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Full text of "Archiv für die gesamte Psychologie. v.39.1920. Princeton"

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ARCHIV 

FÜR DIE 

GESAMTE PSYCHOLOGIE 

BEGRÜNDET VON E. MEUMANN 

UNTER MITWIRKUNG 

VON 

Prof. N. ACH in Königsberg, Prof. E. BECHER in Münster, Prof. 
H. HÖFFDINQ in Kopenhagen, Prof. F. KIESOW in Turin, Prof. 
A. KIRSCHMANN in Leipzig, Prof. E. KRAEPELIN in München, 
Prof. F. KRUEGER in Leipzig, Prof. A. LEHMANN in Kopen¬ 
hagen, Prof. G. MARTIU8 in Kiel, Prof. A. MESSER in Giessen, 
Prof. G. STÖRRING in Bonn und Prof. W. WUNDT in Leipzig 

HERAUSGEGEBEN VON 

W. WIRTH 

A. 0. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


XXXIX. BAND 

MIT 15 FIGUREN IM TEXT 



LEIPZIG 

VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 
1920 


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£b wurden ausgegeben: 

Heft 1 und 2 (S. 1—148) am 19 Dezember 1919 
Heft 3 und 4 (S. 149—298) am 11. Mai 1920 


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Inhalt des neununddreissigsten Bandes. 


Abhandlungen: seit« 

Walter Resch, Zar Psychologie des Willens bei Wundt. 1 

J. Wittmann, Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. (Mit 1 Figur iui Text) 69 
Paul Müller, Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegnng. (Mit 9 Figuren 

im Text).89 

Huoo Lehmann, Kulturpsychologie und Geschichtstheorie (im Umriß . . . 136 

Erklärung.149 

B. Paulssen, Einfache Reaktionen bei Variation und rhythmischer Glie¬ 
derung der Vorperiode. (Mit 6 Figuren im Text).149 

Josef 0. V£rtes, Das Gedächtnis der Blinden. 214 

J. K. von Hoesslin, Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens 232 

Erich Stern, Zur Frage der »logischen« Wertung.•. . . 269 

Wilhelm Wirth, Beiträge zur psychophysischen Anthropologie. I. Ano¬ 
malien der Gesichtsfarbe als Begleiterscheinungen der Farbenblindheit 289 



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(Aus dem psychologischen Seminar der Universität Kiel.) 


Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 

Von 

Walter Resch (Hamburg). 


Inhaltsverzeichnis. seit# 

Einleitung. 1 

I. Das erste Stadium in der Entwicklung der Willenslehre bei Wundt: 
Gestaltung einer Willenspsychologie im Zusammenhänge intellek- 

tualistischer Grundlegung. 3 

II. 2. Stadium: Annäherung der Willensvorgänge an die Reflexe: Ver¬ 
knüpfung von Wille und Apperzeption. II 

III. 3. Stadium: Loslösung der Darstellung der Willensvorgänge von der 

der Reflexe; fortschreitende Betonung des Gefühlscharakters der 
Apperzeptions- und Willensvorgänge. 22 

IV. 4. Stadium: Darstellung der Willensvorgänge als Gefühlsverläufe auf 

der Grundlage der Elementenlehre.38 

A Willensvorgänge als Gefühlsverläufe.40 

B. Die Elementenlehre und der Wille.49 

Schluß.67 


Einleitnng. 

In der langen Reihe literarischer Produktion, wie sie sich von 
den »Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung« 1862 und den 
»Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele« 1863 bis zu den 
neuesten Auflagen der »Grundzüge der physiologischen Psychologie«, 
der »Ethik«, der »Vorlesungen«, des »Grundrisses der Psychologie« 
erstreckt, hat Wundts Auffassung und Darlegung der Willensphäno¬ 
mene eine mehrfache Wandlung durchgemacht. Neben dem Auf¬ 
treten gänzlich neuer Gesichtspunkte und der Beseitigung anderer 
sind mehr oder minder enge Zusammenhänge nicht zu übersehen. 

Wundt näherte sich von der Physiologie her der Psychologie. 
Die Theorie der Sinneswahrnehmungen war Gegenstand der Unter¬ 
suchung. Die psychophysische Betrachtungsweise fand eine stete 
Berücksichtigung in den Grundzügen der physiologischen Psychologie. 

Archiv für Psychologie. XXXIX l 


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Walter Resch, 


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Rein psychologische Interessen waren maßgebend, als Wundt sich 
in der Logik (1880—1883) mit der Psychologie des Denkens und in 
der Ethik mit der des Wollens zu beschäftigen Veranlassung sah. 
Die psychologischen Anschauungen Wundts, losgelöst von einer 
psychophysischen Orientierung, wurden in dem 1896 erschienenen 
Grundriß zu systematischer Darstellung gebracht. Als Wundt den 
Kreis der Individualpsychologie überschritt und die Völkerpsycho¬ 
logie umfassend in Angriff nahm, war wiederum das Schwergewicht 
auf psychologische Einfühlung und Interpretation gelegt. Im Laufe 
seiner Arbeiten schenkt Wundt mehr und mehr der Beschreibung 
der Einzelheiten seelischer Erlebnisse seine Aufmerksamkeit. 

Die vorliegende Arbeit versucht, ohne stete Berücksichtigung 
der allgemeinen metaphysischen Gesichtspunkte und ihrer Wand¬ 
lungen, vor allem im einzelnen darzulegen, wie sich die Beschreibung 
der Willensphänomene zu den verschiedenen Zeiten gestaltet. Hierbei 
ist eine Beachtung von manchen Ausführungen Wundts notwendig, 
die teils Physiologisches betreffen, teils, psychologischen Charakters, 
zur eigentlichen beschreibenden Psychologie des Willens nur in mittel¬ 
barer Beziehmig stehen. 

Keiner sorgfältigen und unbefangenen Betrachtung der Wundt- 
sehen Werke in ihrer in den neuesten Auflagen vorliegenden Form 
kann entgehen, daß die Ausführungen nicht immer, so auch die zur 
Psychologie des Willens, das Maß an begrifflicher Eindeutigkeit und 
Schärfe, an Durchsichtigkeit der Darstellung zeigen, das zu erreichen 
und im Interesse wissenschaftlicher Klarheit zu wünschen wäre. Dies 
Urteil hat aber den frühesten Schriften Wundts gegenüber keines¬ 
wegs Berechtigung. Wundt hat, einerseits offenbar der Kritik in 
manchen Punkten nachgebend, andererseits selbständig zu neuen 
Auffassungen durchdringend, eben im Laufe seiner schriftstellerischen 
Tätigkeit immer mehr in die älteren Aufstellungen hineingearbeitet, 
ohne daß die logische Durchdringung mit der zunehmenden Vielheit 
gedanklicher Motive Schritt gehalten hätte. Es liegt hier literarischen 
Untersuchungen, die das komplexe Gewebe Wundtscher Darstellung 
und Gedankenwelt der geschichtlichen Entstehung nach analysierend 
erst ganz verständlich machen würden, ein weites Feld offen. Solchen 
immanenten Verhältnissen soll im folgenden besondere Aufmerk¬ 
samkeit gewidmet, besonders aber die Elementen!ehre, wenn auch 
nicht nur von solchen Gesichtspunkten aus, betrachtet werden. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


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I. Das erste Stadium in der Entwicklung der Willenslehre bei 
Wandt: Gestaltung einer Willenspsychologie im Zusammenhänge 
intellektnalistischer Grundlegung. 

Als ein erstes Stadium der Entwicklung der Willenslehre sind 
die Anschauungen der »Vorlesungen über die Menschen- und Tier¬ 
seele« (1. Aufl.) abzugrenzen. Die »Vorlesungen« stimmen in den 
grundlegenden psychologischen Voraussetzungen mit der »Theorie 
der Sinneswahrnehmungen« überein. 

Das Motto der letztgenannten Schrift ist Leibniz’ Satz: Nihil 
est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi intellectus ipse (Th. S. 
XXXII). Mit diesem intellectus soll nicht im Sinne Leibniz’ eine 
ganze Welt angeborener Vorstellungen in die Seele verlegt werden. 
Sondern es soll unter dem intellectus nur jene erfahrungsgemäße 
Tatsache logischer Entwicklung, in der nicht die Erkenntnis selber, 
sondern nur die Möglichkeit ihrer Gewinnung gelegen ist, verstanden 
werden. Die Seele als ein aus sich selbst heraus nach logischen Ge¬ 
setzen handelndes und sich entwickelndes Wesen ist Erfahrungs¬ 
tatsache. Das gesamte Seelenleben ist eine zusammenhängende 
Aneinanderreihung logischer Prozesse. Das Denken ist die »Grund¬ 
tätigkeit des Geistes« (M. T. 1 I. 286). Es ist die innere Erfahrung, 
mit der man an die äußere herantritt 1 ). 

In den Urteilen und Begriffen als den Resultaten des Denkens 
kann die Denktätigkeit selber nicht bestehen. Der Schluß ist die 
Arbeit, die Urteile und Begriffe schafft. Das Denken ist die Tätig¬ 
keit des Schließens 2 ). 

Die Empfindung, die durch unmittelbare Umsetzung des phy¬ 
sischen Nervenprozesses entsteht, ist das nicht weiter zu zerlegende 
Element, welches der Wahrnehmung vorausgeht und sie bedingt. 
Die ursprünglichen Erkenntniselemente, die es gibt, sind die ein¬ 
fachen Sinnesempfindungen. Die Empfindung ist derjenige Seelen¬ 
vorgang, aus dem alle weiteren Prozesse des geistigen Lebens hervor¬ 
gehen. Die Empfindungen bilden das Material, dessen sich das 
schließende Denken bemächtigt. Sie unterscheiden sich oder stimmen 
in bestimmten Merkmalen überein. Alle Merkmale sind als Urteile 
aufzufassen. Jede sinnliche Wahrnehmung und unmittelbare sinn¬ 
liche Anschauung entsteht so aus einer Menge von teils bejahenden, 
teils verneinenden Urteilen. Die Wahrnehmung ist ein Schluß, der 


1) Th. s. 451; M. T.i I. 15. 

2) M. T. 1 I. 56. 

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Walter ßesch, 


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aus solchen Urteilen gefolgert wird. Aus der Empfindung bildet 
sich die Wahrnehmung hervor auf dem Wege logischer Prozesse 1 ). 

Die Erhebung einer Wahrnehmung ins Bewußtsein ist als Vor¬ 
stellung zu bezeichnen. Bewußtsein wiederum besteht darin, daß 
wir unser Ich von der Außenwelt trennen körmen und so jedem 
Objekt die Stelle anweisen, die es in bezug auf unser Ich einnimmt. 
Nach M. T. 1 I. 299 ist Bewußtsein erst da, wo das Selbstbewußtsein 
dem objektiven Bewußtsein gegenübertritt. Es entsteht also 
eine Vorstellung, sobald das Ich ein anderes sich gegenüberstellt. 
Diese Trennung von Ich und Außenwelt geht aus Schlußprozessen 
hervor. In jeder Erhebung ins Bewußtsein liegt jene Sonderung. 
Die Erhebung jeder einzelnen Anschauung ins Bewußtsein ist ein 
Schlußakt. Ins Bewußtsein fällt nur das Resultat des Schlusses, das 
Urteil, das die Beziehung der angeschauten Objekte zum anschauenden 
Subjekt feststellt. Der Schlußprozeß selbst liegt außerhalb des Be¬ 
wußtseins. Es gibt unbewußte Schlüsse und unbewußtes Denken 2 ). 

Die Sicherheit im Endresultate der Prozesse, die eine bestimmte 
Anschauung in ihre Beziehung zu dem anschauenden Ich bringen, 
heißt Klarheit des Bewußtseins. Man nennt das Bewußtsein mehr 
oder minder klar je nach der größeren oder geringeren Sicherheit 
des Schlusses 3 ). 

Die Empfindung an sich ist ein einheitliches Quäle. Alle Emp¬ 
findungen sind Veränderungen unseres Zustandes, werden aber un¬ 
mittelbar und ursprünglich keineswegs als solche aufgefaßt. Sie sind 
vielmehr ursprünglich weder subjektiv noch objektiv. Erst in dem 
Augenblick, wo ein gewisser Empfindungsteil als Veränderung des 
eigenen Zustandes gefühlt wird, da wird auch ein anderer Teil der 
Empfindung auf die Beschaffenheit eines äußeren Eindrucks bezogen. 
Die Empfindung wird in ein subjektives und objektives Moment 
getrennt. Das erstere heißt Gefühl im Gegensatz zu der Empfindung 
im engeren Sinne. Alle Gefühle beziehen sich offenbar auf einen Zu¬ 
stand des fühlenden Wesens selber. Dann aber ist deutlich, daß das 
Gefühl kein ursprünglicher Seelenzustand sein kann. Das sinnliche 
Gefühl, anfänglich in der Empfindung im weiteren Sinn enthalten, 
ist erst dann möglich, wenn das Ich sich von den äußeren Dingen 
trennt und also das Bewußtsein entsteht. Die Gefühle sind keine 
elementaren Gegebenheiten, vielmehr »Produkte einer Reflexion«, 
die erst auf einer bestimmten Stufe seelischer Ausbildung anfängt. 

1) Th. S. 439, 440; M. T.» I. 52 ff., 202, 280. 

2) Th. S. 440/7; M. T. 1 I. 289, 303, 305, 309/10. 

3) Th. S. 440; M. T. 1 1. 308. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


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Somit ist die Entstehung der einzelnen sinnlichen Gefühle nicht von 
jenen Vorgängen unterschieden, die sich bei der Ausbildung der Er¬ 
kenntnis vorfinden. Logische Prozesse liegen hier wie dort zugrunde. 
Trotzdem besteht zwischen den Erscheinungen selbst, den Vorstel¬ 
lungen und Gefühlen, ein nicht zu verkennender Unterschied 1 ). 

Die von der Sinnlichkeit und sinnlichen Beziehungen unab¬ 
hängigeren Gefühle heißen Affekte oder Stimmungen. »Affekt« 
meint stets eine schnell vorübergehende Bewegung. Mit dem Begriff 
der Stimmung wird auf eine andauernde Gemütsbewegung hinge¬ 
wiesen. Die Affekte sind teils vom Vorstellungsinhalte abhängig, teils 
sind sie nur durch die Art und Weise bedingt, wie sich die Vorstel¬ 
lungen aneinander reihen. Verwickeltere Affekte endlich sind durch 
beide Momente beeinflußt. Niemals kann der Inhalt einer einzelnen 
Vorstellung einen Affekt erzeugen. Der Affekt unterscheidet sich 
gerade dadurch von dem sinnlichen Gefühl, daß er auf eine Reihe 
von Vorstellungen gegründet ist. Diese Aneinanderreihung der Vor¬ 
stellungen ist eine Verknüpfung nach logischen Gesetzen. Die Pro¬ 
zesse, aus denen der Affekt hervorgeht, sind eine Folge von Schlüssen 
unbewußter Art. Was die Affekte des Vorstelluogsverlaufes anlangt, 
so erzeugen nicht die logischen Prozesse, die im Verlaufe der Vor¬ 
stellungen selber liegen, sondern erst logische Prozesse, die auf jene 
sich gründen, die Affekte. Der Affekt ist ein Schluß zweiter Ordnung. 
Beiden Hauptgattungen der Affekte liegt ein unbewußter Erkenntnis¬ 
vorgang zugrunde 2 ). — 

In der Vorrede zur 2. Auflage der »Vor!.« S. V. bemerkt Wundt, 
daß er schon jahrelang vor dem Erscheinen der 1. Auflage der physio¬ 
logischen Psychologie die 1. Auflage der Vorlesungen als eine »Jugend¬ 
sünde« betrachten gelernt habe, an die er sich nur dadurch zuweilen 
unliebsam erinnert gesehen hätte, daß immer noch dann und wann 
gewisse dort auf gestellte Hypothesen und Anschauungen mit seinen 
später gewonnenen Überzeugungen zusammen geworfen worden seien. 
Man kann sich immerhin vor dem von Wundt gerügten Fehler 
hüten und wird doch nicht übersehen dürfen, daß die dargelegten 
Anschauungen, so die Annahme einer »Grundtätigkeit des Geistes«, 
die Statuierung der Empfindung als letzten Elementes, weiter die 
Stellung des Gefühls der Empfindung einerseits, der »Grundtätig¬ 
keit« andererseits gegenüber, keineswegs ohne jede Nachwirkung in 
der weiteren literarischen Produktion geblieben sind, daß vielmehr 

1) Th. S. 398, 400; M. T.» II. 2, 5, 15/6. 

2) M. T. 1 TI. 25, 32, 40/1, 43. 


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6 Walter Resch, 

um des Verständnisses der Entwicklung halber nicht zu vernach¬ 
lässigende Zusammenhänge gerade in Punkten vorliegen, die ebenso 
für die Psychologie des Willens von Wichtigkeit wie für Wundts 
Psychologie überhaupt charakteristisch sind. — 

Was nun die Willenspsychologie von M. T. 1 selbst anlangt, so 
sollen Fühlen und Begehren eng aneinander gebundene Erschei¬ 
nungen sein. Unzweifelhaft entspringen die Begierden stets aus 
Gefühlen. Das Begehren ist »an jedes Gefühl gebunden« 1 ). In allen 
Fällen ist in dem Gefühl selbst schon ein Begehren enthalten. In 
jedem sinnlich angenehmen Reize, jedem freudigen Affekte liegt das 
Streben nach seiner Erhaltung, jeder Schmerz, jede trübselige Stim¬ 
mung trägt den Trieb zu deren Vernichtung in sich. Je höher das 
Gefühl steht und je mehr es sich Zur ruhigen Stimmung abklärt, 
um so mehr tritt das Begehren im Gefühl zurück. Das Begehren 
kann die verschiedensten Intensitätsgrade zeigen. Allen den Ge¬ 
fühlen, in denen das Begehren den wesentlichen Bestandteil bildet, 
ist das eine gemeinsam, daß sie über die Gegenwart hinaus in die 
Zukunft streben, daß sie die Antizipation eines zukünftigen Gefühls 
sind. Während die Freudez. B. sich selbst genug ist, nährt sich gleich¬ 
sam die Hoffnung von der Zukunft und ist bloß deshalb ein Lust¬ 
gefühl, weil sie von der erwarteten Lust etwas vorausnimmt. Dann 
immer, wenn das Gefühl in diesem Streben nach einem Zukünftigen 
ohne Rest aufgeht, wird das Begehren zur Hauptsache. Indem nun 
das Begehren die Zukunft vorausnimmt, schwebt ihm ein Phantasie¬ 
bild dieser Zukunft vor. Es liegt in dem Begehren schon die Vor¬ 
stellung z. B. des künftigen Lustgefühls, das erstrebt wird. Aber es 
existiert unzweifelhaft ein Begehren, lange bevor dem Bewußtsein 
ein Ziel vorschwebt, dessen Erreichung das Begehren befriedigt. 
Ja, alles Begehren ist ursprünglich instinktiv. Erst, indem es zur 
Kenntnis seines Zieles gelangt, kann es zum bewußten Streben 
werden. Im besonderen stammt das allseitige Begehren, das sich in 
der Liebe ausspricht, aus einem »unbewußten Erkenntnisprozeß« 
(M. T. 1 II. 338) 2 ). 

Jede Handlung ist eine Bewegung, wenn auch nicht jede Be¬ 
wegung eine Handlung. Die Handlung muß von der Persönlichkeit 
ausgehen, sie muß aus Motiven, die in der Persönlichkeit ihren Grund 
haben, entspringen. Es gibt drei Arten von Handlungen, Reflex-, 
Instinkt- und Willkürhandlungen. Jede Empfindung von genügender 


1) M. T. 1 II. 323«. 

2) M. T. i II. 2, 322, 329. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


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Stärke hat bei Abwesenheit hemmender Einwirkungen eine Muskel¬ 
bewegung zur Folge, die als Reflexbewegung zu bezeichnen ist. 
Beobachtet man hier doch eine Übertragung des Nervenprozesses 
von empfindungs- auf bewegungsleitende Nervenfasern, tritt hier 
doch ein Reflex des Reizes ein. Man kann leicht nachweisen, daß von 
den Eindrücken, denen die Sinne preisgegeben sind, immer nur eine 
kleine Zahl wirklich bewußt wird. Während notwendig eine Menge 
von Sinneseindrücken fortwährend die Prozesse der Empfindung an¬ 
regen, wird nur ein geringer Teil zu bewußten Empfindungen, d. h. 
wird auf das anschauende Subjekt bezogen. Es gibt unbewußte Emp¬ 
findungen. Die Empfindungen mm, die die Reflexbewegungen wach¬ 
rufen, können unbewußt oder bewußt sein. Die Reflexbewegung selbst 
bleibt immer ein vollkommen imbewußter Vorgang. Ein Unterschied 
besteht nur darin, daß überall, wo eine bewußte Empfindung oder 
ein bewußtes Gefühl — die Empfindung im weiteren Sinne spaltet 
sich ja, indem sie bewußt wird, in die eigentliche Empfindung und 
Gefühl — die Reflexbewegung hervorrufen, man auch die letztere 
leicht zum Bewußtsein erheben kann. Schon die einfache Reflex¬ 
bewegung erscheint als eine zweckmäßige Bewegung 1 ). 

Auch die instinktiven Handlungen tragen den Charakter der 
Zweckmäßigkeit. Sie entspringen aus den Affekten und höheren 
Gefühlen (M. T. 1 I. 341). »Instinkt« bezieht sich immer auf die 
Äußerungen des Fühlens und Begehrens in der Handlung. Verglichen 
mit den Reflexbewegungen sind sie verwickelteren Charakters. An 
und für sich sind sie unbewußt und können erst nachträglich von dem 
Bewußtsein aufgenommen werden. Das instinktive Handeln ent¬ 
springt nicht aus den fertigen Gefühlen und Begierden, sondern nur 
aus jenen unbewußten Motiven, aus welchen das Fühlen und Be¬ 
gehren selber entsteht. In dem Augenblick, in dem die Begierde 
oder das Gefühl im Bewußtsein steht, ist sogleich auch die zugehörige 
instinktive Handlung da 2 ). 

Die Willkürhandlungen sind bewußte Handlungen. Nicht solche 
Handlungen, die erst nachträglich ins Bewußtsein gehoben werden, 
sondern nur solche, die von Anfang an im Bewußtsein ablaufen, bei 
denen das Bewußtsein des Handelns schon da ist, ehe noch das Han¬ 
deln selber beginnt, sind willkürlich zu nennen. Der Wille stellt sioh 
nur als eine besondere Seite des bewußten Lebens dar. Die Eigen¬ 
schaft des Willens ist geradezu die Fähigkeit bewußt zu handeln. 

1) M.T.1 L 203/4, 310/11; II. 340/41. 

2) M.T.1 II. 341/2. 


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Walter ReBch, 


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Wie die Begierde die Zukunft antizipiert, nimmt auch der Wille 
immer voraus, was er erst durch die Handlung erreicht. Man kamt 
nichts wollen, was man nicht vorher vorstellt. Aber die Begierde 
enthält an und für sich noch nicht das Bewußtsein der Handlung 
und demnach auch noch nicht das »Bewußtsein des Könnens«. Das 
Können erst macht das Wollen möglich. Die Begierde, die zur Hand¬ 
lung führt, erzeugt diese zunächst nicht mit Bewußtsein, sondern 
instinktiv. Falls die Begierde, zum Bewußtsein gekommen, erst in 
diesem zur Handlung übergeht, ist sie nur als Motiv, d. h. als »Be¬ 
stimmungsgrund des Willens« 1 ) vorhanden. (Solcher Definition des 
Begriffs des Motives gegenüber heißt es II. 414: »Ein Motiv kann 
entweder den Willen bestimmen oder ihn nicht bestimmen.«) Es 
genügt dazu, daß die Begierde Motiv wird, nicht, daß sie zum Be¬ 
wußtsein kommt, ehe sie eine Handlung erregt, sondern es muß auch 
die Handlung selbst mit Bewußtsein ausgeführt werden. Die Be¬ 
gierde bildet eines der gewöhnlichen Motive willkürlicher Handlungen. 
Diesem ganzen Sachverhalt nach ist das Begehren dem Willen gegen¬ 
über als das Frühere anzusehen 2 ). 

Wo die bewußte Überlegung zwischen verschiedenen Begehrungen 
schwankt, zweifelhaft, welche sie bevorzugen soll, entsteht die Wahl. 
Diese geht sehr häufig dem Willen voran, dann immer, wenn es ver¬ 
schiedene bewußte Motive des Handelns gibt. Die Motive werden 
bewußt gegeneinander abgewogen. Der Wille ist nicht mit der Wahl 
identisch. Sobald der Wille da ist, hört jede Erwägung auf. Auch 
braucht nicht notwendig eine Wahl vorauszugehen. Demgegenüber 
heißt es auf S. 398 M. T. 1 II: »Die bewußte Erwägung entscheidet« 
den Willen. Um den Willen fest zu bestimmen, genügt ein einziges 
Motiv. Ja, oft kommt das herrschende Motiv nicht einmal klar zum 
Bewußtsein. Der Wille kann wirksam werden, ohne daß ein einziges 
seiner Motive im Bewußtsein steht. Der Wille ist nur der »Impuls 
zu einer Handlung, deren Ziel dem Wollenden zuvor bewußt ist« 3 ). 
Das Ziel der Handlung muß aber im Bewußtsein stehen. Man kann 
sich ein Ziel setzen, ohne sich über den Grund Rechenschaft zu geben. 
Wollen ist nicht mit den Wünschen zu verwechseln. Wünschen hat 
da statt, wo die Unmöglichkeit der Ausführung sicher vorausgesehen 
und daher die Tat gar nicht unternommen wird 4 ). 


1) M. T. 1 II. 420. 

2) M. T. i II. 422. 

3) M. T. 1 II. 421, vgl. 423/4. 

4) M. T. 1 II. 421. 



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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


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Mit dem Begriff des Willens ist der der Freiheit unauflöslich ver¬ 
knüpft. Es gibt ein Freiheitsbewußtsein. Man weiß sich frei, in¬ 
sofern man aus eigener Macht, uneingeschränkt durch äußere Hinder¬ 
nisse, handelt. Dies Bewußtsein gestattet nicht, den Schluß auf die 
»Freiheit des Willens« zu machen. Vielmehr ist zwischen äußeren 
und inneren Faktoren der Winensbestimmung zu unterscheiden. 
Der Wille ist nicht ohne Kausalität. Die äußeren Faktoren, die durch 
die Einflüsse der Umwelt das Individuums gegeben sind, können, 
auch wenn sie im wesentlichen imbewußter Natur sind, in jedem 
Falle doch sämtlich leicht ins Bewußtsein gehoben werden. Man muß 
diese nicht als Ursachen, sondern als die Motive des Willens be¬ 
zeichnen. Wie schon gesagt, führt im Gegensatz zur Ursache das 
Motiv nicht mit Notwendigkeit den Erfolg herbei. Die Unsicherheit 
der Verknüpfung von Motiv und seiner Wirkung ist durch den per¬ 
sönlichen, den inneren Faktor bedingt. Das Motiv selbst wirkt direkt 
nur auf die Persönlichkeit. Alle unmittelbaren Ursachen des will¬ 
kürlichen Handelns kommen aus der Persönlichkeit hervor. 
Der Charakter, das innerste Wesen der Persönlichkeit, ist die 
einzige unmittelbare, die Motive sind nur mittelbare Ursachen 
der willkürlichen Handlungen. Die Kausalität des Charakters 
ist absolut unbewußt. Der Wille ist durch den Charakter deter¬ 
miniert 1 ). 

Da das willkürliche Handeln als ein bewußtes definiert, da Be¬ 
wußtsein gleich Selbstbewußtsein gesetzt und eine Entstehung des 
Selbstbewußtseins auf Grund eines Schlußverfahrens angenommen 
wird, muß offenbar ein unbewußtes Handeln in der Entwicklung dem 
bewußten Handeln vorausgehen. Da niemand das wollen kann, 
von dem er nicht weiß, daß er es kann, kann nur derjenige bewußt 
handeln, dem schon irgendwelche Handlungen zum Bewußtsein ge¬ 
kommen sind. Es liegt nur ein besonderer Fall des allgemeinen 
Bedingtseins der bewußten durch die unbewußten Prozesse vor. Mit 
dem Entstehen des Bewußtseins muß sich »notwendig aus den längst 
bestehenden Reflexen und Instinktbewegungen das willkürliche Han¬ 
deln hervorbilden«. Anfangs faßt das Bewußtsein die genannten Be¬ 
wegungen auf, nachdem sie geschehen sind. Später wird es sich durch 
die Bewegungsempfindungen der Bewegungen während ihres Ge¬ 
schehens bewußt. Man lernt die Bewegung als eigene Tätigkeit 
kennen. Endlich gelangt das Bewußtsein dahin, im Anfang der 
Bewegung schon das Ende vorauszusehen. Nun erst kann das Sub- 

1) M. T.» TT. 3»8. 414/5. 


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Walter Resch, 


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jekt, nachdem es sich so der eigenen Körperlichkeit bemächtigt hat, 
das, was zuerst bloß in der Vorstellung lag, durch die Handlung; 
wirklich machen. Man liest auch in der Theorie der Sinnes Wahrneh¬ 
mung S. 426: »Eine eingehende Zergliederung des Seelenlebens zeigt, 
daß alle psychischen Handlungen bis hinauf zu den freien Äußerungen 
des selbstbewußten Willens sich im Laufe der Entwicklung des Seelen¬ 
lebens hervorbilden aus dem physischen Mechanismus der Reflexe«. 
Der Wille bemächtigt sich der vorhandenen Reflex- und Instinkt¬ 
bewegungen 1 ). 

Durch diese Entwicklung der Willenshandlungen erscheint ver¬ 
ständlich, daß, wenn man eine Handlung mit Willkür ausführt, des¬ 
halb keineswegs jeder einzelne Akt und jedes Moment der Handlung 
durch den Willen gelenkt wird. Meistens sind Bewußtsein und Wille 
nur beim ersten Anstoß der Bewegungen tätig. Sie überlassen den 
weiteren Ablauf dem Instinkte, der sie mit einer Sicherheit ausführt, 
wie es der Wille vielleicht nicht vermöchte. Endlich ist eine Rück¬ 
bildung von willkürlichen Handlungen in instinktives Tun anzu¬ 
erkennen 2 ). 

Die Eigenart der Wundtschen Willenslehre im ersten Stadium, 
vor allem auch im Hinblick auf die späteren Anschauungen, ist be¬ 
sonders durch folgende Punkte bestimmt. Es wird schon eine, wenn 
auch nur lockere, Beziehung zwischen Gefühl und Wollen hergestellt. 
Alles Fühlen enthält ein Begehren. Gefühle treten als Motive auf. 
Zugleich erfahren andere Momente, die nicht auf Gefühle zurück¬ 
geführt werden, Beachtung, so die »Erwägung« bei den Wahlhand¬ 
lungen, das »Bewußtsein des Könnens«, das Zielbewußtsein. Der 
»Impuls« des Willens wird nicht weiter analysiert. Klarheit des Be¬ 
wußtseins und Wille werden nicht verknüpft. Nur gelegentlich 
spricht Wundt von dem Einfluß des Willens auf den Vorstellungs¬ 
verlauf, von dem Ziel, das der Wille der Vorstellungsreihe anweist. 
Dementsprechend erscheinen als Willkürhandlungen nur äußere 
Willenshandlungen. Die Theorie der Entwicklung der Willenshand¬ 
lungen ist heterogenetischen Charakters. An der Determinierung 
aller Handlungen durch den Charakter hat Wundt stets festge¬ 
halten 3 ). Bei der Gefühls- und Affektenschilderung — insofern hier 
ein Zusammenhang mit der Willenslehre vorliegt, auch bei dieser — 
macht sich die intellektualistische Grundlegung bemerkbar. 


1) M. T. 1 H. 364, 422/3. 

2) M. T. i IL 423. 

3) Vgl. M. T.« Vorvr. S. VIII. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


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II. 2. Stadium: Annäherung der Willensvorgänge an die Reflexe; 
Verknüpfung von Wille und Apperzeption. 

Eine wesentlich andere Theorie des Willens wird in den Grund- 
zügen der physiologischen Psychologie vorgetragen. Hier wiederum 
unterscheidet sich die Darstellung in der 1. Auflage in so vielen und 
bedeutsamen Punkten von der in den folgenden Auflagen, daß die 
Anschaumigen der 1. Auflage als ein zweites Stadium der Gesamt¬ 
entwicklung ausgezeichnet werden dürfen. 

Abgesehen davon, daß schon eine Vergleichung der Titel lehrt, 
daß die Physiologische Psychologie in ganz anderem Maße die Psy¬ 
chologie heranzieht, unterscheiden sich die P. P. und die Vorlesungen 
über die Menschen- und Tierseele in den psychologischen Ausführungen 
durch den zugrunde gelegten Bewußtseinsbegriff und durch die Stel¬ 
lung zu den unbewußten Erkenntnis-, Schluß- und Denkprozessen. 

War für M. T. 1 Bewußtsein eine Subjekt und Objekt einander 
gegenüberstellende Tätigkeit, so soll nunmehr das Bewußtsein ledig¬ 
lich darin bestehen, daß wir überhaupt Zustände und Vorgänge in 
uns vorfinden. Im Bewußtsein wahrnehmbare Tätigkeiten sind eben 
deshalb nicht das Bewußtsein selbst, sondern setzen es voraus 1 ). 
Diese Begriffsbestimmung hat Wundt seither nicht wieder auf¬ 
gegeben. Was den zweiten genannten Unterschied betrifft, so muß, 
während schon Th. S. 443 von einer Synthese als einer unbewußten 
logischen Verarbeitung der gegebenen Erkenntniselemente, die der 
Wahrnehmung zugrunde liege, spricht, auch nach P. P. 1 708 die 
Forderung gedacht werden, daß außerhalb des Bewußtseins die ein¬ 
zelnen psychischen Elemente nicht in den Zusammenhängen existieren, 
in die sie erst das Bewußtsein bringt. Dabei wird man sich »jener 
Synthese, welche der Bildung aller Vorstellungen zugrunde liegt, so 
wenig bewußt, daß erst die wissenschaftliche Analyse die Elemente 
derselben nach weisen kann«. Das ursprüngliche Wesen der Vorstel¬ 
lung kann nur in der Verbindung einer Mehrheit von Empfindungen 
bestehen. »Diese Verbindung setzt stets eine besondere Tätigkeit 
voraus, welche eben das Vorstellen zu einem von dem Empfinden 
verschiedenen Vorgänge macht 2 ).« Das Bewußtsein der Vorstellungen 
soll gerade »in jenem Akt der Synthese« bestehen, der die Emp¬ 
findungen in die räumliche und zeitliche Ordnung bringt 3 ). In M. T. 1 
I. 374 erfährt man, daß, da eine Vorstellung immer durch einen Schluß- 

1) P. P. 1 707. 

2) P. P.i 465. 

3) P. P.i 712. 


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prozeß entstehe, es nur auf der Anregung des vorsteliungsbildeuden 
Schlußprozesses beruhen könne, wenn eine gegenwärtige Vorstellung 
eine andere anrege. Diese Anregung muß selber wieder ein logischer 
Vorgang sein. Die Verknüpfung der Vorstellungen beruht auf einem 
Schluß verfahren. Nach P. P. 1 708 »könnte es so scheinen, als wenn 
gewisse Assoziationen der Vorstellungen ohne Zutun des Bewußt¬ 
seins« im Sinne einer Tätigkeit »sich bildeten«. Durch Synthese 
werden nicht nur die Empfindungen zu Vorstellungen, sondern auch 
diese wiederum in zusammengehörige Gruppen geordnet und schlie߬ 
lich wird sogar die Gesamtheit der Vorstellungen als zu einem Vor¬ 
stellen gehörig zusammengefaßt 1 ). Indem sich in dem Wechsel des 
Vorstellens die eine Vorstellung von der anderen trennt, entspringt 
die »unterscheidende Tätigkeit« des Bewußtseins. Das Ursprüng¬ 
lichere ist die Synthese. M. T. 1 und Th. S. gegenüber wird in P. P. 1 
708 ausgeführt, es ließe sich die Möglichkeit nicht bestreiten, daß 
sowohl die Wahrnehmungen wie zahlreiche andere psychische Vor¬ 
gänge in Urteils- und Schlußprozesse aufgelöst werden könnten, die, 
weil sie nicht ins Bewußtsein fielen, notwendig als unbewußte logische 
Vorgänge betrachtet werden müßten. Aber es könne durchaus nicht 
daran gedacht werden, »bei der ursprünglichen Tätigkeit der Bildung 
und Reproduktion der Vorstellungen von einem Urteilen und 
Schließen im eigentlichen Sinne zu reden« (P. P. 1 711). Der Zu¬ 
sammenhang einerseits, die Abschwächung andererseits in dem Ver¬ 
hältnis von M. T., Th. S. und P. P. 1 ist deutlich. Von dem intei- 
lectus als der logischen Grundtätigkeit fällt das Logische, die »Tätig¬ 
keit« bleibt. 

Die Lehre von der Apperzeption, wie sie in P. P. 1 heraustritt 
und in den weiteren Auflagen ausgestaltet wird, steht offenbar in 
beachtenswerter Abhängigkeit von Formulierungen und Anschauungen 
der angeführten früheren Schriften. War in M. T. 1 die Klarheit des 
Bewußtseins von der größeren oder geringeren Sicherheit des Schlusses 
abhängig, also gleichsam durch den wechselnden Grad der Tätigkeit 
bedingt, so wird in P. P. 1 712 dargetan, daß das Bewußtsein gerade 
in jenem Akt der Synthese bestehe, der die Empfindungen in die 
zeitliche und räumliche Ordnung bringe, daß aber, da sehr ver¬ 
schiedene Stufen einer solchen Ordnung existieren könnten, man von 
vornherein auf die Möglichkeit verschiedener Stufen oder Grade des 
Bewußtseins hingewiesen werde. Weiter heißt es auf S. 717 P. P. l : 
»Indem das Bewußtsein in der Synthese der Empfindungen und in 

l) P. P.i 717. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


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der Assoziation der Vorstellungen sich selbst als ein tätiges erfaßt, 
entsteht jene Äußerung desselben, welche wir Aufmerksamkeit 
nennen.« Die Aufmerksamkeit gibt sich unmittelbar dadurch zu 
erkennen, daß der Zusammenhang der Vorstellungen, auf den das 
Bewußtsein sich bezieht, ihm nicht in jedem Augenblick in gleicher 
Weise gegenwärtig ist. In bildlicher Ausdrucksweise kann man sagen, 
die in einem gegebenen Moment gegenwärtigen Vorstellungen be¬ 
finden sich im Blickfelde des Bewußtseins. Denjenigen Teil des 
letzteren, dem die Aufmerksamkeit zugekehrt ist, kann man als den 
inneren Blickpunkt bezeichnen. Den Eintritt einer Vorstellung in 
das innere Blickfeld nennt Wundt Perzeption, den Eintritt in den 
Blickpunkt Apperzeption 1 ). Für Wundt entsteht also Aufmerk¬ 
samkeit durch Selbstauffassung der Tätigkeit, die, wie gezeigt, der 
logischen Grundtätigkeit von M. T. 1 entspricht. Schon auf diese 
Weise verknüpft sich demnach mit Aufmerksamkeit ein Bewußtsein 
der Tätigkeit. Andererseits soll man nach S. 721 P. P. 1 das Auf¬ 
merken als etwas von uns selbst Ausgehendes empfinden. Indem die 
Auffassung der Synthese der Empfindungen und Assoziation der Vor¬ 
stellungen als einer Tätigkeit in den späteren Darlegungen fallen 
gelassen wird, geht das Bewußtsein der Tätigkeit ganz auf das Auf¬ 
merken, das Erfassen selbst über. Immerhin bewahrt gerade durch 
diesen inneren Zusammenhang die »Tätigkeit« bei der Apperzeptions¬ 
lehre jenen viel angegriffenen abstrakten Charakter. 

Aber es ist, wenngleich deutlich erst in P. P. 2 , noch ein engerer, 
sachlicher, durch die der Tätigkeit zugewiesenen Leistungen gegebener 
Zusammenhang zwischen logischer Grundtätigkeit und Apperzeptions¬ 
tätigkeit zu erkennen. Zwar schwindet der logische Charakter in dem 
Sinne, daß alle Tätigkeit ein Schließen ist, aber es bleibt alles Schließen 
für Wundt Tätigkeit, apperzeptive Leistung. Die Beziehung zwischen 
logischem Denken und Tätigkeit wird beibehalten. Weiter nimmt die 
Apperzeption dieselbe einheitbegründende Stellung innerhalb der 
Gesamtheit psychischer Phänomene ein wie die logische Grund¬ 
tätigkeit. Hierauf wird unten noch zurückzukommen sein. Gewiß 
bestehen zwischen dem intellectus und der Apperzeption tiefgreifende 
Unterschiede: so sind im ganzen die Leistungen des ersteren weit 
umfangreicher als die der Apperzeption, vor allem trennt die Stel¬ 
lungnahme zu dem Problem des Unbewußten; aber die angeführten 
Momente erlauben doch, den Satz auszusprechen, daß die Annahme 
einer Apperzeptionstätigkeit in der Statuierung der logischen Grund- 


1) P. P.i 717/8. 


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Walter Resch, 


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tätigkeit vorbereitet ist, daß die Lehre von der Apperzeption sich aus 
der von dem intellectus hervorbildet. 

Nach allem, was über die »Tätigkeit« in ihrer Bedeutung für die 
Ausführungen von P. P. 1 mitgeteilt wurde, ist deutlich, daß der 
in P. P. 1 aufgestellte Bewußtseinsbegriff nicht vollkommen durch¬ 
dringt.. Sonst dürfte Wundt nicht von einem unbewußten Akt der 
Synthese sprechen. Wohl aber macht sich jener Begriff geltend, 
wenn die bewußte Apperzeption ausdrücklich von der Selbstauf¬ 
fassung getrennt wird. Die Selbstauffassung ist immer auch Erfassung 
durch die Aufmerksamkeit, diese wiederum nicht aber notwendig 
auch Selbstauffassung 1 ). 

Bedingungen, Begleiterscheinungen und Leistungen der Apper¬ 
zeption können unterschieden werden. Stärke, Dauer der Eindrücke, 
Bewegurigen unsererseits, die uns Objekte ins Bewußtsein rücken, 
zählen zu den äußeren Bedingungen. Innere Bedingung ist oft die 
Erinnerung, durch die eine Apperzeption von Sinneseindrücken in 
vielen Fällen erst möglich wird. Während eine Vorstellung zum Blick¬ 
punkt des Bewußtseins hindurchdringt, findet man in sich das »eigen¬ 
tümliche Gefühl des Aufmerkens« 2 ). Es wird am deutlichsten im 
Zustande des Besinnens oder der Spannung auf einen erwarteten Ein¬ 
druck erfaßt. Zweierlei ist zu bemerken. Erstens ist man sich im 
Zustande aufmerksamer Spannung, »sobald man über denselben 
reflektiert«, sehr bestimmt der eigenen inneren Tätigkeit bewußt. 
»Wir empfinden das Aufmerken als etwas von uns selbst Ausgehendes« 
(ib.). Als zweite Erscheinung ist deutlich bei intensivem Aufmerken 
die Verbindung dieses Zustandes mit sinnlichen Gefühlen zu beob¬ 
achten. Spannungsgefühle treten auf. Diese sind ohne Zweifel 
Innervationsgefühle willkürlicher Muskeln, welche von einer wirk¬ 
lichen Spannung der Muskeln und infolgedessen nebenbei von Tast¬ 
empfindungen begleitet werden. Die erste Leistung der Apper¬ 
zeption ist die klare Auffassung von Sinneseindrücken. Hierzu ist 
eine Anpassung der Aufmerksamkeit an den Eindruck notwendig. 
Die Apperzeption ist scharf, wenn die Spannung der Aufmerksamkeit 
der Stärke des Eindrucks genau entspricht. Im entgegengesetzten 
Falle ist sie stumpf. Die Schärfe der Apperzeption ist von der Stärke 
der Empfindungen und Vorstellungen ganz und gar unabhängig. Die 
Klarheit einer Vorstellung wird gleichzeitig durch ihre Stärke und 
die Schärfe ihrer Apperzeption bestimmt. Zweitens beherrscht, wie 

1) P. P.i 718. 

2) P. P.i 721. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


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den Verlauf der äußeren Wahrnehmungen, — der innere Blickpunkt 
kann sich sukzessiv den verschiedenen Teilen des inneren Blickfeldes 
zuwenden — die Spannung der Aufmerksamkeit ebensosehr den 
Wechsel der Erinnerungsbilder. Die Assoziationsgesetze sind durch¬ 
aus nur Regeln, welche einen Wechsel der Vorstellungen in bestimmter 
Richtung begünstigen, keineswegs aber denselben notwendig herbei¬ 
führen. Auch die genannten Gesetze sind ganz und gar der Herrschaft 
der Aufmerksamkeit unterworfen. Die Aufmerksamkeit weist dem 
Wechsel der Vorstellungen seine Geschwindigkeit an 1 ). 

Indem man das Aufmerken als etwas, das von uns ausgeht, emp¬ 
findet, tritt dieser Zustand in nächste Verbindung mit jenem, der der 
willkürlichen Bewegung voraufläuft. Die Aufmerksamkeit erscheint 
als eine unter der Herrschaft des Willens stehende Tätigkeit. Die 
Apperzeption ist eine Funktion des Willens 2 ). Jede Apperzep¬ 
tion führt auf eine Willenserregung zurück. Wenn man vermöge 
bestimmter Assoziationen der Vorstellungen den Blick nach einer 
gewissen Richtung wendet, um ein dort erwartetes Objekt zu er¬ 
kennen, oder auch, wenn man ein rein innerliches Bild nach bekannten 
Motiven der Assoziation vergegenwärtigt, so nennt man dies will¬ 
kürliche Aufmerksamkeit. Wenn dagegen ein unerwarteter Eindruck 
den Blick fesselt oder eine unerwartete Vorstellung sich reproduziert, 
so spricht man von unwillkürlicher Aufmerksamkeit. Aber die Auf¬ 
merksamkeit ist immer eine und dieselbe, und jene Unterscheidung 
entspringt erst in der Reflexion über ihre Motive. Darauf, daß wir 
willkürlich eine Vorstellung apperzipieren, hat Locke hingewiesen 3 ) 
(Essay on human understanding. II. Chap. 21. § 5). 

Es liegt in der Aufgabenstellung der physiologischen Psychologie, 
zu den aufgezählten Erlebnistatbeständen die entsprechenden physio¬ 
logischen Vorgänge anzugeben. Die vorderen Teile der Hirnrinde 
enthalten diejenigen Elemente, von denen die direkte motorische 
Innervation ausgeht 4 ). In dem Vorderhirn konzentriert sich die 
bedeutsamste Funktion der Großhirnrinde, Empfindungseindrücke, 
nachdem sie kürzere oder längere Zeit latent geblieben, in zusammen¬ 
gesetzte und vielgestaltige Bewegungen umzusetzen. Alles, was man 
Wille und Intelligenz nennt, löst sich, bis zu seinen physiologischen 
Elementarphänomenen zurückverfolgt, in lauter solche Umsetzungen 

1) P. P.i 718, 722, 792, 794. 

2) P. P.i 796. 

3) P. P.i 721, 805. 

4) P. P. i 228. 


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Walter Kesch, 


auf. Der Apperzeption, als der Grundlage der Intelligenz, liegt diese 
Umsetzung zugrunde: jede sensorische Reizung, die zunächst eine 
Vorstellung, ein Anschauungs- und Phantasiebild, das aber vorläufig 
noch außerhalb des inneren Blickpunktes sich befindet, zur Folge 
hat, wird stets zugleich auf die Zentralgebiete und -herde willkür¬ 
licher motorischer Innervation übertragen. Von hier aus kann sie 
auf doppeltem Wege weitergeleitet werden. Erstens nach den senso¬ 
rischen Gebieten zurück. Dadurch wird die betreffende Vorstellung 
verstärkt. Wenn sie zweitens auf das Gebiet der willkürlichen Muskula¬ 
tur weitergeführt wird, treten jene Muskelspannungen auf, die das 
Gefühl der Aufmerksamkeit bilden helfen. Dieser ganze Vorgang 
als physiologische Begleiterscheinung der Apperzeption ist durch das 
Vorwiegen der Rückwirkung auf die empfindenden Teile ausgezeichnet, 
von denen er ursprünglich ausgeht. Bei der willkürlichen Bewegung 
dagegen nimmt die zentrale Reizung ihre Hauptrichtung nach den 
Muskeln hin. Die Apperzeption und die Willenserregung gehen beide 
von einer »zentralen Willenserregung« (P. P. 1 765) aus. Im ersten 
Falle ist sie auf zentrale Sinnesgebiete, im zweiten auf zentrifugale 
motorische Leistungen gerichtet 1 ). 

Die infolge von Reizung sensibler Nerven oder ihrer peripherischen 
Ausbreitung eintretenden Muskelbewegungen heißen Reflexbewe¬ 
gungen. Durch die dargelegte physiologische Betrachtungsweise also 
rücken die Willensregungen nahe an die Reflexbewegungen heran. 
In der Tat werden in P. P. 1 noch Reflex- und Willkürbewegungen 
in engstem Zusammenhänge in einem Kapitel (XXI) abgehandelt. 
Übrigens ist das auch schon durch die Ankündigung der Einleitung 
gegeben, welche außer der Empfindung »einer psychologischen Tat¬ 
sache, die unmittelbar von gewissen äußeren Grundbedingungen ab¬ 
hängt«, die Bewegung aus innerem Antrieb, einen »physiologischen 
Vorgang, dessen Ursachen sich im allgemeinen nur in der Selbst¬ 
beobachtung zu erkennen geben«, als Untersuchungsgegenstände 
namhaft macht (P. P. 1 3/4) 2 ). 

In den mechanischen Bedingungen des Nervensystems sind alle 
Bewegungen vorgebildet. Alle verlaufen gemäß den Gesetzen des 
physiologischen Mechanismus. Der Reflex beruht lediglich auf diesem. 
Freilich bleibt bei ihm das Bewußtsein nicht notwendig unbeteiligt. 
Man kann einen äußeren Eindruck empfinden und gleichzeitig auf 
denselben durch eine Reflexbewegung reagieren. Während diese 


1) Vgl. P. P.> 723. 

2) P. P.i 116. 


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Zar Psycbologie des Willens bei Wandt. 


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Bewegung nicht als eine solche bewußt ist, die aus inneren Bestim- 
mungsgriinden hervorgeht, ist das gerade bei den Willkürhandlungen 
der Fall. Die Wahrnehmung innerer Bestimmungsgründe kommt 
zum Ablauf des an sich mechanischen Geschehens hinzu. Der Wille 
bedient sich teils derselben, teils ähnlicher mechanischer Vorrich¬ 
tungen, wie sie bei dem Reflexe wirksam werden. In der Regel geht 
nur der erste Anstoß zum Beginn einer Bewegung und höchstens noch 
der »Impuls« 1 ), der das Aufhören derselben bewirkt, unmittelbar 
vom Willen aus. Auf diesen Sachverhalt wies schon M. T. 1 hin. 
Nur, daß, was hier der physiologische Mechanismus leistet, dort dem 
Instinkte zugewiesen wurde. Wie bei der Apperzeption die willkür¬ 
liche Muskulatur miterregt wurde, so verbinden sich die Prozesse der 
sensorischen Rückwirkung und motorischen Reizung bei den Willkür¬ 
bewegungen ebenfalls. »Die willkürlichen Bewegungen richten sich 
durchweg nach den im Blickpunkt des Bewußtseins stehenden Vor¬ 
stellungen 2 ).« Psychologisch bemerkenswert ist, daß auch hier in 
P. P. 1 , wie in M. T. 1 , von dem »Impuls« und dem »Ziel« (821) ge¬ 
sprochen wird. Allerdings ist der ganzen Tendenz der Darstellung 
gemäß eine mehr physiologische Deutung des »Impulses« nach 
mehreren Wendungen nicht abzuweisen. Die Tatsache der Wahl 
wird anerkannt 3 ). 

Es bleibt übrig, die Beziehung der Gefühlsprozesse zu dem Willen 
klarzulegen. Die Rücksicht auf später besonders Interessierendes 
verlangt, etwas weiter auszuholen. In M. T. 1 und Th. S. erschien 
das Gefühl, verglichen mit der Empfindung, als ein sekundäres. 
Hieran wird in P. P. doch letztlich, wenn auch in erheblich anderer 
und immerhin abgeschwächter Form, festgehalten. Wenn die Empfin¬ 
dung, erfährt man in P. P. 1 426/7, an und für sich, losgelöst von 
ihrer Beziehung zu dem Bewußtsein, in dem sie vorkommt, betrachtet 
wird, so sind Qualität und Intensität die einzigen Bestandteile, in 
welche sie zerlegt werden kann. Aber als ein nach Qualität und 
Intensität bestimmter Zustand ist die Empfindung nur im Bewußt¬ 
sein gegeben. Das Gefühl entspringt nun aus der Beziehung der 
Empfindung zum Bewußtsein. Das sinnliche Gefühl ist die dritte 
Bestimmung der Empfindung, die zu Qualität und Intensität erst 
hinzutritt, insofern die Empfindung Bestandteil eines Bewußtseins 
ist. Die Vorstellung, als das aus Empfindungen Zusammengesetzte, 

1) Vgl. P. P.i 830, 821. 

2) P. P.i 723. 

3) P. P.i 822/3, 831, 834/5. 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 2 


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Walter Rcsch 


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tritt, wie ihre Konstituentien, in eine Beziehung zu dem Bewußtsein . 
dessen Bestandteil sie bildet. Auch hier kann von einer Beziehung 
abgesehen werden, wenn die Vorstellung lediglich nach ihrer objek¬ 
tiven Natur und Bedeutung untersucht wird. Im Vergleich mit zeit¬ 
lichen und räumlichen Formen ist die Beziehung »eine sekundäre 
Eigenschaft« 1 ). Die auf die angegebene Weise entstehenden Gefühle 
entspringen selbst erst aus den räumlichen und zeitlichen Verhält¬ 
nissen. Das ästhetische Gefühl läßt sich ganz allgemein als die un¬ 
serem Bewußtsein eigentümliche Reaktion auf die in dasselbe ein- 
tretenden Vorstellungen bestimmen 2 ). Wenn somit auch rein formal 
betrachtet die Definition des Gefühls, was dessen sekundären Cha¬ 
rakter anlangt, in M. T., Th. S. und P. P. 1 zunächst als überein¬ 
stimmend erscheint — Gefühl ist immer erst durch das Bewußt¬ 
sein —, so ist doch, abgesehen davon, daß die eigentlich intellektuali- 
stischen Gedankengänge der früheren Schriften in P. P. 1 zurück¬ 
treten, durch den gänzlich verschiedenen Bewußtseinsbegriff sachlich 
ein bedeutender Unterschied gegeben. Bewußtsein und Selbstbewußt¬ 
sein werden getrennt. In P. P. 1 setzt das Gefühl zu seiner Ent¬ 
stehung kein Selbstbewußtsein voraus. In M. T. 1 schließt die De¬ 
finition des Gefühls als einer Beziehung auf den Zustand des fühlenden 
Wesens selber die Beziehung auf das Selbstbewußtsein ein. Es gehört 
dies zu den Voraussetzungen, aus denen der nicht ursprüngliche 
Charakter des Gefühls gefolgert wird. Ein Nachklingen solcher 
Annahme ist es, wenn Wundt S. 455 P. P. 1- die Bestimmung der 
Gefühle als subjektive Zustände, als der subjektiven Seite der Emp¬ 
findungen abweist. Diese Definition treffe nur für manche Gefühle 
zu. Das Selbstbewußtsein sei aller psychologischen Beobachtung 
nach etwas Gewordenes: das aber vollziehe erst gerade jene Unter¬ 
scheidung. 

Gefühle und Aufmerksamkeit werden ganz allgemein in Beziehung 
gebracht. Indem die Aufmerksamkeit als eine innere Spannung 
erfaßt wird, die sich in größerer oder geringerer Stärke den Eindrücken 
zuwendet, werden alle Empfindungen und Vorstellungen nach dem 
Verhältnis bestimmt, in welchem sie zu jener inneren Spannung 
stehen. Mit Unlust fühlt man so Eindrücke, denen die Spannkraft 
des Bewußtseins nicht gewachsen ist. Alle psychischen Elemente 
werden an jener inneren Spannung gemessen, die bei der Repro¬ 
duktion und Auffassung der Eindrücke wirksam ist. Andererseits 


1) P. P.» 469. 

2) P. P.i 466, 703. 



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I 



Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


19 


äußert sich die Aufmerksamkeit in Innervations- und Spannungs¬ 
gefühlen. Und insofern eben die Aufmerksamkeit, die allein die Vor¬ 
stellungen der unmittelbaren inneren Beobachtung zugänglich macht, 
eine mit sinnlichen Gefühlen verbundene Innervation ist, besteht 
Horwicz’ Ansicht zu Recht, daß das Bewußtsein auf Gefühlen 
beruht 1 ). 

Wenn Wundt an dem Satze festhalten will, daß alle Gefühle 
erst aus der Wirkung der Empfindungen und Vorstellungen auf das 
Bewußtsein entspringen, so wird solches auch von den Innervations¬ 
und Spannungsgefühlen zu gelten haben. In der Tat gibt Wundt 
nun ja »Tastempfindungen« 2 ) an. Die Messung an der inneren 
Spannung wird demnach so zu denken sein, daß die an die betreffen¬ 
den Eindrücke sich knüpfenden Gefühle nach dem Verhältnis zu den 
Spannungsgefühlen bestimmt werden. Manche Wendungen machen 
den Eindruck, als sei die Spannung, die Innervation etwas neben 
den Gefühlen. Immerhin ist dies mit Rücksicht auf die Beziehung 
von »logischer Grundtätigkeit«, überhaupt abstrakter Tätigkeit und 
Aufmerksamkeit von Interesse. Jedenfalls darf man zwei Tendenzen 
aus den mitgeteilten Ausführungen zum Thema: Aufmerksamkeit 
und Gefühl herauslesen, erstens diese, die Aufmerksamkeit in Gefühle 
aufzulösen, dann jene, die Aufmerksamkeit als dasjenige hervorzu¬ 
heben, von dem die Gefühle in ihrer besonderen Gestalt abhängen. 

In bemerkenswerter Weise bringt Wundt die Eigenschaft des 
Gefühls, sich zwischen Gegensätzen zu bewegen, in ersichtlicher An¬ 
lehnung an für Herbart charakteristische Gedankengänge mit dem 
Wechsel der Vorstellungen in Zusammenhang. Die Bewegung der 
Vorstellungen beruht nach S. 456 P. P. 1 auf Ursachen, bei denen 
die in jedem Augenblick durch äußere Reize oder auch durch Repro¬ 
duktion erweckten Empfindungen und Vorstellungen mitwirken. 
Durch diese werden teils augenblicklich vorhandene Empfindungen 
und Vorstellungen aus dem Bewußtsein verdrängt, teils frühere in 
das Bewußtsein gehoben. Die Wirkung, welche die Empfindung auf 
die Grundphänomene des Bewußtseins, Verdrängung und Hebung 
der demselben verfügbaren Konstituentien des Vorstellungsverlaufes, 
ausübt, ist die Beziehung derselben zum Bewußtsein. Eben diese 
Beziehung ist nun aber auch das Gefühl. Der Gefühlston einer Emp¬ 
findung besteht in der verdrängenden und hebenden Wirkung, die 
sie auf das Bewußtsein äußert. Verdrängung und Hebung sind ent- 


1) P. P.i 724. 

2) P. P.i 722. 

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Walter Resch, 


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gegengesetzte Zustände. Der Gefühlston muß sich notwendig zwischen 
Gegensätzen bewegen. Die Verdrängung wird dem Gefühl der Unlust, 
die Hebung dem Gefühl der Lust zugrunde liegen. 

Die Gefühle, die so aus der Wirkung der Empfindungen und 
Vorstellungen auf das Bewußtsein hervorgehen, wirken mm auf den 
Verlauf unserer Vorstellungen zurück. Diese Rückwirkungen heißen 
Gemütsbewegungen. Zwei Klassen, Affekte und Triebe, sind zu unter¬ 
scheiden. Wenn ein Eindruck unmittelbar durch das ihm anhaftende 
Gefühl das Innere bewegt, dann entsteht ein Affekt. Dieser ist eine 
Gemütsbewegung durch gegenwärtige Gefühle. Er kann in den ver¬ 
schiedensten Graden der Stärke Vorkommen. Ganz unbewegt ist 
das Innere nie. Von den den Empfindungen und Vorstellungen zu¬ 
gesellten Gefühlen gehen immer leise Affekte aus. Wenn irgendein 
innerer oder äußerer psychischer Reiz eine Bewegung der Vorstellungen 
anregt, dann entsteht ein Trieb, eine Gemütsbewegung durch zu¬ 
künftige Gefühle. Der Trieb antizipiert das Gefühl, nach dessen Er¬ 
füllung er strebt, in einem gewissen Grade. Er reflektiert sich in 
solchen Handlungen, die die Verwirklichung des Gefühls erstreben. 
Nach den zwei Gegensätzen des Gefühls spaltet sich der Trieb in 
die Richtungen des Begehrens und Widerstrebens. Auch diese Art 
der Gemütsbewegung kann die mannigfachsten Formen annehmen. 
Jeder geistige Inhalt kann, wie er Gefühle und Affekte mit sich führt, 
so auch Begehrungen erregen. Diese sind fortwährend von Gefühlen 
und Affekten begleitet. Der Gegenstand des Begehrens und Wider¬ 
strebens wird in der Vorstellung antizipiert. Gefühle und Affekte, 
die derselbe anregt, verbinden sich mit dem Trieb. Instinkte sind 
angeborene tierische Triebe: es wird auch von Instinkthandlungen 
der Menschen gesprochen 1 ). 

Der Vorgang der Apperzeption ist die »psychologische Quelle 
der Gemütsbewegungen« 2 ). Diese Auffassung Wundts entspricht 
der Bedeutung der Aufmerksamkeit für die an sinnliche Eindrücke 
geknüpften Gefühle. Aber noch in anderer Weise werden Apper¬ 
zeption und Gemütsbewegung verknüpft und damit macht sich die 
zweite der obenerwähnten Tendenzen auch in diesem Zusammen¬ 
hänge bemerkbar. Als einfachste Form eines Affektes nämlich soll 
sich der Zustand betrachten lassen, der bei der Auffassung eines un¬ 
erwarteten Eindrucks entsteht. Im Zustand der Erwartung hingegen, 
wo man sich einer zu erfassenden Vorstellung zuwendet, ist die Span- 


1) P. P. 1 800/1, 807, 809/10, 814/15. 

2) P. P.» 805. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


21 


nung der Apperzeption eine elementare Triebäußerung, die sich als 
Begehrung oder Widerstrebung gestaltet, wenn der Inhalt der Vor¬ 
stellung Anlaß gibt zu Gefühlen der Lust oder Unlust. Man könnte 
die ganzeBewegung der Aufmerksamkeit eine Triebäußerung nennen 1 ). 
Indem, wie gezeigt, die Apperzeption eine Funktion des Willens ist, 
sind durch diese Ausführungen offenbar schon Affekt und Wille 
einerseits, Trieb und Wille andererseits in nahe Beziehung gebracht. 
Abgesehen davon, daß auf S. 831 P. P. 1 sogar unmittelbar die 
Willensbewegung als das Übergehen einer »Gemütsbewegung in eine 
äußere Bewegung« dargestellt wird und daß nach S. 807 Begehren 
und Widerstreben die Grundlage der willkürlichen Bewegungen bilden 
sollen, findet aber, soweit das Psychische in Betracht kommt, jene 
Verknüpfung noch keine weitere Berücksichtigung. Allerdings wird 
psychologisch die Grundlage des Begehrens und Widerstrebens in 
der motorischen Innervation gesehen, auf die die Spannung der 
Apperzeption zurückführt. Liegt mithin auch den Trieben der sen¬ 
sorisch-motorische Reflex zugrunde, so sind doch die Triebe psychische 
Vorgänge, die auch in ihrer einfachsten Form nicht auf den bloßen 
Mechanismus der Reflexe zurückgeführt werden können. 

Eine Betrachtung des zweiten Stadiums im Gesamtzusammen- 
hange der Entwicklung hat folgende Punkte herauszustellen. Die 
Willkürbewegung wird der Reflexbewegung erheblich angenähert. 
Physiologische Erörterungen treten mehr hervor. Im Hinblick vor 
allem auf die späteren Ausführungen zur Willenspsychologie geurteilt, 
wird den psychologischen Antezedentien geringe Aufmerksamkeit 
geschenkt. Verglichen mit M. T . 1 , wird hier in P. P. 1 das »Ziel«, 
der »Impuls«, die Wahl in dem dort angegebenen Sinne beibehalten, 
verändert das Verhältnis von Fühlen und Wollen — das Verhältnis 
wird ein engeres, wenn auch von Gefühlen als Motiven nicht ge¬ 
handelt wird — verändert die Beziehung von Gefühl und Begehren. 
Es wird aufgegeben das »Bwußtsein des Könnens« als Antezedens 
der Willenshandlung, die Beziehung zum Selbstbewußtsein — dies 
durch die Umgestaltung des Bewußtseinsbegriffes überhaupt — die 
Betonung der Instinkthandlungen als Vorstufen der Willkürhand¬ 
lungen. Neu hinzu kommt der starke Hinweis auf die Wirksamkeit 
des Willens innerhalb des psychischen Geschehens, die Charakteri - 
sierung der Apperzeption und der Aufmerksamkeit als 
Funktion des Willens. Das Problem der Entwicklung des Willens 
erfährt keine Bearbeitung. 


1) P. P.i 806, 815. 


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III. 3. Stadinm: Loslösung der Darstellung der Willensvorgängc 
von der der Reflexe; fortschreitende Betonung des Gefühls- 
cliarakters der Apperzeptions- und Willensvorgänge. 

Es ist eine lange Reihe von Schriften, die man als einen dritten 
Entwicklungsabschnitt bildend zusammenfassen kann. Es erstreckt 
sich von der 2. Auflage der P. P. 1880 und der ersten der Logik 
(1880—83), dem Aufsatz über die »Lehre vom Willen« (Ph. St. I. 
337ff.) — dieser als Antwort gegen eine Polemik Baumanns in 
den Philos. Mon. Bd. 17, 558ff. — über die 1. und 2. Auflage der 
Ethik (1886 und 1892), die »Essays« 1885, die 3. Auflage der P. P. 
1887 bis zu der 4. Auflage der Physiolog. Psychologie (1893). In 
diese Zeit fallen auch der Aufsatz »Zur Lehre von den Gemüts¬ 
bewegungen« (Ph. St. VI. 335ff.) 1891 und die 2. Auflage der M. T. 
(1892). Doch bereiten diese zwei Schriften in besonderem Maße 
ein 4. Stadium vor. Überhaupt ist auch in den anderen genannten 
Werken wohl eine kontinuierliche Entwicklungslinie zu erkennen. 

Der Einschnitt, den man zwischen dem zweiten und dritten 
Stadium anzusetzen hat, ist nicht so tiefgreifend wie der zwischen 
dem ersten und zweiten. Dieser dritte Abschnitt führt trotz zahl¬ 
reicher Bereicherungen im einzelnen doch nur Gedankengänge im 
Grunde weiter aus, die im Kern in der 1. Auflage der P. P. vor¬ 
liegen, abgesehen von dem wichtigen Moment, daß das Problem der 
Entwicklung des Willens nunmehr wiederum besondere Beachtung 
findet. Drei Punkte werden bearbeitet, erstens die Beziehung von 
Apperzeption und Willen, überhaupt die Lehre von der Apper¬ 
zeption, zweitens die Verknüpfung von Gefühl, Gemütsbewegung und 
Willen bzw. Apperzeption, endlich, mehr zurücktretend, die physio¬ 
logischen Fragen. 

In P. P. 1 wurde von der Aufmerksamkeit ausgesagt, »ihre physio¬ 
logische Grundlage« sei »die willkürliche Innervation« (S. 795). Jede 
sensorische Reizung sollte auf das »Zentralgebiet der willkürlichen 
Innervation« übertragen werden (P. P. 1 228, 723). In P. P. 2 I. 
219/20 wird ein besonderer Name für dies nervöse Organ eingeführt, 
der des »Apperzeptionsorgans«. Es gibt nunmehr ein Zentralgebiet 
der Apperzeption. Die Vorstellungsweise über den nervösen Prozeß 
an sich ist im wesentlichen dieselbe geblieben. Unter der Benutzung 
der Termini: zentrifugaler und zentripetaler Leitungsbahnen wird 
ausgeführt, daß dem Apperzeptionsorgan die in den sämtlichen Körper¬ 
organen stattfindenden sinnlichen Erregungen durch die letzteren 
und die von dem Apperzeptionsorgan ausgehenden Impulse den 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


23 


Sinnes- und motorischen Zentren durch die ersteren zugeleitet werden. 
Je nachdem solche Impulse nach Sinnes- oder Muskelzentren sich 
übertragen, erfolgt entweder die Apperzeption oder die Ausführung 
willkürlicher Bewegungen. Sehr häufig geschieht beides gleichzeitig: 
man apperzipiert eine Vorstellung und vollzieht sogleich eine ihr 
entsprechende Handlung. Wo diese unterbleibt, da geraten gewisse 
Muskelgruppen leicht in eine schwache Miterregung. Auf S. 228 
P. P. 1 wurde schlicht von »psychologischen Umsetzungen« als den 
»Elementarphänomenen« gesprochen, auf die sich Wille und In¬ 
telligenz zurückverfolgen lassen. Nunmehr wird 1 ) darauf hingewiesen, 
daß es sich um Reflexe der verwickeltsten Art bei den Apperzeptions¬ 
und Willensvorgängen handelt. Im Gegensatz zum einfachen Reflex 
könne nur von einem regulierenden Einfluß der Sinneserregungen 
die Rede sein. Die Zwischenglieder der Wirkung, die auf das End¬ 
resultat den entscheidenden Einfluß ausübten, entgingen der Beob¬ 
achtung. In P. P. 4 II. 276 wird betont, daß man den Effekt der 
apperzeptiven Erregung der Sinneszentren als einen hemmenden 
deuten könne. Dies geht in P. P. 6 I. 326 ff. über. In P. P. 2 macht 
Wundt auf die der Apperzeption zugrunde liegenden Vorgänge an 
zwei Stellen aufmerksam, einmal bei Erörterung der physiologischen 
Funktion der Zentralteile, dann bei Darstellung der Aufmerksamkeit 
vor allem ihrer psychologischen Eigenart nach. Dies bleibt so bis 
P. P. 4 . Übrigens ändert sich die Darstellung von P. P. 4 II. 275ff. 
erheblich gegen P. P. 3 II. 240. Weitgehender werden »hypo¬ 
thetische« Vorstellungen über die physiologischen Apperzeptions¬ 
prozesse vorgetragen, die in ihrer ganzen Breite darzustellen nicht 
die Absicht dieser Arbeit sein kann. Der Zeit der Abfassung nach 
liegt vor P. P. 5 der »Grundriß«, der das rein Psychologische ins 
Auge faßt: in P. P. 5 — worauf hier kurz eingegangen sei — wird bei 
Erörterung des psychologischen Charakters der Apperzeption nicht 
mehr auf physiologische Gedankengänge zurückgegriffen. Die 
Sonderung des psychologischen und physiologischen Teils der Dar¬ 
stellung ist durchgeführt. Was den Willen und seine Erörterung 
anlangt, so wird die Betonung des Psychischen schon weit früher 
deutlich. Bereits in P. P. 2 ist mit den oben angegebenen Sätzen die 
Berücksichtigung des physiologischen Prozesses sachlich erschöpft. 
Die »willkürliche Innervation« als physiologischer Vorgang tritt 
zurück. Dagegen wird von P. P. 2 ab der psychologische Sachverhalt 
in steigendem Maße beachtet. Das hindert natürlich nicht, daß 


1) P. P.» I. 220. 


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24 


Walter Resch, 


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Willenshandlungen als psychologische Prozesse physiologische Kor¬ 
relate haben, daß Willensbewegungen psychophysische Funktionen 
sind und für Wundt, im besonderen für die physiologische Psycho¬ 
logie, bleiben. Werden in P. P. 1 aber die Willkürbewegungen in 
einem Kapitel zusammen mit den Reflexbewegungen abgehandelt, 
so bietet die Disposition von P. P. 2 ein ganz anderes Bild. In zwei 
Abschnitten werden die rein psychologischen Themata behandelt: 
Begriff des Willens, Gefühl und Wille. In zwei weiteren wendet sich 
Wundt dem »Einfluß des Willens auf die Körperbewegungen« zu. 
Diese Anordnung wird bis zu P. P. 4 einschließlich beibehalten — ein 
äußeres Zeichen jenes inneren Zusammenhanges, der die in Rede ste¬ 
hende Schriftengruppe als ein besonderes Stadium aufzufassen erlaubt. 

Was die Apperzeption anlangt, so ist von großer Wichtigkeit, 
daß der neue in P. P. 1 eingeführte Bewußtseinsbegriff nun durch¬ 
dringt. Aufmerksamkeit entsteht nicht mehr durch Auffassung der 
den Vorstellungen zugrunde liegenden synthetischen Tätigkeit. Die 
Stufen und Grade des Bewußtseins sind nicht mehr Stufen in der 
Ordnung durch die synthetische Grundtätigkeit. Alle jene Stellen, 
die die Synthese im Sinne der M. T. 1 und Th. S. 1 annahmen oder 
jedenfalls durchschimmern ließen, fallen. Die Ausführung P. P. 1 
465, die Verbindung einer Mehrheit von Empfindungen setze stets 
eine besondere Tätigkeit voraus, welche eben das Vorstellen zu einem 
von dem Empfinden verschiedenen Vorgang mache, ist nicht in 
P. P. 2 übergegangen. Gleiches gilt von den oben angeführten Be¬ 
merkungen auf S. 712 in P. P . 1 . »Was wir bei einer einfachen Apper¬ 
zeption in uns wahrnehmen, ist einerseits eine Vorstellung, anderer¬ 
seits ein Gefühl innerer Tätigkeit.« »Es liegt nicht der geringste 
Grund vor, außer diesen im Bewußtsein gegebenen Vorgängen noch 
andere, welche imbewußt bleiben, anzunehmen 1 ).« Die Lehre von 
den Bedingungen der Apperzeption erfährt eine Bereicherung gegen¬ 
über der Darstellung in P. P. 1 durch die Anwendung des Begriffes 
der Reizschwellen auf die Tatbestände des Aufmerkens. Von der 
Intensitäts- oder der Bewußtseinsschwelle wird die Klarheitsschwelle 
der Vorstellungen unterschieden. Sie ist eine Aufmerksamkeit»- und 
Apperzeptionsschwelle 2 ). Von P. P. 2 bis P. P. 4 hält Wundt — 
und das betrifft die Begleiterscheinungen der Apperzeption — an 
der Wichtigkeit der Spannungsempfindungen und der mit ihnen ver¬ 
bundenen Gefühle fest. Ja, eben durch diese soll die Apperzeption 


1) P. P.« II. 386. 

2) P. P.« II. 272. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 25 

als ein vom Verlauf der Vorstellungen verschiedener Vorgang zum 
Bewußtsein kommen 1 ). Nach Ph. St. VI. 365 dagegen können die 
Muskelempfindungen, welche die sogenannten Spannungsempfin¬ 
dungen der Apperzeption zusammensetzen, wohl am ehesten ganz 
unter den Begleiterscheinungen der Apperzeption fehlen. Solche 
Verschiebung der Ansichten hängt mit folgender Tendenz der Ge¬ 
samtentwicklung zusammen. Schon in P. P. 1 konnte die Neigung 
gefunden werden, die Apperzeption auf Gefühle zurückzuführen. 
Apperzeption wurde als Affekt und Trieb angesprochen. Die sich 
hier anspinnende Gedankenrichtung bricht sich nun sichtlich in den 
weiteren Auflagen von P. P., auch in dem Aufsatz »Zur Lehre von 
den Gemütsbewegungen« und in M. T. 2 , mehr und mehr Bahn. 
Dies steht in wenngleich lockerem Zusammenhänge mit einer schon 
in der Trennung de t unerwarteten und erwarteten Apperzeption 
(s. P. P. 1 ) vorbereiteten Unterscheidung, der von passiver und ak¬ 
tiver Apperzeption 2 ). Im ersten Falle wird die Richtung der Apper¬ 
zeption unmittelbar durch die ihr gebotenen Vorstellungen bestimmt. 
Im zweiten Falle dagegen findet ein Wettstreit zwischen mehreren 
Vorstellungen statt, und wir empfinden mm die Apperzeption ein¬ 
zelner unter denselben als eine Handlung, welche durch die Tätigkeit 
der Apperzeption selbst bestimmt wird. Das eine Mal ist die Apper¬ 
zeption eindeutig, das andere Mal mehrdeutig bestimmt. P. P. 1 
(721) kennt ein »Gefühl des Aufmerkens« und ein »Bewußtsein 
unserer eigenen inneren Tätigkeit«. P. P. 2 II. 386 erwähnt das 
»Gefühl innerer Tätigkeit«. Bei der einfachen passiven Apperzeption 
wird einerseits eine Vorstellung, andererseits ein Gefühl innerer Tätig¬ 
keit wahrgenommen. Die aktive Apperzeption unterscheidet sich 
nur durch das begleitende Bewußtsein einer Mehrheit disponibler 
Vorstellungen, wobei das Gefühl innerer Tätigkeit in seiner quali¬ 
tativen Färbung wechselt. In P. P. 3 II. 466 finden sich dieselben 
Ausführungen. Die 4 Jahre nach P. P. 3 erscheinende Abhandlung 
»Über die Gemütsbewegungen« läßt die Gefühle viel inniger an den 
Apperzeptionsakt gebunden sein als die Muskelempfindungen. »Man 
würde wohl berechtigt sein, die Gefühle von vornherein als inte¬ 
grierende Bestandteile der Apperzeption selbst anzusehen 3 ).« M. T. 2 
272/3 1892: »Wollten wir bloß die Vorstellungsseite des Bewußtseins 
zu Rate ziehen, so möchte es schwer werden zu entscheiden, ob 


1) P. P.* II. 212; P. P.3 II. 245; P. P.« II. 279. 

2) P. P.2 II. 212. 

3) Ph. St. VI. 365. 


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26 Walter Kesch, 

eine gegebene Apperzeption eine aktive oder eine passive ist.« »Um 
so größer ist die Rolle, die auch hier wieder für die unmittelbare 
Selbstauffassung unserer Handlungen dem Gefühl zukommt.« Der 
Vorgang der aktiven Apperzeption verrät sich stets und unverkennbar 
durch das Gefühl der Tätigkeit. »Auch bei der passiven Apper¬ 
zeption fehlt es nicht an begleitenden Gefühlen.« Diese sind zu 
einem Totalgefühl der »Hemmung« verbunden. 1893, in den Grund¬ 
zügen der 4. Auflage, werden namhaft gemacht das Gefühl des »Er¬ 
leidens« (P. P. 4 II. 266), das dem der »Hemmung« entspricht und 
das bei der passiven Apperzeption dem der Tätigkeit vorangeht, 
und dann die die AufmerksamkeitsVorgänge begleitenden Gefühle 
von charakteristischer Beschaffenheit, die »Erwartung«, »Erfüllung« 
und »Überraschung« 1 ). Die in P. P. 1 gegebenen Beziehungen zwischen 
Affekt, Trieb einerseits, Apperzeption andererseits bleiben in den 
weiteren Auflagen während dieses Entwicklungsganges stehen. (Vgl. 
so P. P. 4 II. 506, 515.) 

Was die Leistungen der Apperzeption betrifft, so tritt von der 
1. zur 2. Auflage der P. P. eine sehr bemerkenswerte Wandlung 
ein, die offenbar damit zusammenhängt, daß Wundt sich in jener 
Zeit bei der Abfassung der »Logik« mit der Psychologie des logischen 
Denkens zu beschäftigen Veranlassung fand. P. P. 1 ließ, soweit die 
Psychologie de3 Denkens in Betracht kam, die Wirksamkeit der 
Apperzeption in der Auswahl, Beachtung und Lenkung der durch 
die Assoziationen gegebenen Vorstellungsverbindungen sich er¬ 
schöpfen. Von den Allgemeinvorstellungen hieß es P. P. 1 670, sie 
bildeten sich aus einer Anzahl von Einzelvorstellungen, die in mehreren 
ihrer Bestandteile übereinstimmten. Es genügten die Reproduktions¬ 
gesetze vollständig, um die Entstehung der Allgemein Vorstellungen 
zu begreifen. Nirgends sei ein Grund gegeben, dieselben auf eine 
besondere Abstraktionskraft zurückzuführen. Jedes Element einer 
Vorstellung werde um so leichter reproduziert, je öfter dasselbe 
schon im Bewußtsein vorhanden gewesen sei. Daher müßten die 
übereinstimmenden Elemente der Vorstellungen in unseren Er- 
innerungs- und Phantasiebildern eine größere Stärke besitzen. Diese 
Gedankengänge stehen durchaus auf dem Boden einer Assoziations¬ 
psychologie (P. P. 1 671). P. P. 2 dagegen erweitert den Kreis der 
Apperzeptionswirkungen. Die Apperzeption wird verbindende und 
zerlegende Tätigkeit (P. P. 2 II. 309ff.). Die Bildung der Gesamt¬ 
vorstellungen, der Begriffe, die Agglutination, die Verdichtung und 


1) P. P.« II. 280. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


27 


Verschiebung der Vorstellungen wird nunmehr als Leistung der Apper¬ 
zeption angesehen. Zwischen assoziativen und apperzeptiven Verbin¬ 
dungen soll die nämliche Grenze wie zwischen passiver und aktiver 
Apperzeption bestehen. Die aktive Apperzeption erzeugt den strengen 
Zusanimenhang des logischen Denkprozesses 1 ). Im übrigen setzen die 
apperzeptiven Verbindungen die Assoziationen voraus. An dieser 
Grundlegung der Denkpsychologie hat Wundt seither festgehalten. 

P. P. 4 II. 274 zerlegt den gesamten Prozeß der Aufmerksamkeit, 
sowohl die einfachste Leistung wie die Begleiterscheinungen berück¬ 
sichtigend, in folgende Teilvorgänge: 

1) Die Klarheitszunahme einer bestimmten Vorstellung oder 
Vorstellungsgruppe, verbunden mit dem von Anfang an für den 
ganzen Vorgang charakteristischen Tätigkeitsgefühl, 2) Hemmung 
anderer disponibler Eindrücke oder Erinnerungsbilder — dies Moment 
entsprechend der Betonung der physiologischen Hemmungsvorgänge 
in P. P. 4 —, 3) muskuläre Spannungsempfindungen mit daran ge¬ 
bundenen, das primäre Gefühl verstärkenden sinnlichen Gefühlen, 
4) verstärkende Wirkung dieser Spannungsempfindungen auf die 
Empfindungsinhalte der apperzipierten Vorstellung durch assoziative 
Miterregung. (Vgl. hierzu schon P. P. 1 723.) 

An der Verknüpfung von Apperzeption und Willen hält Wundt 
fest. Doch ist es zweckmäßig, ehe auf die Einzelheiten dieser Ver¬ 
knüpfung eingegangen wird, den Faden der Wundtschen Gefühls¬ 
lehre, soweit ihre Kenntnisnahme hier notwendig erscheint, wieder 
aufzunehmen. P. P. 2 definiert das sinnliche Gefühl wesentlich anders 
als P. P. 1 . Es entspringt nun nicht mehr aus der Beziehung der 
Empfindung zum Bewußtsein. »Neben Intensität und Qualität 
begegnet uns mehr oder minder ausgeprägt an jeder Empfindung 
ein drittes Element«, »ein dritter Bestandteil, der Gefühlston« 2 ). 
Erschien in P. P. 1 die Empfindung als das Primäre, so ist durch die 
neue Bestimmung Empfindung und Gefühlston der Ursprünglichkeit 
nach zunächst gleichgestellt. Ganz sinnvoll geht diese Verschiebung 
einerseits der fortschreitenden Elimination der unbewußten, seit Th. S. 
Wundt geläufigen, Empfindungen, andererseits der Ausschaltung 
jener Gedanken parallel, die, wie gezeigt, die Gegensätzlichkeit der 
Gefühle aus der Bewegung der objektiven Inhalte zu dem Vorstel¬ 
lungswechsel des Bewußtseins ableiten wollten. Anders steht es mit 
dem ästhetischen Gefühl. Hier bleibt die in P. P. 1 703 gegebene 


1) P. P.* II. 306. 

2) P. P.* I. 465. 


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Walter Rescb, 


Bestimmung, daß es die dem Bewußtsein eigentümliche Reaktion 
auf die in dasselbe eintretenden Vorstellungen sei, in den weiteren 
Auflagen stehen 1 ). Dieser Sachverhalt zeigt schon, daß Wundt 
nicht willens ist, den Gesichtspunkt, das Gefühl als »Reaktion« zu 
fassen, ganz aufzugeben. So findet sich denn auch für das sinnliche 
Gefühl eine von P. P. 2 an gleichstimmig festgehaltene Ausführung, 
die eben jenes Moment unter Fortbildung der einen schon in P. P. 1 
hergestellten Verknüpfung von Aufmerksamkeit und Gefühl zur 
Geltung bringt. Es heißt: »Uber solche Empfindungen, die nicht 
apperzipiert werden, kann schlechterdings gar nichts ausgesagt wer¬ 
den 2 ).« Der Akt der Apperzeption bildet einen untrennbaren Be¬ 
standteil aller Empfindungen, die der Untersuchung gegeben sind. 
Das sinnliche Gefühl kann als die Reaktionsweise der Apperzeptions¬ 
tätigkeit auf die sinnliche Erregung betrachtet werden. Die Analogie 
dieser Auffassungsweise mit der Art, in der M. T. und Th. S. das 
Gefühl von der logischen Grundtätigkeit abhängen ließen, ist trotz 
aller Unterschiede im einzelnen nicht zu verkennen. Aber Wundt 
gibt nun seinen Sätzen eine besondere Auslegung. Das führt auf 
die Nuancierungen des Apperzeptionsbegriffes selbst. Hier stehen 
nicht jene Schwankungen Ln Frage, die durch die verschiedenen 
Leistungen gegeben sind: erstens wird im Sinne von Leibniz die 
Apperzeption als die Klarheit stiftende Funktion, zweitens im Sinne 
von Kant als die Einheit schaffende und endlich als die die Denk¬ 
prozesse herstellende Funktion betrachtet. Sondern es kommt gerade 
auf die logische Unterscheidung von Ursache und Wirkung an. In 
M. T. 1 I. 56 und Th. S. ist jene Trennung ganz deutlich und reinlich r 
die Erkenntnis ist das »Werk« der »logischen Grundtätigkeit«. Auch 
in P. P. 1 708 wird sie sichtbar in dem »Akt« der Synthese, der den 
»Produkten« »zugrunde liegt«. Wenn die Apperzeption als etwaä 
von dem Verlaufe der Vorstellungen Verschiedenes bezeichnet wird, 
schwebt die genannte Distinktion offenbar vor 3 ). Auch Külpe sagt 
in der von Wundt gebilligten Arbeit über die »Lehre vom Willen 
in der neueren Psychologie« (Ph. St. V. 428): »Wir können demnach 
ein Vorgestelltes und ein Vorstellen unterscheiden.« Während diese 
Auffassung, bestimmt durch die Quellen, aus denen der Apperzep¬ 
tionsbegriff hervorwuchs, nachklingt, macht sich in doppelter Weise 
eine Abschwächung bemerkbar. Einerseits erfährt, wie gezeigt, daa 
Gefühl eine zunehmende Betonung. Was es auch mit dem Tätigkeits- 

1) P. P.* II. 191; P. P.« II. 251. 

2) P. P.* I. 491/2. 

3) P. P. - II. 212; P. P. 3 II. 245; P. IV II. 279. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


29 


gefühl auf sich haben mag, jedenfalls zerfällt der Apperzeptions¬ 
vorgang nunmehr in eine Reihe parallel laufender qualitativer Vor¬ 
gänge. Andererseits tritt das Moment der Tätigkeit des Subjekts, 
der Spontaneität als realer Sachverhalt in dem Gesamtvorgange der 
Apperzeption ganz zurück, indem auf die objektive Kausalbeziehung 
der Vergangenheit der seelischen Erlebnisse zu dem gegenwärtigen 
Effekt das Schwergewicht gelegt wird. »Der Begriff der Apper¬ 
zeption hat sich gebildet aus Anlaß bestimmter Änderungen am 
Vorstellungsinhalte, für die weder in diesem selbst, noch in den 
äußeren Sinnesreizen, sondern allein in der gesamten zurückliegenden 
Entwicklung des Bewußtseins ein zureichender Grund zu finden ist.« 
»Die Apperzeption selbst ist nichts, was den Effekten, die sie am 
Vorstellungsinhalte erzeugt, und den Begleiterscheinungen, die sie 
im Gebiete des Gefühls hat, als etwas Besonderes, realiter zu Trennen¬ 
des gegenüberstände. Vielmehr besteht sie selbst nur aus diesen Be¬ 
gleiterscheinungen und Wirkungen 1 ).« Übrigens ist diese Auffassung 
nicht erst 1891 nachzuweisen. Das Ansetzen eines persönlichen 
Faktors für die Entscheidung des Willens schon in M. T. 1 , über das 
oben berichtet wurde, kann als Vorbereitung angesehen werden. 
P. P. 1 836: »Die Apperzeption ist nicht bloß von den jeweils im 
Bewußtsein vorhandenen Vorstellungen, sondern von allen dem Den¬ 
kenden und Handelnden selbst für immer unüberschaubaren Vor- 
bedigungen abhängig, unter denen sich das individuelle Bewußtsein 
befindet.« — Die Apperzeption im ersten Sinne genommen, besagt 
der Satz, das sinnliche Gefühl sei Reaktionsweise der Apperzeption, 
eine erhebliche Annäherung an den Standpunkt von M. T. 1 . Die 
Tätigkeit der Apperzeption ist dann mit Recht als die »fundamentale 
Tatsache« und die »Bedingung« dem Gefühl gegenüber anzusehen. 
Das Gefühl wäre wiederum etwas relativ nicht Ursprüngliches. Zu¬ 
dem hätte diese Auffassung den Vorzug der Klarheit. Berücksichtigt 
man weiter die zweite Charakterisierung der Apperzeption, so erhebt 
sich sofort die Frage: Wenn die Apperzeption sich vorzüglich in einem 
Gefühlsprozeß darstellt, wie kann dann allgemein gelten, daß das 
Gefühl Reaktion der Apperzeption ist? Das Entstehen eines Gefühls 
erst möglich durch ein Gefühl 2 )? Den dritten Apperzeptionsbegriff 

1) Ph. St. VI. 364. 

2) Die Argumentation zielt hier schon auf die spätere Wundtsche An¬ 
schauung. daß jedes Gefühl »Reaktion der Apperzeption« sei, ab. Doch be¬ 
steht sie, da ja auch sinnliche Gefühle wesentliche Bestandteile der Apperzeption 
sein sollen, für dies Stadium ebenfalls mit einer entsprechenden Abänderung 
zu Recht. 


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Walter Resch, 


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nun zieht Wundt selbst heran. Es drängt sich, nach P. P. 2 I. 465, 
sofort die Abhängigkeit des Gefühls von dem Gesamtzustand des 
Bewußtseins auf. Die Apperzeption ist nun eben die Grundfunktion, 
welcher gegenüber dem gesamten Vorstellungsleben die Bedeutung 
einer durch die bisherigen Entwicklungen bestimmten resultierenden 
Kraft zukommt 1 ). Die Apperzeption ist von dem Gesamtzustande 
abhängig 2 ). Eben deswegen soll es sinnvoll sein, das Gefühl in der 
angegebenen Weise von der Apperzeption abhängig zu machen. 

Dementsprechend, daß das Gefühl in P. P. 2 nicht mehr wie in 
P. P. 1 aus der Wirkung der Empfindungen und Vorstellungen auf 
das Bewußtsein hervorgehend gedacht wird, w r erden die Gemüts¬ 
bewegungen auch nicht mehr als »Rückwirkungen auf den Verlauf 
der Vorstellungen« definiert. Nun ist ein Gefühl die primäre Ursache 
der ganzen Gemütsbewegung. Zugleich werden als eine wesentliche 
Bedingung dieser die Veränderungen in der Verbindung der Vor¬ 
stellungen erkannt 3 ). Die Unterscheidungen von Affekten und 
Trieben wird nunmehr auf die Verschiedenheit der Veränderungen 
zurückgeführt. Bei den Affekten bleibt die Veränderung eine innere, 
auf Vorstellungen beschränkte. Bei den Trieben führt die Be¬ 
wegung der Vorstellungen zu äußeren Bewegungen. Die anderen 
wesentlichen Momente der Darstellung in P. P. 1 , auch die in die 
psychologische Darstellung verwobenen physiologischen Erörterungen, 
bleiben erhalten. Es stimmt sehr wohl mit der ja schon erwähnten 
Tendenz Wundts überein, das Gefühl mehr zu berücksichtigen und 
hier zu schärferen Analysen zu gelangen, wenn in M. T. 2 405 zwischen 
dem »Anfangsgefühl« und dem »Endgefühl« eines Affektes unter¬ 
schieden wird. Entsprechend der Art, wie das Gefühl von der Apper¬ 
zeption abhängig gedacht wird, führt Wundt in P. P. 2 II. 213 
aus, daß infolge der Verbindung der aufeinander folgenden Apper¬ 
zeptionsakte auch die denselben entsprechenden Einzelgefühle mit¬ 
einander in Verbindung träten und so komplexere Gefühlsformen, 
welche an den Verlauf der Vorstellungen gebunden seien, die Affekte, 
entständen. Bemerkenswert ist die Loslösung des »Begehrens« vom 
»Streben« und vom »Wunsch«, vorgetragen in Ph. St. VI. 373ff., 
übergangen in P. P. 4 II. 508/9 und M. T. 2 239. (Vgl. hierzu Essays 
1885, S. 289.) 

Der Zustand des Begehrens soll nur dann vorhanden sein, wenn 


1) Ph. St. VI. 364. 

2) P. P.* 492. 

3) P. P.* II. 327/8; P. P. s II. 404; P. P.« II. 502. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


31 


ein Streben durch entgegengesetzte Triebe oder durch äußere Hinder 
nisse derart gehemmt wird, daß ein oszillierender Gemütszustand 
entsteht. Verbindet sich mit einem Begehren die Vorstellung, dem 
objektive Hindernisse die Handlung unmöglich machen, so wird das 
Begehren zum Wunsch. Die verschiedenen Auflagen der P. P. 
machen endlich, ein schon in M. T. 1 gegebenes Moment der Sache 
nach festhaltend, darauf aufmerksam, daß »jedes Gefühl die Anlage 
besitzt, sich in einen Trieb umzuwandclri« 1 ). 

Da seit P. P. 2 Triebhandlung als Willenshandlung bestimmt 
wird, andererseits die Apperzeption nach ihrer Gefühlsseite einen 
immer stärkeren Ausbau erfährt, so ist P. P. 1 und seinen Andeutungen 
gegenüber die Annäherung des Wollens an das Gefühl schon eine 
größere. Aber sie tritt auch unmittelbar und ausgesprochen heraus. 
Ja, ein dem der Apperzeptionslehre paralleler Entwicklungsgang läßt 
sich auf zeigen. 

Während die formalen Bestimmungen der Motive stehen bleiben — 
die Motive seien äußere Bestimmungsgründe des Wollens (P. P. 2 
II. 396; P. P. 4 II. 576), die Motive seien die inneren Ursachen des 
Wollens (M. T. 2 247) — weist, schon in M. T. 1 Vorgebildetes wieder 
aufnehmend, P. P. 2 II. 384 darauf hin, daß es die Gefühle und Ge^ 
mütsbewegungen sind, zu denen der Wille in nächster Beziehung 
steht, daß es ohne dieselben dem Bewußtsein an jedem Antrieb 
mangeln würde, sich bestimmten Vorstellungen zuzuwenden oder 
bestimmte äußere Handlungen aus Anlaß innerer Vorgänge zu voll¬ 
bringen. E. 1 376: »Die Gefühle sind die nächsten Bedingungen der 
Willenstätigkeit.« Die Gefühle bilden die »unmittelbaren Motive« 
des Wollens (E. 1 376). Es gibt kein Wollen ohne Fühlen 2 ). Übrigens 
setzt die nähere Beschäftigung mit den Motiven, ihre feinere Unter¬ 
scheidung charakteristischerweise mit der »Ethik« (1886) ein. Die 
tatsächlich zur Wirksamkeit im Wollen gelangenden Motive, die 
aktuellen, werden von denjenigen unterschieden, die als die gefühls¬ 
ärmeren Elemente des Bewußtseins unwirksam bleiben, den poten¬ 
tiellen. Ein aktuelles Motiv, mit der Vorstellung des Effektes der 
entsprechenden Handlung verbunden, heißt Zweckmotiv. Ein den 
Endeffekt der Handlung in der Vorstellung antizipierendes Zweck¬ 
motiv wird als Hauptmotiv bezeichnet. Bei den Nebenmotiven 
werden solche Effekte vorgestellt, die den Haupteffekt als nebensäch¬ 
liche Momente begleiten oder ihm vorausgehen 3 ). 

1) P. P.2 II. 384. 

2) E. 1 374. 

3) E.» 378. 



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Walter Itesch, 


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Aber die Gefühle sind nach der »Lehre von den Gemütsbewe¬ 
gungen« nicht nur die »vorbereitenden«, sondern auch die »be¬ 
gleitenden« Vorgänge 1 ). P. P. 4 II. 497 nennt das Gefühl den kon¬ 
stanten Bestandteil aller subjektiven Prozesse. Das Gefühl ist das 
erste Stadium eines jeden Willensaktes. Man nennt den letzteren, 
solange er noch nicht zu einer inneren oder äußeren Handlung geführt 
hat, Gefühl. Man nennt ihn Willen, sobald die Handlung eintritt. 
Die sämtlichen Gemütsvorgänge bilden eine Entwicklungsreihe, in 
der jedes folgende Glied die vorangegangenen Glieder voraussetzt, 
während diese auch selbständig Vorkommen können 2 ). Das geschieht 
dann, »wenn der in sich zusammenhängende Gemütsprozeß nicht 
vollständig bis zu seinem Ende abläuft« 3 ). Die Willkürhandlung 
ist die letzte Stufe, in der alle vorangegangenen sich vereinigen. Die 
Gefühle sind nur als Zustände eines wollenden Wesens demnach 
möglich. Indem solche Ausführungen in P. P. 2 und P. P. 3 fehlen, 
ist die fortschreitende Berücksichtigung des Gefühls wiederum 
deutlich. 

Gleichzeitig aber bleibt von P. P. 2 bis P. P. 4 eine Ausführung 
stehen, die dem Satze: kern Gefühl ohne Willen, einen ganz anderen 
Inhalt gibt. Entsprechend der Abhängigkeit der Gefühle von dem 
Verhältnis der einwirkenden Reize zur Apperzeption »müssen wir den 
Willen als fundamentale Tatsache bezeichnen, von der zunächst 
die Gefühlszustände des Bewußtseins bedingt sind«. »Gefühle und 
Triebe« sind Vorgänge, »bei denen die Wirksamkeit der inneren 
Willenstätigkeit als konstante Bedingung erforderlich ist« 4 ). Die 
bei der Apperzeption in ihrer Beziehung zum Gefühl immerhin ver¬ 
ständliche Auslegung durch Heranziehung der »Wirksamkeit der 
Vergangenheit« will hier beim Willen nicht anwendbar erscheinen. 
Der Wille kann sich doch nicht in eine bloße Kausalbeziehung auf- 
lösen. Es muß nach allem, was man über ihn erfährt, doch eine Be¬ 
wußtseinstatsache sein. Dann aber entsteht, nimmt man ihn so als 
Gefühlsverlauf, sofort wieder ein vollkommener Widerspruch. Es 
bleibt übrig, ihn als Tätigkeit in einem Sinne zu fassen, der der Po¬ 
sition von M. T. 1 und Th. S. angenähert ist. 

Der vorliegenden Arbeit kam darauf an, gerade diesen Punkt 
herauszustellen. Nur in historischer Betrachtung erscheinen jene 
Ausführungen ganz verständlich. Der Gang der Entwicklung ist der 

1) Ph. St. VI. 37G. 

2) Ph. St. VI. 381: vgl. P. IV* II. 498. 

3) Ph. St. VI. 381. 

4) P. P.s IT. 385; P. P." 1 f. 405; P. P.* II. 562. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt 


33 


gewesen, daß die »logische Grundtätigkeit« sich zu der Apperzeptions¬ 
tätigkeit umformte, weiter diese mit der Willenstätigkeit identisch 
gesetzt wurde und daß in analoger Gedankenbildung zu M. T. 1 und 
Th. S. letztlich doch die Ursprünglichkeit der Apperzeptions- und 
Willenstätigkeit dem Gefühl gegenüber statuiert wurde. Man sieht, 
wie recht man hatte, als man hinter der Sonderstellung, die Wundt 
dem Willen anwies, eine metaphysisch-philosophische Überzeugung 
vermutete. Nur daß freilich Wundt seinerseits, wenn er seine Willens¬ 
metaphysik als aus empirischen Befunden entstanden erklärte, in¬ 
sofern sachlich Zutreffendes vertrat, als eben erst auf dem Umwege 
über die empirische Psychologie die »logische Grundtätigkeit« und 
ihr metaphysisch-unempirischer Charakter zu einer metaphysischen 
Willenslehre sich ausbildete. Zugleich steht allerdings fest, daß 
Wundt, beeinflußt sicherlich durch die stetige Polemik gegen die 
Apperzeption, von dem abstrakten Charakter der Apperzeption je 
länger, je mehr zurücknahm und sie auf die allgemein anerkannten, 
konkreten Tatbestände weniger der Empfindung, um so mehr des 
Gefühls zurückzuführen sich bemühte. Daß es mit dieser Auffassung 
des Entwicklungsganges seine Richtigkeit hat, sei noch an dem hier 
ganz durchzuführenden Beispiele des »Selbstbewußtseins« dargelegt. 
Damit werden gleichzeitig die obigen Ausführungen über die Funk¬ 
tionen des Willens und der Apperzeption ergänzt. 

Schon Th. S. 447/8 macht erstens auf die Wichtigkeit der phy¬ 
sischen Leibesempfindungen und -Wahrnehmungen in ihrer Konstanz 
aufmerksam, weist zweitens darauf hin, daß wir »die Vorstellung 
des Ich allmählich von der leiblichen Organisation frei machen und 
es auf rein innerliches Leben des Geistes beziehen«. M. T. 1 I. 290 
ergänzt dahin, daß der ganze Prozeß des Selbstbewußtseins darauf 
hinausgehe, das »Denken«, die »innerste Handlung des Vorstellens 
und Denkens als das eigentliche Sein des Individuums aufzufassen 
und das Ich ausschließlich in die höheren, bewußten, psychischen 
Tätigkeiten zu verlegen«. An dieser Zweiteilung wird festgehalten. 
P. P. 1 716 betont die von der willkürlichen motorischen Innervation 
abhängenden Bewegungsempfindungen, an die sich, zuerst nur in 
sehr undeutlicher Weise, die Vorstellung des inneren Geschehens, die 
»Vorstellung von unserem eigenen Vorstellen«, die übrigens in Wahr¬ 
heit keine Vorstellung, sondern ein »Begriff« sei, anknüpfe, welche 
in der höheren menschlichen Entwicklung den Mittelpunkt des ganzen 
Bewußtseins bilde. In P. P. 2 II. 218 wird die Analogie mit M. T. 
und Th. S. und dies, daß die Apperzeption an die Stelle der Denk¬ 
tätigkeit aus M. T. 1 tritt, ganz deutlich. Den Bewegungsempfin- 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 3 


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Walter Reach, 


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düngen aus P. P. 1 entspricht eine »permanente Vorstellungsgruppe«, 
die unmittelbar oder mittelbar von dem Willen abhängig sein soll. 
Andererseits soll sich das Selbstbewußtsein mehr und mehr auf die 
»innere Tätigkeit der Apperzeption« zurückziehen. »Dies auf den 
Apperzeptionsvorgang bezogene Selbstbewußtsein nennen wir unser 
Ich 1 ).« Der Auffassung von M. T. und Th. S. entsprechend, die wie 
alle seelischen Inhalte auch das Selbstbewußtsein von seiner Ent¬ 
stehung im Denken selbst abhängig dachte, hat nach P. P. 2 II. 387 
das Selbstbewußtsein »in der konstanten Wirksamkeit der Apper¬ 
zeption seine Wurzel«. Dann setzt die Betonung des Gefühls ein. 
(Vgl. Ph. St. VI. S. 392/3 und Grundriß 1 259/60.) Und P. P. 5 III. 
374/5 gemäß sind es »die Gefühle der Tätigkeit, des Erleidens, der 
aktiven und passiven Apperzeption«, die als relativ konstanter Be¬ 
wußtseinsinhalt den variableren Gebilden gegenübertreten. Dieser 
konstante Inhalt, der »wesentlich ein Gefühlskomplex ist«, wird jetzt 
als das »Ich« oder »Selbstbewußtsein« bezeichnet. Die Konstanz 
der Apperzeptionstätigkeit in ihrem abstrakten Charakter wandelt 
sich demnach in eine Konstanz der qualitativen, konkreten Gefühls¬ 
inhalte. Der Hinweis auf die an unser leibliches Dasein geknüpften 
Vorstellungen bleibt indessen. 

Je mehr die Bedeutung der Gefühle zunahm, um so mehr mußte 
Wundt selbst der innere Widerstand deutlich werden, der zwischen 
seinen Tendenzen bestand. Die Auffassung der Gefühle und Affekte 
als »Reflexe der Willenstätigkeit« (E. 1 375; P. P. 2 II. 387; P. P. s 
II. 467) wird in E. 3 aufgegeben und in P. P. 4 II. 564 dahin geändert, 
daß die Gefühle und Affekte zu »Vorstufen und Teilerscheinungen 
der Willenserscheinungen der Willenstätigkeit« werden. 

Die Identifikation von Wille und Apperzeption, die dieser ganzen 
Sachlage zugrunde liegt, geschah in P. P. 1 mehr von physiologischem 
als von psychologischem Standpunkte aus. Die Apperzeption und 
Willkürbewegung erschienen als zwei besondere Formen des einen 
physiologischen Prozesses, der zentralen, willkürlichen Innervation. 
Indem auch hier das Psychologische mehr in den Vordergrund gestellt 
wird, beschränken sich P. P. 2 II. 210 und P. P. 3 II. 240 darauf, 
festzustellen, daß nach allen Erscheinungen, welche bei der Tätig¬ 
keit der Apperzeption sich darbieten, dieselbe durchaus mit jener 
Funktion des Bewußtseins Zusammenfalle, die man mit Rücksicht 
auf die äußeren Handlungen als Wille bezeichne. Der Aufsatz »Zur 
Lehre vom Willen« (Ph. St. I. 347) führt, mehr differenzierend, 


1) P. P.s II. 218. 


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Zur Psychologie des WillenB bei Wundt. 


35 


aus, bei der Apperzeption seien die bei jeder Willenstätigkeit zu unter¬ 
scheidenden Stadien anzutreffen: die Erregung des Bewußtseins durch 
ein Gefühlsmotiv, die daraus hervorgehende Richtung des Bewußt¬ 
seins mit ihren physischen Folgezuständen und endlich die durch die 
letzteren herbeigeführte Lösung der Spannung. Dies übernimmt mit 
geringer Änderung P. P. 4 II. 277. Bemerkenswert ist wiederum die 
steigende Betonung der Gefühle in M. T. 2 273. Indem der Begriff 
der Tätigkeit der Apperzeption dauernd eigentümlich bleibt, ist auch 
der Wille von P. P. 2 bis P. P. 4 die »im Bewußtsein wahrnehmbare 
Tätigkeit« 1 ). 

Mit P. P. 2 tritt eine doppelte Einteilung der Willenshandlungen 
auf, die erste, sachlich in P. P. 1 durchaus vorbereitet, die Effekte, 
die zweite die Motivation des WollenB beachtend. In der hier be¬ 
trachteten Schriftengruppe erscheint die erste als die wichtigere, 
abgesehen von M. T. 2 und Ph. St. VI. Die Unterscheidung von 
äußeren und inneren Willenshandiungen tritt in den Vordergrund 2 ). 
Hierin liegt eine große Bereicherung gegenüber M. T. 1 , dem jede 
Handlung noch eine Bewegung war. Die inneren Willenshandlungen 
konstituieren sich in den Apperzeptionsleistungen. Sie sind nun die 
Bedingungen für die äußeren Willenshandlungen. Die Apperzeption 
erscheint als der primäre Willensakt, der bei den äußeren willkür¬ 
lichen Handlungen stets vorausge^tzt wird 3 ). In Einschränkung des 
Standpunktes von P. P. 1 wird das psychologische Antezedens der 
Willkürbewegung näher bestimmt. Als Phänomen des Bewußtseins 
betrachtet, besteht die äußere Handlung in der Apperzeption einer 
Bewegungsvorstellung 4 ). Diese fällt mit dem Willensentschluß zu¬ 
sammen. Der »Impuls« als gesondertes Bewußtseinserlebnis im Sinne 
von M. T. 1 ist somit aufgegeben. Allerdings bleiben zugleich die 
Ausführungen P. P. 1 821 und 831 stehen. P. P. 2 II. 414: »Die 
Regel ist, daß wir bei unseren willkürlichen Handlungen nur im all¬ 
gemeinen das Ziel im Auge haben.« »Meistens geht . . . der erste 
Anstoß von unserem Willen aus.« (Vgl. P. P. 4 II. 595.) Dem Stand¬ 
punkt schon von M. T. 1 entsprechend, wird zwischen eindeutig und 
mehrdeutig bestimmten Willenshandlungen unterschieden 6 ). Die 
eindeutig bestimmten sind die Triebhandlungen. Trieb und Wille 
ist also nicht mehr, wie noch in P. P. 1 , getrennt. Andererseits wird 

1) P. P.2 II. 383; P. P. 3 II. 463; P. P> IL 561. 

2) P. P.2 IL 383; P. P.3 II. 463; P. P.* II. 561. 

3) P. P.* II. 211; P. P.3 H. 243/4; P. P.* II. 278. 

