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ARCHIV
FÜR
KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE
UND
KRIMINALISTIK
MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN
HERAUSGEGEBEN
Prof. Dr. HANS GROSS
SIEBEBUNDZWMZIGSTEB BMD.
LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1907.
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Y OF CAT.JFORNXA
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Inhalt des siehennndzwanzigsten Bandes
Erstes und Zweites Heft
aasgegeben 29. Mai 1907.
Original-Arbeiten. s®K®
I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 1
IL Die I.K.V. und die Kommission f. d. Reform der St.P.0. Von
Hans Groß .112
IH. Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in
Preußen. Von Dr. Otto Leers.129
IV. Verbrecher-Lebenslaufe. Vom Geh. Justizrat Siefert.155
V. Ein unwahres Geständnis. Von Rechtsanwalt Dr. Kroch . . . 176
VI. Was sollen wir tun? Von Prof. Dr. B. Freudenthal .... 183
VH. Kriminalstatistische Vergleiche. Von Hans Groß.189
VIIL Zurechnungsfähig? Von Dr. Heinrich Svorcik.192
Kleinere Mitteilungen.
Von Ernst Lohsing:
1. Die gefälschte Handschrift.203
Bücherbesprechungen.
Von Hans Groß:
1. Dr. KarlWilmanns: Zur Psychopathologie des Landstreicheis 205
2. Carl Stooß: Strafrechtsfälle für Studierende.206
8. Dr. Georg Leiewer: Die strafbaren Verletzungen der Wehr¬
pflicht in rechtsvergleichender und rechtspolitischer Darstellung 206
4. Havelock Ellis: Die krankhaften Geschlechts-Empfindungen
auf der soziativen Grundlage.206
5. Dr. Rudolf Wassermann: Beruf, Konfession u. Verbrechen 207
6. Dr. Ewald Stier: Die akute Trunkenheit und ihre strafrecht¬
liche Begutachtung in besonderer Berücksichtigung der mili¬
tärischen Verhältnisse.207
7. Hans Landau: Arzt und Kurpfuscher im Spiegel des Straf¬
rechts. Ein Beitrag zur ärztlichen Frage.208
8. Robert Sommer: Familienforschung und Vererbungslehre . 208
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IV
Inhaltsverzeichnis.
s«ito
Drittes und viertes Heft
ausgegeben 4. Juli 1907.
Original-Ar beiten.
IX. Die drei Mörder Bloemere. Von Dr. med. Paul Pollitz .... 209
X. Über Kindesmord. Von Prof. Dr. W. Graf Gleispach .... 224
XL Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten. Von Hofrat J. Hölzl 271
XII. Über Windelband und den Streit um das Strafrecht. Von Gerichts-
assessor Constantin von Zastrow.277
XHI. Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. Mitgeteilt vom Ersten
Staatsanwalt Oberlandesgerichtsrat Pessler.308
XIV. Meuchelmord zweier Friseurlehrlinge. Mitgeteilt vöm k. k. Staats¬
anwaltssubstitut Dr. Richard Bauer.337
XV. Die Strafrechtsreformer aus dem Zeitalter der Tortur. Von Dr. jur.
Hans Schneickert.341
XVI. Über eine gewisse Form von Erinnerungslücken und deren Ersatz
bei epileptischen Dämmerzuständen. Von Dr. Clemens Gudden 346
XVII. Einige merkwürdige Fälle von Irrtum über die Identität von Sachen
oder Personen. Von Dr. Albert Hellwig.352
XVIII. Erinnerungstäuschung in Bezug auf den Ort Von Dr. med. Eugen
Jakobsohn.362
Kleinere Mitteilungen.
Von Dr. P. Näcke:
1. Dr. P. Möbius. In memoriam.366
2. Dr. L. Woltmann. In memoriam.367
3. Können Augenblicks-Eindrücke forensischen Wert haben? . 367
4. Motive des Aberglaubens.368
5. Gefährliche Träume.370
6. Schranken in der Größe des Schätzens, Erkennens und Be-
urteilens bei demselben Individuum.370
7. Feinfühligkeit eines Idioten.371
Bücherbesprechungen.
Von Hans Groß:
1. Dr. Friedrich Stein: Zur Justizreform.372
2. L. S. A. M. von Römer: Die Uranische Familie .... 372
3. Carl Kurtz: Die Untersuchungen von Körperverletzungen,
insbesondere der tötlichen.373
4. Ernst Zitelmann: Ausschluß der Widerrechtlichkeit . . 373
5. Dr. jur. Karl Weidlich: Die englische Strafprozeßpraxis
und die deutsche Strafprozeßreform.374
6. Dr. Max Altberg: Vollendung und Realkonkurrenz beim
Meineid des Zeugen und Sachverständigen.374
7. Dr. med. Arnemann: Über Jugendirresein.375
8. Prof. Dr. Max Ernst Mayer: Die Befreiung von Ge¬
fangenen . 375
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Inhaltsverzeichnis. V
Seite
9. Dr. Ed. L5wenthal: Grundzüge zur Reform des Deutschen
Strafrechts und Strafprozesses .376
10. Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie.376
11. Hans Ostwald: Das Berliner Dirnentum.376
12. Theodor Lipps: Leitfaden der Psychologie.377
13. Med. und phil. Dr. Georg Buschan: Gehirn und Kultur 377
14. Dr. med. Emil Lobedank: Rechtsschutz und Verbrecher¬
behandlung .377
15. Prof. Dr. Berthold Kern: Das Wesen des menschlichen
Seelen- und Geisteslebens als Grundriß einer Philosophie des
Denkens.378
16. K. A. Wettstein: Die Strafverschickung in deutsche Kolonien 378
17. E. Riggenbach: Vererbung und Verantwortung.379
18. Dr. G. von Bhoden: Erbliche Belastung und ethische Ver¬
antwortung .379
19. Dr. J. Starke: Die Berechtigung des Alkoholgenussee . . 379
20. Ludwig Günther: Ein Hexenprozeß.379
21. Hugo Marx: Einführung in die gerichtliche Medizin für prak¬
tische Kriminalisten.380
22. Dr. Gustav Radbruch: Geburtshilfe und Strafrecht . . . 382
23. Dr. jur. Oskar Holer: Die Einwilligung des Verletzten . 382
24. Josef Poppenscheller: Die Daktyloskopie als Erkennungs¬
mittel für Wechselfälschungen.383
25. Dr. Erich Wulff en: Georges Manolescu und seine Memoiren 383
26. Robert Gaupp: Wege und Ziele psychiatrischer Forschung 384
27. Rechtsanwalt Rothe: Gegen den Gotteslästerungspara¬
graphen und Pfarrer Adolf Schreiber: Gegen das Je¬
suitengesetz .384
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I.
Der Prozess Riehl und Konsorten in Wien.
November 1906.
Vielleicht aus keinem der vielen, sagen wir kurz Kuppelei¬
prozesse ist das ganze Prostitutionswesen so scharf Umrissen und
zweifellos hervorgetreten, wie aus dem jüngst in Wien verhandelten;
es soll deshalb dieser in vielfacher Richtung belehrende Prozeß
möglichst genau dargestellt werden. — Bezüglich der Quellen der
Darstellung sei bemerkt, daß die Anklage und das Urteil akten¬
mäßig sind; die Verhandlung selbst ist denBeriebten der„ Zeit“ ent¬
nommen, und durchweg mit amtlichen Daten verglichen und nach
ihnen richtig gestellt worden.
Vorsitzender des Gerichtshofes ist Hofrat Dr. Feigl; die Staats¬
anwaltschaft ist vertreten durch den Substituten Dr. Langer, als
Verteidiger fungieren: Dr. Rabenlechner, Dr. Pollaczek und Dr.
Hofmockl.
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung und erklärt die Ver¬
handlung für geheim, doch werden 60 Vertrauenspersonen, meist
Journalisten, zugelassen.
Auf der Anklagebank sitzen die 45jährige Inhaberin eines
öffentlichen Hauses Regine Riehl, die 68jährige Bedienerin Antonia
Pollak, der verheiratete vorbestrafte Spenglergehilfe Friedrich König
und die Mädchen: Marie Hosob, 20 Jahre alt; Eva Madzia 23 Jahre
alt; Sophie Christ, 19 Jahre alt; Josefine Zawazal, 17 Jahre alt;
Ernestine Gönye, 33 Jahre alt; Anna Christ, 19 Jahre alt; Marie
Winkler, 20 Jahre alt; Marie Pokorny, 24 Jahre alt.
Regine Riehl ist eine untersetzte kräftige Frauensperson. Das
dicke Gesicht zeigt die Spuren ehemaliger Schönheit. Sie beträgt
sich sehr sicher und antwortet im Verhör schlagfertig. Friedrich
Archiv für Kriramalanthropoloffie. 27. Bd. 1
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2
I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
König ist gut gekleidet und sieht aus wie ein Wiener Fiaker. Er
macht einen sympathischen Eindruck; er scheint seine gegenwärtige
Situation nicht sehr tragisch zu nehmen.
Antonia Pollak ist verwachsen, ihr Rucken ist tief eingesunken,
die listigen, unruhigen Augen irren unstet im Saale herum.
Die Mädchen haben zumeist stumpfe, wenig anziehende Ge¬
sichter, deren kindliche ZUge durch die Falten und die Blässe der
Verlebtheit seltsam verzogen sind. Vom einfachen blauen Kattun¬
kleid und dem schwarzen Kopftuch bis zur kostbaren auffallenden
Toilette der Demimonde sind alle möglichen Abstufungen der Eleganz
vertreten, die stets durch eine besonders grelle Farbe, ein auffallen¬
des Schmuckstück oder eine Masche mehr markiert ist.
Nach Erledigung der gesetzlichen Vorschriften wird die Anklage
verlesen:
Die k. k. Staatsanwaltschaft Wien erhebt gegen:
Regina Riehl, geboren im Jahre 1860 in Wradisch, nach Wien zu-
stftndig, evang. A. C., verwitwet, Bordellinhaberin, vorbestraft, dz. in Haft;
Antonie Pollak, geboren am 4./10. 1838 in Pravonin, zuständig nach
Wien, mosaisch, verheiratet, Bedienerin, unbescholten, dz. in Haft;
Friedrich König, am 7./7. 1857 in Wien geboren und dabin zu¬
ständig, katholisch, verheiratet, Spenglergehilfe, vorbestraft;
Marie Hosch, 20 Jahre alt, in Wien geboren und dahin zuständig,
katholisch, ledig, Prostituierte, unbestraft;
Eva Madzia, 23 Jahre alt,in Cacz geboren, nach Brennau zuständig, katho¬
lisch, ledig, Prostituierte, vorbestraft (wegen unbekannten Aufenthalts ausge¬
schieden);
Sofie Christ, 19 Jahre alt, in Groß-Meseritsch geboren, nach BrQnn zu¬
ständig, katholisch, ledig, Wäscherin, unbescholten;
"Josefine Zawazal, 17 Jahre alt, in Wien geboren, nach Königsaal zu¬
ständig, katholisch, ledig, Prostituierte, vorbestraft;
Ernestine Gönye, 33 Jahre alt, in Mihaly geboren und dahin zu¬
ständig, evang. A. C., ledig, Stubenmädchen, unbescholten;
Anna Christ, 19 Jahre alt, in Wien geboren, nach Las zuständig, katho
lisch, ledig, Schneiderin, unbescholten;
Marie Winkler, 20 Jahre alt, in Wien geboren, nach Mitter-Arnsdorf
zuständig, katholisch, ledig, Private, unbescholten;
Marie Pokorny, am 31./10. 1882 in Reifnigg-Fresen geboren und zu¬
ständig, katholisch, ledig, Prostituierte, unbescholten,
die Anklage:
A. Regine Riehl und Antonie Pollak haben in der Zeit vom Jahre
1897 bis zum Jahre 1906 die nachbenannten Personen, aber welche ihnen ver¬
möge der Gesetze keine Gewalt zutsand, eigenmächtig verschlossen gehalten
und sie auch auf andere Art, insbesondere durch ZurQckbehalten ihrer Kleider,
an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert und zwar die Juliane
Bernhard (1906), Anna Christ (1905), Sofie Christ (1906), Paula Denk (1903—1904),
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
3
Anna Felber (1905), Ottilie Geresch (1897—1900), Amalie Glaser (1904), Angela
Großmann (1904), Aloisia Hirn (1904—1905), Julie Hlawatscfaek (1905—1906),
Marie Huschek (1905), Marie König (1901—1906), Marie Kotzlick (1903), Anna
KriBtof (1902), Marie Lang (1904), Elise Lipp er (1906), Therese Ludvicek (1902—
1903), Rosa Maretschek (1904—1905), Eva Madzia (1903—1906), Elisabeth
MeDSchik (1904), Marie Nemetz (1906), Justine Rohatschek (1899—1900), Theresia
Schlager (1902), Marie Starek (1901), Michaelina Stavitzka (1906), Josefino Taub¬
mann (1901—1902), Georgine Wein wurm (1899—1900) und Josefine Zawazal (1906),
es habe die Anhaltung aber drei Tage gedauert, und es haben die Angehaltenen
nebst der entzogenen Freiheit noch anderes Ungemach zu leiden gehabt.
B. Friedrich König habe zu der oben unter A, bezeichneten Übeltat
der Regine Riehl an Marie König durch Mißhandlung derselben und durch die
Drohung, Bie der Besserungsanstalt zu übergeben, Vorschub gegeben und Hilfe
geleistet.
G. RegineRiehl habe in derZeit seit 1897 die von den nachbenannten
Personen zur Verwahrung übernommenen Kleider und Wäschestücke, somit an¬
vertrautes Gut in einem 100 K. übersteigenden Werte nach deren Austritte aus
dem Riehlschen Hause denselben vorenthalten und sich zugeeignet und zwar der
Paula Denk, Anna Felber, Marie Huschek, Sofie Janeba, Rosa Maretschek,
Elisabeth Menschik, Emilie Nawratil, Malke Chaje, Neschling, Therese Münz,
Justine Rohatschek, Marie Starek, Josefine Taubmann, Georgine Weinwurm,
Josefine Zawazal.
D. Marie Hosch, Eva Madzia, Sofie Christ, Josefine Zawazal,
Ernestine Gönye haben durch die am 5. Juli 1906 unter OZ. 15, 16, 17, 18
und 19 dem Untersuchungsrichter des k. k. Landgerichtes Wien unter Eid ge¬
machten Angaben über die Einrichtung des Riehlschen Hauses, das Leben der
Prostituierten in demselben und die Verrechnung des Schandlohnes;
ferner Anna Christ durch die am 5. Juli und am 16. Juli 1906 unter
OZ. 21 dem Untersuchungsrichter des k. k. Landgerichtes Wien über die Frage
ihrer Virginität beim Eintritte, ihrer Behandlung in dem Riehlschen Hause und
die Umstände, unter denen sie das Haus verließ, gemachten Angaben,
ferner Marie Winkler am 25. Juli 1906 durch die in OZ. 133 dem Unter¬
suchungsrichter des k. k. Landgerichtes Wien gemachte Angabe, [daß sie ihre
Aufzeichnungen über ihren Verdienst der Regine Riehl gezeigt habe, und
Marie Pokorny durch die am 23. Juil 1906 unter OZ. 123 dem Unter¬
suchungsrichter des k. k. Landesgerichtes Wien gemachte Angabe über den
Verkehr des Josef Piss im Riehlschen Hause vor Gericht ein falsches Zeugnis,
abgelegt.
E. Regine Riehl, Antonie Pollak, Marie Hosch haben im Juni
und Juli 1906 in Wien durch die Bitte, zu Gunsten der Regine Riehl auszusagen
und das Versprechen und die Verteilung von Geschenken die oben sub D be-
zeichnete Übeltat durch Anraten, Unterricht und Lob eingeleitet und vorsätzlich
veranlaßt und zwar Regine Riehl die Übeltat der Anna Christ, Sofie Christ,
Ernestine Gönye, Marie Hosch, Eva Madzia, Jesefine Zawazal und Marie Po¬
korny, Antonie Pollak, die Übeltat der Anna Christ, Sofie Christ und
Ernestine Gönye; Marie Hosch die Übeltat der Sofie Christ und Josefine
Zawazal.
F. Regine Riehl und Antonie Pollak haben sich im Juni und Juli
1906 in Wien durch Versprechungen von Geschenken und zwar Regine Riebl
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
bei Aloisia Hirn und Marie Nemetz, Antonie Pollak bei Josefine Zawazal
um ein falsches Zeugnis, so vor Gericht abgelegt werden soll, beworben.
G. Regine Riehl habe im Jahre 1905 in Wien die Anna Felber, Marie
Hosch, Elisabeth Menschik vorsätzlich veranlaßt, mit ihrem Körper ihr un¬
züchtiges Gewerbe zu betreiben, obwohl sie wußten, daß sie mit einer venerischen
Krankheit behaftet waren, und zur Ausübung dieser Übeltat Vorschub gegeben
und Hilfe geleistet.
H. Rcgine Riehl habe seit dem Jahre 1897 den nachbenannten Schand-
dirnen und zwar Marie Billek, Anna Christ, Elisabeth Menschik, Emilie Navratil,
Malke Cbaje Neschling und Justine Rohacek zur Betreibung ihres unerlaubten
Gewerbes bei sich einen ordentlichen Aufenthalt gegeben.
I. Antonie Pollak habe seit 1897 in Wien durch Zuführen von
Schanddirnen in das Haus der Regine Riehl ein Geschäft gemacht.
K. Friedrich König habe seit dem Jahre 1902 aus der gewerbsmäßigen
Unzucht der Marie König seinen Unterhalt gesucht
Hiedurch haben begangen:
Regine Riehl ad A das Verbrechen der Einschränkung der persön¬
lichen Freiheit nach § 93 St. G.
ad C das Verbrechen der Veruntreuung nach § 183 St. G.
ad]E das Verbrechen der Mitschuld an dem Betrüge nach §§ 5, 197, 199a St. G.
ad F das Verbrechen des Betruges durch Bewerbung um falsches Zeugnis
§§ 197, 199a St. G.
ad G die Übertretung nach den §§ 5 St. G. und 5 Absatz 3 Gesetz vom
24. Mai 1885 R. G. BL Nr. 89
ad H die Übertretung der Kuppelei nach § 512a St. G., strafbar nach §§ 35,
94 (höherer Strafsatz) St. G.
Antonie Pöllak ad A. das Verbrechen der Einschränkung der persön¬
lichen Freiheit nach § 93 St. G.
ad E das Verbrechen der Mitschuld am Betrüge nach §§ 5, 197, 199a St. G.
ad F das Verbrechen der Bewerbung um falsches Zeugnis nach §§ 197,
199a St. G.
ad. I. die Übertretung dor Kuppelei nach § 512 d. St. G. strafbar nach
§§ 34, 35, 94 (höherer Strafsatz), St. G.
Friedrich König ad B. das Verbrechen der Mitschuld an der Ein¬
schränkung der persönlichen Freiheit nach §§ 5,93 St. G. und ad K. die Über¬
tretung des § 5, dritter Absatz Gesetz vom 24. Mai 1885 R. G. Bl. Nr. 89, straf¬
bar nach §§ 35, 94 (höherer Strafsatz) St. G.
Marie Hosch ad D. das Verbrechen des Betruges nach §§ 197, 199a,
St. G. ad F das Verbrechen der Mitschuld an diesen Vergehen nach §§ 5,197,
199a, St. G., strafbar nach §§ 34,202 204 St. G.
Eva Madzia, SofieChrist, Josefine Zavazal, Ernestine Gönye
Anna Christ, Marie Winkler und Marie Pokorny ad D. das Ver¬
brechen des Betruges nach §§ 197 und 199a St. G. strafbar nach § 202 St. G.
bei den vier erstgenannten überdies nach § 204 St. G.
Beantragt wird;
1. Anordnung der Hauptverhandlung vor dem k. k. Landesgerichte Wien
als Erkenntnisgerichte;
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
5
2. Vorführung der beiden gem&ß § 175 Z. 4 und 180 St. P. 0. in Haft zu
belassenden Beschuldigten Regine Riehl und Antonie Pollak;
3. Vorladung der übrigen Beschuldigten;
4. Vorladung der Zeugen Emil Bader ON. 10, Max Löwy ON. 22, Marie
König ON. 23, Theresia Richter ON. 25, Marie Billek ON. 69, Ernst Pollak
ON. 30, Johann Seidl ON. 67, Leopold Bader ON. 69, Hedwig Malik ON. 81,
Barbara Koplik ON. 89, Marie Spanagl ON. 102, Rosa Zemann ON. 104, Theodor
Staitz ON. 105, Rudolf Michel ON. [117, Pauline Trzil ON. 124, Aloisia Hirn
ON. 129, Aloisia Siepschiek ON. 130, Elise Lipper ON. 134, AnnaDivin ON. 152,
Ottilie Geresch ON. 154, Filomena Fiedler ON. 155, Marie Gschwandt ON. 157,
Amalie Glaser ON. 157, Franziska Hotovy ON. 161, Anna Kristof ON. 16,
Albine Korba ON. 162, Anna Kaluscha ON. 165, Sofie Janeba ON. 166, Marie
Hoschek ON. 167, Marie Lang ON. 168, Therese Münz Paschinger ON. 169,
Therese Ludwicek ON. 170, Aloisia Schmidt ON. 184, Ludmilla Rozhon ON, 18,
Schischa ON. 186, Marie Starek ON. 192, Mario Spika ON. 193, Karoline
Staudinger ON. 194, Walpurga Vrana ON. 197, Georgine Weinwurm ON. 198,
Barbara Woticky ON. 206, Viktoria Zielinska ON. 207, Anna Felber ON. 234,
Therese Schlager ON. 235, Angela Großmann ON. 236, Justine Rohacek ON. 237,
Rosa Marecek ON. 238, Emilie Nawratil ON. 239, Josefine Taubmann ON. 240,
Louise Waas ON. 241, Johann Bruby ON. 272, Anna Altenkopf ON. 277, Karl
Josef Weber ON. 278, Marie Skamenik ON. 279, Michaelina Stavitzka ON. 284
Juliane Bernhard ON. 265, Marie Hruby Leopoldine Baumann ON. 280, Mathias
Kohlendorfer ON. 299, Therese KohlendorferON. 300, Ed. Alois Müller ON. 301
Marie Müller ON. 302, Ernst Janda ON. 303, Paula Denk ON. 311, Malke
Chaje Neschling ON. 312, Elisabeth Menschik ON. 313, Josef Kolazia ON. 329,
Johanna Krenn ON. 341, Leopold Haller ON. 355. Marie Kotzlik QN. 356,
Dr. Husserl ON. 100.
5. Vorlesung gem&ß § 252 Zahl 1 und 4 der Zeugenaussagen.
Cölestine Truxa ON. '41, Karl Spanagl ON. 71, Hans Baumann ON. 72,
Anna Bauer ON. 79, Karoline Wicher ON. 80, Franziska Remisch ON. 82,
Dr. Waldmann ON. 99, Marie Zais ON. 104, Albert Brouschko ON. 106, Amalie
Bostitsch ON. 107, Ludwig Watzek ON. 108, Anna Scholik ON. 109, Marie
NemetzON. 110, Rudolf Brezelnik ON. 118, Regine BlumON. 132, Dr. Friedrich
Hiawitisch ON. 136, Ernst Immerglück ON. 142, Marie Zaulek ON. 199,
Friederike Rozehalik ON. 262, Johann Schützner ON. 273, Leopold Rostik ON.
274, Josef Nemes ON. 275, Josef Tybl ON. 276, Paula Kustlik ON. 281, August
Bogner ON. 282, AloiB Sattler ON. 283, Anna Singer ON. 294, Margaretha
Singer ON 295, Karl Morawic ON 305, Anna Morawic ON 306, Heinrich Kohlen-
hof ON. 308, Josef Loitzl ON. 342, Ludwig Koller ON. 344, Franz Grün¬
berger, ON. 373, Franz Schlager ON. 401, Franz Marecek ON. 407, Karl
Oschwind ON. 421, Rudolf Webner ON. 422, Franz Billek ON. 424, Ludmilla
Billek ON. 425. des Gutachtens ON. 383, und des Vcrhörsprotokolls mit Josef
Hosch ON. 24.
Gemäß § 252 in fine der Beilagen zur Note der Polizeidirektion Wien ON.
66, der Polizeirelation ON. 126, der Note der Polizeidirektion Wien letzter Ab¬
satz ON. 250, des Erhebungsaktes des Polizeikommissariates IX. ON. 411, der
Strafakten gegen Marie König Bezirksgericht Simmering U 2366/00, Bezirks¬
gericht Josefstadt U IV 137106 (ON. 60) und des Bezirksgerichtes Floridsdorf
ü 799,6 (ON, 116) der Note ON. 126, des Schulzeugnisses ON 316, ferner der
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Leumundsnoten, Strafkarten und Vorstraferkenntniese und der von dem Unter¬
suchungsrichter angelegten Auszüge aus den Prostituierten-Vormerkblättern.
Gründe:
Begine Riehl beschäftigt sich schon seit mehr als 20 Jahren gewerbsmäßig
mit der'Kuppelei. Zuerst betrieb sie dieses Gewerbe in der Form des geheimen
Auffübrbause8. Wiederholte gerichtliche Abstrafungen veranlaßten sie aber,
diese Betriebsart aufzugeben, und Ende der 90iger Jahre eröffnete sie ein
toleriertes Haus, das heißt ein nach polizeilichen Vorschriften eingerichtetes,
geleitetes und unter polizeilicher Aufsicht stehendes Bordell, das sie bis zu
dessen behördlicher Schließung im Juni 1906 zuletzt im Hause Grüne Thorgasse
Nr. 24 betrieb.
Über die Art, wie Regine Riehl dieses Geschäft geführt hat, hat der Unter¬
suchungsrichter eingehende und bis in das Jahr 1897 zurückreichende Er¬
hebungen gepflogen, die nur durch die Rücksicht auf den Ruf solcher Personen
beschränkt waren, welche die Prostitution aufgegeben haben und zu einem ehr¬
baren Lebenswandel zurückgekehrt sind. Es wurden über das Thema der
Betriebseinrichtung und der Behandlung der Prostituierten 72 Zeugen einver¬
nommen, deren Aussagen im wesentlichen übereinstimmen, sodaß ihr der An¬
klage zugrunde liegender Inhalt zu keinen Bedenken Anlaß gibt, zumal die
beiden Hauptbcschuldigten, welche in starrem Leugnen verharren, in vielen
wesentlichen Punkten sich selbst und untereinander widersprechen.
Das Geschäft hatte bedeutenden Umfang, denn die Riehl hielt bis zu 20
Prostituierte und hatte für ihren Zweck ein ganzes Haus gemietet, für das sie
einen Jahreszins von 10 000 K zu entrichten hatte. Die Räumlichkeiten, soweit
sie dem Bordellvcrkebre dienten, waren mit großem Komfort eingerichtet. Im
krassen Gegensätze hiezu standen die sanitätswidrigen Verhältnisse in den Scblaf-
räumen der Prostituierten, die in wenigen engen ärmlich ausgestatteten Räumen
zusammengepfercht zu zweien in einem Bette schlafen mußten. Es ist dies
nicht der einzige Beweis der Habgier der Beschuldigten, die vermöge der rück¬
sichtslosen Ausbeutung der Bewohnerinnen ihres Hauses aus demselben zweifel¬
los einen namhaften Gewinn zog.
Mit der Anwerbung junger Mädchen für ihr Haus war eine große Anzahl
von Personen verschiedenster Art beschäftigt. Alte Frauen und junge Burschen
näherten sich auf der Straße oder ira Prater vazierenden Dienstboten, von denen
einige die Not oder der Leichtsinn zur Ausübung der geheimen Prostitution ge¬
trieben hatte, und erboten sich, ihnen einen guten Dienstplatz zu verschaffen.
Dienstvermittlungsbureaux sendeten ihr junge Mädchen zu, und sogar in den
Spitälern kam es vor, daß einer Patientin von ihrer Leidensgefährtin das Haus
Riehl empfohlen wurde. Das Augenmerk dieser Agenten war vorwiegend auf
Mädchen gerichtet, die kaum dem Kindesalter entwachsen waren. Die Jüngste
von allen war nach den Erhebungen Ottilie Geresch, die bei ihrem Eintritte
14 Jahre 3 Monate zählte. Um die Mädchen leichter in ihre Netze zu locken,
hatte sie außen an dem Hause eine große Tafel mit der Aufschrift „Kleider¬
salon Riehl“ angebracht.
Den Neueintretendon gegenüber war das Verfahren der Beschuldigten je
nach dem Grade ihrer Verkommenheit ein verschiedenes. Den einen machte sie
kein Hehl aus dem Geschäfte, dem sie in ihrem Hause nachzugehen hätten.
Andere nahm sie entgegen den polizeilichen Vorschriften, die das Halten jugend-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
7
lieber Dienstboten in einem tolerierten Hause ausdrücklich verbieten, vorerst als
Dienstboten auf; denn sie konnte damit rechnen, daß die bereits sittlich ge¬
sunkenen Mädchen in Kürze dem demoralisierenden Einflüsse der Herrin und der
übrigen Umgebung erliegen würden. In der Tat bat selten ein Mädchen angesichts
der Not, die ihm beim Verlassen des Hauses drohte, auf das nach einiger Zeit ge¬
stellte Angebot, auch „Dame“ zu werden, eine ablehnende Antwort gegeben.
Nun galt es .für das Mädchen das Qesundbeitsbnch zu beschaffen, wozu bei
Minderjährigen die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter der Bewerberin er-
erforderlich ist In mehreren Fällen wurde diese Einwilligung mit größerer oder
geringerer Schwierigkeit erreicht, indem die Biehl oder ihre vertraute Bedienerin
Antonie Pollak, unterstützt durch die vorher hiezu abgeriebteten Mädchen, die
Bedenken der Eltern durch trügerische Vorstellungen über das den Aufnahms-
werberinnen bevorstehende Wohlergehen, zum Teile sogar durch Geldgeschenke
zerstreute. Es sind droi Fälle nachgewiesen, in denen die Eltern von der Riehl
regelmäßige Zahlungen aus dem Schandlohne ihrer Kinder bezogen. Einer
davon, der des Friedrich König, ist hier unter Anklage gestellt, während Josef
Hosch und Barbara Kozlik sich vor den kompetenten k. k. Bezirksgerichten
wegen Übertretung des § 5 dritter Absatz des Vagabundengesetzes zu verantworten
haben werden.
Wareine solche wenigstens der Form nach den Vorschriften entsprechende
Erledigung der Angelegenheit nicht zu gewärtigen, so behalf sich Regine Riehl
mit der Irreführung der Behörden. Sie veranlaßte die Mädchen, über ihre gesetz¬
lichen Vertreter und deren Wohnort dem Polizeikommissariate unwahre Aus¬
künfte zu geben, indem sie angeben sollten und dann auch angaben, ihre Eltern
seien schon verstorben oder unbekannten Aufenthaltes; in anderen Fällen be¬
gleitete sie das Mädchen zur Vernehmung und brachte für diese solche Unwahr¬
heiten selbst vor; auch gefälschte schriftliche Zustimmungserklärungen wurden
gegebenen Falles produziert. Durch solche Umtriebe erreichte sie die sofortige
Ausstellung des Gesundheitsbuches, erschwerte und verzögerte aber auch die
vorgeschriebene Verständigung der gesetzlichen Vertreter von dem Eintritte der
Mädchen und brachte es dahin, daß dieselben manchmal erst Monate später
von dem verhängnisvollen Schritte ihres Kindes oder Mündels Kenntnis erhielten,
zu einer Zeit, wo die Verkommenheit des Mädchens schon soweit vorgeschritten
war, daß jede Aussicht, es wieder auf rechte Wege zu bringen, ausgeschlossen
war, weicher Umstand die gesetzlichen Vertreter veranlaßte, nachträglich zu
dem Eintritte des Mädchens ihre Zustimmung zu erteilen.
Eine Einflußnahme im Sinne der Rückkehr zur Ehrbarkeit von seiten der
Angehörigen suchte die Beschuldigte nach Möglichkeit zu bintertreiben, indem
sie vor derartigen Besuchern die Mädchen verleugnete oder, wenn jemand sich
nicht abweisen ließ, die gesuchte Person zuerst als Dienstmädchen kleidete und
dann nur in ihrer Gegenwart mit dem Besucher sprechen ließ. Wagte es jemand
dem Mädchen das Schimpfliche seines Lebenswandels vorzuhalten, so wurde er
von der Riehl an die Luft gesetzt.
Das Leben der Prostituierten in diesem Hause gestaltete sich wie folgt
Am frühen Morgen, nachdem die Besucher das Haus verlassen hatten, wurden
die Mädchen in die zum Teile schon eingangs beschriebenen Schlafräume ge¬
führt, die sie die Kaserne nannten. Die Türen wurden hinter ihnen von außen
versperrt, die Fenster dieser Zimmer waren mit Milchglas versehen und mittelst
eiserner Vorlegstangen versperrt. Die Mädchen schliefen dort bis in den Mittag;
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
war das Mittagsmahl, das gemeinsam eingenommen wurde, aufgetragen, so
öffneten sich die Türen der Kaserne und in Reih und Glied verließen die
Mädchen diesen Raum, in den sie sofort nach Beendigung des Mittagsessens
wieder eingesperrt wurden. Sie verbrachten daselbst den Nachmittag und
konnten die Kaserne nur verlassen, wenn die Wirtschafterin sie holte, weil ein
Besucher sie verlangte. Erst Abends wurden sie in den „Salon“ geführt, in
dem die Fenster in gleicher Weise verwahrt waren wie in den Schlafräumen.
Dort wurden die Besucher empfangen, die dann mit einem der Mädchen
„aufs Zimmer“ gingen. Das Zimmergeld von 10 Kronen aufwärts bezahlten sie
zu Händen der Riehl, der Pollak oder einer bevorzugten Prostituierten, der die
Riehl durch die Ernennung zur Wirtschafterin einen Beweis ihres Vertrauens
und Wohlwollens gegeben hatte. Manche Besucher pflegten nun auch die
Mädchen selbst mit dem sogenannten Strumpfgelde zu beschenken, auch dieses
mußte aber an die Riehl oder ihre Stellvertreter^ abgefübrt werden. Der Ver¬
such eines Mädchens, diese Gabe für sich zu behalten, wurde von der Riehl für
Diebstahl erklärt und mit Beschimpfungen und Schlägen bestraft. Überhaupt
war die Riehl mit großer Energie bemüht — wie sie sich ausdrückte — Zucht
und Ordnung im Hause aufrecht zu erhalten; sie bediente sich dabei der aller¬
ordinärsten Schimpfworte, schlug aber auch häufig mit der Hand, dem Schür¬
haken oder mit der Hundepeitsche zu. Die Hausbesorger und Anrainer be¬
richten, daß sie häufig das Wehgeschrei mißhandelter Mädchen auf große Ent¬
fernung hörten.
Die Garderobe der Mädchen bestand aus zwei Hemden und Uhterrock,
Strümpfen und einem Paar Atlasscbuhe; in der kalten Zeit erhielten sie noch
einen Schlafrock. Die Kleider, die sie ins Haus mitgebracht hatten, wurden
ihnen beim Eintritte abgenommen und von der Riehl in Sperre genommen.
Der Briefwechsel der Mädchen stand unter strengster Kontrolle; ein¬
langende Briefe, die der Beschuldigten nicht paßten, wurden unterschlagen und
was die Mädchen schrieben, mußte der Riehl vorgelesen werden, fand sie etwas
zu beanstanden, so zerriß sie den Brief und diktierte einen neuen, in dem das
Mädchen sich glücklich pries, in diesem Hause Aufnahme gefunden zu haben.
Ein Ausgang wurde den Mädchen nicht gestattet; dem Hausbesorger war
es aufs strengste eingeschärft, das Haustor stets versperrt zu halten, für den
Fall, daß ein Mädchen entkam, war ihm sofortige Entlassung angedroht. Be¬
zeichnend für die Wichtigkeit, welche die Riehl dieser Absperrung des Hauses
beimaß, war die in den Verträgen mit den Hausbesorgern enthaltene Klausel,
laut welcher sie bei Kündigung des Postens sofort die Schlüssel abzugeken hatten.
Unter solchen Umständen kam es vor, daß ein Mädchen oft Wochen und
Monato lang nichts mehr von der Welt sah, als was zwischen den Milchglas¬
fenstern und den versperrten Türen lag.
Nur ab und zu wurde denjenigen Prostituierten, die sich die Zufriedenheit
ihrer Herrin erworben batten, gestattet, sich in dem beim Hause befindlichen
Garten zu ergehen. Hiebei standen sie aber stets unter der Aufsicht der Riehl
oder der Pollak und es wurde mit besonderer Vorsicht darauf gesehen, daß die
Türen, die auf die Straße hinaus führen, versperrt waren.
Zuweilen unternahm die Riehl mit einzelnen Prostituierten auch Aus¬
fahrten; 6ie besuchte mit ihnen Vergnügungslokale, um die dort verkehrende
Lobewelt auf ihr Unternehmen aufmerksam zu machen. Sie belud hiebei die
Mädchen mit Schmuck und gab ihnen ihr Geldtäschchen zu tragen, um sie,
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1. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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wenn sie hätten ausreißen wollen, beschuldigen zu können, daß das Mädchen
Schmuck und Geld zu stehlen beabsichtigt habe.
Faßt man diese mit großem Raffinement ersonnenen Vorkehrungen, die
mehrfache Einsperrung, die strenge Beaufsichtigung, die Ausstattung mit einer
auf der Straße unmöglichen Garderobe und die Abnahme alles Geldes zusammen,
so ergibt sich, daß es einem mit normaler Energie und Intelligenz begabten
Mädchen außerordentlich schwer war, aus dem Hause zu entkommen. Durch
die Unterbindung der Korrespondenz und durch die Verhinderung des persön¬
lichen Verkehres mit den Angehörigen wurde diese Einsperrung zu einer gänz¬
lichen Absperrung von der Außenwelt verschärft.
Auch innerhalb des Hauses mußten die Prostituierten sich dem Willen der
Regina Riehl beugen.
Der Ertrag ihres Unternehmens bestand zum Teile auch in dem Erlöse fQr
Champagner und Cognac, den sio ihren Gästen zu entsprechenden Preisen aus-
schänkte. Die Mädchen mußten zu diesem Zwecke die Gäste animieren und
selbst auf Kosten der Gäste konsumieren. Sie mußten sich betrinken und im
Rauscne noch weiter trinken, selbst wenn ihnen unwohl wurde, sonst gab es
Schläge. Der Ekel vor gewissen Perversitäten, die die Besucher von ihnen ver¬
langten, die Furcht vor dem Schmerze, der damit verbunden war, wurde nicht
geduldet; durch Beschimpfung und Mißhandlung wurde ihnen solche Empfindlich¬
keit ausgetrieben. Die Anna Christ kam in anatomisch-virginalcm Zustande in
das Haus, sie war daher für den Geschäftsbetrieb, wegen des polizeilichen Ver¬
botes nicht zu brauchen; wahrscheinlich auf Geheiß der Riehl wurde sie daher
von Eva Madzia durch Einführung des Mutterspiegels defloriert.
Es ist daher naheliegend, daß die Prostituierten mit wenigen Ausnahmen
sich in kurzer Zeit enttäuscht sahen und nach Befreiung sehnten, Es waren
aber die meisten von ihnen durch das fortgesetzte Nichtstun, durch die häufigen
Alkohol- und Sexual-Exzessc derart entkräftet, durch die Mißhandlungen seitens
der Riehl, deren Opfer oder Zeuginnen siegewesen waren, derart cingeschüchtert,
daß nur wenige energisch genug waren, ihre Befreiung zu betreiben. Baten sie
die Riehl um ihre Entlassung, so wurde ihnen entweder mit Vertröstungen oder
unter Hinweis auf ihre angeblichen Schulden mit Beschimpfungen, oder damit
geantwortet, daß ihnen irgend ein Gegenstand an den Kopf geworfen wurde.
Bei solchen Anlässen pflegte Regine Riehl auch mit Polizei, Schub oder Arbeits¬
haus zu drohen, und diese Drohungen waren umsomehr geeignet, bei den
größtenteils ganz unerfahrenen Mädchen zu verfangen, als sie ja beobachten
konnten, wie gut die Riehl mit der Behörde auszukommen verstand. In diesem
Kampfe gegen den Wunsch nach Befreiung wurde die Riehl bei Marie König
noch von deren Vater unterstützt, von dem schon erwähnt wurde, daß er von
der Riehl eine monatliche Rente bezogen hat. Diesen ließ sie immer holen,
wenn das Mädchen es gewagt hatte, sich gegen die fortgesetzte Einsperrung und
Peinigung aufzulehnen. Er erschien, drohte dem Mädchen mit der Abgabe in
eine Besserungsanstalt und schlug es solange, bis es mürbe gemacht vor Regine
Riehl in die Knie sank und sie bat, sie noch weiter zu behalten.
Nur dann wurde dem Eutlassungsgesuche stattgegeben, wenn das Mädchen
sich als für das Gewerbe minder geeignet erwies, oder wenn seitens seiner An¬
gehörigen Einschreiten bei der Behörde und Aufdeckung der zur Beschaffung
des Gesundheitsbuches angewendeten Umtriebe drohte. In manchen Fällen
knüpfte sich daran die Bedingung, daß das Mädchen 6ich verpflichtete, Wien zu
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
verlassen. Es wurde dann von der Pollak oder einer andern Vertrauensperson auf
den Bahnhof gebracht, mit einer Fahrkarte versehen und angewiesen, sich am
Bestimmungsorte einer bestimmten Frau zu melden, diese Frau war eine Bordell¬
besitzerin. Aus dieser Erzählung der Angela Großmann und anderer Zeugen
ergibt sich, daß die Riehl auch den Mädchenhandel betrieben habe.
Unternahm es ein Mädchen zu fliehen und mißlang der Versuch, so wurde
es unter Prügeln zurückgebracht. Der Versuch, durch die Besucher des Hauses
befreit zu werden, scheiterte an deren Gleichgiltigkeit gegen das Schicksal einer
Prostituierten oder der Scheu, durch eine behördliche Anzeige den Besuch eines
Bordells einzugestehen. Sich direkt an die Polizeibehörde zu wenden, war un¬
möglich, denn polizeiliche Revisionen fanden nur äußerst selten statt und bei
den ärztlichen Visiten war eine offene Aussprache wegen der Gegenwart der
Riehl oder der Pollak ausgeschlossen.
Nur wenige, bei denen die entkräftende Wirkung des Lebens und der Be¬
handlung im Riehlschen Hause nicht eingetreten war, denen vielmehr die
Leiden und Enttäuschungen die Schlauheit geschärft und die Tatkraft auf«
gestachelt hatten, gelang es, durch die Flucht zu entkommen oder durch Wider¬
spenstigkeit und Unbotmäßigkeit oder sonst durch ein Verhalten, welches die
Riehl Unannehmlichkeiten befürchten ließ, ihre Entlassung durebzusetzen. Die
günstigste Gelegenheit hiezu bot sich ihnen, wenn sie nach einer Krankheit das
Spital verließen. Um sich diese Gelegenheit zu schaffen, ist die Marie Kotzlik
auf den Gedanken verfallen, sich selbst eine Verletzung beizubringen. Aber
auch von hier aus gelang es nicht allen, die Freiheit zu gewinnen; denn die
Pollak überwachte bei ihren Besuchen die Fortschritte der Genesung und stand
am Tage der Entlassung mit einem Wagen vor dem Tore, um das Mädchen zur
Riehl zurückzubringon.
Als ein Mädchen, die Anna Kristof, sich weigerte zurückzukehren, vertrat
die Pollak dem diensthabenden Arzte gegenüber die Rechtsanschauung, daß
derjenige, der eine Person in das Spital gebracht hätte, auch ein Recht darauf
habe, daß ihm dieselbe bei der Entlassung wieder übergeben werde. Sie drang
mit dieser Ansicht auch durch; das Mädchen wurde ihr ausgeliefert, es mußte
nach der Entscheidung des Arztes glauben, daß die Pollak im Rechte sei, er¬
innerte sich an die Drohungen der Riehl mit der Polizei und ließ sich ins Bordell
zurück eskortieren.
In der juristischen Qualifikation dieses Vorgehens der Regine Riehl geht
die Staatsanwaltschaft von dem Grundsätze aus, daß, so sehr die Einsperrung
und Knechtung von Menschen, wie die Beschuldigte sie betrieben hat, unstatt¬
haft uud verwerflich ist, von einer vorsätzlichen Freiheitsbeschränkung doch nur
dann gesprochen werden kann, wenn die betroffenen Personen ihren Entschluß,
sich zu befreien oder nicht alles zu tun, was die Riehl ihnen zumutete, in ent¬
schiedener Weise zum Ausdruck gebracht haben. Eine solche unzweideutige
Willensäußerung einerseits und Willensbeugung andererseits ist bei den im
Punkte A der Anklage aufgezählten Frauenspersonen festgestellt.
Das den Prostituierten während der Dauer ihrer Freiheitsentziehung angetane
Ungemach erblickt die Staatsanwaltschaft sowohl in der rücksichtslosen Aus¬
beutung als auch in den erlittenen Beschimpfungen und Mißhandlungen und in
der Nötigung zu Ekel erregenden oder schmerzhaften Dienstleistungen.
An Antonie Pollak, die in diesen Ausführungen schon mehrmals erwähnt
wurde, hatte Regine Riehl eine verständnisvolle Vertraute und eine ergebene
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Dienerin, die sie im Betriebe des Geschäftes wirksam unterstützte. Im Vorleben
der Riehl taucht sie zum ersten Male in den Akten des k. k. Bezirksgerichtes
Alsergund aus dem Jahre 1895 . • , auf. Dort ist erwähnt, daß die Pollak auf
dem Gange vor den Zimmern Wache hielt, in denen die von der Riehl ver¬
anstalteten Orgien gefeiert wurden.
Sie war nur tagsüber im Hause der Riehl beschäftigt, denn sie hatte im
XX. Bezirke eine Wohnung, die sie zum Teile an Bettgeherinnen vermietete.
Von diesen bat sie so manche der Riehl zugeführt und wurde von derselben
hiefür entlohnt. Erwiesen ist dies bezüglich der Michaline Stavitzka, der Maria
Spanagl und der Marie Nemetz. Sie ist daher auch der Übertretung der Kuppelei
angeklagt. Ihr Dienst bei der Riehl bestand in Gängen nach auswärts, der Be¬
gleitung der Mädchen zu dem Polizeikommissariate, den Besuchen bei den Eltern
die sie zur Erteilung der Einwilligung zur Ausstellung des Gesundheitsbuches
für ihre Töchter zu bereden hatte, in Besuchen erkrankter Prostituierter im
Spitale; auch leitete sie, wie im Falle Ottilie Geresch, die Verfolgung von
flüchtigen Prostituierten. War sie im Hause, so überwachte sie entweder die
Spaziergänge der Prostituierten im Garten, oder sie postierte sich beim Eingänge,
empfing dort die Besucher, fertigte den Briefträger ab und verhandelte auch
mit den Angehörigen, die mit einer Insassin des Hauses sprechen wollten. In
Vertretung der Riehl besorgte sie auch die Abnahme des Strumpfgeldes von den
Prostituierten. Therese Ludwicek beschuldigt sie, daß sie sich durch abfällige
Bemerkungen über die Riehl in das Vertrauen der Prostituierten eingeschlichen
batte, um so deren Fluchtpläne zu erfahren, die sie sofort der Riehl verriet.
Aus alledem geht hervor, daß sie in voller Kenntnis der Verhältnisse im Hause
insbesondere des Loses der Prostituierten bei der Überwachung und Einsperrung
der Mädchen mitwirksam war, daher auch für das an denselben begangene Ver¬
brechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit als Mittäterin verantwort¬
lich zu machen ist.
Mit dem bisher Gesagten ist aber die Leidensgeschichte der Prostituierten
noch nicht erschöpft. Denn auch der freiwillig gestattete oder ertrotzte Austritt
aus dem Hause war in der Regel noch mit einer empfindliehen Schädigung am
Eigentume verbunden. Nicht nur, daß die Riehl von dem einkassierten Scband-
lohne und den Strumpfgeldern den Mädchen nichts oder nur geringfügige Be¬
träge auszahlte; sogar die mitgebrachten Kleider und Wäschestücke, die sie den
Mädchen bei ihrem Eintritte abgenommen und in Verwahrung genommen batte,
die sie daher als anvertrautes Gut in jedem Falle dem austretenden Mädchen
zurückzustellen verpflichtet war, behielt sie unter allerlei Vorwänden zurück,
auch spätere Reklamationen derjenigen Mädchen, die den Mut dazu hatten,
blieben unberücksichtigt. Der Wert des anvertrauten Gutes, das sie in solcher
Weise sich zugeeignet hat, ist noch nicht festgestellt worden, immerhin kann
aber, da Josefine Taubmann allein die ihr vorenthaltene Batistwäsche mit 100 K.
bewertet, mit voller Sicherheit ein 100 K. übersteigender Wert, somit der Tat¬
bestand des Verbrechens der Veruntreuung behauptet werden.
Wenn hier nunmehr noch des Weiteren das Schalten der Regine Riehl in
ihrem Unternehmen dargestellt wird, so geschieht dies nicht allein zur Be¬
gründung der gegen sie wegen zweier Übertretungen erhobenen Anklage; es
werden auch Unregelmäßigkeiten der Riehl herangezogen, die sich als bloße
Polizeiübertretungen qualifizieren, um ihre Verantwortung, die Einsperrung der
Prostituierten habe nur den Zweck gehabt, dem polizeilichen Verbote des Gassen-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
strichs und Ärgernis erregenden Benehmens der Prostituierten zu genügen, ins
rechte Licht zu setzen. Der Übertretung des Verbotes mindeijährige Dienst¬
boten zu halten, ist schon Erwähnung getan, worden. Sie hat diese Mädchen
immer erst dann gemeldet, wenn ihnen das Gesundheitsbuch ausgestellt war,
hat sie aber auch schon vorher in ihrem Hause die Prostitution ausüben, daher,
da die vor Ausstellung dieses Dokumentes vorzunehmenden Untersuchungen und
Feststellungen ausnahmslose Bedingung der polizeilichen Genehmigung zum Be¬
triebe der Prostitution sind, in ihrem Hause ein unerlaubtes Gewerbe betreiben
lassen und sich in diesen unter Punkt H. der Anklage aufgezäblten Fällen der
Übertretung der Kuppelei schuldig gemacht
Aus der Erfahruug, daß die Prostituierten häufig aus dem Spitale nicht
mehr zurückkehrten, erklärt sich ihre Bemühung, die Abgabe eines Mädchens
an das Spital nach Möglichkeit hintanzubalten und die Erkrankten entgegen
der polizeilichen Vorschrift zu Hause zu behandeln. Dies geschah zum Teile
durch Privatärzte, zum Teile durch die Riehl selbst, die Pollak oder die Eva
Madzia, die sich primitive medizinische Kenntnisse angeeignet hatten, in einer
diesen Kenntnissen entsprechenden Weise.
Den Polizeiärzten gegenüber wurden erkrankte Mädchen bei der Wochen¬
visite — wieder eine Übertretung polizeilicher Vorschriften — nicht vorgestellt,
sondern verleugnet, indem ihnen angegeben wurde, dieselben seien verreist oder
bei ihren Verwandten, während sie sich tatsächlich zur Zeit der Visite in Kisten
versteckt auf dem Dachboden oder im Hühnerstall befanden. Sogar soweit ging
die Riehl, die im Tenor unter G angeführten Prostituierten dazu zu verhalten,
daß sie, obwohl sie mit einer schweren venerischen Krankheit behaftet waren,
ihr Gewerbe fortbetrieben und so ihre Besucher der Gefahr der Ansteckung
aussetzten. Die Täterinnen können hiefür wegen cingetretener Verjährung nicht
mehr verfolgt werden, wohl aber die Anstifterin, welcher angesichts der von ihr
begangenen Verbrechen nach § 531c St. G. die strafaufhebendo Wirkung der
Verjährung nicht zu statten kommt. Alles das drängt zu dem Schlüsse, daß sie
die polizeilichen Vorschriften nicht aus Gehorsam gegenüber der Behörde,
sondern nur insoweit befolgte, als sie ihr in ihr System paßten, ihre Ab¬
schließungsmaßregeln daher auch nicht mit diesen Vorschriften rechtfertigen kann.
Die Untersuchung der Zustände im Hause Riehl veranlaßt zu haben, ist
das Verdienst des Zeugen Emil Bader, der in einer Reibe von Zeitungsaufsätzen
einzelne der hier wiedergegebenen Vorgänge zur öffentlichen Kenntnis brachte.
Daraufhin entwickelten in ihrem Schuldbewußtsein und der Erkenntnis, daß die
Aufdeckung der ganzen Wahrheit für sie ernste Gefahren zur Folge habe.
Regine Riehl und Antonie Pollak eine rege Tätigkeit, um dieB zu vereiteln. Erstere
versuchte den Zeugen Bader mit Geld zum Schweigen zu bringen. Die Pollak
versuchte sich an Anna Christ und Terese Richter, die zu jener Zeit nicht mehr
im Hause waren, heranzudrängen. Als die Marie König zum Polizeikommissariate
geladen wurde, verbarg die Riehl das Mädchen in ihrer Privatwohnung und im
Kloset und verleugnete es vor dem Polizeiagenten, dann instruierte sie die Be¬
wohnerinnen ihres Hauses auf das genaueste, wie sie vor der Polizei und vor
Gericht aussagen sollten, beschenkte sie und versprach ihnen Schmuck, Kleider
und Geld, wenn sie sie nicht im Stiche ließen, und wirklich erlagen die unter D.
der Anklage aufgezählten Beschuldigten dieser Versuchung. Sie machten zum
Teile unter Eid vor dem Untersuchungsrichter über die allgemeinen Verhältnisse
im Hause der Riehl, über ihre eigenen Schicksale und über den Verkehr des
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I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien.
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Agenten Josef Piss in dem Hause der Regine Riehl äußerst günstige Angaben,
die sie aber später unter dem Drucke des vom Untersuchungsrichter anderweitig
gesammelten Beweismateriales widerrufen mußten mit dem Geständnisse, sie
hätten verleitet durch die Riehl und die Pollak bewußt unwahre Aussagen ab¬
gelegt. Die nunmehr von ihnen gegebene Darstellung steht in voller Überein¬
stimmung mit den Aussagen der übrigen Zeugen. Auch Marie Hosch, eine der
von der Riehl bevorzugten Prostituierten, hat sich mit Erfolg in diesem Sinne
bei Sofie Christ und Josefine Zavazal bemüht.
Einige der Mädchen aber ließen sich durch die Bitten und Versprechungen
der Riehl und der Pollak nicht beirren. Die an diesen unternommene Beein¬
flussung wird Bub F als Bewerbung um falsches Zeugnis verfolgt.
Hiermit ist zwar die in den Untersuchungsakten gesammelte große Masse
von Beweismaterial nicht erschöpft. Das Gesagte genügt aber, um die Anklage
zu rechtfertigen.
Wien, am 8. Oktober 1906.
Der k. k. I. Staatsanwalt
Dr. Lux.
Nach Verlesung der Anklage stellt vorerst der Vorsitzende zum
Verständnisse des folgenden die Rufnamen fest, die die angeklagten
Mädchen im Hause der Riehl führten. Marie Hosch hieß „Milli“;
Sophie Christ „Hansi“; Josefine Zavazal „Viki“; Anna Christ „Erna“;
Marie Winkler „Kadarnie“; Marie Pokorny „Irma“.
Hierauf beginnt das Verhör mit Regine Riehl.
Präs.: Bekennen Sie sich der Ihnen von der Anklage zur Last
gelegten Handlungen schuldig? — Angekl. (entschieden): Nein. —
Präs.: Sie geben also keines dieser Delikte zu? — Angekl.: Nein.
Präs.: Wann sind Sie auf den Gedanken gekommen, Inhaberin
eines öffentlichen Hauses zu werden? — Angekl.: Mein Mann war
krank und ich wollte mir einen Nebenerwerb schaffen. — Präs.:
Wie lange waren Sie verheiratet? — Angekl.: Zwanzig bis fünf¬
undzwanzig Jahre. — Präs.: Was war Ihr Gatte? — Angekl.: Er
.war Buchhalter bei Deckert & Homolka. Später war er auch Pro¬
kurist. — Präs.: Also Sie mußten sich um eine Nebenbeschäftigung
umschauen. Und da fiel Ihnen ein . . . — Angekl. (stockend): Ich
fing ein derartiges Geschäft an. — Präs.: Das heißt vorläufig ein
geheimes Geschäft, ein sogenanntes Atifführhaus. Waren Sie denn
in materiellen Kalamitäten? — Angekl.: Ich hatte Verpflichtungen;
dann wollte ich auch sparen, damit mein Mann sieht, daß ich eine
gute Wirtin bin. — Präs.: Und wie sind Sie gerade auf diese Art
von Nebenbeschäftigung gekommen, die doch sonst für Prokuristens-
gattinnen nicht geeignet ist? — Angekl. (mit einer Handbewegung):
Mein Gott! Bekanntschaften. Dann hatte ich auch eine große Woh¬
nung und war den ganzen Tag allein. — Präs.: Aber bitte, sprechen
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Sie doch klar! Sie haben die große Wohnung für das Aufführhaus
aufgenommen. — Angekl.: Nein, das ist unrichtig. Die Sache war
so. Ich hatte ein Fräulein vom Carl Theater, zu der Freundinnen
kamen. — Präs.: Und zu diesen Freundinnen kamen Freunde? —
Angekl.: 0 nein. Das war streng verboten. (Heiterkeit.) Aber
wie ich einmal zu Ostern mit meinem Mann in meine Heimat ge¬
fahren bin, hat dieses Fräulein vom Carl Theater sich in meiner
Abwesenheit Männer in die Wohnung gebracht. Und dann ... —
Präs.: Und dann? — Angekl.: Dann hat sie mich durch Geldver-
spreohungen bewogen, ein Aufführhaus zu halten. Mein Mann hat
aber davon nichts gewußt. — Präs.: Warum haben Sie denn dieses
Haus nicht polizeilich gemeldet? — Angekl.: Ich habe nicht gewußt,
daß man das tun muß.
Präs.: Sie haben also zuerst in der Lieohtensteinstraße ein
Haus gekauft, nachdem Sie zahlreiche Beanstandungen mitgemacbt
und für Ihren Betrieb eine polizeiliche Lizenz erhalten hatten? —
Angekl.: Ja. — Präs.: Hatten Sie sich vorher etwas erwirtschaftet? —
Angekl.: Nichts, gar nichts. — Präs.: Aber Sie haben sich ja selbst
damals als wohlhabend bezeichnet. — Angekl.: Ist unrichtig. Man
sagt ja heute auch, daß ich eine halbe Millionärin bin. — Präs.:
Was haben Sie denn für das Haus in der Liechtensteinstraße be¬
zahlt? — Angekl.: 25000 Gulden. — Präs.: Nun sehen Sie. Woher
hatten Sie das Geld? — Angekl.: Von meinem Mann. — Präs.:
Also von dem Mann, der mit Ihrem Gewerbe nicht einverstanden
war. (Heiterkeit.)
Präs.: Wann haben Sie die polizeiliche Erlaubnis zur Führung
des öffentlichen Hauses erhalten? — Angekl.: Vor zehn oder zwölf
Jahren. — Präs.: Sie haben damals sanitätspolizeiliche Vorschriften
zur Kenntnis genommen, daß Sie nicht mehr als zwanzig Mädchen
halten dürfen, und Dienstmädchen, die alle großjährig sein müssen.
— Angekl.: Ich habe auch alle Vorschriften gehalten. Niemals habe
ich Übrigens zwanzig Mädchen gehabt, und minderjährige Dienst¬
mädchen mußte ich halten, weil man doch alte Frauen nicht zur
Reinigung einer so großen Wohnung verwenden kann. — Präs.:
Aber eine alte Frau hatten Sie doch. Sie ist im Jahre 1838 ge¬
boren: Frau Antonie Pollak. — Angekl.: Die war ja nicht immer
bei mir. Sie hatte ja eine eigene Wohnung. — Präs.: Was für
Obliegenheiten hatte die Pollak? — Angekl.: Sie ging Rechnungen
bezahlen. — Präs.: Das wird aber eine zu wenig ausreichende Be¬
schäftigung gewesen sein. Aber kehren wir vorläufig zu Ihnen
zurück. Also, Sie haben wegen materieller Notlage öffentliche
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1. Dor Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Häuser geführt? Id der Lieobtensteinstraße, in der MUhlgasse und
zuletzt in der Grünen Torgasse. Die Einrichtung dieser Häuser
muß Sie wohl auch viel Geld gekostet haben? — Angekl.: Etwa
40000 Kronen. — Präs.: Nun, sehen Sie, wir erfahren von immer
mehr Geld, das Sie gehabt haben. Und je mehr Geld Sie gehabt
haben, desto weniger erklärlich ist es, daß Sie dieses Metier er¬
griffen haben. Wann haben Sie das Haus in der Grünen Torgasse
übernommen? — Angekl.: Vor acht Jahren. — Präs.: Was für
eine Jahresmiete bezahlten Sie? — Angekl.: 10000 Kronen.
Präs.: Für wieviel Damen hatten Sie in Ihrem Hause in der
Grünen Torgasse Baum bei vollem Belag? — Angekl.: Ich hatte
fünf Schlafzimmer, aber die Mädchen haben immer zu zweien in
einem Bett geschlafen. — Präs.: Aha! — Angekl.: Ich bitte, sie
haben es so wollen. Sie haben sich in den Betten herumgekugelt
und sie mir zerbrochen. — Präs.: Also, wieviel Mädchen hielten
Sie im ganzen? — Angekl.: Fünfzehn Mädchen. Davon waren aber
immer einige im Spital. — Präs.: Und die Wohnung dieser Mädchen,
die sogenannte „Kaserne“, lag im dritten Stock und bestand aus
zwei Zimmern, zu denen man durch einen absperrbaren Vorraum
gelangte. Im ersten Zimmer waren vier Betten. Also schliefen
acht Mädchen darin. Also sagen Sie uns jetzt, wie die Mädchen zu
Ihnen gekommen sind? — Angekl.: Sie kamen selbst oder wurden
von jungen Burschen gebracht. Mein Gott, ich hatte ja ein solches
Haus und mußte Mädchen haben. — Präs.: Auch ältere Damen
haben Ihnen Mädchen gebracht. — Angekl.: Wenn Sie mir Namen
nennen, Herr Hofrat, werde ich es bestätigen. — Präs.: Also, Frau
Hoffmann, die Frau Hübl und wohl auch Frau Pollak. — Angekl.
(energisch): Ich bitte, Frau Pollak hat mir nie ein Mädchen ge¬
bracht. (Die Angeklagte Pollak schluchzt.) — Präs.: Zu Ihren Lie¬
feranten hat auch Herr Michel und der „g’flickte Schani“ gezählt. —
Angekl.: Ja. — Präs.: Haben diese Leute Honorare für ihre Ver¬
mittlerdienste bekommen? — Angekl.: Ja. Gewöhnlich vier Kronen
pro Mädchen. Ich bitte, Herr Hofrat, ich habe aber die Mädchen
nie im Unklaren darüber gelassen, in welches Haus sie kommen.
Präs.: Wie waren denn Ihre Abmachungen mit den Mädchen?
Haben Siegleich beim Eintritt das Honorar usw. mit ihnen vereinbart?
— Angekl.: Ja, die Mädchen hatten ihre Einnahmen mit mir zu teilen
und von ihrer Hälfte den Arzt und mir täglich für die Kost vier
Kronen zu zahlen. Aber den Arzt bezahlten sie nicht, weil sie
nicht genug verdienten. — Präs.: Also die Mädchen verdienten
nichts. — Angekl.: Nur einige verdienten. — Präs.: Merkwürdig,
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
daß Sie dann selbst 45 000 Kronen Personaleinkommen fatieren
konnten. — Angekl. (jammernd): loh habe ja gesagt, daß ich’s nicht
bezahlen kann.
Präs.: Wer bat denn die Zimmergelder einkassiert? — Angekl.:
Meine Damen. Ich habe auf ihre Ehrlichkeit vertraut. — Präs.: Wie
war es mit der Kleidung? — Angekl.: Ich bitte, die Mädchen kamen
in furchtbar verwahrlostem Zustand zu mir. Krank und mit Unge¬
ziefer behaftet. Man mußte sie monatelang reinigen. Ich habe sie
erst zu Menschen gemacht. — Präs.: Also bleiben Sie bei der Sache.
Die Damen bei Ihnen hatten sehr wenig an. Nach der Anklage
nur ein Seidenbemd, Seidenstrümpfe, Lackschuhe und eine Schürze. —
Angekl.: 0 bitte, die großen Mädchen hatten Scblafröcke und die
klein gewachsenen Matrosenkleider.
Präs.: Also wir haben bereits davon gesprochen, was die Mädchen
verdient haben müssen. — Angekl.: Ich bitte, Herr Hofrat, das
schönste Mädel hat oft Pech gehabt, und es waren nie mehr als
zehn Herren in einer Nacht da. — Präs.: Wie waren die Hono¬
rare? — Angekl. (auflachend): Keine Hunderter; die „Glücksherren“
haben einen Gulden gezahlt, die „Italiener“ auch einen Gulden,
die Arzte vom Allgemeinen Krankenhaus drei Gulden, ebenso die
Ärzte vom Wiedener Spital, die Herren vom Steueramt natürlich
einen Gulden (Heiterkeit) und Stammgäste fünf Gulden. — Präs.:
Sie sollen den Mädchen aber auch das sogenannte „Strumpfgeld“
abgenommen haben, das sie von den Gästen bekamen. — Angekl.:
Ja, Herr Vorsitzender, die Mädchen haben ja oft wochenlang nichts
verdient. Sie haben das Strumpfgeld freiwillig bergegeben und
waren stolz, wenn sie um einen Gulden mehr gebracht haben
(Bewegung.)
Präs.: Ist bei der Aufnahme der Mädchen darauf Rücksicht
genommen, ob die Mädchen unversehrt waren, oder ob sie schon
eine Vergangenheit hatten? — Angekl.: Wie meinen Sie das? —
Präs.: Ich meine, ob man Wert darauf legte, wenn eine noch un¬
versehrt, oder ob das gleichgültig war? — Angekl.: Bei mir waren
nie unbescholtene Mädchen. War ein Mädchen krank, wurde sie
sofort ins Spital geschickt. — Präs.: Es sollen Mädchen, ohne an¬
gemeldet gewesen zu sein, in Ihrem Hause gewesen sein? — An¬
gekl : Kein Mädchen hielt sich bei mir auf, das nicht angemeldet
war. Es wurde ein Mädchen, das noch nicht angemeldet gewesen
wäre, nie einem Herrn vorgestellt. — Präs.: Es soll auch vorge¬
kommen sein, daß kranke Mädchen in Ihrem Hause waren? —
Angekl. (mit erhobener Stimme): loh war eine gute, ehrliche Frau
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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filr meine Damen. War eine der Damen an gewöhnlichen Leiden,
wie an Halsentzündung, Rippenfellentzündung erkrankt, ließ ich sie
im Hause von Privatärzten behandeln; sonst wurden sie ins Spital
geschickt. — Präs.: Was ist mit den Kleidern geschehen, die die
Mädchen in Ihr Haus brachten? — Angekl.: Ein oder zwei Mädchen
brachten bessere Kleidung mit; die übrigen Mädchen waren einfache
Mädchen, die Kleider mitbrachten, die unter die Lumpen auf den
Boden geworfen wurden. — Präs.: Haben die Mädchen über die
Kleider, die Sie von Ihnen bekommen haben, verfügen können? —
Angekl.: Ja! — Präs.: Wo waren diese Kleider aufgehoben? —
Angekl.: In den Garderobekasten. — Präs.: Sie hatten aber die
Schlüssel zu diesen Kasten, so daß es von Ihrem Willen abbing, ob
die Mädchen die Kleider bekommen und ausgehen konnten? —
Angekl.: Die Mädchen haben sich den Schlüssel holen lassen können;
die Pokorny, eine der feinsten Damen, hatte die Schlüssel immer.
Die Mädchen hätten übrigens auch in ihren Hauskleidern — Schlaf-
roek und Böböschürze — auf die Straße geben können; sie wollten
aber selbst nicht ausgehen. — Präs.: Die Mädchen gingen ja zu
Hause nicht im Schlafrock herum. — Angekl.: 0 ja, die Pokorny
hatte sogar fünf Scblafröcke.
Der Präsident hält der Angeklagten vor, daß nach Behauptung
der Anklage bei der ärztlichen Untersuchung in ihrem Hause nicht
alle Mädchen dem Arzt vorgeführt worden sein sollen, daß Mädchen,
die noch unversehrt oder krank waren, dem Arzt verschwiegen
wurden? — Angekl.: Ich habe es niemals zugelassen, daß eine
Dame dem Arzt verschwiegen werde; selbst verwahrloste Mädchen
wurden dem Arzt vorgeführt. — Präs.: Mehrere Zeuginnen behaupten
aber, daß Mädchen, die krank waren, dem Arzt nicht zugeführt
wurden.— Angekl.: Was die Zeuginnen alles sagen! — Präs.: Ich
muß Ihnen Vorhalten, was die Anklage behauptet. Sie sollen Mäd¬
chen, wenn ärztliche Visite war, am Boden, im Keller, in Kisten und
Kasten, sogar im Klosett versteckt gehalten haben? — Angekl.:
Das ist nicht wahr; ein Fall mit einer Kiste ist vorgekommen; ein
entlassener Portier hat aus Rache die Anzeige erstattet.
Präs.: Wir gehen nun zur „Tagesordnung“ über, die für Ihre
Mädchen gegolten hat. Wann gingen die Mädchen in ihr Schlaf¬
zimmer im dritten Stock? — Angekl.: Gewöhnlich zwischen fünf
und sechs Uhr früh. — Präs.: Ist das Schlafzimmer von außen zu¬
gesperrt worden? — Angekl.: Anfangs nicht; später wurde das
Schlafzimmer wegen der im Hause herrschenden Unruhe zugesperrt,
damit die Damen schlafen können. (Bewegung.)
Archiv für Krimin&lanthropologie. 27. Bd. 2
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Präs.: Wann ist das Schlafzimmer aufgesperrt worden? —
Angeld.: Wenn ärztliche Visite war zwischen 9 und halb 10 Uhr
vormittags, sonst gegen 11 Uhr. Die Mädchen machten dann Toi¬
lette, und zwischen 12 und 1 Uhr war Mittagszeit. — Präs.: Wohin
gingen dann die Mädchen? — Angeld.: Wieder ins Schlafzimmer,
die Pokorny war in meinem Zimmer. — Präs.: War nachmittags
das Schlafzimmer auch abgesperrt? — Angekl.: Immer nicht. Wenn
jemand geläutet hat — ein Gast oder Geschäftsmann — wurde das
Zimmer zugesperrt, um Aufsehen zu vermeiden. Tagelang war das
Zimmer offen. Wenn die Mädchen sich anständig benommen haben —
es sind ja nicht alle Mädchen fein — durften sie sich in allen Zim¬
mern bewegen. — Präs.: Aber Frau Riehl 1 Auch die Fenster waren
versperrt, und zwar mit Schlössern, und außerdem waren noch Uber die
Fenster Querstangen gelegt. — Angekl.: Eine polizeiliche Kommis¬
sion, in der sich Herr Hofrat Witlacil befand, hat das ganze Haus
kontrolliert und es für gut befunden. — Die Angeklagte erzählt
dann, daß die Mädchen, als die Fenster nicht versperrt waren, Offi¬
zieren, die vis ä vis wohnten, Obst zu warfen. Sie habe deshalb
Ketten vorgelegt; die Mädchen hätten die Ketten aufgemacht, so
daß sie dann die Schlösser machen lassen mußte.
Präs.: Wenn die Fenster derart verschlossen waren, konnte ja
den Mädchen auch keine Luft zugeführt werden. — Angekl.: Warum?
Die Hoffenster waren offen und auch vom Badezimmer kam Luft
herein. (Bewegung.) — Die Angeklagte erklärt, daß die Mädchen
auch von den Fenstern mit den Knaben eines Lehrlings-Instituts in
dem Hause gegenüber unverschämt kokettierten.
Die Angeklagte erklärte, daß sie einzelne Mädchen wegen un¬
anständigen Benehmens strafen mußte; doch sei es nicht richtig, daß
sie die Mädchen mit Schürhaken oder Hundspeitschen züchtigte.
Die Hundspeitsche, ruft die Angeklagte aus, haben die Mädchen zu
ganz anderen Zwecken gebraucht. Seit zwölf Jahren habe ich ein
„Haus" geführt und nie einen Anstand gehabt. Ich war eine Mär¬
tyrerin der Damen. Wenn ich das alles getan habe, was man mir
zur Last legt, verdiene ich zwanzig Jahre. — Präs.: Ist den Damen
gestattet worden, allein auszugehen? — Angekl.: Einzelnen schon.
Viele wollten in ihrer Uniform nicht ausgehen und in den Kleidern,
die sie mir noch schuldig waren, konnte ich sie nicht immer allein
Weggehen lassen. Sie selbst wollten nicht ausgehen. — Präs.: Wenn
ein Mädchen den Wunsch geäußert hat, aus Ihrem Hause ganz weg¬
zugehen, haben Sie das gestattet? — Angekl.: Ja. Allerdings ist
es selten vorgekommen, daß ein Mädchen Weggehen wollte. Wenn
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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ich eine selbst weggeBchickt habe, bat sie mich gebeten, sie zu
behalten.
Präs.: Sie sollen mit einzelnen Damen VergnQgnngslokale auf-
gesuoht haben und sie, wie die Anklage behauptet, in raffinierter
Weise dadurch an einem Entkommen gehindert haben, daß sie den
Mädchen Ihre Geldbörse tragen ließen und sie mit Schmuck be¬
hängten. Wären dann die Mädchen entflohen, hätten Sie sie wegen
Veruntreuung angezeigt. — Angekl.: Das ist nicht richtig. Nur die
alten Mädchen hatten ihren eigenen Schmuck; den jungen Mädchen
habe ich nie einen Schmuck geliehen.
Präs.: Zu welchem Zweck haben Sie Ausflöge mit Ihren „Damen“
gemacht? — Angekl.: Die Damen wollten ein Vergnügen haben. —
Präs.: Beim Untersuchungsrichter haben Sie auch hinzugefügt: zu
Reklamezwecken. — Angekl.: Das ist nicht richtig. — Präs.: Ist
es richtig, daß auch bei Tag die Türen, die von der Wohnung in
den Hausflur führten, versperrt waren und daß der Portier den
strengen Auftrag gehabt hat, kein Mädchen allein hinauszulassen? —
Angekl.: Das ist nicht richtig. — Präs.: Konnte bei Tag ein Mäd¬
chen ohne Ihre Zustimmung Weggehen? — Angekl.: Wenn die Tür
offen war, gewiß! — Präs.: Es soll nur einzelnen Damen, und zwar
den Erbgesessenen Ihres Etablissements, der Spaziergang im Hof
und auch nur an Sonntagnaohmittagen erlaubt gewesen sein. —
Angekl.: An bestimmten Tagen war allen Damen der Spaziergang
erlaubt.
Präs.: Wie war nun der Verkehr der Mädchen mit der Außen¬
welt? Durften die Mädchen jederzeit den Besuch ihrer Angehörigen
empfangen, oder ist es vorgekommen, daß Mädchen verleugnet
wurden? — Angekl.: Es wurden nur solche Mädchen verleugnet,
deren Verwandte Plattengenossen oder sonstige zweifelhafte Ele¬
mente waren. Wenn anständige Besuche kamen, wurde nie ein
Mädchen verleugnet. — Präs.: Wie stand es mit dem Briefschreiben?
— Angekl.: Mehrere Damen durften ohne Kontrolle schreiben. Es
waren aber auch Plattenmädchen bei mir, die, wenn es zu irgend¬
einer Differenz zwischen uns gekommen war, sich sofort hinsetzten
und an irgendeine Platte geschrieben haben, sie möge zu uns
kommen und Krawall machen. Diese Briefe habe ich kontrol¬
liert. — Präs.: Sie haben also die Briefe durohgeschaut? — An¬
gekl.: Nein, es ist mir immer gesagt worden, was darinnen steht. —
Präs.: Das haben Ihnen die Mädchen freiwillig gesagt? — Angekl.:
NeiD, ich habe es von anderen Mädchen erfahren, die den Inhalt
des Briefes erfahren hatten. — Präs.: Sind einlangende Briefe von
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Ihnen nicht geöffnet worden? — Angekl.: Nur mit Erlaubnis der
Mädchen.
Präs.: Es wird auch behauptet, daß einzelne Mädchen von
Ihnen Mißhandlungen zu erdulden batten, besonders dann, wenn die
Mädchen nicht geneigt waren, gewissen Wünschen einzelner Herren
zu entsprechen. — Angekl.: Niemals. Ich war ja niemals mit im
Zimmer, und wenn mir die Mädchen von solchen Sachen erzählt
haben, habe ich abgewebrt und gesagt, ich will nichts davon wissen.
— Präs.: Ist es vorgekommen, daß Sie Eltern von Mädchen, die bei
Ihnen waren, Unterstützung gegeben haben? — Angekl.: Ja, die
Mädchen haben es selbst gewünscht. — Präs.: Wieviel haben Sie
gegeben? — Angekl.: Es war verschieden. Dem König habe ich
monatlich 10 bis 15 Gulden gegeben. — Präs.: Wieviel dürfte König
aus dem Verdienst seiner Tochter erhalten haben? Sie haben in
der Voruntersuchung angegeben: Gegen 500 fl. — Angekl.: Das
weiß ich nicht mehr. Königs Tochter hat haben wollen, daß von
dem Gelde auch ihre skrofulöse Schwester unterstützt werde. —
Präs.: Haben Sie mit der König eine genaue Verrechnung über
ihren Verdienst geführt? — Angekl.: Ja. — Präs.: Haben Sie für
jedes Mädchen ein Verrechnungsbuch geführt? — Angekl.: Die
meisten Mädchen haben auf eine Verrechnung verzichtet. Sie wollten
sämtliche Vergnügungen mitmachen und hatten sich ausbedungen,
daß sie zum Schluß mit einer schönen Ausstattung von mir ent¬
lassen werden. — Präs.: Mehrere Mädchen haben aber nicht ver¬
zichtet. Wie wurde mit diesen monatlich die Verrechnung vorge¬
nommen? — Angekl. (ausweichend): Die Mädchen haben gestohlen
und cingebroehen, und ich habe den Schaden ersetzt oder die Eltern
unterstützt. — Präs.: Sie haben also außer König auch noch andere
Eltern unterstützt? — Angekl.: Wenn ich sprechen wollte, Herr
Hofrat, so würde ich vielleicht nicht hier stehen, wohl aber sämt¬
liche Eltern der Mädchen; doch das will ich nicht.
Präs.: Wie haben Sie nun mit jenen Mädchen, mit denen Sie
gar keinen Anstand hatten, verrechnet? — Angekl.: Ich habe ihnen
Kleider, Schmuck, Wäsche und Geld gegeben. — Nach längerem
Befragen gibt Frau Riehl zu, daß sie für die Verrechnung überhaupt
nicht aufgesohrieben hat.
Präs.: Was hat die Pollak bei Ihnen für eine Tätigkeit gehabt,
als Sie noch das Auffübrhaus hatten? — Angekl.: Sie war Bedie¬
nerin. — Präs.: Sie soll mit Blusen hausieren gegangen sein und
bei dieser Gelegenheit Mädchen für Sie akquiriert haben. —
Angekl.: Derartige Elemente, wie ich sie da bekommen hätte,
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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konnte ich damals nicht brauchen. Ich batte Damen aus den
feinsten und besten Kreisen, auch Baroninnen und Gräfinnen sowie
Künstlerinnen, die bei mir im Hause verkehrten. — Präs.: Dann ist
also eigentlich Ihr Etablissement später bedeutend degradiert worden?
— Angekl.: Jawohl 1 (Heiterkeit.)
Präs.: Gegen Schluß, als die. Sache anrüchig wurde, soll es
Ihnen unbehaglich geworden sein, und Sic sollen besorgt haben, die
Mädchen würden von Dingen erzählen, die Ihnen nicht angenehm
wären. Sie sollen den Mädchen Geschenke gegeben haben, um sie
zu anderen Aussagen zu verleiten. — Angekl.: Das ist nicht wahr.
— Präs.: Wie kommt es dann, daß eine Reihe von Mädchen in der
Voruntersuchung unter Eid falsch ausgesagt hat und daß dann die¬
selben Mädchen freiwillig zum Untersuchungsrichter gekommen sind
und eingestanden haben, falsch ausgesagt zu haben, weil sic durch
Sie beeinflußt worden seien? — Angekl.: Ich habe, als die Sache
in die Öffentlichkeit gebracht wurde, einzelnen Mädohen infolge
ihrer Drohungen Geld gegeben, weil sie erklärten, sie würden sonst
in die Redaktionen gehen, um Neues über mich zu erzählen. Ich
habe aber niemanden zu falschem Zeugnis verleiten wollen.
Auf Befragen des Verteidigers gibt Frau Riehl an, daß ihr Ein¬
kommen von der Steueradministration auf jährlich 35000 Kronen
geschätzt wurde und daß ihr eine Steuerleistung von jährlich 1298
Kronen vor geschrieben war. —
Die Bedienerin der Riehl, Antonie Pollak, erklärt sich nicht
schuldig.
Präs.: Was haben Sie bei der Frau Riehl in der Grünetorgasse
zu tun gehabt? — Angekl.: Ich habe Wege gemacht. — Präs.: Wo¬
hin? — Angekl.: Ins Spital. Jeden zweiten Tag habe ich den
Damen, die dort krank lagen, Essen gebraoht. — Präs.: Sie sollen
auch die Mädchen aus dem Spital mit Fiakern wieder abgeholt
haben? — ADgekl.: Die Mädchen haben selbst darum gebeten. —
Präs.: Sie sollen im Spital ersucht haben, die Mädohen nach ihrer
Genesung nur Ihnen wieder auszufolgen, so daß die Mädchen un¬
bedingt wieder zur Frau Riehl zurückkehren mußten. — Angekl.:
Das ist nicht richtig. — Präs.: Sie haben auch Wege zur Polizei
gemacht und sollen dort öfter, um für die Damen das Gesundheits¬
buch rascher zu erlangen, angegeben haben, daß die Zustimmung
der Eltern zu dem neuen Gewerbe der Tochter bereits ein¬
gelangt sei, ohne daß dies jedoch der Fall war. — Angekl.:
Das ist nicht wahr. Ich habe mich immer selbst erkundigt, ob die
Eltern zustimmen.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Präs.: Ist Ihnen bekannt, daß bei Tag die Mädchen im dritten
Stock eingesperrt waren? — Angekl.: Es war oben offen, and es
war auch abgesperrt. — Präs.: War nachmittags offen oder abge¬
sperrt? — Angekl.: Es war nachmittags auch offen. — Präs.: Es
war aber auch abgesperrt? — Angekl.: Wenn die Mädchen ge¬
schlafen haben, war abgesperrt. — Präs.: Während des Schlafens
war das Zusperren doch ganz überflüssig. — Angekl. (ausweichend):
loh war nicht so oft dort. — Präs.: Haben Sie von der Frau Riehl
den Auftrag gehabt, darauf zu sehen, daß die Mädchen nicht fort-
gehen ? — Angekl.: Ich habe keinen Auftrag gehabt. Die Mädchen
haben auch gar kein Verlangen gehabt, fortzugehen. (Heiterkeit.) —
Präs.: Weil die Mädchen gewußt haben, daß abgesperrt war und
daß sie nicht hinauskonnten. Waren die Mädchen so angekleidet, daß
sie hätten fortgehen können? — Angekl.: Sie hatten den Schlaf¬
rock an. — Präs.: Haben die Mädchen auch andere Kleider ge¬
habt? — Angekl.: Ja. In den verschiedenen Kasten. — Präs.: Und
wer hatte die Schlüssel zu den Kasten? — Angekl.: Die Frau
Riehl. — Präs.: Ist es vorgekommen, daß die Mädchen öfter ge¬
schlagen wurden? — Angekl. (achselzuckend): Ich war nicht dabei.
Der Angeklagte Friedrich König gibt an, er habe eines Abends
erfahren, daß seine Tochter sich im „Institut Riehl“ befinde. Er
ging hin und war mit dem Verbleiben des Mädchens im Hause ein¬
verstanden, ließ sieb aber für den durch das Mädchen erlittenen
„Schaden“ eine monatliche Vergütung von 20 Kronen zahlen. —
Präs.: Was haben Sie denn für einen Schaden erlitten? — Angekl.:
Mein Mädel hat sich in früheren Jahren so unanständig benommen.
(Heiterkeit.) Ich habe auch meinen Kutsoherposten deshalb verloren,
mußte übersiedeln und hatte drei Monate keinen Erwerb.
Präs.: Haben Sie nie das Gefühl gehabt, daß es für einen Vater
schändlich ist, aus dem Sohandlohn seiner Tochter sich bezahlen zu
lassen? — Angekl.: Das Geld hab’ ich halt braucht. — Dr. Hof-
mokl: Wie groß war ungefähr Ihr Schade? — Angekl.: Ungefähr
vierhundert Gulden. — Staatsanwalt: Haben Sie Ihre Tochter je¬
mals gefragt, wieviel Schadenersatz sie leisten will? — Augekl.:
Davon war keine Rede.
Präs.: Das Mädchen war, als es Ihnen den Schaden durch die
schlechte Aufführung zugefügt haben soll, noch ein Schulkind. Da
durften Sie den Schaden nicht ihr allein anrechnen. Glauben Sie
nicht, daß auch die Eltern, die das Kind erziehen, an einem
solchen Schaden schuldtragend sind? Der Angeklagte gibt keine
Antwort.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Votant Dr. Spitzkopf: Hat die Tochter während der Zeit, wo
sie bei der Riehl weilte, Sie nie besucht? — Angekl.: Nein.
Staatsanwalt: Haben Sie die Anzeige gemacht, als Sie Ihre
Tochter in das „Hans“ der Frau Riehl gaben? — Angekl.: Neiü.—
Dr. Rode (zum Angeklagten): Hat Ihnen Frau Riehl jemals anbe¬
fohlen, wie Sie in ihrem Hause mit der Tochter reden sollen? —
Angekl.: Nein. — Dr. Hofmokl: Hat Ihnen die Tochter jemals ge¬
sagt, daß sie aus dem Hause der Frau Riehl wegkommen will? —
Angekl.: Nein, niemals. — Dr. Rabenlechner: Sie war ja dort sehr
zufrieden. —
Nach der Mittagspause werden die sieben Mädchen verhört, die
der falschen Zeugenaussage angeklagt sind.
Als erste wird Marie Pokorny vernommen. Sie war unter dem
Namen „Irma“ im Salon Riehl vom März 1902 bis Juli 1906. Die
Angeklagte bekennt sich schuldig, vor dem Untersuchungsrichter
bewußt falsch ausgesagt zu haben.
Präs.: Sie haben angegeben, daß der Polizeiagent Piß niemals
mit einem Mädchen „am Zimmer“ war. Sie haben diese Aussage
widerrufen. Warum haben Sie ursprünglich falsch ausgesagt? —
Angekl.: Frau Riehl hat gesagt, wenn ich etwas über die Polizei
ausplaudere, werde ich eingesperrt. Diese Erklärung wiederholt
die Angeklagte mehrmals. Der Vorsitzende unterbricht sie mit der
Frage: Hat die Riehl das auch zu anderen Mädchen gesagt? —
Angekl.: Ja. Die Riehl hat die Mädchen zusammengerufen und zu
uns gesagt: „Mädeln, verlaßt mich nicht, verlaßt mich nicht in
meinem Unglück. Schonts mir nur die Polizei. Die Polizei und
das Gericht halten zusammen, und wenn ihr gegen die Polizei aus¬
sagt, werdet ihr ein gesperrt.“
Präs.: Eine sonderbare Logik 1 Wer war unter der Polizei ver¬
standen? — Angekl.: Der „Vertraute“ Piß. Er war einmal mit
einem dicken Herrn bei der Riehl; das war ein Kommissär.
(Heiterkeit.)
Präs.: Der Agent Piß hat aber die Mädchen öfter besucht? —
Angekl.: Ja. —Vors.: Hat er auch Siebesucht? — Angekl.: Nein,
aber der dicke Kommissär. (Erneute Heiterkeit.)
Präs, (zur Riehl): Was sagen Sie dazu? — Angekl. Riehl
(wütend): Was die Pokorny sagt, ist alles falsch. Ich hab’ ja auch
dem Herrn Untersuchungsrichter gestanden, daß der Herr Kommissär
bei uns champagnisiert hat, aber ich habe seinen Namen nicht ge¬
nannt. Bitte, ich bin diskret.
Angekl. Pokorny (ruft erregt): Sie haben aber alle Mädeln ge-
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I. Dor Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
rufen und uns Kleider, Schmuck und Geld versprochen und gesagt,
wir sollen nichts über das Haus sagen und Ober die Besuche der
Polizei. (Zum Gerichtshof): Frau Riehl nahm, als das Hans ge¬
sperrt war, mir und drei anderen Mädeln eine Wohnung in der
Oberen Donaustraße. Ich habe kein Geld, keine Kleider, keine
Wohnung gehabt. Und die Frau Riehl hat gesagt, wenn das Haus
wieder geöffnet wird, so kriegen wir wieder das Geschäft. — Riehl:
Das ist nicht wahr. Sie hat selbst gesagt,, sie geht nicht weg von
mir in dem Unglück. Sie hat mich sehr gern gehabt und ich sie
auch. (Die Pokorny lacht laut.) Sie hat mehr kommandiert und
geschimpft als ich. Sie hatte nämlich eine Vertrauensstellung.
(Heiterkeit.)
Riehl (zur Pokorny): loh hab’ Ihnen beim Ausziehen zwölf
Kleider gegeben. — Staatsanwalt: Das ist schon eine Beeinflussung
zu falscher Zeugenaussage.
Präs, (zur Pokorny): Sie haben also nicht aus Furcht allein
falsch ausgesagt, sondern auch wegen der Kleider und der Wäsche?
Dr. Pollaczek: Auch aus Mitleid.
Der Verteidiger fordert die Pokorny auf, über eine Szene beim
Untersuchungsrichter zu erzählen. Die Pokorny erzählt, daß die
Riehl sie während einer Zeugenaussage beim Untersuchungs¬
richter gestoßen habe und ihr zuflüsterte: Ich bitt’, sag’ nichts, sag’
nichts von der Polizei. — Riehl: Das ist erlogen! Der Herr Unter¬
suchungsrichter war sehr streng und hätte eine solche Beeinflussung
nicht erlaubt. — Dr. Pollaczek: Das glauben wir, aber Sie haben es
hinter seinem Rücken getan. — Präs.: Wir glauben es auch! (Heiter¬
keit.) — Riehl: Es ist nicht wahr. Was wissen denn Sie, Herr
Doktor!
Die Angeklagte Marie Hosch gibt an, durch'die Riehl zu einer
falschen Aussage verleitet worden zu sein. Sie ist unter Eid ver¬
nommen worden und gab vor dem Untersuchungsrichter an, daß die
Mädchen frei ein- und ausgehen [durften und nach Belieben Geld
und Schmuck erhielten, Briefe schrieben und unkontrolliert empfingen.
Die Riehl habe die Hälfte vom Schandlohn erhalten.
Präs.: Warum haben Sie diese Aussage gemacht, die Sie am
5. Juli vor dem Untersuchungsrichter ablegten und am 21. Juli
widerriefen? — Angekl.: Die Riehl hat gesagt, alle Damen müssen
das Gleiche aussagen, denn wenn eine anders aussagt, wird sie ein¬
gesperrt. Der Schwur beim Gericht gelte, der beim Untersuchungs¬
richter aber nicht. — Präs.: Warum haben Sie falsch ausgesagt? —
Angekl.: Wenn ich nicht mehr bei der Riehl gewesen wäre, hätte
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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ich gleich die Wahrheit gesagt. — Der Vorsitzende konstatiert, daß
die Angeklagte Hosch zur Zeit, als sie die falsche Aussage machte,
noch im Hause der Riehl war.’lj
Dr. Pollaezek: Haben Sie sich nicht auch gefürchtet? — An-
gekl. Hosch: Ja. Ich habe mich vor Schlägen gefürchtet.
Präs.: Sie sollen auch andere Mädchen beeinflußt haben, damit
sie falsch aussagen? — Die Angeklagte stellt das in Abrede. Sie
bestreitet auch, daß sie mit einer Krankheit behaftet gewesen sei,
als sie bei der Riehl war. Sie sei später krank gewesen, aber da¬
mals in häuslicher Pflege geblieben. — Präs.: Das wollten wir wissen.
(Zur Riehl): Was sagen Sie zu dieser Aussage? — Riehl: Es ist
alles nicht wahr! Die Hosch hat mich gebeten, ich soll sie behalten,
sie wird brav und anständig sein. (Heiterkeit.) Ich bitte, Herr
Hofrat, die Mädeln sagen heute so aus, weil ich im Unglück bin.
Sie sind nicht von mir beeinflußt worden, sondern von einer an¬
deren Seite.
Präs, (streng): Frau Riehl, es geht nicht an, daß Sie hier von
einer „anderen Seite“ sprechen. Wollen Sie damit behaupten, daß
die Mädchen beeinflußt wurden, falsche Aussagen zu machen?
Reden Sie nur!
Frau Riehl schaut auf ihren Verteidiger Dr. Rabenlechner, der
ihr gleichfalls zuruft: Reden Sie nur!
Angekl. Riehl: Die Mädeln wurden von den Redaktionen Tag
und Nacht um Angaben über mich bestürmt. — Präs.: Was meinen
Sie damit? — Angekl.: Ich meine das „Extrablatt“. — Präs.: Wollen
Sie mit Ihrer Behauptung sagen, daß eine bestimmte Person die
Erhebungen veranlaßt hat? — Angekl. Riehl: Ja, Herr Bader hat
auf meine Damen eingewirkt. Herr Bader hat sich für die Geschichte
sehr interessiert und hat den Mädeln aufgepaßt.
Präs.: Nehmen wir einen Moment, ich betone, nur einen Moment
an, daß Herr Bader wirklich Ihr Unternehmen ruinieren wollte.
Nehmen wir auch nur einen Moment an, Herr Bader wollte auf die
Mädchen einwirken, damit sie gegen Sie aussagen. Da wäre es
doch natürlich gewesen, daß die Mädchen zuerst gegen Sie und dann
zu Ihren Gunsten ausgesagt hätten. Ihre Behauptung, Frau Riehl,
entbehrt doch jeder Logik.
