnen.  Anfangend  von  dem  Tage  der  Geburt  unseres  Herrn,  wäh- 
rend aller  heiligen  Tage,  versammeln  sie  sich  zu  Spielen,  die  Gott  verhaßt 
sind,  und  singen  Lieder.  Und  wenn  sie  darin  die  Geburt  Christi  wohl 
erwähnen,  so  fügen  sie  hinzu  auch  die  Erinnerung  an  Coliada,  die  alte 
Täuschung  des  Teufels  und  wiederholen  häufig  seinen  Namen.  Auch  bei 
diesen  sündhaften  Versammlungen  erwähnen  sie  noch  den  Satan,  einen 
gewissen  Tura  und  andere  schimpfliche  und  gottverhaßte  Sachen.  An- 
dere wieder  verdecken  ihre  Gesichter  und  den  ganzen  Schmuck  des  Men- 
schen, der  in  dem  Ebenbilde  Gottes  geschaffen  wurde,  mit  greulichen 
Figuren  in  der  Ähnlichkeit  des  Teufels,  wodurch  sie  manche  erschrecken 
und  auch  manche  ergötzen,  aber  sie  spotten  ihres  Schöpfers,  als  ob  sie 
das  Werk  seiner  Hand  hassen  und  verachten  würden.  Jeder  Christ  ist 
vei*pflichtet  solches  zu  unterlassen  und  nur  zu  wandeln  in  der  Gestalt,  in 
welcher  Gott  uns  gemacht  hat,  denn  wir  dürfen  Nichts  erfinden,  was  häß- 
lieh  ist  und  Gott  widerspricht. 

Außer  jenen  Götzen  und  teuflischen  Figuren  gab  es  noch  andere 
viele  Götzen  u.  z.  Uslead,  Kursha  oder  Hors  usw.    Soweit  Test  A.  i). 


Rumänische  Beiträge  zur  russischen  Götterlehre.  579 

Nun  lasse  ich  Text  B  folgen  und  der  Unterschied  zwischen  beiden, 
trotz  inhaltlicher  Ähnlichkeit,  wird  in  die  Augen  springen. 

B.  Kurze  Lehre  gegen  die  yielen  schlechten  Beispiele,  welche 

einige  Christen  befolgen,  und  der  Beweise,  woher  sie  stammen 

und  was  sie  bedeuten. 

Wir  wissen  sehr  gut,  daß  jedem  wahren  Christen  verhaßt  ist,  selbst 
nur  mit  dem  Namen  einen  Götzen  oder  Teufel  zu  erwähnen  oder  an  sie 
zu  glauben  oder  den  Beispielen  der  Götzendiener  zu  folgen.  Da  wir  alles 
das  wissen,  wollen  wir  nichts  sagen  oder  erwähnen  von  diesem  Übel  und 
von  dem  Zorn,  den  Gott  gehabt  und  hat,  gegen  die  Götzen  und  Teufel 
und  gegen  solche,  die  ihnen  gedient  haben  und  noch  dienen  und  welche 
Strafe  für  sie  vorbereitet  ist.  Noch  sagen  wir  etwas  gegen  diejenigen,  die 
sie  vorher  angebetet  haben.  Denn  vor  dem  Anfang  unseres  orthodoxen 
Glaubens,  bis  Christus  im  Körper  auf  der  Erde  erschienen  ist  und  nach 
seiner  herrlichen  Himmelfahrt  und  durch  die  Botschaft  der  Apostel,  und 
nachher  durch  alle  die  heiligen  Väter  waren  die  meisten,  die  zum  Glauben 
gekommen  sind,  Götzendiener  und  es  sind  jetzt  ihre  Seelen  in  Gottes  Hand. 
Aber  wir  sprechen  von  denjenigen,  die  im  Unglauben  an  die  AVahrheit 
und  im  Irrtume  gestorben  sind,  und  von  denjenigen,  welche,  obzwar  sie 
glauben  und  sich  orthodox  nennen,  doch  manches  tun,  was  die  Götzen- 
diener getan  haben,  und  zwar  folgendes: 

Kap.  I.  Die  »elenischen«  Völker  hatten  viele  Götter,  unter  diesen 
•war  einer,  der  hieß  Perun,  welcher  genannt  wurde  der  Gott  des  Feuers, 
und  er  hielt  in  seiner  Hand  einen  Edelstein,  welcher  in  der  Art  einer 
glühenden  Kohle  leuchtete,  und  Feuer  brannte  immerfort  vor  ihm.  Seine 
Anbeter  pflegten  Feuer  zu  machen  und  über  dasselbe  hinweg  zu  gehen, 
und  darstellten,  daß  sie  sich  selbst  als  Opfer  gebracht  haben  jenem 
Götzen  Perun. 

Einige  von  den  Christen  folgen  denselben  Beispielen  liis  auf  den 
heutigen  Tag,  indem  sie  die  Feuer  -Cubali<  au  dem  Tage  von  Groß 
Donnerstag  (Gründonnerstag)  anzünden  und  darüber  hinweg  schreiten 
(oder  hinweg  gehen) ,  ohne  zu  wissen,  was  es  darstellt. 

Kap.  n.    Es  gab  einen  anderen  Götzen,  der  Lado  hieß.    Diesen 

1)  Vergl.  mit  dieser  Darstellung  das  Kapitel  aus  der  »Gustinskaja  Lcto- 
pis«,  abgedruckt  in  IIo^iiioc  Corii>;uiir  B.  H,  S.  251) — 257,  wo  am  Kaude  die  in 
latein.  Sprache  abgefaßten  Parallelen  zitiert  werden  (Cromer,  Guaguiiii  u.  a. . 

l'.J. 


580  M.  Gaster, 

nannten  sie  den  Gott  der  Freuden  und  des  Glückes.  Diesem  brachten 
Opfer  alle  diejenigen,  die  Hochzeiten  oder  Feste  geben  wollten,  indem  sie 
sich  einbildeten,  daß  sie  mit  der  Hilfe  von  Lado  schöne  Freuden  und  ein 
Leben  voller  Liebe  gewinnen  würden.  Dieselben  besingen  die  Christen 
auch  jetzt  bei  Hochzeiten.  Darum  muß  jeder  Christ  sich  hüten  vor  so 
etwas,  damit  er  vom  Zorne  Gottes  nicht  gestraft  werde. 

Kap.  ni.  Einige  dieser  Götzendiener  pflegten  auch  Opfer  zu  bringen 
den  Gewässern  nämlich,  den  Teichen  und  Quellen  und  nannten  auch  diese 
Gottheiten.  Wenn  irgendwo  ein  Wasser  in  der  Nähe  war,  pflegten  sie 
sich  einmal  im  Jahre  dort  zu  versammeln  und  warfen  einer  den  andern 
ins  Wasser,  Wo  aber  Wasser  weit  entfernt  war,  gössen  sie  Wasser  einer 
auf  den  andern.  Das  sehen  wir  auch  jetzt  einige  von  den  Christen  tun 
am  zweiten  Tag  nach  Ostern  und  sie  nennen  das  (»Trasul  in  Vale«) 
»Hinunterziehen«  in  die  Ebene,  von  welchem  Ziehen  oder  Schleppen  durch 
den  Einfluß  des  Teufels  viele  Streitigkeiten  und  Schlägereien  entstehen. 

Kap.  IV.  Sie  hatten  auch  eine  andere  Gottheit,  die  sie  »Coleda« 
nannten  und  wenn  sie  sich  versammelten  bei  ihren  heidnischen  Feiertagen 
und  Versammlungen,  sangen  sie  Lieder  zu  Ehren  des  Götzen  Coleda  und 
erwähnten  seinen  Namen  sehr  häufig.  Wir  sehen  nun,  daß  bis  heute 
dieses  sich  erhalten  hat  bei  einigen  Christen  und  am  Tag  der  Geburt 
Christi  empfangen  sie  Zigeuner,  die  sie  Colin  datori  nennen,  daß  sie  ihnen 
Lieder  singen.  Außerdem  empfangen  sie  in  ihren  Häusern  Tsurca  oder 
Prezae,  welche  auch  mit  sich  führen  Mummer  und  Possenreißer,  welche 
ihre  Gesichter  verstellen,  die  im  Ebenbilde  Gottes  geschaffen  sind,  sie 
reden  mit  ihrem  Munde  häßlich  ekelhafte  Worte  und  mit  ihrem  Körper 
machen  sie  schreckliche  und  verworfene  Figuren,  so  daß  sie  unvernünf- 
tigen Leuten  Vergnügen  machen,  aber  die  unschuldigen  Kinder  er- 
schrecken. 

Kap.  V.  In  der  Stadt  Rodostol,  in  der  Nähe  des  Wassers  Istru,  gab 
es  zur  Zeit  der  alten  Götzendiener  einen  Götzen  mit  dem  Namen  Cron, 
nämlich  den  Gott  der  Toten.  Dieser  war  ein  toter  Elen,  in  welchen  sich 
der  Teufel  eingenistet  hatte  und  er  hielt  ihn  längere  Zeit  unversehrt  und 
machte  auch  viele  Täuschungen.  Diesem  opferten  jene  verirrten  Men- 
schen in  folgender  Weise;  sie  schlugen  nämlich  ihre  Körper,  bis  Blut 
rann,  und  schrien  und  jauchzten  und  begingen  auch  andere  Sünden,  und 
durch  das  Blut,  das  sie  vergossen,  bildeten  sie  sich  ein,  Cron  ähnlich  zu 
sein.  Denn  er  erschien  immer  mit  rotem  Gesichte,  und  die  Sünden,  die 
sie  begangen,  sagten  sie,  daß  Cron  sie  nicht  sehen  kann,  denn  er  hielt 


( 


Rumänische  Beiträge  zur  russischen  Götterlehre.  581 

die  Augen  geschlossen:  auch  konnte  er  ihr  Schreien  nicht  hören,  denn  er 
war  taub. 

Dieselben  Verirrungen  sehen  wir  jetzt  bei  einigen  Christen,  die,  wie 
jene  sich  versammelten  bei  einem  Toten  und  sich  schlugen  und  jauchzten 
und  andere  Sünden  begingen,  so  tun  es  auch  jetzt  die  Christen  bei  ihren 
Toten.  Es  versammelt  sich  ein  Haufen  von  Verrückten  und  schlagen  sich 
den  Rücken  mit  Schaufeln  und  jauchzen  und  tanzen  und  treiben  allerlei 
Possen,  welche  nicht  einmal  beschrieben  oder  erwähnt  zu  werden  ver- 
dienen. Alle  müßten  doch  einsehen,  daß  das  keine  anständige  Tat  ist, 
Lachen  und  Spaß  zu  treiben  zur  Zeit  von  Weinen,  und  wenn  alle  zu- 
sammen kommen  um  zu  Gott  zu  beten  und  ihm  zu  weinen,  daß  sie  da 
tanzen  und  jauchzen  sollen.  Und  wenn  es  eine  Pflicht  ist,  der  Seele  die 
Sünden  zu  erleichtern  durch  Almosen  und  Gebet,  daß  sie  gerade  damals 
sich  besudeln  soUen  mit  den  obenerwähnten  unwürdigen  Taten.  Um- 
gekehrt müßten  sie  bei  dem  Toten  sich  versammeln  und  weinen,  nicht  so 
sehr  darüber,  daß  jener  gestorben  ist,  sondern  um  die  Vergebung  seiner 
Sünden,  und  damit  seine  Seele  Ruhe  finde  unter  den  Gerechten.  Und  bei 
der  Nachtwache  bei  jenem  Toten  sollen  die  Geistlichen  lesen  und  auch  Laien 
sollen  Wache  halten  mit  Ehrfurcht,  und  nur  reden  von  Sachen,  die  der  Seele 
von  Nutzen  sein  könnten,  aber  nicht  eitle  weltliche  Worte  oder  Tänze  und 
Sprünge  und  andere  Possen.    Von  jetzt  ab  weiter  müßten  diese  aufhören. 

Kap.  VL  Andere  beten  einen  Götzen  an  mit  dem  Namen  Cupal, 
den  nannten  sie  den  Gott  der  Früchte  der  Erde,  dem  sie  Opfer  brachten 
;ui  einem  von  ihnen  bezeichneten  Tage  bei  dem  Beginne  der  Enite.  Und 
Männer  und  Weiber  versammelten  sich  und  flochten  Kränze  von  Kräutern 
und  setzten  sie  sich  auf  das  Haupt  und  umgürteten  sich  mit  wilden  Kräu- 
tern. Und  die  Männer  kleideten  sich  als  Weiber,  so  daß  sie  wilder  und 
t'i  echer  als  Weiber  tanzen  könnten  und  so  die  Zuschauer  und  das  Volk 
zur  Leidenschaft  reizen  konnten  wie  es  den  Teufeln  gefiel,  die  in  dem 
Götzen  wohnten,  und  während  sie  tanzten  und  sprangen,  riefen  sie  häufig 
Cupal,  Cupal.  Dieses  verhaßte  Beispiel  hat  sich  noch  bis  jetzt  erhalten 
hier  in  unserem  Lande  in  einigen  Städten  und  Dörfern,  wo  die  Männer 
sich  Weiberkleider  anziehen  und  sich  mit  einem  Namen  nennen,  der  dem 
Namen  Cupal  ähnlich  klingt,  und  zwar  Cuci  oder  Calucei.  Diese 
machen  sich  auch  Kränze  von  Kräutern  und  zwar  von  Wermuth,  und 
\  iele  von  jenen,  die  nicht  mehr  tanzen,  stecken  sich  doch  Wermuth  in 
den  Gürtel  und  auf  diese  Weise  stellen  sie  ganz  genau  jenes  alte  teuflische 
l'est  und  heidnischen  Gebrauch  dar. 


582  M.  Gaster, 

Andere  wieder  folgen  einem  andern  teuflischen  Beispiele  und  teuf- 
lischer Erfindung,  indem  sie  zur  Zeit  der  Dtln'e  einen  Menschen  nackt 
ausziehen,  grüne  Kräuter  auf  Fäden  aufziehen  und  sie  um  ihn  herum  vom 
Kopf  bis  zu  deu  Füßen  wickeln  und  setzen  ihm  eine  Kräuterkrone  auf 
den  Kopf,  und  diese  Menschen  tanzen  vor  den  Häusern  und  alle  gießen 
Wasser  auf  sie  und  stellen  vor,  als  ob  sie  von  ihnen  Wasser  verlangten, 
d.  h.  Regen.  Auf  ähnliche  Weise  täuschen  sich  die  NaiTcn,  indem  sie 
glauben,  daß  sie  von  den  Cuci  geheilt  werden  von  allen  Krankheiten, 
wenn  jene  auf  sie  treten.  Und  von  dem  Papaluga  glauben  sie,  daß  er 
die  Macht  hat,  den  Wolken  zu  gebieten,  daß  es  regnen  soll.  Und  es  gibt 
keine  größere  Götzendienerei  als  in  diesen  beiden  Fällen,  dadurch,  daß 
sie  denken,  ebenso  wie  die  Gläubigen  überzeugt  zu  sein,  daß  genau  so 
wie  die  heiligen  Apostel,  als  sie  die  Kranken  berührten  im  Namen  Christi 
und  ihnen  Heilung  gebracht  haben,  so  könnten  auch  sie  geheilt  werden 
durch  das  Getretenwerden  von  den  unreinen  Füßen  der  Cuci,  und  diese 
zumeist  sind  nur  schmutzige  Zigeuner.  Und  wiederum,  wie  der  Prophet 
Elias  und  viele  andere  Heilige  durch  vieles  Fasten  und  Gebet  und  durch 
Aussprechen  des  göttlichen  Namens  den  Regen  herabsteigen  ließen,  so 
könnte  auch  jener  täuschende  Possenreißer  von  einem  Papaluga  den 
Wolken  befehlen,  daß  der  Regen  herunter  komme,  wann  er  wünsche  .  .  . 
Deshalb  müßt  ihr,  die  ihr  den  christlichen  Namen  traget,  auch  im  Leben 
und  in  Thaten  als  Christen  euch  zeigen,  so  daß  nicht  einige  von  diesen 
durch  ihre  Unwissenheit  den  Tieren  ähnlich  seien  in  dieser  Welt  und  in 
der  andern  Welt  Teil  haben  sollen  an  den  Strafen  der  Elenen.  Manche 
von  ihnen,  wenn  sie  eine  Reise  antreten,  und  ihnen  entgegenkommt  ein 
Zigeuner  oder  irgend  ein  bestimmtes  wildes  Tier,  dann  ziehen  sie  fröhlich 
weiter,  überzeugt,  daß  sie  eine  glückliche  Reise  haben  werden.  Wenn 
nun  aber  ein  Geistlicher  ihnen  entgegenkommt,  dann  kehren  sie  häufig 
um  und  schimpfen  und  fluchen  auf  die  Gabe  und  Würde  des  Priesters. 

In  den  andern  Fällen,  die  ich  vorher  erwähnt  habe,  obzwar  sie  teuf- 
lische Erfindungen  sind  und  Überbleibsel  heidnischer  Gebräuche,  so  sind 
sie  doch  verdeckt  und  gering  an  Bedeutung,  denn  die  meisten,  die  sie 
machen,  wissen  nicht,  was  sie  vorstellen,  aber  das  Letztere,  wer  daran 
glaubt  und  das  tut,  weiß,  daß  es  eine  Sünde  ist  und  daß  Gott  darüber 
zürnen  wird.  Trotzdem  glauben  viele  und  tun,  wie  ich  gesagt  habe,  daß, 
wenn  ihnen  ein  Geistlicher  entgegenkommt,  wenn  sie  ihn  auch  nicht 
öffentlich  beleidigen  und  auch  nicht  umkehren,  so  setzen  sie  ihre  Reise 
fort  mit  Zweifel  im  Herzen  und  glauben  nicht,  daß  ihre  Reise  eine  glück- 


Rumänische  Beiträge  zur  ruBsischen  Götterlehre.  583 

liehe  sein  wird,  während  umgekehrt,  wenn  ihnen  ein  Zigeuner  oder  ein 
Jude  oder  ein  bestimmtes  wildes  Tier  entgegentiütt,  so  glauben  sie,  daß 
es  ihnen  gut  gehen  wird  und  daß  ihre  Reise  eine  glückliche  sein  wird. 

0  elende  Christen deshalb  fordere  ich  euch  auf  und  belehre  euch 

darüber,  daß  ihr  von  jetzt  ab  weiter  davon  ablassen  sollet. « 


Diese  hier  erwähnten  Sitten  und  Gebräuche  haben  sich  trotz  allen 
Widersprüchen  bis  heute  unter  den  Rumänen  erhalten.  Papaluga  oder 
wie  das  "Wort  in  der  Walachei  genannt  wird  Paparuda,  schon  vom 
Fürsten  Kantimir  in  seiner  Beschreibung  der  Moldau  erwähnt,  kenne  ich 
aus  persönlicher  Erfahrung,  und  die  darauf  bezügliche  Literatur,  sowie 
die  Lieder,  die  bei  der  Gelegenheit  des  Begießens  mit  Wasser  gesungen 
werden.  Cf.  G.  D.  Teodorescu,  Poesii  Populäre  Romane  Bucuresti,  1SS5, 
p.  208—212. 

Aus  Lelio  ist  im  Rumänischen  häufig  Lerio  oder  Leroi  geworden, 
nebenbei  hat  sich  auch  die  Form  Leo  Lerom  erhalten  und  nicht  selten 
wird  das  Wort  Doamne  (Herr)  hinzugefügt,  ohne  daß  diejenigen,  die  diese 
Namen  aussprechen,  eine  Ahnung  mehr  davon  haben,  daß  darin  der  alte 
verpönte  slavische  Gott  Lelia  steckt.  Eine  große  Anzahl  der  von  Teo- 
dorescu veröffentlichten  Colin  de,  in  welchem  Worte  der  Namen  des  Gottes 
Coliada,  oder  mit  nasaler  Aussprache,  Coleda,  steckt,  beginnt  mit  dem 
Anrufe  Lero,  Leroi,  Lerom,  Leroi  Leo  und  Leroi  dai  Leroi  (S.  18,  19, 
20,  25,  26,  28,  30,  65,  82,  95  usw.) 

Turca  und  Brezaia  werden  von  S.  Mangiuca  in  seinem  Calindariu 
Brasiovu  1881,  S.  39 — 40  ausführlich  beschrieben.  Sie  tanzen  am  ersten 
Tag  Weihnachten  und  Neujahr  und  es  sind  Leute,  die  sich  vermummen 
und  auf  dem  Kopf  die  Maske  eines  Tieres  oder  eines  Vogels  tragen.  Diese 
Masken  tanzen  zu  der  Melodie  eines  Geigenspielers  und  recitieren  auch 
Verse  und  Gesänge,  die  häufig  zotenhaft  sind  und  ahmen  auch  das  Ge- 
schrei der  Tiere  und  Vögel  nach,  deren  Masken  sie  tragen.  Ich  lasse 
dahingestellt,  ob  Turca  (variante  Tsurca)  in  direktem  Zusammenhang  mit 
dem  Gotte  Tura  steht.  Eine  weitere  Untersuchung  der  Sitten  und  Ge- 
bräuche unter  den  Rumänen  würde  auch  Parallelen  liefern  zu  den  in 
Text  B  erwähnten  Bräuchen.  So  sind  ferner  die  Schaukeln  A  noch  heute 
im  Gebrauch.  Auf  einen  Vergleich  mit  älteren  Sitten  und  Spielen,  sowie 
auf  den  Zusammcnliaug  zwischen  Weihuachtslied,  -spiel  usw.  mit  den 
alten  und  mittelalterlichen  Mimen  und  Mysterien  einzugehen  ist  hier  jetzt 
nicht  die  Gelegenheit.  Es  handelt  sich  momentan  nur  darum,  den  Spuren 
slavischer  Götterlehre  und  Sitten  in  der  rum.  Literatur  und  im  Vülker- 
leben  nachzugehen. 


584 


Wer  ist  der  Übersetzer  der  »Neunzehn  serbischen 
Lieder«  in  F.  Försters  Sängerfahrt? 


Diese  Frage  habe  ich  bereits  im  Feuilleton  der  »Agramer  Zeitung« 
vom  3.  Juni  1906  aufgeworfen  und  kurz  beantwortet.  Was  ich  dort  für 
das  weitere  Publikum  mehr  angedeutet  als  ausgeführt  habe,  will  ich  hier 
des  näheren  erörtern  und  begründen. 

Jakob  Grimms  Kleinere  Schriften  bringen  am  Schlüsse  des  vierten 
Bandes  (Berlin  1869,  S.  455—467)  den  Abdruck  der  zuerst  in  F.  För- 
sters Almanach  »Die  Sängerfahrt«  (Berlin  ISIS,  S.  206 — 2 1 S)  erschienenen 
)jNeunzehn  serbischen  lieder  übersetzt  von  den  brüdern  Grimm«.  Die 
Autorschaft  der  Brüder  wurde  zur  Zeit  des  Erscheinens  dieser  tJber- 
setzungen  von  niemand  bezweifelt  (vgl.z.  B.  Talvj,  Volkslieder  der  Serben, 
1.  Lfg.,  Halle  1825,  S.  IX).  Erst  R.  Steig  in  seiner  Schrift  »Goethe  und 
die  Brüder  Grimm«  (Berlin  1892)  weist  auf  S.  165  nach,  daß  Wilhelm 
Grimm  an  dieser  Arbeit  ganz  unbeteiligt  Avar.  Und  so  wird  seither  in  der 
Regel  nur  Jakob  Grimm  allein  für  den  Übersetzer  dieser  serbischen  Volks- 
lieder angesehen  (vgl.  z.  B.  M.  Curcin,  Das  serbische  Volkslied  in  der 
deutschen  Literatur,  Leipzig  1905,  S.  103 ff.  M.  Murko  dürfte  Steigs 
Notiz  entgangen  sein,  denn  in  seiner  verdienstvollen  Abhandlung  »Eine 
Jacob  Grimm  fälschlich  zugeschriebene  Rezension  serbischer  Volkslieder«, 
Euphorien  XL  Bd.,  Leipzig  und  Wien  1904,  S.  108  hält  er  noch  Jakob 
und  Wilhelm  Grimm  für  die  Übersetzer  dieser  Lieder). 

Mit  einer  umfangreichen  Studie  über  die  deutschen  Übersetzungen 
der  serbokroatischen  Volkslieder  beschäftigt,  deren  ersten  Teil  ich  im 
Frühjahr  1905  der  südslavischen  Akademie  in  Agram  vorgelegt  habe, 
fand  ich  bald,  daß  auch  Jakob  Grimm  an  dieser  Übersetzung  nicht  be- 
teiligt sein  kann;  ich  sprach  dort  die  Vermutung  aus,  daß  diese  Über- 
setzungen von  dem  Wiener  Slavisten  Bartholomäus  Kopitar  heiTühren 
(vgl.  jetzt  über  ihn  Murko  a.  a.  0.  S.  109  flf.  und  Curcin  a.  a.  0.  S.  96). 
Jetzt  bin  ich  in  der  Lage  für  diese  meine  Ansicht  den  Beweis  zu  liefern. 

Am  5.  August  1815  meldet  Kopitar  an  Dobrovsky:  »Pjesnaricae 
exemplum  cum  male  scripta  mea  versione  verbali  per  Bertuchium  misi 
Göthio«  (Jagic,  Istocniki,  Tom  L  St.  Petersburg  und  Berlin  1885,  S.  406; 
vgl.  auch  Murko  a.  a.  0.  S.  114).   Gemeint  ist  die  Übersetzung  des  ersten 


Wer  ist  der  Übers,  der  »Neunzehn  serb.  Lieder«  in  Försters  Sängerfahrt?  585 

Teiles  der  Pjesnarica,  den  Kopitar  mit  einem  Begleitschreiben  vom 
10.  Juni  1815  an  Goethe  gelangen  ließ.  Das  Manuskript  befindet  sich 
im  Weimarer  Goethe-Schiller- Archiv  und  umfasst  alle  108  Nummern 
des  serbischen  Originals.  Durch  liebenswürdige  Vermittlung  des  Herrn 
Geheimrates  Dr.  Bernhard  Suphan  gelangte  ich  in  den  Besitz  einer 
sorgfältigen,  durch  den  Mitarbeiter  am  Archiv,  Herrn  Dr.  Max  Heck  er, 
besorgten  Abschrift  der  in  Frage  kommenden  Gedichte.  Beiden  Herren  sei 
für  ihre  Liebenswürdigkeit  und  Mühe  auch  an  dieser  Stelle  mein  innigster 
Dank  ausgesprochen. 

Schon  ein  oberflächlicher  Vergleich  der  unter  Grimms  Namen  gehen- 
den «Neunzehn  serbischen  Liedercf  mit  den  betreffenden  Nummern  der 
Kopitarschen  Handschrift  beweist,  daß  diese  «Neunzehn  serbischen  Lieder» 
dem  Kopitarschen  Manuskript  entnommen  sind. 

Nach  Dr.  Heckers  freundlicher  Mitteilung  erscheint  in  diesem  Manu- 
skript außer  der  Hand,  die  hauptsächlich  beteiligt  ist,  noch  eine  zweite, 
die  nicht  nur  in  den  von  der  ersten  geschriebenen  Gedichten  Änderimgen 
vornimmt,  sondern  auch  selbständig  Gedichte  aufzeichnet.  «Im  letzteren 
Falle  kann  es  dann  vorkommen,  daß  Korrekturen  von  der  ersten  Hand 
getroffen  werden«.  Interessant  ist  ferner  Dr.  Heckers  Mitteilung,  daß 
unter  einem  ganz  von  der  zweiten  Hand  geschriebenen  Gedicht  und  einer 
dazu  gehörenden  Anmerkung  die  erste  Hand  bemerkt:  »Scripsit  notam 
Serbus«.  Weder  die  erste  noch  die  zweite  Hand  ist  nach  Hecker  die  Vuk 
Stefanovic  Karadzics. 

Wer  die  beiden  Schreiber  sind,  kann  man  natürlich  nicht  feststellen, 
wenn  man  das  Manuskript  nicht  selbst  in  Händen  gehabt  hat.  Ich  will 
aber  trotzdem  meine  auf  mehrere  Einzelbeobachtungen  sich  stützende  Ver- 
mutung mitteilen,  daß  die  erste  Hand  die  Kopitars  ist.  Von  ihm  stammt 
also,  glaube  ich,  die  Niederschrift  des  größten  Teiles  dieser  Übersetzun- 
gen. Aber  selbst  wenn  diese  Vermutung  nicht  stehen  sollte,  so  kann  es 
doch  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  diese  an  Goethe  geschickten 
Übersetzungen  wirklich  von  Kopitar  herrühren.  Das  beweist  erstens  die 
oben  zitierte  Stelle  aus  Kopitars  Brief  an  Dobrovsky,  wo  er  ja  ausdrück- 
lich sagt  »cum  7nca  versionc  verbali«  (und  wer  Kopitar  kennt,  der  weiß, 
daß  es  nicht  seine  Art  war,  mit  fremdem  Eigentum  zu  prahlen;  er  hat  im 
Gegenteil  überall  Anregungen  gegeben  und  tatkräftig  mitgeholfen ,  ohne 
auf  Dank  oder  Anerkennung  Anspruch  zu  erheben);  zweitens  beweist  das 
die  Übersetzung  selbst,  die  überall  denselben  Grundsätzen  folgt  wie  die 
sicher  von  Kopitar  herrührenden  (in  der  Anzeige  des  zweiten  Bandes  der 


586  Stjepan  Tropsch, 

Vukschen  Pjesnarica  in  der  Wiener  allgemeinen  Literaturzeitung  1816, 
Nr.  20,  21,  S.  314 — 3331),  ferner  in  der  Anzeige  der  Leipziger  Ausgabe 
der  serbischen  Volkslieder  in  den  Wiener  Jahrbüchern  der  Literatur  1825, 
30.  Bd.  S.  159 — 27  7;  schließlich  vgl.  man  die  Übersetzungen  im  Archiv 
für  Geographie,  Historie,  Staats-  und  Kriegskunst,  IX.  Jahrg.,  Wien  1818, 
S.  42 — 48  u.  137 — 148,  von  denen  ich  in  meiner  erwähnten  Studie  nach- 
gewiesen habe,  daß  sie  unbedingt  Kopitar  zum  Verfasser  haben).  Einen 
weiteren,  sehr  gewichtigen  Beweis  für  Kopitars  Autorschaft  sehe  ich  in 
den  (von  der  ersten  Hand  geschriebenen!)  Anmerkungen  zu  einzelnen 
Übersetzungen  der  Weimarer  Handschrift.  So  ist  es  z.  B.  eben  für  Ko- 
pitar bezeichnend,  wenn  in  der  Übersetzung  auf  die  Reime  des  Originals 
aufmerksam  gemacht  wird;  man  vgl.  eine  diesbezügliche  Anmerkung  zu 
Gedicht  4 :  nMlinar  und  Dinan<\  oder  man  vgl.  die  Anm.  zu  Gedicht  99: 
«Also  sind  die  slavischen  Vile  auch  vefpe'kE'/eqetan  (das  Griechische  hat 
Kopitar  zur  Erklärung  serbokroatischer  Ausdrücke  und  Verhältnisse  auch 
sonst  öfter  herangezogen,  so  z.  B.  in  der  Anzeige  der  Pjesnarica,  in 
J.  Grimms  Kl.  Schriften  IV,  445  u.  446  ;  in  formeller  Hinsicht  dürfte  jenes 
»also«,  mit  dem  die  Erklärung  beginnt,  auch  nicht  zu  unterschätzen  sein; 
vgl.  damit  z.  B.  die  Anm.  auf  S.  454  der  erwähnten  Anzeige:  »Also 
Petka  .  .  .(f).  Besonders  wichtig  aber  ist  die  Anmerkung  zur  Übersetzung 
des  Gedichtes  Nr.  1 :  »junak  von  der  altslavischen  Wurzel  Jun  (womit 
jung  und  juvenis  zu  vergleichen)  ist  ein  junger,  und  überhaupt  ein  voll- 
kräftiger  Mann.  Laudon  nante(!)  seine  Soldaten  immer  junäcict.  Diese 
Anmerkung  stimmt  zum  Teil  wörtlich  überein  mit  der  in  Kopitars  Re- 
zension der  Pjesnarica  (bei  Grimm  S.  440):  »junak  (vom  altslavischen 
jun,  das  mit  dem  lateinischen  juvenis,  junior,  und  dem  deutschen  jung 
eins  ist)  heißt  jeder  erwachsene  Jüngling ;  es  ist  aber  zugleich  eine  idee 
von  heroismus  dabei ;  daher  Laudon  seine  Kroaten  immer  durch  die  an- 
rede: junäci!  zu  elektrisieren  wüste«.  Die  erste  handschriftliche  Anm. 
stammt  aus  dem  J.  1815,  die  zweite  gedruckte  aus  dem  J.  1816;  die 
erste  bezieht  sich  auf  den  ersten  Bd.  der  Pjesnarica  (1814),  die  zweite 
auf  den  zweiten  Bd.  (1815).  Demnach  ist  die  erste  Anm.  gewiß  vor  der 
zweiten  entstanden.  Da  nun  die  zweite  ganz  bestimmt  von  Kopitar  ist, 
kann  auch  die  erste  nur  von  ihm  herrühren,  denn  niemals  wäre  er  mit 
fremdem  Eigentum  so  verfahren,  wie  er  hier  mit  seinem  verfahren  durfte. 


1)  Jetzt  in  Kopitars  Kleineren  Schriften,  Wien  1857,  S.  347—369  und  in 
J.  Grimms  Kleineren  Schriften  IV,  S.  437—455. 


Wer  ist  der  Übers,  der  »Neunzehn  serb.  Lieder«  in  Försters  Sängerfahrt?  587 

Aus  all  dem  Gesagten  geht  meiner  Meinung  nach  klar  hervor,  daJJ 
die  deutsche  Übersetzung  des  ersten  Buches  der  Pjesnarica  und  folge- 
richtig auch  der  »Neunzehn  serbischen  Lieder«  nur  von  Kopitar  herrüh- 
ren kann. 

Es  bleibt  noch  die  Frage  ofifen,  wie  es  dazu  gekommen  ist,  daß  die 
Brüder  Grimm  für  die  Übersetzer  dieser  Gedichte  angesehen  wurden. 
Einigen  Aufschluß  darüber  gibt  der  Briefwechsel  der  Brüder  (siehe  die 
Zusammenstellung  bei  Curcin  S.  103).  So  viel  ich  sehe,  sagt  J.  Grimm 
nii-gends  ausdrücklich,  daß  diese  Übertragungen  von  ihm  selbst  sind.  Man 
vergleiche  gleich  die  erste  Briefstelle,  wo  diese  Lieder  Erwähnung  finden : 
Am  10.  Juni  1815  schreibt  Jakob  aus  Wien  an  Wilhelm:  «Stofi"zu  Auf- 
sätzen bringe  ich  genug  mit  heim,  Gott  gebe  mir  nur  Ruhe  und  Zufrieden- 
heit; besonders  kannst  Du  Dich  im  voraus  auf  sehr  schöne  serbische  Poe- 
sien freuen,  wovon  ich  Text  und  Übersetzung  habeff  (Briefwechsel  zwischen 
Jacob  und  Wilhelm  Grimm  aus  der  Jugendzeit  hrg.  von  H.  Grimm  und 
G.  Hinrichs,  Weimar  1881,  S.  460).  Das  heißt  doch  wohl:  -wir  wollen 
auch  über  serbische  Poesie  schreiben,  da  ich  den  Stoff  hierzu  (Original 
und  Übersetzung  serbischer  Volkslieder)  bekommen  habe  ? 

Das  Manuskript  lasen  Savigny,  A.  v.  Haxthausen,  Brentano,  der 
am  4.  September  1816  an  Jakob  schreibt:  «Die  Serbischen  Lieder  habe 
ich  mir  aus  eigner  Lust  abgeschrieben,  sie  haben  mir  große  Freude  ge- 
macht. Der  Herausgeber  eines  hiesigen  Taschenbuchs  (Sängerfahrt),  Dr. 
Förster,  bittet  um  Nachricht  durch  mich,  ob  Sie  ihm  ein  paar  draus  zur 
Bekanntmachung  erlauben«  (Steig  S.  165).  Daß  diese  Übersetzungen 
nicht  von  J.  Grimm  sind,  scheint  auch  aus  diesen  seinen  Worten  an  A.  v. 
Haxthausen  (31.  August  1816)  hervorzugehen:  »Das  Deutsche  in  der 
Übersetzung  der  serb.  Lieder  wäre  eigentlicher  gefüger  und  besser  zu 
drehen  und  wenden;  den  Dienst  thust  Du  wohl  den  Liedern«  (Freundes- 
briefe von  Wilhelm  und  Jacob  Grimm  hrg.  von  A.  Reifferschcid,  Heil- 
bronn 1878,  S.  44).  Wäre  diese  Prosaübersetzung  von  Grimm,  so  hätte 
er  sich  doch  wohl  keine  sprachlichen  Unebenheiten  und  Fehler  zu  Schul- 
den kommen  lassen.  Grimms  Aufforderung  an  Haxthausen,  die  er  wohl 
auch  an  Brentano  gerichtet  hat,  wurde  befolgt,  und  so  erschienen  die 
ausgewählten  neunzehn  Gedichte  nicht  genau  nach  Kopitars  Manuskript, 
sondern  sprachlich  verbessert,  aber  sachlich  sehr  häufig  verschlechtert, 
wie  man  aus  den  unten  mitgeteilten  Proben  ersehen  wird.  Jakob  in  seiner 
streng  philologischen  Art  hat  die  Gedichte  gewiß  wortgetreu  aus  Kopi- 
tars Handschrift  abgeschrieben  (falls  die  Abschrift  nicht  Kopitar  selbst 


588  Stjepan  Tropsch, 

besorgt  hat),  aber  Brentano,  der  sie  für  den  Druck  hei-richtete,  verfuhr  mit 
ihnen  wohl  gerade  so  wie  mit  den  Volksliedern  im  Wunderhorn.  Diese 
Annahme  erklärt  —  glaube  ich  —  am  einfachsten  die  Abweichungen 
der  gedruckten  Übersetzungen  von  den  handschriftlichen. 