4) P. P.* II. 390; P. P.3 II. 470; P. P.* IL 567. 

5) P. P.3 II. 211 u. 413; P. P.» II. 243 u. 498; P. P.* II. 278 u. 593. 

3* 


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Walter Resch, 


die Trennung von Wollen und Wählen damit notwendig. Wahl ist nur 
bei einer Mehrheit von Motiven möglich: solche Handlungen sind Will¬ 
kürhandlungen. Das triebartige Wollen ist einfach, die Willkürhandlung 
zusammengesetzt: der Triebhandlung entspricht die passive, der 
Wahl- und Willkürhandlung die aktive Apperzeption (P. P. 4 II. 278; 
vgl. M. T. 2 248). 

Im Gegensatz zu P. P. 1 werden seit P. P. 2 II. 402 als Reflex¬ 
bewegungen solche bezeichnet, die ausschließlich als Erfolge nervöser, 
sensorisch-motorischer Verknüpfung entstehen, ohne daß begleitende 
Empfindungen und Gefühle nachweisbar sind. P. P. 2 II. 402 führt 
die in P. P. 1 vorgebildete Unterscheidung von automatischen und 
reflektorischen Bewegungen ein. Die ersteren gehen von inneren 
Reizungen der motorischen Zentralgebiete aus. Die letzteren werden 
durch peripherische Sinnesreizung ausgelöst. Hinzu kommen Trieb- 
und Willkürbewegungen. Hier werden neben den physischen Be¬ 
dingungen zugleich bestimmte Bewußtseinszustände als psychische 
Ursachen der äußeren Bewegung wahrgenommen (P. P. 2 II. 401). 

Die Voraussetzungen: kein Bewußtsein ohne Apperzeption, und: 
keine Apperzeption ohne Willen, waren schon P. P. 1 geläufig. P. P. 2 
erst zieht den Schluß, daß kein Bewußtsein ohne Willen gegeben sein 
könne. Der Wille ist eine »ursprüngliche Energie des Bewußtseins« 1 ). 
Eine autogenetische Theorie der W^llensentwicklung wird ausgebildet. 
Die Termini autogenetisch und heterogenetisch, ebenso wie die der 
impulsiven und reproduktiven Apperzeption finden sich für der 
Sache nach schon in P. P. 2 Gegebenes zuerst in P. P. 3 II. 472/3. 
Bei der reproduktiven Apperzeption wird das aus früheren Willens¬ 
akten bekannte Erinnerungsbild einer Bewegung reproduziert. Bei 
der impulsiven Apperzeption verbindet sich die Apperzeption eigener 
Bewegung unmittelbar mit der Auslösung der entsprechenden moto¬ 
rischen Empfindung. P. P. 1 wies ja schon auf den engen Zusammen¬ 
hang von sensorischer und motorischer physiologischer Erregung hin. 
Die Reaktionsversuche boten Wundt hier eine Stütze. Im Gegen¬ 
satz zur heterogenetischen Theorie betrachtet die autogenetische 
die impulsive Apperzeption als die primäre. Die reproduktive Be¬ 
wegungsvorstellung ist erst auf Grund vorangegangener impulsiver 
Apperzeptionen möglich. Angeboren ist nur die in der Organisation 
begründete Eigenschaft, auf gewisse äußere Eindrücke Bewegungen 
von bestimmter Form auszuführen. Die erste Entstehung einer 
Willenshandlung ist so zu denken, daß ein äußerer Eindruck und 

1) P. P. 3 TI. 473. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


37 


mit ihm gleichzeitig die von ihm ausgelöste Bewegung apperzipiert 
wurde. Nach ihrer physischen Seite entspricht sie durchaus den 
mechanischen Bedingungen des Reflexes, ist aber wegen ihrer psy¬ 
chischen Begleiterscheinungen doch eine Triebbewegung. Wahl- und 
Willkürhandlungen entwickeln sich aus den Triebhandlungen infolge 
der zunehmenden Vielheit der Willensantriebe. Überall, wo der 
Willensentschluß das Ergebnis eines Streites von Motiven ist, geht 
eine reproduktive der implusiven Apperzeption voraus. Anderer¬ 
seits bilden die Triebbewegungen den Ausgangspunkt für die Ent¬ 
stehung der ohne Beteiligung des Bewußtseins erfolgenden reflek¬ 
torischen und automatischen Bewegungen. Endlich können sich 
willkürliche Handlungen in Trieb- und Reflexbewegungen zurück¬ 
bilden. Die Entwicklung ist eine divergierende. Es ist kein Wider¬ 
spruch anzunehmen, daß willkürliche Bewegungen, Triebbewegungen 
und Reflexe gemeinsam sich aus einer Form der Bewegung ent¬ 
wickeln, die in gewissem Sinne die Merkmale der Willenshandlung 
und des Reflexes gleichzeitig an sich trägt. 

Wenn so die einfache Willenshandlung an den Anfang der Ent¬ 
wicklung gesetzt wird, so erkennt Wundt doch, in P. P. 1 839 und 
M. T. 1 Angedeutetes beibehaltend, an, daß neben den Willensreak¬ 
tionen zugleich zahlreiche automatische und reflektorische Be¬ 
wegungen Vorkommen, für deren allmähliche Beherrschung durch den 
Willen dann zum Teil die Schilderung zutreffe, welche man von der 
Entwicklung des Willens überhaupt zu entwerfen pflege 1 ). 

Das dritte Entwicklungsstadium ist nach allem durch folgende 
• Punkte ausgezeichnet. Die Erörterung des Willens wird von der der 
Reflexe getrennt. Das Psychologische findet größere Beachtung. 
An dem Kernpunkt der Lehre'von P. P. 1 , der Identifizierung von 
Apperzeption und Wille, wird festgehalten. Die Ansätze von P. P. 1 
werden aber fortgebildet. Zahlreiche neue, feinere, begriffliche Unter¬ 
scheidungen treten auf. Vor allem werden die Leistungen der Apper¬ 
zeption, bei der sich jetzt der Bewußtseinsbegriff von P. P. 1 ganz 
durchsetzt, reichere: die »apperzeptiven« Denkverbindungen sollen 
von ihr abhängig sein. Bei Motiven und Begleiterscheinungen er¬ 
fahren die Gefühle Berücksichtigung. Innerhalb des Stadiums selbst 
ist eine zunehmende Betonung der Gefühle bei Apperzeption und 
Wille, parallel laufend, zu beobachten. Der Willens- und Apperzep¬ 
tionsvorgang wird geradezu zum Gefühlsverlauf, ja zum vollstän¬ 
digen Verlauf, demgegenüber Gefühle und Gemütsbewegungen in 

1) P. P.2 II. 389; P. P.» II. 469; P. P.* II. 566. 


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38 


Walter Resch, 


dividuelle Willensvorgänge sind. Wenn formal der Begriff des Be¬ 
gehrens auch eine Verschiebung zeigt, so ist doch sachlich mit alle¬ 
dem das weiter geführt, was in der Verknüpfung von Gefühl und 
Begehren schon in M. T. 1 lag. Zugleich wahrt der Wille und die 
Apperzeption aber dem Gefühl gegenüber die Stelle einer »fundamen¬ 
mentalen Tatsache« und »konstanten Bedingung«. Wille ist Tätigkeit 
in dem mehr abstrakten Sinne, der durch die Entstehung der Apper¬ 
zeption aus der »logischen Grundtätigkeit« gegeben ist. Dies Doppel¬ 
verhältnis von Apperzeption, Wille einerseits, Gefühl andererseits ist 
das hervorstechendste Merkmal des dritten Stadiums. Aus den Vor¬ 
aussetzungen von P. P. 1 heraus wird eine autogenetische Willens¬ 
theorie entwickelt. Die Triebhandlung rechnet jetzt zu den Willens¬ 
handlungen. Das psychische Antezedens der äußeren Willenshand¬ 
lungen beschränkt Wundt auf die Apperzeption der Bewegungs¬ 
vorstellung. Gegenüber dem Reichtum anderer psychologischer Aus¬ 
führungen tritt das »Ziel« (von P. P . x ) zurück. Einen »Impuls« 
als besonderes Bewußtseinserlebnis gibt es nicht. 

IV. 4. Stadium: Darstellung der Willensvorgänge als Gefiihls- 
verlänfe anf der Grundlage der Elementenlehre. 

Das vierte Stadium der Entwicklung, mit dem Grundriß 1 ein¬ 
setzend und die folgenden Auflagen von P. P. (die fünfte und sechste), 
E., M. T. umfassend, bringt den Sieg der Tendenz, das Wollen auf 
das Fühlen zurückzuführen. In P. P. 6 und 6 allerdings klingen 
ältere Gedankengänge nach, aber nur in bezug auf die Apperzeption, 
nicht auf den Willen. 

Der »Grundriß « will die Psychologie in ihrem eigensten Zusammen¬ 
hänge und »in derjenigen systematischen Anordnung vorführen, die 
durch die Natur des Gegenstandes geboten ist* 1 ). Diese systematische 
Betrachtungsweise, die dann auch für P. P. 5 und 6 , weniger M. T. 3 
und 4 maßgebend wird, darf man in ihrer die Einzelgedankengänge 
bestimmenden Kraft nicht unterschätzen. Das »System« stützt 
sich vorzüglich auf den Elementenbegriff. Wie gesagt, kennt schon 
Th. S. 446 die Empfindung als den elementarsten Vorgang psychischer 
Art. Aber bis P. P. 1 einschließlich werden noch unbewußte Empfin¬ 
dungen angenommen. Erst indem P. P. 2 der neue Bewußtseinsbegriff 
sich durchsetzt, treten diese zurück. Die Empfindungen werden zu 
bewußten Zuständen, die »sich nicht in einfachere Bestandteile zer¬ 
legen lassen«. »Die mehr oder weniger zusammengesetzten Gebilde 

1) Gr.» Ein!. S. IV. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wnndt 


39 


dagegen, zu denen sich stets die Empfindungen in unserem Bewußt¬ 
sein verbinden, belegen wir mit dem Namen der Vorstellungen 1 ).« 
Th. S. 399 kennt das sinnliche Gefühl als »Moment« und »Teil« der 
Empfindung. Die dargelegte Umgestaltung der Gefühlsdefinition von 
P. P. 1 zu P. P. 2 läßt den Gefühlston als »drittes Element«, als 
»dritten Bestandteil« der Empfindung erscheinen 2 ). Der Gefühlston 
wird so zum Element des Elementes. Die Entwicklung geht nun 
dahin, die Analogie des Verhältnisses von Empfindung und Vor¬ 
stellung bei den Gefühlen und Gemütsbewegungen herzustellen. 
Ph. St. VT. 359 (1891): »In der Reihe der Gemütsprozesse nimmt 
das Gefühl genau die nämliche Stellung ein, wie die Empfindung 
in der Reihe der Vorstellungsprozesse: es ist das einfache, nicht weiter 
aufzulösende, eben darum aber auch nicht zu definierende Element 
aller Gemütszustände«, d. h. aller Affekte, Willensvorgänge und 
Triebe. Der Grundriß führt dies durch. Die Empfindung wird von 
dem Gefühlselement, dem Gefühlston, losgelöst. Die Gemütsbewe¬ 
gungen werden »Gebilde«, zusammengesetzt aus Gefühlselementen. 
Wundt selbst bezeichnet seinen Entwicklungsgang also richtig, wenn 
er die Lehre von den Gefühlselementen als eine Anwendung des ur¬ 
sprünglich der physiologischen Psychologie eigentümlichen Ver¬ 
fahrens der Elementaranalyse charakterisiert. Grundriß 1 34: »Die 
wirklichen psychischen Erfahrungsinhalte müssen stets aus mannig¬ 
fachen Verbindungen von Empfindungs- und Gefühlselementen be¬ 
stehen. « Dann müssen offenbar auch die Willensvorgänge in Gefühls¬ 
oder Empfindungselemente auflösbar sein. Eine »Tätigkeit« in dem 
Sinne, wie sie durch die Vorgeschichte dieses Begriffs in der Wundt - 
sehen Psychologie gegeben ist, muß fallen. Sollen die Willensvor¬ 
gänge nicht selbst Gefühlselemente sein, so sind sie notwendig, der 
Kontinuität der Entwicklung gemäß, als Gefühls Vorgänge Gemüts¬ 
bewegungen. Wurden bis P. P. 4 unter diesen Affekte, Triebe, Tem¬ 
peramente, intellektuelle Gefühle abgehandelt, so zählen nunmehr 
(Gr. 1 109) zu ihnen 1) intensive Gefühlsverbindungen, 2) Affekte 
und 3) Willensvorgänge. 

Nach M. T. 1 II. 18 wird jedes Gefühl entweder mit Lust oder 
mit Unlust empfunden. Auch die verschiedenen Auflagen von P. P. 
stellen, was das sinnliche Gefühl anlangt, Lust und Unlust als Gefühls¬ 
gegensätze in den Vordergrund 3 ). Ebenso soll sich der Trieb gemäß 
»den zwei Gegensätzen des Gefühls« in zwei Richtungen des Strebens 

1) P. P.2 I. 271; vgl. P. P.« I. 281. 

2) P. P.2 I. 465; so noch P. P.« L 555. 

3) P. P.i 426; P. P.* T. 555. 



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Walter Resch, 


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und Widerstrebens spalten 1 ). Aber schon P. P. 1 444 sagt: »Die 
Gefühle, welche sich an die Schall- und Lichtempfindungen knüpfen, 
bewegen sich zwischen Gegensätzen wie alle Gefühle. Aber die ein¬ 
ander entgegengesetzten Zustände können hier nicht mehr einfach 
als Lust und Unlust bezeichnet werden 2 ).« »Bei mehr objektiven 
Gefühlen sind es andere Gegensätze, die nur in eine entfernte Analogie 
mit Lust- oder Unlustgefühlen zu bringen sind 3 ).« Diese Ansätze 
bringt Gr. 1 97 ff. zur begrifflichen Fassung, indem dort das dreidimen¬ 
sionale Gefühlskontinuum eingeführt wird. Drei Hauptrichtungen 
lassen sich feststellen: die der Lust und Unlust, der erregenden und 
beruhigenden, endlich der spannenden und lösenden Gefühle. 

A. Willensvorgänge als Gefühlsverläufe. 

Wo die Aufeinanderfolge mehrerer Gefühle sich als ein eigen¬ 
artiges, einheitliches Ganzes aus dem Flusse psychischen Geschehens 
aussondert und wo ein solcher Verlauf intensivere Nachwirkungen 
auf das Subjekt ausübt als ein einzelnes Gefühl, da liegt ein Affekt 
vor 4 5 ). Willensvorgänge sind Affekte. In den Anfangsstadien des 
Gefühlsverlaufes kann ein Willensvorgang nicht von einem eigent¬ 
lichen Affekt unterschieden werden 6 ). Das Trennende liegt in der 
besonderen Form des Endstadiums der »Lösung« des Affektes*). 
Das Endstadium der Willensvorgänge, überraschend gleichförmig 7 ), 
ist formal so charakterisiert, daß der Gefühlsverlauf plötzlich in 
einer Veränderung des Vorstellungs- und Gefühlsinhaltes zum Ab¬ 
schluß kommt, inhaltlich durch begleitende Gefühle ausgezeichnet, 
die außerhalb der Willensvorgänge nicht Vorkommen, daher dem 
Willen spezifisch eigentümlich sind. Wundt betont stets, daß sich 
die Gefühlsprozesse nicht von den Empfindungen und Vorstellungen 
losgelöst denken lassen. Auch hier ist der Gefühlsverlauf mit einem 
mehr oder weniger deutlichen Empfindungs- und Vorstellungsverlauf 
verbunden 8 9 ). Eine Menge sinnlicher Empfindungen soll zu den 
eigentlichen Gefühlen hinzukommen 0 ). Die durch einen Affekt vor- 


1) P. P. 1 807; P. P.« II. 508. 

2) Vgl. P. P.« II. 570. 

3) P. P.» 456. 

4) Gr. 1 199. 

5) Gr. 1 214; P. P.* III. 245. 

6) P. P.6 III. 245. 

7) P. P.s HI. 250. 

8) P. P.s III. 242, 253; M. T.« 241/2. 

9) M. T. 4 241. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt 


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bereitete und ihn plötzlich beendende Veränderung der Vorstellungs¬ 
und Gemütslage ist eine Willenshandlung. Der Affekt zusammen 
mit ihr ist ein Willensvorgang 1 ). Jedes Motiv läßt sich in einen 
Voretellungs- und einen Gefühlsbestandteil sondern; der erste heißt 
Beweggrund, der zweite Triebfeder des Willens 2 ). Wenn ein Raubtier 
seine Beute ergreift, soll der Beweggrund in dem Anblick der Beute, 
die Triebfeder etwa in dem Unlustgefühl des Hungers bestehen. 

Einzelne Wendungen sprechen von dem »Charakter « von Motiven, 
von »Inhalten, die die Natur von Motiven besitzen« 3 ). Worin besteht 
dieser Charakter? Nach P. P. 6 III. 253 sind Motive »Gefühls- und 
Vorstellungselemente, die mit dem Tätigkeitsgefühl verschmelzend 
von Fall zu Fall wechseln«. Hiermit wäre ein qualitativ besonderes 
Gefühl angegeben, das einen »eigentümlichen Charakter« des Motiv¬ 
komplexes begründen könnte. Überwiegend wird Natur und Cha¬ 
rakter darin gesetzt, daß das Motiv eben Bestandteil eines Willens¬ 
vorganges sei. Die in der subjektiven Auffassung die Handlung 
unmittelbar vorbereitenden Vorstellungs- und Gefühlsverbindungen 
sind Motive 4 ). Nur durch die Beziehung auf das Ende gewinnen 
die Inhalte den Charakter von Motiven 6 ). Alle auf die Affektlösung 
hinzielenden Bestandteile werden mit Rücksicht auf den schließ- 
lichen Enderfolg als Motive bezeichnet 6 ). Die Willensvorgänge unter¬ 
scheiden sich von den Affekten dadurch, »daß den einzelnen Affekt¬ 
inhalten von Anfang an eine Zweckrichtung innewohnt, welche die 
schließliche Affektlösung als seine Zweckerfüllung erscheinen läßt« 7 ). 
Motive und Willenslösung sind Wechselbegriffe, die sich gegenseitig 
bestimmen. Jeder Bewußtseinsinhalt, der Tätigkeitsgefühle hervor- 
bringt, ist ein Motiv. Eine in uns auftretende Vorstellung ist dann 
ein Motiv, wenn sie zum Bestandteil eines Willensvorganges wird 8 ). 
Der Umstand, daß beim Willen die einzelnen Affektinhalte sehr bald 
den Motivcharakter annehmen, begründet nur im Hinblick auf die 
Vorbereitung der schließlichen Affektlösung, nicht in der Eigenart 
des momentanen Affektzustandes einen Unterschied. Was übrigens 
das Zweckmotiv anlangt, so gibt Wundt in E. 4 III. 4 zu, daß durch 


1) Gr. 1 215; P. P.» ITI. 254. 

2) Gr. 1 218. 

3) P. P.s III. 246/7; E.« III. 11. 

4) Gr. 1 218. 

6) P. P.s HI. 250/1; vgl. E.* III. 16. 

6) P. P.s III. 246/7. 

7) P. P.s III. 246. 

8) M. T.« 251. 


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42 


Walter Resch. 


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solche Ausdrucksweise die Tatsachen mit einer nachträglichen intel- 
lektualistischen Interpretation vermengt würden. Der Vorgang in 
seiner unmittelbaren Beschaffenheit sei nur als ein Affekt zu defi¬ 
nieren, in dessen Verlauf auftretende Gefühls- und Vorstellungs¬ 
inhalte die Lösung des Affektes erzeugten. 

Wo innerhalb eines Affektes von geeigneter Beschaffenheit ein 
einziges Gefühl mit begleitender Vorstellung zum Motiv wird, da liegt 
der einfachste Fall eines Willensvorganges, eine Triebhandlung vor 1 ). 
Wenn in einem Affekt eine Mehrheit von Gefühlen, von Vorstellungen 
in eine Handlung überzugehen strebt und diese zu Motiven gewordenen 
Bestandteile des Affektverlaufes zugleich auf verschiedene End¬ 
wirkungen abzielen, ist eine Willkürhandlung gegeben 2 ). Hier geht 
ein Kampf der Motive der Handlung voraus. Gegenüber P. P. 4 
bringt Gr. 1 221 noch eine Unterscheidung der Willkür- und Wahl¬ 
handlungen. Der Kampf der Motive ist nämlich bald dunkel, bald 
klar bewußt. Im zweiten Falle hat man eine Wahlhandlung vor sich. 
P. P. 5 III. 246/7 bringt die Unterscheidung von primären und 
sekundären Willensvorgängen. Primäre sind solche, bei denen den 
einzelnen Affektinhalten von vornherein eine Zweckrichtung inne¬ 
wohnt, sekundäre solche, bei denen erst im Verlaufe eines eigent¬ 
lichen Affekts einzelne Vorstellungs- und Gefühlsinhalte den Cha¬ 
rakter von Motiven gewinnen. Die aus dem dritten Stadium der 
Entwicklung bekannten Erörterungen über Motive und Unter¬ 
scheidung der Willenshandlungen bleiben. Nur wird die Unter¬ 
scheidung nach den Willenseffekten, nachdem sie schon in Gr. 1 sehr 
zurücktrat, in P. P. 6 III. 254 als die einer oberflächlichen Betrachtung 
näher liegende bezeichnet. Dabei war sie P. P. 2 bis P. P. 4 sichtlich 
die Haupteinteilung. Die Betonung wiederum des Psychologischen 
ist deutlich. 

Jedes Gefühl kann, je nach dem Platze, den es innerhalb der 
dreidimensionalen Mannigfaltigkeit einnimmt, seinen Hauptrichtungen 
nach bestimmt werden. Wundt spricht von Komponenten der Ge¬ 
fühlsqualität 3 ). Es entsteht die Aufgabe, auch den Gefühlsverlauf 
der Willensvorgänge seinen Komponenten nach zu bestimmen. Die 
einzelnen Dimensionen des Gefühlskontinuums werden, zu graphischer 
Darstellung, voneinander gesondert, und die Veränderung innerhalb 
einer jeden in Form einer eigenen Kurve dargestellt. Die Abszissen¬ 
linie entspricht den Zeiten. Ein Ansteigen über oder ein Sinken unter 

1) Gr. 1 219. 

2) Gr. 1 220. 

3) P. P.& II. 306. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt, 


43 


dieselbe deutet entgegengesetzte Gefiihlsphasen innerhalb der gleichen 
Dimension an. Es sind dann die simultanen und sukzessiven Kom¬ 
ponenten leicht zu übersehen. Das in P. P. 6 und P. P. 6 durch¬ 
geführte Beispiel ist das eines Willensvorganges, der durch einen 
sofort auf seine Beseitigung hindrängenden Unlustaffekt, also etwa 
durch den Anblick einer drohenden Gefahr eingeleitet wird. Im 
Unterschied von anderen Unlustaffekten tritt das Gefühl der Unlust 
hier sofort mit einem starken Spannungsgefühl verbunden auf. Nach 
kurzer Zeit gesellt sich ein rasch ansteigendes Erregungsgefühl bei. 
Bald, nachdem die Spannung ihr Maximum erreicht hat, steigt auch 
die Erregung zu dem ihrigen an. Dieser Moment bezeichnet den 
Übergang in das Stadium der Affektlösung, und es schlagen dann 
das Unlustgefühl in ein mehr oder weniger intensives Lustgefühl, 
das Spannungsgefühl in ein Lösungsgefühl um. Endlich sinkt die 
Erregung schnell auf Null und klingt nur noch schwach nach. 

Die Differenzen der einzelnen Willensvorgänge sind in dem 
mannigfachen Wechsel von Lust und Unlust gegründet. Nicht immer 
braucht ein Unlustaffekt die Wilienshandlung einzuleiten. Diese 
Stelle vielmehr kann ebensogut ein Lustaffekt einnehmen. Das 
charakteristische Endstadium hingegen zeigt stets jene eigentüm¬ 
liche Verbindung von Spannungs- und Erregungsgefühlen. 

Diese vermittelt nun eben das aus der Selbstbeobachtung all¬ 
bekannte Bewußtsein der Tätigkeit 1 ). Nach dem Gr. 1 222 ist das 
Tätigkeitsgefühl ein Gefühl von ausgeprägt erregender Beschaffen¬ 
heit. Es ist ein Vorgang, ein auf- und absteigender zeitlicher Prozeß, 
der sich über den ganzen Verlauf einer Handlung erstreckt 2 ). Gr. 1 222 
gemäß werden im Moment des Eintritts der Handlung die Gefühle 
der Entscheidung und Entschließung durch das Tätigkeitsgefühl 
abgelöst. Als der Willenshandlung vorausgehend und sie nicht nur 
begleitend wird das Tätigkeitsgefühl in P. P. 6 III. 254 bestimmt. 
Beim Übergang in die Lösung wird das Tätigkeitsgefühl unmittelbar 
durch das Entscheidungsgefühl abgelöst. Nach M. T. 4 250 sollen 
die Tätigkeitsgefühle den Vorzug der Willenshandlung unmittelbar 
vorbereiten, ihn begleiten und ihm nachfolgen. Das Tätigkeitsgefühl 
ist einfach (P. P. 6 III. 331/2). Überhaupt sind die Gefühle im Augen¬ 
blick eines Willensaktes »Gefühlselemente« 3 ). Andererseits ist es 
ein »Totalgefühl« und »zusammengesetzt aus Partialgefühlen« 4 ). 

1) P. P.8 III. 252. 

2) P. P.5 III. 252/3; Gr.» 223. 

3) Gr. 1 34. 

4) Gr. 1 223: M. T.« 275; P. P. s III. 253. 


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Walter Resch, 


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Als letzte Gefiihlskomponenten des Totalgefühls sind einfache sinn¬ 
liche Gefühle anzusehen 1 ). Sinnliche Gefühle können nux an Empfin¬ 
dungen gebunden auftreten. Bei den äußeren Willenshandlungen 
bilden die die Bewegung begleitenden inneren Tastempfindungen das 
Empfindungssubstrat 2 ). 

Eine qualitativ überaus verschieden gefärbte, in ihrer typischen 
Form durchaus übereinstimmende Veränderung bezeichnet den Über¬ 
gang in das Endstadium: ein bestimmtes Motiv verschmilzt mit dem 
typischen Tätigkeitsgefühl zu einem unteilbaren Totalgefühl, dem der 
Entscheidung. Das Tätigkeitsgefühl soll bald von der einen, bald 
von der anderen Motivrichtung her spezifische Färbungen gewinnen. 
Es wird in seiner »von Fall zu Fall veränderlichen Qualität« 3 ) durch 
die besonderen, von den vorhandenen Vorstellungen und ihren 
wechselseitigen Beziehungen abhängenden Gefühle bestimmt 4 ). Zu¬ 
gleich soll das Tätigkeitsgefühl selbst von »durchgehends überein¬ 
stimmender Beschaffenheit« 5 ) und ein Element sein, das bei aller 
Verschiedenheit der Inhalte, auf die es sich bezieht, immer wieder 
als das nämliche aufgefaßt wird 6 ). 

Das Entscheidungsgefühl leitet immittelbar das Lösungsgefühl ein, 
das zusammen mit den übrigen Gefühlselementen des Endstadiums ein 
neues Totalgefühl, das der Erfüllung, bildet 7 ). Dem eigentlichen 
Willensvorgang eigentümlich sind die Gefühle des Zweifels. Es folgen 
der Willenshandlung nach die Gefühle der Befriedigung und 
Enttäuschung u. dgl., die des Mißlingens und Gelingens 8 ). Indem 
das Herrschend werden des entscheidenden Motivs bei Willkürhand¬ 
lungen die Entscheidung, bei Wahlhandlungen die Entschließung 
bedeutet, ist das Gefühl der Entscheidung von dem der Entschließung 
zu sondern 9 ). Das letzte ist von dem ersteren nur durch seine größere 
Intensität unterschieden. Während übrigens in P. P. das Tätigkeits¬ 
gefühl dem Entscheidungsgefühle vorausgeht und das letztere aus 
einer Verschmelzung mit dem Tätigkeitsgefühle gebildet erscheint, 
geht umgekehrt nach dem Grundriß gerade das Entscheidungsgefühl 


1) P. P.® II. 344. 

2) Gr. 1 222. 

3) P. P.s III. 254. 

4) M. T.« 275. 

5) P. P.s III. 252. 

6) L. 3 III. 26G. 

7) P. P.s III. 254. 

8) Gr. 1 223/4; M. T. 4 233/4, 242; P. P.s III. 266. 

9) Gr. 1 221/2; P. P.« III. 256. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


45 


dem Tätigkeitsgefühle voran 1 ). Nach P. P. 6 III. 306 ist die Gefühls¬ 
trias des Tätigkeits-, Entscheidungs- und Erfüllungsgefühles in dieser 
Folge das wesentliche Kriterium eines Willensvorganges überhaupt. 
Diese drei Gefühle finden sich dem Grundriß gemäß nur bei voll¬ 
ständigen Willenshandlungen. Bei den Triebhandlungen fehlen die 
vorbereitenden Gefühle der Entscheidung und Entschließung 2 ). Das 
an das Motiv geknüpfte Gefühl geht unmittelbar in das Tätigkeits¬ 
gefühl und dann in die der Wirkung der Handlung entsprechenden 
Gefühle über. Entscheidungs- und Entschließungsgefühle sind ihrer 
qualitativen Eigenart nach erregende und lösende, je nach Umständen 
auch mit einem Lust- oder Unlustfaktor verbundene Gefühle. Bei 
Willkür- und Wahlhandlungen verbindet sich mit der Handlung das 
von dunklen Vorstellungen begleitete Gefühl von Willensmotiven, 
die neben den entscheidenden Impulsen im Bewußtsein anwesend 
sind: das Freiheitsgefühl 3 ). Qualitative Konstituenten der Willens¬ 
vorgänge sind außerdem Empfindungskomplexe, die mit dem Gefühls¬ 
verlauf sich stets verbinden 4 ). 

Die schon im dritten Stadium hervortretende Verknüpfung von 
Gefühl und Wollen, die das Gefühl als den unentwickelten Willens¬ 
vorgang und umgekehrt diesen als den vollständigen Verlauf den 
Gefühlen und Gemütsvorgängen gegenüber faßte, wird besonders 
betont und weiter ausgestaltet. Lust und Unlust bezeichnet Wundt 
als Willensrichtungen 6 ). Es gibt Gefühlsimpulse von verschiedener 
Richtung (P. P. 5 III. 247), ein Unlustaffekt drängt auf eine Be¬ 
seitigung hin (P. P. 6 III. 251). Gefühle und Affekte sind nach P. P. 6 
III. 304 nur möglich, weil es Willensvorgänge gibt, in denen jene 
im Gefühl und Affekt gegebene Vorbereitung zu vollständiger Ent¬ 
wicklung gelangen. Der Grundriß schenkt diesen Gedanken beson¬ 
dere Beachtung 6 ). Es ist nicht zu übersehen, daß im einzelnen fort¬ 
während Gefühle Vorkommen, die sich nicht zu Affekten verbinden, 
und Affekte, die nicht in Willenshandlungen endigen. Aber in dem 
ganzen Zusammenhang der psychischen Prozesse bedingen sich die 
drei Stufen wechselseitig, indem sie zusammengehörige Glieder eines 
einzigen Vorganges bilden, der nur als Willensvorgang zu seiner voll¬ 
ständigen Ausbildung gelangt. Das Wollen ist die Grundtatsache, in 

1) Gr. 1 222; P. P.« III. 253/4. 

2) Gr. 1 223. 

3) P. P.s III. 313. 

4) P. P.o III. 253. 

5) M. T.4 240. 

6) Gr. 1 217. 


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Walter Reach, 


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der alle Vorgänge wurzeln, deren psychische Elemente die Gefühle 
sind 1 ). Eine Differenzierung dieser Auffassungsweise ergibt sich 
durch die Heranziehung der Dreidimensionalität der Gefühle. Von 
dem Gesichtspunkt, daß der Willensvorgang der vollständige Prozeß 
ist, soll begreiflich werden, daß schon das einfache Gefühl in den 
Gegensätzen, zwischen denen es sich bewegt, teils eine Willensrichtung 
enthält, teils die Größe der in einem Augenblick gegebenen Willens¬ 
energie zum Ausdruck bringt, teils endlich einer bestimmten Phase 
des Willensvorganges selbst entspricht. Die Willensrichtung ist in 
den Hauptrichtungen der Lust und Unlust, die Willensenergie in 
denen der Erregung und Beruhigung angedeutet. Entgegengesetzte 
Phasen der Willensvorgänge werden durch die Gefühlsgegensätze der 
Spannung und Lösung bezeichnet. — Während vorher also der Affekt 
gerade durch den Willensakt plötzlich zum Abschluß gebracht werden 
sollte, ist nunmehr der Willensakt die vollständige Entfaltung eines 
Affekts. Innerhalb der Wundtsehen Gedankenentwicklung ist die 
letzte Auffassung früher zu entdecken. 

Gelegentlich führt Wundt im Gegensatz dazu, daß das Gefühl 
in irgendeinem Grade in sich ein Streben oder Widerstreben enthalte, 
die Willensrichtung auf besondere qualitative Konstituenten zu¬ 
rück 2 ). Nach M. T. 4 241/2 ist ein eigentliches Gefühl dann gegeben, 
wenn der subjektive Zustand sich auf eine bloße Lust- und Unlust¬ 
stimmung beschränkt, die sich mit verschiedenen Graden von Er¬ 
regung und Beruhigung verbinden kann. Tritt dazu die sich in 
bestimmten Spannungsgefühlen kundgebende Richtung auf einen zu¬ 
künftigen Erfolg, so nennt man diesen Vorgang ein Streben oder 
einen Trieb. Nach P. P. 6 III. 249 soll das Substrat für das Streben 
in gewissen Gefühlen bestehen, die hauptsächlich den Richtungen der 
Spannungs- und Erregungsgefühle angehören, die als Tätigkeits¬ 
gefühle bezeichnet werden können. Zugleich sollen auch Spannungs¬ 
empfindungen mitwirken. 

Während so im vierten Stadium die Willensvorgänge zu Affekten 
werden, die durch ihren Verlauf ihre Lösung herbeiführen, bleiben 
aber auch Gedankengänge aus den früheren Perioden stehen. Die 
Bedenken, die noch die Physiologische Psychologie hatte, die De¬ 
finition des Gefühls als eines Zustandes des fühlenden Wesens selber 
aus M. T. 1 anzuerkennen, treten mit dem Grundriß zurück. Gr. 1 44: 
»Die Gefühle sind aus dem Verhalten des Subjekts abzuleiten.« Die 


1) Gr. 1 259; P. P.® III. 303/4; E> III. 15/6. 

2) Gr. 1 217. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt 


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Gefühle entsprechen dem erfahrenden Subjekt (Gr. 1 33; M. T. 4 222). 
In M. T. 1 stand jene Definition in engster Beziehung zu der Ab¬ 
hängigkeit des Gefühls von der logischen Grundtätigkeit. Indem 
solche logische Deduktionsbeziehung zwar fällt, tritt doch in P. P. 2 
eine analoge Gedankenbildung auf, die das Gefühl von der Apper¬ 
zeption abhängig macht. Das bleibt im wesentlichen in P. P. 6 
stehen. Zwei Veränderungen drängen sich auf. Die Einheit des 
Gefühls wird mit der Apperzeption als der spezifischen Einheits¬ 
funktion des Bewußtseins in Verbindung gebracht. Allerdings weist 
P. P. 4 II. 422, wenn auch nicht in dem Zusammenhänge der Theorie 
des Gefühls, schon darauf hin. Die Einarbeitung in die Theorie der 
Gefühle findet sich P. P. 5 II. 357. Weit wichtiger ist dies, daß die 
Ausführung P. P. 4 I. 589 fällt. Hier war noch die innere Handlung 
der Apperzeption der Wirksamkeit des Willens gleichgesetzt. Damit 
erscheint unmittelbar nicht mehr der Wille als die »fundamentale 
Tatsache« dem Gefühl gegenüber. Die in dem dritten Stadium so 
deutlich heraustretende Doppelstellung des Willens ist zugunsten der 
Betonung des Willens als eines Gefühlsverlaufes entschieden. Jener 
»abstrakte« Charakter gleichsam verschwindet. Nur insofern auch 
für das ganze vierte Stadium alle Apperzeptionsvorgänge jedenfalls 
Willensvorgänge bleiben, also nur mittelbar ist die fragliche Stellung 
des Willens wieder zu erkennen. Wird der Apperzeptionsvorgang als 
Gefühlsverlauf genommen, so bleibt der schon oben angegebene 
Widerspruch bestehen. Nur die Deutung der Apperzeption als Wirk¬ 
samkeit der Vergangenheit gibt eine verständliche Vorstellung. Diese 
Theorie des Gefühls wird übrigens ebenso wie für das sinnliche für 
die ästhetischen Gefühle und Affekte beibehalten 1 ). Gerade in dem 
letzten Fall ist die Schwierigkeit besonders deutlich. Willensvorgänge 
sind Affekte. Also der Satz, das Wesen des Affekts mache die Re¬ 
aktion der Apperzeption auf das einzelne Bewußtseinserlebnis aus 2 ), 
heißt auch, das Wesen des Willensvorganges mache die Reaktion des 
Willens auf das Erlebnis aus. 

Durch die Identifizierung der Apperzeption und des Willens war 
im dritten Stadium der Willensvorgang offenbar nach der objektiven 
wie nach der subjektiven Seite charakterisiert. Außer den Gefühlen 
war der Klarheitsgrad notwendiges bestimmendes Moment. Wird 
durch den Grundriß der Schwerpunkt ganz auf die Gefühlsseite ge¬ 
legt, so erscheint damit keineswegs als konstituierender Bestandteil 


1) P. P.s III. 201. 

2) P. P.s III. 238. 


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Walter Besch, 


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nun noch die Klarheit irgendeines objektiven Inhaltes. Der Begriff 
des Willensvorganges ist weiter geworden. Im Gr. werden zunächst 
die Willensvorgänge abgehandelt. Dann wird S. 256 die vollständige 
Übereinstimmung der Gefühlsseite der Aufmerksamkeitsvorgänge 
mit dem allgemeinen Gefühlsinhalt der Willensverläufe festgestellt. 
Die Apperzeptionshandlungen erscheinen so als besonderer Fall der 
Willenshandlungen. Aber nach P. P. 6 III. 342 sind alle Elemente 
eines Apperzeptionsaktes in jeder sonstigen, namentlich äußeren 
Willenshandlung als bedingende Faktoren enthalten. »Die Apper¬ 
zeption ist gleichzeitig elementarer Willensakt und konstituierender 
Bestandteil aller Willensvorgänge.« Der Standpunkt des dritten 
Stadiums ist wieder gewahrt. Aber noch in anderer Weise ist der 
Apperzeptionsakt der primitive Willensakt. In jedem Zustand der 
Aufmerksamkeit kann man die charakteristische Gefühlstrias »Tätig¬ 
keit, Entscheidung und Erfüllung« beobachten, dies am klarsten bei 
langsamer Entwicklung des Zustandes bei der Erwartung. Hier 
tritt die dem Willensvorgang eigentümliche Verbindung von Ge¬ 
fühlen in der einfachsten Form auf. Die Apperzeption eines psy¬ 
chischen Inhaltes ist die elementare Form eines Willensvorganges 1 ). 
In diese Ausführungen hat sich die Auffassung des dritten Stadiums, 
die Apperzeption sei der primitive Willensakt, gewandelt. 

Während von P. P. 1 bis P. P. 3 Apperzeption und Aufmerksam¬ 
keit ohne schärfere Sonderung gebraucht werden, ist nach P. P.* 
II. 266/7 die Apperzeption als Eintritt einer Vorstellung in den 
Blickpunkt die »objektive Wirkung« der Aufmerksamkeit. Damit 
ist die Aufmerksamkeit schon auf den »subjektiven« Teil des Pro¬ 
zesses bezogen. An einer ausdrücklichen Trennung in solchem Sinne 
halten P. P. 6 III. 341 und Gr. 1 245 fest. Gemäß der fortschreitenden 
Betonung des Gefühls bei den Willensvorgängen werden im Gr. 
und P. P. auch die die Apperzeptionsvorgänge begleitenden Gefühls¬ 
prozesse mit den Hilfsmitteln des dreidimensionalen Gefühlskon¬ 
tinuums einer näheren Analyse unterzogen. Wenn der Apperzeptions¬ 
vorgang auch nicht ausdrücklich als Affekt bezeichnet wird, so ist 
doch tatsächlich nunmehr der Aufmerksamkeitsprozeß, den Andeu¬ 
tungen früherer Auflagen entsprechend, als Gefühlsverlauf ein Affekt. 
Der wesentlichste Unterschied der verschiedenen Formen der Apper¬ 
zeption soll sich in dem Verlauf der Spannungskurven darstellen 2 ). 
Die in den übrigen Richtungen zu beobachtenden Unterschiede sind 


1) P. P.s III. 306/7. 

2) P. P.5 Hl. 343 . 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


49 


mehr sekundärer Natur. Im Falle einer qualitativ und zeitlich fest 
bestimmten Apperzeption nähert sich der Verlauf am meisten der 
typischen Spannungskurve eines Willensvorganges. Nur im Augen¬ 
blick der Einwirkung des Reizes entsteht eine kleine Herabsetzung 
der Spannung. Bei einer qualitativ bestimmten, aber zeitlich un¬ 
bestimmten Apperzeption ist die Erniedrigung der Spannungskurve 
erheblich größer. Wenn der Eindruck qualitativ wie zeitlich un¬ 
bestimmt ist, die Apperzeption also völlig unvorbereitet eintritt, 
wird die Spannung im Momente des Reizbeginns sofort zur Lösung. 
Es folgt ein relativ langsamer Aufstieg zur Spannung. Die Spannungs¬ 
kurve ist von einer Erregungskurve begleitet. Aus den so bestimmten 
Gefühlskomponenten setzt sich zur Zeit der positiven Spannung das 
Tätigkeitsgefühl, in den Momenten der Lösung das Gefühl des Er¬ 
leidens zusammen. Auch die Motivinhalte der Apperzeptions- wie 
der Willensvorgänge gehören vorwiegend den Richtungen der Lust- 
und Unlustgefühle und ihren Verschmelzungen mit anderen Gefühlen 
an. In ähnlicher Weise werden das Erwartungs-, Erfüllungs- und 
Uberraschungsgefühl analysiert. 

Was die Lehre von der Entwicklung des Willens anlangt, so 
wird die in P. P. 4 als divergierend geschilderte Entwicklung im 
Grundriß 1 226 als regressive und progressive im einzelnen bezeichnet 1 ). 
Die Gründe für die Annahme so zahlreicher willkürlichen ursprüng¬ 
lichen Bewegungen sind nach P. P. 6 III. 304/5 zwei: erstens müssen 
alle psychologischen Funktionen eine kontinuierliche Entwicklungs¬ 
reihe bilden; es gibt auf psychologischem Gebiete zwar sehr be¬ 
deutende Unterschiede des Grades, aber keine Katastrophen; zweitens 
muß, wenn in der Entwicklung einer bestimmten Klasse psycholo¬ 
gischer Funktionen bei gewissen organischen Wesen eine wesentliche 
Übereinstimmung auf der physiologischen Seite der Erscheinungen 
hervortritt, abgesehen von den erwähnten Gradunterschieden, auch 
eine Übereinstimmung auf der psychischen Seite derselben angenom¬ 
men werden. 


B. Die Elementenlehre und der Wille. 

Es sei Aufgabe der folgenden Erörterungen, nicht nur von den 
in Frage kommenden Behauptungen Wundts Kenntnis zu geben, 
sondern auch eine Nachprüfung der gedanklichen Fundamente der 
Elementenlehre wie ihrer Anwendung auf die Willenspsychologie zu 
unternehmen. 


1) Vgl. P. P.& III. 305, 312. 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 4 


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Walter llescli, 


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Wundt hat den Weg immer wieder betont, auf dem in der Psycho¬ 
logie ein fruchtbares und sicheres Fortschreiten der Forschung mög¬ 
lich ist. Man hat sich an die immittelbar gegebenen psychischen Tat¬ 
sachen zu halten. Ja, es ist immer mehr Absicht der neueren Psycho¬ 
logie, eben das unmittelbar Gegebene in seiner besonderen kom¬ 
plexen Struktur zu entdecken und sich hierbei nach Möglichkeit 
von den geschichtlich gegebenen Begriffsbildungen und Vorstellungs¬ 
weisen nicht beeinträchtigen zu lassen. Die kritische Betrachtung 
vieler anderer Autoren würde eine Gegenüberstellung der betreffenden 
Ansichten mit der Erfahrung selbst erfordern. Bei Wundt gerade 
erscheint dies nicht einmal notwendig. So gewiß Wundts Psycho¬ 
logie eine Vorliebe für das begriffliche Schema zeigt, so gewiß besitzt 
Wundt psychologischen Instinkt genug, um nicht dem logischen 
Zwange sich aufdrängende Tatsachen zu opfern. Man hat demnach 
vor allem zu beachten, wo das Bild, das sich auf Grund logischer 
Verfolgung der Grundaufstellungen der Elementenlehre von den 
seelischen Tatbeständen ergibt, mit dem nicht übereinstimmt, das 
Wundt selbst als das unmittelbar Gegebene zum Ausdruck bringend 
anerkennt. Aus diesen immanenten Verhältnissen schon wird sich 
eine Kritik der Begriffsbildungen und Voraussetzungen Wundts 
ergeben. 

Da der Zusammenhang der Gebilde das Bewußtsein darstellt 
(Gr. 1 239), haben offenbar die Gebilde als unmittelbar gegeben zu 
gelten. Die Elemente als letzte, absolut einfache, unzerlegbare, nach 
Qualität und Intensität bestimmte »Bestandteile des psychischen Ge¬ 
schehens« 1 ) sollen ebenfalls nach P. P. 5 I. 402 »unmittelbar ge¬ 
geben, also selbst Wahrnehmungsinhalte« sein. Andererseits sind 
sie L. 3 III. 193 gemäß »Abstraktionen, die in Wirklichkeit niemals 
Vorkommen«, »Erzeugung der Analyse« (P. P. 5 I. 14). Tatsächlich 
wird durchweg so gesprochen, als ob die Gefühlselemente und Emp¬ 
findungen als Elemente unmittelbar real gegeben seien. Heißt es 
doch Gr. 1 34 »Die wirklichen psychischen Erfahrungsinhalte 
bestehen stets aus mannigfachen Verbindungen von Empfin- 
dungs- und Gefühlselementen.« Das Element ist das »innerhalb 
des Wechsels Dauernde«, es hat eine »dauernde Beschaffenheit« 2 ). 
Für die Elemente werden mathematische Symbole gesetzt 3 ). Aus 
der Feststellung, daß die Elemente »Abstraktionen« sind, könnte 
Wundt, den selbstgestellten Forderungen der Aktualitätstheorie, 

1) Gr. 1 33. 

2) P. P.6 I. 341. 

3) Gr. 1 33. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 51 

die psychischen Vorgänge so aufzufassen, wie sie unmittelbar gegeben 
sind 1 ), nachgebend, Schlüsse ziehen, die die Durchführung einer 
Elementenlehre in Frage stellen müßten. Aber Wundt geht dem 
nicht nach. Die »Abstraktionen« bekommen reale ontologische Be¬ 
deutung. Der Fluß des psychischen Geschehens wird zu einem Wechsel 
seelischer Entitäten. Der simultane Zusammenhang des Bewußt¬ 
seins stellt sich immer als eine Verbindung von Elementen dar. 
Ebenso geht die Kontinuität der sukzessiven Bewußtseinszustände 
aus Verbindungsprozessen der Elemente hervor. Indem die Begriffe 
»einfach« und »Qualität« in den Vordergrund treten, ist die Grund¬ 
konzeption der Elementenlehre nach allem die, die Bewußtseinstat- 
sachen in ein Neben- und Nacheinander einfacher Qualitäten aufzu¬ 
lösen. Das psychische Geschehen wird zu einer Mechanik gleichsam 
von letzten Bestandteilen. Die Analyse ist aber nicht eigentlich der 
Zielpunkt Wundts. Auf dem Zusammensetzen aus Elementen liegt 
das Schwergewicht. Wundts Psychologie ist eine synthetische. 
Ursprünglich, in M. T. 1 und Th. S., ist die Synthese ein logischer 
Prozeß. Daß von den einzelnen Empfindungen auszugehen sei und 
die Wahrnehmung irgendwie durch Zusammensetzung aus ihnen 
hervorgehe, gehört zu den frühesten Voraussetzungen Wundts. 
P. P. 1 spricht noch von einem Akt der Synthese, der der Bildung 
der Vorstellungen zugrunde liege. P. P. 2 hat dann schon die Aus¬ 
führungen, die sich auch noch in P. P. 6 und 6 finden, daß »wir durch 
eine überwältigende Zahl psychologischer Tatsachen genötigt werden, 
anzunehmen, daß sich überall die Vorstellungen durch eine psycho¬ 
logische Synthese aus den Empfindungen bilden« 2 ). Die synthetische 
Betrachtungsweise wird für die Gefühle und Gemütsbewegungen in 
Gr. 1 angebahnt. Und so fährt P. P. 6 , im Gegensatz zu P. P. 4 , nach 
dem eben zitierten Satze fort: »und daß die wirklichen zu¬ 
sammengesetzten Gefühle und Affekte aus Gefühlselementen ent¬ 
stehen «. 

Der Ausdruck »Verschmelzung« soll auf die Innigkeit der Ver¬ 
bindung hin weisen. Gegenüber dem »Eindruck des Ganzen«, inner¬ 
halb der »einheitlichen Vorstellung des Ganzen« treten die einzelnen 
Elemente zurück. Es gibt dominierende und modifizierende Ele¬ 
mente. Ein einziges Element, und zwar im allgemeinen das stärkste, 
gewinnt die pTerrschaft über alle. Die selbständigen Eigenschaften 
der anderen modifizierenden Elemente gehen in dem Verschmelzungs- 


1) L. 3 III. 262. 

2) P. P.* H. 196; P. R* III. 321. 

4« 


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Walter Resch, 


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produkt unter. »Die psychologische Analyse kann auf die Elemente, 
da diese nie isoliert Vorkommen, nur aus den Veränderungen zurück¬ 
schließen, welche die Vorstellungen, deren Bestandteil sie bilden, 
unter verschiedenen Bedingungen erfahren« 1 ). Die Gebilde sind 
Verschmelzungen. Also gelten diese Ausführungen für alle unmittel¬ 
bar gegebenen seelischen Inhalte. 

Die psychologische Analyse wird durch die Aufmerksamkeits¬ 
funktion möglich, die abwechselnd einzelne Bestandteile psychischer 
Erlebnisse klarer und deutlicher aufzufassen gestattet. Durch die 
Lehre von der Verschmelzung wird nun zwar nicht die Möglichkeit 
des analytischen Aussonderns von elementaren Bestandteilen hinfällig 
gemacht: Wundt kann sich immer auf die herrschenden Elemente 
berufen. Diese sind in ihrer qualitativen Selbständigkeit ja nicht 
aufgehoben. Gegenüber den Ausführungen des Grundrisses 1 33, 
die analytische Aussonderung eines Elementes o sei dadurch möglich, 
daß in einem Falle a mit b, c, d in einem zweiten mit b 1 , c 1 , d 1 ver¬ 
bunden sei, bietet sich nunmehr eine ganz andere Ansicht der Bewußt¬ 
seinstatsache. Wie soll man selbständige Elemente, also doch durch 
selbständige Eigenschaften zu bezeichnende und aufzuweisende Be¬ 
standteile des Psychischen finden, wenn in einem einheitlichen Ge¬ 
bilde solche selbständigen Eigenschaften von Teilen nicht gegeben 
sind? Andererseits erscheint die Bestimmung, die Gebilde seien 
aus Elementen als »unmittelbar gegebenen Bestandteilen « zusammen¬ 
gesetzt, konstruiert und aufgebaut, doch durchaus nicht mehr durch¬ 
geführt. Aber es werden nun die Elemente als irgendwie gegebene, 
existente psychische Bestandteile und Faktoren für einzelne Eigen¬ 
schaften und charakterisierende Momente des Gebildes verantwort¬ 
lich gedacht. Die Elemente sind »erschlossen« (P. P. 6 II. 495). 
Von einer reinen Beschreibung der wirklich gegebenen Erfahrungs¬ 
inhalte ist nicht die Rede. Es werden diesen vielmehr, in kausaler 
Betrachtung, unmittelbar nicht gegebene Elemente und Elementar¬ 
prozesse substruiert. 

Es sollen die psychischen Gebilde zu den sie zusammensetzenden 
Elementen in bestimmten kausalen Beziehungen stehen. Die Gebilde 
sollen stets neue Eigenschaften besitzen, die in den einzelnen Elementen 
nicht enthalten, aber den Gebilden als solchen eigentümlich sind. 
Das aus irgendeiner Anzahl von Elementen entstandene Produkt ist 
mehr als die bloße Summe von Elementen. Es ist nach seinen wesent¬ 
lichen Eigenschaften ein mit den Faktoren, die bei der Bildung zu¬ 


ll P. P.« II. 495. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt 


53 


sammenwirken, schlechthin unvergleichbares Gebilde. Für die see¬ 
lischen Vorgänge gilt das »Prinzip der schöpferischen Synthese« 1 ). 

Dann aber wird die Analyse auf die Elemente hin den Tatbestän¬ 
den des wirklich gegebenen Bewußtseins gar nicht gerecht. Wenn 
Wundt von dem Aussondern und Beachten von Bestandteilen 
spricht, entsteht der Eindruck, als brauche man nur die einzelnen 
Teile der Erlebnisse zu beachten und man gelange zu den Elementen. 
Da in den Gebilden den Elementen gegenüber neue Eigenschaften 
und Inhalte vorhanden sind, so werden diese doch auch zu unter¬ 
scheidenden Seiten des seelischen Erlebens gar nicht gefaßt. Wenn 
man von Gebilden liest, die aus Elementen »zusammengesetzt sind, 
bestehen«, so muß das doch so auf gefaßt werden, daß die Gebilde 
schlicht in einem Neben- und Nacheinander von Elementen gegeben 
seien. Man ist in der überwiegenden Anzahl der Fälle ein Verhältnis 
zwischen »Bestandteilen« und »Zusammengesetzten« zu denken ge¬ 
wohnt, bei dem die Bestandteile auch wirklich als »Teile« das aus 
ihnen Zusammengesetzte zusammen setzen. Gewiß werden dann Vor¬ 
stellungen zugrunde gelegt, die in der Betrachtung der Objekte 
fundiert sind. Eben darin, daß Wundts Ausdrucksweise mit Not¬ 
wendigkeit solche Vorstellungen lebendig macht, liegt der angedeutete 
mechanische Charakter der Wundtschen Psychologie gegründet. In 
der Lehre von der schöpferischen Synthese stellt sich heraus, daß, 
wenn man die Elemente zusammensetzt, das Gebilde als wirklich 
gegebener Tatbestand gar nicht herauskommt. Die synthetische Be¬ 
trachtungsweise leistet also das gar nicht, was sie ihrem Namen nach 
doch offenbar müßte. Die neuen Inhalte der Gebilde, der wirklichen 
komplexen Gegebenheiten, sind mit der schlichten Zusammensetzung 
gar nicht zur Darstellung gebracht. Es besteht also eine Differenz 
zwischen einer rein mechanischen Elementenlehre und den kom¬ 
plexen Erfahrungstatsachen. Diesen Zwiespalt zu überblicken, nimmt 
Wundt an, daß eben die Verbindungsprozesse der Elemente die 
Ursache für die neuen Eigenschaften der Gebilde sind. »Infolge der 
Verbindung von Elementen entstehen neue Eigenschaften 2 ).« Treten 
bei der Lehre von der Verschmelzung schon erschlossene Elemente 
auf, so kommen auch hier erschlossene Prozesse hinzu. Wiederum 
ist der Eireis des unmittelbar Erfahrbaren überschritten. 

Die Lehre von der schöpferischen Synthese wird verständlicher, 
wenn man auf ihre Entstehung zurückgeht. In Ph. St. X. 122 be¬ 


ll L.» III. 268ff.; P. P.» III. 778; Gr. 1 375ff. 
2) Gr. 1 108. 


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54 


Walter Resch, 


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merkt Wundt, daß er zuerst an den Leistungen des Gesichtssinnes 
den Akt schöpferischer Synthese begriffen habe. Th. S. 443 f. bringt 
nähere Aufklärung. Die Wahrnehmung wurde dort auf Grund lo¬ 
gischer Prozesse entstehend gedacht. Der erste Akt der Wahrneh¬ 
mung soll in der innigen Verknüpfung verschiedener Empfindungs¬ 
reihen bestehen. Dies wird Kolligation der Empfindungen genannt. 
»Der zweite Akt der Wahrnehmung beruht in der Verschmelzung 
der durch die Kolligation gegebenen Verbindungen zu einem ein¬ 
heitlichen Ganzen.« »Es läßt sich dieser Akt dem Sprachgebrauch 
der Logik gemäß als eine Synthese bezeichnen.« Die Synthese 
erzeugt durch den Prozeß der Verschmelzung, was in den Empfin¬ 
dungen als solchen noch nicht enthalten war. Sie ist »das eigent¬ 
liche Konstruktive bei der Wahrnehmung«. Indem die Synthese 
die Netzhautempfindungen isoliert, aber zugleich mit dem von dem 
Muskelsinn entlehnten Maße mißt, — einer bestimmten Entfernung 
des Bildpunktes auf der Netzhaut entspricht eine bestimmte Muskel¬ 
empfindung, einer Änderung der Lage eine Änderung der Muskel¬ 
empfindung — bildet sie die Wahrnehmung zu der räumlichen Form 
aus. »So ist die Synthese in der Wahrnehmung eine schöpferische 
Tätigkeit, indem sie den Raum konstruiert«. Die Annahme einer 
schöpferischen Tätigkeit des Denkens ist ein altes Erbteil deutscher 
Philosophie. Indem im weiteren Entwicklungsgänge Wundtscher 
Psychologie die Denkprozesse aus der Theorie der Vorstellungen und 
Wahrnehmungen eliminiert wurden, mußte der »schöpferische Cha¬ 
rakter« in die Verbindungsprozesse der Elemente zurückgenommen 
werden. 

Schien die Elementenlehrc in ihrer Grundkonzeption das Psy¬ 
chische als einen Mechanismus von Elementen darzustellen, so kommt 
gerade durch die Lehre von der schöpferischen Synthese ein aktuales, 
ein Kraftmoment zur Betonung. Das Seelische wird als eine Folge 
von Kräften der Elemente in ihrer Verbindung miteinander be¬ 
trachtet. Die Analogie der Elementenlehre mit der neueren Atomistik 
wird dadurch eine vollständige. Während früher die Passivität der 
letzten Bestandteile im Vordergrund stand und alles nur als eine 
Gruppierung und Umgruppierung der Elemente erschien, wird in 
der Neuzeit das Atom in seiner Verbindung mit Atomen zum Aus¬ 
gangspunkt von Wirkungen. Die veränderlichen Naturerscheinungen 
sind Wirkungen jener Kräfte, die von den Atomen und ihren Ver¬ 
bindungen ausgehen. Es ist gewiß zuzugeben, daß die Elemente 
Wundts sich sehr wesentlich von den Atomen dadurch unter¬ 
scheiden: die Atome besitzen nur begriffliche, die Elemente Wundts 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


55 


haben anschauliche Eigenschaften. Was die Eigenschaft »Rot« sei, 
die die Empfindung bestimmt, kann man nur der unmittelbaren 
Erfahrung entnehmen. Diesen Punkt kann man immerhin recht hoch 
einschätzen. Es bleibt die Übereinstimmung, daß Atome wie Ele¬ 
mente letzte, unteilbare Entitäten sind. 

Ist mit alledem in der Lehre von der schöpferischen Synthese 
und Verschmelzung Ausgeführten zugestanden, daß das Psychische 
sich keineswegs als eine schlichte Zusammensetzung von elementaren 
Qualitäten darstellen läßt, so wird die Schwierigkeit, der Grundkon¬ 
zeption gemäß überall die Vielheit von Elementen aufzuzeigen und 
überhaupt die Elementenlehre wirklich durchzuführen, bei der Ge¬ 
fühlslehre besonders groß. Schon der Begriff des einfachen Gefühls 
bedarf der Empfindung gegenüber einer neuen Bestimmung. Die 
Empfindung ist der letzte, weiterhin unzerlegbare Bestandteil der 
Vorstellungen. Bei dem Begriff des einfachen Gefühls soll das Haupt¬ 
gewicht auf die Möglichkeit des wirklichen, selbständigen Vorkommens 
gelegt werden. Wenn ein bei der Analyse der Gefühle gewonnener 
Bestandteil nicht als wirklich existierendes Gefühl, sondern nur als 
Einzelbestimmung eines solchen möglich ist, handelt es sich nicht 
mehr um ein Gefühl, sondern um eine Eigenschaft von Gefühlen 1 ). 
Wundt gesteht also zu, daß man an dem wirklich gegebenen Gefühl 
die unterscheidende Analyse weiter treiben kann und daß das Gefühls¬ 
element keineswegs als letzter »Bestandteil« anzusehen ist. Dies 
läßt Wundt in der Benutzung des Terminus Gefühlselement schwan¬ 
ken. Einerseits werden als Eigenschaften und nicht als Gefühls¬ 
elemente die eigenartigen Bestimmungen bezeichnet, die durch die 
Anordnung aller überhaupt vorkommenden Gefühle in einem ein¬ 
zigen zusammenhängenden Kontinuum bedingt sind. Andererseits 
spricht gerade Wundt mit Rücksicht auf diese Anordnung von 
»Element« und »Zerlegen«. »Wer vermöchte z. B. in dem Geruch 
des Menthol neben dem Lustelement ein erregendes zu verkennen? 
Bo drängt sich überhaupt, je genauer man zu analysieren sucht, um 
so unabweislicher die Überzeugung auf, daß im allgemeinen fast jedes 
Gefühl ein in mehrere Elemente zerlegbares Gebilde ist 2 ).« Ferner 
erwächst aus der Durchführung der schöpferischen Synthese bei 
den subjektiven Phänomenen den Empfindungen gegenüber eine 
Komplizierung dessen, was als Gefühlselement gefaßt wird. E6 
werden »ursprüngliche« und durch die Verbindungen der Gefühls- 

1) P. P.* n. 305. 

2) P. P.& II. 287. 


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56 Walter Resch, 

elemene, kraft schöpferischer Synthese entstehende »neue« Ele¬ 
mente unterschieden 1 ). Bei den Empfindungen wird diese Unter¬ 
scheidung nicht gemacht. Welches soll das Kriterium sein, nach 
dem innerhalb eines wirklichen »subjektiven«Inhaltes die ursprüng¬ 
lichen von den neuen Elementen gesondert werden können? Wundt 
führt aus, daß sich als Gefühlselemente nicht nur solche ergeben, 
»die den im Gebilde enthaltenen reinen Empfindungen korrespon¬ 
dieren, sondern auch solche, die aus der Zusammensetzung der Ele¬ 
mente zu einem Gebilde überhaupt erst entstehen« 2 ). Entscheidend 
ist also, daß die Empfindung aus dem komplexen Tatbestand heraus¬ 
gelöst und als erzeugender Faktor des Gebildes auf gef aßt wird. Das 
erste dieser Momente macht es letzten Endes für Wundt sinnvoll, 
auch die »subjektiven Komplemente« der einfachen Empfindungen- 
abzutrennen. Die sinnlichen Gefühle werden eine erste Art von 
Gefühlselementen. Wie nun, synthetisch betrachtet, die Empfindung 
in Rücksicht auf das Gebilde das Ursprüngliche ist, so sind auch 
mit den Empfindungen schon Gefühlselemente, eben deren subjektive 
Komplemente als »ursprünglich« gegeben gedacht. Die Selbstbeob¬ 
achtung wiederum weist auf subjektiv unzerlegbare Gefühle hin, die 
mit bereits angesetzten Elementen zu verknüpfen kein Motiv sich 
bieten will. Diese treten als charakteristische Begleiter zusammen¬ 
gesetzter Vorstellungen oder selbst verwickelterer Vorstellungspro¬ 
zesse auf. Da diese Gefühle sich aus den Verbindungen, in denen 
sie gegeben sind, nicht herauslösen lassen sollen, erscheinen auch sie 
wie das Gebilde überhaupt den Elementen gegenüber alst erst hervor¬ 
gebracht. Jener Frage nach einem Kriterium also kann Wundt 
nur in einer Weise Genüge leisten, die wiederum nicht in dem wirk¬ 
lich Gegebenen selbst, sondern in der Isolierung der Empfindungen 
erst ihr Fundament hat. 

Die Lehre von der Verschmelzung betont die Einheitlichkeit des 
Ganzen gegenüber der Vielheit der Elemente. Entsprechend weist 
das Prinzip der Einheit der Gemütslage auf die jeweilige Einheit¬ 
lichkeit der sujbektiven Phänomene hin. Alle in einem gegebenen 
Momente im Bewußtsein vorhandenen Gefühlselemente sollen sich 
zu einer einheitlichen Gefühlsresultante verbinden 3 ). Die Erfahrung 
soll die Einheitlichkeit der Gemütslage lehren 4 ). »Wir können eine 
Vorstellung, indem wir sie in Empfindungen zerlegen, stets zugleich 

1) Gr.i 108. 

2) Gr.* 107. 

3) P. P.6 IL 341. 

4) L. 3 IIL 2G6. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt 


57 


als einen zusammengesetzten Vorgang nachweisen. Jedes einzelne 
Gefühl ist für unsere innere Wahrnehmung unzerlegbar, mag es nun 
wie das sinnliche Gefühl an eine einzelne Empfindung oder aber wie 
die elementaren ästhetischen, intellektuellen und sittlichen Gefühle 
an zusammengesetzte Vorstellungen gebunden sein 1 ).« Würde an 
diesem Standpunkte festgehalten, so wäre in bezug auf die subjek¬ 
tiven Tatbestände die Durchführung der Elementenlehre nach ihrer 
analytischen, dementsprechend auch synthetischen Seite offenbar un¬ 
möglich. Zwei Wege sind es, auf denen Wundt dazu gelangt, die 
Vielheit der Elemente zur Geltung zu bringen. Einmal betont er die 
Einheit der subjektiven Zustände nicht so schroff. Es ist von einer 
wohlgeordneten einheitlichen Mannigfaltigkeit die Rede, von zusam¬ 
mengesetzten Gefühlen als intensiven Zuständen von einheitlichem 
Charakter, in denen zugleich einzelne einfache Gefühslbestandteile 
wahrzunehmen sein sollen 2 ). Andererseits wird die Vielheit in die 
erschlossenen Elemente und Elementarprozesse verlegt, aus denen 
das unmittelbar Gegebene erst hervorgeht, wobei natürlich dieser 
zweite Weg den ersten nicht ausschließt. Jedes zusammengesetzte 
Gefühl soll sich in ein aus der Verbindung aller seiner Bestandteile 
resultierendes Totälgefühl und in Partialgefühle als Komponenten 
des Totalgefühls zerlegen lassen. Letzte Gefühlskomponenten sind 
die »einfachen Gefühle«, »denen einfache, unmittelbar nicht weiter 
zerlegbare Vorstellungsinhalte des Bewußtseins entsprechen« 3 ), also 
stets »einfache und sinnliche Gefühle« 4 ).* Die einfachen Gefühle 
bilden eine stufenweise Ordnung, sie verbinden sich zu Partial¬ 
gefühlen erster, diese zu Partialgefühlen zweiter Ordnung usf. Daß 
diese Prozesse erschlossen und nicht unmittelbar gegeben sind, 
gesteht Wundt selbst zu, wenn er von dem Totalgefühl, an dem er 
gerade die Zusammensetzung aus Partialgefühlen exemplarisch be¬ 
hauptet, dem Harmoniegefühl sagt, es sei »als Gefühl betrachtet 
durchaus unzerlegbar« 6 ). Dagegen kommt wieder die durch die 
Elementenlehre gegebene Substruktion zur Geltung, wenn es heißt, 
»so entspricht z. B. dem musikalischen Dreiklang ceg ein Total¬ 
gefühl der Harmonie, dessen letzte Elemente als Partial gef ühle erster 
Ordnung die den einzelnen Klängen ceg entsprechenden Klang¬ 
gefühle sind«. Wie aber soll ein eingestandenermaßen unzerlegbares 

1) M. T.* 432. 

2) Gr. 1 187. 

3) P. P.* II. 344. 

4) Gr. 1 188. 

5) Gr. 1 41. 


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58 Walter Reöch, 

Gefühl trotzdem zu analysieren möglich werden? Wiederum gibt 
die Herauslösung der Empfindungen aus dem Komplex die Hand¬ 
habe her. Es ist Wundts Voraussetzung, daß an jede Empfindung 
ein sinnliches Gefühl gebunden ist. Umgekehrt liegt in der Behaup¬ 
tung, daß die letzten Gefühlskomponenten aller zusammengesetzten 
Gefühle, d. h. aller unmittelbar gegebenen Gefühlsgebilde, die Pro¬ 
dukte eines augenblicklichen Zustandes sind, stets einfache sinn¬ 
liche Gefühle seien, die Forderung, zu jeder wirklichen Gefühls¬ 
gegebenheit die Empfindungssubstrate aufzuzeigen. Daß dies Wundt 
Schwierigkeiten machen wird, ist zu vermuten, wenn von dem allein 
ausgeführten Beispiel der Ton- und Harmoniegefühle gesagt wird, 
es sei wegen der genauen Korrespondenz, in der hier Empfindung 
und Gefühl zueinander ständen, die beste Veranschaulichung für das 
Verhältnis der Total- und Partial gef ülile. Die Theorie fordert stets 
jene genaue Übereinstimmung von Empfindung und Gefühl. Auch 
hier also werden die Gefühle nicht, wie sie unmittelbar gegeben Bind, 
in ihrer subjektiven Unzerlegbarkeit geschildert, vielmehr ist wiederum 
die Zerlegung der objektiven Inhalte in Empfindungen als ursprüng¬ 
liche Bestandteile vorausgesetzt. 

Bei der erwähnten einheitlichen Mannigfaltigkeit der Gefühle 
sollen die sich verbindenden einfachen Gefühle wechselweise durch 
die anderen in den Komplex eingehenden und alle durch ihre gemein¬ 
same Resultante modifiziert werden. Die einzelnen einfachen Gefühle 
werden überhaupt dabei nicht mehr als gesonderte Bestandteile des 
Ganzen unterschieden, sondern sie tragen nur zu der eigentümlichen 
Gefühlsfärbung des Ganzen bei. Die hinreichende Konstanz der 
Elemente ist ein wichtiges Fundament der ganzen hier zu betrach¬ 
tenden Anschauungsweise Wundts. In dieser Richtung treten bei 
den Empfindungen nicht die Schwierigkeiten auf, die für die Analyse 
der Gefühlselemente aus den wirklichen »wohlgeordneten Mannig¬ 
faltigkeiten« mit den zitierten Ausführungen angegeben sind. Wenn 
die Gefühle wechselweise modifiziert werden, können da noch durch 
die verschiedene Richtung der Aufmerksamkeit in dem Wechsel des 
Geschehens konstante Elemente gefunden und hervorgehoben werden? 
Wundt versichert, daß sie in den anderen Gefühlskomplexen als die 
nämlichen wiederzuerkennen möglich sein soll. Immerhin beleuchtet 
das Zugeständnis Wundts stark die Schwierigkeiten der Elementar¬ 
analyse bei den Gefühlen. Übrigens kommt gerade hier der stets 
betonte Vorgangscharakter, die wechselnde Beschaffenheit des Ge¬ 
fühls hinzu, die es kaum gestatten soll, einen Gefühlszustand in un¬ 
veränderter Qualität und Stärke festzuhalten. Was aber die syn- 


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Zur Psychologie des Willens bei Wandt. 


59 


thetische Betrachtung anbelangt, so wird noch zu allem anderen ein 
neuer, erschlossener Elementarprozeß, die gegenseitige Modifizierung, 
sichtlich um den Forderungen der Erfahrung selbst Genüge zu leisten, 
angenommen. 

Füuf Gesichtspunkte beherrschen Wundts Gefühlslehre. Erstens 
die Meinung, daß alle Gefühle einen zeitlichen Verlauf besitzen, 
zweitens die Behauptung der Möglichkeit, die qualitative Kon¬ 
stitution aller Gefühle in einem dreidimensionalen Kontinuum zur 
Darstellung bringen zu können, drittens die Betonung der Einheit¬ 
lichkeit des momentanen Gefühlszustandes — was mit der Lehre von 
der Verschmelzung in Zusammenhang tritt —, viertens und fünftens 
die Anschauung auf die Gefühlszustände die Elementenlehre und 
die Lehre von der schöpferischen Synthese anwenden zu können. 
Alle fünf Momente gewinnen auf die Darstellung der Willensvorgänge 
im vierten Stadium Einfluß. 

Die Willensvorgänge sind als Gebilde Assoziationen von Elementen, 
und zwar simultane, besonders innige Assoziationen, d. h. Verschmel¬ 
zungen 1 ). Unter den Assoziationen überhaupt werden die sukzessiven 
von den simultanen und unter den letzteren erstens die Verschmel¬ 
zungen von Elementen, zweitens die Assimilationen, d. h. die in der 
Veränderung gegebener psychischer Gebilde entstehenden Assozia¬ 
tionen, drittens die Komplikationen unterschieden. Diese sind 
simultane Assoziationen psychischer Gebilde disparater Sinnesgebiete. 
In die WillqnsVorgänge läßt Wundt nun nicht nur Empfindungen 
und Gefühlselemente ein gehen, sondern mit den Motiven auch Vor¬ 
stellungen. Ganz folgerichtig wird den Verschmelzungen der Willens¬ 
phänomene erstens ein komplikativer, zweitens der Charakter der 
sukzessiven Assoziationen zugewiesen. Die Willensvorgänge rücken 
so in die Nähe der Erinnerungsvorgänge als sukzessiver Assoziationen. 
Damit wird dann auch »Verschmelzung« gleichbedeutend mit »Asso¬ 
ziation« überhaupt. 

Der Begriff des Gebildes als eines aus Elementen zusammen¬ 
gesetzten Ganzen erfährt bei der Willenslehre eine Erweiterung. Der 
Willensvorgang endigt in einer Willenshandlung. Gefühlsverlauf 
plus Veränderung konstituiert erst den Willensvorgang. Die empiri¬ 
schen Gründe sind klar genug, die maßgebend dafür sind, die End- 
wirkung des Affektes nicht aus dem Begriff des Willensvorganges 
auszuschließen. Aber jene Veränderung ist selbst nicht etwas, was 
aus den den Willensvorgang konstituierenden Gefühlen zusammen- 


1) Gr.* 266. 


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Walter Rescb, 


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gesetzt wäre. Sie ist eine Tatsache besonderer Art. Indem der Willens- 
vorgang als Gebilde auch diese in sich befaßt, zeigt der Begriff des 
Gebildes als eines Elementenkomplexes innerhalb Wundts Psycho¬ 
logie selbst eine Schranke. 

Hätte Wundt nicht das Prinzip der schöpferischen Synthese 
aufgestellt, so könnte er eine synthetische Betrachtung der Willens¬ 
vorgänge in der Weise durchführen, daß er erklärte, man brauche 
nur die angegebenen Empfindungs- und Gefühlselemente, also: die 
Empfindungskomplexe, die mit dem Gefühlsverlauf verbunden auf- 
treten, die Gefühle im »Moment eines Willensaktes «, die ja Elemente 
sein sollen, die Empfindungen, aus denen sich die Motivvorstellungen 
zusammensetzen, zu verknüpfen, und man habe die Willensvorgänge 
in ihrer psychologischen Eigenart synthetisch aufgezeigt. Es besteht 
aber die systematische Verpflichtung, jenes Prinzip nicht unangewandt 
zu lassen, wenngleich die einfache Feststellung des Unterscheidbaren 
für Wundt offensichtlich weitaus bequemer gewesen wäre. Es müssen 
also auch hier die Eigenschaften der psychischen Gebilde noch nicht 
durch die der eingehenden Elemente erschöpft sein. Die Frage 
bleibt, was bei den Willensvorgängen als Gefühlsprozessen die »ur¬ 
sprünglichen«, was die neu gebildeten Elemente sein sollen. »Ein 
Willensvorgang besteht nicht bloß aus den Vorstellungen und Ge¬ 
fühlen, in die sich die einzelnen Akte derselben zerlegen lassen, son¬ 
dern es resultieren aus der Verbindung dieser Akte neue Gefühls¬ 
elemente, die dem Willensakt als solchem spezifisch eigentümlich 
sind 1 ).« Der Willensvorgang ist »eine eigenartige Form psychischer 
Erfahrung, die als solche mit den Empfindungs- und Gefühlselementen 
keineswegs schon gegeben ist« 2 ). Zwar wird behauptet, diese neuen 
einfachen Gefühle bildeten, mit den ursprünglichen vereinigt, stets 
intensive Gefühlseinheiten von zusammengesetzter Beschaffenheit. 
Trotzdem muß die Forderung nach der Trennung jener Gefühle auf¬ 
recht erhalten werden. Wenn Zusammensetzungen vorliegen sollen, 
will man auch nun die konstituierenden Bestandteile wissen. Nimmt 
man an, das Tätigkeits-, Entscheidungs- und Lösungsgefühl seien 
eben jene resultierenden Gefühlselemente, dann ist wohl die eine 
der gestellten Fragen beantwortet; worin die »ursprünglichen« Ele¬ 
mente bestehen, bleibt dunkel. Gesetzt, die genannten Gefühle seien 
gemäß ihrer Bezeichnung alB Totalgefühle intensive Gefühlseinheiten 
von zusammengesetzter Beschaffenheit, so wird wiederum nicht klar. 


1) Gr. 1 108. 

2) Gr. 1 34. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wnndt. 


61 


in welcher Weise aus elementaren, sei es ursprünglichen, sei es neuen 
Konstituentien, Bich die Gefühlseinheit auf bauen soll. Weder die erste 
noch die zweite Frage wird befriedigend beantwortet. Angaben, die 
die Einordnung in das dreidimensionale Gefühlskontinuum betreffen, 
geben in diesem Punkte nicht die gewünschte Aufklärung. Sind doch 
Lust und Unlust keine Gefühlselemente, die in konstanter Qualität 
überall wiederkehrten, sondern nur Gefühlsklassen und Grundrich¬ 
tungen. Eine klare und scharfe Durchführung des Prinzips der 
schöpferischen Synthese wird somit nicht gegeben. Wo das Schöp¬ 
ferische steckt, wird nicht gezeigt. Sätze, wie die zitierten, stehen 
ohne Zusammenhang da. Die kausal-synthetische Betrachtungsweise 
versagt den Willensvorgängen gegenüber in doppelter Weise. Erstens 
werden die Elemente, die letzten Endes als die ursprünglichen den 
Willensvorgang aufbauend gedacht werden müßten, gar nicht auf¬ 
gewiesen. Zweitens würde, selbst wenn jene »ursprünglichen« Ele¬ 
mente gegeben wären, nach Wundt selbst durch das »Zusammen« 
dieser Elemente der Willensvorgang noch gar nicht heraus¬ 
kommen. 

Die Auffassung, daß die Elemente das wirklich Gegebene hervor¬ 
bringen, ist im Laufe der Entwicklung der Wundtschen Psychologie 
später hervorgerteten als die, welche alle Kausalität in die Tätigkeit 
zunächst des logischen Denkens, dann der Apperzeption und des 
Willens verlegte. Seitdem im Grundriß die Kausalität des Elementes 
durchzuführen gesucht wurde, stehen beide Kausalitäten neben¬ 
einander. Sie sind nicht aufeinander zurückführbar. Tätigkeit setzt 
auf das Subjekt bezogene Veränderungen voraus. Tätigkeit ist 
Wirksamkeit früherer Vorgänge 1 )^ Die Wirksamkeit des Elements 
erschöpft sich in seinem realen augenblicklichen Gegebensein. Sie 
dauert nicht über die wirkliche psychische Existenz des Gebildes 
hinaus an. Dies annehmen und von hier aus weiter schließen, müßte 
aber doch irgendwie Wundt, wollte er etwa die Totalkraft der 
Apperzeption als Wirksamkeit früherer Vorgänge mit der Kausalität 
der Elemente in Verbindung bringen. Wundt ist empirisch genug 
gerichtet, dies nicht zu tun. Eine rationale Einheit der Kausal¬ 
betrachtung wird nicht erreicht. Jede innere Willenshandlung, jede 
Leistung der Apperzeption, die Entstehung bestimmter Denkverbin¬ 
dungen, der logische Denkverlauf überhaupt widerlegt den Satz Gr. 1 
262: »Der Zusammenhang der psychischen Vorgänge . . . hat seine 
letzte Quelle in Verbindungsprozessen, die fortwährend zwischen den 


1) M. T.« 248, 270, 274. 


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Ö2 Walter Iiescli, 

Elementen der einzelnen Bewußtseinsinhalte stattfinden.« In den 
genannten Fällen ruht die letzte Quelle in der Kausalität der Ver¬ 
gangenheit. 

Was es nun auch sonst mit dem Tätigkeitsgefühl auf sich haben 
möge, jedenfalls ist es für Wundt der Bewußtseinsinhalt, der die 
Kausalität des Subjekts vermittelt, auf Grund dessen es möglich wird, 
zu jenen begrifflichen Zergliederungen, die Tätigkeit als Wirksamkeit 
der Vergangenheit fassen und unter Tätigkeit subjektbezogene Ver¬ 
änderung verstehen, zu gelangen. Das Tätigkeitsgefühl nun ist als 
Totalgefühl selbst aus Elementarprozessen zu verstehen. So stoßen 
denn hier beide Kausalbetrachtungen gleichsam zusammen. Freilich 
führt Wundt jene Kausalbetrachtung nach den erzeugenden Ele¬ 
menten nicht streng durch. Das Empfindungssubstrat wird nur für 
die äußeren Willenshandlungen angegeben. Übrigens wird in P. P. 5 
III. 253 »Partialgefühl« nicht in dem Sinne der Partialgefühle erster 
bis nter Ordnung gebraucht. Vielmehr werden darunter die Kom¬ 
ponenten eines Gefühlsverlaufes nach den Richtungen der Lust, 
Unlust, Spannung, Lösung, Erregung und Beruhigung verstanden. 
Der Zusammenhang, dem sich jener Terminus in dem einen und dem 
anderen Falle einordnet, ist offenbar ein ganz anderer. 

Aber noch in anderer Weise wird bei der Erörterung der Apper¬ 
zeption die Elementenlehre nicht mehr durchgeführt: es werden In¬ 
halte zugestanden, deren Existenz mit dem Satze, daß »alle wirk¬ 
lichen psychischen Erfahrungsinhalte stets aus mannigfachen Ver¬ 
bindungen von Empfindungen und Gefühlselementen bestehen«, 
nicht zusammenstimmen will. »Die elementarste aller Funktionen 
der Apperzeption ist die Beziehung zweier psychischer Inhalte auf¬ 
einander.« »Die Grundlagen solcher Beziehung sind überall in den 
einzelnen psychischen Gebilden und ihren Assoziationen gegeben.« 
Aber die Ausführung der Beziehung soll in einer besonderen Apper¬ 
zeptionstätigkeit bestehen, »durch welche erst die Beziehung selbst 
zu einem neben den aufeinander bezogenen Inhalten vorhandenen 
besonderen Bewußtseinsinhalt wird« 1 ). Ist dieser Inhalt ein Gebilde, 
ein Elernentenkomplex? Davon erfährt man nichts. Die Lehre von 
der Agglutination der Vorstellungen hält insofern noch den Zu¬ 
sammenhang mit der systematischen Grundlegung aufrecht, als in 
der Gesamtvorstellung doch die ursprünglichen Vorstellungen, diese 
als Komplexe von Empfindungen, bewußt enthalten sein sollen. Die 
Vorstellungen der »Kirche« und des »Turmes« baut Wundt syn- 


1) Gr. 1 294. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 6ü 

thetisch aus Gesichtsempf indun gen auf 1 ). Die besonders enge Be¬ 
ziehung, in die »Kirche« und »Turm« bei Bildung der Gesamtvor¬ 
stellung eines »Kirchturmes« gebracht werden sollen, braucht nicht 
notwendig ein gesondert vorhandener Bewußtseinsinhalt zu sein. Als 
Effekt der Kausalität des Subjekts mag gelten, daß die Empfindungs¬ 
komplexe sich zu einer simultanen Bewußtseinsgegebenheit, zu einer 
Vorstellung zusammenschließen. Bei Gelegenheit der apperzeptiven 
Verschmelzung werden Vorstellungen angenommen, die gar nicht 
mehr in Einzelvorstellungen zerlegbar sein sollen. »Wir sind uns 
nur noch der resultierenden Gesamtvorsteliung bewußt.« »Die Kom¬ 
ponenten entschwinden allmählich ganz dem Bewußtsein 2 ).« Dann 
können aber doch auch nicht mehr die Empfindungen gegeben sein, 
die die Bestandteile der »Komponenten« bildeten. Die Bestandteile 
der Bestandteile sind doch unmöglich vorhanden, wenn die Bestand¬ 
teile selbst nicht feststellbar sind. Diese Diskrepanz erscheint bei 
der Lehre von der Verdichtung und Verschiebung der Vorstellungen 
noch verstärkt. Nicht mehr zwei Einzelvorstellungen werden in der 
Gesamtvorstellung zusammengefaßt, wie das nach dem Beispiel 
»Kirchturm« gegeben war, sondern eine ganze Anzahl von Synthesen 
von Einzelvorstellungen soll in einer Gesamtvorstellung zum Aus¬ 
druck kommen. 

Es gibt für Wundt zwei Klassen von Begriffen, solche, die durch 
repräsentative Vorstellungen, und solche, die nur noch durch vor¬ 
stellbare Zeichen vertreten sind. Wenn der Unterschied zwischen 
einer Vorstellung als Einzelvorstellung und derselben in stellvertre¬ 
tender Bedeutung darin liegen soll, daß, solange man innerhalb der 
Reihe zusammengehöriger Vorstellungen bleibt, man von einer Vor¬ 
stellung zur anderen abschweifen kann, während das sonst nicht mög¬ 
lich sein soll 3 ), so ist in der Tat die stellvertretende Bedeutung als 
Bewußtseinsinhalt verschwunden und nur ein objektives Kriterium 
angegeben. Die stellvertretende Bedeutung ist in Beziehungen des 
Vorstellungsverlaufs aufgelöst. Aber diese objektive Sachlage soll 
nur den »Gedanken« der repräsentativen Bedeutung vorbereiten 4 ). 
Zwar wird das Bewußtsein der stellvertretenden Bedeutung als ein 
die begriffliche Vorstellung begleitendes »Begriffsgefühl« bezeichnet. 
Doch soll das Gefühl wiederum durch die »der Vorstellung bei- 


1) P. P.s III. 573. 

2) P. P.s III. 573/4. 

3) L.» I. 46/7. 

4) L. 3 I. 46. 


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64 


Walter Resch, 


gelegten Gedankenbeziehungen« bereichert sein 1 ). Und was sind 
diese Gedankenbeziehungen? — Mit der Verdunkelung der reprä¬ 
sentativen Vorstellung soll der abstrakte Charakter des Begriffs zu¬ 
nehmen. Es kann nach Wundt geschehen, daß der Begriff als ein¬ 
zelner psychologischer Akt außer dem Verschmelzungsprodukt von 
Gehörsvorstellung des Sprachlauts und Gesichtsvorstellung des 
Schriftbildes keine weiteren Bestandteile unmittelbar erkennen läßt. 
»Wort und Schriftzeichen sind sinnliche Vorstellungen, und sie ent¬ 
sprechen daher durchaus der psychologischen Forderung, daß jeder 
Denkakt in der Form bestimmter Einzelvorstellungen unserem Be¬ 
wußtsein gegeben sein müsse 2 ).« Aber ein Begriff kann sich doch 
nicht in seiner sprachlichen, lautlichen, schriftlichen Repräsentation 
erschöpfen. Der sprachliche Laut soll nach Wundt selbst »eineBedeu- 
tung« haben 3 ), er soll nur »sprachlicher Ausdruck« sein 4 ). Der 
Sprachlaut ist nur ein »Zeichen«, ein »äußeres Symbol« 6 ). Das Pro¬ 
dukt von Sprachlaut und Schriftbild wird als »Stellvertreter des Be¬ 
griffs« bezeichnet 6 ). »Der Begriff ist an sich selbst unvorstellbar 7 ).« 
Dann jedoch kann der psychologische Bestand des Denkverlaufs 
in Begriffen nicht allein in jenen Gehörs- und Gesichtsvorstellungen, 
deren Aufbau aus Empfindungen zuzugestehen wäre vollständig 
gegeben sein. Es bleibt die Frage wiederum, was denn dies »mehr« 
an psychischem Erlebnis sei. 

So gesteht Wundt an verschiedenen Punkten im Grunde selbst 
ein, daß es, die wirklichen psychischen Erfahrungsinhalte zu erhalten, 
nicht mit einer Synthese von elementaren Qualitäten getan ist. Es 
werden zahlreiche Hilfsannahmen notwendig. Die Elemente und die 
Elementarprozesse sind zugestandenermaßen nicht unmittelbar er¬ 
lebt, sondern erschlossen und dem realen Tatbestand substruiert. 
Die Elementenlehre wird zu einer Begriffsdichtung, die, gemessen 
an der Erfahrung und ihren Absichten nach, kaum auf einer anderen 
Stufe steht als Herbarts Mechanik der Vorstellungen. Hier wie dort 
wird mit letzten Entitäten und den zwischen ihnen stehenden Pro¬ 
zessen gerechnet, wenn auch sicherlich ein ganz anderes Maß wirk¬ 
licher Beobachtung in Wundts Ausführungen eingeht. Wollte 


1) Gr.i 312; P. P.s III. 574. 

2) L s I. 50. 

3) L. 3 I. 39/40. 

4) L. 3 I. 39. 

5) L. 3 I. 51. 

6) L. 3 I. 50. 

7) L. 3 I. 48. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wunrlt. 


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Wundt aus seiner Forderung, die psychischen Tatsachen hinzuneh¬ 
men und zu beschreiben, wie sie wirklich sind, die Folgen ziehen, 
so könnte er, seinen eigenen Zugeständnissen entnehmend, daß nicht 
nur nicht »stets«, sondern überhaupt gar nicht die wirklichen Tat¬ 
bestände aus einer Synthese von Elementen darstellbar sind, — die 
Vorstellungen wie die Gemütsbewegungen sind Verschmelzungen, 
einheitliche Gegebenheiten, die die Vielheit der Elemente gar nicht 
zeigen, ja sogar »subjektiv unzerlegbar« sind, und haben zudem 
»neue Eigenschaften« — seine Elementenlehre nur ablehnen. Die 
Psychologie kann keine Gesetzeswissenschaft in dem Sinne der Natur¬ 
wissenschaften werden. Wo man versucht hat, die Psychologie in 
solchem Sinne zu behandeln, haben alle Bemühungen zu Spekulationen 
geführt, die die wirklichen Gegebenheiten nicht auf hellten, vielmehr 
durch ihre logisch-systematische Begriffsbildung die Tatsachen selbst 
verdunkelten. Die Erkenntnis der psychologischen Sachverhalte in 
ihrem unmittelbaren Charakter erfuhr keine Bereicherung. Es wurde 
das Tatsächliche in irgendeiner Form doch zugrunde gelegt. Statt 
daß aber die Arbeit sich um eine nähere Kenntnis dessen bemühte, 
wurde ohne sichtbaren Gewinn der Substruktion von erschlossenen 
Prozessen Zeit und Kraft geschenkt. Wenn es Gesetze des Psychi¬ 
schen geben soll, so müssen sie demnach in irgendeiner Form erfahrbar 
sein. Es scheint, daß man solche Gesetze angeben kann. Sie be¬ 
treffen vor allem einerseits die Abhängigkeit der Wahrnehmungen und 
ihrer Qualitäten von den Reizen, andererseits den Verlauf der Vor¬ 
stellungen. Die volle Gesetzmäßigkeit des Psychischen tritt erst her¬ 
vor, wenn man aufhört, das Psychische als eine Folge allgemeiner 
Prozesse zu betrachten, und der einfachen Tatsache Rechnung trägt, 
daß alles Psychische der Erscheinung nach eine Folge individu¬ 
eller Bildungsprozesse ist und nur dies sein kann 1 ). 

In der Kritik einer synthetischen Psychologie liegt nicht die 
Abweisung elementarer Phänomene des Seelischen. Ein Skeptizis¬ 
mus wird durch die Möglichkeit analysierender Beobachtung kräftig 
genug widerlegt. Muß man sich doch gerade um die Kenntnis der 
psychischen Einzelheiten, also der letzten zu unterscheidenden Seiten 
der Erlebnisse bemühen. Aber es sind die so gewonnenen Teilmomente 
nur Elemente im analytischen Sinne. 

Während in dem vierten Stadium, verglichen mit dem dritten, die 
Betonung der psychologischen Erörterungen keine Veränderung erfährt, 


1) s. Goetz Martius, Leib und Seele. Kiel 1910. 

Archiv filr Psychologie. XXXIX. 6 


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Walter Rescb 


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wird den psychologischen Einzelheiten eine entschieden größere Auf¬ 
merksamkeit gewidmet. Wiederum trägt Wundt neue Unterschei¬ 
dungen vor. Indem jetzt die »Gefühle« die »wesentlichsten Bestand¬ 
teile eines Willensvorganges« sind und eine »emotionale Theorie« 
ausgebildet wird, werden einerseits zahlreichere Gefühle aufgeführt., 
andererseits die Gefühle und Gefühls verlaufe ihrer qualitativen Kon¬ 
stitution nach näher geschildert. Im ganzen zeigt sich eine offenbar 
mit der systematischen Durcharbeitung zusammenhängende Ver¬ 
einfachung. Die Vielheit der Tendenzen des dritten Stadiums fehlt, 
wenngleich in P. P . 5 und 6 zahlreiche ältere Gedankengänge bleiben. 
Die Bewegungsvorstellung als Antezedens der äußeren Willenshand¬ 
lung findet nur in P. P . 6 und 6 Beachtung. 

Die psychologisch-systematischen Beziehungen, denen sich die 
Willenslehre Wundts in ihrem vierten Stadium einfügt, sind diese: 
Die Willensvorgänge sollen aus einer Vielheit von Elementen be¬ 
stehen, andererseits ein einheitliches Ganzes bilden, vor allem, da 
sie doch Gefühlsprozesse sind, gemäß dem Prnizip der Einheit der 
Gemütslage. Sie sollen einmal aus der Kausalität elementarer 
Qualitäten hervorgehen, andrerseits soll in ihnen gerade die Kau¬ 
salität des Subjekts, der Vorvergangenheit zum Ausdruck kommen. 
Sie werden als in Elemente zerlegbar gedacht. Andererseits sind 
von ihnen Bewußtseinstatbestände abhängig, die von Wundt nicht 
mehr in Gefühle und Empfindungen aufgelöst werden. 

Der Willensvorgang nimmt innerhalb des Seelenlebens eine zen¬ 
trale Stellung ein. Den subjektiven Gegebenheiten gegenüber ist er 
der vollständige Vorgang. Auf die Kontinuität der Willens Vorgänge 
gründet sich das Selbstbewußtsein. Vom Willensvorgang ist die 
Klarheit der Bewußtseinsinhalte, dann der überragendere und wich¬ 
tigere Teil der psychischen Verbindungsprozesse abhängig. Die 
Willenshandlung besitzt im Hinblick auf die Gesamtheit der psychi¬ 
schen Vorgänge eine typische Bedeutung: der beim Wollen längst 
anerkannte Charakter des Vorgangs, des Ereignisses kommt auch 
allen anderen Erfahrungsbestandteilen zu 1 ). 

Die durch ihre vielfach verschiedene Beantwortung interessante 
Frage, inwiefern der Willensvorgang den übrigen psychischen Phäno¬ 
menen gegenüber etwas Spezifisches sei, wird so entschieden: das 
Wollen ist nicht ein spezifisches Element des Bewußtseins, aber 
durchaus ein spezifischer Vorgang; er ist eine relativ geschlossene 


1) Ph. St. XII. 51. 


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Zur Psychologie des Willens bei Wundt. 


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Einheit und zeigt in seinem Verlaufe und seinem eigentümlichen 
Endstadium Gefühle von spezifischer Qualität; zwischen dem End¬ 
stadium und den vorangehenden Inhalten liegen in jedem Falle 
Beziehungen vor 1 ). 


Schloß. 

Wundts Psychologie hat von jeher eine Mittelstellung zwischen 
Sensualismus und Rationalismus eingenommen. Der Empfindung 
tritt die Spontaneität des Denkens entgegen. Zu besonders scharfem 
Ausdruck kommt diese psychologische Einstellung in der ersten 
Periode, in Th. S. und M. T. x . Werden mit P. P . 1 auch die Leistungen 
jener Tätigkeit stark eingeschränkt, verschwindet dort gemäß dem 
neuen Bewußtseinsbegriff das imbewußte Denken in seiner Spon¬ 
taneität, überhaupt der logische Charakter der seelischen Grund¬ 
tätigkeit aus M. T. 1 , so bleibt doch als doppelter Ansatzpunkt die 
Empfindung als Element und die Tätigkeit. Diese ist Apperzeptions¬ 
und Willenstätigkeit. Die Entwicklung geht dahin, den Geltungs¬ 
bereich der Apperzeptionstätigkeit größer zu machen, damit wiederum 
jene Tätigkeit als die logischen Verbindungen bedingend hinzustellen, 
dann aber dahin, einerseits in von Auflage zu Auflage steigendem 
Maße den gleichsam abstrakten Charakter jener Tätigkeit zu mindern 
und auch sie auf die anerkannten psychologischen konkreten Phäno¬ 
mene des Gefühls zurückzuführen, andererseits dem Elementenbegriff 
in der Betrachtung des Psychischen eine immer größere Rolle zuzu¬ 
weisen. Beide Tendenzen dringen entscheidend im Gr . 1 durch und 
beherrschen von da ab auch die Ausführungen der physiologischen 
Psychologie. Beim Beginn somit liegt der Schwerpunkt der Darstel¬ 
lung in dem Tätigkeitsbegriff, in der neuesten Zeit in dem Elementen¬ 
begriff. 

Die vier Stadien in der Entwicklung der Willenslehre nehmen 
an der Gesamtentwicklung teil. Am geringsten ist der Zusammen¬ 
hang mit »Tätigkeit« und »Element« in M. T. 1 , im ersten Stadium. 
Nur indem Gefühl, Affekt, Begehren von der logischen Grundtätig¬ 
keit abhängen, diese wiederum mit dem Wollen in Verbindung ge¬ 
bracht werden, ist ein solcher zu erkennen. Der Elementenbegriff 
bleibt ohne Verknüpfung mit der Willenspsychologie. Im zweiten 
Stadium wird Tätigkeit zur Willenstätigkeit, zugleich tritt die physio¬ 
logische Betrachtung in den Vordergrund. Dann im dritten Stadium, 
P. P . 2 bis P. P. 4 , zeigt sich die zunehmende Betonung des Gefühls, 


1) P. P.6 III. 250. 


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(Aus dem Psychologischen Seminar der Universität Kiel.) 


Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte, 

Von 

J. Wittmann. 

(Mit 1 Figur im Text.) 

1. Kursor geschichtlicher Bückbück. 

Der Umstand, daß die Invertierbarkeit wirklicher Objekte erst 
in der neueren Zeit — nach Burmesters Angabe erwähnt 
Aguillonius 1613 zum erstenmal mit freiem Auge beobachtete 
Gestalttäuschungen — bekannt geworden ist, spricht wie die ver¬ 
wandte Tatsache, daß aus den bekanntesten Konturenzeichnungen 
auch heute noch immer Raumformen ersehen werden können, da¬ 
für, daß das Raumsehen in bezug auf die Möglichkeiten seiner 
faktischen Auswirkungen noch nicht genügend bekannt ist. 

Von den in der älteren Literatur beschriebenen hierhergehörigen 
Beobachtungen, über die Burmester (Zeitschr. f. Psychol. Bd. XLI 
und L) berichtet, seien die wichtigsten kurz hervorgehoben. 

Die von Aguillonius (1613) gemachte Beobachtung besteht 
darin, »daß an den Wänden hervorragender Gebäude und der Festun¬ 
gen aus der Ferne nicht selten Kugeln, die teils eingeschossen, teils 
künstlich eingefügt sind, konkav und die Höhlungen herausgefallener 
konvex erscheinen«. 

Mehrfach hat man später z. B. schon 1669 und Jablot 1718 
unter Mikroskopen und Lupen die Inversion von Geldstücken und 
dergleichen gesehen. 

öfters beschrieben finden wir das Umschlagen der mit freiem 
Blick gesehenen bewegten Flügel einer Windmühle. Nach Bur¬ 
mesters Angabe erwähnt Rob. Smith (1738) als erster dieses Phä¬ 
nomen. Unabhängig von ihm hat es dann erst wieder Sinsteden 
(1860) neu beschrieben. Hinweisend auf Sinsteden bespricht 
Rollmann (1868) dieses Phänomen. Dann finden wir es wieder bei 
Hering (1869) erwähnt. 

Bemerkenswert erscheint, daß Rittenhouse 1780 die Um¬ 
kehrung der mit freiem Blick durch eine Röhre betrachteten Fugen 
von Mauersteinen beschreibt. 


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J. Wittmann, 


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Im Anschluß an die Beobachtungen von Brewster (1828—1857) 
wurde später sehr viel die Invertierbarkeit von Matrizen besprochen, 
so von Wheatstone (1842), Moser (1844), Schröder (1852, 1858), 
Oppel (1854—56), Hoppe (1881) u. a. 

Wheatstone hat wohl als erster Invertierversuche an dem 
Drahtmodell eines Würfels gemacht (1838). Er beobachtete den 
Unterschied in der Erscheinungsweise des objektiven und inversen 
Würfels bezüglich der Persistenz der an ihnen gesehenen Sehdinge. 
Dem reihte Tourtual (1842) wertvolle Beobachtungen an, indem er 
Drahtmodelle von Pyramiden und Würfeln benutzte; auf sie komme 
ich weiter unten zurück. E. Mach hat wohl als erster (1866; 1868) 
die Invertierbarkeit wirklicher flächenhaft begrenzter Objekte, zu¬ 
nächst eines geknickten konvexen Blattes untersucht. 1868 berichtet 
er, daß er ein Haus, einen Turm, einen Regenschirm, ein Kästchen, 
ein Trinkglas, Drahtmodelle von Würfeln usw. invertieren kann. 

Erst Bur mester hat 1906 und 1909 (Zeitschr. f. Psychol. Bd. XLI 
und L) in systematischer und umfassender Weise die Invertierbarkeit 
wirklicher Objekte als besonderes Problem hervorgehoben und unter¬ 
sucht. Er benutzte ungeknickte und geknickte Blätter, Würfel, 
Doppelwürfel, dasModell einerSchröderschen Treppe,Drahtmodelle, 
positive und negative Gipsabgüsse, sowie Photographien von solchen. 
Er entwickelt eine durch sehr anschauliche Zeichnungen unterstützte 
mathematische Theorie zur Konstruktion der inversen Körper. 

Erwähnt sei endlich noch Becher (1910), der in Anlehnung an 
Burmester dessen Beobachtungen an dem Modell einer Schröder¬ 
schen Treppe bestätigt. 

2. Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte bei binokularer Be¬ 
trachtung. 

Allgemein wird die Annahme gemacht, daß die Invertierbarkeit 
wirklicher Objekte an monokulare Betrachtung gebunden sei. Doch 
sind die Beobachtungen, die man bisher zu dieser Frage gesammelt 
hat, keineswegs sehr zahlreich. Sie beschränken sich im wesent¬ 
lichen auf folgende. 

Tourtual bemerkte, daß die beiden von einem einzigen Objekt 
durch Verlegung des Fixationspunktes erzeugbaren Doppelbilder 
beliebig, entweder beide invers, oder nur das eine invers und gleich¬ 
zeitig das andere dem Objekt entsprechend gesehen werden können. 

v. Recklinghausen (1860) gelang es sodann, zwei gleich ge¬ 
formte Urschalen haploskopisch zu vereinigen und an dem gemein¬ 
schaftlichen Bilde die Inversion zu bewirken. 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 


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Nach ihm teilte E. Mach (1866) mit, daß er imstande sei, in einem 
stereoskopischen Bilde die Dächer eines Hauses erhaben und ver¬ 
tieft zu sehen. Doch kennt er die Invertierbarkeit wirklicher Objekte 
nur bei monokularer Fixation; immer wieder spricht er, so schon 
1866, davon, daß dem monokularen Bilde eine unendliche Anzahl 
von Raumobjekten entsprächen. Dafür, daß gleichwohl nur sehr wenige 
wirklich gesehen werden, und zwar mit dem Charakter der vollen 
Objektivität, sucht Mach einen physiologischen Grund. 

Helmholtz geht (Hb. d. Physiol. Optik 1896, S. 772), da, wo 
er von der Invertierbarkeit der Matrizen spricht, nicht prinzipiell 
auf die Frage ein, ob die Invertierbarkeit auch bei binokularem Sehen 
möglich sei; er bemerkt nur: 

»Sieht man mit beiden Augen gleichzeitig nach der Matrize 
hin, so schwindet in der Regel die Täuschung.« 

Burmester hat wohl als erster erkannt, daß bei der Betrachtung 
zweier kongruenter im Stereoskop gleich gestellter Objektgebilde für 
jedes Auge ein »Truggebilde « erzeugt und daß dann erst diese »Trug¬ 
gebilde« zu einem einzigen Truggebilde vereinigt werden können. 
Auch spricht Burmester als erster davon, daß 

»in vereinzelten Fällen, bei einem besonders gestalteten Objekt¬ 
gebilde oder bei einem in größerer Entfernung vom Beschauer 
befindlichen Objektgebilde es möglich ist, das Truggebilde auch 
vermittels des binokularen Sehens wahrzunehmen (Zeitschr. f. 
Psychol. Bd. L. S. 325)«. 

Auf dieses raumtheoretisch -wichtigste Problem geht Burmester 
nicht weiter ein; auch bezeichnet er leider die von ihm gemeinten 
besonderen Fälle nicht näher; er beschränkt sich durchaus auf mon¬ 
okulare Fixation der Objekte. 

Nach meinen Beobachtungen scheint die Invertierbarkeit wirk¬ 
licher Objekte, nicht nur stereometrischer Gebilde und Modelle, 
auch bei binokularer Fixation und Betrachtung innerhalb weiter 
Grenzen möglich zu sein. Noch bevor ich Kenntnis von der Arbeit 
Burmesters und — durch diese vermittelt — von den erwähnten 
Beobachtungen Tourtuals und v. Recklinghausens hatte, war 
es mir gelungen, aus großer Nähe die rotierenden Kugeln eines Watt - 
sehen Regulators, einen Serviettenring, einen Löffel mit Stiel, eine 
Säule mit gewundenen Wülsten, ein Machsches konkaves bzw. 
konvexes Blatt, ein konkaves bzw. konvexes Dreikant verschiedener 
Dimension binokular zu invertieren. Später gelang mir dieses auch 
u. a. an einer vor mir auf dem Tische stehenden Zigarrenkiste und 
an einem auf dem Tische liegenden geschlossenen dicken Buche. Ebenso 


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J. Wittmann, 


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war es mir schon früher gelungen, zwei zylindrische Serviettenringe 
bei Divergenz der Blicklinien zunächst einzeln zu invertieren, und 
dann erst die inversen Bilder zur Deckung zu bringen. 

Bei der Betrachtung eines einzelnen Serviettenringes gelang mir 
die Inversion zunächst nur bei monokularem Sehen; dann aber auch 
bei binokularem Sehen, als ich den Fixationspunkt in größere Tiefe 
hinter den Serviettenring verlegte. Die entstehenden Doppelbilder 
invertierte ich einzeln. Nach einiger Übung gelang es, die inversen 
Doppelbilder gedeckt zu sehen, und somit bei beliebiger Fixation 
irgendeines Punktes des Ringes diesen invers zu sehen. 

Als einen besonders merkwürdigen Fall, in dem ich wochenlang 
einen ausgedehnten wirklichen Körper nie anders als in seiner In¬ 
version gesehen habe, möchte ich folgenden erwähnen. Eine flämische 
Säule mit gewundenen Wülsten auf meinem Balkon sah ich nämlich 
immer nur invers als Säule mit scharfkantigen Hohlkehlen. Erst 
als ich einmal zufälligerweise die Säule berührte und mit dem Finger 
die scharfen Kanten entlang gleiten wollte, entdeckte ich zu meinem 
Erstaunen meinen bisherigen Irrtum. — Bei Versuchen mit Schülern 
an der Wundtschen Ringfigur teilte mir ein Schüler spontan 
mit, daß er in der Lage sei, die Brille, die ich trug, oder die kegel¬ 
artigen Schirme um die Gaslampen im Klassenzimmer invers zu sehen. 

In der Inversion erscheint der zylindrische Serviettenring als eine 
nach der Tiefe sich erweiternde Röhre. Die Erscheinung kann beliebig 
lange festgehalten und der fixierende Blick, in Übereinstimmung mit 
der ähnlichen Beobachtung von Burmester für den Fall monoku¬ 
larer Fixation, beliebig über den Gegenstand bewegt werden. 

Als besonders geeignet für derartige Untersuchungen erwiesen 
sich Dreikantmodelle aus weißer Pappe, mit quadratischen Seiten¬ 
flächen. Ich benutzte deren vier, mit den Kantenlängen 8 cm, 16 cm, 
21 cm, 47 cm, die ich im folgenden gelegentlich als Dreikant Nr. 1, 
2, 3 und 4 bezeichne. 

Wollen wir binokular eines dieser Dreikante (konvex oder kon¬ 
kav) invertieren, so ist es vorteilhaft, aber durchaus nicht etwa not¬ 
wendig, die Ecke, in der die drei Seitenflächen Zusammenstößen, zu 
fixieren. In diesem Falle lassen sich alle Flächen und Kanten am 
besten gleichzeitig übersehen. In absolutem Gegensatz zu der Wundt¬ 
schen Theorie von der Bedeutung des Fixationspunktes und der Blick¬ 
bewegungen geht nun — schon Becher hat diesen Widerspruch be¬ 
merkt — bei Fixation des konvexen Dreikantes jener fixierte Eck¬ 
punkt in der Inversion mit einer anschaulich gegebenen Scheinbewe¬ 
gung in die Tiefe; Blickbewegungen entlang der objektiv in die Tiefe 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 


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gehenden Kanten verhindern weder den Eintritt dieser Inversions¬ 
bewegung noch das Fortbestehen des inversen Körpers. Gerade be¬ 
züglich der Inversion wirklicher Objekte versagen also die Wundtsche 
Theorie und alle ihr verwandten Theorien vollständig. 