Präs.: Angekl. Marie Winkler, Sie sind angeklagt, in einem
Punkte falsch ausgesagt zu haben. Sie waren vom 10. Juli 1904
bis zum 2. August 1906 bei der Riehl. Sie haben ursprünglich an¬
gegeben, daß Sie auf Grund von Abrechnungszetteln, die Sie ver-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
fertigten, mit der Riehl stets verrechnet haben. Später haben Sie dem
Untersuchungsrichter einen Brief geschrieben, in dem Sie ersuchen, „ das
mit den Zetteln" wegzulassen, weil es eine falsche Deposition enthalte.
Sie haben dann angegeben, daß Sie die falsche Aussage deshalb ab*
legten, weil Sie glaubten, daß Sie so eher Glauben finden würden. (Zur
Angeklagten, ihr ein Paket Zettelvorhaltend): Haben Sie auch wirklich
alle diese Zettel sukzessive auf Grund Ihres wirklichen Verdienstes
angefertigt? — Angekl.: Ja, sie sind wirklich richtig. — Präs.:
Nach diesen Aufzeichnungen hätten Sie in der Zeit vom Januar bis
Juli 5337 Kronen eingenommen. — Dr. Pollaczek: Na, lauter Steuer¬
beamte waren das niebt. (Laute Heiterkeit.)
Dr. Rabenlechner: Ich will der Angeklagten nicht weh tun,
aber 3000 Gulden in einem halben Jahre, das ist doch zu viel.
— Frau Riehl (verächtlich): Aber ich bitte, die ohne Zähne und
mit der mageren Figur. Ich will sie ja nicht kleiner machen,
aber ...
Frau Riehl macht eine bezeichnende Handbewegung.
Dr. Pollaczek (zur Angeklagten Pokerny): Was haben denn Sie
flir einen Verdienst gehabt? — Angekl. (stolz): Ich bekam von
meinen Leuten 100, 150, ja auch 200 Gulden.
Die Angeklagte Josefine Zawazal ist geständig, zu¬
gunsten der Frau Riehl falsche Angaben vor dem Untersuchungs¬
richter gemacht zu haben. Sie sei von Frau Riehl zu ihrer falschen
Aussage verleitet worden.
Angeklagte Anna Christ erschien freiwillig beim Unter¬
suchungsrichter, um ihre falschen Angaben zu widerrufen.
Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie in das Haus der Riehl kamen? —
Angekl.: Siebzehn Jahre. — Präs.: Ist es richtig, daß Sie zwei Mo¬
nate lang ohne ärztliche Visitation im Hause blieben? — Angekl.:
Jawohl. — Präs.: Ist es richtig, daß Sie bei Ihrem Eintritt in das
Haus unversehrt waren? — Angekl. (fest): Ja, es ist richtig.
Die Angeklagte erzählt, daß ein operativer Eingriff an ihr vor¬
genommen wurde, um sie unbehelligt von der Behörde dem Schand-
gewerbe zufübren zu können.
Präs.: Wer hat sie zu der falschen Zeugenaussage veranlaßt,
die Sie abgelegt haben?
Angekl.: Die Riehl und die Pollak. Die Riehl ist vor mir ge¬
kniet und hat gesagt: Ich schwöre dir, Anna, ich werde es dir nie
vergessen, wenn du das für mich tust. Wenn du es nicht tust, bin
ich ruiniert. Du mußt alles Gute über das Haus sagen.
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Präs.: Wer hat der Operation beigewohnt? — Angekl.: loh
kann mich nur an die Riehl erinnern. Irgendein Mädchen hat mir
ein Polster in den Mund gestopft, weil ich geschrieen habe.
Frau Riehl (wütend): Dieses Mädel war die häßlichste meiner
Damen. (Heiterkeit.) Die hat es notwendig. Es ist natürlich gar
nichts wahr, was sie sagt.
Dr. Pollaozek (zur Angeklagten Zawazal): Ist es richtig, daß
Frau Riehl der Christ auch gedroht bat? — Zawazal: Jawohl. Sie
hat gedroht, daß, wenn die Christ nicht anständig aussagt, wird sie
sie verschwinden lassen. — Frau Riehl (aufschreiend): Das ist ja
Wahnsinn 1 Wie kann man denn einen Menschen verschwinden
lassen ? — Dr. Pollaozek: Sie haben ja auch Mädchen bekannter¬
maßen verschickt. — Frau Riehl (mit Nachdruck): Pardon. Das ist
nicht wahr. Ich bin Besitzerin eines Öffentlichen Hauses, aber keine
Mädchenbändlcrin.
Angeklagte Sophie Christ, ein neunzehnjähriges Mädchen, be¬
zeichnet sich als Wäscherin.
Präs.: Sie haben vor dem Untersuchungsrichter angegeben, daß
Sie nie etwas von unstatthaften Vorgängen bei der Riehl bemerkt
haben, daß kein Mädchen in der Freiheit beschränkt war und daß
es allen gut gegangen ist. Am 17. Juli widerriefen Sie Ihre Mit¬
teilungen und erklärten, daß Ihre Angaben unwahr waren. — An¬
gekl.: Frau Riehl hat mich erbarmt, sie sagte: „Hansi, du weißt, ich
hab’ ein Kind, mach’ mich nicht unglücklich, du wirst es nicht be¬
reuen.“ — Präs.: Hat Ihnen auoh die Pollak zugeredet? — An¬
gekl.: Ja, sie redete mir auoh zu; auch die Hosch sagte mir, ich
soll gut aussagen.
Angekl. Christ: Ich bitte, Herr Hofrat, bis heute habe ich meine
Sachen noch nicht; ich habe nur die Sachen verlangt, sechs Hemden
und sechs Hosen. — Riehl: Sie hat Schuhe, Bluse, Kleider be¬
kommen, mehr als sie mitgebracht hat.
Präs.: Als Zeugin vor dem Untersuchungsrichter sagte die Christ
auch, daß sie 35 Gulden als Rest der Abrechnung erhalten hat, das
ist ebenfalls nicht wahr. — Riehl: Das Mädchen war immer krank,
hat also nichts zu bekommen gehabt.
Die Angeklagte Ernestine Gönye war vier Jahre lang Stuben¬
mädchen im Hause der Riehl. Sie hat, wie der Vorsitzende fest¬
stellt, auch vor dem Untersuchungsrichter die Unwahrheit gesagt,
indem sie die Behandlung der Mädchen als tadellos bezeiehnete.
Nachdem sie aber am 24. August als Beschuldigte vorgeladen wurde,
erklärte sie, sie habe falsch ausgesagt.
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28
I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Angekl.: Frau Riehl sagte mir, ich soll sie nicht ins Unglück
stürzen. Ich habe nicht gewußt, daß die Sache bo gefährlich ist.
Als erste Zeugin wird Ottilie G., jenes Mädchen vernommen,
das knapp nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres zur
Riehl gebracht worden ist. Sie geht jetzt einem anständigen Er¬
werb nach.
Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie zur Riehl kamen und dort
„Dame“ wurden? — Zeugin: Vierzehn Jahr und drei Monate. —
Präs.: Wußten Sie, in was für ein Haus man Sie brachte? —
Zeugin: Anfangs nicht, später erfuhr ich es. — Präs.: Hat Ihr Vater
gewußt, wo Sie sich aufbalten? —.Zeugin: Nein, der Vater wußte
nicht, in welche Hände ich gekommen war; bei der Riehl war vom
Vater überhaupt nicht die Rede. — Präs.: Sie waren damals noch
nicht erwachsen? — Zeugin: Nein. — Präs.: In welcher Eigenschaft
sind Sie in das Haus gekommen? — Zeugin: Man sagte mir erst,
als Dienstmädchen, aber bald erfuhr ich den wahren Zweck. —
Präs.: Sie waren noch unbescholten, als Sie zu Frau Riehl kamen? —
Zeugin: Ja. — Präs.: Und wie lange hat es gedauert, bis Sie mit
den nötigen Dokumenten versehen waren? — Zeugin: Frau Riehl
ging zur Polizei und sprach mit einem Herrn Kommissär, und nach
zwei bis drei Tagen hatte ich die Sachen.
Die Zeugin erzählt, daß ihr der Polizeiarzt die Dokumente wieder
wegnahm, als er konstatiert hatte, daß sie noch unbescholten sei.
Frau Riehl redete ihr daraufhin zu, sich mit Männern zu befassen.
Sie habe sich aber geweigert, sei von der Riehl fort und erst später,
nachdem sie schon einen Liebhaber gehabt hatte, wieder zu ihr zu¬
rück. Frau Riehl verreclmete mit ihr in der Weise, daß sie vier
Kronen täglich für die Kost ansetzte und außerdem die Hälfte des
von den Herren bezahlten Geldes behielt. „Strumpfgeld“ wurde den
Mädchen einfach weggenommen, manchmal sogar mit Gewalt. Das
Mädchen ist mit der Riehl aus der Porzellangasse in die Mühlgasse
und von hier in die Grüne Torgasse übersiedelt.
Präs.: Haben Sie sich dort frei bewegen können? — Zeugin:
Nein, alles war zugesperrt. — Präs.: Haben Sie Geld bekommen? —
Zeugin: Nicht eineu Heller. — Präs.: Ist bei den Verrechnungen
etwas für Sie geblieben? — Zeugin: Ich war der Riehl immer
schuldig. — Wofür? — Zeugin: Für Kleidung und Wäsche. Es war
ein ewiges Manko. — Präs.: Konnten Sie ausgehen? — Zeugin: Nur
mit Frau Riehl. — Präs.: Wurden Sic von der Frau Riehl auch ge¬
schlagen? — Zeugin: Ja. Einmal bekam ich so arge Prügel, daß
ich längere Zeit krank w T ar. — Präs.: Weshalb? — Zeugin: Weil
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
29
ich Champagner getrunken habe, der nicht mir gehörte. — Präs.:
Was war das für Champagner? — Zeugin: Solcher, den die Gäste
stehen ließen. Der wurde zusammengegossen und wieder ausge-
sebenkt.
Die Zeugin erzählt weiter, daß die Ausfahrten, die die Mädchen
mit der Riehl machen durften, von dieser als Auszeichnung be¬
trachtet wurden.
Präs.: Haben Sie Herren mit nach Hause gebracht? — Zeugin:
Manchmal sind Herren mitgegangen, manchmal sind sie uns auch
naebgefahren. — Präs.: Haben Sie auch Schmuck bei diesen Fahrten
mitbekommen? — Zeugin: Ja, die Riehl gab uns Schmuck, damit
wir nicht durchgehen können. Auch ihr Geldtäschchen ließ sie uns
aus demselben Grunde tragen.
Dr. Rode legt eine Photographie aus der Zeit vor, da die Zeugin
bei der Riehl eintrat. Das Bild stellt die Zeugin im Matrosenkleid¬
chen vor. Der Vorsitzende bemerkt hierzu: „Da haben wir die Toi¬
lette im Maison Riehl. u
Auf Befragen dos Dr. Rode erzählt die Zeugin, daß ihr die
Haare gewaltsam abgeschnitten wurden. Die Riehl und ein Mädchen
hielten sie fest, da sie sich wehrte. Dadurch sollte die G. noch
jugendlicher erscheinen. Bei der Übersiedelung in die Grünetorgasse
wurden die Mädchen von der Pollak und der Riehl förmlich eskor¬
tiert. Schließlich berichtet die Zeugin noch, daß die Riehl sie adop¬
tieren wollte. Die Zeugin wollte aber nicht, weil die Riehl sie
immer prügelte.
Von der Pollak erzählt die Zeugin, daß sic die Türen zum
Schlafzimmer zugesperrt hatte und nur öffnete, wenn ein Herr ein
Mädchen sprechen wollte. Das habe die Pollak auf Geheiß der
Riehl getan. Diese Vorschrift bestand erst, nachdem mehrere Mäd¬
chen durchgegangen waren und einige durch einen Sprung aus dem
Fenster zu flüchten versuchten.
Präs, (zur Riehl): Was sagen Sie zu dieser Aussage? — An-
gekl. Riehl: Von Anfang bis zu Ende erlogenl Ich habe das Mäd¬
chen von einer Mädchenhändlerin erhalten, nachdem es in einem
öffentlichen Hause in Prag nicht aufgenommen wurde. Die Sache
hatte nämlich ein Hindernis, weil sie ein Verhältnis hatte. — Präs.:
Wußten Sie, wie alt die Zeugin war? — Riehl: Das habe ich aller¬
dings vergessen. (Heiterkeit.)
Dr. Pollaezek (zur G.): Haben Sie Bich nie Herren gegenüber
über diese Behandlung beklagt? — Zeugin: Ja. Aber die Herren
sagen immer: Euch Mädeln geht es sehr gut. (Bewegung.)
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Die Zeugin Georgine W. war ein Jalir bei der Riehl.
Als ich durch Vermittlung einer Frau Neubauer zur Riehl kam —
so erzählt die Zeugin — war ich noch nicht sechzehn Jahre alt. Die
Frau Riehl hat die Pollak beauftragt, sofort mit mir zur Polizei zu
gehen, ist aber dann selbst gegangen. Dann hat sie mir gesagt,
ich soll sofort meinem Vormund nach Stockerau telegraphieren, und
wenn er kommt, soll ich ihm schön die Hand küssen, ihn um die
Zustimmung bitten und sagen, daß ich mir eine schöne Ausstattung
für meine Hochzeit verdienen werde. (Bewegung.)
Präs.: Was haben Sie verdient? — Zeugin: Manchmal dreißig
Gulden täglich, öfter mehr, aber nie weniger als zehn Gulden.
Präs.: Wieviel haben Sie also in der ganzen Zeit verdient? —
Zeugin: Ich glaube 8000 Kronen. — Präs.: Wurde mit Ihnen ver¬
rechnet? — Zeugin: Niemals. — Präs.: Und was war mit dem
Strumpfgeld? — Zeugin: Auch das mußten wir der Riehl geben.
Die Riehl bat uns gezwungen; sie sagte, wir bestehlen sie und
werden als Diebinnen behandelt. — Präs.: Also nach der Logik der
Frau Riehl wären die Mädchen Diebinnen gewesen, wenn sie ihr
Eigentum behalten hätten.
Die Zeugin berichtet ferner, daß die Riehl ihr ein Firmkleid
schenkte, aber bald wieder abnahm. — Präs.: Da haben wir wieder
einen Firmling der Frau Riehl. Wie war denn sonst Ihre Kleidung?
— Zeugin: Sie bestand aus Unterrook, Babyschürze, Halbschuhen
und gewöhnlichen Strümpfen.
Präs.: Mit dieser Toilette konnten Sie aber nicht ausgehen. Wie
war es, wenn die Riehl mit Mädchen in Vergnügungslokale ging? —
Zeugin: Da waren wir sehr hübsch gekleidet und hatten Schmuck.
Wir haben von solchen Lokalen Herren nach Hause gebracht oder
mußten Visitenkarten verteilen. Wir waren dort wirklich nicht zum
Vergnügen, sondern zum Geschäft. (Heiterkeit.)
Die Zeugin mußte mit einem andern Mädchen gemeinsam in
einem Bette schlafen. Sie wollte wiederholt aus dem Hause der
Riehl weg, aber da drohte ihr die Riehl mit der Abrechnung. Die
Zeugin zeichnete ihre Einnahmen auf, aber plötzlich waren mehrere
Blätter aus diesem Vermerkbuch herausgerissen.
Präs.: Wieviel wären Sie also nach Angabe der Riehl schuldig?
— Zeugin: 400 Gulden. Als ich unter der Ausflucht, zu meiner
Mutter, fahren zu müssen, aus dem Hause kam, begleitete mich die
Riehl. Sie gab mir sehr schlechte Kleider von einem andern Mäd¬
chen und keinen Kreuzer Geld.
Der Präsident verliest ein Protokoll, das mit der Zeugin im
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Sekretariat der Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels im Jahre
1903 aufgenommen wurde. In diesem Protokolle kommen bereits
die meisten der gegen die Riehl jetzt erhobenen Anwürfe vor.
Dr. Rabenlechner: Dieses Protokoll sollte doch einen Zweck
haben. Was geschah mit ihm? — Präs.: Das ist mir nicht bekannt.
Auf Befragen erklärt die Riehl mit großer Entschiedenheit alle
Angaben der Zeugin als Lügen und berichtet, daß dieses Mädchen
vollständig verwahrlost war und die Schuhe mit Spagat zugebunden
hatte, als sie zu ihr kam.
So verwahrlost war die W., daß der Kommissär auf der Wieden
zu mir sagte, als ich das Mädchen vorstellte: „Solche Mädeln
bringen Sie uns, da können Sie gleich gehen, so was kann man
nicht brauchen.“ Vierzehn Tage später stellte ich die W. wieder vor,
aber in sehr schönen Kleidern. Da sagte derselbe Kommissär: „Ja,
mit solchen Mädeln können Sie kommen. Das ist ganz was anderes/ 1
Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß das Mädchen schon vor vier¬
zehn Tagen bei mir war. Darauf sagte der Herr Kommissär zu
einem Kollegen: „Schau, was die Riebl aus einem Mädel in vierzehn
Tagen machen kann.“ (Bewegung.)
Zeugin Justine R. gibt an, daß sie beim Eintritt in das Haus
der Frau Riehl nicht sofort gewußt habe, daß sie sich in einem der¬
artigen Hause befinde. — Präs.: Hat Frau Riehl Ihnen gesagt, als
was Sie fungieren sollen?
Zeugin: Ich bin von Frau Riehl aufgenommen worden, daß ich
Deutsch bei ihr lernen soll. (Heiterkeit.) Ich bin als Stubenmädel
aufgenommen worden. — Präs.: Und schließlich sind Sie sich jeden¬
falls sehr bald darüber klar geworden, daß Frau Riebl Sie nicht
zur Verbesserung Ihrer Sprachkenntnisse aufgenommen hat. Wann ist
das Gesundhcitsbiich genommen worden? — Zeugin: Bald danach. —
Präs.: Ist nicht gefragt worden, ob Ihre Eltern einverstanden sind? —
Zeugin: Nein. — Präs.: Hat Frau Riehl jemals mit Ihnen abge¬
rechnet? — Zeugin: Ja, zum Schluß hat sie herausgereohnet, daß
ich ihr noch gegen 1000 Gulden schuldig bin. — Präs.: Sind Mäd¬
chen geschlagen worden? — Zeugin: Ja, weil sie nicht gefolgt
haben. — Präs.: Hat die Riehl auch von Ihnen verlangt, daß Sie
Herren Dienste leisten sollen, vor denen Sie zurückschreckten? —
Zeugin (rasch): Aber jal Sie hat gesagt: Ein böhmisches Madel
muß alles machen! (Heiterkeit.)
Präs.: Hat Ihre Mutter Sie einmal besucht? — Zeugin: Ja.
Wie sie gekommen ist, hat mich die Frau Riehl rasch in mein
Zimmer hinaufgeschickt, ich soll mich als Stubenmädel anziehen.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Meiner Mutter ist unten inzwischen unwohl geworden. Wie ihr
wieder besser geworden ist, war ich schon unten bei ihr als Stuben*
mädel. — Präs.: Hat Ihnen Frau Riehl bei den Ausgängen Schmuck
gegeben ? — Zeugin: Ja. — Präs.: Da hätten Sie doch davonlaufen
können? — Zeugin: Nein, denn dann hätte sie mich wegen Dieb¬
stahl angezeigt.
Frau Riehl gibt aD, daß die Zeugin und deren Mutter gewußt
haben, was sie fUr ein Haus unterhalte. Die Mutter habe sogar
Geld von ihr erhalten. — Zeugin (erregt): Aber nichteinen Heller!
Meine Mutter hat gar nichts gewußt! Sowie die Mutter gekommen
ist, hat Frau Riehl Champagner einkaufen lassen, aber die Mutter
hat ihn um die Erd’ g’haut. Und als mein Vater gestorben ist
(weinend), da hab’ ich vier oder fünf Tage gar nichts davon ge¬
wußt, weil sie mir die Briefe vorentbalten hat. — Frau Riehl be¬
zeichnet diese Angaben wiederum als erlogen.
Die Zeugin Anna D. wurde als Dienstmädchen aufgenommen.
Als sie zum Schluß einen Lohnrest von 4 Gulden haben wollte, er¬
hielt sie von Frau Riehl Schläge und wurde hinausgeworfen. Sie
gibt an, daß einmal ein Mädchen von Frau Riehl und der Haus¬
besorgerin auf den Kellerstufen mit einem Pracker geschlagen wurde.
— Frau Riehl entsinnt sich dieser Prügelei nicht. Sie erklärt, die
Zeugin sei ihr aufsässig, weil sie ihr ein paar Mädchen gebracht
habe, und nicht dafür bezahlt worden sei.
Die Zeugin Franziska H. war drei Jahre lang bei Frau Riehl.
Sie wurde stets von Frau Riehl sehr gut behandelt und erhielt, als
sie wegging, einen Korb mit Wäsche und Kleidern und 15 Gulden.
Ihre Mutter war mit ihrem Aufenthalt bei Frau Riehl einverstanden.
Frau Riehl erklärt auf Befragen des Verteidigers Dr. Hofmokl:
Wieviel Geld die Eltern der H. von mir erhalten haben, weiß ich
nicht, aber sie sind sehr fleißig einkassieren gekommen.
Zeugin Pauline T. war unter dem Namen „Marianne“ fünf
Jahre im Hause der Riehl.
Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie eintraten? — Zeugin: Sieb¬
zehn Jahre. Ich war aber früher bei einer andern Frau und bin
durch einen Herrn zur Frau Riehl gekommen. — Präs.: Haben Sie
denn sofort von der Polizei ein Buch bekommen? — Zeugin: Die
frühere Frau, Openauer, richtete mich ab, bei der Polizei zu sagen,
daß meine Eltern gestorben sind. — Präs.: Das war aber eine Lüge?
Waren Sie bei der Riehl zufrieden? — Zeugin: Ja.
Die Zeugin erzählt, daß es mit dem Einsperren der Mädchen
seine Richtigkeit habe; aus der „Kaserne“ durfte niemand ohne Er-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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laubnis and die Kleider waren in Verwahrung der Frau. — Präs.:
Haben Sie Briefe an Ihre Eltern geschrieben? — Zeugin: Nein,
die Matter ist immer Belbst gekommen.
Prfts.: Hat sie etwas erhalten? — Zeugin: Jeden Monat hat die
Mutter zehn Gulden erhalten. — Präs.: Und Sie? — Zeugin: Ich
habe nichts bekommen. — Prfts.: Was hatten Sie denn ausgemacht?
Die Zeugin erzählt nun, daß sie plötzlich „ausgehoben“ wurde,
und beim Landesgerioht habe sie mit der Riehl ausgemacht, daß sie
im ganzen 60 fl. erhalte. Der Vater der Riehl habe ibr aber nur
40 fl. gegeben. — Präs.: Wieviel haben Sie verdient? — Zeugin:
Ziemlich viel. — Präs.: Sie hätten also fllr fünf Jahre 60 fl. be¬
kommen sollen und von diesen wurden Ihnen noch 20 fl. abgezogen.
Wie war’s mit dem Strumpf- und Zimmergeld? — Zeugin: Das
haben die Riehl und die Pollak einkassiert. — Präs.: Ist Ihnen von
Mißhandlungen der Mädchen etwas bekannt? — Zeugin: Dann und
wann ist’s vorgekomroen. — Präs.: Wissen Sie etwas von einer
Operation an der Erna? — Zeugin: Nein. Sie hat mir aber selbst
erzählt, daß sie nicht mehr unversehrt war, als sie hinkam. —
Präs.: Das wurde ihr nämlich anbefohlen.
Angeklagte Riehl: Nicht alles, was die Zeugin sagt, ist wahr.
Sie war schon anderthalb Jahre fort von mir und ist wieder ge¬
kommen. Ihren Eltern habe ich mehr als 10 Gulden monatlich ge¬
geben, ich habe oft den Zins hergegeben, auch wurden für Ver¬
gnügungen Ausgaben verrechnet. Sie (die Zeugin) war nicht eines
der schlechtesten Mädchen; sie hatte aber die Gewohnheit, zu
kokettieren, was ich nicht dulden wollte.
Präs.: Nun, bei Ihrem Geschäft ist das Kokettieren gerade nicht
das Schlechteste gewesen. (Heiterkeit.)
Die Riehl gibt weiter an, daß sie den Eltern der Zeugin jeden
Monat Geld schickte. — Zeugin (gemessen): Gnädige Frau, ich habe
Ihnen immer gesagt, daß Sie den Eltern nichts schicken sollen.
Landesgeriohtsrat Dr. Spitzkopf (zur Zeugin): Das Geld ist gegen
Ihren Willen an die Eltern geschickt worden? — Zeugin: Ja. —
Dr. Spitzkopf: Warum wollten Sie das nicht? — Zeugin: loh habe
einen Skandal mit der Mutter gehabt. — Verteidiger Dr. Hofraokl:
Sollte dieses Geld für die Eltern sein oder für die Tochter angelegt
werden? — Frau Riehl: Ich habe dem Vater zehn oder fünfzehn
Gulden geschickt, wenn er es für Zins oder sonst gebraucht hat.
Präs.: Frau Riehl! Diese Aussagen werden sich im Laufe des
heutigen Verhörs noch widerholen. Es erscheint allmählich als ein
gewisses System, daß die Eltern bezahlt wurden, damit sie zur Riehl
Arohir für Kriminal&nthropologie. 27. Bd. 3
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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hielten. Die Mädchen waren damit auf zwei Seiten eingesohlossen.
Auf der einen Seite gab sich Frau Riehl den Anschein, daß sie Über
die Behörde verfüge, auf der anderen Seite hatte sie die Eltern für
sich; — damit waren die Mädchen geliefert.
Staatsanwalt (zur Zeugin): Wußten Sie, daß Ihre Eltern von
der Riehl Geld erhielten? — Zeugin: Nein. — Staatsanwalt: Ich
erkläre, daß die Verfolgung der Eltern dieser Zeugin eingeleitet wird.
Präs, (zur Zeugin): Ist es vorgekommen, daß ein Mädchen mi߬
handelt wurde, weil es durchgehen wollte? — Zeugin: Aus diesem
Grunde wurden sie nicht geschlagen, nur wenn sie mit der Madame
frech waren.
Philomena J. war unter dem Namen „Elsa“ während drei Monaten
im Hause Riehl.
Präs.: Durch welche Vermittlung kamen Sie in das Haus? —
Zeugin: Zwei Männer haben mich dorthin gebracht. — Präs.:
Können Sie uns die Namen dieser zwei Männer nennen? — Zeugin:
Der eine war der „g’flickte Schani“, den zweiten kenne ich nicht. —
Präs.: Wissen Sie auch, was die Herren für diese Leistungen er¬
hielten? — Zeuge: Der „g’flickte Schani“ hat mir gesagt, daß er
fünf Gulden bekommen hat. — Präs.: Wer hat Sie bei der Polizei
angemeldet? — Zeugin: Die Frau Riehl. — Präs.: Hatten Sie die
Zustimmung Ihrer Eltern? — Zeugin: Nein. Meine Mutter hat
nicht gewußt, daß ich bei diesem Leben bin. — Präs.: Warum haben
Sie die Polizei angelogen? Zeugin: Die Frau Riehl hat es mir
aufgetragen.
Dr. Rabcnlcchncr (zur Zeugin): Haben Sie viel verdient? —
Zeugin (zögernd): Wenn viel Herrenbesuche kamen, habe ich viel
verdient. — Dr. Hofmokl: Bitte, Geschäftsgeheimnis. (Heiterkeit.)
Die Zeugin berichtet Uber ihre (Flucht. Nachdem sie häufig
Schläge erdulden mußten, beschlossen drei Mädchen, zu fliehen. Sie
entliefen in den Rosakleidern, die sie abends im Salon trugen. Die
Zeugin bestach den Portier mit einem Gulden, dem „Strumpfgeld“,
das sie auch im Strumpf verborgen hielt. Damals wurde noch nicht
so gründlich visitiert; erst durch diesen Fluchtplan kam die Riehl
auf die Idee, auch in den Strümpfen der Mädchen nach Geld zu
suchen. Die Mädchen flohen zuerst in die Sterngasse, gingen aber
dann in die Wohnung der Pollak in die Novaragasse.
Präs.: Das war das Richtigste. (Heiterkeit.I
Zeugin: Die Pollak versprach, den drei Flüchtigen eine Unter¬
kunft zu verschaffen, verständigte aber die Frau Riehl, und diese
kam bald darauf im Einspänner vorgefahren und nahm die Mädchen
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I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien.
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mit. Sie spie der „Steffi“ ins Gesicht, beschimpfte und schlug die
anderen zwei Mädchen und verlangte ihre Kleidung. Im Hause
beschimpfte sie sie wieder, dann gab die Riehl jeder einen Gulden
und sagte nur: „Jetzt könnte zum Teufel gehen!“ Auf dem Polizei¬
kommissariat im 9. Bezirk hat ein Polizeiagent der Zeugin gesagt,
sie bekomme kein Buch mehr, weil die Mutter es nicht mehr dulde.
Der Vorsitzende konstatiert aus den Protokollen, daß die Mutter,
eine Häuslerin in Böhmen, von dem Lebenswandel ihrer Tochter
nichts wußte.
Die Zeugin erzählt, daß mehrere Mädchen, die 'es im Hause
Riehl nicht aushalten konnten, die Flucht ergriffen. Sie erinnere
sich an die Flucht der Valerie und der Marianne.
Präs.: Es waren also nicht alle Mädchen zufrieden? — Zeugin:
Ach Gott, die Weggehen konnten, gingen weg.
Verteidiger Dr. Rode (zur Zeugin): Sie haben ja, als Sie Ihre
Flucht bewerkstelligten, gewußt, daß der Portier im Hause sich mit
Frau Riehl überworfen habe? — Zeugin: Sonst hätte er den Gulden
nicht angenommen und ich wäre nicht hinausgekommen.
Dr. Rabenlechner: Es liegen Briefe vor, die mit Ihrem Ruf¬
namen „Elsa“ unterzeichnet sind; darin ist von Quälereien keine
Rede, im Gegenteile; ebenso in einem zweiten Briefe. Zeugin: loh habe
nur einen Brief geschrieben. Der vorgezeigte Brief ist gar nicht
von mir. — Präs.: Dies erklärt sich daraus, daß mehrere Mädchen
„Elsa“ hießen. — Dr. Rabenlechner: Wie hat man sich da aus¬
gekannt? — Präs.: Der Name wurde nicht gleichzeitig an mehrere
verliehen. Wenn eine wegkam, wurde der freigewordene Name auf
die Nachfolgerin Übertragen. Das Verzeichnis des Untersuchungs¬
richters zeigt je eine Else aus den Jahren 1901, 1902 und 1903.
Die Zeugin Anna F. ist 21 Jahre alt. — Präs.: Wie kamen
Sie zur Riehl? — Zeugin: Durch eine Frau. — Präs.: Wie heißt
die Frau? — Zeugin (gleichgültig): Ich weiß es nicht. — Präs.:
Wie lange waren Sie im Hause? — Zeugin: Ich weiß es nicht be¬
stimmt. — Präs.: Waren Sie auch im dritten Stock in der „Kaserne“,
untergebracht? — Die Zeugin schweigt. — Präs.: Nun, ist das
richtig? — Zeugin (zögernd): Ja.
Anna F. erzählt, daß Frau Riehl niemals abrechnete. Wenn
die Zeugin sich über den Stand ihres Kontos vergewissern wollte,
wurde ihr gesagt, sie sei noch eine Menge schuldig.
Präs.: Wurden Sie auch manchmal geschlagen? — Zeugin:
0 ja, wenn ich keck war. — Präs.: Sie scheinen aber sonst mit
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
der Behandlung im Hause zufrieden gewesen zu sein. — Zeugin
(gleichmütig): 0 ja!
Zeugin Aloisia S. war unter dem Namen Marianne im Hause
der Riehl. Als der Vormund davon erfuhr, wollte er ihr das Buch
entziehen lassen. Sie blieh deshalb vierzehn Tage lang unangemeldet
bei der Riehl. Diese sagte ihr, sie solle beim Kommissär angeben,
ihr Vormund sei unbekannten Aufenthaltes und ihre Mutter sei
gestorben.
Präs.: Ihre Mutter lebt aber noeh? — Zeugin: Jawohl. — Ver¬
teidiger Dr. Pollaczek: Hat denn die Polizei Ihre Angaben nicht
kontrolliert? — Zeugin: Ja, aber das hat eben vierzehn Tage ge¬
dauert.
Sie erzählt, daß sie sich einmal weigerte, einem Herrn, der
Ungewöhnliches von ihr verlangte, zu Willen zu sein.
Präs.: Damals wollte die Riehl Sie hinauswerfen? — Zeugin:
Ja. Mit zerrissenen Schuhen, im Unterrook und ohne Kopfbedeckung.
Ich bat sic, zu gestatten, daß ich meiner Mutter durch das Dienst¬
personal einen Zettel schicke, in dem ich die Mutter um Kleidung
bat. Die Riehl verbot aber ihren Bediensteten, mit mir zu reden.
Präs.: Damals faßten Sie den Entschluß, durchzugehen? —
Zeugin: Ja. Aber von der Riehl konnte man nicht anders durch¬
gehen als nackt. Ich glaube, daß die Gefangenen hier meh r Frei¬
heit haben als die Mädchen im Hause der Riehl. Präs.: Sind Sie
auch geschlagen worden? — Zeugin: Nein. Einmal wollte die Riehl
mich prügeln; das war damals, als ich jenen Herrn zurückwies.
Aber ich erwischte eine Siphonflasche, die gerade auf dem Eiskasten
stand, und spritzte sie damit an, 6odaß sie davonlief.
Präs.: Schließlich gelang es Ihnen doch, durchzubrennen? —
Zeugin: Ich wurde einmal für ein erkranktes Mädchen zu dem Arzt
geschickt. Mac gab mir drei Gulden mit. Nach ein paar Minuten
schickte mir die Riehl ihre Wirtschafterin nach, ließ mir die drei
Gulden wieder abnehmen und mir sagen, ich möge gleich nach
Hause kommen. Ich aber dachte mir, jetzt bin ich schon aus ihrem
Bereich, jetzt kehre ich nicht mehr zurück. So lief ich davon —
mit sieben Kreuzern in der Tasche.
Präs.: Frau Riehl, was antworten Sie auf die Aussagen der
Zeugin? — Angekl.: Es ist alles vom Anfang bis zum Ende er¬
logen. — Verteidiger Dr. Pollaczek (zur Zeugin): Haben Sie auch
Mißhandlungen von Mädchen mitangesehen? — Zeugin: Ja. Einmal
hat Frau Riehl einer einen Zündstein nachgeworfen. Die Arme war
tagelang nachher an der Hüfte geschwollen.
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3?
Die Zeugin Marie St. war drei Wochen im Hanse Riehl. Sie
bestätigt, daß die Mädchen eingesperrt wurden. Sie selbst ist von
dort nur losgekommen, weil sie anläßlich einer polizeilichen Vor¬
ladung sagte, der Kommissär habe ihr das Buch abgenommen. Die
Riehl habe ihr dann die Kleider nicht ausgefolgt. Einmal sei ein
Mädchen, als der Arzt erschien, von der Riehl auf dem Boden ver¬
steckt worden.
Angeklagte Riehl: Herr Hofrat, dieses Mädchen, an das ich
mich gar nicht erinnern kann, weiß mehr aDzugeben, als Mädchen,
die jahrelang bei mir waren 1
Die Zeugin Marie S. war ebenfalls nur drei Wochen bei der
Riehl. Sie erzählt, daß acht Mädchen in einem kleinen Raum
schlafen mußten.
Präs.: Der Raum faßte nach den Erhebungen 76 Kubikmeter
Luft, also kommen etwas mehr als 9 Kubikmeter auf jede Person.
Im Landesgeriobt kommen auf jeden Sträfling in den Zellen 18 bis
20 Kubikmeter Luft, also um die Hälfte mehr wie bei der Riehl.
Dr. Pollaczek: Und so was nennt man ein Freudenhaus! (Heiterkeit.)
Die Zeugin erklärt weiter, daß sie nur mit dem Hunde der
Frau Riehl ausgehen durfte, damit er an die Luft geführt werde.
„Der Hund hat es besser gehabt als die Mädchen.“
Die Zeugin Marie G. ist im Alter von siebzehn Jahren durch
eine andere Frau zur Riehl gekommen. Sie hat sie beredet, bei
der Polizei anzugeben, daß sie (Zeugin) von ihren Eltern nichts
wisse und schon seit Jahren von ihnen nichts gehört habe. Auf
diese Weise habe sie „das Buch“ erhalten. Über die Einsperrung
im Zimmer haben sich die Mädchen nicht beschwert, da sie sich vor
der Riehl fürchteten.
Präs.: Sind Sie geschlagen worden? — Zeugin: Einmal erhielt
ieh eine Ohrfeige, weil ich einen Rausch gehabt habe. Ich habe
aber mit dem Herrn Champagner trinken müssen. — Präs.: Müssen?
Sie haben ihn aneifern sollen. — Dr. Rabenlechner: Mein Gott, wir
wissen ja, wie es in solchen Häusern zugeht 1 (Heiterkeit.)
Präs.: Ist es richtig, daß Sie geschlagen wurden, wenn Sie
gewisse Anforderungen gewisser Herren nicht erfüllen wollten?
Zeugin: Die Riehl und die Irma haben mich zusammen geschimpft,
weil ich mich weigerte. Die Zeugin erklärt, daß sie das Haus ver¬
ließ, als sie endlich von ihrem Vater übernommen wurde.
Der Hausbesorger Johann Hruby war zweimal als Portier
im Hause Riehl bedienstet. Er wird auf Antrag des Verteidigers
Dr. Rabenlechner beeidet. Das erstemal wurde er im Jahre 1901
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
von der Frau Riehl in den Dienst genommen. — Präs.: Sie haben
damals mit der Riehl einen schriftlichen Vertrag geschlossen.? —
Zeuge: Jawohl. — Präs.: Haben Sie eine Bezahlung bekommen? —
Zeuge: Nein. Ich batte nur Wohnung und Kost. Meine Frau mußte
für das ganze Pensionat Riehl die Küche führen.
Präs.: Konnten die Mädchen aus- und eingeben, und batten Sie
in dieser Beziehung bestimmte Weisungen erhalten? — Zeuge: Ich
hatte den Auftrag, kein Mädchen ohne Begleitung fortgehen zu
lassen. —Präs.: Was hatten Sie unter der Begleitung zu verstehen? —
Zeuge: Frau Riehl und Frau Pollak. — Präs.: Und was wäre ge¬
schehen, wenn Sie den Auftrag der Frau Riehl nicht befolgt hätten ? —
Zeuge: Sie sagte mir, daß sie mich dann hinauswerfen würde.
Präs.: Wie wurde es denn im Salon bekannt, wenn nachts ein
Männerbesuoh kam? — Zeuge: Die Hausglocke stand auch mit einer
Glocke im ersten Stock in Verbindung. Wenn unten geläutet wurde,
ertönte oben ein Alarmsignal. — Präs.: Wer hat denn oben Wache
gehalten, damit die Mädchen nicht durchgehen?— Zeuge: Solange
die Riehl schlief hat eine der Damen das Geschäft besorgt. —
Präs.: Wie war es denn an Sonntagnachroittagen? — Zeuge: Die
Mädchen wurden da in den Garten eingelassen, doch mußte ich
vorher das große Tor schließen. — Präs.: Also ganz gefängnisartig!
Wissen Sie, Herr Zeuge, ob im Salon oben viel champagnisiert
wurde? — Zeuge: Um solche Kleinigkeiten habe ich mich nicht
gekümmert. — Präs.: Warum sind Sie das erstemal von der Riehl
entlassen worden? — Zeuge: Weil sie einmal im Salon Schmutz
fand und sagte, daß ich nachlässig sei.
Präs.: Haben Sie viel verdient? — Zeuge: Ziemlich. — Präs.: Wie
viel denn ungefähr im Monat? — Zeuge: 100 Gulden. — Präs.: Das
ist wohl sehr respektabel. Da kann man einen Schluß daraus ziehen,
wie die Einkünfte oben gewesen sind; denn die Herren werden wohl
mehr Wert darauf gelegt haben, oben nobel zu 6ein. (Heiterkeit.)
Der Vorsitzende befragt den Zeugen, ob die Mädchen bei ihren
Ausfahrten Männer mitgebracht haben? — Zeuge: Männer, bitt’ Sie,
Männer sind immer gekommen. (Heiterkeit.) — Präs, (eindringlich):
Können Sie behaupten, daß die Pollak darauf Einfluß genommen
hat, daß die Mädchen gefangen gehalten werden? — Zeuge: Aber,
das war ja die Hauptmacherin. — Angekl. (schreit auf): Gott im
Himmel! . . . schrecklich!
Frau Hruby bestätigt im wesentlichen die Angaben ihres Gatten.
Sie sagt aus, daß die Pollak öfters die Aufgabe hatte, die Mädchen
vor ihren Anverwandten zu verleugnen.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Präs.: Und wenn eine aus dem Hause hätte fortgehen wollen,
hätte dies die Pollak zugelassen ? — Zeugin (mit stark böhmischem
Akzent): 0, die Pollak hat’s niemanden furtlassen. Der is kane
ausknmmen! (Heiterkeit.)
Frau Hruby war auch zweimal Zeugin von Mißhandlungen von
Mädchen. — Präs.: Sind Sie selbst auch mißhandelt worden ? —
Zeugin: Ja. Einmal hat mir die Riehl das Fleisch, das die Köchin
zu spät gebracht hat, und einmal gar ein gebratenes Hendel an den
Kopf geworfen. — Frau Riehl bestreitet die Mißhandlungen der
Mädchen.
Marie Christ springt erregt auf und schreit: Ja, einmal hat sie
mich furchtbar geprügelt, als ich fortlaufen wollte, und einmal hat
sie mir das ganze Gesicht zerkratzt.
Verteidiger Dr. Rabenlechner: Wir haben jetzt zwei Tage lang
schauderhafte Details über die Mißwirtschaft im Hause Riehl gehört.
Ich muß deshalb nachdrücklich darauf hinweisen, daß Frau Riehl
doch ein polizeilich toleriertes Haus besaß und daß die Polizei
acht Jahre lang nicht nur Gelegenheit hatte, sondern sie auch be¬
nützte, durch Revisionen, die ihr pflichtgemäß oblagen, sich von den
wahren Zuständen im Hause zu überzeugen. Diese Revisionen
wurden vorgenommen, und von der Polizei wurde Frau Riehl in
dieser langen Zeit nicht ein einziges Mal beanstandet. Wir müssen
das feststellen, denn wir sind alle zur Feststellung der Wahrheit
verpflichtet. Es kamen niedere und es kamen höhere Polizeibeamte
ins Haus, sie verkehrten mit Frau Riehl und auch mit ihren
Pensionärinnen und nie wurde Frau Riehl bemängelt oder polizeilich
beanstandet. Es ist Pflicht der Verteidigung, durch den Antrag auf
Einvernahme dieser Polizeiorgane Klarheit darüber zu schaffen, ob
Frau Riehl — diese Frage ist wichtig für ihr subjektives Verschulden —
nicht vollkommen bona flde gehandelt, und ob sie nicht die be¬
ruhigende Überzeugung haben konnte, daß sie in Harmonie mit den
gesetzlichen Vorschriften vorgehe.
Ich beantrage daher die Vorladung jener Polizeiorgane vom
Kommissariat Alsergrund sowie auch von der Polizeidirektion, denen
diese Revisionen oblagen. Einzuvernehmen sind danach: Polizei¬
agenten* Oberinspektor Oberhuber, Polizeiagenten-Inspektor Piß, —
der speziell über das Verhalten der Mädchen sowie über ihr Leben
im Riehlsoben Hause zu deponieren in der Lage ist —, ferner
Polizeikommissär Zdrubek, der mit der Überwachung der Revisionen
beauftragt war, und der Chefarzt kais. Rat Dr. Merta. Der
Regierungsrat Dr. Witlacil ist leider schon gestorben. Diese Herren
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40
I. Der Prozeü Riehl und Konsorten in Wien.
haben sämtlich auch bei jener Kommission fungiert, die die Ab-
sperrungsrnaßregeln im Rieblschen Hause intendierte. Zur Ein¬
vernahme des betreffenden Referenten vom Polizeikommissariat Alser¬
grund beantrage ich ferner, daß er beauftragt werden möge, die
vorfindbaren Akten Über den Fall vorzulegen, aus denen sich er¬
geben wird, daß alles in bester Ordnung und den gesetzlichen Be¬
stimmungen entsprechend befunden, ja daß sogar der Zufriedenheit
über die Vorgefundene Ordnung im Hause Riehl gegenüber der Be¬
sitzerin Ausdruck gegeben wurde. Wenn nun also der Frau Riehl,
ich will nicht sagen, der Zoll der Anerkennung, aber doch
mindestens die offizielle Zufriedenheit der kompetenten Faktoren
ausgesprochen wurde, so mußte für sie ein Gefühl der beruhigenden
Überzeugung von ihrer Schuldlosigkeit entstehen.
Da meiner Klientin auch vorgeworfen wurde, in mehreren
Fällen Mädchen ohne die vorgeschriebenen Dokumente ihrem Ge¬
werbe zugeführt zu haben, bitte ich auch um die Vorladung der
Arzte Dr. Husserl und Dr. Waldmann, (Präs.: Dr. Husserl ist ohne¬
dies vorgeladen), die insbesondere auch über jene horrenden Ge¬
schichten von den vertuschten Erkrankungen Klarheit zu schaffen
haben werden. Ich bitte, meinen Anträgen gerade in diesem Mo¬
ment stattzugeben, damit das Bild der Zustände im Hause Riehl
sofort nach dieser Richtung vervollständigt werde.
Der Staatsanwalt überläßt die Entscheidung über die Relevanz
der beantragten Zeugen dem Gerichtshöfe.
Der Vorsitzende erklärt, daß die Vorladung für heute nicht
möglich sei, weil das Programm schon feststeht.
Zeugin Albine K. war Stubenmädchen bei Frau Riehl. Frau
Riehl habe ihr den Auftrag gegeben, Briefe, die von den Mädchen
abgesendet wurden, nicht herauszugeben, sondern zunächst ihr zu
zeigen; ebenso mußten ankommende Briefe ihr übergeben werden. —
Präs.: Mit einem Mädcben, das „die Brünnerin“ genannt wurde, soll
sich einmal eine rohe Szene abgespielt haben. — Zeugin: Das Mäd¬
chen kam einmal weinend aufs Zimmer, und als ich sie fragte, was
geschehen sei, erzählte sie, ein Herr habe von ihr etwas Widerliches
verlangt. Als sie sich weigerte, Bei Frau Riehl, die an der Tür ge¬
horcht habe, hereingekommen und habe sie mit den Worten: „Du
H . . ., glaubst du, daß ich dir umsonst Fressen und Unterstand
gebe?“ gezwungen, dem Herrn zu Willen zu sein. — Frau Riehl
stellt den ganzen Vorfall in Abrede.
Zeugin Anna Ch. war fünf Tage im Spital, konnte aber von
dort nicht von Frau Riehl freikommen, da diese vor ihrer Ent-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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lassung dem Arzt und der Wärterin telephoniert hatte, das Mädchen
solle nur ihr übergeben werden, da sie es hingebracht habe. Das
Mädchen wurde dann von Frau Pollak abgeholt. Zu Hause erklärte
die Zeugin der Frau Riehl, daß sie Weggehen wolle. Unter wüsten
Schimpfworten nahm ihr darauf Frau Riehl sämtliche Kleider weg.
Nur mit einem Rock und einer Bluse bekleidet konnte die Zeugin
trotzdem aus dem Hause laufen. Sie eilte auf das Kommissariat im
9. Bezirk, machte dort die Anzeige, daß ihr Frau Riehl die Kleider
vorenthalte und schilderte den ganzen Vorfall. Der Beamte, an den
sie gewiesen war, sagte ihr nur: „Na, machen Sie sich nix d’raus
und suchen Sie sich einen anderen Erwerb!“ worauf er ihr ein
Dienstbotenbuch gab. — Frau Riehl will sich an nichts erinnern.
Josefine T. wurde als Blumenmädchen in einem Vergnügungs-
etablissement mit Frau Riehl bekannt. Diese machte ihr später den
Antrag, bei ihr einzutreten und sie nahm an. — Präs.: Ist Ihnen
etwas von Mißhandlungen der Mädchen bekannt? — Zeugin: loh
bin einmal bei einem Streit von Frau Riehl und mehreren Mädchen
so furchtbar geschlagen worden, daß ich mich nicht mehr rühren
konnte und mehrere Tage krank zu Bette liegen mußte. — Präs.:
Sie sollen damals mit der Anzeige bei der Polizei gedroht haben? —
Zeugin: Ja, aber da ist die Frau Riehl wieder sehr freundlich ge¬
worden und ich habe keine Anzeige gemacht.
Präs.: Sie sollen dann noch ein zweites Mal geschlagen worden
sein? — Zeugin: Ja. Es war zwischen uns Mädchen ein Streit wegen
der Puderschachtel, an dem ich aber fast gar nicht beteiligt war.
Auf einmal stürzte Frau Riebl ins Zimmer, fiel über mich her,
schlug mich und kratzte mich und warf mich dann aus dem Hause
hinaus. — Präs.: Sie sollen gesagt haben: „Jetzt bleibe ich nicht
länger, jetzt gehe ich und mache Anzeige bei der Polizei.“ —
Zeugin: Ja. Darauf schlug mich die Frau Riehl neuerdings, gab
mir mein Kleid, in dem ich gekommen war, und warf mich hinaus.
Ich war ganz zerschlagen und zerkratzt und ging zur Polizei. Der
Polizeikommissär sagte damals einem Beamten: „Laden Sie mir so¬
fort die Riehl vor!“ Ob sie vorgeladen worden ist, weiß ich nicht.
— Präs.: Sie haben angegeben, daß die Riehl mit der Polizei sehr
gut stand, daß Gäste von der Polizei gekommen sind, die von Frau
Riehl sehr gut aufgenommen wurden. — Zeugin: Es sind Polizei¬
agenten gekommen, die von der Frau Riehl sehr gut aufgenommen
wurden und denen sie auch mit Wein aufgewartet hat.
Dr. Rabenleolmer: Waren nur Polizeiagenten dort? — Zeugin:
Frau Riehl hat gesagt, es seien Polizeiagenten. — Präs.: Und was
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1. Der Prozeß ßiehl und Konsorten in Wien.
ist weiter geschehen? — Zeugin: Nach zwei Tagen bin ich zu Frau
Riehl gegangen, um meine Wäsche zu holen. Sie hat sie mir nicht
gegeben, sie ist sofort mit einem Stock auf mich los und hat mich
geschlagen; mehrere Mädchen haben ebenfalls auf mich losgehauen,
und ich war froh, als ich wieder draußen war. Als ich auf der
Straße war, hat jemand vom ersten Stock aus einer Gießkanne
Wasser auf mich herabgegossen. — Präs.: Haben Sie Überhaupt Ihre
Wäsche zurückbekommen? — Zeugin: Nein.
Präs.: Wieviel war Ihre Wäsche wert? — Zeugin: Gegen
100 Kronen. Ich hatte sehr schöne Wäsche. — Frau Riehl stellt
alles in Abrede.
Verteidiger Dr. Rabenleobner (zur Zeugin): Wieviel haben Sie
als Blumenmädchen täglich verdient? — Zeugin: Fünf Gulden. —
Dr. Rabenlechner: Dann werde ich auch Blumenmädchen. (Heiterkeit)
Die Zeugin Therese L. gibt an, die Riehl habe gesagt, als sie
aus dem Hause austreten wollte: Du kannst schon gehen, aber zu¬
erst gehe ich zur Polizei, dann kommst du ins Arbeitshaus oder ins
Kriminal. — Präs.: Sind Mißhandlungen von Mädchen vorgekommen?
— Zeugin: Die Lisi hat Schläge bekommen. Die Zeugin erzählt,
daß bei polizeilichen Revisionen Mädchen versteckt wurden; auch
wurden kranke Mädchen vor dem Polizeiarzt verleugnet.
Es wird eine Reihe von ehemaligen „Pensionärinnen“ des Sa¬
lons Riehl vernommen. Jede von ihnen hat dieselben Erfahrungen
bei der Riehl gemacht.
DieZeugin Aloisia St. ist ein auffallend hübsches, erst 19jähriges
Mädchen von schlankem Wuchs. Sie hat im Hause der Riehl den
Rufnamen „Carmen“ geführt und zu den Attraktionen gehört Zu¬
geführt wurde sie der Riehl durch einen Mann, den sie im Kaffee¬
haus kennen lernte. Sie gibt an, daß sie eingesperrt gehalten wurde
und nicht ausgehen konnte.
Präs.: Warum haben Sie sich das bieten lassen? — Zeugin:
Ich mußte mich der Hausordnung fügen.
Die Zeugin ist, als sie einmal ins Spital kam, durchgegangen.
Zeugin: Ich war leider sehr häufig krank. — Präs.: Weshalb
sind Sie aber wieder zurückgekommen zur Riehl, da Sie doch ge¬
flohen sind? — Zeugin (aufschluchzend): Ach, ich wollte mir ja eine
Existenz gründen. Aber es ging nur schlecht. Ich konnte mich
nicht aufraffen, ich mußte zurück. Jetzt habe ich alle möglichen
Krankheiten und bin fürs Leben unglücklich. (Bewegung.)
Auf Verlangen des Verteidigers Dr. Rabenlechner verliest der
Vorsitzende mehrere Briefe der Zeugin an die Riehl, die sehr herz-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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lieh gehalten Bind. Sie beginnen gewöhnlieh mit „Liebste Tante“
und schließen mit „dankbarst“. — Dr. Rabenlechner (zur Zeugin):
Sind Sie zu diesen Briefen [auch gezwungen worden? — Zeugin:
Frau Pollak hat mich so beeinflußt.
Der 28jäbrige Speditionsarbeiter Josef Kolazia war im
Jahre 1903 kurze Zeit Portier im Hause Riehl.
Präs.: War das Tor immer versperrt? — Zeuge: Stimmt. Alles
war zug’sperrt. D’ Glastür, ’s Haustor, der Hof. I hab’ neamd
eini- und außilassen dürfen. — Dr. Rabenlechner: Da konnten ja
die Herren auch nicht herein. — Zeuge (wurstig): Das ist mir alles
eins. (Heiterkeit.) Das war mein Auftrag; is wer hinaus, war ’s
der Frau Riehl nicht recht, is wer herein, war ’s der Frau Riehl
net recht. (Zornig.) Der Frau war gar nichts recht. — Präs.: Wie
war Ihr Verdienst? — Zeuge: No, miserabel. Es war im Sommer. ..
ka Saison. — Dr. Rabenlechner: Keine Fremden.
Der Zeuge erzählt, daß die Mädchen eines Tages mit der Riehl
Streit hatten und alle durchgehen wollten. Ganz aufgeregt sei
damals Frau Riehl die Stiege herabgelaufen gekommen und habe
ihm zugeschrieen, alles zu versperren und die Mädchen, wenn sie
hinabkommen, mit der Hundepeitsche hinaufzupeitseben.
Präs, (zur Riehl): Was sagen Sie zu dieser Aussage? — Frau
Riebl: Ich kann über den Mann nichts sagen; er und seine Frau
waren ganz brav. Aber er hat nicht den richtigen Anstand gehabt. —
Präs.: Aber Frau Riehl, das kümmert uns nicht, uns interessiert
vielmehr, daß der Zeuge sagt, daß das Hans Riehl nicht anständig
war. (Heiterkeit.) — Zeuge: Es war mit an Wort nit zum Aus¬
halten. I’ wollt’ dort bleiben und mir eine Stelle für den Lebens¬
lauf gründen. Es war aber nix! (Heiterkeit.)
Matthias Kchlendorfer und seine Frau waren Hausbe¬
sorger bei Frau Riehl. Sie bestätigten beide, daß die Riehl einmal
nach der Züchtigung eines Mädchens, das entfliehen wollte, gesagt
hat: Der hab’ich jetzt ein paar tüchtige H .... watschen gegeben,
die geht mir nicht mehr durch.
Paula D. ist jetzt 20 Jahre alt. Mit 16 Jahren kam sie zur
Riehl. Einmal bekam sie von einer Genossin, mit der sie das Bett
teilen mußte, Krätze. Sie lag acht Tage zu Bett und wurde
während dieser Zeit dem Polizeiarzt nicht vorgeführt. Als sie dann
der Polizeiarzt sah, sagte er: „Das ist eine Schweinerei.“ Obwohl
sie noch mit der Hautkrankheit behaftet war, mußte sie „verdienen“.
Nach der Mittagspause wird Aloisia H. als Zeugin einver¬
nommen, die unter dem Namen Christel im Hause Riehl war. Sie
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
wollte öfters fortgehen, erhielt aber von der Riehl die Erlaubnis
nicht, weil sie Geld schuldig sei. Sie kam im Hause Riehl in
andere Umstände, kam in das Spital und wurde von dort durch die
Pollak und die Hausbesorgerin Hölzl abgeholt und sofort wieder in
das Haus der Riehl gebracht. — Präs.: Haben Sie Schläge be¬
kommen? — Zeugin: Mehr als zu viel bin ich geschlagen worden. —
Präs.: Warum? — Zeugin: Weiß ich nicht. Die Zeugin gibt an,
daß sie niemals Geld erhielt. — Angeklagte Riehl: Die Dame hat
von mir Wein, Obst und Bäckereien bekommen, wie sie im Spital
gelegen ist. Ich habe ihr auch eine schöne Ausstattung für das
Kind gemacht, sogar mit meinem Namen und Monogramm. (Große
Heiterkeit.)
Präs.: Warum mit Ihrem Namen? — Riehl: Weil das Kind
mein Täufling war. — Präs.: So! Diese Vorkehrung hatte vielleicht
eher den Zweck, daß Sie die Wäsche wieder wegnehmen konnten. —
Die Zeugin gibt noch an, daß das Kind inzwischen gestorben ist.
Die Zeugin Marie L. kam aus dem Spital zur Riehl. Sie war
früher in Ungarn. Nur kurze Zeit war sie bei der Riehl. Die
hatte die Zeugin im Verdacht, ein Komplott gegen sie zu schmieden.
Daher hat die Riehl die Zeugin nach Preßburg geschickt, und zwar
mußte der Bruder der Riehl das Mädchen auf die Bahn begleiten,
die Fahrkarte lösen und es in den Waggon bringen. Vor der Ab¬
reise hat die Riehl die Zeugin durchsucht, um Geld zu Anden, und
gab ihr dann eine Krone Zehrgeld. Die Zeugin wurde nicht ge¬
schlagen, weiß aber, daß andere Mädchen geschlagen wurden.
Angeklagte Riehl: Ich habe das Mädchen aus dem Spital be¬
kommen und kein Glück mit ihr gehabt, weil die Dame damals
noch nicht so schön war, wie sie heute ist. Deshalb hab’ ich ihr
den Rat gegeben, nach Preßburg zu einer Frau zu fahren; die ist
eine Anfängerin gewesen und hat das Mädel noch brauchen können.
Mein Bruder ist aber nicht mitgefahren; denn der ist ein Geschäfts¬
mann. (Heiterkeit.)
Die Zeugin Emilie N. ist 18 Jahre alt und gegenwärtig Arbeiterin.
Sie wurde durch die Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels einem
anständigen Berufe zugeführt. Bei der Riehl führte sie den Namen
„ Grete“.
Präs.: Wie lange waren Sie bei der Riehl? — Zeugin: Nur
vierzehn Tage. Ich wurde von der Frau Hübel hingebracbt. —
Präs.: Aber das erstemal wollte Sie ja die Frau Riehl nicht
nehmen. — Zeugin (sehr verlegen): Ja .. . ich bitte, ich war damals
noch ganz ehrbar. Frau Riehl schickte mich fort und sagte, ich
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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mußte vorher mit einem Mann ein Liebesverhältnis anknüpfen.
Denn so gehe es nicht. Ich kam dann wieder und sagte, ich sei
noch immer ehrbar. Dann nahm sie mich.
Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie in das Hans Riehl kamen? —
Zeugin: Sechzehn Jahre.
Angeklagte Riehl: Aber ich bitte, sie ist auch schon auf die
Straße gegangen. — Zeugin (laut weinend): Das ist nicht wahr, ich
war früher solid und bin es jetzt auch. Ich dulde das nicht, bitte,
Herr Hofrat ... — Riehl (mit einer Handbewegung): Na, na. —
Präs.: Beschimpfen Sie die Zeugin nicht.
Die Zeugin Rosa M., die nur schlecht Deutsch spricht, wird mit
Hilfe eines tschechischen Dolmetschers einvernomraen. — Zeugin:
Ich war frisch und jung und bin bei der Riehl ruiniert worden. —
Präs.: Haben Sie auch Schläge bekommen? — Zeugin: Ja, einmal,
weil ich noch nicht frisiert war, als ein Herr kam.
Der Vorsitzende konstatiert, daß die Zeugin, als ihre Schwester
in das Haus der Riehl kam, als Dienstbote gekleidet wurde, damit
die Schwester nicht merke, welches Gewerbe die M. ausübe.
Präs.: Haben Sie bei Ihrem Eintritt gewußt, in welches Haus
Sie kommen? —Zeugin: Am ersten und zweiten Tage nicht. Die
Frau, die mich hinbrachte, sagte mir, ich komme auf einen „guten
Platz“. Ich wurde auch zuerst in der Küche beschäftigt.
Dr. Rode: Erzählen Sie doch von den Vorgängen, als Sie ein¬
mal auf Urlaub in Ihre Heimat reisen durften. — Zeugin: Ich habe
einmal sechs Tage frei bekommen und bin nach Hause gefahren.
Bald darauf kam die Pollak. Sie fuhr zu mir nach Brünn. —
Dr. Rode: Dort wurde die Pollak im Bahnhof als Mädohenhändlerin
verhaftet. — Zeugin: Ja, aber sie wurde wieder entlassen. —
Dr. Rode: Der Wachmann hat sie aber gewarnt, und ihre Expedition
für das Haus Riehl war vereitelt. — Frau Pollak (ringt die Hände):
Nein, so was! Das ist ja nicht wahr! — Frau Riehl (schiebt die
Pollak zur Seite): Aber Herr Hofrat! Das Mädel war ja krank, wie
sie zu mir kam, und war ja beim Geschäft lange ehe sie zu mir
gekommen ist. Übrigens ist sie ja nur zu mir gekommen, uro Deutsch
zn lernen. — Dr. Pollaczek: Sie müssen so eine Art Berlitz-School
gehabt haben. Eine fremde Sprache wurde allerdings in Ihrem
Hause für viele der Mädchen gesprochen. (Bewegung.)
Die Zeugin Elisabeth Str., ein sehr hübsches Mädchen, ist gegen¬
wärtig Kassiererin. Auf eine Frage des Vorsitzenden sagt sie: leb
bin von meiner Mutter an die Riehl um fünf Gülden verkauft
w'orden. — Präs.: Ist es richtig, daß Mädchen vor der ärztlichen
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Visite veiborgen gehalten wurden? — Zeugin: Ja, das ist richtig.
Sie wurden im Speisesalon verborgen gehalten. — Präs.: Ist es
richtig, daß sie mit den Gästen zechen mußten? —Zeugin: Ja, wir
mußten Champagner mit ihnen trinken. Die anderen Damen werden
es sagen, wie betrunken ich oft war. Ich bin oft hinausgegangen,
habe mich niederlegen wollen mit meinem wfisten Kopf. Aber ich
wurde wieder in den Saal zurückgetrieben. — Riehl (ruft): Das ist
schrecklich! — Zeugin (fortfahrend): Manchmal bin ich eine Stunde
in meinem Zimmer gelegen. Dann mußte ich wieder in den Salon
hinein. In der Früh’ hat man mich dann in die Kaserne'hinauf¬
geführt, so weg war ich. — Dr. Rode: Was ftlr Preise wurden den
Gästen angerechnet? — Zeugin: Je nachdem die Leute waren. Ich
habe auch fünfzig Gulden für eine Flasche Champagner verlangt.
Der übrig gebliebene Wein wurde zusamroengeschfittet und wieder
verkauft. — Dr. Rode: Guten Appetitl
Die Zeugin erzählt dann, daß sie sich einmal von einem Herrn
mit einer Peitsche blutig Bcblagen lassen mußte. Sie wurde dann
zu einem Arzt geschickt und mußte abends wieder in den Salon.
Zeugin: Ich bin auch einmal von der Riehl mit einem Messer
geschlagen worden. — Dr. Rabenlechner: Also ein Mordversuch;
fehlen ni^r mehr die Einmauerungen.
Dr. Rode fragt die Zeugin nach den Besuchen des Agenten
Piß. — Zeugin: Der Agent Piß ist öfter hinaufgekommen, ein- bis
zweimal in der Woche. — Dr. Rode: Was hat er dort getan? —
Zeugin: Er ist zur Revision gekommen. — Dr. Rode: Haben Sie
gesehen, daß ihm die Riehl Geld gegeben hat? — Zeugin: Ja, sie
hat ihm einmal etwas in die Hand gedrückt. Es müssen drei oder
vier Silbergulden gewesen sein. — Dr. Rode: Haben Sie auch ge¬
sehen, daß er der Riehl gezahlt hätte? — Zeugin: Niemals. Er hat
sich unterhalten, aber nie gezahlt.
Dr. Rode: Was nennen Sie: sich unterhalten? — Zeugin: Er
hat dort Wein getrunken und mit der Frau geplaudert. — Dr. Rode.
Also mit einem Wort: Er hat die Revision durchgeführt, wie einer,
der die Revision nicht ernst nimmt.
Die nächste Zeugin An gela G. wollte, nachdem sie einige Zeit
bei der Riehl war, aus dem Hause entlassen werden. Die Riehl
wollte dies nur unter der Bedingung gestatten, daß das Mädchen
nach Budapest reise, um in ein ähnliches Haus einzutreten. Sie
ließ sich zum Bahnhof bringen, fuhr aber nur eine Station weit und
kehrte dann nach Wien zu ihren Verwandten zurück.
Elise L. ist durch die Hügel zur Riehl gebracht worden. Ihr
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Vater wußte nichts von diesem Aufenthalt. Als Elise fort wollte,
wurde sie von der Riehl an den Haaren gezerrt und an die Salon¬
tür angeschleudert.
Riehl: Das M&del hat nichts getaugt. Ich hätte ihr erst Zähne
machen lassen müssen. (Heiterkeit.) Eine andere Frau hätte sie
gar nicht genommen, weil sie keine Zähne hatte. Sie hat ja heute
noch keine.
Votant LGR. Spitzkopf: Warum schaffen Sie sich solches
Material an? (Heiterkeit.) — Präs.: Frau Riehl, Sie sprechen hier
gegen Ihre Mädchen in einem scharfen Tone, der auf vieles schließen
läßt. — Riehl: Ich muß sagen, was wahr ist.
M a 1 k e C h aj e N. war vier Tage ohne Buch bei der Riehl. Ihr
Vater wollte die Zustimmung nicht geben. Bei der Polizei gab sie
an, sie habe nur einen Vormund, der werde wahrscheinlich ein¬
willigen. Ihr Vater ist nämlich nur nach jüdischem Ritus, nicht
nach dem bürgerlichen Gesetz verheiratet und gilt vor dem Gesetz
nur als Vormund. Als die Einwilligung verweigert wurde, kam
Polizei, um sie zn holen. Da wurde sie in einem Kasten versteckt.
Dann schickte die Riehl sie weg und gab ihr 10 Kronen.
Riehl: Sie hatte sich selbst in den Kasten versteckt, sie wollte
nicht fort von mir. — Die Winkler, die damals die Kastentür zuhielt,
bestätigt dies.
Juliana B. wurde durch einen gewissen Michel in das Haus
Riehl gebracht, unter Vorgabe, daß sie einen Dienstbotenposten er¬
halte. Das Mädchen gibt an, vier Tage in einem Zimmer ein¬
gesperrt gewesen zu sein, sodaß es ihr nicht einmal möglich war,
auf den Anstandsort zu gehen. Das Essen wurde ihr auf das
Zimmer gebracht. Die Mutter des Mädchens erhielt erst später
Nachricht von dem Verbleib ihres Kindes und gab nicht die Er¬
laubnis für den weiteren Aufenthalt.
Sowohl die Riehl als auch die Pollak bestreiten die Angaben
der Zeugin. Die Riehl beruft sich auf die Angeklagte Gönye, mit
der die Juliana in einem unversperrten Zimmer geschlafen habe.
Die Gönye bestätigt zwar diese Angabe der Riehl, muß aber auf
Befragen des Präsidenten zugeben, daß dem Mädchen das Essen in
das versperrte Zimmer gebracht wurde.
Die Angeklagte Riehl ruft mit schluchzender Stimme aus: Man
glaubt mir hier nichts! Ich müßte närrisch sein, wenn ich das alles
getan hätte 1 Ja, da wäre ich eine Närrin gewesen!
Der Vorsitzende konstatiert aus einem Akt des Bezirksgerichtes
Floridsdorf, daß die Mutter der Zeugin eine Abgängigkeitsanzeige
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
bezüglich ihrer Tochter erstattete, als das Mädchen im Hanse der
Riehl war. Diese Anzeige führte zur Auffindung des Mädchens.
Zeuge Leopold Haller war im Sommer 1905 Beohs Wochen
Hausmeister bei der Riehl. Er durfte keine Mädchen aus dem Tore
binauslassen. Briefe für die Mädchen wurden von der Frau Riehl
übernommen. Nicht einmal die Dienstboten durfte er auf die Straße
lassen. — Präs.: Wer hat dann die Einkäufe gemacht? — Zeuge:
Nur die „lange Tini“; das war die einzige, die ich hinauslassen durfte.
Der Zeuge erzählt weiter, daß einmal ein furchtbares Geschrei
aus dem Badezimmer zu hören war. Er sagte der Frau Riehl: „Da
bringen s’ eine uml“ Die Frau gab ihm den Schlüssel, er eilte
hinauf und sah, wie eines der Mädchen von dem anderen furchtbar
geschlagen wurde. Die Riehl kam auch hinzu und rief der Ge¬
schlagenen zu: „Geschieht Dir schon recht, Kanaille, weil du fort
hast wollen!“
Präs.: Zur Aufklärung dieses Falles sei erwähnt, daß das ge¬
schlagene Mädchen einmal fliehen wollte, aber daran gehindert
wurde. Seitdem wurde allen der Spaziergang im Garten verboten.
Das erbitterte die anderen Mädchen, und sie rächten sich an der
Veranlasser in dieser Maßregel.
Riehl: Ich will nur bemerken, daß ich diesen Herrn (auf den
Zeugen weisend) entlassen habe, weil er rabiat und ein Trinker war.
Sanitätsaufseher Karl Weber wohnte vom Mai 1904 bis Mai 1905
in der Hahngasse Nr. 12 in einer Wohnung, von deren Fenstern
aus man in den Hofraum des Richlschen Hauses blicken konnte.
Er wurde auf die Zustände im Hause Riehl aufmerksam, als wieder«
holter Tumult von dort seine Nachtruhe störte. Einmal beobachtete
er, wie Frau Riehl ein Mädchen bei den Haaren zog. Das Mädchen
jammerte laut. Er rief hinüber, man solle doch endlich Ruhe halten.
Die Riehl gab ihm eine ordinäre Antwort.
Der Zeuge erzählt weiter: Am nächsten Tag ging ich selbst
zur Riehl, traf sie gerade im Hausflur und machte ihr Vorstellungen.
Sie antwortete mir mit dem Zitat aus „Götz von Berlichingen“.
Die Skandale waren so häufig, daß ich an die kleinen Ruhe¬
störungen schon gewöhnt war. Einmal aber gab es wieder großen
Tumult. Ich hörte zanken, dann das Klatsohen von zwei Ohrfeigen
und die weinende Stimme eines Mädchens, das rief: „Lassen Sie
mich doch gehn, ich kann ja nichts dafür!“ Da meine früheren
schriftlichen Anzeigen bei der Polizei nichts genützt hatten, ging ich
nun persönlich zum Kommissär des Bezirkes. Er sagte mir nur:
„Da ist nichts zu machen, die Polizei muß sich mit anderen Dingen.
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I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien.
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befasBen als mit solchen Kleinigkeiten." Daraufhin unterließ ich
jede weitere Aktion und zog aus dem Hause aus.
Präs.: Haben Sie bemerkt, daß sich die Mädchen der Riehl
unanständig benommen hätten? — Zeuge: Von den Mädchen war
ja nur sehr selten etwas zu sehen; sie waren, wie die Nachbarn
alle behaupteten, tagsüber eingesperrt. — Präs.: Ihr Eindruck ist
also, daß nicht das Benehmen der Mädchen, sondern ihre Behandlung
durch die Riehl die Skandale veranlaßt hat? — Zeuge: Ja.
Die Riehl behauptet, den Zeugen nie gesehen zu haben; was
er sage, sei unwahr.
Es werden Protokolle Uber die Aussagen anderer Zeuginnen
verlesen. In einem Protokoll heißt es, die Riehl habe den Mädchen
nicht nur das Geld weggenommen, sondern auch die Bonbons, die
sie von den Herren bekamen, weil sie dieselben zu Giardinetto ver¬
wendete. Eine andere Zeugin hat zu Protokoll gegeben, sie habe
sieb selbst mit den Fingernägeln Verletzungen beigebraoht, um ins
Spital zu kommen, weil sie von dort entfliehen wollte.
In einem Protokoll gibt eine ehemalige Insassin des Hauses
Riehl ihre Erlebnisse in dem Hause wieder und erzählt, daß ihr
Vormund sehr bald seine Zustimmung zu ihrem Aufenthalt in diesem
Hause gab. — Dr. Pollaczek: Herr Präsident haben in begreiflicher
Zurückhaltung den Namen dieses Vormunds nicht genannt. leb
möchte aber doch hier darauf hinweisen, daß der Vormund der
Bürgermeister eines nicht unbedeutenden Ortes in Niederösterreich
ist. (Lebhafte Bewegung.)
Dr. Rabenleoh ner: Warum nennen Sie denn den Namen
nicht, Herr Kollege? — Dr. Pollaczek : Wir haben doch beschlossen,
keine Namen zu nennen. — Dr. Rabenleohner: Na, der Bürger¬
meister verdiente schon angenagelt zu werden.
Dr. Rabenleohner bittet hierauf den Präsidenten um Vorlesung
der von ihm vorgelegten Briefe, die ehemalige „Damen“ des Hauses
nach ihrer Entlassung an Frau Riehl gerichtet haben.
Die Verlesung dieser Briefe scheitert jedoch schließlich an der,
wie der Präsident bemerkt, geradezu unmöglichen Orthographie der
Sohreiberinnen. Ein Mädchen schreibt an Frau Riehl: „Ich bitte
zu Gott, daß er Ihnen alles Gute vergelte, was Sie an mir getan
haben. Die Mutter läßt sieb auch vielmals bedanken für alles Gute,
was Sie ihr getan haben.“ Der Brief endigt schließlich mit der
Bitte um ein kleines Darlehen . . .
Die Angeklagte Madzia, die nach ihrer Einvernahme durch den
Untersuchungsrichter spurlos verschwunden ist, schreibt an Frau
Archiv für Kriminal an thropologie. 27. Bd. 4
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Riehl: „So gut, wie es mir bei Ihnen gegangen ist, werde ich es
in der ganzen Welt nicht wieder finden.“ Der Präsident bemerkt
hierzu: Es wird später auch das mit der Madzia aufgenommene
Protokoll verlesen werden, das allerdings wesentlich andere Aus¬
sagen enthält.
Verteidiger Dr. Rabenleohner: Variabile quidquam est mulier.
(Heiterkeit.)
Die Aussage des Zeugen Ernst Pollak wird verlesen, auf
dessen Wahrnehmungen hin der Journalist Emil Bader seine Beob¬
achtungen im Hause Riehl begann. Der Zeuge ist zur Verhand¬
lung nicht erschienen.
Protokoll:
„Im Sommer 1903 erfuhr ich, daß die Riehl junge Mädchen
aus Börgerfamilien den Herren zur Verfügung stelle. Ich ging hin,
und sie führte mir zwei Mädchen in netter Straßenkleidung vor.
Ich wählte eine davon und ging mit ihr aufs Zimmer. Dort begann
das Mädchen bitterlich zu weinen und klagte mir, sie sei von der
Pollak hierher gebracht worden und werde hier gegen ihren Willen
festgehalten. Ich wollte sie befreien und sagte, als ich das Zimmer
verließ, ich wolle mit dem Mädchen fortgehen. Die Pollak faßte
das Mädchen aber gleich beim Arm und zog es fort. Sie sagte:
„Das Fräulein muß erst ein Bad nehmen.“ Darauf ging ich in ein
Cafö, brachte dort meine Beobachtungen zu Papier und trug dann
das Geschriebene aufs Kommissariat, wo ich die Angaben auch
mündlich ergänzte. Der Kommissar sagte mir: „Die Riehl macht
immer solche Geschichten.“ Dann hörte ich nichts mehr von dieser
Affäre. Vor anderthalb Jahren kam ich in das Haus in der Grüne¬
torgasse. Ich erkannte die Riehl sofort wieder; sie mich auch.
Sie sagte zu dem Mädchen: „Das ist der Herr, der mich der Polizei
anzeigen wollte.“ Ich ging mit der Marie König auf das Zimmer;
es fiel mir auf, daß sie sehr niedergeschlagen war. Als ich sie
dann ein zweites Mal besuchte, schüttete sie mir ihr Herz aus.
Sie klagte mir über die Sklaverei und Freiheitsberaubung und über
die maßlose Ausbeutung und Brutalität, die sie in diesem Hause
erdulden müsse.
Ich versprach ihr, mich der Sache anzuuehmen und ihr einen
Recbtsfreund zu schicken. Ich wollte jedoch nicht, daß mein Name
in der Affäre genannt werde, da ich verlobt bin. So erzählte ich
die Sache dem mir bekannten Redakteur Emil Bader, von dem ich
wußte, daß er einflußreiche Verbindungen hat. Das nächste Mal
fragte ich die König, ob „mein Manu“ schon dagewesen sei. Sio
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I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien.
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verneinte das und sagte, sie habe große Angst vor der Riehl. Sie
zeigte mir blaue Flecke, die von den Mißhandlungen der Riehl
herrührten. Daraufhin wandte ich mich abermals an den Redakteur
Bader, und es gelang uns mit Hilfe der Polizei, die König aus dem
Hause zu schaffen. Bader und ich gaben ihr etwas Geld, damit sie
die erste Zeit leben könne. Die Riehl wußte nun, daß etwas gegen
sie unternommen werde, und als sie mich wieder sah, sagte sie:
„Was soll ich nun machen; ich kann doch den Bader nicht be¬
stechen. Wenn ich zugrunde gehe, dann richte ich auch andere
zugrunde." Ich glaube, daß diese Drohung mir galt; denn sie
glaubte, daß ich verheiratet bin, und wollte mich meiner Frau als
Besucher des Bordells denunzieren!“
Die Riehl erklärt, die Angaben Pollaks seien ein Akt der Rache.
Pollak habe ihr selbst nachgestellt, und als sie ihn zurüokwies,
habe er ‘die Aktion gegen sie begonnen.
Der Zeuge Emil Bader, Redakteur des „Extrablatt“ berichtet:
Ein mir bekannter Herr Ernst Pollak besuchte mich in der
Redaktion und hat mich um meine Intervention zur Befreiung der
Marie König, genannt Liesel, aus dem Hause Riehl. Er erzählte,
dieses Mädchen werde arg mißhandelt und gewaltsam verhindert,
sich aus dem Hause zu entfernen. Herr Pollak hatte nicht die Ab¬
sicht, Material für eine Veröffentlichung im „Extrablatt“ zu geben,
sondern forderte bloß meine Privatintervention. Ich wendete mich
gemeinsam mit ihm an den Verein „Heimat“ und an die Liga zur
Bekämpfung des Mädchenhandels. Dieser Verein teilte uns mit, er
habe wiederholt Klagen und Beschwerden über die Vorgänge im Hause
Riehl eingereicht.
Kurze Zeit darauf erzählte mir Herr Pollak die Lebensgesohichte
der Liesel. Sie war von einer Mädchenhändlerin Hofmann auf der
Straße angesprochen worden, die sie der Riehl zuführte. Das Mädchen
war unberührt, und so mußte sie die Hofmann erst für den „Beruf“
präparieren. Ein Herr auf der Straße wurde dazu veranlaßt.
Präs.: Glauben Sie, daß dies auf Aufforderung der Riehl
geschah? — Zeuge Bader: Gewiß; denn die Riehl hatte erklärt, sie
könne das Mädchen sonst nicht brauchen. Die Hofmann wartete
auf der Straße und überlieferte das Mädchen sofort der Riehl.
Bei einem dritten Besuch erzählte mir Herr Pollak, die Liesel
beklage sich sehr, weil bisher nichts für sie geschehen sei. Das
Mädchen hatte ihm noch mitgeteilt, daß ihr Vater von der Riehl
eine monatliche Zahlung erhielt, während es seit vier Jahren keinen
Kreuzer erhalten habe. Nun erst entschloß ich mich, der Sache
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
näherzutreten. Meine ersten Versuche, von der Straße oder aus den
Fenstern benachbarter Wohnungen zu beobachten, waren erfolglos.
So mußte ich mich entschließen, das Haus der Riehl zu betreten,
um wahrheitsgetreue Mitteilungen machen zu können. Im Hause
sprach ich bald mit der Liesel, der ich Namen und Stand offenbarte.
Erst nachdem ich ihr Mißtrauen zerstreut hatte, machte sie mir
Angaben, die mir zu meinem ersten Artikel im „Extrablatt“ vom
24. Juni 1906 den Stoff gaben. Das Mädchen erzählte von der
„Kaserne“, der Einsperrnng, den Mißhandlungen, der Tagesordnung,
gleichzeitig aber auch davon, daß sie mit allen Mitteln verhindert
werde, sich einem anständigen Lebenswandel zuzuwenden.
Ihr Vater zwinge sie durch Prügel, im Hause zu bleiben, und
drohe ihr, sie in ein Arbeitshaus zu bringen, wenn sie das Haus
Riehl verlasse. Der Vater zwang sie solange, bis sie niederkniete
und die Riehl um Verzeihung bat und sie anflehte, sie nur ja
wieder im Hause zu behalten. Als ich sie fragte, ob sie sich nicht
einem GaBt habe anvertrauen können, erwiderte sie, daß ihr ein
Teil alle die Scheußlichkeiten nicht glauben wollte, die wenigen, die
ihr glaubten, nichts für sie tun zu können erklärten, weil ihre gesell¬
schaftliche Stellung sie hindere, in derartigen Dingen etwas zu tun,
oder weil sie verheiratet waren und ihre Bekanntschaft mit dem Hause
nicht verraten durften!
Ich fragte, warum sie nicht einer der Amtspersonen, die revi¬
dierten, eine Mitteilung gemacht habe. Das Mädchen antwortete wört¬
lich: „Frau Riehl steht mit der Polizei auf viel zu gutem Fuß. Sie er¬
fährt es sicher, wenn ich mich beklage, und der Erfolg wäre nur,
daß die Prügel für mich noch viel ärger werden.“
Der Zeuge hat sich bei der Liesel auch nach den ärztlichen
Revisionen erkundigt. Sie seien sehr mangelhaft geführt worden
und finden statt, während sich die Pollak und die Riehl im Neben¬
zimmer befinden: Mit jäher Bewegung, fährt der Zeuge fort, zeigte
mir nun die König, indem sie das Hemd lüftete, große Striemen
am ganzen Körper und ausgedehnte Blutunterlaufungen. Nach der
Ursache dieser Verletzungen gefragt, erklärte das Mädchen: „Im
Hause verkehren viele „Prügelherren“, für die Hundepeitschen und
Ruten zur Verfügung stehen. Die Mädchen werden durch Ver¬
sprechungen, Drohungen und Mißhandlungen dazu gezwungen,
diesen Herren zu Willen zu sein; deshalb sehen wir so aus. Für
das Prügeln besteht ein eigener Tarif, demzufolge sie 50 bis
100 Kronen bezahlen müssen. Wir Mädchen haben aber nur die
Prügel davon . . .“
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Der Zeuge hat es vergeblich unternommen, das Polizeikommissariat
Alsergrund für die Saehe zu interessieren. Es waren bereits anonyme
Anzeigen dorthin und an die Staatsanwaltschaft gelangt, die ohne
Erfolg blieben.
Der Zeuge mußte sich zu einem zweiten Besuch im Hause Riehl
entschließen. „Ich hatte kurz vorher den Pollak getroffen, der mir
mitteilte, daß im Hause große Aufregung herrsche, da zwei Mädchen
einen Fluchtversuch gemacht hatten. Einem der Mädchen gelang
die Flucht, die zweite wurde am Haustor erwischt und förmlich
Über die Stiege hinaufgeprügelt. Pollak sagte mir auch, die Liesel
beginne an ihrer Befreiung zu zweifeln. Als ich meinen zweiten
Besuch machte, war ich Zeuge einer widerlichen Szene. Schon als
ich in das Haus eintrat, hörte ich durch die verschlossene Glastür
lautes Rufen und Schreien: „Halts Maul, elende K ...., ich werde
dich und die anderen L .... schon parieren lernen“. Gleich darauf
hörte ich eine Bemerkung: „Ein Herr ist da!“ und gleich war es
still. Im ersten Stock trat mir eine Frau mit allen Zeichen der
Erregung entgegen. In der Hand hielt sie eine eiserne Ofenstange.
Es war Frau Riehl, die ich zum erstenmal sah.
Der Zeuge Bader ersuchte bei seiner ersten behördlichen An¬
zeige den Herrn Polizeikommissar Psenicka sofort, das Mädchen
nicht durch den dem Prostituiertenreferat zugeteilten Agenten Piß,
sondern durch einen anderen Agenten ahholen zu lassen, dem aber
der Zweck des Auftrages nicht zu verraten sei. Diese Mahnung
zur Vorsicht wurde von dem Beamten befolgt. Als der Polizeiagent
zum erstenmal im Hause Riehl erschien und die König zu sprechen
verlangte, wurde diese verleugnet. Man sagte, sie sei mit einem Herrn
ins Kaffeehaus gegangen; sie war jedoch in einer Kammer im ersten
Stock eingesperrt worden. Der Agent kam zum zweitenmal. Man
sagte ihm, das Mädchen sei noch nicht zurückgekehrt, und man wolle
nach ihr schicken. In Wirklichkeit hatte man sie in das Klosett im
dritten Stock geschafft. Als der Agent wegging, wurde das Mädchen
in den vierten Stock gebracht und in die Privatwohnung der Frau Riehl
gesperrt. Als der Agent wiederkam und Frau Riehl einsab, daß das
Versteckepielen erfolglos sei, wurde die Marie König in Straßenkleider
gesteckt, gleichzeitig aber beauftragt, dem Beamten bei der Vor¬
stellung zu erzählen, man habe sie eben erst aus dem Kaffee¬
haus geholt. Man schüchterte sie mit der Drohung ein, man werde
sie ins Arbeitshaus stecken, wenn sie etwas über Frau Riehl Un¬
günstiges aussage. Nun erst wurde sie dem Agenten übergeben.
Votant Dr. Spitzkopf: Herr Zeuge, haben Sie einmal Ge-
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I Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
legenlieit gehabt, mit Herrn König zu sprechen? — Zeuge: Nur
einmal, als sich die Sache seiner Tochter bereits bei der Polizei
befand und ich ihm vorhielt, daß er seine Tochter so behandle- —
Präs.: Hat das Mädchen erzählt, ob die geleisteten Zahlungen der
Riehl an ihren Vater eine Abzahlung für den angeblichen Schaden
war, den seine Tochter ihm als Schulmädchen bereitet hat? —
Zeuge: Von einem solchen Schaden ist mir nichts bekannt.
Dr. Rode : Mußte Marie König, als sie durch Sie befreit wurde,
erst an den Gebrauch der Freiheit gewöhnt werden? — Zeuge: Das
war ganz eigentümlich. Sie war eine Wienerin und hat sich infolge
der langen Gefangenschaft in den Straßen gar nicht ausgekannt.
Sie bewegte sich auf der Straße ganz linkisch, stieß an die Passanten
an und war schwer zu bewegen, die Fahrstraße zu überschreiten.
Dr. Rode: Ist es Ihnen bekannt, daß das Mädchen einmal
einen Zettel auf die Straße warf, mit der Bitte, man möge sie von
der Riehl befreien. — Zeuge: Das ist richtig, das hat sie mir auch
erzählt.
Zeuge ging mit der Liesel und dem Polizeiagenten Piß in
das Haus der Riehl. Er forderte sie auf, sich in keine Aus¬
einandersetzungen einzulassen und sich mit dem zufrieden zu geben,
was sie von der Riehl erhalten werde. Während er im Vorzimmer
wartete, erhielt die König Schuhe, Hemden und Schürzen und der
Zeuge hörte die Pollak der Liesel ins Ohr flüstern, sie solle nach¬
mittags ins Cafö Scheidl kommen, wo ihr etwas Wichtiges mitgeteilt
werde. Seither, deponiert der Zeuge weiter, hat sich die Liga zur
Bekämpfung des Mädchenhandels der König angenommen, sie geht
einem anständigen Erwerb nach und Überall wird ihr das beste
Zeugnis ausgestellt. Die Riehl übergab der König, wie sie sagte,
100 Kronen Lohn; es waren aber nur 80 Kronen. Herr Bader er¬
hielt viele Mitteilungen, manche anonym, andere von Personen in
hohen Stellungen, so von einem aktiven Diplomaten und einem
höheren Offizier, die nicht genannt werden dürfen.
Herr Bader erzählt den Fluchtversuch eines Mädchens, das
nachts vom ersten Stock aus auf die Straße sprang und sich dabei
einen Fuß beschädigte. Sie wurde von einem Einspännerkutsoher
bemerkt und wieder in das Haus zurückgebracht. — In derselben
Nacht kam ein Dienstmädchen der Riehl zu dem Rayonsposten in
der Porzellangasse, dem Wachmann Pobola, und erkundigte sich
nach der Adresse des Arztes Dr. Husserl, den sie holen müsse, weil
sich etwas im Hause zugetragen habe; was, dürfe sie nicht sagen.
Der Wachmann schöpfte Verdacht und verständigte seinen vor-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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gesetzten Inspektor, der sieb mit ihm zum Hause der Riebl begab,
jedoch nicht eingelassen wurde, obwohl er sich auf seine amtliche
Eigenschaft berief. Erst nach langem Warten erschien die Riehl
und rief dem Inspektor zu: „Was machen S’ denn ftlr an’ Skandal;
's is ja nix g’schehn, ich bin über die Stieg’n g’falln, das is das
ganze.“ Von Dr. Husserl erfuhr der Wachmann jedoch den wahren
Sachverhalt. Es wurde eine Meldung darüber erstattet, über deren
Schicksal jedoch nichts bekannt wurde.
Auf dem Wege zum Kommissariat Alsergrund, den er in Ge¬
sellschaft der König machte, traf der Zeuge die Anna Christ. Sic
erzählte, daß sie Blusennäherin war und von der Pollak häufig
aufgefordert wurde, im Maison Riehl für Kost, Quartier und Lohn zu
arbeiten. Im November 1904 hatte die Christ, die damals 16 Jahre
alt war, einen Streit mit ihrer Mutter und trat deshalb bei Riehl
ein, wo sie, vierzehn Tage lang in einem Zimmer eingeschlossen,
Blusen nähen mußte. Einmal, als sie bereits im Bette lag, kam
Frau Pollak in ihr Zimmer, flüßterte ihr erregt zu, die Polizei sei
im Hause, sie möge sich ruhig verhalten. Zugleich drängte sie sie
aus dem Zimmer und schob sie in den Italienischen Salon. Sie be¬
merkte, daß ein Herr im Zimmer war, der sich auf sie stürzte und
sie aufs Bett warf. Ihr Schreien und ihre Hilferufe blieben unbe¬
achtet. Einige Tage vorher war das Mädchen in das gemeinsame
Schlafzimmer der Damen geführt worden; sie wurde entkleidet und
betrachtet.
Der Zeuge schildert die bekannte Szene im Badezimmer. Nach
dem Gewaltakt wurde Anna Christ krank, man brachte sie ins
Rudolfsspital. Frau Riebl gab ihr 10 Kronen Lohn.
Frau Riehl erklärt die Angaben des Herrn Bader für
falsch. Der Zeuge habe ein Interesse daran gehabt, sie „schwarz
zu machen“. Verschiedene Leute haben ihr erzählt, Bader habe
die Sache nach seiner eigener Angabe nur aufgerührt, damit das „Extra¬
blatt“ eine doppelte Auflage habe. Vors.: Selbst wenn das wahr
wäre, ändert es an der Sache nichts.
Polizei-Inspektor Jo ha nn Seidel erzählt, daß erauf die Angaben
des Herrn Bader hin zur Riehl gegangen sei, um die König zu ver¬
nehmen. Diese wurde vor ihm verleugnet. Er wollte die Hosch
zur Polizei bringen; die Riehl bestand aber darauf, mitzufabren.
Auf dem Kommissariat ließ er die Riehl draußen warten, während
er mit der Hosch sprach. Er bemerkte, daß die Riehl wiederholt
den Versuch machte, in ihr Haus zurückzukehren, er hinderte sie
daran. Er’ging dann allein in das Haus der Riehl und fragte die
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Pokorny, die ihm öffnete, ob die König da sei. Trotz seiner ein¬
dringlichen Ermahnung, die Wahrheit zu sagen, verneinte sie es.
Die König kam einmal morgens ins Kommissariat. Er ließ dem
Redakteur Bader telephonieren, erhielt aber die Auskunft, Bader
sei vor 9 Uhr nicht im Bureau. Er wollte die König auf eine
Stunde fortgehen lassen; diese aber sagte, sie ftlrohte sieb, das
Kommissariat zu verlassen, man lauere ihr draußen auf. Er sah
nach und bemerkte die Pollak, die draußen wartete. Inspektor
Seidel schaffte die Pollak ab und behielt die König da.
Die Riehl behauptet, die König sei auf ihr eigenes Verlangen
verleugnet worden.
Die Zeugin Johanna K. war Dienstmädchen im Hause der
Riehl. Sie kam durch das städtische Dienstvermittlungsamt dort¬
hin. Sie war noch minderjährig, durfte also nach den polizeilichen
Vorschriften von der Riehl als Dienstmädchen nicht genommen
werden. Sie erhielt 16 Kronen Monatslohn. Sie hatte häusliche
Arbeiten zu besorgen, von der Einrichtung der „Kaserne“ habe sie
nichts gesehen.
Vors.: Haben Sie mit den Mädchen gesprochen. — Zeugin:
Nur wenig. — Vors.: Haben Ihnen nicht Mädchen gesagt, daß
sie durchgehen wollen. — Zeugin: Ja. Zwei Mädchen. Auf
weiteres Befragen erklärt die Zeugin, daß sie Briefe, die von
Mädchen abgesendet wurden, der Riehl übergeben mußte; sie über¬
nahm auch alle Briefe, die einlangten.