Schließlich  will  ich  hier  einige  dieser  handschriftlichen  Übersetzun- 
gen mitteilen  und  ihnen  die  entsprechenden  Nummern  der  unter  Grimms 
Namen  gehenden  Übertragungen  gegenüberstellen,  wobei  die  Identität 
beider  Übersetzungen  klar  zu  Tage  treten  dürfte.  Die  Abweichungen 
des  Manuskripts  vom  gedruckten  Text  mache  ich  durch  gesperrten  Druck 
kenntlich. 

Das  serboki-oatische  Original  in  Vuks  Pjesnarica  I.  Bd.,  Nr.  2. 
Weimarer  Handschrift  Blatt  2.  J.  Grimms  Kleinere  Schriften  IV,  S.  460. 

Mädchen  den  Burschen  vinum  mini-  Überschrift]. 

strat.  I) 

Schön  ist's  dir  sub  noctem^)  hinzu-   Schön  ist  in  die  nacht  hinzuschauen 

[schauen 
dort  unten,  längs  der  stillen  Donau        dort  unten  längs  der  stillen  Donau 
wo  Heldenjünglinge  das  Zelt  ausge-   wo     heldenjünglinge    das    zeit    ge- 
[spannt  haben  [spannt, 

und  unter  ihm  röthlichen  Wein  trin-   um  unter  ihm  röthlichen  wein  zu  trin- 

[ken.  ken, 

Ihnen   ministrat*)  schönes   Mäd-   ihnen  schenket  ein  rothes^)  mäd- 

[chen.  [chen, 

Wie  sie  wem  den  Becher  reichte,  wie  sie  wem  den  becher  reichet 

jeder  ihr   in   den   Busen    fahren  jeder  will  das  mädchen  küssen; 

[wollte. 
Da  spricht  das  schöne  Mädchen:  da  spricht  das  schöne  mädchen: 

0  Helden,  und  junge  Herrchen!  o  beiden,  junge  herren! 

Wenn  ich  (auch)  allen  Dienerinn  seyn  wenn  ich    auch  allen    dienerin    sein 

[kann,  [kann, 

kann  ich  (doch)  nicht  allen  Liebchen  kann  ich  doch  nicht  allen  liebchen 

[seyn,  [sein, 

sondern  Einem,   den  das  Herz  mir  sondern  einem    nur,    den  das  herz 

[liebet.  [liebt ! 


1)  Schon  der  Umstand,  daß  der  Übersetzer  für  das  »vino  sluziti"  und 
«pod  noc«  des  serbokroat.  Originals  keine  passenden  deutschen  Ausdrücke 
finden  kann,  sondern  zum  Lateinischen  greift,  beweist,  daß  diese  Übersetzung 
nicht  von  J.  Grimm  sein  kann. 

2)  Ein  Versehen,  veranlaßt  durch  den  vorhergehenden  Vers. 


Wer  ist  der  Übers,  der  »Neunzehn  gerb. Lieder«  in  Försters  Sängerfahrt?  589 

Vuks  Pjesnarica  I,  Nr.  4. 

Weimarer  Handschrift  Bl.  4.  J.  Grimms  Schriften  S.  4ö0  f. 

Was  lieb  ist,   muß  schön  seyn.  =  ^^^^^  Überschrift]. 

ist  auch  schön. 

Wann  wird  jene  schöne  Zeit  kommen,  Wenn  wird  jene  schöne  zeit  kommen, 

und  man  anfangen,  Buben  zu  verkau-  und  man  anfangen  buben  zu  verkau- 

[fen?  [fen, 

Um  zwey  Blaue  (blonde)  gab  ich  kei-  um  zwei  blonde  gab  ich  keinen  pi- 
[nen  Piaster,  [aster 

Um  den  Müller  keinen  Heller :  um  den  müller  keinen  heller. 

Aber  um  ein  junges  Schwarzaug,  aber  um  ein  junges  schwarzaug, 

Um  ihn  gab'  ich  tausend  Dukaten.  —  um  ihn  geb  ich  tausend  ducaten. 

Ach  ich  Unselige!    wie   sündig   ich  ach  ich  unselige !  wie  sündig  geredet, 

[geredet 

Bei  meinem  Geliebten  sind  die  Augen  bei  meinem  geliebten  sind  die  äugen 

[blau  —  [blau, 

Sie  sind  blau,  aber  mir  sind  sie  theuer.  sie  sind  blau  aber  mir  sind  sie  theuer. 

Freundinnen  mein,   bittet  für  mich  freund i n  mein,  bittet  für  mich 

[vor. 

Nur  ein  wenig,  wenn  es   euch  ge-  nur  ein  wenig,  wenn  ich  [!]  euch  be- 
[fälligi;;  [liebti), 

ich  bin  jung,  will  ihn  selber  bitten.  ich  bin  jung,  will  ihn  selber  bitten. 

Vuks  Pjesnarica  I,  Nr.  23. 

Weimarer  Handschrift  J.  Grimms  Schriften  S.  462. 

(nach  Steigs  Abdruck  auf  S.  262  seiner 

zitierten  Schrift). 
Mädchen,  niedlich  kleines  Veilchen!       "Mädchen,  niedlich  kleines  veilchen, 
lieben  möcht'  ich  dich,  aber  du  bist  lieben  möcht  ich  dich,  aber  bist  klein!« 

[klein. 
Lieb  mich.  Lieber,  ich  werd  wohl  groß  lieb  mich,  lieber,  will  schon  groß  wer- 

[werden.  [den, 

Klein  ist  die  Beere  der  Perle  klein  ist  das  äuge  der  perle, 

und  man  trägt  sie  an  dem  Herren   und  man  trägt  sie  gern  am  halse, 

[Halse 
Klein  ist  der  Vogel,  die  Wachtel^)   klein  ist  der  vogel,  die  nachtigall^), 

[(=  ein  kleiner  Vogel  ist  d.  W.) 
Aber  sie  tödtct  (ermüdet)  Roß  und   aber  sie  ermüdet  reiter  und  roß. 
[Reiter,  (auf  der  Jagd) 


1)  "ako  vam  je  drago«. 

2)  Im  Original  »propelica«. 


590 


Stjepan  Tropsch, 


Weimarer  ITandschrift  Bl.  ;<8. 
Ganze  Nacht  durclisingt  mir  der  Falke 
An  des  Milan  Fenster, 
Steh   auf  Milan,  dein  Mädchen  heu- 

[rathet, 
Und  dich  ladet  sie  zur  Hochzeit, 
Wenn   du  nicht    auf   ihre    Hochzeit 

[willst. 
So  schick  ihr  doch  den  Segen. 
Auf  ihre  Hochzeit  gehen  kann  ich  nicht 
Sondern  den  Segen  schick  ich  ihr: 
Männliches  Kind  möge  sie  keins  haben 
Soviel  Brod  sie  aufisst,  so  viel  Gift 
[möge  sie  haben 
Soviel  Wasser  sie  auf  trinkt,  so  viel 
[Thränen  möge  sie  vergießen. 


Vuks  Pjesnariea  I,  Nr.  38. 

J.  Grimms  Schriften  S.  46.3. 
Ganze  nacht  durch  singt  mir  der  falke 
an  des  Milan  fenster; 
steh  auf  Milan,  dein  mädchen  heirathet. 


und  dich  rufts  zur  hochzeit. 
wenn  du  nicht  auch  [!]  ihre  hochzeit 

[willst, 
so  schick  ihr  doch  den  segen. 
auf  ihre  hochzeit  gehen  kann  ich  nicht, 
sondern  den  segen  schick  ich  ihr: 
männlich  kind  möge  sie  keines  haben, 
so  viel  brod  sie  isset,  so  viel  gift 
[möge  sie  haben, 
so  viel  wasser  sie  trinkt,  so  viel 
[thränen  möge  sie  weinen. 


Vuks  Pjesnariea  I,  Nr.  44. 


Weimarer  Handschrift  Bl.  44. 
Wo  wir  gestern  im  Quartiere  waren 
nachtmahlten  wir  ein  herrlich  Nacht- 

[mahl, 
ein  schönes  Mädchen  sahen  wir  dir. 
Um  das  Haupt  ihr  Perlentulpen, 
und  ich  gab  ihr  das  Pferd  zu  über- 

[führen. 
Sie  sprach  leise  zum  Pferde : 
OjBrauneri),  vergoldter  Mähne, 
hat  der  Herr  sich  dir  geheuratet^)? 
Pferdchen  ihr  wiehernd  antwortet : 
Oj  !  bei  Gott  nein,  schönes  Mädchen 
Nicht  hat  sich  mir  der  Herr  geheu- 

[ratets) 
sondern  denkt's  mit  dir  auf  den  Herbst. 
Da  sprach  Mädchen  zu  B r  äu n  c  h e n 3) ! 
wenn  ich  weiß,  daß  das  Wahrheit  ist, 


J.  Grimm's  Schriften  S.  460. 
Wo  wir  gestern  im  quartiere  lagen, 
nachtmahlten    wir    herrliches    nacht- 

[mahl 
ein  schönes  mädchen  sahen  wir  dir 
um  das  haupt  ihr  perlentulpen 
und  ich  gab  ihr  das  pferd  zum  ab- 

[führen. 
sie  sprach  leise  zum  pferde : 
oi  brauner  mit  goldner  mahne, 
hat  dein  herr  sich  dir  vermählt? 
pferdchen  ihr  wiehrend  antwortet : 
oi  bei  gott  mein  schönes  mädchen, 
nicht  hat  sich  mir  der  herr  vermählt, 

sondern  denkt  mit  dir  auf  den  herbst! 
da  sprach  mädchen  zum  pferdchen: 
wenn  ich  weiß,  daß  das  Wahrheit  ist, 


1)  Ursprünglich  «Dorat«  (wie  im  Original)  von  der  ersten  Hand,  dann  von 
der  zweiten  zuerst  »Fuchs',  dann  »Brauner«. 

2)  Zuerst  von  der  ersten  Hand  »sich  verheuratet»,  dann  von  der  zweiten 
»ge  heuratet",  wobei  das  sich  übersehen  wurde. 

3)  Von  der  ersten  Hand  »zum  Dorat«,  dann  »Dorcheu",  zuletzt  von  der 
zweiten  »Bräunchen«. 


Wer  ist  der  Übers,  der  »Neunzehn  serb.  Lieder«  in  Försters  Sängerfahrt?  591 

möchte  ich  meine  Spangen  ')  losschla-   möcht  ich  meine  spangen  losschlagen 

[gen 
und  deinen  Halfter  beschlagen,        und  deine  halfter  vergolden, 
in  reines  Silber  möchte  ich  ihn  be-   mit  reinem   silber    möcht  ich   dich 

[schlagen  [beschlagen, 

und  mit  meinem  Halsschmuck 2^  ver-   und  mit  meinem  haisschmuck   dich 

[golden^].  [zieren. 

In  der  1815  erschienenen  Anzeige  des  ersten  Bandes  der  Pjesnarica 
hat  Grimm  dieses  Gedicht  im  Versmaß  des  Originals  (dem  heroischen 
Zehnsilbler)  veröffentlicht.  Wie  es  scheint,  hat  Grimm  die  soeben  mitge- 
teilte Kopitar'sche  Prosa-Übersetzung  seiner  metrischen  Überti'agung  zu- 
grunde gelegt.    Man  vergleiche  (J.  Grimms  Schriften  IV,  S.  432): 

wo  wir  nachten  zu  der  herberg  waren 
nachtmahl  herrliches  wir  dii-  nachtmahlten, 
sahen  dir  ein  wunderschönes  mägdlein, 
perlentulpen  (steckten)  ihr  zu  haupten; 
gab  ich  ihr  das  pferd  zu  überführen, 
sprach  sie  leise  zu  dem  pferde  also: 
o  du  brauner,  mit  der  goldnen  mahne, 
hat  sich  dir  denn  schon  dein  herr  vermählet? 
pferd  entgegensprach  ihr  wiehernd  also : 
o  bei  gott  mein  wunderschönes  mägdlein, 
noch  nicht  hat  sich  mir  mein  herr  vermählet, 
sondern  denkts  mit  dir  (zu  thun]  auf  herbest. 
sprach  das  mägdlein  zu  dem  braunen  also: 
wenn  ich  wüste,  daß  das  Wahrheit  wäre 
wollt  ich  meine  spangen  mir  zerschmieden, 
wollte  dann  sie  deinem  zäum  anschmieden, 
wollte  (dich)  in  lauter  silber  schmieden 
und  mit  meinem  halsband  dich  vergolden. 

Vuks  Pjesnarica  I,  Nr.  45. 

Weimarer  Handschrift  BI.  45.  J.  Grimms  Schriften  S.  459  f. 

Oj  Donau,  stilles  Wasser!  Oi  Donau  stilles  wasser, 

Was  läufst  du  mir  so  trübe?  wie  läufst  du  mir  so  trüb, 

trübt  dich  der  Hirsch  mit  dem  Geweih,  trübt  dich  der  hirsch  mit  dem  geweih? 

oder  Mirtscheta  der  Wojwode?  oder  Mirtscheta  der  woiwode? 

1)  Die  erste  Hand  hatte  »pavte«  geschrieben  (wie  im  Originär. 

2)  Das  »Dierdan«  (wie  im  Original)  von  der  ersten  Hand  wurde  von  der 
zweiten  durch  »Halsschmuck«  ersetzt. 

3)  Kopitars  Übersetzung  der  letzten  drei  Zeilen  folgt  dem  Original  viel 
genauer  als  die  in  der  öüngerfahrt. 


592  Stjepan  Tropsch, 

Nicht  trübt  mich  —  nicht  trübt  mich  der  hirsch, 

noch  —  noch  Mirtscheta,  der  woiwode, 

sondern  Mädchen,  Teufelchen  sondern  mädchen,  teufelchen, 

alle  Morgen  herbeikommend,  alle  morgen  kommend 

Perunikal)  pflückend  blumen  pflückend 

und  weißend  ihre  Wangen^).  und  badend  ihr  ge8icht2). 

Zuletzt  Avill  ich  auch  aus  einem  der  2  (bezw.  3)  epischen  Gedichte 
einige  Zeilen  mitteilen, 

Vuks  Pjesnarica  I,  Nr.  2  der  epischen  Gedichte. 

Weimarer  Handschrift  Bl.  Iü2.  J.  Grimms  Schriften  S.  455  f. 

[Ohne  Überschrift].  Diejagd  Mule y's. 

Jagd  jagte  Murat  Vesir  Jagd  jagte  Muley  vesir, 

Jagd  jagte  nach  dem  grünem  [!]  Ge-  jagd  große,  nach  grünem  gebirg 

[birge 

mit  seinen  12  Delien  mit  seinen  zwölf  delien 

und  mit  selbdreizehntem  dem  Königs-  und  mit  selbdreizehnten  dem  königs- 
[sohn  Marko.  [söhne  Marco. 

Jagd  jagten  sie  drey  weiße  Tage  jagd  jagten  sie  drei  weiße  tage 

und  konnten  nichts  erfangen.  und  konnten  nichts  erfangen. 

Der  Zufall  hatte  sie  gebracht  gehabt  zufall  hatte  sie  gebracht 

an  einen  grünen  See  im  Berge  an  einen  grünen  see  am  berg, 

auf   dem    schwimmen   goldenflüglige  auf   dem    schwimmen   goldgeflügelte 

[Enten.  [enten, 

Läßt  los  der  Vesir  seinen  Falken,  läßt  der  vesir  seinen  falken  los, 

daß  er  fange  die  Ente  golden  flüglig.  daß  er  fange  ente  goldflüglich. 

sie  läßt  sich    ihm  nicht    einmal    er-  sie  läßt  sich  ihm    nicht    einmal   er- 

[schauen  [schauen, 

sondern  hebt  sich  himmelan  unter  die  sondern    hebt  sich    himmelan   unter 

[Wolken  u.s.w.  [wölken  u.s.w. 

Von  den  übrigen  Versen  seien  nur  noch  folgende  zwei  mitgeteilt: 
»Ali  Markov  soko  jogunica  ||  Kao  sto  je  i  njegov  gospodar«.  Kopitar 
übersetzt  ganz  korrekt:  »Aber  Marko's  Falke,  ein  Hartkopf  j]  wie  es 
auch  ist  sein  Herr«.  In  der  Sängerfahrt  dagegen  heißt  es  statt  »ein 
Hartkopfa  —  »ein  Heldcf,  wodurch  der  ganze  Gedanke  entstellt  wird. 

Nachtrag.  Das  erst  kürzlich  erschienene  Buch  N.Petrovskij's,  Pervye 
gody  dejateljnosti  V.  Kopitarja.  Kazan  1906,  ebenso  M.  Murkos  aufschlußreiche 
Rezension,  Die  serbokroatische  Volkspoesie  in  der  deutschen  Literatur  (im 


1)  In  der  Anmerkung  von  der  zweiten  Hand  »iris  florentina". 

2)  Im  Original  »I  bijelec'  svoje  lice«. 


Wer  ist  der  Übers,  der  »Neunzehn  serb.  Lieder«  in  Försters  Sängerfahrt?  593 

letzten  Doppelheft  des  Archivs,  XXVIII.  Bd.,  S.  351  ff.)  kann  ich  nur  noch  bei 
der  Korrektur  dieses  meines  Aufsatzes  flüchtig  erwähnen.  Beide  Forscher 
scheinen  noch  die  Brüder  Grimm  für  die  Übersetzer  der  »Neunzehn  serbischen 
Lieder«  zu  halten  (vgl.  Petrovskij  S.  724,  Anm.  3;  Murko  S.  370,.  Aber  Pe- 
trovskij  (a.  a.  0.)  zitiert  eine  Bibelstelle,  in  der  ich  eine  Bestätigung  meiner 
oben  vorgetragenen  Ansicht  erblicke.  Am  I.Jänner  ISIS  schreibt  nämlich 
Viik  an  Musicki:  »U  Berlinu  je  jedan  zabavnik  Njemacki  izisao  pod  imenom 
Sängerfahrt,  i  u  njemu  ima  19  srbski  pjesana  prevedeni  na  Njemacki  iz  prve 
casti  pjesnarice  (ondje  stoji  napecatano,  da  ih  je  Grim  preveo)« 
(Glasnik  srp.  uc.  drustva,  Bd.  7.5,  S.  275).  Wenn  also  Vuk  sagt:  »dort  [d.h.  in 
der  Sängerfahrt]  heißt  es,  Grimm  hätte  sie  [diese  19  Lieder]  übersetzt«,  so 
muß  man  daraus  wohl  schließen,  daß  Vuk  daran  nicht  geglaubt  hat.  Den 
wahren  Tatbestand  aber,  der  ihm  ja  zweifelsohne  bekannt  war,  verschweigt 
er,  weil  der  Name  der  Brüder  Grimm  diesen  Liedern  eine  freundlichere  Auf- 
nahme zusicherte  als  der  Kopitars. 

Schließlich  sei  erwähnt,  daß  der  erste  Teil  meiner  oben  zitierten  Studie 
über  die  deutschen  Übersetzungen  der  serbokroatischen  Volkslieder  in- 
zwischen im  Druck  erschienen  ist  (im  166. Bande  des  «Kad«  der  südslavischen 
Akademie). 

Zagreb  (Agram),  August  1906.  Sfjepan  Tropsch. 


Paul  Eitter  Vitezovic,  Beiträge  zu  seiner  Biographie. 

Von  Fr.  Snopek. 


Unter  den  im  f.  e.  Archive  in  Kremsicr  aufbewahrten  Akten  des 
Olmützer  Fürstbischofs  Karl  Grafen  von  Liechtensteiu-Castelcorn  (IG64 
bis  1695)  fand  ich  zwei  nicht  uninteressante  Beiträge  zur  Biographie  de3 
kroatischen  Dichters  und  Schriftstellers  Paul  Kitter  genannt  Vitezovic, 
welche  ich  mir  hier  zum  Abdruck  zu  bringcu  erlaube. 

Es  ist  vor  allem  sein  Brief  an  den  Kirchenfärstcn  vom  28.  April 
1687,  dessen  Beilage,  ein  Gedicht  zu  Ehren  des  Fürstbischofs,  leider 
verloren  gegangen  ist.  Diirch  die  darauf  erfolgte  Nachfrage,  wer  der 
Dichter  wäre,  wurde  diesem  die  Gelegenheit  geboten,  seine  Auto- 
biographie bis  zum  Jahre  1087  in  72  elegischen  Distichen  zu  ver- 

Arcliiv  für  slavischo  Thilologie.    XXVIII.  38 


594  Fr.  Snopek, 

fassen  (7 — 10)  ^).  Sie  ist  wie  der  Brief  auf  Papier  mit  Goldschnitt  rein 
und  schön  geschrieben,  umfaßt  zwei  Bogen,  25  cm  hoch  und  15  cm  breit. 
Die  wertvollen  Blätter,  welche  ein  Autogi'aph  des  Dichters  zu  sein  schei- 
nen, ergänzen  und  korrigieren  teilweise  die  bisherigen  Angaben  der  Au- 
toren über  ihn.  Wir  haben  hier  nicht  zu  verachtende  Berichte  über  die 
Familie  des  Vaters  unseres  Paul,  über  seine  Studien,  seine  politische, 
militärische  und  literarische  Wirksamkeit.  Auf  Grundlage  der  Verse  95 — 
114  wird  ferner  der  Kenner  seiner  Werke  unschwer  die  chronologische 
Aufeinanderfolge  wenigstens  seiner  ersten  lateinischen  Arbeiten  bestim- 
men können. 

Paul  Ritter  wurde  um  das  Jahr  1650  in  Zengg  am  adriatischen 
Meere  (11)  als  der  älteste  Sohn  eines  deutschen  Edelmannes  geboren  (15), 
welcher  für  seine  im  Felde  erworbenen  Verdienste  in  den  ungarischen 
und  kroatischen  Ritterstand  erhoben  wurde  (19)  und  außerdem  die 
Patrizierwürde  der  Stadt  Zengg  erwarb  (20). 

Seine  Mutter  war  eine  adelige  Kroatin  (16),  wahrscheinlich  eine  ge- 
borene de  Luka  (18). 

Er  hatte  zwei  Brüder  und  zwei  Schwestern  (21).  Sein  jüngster 
Bruder  starb  im  Kindesalter  (23);  der  andere  erwählte  die  militärische 
Laufbahn  (25 — ^27).  Im  Jahre  1687  lebten  noch  beide  Eltern  Pauls 
(19  vivit  ipse  genitor;  31  unicus  ut  modo  sim  matri).  Sie  sorgten  ge- 
wissenhaft für  die  wissenschaftliche  Ausbildung  ihi-es  ältesten  Sohnes, 
ohne  Kosten  zu  scheuen.  Paul  studierte  in  Agram  (33.  34)  und  zwar 
bis  zur  Rhetorik  (34  meis  studiis  Suada  coronis  erat).  Nachdem  er  dann 
Reisen  in  der  kroatischen  Kraljevina  gemacht,  begab  er  sich  nach  Rom, 
wo  er  seine  Studien  beendigte  (36).  Dann  bereiste  er  die  Nachbarländer, 
um  die  Bekanntschaft  berühmter  Männer  zu  machen  und  seinen  Wissens- 
drang zu  stillen  (37 — 40). 

Mit  vielen  nützlichen  Kenntnissen  bereichert,  kehrte  er  in  seine  Hei- 
mat zurück.  Als  der  Kaiser  im  Jahre  1681  den  Reichstag  nach  Oedenburg 
(Sempronium)  berief,  erschien  er  da  als  Abgeordneter  seiner  Vaterstadt 
(41 — 44).  Bald  darnach  wurde  er  Vertreter  seiner  Mitbürger  am  kaiser- 
lichen Hofe,  wo  er  fast  anderthalb  Jahre  verweilte  (47 — 48).  Er  ver- 
stand es,  sich  beim  Kaiser,  seinen  Hof  beamten  und  anderen  hervorragen- 


1)  Die  in  den  Klammern  eingeschlossenen  Zahlen  bedeuten  die  Verse  der 
Autobiographie,  auf  die  ich  mich  berufe. 


J 


Paul  Ritter  Vitezovic,  Beiträge  zu  seiner  Biographie.  595 

den  Persönlichkeiten  äurch  seine  lateinischen  Gedichte  beliebt  zu  machen 
und  einen  großen  Einfluß  zu  gewinnen. 

Nach  seiner  Rückkehr  in  die  Heimat  entstanden  kriegerische  Un- 
ruhen (49).  Damals  mag  er  in  das  kaiserliche  Heer  eingetreten  sein,  wo 
er  die  Charge  eines  Rittmeisters  in  einem  kroatischen  Regiment  erlangte 
(31.  32  magistri  supra  equites  Slavnos  munia  nactus  eram).  Zur  Zeit  der 
Belagerung  Wiens  durch  die  Türken  im  Jahre  1683  lebte  er  an  der 
Seite  des  Banus  im  Feldlager  an  der  Drau  und  Mur  (50 — 52).  Unterdessen 
nahm  sein  jüngerer  Bruder  tätigen  Anteil  an  dem  Entsätze  der  Stadt  Wien 
und  zeichnete  sich  hier  dadurch  aus,  daß  er  eine  Fahne  mit  Lebensgefahr 
erbeutete  (25.  26  et  caput  et  Signum  victor  ab  hoste  tulit).  Nachdem  er 
sich  schon  früher  (27)  und  auch  später  kriegerische  Lorbeeren  erworben, 
starb  er  als  Major  (strategi  gerendo  vices)  infolge  einer  Verwundung 
(27 — 30)  zum  großen  Leidwesen  seines  Kommandanten  (praesidis)  und 
besonders  seines  Bruders  Paul  (57 — 58). 

Später  nach  Vernichtung  der  Burgen  Brezenca  und  Babocsa  vertrat 
Ritter  den  Banus  beim  Kaiser  in  Linz  durch  vier  Monate  (53.  54).  Dann 
ließ  er  sich  mit  der  Charge  eines  Rittmeisters  in  einem  kroatischen  Regi- 
ment reaktivieren  (56  supra  equites  Slavnos  fio  magister  eques). 

Noch  hatte  er  sich  vom  Schmerze  über  den  Verlust  seines  geliebten 
Bruders  nicht  erholt,  als  auch  seine  Person  von  einem  Unfälle  heimge- 
sucht wurde.  Auf  der  Rückreise  in  die  Posavina  begriffen  (62  non  bene 
Saviacis  ipse  recurro  plagis)  fiel  er  bei  einem  Ritte  durch  die  steirischen 
Alpen  vom  Pferde  und  schlug  sich  an  einem  Steine  dermaßen  an,  daß 
es  ihm  über  ein  Vierteljahr  *)  nicht  möglich  war,  die  Reise  fortzusetzen 
(63—68). 

Noch  nicht  völlig  hergestellt  begab  er  sich  mit  dem  Banus  in  das 
kroatische  Lager  (69.  70),  denn  das  Regiment,  welchem  er  zugeteilt  war, 
befand  sich  damals  in  Leutschau  hart  an  der  russischen  Grenze  (sie,  7 1 — 
72  Russiacis  proxima  facta  plagis). 

Im  nächsten  Winter  kam  er  nach  W^ien,  wo  er  von  seinem  Obersten 
(tribunus)  den  Befehl  erhielt,  daselbst  seine  Rückkehr  abzuwarten.  Als 
jedoch  der  Oberst  erst  nach  sieben  Monaten  in  Wien  ankam,  mußte  er 
erfahren,  daß  sein  Regiment  bereits  aufgelöst  sei  (73 — SO). 


1)  08  Retrograde  potui  nee  rediissc  love.  Die  Erklärung  dieser  Worte 
verdanke  ich  der  Liebenswürdigkeit  doa  k.  k.  Soliulnites  und  Oyinn.isial- 
professors  Dr.  Fr.  Nübolck. 

3S* 


596  Fr.  Snopek, 

Dadurch  verlor  auch  unser  Eitter  seine  Stellung  im  Heere,  wurde 
aber  rehabilitiert  (81  reformatus).  Jedoch  trat  er  den  Dienst  nicht  an, 
auch  kehrte  er  nicht  in  seine  Heimat  zurück,  denn  er  war  ausersehen,  die 
Kraljevina  wieder  beim  Kaiser  zu  vertreten.  Deshalb  weilte  er  schon 
seit  längerer  Zeit  in  der  Kaiserstadt  an  der  Donau  und  hatte  Ende  Juni 
1687  keine  Hoffnung,  selbe  vor  zwei  Monaten  zu  verlassen  (82 — 8G). 

In  den  folgenden  Distichen  breitet  sich  unser  Autor  über  seine  lite- 
rarischen Arbeiten  aus,  denen  er  seine  Mußestunden  widmete.  Ihr  Inhalt 
umfaßte  Geschichte,  Philologie  und  Volksschriften.  Nach  V.  103.  104 
war  sein  erstes  in  lateinischer  Sprache  verfaßtes  Werk:  Fata  et  vota 
sive  opera  anagrammaton  partes  duae  s.  1.  et  a.  8*^;  den  Fachleuten  muß 
überlassen  werden,  zu  bestimmen,  welche  Werke  mit  Nr.  2 — 5  (105 — 
108)  gemeint  sind.  Von  seinen  Arbeiten  in  kroatischer  Sprache  werden 
bloß  die  vier  Bücher  von  der  Erstürmung  Sigets  (Odilenje  Sigetsko)  er- 
wähnt, ein  Gedicht  über  den  berühmten  ritterlichen  Verteidiger  der  ge- 
nannten Burg,  Nikolaus  Zrinjski. 

Beachtungswert  sind,  wie  schon  gesagt,  seine  lateinischen  Gedichte, 
in  denen  man  freilich  keine  poetische  Begeisterung  suchen  darf.  Das  zu 
Ehren  des  Olmützer  Fürstbischofs,  den  der  Dichter  irrig  einen  Fürsten 
von  Liechtenstein  nennt,  verfaßte,  war  nicht  die  geringste  seiner  Arbeiten 
(92  non  .  .  ultima  serta);  er  empfiehlt  es  also  nochmals  seiner  liebevollen 
Rücksicht  (91— 94). 

Nach  V.  117 — 118  hatte  er  auch  andere  lateinische  und  kroatische 
Werke  druckfertig  in  seinem  Schreibtische,  aber  es  mangelte  an  opfer- 
willigen Maecenaten.  Ritter  für  seine  Person  war  wenig  wohlhabend. 
Seine  Großeltern  und  sein  Vater  haben  ihm  kein  bedeutendes  Vermögen 
hinterlassen  (121.  122).  In  den  Kriegen  (123  Marti  studentes)  waren  sie 
um  ihren  guten  Namen  besorgt,  für  welchen  sie  nicht  wenig  gelitten  haben 
(123 — 126).  Ausdrücklich  erwähnt  noch  Ritter,  daß  sein  Vater  einmal, 
dessen  beide  Brüder  sogar  zweimal  in  die  türkische  Gefangenschaft  ge- 
raten waren  (127.  12S  ferrea  Threicio  carcere  viucla  tulit). 

So  viel  schreibt  unser  Autor  über  seine  Schicksale  wie  auch  über 
die  seiner  nächsten  Anverwandten  und  hegt  die  nicht  gerade  bescheidene 
Hoffnung,  daß  Andere  mehr  über  ihn  berichten  werden  (130).  Leider  ist 
diese  nicht  ganz  in  Erfüllung  gegangen. 

,  Endlich  kommt  der  Dichter  nochmals  auf  sein  dem  Bischof  ge- 
schicktes Lobgedicht  zurück.  Er  unternahm  die  Arbeit,  weil  er  von  ihm 
viel  Ruhmwürdiges  gehört  hatte  (133).     Wenn  es  ihm  erlaubt  sein  wird, 


Paul  Ritter  Vitezovic,  Beiträge  zu  seiner  Biographie.  597 

sollen  noch  andere  nachfolgen  (139.  140).  Er  erwartet  diesbezügliche 
Befehle  des  Kirchenfürsten  (143).  —  Jedoch  fand  ich  unter  dessen  sehr 
zahlreichen  Concepten  keine  Beantwortung  dieser  Epistel. 

Beilage  I. 

Cehissime  reverendissime  princeps,  domi?ie 
domine  patrone  gratiosissime. 

Transmitto,  qua  decet  submissione  et  reverentia  c.  v.  reverendissimae 
levidensem  opellam  haue  honori  et  aeviternae  memoriae  c.v.  dicatam.  inscrip- 
tam  directamque,  de  genu  orans,  dignetur  pro  innata  sua  dementia  et  benig- 
nitate  tarn  opus  ipsum,  quam  auctorem  operis  suis  gratiis  favoreque  prosequi, 
qui  se  virtutibus  nomineque  cius  aetemum  vovet,  paratus  vita  ipsa  ad  iussa 
et  nutus  celsitudinis  vestrae  reverendissimae 

humillimus  obsequentissimus  servus 
Viennae  Austriae  28.  Aprilis  IGST.  Paulus  Ritter. 

Beilage  II. 

Celsissimo  ac  reverendissimo  principi  ac  domino  domino 

Carolo  episcopo  Olomucensi,  regiae  capellae  Bohemiae  comiti,  duci, 

S.R.  I.  et  Liechtensteinii  principi  etc. 

Paulus  Ritter  s[empiternam]  f[elicitatem]. 

Ut  nuper  reliquos  inter  regesque  ducesque, 

Quorum  Nympha  piam  Pannona  sensit  opem: 
Et  tibi  sacratam,  princeps  celsissime,  laurum 

Misissem  paucas  associando  notas. 
Nescio,  num  placuit  pro  spe  votoque  dicantis,  5 

Numve  satis  tanto  principe  digna  fuit? 
Hoc  correspondens  feeit  tantummodo  notum, 

Quod  tua,  quisnam  sim,  gratia  scire  volet. 
Id  paucis  isthic  describens  Aersibus,  oro: 

Ne  graviter  (quia  sunt  vera)  legendo  feras.  10 

Regia  Crovatis  vetus  urbs  et  llbera  Segnae 

Ad  maris  Adriacas  condita  perstat^j  aquas. 
Illic  sum  genitus,  sacro  baptismatis  illic 

Romani  ritus  fönte  lavatus  ego. 
Patre  a  Gerraana  procedo  nobilitate:  15 

Per  matrem  Illyridum  nobile  duco  genus. 
Ne  numerera  proavos  liic  Harte  domique  potentes, 

Clarnm  de  Luka  Ritter('uiii(]uc  genus, 
Vivit  adhuc  genitor,  rcgni  qui  gaudot  cquestri 

Patriciique  urbis  gaudot  lionore  Status.  20 


1)  Original:  pestat. 


598  1' r.  önopek, 

Ante  duos  fratres  ego  natus  totque  sorores, 

Post  ambos  fratres  unicus  ipse  modo. 
Natu  etenim  miniinua  moritur  puerilibus  annis: 

Vixisset!  magnae  nam  fuit  ille  spei. 
Alter,  qui  primus  sub  cincta  a  Thrace  Vienna  25 

Et  Caput  et  signum  victor  ab  hoste  tulit, 
Ante  et  post  etiam  praeclare  multa  patrando 

Ante  et  post  etiam  vulnera  dura  tulit. 
Vulneribus  tandem  renovatis  isque  strategi ') 

Ultima  persolvit  fata  gerendo  vices,  30 

Unicus  ut  modo  sira  matri;  sed  et  ipse  magistri 

Supra  equites  Slavnos  munia  nactus  eram. 
A  quo  nam  Zagraba  (slavne  sie  dicitur)  urbe 

Facta  meis  studiis  Suada  coronis  erat, 
Inviso  patriae  contermina  regna  Croatae,  35 

Osculor  et  divi  limiua  saucta  Petri. 
ludeque  viciuis  iterum  versatus  ab  oris 

Egregiis  cupii  cognitus  esse  viris. 
Discebam  varias,  sed  honestas  sedulus  artes 

Otia  namque  animo  non  placuere  meo. 
Interea  Caesar  generali  regna  diaetae, 

Sempronii  fuerat  quae  celebrata,  vocat. 
Ad  quam  Segniadum  legati  munere  functns, 

Ordinis  atque  Status  nomine  missus  eram, 
Cuius  felici  demum  pro  fine  diaetae  45 

Eegnorum  grates  regis  honore  cano. 
Factus  Caesaream  post  haec  orator  ad  aulam 

Ad  quam  sesqui  anno  pene  moratus  eram. 
Eine  postquam  redii,  belli  coepere  tumultus, 

Et  cincta  a  duro  Thrace  Vienna  fuit.  50 

In  positis  Dravi  Muraeque  ad  flumina  castris 

Illyrici  semper  cum  vicerege  fui. 
Sed  post  (Brezencza  Babocsaque  arce  crematis) 

Lincii  ad  Augustum  nuntius  eins  eram. 
Dumque  moratus  ibi  bis  binos  transigo  menses,  55 

Supra  equites  Slavnos  fio  magister  eques. 
Fama  mihi  interea  fraternae  nuntia  mortis, 

Praesidis  atque  mei  plena  dolore  volat. 
Et  dum  alii  contra  Turcos  contraque  rebelles 

Justa  movent  fortes  Caesaris  arma  viri:  60 

Acta  relaturus  bano  (ceu  iure  decebat) 

Non  bene  Saviacis  ipse  recurro  plagis. 
Nam  non  fraterno  mala  sors  contenta  dolore 
V  Plura  nitro  voluit  me  subiisse  mala. 