Es erhebt sich nun die Frage, ob im Falle binokularer Fixation 
und Auffassung des inversen Gegenstandes es sich tatsächlich uni 
eine binokulare Erfassung des Gegenstandes handelt, oder ob nicht 
doch nur eine einseitige Bevorzugung eines der Doppelbilder vorliegt. 
Beim gewöhnlichen Sehen des objektiven konvexen Dreikantes und 
bei Fixation der Ecke übersehen wir die Doppelbilder vollständig. 
Die sehr verschiedenen Formen, in denen z. B. das wirkliche Drei¬ 
kant Nr. 3 aus nächster Nähe, aus einem Abstand von 50 cm etwa, 
von jedem einzelnen Auge gesehen wird, werden nicht bemerkt. 
Wohl aber machen sie sich bei dem inversen Körper bemerkbar. 
Wird die Ecke fixiert, so wird die äußere Umrandung des inversen 
Körpers im allgemeinen mit imklaren Konturen gesehen. Die Doppel¬ 
bilder überlagern sich, um nur gelegentlich im Wettstreit einzeln 
und dann auch ganz klar hervorzutreten. Da ich schon früher bei 
stereoskopischen Versuchen feststellte, daß bei mir das von dem 
rechten Auge gesehene Bild vor dem des linken Auges den Vorzug 
erlangen konnte, so liegt die Frage nahe, ob es sich nicht auch im 
gegenwärtigen Falle — sei es vorzüglich oder ausschließlich — nur 
um ein Sehen der Inversion des dem rechten Auge zugehörigen Bildes 
handle. Plötzliche Verdeckungen eines der Augen ergaben, daß stets 
für beide Augen zugleich das inverse Bild vorhanden war. Doch 
hatte bei mir das rechte Bild unverkennbar ein gewisses Übergewicht 
über das linke. Daß dieses aber doch nicht ganz unterdrückt 
bzw. übersehen wurde, geht aus folgender Beobachtung hervor, die 
mit der beim stereoskopischen Sehen gemachten zusammenstimmt. 
Es kann sich nämlich der Wettstreit zwischen den beiden inversen 
Doppelbildern in zweifacher Weise kundgeben: einerseits wird ab¬ 
wechselnd nur das einem einzigen Auge zugehörige inverse Doppel¬ 
bild gesehen, andererseits wird ebenfalls ein einziges Bild gesehen, 
das aber keinem der beiden Doppelbilder vollständig entspricht. Dieses 
letztere besitzt bei mir eine gewisse Labilität mit der Neigung, in 
die Lage des rechtsäugigen Doppelbildes überzugehen. Es werden 
hierbei also innere Scheinbewegungen des inversen binokular ge¬ 
sehenen Körpers wahrgenommen. Diese treten besonders eindring¬ 
lich hervor, wenn mehr die äußere Umrandung des Objektes beachtet 
wird; die Mittellage, in der die inverse innere Ecke gesehen wird, 
erscheint labil. 


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J. Wittmann, 


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Versuche an zwei objektiven (kongruenten) Dreikanten, die durch 
blaue bzw. rote Kreise bzw. Punkte gekennzeichnet waren und ha- 
ploskopisch vereinigt wurden, ohne daß sie sich hierbei zu den Blick¬ 
linien in genau kongruenter Lage befanden, führten zu demselben 
Ergebnis. In jener Mittellage wurden die dem linksäugigen Bilde 
zugehörigen roten Punkte im Innern der dem rechtsäugigen Bilde 
zugehörigen blauen Kreise ruhend gesehen. 

Besonders bei Objekten in größeren Entfernungen von mehreren 
Metern, vor allem auch bei ihren Spiegelbildern gelingt die Inversion 
bei binokularer Betrachtung in solcher Sinnenfälligkeit, daß es bis¬ 
weilen fast unmöglich ist zu entscheiden, welches Objekt das wirk¬ 
liche und welches das inverse ist. Auch wird hierbei kaum mehr ein 
Wettstreit der inversen Doppelbilder gesehen. 

Vielleicht sind die vorstehenden Versuche noch nicht entscheidend 
genug zur Beantwortung der Frage, ob und inwieweit es sich hierbei 
tatsächlich um ein binokulares Sehen handelte. Jedenfalls liegt hier ein 
bedeutsames bisher wenigbeachtetes raumpsychologisches Problem vor. 

3. Veränderung und Erhaltung der Formverhältnisse bei der 
Inversion wirklicher Objekte. Kritik der Theorie von Burmester. 

Wenn ich nun zur genaueren Analyse des Invertierens wirk¬ 
licher Objekte übergehe, so möchte ich das tun an der Hand 
einer Kritik der Theorie von Burmester. Zwar hatte ich, 
wie schon oben erwähnt, die wesentlichen Beobachtungen schon vor 
Kenntnis der Burmesterschen Arbeit gesammelt. Vielleicht darf 
ich dies als einen glücklichen Umstand bezeichnen, da ich auf diese 
Weise in Unabhängigkeit von der an sich abgeschlossenen Arbeit 
Burmesters mich ohne Voreingenommenheit ausschließlich an die 
Phänomene halten konnte. In wesentlichen Punkten widersprechen 
meine Beobachtungen denen von Burmester, womit ich aber nichts 
Absprechendes gegen die sehr schöne Arbeit Burmesters an sich 
gesagt haben will. Im Gegenteil verdient diese unter allen zu dieser 
Frage vorliegenden Arbeiten in erster Linie Beachtung. Deshalb 
möchte ich sie gerade in den Mittelpunkt meiner weiteren Betrachtung 
stellen. 

Burmester ist geleitet durch die Vorstellung, daß zwischen den 
objektiven Gebilden und den subjektiven »Truggebilden« — wie 
er die inversen Formen nennt — eine eindeutige mathematisch for¬ 
mulierbare Verwandtschaft bestehe; diese aufzufinden ist sein Be¬ 
streben. Er gelangt zu einer »involutorischen reliefperspektivischen 
Theorie der Gestalttäuschungen« (Bd. L, S. 243), von der er sagt: 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 


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»Diese Theorie vermag jedoch nur die Gestaltung der Trug¬ 
gebilde zu erklären; aber sie fördert damit die tiefere Einsicht 
in das Wesen dieser Erscheinungen.« 

Da3 Ideal, das Burmester vorschwebt, ist das Ideal des Natur¬ 
forschers bezüglich des Zusammenhangs der Naturerscheinungen; das 
Ideal des Psychologen bezüglich der ganz anders gearteten psychischen 
Erscheinungen dürfte es aber nicht sein. Diesem muß es zunächst 
ausschließlich auf die Beschreibung der Erscheinungen ankommen. 
Ein solches Ziel schwebt Burmester scheinbar auch vor, wenn er 
am Schluß seiner Arbeit Rob. Mayer sagen läßt: 

»Die wichtigste, um nicht zu sagen, einzige Regel für die echte 
Naturforschung ist die: eingedenk zu bleiben, daß es unsere 
Aufgabe ist, die Erscheinungen kennen zu lernen, bevor wir 
nach Erklärungen suchen, oder nach höheren Ursachen fragen 
mögen.« 

Allein Rob. Mayer fährt in seiner berühmten Abhandlung »Be¬ 
merkungen über das mechanische Äquivalent der Wärme 1850« fort: 

»Ist einmal eine Tatsache nach allen Seiten hin bekannt, 
so ist sie eben damit erklärt, und die Aufgabe der Wissenschaft 
ist gelöst.« 

Was aber Rob. Mayer mit der Wendung »nach allen Seiten hin 
bekannt« meint, führt er weiter unten näher aus, wenn er sagt: 

»Die Regel, nach welcher verfahren werden mußte, um die 
Fundamente der Naturkunde in der denbkar kürzesten Zeit zu 
legen, läßt sich in wenige Worte fassen. Es müssen nämlich die 
nächstliegenden und häufigsten Naturerscheinungen mittels der 
Sinnes Werkzeuge einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen 
werden, die so lange fortzuführen ist, bis aus ihr Größenbe¬ 
stimmungen, die sich durch Zahlen ausdrücken lassen, 
hervorgegangen sind. 

Diese Zahlen sind die gesuchten Fundamente einer 
exakten Naturforschung.« 

In derselben Abhandlung sagt auch Rob. Mayer: 

»,Mit eitler Rede wird hier nichts geschafft.' Zahlen waren es, 
die man suchte, und Zahlen, die man fand.« 

In diesem Sinne eines Strebens nach zahlenmäßiger Erfassung des 
Zusammenhanges der Naturerscheinungen versteht also Rob. Mayer 
in der von Burmester zitierten Stelle das »die Erscheinung kennen 
lernen«, und in demselben — später von Kirchhoff und Mach 
vertretenen — Sinne trat Burmester an die in Frage stehenden 
Phänomene heran. Auch für ihn läuft das »die Erscheinungen kennen 


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J. Wittinann, 


lernen« unmittelbar darauf hinaus, den Zusammenhang der Erschei¬ 
nungen zahlenmäßig zu erfassen. Nur handelt es sich hier nicht um 
Naturerscheinungen, für welche jene Mayersche Forderung durch¬ 
aus berechtigt ist, sondern um psychische Phänomene, für die es von 
vornherein nicht ausgemacht ist, ob zwischen ihnen mathematische 
Relationen überhaupt aufstellbar sind. Will man der besonderen 
Natur der in Frage stehenden Erscheinungen gerecht werden, so darf 
man zunächst nicht in realistischer Orientierung die invertierten 
Objekte als Truggebilde oder Gestalttäuschungen den wirklichen 
Objekten gegenüberstellen. Ebensowenig darf man in konstruktiver 
Weise den »unendlichen Raum« — der zunächst überhaupt nicht 
als Phänomen gegeben ist, — in einen Objektraum und Trugraum 
trennen, da es nicht bekannt ist, in welcher Weise Objektgebilde und 
»Truggebilde« Zusammenhängen und auseinander hervorgehen. Offen¬ 
bar handelt es sich bei der von Bur mester gegebenen involutorischen 
reliefperspektivischen Theorie der Gestalttäuschungen um einen 
Versuch, psychische Erscheinungen in mathematischer Weise zu be¬ 
schreiben, wie er in analoger Weise ebenfalls auf realistischer Grundlage 
heute von Koffka für die Bewegungserscheinungen angestrebt wird. 

Der Hauptsatz der Theorie der geometrisch-optischen Gestalt¬ 
täuschungen von Burmester lautet: 

»Bei den geometrisch-optischen Gestalttäuschungen stehen die 
entsprechenden Objektgebilde und Truggebilde in der Beziehung 
der involutorischen Reliefperspektivc, bei welcher der Augdreh- 
punkt der Gesichtspunkt und die Neutralebene die selbstent¬ 
sprechende Ebene ist« (Bd. XLI, S. 334). 

Die hiermit ausgesprochene, rein mathematisch genommen, sehr 
interessante Theorie hat zur Voraussetzung, daß zunächst jede Ob¬ 
jektgerade bei der Diversion in eine Gerade, jede Objektebene in eine 
Ebene übergehe, daß insbesondere zwischen den Sehdingen des 
Objektgebildes und des »Truggebildes« eine involutorische Be¬ 
ziehung bestehe. Letzteres sucht Burmester auf dem Wege der 
Empirie festzustellen, ein Weg, den ich angesichts der, großen Un¬ 
bestimmtheit, mit der das monokular gesehene inverse Gebilde in 
der Tiefe lokalisiert wird, an sich für ungangbar halte. Allein schon 
jene erste wichtigste Voraussetzung ist nicht erfüllt; weder gehen bei 
der Inversion Geraden wieder in Geraden nochEbenen wieder in Ebenen 
über. Denn bei der Inversion können nicht nur einzelne Objekt¬ 
punkte — dies außerdem in größerer Anzahl als Burmester an¬ 
nimmt —, sondern ganze Ebenen bzw. Teile von ihnen in ihrer alten 
Persistenz mehr oder weniger erhalten bleiben. Zugleich finden wir 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 


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auch hier wieder das Zustandekommen der einen oder anderen Er¬ 
scheinung vorzüglich von der Art der Auffassung, der Zuwendung der 
Beachtung abhängig. 

Unter den vielen subtilen Beobachtungen Burmesters findet 
sich (Bd. L, S. 230) eine, die leicht für seine Theorie hätte verhäng¬ 
nisvoll werden können. Er beobachtete nämlich, daß bei einem 
ruhenden konkaven Objektwürfel, dessen Flächen durch zu den 
Kanten parallele Linien in je 100 quadratische Felder geteilt waren, 
die Seitenflächen des konvexen Trugwürfels 

»merkwürdigerweise in der Nähe der fernsten Eckpunkte, wo 
die verzerrten Quadrate sich vergrößern, schwach konkav ge¬ 
bogen, und mit diesen Seitenflächen auch die Truglinien, die den 
Parallelen entsprechen und also innerhalb der betreffenden durch 
den Gesichtspunkt gehenden Ebenen liegen«. 

Diese Konkavität der Trugflächen hat Burmester gewiß über¬ 
rascht; leider sucht er sich durch ein reflexionspsychologisches Argu¬ 
ment aus der Verlegenheit zu helfen, wenn er sagt: 

»Diese neue Täuschung, bei der die Trugflächen mit den auf 
ihnen befindlichen Truglinien konkav erscheinen, wird sicher (?) 
dadurch verursacht, daß die verzerrt erscheinenden Quadrate 
sich auf den Trugflächen mit ihren scheinbaren Entfernungen 
von dem Gesichtspunkt widernatürlich vergrößern, während die 
Bilder dieser Quadrate in der natürlichen Perspektive sich mit 
der Entfernung von dem Auge verkleinern.« 

Burmester will also das Phänomen aus einer Urteilstäuschung 
erklären. Allein so sicher, wie er kurzweg meint, ist seine Annahme 
nicht. Auch sollte man gerade bei den in Frage stehenden Phäno¬ 
menen nichts aus einer »widernatürlichen« Vergrößerung schließen, 
da man von demselben Standpunkte aus die inversen Gebilde über¬ 
haupt als widernatürliche bezeichnen müßte. Hier handelt es sich 
zunächst lediglich um Phänomene, und die sind alle gleich natür¬ 
lich; deshalb sollte man auch nicht, wie das schon Mach getan hat, 
von Verzerrungen u. dgl. an den inversen Gebilden sprechen. Tut 
man das, so mißt man die inversen Gebilde stets an den Objekt¬ 
gebilden. Das ist aber nicht angängig, da jene rein erscheinungsmäßig 
als durchaus selbständige individuelle Gebilde anzusehen sind, bei 
deren Anschauung man keinerlei Erinnerung an die Objektgebilde 
besitzt, wenigstens nicht zu besitzen braucht. 

Burmester findet die Konkavität der Linien und Seitenflächen 
auch bei der Inversion eines entsprechenden konvexen Objekt¬ 
würfels. Er schenkt der obigen Argumentation um so mehr Ver- 


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J. Wittmann, 


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trauen, als er findet, daß ohne die Quadrate die Trugflächen nicht 
gebogen erscheinen. 

Dem kann ich nicht beistimmen; ich beobachtete — und nicht ich 
allein —, schon ehe ich diesen Passus in Burmesters Arbeit kannte, 
auch bei leeren Flächen konkaver wie konvexer Objektwürfel ver¬ 
schiedener Dimension jene Konkavität absolut einwandfrei. In allen 
folgenden Versuchen lag bei monokularer Betrachtung die Haupt¬ 
blicklinie, bei binokularer Be¬ 
trachtung die mittlere Blick¬ 
linie zunächst stets in der 
von der Ecke A ausgehenden 
Würfeldiagonale. Ebenso lag 
eine Fläche des jeweiligen 
Dreikants (A B C D) zunächst 
stets horizontal. 

Bei dem kleinsten Dreikant 
Nr. 1 (konkav) ist die Kon¬ 
kavität der Seitenflächen in 
dem Falle, daß der Unter¬ 
stützungspunkt unsichtbar ist, 
sehr gering; bei binokularer Be¬ 
trachtung scheint sie größer zu 
sein; in diesem Falle wird deut¬ 
lich gesehen, wie die fixierte 
Ecke.4 langsam nach vorn geht; 
doch geht sie nicht so weit 
nach vorn wie bei monokularer 
Betrachtung; das inverse Ge¬ 
bilde besitzt eine weniger tiefe 
Plastik; es ist abgeflachter. 

Liegt dieses Dreikant auf einer weißen Fläche auf, so ist bei rechts- 
bzw. linksmonokularer und bei binokularer Betrachtung die Kon¬ 
kavität beträchtlich größer. Die untere Fläche scheint in ihrer vor¬ 
deren Hälfte sogar ganz in ihrer alten Lage persistent zu verharren. 
Die Punkte B, C, D bleiben »trugfrei«. Die beiden Seitenflächen 
erscheinen ebenfalls, wenn auch nicht so stark konkav gekrümmt. 
Auch hier können die Punkte E, G und ihre Umgebung mehr oder 
weniger persistent gesehen werden. Der Punkt F wird »trugfrei« 
gesehen. Erhebt sich der fixierende Blick von A aus die vertikale 
Kante A—F entlang, so scheint die überaus starke Konkavität der 
unteren Fläche abzunehmen. Gleichzeitig scheint der inverse Punkte t 



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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 


79 


weiter nach vorn zu gehen. Umgekehrt nimmt die Konkavität der 
unteren Fläche wieder zu, wenn der Fixationspunkt fortgesetzt tiefer 
bis etwa in die Mitte der unteren Fläche verlegt wird. 

Sehr viel deutlicher tritt die Konkavität der Seitenflächen bei 
ausgedehnteren Objektwürfeln hervor. Wird z. B. das Dreikant 
Nr. 3 bei rechtsmonokularer Fixation der Ecke A, einem Abstand 
von etwa 80 cm bei der Ecke B frei in der Luft gehalten (die Fläche 
A B C D in horizontaler Lage), so wird gesehen, daß A langsam 
nach vom geht; zunächst invertieren sich die Flächen nur teilweise 
in der Nähe von A; sie erscheinen stark gekrümmt, besonders die 
untere Fläche. A geht langsam weiter nach vorn, aber noch in der 
Endlage A t erscheinen die dreiFlächen, die untere am meisten konkav 
gekrümmt. Die Konkavität einer Fläche tritt am deutlichsten her¬ 
vor, wenn die betreffende Fläche etwa in ihrer Mitte besonders 
beachtet wird; in der Gegend der Diagonalen B D, F D und FB 
scheinen die Flächen am meisten gekrümmt zu sein. 

Bei binokularer Betrachtung und Fixation der Mitte der Kante 
A—F oder der Mitte der Fläche A B C D tritt die Ecke A langsam 
hervor; sie scheint aber nicht so weit nach vorn zu gehen wie bei 
monokularer Betrachtung. In der Ecke A 1 wird fortgesetzt Bewegung 
gesehen. Wird der Fixationspunkt von A aus auf der Kante A—F 
in die Höhe verlegt, so scheint A x weiter nach vorn zu gehen und 
umgekehrt. 

Liegt dieses Dreikant auf dem Tische, so bleiben die Punkte B, 
C, D und F persistent, also »trugfrei«. Auch bei Seitwärtsbewegung 
des Kopfes bleiben die genannten Punkte persistent; dies hat beson¬ 
ders in der äußerst stark gekrümmten Fläche A B C D eigentüm¬ 
liche Dehnungsbewegungen zur Folge. 

Am auffallendsten ist die Konkavität der Seitenflächen bei Drei¬ 
kant Nr. 4; hier bleiben fast die äußeren Hälften der Seitenflächen 
m 

persistent. 

Mit wachsender Entfernung des Dreikantes von dem Beobachter 
nimmt bei allen Dreikanten die Konkavität der Seitenflächen ab, bei 
den kleineren leichter übersehbaren schneller als bei den größeren. 
Bei Nr. 4 werden die Seitenflächen erst in einer Entfernung von 
mehreren Metern als eben gesehen. 

In zweifacher Hinsicht weichen die vorstehenden Beobachtungen 
von denen Burmesters ab. Erstens wird der inverse Körper 
durchaus nicht in eindeutiger Gestalt gesehen; vielmehr wird eine 
Inversionsbewegung, die oft sogar als ein »Springen« der Ecke A 
beschrieben wird, von vielen Beobachtern als anschaulich verfolgbar 


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J. Wittmann, 


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angegeben. Die Tiefenlage der Ecke .4, ist eine schwankende. Diese 
Beobachtungen stimmen mit den von Tourtual an skelettförmigen 
Pyramiden gemachten überein. NachBur mester gibtTourtual an: 

»Die hohle skelettförmige Pyramide könne weniger vertieft, 
soga T- eben, dann flach erhaben und vollständig erhaben er¬ 
scheinen, aber die Hervorbringung dieser Mittelphasen erfordere 
eine mehr als gewöhnliche Übung der Vorstellungskraft in dieser 
Art Versuchen.« 

Bur mester bezweifelt dies(Bd. L, S.265); denn weder er noch andere 
hätten die Truggebilde in einer solchen Mehrdeutigkeit jemals gesehen. 

Ich kann nur die Beobachtungen von Tourtual bestätigen. Ja, 
es ist mir öfters begegnet, daß ich einerseits alle drei Seitenflächen 
bei ihrer Inversion in einer einzigen Ebene liegen sah, daß ich anderer¬ 
seits nur die beiden vertikalen Flächen an dem Inversionsprozeß teil¬ 
nehmen, die untere horizontale Fläche aber in ihrer objektiven Per¬ 
sistenz beharren sah; jene beiden Flächen habe ich dann wie ein 
Machsches Blatt in allen Neigungen zueinander, auch in einer ein¬ 
zigen Ebene liegend gesehen. Es ist klar, daß diesen Erscheinungen 
die Theorie der involutorischen Reliefperspektive von Burmester 
nicht gerecht werden kann. 

Zweitens wird den geschilderten Versuchen gemäß beobachtet, 
daß nicht nur einzelne Punkte, sondern auch ganze Flächenteile ent¬ 
weder absolut oder angenähert in ihrer objektiven Persistenz be¬ 
harren, also nicht an der Inversion teilnehmen. Daraus entspringt 
dann die auch von Burmester beobachtete aber irrig erklärte Er¬ 
scheinung der Konkavität der Seitenflächen. Auch dieser Erschei¬ 
nung, an deren Tatsächlichkeit kein Zweifel möglich ist, kann die 
Bur mester sehe Theorie nicht gerecht werden. Gerade diese Er¬ 
scheinung läßt einen engen Zusammenhang zwischen dem Vor¬ 
gang der Inversion und der subjektiven Beachtung des Objektgebildes 
erkennen. Denn es ist festzustellen, daß mit zunehmender Über- 
sehbarkeit — also bei kleinen Objekten in normaler Entfernung oder 
bei großen Objekten in entsprechend größerer Entfernung — die 
Inversion der Flächen und demnach das Verschwinden ihrer Kon¬ 
kavität, eine mehr oder weniger vollkommene ist. 

Da die äußeren bei den Ecken C, E, G liegenden Partien der 
Seitenflächen bis in die Gegend der nicht gezeichneten Diagonalen 
B — D, D — F, F—B mehr oder weniger persistent gesehen wurden 
(dies bei konkavem Objektdreikant), da sich die Konkavität der in¬ 
versen Seitenflächen hauptsächlich in der Gegend jener Diagonalen 
befand, so lag es nahe, durch wirkliches Auszeichnen jener Diagonalen 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 


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für die Auffassung eine deutliche Trennung der inneren Dreikant¬ 
partien von den äußeren zu bewirken. Die Ergebnisse waren über¬ 
raschend. Je nach Richtung der Aufmerksamkeit war es nunmehr 
möglich, statt der bisherigen zwei nunmehr vier prinzipiell verschie¬ 
dene Raumgebilde in voller Plastik zu sehen. Die Versuche wurden 
an dem ohne sichtbare Unterstützung gehaltenen Dreikant Nr. 3 
gemacht. 

Folgende vier verschiedene Raumauffassungen sind nunmehr 
möglich: 

1) Es wird das objektive Dreikant gesehen. 

2) Es werden die drei Seitenflächen in der bisher beschriebenen 
totalen Inversion (je nachdem mit oder ohne Konkavität) 
gesehen (totale Inversion). 

3) Es werden nur die drei Dreiecke B C D, D E F, F G B in 
ihrer objektiven Persistenz gesehen; die durch die Punkte D, 
F, B, A bestimmte konkave Pyramide wird invertiert. Erster 
Fall einer partiellen Inversion. 

4) Es wird die ebengenannte Pyramide ihrerseits in ihrer objek¬ 
tiven Persistenz, die drei äußeren Dreiecke aber werden in¬ 
vertiert gesehen. Zweiter Fall einer partiellen Inversion. 

Auch bei dem konvexen Dreikant, auf dessen Außenseiten jene 
Diagonalen gezeichnet sind, werden in entsprechender Weise vier 
verschiedene Raumformen gesehen. Daß in beiden Fällen tatsächlich 
die jeweils angegebenen Objektteile invers gesehen werden, läßt sich 
leicht durch eine Bewegung des Kopfes während der Beobachtung 
feststellen; denn, wie schon Wheatstone beobachtet hat, vollführen 
die invertierten Objekte bei Verschiebung des Auges seltsame Be¬ 
wegungen, während die nicht invertierten Objekte gleichsam in ab¬ 
soluter Persistenz verharren. 

Die vorstehend unterschiedenen Invertierungen lassen sich ebenso 
leicht binokular wie monokular ausführen; ich selbst bevorzuge aller¬ 
dings das binokulare Sehen. Bei dem konvexen Dreikant gelingen 
mir die Invertierungen schneller und mit andauernderem Erfolg als 
bei dem konkaven Dreikant. Tourtual bemerkte demgegenüber, 
»daß bei der Pyramide die hohle Form leichter erhaben als die er¬ 
habene hohl gesehen werde«. Hier dürfte es sich wohl nur um un¬ 
wesentliche Unterschiede handeln. 

Es ist nun nicht leicht, die besonderen Bedingungen der oben 
unterschiedenen vier Raumauffassungsformen genau umschrieben 
anzugeben. Jedenfalls passen diese Möglichkeiten partieller mehr¬ 
deutiger Inversion durchaus nicht in die Theorie von Burmester. 

Archiv ftlr Psychologie. XXXIX. 6 


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J. Wittmann, 


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Denn nach dieser dürfte es nicht möglich sein, bald die ganzen Flächen, 
bald nur den einen oder den anderen ihrer Teile zu invertieren. Allein 
die Verhältnisse gestalten sich dadurch noch viel verwickelter, daß 
zwischen den unterschiedenen vier Formen bei einem konkaven oder 
konvexen Dreikant noch die mannigfaltigsten Mischformen gesehen 
werden können.. 

So können bei dem konvexen Dreikant sehr bequem nur die zwei 
Dreiecke D E F und B C D persistent, alles übrige aber invertiert 
gesehen werden. Oder es kann sein, daß zunächst auch das dritte 
Dreieck B F G persistent gesehen wird, daß es sich aber nachträglich 
invertiert und mit der Pyramidenseite A B F mehr oder weniger in 
einer Ebene zu liegen kommt. Oder es kann das ganze Dreikant mit 
Ausnahme einer einzigen der äußeren Dreiecksflächen invertiert werden. 

In ähnlicher Weise lassen Bich die interessantesten Mischformen 
und Übergänge von einer Form zur anderen wahrnehmen. Wenn es 
mir auch sicher erscheint, daß das Zustandekommen der einzelnen 
Formen wesentlich durch die besondere Art der Beachtung bzw. 
Nichtbeachtung z. B. der Diagonalen bedingt ist, so ist es doch sehr 
schwierig, die jeweilige besondere Funktion der Beachtung genau zu 
analysieren; dies vor allem deshalb, weil der Entstehungsprozeß einer 
Form sehr schnell verläuft und weil nach Ablauf desselben sich die 
Aufmerksamkeit in beliebiger Weise den inversen oder persistenten 
Sehdingen oder beiden zugleich zuwenden kann, ohne daß dadurch 
die betreffende Raumanschauung gestört werden müßte. Es können 
z. B. die Knickkanten B D, D F und F B binokular scharf ins Auge 
gefaßt werden, die Neigungen der an ihnen scheinbar zusammen¬ 
stoßenden Ebenen besonders beachtet werden usw., ohne daß dadurch 
der jeweilige Eindruck beeinflußt würde. Die äußere Umgebung 
scheint auch keinen bestimmenden Einfluß auf das Eintreten einer 
besonderen Raumform zu haben. So kann das Dreikant bei dem 
Punkte G frei in der Luft mit sichtbarer Hand gehalten und entweder 
total oder partiell bis auf das persistent gesehene Dreieck B F G in- • 
vertiert werden. Die die Fläche berührende Hand hat bei einiger 
Übung im Invertieren so gut wie keinen hemmenden Einfluß. 

Auf eine sehr seltsame Erscheinung sei in diesem Zusammenhang 
schon an dieser Stelle hingewiesen, obwohl sie zu den erst im nächsten 
Kapitel zu besprechenden Färb- und Schattenerscheinungen an in¬ 
vertierten Körpern gehört. Befindet sich nämlich eine der mit einer 
Diagonalen versehenen Seitenflächen in — am besten etwas tieferem — 
Selbstschatten, so verschwindet bekanntlich bei ihrer Inversion der 
Eindruck des Beschattetseins vollkommen: die inverse Fläche er- 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 


83 


scheint in homogenem Oberflächengrau. Sie noch als beschattet auf¬ 
fassen zu wollen, ist schlechterdings unmöglich. Liegt auf der be¬ 
schatteten Fläche überdies ein bräunlicher oder rötlicher, wenn auch 
sehr schwacher Reflex von dem Tisch oder Teppich, auf welchen das 
Dreikant gestellt ist, so erscheint die invertierte Fläche in einer 
satten bräunlichen Oberflächenfarbe. Nimmt nun aber nicht die 
ganze beschattete Fläche, sondern nur das innere Pyramidendreieck 
an der Inversion teil, so wird auch nur das inverse Dreieck mit jenem 
Oberflächengrau bzw. mit jener Oberflächenfarbe bedeckt, das an¬ 
stoßende persistente Dreieck aber nach wie vor als beschattet gesehen. 
Durch Kontrast kann dieses letztere Dreieck noch heller erscheinen. 
Selbst genaueste Fixation z. B. der Trennungskante beider Dreiecke 
hebt den Unterschied in der Erscheinungsweise derselben nicht auf. 
Bei zu hellem oder zu dunklem starken Schatten wird die höchst 
merkwürdige Erscheinung schwerer wahrgenommen. 

In den bisher betrachteten Fällen war die Mehrdeutigkeit der 
Erscheinungsweise eines konvexen oder konkaven Dreikants objektiv 
allein durch die auf den Seitenflächen gezeichneten Diagonalen be¬ 
dingt. Aber auch durch weitere wirkliche Ebenen kann sie bewirkt 
werden, wofür ich ein Beispiel anführe. 

Bringt man in dem konkaven Dreikant noch eine vierte den übrigen 
Seitenflächen gleiche, um die Kante A—F drehbare Fläche an, so 
sind unter anderem folgende zwei Invertiermöglichkeiten vorhanden. 
Entweder beachtet man die ursprünglichen Dreikantflächen gleich¬ 
mäßig; so invertieren sie sich in gewohnter Weise; die vierte Fläche 
wird dabei nicht invertiert. Dreht man nun das Dreikant in sich, 
so vollführen die inversen Flächen bezüglich der vierten Fläche die 
seltsamsten Bewegungen. Man kann aber auch ebensogut den Ein¬ 
druck haben, daß sich die vierte Fläche bezüglich der übrigen bewege; 
gleich einer Flosse scheint sie sich bald mehr nach der einen, bald 
mehr nach der anderen Seite zu legen. 

Faßt man aber den konkaven Keil zwischen der vierten Fläche 
und einer der vertikalen Seitenflächen für sich gesondert ins Auge, 
so wird dieser zu einem konvexen Keil invertiert, während die andere 
vertikale und die horizontale Seitenfläche nach wie vor persistent 
gesehen werden; Bewegung des Dreikants ändert daran nichts. 

Das Sehen sämtlicher bisher besprochenen Inversionserscheinungen 
ist weitgehender Übung fähig. Wie bei dem Sehen von Scheinkörpern 
auf Grund von Konturenzeichnungen genügt auch hier sehr häufig 
allein das Bewußtsein, daß es überhaupt möglich ist, eine bestimmte 
inverse Raumform zu sehen, um fast sofort auch die betreffende 

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Raumform wirklich sehen zu können. So sah eine Vp. (Dr. Sch.), 
die von der Invertierbarkeit wirklicher Objekte keine Kenntnis 
hatte, bei der einfachen Aufforderung, das konvexe Dreikant 
aufmerksam (monokular) zu betrachten, selbst nach längerer 
Beobachtung spontan absolut nichts von einer Inversion; auf die 
Frage aber, ob sie nicht die oben S. 81 Nr. 3 beschriebene inverse 
Form sehen könne, sah sie diese fast sofort, und mit einemmal konnte 
sie spontan eine Fülle weiterer inverser Raumformen sehen. Diese Vp. 
gab auch spontan die von Burmester bestrittene Konkavität der 
total invertierten Seitenflächen wie auch die der partiell invertierten 
Pyramidenflächen an. 

Auffallend leicht ist es, die inversen Formen zu sehen, wenn man 
nicht unmittelbar das Objekt selbst, sondern sein in einem Spiegel 
zu sehendes Spiegelbild besieht. Hier hat man zugleich die Möglich¬ 
keit, die Formveränderungen mit zunehmender Entfernung des Ob¬ 
jektes bequem zu verfolgen. Es zeigt sich, daß mit der Größe des 
Objektes auch die Entfernung des Spiegelbildes bis zu mehreren 
Metern zunehmen muß, damit Ebenen wieder in Ebenen übergehen 
und rechte Winkel wieder annähernd als rechte Winkel gesehen 
werden, sofern an dem objektiven rechtwinkligen Dreikant selbst 
rechte Winkel gesehen werden. Aus normaler Entfernung von etwa 
50 cm werden nämlich auch an einem objektiven Dreikant von der 
Größe des Dreikants Nr. 3 durchaus keine rechte Winkel gesehen. 


4. Veränderung der Färb- und Helligkeitsverhältnisse bei der 
Inversion wirklicher Objekte. 

Nicht weniger bemerkenswert als die Veränderung der Form¬ 
verhältnisse wirklicher Objekte ist die mit der Inversion zugleich sich 
vollziehende Veränderung in ihrer qualitativen Erscheinungsweise. 

Schröder hat zuerst die »verklärte« Beleuchtung beobachtet, 
in der objektiv beleuchtete Flächen nach der Inversion erscheinen. 
Nicht aber hat er nach der Angabe Burmesters die höchst auf¬ 
fälligen Veränderungen beschatteter Flächen gesehen. 

Mach ist die veränderte Erscheinungsweise der beleuchteten und 
beschatteten Flächen nicht entgangen: 

»Das Licht und der Schatten erscheint viel heller bzw. dunkler 
wie dick mit grellen Farben aufgetragen. Licht und Schatten 
sind nun unmotiviert; sie passen nicht mehr zur Körperform 
und werden viel auffallender« (Pop. wissensch. Vorl. 4. Aufl. 
1910. S. 92). 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 86 

An anderer Stelle sagt Mach (An. d. Erapf. 1906. S. 172): 
»(es) erscheinen Licht und Schatten wie mit Deckfarben darauf 
gemalt.« 

Auffällig ist es, daß Burmester diese Angaben Mache in seiner 
sonst so sorgfältigen Charakteristik der älteren Literatur nicht mit¬ 
teilt. Sie dürften jedenfalls bezüglich der Erscheinungsweise beschat¬ 
teter Flächen zutreffender sein als die nach Mach erst wieder von 
Burmester selbst gegebene Beschreibung: 

»Bei geeigneter Beleuchtung eines Objektgebildes erscheint 
an dem Truggebilde das Hellbeleuchtete in einem auffälligen 
seltsamen Glanz, und der Selbstschatten sowie der Schlagschatten 
in einem unbeschreiblichen eigenartigen Schimmer.« 

Beide Arten der Beschreibung, sowohl die von Mach wie die 
von Burmester kann ich nicht als gan'z zutreffend bezeichnen. Der 
Eindruck hell beleuchteter Flächen ist nach der Inversion nicht der, 
als wäre das Licht »dick mit grellen Farben aufgetragen«. Wohl 
erscheinen sie beträchtlich heller; aber weder in seltsamem Glanz, 
wie Burmester angibt, noch hell bemalt, wie Mach sagt, er¬ 
scheinen sie, sondern als hell leuchtend. Sie erscheinen unter Um¬ 
ständen sogar als transparent. In ihrer Konsistenz erscheinen sie 
gelockert. Umgekehrt erscheinen die in Wirklichkeit beschatteten 
Flächen nach der Inversion in ausgesprochenem Oberflächengrau. 
Dies scheint Burmester nicht gesehen zu haben; jedenfalls dürfte 
seine Angabe, daß der Selbstschatten in einem unbeschreibbaren 
eigenartigen Schimmer erscheine, den Sachverhalt nicht zutreffend und 
erschöpfend kennzeichnen. Einerseits erscheint der Selbstschatten 
nach der Inversion überhaupt nichtmehr alsSchatten, kann also auch 
nicht in jenem Schimmer erscheinen, andererseits erscheint die ur¬ 
sprünglich beschattete Fläche in einem Oberflächen grau. Allerdings 
kann dieses noch den von Burmester erwähnten Schimmer besitzen. 

Während es bei den wirklichen beschatteten Flächen, auch wenn 
die Beschattung sehr intensiv ist, immer möglich ist, gleichsam unter 
dem Schatten die weiße Fläche zu sehen, ist dies nach der Inversion 
schlechthin unmöglich. Hier werden überhaupt keine Schatten 
gesehen; vielmehr nur homogen graue Flächen. Jo nach der ur¬ 
sprünglichen Stärke der Schatten können bei Drehung des Objektes 
die feinsten Übergänge von lichtem Silbergrau zu tiefstem Ruß- 
schwarz in kontinuierlicher Folge gesehen werden. Am unmittel¬ 
barsten tritt dieser Unterschied in der Erscheinungsweise invertierter 
und nicht invertierter beschatteter Flächen bei der oben beschrie¬ 
benen partiellen Inversion der Seitenflächen hervor. 


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Es ist ganz und gar nicht zutreffend, wenn Mach sagt: »Licht 
und Schatten sind nun unmotiviert; sie passen nicht mehr zur Körper¬ 
form. « Im Gegenteil, sie passen sehr gut; nur handelt es sich tun eine 
gänzlich neue Körperform, an der sie nicht mehr als Licht und Schatten 
gesehen werden. Sie verleihen dem inversen Körper durch ihren aus¬ 
gesprochenen Farbcharakter und Gegensatz einen besonderen Beiz 
und eine erhöhte Eindringlichkeit. Es ist äußerst überraschend, daß 
man ursprüngliche Schatten überhaupt nicht mehr als Schatten sehen 
und von den Flächen trennen kann, daß man dazu auch gar keinen 
Antrieb verspürt. 

Offenbar findet durch den Vorgang der Inversion eine ähnliche 
Umwandlung der Erscheinungsweise einer beschatteten Fläche statt, 
wie sie Katz durch seine Reduktionen bewirkt. Es hat weder etwas 
Beschwerliches noch etwas Befremdendes an sich, an dem inversen 
Körper keine von außen herrührende Beleuchtung oder Beschattung 
mehr zu sehen. Der Körper wird eben rein als Phänomen ohne Bezug 
zu anderen Objekten gesehen. Vielleicht wird durch das Leuchten, 
das Durchscheinendwerden der Flächen auf der einen Seite, durch 
das Bedecktwerden mit Oberflächengrau verschiedenster Tönung 
bzw. mit satten Oberflächenfarben auf der anderen Seite die Art 
seiner Objektivität beeinflußt. 

Bemerkt sei noch, daß durch ausschließliche Zuwendung der Auf¬ 
merksamkeit auch an dem wirklichen Körper die beschatteten Flächen 
rein phänomenal als unbeschattet mit einem Oberflächengrau be¬ 
deckt gesehen werden können, ohne daß dazu ein besonderes Reduk¬ 
tionsverfahren erforderlich wäre. Diese Art, die Flächen rein phäno¬ 
menal zu sehen, ohne Relation zu anderen Objekten, ist meistens 
die Vorstufe zum Einsetzen des Inversionsprozesses. 

6. Die Objektivität invers gesehener wirklicher Objekte. 

Durch die beschriebene mit dem Vorgang der Inversion sich voll¬ 
ziehende Veränderung in der Erscheinungsweise beleuchteter und be¬ 
schatteter Flächen dürfte der Eindruck einer luftigeren Raumhaftig- 
keit, den der inverse Körper erweckt, bedingt sein. Während ein ob¬ 
jektives konvexes Dreikant als solches durchaus den Eindruck eines 
festen, eine gewisse Schwere und Massigkeit besitzenden Körpers 
macht, erscheint die konvexe Inversion eines objektiv konkaven 
Dreikants in einer eigenartigen luftigen Raumhaftigkeit. Das in¬ 
verse Dreikant scheint eine andere Objektivität zu besitzen als das 
entsprechende objektive Dreikant; es wird eben rein als Phänomen 
mehr oder weniger isoliert für sich und ohne Relation zu anderen 


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Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 87 

wirklichen Objekten wahrgenommen. Dieser Unterschied in der Ob¬ 
jektivität, bedingt durch die beschriebenen Unterschiede in der 
Erscheinungsweise sowohl in quantitativer wie in qualitativer Be¬ 
ziehung, dürfte am unmittelbarsten zu erkennen sein, wenn man bei 
der Betrachtung den zu invertierenden Körper oder den Kopf oder 
beide zugleich bewegt. 

Schon Wheatstone charakterisiert diesen Unterschied treffend, 
wenn er sagt: 

»Solange man die wahreGestalt desWürfels wahrnimmt, so wird, 
wie man ihn auch drehen und wenden mag, die dadurch veranlaßte 
Unterschiedenheit der Erscheinung doch nichts anderes als eine 
verschiedene Ansicht eines und desselben Gegenstandes sein; 
dies findet aber nicht statt, wenn die Aufmerksamkeit von der 
umgekehrten Figur gefesselt wird; dann hat die Reihe der auf¬ 
einander folgenden Ansichten keine Beziehung auf irgendeinen 
Gegenstand, der alle diese Ansichten darbieten könnte, und 
demnach wird diese umgekehrte Figur eine fortwährende Ver¬ 
änderung ihrer Gestalt erleiden« (Burmester, Zeitschr. f. 
Psychol. Bd.L. S. 264). 

Sehen wir das bewegte Objekt selbst, so erfassen wir seine ein¬ 
zelnen Flächen in eigenartiger Persistenz zueinander, bei alleiniger 
Bewegung des Kopfes sogar in absoluter Persistenz. Das Bewußt¬ 
sein rechtwinklige, beschattete und beleuchtete Flächen zu sehen, 
verläßt uns nie, mögen auch die Beleuchtungs- und Beschattungs¬ 
verhältnisse noch so ungewohnte sein. Ganz anders sehen wir den 
inversen Körper. Seine Flächen sehen wir weit mehr in ihren un¬ 
mittelbaren Erscheinungsformen, die sich überdies bei Bewegung 
fortgesetzt ändern. Daher werden auch die Flächen weder in innerer 
noch in absoluter Persistenz gesehen. Statt beschatteter Flächen 
werden Flächen in wechselnd intensivem, die ganze Graureihe durch¬ 
laufendem Oberflächengrau gesehen, eine Erscheinungsweise, wie sie 
aus der Erfahrung in gleicher Unmittelbarkeit nicht bekannt ist. 
Wohl aber werden die aufeinander folgenden Ansichten bei aller 
Verschiedenheit auf einen und denselben sich eben fortgesetzt ver¬ 
wandelnden Körper bezogen; auch besitzt der inverse Körper bis zu 
einem gewissen Grade Persistenz in bezug auf die mittlere Blick¬ 
richtung; d. h. der inverse Körper dreht sich — wie es bei stereo¬ 
skopisch gesehenen Scheinkörpern der Fall ist — mit der Blick¬ 
richtung; er behält bis zu einem gewissen Grade eine Art isogone 
Einstellung zu der mittleren Blickrichtung. Die Flächen des in¬ 
versen Körpers vollführen bei Bewegung die seltsamsten »Schein- 


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88 J. Wittmann, Die Invertierbarkeit wirklicher Objekte. 

bewegungen«, die sich bald als innere Streck-, Schrumpf- und Krüm- 
mungsbewegungeu der Flächen und Kanten, bald als äußere Dreh¬ 
bewegungen kundgeben. Am auffallendsten wird die Mitbewegung 
in der Körperecke des Dreikants gesehen. 

Daß die inversen Formen an sich einen Unwirklichkeitscharakter 
besäßen, möchte ich nicht sagen. Dagegen spricht z. B. der oben¬ 
erwähnte Fall, daß ich dauernd aus nächster Nähe eine Säule mit 
gewundenen Wülsten nur in der inversen Form als Säule mit Hohl¬ 
kehlen sah. 


Eingegangen ain 26. Mai 1917.) 


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(Aus dem Institut für experimentelle Psychologie der Universität 
Leipzig (Direktor Prof. Wundt.) 


Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 

Von 

Paul Müller (Zittan). 

(Mit 9 Figuren im Text.' 


Inhaltsübersicht. 

I. Die Fragestellung.89 

II. Versuchsanordnung.96 

III. Die Versuche und ihre Ergebnisse.107 

1) Die verschiedenen Reaktionsformen und ihre Zeitregistrierungen. 107 

2) Der Verlauf der Willensbewegung.HO 

3) Variation der Geschwindigkeit.132 

IV. Schluß.133 


1. Die Fragestellung. 

In der vorliegenden Arbeit soll der Verlauf einer vorbereiteten 
Willensbewegung untersucht werden. Um diese Bewegung möglichst 
eindeutig zu gestalten, muß sie so von objektiven Bedingungen ab¬ 
hängig gemacht werden, daß der Verlauf besondere psychische Ein¬ 
flüsse erkennen läßt. Ein äußerer Reiz wird mit der Bewegung 
einer bestimmten Muskelgruppe beantwortet. Diese Bewegung hat 
so schnell wie möglich dem Reize zu folgen. In dieser Form heißt 
jetzt ein solcher Willensvorgang »Reaktionshandlung« und jenes 
Minimum an Zeit zwischen dem auslösenden, objektiven Erlebnis 
und der Bewegung: »Reaktionszeit«. Zunächst spielte das Problem 
der Reaktionszeit die Hauptrolle. Eine besondere Beleuchtung er¬ 
hielt die Bestimmung dieser Zeit durch die Erforschung der astro¬ 
nomischen Registriermethode. Diese wurde 1841 von Arago zum 
ersten Male beim Durchgang eines Sternes durch das Fadenkreuz 
des Fernrohrs angewandt. Der Beobachter markierte dabei die Bi- 
sektion des Sternes durch Arretierung des Uhrwerkes. Arago glaubte 
dadurch den Zeitfehler der Auge- und Ohrmethode ausschalten zu 
können. Hirsch und Plantamour fanden aber die Zeit zwischen 
Bisektion des Sternes und Registrierbewegung sehr wohl meßbar und 


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90 


Paul Müller, 


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netzten die so gefundenen neuen Zeitfehler in Beziehung zur Reak¬ 
tionszeit. Bei diesen astronomischen Versuchen dient als Motiv der 
Willenshandlung die Bisektion des Sternes, nur ist die Auffassung 
des Reaktionsmotives viel spezieller vorbereitet durch die Wahr¬ 
nehmung der allmählichen Annäherung des Sternes an das Faden¬ 
kreuz. Das verschiedene Resultat je nach der Verwendung dieser 
Vorbereitungszeit seitens des Reagenten lenkte nun das Interesse 
auf den psychischen Vorgang der Impulsauslösung. Es hatten sich 
nämlich bei näherer Untersuchung zwei verschiedene Einstellungs¬ 
weisen ergeben, sie sollen kurz die antizipierende und reagie¬ 
rende genannt werden 1 ). Sie sind erstmalig scharf voneinander 
durch Le Verrier 2 3 ) geschieden worden. 

Die antizipierende Einstellung beruht darauf, daß die Erwar¬ 
tung, ein Vorgang werde nach einer bestimmten Zeit eintreten, den 
Impuls so früh auszulösen gestattet, daß er ungefähr gleichzeitig 
mit dem erwartungsgemäßen Eintritt jenes Vorgangs selbst voll¬ 
endet ist. Denken wir uns eine Zeitstrecke c, begrenzt durch die 
Punkte a und 6, wiederholt dargeboten. Bei einer nochmaligen Dar¬ 
bietung soll eine Reaktion zugleich mit der Zeitstrecke c vollendet 
sein. Bei der antizipierenden Reaktionsweise geht nun, wenn Zeit¬ 
punkt a wahrgenommen wird, der Vorstellung der zeitlichen An¬ 
näherung an den zu registrierenden Vorgang eine Entwicklung des 
Impulses so parallel, daß die Vollendung der Bewegung mit der Ver¬ 
gegenwärtigung des Endpunktes b der Zeitstrecke c zusammenfällt. 
Die Auslösung des Impulses erfolgt hier also nicht erst auf die Wahr¬ 
nehmung des vollendeten Reizes hin, sondern wird von der Antizi¬ 
pation bewirkt. Daß dabei die der Erwartungsspannung parallele Aus¬ 
lösung des Impulses den Ausschlag gibt, erkennt man aus der be¬ 
sonders kräftigen und zeitlich genauen Entwicklung der Impulse im 
Anschluß an regelmäßige Antizipationen, die wir mit einem besonders 
intensiven Gefühlsverlauf als Rhythmus erleben. Diesen Tatbestand 
hat schon Martius 8 ) mit Versuchen über das Mittaktieren mit takt¬ 
mäßigen Reizen aufgeklärt. Ist die Zeitvorstellung weniger rhyth¬ 
misch gegliedert, wie dies eben bei astronomischen Durchgangsbeob¬ 
achtungen der Fall ist, so wird die Auslösung des Impulses ungenauer. 


1) Vgl. Wirt h, Psychophysik. 1912. S. 484 ff. A. Ha mm er, Untersuchung 
der Hemmung einer vorbereiteten Willenshandlung. Wun dt, Psychol. Studien. 
IX. S. 321. 

2) Annales de l’observatoire de Paris. Tome VIII. p. 7. 

3) F. Martius, Zeitschr. f. Klinische Medizin. Bd. XV. S. 536. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


91 


Die antizipierende Einstellung ist sogar die nächstliegende, die sich 
dem Beobachter, wenn ihm keine besonderen Anweisungen gegeben 
werden, von selbst aufdrängt, zumal sie durch das praktische Leben 
mehr oder weniger ausgebildet wird. Ich erinnere hier an das Mit¬ 
taktieren und Mitmarschieren bei rhythmischen Schalleindrücken, 
das Aufspringen auf ein in Bewegung befindliches Gefährt und 
ähnliches. 

Die reagierende Einstellungsweise unterscheidet sich nun von 
dieser durch die ganze Motivation des Impulses und seine von dieser 
abhängige Zeitlage und Entwicklung. Bei reagierendem Verfahren 
ist die wirkliche Apperzeption des realen Sinneseindrucks das allein 
Bestimmende für die Impulsauslösung. Zwei Gefahren werden sich 
hier dem Reagenten eröffnen. Einmal kann die Vp. mehr oder weniger 
stark zu antizipierender Reaktion neigen. Die Impulsentwicklung 
setzt dann zu früh ein, und die Registrierbewegung wird von antizi¬ 
pierten Vorstellungen, nicht vom objektiven Erlebnis der Bisektion, 
ausgelöst. Die Vp. kann aber auch zu vorsichtig sein und auf die 
größtmögliche Vorbereitung der tatsächlichen Auslösung des Impulses 
mehr oder weniger verzichten, um nicht »gegen ihren Willen« vor 
der Apperzeption des Motivs zur Reaktion fort gerissen zu werden. 
Sie kann also z. B. im extremsten Falle erst nach vollständiger Apper¬ 
zeption der Bisektion den Reaktionsimpuls langsam anschwellen 
lassen. Die Reaktionsbewegung ist dann erst lange nach der Bisektion 
vollendet. Die reagierende Einstellung wird durch alles erschwert, 
was die präzise Erwartung des Reizvorganges begünstigt, also durch 
einen regelmäßigen Verlauf des Vorbereitungsstadiums bis zum Ein¬ 
tritt des Reizes, insbesondere während der letzten Periode der natür¬ 
lichen Apperzeptionsgliederung. Da die vorliegende Untersuchung 
beide Einstellungsweisen zu berücksichtigen hatte, nicht, wie die 
von Hammer, nur die antizipierende, wurden zur Umgehung der 
Klippen für die reagierende Einstellung Durchgangsbeobachtungen 
benützt, bei denen die gleichförmige Bewegung eines Sternes imitiert 
wurde, also nicht, wie bei Hammers Versuchen, eine Pendelbewegung 
mit größter Geschwindigkeit des künstlichen Sternes bei der Bisek¬ 
tion, deren Rhythmus besonders zur Antizipation verleitet hätte. 
Mit der scharfen Trennung beider Einstellungen soll natürlich nicht 
die Existenz von Zwischenformen bestritten werden, wie sie ja schon 
wiederholt beobachtet worden sind 1 )- Auf diese Erscheinung, die 
sich auch bei der vorliegenden Untersuchung ergab, wird später noch 

1) Vgl. Wirth, Die Kontrolle der Reaktionsweise. Vortrag auf dem V. Kon¬ 
greß für exp. Psychologie 1912. Bericht S. 144. 


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Paul Müller, 


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näher einzugehen sein. Sie entsteht häufig einfach dadurch, daß die 
Vpn. nicht in eindeutiger Weise den Instruktionen nachkommen, die 
ihnen bezüglich der Einstellung gegeben sind. 

Da somit bei den Registrierungen von Durchgängen der Zeit- 
fehler nicht immer eine Reaktionszeit in gewöhnlichem Sinne ist, 
sondern in viel komplizierterer Weise von dem zu registrierenden 
Vorgänge abhängt, verschiebt sich bei ihnen das Interesse von dem 
Problem der Reaktionszeit auf das der Reaktionshandlung im ganzen. 
Es soll also die motorische Bereitschaft, die Vorbereitung 
des Impulses und seine Auslösung bei den verschiedenen 
Einstellungen genauer durchforscht werden. Als Hilfsmittel zur 
Erkennung der Einstellung und zur Analyse der einzelnen Stadien 
des jeweiligen Verlaufes hat es sich vor allem bewährt, die reinen 
Durchgangsreaktionen mit Versuchen zu vermischen, bei denen das 
eigentliche Reizmotiv ausfällt. Die wahre Einstellung erkennt man 
dann daraus, ob eine Hemmung der Registrierbewegung noch möglich 
ist oder nicht. Gerade bei der stetigen Vorbereitung, wie sie Durch¬ 
gangsbeobachtungen durch die allmähliche Annäherung eines fort¬ 
gesetzt wahrnehmbaren Objektes an eine bestimmte Lage bieten, 
läßt sich jene Motivprüfung auf besonders einfache und natürliche 
Weise stetig variieren; denn man kann hier nicht bloß das Reizmotiv 
selbst wirklich ausfallen, d. h. im Augenblick der Bisektion den Stern 
verlöschen lassen, sondern kann diesen Ausfall auch leicht eine be¬ 
liebige Zeitstrecke vorher ankündigen, ohne besondere Nebensignale 
einführen zu müssen, deren Beachtung eine schwankendere Einstel¬ 
lung der Aufmerksamkeit erfordern würde. Man kann den künst¬ 
lichen Stern selbst einfach an beliebigen Stellen vor und nach der 
Bisektion verschwinden lassen. Dieses Verschwinden, das hier als 
»Prüfungsreiz« verwendet wird, soll zur konkreteren Bezeichnung 
weiterhin auch Unterbrechungsreiz (U.-Reiz oder U.-R.) heißen. 
Eine solche, stetig abgestufte Motivprüfung wird bei antizipierender, 
reagierender und gemischter Einstellung eintreten können, nur wer¬ 
den die U.-R. hierbei in verschiedenen Bereichen vor der Bisektion 
einsetzen müssen. Natürlich müssen die U.-R. so mit ungestörten 
Durchgängen vermischt werden, daß die Vpn. nicht in ihrer Bereit¬ 
schaft zur Reaktion gestört werden. Doch gewinnen die Vpn. nach 
genügender Einübung eine solche Selbstbeherrschung, daß sie U.-R. 
ohne besondere Gedanken daran beachten, wie dies schon bisherige 
Versuche ergeben haben 1 ). Diese U.-R. gestatten nun aber, den Ver- 

1) F. Günther, Reaktionsversuche bei Durchgangsbeobachtungen. 
Wundt, Psychol. Studien. VII. S. 232. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


93 


lauf der gesamten Impulsentwicklung zu verfolgen, wenn sie in meh¬ 
reren Abständen, und zwar wegen der zufälligen Schwankungen, an 
jedem dieser Punkte wiederholt eintreten. Denn bei n-maliger 
Wiederholung jedes einzelnen U.-R. von bestimmter Lage wird ein 
bestimmtes, motorisches Verhalten bei dem einen Extrem dieser 
Lagen immer, bei dem entgegengesetzten Extrem nie eintreten. 
Bei den U.-R. zwischen diesen beiden Extremen aber wird der Vor¬ 
gang bald eintreten, bald unterbleiben. Aus der Kurve der relativen 
Häufigkeiten des Eintretens eines Vorganges wird ein Kollektiv¬ 
gegenstand der Zeitgrenze oder Zeitschwelle für den Vorgang 
konstruierbar sein. Er kann dann leicht durch Mittel- und Streuungs¬ 
werte zahlenmäßig angegeben werden. 

Wenn die Reaktion in dem plötzlichen Loslassen eines federnden 
Tasters besteht, der gegen eine feste Unterlage niedergehalten wird, 
oder, wie meistens bei den Astronomen, in dem plötzlichen Nieder¬ 
drücken eines stärkeren Widerstandes, bis ein Kontakt hergestellt 
wird, so kommt in dem normalen Versuch ohne U.-R. nur ein be¬ 
stimmtes Endstadium der Impulsentwicklung zum Ausdruck. Ebenso 
handelt es sich aber dann in den Prüfungsversuchen nur um das 
einfache Dilemma, ob beim vorzeitigen Verlöschen des Sternes in 
einem gewissen Abstand vom Durchgang der Impuls bereits bis zu 
jenem Stadium gediehen ist oder noch von ihm zurückgehalten werden 
kann. Schon Ferd 1 ) hat aber Versuche angestellt, bei denen der 
Taster durch einen Mareysehen Tambour ersetzt war, der mit einem 
Schreibtambour in Verbindung stand 2 ). Bei dieser elastischen Unter¬ 
lage lassen sich auch schon alle kleineren Schwankungen der Haltung 
registrieren, sowohl solche in Richtung des vorbereiteten Haupt¬ 
impulses (gleichgerichtete), als auch in der entgegengesetzten. Be¬ 
sonders durch die Absicht der sofortigen Reaktion auf einen be¬ 
stimmten Vorgang entstehen ja leicht ungeduldige Vorbewegungen 
oder antagonistische Innervationen zu ihrer Unterdrückung. Die 
letzteren bilden außerdem auch einen regulären Bestandteil der Vor¬ 
bereitung beim Niederhalten eines federnden Kontaktes. Zudem 
können sie, wie W. G. Smith 3 ), ferner Judd und McAllister 4 ) 


1) Ch. F6r6, Revue philosophique. XV annee. 1890. 30. S. 393. Note 
sur la physiologie de l’attention. 

2) W. Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. 1908. 
S. 409. 

3) W. G. Smith, Antagonistic Reactions. Mind. Jan. 1903. S. 47. 

4) Judd und Mc Allister, Analysis of reaction movements. The psycho- 
logical review, Monogr. Suppl. Vol. VII, 1. S. 141. 


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Paal Milller, 


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fanden, als kurzer Anlauf, als Ausholen oder Abstoßen der Haupt¬ 
bewegung unmittelbar vorhergehen 1 ). 

Offenbar werden sich aber bei dieser Verwendung einer elastischen 
Unterlage auch für die Prüfungsversuche ganz neue Diffe¬ 
renzierungen des Verhaltens herausstellen, je nach dem Stadium 
der Impulsentwicklung, in dem der Stern verlöscht. Zunächst wird 
der Fall, daß die Hand dabei so ruhig bleibt wie vorher, hierbei 
eine ganz andere Bedeutung gewinnen, als wenn diese Ruhe nur an 
einem trägen und starren Taster festgestellt wird. Sie wird hier 
wirklich nur bei einem so frühen Verlöschen des Sternes zu erwarten 
sein, daß sich noch keinerlei Bewegungsantrieb entwickelt hat. 
Dieses Stadium ist natürlich als Schwelle darstellbar. Sie mag 
Schwelle der »Unruhe« genannt werden. Andererseits setzt von 
einer Stelle an eine volle Impulsentwicklung ein, bei der das Gegen¬ 
motiv an der normalen Reaktionsform gar nichts mehr zu ändern 
vermag. Sie heiße Schwelle der »ungestörten Reaktion«. 
Dazwischen werden sich Übergänge einschieben, bei denen sich 
größere Unruhe oder bereits ausgesprochene Ansätze zur Reaktions¬ 
bewegung zeigen, die aber noch durch die vom Prüfungsreiz aus¬ 
gehende Hemmung verabredungsgemäß gedämpft oder rückgängig 
gemacht werden können. Die Zeitstrecke, welche zwischen 
der Schwelle der Unruhe und derjenigen der ungestörten 
Reaktion liegt, bildet einen ganz neuen Wert, der sowohl 
für die Impulsentwicklung im allgemeinen, als auch für die ver- * 
schiedenen Einstellungen, die bei unserer Reaktionsaufgabe unter¬ 
schieden werden können, charakteristisch ist. Er soll im folgenden 
für verschiedene Bedingungen abgeleitet werden. 

Bringt man außerdem an dem elastischen Widerlager noch einen 
Kontakt an, der bei einem gewissen Grade der Bewegung unter¬ 
brochen wird, so läßt sich auch ein beliebiges, mittleres Sta¬ 
dium abgrenzen, dessen Schwelle, je nach der hierzu erforderlichen 
Spannungsänderung, der Schwelle der Unruhe oder derjenigen der 
ungestörten Reaktion näher liegen wird. Auch ein solches Zwischen¬ 
stadium wurde im folgenden mit Chronoskopmessungen in Ver¬ 
bindung gebracht. 

Die Prüfungsversuche geben freilich, solange dieVp. nicht völlig 
gleichgültig gegen sie geworden ist, neue, positive Anregungen zu 
hemmenden und auch zu gleichgerichteten Impulsen. Hierüber hat 
schon Hammer bei antizipierender Einstellung Erfahrungen ge- 


1) VgL W. Wirth, ebenda. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


95 


sammelt. Man kann zusehen, wie sich die trotz der Prüfungsreize 
eintretenden Reaktionen bezüglich ihrer Zeitlage zu den normalen 
verhalten, und hierdurch Fehlreaktionen im eigentlichen Sinne, 
die dem Prüfungsreiz durch eine Art Schreckwirkung im Abstand 
einer Reaktion nahe bleiben, von den Normalreaktionen unter¬ 
scheiden, die durch den zu späten Prüfungsreiz nicht mehr gestört 
oder höchstens wenig beschleunigt oder verzögert werden. Diese 
Normalreaktionen kommen bei Prüfungsreizen vor, die so spät auf- 
treten, daß der Verlauf der Reaktion von demjenigen völlig un¬ 
gestörter Versuche eben nicht mehr erkennbar abweicht. Wir wollen 
sie im folgenden als »Grenzreaktionen« im Gegensatz zu den von 
Prüfungsreizen direkt ausgelösten »Fehlreaktionen« bezeichnen. 
Auch in dieser Hinsicht läßt übrigens die vollständige Registrierung 
des ganzen Verlaufes der Spannungsänderungen neue Probleme zu. 
Denn auch bei den freien Versuchen wird hier nicht nur das End¬ 
stadium, sondern auch eine etwaige frühere Unruhe registriert. Frei¬ 
lich wird ein Teil der Unruhe bei Prüfungsversuchen wieder als eine 
Art von »Fehlunruhe« von den Prüfungsreizen selbst direkt aus¬ 
gelöst sein können. Diese würde sich aber ebenso wie eine Fehlreaktion 
nur bei hinreichendem Abstand von dem Reaktionsmoment selbst 
aus ihrer Zeitlage erkennen lassen. Für die Berechnung der Schwelle 
der Unruhe hätte aber die Ausschaltung solcher normaler oder Fehl¬ 
unruhen nur dann Bedeutung, wenn in dem betreffenden Prüfungs¬ 
versuch nach dieser Unruhe im Augenblicke der Reaktion wieder 
klare, ruhige Niederhaltung des Impulses herrschen würde, aus der 
man schließen könnte, daß der Hauptimpuls bei einer so frühzeitigen 
Gegenorder, was ihn selbst anbelangt, vollständig in Ruhe bleibt. 
Da sich aber solche Fälle nicht mit genügender Sicherheit heraus¬ 
finden ließen, und vor allem auch bei der Berechnung der anderen 
Schwelle der ungestörten Reaktion die Fehlreaktionen mit den 
normalen Grenzreaktionen in Ermangelung einer ganz sicheren 
Unterscheidung bei den Übergangsformen zusammengenommen 
wurden, so glaubten wir auch bei der Berechnung der Schwelle 
der Unruhe von einer solchen unsicheren Verfeinerung absehen zu 
können. 

Um die verschiedenen Bewegungsformen bei Prüfungsreizen in 
Beziehung zu den psychischen Bedingungen setzen zu können, ist 
es natürlich nötig, die Versuchsbedingungen konstant zu halten. Das 
ist nur bei hinreichender Einübung der Vpn. möglich. Es wurden 
daher, ehe die Versuche zur Verwertung benutzt wurden, mit jeder 
Vp. durchschnittlich 100 Einübungsversuche unternommen. Je nach 


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96 Paal Müller, 

der individuellen Fähigkeit sich einzuüben, wurden diese Zahlen noch 
erhöht. 

Stellt man die Ergebnisse zusammen, die mit der Untersuchung 
erstrebt wurden, so sind es folgende: Es wurden zwei Gruppen von 
Durchgangsregistrierungen durchgeführt, einmal mit antizipierender 
sodann mit reagierender Einstellung. Eine dritte Gruppe, die eine 
Art »gemischte« Einstellung darstellte, ergab sich außerdem. Alle 
Versuche wurden mit systematisch verteilten Prüfungsreizen an¬ 
gestellt. Jede Registrierbewegung wurde exakt graphisch fixiert, und 
die zugehörige Reaktionszeit gemessen. Aus den Registrierbewegungen 
bei den Prüfungsversuchen ließ sich dann die Stelle des ersten Ein¬ 
setzens der Impulsentwicklung, der Kontakterhaltung und der nicht 
rückgängig zu machenden Vollendung des Impulses ermitteln. Als 
einflußreichster Faktor der begleitenden Umstände für die unter¬ 
suchten Fragen macht sich, wie die bisherigen Untersuchungen 1 ) 
beweisen, die Geschwindigkeit der Sternbewegung geltend. Es wurde 
daher mit drei verschiedenen Geschwindigkeiten gearbeitet. 

II. Versuchsanorduung. 

Die Anordnung umfaßt fünf Teile, den Reaktionstaster, das 
Kymographion zur graphischen Aufnahme seiner fortlaufenden Be¬ 
wegungen, das Chronoskop zur Aufnahme seiner Kontaktunter¬ 
brechung und den Durchgangsapparat selbst, sowie die Vorrichtung 
zur Einschaltung der Prüfungsversuche. 

Der Reaktionstaster sollte nach dem Gesagten, ähnlich wie bei 
den Versuchen von Judd, nicht nur eine einmalige Hauptbewegung 
der Hand zur Registrierung des Durchganges, sondern auch die 
Haltung im Vorbereitungsstadium aufzeichnen lassen. Die zu re¬ 
gistrierende Hauptbewegung bestand wie gewöhnlich darin, daß man 
die Hand von einem zunächst niedergedrückten, federnden Hebel 
rasch emporhob und dadurch den in ein Chronoskop eingeschalteten 
Kontakt zwischen diesem Hebel und seiner Unterlage unterbrach. 
Damit man aber auch die Schwankungen der Haltung während 
des Kontaktschlusses aufzeichnen konnte, mußte die Unterlage, 
gegen die der Hebel gedrückt wurde, elastisch sein, während sie 
andererseits zur Sicherung der Ruhelage doch auch wiederum der 
drückenden Hand einen genügenden Widerstand entgegensetzen 
mußte. Da jedoch von uns die Haltung der Hand durch eine pneu- 

1) Alechsieff, Reaktionszeiten bei Durchgangsbeobachtungen. Wundt, 
Philos. Studien. XVI. 1900. S. 1. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willenabewegung. 


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malische Übertragung registriert wurde, nicht direkt mechanisch wie 
bei Judd, so bestand die Unterlage aus einer mit Schlauchspitze ver¬ 
sehenen, halbkugelförmigen Gummikapsel, auf die oben ein plati- 
niertes Metallblättchen als Kontaktfläche aufgeklebt war. Der zur 
sicheren Handhaltung nötige Widerstand rührte deshalb vor allem 
von der Federung des von der Hand gedrückten Hebels selbst her. 
Dieser bestand aus einem 2 cm breiten und 16 cm langen Stahlband 
von 1 mm Dicke, dessen eines Ende von einem starken, auf einem 
Brett montierten Eisenpfosten getragen wurde, während auf das 
andere Ende der bei solchen Tastern übliche Hartgummiknopf auf¬ 
gesetzt war. In der Mitte war in das Band eine mit platinierter 
Spitze versehene Stellschraube eingelassen, die beim Niederdrücken 
des Hebels auf die platinierte Kontaktfläche der Gummikapsel auf¬ 
traf. Diese Schraube konnte also einerseits dem pneumatischen System 
alle Bewegungen mitteilen, die der Taster während seines Kontaktes 
mit der Kapsel ausführte. Andererseits schloß sie einen Strom, der 
dem Hebel und der Metallfläche auf dem Gummi von einer Klemm¬ 
schraube zugeleitet wurde. Die Schraube wurde so eingestellt, daß 
sie sich bei Ruhelage des Hebels 2 mm über dem Blättchen befand. 
Bewegungen innerhalb dieses Bereiches wurden also auch pneumatisch 
nicht mehr registriert. Die Haltung nach der Kontaktunterbrechung 
gelangte daher höchstens so weit zur Aufzeichnung, als sie denKontakt 
noch einmal herstellte, wie es bei bestimmten Prüfungsversuchen 
tatsächlich eintrat. Die Druckschwankung in der Gummikapsel 
wurde nach einem Mareysehen Tambour mit Strohschreiber über¬ 
tragen und an einem besonderen Tische auf dem Wun dt sehen 
Trommelkymographion aufgeschrieben. Das Kymographion lief mit 
einer mittleren Geschwindigkeit, 1 cm der Kurve wurde in 635 o 
aufgezeichnet. 

Zur Zeitmessung wurde das Hippsche Chronoskop benutzt. Es 
wurde mit sog. Arbeitsstrom betrieben und durch fortgesetzte, täg¬ 
liche Kontrollen mit dem großen Wundtschen Kontrollhammer ge¬ 
prüft. Es war schon in früheren Versuchen als zuverlässig erprobt 
worden. Auf die genauere Verwertung der gemessenen Zeiten, ins¬ 
besondere auf die Grenzen, die bei der Messung kleiner Zeiten gesetzt 
waren, komme ich noch weiter unten bei der Verarbeitung des Ver¬ 
suchsmaterials zu sprechen. 

Der Durchgangsapparat mußte einen äußerst genauen und kon¬ 
stanten Sterndurchgang geben. Die Durchgangsbewegung sollte 
gleichförmig sein. Ich benutzte dazu das große Präzisionsstroboskop, 
das mit anderen Hilfsbestandteilen schon von P. Linke und von 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 7 


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Paul Müller, 


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Bien er benutzt und von jenem in einer von ihm verwendeten Form 
in Wundts Psychol. Stud., Bd. III, 5 und 6, S. 449, veröffentlicht 
worden ist. Bei meinen Versuchen war dagegen, wie schon bei Biener, 
eine Stahltrommel aufgesetzt, deren Rotationsachse aber in horizon¬ 
tale Lage gebracht war. Auf der Trommelwandung war mit Stahl¬ 
schienen eine Blechtrommel, 11,7 cm breit, befestigt. Der Durch¬ 
messer der Trommel betrug 39,2 cm. Sie wurde mit schwarzem Papier 
überklebt. Darauf wurde eine als Schraubenlinie erscheinende Gerade 
und eine Parallele zum Basiskreis der Trommel mit weißer Tusche 
gezogen. 

Vor die Trommel wurde- mit der Wand gegen die Trommel auf 
einem besonderen Tisch ein Spiegel gestellt, dessen spiegelnde Fläche 
dem Beobachter zugekehrt und bis auf ein Rechteck von 5,5 cm Länge 
und 2 mm Breite mit schwarzem Papier überklebt war. Inmitten 
des Rechtecks war ein horizontaler Spalt von 5 cm Länge und 1 mm 
Breite aus dem Quecksilberamalgam an der Spiegelrückwand her¬ 
ausgelöst. Die Entfernung vom Spiegel zur Trommel betrug 32,5 cm. 
Der Beobachter blickte nach diesem Spiegel, der ihn die Linien auf 
der Trommel nur durch seinen horizontalen Spalt hindurchsehen ließ, 
durch ein Diaphragma aus schwarzer Pappe, das sich ebensoweit 
(32,5 cm) vor dem Spiegel befand, als die Trommel hinter diesem 
lag. Die dem Beobachter abgewandte Rückseite schien also dem 
Beobachter nach dem Spiegelprinzip in der nämlichen Ebene zu liegen 
wie der schmale, durch den Spiegelspalt sichtbare Trommelstreifen. 
Auf dieser im Spiegel sichtbaren Rückwand des Diaphragmas war 
mm ein Markierungsstrich aus weißer Tusche so angebracht, daß er 
den durch den Spalt sichtbaren Punkt des Parallelkreises der Trommel 
zu einer vertikalen Geraden ergänzte. Bei der Rotation der Trommel 
schien natürlich dieser schmale, punktartige Ausschnitt aus ihrem 
Parallelkreis mangels einer Horizontalverschiebung zu ruhen und 
vertrat für den Beobachter mit dem anderen gespiegelten Teil des 
Vertikalstriches die Stelle des Fernrohrfadens, gegen den sich der 
Stern bewegte. Als Stern aber funktionierte bei uns der im Spiegel¬ 
spalt sichtbare, punktartige Ausschnitt jener weißen Schraubenlinie 
auf der schwarzen Trommel, die sich bei der Rotation dem Beob¬ 
achter als ein auf das Fadenkreuz zueilender Punkt darstellte. Ihr 
Schnittpunkt mit dem Parallelkreis bot bei dem Vorbeigang der Vp. 
eine sehr markante Bisektion. Das Fadenkreuz teilte das Gesichtsfeld 
des Beobachters im Verhältnis 3:1, entsprechend der Sternbewegung 
von links nach rechts gesehen. Da dieses Verhältnis von der Augenlage 
des Beobachters abhängig war, so wurde zu seiner Sicherung un- 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegnng. 99 

mittelbar vor die Pappwand eine Kinnstütze angebracht. Das Auge 
des Beobachters kam dabei unmittelbar vor das Diaphragma zu 
liegen. Das Stroboskop wurde von einem kleinen Elektromotor von 
Vio PS- angetrieben. Zur Herabsetzung ddr Geschwindigkeit war 
noch ein Vorleger eingeschaltet, der die Geschwindigkeit in den er¬ 
forderlichen Grenzen variieren ließ. 

Die Hilfsvorrichtung zur Ausschaltung des Sternes bestand in 
einer Blende, die direkt mechanisch von der Trommel selbst bei 
einer ganz bestimmten Stellung hinter den schmalen Horizontalspalt 
des Spiegels geschoben wurde, ähnlich wie der Hebel eines Kontaktes 
bei Kontaktapparaten durch den rotierenden Auslöser gestellt wird. 
(Fig. 1). Dazu war auf einem Stahlstab eine Achse befestigt. Um 
diese Achse ließen sich zwei Aluminiumschienen drehen, die etwa 
einen Winkel von 130° bildeten. Senkrecht zu ihnen, in der Richtung 
jener Achse, befand sich an den End¬ 
punkten jener Schienen je ein Alu¬ 
miniumstreifen und S 2 . Jeder 
war 12 cm lang, also etwas länger 
als die Blechtrommel. Wurde nun 
die Achse dieses Apparates parallel 
zur Stroboskopachse zwischen Trom¬ 
mel und Spiegelspalt in genügender 
Höhe aufgestellt, so konnten jene Alu¬ 
miniumstreifen durch geeignete Ein¬ 
stellung der Schienen bis dicht an 
die obere und untere Spaltgrenze 
gebracht werden. Durch eine geringe 
Drehung der Schienen um die Achse verdeckten dann die Streifen von 
oben und unten die Spaltdurchsicht scherenartig. Diese scherenartige 
Abblendung wurde benutzt, weil dadurch die 1 mm breite Durchsicht 
doppelt so rasch verdeckt wurde als bei einfacher Abblendung. Als 
Auslöser funktionierte eine starke Messingschiene, die auf die Achse 
des Stroboskops diametral aufgesetzt war und in beliebiger Stellung 
leicht und rasch festgemacht werden konnte. Sie traf mit einem über 
die Stroboskoptrommel ragenden Stift die der Trommel zugekehrte 
Aluminiumschiene der Blendenvorrichtung. Markierte man nun auf 
der Trommel die Stellung des Auslösers, bei der er den Stern genau in 
der Bisektionsstellung abblendete, und teilte die Strecke vor und hin¬ 
ter diesem Punkte in gleiche Abschnitte von einem bestimmten Zeit¬ 
wert, so ließ sich durch jeweilige, neue Einstellung jenes Auslösers am 
Stroboskop erreichen, daß der Stern ein bestimmtes Intervall vor oder 

1 * 



Skizze der Blendenvorrichtung. 


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Paul MUller, 


nach der Bisektion verschwand. Als Intervall wurde 10 o gewählt, 
was ja bei der außerordentlich konstanten Rotationsgeschwindig¬ 
keit der Trommel leicht durchführbar war. 

Es mußte nun nur'noch eine Einrichtung getroffen werden, die 
gestattete, den Prüfungsapparat bei einem beliebig gewählten Um¬ 
gang der Trommel in den Lauf jenes Messingstiftes einzurücken und 
nach Beendigung des Versuches wieder auszurücken. Dazu war um 
jene Achse der Blendenvorrichtung noch ein Hebel H drehbar. Von 
ihm ragte ein seitlicher Arm auf eine jener, um die nämliche 
Achse drehbaren Aluminiumschienen. Durch Drehung des Hebels 
wurden auch die Aluminiumschienen bewegt, da ja der Seitenarm 
die Schienen vor sich her schob. Bei genügender Reibung wurde der 
Gesamtapparat nur so weit gedreht, wie der Seitenhebel bewegt wurde. 
Durch einen Puffer P x konnte dies so weit geschehen, daß der 
Gesamtapparat gerade in die Bahn des Auslösers eingerückt war. 
Um den Apparat auszurücken, brauchte er nur genügend weit zu¬ 
rückgedreht werden. Auch diese Bewegung wurde durch einen 
Puffer P 2 begrenzt. Die Drehungen geschahen vom Stande des 
Experimentators aus durch Schnüre, die geräuschlos liefen. Der 
auslösende Messingstift der rotierenden Trommel, der den Prü¬ 
fungsapparat einrückte, war mit Kautschuk umkleidet: Auf völlig 
geräuschlosen Gang mußte ja scharf geachtet werden, um Unwissent¬ 
lichkeit des Beobachters zu garantieren. 

Ich komme nun zur Besprechung der Schaltungen, die zur Re¬ 
gistrierung der Zeiten notwendig waren (Fig. 2). Sie mußten so ein¬ 
gerichtet sein, daß sie Zeiten sowohl vor-, wie nachzeitiger Reaktionen 
zu messen gestatteten. W. Wirth gibt in seiner Exp. Analyse 
der Bewußtseinsphänomene eine Wheatstonesche Brückenan¬ 
ordnung zu diesem Zwecke an. Hier versuchten wir dasselbe mit 
einer Relaisschaltung 1 ). Der dadurch bedingte Zeitfehler fand bei 
der Berechnung Berücksichtigung. Die Stromkreise kann man in 
drei Gruppen einteilen, zwei Nebenstromkreise mit Akkumulatoren¬ 
strom und einen Hauptstromkreis mit Starkstrom. Zur allgemeinen 
Orientierung sei zunächst der Gebrauch der Buchstaben erklärt. Es 
bedeutet: A Amperemeter, Chr das Hippsche Chronoskop, K Kon¬ 
takte, R das in Wirths Psychophysik beschriebene Doppelrelais 2 ), 
S Schalter, V Verzweigungsstellen, W Wender und Ta den Reak- 
tionstaster. K war ein Öffnungskontakt, der am Stroboskop befestigt 


1) W. Wirth, Psychophysik. S. 444. Fig. 45. 

2) W. Wirth, a. a. 0., S. 444. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


101 


war und durch einen Auslöser im Augenblick der Bisektion unter¬ 
brochen wurde. Durch Zug an einer Schnur konnte er wieder ge¬ 
schlossen werden. 

Am Relais war bei Beginn jedes Versuches der Kontakt K s 
geschlossen. Durch Momentanschluß eines Kontaktes am Stroboskop 



im Augenblick der Bisektion zog der Elektromagnet die Zunge des 
Relais an, unterbrach Kontakt K z und stellte Kontakt ül 4 her. 
Dabei wurde auch Kontakt K h eingeschaltet, so daß hier der Mo¬ 
mentanschluß am Stroboskop einen Dauerschluß herstellte. Denn 
an K h lagen die Pole eines Akkumulators. Der Momentanschluß 
wurde mittels eines Quecksilberkontaktes Hgk am Stroboskop her- 
gestellt. Dazu war auf den Rand der Blechtrommel ein platiniertes 


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Paul Müller, 


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Kupferstäbchen geschraubt, das im Augenblick der Bisektion durch 
einen Quecksilbernapf strich. Der Strom, der den Momentanschluß 
erzeugte, ging von dem positiven Pole eines Akkumulators durch 
einen Schalter S und einen Wender W 2 zum Elektromagnet des 
Relais R. Von dort ging er zum Kontakt Hgk. Der negative Pol 
war mit dem Stroboskop, das ja durchgehends leitend war, ver¬ 
bunden. 

Der Hauptstromkreis läuft von den Polen des städtischen Leitungs¬ 
netzes von 110 Volt zunächst in die beiden Klemmen des Motors M. 
Von der positiven Klemme geht er durch einen Lampenwiderstand L 
zu der Klemme eines Wenders W x , ebenso ist die negative Klemme 
mit der zweiten Wenderklemme verbunden. Von der dritten Wender¬ 
klemme geht der Strom zu einer Verzweigungsstelle V x . Von da 
kann er entweder durch den Reaktionstaster Ta zu einer zweiten 
Verzweigungsstelle V 2 , oder er führt durch die bei den Versuchen 
stets geschlossenen Kontakte K x und K 2 des Wundtschen Kontroll- 
hammers, den oben angeführten Kontakt K und ein Amperemeter A x 
zu dem Chronoskop. Weiterhin kann er durch das Chronoskop zur 
Verzweigungsstelle V 2 und über K 3 zum Wender W x zurückkehren. 
Dieses ist der Stromlauf für vorzeitige Reaktionen. Der Verlauf ist 
nun bei einem Versuche folgender: Die Vp. drückt den Taster Ta 
nieder, sobald der Stern in das Gesichtsfeld eintritt. Der Kontakt K 
wird sofort hiernach (von der Vp. selbst, s. u.) geschlossen. Der 
Strom geht dann von der Verzweigungsstelle V x durch den Taster Ta 
nach V 2 . Das Chronoskop liegt im Nebenschluß zu V X V 2 . Der 
Strom, der durch das Chronoskop geht, ist von zu geringer Strom¬ 
stärke, als daß er die Uhrzeiger in den Lauf des Chronoskops ein¬ 
rücken könnte. Sobald aber der Kontakt des Tasters Ta unter¬ 
brochen wird, geht der Strom in voller Stärke durch das Chronoskop. 
Dieser Stromfluß währt, solange der Kontakt K geschlossen ist. 
Er wird im Augenblick der Bisektion geöffnet. Man erhält so durch 
das Chronoskop die Zeit für vorzeitige Registrierungen angezeigt, die 
wir in der üblichen Weise mit negativem Vorzeichen angeben. Um 
nachzeitige Registrierungen zu messen, ist V 2 mit einer Chronoskop- 
klemme verbunden. Von der zweiten Chronoskopklemme geht eine 
Verbindung durch einen Wender W 3 und ein Amperemeter A 2 nach 
der Kontaktklemme des Relais R. Der Verlauf bei nachzeitigen 
Reaktionen ist dann folgender: Der Taster Ta wird vom Beobachter 
geschlossen, sobald der Stern ins Gesichtsfeld eintritt. Der Strom 
geht dann den folgenden Weg von W x aus: W x V x Ta V 2 K 3 W x . 
Im Moment des Durchgangs wird die Zunge des Relais umgestellt. 


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Verlaut einer vorbereiteten Willensbewegung. 


103 


4. h. der Kontakt Ä' 3 unterbrochen, Kontakt K 4 hergestellt. Dann 
läuft der Strom folgenden Weg: V x Ta V 2 Chr W 3 A 2 W 3 K 4 W,, 

und das Chronoskop läuft, solange diese Strombahn geschlossen bleibt. 
Wird der Taster geöffnet, so ist dieser Strom wieder unterbrochen. 
Man erhält also am Chronoskop die Zeit der nachzeitigen Registrie¬ 
rungen angezeigt. Dabei ist allerdings der Fehler, der durch das 
Relais hervorgebracht wird, noch in der Reaktionszeit enthalten 
(s. u.). Er ist hinzuzuzählen. Der Markierelektromagnet ME am 
Kymographion liegt im Nebenschluß zu den Relaismagneten. (Zu 
Beginn der Versuche war eine seiner Klemmen am positiven Pol des 
Akkumulators, die andere an Hgk angeschlossen. Diese Schaltung 
erwies sich bald als unpraktisch, da dadurch jeder Trommelumgang 
am Kymographion markiert wurde. Ich ging daher zu der obigen 
Schaltung über.) 

An äußeren Einrichtungen wäre noch folgendes zu erwähnen. 
Die Vp. war in einem Zimmer mit dem Experimentator, doch waren 
beide durch quer das Zimmer teilende, schwarze Vorhänge getrennt. 
Die Ablenkung der Vp. durch die experimentelle Anordnung war so 
auf ein Minimum reduziert. Die Beleuchtung der Trommel mit dem 
Stern geschah nur während des Versuches durch zwei 25-kerzige Glüh¬ 
lampen. Sie standen zu beiden Seiten symmetrisch zur Trommel. 
Das Zimmer blieb während der Versuche verdunkelt. Die Beobachtung 
des Sterndurchganges erfolgte durch den Ausschnitt in der schwarzen 
Pappwand. Die schwarze Pappwand verhinderte den Ausblick mit 
dem rechten Auge. Beobachtet wurde also monokular. Ich gab der 
Vp. die ausdrückliche Weisung, das Fadenkreuz scharf zu fixieren. 
Dies erwies sich als notwendig, da ein etwaiges Verfolgen des Sternes 
mit dem Auge zu dissipierender Aufmerksamkeit im entscheidenden 
Augenblick verleitet hätte. Der Reaktionstaster wurde zur Ver¬ 
meidung von Ermüdung mit dem Daumen bedient. 

Die Versuche verliefen nun in folgender Weise: Zunächst wurde 
der Motor in Gang gebracht. Hatte die Trommel die volle Um¬ 
drehungsgeschwindigkeit erreicht, was nach einer Umdrehung ein¬ 
trat, leuchteten die Lampen vor der Trommel auf, zum Zeichen, daß 
die Vp. sich allgemein einstellen sollte. Der folgende Umgang galt 
als Reaktionsumgang. Sobald der Stern ins Gesichtsfeld kam, er¬ 
folgte das Niederdrücken des Tasters, und anschließend zog die Vp. 
selbst an einer Schnur, um Kontakt K zu schließen. Da diese Zusatz¬ 
handlung in das erste Vorbereitungsstadium fiel, hatte die Mehr¬ 
belastung der Vp. keine Bedeutung für den Versuch. Der Experi¬ 
mentator setzte zugleich mit dem Aufleuchten der Lampen das Kymo- 


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104 


Pani Müller, 


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• 

graphion und das Chronoskop in Gang, stellte den Schalter <S und 
beobachtete die Amperemeter. Sobald die Reaktion vollendet war, 
arretierte der Experimentator Chronoskop, Kymographion und Motor, 
stellte jedesmal die Wender und notierte die Zeit. Sollte nach Angabe 
der Vp. ein Versuch ausfallen, so wurde ein entsprechender Vermerk 
im Zeitprotokoll und an der Kurve angebracht. 

Ganz ähnlich verlief ein Prüfungsversuch, nur mußte der Ex¬ 
perimentator noch die Schnur ziehen, die den Prüfungsapparat in 
den Lauf des Stroboskops einrückte. Der auslösende Stift wurde nach 
einem Prüfungsversuch sogleich an die Zeitmarke der Einteilung ge¬ 
bracht, die nach dem Versuchsplan der nächste Prüfungsreiz erfor¬ 
derte. 

Zur Uhrkontrolle mittels des Fallhammers wurden die Kon¬ 
takte K x und Ko geöffnet und der Kontakt K geschlossen. Die Fall¬ 
hammerzeit betrug nach genauen Ermittelungen am Chronographen 
238 o. Die Kontrollen des Chronoskops wurden regelmäßig täglich 
vorgenommen, und zwar mindestens fünf Kontrollen zu Beginn der 
Versuchsstunden und fünf am Ende. Außer dieser Uhrkontrolle 
wurde noch bisweilen kontrolliert, ob die Stromunterbrechung K 
und der Stromschluß durch Hgk völlig gleichzeitig mit der beob¬ 
achteten Bisektion erfolgte. Zu diesem Zwecke wurde die Trommel 
langsam gedreht, und das Amperemeter beobachtet. Die Einstellung 
konnte bei dem großen Umfang der Trommel sehr genau erfolgen 
und blieb durchaus konstant. Die Geschwindigkeit des Stroboskops 
wurde mit der Fünftelsekundenuhr aus je zehn Durchgängen vom 
Platz des Beobachters aus bestimmt. Die Umlaufsgeschwindigkeit 
hielt sich außerordentlich konstant, wurde aber trotzdem regelmäßig 
täglich zu Beginn der Versuche nachgeprüft. 

Um den Zeitfehler der Zeitmessungen zu ermitteln, war zunächst 
die Latenzzeit des Relais zu messen. Es geschah dies mit dem Chrono¬ 
graphen. Dazu wurde ein Markiermagnet desselben in Nebenschluß 
zum Magneten des Relais gelegt. Ein zweiter Stromkreis führte von 
einem Akkumulator aus durch einen Wender und den Kontakt K 
hindurch zu einem zweiten M&rkiermagneten des Chronographen. 
Ließ man nun auf das Relais den Momentanschluß wirken, so zeich¬ 
neten die beiden Schreiber auf dem Chronographen die Differenz 
zwischen den beiden Kontaktschlüssen, d. h. die Latenzzeit des Relais 
auf. Es ergab sich aus mehreren Messungen, wobei die Markier¬ 
magnete vertauscht wurden, 9 a. 

Ein zweiter Fehler bei den Zeitmessungen ist durch das Chrono¬ 
skop bedingt. Bekanntlich kann ein Chronoskop zw r ei Fehler haben. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


105 


einmal einen solchen des Ganges, der natürlich mit der Zeit propor¬ 
tional wächst, zweitens einen solchen, der von der Differenz der 
Latenzzeiten herrührt 1 ). Er nähert sich in unserem Meßbereich des 
Chronoskops einer Konstanten und kann durch geeignete Feder¬ 
spannung und Stromstärke auf ein Minimum reduziert werden 2 ). Diese 
Werte waren für das benutzte Hippsche Chronoskop neuerer Kon¬ 
struktion, das mit Arbeitsstrom betrieben wurde: Stromstärke 0,065 
Amp. und Federspannung 12—8. Der konstante Fehler betrug durch¬ 
schnittlich — 3 o. Er galt für die Fallhammerzeit von 238 o. Es 
waren nun die Grenzen des Meßbereiches und der Gültigkeitsbereich 
des konstanten Fehlers aufzufinden. Dazu wurden systematisch am 
großen Wundtschen Kontrollhammer Zeiten mittels Chronograph 
und Chronoskop gemessen, und zwar wurde jede Chronographen¬ 
messung viermal, jede Chronoskopmessung 25mal durchgeführt. Es 
ergab sich die untenstehende Tabelle 1, aus der man folgendes ent¬ 
nehmen kann. Der konstante Fehler kann bis 60 o hinab als gültig 

Tabelle 1. 

Fehlerkorrekturen, die an kleinen Chronoskopzeiten ^ anzu¬ 
bringen sind, wenn der Strom des Chronoskops gewendet worden ist. 


Chronograph 

Chronoskop 

Differenz 

14 

_ 

_ 

20 

— 

— 

25 

— 

— 

33 

19 

14 

43 

37 

6 

58 

59 

— 1 

81 

81 

0 

105 

104 

+ 1 

155 

154 

+ 1 

202 

203 

— 1 

253 

253 

0 


angesehen werden. Von 60 obis 27 o hinab gelten dann besondere 
Korrekturen, die sich aus einer empirischen Tabelle sofort durch 
Interpolation finden lassen. Unterhalb 27 a sprach das Chronoskop 
nicht mehr an. Obwohl der mittlere Fehler mit der Annäherung an 
die Grenze des Meßbereiches stieg, glaubte ich doch zu keinen beson¬ 
deren Hilfsmitteln zur genauen Ermittelung der kürzesten Zeiten 

1) W. Wirth, Psychophysik. S. 511. 

2) N. Ach, Über die Willenstätigkeit und das Denken. 1905. Anhang: 
Über das Hippsche Chronoskop. 


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Paul Müller, 


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^ 27 o greifen zu sollen, da ja bei der Untersuchung die Messung 
der Registrierungszeit mehr nebenbei erfolgt«. Nach dem nämlichen 
Verfahren wurde die etwas inkonstantere Chronoskopmessung mit 
der Chronographenmessung unter der Bedingung verglichen, daß 
keine Stromrichtungsänderung zwischen zwei Versuchen eintrat. 
Trotz prinzipieller Stromwendung kam dies vor, wenn die Vp. von 
vorzeitiger zu nachzeitiger Reaktion überging oder umgekehrt, wie 
eine Betrachtung der Schaltungsskizze lehrt. Das Ergebnis der 
Eichung zeigt Tabelle 2. Die Zeiten unter 27 a wurden am Chrono- 

Tabelle 2. 

Fehlerkorrekturen, die an kleine Chronoskopzeiten anzu¬ 

bringen sind, wenn der Strom des Chronoskops seine Richtung nicht 

gewechselt hat. 


Chronograph 

Chronoskop 

Differenz 

14 

_ 

— 

20 

— 

— 

25 

— 

— 

33 

37 

— 4 

43 

47 

- 4 

58 

67 

— 9 

81 

90 

— 9 

105 

113 

— 8 

155 

163 

- 8 

202 

213 

— 11 

253 

265 

-12 


skop nicht angezeigt, brachten aber am Amperemeter einen kurzen 
Ausschlag hervor. Da nun im Laufe der zahlreichen Versuche ein 
gleichmäßiges Auftreten der Zeiten angenommen werden muß, wird 
als Repräsentant dieser kleinen Reaktionszeiten am besten das Mittel 

aller Zeiten zwischen 0 und 26dienen: ^ - + ■ ^ . Ähnliches gilt auch 

für die Zeiten, die infolge der Trägheit des Relaismagneten überhaupt 

nicht angezeigt wurden. Sie werden durch die Größe —-— dar- 

z 

gestellt. 

Fassen wir also kurz noch einmal die notwendig werdenden 
Korrekturen, die an die erhaltenen Zeiten anzubringen sind, zu¬ 
sammen : 

1) Chronoskopzeit > 60 o. Täglich bestimmter konstanter Fehler 
ca. — 3 o. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willenebewegung. 107 


2) Chronoskopzeit < 60 o, > 27 a. Täglich konstanter Fehler 
und Korrektur nach Tabelle 1. 


3) Keine Chronoskopzeit, Ausschlag am Amperemeter: 


4) Keine Chronoskopzeit, kein Ausschlag am Amperemeter: 


0 + 26 
2 

0 + 9 


Kommen nachzeitige Reaktionen vor, so tritt in den Fällen 1—3 
noch eine Relaisfehlerkorrektur von + 9 o hinzu. Ein Wechsel 
zwischen vorzeitiger und nachzeitiger Reaktion bedingt im Falle 1 
noch eine besondere Korrektur nach Tabelle 2, da hierbei keine 
Stromwendung stattfindet. Ebenso tritt im Falle 2 eine Korrektur 
nach Tabelle 2, nicht nach Tabelle 1, ein. 

Die Versuche wurden im Leipziger Psychologischen Institut im 
Wintersemester 1913—14 und im Sommersemester 1914 ausgeführt. 
Mit Freuden ergreife ich die Gelegenheit, auch an dieser Stelle Seiner 
Exzellenz Herrn Prof. Wundt meinen wärmsten Dank für die 
Übertragung der Arbeit auszusprechen. Besonderen Dank sage ich 
Herrn Prof. Wirth für die jederzeit tätige Beihilfe während der 
Versuche und die Ratschläge, die er mir beim Zustandekommen der 
.Arbeit erteilte. Ferner danke ich den Herren, die als Beobachter 
an den Versuchen teilnahmen: Herren Dr. phil. Sander, Prof. No- 
gami, Pfarrvikar Rüsche, cand. math. Hering, cand. phil. Bethke, 
Göhler und Schmiedinger. 


III. Die Versuche und ihre Ergebnisse. 

1. Die verschiedenen Reaktionsformen und ihre 
Zeitregistrierungen. 

Betrachten wir den Verlauf eines einzelnen Versuches bei den 
verschiedenen Einstellungen, zunächst bei der antizipierenden. 
Es kommen hier die Vp. Sch und R in Frage. Sobald die Lampen 
als Vorbereitungssignal aufleuchteten, stellte sich die Vp. im all¬ 
gemeinen ein und wartete den kritischen Umlauf der Trommel ab, 
der den zu registrierenden Durchgang bringen sollte. Sie drückte 
den Taster sofort nieder, sobald der Stern von neuem ins Gesichts¬ 
feld einrückte. Dies war das Zeichen zur Fixation des Fadens. Nun 
wuchs die Spannung und die Bereitschaft, den Impuls abzugeben 
mit der Annäherung des Sternes. Es trat, wie sich die Vp. R 
ausdrückte, ein Taxieren des Weges: Stern—Faden und der Ge¬ 
schwindigkeit durch reproduktive Assimilation ein. Die Vp. gab an, 
darin einige Gewandtheit erlangt zu haben, so, daß eine bestimmte 
.■Stellung des Sternes zum Faden den Impuls ohne weiteres auslöste. 


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108 


Paal Müller, 


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Wir sehen aus diesen Selbstbeobachtungen, daß R zwar stark zur 
antizipierenden Reaktionsweise hinneigt, aber doch nicht 
rein antizipierend verfährt. Wir können seine Einstellung als 
Pseudoantizipation bezeichnen. Bei der echten Einstellung muß der 
Impuls im Unbeachteten triebartig emporwachsen, hier aber reißt 
sich die Vp. gewissermaßen von einer bestimmten Sternstellung zu¬ 
sammen und läßt den Impuls anschwellen. Eine unruhige, sprung¬ 
artig von Fall zu Fall wechselnde Einstellung ist daher unvermeidbar. 
In extremen Fällen wanderte bei Abgabe des Impulses die Auf¬ 
merksamkeit vom Reizobjekt zum motorischen Prozeß und zum 
Objekt zurück. Die Vp. nahm dann den Stern erst eine Zeit nach 
der Bisektion wieder im Gesichtsfeld wahr. In dieser Konstellation 
des Sternes hatte sie ein gewisses Maß für die mehr oder weniger 
gelungene Erfüllung ihrer Aufgabe. Während der Vorbereitung trat 
das impulsive Moment nahezu vollständig aus dem Bewußtsein her¬ 
aus. Die zahlenmäßigen Ergebnisse dieser Einstellung weichen daher 
auch von denen der echten ab, im einzelnen drückt sich dies vor 
allem in den hohen Werten der Schwellen, ihren großen mittleren 
Fehlern und dem häufigeren Auftreten der Doppelschlagreaktionen 
aus. Darauf wird weiter unten noch eingegangen werden. Die andere 
Vp. Sch dagegen verfährt echt antizipierend. Der Impuls ent¬ 
wickelte sich bei ihr völlig gleichmäßig. »Wie im Bogenstrich« ent¬ 
stand er nach ihrer Aussage mit einer gewissen Stetigkeit aus der 
Sachlage heraus. Dabei ko mm en zwar in den Registrierungen, eben 
weil sich alles triebartig entwickelt, abnorme Zeiten vor, die größere 
mittlere Fehler bedingen, ohne daß darin ein fehlerhaftes Verhalten 
zu sehen wäre. Die ganze Führung des Impulses aber ist ruhiger. 
Auch dafür werden wir unten zahlenmäßige Belege haben. 

Die reagierende Einstellung unterschied sich von der antizi¬ 
pierenden nach den Aussagen der Vpn. im Vorbereitungsstadium. 
Es kommen hierfür die Vpn. N und B in Betracht. Nachdem sie 
den Taster niedergedrückt hatten, waren sie völlig von den sensoriellen 
Vorgängen in Anspruch genommen. Die Bisektionsfigur stieg schon 
während der Vorbereitung als blasses Erinnerungsbild auf. Die Vp. 
stellte sich vornehmlich abwartend ein. Sobald die Bisektion eintrat 
und von der Vp. apperzipiert wurde, löste sie, ohne daß eine be¬ 
stimmte Zuordnung dieses Vorganges als Motiv zur Handlung ein¬ 
trat, die bisher antagonistisch kompensierte Bewegungstendenz aus. 
Nach Eintritt der Bisektion trat das sensorielle Moment zugunsten 
des impulsiven in den Hintergrund des Bewußtseins. Doch wurden 
nie die realen Vorgänge so assimilativ von Antizipationstendenzen 


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Verlauf einer vorbereiteten Willenabewegung. 109 

beeinflußt, daß die sensorielle Auffassung nicht voll zur Geltung 
gekommen wäre. 

Eine Zwischenstellung nehmen drei Reagenten ein, denen es trotz 
ausdrücklicher Anweisung nicht gelang, sich reagierend einzustellen, 
es sind dies die Vpn. S, M und G. Vp. G verwirklicht den mehr rea¬ 
gierenden Typus. Mit Annäherung des Sternes an den Faden stieg 
hier die Bewegungstendenz so stark, daß der Impuls noch vor der 
Bisektion losbrach. Dabei traten schon vor der Entladung der Span¬ 
nung bei S deutliche Unterakzente im motorischen Prozeß ein. 
Dieser starken, antizipierenden Tendenz suchte die Vp. durch erhöh¬ 
ten, antagonistischen Druck entgegenzuarbeiten. Vp. G erlebte bei 
geringer Abwendung der Aufmerksamkeit vom Reizobjekt sofort 
einen unruhigen Impuls, der leicht zur Antizipation verleitete, wobei 
zugleich Sinnestäuschungen eintraten. Die Vp. sah dann den Stern 
.sprungartig dem Faden näher rücken. Ähnliche Sinnestäuschungen 
erlebte auch R bei Aufmerksamkeitsdissipation. Bei allen Ein¬ 
stellungen trat als gemeinsames Gefühlsmoment ein gewisses Lust¬ 
gefühl auf, namentlich wenn eine Anzahl freier Durchgänge mit guter, 
motorischer Bereitschaft stattgefunden hatte. Alle Versuche, bei 
denen nicht volle Aufmerksamkeit vorhanden war, wurden, wie 
überhaupt alle als gestört bezeichneten Versuche, gestrichen. Das 
geschah auch mit allen Versuchen, die, nach Aussage der Vp., nicht 
der verabredeten Einstellung entsprachen. Um die Einstellung zu 
erleichtern, wurden auch nie mehr als vier freie Durchgänge bzw. 
Unterbrechungsreize hintereinander gegeben, da ja sonst eine wesent¬ 
liche Veränderung der Motive eingetreten wäre. Die Vpn. waren 
über die Vermischung der Unterbrechungen und freien Durchgänge 
völlig unwissend. Sie hatten auch durch die zahlreichen Einübungs¬ 
versuche einen hohen Grad von Selbstbeherrschung erreicht, der ver¬ 
hütete, daß mit der steigenden Wahrscheinlichkeit einer etwa auf¬ 
tretenden Unterbrechung der Wille zur Tat einer mehr wählenden 
Einstellung wich. Allerdings mahnten bei der gemischten Einstellung 
Prüfungsversuche in vereinzelten Fällen die Vp. an ihre ursprüng¬ 
liche Weisung, reagierend zu verfahren und brachten damit eine 
gewisse Unsicherheit hervor. Einmal war bei M nach zwei gelungenen 
Prüfungsversuchen dieser hemmende Einfluß auf den folgenden Ver¬ 
such so stark, daß er nach erfolgter Reaktion zu einem abermaligen 
Niederdrücken des Tasters führte. Doch waren dies seltene Aus¬ 
nahmefälle. Daß keine wählende Einstellung vorkam, lehren auch 
die erhaltenen Kurvenformen, wenn man sie rein qualitativ be¬ 
trachtet. Es müßte sich ja der Übergang der Vp. von einer Willkür- 


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110 


Paul Müller, 


handlung zu einer Wahlhandlung durch einen labileren, motorischen 
Prozeß auszeichnen. Von alledem ist nichts zu bemerken. 

Wenden wir uns einmal diesem rein qualitativen Verlauf 
der Bewegungen zu. Hier ergeben sich folgende Hauptbewegungs¬ 
formen : 

1) Die Vp. setzt mit einem starken, antagonistischen Druck ein, 
der rasch auf eine bestimmte Stärke herabsinkt und nun ganz all¬ 
mählich abnimmt, um im Augenblick der Auslösung sofort dem vollen 
Reaktionsimpuls zu weichen. 

2) Die Vp. setzt mit einem starken, antagonistischen Druck ein, 
der rasch auf eine bestimmte Stärke herabfällt, um dann im vollen 
Gleichgewicht mit dem Gegenimpuls bis zum Augenblick der Aus¬ 
lösung zu verharren. 

3) Die Vp. setzt mit einem fortdauernd wachsenden, antagonisti¬ 
schen Impuls ein, der im Moment der Auslösung dem Reaktionsimpuls 
Platz macht. 

4) Die Vp. geht wie im vorigen Falle vor, nur setzt von einem be¬ 
stimmten Moment ab ein den antagonistischen Druck kompensie¬ 
render Impuls ein, wir haben also ein ähnliches Verhalten wie in 
Form 2. 