Im weiteren Verlauf des Verhörs wird die Zeugin sehr zurück¬
haltend. Sie gibt an, daß häufig Mädchen geprügelt wurden. Den
Anlaß hierzu gaben „Frechheiten“ der „Damen“. Ein Mädchen,
Grete genannt, fiel einmal über die Stiege hinab und zog sieh Ver¬
letzungen zu. Dem Polizeiarzt gab man an, das Mädchen befinde
sich zu Erholung auf dem Lande, während es die Riehl in einem
versteckten Zimmer behandelte. Die Mädchen konnten nicht fort¬
gehen, weil die Riehl es gewaltsam verhinderte.
Vors.: Wohl auch infolge der mangelhaften Kleidung. Wären
Sie, derartig bekleidet, auf die Straße gegangen? — Zeugin: Nein,
niemals. — Vors.: Ich glaube auch nicht. — Vors.: Wo waren
die Kleider der Mädchen verborgen? — Zeugin: Frau Riehl be¬
wahrte sie selbst auf. Die Zawazal wollte fliehen und sagte, sie
werde sich lieber vom dritten Stock auf die Straße stürzen, als
noch länger im Hause bleiben.
Vors.: Was tat die Frau Riehl? — Zeugin: Sie machte
reinen Tisch, ging in den ersten Stock und sprach mit der Zawazal.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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— Vors.: Sprach sie nur mit ihr? Zeugin: Sie gab ihr auch
eine Ohrfeige. Vors.: Nun, das ist ziemlich stark gesprochen.
Drei Mädchen und Frau Riehl brachten die Zawazal zurück
und sperrten sie in ein Zimmer. Über die Revisionen des Polizei-
agenten- Inspektors Piß weiß die Zeugin nur, daß er sich immer im
ersten Stock aufhielt und der Riehl Vorladungen und „Büoheln“
übergab.
Präs.: Auf welche Weise kamen Sie mit Frau Pollak in Be¬
rührung? — Zeugin: Sie hat mir den Antrag gemacht, als Pro¬
stituierte in das Haus der Riehl einzutreten. Sie schilderte mir,
daß ich schöne Kleider bekomme und viel Geld verdienen werde.
Ich antwortete: Nein, das ist mir zu häßlich! — Angekl. Pollak
springt erregt auf und ruft: Gott! 0 Gott! Das ist unerhört! —
Präs.: Beruhigen Sie sich nur, wir werden Sie auch anhören. Die
Pollak springt wieder auf und jammert händeringend.
Die Riehl gibt an, ein Polizeikommissar habe ihr ausdrücklich
gestattet, die K. als Dienstmädchen zu beschäftigen, wenn sie nicht
Herrenbesuche empfange.
Dr. Rabenlechner: Welcher Kommissar war denn das? —
Riehl: Ich kann mich nicht an alle Kommissäre erinnern. —
Dr. Rabenlechner (zur Zeugin): Eine persönliche Frage. Wußten
Sie, als Sie von dem städtischen Arbeitsvermittlungsamt zur Riehl
gesendet wurden, was in dem Hause vorgehe? — Zeugin: Nein.
— Dr. Rabenlechner: Jedenfalls verdient dieser Vorgang be¬
sondere Würdigung. Das städtische Dienstvermittlungsamt vermittelt
Dienstmädchen in ein öffentliches Haus, und ein Polizeikommissar
bewilligt das.
Der Vorsitzende fragt die Angeklagte Pollak: Haben Sie der
Zeugin den Antrag gestellt, Prostituierte zu werden? — Pollak:
Gott soll behüten. (Heiterkeit). — Dr. Rabenlechner: Sie, Pollak,
gegen Tatsachen kann man sich nicht absperren. Sollte Ihnen
vielleicht in einer phantasievollen Stunde dieser Gedanke jemals
gekommen sein, so sagen Sie es nur. — Angekl. Pollak: Ich kann
mich nicht erinnern. — Vors.: Frau Pollak, das ist bei Ihnen
schon sehr viel. Wenn Sie sich an etwas nicht erinnern, so dürfen
andere beruhigt annehmen, daß es wahr ist! (Heiterkeit.)
Die nächste Zeugin Julie gibt an, ein Madl habe sie zur
Riehl gebracht: Der Vormund, dem sie von ihrem Entschluß schrieb,
antwortete ihr, daß sie tun könne, was sie wolle. — Dr. Raben-
leohner: Ein gewissenhafter Vormund.
Die Zeugin erzählt, die Pollak habe sie bestimmen wollen,
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
der Polizei als Grund ihres Eintrittes in ein öffentliches Hans an¬
zugeben, daß sie uneheliche Kinder habe. Das Mädchen ftlrohtete
aber, daß der Beamte sich nach dem Aufenthalt der Kinder er¬
kundige. (Heiterkeit.)
Angekl. Riehl: Es war immer so Brauch.
Die nächste Zeugin „Olga“ erzählte, daß sie nach drei Tagen
aus dem Hause der Frau Riehl fortwollte. Da ihr die Riehl mit
der Polizei drohte, so blieb sie, aus Furcht eingesperrt zu werden.
Nach drei Monaten verließ sie aber doch das Haus, und die Riehl
gab ihr als Verdienst — einen Silbergulden und von ihren Kleidern
nur das Schlechteste. Das Mädchen machte bei der Polizei An¬
zeige. Die Pollak brachte später ein schmutziges Hemd von der
Frau Riehl und sagte der Zeugin: „San S’ froh, daß Sie dös be¬
kommen; Sie verdienten eh, am Schub zu kommen. San S’ stad,
sonst werden S’ noch eingesperrt.“ Die Zeugin war zweimal im
Spital. Das erstemal wurde sie von der Pollak abgeholt, das zweite¬
mal bat sie die Pflegerin, eine barmherzige Schwester um ein Ver¬
steck. So entkam das Mädchen dem Hause Riehl.
Die Angeklagte bestreitet entschieden, daß sie die Zeugin
wieder zurUoknahm. „Die Dame war keine Verdienerin“, sagt die
Angeklagte, „und ich war froh, als sie weg war.“
Präs.: Frau Riehl, wenn Sie auch noch so zartfühlend sind,
glaube ich doch nicht, daß Sie dann das Mädchen im Wagen aus
dem Spital abgeholt hätten.
Die Zeugin Therese R. war etwa ein Jahr im Hause. Frau
Riehl warf ihr einmal einen Schlüsselbund an den Kopf.
Dr. Rode (zur Zeugin). Ist am Morgen nach Ihrer Einver¬
nehmung beim Untersuchungsrichter der Polizeiagent Piß in Ihrer
Wohnung erschienen, um Sie zu sprechen? — Zeugin: Ja. (Be¬
wegung). — Dr. Rode: Ist nicht kurze Zeit darauf der Polizei¬
agent Piß mit dem Polizeikommissar Dr. Locker bei Ihnen erschienen?
Haben die beiden Sie nicht befragt, was Sie beim Untersuchungs¬
richter ausgesagt haben? — Zeugin: Es waren ein Wachinspektor
und der Polizeileiter des Bezirkes, in dem ich gewohnt habe. (Neue
Bewegung.) — Dr. Rode: Sind die beiden als Privatpersonen zu
Ihnen gekommen oder amtlich? — Zeugin: Amtlich.— Dr. Rode:
Worüber haben die beiden Sie befragt? — Zeugin: Sie haben
mich gefragt, wie es mir bei der Riehl gegangen sei und was wir
dort gemacht haben.
Zeugin Marie Müller war als Hausbesorgerin bei Frau Riehl
auch in der Küche beschäftigt. — Präs.: Haben Ihnen die Mädchen
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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oft erzählt, daß sie von Frau Riehl geschlagen werden? — Zeugin:
Ja. — Präs.: Warum sind sie geschlagen worden? — Zeugin:
Das haben sie nicht erzählt. Die Zeugin erzählt den gemeinsamen
Fluchtversuch der Elsa und der Hansi. Der Hausbesorger war im
dritten Stock beschäftigt, seine Frau in der Küche, Frau Riehl und
die Pollak waren im Hofe. Die Tür war offen, weil eine Zigeuner¬
musik spielte. Die beiden Mädchen hatten sich geweigert,
sich nach Tisch wieder einsperren zu lassen; es kam zu einer
Lärmszene. Die beiden Mädchen liefen die Treppe hinunter, um
zu flüchten. Frau Riehl war benachrichtigt worden. Der Elsa ge¬
lang die Flucht, die Hansi wurde beim Haustor erwischt und unter
einer lebhaften Prügelei, an der sich die Riehl, die Pollak und
auch mehrere Damen beteiligten, wieder hinaufgeschleppt. — Frau
Pollak (dazwisohenrufend): Ich war nicht dabei 1
Präs, (zur Zeugin): War die Pollak dabei, als die Hansi ge¬
prügelt wurde? — Zeugin: Ja, sie ist dabei gestanden. — Frau
Pollak: Ich war nicht dort. — Präs, (zur Hosoh): War die
Pollak dabei? — Hosch : Nein sie ist nicht dabei gewesen. — Präs,
(zur Pollak): Also haben Sie einmal Recht behalten. (Heiterkeit.)
— Hosch: Die Pollak ist inzwischen der Elsa nachgelaufen. (Heiter¬
keit). — Präs.: Ah so! Daun konnte sie allerdings nicht die
Hansi mit prügeln. Frau Pollak, wir hätten Ihnen beinahe Unrecht
getanl (Heiterkeit.) — Dr. Rode (zur Zeugin): Haben Sie die
Hunde der Frau Riehl gekannt? — Zeugin: Ja. — Dr. Rode:
Die Liddy war eine besonders bissige Bestie. Haben Sie gewußt,
wozu Frau Riehl die Hunde gehabt hat? — Zeugin: Nein. —
Zeugin Juliane Staiz war kurze Zeit bei Frau Riehl Köchin
und Hausbesorgerin. Frau Riehl habe ihr am 23. Juni, am letzten
Tage, 30 Kronen geschenkt, weil sie so brav gewesen sei. — Präs.:
Das ist merkwürdig, da Frau Riehl sich früher immer sehr abfällig
Uber Sie geäußert hat. Am 24. Juni erschien nämlich der Artikel
im „Extrablatt“. Hätten die Mädchen, so wie sie im Hause waren,
auf die Straße gehen können? — Zeugin: Das weiß ich nicht.
Sie waren halt im Hemd. (Heiterkeit).
Nach der Mittagspause wird der Dr. Ignaz Husserl einver¬
nommen; er kam in den letzten drei Jahren häufig als Arzt in das
Haus der Frau Riehl. Er habe nicht nur die „Damen“, sondern auch
Frau Riehl und ihre Angehörigen behandelt. Oft seien auch Mädchen
in seine Ordination gekommen. Sie hatten immer eine Begleitung.
Landesgerichtsrat Dr. Spitzkopf: Hat der Zustand der Mäd¬
chen eine Begleitung erfordert? — Zeuge: Nein, keineswegs. —
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L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Präs.: Waren es Krankheiten des Berufes oder andere Leiden,
derentwegen Sie zu den Mädchen gerufen wurden? — Zeuge: Es
waren nur selten Geschlechtskrankheiten oder doch keine an¬
steckenden.
Präs.: Haben Sie die Anna Christ zu untersuchen gehabt
Herr Doktor? — Zeuge: Jawohl, ich kann mich erinnern. Sie
wurde zu mir gebracht und als Näherin des Hauses Riehl be¬
zeichnet. Ich hätte feststellen sollen, warum sie — das Mädchen
war körperlich sehr herabgekommen — so elend aussab. — Präs.:
Können Sie uns sagen, Herr Doktor, ob Sie damals auch festzustellen
hatten, ob das Mädchen unberührt sei? — Zeuge: Daran kann ich
mich nicht erinnern. — Präs.: Die Angeklagte Gönye sagt, daß
Sie die Virginität festzustellen batten. — Dr. Pollaezek: Sie sollen
in allen jenen Fällen, wo es zweifelhaft war, ob die Mädchen sich
für .das Gewerbe eignen, gewissermaßen die Assentierung vor¬
genommen haben. — Zeuge: Das ist unrichtig. Ich werde doch
kein solches Gutachten abgeben. Das ist gar nicht Sache des
Arztes.
Dr. Pollaezek: Nachdem Sie die Anna Christ untersucht und
gesehen hatten, daß sie ein unschuldiges Mädchen ist, hatten Sic
da nicht die Pflicht als Arzt und Mensch, der Behörde davon Mit¬
teilung zu machen, daß ein solches Mädchen in ein öffentliches
Haus gesteckt werden sollte? — Zeuge: Es ist dies nicht Sache des
Arztes, dem Mädchen Ratschläge zu geben, ob sie anständig bleiben
soll. — Dr. Pollaezek (ernst): Es gibt eben Pflichten, die nicht im
Gesetze stehen. — Dr. Husserl: Ich erinnere mich übrigens, der
Anna Christ gesagt zu haben, sie möge sich nicht dem leichtsinnigen
Leben zuwenden.
Dr. Pollaezek : Meine Fragen hatten nur den Zweck, zu zeigen,
wie intelligente Personen, außer Eltern und Vormündern, durch ihre
Passivität das Zuführen von Mädchen in das öffentliche Haus ge¬
fördert haben.
Die Ziehmutter der Anna Christ, Frau Barbara Kozliet, ist
verdächtigt, aus dem Gewerbe ihres Ziehkindes Vorteil gezogen
zu haben. Sie wird sich beim Bezirksgericht zu verantworten
haben. Die Frau erklärt, sie wolle Zeugnis ablegen.
Anna Christ war Näherin bei ihr, sie ist im Verdruß von ihr
fortgegangen. Nach zwei Monaten erst erfuhr sie durch die An¬
geklagte Pollak, die von der Riehl gesendet wurde, ihre Ziehtochter
befinde sich bei der Riehl. Die Zeugin ging in das Haus. Die
Christ erklärte, sie wolle bei der Riehl bleiben.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Prfis.: Sie haben sich also zwei Monate nieht um ihr Kind ge¬
kümmert. Es war Ihnen nicht bange und Sie haben auch keine
Abgängigkeitsanzeige erstattet? — Zeugin: Nein. — Präs.: Hat
Ihnen die Riehl etwas versprochen? — Zeugin: Nein. Sie wollte
mir nur das Geld zurüokzahlen für die Schuhe, die ich der Anna
kaufte. Die Riebl hat mir gesagt, die Anna werde als Näherin
und Frieseurin beschäftigt.
Die Pollak brachte die Christ, als sie in anderen Umständen
war, zurück mit den Worten: Hier haben Sie Ihre Tochter so ge¬
sund, wie sie zu uns gekommen ist. — Vors.: Das war natürlich
falsch, denn die Christ kam sofort ins Spital, weil sie gesohleohts-
krank war.
Chefarzt der Wiener Polizei, kais. Rat Dr. Anton Merta gibt
als Zeuge zunächst Auskunft über die sanitätspolizeiliohe Kontrolle.
Im Jahre 1892 liefen zahlreiche Anzeigen wegen Straßenunfuges
von Mädchen ein. Der damalige Polizeipräsident Ritter v. Stejskal
entschloß sich, die öffentliche Prostitution einzusohränken und ge¬
schlossene Häuser einzuführen. Diese wurden damals probeweise
geduldet. Im Jahre 1899 wurde eine Kommission einberufen, Ver¬
treter des Stadtpbysikats, der Staatsanwaltschaft, des Magistrats,
der Finanzbehörde und der Polizei. Nach dieser Besprechung
wurden die öffentlichen Häuser genehmigt. Die Erfahrungen mit
solchen Häusern waren jedoch nicht günstig, denn viele haben nicht
prosperiert. Der polizeiliche Überwachungsdienst war sehr schwierig,
denn es bestand für die unteren Polizeiorgane die Gefahr, daß sie
von den Inhabern solcher Häuser bestochen werden. Leider haben
sich diese Befürchtungen zum Teil bewahrheitet. Der Polizeipräsi¬
dent bedauert, daß sich unter den 4000 Polizeiorganen zwei oder
drei gefunden haben, die von ihrer Pflicht abwichen. Gegen diese
ist ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden, und sie sind seit
Monaten vom Dienste suspendiert. Die Folgen des heutigen Ver¬
fahrens werden auf die amtliche Behandlung dieser Fälle einwirken.
Präs.: Herr Zeuge, sind Sie zu dieser Erklärung autorisiert?
— Zeuge: Gewiß, es ist eine autoritative Erklärung.
Dr. Rabenlechner: Herr kais. Rat, sind Sie zu dieser Er¬
klärung vom Polizeipräsidenten beauftragt?
Zeuge: loh bin dazu ermächtigt.
Präs.: Geben wir nun zu den Verhältnissen im Hause Riehl
über. — Zeuge: Gewöhnlich wird vor der Eröffnung des Hauses
eine sanitäre Revision eingeleitet. — Präs.: Von welchem Gesichts¬
punkt aus wurden diese Revisionen vorgenommen. — Zeuge: Man
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
hat sich bei den Besichtigungen immer um die allgemeinen sanitären
Verhältnissen gekümmert, nur wenn eine anonyme Anzeige vorlag,
ist näher untersucht worden.
Präs.: Periodisch wiederkehrende Untersuchungen haben also
nicht stattgefunden.
Zeuge: Nein.
Nur venerisch erkrankte Mädchen sind in das Spital überführt
worden, Patienten mit anderen Krankheiten blieben schon wegen
des Platzmangels der Spitäler in häuslicher Pflege.
Präs.: Es war also Pflicht der Inhaberin eines geschlossenen
Hauses, erkrankte Mädchen dem Polizeiarzt vorzuführen. Wie ist
man dabei vorgegangen? Zeuge: Der kontrollierende Arzt bekommt
die Mädchen dem Namen nach zugewiesen. Ob außer den gemel¬
deten Mädchen noch andere im Hause sind, kann er nicht wissen.
In einem solchen Falle kaun er eben die Kontrolle nicht ausüben.
Eine Hausdurchsuchung vorzunehmen, ist der Arzt weder verpflichtet
noch berechtigt.
Präs.: Ist es vorgekommen, daß Mädchen Ihnen als abwesend
angegeben wurden? — Zeuge: Das ist möglich.
Der Verschluß der Fenster, der nur durch einen bestimmten
Schlüssel behoben werden kann, entspricht den polizeilichen
Intentionen.
Präs.: War es bekannt, wann die ärztlichen Untersuchungen
vorgenommen wurden? — Zeuge: Ja, immer an den gleichen Tagen
und Stunden.
Präs.: Konnten also Mädchen versteckt werden, um sie der
Untersuchung zu entziehen? — Zeuge: loh glaube nicht. — Präs.:
Haben Sie Spuren von Mißhandlungen am Körper der Mädchen be¬
merkt? — Zeuge: Ich erinnere mich nicht, jemals solche Spuren
entdeckt zu haben.
Dr. Rode: Wie war es mit der behördlichen Revision? Ist es
ausgeschlossen, daß die Riehl wissen konnte, wann die Kommission
erscheinen werde? — Zeuge: Das ist vollkommen ausgeschlossen.
Niemand wurde vorher verständigt als die Mitglieder und zwar
telephonisch, worauf die Kommission ihre Tätigkeit sofort begann.
Dr. Rabenlechner: Aus welchem Material — leider Gottes —
bestehen solche Mädchen? Man spricht hier aus Tendenz von einem
Engelsraaterial. Sind Prostituierte nicht zumeist Rekruten für die
Strafanstalten, sind sie nicht häufig vorbestraft? — Zeuge gibt das
zu und bemerkt, daß viele Prostituierte sich auch in den Spitälern
exzessiv benehmen.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Verteidiger Dr. Rabenlechner: Und noch eine wichtige Be¬
merkung. Sie sagten, Herr Zeuge, daß man, um das Straßenwesen
einzudämmen, geschlossene Häuser wünscht; ich muß Wert darauf
legen, nochmals die Kasernierung vorzubringen. Wenn jedes solche
Mädchen die Bewegungsfreiheit hätte, glauben Sie, daß dann der
Zweck der geschlossenen Häuser erreicht wäre? Würde dann nicht
der Gassenstrich wieder florieren, oder glauben Sie nicht, daß der
technische Ausdruck „Geschlossenes Haus“ bedeutet, daß ein solches
Haus auch versperrt ist? — Zeuge: Freilich, das glaube ich schon.
Dr. Rabenlechner: Ist es richtig, daß es bis heute keine ge¬
setzliche Regelung der Prostitution in Österreich gibt, nur Verord¬
nungen? — Zeuge (zuckt die Achseln): Ich kenne nur die Wiener
Verordnungen.
Die freie Prostitution der Straße und die geschlossenen Anstalten
tragen den Behörden fortwährend Beschwerden aus dem Publikum
ein. Daher werde fortwährend an einer Reform des Prostitutions¬
wesens gearbeitet. Derzeit gebe es etwa 1400 Prostituierte. Es sei
dies mit Rücksicht auf die Millionenbevölkerung eine lächerlich
kleine Anzahl. — Dr. Rabenlechner: Ja, offiziell gemeldete!
(Zum Zeugen): Ist Ihnen bekannt, daß ein öffentliches Haus in der
Leopoldstadt geschlossen wurde, da es nicht prosperierte? — Zeuge:
Ich weiß nur, daß es freiwillig gesperrt wurde. — Dr. Rabenlechner:
Ist es Ihnen bekannt, daß die Angeklagte Riehl von dem verstor¬
benen Chefarzt Regierungsrat Witlacil eine Belobung erhielt? —
Zeuge: Ich wüßte nicht, aus welchem Grunde. (In seinem Akt
blätternd.) Höchstens, wenn die Bemerkung, daß es im Hause Riehl
rein gewesen ist, in diesem Sinne ausgelegt wird. — Die An¬
geklagte Riehl: Ich bitte, der Herr Regierungsrat hat mir sogar
eine Visitenkarte gegeben und mir gesagt, wenn Sie einmal etwas
brauchen sollten, kommen Sie zu mir. (Bewegung.)
Der Zeuge teilt mit, daß er einen Akt mitgebraeht habe, der
im Vorjahr bei der Polizei auf Grund einer anonymen Anzeige auf¬
gelaufen sei. Damals haben Agenten acht Tage lang von 7 Uhr
früh bis 1 Uhr morgens das Haus der Riehl bewacht. Es wurden
auch zehn Mädchen einvernommen, die im Hause waren, und vier
Mädchen, die schon außerhalb desselben waren, ohne daß etwas
eruiert worden wäre. — Präs.: Welche Sache hat die Untersuchung
betroffen? — Zeuge: Dieselbe, die heute Gegenstand der Verhandlung
ist — Dr. Pollaczek: Der Polizei ist es also nicht gelungen . . .
Dr. Rabenlechner: Da werden wir auch den Namen des
Kommissars erfahren können, der damals die Erhebungen leitete.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
— Präs.: (schlägt den Akt nach): Es war der Kommissar
Dr. Zdrubeck.
Staatsanwalt (znm Zeugen): In wessen Besitz befand sieb
dieser Akt? — Zeuge: Er gehört dem Sicherbeitsbureau. — Staats¬
anwalt: Der Untersuchungsrichter konnte ihn nämlich trotz
energischer Requisition nicht erlangen.
Der Zeuge Polizeiarzt Dr. Simon Kien war kontrollierender
Arzt im Hause Riehl; es kam vor, daß ihm Mädchen, die sich an¬
geblich auf Urlaub befanden, nicht vorgeführt wurden. Ge¬
wisse andere Unpäßlichkeiten hätten eine oberflächlichere Unter¬
suchung zur Folge gehabt. Von Mißhandlungen sei ihm nichts be¬
kannt; doch sei es vorgekommen, daß sich am Körper der Mädchen
blaue Flecke vorfanden, die auf gewisse Aspirationen der Besucher
zurüokgeführt werden konnten.
Präs.: Ist Ihnen bekannt, daß ein Mädchen an Krätze erkrankte?
— Zeuge: Ja, ich kann mich erinnern. — Präs.: Wurde sie ins
Spital geschafft? — Zeuge: Das war nicht möglich. Aber es war
ja ausgeschlossen, daß sie mit Herren in Beziehung trete, da ihr
Zustand äußerlich genügend gekennzeichnet war. — Dr. Raben-
lechner: Und wenn sich einer schließlich kapriziert: Habeatt
(Heiterkeit).
Staatsanwaltsubstitut Dr. Langer: Ist es richtig, daß Mädchen
sich der ärztlichen Untersuchung dadurch entzogen, daß sie die
Erscheinungen ihres Leidens durch gewisse Präparierungen mas¬
kierten? — Zeuge: Das weiß ich nicht.
Der Polizeiarzt Dr. Schild, der vom Jahre 1902 bis zur Schließung
des Hauses Riehl dort kontrollierender Arzt war, weiß nichts Neues
anzugeben.
Der Polizei-Oberkommissar Dr. Ernst Felkel hat vom Jahre
1900 bis 1902 das Referat Riehl im Kommissariat Alsergrund ge¬
führt. Er hat das Haus nie selbst revidiert, sondern der Kanzlist
Kopp. Von Beschwerden der Mädchen hat der Zeuge nichts gehört.
— Präs.: Es ist vielfach behauptet worden, daß bei Erteilung des
Gesundheitsbuehes an die Mädchen, zu der das Einverständnis ihrer
Angehörigen erforderlich ist, man sich mit der einfachen Erklärung,,
daß die Eltern des Mädchens geBtorben sind, zufriedengegeben
habe. — Zeuge: Das ist unrichtig.
Zeuge Sebastian Oberhuber, Detektive-Inspektor, war zwei
Jahre dem Referat des Kommissariats Alsergrund zugeteilt. Er
unterstand bei den im Hause Riehl vorgenommenen Revisionen dem
verstorbenen Offizial Kopp. Seine Obliegenheit war, festzustellen.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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ob die Zahl der polizeilich angemeldeten Mädchen nicht überschritten
worden sei. Er bewachte deshalb meistens das Tor, um ein Ent¬
weichen während der Revision zu verhindern. Auf die Frage des
Vorsitzenden, in welcher Weise im Hause die notwendige Fest¬
stellung stattfand, antwortete Detektive-Inspektor Oberhuber: Wir
sind in den Zimmern herumgegangen und haben die Mädeln so
ziemlich gezählt. Das geschah gewöhnlich vormittags. — Präs.:
Waren Sie auch in den Schlafzimmern? — Zeuge: Nein. — Präs.:
Wie haben Sie zu der Zeit zählen können? — Zeuge: Das hat der
Herr Offizial Kopp getan.
Dr. Pollaczek: Also der Referent hat sich nicht darum
gekümmert, der Subreferent ist gestorben und der Korreferent weiß
nichts. (Heiterkeit.)
Zeuge Polizeikommissar Zdrubeck war mit den Revisionen im
Hause Riehl betraut und batte auch die Bücher für die Insassinnen
auszustellen. — Präs.: Ist es vorgekommen, daß Mädchen, die aus
dem Hause Riehl weg waren, sich bei Ihnen beklagt haben, daß
sie mißhandelt wurden, daß sie kein Geld bekamen usw. — Zeuge:
Eine solche Anzeige ist mir niemals vorgekommen. — Präs, verliest
die Aussagen einzelner Mädchen. — Zeuge bemerkt hierzu: Bei
der großen Anzahl von derartigen Mädchen, mit denen ich im Laufe
der Jahre zu tun hatte, kann ich mich bloß auf Grund der Namen
nicht mehr an die einzelnen Fakten erinnern. — Präs, verliest ein
Protokoll über ein Verhör mit einem anderen Mädchen, und bemerkt
hierzu: Wenn mir eine derartige Beschwerde zu Ohren gekommen
wäre, so hätte ich sie gewiß gründlich untersucht. Also, Herr Zeuge,
erinnern Sie sioh nicht daran? — Zeuge: Nein, entschieden nicht.
Präs.: Ist Ihnen bekannt, daß der städtische Sanitätsdiener
Weber im Dezember 1904 eine Anzeige erstattet hat, wie es im
Hause Riehl zugehe, daß dort Mädchen mißhandelt werden, daß es
jede Nacht Krawalle gebe usw.? Weber sagt, er sei mit den Worten
abgefertigt worden: „Es wird sich schwer etwas machen lassen, wir
haben uns ja schließlich auch noch mit anderen Dingen zu befassen
als mit diesen.“ — Zeuge: Ich erinnere mich nicht an den Vor¬
fall selbst; an die Anzeige erinnere ich mich. Ich habe den Piß
zu Erhebungen hingeschickt. — Präs.: Welche Organe haben Sie
überhaupt zu Erhebungen verwendet? Nur den Piß? Haben Sie da
nie Bedenken gehabt? — Zeuge: Nein, er galt als eines unserer
tüchtigsten Organe.
Der Präsident konstatiert, daß auf Grund einer anderen Anzeige
Erhebungen über die Behandlung der Mädchen im Hause Riehl ge-
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. ßd. 5
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I. Der Prozess Kiehl und Konsorten in Wien.
pflogen wurden nnd daß die Anssagen der Mädchen durchweg zu-
gunsten der Fran Riehl lauteten.
Präs, (zur Angeklagten Winkler): Sie haben damals auch zu¬
gunsten der Frau Riehl ausgesagt. Entsprach das der Wahrheit?
— Winkl er: Nein. — Präs.: Warum haben Sie das angegeben? —
Winkler: Es ist uns von Frau Riehl vorgesagt worden. — Präs,
(zur Angeklagten Hosch): Warum haben Sie damals diese Angabe
gemacht? — Hosch (achselzuckend): Wir haben doch alle gelogen!
Es ist uns von Frau Riehl Unterricht gegeben worden. — Präs.:
Hat sie denn Zeit dazu gehabt? — Hosch: Es ist schon ein paar
Tage vorher ein Polizeiagent zu Frau Riehl gekommen und hat
ihr gesagt, daß gegen sie eine Anzeige erstattet worden sei. —
Präs.: Also Sie glauben, daß Agent Piß Frau Riehl vorher avisiert
hat? — Hosch: Ja.
Verteidiger Dr. Hofmokl bittet um Verlesung des mit der
Zeugin Marie König aufgenommenen Protokolls. — Der Staats¬
anwalt spricht sich dagegen aus. — Der Gerichtshof lehnt den An¬
trag Dr. Hofmokls ab, da sich die Zeugin im Laufe der Verhandlung
der Aussage entschlagen habe.
Präs.: Herr Zeuge waren also immer nur auf die Aussagen des
Detektivs Piß angewiesen und erinnern sich nicht, daß mündliche
Beschwerden vorgebracht wurden? — Zeuge: Nein. — Dr. Raben¬
lech ner (zum Zeugen): Waren Sie einmal im Hause Riehl? —
Zeuge: Ja. — Dr. Rabenlechner: Haben Sie alle Räume des
Hauses inspiziert? — Zeuge: Nein. — Dr. Rabenlechner: Hm—ja.
Zeuge erklärt weiter: Ich habe mich bei meinem ganzen Vor¬
gehen strikte an die Vorschriften gehalten. Wenn eine Polizei¬
vorschrift in bestimmten Fällen negativ lautet, dann ist es meiner
Ansicht nach in solchen Fällen nicht opportun, vorzugehen. —
Dr. Rode (aufspringend): Also Ihrer Meinung nach ist es Ihre
Pflicht, alles zu unterlassen, was einer Ausbeutung der Mädchen
entgegensteht? Sie haben auch von dem Lohnvertrag zwischen der
Riehl und ihren Mädchen gehört. (In höchster Erregung): Ist es
nicht Ihre Pflicht als Vertreter einer Schandgewerbebehörde, gegen
einen solchen Vertrag einzuschreiten? — Zeuge: Ich muß ent¬
schieden gegen den Ausdruck „Schandgewerbebehörde“ protestieren.
Die Polizei ist nicht zum Schutze der Prostituierten da, sondern zum
Schutze der Öffentlichkeit gegen die Prostitution.
Dr. Hofmokl: Ist es richtig, daß Ihnen die Einrichtung des
Hauses bis heute unbekannt geblieben ist? — Zeuge: Ja. —
Dr. Rabenlechner: Warum sind denn die Revisionen Agenten
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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überlassen worden ? Wir überlassen doch hier die Indikatur auch nicht
den Diurnisten. — Zeuge: Die Agenten sind doch gebildete Leute.
— Dr. Rabenlechner: Aber sie können leicht, leicht Umfallen.
Der Präsident hat inzwischen den polizeilichen Akt über die
Anzeige des Sanitätsdieners Weber beraussuchen lassen und kon¬
statiert, daß Zeuge Zdrubeck den Akt mit dem Bemerken versehen
hat: „Schuldtragende sofort aus dem Bezirk entfernt“, daß aber sonst
nichts weiter geschehen ist. — Staatsanwalt: Herr Zeuge, Sie
haben vorhin erklärt, daß Sie es bei der Häufigkeit von anonymen
Anzeigen geradezu mit Genugtuung begrüßten, wenn einmal eine
Anzeige mit vollem Namen einlief, auf Grand deren Sie eingehende
Erhebungen pflegen konnten. Es ist aber im vorliegenden Falle,
also bei einer Anzeige mit vollen Namen, nichts geschehen. —
Zeuge: Es war ja keine Adresse angegeben. — Präs.: Aber er¬
lauben Sie: „Der Mann unterschreibt: „ergebenst C. Weber“ und
hat vorher in dem Brief angegeben, daß er Hahngasse Nr. 12 wohnt.
Der Mann wäre doch nicht schwer zu finden gewesen! — Staats¬
anwalt: Und der Mann sagt, daß er bei der Polizei mit Kleinig¬
keiten abgespeist wurde! — Präs.: Der Mann hätte gehört werden
sollen und man hätte sich nicht mit den fünf Zeilen des Herrn Piß
begnügen sollen!
Der Zeuge Polizeikonzipist Dr. Wilibald Locker war bis Mai
1904 beim Kommissariat Alsergrund, hatte aber niemals im Hause
Riehl zu tun.
Staatsanwalt: Die Zeugin Theresia R. hat angegeben, Sie
seien am Abend desselben Tages, an dem sie beim Kommissariat
Alsergrund über die Vorgänge im Hause Riehl ein vernommen
worden war, zu ihr gekommen und hätten sie befragt, ob sie gegen
den Agenten Piß ausgesagt habe. — Zeuge: Ich war damals beim
Kommissariat Ottakring. Der Agent Piß ist zu mir gekommen und
bat mich gebeten, ich möchte die R. fragen, ob sie gegen ihn aus¬
sagt habe. — Präs.: Und haben Sie dies getan? — Zeuge: Ja, leider.
Der nächste Zeuge Polizeikommissar LeopoldSohmidt (Leo¬
poldstadt) war von 1898 bis 1900 Referent für das Haus Riehl beim
Kommissariat Alsergrund. — Präs.: Haben Sie Gelegenheit gehabt,
das Haus zu revidieren? — Zeuge: Ich habe Revisionen mit den
Agenten vorgenommen. — Präs.: Wenn in einem kleinen Zimmer
bei verschlossenen Türen und Fenstern acht Mädchen in vier Betten
geschlafen hätten, wäre das beanstandet worden? — Zeuge: Ja.—
Präs.: Haben Sie jemals wahrgenommen, daß ein Zimmer überfüllt
war? — Zeuge: Nie.
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68 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Präs.: Um welche Zeit haben Sie revidiert? — Zeuge: Zu
Mittag. — Präs.: Sind Sie auch in den dritten Stock hinauf¬
gekommen? — Zeuge: Ich kann mich nicht erinnern. — Präs.:
Hat Frau Riehl jemals an Sie das Ansuchen gestellt, daß Sie sie
bei Anzeigen beschützen sollen, da ja häufig auch ungerechtfertigte
Anzeigen einliefen? — Zeuge: Nein, niemals.
Präs.: Wir kommen jetzt zu einem Punkt, der etwas kritisch
wird, und bei dem ich mich für verpflichtet erachte, Ihnen den § 153
der Strafprozeßordnung in Erinnerung zu bringen. (Wegen drohen¬
der Schande kann ein Zeuge die Aussage verweigern.) Dieser
Paragraph gewährt Ihnen die Rechtswohltat der Verweigerung der
Zeugenaussage. Es wird Ihnen vorgeworfen, daß Sie auch außer¬
halb Ihres Amtes Besuche bei Frau Riehl gemacht haben. Wollen
Sie hierüber aussagen oder wollen Sie von jener Rechtswohltat Ge¬
brauch machen?
Zeuge: Ich entschlage mich der Aussage. (Lebhafte Be¬
wegung.)
Der Präsident läßt dies protokollieren und entläßt hierauf den
Zeugen.
Polizeiagenten-Inspektor Joseph Piß, der seit 1895 bis jetzt
dem Polizeikommissariat Alsergrund zugeteilt ist und sich derzeit in
Disziplinaruntersuchung befindet, wird um seine Generalien befragt.
Dr. Hofmokl bittet, diesem Zeugen gegenüber die Wahrheitserinne¬
rung wegfallen zu lassen. — Präs.: Ich werde den Zeugen rechtzeitig
auf die Wohltat des § 153 aufmerksam machen und ihn in keine
Kollisionen bringen.
Dr. Hofmokl: Es ist ein Unterschied zwischen der Wahrheits¬
pflicht und der Wohltat, sich der Aussage zu entschlagen. Ich
möchte dem Zeugen mitteilen, daß er sogar lügen darf. — Präs.:
Ich werde rechtzeitig, wie bei dem vorigen Zeugen, das Entsprechende
vorkehren. Sie können das ruhig dem Vorsitzenden überlassen.
Auf die Frage des Vorsitzenden nach den Agenden des Zeugen
antwortet dieser, er habe sowohl beim Kommissariat wie im Hause
die Angelegenheit Riehl zu führen gehabt. Wenn Anzeigen oder
Beschwerden gekommen sind, habe er den Auftrag erhalten, Er¬
hebungen zu pflegen.
Präs.: Sind Beschwerden vorgekommen? — Zeuge: Nein. —
Präs.: Dann waren auch keine Erhebungen notwendig. — Zeuge
(zögernd): Einmal ist eine Beschwerde gekommen, anonym. — Präs.:
Vom Herrn Weber? — Zeuge: Ja. (Heiterkeit.) — Präs.: Da
haben Sie eine Relation erstattet, daß zwei Mädchen gestritten
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
69
hätten and sonst alles in Ordnung ist. Wer hat Ihnen diese In¬
formation gegeben? — Zeuge: Frau Riehl.
Der Zeuge gibt an, daß er sehr häufig ins Haus gekommen
sei, weil er Bücher, Photographien und dergleichen hinzubringen
hatte; er kenne auch die Räumlichkeiten im dritten Stock. Eine
Vorstellung, wieviel Mädchen dort untergebraeht waren, besitze er
nicht. Er habe auch nicht wahrgenommen, daß die Türen versperrt
werden. Auch habe sich ihm gegenüber niemals ein Mädchen be¬
schwert. — Präs.: Hat sich nicht die Zawazal beschwert? — Zeuge:
Ja. Sie ist aufs Kommissariat gekommen und hat über Ohrfeigen
geklagt. Der Referent war nicht anwesend und ich habe ihr gesagt,
sie soll morgen kommen. Inzwischen ist Frau Pollak gekommen
und hat sie mitgenommen. Am nächsten Tage ist das Mädchen
nicht wieder gekommen.
Präs.: Haben Sie damals nicht der Frau Pollak gesagt, sie
soll Ordnung machen, damit nichts herauskommt? — Zeuge: Ich
habe ihr nur gesagt, daß sie der Zawazal die Sachen geben soll.
— Präs.: Das stimmt mit der Aussage der Zawazal.
Präs.: Es ist behauptet worden, daß Sie manchmal Frau Riehl
von Kommissionen verständigten, damit sie sich vorbereiten und
die Mädchen abrichten könne. Sie waren auch sonst im Hause in
einer Weise tätig, die mit Ihrer Amtspflicht kollidieren würde. Sie
können sich der Wohltat des § 153 bedienen, wenn Ihnen Ihre
Aussage Schande bereiten könnte. Sie brauehen nicht auszusagen,
damit Sie nicht in Kollisionen bezüglich Ihrer Verantwortung gegen¬
über Ihren Vorgesetzten kommen. — Zeuge: Ich will nicht aus-
sagen. (Bewegung.)
Heute werden die sieben angeklagten Mädchen, die der falschen
Aussage vor dem Untersuchungsrichter beschuldigt sind, über ihre
Erlebnisse und Wahrnehmungen im Hause Riehl einvernommen.
Als erste wird M arie Pokorny einvernommen, eine schlanke,
hübsche Erscheinung, die seit Beginn des Prozesses in wechselnder
eleganter Toilette auf der Anklagebank zu sehen war.
Präs.: Sie waren eine Art Vertrauensperson der Frau Riehl,
da Sie mit der Beaufsichtigung der anderen Mädchen betraut
wurden. Wie war es denn mit ihrer Bewegungsfreiheit? —
Pokorny: Ich durfte auch nicht auf die Straße gehen.
Präs.: Wie war es mit Ihrer Kleidung? — Pokorny: Ich hatte
ebenfalls nur einen Sohlafrock, die anderen Kleider waren ver¬
wahrt. —. Präs.: Haben Sie bezüglich des Strumpf- und Zimmer¬
geldes Vereinbarungen getroffen?
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Pokorny: Die gnädige Frau erklärte, daß das Geld von jedem
Herrn zwischen uns aufgeteilt wird; sie hat mir aber nichts gegeben.
Ich habe sie manchmal gefragt, was mit dem Gelde ist; sie er¬
widerte nur: „Es ist schon gut! tt
Präs.: Endlich müssen Sie doch eine Abrechnung gefordert
haben? — Zeugin: Sie sagte immer, sie wird schon abrechnen.
Präs.: Waren die Mädchen im Zimmer eingesperrt? — Zeugin:
Ja. — Präs.: Haben Sie nicht selbst manchmal die Mädchen ein-
gesperrt? Sie können ruhig antworten, Sie sind nicht angeklagt.
— Zeugin: Im Auftrag der Riehl habe ich die Zimmer zugesperrt.
Die Frau sagte mir, das sei von der Polizei angeordnet, und ich
glaubte es; ich war ja auch oft eingesperrt. Ich hatte niemand,
der mich gehört hätte. Manchmal schrie ich; aber es kam niemand,
und hinaus konnte ich*nicht.
Präs.: Was wäre geschehen, wenn eiu Brand ausgebrochen
wäre? — Zeugin: Dann wäre ich verbrannt. — Präs.: Oder wenn
jemand ohnmächtig geworden wäre? — Zeugin: Niemand kam zu
Hilfe. — Präs.: Gab es denn keine Glocke, kein Telephon? —
Zeugin: Ein Telephon war da, es wurde aber nur verwendet, wenn
ein Herr kam und eine von uns gewünscht wurde.
Präs.: Was hatte Frau Pollak zu tun? — Pokorny: Die Frau
Pollak hatte von Frau Riehl den Auftrag, die Mädchen im Auge
zu behalten. Sie war immer im Hause, und nur hie und da war
sie wegen Krankheit nicht im Hause. — Präs.: Ist es in den vier
Jahren Ihres Aufenthaltes im Hause vorgekommen, daß Mädchen
Weggehen wollten? — Pokorny: Ja. Manche Mädchen sind gern
geblieben, mehrere wollten aber bald wieder fort. — Präs.: Was
hat Frau Riehl dann getan ? — Pokorny: Sie sagte zu den Mädchen:
„Schlampen, zahl’ zuerst deine Schulden, dann kannst Du gehn!“—
Präs.: Hatten denn die Mädchen Geld, um solche Schulden zu be¬
zahlen? — Pokorny: Nein.
Präs.: Da Sie auch mit der Ablieferung des Geldes betraut
waren, können Sie vielleicht angeben, ob Frau Riehl tatsächlich so
schlechte Geschäfte gemacht und draufgezahlt bat? — Pokorny:
Das ist gewiß unwahr. Die Herren haben wenigstens fünf Gulden
gezahlt, meistens aber 10 und 15 Gulden, dann auch 50, 100 und
sogar auch 200 Gulden. Kamen feine Gäste, die was Besonderes
verlangten, dann sagte die Riehl dem oder jenem Mädchen: „Zieh
dein Straßenkleid an, mach’ dich recht schön.“ Dann sagte sie zu
dem Herrn: „Herr Graf, oder Herr Baron, ich habe ein sehr
hübsches Mädchen, eine junge Frau, welche wünschen Sie?“ Daun
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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wurde dem Besucher das Mädchen in Straßentoilette als junge Frau
vorgestellt, und solche Herren zahlten dann auch 20 bis 40 Kronen
Strumpfgeld. Die Frau Riehl hat angegeben, was die Herren extra
bezahlten.
Präs.: Ist Ihnen bekannt, daß Mädchen mit Krankheiten ver¬
heimlicht und zurückbehalten wurden? — Pokorny: Ja. Frau Riehl
sagte immer: „Wenn Mädchen ins Spital gehen, so kommen sie nicht
mehr zurück.“ — Präs.: Daher die Vorsicht, die Mädchen sorgsam
in das Spital und zurück zu bringen. — Präs.: Haben die Mädchen
viel trinken müssen?
Pokorny: Die Riehl sagte: „Schaut’s zum Geschäft, Mädeln,
daß was aufgeht 1“ Aber die Mädohen sollten sich nicht betrinken,
da sollten sie lieber den Champagner auf die Tasse ausschütten. —
Präs.: Das ist glaubwürdig. Denn es lag im Interesse des Ge¬
schäftes der Frau Riehl, daß die Mädchen nicht betrunken waren.
Die Pokorny wurde von der Polizei nicht einvernommen, weil
sie krank war. Sie weiß aber, daß die Riehl die Mädchen zu
falscher Aussage veranlaßte.
Präs.: Blieben die Mädchen freiwillig im Hause Riehl? —
Pokorny: Manche blieben freiwillig, viele aber konnten sich nicht
helfen.
Präs.: Hatten Sie den Eindruck, daß jede Auflehnung gegen
Frau Riehl aussichtslos sei, weil sie mit dem Polizeibeamten, der
die Aufsicht hatte, so gut stand. — Angekl.: Wenn sich eine ein¬
mal anfgehalten hat, hat die Frau Riehl gleich geschrieen: „Kusch,
gleich laß ich einen Wachmann holen und Du wirst eingesperrt u .
Präs.: Haben die Mädohen aus dem Auftreten einiger Polizei¬
organe schließen können, daß sie von dieser Seite keine Hilfe zu
erwarten haben? — Angekl.: Die Frau hat zu mir gesagt: „Irma,
schau, daß du den Herrn Kommissär verführst, nimm aber kein
Geld von ihm.“
Die Angeklagte erzählt dann, Frau Riehl habe täglich Ein¬
nahmen von 200 bis 400 Kronen gehabt. Gegen Frau Pollak war
sie sehr mißtrauisch, sie hatte sie im Verdacht, daß sie ihr die
Strumpfgelder der Mädchen unterschlage.
Präs.: Sie haben doch bei Frau Riehl gewissermaßen eine Ver¬
trauensstellung eingenommen. Haben Sie denn nicht verlangt, daß
Sie auch einen Lohn erhalten? — Angekl.: Ja, ich war das „erste
Mädchen“ im Hause. Frau Riehl hat immer gesagt, sie werde
schon für mich sorgen und hat mich ins Theater nach „Venedig in
Wien“ mitgenommen, damit ich Zerstreuung habe.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
RegineRiehl: Es ist unglaublich, daß die Irma so gegen mich
aussagen kann. Ich habe sie gehalten wie mein eigenes Rind.
Alle Schltlssel habe ich ihr anvertraut, sie hat gewußt, wo mein
Geld aufbewahrt ist. Die Irma war mir ein Heiligtum ... —
Präs.: Dieses Wort sollen Sie nicht mißbrauchen.
Dr. Rabenlechucr: Ich habe alle diese Mädchen in meiner
Kanzlei eindringlich befragt, auch in Abwesenheit der Frau Riehl,
und sie ermahnt, die Wahrheit zu sagen, und alle haben mir er¬
widert: Alles, was die Lisi sagt, ist nicht wahr. Das hat mich
auch bestimmt, die Vertretung zu übernehmen. — Angckl.: Natür¬
lich, wir haben den Herrn Doktor auch angelogen. (Heiterkeit.) —
Verteidiger: Wie war denn die Kost? — Angekl.: Na, die war
sehr gut, alles was wahr ist. — Auf eine andere Frage des Ver¬
teidigers gibt die Angeklagte so rasch Antwort, daß er sagt: loh
tue Ihnen ja nichts, im Gegenteil. — Angekl.: Ich habe auch
keine Angst. (Heiterkeit.) — Verteidiger: Sie haben uns auch von
einem Herrn erzählt, der jedesmal 200 Gulden gezahlt hat, das
glaube ich Ihnen nicht recht. — Angekl.: Er ist gekommen; aber
Namen nenne ich keine. — Verteidiger: Brauche ich auch nicht.
Der war jedenfalls ein gottbegnadeter Herr. (Heiterkeit.) — Angekl.:
Er ist auch zwei-, dreimal in der Woche gekommen. — Verteidiger:
Da gehört er unter Kuratel. (Neue Heiterkeit.)
Die Angeklagte MarieHosch kam durch den „g’flickten Schani“
in das Haus, sie habe sich dort besonders in der jüngsten Zeit sehr
wohl befunden. — Präs.: Aber immer wird das wohl nicht so ge¬
wesen sein? — Angekl.: Ja, einmal wollte ich mit fünf Kolleginnen
durchgehen. — Präs.: Sie hatten vor, sich nachts mittelst Lein¬
tüchern auf die Straße hinunterzulassen, sind aber davon abgekommen.
— Frau Riehl: Ich habe die Lili gehalten wie ein eigenes Kind.
(Bewegung.)
Dr. Rabenlechner (zurHosch): Waren vielleicht die andern
Mädchen so geartet, daß sie ein strengeres Regiment notwendig
machten, waren die schlimmer als Sie? — Angekl.: Ja, manche . . —
Die Angeklagte Marie Winkler war Stellvertreterin der Irma.
— Präs.: Also so eine Art Ausnahmsstellung. — Angekl.: Ich war
gewöhnlich bei der Frau im ersten Stock. Wenn die Irma nicht
anwesend war, hatte ich das Geld an die Riehl abzuliefern. —
Präs.: Sie haben Rechnung über Ihren Verdienst geführt, darnach
haben Sie 5337 Kronen in einem halben Jahre verdient.
Dr. Pollaczek: Die Liste der Besucher macht den Eindruck
der Glaubwürdigkeit, denn sie ist der Zeit nach geordnet. (Liest von
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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vielen Zetteln ab: „Hauptmann“, „Alfred“, „Baumeister“, „Japaner“,
„Bekannter“, „Leutnant“, „Oberleutnant“ „Spitzbart“, „Doktor“ usw.)
Präs.: Haben sieh Mädchen bei Ihnen beklagt? — Angekl.:
Zu mir haben sie kein Vertrauen gehabt. — Präs.: Wurden die
Herren animiert, Champagner zu trinken? — Angekl.: 0 jal
Die Angekl. Joseph ine Zawazal war zweimal im Hause der
Riehl längere Zeit Das erstemal entlief sie, und naeh einigen
Monaten kam sie wieder, weil ihr eine Freundin mitteilte, Frau
Riebl sei nicht mehr so streng. — Präs.: Fanden Sie, daß sich die
Verhältnisse geändert hatten? — Angekl.: Nein. Die Angeklagte
berichtet über ihre Flucht. Die Riehl habe sie besonders schlecht
behandelt. — Die Angeklagte Riehl behauptet, die Zavazal sei von
ihrem Liebhaber geprügelt worden.
Sophie Christ wurde gleichfalls mißhandelt. Als sie fortgehen
wollte, sagte ihr die Riehl: „Ein Schmarrn, gehst fort in deine
Fetzen.“ Als eine der „Damen“ entsprang, wurde die Christ geprügelt,
und die Riehl schlug sic mit einem Besen.
Präs.: Warum? — Angekl.: Ich weiß nicht.
Sophie Christ ist zweimal geprügelt worden, weil sie zu ent¬
fliehen versuchte. Das zweite Mal gelang es einer Genossin zu
entkommen; sie selbst wurde im „italienischen Zimmer“ von der
Riebl und der Hosch geschlagen. Die Riehl sagte: „Du kriegst die
Prügel dafür, daß die andere durchgegangen ist. Dafür mußt du
jetzt büßen.“
Frau Riehl erklärt alles als Lüge. Die Christ habe als Dienst¬
mädchen in die Küche gehen wollen. Da sie (die Riehl) das nicht
duldete, sei die Christ entlassen worden. Die Christ habe ihr ver¬
sprochen, ihr schöne Mädchen zuzuführen.
Ernestine Gönye, das frühere Stubenmädchen der Riehl, er¬
zählt, daß kranke Mädchen manchmal vor dem Arzt versteckt worden
sind. Man sagte, die Betreffende sei zu einer Taufe gefahren und
komme erst in ein paar Tagen wieder. Ein einzigesmal sei eine
gründliche polizeiliche Revision in allen Zimmern vorgenoramen
worden. Agent Piß kam wiederholt und sprach mit der Frau. Auch
des Abends kam er. Die Gönye wurde zweimal geschlagen, das
zweitemal, weil sie sich vom Masseur der Riehl die Nägel schneiden
ließ. Die Riebl sagte ihr: „Wie können Sie sich unterstehen, sich
von meinem Doktor die Nägel schneiden zu lassen? Er wird mein
Gemahl, und Sie lassen sich von ihm die Nägel schneiden!“
Bei der Szene im Badezimmer, wo die Operation mit dem Spiegel
an Anna Christ vorgenommen wurde, war die Gönye anwesend.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Der Präsident verliest die protokollarische Aussage der fluchtigen
Emma Madzia, die angibt, sie sei von Frau Riehl Uber ihre Aus¬
sage instruiert worden und habe als Lohn eine goldene Uhr von ihr
erhalten. —Frau Riehl: Wenn alles wahr wäre, was die Madzia
angegeben hat, warum ist sie dann nicht zur Verhandlung erschienen ?
Präs.: Daß sie heute nicht erschienen ist, ist nicht unbegreiflich;
denn sie ist wegen falscher Zeugenaussage angeklagt. Warum haben
Sie ihr denn die Uhr geschenkt? — Frau Riehl: Weil ich sie zur
Firmung geführt habe. — Präs.: Wie kommen denn Sie dazu, die
Mädchen zur Firmung zu führen? — Frau Riehl: Weil sie mich
darum gebeten haben. — Präs.: Oder um sie an sich zu fesseln?
Denn jedenfalls steht das im Widerspruch zu den Zwecken, die Sie
sonst mit den Mädchen verfolgt haben.
Nach der Mittagspause wird der Oberpolizeirat und Regierungs*
rat Dr. Kroph als Zeuge einvernommen. Er war bis zum Vorjahr
Vorstand des Kommissariats Alsergrund, dem er zwölf Jahre Vorstand.
Präs.: Haben Sie in dieser Eigenschaft auch mit dem Prosti¬
tutionswesen zu tun gehabt? — Zeuge: Jawohl, ich habe die Be¬
amten instruiert und die oberste Kontrolle geführt. — Präs.: Ist es
richtig, Herr Zeuge, daß die Aufsicht im Hause Riehl ausschließlich
dem Agenten Piß überlassen war? — Zeuge: Der Agent hatte
selbst keine Verfügungen zu treffen. Dazu war ein eigener
Referent da. Allerdings wurde der Agent, der ja damals als ver¬
trauenswürdig galt, zu Recherchen verwendet. — Präs.: Haben Sie,
Herr Zeuge, jemals persönlich das Haus besucht? — Zeuge: Nein.
— Präs.: Sind regelmäßige Revisionen im Hause Riehl vorgenommen
worden? — Zeuge: Es haben von Zeit zu Zeit bei aktuellen An¬
lässen solche Revisionen stattgefunden. Aber ich bitte in Betracht
zu ziehen, daß wöchentlich zwei auch vier Amtsärzte ins Haus
kamen, die sich von den im Hause bestehenden Verhältnissen über¬
zeugten, und die mir stets versicherten, daß sie alles in b.ester
Ordnung vorgefunden hätten.
Präs.: Ist es Ihnen bekannt, daß ein gewisser Weber persönlich
bei dem Kommissariat eine Anzeige erstattete, daß ihm aber bedeutet
wurde, man könne sich mit solchen Kleinigkeiten nicht abgeben? —
Zeuge: Mir ist es nicht bekannt. Es wäre dies eine Pflichtver¬
letzung des betreffenden Beamten gewesen. — Dr. Rabenlechner:
Herr Zeuge, haben Sie sich speziell um das Haus bekümmert? —
Zeuge: Nein, der Referent hat ja doch 160 Prostituierte, die im Be¬
zirke wohnen, eine große Menge geheimer Prostituierter und ein
Heer von Zuhältern zu überwachen. — Dr. Rabenlechner: Herr
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Zeuge werden jedenfalls zugestehen, daß die öffentlichen Häuser
eine Absperrung und Kasernierung der Prostituierten bezweoken und
daß es in der Intention der Polizei gelegen ist, diese Absperrung gründ¬
lich zu besorgen. — Zeuge: Jedenfalls muß der Gassenstrich ver¬
mieden werden.
Dr. ßabenleohner: Was haben Sie, Herr Zeuge, von dem
Material, das sich der Prostitution zuwendet, für einen Eindruck ge¬
wonnen? — Zeuge: In den meisten Fällen waren es Mädchen, an
denen nichts mehr zu verderben war. — Dr. Rode: Woher haben
Herr Zeuge diese Gewißheit? — Zeuge (lächelnd): loh glaube mir
ein solches Urteil auf Grund meiner Menschenkenntnis erlauben zu
können. — Dr. Rode: Um diese Sicherheit sind Sie zu beneiden.
Das Beweisverfahren wird hierauf geschlossen.
Staatsanwaltsubstitut Dr. Langer zieht die Anklage in mehreren
Punkten zurück. Hinsichtlich des Friedrich König wird die Anklage
auf das Verbrechen der Kuppelei nach § 132 IV St.G.; in idealer Kon¬
kurrenz mit dem Verbrechen nach §§ 5; 93 St.G., ausgedehnt.
Der Staatsanwalt führt aus:
Wenn ich mir auch der Grenzen meiner Kompetenz bewußt bin,
so halte ich es trotzdem für notwendig, einige einleitende Bemer¬
kungen zu machen, die die Stellung der Staatsanwaltschaft präzisieren
sollen. Es handelt sich zunächst um die Stellung zu den Publikationen
im „Extrablatt“. Ich will Herrn Bader durchaus nicht das Verdienst
bestreiten, das er sich durch die Aufdeckung der Mißverhältnisse
im Hause Riehl erworben bat. Seine Artikel waren nur der Anlaß
zur Einleitung des Strafverfahrens. Der Untersuchungsrichter ist
dann bei der Bewältigung des riesigen Arbeitsmaterials nur mehr
von seinem Gewissen und seiner Amtspflicht geleitet worden, und
einschneidende Schritte wurden erst unternommen, als der in der Presse
erhobene Verdacht durch beeidete Zeugenaussagen unterstützt wurde.
Die Anklage ist aber auch nicht ein Akt der Prüderie, wie
schon behauptet worden ist. Sie bezweckt auch nicht die straf¬
gerichtliche Verfolgung der Prostitution, denn die Staatsanwaltschaft
weiß, daß die Prostitution ein Problem der Verwaltungslehre, nicht
aber des Strafrechtes ist. Die Strafbehörde hat erst dann ein¬
zuschreiten, wenn Auswüchse zutage treten, wie sie der Unter¬
suchungsrichter bezüglich des Treibens im Hause Riehl festgestellt
hat; die Angeklagte hat es unternommen, durch die Hintertür der
Prostitution die Sklaverei in unsere Kultur einzuschmuggeln, und
die Staatsanwaltschaft war verpflichtet, dagegen einzuschreiten. Ich
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
kann mich nicht zu der hier ausgesprochenen Ansicht bekennen, daß
ein Mädchen der Wohltat des gesetzlichen Schutzes verlustig gehe,
wenn sie durch Not oder durch Leichtsinn auf die Bahn des Lasters
geraten ist. Es waren nicht durchaus Verlorene, an denen niohts
zu verderben ist; auch diese verirrten Menschenkinder sind der Mühe
und der Fürsorge der Staatsbehörden würdig.
Zur Beweisfrage erklärt der Staatsanwalt, daß er durchaus
nicht Übersehe mit welch’ großer Vorsicht Zeugenaussagen von Prosti¬
tuierten aufzunebmen seien, da erfahrungsgemäß in solchen Personen
Wahrheitsliebe und Pflichtgefühl von der durch das Gewerbe ge¬
steigerten Eitelkeit ganz überwuchert werden. Ebenso schwere
Bedenken stehen aber auch den Angaben der beiden Angeklagten
entgegen. Denn der Regine Riehl ganzes Sinnen und Trachten ist
beherrscht von brutaler Habgier. Und an ihrer Seite waltete als
Superlativ der Hinterhältigkeit Antonia Pollak. Wir sehen in Regine
Riehl und Antonia Pollak nur egoistische Motive, und bei Personen,
bei denen Geldsucht und Habgier so starke Triebfedern sind, muß
man darau zweifeln, daß sie die Pflicht zur Wahrheit kennen, ge¬
schweige denn daß sie darnach handeln. Andererseits liegen eine
Reihe von Momenten vor, welche die Bedenken gegen die Zeugen¬
aussagen beseitigen. So zunächst die Übereinstimmung dieser großen
Zahl von Aussagen. Wenn nun vielleicht von seiten des Verteidigers der
Riehl daraus das Bestehen eines Komplotts geschlossen werden sollte,
so übersieht er hierbei, daß dieser Uniformität der Aussagen auch eine
Uniformität des Tatbestandes entspricht. Schließlich sei darauf hin¬
zuweisen, daß auch die Hausbesorger die Aussagen der Mädchen
durchwegs bestätigt haben, und daß — wie die Geschiohte der
Prostitution lehre — die Freiheitsbeschränkung ein typisches Kuppler¬
verbrechen ist.
In das Haus Riehl wurden die Mädchen mit süßen Worten ge¬
lockt und mit freundlichen Mienen ein geführt. Von diesem Augen¬
blick an waren sie Gefangene der Riehl, sic wurden hinter zwei¬
fachem Schloß und Riegel in der Kaserne zurückgehalten, und
vor die versperrten Türen wurde der Cerberus Antonie Pollak
gesetzt. Nun galt es alle diejenigen Faktoren auszuschalten, welche
diese Schlösser hätten sprengen können, hierher gehört die Konfis¬
kation deB Geldes und der Straßenkleider und die Bemühung, die
Angehörigen der Mädchen vom Hause fernzuhalten. Ein anderer
Faktor waren die Behörden, und da ist es der Riehl wohl sehr
leicht gemacht worden, diese durch Geheimhaltung der Einrichtungen
des Hauses hinters Licht zu führen. Der eine Referent hatte keine
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Zeit, der andere hatte es unter seinem Dekorum gefunden, seinen
Obliegenheiten naehzukommen. Andere haben sogar unter Berufung
auf § 153 St.P.O. sieh der Pflicht entziehen dürfen, über ihre Amts¬
tätigkeit Auskunft zu geben. Zugleich trat noch der Umstand
ein, daß es die beiden Angeklagten und insbesondere die Riehl
verstanden haben, bei den Mädchen Mißtrauen gegen die polizei¬
lichen Organe zu erwecken.
Der Staatsanwalt widerlegt dann die Behauptung, daß die
Angeklagte Riehl glauben durfte, bona flde zu handeln; das Gegenteil
ergebe sich aus der Tatsache, daß sie gerade die hier gerügten Ein¬
richtungen bei den Revisionen immer verheimlicht hat und aus den
mannigfachen Bemühungen sich des Wohlwollens der Polizeiorgane
zu versichern.
Die angeklagten Prostituierten betreffend, verweist der Staats¬
anwalt auf ihre Geständnisse und bemerkt, duß sie allerdings bei
Ablegung ihrer Aussagen unter der Pression der Riehl gestanden
seien, immerhin aber auch die Versprechungen von Geschenken einen
bestimmenden Einfluß auf sie geübt haben.
Der Angeklagte Friedrich König habe es selbst zugestanden,
daß er sein Kind verkauft und ans dem Schandgewerbe Nutzen ge¬
zogen hat. Er hat nicht einmal dem Mädchen sein Ohr geliehen,
das ihm sein Leid klagen wollte; und er hat es zustande gebracht,
sein Kind zu schlagen, mit dem Arbeitshaus zu drohen, bis es zu
der abstoßenden Szene kam, bei der das Kind niederknien und die
Riehl um Verzeihung bitten mußte. Seine Verantwortung sei nur
eine — offenbar von der erfindungsreichen Frau Riehl ersonnene —
Ausrede. Es sei demnach festgestellt, daß er sich in dem Sinne be¬
tätigt hat, daß sein Kind im Hause verbleibe und die Prostitution
betreibe, und hierin sei der Tatbestand der Kuppelei erschöpft.
In Ansehung der juristischen Qualifikation der Taten der
einzelnen Angeklagten verweist der Staatsanwalt auf die Anklageschrift
und schließt mit der Erörterung der Straffrage.
Dr. Walter Rode als Vertreter von fünfzehn Privatbeteiligten,
jener Mädchen, die im Hause Riehl zu Schaden gekommen sind,
führt in einer temperamentvollen Rede aus: Die Ursache des Be¬
stehens eines Regimentes, wie es das der Riehl wahr, eines Regi¬
mentes, daß sich etablieren und behaupten konnte im Angesichte aller
Welt und unter den Augen der Behörde, scheint mir darin zu liegen,
daß die Gesellschaft die Tendenz hat, das Lebensgebiet der Prostitu¬
tion im Dunkel zu halten, und darin, daß Uber die Rechtsstellung
der Prostituierten eine allgemeine Begriffsverwirrung herrschend ist.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Redner gibt eine allgemeine Darstellung der Rechtsstellung der
Prostituierten und sagt, bis jetzt war immer nur die Rede von dem
Schutz der Öffentlichkeit gegen die Prostitution; von dem Rechte
der Prostituierten, von dem war leider nie die Rede. Redner be¬
spricht die in der Oktroyierung der Hausordnung und in der Arrogie-
rung einer Gewalt gelegene Beschränkung der Freiheit der Mädchen
nach allgemeinen juristischen Gesichtspunkten und schließt seine Rede:
Unsere Namen und unsere Angelegenheiten werden längst ver¬
gessen sein, wenn der Namen der Frau Regine Riehl, dieses denk¬
würdigen Prozesses wegen, seine traurige Berühmtheit in der Krimi¬
nalgeschichte behauptet haben wird. Sie hat sich das Strandreeht
angemaßt über jene Mädchen, die das Meer des Elends ausgeworfen
hat und hat mit der Jugend und Schönheit schamlosen Blutwucher
getrieben. Als im Jahre 1397 das Gericht des Erzbischofs von Paris
die Kupplerin Jeanne Magleitt ähnlicher Schandtaten, wie sie beute
der Riehl zur Last liegen, schuldig fand, lautete die Verurteilung
auf öffentliche Schaustellung und Konfiskation von Hab und Gut.
Eine Funktion ähnlich dieser Konfiskation sollen nun meine Ansprüche
haben.
Dr. Rode stellt hierauf folgende Ansprüche und zwar ftlr Frei¬
heitsentziehung, Verdienstentgang und Vorenthaltung von Effekten
für 1) Anna Christ 1204 K.; 2) Elise M. 800 K.; 3) Angela G. 480 K.;
4) Ottilie G. 1360 K.; 5) Georgine W. 1544 K.; 6) Marie St. 187 K. 38;
7) Josephine T. 668 K.; 8) Marie H. 518 K.; 9) Therese Sch. 55 K.
30; 10) Marie K. 10400 K.; 11) Therese M. 5 K.; 12) Anna F.
129 K.; 13) Paula D. 460 K.; 14) Julie B. 166 K.; 15) The¬
rese L. 1200 K.
Der Verteidiger Dr. Rabenlechner, der nunmehr das Wort er¬
greift, erklärt, daß die Verteidigung der Regine Riehl sich auf etwas
ganz anderes aulbaue, als der Staatsanwalt vorausgesagt habe.
Sie müsse behaupten, daß die eigentlichen Schuldigen unsichtbare
Gestalten sind, die in diesem Saal nicht anwesend sind. Die Be¬
schuldigten erscheinen in ihrer Vertretung mit einer grotesken Sub-
stitutionsvollmacht. Man müsse sich fragen, oh der Staatsanwalt
nicht die Pflicht gehabt habe, gegen diese Unsichtbaren mit der¬
selben Wucht und Schneidigkeit aufzutreten, wie gegen die wirklich
Angeklagten. Gestern habe man es aus einer autoritativen Er¬
klärung des kais. Rates Dr. Merta erfahren, daß eine Regelung
der Prostitution im gesetzlichen Wege nicht bestehe, und daß auch
diese wichtige Begebenheit ebenso wie andere wichtige Fragen in
Österreich nur halb erledigt wird. Man toleriert öffentliche Häuser,
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I. Per Prozeß Rielil und Konsorten in Wien.
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erteilt strenge Reglements und erläßt Verordnungen. Aber wenn
diese Vorschriften mit Energie angewendet werden, trete strafrecht¬
liche Ahndung ein, obwohl sich alle angeklagten Mißstände als
wesentliche Folgeerscheinungen des Betriebes eines öffentlichen
Hauses ergeben. Als man der Regine Riehl die Konzession für ihr
Gewerbe erteilte, habe man genau gewußt, daß sie viermal wegen
Übertretung der Kuppelei empfindlich vorbestraft sei. Und dennoch
habe man ihr die Erlaubnis erteilt, vielleicht weil man in diesem
Vorleben eine Art Befähigungsnachweis für den Beruf erblickte.
Man habe also gewußt, mit wem man es zu tun hatte, und konnte
Kontrollen und Revisionen verschärfen. Es ist doch nicht gut
möglich, ruft der Verteidiger aus, daß auch die Akten mit den
Vorstrafen — wie soll ich mich ausdrücken — zur Unkenntnis
der Behörden gelangt sind. (Heiterkeit.) Mußte also Frau Riehl
nicht, als sie sah, daß ihre Vorkehrungen, die sie unter den Augen
der Behörden traf, unbeanstandet blieben, während sie Ausdrücke
der Zufriedenheit seitens der Polizei zu hören bekam, der Ansicht sein,
daß das, was sie tat, auch wohlgetan war? Kann man ihr nicht mit
voller Berechtigung zubilligen, daß sie bona fide gehandelt hat?
Wer die Revision im Hause Riehl vorgenommen hat, ob der Polizei¬
präsident oder der Agent Piß, ist für uns gleichgültig. Ebenso, ob
die Revisionen korrekt waren oder nicht. Das mögen die Herren
untereinander ausmachen. Eine zu Aufsichtszwecken entsendete
Amtsperson war es, und das ist die Hauptsache. Aber wir wissen
es, es kamen auch Herren mit Rosetten. Wozu sie kamen interessiert
uns wieder nicht.
„Meine Herren! Es ist leider eine notorische Tatsache, daß sich
jene Unglücklichen, die sich der Prostitution widmen, von selbst
ihrer kostbaren Freiheit begeben, jener Freiheit, die uns berechtigten
Staatsbürgern unbedingt zukommt. Die Prostituierten revozieren
selbst auf die Betätigung der ihnen gesetzlich gewährleisteten Freiheit
ihrer Person; sie begeben sich freiwillig, wenn auch durch Not und
andere Unbilden bedrängt, in jenen Zustand beschränkter gesetzlicher
Berechtigung, der nur zum wenigsten in der Internierung in öffent¬
lichen Häusern Ausdruck findet. Die Polizei beschränkt ihre Frei¬
heit; sie tut es im Interesse der öffentlichen Ordnung. Sie dürfen,
meine Herren vom hohen Gerichtshof, nicht so urteilen, als ob es
sich um Menschen unserer Kreise handeln würde. Sie müssen
binabsteigen in das Milieu der ßordellwirtschaft. Nur dann können
Sie ein richtiges und gereiftes Urteil finden.“
Der Verteidiger erörtert dann die Möglichkeiten, die den
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Mädchen der Riehl offen gestanden sind, sieh aus ihrem Hause zu
entfernen, wenn ihnen wirklich daran gelegen war.
„Glauben Sie, meine Herren, daß es wirklich möglich gewesen
ist, ein Dutzend Mädchen vier Jahre lang ihrer Freiheit zu berauben ?
Das können Sie nicht annehmen, wohl aber können Sie mit Recht
kalkulieren, daß es den unberechenbar launischen Mädchen niemals
um wirkliche Flucht zu tun war, da sie ja selbst in dankbaren
Briefen um neuerliche Aufnahme baten, wenn sie einmal das Haus
Riehl verlassen hatten.
Die Empfindung müssen Sie haben, das diese Anklage weit übers
Ziel hinausschießt, aber die Überzeugung müssen Sie auch haben, daß
wenn tatsächlich der objektive Tatbestand der persönlichen Freiheits¬
beraubung vorliegt, gewiß das subjektive Verschulden fehlt, die Ab¬
sicht, die zu jedem Verbrechen erforderlich ist.“
Hierauf ergreift der Verteidiger der sieben wegen falscher
Zeugenaussage angeklagten Mädchen Dr. Wolfgang Pollaczek
das Wort. Er führt aus:
„Nicht selten haben aufsehenerregende Kriminalprozesse den
Anstoß zu weitgreifenden Reformen gegeben. Der eiserne Besen
der Justiz, bestimmt, einige angefaulte Existenzen wegzufegen, deckt
Schäden auf, über welche die Gewohnheit des Tages hinwegeilt, nicht
ahnend, wie tief sie sind, wie sehr sie hineinfressen in das Gefüge
der Gesellschaftsordnung. Wir haben erlebt, wie zu Beginn unseres
Jahrhunderts die Prozesse wegen Kindermißhandlung zugleich das
Augenmerk der Öffentlichkeit auf den ungenügenden Schutz der be¬
stehenden Gesetze gelenkt und zur Gründung hilfsbereiter Insti¬
tutionen angespornt haben. Wir sahen, welch segensreiche Wirkung
der Kinderspitalprozeß auf die Regelung der öffentlichen Kranken¬
pflege, welche Maßregeln die Spielerprozesse in Deutschland, der
„Pall Mall“-Prozeß in England im Gefolge hatten. Auf Grund dieser
Erfahrungen wollen wir denn das traurige Kapitel Wiener Lokal¬
geschichte, das in den letzten Tagen weit über die Grenzen unserer
Stadt hinaus ungeheures Aufsehen erregt hat, mit der trostreichen
Perspektive zum Abschluß bringen, daß hoffentlich die beispiellosen
Mengen von Schmutz und Gemeinheit, von ekligem Laster und ab¬
grundtiefer Rohheit nicht umsonst zutage gefördert wurden, daß aus
dem Bodensatz, der hierbei bloßgelegt wurde, die Erkenntnis sich
emporgerungen hat, daß auch den Letzten der Letzten, den Ver-
achtetsten der Verachteten der Schutz nicht versagt werden darf,
der ihnen im Namen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit gebührt.
Ich habe hier nicht genug getan, wenn ich die individuellen
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Straftaten dieser sieben Angeklagten zu exkulpieren suche, sondern
ich habe hier zu zeigen, daß im allgemeinen Vergehungen von
Prostituierten, wie sie hier unter Anklage gestellt wurden, einer
ganz eigenartigen Beurteilung zu unterziehen sind. Ich verteidige
hier nicht nur Prosituierte, sondern ich habe zu erklären, wie Ver¬
brechen der Art, wie sie die Staatsbehörde hier unter Anklage ge¬
stellt hat, dann zu beurteilen sind, wenn sie von Angehörigen der
Kaste der Prostituierten begangen worden sind.
Ein trauriges Wort ist mir entschlüpft. Kaste der Prostituierten!
Fast möchte man meinen, es sei eine Anomalie, ein Anachronismus,
ein Unding, im modernen europäischen Staatswesen von Kasten zu
sprechen. Und doch! Aller Fortschritt, alle modernen Anschauungen
von den Rechten des Individuums, von der freien Selbstbestimmung,
die Staatsgrundgesetze und die modernsten philosophischen Systeme
können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß die unglück¬
lichen Geschöpfe, die Genußsucht, Not, Leichtsinn, Verführung oder
Verbrechen auf die Bahn des Lasters geführt haben, nur in den
seltensten Ausnahmefällen, in einem gar nicht nennenswerten Prozent¬
satz sich aus den umstrickenden Armen der Sünde losmachen.
Blamier’ mich nicht, mein schönes Kind,
Und grüß’ mich nicht unter den Linden.
Wenn wir nachher zu Hause sind,
Wird sich schon alles finden.
Welch feine psychologische Beobachtung in den Versen des
großen Dichters und Satirikers! Wie hat er in wenigen Worten
ein Übermaß von Grausamkeit, Verachtung und Selbstsucht gekenn¬
zeichnet, mit wenigen Strichen die Tragödie der Dirne treffend
entworfen! Süße Schäferstunden, heiße Umarmungen, höchste Lust
zu gewähren, dazu sind sie gut genug. Mag einer ein noch so
hoher Herr sein, er wird mit aufgestülptem Mantelkragen den Weg
in die dunklen Gassen des Lasters finden; aber gleich einem eklen
Wurme schüttelt er eine halbe Stunde später die Berührung des
Weibes von sich ab, das er eben noch glutvoll umfangen, wenn er
fürchten muß, ein Bekannter fange einen verräterischen Blick, ein
geflüstertes Wort auf, das seine Beziehungen zu dem Auswürfling
verraten könnte! Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der
Psychologie der Dirne, die sich leichter über die Gebote der Pflicht
und der Gesetze hinwegsetzt, weil ihr gegenüber das oberste Ge¬
bot hintenangesetzt wird: das Gebot der Achtung vor dem
Menschentum!
Archiv für Kriminalanthropologio. 27. Bd. 6
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
So also sei der Boden beschaffen, anf den dann von einer so
energischen und geistig überlegenen Person wie Begine Riehl die
Saat einer Anstiftung zu einem Verbrechen ausgestreut worden sei.
Furoht, Mitleid nnd Notlage seien die Motive gewesen, ans denen
die Mädchen die falsche Anssage abgelegt haben nnd denen normale
Menschen vielleicht hätten widerstehen können, nicht aber Prosti¬
tuierte, in denen jedes Rechtsgefühl ertötet, jede Energie gelähmt,
alle Rechtshegriffe in ihr Gegenteil verkehrt worden seien, so daß
die Zwangslage, in die sie von der Riehl gebracht seien, als eine
im gegebenen Falle unwiderstehliche bezeichnet werden müsse. Bei
Anna Christ und Marie Winkler komme überdies freiwilliger Rück¬
tritt vom Versuche in Betracht, da beide spontan vor dem Unter¬
suchungsrichter ihre falsche Aussage widerrufen hätten. Kein
Zweifel, schließt der Verteidiger, daß Richter aus dem Volke, wenn
sie über diese unglücklichen Mädchen zu urteilen hätten, sie frei¬
sprechen würden. Wenn ich den gleichen Appell an Sie, meine
Herren vom hohen Gerichtshof, richte, dann weiß ich, daß Sie
mit Freuden durch weise Begründung eines Freispruches, zu dem
ich hoffentlich durch meine bescheidenen Ausführungen beigetragen
habe, der höchsten Aufgabe des Richters entsprechen werden, zu
zeigen, daß das Recht der Juristen kein anderes ist als das der
Menschlichkeit.“
Verteidiger Dr. Hofmokl führt aus, daß sich bezüglich seines
Klienten Friedrich König das Kuriosum ereignet habe, daß er der
Mitschuld an einem Faktum angeklagt sei, das der Staatsanwalt
bezüglich der Hauptbeschuldigten Riehl zurückgezogen hat. König
sei also der Mitschuld an einem Verbrechen beschuldigt, das gar
nicht angeklagt ist. Aber selbst wenn sich der Verteidiger auf den
Standpunkt stellte, daß die Anklage in dieser Richtung gerecht¬
fertigt sei, müsse der Angeklagte mangels eines strafbaren Tat¬
bestandes freigesprochen werden. Denn das Gesetz erkläre aus¬
drücklich, daß das Delikt der Freiheitsberaubung nur auf solche
Personen Anwendung finde, denen eine Gewalt über das freiheits¬
beraubte Individuum nicht zusteht. Aber dem Vater stehe das
Recht der väterlichen Gewalt über sein Kind zu, und so könne
denn der § 93 St.G. auf König niemals Anwendung finden. Wenn
der Angeklagte sich Überschreitungen seiner väterlichen Gewalt zu
schulden kommen ließ, so könne dies nur auf zivilgerichtliohem
Wege ausgetragen werden.
Bezüglich der Übertretung des § 5 des Vagabundengesetzes
sei Dr. Hofmokl nicht in der Lage, für einen Freispruch seines
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Klienten zu plftdieren. Es sei, um einen starken Ansdrnek zu ge¬
brauchen, eine arge Schweinerei gewesen, was dieser Vater ge¬
tan habe, und deshalb sitze er hier auf der Anklagebank. Daß
die Eltern Gelder einkassieren gekommeu seien, darüber wolle er
kein Wort verlieren. Und wie hier an all den Eltern ein Exempel
statuiert werden sollte, so sei den Herren vom Gerichtshof ins Ge¬
dächtnis zurückgerufen, daß König hier für alle das Bad ausgießen
müsse. Dr. Hofmokl schließt mit den Worten: Es ist hier viel
Staub aufgewirbelt worden, und viel Schmutz hat sich aus dieser
einen Quelle ergossen. Sie mögen, meine Herren, die Angeklagten
verurteilen oder nicht — die Prostitution werden Sie nicht ab-
schaffen!
Es folgen Replik und Duplik. Die Verhandlung wird ge¬
schlossen.
Urteil.
Das k. k. Landgericht Wien hat zu Recht erkannt:
L Regine Riehl tot schuldig:
a) sie habe in der Zeit vom Jahre 1897 an, die nachbenannten Personen,
aber welche ihr vermöge der Gesetze keine Gewalt zustand, eigenmächtig ver¬
schlossen gehalten und sie auch auf andere Art, insbesondere durch Zurück¬
halten ihrer Kleider an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert
und zwar die:
1) Juliana Bernhard, 2) Anna Christ, 3) Sofie Christ, 4) Paula Denk,
&) Anna Felber, 6) Ottilie Geresch, 7) Amalia Glaser, 8) Angela Großmann,
9) Aloisa Hirn, 10) Julie Hlawatschek, 11) Marie Husek, 12) Anna Kirchner,
13) Marie König, 14) Marie Kotzlik, 15) Anna Kristof, 16) Elise Lipper, 17) Therese
Ludwiczek, 18) Eva Madzia, 19) Elise Menschik, 20) Marie Nemetz, 21) Justine
Roatschek, 22) Marie Starek, 23) Michaela Stawicka, 24) Josefine Taubmann,
25) Georgine Weinwurm, 26) Josefine Zawazal, — es habe bei den sub 2—14 und
16—22 und 24—26 genannten Personen die Anhaltung aber drei Tage ge¬
dauert, und es haben die sub 2, 3, 4, 5, 6, 16, 19, 20, 24, genannten Personen
nebst der entzogenen Freiheit noch anderes Ungemach zu leiden gehabt.
b) sie habe in dieser Zeit, die von Josefine Taubmann zur Verwahrung
übernommenen Wäschestücke, somit an vertrautes Gut, in einem 100 K. nicht
erreichenden Werte nach deren Austritte aus ihrem Hause vorenthalten und sich
zugeeignet.
c) sie habe im Juni und Juli 1906 in Wien, durch die Bitte, zu Gunsten
der Begine Riehl auszusagen und durch das Versprechen und die Verteilung
von Geschenken die sub IV a, b, c, d, e und g bezeichnete Übeltat der Anna
Christ, Soße Christ, Ernestine GOnye, Marie Hosch, Josefine Zawazal, Marie
Pokorny, sowie die Übeltat der Eva Madzia, welche am 5. Juli 1906 Ober die
Einrichtung des Riehlschen Hauses, das Leben der Prostituierten daselbst und
über die Verrechnung des Schandlohnes dem Untersuchungsrichter des k. k.
Landesgerichtes Wien unter Eid unwahre Angaben machte, somit vor Gericht
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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ein falsches eidliches Zeugnis ablegte — durch Anraten, Unterricht und Lob
eingeleitet, und vorsätzlich veranlaßt,
d) sie habe im Juni und Juli 190t» in Wien durch Versprechungen von
Geschenken bei Maria Nemetz sich um ein falsches Zeugnis, so vor Gericht ab¬
gelegt werden soll, beworben.
e) sie habe seit 1897 den nachbenannten Schanddirnen und zwar: der Anna
Christ, der Emilie Nawratil und der Justine Rohaczek zur Betreibung ihres un¬
erlaubten Gewerbes bei sich einen ordentlichen Aufenthalt gegeben.
Regine Riehl habe hierdurch begangen :
ad a) das Verbrechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit nach
§ 93 StG. und § 94 St. G.
ad C) die Übertretung der Veruntreuung nach §§ 461 und 183 St.G.
ade) das Verbrechen der Mitschuld am Betrüge nach §§ 5, 197, 199 a. StG.
ad d) das Verbrechen des Betruges durch Bewerbung um falsches Zeugnis
nach §§ 197, und 199 a. St.G.
ade) die Übertretung der Kuppelei nach § 512 a St.G.
Regine Riehl wird nach §§ 34, 35 und 94 St.-G. (höherer Strafsatz) zur
Strafe des schweren, vierteljährig durch einen Fasttag verschärften Kerkers in
der Dauer von drei und einem halben Jahre, ferner gemäß § 389 St.P.O.
zum Strafkostenersatze und gemäß § 366 StP.O. und § 1329 a. b. G.B. zum
Ersätze eines Betrages als Genugtuung für die Freiheitsentziehung und zwar an
Anna Christ per 200 K., Elise Menschik per 100 K., Angela Großmann per
100 K., Ottilie Geresch per 500 K., Georgine Weinwurm per 30t) K., an Marie
Starek per 50 K., Josephine Taubmann per 100 K., Marie Husek per 100 K.,
Marie König per looo K., Anna Felber per 50 K., Paula Denk per 200 K.
und an Therese Ludwiczek per loo K. verurteilt.
Mit den übrigen Ersatzansprüchen werden diese Personen und mit ihren
Frsatzansprüchen überhaupt: Therese Schlager, Therese Münz und Juliana
Bernhard gemäß § 306 St.P.O. auf den Zivilrechtsweg gewiesen.
II. Antonie Pollak ist schuldig:
a) sie habe seit 1897 in Wien zu der unter Ia bezeichneten Übeltat der
Regine Riehl in Ansehung der über drei Tage angehaltenen nachbezeich-
neten Personen: Anna Christ, Sofie Christ, Ottilie Geresch, Angela Großmann,
Julie lllawatschek, Therese Ludwiczek, Elise Menschik, Aloisia Hirn, Georgine
Weinwurm und Josefine Zawazal durch Bewachung und Verhinderung der Ent¬
weichung derselben Hilfe geleistet, und zur sichereren Vollstreckung dieser
Übeltat beigetragen.
b) sie habe im Juni und Juli 1906 in Wien durch die Bitte, zu Gunsten der
Regine Riehl auszusagen, respektive durch das Versprechen von Geschenken
seitens der Riehl die sub IV b, d und e bezeichnete Übeltat der Amna Christ,
Sofie Christ und Ernestine Gönye durch Anraten, Unterricht, Lob eingeleitet
und vorsätzlich veranlaßt.
c) sie habe sich im Juni und Juli 19o6 in Wien durch Versprechung von
Geschenken bei Josefine Zawazal um ein falsches Zeugnis, so vor Gericht ab¬
gelegt werden soll, beworben.
Antonie Pollak habe hierdurch begangen:
ad a) das Verbrechen der Mitschuld an der Einschränkung der persön
liehen Freiheit nach §§ 5, 93, 94 St.G.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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ad b) das Verbrechen der Mitschuld am Betrüge nach § 5, 197, 199a
StG. und
ade) das Verbrechen der Bewerbung um falsches Zeugnis nach §§ 197
und 199a St.G.
Antonie Pollak wird nach §§ 34 und 94 St.G. (höherer Strafsatz) zur
Strafe des schweren Kerkers und zwar unter Bedachtnahme auf § 55 St.G. in
der Dauer eines Jahres, verschärft mit 2 Fasttagen monatlich und nach
§ 389 St.P.O. zum Strafkostenersatze verurteilt
ID. Friedrich König ist schuldig:
a) er habe zu der unter Ia bezeichneten Übeltat der Regine Riehl an der
über drei Tage angehaltenen Marie König, seiner ehelichen Tochter, durch Mi߬
handlung derselben und durch die Drohung, sie der Besserungsanstalt zu über¬
geben, Vorschub gegeben und Hilfe geleistet
b) er habe seit dem Jahre 1902 in Wien aus der gewerbsmäßigen Unzucht
der Marie König seinen Unterhalt gesucht.
Friedrich König habe hierdurch begangen:
ad a) das Verbrechen der Mitschuld an der Einschränkung der persön¬
lichen Freiheit nach §§ 5, 93 und 94 St.G.
a d b) die Übertretung des § 5 (Dritter Absatz) des Gesetzes vom 24, Mai
1885 Nr. 89 R.G.B1., strafbar nach §§ 35 und 94 St.G. (höherer Strafsatz).
Friedrich König wird nach diesen Gesetzesstellen, unter Anwendung des
§ 55 St.G. zur Strafe des schweren, monatlich mit 2 Fasttagen verschärften
Kerkers in der Dauer von acht Monaten und nach § 389 St.P.O. zum Straf¬
kostenersatze verurteilt.
IV. Ferner sind schuldig:
a) Marie Hosch, sie habe durch die am 5. Juli 1906 dem Untersuchungs¬
richter des k. k. Landesgerichtes Wien in der Strafsache gegen Regine Riehl
als Zeuge unter Eid gemachten Angaben über die Einrichtung des Richlscben
Hauses, das Leben der Prostituierten in demselben und die Verrechnung des
Schandlohnes vor Gericht ein falsches Zeugnis abgelegt.
b) Sofie Christ, sie habe durch am selben Tage demselben Unter¬
suchungsrichter unter gleichen Umständen als Zeuge eidlich gemachten Angaben
über dieselben Umstände vor Gericht ein falsches Zeugnis abgelegt.
c) Josefine Zawazal, sie habe auch am 5. Juli 1906 vor demselben
Untersuchungsrichter über dieselben Umstände unter Eid als Zeuge Angaben ge¬
macht und hierdurch ein falsches Zeugnis vor Gericht abgelegt.
d) Ernestine Gönye, habe ebenfalls am 5. Juli 1906 vor demselben
Untersuchungsrichter über dieselben Umstände unter Eid als Zeuge Angaben
gemacht und hierdurch ein falsches Zeugnis vor Gericht abgelegt
e) Anna Christ, sie habe durch die am 5. und 16. Juli 1906 demselben
Untersuchungsrichter über die Frage ihrer Virginität beim Eintritte ihrer Behandlung
in dem Riehlschen Hause und die Umstände, unter denen sie das Haus verließ,
gemachten Angaben vor Gericht ein falsches Zeugnis abgelegt.
f) Marie Winkler, sie habe am 25. Juli 1906 in Wien durch die dem¬
selben Untersuchungsrichter gemachte Angabe, daß sie ihre Aufzeichnungen über
ihren Verdienst der Regine Riehl gezeigt habe, vor Gericht ein falsches Zeugnis
abgelegt
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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g) Marie Pokorny, sie habe durch die am 23. Juli 1906 in Wien dem¬
selben Untersuchungsrichter gemachte Angabe Ober den Verkehr des Josef
Pieß im Riehlschen Hause vor Gericht ein falsches Zeugnis abgelegt.
Hierdurch haben die ad a—g genannten Personen das Verbrechen des
Betruges nach §§ 197 nnd 199 a. StG. begangen und werden dieselben unter
Anwendung des § 54 StG. und zwar:
Marie Hosch, Sofie Christ, Josefine Zawazal und Ernestine
Gönye nach § 204 StG., Marie Winkler, Anna Christ, und Marie
Pokorny nach § 202 StG. verurteilt:
zur Strafe des Kerkers und zwar:
Marie Winkler und Anna Christ in der Dauer von 14 Tagen,
Sofie Christ, Josefine Zawazal, Ernestine Gönye und Marie Po*
korny in der Dauer von 3 Wochen und Marie Hosch in der Dauer von
4 Wochen.
Auch haben die ad a—g genannten Personen nach § 389 StP.O. die
Kosten des Strafverfahrens und Strafvollzuges zu tragen.
V. Dagegen werden freigesprochen:
A. Regine Riehl von der Anklage:
a) sie habe die 1) Marie Lang, 2) Rosa Maretschek, 3) Therese Schlager,
aber welche ihr vermöge der Gesetze keine Gewalt zustand, eigenmächtig ver¬
schlossen gehalten und sie auch auf andere Art, insbesondere durch Zurück¬
halten ihrer Kleider an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert
und habe hiedurch nach § 93 StG. das Verbrechen der Einschränkung der
persönlichen Freiheit begangen;
b) sie habe seit 1897 die von 1) Paula Denk, 2) Anna Felber, 3) Marie
Husek, 4) Sofie Janeba, 5) Rosa Maretschek, 6) Elisabet Menschik, 7) Emilie
Nawratil, 8) Malke Cbaie Neschling, 9) Therese Münz, 10) Justine Rohaczek,
11) Marie Starek, 12) Georgine Weinwurm, 13) Josefine Zawazal zur Verwahrung
übernommenen Kleider und Wäsche somit anvertrautes Gut in einem 100 K.
übersteigenden Werte nach deren Austritte aus dem Riehlschen Hause denselben
vorenthalten und sich zugeeignet und habe hierdurch das Verbrechen der Ver¬
untreuung nach § 183 StG. begangen.
c) sie habe sich im Sommer 1906 in Wien durch Versprechung von Ge¬
schenken bei Aloisia Hirn um ein falsches Zeugnis, so vor Gericht abgelegt
werden soll, beworben und habe hierdurch das Verbrechen des Betruges nach
§ 197, 199 a StG- begangen.
d) sie habe 1905 in Wien die 1) Anna Felber, 2) Marie Hosch, 3) Elise
Menschik vorsätzlich veranlaßt, mit ihrem Körper ihr unzüchtiges Gewerbe zu
betreiben, obwohl sie wußten, daß sie mit einer venerischen Krankheit behaftet
waren und zur Ausübung dieser Übeltat Vorschub gegeben und Hilfe geleistet
und habe hierdurch die Übertretung nach § 5 StG. und § 5/3 des Gesetzes
vom 24. Mai 1885 Nr. 89 R.G.B1. begangen;
e) sie habe seit 1897 in Wien der 1) Marie Bilek, 2) Malke Chaie Nesch¬
ling, 3) Elise Menschik zur Betreibung ihres unerlaubten Gewerbes bei sich
einen ordentlichen Aufenthalt gegeben und hierdurch die Übertretung nach
§ 512 a St.G. begangen.
ad a) 1 und 2; ad b) 1, 2, 4, 5, 6, 7, 9, 13; ad c), ad d) 1 und 2 und
ad e) 1, 2 — gemäß § 259/2 St.P.O.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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ad a) 3, ad b) 3, 8, 10, 11, 12 — ad d) 3 und ad e) 3 gemäß
§ 259/3 St P.O.