2)  Original:  strataegi. 


Paul  Ritter  Vitezovic,  Beiträge  zu  seiner  Biographie.  599 

Quippe  salebrosas  Styriae  currendo  per  Alpes,  65 

Cum  titubo,  in  petram  sum  male  lapsus  equo. 
Occurrere  dein  plura  infortunia  semper: 

Eetrogrado  potui  nee  rediisse  love. 
Ne  tarnen  omnino  castris  (licet  aeger)  abessem, 

Me  cum  prorege  ad  castra  Croata  tuli.  70 

Legio  quippe  mei  procul  est  mandata  tribuni, 

Leucsae  et  Russiacis  proxima  facta  plagis. 
lamque  Viennensem  brumae  sub  tempus  in  urbem 

Veni,  et  tunc  absens  inde  tribunus  erat. 
Sed  me  per  proprias  hortatus  saepe  tabellas        _  75 

lussit,  ut  hie,  donec  venerit  ille,  morer. 
Qui  Septem  primo  post  menses  appulit,  at  si 

Nee  tunc  venisset,  res  bene  facta  foret. 
Longius  hie  etenim,  quam  par  fuit  ille  moratus. 

Cassatum  regimen  tempus  ad  hocce  dolet.  80 

Ipse  reformatus  quoque,  nee  post  castra  secutus 

Nee  redii  in  patrias  post  ea  facta  piagas, 
Namque  requisitus  fueram,  qui  regis  ad  aulam 

Regnorum  patriae  publica  vota  geram. 
Talibus  ad  praesens  moror  hie  rationibus  actus  85 

Unde  tarnen  menses  ante  movebo  duos. 
Hinc  ut  apostolici  pergant  bene  commoda  regni, 

Cuius  ut  Illyrica  nobilitate  fruor, 
Composui  sacram  certantibus  atque  patronis 

Laurum,  quaeque  illis  non  moritura  viret.  90 

Quos  inter  sacro  fautores,  Carole,  hello 

Non  sunt  missa  tuis  ultima  serta  comis. 
Quae  quod  grato  animo  perceperis  atque  benigna, 

Ipse  mihi  certum  suadeo,  fronte  legas. 
Sed  ne  confusus  turbet,  precor,  ordo  legentem,  95 

Sparsaque  diversis  nomina  magna  locis, 
Non  fuit  apta  satis  tanto  brevis  hora  labori, 

Nee  fuit  haec  nostro  res  agitanda  foro. 
Quas  sed  in  hoc  vires  ars  vel  natura  negavit, 

Has  pietas  supplet  Candida,  supplet  amor.  100 

Omnia  non  omnis:  vix  omnia  possumus  ouines: 

Commuui  proprium  digero  Sorte  mahim. 
Primus  ab  inatructis  anagrammatis  arte  libellis, 

Fert  hie  principibus  laurea  serta  viris; 
Imperiis,  regnis,  rebus  communibus  alter;  105 

Tertius  ad  belli  fort  sua  sorta  duces; 
Caesareao  primis  aulae  regui(iue  miniatris 

Quartus;  ad  heroum  funera  (piintus  erit. 
Hi  tamen  expectaut  meritae  primordia  lucis. 

Quos  reliquum  sequitur  nouiiuis  liuius  opus,  110 


600     Fr.  Snopck,  Paul  Ritter  Vitezovid,  Beiträge  zu  seiner  Biographie. 

Res  et  materies  lectu  sat  grata  profecto 

Haec  erit,  ad  quorum  venerit  lila  manus. 
Nee  primus  nostrae  foetus  über  iste  Camoeuae  *) 

Hactenus  ad  lucem,  quem  dedit  illa,  fuit. 
Quatuor  iam  Slavis  Odilenja  Sigetskoga  libria  115 

Et  Latus  Musam  nara  dedit  usque  novam. 
Plura  suis  matura  iacent  sua  pignora  cunis 

Instructa  Ausoniis  Illyricisque  notis. 
Sed  Maecenates-j  quibus  inde  leventur  ad  auras, 

Esse  sub  hoc  paucos  tempore  moesta  dolet.  120 

Nam  nee  avi  mihi  nee  genitor  nummosa  pararunt 

In  dnris  illic  commoda  opesque  plagis, 
Qui  semper  Marti  praeclara  ad  gesta  studentes, 

Sat  sibi  credebant  nomen  habere  bonum, 
Pro  quo  saepe  tarnen  passi  non  pauca  fuere,  125 

Fortuna  ut  secum  bellica  ferre  solet, 
Ipse  parens  semel  at  bis  frater  uterque  parentis 

Ferrea  Threicio  carcere  vincla  tulit. 
Haec  breviter  de  me  mihi  perscripsisse  licebat: 

De  me  plura  alii  plura  meisque  dabunt.  130 

Quem  cum  nil  mage,  quam  clarorum  fama  virorum 

Delectat:  tales  semper  honore  colo. 
Cumque  tua  audissem  plures  de  laude  loquentes, 

Indolis  illustris  norma  quod  ipse  viges: 
Mox  in  me  dixi,  dux  Lichtensteine,  colentes  135 

Inter  postremus  non  erit  iste  tuos. 
Devoti  affectus  hinc  argumenta  per  illam 

Laurum  conabar  prima  dedisse  mei. 
Postquam  (si  liceat  princeps  generöse)  sequetur 

Nominis  in  laudem  Musa  canora  tui.  140 

Quem  virtus  ornat,  celebrant  quem  carmina  vatum, 

Felici  aeternos  vivit  honore  dies. 
Expectans  reliquo  tanti  mandata  patroni, 

Cui  me  commendo.    Finio  scripta.    Vale. 

Viennae  29.  Junii  1687. 

1)  Original:  Camaenae. 

2)  Original:  Mecaenatos. 


601 


Badiiak  nnd  Kolenda  in  den  ungarischen  Qnellen. 


»Kalendis  ianuariis,  in  circumcisione  Christi,  consueverunt 
Hungari  strenam  dare,  hoc  est  donum  pro  bono  omnine  incipi- 
entis  anni.« 

Galeoti  Martii  Narniensis:  De  dictis  et  factis  Matthiae  regis 
cap.  24  (Schwandtner,  Scriptores  1,  553. 

Auf  eine  eigentümliche  Wendung,  welche  die  heidnisch-slavische  Sitte 
des  hadnah^  des  Holzblockes,  welcher  heute  in  der  Christnacht  verbrannt 
wird,  in  Ungarn  in  vorgerückt  historischer  Zeit  genommen  hatte,  will  ich 
hier  aufmerksam  machen.  Außer  dem,  daß  sie  einen  Beitrag  für  die  Me- 
tamorphose der  Gebräuche  im  allgemeinen  bietet,  ist  die  neue  Phase 
dieser  Sitte  noch  hauptsächlich  in  doppelter  Hinsicht  interessant.  Indem 
sie  uns  nämlich  den  alten  Namen  und  dazu  in  den  Formen  des  XIV.  Jahrh. 
überliefert,  wii-ft  sie  ein  direktes  Licht  auf  den  ursprünglichen  Sinn  des 
jetzt  mir  noch  bei  den  Südslaven  erhaltenen  Wortes  badnak,  badnjek, 
badnikT,,  bxdniki.,  bestätigt  aber,  beziehungsweise  modifiziert  kategorisch 
die  schon  durch  sprachliche,  aber  meistenteils  hypothetische  Schlußfol- 
gerungen erreichten  Ergebnisse;  indem  sie  als  eine  nur  den  milden  Namen 
»Neujahrsgeschenke«  (munera  strennalia)  führende,  für  die  ungarischen 
Städte  aber  typische  Iluldigungssteuer  erscheint,  kann  sie  als  Beweis 
dienen  für  den  großen  Einfluß  der  slavischen  Sitten  auf  die  Bildung  un- 
garischer Institutionen.  Hauptsächlich  von  letzterem ,  dem  rechtshistori- 
schen Standpunkte  aus  habe  ich  die  Frage  im  Anschluß  an  eine,  in  dem 
unlängst  herausgegebenen  Statut  von  Ragusa  (lib.  I,  cap.  7,  p.  1 0)  er- 
haltene Nachricht  über  den  hadnak  schon  kurz  erörtert  *) ;  der  zweite, 
philologisch -historische  Gesichtspunkt  blieb  aber  unentwickelt.  Hier 
gedenke  ich  das  nachzuholen,  verfahre  aber  hauptsächlich  analytisch,  in- 
dem ich  aus  der  ziemlich  großen  Menge  der  Belege  diejenigen  auswähle, 
die  das  rechtshistorische  Interesse  mit  dem  sprachlichen  verbinden;  ich 
zitiere  wörtlich,  damit  man  die  von  mir  gezogenen  Schlüsse  an  der  Stelle, 
ohne  in  den  einem  ausländischen  Gelehrten  gewiß  schwer  zugänglichen 
Quellen  nachschlagen  zu  müssen,  kontrollieren,  eventuell  damit  sie  eine 
kundigere  Hand  anders  gestalten  könnte.   Die  Reihenfolge  der  Daten  wird 


1)  Szäzadok  (ung.  historische  Zeitschrift)  40  (IKOO),  817— s21, 


602  Milan  von  Sufflay, 

aber  trotzdem  keine  streng  chronologische  sein,  da  ich  einige  ältere ,  nur 
in  Verbindung  mit  späteren  Quellen  etwas  aussagende  Nachrichten  vor- 
läufig übergehend  dort  aus  dem  Material  zu  schöpfen  beginne ,  wo  es  am 
reichlichsten  und  klarsten  fließt.  Zum  Ausgangspunkt  nehme  ich  somit 
die  Nachrichten  über  die  Neujahrgeschenke  der  ungarischen  Städte,  die 
wiederum  typisch  in  den  Denkmälern  der  Stadt  Preßburg  (Pozsony)  er- 
halten sind. 

I. 
Im  Jahre  13G1  beschloß  die  Stadt  Preßburg,  wie  es  scheint  zum 
ersten  Mal,  über  ihre  Einkünfte  und  Ausgaben  regelmäßige  Rechnungen 
zu  führen.  Als  Einleitung  zu  diesen  für  die  Geschichte  des  Gesellschafts- 
lebens in  Ungarn  unschätzbaren  Aufzeichnungen,  erscheint ,  offenbar  um 
fortwährend  in  Evidenz  zu  bleiben,  folgende  Notiz :  «Item  zvm  ersten  mal 
ist  zu  merken,  waz  wir,  dy  stat,  ierleichen  schuldig  ist  an  dem  newen  iare, 
daz  man  heyst  dy  witd.  Item  man  ist  vnserm  genedigen  herrn  dem  kwnig 
schuldig  zugeben  am  newen  iarr  czwey  tuech  vonLövel;  item  einen  schonen 
vergolten  koppflf,  der  da  wegen  schol  nuer  dritthalb  mark  silber  OflFner 
gewigt.  Item  man  ist  vnser  gnediger  frawen  der  kwnigyn  schuldig  zu 
geben  auch  an  dem  newem  iare  ein  tuech  von  Level  und  auch  einen 
schonen  vergolten  koppff,  der  da  wieget  czwo  mark  silber  auch  Offner 
gewigt.«  Weiter  berichtet  die  Notiz  noch  sehr  genau,  welche  Gaben  die 
Stadt  zu  gleicher  Zeit  dem  königlichen  Oberhofmeister  {>  vnsers  genedigen 
herrn  des  kwnigs  hoffmeyster«) ,  dem  Tavernicus  (tarnekmeyster) ,  dem 
Preßbm-ger  Schloßgespan  (»dem  Span  auff  dem  havse  zu  Prespurgkn), 
den  königlichen  Türhütern  und  Köchen  zu  geben  schuldig  sei^).  Einige 
dieser  Geschenke  wurden  in  natura  übergeben,  andere  wieder  mit  Geld 


2)  Der  Text  dieser  Notiz  zuerst  abgedruckt  bei  Michnay-Lichner,  Ofner 
Stadtrecht  von  1244—1421  (Preßburg  1845),  32  Anm.  10.  Die  ältesten  Auf- 
zeichnungen der  städt.  Rechnungsbücher,  so  weit  sie  erhalten,  vollständig  bei 
Fejerpataky,  Magyarorszägi  värosok  regi  szämadäs-könyvei  Alte  Rechnungs- 
bücher ung.  Städte),  Budapest  1885,  39  ff.  Außerdem  nebst  vielen  noch  un- 
edierten  Belegen  auch  bei  Kiräly,  Pozsony  väros  Joga  a  közepkorban  [Das 
mittelalterliche  Recht  der  Stadt  Preßburg),  Budapest  1894,  46,  und  in  dem 
monumentalen  Werke  von  Ortvay,  Pozsony  väros  törtenete  II  3,  347  f.  =  Ge- 
schichte der  Stadt  Preßburg  II  3,  355  f.  Hier  auch  in  Band  III.  Tafel  XII  ein 
Facsimile.  —  Dabei  mache  ich  aufmerksam,  daß  das  bei  Ortvay  zitierte  Diplo- 
matorium  Posoniense  kein  gedrucktes  Werk  ist,  wie  es  zu  sein  den  Anschein 
hat,  sondern  ein  von  Stefan  Rakovszky  in  3  Bänden  angelegtes  Manuskript 
(jetzt  Eigentum  des  Preßburger  Stadtarchivs,  cf.  Ortvay  a.  a.  0.  III,  p.  VI). 


Badnak  und  Kolenda  in  den  ungarischen  Quellen.  603 

abgelöst;  zusammengenommen  bildeten  sie  aber  eine  nicht  unbedeu- 
tende Belastung  der  Stadtkasse  und  betrugen  in  demselben  Jahre  (1361) 
99  Pfund  Denare:  mota  quod  cives  dederunt  pro  domino  rege,  regina 
et  pro  baronibus  in  die  stren7iarum  quatuor  breves  pannos  de  Löfel 
(Löwen),  tres  piearios  argenteos,  tres  piücras  sellas  militares,  duo  pecias 
de  syndone  et  1 2  libras  pro  expensis  Uli,  qui  illa  infra  deduxerit ;  et  por- 
tulanis  et  cocis  domini  regis  G  tiorenos;  summa  facit  100  libras  minus 
1  libra«3).  Im  Jahre  1371,  um  noch  ein  sprachlich  interessantes  Bei- 
spiel aus  dem  XIV.  Jahrh.  anzuführen,  beliefen  sich  die  Gesamtkosten  der 
Neujahrsgeschenke  auf  330  Goldgulden:  »Nota  anno  domini  MCCC'°<* 
septuagesimo  quarto.  Item  buda  constetit  trecentos  florenos  aureos  et 
trigenta  flor.  aureosa"*).  Im  Laufe  des  XV.  Jahrh.  scheint  der  Wert  dieser 
Geschenke  sich  etwas  gemäßigt  zu  haben.  Wie  die  Kammerrechnungen 
»czu  der  wuedv.  berichten,  betrug  derselbe  im  Jahi-e  1439  0(5  Goldgulden: 
»item  vmb  III  tuecher  von  Löfen  zu  Wyenn  die  man  hat  gebn  zu  der 
wued  hab  wir  gebn  dem  Hans  Eylausnrokch  L VIU  fl.  auri ;  item  wir  habn 
gebn  dem  Hans  Goldschmid  umb  von  den  zwayn  kopphn  zu  vergolden 
Vni  fl.  auri« 5).  Nach  der  Aufzeichnung  von  1404  bestanden  in  diesem 
Jahre  die  Neujahrsgeschenke  in  vier  schwer  vergoldeten  Bechern:  «Aus- 
gegeben auf  die  hud  dem  König  von  Hungern  .  .  .  Item  am  Sambstag  am 
Sand  Jörgen  Tag  hob  ich  geben  dem  maister  Hans  golt  und  VIII  fl.  auri 
zu  vergolden  den  koppf  auf  die  hild  dem  König  Mathiasch  von  Ungern ; 
item  eodem  die  hab  ich  geben  maister  Hans  Goltsmid  auf  die  hüd  von 
wegen  11  Koph  vnd  I  newem  die  er  gepessert  vnd  vergolt  hat  U  gülden 
vnd  der  burgermeister  H  vnd  dem  burgermeister  hab  ich  ain  genung  \Tub 
sein  gülden  tan  6). 

Zu  diesen  Stadtrechnungen  gesellen  sich  im  XV.  Jahrh.  noch  Urkun- 
den ,  welche  uns  bis  unter  die  Regierung  Königs  Mathias  Corvinus  Auf- 
schluß über  die  Neujahrsgeschenke  geben  und  besonders  anschaulich  die 
energische  Weise  charakterisieren,  mit  welcher  der  sich  immer  in  Geld- 
not befindende  König  Siegmund  und  seine  Gemahlin,  die  Königin  Barbara 
die  Einhebung  derselben  betrieben.  Aus  der  Menge  derselben  führe  ich 
nur  zwei  an.  Im  Jahre  14  33  fordert  die  Königin  den  Preßburger  Stadt- 
rat auf,  ihr  die  Neujahrsgeschenko  fdie  hüd  oder  eriuuj  des  neicen  iarst\ 

3)  Fejerpataky  a.  a.  0.  40. 

*)  Ib". 

^)  Ortvay  a.  a.  0.  (deutscli)  II  '^,  'M'l  Anm.  1. 

<*)  Ortvay  ib.  303.  Anm.  ü;  Kiräly  a.  a.  0.  4ü  Anm.  3. 


604  Milan  von  Sufflay, 

zu  übersenden,  trotz  der  KntscLuldigung  des  Rates  damit,  daß  es  ihm 
vom  Palatin  untersagt  v?orden  sei'^j.  Interessant  ist  auch  die  zweite  Ur- 
kunde derselben  Königin  von  1427,  da  aus  derselben  hervorgeht,  daß 
alle  ungarischen  Städte  verpflichtet  waren  diese  Steuer  zu  entrichten: 
»darüber  lassen  wir  euch  wissen,  daz  wir  dez  von  seine  genaden  guete 
brief  haben,  domit  uns  seine  genad  die  beucl^  die  seine  genad  angehörn 
in  allen  seinen  steten^  verschaffet  und  gegeben  hat;  darümbb  schaffen 
wir  mit  ernst,  daz  ir  uns  paide  heud  unverziechen  schiken  oder  pringen 
solt«8).  Diese  Tatsache  wird  für  die  Städte  Soprony  (Odenburg)^)  Szeben 
(Hermannstadt)  lo]  und  Kassa  (Kaschau)  durch  Urkunden  in  Überfluß 
noch  direkt  bezeugt.  Besonders  der  von  dem  Keichsverweser  Johann  von 
Ilunyad  im  Jahre  1454  (29.  Jänner)  ausgestellte  Brief,  worin  er  die  letzt- 
genannte Stadt  benachrichtigt,  daß  der  König  (Ladislaus)  seinen  Türhüter 
Michael  Orszag  die  Neujahrsgeschenke  für  dieses  Jahr  überlassen  hatte, 
ist  wichtig,  da  er  den  vulgären  Namen  dieser  Geschenke:  «prouentus 
strenuales  in  vulgo  hedv,  enthält  ii). 

Um  die  Reihe  der  Belege  zu  schließen,  führe  ich  noch  einen  Brief 
vom  Jahre  1447  an,  in  Avelchem  die  Gesandtschaft  der  Stadt  Preßburg 
dem  Stadtrat  aus  Ofen  berichtet  »das  wir  am  gestrigen  Montag  unsern 
herrn  dem  gubernator  (Johann  v.  Hunyad)  haben  geantwurt  dy  tcild  und 
dabey  eur  willig  diennst  erpoten ,  das  nam  er  güttlich  auff  und  danket 
euch  mit  fieiß«  '2) 

Das  hier  Angeführte  erschöpft  bei  weitem  nicht  das  sämtliche  Ma- 
terial über  die  Neujahrsgeschenke  der  Städte  im  XIV.  und  XV.  Jahrb., 
bietet  aber  eine  vollständige  Zusammenstellung  aller  jener  Stellen,  welche 
einen  Beitrag  zur  Form  jener  zwei  Worte  liefern  können,  mit  welchen 
der  Volksmund  diese  Geschenke  (lat.  munera  sti'ennalia)  benannt  hatte: 
huda^  hud^  hüd^  heud,  hed\  xvud,  wäd,  loued. 


'^)  Dieses  Regest  zitiere  ich  wörtlich  nach  Ortvay  360  Anm.  2,  da  die  Ur- 
kunde nicht  publiziert  worden  ist. 

8)  Ortvay  359  Anm.  3. 

9)  Horvät  Mihäly,  Magyar  regest<äk  (Ung.  Regesten)  im  Magyar  Törte- 
nelmi  tär  9  (1S61),  135. 

10)  Fejer,  Codex  diplom.  regni  Hungariae  X  4,  431  f. 

")  Vollständig  abgedruckt  bei  Teleki  Jözsef,  Hunyadiak  kora  Magya- 
rorszägon  (Das  Zeitalter  der  Hunyader),  Pest  1853,  10, 147;  Regest  bei  Horvät 
a.a.O.  158. 

12)  Ortvay  II  3,  362  Anm.  3. 


Badnak  und  Kolenda  in  den  ungarischen  Quellen.  605 

II. 

Laut  einer  Urkunde  Königs  Siegmund  von  1434  gebührten  diese 
Oesclienke  dem  König  und  seiner  Schatzkammer  vermöge  der  ihm  von 
Natur  aus  zustehenden  Herrschergewalt  i3].  Doch  ist  damit  der  Ursprung, 
die  rechtliche  Basis  dieser  Sitte  noch  nicht  erklärt  und  tatsächlich  bis 
jetzt  noch  nicht  ermittelt  worden,  da  uns,  wie  ein  ungarischer  Rechts- 
historiker 14)  sich  ausdrückt,  in  bezug  darauf  kein  Zeugnis  vorliegt. 

Denn  in  der  Tat  ersieht  man  aus  den  hierher  einschlagenden  älte- 
sten Quellen,  den  Urkunden  des  XIII.  Jahrb.,  nur  so  viel,  daß  der  Brauch, 
zur  Neujahrszeit  Geschenke  zu  geben,  schon  damals  wohl  bekannt  und 
allgemein  war,  da  man  sonst  diese  Urkunden  nicht  nach  »dem  Tag  der 
Geschenke«  (dies  streunarum),  worunter  man  immer  den  1.  Jänner  ver- 
stand, datiert  hätte  i^).  Der  Umstand  aber,  daß  die  ungarischen  Urkunden 
eben  erst  von  dieser  Zeit  weiter  das  Datum  auch  nach  dem  Tag  anzü- 
geben beginnen,  läßt  ahnen,  daß  der  Brauch  schon  weit  früher  in  Ungarn 
blühte  und  daß  die  Beschreibung,  welche  uns  ein  ungarischer  Humanist 
über  diesen  Brauch  am  Hofe  des  Königs  Mathias  v.  Hunyad  gibt,  in  ihrem 
Kern  auch  für  das  XII.,  ja  XI.  Jahrh.  giltig  sei.  »Moris  est< ,  sagt  Galeo- 
tus  Martius  Narnensis,  »ut  a  rege  petatur  strena,  praetentis  cuiusque  ar- 
tificii  instrumentis ;  tibicincs  tibrem,  tubicines  tubam,  cytharocdi  cytha- 
ram ,  coci  oUas  et  creagras  et  alii  alia  sui  artificii  commoda  instrumenta 
deportant.  Rex  in  oUam  aliquot  aureos  cougessit  et  in  tibiam  tubamque 
et  reliqua  praemium  coniecit  proprium«  ^6). 


13)  .  .  licet  alias,  dum  adhuc  in  regno  nostro  Hungarie  essemus  consti- 
tuti,  mvtnera  nostra  stremiulia  vestri  ex  parte  nobis  et  fisco  nostro  in  signiati 
dominii  nostri  naturalk  singulis  annis  j)i'o  novo  anno  provenire  debentia  sere- 
iiisaime  doniine  regine  conthorali  nostre  .  .  ad  certa  teinpora  .  .  per  vos  aiui- 
nißtrari  mandaverimus,  taraeu  (jula  iam  conipletis  prodictis  temporibus  ipsa 
inunora  uostra  strennalia  maiestati  nostre  debeut  itorura  moro  alias  consweto 
|)rovcnire,  schreibt  Siegmund  aus  Basel  au  den  Preßburger  Stadtrat.  Fejor, 
Cod.  dipl.  X  8,  636  f. 

14)  Kiräly  a.  a.  0.  46. 

1^')  Erster,  mir  bekannter  Fall  solcher  Datierung  kommt  iu  der  Urkunde 
des  Richters  Laurentius  vom  Jahre  1256  »iu  vigilia  strennaruiii"  vor.  Wenzel, 
Codex  dipl.  Arpadianus  ",  43!).  Weiter,  besonders  vom  XIV.  Jahrhundert 
angefangen  sehr  üblich,  da  iu  dieser  Zeit  schon  jede  Urkunde  die  'ragosaiigabo 
besitzt.  Vgl.  darüber  das  ausgezeichnete  chronologische  Werk  von  Knauz, 
Kortan  (Die  Chronologie),  Budapest  1876,  273. 

if')  De  dictis  et  factis  Mathiae  regis.  Schwandtner.  Scriptores  rerum 
Hungaricarum  1  (Viudobonao  1746),  553. 


606  Milan  von  Sufflay, 

Diese  Beschreibung  erinnert  lebhaft  an  das  Ceremoniale  am  Hofe  des 
Comes  von  Ragusa  im  XIII.  Jahrb.  i^),  nur  daß  anstatt  des  Holzblockes, 
des  hadnak^  welchen  die  Seeleute  von  Ragusa  ins  Feuer  stellen,  in  der 
ungarischen  Quelle  des  XV.  Jahrb.  die  Instrumente  und  Werkzeuge  der 
Meister  erscheinen.  Sonst  sind  hier  wie  dorten  die  Geschenke  an  jden 
Neujahrstag  gebunden;  in  Ragusa  empfing  das  Geschenk  vom  Neujahrs- 
tag den  Namen  1^),  in  Ungarn  gab  die  S'frena,  —  ein  lateinischer  Aus- 
druck, mit  welchem  allem  Anschein  nach  die  französischen  Mönche  gleich 
von  Anfang  her  ^^)  die  volkstümlichen  Bezeichnungen  für  die  in  Ungarn 
gebräuchlichen  Neujahrsgeschenke  tief  verschleierten,  —  dem  ersten 
Jänner  den  Namen  und  erhob  ihn  zu  einem  eigentümlichen  Feste  2").  Man 
kann  zwar  als  wahrscheinlich  annehmen,  daß  diese  Geschenke  im  allge- 
meinen bei  der  slavischen  Bewohnerschaft  Ungarns  wie  in  Ragusa  oder 
Polen  koleda  (kalanxdi)  hießen 2i]  und  daß  dieses  Wort  in  dieser  Bedeu- 
tung auch  unter  der  Herrschaft  der  Ungarn  noch  eine  Zeit  weiterlebte; 
direkte  Beweise  dafür  aber  liegen  nicht  vor,  wohl  aber  dafür,  daß  man 


")  Bogisic-Jirecek,  Liber  statutorum  Racusii  1272  (Monum.  slav.  mer. 
historico-iur.  vol.  IX),  Hb.  I  cap.  9  p.  8:  »in  uigilia  Natalis  domini  post  uespe- 
rum  nauclerii  et  mariuarii  de  Ragusio  ueniunt  ad  dominum  comitem  in  castel- 
lum  et  secum  deferunt  geponem  unum  de  liguo  et  ponunt  eum  in  igne  gaudendo 
et  dominus  comes  pro  honore  sui  comitatus  dat  eis  pro  kallendis  yperperos 
duo  de  8U0  proprio  et  eciam  bibere.  Vgl.  Jirecek,  Badiiak  im  XIII.  Jahrb., 
Slav.  Archiv  15  (1893),  4.56  f. 

18)  Kolende,  gen.  Kolenada:  strena  quae  datur  Kalendis  ianuariis,  Stulli. 
Lexicon.  Jirecek,  a.  a.  0. 

19)  Schon  unter  Ladislaus  dem  Heiligen,  am  Ende  des  XI.  Jahrb.,  kann 
man  den  starken  Einfluß  des  französischen  Klerus  und  französischer  Institu- 
tionen in  Ungarn  verspüren.  S.  Pauler,  A  magyar  nemzet  törtenete  az  Arpäd- 
häzi  kirälyok  alatt  (Die  Geschichte  des  ung.  Volkes  unter  den  Arpaden),  1,223. 
Für  den  Ausdruck  strena  in  Frankreich  s.  Körting,  Etym.Wbuch  der  lat.  Spr. 
Als  Kuriosität  zitiere  ich  hier  die  sprachlichen  Rezensionen  des  genannten 
Humanisten :  »Strena  vero  a  strenua,  id  est  a  dextra,  donum  significare,  non  est 
dissimile  graecitati,  quae  tfojQoy  nominat  donum,  quod  per  palmam  datur,  unde 
et  TETQcc&ioQO)',  laterem,  Vitruvius  architectus  quatuor  palmorum  esse  testatur« 
(Schwandtner  1,  553). 

20)  Eine  Urkunde  von  1324  (Fejer,  Cod.  dipl.  VIII  6,  70)  enthält  folgende 
Datierung:  »secunda  feria  proxima /es^o  strenarum  domini«. 

21)  Vgl.  Miklosich,  Die  Fremdwörter  in  den  slav.  Sprachen,  Wiener  Denk- 
schriften 15  (1867),  27;  Die  christl.  Terminologie  ib.  24  (1875),  22  f.;  Etymol. 
Wörterb.  123;  Brandl,  Glossarium  illustrans  bohemico-moravieae  historiae 
fontes  (Brunn  1876),  99. 


Badfiak  und  Kolenda  in  den  ungarischen  Quellen.  607 

den  Namen  eines  charakteristischen  und  ursprünglich  gewiß  den  ganzen 
Bestandteil  der  Huldigungsgeschenke  ausmachenden  Gegenstandes  schon 
früh  auf  die  sämtlichen,  dem  Grund-  oder  Landeshen'n  zur  Neujahrszeit 
zu  entrichtenden  Geschenke  tibertrug.  Dieser  Name  blieb  auch  als  der 
ihn  tragende  Gegenstand  schon  längst  in  Vergessenheit  verfiel,  welcher 
ihn  jetzt  nur  die  vergleichende  Sprachwissenschaft  zu  entreißen  vermag. 
Es  ist  dies  die  Lud  der  ungarischen  Städte,  die  sprachlich  und  somit  ur- 
sprünglich auch  dinglich  mit  dem  südslavischen  hadnak^  dem  Holzblock 
identisch  ist. 

III. 
Die  "Wortreihe:  bud,  büd,  beud,  bed  weist  auf  eine  gemeinsame 
slavische  Wurzel  büd ,  altslav.  biid ,  welche  gesteigert  bud,  gedehnt  byd 
lautet  22].  Diese  Wurzel  lebte  durch  die  Anfügung  des  primären  Suffixes 
k  als  Wort  und  zwar  in  einer  älteren  und  jüngeren  Form  gleichzeitig, 
was  dadurch  zu  deuten  wäre,  daß  die  ältere  Form  budt,  bydb  (*bi.dt) 
nur  in  dem  anderssprachigen,  also  deutschem  und  ungarischem  Mund 
sich  erhielt  und  also  keine  Gelegenheit  fand,  wie  die  zwei  letzten  Formen, 
sich  den  späteren  slavischen  Lautgesetzen  zu  fügen.  Hiermit  Avären  aber 
die  von  Miklosich  nur  sprachlich  ergründeten,  obigen  Formen  hier  auch 
historisch  belegt  und  der  letzte  Zweifel,  welcher  gegen  die  Herleitung  des 
Wortes  badnak  von  derselben  Wurzel  btd  obwalten  konnte  23)^  vollständig 
zerstreut.  Indem  aber  dieses  Wort  baduak  noch  heute  bei  den  Südslaven 
junge  Eichen  bedeutet,  die  man  abgeästet  in  der  Christnacht  aufs  Feuer 
legt,  so  liegt  der  Gedanke  nahe,  dieselbe  oder  sehr  ähnliche  Bedeutung 
auch  der  obigen  Wortreihe  beizulegen.  Es  Aväre  somit  zwischen  der  htid^ 
hed  der  ungarischen  Quellen  und  dem  hadnak  der  Südslaven  ein  doppel- 
tes, gegenseitig  sich  ergänzendes  Verhältnis  zu  konstatieren;  das  erste 
Wort  erschließt  direkt  die  Wurzel  des  zweiten ,  während  das  zweite  auf 
die  Bedeutung  des  ersteren  Licht  Avirft.  Aber  um  vollständig  sicher  zu 
sein,  daß  die  obige  Wortreihe  noch  in  historischer  Zeit  Holz(klötze)  be- 
deutet hatte,  somit  daß  nicht  nur  dem  Namen,  sondern  auch  dem  ursprüng- 
lichen Objekt  der  Geschenke  der  ung.  Quellen  tatsächlich  der  Holzblock 


22)  Vgl.  Miklosich,  Die  Wurzeln  dos  Altslovenischon.  W.  Denkschriften 
8  (1857),  168;  Lexikon'^  4!)  s.v.  bi.dGtii;  Etymol.  Würterbucli  '1^.  417  a.  v.  bÜd. 

2^)  Potebnja,  0  raiticeskom  zuacenii  nCkotorych  obrjadnv.  Moskva 
1865,  p.  1  stellt  dieses  Wort  mit  der  Wurzel  bliadh.  sauskr.  badli  >uul  Würtorn 
wie  altslov.  bosti,  lit.  baditi  zusaninien. 


608  Milan  von  Sufflay, 

(heutiger  badnak)  zugrunde  liegt,  müssen  wir  uns  nach  BcAveisen  umsehen, 
welche  außer  dem  konstatierten  Circulus  vitiosus  liegen.  Die  Beweise  für 
die  Gleichung  bud  =  Holz(block)  sind  folgende: 

l.  In  einem  sehr  alten  ungarischen  Drucke  ^4)  sind  in  einem  und 
demselben  Satz  folgende  Vögel  aufgezählt:  -jbagoly,  kania  es  ama  hudhoka^ 
puteneuerc.  Der  uns  hier  interessierende  Name  budboka  bedeutet  heute 
noch  im  Baranyer  und  Somogyer  Komitat  der  Wiedehopf  (Upopa  epops) 
und  lautet:  budboka,  bugyboka,  bugyboka,  butyboka^s).  Der  Name  ist 
noch  nicht  gedeutet  worden  und  ist  aus  dem  Ungarischen  auch  nicht  zu 
erklären.  Dagegen  ergibt  der  erste  Teil  der  aufgezählten  Formen  das 
slavische  Wort  buch  {*\)iÄh)  und  der  zweite  Teil  böka,  —  was  nichts 
anderes  ist  als  das  dialektisch  ausgesprochene  bolka  (so  auch  böha  statt 
bolha,  balha  von  bl'Bha)  —  die  slavische  Grundform  hhki.  Die  somit 
erschlossene  slavische  Bezeichnung  budb  bli.k'L  ist  somit  semasiologisch 
identisch  mit  dem  deutschen  Wiedehopf:  der  im  Iloh  (witu)  hupfende^*"). 

2.  Die  in  den  Preßburger  Quellen  parallel  auftauchende  Benennung 
der  Neujahrsgeschenke:  tcud ,  icikl^  loued  ist  germanischen  Ursprungs. 
Noch  heute  bedeutet  in  Bayern  xoitt^  wit^  [wid]  Holz,  besonders  Brenn- 
holz und  ist  mit  dem  isl.  wid-r,  schw.  wed,  ags.  wuden,  engl,  wood  zu- 
sammenzustellen 27).  Die  deutsche  Bevölkerung  von  Preßburg  hat  somit 
in  diesem  Ausdruck  für  die  slavische  Benennung  der  Geschenke  einen 


2'*)  Melius  Peter,  Sz.  Jänos  jeleneesenek  magyarazatja,  Vürad  1568,  p.  432. 
Vgl.  Szarvas-Simonyi,  Magyar  nyelv-törteneti  szötär  (Ung.  sprachhistorisches 
Wörterbuch),  Bpest  1890  f.,  1,  319  s.v.  budboka. 