Als besonderes Charakteristikum tritt zu diesen Formen 1 und 5 
kurz vor der Auslösung ein bisweilen stark ausgeprägter, plötzlicher, 
antagonistischer Druck. Zur Abkürzung mögen diese Formen l a 
bzw. 3* genannt werden. Dieser plötzliche, antagonistische Druck 
wurde schon von W. G. Smith und in selteneren Fällen auch von 
Judd beobachtet 1 ). Er kann auch erst im Verlauf der Registrierung 
selbst eintreten, zu der die Vp. also hierbei erst durch eine kurze 
Rückwärtsbewegung wie zum Stoße ausholt. Er kann auch zweimal, 
unmittelbar aufeinander folgend, auf treten. Die Formen 1, 2, 3 und 4 
können im Vorbereitungsstadium durch Schwankungen ausgezeichnet 
sein. Die Vpn. gaben dabei an, daß sie die Tendenz hatten, die Vor¬ 
bereitungszeit rhythmisch zu gliedern. Damit stimmt auch völlig das- 
Auftreten der einzelnen Bewegungformen bei den verschiedenen Ein¬ 
stellungen überein. Die reagierenden Vpn. N und B zeigen 
mit großer Konstanz die Formen 1 und 2 ohne jede Kom¬ 
plikation durch Schwankungen. Sie bezeichneten ihren Zustand als 
behäbig, ruhig abwartend, ganz auf die Bisektion zielend. Über die 
Bewegungsformen waren sie sich dabei völlig im unklaren. Im Gegen¬ 
satz zu diesen verhältnismäßig wenig variierten Bewegungsformen 


1) Vgl. W. Wirth, Exp. Analyse der Bewußtseinsphänomene. 1908. S. 424. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


111 


weist die gemischte Einstellung eine größere Mannigfaltigkeit auf. 
Es kommen hier die Formen 1, 1“, 2, 3, 3“, 4 vor, mit zum 
Teil deutlich ausgeprägten Schwankungen in der Vor¬ 
periode. Die ausgeprägte Form des erheblich zunehmenden, ant¬ 
agonistischen Druckes, 3, 4, darf man wohl als Charakteristikum 
einer gemischten, aber zur Antizipation neigenden Einstellung an¬ 
sprechen. Dafür zeugt auch, daß sie sich bei R zeigt, ferner bei M 
und S vornehmlich bei der zweiten Geschwindigkeit, während die 
Vp. Sch zwar auch plötzlich auftretende, antagonistische 
Impulse aufweist, die Formen 3 und 4 dagegen nie an¬ 
wendet. Wir haben ja oben die Einstellung dieser Vp. als wirklich 
rein antizipierend kennen gelernt. Die Vpn. bezeichneten ihren Zu¬ 
stand im Falle 3 als stark gespannt, zugleich mit bedeutender Auf¬ 
merksamkeitseinengung. Der Vorgang war mit lebhafter Antizipation 
verknüpft, die bisweilen zu lebhaft wurde und so zu vorzeitigen Reak¬ 
tionen führte. Wir haben es hier mit ausgesprochen muskulären 
Reaktionen zu tun, die ja schon nach bisherigen Untersuchungen 
vorzeitige Registrierungen lieferten. Einzelne Versuche der anti¬ 
zipierenden und gemischten Einstellung zeigen kurz vor der Bisektion 
einen plötzlichen, starken, antagonistischen Druck. Er wurde, wenn 
er ausgeprägt auftrat, von der Vp. bemerkt.. R bezeichnete ihn als 
»eine Art Sprungbrett zu einem exakten motorischen Prozeß«, der 
ein besonderes, lustbetontes Tätigkeitsgefühl hervorrief. Es ist ja 
bekannt, daß die beiden Impulse, der Reaktionsimpuls und der 
Gegenimpuls, sich in ihrer Stärke parallel entfalten, und daß ein 
gewisser antagonistischer Impuls zu einer exakten Reaktion nötig ist. 
Tatsächlich trat der plötzliche, antagonistische Druck auch in solchen 
Versuchen auf, bei denen die Vp. im Begriff war, den Impuls auszu¬ 
lösen, darin aber durch antagonistische Tendenzen erheblich gehindert 
wurde. Dann äußerten sich die Vpn. etwa: »Ich kam nicht vom Taster 
los, ich hatte eine rein physiologische Schwierigkeit.« S beobachtete 
ihn als eine motorische Äußerung der sich unwillkürlich auf drängen¬ 
den, rhythmischen Gliederung der Zeit vor der Bisektion. Die Re¬ 
gistrierungszeit war dann klein. Doch ist darin bei S wohl auch ein 
Merkmal der inneren Kämpfe der Motive zu sehen zwischen der 
leicht auftretenden Antizipation und dem Streben, reagierend zu 
verfahren. Es äußert sich also in ihm der gewaltsame und dabei 
doch mißlingende Versuch zur Unterordnung des muskulären Pro¬ 
zesses unter die sensoriellen Eindrücke. Für diese Fälle trifft daher 
teilweise zu, was Judd von der antagonistischen Vorbewegung ganz 
allgemein behauptete, daß sie eine Ungeschicklichkeit des Reagenten 


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112 


Paul Müller, 


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bedeute. Als charakteristisch möge noch eine Erscheinung erwähnt 
werden, die bei gewissen Vp. N, S und R auftrat. Der muskuläre 
Prozeß ist hier nur in sehr geringer Stärke ausgeprägt. Die Vp. 
vermag im entscheidenden Augenblick keine genügende Aufmerk¬ 
samkeitskonzentration zu erreichen, der entscheidende Moment 
kommt in ein Apperzeptionsminimum zu liegen, wodurch die Hem¬ 
mung nicht völlig aufgehoben werden kann. Solche Versuche waren 
dann zugleich mit einem starken Gefühl der Unbefriedigung verbun¬ 
den, das affektartig zunehmen konnte. Zum Schluß sei noch bemerkt, 
daß die Bewegungsformen keine bestimmte Gesetzmäßig¬ 
keit zu den Geschwindigkeiten oder gar individuelle Unter¬ 
schiede zeigen. Dies fand ja auch schon Judd in seiner Unter¬ 
suchung. Von einem Versuch der Zuordnung zwischen Registrierungs¬ 
zeit und Bewegungsform sah ich ab, da dies wohl so lange hinfällig 
ist, als man nicht eine quantitative Auswertung der Bewegungs¬ 
formen einschlägt, zu der die pneumatische Übertragung für 
Bewegungen von längerer Dauer infolge der allmählichen Niveau¬ 
änderungen nicht ausreicht. 

Erklärungen der Abkürzungen in Tabelle 3 und 4. 

Vp. Versuchsperson, n Versuchszahl. 

A R Arith. Mittel der Registrierungszeiten freier Durchgangsreaktionen. 
M R Mittlerer Fehler der Registrierungszeiten freier Durchgangsreak¬ 

tionen. 

A FR Arith. Mittel der Registrierungszeiten der Grenz- und Fehlreak¬ 
tionen. 

M FR Mittlerer Fehler der Registrierungszeiten der Grenz- und Fehl- 
reaktionen. 

r 0A Arith. Mittel der Schwelle der Unruhe. 

M 0 i Mittlerer Fehler der Schwelle der Unruhe. 

r UA Arith. Mittel der Schwelle der ungestörten Reaktion. 

M Ua Mittlerer Fehler der Schwelle der ungestörten Reaktion. 

Aj Arith. Mittel der Schwelle der Kontakterhaltung. 

Mj Mittlerer Fehler der Schwelle der Kontakterhaltung. 

Aq Arith. Mittel der Registrierungszeiten der Reaktionen mit Bewegungs- 

forni 5. 

R—Zjl Reaktionszeit, d. h. A R — r„ A - 
Ji— Reaktionszeit, d. h. A pj( — 

H Arith. Mittel aller Stellen, an denen Unterbrechungsreize auftraten 

und mit Bewegungsform 4 beantwortet wurden. 

Hi Dasselbe, nur ist in der Bewegungsform 4 der Gegenimpuls voll aus¬ 

geprägt. 

.ff 2 Dasselbe, nur ist in der Bewegungsform 5 der Gegenimpuls schwach 

ausgeprägt. 


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Tabelle 


Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegnng. 


113 


5 

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o 

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Archir f&r Psychologie. XXIIX. 8 


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Paul Müller, 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


115 


Betrachten wir nun die erhaltenen Zeitregistrierungen, wie 
sie in Tabelle 3 zusammengestellt sind. Es mag dazu gleich er¬ 
wähnt werden, daß den Vpn. N und B mit reagierender Einstellung 
die Versuche in der Reihenfolge von der größten zur kleinsten Ge¬ 
schwindigkeit, den übrigen die der mittleren zuerst, die der größten 
zuletzt geboten wurden. Ich will die Zahlenwerte immer in der Reihen¬ 
folge der Ableitung anführen. Ich habe jeder Vp. genau ebensoviel 
freie Durchgänge wie Prüfungsreize geboten. Damit sind die Ver¬ 
suche hinsichtlich ihres Motivationszusammenhanges unmittelbar mit¬ 
einander vergleichbar, wenn auch rein numerisch nicht die gleiche 
Anzahl von Versuchen zur Berechnung vorliegt, da die Zahl der zu 
den Schwellenbestimmungen nötigen Prüfungsreize nicht ganz gleich 
ist. Als Mittelwert wurde das arithmetische Mittel A R , als Streuungs¬ 
wert der mittlere Fehler M R berechnet. Die antizipierenden Ein¬ 
stellungen ergeben als arithmetisches Mittel im Maximum + 72 o, 
im Minimum — 24 o, die mittleren Fehler schwanken zwischen 52 
und 81. Zum Vergleich seien die Werte von Hammer angeführt. Das 
arithmetische Mittel schwankt zwischen + 65 und — 69, der mittlere 
Fehler zwischen 25 und 55. Die Extreme der arithmetischen Mittel diffe¬ 
rieren bei uns um 96 o, dort um 124 a. Sie liegen bei uns etwas weni¬ 
ger symmetrisch zum wahren Durchgang, auch sind unsere mittleren 
Fehler größer. Dies mag damit Zusammenhängen, daß in jener Unter¬ 
suchung die Antizipation so stark wie möglich durch Rhythmus be¬ 
günstigt war und damit eine einheitlichere Einstellung vorlag. Im 
einzelnen hat Sch im Vergleich zu R bei den beiden größeren Ge¬ 
schwindigkeiten größere mittlere Fehler M R 66 und 75 im Vergleich 
zu 52 und 67, ein Beweis, daß sein Impuls zeitlich anormale Registrie¬ 
rungen hervor bringt, da er keiner ab wägenden Führung durch die Vp. 
unterliegt. Bei kleineren Geschwindigkeiten werden aber die Re¬ 
gistrierungen rein antizipierender Einstellung zeitlich weniger ver¬ 
schieden, daher ist für die kleinste Geschwindigkeit bei Sch M R nur 67 
gegen den Wert 81 von R. 

Für die reagierende Einstellung ergeben sich als Extreme von A R 
bei N die Werte 360 und 403, bei B hat A R den Wert 345 bzw. 352 
und bei G 308. Die Werte sind sichtlich in der Größenordnung 
von Erkennungsreaktionen. Zum Vergleich mögen die Zeiten dienen, 
die Günther bei derselben Einstellung erhielt. Die arithmetischen 
Mittel schwanken zwischen 198 und 237. Die Verspätung der Re¬ 
gistrierung nimm t, also bei unserer reagierenden Einstellung um rund 
140 o zu. Dies ist wohl hauptsächlich der größeren Häufigkeit und 
Streuung der Prüfungsreize zuzuschieben. Denn bei Günther be- 

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116 


Paul Müller, 


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stand der Priifungsreiz in einem Ausfall des Sternes eine sicher er¬ 
kennbare Strecke vor dem Faden, hier aber fand eine stetige Ab¬ 
stufung 150 a vor bis 80 o nach der Bisektion statt. Die mittleren 
Fehler schwanken zwischen 58 und 88, also fast ganz wie bei der 
antizipierenden Einstellung, bei Günther offenbar wegen seiner 
geringen Variation der Bedingungen nur zwischen 26 und 33. 

Die Registrierungen der gemischten Einstellung liegen zwischen 
den Werten der extremen Einstellungen. Die Werte von M schwanken 
zwischen 134 und 192, die von S zwischen 88 und 125, die mittleren 
Fehler schwanken zwischen 39 und 74, sind also bedeutend kleiner 
als die der anderen Einstellungen. Nimmt man für jede einzelne 
Geschwindigkeit das Mittel von den mittleren Fehlern, so liegt es 
gleichfalls stets unter dem entsprechenden der extremen Einstellungen. 
Man erhält für die reagierende Einstellung: 65, 73, 73, für die anti¬ 
zipierende: 59, 70, 74, für die gemischte: 52, 60, 62. Die gemischte 
Einstellung zeigt also in der Registrierungsart ein ziemlich 
konstantes Verhalten. Die Vpn. binden sich an keine bestimmte 
Instruktion. Ihr Impuls bricht nicht erst, wie es nach ihrer An¬ 
weisung hätte eintreten müssen, nach der Apperzeption der Bisektion 
los. Durch die zahlreichen Versuche haben die Vpn. sich eingeübt, 
das Reizmotiv zu erfassen, aber auch schon vorher den Impuls an- 
wachsen zu lassen, so daß keine direkte Abhängigkeit zwischen beiden 
vorhanden ist und sich eine mittlere, aber konstante Registrierungs¬ 
zeit ergibt. Da sich diese Mischung von selbst einstellt, kann man 
die Einstellung »natürlich« nennen. Die Registrierungszeiten 
weisen eine mittlere Größe auf, ähnlich wie die der schon früher unter¬ 
schiedenen, natürlichen Reaktionen, die als Zwischenform zwischen 
den rein muskulären und sensoriellen Reaktionen aufgefaßt worden 
sind. Die großen mittleren Fehler der reinen Einstellungen beruhen 
andererseits auch wieder darauf, daß die Vpn. teilweise ein solches 
mittleres Verfahren einzuschlagen versuchten. 

2. Der Verlauf der Willensbewegung. 

Die Prüfungsversuche brachten gemäß der graphischen Re¬ 
gistrierung folgende sechs Bewegungsformen zum Vorschein (vgl. 
Fig. 3—8): 

1) Die Vp. verharrt wie bei freien Durchgängen im Gleichgewicht. 
Der auftretende Unterbrechungsreiz (U.-R.) bringt keine Änderung 
hervor. 

2) Die Vp. verharrt in der Form, die sie bei freien Durchgängen 
einnimmt. Im Augenblick des U.-R. kommt ein antagonistischer 


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118 Paul Müller, 

Druck, entweder in allmählicher Ausprägung oder plötzlich auf¬ 
tretend, zmn Durchbruch. 

$) Im Moment des U.-R. bricht eine der Reaktionsbewegung 
qualitativ verwandte Bewegungstendenz kurz hervor, um sofort durch 
einen plötzlichen, antagonistischen Druck kompensiert zu werden. Es 
tritt dann im motorischen Verhalten ein Gleichgewicht ein, ähnlich 
dem des Vorbereitungsstadiums. 

4) War der U.-R. hinreichend nahe an der Bisektion gelegen, so 
entlädt sich die Bewegungstendenz in voller Stärke. Eine Hemmung 
ist nicht mehr möglich. Das entscheidende Kriterium für die ge- 

• lungene Hemmung, dauernder Stromschluß, ist nicht mehr erfüllt. 
Erst nach vollendeter Reaktion tritt ein Gegenimpuls auf, der einen 
abermaligen Kontaktschluß bewirkt. 

5) Der Reaktionsimpuls entlädt sich in voller Stärke, nur erfolgt 
nachträglich wieder ein antagonistischer Gegenimpuls, der jedoch 
schwächer als bei Form 4 ist, und den Hauptimpuls nur verzögert, 
nicht aufhebt. 

6) Es tritt eine normale Reaktion ein (Grenzreaktion oder Fehl¬ 
reaktion, s. o.). Eine antagonistische Bewegungstendenz ist nicht 
zu bemerken. 

Die verschiedenen Verhaltungsarten nehmen die Vpn. in be¬ 
stimmter Weise wahr, wie die Selbstbeobachtungen zeigen. Sie 
kommen bei jeder Art Einstellung vor, denn die Hauptformen ent¬ 
sprechen bestimmten Phasen der Impulsentwicklung, nur treten sie, 
je nach der Einstellungsart, an Zeitpunkten näher oder ferner der 
Bisektion auf. Die Formen 1 und 2 waren in ihrer Wirkung auf 
das Subjekt gleichwertig. Es traten dann Aussagen auf wie: »leicht 
zurückgehalten« oder »läßt mich kalt«, wozu sich bisweilen ein 
Uberraschungseffekt gesellte, der seinen Grund in der großen Diffe¬ 
renz zwischen der geforderten Präzision und der frühen Zeitlage des 
Prüfungsreizes hatte. Die Vp. äußerte dann: »Die Impulsentwick¬ 
lung hatte noch gar nicht eingesetzt.« War der Prüfungsreiz schon 
näher an der Bisektion gelegen, aber doch derart, daß das Motiv zur 
Reaktion noch nicht erfüllt war, so setzte ein plötzlicher oder all¬ 
mählich ansteigender, antagonistischer Druck ein. Darin entlud sich 
dann die allmählich gesteigerte, motorische Spannung. Der Reagent 
war über die gelungene Selbstbeherrschung erfreut, und zwar um so 
mehr, je feiner die erreichte Genauigkeit war. Gerade solche Versuche 
wirkten anfeuernd auf die gemischte Einstellung und unterdrückten 
empordringende Antizipationen. Besonders deutlich erlebte dies 
Vp. M. Bei reagierender Einstellung kam diese Erscheinung nie vor. 


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Verlauf einer vorbereiteten Willenabewegrung. 


119 


da ja die Unterordnung des motorischen Prozesses unter die senso¬ 
riellen Vorgänge zu stark war. Im weiter entwickelten Stadium 
kommen Bewegungstendenzen ähnlich Form 3 zum Durchbruch. Sie 
traten in verschiedener Ausprägung auf, doch machte sich dabei 
immer der Gegenimpuls in größerer Intensität geltend. Die in dieser 
Form zum Ausdruck kommende Unruhe umfaßt sowohl die Fehl- 
unruhe als auch die gewöhnliche, im Bisektionsmomente 
auftretende Unruhe. Jene beruht auf einer vom Prüfungsreiz 
ausgehenden Schreckwirkung, diese auf einem Emporwuchern des Im¬ 
pulses mit sofortiger Unterordnung unter den apperzeptiv erfaßten 
Sinneseindruck. Beide Formen der Unruhe blieben der Vp. meistens 
unbewußt. Sie lagen oft eine erhebliche Zeit nach Eintritt des Prü¬ 
fungsreizes, ja selbst nach der Bisektion. Sie zeigten sich bei allen 
Einstellungen, so bei B, R, M. Judd bezeichnet die hier Fehlunruhe 
genannte Unruhe als Tuschzuckung und sieht in ihr eine Diffusion 
des motorischen Impulses. Tatsächlich nannte Vp. S den Vorgang 
mit seinen Begleiterscheinungen ein »Zusammenfahren«. Subjektiv 
brachten die Versuche durchgehends ein Gefühl der Befriedigung 
hervor, im Falle einer anormalen Unruhe ein Gefühl der Spannung 
und darauffolgender Erleichterung, da ja die Einstellung nur mit 
starker Konzentration erreicht wurde. So sagte M in einem solchen 
Falle: »Jetzt galt es, alle Kräfte anzuspannen.« Von einem aus¬ 
geprägten Schreckaffekt war nichts zu bemerken. R erlebte sie bei 
stark sensorieller Einstellung. Die vierte Bewegungsform kann man als 
Doppelschlagreaktion bezeichnen. Sie trat, wie schon Hammer 
fand, zeitlich in dem kritischen Stadium der Impulsauslösung auf. 
Die Bewegungstendenz im Sinne der Reaktionsbewegung war stärker 
entwickelt als der Gegenimpuls. Mit dem Anwachsen dieses Impulses 
wurde auch der antagonistische verstärkt. Die Vp. spürte ein Unlust¬ 
gefühl, das zu einem Ärgeraffekt werden konnte. Dazu gesellten sich 
lähmende Schreckwirkungen, die sich auf den ganzen Körper er¬ 
streckten. Sie übertrugen sich auch auf die Atmung, wie S und Sch 
wiederholt feststellten. Der Hauptgrund der Doppelschlagreaktionen 
wm der Kampf der Motive, die sich in gleicher Stärke gegenüber¬ 
standen. Damit stimmt überein, daß, je nach der Stärke’ des Motiv¬ 
kampfes, eine zweifache Art von Doppelschlagreaktionen auftrat, 
die überdies schon Hammer durch sorgfältige Selbstbeobachtungen 
erkannt hat. War der Motivkampf völlig unentschieden, so zeigte 
sich ein voller, antagonistischer Druck. Dann traten Äußerungen auf, 
wie: »War völlig ratlos.« Oft folgte dem ersten Doppelschlag noch 
ein zweiter, allerdings nicht so ausgeprägt wie der erste. R glaubte 


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120 


Paul Müller, 


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in dem nicht genügend rasch und klar apperzipierten Prüfungsrei* 
den Grund zu diesem Verhalten zu sehen. Die Vp. konnte sich aber 
bewußt sein, ein antagonistischer Druck nützt nichts mehr, der Motiv¬ 
kampf war nahezu entschieden, das Motiv der Hemmung wirkte 
noch nach, aber doch besiegt vom Gegenmotiv. Dann zeigte sich 
die zweite Art der Doppelschlagreaktion. Der antagonistische Druck 
war dann nur schwach vorhanden. Der Vp. bemächtigte sich eine 
gewisse Resignation. Die Vp. mit rein reagierender Einstellung hatte 
natürlich keinen Kampf der Motive zu bestehen. Dementsprechend 
fehlten denn auch die Doppelschlagreaktionen völlig. Eine letzte 
Phase des Motivkampfes verrät sich in der Form 5. Das Motiv zur 
Tat wird so lebendig, daß eine Aufhebung der Bewegung nicht mehr 
erfolgt, nur eine Verzögerung ist erreichbar. Die Vp. hatte ein Gefühl 
der Beruhigung, die Verzögerung blieb meistens von der Vp. un¬ 
beobachtet. Sie zeigte sich nur in den erhaltenen Registrierungen. 
Die rein reagierenden Einstellungen weisen auch diese Bewegungs¬ 
form nicht auf. Die letzte sechste Bewegungsform entspricht im all¬ 
gemeinen einer normalen Reaktion. Wir haben es hier entweder mit 
einer »Fehlreaktion «, ausgelöst durch die vom Prüfungsreiz ausgehen¬ 
den Schreckwirkung, zu tun oder mit einer Grenzreaktion. Bei ihr 
ist das Motiv zur Reaktion bis auf eine gewisse Zeitschwelle erfüllt, 
daran vermag der Prüfungsreiz nichts mehr zu ändern. Die Beob¬ 
achter wurden von solchen Prüfungsreizen nach der subjektiven 
Seite hin nicht beeinflußt. »Läßt mich kalt« oder »mit Berechtigung 
reagiert«, waren dann ihre Äußerungen. 

Im Anschluß an diese qualitativen Betrachtungen mögen die 
oben entwickelten Kollektivgegenstände durch Hauptwerte 
und Streuungswerte charakterisiert werden. Dazu diente 
das arithmetische Mittel und der mittlere Fehler, die beide mittels 
der Spear man -Wirthsehen Formeln berechnet wurden. Sie 
waren einfach anzuwenden, da die Prüfungsreize äquidistant nach 10 a 
abgestuft wurden. Auf jede Beobachtungsabszisse entfielen vier Dar¬ 
bietungen. Die geringe Zahl der Darbietungen wurde gewählt, um 
möglichst konstante Bedingungen zu gewährleisten. Es wurden 
unter jeder Beobachtungsabszisse die Häufigkeiten gesammelt, mit 
der die Bewegungsform 1 oder 2 auftrat, also eine Bewegung im 
Sinne der Reaktionsbewegung noch nicht zum Durchbruch gekommen 
war. Von der Stelle, die das arithmetische Mittel dieser Schwelle 
angibt, beginnen sich also durchschnittlich dem Reaktionsimpuls 
verwandte Bewegungstendenzen zu entwickeln, bedingt durch die 
Wahrnehmung der Annäherung an die Bisektion. Die Schwelle ist 


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Verlauf einer Torbereiteten Willensbewegung. 


121 


oben Schwelle der »Unruhe« genannt worden. Ihr arithmetisches 
Mittel werde mit r oA , ihr mittlerer Fehler mit M 0Ä abgekürzt. 
In ganz ähnlicher Weise kann die Stelle ermittelt werden, von der ab 
der Prüfungsreiz die Bewegung nicht mehr zu hemmen vermag. Es 
tritt dann eine normale Reaktion ein. Daß dieser Punkt sich auch als 
Schwelle darstellt, ist klar. Nur haben wir es hier mit einem Be¬ 
dingungsmaximum zu tun, so daß bei Abnahme der Strecke: Prüfungs¬ 
reiz—Bisektion die relative Häufigkeit von 0 auf 1 steigt. Zu dieser 
Häufigkeit wird nur das Auftreten der Bewegungsforra 6 gerechnet. 
Bei dieser Schwelle der »ungestörten Reaktion« diene als Abkürzung 
für das arithmetische Mittel: r UÄ , für den mittleren Fehler: M uS . 

Als weiterer Punkt in der Entwicklung der Willensbewegung 
interessiert der, an welchem der Reagent die Ruhelage nach einer 
kurzen Äußerung des Impulses gerade noch wieder herzustellen ver¬ 
mag. Offenbar ist diese Schwelle aber von der zu einer Kontakt¬ 
erhaltung nötigen Spannung abhängig, hat also nicht die fundamentale 
Bedeutung wie die beiden anderen Schwellen. Als gehemmt gelten 
die Versuche, bei denen die Bewegungsformen 1, 2 oder 3 auftreten. 
Aus der graphischen Registrierung war das Verhalten des Reagenten 
daher immer festzustellen. Da bei der Bewegungsform 3 das Chrono- 
skop noch nicht anzusprechen begann, wohl aber bei der Bewegungs¬ 
form 4, so konnte das Verhalten auch an den Strom Verhältnissen im 
Chronoskop kontrolliert werden. Bei geglückter Hemmung mußte 
das Chronoskop, vom Moment der Bisektion ab, vom Strom durch¬ 
flossen werden, bei mißglückter trat eine, wenn auch kurze, Unter¬ 
brechung in der Stromzufuhr ein. Eine Messung dieser Zwischenzeit 
war bei ihrer häufigen Kürze leider nicht möglich. Die Schwelle mag 
Schwelle der »Kontakterhaltung« genannt werden. Das arith¬ 
metische Mittel wird der mittlere Fehler M JÄ genannt. 

Betrachten wir nun die zahlenmäßigen Ergebnisse der 
Lage dieser Schwellen, wie sie in Tabelle 3 und 4 zusammen¬ 
gestellt sind. Was zunächst die antizipierende Einstellung 
anlangt, so schwankt hier das arithmetische Mittel für die Schwelle 
der Unruhe zwischen — 358 und — 223, der zugehörige mittlere Fehler 
zwischen 88 und 53. Die Grenzen der arithmetischen Mittel der 
Schwelle der ungestörten Reaktion sind — 243 und — 178, die der 
mittleren Fehler 96 und 52. Die Schwelle der Kontakterhaltung ist 
natürlich viel zufälliger, da sie von den speziellen Kontaktverhält¬ 
nissen abhängt. Interessant ist immerhin, wie sich die Lage dieser 
Schwelle in den verschiedenen Einstellungen gestaltet, da doch 
die physikalischen Bedingungen überall konstant bleiben. Die 


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Paul Müller, 


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Schwelle bewegt sich zwischen — 310 und —198, die mittleren 
Fehler zwischen 95 und 53. Überblickt man im einzelnen die Lage 
der Schwellen, so ergibt sich, wie es ja der Reihenfolge der Motiv¬ 
entwicklung entspricht, daß die Schwelle der Unruhe den größten 
Abstand von der Bisektion hat, darauf folgt, der zeitlichen Lage nach, 
die Schwelle der Kontakterhaltung, der Bisektion am nächsten liegt 
die Schwelle der ungestörten Reaktion. Dabei tritt eine stark aus¬ 
geprägte Gleichgesetzigkeit in der Lage der Schwellen ein, 
indem die Schwellen sich unter dem Einfluß der Geschwindigkeit 
und der Übung in gleichem Sinne verschieben. Zu dem niedrigsten 
Werte von r u gehört der niedrigste von r 0 und Aj und umgekehrt 
zu dem größten von r u der größte von r 0 und Aj. Betrachtet man 
die Zeit, die von der Schwelle der Unruhe bis zu der der ungestörten 
Reaktion benötigt wird, so zeigt sich bei dem Reagenten Sch eine 
große Konstanz ohne merkliche Beeinflussung durch die Geschwin¬ 
digkeit, bei der zweiten Vp. R eine Abnahme mit zunehmender 
Übung. Dies ist ein Zeichen dafür, daß R im Gegensatz zu Sch eine 
unruhige Entwicklung der Impulse hat. Die Vp. zeigt einen Über¬ 
eifer, gleichzeitig mit der Bisektion die Reaktion zu vollenden und 
drängt den Impuls von einer bestimmten Stellung des Sternes vor der 
Bisektion empor. Allerdings verringert sich mit wachsender Versuchs¬ 
zahl dieser Einfluß. Der Impuls regt sich immer kürzere Zeit vor 
dem Stadium der Unaufhaltsamkeit. Es bringt dies eine starke, zeit¬ 
liche Verschiebung der Schwelle der Unruhe gegen die Bisektion mit 
sich. Zur Erläuterung des eben Gesagten mag noch auf die verschie¬ 
denen mittleren Fehler der Schwellen hingewiesen werden. Mit Aus¬ 
nahme der mittleren Geschwindigkeit, wo Sch noch die geringste 
Übung besaß, ist überall der mittlere Fehler M 0 , M u und Mj kleiner 
als der entsprechende Wert von R. Im Durchschnitt aus den drei 
Geschwindigkeiten betragen die Werte von Sch gegenüber denen 
von R für M 0 60 gegen 76, für M u 61 gegen 76 und für Mj 61 gegen 80. 

Betrachtet man die Schwelle der Kontakterhaltung, so müßte 
sie, da sie ja ein gewisses, mittleres Stadium der Bewegung darstellt, 
inmitten der beiden Schwellen liegen, wenn wir eine gleichmäßige 
Entwicklung des motorischen Prozesses voraussetzen. Es müßte sich 
also r 0 — Aj wenig von Aj — r u unterscheiden. Dies ist auch in der 
Tat bei beiden Vpn. verwirklicht, bei Sch sogar in besonders hohem 
Maße. Berechnet man für alle Geschwindigkeiten bei Sch den Durch¬ 
schnitt für r 0 —Aj und Aj — r u , so ergibt sich 23 und 24. Für die 
einzelnen Geschwindigkeiten sind die Unterschiede etwas größer. 
Aber auch bei dem Reagenten R ist r 0 —Aj im Mittel 38 beinabe 


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Verlauf einer vorbereiteten Willenabewegung. 


123 


gleich Aj — r u 43. Die Größe A j — f -° f ' u , die, wie wir soeben sahen, 

für beide Vpn. durchgehende klein und zwar teils positiv, teils negativ 
ist, läßt sich vielleicht als Repräsentant der stetigen Entwicklung 
des Motivs und des Gegenmotivs betrachten. 

Es mag nun noch der Blick auf die Versuche gewandt werden, 
die die Bewegungsform 4 zeigen. Es tritt hier eine Doppelschlag¬ 
reaktion auf in mehr oder minder starker Ausprägung, je nach der 
Lage des Prüfungsreizes zur Bisektion. Hammer hat bereits einen 
Mittelwert für die Stelle des Doppelschlags angegeben. Zum Ver¬ 
gleich hiermit ist in der Tabelle unter H das arithmetische Mittel 
aller der Stellen gebildet, bei denen bei unserem Verfahren der Prü¬ 
fungsreiz eintrat und mit einem Doppelschlag beantwortet wurde. 
Unter H x und H 2 sind diese Stellen so gesondert, daß unter H r nur 
die Prüfungsreize berücksichtigt wurden, bei denen der Gegen¬ 
impuls voll zur Geltung kam, unter H 2 nur die Prüfungsreize, auf 
die ein Gegenimpuls langsam und in schwacher Ausprägung folgte. 
Diese Doppelschlagreaktionen fallen natürlich sämtlich in den Schwan¬ 
kungsbereich der Schwelle der Kontakterhaltung, da ja diese Stelle 
aus den Ubergangsformen der unsicheren Haltung abgeleitet wurde. 
Die Differenz Aj—H schwankt zwischen — 26 und + 11, im Durch¬ 
schnitt beträgt sie für Sch —10, für R —3-. Hammer fand für 
antizipierende Reaktionen — 5. Die Übereinstimmung ist also be¬ 
friedigend. Das rein antizipierende Verfahren weist eine Anzahl 
voll ausgeprägter Doppelschlagreaktionen auf, und zwar 
vier, acht, zehn Fälle für die drei Geschwindigkeiten. Es ist erklär¬ 
lich, wenn der im Unbeobachteten entstehende, triebartig empor¬ 
schießende Impuls nahe der Bisektion gelegene Prüfungsreize mit einer 
normalen Reaktion beantwortet; denn so ist ja das erste Nieder¬ 
drücken im Doppelschlag aufzufassen. Das abermalige Niederdrücken 
stellt eine Reaktion auf das Verlöschen hin dar, wenn die Vp. die 
Sachlage apperzeptiv erfaßt hat. Die nur selten auftretenden, schwach 
ausgeprägten Doppelschlagreaktionen, die bei den drei Geschwindig¬ 
keiten nur ein-, drei- und keinmal vorkamen, sind wohl nur als Ab¬ 
irrungen aufzufassen. Sie sind indes geradezu typisch für die 
schwankende, tastende Impulsführung der gemischt, aber 
mehr antizipierend eingestellten Vp. Daneben tauchen auch 
voll ausgeprägte Doppelschlagreaktionen auf. Für die drei Geschwin¬ 
digkeiten sind die Zahlen der voll bzw. schwach ausgeprägten Doppel¬ 
schlagreaktionen bei R: 16 bzw. 10, 6 bzw. 6 und 6 bzw. 2. 

Werfen wir nun einen Blick auf die Ergebnisse der reagie- 


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124 


Paul Müller, 


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renden Einstellung. Es liegen hier die Ergebnisse von Vp. N 
und B, sowie für die letzte Geschwindigkeit von Vp. G vor. Während 
bei der antizipierenden Einstellung das Auslösungsmotiv eine gewisse, 
durch die Zeitvorstellung des Reagenten bedingte Sternstellung ist, 
ist für die reagierende Einstellung das Motiv erst in der Wahrneh¬ 
mung der vollendeten Bisektion real, voll und ganz gegeben. Bei 
Vp. N ist der durch die reagierende Einstellung gegebene Idealfall 
verwirklicht. Für sämtliche Geschwindigkeiten fällt die 
Schwelle der Unruhe r 0 mit der der Kontakterhaltung Aj 
und der der ungestörten Reaktion r u zusammen. Das ist ein 
höchst wichtiges Merkmal für die reagierende Einstellung. Bei ihr 
liegt eben die Stellung des Sternes bei Auslösung des Impulses im 
Blickpunkt der Apperzeption. Man sieht eine ganz bestimmte Stelle 
mit voller Genauigkeit vor sich, vor der man jede Bewegung zu unter¬ 
drücken vermag, und deren Überschreitung das Motiv der Reaktion 
klar und deutlich vollendet erscheinen läßt. Bei der echten Anti¬ 
zipation erhebt sich dagegen, wie oben erwähnt, der Impuls viel 
allmählicher bei Stellungen des Sternes, auf denen kein besonderer 
Apperzeptionsakzent liegt. Dort entspricht also die Zeitstrecke 
r 0 — r u dem allmählicheren Anwachsen des Impulses in Abhängigkeit 
von den weniger beachteten Stellungen des Sternes vor der Bisektion. 
Für die drei Geschwindigkeiten sind die Schwellenwerte bei N: 
+ 8, + 15 und + 48. Die mittleren Fehler sind 47, 51 und 33. Die 
Vp. B nähert sich dem idealen Falle der reagierenden Einstellung 
mit zunehmender Übung. Die Werte sind bei der größten Geschwin¬ 
digkeit: r 0 —23, Aj —15, r M —13, bei der mittleren: r Q —50, Aj —49, 
r u —48. Diese Vp. verlegt also die Bisektion eine kurze Strecke 
vor das wirkliche Erlebnis. Die mittleren Fehler sind für r g bei der 
ersten Geschwindigkeit 54, bei der zweiten 50, für r u und Aj sind 
sie stets gleich und betragen 47 und 48. Bewegungsform 3 tritt bei 
der schnelleren Geschwindigkeit nur viermal, bei der langsameren 
einmal auf. Wir haben es hier wohl nur mit Abirrungen zu tun. 
Ebenso fehlt jede Art von Doppelschlagreaktion. Für die kleinste 
Geschwindigkeit liegen Versuche von Vp. G vor. Vp. G neigt zur 
Antizipation. Die erste Bewegungstendenz zeigt sich bei — 50. 
Die Vp. gab in den Selbstbeobachtungen wiederholt an, sie müsse 
gegen entstehende Antizipationstendenzen ankämpfen. Dafür 
spricht auch die Größe des mittleren Fehlers. Er schwankt bei X 
und B zwischen 54 und 33, bei Vp. G beträgt er dagegen 86, ist also 
größer als selbst bei rein antizipierender Einstellung. Der Kampf 
gegen Antizipation ist dem Reagenten also nicht immer völlig ge- 



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Verlauf einer vorbereiteten Willenebewegung. 


125 


glückt. Doch ist Vp. G nur in der Motiventstehung schwankend, denn 
die übrigen Schwellenwerte sind durchweg normal: Aj + 25, r u + 40. 
Die zugehörigen mittleren Fehler verraten die nämlichen Einflüsse 
wie bei Vp. N und B: 47 und 48. Auch hier ergibt sich, wenn man 
die Schwellen für die einzelnen Geschwindigkeiten überblickt, eine 
Gleichgesetzigkeit ihrer Verschiebung. Volle Doppelschlagreaktionen 
kommen nie vor, die schwächere Form aber tritt verhältnismäßig 
zahlreich auf. Die zeitig auftretende Innervation des Reaktions¬ 
impulses bedingt also eine lang nach wirkende Innervation des ant¬ 
agonistischen Impulses, ohne daß dadurch die reagierende Einstellung 
wesentlich gestört wird. Diese parallele Entwicklung beider Impulse 
haben wir schon gelegentlich der Erörterung der Versuche R’s ge¬ 
funden. 

Betrachten wir nun noch die Ergebnisse der Schwellenbestimmung 
für die gemischte Einstellung. Allgemein zeigt sich in Überein¬ 
stimmung mit den Registrierungen der freien Durchgänge die Ein¬ 
stellung der Vp. S als die mehr antizipierendere, Vp. M als die mehr 
reagierendere. Doch sind das nur grobe Annäherungen an die reinen 
Einstellungen. Die einzelnen Schwellen liegen ihrem Werte nach 
zwischen denen bei reagierender und denen bei antizipierender Ein¬ 
stellung. Die Werte der Vp. S sind für die Schwelle der Unruhe 
— 218, —225 und —183, die von M —160, —110 und —110. 
Die mittleren Fehler sind im Mittel für beide Vpn. 67, 66 und 67. 
Sie sind sämtlich größer als die bei rein reagierender Einstellung 
und reichen an die der antizipierenden heran. Die Schwellen der 
ungestörten Reaktion liegen bei — 70, — 153 und —138 für Vp. S, 
bei —68, —95 und —45 für Vp. M. Die mittleren Fehler dieser 
Schwelle betragen bei Vp. S im Durchschnitt 58, bei Vp. M 59. Man 
sieht also, daß die gemischte Einstellung ein Schwanken in der 
Motiventstehung bedingt, während die Motivvollendung 
geringeren Schwankungen unterworfen ist, ein Ergebnis, 
das auch schon die Betrachtung der Versuche G’s lehrte. 

Die Schwelle der Kontakterhaltung liegt nicht symmetrisch zu 
den Schwellen r 0 und r u . Die Schwellen der Kontakterhaltung 
betragen für Vp. S — 130, — 183, — 168, für Vp. M — 108, — 100 
und — 68. Die mittleren Fehler zeigen keine hohen Werte, für Vp. S 
54, 61, 57, für Vp. M 70, 70, 62. Selbstverständlich äußert sich die 
Eindeutigkeit der Einstellung der Vp. auch in der Größe der Diffe¬ 
renz r 0 —r M , die die Exaktheit der Impulsentwicklung widerspiegelt. 
Nach den bisherigen Ergebnissen stellte sich Vp. M bei der geringsten 
Geschwindigkeit am eindeutigsten reagierend, Vp. S am eindeutigsten 


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Pani Müller, 


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antizipierend ein. Zerteilt ist die Einstellung bei der Vp. bei der 
mittleren Geschwindigkeit, wo die Übung am geringsten war. Die 
Werte r 0 — r u bestätigen dies, sie sind für Vp. S: 148, 72, 45, für 
Vp. M: 92, 15, 65. Die reagierende Einstellung zeichnet sich durch 
den kleinsten Wert 15 aus, der Wert 72 stimmt gut mit den Ergeb¬ 
nissen der antizipierenden Einstellung überein. Die Doppelschlag¬ 
reaktionen liegen naturgemäß wieder im Schwankungsbereich der 
Schwelle der Kontakterhaltung. Die Differenz Aj—H beträgt bei S 
— 19, + 13, + 9, im Mittel also + 1, bei M ist die Abweichung 
größer, sie beträgt im Mittel + 20, im einzelnen: + 17, 0, + 43. 

Als Charakteristikum für die gemischte, aber mehr antizipierende 
Einstellung mit ihrem Kampf der Motive und dem schwankenden 
Impuls hatte sich oben die Doppelschlagreaktion, namentlich die 
schwach ausgeprägte, erwiesen. Dies wird durch folgendes bestätigt. 
Vp. S ist bei Beginn der Versuche am wenigsten antizipierend. Die 
Zahl der vollen Doppelschlagreaktionen ist bei zunehmender Ver¬ 
suchszahl 5, 5 und 10, während die Zahl der schwach ausgeprägten 
von 17 auf 5 und 1 sinkt. Die Vp. M ist bei der geringsten Übung 
am antizipierendsten, bei größerer Übung und geringerer Geschwin¬ 
digkeit am reagierendsten. Die Zahl der vollen Doppelschlagreak¬ 
tionen beträgt bei der mittleren und größten Geschwindigkeit 7, 
bei. der kleinsten 1, die Zahl der schwach ausgeprägten fällt von 5 
auf 1 und 0. Die gemischte Einstellung stellt also keinen einheit¬ 
lichen Komplex hinsichtlich der Beherrschung der motorischen Pro¬ 
zesse und ihrer Motive dar. 

Es gilt noch den Blick auf die Wirkung der Prüfungsreize hin¬ 
sichtlich des Motivationszusammenhanges zu richten. Dabei kann 
von dem Prüfun^sreiz ein hemmender oder beschleunigender Ansporn 
ausgehen. Dieser kann nun auch verschiedenen Ursprungs sein, je 
nachdem die Prüfungsreize mit einer Bewegung beantwortet werden 
oder nicht. Um über diese Frage Aufschluß zu erhalten, wurden 
sämtliche Zeitregistrierungen, bei denen sich die Bewegungsform 6 
zeigte, zu einem arithmetischen Mittel A rR vereinigt. Dazu wurde 
der mittlere Fehler M rR berechnet. Ähnlich wurden die Versuche, 
die eine deutliche Hemmung in der Registrierbewegung zeigten 
(Form 5), in einem arithmetischen Mittel A g dargestellt. Die arith¬ 
metischen Mittel A fr sind bei der antizipierenden Ein¬ 
stellung durchaus verkürzt. Die Verkürzung beträgt für Sch 
77, 59, 35, für R 40, 56, 43 a. Die Verkürzung ist wohl hauptsächlich 
auf die Schreckwirkung zu schieben, die von der plötzlichen Ver¬ 
änderung des Gesichtsfeldes ausgeht. Die Vpn. erkannten häufig 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 


127 


selbst den Prüfungsreiz als das auslösende oder die Bewegung be¬ 
schleunigende Motiv. Es zeigt sich dann in der graphischen Auf¬ 
zeichnung eine besonders energische Abschlußbewegung. Die Schreck¬ 
wirkung schwindet mit zunehmender Übung, daher verkleinern sich 
die Differenzen A R — A fR mit zunehmender Zahl der Versuche bei Sch. 
Bei R als einer Vp. mit nicht so reiner Einstellung ist ein solcher 
Einfluß nicht zu bemerken. Hier muß man bedenken, daß von den 
Prüfungsreizen auch ein hemmender Einfluß ausgehen kann. Im 
extremen Fall äußert er sich in der Bewegungsform 5. Tatsächlich 
zeigt Vp. R eine Anzahl solcher Reaktionen, Vp. Sch nur ganz wenige. 
Ihr arithmetisches Mittel A Q liegt für Sch bei + 203, für R bei + 22, 
+ 42, — 29. Bei der reagierenden Einstellung ist für Vp. N A FR 
erheblich größer als A R . Hier wirkt also der Prüfungsreiz wie 
ein Störungsreiz kurz nach dem Hauptreiz, der nach Wundt in der 
Tat nur bei sensorieller Einstellung eine Verlängerung ^erzeugt. 
Vp. B zeigt eine starke Verkürzung von A FR gegen A R . Hier wirkt 
der Schreck also beschleunigend. Bei der gemischten Einstellung 
über wiegt in normalen Reaktionen die beschleunigende Wirkung von 
Prüfungsreizen, denn die arithmetischen Mittel sind durchgängig 
kleiner als die arithmetischen Mittel der freien Durchgangsreaktionen, 
und zwar für S um 13, 29, 11, für M um 42, 46, 3. Die mittleren Fehler 
sind zum Teil niedriger als die entsprechenden Größen bei freien 
Durchgangsreaktionen. Dies zeigt deutlich, daß die Reagenten sich 
bei freien Durchgangsreaktionen keinem eindeutigen Motiv unter¬ 
warfen und nach der Antizipation hin tendierten. Daher ist die Ein¬ 
heitlichkeit des ersten Kollektivgegenstandes, den die freien Durch¬ 
gangsreaktionen bilden, sogar noch geringer als die des Kollektiv¬ 
gegenstandes aller Grenz- und Fehlreaktionen. Wie stark sich M 
und S bemühten, reagierend zu verfahren, lehrt das Auftreten der 
gehemmten Versuche. Hire arithmetischen Mittel A g sind für M: 
+- 126, + 241, für S: + 150, + 71, + 140. Wir haben damit hier 
Zeiten, die größer als die der Grenz- und Fehlreaktionen, ja sogar 
zum Teil größer als die der freien Durchgangsreaktionen sind. Nur S 
macht bei seiner stark antizipierenden Einstellung eine Ausnahme, 
ebenso M bei derselben langsamen Geschwindigkeit. Entsprechend 
der ihm ziemlich geglückten Einstellung weist M dabei keine solche 
Zwitterform auf. 

Daß überhaupt den Reaktionen bei Prüfungsreizen kompliziertere 
Bedingungen zu Grunde liegen, beweisen die größeren mittleren Fehler 
dieser Reaktionen gegenüber denen der freien Durchgangsreaktionen. 
Bei den eindeutigen Einstellungen ist M FR stets erheblich größer 


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128 


Pani Müller, 


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+kOO 


1-300 ^ 


+.200 


+ 100 - 


als M r . Im Mittel liefert M R gegenüber M FR bei Sch: 69 gegen 78, 
beiR: 67 gegen 70, beiN: 56 gegen 117, bei B: 78 gegen 90, bei S: 
47 gegen 46, bei M: 69 gegen 66 und bei G: 98 gegen 104. Selbst¬ 
verständlich ist auch bei den antizipierend eingestellten Vpn. Sch 
und R, gemäß der reineren Einstellung von Sch im Vergleich zu R, 
die Differenz M rR — M R bei Sch größer als bei R. Bei den Zwitter¬ 
einstellungen ist die 
Einheitlichkeit des Kol¬ 
lektivgegenstandes der 
freien Durchgangsreak¬ 
tionen fast gleich der 
des Kollektivgegen¬ 
standes der Reaktio¬ 
nen bei Prüfungsver¬ 
suchen, bei S und M ist 
sie sogar geringer. Der 
kompliziertere Charak¬ 
ter der Prüfungsver¬ 
suche drückt sich auch 
in den Verteilungs¬ 
kurven der jeweili¬ 
gen Registrierungs¬ 
zeiten aus. Ihre 
Kurven weisen keine 
ausgeprägten Gipfel auf 
und laden beiderseits 
weit aus. 

Um über den Zusam¬ 
menhang von Regi¬ 
strierungszeit und 
Unter brechungs reiz 
Aufschluß zu gewinnen, 
ordnete ich die Zeit¬ 
differenzen zwischen 
den mittleren Regi¬ 
strierungszeiten bei Prüfungsversuchen und dem Augenblick der Ab¬ 
blendung des Sternes als Ordinaten einer Kurve den Zeitlagen dieser 
Abblendung als Abszissen zu (Fig. 9a und b). Ebenso wurde eine 
zweite Kurve mit den nämlichen Abszissen darunter gesetzt, deren 
nach unten gerichtete Ordinaten den Abstand jeder Unterbrechung 
vom Durchgangsmoment angaben, und deren Kurve offenbar einfach 


-WO r 


-200 V 


-300 



Fig. 9 a. (Vp. S.) 

Fig. 9 a und b. Verteilung 
punkt bezogenen Registri 

Geschw. 3,3 cm Bec -1 :- 


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Verlauf einer vorbereiteten Willenabewegung. 


129 



cm sec 


eine Gerade sein muß, die bei unserem gleichen Maßstab der Ordina- 
ten und Abszissen zur Abszissenachse um 45° geneigt ist. (Der Zeit¬ 
abstand der Reaktion vom Durchgangsmoment, also die gewöhnlich 
sog. Registrierungszeit entspricht dann also einfach der Differenz 
zwischen den absoluten Werten der oberen und unteren Ordinate.) 
In dem idealen Falle, daß die Bewegung stets bei der nämlichen 

Stellung des Sternes erfolgt wäre, also 
die Prüfungsreize gar keine auslösende 
Wirkung gehabt hätten, d. h. kurz ge¬ 
sagt, im Falle der Grenzreaktionen, 
müßten natürlich auch jene oberen 
Kurven der Reaktionen einfach eine 
Gerade bilden, die zu der darunter 
gezeichneten Geraden senkrecht stünde, 
also zur Abszissenachse gerade ent¬ 
gegengesetzt um 45° geneigt wäre. In¬ 
folge der zufälligen Schwankungen der 
Reaktionszeiten ist aber natürlich 
keine geradlinige Kurve, sondern im¬ 
mer nur eine um eine gewisse Haupt¬ 
richtung mehr oder weniger stark 
oszillierende Linie zu erwarten. Im 
entgegengesetzten Falle, also dem Falle 
der echten Fehlreaktionen, wenn der 
U.-R. als Reaktionsmotiv gewirkt 
hätte, müßten die Kurven dagegen zur 
Abszissenachse parallel laufen. Aus 
den Kurvenbildern ersieht man, daß 
die Hauptrichtungen der Kurven der 
Vp. R, Sch, N, S und M beinahe senk¬ 
recht zur unteren Geraden verlaufen, 
zumal wenn man die drei Geschwindig¬ 
keiten zusammenfaßt, also eine weit¬ 
gehende Unabhängigkeit der Re¬ 
gistrierungen vom U.-R. andeuten, 
so daß sie also überhaupt nicht als Fehlreaktionen erscheinen. Sie sind 
vielmehr im wesentlichen als normale Registrierungen zu betrachten, 
die in der bereits vor dem Verlöschen des Sternes erreichten An¬ 
näherung desselben an die Bisektion motiviert waren. Nur die sel¬ 
teneren, bei sehr zeitigen U.-R. erfolgenden Registrierungen rücken 
bei N und M näher an den U.-R. heran, so daß sie vor allem von 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 9 



Fig. 9 b. (Vp. B., 

ven der auf den Prlifungareiz als Null- 
gszeiten bei Grenz- n. Fehlreaktionen. 


1,3 cm sec - 


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130 


Paul Müller, 


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diesem als Schreckwirkungen ausgelöst erscheinen. Dagegen verläuft 
die Kurve für B und für G zur Abszissenachse wirklich ziemüch 
parallel. Dies spricht also dafür, daß die hier zusammengestellten 
Registrierungen dieser Vpn. in der Tat in viel weiterem 
Umfange als Fehlreaktionen anzusehen sind, bei denen der U.-R. 
als positives Motiv den Ausschlag gab. Die Vpn. scheinen auch ihren 
Typus in dieser Hinsicht bei den verschiedenen Geschwindigkeiten 
beibehalten zu haben. 

Betrachten wir jetzt die einzelnen mittleren Fehler M 0 , Mj 
und der drei oben erläuterten Schwellen untereinander, so fällt 
ihre fast völlige Übereinstimmung bei den eindeutigen Einstellungen 
in die Augen, ein Beweis, daß die einheitlichen Schwankungen in der 
Zeitlage der ganzen Impulsentwicklung die Hauptursache der 
Schwankungen ihrer speziellen Phasen sind, die in jenen drei 
Schwellen zum Ausdruck kommen. Daher sind auch die Fehler der 
antizipierenden Einstellung größer als die der reagierenden. M und S 
weisen bei der langsamsten Geschwindigkeit, wo sie relativ eindeutig 
eingestellt sind, übereinstimmende Fehler auf. Bei Vp. G ist M 0 
außerordentlich hoch. Das nämliche Ergebnis zeigt auch Vp. S bei 
der geringsten Übung. Bei Vp. G spielt hierbei außerdem wohl 
auch das Unsichere ihrer obenerwähnten Tendenz zu Fehlreaktionen 
bei Prüfungsreizen mit hinein. 

Vergleichen wir jetzt die mittleren Fehler der Schwellen, 
die bei der soeben genannten Übereinstimmung durch Mj repräsen¬ 
tiert sein mögen, mit denen der Registrierungen. Auch hier 
herrscht wenigstens bei der antizipierenden Einstellung 
Übereinstimmung (M R G8, Mj 71). Dies entspricht wühl auch 
der Erwartung, da sich die Auslösung des Impulses hier ganz aus 
der subjektiven Vorbereitung heraus entwickelt und daher die näm¬ 
lichen, allerdings relativ großen Schwankungen der mittleren Zeitlage 
durchmacht wie sämtliche anderen, durch jene Schwellen ausge¬ 
drückten Phasen der Impulsentwicklung. Bei der reagierenden Ein¬ 
stellung greifen aber bis zur Registrierung selbst noch weitere Be¬ 
dingungen regulierend ein, woraus verständlich wird, daß hier die 
Registrierungen selbst eine größere Schwankung auf- 
weisen als die Phase der Hemmungsmöglichkeit bei Prü¬ 
fungsreizen, die ja ihrerseits hier durch die größere Ruhe dieser 
ganzen Einstellung im Vorbereitungsstadium weniger schwankt als 
bei der antizipierenden. Daher beträgt hier M R 66 und Mj nur 45. 

Am Schluß mag der Blick noch auf die für die verschiedenen Ein¬ 
stellungen erhaltenen Reaktionszeiten gewandt werden. Es ist 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 131 

selbstverständlich, daß wir auch bei den freien Durchgangsreaktionen 
nur die Zeit als Reaktionszeit anzusprechen haben, die sich von der 
Vollendung des Motivs, also von r u an, bis zur Bewegung erstreckt. 
Die so transformierte Zeit ist wirklich die, welche das Minimum an 
Zeit für die Bewegung darstellt. Dabei wird die Bewegung wirklich 
von dem Sinneseindruck der das Motiv vollendenden Stellung des 
Sternes bedingt, wie es bei einer vollständigen Reaktion erforderlich 
ist. In dieser Weise kann also dann auch für die antizipierende und 
jede gemischte Einstellung ebenso ein Analogon der Reaktionszeit 
berechnet werden, wie für die reagierende Einstellung, bei der ja das 
wirkliche Motiv, wie die Schwellen zeigen, selten mit der Bisektion 
selbst zusammenfällt. Hätten wir die Zeit nicht auf die Schwelle der 
imgestörten Reaktion, sondern auf die der Kontakterhaltung trans¬ 
formiert, so könnten wir nur behaupten: sie stelle eine Zeit zwischen 
Sinneseindruck und Bewegung dar, deren Impulsbereitschaft derart 
abgemessen ist, daß die bei einem Reizausfall eintretende Bewegung 
gerade noch Kontakttrennung verhüten kann. Bei unserer Auf¬ 
fassung aber sagt ein Reizausfall der Vp. sofort, das Motiv zu einer 
normalen Reaktion ist nicht erfüllt. Es tritt keine volle Reaktion ein. 
r u ist j a viel allgemeiner als A j. Ich weise darauf nur hin, da H a m m e r 
in seiner Arbeit die Registrierungszeiten auf die Schwelle Aj trans¬ 
formiert hat. Bei der antizipierenden Einstellung beträgt unsere 
Reaktionszeit R — Z A 257, 252, 216 für Sch, 219, 258, 239 für R. 
Als Mittel erhält man 240, ein Wert, der mit dem Hammerschen 
232 unter Berücksichtigung der abweichenden Entstehungsbedin¬ 
gungen befriedigend übereinstimmt. Der Wert ist in der Größen¬ 
ordnung sensorieller Reaktionszeiten mit schwer erkennbarem Re¬ 
aktionsmotiv. Die Erschwerung liegt darin, daß der richtige Moment 
zur Auslösung des Impulses in der Voraussicht der Bisektion aus dem 
ganzen Verlauf heraus erkannt werden muß. Hierbei haben auch 
die Prüfungsversuche keinen so störenden Einfluß, da die Bewegung 
rein subjektiv geleitet sein darf, also ein Impuls, der trotz der Ab¬ 
blendung des Sternes einmal vorhanden ist, sich frei auswirken darf. 
Bei reagierender Einstellung aber wird die Reaktionszeit durch die 
Schwierigkeit der Erkennung des Durchganges verlängert, zumal 
die Prüfungsversuche hier eine gewisse Genauigkeit der Auffassung 
erzwingen, weil bei dieser Einstellung beim Verlöschen des Sternes 
vor der Bisektion jedenfalls keine Reaktion erfolgen soll. N lieferte: 
352, 388, 325, B: 358, 400, G: 268, ein Wert, der die Antizipations¬ 
tendenz der Vp. verrät. Die gemischten Einstellungen zeichnen sich 
durch kleine Werte aus. Das ist ja nicht verwunderlich, die Reagenten 

9* 


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Paul MUller, 


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warten in Wirklichkeit nicht bis zur Erkennung der Bisektion und 
sind auch andererseits nicht allzu ängstlich bemüht, antizipierend die 
Bewegung wirklich gleichzeitig mit dem Durchgang auszuführen, 
daher die geringen Werte 202, 230 bei M, 195, 226 bei S. In dem 
Falle einer mehr reagierenden Einstellung steigt der Wert von M 
auf 287. S braucht bei der antizipierenden Einstellung 262. 

In ähnlicher Weise wie diese Reaktionszeit der freien Durchgänge 
kann man eine der normalen Reaktionen bei Prüfungsreizen auf- 
steilen. Es ist dies die Differenz zwischen der Schwelle r u und der 
Registrierung. Die Werte, die, mit R — Z A abgekürzt, in Ta- 

FR 

belle 4 aufgeführt sind, sind ziemlich konstant. Sch lieferte 180, 
193, 181, R lieferte 179, 202, 196. Auch die gemischten Einstellungen 
ergeben annähernd dieselben Werte: 182, 233, 215 bzw. 160, 241, 
217. Die reagierenden Vpn. zeigen größere Werte: 390, 436, 381 
bzw. 309, 353. Vp. G verrät sich wieder mit dem Werte 223 als 
antizipierend. 


3. Variation der Geschwindigkeit. 

Betrachten wir nun den Einfluß, den die Variation der Geschwin¬ 
digkeit mit sich bringt. Diese Variation bedingt nach den bisherigen 
Erfahrungen die einflußreichste Änderung im Ablauf einer Willens¬ 
handlung. Durch diese Änderung wird die Vorbereitungszeit variiert. 
Einer langsamen Geschwindigkeit entspricht eine lange, einer schnellen 
eine kurze Vorbereitungszeit. Gearbeitet wurde mit drei Geschwin¬ 
digkeiten von folgender Größe: 3,3 cm sec -1 , 2,0 cm sec -1 , 1,3 cm 
sec -1 oder in Gesichtswinkelgröße: 2,9°, 1,8° und 1,1°. 

Bei der antizipierenden Einstellung wird der Einfluß der Ge¬ 
schwindigkeitsänderung durch den der Übung durchkreuzt. Bei 
Vp. R sind die Registrierungen nahe der Bisektion gelegen, werden 
aber im Laufe der Übung gemäß der sich verschiebenden Einstellung 
etwas verspätet abgegeben. Aber infolge der Verschiebungen, die 
die Schwellen bei den einzelnen Geschwindigkeiten erleiden, erscheint 
ihr oben als Reaktionszeit betrachteter Abstand von der Re¬ 
gistrierung bei größerer Geschwindigkeit verkürzt. Bei der größten 
und kleinsten Geschwindigkeit, denen annähernd gleiche Einstel¬ 
lungen zu Grunde liegen, ist R — Z A 239 und 258. Dieser Befund 
stimmt mit dem Hammer sehen überein. Dasselbe Ergebnis liefert 
die Betrachtung der Versuche von Sch. -Bei der langsamsten Ge¬ 
schwindigkeit entwickelt sich der Impuls verhältnismäßig zeitig, 
bei der schnellsten ziemlich spät. Seine Entwicklungsdauer ist in 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 133 

beiden Fällen gleich. Trotzdem ist die Registrierung bei der kleinsten 
Geschwindigkeit relativ stark verspätet, 252 gegen 257 und 216. 

Wenden wir uns der reagierenden Einstellung zu. Vp. N wird 
mit zunehmender Geschwindigkeit allmählich vorsichtiger, doch wird 
die langsamste Registrierung bei der mittleren Geschwindigkeit von 
2,0 cm sec -1 erreicht. Dasselbe gilt für Vp. B, obwohl gerade hier 
die Schwelle der ungestörten Reaktion vor der Bisektion hegt. Das 
Ergebnis hat schon Günther gefunden, der auch beim Übergang 
von der Geschwindigkeit 1,5 cm sec -1 zu 3,0 cm sec -1 eine Zunahme 
der Registrierungszeit wahrnahm. Das deutet darauf hin, daß die 
Registrierungszeit mit zunehmender Geschwindigkeit wieder abnimmt 
und ein Minimum erreicht. Da nach Günther bei extrem langsamen 
Geschwindigkeiten die Zeit ebenfalls zunimmt, so würde also die 
Reaktionszeit eine periodische Funktion der Geschwindig - 
keit sein. Die Reaktionszeiten der Vpn. zeigen hier dieselbe Ab¬ 
hängigkeit von der Geschwindigkeit wie die Registrierungszeiten. 

Bei der gemischten Einstellung ist ein Einfluß der Geschwindig¬ 
keit nur schwer nachzuweisen. M ist bestrebt, seiner Weisung, re¬ 
agierend zu verfahren, genau nachzukommen. Es gelingt ihm dieses 
am besten bei der langsamsten Geschwindigkeit, bei der der Impuls 
sich am leichtesten beherrschen läßt. Das Streben der Vp., die Anti¬ 
zipation zu unterdrücken, tritt auch noch bei der größten Geschwin¬ 
digkeit hervor. Hier war die Vp. am meisten geübt. r u und A j sind 
der Bisektion näher gerückt, indes ist r 0 , wenn man den Wert mit 
dem der kleinsten Geschwindigkeit vergleicht, unverändert ge¬ 
blieben, die Registrierungszeit ist sogar etwas kleiner geworden. In 
demselben Sinne dürfen wohl die Versuche G’s gedeutet werden, 
die sich nur auf die langsamste Geschwindigkeit erstreckten. Die 
verhältnismäßig gute Annäherung an den rein reagierenden Typus 
ist wohl durch die langsame Geschwindigkeit mit ermöglicht worden. 
Vp- S lernten wir schon als mehr antizipierend kennen. Die kürzesten 
Registrierungszeiten lieferte er auch bei der größten Geschwindigkeit. 
Die Lage der Schwellen verrät, daß bei der langsamsten Geschwindig¬ 
keit schnellste Impulsentwicklung eintrat. 

IV. Schloß. 

Fassen wir noch einmal kurz die Ergebnisse der Versuche zu¬ 
sammen. Bei der dem Beobachter gestellten Aufgabe, auf die Bi¬ 
sektion bei einem Sterndurchgang durch Loslassen eines Reaktions¬ 
tasters zu reagieren, haben sich zwei Haupteinstellungen ergeben, 


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Paul Müller, 


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die antizipierende und die reagierende. Sie sind schon durch die Re¬ 
gistrierungszeiten voneinander zu unterscheiden. Die mittleren Re¬ 
gistrierungszeiten bei jener sind klein und teils positiv, teils negativ. 
Bei dieser liegen die Registrierungen eine deutliche Zeitstrecke von 
der Bisektion entfernt, ähnlich wie bei Erkennungsreaktionen. 

Ferner galt es, die Impulsentwicklung an den Wirkungen zu unter¬ 
suchen, die das Verschwinden des Sternes in den verschiedenen 
Stadien dieser Entwicklung hat. Da der ganze Verlauf des Druckes 
auf einen Taster mit elastischer Unterlage registriert wurde, konnten 
wir nicht nur die mittlere Zeitlage des Unterbrechungsreizes (U.-R.) 
ermitteln, von der an die Reaktion wie bei einem Normalversuch 
ungestört erfolgte (Schwelle der ungestörten Reaktion), sondern auch 
die Zeitlage des U.-R., bei der trotz dieses Gegenmotives bereits 
eine eben erkennbare Unruhe der Haltung erfolgte (Schwelle der 
Unruhe). Es hat sich nun an Hand der Versuche ergeben, daß bei 
antizipierender Einstellung die Dauer der Impulsentwick¬ 
lung rund 64 a beträgt und sowohl unabhängig von ihrer ab¬ 
soluten Lage zur Bisektion, als auch von der Vorbereitungs ¬ 
zeit der Reaktion, also der Durchgangsgeschwindigkeit des Sternes, 
ist. Beider reagier enden Einstellung fallen dagegen die Schwellen 
gemäß der strengen Motivwirkung und stark sensoriellen Einstellung 
völlig zusammen. Dieser Gegensatz von antizipierender und 
reagierender Einstellung entspricht der Verschiedenheit der Apper¬ 
zeption der motivierenden Sternstellungen. Zwischen beiden Schwellen 
lassen sich beliebige Übergangsstadien ermitteln, in denen die zu¬ 
nehmende Unruhe bei U.-R. an einem beliebig trägen Reaktions¬ 
apparat, z. B. einem Tasterkontakt, eben einen registrierbaren Aus¬ 
schlag hervorzubringen vermag. 

Die Streuungswerte aller Schwellen sind für jede Einstellung 
gleich, da allen die Hauptursache der Schwankungen, die Schwan¬ 
kung der Zeitlage der Impulsentwicklung, gemeinsam ist. Für 
die antizipierende Einstellung betragen sie rund 71, für die rea¬ 
gierende 45. 

Schließlich läßt sich noch eine Art Reaktionszeit als Minimum 
der Zeit finden, die verstreichen muß, wenn ein wirklich als Motiv 
dienender Reiz eine volle Bewegung hervorbringen soll. Ihr Wert, 
rund 240 o für antizipierende Reaktionen, liegt in der Größenordnung 
sensorieller Reaktionszeiten mit schwer erkennbarem Reaktions¬ 
motiv. Für reagierende Einstellung ist der Wert entsprechend größer, 
rund 349 o. Durch die Variation der Geschwindigkeit findet man, 
daß die Reaktionszeit, ähnlich wie die Registrierungszeit, eine perio- 


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Verlauf einer vorbereiteten Willensbewegung. 135 

dische Funktion der Geschwindigkeit ist. Für mittlere Geschwindig¬ 
keiten von etwa 2,0 cm sec -1 weist sie Maximalwerte auf. 

Als kennzeichnend für die Einstellung der Vp. erweist sich das 
Auftreten der Doppelschlagreaktionen. Bei reagierender Ein¬ 
stellung fehlen sie völlig, da ja das Einsetzen des Impulses von der 
apperzeptiv erfaßten Bisektionsstellung abhängig ist und von da 
beherrscht wird. Die freiere Führung des Impulses, wie sie antizi¬ 
pierenden Reaktionen eigentümlich ist, zeigt eine Anzahl solcher 
Reaktionen. Je unsicherer die Einstellung der Vp. ist, je weniger 
sie sich an bestimmte Instruktionen zu binden vermag, um so häufiger 
treten sie auf, namentlich in der schwach ausgeprägten Form. 

Dies alles lehren uns die Registrierungen bei Pr üfungs versuchen. 
Aber schon bei freien Normalversuchen läßt die Haltung der Hand 
auf die Einstellung schließen. Die reinen Einstellungen zeichnen 
sich durch ruhige Führung der Hand aus, ohne größere Komplika¬ 
tionen, höchstens einen kurzen, plötzlichen, antagonistischen Druck 
bei antizipierender Einstellung. Der gemischten Einstellung sind 
aber alle denkbaren Formen eigen, zum Teil mit ausgeprägten Schwan¬ 
kungen. 

Auf Grund der Registrierungen lassen sich die Reaktionen auf 
Unterbrechungsreize in zwei Klassen scheiden: die Grenzreaktion 
und die Fehlreaktion. Jene sind Reaktionen auf das eigentliche Motiv, 
U.-R. ändern bei ihnen an der Sachlage nichts mehr. Diese sind 
durch den U.-R. ausgelöst und von ihm um eine Reaktionszeit ent¬ 
fernt. Die Untersuchung hat ergeben, daß solche ausgesprochene 
Fehlreaktionen im wesentlichen nur bei den gemischten Einstellungen 
Vorkommen, soweit sie der rein reagierenden naheliegen. 

Bei unseren Versuchen hat sich die stroboskopische Erzeugung 
von Durchgangsvorgängen mittels stetiger Linien sehr gut bewährt. 
Sie bietet eine sehr markante Bisektion dar und ermöglicht, selbst 
bei extrem langsamen Geschwindigkeiten, eine sehr genaue Zeit¬ 
messung. 

Auch läßt sich eine solche Anordnung leicht dazu verwenden, 
das motorische Verhalten gegenüber ganz beliebigen Bewegungs¬ 
formen der Objekte zu untersuchen. 

(Angenommen am 10. Oktober 1917.) 


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Kulturpsychologie und Geschichtstheorie (im Umriss). 

Von 

Dr. Lic. Hugo Lehmann. 


I. Das knltnrpsychologische Priuzip in der prähistorischen 

Forschung. 

A. Kulturkritische Maßstäbe *) für die Prähistorie als 
Vorzeit der Kultur. 

1) Die Unterscheidung der Kulturgeschichte von deren 

Vorzeit. 

a) Der Ansatz der Kultur. 

Eine Behauptung liegt in dem Ansatz der Kultur. Zunächst ist 
es die Behauptung, daß es neben der Natur und ihrer Gesetzlichkeit 
eine Kultur und demnach eine Verarbeitung der Naturgabe gibt. 
Kultur ist nicht ausschließlich so zu definieren, daß sie die natur¬ 
gesetzliche Gegenständlichkeit zur Voraussetzung ihrer Zielsetzungen 
hat, darüber hinaus ist Kultur: eine in sich zvveckvolle Gestaltung 
der Daseins Verhältnisse, insoweit solche Verhältnisse aus der Un¬ 
sicherheit nur zufälliger Wirksamkeit durch eine zielsichere Ver¬ 
arbeitung heraustreten; sie werden durch die differenzierte Verarbei- 

1) Mit den soziologischen Bedeutsamkeiten als kulturpsychologischen 
Untergrund innerhalb der Lebensgebiete der Weltreligion hat sieh Max Weber 
»Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen«, Archiv für Sozialwissenschaft und 
Sozialpolitik Bd. 41, Heft 1, S. 1 f., Heft2, S. 335f. in »religions-soziologischer« 
Abhandlung beschäftigt. Meine Ausführungen gehen zurück auf die Wurzeln 
der Religionssoziologie. Es gibt vorsoziologische Wirksamkeiten im allgemeinen, 
wie sie die Ethno-Psychologie zwar als vorgefunden aufgedeckt, aber noch 
nicht historiologisch kategorisiert hat. Es handelt sich uns um eine historiolo- 
gische Kategorisierung der Prähistorie und ihrer kulturvorbereitenden, vor¬ 
kulturpsychologischen Motive. Es sind dies die vorkulturpsychologischen 
Motive der Soziologie. Mit ihnen muß die Historik bei der Prähistorie rechnen. 
Tm übrigen gilt das, was Max Weber von Typologie sagt, auch von den vor- 
kulturpsychologischcn Kategorien der Prähistorie. 


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Kulturpsychologie und GeschichtBtheorie. 


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tung historisch bedeutsam und können dann möglicherweise in ein 
Vernunftsystem eingeordnet werden. Kulturgeschichte ist die Be¬ 
schreibung der Entwicklung derartiger Verarbeitung in der Zeit. 


b) Kulturgeschichte und ihre Vorzeit. 

Kulturgeschichte ist die Beschreibung der zeitlichen Entwicklung, 
in der die Menschen ihre Naturmitgift zu zweckvoll differenzierten 
oder vernünftig organisierten Gebilden verarbeiten. Die Vorzeit 
dagegen charakterisiert sich dadurch, daß in ihr die Beschreibung 
dieser Entwicklung nur lückenhaft möglich ist. In der Vorgeschichte 
tritt an Stelle der Beschreibung einer Entwicklung eine mehr klassi- 
fikatorische Nebeneinanderstellung etwa auffindbarer Hinweise auf 
Ansätze späterer Kultur und Geschichte. Die Vorgeschichte legt 
mehr auseinander, als daß sie Zusammenhang beschreibt. Im Gegen¬ 
satz zur organisatorischen Wirkung der Geschichte schauen wir zurück 
in die Zielunsicherheit prähistorischer tVirksamkeiten. So hat die 
geschichtliche Differenzierung der Kulturarbeit eine Vorgeschichte. 
In diese Prähistorie führt weniger die Historiographie als die Archäo¬ 
logie ein. 


2) Die Verständnismittel. 

a) Die Maßbegriffe einer Analyse historischer Begebenheiten. 

Nicht ist dies gemeint, daß nicht die Beschreibung auch der histo¬ 
rischen Zeiten gleichfalls unter klassifikatorischen Nebeneinander¬ 
stellungen sich vollzöge. Auch archäologische Feststellungen sind 
für historische Zeiten nötig. Historiologisch kategoriale Handlungs¬ 
oder Deutungs- oder Bedeutungsgesichtspunkte aber sind angesichts 
der Differenziertheiten der Verarbeitung, für historische Zeiten und 
bei deren Beschreibung, nicht nur nicht zu entbehren; vielmehr sind 
sie bei der Bildung und Beschreibung historischer Zeiten und Begeben¬ 
heiten erst recht am Platze. Es kann insbesondere keine Beschrei¬ 
bung historischer Zeiten geschehen, ohne die Entwicklung der Ver¬ 
arbeitung von Naturgaben unter die kultursystematischen Gesichts¬ 
punkte zu stellen. Diese betreffen ihre wissenschaftliche Vergegen- 
ständlichungs- und Ausbreitungsmöglichkeit, ihre wirtschaftlich- 
soziologisch oder politisch einzugliedemden, ethischen Zweckabsichten, 
ihre rituellen und künstlerischen Formbildungen, ihre psychologisch 
zu beobachtende Beschaffenheit, ihre religiös andächtige Konzentra¬ 
tion und kultur-philosophische Totalisierung. Es ist ferner keine 


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Hugo Lehmann, 


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Beschreibung historischer Zeiten möglich, ohne entwicklungsgenetisch 
eine Individualität vorauszusetzen, auf welche die Beschreibung sich 
begrenzt, und in einer Kontinuität die Beschreibung der Individualität 
verlaufen zu lassen. 

b) Die Inkontinuität der prähistorischen Daten. 

Aber gerade diese zweiseitigen strukturalen Notwendigkeiten der 
Individualität und Kontinuität für die Beschreibung der Differenzie¬ 
rungen in historischen Zeiten sind es, welche für die Prähistorie stets 
mit einem Wandel ihrer Bedeutung in das nur archäologisch Fest¬ 
stellbare und nur mit Hilfe der Phantasie Belebbare, d. i. Mythische 1 ), 
anwendbar sind. Wir nannten den Mangel an Kontinuität (nur durch 
ganz phantastische Zeitraummessungen wird die Prähistorie an die 
Historie kontinuierlich angegliedert) in den Feststellungen der Prä¬ 
historie, die mehr einer Aneinanderreihung gleichen und einer Auf¬ 
zählung, zwar nicht eigentlich von Begebenheiten, sondern nur von 
Aufgegebenheiten, unter Heranziehung von psychologischen und 
ethnologischen Verständnismitteln. Aufgegeben ist einer Wissen¬ 
schaft von der Vorkultur der Menschheit Vergleichung oder Kon- 
trastierung des in der Vorgeschichte Vorfindbaren mit dem psycho¬ 
logischen Verständnis des Beobachters. 

3) Das Unzureichende der ethnologisch-psychologischen 
Begriffsmittel der mythologischen Forschung. 

In dieser Richtung sind z. B. die Begriffsmittel der mythologischen 
Forschung zu taxieren. Die historiologischen Kategorien der Prä¬ 
historie stehen sämtlich mehr unter psychologisch-ethnologischen 
Voraussetzungen und sind eine Art Experiment mit dem Vorgefun¬ 
denen, doch ohne den Rückhalt des Nachweises eines naturgesetz¬ 
lichen Kausalzusammenhangs und auch meist ohne Anwendbarkeit 
-von »Maßbegriffen« des »hypothetischen Nachempfindens« 1 ) von 
seiten des betreffenden Historikers und ohne literarische Belege. 

a) Mangel eines individuellen Trägers. 

Zurückzuführen ist dieser Mangel in der Prähistorie auf den 
Mangel eines individuellen Trägers für deren generell psychologisch¬ 
ethnologische Voraussetzungen. Es fehlt die Individualität des Er- 

1) Zu vgl. die Darlegungen des verstorbenen Hallenser Theologen Reisch le: 
Wesen der Religion, Halle 1900. 


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Kulturpsychologie und Geschichtstheorie. 


139 


lebnisses oder der Begebenheit. Durch die mit der Individualität 
im Zusammenhang stehende hi&toriologisch-kategorialen Voraus¬ 
setzungen bestimmt und begrenzt sich die Beschreibung nur histo¬ 
rischer Zeiten und Ereignisse. Wundt 1 ) nennt »völkerpsycholo¬ 
gische « Gegebenheiten diejenigen, die an die Bedingungen des mensch¬ 
lichen Zusammenlebens gebunden sind. 

b) Mangel experimenteller Maßbegriffe. 

Völkerpsychologische Gegebenheiten sind also nur mittelbar oder _ 
überhaupt nicht zu reproduzieren und gar ein kritisch erkennendes 
Gegeneinandermessen der verschiedenen hypothetischen Bestim¬ 
mungen findet bei der Ununterschiedenheit der vorkulturellen 
Zusammenhänge, an welche solche schwer zu erprobende Maß begriffe 
angelegt werden, ihre Schranke. 

c) Motivsetzung ohne Individualität. 

Und doch ist die psychologische Motivsetzung die einzige Möglich¬ 
keit, in die Prähistorie einen Maßstab hineinzubringen. 


B. Motivsetzung als prähistorisch-psychologische Grundkategorie 
zu einem Verständnis der Vorzeit. 

1) Die Motivsetzung der mythologischen Vorzeit. 

Mit der Motivsetzung als Ermöglichung eines Verständnisses der 
Prähistorie berühren wir schon das Charakteristische der mytholo¬ 
gischen Bildung gegenüber historisch-kritisch zu erkennender Geistes¬ 
bildung. Diesem Charakteristikum ist meine Arbeit gewidmet. 

a) Das Präethische. 

Je weniger zweckvolle Individuation bei prähistorischer Vorkultur 
Motiv ist, desto weniger ist in den Wirtschafts- und Machtschiebungen 
der Prähistorie und ihren Erzeugnissen schon eine sittlich differen¬ 
zierte Situation zu konstatieren, desto mehr trägt die Motivsetzung 
noch den Charakter der in der Vorkultur waltenden willkürlichen 
Affekte. Dieser affektive Charakter ist einerseits eine den Zufällig¬ 
keiten des Hier und Jetzt widerspruchsvoll und kritiklos ausgesetzte 
passive Affiziertheit (vgl. Hegels Phänomenologie des Geistes A 11), 
andererseits gesteigerte Handlung bis zur Affektiertheit der Betä- 

1) A. a. O.: Völkerpsychologie. Bd. T, S. 8. 


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Hngo Lehmann, 


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tigung in der Magie. Solche phantasiegesteigerte magische Affekti¬ 
vität ist einmal kontrastierende Abwehr gegen seelische Übermacht 
(im Abschreckungszauber), andermal assimilierende Zukehr durch 
seelische Überbietung (im Aneignungszauber). 

b) Das Okkasionale (Zufällige). 

Es ist in der Vorkultur der Menschheit nur ein ungeklärtes Bei¬ 
einander von affektiven Erregungen verschiedener Zufälligkeiten aus 
dem Vorgefundenen erschließbar. Der mythologischen Motivsetzung 
mangelt die Möglichkeit einer Charakterisierung im einzelnen, die zu 
einer Vergegenständlichung im Sinne wissenschaftlicher Objekt¬ 
setzung führen könnte. Die meisten Versuche von Ethnologen, in 
die mythologische Motivsetzung der Prähistorie einzudringen, schei¬ 
tern an dem, von wissenschaftlicher Objektion hergenommenen, Vor¬ 
urteil, als ob diese gegenständliche Möglichkeit selbstverständlich 
auch in die Vorzeit hineinreichte. Es fehlt zum prähistorischen Ver¬ 
ständnis die Einsicht in die eigenartig gebrochene, der kulturpsycho¬ 
logischen Gefühlsstruktur gemäße Begriffsführung. Da gibt man 
dann fälschlich technische Nützlichkeitserwägungen für das Primitive 
und fragt erstaunt, woher dann das Mythische und Magische in diese 
Ursprünglichkeit hineinkomme, statt umgekehrt auch das Mythische 
und Magische an den Anfang zu setzen und nun zu fragen, wie sich 
die technischen Fähigkeiten daraus entwickeln. 

c) Das Komplexe. 

Zur Technik gehört schon die Isolierung bestimmter Empfin¬ 
dungen oder Gefühle und deren symbolisierende Beweglichkeit in 
räumlicher und zeitlicher Phantasiegestaltung. Motivation dagegen 
ist ein mixtum compositum, das man nur nach seiner Grundrichtung 
aufweisen kann, und das in sich selbst den Mythus als noch nicht 
objektiv unterscheidendes Bewußtsein der Ermöglichung von allem 
und jedem voraussetzt, ein Beisammen gefühlübertriebenen Handelns 
mit phantasiegesteigerten Motiven. 

2) Das Unmaßgebliche der Symbolisierungen vorzeit¬ 
licher Motive im Einzelnen. 

Bei der Charakterisierung der prähistorischen Tatbestände, von 
denen uns die Vorgefundenen Reliquien Zeugnis geben, kommt es 
darum weniger darauf an, eine charakteristische Trennung der Wort¬ 
symbole, wie z. B. Mana, Orenda, Tabu, Totem, Fetisch wissen- 


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Kulturpsycliologie und Geschichtstheorie. 


141 


schaftlich zu ermöglichen. Die Wortsymbole mögen wechseln, wie 
auch die Symbolisierungen der Motive in der mythologischen Motiva¬ 
tion wechseln, je nach dem Wirksamkeitszusammenhang, in dem sie 
gebraucht werden. Es handelt sich ja bei der Vorkultur nicht eigent¬ 
lich um wissenschaftliche Gegenständlichkeiten, sondern um die 
Erfassung von Beziehungen in dem Motivationswechsel der Symbol¬ 
gestaltung und der Sinnbedeutung, um die Setzung von Maßbegriffen 
für eine Vergleichbarkeit bzw. Kontrastierbarkeit gegenüber den 
Zweckbestimmungen historischer Zeiten. Ein ungebrochenes, quasi 
naives, Übertragen wissenschaftlicher Differenzierungen, mit denen 
ein Verständnis historischer, dokumentlich belegter Vorgänge erfolg¬ 
reich ist, in die vorkulturelle mythische Ungeklärtheit geht ins Ufer¬ 
lose und wird der zielsicheren Umgrenzung kulturgeschichtlicher 
Wissenschaft nicht gerecht. 


C. Motivation als ein die Vorkultur kontrastierender Lehnbe- 
griff aus dem Gesichtspunkt der KulturpBychologie. 

1) Bloße Erschließbarkeit vorzeitlicher Motivation im 
Unterschied von der Aufweisbarkeit kontinuierlich tele¬ 
ologischer Zwecksetzung der im historischen Bewußtsein 

beteiligten Person. 

Der Begriff der Motivation für die prähistorische Vorbegrifflich- 
keit tritt geradezu an die Stelle der in historischen Zeiten voraus¬ 
zusetzenden historiologischen Kategorie der Individualität. Das 
Individuum oder dessen idealer Sinn: die Person als kontrastierend- 
orientierende Voraussetzung geschichtlicher Kontinuität ist der Aus¬ 
gangspunkt der Ermöglichung einer Anwendung der, den Kultur¬ 
zusammenhang symbolisierenden, unterschiedlichen Werte geschicht¬ 
lichen Belebens. Mit diesen kategorialen Voraussetzungen der Ge¬ 
schichtsforschung, Individualität und Kontinuität, ist etwas über 
die Anwendungen der Naturgeschichtlichkeit hinaus Zweckvolles 
gesetzt. Im Gebiete der Bewußtseinstatsachen verankert sich die 
Teleologie der Geschichte im Individuum ebenso bewußtseinsbeteiligt, 
wie z. B. die Atomsetzung ein Überschneidungspunkt allgemeiner 
Regeln und Gesetze der Naturgesetzlichkeit ohne Bewußtsein ist. 

Dahingegen ist der Ausgang der Symbolgestaltungen des vorge¬ 
schichtlichen Belebens nicht unmittelbar aufzuzeigen. Die Motiva¬ 
tion, in welcher die mythologischen Motive anzusetzen sind, kann 
man nur erschließen durch psychologisches In-sie-hineinschauen auf 
einen Bewußtseinszusammenhang hin, der sie ermöglicht. 


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Hngo Lehmann, 


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Das Mythische an den archäologisch festzustellenden Überliefe¬ 
rungen der Prähistorie wird teils durch die psychologische Lebendig¬ 
keit des auffassenden historischen Archäologen gewonnen, teils ent¬ 
spricht es der, von der vorgeschichtlichen Forschung zu übenden, 
Notwendigkeit, in den Stoff als Rohmaterial für die Historik diejenige 
psychologische Lebendigkeit hypothetisch hineinzudenken, welche 
seine Vorgefundene Gestalt veranlaßt haben könnte. Ich lege diese 
hypothetische Belebbarkeit des vorgeschichtlichen Stoffes als Mythus, 
Mythe, Mythos auseinander und bezeichne die Schlußform darauf als 
Rückschluß. 

Die Klassifikation der Vorzeit ist auf eine exegetische, bzw. 
hermeneutische, Psychologie der Mythologie angewiesen. Die ideelle 
Erörterung tritt vielfach an die Stelle der Beschreibung. 

2) Rückschluß. 

Dabei ist die spezifisch kulturell- und vorkulturell-psychologische 
Beobachtung notwendig. Die grundlegenden Momente aller Vor¬ 
kultur und Kultur müssen in historiologisch-kultureller Beobachtung 
gegeneinander vergleichbar und kontrastierbar fixiert werden. Es 
gibt eine von dem Kulturbestand aus erschließbare Teleologie der 
Motivation; in ihr ist die betreffende, der Analyse zu unterziehende, 
prähistorische Phase historisch-teleologischer Bildung zu messen. 
Methodisch anschaulich lassen sich nicht bloß die unterschiedenen 
Kultursysteme, wie solche sich in den historischen Epochen diffe¬ 
renzieren, erfassen, sondern auch die undifferenzierte Vorzeit, wie 
solche überall auch für die historischen Zeiten und Völker die mythi¬ 
sche Unterschicht bildet. 

a) Wichtigkeit des vorzeitlichen Materials für die Religionsgeschichte. 

Aus der prähistorischen Unterschicht leitet sich das grundlegende 
Material für die differenzierten Gebilde historischer Zeiten her. So 
ist es erklärlich, daß man ihrer Motivation, wenn nicht historio- 
graphisch, so doch prähistorisch- und historisch-logisch, d. i. kultur- 
und vorkultur-psychologisch, beizukommen sucht. Insbesondere die 
moderne religionsgeschichtliche Forschung hat die wissenschafts¬ 
geschichtliche Tatsache zu verzeichnen, daß die Religionsgeschichte 
nicht so sehr mit den differenzierten historischen Religionen, sondern 
mit deren undifferenzierter Vorzeit und demgemäß mit der durch 
magische Zwecksetzung aktivierten Unterschicht der Kulturreligionen 
sich beschäftigt. 


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Kulturpsychologie und Geschichtstheorie. 143 

Die »großzügige Synthese der modernen Religionsforschung«, wie 
Nathan Söderblom 1 ) die Bände von Wilh. Wundts Völker¬ 
psychologie nennt, welche über Mythus und Religion handeln, ist 
gleichfalls ein bahnbrechender Hinweis auf die Bedeutung, welche 
die mythische Unterschicht für die genealogische Herleitung des 
religionsgeschichtlichen Materials besitzt. Das religionsgeschicht¬ 
liche Material ist in seiner Herleitung nicht anders gestellt, als das 
philologische, kunsthistorische und das ethnologische Material. »Die 
Sprache ist von dem Mythus beeinflußt, die Kunst ein Bestandteil 
der Mythenentwicklung, Sitten und Gebräuche sind überall vom 
mythologischen Denken getragen« 2 ). Die Feststellung der psychi¬ 
schen Äußerungen, die durch Lautgebärde der Sprache begleitet’ 
werden, geschieht, nicht ohne daß Mythus der äußeren Betätigung 
ihren inneren Halt in der Einbildungskraft gegeben hat. 

3) Vom Mythus zur Religion. 

Ebensowenig wie Philologie, Kunsthistorie und Ethnologie darf 
die Religionswissenschaft vorübergehen an der Bedeutung, welche 
die mythische Unterschicht aller Kultur hat für die Herleitung des 
Stoffes, an welchem die Kulturarbeit historischer Religionen sich 
vollzieht. Die mythische Unterschicht ist zu analysieren. 

Nur muß eine historiologisch-psychologische Betrachtung dem 
Wandel der Bedeutung, welchen der Begriff 3 ) Religion vollzogen 
hat, einigermaßen der eigenen Religionskultur bewußt, gerecht werden. 
Der Gang der Entwicklung vom Mythus zur Religion ist anschaulich 
zu machen. Der mythische Bestand repräsentiert materiell zu wer¬ 
tende Voraussetzungen, während die im Zentrum der Individualität 
und deren kultursystematischer Be-inhaltung, also im Zentrum der 
schöpferischen Geistesbildung verstandene Religion, ihrem histori- 

1) »Über den Zusammenhang höherer Gottesideen mit primitiven Vor- 
Stellungen.« Im Archiv für Religionswissenschaft Bd. 17, Heft 1, S. 7. 

Zu vgl.: N. Söderblom, »Das Werden des Gottesglaubens«. Hinrichs, 
Leipzig. 

2) Wilh. Wundt: »Elemente der Völkerpsychologie«, S. 7. Zu vgl. 
Völkerpsych. I 3 , S. 37f. 

3) Wilh. Wundt: Mythus und Religion, dritter Teil, in Völkerpsych. VI», 
S. 401 ff. 

Carl Meinhof: Afrikanische Religionen, S. 11, stellt die Frage nach der 
Terminologie, indem er darauf hinweist, daß »die Religion im innersten Heiligtum 
des Herzens«, ebensowohl wie die ästhetischen Mysterienkulte griechischer 
Tradition und die religions-philosophischen Systeme der Inder, eine wesentlich 
geänderte Bedeutung hat, als der magisch-motivierte Kultus. 


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Hugo Lehmann, 


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sehen Prinzip nach, durch den sich differenzierenden und organisie¬ 
renden Umkreis der unterschiedenen historischen Kulturphasen zu 
bestimmen ist. 

4) Das Exemplarische der Religionsvorgeschichte und 
Religionsgeschichte für die Grundlegung der Geistes¬ 
wissenschaften überhaupt. 

Das Beispiel der religionsgeschichtlichen Forschung stellt der 
Wissenschaft das Problem einer wissenschaftlichen Abhebung histo¬ 
rischer Differenziertheit von mythischer Undifferenziertheit. Dabei 
genügt es nicht, zur Herausstellung historisch verstehender Kategorien 
wissenschaftslogisch geradlinig zu verfahren. Die Kausalgleichung 
(causa aequat effectum) der naturwissenschaftlichen Logik formt das 
empfindungsmögliche Material in der geraden Linie einer Daseins¬ 
bestimmung. Handelt es sich aber um eine Bedeutungsbeziehung, 
wie zumeist in der Ethnographie und besonders in der Historiographie 
und stets in der Religions-Historiographie, so haben wir die Gefühls¬ 
struktur. Diese Bedeutungsstruktur betrachtet von einem Punkt 
die Linie des Daseins mit verschiedenseitiger Möglichkeit der Deutung 
und Bedeutung jeder Handlung im einzelnen. Die eigentümliche 
Gebrochenheit 1 ) der historischen und prähistorischen Beziehungen und 
der beim Ansatz der jedesmaligen Epochen zu fixierende Bedeutungs¬ 
wandel der historischen Kategorien erfordert eine psychologisch ein¬ 
fühlende Überschneidung der Beziehungslinien bzw. Kontrastierung 
gegenüberstehender Motivationen. 

5) Gefühlsstruktur der Geistesbildung, 
a) Kulturelle Differenzierungsaktion. 

Somit vollzieht sich das Erlebnis kontrastierender prähistorischer 
und historischer Aktion des menschheitlichen Kulturselbstbewußt¬ 
seins gewissermaßen analog der Struktur des reaktiven Gefühlserleb¬ 
nisses 2 ). Nur mit umgekehrter Zieleinstellung! Insofern das psy- 

1) Zu vgl. Ernst Tröltsch: »Die Bedeutung des Begriffes der Kontin¬ 
genz*. Gesammelte Schriften Bd. II, S. 778. »Kausalungleichung ist unser 
Verfahren bei der Aufsuchung der Darstellung historischer Zusammenhänge.« 

2) Was die Struktur des reaktiven Gefühlserlebnisses anbetrifft, so brauche 
ich nur auf Wundts physiologische Psychologie zu verweisen: vgl. Grundriß 
der Psych. § 7, Fig. 8, S. 100 11 . Dazu »Skizze der kulturellen Werte in dem 
Geistesleben der Gegenwart in Hinsicht auf deren religiöse Beziehung« von 
Hugo Lehmann: »Nord und Süd« Aprilheft 1914, Fig. S. 42, S. 43f. und 
»Das Apriori der Geistesbildung und dessen Betonung als Andacht ♦, Zeitschrift 
f. Religionsp9ych. Bd. 6, Heft 10—12, S. 375ff., S. 357, S. 344. 


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KulturpHychologie und Geschiehtstlieorie 


145 


chisohe Resultat der Reaktion die sachliche Aufmerksamkeit zur per¬ 
sönlichen Apperzeption konzentriert, und diese wieder Ausgangs¬ 
punkt kontinuierlicher Aktion bis hin zur menschheitlichen Funktion 
wird! Gefühlsstruktur ist aber Grundschema jedes Bedeutungs¬ 
erlebnisses. Nach seiner physiologischen Seite erscheint dasselbe als 
Reaktion, während es nach der soziologisch-psychologischen, kultu¬ 
rellen Seite Aktion bedeutet, die mit Hilfe der werdenden Gesell¬ 
schaft«- und Staatsrechtsordnung zu geschichtlicher Fixierung eines 
Erziehungszusammenhangs des menschlichen Geschlechts gelangt. 

b) Überschneidung dieser Kulturaktion mit unterschichtlicher 

Motivation. 

Unter den Gesichtspunkt der kultur- und vorkulturpsychologi¬ 
schen Aktion stellen wir auch speziell den Nachweis dreifältiger Kon- 
trastierung der Motivation magischer Affektivitäten, mythischer 
Ritualitäten, wechselnder Bedeutsamkeit innerhalb der mythischen 
Unterschicht aller Kultur, insonderheit auch aller Religionsgeschichte. 

Wir sprachen über die kategoriale Bedeutung der Motivation für 
diese Unterschicht. Diese Unterschicht aller Kultur hat eine drei¬ 
fältige Motivation, nämlich (magische) Affektivität, (mythische) 
Ritualität, (Deutung und Bedeutung wandelnde) Mutabilität, 
nicht so, daß man sich innerhalb dieser Unterschicht der dreifachen 
Motivation empfindungsschwellig bewußt w T äre, aber so, daß man 
mit dem geschärften Auge der kulturellen Aktion den Bestand der 
Unterkultur, insonderheit der Unterreligion, nicht anders beurteilen 
kann, als mit Hilfe des Maßstabes dieser dreifachen Kontrastierung 
der Motivation. 

c) Psychologische Kategorisierungsmöglichkeit der Unterkultur. 

In dieser Weise dient die Kulturpsychologie der Einsicht in das 

ihr aus der mythischen Unterschicht dargereichte Material. Bevor 
sie die, unter geschichtsphilosophisch-soziologischen Gesichtspunkten 
geordneten, Wissenschaften (in betreff der Durchführungsmöglich¬ 
keiten der eigenen Prinzipien ihrer menschheitlichen Aktion) orien¬ 
tiert, sichert sie sich ihre Nachhut durch die psychologische Kate- 
gorisierung der Unterkultur. In den Verhältnissen der \ orgeschichte, 
in denen offenbar das geradlinige logisch-wissenschaftliche Urteil 
nicht der vorbegrifflichen Gegebenheit Herr wird, vermag die ge¬ 
brochene Struktur des Kulturerlebnisses psychologisch auch die Um¬ 
kehrung aller Werte und damit auch die Unbegrifflichkeit zu be¬ 
greifen. 

Archiv für Psycholo^i». XXXIX. ^ 


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146 


Hugo Lehmann, 


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d) Forderung vorkulturell-mythologischer Ordnung des unter- 
schichtlichen Materials als Prähistorie der allgemeinen kritischen 

R eli gionsg eschich te. 

Erst die Psychologie der Unterkultur erzielt eine geschlossene 
Beurteilung der Vorgeschichte; insonderheit wird die gebrochene 
Struktur des, seine innere Bedeutung stets wandelnden, Kulturerleb¬ 
nisses, sowie dessen Kontrastierung gegenüber dem Erlebnis der 
Vorkultur von der Religionswissenschaft vorausgesetzt. Hier ist es 
am eindringlichsten zu fordern, daß die Kulturpsychologie am Uber¬ 
schneidungspunkt kontrastierender Aktion sich des unterhistorischen 
Materials psychologisch ordnend bemächtigt und demgemäß die 
Motivation der Unterschicht da bewußt macht, wo es sich darum 
handelt, die Bedeutung des traditionellen Religionsstoffes in seiner 
gegensätzlich tendierten Bedeutungsumbildung zu verstehen und 
damit denselben der Kulturgeschichte zuzubereiten. 


D. Die allgemeine Sichtung der Frähistorie auf eine Kultur¬ 
psychologie. 

Neben der elementaren Psychologie, welche mit Hilfe der Phy¬ 
siologie ihren Unterbau raumzeitlich vergegenständlicht, kommt aus 
der Unterschicht der Historie eine Kulturpsychologie zu wissenschaft¬ 
licher Notwendigkeit, welche behufs Abgrenzung der vorkulturellen 
Unterschicht die Grundkategorie der Motivation gewinnt. Bei der, 
im Lebensgebiet des Mythus zur Disposition stehenden, Betätigung 
einer Affektmotivation des magischen Einflusses tritt die natur¬ 
mitgiftverarbeitende Motivbildung unterschichtlich heraus. In kul¬ 
turhistorisch-ethische Beziehung des geschichtskritischen Geistes 
hineinversetzt, bildet sich die Motivation um zur Struktur der Kultur¬ 
systeme, indem sie über physiologische und soziologische Materialität 
im Sinne des, nun sittengesetzlich-fundierten, Umkreises der Geistes¬ 
bild ung disponiert. 

II. Die vorgeschichtliche Ethnopsychologie im Blick anf historio- 
logische Kategorisieruug. 

Es sollte der Sinn einer Kulturpsychologie sein, ethnologisches 
Material der Geschichtswissenschaft (und auf den Wegen dieser der 
Religions- und Kulturphilosophie bzw. einer ethnologisch zu be¬ 
währenden und völkerpädagogisch zu erprobenden Ethik) näher zu 
rücken. Dies kann nicht nur durch ein Vorgehen geschehen, das 
uns dem ethnologischen Material direkt diejenigen Gesichtspunkte 


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Kulturpsychologie and Gesehichtstheorie. 


147 


etwa mit Hilfe des (Bastianschen) Elementar- und Völker-oder mit 
Hilfe des (Ratzeischen) Übertragungsgedankens entnehmen läßt, 
welche in die Geschichte hineinzufiihren vermögen. Das ethno¬ 
logische Material muß durch die Art seiner Behandlung auch um¬ 
gekehrt den Prinzipien der Geschichtswissenschaft zugeordnet werden. 

Der ethnologischen und noch der völkerpsychologischen Forschung 
erscheint das prähistorische Material analog den Daseinsobjekten der 
Naturwissenschaft. Für die historische Wissenschaft muß ihre Prä¬ 
historie als ein Dispositionenfonds von Wirksamkeiten erobert werden. 
Diese bilden den Untergrund jeder historiologisch-zivilisatorischen 
Bedeutsamkeit und jeder historiologisch-kultursystematischen Gültig¬ 
keit. Alle diese Beziehungen der Vorgeschichte treten in historische 
Aktion als Seiten- oder Betrachtungsweisen des Daseins in der Zeit, 
ohne daß sie an und für sich bereits, in der Vereinzelung ihrer 
Daseinsbeschreibung, den Gegenstand der Historie ausmachten. 

Es ist einer der sonderbarsten Verstöße gegen den beziehentlichen 
Sinn der Geschichtswissenschaft, wenn immer wieder Historiker und 
Philosophen die Art und Weise ihrer historiologischen Beobachtung 
geschichtlicher Relationen nicht nur indirekt betrachtend, sondern 
auch direkt vor findend, in der Geschichte auf weisen zu können ver¬ 
meinen. So wird etwa der Turgotsche und St. Simonsche, später 
von Comte formulierte, Klimax einer theologischen, metaphysischen, 
positiven Entwicklungsstufe immer wieder wie ein Naturdaseins¬ 
gesetz 1 ) gewertet. Dagegen kulturentwicklungs-genetisch kann man 
diese Stufenfolge wohl sich beziehentlich gegeneinander in und an 
der Geschichte bewähren lassen. Aber diese Stufenfolge hat nicht 
die Daseinsbedeutung von bestimmt nach ihrem hic et nunc et istic 
abzutrennenden Zeitaltern, weder innerhalb der allgemeinen Mensch¬ 
heitsentwicklung (Comte), noch auch innerhalb der einzelnen Volks¬ 
zeitenentwicklung (Dilthey); sie bedeutet vielmehr einen kultur- 


1) Dagegen richtet »ich auch W. Wundt: Logik® 112 S. 133f., 390f., 
149f. Zur Erklärung dient P. Barth: »Die Philosophie der Geschichte als 
.Soziologie« 8 I, tf. 196. Mir scheint Comte, wie auch Barth, sich zwar des 
Unterschiedes von Naturdaseinskausalität und historischer Bedeutungsordnung 
nicht bewußt zu sein, dennoch auf die von mir entdeckte Zweiseitigkeit letzterer 
als 1. Verlaufs- und 2. Zustandsbeziehungsregel bereits hinzuweisen: »Cours 
de Philosophie positive«* I, S. 9f. mit »einer Definition des »soziologischen*- 
historiologischen Gesetzes als »rclation invariable de succession et de similitude«. 
Verlaufskritische Ordnung (suocession) und zustandskritische Beziehung (simi¬ 
litude) sind ihm propri6t4s III, 459 nicht Ursachen II, 598f., was sich in meiner 
These begründet, daß sie i^rsonal beobachtet werden müssen. 

10 * 


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148 Hugo Lehmann, Kultnrpsychologio und Geschichtetheoiie. 


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psychologischen Relationenkontrast, der an jeder historischen Ge¬ 
gebenheit und auf jeder Stufe der historischen Entwicklung eine 
verschiedenseitige genetische wie systematische Betrachtungsmöglich¬ 
keit zur Anschauung bringt. Auch die Diltheyschen Struktur¬ 
gesichtspunkte werden fälschlich direkt wie Daseinsinstanzen be¬ 
handelt; sie sind aber nicht selbst immittelbar historisch vorhanden, 
sondern nur heuristische Mittel zur Erforschung des historischen 
Tatbestandes oder auch methodisch-logische Anordnungen des auf¬ 
zunehmenden Stoffes. Es sind, durch die Struktur des Erlebnis- 
gefühls kulturpsychologisch mögliche, heuristische Hebel der Ge¬ 
schichtsforschung einerseits und methodisch-logische Gesichtspunkte 
der Geschichtsauffassungen andererseits. Wir haben in ihnen bereits 
eine Art historiologischer Kategorisierung, die auf das Prinzip kate- 
gorial-kritischer Erkennung der Ereignisse mit Hilfe des historischen 
Relationismus hinweist. 


(Eingegangtm 1. Mürz 1917.) 


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Erklärung. 


Seit dem Hinscheiden Oswald Külpes, dem nächst Meumann 
das Haupt verdienst an der Begründung und Förderung unseres 
Archives zukommt, sind nunmehr bald vier Jahre vergangen, 
ohne daß wir den Nachruf bringen konnten, den seinerzeit Herr 
Professor Ach zu übernehmen die Güte hatte. Diese Abhand¬ 
lung Achs, auf die schon eine Notiz auf dem Umschläge des dem 
Trauerfall folgenden Heftes XXX, 1 hinwies, dachten wir uns von 
Anfang an nicht nur als eine dem Augenblick genügende Ehrung, 
sondern als eine möglichst eingehende Würdigung des Forschers 
und Philosophen, mit einer vollständigen Bibliographie. Obgleich 
es nun bei der militärischen Dienstleistung Professor Achs 
als Stabsarzt einer besonderen Entschuldigung für die Ver¬ 
zögerung einer gebührenden Erfüllung dieser Ehrenpflicht durch 
die Rriegsjahre in keiner Weise bedurft hätte, bittet er mich doch 
um die Aufnahme dieser Erklärung und die Erneuerung seines 
freundlichen Versprechens für die Leser des Archives, nachdem 
sich bei den gegenwärtigen Verhältnissen auch kein Ersatzmann 
zu einer gleichwertigen schnelleren Leistung bereit finden ließ. 
Inzwischen ist aber nun auch die Veröffentlichung des schon im 
Drucke befindlichen 2. und 3. Bandes von Külpes letztem Werk 
»Die Realisierung« aus dem Nachlaß durch unseren Mitheraus¬ 
geber Herrn Prof. Messer so nahe gerückt, daß Herr Prof. Ach 
mit Recht, insbesondere für eine möglichst vollständige Darstellung 
der psychologischen Theorien Külpes, nunmehr auch noch das 
Erscheinen dieser wichtigen Schriften abwarten will, in denen 
die Lehre vom Denken behandelt ist. 


Der Herausgeber. 


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VERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG 

Vorlesungen zur Einführung in die 
experimentelle Pädagogik und ihre 
psychologischen Grundlagen 

von ERNST MEUMANN 

Zweite, umgearbeitete und stark vermehrte Auflage in 3 Bänden 

I. BAND. Mit 34 Abbildungen im Text. XIX und 725 Seiten. 

gr. 8. Geheftet M. 9.—, in Leinen gebunden 
M. 13.— 

II. BAND. Mit 39 Abbildungen im Text und auf einer Tafel. 

XIV und 800 Seiten, gr. 8. Geheftet M. 11.—, 
in Leinen gebunden M. 15.— 

III. BAND. Mit 54 Abbildungen im Text und auf einer Tafel. 

XVI und 919 Seiten, gr. 8. Geheftet M. 12.—, 
in Leinen gebunden M. 16.— 

AUS DEN BESPRECHUNGEN: 

Man kann es ohne eine Übertreibung aussprechen, daß es Meumanns 
Lebensaufgabe geworden ist, innerhalb der Pädagogik die größte 
Wandlung herbeizuführen, ihre endgültige Erhebung zur Wissenschaft. 

Deutsche Schule. 

Das Werk Meumanns aber ist vortrefflich geeignet, sowohl einen 
Überblick über das bisher Geleistete zu geben, wie auch zur Mitarbeit 
anzuregen und anzuleiten. Pädagogisches Archiv. 

Ohne Meumanns Vorlesungen zurzeit als moderner Lehrer zu wirken, 
hieße, ohne Pestalozzi und Diesterweg Lehrer gewesen zu sein. 

Monatsschrift zur Förderung des österr. Schulwesens. 

Ich kann daher das Werk bloß jedem bestens empfehlen, der sich 
über das behandelte Gebiet informieren will. 

Die Mittelschule und höhere Mädchenschule. 

Und diese Eigenart des Werkes macht es für die Fortbildung der 
Lehrer besonders wertvoll. 

Literarische Beilage zur Pädagog. Zeitung. 

Diese Vorlesungen sind zu den bedeutendsten Erscheinungen der 
gegenwärtigen pädagogischen Literatur zu rechnen. Wir empfehlen 
das Buch auf das Beste. Deutsche Schulpraxis. 


Auf vorstehende Preise QO% Verleger- und ein Sortlmenter-Teuerungszusohlag 



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(Aus dem Institut für experimentelle Psychologie der Universität 
Leipzig. — Direktor Prof. Wundt.) 


Einfache Reaktionen bei Variation und rhythmischer 
Gliederung der Vorperiode. 

Von 

B. Panlssen (Leipzig). 

Mit 6 Figuren im Text. 


Inhaltsangabe. Seit« 

L Einleitung.140 

EL Methode.150 

HI. Versuchsanordnung. 168 

EV. Die Versuche und ihre Ergebnisse.175 

V. Zusammenfassung und Schluß.209 


I. Einleitung. 

Im täglichen Leben ist uns die Verwendung rhythmischer Sinnes¬ 
eindrücke zur Regulierung und Mechanisierung unserer Willens¬ 
handlungen ganz geläufig. Am häufigsten tritt jene typische Ver¬ 
bindung von Klang und Bewegungsrhythmen ein, die nach Bücher 1 ) 
in der menschlichen Arbeit ihre Quelle hat. Die einzelnen Willens¬ 
akte selbst, beziehungsweise die durch sie erzeugten Tasteindrücke, 
bilden hier, meist im Verein mit akustischen Reizen, die Glieder der 
rhythmischen Reihe. Fast alle dauernden rhythmischen Körper¬ 
bewegungen, Marsch, mechanische Arbeit oder Tanz sind hierher 
zu rechnen 2 ). Die meisten Arbeiten der experimentellen Psychologie, 
die den Zusammenhang zwischen Rhythmus und Willkürbewegung 
erforschen, gehen von dieser Seite des Problems, den Dauerleistungen 
in rhythmischen Intervallen aus 8 ). Man verwendet — als einfachstes 


1) K. Bücher, Arbeit u. Rhythmus. 4. AufL 1909. 

2) W. Wundt, Physiologische Psychologie in*. S. 32f. 

3) M.KeiverSmith,Rhythmusu. Arbeit; Philos.Stud. XVI. S.71f.u.321f. 
— D. Awramoff, Arbeit u. Rhythmus; Philos. Stud. XVIII. S. 515f. 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 11 


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150 


B. Paulssen, 


Beispiel — das Mittaktieren rhythmischer Schalleindrücke oder macht 
von den bekannten ergographischen Methoden Gebrauch 1 ). 