B. Antonie Pollak von der Anklage:
a) sie habe seit 1897 in Wien die nachbenannten Personen, über welche
ihr vermöge der Gesetze keine Gewalt zustand, eigenmächtig verschlossen ge¬
halten und sie auch auf andere Art, insbesondere durch Zurückbehalten ihrer
Kleider an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert und zwar:
1) Marie Lang, 2) Rosa Mareczek, 3) Josefine Taubmann, 4) Juliana Bernhard,
5) Paula Denk, 6) Anna Felber, 7) Amalia Glaser, 8) Marie Husek, 9) Anna
Kirchner, 10) Marie König, 11) Marie Kotzlik, 12) Annd Kristof, 13) Elise Lippcr,
14) Eva Madzia, 15) Maria Nemetz, 16) Justine Rohaczek, 17) Marie Starek,
18) Michaela Stawicka, 19) Josefine Taubmann und habe hierdurch das Verbrechen
der Einschränkung der persönlichen Freiheit begangen.
ad 1-3 gemäß § 259/2 St.P.O. und ad 4—20 gemäß § 250/3 StP.O.
b) sie habe seit 1897 in Wien durch Zuführen von Schänddirnen in das
Haus der Regine Riehl ein Geschäft gemacht und hierdurch die Übertretung
nach § 512b StG. begangen, gemäß § 259/3 St.P.O.
C. Marie Hosch von der Anklage:
sie habe die ad IV b und c bezeichnete Übeltat der Sofie Christ und Josefine
Zawazal durch die Bitte, zugunsten der Regine Riehl auszusagen, durch Unter¬
richt, Anraten eingeleitet, vorsätzlich veranlaßt und habe hierdurch das Ver¬
brechen der Mitschuld am Betrüge nach § 5, 167, 199a St.G. begangen, gemäß
§ 259/3 StP.O.
Gründe:
I. Zum Verbrechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit
(§ 93 SLG) — (Ia, II a, lila).
A. Regine Riehl
wurde bereits mit Urteil des Bezirksgerichtes Alsergrund vom 27. Jänner 1890
wegen Kuppelei nach § 512 c St.G. zu 2 Monaten Arrest, vom 25. Feber 1893
wegen Kuppelei nach § 512 a St.G. zu 4 Monaten strengen Arrest, vom 6. De¬
zember 1893 wegen Kuppelei nach § 512 a St.G. zu 4 Monaten strengen Arrest,
endlich vom 2. April 1595 wegen Kuppelei nach § 512a und b StG. abermals zu
4 Monaten strengen Arrest verurteilt und hat sie diese Strafen seinerzeit auch
verbüßt. — Trotz dieser empfindlichen Abstrafungen wegen desselben Deliktes
gab sie diese Erwerbsart nicht auf — sie hatte sich, wie aus dem bezirks¬
gerichtlichen Strafakte Reg. Nr. 185 ex 1893 hervorgeht, schon ein Kapital von
10 000 fl. erworben — und richtete nunmehr ein unter polizeilicher Kon¬
trolle stehendes Freudenhaus ein, zuerst in der Porzellangasse, sodann in
der Mohlgasse 3, Lichtensteinstraße 15 und zuletzt in der GrOne Torgasse 24;
für letztere Lokale zahlte sie einen jährlichen Mietzins von 10 000 K. und wurde
ihr laut vorliegenden steuerämtlichen Zahlungsaufträge pro 1906 eine Personal¬
einkommensteuer von einem Jahreseinkommen von 35 000 K. bemessen.
Wie aus der Instruktion für die polizeiliche Überwachung von Prostituierten
vom 17 Jänner 1900 Z. 5898/A. B. und dem Formulare für das mit den Wohnungs¬
gebern der Prostituierten aufzunehmenden „Verpflichtungsprotokoll“ hervorgeht,
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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(in 0. Nr. 66) gilt als Minimalalter einer Person, welcher ein Gesondheitsbuch
ansgefolgt werden soll, das 16. Jahr und ist die Ausstellung dieses Buches an
ein Mädchen von 14—16 Jahren der Polizeidirektion Vorbehalten; es hat sich
ferner bei minderjährigen Bewerberinnen die Polizeibehörde zu überzeugen,
ob seitens deren gesetzlicher Vertreter deren Anhaltung zu einem ordentlichen
Lebenswandel nicht zu gewärtigen sei, zu welchem Behufe diese Vertreter ent¬
sprechend behufs Einflußnahme zu verständigen sind; es ist ferner jede Prosti¬
tuierte vor Ausfertigung des Gesundheitsbuches durch den Amtsarzt zu unter¬
suchen und darf an eine geschlechtlich integre Person ein Gesundheitsbuch nicht
ausgefolgt werden; es ist ferner jeder vom Amtsarzt als geschlechtskrank er¬
kannten Person das Gesundheitsbuch abzunehmen und hat sich dieselbe behufs
Spitalaufnahme beim Domizilskommissariatc zu melden; es kann weiteres der
Wohnungsgeberin die Beherbergung von Prostituierten untersagt werden, wenn
sie sich einer Ausbeutung derselben schuldig macht oder noch nicht unter
sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Frauenspersonen zur Prostitutionsausübung
oder zum Eintritte in ihr Haus verleitet; es sind ferner die Unterkunftsorte der
Prostituierten einer ständigen sorgfältigen Überwachung zu unter¬
stellen und es hat endlich die Aufnahme des erwähnten Verpflichtungsproto-
kolles unbedingt zu erfolgen, wenn die Unterstandsgeberin 5 oder mehr Prosti¬
tuierte gleichzeitig in ihrer Wohnung beherbergen will. In diesem Protokolle
verpflichtet sich dieselbe insbesondere für eine ständige Überwachung des ge¬
schlechtlichen Gesundheitszustandes der Prostituierten, wozu auch die wöchent¬
lich zweimalige polizeiärztliche Untersuchung derselben gehört; sie ist ferner
mit verantwortlich, daß die Prostituierten das Verbot des Gassenstrichs einhalten ;
sie darf keine minderjährigen weiblichen Dienstboten halten; geistige Ge¬
tränke an Gäste dürfen nicht verabreicht werden; sie hat durch Anbringung
dichter Vorhänge oder durch Anstrich der Fenster dafür zu sorgen, daß der
Einblick in die Wohnräume unmöglich sei; auch muß es den Abgesandten der
Behörde jederzeit frei stehen, alle Wohnräume zu revidieren.
Diese Vorschriften waren daher vom Zeitpunkte ihrer Wirksamkeit auch
für das Freudenhaus der Regine Riehl in Geltung, obwohl das mit ihr auf¬
genommene Verptiichtungsprotokoll unauffindbar war. Wie, allerdings nur zum
geringsten Teile aus den tatsächlichen Zugeständnissen der Regine Riehl, ferner
aus dem vom Untersuchungsrichter genommenen Lokalaugenschein und aus
zahlreichen Aussagen der bei Riehl in den letzten 8—ü Jahren untergebracht
gewesenen Prostituierten und Dienstpersonen inklusive der Hausbesorger-Leute
mit Sicherheit sich ergibt, so bestand im letzten Hause der Regine Riehl (Grüne
Torgasse 24) folgende Fänrichtung: Das Haus war nach außen hin jederzeit ab¬
gesperrt und die Aufsicht bei dem Hauseingange dem Portier übertragen; die
im Hause verweilenden Prostituierten hatten zumeist ihre Schlafstellen in zwei
kommunizierenden Zimmern im 3. Stockwerke, woselbst maximal 16 Mädchen
(je zwei in einem Bette) untergebracht werden konnten, während für zwei Mäd¬
chen ein Zimmer im unteren Stockwerke eingerichtet war, so daß im Ganzen
zirka 18 Mädchen daselbst Unterkunft fanden. Die erwähnten zwei Zimmer im
3. Stocke hatten nur einen Ausgang in das an das Hofzimmer anschießende,
mit Kloset und Badewanne versehene Vorzimmer, die Fenster des Gassenzimmers
waren, wenigstens die unteren, mit Milchglas versehene Flügel, stets versperrt,
während die Flügel der Hoffenster zeitweise zum Öffnen und zeitweise ebenfalls
versperrt gewesen sein sollen. Die zum Vorzimmer von der Stiege ausführende
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Türe war während der Anwesenheit der Mädchen in diesen beiden Zimmern
von außen stets versperrt, so daß diese Mädchen in dieser Zeit (vom Morgen
bis znm Mittag und Nachmittags bis Abends) in diesen Räumen tatsächlich
eingesperrt waren und daher diese Räume nicht verlassen konnten.
Wie insbesondere auch die vernommenen Hausbesorger bestätigen, hatten sie
von Regine Riehl den Auftrag, keine der bei ihr untergebrachten Prostituierten
ohne Begleitung der Riehl oder ihrer Vertrauensperson, als welche zumeist
Antonie Pollak in Betracht kam, aus dem Hause gehen zu lassen und i m Hause
selbst konnten die meisten dieser Mädchen auch nur während der Speisestunden und
der Zeit des Herrenbesuches sich frei bewegen, wobei jedoch auch die Fenster
der Räume, in welchen die Mädchen mit den Herren verkehrten, vorher versperrt
worden waren.
Außerdem wurde ihnen nur ab und zu gestattet, unter Aufsicht der
Riehl oder Pollak sich einige Zeit im Garten aufzuhalten. Zu Ausgängen wurden
von Riehl gewöhnlich nur zwei Mädchen in Vergnügungslokale mitgenommen,
wobei sie, wie die vernommenen Mädchen übereinstimmend bestätigen, ein Ent¬
weichen derselben dadurch erschwerte, daß sie denselben ihr gehörigen Schmuck
oder ihr Geldtäschchen anvertraute, so daß eine Flucht gleichbedeutend, mit
Diebstahlsverdacht gewesen wäre.
Ein weiteres Erschwernis des Entweichens aus dem Hause bestand auch
in der Kleidung der Mädchen, dieselben waren zu Hause, wie alle als Zeugen
bestätigen, nur mit Hemd, Strümpfen, Schuhen, ßebeschürzen und zeitweise
auch mit Schlafröcken versehen, während ihre Straßenkleidung sich in Kästen
unter Sperre der Regine Riehl befanden, so daß die Mädchen ohne Er¬
laubnis der Riehl selbst dann nicht hätten entweichen können, wenn zufällig die
Haustüre offen gewesen wäre, weil ihre Toilette ein Betreten der Straße ohne
Gefahr der Beanstandung nicht tunlich erscheinen ließ.
Übrigens standen die Mädchen im Hause selbst noch unter der Aufsicht
und Bewachung, sei es der Riehl, der Antonie Pollak oder der Wirtschafterin.
Wie die meisten der vernommenen Mädchen, selbst das Dienstmädchen
Ernestine Gönye bestätigen, war auch die allfällige Korrespondenz der Mädchen
im Ein- und Ausgange der Kontrolle der Regine Riehl unterworfen, so daß
etwaige Versuche der Mädchen mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, um
Beihilfe zum Verlassen dieses Aufenthaltes zu gewinnen, hierdurch erschwert,
wenn nicht ganz vereitelt worden wären.
Dazu kommt noch das durch sämtliche vernommene Mädchen bestätigte
finanzielle Verhältnis derselben zur Riehl: Entweder wurde mit diesen Mädchen
beim Eintritte in ihr Haus über das finanzielle Verhältnis gar nichts vereinbart,
oder es traf die Riehl mit ihnen das Abkommen, daß ihr die Hälfte des Schand-
lobnes gehöre, während die Mädchen von der ihnen zufallenden Hälfte an sie
4 K. pro Tag für die Kost, und außerdem die Kleider und die Wäsche zu be¬
zahlen hätten. — In Wirklichkeit aber, zog Riehl Bowohl den ganzen
Schandlohn (das sogenannte Zimmergeld) als auch das den Mädchen von den
Herren geschenkte sogenannte Strumpfgeld an sich, verrechnete mit ihnen
über die ganzen Einnahmen und allfälligen Auslagen überhaupt nie, so daß
auch die Mädchen während ihres Aufenthaltes bei Riehl n i e Geldmittel be¬
saßen, demnach auch bei einem allfälligen Entweichen jeder Mittel ent¬
blößt gewesen wären, während in den Fällen, in welchen es einem Mädchen
gelang, durch Intervention von Angehörigen oder durch energisches Auftreten
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1. Der Prozeß Kiehl und Konsorten in Wien.
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die Zustimmung der Riehl zum Verlassen des Hauses zu gewinnen, demselben
ron der Riehl ein ihre beliebige geringe Abfertigung ausgehändigt wurde.
Ein weiteres Moment, welches für die Anhaltung der Mädchen gegen
ihren Willen im Hause der Riehl von erheblichem Ei nflusse war, ist darin
gelegen gewesen, daß Riehl teils tatsächlich mit einzelnen kontrollierenden
Polizeiorganen in solchen Beziehungen stand, aus welchen die Mädchen ent¬
nehmen konnten, daß sie auf die Intervention der Polizeibehörde zu ihrem
Schutze nicht rechnen dürfen und daß Riehl anderseits sich den Mädchen gegen¬
über den Anschein gab, daß sie über die Polizeibehörde verfüge, so daß
die Mädchen gegen sie daselbst nichts ausrichten würden. Die Belege hier¬
für ergeben sich sowohl aus dem Verhalten des Polizeikommissars Schmitt und
des Detektivs Josef Piß, welche sich veranlaßt sahen, wegen ihres Verhältnisses
zum Hause Riehl die Rechtswohltat des § 153 St.P.O. in Anspruch zu nehmen
als auch aus den Aussagen einzelner Mädchen (Weinwurm, Hotovy, Menschik,
Gönye, Pokorny, Zawazal, Taubmann).
Ferner werden von mehreren Mädchen grobe Mißhandlungen, welche
sie durch die Riehl und zwar zumeist dann erfuhren, wenn sie der Riehl ihren
Willen zu erkennen gaben, sich die Behandlung und Anhaltung im Hause
nicht mehr gefallen zu lassen, bestätigt und ergibt sich daraus, daß Riehl sich
einen solchen bestimmenden Einfluß auch durch ihre tätlichen Angriffe auf die
Mädchen zu verschaffen wußte, daß die meisten Mädchen es vorzogen, ohne
Widerstand die Zustände daselbst zu ertragen und selbst sich zu
naturwidrigen Leistungen von einzelnen Herren widerstrebend, verwenden
zu lassen, um einem tätlichen Konflikt mit Riehl vorzubeugen. Hier¬
für liegen eine Reihe von Aussagen solcher Mädchen vor (Sofie und Anna
Christ, Denk, Geresch, Lipper, Menschik, Nemetz, Taubmann u. a.).
Insoweit Regine Riehl diese Angaben der bei ihr untergebracht gewesenen
Mädchen und der übrigen Zeugen in Abrede stellt, konnte ihr kein Glaube bei-
gemessen werden, weil einerseits die zahlreichen Aussagen dieser Zeugen, von
welchen eine Verabredung nicht angenommen werden kann, in seltener Überein¬
stimmung sich befinden, weil ferner, wie später auszuführen sein wird, die Riehl
es unternommen hat, die Mädchen zu unwahren Angaben zu bestimmen, weil
ferner die Zustände im Riehlschen Hause schon 1903 in einem mit Weinwurm
bei der Liga gegen den Mädchenhandel aufgenommenen Protokolle in gleicher
Weise, wie dies jetzt der Fall war, geschildert wurden und weil auch aus
Zeugenaussagen der Nachbarsleute (so vom Zeugen Weber u. a.) hervorgeht, daß
die Mädchen bei Riehl gröblich mißhandelt und festgehalten wurden.
Auf Grund dieser Tatsachen und darauf bezüglicher Beweismittel, welche
bei Erörterung der einzelnen Fakten noch näher präzisiert werden, hat demnach
der Gerichtshof als erwiesen angenommen, daß die im Urteilstenor sub la
angeführten 26 Mädchen im Hause Riehl gegen ihren Willen und zwar, wie
aus ihren Aussagen und der auB den Meldezetteln vom Untersuchungsrichter ge¬
machten Tabelle hervorgeht mit Ausnahme der Juliane Bernhard, Michalina Sta-
wickaund AnnaKristof, über drei Tage eingesperrt gehalten worden sind, wozu
noch bemerkt wird, daß in Ansehung der Marie König, welche sich der Aussage
entschlug, andere Zeugenaussagen, insbesondere die des Ernst Pollak und Emil
Bader herangezogen werden mußten.
Während aber die Anklage ein besonderes Ungemach, welches dieBe
Mädchen nebst der Freiheitsentziehung erlitten haben, sowohl in der rück-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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sichtslosen Ausbeutung und in der Anhaltung einer größeren Anzahl von Mäd¬
chen in einem relativ kleinen, nur mangelhaft (wegen des Sperrverh<nisses) zu
lüftenden Raume, als auch in deren Mißhandlung und Nötigung zu ekeler¬
regenden oder schmerzhaften Dienstleistungen erblickt, konnte der Gerichtshof
nur letztere beiden Gesichtspunkte hierfür akzeptieren, weil ersteres Moment
(Ausbeutung) nur eine vermögensrechtliche Benachteiligung betrifft und in An¬
sehung der Massenunterbringung in den Schlafräumen für die konkreten
Fälle aus den Zeugenaussagen nicht mit Sicherheit zu entnehmen ist, wieviele
Mädchen in bestimmten Zeitpunkten in jedem der beiden Schlafräume unter¬
gebracht waren und wie gerade in diesen Zeitpunkten die Lüftungsverhältnisse
daselbst waren, weshalb auch dieser Qualifikationsumstand auf die sub la des
Urteilstenors bezeichneten 9 Fälle eingeschränkt wurde.
Was nun die einzelnen der sub I/a angeführten Fälle anbe-
langt, so ergibt sich noch folgender als erwiesen angenommener
Tatbestand auf Grund der unten angeführten Beweismittel.
1) Juliana Bernhard war durch Rudolf Michel, in der Meinung, einen
Dienstposten zu erlangen, im April 1906 zur Riehl gebracht, und als sie in Er¬
kenntnis dessen, w o sie sei und was man mit ihr vorhabe, die Riehl bat, sie frei¬
zulassen, wurde sie in ein Zimmer eingesperrt, nicht einmal zum Kloset
gelassen und wurden ihr die Speisen durch andere Mädchen zugetragen, trotz
Flehens und Weinens wurde sie zirka 3 Tage in dieser Weise festgehalten; in¬
zwischen hatte ihre Mutter bereits am 27. April 1906 bei dem Polizei'
kommissariate Florisdorf eine Abgängigkeitsanzeige erstattet. (Bl.Z. 1 in U.
799/6 des Bezirksgerichtes Floridsdorf) O.N. 116. Erst als die von Antonie
Pollak zum Kommissariate Alsergruud geleitete Bernhard daselbst angewiesen
wurde, zur Erlangung des Gesundheitsbuches die Zustimmung der Eltern bei¬
zubringen, sah sich Riehl veranlaßt, sie unter Aufsicht der Pollak zu ihren
Eltern zu schicken, wobei es der Bernhard gelang, von Pollak unter dem Vor¬
wände, daß ihre Mutter die Zustimmung verweigere, loszukommen.
Beweismittel; Aussage der Juliana Bernhard und Akt ex. 0. Nr. 116.
2) Anna Christ (Bordellname: „Erna“) war bei Riehl vom 7. Jänner 1905
bis 6. Juni 1906 gemeldet, kam dahin als geschlechtlich unversehrt,
wurde vor Erlangung des Gesundheitsbuches mit Näharbeiten durch zirka zwei
Monate beschäftigt und nachdem an ihr über Anordnung der Riehl eine schmerz¬
hafte Manipulation am Geschlechtsteile mit Hilfe des Mutterspiegels behufs
Deflorierung von „Steffi“ (Madzia) in Anwesenheit der Pollak, Gönye und Lotti
Deutsch vorgenommen worden war, wurde sie von Riehl veranlaßt, mit einem
Herrn geschlechtlich zu verkehren und erst nachher wurde sie zum Kom¬
missariate Alsergrund wegen Erlangung des Gesundheitsbuches geführt und so¬
dann zum Verkehr mit Männern im Salon zugelassen. Sie wurde von Riehl
öfters, einmal sogar mit einem Besenstiele geschlagen — sie bat die Riehl
wiederholt, sie wegzulassen, welche Bitte ihr abgeschlagen wurde; sie war im
3. Stocke in den schon erwähnten Zimmern der anderen Mädchen eingesperrt,
konnte nicht durchgehen, war effektiv 9 Monate daselbst und als sie einmal
davonlaufen wollte, ließ die Hausbesorgerin sie nicht aus dem Hause. Erst als
sie durch Vermittlung der Gönye ihre Mutter verständigen konnte, kam
letztere und nahm sie mit sich nach Hause. Die Pollak saß als Wachorgan
immer im Hause und forderte sie auf, die Riehl um Verzeihung zu bitten;
Pollak ging meist mit den Mädchen zur Polizei und führte sie in das Spital.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Beweismittel: Aussage der Anna Christ und der Ernestine Gönye,
Aloisia Hirn.
3) Sofie Christ („Hansi“) bei Riehl gemeldet vom 23. März bis 4. Juni
1906 — war mit anderen Mädchen im 3. Stocke unter Tags eingesperrt, zu
zweit in einem Bette, erhielt nicht die von ihrer Zimmerfrau an sie gerichteten
Briefe, wollte schon am 1. Sonntage im Mai das Haus verlassen, was ihr die
Riehl verweigerte und mit Schlägen beantwortete; schon am 3 # Tage ihrer An¬
wesenheit hatte sie der Pollak gesagt, sie möchte fort, worauf diese erwiderte,
es gehe jetzt nicht; als sie sodann mit Zawazal einen Fluchtplan entwarf, wurde
derselbe der Riehl verraten und wollte Pollak beide Mädchen wieder einsperren.
Zawazal entkam, von Pollak verfolgt; sie aber wurde wieder eingefangen, von
Riehl und Hosch geschlagen, bis Abends noch im sogenannten italienischen
Zimmer interniert und dann freigelassen.
Beweismittel: Aussage der Sofie Christ, und Josefine Zawazal, Nemetz.
und Johanna Krenn.
4) Paula Denk (Paula) bei Riehl gemeldet vom 2. August 1903 bis
16. Jänner 1904; sie war mit den übrigen Mädchen im dritten Stocke eingesperrt,
Vor- und Nachmittag, kam ab und zu in den nach außen abgesperrten Garten,
erhielt einige Briefe schon erbrochen, konnte wegen der Sperrverhältnisse das
Haus nicht verlassen, wurde durch die Bettgenossin, mit welcher sie durch
Riehl in einem Bette zu schlafen genötigt war, mit,,Krätze 44 infiziert und mußte mit
dieser Genossin zusammen in demselben Bette verbleiben, wodurch die Heilung, die
auf Selbstbehandlung angewiesen war, erheblich verzögert wurde; sie bat die
Riehl wiederholt, sie wegzulassen, was ihr die Riehl abschlug, weil sie angeblich
derselben noch Geld schuldete! Zweimal war sie wohl an Ausfahrten mit Riehl
beteiligt, wobei sie jedoch nicht fliehen konnte, weil Riehl sie mit Schmuck be¬
laden hatte und ihr im Falle des Entweichens mit der Diebstahlsanzeige drohte;
erst nach mehreren resultatlosen Fluchtplänen ließ Riehl sie durch Pollak —
ohne sie zu fragen ob sie einverstanden sei — in das Bordell Lorenz bringen,
wo sie nur 6 Tage blieb.
Beweismittel; Aussage der Paula Denk.
5) Anna Felber („Gisela“) — bei Riehl von 16. Mai 1905 bis 23. Juni
1905 gemeldet — sie war ebenfalls im 3. Stocke eingesperrt, kam während ihres
ganzen Aufenthaltes nicht aus dem stets versperrten Hause; — Riehl schlug ihr
den Ausgang mit dem ab, daß sie zuerst Geld verdienen müsse — sie mußte,
wie alle übrigen Mädchen, den ganzen Verdienst an Riehl abliefern, mußte sich
wegen des Strumpfgeldes Leibesvisitationen unterziehen, wurde von Riehl wieder¬
holt und so arg geschlagen, daß ihr die Haare ausgingen und sie Beulen und
Kopfschmerzeu erlitt, sie wurde durch den Herrenverkehr mit einem Ausschlage
behaftet — Riehl verweigerte ihr für denselben die ärztliche Behandlung, ließ
sie aber mit diesem Ausschlage zum Herrenverkehre zu. Ihr wiederholt ge¬
äußertes Verlangen, fortgelassen zu werden, verweigerte Riehl unter Schimpfen
und Schlägen. Endlich ließ Riehl sie fort, wollte sie aber zu einer Frau nach
Preßburg dirigieren, zu welchem Behufe sie die Pollak zur Bahn geleitete
und ihr die Fahrkarte löste, wogegen Riehl der Felber keinen Heller für sich
selbst mitgegeben hat.
Beweismittel: Aussage der Anna Felber.
6) Ottilie Geresch (Steffi) — bei Riehl gemeldet vom 5. Juni 1897 bis
Jnni 1900. — Kam bereits mit 14 V« Jahren zur Riehl, war tagsüber eingesperrt,
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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— das Einsperren besorgte die Pollak, Riehl oder das Dienstmädchen — Riehl
übte auch die Briefkontrolle — Geresch wurde von Riehl oft beschimpft, einmal
auch so geschlagen, daß sie krank wurde — sie äußerte oft zur Riehl, daß sie
fort wolle — Riehl lehnte es ab — ein mit 2 anderen Mädchen unternommener
Fluchtversuch mißglückte, indem die Pollak und der Hausdiener sie verfolgten,
beim Praterstern anhielten, sie in einen Fiaker warfen und in das Bordell
zurückbrachten. Ein zweiter Fluchtversuch, welchen Geresch bei der Gelegen¬
heit machte, als sie einen Papageikäfig aus dem Garten holen sollte, gelang
durch das zufällig offene Haustor; nur mit dem Schlafrocke bekleidet, flüchtete
sie in die Wohnung der Antonie Pollak, welche die Riehl jedoch von der An¬
kunft der Geresch verständigte, worauf Riehl dahin kam und diese zuerst durch
Einschüchterung und dann durch Versprechungen zur Rückkehr bewegen wollte
— jedoch ohne Erfolg. Pollak hatte von Riehl den Auftrag, auf die Mädchen
gut zu achten, dieselben auch einzusperren, das Zimmergeld in Empfang zu
nehmen und den Mädchen das Strumpfgeld abzunohmen. — Geresch war während
des Aufenthaltes bei Riehl wiederholt im Spital, von Antonie Pollak dahin be¬
gleitet und per Wagen wieder abgeholt. Pollak kam auch täglich dahin, Nach¬
schau zu halten und hatte die Kleider der Geresch vom Spitale wieder nach
Hause genommen für die Zeit des Spitalaufenthaltes derselben.
(Aussage der Geresch und Aussage der Weinwurm.)
7) Amalia Glaser („Juli“) bei Riehl vom 30. Jänner 1904 bis 31. März
1904 gemeldet, — war eingesperrt unter Tags im 3. Stocke, unterlag der Brief¬
kontrolle, wurde des Aufenthaltes überdrüßig, ersuchte die Riehl sie fortzulassen;
aber erst nach 14 Tagen gab Riehl, welcher schon früher der Bruder der Glaser
mit der Polizei gedroht hatte, die Zustimmung, wobei sie der Glaser nur einen
Schlafrock, eine Schürze und ein paar zerrissene Schuhe gab, mit welcher
Kleidung sich dieselbe entfernen mußte.
(Aussage der Amalia Glaser.)
8) Angela Großmann („Angela“) bei Riehl gemeldet vom 19. März 1904
bis 12. Juli 1904 — war mit 10—12 Mädchen in den beiden Zimmern im
3. Stocke eingesperrt, was teils Riehl, teils die Pollak besorgte — Kleider waren
versperrt, wozu Riehl den Schlüssel hatte — Zimmer- und Strumpfgeld nahm
die Riehl für sich — niemand durfte aus dem Hause — Großmann wollte ein¬
mal durchgehen, wurde jedoch von Riehl erwischt, welche ihr erklärte, sie
könne nur dann fortkommen, wenn sie sich nach Budapest verschicken lasse -
Großmann willigte ein, um wegzukommen und brachte die Pollak sie auf die
Bahn, löste ihr die Karte und wartete bis zur Abfahrt des Zuges, welchen
Großmann jedoch schon in der 2. Station nach Wien verließ und begab sie sich
nach Wien zurück. — In Pest hätte sie von einer Frau in Empfang genommen
werden sollen.
(Aussage der Großmann.)
9) Aloisia Hirn („Christi“) bei Riehl gemoldet vom 7. Mai 1904 bis
14. Feber 1905 und 6. Juli 1905 bis 2. Juni 1900. — Befand sich in den ver¬
sperrten Zimmern des 3. Stockes, wollte öfters fort, sagte dies auch der Riehl,
wollte durchgehen, wurde von der Hausbesorgerin Hölzl daran gehindert, wurde
öfters geschlagen, weil sie nicht Bchweigen konnte. — Riehl lehnte es ab, sie
fortgehen zu lassen wegen angeblicher Schulden — Pollak übte auch die Kon¬
trolle. ließ die Mädchen nicht einmal auf den Gang hinausgehen; Hirn wurde
schwanger, kam in das Spital, von wo sie die Pollak und der Hausbesorger
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I. Der Prozeß Riehl nnd Konsorten in Wien.
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abholten und in den Wagen setzten, -wobei ihr die Pollak zuredete, wieder
zurQckzukehren.
(Aussage der Aloisia Hirn.)
10) Julie Hlawatschek („Juli“) bei Riehl gemeldet vom 29. September
1905 bis 9. Juni 1906, war ebenfalls im 3. Stocke eingesperrt, durfte nicht aus-
gehen, wurde zu keiner Ausfahrt mitgenommen — Riehl drohte ihr mit Schlägen,
wenn sie fortgeht — ohrfeigte sie auch; sie war in dieser Zeit zweimal im
Spital Pollak batte sie hingebracht und abgeholt; das zweite mal wollte Pollak
sie wieder abholen — sie versteckte sich aber im Spital und wartete, bis Pollak
weggefahren war, worauf sie vom Spital entwichen ist. Pollak Buchte sie
immer zum Bleiben bei Riehl zu bestimmen, mit der Aussicht, daß sie Schmuck
bekäme.
11) Marie Husek („Olga“) bei Riehl von 7. Jänner bis 1. April 1905 ge¬
meldet, — war im 3. Stocke, so wie die Qbrigen Mädchen eingesperrt, verlangte
schon nach drei Tagen weg — Riehl drohte ihr mit dem Einsperren, wenn sie
nicht bleiben wolle und erst als sie der Riehl drohte, sie werde zum Fenster
hinausspringen oder sich umbringen, wurde sie freigelassen.
(Aussage der Marie Husek.)
12) Anna Kirchner („Cecile“) vom 19. Oktober 1904 bis 6. Juli 1906 be-
Riehl gemeldet — war im 3. Stocke mit den Qbrigen Mädchen eingesperrt,
durfte das Haus nur mit Riehl verlassen — stand unter Briefkontrolle — er¬
hielt kein Geld — und ihre wiederholte Bitte, sie fortzulasBen, wurde von Riehl
abgeschlagen; Riehl sagte ihr, wenn sie fortgebe, werde sie von der Polizei ver¬
haftet werden; einmal hatte sie sich zur Flucht Strumpfgeld versteckt, was der
Riehl verraten wurde, worauf ihr Riehl Vorwürfe machte und sich dieses Geld
(60 K.) aushändigen ließ.
(Aussage der Kirchner)
13) Marie König („Liesel“) bei Riehl gemeldet vom Mai 1902 bis 20. Jun
1906. — Kam im Alter von 16 Jahren zur Riehl durch eine Frau Hofmann,
wurde im 3. Stocke in der „Kaserne“ untergebracht, woselbst die Mädchen mit
Ausnahme des Mittags den ganzen Tag bis Abends eingesperrt waren; nach je
3 Wochen durften sie im Garten unter Bewachung der Riehl, Pollak oder
Hosch spazieren gehen — die Briefe wurden kontrolliert — bei den ärztlichen
Visiten war Riehl oder Pollak anwesend, so daß sich die Mädchen den Ärzten
nicht anvertrauen konnten; — sie erhielt von Riehl kein Geld, dagegen soll ihr
Vater von Riehl Geld erhalten haben uod wenn sie mit Riehl einen Verdruß
hatte, kam ihr Vater und dieser, sowie Riehl mißhandelten sie und
drohten ihr mit dem Arbeitshause; die König hatte einem Herrn Emst
Pollak wiederholt geklagt, daß es ihr unmöglich sei, aus dem Hause
wegzukommen, weil sie scharf bewacht werde und als sohin Emil Bader die
König aufsuchte, um ihr zu helfen, wurde ihm von Antonie Pollak geöffnet und
er sohin zur König gefQhrt, welche ihm obige Mitteilungen machte. Dem Emst
Pollak hatte sie auch blaue Flecken auf dem Rücken gezeigt, welche von
Schlägen der Riehl herrühren sollten. Antonie Pollak machte später mit dem
Vater der Riehl auch den Versuch, den Bader zur Unterlassung der Publika¬
tionen im „lllustr. Wiener Extrablatt“ zu bewegen; der Ludwiczek hatte die König
oft erzählt, sie möchte gern aus dem Hause, die Riehl lasse sie
nicht und drohe ihr immer mit dem Arbeitshause, wovor das Mädchen große
Angst 'habe. (Aussagen des Emil Bader, Emst Pollak, Therese Ludwiczek,
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Josefine Z&w&z&l, Elise Menschik); nach Pokornys Angabe war Marie König
mit ihr in der späteren Zeit in einem eigenen Zimmer im 2. Stocke untergebracht,
woselbst sie nur vormittags ständig und Nachmittags nur ab und zu eingesperrt
waren; sie und König hatten auch mitunter die Schlüssel gehabt, wobei ihnen
aber Riehl mit dem Wachmann drohte, falls sie fortgehen würden. Auch
hatte die König sich öfters dahin geäußert, sie freue sich schon, wenn sie
24 Jahre alt sein wird, daß der Vater nichts mehr mit ihr zu tun habe. —
(Aussage der Pokorny).
14) Marie Kotzlik („Hansi“) gemeldet bei Riehl vom 30. Juni 1902 bis
29. Jänner 1903 und 2. Feber 1903 bis 26. August 1903 — war im 3. Stocke
unter Tags eingesperrt, durfte das Haus nur mit Riehl verlassen, durfte sich im
abgesperrten Garten nur unter Bewachung der Riehl, Pollak und Lotti Deutsch
aufhalten — eine Flucht war unmöglich — Briefkontrolle war auch für sie —
alles Geld mußte der Riehl gegeben werden — auch sie wurde, so wie andere
Mädchen geschlagen — viele Mädchen wurden trotz wiederholter Entlassungs¬
bitten von Riebl zurückgehalten — um vom Hause wegzukommen, fügte sie sich
selbst eine Verletzung zu, damit sie in das Spital komme, worauf Riehl sie vor
dem Polizeiarzte versteckte, um sie zu Hause behandeln zu können; sie gab
aber nicht nach und kehrte vom Spital nicht mehr zur Riehl zurück.
(Aussage der Kotzlik.)
15) Anna Kristof — gemeldet bei Riehl vom Ende Mai bis 18. Juni 1902
— war zuerst drei Tage bei Riehl im 3. Stocke eingesperrt, wobei sie abschreckte,
daß die Mädchen von Riehl durch Schläge gezwungen wurden, gewissen An¬
sinnen der Herren zu willfahren — kam dann in das Spital, von welchem sie
gegen ihren Willen wieder an Riehl zurückgestellt wurde, weil sie von Riehl
dahin übergeben worden war, wollte sohin das Haus verlassen, wurde jedoch
von Riehl und anderen Mädchen geschlagen, worauf sie bei der gerade offenen
Türe ohne Hemd mit zerrissener Bluse aus dem Hause lief und zur Polizei
ging, woselbst ihr ein Dienstbotenbuch ausgefolgt wurde.
(Aussage der Kristof.)
16) Elise Lipper („Poldi“) gemeldet vom 19. April 1906 bis 11. Mai 1906
bei Riehl — war in der Kaserne im 3. Stocke eingesperrt, hatte nur einen Aus¬
gang zum Zahnarzt unter Kontrolle der Pollak und Hausbesorgerin, wurde in
ihrer Korrespondenz an ihren Vater von Riehl dirigiert, ohne daß Lipper eine
Widerrede wagte — nach 3 Wochen bat sie, die Riehl möge sie fortlassen, sonst
springe sie wohl herunter — Riehl schlug sie und rief: „Du kommst mir nicht
hinaus“ — Flucht war unmöglich und erst dadurch kam sie von Riehl los, daß
ihr Vater die Zustimmung zum Aufenthalte bei Riehl zurückzog.,— Riebl hatte
sie auch gröblich mißhandelt, indem sie die Lipper bei den Haaren zog und an
die Salontüre anschlug, so daß sich Lipper tief unglücklich fühlte.
(Aussage der Lipper.)
17) Therese Ludwiczek („Valerie“) — bei Riehl gemeldet vom 2. De¬
zember 1902 bis 16. März 1903 — war unter Tags im 3. Stocke mit anderen
Mädchen eingesperrt — Briefkontrolle bestand — keine Verrechnung — keine
Geldbelassung — Niemand getraute sich, die Riehl um Geld anzugehen, weil sie
sofort schimpfte und losschlug. Als Ludwiczek fort wollte, drohte sie ihr mit
der ihr wohlwollenden Polizei, Arbeitshaus oder Kriminal; sie heckte nun einen
Fluchtplan aus mit einem anderen Mädchen — Antonie Pollak schlich sich in
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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ihr Vertrauen, erfuhr hierdurch den Fluchtplan, begünstigte denselben scheinbar,
verriet ihn aber an die Riehl.
(Aussage der Ludwizek.)
18) Eva Madzia („Steffi“) gemeldet bei Riehl vom 3. Jänner 1903 bis
7. Juli 1906 — wurde von Riehl gegen ihren Willen im Bordelle zurückgehalten
— sie sagte der Riehl wiederholt, daß sie Weggehen wolle — Riehl ließ es
nicht zu und allein konnte sie bei verschlossenen Türen nicht entkommen, zu¬
mal sie auch nie allein das Haus verlassen durfte.
(Zweite Aussage der Madzia.)
19) Elise Menschik („Lola“) gemeldet bei Riehl vom 12. April 1904 bis
12. Juli 190 4, war auch im 3. Stock eingesperrt — Antonie Pollak war Auf¬
sichtsorgan; sie hat auch die Mädchen eingesperrt, der Menschik zum Bleiben
zugeredet; Menschik hat schon Anfangs gesagt, sie wolle fort und für die Flucht
Geld unterschlagen. — Wenn die Herren sich beklagten, daß die Mädchen
nicht alles machen wollen, beschimpfte Riehl die Mädchen — Menschik mußte
sich auch von einem „Schlagherrn“ schlagen lassen — sie muüte sich auch mit
Kognak über Auftrag der Riehl mit einem Herrn betrinken, des Absatzes wegen.
— Riehl habe sie bei der Entlassung geohrfeigt, die Pollak sei deren Fak¬
totum gewesen.
(Aussage der Menschik)
20) Marie Nemetz („Gretl“) gemeldet bei Riehl vom 25. Jänner bis
3. Juli 1906 — kam durch die Pollak zur Riehl, war in der „Kaserne“ mit
anderen Mädchen tagsüber eingesperrt, hatte keine Kleider bei sich, durfte nicht
allein ausgehen, war der Briefkontrolle durch Riehl unterworfen, mußte alles
Geld an Riehl abliefern und wurde von Riehl nicht fortgelassen; Riehl be¬
schimpfte und schlug sie immer, wenn sie nicht zu naturwidrigen Leistungen
bei den Herren herbeilassen wollte.
(Aussage der Nemetz.)
21) Justine Rohaczek („Justine“) gemeldet bei Riehl von 25. Aug. 1899
bis 14. Juni 1900 — war mit anderen Mädchen im 3. Stocke tagsüber ein-
gesperrt, empfing schon Herren, bevor sie polizeilich gemeldet wurde und das
Gesundheitsbuch erhielt; sie erhielt von Riehl nie einen Anteil vom Verdienste
— wenn Rohaczek fort wollte, drohte ihr Riehl mit dem Schub und gelang es
ihr nur durch einen großen Skandal loszukommen; Brief mit der Todesnach¬
richt über den Vater erhielt sie erst einige Tage nach dem Begräbnisse — als
die Mutter sie besuchte, wurde sie derselben als Dienstmädchen verkleidet
vorgestellt.
(Aussage der Rohaczek.)
22) Marie Starek („Vicki“) — bei Riehl gemeldet vom 23. Jänner 1899
bis 19. August 1900 — war ebenfalls in der „Kaserne“ im 3. Stocke mit anderen
Mädchen tagsüber eingesperrt — die Sperre besorgte Riehl oder die Köchin —
Riehl schlug die Mädchen, wenn sie das Strumpfgeld verheimlichten — Starek
erhielt kein Geld — Riehl verrechnete mit ihr nie — Starek wollte Weggehen,
Riehl schlug es ihr ab, weshalb Starek eine List gebrauchte, indem sie eine
Vorladung zur Polizei, wohin sie von der Hausbesorgerin begleitet wurde, be¬
nützte, um dem Beamten zu sagen, sie lege das Buch zurück und sohin der
Riehl meldete, der Beamte habe ihr das Buch abgenommen, wodurch Riehl ge¬
nötigt war, sie gehen zu lassen.
(Aussage der Starek.)
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23) Michaela Stawicka („Olga“) bei Riehl gemeldet vom 27. März 1906
bis 28. M&rz 1906, war nur zwei Tage bei Riehl, tagsüber mit anderen M&dcben
eingesperrt, wollte am 2. Tage Weggehen — Riehl verweigerte dies, drohte ihr
mit dem Wachmann, ohrfeigte sie und ließ sie endlich fort, nachdem sie der
Riehl einen Skandal gemacht hatte.
(Aussage der Stawicka.)
24) Josefine Taubmann („Bianka“) bei Riehl gemeldet vom 28. De¬
zember 1901 bis 12. Feber 1902 — war mit anderen M&dchen tagsüber ein¬
gesperrt, durfte während des 1 ‘/a monatlichen Aufenthaltes bei Riehl nicht ein
einziges Mal fortgehen, wurde von Riehl sehr brutal behandelt, geschlagen und
beschimpft, auch auf Geheiß der Riehl von anderen M&dchen so geschlagen, daß
sie krank und schwach wurde und ohne ärztliche Hilfe in einem Zimmer ein¬
gesperrt gehalten wurde; ihre Bitte, sie fortzulassen, ließ Riehl unbeachtet und
als Riehl sie wieder einmal wundschlug, drohte sie der Riehl mit der polizei¬
lichen Anzeige, worauf Riehl sie neuerlich schlug und mit Stücken und Besen¬
stielen zur Türe hinausjagte.
(Aussage der Taubmann.)
25) Georgine Weinwurm („Vicki“) — bei Riehl gemeldet von 23. J&nner
1899 bis 19. August 1900 — war bei Riehl mit anderen Mädchen tagsüber ein-
gesperrt, konnte in der Hauskleidung (Hemd, Schürze, Strümpfe, Schuhe) nicht
aasgehen, wenn auch das Sperrverh<nis nicht bestanden hätte; Riehl, Antonie
Pollak und der Hausdiener überwachten strenge alles, so daß an eine Flucht
nicht zu denken war — Briefe unterlagen der Kontrolle der Riehl — Ausgänge
fanden nur mit Riehl statt, wobei die Mädchen Schmuck und Geld zu tragen
hatten und Riehl mit der Behandlung als Diebin im Falle der Entweichung
drohte; als Weinwurms Mutter zu Besuche kam, wurde dieselbe entweder unter
Vorwänden weggeschickt, oder es konnte Weinwurm mit ihr nur vor Pollak oder
Riehl sprechen. — Weinwurm konnte von Riehl nicht loskommen, weil Riehl
behauptete, dieselbe sei ihr noch Geld schuldig und nur durch die Weigerung,
mit Herren auf das Zimmer zu gehen, erreichte sie von Riehl einen Besuch zur
Mutter, von welchem sie nicht mehr zur Riehl zurückkehrte. — Riehl sagte auch
zu den Mädchen, wenn etwas auf der Polizei los sei, erfahre sie es und wußte
sie einmal auch schon Vormittags von einer Nachmittags stattfindenden Revision,
für welche sie sodann alles vorbereitete und den Mädchen auch Kleider gab.
(Aussage der Weinwurm.)
26) J o se fine Zaw azal „Vicki“) — bei Riehl gemeldet vom 16. November 1904
bis 24. Feber 1905 und 5. April 1906 bis 5. Juni 1906 — war zweimal bei Riehl; das
erste mal hatte sie keine Klage; kam daher freiwillig das zweite mal zur Riehl, konnte
es jedoch nicht aushalten, weil sie die Freiheit schon gewöhnt war; sie war
tagsüber mit anderen Mädchen im 3. Stocke eingesperrt, erhielt vom Schandlohn
nichts — eine Bitte um einen Ausgang lehnte Riehl mit einer ihr versetzten
Ohrfeige ab — sie sagte der Pollak, daß sie durchgehen wolle; sie entwarf mit
Sofie Christ einen Fluchtplan, welcher der Riehl verraten wurde. — Riehl ließ
sie einige Tage später in den Salon holen und wollte sie schlagen, worauf
Zawazal in Hemd, Schürze und Bluse bei der zufällig offenen Haustüre aus dem
Hause lief, von der Pollak verfolgt wurde und bei der Polizei, wohin ihr Pollak
nachlief, der Pollak von Piß bedeutet wurde, zu schauen, daß Zawazal Alles
bekomme, damit nichts „herauskomme“.
(Aussage der Zawazal und Sofie Christ, Johanna Krenn.)
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 7
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98 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
Die Verteidigung der Regine Riehl hat sich in Ansehung des Verhaltens
und Vorgehens der Regine Riehl gegenüber diesen sub. 1—*26 angeführten Mäd¬
chen, die zumeist noch minderjährig waren — auf den Standpunkt gestellt daß
von einer Einschränkung der persönlichen Freiheit der Mädchen schon deshalb
nicht gesprochen werden könne, weil Riehl sich in dem guten Glauben be¬
fand, daß diese Art der Anhaltung der Mädchen, der polizeilicherseits an
sie, als Inhaberin eines Bordells, auf Grund der oben angeführten polizeilichen
Instruktionen ex 1900 und des Inhaltes des Verpflichtungsprotokolles gestellten
Anforderungen entsprochen habe, zumal auch bei keiner polizeilichen Revision
bei ihr ein Anstand erhoben worden sei. —
Diese Auflassung kann jedoch als richtig und für die Regine Riehl exkul-
pierend nicht erkannt werden aus folgenden Erwägungen:
Die erwähnte Instruktion in Verbindung mit dem Inhalte des Verpflichtungs-
protokollos bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß die bei Riehl befind¬
lichen Mädchen einerseits im Hause selbst in ihrer Bewegungsfreiheit tagsüber
gehindert, in ihrem Kontakte mit der Außenwelt durch Briefkontrolle behindert,
durch mangelhafte Bekleidung außer Stand gesetzt werden sollen, sich außerhalb
des inneren Hausraumes zu bewegen, durch Entziehung jedweder Geldmittel in
ihrer Dispositionstiihigkoit beschränkt werden sollen und schließt anderer¬
seits nicht aus, daß diese Mädchen auch das Haus verlassen können, indem
nur d i e Einschränkung bostimmt wurde, daß den Mädchen der Gassenstrich
untersagt ist, wofür die Wohnungsgeberin mit verantwortlich gemacht wird.
Daß aber die Einhaltung dieses Verbotes ohne die oben angeführten von
Riehl getroffenen einschränkenden Maßregeln möglich ist und möglich sein
muß, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung — abgesehen davon, daß die be¬
treffenden Mädchen durch die Übertretung dieses Verbotes sich selbst der straf¬
gesetzlichen Ahndung nach § 5/2 des Gesetzes vom *24. Mai 1SS5 aussetzen
würden.
Was nun die polizeibehördlichen Revisionen anbelangt, so geht aus den
Aussagen der Zeugen Dr. Merta, Dr. Kien, l>r. Schild, l)r. Zdrubek hervor, daß
solche Revisionen überhaupt selten abgehalten wurden, daß sich dieselben
hauptsächlich darauf beschränkten, ob der effektive Stand der Mädchen
dem polizeilich gemeldeten Stande derselben entspreche, daß die
Polizeibehörde hierbei nur von dem Fensterverschlusse, welcher dem Punkte 13
des Verpflichtungsprotokolles entsprach, Kenntnis erlangte, daß die Polizeiärzte,
welche allerdings regelmäßig wöchentlich zweimal das Haus besuchten, keinen
Anlaß fanden, sich mit den Einrichtungen des Hauses zu befassen, sondern
sich nur darauf b esc hrän k t e n, in einem hierzu bestimmten Lokale lediglich
den sexuellen Gesundheitszustand fcstznstellen und daß im Übrigen, wie dies aus
den gegen den Polizeiagenten Piß hervorgekommenen schweren Anschuldigungen
zu entnehmen ist, die Riehl bestrebt war, durch ein von seiner Seite
pflichtwidriges Einvernehmen mit demselben /die durch denselben im Aufträge
seiner Vorgesetzten allenfalls zu übende Kontrolle illusorisch zu machen. Daß
aber Regine Riehl sich darüber klar war. daß die von ihr in ihrem Hause für
die angehaltenen Mädchen geschaffenen Verhältnisse und Zustände nicht den
polizeilichen Anforderungen entsprechen, geht auch daraus hervor, daß sie, wie
die polizeilichen Erhebungen (Z. 2B6S) S. B. ex 1905 vorgelegt von Dr. Merta)
dartun, die diesbezüglich gegen sie erhobenen Anwürfe als unwahr bezeichnete
und wie Husch und Winkler bestätigen, schon damaP sämtliche polizeilich vor-
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
99
nommenen Mädchen veranlaßte, entgegen 1 den tatsächlichen Verhältnissen
unwahre Angaben zu machen, so daß auch die Mädchen den Eindruck
gewinnen mußten, daß gegen die Riehl erstattete Anzeigen — allerdings durch
ihre von Riehl veranlaßte Beihilfe — keinen Erfolg hätten.
In den oben dargelegten und in den Punkten 1-26 näher präzisierten
Fällen muß aber auf Grund obiger Erwägungen der Tatbestand des Verbrechens
der Einschränkung der persönlichen Freiheit im “Sinne des § 93 StG. erblickt
werden. Denn wenn sich auch die genannten Mädchen freiwillig in das Hans
der Riehl begeben haben und sich darüber klar waren oder wurden, daß sie
daselbst der Prostitution ergeben sein werden, so geht doch aus ihren glaub¬
würdigen Aussagen hervor, daß sie die schon früher bezeichneten Beeinträch¬
tigungen ihrer Bewegungs- und Dispositionsfreiheit nicht Willens waren, zu er¬
tragen, somit, wie bereits oben festgestellt wurde, gegen ihren Willen ertragen
mußten, daß aber auch Riehl, an welche sie sich wegen Behebung dieser Ein¬
schränkung wendeten und welche daher in Kenntnis ihres Bestrebens aus dem
Hause zu kommen, war, teils durch Drohungen und Mißhandlungen, teils durch
einfaches Ignorieren ihrer Bitten es dahin brachte, daß diese Mädchen ihr
Schicksal weiter ertrugen, bis eine günstige Gelegenheit sich für sie bot, um
aus dem Hause zu kommen, so daß Riehl auch das Bewußtsein der Willens¬
beugung in Ansehung dieser Mädchen haben mußte.
Sie hat demnach die Mädchen, über welche ihr nach dem Gesetze keine
Gewalt zustand und die sie auch nicht als Verbrecher, schädliche oder gefähr¬
liche Menschen zu erkennen, oder mit Grund anzusehen hatte, eigenmächtig
verschlossen gehalten und auch sonst an dem Gebrauche ihrer persönlichen
Freiheit, insbesondere durch den Toilettenzwang behindert und war sich dieses
rechtswidrigen Vorgehens auch bewußt
Wie bereits oben angeführt wurde, so erstreckt sich bei den meisten Mäd¬
chen diese Anhaltung weit über drei Tage.
Wenn in den sub. 2—6, 16, 19, 20, 24 angeführten Fällen aber auch noch
der Erschwerungsumstand des erlittenen Ungemaches als vorhanden angenommen
wurde, so gründet sich dies auf die Erwägung, daß schwere Mißhandlungen,
Manipulationen an den Geschlechtsteilen (bei Anna Christ), Nötigungen zur
Duldigung naturwidriger Ausschreitungen, sowie zum Zusammensein mit Infek¬
tionskranken (Denk), allerdings als solche Unbilden anzusehen sind, welche als
körperliches und seelisches Unbehagen oder Ungemach bezeichnet werden müssen.
Regine Riehl war demnach in diesen Richtungen nach §§ 93 und 94 St G.
schuldig zu erkennen, während in Ansehung der übrigen diesbezüglichen An¬
klagefakten der Freispruch teils infolge Rücktrittes der k. k. Staatsanwalt¬
schaft, teils Mangels der Tatbestandvoraussetzungen nach § 259/2 respektive
§ 259/3 StP.O. erfolgte.
B. Antonie Pollak
wurde bereits im Strafakte des Bezirksgerichtes Alsergrund Reg. Nr. 2319
ex 1895 laut welchem Begine Riehl sich wegen Kuppelei zu verantworten hatte,
als Aufpasserin, Avisoposten und Anwerberin von Kunden für Riehl bezeichnet
und gibt sie selbst zu, seit einer Reihe von Jahren der Riehl verschiedene
Dienstleistungen zu verrichten; sie begleitet die bei Riehl in Unterstand getretenen
Mädchen zum Kommissariate behufs Erlangung des Gesundheitsbuches, cie be¬
sorgt die Überführung der spitalbedürftigen erkrankten Mädchen in das Kranken¬
haus, kontrolliert die Dauer der Anwesenheit derselben daselbst, um sie wieder
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
abzuholen, damit sie dem Hause Riehl erhalten bleiben; sie besorgt gemein¬
schaftlich mit Riehl oder in Vertretung die Bewachung der Mädchen im Hause
indem sie dafür sorgt, daß dieselben unter Sperre bleiben und aus dem Hause,
sich nicht entfernen können; sie kontrolliert die Einnahmen der Mädchen,
welche in Verhinderung der Riehl an sie abgeführt werden müssen, sie sucht sich
in das Vertrauen der Mädchen einzuschleichen, um allfällige gegen Riehl ge¬
richtete Pläne zu erfahren und rechtzeitig derselben zu hinterbringen und sie
besorgt die Verfolgung der flüchtigen und deren Rückbringung sowie sie auch
die Riehl in Kenntnis setzt, wenn flüchtende Mädchen bei ihr ein Asyl suchen,
um der Riehl Gelegenheit zu geben, sie wieder zurückzubringen.
Alle diese, von der Pollak nur zum Teile zugestandenen Tätigkeiten sind
in Ansehung der sub Il/a des Urteilstenors bezeichneten Mädchen durch deren
glaubwürdigen Aussagen als erwiesen anzunehmen und mußte bei dem nahezu
‘täglichen Verkehr der Pollak im Hause der Riehl, der Pollak auch bekannt
sein, daß diese Mädchen über drei Tage daselbst angehalten sind, sowie auch
aus dem Verhältnisse der Pollak zur Riehl aus den zahlreichen Protesten der
Mädchen gegen ihre Anhaltung aus den vielfachen, lärmenden durch Mißhand¬
lungen der Mädchen auffallenden Auftritte im Hause und den Fluchtversuchen
und Fluchtplänen der Mädchen ihr bekannt sein mußte, daß durch das Ver¬
sperrthalten und Bewachen der Mädchen die Festhaltung derselben wider ihren
Willen, respektive die Verhindernng ihrer Entweichung bewerkstelligt werden soll.
ln dieser Tätigkeit muß aber eine werktätige Hilfeleistung der Pollak für
Regine Riehl zum Verbrechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit nach
§§ 5 und 93 und 94 StG. erblickt werden, wogegen diese Tätigkeit als nicht
ausreichend zur Mittäterschaft, wie dies die Anklage vermeint, erkannt
werden kann, weil dieselbe nicht den ganzen Komplex von Handlungen umfaßt,
welche von Riehl bedacht, beschlossen und gesetzt wurden, um den Zweck zu
erreichen, systematisch die Mädchen gegen ihren Willen festzuhalten und sie
als Ausbeutungsobjekte auszunützen und weil sie ihre Tätigkeit nur im
Aufträge der Riehl und nicht selbständig gesetzt hat.
Deshalb und Mangels der hierzu nötigen Feststellungen konnte auch nicht
— wie dies die Anklage getan hat — alle der Riehl zur Last fallenden Fakten
auch ihr imputiert werden, sondern nur jene, in welchen aus den Angaben der
eingeschlossenen Mädchen sich genügende Anhaltspunke dafür ergaben, daß
Pollak der Riehl bewußt werktätige Hilfe geleistet hatte; es sind dies aus den
oben spezialisierten Fakten die Nr. 2, 3, 6, 8, 9, 10, 17, 19, 25 und 26;
auch kann ihr bei einzelnen Fällen nicht das Ungemach zur Last gelegt werden,
nachdem nicht nachweisbar ist, daß sie hiervon Kenntnis gehabt hat.
Antonie Pollak war daher in Ansehung der sub. Il/a angeführten Fakten
schuldig zu erkennen des Verbrechens der Mitschuld an der drei Tage über¬
schreitenden Einschränkung der persönlichen Freiheit nach §§ 5, 93 u. 94 St.G.
während in Ansehung der übrigen Fakten teils über Rücktritt der Anklage, teils
Mangels des Erweises des Tatbestandes nach § 259/2 respektive nach § 259/3
St.P.O. mit einem Freispruche vorzugehen war.
C. Friedrich König,
Vater der minderjährigen Marie König, welche unter dem Bordell¬
namen „Liesl 44 durch 4 Jahre im Hause Riehl der Prostitution ergeben war,
gibt zu, seiner Tochter, welche ohne sein Wissen durch Vermittelung einer ge-
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wissen Hoffm&nn in das Haus gekommen war, nach vorheriger Weigerung, über
ihre Bitte und über Zureden der Riehl gestattet zu haben, das „Buch“
zu nehmen, wogegen sie ihm versprochen haben soll, den Schaden [zu er¬
setzen, welchen sie ihm, als sie noch schulpflichtig war, dadurch zugefügt
hätte, daß sie ihm Schande bereitet und er deshalb die Kündigung erhielt, wo¬
durch er auch die im betreffenden Hause innegehabte Kutscherstelle verlor und
3 Monate erwerbslos war. — Er gibt ferner zu, nunmehr, durch die ganzen
4 Jahre monatlich von Riehl, ä conto dieses Schadenersatzes, 5 fl., welche er
sich stets selbst abholte, erhalten zu haben, ist aber nicht in der Lage, die
Höhe dieses Schadens zu beziffern oder auch nur zu behaupten, mit Riehl oder
seiner Tochter einen bestimmten Ersatzbetrag vereinbart haben; während er nun
im Vorverfahren zuerst angab, er habe dieses von Riehl erhaltene Geld nicht
für sich verwendet, sondern dasselbe zu Hause zusammengelegt für seine
Tochter — weil er aus ihrem Schandlohn keinen Vorteil ziehen wollte — und
daß er auch bereit sei, diesen Betrag, welcher im Ganzen zirka 400 Kronen
ausmache, über gerichtliche Weisung bei der Pflegschaftsbehörde zu erlegen,
beziffert er später und bei der Hauptverhandlung den ganzen von Riehl in
4 Jahren erhaltenen Betrag mit zirka 800 respektive 1000 K., wovon er im
Oktober 1906 — also nach der Anklagezustellung — für seine Tochter bar
400 Kr. bei Gericht erlegte und will er den Rest von zirka 400 respektive
600 K. für seinen ziffermäßig nicht feststellbaren Schaden behalten haben; bei
seiner polizeilichen Vernehmung vom 23. Juni 1906 (Bl. Z. 13) hatte er diese
Schadenersatzsache nicht erwähnt, sondern zugestanden, von Riehl mehr¬
mals Unterstützungen, jedoch nicht monatlich zugesicherte Beiträge, er¬
halten zu haben, während er jetzt das Fixum zugibt und den damaligen Titel
bestreitet. — Friedrich König gab weiteres zu, der Tochter öfters bei seinen
Besuchen im Hause der Riehl Vorwürfe gemacht zu haben, wenn Riehl sich
darüber beschwerte, daß Marie König mit den Herren frech und grob gewesen
sei; — er habe ihr auch bei solchen Anlässen Ohrfeigen gegeben und ihr ge¬
droht, er werde sie, wenn sie nicht gut tue, in die Zwangsarbeitsanstalt geben;
wenn ihm seine Tochter gesagt hätte, s i e wolle nicht mehr bei Riehl bleiben,
so hätte er sie mitgenommen; so aber hätte Riehl sich ihm gegenüber ge¬
äußert, daß sie das Mädchen nicht mehr behalten wolle 1
Regine Riehl verantwortet sich dabin, Marie König habe sich bereit er¬
klärt, ihrem Vater den durch sie zugefügten Schaden zu ersetzen; sie sei wegen
des ordinären Benehmens der König öfters bemüßigt gewesen, sie zu schlagen
und habe bei größeren Krawallen auch dem Vater geschrieben, er möge kommen
und sie zu sich nehmen; wenn er sodann kam, habe er seine Tochter ge¬
schlagen, worauf dieselbe, da er sie nicht nehmen wollte, die Riehl wieder um
Verzeihung bat und Riehl sich bestimmen ließ, sie wieder ?u behalten. — Wenn
man dagegen die oben sub. Nr. 13 bei dem Faktum Marie König angeführten
Zeugenaussagen in Betracht zieht, so muß der Gerichtshof die Überzeugung ge¬
winnen, daß die Mißhandlungen und Drohungen des Vaters nicht zu diesem Be-
hufe erfolgten, damit Riehl das ungeberdige Mädchen wieder „behalte“,
sondern daß Riehl und Friedrich König diese Szenen im Einverständnisse ver¬
anstalteten, um Marie König einzuschüchtern und auf diese Weise
ihren Widerstand gegen die von beiden gewollte und beabsichtigte Fest-
faaltung derselben im Riehlschen Hause zu brechen, was ihnen auch tatsäch¬
lich gelungen ist.
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Denn wäre es ihnen nicht darum zu tun gewesen, so wäre es für Riehl
ein leichtes gewesen, [ein ihr nicht zusagendes Mädchen auch ohne väterliche
Intervention aus dem Hause zu entfernen, sowie es anderseits gewiß nicht in
der Intention eines auf das sittliche Gedeihen! der Tochter bedachten Vaters
gelegen sein konnte, eine „Besserung“ derselben in einem solchen Hause er¬
reichen zu wollen, und ihm [die Hilfe der Pflegschaftsbehörde zur Verfügung
gestanden wäre, um die angeblich moralisch verkommene Tochter auf den Weg
der Besserung zu bringen. Daß ihm aber daran gelegen war, die Tochter ge¬
rade bei Riehl fcstzubalten und daß er daher dieselbe, wenn sie wegen der
Anhaltung wider ihren Willen ungeberdig wurde, schlug und mit dem Arbeits¬
hause bedroht, findet auch seine Erklärung in der ihm von Riehl zugesicherten
monatlichen Unterstützung aus dem Schandlohne, nachdem doch die Be¬
hauptung der Ersatzforderung an die minderjährige Tochter aus der Zeit ihrer
Unmündigkeit unter den bereits erwähnten Umständen keinen Glauben verdient.
Es hat demnach der Gerichtshof auf Grund obiger Beweismittel und Er¬
wägungen als erwiesen angenommen, daß Friedrich König durch die erwähnten
Zwangsmittel der Riehl behilflich war, seine minderjährige Tochter wider
ihren Willen als Prostituierte zur Ausübuug des Schandgewerbes im Riebl-
schen Hause zu erhalten und daß [er, um daraus Vorteil zu ziehen, seine
väterliche Gewalt mißbrauchte durch Anwendung der erwähnten Zwangs¬
mittel gegen seine Tochter.
Daß aber Friedrich König auch wußte, daß seine Tochter im Hause der
Riehl in der schon früher geschilderten Weise, ebenso wie die anderen Mädchen
eingesperrt gehalten wurde und ihrer Freiheit tatsächlich beraubt war, bat der
Gerichtshof als erwiesen angenommen aus dem 4 jährigen oftmaligen Besuchen
des König im Hause Riehl, aus der von ihm zugegebenen Tatsache, daß er da¬
selbst die Tochter auch in der für die Straße ungeeigneten Toilette wiederholt
gesehen hat, daß ihm bei den Besuchen die Sperrverhältnisse des Hauses be¬
kannt geworden sein müssen, endlich aus der unbestrittenen Tatsache, daß
innerhalb 4 Jahren seine Tochter nicht ein einziges Mai in die väterliche Woh¬
nung gekommen ist.
Wenn nun von der Verteidigung des Friedrich König eingewendet wird,
daß sich derselbe als Vater und gesetzlicher Vertreter seiner minderjährigen
Tochter wegen der ihm zusteLenden väterlichen Gewalt einer unbefugten
Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit nicht schuldig machen kann und da¬
her auch an einer solchen nicht mitschuldig sein kann, so erscheint dem Gerichts¬
höfe diese Behauptung im Gesetze nicht begründet. — Die Rechte und Pflichten
der Eltern und insbesondere des Vaters sind im 3. Hauptbuche des allgemeinen
bürgerlichen Gesetzbuches geregelt; zu den Pflichten gehört auch die Sorge
für das körperliche und geistige Wohl der Kinder; zu den Rechten*, ein un¬
sittliches, ungehorsames Kind auf eine ihrer Gesundheit unschädliche Art zu
züchtigen. (§ 145 a. b. G.B.) Wenn daher der Vater das minderjährige Kind
züchtigt, weil dasselbe sich den Anordnungen der Bordellinhaberin bei Aus¬
übung des Schandgewerbes nicht fügen will, und um dadurch zu erreichen, daß
die Tochter auch fernerhin zur Ausübung des Schandgewerbes im Bordelle
verbleibe, so kann dieses Vorgehen nicht als im Ausfluß der väterlichen
Gewalt, sondern nur als ein Mißbrauch derselben angesehen werden,
welcher in § V>3 St.G. keine Stütze findet; denn die Züchtigung soll ihm zu¬
gestehen zur Behebung, nicht aber zur Beförderung der Unsittlichkeit.
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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Wenn aber weiters die Verteidigung vermeint, Friedrich König habe sich
in gutem Glauben bezüglich der Rechtmäßigkeit der Anhaltung seiner
Tochter im Hause Riehl befinden können, weil er ja von der Polizeibehörde
um seine Zustimmung zur Ausstellung des Gesundheitsbuches befragt worden
sei, so ist der Gerichtshof der Ansicht, daß ihm dieser gute Glaube nur dann
zugebilligt werden könnte, wenn es sich lediglich um einen freiwilligen, durch
keine Zwangsmittel verschärften Aufenthalt im Riehlschen Hause gehandelt
hätte, während es sich hier um die Willensbeugung der mit diesem Aufent¬
halte nicht mehr einverstandenen Tochter durch Schläge und Drohungen von
Seiten des Vaters gehandelt hat. Daß aber Marie König tatsächlich unfrei¬
willig im Hause fcstgehalten wurde, geht wohl aus den Aussagen Baders und
des Ernst Pollak unzweifelhaft hervor.
Da aber die von Friedrich König angewandten Gewaltmittel tatsächlich
den Effekt hatten, daß die Anhaltung der Marie König im Hause Riehl wider
deren Willen verlängert wurde, so stellt sich dieselbe als eine Hilfeleistung im
Sinne des § 5 des Strafgesetzbuches zur Tat der Regine Riehl (§ 93 St.G.) dar
und trifft auch der Qualifaktionsumstand der Anhaltung von mehr als drei
Tagen (§ 94 St.G.) bei Friedrich König zu, nachdem ja seine Tochter durch
4 Jahre bei Riehl sich befand und in dieser Zeit die Intervention des Vaters
zur Fortsetzung der Anhaltung wiederholt in Anspruch genommen wurde, somit
sich über einen Zeitraum von weit über 3 Tage erstreckt hat.
Friedrich König war daher des Verbrechens der Mitschuld an der Tat
der Regine Riehl nach §§ 5, 93, 94 St.G., höherer Strafsatz schuldig zu erkennen.
Da aber in dem fortgesetzten Bezüge eines Anteiles am Schandlohne auch
der Tatbestand der Übertretung des § 5 des Gesetzes vom 24. Mai
IS85 gelegen ist, nachdem Friedrich König diese Bezüge zum großen Teile für
seinen Unterhalt geßtändigermaßen verwendete, so war er auch dieser Über¬
tretung schuldig zu erkennen.
II. Zur Veruntreuung (§ 1&3 St.G., ad I/b).
Was die von der Anklage der Regine Riehl zur Last gelegten Unter¬
schlagungen von Kleidern und Wäschestücken, welche sie von den bei ihr in
Unterstand getretenen Prostituierten in Verwahrung nahm, anbelangt, so hat
sich der objektive Tatbestand nur in Ansehung der Josephine Taubmann mit
Sicherheit feststellen lassen. Diesbezüglich geht aus der vollkommen glaub¬
würdigen Aussage dieses Mädchens hervor, daß sie eine Vierteldutzendgarnitur
feiner Battistwäsche im beiläufigen Werte von 100 K. zur Riehl mitgebracht
hatte und als sie das Riehlsche Haus verließ, ihr diese Wäsche von Riehl nicht
ausgefolgt wurde; sie ging nachträglich noch zur Riehl und verlangte deren
Herausgabe, wurde aber von Riehl, Pollak und einigen Mädchen derart an¬
gegriffen und bedroht, daß sie schleunigst das Haus verlassen mußte, ohne ihre
Wäsche ;erlangt zu haben. — Hierin erscheint allerdings der Tatbestand der
Veruntreuung nach § 461 St.G. gelegen, da die Verantwortung der Angeklagten,
die Taubmann habe nur einige Fetzen mitgebracht, bei der präzisen Angabe der
Taubmann einerseits und bei der Intensität, mit welcher ihr Begehren um Rück¬
stellung ihrer Wäsche abgeschlagen wurde, keinen Glauben verdient. In An¬
sehung der übrigen Fakten erschien dem Gerichtshöfe aus den Angaben der
Beschädigten nicht genügend feststellbar, welche Effekten sie zur Riehl gebracht
hatten, in welchem Zustande sich dieselben damals befanden, ob dieselben tat-
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sächlich in Verwahrung genommen wurden, inwieweit Kompensation durch
andere Effekten beim Austritte geleistet wurde und ob und inwieweit die Be¬
schädigten nicht schon auf die Rückstellung verzichtet hatten: zum Teile hat
auch schon der k. k. Staatsanwalt die Anklage bei der Hauptverhandlung zu¬
rückgezogen und erfolgte demgemäß der Freispruch der Regine Riehl nach
§§ 259/2 u. 3 St.P.O.
III. Verbrechen des Betruges nach §§ 197 , 199a St.G. (ad 1 c, d;
II b, c und IV).
Als die Zustände im Hause Riehl durch die von Marie König an Ernst
Pollak und Emil Bader gemachten Eröffnungen infolge Vorgehens des Emil
Bader zur Kenntnis der Polizeibehörde kamen und deren Publikation im „Illust
Wiener Extrablatte 4, bevorstand, suchte Regine Riehl einerseits die Erhebungen
der Polizei zu durchkreuzen (Aussage des Polizeiagenten Johann Seidl und des
Emil Bader) anderseits auf die Unterlassung der Publikation durch ihren Vater,
Saloraon Lustig und Antonie Pollak, bei Bader einzuwirken, ohne daß sie
bei letzterem einen Erfolg hatte. Dagegen gelang es ihr, wie aus den polizei¬
lichen Erhebungen J. 35/73 P.B. zu entnehmen ist, (Polizeiaussagen der Pokorny
vom 26. Juni 1906, der Marie Hosch, bei deren Vernehmung der Polizeiagent
Piß zugegen war, — der Eva Madzia, Aloisia Stipschik, Aloisia Hirn, Josefine
Zawazal, Pauline Trzil u. a. vom 26. und 27. Juni 1906) und wie dies auch die
vernommenen Mädchen bestätigen, durch deren Depositionen — ebenso wie im
Jahre 1905 — unwahre für sie günstige Angaben zu erzielen, welche unter
anderen Umständen — wenn nicht die Publikationen im „Illust. Wiener Extra¬
blatte' 4 erfolgt und fortgesetzt worden wären, die Polizeibehörde ebenso wie im
Jahre 1905 hätten irreführen können.
Inzwischen begann die gerichtliche Untersuchung und erfolgte bereits am
5. Juli 1906 die Zeugenvernehmung der Marie Hosch (O. Nr. 16), Eva Madzia
(O. Nr. 16), Sofie Christ (O. Nr. 17), Josefine Zawazal (0. Nr. 18), und Ernestine
Gönye (0. Nr. 19) unter Eid und der Anna Christ (0. Nr. 21) unbeeidet;
weiters erfolgte die Zeugeneinvernehmen der Marie Pokorny (0. Nr. 123) am
23. Juli und der Marie Winkler am 25. Juli 1906, sowie diezweite Vernehmung
der Anna Christ als Zeuge am 16. Juli 1906. — Wie alle diese Mädchen später
und auch bei der Hauptverhandlung eingestanden haben, haben sie bei diesen
Zeugenvernehmungen in wesentlichen Punkten die Unwahrheit gesagt und seien
sie — mit Ausnahme der Winkler — hierzu durch Regine Riehl, Anna und
Sofie Christ, sowie Ernestine Gönye auch durch Antonie Pollak verleitet worden.
1. Marie Hosch gab an: „Ich hatte freien Ausgang, wir schliefen zu
zweit oder dritt in einem Zimmer, die Fenster waren unversperrt; die Korre¬
spondenz war frei, ich durfte die Briefe selbst öffnen; von dem erhaltenen
Gelde mußte ich an Riehl die Hälfte ab führen für Quartier; die andere Hälfte
blieb mir, abzüglich 4 Kronen für die Kost; das Geld stand zu meiner freien
Verfügung.“
Am 21. Juli 1906 gab Marie Hosch dem Untersuchungsrichter an, es habe
ihr Riehl am Tage, bevor sie bei Gericht erschienen sei (also am 4. Juli 1906)
gesagt, sie sollen so sprechen, wie sie bei der Polizei gesprochen haben, nach¬
dem ihr die Riehl schon vorher für die polizeiliche Vernehmung die Anleitung
gegeben hatte, daselbst zu sagen, „sie hätten zu zweit in einem Zimmer geschlafen,
Fenster und Türen seien nicht versperrt gewesen, sie haben ausgehen dürfen,
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konnten anstandslos Briefe schreiben nnd erhalten, bekamen die Hälfte vom
Schandlohne und konnten über das restliche Geld frei verfügen“ — auch habe
Ihr Riehl versprochen, wenn die Sache gut ausgehe, ihr dafür etwas zu geben.
— Zugleich erklärte die Hosch, nunmehr die Wahrheit zu sagen und erklärte
sie die als Zeuge unter Eid am 5. Juli gemachten Angaben als unwahr. —
Dabei blieb sie auch bei der Hauptverhandlung.
2. Die derzeit flüchtige Eva Madzia gab an: „Wir hatten Schlafzimmer,
in denen wir zu zweit untergebracht waren; wir konnten frei Briefe schreiben
und bekommen; ich konnte das Haus unter Tags verlassen, wann ich wollte
ohne um Erlaubnis zu bitten, auch die König konnte frei Weggehen; von den
Herren erhielt ich das Geld; meinen Tagesverdienst verrechnete ich mit der
Riehl und hatte ihr die Hälfte für die Wohnung abzuführen; die andere Hälfte
behielt ich für mich und hatte ihr für die Kost pro Tag 4 K. zu bezahlen; der
Rest blieb mir zur freien Verfügung.“ —
Am 24. Juli 1906 gab Eva Madzia bei dem Bezirksgerichte Bielitz an, es
sei diese Aussage eine wissentlich falsche gewesen; bevor sie zu Gericht ge¬
gangen sei, habe Riehl sie in den Salon gerufen und sie genau instruiert, wie
sie daselbst aussagen soll, sie solle alles entgegen der Wahrheit sagen, wofür
ihr die Riehl Schmuck und Toiletten versprach und ihr auch am 6. Juli —
also nach der Einvernehmung — als Belohnung eine goldene Uhr gab. —
Madzia erklärte sohin, nunmehr die Wahrheit zu sagen und bezeichnete sie
ihre obigen Zeugenangaben als unwahr. — Riehl habe ihr auch schon vor der
polizeilichen Vernehmung eingeschärft, dort nicht die Wahrheit zu sagen.
3. Sofie Christ gab an: „Die Riehl hat mich immer gut behandelt; ich
sah nie, daß andere Mädchen mißhandelt wurden; ich schlief mit einem zweiten
Mädchen in einem Zimmer; die Fenster waren nicht versperrt; die Korrespon¬
denz war frei; ich konnte unter Tags ausgehen, wann ich wollte; ich habe im
im Ganzen nur 75 fl. eingenommen; als ich das Haus verließ, gab mir die Riehl
aus freien Stücken 35 fl., je sechs Hemden, Hosen und Corsettes, 3 Paar
Strümpfe, 2 Paar Schuhe, 2 Kleider, 3 Hüte; sie hat gesagt, daß sie bei mir
darauf gezahlt hat, was stimmt.“
Am 17. Juli 1906 gab Sofie Christ vor dem Untersuchungsrichter an, daß
diese Angaben unwahr seien; sie habe dieselben gemacht, weil am Sonntag
den 24. Juni Nachmittags die Po Hak in ihre Wohnung kam, sie aufforderte,
wegen einer gerichtlichen Aussage zur Riehl zu kommen, sie solle gut für
Riehl aussagen; auch gab ihr die Pollak sofort 10 fl. und versprach ihr, daß
sie auch Kleider bekomme. Riehl sagte ihr dann in Gegenwart der
Pollak, sie müsse bei Gericht gut für sie aussagen, sie würde es nicht be¬
reuen, Riehl gab ihr sohin 10 fl. und sagte ihr, sie müsse sagen: „sie sei gut
behandelt worden, die anderen Mädchen seien auch nicht mißhandelt worden,
Fenster und Türen waren offen, die Mädchen konnten frei ausgehen, durften
Briefe schreiben und empfangen, der Schandlohn sei geteilt worden, Riehl habe
ihr beim Verlassen des Hauses Geld und Kleider gegeben.“
Sie sei dann noch öfters zur Riehl gegangen und habe ihr dieselbe noch
zirka 4 mal je 5 fl. und einmal 10 fl. gegeben; auch habe ihr dieselbe ver¬
sprochen, ihr nach durchgeführter Gerichtsverhandlung 50 fl. zu geben.
4. Josefine Zawazal gab an: „Schreiben durfte ich frei, Utensilien er¬
hielt ich von Frau Riehl gegen Bezahlung, der Lohn, den ich von den Besuchern
erhielt, wurde zwischen mir und Riehl gleich geteilt; von meiner Hälfte hatte
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ich 2 K. für Kost und 2 K. für Licht zu bezahlen. Kleider, Wüsche, Schuhe
mußte ich ihr bezahlen; beim Austritt erhielt ich von ihr mein ganzes Guthaben.
Wir hatten nach vorausgegangener Meldung Nachmittags freien Ausgang —
die Schlafzimmer waren für je 2 Mädchen bestimmt.“
Am 17. Juli 1906 gab Zawazal vor dem Untersuchungsrichter an, daß sie
diese Angaben als falsche, auf Anstiften der Riehl gemacht habe. —
Riehl habe sie am 24. Juni durch die Pollak holen lassen, sagte ihr, sie solle
gut für sie aussagen, gegen die „Lisi“ (König) auftreten, sie würde dafür
Kleider und Schmuck bekommen; später schärfte ihr die Riehl ein, bei Gericht
zu sagen, daß die Mädchen zu zweit in einem Zimmer schliefen, daß sie Briefe
schreiben und bekommen konnte, ausgehen konnte wann sie wollte, daß Riehl
das Geld mit ihr teilte. — Riehl gab ihr sofort 5 fl. und am 5. Juli nach
ihrer Vernehmung wieder 5 fl.
4a) Am 6. Juli brachte ihr die Pollak 15 fl., Kleider und Wäsche und
sagte, wenn wieder etwas komme, solle sie nur für die Riehl gut aussagen, sie
werde noch Schirm und dgl. bekommen; diese Bewerbung hatte jedoch keinen
Erfolg. —
5. Ernestine Gönye, welche als Dienstmädchen bei Riehl von De¬
zember 1902 bis Juli 1906 bedienstet gewesen war, gab an: „Die Mädchen waren
zu zweit untergebracht; sie gingen unter Tags frei aus dem Hause; niemals
wurden Mädchen eingesperrt; mir ist nicht bekannt, daß Mädchen versteckt
oder geprügelt wurden; die König ging öfters frei aus dem Hause.“
Am 24. August 1906 gab Gönye vor dem Untersuchungsrichter an, die Riehl
habe ihr vor ihrer am 5. Juli erfolgten gerichtlichen Vernehmung gesagt, sie
müsse sagen, so wie oben angegeben ist und als ihr Gönye erwiderte, daß dies
alles nicht wahr sei erwiderte Riehl: früher sei das allerdings nicht wahr ge¬
wesen, jetzt aber, seit der polizeilichen Revision entspreche es der Wahrheit;
auf Gönyes Frage, was sie sagen solle, wenn sie gefragt werde, was früher ge¬
wesen sei, erwiderte Riehl, darum würde sie nicht gefragt werden; es werde ihr
Schade nicht sein, wenn sie für Riehl gut aussage. — Auch die Pollak habe
ihr zugeredet, so auszusagen, denn wenn sie so aussagen würde, wie es früher war
und man würde dann sehen, daß cs jetzt nicht mehr so sei, würde man glauben,
sie habe gelogen und man würde sie einsperren. Demzufolge habe sie obige
falsche Aussage auch darüber, wie es früher gewesen sei, gemacht.
6. Anna Christ gab an a) am 5. Juli: Sie habe schon vor dem Ein¬
tritte bei Riehl geschlechtlichen Verkehr gehabt; sie hätte freien Ausgang haben
können, von ihrem Lohne mußte sie die Hälfte an Riehl ablicfern; von ihrem
Gelde zahlte sie sich Schmuck, Poudre und Schminke; beim Verlassen des
Hauses gab ihr Riehl den Rest ihres Guthabens von lo K.; da sie sich für
krank hielt, ersuchte sie mit Zustimmung der Riehl brieflich ihre Mutter, sie
abzuholen und wurde sie ihrer Mutter schlankweg übergeben; die Mißhandlungen
die sie durch Riehl erlitt, erstreckten sich auf einige Püffe.“
b) am 16. Juli: „Ich bleibe dabei, daß ich keine Jungfrau mehr war, als
ich zur Riehl kam.“
Am 7. August 1906 erschien Anna Christ freiwillig vor Gericht und ge¬
stand, daß sie bei obigen Aussagen bewußt unrichtige Angaben gemacht
habe. Sie sei noch Jungfrau gewesen, als sie zur Riehl kam; die Riehl habe
siebei den nichtigsten Anlässen geschlagen; bei der Behandlung mit dem Mutter¬
spiegel sei ihr Hymen zerstört worden; Riehl habe sie auch mit dem Besen-
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stiele geschlagen, und ihr abgeschlagen, sie wegzulassen. Als sie schon bei ihrer
Mutter war, holte sie die Pollak zur Riehl und ging sie mit beiden in der Hahn¬
gasse auf und ab; Riehl bat sie, vor der Polizei und bei Gericht ausdrücklich in
Abrede zu stellen, daß sie noch als Jungfrau in das Haus gekommen sei, die Be¬
handlung mit dem Mutterspiegel in Abrede zu stellen, zu sagen, daß alle Türen
offen gewesen seien und nur das Beste von ihr zu erzählen. Auch die Pollak
redete ihr zu, gut auszusagen; sie würde glücklich werden. — Dadurch sei sie
veranlaßt worden, am 5. Juli falsch auszusagen. —
Nach der Vernehmung vom 5. Juli bat Riehl neuerlich, für sie günstig
auszusagen, falls sie nochmals vernommen werde und schickte ihr 10 fl., ver¬
sprach ihr, für sie und ihr Kind zu sorgen, worauf sie am 16. Juli wieder
falsch aussagte.
7. Marie Pokorny gab an: „Piß kam öfter in das Haus; ob er auch
als Gast verkehrte, weiß sie nicht; ihr ist nichts davon bekannt, daß Piß mit
Mädchen auf das Zimmer ging und nicht zahlte; mit ihr sei er nicht auf dem
Zimmer gewesen.“
Am 21. September 1906 gab Pokorny dem Untersuchungsrichter an. die
Riehl müsse schon vor dem Erscheinen der Polizei Anfangs Juli gewußt haben,
daß dieselbe zu ihr kommen werde und bat alle Mädchen, zu sagen, daß sie nie
eingesperrt waren, daß Riehl immer mit ihnen gerechnet habe, daß sie allein
ausgehen durften, wofür Riehl den Mädchen Wäsche, Kleider und Geld ver¬
sprach. — Zu ihr habe Riehl auch gesagt: „Was du auf der Polizei gesagt
hast, mußt du auch bei Gericht sagen.“ Sie habe daher, ebenso wie die anderen
Mädchen bei der Polizei falsche Angaben gemacht.
Da aber Riehl den Piß schonen wollte, so habe sie über ihn obige unwahre
Angaben gemacht; denn sie wisse von Piß bestimmt, daß er öfters bei Tag und
auch bei Nacht mit Mädchen auf dem Zimmer war und über Anordnung der
Riehl nichts zahlte.
8. Marie Winkler gab an: „Seit Jänner 1906 schrieb ich mir alles auf,
was ich verdient hatte; ich zeigte ihr (Riehl) ab und zu meine Aufzeichnungen
und sie sagte nur: „Es ist schon gut.“ Am 27. August 1906 schrieb Winkler
dem Untersuchungsrichter, sie bitte ihn, in ihrem Protokolle das von den Zetteln
wegzulassen, Frau Riehl wisse gar nichts davon und bei ihrer hierüber am
15. Septembor 1906 erfolgten Vernehmung erklärte sie, daß ihre erste Zeugen¬
aussage (vom 25. Juli) in einem Punkte falsch war; denn sie habe der Riehl
ihre Aufzeichnungen über ihren Verdienst nie gezeigt und Riehl habe nie mit
ihr gerechnet.
9. Durch die vollkommen glaubwürdige Aussage der Marie Nemetz er¬
scheint ferner festgestellt, daß Riehl, als das Haus gesperrt wurde, auch zu ihr
sagte, sie müsse bei Gericht sagen, sie (die Mädchen) seien nicht eingesperrt
gehalten worden, sie batte den Schandlohn mit ihr geteilt, sie sei von Riehl
nicht mißhandelt worden; sie (Nemetz) habe auch, wie die übrigen Mädchen dem
im Hause der Riehl erschienenen Polizeibeamten diese falschen Angaben ge¬
macht, habe aber bei Gericht (wie ihr Zeugenprotokoll dartut) die Wahrheit
gesagt.
Regine Riehl und Antonie Pollak stellen entgegen diesen Geständnissen
der genannten Mädchen, die Verleitung derselben, beziehungsweise die Be¬
werbung bei denselben betreffs der falschen, zum Teile eidlichen Aussage in
Abrede und verantwortet sich insbesondere Riehl dahin, daß die Mädchen zu
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den für sie ungünstigen Aussagen vermutlich durch Baders Vorgehen be¬
einflußt worden seien. Diese Verantwortung erscheint jedoch vollständig haltlos,
wenn man erwägt, daß die Mädchen zuerst die für Riehl günstige Aus¬
sage als Zeugen ablegten und erst später als B eschuldigte gestanden,
früher falsche Aussagen abgelegt zu haben und wohl nicht angenommen werden
kann, daß die Mädchen sich durch Bader hätten soweit beeinflussen lassen,
sich fälschlich unwahrer Zeugenaussagen zu beschuldigen. — Dazu kommt, daß
die Angaben, welche diese Mädchen als Beschuldigte machten, mit den zahl¬
reichen Aussagen der als Zeugen vernommenen, übrigen bei Riehl angehalten
gewesenen Prostituierten übereinstimmen, so daß daher der Gerichtshof die
Überzeugung gewonnen hat, daß die von den Mädchen abgelegten Zeugenaus¬
sagen tatsächlich wissentlich falsche Angaben enthielten und daß diese Mädchen
— mit Ausnahme der Winkler — tatsächlich von Riehl respektive auch
von Pollak verleitet wurden, respektive, daß sich auch Riehl bei Nemetz und
Pollak bei Zawazal um eine falsche Aussage bewarb, ohne daß diese Bewerbung
noch einen Erfolg gehabt hat. —
Insoweit die Zeugenaussagen unter Eid abgelegt wurden, erscheinen auch
Riehl und Pollak hierfür mitverantwortlich, weil sie ja bei jeder gerichtlichen
Vernehmung eines Zeugen mit der Möglichkeit der eidlichen Einvernehmung
rechnen mußten, nachdem dieses Moment nicht dem freien Willen des Zeugen,
sondern der Beurteilung des vernehmenden Richters überlassen bleiben muß.
Aus der Verantwortung der Hosch und der Gönyc geht übrigens auch her¬
vor, daß Riehl schon bei der Besprechung mit ihnen mit der Eventualität der
eidlichen Zeugenvernehmung rechnete.
Die Verteidigung der Anna Christ und Marie Wiükler vermeint,
daß deren falsche Zeugenaussagen infolge freiwilligen Rücktrittes straflos ge¬
worden seien. — Dieser Auffassung kann jedoch nicht beigepflichtet werden. —
Denn jede dieser Vernehmungen (bei Anna Christ am 5. und 16. Juli und bei
Winkler am 25. Juli) war vollständig abgeschlossen; es hat auch Anna Christ
bei ihrer am 16. Juli erfolgten zweiten Vernehmung noch nichts von der falschen
Aussage vom 5. Juli erwähnt, sondern hatte dieselbe noch bekräftigt und es hat
die Winkler bei ihrer am 25. August 1906 erfolgten zweiten Einvernehmung
auch nichts erwähnt von den falschen Angaben des 25. Juli; es ist demnach bei
Christ vom Zeitpunkte der falschen Aussage bis zuA Widerrufe ein Zeitraum
von mehreren Wochen und bei Winkler von mehr als einem Monat verstrichen,
so daß es nur einem besonderen Zufalle und einer besonderen Vorsicht des
Untersuchungsrichters zu verdanken war, daß nicht schon auf Grund der mehr¬
fachen falschen Aussagen eine günstige Erledigung für Riehl erfolgt ist.
Es waren daher sämtliche in dieser Richtung angeklagte Personen schuldig
zu erkennen und zwar Marie Hosch, Sofie Christ, Josefine Zawazal und Ernestine
Gönye wegen Ablegung falscher eidlicher Aussagen, Anna Christ, Marie Winkler
und Marie Pokorny wegen falscher Zeugenaussagen nach §§ 197 und 199aSt.G.,
ferner Regine Riehl und Antonie Pollak wegen Verleitung zu falschen Zeugen¬
aussagen u. z. Riehl in Ansehung der sub. 1—7 genannten Mädchen, sowie
Antonie Pollak in Ansehung der sub. 3, 5 und 6 genannten Mädchen, ferner
der Bewerbung um falsche Zeugenaussagen u. zw. Riehl bei Marie Nemetz und
und Pollak bei Zawazal nach §§ 5, 197, 199 a. St G. respektive 197, 199 a. StG.
Dagegen hatte ein Freispruch zu erfolgen in Ansehung der Bewerbung der
Riehl um eine falsche Aussage bei Aloisia Hirn nach § 259/2 StP.O., ferner
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
109
in Ansehung der Yerleitnng der Sofie Christ und Josefine Zawazal zu falschen
Zeugenaussagen durch Marie Hosch nach § 259/3 St.P.O., weil einerseits
Zawazal selbst hierüber keine Angaben machte und die Behauptungen der Sofie
Christ keine verläßliche Grundlage bilden konnten, nachdem die angebliche
Äußerung der Hosch auch die Auffassung zuläßt, daß Hosch nur die Meinung
ausdrücken wollte, darüber, was der Christ von Riehl geschehen würde, wenn
sie die Wahrheit sagen würde, ohne hiermit eine Beeinflussung beabsichtigt zu
haben, zumal ja auch sie selbst durch Riehls Einfluß zur selben Zeit sich zur
falschen Aussage verleiten ließ.
IV. Übertretung der Kuppelei nach § 512 St.G. (I/e, V B/b).
1. In Ansehung der Regine Riehl hat der Gerichtshof auf Grund
der Aussagen der bei ihr untergebracht gewesenen Prostituierten Anna Christ,
Emilie Nawratil und Justine Rohaczek als erwiesen angenommen, daß ihnen
Riehl schon vor deren polizeilichen Meldung und vor Ausstellung des Gesund¬
heitsbuches den Verkehr mit Herren zur Ausübung des Schandgewerbes ge¬
stattete, wodurch der Tatbestand der Kuppelei nach § 512 a St.G. gegeben er¬
scheint. Dagegen war ein Freispruch zu fällen in Ansehung der Marie Billek
und Malke Chaje Neschling nach § 259/2 St.P.O. und betreffs der Elise Men-
schik nach § 259/3 StP.O., weil letztere nicht mit voller Sicherheit aufrecht
halten konnte, ob sie schon vor der polizeilichen Meldnng mit Herren bei Riehl
in Verkehr getreten ist.
2. In Ansehung der Antonie Pollak konnte der Tatbestand der
Kuppelei nach § 512/b St.G. durch geschäftsmäßiges Zuführen von Schanddirnen
mit Rücksicht auf die wenigen ihr mit Sicherheit zur Last zu legenden Fälle
nicht festgestellt werden (§ 259/3 St.P.O).
V. Übertretung nach § 5 des Gesetzes vom 24. Mai 1885
Nr. 89 - R.G.B1. (ad Va/d und Illb.).
1. Regine Riehl wurde auch beschuldigt, in Ansehung der Anna Felber
Marie Hosch und Elise Menschik den Verkehr mit Herren, obwohl sie mit
venerischer Krankheit behaftet waren, zugelassen zu haben; betreffs Felber und
Hosch erfolgte der Rücktritt von der Anklage; betreffs Menschik war der
Charakter der Krankheit nicht mit Sicherheit festzustellen, weshalb der Freispruch
nach § 259/3 StP.O. erfolgte.