25)  Nyelvör  (ung. philol. Zeitschrift),  11  (1882),  238;  16  (1S87),45;  17  (1887), 
223  f.;  Szinnyei,  Täjszötär  (Wb.  der  Dialekte),  1,  188. 

26)  Vgl.  Grimm,  Grammatik  2,  363. 

27)  Schmeller,  Bayerisches  Wörterbuch  i  (1837),  4,  200  f.;  vgl.  Müller- 
Zarncke,  Mittelhochdeut.Wb.  3, 620:  Schmeller,  Glossarium  Saxonicum  e  poe- 
mate  Heliand  (München  1840),  1,  56  s.v.  lignum  =  vvidu  (im  saxonisehen 
Glossar  fehlt  durch  Zufall).  —  Lateinisch-deutsches  Vocabularimii,  Papier- 
handschrift in  Mittelfolio  um  das  Jahr  1420,  der  Kapitelbibliothek  zu  Preß- 
burg gehörig,  hat  restis  =  wyt  (vgl.  Michnay-Lichner  a.  a.  0.  297  s.  v.  wid). 
Veröffentlicht  wurde  das  Wörterbuch  von  Schröer:  Lateinisch-deutsches  Vo- 
cabular,  Jahresprogramm  der  öffentlichen  Oberrealschule  in  Preßburg  9  (1859), 
2—62  (SA.  in  Kommission  bei  Wiegand,  Preßburg  1859).  Der  Herausgeber 
verfährt  so,  daß  er  von  dem  Wörterbuch  zuerst  einen  getreuen  Abdruck  und 
dazu  ein  alphabetisches  Verzeichnis  der  deutschen  Wörter  gibt.  Die  mund- 
artlichen Erscheinungen  weisen  nach  ihm  auf  Nordböhmen,  Lausitz  oder 
Schlesien. 


Badnak  und  Kolenda  in  den  ungarischen  Quellen.  6q9 

g:elungenen  Ersatz  gefunden,  welcher  neben  dem  ähnlichen  Klang  auch 
die  ursprüngliche  Bedeutung  dieser  Benennung  wiedergibt. 

3.  In  einer  Urkunde  des  Königs  Siegmund  von  1388  beklagt  sich 
der  »prepositus  ecclesie  s.  Martini  de  Scepus'  über  die  Bewohner  der  nvilla 
Almas«,  »quod  .  .  dicti  populi  .  .  nuUam  sibi  obedientiam  et  reverentiam 
exhiberent  .  .  potissime  ex  eo,  quia  se  ad  cives  seu  Saxones  XXIV  civi- 
tatum  terre  Scepus  coligassent  adherendi;  nam  anno  presenti  nee  pre- 
missas  duodecim  marcas  partim  in  moneta  partim  in  argento  sibi  dare  et 
solvere,  neque  alias  collectas  vel  datia  aut  munera,  porcos  etiam  aut  boves 
seu  cerevitiam  aut  etiam  ligna  festi  sancti  Martini,  neque  troncos  stren- 
.■ales  ad  curiam  suam  ministrare  et  importare  prout  moris  fuisset 
I  '  esset  ah  antiquo  voluissent«  2^).  Indem  hier  kein  Zweifel  obwalten 
kann,  daß  diese  «tronci  strennales«  einen  noch  frischen  Überrest  der 
lieidnischen  Bräuche  bilden,  ist  der  Beweis  direkt  erbracht,  daß  man 
uoch  am  Ende  des  XIV.  Jahrh.  in  einigen  Gegenden  Ungarns  den  Holz- 
)»lock  als  eine  Huldigungsgabe  zur  Neujahrszeit  betrachtete  29).  Den  Vor- 
;ing  dabei  kann  man  sich  ähnlich  denken,  wie  er  uns  im  Statut  von  Ra- 
iisa  beschrieben  ist.  Die  Bauern  bringen  unter  Freudenbezeugungen 
die  Klötze,  stellen  sie  ins  Feuer  und  werden  von  dem  Hausherrn 
)»eschenkt. 

Aber  der  Brauch,  den  uns  diese  einzig  dastehende  Urkunde  über- 
liefert, muß  in  Zusammenhang  mit  obigen  Untersuchungen  für  die  ältere 
Zeit  als  allgemein  blühend  betrachtet  werden.  In  gleicher  Weise  wie  das 
.üine  Volk  seinem  Grundherrn  hatten  die  reichen  Städte  ihrem  obersten 
Herrn,  dem  König  ursprünglich  nur  eine  auf  heidnisch-slavischen  (teil- 
weise vielleicht  auf  germanischeu)  Traditionen  basierende  Gabe  aus 
Brennholz  (bud,  wud)  dargebracht  und  zwar  um  die  Sprache  der  Urkun- 
den beizubehalten  »in  Signum  dominii  naturalis«  als  »erung  des  newen 
iars«.  Daß  sich  dazu  schon  früh  andere  Geschenke  gesellten,  welche 
bald  die  ursprüngliche  Gabe  gänzlich  ersetzten,  ist  bei  dem  Reichtum  der 


28)  Fej6r,  Cod.  diplom.  X  I,  4-.0  f. 

29)  Dieser  Brauch  hat  sich  in  den  slavisohen  Gogondon  Ungarns  auch 
weiter  erlialten,  wie  dies  der  Satz  beweist,  den  ich  in  einem  Inventar  des  Gutes 
Rajecz  (damals  der  Familie  Zerdahclyi  gehörend)  im  Treucincr  Koniitat  ge- 
funden habe:  triinci  ad  svram  truncinam  18.  Das  Original  dieses  Inventars 
vom  Jahre  1787  befindet  sich  in  der  Bibliothek  des  Uug.  National-Museums  zn 
Budapest  unter  den  Schriften  der  Familie  Zerdahclyi  (jetzt  eingereiht  in  die 
Grundsammlung). 

Archiv  für  slavi.svhe  Philologie.    XXVUI.  39 


610    Milan  von  Sufflay,  Hadi'iak  und  Kolenda  in  den  ungarischen  Quellen." 

Städte  natürlich.  Die  Könige  aber  hatten  wohl  keinen  Grund  durch 
buchstäbliches  Festhalten  an  den  Traditionen  die  einträgliche  Ausartung 
der  Neujahrsgeschenke  zu  hemmen  3^). 


30)  Auf  die  Qualität  der  Geschenksgegenstände  übte  vielleicht  Einfluß 
auch  das  Beispiel  der  deutschen  Städte,  welche  obwegen  der  Erlangung  der 
Zollfreiheit  veri)flichtet  waren,  jährlich  verschiedenartige  Geschenke,  wie 
Becher,  Tuch  u.s.w.  zu  liefern.  S.  Maurer,  Städteverfassung  in  Deutschland 
1,  ;il:';  Kiraly  a.  a.  0.  46.  In  bezug  auf  die  Geschenksgegenstände  der  Stadt 
Beszterczebäuya  (Neusohl)  s.  besonders  Ipolyi,  Beszterczebänya  müveltsegtür- 
tenete,  Szäzadok  8  (1874),  625— 6.JU, 

Budapest,  den  28.  März  1905.  Dr.  Milan  v.  Sufflay. 


Einige  Bemerkungen  zu  diesem  Aufsatz. 

Man  muß  schon  sagen,  daß  Herr  S.  in  dem  vorstehenden  Aufsatz  in 
ziemlich  ungenierter  Weise  sich  über  die  allergrößten  Schwierigkeiten  hin- 
wegsetzt, um  uns  Slavisten  mit  neuen  Wurzeln  und  Wörtern  zu  bereichern. 
Vor  allem  weiß  er  auch  den  allernächst  liegenden  Fragen  mit  staunenswerter 
Geschicklichkeit  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Wenn  jemand  in  Urkimden,  welche 
den  ?7-Laut  sehr  oft  bloß  mit  einem  >i  bezeichnen  —  Schreibungen  wie  Tiilnig 
und  hunig,  lünigin  und  lunigin  wechseln  fortwährend  mit  einander,  s.S.  358 — 
36ü*) — ,  hüdxi.hud,  tvüd  u.toud  nebeneinander  findet,  so  ist  das  doch  wohl  die 
erste  Frage,  die  er  aufzuwerfen  hat,  ob  hud  u.  tvud  nicht  bloß  unvollkommene, 
aber  zu  jener  Zeit  ganz  gewöhnliche  Schreibungen  für  hi/d  u.  irüd  sind.  Und  hihi 
und  wnd  selbst,  die  doch  genau  in  derselben  Bedeutung  gebraucht  werden  und 
zwar,  einen  einzigen  Fall,  ein  Reskript  an  die  Stadt  Kassa  ausgenommen,  im- 
mer wieder  nur  in  den  Rechnungen  der  Stadt  Preßburg,  ähneln  sie  sich  nicht 
so  stark,  daß  es  uns  schwer  fällt,  darin  2  verschiedene,  ja  sogar  verschieden 
sprachliche  Wörter  zu  erblicken?  Ich  nehme  bereitwillig  an,  daß  der  Verfasser 
als  Historiker  nie  in  seinem  Leben  etwas  über  bilabial  gesprochenes  tc  gehört 
hat,  das  die  Quellen  bald  mit  w,  bald  mit  h  wiedergeben,  eben  weil  es  weder 
unserem  gewöhnlichen  dentolabialen  w  noch  dem  Verschlußlaut  b  genau  ent- 
spricht, mit  diesem  die  labiale  Bildung,  mit  jenem  die  spirantische  Natur  ge- 
meinsam hat,  doch  rein  empirisch  hätte  Herr  S.  auf  den  Schluß  kommen 
können,  um  nicht  zu  sagen,  kommen  müssen,  daß  büd  und.  iviid  nichts  an- 
deres als  die  schwankende  Wiedergabe  eines  einzigen  Wortes  ist,  in  dessen 
Anlaut  ein  eigenartiger  Lippenlaut  ertönt,  den  man  mit  den  gewöhnlichen  Mitteln 


*)  Die  von  mir  angeführten  Beispiele  sind  alle  denselben  Rechnungen 
der  Stadt  Pozsony  (Preßburg)  entnommen,  aus  welchen  auch  der  Verfasser 
seine  Daten  schöpft,  und  die  Seiteuzahl  ist  immer  in  dem  großen  Quellenwerk 
über  die  Geschichte  der  Stadt  von  Ortvay  [Pozsony  vuios  törtetiete)  Bd.  II, 
Teil  3  nachzusuchen. 


Oskar  Asboth,  Einige  Bemerkungen  zu  diesem  Aufsatz.  61 1 

nicht  im  Stande  war  genau  wiederzugeben,  oder  um  die  Forderung  nicht  allzu 
hoch  zu  stellen,  daß  had  und  ?rM'/ Jedenfalls  ein  und  dasselbe  Wort  ist.  Es  ist 
wirklich  schwer  zu  begreifen,  wie  ihn  bei  vollkommen  gleicher  Bedeutung  der 
Wechsel  von  h-  und  w-  verleiten  konnte,  2  selbständige  Wörter  dahinter  zu 
suchen,  wo  er  doch  in  ganz  unzweideutigen  Fällen  reichlich  Gelegenheit  hatte 
zu  beobachten,  daß  dieser  Wechsel  eben  einen  charakteristischen  Zug  des 
Dialektes  bildet,  der  aus  dieser  Rechnung  zu  uns  spricht.  Ich  lege  kein  Ge- 
wicht darauf,  daß  in  einer  Eintragung  A^on  1440  der  heutige  Batzi'nqrund  uns 
als  ivotzi'ngrunt  resp.  woczengrunt)  entgegentritt,  S.  3'^,  halte  es  auch  für  mög- 
lich, daß  dem  Verfasser  entgangen  ist.  daß  die  Wirtin  auf  S.  126  zweimal 
hirti})  geschrieben  ist,  während  wir  auf  der  folgenden  Seite  Wirt  (frawenwirt) 
lesen,  aber  für  ganz  unmöglich  halte  ich  es.  daß  ihm  das  oft  wiederkehrende 
und  mit  (jewesen  wechselnde,  so  ganz  eigentümliche  fiehesen  kein  einziges  mal 
aufgefallen  wäre-  Ich  habe  diese  Form  bei  einer  ganz  flüchtigen  Durchsicht 
des  Bandes  an  den  verschiedensten  Stellen  wiedergefunden  und  erlaube  mir, 
da  es  so  recht  ein  argumentum  ad  homincm  ist,  einige  Stellen  vorzuführen: 
1440.  dy  klainer  sind  gehesen,  wenn  dy  ersten  holczer  sind  gehesen  .  .  —  Item 
1  furman  mit  II  Eossen  der  halbpawm  und  Aichen  Sewleu  vnd  laden  gefuert 
hat  zu  den  Zwingern  was  das  not  hin  ist  gelesen,  S.  ^iii.  Aus  demselben  Jahre 
"ZU  der  pruk  und  was  not  ist  gebcsni"  S.  39.  Auf  derselben  Seite  126,  wo  uns 
zweimal  die  hirtin  begegnet  war,  wechselt  gehesm  zweimal  mit  gewesen:  1439. 
Item  haben  wir  geben  den  Henger.  als  keyn  frawen  Maisterin  ijeheaen  ist .  .  .; 
1454.  Item  am  Sambstag  nach  Anthony  Abbatis  ist  kain  frawn  Maisterin  nicht 
getoesen;  1451.  das  sy  dy  vergangen  Wochen  frum  sind  g''hesi-n\  14n-i.  als  dy 
Tachterl  frum  sind  gmvesen.  Und  so  lesen  wir  auch  gegen  Ende  des  Bandes 
auf  S.  342  in  den  Eintragungen  von  1439 — 40  zweimal  »ist  ga/ies-  n«.  Mit  diesen 
"ist  gebesen«  (fuit!)  könnten  wir  nun  ohne  weiteres  Abschied  nehmen  von  un- 
serem hiid-hiid,  das  kaum  etwas  anderes  sein  kann,  als  trud-ivüd,  resp.  als  nüd 
allein,  n  das  sich  die  ganze  lange  Reihe  aufzulösen  scheint,  welche  der  Ver- 
fasser auf  S.  604  so  stattlicli  aufmarschieren  läßt:  h-K/a.  hud,  lud.  hvud,  bed, 
v:ud,  wnd,  wue'J!  Doch  wir  Avollen  dem  Verfasser  geduldig  weiter  folgen. 

Das  Wort,  um  das  sieh  die  ganze  Frage  dreht  —  denn  daß  es  sich  nur 
um  Ein  Wort  handelt,  dürfte  aus  dem  bisher  Gesagten  zum  mindesten  sehr 
wahrscheinlich  erscheinen  — ,  kommt  (immer  nur  in  der  Bedeutung  von  Neu- 
jahrsgeschenk, Neujahrsgabe  vor,  und  auch  der  Verfasser  weiß  uns  absolut 
Ivcinen  andern  Sprachgebrauch  anzugeben,  und  wir  dürfen  aus  seiner  Zusam- 
menstellung wohl  folgende  Stelle  als  besonders  char.-ikteristisch  herausgreifen: 
Im  Jahre  1433  fordert  die  Königin  den  Preßburger  Stadtrat  auf.  ihr  die  Ncu- 
jalirsgeschenke  »die  hud  oder  emiin  di'<  nctrm  ins«  zu  übersenden,  s.  S.  <i03. 
Was  das  AVort  ursprünglich  bedeutet  hatte,  wissen  wir  nicht,  die  Etymologie 
des  Wortes  ist  uns  vollkommen  fremd.  Für  unseru  Historiker  ist  dies  aber 
kein  Hindernis,  das  Wort  mit  dem  serb.  hadüuh  in  alleriunigsteu  Zusammen- 
hang zu  bringen,  wobei  er  sich  auch  daran  wenig  kehrt,  daß  lindimh-  selbst  als 
abgeleitetes  Wort  ja  eine  sekundäre,  abgeleitete  liedoutung  liaben  kann, 
die  von  der  Grundbedeutung  wenigstens  soweit  :il)liogeu  kann  —  als  Treß- 
burg  von  all  den  Orten,  wo  der  hadimk  iu  der  Weihnaehtsuaclit  angezündet 

:v,i* 


612  Oskar  Aßboth, 

wird.  Mit  Berafung  auf  eine  im  Jahre  138S  erwähnte  Klage  des  »prepositus 
ecclesie  S.Martini  de  8cei)U8",  daß  ihm  die  Tfarrkindcr  das  übliche  Winter- 
holz nicht  lieferten  ueque  troneos  strenuales  ad  curiam  Buam  ministrare  et  im- 
portare  prout  moriß  fuisset  et  esset  ab  antiquo  voluissent  .  glaubt  er  als 
zweifellos  nachgewiesen  zu  haben,  »daß  man  noch  am  Ende  des  XIV.  Jahrli. 
in  einigen  Gegenden  Ungarns  den  Holzblock  als  eine  Huldigungsgabe  zur 
Neujahrszeit  betrachtete"  und  »der  Brauch,  den  uns  diese  einzig  dastehende 
Urkunde  überliefert,  muß  in  Zusammenhang  mit  obigen  Untersuchungen  für 
die  ältere  Zeit  als  allgemein  blühend  betrachtet  werden«,  s.  S.  G09. 

Auf  dieser,  ich  muß  sclion  sagen,  rechtjschwanken  Grundlage  baut  der 
Verfasser  »eine  auf  heidnisch-slavischen  (teilweise  vielleicht  auf  germanischen) 
Traditionen  basierende  Gabe  aus  Brennholz  (bud,  wud;«  auf,  die  "dem  König 
ursprünglich  dargebracht«  wurde,  und  was  er  so  aufgebaut  hat,  sucht  er  mit 
mö^;lichst  morschen  Spreizen  zu  stützen,  die  er  aus  der  Rüstkammer  der  ihm 
total  fremden  Sprachforschung  auf  gut  Glück  herauszieht.  Bud-büd  sollen 
slavisch  *budb-hj:lh  sein,  die  aus  derselben  Wurzel  h%d  gebildet  wären,  wie 
serb.  baditah.  Der  Verfasser  bildet  sich  noch  etwas  besonderes  darauf  ein,  die 
Wurzeln  b%d,  gesteigert  hud,  gedehnt  hyd,  leibhaftig  entdeckt  zu  haben: 
»Hiermit  wären  aber  die  von  Miklosich  nur  sprachlich  ergründeten,  obigen 
Formen  hier  auch  historisch  belegt«,  bemerkt  aber  in  seiner  Freude  darüber, 
die  wir  ihm  nicht  schmälern  wollen,  nicht,  daß  es  sich  bei  Miklosich  um  eine 
Wurzel  handelt,  die  »wachen,  wach  sein«  bedeutet,  so  daß  badnah  nur  dann 
in  dieser  Reihe  einen  Sinn  hat,  wenn  wir  es  als  Ableitung  von  badni  betrach- 
ten: es  ist  der  Klotz,  den  man  in  der  Weihnachtsnacht,  hadni  dan,  brennt, 
welche  mau  durchwacht!  Um  gar  nichts  besser  ist  es  um  den  tatsächlichen 
Nachweis  von  der  wirklichen  Existenz  eines  slav.  Hiidb-hydb  bestellt.  Büd 
kennt  der  Verfasser  nur  aus  den  Rechnungen  der  Stadt  Preßburg,  in  denen, 
selbst  wenn  wir  hier  gutmütiger  Weise  davon  absehen  wollen,  daß  sich  darin 
sehr  wohl  ein  ursprüngliches  irnd  spiegeln  kann,  von  einem  slavischeu  Einfluß 
sonst  nichts  zu  merken  ist.  Bud  soll  überdies  in  einem  dialektischen  ungari- 
schen Namen  des  Wiedehopfes,  in  budböka  stecken.  Die  ganze  Erklärung 
baut  sich  auf  Etymologie  des  deutschen  Wiedehopfes  als  dem  im  Holz  [tcitu] 
hüpfenden  auf,  eine  Etymologie,  die  bekanntlich  selbst  nicht  einwandfrei  ist, 
s.  Kluges  Wörterbuch.  Gibt  uns  dies  aber  ein  Recht,  in  dem  ungarischen  bud- 
ein  slavisches  Wort  mit  der  Bedeutung  «Holz«  zu  erblicken,  wenn  wir  in  den 
slavischen  Sprachen  absolut  kein  ähnliches  Wort  mit  solcher  Bedeutung,  auch 
keine  slavische  Wurzel  mit  entsprechender  Bedeutung  kennen;  denn  die  Be- 
rufung auf  das  abgeleitete  badüak  wird  doch  niemand,  der  von  der  Sache 
etwas  versteht,  als  eine  Stütze  für  diese  Annahme  halten?  Und  dann,  woher 
weiß  denn  der  Verfasser  überhaupt,  daß  budbnka  slavisch  ist,  wenn  er  den 
ersten  Teil  des  Wortes  nur  auf  die  allergewalttätigste  Weise  als  slavisch  zu 
deuten  vermag  und  mit  dem  zweiten  Teil  reineweg  nichts  anzufangen  weiß. 
Denn  selbst  angenommen,  daß  -böka  anf  -hoU.a  zurückgeht,  was  ja  nichts  we- 
niger -als  sicher  ist,  ja  angesichts  dessen,  daß  die  Form  mit  kurzem  6  [-boka] 
häufiger  ist,  sogar  recht  zweifelhaft  erscheint,  wo  in  Gottes  ganzer  weiter 
Welt  findet  er  ein  slavisches  Wort,  aus  dem  dies  -holku  gedeutet  werden  kann? 


Einige  Bemerkungen  zu  diesem  Aufsatz.  613 

Der  Verfasser  sagt  allerdings  »der  zweite  Teil  höka  [ergibt]  —  die  slavische 
Grundform  bhk^<t,  s.  S.  608,  aber  wo  er  diese  «slavische  Grundform«  herge- 
nommen, hat  er  uns  wohlweislich  verschwiegen.  Ich  will  sehr  hoffen,  daß  er 
sie  nicht  etwa  aus  dem  in  gefährlicher  Nähe  angeführten  öhha  abstraliiert  hat; 
der  Bedeutung  nach  würde  das  ja  von  wegen  des  «Hüpfens«  wohl  stimmen, 
aber  sonst  wäre  die  Annahme  so  horrend,  daß  ich  sie  im  Interesse  des  Ver- 
facers  ablehnen  muß.  Dann  aber  muß  ich  schon  sagen,  daß  wenn  man  uns 
mit  eint,  'bisher  ganz  fremden  Wurzel  beglücken  will,  mit  deren  Annahme  die 
Aufstellung  einer  anderen,  uns  wenigstens  in  der  geforderten  Bedeutung 
fremden  Wurzel  und  bisher  unbekannten  Wortbildungen  auf  das  innigste  zu- 
sammenhängt, man  doch  die  Liebenswürdigkeit  haben  sollte,  uns  die  Sache 
ein  wenig  plausibler  zu  machen,  damit  wir  uns  dabei  auch  etwas  denken  kön- 
nen. Denn  sonst  könnten  wir  uns  leicht  veranlaßt  fühlen,  uns  nach  einer  ein- 
facheren Erklärung  umzusehen,  und  eine  solche  läge  für  ungarisch  hudhöka, 
resp.  hur/boka,  hiKjyhoka,  Indyhoka  gar  nicht  so  fern.  Der  Wiedekopf  führt  im 
Ungarischen  noch  eine  ganze  Reihe  von  Namen,  was  allein  schon  daraufhin- 
deutet, daß  hier  Lautmalerei,  Volksetymologie  und  allerlei  tändelndes  Element 
mit  im  Spiele  ist,  was  uns  zu  äußerster  Vorsicht  mahnt.  Unter  andern  heißt 
dieser  Vogel  auch  hahnka,  babuta,  habutka,  babutyka.  Wie  wenn  budtoka,  bugy- 
hoka,  hutyboka  nichts  anderesfals  Umstellungen  aus  babutka,bahulyka  sind?! 
heißt  doch  der  Wiedehopf  in  ein  und  derselben  Gegend,  im  Komitat  Somogy, 
babufka  und  budboka,  in  ein  und  derselben  Ortschaft,  in  Pomäz.  gebraucht  man 
babutyka  und  hugyboka,  letzteres  allerdings  vom  Kiebitz,  was  aber  weiter  nichts 
auf  sich  hat,  denn  auch  hudhoka  bezeichnet  in  Czegled  den  Kiebitz,  anderer- 
seits ist  auch  bugyhoka  sonst  der  Name  des  Wiedehopfes. 

Ich  schließe  meine,  ich  fürchte,  etwas  zu  lang  gewordene  Erörterung  mit 
einer  rein  methodologischen  Frage. 

Ist  dem  Herrn  Verfasser  gar  nie  der  Gedanke  gekommen,  welch  ein  selt- 
sames Spiel  der  Zufall  doch  getrieben  hätte,  wenn  alles  das  wahr  wäre,  was 
er  herausgebracht  hat?  Wüd  soll  deutsch  sein,  [die  Preßburger  haben  es  aus 
ihrer  Urheimat  mitgebracht.  Büd  soll  slavisch  sein,  ist  aber  in  keiner  slavisehen 
Sprache  erhalten,  nur  die  Preßburger  Deutschen  liaben  es  uns  erhalten  und 
zwar  seltsamer  Weise  genau  in  derselben  Bedeutung  mit  dem  ursprünglich 
damit  gar  nicht  verwandten  und  doch  so  seltsam  anklingenden  xcild.  Bud  soll 
aus  derselben  Wurzel  eine  andere  Bildung  sein  als  büd,  also'ebenfalls  slavisch; 
rein  erhalten  ist  es  aber  wieder  nur  von  den  Preßburgcr  Deutschen,  die  noch 
nicht  genug  an  einem  deutschen  iriid  und  einem  entlehnten  slavisehen  büd 
hatten,  dann  aber  von  den  Ungarn  in  dem  Namen  des  Wiedehoi)fes:  budhöka 
Was  «ü^fZ  vorstellt,  etwa  eine  Kreuznng  des  deutschen  icüd  und  des  slavisehen 
bud,  bleibt  auch  so  noch  ein  Rätsel.  Ich  frage,  und  damit  schließe  ich, 
gelten  nicht  auch  in  der  Geschichtsforschung  allgemeine  Wahrscheinlichkeits- 
gesetze, wonach  gewisse  Dinge  schon  an  und  für  sich,  weil  sie  denselben 
widersprechen,  unglaublich  sind? 

Budapest,  den  14.  Dez.  1  "JUC).  Oskar  Asbötfi. 


Kritischer  Anzeiger. 


Die  slavische  Liturgie  in  Polen: 

a)  Sz.  =  Ks.  Whidyslaw  Szczesniak,  Mag.  Teol. ,  Obrz;jdek  slo- 
wianski  w  Polsce  ])ierwotnej  rozwazony  w  swietle  dziejopisar- 
stwa  polskiego.  Warszawa  1904.  S.  207  (Biblioteka  dziet 
chrzescijanskich,  czerwiec  1904,  zeszyt  42). 

b)  P.  =  H.  n.  nTainimKÜl ,  CüaBAHCKÜl  oöpfl^t  bx  MopaBin  h  Ilaii- 
hohIh  h  MHHMoe  ero  cymecTBOBaiiie  bt,  ^peBiieil  Ilojitmi  (^MHII., 
1906,  CeHTflöp-L,  S.  140—181). 

c)  S.  =  A.  H.  CoöojieBCKiil,  Po^tniia  KieBCKHxt  oxptiBKOBt  (IIsb.  ot^. 
pyee.  h3.  h  c^roB.  hmh.  an.  h.  t.  XI  (1906),  kh.  2,  cxp.  15 — 19). 

Mathias  de  Miechow  hatte  in  seiner  1519  erschienenen  Chronica  den  küh- 
nen Schluß  gezogen,  die  slav.  Lit.  habe  sich  seit  den  Zeiten  der  Slavenapostel 
bis  auf  seine  Tage  in  der  Kirche  des  heil.  Kreuzes  auf  Kleparz  erhalten 
(Kap.  XIII,  S.  XVI  der  2.  Ausg.  v.  1521);  nach  126  Jahren  behauptete  Paulus 
Piasecki,  die  Polen  hätten  aus  Haß  gegen  alles  Deutsche  von  den  orient.  Grie- 
chen Cyrill  und  Method  das  Christentum  empfangen  (Chronica  gestarum  in 
Europa,  S.  ^8).  Seitdem  fand  die  Ansicht  von  der  Existenz  der  slav.  Lit.  in 
Polen  in  einem  Christian  Gottlieb  von  Friese,  Andreas  Wegierski,  W.  AI.  Ma- 
ciejowski,  Wal.  Krasinski,  Aug.  Bielowski,  Lelewel,  Malecki,  Anatol  Lewicki, 
Szujski,  Leger,  Petruszewicz,  Buczys,  M.  Gumplowicz  u.  a.  so  eifrige  Anwälte, 
daß  es  Sz.  für  geraten  hielt,  nach  den  kritischen  Auseinandersetzungen  Dr. 
Abrahams  (Organizacya  Kosciola  w  Polsce  . . .  Lw6w  1893),  der  nur  noch  den 
Brief  Mathildens  zugunsten  der  slav.  Lit.  im  alten  Polen  sprechen  ließ,  und 
nach  den  nachdrücklichen  Protesten  des  Alfons  Parczewski  (Pocz^tki  chry- 
styanismu  w  Polsce  i  misya  irlandska,  Poznan  1902),  der  sie  ganz  in  Abrede 
stellte,  ein  ganzes  Buch  gegen  die  aufgetürmten  Beweise  von  der  slav.  Lit. 
in  Polen  zu  richten.  P.  läßt  in  seinem  Referate  über  das  Buch  Sz.s  seinen 
Glauben  an  ein  Vegetieren  der  slav.  Lit.  in  den  Benediktiuerklöstern  Polens 
im  Xi— XL  Jahrh.  durchblicken,  hat  aber  die  diesbezüglichen  Ausführungen 
Sz.s  nicht  entkräftet.  Ohne  Rücksichtnahme  auf  das  Buch  Sz.s  möchte  S.  die 
Annahme  der  slav.  Lit.  im  alten  Polen  wieder  zur  Geltung  bringen. 


Die  slavische  Liturgie  in  Polen,  angez.  von  Kidric.  615 

Sz.  verfiel  auf  die  unglückliche  Idee,  sich  im  zweiten  Kap.  an  die  aber- 
malige Lösung  der  schon  gelösten  Frage  betreffs  des  von  den  Slavenaposteln 
eingeführten  Ritus  zu  wagen,  wobei  er  eine,  auch  für  einen  magister  theol., 
wenn  er  sich  über  die  Anfänge  der  slav.  Lit.  ein  Urteil  anmaßt,  in  Cyrillo- 
Methodianis  merkwürdige  inscientia  an  den  Tag  legt.  Folgende  Sätze  bewei- 
sen dies  zur  Genüge:  «...  daß  der  heil.  Cyrill  griechische  Büclier  übersetzt 
hätte,  hierfür  haben  wir  keine  Beweise,  weder  innere  —  in  den  übersetzten 
Büchern  selbst,  noch  äußere  —  in  den  Dokumenten.  Statt  dessen  ist  aus  der 
Menge  von  Latinismen,  die  sich  in  den  aksl,  von  Cyrill  übersetzten  liturg. 
Büchern  finden,  ersichtlich,  daß  sie  aus  dem  Lateinischen  übersetzt  wurden, 
d.  h.  aus  jenen  liturg.  Büchern,  welche  Cyrill  und  Method  an  Ort  und  Stelle 
im  kirchlichen  Gebrauche  vorfanden,  welche  das  neu  bekehrte  slav.  Volk  nicht 
verstand,  und  zu  deren  Erklärung  Rostislav  die  Brüder  .  .  .  berufen  habe  .  .  . « 
(45).  Für  solche  veraltete  Ansichten  sucht  er  aber  Unschuldige  mit  verant- 
wortlich zu  machen.  So  will  er  in  Jagic's  »Neuesten  Forschungen  über  Cyrill 
und  Method  (Areh.  f.  sl.  Phil.  IV,  97  ff.;  297  ff.)  gelesen  haben,  daß  Jagic  die 
Möglichkeit  des  griechischen  Ritus  in  den  ersten  Jahren  des  Weilens  der 
Slavenap.  in  Mähren  zugegeben,  sich  aber  entschieden  dahin  ausgesprochen 
habe,  daß  Method  nach  der  ersten  Rückkehr  aus  Rom  nur  nach  dem  römischen 
Ritus  celebriert  hätte  (52).  Sonderbarerweise  spricht  ihm  P.  dies  nach  'li-1); 
obwohl  in  der  Abhandlung  Jagic's  nichts  davon  zu  finden  ist,  und  sie  Sz.  nie 
gelesen  zu  haben  scheint.  F.  macht  auf  das  von  Sz.  nicht  bemerkte  Zeugnis  in 
der  V.M.  c.XV:  npIi.iO/KH  bt.  öp-Lst  bbca  KBiiiirbi  ucnjimt,  pasBi  MaKKaBeu  ot-b 
rptuiCKa  A3LiKa  Bx  CjioBiiiBCK'B  aufmcrksam  (145),  erweist  aber  dem  zweiten 
Kap.  des  Buches  viel  zu  viel  Ehre,  daß  er  es  auf  vollen  16  S.  bekämpft  (112 — 
157).  Solche  Äußerungen  muß  man  um  so  mehr  bedauern,  als  dadurch  der 
Genuß  des  Buches,  das  trotz  noch  einiger  sonstiger  unnötigen  Dilettantismen 
doch  das  Streben  nach  Wahrheit  zeigt  und  ein  richtiges  Endresulat  erzielt, 
verleidet  wird.  Mit  dem  Rate,  der  Verfasser  möge  sich  auch  hier  besser  da- 
rüber orientieren,  was  außer  von  Kopitar  u.  Ginzel  auch  sonst  noch  über  die 
Heimat  u.  Entstehungsgeschiclite  der  aksl.  Sprache  gesagt  wurde,  gehen  wir 
über  dieses  schwache  Kapitel  des  Werkes  hinweg. 