Es kann die Verbindung rhythmischer Eindrücke mit einer Be¬ 
wegung aber auch so vollzogen werden, daß ein einzelner Willens¬ 
akt, der in einem genau festliegenden Zeitpunkt vor sich gehen soll, 
durch rhythmische Sinneseindrücke vorbereitet wird. Praktisch 
tritt dies ein beim Zusammenarbeiten mehrerer Individuen, wo der 
einzelne in seinen Handlungen sich nach seinen Mitarbeitern richten 
muß; beim Sport, wo durch lautes Zählen der Zeitpunkt des Ein¬ 
trittes einer Bewegung fixiert wird oder — beim militärischen 
Kommando. — Auch die in der experimentellen Psychologie bei 
der Erforschung der Willensvorgänge allgemein verwendete Reaktions¬ 
technik nähert sich, durch die fast überall durchgeführte Anwendung 
eines Vorsignals, das dem eigentlichen Reiz in einem meist konstanten 
Intervall vorangeht, dieser Art der rhythmischen Vorbereitung. Bei 
häufiger Wiederholung solcher Versuche in gleichmäßigen Inter¬ 
vallen wird sich leicht eine rhythmische Gliederung des ganzen 
Komplexes, der Vorsignal, Reiz und Reaktion umfaßt, ausbilden. 
Jedoch bleibt es hierbei meist bei einem einzigen Vorsignal, das 
bei allen Versuchen dem Reiz in einem konstanten Intervall \or- 
angeht. 

Eingehendere Untersuchungen auf diesem Gebiet liegen nur mit 
Rücksicht auf die zeitliche Dauer der Vorperiode vor 2 ). Welchen 
Einflüssen die Willenshandlung aber unterliegt, wenn, bei Ver¬ 
wendung der üblichen Reaktionstechnik, die Vorperiode, d. h. die 
Zeit zwischen erstem Vorsignal und Hauptreiz eine rhythmische 
Gliederung erfährt, das soll das Problem dieser Untersuchung sein. 
Da sich mit der rhythmischen Gliederung eine Variation der Ge¬ 
samtzeitdauer der Vorperiode leicht vereinen läßt, so werden beide 
Gesichtspunkte nach Möglichkeit zu berücksichtigen sein. 

n. Methode. 

Um den Einfluß der Rhythmisierung der Vorperiode auf das 
Verhalten der Versuchspersonen bei Verwendung der Reaktions¬ 
methoden festzustellen, sind mehrere Wege möglich. Man kann 


1) W. Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. Braun¬ 
schweig 1908. S. 368 f. 

2) G. Dwelshauvers, Untersuchungen zur Mechanik der aktiven Auf¬ 
merksamkeit. Philos. Stud. VI. S. 217f. — Deila Valle, Der Einfluß der 
Erwartung auf die Reaktionsvorgänge. Psychol. Stud. III. S. 294f. 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung' der Vorperiode. 151 

direkt vorgehen, und aus den Reaktionszeiten, ihren Variationen 
und den Aussagen der Vpn. die Wirkungen der rhythmisierten Vor¬ 
periode ermitteln. Man kann jedoch auch indirekt verfahren, und 
an der Wirkung von Prüfungsreizen, die man in verschiedenen Stadien 
der Willenshandlung zwischen erstem Vorsignal und Hauptreiz ein¬ 
führt, die Einflüsse der speziellen Vorbereitung auf den Verlauf der 
ganzen Willenshandlung untersuchen. 

1) Wir haben zunächst in Anschluß an eine Arbeit von Ha m mer 1 ) 
über die Hemmung einer vorbereiteten Willenshandlung das in¬ 
direkte Verfahren auf die neue Spezialfrage angewendet, was sich 
aus Prüfungsreizen erschließen läßt, die einem anderen Sinnesgebiet 
als Vorsignale und Hauptreiz angehören. Wir verwendeten optische 
Kontrollen bei akustischen Vorsignalen und Hauptreiz, denn die 
unregelmäßig auftretenden Prüfungsversuche hätten den Rhythmus 
der Vorbereitung beeinträchtigt, wenn sie ebenfalls akustisch ge¬ 
wesen wären. Erst nachdem die meisten Vpn. infolge des optischen 
Nebenreizes unwillkürlich von der normalen Einstellung abwichen, 
und sich dadurch Verschiebungen der Problemstellung ergaben, sind 
wir zum direkten Verfahren übergegangen 2 ). 

2) Bevor wir jedoch auf diese direkte Methode im einzelnen ein- 
gehen, sind einige allgemeine Bemerkungen zu machen. Zur Unter¬ 
suchung fast aller Probleme, die Fragen des Zeitsinns berühren, 
sind akustische Reize schon aus physiologischen Gründen am ge¬ 
eignetsten. Handelt es sich speziell um die Gliederung von Zeit¬ 
strecken, so geschieht dies am besten durch möglichst momentane 
Schalleindrücke, zwischen denen sogenannte »reizfreie« Intervalle 
liegen*). Das einfachste Hilfsmittel zur Erzeugung derselben ist 
das Metronom; größere Genauigkeit und größere Variationsmöglich¬ 
keiten bezüglich der Intensität, Dauer und Geschwindigkeit der 
Reize gestatten Kontaktapparate, die zu diesem Zweck meist mit 
elektromagnetischen Schallhämmern kombiniert werden. Auch in 
der vorliegenden Arbeit benutzten wir eine solche Anordnung. 

Die Gliederung der Vorperiode erfolgte durch Vermehrung der 
Anzahl der Vorsignale. Hierzu dienten ein bis vier genau äqui- 

1) A Hammer, Untersuchung der Hemmung einer vorbereiteten Willens- 
h&ndlung. Psychol. Stud. IX. S. 321 f. 

2) Die Resultate sind nicht überhaupt wertlos, sondern eben nur auf eine 
veränderte Einstellung zu beziehen, und sollen gelegentlich als Untersuchung 
über den Einfluß beachteter oder unbeachteter disparater Nebenreize ver¬ 
öffentlicht werden. 

3) Vgl hierzu Wundt, Physiol. Psychol. III«. S. 3ff. 

11* 


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152 


B. Paulssen 


distante Taktschläge eines kleinen Schallhammers, die unter sich 
und mit dem Hauptreiz qualitativ und intensiv völlig überein¬ 
stimmten. Der Hauptreiz schloß sich also als zweiter, dritter, vierter 
oder fünfter Schlag an diese völlig homogene Reihe der Vorsignale 
genau im Takte an. Die bei dem Umfange des Problems durchaus 
notwendige Beschränkung des Stoffes machte es unmöglich, beliebig 
viele Vorsignale heranzuziehen. Die Zahl der die Reaktion insgesamt 
vorbereitenden Eindrücke auf mehr als fünf auszudehnen, erschien 
vorläufig deshalb nicht geboten, weil Ermüdungseinflüsse vermieden 
werden sollten, und weil die Untergliederung bei längeren Reihen 
keine wesentlich neuen Vorbereitungsstadien aufkommen läßt. 

3) Ebenso wie die Anzahl der Vorsignale mußten auch die Inter¬ 
vallängen, die in Betracht gezogen werden sollten, eine enge Be¬ 
grenzung erfahren. Hierbei war von vornherein der Umstand günstig, 
daß reizfreie Intervalle überhaupt nur in sehr engen Grenzen eine 
rhythmische Auffassung nahelegen. Günstige Bedingungen zur 
Rhythmisierung sind nur dann vorhanden, wenn die Intervallgröße 
in den Grenzen von 0,2—1 Sekunden bleibt 1 ). 

In den ersten beiden Gruppen nach der direkten Methode 
legten wir das Intervall von 964 a zugrunde. Seine Länge war für 
unsere Versuche durch zufällige technische Gründe bedingt; da es 
der sogenannten »adäquaten Zeit« 2 ) jedoch ziemlich nahekommt, 
so schien es als Grundlage einer Untersuchung über den Zusammen¬ 
hang von Rhythmus und Bewegung besonders geeignet zu sein. 
In diesen beiden Gruppen betrug mithin, bei Verwendung von ein 
bis vier Vorsignalen, die Gesamtzeit der Vorperioden 964 a — 3856 o. 

In Gruppe III wurde als konstante Gesamtzeit der Vorbereitung 
1 Sekunde zugrunde gelegt, und diese wurde durch Vermehrung 
der Vorsignale in immer kleinere Intervalle gegliedert. Die untere 
Grenze bei vier Vorsignalen war also 250 o Intervallänge. 

In Gruppe IV wurde dagegen wieder, wie in den beiden ersten 
Gruppen, die Anzahl äquidistanter Taktschläge vermehrt, aber das 
Intervall auf etwa ein Viertel, nämlich 250 o, verkürzt. Die Länge 
der ganzen Vorperiode nahm also hier mit der Vermehrung der 
Taktschläge nur von 250 o bis zu 1 Sekunde zu. 

4) Es erscheint vielleicht befremdlich, wenn bei dieser einfachen 
Gliederung der Vorperiode in objectiv gleiche Intervalle, ohne die 
Einführung irgendeiner Betonung von »Rhythmisierung der Vor- 


1) Wundt, Physiol. PsychoL III«, S. 18f. 

2) Wundt, Physiol. Psychol. III®, S. 82. 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 1&3 

periode« gesprochen wird. Denn von Rhythmus kann doch nur 
dann die Rede sein, wenn die einzelnen Elemente der Taktreihe nicht 
isoliert, sondern in Beziehung zueinander und mit Betonungsunter¬ 
schieden erfaßt werden. Bei homogenen Reihen der genannten Art 
könnte daher die Bezeichnung: »rhythmische Vorbereitung« zum 
mindesten gezwungen erscheinen. Nun ist jedoch bekannt, daß es 
fast unmöglich ist, Reize, die sich in Intervallen von 0,2—1 Sekunden 
längere Zeit hindurch regelmäßig wiederholen, vollkommen isoliert 
und ohne jedes Betonungserlebnis aufzufassen. »Die Taktschläge 
erscheinen, auch wenn sie einander objektiv gleichen, doch nicht 
gleich, sondern ein schwächerer und ein stärkerer Schall scheinen 
in regelmäßigem Rhythmus zu wechseln 1 ).« Der Grund dieser Er¬ 
scheinung liegt in den Spannungen und Lösungen der Apperzeption, 
die durch die regelmäßige Aufeinanderfolge der Taktschläge sehr 
bald ausgelöst werden und in spezifischen Gefühlen zur Geltung 
kommen 2 ). Die Bedingungen für diese Reaktion der Apperzeption 
sind aber jedenfalls erfüllt, wenn man Taktreihen mit den Inter¬ 
vallen von 0,2—1 Sekunden als Vorbereitung einer Willenshandlung 
verwendet. Es ist von vornherein sehr wahrscheinlich, daß hierbei 
der letzte Taktschlag, der instruktionsgemäß das ausschlaggebende 
Motiv zum Handeln sein soll, in ganz anderer Weise und Stärke 
betont werden wird, als die anderen vorbereitenden Schläge. Im 
übrigen wird aber diese Variation der Betonung von der näheren 
oder ferneren Beziehung der Taktschläge zum Hauptreiz abhängig 
sein; sie entsteht durch die einheitliche Zusammenfassung der Ge¬ 
samtvorbereitung in der Apperzeption, auf der somit jede rhyth¬ 
mische Differentierung der Auffassung innerhalb der Reihe beruht. 
Wenn die Struktur der Reihe und ihr Zusammenhang mit der Reak¬ 
tion nicht im voraus bekannt ist, kann sich diese Zusammenfassung 
mit ihren Wirkungen natürlich erst im Laufe einer Wiederholung 
der Taktreihen herausbilden. Weiß jedoch der Beobachter im vor¬ 
aus, welche Reihe kommen wird — und so lag der Fall bei unseren 
Versuchen —, so entsteht diese Zusammenfassung schon in der Er¬ 
wartungsvorstellung. Die unmittelbare Wiederholung einer größeren 
Zahl von Versuchen mit gleicher Vorbereitung trägt dann noch 
dazu bei, diese Rhythmisierung bestimmter auszuprägen. Im Grunde 
genommen ist ja der Rhythmus von jeher schon bei der gebräuch¬ 
lichen Form der Reaktionstechnik mit nur einem einzigen Vorsignal 


1) Wundt, Physiol. Psychol. III*. S. 21. 

2) Wundt, Physiol. Psychol. II*. S. 366f. 


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154 


B. Paulssen 


ausgenützt worden, wie sich schon daraus ergibt, daß das Intervall 
für den Vorteil des Vorsignals hierbei entscheidend ist 1 ). 

5) Es ist nun zu erwarten, daß die Betonungsverhältnisse der 
vorbereitenden Sinneseindrücke die »Reaktionsform« 2 3 4 ) in bestimmter 
Weise beeinflussen werden. Dieser Begriff der »Reaktionsform« 
spielt in den Instruktionen der Vpn. seit der von L. Lange auf¬ 
gefundenen Unterscheidung von sensorieller und muskulärer Reak¬ 
tionsform eine wichtige Rolle 8 ). Lange fand bekanntlich, daß die 
Richtung der Aufmerksamkeit auf den Sinnesreiz oder auf den Impuls 
den ganzen Verlauf der Reaktion in fundamentaler Weise verändere. 
Der von ihm als sensorielle und muskuläre Reaktion charakterisierte 
Unterschied der Einstellung wird von Wundt 8 ) als verlängerte und 
verkürzte Reaktionsform bezeichnet; denselben steht als dritte Form 
die »natürliche« Reaktion gegenüber, die im allgemeinen das durch 
keine spezielle Instruktion beeinflußte Verhalten der Vp. darstellt. 

Wir haben in dieser Untersuchung jedoch davon abgesehen, die 
Aufmerksamkeitsrichtung der Vpn. durch eine solche spezielle In¬ 
struktion eindeutig festzulegen, und zwar aus folgendem Grunde: Es 
ist von vornherein nicht ausgeschlossen, daß die Rhythmisierung der 
Vorperiode von sich aus die apperzeptiven Elemente des ganzen 
Reaktionsvorganges in einer bestimmten Richtung beeinflußt. Da 
diese Richtung aber nicht als bekannt vorausgesetzt werden darf, 
so hätte sie durch den Einfluß einer speziellen Instruktion überdeckt 
oder verwischt werden können, während zu hoffen war, daß sie sich 
vom natürlichen Verhalten der Vp., das im allgemeinen kein extremes 
ist, deutlich abheben würde. Dennoch muß selbstverständlich das 
Verhalten der Vpn. bei Reaktionsversuchen einer gewissen allge¬ 
meinen Instruktion entsprechen, wenn sich nicht ganz hetero¬ 
gene, untereinander nicht vergleichbare Resultate, sowohl bei der 
nämlichen Vp., als auch beim Vergleich mehrerer Individuen ergeben 
sollen. Die bei allen vorliegenden Versuchen verwendete Instruk¬ 
tion, die der Vp. vor jeder Versuchsreihe wiederholt wurde, forderte, 
daß die Motivation der Willenshandlung unbedingt durch den 
eigentlichen Reiz, d. h. den letzten der in ihrer Anzahl stets im 
voraus bekannten Hammerschläge zu erfolgen hätte. Andererseits 


1) Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. S. 426. 

2) G. Deuchler, Beiträge zur Erforschung der Reaktionsformen. Psy- 
ohoL Stud. IV. S. 367 f. 

3) L. Lange, Neue Experimente über den Vorgang der einfachen Re¬ 
aktion usw. Philos. Stud. IV. S. 479 ff. 

4) Wundt, Physiol. Psychol. III«. S. 391. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 155 

wurde aber größtmöglichste »Bereitschaft« des Impulses ge¬ 
fordert, die Reaktion sollte »so schnell als möglich« auf die Auf¬ 
fassung des Reizes hin erfolgen. Hierzu wird im Vorbereitungs¬ 
stadium eine Anbahnung des Impulses notwendig sein, so daß die 
Vp. »zu seiner korrekten Aktualisierung im entscheidenden Moment 
keine Kraft und Zeit mehr zu verlieren braucht« 1 ). 

6) Diese Instruktion allein gibt jedoch selbst im Verein mit 
der Selbstbeobachtung der Vp. kein objektives Kriterium dafür, 
daß die aus den einzelnen Versuchen erhaltenen Reaktionszeiten 
auch wirklich der geforderten Verfassung des Bewußtseins ent¬ 
sprechen. Gerade bei einer rhythmischen Vorbereitung besteht die 
Gefahr, daß die Vp., ohne es zu merken, in ein völlig instruktions¬ 
widriges Verhalten hineingerät. Es wurden daher um festzustellen, 
ob der letzte Hammerschlag auch wirklich das Motiv zur endgültigen 
Auslösung des Impulses gewesen sei, oder ob die Vp. nur auf die 
Vorstellung einer ihr durch den Rhythmus geläufigen Zeitstrecke 
hin den Taster losgelassen hatte, die zuerst von Wirth*) verwen¬ 
deten systematischen Prüfungsversuche auch in dieser Unter¬ 
suchung durchgeführt. Sie bestanden darin, daß fast in jeder Reihe 
bei einem oder mehreren Versuchen der letzte Hammerschlag fortfiel. 
Die Vp. durfte dann, wenn ihr Verhalten instruktionsgemäß war, 
natürlich nicht reagieren. Tat sie es dennoch, so war hiermit der 
Beweis geliefert, daß der wirkliche Motivationszusammenhang zwi¬ 
schen Reiz und Reaktion gelockert oder aufgelöst war. Es darf 
allerdings nun nicht umgekehrt mit derselben Sicherheit geschlossen 
werden, daß die Beachtung aller Prüfungsversuche auch ein voll¬ 
kommen korrektes Verhalten der Vp. bei allen Einzelversuchen 
garantiert. Dieser Schluß ist besonders dann nicht zulässig, wenn 
die Zahl der Prüfungsversuche nicht sehr groß ist und das Verhalten 
der Vp. große Schwankungen zeigt; in diesem Fall wird man jedoch 
meist aus den Reaktionszeiten selbst und aus der Selbstbeobachtung 
der Vp. über die Schwierigkeit der Innehaltung der Prüfungsversuche 
Aufschluß über die Korrektheit der gewonnenen Reaktionszeiten 
erhalten. 

7) Abgesehen von diesem Hauptkriterium bereichern die Prü¬ 
fungsversuche die Selbstbeobachtung, weil diese Unterbrechung 
des gewöhnlichen Bewußtseinsverlaufs der Reaktionshandlung Ele- 

1) W. Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. S. 399. 

2) A. Kästner und W. Wirth, Die Bestimmung der Aufmerksamkeits¬ 
verteilung innerhalb des Sehfeldes usw. Psych. Stud., III., S. 361ff., und 
W. Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. S. 396ff. 


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156 


B. Paulssen, 


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mente, die sonst nicht beachtet wurden, deutlich zum Bewußtsein 
bringt. Seit den Arbeiten von Ach 1 ) hat die Verwendung der »syste¬ 
matischen Selbstbeobachtung« bei Reaktionsversuchen große Ver¬ 
breitung gefunden. Diese Methode macht es jedoch unmöglich, in 
einer relativ beschränkten Zeit eine für unsere Zwecke genügende 
Anzahl von Versuchen durchzuführen; dies war nun aber unbedingt 
notwendig, denn die Wirkungen der Rhythmisierung der Vorperiode 
werden um so deutlicher sich zeigen, je häufiger derselbe Erleb nis- 
zusammenhang in kurzen Zwischenräumen wiederholt wird. Außer¬ 
dem wären zur Durchführung dieses Verfahrens systematische Fragen 
des Versuchsleiters notwendig gewesen. Damit hätte aber das Prinzip, 
die Ungestörtheit der Vp. während der Einzelversuche und möglichst 
während einer ganzen Reihe derselben — um vergleichbare Resul¬ 
tate aus derselben Bewußtseinslage zu erhalten — so weit als möglich 
zu wahren, durchbrochen werden müssen 2 ). Auch schließt die Aus¬ 
tragung der Vp. nach den Versuchen die Gefahr ein, daß die repro¬ 
duktive Betrachtung des eben Erlebten hierdurch große Störungen 
erleidet, und daß so die wichtigste Quelle der Selbstbeobachtung ent¬ 
wertet wird. Schon die einfachsten tachistoskopischen Gedächtnis¬ 
oder Vergleichsversuche zeigen, daß jede Störung die Aussagen über 
das eben vergangene Erlebnis stark beeinträchtigt. Wir forderten 
deshalb nur von den Versuchspersonen, daß sie nach jedem Versuch 
eine kurze Notiz über den Verlauf der eben vollendeten Reaktion 
niederschrieben; im übrigen war es ihnen ganz anheimgestellt, wie 
sie ihre Selbstbeobachtungen wiedergeben wollten. Erwünscht 
waren Angaben über die Korrektheit des Verhaltens, und, wenn 
möglich, Urteile über die Dauer der Reaktion. Dazu kamen meist 
noch Bemerkungen über die rhythmischen Erlebnisse in der Vor¬ 
periode. Diese Selbstbeobachtungen notierte die Vp. selbst in der 
zwischen den Einzelversuchen eingeschobenen Pause, deren Länge 
zu bestimmen ihr überlassen werden konnte, da sich hierbei von 
selbst eine hinreichende Regelmäßigkeit des Verlaufs ergab. 

8) Die gewöhnlich bei Reaktionsversuchen verwendeten Ver¬ 
rechnungsmethoden machten in unserem Fall ziemliche Schwie¬ 
rigkeiten. Das gewonnene Material erwies sich nämlich, besonders 
in den späteren Gruppen mit kurzen, stark rhythmisierten Vor¬ 
perioden als keineswegs homogen. Willkürliche Streichungen zu 

1) N. Ach, Über die Willenstätigkeit und das Denken. Göttingen 1905, 
und N. Ach, Über den Willensakt und das Temperament. Leipzig 1910. 

2) VgL W.* Wundt, Über Ausfrageexperimente und die Methode zur 
Psychologie des Denkens. Kleine Schriften. Bd. 2. 



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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 157 

langer und zu kurzer Werte wurden im allgemeinen nicht vorge¬ 
nommen; dagegen wurde von dem Verfahren der subjektiven 
Beziehungen nach Dwelshauvers 1 ) Gebrauch gemacht, wonach 
alle von der Vp. selbst als nicht korrekt bezeichnete Werte zu streichen 
sind. Außerdem war natürlich die Innehaltung der Prüfungsversuche 
ein für die Verrechnung der Werte notwendiges Kriterium. Die 
Konstruktion von Häufigkeitskurven aber wurde dadurch unmög¬ 
lich, daß bei der relativ großen Zahl von verschiedenen Versuchs¬ 
gruppen — es handelte sich um fünf Gruppen zu je vier Partial¬ 
reihen — die Anzahl der Einzelversuche in jeder Reihe nicht so 
zahlreich sein konnte, wie sie zur Konstruktion solcher Kurven not¬ 
wendig ist. Alechsieff 2 ) verwendete für die Konstruktion einer 
Häufigkeitskurve 150 Einzelversuche, Berge mann 3 ) 200—500 oder 
600—800. In den hier vorliegenden Versuchen betrug die Zahl der 
Reaktionen in jeder Einzelreihe im Höchstfall 60, durchschnittlich 
20—30. Dagegen genügte diese Anzahl, um das arithmetische 
Mittel T zu bilden. Trotz der Einwände, die von Alechsieff und 
Berge mann dagegen erhoben wurden, erwies sich T im Verein 
mit der einfachen mittleren Variation V (zur Charakterisierung 
der Schwankung), den Prüfungsversuchen und dem Verfahren der 
subjektiven Beziehungen nach Dwelshauvers für unsere Zwecke 
als vollkommen ausreichend. 

Zunächst wurden die Tagesmittel gebildet. In jeder Gruppe 
bestand die Versuchsreihe einer Sitzung aus vier Partialreihen zu 
je 10—15 Einzelversuchen; innerhalb derselben blieb die Anzahl der 
Vorsignale — abgesehen von einigen Reihen in Gruppe III und IV — 
konstant. Dabei wechselten die vier Möglichkeiten mit verschiedener 
Anzahl der Vorsignale gesetzmäßig ihre Zeitlage. So konnten diese 
in einer Versuchsstunde erhaltenen Tagesmittel sehr wohl mit¬ 
einander verglichen werden 4 ). Bestand unter den Tagesmitteln eine 
gewisse Konstanz, was nach einiger Übung fast immer eintrat, so 
wurden aus diesen und ihren mittleren Variationen, unter Berück¬ 
sichtigung ihrer der Versuchszahl entsprechenden Gewichte, das 
Gesamtmittel T m sowie die Gesamtvariation V m abgeleitet. 
Außerdem wurde auch direkt die mittlere Abweichung aller 

1) G. Dwelshauvers, a. a. O. Philos. Stud. IV. S. 217ff. 1 

2) N. Alechsieff, Reaktionszeiten bei Durchgangsbeobachtungen. Philos. 
Stud. XVL S. lff. 

3) R. Berge mann, Reaktionen auf Schalleindrücke, nach der Methode 
der Häufigkeitskurven bearbeitet. Psychol. Stud. I. S. 179ff. 

4 ) S. Deuchler, a. a. 0. Psychol. Stud. IV. S. 353ff. 


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158 


B. PaulsseD, 


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Einzelversuche von diesem Gesamtmittel T m gebildet, sowie die 
mittlere Abweichung F" der einzelnen Tagesmittel T vom Gesamt¬ 
mittel T m . Diese quantitative Behandlung erschöpfte jedoch das 
Material keineswegs. Es erwies sich im Gegenteil als notwendig, 
unter starker Berücksichtigung der spontanen Aussagen und Selbst¬ 
beobachtungen der Vpn., die qualitative Darstellung heran¬ 
zuziehen. 

9) Jede der vier auf S. 152 genannten Gruppen enthielt im Durch¬ 
schnitt fünf Versuchstage zu je vier Einzelreihen für jede Vp. Wie 
schon erwähnt, war bei den ersten beiden Gruppen durchgängig 
die Anzahl der Vorsignale innerhalb jeder Partialreihe konstant. 
In einigen Reihen von Gruppe III und IV dagegen enthielten die 
Partialreihen nicht Versuche mit einer gleichen Anzahl von Vor¬ 
signalen, sondern diese Zahl wechselt mit jedem Versuch, wurde der 
Vp. jedoch jedesmal vorher bekannt gegeben. 

III. Versuchsanordnong. 

Den Mittelpunkt unserer Versuchsanordnung bildeten die Appa¬ 
rate zur Auslösung der äquidistanten Hammerschläge. In den Ver¬ 
suchen von Gruppe I und II diente hierzu ein Kontaktpendel, 
in Gruppe III und IV ein Rotationsapparat. Weil aber jeder 
dieser Apparate auch im übrigen eine vollkommene Umwandlung 
notwendig machte, so müssen die beiden Versuchsanordnungen 
getrennt beschrieben werden. 

A) Versuchsanordnung I. 

1) Im Zimmer der Vp., das von dem des Versuchsleiters durch 
einen unbenutzten Raum getrennt war, befanden sich nur der Re¬ 
aktionstaster, der Schallhammer und eine Geißlerröhre für das Licht¬ 
signal. Dadurch war die völlige Ungestörtheit der Vp. garantiert, 
die bei Verwendung akustischer Reize unbedingt erforderlich ist. 
Die Vp. saß an einem kleinen Tische, auf dessen Platte ein kleiner 
Reaktionstaster T (vgl. Schema der Versuchsanordnung I, 
Fig. 1) in bequemer Lage befestigt war. Die Tischplatte wurde 
durch eine elektrische Lampe, die gegen den übrigen Teil des Raumes 
abgeblendet war, erleuchtet, damit keine Dunkeladaptation eintrat, 
und die Vp. ihre Notizen niederschreiben konnte. Ungefähr 1 m 
von der Vp. entfernt, ihr gerade gegenüber, stand auf einem anderen 
Tisch ein kleiner Schallhammer H, der durch einen schwarzen 
Schirm verdeckt wurde. Ungefähr 10 cm weiter nach hinten war 
in Augenhöhe eine Geißler röhre G auf einem schwarzen Schirm 


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Einfache Reaktioneu bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 159 

befestigt. Vp. und Experimentator konnten sich wechselseitig elek¬ 
trische Glockensignale geben, der Kontakt für die Vp. befand sich 
auf dem Tisch neben dem Reaktionstaster. 

2) Alle anderen Apparate, die zur Auslösung der Reize oder zur 
Zeitmessung dienten, befanden sich im Zimmer des Versuchsleiters. 
Die Anordnung enthielt fünf voneinander unabhängige Stromkreise; 
außer dem Starkstrom der Stadtleitung noch vier Akkumulatoren- 
Stromkreise (vgl. Fig. 1). 

Das Kontaktpendel P, welches nach Angabe von Herrn Prof. 
Wirth vor längerer Zeit gebaut wurde, und dessen eingehende Be¬ 
schreibung im IV. Bande 
der Psychologischen Stu¬ 
dien 1 ), S. 508 ff., gegeben 
wurde, bildete den Mittel¬ 
punkt der Anordnung. 

Wir benutzten jedoch den 
in der erwähnten Unter¬ 
suchung beschriebenen 
Dauerschwung des Pen¬ 
dels nicht, da wir höch¬ 
stens sechs halbe Schwing¬ 
ungen verwendeten, und 
für diese Zahl der Durch¬ 
gänge die Schwingungs¬ 
weite als konstant betrach¬ 
tet werden kann. Der 
rechte Magnet M diente 
daher nur als Halte mag- 
net; die Umlegung der 
Wippe C/ 4 unterbrach den 
(ersten) Stromkreis des 
Akkumulators A 4 für 
diesen Magneten, und ließ 
das Pendel schwingen. Auf der oberen Schiene des Kontaktpendels 
befand sich der Kontakt K x . Seine Spitze P x bildete den einen 
Pol für den (zweiten) Stromkreis des elektromagnetischen Schall¬ 
hammers H, und vermittelte die Auslösung der Hammerschläge 
durch die Berührung mit der Spitze P 2 der Pendelstange, der der 


1) G. F. Arps und 0. Klemm, Der Verlauf der Aufmerksamkeit bei 
rhythmischen Reizen. 



Fig. 1. 


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160 


B. Paulssen, 


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andere Pol zugeleitet war. Es kam nun vor allem darauf an, daß 
die Hammerschläge bei allen Durchgängen von absolut gleicher In¬ 
tensität waren. Um dies dauernd kontrollieren zu können, legten wir 
ein Amperemeter A in den Hammerstromkreis, der vom Akkumu¬ 
lator A 2 durch P x und P 2 zum Schallhammer H ging und von hier 
durch den Ausschalter 17 3 zum Akkumulator zurückkehrte. Da wir 
mit den sonst verwendeten Kontakten gleiche Ausschläge des Ampere¬ 
meters und damit gleiche Intensität der Hammerschläge nicht er¬ 
zielen konnten, so wurde nach den Angaben von Herrn Professor 
Wirth der Kontaktvorgang von P x und P 2 so eingerichtet, daß 
diese Gleichheit bei allen Durchgängen gewährleistet wurde (vgl- 
Fig. 2). Das Prinzip, nach dem diese Kontakte K x und K 2 angelegt 
wurden, läßt sich dahin charakterisieren, daß die Abwickelung von 

P x und P 2 aneinander bei beiden 
Durchgängen des Pendels durchaus 
gleich sein sollte. Dies geschieht aber 
-nur, wenn bei beiden Durchgängen 
gleichlange Hebelarme in Bewegung 
gesetzt werden, deren Kontaktbeding¬ 
ungen im übrigen möglichst genau 
übereinstimmen. 

Daher wurden P x und P 2 als 
federnde Wippen an den Kontakten 
K x und K 2 angebracht, die in der 
Ruhelage durch je eine Feder, P s 
und F 2 , gegen die festen Schrauben S x 
und S 2 angedrückt werden und beim 
Hin- und Hergang des Pendels ab¬ 
wechselnd ganz . analog arbeiteten. 
Beim Durchgang von rechts nach links blieb der Hebel P 2 des 
Kontaktes K 2 fest, da ja bei der Berührung mit P x die feste 
Schraube S 2 Widerstand leistete. Dagegen gab die bewegliche 
Platte P x des Kontaktes K x während der beiderseitigen Berührung 
nach. Beim Durchgang von links nach rechts leistete dagegen um¬ 
gekehrt die Platte Py Widerstand, während die nur von rechts nach 
links bewegliche Zunge P 2 des Auslösers K 2 nachgab. Die wirksame 
Berührung von P x und P 2 konnte durch die Höhenverschiebung des 
Auslöserkontaktes K 2 , sowie durch die Regulierbarkeit der Schrauben 
Si und S 2 und der Federspannung F 2 für beide Fälle an der Hand 
der Amperemeterkontrolle mit Leichtigkeit einander völlig gleich 
gemacht werden. Auch die direkte akustische Prüfung ließ dann 



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Einfache Reakti onen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 161 

keinerlei Unterschiede zwischen den Hammerschlägen mehr er¬ 
kennen. 

3) Der Kontakt K x öffnete außerdem bei jedem Durchgang des 
Pendels von rechts nach links gleichzeitig mit dem Schluß des Ham¬ 
merstromkreises einen (dritten) durch die Klemmschrauben T x und 
T 2 geleiteten Stromkreis, der vom Akkumulator.^ gespeist wurde. 
Diese momentane Unterbrechung wurde zur Ingangsetzung des 
Zeitmeßapparates benutzt. Da der letzte Hammerschlag als 
Reaktionsmotiv diente, so mußten die Zeiger des Chronoskops in 
einem festen und genau meßbaren Zeitabstand von ihm in Gang 
gesetzt werden. Da die Anwendung einer rhythmischen Vorbereitung 
vorzeitige Reaktionen sehr wahrscheinlich machte, so entschlossen 
wir uns, die Ingangsetzung des Chronoskops nicht erst beim letzten 
Hammerschlag erfolgen zu lassen, sondern den Stromschluß schon 
beim vorletzten Hammerschlag herzustellen. Die Auslösung durch 
das Pendel garantierte ja eine ganz konstante Zwischenzeit zwischen 
den einzelnen Hammerschlägen, die dann von der Chronoskopzeit 
bei der Berechnung der Reaktionszeiten einfach abzuziehen war. 

Zur Zeitmessung diente ein Hippsches Chronoskop neuerer 
Konstruktion. Die benutzte Federspannung betrug rechts 12, links 13. 
Wir verwendeten wieder den Strom der städtischen Lichtleitung. 
Die Schaltung in diesem (vierten) Stromkreise geschah folgender¬ 
maßen: In den Hauptschluß der Stadtleitung legten wir eine elek¬ 
trische Lampe L und einen variablen Widerstand Wi\. Im Neben¬ 
schluß, abzweigend von den Klemmen von Wi \, lag das Chronoskop 
Ch mit einem vorgeschalteten Widerstand Wi 2 - Die Widerstände 
Wii und Wi 2 wurden so gegeneinander abgestuft, daß eine Strom¬ 
stärke von 0,095 Ampere im Stromkreis des Chronoskops herrschte. 
Der Chronoskopstrom nahm nun folgenden Verlauf: von der 
Klemme des Widerstandes IF»i passierte er zunächst den Taster T, im 
Zimmer der Vp., bei dessen Niederdrücken Stromschluß herrschte. 
Von hier ging der Strom durch die Klemmen k x und k 2 des Relais 
R x . Wenn der Strom durch den Haltemagneten m l , der nur zum 
Festhalten, nicht zum Zurückheben des Relaishebels ausreichte, 
momentan geöffnet wurde, fiel das Relais herunter und stellte eine 
dauernde Verbindung der beiden Kle mm en k x und k 2 her. Vom 
Relais ging der Strom über den Ausschalter U 2 durch den Strom¬ 
wender Wi, von hier zum Widerstand Wi 2 durch das Chronoskop 
und schließlich zurück zu der zweiten Klemme von Wii . Die Zeiger 
des Chronoskops liefen beider Schließung des Uhrstromes, d. h. so¬ 
lange bei dem Taster T und dem Relais gleichzeitig Kontakt 


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162 


B. Panlssen, 


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hergestellt war. Zu dieser Schließung des Relaiskontaktes k x k 2 
diente nun die genannte momentane Unterbrechung des Kontaktes 
P x S x am Pendelkontakt K l} die mit dem Haltemagneten m x des 
Relais Ri in dem Stromkreis des Akkumulators A x lagen. Da diese 
Unterbrechung aber erst beim vorletzten Hammerschlag erfolgen 
durfte, so war dieser Akkumulatorstrom noch durch die gegen den 
Chronoskopstromkreis isolierte Hälfte des Aus- und Einschalters U 2 
(Pohlsche Wippe ohne kreuzweise Verbindung) hindurchgeleitet. 
U 2 stellte hier, während der früheren Hammerschläge, einen Neben¬ 
schluß zu Pi Sy her, der erst zwischen drittletztem und vorletztem 
Hammerschlag aufgehoben wurde, unter gleichzeitiger Vorbereitung 
des Chronoskopanschlusses auf der anderen Hälfte des Umschalters V 2 . 

Der (dritte) Stromkreis des Haltemagneten m l ging also vom 
Akkumulator A x zum Doppelausschalter U lt der während des ganzen 
Versuches geschlossen blieb, sowie durch den Magneten m x und 
verzweigte sich von da einerseits zum Öffnungskontakt P x S x des 
Pendelkontaktes K x , andererseits zum Umschalter U 2 , beiderseits 
zum Umschalter U x und zum Akkumulator zurückkehrend. Wurde 
nun der Nebenschluß ü 2 kurz vor dem vorletzten Hammerschlag 
geöffnet, so hatte der Strom nur noch den Weg durch die Klemmen 
des Pendelkontaktes P x S x zurück nach A x , und wurde daher im 
Moment der Berührung zwischen der Pendelstange und P x definitiv 
unterbrochen. Dadurch erfolgte also eine endgültige Schließung 
des Chronoskopstromes bei R x , der erst durch das Loslassen des 
Tasters T wieder geöffnet wurde. 

4) Das Signal zum Niederdrücken des Tasters bestand bei diesen 
Versuchen in dem Aufleuchten der Geißlerröhre G, die während 
des ganzen Versuches ruhig fortbrannte. Sie war in den sekundären 
Stromkreis des Induktoriums J gelegt, dessen Primärstrom (der 
fünfte Stromkreis der Anordnung) vom Akkumulator A 3 gespeist 
wurde. Durch den Kontakt n x n 2 des Relais R 2 konnte dieser Strom¬ 
kreis jederzeit geschlossen und wieder geöffnet werden. 

5) Der Verlauf eines Versuches gestaltete sich folgender¬ 
maßen: Durch ein Klingelsignal gab die Vp. dem Versuchsleiter zu 
verstehen, daß sie zum Versuch bereit sei. Der Versuchsleiter, der 
schon vorher das Pendel durch den Haltemagneten M festgehalten 
hatte, schloß hierauf die Wippen U x und U 2 , zog die Hebel der 
Relais R x und R 2 an, wodurch das Licht der Geißlerröhre im Zimmer 
der Vp. aufflammte. Dies war für diese das Signal, den Taster nieder¬ 
zudrücken. Der Versuchsleiter brachte nun sofort das Chronoskop 
in Gang, legte den Wender W x um und schloß, bei einer geraden 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 163 

Zahl von Hammerschlägen, den Hammerstromkreis durch die Wippe 
U 3 . Bei einer ungeraden Zahl geschah dies erst nach dem ersten 
Durchgang des Pendels durch K x \ denn da die Unterbrechung des 
Kontaktes P x S x für das Relais R x immer nur beim Schwingen 
des Pendels von rechts nach links erfolgte, so mußte der vorletzte 
Hammerschlag (siehe oben) immer in dieser Schwingungsrichtung, 
der letzte aber in der entgegengesetzten Richtung erfolgen. Nach 
(bzw. vor) diesem Handgriff wurde die Wippe C/ 4 geöffnet, so daß 
das Pendel losschwang und die Hammerschläge im Zimmer der Vp. 
auszulösen begann. Zwischen drittletztem und vorletztem Hammer¬ 
schlag wurde die Wippe U 2 umgeworfen, wodurch die Schließung 
des Chronoskopstromes beim vorletzten Hammerschlag möglich 
wurde. Sofort nach dem verabredeten letzten Hammerschlag wurde 
U 3 geöffnet, das Pendel angehalten, das Chronoskop arretiert und 
U 2 wieder umgestellt. Bei Prüfungsversuchen, die im Ausfall des 
letzten Hammerschlages bestanden, wurde einfach U 3 sofort nach 
dem vorletzten Hammerschlage geöffnet. 

6) Da die am Chronoskop abgelesenen Zeiten im Durchschnitt 
1000—1200 o betrugen, so konnte die tägliche Kontrollierung nicht 
mit dem Fallhammer vorgenommen werden, der für so lange Zeiten 
nicht ausreicht. Wir benutzten daher zur täglichen Chronoskop- 
kontrolle die beiden Kontakte auf der oberen und unteren Schiene 
des Pendels; außer K x und K 2 in Verbindung mit dem Relais R x 
also noch den Kontakt K 3 auf der unteren Schiene, der bei jedem 
Hin- und Hergang des Pendels momentan unterbrochen wurde 1 ). 
Dieser Kontakt K 3 lag mit dem Haltemagneten m 2 des Relais R 2 
in einer zu dem durch den Haltemagneten m x von R x parallelen 
Verzweigung des Stromkreises vom Akkumulator A x . Außerdem 
stellte der Ausschalter S eine analoge Nebenschließung zu K 3 her, 
wie U 2 zu K x . Bei der Zeitkontrolle wurde der Chronoskopstrom 
außer durch k x k 2 und den Reaktionstaster T auch noch durch die 
Klemmen n x n 2 des Relais R 2 geleitet, zwischen denen der Kontakt 
erst nach Unterbrechung des Magnetstromes durch m 2 geöffnet 
wurde. Der Taster T wurde dauernd geschlossen. Stellte man nun 
die ganze Anordnung schon vor dem Loslassen des Pendels so ein, 
wie sie beim Versuch vor dem vorletzten Hammerschlag stand, so 
wurden beim ersten Durchgang des Pendels durch K x die Kontakte des 
Relais R x — k x und k 2 — geschlossen, und das Chronoskop begann 
zu laufen, öffnete man nun sofort nach dem ersten Durchgang 


1) VgL Pendelbeschreibung a. a. O. 


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164 


B. Paalßsen, 


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des Pendels durch die Mittellage den Schalter S (Nebenschluß zu 
K 3 ), so fiel beim zweiten Durchgang der Hebel des Relais R 2 herab, 
der Kontakt n x » 2 wurde unterbrochen, und das Chronoskop stand 
still. Das Chronoskop zeigte bei diesen täglichen Kontrollen im 
Mittel eine Zeit von 949,9 o, die eine mittlere Variation von 1,6 o 
aufwies; die Abweichung der Tagesmittel vom Gesamtmittel betrug 
1 o. Die chronographische Feststellung dieser Zeit ergab 926,4 o 
mit einer mittleren Variation von 1,2 o. Mithin betrug der kon¬ 
stante Fehler des Chronoskops 23,5 o. Dieser Wert war zu¬ 
nächst von allen Reaktionszeiten abzuziehen. t r 

Die Zeit zwischen zwei Kontaktberiihrungen von K x und K 2 
betrug, ebenso wie die Zeit zwischen zwei Hammerschlägen 964 o; 
diese Messung fand ebenfalls mit dem großen Chronographen statt. 
Um aus den abgelesenen Zeitwerten die wirkliche Reaktionszeit 
zu berechnen, mußten aber erst noch einige Reduktionen nach den 
folgenden Überlegungen vorgenommen werden: 

P r bzw. P, seien die Zeitpunkte, in denen das Pendel von rechts 
nach links, bzw. umgekehrt, den Kontakt K x K 2 schließt; H r bzw. 
die entsprechenden Zeitpunkte, in denen der Hammer schlägt; V sei 
der Zeitpunkt, in dem die Vp. die Schläge vernimmt. Ferner werde 
im Zeitpunkt S das Relais R x (nach Unterbrechung von P x S x ) 
geschlossen; in Ch x beginne das Chronoskop zu laufen, in R — nach 
dem letzten Hammerschlag erfolge dann die Reaktion — und in 
Ch 2 bleiben die Zeiger des Chronoskops stehen. Dann ist die gesuchte 
Zeitstrecke der sogenannten Reaktionszeit = VR = X. Am Chro¬ 
noskop abgelesen wird Ch 1 Ch 2 = A. Um X a is A berechnen zu 
können, muß man kennen: 

1) die bereits chronographisch festgestellte Zeit H r H l = B = 964 a 
zwischen dem letzten und vorletzten Hammerschlag; 

2) die Zeitdifferenz P r H r - P l H l = £ zwischen Berührung des 
Pendelkontaktes und dem Hammerschlag; 

3) die Zeitdifferenz P r S= i\ zwischen Pendelberührung und 
Schließung des Chronoskopstromes durch das Relais R x ; 


B 

P r S Ch t 

'—^1) — V — 


V 



R 

+■ 


T» 


Chi 

H 


4) die Differenz der zweiten und ersten Latenzzeit des Chronoskops: 
RCh 2 — S Ch x = T 2 — T 1} die wir bei den relativ geringen Varia- 


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Einfache Reaktionen hei Variation a. rhythni. Gliederung der Vorperiode. 165 


tionen der langen Zeiten nach jener Messung (siehe oben) konstant 
als 23,5 o ansetzen dürfen. Endlich dann 

5) noch die kleine Zeit der Luftleitung zwischen Hammerschlag 
und Schallreizung H r V = H t V = s = 3 o, da der Schallhammer 
etwa 1 m von der Vp. entfernt stand. Die Reaktionszeit X, die 
zwischen der Schallreizung und der Reaktion durch Loslassen des 
Tasters liegt, berechnet sich also nach dem oben angegebenen Schema 
aus der Gleichung: 

(i) + 2\ + A) = (^+ß + s + X+ T 2 ), 

also wird: 

X = A-B+(T l -T 2 )+( v -Z)-s. 


(*)—£) stellt die Zeitdifferenz zwischen Hammerschlag und Schluß 
des Kontaktes k x k 2 des Relais dar; diese beträgt nach einer 
direkten chronographischen Bestimmung 19,4 0 . Alle übrigen Werte 
der Gleichung für X sind bereits bekannt. Mithin ist: 

X =(A-970,6) 0. 

Wir haben, da alle Ablesungen am Chronoskop auf volle Sigmen 
abgerundet wurden, von allen Zeiten 970 0 abgezogen. 


B) Versuchsanordnung II. 

Das Kontaktpendel der Versuchsanordnung I wurde hier durch 
einen Kontaktapparat neuerer Konstruktion, den Wundtschen 
Rhythmusapparat, ersetzt. Dieser gestattet uns die Herstellung 
beliebiger Intervalle zwischen den Reizen, was mit dem Pendel 
nicht ohne weiteres möglich gewesen wäre. 

1) Das Instrument besteht im wesentlichen aus einem Rotations¬ 
apparat, wie er für die Meumannschen Zeitsinnversuche konstruiert 
worden war. Nur ist der Teilkreis größer, und der Auslöser wird 
unmittelbar, wie das Baltzarsche Kymographion, durch die Frik¬ 
tionsscheiben eines zum Apparat selbst gehörigen Uhrwerks an¬ 
getrieben. 

Auf einer festen horizontalen Holzplatte P ist zunächst das Uhr¬ 
werk U befestigt. Es wird, wie das des großen Wundtschen Chrono¬ 
graphen, durch Gewichte betrieben; seine Umdrehungsgeschwindig¬ 
keit kann durch verstellbare Windflügel und die Veränderung der 
Gewichte in gewissen Grenzen variiert werden. Mit der aus den Lagern 
herausragenden horizontalen Achse D l des Uhrwerks ist die vertikale 
Metallscheibe S x fest verbunden, von der die an der vertikalen 
Achse D des Kontaktapparates befestigte Scheibe S durch Friktion 
angetrieben wird. Da S an S x verschiebbar ist, so kann auch hier- 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 12 


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166 


ß. Paulssen. 


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durch die Umdrehungsgeschwindigkeit des Kontaktapparates noch 
verändert werden. Der eigentliche Kontaktapparat besteht aus zwei 
zur Drehachse D konzentrischen Metallscheiben R x und R z . Auf 
der Holzplatte P x , die etwa 20 cm über P angebracht ist, liegt der 
Metallring R l konzentrisch zu D fest auf. Er ist sowohl gegen die 
Drehachse D als auch gegen den zweiten, beweglichen Kreisring R 2 , 
den er in gleicher Höhe umschließt, isoliert. Ri trägt 16 auf der 
Peripherie verschiebbare Auslösungskontakte Ki —^16> deren Aus¬ 
lösungsarme —s 16 

-I- 1 auf der Kreisteilung 

16 n=ö«=» 1 1 i - des ßj n g es auf- 

liegen und nach die¬ 
ser bis auf Bruchteile 
- „ „ eines Grades genau 

eingestellt werden 
können. (Vgl. hierzu 
Schema der Ver¬ 
suchsanordnung II, 
Fig. 3.) Von jedem 
dieser Auslösungs¬ 
kontakte geht eine 
isolierte Leitung 
nach den Klemmen 
k x — k x6 , die den 
Kontakten zugeord¬ 
net sind. An jede 
dieser Klemmen ist 
durch einen beweg¬ 
lichen Draht ein 
Stöpsel (1—16) an¬ 
geschlossen. Durch 
diese Stöpsel kann 



A. A, c Millmmpdremf r , 

B, B, - BtriU nmmäm ürt» 
Oi 'Chnooaatap 

F • Falthammir 

6 1 Gtt&krrihr* 

H • Scha/ihamme*- 

J • Indvktonvm 

AusMsunmäonftito 
0 • Sfromärntwr 

Q •fie/cis 
Q/y» R - Wkfer&öadv 
T • fboktiooftfr 
IJLU, 

W • KonfaktafiptL/'a.' 

# -Slromw+Ad*. 
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i 


1 




LI 



L “ri 


Fig. 3 . 


jeder der Kontakte Ki—Kia mit jedem der vier auf P befestigten, 
gegeneinander isolierten Schaltbretter L x —L 4 verbunden werden. 
Die mit D fest und leitend verbundene Kreisscheibe R 2 , die bei der 
Ingangsetzung des Uhrwerks in Rotation versetzt wird, trägt an 
ihrer Peripherie die beiden Berührungskontakte B x und B z , welche 
bei der Umdrehung des Apparates die Auslöserarme s x —s 16 der 
Auslösungskontakte K x —K 16 berühren, und dadurch Stromschluß 
erzeugen. Leitet man nun einen Strom vom Element zum Schall¬ 
hammer, von hier an die Achse D und von den Schaltbrettern L x — L t , 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 167 

vor die verschieden große Widerstände gelegt werden können, zum 
Element zurück, so kann man bei einer Umdrehung des Apparates 
bis zu 16 Taktschlägen mit vier verschiedenen Intensitätsabstufungen 
taktieren lassen. Es ist ersichtlich, daß hierdurch eine große Fülle 
zeitlich und intensiv abgestufter Rhythmen hergestellt werden kann. 

Die Bauart der Berührungskontakte B x und B 2 ermöglicht es 
außerdem, einen zweiten Stromkreis gleichzeitig mit der Schließung 
des Hammerstromes momentan zu unterbrechen. Durch diese Vor¬ 
richtung ist die Verwendung des Apparates zu rhythmisch vorberei¬ 
teten Reaktionsversuchen gegeben, weil so der Moment des Hammer¬ 
schlages an der Zeitmeßvorrichtung markiert werden kann. 

2) Um diese gleichzeitige Schließung und Öffnung zweier Strom¬ 
kreise zu vollziehen, wurden die Berührungskontakte B x und B 2 
folgendermaßen angelegt (vgl. hierzu Fig. 4): Auf einer Hartgummi¬ 
platte p x befindet sich ein kleiner zweiarmiger Metallhebel A, h 2 , der 
um einen festen 
Drehpunkt d x 
leicht drehbar ist. 

Der linke Hebel¬ 
arm h x , der zur 
Schließung des 
Hammerstroms 
dient, ragt über 

die Hartgummiplatte p x hinaus und gleitet bei der Drehung der 
Scheibe Ä 2 über der Kreisteilung der Scheibe R x hin, wo er 
die Auslösungsarme —s 16 berührt. Der Hebel ist mit der Platte 
p 2 leitend verbunden, die auf dem Metallring R 2 leitend befestigt 
ist und so die Verbindung des Kontaktes mit der Drehachse D her¬ 
stellt. Der rechte Hebelarm ä 2 liegt für gewöhnlich an der Schraube 
T x fest an, welche mit der Klemme o leitend verbunden, an Pi,gegen 
die Unterlage isoliert, befestigt ist. Ein kurzer Draht verbindet o 
mit einem Quecksilbernapf, der an der Spitze der Achse D, gegen 
dieselbe isoliert, angebracht ist. Berührt nun der Hebelarm h x einen 
der Auslöser —s 16 , so wird im gleichen Moment die Berührung 
von h 2 mit der Schraube T x unterbrochen, und ein durch die Dreh¬ 
achse eingeleiteter und in o abgeleiteter Strom wird dadurch mo¬ 
mentan unterbrochen. Durch eine Feder f X} die am Hebelarm h x 
angreift, wird der Stromschluß bei T x> sofort nachdem einer der 
Kontakte B x oder B 2 am Auslöser vorbeigeglitten ist, wieder her- 
gestellt, und der Hebel in seine Ausgangslage zurückgezogen. 5 ! 1 

Die Einstellung der Gleitkontakte B x und B 2 kann nun in drei 

12 * 



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168 


B. Panlssen, 


Richtungen erfolgen: Zunächst können sie auf der Kreisteilung von 
R 2 verschoben und bis auf Bruchteile eines Grades genau eingestellt 
werden. Sodann ist es mit Hilfe der Mikrometerschraube T 3 mög¬ 
lich, die ganze Hartgummiplatte p lt mit der der Hebel h 1 h 2) die 
Schraube T x und die Klemme o fest verbunden sind, längs ihrer 
Metallunterlage p 2 in radialer Richtung zu verschieben. Die Drehung 
der Schraube T x läßt endlich den Hebel in seiner Ruhelage um 
einige Grade nach rechts und links verstellen. 

Die Auslösungskontakte K x — K l6 (vgl. Fig. 4) sind folgender¬ 
maßen gebaut: Eine Hartgummiplatte q X) die mit Hilfe der Schraube 
t 2 auf der Peripherie des Kreisringes R x befestigt wird, trägt eine 
Metallplatte q 2 , deren eines Ende in der Form eines kleinen Aus- 
lösearmes s über die Hartgummiplatte hinwegragt und auf der Kreis¬ 
teilung von R x aufliegt. Ein an q 2 befestigter kleiner Kupferdraht l 
stellt die Verbindung mit der Zuleitung zu der dem Auslöser zu¬ 
geordneten Klemme (k x — k 16 ) her. Die Auslösungskontakte sind 
auf der Peripherie des Ringes R x verschiebbar und nach der Kreis¬ 
teilung einstellbar. Die Mikrometerschraube t x läßt die Metall¬ 
platte q 2 längs der Hartgummiplatte q x in radialer Richtung ver¬ 
schieben. 

Für unsere Versuche in Gruppe III und IV mußten nun die 
Kontakte so eingestellt werden, daß bei einer konstanten Umdrehungs¬ 
geschwindigkeit des Apparates alle in Frage kommenden Intervalle 
ohne die Notwendigkeit einer Umstellung der Kontakte mit mög¬ 
lichst wenig Umschaltungen der Stöpsel in den Schaltbrettem her- 
gestellt werden konnten. Zu diesem Zwecke gingen wir von einer 
Umdrehungsgeschwindigkeit von 6 Sekunden aus, die zu Beginn 
der Untersuchung mit Stimmgabelschreibung festgestellt und täg¬ 
lich mit der Stopuhr bei etwa zehn Umläufen nachgeprüft wurde. 
Um nun eine Abnutzung aller Kontakte zu vermeiden, wurden nur 
so viele Auslöserkontakte (K x —K 10 ) benutzt, als zur Herstellung 
sämtlicher Rhythmen notwendig waren. Die anderen wurden zu¬ 
rückgeschraubt, so daß sie von den Gleitkontakten B x und B 2 nicht 
mehr berührt wurden. Zunächst sollte nun für Gruppe III die Zeit 
von einer Sekunde in immer kleiner werdende, aber in jedem Fall 
äquidistante Intervalle gegliedert werden. Hierzu wurden die Aus¬ 
löserkontakte K x — K b so befestigt, daß zwischen ihnen je ein Zwi¬ 
schenraum von genau 15° frei blieb. Damit konnten, wenn immer 
nur die zu den in Frage kommenden Kontakten gehörenden Stöpsel 
in das hier benutzte Schaltbrett L s eingeschaltet wurden, drei ver¬ 
schiedene Vorbereitungen gewonnen werden. Schaltete man nur K x 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 169 

und K h ein, so betrug die Zwischenzeit zwischen Vorsignal ( K x ) 
und Hauptreiz (Ül 5 ) bei der verwendeten Umdrehungsgeschwindig¬ 
keit gerade 1 Sekunde, da hierbei 60° überstrichen wurden. Wurden 
K x y K 3 und K 5 eingeschaltet, so gewann man die in zwei Intervalle 
von je 500 a gegliederte Vorperiode. Bei Benutzung von K x — K 3 
erhielt man endlich die in vier Intervalle von je 250 o eingeteilte 
Gesamtvorperiode. Es blieb, um die Vorsignale der Gruppe III voll¬ 
ständig zu haben, nur noch übrig, die Teilung der Vorperiode in 
drei äquidistante Teile bei Verwendung von drei Vorsignalen herzu¬ 
stellen. Wir benutzten für diesen Zweck die Auslöser K h — K s ; 
K 5 war hier erstes Vorsignal, die Zwischenräume zwischen den Kon¬ 
takten betrugen 20°; somit war die Dreiteilung der Sekunde gegeben. 
Diese Einstellung der Kontakte, die, einmal fixiert, nicht wieder 
geändert zu werden brauchte, wurde zu Beginn der Versuche mit 
Stimmgabelschreibung geeicht und erwies sich als hinreichend äqui¬ 
distant. 

Um die Vorperioden in Gruppe IV aus dem Intervall von 250 n 
aufzubauen, genügen die Kontakte K x — K 5 , die ja vom Gleitkontakt 
in diesem Zeitabstand berührt wurden. Man ging, bei einem Vor¬ 
signal von K 5 aus und schaltete, bei der Verlängerung der Vor¬ 
periode um 250 o den nächstfolgenden Kontakt im Schaltbrett 
dazu. 

Die Intensität der Hammerschläge wurde auch hier täglich durch 
ein in den Hammerstromkreis geschaltetes Amperemeter nach¬ 
geprüft. Sie konnte bei etwa eintretenden Veränderungen Behr leicht 
durch eine kleine Verschiebung der Auslösearme in radialer Richtung 
(vermittels der Mikrometerschraube T x ) korrigiert werden. 

Der (erste) Hammerstromkreis der Anordnung nahm also folgen¬ 
den Verlauf: Er ging vom Element E x zum Schaltbrett L s ; von hier 
durch die eingeschalteten Stöpsel in die betreffenden Kontakte 
K x —K 8 ; bei der Berührung derselben mit dem Kontakt B x trat 
Stromschluß ein; der Strom ging dann durch B x und R 2 zur Achse D, 
von hier zum Schallhammer H und durch die Wippe U x und das 
Amperemeter A 2 zum Element zurück. 

3) Die Anordnung der Zeit meßapparate war wesentlich schwie¬ 
riger. Es war hier natürlich nicht mehr möglich, das Chronoskop 
schon eine konstante Zeit vor dem letzten Hammerschlag laufen zu 
lassen — was, um etwa auftretende vorzeitige Reaktionen messen 
zu können, sehr wünschenswert war —, da die in die Chronoskopzeit 
dann eingehende Umlaufsgeschwindigkeit des Rhythmusapparates 
keine so sichere Konstanz gewährt wie die Pendelschwingungen in 


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170 


B. Paulssen, 


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Versuchsanordnung I. Daher mußte eine Anordnung gefunden wer¬ 
den, bei der das Chronoskop bei regulären Reaktionen gleichzeitig 
mit dem letzten Hammerschlag zu laufen begann und bis zum Los¬ 
lassen des Reaktionstasters lief; bei vorzeitigen Reaktionen da¬ 
gegen sollte das Chronoskop durch das Loslassen des Tasters in Gang 
gesetzt werden und bis zum letzten Hammerschlag laufen. Aller¬ 
dings muß bemerkt werden, daß bei einer solchen Anordnung Reak¬ 
tionszeiten, die 30 o vor oder nach dem Hammerschlag erfolgen, 
nicht mehr gemessen werden können, da bei so kurzem Stromschluß 
die Zeiger des Chronoskops noch nicht laufen. — 

Wir stellen nun diese Anordnung mit Hilfe eines Doppeltasters 
und eines Relais her. Es wurde zunächst ein Reaktionstaster T 
konstruiert, der zwei gegeneinander isolierte Berührungskontakte T, 
und T 2 besaß (vgl. Fig. 3). Solange der Taster niedergedrückt war, 
blieben beide Kontakte gleichzeitig geschlossen, beim Loslassen des 
Tasters aber wurden beide gleichzeitig geöffnet. Dieser Doppel¬ 
taster wurde an Stelle des sonst üblichen einfachen Reaktionstasters 
auf dem Tisch im Zimmer der Vp. — wo sonst gegen Versuchsanord¬ 
nung I nichts geändert wurde — angebracht. Die Kontakte t 2 
und gi g 2 des Relais Q wurden so eingerichtet, daß — sobald 
der Magnetstrom, der durch m x ging, geöffnet wurde — der Kontakt 
gi g 2 aufgehoben wurde, während gleichzeitig »i s 2 geschlossen 
wurde. Zu diesem Zweck war mit der unteren Klemme g 2 des Seiten¬ 
kontaktes eine elastische Platte leitend verbunden, die von unten 
her durch eine Feder gestützt wurde und aus zwei gegeneinander iso¬ 
lierten Metallplatten zusammengesetzt war. Der gegen g 2 isolierte 
Teil der Platte war mit dem Kontakt gi leitend verbunden und lag, 
wenn der Magnet stromlos war und der Hebel des Relais unten 
lag, an diesem leitend auf. Die obere Klemme g t des Seitenkontaktes 
war gegen die untere, g 2 , isoliert; sie trug eine Schraube, die, solange 
der Relaishebel von m* angezogen wurde, auf die mit g 2 verbundene 
Metallplatte aufstieß und somit den Kontakt g y g 2 schloß. Im Mo¬ 
ment der Öffnung des Magneten m l legte sich der Relaishebel auf 
den gegen g 2 isolierten Teil der Platte auf, öffnete, dadurch also 

tu 

gi g 2 und schloß gleichzeitig den durch den Hebel; hergestellten 
Kontakt a 2 . Die absolute r Gleichzeitigkeit dieses Vorgangs der 
Öffnung und Schließung wurde mit Hilfe eines sehr empfindlichen 
Milliampereraeters festgestellt, das in einen durch « 2 und g x g 2 
geschalteten Strom gelegt wurde und beim Herabfallen des Hebels 
keinen Ausschlag geben durfte. Mit Hilfe^dieser beiden Apparate 
wurde nun folgende Schaltung des Chxonoskopstroms vorgenommen 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 171 

(vgl. Fig. 5): An den positiven Pol der städtischen Lichtleitung 
wurde ein Lampenwiderstand r x geschaltet; von hier ging der Strom 
durch den rechten Tasterkontakt T x zu dem Kontakt « 1 « 2 des 
Relais Q, durch das Amperemeter A 1} in den Stromwender tPj; 
von hier durch das Chronoskop und durch 
einen kleinen variablen Widerstand Wi x 
zum Wender zurück. Der Widerstand von 
Wi x und Chronoskop betrug zusammen r 4 . 

Vom Wender ging nun der Hauptstrom 
durch die während des Versuches geschlos¬ 
senen Kontakte des Fallhammers F nach 
der oberen Klemmenschraube des Taster¬ 
kontaktes T 2 und von dort durch den 
Lampenwiderstand R zum negativen Pol 
zurück. Daneben wurde nun, um das vor¬ 
zeitige Loslassen des Tasters registrieren 
zu können, folgende Parallelschaltung ge¬ 
legt: Von dem positiven Pol ging der Strom in einer Verzweigung 
durch den Lampenwiderstand r 2 nach dem Kontakt g x g 2 des Relais 
Q } von hier zur unteren Klemme des Tasterkontaktes T 2 und von 
da durch einen variablen Widerstand Wi 2 und einen Lampenwider¬ 
stand — die gemeinsam einen Widerstand von r 3 besaßen — zum 
rechten Kontakt des Wenders w x . 

Wurden nun die gleichzeitige Öffnung und Schließung von g x g 2 
und s x t 2 so vollzogen, daß g x g 2 bis zum letzten Hammerschlag 
geschlossen blieb, und genau im Moment des letzten Hammerschlages 
gleichzeitig mit dem Schluß von s x t 2 geöffnet wurde, dann ' 
ließ die Schaltung folgende drei Stromwege zu: 

1) Vor der regulären Reaktion waren T x und T 2 geschlossen, 
ebenso war g x g 2 geschlossen, 8 X s 2 geöffnet. Der Strom ging also 
vom Pol durch den Widerstand r 2 nach g x g 2 und von hier durch 
die geschlossenen Klemmen von T 2 und den Widerstand R zum 
Pol zurück. Die Stromwege durch r x und r 3 blieben stromlos, und 
das Chronoskop konnte nicht in Gang kommen. 

2) Wurde nun im Moment des Hammerschlages «x * 2 geschlossen 
und g x g 2 geöffnet, dann ging ein Strom von der Stromstärke J' 
durch fj, verzweigte sich am Wender in den Chronoskopstrom von 
der Stromstärke i 4 und den Strom durch r 3 von der Stärke i 3 , und 
ging vom geschlossenen Tasterkontakt T 2 zurück zum Pol. Solange 
also T x und T 2 noch geschlossen waren, wurden die Zeiger des Chro- 
noskops mitgerissen, im Moment des Loslassens des Tasters wurden 




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172 


B. Panlssen 


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dann T x und T 2 geöffnet, und damit sämtliche Kreise stromlos, 
das Chronoskop stand still. 

3) Wurde jedoch der Taster T — und damit die Kontakte T\ und 
T 2 — geöffnet, solange g x g 2 noch geschlossen und s x s 2 geöffnet 
waren, d. h. also vor dem letzten Hammerschlag, dann ging ein Strom 
durch r 2 , r 3 , das Chronoskop, Wi Xj den Fallhammer und durch R 
zum Pol zurück, der erst im Moment des Hammerschlages bei 
Öffnung von g x <jf 2 unterbrochen wurde. 

Die Widerstände r x , r 2 , r 3 , r 4 und R mußten nun so bestimmt 
werden, daß die Stromstärke des Chronoskopstromes in beiden Fällen 
konstant war, d. h. = 0,07 Ampere betrug. Nach den Kirchhoff- 
schen Regeln gilt nun: 

a) für den regulären Chronoskopstromkreis nach Schaltung 2): 


J' 


H + H - 


*1 + 


E 


*•» u 

r 3 + U 


+ R 


0 ) 


außerdem 


1 3 : t 4 = r i : r 3 ; 


( 2 ) 


b) für den Chronoskopstrom bei vorzeitigen Reaktionen nach 
Schaltung 3): 

J"= --- (3) 

r 2 + r !i + r 4t +R 

Hierzu kommt nun noch die Bedingung, daß 

» 4 = J" = 0,07 Ampere (4) 

sein muß. 

Aus diesen vier Gleichungen lassen sich bei bekannter elektro¬ 
magnetischer Kraft E = 220 Volt nun zwar die fünf Widerstände 
r i> r 2 > r 3 > r 4 > R nicht eindeutig bestimmen, aber man gewinnt doch 
Stützpunkte, die eine richtige Verteilung der Widerstände möglich 
machen. W r ir benutzten als Widerstände elektrische Glühlampen 
von etwa 440 Ohm Widerstand und zwei variable Drahtwiderstände 
Wi i und Wi 2 . Die Lampen mußten, wenn mehrere verbunden wurden, 
immer hintereinander gelegt werden, damit beim Durchbrennen 
einer Lampe gleich Stromunterbrechung eintrat. Mit Hilfe der 
zahlenmäßigen Beziehungen, die aus (1), (2), (3) und (4) abgeleitet 
wurden, nämlich 

1 F 220 

- (ri + R) (r, + r 4 ) + r 4 = ^ m = 3142,8(3143) Ohm (4) 

und 

r i + «'s + U + B - * - 3142,8 (3143) Ohm 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 173 

und der Überlegung, daß r v und r 3 , die direkt vor dem Chronoskop 
lagen, möglichst groß zu wählen seien, wurde nun folgende Verteilung 
der Widerstände festgelegt: 

r t = 4 Lampen = etwa 1760 Ohm. 
r 3 = 2 Lampen + Wi 2 = etwa 880 +x Ohm, 
wobei x der noch variable Widerstand von Wi 2 war. 

r„ und R wurden beide = 1 Lampe = etwa 440 Ohm. 

Der innere Widerstand des Chronoskops war auf etwa 100 Ohm be¬ 
rechnet worden, ihm wurde noch ein kleiner Widerstand Wi\ beigegeben, 
so daß r 4 = 100 + y Ohm betrug. Da die Lampenwiderstände nicht 
alle ganz gleich groß waren und die ziemlich langen Stromwege 
auch nicht mit in Rechnung gezogen wurden, so konnten die für x 
und y nach (4) und (5) berechneten Werte nicht ohne weiteres benutzt 
werden, vielmehr wurde hier ausprobiert und an die Zahlenergebnisse 
angeglichen. Es gelang nun, x und y, die Widerstände von Wi 2 und 
Wij so zu finden, daß sich tatsächlich für beide Stromwege durch 
das Chronoskop die gleiche Stromstärke ergab. 

Die täglichen Eichungen mit dem Fallhammer, der vorher durch 
Stimmgabelschreibung selbst geeicht worden war, ergaben so über¬ 
raschend konstante und übereinstimmende Resultate für beide 
Stromwege, daß die Chronoskopablesungen ohne jeden Abzug zur 
Verrechnung kommen konnten. Es betrug die Abweichung des 
Mittelwertes aus den täglichen Eichungen gegen die Stimmgabelzeit 
0,7 a; die tägliche mittlere Variation der Eichungen 0,8 a und die 
Abweichung der Tagesmittel vom Gesamtmittel innerhalb eines 
Monats 1,3 a, alles bezogen auf die hauptsächlich verwendete Schal¬ 
tung nach 2) (siehe oben). Für die Schaltung nach 3) bei vorzeitigen 
Reaktionen ergaben sich nur ganz wenig größere Abweichungen. 

4) Es blieb nun nur noch übrig, die Öffnung des Relaismagnet¬ 
stromes durch einen der ßerührungskontakte B x oder B 2 (siehe 
oben) so einzurichten, daß Hammerschlag und Schluß des Relais¬ 
kontaktes 8i « 2 (bzw. Öffnung von g x g 2 ) absolut gleichzeitig er¬ 
folgten. Der Magnetstrom ging vom Element E 2 zum Ausschalter U 2 , 
von hier zum Haltemagneten m-i und von diesem zum Schalter (). 
War O geschlossen, dann kehrte der Strom zum Element zurück. 
Wurde O dagegen geöffnet, so daß die beiden Klemmen und b 2 
gegeneinander isoliert waren, dann ging der Strom, der vom Magneten 
kam, von b r nach dem isolierten Quecksilkernapf an der Spitze 
der Achse D des Rhythmusapparates, von hier in die Klemme o 
des Berührungskontaktes B 2 , durch die Schraube T x (vgl. Fig. 4) 
und den Hebel h 2 nach der Achse, von dieser zur Klemme b 2 des 


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174 


B. Paulasen. 


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Schalters 0 und von hier zum Element E 2 zurück. Der Berührungs¬ 
kontakt B l} der beim Vorbeigleiten an K x — K a die Hammerschläge 
auslöste, konnte deshalb nicht als Öffnungskontakt benutzt werden, 
weil er ja von jedem Auslösehebel — nicht nur von K h bzw. K s 
geöffnet wurde. So wurden denn zwei weitere Auslösungskontakte 
K 9 und K l0 den beiden Auslösungskontakten K$ bzw. K g genau 
diametral gegenüber auf der Kreisteilung befestigt. Ebenso erhielten 
B x und B 2 auf der Kreisteilung von R 2 genau diametrale Stellungen. 
Außerdem wurden sämtliche Auslöser Ki — K l0 so eingestellt, daß 
sie alle B x berührten, aber daß B 2 nur durch K 9 und K l0 berührt 
wurde. Das war leicht möglich, wenn man K 9 und K l0 radial etwas 
weiter vorschob. Bei dieser Einstellung erfolgte die Unterbrechung 
des Stromes durch den Magneten m x wirklich nur beim letzten 
Ha mmerschlag, denn nur, wenn B x die Auslöser K s bzw. K s 
berührte, wurde der Stromschluß zwischen h 2 und T 2 am Kontakt 
B 2 durch K 9 bzw. K 10 geöffnet. Die genaue Einstellung von B 2 , 
durch die Hammerschlag und Stromschluß des Relaiskontaktes s 2 
wirklich gleichzeitig bewirkt wurden, wurde nun so vorgenommen: 
Wir legten einen Stromkreis durch die Schallhammerkontakte, die 
beim Schlagen desselben geschlossen werden, und durch den Öff¬ 
nungskontakt g x g 2 des Relais Q — der ja, wie schon früher fest¬ 
gestellt war, wirklich gleichzeitig mit dem Schluß von a 2 geöffnet 
wurde — und schalteten in diesen Stromkreis ein empfindliches 
Milliamperemeter ein. B 2 wurde nun mit Hilfe der Mikrometer¬ 
schraube T x so eingestellt, daß das Milliamperemeter beim Umlauf 
des Apparates, wenn Hammerschlag und Relaisschluß eintraten, 
keinen Ausschlag mehr zeigte. 

5) Der Verlauf eines Versuches war nun folgender: Auf das 
Klingelzeichen der Vp. hin wurde zunächst 0 geschlossen und der 
Rhythmusapparat in Gang gesetzt, weil zu den Versuchen erst der 
vierte oder fünfte Umlauf desselben verwendet wurde. Dann schloß 
der Versuchsleiter den Ausschalter I/ 2 , hierdurch wurde der Primär¬ 
strom des Induktoriums, der vom Element E 3 gespeist wurde, ge¬ 
schlossen, und im Zimmer der Vp. flammte die Geißlerröhre G auf. 
Das war für die Vp. das Zeichen, den Taster niederzudrücken. Der 
Versuchsleiter zog dann das Relais an, setzte das Chronoskop in 
Gang und schloß, wenn B x sich an K x bzw. K & annäherte, den Aus¬ 
schalter U x im Hammerstromkreis und den Wender w x des Chrono- 
skopstromkreises. Sofort nach dem ersten Hammerschlag, den der 
Versuchsleiter am Amperemeter A 2 bemerkte, wurde auch 0 ge¬ 
öffnet. Im Zimmer der Vp. ertönten nun die verabredeten Hammer- 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 175 

schlage, beim letzten Hammerschlag wurde der Magnetstromkreis 
in B 2 imterbrochen, der Relaishebel fiel herunter und schloß den 
Stromkreis des Chronoskops, das zu laufen begann und erst, wenn 
die Vp. den Taster losließ, Stillstand. Der Versuchsleiter mußte 
stets auf den Ausschlag des Amperemeters A x achten; nur, 
wenn es einen Ausschlag zeigte, war die Reaktion nach dem Hammer¬ 
schlag erfolgt, andernfalls war sie vorzeitig erfolgt. Sobald die Chrono- 
skopzeiger Stillständen, wurden sämtliche Schalter geöffnet, der 
Rhythmusapparat arretiert und die Zeitangabe des Chronoskops 
aufgeschrieben. Bei Prüfungsversuchen war schon vor dem Versuch 
der zu £ s bzw. K g gehörige Stöpsel aus dem Schaltbrett entfernt 
worden, der letzte Hammerschlag fiel dann fort. 


IV. Die Versuche und ihre Ergebnisse. 

A. Gruppe I. 

Versuche ohne willkürliche Rhythmisierung. 

Versuchspersonen: Vp. I, Vp. II, Vp. III, Vp. V. 

Intervallänge: 964 a. 

Zahl der Vorsignale: 1 bis 4. 

Länge der Vorperioden: 964 o, 1928 a, 2892 o, 3856 o. > 

Die Durchführung der Versuche erfolgte genau nach der oben 
angeführten Methode. Die Instruktion, die möglichst vor jeder 
Reihe wiederholt wurde, lautete: »Beim Aufleuchten der Geißler¬ 
röhre drücken Sie den Taster nieder; es kommen dann zwei (drei, 
vier oder fünf) Hammerschläge; sobald Sie den zweiten (dritten, 
vierten oder fünften) gehört haben, lassen Sie den Taster so schnell 
als möglich los. Fehlt der letzte Hammerschlag, so darf nicht reagiert 
werden. Nach dem Versuch notieren Sie Ihre Beobachtungen.« — 
Das Licht, welches als Signal diente, den Taster niederzudrücken, 
brannte während des ganzen Versuches; es wird von den Vpn. meist 
als angenehm empfunden; Vp. I sagt spontan darüber aus, es sei 
»wie ein roter Faden, der den ganzen Versuch durchzöge«. Danach 
scheint es die Vereinheitlichung des ganzen Erlebnisses vom Nieder¬ 
drücken des Tasters an bis zur Reaktion begünstigt zu haben. 

Mit Rücksicht auf die Prüfungsversuche ist noch zu bemerken, 
daß Vp. III während der ganzen Untersuchung über ihre absicht- 
liche^systematische Einführung in Unkenntnis blieb, den Ausfall 
des Hauptreizes also für einen völlig zufälligen Versuchsfehler hielt. 


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176 B. Paulssen, 

Obwohl Deuchler 1 ) dies Verfahren ausdrücklich ablehnt, weil 
seiner Ansicht nach der Ausfall des Reizes die Vp. in Verwirrung 
bringen muß, so versuchten wir es doch in diesen Reihen durch¬ 
zuführen, wo es praktisch leicht zu bewerkstelligen war und in den 
Resultaten wichtige Gesichtspunkte ergab. Da die Vp. die Kompli¬ 
ziertheit der Anordnung und ihrer Handhabung wenigstens im all¬ 
gemeinen kannte, so kam sie ganz von selbst zu der Überzeugung, 
daß das Fehlen des letzten Hammerschlages in einigen Versuchen 
ohne Absicht geschah und blieb, ohne besondere Belehrung von 
irgendeiner Seite, bis zuletzt bei dieser Ansicht, besonders da die 
Zahl der Prüfungsversuche nicht sehr groß war. 

Die folgende Tabelle I enthält die Ergebnisse dieser Gruppe: 


Tabelle I. 

T m = Gesamtmittel, V m — Mittel der Tagesvariationen, V m = Gesamt¬ 
variation, V” = Abweichung der Tagesmittel, n = Gesamtzahl der Versuche. 



1 

Vorsignal 


2 

Vorsignale 


1 

3 

Vorsignale 


4 

l Vorsignale 



T m 

\v 

i m 

V 

m 

F" 

tn 


T m 

m 

K 

F' 

m 

P' 

r M 

n 

T 

Ul 

v 

m 

V 

r »i 

VI 

m 

n 

T 

m 

\v m 

tn 

V' 

w IN 

V" 

m 

n 

I 

214 

19 

20 

6 

20 

217 

20 

22 

9 

22 

212 

22 

22 

4 

23 

213 

29 

28 

14,6 

22 

II 

196 

33 

33 

9,6 

65 

204 

33 

36 

13,6 

66 

203 

47 

49 

17 

63 

232 

40 

44 

14,5 

63* 

III 

157 

13 

14 

4 

60 

164 

17 

19 

4 

68 

139 

16 

18 

10 

59 

162 

20 

22 

9 

58 

V 

170 

17 

23 

11 

38 

i 169 

22 

28 

18 

35 

189 

17 

22 

14 

43 

198| 

29,6 

32 

10 

34* 


Bevor zu einer Diskussion dieser Resultate geschritten werden 
kamt, muß noch folgendes bemerkt werden: Es ist nicht ohne weiteres 
möglich, die Resultate der Vpn. miteinander zu vergleichen. Zunächst 
sind die Bedingungen bei Vp. III, durch die Unwissentlichkeit der 
Prüfungsversuche, verschieden von denen bei den anderen Vpn. 
Außerdem ist aber auch die »Vorgeschichte« der Vpn. in Rücksicht 
zu ziehen. Vp. I und Vp. II haben wochenlange Versuche zur Schwel¬ 
lenbestimmung hinter sich, bei denen die Partialrcihen bezüglich 
der akustischen Vorbereitung mit denen unserer ersteh beiden Gruppen 
völlig übereinstimmten. Vp. III hat nur ganz wenige solcher Ver¬ 
suche gemacht, Vp. V keine. Nun ist bei Reaktionsversuchen der 
Einfluß einer früheren Übung oder Einstellung meist sehr stark. 
In unserem Falle erklärt er die großen individuellen Differenzen hin¬ 
reichend. Zunächst sind daher die Resultate jeder Vp. — die unter 
sich eine Vergleichung ohne weiteres zulassen — zu betrachten, 
und aus den vorhergehenden Versuchen oder besonderen Bedingungen 

1) G. Deuchler, a. a. 0. S. 363ff. 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 177 

zu erklären. Die Betrachtung soll unter einem gemeinsamen Ge¬ 
sichtspunkt stattfinden, und die schon oben angeführten Versuche 
Deila Valles sollen hierzu sozusagen als »Norm« herangezogen 
werden. Deila Valle 1 ) hatte bei ungegliederten Vorperioden von 
1.925o — 4.925 o gefunden, daß für diese Zeiten eine Verlängerung 
der Vorperiode im allgemeinen eine Verlängerung der Reak¬ 
tionszeit nach sich zieht, und zwar im Durchschnitt 20 o bei einer 
Verlängerung der Vorperiode um 925 o. Dies stimmt ziemlich gut 
mit den an anderen Stellen angegebenen Zeitzunahmen der Reak¬ 
tionszeiten bei Variation der Vorperiode überein. Bei gleichbleibender 
Belastung des motorischen Apparates, d. h. bei Beibehaltung der 
Reaktionsbewegung, bedeutet die Zunahme der Vorperiode nicht 
notwendig eine Verbesserung der Reaktionszeit. Nach Wundt 2 ) 
fordern Exner, Kries, Auerbach und Catell 1 Sekunde als 
optimale Vorperiode; Dwelshauvers 3 ) fand das Optimum bei 
IV 2 Sekunden; jede Verlängerung bedeutete gleichzeitig eine Ver¬ 
längerung der Reaktionszeiten. Diese Ergebnisse sollen nun mit 
den Resultaten unserer Versuche verglichen werden. 

Versuchsperson I. 

Die arithmetischen Mittel, die 212—217 o betragen, sind höher 
als die sonst für sensorielle Schallreaktionen gefundenen. Die Vp. 
war bei den vorhergehenden Versuchen zur Schwellenbestimmung 
init disparaten Prüfungsreizen in eine übervorsichtige Haltung hin¬ 
eingekommen. Die motorische Vorbereitung der Handlung war, 
trotz der Instruktionsforderung: »so schnell als möglich zu reagieren«, 
auf ein Minimum eingeschränkt worden. Das Aufhören der Schwellen¬ 
bestimmung und die Herabsetzung der Zahl der Prüfungsversuche 
vermag nun diese Haltung nicht sofort aufzuheben; sie ist durch 
die wochenlange Übung der Vp. so zur zweiten Natur geworden, 
daß sie erst, wie sich unten zeigen wird, durch eine ausgesprochene 
Rhythmisierung der Vorsignale zu beseitigen war. Sieht man davon 
ab, daß die Reaktionszeiten außerordentlich lang sind, so zeigt ein 
V ergleich mit den Resultaten DellaValles, daß hier die V erlängerung 
der Vorperiode bis auf das Vierfache die Reaktionszeit nicht ver¬ 
längert, wie es dort eingetreten war. Im Gegenteil scheint bei 
drei Vorsignalen, also bei einer Vorperiode von 2892 o ein Opti¬ 
mum zu liegen. Nur die mittleren Variationen steigen mit der Zu¬ 


ll Deila Valle, PsychoL Stud. III. S. 294f. 

2) Wundt, PhysioL PsychoL I*. S. 736. 

3) Dwelshauvers, Philos, Stud. VI. S. 217ff. 


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178 


B. Panlssen, 


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nähme der Vorperiode ein wenig. Diese Abweichung hat natürlich 
ihren Grund darin, daß die Vorperiode hier nicht ungegliedert, son¬ 
dern in Intervallen von 964 a dargeboten wurde. 

Waren in der vorhergehenden Untersuchung mit optischen Prü¬ 
fungsreizen keine Anzeichen dafür vorhanden, daß die Vorsignale 
zu einer Einheit zusammengefaßt wurden, so deutet hier die Gleich¬ 
mäßigkeit der Reaktionszeiten bei Variation der Vorperiode darauf 
hin, daß nunmehr wahrscheinlich eine Rhythmisierung der Vor¬ 
signale stattgefunden hat. Vp. I bestätigt diese Annahme durch 
ihre spontanen Aussagen. Schon am ersten Versuchstag dieser 
Gruppe bemerkt die Vp., daß sie den letzten Taktschlag am stärksten 
betont erlebe. Dies Betonungserlebnis differenziert sich im Lauf 
der Versuche noch etwas, die Vp. gibt schließlich folgende Schemata 
für die verschiedenen Vorperioden an: 

VoS'jJUe BetODimgMrlebiii. 

1 (-)- 

2 (x -) x 

3 

4 

Die Steigerung der Betonung nach dem Schluß zu ist ganz cha¬ 
rakteristisch. Am zweiten Versuchstag gibt die Vp. mit den an¬ 
geführten Betonungen folgende Aussage: »Die erwähnte Rhythmi- 
sierung ergab sich ganz ungezwungen von selbst; nachdem sie ein¬ 
mal sich ergeben hatte, wurde sie wohl noch pointiert. Doch war 
im allgemeinen die Absicht zu indifferenter Auffassung da.« 

Noch ist das Erlebnis des Rhythmus nicht stark genug, um die 
extrem sensorielle Einstellung der Vp. zu beseitigen und die moto¬ 
rische Vorbereitung zu begünstigen; es ermöglicht aber doch schon, 
daß der Einfluß der Verlängerung der Vorperiode auf die Reaktions¬ 
zeit fast vollständig ausgeglichen wird. 

Versuchsperson II. 

Auch Vp. II hat wochenlang Versuche zur Schwellenbestimmung 
mitgemacht, und auch bei ihr ist die Länge der Reaktionszeiten 
darauf zurückzuführen. Obwohl die ersten fünf Versuchstage bei 
der Verrechnung weggelassen werden mußten, weil ihre Werte von 
den später erreichten Übungswerten zu stark abwichen, so blieben 
doch die Mittelwerte und die mittleren Variationen sehr hoch. 

Es findet sich bei dieser Vp. nur eine Aussage über eine Rhyth¬ 
misierung; drei Vorsignale ergeben ein Schema das 

ganz mit dem von Vp. I gefundenen übereinstimmt. Doch ist diese 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythra. Gliederung der Vorperiode. 179 

Rhythmisierung wahrscheinlich sehr schwach; sie überwindet weder 
die extrem sensorielle Haltung, noch den Einfluß der Verlängerung 
der Vorperiode. Ganz wie bei Deila Valles Resultaten zieht hier 
die Verlängerung der Vorperiode — obwohl sie von einer rhyth¬ 
mischen Gliederung begleitet ist — bedeutende Verlängerungen der 
Reaktionszeiten nach sich (von 196 o bei 964 a Vorperiode auf 232 a 
bei 3856 o Vorperiode); auch die mittleren Variationen wachsen. 
Die vielen Vorsignale sind der Vp. nicht angenehm, die Vorbereitungs¬ 
zeit ist zu lang, und da es ihr nicht gelingt, diese Inhalte durch einen 
pointierten Rhythmus zu einer Einheit zusammenzuschließen, so 
nehmen sie mehr den Einfluß von Störungsreizen an und verlängern 
die Reaktionszeiten in steigendem Maße. 

Versuchsperson III. 

Die Resultate von Vp. III weichen ganz wesentlich von denen 
der anderen Vpn. ab. Zunächst hatte Vp. III nur sehr wenige von 
den Versuchen zur Schwellenbestimmung mitgemacht, so daß sich 
bei ihr die vorsichtig abwartende Haltung nicht befestigen konnte. 
Dazu kam, daß die Vp. mit Rücksicht auf die Prüfungsversuche 
unter anderen Bedingungen arbeitete als die übrigen Vpn. Da sie 
keine absichtlichen Prüfungsversuche erwarten konnte, so fielen bei 
ihr alle die HemmungsWirkungen gänzlich fort, die, trotz des Vor¬ 
satzes der Vp., nicht an die Möglichkeit des Eintretens eines Prü¬ 
fungsversuches zu denken, doch immer von diesen aus auf das ganze 
Verhalten ausstrahlen. Kurze Reaktionszeiten und sehr niedrige 
mittlere Variationen sind die unmittelbare Folge dieser Einstellung; 
daneben macht sich jedoch deutlich eine Neigung zu inkorrektem 
Verhalten bemerkbar. Die> motorische Vorbereitung des Impulses 
wächst über die Grenze hinaus, in der sie unbedingt bleiben muß, 
wenn der Reiz wirklich notwendige und hinreichende Bedingung 
zur Tat bleiben soll. Die Vp. bemerkt das auch; ihre Aussage: »Man 
muß sich sehr zusammennehmen, um nicht vorher zu reagieren«, 
weist deutlich darauf hin. Noch werden alle Prüfungsversuche 
beachtet: »Ich blieb wie erstarrt liegen«, und die kürzesten Reak¬ 
tionszeiten, die Vorkommen — 91 o und 74 o sind die untere Grenze — 
zeigen noch nicht deutlich, ob der Zusammenhang zwischen Reiz 
und Reaktion wirklich schon aufgelöst ist; aber die Tendenz zu 
dieser Loslösung ist zweifellos vorhanden, weil die Hemmungsmotive, 
die durch die Prüfungsversuche geschaffen werden, und die die Inne¬ 
haltung der Instruktion erleichtern, hier im Bewußtsein der Vp. 
fehlen. 

Die Reaktionszeiten weisen im Gegensatz zu den Resultaten 


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180 


B. Paulsseii, 


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DellaValles mit wachsender Vorperiode eine deutlicheAbnahme 
auf; bei drei Vorsignalen, also etwa 3 Sekunden (2892 o) liegt ein 
eindeutiges Optimum mit der mittleren Reaktionszeit von 139 a. 

Merkwürdig ist, daß die Vp. keine spontanen Aussagen über 
eine Rhythmisierung oder Gliederung der Vorsignale macht, wie 
sie überhaupt relativ wenig Beiträge zur Selbstbeobachtung liefert. 
Auf eine Frage des Versuchsleiters, die scheinbar die technische 
Exaktheit der Hammerschläge betraf, meint die Vp. allerdings, der 
letzte Hammerschlag scheine ihr immer stärker zu sein als die übrigen. 
Daß die Vp. die Hammerschläge wirklich zusammenfaßte und rhyth¬ 
misierte, geht außerdem auch aus den späteren Versuchen klar her¬ 
vor, und zwar ist es die auf die Betonung des letzten Schlages ab¬ 
zielende Rhythmisierung von Vp. I, die auch bei Vp. III zugrunde 
liegt. Hierüber wird weiter unten zu berichten sein. Schon hier 
weist die Neigung zu »zu frühen« Reaktionen auf die Tendenz der 
Vp. hin, Hauptreiz und Reaktion zu einem einzigen, sehr stark 
betonten Taktelement zusammenzufassen und nicht, wie es die 
korrekte Ausführung der Reaktion fordert, die Handlung als ge¬ 
trenntes Taktelement an die Gesamtvorperiode anzuschließen. Daß 
hier noch alle Kontrollen innegehalten werden, ist kein Beweis dafür, 
daß die Vp. dauernd die korrekte Einstellung festhielt. Es hat sich 
in unseren Versuchen ganz allgemein gezeigt, daß deutlich antizi¬ 
pierende Einstellungen nur in einzelnen Versuchen der Reihe auf- 
treten, während andere zufällig wieder mehr sensoriell sind. 

Versuchsperson V. 

Zeigen sich bei Vp.III Neigungen zu verkürzten, unvollständigen 
Reaktionen, so macht sich umgekehrt bei Vp. V eine Tendenz zum 
»sensoriellen« ab wartenden Verhalten deutlich bemerkbar. Die Vp. 
hat die Versuche zur Schwellenbestimmung nicht mitgemacht, die 
Ergebnisse sind also aus ihrer »natürlichen« Einstellung zu erklären. 
Die Reaktionszeiten, die im Mittel zwischen 169 und 198 o liegen, 
weisen für längere Vorperioden eine Steigerung auf. Besonders drei 
und vier Vorsignale sind der Vp. ersichtlich unangenehm; die Anzahl 
wirkt störend, die Vorperiode ist zu lang. Ein und zwei Vorsignale 
werden dagegen als gleich angenehm empfunden, die zahlenmäßigen 
Resultate bestätigen dies. Läßt sich also in gewisser Hinsicht eine 
Übereinstimmung mit den Resultaten Deila Valles und der Vp. II 
behaupten, so ist die Verlängerung der Reaktionszeiten doch nicht 
so bedeutend, und wie die Selbstbeobachtung zeigt, nicht so sehr 
eine Folge der Länge der Vorbereitungszeit, als vielmehr der großen 
Zahl der Hammerschläge. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 181 

Eigenartig ist es, daß die Vp., trotz dieses Verhaltens, eine deut¬ 
liche rhythmische Gliederung der Vorpericde erlebt. Diese bezieht 
sich jedoch nicht nur auf die Hammerschläge der Vorperiode, sondern 
auch auf die Zeit zwischen Reiz und Reaktion, sowie die Reaktion 
selbst, bzw. das durch den Taster erzeugte leise Geräusch. Diese 
Vorgänge werden alle mit in den Rhythmus einbezogen. Bei fünf 
Taktschlägen — vier Vorsignalen mit Hauptreiz — bemerkt die Vp.: 
»Versuch einen sechsten Schlag zu taktieren«; oder »beim dritten 
Schlag findet schon Einstellung auf die Reaktion statt, die mit 
dem Klappen des Tasters taktmäßig verläuft«. 

Ein Vorsignal, also die Vorbereitung (—) — ergibt das Takterleb¬ 
nis die Reaktion selbst wird unbetont erlebt. 

Dieses Verhalten ist »sensoriell«, weil Reizwahrnehmung und 
Reaktion deutlich getrennt werden. »Wenn die sichere Beherrschung 
des äußeren Impulses bis zur Wahrnehmung nicht verloren gehen 
toll, so muß die Bewegung auf den Reiz in der Antizipation offenbar 
stets in einen zweiteiligen Takt hineingenommen werden, dessen 
erstes, zeitlich relativ selbständiges Glied, gewissermaßen als Auf¬ 
sakt, der Apperzeptionsakt selbst ist 1 ).« Natürlich kann hier, infolge 
der Länge der Intervalle der Vorperiode, das Taktglied Reiz—Reak¬ 
tion nur einen kleinen, aber immer noch gegliederten Bruchteil des 
Vorintervalls darstellen. Wenn jedoch, wie bei den späteren Gruppen, 
die Vorzeit klein ist, oder gar in mehrere kleine Intervalle gegliedert 
wird, so entsteht dann bei diesem Verhalten die Tendenz, die Reak¬ 
tionszeit, d. h. das Intervall Hauptreiz—Reaktion (bzw. Taster¬ 
geräusch) diesem objektiven Intervall doch einigermaßen adäquat 
zu machen, und diese Ausgleichungstendenz wird mit wachsender 
Zahl der Vorsignale zunehmen. Aber auch bei diesen Versuchen, 
mit längerem Intervall, wird die Zunahme der Zahl der Vorintervalle 
die Tendenz zur Angleichung steigern, so erklären sich wohl auch 
die wachsenden Reaktionszeiten. 

Die Instruktion, »so schnell als möglich zu reagieren«, ist bei 
dieser großen Koordination der Reaktionszeit mit dem Gesamt¬ 
rhythmus fast machtlos. Als am dritten Versuchstag in der Reihe, 
mit zwei Vorsignalen vor dem Hauptreiz die Vp. sich bemüht, den 
Taster wirklich gleich loszulassen, »klingt Taster und Hammer¬ 
schlag zusammen« 2 ). Wie so oft, geht also die Vp. bei der Absicht, 

1) Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. S. 399 
Anmerkung. 

2) Dies weist auf die schon den Astronomen bekannte Einstellung hin, 
daß man bei der Absicht, zu antizipierender Registrierung des Stemdurch- 

Archiv für Psychologie. XXX IX. 13 


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182 


B. Paulssen 


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die Reaktion trotz aller inneren Widerstände zu beschleunigen, so¬ 
gleich zur verkürzten Form über, wie auch der Mittelwert dieses 
Versuchstages nur 152 o beträgt. Hierbei besteht dann, wie auch 
bei Vp. III die Tendenz, den letzten Schlag mit der Reaktion zu einer 
intensiv erlebten Einheit zu verschmelzen. Vp. V behält diese Ein¬ 
stellung jedoch nicht bei, sondern kehrt bald wieder zu ihrer natür¬ 
lichen Haltung zurück und schließt die Reaktion als gesondertes 
Taktglied an den Rhythmus der Vorperiode an. 

Zusammenfassend läßt sich über die Versuche dieser Gruppe 
folgendes bemerken: 

Wird die Vorperiode bei ihrer Verlängerung zugleich in Intervalle 
gegliedert, die eine rhythmische Auffassung ermögüchen, so kann 
dadurch die sonst meist eintretende Verlängerung der Reaktionszeit 
kompensiert werden. Zwar tritt dies nicht notwendig ein, eine geringe 
Neigung zur rhythmischen Auffassung oder ein extrem abwartendes 
Verhalten können bei den längeren Vorzeiten eine Verlängerung der 
Reaktionszeit trotz der Gliederung zulassen, sie wird aber kaum so 
groß werden wie bei ungegliederten Zeiten. 

Eine ausgesprochene Rhythmisierung — wie bei Vp. I — 
führt jedoch zu einer Verkürzung der Reaktionszeit mit zuneh¬ 
mender Vorperiode, wobei das Optimum, das sonst zwischen 1 und 
2 Sekunden hegt, auf etwa 3 Sekunden verschoben wird. Es kann 
andererseits gerade die Rhythmisierung allerdings auch ein Moment 
zur zunehmenden Verlängerung der Reaktionszeit einschließen, 
wenn nämlich die Reaktionszeit an Intervallen der Vorperiode koor¬ 
diniert wird, so daß diese eine mit ihrer Anzahl steigende Assimila¬ 
tion ausüben, wie es uns bei der deutlich rhythmisierenden Vp. V 
vorzuliegen scheint. 

Uber die Art der rhythmischen Gliederung kann Abschließendes 
noch nicht gesagt werden, nur scheint es, daß die steigende rhyth¬ 
mische Form, die die Betonung — wie z. B. auch beim Abspringen 
mit genau begrenztem Anlauf — auf den letzten Taktschlag, den 
Hauptreiz zu legen sucht, die sich spontan ergebende und auch im 
allgemeinen die günstigste sei. 

Noch ist, bei einer so wenig ausgesprochenen Rhythmisierung 
so langer Intervalle, die Verleitung zur Preisgabe der korrekten voll¬ 
ganges häufig nicht nur den Bewegungsimpuls, sondern sogar das ihm erst 
nachfolgende Apparatgeräusch mit dem Durchgang zusammenfallen lassen 
will, wozu natürlich der Impuls noch etwas früher losgehen muß. VgL PsychoL 
Stud. X. S. 56. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rbythm. Gliederung der Vorperiode. 183 

ständigen Reaktion, die den letzten Taktschlag als ausschlaggebendes 
Motiv betrachtet, relativ gering. Jedoch beweist das Verhalten 
von Vp. III, daß, wenn die ständige bewußte Korrektur durch die 
Prüfungsversuche fehlt, ein solcher Fall bei langer Übung wahr¬ 
scheinlich eintreten wird. 

Um diesen Einflüssen nachzugehen, schien es vor allem geboten, 
die Rhythmisierung der Vorperiode zu einer willkürlichen zu machen. 
Dies geschah in 

B. Gruppe II. • 

Versuche mit subjektiver willkürlicher Rhythmisierung 

der Vorperiode. 

Versuchspersonen: Vp. I, Vp. II, Vp. III. 

Intervallänge: 

Zahl der Vorsignale: wie in Gruppe I. 

Länge der Vorperioden: 

Es wurde den Vpn. hier für jede Reihe ein ganz bestimmter 
Rhythmus vorgeschrieben, der durch subjektive Betonung der 
an sich gleichen und äquidistanten Hammerschläge willkürlich er¬ 
zeugt werden sollte. 

Zum Ausgangspunkt für die Auswahl der willkürlichen Rhyth¬ 
misierung nahmen wir die spontane Rythmisierung, die Vp. I in 
Gruppe I bei sich selbst beobachtet hatte. Diese war dadurch charak¬ 
terisiert, daß der letzte Taktschlag betont wurde. Dies ist ver¬ 
ständlich, da der letzte Taktschlag als eigentlicher Hauptreiz von 
der Aufmerksamkeit natürlich mit gesteigerter Intensität erfaßt 
werden wird, und »einen Taktschlag betonen, das heißt ihn im 
höheren Grade zum Gegenstand der Aufmerksamkeit machen, auf 
ihn apperzeptiven Nachdruck legen« 1 ). 

Zerlegt man die von Vp. I gefundenen Rhythmen, so zeigt sich, 
daß dieser Gliederung die jambische Grundform des Rhythmus, 
— —, zugrunde liegt. Ein Vorsignal gibt mit dem Hauptreiz das 
einfache jambische Element (-) —; drei Vorsignale mit dem Haupt¬ 
reiz gliedern sich in zwei aneinander gereihte jambische Elemente, 
wobei allerdings das zweite Element in seiner Betonung eine Ver¬ 
stärkung erfährt: 

Bei zwei Vorsignalen geht dem einfachen Jambus ein leicht 
betonter Auftakt voraus: bei häufiger Wiederholung zeigte 

jedoch dieser Rhythmus die Tendenz, sich in den Anapäst (-) — 

1) Th. Lipps, Ästhetik. L 1903. S. 293f. 

13* 



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B. PaulBBen, 


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zu verwandeln, wobei eine starke Steigerung der Intensität des 
letzten Schlages eintrat. Endlich hei vier Vorsignalen wird dieser 
dem Anapäst verwandten Form — —noch ein weiterer Trochäus 
vorausgeschickt, wobei der Rhythmus entsteht. Die 

bevorzugte Stellung, die der letzte Schlag in diesem Rhythmus ein¬ 
nimmt, rechtfertigt es sicherlich, daß man, die Struktur der Unter¬ 
gliederung auf diesen beziehend, von jambischer Rhythmisierung 
spricht, weil alles darauf hinausläuft, daß die steigende Grund¬ 
tendenz ausgebildet wird, welche dem letzten Schlag die stärkste 
Betonung erteilt. Auch zeigen alle diese Rhythmen die typische, 
erregende Gefühlswirkung des Jambus sehr deutlich. Vor allem 
stellt der Anapäst eine besonders gesteigerte Gefühlserregung dar 1 ). 

Jedoch schrieben wir zunächst in Gruppe II den Vpn. nicht die 
willkürliche Erzeugung dieser nächstliegenden steigenden Rhyth¬ 
misierung vor, sondern forderten umgekehrt einmal in Gruppe II a 
die entgegengesetzte Betonungsweise, bei der der Hauptreiz un¬ 
betont bleiben sollte. Es wurde dadurch beabsichtigt, diese beiden 
einander kontrastierenden Formen sowohl objektiv in den Reaktions¬ 
zeiten, als auch subjektiv in der Selbstbeobachtung deutlich hervor¬ 
treten zu lassen. Legte man dieses Prinzip zugrunde, so ergaben 
sich für die fallende Rhythmisierung folgende Grundformen: 

Bei einem einzigen Vorsignal bildet der die Reaktion vorberei¬ 
tende Rhythmus den Trochäus (-) —, die einfachste fallende metrische 
Form; zwei Vorsignale schließen sich mit dem unbetonten Haupt¬ 
reiz zum Amphibrachys (—-) — zusammen; drei Vorsignale werden 
mit dem Hauptreiz in zwei Trochäen gegliedert: bei 

vier Vorsignalen endlich ergibt sich der Rhythmus (— - — -) 

An sich betrachtet, haben diese akustisch dargebotenen Rhythmen 
nichts Erregendes, Stürmisches, sondern sie wirken leicht und elastisch, 
ganz der ihnen zugrunde liegenden trochäischen Struktur ent¬ 
sprechend. 

Jedoch muß berücksichtigt werden, daß bei der Absicht auf 
den letzten, hier unbetonten Schlag so schnell als möglich zu rea¬ 
gieren, diese Rhythmen im Bewußtsein nicht isoliert zur Geltung 
kommen, da man doch sofort zum Impuls übergehen muß. Daher 
kommt für die Reaktionszeit vor allem in Frage, ob dieser Übergang 
zum Impuls nach dem unbetonten Schlag leichter oder schwieriger 
ist, als nach dem betonten. Um hierüber ein Urteil zu gewinnen, 
versuchten wir einfach, diese Rhythmen mit unmittelbarem An- 


1) VgL Wundt, PhysioL Psychol. III«. S. löOf. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rbythm. Gliederung der Vorperiode. 185 

Schluß einer reagierenden Schlußbewegung zu taktieren. Dabei 
ergab sich ganz klar, daß die Angliederung der Reaktion an die stei¬ 
genden Formen viel leichter und hemmungsloser sich vollzieht, als 
bei den fallenden oben angegebenen Formen. Bei den letzteren ent¬ 
steht sehr leicht nach der Reaktion das Gefühl, daß man im falschen 
Moment gehandelt habe, bzw. im Augenblick der Reaktion seine 
Stoßkraft nicht hinreichend konzentriert habe, ähnlich, wie wenn 
man beim Anlauf zum Springen nicht mit dem richtigen Tritt am 
Hindernis ankommt. Das Gefühl tritt um so stärker auf, je lebhafter 
die Forderung, so schnell als möglich zu reagieren, im Bewußtsein 
repräsentiert wird. Nur wenn man die Reaktion mit einer gewissen 
Retardierung erfolgen läßt, sie aber noch ebenso in das Taktganze 
einzugliedern sucht, erhält der ganze Verlauf etwas Harmonisch- 
Anmutiges. Diese Art der Reaktion steht im vollständigen Gegen¬ 
satz zur Reaktion auf eine jambisch gegliederte Vorperiode, bei der 
immer eine starke Erregung nachklingt, während hier ein ruhiges 
Harmoniegefühl zurückbleibt. Vielleicht ließen sich diese Wir¬ 
kungen an der Reaktionsbewegung selbst nachweisen, und zwar an 
der Geschwindigkeit und Höhe der Hebung; Versuche hierüber haben 
wir jedoch nicht angestellt. 

Im zweiten Teil dieser Gruppe, also in Gruppe II b, sollte dann 
die ursprüngliche steigende Rhythmisierung willkürlich eingeführt 
werden. Die unten folgenden Schemata stellen die in den beiden 
Gruppen Ila und II b vorgeschriebenen Rhythmisierungen für die 
verschiedenen Vorsignale zusammen: 

Zahl der Vorsignale: 12 3 4 

Gruppe Ha: (-) - (- -) - (•*■ - - ( - - ^) - 

Gruppe Hb: (-)■*■ ^- (- -) 

Die Versuche wurden nach der angegebenen Methode durchgeführt; 
über der betreffenden Spalte des Protokolls war der vorgeschriebene 
Rhythmus durch die oben gegebenen Symbole aufgezeichnet, und 
außerdem wurde der Vp. zur korrekten Rekapitulation der Instruk¬ 
tion unmittelbar vor Beginn der Reihe die in ihr verwendete Vor¬ 
bereitung einmal ohne die Verpflichtung zur Reaktion vorgeführt. 

Wo die Rhythmisierung zunächst Schwierigkeiten bereitete, 
wurden diese Versuche bei der Verrechnung weggelassen. Natur¬ 
gemäß mußte die so vorgeschriebene Betonung, besonders wenn sie 
der von der Vp. spontan verwendeten nicht entsprach, zunächst 
die Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich ziehen und die Energie 
für sich in Anspruch nehmen; dadurch wurde aber die »Bereitschaft« 


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186 


B. Paulssen, 


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zur Reaktion herabgesetzt, bis die Rhythmisierung genügend ein- 
geübt war. Im allgemeinen gewöhnten sich die Vpn. jedoch rasch 
an den vorgeschriebenen Rhythmus. 

Über die beiden Gruppen soll bei jeder Vp. gemeinschaftlich 
berichtet werden, die Trennung der Diskussion der Ergebnisse bei 
den einzelnen Vpn. aber beibehalten werden, da sich auch hier ziem¬ 
lich große individuelle Differenzen zeigten. Bei Reaktionsversuchen 
ist es ja überhaupt schwierig, bei verschiedenen Vpn. ganz über¬ 
einstimmende Resultate zu erhalten. In unserem Fall war aber ja 
einerseits bezüglich der Aufmerksamkeitsrichtung durch die In¬ 
struktion eine gewisse Freiheit gelassen, andererseits konnte die Auf¬ 
gabe der willkürlichen Rhythmisierung im einzelnen noch sehr ver¬ 
schieden durchgeführt werden. Bei allen Fragen, die in das ästhe- 
- tische Gebiet hinüberspielen, wird man ohnehin stets mit großen 
individuellen Differenzen zu rechnen haben. So sind denn auch 
rhythmische Formen in ihrer ästhetischen Wirkung auf verschiedene 
Individuen nicht immer vergleichbar, und dies zeigt sich auch hier 
deutlich, wo die rhythmische Form zur Vorbereitung einer Willens¬ 
handlung verwendet wird. 

Doch geben wir vor der Einzelbesprechung zunächst wieder einen 
Überblick über die Resultate sämtlicher Vpn. in den beiden folgenden 
Tabellen: 


Tabelle II. Gruppe IIa. 

T m = Gesamtmittel; V m == Mittel der Tagesvariationen; V’ m = Gesamt- 
variation; = Abweichung der Tagesmittel; n = Gesamtzahl der Versuche. 


Vp. 