2. Die dem Friedrich König zur Last gelegte Übertretung nach Ab¬
satz 3 des § 5 des obigen Gesetzes wurde bereits sub I C am Schlüsse erörtert
und wird darauf verwiesen.
VI. Strafzumessung.
1. In Ansehung der Regine Riehl.
Die Strafe ist zu bemessen nach §§ 34, 35 und § 94 St.G. (höherer
Strafsatz.) —
Erschwerend ist: 1. Die oftmalige Wiederholung der Freiheitsein¬
schränkung und Fortsetzung derselben durch eine Reihe von Jahren; 2. die
Begehung dieses Deliktes an zumeist noch minderjährigen Personen ; 3. die zwei¬
fache Qualifikation dieses Deliktes nach dem höheren Strafsatze des § 94 St.G.,
4. die Vorstrafen wegen Kuppelei; 5. der Umstand, daß das Vorgehen haupt-
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110
I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
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sächlich auf rücksichtslose Ausbeutung unerfahrener Mädchen gerichtet war:
6. die Konkurrenz zweier Verbrechen mit zwei Übertretungen; 7. die Verleitung
mehrerer Mädchen zur falschen Zeugenaussage und die Bewerbung um eine
falsche Aussage bei Nemetz, damit konkurrierend; 8 . der Umstand, daß 68 sich
zum Teile um eidliehe falsche Aussagen handelte.
Mildernd ist: das teilweise Geständnis des Tatsächlichen.
In Abwägung dieser Erschwerungs- und Milderungsumstände erschien dem
Gerichtshöfe eine dreiundeinhalbjährige schwere, 1 / a jährig mit einem Fasttage
verschärfte Kerkerstrafe als dem Verschulden der Regine Riehl angemessen.
2. ln Ansehung der Antonie Pollak.
Die Strafe ist zu bemessen nach § 34, 94 St.G. (höherer Strafsatz.)
Erschwerend ist: 1. Die Wiederholung ihrer Beteiligung an der Frei-
heitbescbränkung und 2. die Fortsetzung durch längere Zeit; 3. die Konkurrenz
zweier Verbrechen; 4. die Wiederholung der Verleitung zu falscher Zeugenaus¬
sage und Konkurrenz mit der Bewerbung um eine falsche Aussage beiZawazal;
5. der Umstand, daß es sich zum Teile um eidliche falsche Aussage handelt. —
Mildernd: 1. Unbescholtenheit und 2. Geständnis des Tatsächlichen, aller¬
dings nur zum geringen Teile.
Außerdem war nach § 55 StG. zu berücksichtigen, daß Pollak für einen
alten, erwerbsunfähigen Mann zu sorgen hat und erschien demnach eine ein¬
jährige schwere, monatlich mit 2 Fasttagen verschärfte Kerkerstrafe ihrem Ver¬
schulden angemessen.
3. ln Ansehung des Friedrich König.
Die Strafe ist auszumessen nach § 35 und 94 St.G. (höherer Strafsatz),
Erschwerend ist: l. die längere Fortsetzung der Beteiligung an der
Freiheitsbeschränkung seiner Tochter; 2. die schwere Pflichtverletzung gegen¬
über dem eigenen Kinde verbunden mit 3. dem Mißbrauche der väterlichen Ge¬
walt zu groben Mißhandlungen der Tochter; 4. die Konkurrenz des Verbrechens
mit einer Übertretung.
Mildernd: 1. Geständnis des Tatsächlichen; 2. wegen Verbrechens noch
nicht bestraft.
In Berücksichtigung der Erwerbs- und Familienverhältnisse wurde auch
§ 55 St.G. angewendet und eine achtmonatliche schwere, mit 2 Fasttagen monat¬
lich verschärfte Kerkerstrafe als dem Verschulden entsprechend erkannt.
4. In Ansehung der Marie Hosch, Anna und Sofie Christ,
Josefine Zawazal, Ernestine Gönye, Marie Pokorny und
Marie Winkler.
Die Strafe ist auszumessen nach § 204 St.G. bei Hosch, Sofie Christ,
Zawazal und Gönye und nach § 202 St.G. bei Anna Christ, Winkler und
Pokorny.
Erschwerend wurde kein Umstand angenommen.
Mildernd: bei allen 7 Angeklagten: das aufrichtige, unumwundene Ge¬
ständnis und die intensive Einwirkung der Regine Riehl auf die durch den
Aufenthalt im Hause Riehl und die daselbst erlittene Behandlung in ihrer Be-
urteilungs- und Willenskraft geschwächten Mädchen. — Bei Anna Christ und
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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.
111
Winkler außerdem noch die Selbstanzeige; bei Hosch, Anna und Sofie Christ,
Winkler und Pokorny die Unbescholtenheit; bei Hosch, Anna und Sofie Christ,
Winkler und Zawazal auch noch das jugendliche Alter.
Demgemäß wurde bei allen 7 Angeklagten von § 54 St.G. und zwar bei
Hosch, Sofie Christ, Zawazal und Gönye auch in der Strafart, Gebrauch gemacht
und bei Winkler und Anna Christ eine 14 tägige, bei Sofie Christ, Gönye,
Pokorny und Zawazal eine 3 wöchentliche und bei Hosch eine 4 wöchentliche
Kerkerstrafe als angemessen erachtet.
5. Privat ree htliche Ansprüche und Strafkostenersatz.
Der Vertreter der Privatbeteiligten, welche sich noch vor Beginn der
Hauptverhandlung dem Strafverfahren angeschlossen haben, hat die oben spezia¬
lisierten Ersatzansprüche gestellt, welche zum Teile auf Verdienstentgang,
Effektenersatz und zum Teile auf Genugtuung für die Freiheitseinschränkung
gerichtet waren.
In letzterer Richtung erachtete sich der Gerichtshof auf Grund der Be¬
stimmungon des § 1329 a. b. G.B. für berechtigt, den Betreffenden, insoweit aus
dem Verfahren eine genügende Grundlage sich ergab, die oben angeführten Be¬
träge zuzusprechen, wogegen die weiteren Ansprüche als nicht mit Sicherheit
ziffermäßig feststellbar auf den Zivilrechtsweg zu weisen waren.
Nachdem der Anspruch nur gegen Regine Riehl gerichtet war, so konnte
auch der Zuspruch nur gegen sie erfolgen.
Der Ausspruch betreffend den Strafkostenersatz ust in § 3S9 St.P.O.
begründet
Wien, am 7. November 1906.
Der Vorsitzende: Der Schriftführer:
Dr. Feigl m. p. Dr. Nahrhaft m. p.
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II.
Die I. K.Y. und die Kommission f. d. Reform der St.P.O. *)
Von Hans Gross.
Das vorliegende Werk ist als ein kostbarer Grundstein für die
künftigen strafprozessualen Arbeiten aller Kulturvölker anzusehen.
Eine solche Fülle theoretischen Wissens und reicher praktischer Er¬
fahrung wird nicht leicht in einem Buche vereint sein und so ist es un¬
möglich dasselbe bei irgend einer prozeßualen Arbeit unbenutzt zu lassen.
Ich bedaure lediglich, daß die Österreich. St. P. 0. und die in Ost¬
reich gemachten Erfahrungen verhältnißmäßig wenig Berücksichtigung 1
gefunden haben; gestreift wurden öster. Bestimmungen allerdings
z. B. von Schmidt (p. 199), Fuhr (p. 83), Goebel (p. 367), Thiersch
(p. 207), etc. aber genauer untersucht nur von Rosenfeld (p. 321,
namentlich 655). Ich bedaure dies nicht als Österreicher, sondern
deshalb, weil ich weiß, daß die österr. St.P.B. trotz vieler Fehler
und Mißgriffe überaus anregend und klärend wirken müßte: ist sie
doch vielfach reichsdeutschen Ursprunges und hat sie sich die For¬
schungen älterer deutscher Prozeßualisten (namentlich Zachariae und
Plank) zu Nutzen gemacht. Es wären manche mühsame Erörterungen
überflüssig geworden und manche Zweifel wären zu lösen gewesen,
wenn man einen Blick auf österr. Erfahrungen geworfen hätte. Aber
dies nur nebstbei gesagt: im Übrigen ist das Werk von größter Be¬
deutung und unabsehbarem Wert. Seine Entstehungsgeschichte beruht
auf der Überzeugung der J. K. V., daß sie sich mit den Protokollen
der Komm, für die Reform des Strafprozesses befassen und zu ihnen
Stellung nehmen müsse. Die Deutsche Landesgruppe beauftragte
1) Reform des Strafprozesses. Kritische Besprechungen der
von der Kommission für die Reform des Strafprozesscs gemachten
Vorschläge unter Mitwirkung von O.L.G.R. Henry Cornelius und
cons. auf Veranlassung der Internat, krim. Vereinigung, Gruppe
Deutsches Reich, herausg. von Dr. P. F. Aschrott, Landesgerichts¬
direktor a. D., Berlin 1906. J. Gutentag, Verlagsbuchhdlg., G. m. b. II.
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Die I. K.V. und die Kommission f. d. Reform der St.P.O.
113
den Ld.Ger.Dir. Dr. Aschrott, die Fragen in Themen zu teilen, für
das Werk Mitarbeiter zn finden und seinerzeit über die eingegangenen
Arbeiten ein Generalreferat zn erstatten. Aschrott zerlegte die Arbeit
in sehr geschickter Weise in 13 Themen und gewann mit glücklicher
Hand die entsprechenden Referenten: Vier Theoretiker und neunzehn
namhafte Praktiker. Das Materiale nnd seine Bearbeiter teilen sich
nun in folgender Weise:
I. Organisation der Strafgerichte etc. (L.G.D. Schubert, Prof.
Wachenfeld und L.G.D. Weingart.)
II. Aufbau der Strafgerichtsbarkeit (O.A.R Fuhr, StAnw. Hone¬
mann, Prof. Gf. zu Dohna.)
III. Legalitätsprinzip etc. (Prof. Mittermaier, St.-Anw. Schmidt, R.-
Anw. Thiersch.)
IV. Zwangsmittel. (R-Anw. Feisenberger, R.-Anw. Löwenstein.)
V. Verteidiger. (L.G.R. Rosenberg, R.Anw. Heinemann).
VI. St-Anwaltschaft (L.G.D. Goebel.)
VII. Voruntersuchung etc. (L.G.D. Weingart und Prof. v. Lilienthal.)
VIII. Hptverhdlg. (Prof. y. Lilienthal, O.L.G.R. v. Spindler.)
IX. Beweisverfabren etc. (O.L.G.R. Oehlert.)
X. Abgekürztes Verfahren etc. (O.A.R. Levis.)
XI. Privatklage (L.R. Friedländer, R.Anw. Fuld.)
XII. Strafverf. gegen Jugendliche (A.G.R. Köhne.)
XIII. Rechtsmittelverf. (Prof. Rosenfeld, O.L.G.R. Cornelius,
L.G.D. Karsten.)
Diese Referate, zum Teile ganz ausgezeichnet, immer aber
interessant nnd anregend verfaßt, einzeln zu besprechen, ist wegen
des großen Umfanges der Materien unmöglich, es ist aber auch über¬
flüssig alles einzeln zu behandeln, da das Generalreferat Aschrotts
alles, von den Referenten gesagte in glänzender Weise zusammen¬
faßt und absolut nichts wichtiges ausläßt, so daß eine kurze
Besprechung des Aschrott’schen Generalreferates das ganze Werk
berührt —
In der Einleitung geht nun A. mit Recht von den Worten des
unvergeßlichen sächs. Generalstaatsanwaltes v. Schwarze aus, der er¬
klärte, man habe, um nur einmal der unseligen Rechtszersplitterung
ein Ende zu bereiten, vielfach Kompromisse schließen müssen und so
sei die D.R.St.P.0. ein Versuchsbau, der erst später richtig ausge¬
staltet werden müsse. Dieser Zeitpunkt, sagt A., sei nun gekommen,
zumal das Vertrauen in die heutige Strafjustiz fehle. Dieser oft ge¬
sprochene Satz vom entschwundenem Vertrauen würde zwingend
Änderungen verlangen, und wenn sonst auch keine anderen Gründe
Ajehir für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 8
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114
II. Gross
vorlägen. Aber ob er wohl sicher richtig ist? Wie will man denn
das beweisen? Richtig ist, daß sich manchmal ein Verurteilter be¬
klagt, oder ein Beschädigter, wenn der, den er für schuldig hielt,
freigesprochen wurde, oder ein Zeuge, der lange warten mußte, oder
ein Sachverständiger, dem man nicht glaubte — und andere mehr.
Vielfach kümmern sich die Laien um gewisse „interessante“
Rechtsfragen und wenn dann z. B. eine Nichtschwangere verurteilt
wird, weil sie ein Abortivmittel nahm, so schimpft die Hälfte der
Leute über das unsinnige Urteil. Wäre sie freigesprochen worden,
so hätte aber die andere Hälfte geschimpft — die Leute wissen eben
nicht, daß das Strafrecht so viele Fragen stellt, für die es eine all¬
gemein befriedigende Lösung nicht gibt. Und weil sie das nicht
wissen, verunglimpfen sie die Justiz. Wir könnten günstigsten
Falles feststellen, daß es viele Leute gibt, die über die Gerichte
losziehen, — das ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Verlieren
des Zutrauens, wir müssen uns damit bescheiden, daß auch geschimpft
würde, wenn uns die Götter selber die Strafgesetze diktieren wollten.
Sehr viele Unzufriedenheit, die über die Gerichte allgemein geäußert
wird, richtet sich gegen die Geschworenen und die Laiengerichte
überhaupt. Aber man hat das Publikum gelehrt, die Schwurgerichte
als die größte Kultursegnung anzusehen, man getraut sich daher
nicht, gegen sie aufzutreten und generalisiert seine Spezialunzu¬
friedenheit auf die Rechtspflege im Allgemeinen. Aber alle diese
mehr oder weniger vagen Momente beweisen nicht im Entfern¬
testen, daß die maßgebende Bevölkerung zu der Justiz überhaupt
kein Vertrauen mehr hat. — Greifbarer als das allgemeine Ge¬
rede wäre das von der Presse gesagte, die es allerdings nicht
an Angriffen gegen das heutige Strafverfahren fehlen läßt, so
daß man hieraus, schwarz auf weiß, „das schwindende Vertrauen“
konstatieren könnte. Hier begegnen wir aber einer ziemlich kom¬
plizierten Konstruktion. Ich habe vor 13 Jahren (2. Aufl. Hdb.
f. UR. 1894) nachzuweisen gesucht, daß die Tagespresse einer der
wichtigsten Faktoren für die Schaffung der unseligen Geschworenen¬
gerichte war, die Presse, die zwar optima fide, aber mit verkehrter
Rechnung für die Jury so nachdrücklich eingetreten ist. Nun sehen
aber heute die meisten gebildeten Menschen — und die Vertreter
der Presse in erster Linie — das angerichtete Unheil ein, für die
Geschworenen fehlt tatsächlich das Vertrauen, und nun generalisiert
man auch hier mit rein menschlichem Empfinden, man entschließt
sich nicht, aufrichtig zu sagen: die von uns so dringend empfohlenen
Geschworenen sind uns zum Unglück geworden, sondern man sagt
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Die I. K.V. und die Kommission f. d. Reform der StP.O.
115
allgemein „unser Strafverfahren ist nichts nutz, das Volk hat das
Vertrauen verloren“. So redet sich die Sache dann weiter, gemeint
ist aber auch hier nur das Geschworeneninstitut. Ich mache da
Niemanden einen Vorwurf und wiederhole, dieses Vorgehen ist echt
und rein menschlich — aber wir Kriminalisten müssen der Sache
auf den Grund sehen, und dürfen uns durch psychologische aber un¬
richtige Konstruktionen nicht irre führen lassen.
Wenn ich also behaupte, daß das Vertrauen des Volkes zur
Strafjustiz nicht geschwunden ist, oder wenigstens daß sich dieses,
wenn richtig, hochbedenkliche Moment nicht beweisen läßt, so gebe
ich selbstverständlich zu, daß aus kriminalistisch-wissenschaftlichen
Gründen an der D.RSt.P.O. sehr vieles auszusetzen und manches
daran zu verbessern ist. Ich folge dem Generalberichterstatter, der
das Material nun in vier Hauptkapitel faßt:
I. Beteiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege
und die Berufung.
Die Kommission beantragt bekanntlich Beseitigung der Schwur¬
gerichte und Einführung verschiedener Schöffengerichte. Ich habe
seinerzeit irgendwo die Vermutung ausgesprochen, daß die Komm, so
einen Übergang gesucht hat, um einmal die Schwurgerichte los zu
werden, was aber nicht so plötzlich durchzuführen wäre. Sie hat
deshalb statt der Schwurgerichte das Laienelement in Form von aus¬
gedehnter Verwendung von Schöffen beibehalten — um später, tempore
felice, auch dieser Gestalt der Laienbeteiligung ein Ende zu bereiten.
Alle Gründe, welche die Komm, gegen die Geschworenen anführt,
passen mut. mut. auch auf die Schöffen, so dass die Wärme des
Eintretens für letztere nur erklärlich wird, wenn sie den Übergang
zum Ende darstellen sollen.
Ähnliches scheint auch dem Generalreferenten im Sinne zu sein:
er will Schöffen, meint aber: die Geschworenen werden bestehen bleiben
und er bedauere es auch als ihr Gegner nicht, weil man erst Erfah¬
rungen brauche. Aber es scheint nach den eignen Worten Aschrotts,
als ob er keine Erfahrungen mehr brauchte, und sich über den Un¬
wert des Laienelementes im Rechtswege längst klar wäre. Die Komm,
hat nämlich vorgeschlagen, bei den Berufungsgerichten die Zahl der
rechtsgelehrten Richter so zu belassen, wie in der ersten Instanz, aber
zwei Schöffen beizufügen. Darin, daß im Berufungsgerichte mehr
Schöffen sind, findet er nun eine Verschlechterung des Gerichtes und
erklärt ausdrücklich (p. 68*): „so ist das Berufungsgericht erheblich
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II. Gboss
unzu verlässlicher“, man habe dann „eine Berufung von einem
besseren Gerichte an ein schlechteres“ (vergl. p. 71*). A. sagt mit
anderen Worten „je weniger Laienrichter, desto besser der Gerichts¬
hof“ — wenn man diese Rechnung weiter spinnt, so ist der beste
Gerichtshof der, der gar keine Laien hat. Dann muss man doch
unbedingt fragen: wozu denn Laien überhaupt, wenn die nur zur
Verschlechterung dienen?“ —
Wie sehr man dem Laienelemente mißtraut, und es nur nicht
wagt, die letzten Konsequenzen aus dieser Stimmung zu ziehen, zeigt
die Erörterung (p. 63*): ob man nicht gewisse Delikte, die schwie¬
rigere Fragen bringen, den (event bleibenden) Schwurgerichten ab¬
nehmen und den landgerichtl. Schöffengerichten überweisen sollte.
Vor allem: begreift der Geschworne etwas nicht, so begreift es auch
der Schöffe nicht und ein nachträgliches Erklären nützt nichts, be¬
greifen muß man während des Ganges der Verhandlung. Man gibt
also zu, daß der Laie wenigstens gewisse komplizierte Vorgänge nicht
begreifen kann — und man wagt es trotz dieses Zugeständnisses, ihn
als Richter zu belassen? Nun kommt man zu dem bösen Zwischen¬
vorschlag die Delikte einzuteilen in schwerbegreifliche und leichtbe¬
greifliche, wobei zu den ersteren betrügerischer Bankerott, schwere
Urkundenfälschung, vielleicht Meineid etc. gehören sollten. Jeder von
uns hat nun unzählige Bankerotte, Urkundenfälschungen, Meineide etc.
gesehen, die unbedingt zu den „leichtbegreiflichen“ (für Geschworene)
gezählt werden müßten, während mancher einfach scheinende Dieb¬
stahl oder Mord zweifellos zu den „schwerbegreiflichen“ Delikten
zu rechnen ist, weil der Beweisgang ein hochkomplizierter war.
Jeder erfahrene Schwurgerichtsvorsitzende weiß, daß man unter Um¬
ständen den Geschworenen den kompliziertesten Betrugsfall verständlich
machen kann; aber einen ganz komplizierten Beweis, der zwar ab¬
solut sicher ist, aber nur mit allen logischen, psychologischen und
technischen Finessen aller Art geführt und verstanden werden kann,
den einem Laien begreiflich zu machen ist unmöglich. Eine taxative
Aufzählung der leichtbegreiflichen Delikte für Geschworene und der
schwer begreiflicheren für Schöffen, wäre direkt ein Unglück, weil alle
taxativen Aufzählungen zu Mißständen führen und weil die Schwierig¬
keit selten im Delikte selbst, sondern im Beweise liegt. — Wollen
wir die Frage des Laienelementes überhaupt exact untersuchen, so
dürfen wir nicht auf dem engen prozessualen Standpunkte stehen
bleiben, sondern müßen die Gründe für die allgemeinen Sympathien
zu Gunsten der Laienbeteiligung im großen modernen Volksleben
suchen: sie liegen in dem allgemeinen, alles ruinierenden demokra-
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Die I. K.V. und die Kommission f. d. Reform der StP.O.
117
tisierenden Zuge unserer Zeit, die Niemandem allein das lassen will,
was seines Amtes ist, sondern auf ein Mitreden und Mittun der
anderen dringt, die nichts von der Sache verstehen. In unseren Par¬
lamenten kann jeder über Dinge reden, die er nicht versteht, und
wenn er klugerweise darüber schweigt, so stimmt er wenigstens dar¬
über. In den Landtagen tun sie dasselbe und im Gemeinderat, wo
die Leute besser unter sich sind, redet Gevatter Schuster und Schweine¬
metzger mit Vorliebe über das, was ihm am fernsten liegt. —
Warum hat denn gerade heute der Kurpfuscher den unglaublich
größten Zulauf, warum geht Alles lieber in’s große Warenhaus, als
zum ehrlichen, sachverständigen Handwerker, warum ist in allen
Volksbibliotheken das Konversationslexikon die weitaus stärkst ver¬
langte Lektüre, warum lackiert man die Leute in volkstümlichen
Kursen und populären Vorträgen so leichthin oben drüber — alles,
weil man überall mitreden will und Sympathie für den hat, der auch
nichts versteht, aber mittut. Und schließlich ist das „Volksheer“
auch nur eine demokratisierte Wehrpflicht. Ich war selbst Reserve¬
offizier, habe den bosnischen Feldzug mitgemacht, bin fünfmal im
Feuer gestanden und habe meine Pflicht getan — ich habe mich
aber nie für gleichwertig dem Berufsoffizier gehalten, der andere Er¬
ziehung, andere Bildung, andere Interessen und anderen Lebenszweck
hat, als ich, „zufällig“ und ohne meinen Willen dazugekommener.
Und wenn wir diesen demokratisierenden Zug überall sehen
— was Wunder, wenn auch die Tendenz wach wurde, in der Rechts¬
sprechung Leute mitreden zu lassen, die nichts davon verstehen. Es
fällt heute noch Niemandem ein, die Abschaffung der Parlamente,
oder des „Volksheeres“ oder der Gemeinderäte zu beantragen, aber
wo es möglich ist, gegen die unselige Mode anzukämpfen, da müssen
wir es tun und ebenso, wie Deutschland binnen kurzem einen Para¬
graphen gegen die Kurpfuscher haben wird, so muß es einsehen, daß
Laienrichter Leute sind, die über die wichtigsten Güter des Menschen
urteilen, ohne etwas zur Sache zu verstehen. Geht es nicht anders,
so wollen wir uns mit den Schöffen statt den Geschworenen zufrieden
geben, nicht weil sie nützlich, sondern weil sie weniger schädlich
sind als diese und weil wir sie als Übergang zu geordneten Zustän¬
den betrachten, zu Richtern, die das Recht gelernt haben. —
n. Das Legalitätsprinzip und die Stellung der Staatsanwalt¬
schaft, sowie ihrer Hilfborgane im Strafverfahren.
Die Frage nach dem Legalitäts- oder Opportunitätsprinzip wird
niemals zur allgemeinen Befriedigung gelöst werden können, weil
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II. Gross
der Staatsanwalt als Vertreter des All gern ein-Interesses gedacht ist,
und dieses häufig mit Sonderinteressen in Widerspruch geraten kann,
seiner Natur nach in Widerspruch geraten muss. Es ist daher be¬
greiflich, daß auch im vorliegenden Werke ,'eine Einigung der Refe¬
renten nicht erzielt wurde: der Eine will strenges Legalitätsprinzip,
der Andere beweist, daß das Opportunitätsprinzip im Wesen der
Sache begründet ist, und andere versuchen in der einen oder anderen
Weise einen Mittelweg zwischen beiden zu finden. Daß keiner dieser
Vorschläge auf allgemeine Zustimmung hoffen darf, ist, wie erwähnt,
aus der eigentümlichen Natur der Staatsanwaltschaft und der Art
wie sie vertreten muß, zu erklären, am unglücklichsten sind aber
sicher jene Vorschläge, welche für bestimmte Delikte die absolute
Herrschaft eines gewissen Prinzips verlangen. Abgesehen davon, daß
dies dem Wesen eines „Prinzipes“ widerspricht, muß bedacht werden,
daß alles strenge Abgrenzen und Einscbachteln immer zu Schwierig¬
keiten oft aber auch direkt zu Fehlern führt, namentlich dann, wenn
es nach äußeren Formen vorgenommen werden will. Daß aber
unsere Einteilung der Delikte zwar unbedingt notwendig, aber doch
nur äußere Erscheinung ist, kann nicht bezweifelt werden, ein Prin¬
zip kann man aber nur nach dem inneren Wesen der Sache auf¬
stellen. Dieses ändert sich oft innerhalb des Begriffes, unter welchem
wir ein bestimmtes Verbrechen zusammenfassen, oft ist es aber De¬
likten gemeinsam, die wir unter ferne auseinanderliegenden Para¬
graphen verteilt haben. Jeder, der als Staatsanwalt gearbeitet hat
und in seinem Amte Erfahrung besitzt, wird zugeben, daß er sich
nicht gerade bei gewissen Delikten oder Deliktsgruppen freiere Hand
und Opportunitätsprinzip gewünscht hat, wohl aber wird es jeder
von ihnen bei allen erdenklichen Delikten als schwere Last und als
arges Übel empfunden haben, wenn er in allen Fällen verfolgen
mußte; die Gründe, warum bisweilen — die Fälle sind gewiß nicht
häufig — Schweigen besser wäre als Lärm machen und Unglück
hervorrufen, sind der verschiedensten Art: wirklich politische oder
strafpolitische, psychologische, soziale, ethische, edukative, taktische
und unzählige andere Gründe gibt es: wer sie kennt und empfindet,
dem brauchen sie nicht auseinandergesetzt zu werden, und auf wen
sie nie eingewirkt haben, der versteht auch langathmige Auseinander¬
setzungen nicht. — Wenn ich daher ungescheut für Opportunitäts¬
prinzip eintrete, so setze ich allerdings ein verläßliches, ehrliches und
wissenschaftlich hochstehendes Material von Staatsanwälten voraus,
denen man die Entscheidung über Verfolgen oder nicht Verfolgen mit
Vertrauen in die Hand geben kann. Wenn wir diese Leute nicht
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haben, wenn wir unsere Staatsanwälte nur angekettet und gesichert
arbeiten lassen und ihnen nicht vertrauen dürfen, dann sind wir über¬
haupt bankerott, und alle Justiz hat ihr Ende erreicht. Aber so steht
die Sache nicht. Ist es der schwere Dienst und die schwere Verant¬
wortlichkeit, die erziehend wirkt, ist es sorgfältige Auswahl oder sind
es andere glückliche Gründe: Tatsache ist es, daß unsere Staats¬
anwälte, in Deutschland und Österreich, das höchste Vertrauen ver¬
dienen; sie sind in Wahrheit Hüter des Gesetzes und so wider¬
sprechend es klingt: in der Regel auch der beste Schutz des Ange¬
klagten. Und je mehr Vertrauen wir ihnen geben, um so höher steigt
ihre Verantwortung und nur ein Elender wäre es, dessen Gewissen- >
baftigkeit nicht mit der Schwere der Verantwortung wachsen wollte.
Allerdings muß zur Beruhigung des quärulierenden Publikums
der Omnipotenz der Staatsanwaltschaft — und diese läge bei Oppor¬
tunitätsprinzip allerdings vor — in irgend einer Weise eine Grenze
gezogen werden. Nach vielfacher Überlegung glaube ich doch, daß
die österr. St.-P.-O. diesfalls die verhältnißmäßig günstigste Bestimmung
enthält, indem sie (§ 4, 47, 48) dem Privatbeteiligten das Recht gibt,
im Falle der Rückweisung seiner Anzeige, bei der Ratskammer den
Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung einzubringen. Allerdings
hat dies Recht nur der Verletzte, der sich wegen seiner „privatrecht¬
lichen“ Ansprüche dem Strafverfahren angeschlossen hat, und hier¬
durch „Privatbeteiligter“ geworden ist. Da Zweifel entstanden sind
ob „privatrechtliche“ Ansprüche gleichbedeutend mit „vermögens¬
rechtlichen“ also in Geld ausdrückbaren Ansprüchen sind, und da
überhaupt die Beschränkung auf „privatrechtliche Ansprüche“ nicht
begründbar ist, so würde es sich empfehlen, die Subsidiarklage jedem
zu gestatten, der nachweisbar durch ein Delikt verletzt wurde,
gleichgiltig welcher Art diese Verletzung ist —
Ich glaube, daß die statistischen Ergebnisse auch diesfalls oft
unrichtig verwendet werden; wenn z. B. St.Anw. Dr. Schmidt-Ernst¬
hausen (pag. 199) sagt, die praktische Bedeutung der subsidiären
Privatklage sei nicht gerade hoch einzuschätzen, denn in Oesterreich
haben von 1105 Subsidiäranklagen (1899) nur 6 zu einer Hauptver¬
handlung geführt — so kann ebensogut behauptet werden, daß diese
Statistik in glänzender Weise zeigt: Die St.Anw. hat in ganz Oester¬
reich im Laufe eines Jahres bloß 6 Mal zu Unrecht eine Verfolgung
abgelehnt — wenn überhaupt in allen Fällen dieser 6 Male Ver¬
urteilung erfolgte. Mir steht augenblicklich die österr. Kriminalstatistik
pro 1899 nicht zur Verfügung, wohl aber die von 1898. In diesem
Jahre sind den öster. Staatsanwaltschaften zusammen 171097 neue
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II. Gboss
Fälle zugekommen; in diesen wnrden im Wege der Subsidiarklage 4
Personen zur Hanptverhandlung gebracht und von diesen wurden
wieder alle freigesprochen, so daß die Staatsanwaltschaften von der
großen Zahl von 171 097 Fällen nicht ein einziges Mal die Verfolgung
zu unrecht abgelehnt hat! Einen besseren Beweis für ihre Gewissen¬
haftigkeit kann man sich kaum denken. —
Übrigens muß man erwägen, daß wir — in Deutschland und in
Österreich — eigentlich ohnehin nicht strenges Legalitätsprinzip be¬
sitzen. § 152 (§ 168) D.R.Str.P.O. und § 34 (207 bezw. 90) Ost
St.P.O. verpflichtet den St Anw. allerdings einzuschreiten und zu
verfolgen, da dies aber nicht bedingungslos verlangt werden kann,
so heißt es § 152 D.StG.O. „sofern zureichende tatsächliche An¬
haltspunkte vorliegen“ und § 90 (112) Öst. St.P.O.: „Findet der St Anw.
genügende Gründe“ etc. Ob aber „zureichende Anhaltspunkte“ oder
„genügende Gründe“ vorhanden sind, das konnte das Gesetz denn
doch nicht vorschreiben, und so ist es allerdings wieder den Er¬
wägungen des St. Anw. überlassen, ob er anklagt oder nicht Man
wird sagen: „Wenn es den kriminalistischen Erwägungen des St Anw.
überlassen ist, anzuklagen oder nicht, so ist es noch lange kein Oppor¬
tunitätsprinzip — bloß deshalb, weil er es für inopportun hält,
darf kein St. Anw. die Anklage unterlassen“. Das entspricht aber
den Tatsachen nicht, und jeder St Anw. hat gewiß oft die Er¬
hebung einer Anklage unterlassen, obwohl er den Beschuldigten für
den Täter hielt bloß deshalb, weil er im voraus sah, daß er mit den
vorliegenden Beweismitteln unmöglich aufkommt, so daß Mühe und
Kosten einer Hauptverhandlung zuverlässig umsonst aufgewendet
würden. Hat der St Anw aber in diesem Falle nicht angeklagt, weil es
nicht „opportun“ war, dies zu tun, so kann man ihm dies auch für andere
Fälle gestatten, d. h. das Opportunitätsprinzip überhaupt gelten lassen.
Es wäre übrigens um die dienstliche Organisation übel bestellt, wenn
man nicht im Wege der Aufsicht Mittel besäße, einen St. Anw. zu
hindern von dem ihm zustehenden Rechte nicht anzuklagen, allzu
ausgedehnten Gebrauch zu machen. —
Ein weiteres in diesem Kapitel besprochener Moment ist die
künftige Stellung der Staatsanwaltschaft, die zum „Herrn des Vor¬
fahrens“ gemacht werden will. Allgemein ist man darüber einig, daß
die Staatsanw. vollkommen reorganisiert werden muß, daß man das
— nebenbei gesagt, jedem nichtreicbsdeutschen Juristen nie verständ¬
liche — Jnstitut des „Amtsanwalts“ zu beseitigen hat, und daß die
St. Anw. eine ihr direkt unterstehende Kriminalpolizei zugeteilt be¬
kommen muß. Einstweilen sei hier — nur vom Standpunkte der
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Organisation ans — im voraus bemerkt, daß die Durchführung dieses
Planes doch nur für große, mittlere, meinetwegen auch für kleine
Städte denkbar ist. Aber auf dem flachen Lande? Entweder legt
man mehrere Bezirke zusammen, bestellt am größten Orte einen Be¬
amten der Staatsanwaltschaft, der wohl als geprüfter Richter gedacht
werden muß, und gibt ihm die vielgenannte „tüchtige Kriminalpolizei“
zur Seite, oder man richtet diesen immerhin nicht sehr billigen Apparat
bei jedem, auch dem kleinsten Gerichte auf dem Lande ein. Im
ersten Fall wieder St Anw. immer auf Reisen sein, überall zu spät
kommen und dort nicht sein können, wo man ihn gerade braucht.
Im zweiten Fall wird der St Anw., der ja zu zivilrechtlichen
Arbeiten nicht herangezogen werden kann, seine Zeit um so weniger
auszufüllen vermögen, als er ja noch „eine geschulte Kriminalpolizei“
neben sich hat, die sich doch nicht bloß mit dem Einfangen einiger
Landstreicher befassen kann. Und auch für die gerichtlichen Be¬
amten bliebe dann zu wenig Arbeit. Heute besorgt an vielen kleinen
Amtsgerichten der Amtsrichter die gesamte Arbeit — was sollen sie
aber alle tun, wenn jetzt noch ein Staatsanwalt und ein Kriminal¬
polizist sich mit in die Arbeit teilt? Ich habe den Eindruck, als ob
hier um eines Prinzipes willen Undurchführbares geschaffen werden
wollte. Auch hier hilft das, in Kriminalsachen so oft verwendbare
Mittel: Man stelle sich den Sachverhalt, den man bilden will, erst
einmal bis in alle Einzelheiten hinaus, genau vor; man denke sich die
„Neuorganisierte Staatsanwaltschaft“ mit allem Drum und Dran, allem
Daneben, Darüber und Darunter nicht bloß in Berlin, sondern auch
in Mittelstädten und herab bis zum allerkleinsten Gerichte im Reich
lebhaft vor, dann nimmt man die Unmöglichkeiten sicher wahr!
III. Das Verfahren bis zur Hauptverhandlung.
Bekanntlich will die Komm, das gegenwärtige Vorverfahren mit
einigen Änderungen — namentlich unter Beseitigung des Eröffnungs¬
beschlusses — beibehalten. Generalreferent Aschrott faßt seine Mei¬
nung in folgendem zusammen:
1. Die Leitung des Vorverfahrens kommt vollständig in die
Hand des St.Anw.
2. Die von ihm aufgenommenen Protokolle dienen nur der An¬
klagebehörde und dürfen dem Gericht nicht vorgelegt werden.
3. Ist Berufung gegen das Urteil möglich, so wird nach Zu¬
stellung der Anklage sofort die Hauptverhandlung angeordnet Gibt
es keine Berufung so wird ein Vortermin von dem Amtsrichter an-
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II. Gross
geordnet um darüber zu verhandeln, ob sich die Verurteilung in der
Hauptverhandlung erwarten läßt.
Ich nehme zu diesen drei Themen dahin Stellung, daß ich mich
Ad l auf meine wiederholten Ausführungen, namentlich in diesem
Archiv 1 ) berufe, und erkläre, daß ich noch immer ein Vorverfahren
durch den U.R. nicht bloß für das Beste, sondern für das einzig
Durchführbare halte. Hier bemerke ich nur, daß dann, wenn man
das Verfahren so durchführt, wie es Aschrott will, schließlich doch
nur der Namen geändert wird und man sagt dann Staatsanwalt, wo
man früher Untersuchungsrichter sagte. Man wird behaupten, der
Hauptunterschied läge darin, daß derjenige das Vorverfahren geleitet
hat, der die Anklage bei der Hauptverhandlung vertreten wird:
das ist einfach undurchführbar, denn entweder müßte sehr oft nach
jeder Verhandlung ein anderer St.Anw. erscheinen, oder es gäbe die
Zusammenstellung der Verhandlungen nach den betreffenden St.An¬
wälten solche Schwierigkeiten, daß die Sache an diesen formalen
Kleinigkeiten scheitern müßte.
Ad 2 finde ich die dort angedeutete Form zum Teil nicht not¬
wendig, zum Teile zu Unmöglichkeiten führend. Daß dem Vor¬
sitzenden keine Akten geliefert werden, soll die Einsichtnahme der
Richter in Alles verhindern, was bei der Hauptverhandlung nicht zur
Sprache kam. Hier können wir nur so unterscheiden: Geht der
Vorsitzende korrekt vor, so scheidet er das Material in relevantes und
nicht relevantes; Ersteres bringt er eben als relevant in der Haupt¬
verhandlung vor, Letzteres aber, eben als nicht relevant, weder
in der Hauptverhandlung noch bei der Beratung. Geht der Vor¬
sitzende aber nicht korrekt vor, verschweigt er dolose etwas
bei der Verhandlung und teilt es dann den Richtern bei der
Beratung im Geheimen mit, — ja dann sind wir überhaupt mit
unserm Latein zu Ende; wenn wir doloses Vorgehen eines Vor¬
sitzenden in Rechnung ziehen, dann hilft auch eine ideale StP.O.
nichts. Aber setzen wir uns darüber hinaus und sehen wir zu, wie
sich Aschrott die Sache denkt: der Vorsitzende erhält bloß die An¬
klage, diese muß aber spezialisiert angeben, in welchen Tatsachen
die einzelnen gesetzlichen Merkmale des Deliktes gefunden werden
— ist selbstverständlich — und durch welche Beweismittel die ein¬
zelnen Tatsachen dargetan werden sollen — das ist praktisch fast
undurchführbar, denn jede Anklage über einen halbwegs komplizierten
Fall müßte zu einem Ungeheuer anschwellen. Die Anführung der
1) Z. B. Bd. VII p. 222; Bd. XII. p. 191; Bd. XIV p. 130.
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Beweismittel kann man sich doch nie so denken, daß gesagt wird:
Beweis: Zeuge A, B, C, Lokalaugenschein, Obduktionsprotokoll,
Skizze des Zimmers, Gendarmeriebericht, Punktam. Die Zeugen¬
aussagen müßten mindestens auszugsweise wiedergegeben sein, denn
3/4 unserer Zeugen will seine Aussage abgefragt bekommen und er¬
klärt bei der Hauptverhandlung „nichts“ zu wissen. Wenn aber der
Vorsitzende stets den St.Anw. fragen muß, was denn eigentlich der
Zeuge sagen soll, so wird die Verhandlung einerseits langweilig und
mühselig, ihre Leitung geht aber auch anderseits in die Hände des
St.Anw. über, was man doch nicht wollen wird. Und die Akten
über Lokalaugenschein, Haussuchung, Obduktion etc. müssen wört¬
lich abgeschrieben werden, denn es hängt immer sehr von der per¬
sönlichen Auffassung ab, was man aus einem solchen Aktenstücke
herauslesen und herausverstehen will. Ich bin der letzte, der dem
Staatsanwalt mißtraut, aber wenn wir den Einzelnen für unfehlbar
hielten, so bestände unsere ganze Gerichtsorganisation aus einem
einzigen Paragraphen, der für Alles und Jedes Einzelrichter aufstellt
Wenn man nun aber die Anklage mit so vielen Abschriften ver¬
sehen muß, so fragt man unwillkürlich, warum man denn nicht
lieber den Akt beisammen läßt? Jedenfalls wäre eine große Mühe
erspart.
Endlich liegt es in der Natur der Sache, daß dann, wenn die
Einleitung des Hauptverfahrens durch eine so eingehende und akten¬
mäßig begründete Anklage geschehen sollte, unbedingt dem An¬
geklagten, als der zweiten Partei, die Einbringung einer Gegenschrift
gestattet werden müßte. Ja man wird nicht bloß von gestatten,
sondern direkt von verlangen sprechen müssen; denn gestattet man
sie, so sieht man die Notwendigkeit ein, daß die Verhandlung nicht
von vornherein durch die wohlfundierte Anklage eine bestimmte ein¬
seitige Färbung erhält, findet man das aber notwendig, so muß es
in allen Fällen geschehen, ob der Angeklagte darauf besteht oder
nicht. Aber wer soll diese Gegenschrift verfassen? Der Angeklagte
kann es in sicher 95o/ 0 von Fällen nicht; der U.R., der sonst Be¬
schwerden ]etc. zu Protokoll nahm, existiert nicht mehr, der Amts¬
richter kann diese Arbeit unmöglich zu seinen sonstigen Arbeiten
dazu übernehmen. Also der ex officio Verteidiger. Man weiß ja, wie viele
Anklagen heute überreicht werden — viel weniger werden es später
sicher nicht sein, also hat man ebenso viele Gegenschriften zu machen.
Man wird sagen: „im Allgemeinen geben wir die logische Notwen¬
digkeit einer Gegenschrift zu, aber für alle einfachen Fälle und die
mit Geständnis kann sie entfallen, so daß sich die Zahl wesentlich
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II. Gbobs
verringert“ Ja was heißt „einfach"? Für den, der eingesperrt
werden soll, ist sein Fall nie einfach, auch er will sich verteidigen
können und die staatsanwaltschaftliche Anklage entkräften. Und
was heißt „geständig“? Die Fälle vollen Geständnisses sind nicht
häufig; meistens gesteht der „Geständige“ einen Teil der Tat, oder
einige Fakten, oder es liegt sogen, „faktisches“ Geständnis vor, oder
einige, aber nicht alle Angeklagten gestehen etc. In allen diesen
Fällen muß eine Gegenschrift doch eingebracht werden, so verringert
sich die Zahl derselben gar nicht bedeutend, und die ex officio Ver¬
teidiger hätten alle Hände voll damit zu tun. Daß sie das umsonst tun
werden, das bildet man sich doch nicht ein, es kann auch unmöglich
verlangt werden, der Mensch lebt eben von seinem Brote. Die Arbeit
muß also bezahlt werden, und da der weitaus größte Teil der Ange¬
klagten mittellos ist, muß sie der Staat bezahlen. Werden die Gegen¬
schriften kurz, schlecht und billig gemacht, so schaden sie viel mehr,
als sie nützen, sind sie ebenso eingehend wie die Anklage und gut
gemacht, so sind sie teuer und die Mehrbelastung der Justiz wäre
geradezu eine unerschwingliche.
Aber stellen wir uns vor, wir hätten die bewußte, aktenartig
aussebende Anklage und die Gegenschrift. Hiernach hätte der Vor¬
sitzende zu verhandeln, es ist sein Um und Auf.
Ich begreife nicht, wie ein so erfahrener und so überaus scharf¬
sinniger Kriminalist, wie Aschrott, behaupten kann, ein guter Vor¬
sitzender werde auch auch ohne Akt die Verhandlung leiten, denn
auch heute müßten oft ganz neue Zeugen vernommen werden. Wir
wissen doch, daß das Verständniß der Mitrichter in erster Linie auf
einer wohl durchdachten, gut aufgebauten und überlegten Verhand¬
lungsleitung begründet ist — ohne Grundlage gibt es aber keinen
Plan und ohne Plan bietet jede Verhandlung bloß Überraschungen
und Konfusionen. Freilich werden oft erst in der Hauptverhandlung
neue Beweisaufnahmen nötig — diese beziehen sich aber auf be¬
stimmte Fragen und ihre Beantwortung ist nicht schwer einzufügen.
Kommen aber, wie Aschrott anfübrt, neue Tatsachen, „welche der
ganzen Sachlage ein neues Bild geben“, so geht die Verhandlung
nur dann unversehrt weiter, wenn ein geschickter Vorsitzender den
Akt sehr genau kennt und sofort weiß, wie das Materiale der
neuen Situation angepaßt und in sie eingefügt werden muß.
Ich meine: ohne Vorbereitung des Vorsitzenden ist nur eine sehr
einfache Verhandlung denkbar, alle übrigen mit kompliziertem Her¬
gang oder kompliziertem Beweis bedürfen planmäßiger Vorbereitung.
Diese ist nach einer nicht eingehenden Anklage nicht möglich, eine
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genaue Anklage wäre aber nur Abschrift und Auszug aus dem
Akte, gewonnen ist hiermit in keiner Richtung etwas.
Ad 3. BeimbestenWillen sehe ich Nutzen und Zweck des beantragten
Vortermines nicht ein. Vor allem wird es kaum möglich sein, unge¬
bildeten Beschuldigten klar zu machen, was bei diesem Probeschuß
geschehen soll. Wir haben diesfalls in Österreich Erfahrung mit dem
„Einspruch gegen die Anklage“, bei welchem die Leute nie begreifen,
daß es sich nur um die Berechtigung einer Verhandlung dreht Die
stereotype Antwort der Leute ist: „ich bin unschuldig“. Erklärt man
ihnen, es bandle sich nur um die Frage ob genügender Verdacht vor¬
handen ist, so antwortet er wieder: „wenn ich aber unschuldig bin?“
Gerade so wird es bei diesem Vortermin sein, der nur Verwirrung
anrichtet und die Zeugen „abnutzt“, die so zu einer Verhandlung
mehr erscheinen müssen. Freilich sagt man, es brauchen nicht alle
Zeugen zu kommen, die zur Hauptverhandlung nötig sind. Aber wer
bat so viel Divinationsgabe, daß er die richtigen Zeugen herauszu¬
finden weiß?
Weiters steht zu befürchten, daß die Behandlung dieser „vor-
läufigen Tennine“ bald wenig genau und immer flüchtiger werden
wird. Man braucht da Niemandem einen Vorwurf von Leichtsinn und
Trägheit zu machen: es liegt in der menschlichen Natur, etwas Nicht¬
endgültiges flüchtiger zu behandeln, die Gewissenhaftigkeit wächst mit
der Zunahme der Verantwortung. — Nicht zu übersehen wäre end¬
lich die verschiedene Behandlung derselben Sache durch zwei ver¬
schiedene Vorsitzende. Ich hatte einmal Gelegenheit, dieselbe Straf¬
sache von zwei Vorsitzenden geführt zu sehen: die erste Verhandlung
mußte vertagt werden, der Vorsitzende wurde plötzlich abberufen und
die neue Verhandlung mußte von einem anderen Vorsitzenden geführt
werden. Beide waren besonders intelligente und gewissenhafte Leute,
sie hatten aber von der Sache verschiedene Auffassungen und so war
die zweite Verhandlung einfach etwas vollkommen anderes als die
erste, man mußte sich Mühe geben, die Identität der zwei Strafsachen
zu erkennen. Dies würde aber bei Vortermin und Hauptverhandlung
oft Vorkommen und auf den Beschuldigten, namentlich den Ungebil¬
deten, müßte es den bösesten Eindruck machen, wenn er seine Sache
so verschieden aufgefaßt sieht. Es ist von größter Wichtigkeit, daß
die Entwicklung der Verhandlung und das sich daraus ergebende
Urteil den Eindruck macht, als ob es nicht anders sein könnte, als
ob es sich um die Wirkung eines unabänderlichen und zwingenden
Naturgesetzes handelt.
Kurz: der Vortermin wäre eine prozeßuale Kalamität. —
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II. Gross
An diese Erörterungen schließt das Generalreferat die Frage nach
Haftsachen und erklärt vor Allem die Kollusionshaft überhaupt für
entbehrlich, sie sei zu beseitigen. Eine exacte Untersuchung über die
Notwendigkeit der Kollusionshaft ist nicht denkbar, es bandelt sich
nur um Ansichten, die auf verschiedene Erfahrungen, Annahmen und
Schlüsse begründet werden. Es läßt sich auch nicht beweisen, ob die
Kollusionshaft durch die Tätigkeit von Freunden, vielleicht nicht be¬
kannten Mitschuldigen und Angehörigen illusorisch wird, wir wissen
nur, daß dies allerdings häufig geschieht und daß eine große Gefahr
in der Tätigkeit entlassener Mitgefangener liegt, die u. U. ebenso
wirken können als der Verhaftete selbst. Aber im Großen und
Ganzen darf man ja vermuten, daß die Kollusionshaft nicht so not¬
wendig ist, um die mit ihr verbundenen Härten aufzuzwingen, aber
ich glaube: wenn man das Experiment wagt, und die Kollusions¬
haft aufhebt, so wird der Schluß ihre schleunige Wiedereinführung
sein. —
Bezüglich der weiteren Haftfragen will Aschrott:
1 . Anordnung der Haft durch den Staatsanwalt.
2 . Jedem Verhafteten auf Antrag einen Verteidiger geben.
3. Durch diesen kann der Verhaftete jederzeit gerichtliche Ent¬
scheidung über die Haft beantragen (mündliche Verhandlung
vor dem Amtsgericht).
Ich meine, daß es in der Bevölkerung viel übles Blut erzeugen
würde, wenn der Staatsanwalt die Haft anordnet; das Volk will
Entscheidung durch den Richter, dem es naturgemäß mehr ver¬
traut Die Bestellung so vieler ex officio Verteidiger wird zuver¬
lässig an der Geldfrage scheitern und eine Entscheidung des Gerichtes
bloß durch den Verteidiger veranlassen zu können, wird viel Zeitver¬
lust verursachen. Ein Argument, daß hierdurch mutwillig Anträge
verhindert würden, dürfte nicht stichhaltig sein, solche mutwillige
Anträge kommen kaum vor. Die österr. St-P.-O. mit der wir dies¬
falls gute Erfahrungen gemacht haben, bestimmt:
Haftantrag vom Staatsanwalt — Beschluß darüber durch den
U.R. — Entscheidung der Ratskam in er, wenn beide differieren oder
wenn sich der Beschuldigte beschwert — weitere Beschwerde an das
Oberlandesgericht. Letztere kommt sehr selten vor, mutwillige Be¬
schwerden vielleicht gar nicht; wir nehmen an, daß der U.-R. ge¬
nügendes Vertrauen beim Beschuldigten besitzt, um ihm gegebenen
Falles das Zwecklose einer sichtlich mutwilligen Beschwerde klar zu
machen; ruhiges Erörtern der Sache führt fast immer zu vernünf¬
tigem Einsehen. —
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Gerade hier kommt es, wie in zahlreichen anderen Fällen viel
weniger auf den Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung als auf die
Qualität der betreffenden Funktionäre an. Wir in Österreich können
mit Stolz behaupten, daß wir, namentlich in letzter Zeit, mit unseren
U.-R. die besten Erfahrungen machen und daher auch mit jenen
proceßualen Bestimmungen zufrieden sind, welche wichtige Agenden
in ihre Hände legen; die U.-R. zu beseitigen wäre sehr gewagt, und
wieder auf sie zurückzugreifen, wenn es mit dem neuen Verfahren
nicht geht, wäre schon deshalb nicht möglich, weil man mittlerweile
das Material verloren hätte, aus dem man sie schaffen könnte. —
IV. Hie Hauptverhandlung.
Das Generalreferat bespricht diesfalls bloß zwei Änderungsvor¬
schläge der Kommission, beide in negativem Sinn, in beiden Fällen
ist dem Generalreferat ira Wesen recht zu geben.
Statt des unglücklichen Eröffnungsbeschlusses will die Komm,
eine Erklärung des Vorsitzenden, in welchem die fragliche Tat, ihre
gesetzlichen Merkmale und das anzuwendende Strafgesetz bezeichnet
wird. Aschrott erklärt diesen Vorgang mit Recht als unzulänglich
und daher zwecklos. Dagegen meint er, daß — natürlich mit Rück¬
sicht auf das immer Schwierigkeiten bereitende Laienelement — eine
Aufklärung über den vorzunehmenden Straffall zu Beginn der Ver¬
handlung jedenfalls notwendig sein wird. A. meint, daß der Staats¬
anwalt seine Anklage mündlich zu erheben und zu begründen habe,
wodurch alle Beteiligten, namentlich aber auch der Angeklagte, über
die Sachlage bis zu Beginn der Hanptverhandlung gründlich unter¬
richtet wird. Wenn also A. behauptet, daß dies durch den Staats¬
anwalt und nicht durch den Vorsitzenden geschehen müsse, so hat
er nach Wesen und Sinn der Sache zweifellos recht: der Staatsanwalt
verlangt Gelegenheit, seine Beweise vorführen zu können, er verlangt
Scbuldspruch und Strafe, er muß auch logischer Weise selbst dieses
Begehren stellen und begründen. Vom praktischen Standpunkte aus
muß aber doch erwogen werden, ob die fragliche Erklärung nicht
zweckmäßiger vom Vorsitzenden ausgeht Er hätte objektiv dar¬
zustellen, er erklärt: „der Staatsanwalt behauptet dies und jenes und
begründet dies so oder anders. Dagegen spricht aber zu Gunsten
des Angeklagten Folgendes .... und endlich liegt auch noch dies
und jenes vor, von welchem wir erst im Laufe der Verhandlung
ersehen werden, ob es für Schuld oder Nichtschuld spricht“. — Wird
dies vom Vorsitzenden, also ganz objektiv gegeben, so ist eine Ent-
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II. Gross
gegnung nicht möglich, diese Vorfrage ist erledigt und es kann zur
Beweisaufnahme geschritten werden.
Hat aber der Ankläger seine Darstellung, eine Art Konditional,
urteil, vorgebracht („wenn die Beweise dies und jenes ergeben, ist
A. des § x schuldig“), so erfordert es das Parteienprincip, ja jede
Forderung der Gerechtigkeit, unbedingt, daß der Angeklagte eine
Entgegnung Vorbringen darf oder eigentlich muß. Seine Rede hat
also der Verteidiger zu halten (und wenn keiner anwesend ist?) Will
man korrekt Vorgehen, so muß man auch Replik und Duplik ge¬
statten, denn sonst kann der Verteidiger rein sagen, was er will, und
ob der Erfolg diesen Aufwand an Zeit, Mühe und Geld lohnen wird,
ist sehr fraglich. Kurz: richtig ist es, wenn der Staatsanwalt seine
Anklage erhebt und begründet, praktich durchführbar dürfte aber
nur eine Feststellung durch den Vorsitzenden sein“.
Ein zweiter Vorschlag der Komm.: das Gericht könne in ge¬
wissen Fällen von der Erhebung einzelner Beweise absehen, wenn
es die Tatsachen, die dadurch bewiesen werden sollen zu Gunsten
des Angekl. für erwiesen oder einstimmig für unerheblich erachtet —
wird von A. ebenfalls mit Recht abgelehnt. Es ist zweifellos, daß
hierdurch das freie Beweisen eingeschränkt wird und außerdem ist
immer zu fragen was heißt „zu Gunsten des Angeklagten erwiesen“
und was heißt „unerheblich“? Hier können Zweifel und Ungenauig¬
keiten schlimmster Art entstehen und viel Zeitgewinn kann kaum
entstehen, da doch auch heute der Vorsitzende über Beweise, bei
welchen z. B. der Staatsanwalt ausdrücklich erklärt, er gebe die zu
beweisende Tatsache zu, oder die sichtlich irrelevant sind, leichter
und rasch hinweggeht. Häufig wird ja auch gegenseitige Zustimmung
wegen Übergehung eines irrelevanten Umstandes erziehlt werden —
besteht aber Staatsanwalt oder Angeklagter auf der Vorführung eines
scheinbar gleichgiltigen Beweises, so werde er vorgeführt Wir haben
es alle erlebt, daß ein geschickter Staatsanwalt oder Verteidiger aus
einem scheinbar irrelevanten Momente doch wichtiges abgeleitet hat;
dieser Möglichkeit darf nicht von vornherein der Weg abgeschnitten
werden. —
Den Schluß des Generalberichtes bildet eine ganz kurze Erörte¬
rung der besonderen Verfahrensarten, die übergangen werden kann,
Principien betrifft sie nicht.
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III.
Über den Stand und die Handhabung der Fürsorge¬
erziehung in Preussen.
(Gesetz vom 2. Juli 1900.)
Von
Dr. Otto Leere,
Assistent der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde der Universität Berlin.
Wie eine geistige Atmosphäre umgibt unsere Zeit die Frage der
Erziehung des Kindes, der Sorge um die heranwachsende Jugend.
Es scheint, als ob in dem Jahrhundert des Kindes, welches ange¬
brochen ist, sich mehr und mehr die Erkenntnis Bahn bricht, wie
sehr von dem Gedeihen des Kindes die Wohlfahrt des Volkes ab¬
hängt The child is the father of the man; die Sorge für die
Jugend ist also nicht nur eine Kulturaufgabe, eine Aufgabe der Er¬
ziehungspolitik, sondern auch eine Frage der Entwicklung der
geistigen und körperlichen Volksgesundheit“
Und doch scheint noch viel daran zu fehlen, daß die Anschau¬
ungen, die diesen Worten des österreichischen Staatsmannes Baern-
reither zu Grunde liegen, in die tieferen Kreise des Volkes einge¬
drungen, daß sie Allgemeingut geworden sind. Noch sehen wir so
mannigfaches Kinderelend, hören fast täglich von Kindermißhand¬
lungen — und dabei sind es nur die körperlichen, die bekannt
werden, von den Mißhandlungen der Kinderseele dringt selten etwas
an die Öffentlichkeit. Noch lesen wir fast täglich von Verurteilungen
Jugendlicher zu Gefängnisstrafen, von der Steigerung der Kriminalität
der Jugendlichen. Die Statistik der letzten zwei Jahrzehnte zeigt,
wie erheblich diese Steigerung im Vergleich zu der der Erwachsenen
und der Bevölkerung ist. Wenn auch hierin im letzten Berichtsjahre
1905 eine geringe Besserung zu verzeichnen ist, die Zahlen sind
immer noch erschreckend hohe. 51232 Jugendliche wurden im
Jahre 1905 wegen strafbarer Handlungen verurteilt. 2366 hatten
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 9
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III. Leeks
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sich gegen Gesetze betr. den Staat, die öffentliche Ordnung, die
Religion vergangen, 36194 waren mit dem Vermögensrecht, 12 654
mit dem Personenrecht in Konflikt geraten, 18 wurden wegen Ver¬
gehens im Amt bestraft.
In der steigenden Rückfälligkeit der jugendlichen Verbrecher,
die die Statistik ziffermäßig nach weist, zeigt sich ein Mißerfolg
unserer bisherigen strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Jugend¬
lieben, der zu Zweifeln an dem Nutzen derselben berechtigt, und zu
der Erwägung zwingt, ob nicht andere an ihre Stelle zu setzen sind-
Insbesondere gilt dieser Mißerfolg den immer und immer wieder ver¬
hängten und im Rückfalle methodisch verlängerten und verschärften
kurzen Freiheitsstrafen. Kräpelin ') hat kürzlich in einem geistvollen
Aufsatz auf die ungenügende Beeinflußung der jugendlichen Übel¬
täter durch diese Strafe hingewiesen. Sie sind zu kurz, als daß in
dieser Spanne Zeit der Jugendliche von seinen verbrecherischen
Neigungen, von seiner Verwahrlosung geheilt würde, zu lang, als daß
er nicht durch die Berührung mit Schlimmeren noch mehr verdorben
würde. ,.Heute können wir es oft genug hören,“ sagt Kräpelin,
„daß selbst im Gefängnisse, unter den Augen des Staates, die erst¬
malig bestraften jungen Missetäter den verderblichen Einwirkungen
ergrauter Genossen zum Opfer fallen.“ Wie der Stock aus der
Schule, wird die Gefängnisstrafe aus der Rechtsprechung über den
jugendlichen Kriminellen schwinden müssen; beide rufen keine
Seelenerrcgungen hervor, die der Ausgangspunkt einer moralischen
Änderung werden könnten. Im Gegenteil, sie verhärten, verschlimmern
das Übel. Die Art der Vergehen zeigt heute bei den Rückfälligen
fast stets eine Steigerung ad pejus und das Tempo der einzelnen
Straftaten eine Beschleunigung.
Es kann aber auch kaum Wunder nehmen, daß die Strafe nichts
fruchtet, solange sie die Form der kurzen Vergeltungsstrafe hat. Die
Mehrzahl der Rückfälligen und jugendlichen Gewohnheitsverbrecher
ist zweifellos entweder entartet, infolge angeborener Veranlagung von
sittlich geringerer Widerstandskraft oder von Grund aus geistig zu¬
rückgeblieben infolge mangelhafter Schulung und Erziehung. Von
496 Rückfälligen hatten nach einer Untersuchung Morels 133 gar
keinen, 12S nur ganz primitiven Unterricht genossen, 165 konnten
eben lesen, schreiben, rechnen. Nur 93 wiesen nichts Abnormes
auf; aber auch von diesen 93 hatten nur 29 lesen und schreiben
gelernt, 29 andere nur einen rudimentären und 34 gar keinen Unter-
1) In Aschaffcnbur^s Monatssehr. f. Krim. u. Strafr. 1906, Heft 5 6.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 131
rieht genossen. Ich weiß nicht, ob eine solche Untersuchung in
unserm Lande gemacht ist, ich finde aber eine ähnliche Statistik, die
die gleiche Sprache spricht: die Zahl der in Preußen in 1904 der
F. E. überwiesenen Zöglinge, welche die Schule nur unregelmäßig
besucht hatten, betrug 47,7 °/o, mit geringer, bezw. ohne jede Schul¬
bildung waren 1,5 bezw. 12,1% der Zöglinge. 1 )
Natürlich ist der Mangel der Schulbildung nicht allein von Be¬
deutung. Wichtiger und viel eingreifender in das Dasein des
Jugendlichen ist der Einfluß des häuslichen Milieus, in welchem er
aufwächst. Traurige häusliche Zustände bilden eine wesentliche
Grundlage für die Vergehen der Jugendlichen, erhöhen den Anreiz
zu Verbrechen und setzen die Widerstandskraft gegen diesen Anreiz
herab.
Alle Handlungen entspringen unmittelbar aus Vorstellungen und
Gefühlen, derart, daß die stärkeren Antriebe die Art der Handlung
zwangsmäßig entscheiden. Wo also nur schlechte Vorstellungen
durch schlechtes Vorbild, mangelhafte Erziehung geweckt werden,
oder nur negative Unlustgefühle in der jugendlichen Seele erzeugt
werden, wird der Anreiz zu schlechten Handlungen überwiegen, der
zu guten nicht auf- und zum Durchbruch kommen. Auf solche Zu¬
stände im häuslichen Heim deutet die Tatsache, daß 63,9 % aller Für¬
sorgezöglinge des Jahrgangs 1904 auf Grund des § 1 Ziffer 3, der
schon eine fortgeschrittene Verwahrlosung voraussetzt, überwiesen
wurden. Schließt man noch diejenigen Fälle ein, wo die Über¬
weisung auf Grund der Ziffern 1 und 3 oder 1, 2 und 3 erfolgt ist,
so sind es 72,7 % odor fast % aller in 1904 überwiesenen Zöglinge-
bei denen die Verwahrlosung schon ganz offen zu Tage lag. Die
Zahl der gefährdeten Kinder ist überhaupt nicht annähernd zu
schätzen. Und doch wäre ein Einblick in diese Verhältnisse gerade
am wichtigsten, da hier die Hilfe der F. E. am notwendigsten und
erfolgreichsten wäre. Denn im Beginne der Verwahrlosung genügt
oft schon ein einfacher Wechsel der Umgebung mit Ausschaltung
des fehlerhaften Einflusses der Erziehung, um das Kind von seinen
Unarten und krankhaften Erscheinungen zu befreien. Die schlechten
Vorstellungen sind noch locker, ungefestigt und bei der Impressio-
nabilität des Kindes leicht durch Einschaltung besserer Eindrücke und
Vorstellungen zu verdrängen. Auch der Nachahmungstrieb des
Kindes ist in jüngerem Alter bei der Erziehung mit besserem Erfolg
1) Ich entnehme diese Zahlen, wie auch die weiterhin folgenden statistischen
Angaben, dem letzten amtlichen Bericht über die F. E. Minderjähriger in Preußen
für das Jahr 1904.
9*
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132
III. Leers
zu verwerten. Die kurzen Schulstunden mit ihrer Belehrung und
Erziehung hinterlassen aber keine oder nicht genügend tiefe Eindrücke,
als daß sie nicht durch traurige Verhältnisse im Eltemhause bald
wieder paralysiert würden. Eine kurze Aussendung der vielfach
geistig und körperlich gleich gefährdeten Kinder in Ferienkolonien,
Ferienheime ist auch problematisch. Wenn die Kinder nach kurzen
Wochen in die alten verderblichen Einflüsse zurückkehren, ist
der Erfolg dieser sonst so wohltätigen Einrichtung bald wieder ver¬
schwunden.
In den meisten Fällen hilft nur die gänzliche Herausnahme aus
der gefährlichen Umgebung und die frühzeitige und unbeschränkte
Verbringung in geordnete Zustände.
Besonders in den Großstädten verhält sich die vielfach herrschende
Wohnungsnot zu dem Kinderelend, wie die Ursache zur Wirkung.
Bernhard 1 ), der die Verhältnisse von 6551 Kindern aus dem Zentrum
Berlins untersuchte, fand, daß die Schlafzeit derselben durchschnitt¬
lich um 1 Stunde 46 Minuten täglich zu kurz war. Sicher ist,
schließt er, die Ursache dafür weniger in Uberbürdung mit Schul¬
arbeiten oder krankhafter Schlaflosigkeit zu suchen, als vielmehr in
dem Unverstand und der Lässigkeit der Eltern, vor allem aber in
mißlichen sozialen Verhältnissen. Bis zu 9 Personen schlafen nach
diesen Untersuchungen in einem Raum und bis zu vier in einem
Bett, in einem Raum in dem die ganze Familie auch tagsüber wohnt
Räume und Lagerstätten spotten oft allen hygienischen Anforderungen.
Daß durch solche Verhältnisse das Schamgefühl der Kinder früh¬
zeitig leidet, liegt auf der Hand. Die große Zahl der wegen Sitt¬
lichkeitsvergehen verurteilten Jugendlichen stammt meist aus solchen
ärmlichsten Wohnungsverhältnissen, die der Unsittlichkeit zweifellos
Vorschub leisten. Die heutigen Erwerbsverhältnisse bringen es mit
sich, daß der Jugend mehr und mehr der väterliche Schutz, die
mütterliche Aufsicht und Fürsorge verloren geht. Schon in den
ersten Lebensjahren, wo sie am notwendigsten und wirksamsten wäre,
fehlt die Erziehung der Kinderstube. Die Mutter der Kinder muß
oft mitverdienen, oder sie sorgt überhaupt allein für den Unterhalt
der Familie und wird dadurch den größten Teil des Tages von
Hause ferngehalten. Die heran wachsenden Kinder, sich selbst über¬
lassen und durch das enge Zusammenleben mit den Erwachsenen,
durch die Teilnahme an ihren Genüssen frühreif, fallen schon früh
dem schlechten Beispiel und der Verführung anheim.
1) Mitgeteilt auf dem Kongreß für Kinderforschung, Berlin, 1906.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 133
Wertvolle Aufschlüsse über das Milieu, aus dem die der Für¬
sorge bedürftigen Kinder und Jugendlichen stammen, gibt der statis¬
tische Bericht über die Fürsorge Erziehung. Fast die Hälfte der
Familien, aus denen sich die Fürsorgezöglinge des Jahrgangs 1904
rekrutierten, war durch Vorstrafen des Vaters, der Mutter oder beider
Eltern belastet. Von den Vätern waren 1294, von den Müttern 425,
von beiden Eltern 752, zusammen also 2451 mit Haft, Gefängnis,
Zuchthaus, Arbeitshaus oder mit mehreren dieser Strafen zusammen
vorbestraft Es bleibt allerdings die Frage, sagt mit Recht der Be¬
richt, ob nur die in den Strafen zum Ausdruck kommende kriminelle
Neigung der Eltern und nicht auch die sittlichen und wirtschaftlichen
Nachwirkungen der Freiheitsstrafen selbst den erzieherischen Notstand
der Kinder verschuldet haben. Derselbe Notstand wirtschaftlicher
Art spricht sich darin aus, daß 330 Elternpaare von F. Zöglingen ge¬
trennt leben, 165 geschieden sind. Das am stärksten konstruktive
Element bei der Erziehung, die feste, ruhige Ordnung der Familie
mag hier schon lange den Kindern gefehlt haben. 28,8 % der Familien
waren durch schlechte Neigungen eines oder beider Elternteile ver¬
wüstet; 871 Väter, 394 Mütter, 1622 Elternpaare waren dem Trunk,
der Unzucht oder Arbeitsscheu oder mehreren dieser Laster zugleich
ergeben. Die Trunksucht der Väter, die Unzucht der Mütter scheint
sich nach den Berichten der letzten Jahrn in auf steigender Linie zu
bewegen. 493 Brüder, 86 Schwestern von Zöglingen waren bereits
bestraft, in 80 Fällen Brüder und Schwestern, 114 Schwestern waren
der Unzucht ergeben. Endlich liegt auf der Hand, daß auch schlechte
Vermögensverhältnisse, verschuldet oder unverschuldet, die Verwahr¬
losung begünstigen. Neben diesen exogenen Faktoren sind es dann
noch endogene, die die Verwahrlosung verursachen. In 77 Fällen
war bei den Vätern, in 94 bei den Müttern, in 3 bei beiden Eltern zu¬
gleich Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Epilepsie zu verzeichnen.
So waren die Heime, die Familien der Zöglinge beschaffen,
sehen wir uns jetzt diese selbst an. Von den 6458 in 1904 der
Fürsorge-Erziehung überwiesenen Minderjährigen waren 1571 männ¬
liche, 458 weibliche mit Verweisen, Haft und Gefängnistrafen vorbe¬
straft. Alle Vergehen und Verbrechen waren vertreten, von der Ur¬
kundenfälschung, Unterschlagung, den Betrug und einfachen Dieb¬
stahl bis zum schweren Diebstahl, Raub, Einbruch, Sittlichkeitsver-
brechen, zur Brandstiftung und gefährlichen Körperverletzung. 1843
männliche, 1182 weibliche Zöglinge waren der Landstreicherei,
Bettelei, Trunksucht, Unzucht ergeben. Unter den letzteren waren
9,2 °/o weibliche Schulpflichtige, 64% weibliche Schulentlassene, 7%
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III. Leers
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hatten bereits geboren oder waren schwanger, 6,5 % aller Zöglinge
waren syphilitisch infiziert. Fast die Hälfte der Zöglinge war also
schon mit eingewurzelten schlechten Neigungen behaftet, fast ein
Drittel schon dem Verbrechen zum Opfer gefallen und bereits unter
den Händen des Strafrichters gewesen. Eine überaus traurige und
eindringliche Sprache reden diese Zahlen, wenn sie auch im Hinblick
auf die Heime kaum mehr Erstaunen erregen können.
Die energische Bekämpfung dieser Schäden, besonders die
rechtzeitige Steuerung der Verwahrlosung und Eindämmung der
jugendlichen Verbrechen durch einen prophylaktischen Eingriff ist eine
so brennende Erage unserer Zeit, daß die Beteiligung aller Kreise an
der Lösung dieser sozialen Aufgabe berechtigt und erwünscht erscheint.
Erst die Neuzeit und ihre naturwissenschaftlichen Anschauungen
haben dazu geführt, das Verbrechen und Laster vielfach auf eine
soziale Ursache zurückzuführen. Man wird sich mehr und mehr be¬
wußt, daß es eine soziale Krankheit ist, eine „Krankheit des Gesell¬
schaftskörpers“ sagt Kräpelin 1. c., zu deren Besserung und
Heilung nicht Heilmittel am Platze sind, die wie die mehr oder
weniger langen Freiheitsstrafen, das Übel symptomatisch bekämpfen,
sondern solche, die es an der Wurzel fassen. Diese zielbewußte Be¬
kämpfung des Verbrechens bevorzugt Maßregeln, welche das Wohnungs¬
elend beseitigen, das Schlafgängerwesen, Trunksucht, Prostitution be¬
kämpfen, der Verarmung entgegenwirken u. a. m. Schon werden
die Stimmen Berufener laut, daß die Gesellschaft nicht das Recht
habe, einen Jugendlichen zu strafen, solange sie nicht alles getan
hat, seine Lebensbedingungen zu verbessern, ihn zu belehren, zu er¬
ziehen (A. v. Rohden auf dem Kongreß für Kinderforschung,
Berlin 1906), seinen Willen zur Selbstzucht und zu fruchtbringender
selbständiger Arbeit zu schulen. In je früherem Alter damit begonnen
wird, desto bessere Erfolge sind zu erwarten, desto eher sind grobe
Einwirkungen zu entbehren. Es ist sowohl im Interesse des Kindes
wie der Gesellschaft, nicht zu warten, bis es völlig verdorben
und dem Gericht verfallen ist, sondern eine vorbeugend wirkende
Erziehung zeitig und planmäßig selbst in die Hand zu nehmen, wenn
die Einpflanzung der zum sozialen Leben notwendigen Vorstellungen
im Elternhause nicht vermittelt wird, sich die Spuren der Verwahr¬
losung als Vorstufe zum Verbrechen zeigen. Durch diese Maßregel
wird auch dem Staate der größte Dienst erwiesen, indem er vor den
Gefahren behütet wird, die ihm aus dem Aufwachsen einer verwahr¬
losten verkommenen Jugend drohen, aus der sich das notorische
Verbrechertum immer wieder ergänzt. Besonders bedürfen die sog.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. lo5
Flegeljahre, die Jahre zwischen 14 und 16 eines wachsamen Auges
und nicht selten der erzieherisch bevormundenden Einwirkung. Die
geschlechtliche Reifung, die Schulentlassung, der Hinaustritt ins
Leben, die damit verbundenen größeren Anforderungen in geistiger
und körperlicher Beziehung, die Gefahren, die die Lockerung der
Zucht und Aufsicht mit sich bringen, lassen es für viele, besonders
die weniger wertigen, in dieser Zeit nicht an Gelegenheit zu straucheln
fehlen. Daher sollte aber auch die Straftat eines Jugendlichen grund¬
sätzlich anders beurteilt werden, als die eines Erwachsenen. In jedem
solchen Falle sollte geprüft werden, inwieweit sie das Ergebnis von
Charakteranlage, Erziehung und Umgebung ist und danach ent¬
schieden werden, ob nicht im Interesse der Allgemeinheit auf eine
Bestrafung verzichtet werden kann, im Interesse des Jugendlichen
sie nicht besser gänzlich unterbleibt und durch andere Maßnahmen
ersetzt wird, die darauf hinzielen, ihn durch Belehrung und Erziehung
möglichst noch zu einem brauchbaren Mitglied der menschlichen Ge¬
sellschaft zu machen.
Diesen modernen Rechtsanschauungen ist bereits in den am
1. Dezember 1905 in den Xiederlanden in Kraft getretenen sogen.
Kindergesetzen gesetzgeberischer Ausdruck verliehen. Sie decken
sich im wesentlichen mit den von Binswanger auf der Versamm¬
lung der staatswissenschaftlichen Gesellschaft in Jena 1905 aufge¬
stellten wünschenswerten Grundsätzen für die Behandlung krimina¬
listischer Minderjähriger, daß zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit
die volle sittliche und geistige Reife bei Angeschuldigten zwischen
15 und 18 Jahren verlangt werden müsse; jeder Bestrafung eine er-
ziehungs- und vormundschaftsamtliche Behandlung des Falles voraus¬
gehen solle; alle kurzen Freiheitsstrafen, Haft und Gefängnis, zweck¬
los seien, der Strafvollzug bei den Jugendlichen vielmehr in be¬
sonderen Anstalten zu geschehen habe, in denen der Zweck der Er¬
ziehung und Besserung in erster Linie stehe. —
Das Gesetz vom 2. Juli 1900, welches bei uns in Preußen nicht
nur an die Stelle der gerichtlichen Strafe bei Minderjährigen die
staatliche Fürsorge-Erziehung setzt, sondern auch die Möglichkeit
gibt, prophylaktisch der beginnenden Verwahrlosung zu steuern, be¬
vor der Rechtsbruch eingetreten ist, scheint noch keineswegs tief ge¬
nug in alle Volksschichten eingedrungen zu sein. Anders ist es
kaum zu erklären, daß die überwiesenen Fürsorgezöglinge, wie wir
oben gesehen, vielfach erst dann zur Überweisung gelangen, wenn
sie ein Erziehungsmaterial darstellen, welches einen Erfolg von vorn
herein nicht wahrscheinlich macht, jedenfalls der Erziehung die
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136
III. Lkers
größten Schwierigkeiten erwachsen läßt. Daß andrerseits Fälle
rnonate- und jahrelanger Kindermißhandlung und Verwahrlosung
erst zur öffentlichen Kenntnis kommen, wenn es zu spät ist, wenn
das kleine Opfer erlegen ist. Die Tageszeitungen berichten fast täg¬
lich von solchen Fällen. Freilich ist es nicht nur Unkenntnis der
Möglichkeiten und Wege zur Abhilfe, ebenso oft geht man aus Indo¬
lenz oder in dem falschen Glauben befangen, sich nicht in anderer
Erziehungsweise mischen zu dürfen, in der Furcht sich Feinde zu
machen, mit blinden Augen und tauben Obren an dem Kinderelend
vorbei. Geht man die Überweisungsbeschlüsse älterer Minderjähriger
durch, sagt der Fürsorgebericht 1904, so erkennt man, daß die Ver¬
wahrlosung bei vielen nicht erst vor kurzem zutage getreten ist, daß
der Beschluß ebensogut und mit demselben Recht schon Jahre vor¬
her hätte erlassen werden können und es dürften Behörden und Private im
Interesse der Rettung vieler Minderjähriger und der leichteren Er¬
ziehungsarbeit ein schärferes Augenmerk auf die Jugend richten und
mit Anträgen auf Einleitung des Verfahrens in den geeigneten Fällen
nicht zögern.
Über die Unterbringung des Zöglings in Familien- oder Anstalts¬
pflege entscheidet der Kommunalverband. Ist schon die Frage, ob
Anstalt oder Familie, für den Erfolg der Fürsorgeerziehung von der
größten Wichtigkeit und daher sorgfältig zu erwägen, so ist sie oben¬
drein zuweilen recht schwierig nach Wunsch zu erledigen, denn die
Zahl der Familien, welche zur Aufnahme von Zöglingen bereit sind
und die wünschenswerten Garantien für eine gedeihliche Erziehung
der Kinder bieten, ist natürlich in den einzelnen Landesteilen sehr
verschieden. Schließlich entscheidet nach der jetzt üblichen Hand¬
habung die Eigenart des Zöglings und die Größe seiner Verwahr¬
losung. „Solange die Zwecke der Fürsorgeerziehung durch Unter¬
bringung in einer Familie nur irgend erreicht werden können, ist dieser
der Vorzug zu geben“, heißt es in den Ausführungsbestimmungen
zum Gesetz. In der Tat ist eine gute Kostpflege der Anstaltserziehung
vorzuziehen. Vor allen Dingen ist es die mütterliche Fürsorge,
welche die Kinder bald vergessen läßt, daß sie nicht mehr bei der
leiblichen Mutter sein können. Und der Begriff der Familie bleibt
dem Kinde lebendig. Eine wesentliche Forderung bei der Familien¬
pflege müßte allerdings sein, daß jedes Kind sein eigenes Bett hat.
Gerade die ländlichen Pflegeeltern nehmen es mit dem Alleinbetten
nicht so genau. Oft gilt das Znsammenschlafen gerade hier als Be¬
weis der näheren Zugehörigkeit zur Familie, namentlich bei kleineren
Kindern.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 137
Leider ist man von der direkten Überweisung in Familien not¬
gedrungen wieder mehr und mehr abgekommen. Es sind zu oft
Rückversetzungen in die Anstaltspflege notwendig, die dann natür¬
lich für Pfleger und Zögling gleich deprimierend sind. Bei dem oben
beschriebenen Fürsorge-Erziehungsmaterial ist schon wegen der An¬
steckungsgefahr, welche die verkommenen Zöglinge für die Pfleger¬
familie bilden würden, die direkte Familien-Fürsorgeerziehungjn den
meisten Fällen unmöglich. Vorläufig wird eine Kombination von
Anstalts- und Familien-Erziehung die Norm bleiben müssen, in der
Weise, daß zunächst der größte Teil der Zöglinge der planmäßigen
Erziehung und strengen Zucht und Aufsicht einer Anstalt teilhaftig
wird und erst, wenn die größten Schäden abgestreift sind, die
Familienerziehung als Übergangsstadium in die Freiheit eintritt.
Hoffentlich kommen wir noch einmal dahin, daß die Zöglinge so
frühzeitig der Fürsorgeerziehung zugeführt werden, daß sie, weniger
verdorben und leichter ziehbar, öfter dem idealeren Ersatz der elter¬
lichen Erziehung, der Familienfürsorge anvertraut werden können.
Am 31./3. 1905 befanden sich von sämtlichen bis dahin in
Preußen untergebrachten Fürsorgezöglinge 13733 noch in Anstalts¬
pflege, 10007 in Familienpflege. Von den 5434 im Jahrgang 1904
untergebrachten fanden nur 27 in eigener, 899 in fremden Familien
Unterkommen, während 4508 aus den oben erwähnten Gründen zu
nächst Anstalten übergeben werden mußten. Die letztere Zahl ist
also aus obigem Gesichtspunkt verständlich. Wenn aber von den
in früheren Jahrgängen überwiesenen Zöglingen sich noch der größere
Teil in Anstalten befindet, so ist dies eine weniger erfreuliche Tat¬
sache. Die Zahl der Zöglinge, welche vom Beginne der Fürsorge-
Erziehung bis zum 31./3. 1905 ausschließlich in Anstalten unter¬
gebracht waren, betrug 21,1 °/ 0 der männlichen, 37,8 % der weiblichen
Zöglinge, während nur 3 °/ 0 männliche und sogar nur 1 °/o weibliche
in demselben Zeitraum ausschließlich in Familienpflege waren.
Abgesehen davon, daß diese Zahlen ganz allgemein auf ein zur
Familienpflege durchweg ungeeignetes, schwieriges Erziehungsmaterial
schließen lassen — besonders auffallend ist die äußerst geringe Zahl
von weiblichen Zöglingen, die überhaupt zu irgend einer Zeit der
Familienpflege anvertraut werden konnten — dürften sie zum Teil
auch wohl durch Mangel an geeigneten Pflegerfamilien bedingt sein.
Und das ist um so auffallender, als an die Familien, die ausgewählt
werden, vorläufig ein nicht allzustrenger Maßstab angelegt wird.
Die Forderungen müßten im Interesse des Erziehungszweckes eigent¬
lich höhere sein. Der Min. Erl. vom 25. Juni 1888 (Min. d. J. und
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111. Lkehs
d. J.), der hierbei maßgabend ist, fordert völlig unbescholtenen Ruf
gleiche Konfession, familiäre Pflege, sicheres Auskommen, gesunde
Wohnung, geordneten Haushalt und Entfernung von dem bisherigen
Wohnort des Pfleglings. Als Maximum gilt die Aufnahme von zwei
Kindern. Von der Fähigkeit zum Erzieheramte, die doch die wich¬
tigste und notwendigste Forderung wäre, da sie gerade das Fehlende
ersetzen soll, ist nichts erwähnt. Alle die genannten Bedingungen
können aber vorhanden sein und doch die Qualität zum Erzieher
fehlen. Es sollte nicht genügen, eine in einfachen Verhältnissen
lebende Normalfamilie ausfindig zu machen, die aus der Aufnahme
der Kinder nicht gerade ein Geschäft machen will. Das so häufige
Versagen der Familienpflege gegenüber der schwierigen Aufgabe, an
die sie sich gestellt sieht, hängt mit diesem Grundsatz bei der Aus¬
wahl zusammen. Das Amt eines Familienpflegers ist kein leichtes,
zuweilen ein recht dornenvolles, immer ein hoch verantwortliches.
Es eignet sich durchaus nicht jeder nach Charakter und Temperament
dazu und vor allem, wer erziehen will, muß selbst erzogen sein.
Auch muß ein gewisses Verständnis für die pädagogischen und ärzt¬
lichen Anleitungen zur Behandlung der Zöglinge vorhanden sein nnd
die Fähigkeit, diesen Anleitungen gemäß zu verfahren. Das Ideal,
daß jede Familie gerade für das betreffende Kind passend ausgewählt
werden könnte, wird nicht so schnell zu verwirklichen sein. Aber
erstrebenswert wäre es; leider sind wir heute von diesem Ideal noch
weit entfernt, wie die jährlich stichprobenweise stattfindenden
Revisionen der Familien-Fürsorgezöglinge zeigen. Hierbei ergab sich,
daß ein großer Teil der Dienst- und Lehrherren der Zöglinge nicht
oder nicht in dem erforderlichen Maße das Bewußtsein besaßen, daß
es ihnen auch obliege, den Zögling weiter zu erziehen, sodaß ver¬
schiedentlich verschärfte Aufsichtsmaßregeln angeordnet oder die
Zöglinge sogleich aus ihren Stellen genommen werden mußten.
Auch was die nicht seltenen Entweichungen aus der Familienpflege
betrifft, ist der Bericht von 1904 der Ansicht, daß sie beweisen, daß
es doch manchmal an der freundlichen und geduldigen Behandlung
der Schutzbefohlenen fehlt und nicht selten auch an der Beauf¬
sichtigung und richtigen Leitung. Das geht aus den nicht selten
vorkommenden Entwendungen und Unterschlagungen, die mit den
Entweichungen verbunden sind, hervor.
Schon aus diesem Gesichtspunkte, die vorhandenen Mängel in
der Unterbringung der Zöglinge, aufzudecken, mehr noch, um durch
öftere persönliche Rücksprache mit dem Pfleger und dem Fürsorger
deren Verständnis und Interesse für ihre Aufgabe zu wecken, wäre
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 139
ein Ausbau dieser Kontrollbesuche wünschenswert. Mindestens ein
zweimal jährlich — im Sommer und Winter — stattfindender Be¬
such aller in Familienpflege befindlichen Zöglinge wäre zu fordern.
Dann noch eins. Die vom Oberpräsidenten ernannten Revisions¬
kommissare sind gewöhnlich die Anstaltsvorstände des zugehörigen
Bezirkes. Da die Anstalten bisher nur unter pädagogischer Leitung
stehen, ist die Kontrolle eine rein pädagogische. Diese genügt
zweifellos nicht, die gesundheitlichen und hygienischen Verhältnisse
der Familienzöglinge zu überwachen. Er bedarf dazu vielmehr neben
der pädagogischen einer ärztliehen. Ich komme auf diese Frage der
ärztlichen Versorgung der Fürsorgezöglinge noch zurück.
Die besonders großen Schwierigkeiten, welche für die Familien-
Fürsorgeerziehung seitens der Zöglinge wie der Pfleger erwachsen,
spricht sich auch in dem nicht geringen Wechsel in den Pflegestätten
und in den Rückversetzungen aus Familien in Anstalten aus. Bis
1904 waren von dem Jahrgang 1903: 6,3 (5,2) °/o ‘) in dritter, 1,6
(2,3) °/o in vierter, 0,2 (0,7) °/o in fünfter Stelle; von dem Jahrgang
1902: 13,6 (12,1) o/ 0 in dritter, 4,5 (5,3) o/o in vierter, 1,7 (1,8) o/ u in
fünfter Stelle; vom Jahrgang 1901: 16,4 (17,8) o/ 0 in dritter, 5,9
(S,0) o/o in vierter, 2,1 (3,1) o/ 0 in fünfter Stelle. Das heißt, je länger
die Fürsorgeerziehung nötig ist, um so häufiger ist ein Wechsel er¬
forderlich. Im Jahrgang 1904 wurden rückversetzt vom Jahrgang
1903: 2,0 (2,2) o/ 0 , vom Jahrgang 1902: 4,8 (4,8) o/°, vom Jahrgang
1901: 5,1 (8,2) o/ 0 , d. h. die Rückversetzungen steigen ebenfalls mit
der Dauer der Fürsorgeerziehung. Sowohl bei dem Wechsel wie
auch bei den Rückversetzungen überwiegen die weiblichen Zöglinge
und zwar besonders in den älteren Jahrgängen, eine Tatsache, die
deutlich auf eine schwerere Erziehbarkeit dieser Elemente hinweist
und um so auffallender ist, als sie mit den Erfahrungen der Normal¬
erziehung nicht übereinstimmt. Nach den bisherigen Erfahrungen sind
es die in sittlicher Beziehung frühzeitig verwahrlosten Zöglinge, die
die schwersten Erziehungsobjekte bilden. Auch wenn sie sich in der
Anstalt gut geführt haben, sind sie dennoch für einen Dienst unge¬
eignet; bei ihrer Willensschwäche und zumal, wenn es sich, wie es
meist der Fall ist, um Schwachsinnige und Minderwertige handelt,
fallen sie fast stets bald von neuem einer sich bietenden Versuchung
zum Opfer.
Die Schwierigkeiten bei der Ermittelung und Auswahl geeigneter
Pfleger- wie auch passender Dienst- und Lehrstellen sind, auch wenn
1) Die eingeklammerte Zahl gibt den Prozentsatz der weibliehen Zög¬
linge an.
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140
111. Lee rs
kein gar zu hoher Maßstab angelegt wird, so große, daß nicht selten
die Überweisung in die Familie daran scheitert. Die Stadt Berlin
hat deshalb, nach dem Bericht, eine Anzahl älterer Fürsorgezöglinge,
welche Neigung für den Seemannsberuf zeigen und nach ärztlichem
Urteile dazu geeignet sind, durch Vermittelung des Deutschen See¬
fischereivereins als Schiffsjungen auf Fangschiffen der Heringsfischerei¬
gesellschaft „Neptun“ zu Emden und der Vegesacker Heringsfischerei¬
gesellschaft zu Gooke—Vegesack untergebracht und während der
Fangzeit beschäftigt. Außer voller Beköstigung erhalten sie hier Lohn
je nach Art der Beschäftigung. Der Direktor der Gesellschaft hat
als Fürsorger die elterliche Gewalt über die Zöglinge und erhält über
jeden eine kurze Charakteristik. In einzelnen Provinzen sind auch
Zöglinge mit gutem Erfolge als Gesinde bei Königl. Förstern unter¬
gebracht worden, die wegen ihrer zumeist abgelegenen Lage stets mit
Dienstbotenmangel zu kämpfen haben. Der Mangel an Versuchungen
und die Erschwerung des Verkehrs der Zöglinge mit ihren Ange¬
hörigen, läßt die Wahl solcher Stellen als besonders geeignet erscheinen.
Denn ein nicht zu unterschätzender Nachteil der Familien- gegenüber
der Anstaltsfürsorge liegt darin, daß die Zöglinge in ersterer bedeutend
mehr dem schädlichen Einflüsse ihrer Angehörigen ausgesetzt sind,
deren Verhetzungen und Fluchtunterstützungen die Erziehungsarbeit
beständig stören und illusorisch machen.
Die zweite vom Gesetz offen gelassene Alternative der Fürsorge¬
erziehung ist die Anstaltserziehung. Im Hinblick auf das größere
Kontingent vorbestrafter und lasterhafter Fürsorgezöglinge ist es ver¬
ständlich, daß das gemischte System, erst Anstalt, dann Familie und
diese auch zunächst nur versuchsweise, heute noch durchaus unum¬
gänglich ist. Das Jahr 1904 zeigt in Preußen einen Zuwachs von
25 Anstalten zu den 358 bestehenden, sowie eine beträchtliche Ver¬
mehrung der Plätze an den vorhandenen Anstalten, ein Beweis, wie
tätig man im Ausbau der Fürsorgeerziehung ist Aber trotz der umfang¬
reichen Neu- und Erweiterungsbauten ist dem vorhandenen Bedürfnis
nach Anstaltsplätzen immer noch nicht genügt Weitere Einstellung
von Mitteln seitens der Provinziallandtage wäre dringendes Bedürfnis,
denn diese Aufwendungen werfen reichlich moralischen und wirt¬
schaftlichen Gewinn ab und sparen weit größere an anderen Stellen.
Vor allem wäre es wünschenswert, wenn der Staat baldmöglichst in
allen Provinzen vorbildliche Muster- und Zentral-Anstalten gründete,
an die sich die vorhandenen privaten anlehnen könnten. Nicht ein¬
verstanden kann ich mich mit dem Vorschläge Klumkers 1 ) er-
1) Jur.-Psveh. Grenzfragen. 3. Bd. 1906, Heft S.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 141
klären, daß die privaten "Fürsorge-Einrichtungen zunächst Erfahrungen
sammeln sollen, an die sich ein durchgreifender Ausbau der öffent¬
lichen Fürsorgeerziehung anschließen solle. Die ersteren können,
wenigstens vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, wie die gleichen
Anstalten in der Irrenfürsorge in vielen Fällen, nur als Notbehelf
gelten und die Erfahrungen sollten davor warnen, in der Kinder¬
fürsorge denselben Weg zu gehen, den wir in der Irrenfürsorge ge¬
gangen sind. Besonders unter den schon vor dem Gesetz vom *2. Juli
1900 vorhanden gewesenen und zur Unterbringung von Fürsorge¬
zöglingen benutzten privaten Anstalten dürften manche sein, welche
durch ihre Organisation, ihre Lage und die sanitäre Beschaffenheit
ihrer Räume zur Aufnahme von Zöglingen wenig geeignet sind, und
schon den an sie zu stellenden hohen hygienischen Anforderungen
nicht genügen.