Die  erste  Hälfte  des  dritten  Kap.  ist  gegen  Jone  gerichtet,  welche  den 
Einzug  der  slav.  Lit.  nach  Kleinpolen  mit  ihrem  Glück  u.  Ende  in  Mähren  ver- 
binden. Die  Behauptung,  daß  sie  durch  Cyrill  u.  Method  ^ü2  u.  m33  oder  durch 
ihre  Schüler  Wizni  u.  Oslaw  eingeführt  worden  wäre,  wird  leicht  widerlegt 
(56  ff.;  contra  Friese,  Lelewel).  Beachtung  verdient  dagegen  die  vor  allem 
auf  den  noraüi.CKT>K'BiiA^i>,  cii.;ii.iri.  bcilmii  cI.äa  b'i.  Biical'.  der  V.M.Kap. IX  sich 
stützende  Annahme  der  Zugehörigkeit  Kleinpolens  zur  Erzdiöceso  Methods. 
Sz.  meint,  dem  Ilagiographen  habe  es  sicli  um  die  Fixierung  niclit  einer  Tat- 
sache, sondern  lediglich  der  propliotisclien  Gabe  Metiiods  gehandelt,  macht 
aber  sogleich  kehrt  u.  setzt  fort,  das  Dokument  sei  immerhin  Achtung  gebie- 
tend und  man  müsse  mit  ilim  rechnen  (59).  Er  meint  zwar,  daß  die  von  Prof. 
Brückner  (0  Piascie,  Rozprawy  ak.  um.,  Wydzial  hist.-fil.  S.  II.  T.  X,  Krakow 
1898,  S.:il3)  geäußerte  Ansiclit,  unter  den  Christen,  die  der  Fürst  derVislauon 
verhöhnte,   seien   Christen   Svatophiks  zu   vorstehen,   viel   Wahrsclioinlioh- 


ölö  Kritischer  Anzeiger. 

keit  zeige  (60),  aber  der  Schluß  seiner  unter  dem  Deckmantel  des  dato  nou 
concesso  geraacliten  Rechnung  ist,  daß  man  in  diesen  ««Christen««  eben  nur 
Christen  und  nichts  mehr  erblicken  könne,  und  daß  nach  seiner  Beleuchtung 
des  erwähnten  Zeugnisses  der  Vita  diese  Christen  sich  nicht  zum  slavischen 
Ritus  bekennen  konnten  «(61).  Aber  das  Unglück  wollte  es,  daß  diese  Beleuch- 
tung zu  viel  Schattenseiten  aufweist.  Nach  der  ganz  wahrscheinlichen  Be- 
rechnung Potkaiiskis  (Krakow  przed  Piastami,  Rozprawy  ak.  um.  wydzial. 
hist.-fil.  S.U.  T.  X,  Krakcjw  1898,  S.  163)  fiel  die  Gesandtschaft  Methods  und 
die  darauf  erfolgte  Gefangennahme  des  Fürsten  der  Vislanen  in  die  Zeit  zw. 
den  J.  874 — 879.  Sz.  suclit  uns  nun  klar  zu  machen,  daß  Method  zu  dieser  Zeit 
in  Pannonien  bei  Kocel  verweilte,  imd  daß  infolgedessen  die  Anhänger  seines 
Ritus  in  Mähren  weniger  zahlreich  und  ihr  Einfluß  auf  das  Gebiet  der  Vislanen 
mehr  als  zweifelhaft  gewesen  sei.  Er  stützt  diese  Behauptung  auf  die  Auf- 
forderung des  P.  Johannes  VIII.  an  Montemerus  dux  Sclauiniae,  ut  ad  panno- 
niensium  studeat  reverti  dioecesim,  und  auf  einen  in  Boceks  Cod.  dipl.  et 
epist.  Moraviae  I,  p.  36 — 37  unter  dem  J.  877  gedruckten  Brief  desselben 
Papstes  an  Kocel,  wo  nach  der  Meinung  Sz.s  der  Papst  Kocel  aufgefordert 
haben  soll,  »mit  seinem  Arme  die  Tätigkeit  Methods  zu  schützen"  (61,.  Aber 
fürs  erste  erwähnt  dieses  Dokument  Boceks  mit  keiner  Silbe  Method,  sondern 
spricht  nur  de  his,  qui  uxores  suas  dimiserunt  uel  ad  alias,  illis  uiuentibus 
migraverunt,  fürs  zweite  hätten  ihn  der  Ruf  Boceks  als  Urkundenfälscher  und 
eine  Stelle  auf  S.  161  der  von  ihm  öfters  zitierten  Arbeit  Potkanskis,  Krakow 
przed  Piastami,  doch  stutzig  machen  sollen ;  denn  dort  heißt  es,  daß  Kocel 
ca.  874  ohne  Nachkommenschaft  starb,  und  sein  Fürstentum  in  die  Hände 
Karlmanns  überging.  Und  wenn  er  die  von  Potkanski  1.  c.  angeführte  Literatur 
nachgeschlagen  hätte,  so  würde  er  bei  Dümmler,  Über  die  südöstl.  Marken, 
S.  42  gefunden  haben,  daß  der  Brief  in  die  Zeit  872 — 73  versetzt  wird  (bei 
Erben,  Regesta  I,  S.  15,  Nr.  36  nur  nach  den  Regierungsjahren  Joh.VIII.  873 — 
8S2  angef.)  und  daß  874  Dietmarus  archiepiscopus  ecclesiam  ad  Bettowe  Goz- 
wini  comitis  consecravit,  ein  Zeichen,  daß  nach  dem  Tode  Kocels  ein  Teil 
seines  Gebietes  in  eine  Gaugrafsehaft  umgewandelt  worden  war  und  daß 
Methods  Jurisdiktion  nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Schwabenlande  in  Pan- 
nonien aufgehört  hatte.  Method  zog  allem  Anscheine  nach  aus  der  Gefangen- 
schaft direkt  nach  Mähren  (. . .  Ne  suscipias  occasionem  excusationis  prohiben- 
tem  te  vel  fratrem  nostrum  Methodium  transire  ad  Suentepulcum  .  .  .  heißt  es 
im  Common.  Job.  VIII.  an  Paulus  Bischof  von  Ancona).  Auf  einer  seiner 
Reisen  kam  er  auch  in  die  Nachbarschaft  der  Vislanen  und  hörte  von  den 
Verhöhnungen  der  Christen  seitens  des  Fürsten  der  Vislanen  (vgl.  Jagic,  Zur 
Entstehungsgesch.  I,  S.  44)  Unter  diesen  Christen  verstehe  ich  Untertanen 
Svatopluks,  da  mir  auf  diese  Weise  dessen  Einfall  ins  Land  des  christenfeind- 
lichen Fürsten  motiviert  erscheint.  Von  diesen  Christen  der  Erzdiözese  Me- 
thods kann  man  aber  trotz  der  »Beleuchtung«  Sz.s  nicht  ohne  weiteres  be- 
haupten, "daß  sie  sich  nicht  zum  slavischen  Ritus  bekannten«.  Und  wenn 
sich.  Sz.  zur  Bekräftigung  seiner  Annahme,  es  sei  gar  nicht  sicher,  daß  die 
Vislanen  jemals  zum  Reiche  Svatopluks  gehört  hätten,  auf  Brückner,  0  Piascie 
S.  347  beruft  (63),  so  beweist  das  nur,  daß  man  sich  auf  seine  Angaben  nicht 


Die  slavische  Liturgie  in  Polen,  angez.  von  Kiclric.  617 

ganz  verlassen  darf;  denn  Brückner  hat  zwar  auf  S.  314  seiner  zitierten  Abb. 
die  Meinung  vertreten,  den  Fürsten  der  Vislanen  hätten  die  Polanen  des  Se- 
mowit  oder  Lestek  vertrieben,  und  später  mit  dem  Gedanken  kokettiert,  daß 
Boi-ivoj  von  Böhmen  dieser  Fürst  der  Vislanen  gewesen  sein  könnte  ;Legendy 
0  Cj'rylu  i  Metodym,  SA.  aus  dem  Rocznik  Towarzystwa  Przj'jaci^l  Nauk 
Poznanskiego  XXX;  Posen  1903,  S.  48—49),  aber  gerade  auf  der  von  Sz.  zi- 
tierten S.  hebt  er  ausdrücklich  hervor,  daß  er  auf  seiner  früheren  Meinung 
nicht  bestehe  und  daß  Potkanski  das  Faktum  treifender  mit  Svatopluk  ver- 
binde. Nach  meiner  Ansicht  kann  man  hier  nur  mit  Svatopluk  operieren,  da 
unter  den  gegebenen  Verhältnissen  nur  in  seinem  Lande  der  Fürst  der  Vislanen 
(=  Kleiupolen)  gezwungen  worden  sein  kann,  die  Taufe  anzunehmen.  Jeden- 
falls wird  der  Hagiograph  die  Episode  nicht  nur  dazu  ersonnen  haben,  um 
die  prophetische  Gabe  Methods  zeigen  zu  können,  sondern  hat  dazu  eine 
bekannte  Tatsache  benutzt.  So  scheint  mir  denn  doch  nicht  die  Möglich- 
keit ausgeschlossen  zu  sein ,  daß  im  Dezennium  der  Rückkehr  Methods  aus 
der  deutschen  Gefangenschaft  hie  und  da  von  seinen  Missionären  die  Messe 
im  Gebiete  der  Vislanen  slavisch  celebriert  wurde,  wobei  ich  aber  für  die 
Zeit  nach  Ssu  die  Einwendung  Sz.s  gelten  lasse,  daß  Kleinpolen  dem  Ein- 
flüsse Wichings,  des  Bischofs  von  Nitra,  ausgesetzt  war  (fis),  der  sicher  alles 
getan  hat,  um  die  eventuellen  Keime  der  slavischen  Liturgie  in  Kleinpolen  zu 
ersticken. 

Nach  der  Beleuchtung  des  Zeugnisses  der  V.M.  bekämpft  Sz.  meist  Be- 
hauptungen, die  in  das  Reich  der  frommen  Wünsche  gehören :  daß  die  tres 
episcopi,  welche  unter  Mojniir  IL  die  kirchlichen  Verhältnisse  in  Jlähren  ge- 
ordnet hatten,  daselbst  und  bei  den  Vislanen  die  slav.  Liturgie  restauriert  hätten 
(70;  contra  Maciejowski);  daß  unter  den  -/(Hoßäroi  des  Konstantin  porphyr., 
zu  welchen  die  den  Einfall  der  Magyaren  überlebenden  Mährer  geflohen  waren, 
Kleinpolen  und  nicht  die  Kroaten  im  Süden  zu  verstehen  seien  (73  ff. ;  c  Friese, 
Lelewel  u.a.);  daß  das  Bistum  von  Krakau  wegen  der  Namen  der  ersten  Bi- 
schöfe, Prohorius  und  Proculf  (76  ff.;  c. Lelewel,  Maciejowski,  M.  Gumplowicz, 
Sobieski)  oder  wegen  der  Angabe  des  Chronisten  Gallus,  Polen  habe  zur  Zeit 
des  Boleslaw  Chrobry  zwei  Metropoliten  gehabt,  und  im  Gegensatze  zur  lat. 
Metropolie  Gnesen  die  »slavische«  gewesen  sei  (79  ff.;  c.  Bielowski  u.  a.^;  daß 
die  Namen  der  Kirchen  SS.  Salvatoris  auf  Wawel  und  Zwierzyuiee,  des  heil. 
Kreuzes  in  Krakau  und  des  heil.  Klemens,  welche  letzteren  in  das  XIL — XIV. 
Jahrh.  gehören,  auf  die  Gründung  durch  Anhänger  der  slav.  Lit.  hinweisen 
(85  ff.;  c.  Malecki,  Pctruszewicz,  Friese,  Ossolii'iski,  Safnrik,  W.  Krasii'iski ; 
Gumplowicz,  Sobieski  u.a.). 

Bei  der  Beantwortung  der  Frage,  ob  denn  nicht  die  slav.  Lit.  von  Böh- 
men aus  im  IX. — X.  .Jahrh.  nach  Schlesien  und  Kloiiii)olon  gelangen  konnte 
(94  ff.),  ist  Sz.  der  seltene  Fall  passiert,  daß  er  von  falschen  Voraussetzungen 
zum  richtigen  Schluße  gelangte.  Er  gibt  zu.  daß  Boi-ivoj  von  Method  die  Taufe 
empfing  und  dem  slav.  Ritus  nach  Prag  die  Tür  öffnete  '9,')),  bestreitet  aber 
jegliches  Leben  desselben  im  X..Tahrh.in  Mähren  75^  und  Böhmen  (9,t  ff.\  Den 
Passus  der  cyrill.AVenzelleg.  von  den  slav.  Buchstaben,  worin  Ludinila  ihren 
Enkel  unterrichten  ließ,  betrachtet  er  als  ein  »entschieden  späteres  Eiuschiob- 


618  Kritischer  Anzeiger. 

sei«  (OCi),  kann  keine  Gründe  für  die  Annahme  finden,  daß  das  Lied  Hospodin 
poiuiluj  ny  in  der  Epoche  der  mährischen  Einflüsse  in  Böhmen  bestanden  hätte 
(U9),  verpönt  zwar  die  Gründungsurkunde  des  Prager  Bistums  '07;})  nicht  als 
uneclit,  doch  will  er  in  dem  Zusätze:  verum  tarnen  non  secundum  ritus  aut 
sectam  Bulgariae  gentis  vel  Ruziae  aut  Sclavonicae  lingiiae  keine  Anspie- 
lung auf  die  slav.  Liturgie  erblicken,  sondern  erklärt  die  Ausdrücke  ritus  und 
secta  mit  zwyczaj  (Sitte)  und  sposob  bytu  (Lebensart)  (lno)  und  sucht  schließ- 
lich eine  fromme  Seele,  die  ihm  glauben  könnte,  daß  Prokop  durch  morgen- 
ländische slavische  Münclie,  die  zum  berülimten  Einsiedler  pilgerten,  die  Be- 
kanntschaft mit  der  slav.  Lit.  gemacht  habe  (lO.'j),  zu  welcher  Ansicht  auch 
P.  neigt  (lüO).  Aber  Sz.  und  P.  haben  vergessen  zu  erklären,  wieso  die  ver- 
triebenen Anhänger  Prokops  nicht  nach  Kroatien,  sondern  nach  Ungarn 
(==  Slovakei)  ihre  Schritte  lenkten;  Sz.  spürt  nicht,  daß  unter  ritus  ...  Sclavo- 
nicae linguae  in  Bezug  auf  den  unmittelbar  folgenden  Gegensatz :  sed  magis 
sequens  instituta  et  decreta  apostoliea  .  . .  unum  eligas  clericum  Latinis  ad- 
primum  litteris  eruditum  doch  nur  die  slav.  Lit.  verstanden  werden  kann. 
Sz..  dem  nur  etwas  davon,  was  Dobrovsky.  Kopitar  und  Wattenbach  über  die 
slav.  Lit.  in  Böhmen  gesagt  haben,  bekannt  ist,  weiß  nicht,  daß  aucli  in  glag.- 
kroat.  Legenden  vom  Wenzel  gesagt  wird':  Hasuic  hcc  h  khufu  cjioBiHCKue  h 
.laTHH'^CKiie  (Jagic,  Jlereiua  o  GB.Bimecjiavl,  P$B.,  T.LXVIII  [1902],  S.  104),  daß 
also  dies  kein  späteres  Einschiebsel  sein  kann,  sondern  in  der  ersten  Redak- 
tion vorkommen  mußte;  und  diese  ist  nach  meinem  Dafürhalten 'in  Böhmen 
entstanden,  da  diese  Annahme  doch  viel  wahrscheinlicher  ist  als  die  Prof. 
Vondräks  (0  puvodu  Kijevskij  listü  ...  V  Pr.  1904,  S.  92),  daß  die  Legende  auf 
kroat.  Gebiete  von  einem  böhm.  Glagoliten,  der  dem  Kreise  der  aus  Mähren 
vertriebenen  Jünger  angehörte,  geschrieben  worden  sei.  Wann  sind  denn  die 
Glagoliten  nach  935  (Todesjahr  Wenzels)  aus  Mähren  vertrieben  worden?  Für 
die  im  Liede  Hospodin  pom.  ny  jeden  ksl.  Einfluß  leugnende  Haltung  hat 
zwar  Sz.  viele  ihm  unbekannt  gebliebene  Verbündete,  aber  auch  Gegner  (vgl. 
die  Literatur  bei  Nejedly,  Dejiny  pi-edhus.  zpevu  v  Cechäch.  V  Pr.  1904, 
S.  239  if.);  doch  scheinen  weder  der  Skeptizismus  Prof  Vondräks  (Zur  Wür- 
digung der  asl.  Wenzelleg.  S.  50 — 51)  noch  die  Ausführungen  Nejedly s,  nach 
welchen  im  Jahre  973  das  Volk  nur  noch  das  primitive  »krles«,  im  Jahre  1()55 
aber,  durch  den  deutschen  Tropus  des  Fürsten  und  Adels  vom  J.  973  (Christe 
ginädo !  Kyrie  eleison  und  die  Heiligen  alle  helfen  uns,  Kyrie  eleison)  zur  Bil- 
dung eines  eigenen  Tropus  Hospodine  pomyluj  ny  bewogen,  diesen  Tropus 
angestimmt  hätte,  worauf  dann  1125—1249  das  Lied  gefolgt  wäre  (o.  c.  239— 
246),  nicht  dazu  geeignet,  den  so  klaren  Zusammenhang  der  unböhm.  Phrase 
Hospodin  pomiluj  ny  (FRB.  H,  308,  339,  366  zu  den  J.  1249.  1279,  1283)  mit 
dem  aksl.  gospodi  pomiluj  ny  zu  beseitigen !  Die  schöne  Übersetzung  der 
griech.  Phrase  im  Anfange  ist  auf  einem  anderen  Wege  nach  Böhmen  gekom- 
men, als  das  verkümmerte  »krles",  und  im  XL— XHL  Jahrh.  hätte  kein  Böhme, 
außer  ein  Kenner  des  Ksl.  der  griech.  Phrase  die  überlieferte  Übersetzung  ge- 
gebeii!  Dabei  muß  auch  beachtet  werden,  daß  in  den  ältesten  Stellen,  wo  das 
Lied  in  der  slav.  Phrase  zitiert  wird  (s.  o.)  die  Form  hospodin  vorkommt,  welche 
nach  Jagics  Vermutung  (ausgesprochen  in  seinem  Sem.)  nicht  eine  Kürzung 


Die  slavische  Liturgie  in  Polen,  angez.  von  Kidric.  619 

des  V.  hospodine  ist,  sondern  ein  hospodi,   das  nicht  mehr  geläufig  war, 
voraussetzt. 

Bei  etwas  Umschau  hätte  Sz.  die  Möglichkeit  der  Verpflanzung  der  slav. 
Lit.  aus  Böhmen  nach  Polen  im  X.  Jahrh.  wohl  nicht  deshalb  in  Abrede  ge- 
stellt, weil  sie  in  Böhmen  nicht  vorhanden  gewesen  wäre,  sondern  gesagt:  sie 
führte  in  Böhmen  ein  immer  mehr  an  Boden  verlierendes  Leben,  bis  sie  Ende 
des  XL  Jahrh.  erlosch,  und  es  fehlten  die  Bedingungen  eines  Hinübergreifens 
nach  Polen.  Denn  Sz.  weist  mit  Recht  im  IV.  Kap.  den  im  X.  Jahrh.  nie  ge- 
kämpften Kampf  zwischen  der  lat.  und  slav.  Lit.  in  Kleinpolen  samt  den  ihn 
unterstützenden  Klügeleien  zurück:  daß  die  von  Otto  L  gegr.  Bistümer  auf 
slav.  Boden  den  Kampf  gegen  die  slav.  Lit.  zum  Zwecke  gehabt  hätten,  und 
daß  in  den  päpstlichen  oder  kaiserlichen  Dokumenten  mit  fides  catholica  der 
lat.,  mit  paganus,  barbarus,  lingua  barbara  immer  nur  der  schismatische  slav. 
Ritus  zu  verstehen  sei  (106 — lü7;  120  ff.;  c.  Bielowski,  Maciejowski  u.  a.,,  daß 
Adalbert  der  spätere  Erzbischof  von  Magdeburg,  im  Auftrage  Otto  L  nicht  nach 
Rußland,  sondern  gegen  die  slav.  Lit.  in  Mähren  und  Polen  geschickt  worden  sei 
(IGT  ff.;  c.  Bielowski,  u.  a.)  ...  Zu  diesen  Klügeleien  gehören  in  die  Raritäten- 
kammer der  von  Begeisterung  diktierten  Folgerungen  auch  die  meisten  der 
zugunsten  der  slav.  Lit.  in  Großpolen  aufgetischten  und  von  Sz.  im  V.  Kap. 
(125  ff.)  bekämpften  Behauptvmgen :  das  Weilen  Methods  u.  Cyrills  oder  ihrer 
Gesandten  im  Hause  Piasts  und  Rzepkas  und  die  Taufe  ihres  Sohnes  Ziemowit 
durch  sie  (125  ff.;  c.  Naruszewicz,  Ossoliiiski,  Teodor  Morawski,  Petruszewicz 
u.a.);  das  Erscheinen  und  die  Taufe  Ziemowits  bei  Svatopluk  (l;i2;  c.  Osso- 
linski,  Maciejowski) ;  die  Identität  Svatopluks  und  Ziemowits  (132  ff.;  c.  Bie- 
lowski) ;  Mieszkos  IL  Taufe  in  Prag  und  seine  doppelte  Taufe,  zuerst  nach 
dem  slav.,  dann  dem  lat. Ritus  (1:^4  ff.;  c.  Friese,  Maciejowski.  Bielowski  u.a.); 
die  Fragmente  byz.  Kunst  in  Polen,  die  dem  XHL  u.  XIV.  Jahrh.  angehören 
(145  ff.;  c.  Andrzej  Wegierski,  Friese,  Petruszewicz,  M.  Gumplowicz  u.  a.);  die 
Ehe  der  Priester  in  Polen,  die  nur  den  Verfall  der  Sitten  beweist  (lOii  ff.;  c. 
Maciejowski);  der  Streit  zwischen  Boleslaw  Sm.  und  dem  hl.  Stanislaw,  der 
sich  nie  um  die  slav.  Lit.  drehte  (KiS  ff.;  c.  Lelewel,  Bielowski.  Pastor  Anger- 
stein, M.  Gumplowicz,  W.Sobieski  u.  a.);  die  Anerkennung  der  Ehe  Wladyslaw 
Hermanns  mit  der  Mutter  Zbigniews  seitens  der  slav.  litnrgisierenden  Geist- 
lichkeit (1 75 ff.;  c.  Gumplowicz);  die  von  Dlugosz  hervorgehobene  lauge  Dauer 
der  großen  Fasten  in  Polen,  die  aber  um  zwei  Wochen  früher  als  in  Konstan- 
tinopel begannen  und  aus  Deutschland  nach  Polen  kamen  (182  ff.;  c.  Friese, 
Ossolinski, Lelewel,  AV.Krasinski,  Petruszewicz  u.a.);  ebenso  nichts  beweisend 
ist  eine  Stelle  im  Briefe  Matthäi,  des  Erzb.  von  Krakau,  an  den  hl.  Bernard  aus 
der  Mitte  des  XII.  Jahrh.:  Dilectus  filius  voster  maglster  A.  nos  ex  parte 
vestra  consuluit,  si  quis  posset  et  impios  Ruthenorum  ritus  atcjuc  observan- 
tias  extirpare  (Bielowski,  MPIL  II,  S.  15),  aber  nicht  deslialb,  weil  Sz., ritus 
wieder  mit  »Sitte«  übersetzt  (173  ff.;  c.  Lelewel,  Bielowski),  eondoru  weil  Mat- 
tliäus  mit  Ruthenia  ein  Land  außerhalb  der  Grenzen  Polens  meinte  ;.  .  .  ucc 
modo  in  Rutlienia,  (|uae  (|uasi  est  alter  orbis,  verum  etiam  in  Polonia  et  Hooiuia 
. .  .  talem  fructum  facerotis  . . .  o.  c.  S.  1(3). 

Über  dieses  Niveau  erheben  sich  fünf  Dokumente,  auf  deren  einige  sich 


620  Kritischer  Anzeiger. 

außer  den  von  Sz.  bekämpften  Historikern  auch  Sobolevskij  stützt  (P.  174, 
Anm.  1 ;  S.  18 — 1'.))  und  die  teilweise  aucli  Prof.  Brückner  trotz  der  Ausführun- 
gen Parczewskis  nocli  rätselliaft  bleiben  b,  d,  e;  Legendy,  12).    Es  sind  dies: 

a)  die  Worte  einer  Polin  an  ihren  Gemahl  Izjaslav  Jaroslavic  von  Kijev 
(1054 — 1078),  die  ihr  die  Leg.  des  Theodosius  in  den  Mund  legt,  als  Izjaslav 
den  Mönch  Antonius  vertreiben  wollte:  ITocioyiuaü  tociioäh,  h  hc  ruiBaiici, 
MKO  TaKO/Kc  öi,]CTi.  BT.  CTpauJ;  uameä;  wöiacaEiuuM'i.  HiKOCA  paflH  (>iÄi>i  lepii- 
UCMX,  Muoro  3jia  CTBopucA  Hxx  pa^ii  B  3eMJiH  t(oh),  uo  ».JiOÄncA,  rocnOÄii,  na.  ue  TaKO 
BT)  oöjiacTH  TEOcii  öoyaeTB  (ükob^icbi.,  IlaM.  pyccKofi  .iiiTcparypiii  XII  ii  XIII  b. 
Cnöpn,  1S72.  S.  XVI); 

b)  die  in  demselben  Paterik  pecerskij  enthaltene  Legende  vom  Movccil: 
Oyrpmii.,  den  Boleslaw  Chrobry  als  Gefangenen  aus  Kijev  nach  Polen  ge- 
bracht haben  soll,  wo  ihn  die  Liebe  einer  angesehenen  polnischen  Witwe  ver- 
folgte, bis  ein  MHiix-h  (iioiiiiii-l  vm^n)  w  cbatlic  ropi.i  kam  und  ihm  das  Gelübde 
abnahm,  worauf  Boleslaw  durch  die  Klage  der  feurigen  Witwe  gerührt:  v/k'.- 
ABuacc  roneuic  Be.iie  Ha  icpiiopiisuu  u  iisrua  bca  w  oö.iacm  CBoefi,  aber  zur  Strafe 
btj  CÄimy  .  . .  uoiixB  starb ;  u  öwctt.  matg/Ke  BdUKi.  Bt  Bceft  JlAÄCKoii  scMJii  h  bx- 
craBiue  jiio;i;Yc  usöama  enucKonti  cboa  u  öojfApti  cboa,  (tiKace  u  E.aiTOQiicuti  nout- 
ÄacTT.  Tor^a)  . . .  (ilKOBJieBT.,  o.  c.  CXLIV — CLI); 

c)  eine  Stelle  der  V.O.  in  einer  Handschrift  der  Moskauer  geistl.  Akad. 
aus  dem  XV.  Jahrb.,  in  verschlechterter  Form  im  Chrouographe  des  Samuel 
diak  z  Dubkova  vom  Jahre  14'J1  und  in  späteren  Handschriften:  . .  ii  iipuiuej-i. 
BiuiiKt  BT.  Mopasy,  u  Bt  ^Ioxli  h  ex  JIaxw,  paajpoymu  Bipy  npaByio,  u  PyccKyio 
rpaMOTy  wBpxace,  a  jiaTUHLCKyH)  ßipy  u  rpaivioxy  nociaBii,  ii  npaBbia  Bipti  entic- 
KonBi  II  nonti  uci.ci'ie,  a  ÄpyrLia  pasraa  h  uje  bx  IIpyccKyio  seMJiio  .  .  .  u  xamo 
yÖBeux  ÖLiCTX  Bxuiixx,  JlaTMHBCKBiu  HHCKoynx  . . .  (EojflHCKifi,  0  BpcMeau  npo- 
ucxoHCÄeiiiH  ai.  n.  S.  108;  Bielowski,  MPH.  I,  90); 

d)  eine  Strophe  im  Lobgesange  des  Chronisten  Gallus  an  Boleslaw 
Chrobry : 

Tanti  viri  funus  mecum  omnis  homo  recole, 

dives,  paupei",  miles,  clerus,  iusuper  agricolae, 

Latinorum  et  Slavorum  quotquot  estis  incolae  (Bielowski,  MPH.  I,  413); 

e)  folgende  Worte  in  dem  Briefe,  mit  dem  Mathilde,  die  Tochter  Hermanns 
von  Schwaben,  das  »regi  Misegoni«  (Mieszko  II,  lo2.5 — 1034)  geschenkte  lit. 
Buch  Ordo  Romanorum  begleitete: 

Quis  (praedecessorum  tuorum)  in  laudem  dei  totidem  coadunavit  linguas? 
cum  in  propria  et  in  latina  deum  digne  venerari  posses,  in  hoc  tibi  non  satis, 
grecam  superaddere  maluisti  (Bielowski,  MPH.  I,  323). 

Sz.  meint,  die  Frau  Izjaslavs  {habe  die  heidnische  Reaktion  nach  dem 
Tode  Miesko  II.  vor  Augen  gehabt,  was  aber  der  Verfasser  der  Vita  Moysejs 
nicht  mehr  wußte  und  einen  Analogieschluß  machte,  daß  Boleslaw  Chrobry 
wegen  einer  geheimen  Haarabschneidung  die  Mönche  ebenso  vertrieb,  wie  es 
Izjaslav  machen  wollte  (153  ff;  c.  Bielowski,  Sobieski,  Gumplowicz).  Die  Ver- 
treibung der  slav.  Lit.  aus  Polen  durch  Adalbert  von  Prag  ist  nach  seiner  An- 
sicht eine  Erfindung  Samuels  von  Dubkov,  der  eine  Erklärung  für  das  Schwin- 
den der  slav.  Schrift  in  Böhmen  und  Polen  suchte,  natürlicherweise  einen 


Die  slavische  Liturgie  in  Polen,  angez.  von  Kidric.  621 

»Lateiner«  dahinter  witterte  und  auf  Adalbert,  den  Bischof  und  Apostel,  ver- 
fiel (IIG  tf. ;  c.  Bielowski,  Petruszewicz,  Gumplowicz,  Sobieski.  Buczys  u.  a.). 
Unter  den  Latini  und  Ölavi  des  Gallus  versteht  er  einerseits  die  slavischen, 
anderseits  alle  fremden  Gebiete,  die  sich  im  wechselseitigen  Verkehr  der  lat. 
Sprache  bedienten  (171 — 173  mit  Dr.  Abraham,  c.  Friese,  Maciejowski,  Lele- 
wel,  Bielowski,  A,  Maiecki,  Anatol  Lewicki,  Szujski,  Petruszewicz,  Sobieski 
u.  a.)  und  erklärt  mit  Dethier  und  Eaezynski  den  Brief  Mathildens  dahin,  daß 
Mieszko  zu  seiner  Kenntnis  des  Polnischen  und  iLateinischen  noch  die  des 
Griechischen  gesellt  habe  (157  ff.;  c.  Bielowski,  Maiecki.  Lewicki,  Sobieski', 
findet  also  auch  hier  keine  Beweise  für  die  slav.  Lit.  in  Polen. 

Anders  haben  sich  P.  und  S.  das  Bild  ausgemalt.  Im  Mittelpunkte  steht 
das  Benediktinerkloster  Tyniec.  P.  hält  es  für  ein  Faktum  (angeblich  nach 
Brückner),  daß  kroat.  Benediktiner  sich  in  Polen  niedergelassen  hätten,  gibt 
aber  bescheiden  zu,  daß  man  nicht  folgern  dürfe,  der  Aufenthalt  der  kroat. 
Benediktiner  (=Glagoliten)  habe  gleich  eine  feste  Organisation  des  slav.  Ritus 
daselbst  nach  sich  gezogen  (166 — 167).  Für  die  Annahme  dieser  Expansiv- 
kraft der  kroat.  Benediktiner  fehlt  natürlich  jeder  Beweis.  Des  Beweises 
harren  aber  auch  die  Ausführungen  S.s,  der  von  dem  Bestände  der  slav.  Lit. 
in  Polen  so  überzeugt  ist,  daß  er,  um  ja  Etwas  Neues  zu  sagen,  sogar  die 
Möglichkeit  zugibt,  in  den  Kijewer  Fragmenten  ein  Denkmal  des  poln.  Schrift- 
tums zu  sehen  (19).  S.  meint,  daß,  »wie  es  scheint,  im  Zusammenhange  mit 
der  ersten  Vetreibung  der  Schüler  Prokops  auch  eine  Verfolgung  der  Mönche 
in  Polen  erfolgte«  (18,  Anm.  2,  unter  Berufung  auf  die  oben  unter  a;  und  b; 
angef  St.).  daß  «fast  gleichzeitig  mit  der  endgiltigen  Vertreibung  der  Schüler 
Prokops  aus  dem  Sazavakloster  sich  die  Zerstörung  (pasrpoMx)  des  Tynieckl. 
durch  den  päpst.  Legaten  Gualo  vollzog«  und  daß  »es  schwer  sei,  an  dem  Zu- 
sammenhange dieser  gleichzeitigen  und  gleichartigen  Ereignisse  zweier  Bene- 
diktinerklöster, des  böhm.  und  i)oln.,  zu  zweifeln«  (18).  Ich  bezweifle  aber 
diesen  Zusammenhang  ebenso  leicht,  wie  die  Zerstörung  der  slav.  Lit.  in  Polen 
durch  Vojtech,  für  welche  nach  der  Ansieht  S.s  der  oben  sub  c)  angef  Te.\t 
»so  klar«  zusprechen  scheint  (IS;  19,  Anm.  2).  Die  Absetzung  des  "häret.«  Abtes 
von  Tyniec,  auf  die  S.  hinweist  (IS),  ist  jedenfalls  mit  dem  Ersclieiueu  des 
röm.  Gesandten  Gualo  1 105,  mit  der  von  ihm  eingeleiteten  vollständigen  Tren- 
nung zwischen  dem  Krakauer  Domkapitel  und  dem  Benediktinorkouvent  in 
Tyniec  und  der  Einführung  der  consuetudines  cluniaceuscs  zusammen  iGum- 
plowicz,  Zur  Gesch.  Polens  im  Mittelalter,  Innsbruck  1S9S,  S.  135 — 137,  hat 
aber  mit  der  slav.  Lit.  nichts  zu  tun,  da  man  sie  beim  Fehlen  anderer  sicherer 
Anhaltspunkte  aus  den  bloßen  Namen  der  Äbte  Aaron  und  Anchoras  nicht 
erschließen  kann  (Sz.  81  ff.;  c.  Gumplowicz^  Ich  glaube,  mit  einigen  Modifi- 
kationen können  die  von  Sz.  gegebenen  Erklärungen  dieser  5  Stollen  akzeptiert 
werden.  Besonders  in  der  ihm  nicht  bokannton  Fassung  der  VitaTheodosii  a) 
passen  die  Worte  der  Frau  Izjaslavs  vortrcfYiich  auf  die  Wirren  nadi  dem  Tode 
Mieszkos  IL,  als  seine  Gemahlin  auf  dem  deutschen,  und  sein  Sohn  Kazimir 
auf  dem  ung.  und  kais.  Hof  die  Ziiliuclit  suchen  mußten.  Die  Leg.  Vojtoclis 
wissen  nichts  von  dessen  Kämpfen  gegen  die  slav.  Lit.  in  Polen.  .•\l>er  \\  ober 
der  Passus  in  die  Chronographen  kam,  kann  erst  ein  genaues  .*<tii(liiim  der 


622  Kritischer  Anzeiger. 

Chrono{?r,aplien  zeigen.  Jedenfalls  darf  für  die  Interpolation  nicht,  wie  es 
Sz.  tut,  Samuel  diak  vf^rantwortlich  gemacht  werden,  da  er  iiuirrtxx  schon  nicht 
mehr  verstand  und  daraus  noü  machte  fBodjaTiskij,  o.  c.  S.  108).  —  Die  Für- 
sprecher der  slav.Lit.  bewegen  sich  bei  der  Erklärung  dieser  Dokumente  fort- 
während zwischen  Gegensätzen:  einmal  soll  BolesJaw  Chrobry  das  glagol. 
Tynieckloster  gegründet  haben,  das  andere  Mal  soll  er  Vojtech  zugelassen 
haben,  die  slav.  Lit.  aus  Polen  zu  verbannen;  das  eine  Mal  werden  die  aus 
dem  Westen  kommenden  Benediktiner  als  Feinde  der  slav.  I^it.  in  Polen  ver- 
schrieen, das  andere  Mal  soll  einer  von  ihnen,  Gallus,  die  Anhänger  dieses 
Ritus  aufgefordert  haben,  Boleslaws  Andenken  zu  feiern,  und  dies  einige 
Dezennien  später,  als  der  Papst  dem  böhra.  Herzoge  Vratislav  die  Bitte  um 
die  slav.  Lit.  rundweg  abgeschlagen  hatte !  Ein  wenigstens  halbwegs  zufrieden- 
stellendes Dokument  für  die  Organisation  der  slav.  Lit.  oder  ihr  Leben  in  ein- 
zelnen Klöstern  des  alten  Polens  muß  erst  gefunden  werden,  denn  auch  ihren 
letzten  Stützpfeiler:  das  Gebet  zu  Cyrill  und  Method  mit  der  Anrufung  «pa- 
troni  uostri",  gedr.  im  Missal  der  Diöz.  Przemysl  (Venedig  1629)  und  in  Officia 
Propria  Regni  Poloniae  (Antwerpen  1637);  das  Gebet  einer  Pergamenthand- 
schrift, wo  Cjrill  und  Method  »nostri  apostoli  et  patroni«  genannt  werden 
(Bielowski,  MPH.  I,  S9);  das  Gebet  im  Krakauer  pergamenthandschriftlichen 
Brevier  v.  J.  144  3  und  im  ersten  gedr.  poln.  Missal  des  Kard.  Friedr.  Jagillon- 
czyk;  ferner  die  Cyrill-Methodius-Legenden  des  Krakauer  Passionais  und 
Breviers  v.J.  14-13  hat  Sz.  umgestoßen  (ISSff.;  c.  Bielowski,  Martin  Chwaliczew- 
ski,  Sobieski,  Buczys  u.  a.'.  Er  weist  nach,  daß  die  Gebete  des  Breviers  von 
1443,  des  ersten  gedruckten  poln.  Missais,  und  der  von  Bielowski  benutzten 
Handschrift  identisch  nicht  nur  mit  einander,  sondern  auch  mit  einem  Gebete 
des  Missais  der  'Premostratenser  zu  Strahov  in  Prag  aus  dem  Anf.  des  XV. 
Jahrh.  und  des  Missais  eccl.  Pragensis  Venceslai  de  Radec  und  des  Missais 
von  Hohenstadt  sind,  die  Legende  des  Breviers  v.  1443  aber  wörtl.  mit  der 
Legende  des  Breviers  der  Olmützer  Diözese,  gedr.  149.5,  die  aus  dem  Prager 
Passional  genommen  ist,  übereinstimmt,  während  er  die  Leg.  des  poln.  Pas- 
sionals  als  aus  der  Leg.  ital.  u.  raorav.  zusammengesetzt  hält.  Die  Verehrung 
der  Slavenapostel  fand  also  aus  Mähren  u.  Böhmen  den  Weg  nach  Polen... 