1 Vorsignal 

(-)- 

2 Vorsignale 

(- -)- 

3 Vorsignale 

4 Vorsignale 


T 

w 

V 

m 

V' 

nt 

V' 

tn 

n 

T 

m 


V 

in 

V*’ 

m 

n 

T 

m 

y m 

V* 

m 

V" 

tn 

n 

T 

m 

v m 

V 

m 


n 

I 

268 32 

34 

8,6 

20 

177 

16 

17 

11,5 

19 

157 

ii 

n 

0,6 

20 

169 

15 

17 

8 

20 

11 

175 40 

40 

1,6 

25 

197 

48 

49 

18 

27 

202 

35 

36 

17,7 

26 

■228 

43 

46 

21,5 

27 

III 

176 - 

26 

— 

16 

169 

— 

27 

— 

16 

170 

— 

31 


14 

172 

— 

28 

— 

14 







Ta 

belle 

III. 

Gruppe 

Ilb. 








1 Vorsignal 


2 Vorsignale 


3 Vorsignale 


4 Vorsignale 


Vp. 


(-)- 




(- 

-) 





L ~) ± 



r 




T 

m 

v m 

V 

r m 

V' 

m 

n 

T 

m 

v m 

v m 

y>, 

m 

n 

T 

m 

y m 

V' 

tn 

V'rL 

tu 

« 

T 

m 

v m 

m 

vr 

m 


n 

I 

171 

21 

22 

6,6 

24 

153 19 

21 

7,6 

21 

162 

16 16 

2,6 

26 

168 

16 

17 

9,9 

22 

II 

262 

36 

36 

8 

27 

224 31 

31 

7 

25 

253 

43 44 

6 

27 i 

226 

37 

50 

40 

20 

111 

93 

— 1 

27,3 

— 

U 

88 

_ 

45 


13 

140 

— 29,4 

— 

15 

121 

— 

16,5 

— 

15 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 187 

Versuchsperson I. 

Für Vp. I bringt die bewußte Rhythmisierung, auch wenn sie 
von der spontan gefundenen verschieden ist, für fast alle Reihen 
eine bedeutende Verkürzung der Reaktionszeiten mit sich. 
Die Vp. wurde also durch den Rhythmus offenbar endlich aus der 
übervorsichtigen Haltung herausgebracht, die sie durch die Schwellen¬ 
versuche erworben und in Gruppe I noch nicht überwunden hatte. 
Abgesehen von der ersten Reihe in Gruppe II a, die den Rhythmus 
(—) — zugrunde legte, sind sowohl in Gruppe IIa als auch in Gruppe Ilb 
die Reaktionszeiten und ihre mittleren Variationen viel kleiner als 
in Gruppe I. Diese Erscheinung allein als Übungserfolg zu betrachten, 
ist kein Grund vorhanden, weil die Verbesserung ja nicht schon in 
Gruppe I sich zeigte, bei der die Vp. spontan rhythmisierte, sondern 
erst in Gruppe II a, und zwar sofort auftritt, obwohl die hier vor¬ 
geschriebene Rhythmisierung der Vp. durchaus nicht leicht gelingt. 
Die Mittelwerte in Gruppe Ila sinken im Vergleich mit den ent¬ 
sprechenden Werten in Gruppe I: 

für 2 Vorsignale um 40 o, 

» 3 » » 55 o, 

» 4 » » 44 o. 

Das Optimum bleibt bei etwa 3 Sekunden und 3 Vorsignalen, 
T m = 157 o. Offenbar ist an dieser bedeutenden Verkürzung der 
Reaktionszeiten die willkürliche Rhythmisierung selbst ganz be¬ 
sonders beteiligt, die die Zusammenschließung der Taktglieder der 
Vorperiode zu einer Einheit ungeheuer erleichtert und dadurch die 
ganze Einstellung präzisiert. 

Das scheinbar abweichende Verhalten für den Rhythmus (-) —, 
bei dem im Vergleich mit Gruppe I eine Verlängerung der Reak¬ 
tionszeit um 44 o eintritt, zeigt offenbar nur die Wirkung eines 
ungünstigen Rhythmus ganz besonders ausgeprägt. Es erklärt sich 
daraus, daß die absichtliche Betonung des ersten Schlages, der doch 
unerwartet kommt, Schwierigkeiten bereitet. Es fehlt ein »Auftakt«, 
der sich einschiebt und der eine Vorbereitung der apperzeptiven 
Betonung ermöglicht. Uber die Anstrengung, den ersten Taktschlag 
auch wirklich betont zu erleben, sagt Vp. I folgendes aus: »Man muß 
sich innerlich einen Stoß für den ersten Taktschlag geben, damit 
er mit genügend starker Betonung einsetzt.« Die Energie, die dieser 
Stoß absorbiert, wird natürlich der motorischen Anbahnung des Im¬ 
pulses entzogen werden, und die Folge hiervon ist die außerordent¬ 
lich verlängerte Reaktionszeit. Der Forderung der Instruktion, die 
Reaktion sofort an den Trochäus anzuschließen, kann die Vp. nicht 


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B. Paulssen, 


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nachkommen, weil die Zeit zwischen dem anstrengenden Betonungs¬ 
erlebnis und dem Eintritt des Hauptreizes bei nur einem Vorsignal 
sehr kurz ist. Wie schnell man sich aber von dieser Überraschung 
durch die plötzliche Notwendigkeit einer besonderen Betonungs¬ 
leistung erholt, zeigen die zwei Vorsignale in Gruppe Ilb (siehe 
unten), also bei Schema (——)—, wo sogar das Optimum der Reak¬ 
tionszeit nach der zweiten Erfüllung der Betonungsaufgabe erreicht 
wird. Aber auch in Gruppe Ila ist bei drei Vorsignalen mit dem 
Rhythmus (— —-) — zwar das betonte Einsetzen der Vp. noch 
unangenehm, der Einfluß wird aber bis zur Reaktion nach dem 
nächsten Takt so vollständig überwunden, daß auch hier das Opti¬ 
mum der Reaktionszeit dieser Gruppe liegt. Die Reaktion fügt sich, 
wie das letzte Element eines Daktylus [ (- — | -) —] — bequem an 
die Betonung des vorletzten Schlages an, der den Impuls hier 
wahrscheinlich in einer Annäherung an die Grenze der korrekten 
Einstellung bereits kräftig mit angeregt hat. Doch wird diese förder¬ 
liche Koordination wohl von der Gesamtzeit der Vorperiode am 
meisten begünstigt worden sein, die ja hier auch für die Gliederung 
nach Gruppe I ihr Optimum besitzt 1 ). 

Im ganzen bemerkt Vp. I zu den Versuchen von Gruppe Ila: 
»Die Reaktion erscheint bei all diesen Versuchen sehr kurz, doch 
glaube ich, ist allgemein gleichzeitig eine Herabsetzung der mo¬ 
torischen Vorbereitung mit der Nichtbetonung des letzten 
Schlages zusammengefallen.« Diese Bemerkung charakterisiert aus¬ 
gezeichnet die leicht retardierende Wirkung, die die »trochäische« 
Vorbereitung auf den Verlauf der Reaktion ausübt. Nur bei drei 
Vorsignalen scheint die motorische Vorbereitung, wie gesagt, durch 
das Zusammenwirken von Rhythmus und absoluten Zeitverhält¬ 
nissen begünstigt zu sein. Auch zeigt ein Vergleich mit den Resul¬ 
taten der Gruppe Ilb, daß die willkürliche Herausarbeitung der 
spontanen, steigenden Betonungsweise bei allen anderen Partial¬ 
reihen eine bedeutende Verkürzung der Reaktionszeit mit sich bringt : 

für 1 Vorsignal um 87 o, 

» 2 Vorsignale » 24 o, 

»4 » » 11 o, 


1) Der Vergleich mit dem Optimum in Ilb unter einfachen Bedingungen 
läßt sogar vermuten, daß der Chok der sofortigen Betonung für den nächsten 
Takt wie ein günstiger Tuschrciz (vgl Wirth, Exp. Analyse der Bewußt¬ 
seinsphänomene, S. 380) nachzittert, und allerdings dann mehr muskuläre 
Einstellung begünstigen könnte. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 189 

» 

während für drei Vorsignale eine kleine Verlängerung (5 6) beim 
steigenden Rhythmus (— — —) — auftritt. Steigender und fallender 
Rhythmus sind also für diese Vorzeit von etwa 3 Sekunden und bei 
dieser Anzahl der Vorsignale in ihrer Wirkung ziemlich gleich. 
Liegt der Grund dieser Erscheinung auch in einem besonderen Vorteil 
der Einstellung in Ha, so zeigt sich hierin doch andererseits, daß der 
allgemeine Vorteil der Rhythmisierung in II b nicht etwa nur auf 
einem weiteren Fortschritt der Gesamtübung beruht. 

Im ganzen weichen die Werte von Gruppe II b untereinander 
sehr wenig ab. Das Optimum verschiebt sich gegen die früheren 
Versuche von drei nach zwei Vorsignalen, liegt also jetzt bei etwa 
2 Sekunden, die mittlere Reaktionszeit beträgt hierfür T m = 153 o. 
Die Rhythmisierung vollzieht sich ohne Schwierigkeiten, meist ent¬ 
wickelt sich bei den Versuchen sogar ein intensives Lustgefühl. Die 
Haltung ist ziemlich konstant. Die Innehaltung der Instruktion 
wird durch die Prüfungsversuche erleichtert und kontrolliert, es ist 
kein Anlaß vorhanden, anzunehmen, daß sich Tendenzen zu vor¬ 
zeitigen oder verkürzten Reaktionen einstellen. So wird in diesen 
Gruppen von Vp. I ein Optimum sensorieller Einstellung 
erreicht. 

Versuchsperson III. 

Bei Vp. III, die schon in Gruppe I in ihrem Verhalten an die 
Grenze der eben noch korrekten Reaktion herankam, bedeutet die 
in Gruppe IIa geforderte, trochäische Rhythmisierung eine all¬ 
gemeine Verlängerung der Reaktionszeiten und eine Erhöhung 
der mittleren Variationen. Am ersten Versuchstag gehen durch 
die Schwierigkeit, die die ungewohnte Rhythmisierung bereitet, die 
Zeiten so bedeutend in die Höhe, daß sie bei der Verrechnung weg¬ 
gelassen werden mußten. Am zweiten Versuchstag dagegen wird 
die Einstellung ziemlich konstant. Doch bleibt gegen die Resultate 
der Gruppe I eine allgemeine Verlängerung der Reaktionszeiten 
bestehen; sie beträgt: 

für 1 Vorsignal 19 o, 

» 2 Vorsignale 15 o, 

» 3 » 31 o, 

» 4 » 20 o. 

Die erste Reihe, mit dem Rhythmus (-) -, und ebenso der betont 
einsetzende Rhythmus werden, wie ja auch von Vp. I, 

als sehr schwer empfunden: »Es fällt zuerst schwer, gerade den ersten 
Schlag zu betonen, weil dieser ziemlich unerwartet kommt.« Zwei 
und vier Vorsignale lassen sich nach Ansicht von Vp. III viel leichter 


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190 


B. Paulssen, 


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rhythmisieren als ein und drei Vorsignale; bei den letzteren fehlt 
eben entschieden ein Auftakt 1 ). Wie aus der Verlängerung der 
Reaktionszeiten bei diesen Rhythmen deutlich wird, bringt also die 
trochäische Form auch hier die von Vp. I bemerkte Herabsetzung 
der motorischen Bereitschaft mit sich, und zwar erstreckt sich diese 
Wirkung bei Vp. III auf alle Reihen der Gruppe Ila, deren Werte 
untereinander übrigens sehr wenig abweichen. 

Wenn Vp. III in Gruppe I schon eine Rhythmisierung anwendete, 
so ist es sicherlich nicht die fallende Form, vielmehr machen die 
Resultate von Gruppe II b deutlich, daß Vp. III ebenso wie Vp. I 
ganz spontan den steigenden Rhythmus, der dem Reiz die größte 
Intensität gibt, erlebte. Der in Gruppe II b vorgeschriebene steigende 
Rhythmus gelingt vom ersten Versuch an ohne Mühe, die Reaktions¬ 
zeiten gehen sofort zu einer bisher noch nie erreichten unteren Grenze 
herab. Im Vergleich mit den Resultaten der Gruppe Ila betragen 
die Verkürzungen: 

bei 1 Vorsignal 83 o, 

» 2 Vorsignalen 81 o, 

» 3 » 30 o, 

» 4 » 51 o; 

sie sind also sehr bedeutend. Für die Reihen mit einem und zwei 
Vorsignalen, deren Mittelwerte 93 o und 88 o betragen, wird also 
durch Verwendung der trochäischen Form als Vorbereitung die 
Reaktionszeit der jambischen Vorbereitung nahezu verdoppelt. 
Diese kurzen Reaktionszeiten der Gruppe II b sind jedoch mit den 
für frühere Reihen und für andere Vpn. gefundenen Werten nicht mehr 
direkt vergleichbar. Hatte sich bei Vp. III schon in Gruppe I eine 
Neigung zu verkürzten Reaktionen bemerkbar gemacht, so ist in 
den Versuchen von Gruppe II b die Loslösung der Motivation der 
Reaktion vom Reiz endgültig vollzogen. Da der Vp. die Kontroll- 
versuche als unbeabsichtigte Störungen erschienen, so fehlen natür¬ 
lich alle Hemmungsmotive, die von der besonderen Instruktion über 
die Respektierung dieser Prüfungsversuche ausstrahlen. Die Vp. 
überließ sich jedenfalls hemmungslos den Wirkungen des vorbereiten¬ 
den Rhythmus, die bei den Versuchen, welche die steigende Form 
zugrunde legten, ganz besonders erregend und mitreißend sind. Recht 
deutlich wird dies in der Reihe mit zwei Vorsignalen. Der geforderte 
Rhythmus (— —) — geht hier ganz spontan in die besonders impulsive 
Form des Anapäst (-) — über. Die unmittelbare Folge sind vor- 

1) Wundt, PhysioL Psychol. III 8 . S. 22. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 191 

zeitige »Pseudoreaktionen«, die schon 45 o vor dem eigentlichen 
Hauptreiz erfolgen; auch Reaktionszeiten von 10 o, 12 o, 39 o, 49 a 
können natürlich nicht durch den Reiz begründet sein. Sie erfolgen 
impulsiv auf die durch den Rhythmus ganz geläufige Zeitvorstellung 
hin, in der der letzte Schlag erwartet wird. Da dieser nun aber 
betont erlebt werden soll, und sich beim Anapäst die Betonung ja 
ganz besonders scharf von den vorhergehenden unbetonten Schlägen 
abhebt, so wird die bekannte Verkürzung des Intervalles vor einem 
betonten Schlag eintreten, der letzte Schlag wird früher erwartet, 
als er in Wirklichkeit kommt, und die Reaktion, die sich von der 
Motivation durch den Reiz gelöst hat, erfolgt daher auch zu früh. 
Auf die Selbstbeobachtung der Vp. kann man sich in diesen Fällen 
keineswegs verlassen; sie versagt bei so stark impulsivem Verhalten 
vollkommen. Vp. III bezeichnet die vorzeitige Reaktion, die 45 o 
zu früh erfolgt, als »sehr gut«. 

Sicherlich kommt bei diesen Versuchen die Wirkung des Rhyth¬ 
mus auf den ganzen Verlauf der Reaktion sehr klar zum Ausdruck, 
die Unterschiede bei den verschiedenen rhythmischen Vorbereitungen 
zeigen sich hier an den Reaktionszeiten viel deutlicher als bei den 
anderen Vpn. Dieses Deutlich werden der rhythmischen Einflüsse 
ist aber erkauft mit der Aufgabe des durch die Instruktion gefor¬ 
derten korrekten Verhaltens. Wir haben in diesen Reaktionszeiten 
von Vp. III gar nicht mehr den Einfluß des Rhythmus auf die voll¬ 
ständige Reaktion, sondern die Isolierung der rhythmischen Kompo¬ 
nente, die in die korrekte Reaktion, wie sie in diesen Versuchen durch 
die Instruktion gefordert wurde, nur als Teilkomponente eingehen 
darf. Dieses Abgleiten aus der geforderten Haltung in eine ganz 
andere Einstellung wurde bei Vp. III hauptsächlich dadurch mög¬ 
lich, daß die Vp. nichts von den Prüfungsversuchen wußte. Wenn 
diese in Gruppe II b auch immer beachtet wurden, obwohl sogar vor¬ 
zeitige Reaktionen Vorkommen, so ist dies wieder ein Beweis der 
schon oben gemachten Bemerkung, daß zwar die Verfehlung auch 
nur einer Kontrolle eine Inkorrektheit der Einstellung aufdeckt, 
die durchgängige Beachtung aller Kontrollen (bei geringer Anzahl), 
aber noch kein Kriterium für die durchgängige Korrektheit der 
Einstellung abgibt. 

Versuchsperson II. 

Das Verhalten von Vp. II weicht in Gruppe II gänzlich von dem 
der beiden anderen Vpn. ab. 

Der fallende Rhythmus in Gruppe Ha verbessert die Reaktions¬ 
zeiten im Vergleich mit den Resultaten von Gruppe I zwar ein wenig, 


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B. Paulsseu, 


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jedoch sind diese Verbesserungen sehr geringfügig und erstrecken 
sich auch nicht mit auf die mittleren Variationen. Auffallenderweise 
bereitet nur der Rhythmus (-) —, der den beiden anderen Vpn. so 
schwer fiel, Vp. II keine Schwierigkeit, im Gegenteil wird dadurch 
die Reaktionszeit für die Gruppe von einem Vorsignal um 21 o ver¬ 
kürzt. Umgekehrt stößt nun aber die jambische Rhythmisierung, 
die den anderen Vpn. so natürlich erschien, auf fast unüberwindliche 
Schwierigkeiten. Sie gelingt nur dadurch, daß die Vp. Worte oder 
Melodien, die in der Silbenzahl mit den Hammerschlägen überein¬ 
stimmen, zu Hilfe nimmt! 

(—) — = Jambüs oder Berlin. 

(— —) — = New-found-ldnd. 

= Kennst dü das L4nd. 

(- _ ^ _) .1 = W6tterstein-Hotel. 

Diese »Rhythmisierung« nimmt nun aber die Aufmerksamkeit 
der Vp. so in Anspruch, daß die Reaktionszeiten in Gruppe II b 
sich ganz erheblich verlängern, und sogar die Zeiten von Gruppe I 
bei weitem übersteigen. Daher können die Ergebnisse von Vp. II 
auch nicht als Wirkungen einer rhythmischen Vorbereitung der Re¬ 
aktion aufgefaßt werden, weil hier die Rhythmisierung eine so große 
Aufwendung von Energie erfordert, daß der Zusammenhang mit 
der Reaktion vergessen wird. Die Bemerkung: »Rhythmisierung 
gelungen, aber darüber fast zu reagieren vergessen«, muß manche 
extrem lange Reaktionszeit erklären. Die Schwierigkeiten, die die 
apperzeptive Betonung der Taktschläge selbst bereitet, lassen es 
zu einer Ausstrahlung des erregenden Momentes auf das Impuls¬ 
leben gar nicht kommen, und vor allem erstreckt sich offenbar die 
Einheitsbildung auch nicht mit auf den Akt der Reaktion selbst, 
der erst bei einer gewissen Geschicklichkeit in der Rhythmisierung 
am passendsten in das rhythmische Erlebnis eingefügt wird. Darum 
können die Resultate dieser Versuche nicht mit denen der beiden 
anderen Vpn. verglichen werden. 

Faßt man nun die Resultate von Vp. I und Vp. III dieser ganzen 
Gruppe II zusammen, so ergibt sich: 

Die Reaktionszeiten in ihrer Dauer und ihrer Exaktheit sind 
nicht so sehr abhängig von der Länge der Vorperiode, von der Zahl 
der Vorsignale und von der speziellen rhythmischen Gliederung, als 
vielmehr davon, daß es der Vp. gelingt, die Vorsignale zu 
einer dem eignen Bewußtsein adäquaten Einheit mühe¬ 
los zusammenzuschließen. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 193 

An ganzen Gruppen (Vp. III in Gruppe Ila, Vp. II durchgehends) 
und in einzelnen Fällen (Vp. I) ist deutlich zu erkennen, daß die 
Reaktionszeiten wachsen und die mittleren Variationen steigen, 
wenn es der Vp. nicht möglich ist, zunächst einmal die Hammer¬ 
schläge zu einer wirklichen Einheit zusammenzufassen, an die sich 
der Reaktionsakt als Taktelement anschließen kann, oder wenn ein 
vorgeschriebener Rhythmus schlecht gelingt. Nur eine mühelos 
gelingende Rhythmisierung, die aus den Vorsignalen der Vorperiode 
eine geschlossene Einheit bildet, ergibt auch die Wirkungen, die 
wir als typisch rhythmische kennen; nur sie löst jenen lustbetonten 
Gefühlszustand aus, den man als «Aktivität« 1 ) bezeichnen kann, 
und der sich dann auch in der Impulsentwicklung der Reaktions¬ 
handlung selbst fortsetzt. Eine absichtliche Rhythmisierung ergibt, 
wenn sie nur in einer der Vp. adäquaten Art erfolgt, wesentlich 
kürzere Reaktionszeiten, als eine unwillkürliche Zusammenfassung; die 
Einheitsbildung wird hierbei wahrscheinlich vollständiger vollzogen. 

Die Gesamtzeitdauer der Vorperiode hat, in den Grenzen von 
1—4 Sekunden, bei einer rhythmischen Gliederung keinen so großen 
Einfluß auf die Reaktionszeit, wie man nach den Resultaten Deila 
Valles anzunehmen geneigt sein könnte. Die rhythmische Gliede¬ 
rung kompensiert die Verlängerung, indem sie der Apperzeption 
Stützpunkte darbietet, die die Zeitauffassung ganz wesentlich er¬ 
leichtern und es der Vp. ermöglichen, den Zeitpunkt des Reizein¬ 
trittes mit großer Genauigkeit vorauszusehen. 

Je ausgeprägter die Einheitsbildung ist, desto lebhafter wird 
diese Voraussicht, und desto eher wird die Vp. der Forderung des 
»so schnell als möglich zu reagieren« gerecht werden können, weil 
eine exakte Zeitauffassung die Impulsentwicklung im günstigsten 
Zeitpunkt ermöglicht. Allerdings birgt diese exakte Voraussicht die 
Gefahr in sich, daß der tatsächliche Zusammenhang zwischen Reiz 
und Reaktion verloren geht, und daß die korrekte Reaktion in Anti¬ 
zipation übergeht. Da die Selbstbeobachtung dieser Erscheinung 
ganz machtlos, ja ahnungslos gegenübersteht, wie die Versuchs¬ 
ergebnisse von Vp. III in Gruppe Ilb deutlich zeigen, so kann hier 
die Innehaltung der Reaktionsaufgabe nur mit Hilfe von Prüfungs- 
versuchen aufrecht erhalten werden. Diese lassen in der Vp. über¬ 
haupt erst das Bewußtsein entstehen, wie weit die Vorbereitung des 
Impulses zulässig ist, und wie weit die Vp. sich den Einflüssen des 

1) L. Drozynski, Atmungs- und Pulssymptome rhythmischer Gefühle, 
PsychoL Stud. VII. S. 126 ff. 


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B. Paulssen, 




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Rhythmus überlassen darf. Natürlich muß ihre Durchführung so 
vollzogen werden, daß die Vp. die positive Einstellung, die den 
Reiz auch wirklich erwartet, nicht verliert, »denn nur die Sicherheit 
darüber, daß alle für eine bestimmte Zeitlage erwarteten Qualitäten 
auch wirklich realisiert werden, entfesselt eine energische Parallel¬ 
entwicklung des Impulses« 1 ). 

Gelingt dies, dann wird durch diese Methode wirklich eine op¬ 
timale Einstellung zu erreichen sein, wie auch die Resultate von 
Vp. I beweisen. Die rhythmische Vorbereitung begünstigt ihrerseits 
eine vorbereitende Impulsentwicklung und macht die Realisierung 
der Handlung sofort nach dem Reizeintritt ohne jeden Zeitverlust 
möglich; sie bleibt andererseits aber auch der Aufgabe, erst auf den 
Reiz hin zu reagieren, untergeordnet, wenn der Vp. durch die Prü¬ 
fungsversuche objektive Kriterien zur Beurteilung der Korrektheit 
ihrer Einstellung gegeben werden. 

Was die spezielle Rhythmisierung betrifft, so ist zweifellos der 
steigende Rhythmus, bei dem die Reaktion auf den betonten 
Hauptreiz hin erfolgt, besonders günstig. Unter den steigenden 
Formen ist wiederum der Anapäst, dessen impulsiver Charakter 
aus seiner Verwendung in Marsch- und Kriegslied hinreichend be¬ 
kannt ist 2 ), diejenige rhythmische Form, die die kürzesten Reaktions¬ 
zeiten liefert. Bei allen diesen Beziehungen zwischen rhythmischer 
Form und Reaktionszeit ist jedoch zu beachten, daß sie nur gelten, 
wenn die Intervallänge etwa 1 Sekunde beträgt; nimmt 
man hieran Veränderungen vor, so werden auch alle diese Beziehungen 
durchaus verändert werden. Hierüber geben die Gruppen III und IV 
Aufschluß. 

Vorher sollen jedoch noch die Resultate einer Gruppe von Neben¬ 
versuchen erwähnt werden, die mit Vp. I unternommen wurden. 
Es handelte sich darum, den Zeitpunkt, in welchem der letzte Schlag 
erwartet wurde, nach der Methode der Herstellung zu ermitteln. 
Denn von diesem Moment muß ja die antizipierende Vorbereitung 
des Impulses in der Vorperiode abhängen. Um von der Art der 
Bewegung unabhängig zu werden, wurde sowohl durch Loslassen 
als auch durch Niederdrücken eines Reaktionstasters der Zeit¬ 
punkt des letzten Hammerschlages von der Vp. registriert. Zu 
diesem Zweck wurden nur die Vorsignale gegeben; die Vp. hatte 


1) Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. S. 401. 

2) Wundt, PhyrnoL Psycho! III 9 . S. 149/50. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 195 

die Aufgabe, durch Loslassen oder Niederdrücken eines Tasters den 
Zeitpunkt anzugeben, in dem sie den letzten Schlag erwartete. Bei 
nur einem Vorsignal wurden Vorsignal und Hauptreiz einmal dar¬ 
geboten, und nach einer Pause — wie bei Zeitsinnversuchen — nur 
ein Taktschlag gegeben, nach dem die Vp. ihre Bewegung in dem 
gleichen Zeitabstand ausführen sollte. Die Rhythmisierung der dar¬ 
gebotenen Vorsignale und des zu taktierenden Hauptreizes, sollte in 
den in Gruppe II verwendeten Formen erfolgen. 

Es zeigte sich am ersten Versuchstag, daß beim steigenden 
Rhythmus der impulsiv betonte Moment bei freier Herstellung 
wesentlich früher gesetzt wurde. Die objektive Intervallänge von 
964 a wurde sowohl bei den Reaktionen durch Loslassen des Tasters, 
als auch bei denen durch Niederdrücken desselben bedeutend verkürzt. 
Die folgende Tabelle enthält die Resultate des ersten Versuchstages: 

Loslassen Niederdrücken 

1 Vorsignal (—) — 728,6 a (6ö) 942,2 <r (48) 

2 Vorsignale (— —) — 719 a (32) 891 a (28) 

3 Vorsignale (---)- 661,5 a (24) 884 <x (46) 

4 Vorsignale (- —- —) — 709 a (18) 859,5 a (42,6) 

Die Werte sind immer aus je vier Versuchen gewonnen, die mitt¬ 
leren Variationen sind in Klammern beigegeben. 

Die Verbrühung bei den Reaktionen durch Loslassen ist bedeutend 
größer; diese Reaktionsart war der Vp. geläufiger als die durch 
Niederdrücken. Es kann aber auch sein, daß die Reaktion durch 
Loslassen den charakteristischen Betonungsfehler deshalb verstärkt, 
weil dieser Reaktionsart eine größere Anstrengung entspricht, die 
sich dann in einer verstärkten Betonung äußert. Diese Auffassung 
würde auch die Umkehrung der Zeitlängen bei fallendem Ryth- 
mus erklären. Hierbei ist, wie man aus der unten stehenden Tabelle 
ersieht, die Reaktionszeit durch Loslassen länger als die durch Nieder¬ 
drücken. Also kommt dann einfach die Schwierigkeit unter sonst 
gleichen Bedingungen als Verlängerung zum Ausdruck, weil der 
Zeitpunkt der Reaktion ja nun nicht betont werden darf; das leichtere 
Niederdrücken kommt also früher ans Ziel. 

Loslassen Niederdrücken 

1 Vorsignal (-) — 959 a (16,4) 911 a (67) 

2 Vorsignale (— —) — 931,5 a (16,5) 951 <s (42) 

3 Vorsignale (— —-) — 966,8 a (24,4) 893,6 a (55,6) 

4 Vorsignale 996,3 * (34,4) 924 <r (19,2) 

Die Werte sind aus je vier bis fünf Einzelversuchen gewonnen. 

Hierbei findet nun ebenfalls im allgemeinen eine Unterschätzung 
der objektiven Intervallänge statt, jedoch ist sie geringer als beim 


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B. Paulseen, 


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steigenden Rhythmus. Die Reaktion durch Loslassen gibt sogar 
die objektiven Taktwerte bei dieser fallenden Rhythmisierung ziem¬ 
lich genau wieder. 

In den späteren Versuchen änderte sich das Verhalten der Vp. 
insofern, als sie sich bemühte, die Zeitstrecken objektiv möglichst 
genau wiederzugeben. Die von den eigentlichen Reaktionsversuchen 
noch ausstrahlende impulsive Auffassung war verlorengegangen und 
hatte der Tendenz zu möglichst richtiger Zeitschätzung Platz gemacht. 
Die Unterschiede bei verschiedener Rhythmisierung vermindern sich 
bedeutend, immerhin bleibt eine Neigung bestehen, die Intervall¬ 
längen bei steigendem Rhythmus zu unterschätzen, bei fal¬ 
lenden zu überschätzen. 

C. Gruppe 111. 

Versuchspersonen: Vp. I, Vp. IV, Vp. V. 

Länge aller Vorperioden: 1 Sekunde. 

Zahl der Vorsignale: 1 bis 4. 

Intervallängen: 250 o, 333 o, 500 o, 1000 o. 

Wir legten in dieser Gruppe das bei Reaktionsversuchen so häufig 
verwendete Intervall von 1 Sekunde als Gesamtvorperiode 
zugrunde und untersuchten die Wirkung einer immer weiter fort¬ 
schreitenden Gliederung dieser Zeit auf die Reaktion. 

Das durch zwei Hammerschläge begrenzte, ungegliederte Intervall 
diente hier als Norm, an der der Einfluß der gesteigerten Unter¬ 
gliederung gemessen wurde. Durchführung der Versuche und In¬ 
struktion der Vpn. war gegen die früheren Versuche nicht geändert. 
In den Resultaten zeigt sich noch eine viel größere individuelle 
Differentierung als bei den früheren Gruppen, deshalb muß auch 
hier eine Besprechung des Verhaltens der einzelnen Vpn. vorangehen. 
Da außerdem die gesteigerte Rhythmisierung der an sich kurzen 
Intervalle ein konstantes Verhalten der Vpn. sehr erschwert, so 
sind die Werte, die in der nebenstehend angeführten Tabelle IV sich 
finden, nur als ganz allgemeine Charakterisierung zu betrachten; die 
qualitative Analyse muß in diesem Fall die wesentlichsten Auf¬ 
schlüsse über den Einfluß der Rhythmisierung geben. 

Versuchsperson I. 

Die Resultate der ersten beiden Versuchstage weisen sehr hohe 
Mittelwerte auf (200 o und mehr), da sich die Vp. nach einer längeren, 
durch die Erweiterung der Versuchsanordnung bedingten, Pause erst 
wieder an die Versuche gewöhnen mußte, und da zugleich die neue 
Vorbereitung, infolge der starken Untergliederung der Vorperiode, 



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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 197 

Tabelle IV. 

T m = Gesamtmittel; V m — Mittel der Tages Variationen; V m = Gesamt¬ 
variation; F" = Abweichung der TageBmittel; n = Gesamtzahl der Versuche. 


Vp. 

1 Vorsignal 

2 Vorsignale 

3 Vorsignale 

4 Vorsignale 

T m 

y m 

V 

m 

V" 

m 

n 

T 

Ttl 

v m 

V 

rtl 

V' 

m 

n 

T 

m 

y m 

V' 

ffl 


n 


v m 

y m 

K 

n 

I 

13713 

14,410,613 

160jl3,6 

19,5 

16 

14 

166 

15,6 

15 

1,5 

15 

182,6 

13 

23,6 

26 

8* 

IV 

12814,2 

20,716 

20 

13913,6 

16 

7 

20 

126 

24,7 

21,5 

12 

19 

73,6 

17 

18,7 

7 

17 

V 

22319,7 

35 

23 

|38 

26419 

37 

i 31 

39 

268 

27,7 

40 

26 

42 

283 

26,3 

29 

12 

36 


die Einhaltung der Instruktion, von der die Vp. stets ausging, nicht 
so leicht wie bisher gestattete. Zudem wurde vor allem bei drei und 
vier Vorsignalen, wo die Reaktionen die längsten Zeiten aufwiesen 
(bei drei Vorsignalen sogar 252 o), »das rhythmische Bild nicht ganz 
klar«. Die versuchte rhythmische Gliederung faßt den ersten Schlag 
ziemlich isoliert als betonten Auftakt, dem dann die anderen Vor¬ 
signale unbetont folgen; erst der Hauptreiz selbst wird wieder betont, 
die Vp. gibt die Schemata an: 

Bei 3 Vorsignalen: (- |-) - 

»4 » (^ |- )-!- 

Die rhythmische Differentierung, die in Gruppe I gefunden worden war, 
tritt also bei so kurzen Intervallen (333 und 250 o) nicht wieder auf. 

Vom zweiten Versuchstag an gewinnt die Vp. ihre frühere Ein¬ 
stellung allmählich wieder; bei einem Vorsignal beträgt der Mittel¬ 
wert an diesem Tage 170 o wie bei der entsprechenden Reihe in 
Gruppe II b. Die fortschreitende Untergliederung wird jedoch nicht als 
angenehm empfunden, die Zeiten für zwei, drei und vier Vorsignale 
sind am zweiten Versuchstag bedeutend länger als bei einem Vorsignal. 

1 Vorsignal 170,5 o (12,5); 2 Vorsignale 186 o (18); 3 Vor¬ 
signale 243 a (14); 4 Vorsignale 215 o (47), 
und die mittleren Variationen steigen. 

In der Selbstbeobachtung stellt sich ein Vorsignal (Intervall 
1 Sekunde) ebenfalls als die günstigste Vorbereitung dar: »sehr 
günstig«; »wenn es gut geht, so freut man sich und kommt erst recht 
in gute Einstellung für den ganzen Rhythmus hinein«. 

Auch die Werte in der Tabelle IV, die nur die Resultate des 
dritten und fünften Versuchstages zu Mittelwerten vereinigen, zeigen 
wiederum ein Ansteigen der Werte mit der Zunahme der Unter¬ 
gliederung. In dieser Verlängerung bei der Zunahme der Vor¬ 
signale zeigt sich die charakteristische Wirkung der starken 
rhythmischen Untergliederung auf die korrekte Einhaltung der 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 14 


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B. Panluen, 


vollständigen Reaktion. Die Absicht, den Reaktionsimpuls als 
selbständiges Taktglied an die Vorperiode anzuschließen, macht offen¬ 
bar bei der Zunahme der Vorsignale gewisse Schwierigkeiten. Die 
Einübung bringt allerdings hier am dritten und fünften Tage doch 
wesentlich kürzere Zeiten bei korrekter Einhaltung der Einstellung 
und Beachtung aller Prüfungsversuche mit sich, als bisher über¬ 
haupt erreicht wurden. Es muß also doch ein in dieser Gliederung 
vorhandener Vorteil herauagefunden worden sein, der auch für die 
vollständige Reaktion nutzbar gemacht werden kann, der aber mit 
der Zahl der Unterglieder an Wirkung verliert. 

Nun wurde am vierten Versuchstage eine Zwischenreihe mit 
besonderer Instruktion eingefügt, deren Ergebnis auf diese 
relative Erscheinung ein helles Licht wirft. Es hatte sich nämlich 
bei Vp. IV (vgl. unten) in derselben Gruppe gezeigt, daß diese Vp. 
ganz auffallend kurze Reaktionszeiten lieferte, die offenbar schon 
auf einem Übergang zur antizipierenden Einstellung beruhten, und 
daß vor allem hier die Mittelwerte der Reaktionszeiten mit Zunahme 
der Zahl der Vorsignale abnah men. Dabei hatte Vp. IV die Prü¬ 
fungsversuche meist nicht verfehlt. Wie schon oben ausgeführt 
■wurde, ist allerdings bereits die Verfehlung eines oder weniger Prü¬ 
fungsversuche ein Beweis dafür, daß bei der Reihe im allgemeinen 
keine korrekte Einstellung vorlag, zumal ganz auffallend große 
Schwankungen vorkamen. Trotzdem lag der Gedanke nahe, daß 
vielleicht der Rhythmus besonders kurze, wahre Reaktionszeiten 
zulasse, wenn man sich ihm nur möglichst frei überlasse, und daß 
es auch Vp. I bei einer etwas stärkeren Beteiligung der Antizipation 
gelingen werde, die Prüfungsversuche zu respektieren. Das ver¬ 
änderte rhythmische Bild beim Wegfall des letzten Schlages konnte 
ja Hemmungsmöglichkeiten in sich enthalten, die bei einer viel 
weitgehenderen Antizipation trotzdem das Fehlen des Hauptreizes, 
als einer integrierenden Voraussetzung der Reaktion, respektieren 
lassen konnten. So versuchte also Vp. I in dieser Tagesreihe aus¬ 
drücklich, sich absichtlich der antizipierenden Anregung des Rhyth¬ 
mus möglichst hinzugeben. Das Ergebnis war zunächst einmal in 
der Tat eine Abnahme der Reaktionszeiten mit der Zunahme 
der Vorsignale, genau wie bei Vp. IV (siehe Tabelle IV). Dagegen 
konnten jetzt die Priifungsversuche nicht mehr sämtlich eingehalten 
werden, wie es sich auch bei Vp. IV gezeigt hatte. Es gelangen 
aber doch trotzdem sechs von sieben Kontrollen, während eine ver¬ 
fehlt wurde. Dies zeigt wiederum, wie wenig man auf die teilweise 
Einhaltung der Prüfungsversuche, selbst bei einem hohen Prozent- 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 199 

satz, zu geben hat, während umgekehrt auch nur bei Verfehlung 
eines einzigen die Einstellung als inkorrekt erwiesen ist, wie sie es 
ja hier auch absichtlich war. Aus den zahlenmäßigen Ergebnissen 
kann man erschließen, daß die zunehmende Untergliederung zu einer 
zunehmenden Steigerung des Antizipationstriebes führt; daher er¬ 
fordert die korrekte Reaktion eine wachsende Steigerung der Hem- 
mungskomponente, um dieser Verleitung zu vorzeitigen Reaktionen 
entgegenzuarbeiten. Diese Schwierigkeit, die korrekte Reaktion trotz 
der rhythmischen Einflüsse festzuhalten, wird den Vpn. am deutlichsten 
bei den Prüfungsversuchen zum Bewußtsein kommen, deren Innehal¬ 
tung durch die Tendenz zur Antizipation erschwert wird. So hatte 
auch Vp. I schon am ersten Tage gerade bei vier Vorsignalen bei einem 
Prüfungsversuch Unruhe bemerkt, wie es für die Erreichung der 
Grenze der zulässigen Antizipationskomponente charakteristisch ist. 
Auch gelang es der Vp. nicht immer, die positive Einstellung festzu¬ 
halten. »Vielleicht zögernd, zufällig an Prüfungsversuch gedacht« wird 
zu einigen besonders langen Reaktionszeiten bemerkt. Dadurch 
wurde natürlich die Vorsicht bei solchen fortreißenden Rhythmen ge¬ 
steigert, sie kommt in der Zunahme der Reaktionszeiten zum Ausdruck. 

Nachdem am fünften Versuchstag die Vp. zu ihrer ursprünglichen 
Einstellung zurückgekehrt war, wurden alle Kontrollen eingehalten, 
und die Zunahme der Reaktionszeiten mit der Zahl der Vorsignale 
trat wieder in Erscheinung. Wie sich aus den in Tabelle IV mit¬ 
geteilten Werten ergibt, ist die Gesetzmäßigkeit der Zunahme 
der Reaktionszeit mit der Zunahme der Hemmung, die 
zur Überwindung des steigenden Antizipationstriebes 
notwendig ist, ganz überraschend 1 ). Sie zeigt eine fast ganz 
genaue Proportionalität zur Zahl der Unterglieder, und zwar nimmt 
die Reaktionszeit immer um etwa 15 a zu, mit der Zunahme der 
Unterglieder etwas rascher ansteigend (13 o, 15 o, 17,5 o). Auch 
die zweite Differenzenreihe dieser Zunahme ist also fast konstant. 

Umgekehrt zeigt nun die freie, triebartig dem Rhythmus sich 
hingebende Reaktion, am vierten Versuchstag, die charakteristische 
Abnahme der Werte: 

1 Vorsignal: T = 165 o; v = 9. 3 Vorsignale: T = 150 a; v = 10- 

2 Vorsignale: T = 155 a; v = 26. 4 Vorsignale: T - 144 o; v = 18. 

Es handelt sich hierbei natürlich nicht — wie ja schon aus den 
Reaktionszeiten ersichtlich ist — um wirklich antizipierende Reak¬ 
tionen, sondern nur um eine freiere Überlassung an die mitreißende 

1) Wundt, PhysioL PsychoL Iü*. 8. 428f. 

14* 


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200 


B. Paulssen 


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Wirkung der rhythmischen Unterghederung. Die Abnahme beträgt 
im Mittel 7 o (10 o, 5 o, 6 o); jedoch haben die Zahlen, da sie aus nur 
einem Versuchstag gewonnen wurden, an sichkeine so hohe Bedeutung, 
es ist vielmehr hier nur die Tendenz zur Abnahme charakteristisch. 

^ j Versuchsperson IV. 

Die Resultate, die die Versuche mit Vp. IV ergaben, stimmen 
nun im wesentlichen überein mit denen des vierten Versuchstages 
von Vp. I. Nur zeigen sich hier noch viel größere Schwankungen, 
da ja die Vp. eigentlich die Absicht hatte, korrekt zu reagieren, und 
also gelegentlich in einzelnen Versuchen der korrekten Einstellung 
von Vp. I näherkommt. — Bei den Reihen mit drei und vier Vor¬ 
signalen ist eine Mittelbildung nahezu ausgeschlossen. Die Ver¬ 
suche zerfallen deutlich in drei ganz getrennte Gruppen. Zunächst 
ist eine starke Tendenz zu triebartiger Mitbewegung vorhanden, die 
durch die genaue Voraussicht des Hauptreizes und die erregende 
Wirkung des Rhythmus auf den motorischen Apparat hervorgerufen 
wird. Diese gerät aber doch fortwährend mit der durch die Prüfungs¬ 
versuche kontrollierten Forderung der vollständigen Reaktion, 
d. h. der Motivation der Reaktion durch den Reiz in Konflikt. Siegt 
im Kampf der Motive die rhythmische Wirkung, so reagiert die Vp. 
vorzeitig, die Reaktionszeiten liegen dann zwischen — 30 a und etwa 
100 o. Siegt der Gedanke an den Prüfungsversuch, so finden sich 
ganz enorm lange Reaktionszeiten, die zwischen 200 und 300 o liegen, 
also denen von Vp. I am ersten Versuchstag ähnlich sind, wo sich 
auch die günstige Koordination des antizipierenden und des rea¬ 
gierenden Momentes noch nicht vollzogen hatte. In seltenen Fällen — 
an den späteren Versuchstagen etwas häufiger — kommt ein kor¬ 
rektes Verhalten zustande, das beiden Seiten der Instruktion gerecht 
wird; die hierher gehörenden Reaktionszeiten liegen zwischen 100 
und 200 o. Je mehr Vorsignale dem Hauptreiz vorangehen, desto 
schärfer treten diese Gegensätze hervor, die Vp. ist schließlich ganz 
außerstande, die Koordination der beiden heterogenen Elemente 
unter die Reaktionsaufgabe zu vollziehen, und die korrekten Reak¬ 
tionen verschwinden unter Umständen ganz. Die charakteristische 
Abnahme der Reaktionszeit mit der Zunahme der Vorsignale, die 
sich schon oben in Tabelle IV zeigt, bleibt bis zum letzten Ver¬ 
suchstag vorhanden; es gelingt also hier durch Übung und Gewöhnung 
nicht, den Ausgleich der beiden Tendenzen herzustellen. 

Eigenartig, und für die ganze Haltung bezeichnend, ist die Stellung 
der Vp. zu den Prüfungsversuchen. Sie werden als Versuch einer 
»Täuschung« betrachtet; »fürchtete getäuscht zu werden«, bemerkt 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 201 

die Vp. bei sehr langen Reaktionszeiten, die dann auftraten, wenn 
der Gedanke an den Priifungsversuch jede Anbahnung des Impulses 
vor dem Reizeintritt verhindert hatte. 

Versuchsperson V. 

Vp. V zeigt auch hier, wie schon in Gruppe I ein gänzlich ab¬ 
weichendes Verhalten, das seinen Grund in der eigentümlichen Ten¬ 
denz hat, die Reaktion den Taktelementen der Vorperiode zu koor¬ 
dinieren. Auch hier steht das leise Tastergeräusch, das »als Gehörs¬ 
kontrolle für die Richtigkeit der Reaktion dient«, im Zentrum des 
Interesses; nicht also die Bewegung wird dem Rhythmus der Vor¬ 
periode angegliedert, vielmehr wird diese so eingerichtet, daß ein 
sie begleitender sensorischer Eindruck des mit den Vorsignalen gleichen 
Sinnesgebietes den Takt der Vorsignale und des Hauptreizes fort¬ 
setzt (siehe oben). Die Vp. weiß, daß ihre Reaktionen nicht vor¬ 
schriftsmäßig sind; gegen Schluß der Versuche gelingt es ihr in der 
Reihe mit einem Vorsignal auch, der Forderung des »so schnell als 
möglich« gerecht zu werden und eine Reaktionszeit von 161 o zu 
erreichen. Sobald sich jedoch die Zahl der Vorsignale steigert, kann 
die Vp. die Forderung nicht mehr realisieren: »Früheres Aufheben 
des Tasters erscheint unmöglich.« Die Reaktionszeiten weisen daher 
mit wachsender Zahl der Vorsignale eine Verlängerung auf; sie 
werden auch in der Selbstbeobachtung als »zu spät« empfunden. 
Korrekte Reaktionen sind höchst vereinzelt, auch werden sie, wie am 
fünften Versuchstag in der Reihe mit vier Vorsignalen die ganz nor¬ 
malen Zeiten von 122 o und 128 o als »vorzeitig« bezeichnet. Wahr¬ 
scheinlich fehlt dann die deutlich erlebte Trennung der Reizauffassung 
von der Reaktion. Die Selbstbeobachtung ist dann oft fehlerhaft und 
unzuverlässig, wenn sie die Länge der Reaktionszeiten beurteilen will, 
das rhythmische Erleben kommt dagegen sehr gut zum Ausdruck. 

Eine Erklärung des eigenartigen Verhaltens von Vp. V kann in 
folgendem gesehen werden: Die Vp. hatte vor längerer Zeit Versuche 
über Zeitschätzungen mitgemacht, bei denen objektiv durch Hammer¬ 
schläge gegebene Zeitstrecken durch Niederdrücken eines Reaktionstas¬ 
ters wiedergegeben wurden; die Auslösung der zweiten Strecke erfolgte 
in rhythmischen Abständen von der ersten durch die Vp. Es erscheint 
nun nicht unwahrscheinlich, daß bei Vp. V die »Vorgeschichte« in 
dem abweichenden Verhalten zum Ausdruck kommt. Die geforderte 
wirkliche Reaktion, die sich »so schnell als möglich« an den Reiz 
anschließen soll, verwandelt sich immer wieder in eine Eingliederung 
des Tastergeräusches in den durch die Vorperiode dargebotenen 
Rhythmus, mit dem Bestreben, den Zeit Verhältnissen, die objektiv 


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202 


B. Paulssen, 


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gegeben wurden, möglichst genau Rechnung zu tragen. Je zahlreicher 
die Vorsignale sind, desto genauer wird die Zeitauffassung, und 
desto stärker wird diese Tendenz zur rhythmischen Koordination. 
Die erregende Wirkung der kurzen Intervalle ko mm t hierbei gar 
nicht zum Ausdruck, weil die Impulsentwicklung von vornherein in 
die Zeit nach dem Hauptreiz verlegt wird. Man darf daher die so 
gewonnenen Resultate höchstens als eine Art von Assi milations - 
Wirkung des Intervalles auf die Reaktionszeit ansehen, weil die Vp. 
von vornherein eine unrichtige Auffassung des Reaktionsvorganges 
ihrem Verhalten zugrunde legte; deshalb-werden sie auch nicht bei 
der Betrachtung der Gesamtergebnisse herangezogen werden. 

i 

Die Wirkungen, die eine fortschreitende Untergliederung eines 
an sich adäquaten Intervalles auf den Verlauf der Reaktion aus¬ 
übt, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 

Zunächst wird die Auffassung des Zeitpunktes, in dem der Reiz 
eintritt, mit der Zunahme der Vorsignale bedeutend erleichtert; bei 
vier Vorsignalen in 1 Sekunde nähert sich die Vorbereitung der Re¬ 
aktion derjenigen bei Sterndurchgängen, wo eine allmähliche An¬ 
näherung des Reizes an den kritischen Punkt stattfindet. Diese 
Erleichterung der Voraussicht des kritischen Zeitpunktes muß zu¬ 
nächst zwar die Vorbereitung des Impulses bis zu einem mit der 
Instruktion noch eben vereinbarem Optimum begünstigen; anderer¬ 
seits aber erzeugt die wachsende rhythmische Gliederung ein An¬ 
wachsen der Erregungskomponente, die leicht einen Umschlag 
der korrekten Reaktion in eine verkürzte, bei gesteigerter Wirkung 
sogar eine Tendenz zu triebartiger Mitbewegung nach sich ziehen 
kann. Der Vp. gelingt daher die korrekte Innehaltung der Reaktions¬ 
aufgabe, wie bei jeder anderen Erschwerung, nur mit entsprechen¬ 
der Verlängerung der Reaktionszeit, wie sie bei Vp. I in den 
Hauptreihen ganz genau proportional der Zunahme der Zahl der 
Vorsignale auftritt. Umgekehrt wird natürlich eine absichtliche oder 
unabsichtliche Hingabe an die zur Antizipation verleitende Wirkung 
des Rhythmus mit wachsender Zahl der Vorsignale eine Verkürzung 
der Reaktionszeiten nach sich ziehen, die dann natürlich auf Kosten 
der Korrektheit und Stetigkeit der Einstellung erfolgt, weil sie die 
nur bei begrenzter Ausnutzung der antizipierenden Tendenzen mög¬ 
liche Koordination der entgegengesetzten Motive unter die Reaktions¬ 
aufgabe unmöglich macht. Dies ist nun in den vorliegenden Versuchen 
bei Vp. IV tatsächlich auch fast rein unwillkürlich eingetreten, wie 
die zahlreichen vorzeitigen Reaktionen, die Nichtbeachtung der 


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Einfache Reaktionen bei Variation a. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 203 

Prüfungsversuche und die großen Schwankungen des Gesamtverhal¬ 
tens beweisen. Man muß daher erwarten, daß, wenn das Verhalten 
der Vpn. durch gar keine spezielle Instruktion gebunden ist, und 
wenn Prüfungsversuche, von denen Hemmungsmotive ausstrahlen, 
völlig fehlen, bei so kurzen, stark gegliederten Vorperioden nach kurzer 
Zeit nur noch »antizipierende« Reaktionen erfolgen, bei denen Reiz 
und Reaktion nach Möglichkeit gleichzeitig eintreten. Wie man denn 
ja auch tatsächlich zur Untersuchung der antizipierenden Willenshand¬ 
lungen rhythmische Reize mit kurzen Intervallen verwendet 1 ). 

Da aber in unserem Fall die Instruktion eine Motivation der 
Reaktion durch den Reiz forderte und diese Forderung durch syste¬ 
matische Prüfungsversuche objektivierte, so müssen diese einander 
entgegengesetzten Motive in ein ganz bestimmtes Verhältnis der 
Subordination treten, wenn sie nicht in dauerndem Konflikt bleiben 
sollen. Beide Motive sind nun aber in unserem Fall auch bei der 
korrekten Reaktion, besonders bei drei und vier Vorsignalen, wesent¬ 
lich stärker als bei gewöhnlichen Reaktionsversuchen. Der Rhyth¬ 
mus steigert die Erregungskomponente und damit die Tendenz zu vor* 
zeitigen Reaktionen; die Schwierigkeit der Innehaltung oder Verfehlung 
der Prüfungsversuche läßt die von ihnen ausstrahlenden Hemmungs¬ 
motive zu einer ungewöhnlichen Stärke anwachsen. Isoliert treten 
beide Wirkungen am deutlichsten beim Kampf der Motive vor der rich¬ 
tigen Subordination zutage. Daher geben die stark gegliederten 
Reihen bei Vp. IV ein recht anschauliches Bild dieses Kampfes, weil 
es eben dieser Vp. nicht gelingt, die Subordination dauernd zu voll¬ 
ziehen. Wir geben eine Reihe mit vier Vorsignalen von Vp. IV wieder: 



Reaktionszeit 

Bemerkungen der Vp. 

1. Versuch 

87 <r 

Antizipiert 

2. 

> 

90 ff 

Antizipiert; deutlich 1 betont 

3. 

> 

PrUfangsvers. 

Nicht getäuscht, vielleicht geahnt! 

4. 

> 

PrUfangsvers. 

Nicht getäuscht, andere Melodie 

5. 

> 

± * 

Genau; 6 mehr betont als sonst > 

6. 

» 

±x 

Antizip.; 1 betont, 6 nebenbetont } * 

7. 

» 

± X 

Antizipiert; 1 stärker betont > 

8. 

» 

49 <t 

Antizipiert 

9. 

» 

113 ff 

Innerlich mitzählend 

10. 

> 

51 ff 

Genau; 1 und 5 betont 

11. 

» 

PrUfangsvers. 

Nicht getäuscht! 

12. 

> 

317 ff 

Täuschung erwartet 


* ± x : Zeiten zwischen ± 30 ff, welche das Chronoskop nicht mehr »zeigt 


1) A. Hammer, a. a. 0. S. 326. 


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204 


Der Sieg der rhythmischen Wirkung tritt hier vorübergehend 
dann ein, wenn ein Prüfungsversuch nach der allgemeinen Erfahrung 
nicht zu erwarten ist; das ist am Anfang der Reihe, am häufigsten 
aber nach mehreren Prüfungsversuchen (da meist nicht mehr als 
zwei in einer Reihe stattfanden), deren Innehaltung mühelos gelang 
(Versuch 5—7). Korrekte Reaktionen treten in der Mitte oder nach 
dem Ende zu auf (Versuch 9); es hat durch die Gewöhnung an den 
Rhythmus ein gewisser Ausgleich stattgefunden. Die Befürchtung 
eines Prüfungsversuches, die sich darin äußert, daß die Impulsent¬ 
wicklung gänzlich vernachlässigt wird 1 ), hängt häufig zusammen 
mit der Schwierigkeit, die die Innehaltung des Prüfungsversuches 
bereitete. Ist es der Vp. nur mit sehr großer Mühe gelungen, den 
Taster nicht loszulassen, so wird sie im nächsten Versuch den Ge¬ 
danken an die Möglichkeit eines erneuten Prüfungsversuches nicht 
los (Versuch 12); auch wenn längere Zeit hindurch keine Kontrol- 
lierung des Verhaltens stattgefunden hat, taucht dieser Gedanke 
immer wieder auf und verdrängt zeitweilig die gefühlsstarken Ten¬ 
denzen zur vorzeitigen Reaktion. Längere Einübung und häufige 
Verwendung von Prüfungsversuchen kann die Vpn. jedoch zu einem 
korrekten Verhalten erziehen, das mit der Ausnutzung der mo¬ 
torischen Anregung, die durch den Rhythmus gegeben wird, doch 
die streng durchgeführte Motivation der Reaktion durch den Reiz 
verbindet; die Resultate der Vp. I am zweiten und fünften Ver¬ 
suchstage beweisen das. Immerhin muß man aber erwarten, daß 
die stärkere Untergliederung mit der Steigerung der Erregungs¬ 
komponente auch ein Anwachsen der Hemmungen nach sich ziehen 
wird, und daß also die Reaktionszeiten bei der Zunahme der Vor¬ 
signale wachsen. 


D. Gruppe IV. 


Versuchspersonen: Vp. I, Vp. IV, Vp. V. 

Intervallänge: 250 o. 

Zahl der Vorsignale: 1 bis 4. 

Länge der Vorperioden: 250 o, 500 o, 750 o, 1000 a. 

In dieser Gruppe, die das Intervall von 250 o zugrunde legte, 
kamen nun auch Vorperioden in Frage, die unter einer Sekunde 
liegen. Es läßt sich zunächst ganz allgemein sagen, daß die Resultate 
einerseits die Ergebnisse der Gruppen I/II bestätigen, mit denen 
sie ja auch im Aufbau der Vorperioden aus konstanten Intervallen 
übereinstimmten, andererseits aber auch wieder die Resultate von 


1) Wandt, PhysioL PsychoL III«. S. 431 ft 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 205 

Gruppe III bestätigten, mit denen sie die kurzen, stark rhyth¬ 
misierten Vorperioden gemeinsam haben. 

Die allgemeine Differentierung der Resultate ist sehr groß, die 
Tabelle V gibt gar kein annäherndes Bild derselben; daher muß 
wieder die qualitative Analyse der Ergebnisse bei den einzelnen Vpn. 
in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt werden. Für Vp. IV 
konnten überhaupt keine Mittelwerte berechnet werden, weil die 
Zahl der Versuche zu klein war und die Reaktionszeiten zu wenig 
homogen waren. 

Tabelle V. 

T m = Gesamtmittel; V m = Mittel der Tagesvariationen; FJ n = Gesamt¬ 
variation; F" = Abweichung der Tagesmittel; n = Gesamtzahl der Versuche. 


Vp. 

1 Vorsignal 

| | 

2 Vorsignale 

_ 

1 

3 Vorsignale 

4 Vorsignale 

T 

m 

V V' 

r m m 

1 V" 

m 

E, 6 

8 

V f 

m 

K i « 

T V V 

m m in 

F" 

m 

n 

T V 

1 m »>» 

F' 

ml 

i 

V'< 

m 

n 

1 

V 

214 

220 

19 

36 

33 

38 

31 

14 

18 

15 

(165) 18 
251 | 26 

23 

37 

16 19 

26 15 

156 20 

241 27 

23,6 

30 

12 

24 

18 

13 

160 21 

262 26,6 

21 

27 

3 

7 

20 

15 


Versuchsperson I. 

Die Vorperiode von 250 o verlängert die Reaktionszeit im Ver¬ 
gleich mit der ebenfalls durch zwei Hammerschläge begrenzten Vor¬ 
periode von 1 Sekunde in Gruppe III ganz bedeutend, nämlich um 
77 o; auch steigt die mittlere Variation. Eine so kurze Vorzeit läßt 
eben keine ausreichende Vorbereitung und Einstellung der Vp. zu. 
Die aus zwei Intervallen aufgebaute Vorperiode von 500 o gibt 
schon um etwa 50 o kürzere Zeiten. Indessen wurde hierbei einmal 
ein Prüfungsversuch verfehlt, und auch noch am letzten Tage war 
die Vp. bei einem Kontrollversuch unruhig; so gab sie auch schon in 
der ersten Sitzung bei einem normalen Versuch an, daß sie anti¬ 
zipierend reagiert habe. Daher kann diese mittlere Reaktionszeit 
von 165 a nicht als korrekt angesprochen werden, und der Abfall 
gegen die Reaktionszeit von 214 o bei nur einem Vorsignal, die 
sicherlich korrekt war, ist zu schroff. Dies Verhalten erklärt sich aus 
der Ungewohntheit solcher kurzen Vorperioden. Es zeigen sich 
hierbei gewissermaßen die schon oben erwähnten beiden Extreme 
der gewaltsamen Lösung des Konfliktes zwischen rhythmischem 
Einfluß und Hemmungsmotiv, der vor der Erreichung der optimalen 
Einstellung herrscht, und der sich auch schon in den Resultaten 
von Vp. IV in Gruppe III so deutlich wider spiegelte. Die ganz kurze 
Vorperiode bringt eine zu große Vorsicht mit sich, und man erhält 
Zeiten wie zu Beginn der Gruppe I; die Vorperiode von 500 o da- 


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206 B. Paul äsen, 

gegen, die bereits als Vorbereitung zur Geltung kommt, begünstigt 
die zu starke rhythmische Antizipation, da sie wahrscheinlich wie 

ein sehr rascher Anapäst (-) — wirkt, ist aber zu kurz, um die 

Hemmungsmotive ganz wirksam werden zu lassen. 

Die für drei und vier Vorsignale gewonnenen Resultate weisen 
dagegen auf ein sehr regelmäßiges Verhalten der Vp. hin. Die Gesamt¬ 
zeiten der Vorperioden, 750 und 1000 o, sind der Vp. aus Gruppe III 
ja schon einigermaßen geläufig, und die dort gewonnene optimale 
Einstellung bleibt vollkommen erhalten, die Reaktionszeit der Reihe 
mit vier Vorsignalen, die beiden Gruppen gemeinsam ist, verbessert 
sich sogar noch ein wenig. Das Optimum liegt wie in Gruppe I bei 
drei Vorsignalen und einer Vorperiode von 750 o, auch hier ist gegen 
Gruppe III eine kleine Verbesserung zu verzeichnen, dagegen bleiben 
alle Werte in Gruppe IV größer als der optimale Wert bei einem 
Vorsignal in Gruppe III. 

Die Vp. war also bei den Vorzeiten von 750 bzw. 1000 o mit 
drei bzw. vier Vorsignalen sehr wohl imstande, den Konflikt zwischen 
den erregenden Wirkungen der Rhythmisierung und den hemmen¬ 
den Motiven der Instruktion zur vollständigen Reaktion auszu¬ 
gleichen; es bleibt jedoch wie schon in Gruppe III bei der Vermehrung 
der Vorsignale von drei auf vier eine, wenn auch geringe Steigerung 
der Reaktionszeit bestehen. 

Versuchsperson IV. 

Die Versuche der Gruppe IV wurden bei Vp. IV in anderer Reihen¬ 
folge durchgenommen, um den Einfluß des »Rhythmus der Reihe « 
zu beseitigen. Die Zahl der Vorsignale wechselte mit jedem Einzel¬ 
versuch. Vor jedem Versuch wurde also der Vp. die Zahl der Vor¬ 
signale mit dem Hauptreiz durch den Schallhammer einmal vor¬ 
taktiert, nach einer Pause kamen dann erst die Hammerschläge, 
die die Reaktion vorbereiten sollten. Das extrem impulsive Ver¬ 
halten, das die Vp. in Gruppe III zeigte, hat sich etwas verbessert; 
die vorzeitigen Reaktionen treten an Zahl zurück, jedoch ist die 
»Angst« vor den Prüfungsversuchen noch nicht geschwunden. Auch 
hier zerfallen die Reaktionszeiten wieder in die oben schon erwähnten 
drei Gruppen, in antizipierende, vollständige und extrem abwartende. 
Mit der Zahl der Vorsignale nimmt die Tendenz zu »antizipieren« 
zu, die Reaktionszeiten nehmen mit zunehmender Zahl der Hammer¬ 
schläge und mit zunehmender Vorperiode ab, weil auch hier die Vp. 
nur gelegentlich durch den Einfluß der Prüfungsversuche imstande 
ist, die korrekte Reaktion zu realisieren; im allgemeinen überläßt 
sie sich den erregenden Wirkungen der rhythmischen Vorbereitung. 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 207 

Versuchsperson V. 

Vei Vp. V wurde dasselbe Verfahren angewendet wie bei Vp. IV. 
Die Resultate ergeben auch hier wieder die schon früher gefundene 
Erscheinung, daß die Vp. nicht eigentlich reagiert, sondern im ähn¬ 
lichen Tempo die Intervalle der Vorperiode forttaktiert. ] Je öfter 
hier nun das Intervall von 250 a geboten wird, desto genauer wird 
die »Reaktion«, d. h. sie liegt dann nahe an 250 o und weist bei vier 
Vorsignalen die kleinste Schwankung auf. Allmählich tritt aller¬ 
dings eine Zersplitterung ein, die erregende Wirkung des Rhythmus 
wird in den späteren Reihen mit vier Vorsignalen doch auch an 
einigen Stellen bemerkbar, und führt am zweiten Versuchstag sogar 
zu Verfehlungen der Prüfungsversuche. Der Versuch, diese inkor¬ 
rekte Haltung zu überwinden, führt die Vp. jedoch wieder zu ihrem 
nachtaktierenden Verfahren zurück, das höchstens noch eine assimi- 
lative Einwirkung der rhythmischen Vorbereitung wiedergibt. 

Faßt man die Ergebnisse der Reihen mit kurzen Vorperioden, 
Gruppe III und IV, gemeinsam zusammen, so läßt sich feststellen, 
daß hier die Verwendung einer rhythmischen Gliederung im Verein 
mit einer Instruktion, die eine korrekte Reaktion unbedingt fordert, 
und diese Forderung durch systematische Prüfungsversuche unter¬ 
stützt, eine sehr interessante Konstellation ergibt. Die sonst bei 
einfachen Reaktionen gegebene Bewußtseinslage wird insofern modi¬ 
fiziert, als hier zwei Motive, die die einfache Willkürhandlung nach 
zwei entgegengesetzten Richtungen zu verändern streben, mit großer 
Stärke auftreten. Die rhythmische Vorbereitung ist bestrebt, die 
Trennung der Reizauffassung und der reagierenden Bewegung in 
zwei gesonderte psychische Akte gänzlich aufzuheben. Je zahl¬ 
reicher die Vorsignale in einer kurzen Vorperiode werden, desto 
sicherer wird die Voraussicht des Zeitpunktes, in dem der Reiz ein- 
tritt, desto stärker wächst die Erregungskomponente an, und schlie߬ 
lich würden, falls nicht die Instruktion zur vollständigen Reaktion 
ein Gegenmotiv enthielte, Reiz und Reaktion zeitlich in einen Punkt 
zusammenfallen. Dieses Gegenmotiv wird nun seinerseits durch 
den Ausfall der Prüfungsversuche wachgehalten. Diese bilden daher 
zusammen mit der Forderung der Instruktion den Ursprung von 
Hemmungsmotiven, die jede vorzeitige Bereitsetzung des Impulses 
zu unterbinden streben. Sie werden um so stärker, je mehr durch 
den Rhythmus der Motivationszusammenhang zwischen Reiz und 
Reaktion gelockert wird. Ihr Uberhandnehmen bedeutet aber, 
daß sich die Reaktion nun nicht mehr, wie bei den einfacheren 


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208 


B. Panlsaen, 


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Bedingungen, der Triebhandlung annähern kann, sonderndaß sich, 
ähnlich wie bei der Wahlreaktion, der Wahrnehmung des Reizes 
ein Akt der Erkennung und Entschließung zum Handeln deut¬ 
lich angliedert 1 ). Diesen aus so verschiedenen Bewußtseinskonstel¬ 
lationen stammenden Reaktionen entsprechen nun Reaktionszeiten, 
die ihren Ursprung deutlich verraten. 

Die unter dem mitreißenden Einfluß des Rhythmus entstandenen 
Reaktionen liegen meist zwischen ±30 o; sie können auch wohl 
noch bis zu etwa 100 o hinaufreichen, eine ganz scharfe Grenze läßt 
sich hier kaum ziehen. Ihnen entgegengesetzt sind Zeiten von 200 
bis 300 o, die dann auftreten, wenn der eigentliche Entschluß zum 
Handeln erst nach dem Reizeintritt erfolgt ist. In der Mitte zwischen 
100 und 200 o liegen die Werte, die man im allgemeinen als »ein¬ 
fache Reaktionszeiten« betrachtet; sie entspringen einer Bewußt¬ 
seinslage, in der sich das rhythmische Element der Erwartung des 
tatsächlichen Hauptreizes unterordnet. Hier wird schon vor dem 
Zeitpunkt des Reizeintrittes eine Bereitsetzung der Impulse durch 
die reproduktive Apperzeption erfolgen, diese wird aber doch nur 
so weit getrieben werden, daß die wirkliche Wahrnehmung des Reizes 
notwendig bleibt, um die Auslösung der Bewegung herbeizuführen. 
Diese Einstellung darf allein als der Instruktion entsprechend be¬ 
trachtet werden, und nur an Reaktionen, die aus ihr hervorgehen, 
läßt sich wirklich der Einfluß »der rhythmischen Vorbereitung auf 
die Reaktion« erkennen. Je schwieriger sich nun die Reaktionsauf¬ 
gabe nach irgendeiner Seite hin (der Motivauffassung, der Bewegung 
oder ihrer beiderseitigen Zuordnung) gestaltet, oder je mehr die Vor¬ 
bereitung eine Abweichung von der korrekten Reaktion in irgend¬ 
einer Richtung anregt, um so mehr Geschicklichkeit und Übung 
wird erforderlich sein, um das mögliche Zeitminimum der Reaktion 
in völlig stetiger Impulsentwicklung zu erlangen. Das scheint bei 
Vp. I bei einmaligem Vorsignal im Abstand von etwa 1 Sekunde 
vom Hauptreiz mit 137 o Reaktionszeit erreicht worden zu sein. 
Tritt bei Beibehaltung dieser an sich adäquaten Gesamtzeit der 
Vorperiode nun noch eine rhythmische Untergliederung ein, so 
bedarf es bei weiterer Einübung eines stärkeren Hemmungsmotives, 
um die korrekte Einstellung festzuhalten, wodurch die Reaktions¬ 
zeiten dann wieder zunehmen. 


1) Wundfc, Physiol. PsychoL III®. S. 431/32. 


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Einfache Reaktionen bei Variation n. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 209 


V. Zusammenfassung nnd Schluß. 

1) Die Beziehungen, die sich zwischen sensoriellen rhythmischen 
Eindrücken und dem Verlauf von Willenshandlungen, deren Vor¬ 
bereitung sie darstellen, feststellen lassen, werden immer individuellen 
Schwankungen unterworfen sein. In unserem Fall mußten sich diese 
persönlichen Differenzen deshalb noch deutlicher zeigen, weil ja hier 
die Willenshandlung nicht durch eine objektiv rhythmisierte Vor¬ 
periode eingeleitet wurde, sondern die eigentliche Rhythmisierung 
erst durch subjektive Betonung der gleichstarken, äquidistanten 
Hammerschläge herbeigeführt werden sollte. Dabei muß natürlich 
die Fähigkeit der Vp., diese Betonung und Einheitsbildung zu voll¬ 
ziehen, den ganzen Verlauf des Versuches prinzipiell beeinflussen, 
und diese Fähigkeit ist sehr verschieden stark entwickelt. Die Aus¬ 
nahmestellung, die besonders Vp. II in allen Versuchen einnimmt, 
läßt sich auf die äußerst geringe Neigung dieser Vp., die gegebenen 
Eindrücke rhythmisch zu gliedern, mit Sicherheit zurückführen. 
Auch bei den anderen Vpn. zeigen sich alle Grade der Leichtigkeit 
und Intensität, mit der die Rhythmisierung vollzogen wird, es lassen 
sich aber aus den Ergebnissen doch allgemeingültige Zusammen¬ 
hänge aufweisen, die für die Verbindung rhythmischer Eindrücke 
mit Willenshandlungen charakteristisch sind. Ganz allgemein läßt 
sich sagen, daß die Reaktion in ihrem Verlauf und ihrer zeitlichen 
Dauer durchaus davon abhängt, ob es der Vp. gelingt, die Eindrücke, 
welche die Reaktion vorbereiten, unter sich und mit der 
Willenshandlung zu einer Einheit mühelos zusammenzu¬ 
fassen. Diese Möglichkeit einer Einheitsbildung, die als grund¬ 
legender Faktor in alle diese Versuche eingeht, erweist sich nun, 
wenn die Anzahl der Vorsignale nicht über vier hinausgeht, als 
sehr abhängig von der Länge der Intervalle ? in denen sich die 
vorbereitenden Taktschläge folgen. Der Einfluß der Gesamt¬ 
zeitdauer der Vorperiode ist, wenn sie zwischen 750 o und 4 Se¬ 
kunden liegt, nicht so ausschlaggebend; er kann durch eine günstige 
Rhythmisierung in gewissen Grenzen (zwischen 1 und 4 Sekunden) 
nahezu aufgehoben werden. Sehr kurze Gesamtvorperioden — 
zwischen 250 und 500 o — machen allerdings die Gesamteinstellung 
der Vp. sehr schwankend und unsicher, weil der Ausgleich der in 
die Reaktion eingehenden Motive in so kurzer Zeit nicht sicher zu 
beherrschen ist. Bei großen Intervallen, wie sie in dieser Unter¬ 
suchung zunächst verwendet wurden (964 o), stellt sich spontan 
zwar auch eine gewisse rhythmische Gliederung ein, jedoch entbehrt 


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210 


B. PaalsMn, 


* 


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diese der Lebhaftigkeit und Intensität der Ausstrahlung auf den 
ganzen Reaktionsakt. Diese tritt erst auf, wenn eine willkürliche 
subjektive Rhythmisierung der Vorperiode durch die Instruk¬ 
tion vorgeschrieben wird. Dann werden allerdings die Einflüsse 
der rhythmischen Vorbereitung an den Reaktionszeiten sehr deut¬ 
lich bemerkbar. Je leichter die vorgeschriebene Rhythmisierung der 
Vorperiode der Vp. fällt, und je weniger Energie die Zusammen¬ 
fassung erfordert, desto intensiver sind die Wirkungen auf die Re¬ 
aktionszeit. Spontan gefunden und im allgemeinen günstig, wohl 
auch aus dem täglichen Leben, z. B. bei dem schon oben erwähnten 
Abspringen mit Anlauf, bekannt, ist eine Rhythmisierung, die dem 
letzten Hammerschlag, der als eigentlicher Hauptreiz an sich 
schon eine Bevorzugung durch die Apperzeption erfährt, die stärkste 
Betonung zuerteilt. DaB Optimum ergibt hier die durch drei Takt¬ 
schläge vorbereitete Reaktion. Dieser Dreitakt nimmt im sub¬ 
jektiven Erlebnis die Form des Anapäst-- an; die erregende 

und antreibende Wirkung dieser metrischen Form, mit einem je 
nach der Schwierigkeit der Leistung schwankenden Intervall, wird 
ja doch auch gewohnheitsmäßig durch das Zählen »1—2—3« bei 
der Vorbereitung irgendeiner Willenshandlung ausgenützt. — Hat 
die Rhythmisierung der Vorperiode dagegen eine fallende Ten¬ 
denz, bei der der Hauptreiz unbetont nachhinkt, so macht sich diese 
an einer Retardierung der Reaktion und einer Herabsetzung der 
motorischen Vorbereitung bemerkbar, was mit dem beruhigenden 
Charakter der fallenden Metren wieder gut übereinstimmt. 

Grundsätzlich bleiben bei so langen Intervallen die rhythmischen 
Wirkungen in gewissen Grenzen, die eine ziemlich vollkommene 
Ausnützung der von ihnen angeregten vorbereitenden Impuls¬ 
entwicklung gestattet, ohne daß diese durch eine besonders starke 
Ausbildung von Hemmungsmotiven beschränkt zu werden braucht. 
Dies macht sich erst bei der Einteilung einer Vorperiode bis zu 
1 Sekunde in kurze Intervalle (von je 500, 333 oder 250 o) bemerkbar. 
Die Einheitsbildung und rhythmische Gliederung vollzieht sich hier 
bei geringer Differentierung der Taktelemente unter sehr starker sub¬ 
jektiver Betonung des letzten Schlages. Die erleichterte Voraussicht 
des Zeitpunktes für den Reizeintritt, die derjenigen beim Überbück 
über die einem bestimmten Sei zustrebende Bewegung bei Stern¬ 
durchgängen nahekommt, legt stets die Tendenz nahe, die Bewegung 
gleichzeitig mit dem genau vorausgesehenen Augenbück des Haupt¬ 
reizes auszuführen. Hierbei wird also die Entwicklung des Impulses, 
vom Reiz selbst unabhängig, schon von der bloßen Vorbereitung 


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Einfache Reaktionen bei Variation a. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 211 

motiviert. Die stetige Entwicklung des Impulses aus dem ganzen 
vorangehenden Rhythmus mit allen Nebenwirkungen ihres speziellen 
Gefühlscharakters auf den gesamten Willens Vorgang kommt hier in 
ihrer ganzen Stärke zur Geltung. Soll nun aber bei dieser Vorbereitung 
wirklich korrekt reagiert werden, so ist dieser starke Antrieb nur ein 
Hindernis, das durch Gegenmotive beseitigt werden muß, wodurch 
natürlich der günstige Einfluß der Rhythmisierung auf die Reak¬ 
tionszeit wieder verloren geht. 

2) Praktisch wird man also so kurze Intervalle nicht ver¬ 
wenden dürfen, wenn für die korrekte Reaktion die rhythmische 
Wirkung voll ausgenützt werden soll. Für diesen Zweck dürfte 
vielmehr ein steigender Dreitakt in adäquaten Intervallen das Opti¬ 
mum ergeben. Für antizipierende Bewegungen dagegen, bei denen 
Reiz und Reaktion zusammenfallen sollen, werden kurze Intervalle 
die exaktesten Resultate möglich machen. 

3) Bezüglich der Prüfungsversuche kann schließlich ganz all¬ 
gemein die schon in der methodischen Betrachtung gemachte Be¬ 
merkung bestätigt werden, daß auch ihre durchgängige Innehaltung 
kein sicheres Kriterium für ein durchgängig korrektes Verhalten 
der Vp. darstellt; dies gilt vor allem dann, wenn die Einzelresultate 
innerhalb einer Reihe untereinander große Schwankungen zeigen. 
Dagegen weist die Verfehlung auch nur eines Prüfungsversuches 
mit Sicherheit darauf hin, daß die Einstellung nicht mehr der kor¬ 
rekten Befolgung der Instruktion entspricht. 

Methodisch erwiesen sich die Prüfungsversuche als ein ganz un¬ 
entbehrliches Hilfsmittel, um bei der Untersuchung der rhythmischen 
Wirkungen auf die vollständige Reaktion auch wirklich einen einiger¬ 
maßen konstanten Maßstab zu besitzen. Denn nur mit ihrer Hilf e 
war es möglich, daß die Vp., trotz starker triebartiger Tendenzen, 
bewußt die geforderte Einstellung festhielt, weil sie einer bestän¬ 
digen Korrektur ihrer Haltung gewärtig sein mußte. Sie wirkten hier 
wie ein objektives Strafgesetz, welches das subjektive Rechtsgefühl 
beständig tatsächlich korrigiert, wenn es durch den Einfluß der 
Neigungen und Triebe fast unbewußt von dem schmalen Wege des 
Rechtes abweicht. 

4) Die Methode der »subjektiven Beziehungen« nach Dwels- 
hauvers 1 ), die die von der Vp. als instruktionswidrig bezeichneten 
Werte von der Verrechnung ausschließt, setzt voraus, daß die Vp. 
auch wirklich ein richtiges Urteil über den Verlauf der eben voll- 

1) Dwelshauvers, a. a. 0. 


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212 


B. Paulssen 


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zogenen Reaktion abzugeben imstande ist. Im allgemeinen kann 
das wohl auch als zutreffend bezeichnet werden, und wenn sich, wie 
bei Dwelshauvers, die Aussagen hauptsächlich auf die Aufmerk¬ 
samkeitsrichtung während des Versuches beziehen, so wird man sich 
hierin sicherlich auf die Protokolle verlassen können. Die Sachlage 
ändert sich jedoch etwas, wenn sich die Aussagen auf die Dauer 
der Reaktion und auf die Sicherheit der Motivation derselben durch 
den Reiz ausdehnen sollen. Hierbei zeigte sich in unserer Unter¬ 
suchung, daß, je stärker durch einen rhythmischen Einfluß die 
Tendenz zur Loslösung der Reaktion von der Motivation durch den 
Hauptreiz wird, desto unsicherer auch die Aussagen der Vpn. über 
den Verlauf des Vorganges werden. Die Intensität, die Erregungs- und 
Tätigkeitsgefühle hier annehmen, machen eine wirksame Selbst¬ 
beobachtung während und auch nach dem Verlauf ganz unmöglich. 
Das bei solchen Reaktionen sehr stark auftretende Lustgefühl läßt 
die Reaktionen als »sehr gut gelungen« erscheinen, und im Einzel - 
fall wird die Aussage nicht so sehr durch den tatsächlichen Verlauf 
der Reaktion bestimmt werden, als vielmehr durch die begleitenden 
Gefühle; unter Umständen auch durch den Verlauf der unmittelbar 
vorangehenden Versuche. Daneben muß aber doch festgestellt wer¬ 
den, daß, so unsicher in den einzelnen Fällen, besonders bei der 
muskulären Form der Reaktion, die Aussagen der Vpn. über den 
Verlauf derselben sind, der Gesamtzustand während der ganzen 
Reihe und das ganz allgemeine Verhalten merkwürdig richtig 
wiedergegeben wird. Dieses Urteil bildet sich eben erst im Ver¬ 
lauf einer großen Anzahl von Versuchen; es schließt die vielen, an 
sich nicht so deutlichen Einzelerlebnisse und die den ganzen Verlauf 
durchziehenden Gefühle zu einem Gesamtbilde zusammen, das 
nicht mehr getrübt ist durch die zufällige Stellung des Einzel Ver¬ 
suches in der Reihe und durch andere zufällige Abweichungen. 
Dieser Ausschluß des Zufälligen kann aber nur erreicht werden 
durch eine ziemlich große Zahl gleicher Erlebnisse unter möglichst 
konstanten Bewußtseinsbedingungen, und die Methode der syste¬ 
matischen Selbstbeobachtung, die den Einzelfall bis in seine letzten 
Bestandteile zu zergliedern sucht, läuft Gefahr, hier der zufälligen 
Schwankung eine weit größere Bedeutung zuzuerkennen, als sie auf 
Grund einer allgemeineren Betrachtung erfahren darf 1 ). 


1) Wundt, Über Ausfrageexperimente usw. Kleine Sohriften. Bd. 2. — 
Deuohler, PsychoL Stud. IV. S. 391. 


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Einfache Reaktionen bei Variation u. rhythm. Gliederung der Vorperiode. 213 

Die Versuche, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, wurden 
im Institut für experimentelle Psychologie der Universität Leipzig 
im Wintersemester 1915/16 und im Sommersemester 1916 ausgeführt. 
Als Vpn. nahmen daran teil die Herren: Prof. Dr. Wirth, Prof. 
Dr. Kirschmann, Dr. med. Starke, Lektor Peters und cand. 
phil. Hoh. Sr. Exzellenz Herrn Prof. Dr. W. Wundt spreche ich 
auch an dieser Stelle meinen aufrichtigsten Dank für die Erlaubnis 
der Mitarbeit in seinem Institut und für die Übertragung der Unter¬ 
suchung aus. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. W. Wirth aufs 
herzlichste für die jederzeit tätige Beihilfe und für die großen Opfer 
an Zeit und Geduld, die er als meine treueste Versuchsperson brachte. 
Auch meinen anderen Versuchspersonen bin ich zu großem Dank 
verpflichtet. 


(Eingegangen am 10. Jnli 1917.) 


Archiv für Psychologie. XXXIX. 


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15 


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(Mitteilungen aus dem Psychologischen Laboratorium der staatl. 
Mittelschule für nervöse Kinder. — Leiter: Dr. Josef 0. V6rtes, 

Budapest.) 


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Das Gedächtnis der Blinden. 

Von 

Dr. Josef 0. Vörtes, 

Leiter der staatl. Mittelschule für nervöse Kinder. 


Inhalt. Seiu 

I. Das unmittelbare Gedächtnis des blinden Kindes.214 

1) Der Versuch und die Vpn.214 

2) Der Umfang des unmittelbaren Gedächtnisses.217 

3) Die Reproduktionszeit des unmittelbaren Gedächtnisses.224 

4) Verhältnis des Umfanges zur Reproduktionszeit.228 

6) Die Fehlreproduktionen. 229 

II. Schlußbetrachtungen.230 


I. Das unmittelbare Gedächtnis des blinden Kindes. 

1. Der Versuch und die Vpn. 

Im folgenden wird über Versuche berichtet, in denen das unmittel¬ 
bare Gedächtnis von Blinden — in Verbindung mit einer exakten 
Zeitmessung — meines Wissens zum ersten Male geprüft wurde. — 
G. E. Müller 1 ) stellte wohl mit einem blinden Strohflechter Ver¬ 
suche an, aber die Vp. erwies sich infolge ihrer geringen Intelligenz 
für einen etwas schwierigeren Versuch als untauglich. 

A. Krogius 2 ) hat schon früher, im Jahre 1905, zwanzig Blinde 
in bezug auf ihr behaltendes Gedächtnis untersucht. % Das Alter der 
Vpn. lag zwischen 10—19 Jahren, aber Positives konnte hinsichtlich 
der einzelnen Altersgruppen, infolge der großen Altersunterschiede 
der wenigen untersuchten Kinder nicht erzielt werden. Die Methode 
war die G-Methode mit sinnlosen Silben, sinnvollen Worten und 
Gedichten. 


1) Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufes. 
Leipzig. Bd. I. 1911. — Bd. III. 1913. — Bd. II. 1917. 

2) Archiv für die ges. Psychologie. Bd. IV. 



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Das Gedächtnis der Blinden. 


215 


In früheren Arbeiten 1 ) befaßte ich mich hauptsächlich mit dem 
Gedächtnisse normaler Schüler und suchte den Nachweis zu erbringen, 
daß der Gedächtniskanon des Kindes unter Berücksichtigung der 
Intelligenz, des Geschlechtes, des Alters und der gesellschaftlichen 
Umgebung sowohl in bezug auf den Umfang, wie auch auf die Zeit¬ 
dauer festgelegt werden kann. 

Jetzt wollen wir die Frage beantworten, ob zwischen dem Gedächt¬ 
nisse der Sehenden und Blinden ein Unterschied besteht, und wenn 
ja, welches Gedächtnis das bessere ist. Ferner die Frage, ob bei blin¬ 
den Kindern zwischen dem Gedächtnisumfang und der Reproduk¬ 
tionszeit auf der einen Seite, dem Alter, der Intelligenz, dem Ge¬ 
schlecht und der gesellschaftlichen Umgebung auf der anderen Seite 
irgendeine Beziehung besteht. 

Meine Versuche stellte ich am 26.—29. November 1912 und am 
6. März 1916 jeweils vormittags zwischen 9—11 Uhr in der Buda- 
pester staatlichen Blindenanstalt an 2 ). 

Betreffs des unmittelbaren Gedächtnisses prüfte ich vornehm¬ 
lich das Wortgedächtnis, und zwar mittels der Ransch bürg scheu 
W ortpaarme th ode 3 ). 

Das Wesen dieser Methode besteht in folgendem: Wir sprechen 
der Vp. in gewisser Bedeutungsverbindung stehende Wortpaare in 
bestimmte Gruppen geteilt (zwei Sechser- und drei Neunergruppen) 
vor, und nach Ablauf einer bestimmten Zeit — bei vorliegenden Ver¬ 
suchen nach 6 Sekunden — fragen wir die Wortpaare ab, und zwar 
in der Weise, daß nur das Reizwort des Wortpaares genannt wird. 
Die Vp. muß mit dem Schlagwort (Treffer) antworten. Die Antwort 
kann je nach ihrer Qualität eine richtige, falsche oder korrigierte sein. 

Die zum Hervorrufen des zweiten Wortes notwendige Zeitdauer 
wird mittels der Ja quetschen Fünftelsekundenuhr gemessen. Die 
Versuche wurden einzeln ausgeführt. 

Bei Bearbeitung des Materials bediente ich mich der Ransch- 
burgschen Formel 4 ), welche den Umfang der Gedächtnisleistung 

1) Josef 0. V6rtes, Das Wortgedächtnis im Schulkindesalter. Zeitschrift 
für Psychologie. Bd. 63. 1912. 

Derselbe, Bund für Schulreform. Heft 7. S. 42. Leipzig 1913. 

Derselbe, A közvetlen emlökcret problemöi. A Gyernest und Athe- 
naeum. 1916. 

2) Ich spreche an dieser Stelle Herrn Direktor Karl Herodek, Budapest, 
der mir mit besonderer Liebenswürdigkeit sein Institut mit seinen Schülern 
zur Verfügung stellte, meinen innigsten Dank aus. 

3) Über Art und Wert klinischer Gedächtnismessungen. Teil I, II, III. 

4) In »Klinik für psychische und nervöse Krankheiten«. Bd. I, III, V. 

16 * 


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216 Josef 0. V6rtes, 

und die Größe der aufgewendeten Zeit zahlenmäßig zu fixieren 
gestattet. i- 

Unter dem Gedächtnisumfang verstehen wir das prozentuale Ver¬ 
hältnis der Zahl der richtigen Reproduktionen zur Zahl der Versuche. 
Die durch einmalige Verbesserung entstandenen (korrigierten) Re¬ 
aktionen wurden als halbrichtige gezählt und als solche der Zahl der 
richtigen Reproduktionen zugezählt. 

Die Reproduktionszeit wird durch den Zentralwert der richtigen 
Reaktionen repräsentiert. 

Als Vpn. dienten 20 Zöglinge der Budapester staatlichen Blinden¬ 
anstalt. Zum Vergleich wurden die Ergebnisse meiner früheren 
Untersuchungen herangezogen, die sich auf 100 Schüler und zwar 
70 Volksschüler (I.—VI. Klasse) und 30 Oberrealschüler (je neun 
aus der dritten und fünften, zwölf aus der siebenten Klasse) er¬ 
streckten 1 ). 

Unter den 20 Blinden gab es in bezug auf das Alter: 

1 Siebenjährigen 

5 Achtjährige 

2 Neunjährige 

3 Zehnjährige 

2 Elfjährige 

2 Zwölfjährige 

4 Dreizehnjährige 

1 Vierzehnjährigen. 

Acht von den blinden Kindern gingen in die Vorbereitunsgklasse, 
sechs besuchten die erste, eines die zweite, drei die dritte und zwei 
die vierte Klasse. 

Nach ihrer Schulleistung verteilen sie sich folgendermaßen: 7 von 
ihnen waren gute, 7 mittelmäßige und 6 schwache Schüler. Als gut 
wird derjenige bezeichnet, dessen Zensur 1 oder 2 ist; als mittelmäßig 
derjenige, dessen Zensur 3, und als schwach derjenige, dessen Klassi¬ 
fikation 4 oder 5 war. (In Ungarn sind in den Volksschulen fünf 
Noten üblich.) 

Unter den untersuchten blinden Kindern waren 11 Mädchen und 
9 Knaben. 14 von den Kindern entstammten unteren (armen) Milieu¬ 
schichten, 6 stammten aus wohlhabenden Kreisen. 

Als Ursachen der Erblindung hat die ärztliche Untersuchung fest¬ 
gestellt: 


1) Ztschr. f. Psychol., a. a. O. 


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Das Gedächtnis der Blinden. 


217 


In 6 Fällen Augapfelschrumpfung (Atrophia bulbi). 

* 2 » Hornhautentzündung (Keratitis). 

»• 2 » Eitrige Bindehautentzündung (Conjunctivitis pu¬ 

rulen ta). 

»3 » Augenblennorrhea (Blennorrhea conjunctivae). 

» 1 Fall Augennervschwund (Atrophia nervi optici). 

» 1 » Dehnung des Augapfels (Ectasia bulbi). 

» 1 » Typhus (T. abdominalis). 

»1 » angeborener grauer Star (Cataracta). 

»1 s> Masern (Morbilli). 

In 2 Fällen ist die Ursache unbekannt. Nach dem Sehgrad unter¬ 
scheiden sich die Kinder folgendermaßen: 

2 sahen noch Gegenstände, 

15 konnten noch Hell und Dunkel unterscheiden, 

3 waren total blind. 

Die Untersuchten sind von frühester Kindheit blind; die meisten 
sind blindgeboren oder in der 1. oder 2. Woche erblindet. Ein Kind 
verlor im 2. Jahre sein Augenlicht. 


2. Der Umfang des unmittelbaren Gedächtnisses. 

Der Gedächtnisumfang von 20 blinden Kindern betrug im Zentral¬ 
wert 89,7% des zu reproduzierenden Stoffes. Das heißt 7—14jährige 
Kinder reproduzierten fl /io der gehörten und nachgesagten Wortpaare 
— nach Verlauf von 6 Sekunden — richtig. Der unmittelbare Ge¬ 
dächtnisumfang der sehenden Kinder beträgt nur: 82,9%. 

Der größte Gedächtnisumfang der Blinden beträgt 100%, der 
kleinste: 71,8% (der Sehenden: 94,9%—25,6%). 

Diese Zahlen zeigen uns schon, daß das blinde Kind dem 
sehenden überlegen ist. 


Umfangsgruppen 
in o/o ansgedrlickt 

Prozent der untersuchten 
Blinden | Sehenden 

0 - 10 0 

0,0 

0,0 

10 ,- 20 0 

0,0 

0,0 

20 ,— 30 0 

0,0 

1,4 

30 ,— 40 0 

0,0 

1,4 

40 ,- 50 o 

0,0 

1,4 

50 ,— 60 o 

0,0 

2,8 

60 ,— 70 0 

0,0 

1,4 

70 ,- 80 0 

20,0 

25,8 

80 ,- 90 o 

40,0 

TOI 

90 ,— 100 0 

KD 

. 27,2 


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218 


Josef 0. V6rtes, 


Noch deutlicher sehen wir das, wenn wir die Gedächtnisumfänge 
der Schüler in Gruppen teilen und fragen, wieviel Prozent der 
blinden und sehenden Kinder in die einzelnen Gruppen fallen. 

Man sieht: Die blinden Kinder weisen in der höchsten Umfangs¬ 
gruppe (90—100) den größten Prozentsatz auf (40%), während die 
gleichaltrigen sehenden Kinder in der einen Grad niedrigeren Um¬ 
fangsgruppe mit dem Maximalwerte Vorkommen. 

Der Gedächtnisumfang der sehenden Kinder beginnt schon in der 
Umfangsgruppe 20—30, während der der blinden Kinder erst in der 
Gruppe 70—80 beginnt. 

Mithin bewegt sich das unmittelbare Wortgedächtnis 
von 80% der blinden Kinder zwischen Umfangsgrößen von 
80—100%, während die sehenden zwischen denselben Gren¬ 
zen nur mit 66% Vorkommen. Folglich weisen die Blinden 
ein um 14% besseres Resultat auf. 

Dieser Satz wird durch die Ranschburgsche »positive Zensur« 
noch übersichtlicher, nach welcher wir die Gedächtnisumfänge in 
vier Gruppen teilen: 100—75% = I;75—50% = II; 50—25% = III; 
26—0% = IV. 



I. 

II. 

III. 

IV. 


75— 100 o/o 

76-50 0/,, 

50 -26 o/ 0 

25-0 o/o 

— - — 1 

Blinde 

90,0 o/o 

10,0 o/o 

0,0 o/„ 

0,0 o/ 0 

Sehende 

84,3 » 

11,4 > 

4,3 » 

0,0 » 


Nach der »positiven Zensur« kommt als 0 der kleinste Wert der 
Blinden in der II., der der Sehenden in der III. Kolumne vor. Mit 
anderen Worten: Der Umfang des unmittelbaren Gedächt¬ 
nisses der blinden Kinder ist besser, größer als der der 
mit ihnen verglichenen sehenden Schüler. 

Im folgenden beantworten wir einige spezielle, auf den Gedächt¬ 
nisumfang bezügliche Fragen. 

a. Der Umfang des unmittelbaren Gedächtnisses des 
blinden Kindes und das Lebensalter. 

Zeigt der Umfang des immittelbaren Gedächtnisses eine gewisse 
Parallele mit dem wachsenden Alter und ist auch hier die Über¬ 
legenheit der Blinden gegenüber den Sehenden nachweisbar? 

In meinen früheren Untersuchungen 1 ) wies ich nach, daß der 
Umfang des unmittelbaren Gedächtnisses der normalen 

1) A. a. O. 


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Das Gedächtnis der Blinden. 


219 


Kinder innerhalb der Altersstufen von 6—13 Jahren in 
geradem Verhältnisse zunimmt. Die folgende Tabelle zeigt, 
•wie sich der Gedächtnisumfang bei Blinden und Sehenden mit zu¬ 
nehmendem Lebensalter verändert. 


Alter: 

6-7 

8-9 

10-11 

12—13 Jahre 

Blinde 

79,4 o/o 

92,3 o 0 

89,7 o/ 0 

89,7o/ 0 

Sehende 

79,4 » 

83,1 » 

86,4 » 

89,7 » 


Man sieht, daß der Gedächtnisumfang der Blinden in den 
Altersstufen von 8—11 Jahren größer ist als der der Sehen¬ 
den. Die Blinden zeigen mit zunehmendem Lebensalter keine Zu¬ 
nahme des Gedächtnisumfanges. Worin der Grund dafür liegt, das 
kann wegen des geringen Materials nicht entschieden werden. Es 
ist nicht ausgeschlossen, daß diese Mittelwerte bei einer größeren 
Zahl von Vpn. andere wären; wir konnten ja doch von den 10—11 jäh¬ 
rigen blinden Kindern nur 5, von den 12—13jährigen nur 6 unter¬ 
suchen. Vielleicht liegen aber hier ähnliche Verhältnisse vor wie bei 
den Schwachsinnigen, bei denen die Geistesfunktionen über ein be¬ 
stimmtes Alter hinaus sowohl quantitativ wie qualitativ bald statio¬ 
när bleiben, bald ein Sinken aufweisen? Oder vielleicht tritt die 
Pubertät, oder — worauf ich schon früher hingewiesen habe — die 
Präpubertät als hemmender Faktor auf 1 ). 

Kommen verschiedenaltrige Kinder in einer Klasse zusammen, 
so assimilieren sie sich, wie das jeder erfahrene Pädagoge weiß. Das 
Sichbewegen in einem und demselben Gedankenkreise, das beim Er¬ 
klären und Abfragen des Pensums angewandte Tempo (vielerorten 
ist das Chorlemen noch Sitte), mit einem Worte, die gleichförmige 
Beeinflussung des Geistes durch solche und ähnliche Faktoren beein¬ 
flussen den Umfang des immittelbaren Gedächtnisses der Kinder 
manchmal stärker als das gleiche Alter. Es ist daher nicht zu ver¬ 
wundern, daß wir im ganzen großen dasselbe Ergebnis wie beim Alter 
erhalten, wenn wir die blinden Kinder nach der Klassenhöhe grup¬ 
pieren. Der Umfang des unmittelbaren Gedächtnisses der Vor¬ 
bereitungsklasse beträgt: 89,7%, während der der I.—II. Klasse 
etwas kleiner ist: 87,1%; der der III.—IV. Klasse: 90,98%. 


1) V6rtes, O. Josef, IskolAsgyermekek en»16kezete (Das Gedächtnis 
des Schulkindes). Budajwst 1909. Verlag Lampel. 


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220 


Josef 0. V6rtes 


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b. Intelligenz und Gedächtnisumfang. 

Bei Feststellung der Intelligenzstufen bedienen wir uns der Ab¬ 
stufungen: gut, mittelmäßig und schwach, obwohl wir nicht 
unbemerkt lassen wollen, daß diese auf Grund der Angaben der Lehrer 
erfolgte Zensurierung eigentlich nur einen Gradmesser des Wissens 
der Schüler ergibt. Es ist wahr, daß die Intelligenz in vielen Fällen 
mit dem Wissen parallel läuft, aber wir dürfen diesen Satz nicht ver¬ 
allgemeinern. Wir pflegen bei der Prüfung der Kinderseele von 
Intelligenztests zu sprechen und gehen vorsichtig allen Schultests 
oder Wissentests aus dem Wege. Trotzdem begnügen wir uns mit 
der angegebenen Intelligenzschätzung. Dabei muß ich die Auf¬ 
merksamkeit der Leser auf die als schwach qualifizierten Schüler 
lenken. Es gibt schlechte Schüler, sogenannte physiologisch 
schwache , die die Zensur 5 erhielten, aber durch Wiederholung der 
Klasse den Stoff schließlich doch bewältigten. Diesen gegenüber 
stehen die pathologisch Schwachen, deren Seelenleben nicht 
nur eine quantitative Minderwertigkeit, sondern auch eine qualitative 
Degradation aufweist. 

Worin mag wohl der Grund dieser pathologischen Schwachbegabt¬ 
heit bei den Blinden liegen? 

Die Erblindung wird in sehr vielen Fällen durch Erkrankung des 
Gehirnes verursacht, und diese könnte auch die geistige Minder¬ 
wertigkeit herbeiführen 1 ). Aber auch das Fehlen einer entsprechen¬ 
den Beschäftigung der Erwachsenen mit den Kindern kann die 
geistige Entwicklung hindern, und die Blindheit kann, falls nicht 
eine spezielle Erziehung den Ausfall des Gesichtssinnes ersetzt, einen 
dem Idiotismus verwandten Zustand hervorbringen. Dies erklärt 
den Umstand, daß 10% der Blinden schwachbegabt sind. Man wird 
es verstehen, daß ich aus diesen Gründen zu meinen Untersuchungen 
nur physiologisch schwache blinde Kinder heranzog; auch aus der 
Untersuchung der Normalen schloß ich die pathologisch Schwach¬ 
begabten aus. 

Meine auf die Normalen bezüglichen Versuche ergaben, daß 
zwischen der allgemeinen Schulleistung und dem Gedächt¬ 
nisumfang eine weitgehende Parallele besteht. Die folgende 
Tabelle gestattet, die Gedächtnisumfänge der verschiedenen Intel¬ 
ligenzklassen von Blinden und Sehenden zu vergleichen. 


1) Nebenbei bemerkt, mehr als 50% der ungarischen Kriegsblinden sind 
zugleich nervenkrank I 


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Das Gedächtnis der Blinden. 


221 


I Blinde 

Sehende 

At 1 ) der Guten .... 

92,3 o/o 

87,1 o/o 

> » Mittelmäßigen. n 

89,7 » 

82,7 » 

» » Schwachen . . I| 

li 

89,7 > 

76,9 » 


Aus dieser Tabelle erhellt, daß die Blinden auf allen Intel¬ 
ligenzstufen einen größeren Gedächtnisumfang aufweisen, 
als die sehenden Volksschüler, ja sie haben sogar größere 
Werte als die Mittelschüler (gut: 89%; mittelmäßig: 88%; 
schwach: 82%). 

Wenn wir uns von den Guten über die Mittelmäßigen den Schwa¬ 
chen nähern, so wird der Unterschied zwischen den Sehenden und 
Blinden immer größer (5,2, 7,0, 12,8). Der Unterschied im Gedächt¬ 
nisumfang der sehenden und blinden Kinder mit höherer Intelligenz 
ist aber offenbar deshalb kleiner als der der Mittelmäßigen und 
Schwachen, weil bei den Guten die Streuung um den Mittelwert eine 
geringere ist. 

c. Geschlecht und Gedächtnisumfang. 

Wenn wir den Unterschied des Gedächtnisumfanges der Knaben 
und Mädchen betrachten, so erscheint uns auf den ersten Blick der 
Gedächtnisumfang der blinden Knaben und Mädchen als vollkommen 
gleichwertig, d. i.: 89,7%. Wenn wir aber die zwei übereinstimmen¬ 
den Werte etwas genauer in Augenschein nehmen, so können wir fest- 
steilen, daß der Prozentsatz von 89,7 der Mädchen eine bessere 
Gedächtnisleistung darstellt als der gleiche Wert der Knaben, da 
die Reproduktionszeit bei den Mädchen 1,6 Sekunden beträgt, wäh¬ 
rend die der Knaben etwas größer (1,8") ist; d. h. die Mädchen 
reproduzieren um 0,2" schneller als die Knaben. Auch die an sehendeu 
Kindern angestellten Untersuchungen zeigen beim Gedächtnisumfang 
nur einen sehr kleinen Unterschied: Mädchen 85%, Einaben 83%. 

Die Frage Geschlecht und Gedächtnis habe ich an sehenden 
Kindern bei einer früheren Gelegenheit eingehender behandelt 2 ); 
jetzt lege ich nur die gewonnenen Resultate vor. Danach kommen 
die normalen Mädchen auf dem Gebiete des niedrigeren d. i. schlech¬ 
teren Gedächtnisumfanges (85%) in einem kleineren Pronzentsatz 
vor als die Knaben; während bei den höheren Ai im Alter von 6 bis 
13 Jahren die Mädchen in allen Fällen die Knaben überflügeln. Die 

1) Ai = amplitudo immediata (= unmittelbarer Gedächtnisumfang). 

2) Bund für Schulreform. Heft 7. S. 42. Leipzig, B. G. Teubner, 1913. 


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222 


Josef 0. Vertes, 


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Werte der Blinden — verglichen mit denen der Sehenden — sind 
besser. Fragen wir, ob ein gleiches von den blinden Mädchen, ver¬ 
glichen mit den blinden Knaben, gilt. Die folgende Tabelle, welche 
auch die Vergleichswerte für sehende Kinder enthält, gibt Antwort 
auf unsere Frage. 



sind von den 

sind von den 


blinden 

sehenden 

blinden 

1 sehenden 


Knaben % 

Mädchen % 

In der I. Hälfte der At-Reihe 

40,0 

44,4 

56,6 

66,6 

» » U. » 

60,0 

5ö,5 

44,4 

44,4 


Die Tabelle beweist, daß der Umfang des unmittelbaren 
Gedächtnisses der blinden und sehenden Mädchen größer 
ist als der der Knaben, weil sie in der ersten Hälfte der Reihe, 
nämlich in der Reihe der größeren Gedächtnisumfänge einen um 
15% höheren Häufigkeitswert aufweisen als die Knaben. 

d. Gedächtnisumfang und soziales Milieu. 

Der Maßstab eines guten Gedächtnisses ist die Größe des Um¬ 
fanges, die Geschwindigkeit der Reproduktion und der Grad der 
Zuverlässigkeit. Die experimentelle, insonderheit die angewandte 
Psychologie forscht auch nach den Bedingungen, die auf das Ge¬ 
dächtnis fördernd oder hemmend einwirken. 

Unter den vielen Faktoren, die hier in Frage kommen, möchte ich 
nur auf die Wirksamkeit des sozialen Milieus hin weisen. 

An normalen Kindern führte ich im Jahre 1909 Versuche aus, 
und die erzielten Resultate, die scheinbar sich widersprechenden 
Reaktionszeiten veranlaßten mich, die wirtschaftliche Seite des 
Problems zu untersuchen. Und gleichwie die Anthropologen Bow- 
ditch, Paglieni, Roberts, Axel Key, Hertel, Mac-Donald, 
Rietz, Lucy Hoesch-Ernst fanden, daß die Armut, das Elend 
auf das körperliche Wohlbefinden schädlich ein wirken, habe ich — 
meines Wissens als erster — nachgewiesen 1 ), daß das Gedächtnis 
einer Person mit ihrer Armut oder ihrem Reichtum in 
ursächlicher Beziehung steht. Max Offner 2 ) wendet gegen 
meine Behauptung ein, daß die kürzere Reaktionszeit von Kindern 
in besseren sozialen Verhältnissen befindlicher Familien durch den 
Bildungsunterschied bedingt wird, der seinerseits durch die wirt- 


1) Vertes, Zeitschrift für Psychologie. Bd. 63, a. a. O. 

2) Max Offner, Das Gedächtnis. 3. Aufl. S. 276. Berlin 1913. 


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Das Gedächtnis der Blinden. 


223 


schaftlichen Verhältnisse bedingt wird. Ist aber der Bildungsunter¬ 
schied — frage ich — nicht letzten Endes die Folge des in den wirt¬ 
schaftlichen Verhältnissen liegenden Unterschieds? 

Die gesellschaftlichen Schichten, denen das Versuchsmaterial 
entstammt, gliederten wir — wie oben erwähnt — in zwei Gruppen 
(arm, wohlhabend). Der Gedächtnisumfang der in besseren 
sozialen Verhältnissen lebenden 6—13jährigen normalen 
Schüler ist besser als der der armen und notleidenden. 
Bei den Blinden zeigt die folgende Tabelle einen solchen Unterschied 
nicht. 

| [ 

Blinde I Sehende 

_i 


Arme. 89.7 o/ 0 79,4 % 

Wohlhabende. 89,7 » 84,6 » 


Wenden wir aber die positive Zensur an, so ergibt sich, daß unter 
den 75—100%igen Gedächtnisumfängen sich alle wohlhabenden 
blinden Kinder befinden, während in dieser Gruppe nur 85% der 
Armen Platz haben; der Gedächtnisumfang der übrigen armen blinden 
Kinder bewegt sich zwischen 50—75%, er ist also 15% geringer als 
der der wohlhabenden Kameraden. 

Ordnen wir die Gedächtnisumfänge nach ihrer Größe, so finden 
wir dieses Ergebnis bestätigt. Die letzten drei Stellen der Reihe, 
nämlich die 18., 19. und 20. Stelle, nehmen lauter arme Kinder ein 
(15%). Somit sind die wohlhabenden Blinden gegenüber 
ihren armen blinden Genossen im Hinblick auf ihren Ge¬ 
dächtnisumfang im Vorteile. Aus der Tabelle erhellt auch, daß 
die armen und wohlhabenden Sehenden einen bei weitem 
geringeren Gedächtnisumfang haben als die analogen 
Bli nden. 

Damit soll nicht gesagt sein, daß alle wohlhabenden Schüler 
ein gutes, alle armen hingegen ein schlechtes Gedächtnis haben; wir 
reden ja nur von Durchschnittswerten, Mittelwerten. Auch die anthro¬ 
pologischen Untersuchungen haben erwiesen, daß die günstige gesell¬ 
schaftliche Umwelt die körperliche Entwicklung des Kindes fördere, 
allein niemand wird es in Abrede stellen, daß es körperlich herab¬ 
gekommene reiche Schüler und gesundheitsstrotzende wahre Eisen¬ 
fresser von armen Kindern gibt. Wir möchten unsere Untersuchungen 
von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet wissen. 