An die Pfleger in den Erziehungsanstalten sind dieselben hohen
Anforderungen zu stellen, quantitativ wie qualitativ, wie an die
Pfleger in der Irrenfürsorge. Gut geschultes und absolut zuverlässiges
Erziehungspersonal zu erlangen und auf die Dauer zu erhalten, ist
gewiß oft recht schwierig, besonders in entlegenen Anstalten, aber
auch in größeren Industriebezirken. Die Höhe der Fabrik- und
Arbeitslöhne und das ungebundene Leben in diesen Lohnverhältnissen
tun hier den strengeren Ansprüchen, die an das Erziehungspflege¬
personal gestellt werden müssen, leicht Abbruch und stehen der Heran¬
ziehung eines Stammes älterer, erfahrener Pfleger bindernd im Wege.
Die Gewinnung und Ausbildung eines seßhaften, etatisierten Pflege¬
personals ist daher eine besonders wichtige Aufgabe der Provinzen
und die hierzu erforderlichen Mittel dürfen nicht gescheut werden.
Ebenso große Schwierigkeiten bereitet den Anstalten oft die Ge¬
winnung geeigneter Lehrkräfte. Da den Zöglingen ein vollständiger Er¬
satz für den Volksschulunterricht geboten werden muß, handelt es sich um
Anstellung seminaristisch gebildeter Lehrkräfte und noch dazu solcher,
die bereit sind, und sich gewachsen fühlen, den schweren Dienst als
Lehrer an einer Anstaltaschule zu übernehmen. Auch das erfordert
eine sorgfältige Auswahl und finanzielle Opfer zur materiellen Sicher¬
stellung und Gewährung besonderer Vorteile, wenn gute Kräfte dauernd
erhalten bleiben sollen. —
Wie steht es nun mit den Wirkungen der Fürsorgeerziehung?
Man hört jetzt oft, gerade von richterlicher und polizeilicher Seite,
die zu einem Urteil am berufensten ist, die Erfolge der Fürsorge¬
erziehung stehen in keinem Verhältnis zu dem jetzt annähernd 6 Milli¬
onen jährlich betragenden Kostenaufwand. Die Strafakten der früheren
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III. Leers
Fürsorgezöglinge liefern den aktenmäßigen Beweis dafür, daß die
Fürsorgezöglinge gerade die schlimmsten unter den jugendlichen Delin¬
quenten sind.
Da an dem richtigen Prinzip der u. U. staatlichen Kinderfür¬
sorge nicht zu zweifeln ist, das Gesetz unstreitig aus dem dringendsten
Bedürfnis heraus entstanden ist, sind es zweifellos andere Momente,
die zur Zeit noch jenen Einwänden, denen eine gewisse Berechtigung
nicht abzustreiten ist, Baum verschaffen. Ich will versuchen, einige
Momente, die nach meinem und dem Urteil anderer, die sich mit
der Fürsorgeerziebungs - Frage eingehender beschäftigt haben, dazu
beitragen, die Erfolge dieses überaus segensreichen Gesetzes zu be¬
schränken, zu beleuchten. Ein abschließendes Urteil wird ja noch
gar nicht gefällt werden können, es liegen erst die Erfahrungen
weniger Jahre vor uns und in mancher Beziehung sind wir noch
nicht den Kinderschuhen entwachsen.
Wie bei der Erziehung überhaupt, so ist ganz besonders bei der
Fürsorgeerziehung Individualisierung notwendig und der Mangel, die
Unmöglichkeit dieser stellt hier wie dort jeden Erfolg in Frage. Die
Handhabung der Fürsorgeerziehung muß sich daher, wenn sie dieser
Individualisierung Rechnung tragen soll, von vornherein die Unter¬
lagen dazu verschaffen. Dies kann nur dadurch geschehen, daß zu¬
nächst eingehender, als es bisher geschieht, die Einflüsse, unter denen
das Kind herangewachsen ist, das Milieu, in dem es groß geworden
ist, ermittelt und berücksichtigt werden. Mit Recht weist Baiser 1 )
auf den grundsätzlichen Unterschied hin, ob es sich um die Fürsorge¬
erziehung eines Kindes handelt, das von den Eltern mißhandelt, mit
oder ohne Schuld verwahrlost wird, oder ob das Kind selbst durch
schlechte Charaktererscheinungen zu seiner Verwahrlosung beiträgt
und durch seine Untaten ein Einschreiten veranlaßt. Es sind genau
zu erforschen, ich folge Baiser, die gesamte Lebensführung, die
Erwerbsverhältnisse, Kriminalität, insbesondere Trunksucht, Arbeits¬
scheu, Unsittlichkeit der Eltern und Geschwister, die Einflüsse der
Umgebung, der Nachbarschaft. Zu diesen Ermittelungen genügen
nicht immer die Berichte des Lehrers, des Geistlichen, des Arztes auch
wohl nicht immer die polizeilichen Erkundigungen, wie wir später in
einem Falle sehen werden. Sie müssen in das Haus und in die
Familie verlegt werden und zwar durch Organe, wie sie dem städtischen
Waisenrat, dem freiwilligen Erziehungsbeirat, der öffentlichen Armen¬
pflege zur Seite stehen und hier durch ihren persönlichen Verkehr
l) Jur.-psychiatr. Grenzfragen. 3. Bel. 1906, Heft 8.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 143
mit dem Schützling segensreich wirken. Die Gesellschaft, vor allem
die Frauen, sollten sich mehr der Sache des Kinderschutzes annehmen,
sich mehr als bisher daran beteiligen, die für die Fürsorgeerziehung
geeigneten Kinder ausfindig zu machen und zu retten. Frauen haben
für Kinderelend den schärfsten Blick und eignen sich für diese chari-
tative Tätigkeit am besten. Dann erst steht zu hoffen, daß Rhein -
babens Wort verwirklicht wird und die Wohltaten des F. E. G.
bis zum letzten Hause und bis zur letzten Hütte getragen werden,
wo immer hilfsbedürftige, verwahrloste Kinder sind.
Ferner sind genaue anamnestische Erhebungen über den Minder¬
jährigen, die Erforschung seiner ganzen geistigen und körperlichen
Persönlichkeit, Auffassung, Gedächtnis, Urteil, sittliche Begriffe und
sittliches Verhalten, am besten an der Hand eines von einem psychia¬
trisch geschulten Arzte auszustellenden Fragebogens, unerläßlich.
Schon aus dem Grunde hat diese Untersuchung und Begutachtung
nur dann Wert, wenn sie nach psychiatrischen Gesichtspunkten erfolgt,
weil sich unter den Fürsorgeanwärtern eine erhebliche Zahl psychisch
minderwertiger, krankhaft veranlagter, in der Entwickelung zurück¬
gebliebener oder abnorm gerichteter Kinder befindet. Mönkemöller
stellte in der Anstalt Lichtenberg unter 200 nur 83 geistig Normale
fest. Diese der Einweisung in die Fürsorgeerziehung voraufgehende
Untersuchung gibt erst eine zuverlässige Grundlage für die Entscheidung,
ob Familien- oder Anstaltspflege angebracht ist. Sie gibt auch wert¬
volle Fingerzeige für eine individuelle Behandlung der Zöglinge in
der Anstalt, für eine zweckentsprechende Auswahl der Pflegerfamilie.
Der Arzt muß also öfter als bisher zur Mitwirkung herangezogen
werden. Nach dem Gesetz ist jetzt nur dann ein Gutachten des
Kreisgesundheitsamtes einzuholen, wenn es sich um einen Fall körper¬
licher Vernachlässigung oder Mißhandlung handelt. Erst in den Aus-
fübrungsbestimmungen zum F. E. G. heißt es, daß neben Geistlichen
und Lehrern die Ärzte besonders berufen sind, da, wo ihnen auf
Grund des Gesetzes die Anordnung der Fürsorgeerziehung notwendig
erscheint, die geeigneten Anträge (d. h. Anzeigen an das Vormund¬
schaftsgericht) zu stellen. In der Tat scheinen sie dazu am berufensten,
sind doch die Arzte nach Virchows Wort die natürlichen Anwälte
der Armen und fällt somit die soziale Frage zu einem erheblichen
Teile in ihre Jurisdiktion. Aber darüber hinaus wäre zu betonen und
de lege ferenda ins Auge zu fassen, daß der‘Arzt in jedem Falle vor
der Beschlußfassung der Fürsorgeerziehung gehört, bezw. zur Unter¬
suchung des zukünftigen Zöglings herangezogen würde. Zu erwägen
wäre endlich, ob diese Untersuchung nicht zweckmäßig, wie es
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III. Leers
Klumker vorgeschlagen, — sich zu einer über eine gewisse Zeit
ausgedehnten Beobachtung in einer diesem Zwecke dienenden staat¬
lichen Anstalt für den Zögling besser und erfolgreicher ausführen ließe.
Der Übergang des Zöglings in Fürsorgeerziehung würde sich
demnach in Zukunft folgendermaßen gestalten: Der Einweisungs¬
beschluß erfolgt auf Grund der Ermittelungen und des ärztlichen
Personalfragebogens nach dem Muster der für Irren- bezw. Idioten¬
anstalten vorgeschriebenen, der alle für die ärztliche Beurteilung des
Zöglings wichtigen Angaben enthalten und vom beamteten Arzte aus¬
gefertigt werden müßte. In der (staatlichen oder kommunalen) Beob¬
achtungsanstalt erfolgt eine nochmalige sorgfältige, psychiatrischen
Grundsätzen Rechnung tragende ärztliche Untersuchung des Zöglings
und dann erst seine Einweisung in die endgültige Fürsorgeerziehung,
sei es in eine Anstalt oder in Familienpflege, je nach dem Ausfall
der Begutachtung. Die Fülle wissenschaftlichen Materials, die auf
diese Weise an den Beobachtungszentralen infolge des Durchgangs
aller oder doch der meisten Zöglinge gesammelt würde, wäre ein
überaus großer Gewinn für die praktische Ausführung der Fürsorge¬
erziehung. Das Ergebnis der Begutachtung gelangt, wenigstens in
nuce, mit den Personalpapieren des Zöglings zur Kenntnis des
späteren Fürsorgers oder Anstaltsleiters, der somit über die Eigenart
seines Zöglings von maßgebender Stelle aus orientiert wird und dessen
Behandlung und Pflege auf solche Weise erfolgreicher und weniger
schwierig zu werden verspricht. Mindestens ist dies der Weg, den
der kriminalistische und der im Zustand hochgradiger Verwahrlosung
befindliche Jugendliche, der auf Ziffer 2 und 3 des § 1 F. E. G.
überwiesene, zu gehen hätte.
Wie die Einweisung des Fürsorgezöglings ein Zusammenwirken
von Vormundschaftsrichter und Arzt darstellen müßte, so sollte der
Arzt auch dem Fürsorger und Erzieher bei der weiteren Behandlung
und Pflege des Fürsorgezöglings zur Seite stehen. Die Zustände, bei
denen eine Mitwirkung des Arztes sich unerläßlich zeigt, sind von
La quer 1 ) und Puppe 2 ) schon z. T. gewürdigt worden. Nur der
Arzt kann entscheiden, ob die gewählte Form der Fürsorgeerziehung
auf die Dauer die richtige ist, ob nicht eine Änderung, ein Wechsel
förderlicher, ob nicht gar überhaupt Ausschaltung aus der Fürsorge¬
erziehung erforderlich ist. Auch in den Anstalten dürfte die Er¬
ziehung mehr nach ärztlichen Gesichtspunkten zu gestalten, an Stelle
der Disziplinarmittel oder gar religiöser Bekehrungsversuche mehr
1) Yierteljahrsscbr. für gerichtl. Medizin. 26. Bd., 1903, Suppl.
2) Ebenda 31. Bd., 190$.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 145
Belehrung und ärztliche Maßnahmen zu setzen sein. Kostentziehungen
oder Kostschmälerungen wie sie z. B. noch vielfach in den Anstalten
als Strafmittel verhängt werden, sind vom ärztlichen Standpunkte
durchaus zu verwerfen. Krankhafte Affekte, psychopathische Zu¬
stände sind ärztlich, nicht rein pädagogisch zu behandeln. Es genügt
nicht, daß der Arzt die Gesundbeits- und Ernährungsverhältnisse der
Zöglinge überwacht, die Aufsicht über die ordnungsmäßige Hand¬
habung der Gesundheitspflege ausübt, wie es in den Dienstanweisungen
der Anstalten heißt, es sollte ihm auch Einfluß auf den Lehrplan, vor
allem weitgehendst auf die Disziplinarverhältnisse eingeräumt werden.
Psychiatrische Schulung des ärztlichen Anstaltsberaters ist hiernach
unerläßlich, ebenso verständlich ist, daß diese Aufgaben sich nicht
während eines zweimal jährlichen Revisionsbesuches des beamteten
Arztes erledigen lassen.
Wenn die Sortierung und Verteilung der Zöglinge mehr wie
bisher systematisch nach ärztlich - psychiatrischen Gesichtspunkten
stattfindet, wird im Anschlüsse daran eine strengere Sonderung der
einzelnen Kategorien in den Anstalten Bedürfnis werden. Dan ne¬
in ann 1 ) unterscheidet treffend folgende Zöglingsgruppen, um deren
Unterbringung es sich handeln würden:
1. Die geistig Normalen, a. in mißlichen Verhältnissen sich be¬
findenden, b. bereits verwilderten.
2. Die geistig Abnormen und zwar a. die moralisch defekten,
b. die psychopathisch veranlagten (Imbecillen, Epileptischen, Hysterischen,
konstitutionell Verstimmten).
Nur die Gruppe la eignet sich zur gewöhnlichen Familienpflege
und zur sofortigen Einweisung in dieselbe. Für die Gruppe 1 b
wären schon besonders erzieherisch geschulte Pfleger notwendig, wenn
sie Familienpflege genießen sollen. In den meisten Fällen wird hier
eine längere oder kürzere Anstaltserziehung vorausgehen müssen, um
*die Zöglinge an Ordnung, Reinlichkeit, Fleiß und Gehorsam zunächst
zu gewöhnen. Sie brauchen schon beständige ärztliche Überwachung
nnd Beratung, sind jedoch streng von der Gruppe 2 zu trennen; die
straffe Zucht der Besserungsanstalt ist hier ganz zu vermeiden, da
sie leicht verhärtend wirkt Mit Geduld, Nachsicht, Berücksichtigung
der Individualität, viel Belehrung, Ermunterung und Anleitung zur
selbständigen Führung durch selbstgewählte Arbeit, wenig Bevor¬
mundung und Disziplinierung wird hier am meisten zu erreichen
sein. Um die Anstaltserziehung hier der Familienerziehung recht zu
nähern, empfiehlt sich das koloniale Villensystem.
1) Jur.-psvch. Grenztragen. 8 . Bd., 1906, Heft 8.
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 10
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III. Leers
Die Gruppe 2 eignet sich nicht zur Familienpflege, bedarf viel¬
mehr der systematischen Anstaltserziehung, bei welcher der psychia¬
trisch-ärztlichen Teilnahme an der Leitung und Behandlung der
weitgehendste Einfluß zu lassen ist. Die Kategorien a. nnd b. sind
streng zu trennen, da a. ganz besondere Erziehungsschwierigkeiten
bietet und die Gefahr der Ansteckung mit sich führt. Die Anstalten,
welchen die Kategorie b. zugeführt wird, nähern sich schon dem Typus
der Heilanstalten psychiatrischen Charakters. Versetzung von Zög¬
lingen der 2. Gruppe in Familienpflege, die wohl erst nach längerer
Anstaltserziehung und nur zu besonders verläßlichen und geschulten
Pflegern möglich sein wird, wäre zunächst nur bedingungsweise, mit
der Möglichkeit jederzeitiger Rückversetzung in die Anstalt zu ver¬
suchen.
Als 3. Gruppe würde sich im Laufe der Zeit eine Zahl von
Unverbesserlichen, Unerziehbaren, dauernd Antisozialen herausschälen,
die, erkannt, baldigst ihres schlechten Einflusses auf aie andern Zög¬
linge wegen aus der Fürsorgeerziehung auszuschalten und in beson¬
deren Verwahranstalten, Arbeitsanstalten, den englischen Industrial-
Schools entsprechend, dauernd unterzubringen wären. Jetzt werden
solche Elemente meist auf Grund des Gesetzes vom 11. Juli 1891 den
Irrenanstalten zugeführt, da es sich um Degenerierte, durchweg
Dögönörös superieurs, handelt und hier stören sie die Ordnung außer¬
ordentlich, werden auch über kurz oder lang aus denselben als ge¬
bessert entlassen, um von neuem als gefährliche oder störende Ele¬
mente der Allgemeinheit zur Last zu fallen. Wenn so die Trennung
der Verbesserlichen von den Unverbesserlichen in den Anstalten durch¬
geführt wird, kann ersteren auch mehr Freiheit gelassen werden.
Die Kräfte der Erzieher werden gespart, und es steht zu hoffen, daß
auch die schwer Erziehbaren in ihrer Entwickelung gefördert werden.
Die Fürsorgeerziehungsanstalten können mehr ihren erzieherischen
Charakter wahren und alles vermeiden, was ihnen Anklang an Straf-'
anstalten verleiht. Jetzt hört man vielfach Klagen, daß die Arbeit
in den Fürsorgeerziehungs- Anstalten gegen das Kinderschutzgesetz
verstoße; daß ältere Fürsorgezöglinge manchmal das Gefängnis der
Fürsorgeerziehungs-Anstalt vorzögen und Verbrechen begingen, um
nur in das Gefängnis hineinzukomraen. Derartige Anklagen dürften
darauf hinweisen, daß die Organisation und Verwaltung der Erziehungs¬
anstalten dem Geiste des Gesetzes noch vielfach nicht gerecht wird.
Der Gefängnischarackter der Erziehungsanstalten muß beseitigt, die
erzieherischen Maßnahmen vermehrt werden, was bei richtiger, zweck¬
mäßiger Sortierung der Zöglinge nicht schwer sein dürfte.
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 147
Sonderanstalten oder Sonderabteilungen an Fürsorgeerziehungs¬
anstalten angegliedert, bedarf es für die infolge ihrer Verwahrlosung
oder Mißhandlung erkrankten Zöglinge da diesen in den Kranken¬
anstalten die erforderliche pädagogische Aufsicht und Anleitung fehlt
und ihre Unterbringung in solche überhaupt auf Schwierigkeiten stößt.
Ähnliche Sonderabteilungen sind für die chronisch kranken Zöglinge
(Lungen-, Haut-, Geschlechtskranke) und solche mit entstellenden
körperlichen Gebrechen zu schaffen, Abteilungen, in denen ihrer
Sonderart pädagogisch und ärztlich genügend Rechnung getragen
werden kann.
Alle jene Anstalten wenigstens, deren Betrieb, im Vergleich zu
der Normalerziehungsanstalt (für die Gruppe 1 a und b) besondere
ärztliche und pädagogische Schwierigkeiten bietet, und die ein be¬
sonders vollwertiges, geschultes Pflegepersonal benötigen, sollte.der
Staat, bezw. die Kommunalverwaltung in eigene Verwaltung nehmen
oder was derselbe besagt, die Zöglinge der Gruppe 2 sollten nur
staatlichen und kommunalen Anstalten zugewiesen werden, eine For¬
derung, die in nuce völlig mit dem Anträge des Breslauer Fürsorge
erziehungstages 1906 auf Einrichtung besonderer Landesfürsorge-An-
stalten mit Abteilungen für psychisch minderwertige und abnorm
gerichtete Zöglinge beiderlei Geschlechts unter psychiatrisch-päda¬
gogisch geschulter Leitung — übereinstimmt, und die Unabhängigkeit
der ärztlichen Tätigkeit, die planmäßige Schulung und Ausbildung
der erzieherischen Kräfte, Betrieb und Leitung nach erprobten, ein¬
heitlichen Grundsätzen und im modern-naturwissenschaftlichen Geiste
gewährleisten würde. Durch Unterrichtskurse, fortbildende Vorträge
müßte gesorgt werden, daß die mit der Fürsorgeerziehung berufs¬
mäßig sich befassenden Pädagogen mit den einschlägigen Sonder¬
forschungen und Erfahrungen auf pädagogischem, kriminalpsycho¬
logischem und psychiatrischem Gebiete sich fortlaufend vertraut
machen. In gleicher Weise ließe sich ein Stamm von Pflegern heran¬
ziehen, die auch schwierigen Zöglingen gegenüber mit dem Pflege-
arat vertraut, auch als Familienpfleger und Fürsorger erfolgreich tätig
sein könnten.
Ein weiterer Grund für den Mangel an Erfolg bei der Fürsorge¬
erziehung ist der, daß die Einleitung derselben heute vielfach zu spät
kommt. Die Statistik zeigt deutlich, daß das Fürsorgeerziehungs-
Material, wenn endlich der Überweisungsbeschluß da ist, schon zum
größten Teile wurmstichig, faulig, verdorben ist. Die Zöglinge sind
auch vielfach zu alt, besonders hier in Berlin, als daß man mit ihnen
noch große Erziehungsresultate erzielte. Gerade hier in Berlin sind
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111. Leers
es nach dem Bericht meist ältere schulpflichtige oder schon schul¬
entlassene Zöglinge, die zur Überweisung gelangen, gewohnheitsmäßige
Diebe, Vagabunden, Zuhälter, Dirnen, bei denen die Hoffnung auf
Besserung von vornherein so gut wie ausgeschlossen erscheint. Soll
etwas erreicht werden, so müssen die antisozialen Eigenschaften schon
im Keim erstickt werden, die gefährdeten Kinder also möglichst früh¬
zeitig aus dem gefährdenden Milieu entfernt werden, bevor dasselbe
seinen vergiftenden Einfluß vollends auf sie hat ausüben können,
bevor es zur Verletzung der Sitte und des Gesetzes kam, die unter
den vorhandenen Lebensbedingungen, vielleicht unterstützt durch ab¬
norme Anlage, intellektuelle oder moralische Minderwertigkeit, mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Die Für¬
sorgeerziehung müßte die Möglichkeit haben, schon von Kindheit an
die. Verwahrlosung zu verhüten, vorbeugend zu wirken. Diese
Möglichkeit ist zwar nach § 1, Ziffer 1 des F. E. G. gegeben, aber
gerade die Überweisungen aus § 1, 1 die also die Fälle beginnender
Verwahrlosung in sich begreifen, sind verhältnismäßig selten und gehen
in den letzten Jahren noch mehr zurück. Denn nach dem F. E. G.
soll die Fürsorgeerziehung andererseits das letzte Auskunftsmittel sein,
das erst eintreten soll, wenn alle andern Mitteln versagen. „Bevor
diese Maßregel in Aussicht genommen wird, sagen die A. B., ist sorg¬
fältig zu prüfen, ob nicht durch Anwendung anderer Maßnahmen, der
kirchlichen Einwirkung, der Schulzucht, der Armenpflege, freiwilliger
Liebestätigkeit oder vormundschaftlicher Anordnungen, für welche der
§ 1666 B.G.G. den weitesten Spielraum gewährt, der Verwahrlosung
vorgebeugt oder ihr Fortgang aufgehalten werden kann. Hat die
Verwahrlosung ihren Grund in wirtschaftlicher Not der Eltern oder
Erzieher oder in mangelhafter Fürsorge für ein verwaistes Kihd, so
sind die verpflichteten Armenbehörden von Aufsichtswegen anzuhalten,
ihre Schuldigkeit zu tun.“ All diese Maßnahmen, auch die, durch
welche der Minderjährige nach Maßgabe der §§ 1666 und 1838
B.G.B. dem Ortsarmen verbände anheirafällt, sind nun aber oft nur
ein unzureichender Notbehelf. Einmal scheidet der Minderjährige,
wenn er das erwerbsfähige Alter erreicht hat, in der Regel aus der
Armenpflege aus. Sodann fehlt es auch an jeder Möglichkeit, störende
Einflüsse und Eingriffe der Eltern in das Erziehungswerk zu verhüten,
das schlechte Beispiel auszuschalten, zumal, wenn der Ortsarmenver¬
band die Kinder innerhalb desselben Stadtbezirks unterbringt. Die
Kinder bleiben dann gewöhnlich in der sie gefährdenden Umgebung,
bis sie vollständig verwahrlost und kriminell geworden sind. Kurz,
es mangelt bei dieser Versorgung an dem Hauptmoment, dem Not-
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Uber den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 149
wendigsten: der Möglichkeit einer planmäßigen systematischen erzieh¬
lichen Einwirkung.
Es heißt, die Rechtsprechung des K. G., die erst die andern
Wege zur Verhütung der Verwahrlosung erschöpft wissen will und
dem F. E. G. nur einen subsidiären Charakter zuerkennt, trägt nicht
zum geringsten Teil zu der zu späten Einleitung der Fürsorgeer¬
ziehung bei. Denn die Gerichte ziehen infolge dieser Rechtsprechung
des K. G. jetzt die Grenze der Fälle, in denen Fürsorgeerziehung er¬
forderlich ist, bedeutend enger als früher und die Überweisung kommt
vielfach erst zustande, wenn bereits erhebliche und wiederholte Ver¬
fehlungen gegen Gesetz und Sitte erwiesen sind. Die Folge davon
ist denn, daß Anträge aus § 1 Ziffer 1 in nicht ganz krassen Fällen
gänzlich von den mit Antragsrecht ausgestatteten Behörden unter¬
bleiben. Eine kostbare Zeit, in der Ersprießliches geleistet werden
könnte, die Erziehung noch leichter und erfolgreicher wäre, geht
hierdurch verloren, die vorbeugende Absicht des Gesetzes wird dar
mit zunichte gemacht. — Ich kann auf diese rein formalen Diffe¬
renzen in der Auslegung des F. E. G. hier nicht eingeben. Zweifel¬
los hat das K. G. vom juristischen Standpunkte aus recht, aber
andererseits hat der Staat das größte Interesse daran, daß der be¬
dürftige Jugendliche nicht nur gekleidet, genährt, unterhalten wird,
sondern daß ihm auch als zukünftigem Bürger eine ordnungsgemäße
Erziehung zuteil wird, die es verbürgt, daß er ein soziales und nütz¬
liches Glied der Gesellschaft wird. Daß die Armenpflege, wie sie
heute gehandhabt wird, den Anforderungen der Erziehung der ihr
an vertrauten Jugendlichen nicht genügend gerecht zu werden vermag,
erhellt die Tatsache, daß im Jahre 1904 aus 924 Familien, die orts-
oder landarm waren, also unter der Armenpflege standen, Zöglinge
auf Grund des F. E. G. der Fürsorgeerziehung überwiesen werden
mußten.
Wie notwendig auch die zweckmäßigere Unterbringung der
jugendlichen Abnormen, der Epileptiker, Imbecillen, Degenerierten ist,
für die heute auch die Armenpflege nach dem Gesetz vom 11. Juli
1891 verpflichtet ist, darauf hat Puppe unter Mitteilung einiger
lehrreicher diesbezüglicher Fälle aus der Praxis der Fürsorge¬
erziehung auf der I. Tagung der deutschen Gesellschaft für gericht¬
liche Medizin hingewiesen. Auch der geistig Minderwertige sollte
nicht nur untergebracht werden, auch er gehört, soweit er überhaupt
bildungsfähig ist, in eine Erziehungsanstalt, um das zu retten, was
überhaupt noch an ihm zu retten ist. Diesem Tenor der Ausfüh¬
rungen Puppe’s kann man in jeder Beziehung beipflichten.
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150
III. Leer.«
Was ferner die rechtzeitige Einleitung der Fürsorgeerziehung er¬
schwert und hinausschiebt, sind die langen Verhandlungen bei Er¬
ledigung der Anträge, die Schwierigkeiten bei Anstellung der erforder¬
lichen Ermittelungen und Beschaffung der Personalpapiere. So wurde
in einem Falle der Personalbogen erst 10 Monate nach Erlaß des
Überweisungsbeschlusses, in einem anderen Falle sogar erst 13 Monate
später geliefert, weil der Zögling flüchtig gegangen war. Mit Recht
macht Klumker darauf aufmerksam, wie sehr es zwischen all den
richterlichen und behördlichen Instanzen, die sich mit der Fürsorge¬
frage im gegebenen Falle befassen, an einer Persönlichkeit fehlt, die
berufen sei, die Interessen des Kindes vor allem wahrzunehmen, wie
sich oft monate- ja jahrelang die verschiedensten Instanzen mit solchen
Fällen befassen, ohne daß eine von ihnen sich energisch des Kindes
annehmen könne. Der elterlichen Gewalt ist, dem Kind gegenüber,
im Gesetz ein viel zu großer Spielraum gelassen; hat doch der
Pfleger oder Vormund bei Ablehnung der Fürsorgeerziehung nicht
einmal ein Beschwerderecht
Der folgende Fall aus der Praxis möge diese Schwierigkeiten
illustrieren:
Die Ehegatten liegen in Scheidungsklage, werfen sich Mißhand¬
lungen, Ehebruch vor, die Ehefrau, von dem Manne aus dem Hause
geworfen, hat die drei Kinder, Söhne im Alter von 16, 11, 6 Jahren
mit sich genommen, kümmert sich aber ebensowenig wie der Ehe¬
mann um die Kinder, treibt sich vielmehr herum und lebt in wilder
Ehe mit einem andern verheirateten Manne. Auf Grund dieser Tat¬
sachen stellt im März der Vorsitzende des Waisenrates Antrag, den
Eltern die Erziehung abzusprechen und möglichst bald einen Pfleger
zu bestellen. Die Antwort des Polizeireviers A auf eine Anfrage des
Vormundschaftgerichtes lautet: Der Ehemann ist geistig nicht normal,
moralisch entartet, die Ehefrau treibt sich herum etc. wie oben.
Pflegschaft nötig nach § 1666 und 1667 B.G.B. Dieselbe Auskunft
gibt das Polizeirevier B im April: Ehefrau empfängt Herrenbesuche,
geht nachts außer Haus. Kinder liegen bis 11 Uhr nachts auf der
Straße, der älteste 16jährige Sohn ist schon total verdorben, arbeits¬
scheu, treibt sich mit Mädchen herum, die Mutter bezeichnet ihn als
Ludewig und Zuhälter. Das geistige und leibliche Wohl der Kinder
ist stark gefährdet. Pflegschaft nach § 1666 dringend notwendig.
Im Mai wird ein Erziehungsstreit-Pfleger bestellt. Dieser beantragt
Fürsorgeerziehung auf Grund des Gesetzes vom 2. Juli 1900 und
des § 1666. Das Material sei erdrückend. Im Juni antwortet Poli¬
zeirevier A nochmals auf eine Anfrage des Vormundschaftsgerichts,
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 151
ob nicht das Fürsorgeerziehungsverfahren hier das geeignetste Mittel
sei, daß der Vater zur Erziehung ganz ungeeignet sei. — Jetzt ver¬
zieht die Mutter mit den drei Kindern in einen andern Stadtteil und
nun lautet der Bericht des dortigen Polizeireviers C: Über die Ehe¬
frau X ist hier nichts Nachteiliges bekannt und auch nicht ermittelt
worden. Die Kinder gehen reinlich gekleidet und werden nicht ver¬
nachlässigt. Der 16jährige Sohn bemüht sich um Arbeit, die er bis
jetzt noch nicht gefunden hat. Verwahrlosung zur Zeit nicht zu be¬
fürchten. Unterbringung in Fürsorgeerziehung nicht geboten, wohl
Maßnahmen aus § 1666. — Aber im Dezember ist noch nicht ent¬
schieden, ob der Vater, dem nach der inzwischen erfolgten Eheschei¬
dung nach § 1635 B.G.B. die Sorge für die Kinder zusteht, diese zu
übernehmen im Stande wäre. Ob er nicht etwa geisteskrank im
Sinne des § 104 und geschäftsunfähig ist. In diesem Falle wäre er
nicht verantwortlich im Sinne des § 1666, weil sein Verschulden
fehlt Also ist zuvor festzustellen, ob die elterliche Gewalt des Vaters
ruht. (§ 1676).
Und in der ganzen Zeit bleiben die drei Kinder unter dem ver¬
giftenden Einfluß der Mutter. Zwar ist ihnen vom Vormundschafts¬
gericht ein Erziehungspfleger bestellt, aber es geschieht nichts gegen
ihre Verwahrlosung, da ja der Vater noch immer seine Rechte geltend
zu machen berechtigt ist.
Bei der Handhabung des F.E.G. wäre auf eine Beschleunigung
und Vereinfachung der Formalien ernstlich Bedacht zu nehmen, die
Möglichkeit der sofortigen vorläufigen Unterbringung zu erleichtern,
hei einem späteren Ausbau des Gesetzes die Emanzipirung des § 1
Ziffer 1 von der Maßgabe der §§ 1666 und 1838 B.G.B. ins Auge
zu fassen, in dem Sinne, daß auch ohne Verschulden der Eltern die
Fürsorgeerziehung nach dem Ermessen des Vormundschafts¬
gerichtes stets angeordnet werden kann, wenn die Trennung des
Kindes von seinen Eltern bezw. bisherigen Erziehern zur Verhütung
seiner Verwahrlosung erforderlich scheint.
Zu erwägen wäre ferner, ob es sich nicht empfiehlt, weitere
Kreise an der Ausführung des F.E.G., die jetzt, wie ich schon er¬
wähnte, in der Hand des Kommunalverbandes, also in der Hand
einer einzelnen Person, des Landeshauptmannes oder des von diesem
Beauftragten liegt, zu interessieren. Eine derartige Beteiligung wäre
durch die übrigens schon von Aschrott, von der internationalen
kriminalistischen Vereinigung u. A. vorgeschlagene Errichtung von
Erziehungsämtern, etwa nach norwegischem Muster zu bewerkstelligen.
Das norwegische F.E.G. vom Jahre 1898 überträgt den Beschluß
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UI. Leebs
über die Unterbringung der Zöglinge einem Vormundschaftsrat, der
sich zusammensetzt aus dem Bezirksrichter, dem Prediger des Ortes
und 5 von der Kommunalverwaltung für zwei Jahre gewählten Mit¬
gliedern, unter denen ein in der Gemeinde praktizierender Arzt und
ein oder zwei Frauen sich befinden. Eine solche in beständigem
regem Kontakt mit den Kreisen, aus denen sich die Pflegerfamilien
und Fürsorger rekrutieren, stehende Kommission würde eine bessere
Garantie für die Auswahl und Gewinnung der zu diesem Amt ge¬
eigneten Kräfte bieten, als dies durch die jetzt vielfach zu diesem
Zwecke geschehenden Reisen des Oberpräsidialkommisars gewähr¬
leistet wird. Hiermit soll keineswegs die bisher auf diesem Gebiete
ersprießliche Tätigkeit der Provinzialvereine für innere Mission in
manchen Gegenden unterschätzt werden.
Durch Mithülfe der Presse, durch öffentliche Vorträge über die
Aufgaben der Fürsorgeerziehung, ihren segensreichen Erfolg bei
richtiger Handhabung und vertiefter Ausführung dieses wohltätigsten
aller Gesetze, ist das Interesse und die Mitarbeit der Gesellschaft und
besonders der Frauen, zu wecken. Nicht nur zur Auffindung der
Fürsorgeerziehung bedürftiger Kinder, sondern auch in dem Amt als
Fürsorger erscheint die Frau in vielen Fällen geeignet und ihre Mit¬
hilfe, wozu ja der § 11 des F.E.G. ermächtigt, wünschenswert.
Amerika ist uns in dieser Beziehung mit bestem Erfolg vorangegangen.
Im Staate Pennsylvanien sind sogar sämtliche Fürsorger (Probation
officers) Frauen. Sie werden dem Congress of Mothers entnommen,
für ihr Amt besonders ausgebildet und haben sich sehr bewährt.
Sie treten zu den Kindern in engere Beziehungen, als dies ein
Mann kann.
Die Früchte der Fürsorgeerziehung zeigen sich, noch mehr wie
bei jeder anderen Erziehung, erst nach jahrelanger Arbeit. Eine
vorzeitige Entlassung aus derselben, die nicht selten wieder mit der
Rückkehr in die alten Verhältnisse verbunden ist, kann die ganze
Arbeit nutzlos machen. Die Fürsorgeerziehung bedeutet ja oft genug
nicht nur Erziehung, sondern auch Schutz für den Jugendlichen.
Dem Drängen der Eltern um Freigabe ihrer Kinder aus der Für¬
sorgeerziehung, weil sie darin nicht nur eine Unterschätzung ihrer
elterlichen Gewalt sehen, sondern sie auch als eine wirtschaftliche
Schädigung empfinden, ist daher im Interesse der Kinder nicht vor¬
zeitig nachzugeben. In vielen Fällen sollte die Entlassung aus der
Fürsorgeerziehung von dem Urteil des sachverständigen Arztes ab¬
hängig gemacht werden, der endgültigen eine widerrufliche vorher¬
gehen, bis eine sichere Gewähr geboten ist, daß der Zögling sich in
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Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 163
der nenen Lebenslage zurecht- und fortfindet. Um das spätere
Schicksal und Ergehen des Fürsorgezöglinges zwecks Sammlung von
Erfahrungen im Auge zu behalten, ist die Mithilfe des Zentralver¬
bandes für Jugendfürsorge und des Freiwilligen Erziehungsbeirates
für schulentlassene Waisen erwünscht Es gilt nicht nur das sittliche,
leibliche und geistige Wohl der Zöglinge weiterhin im Auge zu be¬
halten, sondern auch praktischen erfahrenen Rat und tatkräftigen
Beistand bei der Berufswahl, der Beschaffung geeigneter Arbeits¬
stätten und Wohnungen zu leisten, für die Fortbildung zu sorgen,
also auch das wirtschaftliche Wohl der Zöglinge in jeder Weise zu
fördern.
Über die Erfolge der Fürsorgeerziehung läßt sich heute, nach¬
dem erst die Erfahrungen weniger Jahre vorliegen, noch kein ab¬
schließendes Urteil fällen; es werden sich bei der Ausführung auch
noch manche Bedürfnisse im Laufe der Zeit heraussteilen. Wenn
jetzt schon die Zahl der Jugendlichen, bei denen die Zwecke der
Fürsorgeerziehung erreicht werden, von maßgebenden Faktoren auf
etwa 75 °/o geschätzt wird, so ist zu erwarten, daß dieser Prozent¬
satz noch beträchtlich größer wird, wenn die Handhabung des Für¬
sorgeerziehungsgesetzes nach folgenden Gesichtspunkten vertieft und
erweitert wird:
1. Größere Beteiligung aller Volkskreise an der Namhaftmachung
der Fürsorgeerziehung bedürftiger Kinder. Es ist leider Tatsache,
daß die Organisation des Tierschutzes heute in den breiteren Volks¬
schichten bekannter ist, als die des Kinderschutzes, obschon sich
annähernd 400 Vereine in Preußen mit der Jugendfürsorge be¬
fassen.
2. Rechtzeitigere, d. b. frühzeitigere und schnellere Einweisung
in die Fürsorgeerziehung. Die Fürsorgeerziehung soll eine Präventiv¬
maßregel sein, Verhütung des Übels ist wirksamer und leichter als
Ausrottung, wie wir ja auch bei der Bekämpfung der Infektions¬
krankheiten der Prophylaxe vor den therapeutischen Bestrebungen
den Vorzug geben. — Erleichterung der Einweisung auf Grund des
§ 1 Ziffer 1. Errichtung von Erziehungsämtern.
3. Zweckmäßigere Sortierung und Verteilung der Fürsorgezög¬
linge nach ihren intellektuellen, moralischen etc. Eigenschaften bezw.
den Schwierigkeiten, die sie dem Erziehungszweck bieten. Indivi¬
dualisierende Behandlung. Beobachtungsanstalten.
4. Einweisung aller schwer erziehbaren Fürsorgezöglinge in
staatliche Anstalten unter ärztlich (psychiatrisch)-pädagogischer I^eitung,
staatlich geschulten, nach modern naturwissenschaftlichen Grundsätzen
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ausgebildeten Erziehern und Pflegern. — Ausschaltung der nicht er¬
ziehbaren, antisozialen Elemente aus der Fürsorgeerziehung.
5. Weitgehendere Beteiligung sachverständiger Ärzte bei der Be¬
schlußfassung der Fürsorgeerziehung, der Unterbringung, während
der Dauer und ev. bei der Entlassung aus der Fürsorgeerziehung.
6. Regelmäßige und öftere ärztlich-pädagogische Kontrolle und
Beratung der Familienfürsorgezöglinge, staatliche Revision der Er¬
ziehungsanstalten nach dem Muster der Irrenanstaltsrevisionen durch
eine Kommission (Kommissar des Oberpräsidenten, beamteter Arzt,
Pädagoge).
7. Planmäßige Ausbildung der Erziehungspfleger und -pflegerinnen
in den staatlichen Anstalten. Fortbildungskurse.
Berlin, Dezember 1906.
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V erbrecher-Lebenslaufe.
Milgetoilt von
Geh. Justizrat Siefert in Weimar.
1. Dem Restaurateur Werner in Weimar wurde am 24. August
1888 aus einer in dessen Schlafstube stehenden Kommode 1 goldene
Damenuhr mit Kette, eine goldene Uhrkette, eine Korallenkette mit
goldenem Kreuze, zwei goldene Ringe und einige andere Gegenstände
im Gesamtwerte von 130 M. gestohlen.
Der Dieb war der am 12. Oktober 1872 zu Roßbach bei Hünefeld von
der vielfach, auch wiederholt mit Zuchthaus vorbestraften Katharina
Elisabeth Knott aus Unterelba auß ereh elich geborene Eduard Knott.
Er war einige Tage vorher bei Werner als Kellnerlehrling eingetreten,
am Abend des 24. August hatte er bei der Wittwe Emma Hast Unter¬
kunft gefunden, mit deren Sohn er in dem Falkschen Institut in Weimar
— einer Besserungsanstalt — zusammen gewesen war. Diesem
Kameraden schenkte er am 25. August die Uhrkette, einen Siegelring,
einen Haarring, zwei Spiele Karten im Gesamtwerte von 90 M., seine
Mutter bekam Kenntnis davon und brachte diese Sachen zurück.
Dadurch wurde der Diebstahl entdeckt
In den Akten der Polizei war noch erwähnt, daß Knott Ostern
1887 zum Schmied Gesky in Neumark in die Lehre gebracht worden
sei, aber am 14. August 1888 aus derselben entlaufen wäre. Knott
erklärte, daß er am Morgen des 24. August 1888 aus der Wernerschen
Schlafstube Stiefeletten zu holen gehabt und dabei an einem Spiegel
über der Kommode einen Schlüssel hängen gesehen, mit demselben
die Kommode geöffnet und dann daraus die Sachen entwendet hätte.
Nachmittags sei er heimlich weggegangen.
Es wurde von dem Lehrer und Hausverwalter des Falkschen
Instituts eine Auskunft über Knott erbeten. Darin hieß es, daß Knott
a) seinen langjährigen Aufenthalt (vom 1. Juli 1883 in der Anstalt
an) fast nur zur Ausübung schlechter Streiche, hauptsächlich
kleiner Diebstähle, benutzt habe,
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IV. SlEFERT
b) gegen eindringlichste Ermahnungen und gegen körperliche
Züchtigungen gleichgültig gewesen sei,
c) beim Verlassen der Anstalt dem Hausvater seine Cylinderuhr
entwendet habe und später aus Furcht vor Entdeckung sie
demoliert habe.
Die geistige Befähigung des Knott wurde „eine geringe“ genannt.
Später wurde nachgeholt, daß trotz der bei anderen Zöglingen mit
Erfolg angewandten Vorsichtsmaßregeln Knott „fast allnächtlich das
Bett näßte.“
Knott wurde vom Staatsanwalt vernommen. Dabei erklärte er,
daß er zum Schmiede nicht tauge, da er nicht rechnen könne, daß
er Knecht werden wolle. Ostern (1888) sei seine Schwester aus der
Schule gekommen, weshalb er vom Meister Gesky zu einer Heimreise
drei Tage Urlaub erhalten habe. Er sei nicht zurückgekehrt und
darum durch die Gendarmerie wieder nach Neumark in die Lehre
zurückgebracht worden. Von hier sei er im August entlaufen, weil
ihm vorgeworfen worden sei, daß er mit den Kindern Haschemann
gespielt habe. Er habe 2 M. erspartes Geld gehabt und sich damit
in Weimar zum Vogelschießen begeben. Vom Schießhausplatze habe
ihn jemand zum Spediteur Apel geschickt, mit den Apelschen Knechten
sei er dann in die Wernersche Wirtschaft gekommen. Werner habe
ihn als Kegeljungen angenommen. Die am Vormittage des 24. August
gestohlenen Sachen habe er verkaufen wollen. Am Nachmittage dieses
Tages habe Werner ihn schlagen wollen, weil er dessen kleinen Jungen
geschimpft habe. Deshalb sei er fortgegangen.
Die ganze Sachlage veranlaßte die Staatsanwaltschaft zu näheren
Erörterungen, um den Geisteszustand Knotts, der schwachsinnig zu sein
schien, festzustellen.
Bereits im Jahre 1879 wird er als „ein leichtsinniger, unver¬
besserlicher Knabe bezeichnet, welcher mit Streichhölzern gern spielte,
überhaupt zu allen Schlechtigkeiten fähig ist und des nachts größten¬
teils in Scheunen zubringt.“ Er war zur Zeit dieser Berichtserstattung
seit neun Tagen seinen Pflegeeltern entlaufen. Mehrmals wurde er
in der Umgegend von Dermbach von der Gendarmerie aufgegriffen
und nach Unterelba zu seinen Pflegeeltern zurückgebracht. Der Ge¬
meindevorstand von Unterelba sagt von ihm, daß „dieser Knabe als
ein sittlich verwahrloster anzusehen ist und anstatt, wenn er von
seinen Pflegeeltern nach Dermbach zur katholische Schule geschickt
werde, 3 bis 4 Tage an einem hin betteln geht und derselbe bereits
schon verschiedene andere Dummheiten ausgeführt bat“ Mündlich
vom Bezirksdirektor (dem Staats-Verwaltungs-Beamten) vernommen,
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Verbrecher-Lebenslaufe.
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äußert der Bürgermeister: „Eduard Knott ist ein verwahrloster Junge,
er ist schon, wie er noch bei der Witwe Thöring war (1873, Frühjahr,
bis 1878) viel umher gelaufen. Als im Frühjahr 1878 seine Mutter wieder
nach Unterelba kam, ist er mit dieser selbst in der Welt berumge¬
zogen und daher mag sich seine Neigung zum Umherstreifen noch
vermehrt haben, denn jetzt kommt er nur noch selten nach Hause,
schläft in Ställen und Scheunen oder auch im Freien und bettelt am
Tage.“ Es wird bei dieser Gelegenheit erwähnt, daß er auch schon
Schnaps trinke. Er habe (Mai 1879) einen Schrank seines Pflege¬
vaters erbrochen, die Schnapsflasche daraus genommen und sich bis
zur Bewußtlosigkeit betrunken.
Gesky schildert Knott als Taugenichts und Dieb. Er hat ihm
Geld, Wurst, Speck, 1 Handtuch und dergl. entwendet, die Diebstähle
stets hartnäckig geleugnet, dann aber häufig den vermißten Gegen¬
stand so an eine Stelle gelegt, daß er gefunden werden mußte. Als
ihm Gesky einmal seinem Bruder, der im benachbarten Ettersburg
wohnte, auf einige Tage zur Aushülfe sandte, nahm er diesem einen
Beschlaghammer mit, den er in Neumark im Bettstroh seines Bettes
versteckte.
Auch die Mutter und die Großmutter Knotts waren unehelich geboren.
Die Mutter gab als den Vater ihres Kindes Eduard denverstorbenen
Scherenschleifer Adam Fladung aus Unterelba an, der von seiner Ehe¬
frau getrennt gelebt habe. Die Geschwister Fladungs bestätigten das
Verhältnis ihres Bruders zur Knott. In einem Briefe des Gemeinde¬
vorstandes zu Unterelba vom 2. Oktober 1861 an den Bezirksdirektor
in Dermbach wird mitgeteilt, daß Fladung am 24. August 1861 aus
dem Zuchthause (aber nicht direkt) zurückgekommen sei, aber in
seiner Familie keine Aufnahme gefunden habe. Es heißt dann weiter:
„Nachdem nun Fladung bei seiner Ehefrau nicht angenommen worden,
hat er sich eine Zeit lang im Gemeindehause aufgehalten. — Fladung
hat zwar eine Zeit lang mit der ledigen Katharine Elisabetha Knott
ein uneheliches Lehen geführt, welche schon voriges Jahr im Straf¬
arbeitsbause zu Eisenach ein Kind männlichen Geschlechts geboren
und der Gemeinde dadurch viele Kosten entstanden sind. Dieselben
sind schon wieder über 14 Tage miteinander fort, auch ist die Knott
von Fladung schwanger und hat sich im Gemeindehause aus¬
gesprochen, sie wolle das Kind sonstwo gebähren und der Gemeinde
wieder Kosten machen.
Fladung wurde am 5. Dezember 1831 geboren und starb am
1. Februar 1873 im Gemeindehause zu Unterelba. Es wurde fest¬
gestellt, daß „Fladung bei Lebzeiten manchmal geisteskrank, in
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IV. SlEFERT
körperlicher, geistiger und sittlicher Beziehung sehr auffällig und
auch in der Irrenanstalt zu Jena untergebracht gewesen sei.“
Von Fladungs Vater, Nicolaus Fladung, wurde berichtet, daß er am
22. Juli 1799 geboren und am 13. Dezember 1860 gestorben sei und daß
er „in sehr armen und zuletzt in geistesschwachem Zustande gelebt habe.“
Adam Fladung hinterließ fünf eheliche Kinder, darunter den
Schneider Joseph Fladung, der im Jahre 1864 von Wurzen aus wegen
Geisteskrankheit in die Universitäts-Irrenklinik eingeliefert wurde.
Eine Schwester von ihm erklärte, „nach seiner Entlassung sei er jetzt
noch geistig gestört.“
Die Staatsanwaltschaft ersuchte nunmehr den Professor Bins-
wanger um eine gutachtliche Auskunft über die Geistesbeschaffenheit
Knotts; der genannte Psychiater beantragte Beobachtuug desselben in
der ihm unterstellten Irrenheilanstalt zu Jena, Knott war aber zunächst
nicht zu ermitteln. Am 26. Januar 1889 wurde er endlich in
Wenigentaft ohne Papiere und ohne Geldmittel als Landstreicher an¬
gehalten. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am
5. September 1888 war er am 10. dieses Monats vom Gutspachter
Wiegand in Weimar als Ochsenjunge angenommen, am 21. Dezember
aber wieder entlassen worden, weil er unbotmäßig war, das Brot und
eine Brosche, die er alsbald verkaufte, aus der Küche gestohlen
hatte und auch noch mehr vorgekommen war. Am 29. Dezember
trat er als Futterknecht bei Gottschalk in Kaffenburg bei Blankenhain
in Dienst. Er erwies sich jedoch als ein unzuverlässiger nichts¬
nutziger Junge. Am 23. Januar ließ er sich wieder eine grobe Nach¬
lässigkeit zuschulden kommen (er beschädigte eine Laterne), worüber
er „gehörig zur Rede gesetzt“ — wohl gezüchtigt wurde. Der Dienst¬
herr sagte ihm, wenn er ihn heute entlasse, müsse er barfuß laufen.
Knott arbeitete zwar bis Mittag weiter, zu dieser Zeit wurden aber
hinter dem Gute unter einem Hollunderbusche versteckt verschiedene
Kleidungsstücke entdeckt: Ein Paar Stiefel (dem Verwalter gehörig),
ein Paar Schuhe (einem Scholaren Gottschalks gehörig), eine Hose
und ein Halstuch (einem Knecht gehörig), ein Hemd und eine Mütze
(dem Schäfer gehörig, dem an demselben Tage auch 5 M. Geld von Knott
gestohlen wurden). Knott hatte die Sachen versteckt, um damit zu
verschwinden. Während sie ins Haus geschafft wurden, verschwand
er auch wirklich. Er wandte sich nach Unterelba und von da nach
Wenigentaft, wo er am 25. Januar einen Dienst als Futterknecht fand.
Das Direktorium der Landes-Irren-Heilanstalt gab am 13. März
1888 sein Gutachten dahin ab, daß Knott
„an angeborenem Schwachsinn leidet“.
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Verbrecher-Lebenslaufe.
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Derselbe macht sich, heißt es dann weiter, „namentlich auf ethi¬
schem Gebiete bemerklich, ist aber auch außerhalb dieses Gebietes
nachweisbar; hierzu kommen epileptische und epileptoide Anfälle,
welche gleichfalls die Existenz einer Hirnkrankheit verbürgen. Der
Knott ist demgemäß als nicht zurechnungsfähig zu erachten. Zugleich
empfiehlt sich die Belassung desselben in der Irren-Anstalt, da der¬
selbe, auf freien Fuß gesetzt, jedenfalls unfähig wäre, den mannig¬
fachen, ihn erwartenden Versuchungen zu widerstehen“.
Knott wurde nunmehr wegen des dem Schankwirt Werner zuge¬
fügten Diebstahls außer Verfolgung gesetzt.
2. Adam Peter Martin Narr gen. Widmann wurde am 26.
Dezember 1873 in Hirschberg a. d. Saale auf der Scharfrichterei, von
der Anna Katharine Narr außerehelich geboren, die sich später
an den Strumpfwirker Joh. Fr. Adam Widmann verheiratete. Im
Jahre 1893 vereinbarten beide Eheleute, daß Martin Narr den Namen
Widmann führen solle.
Nach seiner Schulzeit war er zunächst Lehrling bei einem
Schieferdecker, dann Gerber, schließlich Dienstknecht und Hand¬
arbeiter. Bei seiner Aushebung zum Militär im Herbste 1894 zeigte
sieb, daß er auf der Brust und an beiden Armen tätowiert war. 1895
wurde er aus dem Militärverbande ausgeschlossen.
Bereits in seinem siebzehnten Lebensjahre wurde er vom Land¬
gerichte zu Gera wegen Diebstahls bestraft (mit 2 Monaten Gefängnis.)
Er diente bei Berger in Lohme als Knecht. Als einmal niemand zu
Hause war, stahl er demselben 156 M. Geld, ein Paar Stiefeln und
eine Schürze. Er begab sich nach Neustadt, wo er sich einen Anzug
kaufte, fuhr dann mit der Eisenbahn nach München. Nach Verbrauch
des Geldes wanderte er zu Fuß nach Frößen, wo er einmal gedient hatte.
Im Jahre 1888 erfuhr er Bestrafung wegen Rückfallsdiebstahles.
In demselben Jahre war er weiter wegen dreier Diebstähle, begangen
im wiederholten Rückfalle im August und September 1889 in Vinan,
Gräfenwart, Frößen und Spielmar gegen seine Dienstherren, und
wegen Urkundenfälschung in Untersuchung und wurde am 23. 12.
1889 auf Grund der §§ 242, 244, 246 zu neun Monaten Gefängnis
verurteilt. Während der Strafvollstreckung war er sehr faul. Einmal
benahm er sich einer Rüge des Aufsehers gegenüber sehr frech, sagte
sogar am Schlüsse zu diesem, mit ihm wolle er schon fertig werden.
Trotz einer Disziplinarstrafe fuhr er fort, faul zu sein und schlecht
zu arbeiten. Schon am 18. Januar 1891 folgte wieder eine Ver¬
urteilung wegen derselben Verbrechen, wieder gerichtet gegen einen
Dienstherrn, und zwar zu 6 Monaten 2 Wochen Gefängnis. Auch
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IV. SlEFEKT
diesmal war er im Laufe der Strafvollstreckung sehr frech. Mehr¬
fach schlug er Mitgefangene. Auch jetzt war er wieder äußerst faul;
er wolle die Herren nicht reich machen durch seine Arbeit, sagte er
zum Aufseher. Er verweigerte den Gehorsam, scheuerte nicht, sprach
fortwährend mit seinen Mitgefangenen. Auf jede Weise suchte er die
Aufseher zu ärgern. Am 7. Dezember 1891 wurde er wegen zweier
Diebstähle im w. R. zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis, dazwischen
wegen Betruges zu 1 Woche Gefängnis verurteilt. Im Laufe der
Strafvollstreckung erreichte er das 18. Lebensjahr. Am 16. 2. 1892
lief er mit den Worten: „ich hänge mich“ aus dem Arbeitssaale und
versteckte sich in einer Zelle; dem Aufseher, der ihn wiederholt auf¬
forderte, nach dem Saale zurückzukommen, gab er keine Antwort,
so daß mit Gewalt gegen ihn vorgegangen werden mußte. Mittags
lehnte er das Mittagessen ab, da er keinen Appetit habe, aß dann
aber doch die ihm hingesetzte Mahlzeit Dann lag er im Bett, ver¬
drehte die Augen und „redete lauter verrücktes Zeug“.
Dem Arzte sagte er, daß er an Kompfschmerzen leide. Dieser
aber glaubte, daß sie simuliert seien, und erklärte: „Geistig ist der
Gefangene Narr völlig normal“. Am 4. April 1892 wurde Narr im
Besitze von zwei Dietrichen gefunden, welche er aus einem im Ar¬
beitssaal gefundenen Drahtstücke gefertigt hatte. Er wollte entweichen,
mit dem kleineren Dietrich die Schlafsaaltür öffnen und mit dem
größeren die Tür nach dem Männergarten aufschließen. Dann wollte
er die Planke nach dem Mühlgraben durchstoßen.
Kaum war die Disciplinarstrafe, die ihn deshalb traf, verbüßt,
so machte er in der Nacht vom 11/12 Mai den Versuch eines Durch¬
bruchs durch die Wand am Ofen, und zwar in Gemeinschaft mit
dem Nachbargefangenen Kötthau. Sie kratzten je in ihren Zellen
den Kalk von der Wand und machten die Steine „dicht am Ofen
nach der Feuerung zu“ mittelst je eines, von der eisernen Bettstelle
abgebrochenen Fußes los. Sie wollten die Tür von der Feuerung
absprengen, dann auf die oberste Gallerie und von hier auf den Boden
gehen, sich am Blitzableiter herunterlassen, nachdem der Wacht¬
posten aus dem Männergarten weggegangen wäre, und dann mittelst
eiuer der an der Planke anlehnenden Holzbohlen über die Planken
steigen. Der geplante Durchbruch der Wand war aber nicht möglich.
Am 7. August 1892 stieg Narr, der noch in Fesseln ging, in der
Zelle auf den Tisch und pfiff auf einem Federkiele, den er sich dazu
besonders hergerichtet hatte, zum Fenster hinaus. Als der Aufseher
den Tisch, auf welchem Federn lagen, aus der Zelle schaffen ließ,
pustete Narr in die Federn hinein, so daß sie in der Zelle herum-
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Verbrecher-Lebenslaufe.
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flogen, und benahm sich äußerst frech. Am 16. August zerstieß er
die Tür seiner Arrestzelle aus Arger mit den Ketten. Wiederholt
gelobte er dann an, sich hausordnungsgemäß zu verhalten, doch ver¬
fiel er wiederholt wieder in Disciplinarstrafen. Am 13. Februar 1893
weigerte er sich zu arbeiten, seine Arbeit sei als schlecht bezeichnet
worden. Am Morgen des 17. Februar 93 befolgte er beim Antreten
der Gefangenen zum Gange nach dem Arbeitssaal nicht die herkömm¬
liche Ordnung und sagte zu dem dies rügenden Aufseher, da bleibe
er eben oben, er, der Aufseher wisse nicht, was er wolle u. s. w.
Dem Direktor gegenüber entschuldigte er sich damit, daß er einen
kürzeren Weg nach dem Saale habe einschlagen wollen.
Am 4. April 1893 spektakelte Narr in der Weberei und drohte
einem Mitgefangenen, ihm seinen Schemel auf den Kopf zu schlagen,
weil ihm dessen Benehmen mißfiel.
Am 27. April 1893 hatte sich Narr beim Fahren der Ausleer-
fäßer Kautabak geben lassen. Der Aufseher fand bei ihm den Kau¬
tabak. In Abwesenheit des Aufsehers hielt er dann einem Mitge¬
fangenen vor, daß er dies wohl dem Aufseher angezeigt habe. Ob¬
wohl der Mitgefangene es verneinte, schlug ihn Narr dreimal ins Ge¬
sicht und sagte, er werde das erste Beste nehmen und ihn damit
tot schlagen.
Nachdem ihn eine Reihe von Bestrafungen wegen Betteins und
Landstreichens getroffen hatten und er im Jahre 1894 auch wegen
Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Unterschlagung verurteilt
worden war, stand er am 19. 2. 1895 vor den Schranken des Schwur¬
gerichtes Gera wegen versuchter Notzucht und Sachbeschädigung.
Das Ergebnis war eine Zuchthausstrafe von 3 Jahren 1 Monat,
die er in Gräfentonna verbüßte, wo er sich durch freches Betragen,
Ungehorsam, Tätlichkeit gegen einen Mitgefangenen u. s. w. sieben¬
zehn Disciplinarstrafen zuzog.
Bis zum 6. 12. 1894 hatte er eine ihm vom Schöffengericht zu
Plauen wegen Unterschlagung zuerkannte Gefängnisstrafe von 2 Mo¬
naten verbüßt. Am 6. Dezember blieb er in Plauen, von wo er tags
darauf nach Elsterberg ging, am 8. Dezember setzte er seine Wan¬
derung über Greiz und Hohenölsen nach Weida fort. Kurz vor Weida
führte ihn sein Weg über das zu Weida gehörige Gut Neuhof, hinter
dem ein schmaler Fußweg über einen bewaldeten Berg führt. Als
Widmann an diesem Nachmittage an diesen Berg kam, bemerkte
er etwa 50 Schritt vor sich ein Mädchen — die sechzehnjährige
Dienstmagd Ella Taudte, welche Kränze nach Neuhof getragen hatte
und auf dem Rückwege nach Weida begriffen war. Er holte sie
ArchiT für Kriminalanthropologie. 27 Bd. 11
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IV. SlEFERT
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bald ein und ging nun dicht hinter ihr her. Sie sagte ihm guten
Tag und äußerte, daß es ihr beim Bergsteigen warm geworden sei,
wozu Widmann nur eine kurze Bemerkung machte. Auf der Höhe
des Berges, wo der Weg nur eine Elle breit ist, trat das Mädchen
zur Seite, um den ihr folgenden Mann an sich vorübergehen zu lassen.
Dieser ging aber nicht vorbei, sondern trat unter den Worten: „Lassen
Sie mich einmal“ dicht an das Mädchen heran nnd faßte es mit den
Händen an den Kopf. Dieses erwiderte: „Gehen Sie doch weg“ und
suchte sich von ihm loszumachen. Wiedemann ließ sie jedoch nicht
los, sondern warf sie auf die rechte Seite des Weges, wo ganz nied¬
riges Laubholz stand, zu Boden, kniete neben ihr hin, griff ihr unter
die Röcke, entblößte sie und griff ihr an die Geschlechtsteile. Das
Mädchen wehrte sich nach Kräften, schrie auch laut um Hülfe, worauf
er mit der einen Hand ihr den Mund zuhielt und mit der anderen
sie auf den Boden niederdrückte. Es gelang ihr, die Hand von ihrem
Munde fortzustoßen und sie sagte nun zu ihm, sie wolle es sich gut¬
willig gefallen lassen, er solle sie nur loslassen. Darauf ließ er von
ihr ab. Sie richtete sich mit dem Aufrufe, „Herr Hartmann, kommen
Sie schnell“ in die Höhe, worauf er ihr einen Stoß versetzte, infolge
dessen sie den an der linken Seite des Weges befindlichen, mit nied¬
rigem Buschwerk bewachsenen Abhang einige Schritte hinunter
rutschte. Wiederaann blieb noch eine Weile auf dem Wege stehen,
vergriff sich aber nicht mehr an dem Mädchen, das wieder in seine
unmittelbare Nähe kam, um einen ihrer Schuhe und ihre Kapuze
aufzuheben. Während das Mädchen nach Neuhof zurückging, setzte
Wiedemann seinen Weg nach Weida fort.
Er kehrte in der Herberge zur Heimat ein, holte in der Stadt
das Ortsgeschenk und kaufte sein Abendbrot ein, welches er in der
Herberge verzehrte. Er trank Schnaps dazu, wurde betrunken, es
wurde ihm übel, er erbrach sich im Zimmer; von zwei Handwerks¬
burschen nach dem Abtritt geführt, fiel er in seiner Trunkenheit hier
zu Boden und blieb liegen.
In der Zwischenzeit kehrte der abwesend gewesene Herbergswirt
nach Hause zurück. Dieser hob Wiedemann in die Höhe und brachte
ihn an die Luft — auf die Straße. Als er ihn dann los ließ, schlug
Wiedemann mit der Faust nach ihm. Darauf versetzte der Wirt dem
Wiedemann einige Ohrfeigen, wobei dieser hinfiel und dann mit dem
Fuße den Wirt trat, mit seinem Messer nach ihm stieß. Kaum war
der Wirt in die Gaststube zurückgekehrt, als Wiedemann von draußen
ein Fenster nach dem anderen mit der Faust einschlug.
Mildernde Umstände wurden von den Geschworenen dem Ange-
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Ycrbrecher-Leben9laufe.
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klagten nicht bewilligt. Strafmildernd wurde berücksichtigt, daß die
Tat der Vollendung noch nicht ganz nahe gekommen sei und die
Verletzte einen großen Schaden nicht gehabt habe, strafschärfend,
daß der Angeklagte eine viel bestrafte, nichtsnutzige und gefährliche
Persönlichkeit sei und daß eine unglaubliche Frechheit dazu gehöre,
am Tage auf öffentlichem Wege eine anständige Frauensperson in der
Weise, wie es geschehen, anzufallen.
Im Mai 1895 bereits klagten die Aufseher über freches Betragen
Wiedemanns. Als er am 24. Mai beim Abendessen über eine Bank,
auf der schon mehrere Gefangene saßen, hinwegschreiten wollte, wies
ihm der Aufseher einen Platz an. Darüber wurde Wiedemann ganz
aufgebracht, warf sein Brod in die Schüssel, stieß diese von sich und
warf seinen Löffel hin, unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd.
Gegenüber dem Direktor bezeichnete er die Anzeige darüber als falsch,
er werde weitere Schritte tun, es gebe auch höhere Instanzen. Der
Disciplinarstrafe von vier Tagen schmaler Kost folgte kurz darauf
eine solche von zwei Tagen, im August wegen Vergehens gegen die
Hausregel acht Tage verschärfter Dunkelarrest, im November wegen
Gehorsamsverweigerung 2 Tage schmale Kost. Im März 1896 wird
von einem Aufseher gemeldet, daß Widmann schon längere Zeit zeige,
die Arbeit im Saale wäre ihm zu viel. Ohne Grund habe er einen
Mitgefangenen auf der Treppe zweimal ins Gesicht geschlagen. Er
entgegnete, seine Mitgefangenen könnten ihn nicht leiden. Diese Roh¬
heit, die er nicht einmal entschuldigte, trug ihm sechs Tage Dunkel¬
arrest ein.
Am 28. April stand beim Landgericht Gotha eine Hauptverhand¬
lung gegen ihn an. Als er des Transportes nach Gotha wegen aus¬
gekleidet wurde, äußerte er zum Aufseher.
„Da würde der Aufseher wohl mit ihm zu tun kriegen“.
Darauf ordnete der Hausmeister an, ihn zu schließen. Widmann
entgegnete: „Sie fressen auch noch keinen“, und versuchte auf dem
Wege die Fesseln zu sprengen — 4 Tage Dunkelarrest.
Im Mai 1896 beklagte sich der Cigarrenfabrikant darüber, daß
Widmann nicht einmal die Wickel liefere, die ein anderer Gefangener
eingerollt habe, daß er in 13 Monaten die Arbeit neunmal unterbrochen
habe. Er möchte von einem solchen unsicheren Arbeiter befreit sein.
Am 7. und 8. Juni verbüßte er Dunkelarrest — er hatte aus
dem Fenster seiner Zelle den Tauben Erbsen zugeworfen und dem
dies rügenden Aufseher frech geantwortet. Nachher fand man an
den Wänden der Arrestzelle seinen Namen und dazu den Satz: Rache
ist süß, hoch lebe die Anarchie. Widmann leugnete dies verübt zu
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IV. SlEFERT
haben — 2 Tage Dunkelarrest und Wiederinstandsetzung der Zellen¬
wände auf Widmanns Kosten.
Der Cigarrenfabrikant meldet im Juli, daß er Widmann keine
Cigarren mehr geben könne, da er den ganzen Tabak verderbe und
alle seine Wickel wieder aufgemacht werden müßten. Widmann wird
darauf mit Zellenarbeit beschäftigt, dann mit Kohlenabladen und Holz¬
spalten. Anfang Dezember äußerte er beim Eisbrechen zu Mitgefan¬
genen, daß er jetzt mal seinen Kopf durchsetzen und den Aufseher
Minuth ärgern wolle, er wolle nun einmal wieder in der Anstalt
bleiben. Am Morgen des 10. Dezember beachtete er dann auch beim
Abmarsche zum Eisbrechen das laut und deutlich gegebene Commando
des Aufsehers nicht Minuth hatte es ihm verwiesen, daß er eigen¬
mächtig seinen Arbeitsplatz gewechselt hatte. Es traf ihn eine Strafe
von vier Tagen schmaler Kost. Nach deren Verbüßung wurde er mit
Feldarbeit auf der Domäne beschäftigt. Am Morgen des 20. Januar
1897 wurde im Freien mit der Maschine gedroschen. Minuth stellte
Widmann mit auf dem Fruchthaufen an. Nach einer Weile stellte
Widmann seine Gabel zur Seite, rutschte auf der hinteren Seite des
Haufens herab und wurde flüchtig. Auf seinem Wege kam er durch
Tottleben, wo er von einem Gartenzaune eine dort hängende Hose
und Schürze stahl. Die Anstaltshose, welche er trug, wechselte er
sofort gegen die gestohlene aus, in welcher ein Kniestück eingesetzt
war, weshalb er sich die Schürze vorband. Die Nacht brachte er in
einem Diemen zu. Um 6 Uhr abends hatte er Sondershausen passiert
und war dann beim Chausseehause Schersa vorübergegangen. „Noch
ein Stück Wegs weiter“, sagt er, „bin ich erst unter eine Brücke ge¬
krochen, wo ich einige Stunden zubrachte, es war mir dann aber zu
kalt da unten und bin ich dann in einen Strohhaufen links von der
Straße gekrochen“. Vormittags 9 Uhr erschien er im Wirtshause zu
Badra, wo ihm Kaffee gereicht wurde. Er weinte und war halb er¬
froren. Er gab an, daß er nach Halle wolle, ging aber in der Rich¬
tung nach Sondershausen fort; gegen 11 Uhr bat er im Chaussee¬
hause Schersa um etwas Essen, gegen Mittag kam er in Sonders¬
hausen an, wo er sich in die Herberge zur Heimat begab, in der er
bis 2 Uhr nachmittags blieb. Nach 6 Uhr lief bei der Zuchthaus¬
direktion eine Depesche aus Sondershausen ein, nach welcher sich
Widmann beim dortigen Magistrat gemeldet hatte. In der Zwischenzeit
hatte er seine guten Anstalts-Schnürschuhe und die wollene Anstalts-
Unterhose veräußert und ein paar Stiefeletten und einen alten zer¬
rissenen Rock dagegen eingetauscht.
Über diesen Fluchtversuch machte Widmann die verschiedensten
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V erb recher-Lebenslau f e.
165
Aussagen. Vor Allem wollte er, daß man ihm die Ketten wieder ab¬
nehme. „Dann will ich die Wahrheit eingestehen, sonst nicht, und
wenn ich die Wahrheit nicht selbst sagen will, erfährt sie auch nie¬
mand. Wenn ich die Ketten nicht abgenommen kriege, sage ich auch
nichts und wenn mir nicht geglaubt wird, brauche ich ja auch nichts
zu sagen“. Dann wollte er die Wahrheit nicht sagen „und wenn er gleich
im Arrest verrecken müsse“. Disciplinarstrafe: 14 Tage Dunkelarrest.
Gegen Ende des Jahres 1897 wurde Widmann beim Waschen
beschäftigt. Für einen ausscheidenden war kein anderer Wäscher
eingestellt worden, was dem Widmann nicht paßte. Er wollte des¬
halb, daß die Wäscher mit der Wäsche Zurückbleiben, sie nicht voll¬
ständig waschen sollten. Auch wusch er schlecht. Am 1. Dezember
fand der Oberaufseher, daß eine Anzahl Hemden sehr schlecht ge¬
waschen worden waren. Er brachte dieselben zu den Wäschern zu¬
rück und machte ihnen Vorhaltungen. Keiner von ihnen wollte die
beanstandeten Hemden gewaschen haben, bis plötzlich Widmann
höhnisch erklärte: Na, da habe ich sie gewaschen.
Der Gefangene Schlag hatte beobachtet, daß Widmann nur eine
Seite an den Hemden gewaschen hatte, und dem Gefangenen Lauter¬
bach, welchem die Aufsicht beim Waschen oblag, dies mitgeteilt.
Lauterbach hatte schon vorher gemerkt, wie schlecht Widmann wusch,
er hatte sich aber bis dahin gefürchtet, Widmann etwas darüber zu
sagen, weil derselbe ihm mit Schlägen gedroht hatte. Nun fing am
2. Dezember Widmann im Waschhause mit Schlag Streit an, schimpfte
ihn und packte ihn an der Gurgel. Da pochte Lauterbach an der
Tür und der herbeieilende Hausmeister stellte die Ruhe wieder her.
Dabei ergab sich, daß Widmann seine Kameraden mit Durchprügeln
bedroht hatte. Er wolle nur erst Weihnachten vorbei lassen, dann
wolle er jedem von ihnen einmal das Fell recht aushauen. Sämmt-
liche Wäscher hätten sich vor Widmann gefürchtet. Auch mit den
Waschbürsten trieb Widmann seinen Unfug. Nach und nach steckte
er deren drei in den Ofen unter dem Kessel. Wenn es auch abge¬
nützte Bürsten waren, so mußten sie doch vorgelegt werden, um Er¬
satzbürsten dafür zu erhalten. Einer der Wäscher, Müller II, machte
ihm deshalb Vorwürfe, worauf er erklärte, er wolle sagen, es seien
keine Bürsten in’s Waschhaus gekommen. Natürlich wäre diese Aus¬
rede sofort schon durch das Inventarverzeichnis widerlegt worden
— deshalb wollte er später Schlag beschuldigen, die Bürsten weg¬
gebracht zu haben. Als der Oberaufseher mit den Wäschern wegen
der schlechten Wäsche verhandelte, erklärte Widmann auch, er
könne die Hemden nicht reiner waschen, indem er keine Bürsten hätte.
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166
IV. SlEKEKT
Der Vorgang hatte dauernde Isolierung Widmanns zur Folge
neben sechs Tagen schmaler Kost.
Das Landgericht Gotha verurteilte ihn 1896 wegen falscher
Anschuldigung zu 9 Monaten Gefängnis und das Landgericht
Erfurt 1897 wegen Diebstahls i. w. R. zu 6 Monaten Gefängnis. Die
erste Strafe verbüßte er im Gerichtsgefängnisse zu Ichtershausen vom
21. April 1898 ab.
Eines Tages im Juni nahm ihm der Mitgefangene Förster ein
Klopfeisen weg, weil er damit einen anderen Mitgefangenen schlagen
wollte und da — sagte Förster — „Widmann ein unverträglicher
Mensch ist und wir im Korbsaale beschäftigten Gefangenen uns schon
immer in Acht vor ihm genommen und fast gar nicht mit ihm ge¬
sprochen haben“. Am 4. Juli beim Weidenholen schlug Widmann
den Gefangenen Döring und dann mit einem Knüppel den Gefan¬
genen Werner über das Kreuz. Werner erzählte dann dem Förster,
daß Widmann ihn mit dem Klopfeisen schlagen wolle. Nach kurzem
Wortwechsel gingen Widmann und Förster auf einander los, Wid¬
mann erfaßte ein Schnitzmesser und hackte damit nach Förster, wo¬
bei er ihm am linken Unterarm eine 10 cm lange Schnittwunde bei¬
brachte. Später zerschlug Widmann in der Zelle, in die er gebracht
wurde, aus Wut seinen Eßnapf. Als am Morgen des 6 August der
Aufseher ihm in der Zelle Rohr zur Verarbeitung geben wollte, trat
ihm Widmann mit den Worten entgegen:
„Machen Sie, daß Sie ’naus kommen oder ich schmeiße Sie
mit samt dem Rohr die Zelle ’naus.
Als der Aufseher die Zelle schließen wollte, riß Widmann die
Tür auf und schlug sie ihm ins Gesicht und rief:
„Ich bin schon im Zuchthause gewesen, Ihr macht mich hier
nicht mürbe“.
Beim Direktor leugnete er zwar im Wesentlichen und wollte
wegen Schmerzen in den Fingern die Rohrarbeit nicht mehr machen
können, im aufgeregtem Tone fing er aber an zu räsonieren und sagte:
„Ihr macht mich nicht mürbe. Ihr könnt machen, was Ihr
wollt Ihr wollt es wohl so machen, wie in Gräfentonna. Ich
verlange andere Arbeit, ich will Kuverte machen“ u. s. w.
Am Nachmittage des 16. September 1898 sang und pfiff Wid¬
mann laut in seiner Zelle. Als ihm ein Aufseher dies verwies, sagte
er in lautem Tone zu ihm:
„Sie haben mir nichts zu befehlen und können mir den
Buckel hinaufsteigen. Mehr wie Arrest könnt Ihr mir doch
nicht geben“.
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Verbrecher-Lebenslaufe.
167
Fortwährend und allen Zurechtweisungen zum Trotze störte er
durch lautes Rufen und Johlen und durch heftiges Pochen gegen die
Zellentüre die Ruhe. Am Morgen des 18. September lag er auf
seinem Bette, die Aufforderung, aufzustehen, beantwortete er mit den
Worten:
„Da sind sie ja schon wieder, die verfluchten Hunde, die
wollen mich tot schlagen, ich werde verfolgt. Gott, hilf mir!
Die verfluchten Gespenster“.
Beim Ausgehen rief er dem Kalfaktor zu:
„Guten Morgen, Herr Regierungspräsident“.
Nachdem die Zelle wieder geschlossen war, warf er den Topf
mit dem Essen gegen die Tür. Vom Spazier- und Kirchgang blieb
er zurück, indem er äußerte:
„Ach was, mir hat niemand etwas zu sagen; ich bleibe in
meiner Bude“.
Als er am Tage darauf dem Arzt vorgefübrt werden sollte, sagte
er, er sei krank. Dem ihn besuchenden Arzte erklärte er, er sei
Ravachol aus Paris, sei Anarchist, 4 Jahre „hier“ wegen Leichen¬
schändung. Der Anstaltsarzt erklärt unter Vorbehalt eines abschliessen¬
den Urteils, daß Widmann den Eindruck eines geistesgestörten, vor¬
wiegend an Verfolgungsideen leidenden Menschen macht Meist ver¬
hielt Widmann sich dann ruhig. Am 10. Oktober empfing er seine
Winterkleider; als er in die Zelle zurückkam, zog er die Jacke aus
und zerriß sie vor den Augen des Aufsehers mit den Worten: Solchen
Bruch kann ich nicht brauchen. Am 10. Oktober erklärte der Arzt:
„Die Beobachtung des Gef. Widmann hat ergeben, daß der¬
selbe nicht geistesgestört ist, gleichwohl kann nicht an¬
genommen werden, daß der Gefangene die anfänglichen Er¬
scheinungen simuliert hat. Widmann scheint erblich be¬
lastet zu sein und soll sorgfältig beobachtet werden. Der
Gefangene bleibt noch einige Tage zu Bett“.
Widmann erklärte zu der letzten Anordnung, das Bettliegen könne
ihn nicht kurieren, er wolle frische Luft und anderes Essen. Am
10. November verweigerte er die Arbeit des Federschleißens; von
dem Anstaltsvorstande ließ er sich nicht belehren, sondern erging sich
in ungebührlichen Redensarten. Er äußerte:
„Gebt mir die Arbeit, welche ich kann; die Federn rupfe ich
nicht, ich habe andere Arbeit zu verlangen. Ich weiß aber,
warum ich nicht herauskomme; Ihr denkt, ich schlage einen
tot. Feige seid Ihr, feige seid Ihr“.
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IV. SlKi'KKT
Beim Abführen äußerte er:
„Es soll mich nur ein solcher Hund angreifen, ich beiß ihm
gleich die Nase weg, daß er zeitlebens geschändet ist.
Am 13. Novbr. 98 nach dem Rundgange des Direktors jodelte
er in seiner Zelle zweimal laut auf. Am 21. Dezbr. erfolgte seine
Überführung nach Erfurt behufs Vollstreckung der dort gegen ihn
erkannten Strafe von 6 Monaten Gefängnis.
Etwa im Januar 1900 hielt Wiedemann beim Landwirt Reinhold
Rudolf zu Geresdorf bei Saalfeld um Arbeit an. Nach einigen Tagen,
an denen er arbeitete, ließ er sich in das Krankenhaus zu Gräfenthal
aufnehmen, von wo er am 16. Februar zurückkehrte. Am 24. Februar
gegen 11 Uhr vormittags ging Rudolph nach Saalfeld, nachdem er
mit Wiedemann gefrühstückt hatte. Irgend welche Differenzen waren
zwischen ihnen nicht vorgekommen. Zu Mittag erschien Wiedemann
nicht ungerufen, er arbeitete im Garten. Die Mutter der Frau Rudolph
schickte ihre fünfjährige Enkelin Martha Rudolph ab, um Wiedemann
zum Essen zu holen. Dieser hat sich dahin geäußert:
„Ich wollte erst nicht kommen, weil ich keinen Hunger hatte,
bin dann aber doch mitgegangen. Martha sagte mir auf
dem Wege, ihr Vater hätte ihr gesagt, er könne ihn nicht
mehr brauchen.“
Martha Rudolph hat, soweit etwas aus ihr herauszubringen war,
bestätigt, zu Wiedemann gesagt zu haben, daß er gehen könne. Vor
der Haustüre sagte dieser laut vor sich hin:
„wenn sie (sc. die Frauen) nichts drin gehabt hätten, könne
das Mädchen nicht sagen, er solle fort.“
Frau Rudolph erwiderte ihm, sie hätten nichts über ihn gehabt,
er brauche nicht fort, es habe ihm ja niemand etwas zu leid getan,
worauf er erklärte, daß es überall Arbeit gebe. Frau Rudolph ent-
gegnete, daß ihr Mann ihr bereits mitgeteilt habe, er wolle nicht
länger als acht Tage arbeiten. Nach dem Mittagsessen zog sich
Wiedemann an und verlangte dann von der Schwiegermutter Rudolphs,
der Wittwe Köhler, seine Papiere, welche ihm sagte, daß sie sie nicht
habe. Darauf ging er zu Frau Rudolph, die auf dem Boden war.
Er wiederholte das Verlangen nach seinen Papieren, aber auch Frau
Rudolph hatte sie nicht und sagte ihm, er müsse warten, bis ihr
Mann käme. Kurze Zeit darauf ging er, die brennende Zigarre im
Munde, über den Hof in den Pferdestall, dann legte er sich müßig
in den Garten. Hierauf erschien er wieder in der Wohnstube, in der
sich jetzt beide Frauen befanden, und verlangte seinen verdienten
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Verbrecher-Lebenslaufe.
169
Lohn. Frau Rudolph sagte zu ihm: Sie haben keine Ursache fort¬
zugehen, worauf er antwortete:
„Ursache genug mit dem Kinde. Es bat gesagt, ich könne
gehen, das kann ich behaupten."
Beide Frauen bestritten, daß sie etwas derartiges gesagt hätten,
er aber blieb bei seiner Behauptung und wurde schließlich so böse,
daß er in die Hände spuckte, diese rieb und auf die ältere Frau los
ging. Frau Rudolph packte ihn vorn am Rockkragen und forderte
ihn auf, die Stube zu verlassen, worauf Wiedemann sie mit der
flachen Hand ins Gesicht schlug und auf den Hof ging. Hier hob
er mit den Worten „Mensch verdammtes“ eine Mistgabel in die Höhe,
ließ sie aber wieder fallen, als er das Dienstmädchen erblickte.
Wiedemann erklärte in der Voruntersuchung, daß er sofort von
Rudolph habe weggeben und dessen Rückkehr nicht habe abwarten
wollen, weil dieser meist erst in der Nacht zurückgekommen sei.
Er ging auch weg, trank in der Schänke einen Schnaps, wanderte
dann nach Saalfeld, von wo er gegen 5 Uhr zurückkehrte. Er be¬
gab sich in den Rudolphschen Garten, wo er, wie er später sagte,
die Absicht faßte, das Rudolphsche Haus in Brand zu setzen, um
sich für die Weigerung der Lohnauszablung und Papierherausgabe
zu rächen.
Er raufte eine Hand voll dürren, im Garten stehenden Grases
aus, schwang sich in dem Winkel, den das Rudolphsche Haus mit
der Scheune des Nachbars Gutheil bildet, auf den 1 Meter über dem
Boden befindlichen Mauervorsprung der Scheune, steckte von hier
aus das Gras unter die Bretterbekleidung des ersten Stockwerkes des
Rudolphschen Hauses, zündete das Gras mit einem schwedischen
Streichholze an und entfernte sich, nachdem er gesehen, daß dasselbe
Feuer gefangen hatte.
Der Nachbar Gutheil gewahrte — es war zwischen */2 und 3 /i 6
Uhr — von seinem Hofe aus den Rauch und Feuerschein. Auf
seinen Feuerruf erschien Frau Rudolph, schöpfte aus dem vorbei¬
fließenden Bache Wasser, welches sie nach dem Feuer schleuderte,
das Gras fiel zu Boden und das Feuer erlosch. Die vom Feuer er¬
griffenen Balken und Bretter waren etwa 1 cm tief angekohlt.
Wiedemann wurde gegen 7 */2 Uhr oberhalb des Dorfes auf dem
benachbarten Kaimberge von einem Geresdorfer Einwohner verhaftet
und erzählte dem ihn in das Amtsgericht zu Saalfeld transportierenden
Feldjäger, er wäre dumm gewesen, daß er nicht das Stroh auf den
Schweineställen angezündet habe.
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IV. SlEFEHT
Wiedemann—Narr wurde am 26. März 1900 vom Schwurge¬
richte zu Rudolstadt wegen Brandstiftung zu fünf Jahren Zuchthaus
verurteilt In den Entscheidungsgründen hob das Gericht hervor,
daß der Angeklagte durch seine kaltblütig begangene Tat die größte
Gleichgültigkeit gegen das Vermögen von Leuten an den Tag gelegt
habe, bei denen er Arbeit gefunden, und daß ihm offenbar der Sinn
für Recht und Unrecht vollständig abhanden gekommen sei.
Am 3. April 1900 wurde Wiedemann—Narr in das Zuchthaus
zu Untermaßfeld eingeliefert. Am 6. Juni stellte er ohne triftigen
Grnnd die Arbeit ein, was sich dann öfter wiederholte, am 25. Juni
schlug er aus geringfügigem Anlasse einem Mitgefangenen ins Ge¬
sicht Auch am 17. November stellte er plötzlich die Arbeit ein, er
verlangte zum Direktor geführt zu werden, gegen einen Mann könne
er sich wehren, aber nicht gegen sechs oder sieben. Man sei seines
Lebens nicht sicher. Er beantragte seine Isolierung, welche erfolgte.
Am 10. Dezember verbarrikadierte er seine Zellentür, er fürchtete,
daß er umgebracht, vergiftet werde, denn nachts ständen immer
Leute vor seiner Zellentür, der Aufseher Sch. und der Kirchenrat,
letzterer banne ihn immer, so daß er nicht arbeiten könne; er solle
einen Mord begangen haben, aber er könne doch nicht eingestehen,
was er nicht begangen habe. Am 11. Januar 1901 zerbrach er
seinen Krug, weil der Kaffee, den er daraus trank, nach Seife
schmeckte.
Zunächst wnrde Simulation Wiedemanns vermutet. Als aber im
Februar 1901 ein sehr erregter Zustand bei ihm eintrat, er zu Ge¬
walttätigkeiten sich geneigt zeigte und die Ruhe und Ordnung des
Hauses störte, wurde mit „höchster Wahrscheinlichkeit anf das Vor¬
handensein einer Geistestörung geschlossen.“
Am 6. März 1901 wurde er in die herzogliche Irren-Heil- und
Pflegeanstalt übergeführt, von wo am 10. April mitgeteilt wurde, daß
Wiedemann an zahlreichen Täuschungen im Gebiete des Gehörsinnes
und des Gemeingefühls sowie daraus sich herleitenden Wahnvor¬
stellungen leide. Er glaubte von der Decke her die Stimme des
Geistlichen in Untermaßfeld zu hören, der ihn dort durch Vermittlung
eines besonders dressierten fremdartigen Vogels, welcher ihn nach
Untermaßfeld begleitet habe und nicht verlasse, für seinen Sohn er¬
klärt habe. Wiederholt legte er sich in Folge davon andere Namen
bei. Er hörte Zurufe feindseligen und bedrohlichen Inhaltes, wähnte
vergiftet und ermordet zu werden uud trat in Reaktion auf solche
Täuschungen mitunter sehr heftig und drohend auf. Er wollte z. B.
irgend jemand ermorden, ehe man ihn selbst ums Leben bringen
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V erbrecher-Lebenalaufe.
171
könne. Daneben äußerte er sich gelegentlich entrüstet und wütend
über Mißhandlungen und Quälereien, die auf elektrischem Wege an
ihm ausgeübt würden.
Am 5/ Juni 1901 entwich er aus der Anstalt und trieb sich
dann bettelnd umher, am 10. Juni wurde er von Sonneberg aus
zurückgebracht
Widmann—Narr war unzweifelhaftjjeisteskrank. Die Krankheit
wurde zunächst als akutes, hallucinatorithes Irresein bezeichnet, später
aber ausgesprochen, daß die Verlaufsweise der Geisteskrankheit Wid-
manns einen chronischen Charakter an sichtrage. Am 29. Septbr.
1902 wurde er in die königl. sächs. Anstalt zu Waldheim überge¬
führt, von wo am 16. März 1903 erklärt wurde, daß Widmann an
unheilbarer Geisteskrankheit leide.
3. Der Schlosser Albert Z ö b i s c h aus Lengenfeld, geb. am
23. August 1874, zuerst bestraft vom Schöffengericht zu Heilbronn
am 13. Dezbr. 1893 wegen Diebstahls mit 1 Tag Gefängnis, dann
1 8 9 4 und 18 9 5 in Dresden, Glückstadt, Schwarzenbeck, Kiel,
Schleswig, Leipzig wegen Bett eins und am 19. Dezember 1896
vom Landgerichte Gera wegen 3 vollendeter und 3 versuchter
schwerer Diebstähle mit 2 l l* Jahren Zuchthaus, wurde am 14. Sep¬
tember 1901 vom Landgerichte Weimar trotz seines Leugnens wegen
vollendeten und versuchten schweren Diebstahls i. w. R., begangen
mittelst Einbruches, Einsteigens und Erbrechens von Behältnissen,
sowie mittelst Anwendung von zur ordnungsmäßigen Oeffnung von
Gebäuden und im Innern derselben befindlichen Behältnissen nicht
bestimmten Werkzeuge zu einer Zuchthausstrafe von 8 Jahren ver¬
urteilt. (§ 73 St.G.B.).
Die Geraer Strafe verbüßte er im Zucbtbause zu Untermaßfeld
bis 19. 3. 1899. Bei seiner neueren Verhaftung am 13. 3. 1901
erklärte er vor der Polizei Weimar: Seitdem (19. 3. 99) habe ich
keinen festen Wohnsitz und auch keine ständige Arbeit, ich bin
meistens auf Reisen. Vom März bis Oktober 1899 zog ich mit dem
Karusselbesitzer Sachs aus Gotha umher, vom 1.—24. Februar 1900
war ich in Gotha, von Pfingsten ab etwa 5 Wochen in Untersuchungs¬
haft, im Frühjahr 2 Monat und im Herbste 1 Monat beim Karussel¬
besitzer Moll in Hannover in Stellung. In der Zwischenzeit habe ich,
immer auf Reisen, die von mir und einem Bekannten, Klempner
Zieger erfundenen „Kunstringe“ angefertigt und im Umherziehen
vertrieben. Einen Wandergewerbeschein hatte ich nicht, ich bekam
keinen. Neuerdings habe ich die Kunstringe nicht selbst angefertigt,
sondern von Zieger bezogen. Ich bezahle für das Dutzend 10 M.,
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IV. SlEFERT
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verkaufe das Stück für 2 M. und 2 M. 50 Pf. oder verdiene noch
inehr durch Wetten.
Zöbisch gab zu, in Dänemark Diebstähle verübt zu haben.
Daher sollte das Geld stammen, welches er bei sich führte, und seit
jener Zeit wollte er die bei ihm gefundenen Dietriche und sonstigen
Diebshandwerkszeuge besitzen. Die ihm abgenommenen Lichtstümpfe
wollte er bei sich führen, weil er immer in fremden Häusern schlafe
und der Lichter bedürfe, um sich nachts zurechtzufinden. Über seinen
Aufenthalt in einer bestimmten, eine Woche zurückliegenden Nacht
befragt, erklärte er nach seiner am 13. 3. 1901 erfolgten Festnahme:
„Ich bin augenblicklich wirklich nicht in der Lage, anzugeben,
wo ich in der Nacht vom 5./6. März 1901 war. Ich werde
später schon mit dem Herrn Untersuchungsrichter Überein¬
kommen".
In Bezug auf Diebstähle, die einige Tage später in Apolda und
Jena verübt waren, sagte er:
„Ich habe nichts damit zu tun und bin vorige Woche weder
iu Apolda noch in Jena gewesen. Meine Beweise werde ich
zuletzt bringen v da wird sich’s zeigen“.
Gegen den Amtsrichter ließ er sich dahin vernehmen:
„Ehe ich genauere Angaben mache, muß ich mir die Sache
erst überlegen“,
gegenüber dem Untersuchungsrichter des Landgerichts Weimar aber
erklärte er:
„Nähere Zeitangaben kann ich überhaupt nicht machen, ich
muß mir meine ganzen Reisen erst noch überlegen“
und auf den Vorhalt, daß er seit der polizeilichen Vernehmung doch
Zeit genug dazu gehabt habe:
„er sei noch nicht ins Reine gekommen“.
Am 6. April zeigte der Gefangenmeister an, daß Zöbisch seit
zwei Tagen den Verrückten spiele. Er werfe die in seiner Zelle be¬
findlichen Gegenstände umher, habe sein Lesebuch zum Fenster hin¬
ausgeworfen, trete fortwährend nach der Zellentür, pfeife auf den
Fingern. Wenn man zu ihm in die Zelle komme, habe er den
Haftbefehl in der Hand, sage, er verstehe das nicht, er wolle fort,
es wäre das letzte Mal, daß er sein Essen nehme. Es wurde der
Landgerichtsarzt um Äußerung über den Zustand des Angeschuldigten
ersucht. Dieser erklärte am 7. April, er habe Zöbisch untersucht,
Schlaf und Appetit seien nicht gestört, das Gedächtnis hätte an¬
scheinend nicht gelitten. Einige verkehrte Handlungen — Verstecken
unter dem Bett, sinnloses Schwätzen — machten den Eindruck, daß
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Verbrecher-Lebenslaufe.