Mathias  von  Miechow  aber  wußte  nicht  mehr,  daß  man  die  Benediktiner 
für  das  Kloster  des  hl,  Kreuzes  in  der  Krakauer  Vorstadt  Kleparz  im  J.  1 390 
aus  dem  Emmauskloster  in  Prag  berufen  und  verpflichtet  hatte,  die  Messe  in 
ksl.  Sprache  zu  verrichten  (Syrku,  Arch.  f.  sl.  Phil.  XXL  S.  191);  dies  bildet 
die  Brücke  zu  den  Irrungen.  Hier  am  Schlüsse  des  Werkes  hätte  Sz.  jene 
Momente  hervorheben  sollen,  die  nach  seiner  Meinung  neben  dem  Kloster  auf 
Kleparz  und  den  unkritischen  böhm.  und  poln.  Historikern  zum  Ausbau  der 
Idee  der  slav.  Lit.  in  Polen  beigetragen  haben  (Hnssitismus,  Unionspropa- 
ganda), nicht  aber  im  ersten  Kap.  bei  der  Besprechung  der  einschlägigen  Lite- 
ratur, bevor  der  Leser  von  der  Nichtexistenz  der  slav.  Lit.  im  alten  Polen 
überzeugt  ist.  Vordem  aber  hätte  er  zwar  nicht,  wie  es  P.  (166)  verlangt,  die 
Gesch.  des  kroat.  Glagolismus  behandeln,  wohl  aber  auf  die  Geschicke  des 
1380  entstandenen  slav.  Klosters  zu  Öls  und  des  schon  erwähnten  zu  Kleparz 
eingehen  sollen,  um  so  durch  einen  positiven  Punkt  den  undankbar  auf  lauter 


i 


Bartocha,  Böhmisches  an  der  Olinützer  Hochschule,  angez.  von  Hysek.   623 

Verneinungen  auslaufenden  Charakter  seines  Buches  zu  mildern.  Xoch  im 
XVI.  Jahrh.  traute  sich  ein  poln.  Kirchenfiirst  die  Möglichkeit  der  Einführung 
der  slav.  Liturgiesprache  nach  Polen  anzudeuten,  wie  es  die  interessanten 
Worte  beweisen,  welche  der  Kardinal  Hosius  geraume  Zeit  nach  dem  Ver- 
stummen des  slav.  Gottesdienstes  zu  Kleparz  auf  dem  Tridentiner  Konzil 
sprach :  « .  .  .  si  precationes  et  sacras  lectiones  in  vernaculam  transferri  lin- 
guam  oporteret,  in  eam  (Dalmatarum;  potissimum  transferendae  sint,  a  qua 
nostra  (Polona)  duxit  originem,  quae  praestat  etiam  ceteris  elegantia;  cum 
praesertim  Dalmatica  lingua  sacros  libros  Hieronymum  vertisse  constet« 
(Jelic,  Fontes  historici  liturgiae  glagolito-roraanae  .  .  .  Veglae  1 9üf),  I,  S.  24, 
Nr.  110).  Dr.  Fr.  KvIrÜ: 


Cestina  na  byvaU  universite  a  utavovske  aJcademü  v  OJomouri.   Üci- 

nek  obou  üstavü  na  obrozeni  nase  v  Olomouoi  a  na  Morave.  Napsal 

Josef  Bartocha.   V  Olonioiici  u  R.  Prombergera  19(Ki. 

Der  Titel  dieses  Buches  ist  vielversprechend.  Man  weiß  heute  schon 
genau,  welche  Rolle  die  Prager  Universität  in  der  nationalen  Entwicklung  des 
böhmischen  Volkes  und  seiner  Kultur  spielt,  von  den  Zeiten  Seibts  und  Meiß- 
ners  an  bis  zu  Masaryk.  Dieselben  sind  ohne  Mitwirkung  dieser  Hochschule 
fast  undenkbar.  Man  weiß  ebenso,  daß  diese  Entwicklung  seit  dem  Anfang 
in  Mähren  verspätet  war.  Es  entstand  da  zwar  früher  als  in  Prag  eine  ge- 
lehrte Gesellschaft,  die  Olmützer  Societas  incognitorum,  die  man  als  Vor- 
gängerin der  Krälovskä  spolecnost  nauk  bezeichnen  darf,  aber  die  Verhält- 
nisse tragen  Schuld  daran,  daß  sie  bald  zu  existieren  aufliörte  und  daß  Mähren 
noch  vor  50  Jahren  vom  selbständigen  Leben  soviel  als  nichts  wußte.  Man 
fragt  deshalb  unwillkürlich:  in  welchem  Verhältnisse  stand  die  Olmützer  Uni- 
versität zu  diesem  traurigen  Zustande  —  und  weiß  man  aus  dem  Erfolge,  daß 
sie  sehr  geringe  Wirkung  auf  das  mährische  Volk  ausübte,  so  ändert  man  diese 
Frage  in  die  folgende:  welche  Ursachen  waren  es.  die  diese  kleine  Bedeu- 
tung verschuldet  haben,  und  wie  weit  war  doch  die  Universität  an  dem  cechi- 
schen  Leben  in  Mähren  mitwirkend?  Und  man  erwartet  von  dem  zu  besprochen- 
den Buche  die  Lösung  dieses  Problems. 

Das  erste  Kapitel  macht  uns  mit  der  Geschichte  der  Olmützer  Universität 
bekannt;  das  Datum  des  Dekrets  »2-2.  Dezember  1576«  ist  falsch;  in  diesem 
Jahre  fand  die  erste  Immatrikulation  statt,  das  Dekret  ist  vom  22.  Dezember 
1 572,  vier  Jahre  später  war  ja  der  Kaiser  lAIaxiniilian  nicht  mehr  am  Leben.  Der 
wissenschaftlich  geschulte  Leser  nimmt  schon  an  dem  Anfange  dieses  Kapitels 
Anstoß,  er  findet  da  nämlich  Saciien.  die  vielleicht  in  eine  Vorrede  gehören 
(z.  B.  warum  der  Verfasser  diesen  Stofi' bearbeitet  hat:  er  hielt  volkstümliche 
Vorträge  und  wählte  dies  Thema,  weil  die  Frage  der  zweiten  böiimi.sdien  l^ni- 
versität  eben  aktuell  ist),  nicht  aber  in  eine  wissenschaftliciie  Abliandlung. 
Und  in  der  Tat  gibt  das  ganze  Buch  niclits  anderes  als  diese  Vorträge,  in  denen 
kein  einziges  AVort  geändert  ist  —  was  vielleicht  Leute  interessieren  könnte, 


624  Kritischer  Anzeiger. 

die  die  Wissenschaften  zu  popularisieren  trachten,  was  aber  die  zahlreichen 
wissenschaftlichen  Mängel  verschuldet  hat. 

Der  Autor  wollte  seinen  Hörern  alles  klar  vor  die  Augen  stellen  und  auf 
ihre  vaterländische  Gesinnung  eine  Wirkung  ausüben,  er  benützt  deswegen 
oft  die  «vergleichende"  Methode,  z.  B.  S.  S:  »im  J.  1846  gab  es  in  Olmütz  so- 
viel Professoren  und  Hörer,  wie  es  jetzt  in  Cernowitz  der  Fall  ist -.  Und  ähn- 
liche Ausschweifungen  kommen  in  dem  Buche  öfters  vor. 

Der  zweite  Hauptteil,  nacli  den  Fakultäten  zergliedert  in  vier  Kapitel, 
behandelt  die  cechische  Sprache  an  der  Universität. 

Zuerst:  medizinisch -chirurgisches  Studium.  Aus  der  Anmerkung  er- 
fahren wir  den  Grund  dieser  Benennung,  nämlich  daß  damals  keine  vollständige 
Fakultät  existierte.  Und  das  sagt  der  Verfasser,  nachdem  er  schon  im  ersten 
Kapitel  die  Geschichte  der  Universität  behandelt  hatte.  Das  Cechische  war 
nur  für  die  Geburtshilfe  von  Bedeutung;  man  benützte  das  Buch  von  Prof. 
Jungmann,  das  später  durch  das  von  Prof.  Mosner,  der  Jungmanns  Schüler 
und  seit  1 829  OlmUtzer  Professor  war,  verfaßte  Buch  ersetzt  wurde.  Der  Ver- 
fasser meint,  das  Beispiel  dieses  patriotisch  gesinnten  Mannes  wäre  auf  seine 
Hörer  nicht  ohne  Wirkung  geblieben,  zieht  also  auch  sein  Leben  in  Betracht. 
An  dieser  Stelle  wäre  es  nötig,  die  Übersetzungen  verschiedener  Bücher  für 
die  Hebammen  in  den  70er  Jahren  des  XVHI.  Jahrh.  zu  erwähnen,  die  auf  Be- 
fehl der  Kaiserin  veranstaltet  worden  waren;  dieser  Zusammenhang  dürfte  so 
manches  erklären. 

Von  einer  weit  größeren  Bedeutung  ist  für  das  Cechische  die  theologische 
Fakultät.  Es  werden  da  Dr.  Slavicek,  Dobrovsky,  Stach,  Poläcek  genannt; 
von  Slavicek  weiß  der  Autor  nicht  viel  zu  sagen,  von  Dobrovsky  meint  er  — 
gewiß  nicht  mit  Recht  — ,  daß  er  auch  patriotisch  auf  die  Theologen  gewirkt 
habe,  während  manche  schon  aus  Brandl  bekannte  Einzelnheiten  ganz  außer 
Acht  gelassen  worden  sind.  Für  Stach  hat  er  nicht  genug  scharfe  Worte.  Bis 
auf  seine  Zeit  benützte  man  für  das  Pastorale  das  Buch  von  Jilji  Chlädek, 
dessen  Inhalt,  von  vaterländischen  Zitaten  durchflochten,  hier  angegeben  wird ; 
er  übersetzte  aber  ein  neues  Lehrbuch,  wo  das  Deutsche  gepriesen  wird.  Das 
zu  tun  war  ihm  befohlen;  Stach,  ein  Josefinist,  verstand  nebstdem  die  wahre 
Poesie  und  wußte  die  großen  deutschen  Dichter  zu  schätzen,  deswegen  liebte 
er  auch  das  Deutsche,  das  er  oft  voll  Begeisterung  rühmt.  Ein  anderesmal  be- 
singt er  aber  auch  seine  Muttersprache  so  warm,  wie  keiner  von  seinen  Zeitge- 
nossen —  es  wäre  also  schon  einmal  an  der  Zeit,  die  sich  in  der  Literaturge- 
schichte eingebürgerten  Phrasen  von  seiner  deutschen  Gesinnung  wegzu- 
räumen. Das  Leben  der  Olmützer  Theologen  sollte  in  Zusammenhang  mit  dem 
Brünner  Alumnate  gebracht  werden.  Keine  Berührungen  mögen  zwischen 
ihnen  stattgefunden  haben,  es  war  aber  dasselbe  Streben  und  dieselbe  Um- 
gebung, die  beide  verband.  Für  die  Brünner  Theologen  sind  z.  B.  Besuche 
großer  Männer  von  Wichtigkeit  —  war  es  bei  den  Olmützern  auch  der  Fall? 
Das  Schreiben  von  Gallas  erlaubt  manches  zu  vermuten ;  Licht  in  die  Sache 
zu  bringen,  hätte  sich  Bartocha  zur  Aufgabe  stellen  sollen.  Und  in  welcher 
Beziehung  stehen  die  von  damaligen  Priestern  verfaßten  Lobgedichte  an  Cho- 
tek  zu  dessen  Gunst  und  Vorliebe  für  dieses  Streben,  die  ihm  Bartocha  zu- 


'; 


Baitocha,  Böhmisches  an  der  Olmiitzer  Hochscliule;  angez.  von  Hysek.   625 

mutet?  Sind  das  Ergüsse  der  Freude  dieser  Männer  über  diese  Gewogenheit 
des  Erzbischofs,  oder  sind  es  nur  obligate  Reimereien,  wie  man  iimen  in  die- 
ser Zeit  so  oft  begegnet?  Die  Sache  wäre  sein-  interessant.  Und  warum  wird 
nicht  schon  bei  der  Zeitschrift  »Cyrili  a  Jlethod«  Tomas  Becak  erwähnt  — 
der  Verfasser  konnte  zwar  dieselbe  nicht  bekommen;  das  gelang  ihm  erst  spä- 
ter und  er  sucht,  die  Sache  durch  einen  Anhang  wieder  gutzumachen  —  wenn 
er  aber  damalige  Angaben  verschiedener  Zeitschrifsen  benützt  hätte,  würde 
schon  dieser  Artikel  vollständiger  sein  können. 

Was  die  juristische  Fakultät  betrifft,  wurde  das  Cechische  in  die  Vor- 
lesungen sehr  spät  eingeführt,  faßte  aber  bald  festen  Fuß.  Da  wird  das 
Leben  des  bekannten  Monse  besprochen;  aus  seiner  wissenschaftlichen  Be- 
deutung aber  den  Schluß  zu  ziehen,  daß  er  auch  direkt  auf  seine  Hörer  eine 
Wirkung  im  vaterländischen  Sinne  ausgeübt  habe,  halte  ich  nicht  für  erlaubt. 
Manche  Einzelheiten,  die  in  seiner  Biographie  angeführt  werden,  stellen  das 
Thema  des  Buches  in  kein  klareres  Licht.  Es  sollte  zuerst  die  Entwicklung 
verschiedener  Einflüsse  geschildert  werden,  die  von  Belegen  begleitet  werden 
müßte;  das,  was  B.  sagt,  gleicht  den  Ausführungen,  die  mau  in  allen  Jahres- 
berichten lesen  kann,  wie  sie  verschiedene  Vereine  erscheinen  lassen.  Der 
Zusammenhang  des  inneren  Lebens  in  Mähren  mit  den  politischen  Verhält- 
nissen wird  ganz  vermieden,  für  B.  existiert  nur  Olmütz,  und  zwar  wie  es  in 
den  Urkunden,  in  den  Matrikeln,  nicht  aber  im  damaligen  wirklichen  Leben 
war.  Bei  der  Erwähnung  des  Dekretes  A'on  1818,  das  die  Kenntnis  der  cechi- 
schen  Sprache  auch  von  den  Juristen  verlangt,  wird  festgestellt,  daß  der 
Graf  ]\Iitrovsky,  der  als  der  Urheber  dieses  Dekretes  gilt,  in  dieser  Eichtung 
von  Bocek  beeinflußt  war.  obzwarBocek  damals  erst  in  seinem  löten  Lebens- 
jahre stand.  Bartocha  liebt  zalüreiche  Anmerkungen  und  Zitate  zu  seinen 
Ausführungen  beizufügen;  man  findet  in  denselben  manchmal  Sachen,  die  weit 
wichtiger  sind  als  die  Behauptung,  die  sie  unterstützen  sollen.  Auch  die  Be- 
geisterung der  Studenten,  die  sich  als  politisch  tätig  durch  ihre  Legionen 
ausweisen,  dürfte  nicht  so  groß  gewesen  sein,  wenn  der  Verfasser  I'rof  Sytko 
zitiert  (es  trugen  nur  wenige  von  ilmen  cechische  Abzeichen.  Und  S.  41,  wo 
von  der  Wahl  Tovacovskys  zum  Hauptmann  der  Studentenlegion  erzählt 
wird,  sagt  der  Verfasser  selbst,  daß  die  Studenten  keinen  Anstoß  an  seinen 
vaterländischen  Kompositionen  genommen  haben.  Wir  wissen  nebst- 
dem  aus  einer  anderen  Quelle,  daß  die  Prcrauer  Studentenlegion  großdeutsche 
Farben  trug  —  ein  Zeichen,  daß  die  ccchisch  gesinnte  Jugend  in  der  Mino- 
rität war. 

Warum  in  die  l'artie  von  der  juristischen  Fakultät  die  Geschichte  der 
»Slovauska  Lipa«  eingereiht  ist,  darüber  bleiben  Mir  im  Unklaren.  Der  Ver- 
fasser sagt  ja  selbst  (S.  28),  daß  dabei  auch  andere  Fakultäten  vertreten  waren. 
Es  ist  auch  nicht  die  Möglichkeit  ausgeschlossen,  daß  der  Gedanke  der  Grün- 
dung dieses  Vereines  z.  B.  von  irgend  einem  l'hilosophon  herrührt.  Ihren 
Wert  werden  vielleicht  Abdrücke  verschiedener  Aufrufe  behalten,  wir  wünsch- 
ten nur  l)ei  jedem  von  ilmen  die  Angabe  der  (^hu-lle  zu  sehen.  S.  ;<■">  wird  sich 
der  Autor  bewußt,  daß  solche  Schilderung,  wie  er  sie  dargelioten.  gar  nicht 
seinem  Thema  entspricht,  und  sagt  doshalb:  »die  cechischen  Juriston  weckten 

Arcbiv  für  slavisflic  Philolojjio.    XXVIII.  40 


G26  Kritischer  Anzeiger. 

das  nationale  Bewußtsein  nicht  nur  inOlmütz.  sontlern  auch  in  {^anz  Miiliron". 
Er  liefert  keine  Bolej^c  dazu,  der  Satz  bleibt  doslialb  nur  bloße  Phrase. 

Auf  dieselbe  Weise  wird  die  i)liilosoi)liisclie  Fakultät  beliandelt.  Die 
ganze  Geschiclite  der  Oriindunj;  des  Katheders  für  die  ccfhische  Hpraclie  ist 
sehr  interessant  [es  sollte  damals  Kollär  nach  Oliniitz  kommen  .  Als  der  erste 
Grund  dieser  Einrichtung  wird  die  Übersiedelung  der  ständischen  Akademie 
nach  Brunn  bezeichnet.  Jetzt  wird  das  ganze  Schicksal  dieses  Lehrstuhles  bis 
zum  Abgange  Helcelets  und  Gesuche  Matzenauers  geschildert,  und  erst  dann 
kehrt  der  Verfasser  zu  dem  zweiten  Grunde  dieser  Einrichtung  zurück,  daß 
nändich  dasCechische  in  die  Mittelschulen  eingeführt  werden  sollte.  Das  wird 
wieder  mit  viel  Undeutlichkeit  ])esprochen,  denn  in  den  öoer  Jahren  gal)  es  in 
Mähren  keine  cechischen  Gymnasien  (oder  sind  vielleicht  die  deutschen  mit 
cechischen  Schülern  gemeint?).  Jetzt  erst  erfahren  wir  weiteres  über  die  Ge- 
schichte dieses  Katheders,  um  gleich  wieder  von  den  Philosophen  in  »Slo- 
vauskä  Lipa«  zu  hören  und  zuletzt  von  den  Zeitschriften  und  Zeitungen,  wel- 
che die  Professoren  der  phil.  Fakultät  herausgegeben  haben.  Und  ohne  Jeden 
Zusammenhang,  vielleicht  nur,  weil  man  auf  dem  Lande  mit  einer  Bibliothek 
immer  die  Vorstellung  eines  Philosophen  verbindet,  wird  hier  die  Gründung 
einer  Leihbibliothek  bei  einem  Buchhändler  besprochen,  wobei  der  Verfasser 
ganz  überflüssige  Eeflexionen  macht.  Am  Ende  des  Teiles  über  die  phil.  Fakultät 
kommt  wieder  eine  Überraschung:  erst  jetzt  erfahren  wir,  wo  die  Olmützer 
Universität  stand,  wie  sie  aussah  u.s.w.  Die  Erwähnung  von  der  Universitäts- 
bibliothek, wo  die  deutsche  Sprache  zwar  immer  die  herrschende  war,  wo  aber 
vaterländische  Männer  beschäftigt  waren  und  vaterländische  Jugend  studierte, 
ist  an  richtiger  Stelle  angebracht;  man  wünschte  nur.  daß  die  Biographien 
Monses,  Trnkas  u.s.w.  als  längst  bekannte  nicht  wiederholt  wären  oder  daß 
sie  neue  Züge  gebracht  hätten,  was  z.  B.  bei  Trnka  endlich  einmal  sehr 
wünschenswert  wäre. 

In  dieser  ganzen  Darstellung,  in  welche  ganz  unnötige  Einzelnheiten  ein- 
geflochten sind,  vermissen  wir  die  Erklärung  dessen,  was  das  wichtigste  wäre : 
in  welcher  Beziehung  stand  die  Universität  zu  der  oben  erwähnten  Societas 
incognitorum  ? 

Weit  besser  bearbeitet  ist  der  zweite  Hauptteil,  die  Geschiebe  der  cechi- 
schen Sprache  an  der  ständischen  Akademie.  Der  Lehrstuhl  der  cechischen 
Sprache  wurde  im  J.  1815  bewilligt,  errichtet  aber  erst  im  J.  1831.  Der  erste 
Professor  war  Ant.  Bocek,  dessen  Leben  und  Wirken  der  nächste  Absatz  be- 
handelt. Der  ganze  Prozeß  bei  dem  Konkurs  ist  sehr  interessant,  wird  aber 
gar  nicht  erwähnt,  obzwar  damit  Namen  wie  Vinaricky,  Trnka,  Sembera. 
Franta  verknüpft  sind.  Bocek  war  damals  der  cechischen  Sprache  nicht  voll- 
ständig mächtig  —  diese  Tatsache,  die  gewiß  von  großer  Wichtigkeit  ist, 
wird  nur  in  der  Anmerkung  als  Nebensache  angeführt.  Eingehend  wird  auch 
Sembera  besprochen  —  es  wird  nämlich  das  wiederholt,  was  aus  den  Alma- 
naohen  »Dunaj«  und  »Almanach  na  oslavn  70  narozenin  A.  V.  S-y«  längst  be- 
kannt ist  —  und  doch  wäre  es  eben  bei  diesem  Manne  wünschenswert,  alles 
zusammenzubringen,  was  sein  Leben  betrifft  und  was  das  Leben  in  Mähren  zu 
seiner  Zeit  in  klares  Licht  stellen  würde.    Z.  B.  die  Geschichte  betreffs  seiner 


Bartoclia,  Böhmisches  an  der  Olinützer  Universität,  angez.  von  Hysek.    627 

beabsichtigten  Ausgabe  des  »Labyrint  sveta«  von  Komensky,  eines  Buches, 
^\  elches  der  damaligen  Zensur  zu  sehr  religiös  indifferent  erschien,  und  ähnliches 
—  man  schlief  damals  in  Mähron  nicht,  aber  man  wurde  dazu  gezwungen.  Es 
muß  auch  die  Tätigkeit  der  Priesterschaft  in  Mälirou  kritisch  untersucht  wer- 
den, was  bis  heute  nicht  geschehen  ist  —  bei  Sembera  hätte  man  genug  Ge- 
legenheit dazu.  Von  dem  mährischen  Separatismus  ist  weder  bei  Trnka  noch 
Ijei  Sembera  die  Eede,  obgleich  diese  Richtung  bei  beiden  von  größter  Wichtig- 
keit ist.  Und  wie  groß  sollen  wir  uns  Seraberas  Verdienst  um  die  cechischen 
Spiele  in  Brunn  vorstellen,  wenn  da  nicht  angegeben  ist.  ob  man  in  Brunn 
.>chon  früher  cechisch  gespielt  hat  oder  niclit,  ob  er  der  einzige  Urheber  dieser 
Spiele  ist  oder  nicht  (er  war  es  auch  nicht .  In  den  Jahren  1818 — lS2i)  wirkte 
liier  der  bekannte  Botaniker  Presl;  er  wird  gar  nicht  erwähnt,  obzwar  es  eich 
bei  seiner  Energie  und  Begeisterung  nicht  denken  läßt,  daß  sein  Wirken  bei 
seinen  Schülern  keine  Spuren  hinterlassen  habe. 

Im  ganzen  sollte  der  Verfasser  mehr  Rücksicht  nehmen  auf  Leute,  die 
allein  sein  Buch  lesen  werden.  Das  Publikum,  für  das  er  seine  Vorträge  ge- 
arbeitet hatte,  greift  gewiß  nicht  darnach.  Es  hätte  auch  wenig  Nutzen  da- 
von: die  Übersichtlichkeit  und  Klarheit  der  Darstellung  —  das  sind  Eigenschaf- 
ten, die  diesem  Buche  fehlen.  Der  Verfasser,  der  so  manche  neue  Sache  ans 
Licht  bringt  (das  beste  sind  die  'Inhaltsangaben  von  verschiedenen,  heute 
schon  verschollenen  Zeitschriften  u.s.w.;,  häuft  verschiedene,  ganz  unwichtige 
Einzelheiten,  der  Geist  der  Zeit  und  des  Milieus  entgeht  ihm  aber  ganz.  Er 
gab  sich  nicht  einmal  Mühe,  solche  Sachen,  die  direkt  auf  das  Publikum  ein- 
wirken, ordentlich  vorzubringen.  (Nicht  wiederholen,  was  schon  gesagt  wurde, 
wo  es  nicht  nötig  ist,  sondern  neue  Gesichtspunkte,  neue  Betrachtungen  auf- 
stellen —  hätte  P>artocha  diese  Regel  berücksichtigt,  dann  wäre  z.  B.  die 
ganze  Semberabiographie  beseitigt  worden,  oder  er  hätte  sie  ganz  anders,  mit 
Benutzung  des  ganzen  gedruckten  Materials  bearbeitet. 

Prof.  Bartocha  hat  sich  vor  Jahren  mit  seinen  Dialektstudien  unbestreit- 
bare Verdienste  erworben;  nicht  so  glücklich  ist  er  in  der  Literaturgeschichte. 
Das  beste  leistet  er  noch,  wenn  er  bibliograiihisch  arbeitet  —  in  der  Darstel- 
lung verschiedener  Zeiten  oder  Personen,  wo  man  in  dieselben  mit  gestaltender 
Kraft  eindringen  und  alle  Bestandteile  ihres  AVesens  mit  Rücksicht  auf  die 
Umgebung  herausbringen  soll,  verlassen  ihn  seine  Kräfte,  die  auf  dem  früher 
bebauten  Felde  mehr  Erfolg  haben  dürften.  Miloslac  Hysek. 


4(1* 


Kleine    Mitteilungen. 


Ein  Brief  Palackij's. 
Mitgeteilt  von  Aleksa  \v\i. 
Diesen  Brief  bel^am  ich  durch  die  Güte  des  Herrn  Dr.  Nikola  Gjurgjevic, 
Advolvaten  iu  Brod  an  der  Save.  Vor  einigen  Jahren  kaufte  Herr  Gjurgjevic 
Palacky's  Geschichte  von  Bölimen  (Vierter  Band,  Das  Zeitalter  Georgs  von 
Podiebrad)  antiquarisch  in  einer  Budapester  Buchhandlung  und  darin  fand  er 
ein  schwarzgestrichenes  Kouvert  mit  schwarzem  Siegel.  Der  Brief  war  ge- 
richtet: Sr.  Hochwohlgeboren  Herrn  Dr.  Ant.  von  Virozsil,  k.  k.  Rath,  jubil. 
Universitäts-Rector  etc.  in  Pesth-Ofcn,  und  hat  folgenden  Wortlaut: 

Prag  den  24. Oct.  1860.  Mein  lieber  alter  Freund! 

Ich  habe  das  Vergnügen,  Hmen  den  soeben  erst  fertig  gewordenen  Band 
meiner  Geschichte  von  Böhmen,  der  die  Regierungszeit  Georgs  von  Podiebrad 
umfasst,  sammt  den  dazu  gehcirigen  «Urkundlichen  Beiträgen«  etc.  zuzusen- 
den. Ich  habe  bei  dessen  Abfassung  nicht  selten  an  Sie  gedacht  und  mich 
gefragt,  was  Sie  zu  meiner  Darstellung  insbesondere  der  ungarischen  Partieen 
in  diesem  Bande  sagen  werden?  Das  Urtheil  eines  Mannes  wie  Sie  ist  dies- 
falls für  mich  von  besonderer  Bedeutung.  Darum  wünsche  ich,  dass  Sie  das 
Werk  lesen  und  mir  ebenso  unbefangen  als  wahr  über  den  Eindruck  berichten, 
den  es  auf  Sie  machen  wird.  Ich  glaube  insbesondere  z.  B.  Matthias  Corvinus 
stets  sine  ira  et  studio  geschildert  zu  haben.  Ging  darüber  das  bisher  in  Un- 
garn herkömmliche  aber  etwas  verschwommene  Ideal  verloren,  so  erseheint 
doch  die  Figur  mit  um  so  schärfer  markirten  individuellen  und  wahren  Zügen, 
die  doch  der  historischen  Grösse  wahrlich  nicht  ermangeln.  Doch  ich  darf  ja 
Ihrem  eigenen  Urtheil  nicht  vorgreifen,  sondern  will  Sie  nur  bitten,  mir  das- 
selbe nicht  lange  vorzuenthalten.  Dieser  Band  meiner  Geschichte  hätte  schon 
im  Sept.  1859  in  Ihre  Hände  gelangen  können,  wenn  gewisse  sehr  einfiuss- 
reiche  Personen  sich  nicht  die  Mühe  gegeben  hätten,  dessen  Publication  wo 
nicht  ganz  zu  hintertreiben,  doch  wenigstens  möglichst  zu  verzögern.  Ich 
habe  den  letzten  Winter  mit  meiner  Frau  in  Nizza  zugebracht  und  bin  von 
dort  erst  gegen  Ende  August,  als  Witwer,  nach  Prag  zurückgekehrt.  Die  Reise 
über  Marseille,  Genf,  Basel  und  Heidelberg  etc.  ging  durch  ein  Meer  von  Lei- 
den, aus  welchem  meine  arme  Frau  erst  an  der  Gräuze  des  Vaterlandes  au- 
gelangt, in  Bodenbach  bei  Teschen  am  IS.  August  erlöst  wurde.  Doch  hatte 
Sie  den  Trost,  wenigstens  in  den  Armen  ihrer  Kinder  zu  sterben  und  auf 
ihrem  Gute  begraben  zu  werden.  Seitdem  führte  ich  meine  Tochter,  deren 
Gesundheit  auch  schon  untergraben  schien,  aufs  Land  zu  den  Verwandten 
ihreß  Mannes  und  besuchte  dann  noch  einige  Archive  in  Mähren  und  Böhmen, 
um  historisches  Material  zu  ferneren  Studien  für  den  Winter  einzusammeln. 
I';h  ging,  nach  so  langer  Pa  ise.  mit  einer  Art  Ileisshunger  wiede:  an  die  ge- 


Kleine  Mitteilungen.  629 

wohnte  Arbeit.  Leider  gestatteten  meine  Augen  eine  solche  Anstrengung 
nicht,  und  ich  bin  in  Folge  dessen  zum  ersten  mal  förmlich  dem  Augenarzt 
verfallen,  der  vor  allem  auf  Schonung  der  Sehkraft  dringt.  Deshalb,  und  weil 
ich  noch  viele  Correspondenzschulden  abzutragen  habe,  hoffe  ich,  dass  Sie  es 
mir  nicht  übel  deuten  und  es  mich  auch  nicht  entgelten  lassen  werden,  wenn 
Sie  diesmal  einen  viel  kürzeren  Brief  erhalten,  als  billig  wäre.  Ich  habe  nur 
(iunkle  Vorstellung  von  Veränderungen,  welche  seit  anderthalb  Jahren  in 
Ihrer  Stellung  eingetreten  sind,  da  ich  wenig  Zeitungen  zu  lesen  bekam  und 
ineine  Freunde  mich  davon  nicht  recht  zu  unterrichten  wissen.  Ich  höre,  Sie 
seien  als  Eector  jubilirt,  aber  auch  geadelt  worden  u.s.w.  Ihr  hoffentlich 
baldiges  Schreiben  wird  mich  darüber  des  näheren  belehren.  Von  hier  kann 
icli  Ihnen  nur  so  viel  melden,  dass  die  Decrete  vom  20.  Oct.  bei  den  Böhmen 
keine  freudige  Bewegung  hervorgerufen  haben;  selbst  der  gemeine  Mann  ist 
der  Ansicht,  die  Räthe  Seiner  Majestät  hätten  den  Werth  und  die  Bedeutung 
•  1er  Krone  Böhmen  denn  doch  gar  zu  sehr  unterschätzt,  wenn  Sie  bei  einer  so 
weittragenden  Aenderung  keinen  Anlass  fanden,  derselben  auch  nur  zu  er- 
wähnen. 

Gott  erhalte  Sie  und  die  Ihrigen,  mein  lieber  Freund!  und  gebe  mir  bald 
die  Freude,  von  Ihnen  etwas  näheres  zu  erfahren,  der  ich  stets  mit  alter  Au- 
iiänglichkeit  verbleibe  Ihr  aufrichtiger  Freund 

Franz  Palacky. 


'Serbische  Volkslieder  über  den  Abgang  des  heil.  Suva  zu  den  Mönchev. 

Während  der  heilige  Sava  in  der  serbischen  prosaischen  Volksliteratur 
f^ehr  oft  vorkommt,  entweder  um  die  Leute  zu  belehren,  oder  um  den  Teufel 
zu  bekämpfen  (BocaiicKa  Biua  hat  im  Jahre  1898  viele  solche  Sachen  der  Volks- 
tradition mitgeteilt  unter  dem  Titel:  Cbctii  CaBo  y  iiapoAiiOM  npojaiby) ,  so  be- 
gegnet man  ihm  in  den  serbischen  Volksliedern  selten.  Außer  den  Liedern, 
welcl;e  seinen  Abgang  zu  den  Mönchen  besingen,  von  denen  wir  gleich  spre- 
chen werden,  gibt  es  nur  noch  zwei  Variauten  eines  Liedes,  in  welchem  er 
iiuer  Versammlung  der  christlichen  Herren  [rociioja  spiiinliaiicKa;  bei  Graca- 
liica  die  Auskunft  gibt,  zu  welchen  Zwecken  sein  Vater  Nemanja  das  große 
Geld  verwendet  habe.  Das  ist  das  bekannte  Lied  mit  der  Frage:  Kyj  co  I)oa' 
u;i[)  IIcMaibu  o.aaro?  (GpncKo  uapojuo  iijocMo,  II,  Staatsausgabe  der  Vuk'scheu 
Sammlung,  Biiorpa;i  1895,  Nr.  22,  S.  95-9(1;  Nr.  23,  S.  96—98). 

Herr  Stojan  Novakovic  in  seinem  Aufsatz:  »Ein  serl).  Volkslied  über 
ilcu  Abgang  des  heil.  Sabbas  zu  den  ;\Iönchen"  Archiv  für  slav.  Pliilologie,  IV. 
serbisch  erweitert  in  Oxayuinia  1880  unter  dem  Titel:  Crapa  iiapojua  iiocm.i 
>)  o,i;.iacKy  cd.  Cauo  y  Ka.iyl^cpc)  luit  aus  einer  Stelle  in  der  Biograplii-' 
Sava's  von  Domeutijan  nachgewiesen,  daß  schon  zu  jener  Zeit  die  Lieder  iiltcr 
M'iueu  Abgang  zu  den  Mönchen  verfaßt  wurden.  Dann  zitiert  er  eine  Bemer- 
kung Vuk's  aus  der  Vorrede  zu  der  zweiten  Auflage  seiner  Sammlung  aus 
dem  Jahre  182-4,  avo  es  heißt,  daß  Vuk  ein  Lied  von  der  Heirat  Sava's  gehört 
li;il)e  wie  ihn  der  Vater  mit  Gewalt  verheiraten  w(dlte  und  iiim  schon  »las 
Mädclicn  gebracht,  uiui  wie  dtn-  Iicil.  Sava  davon  luchts  liören  wollte  und  Av\\ 


630  Kleine  Mitteihiugcn. 

zu  den  München  in  ein  Kloster  fiiiclitetej,  aber  es  niclit  drucken  wollte,  bis  er 
nicht  einen  geschickten  Mann  fände,  der  es  ihm  schön  vorsagen  könnte.  Und 
zum  Schluß  bringt  er  ein  Lied  aus  der  Sammlung  Simo  Milutinovic's  iCubro 
Cojkovic  (rHüuiiiiji  ucpiioropcica  u  xopuerüDauKa;  ich  zitiere  nach  der  Leipziger 
Ausgabe  aus  dem  Jahre  1837)  unter  dem  Titel:  ^jiaxua  cBiipajia,  und  das  ist 
nach  Novakovic's  Meinung  jenes  Volkslied,  das  schon  zu  Sava's  Zeit  entstand, 
nur  durch  viele  Umstände  umgearbeitet  und  verstümmelt. 

In  dem  Liede  wird  erzählt:  Ein  Pascha  Dzin  Alija  jagte  in  der  Xälie  des 
Hofes  des  Königs  Vladislav  und  ganz  müde  kam  er  zu  ihm,  um  sich  zu  erholen. 
Der  König  empfing  ihn  schön  mit  seinen  zwei  Schwiegertöchtern.  Dzin  Alija 
fragte  den  König,  ob  er  noch  einen  Sohn  habe  und  dieser  antwortete:  Ja,  den  , 
Hirten  Michael  im  Walde.  Wie  Pascha  dabei  hörte,  daß  der  jüngste  noch  un-  l| 
verheiratet  ist,  bot  er  dem  Könige  seine  Tochter  für  Michailo  an.  Der  König 
entschuldigte  sich,  daß  das  die  Eeligion  nicht  zulasse;  er  soll  die  Türkin 
einem  Türken  geben.  Zornig  ging  der  Pascha  nach  Hause  und  schickte  so- 
fort die  Diener,  um  den  Michailo  gefangen  zu  nehmen  und  ihn  lebendig  zu 
ihm  zu  bringen.  Die  Diener  gingen  sofort  in  den  Wald  und  konnten  ihn  nur 
durch  Betrug  gefangen  nehmen.  Zuerst  haben  sie  Steine  geworfen,  aber  er 
wollte  nicht  die  Waffen  ablegen,  —  erst  beim  Rennen  tat  er  das  und  in  dem 
Moment  ergriffen  ihn  die  Diener  und  brachten  ihn  zum  Pascha  mit  gebunde- 
neu Händen.  In  der  Nähe  des  Hofes  bat  er  die  Diener,  sie  sollen  ilim  die 
Fesseln  etwas  nachlassen,  damit  er  ein  wenig,  zum  letzten  Male,  auf  seiner 
Flöte  spielen  könnte.  Diese  taten  es  so  und  er  begann  zuerst  seine  Schwä- 
gerinnen, dann  seine  Mutter  anzurufen  und  seinen  Vater  zu  verfluchen,  weil 
er  mit  den  Türken  getrunken.  Er  wollte  noch  weiter  spielen,  aber  die  Diener 
ließen  es  nicht  mehr  zu.  (Also  eine,  wenn  auch  etwas  unklare,  Reminiszenz 
aus  Salomons  Sage).  Als  sie  zum  Pascha  kamen,  schlug  ihm  dieser  vor,  die 
türkische  Religion  anzunehmen,  dann  werde  er  ihm  ein  hübsches  Mädchen 
zur  Frau  geben.  Michailo  schlug  das  Anerbieten  ab,  der  Pascha  aber  befahl  im 
Felde  ein  Grab  zu  machen,  Michailo  dort  bis  zur  Brust  hineinzustecken  und 
ihn  als  Zielscheibe  zu  fassen.  Die  Diener  machten  so  und  bewarfen  ihn  mit 
Pfeilen.  Da  riß  er  sich  heraus,  lief  auf  den  Pascha  los,  schlug  ihn  tot  und  begab 
sich,  nicht  wieder  zu  seinen  Schafen,  sondern  nach  Chilandar,  wo  er  Mönch 
wurde.   Das  war  der  heilige  Sava. 