Zwischen der Ursache der Erblindung wie auch dem Seh- 
grade und dem immittelbaren Gedächtnis finden wir keinen Zu- 


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224 


Josef 0. V6rtes, 


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sammenhang. Dort wo eine Lichtempfindung stets vorhanden ist, 
scheint sie auf das Wortgedächtnis nicht störend einzuwirken, sie 
besitzt auch nicht den Reiz der Neuheit, wenn man von besonders 
starken Lichtquellen absieht. Es ist aber nicht immöglich, daß ein 
umfänglicheres Versuchsmaterial auf die Frage eine andere Antwort 
geben würde. 

3. Die Reproduktionszeit des unmittelbaren Gedächtnisses. 

Die geistige Arbeit kann nicht lediglich aus ihrer Größe, hier aus 
der Größe des Gedächtnisumfanges, d. h. aus der Summe der rich¬ 
tigen und korrigierten Antworten beurteilt werden. Wir müssen 
auch wissen, in wie langer Zeit die Leistung vollzogen wird. 

Ich kann den 80%igen Gedächtnisumfang von A imd B nicht 
für ein gleich gutes Gedächtnis erachten, wenn z. B. A die Aufgabe 
in 1,2", B in 3,6" erfüllt hat. Der Vorrang von A gegenüber B ist 
hier ohne weiteres klar. Er hat dieselbe geistige Leistung ebenso gut, 
jedoch viel schneller, in dreimal kürzerer Zeit, als B vollbracht. 

Wir beschäftigen uns mit den Zeitwerten zunächst und insoweit, 
als sie sich auf die richtigen Antworten beziehen. Nur von ihnen 
soll vorderhand die Rede sein. Von den Reproduktionszeiten der 
falschen Reproduktionen werden wir später sprechen. 

Die folgende Tabelle gibt für Blinde und Sehende die kürzeste 
und längste vorkommende Reproduktionszeit der richtigen Fälle und 
das Mittel aus allen Reproduktionszeiten der richtigen Fälle an. 



Kürzester 

Längster 

Mittel- 


Zeitwert 

| Zeitwert 

Blinde. . 

I 1,2" 

2,5" 

1,6" 

Sehende . 

1,2" 

3,1" 

2,0" 


Die unmittelbare Reproduktion der blinden Kinder 
erfolgt, wenn wir die längsten und mittleren Zeitwerte in 
Betracht ziehen, schneller als die der sehenden Volks¬ 
schüler. 

Aber die mittleren und die äußersten Werte geben uns keinen 
hinreichenden Aufschluß. Wir können uns viel besser orientieren, 
wenn wir prüfen, wieviel Prozent der Reproduktionszeiten der 
Schüler innerhalb der einzelnen Zeitwerte sich finden. 

In den kürzesten Zeitdauern (1,2"—1,8"), d.i. innerhalb 
der besseren Zeitwerte, kommen die Blinden stets in einem 
größeren Prozentsätze vor als die Sehenden; im Bereiche 


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Das Gedächtnis der Blinden. 225 

der längeren,d.i.schlechterenZeitwerte,gibt es einegrößere 
Anzahl von Sehenden (%) als Blinde. 


Innerhalb der Zeitwerte (Sekunden) 


II 


1,2 11,4 | 1,6 11,8 11,9] 2,0 | 2,11 2,2 | 2,3| 2,4| 2,6 2,6 2,8' 8,0 3,1 
kommen vor 


Blinde (%) 

100,0 20,0 

[4ÖÖ] 16,5 — 

5,0 

— 6,0 — 

Sehende (%l | 

4,3 10,0 

1 

11,4 12,8 1,4 

m 

4,310,0 7,1 

i I 



Nur 15% der Reproduktionszeit der Blinden sind längere Zeit¬ 
werte (2,0" und darüber). Im Bereiche der längsten Werte (2,6" 
und darüber) sind die Blinden überhaupt nicht vertreten. Die Sehen¬ 
den hingegen kommen im Bereiche der längeren Zeitwerte (über 
1,8") fast stets häufiger vor. Während in den Zeitwerten 1,2—1,6 Se¬ 
kunden 70% der Blinden Vorkommen, figurieren die Sehenden nur 
mit 25% in denselben Zeitwertgruppen. Folglich weisen die Blin¬ 
den innerhalb der kürzesten Zeitwerte (1,0—1,6") gerade 
45% günstigere Verhältnisse auf als die Sehenden. Wenn 
wir die beiden Maximalwerte betrachten, so sehen wir, daß der 
Maximalwert der Blinden viel höher liegt (bei 1,6") als der der Sehen¬ 
den (2,0"). 

Wie wir den Umfang nach der positiven Zensur beurteilten, so 
zensurieren wir auch die Reproduktionszeiten. 



I. 

ii. 


(0,0"- 2,0") 

JND 

r 

Blinde . 

90,0 o/o 

10,0 o/o 

Sehende. 

64,3 > 

| 

3ö,7 > 


Die obenerwähnte Regel fällt auch hier deutlich in die Augen. 
Nur Vs der Sehenden befinden sich an der mit I bezeich- 
neten Stelle gegenüber mehr als 4 /s der Blinden. Der Un¬ 
terschied zwischen den Blinden und Sehenden in der Zen¬ 
sur I bedeutet 26% zugunsten der Blinden. In der Zensur II, 
im Bereiche der minderen Werte, übertreffen die Sehenden die Blin¬ 
den um mehr als das Dreifache (10,0—35,7). 

Im Endresultat sind die blinden Kinder nicht nur im 
Hinblick auf den Umfang des unmittelbaren Wortgedächt¬ 
nisses, sondern auch im Hinblick auf die Geschwindigkeit 
der Reproduktion besser als ihre gleichaltrigen sehenden 
Genossen. 


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226 


Josef 0. V6rtes, 


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a. Alter und Reproduktionszeit. 

Vergleichen wir die Zeitwerte der Blinden und Sehenden in bezug 
auf das Lebensalter, so gelangen wir zu folgenden Mittelwerten: 


Alter: 

0-7 

8-9 

10-11 

12-13 Jahre 

Blinde 

2,6" 

1,8" 

1,6" 

1,6" 

Sehende 

2,15" 

1,8" 

2,0" 

1,2" 


Diese Tabelle bietet ein interessantes Bild über das Wachsen der 
Reproduktionsgeschwindigkeit mit dem Alter. Auf den ersten Blick 
scheint sie den Umstand, daß die Reaktionszeit der Blinden besser 
ist als die der Sehenden, nicht in dem Maße darzutun, wie wir dies 
beim Gedächtnisumfang sahen. In der Gruppe der Sechs- bis Sieben¬ 
jährigen kommt jedoch nur ein blindes Kind vor. Seine Reproduk¬ 
tionszeit von 2,5 Sekunden wird durch den Umstand erklärt, daß 
damals, als ich die Zöglinge untersuchte, dieser Knabe die Wohltat 
der Schule nur 2 1 /« Monate genossen hatte und bis dahin eine fach¬ 
gemäße Erziehung nicht genossen hatte. (Seine Ai beträgt 79,4%; 
beide Werte sind-unter allen Schülern die schlechtesten.) Die Re¬ 
produktionszeit der 8—9jährigen Blinden ist der der gleichaltrigen 
Sehenden genau gleich (1,8”), während die der Blinden im Alter 
von 10—11 Jahren die der Sehenden übertrifft; der Unterschied 
beträgt: 0,4”. In der Altersgruppe von 12—13 Jahren stehen den auf 
der Stufe der Volksschule befindlichen blinden Mittelschüler (Real¬ 
schüler) gegenüber. Der Unterricht zugmisten der Sehenden wird 
dadurch erklärt, daß hier das Schülermaterial besser ist. 


b. Reproduktionszeit und Intelligenz. 

Das Verhältnis der Schulzensur zur Reproduktionszeit {Ti) 1 ) 
beim unmittelbaren Gedächtnis ist — den Zeitwert zugrunde gelegt — 
folgendes: 


Schulleitung 


Reproduktionszeit der 
Blinden I Sehenden 


Gute. 

Mittelmäßige . . . . 
Schwache. 


1 , 6 " 

2 , 0 " 

1 , 6 " 

2 , 0 " 

1 , 6 " 

2 , 2 " 


Meine an Normalen angestellten Versuche erwiesen, daß die all¬ 
gemeine Schulleistung und das Ti in geradem Verhältnisse zueinander 


I) Ti = Tempus immediatuin (Reproduktionszeit des unmittelbaren Ge¬ 
dächtnisses). 


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Das Gedächtnis der Blinden. 


227 


stehen. Dieser Satz besteht für die Blinden vielleicht auch zu Recht, 
allein die geringe Anzahl unserer Versuchspersonen lassen die Gesetz¬ 
mäßigkeit nicht erkennen. Recht deutlich aber geht aus der Tabelle 
hervor, daß die Blinden auf allen Intelligenzstufen bessere 
Zeitwerte aufweisen als die Sehenden. 


c. Geschlecht und Ti. 


Ti der Blinden 

Ti der Sehenden 

Knaben . . . 

1,6" 

2,0" 

Mädchen . . . 

1,6" 

1,8" 


Die unmittelbare Reproduktion der blinden Knaben und 
Mädchen erfolgt schneller als die ihrer sehenden Alters¬ 
genossen. 

Unter den Zeitwerten 1,2"—2,0" kommen alle Reproduktionen 
der blinden Mädchen vor, also 100%, während in dieselbe Wortgruppe 
nur 3 / 4 der Reproduktionen der Knaben (77%) fallen. An die letzten 
drei Stellen in der nach ihrer Größe geordneten Reihe kommen lauter 
Knaben; also J / 3 der Untersuchten. 

d. Soziales Milieu und Ti. 

Wie bei Besprechung des Umfanges, so teilen wir auch hier die 
Zöglinge vom Gesichtspunkte der gesellschaftlichen Umwelt in zwei 
Gruppen. Wir unterscheiden arme und wohlhabende Kinder. 



Blinde 

Sehende 

Arme. 

1,6" 

2,0" 

Wohlhabende .... 

1,6" 

2,0" 


Die Tabelle erweckt den Anschein, als wäre die Reproduktions¬ 
zeit der Armen und Wohlhabenden gleichwertig. Untersuchen wir 
aber etwas genauer die Zeitwerte der Sehenden, so ergibt sich, daß 
das kleinste Ti der Armen: 1,4", 

» » » » Wohlhabenden: 1,2" 

beträgt; während 

das größte Ti der Armen: 3,1", 

» » » » Wohlhabenden: 2,4" aufweist. 

Die Zeitwerte der Wohlhabenden sind also — sofern wir 
die äußersten Werte betrachten, — besser als die der Ar¬ 
men. Diese Regel gilt auch für die Blinden. 


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228 


Josef 0. Vertes, 




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In der nach der Größe geordneten Reihe haben die Armen die 
Plätze: 1, 2, 5, 6, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 16, 17, 18, 19 inne, die Wohl¬ 
habenden die Stellenwerte 3, 4, 7, 8, 15, 20. Es befinden sich also 
in der ersten, d. i. besseren Hälfte der Reihe von den Armen 42,8%, 
von den Wohlhabenden 66,6%. 

Bezüglich der Zeitwerte ergibt sich also, daß 

1) die Reproduktionszeit beim unmittelbaren Gedächtnis der 
wohlhabenden Blinden kürzer ist als die der armen Blinden; 

2) zwischen den Zeitwerten der Sehenden und Blinden — im 
Hinblick auf das soziale Milieu — ein erheblicher Unterschied zu¬ 
gunsten der Blinden besteht. 

4. Verhältnis des Umfanges zur Reproduktionszeit. 

Vergleichen wir die Werte für den Umfang und die Reproduk¬ 
tionszeit, diese zwei wichtigen Faktoren des Gedächtnisses, so ergibt 
sich, daß die Reproduktionszeit einen besseren Parallelismus mit dem 
Alter und der Intelligenz aufweist als der Umfang. Im Verfolge der 
bisherigen Untersuchungen sahen wir, daß unser Satz: die Repro¬ 
duktionszeit ist ein besseres Kriterium aller Gedächtnis¬ 
untersuchungen als der Umfang, seine Geltung auch im Hin¬ 
blick auf das Alter und das soziale Milieu behält. 

Gibt es nun aber einen Zusammenhang zwischen dem Gedächtnis¬ 
umfang und der Reproduktionszeit? 

I. Rückschluß auf den Gedächtnisumfang: 

1) Aus einer kurzen Reproduktionszeit (1,0"—1,6") schließen 
wir immer auf einen großen Gedächtnisumfang. 

2) Aber aus einem überlangen Zeitwert 2,0"—x) können wir 
nicht immer — nur in 80% der Fälle — den Rückschluß 
auf einen kleinen Gedächtnisumfang machen. 

H. Rückschluß auf die Reproduktionszeit: 

1) Aus den kleinen Gedächtnisumfängen (0—70%) schließen 
wir immer auf ein langes Ti (2,0”—x). 

2) Aus den großen Gedächtnisumfängen können wir aber nur 
in 80% der Fälle auf kurze Zeitwerte folgern. 

Diese aus Versuchen an Sehenden gewonnenen Sätze 1 ) wurden 
auch durch unsere an Blinden durchgeführten Versuche bestätigt. 

Betrachten wir die Gesichtspunkte des Alters, der Schulzensur 
und des sozialen Milieus, so erkennen wir, daß der Umfang und 

1 ) V6rtes, Zeitschrift für Psychologie. Bd. 63. S. 66— 72 . 1912 . 


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Das Gedächtnis der Blinden. 229 

die Reproduktionszeit beim unmittelbaren Gedächtnis 
— die Gruppenmittel miteinander verglichen — im um¬ 
gekehrten Verhältnisse stehen. 

5. Die Fehlreproduktionen. 

Bei unseren Untersuchungen ermittelten wir nicht nur die Zeit¬ 
werte der richtigen Reaktionen, sondern auch die der Fehlreproduk¬ 
tionen. Die Zeitdauer der Fehlreproduktionen messen wir ebenfalls 
mit einer Fünftelsekundenuhr, während wir die Nullreproduktionen 
in der von Rauschburg empfohlenen Weise, wie folgt, feststellten: 
Sooft das Kind nach Ablauf von 30 Sekunden (bei Sehenden 15") 
nicht antwortete, forderten wir es auf, nicht weiter zu suchen. Dieses 
Ausbleiben der Reaktion in dem angegebenen Zeitraum sahen wir als 
Nullreproduktion an. 

Die sich auf 20 Schüler erstreckenden Daten ergeben folgendes: 

1. Die mittlere Zeitdauer der Fehlreproduktionen von 
20 blinden Schülern war nur in einem Falle kürzer als die 
der richtigen Reproduktionen. Nachdem wir die Beschaffen¬ 
heit dieser einen falschen Reaktion untersucht hatten, stellte es sich 
heraus, daß in diesem Falle die sogenannte assoziative Miterregung 
die Fehlerquelle war. (Für Gas — Elektrizität : Gas — Lampe.) 

2) In allen übrigen Fällen ist die Zeitdauer der Fehl¬ 
reproduktionen länger, als die der richtigen Reaktionen. 
Die Versuche mit Sehenden bestätigten, daß der Zeitwert der falschen 
Assoziationen mit dem wachsenden Alter und der Klasse zunimmt 1 ). 
Je älter das Kind wird, um so stärker übt es eine Selbstkritik. Es 
fühlt daß es das Schlagwort nicht ganz sicher weiß, es w r artet daher 
und sucht unter seinen Assoziationen herum, um die richtige zu finden. 
Schüler jüngeren Alters bleiben nicht lange unschlüssig, und weil 
sie noch über eine geringe Anzahl von eingeübten Assoziationen ver¬ 
fügen und ihre Selbstkontrolle noch schwach ist, reagieren sie ver¬ 
hältnismäßig schnell mit falschen Assoziationen. 

Die kürzeste Zeitdauer der falschen Assoziationen (1,6") ent¬ 
spricht dem Mittelwert der richtigen Assoziationen; die längste 
(12,2") ist gerade um das Vierfache größer als die größte Zeitdauer 
der richtigen Reaktionen (3,1"). 

Wenden wir — behufs Vergleichung der richtigen und falschen 
Reaktionen — die positive Zensur an, so ergibt sich folgende Tabelle: 

1) Vertes, Zeitschrift für Psychologie. Bd. 63, a. a. O. 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 16 


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230 


JoBef 0. Vßrtes, 


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t 

(0,0"—2,6") 

II. 

(2,6"—6,0") 

III. 

(6,1"—7,6") 

IV. 

(7,6"-10,0") 

V. 

(10,1"-12,6" j 

Richtige Reak¬ 
tionen . . . 

91,60/o 

8,4 0/e 

0,0 o/o 

0,0 o/o 

0,0 o/o 

Fehlreprodnk- 
tionen . . . 

10,0 » 

30,0 » 

30,0 » 

10,0 » 

20,0 » 


Durch diese Betrachtung wird unser Satz abermals erhärtet. Ver¬ 
gleichen wir die Werte der Blinden mit denen der Sehenden, so finden 
wir keinen wesentlichen Unterschied. 


II. Scblußbetrachtnngen. 

Das Versuchsmaterial war mit Ausnahme einiger Schüler aus der 
Vni. Klasse der Realschule so beschaffen, daß ich die Selbstbeob¬ 
achtung der Vpn. nicht in Betracht ziehen konnte; um so weniger 
war dies möglich bei den blinden Schülern, deren Alter zwischen 
den Jahren 7—13 variierte. 

Einen kriegsblinden Fähnrich, jetzt Leutnant, der sich für den 
Beruf eines Blindenlehrers vorbereitete und daher auch viel aus¬ 
wendig lernen mußte, fragte ich in bezug auf seine Lemweise aus. 
Was lernt er schneller und leichter? Was bleibt ihm am festesten 
im Gedächtnisse haften? (Zu bemerken ist, daß der Leutnant in den 
ersten Kriegsmonaten, im Herbst 1914, also schon seit l 1 /* Jahren, 
erblindet ist.) 

»Will ich etwas schnell erlernen «, erwiderte der Offizier, »so lasse 
ich es mir vorlesen; aber dies gerät schnell in Vergessenheit. Was ich 
für längere Zeit behalten will, das lasse ich in Brailleschrift umsetzen 
und lerne es daraus. Dies bleibt dann haften.« 

Das unmittelbare Gedächtnis ist in diesem Falle ein rein akusti¬ 
sches, während das behaltende Gedächtnis einen kinästhesischen, 
motorischen Typ zeigt. 

Ob das Gehör oder der Tastsinn für den Blinden wichtiger ist, das 
kann heute noch nicht mit Bestimmtheit entschieden werden. Einige 
Forscher weisen dem Gehör, andere dem Tastsinn einen wichtigeren 
Rang zu. Wie der angeführte Fall beweist, kommt beiden eine wich¬ 
tige Rolle zu, jedem von ihnen bei anderen seelischen Leistungen. 

Ich untersuchte 14 Blinde im Hinblick auf ihr behaltendes Ge¬ 
dächtnis, konnte aber meine Untersuchungsergebnisse noch nicht 
verarbeiten. 

Wir haben den Nachweis erbracht, daß das unmittel¬ 
bare Wort^edächtnis der blinden Kinder sowohl in Anbe- 


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Das Gedächtnis der Blinden. 231 

trachfc des U mfanges wie der Reproduktionszeit besser ist, 
als das ihrer sehenden Altersgenossen. 

Den Grund hierfür vermuten wir in der Konzentration der Auf¬ 
merksamkeit. Die infolge der Blindheit auftretenden Gesichtsbilder 
stören nicht die akustische Auffassungsfähigkeit, diese erste Phase 
des Gedächtnisses. 

Die gewonnenen Resultate sind Beiträge zur Psychologie der 
Blinden, und sie haben den Zweck, auf einzelne feinere, verwickeltem 
Vorgänge der Gedächtnistätigkeit hinzuweisen. 

Die weitere Aufgabe der Psychologie wird sein, die anderen Seelen¬ 
funktionen der Blinden zu untersuchen und auf der Grundlage der 
von den Sehenden abweichenden Merkmale, Daten und Erscheinungen 
die Psychologie der Blinden aufzubauen. Bei der Beschäftigung mit 
den Blinden muß man besonders darauf achten, daß sie nicht mit 
fremden Seeleninhalten belastet werden. Ihr eigenartiges Seelen¬ 
leben muß als Grundlage dienen und weitergebildet werden. Die 
Abweichungen werden uns darüber aufklären, daß wir es im wahren 
Sinne des Wortes nicht einfach mit Leuten zu tun haben, die mit 
mangelhaften Sinnesorganen behaftet sind, sondern mit bisher psycho¬ 
logisch noch nicht erschlossenen, uns imbekannten Seelen, bei denen 
wir feinen qualitativen und interessanten quantitativen Verände¬ 
rungen gegenüberstehen, bei denen der Mangel des Sehens nicht nur 
eine graduelle Verminderung oder den Ausfall eines Sinnes, sondern 
die Umgestaltung des ganzen Seelenlebens bedeutet. , , 


(Eingegangen am 6. Juli 1018.) 


16 * 


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Die Melodie 

als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 

Von 

J. K. von Hoesslin. 


I. 

Daß Motiworstellungen nicht immer in immittelbarer Beziehung 
zu den Gegenständen und Vorgängen, auf die die seelischen Stre¬ 
bungen und Gefühlsausströmungen gerichtet sind, stehen, ist in der 
Psychologie wiederholt anerkannt worden. 

Es scheint zwar oft, daß ein als Endzweck vorgestellter Gegen¬ 
stand oder Zustand das Richtungsziel der betreffenden Strebung 
bedeutet, aber eine eingehendere Untersuchung ergibt in den meisten 
Fällen, daß das als Endzweck Vorgestellte nichts anderes ist als nur 
die Vorstellung eines bedingenden Mittels, welches die Erlangung des 
wirklichen Endzieles ermöglicht. Das wirkliche Endziel, worauf 
Wunsch und Wille gerichtet sind, überschreitet in diesem Falle nicht 
als Vorstellung die Bewußtseinsschwelle, sondern es wirkt binnen- 
bewußt. Das Beispiel des Mannes, der nach Erlangung von Geld 
und Vermögen strebt, weil das Geld ein Mittel ist, das der Lebens¬ 
erhaltung dient — mag hier zur Illustration des Gesagten in Er¬ 
innerung gebracht werden. Dieser Mann denkt bewußt, während er 
seinen ganzen Willen auf den Gelderwerb konzentriert, nicht an 
den wirklichen Zweck seines Strebens, nicht an die Lebenserhaltung, 
er denkt nur an Erwerb. Der Gelderwerb ist ihm in der Sphäre der 
Phänomene zum Endziele seines Strebens geworden, obwohl er es 
letzten Endes nicht ist. 

Aber auch dort, wo eine Vorstellung tatsächlich das wirkliche 
Ziel der Strebung bedeutet, ist sie nicht die adäquate Wiedergabe 
und Präsentation dieses Zieles selbst. Jemand sehnt sich z. B. nach 
innerem, seelischen Frieden. Die Vorstellung des Friedens, die ihm 
vorschwebt, ist ein vages, verschwommenes, mitunter nur an neben¬ 
sächlichen Nebenvorstellungen haftendes, unbestimmtes Etwas. 
Diese Vorstellung des seelischen Friedens ist jetzt nur ein Zeichen 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 233 

ein anschaulicher Träger, ein Symbol, das den wirklich erstrebten 
Zustand meint, ihn nur andeutet, gleich dem akustischen Laute, dem 
Worte, das diesen Zustand bezeichnet, aber mehr ist sie nicht. So¬ 
lange der Zustand des seelischen Friedens nicht eintritt, ist dieser, 
streng genommen, gar nicht als solcher im Bewußtsein vorhanden; er 
wird im Stadium des sich danach Sehnens noch nicht erlebt. Er wird 
nur denkhaft gemeint und symbolisch bezeichnet. Erlebt wird er 
erst dann, wenn die Sehnsucht in Erfüllung übergegangen ist. 

Wenn aber der wirkliche Zustand des seelischen Friedens während 
des Zustandes des Sehnens danach gar nicht da ist, worin besteht 
dann der wirkliche Gegenstand, der die Sehnsucht bedingt? 

Versuchen wir durch die Betrachtung eines anderen Beispiels in 
dieses Rätselhafte hineinzuschauen. Wir begegnen einem Menschen, 
von dem wir wissen, daß wir ihn kennen, aber wir wissen augenblick¬ 
lich nicht, wer er ist. Die Ekphorie des Assoziationskomplexes, die 
uns zum Bewußtsein bringen würde, wie dieser Mann heißt, wo wir 
ihn kennen gelernt haben usw., diese reproduzierende Ekphorie ist 
hier unter der Wirkung innerer Hemmungen unterbunden. An der 
8telle der Ekphorie fühlen wir aber jetzt eine strebende Spannung in 
uns lebendig werden, die nach Herstellung der Ekphorie tendiert. 
Diese treibende Spannung gebiert die Funktion des Sichbesinnens. 
Was geschah hier, daß diese Strebung (die das Sichbesinnen 
auslöste) entstand? Die ordnungsmäßige Tätigkeit der reprodu¬ 
zierenden Ekphorie, die unter normalen Verhältnissen hätte eintre- 
ten müssen, steht unter hemmenden Gegenwirkungen, und an ihrer 
Stelle erleben wir ein Streben nach dieser Tätigkeit. Wir streben 
nach dem, was nicht ist, aber doch sein muß, sobald es irgendwie 
gelingt, die hemmenden Gegenwirkungen zu überwinden. Eine ge¬ 
hemmte, normale und ordnungsmäßige Tätigkeit ist hier durch ein 
Hemmnis unterbunden, und an ihre Stelle ist ein Zustand der Span¬ 
nung getreten. Auch die Strebung nach seelischem Frieden ist an 
die Stelle des gehemmten Friedens getreten. Sie ist vielleicht nichts 
anderes als das primäre Erlebnis des seelischen Friedens selbst, sofern 
es durch irgendwelche Hemmnisse aus der Harmonie seines Gleich¬ 
gewichts gehoben und in Spannung versetzt worden ist. 

Betrachten wir diese Spannungsentstehung noch an einem dritten 
Beispiel. 

Die Vorgänge der spontanen Nachahmung sind uns bekannt. 
Kinder und Menschen primitiver Kultur wiederholen die wahr¬ 
genommenen Gebärden und Bewegungen anderer Menschen. Sie 
sagen papageienhaft die Laute, die sie hören. Auch wir Kultur- 


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J. K. von Hoesslin, 


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menschen werden vom Lachen imd Gähnen anderer angesteckt. 
Aus welchen Gründen dieses spontane Wiedertun erfolgt, wollen Wü¬ 
hler nicht erörtern 1 ). Hier wollen wir nur die uns allen bekannte und 
unanzweifelbare Tatsache des spontanen Wiedertuns konstatieren. 

Der Sprachgebrauch nennt dieses spontane Geschehen Nach¬ 
ahmungstrieb. Das Wort »Trieb« ist hier überflüssig. Wer durch 
Lachen eines anderen angesteckt wird, fühlt nicht zuerst einen Trieb 
dazu und leistet dann nachher diesem Trieb Folge, sondern das Mit¬ 
lachen folgt auf die Wahrnehmung des Lachenden unmittelbar. 
Ebenso folgt das Mitgähnen immittelbar auf die Wahrnehmung eines 
Gähnenden. Das nachahmende Wiedertun scheint also eine unter 
bestimmten Bedingungen eintretende Tätigkeit des psychophysischen 
Lebens zu sein. Wird beim Eintritt dieser Bedingungen der nach¬ 
ahmende Akt aus irgendwelchem Grunde — sei es durch Sitte, Rück¬ 
sicht auf andere, oder Verbot (bei den Kindern) — gehemmt, dann 
tritt an die Stelle des nachahmenden Tuns ein Streben danach ein. Erst 
dann wird die nachahmende Tätigkeit zu einem Nachahmungstrieb. 

Auch hier ist also eine normale, naturgeforderte Tätigkeit durch 
ein Hemmnis zu einer Strebung geworden. Auch hier ist an die Stelle 
des Sich-Verwirklichenden eine nach Verwirklichung tendierende 
Spannung ein getreten. 

Wir können das hier Geschilderte im folgenden zusammenfassen: 
Wenn eine Konstellation von Bedingungen den Eintritt oder Fort¬ 
gang einer normalen, gesetzmäßigen Tätigkeit oder den Eintritt oder 
Fortbestand eines naturgemäßen Zustandes erfordert, dann tritt, 
falls gegebene Umstände diesen Eintritt oder Fortgang hindern, an 
die Stelle desselben eine Spannung, die wir als ein Streben und Drängen 
nach Herstellung des Gehemmten erleben. Der gehemmte Zustand 
allein ist es, was zur Strebung wird, und er braucht gar nicht durch 
irgendwelche Vorstellungen präsentiert und bewußt zu werden, um 
begehrt zu sein. Wo ihn Vorstellungen »vergegenwärtigen«, da sind 
diese meistens nicht einmal adäquate Präsentationen des Gehemmten, 
sondern Zeichen, die ihn »meinen« und ihn symbolisch andeuten. 

Wie die Strebungen, so sind auch die Gefühlsausströmungen Um¬ 
wandlungserscheinungen behinderter normaler Prozesse. 

Charakteristisch ist, wie aus den gehemmten Akten innenseelischer 
Liebe Gefühlsströmungen in die seelische Peripherie hinausgedrängt 
werden, die von dort aus nach Wiederentfaltung des Gehemmten 
zurückstreben. 

1) Ich verweise auf meine Abhandlung »Das Gesetz der spontanen Nach¬ 
ahmung« (Archiv für die ges. Psychologie. Bd. XXXVIII). 


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Die Melodie als gestaltender Ansdruck seelischen Lebens. 


235 


Was die Liebe (nicht nur die erotische, sondern die rein geistige) 
ihrem metaphysischen Ursprünge nach ist, wollen wir hier nicht zu 
untersuchen anheben. Phänomenologisch betrachtet, besteht jede 
Liebe aus einer zentralen Seite, die bei vollendeter Liebesentfaltung 
aus Akten innerer Einigung, die das liebende Subjekt-mit dem ge¬ 
liebten Gegenstand verbinden, und aus einer peripheren Seite des 
Liebesvorganges, die als eine Gefühlsausströmung bezeichnet werden 
kann 1 ). 

Von unserem Gesichtspunkt aus und mit unseren Begriffen aus¬ 
gedrückt, sind diese peripheren Vorgänge, diese »Gefühlsausströ¬ 
mungen« nichts anderes als Prozesse progressiven Übergangs von 
Spannungszuständen in solche, die der Erfüllung sich nähern. Diese 
peripheren Spannungen des Gemütslebens (also die »Gefühlsaus¬ 
strömungen« werden auch hier durch ein tretende Hemmungen be¬ 
wirkt. Solange ich den geliebten Gegenstand besitze und bei ihm 
dauernd bin, mit ihm innerlich verbunden mich fühle, tritt die inten¬ 
sive Gefühlsausströmung gar nicht auf. Wir alle wissen, daß wir 
des Glücks, mit unserem geliebten Wesen dauernd verbunden zu sein, 
solange dieser Glückszustand andauert, wohl geistig bewußt sind, 
aber dieses Glücks nicht als eines Gefühlserlebnisses teilhaftig sind. 
Wir fühlen oft gar nicht, wie glücklich wir sind. Erst wenn eine 
Trennung ein tritt oder eine Trennung droht, oder ein Trennungsgedanke 
uns erschrickt, oder eine innere Entzweiung irgendwo dämmert, erst 
dann erwachen durch diese ein tretenden oder drohenden Hemmungen 
die spannungsbedingten Gefühlsausströmungen strebender Liebe. 

Wir lieben unser Kind und unser Weib und unseren Freund 
gewiß nicht mehr, wenn sie von uns entfernt sind, oder wenn wir 
fürchten, sie zu verlieren. Aber dadurch, daß ein Hemmnis die rest¬ 
lose Einigung unterband, oder sie zu zerstören drohte, verwan¬ 
delte sich die Einigung in ein emotionales Erlebnis der Gefühls¬ 
strömung, das aus einer Reihe von nach Herstellung des Gehemm¬ 
ten oder Fortsetzung des Angedrohten drängenden Spannungen 
besteht, und das als Gefühlsglut erlebt wird. Die drohende oder 
tatsächliche Hemmung versetzt die inneren Liebesgeschehnisse in 
Zustände strebender Erlebnisse. 

* * 

♦ 

Denken wir uns in die Situation hinein, in der wir uns befinden, 
wenn wir einen Ertrinkenden retten wollen. Was wir hier anstreben, 

1) Vgl. Pfänder, »Zur Psychologie der Gesinnungen* (Halle 1910). 
IL Teil. S. 98. 


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ahnen wir wohl ganz bestimmt. Wir glauben es auch sogar zu wissen. 
Aber die Vorstellungen, die dabei im Vordergrund unseres Bewußt¬ 
seins stehen, sind nur Gebilde, die — auch hier — das Ziel, worauf 
wir hin tendieren, andeuten, »meinen«, aber es nicht restlos ent¬ 
halten. Das Reale, worauf unsere Hilfgier gerichtet ist, kann wohl 
mit den Vorstellungen der Rettung, der Lebenserhaltung dieses Mit¬ 
menschen versinnbildlicht werden, aber was da geschieht, wenn wir 
diesen Unglücklichen retten, ist etwas damit nicht Identisches. Was 
hier geschieht, ist weit mehr als das, was Begriffe oder Vorstellungs¬ 
bilder inhaltlich bedeuten. Vollends kann hier von einem Objekt, 
dessen Verwirklichung uns eigene Lust verspricht, nicht die Rede 
sein. Was wir erstreben, ist wohl die Fortsetzung des Lebens des 
Verunglückten. Aber das wissen wir erst, wenn wir über diesen Fall 
nachdenken und ihn zu erklären versuchen. Während des Dranges 
nach Hilfeleistung füllt diese Vorstellung nicht den Bewußtseins¬ 
vordergrund. Was während des Erlebens der Hilfsstrebung unser 
Vorstellungleben füllt, sind die Vorstellungen der das Leben des Ver¬ 
unglückten gefährdenden Umstände, also die Vorstellungen der Hem¬ 
mungen und die Vorstellungen, die die Möglichkeiten einer Rettungs¬ 
aktion uns vorführen, d. h. die Vorstellungen der zum Ziel führenden 
Mittel. Die Vorstellung des »im Wasser Ertrinkens«, die Vorstellung 
unserer Befähigung, schwimmen zu können, die Vorstellung, ob nicht 
jemand käme, der mithelfen könnte usw., dies sind die Vorstellungen, 
die im Bewußtseins Vordergrund stehen. Diese Erfahrungstatsache, 
daß die herrschenden Vorstellungen sich auf die Hemmnisse, d. h. die 
Gefahren oder auf die die Hemmnisse beseitigenden Mittel beziehen, 
diese Tatsache bestätigt unsere Annahme, daß erst die Hemmnisse 
und die Vorstellungen der möglichen Mittel es sind, die den ent¬ 
stehenden Strebungen ihren Charakter geben 1 ). 

Und das Seltsame, was tausend und abertausend Erfahrungen des 
täglichen Lebens uns zeigen, ist, daß, sobald irgendetwas als mög¬ 
liches Mittel zur Erlangung des unterbewußt bzw. binnenbewußt 
wirkenden Zieles erkannt worden ist, daß dann dieses Mittel in den 
Vordergrund des Bewußtseins gerät und als determinierende Vor¬ 
stellung der Strebung die Richtung weist. Hat man etwas als Mittel 
erkannt, so konzentriert sich die Strebung auf dieses letztere. Das 
Mittel wird mitgewollt, oder dieses in den Vordergrund geratene 
Mittel füllt vollends das Bewußtsein. Ist das Mittel unerlangbar, 
so entsteht ein Spannung zweiter Schicht und es differenziert sich, 

1) Ich verweise auch auf meinen Aufsatz »Das transzendentale Gefühl« 
(Zeitschrift für Philosophie. Bd. 1G2. S. 129ff.). 


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Die Melodie ala gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 237 


und es erwacht eine neue Strebung, die nach einem neuen Mittel 
sucht, welches die Erlangung des erstgenannten ermöglicht. Die 
neuen Hemmnisse zweiten Grades bewirken neue untergeordnete 
Spannungserscheinungen; jetzt werden die Mittel der Mittel gewollt. 
Ein mannigfaches verwobenes Spannungsspiel beherrscht jetzt das 
seelische Leben. 

Also: Durch die Gefahr, in der sich der ertrinkende Mitmensch 
befindet, erwacht in mir das Verlangen, diese Gefahr zu beseitigen. 
Vermag ich — ich selbst — dem Unglücklichen beizustehen, so wird 
durch mein Handeln die Ordnung des Lebens bald hergestellt, und 
diese Reintegrierung des Gestörten erlebe ich sekundär als ein Lust¬ 
gefühl. Vermag ich nicht selber den Ertrinkenden zu retten, bin ich 
also durch meine mangelnde Fähigkeit dazu gehemmt, so suche ich 
nach anderen Mitteln; zum Beispiel: ich wünsche, daß nur jemand 
käme, . .. ich wünsche, daß ich irgendwie in Erfahrung bringen 
könnte, wo ein Schwimmgürtel zu finden sei. Ich laufe herum und 
suche. Hier hat sich mein Verlangen, den Unglücklichen zu retten, 
in Wunschregungen engerer Sphäre differenziert und verwandelt. 
Das Wollen des Ziels ist durch die vielen, sich abstufenden Hemm¬ 
nisse in neue Spannungen versetzt, zu mannigfachen verschlungenen 
Kurven umgebogen worden. Solange noch Hoffnung vorhanden ist, 
überträgt sich mein Streben von Mittel aufs Mittels-Mittel. Sehe ich, 
daß mein Beginnen ergebnislos ist, so wird dieses mein Verlangen zu 
einem Zustand der Stauung, zu einem Zustand trostloser Verzweiflung. 
Und wenn keine Rettung mehr möglich ist, wenn der Ertrinkende 
stirbt, dann tritt eine restlose seelische Stauung ein, die ich als Schmerz, 
als Trauer, als Unmut empfinde. 

Das Widerspiel dieses durch Stauung entstehenden Zustandes 
des Leidens bildet die durch Erfüllung des Erstrebten bedingte Ent¬ 
spannung, die wir als Freude fühlen. Die Unmöglichkeit, das mich 
beschäftigende wissenschaftliche Problem zu enträtseln, ärgert mich, 
schmerzt mich. Archimedes aber lief, als er sein Verlangen, das 
hydrostatische Problem zu erkennen, plötzlich verwirklicht sah, 
durch die Entspannung, die er durch die Erfüllung seines Begehrens 
erfuhr, in Freudentaumel versetzt, durch die Straßen der Stadt wie 
ein Wahnsinniger und rief sein »Ich fand’s!«. 

Der gehemmte Erkenntnisakt, der durch einen plötzlichen Ein¬ 
fall Befreiung von den hemmenden Gegenwirkungen erfuhr, wurde 
verwirklicht. Durch die Hemmungsbeseitigung trat also der ge¬ 
forderte Erkenntnisakt ein. Dieser Akt war das wirkliche Ziel des 
Strebens; der periphere Entspannungsvorgang der Freude geht diesem 


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Prozeß parallel. Die Entspannung wird durch die Erlangung des 
Ziels bewirkt, aber es ist ein anderes, daß die strebende Spannung 
in die bis dahin gehemmte Aktivität übergeht, und etwas anderes 
daß jener Entspannungsvorgang eintritt, der den Übergang notwen¬ 
dig begleitet. Dieser Prozeß der Entspannung wird, wie gesagt, als 
Freudegefühl erlebt. 

Die Erkenntnis, daß das seelische Leben sich nicht auf einer gleich¬ 
wertigen Ebene bewegt, sondern daß es seelische Sphären gibt, die 
— bildlich gesprochen — sich durchdringend, übereinander gelagert 
zu sein scheinen, ist eine der wertvollsten Errungenschaften der mo¬ 
dernen Psychologie. Seelische Schichten verschiedener Funktions¬ 
möglichkeiten, verschiedenen Wertes und verschiedener Art scheinen 
übereinander zu liegen. Wir wissen, daß der eine Psychologe eine 
Sphäre der seelischen Peripherie, in der sich das Empfindungs- und 
Strebungsleben abspielt, von der Sphäre des Denkens und Dichtens, 
des Urteilens und des intuitiven Erschauens unterscheidet; ein 
anderer trennt die Empfindungsstrebungssphäre von der Sphäre der 
seelischen Akte, diese wiederum von der der Dispositionen und stellt 
dann in den alle diese Sphären beherrschenden Mittelpunkt das 
dominierende Ich. Ein Dritter unterscheidet das Leben des apper- 
zeptiven Bewußtseins von dem der binnenbewußten Sphäre der 
seelischen Tätigkeiten und Funktionen. 

Im einzelnen weichen wohl die Anschauungen dieser Denker stark 
voneinander ab. Das Gemeinsame aber ist, daß alle Tiefschauenden 
die eine Wahrheit erkennen, daß die inneren Akte des Denkens, 
Wertens und Wollens, d. h. die Akte der Billigung und Mißbilligung, 
die des Gefallens und Mißfallens, des analytischen oder synthetischen 
Vorziehens, die desBejahens und Vemeinens, die Akte des Vergleichens, 
Prüfens und Wählens, die der inneren Einigung und Entzweiung 
wesentlich anderer Art sind als jene Vorgänge, die man bei den 
automatischen Reproduktionen assoziierter und durch Komplexion 
verknüpfter Empfindungen und Vorstellungen und bei der spannungs¬ 
bedingten Strebungs- und Gefühlsentstehung wahrnimmt. 

Diese Sphären, deren Funktionen verschiedener Art sind, stehen 
in Wechselwirkung zueinander. Wie wir aus dem Zusammenhang 
zwischen den innenseelischen Akten und den durch Hemmungen ent¬ 
stehenden Spannungen der emotionalen Seite der Seele vorstellen, 
haben wir oben erzählt. Hier wollen wir unser Augenmerk auf ein 
paar Tatsachen richten, wo innere Akte in das Leben der seelischen 
Peripherie hineingreifen und den Ablauf der aus dem geistigen Zen¬ 
trum hinausgerückten Prozesse der Spannungen und Entspannungen 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen LebenB. 239 

beherrschen und sie umbiegen und wieder um wandeln. Daß das 
wertende, wollende Ichzentrum in den Automatismus der seelischen 
Peripherie der Gefühlsströmungen und Leidenschaften eingreifen 
kann (oft mit Erfolg, öfters unter Mißlingung seiner Bemühungen), 
ist dem praktischen Leben und der Ethik aller Zeiten und aller 
Kulturvölker längst bekannt. Die moderne Psychologie hat den Weg 
zu einem Einblick in diese Vorgänge gebahnt. Wir erinnern an Her - 
mann Schwarz’ »Analytisches und synthetisches Vorziehen«, an 
Pfänders Darstellung der Bemühungen des Ichzentrums, das peri¬ 
phere »Selbst«gewissen, Gesinnungen und Gesinnungsmodifikationen 
zu öffnen oder es davor zu verschließen und zu verhärten 1 ). Auch 
diese zentralen Eingriffe wirken hemmend auf die emotionale Seite 
des Gemüts. Das die Umbiegung Bedingende war in dem bisher 
Betrachteten ein äußeres Hemmnis oder es war eine eintretende 
Vorstellung von einem möglichen, fördernden, äußeren Mittel. Jetzt 
nehmen wir wahr, daß auch das aktive, in die seelische Strebungs¬ 
und Strömungssphäre eingreifende zentrale Ich durch seine Eingriffe 
Spannungen in das seelische Leben der Peripherie zu bewirken im¬ 
stande ist. Das denkende, wertende, wählende, sich entscheidende 
Ich befindet sich gewiß während seiner Aktivität außerhalb des auto¬ 
matischen Spannungsprozesses, aber indem es bestimmend in das 
Leben der peripheren Seele eingreift, indem es nicht nur gewisse 
Gefühle, Gesinnungen, Strebungen billigt oder mißbilligt, sondern 
eine sich regende Gefühlserregung, etwa eine beginnende Haßauf¬ 
wallung unterdrückt, die übermächtige Wucht einer sozialen Leiden¬ 
schaft dämpft, einer durch Kränkung gehemmten Liebe wieder freie 
Bahn schafft, usw. Wir sagen, indem das zentrale, wertende, denkende, 
Vorzugsakte vollziehende Ich in die Sphäre der Strebungen und Ge¬ 
fühlsströmungen eingreift, bewirkt es neue seelische Spannungen und 
Entspannungen, die zu denen, die durch äußere Hemmungen und 
fördernde Mittel bewirkt sind, hinzukommen. Durch diese inneren 
Eingriffe des aktiven, zentralen Geistes wird die Mannigfaltigkeit 
des Spannungslebens noch beträchtlicher bereichert. Das Bild unseres 
erregten Gemütslebens ist also ein spannungsreiches und voll mannig¬ 
faltiger Umwandlungen und Umbiegungen; wir gewahren neben den 
Vorstellungen, die die Hemmnisse und die hemmnisbeseitigenden 
Mittel vergegenwärtigen, neben den unadäquaten Vorstellungen, die 
als andeutende Zeichen und als Symbole des Intellekts auf die Ziele 
der Strebungen bezogen sind, neben den billigenden und mißbilligen- 

1) Alex. Pfänder, »Zur Psychologie der Gesinnungen«. II. Teil. S. 73ff. 


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den Akten und den in Folge dieser Akte sich vollziehenden Ein¬ 
griffen des herrschenden oder auch unterliegenden Ichzentrums auch 
eine emotionale Seite, die in einem Prozeß sich spannenden und sich 
wieder entspannenden, seelischen Flusses besteht. Wir gewahren 
ein Werden psychischen Lebens, das durch Hemmungen zu Stauungen 
verschiedenen Grades erglüht, zu Widerstrebungen und zu Leiden 
sich umwandelt, dann wieder mit Hilfe der Mittel sich entspannend 
befreit. Wir gewahren ein mannigfaches und durch mannigfache Ur¬ 
sachen bedingtes Sichumbiegen des Strebens von seinen ursprüng¬ 
lichen Richtungen zu Kurven, die ineinander greifen, sich verschlin¬ 
gen, miteinander verknüpfen und dann wieder zu der Wiederher¬ 
stellung der Grundrichtung der Urtendenz zurückleiten, oder die zu 
einem Gefühl des Schmerzes, des Unbehagens, des Unmuts beim 
völligen Mißerfolg sich verdichten. 

Angesichts dieses Bildes der Bewegungen des Gemüts können wir 
jetzt fragen, wie es geschieht, daß dieses Leben der Spannungen und 
Entspannungen, Umbiegungen und Entfesselungen durch die Musik 
zum Ausdruck gebracht werden kann. 

n. 

Bevor wir die Musik als seelisches Ausdrucksmittel zu betrachten 
beginnen, werfen wir einen kurzen Blick auf die lyrische Dichtkunst, 
die, wie die Musik, seelisches Gemütsleben auszudrücken imstande 
ist. Wodurch drückt die Lyrik Gemütsbewegungen aus? 

In der Lyrik müssen wir unterscheiden: den originären Gefühls¬ 
ausdruck, der darin besteht, daß eigene, echte Gefühle und Gemüts¬ 
bewegungen zum Ausdruck gelangen, und dann einen einfühlenden, 
scheinsubjektiven Gefühlsausdruck, der darin wurzelt, daß der 
Dichter sich mittels seiner Phantasie in eine nicht realgegebene 
Situation hineinversetzt und die Gefühle zum Ausdruck bringt, die 
lediglich diese eingebildete Situation in seiner Seele erzeugt. 

Die Einfühlungslyrik ist der gestaltenden Dichtung verwandt. 
Der lyrische Dichter fühlt sich in seine Phantasiewelt hinein, in der 
gleichen Art wie der Epiker sich in die Welt der Personengestalten 
hineinfühlt, die er darstellt. Diese durch Phantasiewelten, Phantasie¬ 
begebenheiten und Phantasieumstände bedingten Einfühlungspro¬ 
zesse setzen aber die originären Gefühlsentstehungen voraus, und so 
wollen wir hier zu erfassen versuchen, wie es dem originär gestalten¬ 
den Lyriker gelingt, seine durch reale Begebenheiten, reale Umstände 
bedingten Gefühlserregungen auszudrücken. 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 241 

Es ist offenbar und kaum zu bezweifeln, daß der originär gestal¬ 
tende Lyriker neben anderen (sprachmelodischen und gedanken¬ 
melodischen) Mitteln, auf deren Betrachtung wir noch im Laufe 
dieser Untersuchung zurückkehren werden, vorwiegend dadurch seine 
Gefühlserregungen zu gestalten sucht, daß er mittels Vorstellungen 
die Motive vor führt, die diese Gefühlserregungen bedingt haben. 

Wir kennen die Art dieser Motive. Es sind Hemmnisse, die ein 
Begehren, einen Wunsch, eine Sehnsucht erglühen ließen; es sind 
die geahnten und angedeuteten Ziele, die die Gefühlsausströmungen 
durch ein Spannungsspiel bewirkten; es sind die möglichen, fördernden 
Mittel, die die seelischen Regungen auf neue Bahnen gelenkt haben. 
Alle diese Hemmungen, Tendenzziele, fördernden Mittel führt der 
lyrische Dichter durch Vorstellungsbilder vor. Nach allem, was bis¬ 
her gesagt worden ist, ist es ersichtlich, daß die Vorstellungen, die 
die Hemmungen, die die geahnten Endziele, die hemmnisbeseitigen¬ 
den Mittel repräsentieren, geeignet sein müssen, Gefühlsregungen zu 
erzeugen. Der Dichter führt also in Bildern die Hemmungen vor, die 
seine Gefühle auslösten, und er führt in Gedanken die möglichen 
Mittel vor, die seinen Wünschen und Wollungen, Sehnsüchten und 
Hoffnungen als determinierende Vorstellungen die Richtung geben. 
Selbstverständlich wirken gefühlsgestaltend neben diesen spannen¬ 
den und entspannenden Motivvorstellungen auch solche Vorstel¬ 
lungen mit, die lediglich durch vorhandene Assoziationen mit ge¬ 
wissen Gemütsregungen im Zusammenhang stehen. 

Die Vorstellung des Monats Mai, die Vorstellung der springenden 
Knospen z. B. sind imzweifelhaft mit gewissen Freudengefühlen ver¬ 
knüpft, und ebenso ist das Wort »Liebe« mit jener Gemütserregung, 
die dieses Wort bezeichnet, derart verbunden, daß der akustische 
Laut dieses Wortes auch die Vorstellung der genannten Gemüts¬ 
erregung auslöst. Die bekannte Strophe Heines »Im wunderschönen 
Monat Mai« usw. bewirkt also demnach die Auslösung des beabsich¬ 
tigten Gefühls mittels assoziativer Ekphorie. 

Aber es gibt auch Fälle, wo diese assoziative Erklärung nicht aus¬ 
reicht. Die Vorstellungen wirken dann nicht durch den Zwang von 
bestehenden Verbindungen, sondern sie wirken — wie wir oben gesagt 
haben — primär als Motivvorstellungen, die durch Repräsentation 
der Hemmnisse gefühlsspannend und durch die Vorführung von mög¬ 
lichen Mitteln umbiegend oder entspannend auf das Gemüt wirken. 
Diese Motivvorstellungen wirken also nicht durch vorhandene Aso- 
ziationen, sondern nur dadurch, daß sie Hemmnisse oder hemmnis¬ 
beseitigende Mittel vergegenwärtigen. 


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J. K. von Hoessliu, 


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Erinnern wir uns eines bekannten Gedichtes desselben Lyrikers, 
in dem er die Situation vorführt, da er die eigene Geliebte als das 
auserkorene Bräutchen eines fremden Mannes, in Hochzeitsglanz 
strahlend, erblickt. Hier wirkt diese Vorstellung spannungsbildend. 
Bevor der Dichter diese Situation—sei es real, sei es in der Phantasie — 
erlebt hatte, war eine Assoziation zwischen diesem Erlebnis und der 
Gefühlsregung nicht vorhanden. Erst die Situation gebar die Gemüts- 
erregun g. 

Wir brauchen nicht die gesamte dichterische Literatur zu durch¬ 
forschen, um Induktionsbelege zum Beweise der Wahrscheinlichkeit 
dieser unserer Annahme darzubieten. Jede Zeile eines dichterischen 
Kunstwerkes bietet sie. Die »Philosophie, Juristerei und Medizin«, 
die Faust mit heißem Bemühen studiert hat, sind ebenso Mittel zur 
Erlangung begehrter Erkenntnis wie jenes »So steh ich nun, ich armer 
Tor, und bin so klug als wie zuvor!« unzweifelhaft eine Bewußt- 
werdung peinigenden Hemmnisses bedeutet. 

Bezeichnend ist, wie Goethe die Friedenssehnsucht in dem be¬ 
kannten kleinen Gedichte »Der du von dem Himmel bist« zum Aus¬ 
druck bringt. Er beginnt mit einer Metapher, die den transzenden¬ 
talen Ursprung, das von dem Himmel sein des Ersehnten andeutet, 
dann aber geht das Gedicht sofort über in eine Wiedergabe von 
Funktionen des Übergangs von einem Spannungs- in einen Ent¬ 
spannungszustand : 

»Alles Leid und Schmerzen — stillest.« 

»Den, der doppelt elend ist — doppelt mit Erquickung füllest.« 

Im fünften Vers steigert sich das gegen die Erfüllung des Friedens¬ 
zustandes wirkende Hemmnis zu beträchtlicher Intensität — »was 
soll all der Schmerz und Lust? « — und am Ende dann die ersehnte 
Erlösung durch die bittende Anrufung und die Nennung des Wortes 
»Friede«, das jenen noch ausbleibenden Zustand andeutet, von dem 
Goethe nichts anderes zu sagen wußte, als daß er »von dem Him¬ 
mel « ist. 


m. 

In der Dichtung begegneten wir also Motivvorstellungen, die 
Gemütsbewegungen mittelbar nacherzeugen. Die emotionale Seite 
der Gefühlsregungen wird hier niemals als solche vorgeführt, sondern 
sie wird nur durch die Vorführung der äußeren Umstände, die sie 
erzeugen, ausgelöst. Ist dieser, bisher hier beschriebene Weg der Ge¬ 
mütsdarstellung der einzig mögliche? Denken wir jetzt an die Musik. 


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Die Melodie als gestaltender AaBdrnck seelischen Lebens. 243 

Wie in der Dichtung das im Kunstwerk Gegebene nur Vorstellung 
und Bild ist, so ist in der Musik das, was gegeben wird, nur vorstel¬ 
lungslose Form. Nirgends werden Vorstellungen von Gegenständen 
und Vorgängen unmittelbar dargeboten, die mit irgendwelchen Ge¬ 
mütsregungen assoziiert sind, nirgends werden durch Motivvorstel¬ 
lungen die Hemmnisse des Lebens und die Mittel zu ihrer Über¬ 
windung als solche vorgeführt. In der Musik folgt wohl oft ein Bild 
sekundär, aus der Melodie hervorgehend, aber in den Tonphrasen 
als solchen ist kein gefühlsbewegendes Vorstellungsbild enthalten. 
Alles ist Form; alles nur eine Kette gestalteter formaler Beziehungen 
von rhythmisch aufeinander folgenden Tönen. Wenn aber in der 
Musik die Auslösung von Gemütsbewegungen nicht durch die Wirkung 
von Motivvorstellungen erfolgt, wodurch wirkt dann diese vorstel¬ 
lungslose und bildlose Kunst? wodurch drückt sie Gemütsbewe¬ 
gungen aus? 

Der Vereinfachung der Problembetrachtung halber abstrahieren 
wir von den Ausdrucksmitteln des Kontrapunktes, des symphoni¬ 
schen Zusammenwirkens der Tonphrasen, der kompositioneilen An¬ 
ordnung derselben, und richten lediglich unser Augenmerk auf die 
auf Harmoniegesetzen aufgebauten Melodien. 

Wodurch drückt die Melodie seelisches Leben aus? 

Die bisher wahrscheinlichste unter den geltenden Theorien ver¬ 
sucht die Ausdrucksfähigkeit der Musik mittels der aus Ähnlichkeits- 
ekphorie entstehenden Reproduktionen von ähnlichen Gefühlen zu 
erklären. 

Lipps spricht von dem apperzipierenden Fortgang von Klang zu 
Klang, der eine innere Bewegung bedingt. »Die fragliche Bewegung 
ist in sich einstimmiger, oder minder einstimmig, konsonanter oder 
dissonanter, in Konsonanzen förtgehend oder von Dissonanzen auf 
kürzerem oder längerem Wege, vermittelter oder imvermittelter, 
vollkommener oder minder vollkommen, zu lösender Konsonanz hin¬ 
führend ... Zu alledem nun fügt sich die zugehörige psychische 
Resonanz . . . Wir kennen etwa die Lösung der Dissonanz in viel¬ 
facher Gestalt. Wir erleben dergleichen, wenn Streit sich schlichtet, 
wenn wir aus materieller Not befreit werden, wenn Zweifel sich heben, 
wenn ein innerer Konflikt sich löst. Es liegen in uns demgemäß der 
Möglichkeit nach unendlich viele Erinnerungen, Vorstellungen usw.« 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser Erklärungsversuch Lipps’ 
ziemlich nahe an die Wahrheit heranstreift. Aber wir fragen: Wenn 
die Melodie mittels der hier aufgezählten Wege ähnliche Erinnerungen 
auslöst, wodurch geschieht es dann, daß wir beim Anhören von 


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Melodien dieser durch Ähnlichkeitsekphorie bedingten Erinnerungen 
niemals bewußt werden ? Weder Streitschlichtungen noch Befreiungen 
aus Not, noch Lösung von Zweifeln und dergleichen mehr werden 
beim Hören von Melodien lebendig, sondern, was die Melodien, be¬ 
sonders die der klassischen Musik charakterisiert, ist, daß durch sie. 
Auslösungen reiner erinnerungsloser Gefühlsregungen vor sich gehen 

Einen Versuch, diese Schwierigkeit zu umgehen, macht H. Sie¬ 
beck. Er führt den Gefühlsauslösungsvorgang auf ein Zusammen¬ 
wirken folgender Momente zurück: 

a) Reale Gefühle lösen bestimmte Organbewegungen und Laut¬ 
äußerungen aus; 

b) es ist eine Tatsache, daß bestimmte Gefühlslagen oft unwill¬ 
kürlich, besonders bei Kindern und Naturmenschen in eine Art 
mehr oder weniger primitiven Gesang ausbrechen; 

c) Gesänge, d.h. rhythmisch geordnete Tonfolgen, regen auch ihrer¬ 
seits unmerklich die Bewegungsorgane an, und zwar in der¬ 
selben Weise wie es die erstgenannten realen Gefühle tun. 

Aus dieser Gleichheit der Wirkungen, die sowohl die Gefühle als 
auch die Tonfolgen auf die Bewegungsorgane ausüben, entspringt das 
Seltsame, daß, wenn wir rhythmisch geordnete Tonfolge hören, diese 
durch die Miterregung der Bewegungsorgane auch die Anregung von 
entsprechenden Gefühlen bzw. Gefühlsbildern mitbedingen (H. Sie¬ 
beck: Uber musikalische Einfühlung; Leipzig 1906). Dieser Ver¬ 
such erklärt aber allenfalls nur, wie die Einfühlung in eine ver¬ 
nommene Melodie vor sich gehen mag; er setzt als gegeben voraus, 
daß bestimmte Gefühlslagen sich in primitiven Gesängen entladen, 
sich durch solche äußern. Aber gerade diese melodische Gemüts¬ 
äußerung, die H. Siebeck als gegeben voraussetzt, ist derjenige 
problematische Vorgang, den wir zu ergründen uns hier zur Aufgabe 
gemacht haben. 

Wodurch geschieht es, daß der Mensch oft, wenn er von Gefühls¬ 
regungen beherrscht ist, diese seine Gemütserregungen hinaussingen 
muß? Nicht nur das Problem, wie man sich in eine gehörte, gegebene 
Melodie hineinfühlt, sondern das Problem, wie es geschieht, daß der 
Komponist seine Gefühlsregungen in Melodien gestaltet, dieses Pro¬ 
blem ist es, was uns jetzt hier beschäftigt. 

Die erste Vorfrage, die hier beantwortet werden muß, ist die: 
Was ist eine Melodie? was ist sie ihrem inneren Wesen nach? Sind 
Melodien nur Reihen aufeinanderfolgender Töne oder sind sie viel¬ 
mehr vereinheitlichte Reihenfolgen von rhythmisch-zeitlichen und 
intervallistischen Beziehungen von Tönen. 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 245 


Daß die intervallischen und rhythmisch-zeitlichen Beziehungen 
der Töne die wesentlichen Elemente der Melodien sind und nicht 
etwa die Töne selbst, braucht nach den bekannten Ergebnissen der 
Gestaltpsychologie nicht nochmals in Breite dargelegt und bewiesen 
zu werden. Wir wissen, daß eine Melodie die gleiche bleibt, auch 
wenn sie infolge einer Transposition das einemal aus ganz anderen 
Tönen besteht als das anderemal; daß sie also die gleiche bleibt, auch 
wenn keiner der Töne mehr an derselben Stelle der gleiche geblieben ist. 

Tonabstände und rhythmische Längengrade sind also die wesent¬ 
lichen Elemente, die eine Melodie konstituieren. Eine Melodie, die 
in C-Dur gespielt wird und die z. B. etwa aus den Beziehungen der 
Töne e, g, /, a besteht, bleibt, in Fis-Dur gespielt, die gleiche, auch 
wenn sie jetzt durch die Beziehungen ganz anderer Töne ( ais , cis, 
dii, usw.) fundiert wird. 

Was sind nun diese Intervalle, diese Tonabstände, deren variieren¬ 
den Komplexionen, mit den Zeitdaten verwoben, die Tonphrasen 
bilden? Was sind sie ihrem Wesen nach? 

Jedes Tonfolgeintervall ist durch die Konsonanz bzw. den Grad 
der Konsonanz oder durch die Dissonanz bzw. den Grad der Disso¬ 
nanz, in denen die jeweiligen beiden Grenztöne zueinander stehen, 
charakterisiert. Zwei konsonierende Töne nacheinander gehört, er¬ 
zeugen ein Gefühl der Befriedigung, der Ruhe; dissonierende Töne 
nacheinander gehört erzeugen ein Gefühl der Unbefriedigung, sie - 
erzeugen ein Gefühl der Spannung, die nach Entspannung drängt. 

Hier ist nicht der Ort, das introspektiv erfaßbare psychologische 
Wesen der Zusammenklangskonsonanz bzw. Zusammenklangsdisso¬ 
nanz zu erörtern. Das von Stumpf im Anschluß an frühere Musik¬ 
ästhetiker festgestellte Verschmelzungsmoment, das das Wesen der 
Zusammenklangskonsonanz bildet, steht jedenfalls nicht in Wider¬ 
streit zu jenem Gefühl der Beruhigung, die die Intervalle aufeinander¬ 
folgender konsonierender Töne charakterisiert. 

Wesentlicher für die Aufgabe, die uns hier beschäftigt, ist die 
Vergegenwärtigung des unterbewußten Grundes, der es bewirkt, daß 
zusammenklingende, konsonierende Töne zu Einheiten verschmolzen 
werden. Die die3 bewirkende Ursache mag die gleiche sein, die es 
auch bewirkt, daß aufeinanderfolgende konsonierende Töne von dem 
obenerwähnten bekannten Gefühl der Beruhigung begleitet sind. 

Wie wir wissen, hängt e3 von den proportionalen Verhältnissen 
der tonbedingenden Schwingungen ab, ob zwei Töne, wenn sie gleich¬ 
zeitig oder unmittelbar nacheinander gehört werden, konsonierend 
oder dissonierend sind. Höre ich einen durch 100 Schwingungen in 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 17 



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einer bestimmten Zeitdauer hervorgerufenen Ton und gleich darauf 
(oder gleichzeitig) einen Ton, den 200 Schwingungen in gleicher Zeit 
auslösen, dann habe ich durch das Hören dieser beiden Töne ein 
Gefühl voller Beruhigung (bzw. den Verscbmelzungsklang, wovon 
Stumpf spricht). Diese beiden Töne, deren Schwingungszahlen wie 
100 zu 200 sich verhalten, stehen akustisch in dem Verhältnis der 
Oktave zueinander. Bekanntlich gibt es aber auch Konsonanzen, 
die man mit Lipps’ »minder vollkommene, sich der Dissonanz 
nähernde Konsonanzen« (Ästhetik, S.450ff.) nennen könnte. DieKon- 
sonanz des Quintintervalls z. B. ist, im Vergleich zu der der Oktave, 
eine minder vollkommene, dafür eine durch die latent hineingewobene 
Spannung farbenreichere. Hier folgt auf einen Ton, den 100Schwin¬ 
gungen in einer bestimmten Zeitdauer auslösen, ein Ton, den nur 
160 Schwingungen in gleicher Zeit hervorrufen; das Verhältnis ist 
also jetzt nicht mehr eines der verdoppelnden rhythmischen Wieder¬ 
holung, sondern das des mathematischen Verhältnisses von 2 : 3. 
Das Schwingungsverhältnis 4 : 5 bzw. 100 :125 ruft Terzintervalle 
hervor, die im Vergleich zu den Quintointervallen wiederum minder 
vollkommen sind, dafür aber wieder durch noch reicher hinein¬ 
gewobene Spannungen farbenreicher sind. 

Alle diese Beziehungen: 100 : 200, 100 :150, 100 :125 haben das 
Gemeinsame, daß sie übersichtlich und daß sie leicht erfaßbar sind. 
Jedem dieser Verhältnisse liegt ein Gemeinsames zugrunde, das die 
beiden Glieder der Beziehung zu einer Einheitlichkeit und Ein¬ 
stimmigkeit zu verbinden imstande ist. Durch das Verhältnis von 
ICO : 200 entsteht z. B., da jeder zweite Schlag überbetont wird, ein 
dem jambischen oder trochäischen Takt ähnliches Gebilde. Das 
rhythmische Gebilde, das aus den Beziehungen 100 :150 entsteht, 
ist, wenn auch nicht mehr so einfach wie das die Oktave bedingende 
(und deshalb spannungsreicher), so doch übersichtlich genug, daß es 
einer ordnenden Vereinheitlichung kaum unüberwindbare Hemmnisse 
in den Weg stellt. Komplizierter, wenn auch noch vereinheitlichungs¬ 
möglich ist das Verhältnis 100 : 125, das das Terzintervall charakteri¬ 
siert. Aber das Verhältnis 100 : 111, das die Sekunde des c—d her¬ 
vorruft, ist vollends unübersichtlich, es ist ein Verhältnis, das jeden 
Vereinheitlichungsversuch zurückstößt, ihn in Spannung versetzt. 
Das Intervall c—d erleben wir auch demnach als ein ausgesprochen 
dissonierendes, widerstrebendes. 

Aus dem Vergleich der akustischen Phänomene mit den physi¬ 
kalischen Tatsachen, die sie bedingen, ist es offenbar, daß die Vor¬ 
gänge des psychophysischen Lebens mit denen der akustischen Er- 



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Die Melodie als gestaltender Aasdrnck seelischen Lebens. 247 

lebnisse in irgendwelcher, wenn auch uns imvorstellbaren und un- 
gekannten Wechselwirkung stehen müssen. Es scheint fast, als ob 
hier irgendwie ein binnenbewußtes 1 ) Apperzipieren der Schwingungen 
stattfindet und daß hier, wie etwa aus der größeren oder kleineren 
Zahl der binnenbewußt apperzipierten Schläge der Schwingungen die 
Tonhöhe, so aus dem mathematischen Verhältnisse der Schwingungs¬ 
zahlen verschiedener Töne in gleicher Zeit die Erlebnisse der Kon¬ 
sonanz- und Dissonanzgrade abhängen. 

Lipps glaubt, daß dieses Gefühl der inneren Einheitlichkeit bzw. 
der inneren qualitativen Zusammengehörigkeit und Übereinstimmung 
(a. a. 0. S. 455) durch den gemeinsamen Grundrhythmus, den zwei 
verschiedene Schwingungsreihen enthalten, bewirkt wird. »Dieses 
Gemeinsame muß als ein um so Umfassenderes gedacht werden, je 
konsonanter die Töne sind; es muß eine um so größere Gegensätzlich¬ 
keit diesem Gemeinsamen gegenübertreten, je mehr die Konsonanz 
an Vollkommenheit abnimmt« (S. 456). 

»Je vollkommener die Konsonanz zweier Töne ist, in um so 
höherem Grade finden wir die physikalischen Schwingungsfolgen, die 
ihnen zugrunde liegen, durch einen gemeinsamen Grundrhythmus an¬ 
einander gebunden« (S. 457). 

Fassen wir diese Tatsachen zusammen, so können wir die kon- 
sonierenden Töne als solche charakterisieren, die durch die Verhält¬ 
nisse der sie bedingenden Schwingungen geeignet sind, übersicht¬ 
liche, harmonische, beruhigende Zustände in der Seele hervorzurufen, 
die dissonierenden Töne als solche, die keinen gemeinsamen Grund¬ 
rhythmus ihrer Schwingungszahlen haben und die deswegen beim 
Vollzug einer Verbindung (sei es zu einem Gleichklang, sei es zu einer 
Tonfolge) die ordnende Seele zu einer dagegenwehrenden Reaktion 
zwingen und sie in Spannung versetzen. 

Wir haben also Tonsynthesen, die dem ordnenden Wesen der 
Seele gemäß sind, und andererseits Synthesen, die die Seele in einen 
negierenden, abwehrenden Zustand hineinpeitschen. In einem Musik¬ 
stück folgen aber nicht nur konsonierende Tonsynthesen aufeinander, 
sondern auch solche, die durch die Beziehungen der sie bildenden 
Töne mehr oder weniger dissonierend sind. Erst im Laufe der auf 
Harmonie aufgebauten Melodieentwicklung werden die vorübergehend 
mißfälligen Intervalle durch Töne, die einen gemeinsamen Grund¬ 
rhythmus mit den Tönen dieser Intervalle haben, zu gefälligen, harmo- 

1) Ich verdanke den Terminus »binnenbewußt« der Abhandlung M. Nach- 
manBohna, »Zur Erklärung der durch Inspiration entstandenen Bewußtseins- 
erlebnisse« (Archiv für die ges. Psychologie. Bd. XXXVI. S. 265ff.). 

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nischen Einheiten hereingezogen. Erst durch diese neuen, nachträg¬ 
lich auftauchenden Töne (und durch ihre gemeinsamen Verhältnisse 
mit jedem der unter sich dissonierenden Töne) löst sich die zeitlich 
vorausgegangene Dissonanz in eine konsonierende Harmonie auf. 

Bevor die auf Harmonie aufgebaute Melodie abgeschlossen wird, 
sind viele Tonfolgen noch dissonierend 1 ), und sie versetzen die Seele 
naturgemäß vorübergehend in eine Reihe verschiedengradiger Span¬ 
nungen. 

Halten wir diese Tatsache fest und erinnern wir uns dessen, was 
wir vom Ablauf der Gemütsbewegungen wissen. Wir nahmen wahr, 
daß Gemütsbewegungen ineinandergreifende, kontinuierliche Folgen 
von seelischen Zuständen sind, die teils aus hemmnisbedingten Span¬ 
nungen, d. h. aus Strebungen, Begehrungen, Wünschen, Gefühls¬ 
strömungen, teils aus Stauungen (Leiden) und aus wiedereintretenden 
Entspannungen (Freudezuständen) bestehen. 

Wir haben also sowohl bei dem Ablauf von Gemütsbewegungen 
als bei dem Verlauf der Musikstücke ein gleiches, analoges Geschehen. 
Bei den Gemütsbewegungen Spannungen und Entspannungen, die 
durch äußere Hemmnisse und hemmnisbeseitigende Mittel bewirkt 
sind, bei den Musikstücken gleichfalls Spannungen und Entspan¬ 
nungen, die aber dadurch entstehen, daß vorübergebend dissonierende 
Intervalle seelische Spannungen — mitunter sogar Stauungen — 
hervorrufen, die dann im Verlaufe des tonalen Ablaufs durch neue 
aufgelöst, zu reintegrierenden entspannenden konsonierenden Har¬ 
monien übergehen. Neue, folgende Intervalle, die mit den vorher 
empfangenen einen gemeinsamen Grundrhythmus der Schwingungen 
haben, verwandeln die Spannungen der vorhergegangenen und unter 
sich mehr oder minder dissonierenden, in konsonierende, die Totalität 
des melodischen Ablaufs tragende Harmonien. 

Neben den Konsonanz- und Dissonanzbeziehungen tragen auch 
die Längengrade der Töne, d. h. die Strecken ihrer Dauer innerhalb 
der rhythmischen Einheit des Gesamtverlaufs zur Wiedergestaltung 
des bewegten Gemüts bei. Als drittes Moment kommt die variierende 
Intensität der Betonung. Die Zeitstrecken der Töne sind, wenn sie 
sich in Länge hindehnen, d. h. wenn die Töne gleichbleibend und 
schwer nicht vorwärts wollen, den Stauungen einer Gemütsbewegung 
analog. Erfolgt eine Befreiung dort, wo das Wollen von Mitteln auf 
Mittelsmittel in rascher Wahl springt, so daß die Vorstellungen rasoh 

1) Schon bei der Tonleiter ist das erste Intervall e— d, wenn es allein gehört 
wird, spannungserregend, also dissonanzartig. Erst das folgende e bringt die 
harmonische Auflösung. 


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Diese Möglichkeit ist aber nur das eine Moment, das die Gestaltung 
der Gemütsbewegungen mittels Melodien bedingt. Das andere Moment 
besteht in einem Prozeß, den wir anderenorts dargelegt haben 1 ). 
Wir wollen das dort Dargelegte kurz wiederholen. 

Wir haben auch oben in einem anderen Zusammenhang die be¬ 
kannte Tatsache erwähnt, daß die formale Gestalt einer Melodie die 
gleiche bleibt, auch wenn die die Melodie bildenden Töne einer an¬ 
deren Tonart oder einer anderen Tonstufe angehören. Nun aber 
geschieht, daß wir nicht nur eine in eine Tonart transponierte Melodie 
als die gleiche wiedererkennen, sondern es geschieht, daß auch eine 
zum erstenmal gehörte, also eine bisher nicht gekannte Melodie, beim 
Wiedersingen sich unwillkürlich und spontan in eine andere Tonart 
umsetzt. Wer sich mit Musik beschäftigt, weiß, daß es im allgemeinen, 
wenn man nicht das absolute Gehör besitzt, viel schwieriger ist, eine 
zum erstenmal gehörte Melodie in der gleichen als in einer anderen 
Tonart wiederzusingen. 

Vom Standpunkt der Assoziationspsychologie ist dieser spontane 
Transpositionsakt höchst rätselhaft und unerklärlich. Hier wirken 
gewiß unterbewußte Akte mit, die unter die Kategorie der deter¬ 
minierenden Tätigkeit gestellt werden müssen, und die uns an die aus 
anderen seelischen Vorgängen uns bekannten Erscheinungen der 
determinierenden Tendenz und latenten Einstellung erinnern. 

Ja, es scheint beinahe, als ob bei diesen spontanen Transpositions¬ 
akten unterbewußt Wahlakte miteingreifen, d. b. daß durch eine 
uns schlechthin unvorstellbare Art von Wahl diejenigen Töne heraus¬ 
gegriffen werden, die geeignet sind, durch ihre gegenseitigen Bezie¬ 
hungen die gleiche formale Melodie, die transponiert werden soll, 
zu reinkamieren. 

Wir können diesen Transpositions- bzw. Reinkamationsakt auch 
folgendermaßen beschreiben: 

Ein formaler seelischer Spannungsablauf (zunächst der der innen¬ 
seelischen formalen Gestalt einer Melodie) hat die Tendenz, solche 
Empfindungselemente bzw. Vorstellungselemente aus der gegebenen 
Fülle des im Gedächtnisse Aufgespeicherten herauszugreifen, die 
geeignet sind, als stofflicher Gegenstand den innenseelischen Span¬ 
nungsablauf wieder zu reinkamieren. 

Diese Reinkamationsvorgänge beschränken sich aber nicht nur 
innerhalb des musikalischen Transpositionsgebietes, sondern sie sind oft 
angetroffene, beinahe typische Erscheinungen des seelischen Lebens. 

1) Das Gesetz der spontanen Nachahmung (Archiv für d. ges. Psychologie. 
Bd. XXXVIII). 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 251 

Wir erinnern daran, daß der Rhythmus einer Melodie sich nicht 
nur durch andere akustische Laute zu wiederversinnlichen imstande 
ist, sondern daß er sich auch durch Reibungen des kinetisch-kinästhe- 
tischen Sinnes wiederversinnlicht. Wir wissen, wie die Marschmusik 
die Marschbewegungen beeinflußt und erleichtert. Der akustisch 
vernommene Rhythmus einer Melodie setzt sich in Tanzbewegungen 
um. 

Alle Nachahmungstätigkeiten gehören unter diese Kategorie des 
wiederversinnlichenden Prozesses. Wir erinnern an die Tanzepi- 
demien des Mittelalters, an die ekstatischen Tänze des Altertums. 
Wie bei dem, den musikalischen Rhythmus wiederversinnlichenden 
Tanz die formale akustische Gestalt sich dadurch wiederholt, daß sie 
sich in kinetische und kinästhetische Elemente reinkamiert, so ver¬ 
sinnlicht sich bei dem Korybanten eine optisch wahrgenommene 
Gestalt, also die eines Tanzenden, mittels kinetischer Elemente 
des eigenen Muskelsystems. Die Tanzgestalt, die optisch wahrge¬ 
nommen worden ist, wird kinetisch und kinästhetisch wiederholt. 
Wir wissen, mit welcher elementaren Gewalt die Bakchen bei dem 
Anblick tanzender Scharen zum Mittanzen hingerissen wurden. Wir 
wissen, wie suggestiv der Anblick von Tanzenden im Mittelalter auf 
jene wirkte, die sich dem Johannistanze hingaben. Dieser, bis zur 
Krankhaftigkeit gesteigerte Wiederversinnlichungsdrang ist nur dem 
Grade nach, nicht dem Wesen nach verschieden von jenen alltäg¬ 
lichen Vorgängen, die wir als Äußerungen der Nachahmungstätigkeit 
bezeichnen. Das Mitlachen, Mitweinen, Mitgähnen, das Nachäffen 
von wahrgenommenen Bewegungen, was wir bei Kindern und bei 
den noch unkultivierten Naturmenschen beobachten, all dies ist 
nichts anderes als eine Reproduktion optisch wahrgenommener for¬ 
maler Gestalten mittels kinetischer Elemente. 

Die Seele verhält sich bei allen diesen Reproduktionsakten wieder¬ 
gestaltend. Der formale Inhalt irgendeines durch Wahrnehmung er¬ 
faßten oder spontan erlebten Vorgangs wird durch bisher nicht mit 
ihr assoziierte, aber gleiche Beziehungen fundierende Elemente (sei 
es akustisch, sei es kinetisch) wiederverkörpert. 

Ganz genau das gleiche geschieht, wenn ein Komponist seine 
Gemütsbewegungen durch Tonbeziehungen, also durch Melodien, 
wiederverkörpert. 

Auch hier wird ein gleicher Ablaufsinhalt durch andere fundierende 
Elemente reinkamiert. Der emotionale Spannungsablauf, der im 
Gemüt durch irgendwelche Motive (Hemmungen und hemmnis¬ 
beseitigende Mittel) veranlaßt worden war, wird, während er fort- 


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fährt, emotional der gleiche Spannungsablauf zu bleiben, durch neue 
Elemente wiederversinnlicht. 

Wie der Spannungsablauf einer durch Töne fundierten Melodie 
sich durch kinetische iteize und durch ausgeführte Bewegungen 
wiederholt, so wiederholt sich eine durch Motive des wirklichen Lebens 
hervorgerufene seelische Erregung mittels der Herstellung von Be¬ 
ziehungen solcher Töne, die eine gleiche Erregung zu fundieren ge¬ 
eignet sind. Diese durch Töne fundierten Erregungen sind das, was 
wir »Melodien« nennen. Die elementarsten solcher musikalischen 
Gebilde, als Äußerungen von erlebten Gemütserregungen, sind unsere 
Affektlaute. 

Wir haben erwähnt, daß H. Siebeck die Tatsache konstatiert, 
daß bestimmte Gefühlslagen oft unwillkürlich in eine Art mehr oder 
weniger primitiven Gesangs ausbrechen. Jetzt verstehen wir, warum 
dies so geschieht. Siebeck basierte seinen Versuch, die musikalische 
Einfühlung zu erklären, auf diese Tatsache, während gerade sie 
eines der erklärungsbedürftigen Phänomene der musikalischen Ein¬ 
fühlung war. Wir wissen jetzt, warum Naturmenschen und Kinder 
und mit ihnen auch viele Erwachsene und vor allem alle schaffenden 
Komponisten ihre Gemütsregungen in Melodien hinaussingen. 

Auch der Erklärungsversuch Lipps 5 litt daran, daß er auf das¬ 
jenige aufbaute, was erst der Erklärung bedurfte. Woran seine 
Ähnlichkeitsassoziationshypothese krankt, haben wir schon oben er¬ 
wähnt. In den Vordergrund seines Erklärungsversuches stellt er den 
Satz (Ästhetik: S. 478), daß die Melodien dadurch seelische Be¬ 
wegungen auszudrücken imstande sind, daß sie Affektlaute nach¬ 
ahmen und wiederholen. »Man gibt inneren Erregungen in Lauten 
unmittelbaren Ausdruck. Diesen Lauten sind die Töne und Klänge 
der Musik verwandt. Und demgemäß erscheinen auch diese letzteren 
als Ausdruck eines Inneren. Es scheint in ihnen unmittelbar ein 
Inneres sich zu verlautbaren, ein affektives Moment, ein innerer 
Drang, ein Streben oder Wollen sich auszuströmen oder Luft zu 
machen.« 

Lipps führt also die Ausdrucksfähigkeit der Musik auf die Affekt¬ 
laute zurück. Aber die Sache verhält sich direkt umgekehrt. Nicht 
die Musik, nicht die Melodie, nicht die Tonphrase wird ausdrucks¬ 
voll, weil sie den Affektlauten verwandt ist und weil sie an diese 
erinnert, sondern diese Affektlaute selbst sind nur deswegen Gemüts¬ 
äußerungen, weil sie letzten Endes nichts anderes sind als elemen¬ 
tare musikalische Bildungen. 

Jedes Stöhnen, jedes Lachen, jeder Aufschrei ist eine primitive 


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Die Melodie als gestaltender Ansdmck seelischen Lebens. 253 

melodische Tonfolge, die die bewegte Seele, ihre Erregung wieder- 
gestaltend, hinausstößt. In den Lauten der Affektausdrücke sind 
Töne enthalten, deren Beziehungen die Spannungsvorgänge der be¬ 
wegten Seele wiederholen. Man denke daran, wie das Stöhnen durch 
die hemmenden Stauungen seiner langen Töne, die der Tiefe zustreben, 
ein vergebliches Ringen gegen Leiden und Unglück musikalisch ver¬ 
sinnbildlicht, wie das kichernde Lachen mit dem schnellen Fortlauf 
oft rasch wechselnder Töne die unter bestimmten seelischen Stim¬ 
mungen der Höhe zustreben, freudevolle Gemütserregungen wieder¬ 
gestaltet. 


IV. 

Wie die Töne durch ihre mannigfachen Beziehungen zueinander 
und durch das Spannungsspiel, das sie auslösen, innenseelisches 
Leben gestalten, so können auch andere psychische Inhalte lediglich 
durch die Spannungen, die sie in der Seele erzeugen, Melodien her- 
vorrufen. 

Wir kennen die Farbenakkorde eines Rembrandt und eines 
Tizian. Wir kennen die Raummelodien der gotischen Dome. Goethe 
und Lenau sind Meister in den Bildungen von Gedankenmelodien. 

Es gibt Fälle, wo die Lyrik wie Musik wirkt. Zunächst denken 
wir, wenn wir dies sagen, an die Lautmelodien der Sprache, an die 
charakteristischen Rhythmen des Versmaßes. Daß die Lautmelodien 
und die Rhythmen nicht nur einer verschönernden Vereinheitlichung, 
sondern auch dem Ausdruck bestimmter Gemütsbewegungen dienen, 
braucht wohl kaum erst besonders hervorgehoben zu werden. Wir 
erinnern an das Gedicht »Uber allen Wipfeln ist Ruh«, an das »Nur 
wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide« und an tausend andere 
Beispiele, die dies bestätigen. 

Aber nicht nur Sprachlaute und Rhythmen, auch die Beziehungen 
der Bilder eines Gedichtes zueinander können melodieartige Erleb¬ 
nisse hervorrufen. 

Diese Bilder wirken dann nicht wie die früher besprochenen als 
Motivvorstellungen, die durch das, was sie bedeuten, Hemmnisse 
oder Entspannungen des Gemüts hervorrufen, sondern diese Bilder, 
von denen jetzt die Rede ist, wirken derart, daß zwischen ihnen 
musikalische Intervalle entstehen, die als melodische Intervalle ge¬ 
fühlt werden und als solche nichts anderes als Spannungen sind — 
aber keine (wir wiederholen es) motiverzeugte Spannungen, sondern 
Spannungen reiner, formaler Art. 


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Denke man an das schöne Gedicht Lenaus: 

Drüben geht die Sonne scheiden 
Und der müde Tag entschlief, 

Niederhangen hier die Weiden 
In den Teich so still, so tief. 

Und ich muß mein Liebstes meiden, 

Quill, o Träne, quill hervor. 

Traurig säuseln hier die Weiden 
Und im Winde bebt das Rohr. 

Das einzige Seelenwirkliche, das einzige Persönliche, was uns in 
diesem Gedichte bewegen kann, ist die Mitteilung, daß der Dichter 
das Liebste meiden muß, und daß er Tränen hervorquellen fühlt. 
Alles andere ist Gedankenmelodie. Daß die Sonne scheiden geht, 
und daß die Weiden in die Tiefe des Teiches niederhängen, kann 
kaum als Beweggrund der Entstehung des darin ausgedrückten Ge¬ 
fühles gedeutet werden. Aber die Vorstellung der untergehenden 
Sonne erweckt in der Seele einen bestimmten Gefühlston, der seiner 
Höhe nach ein anderer ist als der Ton, den die Vorstellung des müden 
Tages, der leise einschläft, auslöst. 

Und diese beiden Gefühlstöne, intervallisch verbunden mit dem 
dritten Ton, den das Bild der niederhängenden Weiden wachruft, 
geben ein musikalisches Ganze, das sich in die Reihenfolge der anderen 
durch die Bilder ausgelösten Gefühlstöne zu einer inneren zwar un- 
gehörten — aber um so mehr — empfundenen Melodie abnmdet, die 
das Wesen des lyrischen Eindrucks dieses Gedichtes ist. 

Das Wesen der Gedankenmelodien wird ersichtlicher, sobald wir 
diese Gedankenmelodien dort betrachten, wo ein Dichter, der ur¬ 
sprünglich den seelischen Inhalt seiner Dichtung naturalistisch, also 
mittels Motivvorstellungen zum Ausdruck gebracht hat, dann bei 
einer späteren Umarbeitung seines Werkes in die ursprüngliche 
naturalistische Fassung desselben Gedankenmelodien hineingewoben 
hat. Bei Liedern und rein lyrischen Dichtungen sind solche Um¬ 
arbeitungen, dem Wesen der Sache gemäß, fast nie anzutreffen, aber 
wir begegnen ihrer bei Dramen. Eine dergleichen klassische Melodi- 
sierung von einer ursprünglich naturalistischen Szene besitzen wir 
in der Umarbeitung der Kerkerszene des Urfaust zu der Gestalt, in 
der wir sie jetzt haben. 

Stelle man die beiden Fassungen dieser Szene nebeneinander. 
Im »Urfaust« ist sie eine getreue Abbildung des Vorgangs, wie er 
sich in Wirklichkeit abgespielt haben würde. Die Vorstellungen, die 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 265 

die wechselnden Zustände der Seele auslösen, sind Motiworstel- 
lungen. Die Worte und die Repliken folgen aufeinander natumot- 
wendig. Vergleiche man damit die Szene in ihrer jetzigen Form. 
Ist sie nur eine Verifikation? 

Wenn Margarete im Urfaust von ihrem Bünde spricht, daß sie 
es getränkt habe, und daß man es ihr genommen habe, fährt sie fort: 

»und sagen, ich habe es umgebracht, und singen Lieder auf 
mich! ... Es ist nicht wahr ... es ist ein Märchen, das sich so endigt, 
es ist nicht auf mich, daß sie’s singen.« 

Und Faust, der sich zu ihr hin wirft, ruft: » Gretchen !« Margarete 
erwidert: »Wo ist er ! Ich hab ihn rufen hören!« 

In der jetzigen Fassung aber endigt die Replik Margaretes, die 
sich auf das Märchen bezieht, mit dem Verse: 

»Wer heißt sie’s deuten?« 

Und das »Märchen« ist zu der Romantik eines »alten Märchens« 
erhoben worden. Die Worte: »es ist ein Märchen, das so endigt, es 
ist «licht auf mich, daß sie’s singen«, ist psychologisch richtiger. 
Gretchen ängstigt sich vor dem Gedanken, daß die Menschen ihre 
Tat in Liedern singen werden, und will diesen Gedanken wegscheuchen, 
Die Vorstellungen von »alten Märchen« und ihren »Deutungen« 
liegen außerhalb der seelischen Situation. Und doch, wirkt diese 
neue Fassung nicht durch einen eigenartig seltsamen, nicht zu be¬ 
schreibenden Zauber? Wirkt diese Stelle in der neuen Fassung nicht 
wie Musik? Fühlt man den Vers 

»Wer heißt sie’s deuten« 

in der Folge dessen, was vorherging, nicht wie den Bestandteil eines 
melodischen Ganzen? 

Und dann die andere Stelle: 

Faust: 

Ein Liebender liegt dir zu Füßen, 

Die Jammerknechtschaft aufzuschließen. 

Margarete: 

0, laß uns knien, die Heiligen anzurufen, 

Sieh ! unter diesen Stufen 
Unter der Schwelle 
Siedet die Hölle! 

Der Böse 

Mit furchtbarem Grimme 
Macht ein Getöse ! 


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256 


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J. K. von Hoeaslin, 

Faust: 

Gretchen ! Gretchen ! 

Margarete: 

Das war des Freundes Stimme. 

Wo ist er? Ich hab ihn rufen hören.« 

Gretchen erkennt Faust erst, nachdem er sie bei ihrem Namen an¬ 
ruft. Vorher hält sie ihn noch für den Henker. Dennoch will sie mit 
ihm zusammen knien und die Heiligen anrufen. Dies letztere ist 
psychologisch unmotiviert, und selbst durch den Zustand des Irre¬ 
seins nicht erklärlich. In der naturalistischen Darstellung der Seelen¬ 
lage Gretchens im Urfaust finden wir dieses Motiv nicht; und dort 
würde es auch als eine fast unerklärliche psychologische Dissonanz 
wirken. Auch die Vorstellung des »Getöses« wirkt nicht als Motiv¬ 
vorstellung. 

Trotzdem wirkt die melodisierte Fassung dieser Stellen stärker 
noch als die psychologisch entschieden richtigere des Urgedichtes! 

Diese seltsame und doch unbezweifelbare Tatsache ist aber dicht 
anders zu erklären als dadurch, daß hier der starke Eindruck durch 
die gedankenmelodischen Intervalle bewirkt wird, welche die auf¬ 
einander folgenden Bilder auslösen. Es scheint fast, als ob die stufen¬ 
weise sich steigernde Kraft der Vorstellungsbilder — imabhängig von 
ihrem psychologischen Zusammenhang und von ihrem etwaigen Werte 
als Motivvorstellungen — rein durch diese Steigerung der musika¬ 
lischen Spannung, den vorstellungslosen Spannungszustand wieder¬ 
holt, in dem das arme Mädchen sich eben befindet. Das Gesamtbild 
dieser sich steigernden Phantasien wirkt auch als Ganzes dadurch, 
daß es die Gesamtspannung und Stauung des quälenden Gefühls bis 
aufs äußerste steigert, und daß dann als Kontrast das die Melodie 
abschließende Intervall folgt, welches durch die trunkenen Worte 
Gretchens hervorgebracht wird: 

»Ich hab ihn^rufen' hören!« 

Wie die einzelnen Vorstellungsbilder, so können auch ganze Szenen 
in einer Dichtung nach den Regeln der Melodie aufeinander folgen, 
und sich rein formal und gedankenmelodisch aufeinander beziehen. 
Typisch ist jene Szene im »Faust«, in welcher nach dem Selbstmord- 
entschlusse des nach Enträtselung der Daseinsprobleme ringenden 
Mannes, in der Nacht draußen, die Osterglocken zu ertönen beginnen 
und der Chor den Gesang anhebt: 

»Christ ist erstanden, 

Freude den Sterblichen !« 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 257 


Auf die Wendung, die in der Seele des Faust ein tritt, mag dieser 
Gesang als Motivvorstellung gewirkt haben, und als solche die Ursache 
Bein, daß Faust seinen gefaßten Vorsatz nicht ausführt. Auf die 
Sti mm ung, die der Zuschauer bei dieser Szene erlebt, und diese Stim¬ 
mung ist die gleiche, die auch den Dichter beherrschte, ist nur der 
gedankenmelodische Eindruck des Kontrastes maßgebend. Wir fühlen 
nicht nur mit Faust mit, wenn er den Giftbecher nicht an den Mund 
zu führen vermag, sondern wir fühlen auch gleichzeitig eine innige 
Melodie, die durch den musikalischen Kontrast ausgelöst wird. 

Der Eindruck, der durch die beiden kontrastierenden Stimmungs¬ 
inhalte des Selbstmordentschlusses und der ertönenden Osterglocken 
erzeugt wird, wurzelt in dem melodischen Intervall, das zwischen den 
Stimmungsinhalten der beiden Vorgänge besteht. Der seelische Zu¬ 
stand des Faust, der die Giftschale an den Mund zu führen im Begriffe 
ist, hat einen anderen Gefühlston als es derjenige ist, der die Oster¬ 
glocken und den Gesang der Engel begleitet. Diese beiden Gefühls¬ 
töne erzeugen rein gedankenmelodisch eine entspannungsartige Ge¬ 
fühlslage in uns. Diese entspannungsartige Gefühlslage ist ähnlich 
derjenigen, die auch Faust innenseelisch und infolge der eintretenden 
Wendung erlebt. Psychologisch begreifen wir diese Wendung durch 
die Motivvorstellungen; und wir fühlen sogar durch die Motivvorstel¬ 
lungen mit Faust mit. Aber zugleich dringen wir in die unaussagbaren 
Vorgänge seiner Seele auch durch die Gedankenmelodie, die diese 
Szene auslöst. 

* 

Wir sprachen vorhin von Raummelodien. Diese werden durch 
Raumgestaltungen zustande gebracht. 

Sehen wir von der erkenntnistheoretischen und metaphysischen 
Seite des Problems, was Raum ist, ab, und betrachten wir den »Raum « 
lediglich als reines Bewußtseinsphänomen, so nehmen wir wahr, daß 
man mit dem Wort »Raum« zwei verschiedene Momente, zwei quali¬ 
tativ voneinander unterscheidbare Bewußtseinstatsachen meint. 

Diese beiden verschiedenen Seiten der Raumanschauung stehen 
zueinander in Korrelation, sie sind aber dennoch ihrem Wesen und 
ihrer Qualität nach ganz heterogen. 

, • Die eine Seite des Raumerlebnisses kann als ein »Raumbewußt¬ 
sein schlechthin« bezeichnet werden, die andere besteht in einer »Loka¬ 
lisationsfunktion«. Ob die Lokalisation jenes »Raumbewußtsein 
schlechthin« voraussetzt, oder ob das Raumbewußtsein ein Aggregat 
von Lokalzeichen i3t, bzw. ein durch schöpferische Synthese ent¬ 
stehendes Neue aus lokalisierten Empfindungen — diese und alle 


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258 


J. K. von Hoesslin, 


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die vielen, mit der Entstehung oder der Apriorität des Raumbewußt¬ 
seins zusammenhängenden Fragen und Hypothesen wollen wir hier, 
wie gesagt, unberücksichtigt lassen. 

Wir wollen unser Augenmerk nur auf das in der Erfahrung Ge¬ 
gebene richten. 

Das Charakteristikum des Raumes, wie er im »Raumbewußtsein 
schlechthin« gegeben wird, ist, daß dieser Raum imbegrenzt ist. 
»Man kann sich nur einen einzigen Raum vorstellen«, sagt Kant. 
»Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein 
Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine 
Gegenstände darin angetroffen werden.« 

Dieses Bewußtsein eines Raumes, der sich über die Gegenstände, 
über alle Raumgestalten, die er enthält, hinausdehnt, ist ein funda¬ 
mentales und kaum bestreitbares Erlebnis. Dieser Raum ist ein 
einziger, und ihm fehlt jegliche Grenze. Er ist schlechthin gestaltlos. 
Dazu kommt — und dies ist, was uns jetzt hier am meisten interessiert 
—, daß dieser grenzenlose Raum von Gefühlswerten getragen ist. 
Wir alle kennen das befreiende Seligkeitsgefühl, das wir empfinden, 
wenn wir vom Gipfel einer Höhe aus in die uns unendlich und grenzen¬ 
los scheinende Feme hinausschauen, wenn wir am Meeresstrand die 
am Horizont verschwindenden Küsten verfolgen und uns dem Gefühl 
des Grenzenlosen hingeben. Es ist ein befreiendes, eigenartiges Gefühl. 

Das Bewußtwerden des imendlichen Raumes befreit uns aber 
nicht nur, sondern es ist auch von Gefühlen religiöser Natur begleitet. 
Die indischen Dichter der Upanishadenzeit pflegten das in ihnen 
erwachende Erleben des das Weltall bedeutenden Brahman durch 
das Bild des unbegrenzten Raumes zu versinnlichen. »Die Weite ist 
das Brahman, die Weite, die uranfänglich lusterfüllte Weite.« Und 
wie die indische so hat fast jede Religion, die die Kulturperiode' der 
Anthropomorphie Gottes überschritt und die die Gottheit als ein 
Transzendentales erlebte, die Vorstellung des grenzenlosen Raumes 
irgendwie zu der Vorstellung des neuen transzendentalen Gottes in 
Beziehung gebracht. Auch die christliche Religion kennt die Vor¬ 
stellung der grenzenlosen Höhen. »Hingebender Glaube dem Gotte, 
der in dem Unbegrenzten ist«, *J6!;a h inpioroig &ecp«. Luthers 
Übersetzung besagt zu wenig, wenn er »r& Vifjuna* nur mit »Höhe« 
übersetzt. »In der Hohe« waren auch die Götter der Griechen, die 
auf den Gipfeln Olymps über den Wolken thronten. Das Christen¬ 
tum aber verlegte die neue transzendental gefühlte Gottheit von 
diesen Bergeshöhen elg tit Vipiora. Dieser Superlativ drückt die 
Vorstellung der Grenzenlosigkeit des Raumes aus. 


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Die Melodie als gestaltender Abdruck seelischen Lebens. 259 

Dem Bewußtsein des unendlichen Raumes entgegengesetzt ist 
das Bewußtsein der Lokalisation. Lokalisiert sind die Druckempfin¬ 
dungen, die ich eben jetzt an gewissen Stellen (innerhalb des grenzen¬ 
losen Raumes) an meinem Körper empfinde; lokalisiert ist das Bild 
meines Federhalters, den ich eben in meiner Hand sehe und den ich 
zugleich lokalisiert kinästhetisch an meinen Fingern empfinde; lokali¬ 
siert ist die Wand, das Büchergestell vor mir, dann die Glasscheibe 
des Fensters, durch das ich auf die Straße hinausschaue; lokalisiert 
ist die Fassade des Hauses mir gegenüber; lokalisiert sind die Wolken, 
die den Himmel durchstreifen, und lokalisiert ist endlich dieses 
Himmelsgewölbe selbst. Aber über dieses Himmelsgewölbe hinaus 
erstreckt sich grenzenlos der Raum, dessen ich bewußt bin und den 
keine noch so erhabene Gestalt einschließt. 

Kant gebrauchte einmal (dort, wo er von den »vielen Räumen« 
redet, welche »Teile« des einen und alleinigen Raumes sein sollen) 
das Wort »Einschränkungen des Raumes«. Solche Einschränkungen 
des Raumes sind die lokalisierten Gestalten. Wir können die durch 
Lokalisationstätigkeit entstehenden Einschränkungen des Raumes 
auch Raumbeengungen nennen. 

Wir sind durch die in der Psychologie herrschenden Hypothesen 
geneigt, die Lokalisationstätigkeit als eine Hinausprojektion und Hin¬ 
ausverlegung der Orte (gewissermaßen aus dem Raumlosen heraus) 
zu betrachten. Diese Betrachtungsweise, die den geltenden Theorien 
ihren Ursprung verdankt, entspricht nicht dem, was uns im unmittel¬ 
baren Bewußtsein gegeben ist. 

Wir erleben die lokalisierten Empfindungen (seien es die Druck, 
empfindungen oder die Vitalempfindungen unseres eigenen Körpers¬ 
seien es die optischen Empfindungen, die in Komplexion mit anderen 
Empfindungsvorstellungen und, von gewissen Denkmomenten ge¬ 
tragen, die Wahmehmungsbilder und Vorstellungsbilder konstitu¬ 
ieren), wir erleben alle lokalisierten Gegenstände als Begrenzungen 
des einen Raumes und nicht als aus dem Raumlosen hinausprojizierte 
Momente, die erst das Raumbewußtsein erzeugen. Wir erleben alle 
Eingrenzungen des Raumes als objektive Raumeinschränkungen. 
Aber es gibt auch eine Raumbeengung subjektiver Art. Je näher 
ein Gegenstand uns ist, desto beengter und eingeschränkter fühlen 
wir uns selbst. 

Der durch die Raumeinschränkung eintretende Beengungsgrad 
unseres Raumgefühls ist jeweilig ein verschiedener. Wir können 
deshalb das eben vorhin Gesagte auch folgendermaßen ausdrücken: 
Je größer der durch die Lokalisation bedingte Beengungsgrad unseres 


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260 


J. E. von Hoesslin, 


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Raumgefühls ist, desto geringer erscheint die Entfernung des Gegen¬ 
standes, der seine derart begradete Lokalisation bedingt, und — je 
entfernter eine Stelle im Raume vorgestellt wird, desto geringer die 
Spannung des Beengungsgrades, desto befreiender (relativ) das Gefühl, 
das auf diesen Beengungsgrad reagiert. 

Die Beengungsgrade des Raumes sind von Beengungsgefühlen 
begleitet, die jenen Spannungserlebnissen analog sind, die wir bei 
der Betrachtung des Gemütslebens und der Melodien kennen gelernt 
haben. Die Wand meines Zimmers, die sich vor mir erhebt, versetzt 
mich in einen anderen Grad von raumreagierender Spannung als die 
Wand des Hauses jenseits der Straße, die ich durch die Scheiben 
meines Fensters sehe, und diese wiederum in einen anderen Grad von 
Spannung als das Bild der Wolken, die durch den Himmel ziehen. 

Viele landschaftliche Wirkungen sind durch solche Raumspan¬ 
nungen und Raumentspannungen zu begreifen. Alleen, in die man 
hineinschaut, wirken durch die stufenartigen Entspannungsrhyth¬ 
men der sich nach der Tiefe hin allmählich verschwindenden Flucht 
ihrer Baumreihen. Die Schönheit des Horizonts, den wir vom Meeres¬ 
strand aus sehen, während die in der Ferne verschwindenden Küsten 
neue Entspannungen auslösen, — die Flucht der Säulenhallen alt- 
griechischer Tempel, — die Biegungen der Balustradenwände vieler 
Terrassen, alle diese Beispiele lehren uns, neben unzähligen anderen, 
das Spiel der Raumspannungen und -entspannungen nicht nur emp¬ 
finden und fühlen, sondern auch psychologisch begreifen und er¬ 
kennen. 

Ein Meister in der Darstellung der Kontrastwirkung zwischen 
einem in dem gestaltlosen verschwindenden, unendlichen Hinter¬ 
grund und den in diesem Unendlichen sich abhebenden Gestalten ist 
der alternde Rembrandt in seiner reifsten, letzten Entwicklung. 
Wir erinnern an seine späteren Radierungen, wo aus dem Gestalt- 
losen des dunklen Hintergrundes die Gebilde des Vordergrundes 
rhythmisch hervortauchen und Akkorde und Klänge in der Seele 
volltönen lassen. 

Zu diesen Kontrastgraden zwischen dem unendlichen Grenzen¬ 
losen und den durch Lokalisation mehr oder weniger raumbeengend 
gesetzten Gestalten kommt noch ein anderer Spannungsfaktor hinzu, 
der durch das Bewußtsein der Schwere hervorgerufen wird. 

Daß das Bewußtsein der Schwere nicht a priori, sondern durch 
die Erfahrung gegeben ist — wie Kant lehrt — interessiert uns hier 
nicht. Tatsache ist, daß auch das Bewußtsein der Schwere (und das 
ihrer Überwindung) von Gefühlswerten begleitet ist, die in der Archi- 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 


261 


tektur und der bildenden Kunst Verwendung finden. Auch zwischen 
dem Bild des an den Boden Gefesselten und durch seine Schwere mit 
tausend Fasern daran Gebannten und dem Bilde des von der Erde 
Hinaufstrebenden und die Fesselbande der Schwere Durchbrechenden 
und Überwindenden sind Spannungen eigener Art vorhanden, die 
zu den bisher betrachteten sich hinzugesellen. 

Die Richtung, die von mir als Mittelpunkt aus nach der Tiefe hin¬ 
weist, ist von einem anderen Erlebniswert getragen als jene Richtung, 
die von unten nach oben erleichternd führt. Ebenso wird das von 
der Tiefe Herankommende im Gefühle anders bewertet als jenes von 
oben nach unten Führende, Herabsteigende. Als dritte Empfindungs¬ 
richtung ist die der Breite bekannt. 

Diese Richtungen (Dimensionen) werden auch durch Linien ver¬ 
sinnbildlicht und oft auch durch Linien der Empfindung zugänglich 
gemacht. Die Linien der dorischen Kannelüren, die Linien der 
»Dienste« der gotischen Pfeiler sind — ästhetisch betrachtet — 
nichts anderes als sinnlich empfundene Richtungen von kontinuierlich 
und unteilbar sich vollziehenden Raumentspannungen nach oben hin. 
Wenn die Linie eines gotischen »Dienstes«, die die Wölbung erreicht 
hat, sich zu Kurven der Joche und der Kreuzrippen biegt, dann erfährt 
auch der kontinuierliche Entspannungsablauf eine Umwandlung. 
Wenn sie sich mit den Linien der anderen Dienste in der Höhe ver¬ 
einigt, so bedeutet auch dies ein ästhetisches Gefühlserlebnis eigener 
Art. Wie das Spannungs-Entspannungsspiel, das die akustischen 
Melodien bedingt, ein Spannungs-Entspannungsspiel der emotionalen 
Seite des Gemüts wiederholt, so wiederholen auch die Spannungen und 
Entspannungen wechselnder Perspektiven und rhythmischer Ab¬ 
stände das Spannungs-Entspannungsspiel unseres Gemüts. Und wir 
verstehen jetzt, wie ein bildendes Künstler — durch die Momente 
wechselnder Perspektiven seine Gefühlserlebnisse zu gestalten im¬ 
stande ist, wir verstehen, wie die Architekten die herrschenden Gefühls¬ 
erlebnisse ihrer Zeit und ihrer Umgebung durch diese oder jene For¬ 
men des Raumes zum Ausdruck zu bringen die Mittel besitzen. 


V. 

Bisher haben wir die Ausdruckswege der Melodie zu beschreiben 
versucht. Wir haben die Tonmelodien analysiert und die Gedanken¬ 
melodien und die Raummelodien kurz gestreift. Die Melodien sind 
aber nicht nur wiedergestaltete Gemütsbewegungen — dieses ist 
nur die eine Seite der Melodien —, sondern sie sind auch zugleich 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 18 


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262 J. K. von HoesBlin, 

I 

abgerundete, formale Gebilde, denen oft das Merkmal der Schönheit 
zukommt. 

Was aber die Schönheit charakterisiert, ist die geschlossene voll¬ 
endete Einheit. Eine restlos vereinheitlichte Gestalt ist schön. Macht 
die Gestalt den Eindruck des Nicht-restlos-Geschlossenen, so ist sie 
je nach dem Grade der mangelnden Einheit entweder Ȋsthetisch in 
different« oder gar »häßlich«. Sie ist dies oft, trotz des Reichtums 
seelischen Inhaltes, den diese Gestalt ausdrückt. 

Was ist aber diese Einheit, die das Wesen der Schönheit bildet? 

Unter »Einheit« versteht man einmal jenes allbekannte, aber nicht 
weiter zu beschreibende Merkmal der Unteilbarbeit, das jeder Sub¬ 
stanz eigen ist, die in sich und fiir sich besteht. Wer an die Monaden¬ 
lehre in irgendeiner ihrer Ausgestaltungen glaubt, wird die Monaden 
(also die Seelen oder die Atome oder die Elektronen, je nach seinem 
Standpunkt) als letzte Einheiten betrachten. Für den pantheistischen 
Monisten andererseits gibt es nur eine Einheit: das *iv Kai 7cäv*, 
das All-Eine, das göttliche All. 

Es gibt aber auch eine andere Art von Einheit, das ist diejenige, 
die durch gestaltende Synthese entsteht. Diese durch Synthese ent¬ 
stehende Einheit wollen wir, um das Wort »Einheit« für die Einheit 
im erstgemeinten Sinne zu reservieren und um den Terminus »Ver¬ 
einheitlichung«, der auch den Prozeß der Gleichmachung andeutet, 
zu vermeiden, »Ereinheitlichung« nennen. 

Für den Pluralisten kommen Ereinheitlichungen dadurch zustande, 
daß mehrere Grundeinheiten zu einem Ganzen verbunden werden. 
Dieses neue Ganze ist nicht unteilbar, ist nicht in metaphysischem 
Sinne Eines; es ist nur das Produkt einer Zusammenfügung, einer 
Verschmelzung. Die Atome, die aus Elektronen bestehen, sind solche 
Ereinheitlichungen, ebenso die Moleküle als Verbindungen von Ato¬ 
men. Auch die Vorstellungen, die durch Komplexion von Empfin¬ 
dungselementen entstehen, sind erlebte Ereinheitlichungen. 