173
es sich um wohl überlegte Verkehrtheiten handele. Zwangsvor¬
stellungen fehlten. Der Arzt hatte den Eindruck, daß Zöbisch
simuliere, er falle oft aus der Rolle des wilden Mannes heraus.
Am 9. Mai berichtete der Gefangenmeister, daß der Angeschul¬
digte sich seit einigen Tagen wieder aufgeregt benehme. Er habe
den Strohsack und sein Kopfkeilkissen zerrissen, von seiner wollenen
Decke einen Streifen heruntergerissen, das Luftfenster der Zelle
herabgerissen. Der Untersuchungsrichter vernahm ihn über diese
Sachbeschädigungen, welche er mit dem Bemerken zugab, „er
handle manchmal wie im Traum“. Es folgte eine Disziplinar¬
strafe (hartes Lager), nachdem der Arzt sich dahin geäußert hatte,
daß sie ohne Schaden für den Gefangenen geschehen könne. Sie
wurde in den Nächten vom 13./14. und 15./16. Mai vollstreckt
Schon am 13. Mai erscheint eine neue Meldung des Gefangen¬
meisters: „Zöbisch hat in verflossener Nacht in einer solchen Weise
getobt, daß sämtliche Insassen sowie dife Bewohner des Hauses keine
Ruhe gehabt haben. Derselbe hat wie ein wildes Tier gebrüllt, den
Stuhl zerschlagen, sich nackt ausgezogen und dann alles zum Fenster
hinausgeworfen. Auch fing derselbe an, den Kalk an den Wänden
abzustoßen und die Mauersteine blos zu legen. Heute morgen, als
ihm die Bekleidung wieder angeboten worden war, hat er sich
wieder angekleidet“. Nach Bedrohung des Angeschuldigten mit
neuen Disziplinarstrafen legte der Untersuchungsrichter die Akten dem
Landgerichtsarzte von neuem vor. Derselbe erklärte am 14. 5. 1901:
„Der Unterzeichnete hat den Gefangenen Zöbisch schon ein¬
mal auf seine Zurechunngsfähigkeit untersucht; er war zu
der Auffassung gekommen, daß Simulation vorliege. Jetzt
kehrt derselbe Ideenkreis wieder, nachdem der Gefangene sich
ruhig und verständig gehalten hat. Ich habe Zweifel, daß
nur Simulation vorliegt und empfehle Beobachtung in der
psychiatrischen Klinik“.
Nach Zöbisch’s Überführung in die Jenaer Klinik am 12. Juni
fragte die Staatsanwaltschaft Mitte Juli bezüglich des Ergebnisses der
Beobachtung an, worauf unter dem 17. Juli erwidert wurde, daß
während der ersten Zeit seines Aufenthaltes krankhafte Erregungs¬
zustände bei Zöbisch wahrgenommen worden, daß dieselben aber zur
Zeit geschwunden seien. Er benahm sich jetzt ruhig und geordnet,
mache aber dabei den Eindruck eines listigen und verschlagenen
Menschen. Erkundigungen bei seinen Lehrern hätten ergeben, daß
er während der Schulzeit ein ordentlicher Junge gewesen,
aber in seiner geistigen Entwickelung zurückgeblieben sei.
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174
IV. SlEFERT
Über den Geisteszustand zur Zeit der Begehung der Strafhandlungen
vermöge man ein Urteil nicht abzugeben. Das Gutachten der An¬
staltsdirektion ging am 27. Juli ein. Dasselbe ging dabin, daß
Zöbisch sowohl jetzt als auch zur Zeit der Begehung der strafbaren
Handlungen geistig gesund war. Doch wurde nochmals darauf auf¬
merksam gemacht, daß es sich um einen Menschen handele, der in
Beiner geistigen Entwickelung zurück geblieben sei und einen aus¬
gesprochenen ethischen Defekt zeige.
Er hatte angegeben, daß er in seiner Jugend an Krampfanfällen
gelitten habe, keiner seiner Lehrer hatte sich jedoch erinnern können,
daß er jemals einen solchen gehabt habe. Dagegen war seine An¬
gabe bestätigt worden, daß seine Schulleistungen stets unter dem
Normalmaße zurückgeblieben und er in der Schule nur bis zur
zweiten Klasse kam. Nach seiner Schulzeit war er znnächst drei
Jahre bei einem Schlosser in der Lehre. Dann arbeitete er bei ver¬
schiedenen Meistern, teils war er auf der Wanderschaft Er kam da¬
bei nach Dänemark, Bayern, fuhr einmal als Heizer nach New-York.
Alkoholismus gestand er zu.
In psychischer Beziehung zeigte er sich in der Irrenanstalt an¬
fangs ruhig und geordnet, etwas stumpf und gleichgültig. Den Cha¬
rakter der Anstalt wollte er anfangs nicht kennen, er schloß erst in
umständlicher Weise darauf aus den Beobachtungen an den Mitbe¬
wohnern des Zimmers. Doch war ihm der seine Einlieferung in eine
Irrenanstalt anordnende Beschluß der Strafkammer zugestellt worden.
Am 18. Juni änderte sich sein Verhalten. Sein Gesichtsausdruck
erschien bei der Unterhaltung blöde, erstaunt, fragend; er verstand
die an ihn gerichteten Fragen nur schwer, gab langsam und zögernd
irre Antworten. In der Nacht zum 19. Juni schlich er auf Händen
und Füßen aus seinem Bett in das offenstehende Nebenzimmer und
versuchte, die dort liegende .Zeitung an sich zu nehmen. Darüber
am andern Tage vernommen, gab er an, es sei wie ein Anfall, wie
ein innerer Trieb über ihn gekommen, er habe sich im Bette gelang¬
weilt und die Zeitung lesen wollen. Später entsinnt er sich angeblich
des Vorganges nicht. Am 22. Juni morgens lag er mit aufgeregtem,
schmerzlich verzogenen Gesicht im Bett, seufzte und hielt die Hand
vor die Stirne. Die Frage, weshalb er so aufgeregt sei, ließ er erst
unbeantwortet, dann sagte er: „weil ich die Religionssachen nicht
verstehe“. Er eignete sich Gebärden und Redensarten von Mit¬
patienten an, stellte sich verwirrt, behauptete zuweilen, es sei ihm so
wunderbar, gerade wie Anfälle. Einige Male wurde er agressiv
gegen den Wärter. Als dieser einen anderen Kranken zu Bett
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V erbrecher-Lebenslauf c.
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brachte, warf er ihn von hinten zu Boden. Nachdem der Arzt in
seiner Gegenwart öfters bemerkt hatte, daß er, falls er geisteskrank
sei, dauernd in einer Irrenanstalt untergebracht werden müsse, ver¬
hielt er sich seit Anfang Juli klar, ruhig und geordnet
Der Psychiater erklärte, daß die Erregungszustände während der
Untersuchungshaft und die eigenartigen Verwirrungszustände und
sonstigen scheinbaren psychischen Anomalien, die er in der Klinik
bot, durchaus den Stempel des Gemachten, der Simulation trügen.
Spreche schon die Raffiniertheit, mit der die Diebstähle ausgeführt
wurden, und das planmäßige Vorgehen dabei gegen die Annahme,
daß Zöbisch zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlungen
geisteskrank gewesen wäre, so werde diese Annahme völlig hinfällig
durch das Lügengewebe, in das er sich bei seiner Vernehmung ver¬
strickte. Dadurch, daß er den Ärzten einen Teil der Diebstähle zuge¬
geben habe, sei auch erwiesen, daß keinerlei Erinnerungsstörung vorliege.
Nachdem das Urteil rechtskräftig geworden war, wurde Zöbisch
am 12. Dezember 1901 in das Zuchthaus zu Unterraaßfeld ein¬
geliefert. Der dortige Anstaltsarzt äußerte sich in einem Berichte
vom 3. Mai 1902 dahin:
„Schon anfangs Januar d. J. machte sich Zöbisch durch sein
absonderliches Wesen und seine albernen Reden so auffällig, daß er
den Eindruck eines Geisteskranken machte, vorerst aber wegen der
früher mit ihm gemachten Erfahrungen für einen Simulanten gehalten
wurde. Nachdem aber der Zustand des Zöbisch auch jetzt nach vier
Monaten noch unverändert fortbesteht, dürfte an dem wirklichen Vor¬
handensein einer Geistesstörung nicht mehr zu zweifeln sein.“
Dieses Gutachten wurde dem Direktorium der Jenaer Irrenanstalt
zur Äußerung mitgeteilt. Dasselbe erwiderte, daß bei der geistigen
Veranlagung des Zöbisch die Entstehung einer Geistesstörung in der
Einzelhaft sehr wohl im Bereiche der Möglichkeit liege, daß jedoch auch
sehr wohl die Möglichkeit bestehe, daß Zöbisch, um sich der strengen
Zuchthausstrafe zu entziehen, erneute Täuschungsversuche mache.
Es erfolgte nunmehr die Wiedereinlieferung des Zöbisch in obige
Anstalt, deren Direktor am 20. Juni 1902 mitteilte, das Zöbisch sich
zwar wesentlich beruhigt habe, aber noch eine ganze Reihe von
Krankheitserscheinungen äußere. Unter dem 22. August 1902 wurde
festgestellt, daß bei ihm zur Zeit eine psychische Störung bestehe, und
unter dem 26. Oktober 1902, daß er an einer chronischen Geistes¬
störung leide. Am 16. Februar 1903 wurde er in das Karl-Friedricbs-
Hospital zu Blankenhain übergeführt, dessen Direktorium Anfangs
Septbr. 1904 sich dahin äußerte, daß Zöbisch noch sehr halluciniere.
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V.
Ein unwahres Geständnis.
Von
Rechtsanwalt Dr. Kroch in Leipzig.
Am 9. April 1905 nachmittag begaben sich die Th.schen Ehe¬
leute mit ihren Kindern in die Kirche. Sie beabsichtigten, nach dem
Gottesdienste Verwandte zu besuchen, und beauftragten die im August
1881 geborene und bisher unbestrafte Angeklagte Sch., eines ihrer
Dienstmädchen, die Kinder um 7 Uhr von der Kirche abzuholen.
Von ungefähr V 26 Uhr ab, wo die Th.schen Eheleute weggingen, bis
gegen Uhr war die Angeklagte in der Th.schen Villa allein.
Sie ging alsdann direkt zur Kirche, wo sie um 7 Uhr eintraf, wartete
daselbst bis gegen 3 /-*8 Uhr, da der Gottesdienst nicht früher beendet
war, und kam gegen 8 Uhr mit den Kindern in die Villa zurück.
Hier war nunmehr, nachdem erleuchtet worden war, folgendes
wahrzunehmen:
1 ., Es war versucht worden, einen Herrenschreibtisch und einen
Damenschreibtisch zu erbrechen, in welchen regelmäßig Geld
und damals ungefähr 900 M. und 800 M. aufbewahrt waren;
ein 1 cm breites Stemmeisen war zwischen die Fächer, in
welchen das Geld lag, und die darüber liegenden Platten mehr¬
fach gewaltsam gestoßen und alsdann — allerdings erfolglos
— der Versuch gemacht worden, diese Behältnisse aufzusprengen.
Der Gebrauch des Stemmeisens hatte wesentliche Spuren zurück-
gelassen; an dem Damenschreibtisch allein waren acht verhält¬
nismäßig tiefe Eindrücke und in sämtliche paßte genau das zum
Haushalte der Th.schen Eheleute gehörige Stemmeisen.
2 ., Das in der Wohnstube hängende Schlüsselschränkchen war er¬
brochen, diesem gerade der Vertikowschlüssel entnommen und
hiermit der Vertikow geöffnet worden.
3 ., In die Scheibe eines im Erdgeschosse gelegenen Fensters, zu
dem man von den zum Hauseingang führenden Stufen aus
ohne Hindernis gelangen konnte, war am Wirbel ein größeres
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Ein unwahres Geständnis.
177
Loch geschlagen. Die Glasscherben lagen auf dem Fenster¬
sims. Durch das Loch konnte man von außen nach dem
Fensterwirbel greifen und diesen so umdrehen, daß man das
Fenster zu öffnen und ohne große Schwierigkeit durch Ein¬
steigen in sämtliche Räume der Villa zu gelangen vermochte.
4., In der im II. Obergeschoß befindlichen Mädchenkammer war
auf dem in der Nähe des Fensters stehenden Leinwandschemel,
ein linker Damenstiefel in Schmutz abgedrückt, welcher nach
der Überzeugung des Kriminalschutzmanns dieselbe Form, wie
der linke Stiefel der Angeklagten, aufwies; außerdem waren
auf dem Fensterbrett 2 größere Schmutzflecken.
5., Kleinere im Vertikow befindliche Geldbeträge, auf dem Damen¬
schreibtisch offen liegende Silber- und Nickelmünzen im Ge¬
samtbeträge von ungefähr 10 M. und verschiedene in der
Wohnung umherstehende Silbersachen waren nicht berührt; es
war überhaupt nichts gestohlen worden. —
Es unterlag keinem Zweifel, daß ein schwerer Diebstahl von einer
mit den Th.schen Verhältnissen vertrauten Person versucht worden
war. Der Verdacht lenkte sich sofort auf die Angeklagte, da sie von
V 26 Uhr bis 3 /47 Uhr allein in der Villa war, und sie fühlte dies,
denn sie sagte noch an demselben Abend kurz nach 9 Uhr zu dem
inzwischen nach Hause zurückgekehrten anderen Dienstmädchen:
„Na, nun wird wohl der Verdacht auf mich kommen!“ Sie wurde
hierauf von einem Kriminalschutzmann, der die nunmehr von mehreren
Schutzleuten bewachte Villa durchsucht hatte, befragt und gab eine
ausführliche Darstellung ihrer Wahrnehmungen, stellte aber jede Schuld
in Abrede. Am folgenden Tage wurde sie in dem Dienstzimmer der
Kriminalabteilung eingehend vernommen. Sie wiederholte ihre früheren
Angaben und bestritt wiederum jede Schuld, obwohl ihr „auf den
Kopf zugesagt worden war, daß nur sie die Täterin und ihre Er¬
zählung erlogen wäre.“ An demselben Tage nachmittags fand in
Gegenwart der Angeklagten nochmals eine genaue Besichtigung der
Villa durch den Kriminalschutzmann statt; die Angeklagte blieb hier¬
bei auf Befragen wieder bei ihren früheren Angaben stehen.
An demselben Tage abends in der 8 . Stunde redete Th. der An¬
geklagten zu, sie sollte doch der Wahrheit die Ehre geben und die
Tat, die ja weiter niemand wie sie begangen haben könnte, zuge¬
stehen; so viel an ihm läge, sollte alles getan werden, daß sie keinen
Nachteil davontrüge.
Die Angeklagte gab daraufhin die Tat zu und erklärte dabei: „Na,
nun ist mir ein Stein vom Herzen“; „hoffentlich nimmt Herr Th. zurück“
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 12
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V. Kroch
oder „hoffentlich kommt es nicht zur Anzeige.“ Hierauf erzählte sie,
aufgefordert von Th., die Ausführung der Tat in allen Einzelheiten
und gestand, daß sie sich Geld verschaffen wollte und an der Voll¬
endung des Diebstahls verhindert worden wäre, da sie die Kinder
hätte abholen müssen'; um den Anschein zu erwecken, als hätte ein
Fremder einen Einbruch begangen, hätte sie mit einem Messer die
•Fensterscheibe eingeschlagen und in der Mädchenkaramer auf dem
Fensterbrett und dem Leinwandschemel die Spuren durch Anstreichen
von Schmutz angebracht.
Am folgenden Tage hat die Angeklagte dem Kriminalschutzmann
gegenüber das Geständnis in seinem ganzen Umfange wiederholt.
Hierauf wurde pie noch an demselben Tage aus dem Dienst entlassen.
Sie ging auch, nachdem sie ihrer Dienstherrin gegenüber nochmals
das Geständnis abgelegt hatte, selbstverständlich ohne eine Entschädi¬
gung für Lohn, Kost und Logis zu erhalten. Sie verließ ihren bis¬
herigen Aufenthaltsort und begab sich nach Leipzig zunächst zu ihrer
verheirateten Schwester und später wieder in Stellung.
Bei der richterlichen Vernehmung am 5. Mai 1905 hat die An¬
geklagte das Geständnis widerrufen. Sie erklärte: „Mein Geständnis
habe ich nur aus Angst abgelegt Meine Schwester hat auch gesagt,
es wäre eine große Dummheit von mir, daß ich gestanden hätte, und
hat mich deshalb tüchtig ausgezankt“ usw.
Ende Mai 1905 beauftragte mich die Angeklagte unter Über¬
reichung der Anklageschrift mit ihrer Verteidigung. Durch einige
Besprechungen mit der Angeklagten gelang es mir, von dieser im
Wesentlichen zwei für die Verteidigung wichtige Tatsachen zu er¬
fahren. Sie erzählte mir nämlich gelegentlich, daß ihr auf dem Wege
von der Th.schen Villa nach der Kirche das andere Dienstmädchen
begegnet wäre und ihr gesagt hätte, es ginge nach Hause (in die
Villa), daß es aber auch tatsächlich nur geringe Zeit nach ihrem Weg¬
gange in der Th.schen Villa gewesen wäre und sich daselbst kurze
Zeit aufgehalten hätte, um einige Kleidungsstücke zu wechseln.
Außerdem sagte mir die Angeklagte, daß sie nicht nur bei Th„
sondern auch in ihren früheren Stellungen im allgemeinen ungefähr
3 Jahre gewesen und von ihren früheren Dienstherrschaften stets gute
Zeugnisse, insbesondere auch in Bezug auf Ehrlichkeit, erhalten hätte.
Die Dienstherrschaften, welche kommissarisch vernommen wurden,
sagten sämtlich aus, daß sie die Angeklagte für ehrlich hielten. Das
andere Dienstmädchen wurde zur Hauptverhandlung geladen.
Noch vor der letzteren hatte ich Gelegenheit, die Th.sche Villa
zu besichtigen. Hier habe ich wahrgenommen, daß man von den
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Ein unwahres Geständnis.
179
zum Hauseingang führenden Stufen aus das Fenster, dessen Scheibe
zerschlagen worden war, mit Leichtigkeit vollständig übersehen konnte,
und daß die Mädchenkammer nicht sehr tief war und gutes Tages¬
licht hatte.
Ich folgerte hieraus: Wenn die Angeklagte die Tat begangen
hätte, so hätte das andere Dienstmädchen, wenn es kurz nach der
Angeklagten in der Villa und insbesondere in der Mädchenkammer
gewesen wäre, wahrgenommen haben müssen, daß die Fensterscheibe
zerschlagen war und die Glasscherben auf dem Fenstersims lagen,
sowie daß in der Mädchenkammer das Fensterbrett und der Lein¬
wandschemel beschmutzt waren, sofern nur die Lichtverhältnisse dies
gestatteten.
Das Königl. Meteorologische Institut in Dresden teilte mir auf
Befragen mit, daß am 9. April 1905 abends am Orte der Tat eine
leichte Schneedecke lag und daß es vorwiegend heiter und trocken
war. Hieraus und aus der Zeit des Sonnenunterganges konnte ich
mit Recht schließen, daß am fraglichen Abend wohl bis kurz nach
7 Uhr gutes Dämmerlicht war.
Es war daher in der Hauptverhandlung, die ja während der
Vernehmung der Tb.schen Eheleute und des Kriminalschutzmanns sehr
ungünstig für die Angeklagte verlaufen mußte, für mich am wesent¬
lichsten die Vernehmung des anderen Dienstmädchens. Die Ange¬
klagte war nach meiner Überzeugung unschuldig, wenn diese Zeugin
aussagte, daß sie an dem fraglichen Abend gegen 7 Uhr in der Villa
und insbesondere in der Mädchenkammer war, denn ich konnte in
diesem Falle mit Bestimmtheit annehmen, daß die Zeugin die zer¬
brochene Fensterscheibe und den Schmutz auf dem Leinwandschemel
und am Fensterbrett nicht gesehen hat, da sie sich anderenfalls nicht
sogleich wieder aus der Villa entfernt, sondern die übrigen Räume
der Villa besichtigt und von ihren Wahrnehmungen sofort der Polizei
oder ihrem Dienstherm Anzeige gemacht hätte. Hatte aber die
Zeugin von alledem nichts gesehen, so war erwiesen, daß der ge¬
schilderte Zustand beim Weggehen der Angeklagten aus der Villa
noch nicht war, und hiermit war der Beweis für die Unschuld der
Angeklagten erbracht, denn daran konnte kein Zweifel bestehen, daß
der versuchte Diebstahl und das Zerschlagen der Fensterscheibe, sowie
das Beschmutzen des Fensterbrettes und des Schemels von derselben
Person ausgeführt wurden.
Die Zeugin, welche einen äußerst günstigen Eindruck und insbe¬
sondere auch den Eindruck eines sehr sauberen Mädchens machte,
bestätigte eidlich, daß sie die Angeklagte, wie diese zur Kirche ging,
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V. Kroch
getroffen hätte und daß sie kurz vor 7 Uhr in der Villa gewesen wäre
und daselbst einige Kleidungsstücke z. B. den Hut gewechselt und
die Boa abgelegt hätte. Außerdem fügte sie auf Befragen hinzu,
daß sie, wie sie gegen 7 Uhr in der Villa war, noch gut gesehen,
aber nicht wahrgenommen hätte, daß die Fensterscheibe zerbrochen
oder das Fensterbrett oder der Leinwandschemel beschmutzt gewesen
wäre. Daß dieser Schemel beschmutzt gewesen wäre, hielt sie für
unmöglich, da sie ihren neuen Hut darauf gelegt hätte.
Die Angeklagte wurde nach alledem vom Königl. Landgericht
Chemnitz (3 A. 111/05) mangels Beweises freigesprochen.
Es ist nach meiner Überzeugug bewiesen, daß die Angeklagte
unschuldig ist. Der volle Beweis hierfür wird dadurch erbracht, daß
die Zeugin von den sämtlichen Spuren des Diebstahls nichts wahr¬
genommen hat und ganz besonders noch dadurch, daß sie den neuen
Hut auf den Leinwandschemel gelegt hat. Wenn die Angeklagte
diesen Schemel beschmutzt hätte, so hätte der Schmutz (es war sehr
wahrscheinlich wasserhaltiger Schneeschmutz) noch feucht sein müssen
als die Zeugin den Hut darauf legte, da die Angeklagte den Schmutz
jedenfalls erst kurz vor dem Weggehen aus der Villa angebracht
hätte und die Zeugin sofort nach der Angeklagten und nnr kurze
Zeit in der Villa ^gewesen ist. Es hätte daher auch der neue Hut
schmutzig werden müssen und dieser Umstand hätte der Zeugin nicht
entgehen können.
Zur Vollständigkeit dieser Beweisführung soll noch in folgendem
auf die Indizien und das Geständnis der Angeklagten eingegangen
werden:
Die gleiche Breite des Th.sehen Stemmeisens und des von dem
Diebe benutzten ist ein Zufall; es gibt unzählige Stemmeisen von 1 cm
Breite.
Die Form des Stiefelabdrucks auf dem Leinwandschemel kann
nicht zu Ungunsten der Angeklagten verwendet werden. Würde,
was ich nicht für wahrscheinlich halte, die Form dieses Stiefels zu
erkennen gewesen sein, so würde man gerade um deswillen eher an¬
nehmen müssen, daß nicht die Angeklagte den Schemel beschmutzt
hat; denn hätte sie ihn beschmutzt und einen Stiefel in den Schmutz
eingedrückt, so hätte sie hierzu, um sich nicht zu verraten, nicht
ihren eigenen, sondern den Stiefel einer anderen Person verwendet.
Die übrigen Indizien sprechen nur dafür, daß der Dieb durch
das Fenster, dessen Scheibe zerschlagen wurde, eingestiegen ist, und
daß er, gegen 8 Uhr durch die Ankunft der Angeklagten und der
Kinder überrascht, sich zunächst durch die Mädchenkammer auf das
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Ein unwahres Geständnis.
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Dach zu retten gesucht hat, dann aber, da ein Entkommen auf diese
Art unmöglich war, in das erste Stockwerk oder das Erdgeschoß
zurückgegangen, hier durch ein Fenster in den Garten gesprungen
und entflohen ist.
Der Umstand, daß die kleinen Geldbeträge im Vertikow, sowie
die Nickel- und Silbermünzen auf dem Damenschreibtisch und die
herumstehenden Silbersachen unberührt waren, ist dadurch aufgeklärt,
daß es, wie der Diebstahl ausgeführt wurde, bereits dunkel geworden
war und der Dieb diese Gegenstände nicht gesehen hat. —
Was hat nun die Angeklagte bestimmt, die Straftat und deren
Ausführung in allen Einzelheiten wider die Wahrheit zu gestehen,
das Geständnis mehrfach zu wiederholen und sich die sofortige Ent¬
lassung aus dem Dienst ohne jede Entschädigung gefallen zu lassen?
Um diese Beweggründe zu erkennen, muß man sich in die da¬
maligen Verhältnisse und in das Seelenleben der Angeklagten hinein¬
denken. Diese hat zunächst einen wesentlichen Schreck gehabt, als sie
nach der Rückkehr von der Kirche die einzelnen Spuren des Ver¬
brechens wahrnahm. Sie ist von Natur ängstlich; dies geht daraus
hervor, daß sie kurz nach der Tat dem anderen Dienstmädchen sagte:
„Na, nun wird wohl der Verdacht auf mich kommen!“ Sie ist als¬
dann von dem Kriminalschutzmann ausführlich befragt worden und
hierauf folgte eine für sie jedenfalls ruhelose Nacht, in welcher sie
darüber nachgrübelte, wie sie sich von dem Verdachte reinigen und
den Täter ausfindig machen könnte. Am nächstfolgenden Vormittag
findet die ausführliche eindringliche Vernehmung statt, in welcher ihr
von dem Kriminalschutzmann „auf den Kopf zugesagt wird, daß nur
sie die Täterin und ihre Erzählung erlogen wäre“ und an demselben
Nachmittage in ihrer Gegenwart die nochmalige Durchsuchung der
Villa durch den Beamten. Zu alledem wirkt auf die Angeklagte, die
die ganze Zeit über nur Aufregung gehabt hat, ständig das Gefühl,
daß sie jeder für den Täter hält. Nun wird sie abends wieder von
dem Dienstherm bearbeitet, ein Geständnis abzulegen und dieser stellt
ihr noch in Aussicht, daß sie im Falle des Geständnisses, soweit es
in seinen Kräften stände, keinen Nachteil haben sollte.
Der Angeklagten ist der Zustand, in welchem sie sich befindet,
unerträglich. Sie bringt dies nach Ablegung des Geständnisses mit
den Worten zum Ausdruck: „Na, nun ist mir ein Stein vom Herzen.“
Diese Worte können unter den vorliegenden Umständen nur die Be¬
deutung haben, daß die Angeklagte hofft, daß nunmehr, nachdem sie
gestanden, die ewige Quälerei zur Erlangung eines Geständnisses und
ihre Aufregung aufhören werden. Außerdem hält es die Angeklagte
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V. Kroch
für möglich, daß sie, wenn ihr Dienstherr will, nicht bestraft wird,
denn sie sagt: „Hoffentlich nimmt Herr Th. zurück“ oder „hoffentlich
kommt es nicht zur Anzeige.“ Sie hat nach alledem zugestanden,
weil sie den ihr unerträglichen Zustand beseitigen zu können glaubt,
ohne bestraft zu werden. Hatte sie aber erst einmal wider die Wahr¬
heit zugestanden, so war es unbedingte Folge und ihr auch ein
Leichtes, die Straftat in ihren Einzelheiten zu gestehen und sich mit
den Indizien zu belasten. Auf Befragen, weshalb sie das Geständnis
später noch wiederholt habe, erklärte sie: „Du hast einmal ja gesagt,
nun hast du kein Wort weiter zu verlieren.“ Daß sie sich die so¬
fortige Entlassung aus ihrer Stellung ohne jede Entschädigung gefallen
ließ, war ebenfalls eine notwendige Folge des Geständnisses.
Nach alledem kann man wohl mit Recht behaupten, daß der Be¬
weis für die Unschuld der Angeklagten erbracht und jeder Verdacht
gegen dieselbe unbegründet ist Auch dafür, daß die Angeklagte mit
dem Täter in irgend einer Verbindung stand oder von ihm Kenntnis
hatte, liegt ein Anhalt nicht vor, denn sie verkehrte nur mit ihrem
Geliebten und dieser wies nach den Ermittelungen des Kriminal¬
schutzmanns sein Alibi auf ein wandsfreie Weise nach.
Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß jeder Jurist und jeder
Laie die Angeklagte bei dem umfassenden Geständnis, das sie abgelegt
hat, für schuldig gehalten hätte, wenn nicht das andere Dienstmädchen
als Zeugin vernommen worden wäre. Die Tatsachen, worüber diese
Zeugin aussagte, hat die Angeklagte erst berichtet, nachdem sie
wiederholt aufgefordert worden war, ihre Erlebnisse am 9. April 1905
bis in die geringsten Einzelheiten anzugeben, da sie sich über die
Tragweite dieser Tatsachen unklar war. — Es erhellt somit aus dieser
Sache, welche Sorgfalt in der Strafrechtspflege selbst bei Zugeständ¬
nissen anzuwenden ist, sollen unrichtige Urteile vermieden werden.
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Was sollen wir tun?
Aus dem Reformatory Outlook. Mansfield (Ohio).
September 1905.
Für den Outlook geschrieben von Killen, Nr. 2344 in der Anstalt.
Übersetzt von M. Q-., Frankfurt a. M.
Vorbemerkung.
Das Ziel, das sich die amerikanischen Strafanstalten neuen Stils,
die Reformatories, setzen, ist Umbildung des Gefangenen an Körper,
Verstand und Charakter. Damit hofft man aus dem jugendlichen
Verbrecher, auf den es die Keformatories in erster Linie absehen,
ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu machen.
Nach den Erfahrungen dreier Jahrzehnte glaubt man in Amerika
dies Ziel in einer verhältnismäßig sehr großen Zahl von Fällen er¬
reicht zu haben. Man rechnet allgemein mit 70—80 °/ 0 Gebesserten.
So ist es für uns von Interesse, den Methoden solcher Umbildung
zu folgen.
Eine der Gefahren jeder Anstaltserziehung ist, daß der Gefangene
die Fühlung mit der Außenwelt verliert. Von allen Seiten hört man
bei ans klagen, daß er bei seiner Entlassung, menschenscheu und
weltfremd, dem für ihn ohnehin erschwerten Konkurrenzkämpfe nicht
gewachsen sei. Dem suchen die ßeformatories zu begegnen:
Maueranschläge in ihnen geben alltäglich die wichtigsten oder den
Gefangenen interessantesten Ereignisse in Politik, Sport usw. bekannt.
Vorträge und Debattierklubs dienen gleichfalls dazu, den Verstand
der jungen Leute auszubilden und sie lebensfrisch zu halten.
Eines der wichtigsten Erziehungsmittel ist, daß man sie in
der Anstalt selbständig eine Zeitung drucken und herausgeben
läßt. Uns ist das fremd, und leicht sind wir geneigt, darüber zu
lächeln. Eben darum ist es für uns nicht ganz wertlos, eine Probe
solcher amerikanischen Gefängnisjournalistik kennen zu lernen. Sie
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VI. Freudenthal
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zeigt uns, wie die Insassen der neuen Anstalten über deren Straf¬
vollzug denken, von dem wir ja sonst zumeist nur durch die An¬
staltsverwaltung hören. Es ist gewiß notwendig, auch einmal die
andere Seite zu Worte kommen zu lassen.
Das Reformatory in Mansfield (Ohio), aus dessen Anstaltszeitung
der nachstehende Leitartikel entnommen ist, steht unter den Gefäng¬
nissen des neuen Systems in erster Linie. Was diesen eigen ist,
empfindet man in wohltuender Weise auch in ihm: Unter den jungen
Gefangenen herrscht nicht Niedergeschlagenheit und dumpfe Bitter¬
keit, sondern der Geist des Höffens und der Wunsch, durch An¬
spannung aller Kräfte in der Anstalt rasche Entlassung zu er¬
reichen und draußen im Leben Versäumtes nachzuholen.
Das scheint mir der nachstehende Artikel getreu wiederzuspiegeln.
Professor Dr. B. Freudenthal, Frankfurt a. M.
Richte Deine Gedanken fest aufs Ziel.
Spanne des Ehrgeizes Bogen.
Sichere Deinen Weg durch Selbstbeherrschung —
Dann entsende des Lebens Pfeil.
\
Indem ich die kürzlich erschienene Nummer unseres lieben
Blattes durchlese, fällt mir ein wichtiger Artikel auf, den ein Insasse
dieser Anstalt geschrieben hat. Ich habe das Gefühl, als ob ich
meinen Mitgefangenen, die hier wegen früherer Vergehen eingesperrt
sind, vielleicht Gutes erweisen und einen Strahl des Lichtes auf ihre
dunklen Wege senden könnte. Der Verfasser schreibt, er sei tief im
Elend gewesen und habe keine andere Rettung gefunden, als geduldig
den Ablauf der Strafzeit abzuwarten. Nun, liebe Freunde, erwägt
das obige Motto, und Ihr werdet daraus ersehen, daß seine Worte
das Ziel des Lebens zeichnen. Ein jeder von uns strebt nach der Ent¬
lassung, und je schneller sie erreicht wird, desto früher werden wir
wieder in das Meer des Lebens hinaussegeln können.
Aus der Statistik über die entlassenen Insassen geht hervor, daß
der Durchschnitt der abgesessenen Zeit etwa 19 Monate beträgt,
während die Strafurteile durchschnittlich auf 12 Jahre Höchstmaaß
lauten. Demnach gibt es doch eine andere Art Befreiung,
als den Ablauf der Strafzeit. Jeder Insasse mit gesundem
Menschenverstand wird mit mir übereinstimmen, daß, wenn man an
eine hohe Steinmauer kommt, die leichteste Art, sie zu nehmen, die
ist: eine Leiter dagegen zu stellen und darüber hinwegzuklettern.
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Was sollen wir tun?
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Es hat keinen Zweck, mit dem Kopfe dagegen zu stoßen und zu
versuchen, sie umzuwerfen, denn binnen kurzem merkt man, daß
man keinen Eindruck auf ihr hinterläßt und der Kopf den kürzeren
Teil zieht. Nun, die Leiter, die wir an unsere Mauer anstellen
müssen, heißt gute Führung, und in folgender Weise soll sie er¬
baut sein:
Die Stangen müssen aus gutem Holz bestehen: eine aus Ver¬
stand und klarem Urteil, die andere aus gutem Willen, verbunden
mit dem festen Entschluß, die schlechte Vergangenheit wieder gut zu
machen. Jede Sprosse muß sich aus neun Verdienstmarken bilden, 1 )
und wenn wir zwölf solcher Sprossen in unsere Leiter eingesetzt
haben, erreichen wir die Höhe und zeigen unseren Vorgesetzten, daß
wir getreulich den Stufengang vollendet haben und eifrig bedacht
sind, die Mauer des Verbrechens zu übersteigen, uns selbst einen
Platz in der Gesellschaft zu erobern und der Welt zu zeigen, daß
wir geeignet sind, in sie hinein zu treten.
Erlaubt mir, Eure Aufmerksamkeit auf die Julinummer des
Outlook zu lenken. Auf der ersten Seite werdet Ihr einen Aufsatz
mit folgender Überschrift finden: Weshalb wurden wir verurteilt?
Auch auf die Augustausgabe und den Aufsatz, betitelt: „Jetzt ist
die Zeit“. Diese beiden Aufsätze werden Euch die Ursache, die
Folge des Verbrechens und wie es zu vermeiden ist, zeigen. Also
was ist unsere Aufgabe? Laßt uns sehen:
Ein Schiff ist jahrelang regelmäßig zwischen den Vereinigten
Staaten und dem Orient gefahren, ohne nur den geringsten Unfall
erlitten zu haben. Der Schiffer ist zu der Überzeugung gekommen,
daß er seinen Kurs vollkommen kenne. Zu seinem größten Erstaunen
wird eines Tages Land sichtbar, als er eigentlich noch hunderte von
Meilen hätte davon entfernt sein sollen. Gerade da erhebt sich ein
Sturm; überall ertönen Befehle, Matrosen eilen hin und her; der
Schiffer beobachtet seinen Kompaß und findet, daß er nicht richtig
arbeitet. Man steuert sofort in See, ein dichter Nebel zieht auf, und
bald hat das Fahrzeug gegen einen heftigen Sturm zu kämpfen.
Plötzlich stößt es auf, es entsteht eine große Verwirrung an
Bord, die einige Stunden lang währt. Das Wasser dringt ein, die
Pumpen sind die letzte Rettung. Der Sturm legt sich, Zerstörung
hinter sich lassend. Das Notsignal wird gegeben und wie es das
Glück will, vom Lande aus erblickt. Alsbald kommt Hilfe, das
Schiff wird von der Sandbank fortbugsiert, in den Hafen gebracht
1) Ein Markensystem dient der Feststellung der Leistungen der jungen Ge¬
fangenen; neun Verdienstmarken bedeuten einen „vollkommenen Monat“.
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YL Fbeudenthal
und zur Ausbesserung in das Trockendock gelegt. Als man den
Schiffer fragt, wie es gekommen sei, sagt er: „Ich weiß es nicht;
ich fahre nun schon jahrelang diese selbe Strecke, und dieses ist das
erste Mal, daß ich von meiner Bahn abgekommen bin. Mein Kom¬
paß war nicht in Ordnung“.
So steht es mit uns. Seit einer Reihe von Jahren durchkreuzen
wir das Meer des Lebens regelmäßig, von einem Punkte zum
andern, von der Geburt zum Tode. Die Klippen und Sandbänke
der Versuchung lagen überall; wir wichen von dem früheren Kurse
ab und scheiterten zuletzt an der Sandbank des Verbrechens. Wir
wurden in den Hafen der Gerechtigkeit bugsiert und zur Ausbesse¬
rung in eines der Trockendocks getan. Wo liegt hier die Schuld?
Arbeitete unser Gehirn nicht richtig? Es muß wohl so gewesen sein,
denn wo ist der Mensch, dessen Gehirn in seiner normalen Ver¬
fassung ist, der ein Jahr hinter Gefängnismauern eintauschen möchte
für die Torheit eines Augenblicks?
Ich behaupte: zwei Drittel der Gefangenen dieser Anstalt sind
Opfer der Trunksucht. Berauschende Getränke haben mehr Namen
in das Buch der Verbrechen gebracht, als alle anderen Formen der
Ausschweifungen! Durchwandert mal die großen Gefängnisse der
Welt, fragt jeden einzelnen Insassen: wodurch bist Du in's Unglück
gekommen? und die Antwort wird in den meisten Fällen lauten:
„ich war betrunken und tat dies und das“.
Wie ist hier Hilfe zu schaffen? Sollen wir neben dem Feuer
sitzen und es ausgehen lassen und dann jammern, weil es kalt ist,
oder sagen: wir wußten nicht, was wir tun sollten, um es brennend zu
halten? Nein, liebe Gefährten, so lange noch ein Funke Männlich¬
keit in uns glimmt, gebt ihm Nahrung, facht ihn an! Bauet auf
diesen Rest, und bauet so gut wie Ihr könnt. Hier bietet sich
für uns die Gelegenheit, uns in dem Lichte zu sehen, in dem wir
von den andern Menschen gesehen werden, hier können wir unsere
Fehler erkennen, über unsere Vergangenheit nachdenken, hier können
wir begreifen, weshalb unsere Eltern uns tadelten, wenn wir Unrecht
taten. Hier können wir sehen, warum wir aus der Gesellschaft ge¬
stoßen wurden, und während wir in der Lage sind, uns zu sehen,
wie uns andere sehen, warum nicht unsere Schwächen überwinden?
Wie oft haben uns die Eltern des Abends, wenn wir fortgeben
wollten, geraten zuhause zu bleiben? Taten wir es? Nein, ich
glaube, wir gingen aus, und sagten uns: „sie sind ja alt und wissen
es nun mal nicht besser“. Was wäre wohl das Ergebnis gewesen,
wenn wir damals auf die Warnungsworte derer gehört hätten, die
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Was sollen wir tun?
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wir als alt und töricht bezeichneten? Wären wir dann unseren
sogenannten Liebsten begegnet und hätten mit ihnen gezecht?
Hätten wir dem Klange der Gläser und dem Lachen der so¬
genannten „lustigen Freunde“ gelauscht? Merkten wir nicht den
Unterschied, als wir uns dann in Untersuchungshaft befanden?
Haben vielleicht jene Freunde uns einen Verteidiger genommen?
Besuchten sie uns und brachten sie uns Nahrung und frische Klei¬
dung? Oder waren es die einfältigen alten Leute, die uns bei-
standen?
Am Ufer des Hudson, in dem Staate New-York, in der Nähe
des Sing-Sing-Gefängnisses, liegt ein Kirchhof, der von den Dichtern
„Sing-Sing’s einsamer Berg“ genannt wird. Dort in der stillen Erde
ruht manche Hoffnung, manches vielversprechende Leben, das von
seinem Kurs abgetrieben und an den Felsen des Verbrechens ge¬
scheitert ist und zertrümmert hinab in die Tiefe sank. Manche be¬
sorgte Mutter erwartet währenddessen zuhause sehnsüchtig seine Rück¬
kehr, — ihren Jungen, — ihren Stolz, — die Freude ihres Herzens,
ihn, der ein Verbrecbergrab füllt, mit einem falschen Namen ver¬
sehen — zu seiner Ehre.
Was würde aus dieser Mutter, wüßte sie das Schicksal ihres
Sohnes? Es ist nicht nötig, diese Frage zu beantworten, ein jeder
wird sich dieses Bild selbst ausmalen.
Kein Gefangener, der diesen Aufsatz liest, möchte, glaube ich,
sein Leben in den Fesseln des Verbrechens beschließen. Warum
also nicht lieber versuchen, den bisherigen Anteil am Schlechten
fahren zu lassen und sich von verbrecherischen Versuchungen unab¬
hängig zu erklären?
Die Zukunft liegt vor uns, und es ist an uns, entweder die
Schwächen zu überwinden und als gesetzliebende Bürger zu leben,
oder weiter die Gesetze zu verletzen, ein Verbrechergrab zu füllen
und später auf Nichts zurückblicken zu können, als auf ein ver¬
pfuschtes Leben.
Also, liebe Mitgefangene, es liegt kein Grund vor, warum wir
mit der ganzen Dauer unserer Strafzeit rechnen sollten. Laßt uns
unsere Blicke auf einen möglichst kurzen Teil richten! Was ist
wohl ein traurigeres Schauspiel, als zu sehen, wie ein junger Mensch
sein Selbstvertrauen verliert, wie er seine Hände in die Höhe wirft
und ruft: „Es ist alles aus“. Das ist Feigheit, und damit wird
man sich selbst nicht gerecht Noch sind wir nicht tot und niemand
weiß, was die Zukunft uns noch bringt Wir können es wohl
prophezeien, aber es würde ein leerer Traum bleiben. Die Welt
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VI. Freudentiial
hat noch nicht alle ihre großen Männer gesehen, und
weshalb sollten wir die Hoffnung aufgeben, da wir doch
Alles zu gewinnen und nichts zu Jverlieren haben. Es gibt einen
Weg, aus diesem Reformatory herauszukommen vor Ablauf der Straf¬
zeit, und der ist, den Vorschriften nachzuleben, sie zu studieren und
aus ihnen zu lernen. Laßt Euch keinen Tag entgehen, denn Beharr¬
lichkeit führt zum Ziel.
Ich glaube nicht, daß irgend ein junger Mensch als Verbrecher
zu Grunde gehen mag. Hier haben wir eine gute Gelegenheit, die
Wirkung des Verbrechens zu erkennen. Warum sollte diese eine
Lehre nicht genügen, das Schlechteste an uns zu bessern? denn es
heißt: „Wenn Du nicht gut spielst, so wirst Du sicher gut zahlen“.
Wir wollen Gutes tun zum Wohle aller Teile, unsere Gewohnheiten
veredeln, gute Gedanken hegen und uns so wenigen Menschen an¬
schließen, als möglich, denn Freundschaften bedeuten hier Ungelegen¬
heiten. Sagen wir unser Leid dem Herrn, bitten wir ihn um eine
glückliche Zukunft und eine baldige Entlassung.
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VII.
Kriminal statistische Vergleiche.
Von Hans Gross.
Immer häufiger werden Versuche gemacht, aus den kriminal¬
statistischen Angaben Vergleichswerte herauszuziehen, welche die
Statistik in ihre Daten weder hineinlegen wollte noch konnte. Die
Ergebnisse solcher angeblicher Vergleichungen sind häufig verblüffend
und darnach angetan, zu weiterer Verwertung der Resultate anzueifern
und wenn dann früher oder später die Unrichtigkeit des Gewonnenen
festgestellt wird, so ist der in den Deduktionen begangene Fehler selten
mehr zu entdecken, und der Vorwurf trifft die Kriminalstatistik, die
aber an sich richtig war und nur falsch ausgebeutet wurde. So geschieht
es, daß diese unschätzbare Disziplin in ihrem Werte ungerecht herab¬
gesetzt wird, ihre Errungenschaften bezeichnet man dann als unwissen¬
schaftlich und ihre Auswertung als unzulässig.
Ich möchte eine kleine, eben bei Louis Lamm in Berlin er¬
schienene Schrift von Dr. Bruno Blau „Die Kriminalität der Juden“
als Beispiel dafür benutzen, wie Kriminalstatistik nicht verwertet
werden darf. Der Verf. benützt einen Abschnitt aus dem 146. Bde.
der „Statistik des Deutschen Reiches“ und vergleicht die Kriminalität
der strafwürdigen Zivilbevölkerung auf Seiten der Christen mit der
der Juden, in der Weise, daß stets die Verhältnisse der verurteilten
Christen zu 100000 Christen und der verurteilten Juden zu 100 000
Juden berücksichtigt werden. Verf. stellt vorerst fest, daß, wie bekannt,
die Kriminalität im letzten Jahrzehnt, überhaupt gestiegen sei: bei
den Christen um 17.1 °/o, bei den Juden um 31.4 % — aber eigentlich
sei „die Kriminalität der Juden im allgemeinen erheblich geringer als
die der Christen“, und eben so wenig dürfe „ein Nachlassen der
Moralität bei den Juden“ angenommen werden. Das wird dadurch
bewiesen, daß sehr viele Verurteilungen der Juden Störungen der
Sonntagsruhe betreffen und überhaupt „recht harmloser Natur“ seien,
weiters, daß eben die Juden stark Handel treiben und daher mit
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190
VII. Gross
vielen Bestimmungen leicht in Konflikt kommen, daß die Strafen auch
zum Teile sehr gering seien, daß die Juden häufiger in der Großstadt
leben etc. Bei den einzelnen Delikten wird recht merkwürdig argu¬
mentiert: Die Abnahme der Zahlen beim Meineid sei bei den Juden
stärker als bei den Christen und „wenn die Zahl der Verurteilungen
weiter so fällt, wie bisher, so ist sie schon in der nächsten Periode
geringer als die entsprechende Zahl bei den Christen“! Ja: mit
„wenn“ darf doch die Statistik nicht rechnen! Daß Juden öfter
wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften verurteilt werden, liege
„sicher“ in ihrer stärkeren Beteiligung am Buchhandel, speziell am
Verlagsgeschäft; bei Ehebruch und Verführung kämen Verurteilungen
der Juden „möglicher Weise“ deshalb zahlreicher vor, weil „gegen
sie leichter Antrag gestellt wird“. Daß mehr Juden als Christen
wegen Zweikampf verurteilt wurden, erklärt sich „ohne weiteres“
durch das lebhafte Temperament, die exponierte Stellung der Juden
und dadurch, daß Christen als Reserveoffiziere vielfach von Militär*
gerichten abgeurteilt werden, „während Juden nicht Reserveoffiziere
werden“; Wucher sei eine den Juden „anerzogene Unsitte“ etc. —
Solches Argumentieren ist nicht voraussetzungslose Forschung,
sondern Beweisenwollen mit bestimmter Tendenz. Der Grund aller
vom Verf. entdeckter Merkwürdigkeiten liegt lediglich in der bekannten
allgemeinen Schwäche der Kriminalstatistik, die leider nicht die
begangenen sondern die mehr minder zufällig bekannt ge¬
wordenen und bestraften Delikte behandeln kann. Diese Schwäche
zeigt sich am besten in dem hundertmal zitierten Paradoxon: In Öster¬
reich weist von allen Provinzen Niederösterreich die besten Ziffern
über Schulunterricht, die Bukowina die schlechtesten auf — ebenso
hat aber Niederösterreich die höchste, die Bukowina die geringste
Kriminalität — folglich: Je besser der Schulunterricht, desto schlechter
die Kriminalität!
Wir wissen doch heute, daß man die begangenen Delikte zum
Zwecke gewisser Untersuchungen in drei Gruppen teilen muß:
I. solche, bei welchen weder die Tat, noch der Täter;
II. solche, bei welchen zwar die Tat, nicht aber der Täter;
III. solche, bei welchen Tat und Täter bekannt wird. —
Bei dieser Einteilung spielt namentlich die Natur des Deliktes
eine große Rolle: zur Gruppe I gehören z. B. Abtreibung, Kindesmord,
Unzucht wider die Natur etc.; daß diese Delikte in ungeheurer Zahl
verübt werden, daß aber die Verübung der Tat geradezu nur aus¬
nahmsweise bekannt wird, ist sicher; wie viele homosexuelle Akte
mögen z. B. alle Tage verübt werden und wie viele werden angezeigt
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Kriminalstatistische Vergleiche.
191
Zur II. Gruppe gehören z. B. Diebstahl, Münzfälschung, Funds-Ver¬
heimlichung etc. Die Delikte werden zwar in der Regel angezeigt,
der Täter wird aber selten eruiert. Zur III. Gruppe: Raufereien,
Todschlag, Mord, Majestätsbeleidigung etc. — in welchen Fällen der
Täter verhältnismäßig oft festgestellt und bestraft wird.
Den Gegenstand der Kriminalität bilden aber eigentlich nur
die Fälle der III. Gruppe, somit die Leute, welche erwischt werden.
Wollten wir aber die Kriminalität einer Nation A mit der Nation B
richtig vergleichen, so müssten wir außer den Daten, welche uns
die Kriminalstatistik liefern kann, noch solche haben, die sie uns nie
zu liefern vermag, denn wir müßten wissen:
1. Welche Art von Delikten (Gruppe I und II, die in der off.
Statistik nicht Vorkommen, oder Gruppe III, die allein behandelt
wird) die fragliche Nation häufiger begeht; denn wenn die Nation A
Delikte, die beinahe nie angezeigt werden, auch in größter Menge begeht,
so ist ihre Kriminalität scheinbar doch geringe, denn die offizielle
Statistik weiß von diesen Delikten nichts.
2. Welche Nation schlauer ist, d. h. das Bekanntwerden der von
ihr begangenen Delikte besser zu verhindern weiß.
3. Wie es mit der Polizei d. h. mit dem Erwischtwerden be¬
stellt ist.
So lange wir diese Daten nicht haben, liefert die Kriminalstatistik
in Richtung auf das vergleichende Moment nur ein formell richtiges
Ergebnis; die genannten Fragen wird sie aber niemals beantworten
können und so vermag sie auch nie materiell richtige Vergleiche zu
geben: sie vergleicht nur die durch zahllose Zufälle er¬
wischten Verbrecher, nicht aber die Menschen, die wirk¬
lich Verbrechen begangen haben — maßgebend wäre aber
nur das Letztere. —
Wir kommen zu dem Schlüsse, daß wir vorläufig vielleicht an¬
nehmen dürfen: die Christen und die Juden sind gleich gut und
gleich schlecht — im Durchschnitt begehen die einen gewisse Ver¬
brechen häufiger, die anderen bevorzugen wieder andere Verbrechen
— dies ist vielleicht richtig, aber irgend welche ziffernmäßige Be¬
weise können wir aus den Daten der Kriminalstatistik nicht entnehmen,
am wenigsten dürfen wir aber so zu beweisen trachten, wie es in der
genannten Schrift geschehen ist. —
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VIII.
Zurechnungsfähig ?
Von
Dr. Heinrich Svorcik, k. k. Gerichtsadjunkten in Reichenberg,
nach eigener Voruntersuchung dargestellt.
Gegenstand dieses Aufsatzes bildet der seltene Straffall, in
welchem ein nach dem Ausspruche der Gerichtsärzte schwachsinniger
Mensch wegen Verbrechens des Meuchelmordes angeklagt und schuldig
gesprochen wurde: die Überprüfung des Gutachtens der Gerichtsärzte
durch die Fakultät hätte die Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit
des Angeklagten gewiß zur Gänze behoben, denn an der Tatsache,
daß die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten in diesem Falle sehr
zweifelhaft ist und bleibt, ändert in wissenschaftlicher Beziehung
die formelle Feststellung der Schuld durch das Schwurgerichtsurteil
gar nichts.
Die Tatgeschichte ist die:
Am 15. Jänner 1906 Nachts wurde am Wege zwischen Reichenau
und Gablonz der Sparkassabeamte C. H. bewußtlos aufgefunden;
die ärztliche Untersuchung stellte an der behaarten Kopfseite über
dem Hinterhauptbeine eine Schußwunde fest; dies und die Tatsache,
daß dem Verletzten die Uhr, mitsamt Kette und das Geldtäschchen mit
34 K. fehlte, ließ auf einen Raubmordversuch schließen. Der Ver¬
letzte starb am 5. Feber 1906, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu
haben. Die Sektion ergab eitrige Hirn- und Hirnhautentzündung,
herbeigeführt durch die Schußverletzung als die Todesursache.
Die Nachforschungen, deren nähere Schilderung unterlassen wird,
haben am 20. Jänner 1906 zur Feststellung der Person des Täters
geführt, der die geraubte Uhr in dem Orte, in welchem der ermordete
Sparkassabeamte angestellt war, zum Verkaufe anbot, obgleich selbe
die Anfangsbuchstaben des Ermordeten trug und ihre Beschaffenheit
im Orte bekannt war.
Der Verhaftete gestand seine Tat bei der Sicherheitsbehörde, dem
Bezirksgerichte und dem Untersuchungsrichter. Seiner Schilderung
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Zurechnun gsfähig ?
193
ist zu entnehmen, daß er gleich nach seiner am 15. Jänner 1906
durch seinen Lehrmeister erfolgten Entlassung den Vorsatz faßte,
jemanden umzubringen und zu berauben, welche Absicht er noch
am selben Tage ausführte, indem er auf öffentlichem Landwege einen
vor ihm ahnungslos gehenden Mann niedergeschossen und beraubt
hat. Nach dem Morde kehrte er in die Stadt zurück und blieb bis
zum Tage der Verhaftung in der Bäckerherberge.
Die auffällig geringe Intelligenz des F. N. 1 ) veranlaßte mich,
ihn über den Gesundheitszustand seiner Eltern und Verwandten zu
befragen; über weitere Fragestellung, ob er selbst immer gesund ge¬
wesen sei und ob er keine Kopfverletzung erlitt, gab er an, er sei
als Schulbube von einem anderen Schuljungen mittels eines Stein¬
wurfes am Kopf verletzt worden und trage heute noch die Spur.
Die gleich veranlaßte gerichtsärztliche Untersuchung des Kopfes
des Beschuldigten ergab das Vorhandensein einer Narbe auf der
Höhe des Scheitelbeines; sie war nicht angewachsen, mit der Haut
verschiebbar, und wurde gutächtlich für eine Verletzung jungen
Datums erklärt, welche mit einem stumpfen Werkzeuge zugefügt
wurde. Die Angabe des Beschuldigten über die Verletzung am
Kopfe erwiesen sich als richtig — er wurde tatsächlich vor 8 Jahren
mit einem Steine verletzt. Über seine Vorstrafen befragt, gab der
Beschuldigte nur an, er sei wegen Schießens im Hause gestraft
worden (§: 431 öst. St.G. und 36 Waffen-Patentes); sonstige Strafen
habe er nicht erlitten. Die Einvernehmung eines Zeugen (des früheren
Dienstherren des Beschuldigten) ergab noch eine Abstrafung wegen
öffentlicher Gewalttätigkeit; das Studium des diesbezüglichen Aktes
förderte die interessante Tatsache zu Tage, daß der Beschuldigte
schon im Jahre 1903 Gegenstand einer gerichtsärztlichen Unter¬
suchung auf seinen Geisteszustand war. Ein neuerlicher Beweis für
die Berechtigung des von Krafft-Ebing und Gross streng verlangten,
genauen Studiums der ganzen Vorakten! N. wurde nämlich am
20. Dezember 1902 vom k. k. Kreisgerichte in Reichenberg wegen
Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit nach §: 85 lit. a. St. G.
begangen durch boshafte Beschädigung fremden Eigentumes zum
6 wöchentlichen Kerker verurteilt, sein Vater suchte um Begnadigung
an und in den üblichen Erhebungen äußerte sich das Stadtamt G.
„N. sei geistig nicht vollkommen normal“. Der Befund und das
Gutachten der Gerichtsärzte des k. k. Bezirksgerichtes Gablonz lautete
wie folgt:
1) Vgl. Kasper-Liman „Lehrbuch“; II. Groß „Handbuch“; Krafft-
Elbing „Grundzüge“.
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 13
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194
VIII. SvORCIK
Befund:
F. N., 15 Jahre alt, etwas schwächlich gebaut, aber sonst normal
entwickelt. Er hat durch 8 Jahre eine zweiklassige Volksschule be¬
sucht, hat aber die Gegenstände wie Lesen, Schreiben und Rechnen
nur mangelhaft erlernt, wie mit ihm vorgenommene Proben erweisen.
Die Aufzeichnungen, die er bei seinem Meister machen muß und die
nicht sehr schwierig sind, macht er fehlerhaft, sie müssen korrigiert
werden. Trotzdem er schon ein volles Jahr in der Lehre ist, hat er
nach Angabe seines Meisters noch keine Fortschritte gemacht. Er
begreift eben schwer. Die an ihn gestellten Fragen beantwortet er
wohl sachgemäß, doch dauert es ziemlich lange, bevor er die Frage
begreift.
Gutach ten:
Aus dem Befunde geht hervor, daß N. etwas beschränkt ist, daß
seine psychische Leistungsfähigkeit eine geringe ist, und daß er sich
nicht immer über die Folgen seiner Handlungsweise recht klar ist
Man kann mithin bei ihm einen geringen Grad von Schwachsinn an¬
nehmen. Die gleichen Wahrnehmungen wurden sowohl bei der
ersten als auch bei der zweiten Untersuchung gemacht. —
Die Begnadigung des F. N. erfolgte dann und wurde ihm am
30. Mai 1903 bekanntgegeben. —
Nun stand die unumgängliche Notwendigkeit der Untersuchung
des N. auf seinen Geisteszustand außer jedem Zweifel und es wurden
die hierzu notwendigen Ermittlungen veranstaltet. Ihr Ergebnis ist
in dem Befunde der Gerichtsärzte enthalten, weshalb ich von einer
Inhaltsanführung derselben absehe.
Der Befund und das Gutachten der Gerichtsärzte des Kreisge¬
richtes in Reichenberg über den Mörder haben folgenden Wortlaut:
Befund:
F. N., 18 Jahre alt, ledig, katholisch, Bäckergehilfe hat noch
lebende Eltern im Alter von ungefähr 60 Jahren. Der Vater leidet
an einem bösen Fuße, die Mutter zeitweilig an Kopfschmerzen. Er
hat noch 4 Geschwister im Alter von 25, 23, 20 und 16 Jahren
(3 Brüder und 1 Schwester), welche alle vollkommen gesund sind.
Außer einem Geschwisterkinde Namens Leopoldine N. soll Niemand
in der Familie geisteskrank gewesen sein. Dieselbe war eine Land¬
streicherin und Diebin und befand sich 2 mal mit angeborener Geistes¬
schwäche und Reizbarkeit infolge geistiger Entartung in der Landes¬
irrenanstalt in Dobrzan. Gegenwärtig ist sie (seit April 1905) in der
Irrenanstalt in Kosmanos untergebracht.
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Zurechnungsfähig ?
195
Aus den Kinderjahren des N. wurde erkundet, daß er die Volks¬
schule in M. und T. besuchte; die Lehrer geben an, daß sich F. N.
bildungsfähig zeigte, so daß er im Unterrichte nicht zurückblieb;
allein er war unruhig, nicht sittsam, spielte gerne beim Lernen und
machte Dummheiten, die seine Mitschüler zum Lachen reizten. Das
veranlagte den Lehrer, zu glauben, daß der Knabe nicht ganz zu¬
rechnungsfähig wäre, die auferlegten Strafen waren ganz wirkungs¬
los. Tatsächlich hat er auch Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt.
Nach der Schulzeit kam N. zum Bäckermeister Karl L. in Gablonz
in die Lehre (vom Dezember 1901 bis September 1904). Gleich im
Anfänge der Lehre bemerkte der Meister, daß N. Geld unterschlage;
zur Rede gestellt blieb er stumm und gleichgiltig. Auch zeigte er
keine Lust zur Arbeit und kein Streben zu tüchtiger Ausbildung, so
daß er meist nur zu Botengängen und häuslichen Arbeiten verwendet
werden konnte. Er war ein Schmutzfink und vernachlässigte sich in
seinem Äußern. Gereizt, wurde er auch grob und rabiat; so ging
er in Folge eines Streites auf einen zweiten Lehrling mit der Hacke
los und hätte denselben ohne Dazwischentreten des Meisters erschlagen.
Am 20. Dezember 1902 wurde er wegen boshafter Beschädigung
fremden Eigentumes (öffentlicher Gewalttätigkeit), weil er in boshafter
und mutwilliger Weise eine aus Eichenholz geschnitzte Vorhaustüre
beschädigt und einen Schaden von 80 K. angerichtet hatte, vom k.
k. Kreisgerichte Reichenberg zu 6 Wochen Kerker verurteilt; er ge¬
stand die Tat, er habe sie verübt, weil man ihn bei diesem Hause,
wenn er früh Morgens mit den Semmeln kam, eine halbe Stunde
warten ließ, worüber er sich ärgerte. Diese Strafe kam aber nicht
zur Durchführung, nachdem die Gerichtsärzte in Gablonz ihn als
etwas beschränkt und seine psychische Leistungsfähigkeit als eine
geringe bezeichnet hatten, weshalb er begnadigt wurde.
Vom September 19Ö4 bis Mitte Juni 1905 war Franz N. als
Bäckergehilfe bei Josef ,S. in R.; auch dort zeigte er sich in der
Arbeit nachlässig, unfolgsam, vertat seinen ganzen Lohn oder kaufte
unnötige Sachen, die er nicht brauchte. Gegen Ermahnungen und
Drohungen zeigte er sich ganz gleichgiltig, der Meister hielt ihn für
nicht ganz gescheit. Zuletzt stand er beim Bäckermeister August J.
in Gablonz im Dienste; auch dieser war mit ihm nicht zufrieden;
er konnte Nichts, er mußte deshalb fortwährend gerügt werden,
machte sich aber Nichts daraus. Am 15. Jänner 1906 verließ er
diesen Dienst, und zwar infolge Kündigung. Am 13. Dezember 1905
wurde er vom k. k. Bezirksgerichte Gablonz wegen Übertretung des
§ 431 St G. und Übertretung des Waffenpatentes zu 24 Stunden
13 *
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196
VIIL SVORCEK
Arrest und 5 Kronen Geldstrafe verurteilt; er hatte am 2. Dezember
im Hofe seines Meisters aus einer Flobertpistole Scheibe geschossen,
ein Schuß drang in die ebenerdige Werkstatt des Gürtlers Robert R.,
wodurch die in der Werkstatt Arbeitenden gefährdet wurden. Die
Pistole hat er sich selbst gekauft.
An demselben Tage, als er aus dem Betriebe des August J. in
Gablonz entlassen wurde, hat er auf der Straße gegen Reichenau
den Sparkassabeamten K. H. mit einem Revolver von rückwärts in
den Kopf geschossen und seines Brieftäschchens und der Uhr samt
Kette beraubt K. H. ist dieser Verletzung erlegen und wurde am
6. Feber d. J. obduziert. F. N. suchte die Uhr bei einem Trödler
in Gablonz zu verkaufen, er wurde dabei angehalten und gestand
der Polizei, daß er der Täter sei, er habe dies aus Not getan. —
Ergebnis der gegenwärtigen Untersuchung des Körpers.
F. N. hat ein seinem Alter von 18 Jahren entsprechendes Aus¬
sehen, ist von mittlerer Größe, mäßig kräftig gebaut, mager und hat
blasse Gesichtsfarbe. Die Körperhaltung ist eine gerade, die Atem-
ziffer beträgt 16, die Pulsfrequenz 72 in der Minute. Der Schädel
ist lang gebaut, der Körper ebenmäßig, mit braunen kurzen Haaren
ziemlich dicht bewachsen. In der linken Scbeitelbeingegend findet
sich eine rötliche, daher frische Hautnarbe, von etwa Bohnengröße,
Die Stirne ist niedrig, das Gesicht ungleich, die rechte Seite schwächer
als die linke, deshalb steht auch das rechte Auge niedriger als das
linke. Es besteht kein Lidzittern, die Pupillen sind 4 mm weit, auf
beiden Augen gleich, rund und ziehen sich auf Lichtreize und beim
Sehen in der Nähe zusammen. Die Reflexerregbarkeit der Bindehaut
des Augapfels ist herabgesetzt, ebenso der Rachen- und Würgereflex.
Sehen und hören ist gut, er schmeckt und riecht alles. Der Gesichts¬
ausdruck ist nichtssagend, das Gesicht glatt, ohne Falten und Furchen.
Das Gebiß ziemlich erhalten, 2 Backenzähne fehlen. Die Zunge wird
gerade vorgestreckt, Sprachstörung ist keine vorhanden. Der Hals
lang, die Brust schmal, die obere, rechte Schlüsselbeingrube ist stärker
ausgeprägt als die linke; daselbst ist auch das Atmen hinten schwächer
zu hören, sonst ist Herz- und Lungenbefund normal; am Rücken
rote Wimmerin (Akne). Der Bauch- und Cremasterreflex ist vor¬
handen, der Sehnenreflex am Knie leicht verstärkt. Die Geschlechts¬
teile sind nicht außergewöhnlich entwickelt, die Hände blaurot ge¬
färbt Die Untersuchung der Sensibilität der Haut ergibt, daß F. N.
Alles fühlt, richtig lokalisiert, Wärme nnd Kälte unterscheidet, viel¬
leicht sind seine Sehmerzäußerungen auf Stiche weniger lebhaft. Er
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Zurechnungsfähig ?
197
entwickelt einen sehr guten Appetit, der Schlaf ist lang, gut, tief, er
schläft während der Haft auch am Tage, im Ganzen 14—16 Stunden.
Des Geistes:
F. N. spricht wenig, man muß oft die Fragen wiederholen und
die Antworten förmlich aus ihm herauspumpen. Er ist nicht aufge¬
regt, anscheinend gleichgiltig, das gerichtsärztliche Examen regt ihn
gar nicht auf. Dieses ruhige, gleichmütige Benehmen trägt er auch
in der Zelle zur Schau, manchmal lacht er ohne Grund, ja er singt
sogar (die Volksbymne u. A.) Als er photographiert wurde, schien
ihm das zu gefallen, er lächelte uud erbat sich eine Photographie.
Er benimmt sich anständig, der Hausordnung gemäß und verrichtet
auch die ihm zugewiesenen Arbeiten. Sein Bewußtsein ist voll¬
kommen frei, er ist über Zeit und Ort vollkommen orientiert,
seine Antworten sind den Fragen entsprechend, es ist keine Ver¬
worrenheit vorhanden, sein Sprachschatz ist gering, seine Kennt¬
nisse sehr mangelhaft. Er faßt schwer auf, sein Gedächtnis ist
jedenfalls schwach, so weiß er z. B. nicht mehr, daß er auf seinen
Geisteszustand in Gablonz ärztlich untersucht und begnadigt worden
ist. Er weiß, daß er verurteilt wurde, um das Weitere hat er sich
nicht gekümmert. Er ist nach seiner Angabe gerne für sich allein,
im Allgemeinen anscheinend gutmütig, doch jähzornig, er trinkt nicht
und bezeichnet als seine Lieblingsbeschäftigung das Bauchen. Auf
Laien macht er den Eindruck eines albernen, stumpfsinnigen Menschen
(so äußerte sich z. B. der mit ihm eingesperrt gewesene R. H. in
Gablonz). Wegen der vollbrachten Tat empfindet er nicht die ge¬
ringste Reue; er äußerte sich auch dem Zellengenossen gegenüber,
daß es ihm ganz gleich sei, ob er einige Jahre eingesperrt werde
oder nicht; beim Meister werde er ohnehin ausgenützt, und wenn er
nicht mehr arbeiten kann, einfach entlassen. Im Arreste sei es
schöner, man bekomme sein Essen und Kleidung und habe keine
Sorgen. Auch Karthaus (d. i. eine Männerstrafanstalt in Böhmen)
schrecke ihn nicht, dort bekomme er für seine Arbeiten noch Geld.
Den Gerichtsärzten gegenüber äußerte er sich übereinstimmend
mit seiner Aussage, daß ihm schon am Vormittage des Mordtages
der Gedanke kam, sich Geld in der Art zu verschaffen, daß er auf
dem Wege nach W. den ersten Besten, der Geld zu haben scheine,
anschieße und beraube. Das hat er auch ausgeführt, er habe es also
vorsätzlich gemacht, er beschreibt alle Einzelnheiten der Tat, die
Folgen habe er sich allerdings nicht überlegt und insbesondere nicht
an das Leid gedacht, welches er seinen Eltern damit zufügte. Töten
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198
VIII. SVORCIK
wollte er den K. H. nicht, aber Reue über den unglücklichen Aus¬
gang bringt er nicht zum Ausdrucke.
Gutachten:
Das Ergebnis der Untersuchung des F. N. auf seinen Geistes¬
zustand geht dahin, daß derselbe ein schwachsinniger Mensch ist
Der Schwachsinn ist allerdings nicht so hochgradig, daß eine gewisse
Schulbildung und Erziehung und die Erlernung eines Handwerkes
unmöglich gewesen wäre, aber es ist doch ein ausgesprochen
schwacher Verstand, Charakter und Urteilsschwäche, mangelhaftes
sittliches und rechtliches Gefühl unverkennbar vorhanden. Derartige
schwachsinnige Menschen werden oft der Spielball ihrer Affekte oder
ihrer sinnlichen Begierde und dadurch zu Verbrechern, weil bei ihnen
die sittlichen und rechtlichen Gegenvorstellungen fehlen oder nur
schwach hervortreten und sie nicht die volle Einsicht für ihre Hand¬
lungen und für die Folgen derselben besitzen. Das finden wir auch
bei F. N.; so hätte er, wie in der Vorgeschichte erzählt wird, weil
ihn ein Kamerad ärgerte, denselben im Zorne mit der Axt beinahe
erschlagen, wenn der Meister nicht dazwischen getreten wäre; er
hat in boshafter Weise eine geschnitzte Tür beschädigt, um sich für
langes Warten beim Gebäckaustragen zu rächen. Und auch die
jüngste Tat entspricht nur der sinnlichen Begierde des Nahrungs¬
triebes. Aus seiner Verantwortung geht das Bewußtsein hervor, daß
er in allen den genannten Fällen etwas Unrechtes tue und doch
empfand er keinen Abscheu vor der Tat wie der normale Mensch;
er empfand daher auch darüber keine Reue, er konnte auch die
Größe des abfälligen Schadens nicht übersehen, er hat nur nach
seinen egoistischen Trieben und Wünschen gehandelt, die altruistischen
Gefühle sind bei ihm nicht aufgekommen. Daher läßt sich mit Be¬
stimmtheit folgern, daß bei ihm ein ethisches Unterempfinden, ein
Mangel an Urteilsvermögen vorhanden ist.
F. N. hat aber die verbrecherische Handlung am 15. Jänner 1906
nicht begangen, weil er des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt
ist, es lag bei ihm auch damals keine abwechselnde Sinnenverrückung
vor, er war nicht berauscht oder in einem solchen verwirrten oder
bewußtlosen Zustande, daß er nicht wußte, was er tat; man kann
auch nicht behaupten, daß er diese Tat unter unwiderstehlichem
Zwange ausgeführt hat — wohl aber ist er schwach an Verstand,
so daß ihm die wahre und richtige Einsicht in das Teuflische, Un¬
sittliche und Unrechtliche seines Beginnens mangelte.“
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Zurechnungsfähig ?
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Soweit das Gutachten:
Bei der Schwurgerichtsverhandlung am 7. März 1906 wurde N.
mit 12 Stimmen des Verbrechens des meuchlerischen Raubmordes
nach § 134, 135 Z. 1. nnd 2 St. G. schuldig erkannt und zum
schweren Kerker in der Dauer von 12 Jahren, jedes Vierteljahres
mit einmal Fasten in Einzelnhaft verschärft verurteilt. (Urteil vom
7./III. 1906
Vr. 65/6
108
j.
In der gegen dieses Urteil erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des
Angeklagten wurde geltend gemacht, daß der Antrag der Verteidi¬
gung auf Einholung des Fakultätsgutachtens über den Geisteszustand
des F. N. abgewiesen wurde und daß dem behaupteten Strafaus¬
schließungsgrunde des § 2 lit a—c St. G. entsprechende Zusatzfrage
nicht gestellt wurde; der k. k. Oberste Gerichts- als Cassationshof
in Wien verwarf mit der Entscheidung vom 26./V. 1906 Z: 6245 die
Nichtigkeitsbeschwerde und F. N. trat am 28./V. 1906 seine Strafe an.
Der Vollständigkeit halber sei hier der Teil der Gründe angeführt,
welcher sich mit der geistigen Beschaffenheit des Angeklagten be¬
faßt, wiedergegeben.
Es heißt darin: „Die Ablehnung des Antrages auf Einholung des
Fakultätsgutachtens kann den Nichtigkeitsgrund der Z 5 des § 344
St. P. O. schon deshalb nicht bilden, weil nach dem Wortlaute des
§ 126 St. P. 0. („kann“) die Einholung eines Fakultätsgutachtens
dem richterlichen Ermessen anheimgestellt ist, ohne das Gericht hier¬
zu zu verpflichten. Von einer Verletzung des Gesetzes kann aber
dort keine Rede sein, wo dasselbe dem Richter blos ein Recht ge¬
währt, dieser aber hiervon keinen Gebrauch zu machen findet. Allein
selbst abgesehen hiervon gebrach es im vorliegenden Falle auch an
den Voraussetzungen des § 126 St. P. 0.; das Gutachten der in der
Hauptverhandlung vernommenen Gerichtsärzte war einhellig und mit
keinem der in den §§125 und 126 St. P. 0. bezeichneten Mängel
behaftet, daher einer Überprüfung durch Experte höherer Ordnung
gar nicht bedürftig. Die psychische Minderwertigkeit der Angeklagten
gaben beide Sachverständige ebenso zu, wie sie anderseits jede
Geistesstörung desselben im Sinne des § 2 lit. a—c St. G. ausge¬
schlossen haben. Darin liegt kein Widerspruch. Das Gutachten der
Gerichtsärzte bezeichnet mit klaren Worten alle jene Momente, in
denen die psychische Entwickelung des Angeklagten zurückgeblieben
ist Er ist schwach an Verstand (§ 46 lit. a St. G.), charakterschwach;
es fehlt ihm allerdings — wie das Gutachten sagt, — die wahre
und richtige Einsicht in das Teuflische, Unsittliche und Widerrecbt-
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200
VIII. SvORCIK
liehe seines Beginnens; allein das Gute und Böse weiß er wohl zu
unterscheiden, die Folgen seiner Tat einzusehen; nur die tiefe Ein¬
sicht eines normalen Menschen geht ihm ab. Das Gutachten läßt
also klar erkennen, in welchen Richtungen psychische Defekte an
dem Angeklagten Vorkommen; sie treffen seine Intelligenz, sein
ethisches Gefühl und seine Willenskraft, erreichen jedoch nicht den
Grad einer die Zurechnung ausschließenden Geistesstörung. Bedenken
gegen die Richtigkeit dieses wohlmotivierten Gutachtens lagen nicht
vor und der Schwurgerichtshof hatte darum auch keinen Anlaß, von
dem ihm nach § 126 St. P. 0. zustehenden Rechte Gebrauch zu
machen. 1 )
Belangend den Nichtigkeitsgrund der Z. 6 des § 344 St. P. 0.
ist zunächst hervorzuheben, daß die Verteidigung nach Ausweis des
Hauptverhandlungsprotokolles eine Zusatzfrage lediglich in der Rich¬
tung des im § 2 lit. a St. G. bezeichneten Strafausschließungsgrundes
der vorübergehenden Sinnesverwirrung beantragt hat. Allein weder
für diese Frage, noch auch für eine Zusatzfrage im Sinne des § 2
lit. a und b St G. lagen die gesetzlichen Voraussetzungen vor. Zu¬
satzfragen nach einem Strafausschließungsgrunde zu stellen, ist
der Schwurgerichtshof nach § 319 St P. 0. nur dann verpflichtet,
wenn behauptet wurde, daß ein Zustand vorhanden gewesen oder
eine Tatsache eingetreten sei, welche die Strafbarkeit der Tat aus¬
schließen würde. Wird zunächst die Verantwortung des Angeklagten
herangezogen, so ist in derselben die Behauptung eines nach § 2
lit. a—c gearteten Zustandes gewiß nicht zu finden. Er hat die Tat
mit allen Einzelheiten ihrer Verübung eingestanden; er hat das
Motiv derselben, seinen Entschluß, sich durch Ermordung und Be¬
raubung Subsistenzmittel zu schaffen, angegeben; er erinnert sich an
alle Vorgänge, die der Verübung der Tat vorausgingen und ihr nach¬
folgten, mit zureichender Schärfe; kurz seine Verantwortung zeigt un¬
getrübtes Bewußtsein bei Verübung der Tat und ist nichts weniger
als die Behauptung eines Zustandes aufgehobenen Bewußtseins, wie
§ 2 lit. a—c St. G. ihn voraussetzt. Aber auch in den sonstigen
Ergebnissen des Beweisverfahrens fand eine solche Behauptung nicht
Ausdruck.
Worauf die Nichtigkeitsbeschwerde hier verweist, die Geistes¬
krankheit einer Cousine des Angeklagten, vom Lehrer Franz S. be¬
stätigte Unruhe, Spielsucht und Zerstreutheit desselben bei sonst
1) Wäre aber nicht der zweite Fall des zweiten Absatzes § 126 St.P.O.
Vorgelegen, nach welchem ein Faknltätsgutaehten wegen Wichtigkeit oder
»Schwierigkeit des Falles eingeholt werden kann?
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Zurechnungsfähig?
201
guten Anlagen und leichter Auffassung, dem Bäckermeister Karl L.
gegenüber bewiesene Arbeitsunlust, Gleichgiltigkeit und „Dummheit“
(die übrigens L. für fingirt hielt), schon im Jahre 1903 im Strafverfahren
gegen den Angeklagten wegen Verbrechens der öffentlichen Gewalt¬
tätigkeit von den Gerichtsärzten konstatierte Begriffsstutzigkeit und
geistige Beschränktheit desselben und von dessen Haftgenossen, sowie
dem Gefangenaufsichtspersonale wahrgenommene Gleichgiltigkeit und
Stumpfheit — sind allenfalls Symptome eines von der Norm einiger¬
maßen abweichenden psychischen Zustandes und gaben diese Momente
ebendeshalb zur Untersuchung des Geistes und Gemütszustandes des
Angeklagten im Sinne des § 134 St. P. 0. Anlaß; als Behauptung
aufgehobenen Bewußtseins im Sinne des § 2 lit. c St. G. oder einer
sonstigen nach § 2 lit. a oder b. St. G. zu beurteilenden Geistesstörung
aber können sie nicht gelten. Die gerichtsärztliche Untersuchung
des Angeklagten ergab aber, wie schon oben hervorgehoben, nur eine
geistige Minderwertigkeit desselben; nur diese, nicht aber eine Geistes¬
störung oder auch nur vorübergehende Sinnenverwirrung wurde in
den Ergebnissen des Beweisverfahrens behauptet, nämlich als wirk¬
lich existent bezeichnet. Eine solche Behauptung aber verpflichtet
den Schwurgerichtshof keineswegs zur Stellung einer Zusatzfrage im
Sinne des § 2 lit a—c St. G., die hier vorgesehenen Strafausschlie¬
ßungsgründe erheischen mehr als einen bloßen Defekt an der In¬
telligenz, dem sittlichen Gefühle oder der Willenskraft. § 2 lit. a
St. G. spricht von gänzlichem Beraubtsein der Vernunft, bezieht sich
also auf Menschen, denen jegliche Intelligenz abgeht, die das Gute
vom Bösen nicht zu unterscheiden und die Folgen ihres Tun nicht
einzusehen vermögen; § 2 lit b. St. G. setzt eine in der Intesität
gleiche, jedoch nicht dauernde, vielmehr von lichten Intervallen unter¬
brochene Intellektsaufhebung und § 2 lit. c St. G. endlich vorüber¬
gehende Aufhebung des Bewußtseins eines sonst geistig nicht ge¬
störten Individuums voraus. Gemeinsam ist allen diesen Zuständen,
daß der Täter seine Tat zu erkennen nicht in der Lage ist, daß er
nicht weiß, was er tut, und darum seine Tat weder bedacht noch
beschlossen hat Einen solchen Zustand mangelnden Bewußtseins
des Angeklagten im Zeitpunkte der Tat haben die Gerichtsärzte
keineswegs behauptet, Angeklagter selbst aber hat zugegeben, daß er
die Tat bedacht und beschlossen hat In der Nichtzulassung einer
Zusatzfrage auf einen der Strafausschließungsgründe des § 2 lit
a—c St. G. kann somit eine den Nichtigkeitsgrund der Z. 6 des
§ 344 St. P. 0. bildende Verletzung der Vorschriften des § 319 St.
P. 0. nicht gefunden werden.“ Soweit die Gründe.
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202
VIII. SvORCIK
Die Frage, ob in wissensch aftlicher Beziehung die Zurech,
nungsfähigkeit des N. festgestellt wurde, bleibt offen. Die Überprüfung
des Gutachtens durch die Fakultät hätte in dem Falle Klarheit ver¬
schafft und hätte unter Umständen für die gerichtliche Medizin wert¬
volles Material geliefert.
Hätte die Fakultät den Angeklagten für derart schwachsinnig
erklärt, daß ihm seine Handlung nicht zugerechnet werden kann, so
wäre der unglückliche Jüngling hinter den Mauern einer Irrenanstalt
verschwunden; N. wäre für die menschliche Gesellschaft unschädlich
gemacht worden. Ist es jetzt der Fall? Der schwachsinnige N. war
zur Zeit des Urteils 18 Jahre alt und wurde zu 12 Jahren schweren
Kerkers verurteilt — er ist also mit 30 Jahren wieder frei, in einem
Alter, welches nach krim. statistischen Daten fast die ärgste Krimi¬
nalität aufweist. Nach dem eingestandenen Hergange der Tat: Nieder¬
schießen des ersten Besten, um etwas Geld zu erhalten — ist Motiv
und Vorgang so ziemlich das Gefährlichste, was wir uns an einem
noch dazu minderwertigen Menschen denken können. Wie kann es
gerechtfertigt werden,, daß dieses so höchst bedenkliche Individuum,
wie ein bösartiges Kaubtier, im Alter von 30 Jahren in Freiheit ge¬
setzt wird? Den Mann aber dann in ein Irrenhaus zu sperren wäre
höchst inkonsequent, weil Jeder fragen müßte, wie man dazu kam,
ihn vorerst eine Strafe verbüßen zu lassen, wenn man sieht, daß er
in ein Irrenhaus gehört. Die moderne, weichliche Justiz wird es
dazu bringen, daß man nach einer Art Faustrecht ruft und verlangt,
daß sich der Einzelne gegen die absolut Unsozialen mit dem Revolver
in der Hand wehren darf, wenn die Allgemeinheit von der Gerech¬
tigkeit nicht geschützt werden kann. Ob es den gänzlich Antisozialen
besser gehen wird, wenn es tatsächlich zu einem bellum plurium
contra singulos kommt, das ist eine andere Frage. —
Der oberste Gerichtshof hat sich mit den einzelnen Punkten des
§ 2 des Ö. St. G. redlich geplagt und sie genügend oft zitiert — aber
Bestimmungen, die ihre 100 Jahre alt sind, lassen sich mit modernen
wissenschaftlichen Auffassungen auch beim besten Willen nicht in
Übereinstimmung bringen; hier kann nur die freie und geübte Tech¬
nik einer Fakultät nach klinischer Untersuchung Hilfe bringen.—
Aber noch Eins. Die Unterbringung eines so gefährlichen In¬
dividuums in einer „Irrenanstalt“ hat allerdings nur dann Sinn, wenn
eine künftige Gesetzgebung dafür Sorge getroffen haben wird, daß
solche Leute nicht plötzlich und ohne Wissen des Gerichtes und
seiner Sachverständigen als „geheilt“ entlassen werden.
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Kleinere Mitteilungen.
Von Ernst Lohsing in Wien.
Die gefälschte Handschrift. Unter diesem Titel veröffentlicht
Dr. Emil Posteiberg im 3. Bd. des „Pitavals der Gegenwart“ (S. 269)
in ausführlicher Darstellung die Geschichte des Strafprozesses gegen den
Wiener Drechsler Markus Pollak wegen Verbrechens des Betrugs, begangen
durch Anfertigung einer falschen Quittung. Der Angeklagte wurde 1902
deswegen zu acht Monaten schweren Kerkers verurteilt; die 1906 bewilligte
Wiederaufnahme des Verfahrens ergab seine völlige Schuldlosigkeit.
Es ist nicht unsere Absicht, eine ausführliche Schilderung dieses sehr kom¬
plizierten Falls zu geben, zumal bei der prägnanten Ausdrucksweise Postel-
bergs sich nicht viel von seiner Darstellung weglassen könnte. Auch ist
es nicht die Tatsache des Justizirrtums an sich, die hier festgehalten
werden soll, obwohl sie als solche dessen wert wäre. Weit interessanter
sind jene Umstände, welche dem Gericht im Jahre 1902 für die Schuld
des Angeklagten zu sprechen schienen. Das war zunächst die Tatsache
einer Vorstrafe. Pollak war zur Last gelegt, er habe die Quittung über
die Rückzahlung der Kaution einer bei ihm angestellten Verkäuferin ge¬
fälscht. Das Gericht hat in den Entscheidungsgründen primo loco fest¬
gestellt, daß sich Pollak zur Zeit der Tat in einer finanziellen Notlage
befunden hat, daß auch andere seiner Verkäuferinnen nur mit gerichtlicher
Hilfe ihre Kautionen ausgefolgt erhielten und daß er ein Charakter ist,
dem man eine solche Handlung Zutrauen könne; denn er ist wegen Dieb¬
stahls vorbestraft. Der Umstand, daß die Diebstahlsvorstrafe 1880 ausge¬
sprochen wurde, als Pollak 22 Jahre alt war, kam nicht weiter in Betracht
Entscheidend war demgegenüber der gute Eindruck der Belastungszeuginnen,
die nicht vorbestraft waren. Der zweite Umstand, der gegen Pollak heran¬
gezogen wurde, war der, daß auch er den Täter in einer anderen Richtung
suchte, als den Tatsachen entsprechend gerechtfertigt gewesen wiire, und
daß er aus der Untersuchungshaft heraus Machinationen zu seiner Ent¬
lastung in Szene setzte; leider wird noch immer nicht verstanden, daß
auch ein gänzlich Unschuldiger einen Entlastungsbeweis herzustellen bestrebt
sein kann. Als dritter Umstand — und das ist wohl die Hauptsache —
fiel das Gutachten der Schriftsachverständigen zu Pollaks Ungunsten aus,
indem sie ihn als den Urheber der ominösen Quittung ansahen. Zweimal
und von nicht weniger als 3 Sachverständigen wurde diese Behauptung
aufgestellt. Von den Umtrieben zweier verbrecherischer Weiber, die mij-
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204
Kleinere Mitteilungen.
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dem unschuldigsten Gesicht der Welt sich für andere Personen bei Gericht
ausgaben und Meineide schwuren, die mit keiner Wimper zuckten, als in
ihrer Gegenwart in der Person des Pollak jemand verurteilt wurde, dessen
Schuldlosigkeit sie, die in Wahrheit Schuldigen, kannten, sei hier nicht
weiter die Rede.
Aber auf die Notwendigkeit der von Schneickert befürworteten
Reform der gerichtlichen Schriftexpertise muß endlich einmal eingegangen
werden; an diesem Fehlurteil ist die Notwendigkeit dieser Reform dargetan.
In diesem Sinne sei auf Postelbergs verdienstvolle Arbeit hingewiesen, in
diesem Sinne seien seine, der Schriftexpertise in ihrer gegenwärtigen Gestalt
geltenden Worte aufgegriffen: P Kann ein solches Hilfsmittel der Krimi¬
nalistik ernsthaft in Betracht kommen ? Und bietet der Beruf, aus welchen
Schriftexperten sich zu rekrutieren pflegen, der der Kalligraphen, wohl so
besondere Garantien?“
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Besprechungen.
i.
Dr. Karl Wilraanns, Privatdozent a. d. Universität Heidel¬
berg: „Zur Psychopathologie des Landstreichers“. Eine
klinische Studie. Mit 16 farbigen Tafeln. Lpzg., Job.
Ambros. Barth. 1906.
Die Frage nach dem Landstreicher ist eines unserer schwierigsten und
wichtigsten Probleme und in gewissen Richtungen geradezu der Typus für
grundlegende allgemeine Erwägungen. Am Landstreicher studieren wir den
echten Degenerierten und seine Verantwortlichkeit, an ihm lernen wir den
eigentlichen Unverbesserlichen kennen, mit dem wir einstweilen gar nichts
zu machen wissen: theoretisch müßten wir ihn köpfen oder lebenslänglich
einsperren — praktisch behelfen wir uns mit völlig ungenügenden
Palliativen. Am Landstreicher beobachten wir am besten das Entstehen
ganzer Reihen verschiedener Verbrechen, die unter dem Segen ehrlicher
Arbeit ausgeblieben wären, am Landstreicher sehen wir aber auch eine er¬
schreckende Menge ungerechter Strafen, die über „unverbesserliche, arbeits¬
scheue, verkommene, faule, trunksüchtige und geriebene Individuen“ ver¬
hängt wurden, aber bloß arme Geisteskranke getroffen haben. Das
letztgenannte Moment sorgfältig zu untersuchen ist der Hauptzweck des
vorliegenden, äußerst fleißig und mühsam gearbeiteten Buches, voll von
Überlegungen und Anregungen. W. hat sich der großen Arbeit unter¬
zogen, nicht bloß trockene Krankengeschichten, sondern die genaue Ent¬
wickelungsgeschichte samt allen gerichtlichen und disziplinären Abstrafungen
biographisch von 52 Landstreichern zu erheben und darzustellen und diese
Geschieh tsdarstellun gen zum Schlüsse in sinnreich erdachten farbigen Fläch en-
Diagrammen verständlich zu machen. Alle diese 52 Bedauernswerten
landen fast ausnahmslos im Irrenhaus, nachdem die weitaus meisten von
ihnen noch zu einer Zeit oft gestraft wurden, in der sie schon längst
geisteskrank gewesen sein müssen.
Zu erwähnen ist noch die Einleitung mit einer Begriffsbestimmung
der Dementia präcox, an der, im weitesten Sinne genommen, die
meisten echten Landstreicher leiden. Diese klare Darstellung ist gerade
auch für den Kriminalisten sehr belehrend.
Ich empfehle, das äußerst beherzigenswerte Buch aufmerksam zu
studieren.
Hans Groß.
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206
Besprechungen.
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2 .
Stooß Carl, Professor der Rechte a. d., Universität in Wien:
Strafrechtsfälle für Studierende. Wien und Lpzg.,
F. Deutike 1907.
Diese 128 Fälle sind ganz ausgezeichnet zusammengestellt: einfach
klar und doch interessant und zum Nachdenken und Ausdehnen anregend.
Ich hatte Gelegenheit, die Sammlung schon im Seminar des Wintersem.
1906/7 zu benutzen, und war erfreut über das Interesse, welches sie bei
den Studenten — diesmal allerdings vorzügliches Material — erweckt hat.
Einige Fälle beschäftigten die Leute — da stets nachgeschlagen, gelesen
und gesucht wurde — bis zu 4 und 6 Stunden. Diese Sammlung kann
nicht genug empfohlen wer-den. Die wenigen Zeilen der „Einleitung“ sind
wohl zu beherzigen! Hans Groß.
3.
Dr. Georg Leiewer, kk. Hauptmann, Auditor und Leiter des
Landwehrgerichtes in Czernowitz. „Die strafbaren
Verletzungen der Wehrpflicht in rechtsvergleichender
und rechtspolitischer Darstellung“. Wien und Lpzg.,
1907. K. und k. Hofbuchdruckerei und Hofverlagsan-
stalt Paul Fromme.
Durch das vorliegende, einfach und klar geschriebene System wird
eine tatsächlich bestehende Lücke ausgefüllt. Im ersten Teile werden die
verwaltungsrechtlichen Begriffe der Wehrpflichtfragen erläutert, im zweiten
Teile werden die Wehrpflichtsdelikte systematisch und rechtsvergleichend
dargestellt. Das Buch kann für die schwierigen darin behandelten Fragen
dringend empfohlen werden. Hans Groß.
4.
Havelock Ellis. Die krankhaften Geschlechts-Empfindungen
auf der soziativen Grundlage. Autorisierte deutsche
Ausgabe, besorgt von Dr. Ernst Petsch. Würzburg.,
A. Stübers Verlag. 1907.
Die wertvollen Arbeiten des Verf. haben über eine Menge von sexuellen,
dem Kriminalisten wichtigen Vorgänge Klarheit geschafft. Der vorliegende
Band enthält eigentlich nicht genau das, was man nach dem Titel er-
■warten sollte: etwa Homosexuelles, Masochismus, Sadismus etc., sondern
er bespricht eine Menge von sexuellen Fragen in ihrer Entwicklung und
zeigt, wie nahe die pathologischen und normalen Verhältnisse in vielen
Fällen beisammenstehen und wie Vorgänge, die scheinbar arg pathologisch
sind, sich noch in normaler Erscheinungsbreite bewegen. Von besonderer
Wichtigkeit sind die Kapitel über den erotischen Symbolismus und die
Psychologie der Schwangerschaft. Hans Groß.
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Besprechungen.
207
5.
Dr. Rudolf Wassermann, Beruf, Konfession und Verbrechen.