Daß  Novakovic  eben  dieses,  recht  komplizierte  und  weit  ausholende, 
von  der  eigentlichen  Sache  weit  entfernte  Lied  als  eine  Tradition  eines  äl- 
teren, den  Abgang  selbst  enthaltenden  Liedes  betrachtete,  was  ich  nicht  für 
notwendig  halte,  möchte  man  vielleicht  dadurch  erklären,  daß  ihm  eine  schö- 
nere Version,  die  wir  gleich  mitteilen  werden,  unbekannt  blieb.  Aber  desto 
unerklärlicher  und  unbegreiflicher  kommt  es  uns  vor,  daß  er  eine  andere  Ver- 
sion, aus  der  Sammlung,  zu  welcher  eben  er  die  Vorrede  geschrieben  Bogoljub 
Petranovic's:  CpncKe  uapo^ne  njccMu  113  Eocnc  u  XepueroBuiie,  Belgrad  ISGT) 
vergessen  und  ganz  unerwähnt  gelassen  hat.  Und  diese  Version,  wie  man  so- 
fort sehen  wird,  enthält  viel  deutlichere  und  direktere  Angaben,  und  das  , 
scheint  eben  jenes  Lied  zu  sein,  nach  welchem  sich  Vuk  umsonst  umgesehen.  I 

Das  Lied  steht  bei  Petranovic  unter  dem  Titel:  »Wie  der  heilige  Sava 


1 

I 


Kleine  Mitteilungen.  631 

Müucli  wurde«  (Nr.  10,  S.  87—93).  Kaiser  Simeon  hatte,  gegen  den  Willen 
seines  Sohnes  Sava,  für  ihn  ein  Mädchen  auserkoren,  verlobt,  ins  Haus  ge- 
bracht und  sogar  die  Hochzeitsfeier  begonnen.  Den  dritten  Tag  bei  dein 
Feste  sagte  mau,  es  sei  schon  die  Zeit  zur  Trauung.  Der  Kaiser  scliickte  die 
Diener,  um  Sava  zu  holen,  aber  er  wies  sie  ab  uud  antwortete,  er  wolle  nicht 
heiraten  und  werde  nach  Chilendar  ('PiiJiHiiiiap)  gehen.  Nach  den  Dieneni  ka- 
men Priester,  Mönche,  Bischijfe,  ja  sogar  drei  Patriarchen,  um  ihn  zu  über- 
reden, er  soll  heiraten,  aber  alles  umsonst.  Als  das. der  Kaiser  hörte,  da  nahm 
erden  Psalter  und  das  Evangelienbuch  und  verfluclite  seinen  Sohn.  Unzu- 
frieden damit,  zornig  über  jedes  Maß,  wollte  er  ihn  töten,  aber  da  kam  ihm 
die  junge  Braut  entgegen,  beruhigte  den  Schwiegervater  und  begab  sich  selbst, 
um  Sava  zu  holen.  Als  sie  in  das  Zimmer  kam,  da  sah  sie,  wie  das  Zimmer 
leuchtete,  als  ob  über  demselben  die  Sonne  strahlte,  und  wie  Sava  das  Evan- 
gelienbuch las.  Sie  rief  ilm  dreimal,  er  solle  zur  Trauung  kommen,  aber  er 
schlug  es  ab.  Endlich  sagte  sie  ihm,  er  möge  nur  zur  Trauung  kommen,  in  der 
ersten  Nacht  Averdeu  sie  zu  Gott  beten  und  sich  verbrüdern;  er  könne  dann 
ins  Kloster  gehen,  uud  sie  werde  da  bleiben,  um  den  Kaiser  zu  pflegen  ihr 
Leben  laug.  Er  willigte  ein  und  die  Zeremonie  war  vorüber.  In  der  Nacht 
haben  sie  sich  umarmt  uud  geküßt  wie  Geschwister;  er  bat  seine  Braut,  sie 
soll  den  Vater  neun  Jahre  pflegen  und  das  zehnte  Jahr  soll  sie,  wenn  sie  zu 
ihrem  Stamme  ziehen  wird,  beim  Chilendar  vorübergehen  und  zu  ihm  einkeh- 
ren. Darauf  ging  er  fort.  Sie  machte  alles  so,  wie  sie  ihm  versprochen.  Im 
zehnten  Jahre  ging  der  Kaiser  mit  ihr  nach  Cliilendar.  Als  die  jungen  Leute 
in  der  Nacht  wieder  zusammenkamen,  umarmten  sie  sich  uud  starben  beide. 

In  diesem  Petranovic'schen  Liede,  welches  einen  so  ausgeprägten  legen- 
darischen und  echt  frommen  Charakter  hat,  könnte  man  eher  uud  mit  viel 
mehr  Recht  das  Ursprüngliche  suchen,  wenn  das  überhaupt  einen  Sinn  hätte. 
Denu,  das  müssen  wir  betonen,  mau  müßte  sich  dabei  in  allen  mögliclien  A''or- 
aussetzungeu  uud  Kombinationen  verlieren,  da  wir  nichts  näheres  wi.^seu,  wo- 
Aon  eigentlich  die  ersten  angebliclien  Lieder  —  welche  bei  Domeutijan  er- 
wähnt werden  —  gehandelt  haben,  was  ihr  Haui)tmotiv,  ihre  gruudlegende 
Idee  war.  Es  ist  ja  möglich,  da  in  der  Biographie  gar  uiclits  von  einer  beab- 
sichtigten oder  aufgezwungeneu  Heirat  des  Heiligen  gesagt  wird,  daß  auch  in 
den  Liedern  wirklich  nichts  darüber  enthalten  war.  Ist  es  nicht  besser  ge- 
rechtfertigt zu  glauben,  daß  erst  si)äter,  als  sich  um  den  Heiligen  Erzählungen 
von  Wundern  und  seinen  frommen  Taten  rankten,  so  eine  Liebes-  oder  Hei- 
ratsarture  sicli  gebildet  hat,  bei  welcher  sich  sein  frommer,  gottergebener, 
welt\ergesscner  Geist  geltend  macliteV  Ist  nicht  diese  ganze  Geschichte  von 
der  Heirat  eher  ein  neuerer  Zug,  als  eine  ältere  Überlieferung?  Oder  gab  es 
wirklich  in  der  Volkstradition  einen  wahren  Grund  für  seinen  Abgang,  eiueu 
natürliclieren  bei  einem  jungen  Manne,  als  der,  den  uns  die  Möuclie.  seine 
Lobpreiser,  augegeben  haben?  Oder  war  es  die  Tendenz  der  si)äteren  Zeiten, 
die  Handlung  des  Heiligen  etwas  menschlidier,  natiirliclier  dar/,iit*tellen  V  Wie 
es  sicii  damit  auch  \erlialtcn  mag,  jedenfalls  ist  die  letztere  Version  viel  ge- 
eigneter, als  ältere  aufgefaßt  zu  werden,  einerseits  infi)ige  ihres  legendari- 
schen Charakters  uud  etwas  genauerer  Naraeusangabe  (der  ^■ater  lieißt  w  irislich 


632  Kleine  Mitteilungen. 

Simeon),  und  andererseits  wegen  der  Einfaclilieit  der  Motive,  deren  Anhäufung 
schon  von  einer  ausgesprochenen  späteren  Tendenz  zeigt. 

Interessant  ist  aber  ein  drittes  Lied  aus  der  Sammhing  «GpncKo-napoÄHc 
necMc  II  Hapo,T;iic  npiinoBcxKc«,  herausgegeben  von  Milan  GJ.  Stanic  in  Belgrad 
1869,  unter  dem  Titel:  »Wie  der  heil.  Sava  aus  dem  Elternhause  nach  Athos 
kam«  (Nr.  VI,  S.  71—82).  Da  heißt  es:  Im  Hause  des  Großzupans  (welcher 
später  von  ihm  immer  König  genannt  wird)  Nemanja  zu  Pristina  herrscht  eine 
große  Unrulie,  weil  sein  jüngster  Sohn,  Namens  Rastko,  der  auf  die  Jagd  ge- 
gangen war,  nicht  mehr  nach  Hause  zurückkam.  Er  ließ  die  Diener  und 
Bürger  nach  allen  Seiten  ihn  suchen,  aber  vergebens.  Da  träumte  die  Königin 
von  einem  großen  Priester,  der  sie  beruhigte  und  ihr  mitteilte,  daß  Rastko 
Mönch  geworden  sei.  Sie  sollen  das  Kind  in  Ruhe  lassen,  um  nicht  Gott  zu 
beleidigen.  Nachdem  sie  ihrem  Manne  den  Traum  erzählt,  kamen  die  Diener 
aus  Athos,  aus  dem  Kloster  Vatoped  und  brachten  einen  Brief  von  den  Kloster- 
brüdern, in  welchem  sie  den  König  Neraanja  benachrichtigen  und  zu  beruhigen 
trachten.  Der  König  konnte  nicht  umhin  einzuwilligen,  er  schickte  Geschenke 
an  Vatoped.  Bald  darauf  wurde  Sava  Archimandrit,  kam  nach  Studenica 
und  wurde  dort  Igumen.  Von  da  ging  er  nach  Nicea,  wo  ihn  der  griechische 
Kaiser  und  Patriarch  German  schön  empfingen.  Er  schlug  ihnen  vor,  um  den 
Einfluß  des  Papstes  zu  beseitigen,  ein  serbisches  Erzbistum  zu  gründen.  Da 
sie  gar  nichts  dagegen  hatten,  erwählten  sie  ihn  zum  Erzbischof  Serbiens  und 
seinem  Bruder  schickten  sie  Königsszepter  und  prachtvolle  Krone.  Zu  Zica 
krönte  ihn  Sava  zum  serbischen  Könige  und  bald  gründete  er  zwölf  Bistümer. 
Nachdem  er  der  Religion  feste  Stütze  gegeben  und  das  Volk  aufgeklärt  hatte, 
ernannte  er  zu  seinem  Nachfolger  Arsenius  und  begab  sich  nach  Palästina. 
Auf  dem  Rückwege  reiste  er  durch  Konstantinopel,  kam  nach  Trnovo  und 
starb  dort  nach  dem  Wassereinweihungsfeste.  Später  hat  sein  Bruder  (so  heißt 
es  dort)  Vladislav  seine  Reliquien  nach  Milesevo  gebracht,  woher  sie  endlich 
die  Türken  nach  Vracar  überführten  und  dort  verbrannten. 

Zwei  Saclieu  sind  es,  welche  bei  diesem  Liede  auf  den  ersten  Blick  auf- 
fallen und  welche  sofort  den  unvolkstümlichen  Ursprung  dieses  Liedes  und 
die  übersichtliche  Darstellung  eines  Gebildeten  aufweisen.  Vor  allem  die 
lange  Dauer  der  Handlung,  welche  nicht  ein  Moment  aus  seinem  Leben,  son- 
dern die  ganze  Lebenslauf  bahn  und  sogar  die  Scliicksale  nach  dem  Tode  um- 
faßt so  wie  bei  den  Liedern  des  Andrija  Kacic;  zweitens  die  historischen  An- 
gaben, mit  allen  Details,  welche  richtig  sind,  sind  ganz  und  gar  fremd  den 
Volksliedern.  Wie  wäre  das  möglich,  daß  man  Pristina,  Athos  (diesen  unge- 
wöhnlichen griechischen  Namen  für  ÜBCTa  Fopa),  Vatoped,  den  Erzbischof  Ar- 
senius, sogar  Nicea  und  den  griechischen  Patriarchen  German,  die  Verbren- 
nung am  Vracar  und  die  Transferierung  nach  Milesevo  erwähnt,  die  Angaben 
der  neu  gegründeten  Bistümer  gibt,  ohne  dabei  Fehler  oder  Verwechslungen 
oder  Anaclironismen  zu  begelien,  wie  es  den  Volksliedern  eigen  ist?  Dieses 
Lied  kann  unmöglich  in  der  Gestalt,  wie  es  jetzt  vor  uns  steht,  im  Volke 
gelebt  und  die  ganzen  Schicksale  der  anderen  Lieder  mitgemacht  liaben,  denn 
sonst  hatte  es  dasselbe  Los  gehabt. 

Das  andere  ist  der  hinkende  Versbau,  mit  manchen  interessanten  Fehlern 


Kleine  Mitteiluugeu.  633 

in  der  Sprache  und  Metrik,  was  nns  überzeugt,  daß  das  Lied  unmöglich  aus 
dem  Volke  stammt.  Denn  wäre  das  Lied  im  Volke  gewesen,  so  wären  schon 
längst  auch  die  vielen  Unregelmäßigkeiten  beseitigt  und  ausgeglichen.  Das 
ist  also  ein  Lied,  das  möglicherweise  von  einem  Mönche  oder  Priester  stammt, 
der  in  Annalen  und  Genealogien  einen  Auszug  aus  dem  Leben  Sava"s  von 
Domentijan  oder  Tlieodosius  gelesen,  und  um  es  populär  zu  machen,  den  ge- 
lesenen Inhalt  ganz  einfacli  in  die  Form  des  Volksliedes  gekleidet  liat.  Es 
bringt  uns  endlich  nichts  anderes  als  was  wir  aus  den  erwähnten  Biographien 
schon  kennen;  es  hat  kein  einziges  Element  in  seiner  Darstellung,  welches 
etwas  selbständigeres,  volkstümlicheres  aufzuweisen  hätte.  Da  haben  wir 
nicht  jenen  echten  Ton  der  Volksepik,  die  Bilder  und  die  bunte  Ausdrucks- 
weise, welche  uns  sogar  in  der  Petranovic'sclien  frommen  Version  begegnen. 
Die  Rede  fließt  so  matt,  ist  manchmal  so  gezwungen,  daß  man  oline  weiteres 
schon  daraus  auf  unvolkstilmlichen  Ursprung  schließen  kann. 
Zum  Beispiel:    Epaho  Moja  n  rocnoja  spara! 

Othuio  je  y  Jioc  y  n.ianuHy, 

IIo  üeroBOM  cTapoM  oöHiajy, 

Cjiyrc  ÄOiujie  a  aeTera  iiCMa; 

JlaKO  MO/KC  aa  cc  aorojiiico, 

Äa  cy  ibera  ssepoBu  pacTpr.iiu, 

ÜJi  3J1U  -T.yau  KjÄ  y  JiOB  ra  Bpr.Tii, 

Ko  he  SHaTU  Kja.  je  n  KaKO  je, 

Fäh  heMo  ra  caa  ly/Kuu  Tpaacmu. 
Oder:         Cuer jiu  Kpa.T>y  mojiumo  xe  .aeiio! 

HcMOJ  lia  Hac  aa  ce  tu  paaribennm; 

Hhth  iia  Hac  hu  na  TBora  cuna, 

Jep  je  xaKO  aaio  ca  buch  na, 

Oa  H>era  he  6utu  hito  h  biiuic, 

y  TOMC  ra  caM  Bor  p  y  k  o  b  o  a  u , 

Otjuuhu  je  oa  uac  CBiijy  ocan. 
Wir  haben  es  hier  also  mit  einer  Art  solclier  Lieder  zu  tun,  wie  die  von 
Kacic  sind:  volkstümlich  der  äußersten  Äußerlichkeit  nach.  Ähnliche  Eigen- 
tümlichkeiten hat  auch  Kacic's  Lied  über  den  heil.  Sava.  Daß  das  Lied  von 
einem  Gebildeton  herrührt,  berechtigt  uns  auch  der  Umstand  zu  glauben, 
(laß  wir  auch  auf  die  lieirae  stoßen,  die  etwas  häufiger  vorkommen  und  in 
Holclier  Weise,  wie  wir  es  bei  den  echten  Volksliedern  uiclit  zu  finden  ge- 
wöhnt sind: 

Mu.!ior  cuna  He.Maibe  Crc>i'aua, 

Onaauiibcra  iie.iiiKor  /Kynaua. 
Oder:         Poaiiie.Mi  ropue  cyac  Jiiijy, 

II  3a  M1I.Ü0CT  BHiiiibOMy  Baniijy. 
Oder:         Majica  öo/KJa  ibcra  je  no3na.ia; 

11  Cpöiijy  npoCBCTHT'  mv  aa.ia  etc. 

V/itdiniir  Vorovic. 


634 


Kleine  Mitteilungen. 


•|-  Alexander  N.  Wesselofsky. 


t^^.rr..,^^. 


Unsere  Zeitsclirift  hat  im  Oktober 
vorigen  Jahres  einen  ihrer  ältesten 
Mitarbeiter  verloren,  den  Tetersburger 
UniversitJitsprofessorundAkacIeniiker, 
zuletzt  Vorsitzenden  der  russischen 
Abteilung  in  der  kais.  Akademie  der 
Wissenschaften,  Alexander  Wesse- 
lofsky. Der  Sehreiber  dieser  Zeilen 
fühlt  den  Schmerz  über  diesen  großen 
Verlust,  der  die  wissenschaftliche  Welt 
Rußlands  getroffen,  um  so  lebhafter, 
als  er  seit  der  ersten  Begegnung  im 
Jahre  I'^T2  in  Petersburg  fast  ununter- 
brochen in  nahen  Beziehungen  inniger 
Freundschaft  und  Solidarität  wissen- 
schaftlicher Interessen  zu  dem  Ver- 
storbenen stand,  die  sich  namentlich 
durch  ihre  gemeinsame  Wirksamkeit 
an  zwei  Anstalten,  Universität  und 
Akademie,  in  den  Jahren  1880 — 188C> 
unvergeßlich  machten.  Wesselofsky  war  ein  glänzendes  Talent  von  unge- 
wöhnlichem Wisseiisurafauge,  die  ausgebreitetsten  Kenntnisse  der  Sprachen 
und  Literaturen  stützten  sich  bei  ihm  auf  ein  wunderbares  Gedächtnis,  einen 
großen  Scharfsinn  und  feinen  Geschmack.  Auf  dem  weiten  Gebiete  der  ver- 
gleichenden Literaturgeschichte  und  Folkloristik  galt  er  seit  Jahren  als  einer 
der  ersten  und  hervorragendsten  Repräsentanten  in  ganz  Europa. 

Im  Jahre  1S:3S  in  Moskau  geboren  —  seiuA'ater  war  Offizier,  seine  Mutter 
von  deutscher  Abstammung  —  absolvierte  er  das  Gymnasium  und  die  Uni- 
versität in  seiner  Vaterstadt.  Unter  seineu  Lehrern  übte  den  größten  Einfluß 
auf  ihn  aus  jener  hervorragende  Gelehrte  Kußlands,  den  man  nicht  mit  Un- 
recht den  russischen  Jakob  Grimm  genannt  hat,  Professor  Th.  Buslajev.  Von 
diesem  hatte  er  die  Liebe  zur  kritischen  Erforschung  der  alten  Literaturdenk- 
mäler überkommen,  nur  die  mythologisierende  Richtung  seines  Lehrers  gab 
er  bald  auf  und  schloß  sich  den  Anhängern  der  neuereu,  hauptsächlich  durch 
Benfey  vertretenen  Schule  an.  Dieser  Wandluugsprozeß  vollzog  sich  bei  ihm 
während  seines  mehrjährigen  Aufenthaltes  im  Ausland,  namentlich  in  Deutsch- 
land und  Italien.  Zuerst  reiste  er  nach  Spanien,  dann  von  der  Universität  mit 
der  Anwartschaft  auf  eine  Professur  ins  Ausland  »kommandiert«,  hielt  er  sich 
hauptsächlich  in  Deutschland  (Berlin)  auf,  aber  von  dem  glänzenden  Mittel- 
alter, Italiens  mächtig  angezogen,  kehrte  er  nach  Ablauf  der  ihm  offiziell  ge- 
währten Studienzeit  nicht  gleich  nach  Moskau  zurück,  sondern  ließ  sich  auf 
eigene  Kcsten  in  Italien  (Florenz)  nieder,  wo  er  mit  Eifer  das  Studium  der 


Ji 


Kleine  Mitteilungen.  635 

mittelalterlichen  Literatur  betrieb.  Seine  erfolgreichen  Nachforschungen  auf 
diesem  Gebiet,  die  er  in  den  Jahren  lS6tJ — l'^fiS  in  vier  Bändchen  unter  dem 
Titel  "11  Paradiso  degli  Alberti«  in  Bologna  herausgab,  machten  ihn  mit  den 
gelehrten  Kreisen  Italiens  bekannt.  Die  Italiener  zählten  ihn  von  da  an  gern 
zu  den  ihrigen.  Die  Resultate  seiner  italienisclien  Forschungen  bildeten  zwei 
Jahre  nachher,  als  er  nach  Moskau  zurückkehrte,  in  russischer  Umarbeitung 
das  Thema  seiner  Magister dissertation  (1870:  Bujijia  Äjiböepiu.  HoBbie  Maxe- 
pia-iLi  AJin  xaiiaKxepiicTiiKu  .iHTcpaTypiiaro  ii  oomeciBeiiiiaro  ncpcjiOMa  et.  IlTa.ii.- 
miCKüü  ;kh3iiii  XIV — XV  crojiiTia].  Um  gleich  anzuknüpfen,  sei  es  bemerkt, 
daß  nach  vielen  Jahren  Wesselofsky  abermals  das  Gebiet  dieser  Jugend- 
forschungen aufnahm,  indem  er  189;i — 1894  zwei  starke  Bände  über  "Boc- 
caccio, sein  Milieu  und  seine  Zeitgenossen«  russisch  herausgab,  ein  bedeutendes 
Werk,  das  namentlich  in  Italien  vollauf  gewürdigt  worden  ist.  Doch  inzwischen 
hatten  in  Eußland  selbst  die  reichhaltigen  Publikationen  eines  Kostomarov, 
Pypin  und  Tichonravov,  die  auch  bei  den  Südslaven  Danicic,  Jagic,  Xova- 
kovic)  Widerhall  fanden,  deren  Ilauptiulialt  die  romantischen  Sagen,  Legen- 
den und  Apokryi)hen  des  Mittelalters  bildeten,  Wesselofsky's  Interesse  mäch- 
tig angezogen,  er  fand  auf  diesem  Gebiet  viel  Material  für  seine  wissenschaft- 
liche Liel)lingsbeschäftigung,  für  das  vergleichende  Studium  der  in  den 
mittelalterlichen  Denkmälern  steckenden  Einflüsse  und  Berührungen,  die 
sich  von  einer  Literatur  in  die  andere  verpflanzen  und  selbst  bis  in  die  geisti- 
gen Produkte  des  Volkes  eindringen.  Sein  erstes  in  dieser  Richtung  geschrie- 
benes Wcn-k  galt  der  wissenschaftlichen  Analyse  des  Sagenkreises  über  »Sa- 
lomon  und  Kentauros«  (CKasaiii;!  o  Cojio.Moiit  ii  KiiTonpaci.,',  das  ihm  1S72  den 
Doktorgrad  und  die  Professur  für  die  vergleichende  Literaturgeschichte  an 
der  Petersburger  Universität  einbrachte.  An  dieser  Anstalt  wirkte  er  von  da 
an  bis  an  sein  Lebensende.  Jetzt  begann  auch  seine  lange  wissenschaftliche 
Arbeit,  reich  an  überraschenden  Kombinationen  und  Nachweisen  innerer  und 
äußerer  Beziehungen  zwischen  dem  Inhalt  russischer  Sagenstofte,  Legenden 
und  Bylineu  und  ihren  Anklängen  in  anderen  Literaturen.  Diese  Forschungon 
erscliienen  in  zwangloser  Aufeinanderfolge  bald  in  den  3aaiRKii  und  dem 
(JoupiniKF.  der  russischen  Abteilung  der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften, 
bald  im  /Kypiia./ii.  iiap.  iipocu.  oder  Btci-iinKi.  EnpoiiM,  bald  im  Archiv  tür 
slav.  Philologie,  oder  in  der  Russischen  Revue  u.s.w.  Daneben  lieferte  er 
hauptsächlich  im  Journal  des  Ministeriums  zahllose  Besprechungen  der 
neuesten  Erscheinungen  aus  frem<len  Literaturen,  namentlich  folkloristischen 
Inhaltes,  worin  er  aus  dem  reichen  Vorrat  seiner  großen  Belescnhcit  trctVemle 
Zusätze  und  Erweiterungen  oder  audi  Bericlitigungeu  gab.  I>ie  Fülle  des  im 
Laufe  von  melir  als  zwei  Dezennien  von  ihm  (iebotenen  ist  so  groß,  daß  seine 
Schüler  und  Verehrer  einen  wahren  Dienst  jedem  auf  diesem  Gebiete  arbeiten- 
den Fachgenossen  dadurch  erwiesen  haben,  daß  sie  zuerst  im  Jahre  IS'^^  und 
nachher  in  erweiterter  vVuflage  im  J.  1895  einen  yKasaTcii.  zu  Wesselofsky 'a 
Werken  herausgaben.  Vor  kurzem  ist  auch  von  dem  gewissenhaften  P.Siuioni 
ein  bis  zum  J.  l'.K)r>  reichender  gedrängter  liib!iograi»liischer  l'berltlick  er- 
schienen unter  dem  Titel:  Kt  XL-;ii.Tiio  y>icuü-jiiTi'parypiioa  AtnicibiiüCTii 
npo'i'cccopa  ii  aica.ieMiiKa  A.  H.  UecojiüiiCKaro  (C116n.  11)00.  fc^'.  44). 


636  Kleine  MitteiluDgeu. 

Um  nur  auf  die  \vichtif,^8tcn  Werke  des  Verstorbenen  kurz  hinzuweisen, 
sei  es  erwähnt,  daß  er  in  den  Jahren  187!)  bis  IS'Jl  vierundzwanzig  Beiträge 
unter  dem  Gesamnittitel  »ra3L)CKaiii3  bt,  oujiacm  ijyccKiixi.  .^yxociibix'L  cth- 
xoBT.«,  zusammen  in  seclis  Teilen  lieferte;  daß  in  den  Jahren  188G  und  1888 
zwei  Bünde  seiner  umfangreichen  Forschungen  »Ilat  iicropia  poMaiia  ii  no- 
bLctii«  erschienen;  daß  er  in  den  Jahren  1881  und  1884  elf  Abhandlungen  zur 
Frage  über  den  Ursprung  der  russischen  epischen  Lieder  (KbKnopyccKi/T  6i,i- 
.iiiin.i)  herausgab  und  außerdem  in  dem  Journal  des  Ministeriums  iiir  Volks- 
aufklärung zwischen  1885  und  1896  achtzehn  kleinere  Beiträge  unter  dem 
zusammenfassenden  Titel  »Me.aKi,T  aaMiiKu  kt.  öti-iiniaMt«  publizierte.  Selbst- 
verständlich habe  ich  damit  das  von  Wesselofsky  auf  diesem  Gebiete  Ge- 
leistete nicht  erschöpft.  Uferlos  breiteten  sich  seine  Forschungen  aus,  die 
endlichen  Resultate  waren  selbst  in  den  ITauptziigen  nicht  abzusehen.  Diese 
zum  Teil  in  der  Natur  der  Sache,  zum  Teil  in  seiner  Forschungsmethode  be- 
gründete Überschwängliclikeit,  sowie  der  Umstand,  daß  gerade  auf  dem  so 
interessanten  Gebiete  der  Bylinenforschung  seine  Gesichtspunkte  von  einem 
der  hauptsächlichsten  Mitforscher  (Vsevolod  Miller)  nicht  geteilt  wurden  — 
scheint  in  den  letzten  Jahren  seine  Begeisterung  für  dieses  Gebiet  etwas  ab- 
gekühlt zu  haben.  So  erkläre  ich  mir,  warum  er  später  zu  dem  romanisch- 
germanischen Mittelalter  und  zur  italienischen  Renaissance  zurückkehrte, 
zugleich  aber  ein  ganz  neues  Gebiet,  die  russische  Romantik  des  XIX. 
Jahrb.,  zu  pflegen  anfing.  Es  ist  geradezu  erstaunlich,  mit  welch'  glänzendem 
Erfolg  Wesselofsky  den  sentimentalen  Zukovskij  zum  Gegenstand  seiner  tief- 
sinnigen, nicht  ganz  zu  Ende  geführten  Forschungen  machte.  Das  Hauptwerk 
erschien  1904.  Das  Bild  des  Dichters  gewinnt  seit  dieser  Behandlung  neue 
Züge,  manche  bisherige  Ansicht  muß  jetzt  aufgegeben  werden.  Unter  den 
Leistungen  Wesselofsky's  aus  der  letzten  Periode  möchte  ich  noch  auf  seine 
liefsinnigen  Beiträge  zur  Poetik  in  ihrer  geschichtlichen  Evolution  hinweisen, 
das  sind  seine  Abhandlungen:  »Hai.  BBCAeni/T  ht,  ucTopiiiecKyio  noaxiiKy« 
pKMHIIp.  1894,  Maiheft),  »ITsi.  iicropiii  oniiTexa«  (ib.  1S95,  Dezemberheft), 
»BnuiccKia  noBTopenin  KaKt  xpoiio.aorii'iecKiii  momgüti,«  (ib.  1897,  Aprilheft', 
ȆCHXOJioru'iecKiir  napa,i.ie.'iii3M'L  u  ero  'i'opMbi  bt.  OTpajKCHiaxt  noaTHuecKaro 
CTHjra«  (ib.  1898,  Märzheft)  und  zuletzt  »Tpii  rjiaBti  ust  ucropii^ecKoil  no3TUKii.( 
(ib.  1898,  April-  und  MaiheftS 

Ich  höre,  daß  mau  mit  dem  Gedanken  umgeht,  Wesselofsky's  Gesam- 
melte Werke  herauszugeben.  Wenigstens  die  durch  viele  Jahrgänge  des 
Journals  des  Ministeriums  der  Volksaufklärung  zerstreuten  Beiträge  würden 
vor  allem  verdienen  gesammelt  zu  werden.  Es  ist  nicht  immer  leicht,  dem 
Gedankengang  Wesselofsky's  genau  zu  folgen.  Seine  Heranziehung  von  Pa- 
rallelen aus  entlegensten  Literaturen,  die  er  zumeist  im  Original  ohne  Über- 
setzung zitiert,  stellt  an  den  Leser  die  größten  Anforderungen,  namentlich 
rücksichtlich  der  Sprachkenntnisse.  Sehr  oft  wird  seine  Beweisführung  ab- 
gebrochen, ohne  zum  Abschluß  zu  kommen,  man  sieht  das  Endziel,  auf  das  er 
losgeht,  'gar  nicht  oder  nur  in  sehr  nebelhaften  Umrissen.  Einzelne  Abhand- 
lungen sind  reich  an  episodenhaften  Einschaltungen,  die  man  nach  dem  Haupt- 
inhalt gar  nicht  erwarten  würde  darin  zu  finden.    Darum  müßte  eine  Neuaus- 


Kleine  Mitteilungen. 


637 


gäbe  seiner  Werke  mit  vielen  Hinweisen,  mit  genauen  Wort-  und  Sachver- 
zeichn'ssen  versehen  sein.  Wesselofsky  bat  soviel  geschrieben  und  geleistet, 
daß  es  vielleicht  einige  Generationen  des  Nachwuchses  dazu  bedürfen  wird, 
um  an  dem  reichen  Inhalt  des  Gebotenen  kritische  Sichtung  durchzuführen. 
Wesselofsky  war  nicht  nur  ein  außerordentlich  belesener,  gelehrter  Mann,  er 
war  auch  ein  feingebildeter,  humaner,  europäisch  gesitteter  Mensch  von 
liebenswürdigem,  aber  festem  Charakter,  fest  namentlich  in  der  Überzeugung, 
daß  alles  Gute  und  Edle  der  europäischen  Kulturentwicklung  auf  den  russi- 
schen Boden  verpflanzt  und  hier  sorgfältig  gepflegt  werden  soll.  Möge  sein 
Andenken,  die  Frucht  seines  reichen  Wissens  lange  im  Gedächtnis  der  Nach- 
welt leben,  der  verwaiste  Freund  wird  bis  ans  Lebensende  in  unwandelbarer 
Treue  seiner  gedenken.  V.  J. 


'}•  Marin  St.  Drinov. 


Am  28/11.(13/111.,  1900  starb  in  Char- 
kow Professor  der  Slavistik  an  der  dor- 
tigen Universität  Marin  St.  Drinov, 
ein  Bulgare  von  Geburt  (im  C^.  Lebens- 
jahre;. Er  war  in  Panagjuriste  in  Ru- 
melien  geboren,  wo  er  auch  den  ersten 
Unterricht  genoß  und  nachher  Lehrer 
wurde.  Der  Drang  nach  höherer  Bildung 
brachte  ibn  nach  Rußland,  an  die  Mos- 
kauer Universität,  die  er  im  Jahre  l'^f'>5 
absolvierte.  Als  Erzieher  in  einer  sehr 
vermögenden  russischen  Familie  kam  er 
in  den  nächstfolgenden  Jahren  in  die 
Lage,  in  mehreren  Städten  des  Auslandes 
Prag,  Rom.  Genf  sich  aufzulialten.  wo 
er  in  den  Bibliotheken  fleißig  slavischen 
Studien  oblag  jn  Rom  studierte  er  u.  a. 
die  mittelbulgarische  Übersetzung  der 
Manasscs-Chronik  .  Erfüllt  von  dem  In- 
teresse für  die  geschichtliche  Vergangen- 
iieit  sowie  die  gegen\\ärtige  Lage  seines  Vaterlandes,  betrieb  er  vor  allem  das 
Studium  der  Geschichte  Bulgariens,  wovon  als  die  ersten  Früchte  ersdiieueu 
in  Wien  im  J.  1860:  1)  IIoimcat.  npLXT.  npoucxonacute-TO  ua  ö.ri.raiiCKiii  iiapoAi. 
(SO.  VIII.  100),  2)  IIcTopuHecKii  npcr.iC/Tt  iia  6T..irap:KaTa  m-pKua  on.  cavoro  u 
iia'i;i.io  u  Äo  ÄiiccB  (80.  VIII.  1S8).  Einige  Jahre  nachher  schrieb  er  in  russischer 
Sprache  als  Magisterdissertation :  >'3.icojcuic  6.-uiKaiicKaro  iio.iyocii>oi'.a  ciann- 
iiaMH«  (Moskau  1873.  8«.  171,  SA.  aus  Hrciiin  1S72,  Kii.lV).  Für  die  bulgarische 
Sprache  gab  er  ISüO— lS7i  in  Danov's  Kalender  .li.nKri.yu  ein  Programm  zur 
►Sammlung  der  dialektischen  Kigentiiuiliclikeiten  heraus  und  in  lI^piKa.  ciiu- 


£,-*-.      C«^.. 