Wie der Pluralist, so kennt auch der pantheistische Monist den 
Prozeß der Ereinheitlichung. Auch von seinem Standpunkt aus ist 
es denkbar, daß Elektronen sich zu Atomen zusammenfügen, Atome 
zu Molekülen, ferner daß Empfindungselemente sich zu Wahmeh- 
mungskomplexen vereinigen usw. Aber diese Momente, die sich 
durch Synthese vereinigen, sind für den pantheistischen Monisten 
keine Grundeinheiten, sondern sie sind Spannungen, Differenzierungs¬ 
momente einer einheitlichen primären Totalität. 

Der Standpunkt, den vir einnehmen, ist selbstverständlich der 
letztere. Schon die Tatsache, daß die monadischen Einheiten gleichen 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 263 

Gesetzen und Regeln ihres Verhaltens unterstellt sind, zwingt uns 
zur Frage, woher die Gleichförmigkeit dieser Naturgesetze kommt, 
woher die regelmäßige Wiederholung der Normen, die das Leben be¬ 
herrschen. Wären z. B. die Atome letzte metaphysische Einheiten, 
so ist es nicht ersichtlich, warum alle diese Atome dem gleichen 
Gesetze der gegenseitigen Anziehung unterstellt sind. Aber auch die 
Tatsache, daß es überhaupt Funktionen der Anziehung, der Synthese 
und der Ereinheitlichung gibt, ist selbst ein Hinweis darauf, daß die 
Elemente und die Momente, die sich zu Komplexionen zusammen¬ 
fügen, keine schlechthin selbständige, in keinem Zusammenhang mit 
der Welttotalität stehende Wesen sind, sondern daß sie Glieder einer 
Welteinheit sind, und daß sie aus dieser Welteinheit, aus der sie her¬ 
vorgegangen sind, die Tendenz schöpfen, sich wieder zu vereinigen, 
d. h. sich gegenseitig anzuziehen und alle erwähnten Funktionen der 
Assoziierung, Synthese und Ereinheitlichung zu ermöglichen. 

Außer der Gleichförmigkeit der Natur und des Lebens und außer 
den Funktionen der Wiederverknüpfung gibt es auch andere wichtige 
Gründe, die uns nötigen, die Monaden nicht als selbständige Einheiten, 
sondern sie als Differenzierungsmomente einer zentralen Welteinheifc 
zu betrachten. Ich verweise auf meine früher genannte Abhandlung 
»Das transzendentale Gefühl« (Zeitschrift der Philosophie, Bd. 162). 
Möge es sich mit dem metaphysischen Grund dieser Vorgänge ver¬ 
halten, wie es nur 'wolle. Was wir wissen und was uns hier inter¬ 
essiert, ist die auch in dieser Schrift dargelegte Tatsache, daß seelische 
Zustände sich — durch wirkende Hemmnisse — zu engeren Span¬ 
nungsmomenten des Seelischen differenzieren. Wir haben solche 
Spannungsmomente des Seelischen in den musikalischen Intervallen, 
die durch Konsonanz- und Dissonanzbeziehungen bedingt sind, und 
ferner solche in der den Raum einschränkenden Lokalisation kennen 
gelernt. Diese Spannungsmomente des Seelischen ereinheitlichen sich 
nun zu seelischen Gebilden, und wir wissen, daß aus Tonbeziehun¬ 
gen die Melodien und aus Raumbeziehungen die formalen Gestalten 
der sichtbaren Gebilde durch Synthese entstehen. Die formale 
Gestalt ist oft Gegenstand eingehender Untersuchung gewesen, und 
wir wollen hier nur daran erinnern, daß die formale Gestalt dasjenige 
ist, was als Skelett den empfindungssinnlichen Stoff eines Wahr¬ 
nehmungsbildes bzw. Vorstellungsbildes trägt, und w r as residual fort- 
beharrt, selbst dann, wenn der sinnliche Stoff, der die Gestalt inkar¬ 
niert, sich von ihr abgelöst hat. Wir wissen, daß eine Melodie in ihrer 
formalen Gestalt die gleiche bleibt, auch dann, wenn sie in eine andere 
Tonhöhe transponiert wird. Ferner wollen wir in Erinnerung bringen, 

18 * 


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264 


J. K. von Hoesslin, 


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daß es (wie besonders Ehrenfels 1 ) und dann Kreilig 2 ) fest¬ 
gestellt haben) Gestalten höherer und niederer Ordnung gibt, d. h. Ge¬ 
stalten primärer, sekundärer, tertiärer . .. Stufe. Die primärsten 
Gestalten — z. B. die die Tonbeziehungen intuitiv ausdrückenden 
musikalischen Intervalle, oder die geraden und gerundeten Linien — 
werden auch »Gestaltsmomente« genannt. Wir, die das Wesen der 
Melodie, und zwar sowohl der akustischen als auch der visuellen (der 
Raummelodie), kennen gelernt haben, wissen jetzt, daß die »Gestalt¬ 
momente« letzten Endes seelische Spannungen sind. Der Eindruck 
eines musikalischen Intervalls, der durch den Grad der konsonieren- 
den bzw. dissonierenden Beziehungen von zwei Tönen erregt wird, 
kann, intuitiv erfaßt, ein Gestaltmoment genannt werden. Innen¬ 
seelisch ist er nichts anderes als ein Spannungs- bzw. Entspannungs¬ 
moment. Auch jede primäre Raumgestalt, jedes Raumgestaltmoment 
ist innenseelisch erlebt, eine seelische Spannung. Die Bezeichnungen 
»Spannungen« und »Gestaltmomente« drücken demnach etwas Ver¬ 
wandtes, mitunter sogar Gleiches und Identisches aus. Das Wort 
♦Spannung« deutet mehr auf das innenseelische Erlebnis hin, während 
der Terminus »Gestaltmoment« dieses Erlebnis bezeichnet, sofern es 
»intuitiv«, also von außen her, durch eine vergegenständlichende 
Objektivation vorgestellt wird. 

Die Definition der komplexen formalen Gestalt kann demnach in 
doppelter Art lauten. 

Vom Standpunkt der Intuition aus ist die formale Gestalt die 
Ereinheitlichung von gegebenen Gestaltsmomenten zu einem Ganzen. 
Vom Standpunkt der sich selbst erlebenden seelischen Funktion aber 
sind formale Gestalten nichts anderes als Ereinheitlichungen von 
seelischen Spannungen verschiedenen Grades und verschiedener Art 
zu erlebbaren Totalgebilden. 

Die ästhetische Gestalt des Innenraumes eines gotischen Domes 
ist demnach das Ergebnis der Ereinheitlichung der Spannungen, die 
die Raumverhältnisse und die Linien seiner tektonischen Glieder aus- 
lösen, — die ästhetische Gestalt einer Melodie die Ereinheitlichung 
der Spannungen, die die früher betrachteten Momente des Intervalls, 
des Rhythmus, des Intensitätsgrades usw. erwecken. 


1) »Über Gestaltqualitäten « (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philo¬ 
sophie. Bd. 14. 8. 280). 

2) »Die intellektuellen Funktionen«. 1909. S. 114. 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 265 

Eine über die die Gestalten bildende Funktion hinausgreifende Stufe 
der Ereinheitlichung ist jene obengenannte Synthese, die die Schön¬ 
heit erzeugt. Sie besteht darin, daß sie die Spannungsmomente eines 
Spannungszusammenhangs zur ästhetischen Einheit kristallisiert. 

Dasselbe Gesetz der Synthese wirkt in beiden Stufen der Ereinheit¬ 
lichung. Bei der Empfindungskomplexion und der Bildung von for¬ 
malen Gestalten ist die Ereinheitlichung an die in der Außenwelt ge¬ 
gebenen Wirklichkeiten gebunden. Ich kann die Gestalt des vor mir 
stehenden Tintenzeugs nicht anders wahmehmen, als es die reale 
Materie dieses Gegenstandes bedingt. Auch die zeitliche Gestalt 
eines Geräusches ist an die Art der Folge und des Zusammenklangs 
der ihn bildenden Töne geknüpft. Eine Ereinheitlichung wird voll¬ 
zogen, aber diese wahmehmende Ereinheitlichung ist von äußeren 
Gegebenheiten fest abhängig, und sie vollzieht sich fast automatisch. 
Anders dort, wo das schöpferische, innenseelische Leben durch den 
Ausdruck seiner Gemütsmelodien mittels ähnlicher Tonmelodien oder 
Gedankenmelodien und Raummelodien sich hinaussingt und reinkar- 
niert. Hier vermag der schaffende Künstler über das Gegebene 
seiner Gemütserlebnisse hinauszuschreiten und neue Ereinheit- 
lichungen zu vollziehen. 

Es scheint fast, als ob diese restlose, schönheiterzeugende Erein¬ 
heitlichung aus einem Drang entspringt, der darin besteht, daß eine 
in Spannungsmomente auseinander differenzierte seelische Einheit 
nach Wiederherstellung ihres ursprünglichen Zustandes tendiert, und 
daß sie (da infolge fortwirkender Hemmungen die Herstellung des 
ursprünglichen Zustandes nicht mehr möglich ist) nun Synthesen 
vollzieht, die einen Abglanz der Einheit bedeuten. Dieser seltsame 
Drang wird vom schaffenden Künstler halbbewußt während des 
Schaffens erlebt. Dieses halbbewußte oder binnenbewußte Erleben 
des Drangs nach Ereinheitlichung bestimmt seine gestaltende Tätig¬ 
keit. Hier scheint fast, als ob ein Zentrum in einer höheren Geistes¬ 
sphäre, das von dem Vollzug der Spannungen nicht berührt worden 
ist, alle diese in der seelischen Peripherie sich vollziehenden Span¬ 
nungsdifferenzierungen binnenbewußt zu überschauen imstande ist 
und Wahlakte vollziehend, sie zu neuen Gebilden zu vereinigen ver¬ 
mag. Dieses Zentrum ist vielleicht identisch mit jenem »Ich denke« 
Kants (Kr. d. r. V. § 16), das die Denksynthesen des Verstandes 
bewirkt. Aber während dort, bei den Denksynthesen die Ereinheit- 
lichungen einem Zweck, d. h. der Erkenntnis dienen, ist die ästhe¬ 
tische Ereinheitlichung Selbstzweck. Die Schönheit der Melodien in 
allen ihren Abarten ist die Folge dieses kunstschaffenden Prozesses. 


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266 


J. K. von Hoesslin, 


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Um Verwechslungen vorzubeugen, müssen wir diesen ereinheit- 
lichenden Vorgang von dem Prozesse der Entspannung, den wir oben 
öfters erwähnt haben, genau abgrenzen. 

Was ist Entspannung? 

Archimedes, der vom Drange beherrscht war, das ihn beschäf¬ 
tigende Problem zu lösen, fühlte sich von einem Freudentaumel 
erfüllt, als er durch die inspirationsartige Lösung des ihn beschäftigen¬ 
den Problems sein Begehren erfüllt sah. Wir nannten diesen Zustand 
des Ubergehens der Strebungsspannungen in das sie erfüllende Ziel: 
Entspannung. 

Auch der, welcher einen Ertrinkenden retten will, würde in den 
beglückenden Zustand einer Erlösung und Entspannung geraten, 
wenn es ihm durch ein Mittel gelänge, den Unglücklichen dem Tode 
zu entreißen. In der akustischen Melodiebildung erfolgt die Ent¬ 
spannung dadurch, daß auf eine Reihe von relativ dissonierenden 
Tönen ein Ton folgt, der alle vorhergehenden Dissonanzspannungen 
zu einem harmonischen Ganzen entspannt. Diese Entspannungen 
sind aber nur relativen kurzbefristeten und vorübergehenden Wertes. 

Schon die populäre Alltagspsychologie weiß, daß Freudengefühle 
nur von kurzer Dauer sind. Bald nach erfolgter Erfüllung hört das 
beglückend« Gefühl auf. »Man hat sich daran gewöhnt« und — man 
strebt, man begehrt, man sehnt sich nach etwas anderem. 

Die Entspannungen, die uns das Leben gibt, sind nur Glieder 
eines fortwirkenden seelischen Werdens. War das hydrostatische 
Gesetz alles, was jener geniale Mann des Altertums finden wollte? 
Ist die Erhaltung des Lebens dieses einen unglücklichen Menschen 
der da vor unseren Augen ertrinkt, alles, was wir wünschen und 
möchten ? 

In vielen Fällen erfolgt die Entspannung nur dadurch, daß ein 
Mittel, welches die Vorbedingung der Erfüllung des Zieles ist, erlangt 
worden ist. Wenn ich bei meinem hastenden Suchen nach einem 
Mittel, das dem Ertrinkenden zu Hilfe gereichen könnte, einen Mann 
kommen sehe, von dem ich annehme, daß er befähigt und gewillt ist, 
dem Unglücklichen beizustehen, so wird nur dieser Umstand allein 
genügen, um mich momentan zu beglücken. Aber auf diese momen¬ 
tane Beglückung werden bald seelische Zustände anderer Art folgen. 
Auch auf die harmonische Entspannung einer Tonreihe können Töne 
folgen, durch andere vorhergehende bedingt, die neue strebende 
Spannungen auslösen. Die Ereinheitlichung ist mit diesen Entspan¬ 
nungsvorgängen verwandt, aber sie ist nicht mit denselben identisch. 
Durch viele sukzessive aufeinander folgende Hemmnisse werden eben- 


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Die Melodie als gestaltender Ausdruck seelischen Lebens. 267 

soviele Spannungsmomente erzeugt, und indem diese Spannungs- 
momente wiederum durch neue Störungen in neue Umwandlungen 
übergehen, erfolgt eine wechselvolle Bewegung, die einer zeitlichen 
Komplexion gleich scheint. In dieser spannenden Reihe seelischer 
Bewegungen sind auch relative und vorübergehende Entspannungen 
hineingewoben. Dieses Ganze von Spannungen und Entspannungen 
ist der Inhalt einer fortlaufenden Gemütsbewegung, die als solche 
zu einer Gestalt ereinheitlicht wird. 

Aber die restlose Ereinheitlichung, die die Schönheit gebiert, be¬ 
steht darin, daß diese fortlaufende Reihe von Spannungen und Ent¬ 
spannungen in ihrer Totalität derart umgeformt wird, daß sie den 
Eindruck einer vollendeten Einheit erzeugt. 

Was aus einer primären Einheit als eine Reihe von Spannungen 
und Differenzierungen dieser noch im Kerne latent fortbestehenden 
wirklichen Einheit hervorquillt, wird jetzt zum Gliede einer sekun¬ 
dären, harmonischen, schönen Ereinheitlichung. In diesem Prozesse 
der kunstschaffenden Tätigkeit wird der ursprüngliche Spannungs¬ 
ablauf des Gemütes ergänzt, er wird umgebogen und umgewandelt; 
der Ablauf der Spannungen und Entspannungen wird umgeformt, 
umgestaltet. 

Bei diesem Schönheit erzeugenden Prozeß begegnen wir zwei der 
Kunstpsychologie längst bekannten Erscheinungen: 

Entweder ist die verschönernde Ergänzung derart, daß der 
seelische Ausdruck darunter erstickt wird und nur eine äußere ästhe¬ 
tische Gefälligkeit übrigbleibt. 

Oder durch diese Umbiegung und Umformung des ursprünglichen 
Spannungsablaufs werden neue seelische Spannungen erzeugt, die 
etwas Neues, bisher nicht Erlebtes darstellen. Neue Melodieerlebnisse, 
neue formale Gefühle, die keinem bisher im realen Leben gegebenen 
Gefühl analog sind, werden durch diese Umbiegungen ausgelöst. 
Es sind Phantasiegefühle, die nur durch die Spannungen der neuge¬ 
schaffenen Melodien entstehen; es sind Gefühle, die es bisher niemals im 
wirklichen Leben gegeben hat. Diese neuen Phantasiegefühle sind 
vielleicht nur in den Melodien möglich. Wer sich in das Wesen der 
Mozart sehen Musik hinein vertieft, wird verstehen und mitfühlen, 
was wir hier meinen. In dieser Musik treten sie deutlich hervor. 
Aber es gibt keine Musik, die nicht diese aus formalen Gründen ent¬ 
stehenden neuen Phantasiegefühle besitzt. Und ein drittes kommt 
noch hinzu: Durch die Ereinheitlichung, die aus dem Drang nach 
Rückkehr in die Einheit des Dranfänglichen entspringt, wird, wenn 
diese Ereinheitlichung eine restlose ist, das Ganze des Lebens wider- 


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268 J- K. von Hoesslin, Die Melodie als gestaltender Ausdruck usw. 


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gespiegelt. Dann scheinen die letzten Tiefen des Urquells dieser Er- 
einheitlichung sich uns zu offenbaren. Durch diese restlose Erein- 
heitlichung kommt ein inneres Erlebnis zustande, das ein unmittel¬ 
bares Hineinfühlen in d%s Ewige zu sein scheint. Ein Gefühl der 
Heiligkeit und überweltlichen Größe durchdringt die Gebilde der 
Kunst in diesem Fall, und die Schönheit scheint jetzt himmlischen 
Ursprungs zu sein. Wir erinnern an die großen Schöpfungen Beet - 
hovens und Bachs. 


(Angenommen am 20. Dezember 1918.) 


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Zur Frage der »logischen < Wertung. 

Von 

Erich Stern. 

I. 

Theodor Haering hatte in einer eingehenden Arbeit 1 ) die Psy¬ 
chologie der Wertung zum Gegenstand seiner Untersuchungen ge¬ 
macht. Dabei war er zu dem ihm befremdlichen Ergebnis gelangt, 
daß »jeder Wertungsvorgang uns immer auf einen anderen Wert 
zurückführe«, und daß sich mithin der Wertbegriff psychologisch 
niemals restlos auflösen lasse, sondern immer bei der Analyse ein 
Wert als notwendige und nicht weiter analysierbare Voraussetzung 
zurückbleibt. Jede Wertung stellt danach eine Subsumption unter 
eine bereits vorhandene Wertsphäre dar; wie sich diese letztere ent¬ 
wickelt habe, das zu untersuchen sei eine zw T eite Aufgabe; aber auch 
sie führe nicht zu einer restlosen Auflösung des Wertbegriffes, sondern 
ebenfalls auf einen bereits bestehenden Wert zurück. Gegen diese 
Auffassung hatte Messer 2 ) zunächst Stellung genommen, und er 
hatte die Ansicht geäußert, daß sich ein Wert für uns dadurch kon¬ 
stituiere, daß wir etwas begehren, was uns dann befriedigt und auf 
Grund hiervon erst zum Wert für uns wird. »In diesem Sinne muß 
sich der Wertbegriff psychologisch auflösen lassen.« Demgegenüber 
betont Haering, daß alles, was begehrt wird, bereits eine Wertung 
voraussetzt. Ich selbst hatte in einer früheren Untersuchung 8 ) 
bereits gezeigt, daß im Gegensatz hierzu sich tatsächlich nach- 

1) Theodor Haering, Untersuchungen zur Psychologie der Wertung. 
Archiv für die ges. Psychol. 1912. Bd. XXVI und XXVII; ferner: Zur Wert- 
peychologie, insbesondere zum Begriff der logischen oder Erkenntniswertung. 
Ebenda. 1918. Bd. XXXVI. 

2) Messer, Psychologie. Stuttgart 1914. S. 310ff. 

3) Stern, Beiträge zur Psychologie der Wertung, mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Zeitstufe der Realisierung und des Problems der Rangstufe der 
Werte. Inaug.-Dissert. Gießen 1917. 



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Erich Stern, 


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weisen läßt, auch wenn man anders vorgeht wie Haering, daß 
jede Wertung auf einen bereits bestehenden Wert zurückführt, mit¬ 
hin immer bereits ein Wertbewußtsein voraussetzt. Und auch Messer 
hat seine ursprüngliche Ansicht dahin modifiziert. Wir können uns 
also in den folgenden Untersuchungen in Übereinstimmung mit 
Haering und Messer auf den Standpunkt stellen, daß sich der 
Wertbegriff psychologisch nicht auflösen läßt und daß 
jede Wertung ein Subsumptionserlebnis darstellt. 

Haering war bei seinen Untersuchungen von der allgemein 
üblichen Einteilung der Werte ausgegangen, und er hatte hedonische, 
ethische, logische und ästhetische Werte unterschieden. Diese Ein¬ 
teilung ist auf Widerspruch gestoßen. So hat Messer 1 ) gezeigt, daß 
sie dem vorwissenschaftlichen Bewußtsein durchaus nicht geläufig 
ist, und daß einige Wertgebiete in dieser Einteilung nicht enthalten 
sind. Besonders aber hat man eingewandt, daß die von Haering 
als »logische« Werte bezeichnete Gruppe keine Werte darstellen; so 
sagt Kraus 2 ) geradezu: »Es ist zu hoffen, daß diese Einordnung, 
oder richtiger gesagt, Unordnung (der logischen Werte unter die Werte 
überhaupt) nicht weiter mehr um sich greifen wird.« Im wesent¬ 
lichen handelt es sich, wie mir scheint, um ein Mißverständnis auf 
Seite von Kraus; was Haering mit der Bezeichnung »logische« 
Wertung ausdrücken will, ist doch nur: »Wenn ich etwas als wahr 
erkenne oder erlebe, so liegt damit und darin eine Wertung beson¬ 
derer Art vor: nämlich eben eine ,Wahrheitswertung‘ oder .Wahr¬ 
wertung'«; so erlebe ich es mit anderen Worten als meinem ,Erkennt- 
nisidear oder ,Erkenntniszier konform und als in dieser Beziehung, 
d. h. für das Erkennen, bzw. das Erreichen des Zieles desselben 
(z. B. des Aufbaus eines objektiven Weltbildes) ,wertvoll', ganz 
parallel etwa einer moralischen Wertung, wo ich auch z. B. etwas 
als meinem ethischen Ideal usw. ,konform' erleben bzw. beurteilen 
kann.« Bei der Bezeichnung »logische« Wertung handelt es sich nicht 
darum, daß die Wahrheit oder die Erkenntnis von Menschen wert¬ 
geschätzt wird, sondern darum, um es so auszudrücken, daß das 
Erieben der Wahrheit, das Erkennen als Wertung erlebt wird, daß 
also die Prädikate »wahr«, »falsch«, »richtig«, »unrichtig« Wert¬ 
prädikate sind, die auf der gleichen Stufe stehen wie die Prädikate 
»gut«, »schlecht« zum Beispiel. 

1) Messer, Zur Wertpsychologie. Archiv für die ges. Psychol. 1913. 
Bd. XXXIV. S. 172 ff. 

2) Kraus, Philosophie der Werte. In: Jahrbuch für Philosophie. Bd. II. 
1913. 


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Zur Frage der »logischen« Wortung. 


271 


Gegen diese eben skizzierte Auffassung von Haering hatte 
Messer eingewandt, daß er in einem Urteil wie »das ist eine Rose« 
ein Wertungserlebnis nicht erblicken könne, daß sich psychologisch 
überhaupt keinerlei Erlebnisse beim Fällen dieses Urteils nachweisen 
ließen. Damit stimmen die Untersuchungen von Marbe 1 ) überein, 
der auch experimentell feststellen konnte, daß es keine psychi¬ 
schen Vorgänge gäbe, die ein Urteil als Urteil psycho¬ 
logisch charakterisierten. Daß das für den Urteilsvorgang seine 
Berechtigung hat, das habe ich selbst 2 ) in einer früheren Unter¬ 
suchung dargelegt. Etwas anderes aber gilt für das Wertungserleb- 
nis. Ein genuines Wertungserlebnis, gleich ob es sich um eine logische, 
eine ethische oder sonst irgendeine Wertung handelt, kann in seiner 
typischen Art nur da vorliegen, wo, wie Haering sich ausdrückt, 
sich für das wertende Bewußtsein ein Wert konstituiert, d. h. wo er 
erstmalig für das betreffende Bewußtsein zustande kommt; das gleiche 
Erlebnis muß auch naturgemäß da vorliegen, wo der Wert nicht zum 
absolut ersten Male erlebt wird, sondern auch da, wo er sich ohne 
Bezug auf ein früheres Erleben des gleichen Wertes neu konstituiert. 

Nehmen wir nun an, daß der Satz »dies ist eine Rose« unter 
gewissen Bedingungen eine Wertung darstellen kann, so 
fragen wir uns, warum dies in der Regel nicht der Fall ist. Die 
Antwort darauf ergibt sich wohl bereits aus unseren vorausgegangenen 
Darlegungen. Wenn ich eine Blume vor mir stehen habe, welche diese 
und diese Form und Farbe hat, welche den charakteristischen Geruch 
besitzt, und ich spreche dann den Satz aus: »dies ist eine Rose«, 
so konstituiert sich hier für mich keine neue Erkenntnis, vielmehr 
urteile ich einfach auf Grund meiner mir geläufigen und im Augen¬ 
blick zur Verfügung stehenden Kenntnisse rein mechanisch. Und 
doch kann auch dieser Satz eine Wertung darstellen. Setzen wir den 
Fall, jemand erblickt eine ihm bis dahin unbekannte, von den ihm 
geläufigen Spielarten ziemlich erheblich abweichende Rose, erblickt 
sie zum ersten Male; er kann dann vielleicht die Pflanze nicht so¬ 
gleich unterbringen, er will wissen, um was für eine Art es sich handelt, 
er denkt nach, überlegt, bemüht sich, aus seiner Erinnerung und 
durch Vergleichen zum Ziel zu kommen, und endlich dämmert in 
ihm die Erkenntnis auf, daß es sich bei der vorliegenden Pflanze um 
eine Rosenart handeln müsse. Vorhanden und richtunggebend für 

1) Marbe, Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. 
Leipzig 1901. 

2) Denkpsychologische Untersuchungen an Himverletzten. Joum. f. 
Psychol. u. Neurol. 1917. Bd. XXIII. S. 77 ff. 


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272 


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den Ablauf der seelischen Funktionen ist die »Erkenntnistendenz«, 
sie bestimmt die auftauchenden Vorstellungen; einige von diesen 
werden sogleich als nicht zutreffend, dem Erkenntnisziel nicht »kon¬ 
form« verworfen, bis endlich die: »das ist eine Rose« als richtig, 
als dem Erkenntnisziel »konform« erlebt wird. 

Ähnlich spielt sich das Wiedererkennen ganz allgemein ab, sofern 
es nicht sofort mühelos, gleichsam automatisch gelingt. Ich sehe 
einen Menschen, dessen Gesicht mir bekannt vorkommt; ich erinnere 
mich, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, ohne daß ich im 
Augenblick anzugeben vermag, wo das war und wer die betreffende 
Person ist. Ich überlege, und wenn ich nicht sogleich finde, um 
wen es sich handelt, dann bleibt eine Zeitlang ein unangenehmes, 
quälendes Gefühl zurück, das mich immer wieder zwingt, mich mit 
der an und für sich so gleichgültigen Sache zu beschäftigen. Betz 1 ) 
hat sich in einer soeben erschienenen ausführlichen Arbeit auch mit 
dieser Erscheinung eingehend beschäftigt und er spricht geradezu 
davon, daß eine bestimmte »Einstellung« (worunter er allerdings 
nicht das gleiche versteht wie Haering) vorhanden ist, und daß die 
auftauchenden Vorstellungen angenommen oder verworfen werden, 
je nachdem ob sie zu dieser Einstellung »passen« oder nicht. Die 
Untersuchungen von Haering finden bei Betz gar keine Berück¬ 
sichtigung, sonst hätte ihm unbedingt die nahe Beziehung seines 
Standpunktes zu dem Ergebnis der Untersuchungen von Haering 
in dieser Frage auffallen müssen. 

Auch in einer großen Anzahl von pathologischen Fällen finden 
sich Bewußtseinsvorgänge, die im Sinne der Auffassung von Haering 
sprechen. Das gilt besonders von Fällen mit den verschiedenen 
Formen von Agnosie; man vergleiche unter diesem Gesichtspunkt 
einmal die sehr interessanten Untersuchungen von Goldstein und 
Gelb 2 ). Ich selbst habe mich in meiner schon oben zitierten Arbeit 
über denkpsychologische Untersuchungen an Himverletzten mit 
dieser Frage eingehender beschäftigt. Bei meinen Versuchspersonen 
lagen die Dinge so, daß, wie ich hier, meine damaligen Ergebnisse 
zusammenfassend, bemerken möchte, sie vor ihrer Verwundung 
zweifellos in der Lage waren, ein kleines Holzkästchen, eine Lese¬ 
fibel usw. richtig zu erkennen, oder den Namen dieser oder jener 

1) Betz, Psychologie des Denkens. Leipzig, Joh. Ainbr. Barth, 1918. 

2) Goldstein und Gelb, Psychologische Analysen hirnpathologischer 
Fälle auf Grund von Untersuchungen Himverletzter. I. Abhandlung: Zur 
Psychologie des gestörten Wahmehmungs- und ErkennungsVorganges. Zeit¬ 
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 1918. Bd. XLI. S. 1—142. 


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Zur Frage der »logischen« Wertung. 


273 


bekannten Persönlichkeit anzugeben, daß der Patient wußte, wohin 
ein Mörder kommt, kurz, daß er die ihm damals gestellten überaus 
einfachen Aufgaben ohne weiteres richtig zu lösen vermochte. Allein 
zur Zeit der Untersuchung war dies infolge der erlittenen Verwun¬ 
dung nicht mehr möglich. Was früher mühelos gelang, das mußte 
der Patient nun erst mühevoll durchdenken, und die Lösung gelang 
oft nur dann, wenn man ihm gewisse Hilfen gab. Für den in seinem 
ganzen psychischen Leben schwer geschädigten Patienten handelte 
es sich nun darum, all das, was ihm an für das Leben erforderlichem 
Wissen, d. h. an dem Bestand seiner Erkenntnissphäre, verloren 
gegangen war, möglichst rasch und vollkommen wieder zu erwerben, 
neue Kenntnisse zu sammeln. Es bestand also in der Tat bei ihm 
sehr ausgesprochen eine Erkenntnistendenz, d. h. eine Tendenz zur 
Ausbildung (Wiederherstellung) eines Weltbildes (Erkenntnissphäre). 
So viel glaube ich damals bewiesen zu haben, daß es berechtigt 
ist, in diesen Fällen von einer »logischen« Wertung zu 
sprechen. 

Handelt es sich bei dieser Gruppe von Wertungserlebnissen um 
»Richtig-Falsch«-Wertungen, so handelt es sich in einer anderen 
Gruppe um »Objektiv-Subjektiv«-Wertungen, d. h. um die 
Entscheidung der Frage: Ist für eine vorhandene Empfindung ein 
objektiver Reiz gegeben oder nicht. Aber auch hier finden wir in 
der Regel beim erwachsenen Menschen kein Wertungserlebnis mehr. 
Ich sitze und träume vor mich hin, vor meinen Augen tauchen die 
verschiedensten Bilder auf, aber sofort weiß ich, daß es eben nur 
Bilder sind, denen objektiv nichts entspricht. Anders kann es schon 
im Zustande des Halbschlafs oder unmittelbar nach dem Erwachen 
sein. Hier kommt es nicht allzu selten vor, daß man sich im ersten 
Augenblick nicht ganz klar darüber ist, ob man nur träumt oder 
bereits wirklich, »objektiv«, etwas vor sich hat. Auch in diesem 
Falle handelt es sich um ein Wertungserlebnis, um eine Objektiv- 
Subjektiv-Wertimg. Ist aber der Mensch erst vollständig erwacht, 
dann vollzieht er sofort die Einstellung, daß nunmehr alles, was er 
als objektiv erlebt, auch wirklich objektiv eine entsprechende Grund¬ 
lage habe. 

Das gilt nicht von Patienten mit Halluzinationen. Eine große 
Anzahl hält ja die Stimmen oder die visionären Erscheinungen für 
absolut real; aber bei einer anderen Gruppe von Kranken finden sich 
doch auch solche, die bis zu einem gewissen Grade Krankheitseinsicht 
besitzen und sich die Frage vorlegen, ob den gehörten Stimmen, den 
gesehenen Erscheinungen wirklich objektiv etwas entspräche. Es 


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ist äußerst interessant, zu verfolgen, wie die Kranken hier zu einer 
Entscheidung zu kommen versuchen, nach welchen Kriterien sie 
dabei urteilen. Wie dieses Material für die Psychologie der Wertung 
nutzbar zu machen ist, darauf werden Haering und ich in einer 
gemeinsamen Arbeit später ausführlicher eingehen. 

Aber es gibt noch einen anderen, experimentellen Weg, den man 
zur Klärung der Frage, ob die sogenannten »logischen« Wertungen 
wirklich als Wertungen aufzufassen seien, einschlagen kann, und über 
Versuche, die ich in dieser Richtung angestellt habe, will ich in den 
folgenden Darlegungen kurz berichten. Der normale, vollsinnige 
Mensch baut sein Weltbild im allgemeinen mit Hilfe der beiden 
sogenannten höheren Sinne auf, d. h. mit Hilfe des Auges und des 
Gehörs; die anderen Sinne, die man sich als »niedere« zu bezeichnen 
gewöhnt hat, spielen dabei in der Regel nur eine sehr untergeordnete 
Rolle. Die Erfahrungen, die Auge und Ohr dem vollsinnigen Er¬ 
wachsenen liefern, sind ihm daher so geläufig, daß es sich beim Wahr¬ 
nehmen und Erkennen mittels dieser Sinne um Wertungserlebnisse 
in der Regel nicht handeln wird. Der Blinde benutzt zum Aufbau 
seines Weltbildes den Tastsinn, und dieser ist bei ihm kompensatorisch 
so fein ausgebildet, daß es ihm gelingt, mit seiner Hilfe alle möglichen 
Gegenstände zu erkennen. Man vergegenwärtige sich das Beispiel 
Hellen Kellers, deren Tastsinn so fein ausgebildet war, daß sie 
sogar mit seiner Hilfe (dadurch, daß sie die Finger auf das Klavier 
auflegte) Melodien zu erkennen in der Lage war. Aber nicht nur die 
Empfindlichkeit der Hand, auch die der ganzen übrigen Körperober¬ 
fläche, besonders der nicht bedeckten Teile, ist ganz besonders fein 
ausgebildet; so erkennt der Blinde z. B. mit Hilfe der in der Stirn 
endigenden Nervenfasern, ob er sich einer Wand nähert oder nicht. 
Derartiges gelingt dem Vollsinnigen in der Regel nicht, ja es ist ihm 
meist schon kaum möglich, Gegenstände, die ihm nicht sehr geläufig 
sind, die er aber mit dem Auge sofort erkennt, durch Tasten zu 
bestimmen. 

Etwas ähnliches gilt für den Geschmackssinn. Im allgemeinen 
ist dieser nicht übermäßig fein organisiert, aber es gibt Menschen, 
bei denen das Geschmacksorgan so ungemein fein entwickelt ist, daß 
sie, um ein Beispiel heranzuziehen, nicht nur die Weinsorte, sondern 
auch den Jahrgang am Geschmack erkennen. Viele Menschen be¬ 
sitzen einen fein entwickelten Geruchssinn, vermittels dessen sie 
schon kleine in der Luft vorhandene Verunreinigungen zu erkennen 
vermögen. Aber in der Norm, bei der Mehrzahl der Menschen sind 
diese Sinnesgebiete so schwach entwickelt, daß es ihnen Schwierig- 


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Zur Frage der »logischen« Wertung. 275 

keiten bereitet, wenn sie mit ihrer Hilfe irgendwelche nicht sehr 
geläufige Gegenstände erkennen sollen. 

Diese Tatsache habe ich mir nun in den folgenden Untersuchungen 
zunutze gemacht, und ich habe einer Reihe von Versuchspersonen 
(s. nächsten Abschnitt) die Aufgabe gestellt, 1) mittels des Tast¬ 
sinnes, 2) mittels des Geruchssinnes und 3) mittels des Geschmacks¬ 
sinnes irgendwelche Gegenstände (Stoffe, Substanzen) zu erkennen. 
Dabei zerfallen die Untersuchungen in zwei Teile: einmal nämlich 
handelt es sich darum, festzustellen, welcher Natur ein bestimmter 
Gegenstand ist, d. h. die Versuchsperson weiß, daß ihr irgend etwas 
vorgelegt wird, und sie hat anzugeben, was ihr vorgelegt wird, es 
handelt sich also um eine Richtig-Falsch-Wertung. Tm zweiten Falle 
soll die Versuchsperson angeben, ob überhaupt ein objektiver Reiz 
vorhanden ist oder nicht, es handelt sich mithin um eine Objektiv- 
Subjektiv-Wertung. Das Nähere über das Vorgehen und die In¬ 
struktion gebe ich in den entsprechenden Abschnitten. 

II. 

Wir gehen nunmehr zunächst auf die erste der beiden Fragen ein: 
Was erlebt die Versuchsperson, wenn sie mit Hilfe eines der drei 
Sinnesorgane, Geruch, Geschmack, Tastsinn einen ihr dargebotenen 
Gegenstand erkennen und eine Aussage darüber machen soll, um 
was für einen Gegenstand es sich handelt, was dem Reiz objektiv 
entspricht. Die Versuchsperson wurde mit zugebundenen Augen in 
den für die Untersuchungen bestimmten, außerdem noch stark ver¬ 
dunkelten Raum gebracht, so daß sie sich vor Beginn der Versuche 
nicht darüber orientieren konnte, was für Gegenstände vorhanden 
waren und für die Versuche bereitlagen. Dann setzte sie sich auf 
einen Stuhl, dem Versuchsleiter gegenüber. Sämtliche Aussagen der 
Versuchsperson wurden sofort protokolliert; wo Hilfen gegeben, 
Zwischenfragen gestellt wurden, findet sich dies in den Protokollen 
besonders vermerkt. Ich gebe hier nicht alle erhaltenen Protokolle 
wieder, sondern beschränke mich auf die Mitteilung einiger Beispiele, 
da diese schon genügen, um unsere Frage zur Entscheidung zu bringen. 

Zunächst eine Übersicht über die Versuchspersonen. Ich werde 
dieselben in den folgenden Ausführungen nur mit den entsprechenden 
Buchstaben bezeichnen. 

A: männlich, 29 Jahre alt, Dr. med. 

B: weiblich, 26 Jahre alt, zurzeit Laborantin. 

C: männlich, 27 Jahre alt, Dr. med. 


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D: weiblich, 28 Jahre alt, studiert Musik. 
E: männlich, 34 Jahre alt, Schriftsteller. 
F: männlich, 40 Jahre alt, Mechaniker. 
G: männlich, 29 Jahre alt, Dr. phil. 

H: männlich, 27 Jahre alt, Buchdrucker. 


a. 

Zunächst wurden Versuche angestellt, bei denen die Versuchs¬ 
person mittels des Tastsinnes Gegenstände, die ihr vorgelegt wurden, 
zu erkennen hatte. Dabei wurde ihr die folgende Instruktion gegeben: 

»Ich werde Ihnen der Reihe nach einzelne Gegenstände in 
die Hand geben. Betasten sie dieselben allseitig und ausgiebig; 
sobald Sie gefunden haben, um was für einen Gegenstand es sich 
handelt, geben Sie die Bezeichnung an; dann geben Sie Ihre 
Erlebnisse möglichst ausführlich zu Protokoll.« 

Wie zu erwarten war, zeigt sich, daß einfache Gegenstände sofort 
und ohne Schwierigkeiten erkannt werden, so ein Bleistift, eine Feder, 
ein Taschenmesser usw. Derartige Gegenstände wurden aber doch 
regelmäßig geboten, teils vor anderen, teils zwischen solchen, die 
die Versuchsperson nicht erkennen konnte. Auch muß hervorgehoben 
werden, daß bei den einzelnen Versuchspersonen verschiedene Gegen¬ 
stände genommen wurden, da, was dem einen fremd und ungeläufig 
ist, dem anderen bekannt ist, von ihm also leicht und ohne Besinnen 
erkannt wird, während es dem ersten schwer war, die geforderte 
Bezeichnung anzugeben. 

Ich gehe nun zur Mitteilung der Protokolle über: 

Vp. A: Die Versuchsperson erkennt einfache, ihr geläufige Gegen¬ 
stände durch Betasten sofort und ohne Schwierigkeiten. Es wird ihr 
dann ein kleiner rundovaler Taschenspiegel vorgelegt; sie betastet 
ihn allseitig und sagt nach etwa 1 Minute: Ich wußte zunächst nicht, 
worum es sich handelt; merkte nur etwas Rundes, Glattes; zunächst 
dachte ich an eine Erkennungsmarke, wie sie die Soldaten haben, 
Bah dann aber, daß die Gravierung fehlte. Ich überlegte, was es sonst 
sein könnte, dann fiel mir der umgeschlagene Rand und die große 
Glätte auf; daran erkannte ich, daß es wohl ein Taschenspiegel sein 
müßte. Wie Vp. auf Befragen angibt, sei sie nicht ganz sicher gewesen. 

Vp. B. erhält den Stiel eines Hörrohrs, dem die Ohrmuschel ab¬ 
genommen ist. Vp. betastet ihn längere Zeit und weiß dann nicht, 
um was für einen Gegenstand es sich handelt. Sie gibt an: »Ich be¬ 
kam den Gegenstand mit der breiten Seite in die Hand. Zunächst 


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Zur Frage der »logischen« Wertung. 277 

hatte ich das Gefühl, es müsse ein Trichter sein. Dann fühlte ich aber, 
daß es dafür zu dick sei und daß der Stiel zu lang sei. Ich dachte 
dann an eine Trompete, aber es fehlte ein Mundstück; ich konnte 
aber auch nichts anderes finden. Auf Befragen erklärt die Vp., daß 
sie sich ernstlich bemüht habe, das Richtige zu finden; sie sei ein 
unangenehmes Gefühl dabei nicht losgeworden. 

Vp. C: Es wird der Vp. ein Garnknäuel vorgelegt. Vp. nimmt es 
in die Hand und betastet es allseitig, ohne scheinbar zu einem Er¬ 
gebnis kommen zu können. Dann findet sie das Ende des Fadens, 
zieht daran und sagt sofort, daß es sich um ein Garnknäuel handle. 
Sie gibt dazu an: »Ich hatte anfangs nur den Eindruck des Rund¬ 
lichen und Rauhen, konnte aber damit meine Aufgabe nicht für er¬ 
ledigt halten, denn damit war über den Gegenstand als solchen doch 
noch nichts Näheres ausgesagt; ich konnte aber im ersten Augenblick 
nichts anderes finden, bis ich zufällig den Faden fand; da wußte ich 
sofort, daß es nur ein Garnknäuel sein könnte.« Auf meine Frage, 
ob sie irgendein wnangenehmes Gefühl erlebt hätte, als sie nicht 
eine passende Lösung fand, verneint die Vp. dies; sie habe nur weiter 
nachgedacht und sich mit der Frage beschäftigt, weil die Aufgabe 
es verlangte. 

Vp. F: Es wird der Vp. ein scharfer Löffel, wie er in der kleinen 
Chirurgie Verwendung findet, vorgelegt. Vp. fährt mit den Fingern 
der rechten Hand zunächst den Konturen nach, überlegt dabei sicht¬ 
lich, kann zu einem Ergebnis nicht kommen, fragt, ob er den Gegen¬ 
stand überhaupt kennen müsse. Das wird ihm versichert. Darauf 
sucht er durch nochmaliges Nachfahren sich Klarheit zu verschaffen. 
Kann scheinbar immer noch nicht die richtige Bezeichnung finden. 
Dann fühlt er die scharfen Ränder des Löffelteils und sagt, es sei 
sicher »ein Ding zum Schaben«. Vp. gibt dazu an: »Ich konnte mir 
kein Bild machen, was das für ein Ding sein könne. Ich hatte den 
Eindruck, daß ich sowas noch nie in der Hand gehabt hatte. Deshalb 
fragte ich, ob ich es kennen könnte. Als der Herr Doktor gesagt 
hatte, daß ich es kennen müßte, sagte ich mir, dann muß ich es auch 
erkennen. Ich kam aber nicht darauf, erst als ich die scharfen Kanten 
merkte, dachte ich, daß es ein Werkzeug sein müsse, zum Schaben, 
mehr wußte ich beim besten Willen nicht anzugeben.« Auch bei 
dieser Vp. spielen gefühlsmäßige Erlebnisse keine Rolle, sie gibt hin¬ 
gegen an, daß sie sich wiederholt leise die Frage vorgesprochen habe, 
was das wohl für ein Gegenstand sein könne. 

Vp. G: Es wird der Vp., die sehr musikalisch ist, ein Notenheft 
vorgelegt. Vp. nimmt das Buch in die Hand und blättert, sagt dann 

Archiv für Psychologie. XXXIX. 19 


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• 

sogleich lächelnd: »ein Buch«; auf meine weitere Frage, was für 
ein Buch es wohl sei, weiß sie zunächst keine Antwort, blättert durch, 
überlegt sichtlich. VI. fragt weiter, was für Bücher, die der Vp. 
sicher gut bekannt seien, da sie sich sehr viel mit ihnen beschäftige, 
in dieser Größe erscheinen. Es dauert dann eine Weile, bis Vp. lächelnd 
sagt, es seien Noten. Dazu gibt die Vp. an: »Ich war sehr gespannt 
auf den Versuch, nachdem ich die ersten Gegenstände mühelos er¬ 
kannt hatte. Ich hatte es mir nicht so leicht vorgestellt, Gegen¬ 
stände durch Tasten zu erkennen, denn ich hatte es noch nie ver¬ 
sucht. Ich nahm den Gegenstand in die Hand, in der Erwartung, 
was es wohl diesmal sein würde. Sofort fühlte ich eine gewisse Er¬ 
leichterung, als ich merkte, daß es ein Buch sei. Auf die weitere 
Frage, was für ein Buch, hatte ich zunächst die Empfindung, wie 
kann man das nach dem Tasteindruck entscheiden, welchen Inhalt 
ein Buch habe, als ich die Größe hörte, wurde mir die Aufgabe klarer 
und dann kam ich sofort dahinter.« 

Beschränken wir uns auf diese Beispiele. Was geht nun aus 
ihnen hervor? Zunächst möchte ich hervorheben, daß nicht alle 
Aussagen bei diesen Versuchen so klar sind wie bei den von Haering 
mitgeteilten Protokollen. Das hat aber seine Ursache darin, daß die 
Mehrzahl meiner Vpn. eine psychologische Schulung nicht besitzt 
und noch gar nicht oder nur höchst selten an derartigen Versuchen 
teilgenommen hat. Daher finden wir in ihren Aussagen Angaben, 
wie sie sich bei Haerings Vpn. finden: »Ich war darauf eingestellt« 
oder »Ich vergegenwärtigte mir die Instruktion« usw. in meinen 
Protokollen nicht. Wir müssen also bisweilen durch Zwischen¬ 
fragen aus der Vp. herauszuholen versuchen, was sie von allein 
nicht gibt und müssen vor allen Dingen ihre Aussagen richtig aus¬ 
deuten. 

Zunächst geht aus allen Aussagen hervor, daß die Vpn. der Auf¬ 
gabe, die ihnen gestellt wurde, nachzukommen bestrebt waren, mit 
anderen Worten, sie hatten sich darauf eingestellt, die Instruktion 
zu erfüllen, es besteht also bei ihnen eine »Erkenntnistendenz«. In 
einer großen Anzahl der Fälle kann die Vp. sofort angeben, um was 
für Gegenstände es sich handelt. Gelingt das aber nicht, so besteht 
also eine Diskrepanz zwischen dem Streben (der Erkenntnissphäre) 
und dem Können. Daraus resultiert in einigen Fällen (so bei B) 
ein unangenehmes Gefühl. Uber die Einstellung selbst hören wir nur 
von Vp. G etwas Näheres, sie spricht hier von einer Spannung, Er¬ 
wartung, ob sie die Aufgabe (die ihr also während der ganzen Dauer 
des Versuches gegenwärtig sein mußte) würde erfüllen können. 


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Zur Frage der »logischen« Wertung. 279 

Vp. F gibt an, daß er sich die Aufgabe (was kann das wohl sein?) 
mehrmals wiederholt habe. 

Gelingt die Lösung nicht immittelbar, so tauchen eine Reihe von 
Vorstellungen auf, die in ihrem Inhalt durch die determinierende 
Tendenz bestimmt werden. Scheint die auftauchende Lösung nicht 
richtig, d. h. erscheint sie der »Erkenntnistendenz« (dem Erkenntnis¬ 
ideal) nicht »konform«, so wird sie verworfen, d. h. es findet hier 
eine negative Wertung, eine Falsch-Wertung statt. Diese kann eine 
gefühlsmäßige sein, wird aber in der Mehrzahl der Fälle eine intellek¬ 
tuelle sein. Taucht dann die richtige Lösung auf (oder die vermeint¬ 
lich richtige Lösung), so erlebt die Vp. die Übereinstimmung der¬ 
selben mit ihrem Erkenntnisziel, es findet eine positive Wertung, 
eine Richtig-Wertung statt. Auch diese kann gefühlsmäßig sein, so 
bei der Vp. G, sie kann aber auch, und wird es in der Mehrzahl der 
Fälle zweifellos sein, intellektuell sein. 

Als sehr geeignet für unsere Zwecke hat sich die folgende Ver¬ 
suchsanordnung erwiesen. Auf einen Karton waren Buchstaben und 
Ziffern aufgeklebt, so daß sie über den Karton erhaben waren und 
beim Herüberfahren deutlich zu fühlen waren. Der Vp. wurde nun 
ein solches Kärtchen in die Hand gegeben, und sie hatte dann das¬ 
selbe zu betasten und anzugeben, was für ein Zeichen sich auf der 
Karte befand. Ich habe den Versuch mehrmals mit mir selbst an¬ 
gestellt; es ist durchaus nicht so leicht, wie es zuerst scheint, die 
richtige Deutung zu geben, man gerät, wenigstens bei meinen Buch¬ 
staben und Ziffern, überaus leicht von einer Konturlinie auf die andere 
und verliert damit die Orientierung. Auch fast allen Vpn. wurde die 
Lösung ziemlich schwer, wenigstens im Anfang; es muß aber hervor¬ 
gehoben werden, daß sich bei mehrmaliger Wiederholung der Ver¬ 
suche eine deutliche Übbarkeit geltend macht und sich dann das 
Erlebnis nicht mehr in seiner typischen Form nachweisen läßt. 

Vp. C erhält eine »8« vorgelegt und meint, es sei eine 2. Er gibt 
dazu an: »Ich hielt diese Aufgabe entschieden für leichter als die 
vorhergehenden, denn als Kind hatte ich schon mit Lottosteinen 
ähnliches versucht. Daran dachte ich sofort. Ich war höchst erstaunt, 
als ich die Karte in die Hand bekam und nicht sofort wußte, was für 
eine Zahl darauf stand. Ich dachte aber, ich müsse es doch finden; 
als ich nachfuhr, kam ich immer von einer Linie in die andere, selbst 
als ich mich sehr bemühte. Ich habe die obere Schleife auch richtig 
erkannt, merkte aber nicht, daß auch die untere geschlossen sei, 
und hielt es daher für eine 2. Ich muß zugeben, daß ich viel dabei 
geraten habe.« 

19 * 


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280 


Erich Stern, 


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Vp. D erhält ein kleines lateinisches »a« vorgelegt; gibt es richtig 
an und sagt darüber aus: »Ich dachte mir, das kann doch nicht so 
schwer sein, denn die Blinden lernen es doch sehr rasch und tasten 
doch alles nur mit den Fingern ab. Als ich dann die Karte bekam, 
meinte ich zuerst, es sei ein o, fuhr aber der Sicherheit halber noch 
einmal nach und bemerkte dann einen quer verlaufenden Strich. 
Dann tastete ich noch einmal darüber und sagte mir das Alphabet 
her. Einmal war ich ganz durch, dann erst kam ich darauf, daß es 
ein a sein müsse, weil kein anderer Buchstabe sich so anfühlen 
könne.« 

Auch diese Versuche zeigen, daß es sich bei dem Erlebnis des Er- 
kennens um eine Wertung handelt. Gegeben ist auch hier wieder 
die »Erkenntnistendenz«, die den Vorstellungsablauf bestimmt. 
Taucht eine Vorstellung auf, die dem Reiz entspricht, so wird sie als 
dieser Erkenntnistendenz konform erlebt, d. h. es findet eine positive 
Wertung statt. 


b. 

In einer folgenden Reihe von Versuchen habe ich der Vp. die 
Aufgabe gestellt, mittels des Geruchssinnes festzustellen, was für ein 
Gegenstand exponiert wurde. Auch hier bieten die schon oben er¬ 
wähnten Ausführungen von Betz ein Beispiel, das in unserem Sinne 
Verwertung finden kann. Betz führt aus, daß, wenn er an dem 
Geruch feststellen will, was für eine Pflanze er vor sich hat, der Ein¬ 
druck zu seiner Einstellung (siehe oben) »passen« muß, damit er 
ein richtiges Urteil abzugeben in der Lage ist. Ich stellte die Ver¬ 
suche sehr einfach an. In einem kleinen Schälchen befand sich eine 
nicht abgemessene Menge der betreffenden Substanz (denn auf 
psychometrische Messungen kommt es mir nicht an), oder der be¬ 
treffende Gegenstand wurde der Vp. sonst irgendwie dargeboten. 
Die Zeit der Darbietung war nicht bestimmt, wechselte auch in den 
einzelnen Fällen; ich legte darauf keinen Wert, weil ich das für die 
besonderen Untersuchungen für belanglos hielt. Die Instruktion 
lautete entsprechend der unter a mitgeteilten. 

Auch hier kann ich mich auf die Mitteilung einiger weniger Proto¬ 
kolle beschränken. Manche Stoffe wurden sofort erkannt, so z. B. 
Salmiakgeist, Benzin usw. Bei anderen war es schwieriger, nicht 
immer möglich. Einzelne Angaben sind recht interessant, so z. B. 
Vp.C : Es wird auf einem Schälchen ein wenig Bohnenkaffee dar¬ 
geboten. Vp. lacht, macht aber zunächst gar keine Aussage, erst 
nach einigem Überlegen sagt sie: »Wahrscheinlich Kaffee.« Sie gibt 


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Zur Frage der »logischen« Wertung. 


281 


dann an: »Als ich an dem Zeug zuerst roch, mußte ich lachen, denn 
es schien mir ganz klar, daß es sich um Kaffee handeln müsse. Dann 
aber kam mir sofort der Gedanke, woher kann der jetzt Bohnenkaffee 
haben. Dann überlegte ich, was es sonst wohl sein könnte, und ich 
dachte, irgend so ein Ersatzstoff. Dazu roch es zu ähnlich, und ich 
wußte nicht, was es sein könnte. Also sagte ich Kaffee, machte 
aber ein kleines Fragezeichen dahinter.« Auf die Frage, ob er sich 
die Sache leichter vorgestellt hätte, meint er, er habe sich gedacht: 
das kann doch nicht so schwer sein, das mußt du doch finden. Er 
sei nur stutzig geworden, weil er keine Vorstellung hatte, wie VI. 
zu Kaffee kommen könnte. 

Vp. D: Der Vp. werden zwei Rosen gezeigt, sie soll dieselben an- 
sehen und an ihnen riechen. Es wird ihr gesagt, daß sie nachher 
mit verbundenen Augen an den Blumen riechen solle und dann zu 
entscheiden haben, welche der beiden Rosen ihr dargeboten worden 
sei. Die Vp. kann bei der Ausführung des Versuches zu keinem 
Entscheid kommen. Sie sagt aus: »Zunächst beim Betrachten und 
Riechen hatte ich den Eindruck, daß das doch leicht sein müsse, 
denn ich hatte ganz deutlich das Gefühl, das die beiden Rosen anders 
riechen würden. Als ich dann aber mit verbundenen Augen eine in 
die Hand bekam, wurde ich plötzlich ganz unsicher. Ich hatte keine 
rechte Vorstellung mehr und versuchte es auf alle mögliche Art. 
Erst fragte ich mich, ist es die hellere oder die dunklere, da wurde 
ich noch unsicherer, dann dachte ich gar nichts, sondern roch einfach, 
und da konnte ich auch nicht dahinter kommen. Dann sagte ich mir, 
es muß die hellere sein, aber auch diese Art der Lösung befriedigte 
mich nicht. Es ist mir immöglich, mich zu entscheiden.« 

Vp. E. Der gleiche Versuch. »Ich dachte vor Beginn des Ver¬ 
suches, daß das doch sehr leicht sein müsse für jemanden wie mich, 
der viel mit Blumen umgeht und seine eigenen Rosen im Garten hat. 
Ich war auch zuerst ganz sicher, es war die dunkelrote. Doch dann 
meinte ich so etwas wie eine Unsicherheit zu verspüren. Kannst du 
dich nicht irren? Und das gab den Ausschlag, daß ich zu keinem 
Ergebnis kam. Ich hatte dabei ein so unangenehmes Gefühl.« 

Vp. G: Die Vp. erhält ein Schälchen mit Alkohol dargeboten. 
Riecht längere Zeit daran. Kommt zu keiner sicheren Entscheidung, 
überlegt weiter, sagt dann: »eine Drogue«. »Ich roch sehr intensiv, 
dachte dabei, es müsse doch eine bekannte Flüssigkeit sein, sonst 
würden Sie einem das nicht hier geben. Zuerst war ich auch nahe 
daran, mich für Alkohol zu entscheiden, aber sicher war ich nicht. 
Ich mochte aber nicht raten. Auf etwas anderes kam ich nicht, der 


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282 Erich Stern, 

Geruch schien mir dann ziemlich indifferent. Ich glaube, ich war 
nicht genügend konzentriert, sonst hätte ich wohl das Richtige ge¬ 
funden. « 

Ich kann mich hier auf diese paar Beispiele beschränken, sie zeigen 
alle deutlich das, worauf es mir bei meinen Versuchen ankommt. 
Auch hier spielt sich das Erkennen nicht in der einfachen Weise ab, 
wie wir das gewohnt sind, wenn wir einen Gegenstand mit den Augen 
betr chten und hinterher sagen, das ist Kaffe oder das ist eine dunkel¬ 
rote Rose, sondern auch hier ist das Erlebnis auseinandergezogen. 
Maßgebend für den Ablauf der Vorstellungen ist auch hier wieder 
das Aufgabebewußtsein, die »Erkenn tnistendenz«, die der Instruk¬ 
tion entsprechende Einstellung. Interessant ist die Aussage der Vp. G, 
der selbst den Eindruck hatte, er habe zu keiner Lösung kommen 
können, weil er sich nicht konzentriert genug mit der Sache befaßt 
hätte. Auch hier können gefühlsmäßige Wertungen Vorkommen, wie 
z. B. Vp. E zeigt. 


c. 

Ich beschreibe noch ganz kurz einige Beispiele über das Erkennen 
mit Hilfe des Geschmackssinnes. Hier habe ich ganz einfache Sub¬ 
stanzen benutzt, die in der in der Psychologie zur Untersuchung des 
Geschmackssinnes üblichen Weise mit einem kleinen Glasstäbchen 
auf die Zunge gebracht wurden, und die Vp. hatte dann anzugeben, 
um was für einen Stoff es sich handelte. Hier war es sehr schwer, 
andere Aussagen als süß, bitter usw. zu erhalten, doch mag das an 
den von mir verwandten Stoffen gelegen haben. Ich beschränke mich 
daher auf einige wenige anders lautende Ergebnisse. 

Vp. E erhält eine schwache Zuckerlösung vorgelegt; er sagt nach 
einigem Überlegen: »Ich kann nur sagen, daß es etwas Süßes war.« 
Dazu gibt er an: »Als ich schmeckte, hatte ich zuerst den Eindruck 
des Süßen, dachte aber, daß das nicht genügen könnte, und ich 
legte mir die Frage vor, was es wohl sein könne. Ich dachte zuerst 
an Sacharin, dann an Zucker, weil man keinen Nachgeschmack hatte, 
war aber nicht sicher und sagte deshalb nur Süßes.« 

Vp. F: Die Vp. erhält eine schwach saure Lösung gereicht; sagt 
»Essig«. Vp. gibt dazu an, sie habe zuerst nicht gewußt, was es sein 
könne, denn es gäbe viele saure Sachen, dann habe sie gemeint, es 
werde wohl Essig sein, weil man den im Haus am meisten brauche. 

Vp. H erhält eine schwache Chininlösung dargeboten, er schmeckt 
eine Weile und meint dann, es müsse wohl Galle sein. Er gibt dann 
an: »Ich merkte nur etwas ganz bitter Schmeckendes und dachte, 



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Zur Frage der »logischen« Wertung. 


283 


was das wohl am ehesten sein könnte, konnte abe michts finden, 
dann fiel mir auf einmal plötzlich ein, daß Galle am bittersten sei, 
und daß es wohl Galle gewesen wäre.« 

Auch diese Beispiele, mit denen ich diese Ausführungen ab¬ 
schließen möchte, zeigen bereits, daß es sich auch bei diesen Erkennt¬ 
nisvorgängen um ganz das gleiche Erlebnis handelt. Gegeben ist 
auch hier wieder eine Aufgabe, der nachzukom m en die Vp. sich be¬ 
müht. Sie sucht den Stoff, der ihr gereicht wird, mittels des Ge¬ 
schmackssinnes zu erkeimen. Sobald sie geschmeckt hat, tauchen in 
ihr die verschiedensten Vorstellungen auf, und sie verwirft oder 
billigt sie, je nachdem sie ihr zu der Erkenntnistendenz, d. h. zu der 
Aufgabe, »was ist das für ein Stoff« zu passen scheinen oder nicht. 

Bei allen bisher mitgeteilten Untersuchungen ist also der psychische 
Vorgang im wesentlichen der gleiche. Immer handelt es sich um 
eine Subsumption unter die Erkenntnissphäre. Nur im Zusammen¬ 
hang mit dieser kann die Vp. überhaupt entscheiden, ob die sich 
ihr aufdrängende Lösung richtig ist oder falsch. Dabei kann die 
Wertung eine intellektuelle oder eine gefühlsmäßige sein. In der 
Mehrzahl der Fälle wird es sich um eine intellektuelle Wertung han¬ 
deln, ein Umstand, der durch die Besonderheit der »logischen« oder 
»Erkenntnissphäre« bedingt ist. 


III. 

Wesentlich kürzer kann ich mich bei den nun folgenden Unter¬ 
suchungen fassen. Handelte es sich in den soeben mitgeteilten Ver¬ 
suchen darum, daß die Vp. festzustellen hatte, was für.ein Gegenstand 
ihr geboten wurde, so soll sie nunmehr entscheiden, ob überhaupt 
ein Reiz vorhanden ist oder nicht, es handelt sich also um eine »Ob¬ 
jektiv-Subjektiv-Wertung«. Ich untersuchte hierbei nur das Er¬ 
kennen mit Hilfe des Tastsinnes. Die Versuchsanordnung war höchst 
einfach. Ich ließ zunächst die Vp. über eine bedruckte Seite Papier 
fahren, und sie hatte den Auftrag, anzugeben, an welcher Stelle der 
Druck beginnt. Dann hatte ich kleine Kärtchen, die teilweise leer, 
teilweise bedruckt waren, und dieVp. hatte, wenn sie ein Kärtchen 
in die Hand bekam, anzugeben, ob dasselbe leer oder bedruckt war. 
Und endlich hatte ich einige kleine Metallplättchen, auf denen teil¬ 
weise geringe Rauhigkeiten sich befanden, und die Vp. hatte anzu¬ 
geben, ob auf einer vorgelegten Platte Unebenheiten waren oder nicht. 

Wenn man die Versuche selbst anstellt und selbst zu ermitteln 
versucht, wo z. B. auf einer Seite der Druck anfängt, dann sieht man, 


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284 


Erich Stern, 


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daß das in vielen Fällen sehr leicht, in anderen ganz unmöglich an¬ 
zugeben ist. Für meine Versuche hatte ich eine Buchseite gewählt, 
wo das Erkennen sehr schwierig war. 

Vp. A: Vp. tastet vorsichtig und langsam über die Seite hin, 
beginnt mehrmals von neuem und zeigt endlich eine Stelle, die schon 
ein ganzes Stück innerhalb der bedruckten Zone liegt. Vp. gibt an: 
»Es ging mir ganz eigenartig; als ich über das Papier mit dem Finger 
strich, hatte ich wiederholt die Empfindung, hier ist noch nichts, 
aber hier fängt es an, und ich finde, daß der Unterschied nicht sehr 
groß ist. Ich fing dann wieder an, jedesmal, wenn ich meinte, jetzt 
fängt der Druck an, und weiterfuhr, wußte ich nicht, ob ich mir das 
bloß eingebildet, oder wirklich den Druck gefühlt hatte. Zu einer 
sicheren Angabe konnte ich nicht kommen.« 

Vp. C tastet über die gleiche Seite sehr vorsichtig, kann anfangs 
zu keinem Resultat kommen. Dann probiert er es, indem er mit dem 
Fingernagel darüberstreicht und gibt die richtige Stelle an. Er sagt 
aus: »Als ich über das Papier tastete, konnte ich zu keiner Feststel¬ 
lung gelangen, dann dachte ich, so geht es eben nicht, bald glaubt 
man, man hat die Stelle, und dann wieder hat man sie nicht. 
Ich probierte es daher mit dem Nagel, wenn man darüberkratzt, 
merkt man ganz wenig, aber doch ziemlich deutlich einen Unter¬ 
schied. « 

Ich gebe nun auch für den zweiten Versuch einige Beispiele. 

Vp. A: Vp. erhält ein leeres Kärtchen, betastet es wiederholt und 
meint dann: »Ich kann zu keinem sicheren Urteil gelangen. Ich habe 
mir immer gesagt, daß man an den Rauhigkeiten erkennen müsse, 
ob etwas auf der Karte gedruckt sei oder nicht. Wenn ich aber mit dem 
Finger über die Karte fahre, fühle ich Rauhigkeiten fast überall. 
Ich suchte nach besonderen, für die Schrift charakteristischen, konnte 
aber keinen Anhaltspunkt dafür gewinnen. Ich weiß aber nicht, ob 
nicht doch etwas auf der Karte steht.« 

Vp. B erhält ebenfalls ein leeres Kärtchen und sagt dann richtig: 
»Leer«; sie gibt dazu an: »Ich fuhr mit dem Finger über die Karte 
und glaubte zunächst ein paar Erhabenheiten zu bemerken; wenn 
ich aber wieder darüberfuhr, fühlte ich sie nicht mehr, also muß ich 
mir das bloß eingebildet haben.« 

Vp. D findet bei einem bedruckten Kärtchen das Richtige und sagt 
darüber aus: »Ich hatte zuerst keine richtige Vorstellung, ob die 
Karte beschrieben sei oder nicht. Ich fragte mich dann, woran man 
das wohl erkennen müsse, ob an Erhabenheiten, an Eindrücken, an 
Rauhigkeiten oder woran sonst. Ich glaubte auch an verschiedenen 


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Zur Frage der >logischenc Wertung. 285 

Stellen Rauhigkeiten und Eindrücke zu fühlen, aber nicht sicher, 
dann aber fühlte ich auf einmal ganz genau den Druck.« 

Und nun endlich noch einige Beispiele für den letzten Versuch. 

Vp. E erhält ein glattes Täfelchen vorgelegt und tastet langsam 
und vorsichtig über dasselbe: »Ich hatte ein eigenartiges Gefühl beim 
Herübertasten; bald meinte ich etwas zu fühlen, bald wieder fühlte 
ich nichts. Ich war, glaube ich, voreingenommen, es müsse irgend et¬ 
was zu fühlen sein, und ich suchte danach. Sicher bin ich nicht.« 

Vp. G erhält ein Täfelchen mit kleinen Unebenheiten: »Ich fuhr 
langsam über die Platte und bemüht?, mich, so wenig wie möglich 
aufzudrücken, weil ich meinte, dann besser zu fühlen. Erst glaubte 
ich etwas gefühlt zu haben, dann aber fühlte ich eine wirkliche Un¬ 
ebenheit und hatte sofort das Gefühl, mich das vorigemal geirrt zu 
haben. Nachdem ich eine Stelle richtig gefunden hatte, hatte ich 
nicht mehr den Eindruck der Rauhigkeit, wo keine war. Es kommt 
viel auf die Übung dabei an.« 

Ich begnüge mich mit diesen Beispielen. Auch hier zeigt sich 
wieder ganz deutlich, daß es sich um ein Erlebnis vom Typus der 
Wertungserlebnisse handelt. Auch hier erhält die Vp. eine Aufgabe, 
der nachzukommen sie sich bemüht, auch hier besteht bei ihr wieder 
eine »Erkenntnistendenz«. Sie soll entscheiden, ob sie mit dem 
Tastorgan etwas wahmimmt oder nicht. Das wird ihr durchaus 
nicht leicht, und sie ist in einer großen Anzahl von Fällen im Zweifel, 
ob es sich tatsächlich um einen vorhandenen Reiz handelt, oder ob 
sie »sich nur etwas einbildet«, d. h. sie will entscheiden, ob der Emp¬ 
findung ein Reiz objektiv entspricht oder ob sie nur subjektiv vor¬ 
handen ist. Gegeben ist auch wieder eine Erkenntnissphäre, und 
das Erkennen besteht in der Subsumption unter diese, in dem Er¬ 
lebnis der Zugehörigkeit zu dieser. Was wir darunter zu verstehen 
haben, darüber werden wir sofort ausführlicher sprechen. 

IV. 

Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, daß sich beim Erwachsenen 
Vorgänge des Erkennens wie »das isteine Rose« nicht mehr als Wertungs- 
erlebuisse nach weisen lassen. Daß es sich aber hier um ein Erkennen 
handelt, darüber kann uns schon der allgemein übliche Sprach¬ 
gebrauch (von dem wir doch auch in der wissenschaftlichen Sprache 
nicht ohne zwingende Gründe abgehen dürfen) belehren; sprechen 
wir doch auch hier davon, daß wir diese Blume sofort als eine Rose 
erkannt haben. Eine Wertung können wir hier aber nicht mehr nach- 


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Erich Stern 


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weisen, weil es sich hier um ein »genuines« Erkennen, das erstmalig 
für das betreffende Bewußtsein zustande kommt, nicht handelt. 
Der Erwachsene hat so viel positive Kenntnisse erworben, daß er 
auf Grund dieser sofort zu der Erkenntnis gelangt: »das ist eine 
Rose«. Fast alle psychischen Vorgänge erfahren im Laufe des indi¬ 
viduellen Lebens eine Mechanisierung, immer mehr Zwischenglieder 
fallen aus und nur Anfangs- und Endglied bleiben zum Schluß er¬ 
halten. Nur unter erschwerten Umständen stellen sich alle oder 
einige dieser Zwischenglieder wieder her und zeigen den Ursprung 
liehen Vorgang. Das Erkennen von Gegenständen mit Hilfe der so¬ 
genannten niederen Sinne, des Geruchs-, Geschmacks- und des Tast¬ 
sinnes ist dem vollsinnigen Menschen etwas durchaus Ungewöhn¬ 
liches und stellt eine für ihn fast stets neuartige Leistung dar, und 
so war von vornherein zu erwarten, daß sich hier einige Zwischen¬ 
glieder, die bei dem der Regel entsprechenden Erkennen mit Hilfe 
des Auges und Ohres verschwunden waren, wiederfinden werden. 
Daß man auch hier von dem Aufbau eines objektiven Weltbildes 
sprechen kann, das unterliegt für mich keinem Zweifel. Der Blinde 
ist gezwungen, sein Weltbild auch mit Hilfe dieser Sinne, besonders 
des Tastsinnes aufzubauen, und wenn der Normale es nicht tut, 
so geschieht dies nicht, weil Auge und Ohr ihm genügen und Besseres 
leisten. 

Wie spielt sich nun der Vorgang des Erkennens ab? Gegeben ist 
der Vp. eine Aufgabe, die Instruktion, und sie stellt sich in die Rich¬ 
tung derselben ein, sie bemüht sich, der Instruktion nachzukommen, 
sie zu erfüllen, d. h. es besteht eine Erkenntnistendenz, die ebenso 
auf den Vorstellungsablauf einwirkt wie der äußere Reiz. Beide zu¬ 
sammen lassen nur ganz bestimmte zu Reiz und Einstellung irgend¬ 
wie in Beziehung stehende Vorstellungen wach werden. Dann werden 
die Vorstellungen verworfen, die zu der Einstellung nicht passen, 
während diejenigen, welche zu ihr passen, angenommen werden. Im 
ersten Falle findet eine negative, im letzteren eine positive Wertung 
statt. 

Zwischen dem objektiv wirksamen Reiz und der Erkenntnissphäre 
muß irgendeine Beziehung bestehen, sonst ist ein Erkennen unmög¬ 
lich. Ein Gegenstand, den ich noch nie gesehen habe, der mir völlig 
neu und unbekannt ist, den ich auch mit keinem anderen vergleichen 
kann, der seiner Beschaffenheit nach gar keinen Anhaltspunkt dafür 
bietet, wozu ich ihn verwenden kann, ein Gegenstand, mit dem ich, 
wie wir uns auszudrücken pflegen, »gar nichts anzufangen weiß«, 
wird auch von mir nicht erkannt. Der Chemiker, der einen ihm 


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Zur Frage der »logischen« Wertung. 


287 


neuen Stoff findet, wird mit Hilfe der ihm bekannten — oder falls 
diese nicht genügen, mit Hilfe verwandter Methoden — versuchen, 
den Stoff in seine Bestandteile zu zerlegen, und er wird sich erst 
dann begnügen, wenn er die elementare Beschaffenheit der Substanz 
ermittelt hat. Stößt er auf ein neues Element, so wird er dessen 
Atom- und Molekulargewicht zu ermitteln versuchen, wird sein Ver¬ 
halten gegen Sauerstoff und gegen Wasserstoff usw. feststellen und 
ihm danach seinen Platz in dem periodischen System anzuweisen 
trachten; erst wenn ihm das gelungen ist, wird er sich bescheiden; 
immer wird er versuchen, das Neue irgendwie auf Bekanntes zurück¬ 
zuführen, das Neue muß irgendwie in das Bekannte »hineinpassen«. 
Nun wird er nicht in jedem einzelnen Falle das Verhalten eines neuen 
Elementes zu sämtlichen bisher bekannten und ihren Verbindungen 
untersuchen, sondern, wenn er eine Reihe von Eigenschaften ermittelt 
hat, dann wird er sich sagen, das Element paßt an die und die Stelle. 
Ohne alle Elemente im Augenblick gegenwärtig zu haben, ohne im 
Augenblick über alle ihre Eigenschaften und Verhaltungsweisen Aus¬ 
kunft geben zu können, hat er doch ein irgendwie beschaffenes Wissen 
von ihnen, auf Grund dessen er über einen Einzelfall entscheidet. 
Wir könne’n hier mit Haering von einem »Umfangsbewußt¬ 
sein« sprechen. 

Und ganz ähnlich verhält es sich mit dem Erkennen ganz all¬ 
gemein. Jeder Mensch verfügt über eine Summe von Kenntnissen, 
die er nicht in jedem Augenblick in seinem Bewußtsein hat, die aber 
doch irgendwie vorhanden sind. Sieht der Mensch irgendeinen ihm 
neuen Gegenstand, oder nimmt er ihn in irgendeiner Form sonst 
wahr, durch Tasten, Riechen, Schmecken, so ist ihm ein Erkennen 
— nicht Sehen — nur möglich, wenn er irgendeine Beziehung 
zu diesen wenigstens dispositionell vorhandenen Kenntnissen her¬ 
steilen kann. Im allgemeinen wird sich diese Beziehung rein auto¬ 
matisch herstellen, ohne daß noch besondere psychische Prozesse ins 
Spiel treten. Man wird sofort angeben können, dieser Empfindung 
(Wahrnehmung) kann Realitätscharakter nicht zukommen, oder 
dieser mir soeben gezeigte Gegenstand stellt das und das dar. Aber 
in Fällen, wo sich Erschwerungen irgendwelcher Art finden, treten 
doch wieder besondere Bewußtseinsvorgänge in Erscheinung. 

Diese spielen sich nun in der Weise ab, daß sich die Vp. in die 
Richtung des Erkennens einstellt, daß eine Erkenntnistendenz in 
ihr bestimmend wird. Der von außen ein wirkende Reiz läßt nun 
eine Reihe von Vorstellungen auftauchen, die zu dieser Tendenz in 
Beziehung gesetzt werden. Wenn sie zu ihr passen, dann erlebt die 


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Erich Stern, Znr Frage der »logischen« Wertung. 


Vp. diese Zugehörigkeit als die richtige Erkenntnis, mit 
anderen Worten, es findet eine Wertung statt. 

Wie sich diese Erkenntnissphäre entwickelt hat, das zu unter¬ 
suchen ist eine zweite Aufgabe. Sie ist zum Teil ein Niederschlag 
aus der Summe der früheren Erkenntnisse, und so führt jedes Er¬ 
kennen oder, wie wir auch dafür sagen können, jede »logische 
Wertung«, auf ein früheres Erkennen, auf eine frühere logische 
Wertung zurück. Psychologisch restlos aufzulösen ist auch hier die 
Wertung nicht. Abhängig ist jedes Erkennen von der bestehenden 
Erkenntnissphäre, unter die subsumiert wird. Die Bildung dieser 
Erkenntnissphäre ist nicht nur von psychologischen Momenten ab¬ 
hängig; sie ist nicht nur der Niederschlag früherer Kenntnisse, früher 
stattgehabter logischer Wertungen, sondern eine ganze Reihe außer¬ 
psychologischer Faktoren gehen in sie ein; so vor allem die Kon¬ 
stitution unseres Organismus, die Beschaffenheit unserer Sinnes¬ 
organe. Für Wesen mit anderen Sinnesorganen muß auch das ob¬ 
jektive Weltbild anders aussehen; Si m mel hat immer hervorgehoben, 
daß die Wahrheit etwas durchaus Relatives ist, was mitbestimmt 
wird durch die Organisation der Lebewesen, und daß die Wahrheit 
und das Weltbild für den Menschen ein anderes sein muß wie für das 
Tier und daß sich die Wahrheit der Taube von der des Adlers unter¬ 
scheidet. Aber all das sind Momente, die jenseits der psychologischen 
Forschung liegen; diese kann hier nur zeigen, daß es sich beim Er¬ 
kennen um Wertungsvorgänge handelt und daß jede Wertung, 
auch jede logische oder Erkenntniswertung auf eine andere 
Wertung zurückführt, sich also auch der Begriff der logischen Wertung 
psychologisch nicht auflösen läßt. 


(Angenommen am 22. Januar 1919.) 


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Beiträge zur psyohophysischen Anthropologie, 

Von 

Wilhelm Wirth. 

I. Anomalien der Gesichtsfarbe als Begleiterscheinungen 
der Farbenblindheit. 


In diesen Beiträgen sollen gelegentlich materiale und methodische 
Fragen der vergleichenden Psychologie 1 ) behandelt werden, die im 
allgemeinen ganz in das Arbeitsgebiet der exakten Psychologie fallen. 
Mit diesem ersten Artikel aber möchte ich eine individuell-empirische 
»Korrelation « oder »Assoziation « der allgemeinen Kontrolle und even¬ 
tuellen Richtigstellung zugänglich machen, zu deren genauerer Prü¬ 
fung nicht nur psychophysische, sondern vor allem rein medizinische 
Methoden in Anwendung zu bringen sind. 

Die Beschäftigung mit komplexeren psychischen Phänomenen, 
psychophysischen Maßmethoden und philosophischen Arbeiten ließ 
mich einige Spezialfragen der physiologischen Optik, auf die ich bei 
meinen Versuchen auf diesem Gebiete gestoßen war, bisher nur mit 
sporadischen Beobachtungen weiter verfolgen. Auch diese scheinen 
mir aber nunmehr ausreichend, um eine damals (1900) bei mir auf¬ 
getauchte Vermutung über ein äußerliches Kennzeichen vieler Farben¬ 
blinder wenigstens in ihren allgemeinsten Zügen sicherzustellen. Allem 
Anscheine nach besteht nämlich eine mehr als zufällige Verbindung 
zwischen kongenitalen Anomalien des Farbensinnes und ebensolchen 
Anomalien der Farbe des Gesichtes, vor allem an den Wangen, 


1) Die besonderen statistischen Hilfsmittel der »psychophysischen Anthro¬ 
pologie«, insbesondere die Korrelationsrechnung und die Genauigkeits¬ 
bestimmungen durch die wahrscheinlichen Fehler der wichtigsten 
psychophysischen Konstanten, behandelte ich auf ausführlicherer mathe¬ 
matischer Grundlage in den »Speziellen psychophysischen Maßmethoden« 
(Abderhaldens Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden [4. Aufl. der 
Physiologischen Chemie], Verlag von Urban & Schwarzenberg, Berlin und 
Wien 1920). 


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290 


Wilhelm Wirtb, 


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so daß es sich für ophthalmologische Eignungsprüfungen 
auf Farbentüchtigkeit in Zukunft empfehlen wird, auf 
Personen mit auffälligem Teint ein besonderes Augen¬ 
merk zu richten. Auch kann vielleicht schon das folgende primi¬ 
tive Material zu dem Versuch einer genauer differenzierten 
Symptomatik ermutigen. 

1. Vor mehr als zwanzig Jahren lernte ich in dem Gemahl einer 
mütterlichen Verwandten, dem leider inzwischen verstorbenen Herrn 
A. R. in Bayreuth, den ersten Farbenblinden kennen. Auf Grund 
seiner eigenen Beobachtungen am Spektrum bezeichnete er sich als 
rotgrün blind. Er besaß aber nun außerdem eine auffällig rote Ge¬ 
sichtsfarbe, deren Sättigung über den häufig rosigen Teint der Blond¬ 
haarigen weit hinausging. Die ganze Oberfläche der Backen von den 
Schläfen und Augen bis zum Unterkiefer schien unter einer durch¬ 
sichtigen Oberschicht wie von lauter feinen Äderchen oder rot unter¬ 
laufenen Rissen durchsetzt, während die dazwischen liegenden Streif- 
chen einen bräunlichen Ton zeigten; kurz, von weitem betrachtet, 
erinnerte der Teint, abgesehen von der nicht hervorstechenden Farbe 
der Nase, etwas an denjenigen eines Weintrinkers, obgleich der Herr 
durchaus mäßig lebte. 

Bald danach kam mir bei meinen quantitativen Untersuchungen 
negativer Nachbilder der Gedanke, solche Messungen auch von Farben¬ 
blinden vornehmen zu lassen. Mein damaliger Kollege Herr Dr. med. 
et phil. R. Müller gewann mir hierfür einen auswärtigen Studien¬ 
freund, Herrn cand. med. R., der auf einer Reise durch Leipzig meinen 
Versuchen ein paar Stunden seines kurz bemessenen Aufenthaltes 
widmete. Als mir nun der Erwartete vorgestellt wurde, erinnerte er 
mich durch die ganz abnorme Röte seiner Gesichtshaut sofort an 
jenen Verwandten. Hatte ich dessen Gesichtsfarbe früher zu seiner 
Farbenblindheit kaum in Beziehung gebracht, so kam mir durch 
diesen zweiten Fall sogleich die Vermutung, daß hier ein innerer 
Zusammenhang vorliegen könne. Dabei war die ungewöhnliche Röte 
des Gesichtes in diesem zweitenFalle eher noch auffälliger als bei A. R. 
und machte trotz normalen Allgemeinbefindens einen geradezu krank¬ 
haften Eindruck. Ein dem Karmin näher liegender Farben ton dehnte 
sich gleichmäßiger über noch größere Gesichtsteile bis zur Stirn hinauf 
aus, die außerdem von ganz feinen Unebenheiten oder Abschuppungen 
bedeckt zu sein schienen und von denen siöh da und dort ausschlag- 
artig dunklere und hellere Partien abhoben. Der Grad der Farben- 
blindheit scheint dagegen geringer gewesen zu sein als bei A. R. 
Denn soweit ich damals feststellen konnte und auch schon mit den 


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Beiträge zur psychophysischen Anthropologie. 1. 


291 


Nachbildmessungen veröffentlichte 1 ), handelte es sich nur um Grün¬ 
blindheit. Doch halte ich wegen einer nicht recht aufgeklärten An¬ 
gabe über das rote Ende des Spektrums, das er bis zu einem weit 
über die Norm hinausgehenden Punkt zu sehen behauptete (vgl. a. 
a. 0.), auch die Rotempfindung für nicht normal. Über einen ähn¬ 
lichen Typus, der mir bald danach begegnete, finde ich leider keine 
Aufzeichnungen mehr. 

2. Dagegen konnte ich gegenwärtig wieder zwei neue Fälle ge¬ 
nauer untersuchen. Ich stellte sie auch in der Universitätsaugen¬ 
klinik Herrn Geheimrat Sattler, Herrn Prof. Wolf rum und Herrn 
Privatdozenten Goldschmidt vor, denen ich für ihre freundlichen 
Bemühungen um die Diagnose mittelst des älteren He ring sehen 
Apparates und des Nagelschen Apparates auch an dieser Stelle mei¬ 
nen verbindlichsten Dank aussprechen möchte. Der eine dieser Fälle 
betrifft ein Mitglied des psychophysischen Seminars, Herrn stud. phil. 
B. L., dessen Gesichtshaut wenigstens auf den oberen Teilen der 
Wangen eine an A. R. erinnernde Rötung und feine Schuppenbildung 
zeigt. Die genauere Prüfung am Nagelschen Apparat bestätigte das 
Ergebnis meiner Untersuchung mittelst der Stillingschen pseudo¬ 
isochromatischen Tafeln (Aufl. 1918), daß keine Verkürzung des Spek¬ 
trums vorliegt. Man kann auch Herrn B. L. als grünblind bezeichnen. 

Während mir aber Herr L. seine Anomalie noch vor meiner Unter¬ 
suchung auf eine allgemeine Anfrage hin mitteilte, wenn er mir auch 
schon vorher durch seinen Teint aufgefallen war, habe ich in dem 
zweiten der beiden zurzeit genauer untersuchten Fälle den nicht 
meinem Seminar angehörigen Herrn R. H., dem von seiner Anomalie 
noch nichts bekannt war, überhaupt nur wegen dieses äußerlichen 
Merkmales angesprochen und auf seine Farbenwahmehmung geprüft. 
Obgleich ich mich von Anfang an von einer falschen Verallgemeine¬ 
rung solcher äußerer Symptome zurückhielt und insbesondere auch 
keineswegs annehme, daß nun umgekehrt mit den genannten Ano¬ 
malien der Gesichtsfarbe auch immer Farbenschwäche verbunden sei, 
so berechtigt ja auch schon eine gewisse relative Häufigkeit solcher 
Verknüpfungen zur Ableitung einer sogenannten »Korrelation« und 
hiermit auch zur deduktiven Diagnose, die denn auch bei Herrn R. H. 
das Richtige traf. Hatte doch auch schon ein anderer, viel früher 
unternommener Versuch in dieser Richtung ein interessantes Ergebnis 
gehabt, wenn es auch ohne neue Informationen noch nicht eindeutig 

1) Der Feohner-Helmholtzsche Satz über negative Nachbilder und 
seine Analogien, in Wundts Phil. Stud. XVI, 465, XVH, 311 u. XVIH, 563 
(XVII, 1901, S. 396 f.). 


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Wilhelm Wirth, 




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ist. Als ich 1904 auf unserem ersten Psychologenkongreß in Gießen 
mit Herrn Th. E. bekannt wurde, fiel mir bald die Ähnlichkeit seiner 
Gesichtsfarbe mit derjenigen meines Verwandten A. R. auf, wenn 
auch die Streifen zwischen den roten Äderchen, entsprechend der 
dunkleren Haarfarbe, heller waren. Etwas verblüfft über meine Nach¬ 
frage nach seiner Farben tüchtigkeit gab er seine positive Antwort 
zunächst etwas imsicher und kam bei unserem gemeinsamen Spazier¬ 
gang nach Gleiberg wiederholt auf Versuche der Selbstprüfung an 
dem Landschaftsbild zurück, sagte mir auch sogleich, daß er sich 
über die Farbentüchtigkeit seines einzigen, damals 8jährigen Sohnes 
noch nicht im klaren sei. Auf einem der späteren Kongresse trat er 
dann sogleich beim Begrüßungsabend mit der Nachricht auf mich zu, 
daß nun bei seinem Sohn einwandfrei Farbenblindheit festgestellt 
sei. Ich habe den jungen Herrn E., der leider dem Weltkriege zum 
Opfer fiel und dem der Vater bald im Tode nachfolgte, niemals ge¬ 
sehen. Doch hörte ich von anderer Seite, daß er eine ähnlich »frische « 
Gesichtsfarbe besessen habe wie sein Vater. Sollte Herr E. jun., 
wie ich einstweilen vermute, die Anlage zur Farbenblindheit von 
väterlicher Seite geerbt haben, ohne daß sie beim Vater selbst gleich 
stark entwickelt war, so würde dieser Fall zeigen, daß die Anomalie 
der Gesichtsfarbe auch mit einer latenten, vererbungsfähigen Anlage 
zur Farbenblindheit verbunden sein kann. Auch nach dieser Seite 
wären also statistische Aufzeichnungen über ganze Familien erwünscht, 
wie sie Nagel bei Veröffentlichung des Stammbaumes seiner eigenen 
»Dichromatenfamilie« empfahl 1 ), durch den ja auch die Vererbung der 
Farbenblindheit von väterlicher Seite einwandfrei nachgewiesen ist. 

In jenem neuen Falle des Herrn R. H. und seiner Angehörigen 
konnte ich aber nunmehr diesen bei der Familie E. vermuteten Zu¬ 
sammenhang ganz sicher feststellen. Die Röte der kräftig entwickel¬ 
ten Wangen des Herrn R. H. ist noch auffälliger als bei Herrn B. L. 
Während aber bei L. diese mehr auf der Oberfläche sitzt und Äderchen 
oder Risse zu unterscheiden sind, liegt bei H. der Farbstoff, augen¬ 
scheinlich auch hier vor allem das Blut selbst, etwas tiefer und scheint 
nur durch die Milchglas wir kimg der darüber befindlichen Gewebe 
gleichmäßiger verteilt. Die Prüfung mittelst der Stillirrgschen 
Tafeln ließ auch Herrn R. H. selbst seine Farbenschwäche für Rot¬ 
grün bald zugeben. Tafel VI konnte er sogar bei hellstem Wetter in 
den Mittagsstunden erst nach allmählicher Annäherung bis auf etwa 
1 / 2 m nur mit Mühe entziffern und auch hierbei manche rote Punkte 


1) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinn. II. Abt. B. 41 (1907), S. 165. 


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Beiträge zur psychophysischen Anthropologie. L 


293 


von ihrer bräunlichen und grünlichen Umgebung nicht unterscheiden. 
An einem dunklen Tage aber machte ihm sogar schon Tafel I, 1 
Schwierigkeiten, wenn er sie zunächst auf 4 m lesen sollte. Dagegen 
las er alle Sehschärfeproben glatt, ebenso z. B. Tafel IX (für Gelb- 
Blau-Blinde) noch auf 4 m, und das Spektrum zeigte keine Verkür¬ 
zung. Letzteres wurde auch wieder durch die Gelbgleichung am 
Na ge Ischen Apparat bestätigt, und eine Gleichung am Heringschen 
Apparat, die dem Unterschied der Stillingschen Tafel VI nach 
Art und Größe gut entsprach, läßt den Fall als Deuteranopie, also 
nicht nur als Farbenschwäche, bezeichnen. Die Rotfärbung seines 
Gesichtes ist aber jedenfalls für Herrn R. H. selbst weit überschwellig. 

Auf Befragen erzählte er aber weiterhin, daß auch sein Vater und 
ein Bruder desselben den nämlichen Teint besäßen, während seine 
Mutter normale Gesichtsfarbe habe. Geschwister besitzt er keine. 
Herr H. prüfte nun in den letzten Weihnachtsferien selbst die Seinigen 
zu Hause in Bielefeld mittelst der Stillingschen Tafeln und war nicht 
wenig erstaunt, bei seinem Vater und zwei Brüdern desselben eine 
ganz ausgesprochene Rotgrünblindheit zu finden, während die Mutter 
alle Tafeln mit Leichtigkeit las. Der Vater C. H. war seinerzeit, wie 
der Sohn erst jetzt erfuhr, bei der Marine zum Signaldienst ganz un¬ 
fähig gewesen. Er konnte überhaupt keine Zahlen auf den für die 
Rotgrünblinden bestimmten Tafeln erkennen, dagegen sehr gut XI 
und XII und vermag in seinem Beruf als Schneider Stoffe sehr genau 
zu unterscheiden. Der Bruder W. H. las alles bis Tafel V inklusive 
glatt, dagegen VT und VTI nur langsam und VII, 2 oben gar nicht, 
VTII nur langsam. Dagegen konnte der andere Bruder J. H. auch 
die rote Sehschärfeprobe nicht lesen, hat also wohl verkürztes Spek¬ 
trum. Im übrigen las er nur Tafel I und II glatt, III bis V nur mit 
Mühe und VT bis VTII gar nicht, dann wurde IX (für Gelb-Blau) 
gelesen und ebenso langsam X. Gerade dieser deutlich Farbenblinde 
mit verkürztem Spektrum zeigt jedoch die Rotfärbung des Gesichtes 
viel weniger als die anderen Familienglieder. Dies stimmt aber nun 
wiederum sehr gut zu meinen eigenen Beobachtungen in dieser Rich¬ 
tung. In den Fällen nämlich, in denen ich bisher Farbenblinde mit 
besonders auffällig roter Gesichtsfarbe prüfte, fand sich Grün¬ 
blindheit oder Rotgrünblindheit ohne Verkürzung des Spek¬ 
trums. Im Gegensätze hierzu hatten einige Rotgrünblinde mit 
verkürztem Spektrum (Protanopen), falls man bei ihnen von 
Teintanomalie sprechen will, eher eine fahle Gesichtsfarbe. Zu 
diesem Typus gehören Herr 0. K. und der zur Zeit am psycho¬ 
physischen Seminar arbeitende Herr R. N. Interessant war mir in 

Archiv Jiir Psychologie. XXXIX. 20 


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Wilhelm Wirth, 


dieser Hinsicht auch eine Mitteilung, die mir Herr G. H. vor einigen 
Tagen machte, von dessen Rotgrünblindheit mit verkürztem Spek¬ 
trum ich erst jetzt durch Herrn Prof. Kirschmann erfuhr, der 
Herrn G. H. schon vor 27 Jahren untersucht hatte 1 ): Herr H. war 
einst als Schüler in eine Statistik einbezogen worden, die Virchow 
über die Hautfarbe in Schulen anstellen ließ und dabei als der wei߬ 
häutigste in seiner Klasse registriert worden. G. H. erbte die 
Farbenblindheit, wie es häufig der Fall ist, vom Großvater 'mütter¬ 
licherseits. Ein Vetter, der die Farben genau so wie er selbst 
auffaßt, soll auch eine ähnlich helle Hautfarbe haben. Doch sah 
ich jetzt auch einen jugendlichen, allerdings nicht ganz typischen 
Protanopen F. H. mit auffällig roten Wangen wie bei R. H., die 
er mit der Farbenblindheit vom Vater der Mutter haben soll. Un¬ 
verkürztes Spektrum zeigten zwei weitere rotwangige Dichromaten 
R. W. (Teint wie bei R. L.) und der Jugendliche H. Ch. F. (ähnlich 
wie R. H.), dessen Angehörigen auch an seinem dichromatischen 
Bruder eine stereotype Röte schon immer als abnorm erschienen war. 

3. Da nun die genannten Merkmale der Gesichtsfarbe sehr auf¬ 
fällig sind und leicht in der Erinnerung haften, so muß das tatsäch¬ 
liche Bestehen ihrer Korrelation zur Farbenblindheit offenbar da¬ 
durch kontrolliert werden können, daß jemand, der vor allem Farben¬ 
blinde untersucht hat, dies aus der bloßen Erinnerung bestätigen 
kann. Unter den Psychologen hat wohl Herr Prof. A. Kirsch- 
mann verhältnismäßig viele Farbenblinde geprüft; auch besitzt er 
selbst einen guten Farbensinn und bei künstlerischer Anlage auch ein 
gutes Physiognomiengedächtnis. Einmal auf die Gesichtsfarbe hin¬ 
gewiesen, konnte er mir nun durchaus bestätigen, daß er sich bei 
mehreren Fällen, obgleich sie 20—30 Jahre zurückliegen, noch sehr 
gut an eine auffällige Rötung des Gesichts erinnern könne. Dabei 
glaubt er übrigens zwei verschiedene Typen dieser Rötung unter¬ 
scheiden zu können. Bei zwei Fällen, mit unverkürztem Spektrum, 
Dr. L. 2 ) und Dr. Ri. 3 ), war die Haut im allgemeinen hell und glatt, 
und nur auf den Wangen bis zur Stirn hinauf eine ziemlich scharf 
umgrenzte Röte aufgesetzt, die an hektisches Aussehen erinnerte. 
An der Nase trat diese Färbung nicht besonders hervor. Bei einer 


1) A. Kirsch mann, Beiträge zur Kenntnis der Farbenblindheit. Wundta 
Phil. Stud. VIII (1893), S. 407. 

2) Ebenda, S. 409. L. wird hier ausdrücklich als grünblind bezeichnet. 

3) Derselbe, University of Toronto Studies, Psychological Series, I, 1900 
S. 87 u. 97. Auch hier lag keinesfalls Verkürzung des Spektrums vor. Kirsch- 
mann vermutet sogar Verlängerung. (VgL oben S. 201.) 


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Beiträge zur psychophysischen Anthropologie. I. 


295 


anderen Gruppe, Dr. W. 1 ), Ro. 2 ), Sc. 3 ) und Frau A. 4 ), bei denen, 
abgesehen von W., das Spektrum ebenfalls nicht verkürzt war, breitete 
sich dagegen die Röte über die hier rauhe Gesichtshaut gleichmäßig 
aus. Aber auch der entgegengesetzte Typus der besonderen Blässe 
ist Herrn Prof. Kirsch mann von einem Falle 6 ) mit beiderseits ver¬ 
kürztem Spektrum her in Erinnerung, und wird von ihm als gleich¬ 
mäßige »Lederfarbe« des ganzen Gesichts beschrieben. Nach dem oben 
Gesagten ließ sich aber auch sein Fall VI, Herr G. H. mit verkürztem 
Spektrum, nachträglich unter diesen blassen Typus subsumieren. 

4. Natürlich reichen diese wenigen Beobachtungen nicht dazu 
aus, allgemeingültige Prozentzahlen anzugeben. Doch seien unsere 
Ergebnisse auch zahlenmäßig zusammengefaßt, zumal sich aus den 
13, in den beiden Abhandlungen Kirschmanns analysierten Fällen 
ebenso ein hoher Prozentsatz für die gerötete Gesichtsfarbe ergibt, 
wie aus allen mir selbst begegneten Fällen, zu denen ich hier die Ver¬ 
wandten von Herrn R.H.,G.H.,F.H. und H.Ch.F., also noch 6 Fälle 
hinzunehme. Dazu habe ich noch vier Fälle von Rotgrünblindheit 
bzw. Grünblindheit aus meinem Bekanntenkreise einzurechnen, in 
denen die Gesichtsfarbe blaß oder normal war, nämlich die nicht ge¬ 
nauer untersuchten Herrn stud. math. CI. und Herrn stud. jur. M. H., 
sowie die beiden bereits bekannten Fälle der Herren Prof. Sc hu mann 
und Prof. E. von Brücke. Dies ergibt insgesamt 21 Fälle, und 
zwar 12 »rote« (A. R., R., der S. 291 genannte Fall, B. L„ R. H., 
C. H., W. H. und die 5 neuen Fälle nach S. 294) und 9 blasse oder 
normale (J. H., 0. K., R. N., G. H. und dessen Vetter, CI., M. H., 
Sch. und v. B.). Hiervon macht der rote Typus 12 / 21 oder 57% 
aus. Bei Kirsch mann aber würde sich aus der bloßen Erinne¬ 
rung die Zahl ®/j 3 oder etwa 46% ergeben. Das Mittel aus allen 
34 Fällen wäre somit etwa 53%. Zur vollen Einschätzung des 
Zusammenhanges zwischen Gesichtsfarbe und Farbenblindheit, der 
schon aus diesem Prozentsatz spricht, ist aber noch zu berücksich¬ 
tigen, daß unter den übrigen 47% den Fällen mit verkürztem Spek¬ 
trum bei uns häufig eine blasse Gesichtsfarbe zugeordnet erschien, 
so daß schließlich doch etwa nur x / 4 aller Fälle keine bestimmte 
Korrelation zur Gesichtsfarbe aufwies.' Bei dem geröteten Typus 
wird natürlich ein innerer Zusammenhang mit der Farbenblindheit 

1) Wundts Phil. Stud. VIII, S. 194 (Fall III). 

2) Ebenda, S. 421 (Fall IX). 

3) Tor. Stud. a. a. 0., S. 98. 

4) Ebenda, S. 100. 

5) Wuudts PhiL Stud. VHI, S. 423 (FallX Herr St. B. A). 

20 * 


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umso wahrscheinlicher, je mehr sein Prozentsatz unter allen Rot- 
griinblinden, eventuell mit Ausschluß der blassen Protanopen, die 
relative Häufigkeit überschreitet, mit der eine ähnlich rote Gesichts¬ 
farbe unter allen Menschen mit älmlichen Lebensbedingungen über¬ 
haupt anzutreffen ist. Je genauer die hier in Frage kommende 
Anomalie des Teints analysiert sein wird, um so mehr wird sich dieser 
allgemeine Prozentsatz wohl einschränken lassen. Aus gelegentlichen 
Abzählungen aller ähnlichen Typen, die mir unter mehreren hundert 
Menschen an Wintertagen ohne Frost auf der Straße begegneten, 
glaube ich diese Häufigkeit der kritischen Gesichtsfarbe einstweilen 
mit 10% eher zu hoch einzuschätzen. Zu einer Angabe des ent¬ 
sprechenden Grades der »Korrelation« zwischen diesem Teint und 
besonderen Arten von Farbenblindheit wäre aber natürlich auch noch 
eine Angabe darüber erforderlich, wieviel Leute man im ganzen unter¬ 
suchen müßte, um etwa die nämliche Anzahl solcher Farbenblinder 
wie die hier in Betracht gezogenen Fälle zu erlangen. Rechnet man 
ihre Häufigkeit (wieder mit Einschluß der Protanopen) als etwa 3%, 
so würden sich die 12 von mir berücksichtigten Fälle, die ohne Abzug 
meiner fünf blassen Protanopen herauskommen, auf insgesamt n = 
700 Untersuchte verteilen, von denen dann im ganzen etwa 10%, also 
70, den roten Teint zeigen könnten. Das gäbe als Ausdruck der 
gesuchten Korrelation folgende Vierfeldertafel: 

roter Teint normal oder blaß 

farbenblind (mit Einschluß der blassen 

Protanopen).12 (a) 9 (b) 

nicht farbenblind.58 (c) 621 (d) 

Ch. Pearson hat bekanntlich zu solchen Tafeln eine Reihe von 
Formeln angegeben, nach denen, in Analogie zu dem Korrelations¬ 
koeffizienten r für zweidimensionale Kollektivgegenstände mit stetig 
abstufbaren Argumenten und normaler Verteilung, ein Maß der 
»Assoziation« (Yule) zwischen beiden Korrelaten berechnet werden 
könnte. Der von ihm Q 6 genannte Koeffizient 1 ) mit seiner besten 
Annäherung an r betrüge, falls die Tafel Allgemeingültigkeit bean¬ 
spruchen könnte, für unsere Korrelation mindestens Q 6 = 0,66 und 
wäre bei Ausschluß der Protanopen wohl noch beträchtlich größer. 


1) Ch. Pearson, Phil. Transactions of Roy. Soc. 195, A (1901), S. 16. 
Vgl. hierzu a. S. 289, Anm. a. O. (Spezielle psychophysische Maßrnethodcn), 

I. Teil, S. 229. Hiernach wird Q t = sin — ■ — , wenn aus den vier Zahlen 

2 Vi +X * 


a bis d der obigen Tafel x* 


4 cibedn s 

(ad — 6c)* (a + d) (b + c) 


berechnet ist. 


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297 


Die genauere Durchführung einer solchen Statistik, die erst dar¬ 
über entscheiden wird, wie weit der Zufall mit einseitigen Gruppen¬ 
bildungen in unserem speziellen Erfahrungsmaterial im Spiele war, 
setzt natürlich eine Verbindung rein medizinischer Methoden voraus, 
wie sie der Ophthalmologie längst geläufig sind. Herr Prof. Wolf- 
rum, der sich schon in einer früheren Arbeit 1 ) unter anderem auch 
mit histologischen Untersuchungen des Pigmentes beschäftigte, hat 
mir auf meine Bitte freundlichst zugesagt, die hier betrachtete Korre¬ 
lation im Auge behalten zu wollen, weshalb ich einschlägige Beob¬ 
achtungen auch ihm nach der hiesigen Heilanstalt für Augenkranke 
(Liebigstr. 14) mitzuteilen bitte. 

5. Uber das Wesen des inneren Zusammenhanges zwischen den 
genannten Anomalien der Gesichtsfarbe und des Sehvermögens sind 
vorläufig nur vage Vermutungen möglich. Nach den Aussagen aller 
Mediziner, die ich über diese Fälle befragte, konunt wenigstens für 
die äuffällig rote Färbung kaum eine Anomalie des Hautpigmentes, 
sondern der Struktur und Funktion der Blutgefäße in Betracht. 
Auch die Beschaffenheit des Blutes könnte mit im Spiele sein. Tat¬ 
sächlich beobachtet man eine starke Abhängigkeit der Auffälligkeit 
der genannten Symptome von allen Bedingungen, unter denen auch 
der Normale im Gesicht rot oder blaß wird. Doch bleibt für den 
Kenner des Falles stets eine konstante mittlere Abweichung von der 
Norm übrig, wie denn auch die hierbei häufig beobachtete Schuppen¬ 
bildung auf der Haut eine konstantere Nebenwirkung dieser Anlage 
der Blutgefäße und des Blutes sein mag, die zu Anomalien in der 
Versorgung anderer Gewebe, also auch der am Farbensehen betei¬ 
ligten, in einer gewissen Parallele stehen könnte. Bei einer solchen 
Sachlage bedeutete also die Anomalie der geröteten Gesichtsfarbe 
nur ein weiteres Glied in der bereits bekannten Reihe sonstiger kon¬ 
stitutioneller Schwächen, wie Stottern, Linkshändigkeit u. a., die man 
als nervöse Begleiterscheinungen der Farbenblindheit häufiger be¬ 
obachtete 2 ). Dies bliebe auch in Einklang damit, daß gerade die 
Farbensinnstörungen ohne Verkürzung des Spektrums, zu 
denen die gerötete Gesichtsfarbe in besonders enger Korrelation zu 

1) M. Wolfrum, Der Naevus der Bindehaut des Augapfels und der Ader¬ 
haut und seine Beziehungen zu den melanotischen Tumoren. A. v. Graefes 
Arch. f. Ophth. 71 (1909), S. 195—282. 

2) Herr Geheimrat v. Strümpell hatte die Freundlichkeit, mich sogleich 
bei der Mitteilung meiner Beobachtungen auf solche allgemeine patho¬ 
logische Korrelate der Farbenblindheit hinzuweisen; eins davon (Stot¬ 
tern) fand ich dann z. B. bei Herrn R. H. neben der Gesichtsröte und Farben¬ 
blindheit. 


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298 Wilhelm Wirth, Beiträge zur psychophysischen Anthropologie. I. 


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stehen scheint, von G. R. Müller 1 ) im Sinne der sogenannten Zonen¬ 
theorie 2 ) als eine zentralere Funktionsstörung betrachtet werden. 
Bei der Ähnlichkeit dieses äußerlichen Merkmales der Farbenblind¬ 
heit mit anderen krankhaften Symptomen (vgl. S. 290 u. S. 294) er¬ 
scheint es vorläufig vielleicht auch nicht ausgeschlossen, daß die 
tiefere Grundlage dieser ganzen Korrelation in einem gewissen Zu¬ 
sammenhang der Farbenblindheit mit der konstitutionellen Disposi¬ 
tion zur Tuberkulose oder verwandten Leiden zu suchen ist. Da¬ 
gegen könnte eine etwaige Korrelation der auffällig blassen Haut¬ 
farbe zur Protanopie auf allgemeinen Störungen in der Pigment¬ 
ökonomie des Organismus beruhen, wie denn auch die Verkürzung 
des Spektrums hierbei von G. E. Müller dem Ausfall von Netz¬ 
hautprozessen zugeschrieben wird. Da man aber vorläufig von 
dem Wesen dieser peripheren Prozesse nichts Näheres weiß, so bleibt 
doch auch diese Lokalisation des Ausfalles in der Retina sehr wohl 
mit der Annahme vereinbar, daß er sich aus Störungen der Blutver¬ 
sorgung oder Blutbeschaffenheit heraus entwickelt habe. Auch die 
hochgradige Blässe wäre also dann nur eine parallele Begleiterschei¬ 
nung einer konstitutionellen Schwäche (nur von anderer Art) inner¬ 
halb des nämlichen Funktionssystemes, das bei jener auffälligen Röte 
verändert erscheint. Hiermit würde z. B. auch die Bemerkung eines 
jener »blasser;« Protanopen übereinstimmen, daß er in der Jugend 
an großer Blutarmut gelitten habe. Betrachtet man die Protanopie 
als Komplikation jener rein nervösen mit peripheren Störungen, so 
müßte die Blässe gewissermaßen das Symptomenbild der nervösen 
Defekte irgendwie kompensieren oder überdecken. Da dies aber in 
verschiedenem Grade geschehen könnte, so wären auffällig rote Pro¬ 
tanopen, wie bei F. H. und in Kirschmanns Fall W. oder even¬ 
tuell in einem der nicht genauer untersuchten Fälle, nicht ausge¬ 
schlossen, ohne daß dadurch die hier versuchsweise isolierte Korre¬ 
lation dieser auffälligen Röte zu rein nervösen Defekten gestört 
würde. — Möge auch dieser kleine Beitrag das Interesse der Psycho¬ 
logen den Farbensinnstörungen von neuem zuwenden helfen, deren 
Analyse auch bei einer solchen Statistik ihre eigentliche Aufgabe 
bilden wird. 

1) G. E. Müller, Die Theorie der Gegenfarben und die Farbenblindheit. 
Bericht über den I. Kongr. f. exp. Psychol. in Gießen, 1904, S. 6. 

2) Vgl. v. Kries, Die Gesichtsempfindungen, in Nagels Handbuch <L 
Physiol. d. M. III, 1905, S. 269. 

(Eingegangen am 4. Februar 1920.) 


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