638  Kleine  Mitteilungen. 

caiiif  ISTO.TI  schrieb  er  über  die  bulgarische Orthograpliie.  Auch  dieKirchen- 
frage  interessierte  ihn  [Tjrcf.Aa.  ISTi;.  Im  Jahre  IBTii  erlangte  er  die  Professur 
der  SlaA  islik  in  Charkow,  wo  er  auch  bis  an  sein  Lebensende  wirkte,  mit 
kurzer  Unterbrechung  in  den  Jahren  1877  —  78,  die  er  als  Mitglied  der  provi- 
sorischen russischen  Verwaltung  in  Bulgarien  zubrachte.  Seine  Doktordisser- 
tation bildete  die  im  J.  1876  ebenfalls  in  den  Moskauer  HTeiiiji  erschienene 
wichtige  Forschung  »IOjiciimg  c.;ianniic  ii  Biisairrifi  ht,  X  bT;kT."  (80.  1.52).  In  der 
Monographie  über  die  Besiedelung  der  Dalkanhalljinsel  durch  die  Slaven 
hatte  er  den  Zeitpunkt  der  ersten  Bewegung  der  Slaven  nach  dem  Süden  l>i8 
in  das  Ende  des  II.  Jalirh.  unserer  Zeitrechnung  hinaufgerückt.  Diese  Be- 
hauptung wurde  später  angefochten,  doch  bleibt  in  jener  Schrift  immerhin 
manche  treffende  Bemerkung.  Das  zweite  Werk  hellt  vieles  aus  der  ältesten 
Geschichte  der  südslavischen  Stämme  (Bulgaren,  Serben,  Kroaten]  und  ihrer 
allmählichen  Staatenbildung  auf.  namentlich  sucht  es  auch  die  Nordgrenze 
der  bulgarischen  Herrschaft  im  IX.  Jahrh.  genauer  zu  bestimmen,  was  für  die 
Frage  über  die  Verbreitung  der  kirchenslavischen  Sprache  von  Wichtigkeit 
ist.  Bei  der  Lückenhaftigkeit  der  damaligen  Dialektforschung  wird  man  sich 
auch  nicht  darüber  wundern,  daß  Drinov  nach  dem  Vorgange  Eacki's  in  dem 
cakavischen  Dialekte  der  Kroaten  Dalmatiens  und  der  Inseln  das  Residuum 
einer  vor  der  Ankunft  der  Kroaten  daselbst  ansässig  gewesenen  slavischen 
Bevölkerung  erblickte.  Dasselbe  galt  ihm  auch  von  dem  Resavadialekt  Ost- 
serbiens und  von  den  dialektischen  Eigentümlichkeiten  Montenegros  (vergl. 
3ace.3.  ri9— 130,  IOhcii.  gji.  IJO— Ul).  Ob  der  Verstorbene  auch  später  noch 
nach  den  dieser  Frage  gewidmeten  Abhandlungen  von  Jagic,  Resetar  und 
Oblak  an  seiner  früheren  Ansicht  festhielt,  konnten  wir  nicht  in  Erfahrung 
bringen.  Wir  neigen  uns  heute  jedenfalls  mehr  dem  Standpunkt  der  Annahme 
allmählicher  Übergänge  zu  und  suchen  einen  gewissen  Dualismus  nicht  mehr 
wie  die  früheren  Slavisten  im  Bereich  des  Serbokroatischen,  sondern  eher 
zwisclien  dem  üstliclien  bulgarischen  und  dem  westlichen  serbokroatisch-slo- 
venischen  Zweig.  Diese  Beobachtung  stützt  sich  namentlich  auf  die  prinzi- 
piell verschiedene  Behandlung  der  Vokale  x  und  h  innerhalb  der  östlichen 
imd  westlichen  Hälfte  der  Südslaven.  Nimmt  man  (mit  Prof.  Kocubinskij)  an, 
daß  die  Bildung  des  Neubulgarischen  auf  der  Annahme  des  Slavischen  seitens 
der  romanisierten  Thraker  und  einigen  damit  zusammenhängenden  Sprach- 
verderbnissen beruht,  so  ist  jedenfalis  auch  die  Voraussetzung  richtig,  daß 
die  Gruppe  der  slavischen  Mundarten,  aus  welchen  das  Bulgarische  hervor- 
ging, merklich  verschieden  war  von  der  serbokroatisch-slovenischen  Gruppe. 
Aus  anderen  Arbeiten  Drinov's,  die  auf  die  Geschichte  der  Südslaven 
Bezug  nehmen  und  in  verschiedenen  Zeitschriften  (bulgarisch  in  IIcpnojiiiccKo 
cnHcaiiue)  erschienen  sind,  seien  hervorgehoben:  1)  die  Anzeige  der  Geschichte 
Bulgariens  von  K.  Jirecek  (ei'schienen  in  ITcp.  cn.  1876,  in  Cas.  ces.  muz.  1876 
und  in  Archiv  II.  168 — 177),  2)  die  Anzeige  der  Monographie  Th.  Uspenskij's 
OöpaaoBaHie  EToporo  öo.irapcKaro  uapcTBa  (Beilage  Nr.  8  zum  39.  Band  derAkad. 
Sanuckii)  und  3)  die  Abhandlung  »0  iiiKOTopwxt  Tpy,T;axi,  ^iiMiiTpiji  XoMaTiaiia« 
(in  Bus.  BpcM.  1.319—340,  II.  1—23).  Außerdem  verdient  Beachtung  die  im 
Journal  des  Minist,  der  Volksauf  klärung  1 885,  Märzheft  gedruckte  Abhand- 


Kleine  Mitteilungen.  639 

hing  »HoBtiü  ucpKOBiioc.TaB/TiiCKift  naMniHUKX  ct.  ynoMimaiiieMT.  o  CTaunucKuxt 
ncpBoyquTCJinx-B«  (vergl.  Archiv  X.  303  ff.).  Hier  kommt  die  Doxologie  auf  die 
Slavenapostel  vor  und  Klemens  v.  Bulgarien  wird  Bischof  »BejiiiKbic  MopaBii« 
genannt,  woraus  Drinov  folgerte,  daß  die  bekannten  Bezeichnungen  BtUt^a; 
(bei  Ducange  Be'/.ixc.^)  und  in  slav.  l'exten  »enucKont  BcauqBCK-Bm«  eigentlich 
nicht  auf  Makedonien  zu  beziehen  seien,  sondern  auf  Mähren  Bezug  haben. 
Darnach  wäre  also  nicht  nur  die  frühere  Annahme  Safarlk's.  sondern  auch  die 
gewiß  nicht  stichhaltige  Änderung  Golubinskij's  von  bcihhbckt.  in  Et.iiiqcKÜ'i 
(IT:!i!l;cTi,T  IX.  B.  345 — 546,  1904  zu  berichtigen.  —  In  ethnographischer  Be- 
ziehung ist  lesenswert  die  Abhandlung  Drinov's  »0  asLiKt,  iiapojutixi,  ntcHaxt 
II  oöuuaHXT.  aeopcKiixT,  ciaBSTirL",  geschrieben  1888  aus  Anlaß  der  Ausgabe 
des  bekannten  Buches  Jastrebovs .  Drinov  nimmt  in  dieser  Broschüre  gegen- 
über dem  serbischen  Standpunkt  Jastrebovs  den  bulgar.  Charakter  der  make- 
donischen Debra-Slaveu  in  Schutz.  Manche  Bemerkungen  Drinovs  betreffen 
auch  die  Slavafeier. 

Drinovs  Forschungen  berührten  ferner  eine  Reihe  von  Fragen  aus  der 
politischen,  kirchlichen  und  der  Literaturgeschichte  der  Bulgaren  (z.  B.  über 
Paisius  undSofronius),  oder  aus  dem  Volksleben  [i)^Iij;HO  ry.Miio«  im  Jubiliiums- 
sbornik  190u).  Immer  richtete  er  sein  Augenmerk  auf  die  Sitten  und  Bräuche 
des  Volkes  und  auf  die  Eigentümlichkeiten  der  Sprache.  Erwähnenswert  sind 
seine  Besprechungen  der  Wörterbücher  von  Duvernois  und  Gerov,  des  AVerkes 
von  A.  Kaiina  und  seine  im  Archiv  IV,  A"  und  VII  erschienenen  Beiträge. 
Unter  letzteren  ist  namentlich  die  im  V.  Bande  erschienene  Abhandlung  über 
die  Laute  iU  und  i.  im  Neubulgarischen  sehr  wichtig.  Drinov  unterscheidet 
nach  der  Vertretung  jener  Laute  im  Neubulgarischen  vier  Gruppen  von  Dia- 
lekten. Die  neuesten  Forschungen  Conev's  und  Miletic's  basieren  die  Grup- 
pierung der  bulg.  Dialekte  auf  T..  Bekanntlich  hat  Jede  solche  Heraushebung 
eines  einzigen  Merkmals  zum  Einteilungsprinzip  ihre  Schwierigkeiten  und 
Bedenken.  Immerhin  wirkte  die  Abhandlung  Drinov's  befruchtend  auf  die 
nachfolgenden  Forschungen  Oblak's,  Lavrov's  und  Scepkin's. 

Drinov  gebührt  ein  Ehrenplatz  in  den  Annalen  der  Slavistik  und  ihrer 
Fortschritte.  Nähere  bibliographische  Angaben  über  seine  Schriften  findet 
man  in  dem  im  Jahre  1900  in  Sofia  erschienenen  »G6opiiii>ie«  von  Zlatarskij 
und  in  meiner  Studie,  die  in  dem  ihm  zu  Ehren  gedruckten  Charkower  »Cdop- 
luiKT.«  erscheint.  Fachgenossen  und  gelehrte  Gesellschaften  haben  den  Ver- 
8torl)enen  verehrt  und  ausgezeiclinet,  ich  füge  aus  meinen  persfinlichen  Be- 
ziehungen zum  unvergeßlichen  Lehrer  hinzu:  seine  bei  aller  Gelehrsamkeit 
seltene  Bescheidenheit  und  Bereitwilligkeit,  den  Jüngern  der  Wissenschaft  in 
verschiedensten  Al)zweigungen  der  slavischen  Philologie  immer  mit  väter- 
lichem Rat  beizustehen.  Mögen  diese  ausgezeichneten  Eigenschaften  des 
waiirhaft  gebildeten  und  humanen  Mannes  der  jungen  Generation  als  leuch- 
tendes Vorbild  dienen.  Um  ix  IJajiniior. 


! 


640  Kleine  Mitteilungen. 

•}'  Martin  Hajnal. 

Ein  junges  vielversprechendes  Leben  ist  ei-losclien.  Prof.  Asboth  aus 
Budapest  teilt  mir  mit,  daß  daselbst  vor  kurzem  M.  Hajnal,  der  Verfasser 
jener  Abliandlung,  die  in  diesem  Bande  des  Arcliivs  (XXVIII.  31.ö— 321)  er- 
schienen ist,  an  der  Lungenschwindsucht  starb.  Der  jugendliche  Verfasser  der 
besagten  Abliandlung  hatte  sich  bei  mir  mit  folgendem  Schreiben  eingeführt: 

Als  ich  als  Stipendist  der  ungarischen  Regierung  auf  der  Universität 

zu  Agram  kroatische  Literatur  studierte,  beschäftigte  ich  mich  besonders 
mit  der  kaj kroatischen  Literatur,  um  den  eventuell  konstatierbaren  Einfluß 
der  ungarischen  Literatur  feststellen  zu  können.  Als  Resultat  dieser  Stu- 
dien schrieb  ich  eine  Abhandlung  »Madarski  utjecaj  na  kajkavsku  knjizev- 
nost",  wo  ich  mich  im  I.  Teil  mit  Pergosic,  im  IL  mit  Krajacevic-Petretic, 
im  III.  mit  der  Zrinijada  (darüber  ist  in  uug.  Spraclie  in  der  Zeitschrift  für 
Philologie  von  mir  eine  Abliandlung  erschienen  unter  dem  Titel  «Karna- 
ruticund  die  Zrinijade,  XXIX:  111  —  125,  200—213,  279—297),  im  IV.  mit 
Vramec,  dessen  Kronik  auch  ein  ungarisches  Werk  zur  Quelle  hat,  und  im 
V.  mit  sonstigen  Quisquilien  beschäftige.  Prof.  Surmin  urteilte  außer- 
ordentlich günstig  über  diese  Abhandlung.  Den  zweiten  Teil  wäre  ich  so 
frei,  in  deutscher  Übersetzung  Euer  Ilochwohlgeboren  zuzusenden  mit  der 
demütigen  Bitte,  mögen  Sie  die  Güte  haben,  es  gelegentlich  durchzulesen 
und  wenn  es  wert  ist  im  »Archiv  f.  sl.  Philologie«  zu  veröifentlichen. 

Martin  Hajnal,  Studiosus  philologiae. 

Ich  hatte  die  Abhandlung  in  unsere  Zeitschrift  aufgenommen  und  freue 
mich,  daß  der  sympathische  junge  Mann,  den  ich  auf  einen  Augenblick  in 
Wien  sah,  sie  noch  im  Druck  erschienen  sehen  konnte.  Mögen  seinem  Bei- 
spiele bald  andere  folgen.  V.  J. 


Sachregister. 


Badnjak  in  der  ungar.  Überlieferung 
601  ff. 

Böhmisch,  Deutung  der  Ursage  150  f.; 
älteste  Sprichwörtersammlung  284ff.; 
Paraphrase  des  Pinician  (XVII.  Jh.) 
79  ff. ;  Prosodie  u.  Metrik  bei  Erben 
94  ff. ;  292  ff. ;  Literaturgeschichte, 
Schulbücher  401  f.;  moderne,  403ff.; 
das  Böhm,  an  der  Olmützer  Univer- 
sität 623  fi'. 

Bruere,  Leben  u.  Werke  52  ff. 

Conjugation  s.  Imperfect,  Infinitiv,  Fu- 
turum, Verbum. 

Cyrill  und  Method,  Allgemeines  161 ; 
Lamanskij's  Ausführungen  über  Ein- 
zelnheiten der  Vita  Cyrilli  im  Aus- 
zuge von  Jagid,  162 — 186;  Brück- 
ner's  zwölf  Thesen  u.  zwei  Nachträge 
über  das  Wirken  und  die  Legenden, 
186 — 229;  Franko's  Beiträge  zur 
Quellenkritik,  speziell  über  die  Auf- 
findung der  Clemensreliquien,  229 — 
255;  Grab,  Grabinschriften  u.  Wand- 
malereien in  der  Clemensbasilica  in 
Rom,  neueAufnahme421  ff. ;  angebl. 
Fortleben  des  Cyr.  Method.  Werkes 
bei  den  Polen  614 — 623. 

Debrc,  seine  Lage  465. 

Deklination  der  Nomina  im  Altkirchen- 
slav.,  Rezension  der  Ansichten  von 
Ljapunov  (Fortunatov),  117  ff. 

Dialektologie,  poln.,  568  f. 

Entnasalierungen  im  Slav.  1 — 17. 

Etymologien  slav.  Wörter  481 — 507; 
Lehnwörter  467  f ;  50S — 539;  andere 
Etymologien  1  ff.,  160  u.  451  ff. 

Freisinger  Denkmal  u.  e.  Klemenshomi- 

lie,  neue  Parallele  256  ff. 
Futurum,  kirchenslav.  Reste  35  f 

Gorskij  Vijcnac,  italienische  Über- 
setzung, 418  ff. 

Graphik,  Bestimmung  der  Glagolica 
21 S  ff.;  was  Clirabr  bezweckte  220; 
vgl.  Runen. 

Archiv  für  slavische  riiilologic.    XXVIII. 


Hühneropfer  u.  Kult  b5  ff. 

Igorlied,  poln.  Übersetzung  145  ff. 
Imperfektum,  slav.,  seine  Entstehung 

27  ff. 
Infinitivstamm,  Ursprünglichkeit  des 

litau.  24  f. ;  die  Entstehung  von  -n^ti 

25  i. 

Kiever  Blätter  und  Prager  Fragmente, 
zur  Polemik  darüber  472  ff. ;  Erklä- 
rung einer  Stelle  478  f 

Kroatien,  zeitgenössische  Literatur  in 
poln.  Beleuchtung  142  ff. ;  kroatische 
Volkslieder  in  der  Fälschung  von 
Merimee,  Geschichte  der  Mystifika- 
tion 321  ff.;  Analyse  seiner  einzel- 
nen Lieder  333  ff.;  Beiträge  zur  kaj- 
kroatischen  Literatur,  des  Jesuiten 
Krajacevic-Sartorius  (nicht  Petretic) 
315—321. 

Kyrikos,  Hühnerheiliger  84  ff. 

Lechisch ,  Eigentümlichkeiten  dese. 
266  ff.  (Palatalisation,  Nasale,  tart 
u.  a. . 

Literaturgeschichte,  ß.  Böhmisch,  Pol- 
niscii,  Russisch;  Biographien,  s. 
Bruere,  Ritter-Vitezovic;  Nekrologe, 
Kaiina  480;  A.N.Wesselofsky  634  f., 
Drinov  637  f.,  Hajnal  640 :  Briefe, 
Palacky  an  Virozsil  628 ;  s.  kroatisch. 

Method.  s.  Cyrill. 

Mikorzyner  Steine,  ihre  Unechtheit,  s. 
Runen. 

Neuslovenisch ,  Chrestomathie,  krit. 
Anzeige  152  ff.;  vgl.  die  Ürdninga, 
Druck  vom  J.  1564,  468;  Freisinger 
Denkm.;  Präsens. 

Ortsnamenerkläning,  i>olabi8che  264  f. 

Poljica,  Land  u.  Leute  430  f. 

Polabisch.  Erklärungen  von  Lauten, 
Formen  u.  Worten  433  ff;  das  ge- 
fälschte Vaterunser  Müllers  144  ff.; 
deutscher  Einfluß  435  ff. 

41 


642 


Sachregister. 


Polnisch,  Literaturbericht  für  1903 — 
1905,  Zeitschriften  539  flf.;  Mittel- 
alter (Sophienbibel ,  Bogui-odzica 
u.  a.)  554  flf.;  XVI.  Jahrh.,  zumal  Rej, 
55(tff.;  XVII.,  557  ff.;  XVIII,  559  f; 
XIX.,  562  ff.;  grammatisches  567  ff.; 
historisches  570  ff.;  s.  Runen;  Cy- 
rill-Method. 

Präsens  perfektiver  Verba  im  Slovan. 
40  ff.;  vgl.  Verbum. 

Ragusa,  M.  Bruyöre  Desrivaux  als 
ragus.  Dichter  52  ff. 

Runen,  slav.,  Werk  von  Leciejewski, 
Zurückweisung  der  Angaben,  spe- 
ziell über  die  Mikorzyner  Steine 
385  ff. 

Rumänen,  Volksglaube  aus  slav.  Mo- 
tiven 575  ff. 

Russisch ,  Literaturgeschichte,  Anzeige 
129 — 138;  romantische  Richtung, 
deren  Geschichte  409  ff.;  Volks- 
märchen, übersetzt  392  ff. ;  s.  Nekro- 
loge (Wesselofskij). 

Sava,  h.,  Datum  der  Verbrennung  der 
Reliquien  90 — 93;  Lieder  von  sei- 


nem Weggang  zu  den  Mönchen 
621  ff. 

Serben,  ikavischer  Dialekt  im  König- 
reich 125 — 128;  kroatische  pro- 
testantische Literatur  468  ff.  (Kir- 
chenordnung ;  Hagelpredigt) ;  ita- 
lienische Studien  zur  Literaturge- 
schichte 410  f.;  Biographisches,  zu 
Ritter-Vitezövic,593— 600;  die  serb. 
Volkslieder  in  der  deutschen  Lite- 
ratur 351  ff.  (Asanaginica  bei  Goethe 
u.  a.) ;  wer  übersetzte  die  Lieder  bei 
Förster?  (Kopitar,  nicht  Griumi;, 
584  ff. ;  über  Volkskunde  (Poljica), 
Volksspiele  430  f. 

Sprichwörter,  Sammlung  kleinruss., 
angez.  395  ff.;  s.  böhmisch. 

Skythische  Namen  u.  Worte,  bei  He- 
rodot  449  f. 

Verbum,  Klassifikation  desselben  durch 
Dobrowsky  17,  Miklosich  19,  Schlei- 
cher21,  Leskien21,  Jagiö  23;  s. Kon- 
jugation etc. 

Wörterbücher,  moderne,  praktische 
431  f. 


Abraham  570. 
Adalberg  284. 
Adamovic  55. 
Afanasjew  392  ff. 
Agic  74. 
Albinoni  327. 
Aleti  63. 
Allatius  229. 
Altesti  62. 
Andric  355. 
Androvic  56. 
Appendini  53,  68. 
Asboth  610  ff. 
Askenazy  514. 

Babiaczyk  554  f. 
Bajamonti  354. 
Balzer  540. 
Bartocha  623  ff. 
Baryka  546. 
Baudouin  de  Courtenay 

261  ff.,  511. 
Belle  125—128. 
Bem  hu. 
Berezowski  546. 
Bernacki  546. 


Namenregister. 

Bersohn  575. 
Biegeleisen  566. 
Bielski  552. 
Bild  78  f. 
Blattner  432. 
Bocek  624  f. 
Bowring  330. 
Brandt  460. 
Bratic  43 1 . 
Brentano  587. 
Bruchnalski  543  ft\ 
Brückner  129  ff.,   139  ff., 

186— 229, 262  ff.,  284  ft"., 

539—575,  616. 
Bruere  52  ff. 
Brugmann  118,  160. 


Gallier  432. 
Callimach  499. 
Camblak  543. 
Cankar  157. 
Caro  542. 
Cassius  359. 
Öelakovsky  284  fl'.,  374. 
Chalanskij  373. 


Chaumette-Des-Fosses 

349. 
Chlebowski  552. 
Chmiel  556. 
Chmielowski  504,  506. 
Chrabr  168,  222. 
Chrzanowski  545  ff. 
Chiudina  418. 
Chybinski  497. 
Ciszewski  373. 
Corovic  629—633. 
Costin  575. 
Culic  70. 
Cupr  97. 
Curcin  323,  351. 
Czapla  544. 
Czermak  566. 
Czubek  545  ff. 

Dabczanska  550. 

Dabkowski  564. 

Daszynska  566. 

David  63. 

Dedic431. 

Demetrius  ^Pseudo-  513. 


Namenreffister. 


643 


Denis  353. 
Desrivaux  52  ff. 
Dietrich  392. 
Dobrovsky    17,   95,   374, 

624. 
Donath  76—83, 400—408. 
Drinov  f  637—639. 
Drogoszewski  562. 
Dziama  559. 

Endselin  453. 
Erben  94  ff.,  292  ff. 
Erjavec  154, 
Erzepki  559. 
Estreicher  539. 

Fabris  53. 

Feifalik  285. 

Feldman  563. 

Feric  74,  355. 

Filon  333. 

Finkel  540. 

Flajshans   97,   284—292, 

401. 
Flaska  284. 
Förster  584  ff. 
Fortis  69,  323  ff.,  358  ff. 
Fortunatov  117  ff,  458. 
Frankl  "572. 

Franko  229—255,  396  ff. 
Friedrich  1 81,  244  ff. 

Gagiö  56. 
(Talic410. 
Gaster  576—583. 
Gawinski  546. 
Gebauer  21. 
Geizer  184. 
Gerber  396. 
Gerhard  330  f. 
(ierman  432. 
(ijalski  142. 
(Jjorgjic  52. 
(Jloger  553  f. 
({oethe  331  f.,  357  ff. 
(ioetze  372. 
Goral  542. 
(Jorskij  182  f. 
(Jroszczynski  565. 
Götz  244  ff. 
Grabowski  T.  545. 
Grabowski  T.  St.  142  ff. 
Grimm  Jak.  358  ff.,  584. 
(rriin  Anast.  372. 
(Jrunskij  472  ff. 
Gubrynowicz  559. 
(Jumplowicz  621  f. 


Hahn  56G. 

Hajnal  315—321;  f  639. 

Hattala  20. 

Hanyi  363. 

Hanns  J.  406. 

Havlicek  407  f. 

Haxthausen  587. 

Heck  54.0  ff. 

Hecker  585. 

Hegendorfinus  554. 

Hempel  449. 

Herder  354  ff. 

Hilferding  182,  434  ff. 

Hintz  444. 

Hirt  37  f.,  125  ff. 

Hoesick  562. 

Horäk  29. 

Hu8  401. 

Hysek  623—627. 

Jacimirskij  543. 

Jagic  17—36,  117—125, 
161,  162—186,  256, 
260  f.,  319,  385—392, 
431  f.,  468  ff.,  479,  480, 
634—637,  639  f. 

Jakubec  408. 

Jarecki  567. 

Jeliö  422. 

Jensen  377. 

Iljinskij  87,  160. 

Jbkl  Ferd.  95. 

Jokl  Norb.  1—17. 

Jugler  444  f. 

Ivanisevic  430. 

Ivic  90—93,  628. 

Kabelik  405. 
Kaciö  353  ff. 
Kaiina    275,  435,   439  f., 

480. 
Kallenbach  566. 
Kaluiniacki  84 — 89. 
Kaniper  404. 
Kapper  371  f. 
Karbowiak  571. 
Karinski j  473  f. 
Karlowicz  539. 
Kasumovid  53,  353. 
Kaznacid  72. 
K^trzynski  573. 
Kette  156. 
Kidric    152  —  157,   614— 

623. 
Kirste  418. 
Kläcel  405. 
Klaczko  562- 


Klemens  von  Bulgarien 

256  ff. 
Koblischke  261—283, 

433—449. 
Kochanowski  540. 
Kochanowski  P.  546. 
Kolendic  75. 
Kollär  386. 
KoH^taj  560. 
Konrad  von  Halberstadt 

285. 
Kopitar  355  ff.,  584  ff. 
Korun  152. 
Kossowski  554. 
Koubek  4U6. 
Kozmin  409. 
Krajacevic  315  ff. 
Kräl  97  f.,  116. 
Kranjcevic  143. 
Krasinski  566. 
Kraushar  560  f. 
Kreglianovic  327. 
Kretschmer  159. 
Krynski  539  f. 
Krzyw'icki  573. 
Krzyianowski  543  f. 
Kiihnel  570. 
Kujot  544. 
Kunik  1 82  f. 
Küzmics  45. 

LamanskiJ  162 — 186,21». 
Leciejewski  3S5  ff.,  551. 
Lepki  145  ff. 
Leskien  22  f..  33. 
Levickyj  145 — 150. 
Levstik  41. 
Liden  36—39,  451. 
Ljapunov  117  ff.,  Alb  ff.. 

637  f. 
Likowski  543,  545. 
Lippert  l.iO. 
Lopacinski  550. 
Los  539,  567. 
Lovriö  326. 
Lozinski  558. 
Lucerua  351  ff. 
Lukas/.ewicz  545. 
Lukaszewski  432. 

Mäclia  103  f. 
Maj('\v8ki  •'>41. 
MaltM'ki  3sti. 
Maliii<)\v.ski  569  1'. 
Maiysi'vakij  163. 
Maiigiuca  583. 
Mart'tic  373. 


644 

Marinovic  55. 
Markovic  362. 
Matic  321-350. 
Matuszewski  565  t. 
Meillet  454  f. 
Mejsnar  400  ff. 
Mencej  40 — 51. 
Merimee  :}21  ff. 
Metelko  42. 

Meyer  Anna  39/  tt. 

Meyer  G.  38. 

Miaskowski  543. 

Miklosichl9ff,3D  42,69, 

98,  360  ff,  451  ff 
Milovac  317. 
Milutinoviö  371. 
Miodonski  499. 
Mitrovic  4 1 6  f. 
Mosbach  432. 
Mourek  432. 

Mucke  268,  435  ff,  510  f. 
Müller  Max  393. 
Müller  445. 
MuUooly  426. 
Murko  351— 38d. 
Mum-Aleksandrov  15b. 
Mycielski  548. 


^Namenregister. 


Nadezdin411. 
Nagy  5>-76,  416-421 
Navi-atil  42. 
Nebesky  406. 
Nebring  139-142,  555. 
Nejedly  9". 
Niederle  450. 
Niedzwiedzki  539. 

Nikoliö  418  ff. 

Nitsch  568  f. 

Nodier324ff. 

Nowaczynski  550. 

Noväk  J.  V.  402. 

NoväkA.400ff. 

Novakovic   158  t.,  4bö— 
467,  629  f. 

Nyrop  84. 

Oblakl52,  478,  480. 
Okoniewski  542. 
Ostboff452,  454. 
Ostojic  306. 

Palacky  404,  628  f. 
Papee  513. 
Papfpcki  545. 
Passendorfer  542. 
Pavic,  A.  362,  374. 
Pavic  Emer.  353. 


Päzmäny  320  f 
Peder8en25,  .^.  f.,  118fi. 

459,  510. 
Pekai-  217. 
Pelikan  401. 
Petrarca  76. 
Pergosiö  321. 
Petranovic  630  t. 
Petretiö  317  ff. 
Petrovskij  3o9,  b^l. 
Piekosinski  386,  oob. 
Pini540. 
Pinitianus  >  o  n- 
Pintar  42  f. 
Pogorelov  220. 
Polanski  267. 
Polinski  555. 
Polivka  382,  392-399. 
Potkanski  222  ff. 
Potocki  J.  449. 
Prellwitz  38. 
Procbaska  514. 
Prohaska  52,    142-145, 

409—416. 
Przebendowski  542. 
Przyborowski  388. 
Ptasnik543. 
Ptaszycki  549,  614  fl. 
Puciö  52  f.,  71. 
Puskin  331  ff. 


Kamult  268. 
Eaymann  96. 
Rej  139  ff.,  548  ff. 
Relkovic  30  D  ff. 
Rembowski  561. 
Eesetar54f.,  418,  421 

431,468—472. 
EeBti61,67. 
Ritter  s.  Vitezovic. 
Rossi  422. 
Rotcev  412. 
Rozwadowski  569. 
Riwarac  90  f.,  379. 

iSafatik  56,  182,471,478 
Sartorins315ff. 
Schleicher  21,  269,  2<6, 

433  ff. 
Schmidt  Job.  33. 
Seklucjan  544  f. 
Sembera  626  f. 
Sisgorens  378. 
I  Sismanov  376. 
1  Sitovic  359. 
I  Skarga  553. 
1  Skerliö  324  ff. 


Sketl52ff. 
Skok  467  1. 
Skrabec  41  ff. 
Slowacki  566. 
Smetanka  400  ff. 
Snopek  593-600 
Sobieski  550,  o71 
Sobolevskij  3'il  t. 
Sobolevskij  A.  44.»  n., 

ih'i,  614  ff. 
Soerensen  356,  377. 
Sokolowski  546. 

Solar  42. 
Solikowski  548. 

Sorgo  63,  73. 
Sovic  358  f. 
Stach  96,  624. 
Stanek  402. 
Stanic  632. 
Staszic  560. 
Steig.584. 
Sterzmger  432. 
Sten  564. 
Stojkovic  362^ 
Storozenko  o'l- 
Strekelj  481—539. 
Stritar  41. 
Stur  407. 
Sufflay  601—610. 

|Ä4-U6,M3-305. 
Swieykowski  55  ( . 
Syrokomla  504. 
Szarzynski  545. 
Szczesniak  512  614  ä. 
Szczurat  (falsch  Swistun) 

556. 
Szule386. 
Szymonowic  5d  < . 


Talvj  370  f. 
Tarnowski  154,  544. 
Thal  150—152. 

Tobolka  407. 

Tokarz  560.^ 

Toturaitis  573. 

Tretiak  543,  566. 

Tropsch  584—590. 

Trubar41,  48. 

TruhUvr  285  f. 

Turgeniev  145. 

Uhlenbeck  459. 
Ulanowski  550. 

Wachowski^573. 
1  Valjavec  317. 


Wallner  1  öO  ff. 
Warminski  542,  544. 
Wasilewski  565. 
Vasiljevskij  164. 
Wawrzeniecki  551. 
Werbewczi  321. 
Weres  321. 
Verkovic  367. 
Wesselofskij  A.  128— 

138. 
Wesselofskij  A.  N.  634  ff. 
Vesnic  349. 
Wesely  371. 
Vidic  470. 
Wierzbowski  562. 
Wilpert  421  ff. 


asterzilj  513. 

badnak  601  ff. 
barnast  508. 
bazlo  8. 
hqdak  481. 
behb,  beahx  34. 
belka  515. 
beno  482. 
blazni.  1. 
börs,  borsch  269. 
brezdati  14. 
brzmiec  15. 
biid,  wüd  601  ff. 
budb6ka  612  f. 
bilde  39. 
burka  482. 
burlati  508. 
burtati  508. 
byseste  35. 

oadra  510. 
c.iloh't  510. 
cakati  510. 
camolika  499. 
candra  510. 
canka  509. 
cär(a)  569. 
carda  509. 
ceniti  511. 
cesti.  9. 
ccstr.  15. 
chic  460. 
chrostLk'i>  14. 
clirusti.  14. 
cln.töti  457  f. 


Wortregister. 

Virozsil  628. 

Vuk  355  ff. 

Vitezovic  293  ff. 

Vukadinovic  76. 

Wittyg  550. 

Vulovic  4 1 8. 

YIcek  154,  400  ff. 

Wynne  323. 

Vocel  404. 

Vodnik  42. 

Vogl  372. 

Zablocki  501. 

Vojnovic  142, 

Zamotin  409  ff. 

Wqjciechowski  K.  559. 

Zamoyski  499. 

Wojciechowski  T.  570. 

Zawiliiiski  541. 

Wolf  4 3  f. 

Zdziarski  506. 

Vondräk   24,  27  ff.,  160, 

Zimorowie  558. 

256—260,    459,    472— 

Zivaljeviö  355. 

478,  479,  618. 

Zmajevic  376. 

Voronov  164. 

Zupitza  2  ff.,  37. 

Wotschke  542. 

Zwolski  555. 

Wortregister. 

cmolje  499. 

greznati  1 4. 

cundra  510. 

gruzt  2. 

cvoli.  496  ff. 

halstra  513. 

dbol  496. 

hasäk  3. 

deno  482. 

hastros  3. 

dilja  511. 

holstra  512. 

dno  483. 

honac  honak  513 

dosti  460. 

hora  513. 

draciti  11. 

dnighll. 

jascur  514  f. 

drasati  ;i. 

jazva  8. 

draziti  12. 

jazT.  8. 

draznit'  12. 

jecy,  j^cy  S. 

drqsli.  11. 

j^(z)dro  451  ff'. 

drezgnati  14. 

jeza  9. 

drjaclilj'j  11. 

jezgra  453. 

drjagva  11. 

jicen  8. 

drjazgi  10. 

droga  13. 

karära  51('). 

drom  454. 

katr(y)  517. 

druk  11. 

kaükti  37. 

drzazga  14. 

kaverza  506. 

dupa  483. 

kavka  37. 

dbna  483. 

kavtre  516. 

di.nka  482. 

klojoc  517. 

dyle511. 

klonec  518. 

kobka519. 

frajati  511. 

koci'l  46i;. 

kolajua  519. 

gaifjz  2. 

kou"519. 

gasat'  3. 

konk  518. 

gl.-izr.  1. 

kopati  500. 

golja  2. 

kopr\  adlo  486. 

govcti  484. 

korpelja  520. 

grancav  467. 

kori.  485  f. 

645 


646 


Wortregister. 


kosa  490. 
kostel  159. 
krasi-ni.  4. 
krenati  5. 
krinica  5. 
krispet  535. 
krnata  520. 
kruta  4. 

lavor  521. 
lavri.  521. 
Jazy  2. 
l^dina  2. 
lerio  583. 
lit  522. 
lorbega  521. 

machnut'  5. 
majzar  522. 
mäseka  522. 
mita  38. 
Morlacken  360. 
mosuna  523. 
muson  523. 

najazni.  7. 
naprasno  2. 
natrag  504. 
nejesyt-B  9. 
nevesta  456. 

odra  485. 

oklor,  roklor  524. 

okruta  4. 

päjstva  498. 
Papaluga  583. 
paraspor  463. 
pasmo  6. 
past  3. 
perple  39. 
pinja  524. 
pirogT.  512. 
plesati  9. 
porg  269  f. 
posa  158  f. 
povoni.  3. 
pra%a  6. 


preslo  15. 
prnat  525. 
prony  3. 

r^bt  110. 
rabelj  525. 
rachat'  7. 
rahel  7. 

raztoropnyj  503. 
reber  486. 
remjö  10. 
resa  9. 
ret  526. 
rjasa  10. 
rjasina  10. 
ryst  488. 

safti  527. 
sajha  526. 
scapx  499  f. 
scepa  501. 
skaram  528. 
skopit'  500. 
sludy  2. 
sluzy  2. 
socha  489  ff. 
sor  514. 
sova  3. 
scavyj  501. 
scepet-B  501. 
scata  529. 
spatny  529. 
staja  523. 
stap  500. 
stbol  496. 
stekar  502. 
stenB  160. 
Steve!)  497. 
strach  7. 
strastt  7. 
strop(a)  530. 
stropot-B  495. 
struna  494  f. 
stur  514  f. 
svolt  496  ff. 
sublja  530. 
supa  526. 
supa  530. 


Buraznyj  6. 
susolt  516. 
svLStr,  455  f. 
szczur  514. 
szpeciö  529. 
sztrofa  530. 

taler  531. 
tasiti  2. 
tazat'  2. 
telo  160. 
teni.  160. 
tir  532. 
torop  503. 
tovornik  532. 
trabun  533. 
traca  533. 
trag  504. 
tragi  534. 
tra(g)lje  534. 
tranja  535. 
trispet  520. 
trs  535. 
trusec  536. 

ulaznyj  8. 
ulij  8. 
umor  505. 
urbas  536. 
ures  10. 

vadljati  468. 
vadvacka  536. 
verzti  505. 
vetrih  536. 
vrnile  517. 
vrviti  507. 
wrzawa  507. 
vsegarica  537. 

zaladija  467. 
zapaska  6. 
zeljar  538. 
ziljer  538. 
zlombrt  538, 
zmija  38. 
Zoche  493  f. 
zventuljice  539. 
zyncel  518. 


Druck  Ton  Breitkopf  &  Härtel  in  Leipzig. 


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APR  1  ^  t975 


PG      Archiv  für  slavische  Philologie 

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A8 

Bd. 28 


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