Eine Studie über die Kriminalität der Juden in Ver¬
gangenheit und Gegenwart Aus „statistischen und natio-
nalökonom. Abhandlungen etc. herausg. von Dr. Georg
von Mayr, Prof, der Statistik, Nationalökonomie und
Finanz Wissenschaft a. d. Univ. München, kaiserl. Unter¬
staatssekretär a. D., München 1907. E. Reinhardt.
r Es scheint jetzt Sitte zu werden, aus der Kriminalstatistik die günstigere
I Kriminalität der Juden beweisen zu wollen; daß man diesfalls von der
1 Statistik wieder eine Leistung verlangt, die zu leisten sie nicht vermag,
habe ich bei der Besprechung der Arbeit von Blau (Bd. XXVII p. 189)
darzustellen versucht. In dieser Frage kann die Statistik Daten bringen,
aber Konklusionen dürfen nicht gezogen werden. Es wird zugegeben,
daß die Frage der Religion nicht maßgebend ist, da wir nur wissen, in
welcher Religion einer angemeldet wurde; die Frage der Rasse und Religion
wird nicht scharf auseinandergehalten und endlich wird zugegeben, daß die
getauften Juden anthropologisch doch Juden bleiben und statistisch als
Christen zählen. Was aber das Wichtigste ist, liegt in der Art der be¬
gangenen Delikte. Nehmen wir ein ganz krasses Beispiel. In den Städten
A und B mit je 10 000 Einwohnern wären im Jahre 1906 und zwar in
A bloß 10 schwere Verbrechen (keine Vergehen, keine Übertretungen) be¬
gangen worden. In B aber im selben Jahre keine Verbrechen, keine Ver¬
gehen, wohl aber 2000 Übertretungen. Es wäre nun eine ganz müßige
Krage: „Wer ist braver: die Leute von A oder die von B?“ Solche Ver¬
gleichsfragen zu lösen, hilft uns eben die Statistik nicht, und bei der Frage
nach der Kriminalität der Juden ist die Stellung auch keine andere: die
Juden begehen andere Delikte häufiger, andere Delikte seltener als die
Christen und hier mit einer Wertung vorzugehen, ist unzulässig. Dazu
kommen noch unzählige Nebenfragen. Auf der einen Seite sagt Verf.
z. B. daß die Juden mitunter so erschreckend arm sind (p. 16), auf der
anderen Seite wieder, daß die größere Wohlhabenheit der Juden sie vor
Diebstahl schützt (p. 56). Also: Wie wirkt denn Armut und Geldbesitz?
Die neue Methode des Verf., die sich in der „spezifischen Kriminalität
eines Berufes“ darstellt, hilft auch da nichts, da hier nur eine Seite be¬
rührt wird, die eigentliche Frage der Vergleichbarkeit wird nicht gelöst.
Die Freunde der Statistik mögen also dabei bleiben, sie einstweilen
Daten liefern zu lassen, die Schlüsse dürfen wir nur in vereinzelten Fällen,
vorsichtig ziehen, sonst kommen wir wieder zu dem alten Satz: „Zahlen
beweisen so, wie man sie stellt“. Und Wert und Zahl ist nicht ver¬
gleichbar. Hans Groß.
6 .
Dr. Ewald Stier Stabsarzt a. d. Kaiser Wilhelms-Akademie:
„Die akute Trunkenheit und ihre straf rechtliche Begut¬
achtung in besonderer Berücksichtigung der militär.
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Besprechungen.
Verhältnisse“. Mit 1 Tafel und l Kurve im Text. Verl*
von Gust. Fischer in Jena. 1907.
Obwohl dieses Buch eigentlich für reichsdeutsche Militärverhältnisse
bestimmt ist, so macht es der weite Blick und die allgemeine Fassung doch
für jeden Kriminalisten wichtig. Vor allem wird wieder auf Grund der
exakten und zweifellosen Feststellungen von Kräpelin, Fürer, Smith, Kurz
u. a. auf die absolute Schädlichkeit des Alkoholgenusses, auch in geringen
Mengen, hingewiesen und dargetan, daß bei Delikten im Rausch immer
ärztliche, psychiatrische Untersuchung des Betreffenden notwendig ist. So
zweifellos dies ist, so sehr ist diese Notwendigkeit noch keineswegs allge¬
mein bekannt. Freilich kommen pathologische Rauschzustände nur bei
pathologisch veranlagten Menschen vor, aber ob einer ein solcher ist, läßt
sich im allgemeinen nicht sagen, und häufig wird das Pathologische eines
Menschen eben erst in einem Rausche erkennbar.
Auch in diesen Fragen haben wir Juristen unzählige in vergangener
Zeit begangene Sünden gut zu machen, was wir nur durch erhöhte Ge¬
wissenhaftigkeit tun können und diese besteht auch hier darin: jedesmal
den Arzt fragen. Das Stier'sche Buch sollte jeder Kriminalist lesen.
Hans Groß.
7.
Hans Landau, Rechtspraktikant „Arzt und Kurpfuscherim
Spiegel des Strafrechts. Ein Beitrag zur ärztl. Frage.“
München, J. Schweitzer Verlag (Arth. Sellier) 1S99.
Verfasser behandelt die wichtige Frage in zwei Hauptstücken: Der
Arzt als Angeklagter und der Kurpfuscher als Angeklagter, beides haupt¬
sächlich vom Standpunkte des Reichsgesetzes aus. Er kommt zu dem
Schlüsse, daß eine „Deutsche Ärzteordnung“ nötig sei, die Reichsgewerbe¬
ordnung habe auf Arzte keine Anwendung zu finden, § 31 und 174
R.St.G. und § 6, 35 a R.G.O. seien entsprechend zu ändern.
Hans Groß.
8 .
Robert Sommer, Doktor der Medizin und Philoso phie, o.
Professor a. d. Universität Gießen. Familienforschung
und Vererbungslehre. Mit 16 Abbildungen und 2 Ta¬
bellen. Lpzg., Joh. Ambros. Barth. 1907.
Was Rob. Sommer schreibt, ist zum mindesten immer originell und
anregend. Der größere Teil der vorliegenden Arbeit ist genealogischen
Inhalts und nicht von kriminalistischer Bedeutung, umsomehr aber die
Kapitel des ersten Teiles, namentlich die über „Anlage, Erziehung und
Beruf“; „Familie und Rasse“; „psycliopath. Belastung und Degeneration“;
„Individuelle Anlage und Geisteskrankheit“; „Kriminalität und Vererbung“;
„Vererbungsgesetze“ etc., die uns über Fragen, für uns wichtigster Art gut
und verläßlich unterrichten. Es sind dies alles Dinge, über die sich der
moderne Kriminalist klar sein muß und über die er hier Auskunft erhält.
Hans Groß.
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IX.
Die drei Mörder Bloemers.
Von
Strafanstaltsdirektor Dr. ined. Paul Pollitz, Düsseldorf-Derendorf.
Am \. September 1900 wurden die Brüder Adolf und Leonhard
Bloemers hingerichtet, während die gleichfalls zum Tode verurteilte
Ehefrau zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt wurde. Die
Einzelheiten der furchtbaren Tat, und die Persönlichkeit der Täter
verdienen ein besonderes Maß von kriminalpsychologischem Interesse.
Von vornherein gelang es, aus den umfassenden Geständnissen der
beteiligten Personen sowohl vor Gericht, wie nach ihrer Verurteilung
ein vollkommen klares Bild der Ausführung des sorgfältig geplanten
Verbrechens zu gewinnen und weiterhin in mehrmonatlicher Beobach¬
tung und häufigen Explorationen einen Einblick in die psychische
Konstitution der Verbrecher zu erlangen, wie sie nur in seltenen
Fällen möglich sein wird. —
Der 27 Jahre alte Adolf Bloemers zog am 1. September 1905
mit seiner Ehefrau, geb. S . . . in das Hinterhaus des vom später
Ermordeten, dem Oberstleutnant a. D. R. bewohnten Hauses unter Ge¬
währung freier Wohnung und einer Entschädigung von 15 M. monat¬
lich, während Frau Bloemers die Verpflichtung übernahm, die Woh¬
nung des R. in Stand zu halten. Letzterer hatte dem Bloemers eine
Stelle in einer Tischlerei verschafft, die dieser jedoch bald wieder
aufgab. Der jüngere, 25 Jahre alte, Leonhard Bloemers, der im
Hause nicht wohnen sollte, war wegen eines geringen Lungenleidens
ebenso wie der erstere meist untätig. Am Donnerstag, den 19. October
1905 vormittags war die Ehefrau Adolf Bl. im Schlafzimmer des
Oberstleutnants beschäftigt. Während dessen kamen die beiden Brüder
in das nebenangelegene Arbeitszimmer. Leonhard, der die Nacht
über in der Wohnung seines Bruders geschlafen hatte, zog nach der
späteren Angabe der Ehefrau Bl. die unverschlossene Schublade des
Schreibtisches auf und fand hier 280 M. in Goldstücken vor. Als er
Archiv för Kriminalanthropolo^ie. 27. Bil. 14
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IX. POI.LITZ
letztere sah, meinte er „damit wäre ihnen geholfen, sie müßten sehen,
daran zu kommen“.
Auf die Frage des Adolf, wie das zu machen sei, meinte Leon¬
hard, das Beste sei, den R. zu ermorden und auf die Frage wie?
durch „Vergiften“. Die Ehefrau machte auf das Gefährliche,des
Unternehmens aufmerksam, erhielt jedoch von einem der Brüder die
Antwort: „Es passiert so viel in der Welt“. An diesem Tage wurde
die Sache nicht weiter erörtert. Nach ihrer Verurteilung haben die
drei Täter, die sich in der Voruntersuchung einer auf Kosten des
anderen möglichst zu entlasten suchten, die Sache stets in gleicher
Weise so dargestellt, daß erst am folgenden Tage am Freitag einge¬
hend der Mordplan erwogen worden sei. Sie gelangten zu dem
Schlüsse, auf Vorschlag des Leonhard, sich Gift zu beschaffen, das
die Ehefrau dem R. im Kaffee beibringen sollte. Es sei gleich er¬
wähnt, daß Frau Bl. zwar an der Beratung teilnahm, im übrigen
aber die Beteiligung an der Vergiftung ablehnte. Übereinstimmend
gaben sie an, daß L. und A. nach Düsseldorf reisten, um aus einer
Apotheke „Gift“ zu beschaffen, während die Ehefrau Bl. das Reise¬
geld hergab. Vorher hatten beide Brüder bereits Geldbeträge von
jenen 280 M. an sich genommen. Zuerst versuchte Adolf in einer
Apotheke „Gift“ zum Aufpoliren oder „Bleimasse“, „Giftstoff“ oder
„Kali“ zu erhalten, wurde jedoch belehrt, dafür Spiritus zu nehmen.
Sein Bruder Bernhard machte ihm wegen seines ungeschickten Vor¬
gehens Vorwürfe und versuchte nunmehr seinerseits in einer anderen
Apotheke „Gift zum Töten eines Hundes“ zu erlangen. Da ihm jedoch
ein polizeilicher Erlaubnisschein abverlangt wurde, so fuhren beide
unverrichteter Sache nach M.-Gladbach zurück. Bei der weiteren
Beratung am Freitag Abend scheint Adolf, der wie später zu erörtern
ist, der bei weitem intelligenteste der 3 Tatgenossen war, die führende
Rolle gespielt zu haben. Alle drei kamen nunmehr überein, am
folgenden Tage, den R. durch Lärm auf den Speicher zu locken und
mit einem Hammer zu erschlagen. Dieser Plan scheiterte an dem
Umstande, daß der R. früher als sonst die Wohnung verließ. Adolf
gibt allerdings noch als besonderen Grund für die Unterlassung der
Tat an diesem Tage den Umstand an, daß der Ermordete ihm be¬
reits frühzeitig auf der Treppe begegnet sei und ihn so freundlich
angeredet habe, daß er sich zur Tat nicht stark genug gefühlt habe.
Am Samstag mittag berieten die drei wiederum, wie sie zum Ziele
kommen könnten. Nach Adolfs Darstellung stammt der definitive
Plan, den R. durch Lärmen in den Keller zu locken, dort einen
Streit anzufangen und ihm den Schädel einzuschlagen von Leon-
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Die drei Mörder Bloemers.
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hard Bl., dabei sollte sich letzterer im Keller der Miteinwohnerin
W . . . bereit halten, um im gegebenen Moment einzugreifen. Über
die Behandlung der Leiche waren sich die Täter noch nicht ganz
klar. Frau Bloemers, die, wie aus allen Aussagen deutlich hervor¬
geht, in allen diesen Beratungen eine sehr aktive Rolle spielte, war
ebenso wie Leonhard für ein Versenken in den Rhein. Jedenfalls
waren alle drei über die programmgemäße Ausführung der Tat nun¬
mehr einig. Es wurde Bier und Wein getrunken mit dem Vorsatz,
am Montag zeitig aufzustehen. Beim Kaffetrinken am Montag früh,
zu dem die Männer Wein nahmen, um sich Mut zu machen, wurde
von einer Seite znr Eile gemahnt, damit die Zeit nicht verpaßt
werde. Dann gingen die beiden Brüder gegen 7 Uhr mit Hämmern
bewaffnet in den Keller, nachdem die Miteinwohnerin, eine Lehrerin,
das Haus verlassen hatte. Adolf schlug mit solcher Kraft gegen eine
Holzbütte, daß der Hammer zerbrach, so daß ihm Leonhard den
seinen gab, während dieser nunmehr mit einem Beile versehen im
Seitenkeller Posten stand. Sehr bald erschien R. im Keller und
stellte den Adolf zur Rede; dieser machte, um R. zu reizen Einwen¬
dungen, so daß letzterer ihn grob anfuhr und beschimpfte; so dann
suchte R. den Keller zu verlassen. In diesem Moment erschien Leon¬
hard und gab seinem Bruder einen Wink. Adolf ging hinter R. her
und versetzte ihm einen wuchtigen Hieb auf den Kopf, so daß der
Getroffene nieder sank, nunmehr gab Leonhard mit dem Rückende
des Beils dem R. 2—3 Hiebe, so daß es „einen quatschenden lauten
Ton“ gab. In der Annahme, daß R. tot sei, gingen beide in die
Wohnung zurück. Adolf erklärte seiner Frau „er ist tot“. Nunmehr
wollte Leonhard sich den Dolch des R. holen und beim Bürger¬
meister Anzeige erstatten, daß sie den R. in der Notwehr erschlagen
hätten, wurde aber vom Ehepaar Bloemers zurückgehalten. Die Sache
sei jetzt angefangen und müsse zu Ende geführt werden. L. holte
sich nichtsdestoweniger den Dolch und nun gingen beide mit einer
Kerze in den Keller. Hier vernahmen sie schwache Laute „mach
auf, mach auf“ und merkten, daß R. noch lebte. Um diese Zeit
wurde an der Haustür geschellt; als die hinzu kommende Ehefrau
erschien, rief ihr Adolf zu „er lebt noch, mach die Blende vors
Fenster“. Frau Bl. fertigte einen in Steuerangelegenheiten erschienen
Polizeisergeanten ab und schloß die Fensterblenden. Nach einer An¬
gabe, die die Bl. im Anfang ihrer Haft gemacht, später aber be¬
stritten hat, soll sie die Bemerkung getan haben jetzt habt Ihre so
weit gemacht, nun machts auch zu Ende“. Die beiden Brüder gingen
daher nochmals mit einer Kerze in den Keller, und sahen den R.
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IX. POLLITZ
blutüberströmt auf der halben Kellertreppe stehen, sie schlossen
wieder ab und holten große Steine heran — jeder beschuldigte den
anderen der Täterschaft — übereinstimmend gaben sie aber an, daß
zuerst Adolf ohne zu treffen, dann Leonhard nach R. geworfen, so
daß letzterer rücklings die Treppe herabstürzte; dann warfen sie noch
mehrmals dem tief Röchelnden die Steine auf den Kopf, und Adolf
brachte ihm mit größter Wucht eine große Anzahl Dolchstiche bei
(so daß die Rippen zerbrochen wurden — sagt das Obduktions¬
protokoll) mit den Worten „da liegst du, du hast mich oft genug ge¬
ärgert“. Sodann nahm Adolf, (wie er später stets eingestand) eine
Säge und sägte den Kopf ab, während Leonhard den Ringfinger
abschnitt. Die in den Kleidern des R. gefundenen 35 M. teilten sie,
5 M. erhielt die Frau. Die im Schreibpult vorhandenen 280 M.
wurden ebenfalls verteilt, der Kopf in einen kleinen Handkoffer ver¬
packt und bereits am Nachmittage in einem Gebüsch an der Viersener
Chaussee vergraben. Es ist in vieler Hinsicht von Interesse, daß die
Beseitigung und Entfernung der Leiche aus einer bewohnten Straße
sich mit solcher Leichtigkeit vollzog, daß mehrere Monate lang kein
Verdacht auf die Bl. fiel, obgleich ihr Vorgeben weder sehr vor¬
sichtig noch auch besonders raffiniert war. Einer der Brüder entlieh
sich gegen Abend 8 Uhr eine Karre bei einem Polsterer, „um etwas“
fortzubringen, nachdem bereits am Nachmittage eine Stelle zur Ver¬
scharrung der Leiche an der Cbausse ausgewählt worden war. Sie
fuhren sodann die Leiche an den betreffenden Ort, während Frau
Bloemers Wache hielt. Nachdem die Leiche beseitigt war, fuhren
sie mit dem Koffer wieder nach Hause. Am Dienstag verbrannten
sie die mit Petroleum getränkten Kleider und den abgeschnittenen
Ringfinger. Besuchern wurde gesagt, der Oberstleutnant sei verreist,
dem Polizeikommissar erklärten sie später wiederholt, R. sei nach
England verreist. In der Tat, fand sich auf seinem Schreibtische eine
ausgebreitete Karte von England. Von großer Bedeutung ist die
sicher gestellte Tatsache, daß Frau Bl. bereits mehrere Tage vor der
Tat, die Brötchen beim Bäcker abbestellte, „da R. verreisen wolle.“
R. war am 22. Oktober zum letzten Male gesehen worden. Etwa
einen Monat später fing die Familie an ungeduldig zu werden und
vorsichtige Erhebungen anstellen zu lassen. Es ist allerdings schwer
verständlich, daß der Verdacht der Tat so spät erst — Mitte Januar
— auf die Mitbewohner des Hauses fiel. Schon der Umstand, daß
beide Brüder dauernd arbeitslos waren und keinerlei Versuche machten,
sich Arbeit zu beschaffen, mancherlei Einkäufe der Frau — besonders
vor Weihnachten — eine Revision der Wohnung auf Geld, Wert-
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Die drei Mörder Bloemers.
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Sachen, Kleider, Erhebungen über etwaige vorherige Ankündigung
der Reise im Bekanntenkreise, an der Bahn u. s. w. hätten sehr wohl
früher einen Fingerzeig geben können Auf der anderen Seite dürfte
der Umstand, daß die Bloemers bisher nur in sehr geringem Maße
kriminell geworden waren, sie vor dem Verdachte eines so schweren
Verbrechens geschützt haben. Einige Wochen nach der Tat kam die
Schwester der Ehefrau Bl., Ida, zu Besuch, während Leonhard einige
Zeit danach einer Lungenheilanstalt überwiesen wurde. Jedenfalls
fühlten sich die Täter in den folgenden Wochen so sicher, daß sie
mit großer Dreistigkeit alle Wertgegenstände aus der Wohnung zum
Pfandleiher brachten oder verschenkten. Auch das Versetzen zweier
wertvoller Figuren, die bereits Mitte November in der Wohnung ver¬
mißt wurden, scheint keinen Verdacht erweckt zu haben. Kein
Wunder, wenn sich die Bl. nunmehr gesichert glaubten. Charak¬
teristisch für die Persönlichkeiten und die bei ihnen herrschende
Stimmung sind einige Schriftstücke vom Ende des Jahres, die hier
vollständig mitzuteilen sind. Am 1. Januar 1906 schrieb Adolf an
seine Schwester Rosa in Bocholt einen Neujahrsglückwunsch aus Nyni-
wegen, wo er zu Besuche weilte — und um Sachen zu versetzen. —
Liebe Schwester Rosa. Mit diesen wünsche ich Euch viel Heil
und Segen zum neuen Jahr in der Hoffnung, daß Ihr von allen
Kämpfen und L T nheil möget verschont bleiben und ein langes und
glückliches Leben, und Freude und Pläsier. Da ich heute Morgen
Euren Brief empfangen habe, so will ich Euch doch zurück schreiben,
welche Nachricht ich in Bocholt erhielt, daß unsere Lena schrieb,
daß sie sehr begierig sei, daß ich käme und Josef auch. Aber
Mutter schrieb auch, ich soll nur kommen und auf Dreikönigen, dann
könnt Ihr auch, nur die Centen (Geld) ha ha ha. Ich habe nur 10
Mark in der Woche und da soll ich auch noch reisen gehen. Was
ist nur das für ein närrischer Mensch, sollt Ihr wohl denken, wo
muß er doch das Reisegeld von bezahlen ein Narr der he? Ja ja ja.
Mädchen so denke ich auch schon dran wo muß ich das denn holen?
Aus meiner Nase kann ich es nicht schlenkern. Ja nun gehst Du
kaput, wo muß es dann wohl herkommen??? Ich weiß es auch
nicht, ich habe schon überlegt, aber ich kann nicht dahinter kommen;
könnt Ihr vielleicht dahinter kommen Rosa? Aber eins da will
ich nicht drüber urteilen und hoffen, daß unser lieber Herr wohl
nicht und immer von den drei Königen soll sagen, dem Ludwig
muß geholfen werden, aber wo wohnen die drei Könige denn? Ha
ha ha ha, ich glaube, daß sie in M.-Gladbach und in Bocholt wohnen
ha ha ha, ich habe sie gefunden glaube ich. Nun gehst du kaput,
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IX. POI.T.ITZ
aber wir werden mal sehen, wie das mit dem Ludwig geht. Das
ist mir ein komischer Kerl, der Herr. Nun alles hat gut gegangen,
das soll wohl auch noch gut geheu he? Und noch was anderes.
Ich habe vom Vater Josef Schnupftabak im Brief geschickt bekommen
mit dem Versehen dabei „schnupfe nur Junge, schnupfe nur“, und
ich habe verdammt so lange geschnupft bis es alle war und genießt
wie ein Narr. Nun Rosa ich hoffe, daß ihr nicht denkt, daß ich
verrückt bin, daß ich so schreibe he und nun Rosa muß ich endigen.
Es friert, daß es kracht und die Tinte erfriert mir beim Schreiben.
Und was sollen sie in Bacholt kucken, wenn ich dort ankomme, ich
weiß, ganz Bocholt war auf den Beinen
so die Kinder und die Kotten
die Ziegen und die Schweine
und die Hühner und die Hahnen
doch die Kirch war zu ha ha ha.
Doch das Vornehmste wäre, wenn sie mich mit einem Speck¬
kuchen auf der Station abholen würden und ich müßte den auf der
Stelle aufessen he? Nun Röschen vielmals gegrüßt von Ludwig und
seine Frau und Kinder und alle Komplimente.
Adieu bis Wiedersehen Adolf Bloemers.
Ebenso viel Interesse verdient ein vom 1. Januar 1906 datirtes
Schreiben der Frau Bl. an ihre Eltern. Daselbe lautet: Liebe Eltern
wir wünschen Euch ein glückseliges neues Jahr und wir hoffen das
dieses Jahr ein besseres für uns wird sein, als wie das verflossene.
Wir wollen hoffen, daß das neue Jahr Papa die Gesundheit bringt
und uns allen das tägliche Brot und die Freude des Herzens. Wie
gebt es Euch? Geht es mit Papa wieder besser? und bist du liebe
Mama noch gesund? Adolf, Anna, Sophie und ich sind noch alle
gesund. Liebe Eltern. Christkindchen hat mir viel gebracht, einen
Einsteckkamm, ein Portemanie, ein paar Handschuhe, einen Kragen
vor auf mein Kleid, 2 Eaudekolon-Flaschen, einen weißen Unterrock,
eine Brosche, eine Schachtel mit Kouverts und schreib Papier,
3 Schleifen vor ans Kleid zu stecken, 6 weiße Kragen und 2 paar
Manschetten, und noch mehr von solchen Kleinigkeiten, ich kann es
jetzt nicht all schreiben. Liebe Eltern! Adolf hat noch keine Arbeit,
und die Frau R. 1 ) hat noch kein Geld bezahlt. Ihr könnt wohl
denken das jetzt hier auch knapp her geht, aber Adolf wird wohl,
so Gott will bald Arbeit bekommen. Die kleine Sophie hat einen Zahn
bekommen, sie kann bald alles sprechen; und sie ist auch sehr lieb,
1.» Frau des Ermordeten.
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Die drei Mörder Bloemers.
215
sie schläft von Abend 7 Uhr bis Morgens 8 Uhr und dann von 10 Uhr
bis 1 Uhr, nachmittags von 2 bis halb 5 Uhr. Liebe Eltern! Ist
Tante Mathilde eine halbe oder eine richtige Schwester von Papa?
ich und Anna haben uns darüber gestritten. Ich bin schon ange¬
meldet und man hat uns nichts gesagt. Libe Eltern! so bald ich
kann, werde ich Euch besuchen, ich würde schon gerne jetzt ge¬
kommen sein, aber wie Ihr wißt, kann ich nicht. Einen Herzlichen
Neujahrs-Kuß von Sophie. Herzlichen Grüße von Adolf, Anna und
Ida“. Ferner finden sich 2 Ansichtskarten aus dieser Zeit. Die eine
ist vom 30. X. 05 datirt, von Adolf in holländischer Sprache an
seinen Bruder Louis gerichtet, in dem er seine Ankunft für den folgen¬
den Tag ankündigt, während Leonhard in einer seitlichen Notiz sich
ebenfalls ansagt Über der Karte stehen die — hier offenbar sehr
ernst gemeinten Worte. — „Et haat noch joot gegangen bot derdomen
(heißt etwa Schweineglück qder auch sau dumm) ha ha ha Anna“.
Die andere Karte vom 29. Dezember datirt und ebenfalls an den
Bruder Lonis gerichtet, enthält in goldenen Buchstaben 1906 mit der
Überschrift „glückliches Neujahr“. Sie ist von Leonhard aus der
Heilanstalt zu Wittlich gesandt, und lautet etwa: Lieber Bruder!
Ich wünsche Euch allen zum neuen Jahr das beste, was ich wünschen
kann. Ich bin hier in der Kur: wenn ich meine Gesundheit wieder
habe, fang ich an meiner alten Stelle für 3 Mark an. Mehr habe ich
nicht zu schreiben. Es grüßt u. s. w. — Die cynische Freude über
die durch den Mord erzielte bessere Lebenslage tritt nur in den Briefen
des Adolf hervor, seine Andeutungen über plötzlich gewonnene Geld¬
mittel — an sich unter den gegebenen Verhältnissen höchst unvor¬
sichtig — zeigen am deutlichsten, daß er sich als der eigentliche Held
der Situation betrachtete, dessen Geschicklichkeit der bisherige Erfolg
zu verdanken war. Daß er seine Rolle mit einiger Geschicklichkeit
spielte, geht aus einem weiterhin mitzuteilenden Brief vom 17. Novem¬
ber hervor, in dem er — offenbar gemeinschaftlich mit seiner Frau —
die über das geheimnisvolle Verschwinden ihres Verwandten nunmehr
beunruhigte Schwägerin zu beruhigen suchte. Der Brief ist von
Adolf in gebrochenem Deutsch verfaßt und lautet:
Wehrte Frau Major R.
„Wir haber Ihren Wehrten Brief erhalten und dar aus vernommen
das Sie uns auskunft fragen wegen Ihre Wehrte Schwager. Wir
können Ihnen leider nichts mitteilen wo er is, den er hat uns kein
Bescheid gesagt. Sontag 22te October hat er an meine Frau gesagt
er wolte in nächster Tagen Montag oder Dienstag verreisen, für
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IX. P OIXITZ
einige Woche. Nun Montag abend den 23. Oktober) gegen 5 Uhr
bat er myne Frau bestellt, sie mußte Sorgen das um halb Sieben Uhr
abend essen gedekt sein sollte; was aug geschöö ist. Da meine
Frau nichts mehr zu versorgen hat, sint wir. gegen sieben Uhr
spatzieren gegangen, da es grade schaufensteraus Stellung, und waren
um neun (9) Uhr wider zurück, da wollte meine Frau den Tisch
abdekken, aber er hat nog nichts geessen, da dachten wir nichts
anders ob er war voraus gegangen, morgens den 24. Oct. um halb
sieben Uhr ( i jt 7) hat meine Frau wie gewöhnlich, ihm warmes
(Rasier) wasser for die Thüre gesteld, und wie immer angeklopft,
aber ohne antword zurück zu kriegen; Sonst sagte er immer gut.
das is das wasser stehen geblieben bis 10 Uhr; weil der Her Ober
Leutenand nie so lang slafen thät; bin ich mal errein gegangen und
klopfte auf sein Slafzimmer thür an (ohne erfolg) da nahm ich
mich die Freiheit und ging in’s Slafzimmer errein, aber zu mein
erstaunen war der Her Ober Leutenant nicht da und ’s Bett war
nicht gebraucht das is dan aug alles was wir selbs wissen und
wachten aug jeden tag auf Bescheid, wo er is und wem er wider
kommt den er hat aug uns kein geld gegeben, und sind aug schon
viele hier gewesen mit rechnungen, die wir natürlich nicht bezahlen
können und deshalb wir w'achten müssen bis das der Her Ob.-Leut-
nand wider kommt. Briefen und Seitungen kommen bis jetz nog
alle hier an und habe schon ein grose häufe hier liegen. Wir
wissen aug nicht was wir denken müssen sons sagte er immer, wo
hin er ging und schickte uns seine Adresse. Was er jetz alle nicht
getlian hat. Wehrte Frau Major R. wir können aug leider nicht
mehr mit teilen. Achtungsvoll Herr und Frau Adolf Bloemers (dar¬
unter) Entschuldige wegen des undeutliche Schreiben, wir sind ge¬
borene Holländer und können nicht besser Deutsch schreiben.“ Dieser
gewandte Brief sollte wahrscheinlich nicht nur der Ablenkung jedes
Verdachtes, sondern auch der Zuwendung von Geldmitteln dienen. In
Verlegenheit waren die drei allerdings nicht. Nachdem sie sich alle
Baarmittel geteilt hatten — das erwartete Sparkassenbuch fand sich
jedoch nicht vor — begannen sie Adolf, Leonhard und die besuchs¬
weise anwesende Ida, die soeben aus dem Gefängnis zu Wittlich
zurück gekehrt war, mit ebenso viel Dreistigkeit wie Erfolg das Hab
uud Gut des Ermordeten zu versetzen. Dabei wurde, nachdem sich
die ganze Sache so gut angelassen hatte, wenig Vorsicht angewendet.
Wertvolle Figuren, Gemälde, Gold-Gegenstände wurden teils in M.-Glad¬
bach selbst, teils in dem nahe gelegenen Viersen, Venlo pder auf
holländischem Boden versetzt und der Erlös unter die Genossen ge-
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Die drei Mörder Bloemers.
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teilt Für die Art des Vorgehens der Verbrecher ist die Aufzählung
der versetzten Gegenstände nicht ohne Interesse. Jene wertvollen
Figuren wurden in Viersen für 30 Mark, ein goldener Ring, Medaillon
und Perlenkreuz für 60 M. am 19. Dez. 05, sodann am 23. Dezember
eine Standuhr aus Bronze, eine silberne Zuckerschale, silberne Tafel-
Gegenstände, eine Perlenkette, ein goldenes Kreuz für 189 M. ver¬
setzt, ferner 6 silberne Gabeln, Messer und 16 Obstmesser für 77 M.
Am 20. Dezember wurde in Viersen auf 2 Gemälde 150 M. erhoben
und am 9. Januar 06 auf ein Bild in der Leihanstalt M.-Gladbach
(von Adolf Bloemers) 100 M. Bei diesen Diebstählen und ihren Ver¬
setzungen scheint die Schwester der Frau Bloemers eine bedeutsame
Rolle gespielt zu haben. Über ihre Person sei hier nur erwähnt, daß
sie mit 16 Jahren wegen Brandstiftung zu 15 Monaten Gefängnis ver¬
urteilt worden und unmittelbar nach Verbüßung dieser Strafe, anfang
Dezember zu Bloemers gekommen war. Eine größere Anzahl von
Wertgegenständen waren in Nymwegen unter gebracht oder an Ange¬
hörige verschenkt worden.
Am 11. Januar 06 wurden die drei Täter in Haft genommen.
Während Adolf jede Kenntnis über das Verbleiben des R. zuerst ab¬
leugnete, legte Leonhard, nachdem ihm vorgehalten war, seine Schwä¬
gerin habe bereits alles gestanden, ein Bekenntnis ab, indem er die
Tötung als einen Notwehrakt gegenüber dem seinen Bruder verfol¬
genden Ermordeten darstellte, während er selbst gänzlich unbeteiligt
sei. Auf Vorhalt machte nunmehr die Ehefrau Bloemers ein wahr¬
heitsgemäßes Geständnis, dem sich Adolf anschloß, indem er seinen
Bruder als den Hauptschuldigen hinstellte. Es ist von sekundärem
Interesse, daß die Mörder jeder dem anderen den größeren Teil der
Schuld zu zuschreiben suchten; wichtiger ist die Motive festzustellen,
die die Schuldigen für ihre Tat anführten. Frau Bloemers sagte: „Zu
der Tat hat uns die Not gezwungen. Mein Mann und mein Schwager
waren ohne Arbeit und Verdienst“, Leonhard: „wir wollten an Geld
kommen und zweitens weil der Oberstleutnant oft Auftritt mit uns
hatte“. Erst später in der Haft und nach der Verurteilung hat Adolf
eingestanden, daß sie von dem Gelde des Getöteten bereits vor der
Tat entwendet hatten und den furchtbaren Plan faßten, um mehr zu
erlangen. Über die Ausführung des Verbrechens gibt das Obduktions¬
protokoll einen wichtigen und objektiven Anhalt.
Die Leiche war in den Knien gebeugt, der Kopf lag neben dem
Rumpf. Auf der Brust fanden sich auf der linken Seite 8 Haut¬
wunden, von einem scharfen Instrumente herrührend, von denen 4 tief
ins Herz, 4 in die Lunge führen. Auf dem Schädel fand sich eine
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IX. PoLLITZ
5 cm lange, quer verlaufende, und 2 — ca 8 cm lange, längs verlau¬
fende Knochenbrüche, ein weiterer Knochenbruch findet sich am
rechten Jochbogen, der aus seinem Zusammenheng mit dem Gesichts¬
skelett losgelöst ist. Einer der vorerwähnten Schädelknochenbrüche
bildet eine klaffende Knochenspalte, die in ihren Ausläufern bis in die
Augenhöhle reicht, an einer Stelle in einer kleinfingertiefen Delle
endet während im Gesicht auch das linke Jochbein, Nasenbein,
rechter Oberkiefer und Gaumenbein in einzelne Stücke getrennt sind.
Die Knochenbrüche erstrecken sich bis auf die Schädelbasis, bei deren
Besichtigung man erkennt, daß die linke untere Hälfte des Stirnbeins
vollkommen von ihren knöchernen Verbindungen getrennt ist. Das
Gutachten gelangt zu dem Schlüsse, daß R. durch ausgedehnte Zer¬
trümmerungen des Schädeldaches, der Schädelgrundfläche und des
Gesichtsschädels und Stiche ins Herz und Lunge getötet sei. Über
die Reihenfolge, in der die Verletzungen erfolgt sind, läßt sich keine
bestimmte Aussage machen. Die Schädelverletzungen waren allein
tötlich.
Über das weitere Verhalten der drei Täter sind in psychologischer
Hinsicht eine Reihe Einzelzüge von Interesse. So versuchte Frau Bl.
die — wie vorweg erwähnt sei — einzelne Zeugen ihrem ganzen
Charakter nach für die Hauptschuldige hielten, durch Erdrosseln im
Bett gleich in den ersten Tagen der Haft ihrem Leben ein Ende zu
machen, während die beiden Brüder, wie bereits in den ersten Ver¬
hören, immer wieder versuchten, einer dem anderen den größeren
Teil der Schuld zu zuschieben, ohne jedoch die Ehefrau zu entlasten,
deren vollkommenes Einverständnis und Mitbeteiligung an allen Be¬
ratungen beide betonten. Anfänglich schien Adolf bestrebt, seine Frau
möglichst zu belasten entgegen einer angeblich nach der Tat gege¬
benen Zusage, um — wie Frau Bloemers meinte — mit ihr gemein¬
sam zu sterben.
Die psychologische Analyse der drei Täter, deren furchtbare Tat
in ihren Einzelheiten, der sorgfältigen Vorberatung und nüchternen
Abwägung über die beste Methode der Ausführung, unter mehrtägigen
wiederholten Beratungen, mehr wie jeder Mordfall das Charakteristi¬
kum der „Überlegung“ im eminentesten Sinne enthält, gibt zu
mancherlei Erwägungen Anlaß.
Die beiden Brüder Adolf und Leonhard sind 26 und 25 Jahre
alt. Adolf ist intelligent und geistig normal entwickelt, er schreibt in
etwas gebrochenem deutsch recht gewandte und innige Briefe an seine
Familie, besonders an seine Frau. Über die Aszendenz ist folgendes
festzustellen:
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Die drei Mörder Bloemers.
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1) Großvater und Großmutter von Mutters Seite sind Besitzer
eines Bauernhofes gewesen, letztere 88 Jahre alt gestorben.
Beide ehrenhafte, wohlsituirte Leute.
2) Großvater und Großmutter väterlicherseits, dem Berufe nach
Schneider, wohlsituirt und unbescholten.
3) Die Mutter Bloemers sehr religiös, streng katholisch erzogen,
etwas redselig, oberflächlich, hängt sehr warm an ihren
Kindern. Sie gilt als brav und fleißig.
4) Der Vater ist Schneidermeister und nicht bestraft.
Aus dieser Ehe stammen drei Söhne und drei Töchter, eins ist
Dienstmädchen, zwei sind anständig verheiratet. Der Bruder Louis
ist ebenfalls unbescholten und hat nach 9 jährigem Dienste in Holland
eine Beamtenstellung erhalten.
Die beiden Mörder sind ebenfalls in Holland Soldaten gewesen,
haben sich aber schlecht geführt
Geisteskrankheiten, geistige Defektzustände und Epilepsie, Alko¬
holismus scheinen in der Familie nicht nachweisbar zu sein.
Adolf ist ebenfalls ein nüchterner Mensch, er ist nie vorbestraft,
seit mehreren Jahren mit der zu erwähnenden Frau verheiratet, ein
Kind ist tot, eins lebte damals. In den letzten Jahren ist er faul
und arbeitsscheu geworden und hat keine Stelle — trotz mehrfach
gebotener Gelegenheit übernommen. Nach dem Morde hat er in höchst
dreister Weise von dem so leicht und schnell Erworbenen ein bequemes
Faulenzerleben geführt. Alle Urteile in dieser Hinsicht lauten über¬
aus ungünstig. Vielleicht liegt hier der Schlüssel zu seinem Verhalten
bei der Mordtat, deren intellektueller Urheber er ohne Zweifel war:
vor die Wahl gestellt sich endlich aus seiner parasitären Lebensführung
zu regelmäßiger Arbeit aufzuraffen oder auf schnelle Weise die für
ihn imponierende Summe von fast 300 M. zu erlangen, ließ er sich
schließlich nicht vor den extremsten Entschlüssen zurückschrecken.
Er war im Kat und bei der Tat der Aktivste und Führende. Im
Gegensätze zu seinem brutalen und — offenbar unter dem Einfluß
der blutigen Situation — geradezu wilden Vorgehen bei der Tat,
zeigte er sich, nachdem sehr bald das Gefühl schwerster Reue und
Gewissensbisse über ihn gekommen war, als ein durchaus weicher,
gutmütiger, lenkbarer Mensch mit nicht geheucheltem Familiensinn
und innerlich kirchlich religiösem Gefühl. Daß es sich hier nicht um
wohlberechnete Gefängnisfrömmigkeit und theatralisches Reue-Markieren
handelte, zeigte sein Verhalten bis zur Hinrichtung. Er verteidigte
sich nicht, legte keine Revision ein und erklärte, als das sehnsüchtig
erwartete Todesurteil kam, mit ruhiger Stimme „ja ich habe es redlich
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IX. POLI.ITZ
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verdient und nehme es gern an“. Noch wenige Minuten vor der
Exekution erklärte er mir, er freue sich nunmehr die ihm jetzt immer
unverständlichere Tat sühnen zu können. — In seinem Äußeren machte
Adolf einen harmlosen Eindruck, sah jüuglinghaft und jugendlicher
aus, als seinem Alter entsprach. Eine Häufung sog. Degenerations¬
zeichen habe ich nicht feststellen können. Der Schädel hatte — bei
einer Körpergröße von 1,74 m — einen Horizontalumfang von 56,6 cm,
bei einer Länge von 19,3 und Breite von 14 cm. Die Stirnpartie des
Schädels tritt stärker hervor, die Zähne waren gut entwickelt, der
Gaumen nicht abnorm, in den Ohren fand sich „das Darwinsche“
Knötchen.
Leonhard Bloemers ist der jüngere Bruder, 25 Jahre alt, er ist
einmal wegen Diebstahls mit 3 Wochen und wegen Betteins mit Haft
vorbestraft. Eine träge, rohe Natur, die bis zum Ende stumpf und
gleichgiltig blieb, ohne innere Reue und ohne tieferes sittlich religiöses
Gefühl, das auch kaum ernstlich erweckt werden konnte. Bis zur
Tat war er ebenfalls dauernd dem Nichtstun ergeben, wozu ihm ein
leichtes Lungenleidcn willkommenen Vorwand gab. Er „feierte“
meist krank und suchte die Krankenkassen auszunützen. Seine Intel¬
ligenz ist gering. Vom 7—9. Jahre war er mit dem Bruder Louis
im Kloster erzogen worden, war stets schwächlich und scheint daher
etwas bevorzugt worden zu sein. Seine Kenntnisse sind mangelhaft,
er muß oft mehrfach gefragt werden, ehe er antwortet. Er sah seinem
Schicksal, trotz einer erklärlichen Todesangst, mit verhältnismäßig
stumpfer Ruhe entgegen, nur beim Besuche der Mutter trat eine etwas
tiefere Regung bei ihm hervor. In seinem Äußeren macht er keinen
sympathischen Eindruck, ohne daß die Schädel- und Gesichtskonfigu¬
ration grobe Degenerationszeichen darböte. Sein Leumund war über¬
aus schlecht, er galt für faul und unehrlich und scheint auch in
sexueller Hinsicht einem exzessiven Leben zugeneigt gewesen zu sein.
Nichts ist charakteristischer den Unterschied in der Persönlichkeit
beider Brüder klarzustellen, als ihr Verhalten nach der Tat. Wie
Adolf überall die führende Rolle übernahm, so fühlte er sich nach¬
dem die Sache wochenlang so gut gegangen war, vollkommen als
der Herr der Situation: ich erinnere an die cvnische Postkarte, mit
dem später so verständlichen Fastnachts-Motto „Et hat noch jot ge¬
gangen“ oder jenen Brief, in dem er mit dem so unerwartetem Wohl¬
stände seiner Familie gegenüber renommirt. Von alledem findet sich
bei Leonhard keine Spur.
Frau Bloemers, geborene 8 . . ., 28 Jahre alt. Ihr Vater ist
Hausirer und Händler, die Mutter erfreut sich keines guten Rufes.
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Die drei Mörder Blocniers.
Eine Schwester ist mit 16 Jahren wegen Brandstiftung; bestraft und
hat sich sofort nach ihrer Entlassung aus dein Gefängnisse an dem
Versetzen des R/scben Besitzes beteiligt. Ein Bruder soll unbescholten
sein. Bis zu ihrer Verheiratung war Frau Bl. stets im Dienste und
hat sich gut geführt Sie hat 2 Kinder geboren von denen eines
früher, das andere während der Untersuchungshaft starben. Während
dieser ganzen Zeit — sie war seit Anfang Oktober 1905 gravida —
machte sie den Eindruck einer moralisch vollkommen stumpfen Person,
die mit großer Sicherheit auf ihre Begnadigung rechnete. Dabei war
sie eine Frau von guter Intelligenz, eine unsympathischen Katzen¬
natur, von der die Mitgefangenen erzählten, sie bedauere nur, daß
alles herausgekommen und die Sachen ihnen abgenommen seien, und
wäre, wenn unbeobachtet, heiter und guter Dinge, indem sie ihre
Schuld und Mitbeteiligung an der Tat als äußerst gering darstellt.
Daß sie an allen Vorbereitungen und Beratungen, sowie bei der Aus¬
führung der Tat eine sehr wesentliche Bolle gespielt hat, kann nach
der oben gegebenen Darstellung unter Berücksichtigung ihrer Per¬
sönlichkeit nicht zweifelhaft sein. Ihre Bestrafung aus § 211 des
St.-G.-B. erfolgte auf Grund der Bestimmungen des § 47 über Mit¬
täterschaft. Äußerlich eine armselige, häßliche kleine Frau mit stark
hervortretender, breiter Nase, die an der Wurzel sattelartig eingesenkt
war, sodaß die Stirn um so stärker hervortrat. Der Mund ist groß,
die Züge abstoßend. Die starke — unter der Not der Lage etwas
überschwängliche — Zärtlichkeit des Mannes erwiderte sie nur in sehr
kalter Weise. Nachdem sie Mitte Juli geboren hatte, hielt sie eine
weitestgehende Berücksichtigung ihrer Mutterschaft für eine ganz
natürliche und berechtigte Forderung. Die Schädelmaße betragen:
Umfang 53 cm, bei einer Körpergröße von 156 cm, Schädellänge 15,5,
Breite 13, Jochbogenbreite 10 cm.
Betrachtet man die drei Täter unter einheitlichem Gesichtspunkte,
so interessiert in erster Linie die Frage, ob bei einem der Täter psy¬
chopathische Momente ausschlaggebend oder mitwirksam bei der
Ausführung der Tat gewesen seien. Ausscheiden kann ohne weiteres
die Verwertung des beginnenden Schwangerschaftszustandes der Frau 1 ),
der in seinen ersten Anfängen bei einer mehrfach Graviden kaum
entscheidende Einwirkungen auf das seelische Gleichgewicht ausgeübt
haben kann. Nur für Leonhard wird man ferner vielleicht einen ge¬
wissen Grad von intellektueller Schwäche anerkennen, während das
Fehlen jedes sittlichen Gegenmotives bei allen dreien gleichmäßig
l) Kraepelin, Psychiatrie, VI. Auf!., pa£. 02 ff.
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IX. POLLITZ
in die Erscheinung tritt. Dabei bleibt jedoch die bemerkenswerte
Tatsache bestehen, daß dieser sittliche Mangel bei allen dreien bisher
nicht durch kriminelle Handlungen manifest geworden ist, wenn man
von der geringen Vorbestrafung des Leonhard absieht, eine Erfahrung,
die grade bei dem schwersten Verbrechen nicht ganz selten zu machen ist
Es ist hier nicht ohne Interesse das Ergebnis einer Zusammen¬
stellung von Mord und Totschlagfällen (letztere als solche durch das
Schwurgericht so charakterisirt) zu betrachten. Daß im vorliegenden
Falle die Kriterien des Mordes im eigentlichsten Sinne vorliegen,
indem „der bei der Tat obwaltende Vorsatz als das Ergebnis einer
besonnenen Verstandestätigkeit erscheint“ *), ist kaum zu bestreiten, ja
man wird schwerlich viele analoge Fälle finden, in denen jedes affek¬
tive Moment so in den Hintergrund tritt, wie im vorliegenden Falle.
Weingart 2 ) betont mit Recht, daß der Mord nicht selten die erste
kriminelle Betätigung des Täters darstellt Die von ihm gegebene
Einteilung nach psychologischen Gesichtspunkten unterscheidet 7 Haupt¬
gruppen; die jedoch nicht ohne weiteres auf den Mordbegriff des St.
G. B. anzuwenden sind. Als typisch möchte ich den Raubmord, den
sexuellen Mord (Eifersucht) u. a. m., den Rachemord, den Mord zur
Beseitigung einer Not- oder Gefahrlage bezeichnen. Von den 15 von
mir eingehend untersuchten Mördern waren 9 zum Tode verurteilt
zwei hingerichtet einer gemäß § 178 d. St G. B. zu lebenslänglichem
Zuchthaus, die übrigen zu höchsten Zuchthausstrafen verurteilt worden.
Von der Gesammtzabl sind 10 niemals vorbestraft gewesen, nur zwei
waren erheblich mit Gefängnisstrafen, keiner mit Zuchthaus vorbe¬
straft Es ist nicht meine Absicht das Material an dieser Stelle ein¬
gehender mitzuteilen, nur so viel sei noch bemerkt In drei Fällen
wurde die sorgfältig prämeditirte Tötung ausgeführt, um eine ge¬
schwängerte Liebschaft zu beseitigen, in zwei weiteren wurde einmal
die Schwester, die einem Liebesverhältnis im Wege stand, im anderen
ein Kind, das der in Ehescheidung lebenden Mutter zugesprochen
werden sollte, ermordet. In vier weiteren Fällen handelt es sich um
einen Raubmord. Bemerkenswert erscheint, daß alle diese Mörder
— dies gilt auch für den Fall Bloemers — noch unter dem 30. Lebens¬
jahre standen. Von jenen 15 Tätern waren 7 nicht über 21 Jahre
alt, ein kriminologisch wie psychologisch gleich beachtenswertes
Phänomen, dessen Erklärung in der grösseren Impulsivität des jugend¬
lichen Alters und der noch verminderten Fähigkeit die Folgen abzu¬
messen, oder andere Mittel zur Beseitigung einer schwierigen und ver-
1) Oppenhoff, Strafgesetzbuch, 13. Aufl., pag. 495.
2) Kriminaltaktik, pag. 3S1.
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Die drei .Mörder Bloemers.
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zweifelten Situation zu suchen, seine Erklärung finden dürfte. Be¬
kanntlich stellt das jüngere Lebensalter 1 ) — besonders die Puber¬
tätszeit — ein auffallend großes Kontingent an Mördern, ganz abge¬
sehen von seiner an sich relativ großen Beteiligung an der schweren
Kriminalität überhaupt. Eine gleiche Auffassung über die Häufigkeit
des Mordes in dieser Altersperiode von 18—24 Jahre vertritt Holtzen-
dorff. 2 ) Nach ihm ist der Mord dreimal so häufig in diesem Lebens¬
alter als Totschlag. Immerhin ist bei einer derartigen Gegenüber¬
stellung zu berücksichtigen, daß nicht jeder Fall, in dem die Anklage
Mord oder die Geschworenen Totschlag annehmen, psychologisch
richtig subsumiert ist Dafür Beispiele anzuführen, erscheint über¬
flüssig. Die rein rechtlichen Beziehungen zwischen Mord und Tot¬
schlag ergeben die eigenartige Konsequenz, daß die strafrechtliche
Ahndung einer hierher gehörigen Tat zwischen der Verhängung der
Todesstrafe und einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten schwankt.
1) Conf. Baer. Jugendliche Mörder. Archiv für Kriminalanthropologie,
11. Bd., 1903.
2) Psychologie des Mordes. Sammlung wissenschaftlicher Vorträge, Heft 232.
Berlin IST5. Liideritz’sche Buchhandlung, pag. 41.
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X.
Über Kindesmord.
(Ein Beitrag zur Frage nach den Gründen seiner Sonderstellung.)
Von
Professor Dr. W. Graf Gleispach. in Prag.
In seinem Heidelberger Vortrag 1 ) hat Hans Groß die sehr
berechtigte Forderung aufgestellt, die zukünftige Strafgesetzgebung
habe das psychologische Prinzip viel mehr als bisher zu berück¬
sichtigen. An einzelnen Beispielen wird dann gezeigt, einerseits, wie
sich der Vortragende die Verwertung dieses Prinzipes de lege ferenda
denkt, andererseits, wie heute feststehende Ansichten einer Prüfung
vom psychologischen Standpunkt aus nicht standhalten können. In
dieser zweiten Richtung werden die Gründe der besonders milden
Behandlung der Kindestötung untersucht und das Ergebnis lautet 2 ):
es „müssen die gesamten psychopathischen Einwirkungen bei und
nach der Geburt, welche seit ungefähr 100 Jahren im Strafrecht eine
so große Rolle gespielt und so viele Schwierigkeiten verursacht haben,
aus unsren Erwägungen völlig ausgeschlossen werden: sie haben
psychologisch nie gewirkt“. Und ferner: „Wir kommen daher
diesfalls zu dem Schlüsse, daß wir, die wir doch auch den Kindes¬
mord privilegiert und milde behandeln wollen, hiefür ganz andere
Erwägungen aufsuchen müssen; — ob wir mit der Lehre vom sogen.
Ehrennotstand unser Auslangen finden werden, ist sehr fraglich“. —
Dieses Ergebnis und die Erwägungen, auf denen es sich aufbaut,
scheinen mir anfechtbar und es sei mir deshalb gestattet, einige
polemische Bemerkungen an sie anzuknüpfen. Dabei kann es sich
vielfach nur darum handeln, Gedanken und Tatsachen, die auch schon
anderwärts ausgeführt und berichtet worden sind, einer Ansicht gegen¬
überzustellen, die wenigstens in dieser Schroffheit und Allgemeinheit
1) „Kriniinalpsycholoiric und Strafpolitik**, abgedruckt in diesem Archiv 26,
f>7— M).
*2) A. a. 0. S. 75 und 7*>.
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Über Kindesmord.
225
meines Wissens vor Groß nicht vertreten wurde. Ihr gegenüber
auch die Wirksamkeit älterer Gründe zu erproben, — diesen Versuch
rechtfertigt wohl die hohe Aktualität, die heute allen Gesetzgebungs¬
fragen zukommt. Es sei aber auch noch darauf hingewiesen, daß die
Ansicht von Groß dem Ergebnis der jüngsten, umfassenden Be¬
handlung des Verbrechens der Kindestötung den Boden entzieht, —
den legislativen Vorschlägen von Liszts in der „Vergleichenden
Darstellung“ 1 )- Denn sieberuhen, wie auch schon die vorhergehende
kritische Erörterung der geltenden Gesetzgebung, auf der freilich auch
bedenklichen Annahme, daß durch den Einfluss des Geburtsvorganges
die motivierende Kraft der zur Tötung treibenden Vorstellungen 2 )
wesentlich gesteigert werde, und sie finden gerade darin den Grund¬
gedanken jener Gesetzgebungen, an die sie sich anlehnen. Der Ge¬
dankengang bei Groß aber ist kurz folgender: 1. Die — wenn ich
so sagen darf — landläufige Auffassung sucht den Grund für die
milde Behandlung der Kindesmörderin z. T. in der durch die Geburts¬
vorgänge veranlaßten psychopathischen Geistesverfassung, z. T. in den
überwältigenden Sorgen wegen des Unterhaltes und der bevorstehenden
Schande. — 2. Obwohl manche Gesetzgebungen den Ehrennotstand
als allein maßgebend angesehen haben, ist doch unter allen Umständen
der psychopathische Zustand der Täterin Ursache der Milderung;
wenn Kindestötung Überhaupt milder bestraft wird, so ist der abnorme
Zustand bei und sofort nach der Geburt das mildernde. — 3. Psycho¬
logisch ausgedrückt heißt das: Die Einflüsse bei dem Geburtsvorgang
wirken derart verwirrend, daß die Furcht vor Kot und Schande mit
abnormer Kraft ausgestattet wird und die normalen Instinkte auf
Beschützung des Neugeborenen überwältigt. Diese psychologische
Begründung ist aber gerechtfertigt nur unter der Voraussetzung, daß
der maßgebende Entschluß zur Tötung infolge und während der
psychopathischen Geburtsvorgänge entstanden und gefaßt worden ist,
daß das Töten von psychopathischen Vorgängen bei der Geburt
kausiert war. — 4. Diese Voraussetzung trifft tatsächlich niemals zu.
I.
1. Bleiben wir zunächst bei dem letzten Punkt stehen. Soweit
Groß hier auf Grund seiner reichen praktischen Erfahrungen spricht,
kann es mir nicht einfallen, diesem Schatz meine Beobachtungen
1) Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Straf¬
rechts 5, 116 ff. —
2) Welche Vorstellungen da in Betracht kommen und daß v. Liszt nur die
den Ehrennotstand begründenden berücksichtigen will, interessiert hier noch nicht.
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 15
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226
X. Gleispach
gegenüberstellen zu wollen, die absolut und gar relativ höchst be¬
scheidenen Umfanges sind. Da er aber die Frage auf wirft, ob man
auch nur einen einzigen Fall kennt, in welchem der geschilderte Her¬
gang (Tötungsentschluss während der Geburt gefaßt) nachweisbar
gewesen ist, so darf ich doch auf einen Fall hinweisen, bei dessen
Verhandlung 1 ) ich als Schriftführer mitzuwirken hatte. Die wegen
Verbrechens nach § 139 St. G. angeklagte Dienstmagd M. G. hat
nicht bloß behauptet, vor der Geburt, die sie überraschte, die Tötung
des Kindes nicht beabsichtigt zu haben, sondern sie konnte auch
darauf hinweisen, daß sie Wäsche für das Kind vorbereitet und durch
Monate ihren kärglichen Lohn zusammengespart hatte, um für das
Kind sorgen zu können. Einige andere Fälle entnehme ich der
Literatur. Vibert 2 ) berichtet von folgendem Fall: „Une jeune fille
primipare, peu intelligente, est admise ä deux reprises dans un höpital
comme atteinte d’un kyste de l’ovaire; pendant son second söjour,
eile accoucha dans les latrines d’un enfant ä terme qu’elle präcipita
immödiatement dans la fosse. Elle assura, qu’elle ne s’ötait jamais crue
enceinte. Elle avait pu croire elle-meme ä l’interpr6tation des mödecins“.
Diesem an die Seite zu stellen ist ein ähnliches Vorkommnis, das in
Henk es Zeitschrift 3 ) beschrieben wird: Ein zweiundzwanzig jähriges
etwas dummes, sonst braves Mädchen wurde im Bausch entjungfert
und geschwängert, von ihrer Schwangerschaft hatte sie keine Ahnung
bis zum rechtzeitig erfolgten Geburtsakt. Davon im Freien überrascht
warf sie das Kind entsetzt in den Wassergraben. Fabrice 4 ) erzählt:
„Vor einem halben Jahre wunderte sich eine ganze Gemeinde, daß
ein Mädchen, dessen Charakter als sanft, offen und brav allgemein
bekannt war, ihr Kind ins Wasser |warf, von dessen Geburt es auf
dem Felde überrascht wurde. Die Untersuchung aber ergab, daß es
der Geliebte, mit dem es mehrere Jahre in Verbindung gewesen, ver¬
lassen hatte, weil dessen Familie die Mitgift des Mädchens für zu
gering hielt. Ihr Vater, ein sonst sehr braver aber strenger Mann,
hatte die Tochter körperlich gezüchtigt, bloß auf den Verdacht hin,
sie könne schwanger sein, die Familie des früheren Geliebten be¬
schimpfte sie bei jeder Gelegenheit. Offen und reumütig gestand die
Angeschuldigte ihr Verbrechen bei der ersten Frage. Das Schwur-
1) Hauptverhandlung vor dem Grazer Schwurgericht am 16. Mai 1S99.
2) Prßcis de mädicine legale, 4e <5d. 416.
3) Jahrgang 1853, vgl. Fabrice, Die Lehre von der Kindesabtreibung und
vom Kindesmord, 2. Aufl. von A. Weber, S. 282.
4) a. a. 0. S. 307.
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Über Kindesmord.
227
gericht mußte sie desselben schuldig erklären, aber in voller Berück¬
sichtigung der geschilderten Umstände wurde das niederste Strafmaß
zugeteilt Man mußte dem armen Mädchen Glauben schenken, wie
es bei der Schilderung der Geburtsvorgänge einfach erklärte: „vor
Ängsten wußte ich damals wahrhaftig nicht wo aus, wo ein“.
Über einen weiteren Fall ist sehr ausführlich in diesem Archiv 1 )
berichtet worden. Am 9. Dezember 1901 fand der Eisenbahnwächter
auf dem Eisenbahndamm nächst Pörtschach ein neugeborenes totes
Kind zwischen den Schienen liegend auf. Das Strafverfahren ergab,
daß das Kind von der Magd I. H. an diesem Tag während der
Eisenbahnfahrt am Abort geboren und durch Hindurchzwängen durch
die Öffnung der Abortschale getötet worden war. Die H. war außer¬
ehelich geschwängert, ihre Schwangerschaft ihren Dienstgebem, die
sie als sehr fleißig und brav schildern, bekannt, und diese hatten
bereits im September gewußt, daß sie schwanger war, wollten ihre
Entbindung abwarten und sie dann wieder in Dienst nehmen. Am
9. Dezember stellten sich Wehen ein und die Dienstgeberin ließ eine
Hebamme holen. Da diese sagte, es fehlen zum normalen Ende der
Schwangerschaft noch beiläufig 3 Wochen — das Kind war in der
Tat nicht völlig ausgetragen — so entschloß sich die H., nach
Klagenfurt ins Gebärhaus zu fahren. Wegen der bereits vorhandenen
Wehen rieten Hebamme und Dienstgeber von der geplanten Abreise
ab, doch stellte die erstere die Geburt erst für die kommende Nacht
in Aussicht, während der von der H. benützte Zug bereits um 2 Uhr
N.-M. in Klagenfurt eintrifft. Die H. trat also die Heise an und die
Wehen steigerten sich, so daß der Zustand der H. von den Mit¬
reisenden bemerkt wurde. Die H. ließ sich den Abort zeigen, ent¬
ledigte sich dort ihres Mieders und kehrte auf ihren Platz zurück.
Unmittelbar vor Pörtschach wurden die Wehen heftiger, sie ging
wieder auf den Abort, um die Not zu verrichten; hierbei wurde sie
angeblich von Schwindel erfaßt und nun ging das Kind ab. Als sie
dies merkte und aufstand, konnte sie nach ihrer Angabe das Kind
nicht mehr erreichen, da es schon bis auf die Füsse durchgerutscht
war. Es wurde ihr schwarz vor den Augen und sie fühlte sich sehr
schwach. Die Verantwortung der H., daß das Kind durchgerutscht
sei, wird durch den Augenschein (Verhältnis der Maße des Kindes¬
kopfes und der Abortöffnung) widerlegt. Das Schwurgericht hat die
H. einstimmig schuldig gesprochen.
1) Ein Fall von Kindesmord.
Landesgerichtsarzt in Klagenfurt
Von Dr. Jos. R v. Jo sch, kaiserl. Rat und
9, 832 ff.
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228
■ X. Gleispach
Einen sehr interessanten Fall erwähnt Roustan l ), nur sind leider
manche wichtige Einzelheiten auch hier nicht mitgeteilt Der Tochter
wohlhabender Landleute, die von ihrem Verführer geschwängert
worden war, gelang es, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen, ihrer
Mutter aber gestand sie ihren Fehltritt ein. Bei Beginn
der Wehen schloß sie sich in ein Zimmer ein, wo ihr ihre Mutter
Beistand leistete. Die Geburt war schon weit fortgeschritten, der
Kopf des Kindes ragte bereits zum Teil hervor, als das Mädchen,
einen Augenblick der Unaufmerksamkeit ihrer Mutter be¬
nützend, einen großen Schlüssel ergriff, der sich im Bereich ihrer
Hände befand, und damit wiederholt auf den Kopf des Kindes los¬
schlug. Das Mädchen erklärte, als es später zur Verantwortung ge¬
zogen wurde, es habe in dem Glauben gehandelt, auf diese Weise
bewirken zu können, daß das Kind wieder in den Mutterleib zurück¬
weiche und die Geburt auf gehalten werde.
Ich bin mir der Einwendungen sehr wohl bewußt, die gegen die
angeführten Fälle vorgebracht werden können. Sie beweisen nicht
allzuviel, aber sie berechtigen doch jedenfalls dazu, Widerspruch zu
erheben gegen den Satz: „In allen Fällen, in welchen ein Kind bei
der Geburt getötet wurde, hat die Mutter eher die Schwangerschaft
geleugnet, hat keine Vorbereitungen für das Kind getroffen“ u. s. f.
Sie zeigen auch, daß nicht in allen Fällen der Beschluß, das Kind zu
töten, schon lange vor der Geburt gefaßt wird. Ich möchte auch
nicht bezweifeln, daß den wenigen vorstehenden Fällen noch so manche
weitere mit ähnlicher, nur vielleicht noch praegnanterer Sachlage
angereiht werden könnten, und dazu anzuregen ist mit ein Grund für
die Veröffentlichung dieser Zeilen 2 ).
Doch es müßte eine lange Reihe von Einzelbeobachtungen vor¬
liegen, damit man uns nicht doch entgegnen könnte: Solche Aus¬
nahmen bestätigen nur die Regel. Worauf gründet sich aber diese
Regel, worin bestehen die Stützen der Behauptung, der Tötungs¬
entschluß werde immer oder doch von seltenen Ausnahmen abgesehen
lange vor der Geburt gefaßt? Groß führt dreierlei an: Die Mutter,
die ihr Kind bei der Geburt tötet, leugnet ihre Schwangerschaft, sie
trifft keine Vorbereitungen für das zu erwartende Kind; sie entbindet
im Geheimen und ruft keinen Beistand herbei. Es sei sofort ein-
1) De la psychicitö de la femme pendant l’accouchement (Etüde de respon-
sabilitö) Bordeaux 1900, S. 33.
2) Verf. erklärt sich auch gerne bereit, einzelne Beobachtungen und Fälle,
für deren Mitteilung er den Einsendern zu Dank verpflichtet wäre, entgegen
zu nehmen, um sie gelegentlich zu veröffentlichen.
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Über Kindesmord.
229
geräumt, daß diese Umstände in der Mehrzahl der Fälle vorliegen, ja
es mag dieses Verhalten der Schwangeren die Regel genannt werden.
Aber es beweist nicht, daß der Tötungsentschluß schon lange vor der
Geburt gefaßt war. Das Verhalten, das so belastend für die
Schwangere sein soll, wird auch in Fällen beobachtet, in denen sodann
das neugeborene Kind nicht getötet wird und nichts dafür spricht,
daß nur etwa ein äußeres Hindernis die Ausführung des gleichwohl
vorhandenen Tötungsentschlusses verhindert hätte. Vor allem aber
ergibt die Betrachtung der persönlichen Verhältnisse der Schwangeren,
die zu Kiqdesmörderinnen werden, eine Reihe von Gründen, die das
bezeichnete Verhalten völlig erklären, ja die dazu geradezu nötigen.
Aus der österreichischen amtlichen Statistik ergibt sich folgen¬
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1) Zur Ergänzung vergl. hiezu und überhaupt zu den statistischen Bemer¬
kungen Hoegel, Die Straffälligkeit des Weibes, Groß’Archiv 5, 231 ff., bes-
262 ff. Bonger, Criminalitö et conditions ßconomiques (Amsterdam 1905) bringt
auch statistische Daten (699 ff.), doch sind sie recht wähl- und kritiklos aus
allen möglichen Quellen zusammengetragen, manchmal fehlt selbst die Angabe
der Quellen.
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230
X. Gleispach
Der Kindesmord wird überwiegend von Ledigen begangen; die
Täterinnen befinden sich fast ausnahmslos in wirtschaftlich abhängiger
Stellung, sind vermögenslos und haben keine oder nur Volksschul¬
bildung genossen. In der Landwirtschaft Bedienstete und namentlich
Dienstleute im engeren Sinn des Wortes sind stark am Kindesmord
beteiligt.
Die Schwangere, die nicht verheiratet ist, kein Vermögen besitzt
und sich in dienender Stellung befindet, muß offenbar danach trachten,
ihren Zustand so lange als nur möglich zu verheimlichen, damit sie
sich in ihrer Stellung behaupten kann und ihre einzige Einnahms¬
quelle nicht gerade dann versiegen sieht, wann sie Geld am dringendsten
bedarf. Ganz in derselben Richtung wirken das Schamgefühl, die
Angst vor Spott und Hohn und beide Momente machen auch oft
Vorbereitungen für das Kind unmöglich. Man wende nicht ein, die
Schwangere müsse sich vor Augen halten, daß ihr Zustand kein
ewiges Geheimnis bleiben könne, wenn anders sie nicht doch ihr Kind
beseitigen will! Gewiß die überwiegende Mehrzahl der Menschen
sucht alles Unangenehme, was einen Aufschub verträgt, so lange als
möglich hinauszuschieben, auch wenn Unlustgefühle von ganz kurzer
Dauer zu erwarten sind. Die außer der Ehe Geschwängerte aber
sieht oft einem lange dauernden Zustand psychischer Qualen entgegen.
Ist es da nicht höchst natürlich, daß sie den Beginn dieses Zustandes
so lange als möglich hinauszuschieben trachtet? Und wie leicht kann
sie dann bei dem Mangel exakter zeitlicher Bestimmtheit der bevor¬
stehenden Geburt 1 ) von dieser überrascht werden, so daß es unmög¬
lich wird, rechtzeitig auszuführen, was geplant war: das Aufsuchen
einer Gebäranstalt oder einer Hebamme oder auch die Eröffnung des
Geheimnisses gegenüber einer Freundin oder der Dienstgeberin, ein
Schritt, der vielleicht auch gerade deshalb so lange hinausgeschoben
wurde, weil die Schwangere hoffte, dann eher Mitleid zu erwecken
und nicht zum Verlassen ihres Postens gezwungen zu werden. Er¬
eignet es sich doch auch unter Umständen, die jeden Verdacht einer
beabsichtigten Kindestötung völlig ausschließen, daß Frauen auf der
Eisenbahnfahrt, auf der Straße, in der Kirche oder in anderen unge¬
eigneten Situationen vom Beginn des Geburtsvorganges überrascht
1) Daß die Frauen nicht im Stande sind, genaue Angaben über den Be¬
ginn der Schwangerschaft zu machen, darf wohl als die Regel betrachtet werden.
Hecker fand unter 2000 Frauen nur 148, die solche Angaben zu machen wußten.
(Nach Fabricc a. a. 0. 283). Dazu kommen dann noch die vielfachen Schwan¬
kungen der Dauer der Schwangerschaft.
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Über Kindes inord.
231
werden ')• Was aber die Schwangere dann, wenn es einmal so weit
gekommen ist, tut oder unterläßt, das kann nicht mehr als eine im
normalen Zustand gesetzte Handlung betrachtet werden und darum
wird auch das Entbinden im Geheimen und das Unterlassen der
Herbeirufung von Beistand nicht als beweisend für einen vorgefaßten
Tötungsentschluß angesehen werden dürfen. Dazu kommt, daß
namentlich Erstgebärende die Anfangswehen verkennen können und
bei ihrem Auftreten einem vermeintlichen Stuhldrang folgend, den
Abort aufsuchen, jenen Ort, an dem sich ja am häufigsten Ent¬
bindungen „im Geheimen“ und „ohne Beistand“ ereignen. Das Ver¬
kennen der Wehen, das Aufsueben des Abortes, um den Stuhl zu
entleeren, wird nicht selten von des Kindesmordes Angeklagten als
Verteidigung bloß vorgeschützt Da aber solche Fälle von Geburten
in den Abort oder einen Eimer festgestellt sind, wobei es sich um
verheiratete Frauen handelte und jeder Verdacht einer Tötungsabsicht
ausgeschlossen war 1 2 ), so geht es nicht an, jede dahingehende Angabe
einer der Kindestötung Verdächtigen als leere Ausrede zu betrachten.
Alle von Groß angeführten Umstände stellen sich demnach als
Momente dar, die nur mit größter Vorsicht als Indizien für einen
vorgefaßten Tötungsentschluß verwertet werden dürfen, sehr oft trügen
können und für sich noch nichts beweisen. Mit Recht kann aber nun
die Frage aufgeworfen werden, wie sich wohl die Schwangere die
Zukunft des Kindes denke, wenn sie weder irgend welche Vor¬
bereitungen treffe, noch entschlossen sei, das Kind zu töten. Einige
Möglichkeiten, die hier gegeben sind, finden sich schon oben ange¬
deutet Weiter aber kann es auch sein, daß die Schwangere, die
schließlich zur Kindesmörderin wird, zu einem Entschluß, wie sie
gebären und was sie mit dem Kinde anfangen soll, vor der Geburt
überhaupt nicht gelangt. Sind doch oft alle Umstände danach an¬
getan, diesen Entschluß nach jeder Richtung hin ungeheuer zu er¬
schweren und das Hinausschieben der Entscheidung zu begünstigen.
Für die erste Zeit kommt da schon die Ungewißheit in Betracht, ob
die vorhandenen Anzeichen der Schwangerschaft nicht etwa täuschen,
eine Ungewißheit, die nur allmählich in Gewißheit übergeht. Sofort
tritt auch das so verderbliche als verbreitete Axiom in Wirksamkeit:
„Nur sich nichts merken lassen“. Wird nun einmal der Weg der
Geheimhaltung beschritten, so liegen auch darin mehrfache Hemm-
1) Belege dafür in reicher Fülle in der gerichtl.-medizinischen Literatur
vgl. nur Casper- Li man, Handbuch der gerichtl. Medizin, S. Aufl. 2, 100S,
1014ff., 1055ff.; Fabrice 294 und dort Angef.
2) Vgl. die in der vorigen Anm. Angef.
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232
X. (tLKMPACH
nisse für einen Entschluß. Die Schwangere ist völlig auf sich selbst
angewiesen, kann sich mit Niemandem beraten und besprechen; ver¬
schiedene Vorstellungen tauchen auf und werden je nach der Charakter¬
anlage, Erfahrungen, Gehörtem und Gelesenem und äußeren Um¬
ständen mit verschiedener Intensität festgehalten und ausgestaltet. Die
Eine sucht sich mit dem Gedanken des Selbstmordes vertraut zu
machen >), die Andere hofft, sie werde ein totes Kind zur Welt bringen 1 2 ),
eine Dritte glaubt unter dem Eindruck körperlicher Beschwerden und
Schmerzen, die sich mit großer Stärke auch schon lange vor der
Geburt einstellen können, sie werde noch vor dem Ende der Schwanger¬
schaft ihren Leiden erliegen oder doch die Geburt des Kindes nicht
überleben 3 ). Todesahnungen sind ja bekanntlich besonders bei Erst¬
gebärenden recht häufig und sie können unter dem Einfluß be¬
vorstehender Not oder Schande unbewußt derart favorisiert werden,
daß sich die Schwangere bestimmter Entschließungen über die Zukunft
enthoben glaubt. Nun mag auch die Vorstellung auftauchen, das zu
erwartende Kind zu beseitigen; sie wird vielleicht das erstemal sofort
verworfen, kehrt aber wieder, steht bald mehr im Vordergrund, bald
mehr im Hintergrund, immer aber doch nur neben den anderen,
ohne jemals während der Schwangerschaft zur Stellung über allen
anderen zu gelangen. Wozu auch einen Entschluß fassen, der, wie
er auch lauten mag, doch nur Unheil bedeutet und für den es noch
immer ein Morgen gibt, wenn er heute nicht gefaßt wird? Wenn
das wie der Tod gefürchtete Ereignis eintritt, wird ja gewiß irgend
etwas geschehen müssen, aber vorher besteht kein Zwang zum Ent¬
schluß. Die Offenbarung des Geheimnisses mit Schande, Spott und
Hohn, die wirtschaftliche Not, teilweiser oder gänzlicher Verbrauch
des geringen Verdienstes durch die Erhaltung des Kindes und Stellungs¬
losigkeit, Tötung des Kindes — alles ist entsetzlich — also nur nicht
daran denken! Zunächst freilich scheint es, als ob alle Vorstellungen
und Gedanken eines weiblichen Wesens im Zustande der Schwanger¬
schaft so sehr der Zukunft zugewendet sein müssen, wie in keiner
anderen Lebensepoche. Diese Annahme ist auch in der Natur des
1) Bekanntlich ist der Prozentsatz der Schwangeren unter den geschlechts-
reifen Selbstmörderinnen sehr hoch; so fand z. B. Pilcz nahezu 20% (Zur Lehre
vom Selbstmord, Jahrbücher für Psychiatrie 26, VYagner-Jubiläumsheft).
2) In Österreich sind für den Duehschnitt der Jahre 1S92 —1901 3,9 °/o der
außerehelichen Geburten Totgeburten (2.8% von allen Geburten). Vgl. Statisti¬
sches Handbuch 22, 37 und 50.
3i Vgl. die vielfach übereinstimmenden Ausführungen bei Roustan,
a. a. 0. 32 fg.
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Über Kindesmord.
233
Zustandes begründet, zugleich aber doch auch von der Voraussetzung
getragen, daß die auf die Zukunft sich beziehenden Vorstellungen
wenigstens überwiegend lustbetont sind. Diese Voraussetzung trifft
aber selbst bei verheirateten Frauen, denen wirtschaftliche Sorgen ganz
unbekannt sind und die sich von Liebe und Fürsorge umgeben fühlen,
nicht immer zu. Jeder Gedanke an das zu erwartende Kind, jede
Vorbereitung für dieses ist untrennbar mit der Vorstellung des bevor¬
stehenden Geburtsvorganges verknüpft. Und dieser kann namentlich
bei Erstgebärenden, aber auch bei Frauen, die sehr schwere Geburten
bereits zu überstehen hatten, derartig Furcht und Entsetzen erregen,
daß sie alles zurückzudrängen trachten, was sie an ihren Zustand
erinnert. Dieses Bestreben vermag auf das ganze Vorstellungsleben
Einfluß zu gewinnen und den natürlichen Trieb, selbst für das Kind
Vorbereitungen zu treffen oder sich doch daran zu beteiligen, völlig
zurückzudrängen. Bei solchen Frauen können die mütterlichen In¬
stinkte gleichwohl stark entwickelt sein, sie beklagen es, die Vorfreuden
der Mutterschaft nicht genießen zu können gleich anderen Frauen,
die weniger ängstlich oder schmerzempfindlich sind, sie bedauern ihre
Umgebung, der sie Zwang auferlegen; aber sie wollen auch seitens
dieser in keiner Weise an ihren Zustand gemahnt werden, von Kind,
Wiege, Wäsche oder Amme nichts hören und sehen, kurz — sie
wollen für nicht schwanger gelten. Allerdings besteht für Frauen in
der jetzt angenommenen Lage keine Notwendigkeit, für die Zukunft
selbst vorzusorgen, weil sie wissen, daß dies von Anderen besorgt
wird. Wenn aber bei diesen Frauen die Angst vor der Geburt trotz
beruhigenden Zuspruches, trotzdem sie auch für diesen Vorgang liebe¬
vollen Beistand und jede mögliche Erleichterung voraussehen können,
dennoch den festen Entschluß zu erzeugen vermag, nicht an die Zu¬
kunft zu denken, wenn sie vermag, die mütterlichen Instinkte zum
Schweigen zu bringen und alle die Zukunftsbilder zu unterdrücken,
die hier nur Freude und Glück spiegeln würden, dann vermag sie
auch denselben Erfolg bei der verlassenen, vermögenslosen, entehrten
Schwangeren hervorzurufen, bei der sie vermöge der psychischen
Isolierung noch stärker auftritt und der alle Zukunftsbilder nur
von Not und Elend erzählen würden.
Ich meine also: in einer Gruppe von Fällen trifft die Schwangere
sinnlich wahrnehmbare Vorbereitungen für das Kind und die Annahme
eines vorgefaßten Tötungsentschlusses ist dadurch widerlegt In einer
zweiten Gruppe besteht der Entschluß, im letzten Moment noch für
eine Geburt unter ungefährlichen Umständen und die Zukunft des
Kindes vorzusorgen, vorhergehende Vorbereitungen werden durch die
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234
X. Gleispach
aus anderen Gründen notwendige Geheimhaltung der Schwanger¬
schaft unmöglich gemacht. In einer dritten Gruppe endlich kommt
vor dem Beginne der Wehen überhaupt keinerlei Entschließung zu¬
stande, die Schwangere geht jedem Entschluß und allen Gedanken über
die Zukunft aus dem Wege. Die Vorstellung, das Kind zu töten,
taucht hier auf, kehrt vielleicht öfter wieder, aber vermag doch nicht,
alle anderen zu unterdrücken und gelangt nicht zur Herrschaft In
allen diesen Fällen wird der Tötungsentschluß nicht vor der Gehurt
gefaßt, vielmehr kommt er erst unter der Einwirkung des Geburts¬
vorganges zustande.
Daß solche Fälle wirklich Vorkommen, dürfte bereits genügend
dargetan sein, — von der Frage ganz abgesehen, wie häufig sie sich
ereignen mögen. Auf die dogmatische Literatur des Strafrechts ein¬
zugehen, unterlasse ich absichtlich, denn dem, was dort zu holen
wäre, — ob es nun pro oder contra spricht — kann immer und viel¬
fach mit Recht entgegengehalten werden, daß es vorgefaßte Meinung,
„Konstruktion“, nicht aber das Ergebnis der Bekanntschaft mit den
Tatsachen des realen Lebens und sachgemäßer Schlußfolgerungen ist.
Nur aus der neuesten Behandlung der Kindestötung möchte ich den
Ausspruch Liszt’s anführen: „Völlig willkürlich aber ist die Behaup¬
tung, daß in jedem Fall der Kindestötung Vorbedacht vorliegt und
die Gemütserregung fehlt; die Erfahrung lehrt, daß der Tötungsent¬
schluß ohne jede Überlegung im Augenblick der Entbindung selbst
gefaßt werden kann und oft genug gefaßt wird.“ 1 ) Ich verweise
ferner auf die Strafgesetze von Aargau (109), Schaffhausen (151 ) 2 ) t
L uzern (160), Obwalden (76) und Dänemark (192), die alle im
Strafsatz unterscheiden je nach dem Umstand, ob der Tötungsent¬
schluß vor dem Eintritt der Entbindung oder erst während oder nach
der Geburt gefaßt wurde, während andere (z. B. Thurgau 65,
Graubünden 102, Glarus 95) den Richter anweisen, den ersteren
Umstand als erschwerend bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.
Dürfen wir dem Gesetzgeber zumuten, daß er besondere Normen für
einen Fall aufstellt, der sich tatsächlich niemals ereignet? Es muß
zugegeben werden, daß derlei vorkommt. Da wir aber wissen, daß
solche Fälle, wie sie hier der Gesetzgeber im Auge hatte, der Welt
der Tatsachen angehören, kommt dem Bestand der angeführten
]) Vergl. Darstellung 5, 10S.
2) „Eine Mutter .... soll wegen Kindesmords, wenn sie vor dem Ein¬
tritte der Entbindung den Entschluß zur Tötung ihres Kindes gefaßt und in
Folge dieses vorbedachten Entschlusses die Tat verübt hat, mit Zuchthaus nicht
unter sechs Jahren, außerdem aber mit Zuchthaus von drei bis zu fünfzehn Jahren
bestraft werden.“
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Gesetze doch auch einige Bedeutung zu. Aus all dem, was für
das Vorkommen dieser Fälle angeführt wurde, ergibt sich auch so
viel, daß sie nicht allzu selten sein dürften. Was ihr zahlenmäßiges
Verhältnis zu den gegenteilig gelagerten Fällen anlangt, wird man
heute über bloße Vermutungen nicht hinauskommen. Doch fällt
dieses Verhältnis hier nicht ins Gewicht. Ist der Entschluß, das Kind
zu töten, frühestens erst mit dem Beginn des Geburtsvorganges gefaßt
worden, so erscheint die milde Behandlung der Mörderin auch von
dem Standpunkt aus völlig gerechtfertigt, den Groß einnimmt und
der oben durch die Sätze 2 und 3 bezeichnet wurde. Dagegen
mangelt die Begründung von diesem Standpunktaus, sobald der Tötungs¬
entschluß früher gefaßt wurde und es muß eine Lösung gefunden
werden, ob nun diese Fälle häufig oder selten sein mögen.
2. Es wird also nunmehr dieser Standpunkt zu prüfen sein. Da¬
bei sei zunächst Satz 2 hingenommen, wie ihn Groß aufstellt, und
nur Satz 3 zum Gegenstand der Untersuchung gemacht Da ergibt
sich also: Wenn der Grund der milden Behandlung der Kindestötung
im psychopathisehen Zustand der Gebärenden gelegen ist, so hat
diese Behandlung nur dann einzutreten (oder ist nur dann gerecht¬
fertigt), wenn der Tötungsentschluß durch diesen Zustand kausiert
war. Es ist nun ganz derselbe Gedanke, nur mit anderen Worten
und allgemein ausgedrückt, wenn ich sage: Wenn ein bestimmter
abnormaler Zustand den Grund einer Privilegierung abgeben soll, so
hat die Privilegierung nur dann einzutreten, wenn dieser Zustand im
Augenblick des Entschlusses vorhanden war, nicht aber dann, wenn er
erst bei der Ausführung eintrat. Es erhebt sich demnach die Frage: Ist
für die Beurteilung und demgemäß für die zweckentsprechende Be¬
handlung des Täters maßgebend sein Zustand zurzeit des verbreche¬
rischen Willensentschlusses oder zurzeit der Ausführung des Ent¬
schlusses oder haben beide Zeitpunkte Anspruch auf Berücksichtigung?
Daß die Frage so verallgemeinert werden darf, wird nicht bezweifelt
werden können und offenbar liegt in ihr der Punkt der ganzen Kon¬
troverse, der ihr eine über den Fall des Kindesmordes hinausreichende
Bedeutung und allgemeines Interesse gibt. Es soll hier nicht ver¬
sucht werden, die Frage in ihrer Allgemeinheit zu lösen, nur einige
Bemerkungen seien vorausgeschickt, bevor wir uns wieder dem be¬
sonderen Fall der Kindestötung zuwenden.
Die geltende Gesetzgebung scheint, von einigen wenigen Sonder¬
bestimmungen abgesehen'), den Zustand des Täters bei der Aus-
1) Am nächsten liegt es, an die verschiedenen Arten der Unterscheidung von
Mord und Totschlag zu denken. Vgl. darüber jetzt nur v. Liszt, a. a. 0. Ge-
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führung des Verbrechens für maßgebend zu halten. Darauf deutet
die Ausdrucksweise der Gesetze hin, die zwischen Entschluß und Aus¬
führung in der Regel nicht unterscheidet; es wird von der Begehung
eines Verbrechens in einem bestimmten Zustand, vom Täter schlecht¬
weg oder geradezu vom ausführenden Täter gesprochen. Doch kann
darauf nicht viel Gewicht gelegt werden. In der Regel liegen doch
Entschluß und Ausführung nahe beieinander, und darauf wird sich
die Annahme gründen, daß der Zustand des Täters in beiden Zeit¬
punkten kein wesentlich verschiedener sei. Treten aber solche Unter¬
schiede auf, so darf aus dem Umstand, daß die Gesetze nicht unter¬
scheiden, auch noch nicht sofort der Schluß gezogen werden, daß sie
nur den Zustand bei der Ausführung für maßgebend halten. Denn sehr
oft werden die Umstände hier zu der Annahme nötigen, daß die Tat
nicht auf Grund des ersten Entschlusses ausgeführt wurde, sondern
vielmehr nach der eingetretenen Veränderung und kurz oder unmittel¬
bar vor der Ausführung ein zweiter Entschluß zustande kam, sodaß
die Berücksichtigung des Zustandes im Zeitpunkt der Ausführung in
gleicher Weise auch dem gilt, in dem der entscheidende Entschluß
gefaßt wurde.
Die möglichen Veränderungen lassen sich etwa in folgendes
Schema bringen:
Zustand des Täters
im Zeitpunkt des Entschlusses zur Zeit der Ausführung
1) Dem Entschluß günstig (strafmildernd! normal
2) V V V
r
der Ausführ, ungünstig (strafschärfend)
3) n n ungünstig
normal
4 ) n n v
der Ausführung günstig
5) normal
r r günstig
G) normal
» n ungünstig
Wenn nun eine solche Veränderung eintritt, die dem Zustande¬
kommen des Verbrechens ungünstig ist, wird wenigstens in der Regel
die Bildung eines neuen zweiten Entschlusses anzunehmen sein, also
in den Fällen 1, 2 und 6. Die Kindestötung ist jedoch gerade den
umgekehrt gelagerten Fällen zuzuzählen (5). Trotzdem ist es auch
hier sehr w T ohl möglich, daß ungeachtet eines etwa schon zu Beginn
der Schwangerschaft gefaßten Tötungsentschlusses unmittelbar vor
der Tat ein neuer Entschluß gefaßt wird. 1 ) Diese Fälle scheiden
rade diese Darstellung aber zeigt deutlich, wie die Gesetzgebung auch in diesem
besonderen Fall in unserer Frage hcrumschwanktc, ohne zu grundsätzlicher Ent¬
scheidung zu gelangen und auch in der einschlägigen Literatur fehlt es meist
schon an der richtigen Fragestellung.
1) Die oben wörtlich angeführte Bestimmung von Schaffhausen hat
offenbar auf diese Möglichkeit Rücksicht genommen, denn sie begnügt sich nicht
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hier aus der Betrachtung aus, da der erste Entschluß nicht als kausal
betrachtet werden kann. Bleiben also nur jene Fälle, in denen die
Schwangere vor dem Beginn der Geburt den Tötungsentschluß faßt
und auf Grund dieses Entschlusses sodann die Tötung ausführt, ohne
einen neuen Entschluß zu fassen. Selbst hier ist es nicht gerecht¬
fertigt, dem physischen Zustand zurzeit der Ausführung jede Be¬
achtung zu versagen. Zwar kommt ihm allerdings keinerlei Einfluß
auf die Bildung des verbrecherischen Entschlusses zu, aber dieser
Entschluß ist nicht das einzig und allein maßgebende.
Die Aufgabe des Strafrechtes ist es, Rechtsgüterverletzungen hint¬
anzuhalten, die auf Willensentschlüssen beruhen, aber erst durch die
Betätigung des Willens eintreten. Wird die Betätigung verhindert, so
ist die Aufgabe gelöst. Gleichwohl sucht das Strafrecht in erster
Reihe schon das Zustandekommen verbrecherischer Entschlüsse zu
hindern, oder es greift noch weiter zurück, es bekämpft die zu ver¬
hütenden Erscheinungen in ihren Ursachen, aber nur darum, weil
es die Wirkung verhüten will. Da nun die Kausalität des Ent¬
schlusses nur so viel bedeutet, daß er notwendige Bedingung für die
Rechtsgüterverletzung ist, nicht aber, daß diese eintreten müsse, sobald
die Bedingung geschaffen ist, so bleibt der Ausführung des Ent¬
schlusses eine doppelte Bedeutung gewahrt: a) wenn es zum ver¬
brecherischen Entschluß gekommen ist, so gilt es nun, die Ausführung
zu verhindern 1 ); b) für die Beurteilung des Charakters und der Ge¬
fährlichkeit des Täters ist auch der psychische Zustand bei der Aus¬
führung maßgebend, weil — sobald der Entschluß gefaßt ist — noch
die Frage auftaucht, ob er auch ausgeführt werden wird. Die Er¬
fahrung des täglichen Lebens lehrt, daß ungezählte, auch mit Über¬
legung gefaßte Entschlüsse ohne zwingende äußere Einwirkungen
unausgeführt bleiben. Wer Entschlüsse zu den schauerlichsten Un¬
taten faßt, sie aber nie ausführt, etwa weil ihm im entscheidenden
Moment stets der Mut zum Handeln fehlt, ist ein recht harmloses In¬
dividuum. Wird der Entschluß ausgeführt, und zwar in einem Zu¬
stand, der der Ausführung ungünstig ist, so steht die Gefährlichkeit
des Täters über dem Durchschnittsmaß; denn für dieses muß in
damit, daß der Tütungsentschluß vor der Entbindung gefaßt wurde, sondern
stellt noch ausdrücklich das weitere Erfordernis auf, daß die Tat infolge dieses
vorbedachten Entschlusses verübt wurde.
1) Darum auch Straflosigkeit bei Rücktritt vom Versuch, eine Einrichtung,
bei deren Darstellung sich viclo unsrer Lehrbücher so eigentümlich geberden.
Da wird ein bedeutsamer Absatz gemacht und dann erklärt: Grundsätzlich läßt sich
das nicht rechtfertigen, aber es erklärt sich aus kriminalpolitischen Gründen.
Arme Kriminalpolitik!
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X. Gleispach
allen Richtungen von normalen Verhältnissen, es muß also auch vom
normalen Zustand des Täters im Zeitpunkt des Entschlusses und in
dem der Ausführung ausgegangen werden. Ebenso werden wir nicht
geneigt sein, verminderte Gefährlichkeit dort anzunehmen, wo der
Entschluß zwar in einem sein Zustandekommen begünstigendem Zu¬
stand gefaßt, dann aber trotz Eintritt des normalen Zustandes aus¬
geführt wird. 1 ) Umgekehrt erscheint die Gefährlichkeit dort vermindert,
wo der im normalen Zustand gefaßte Entschluß in einem solchen Zu¬
stand ausgeführt wird, der die Ausführung begünstigt und erleichtert.
Denn das Durchschnittsmaß kann nur dort angenommen werden, wo
die Hemmungsvorstellungen weder ungewöhnlich starke Hindernisse
zu überwinden gehabt hatten, noch auch ungewöhnlich schwach
waren. Im zweiten Fall aber müßte es feststehen, daß der im
normalen Zustand gefaßte Entschluß auch bei Fortdauer dieses Ent¬
schlusses ausgeführt worden wäre, damit das Durchschnittsmaß an¬
genommen werden dürfte, weil nach einem im Strafrecht unbestritten
herrschenden Grundsatz im Zweifel stets zugunsten des Täters zu ent¬
scheiden ist und jede Mitwirksamkeit des abnormalen Zustandes zu¬
gunsten des Täters in Anschlag zu bringen ist Diese Mitwirksamkeit
wird sich vielleicht nur sehr selten und schwer nachweisen lassen,
sie läßt sich aber gewiß niemals ausschließen. Der Schluß, wer
einen verbrecherischen Entschluß gefaßt und nach einer der Aus¬
führung günstigen Veränderung seines psychischen Zustandes aus¬
geführt hat, der hätte den Entschluß auch ohne diese Veränderung
ausgeführt, — dieser Schluß trifft überhaupt nicht, am wenigsten aber
bei Tötungsverbrechen zu. Auch das lehrt die Erfahrung des täg¬
lichen Lebens hundertfach. Warum treffen wir gerade bei Blutver¬
brechen so häufig auf die Erscheinung, daß sich der Täter vor der
Tat erst Mut antrinkt? Freilich wird ihn dieses Vorgehen nicht in
besserem Licht erscheinen lassen, hei der Schwangeren aber tritt der
abnorme der Ausführung günstige Zustand ganz unabhängig von
ihrem Willen ein, ja die Erstgebärende kann sich der Bedeutung
dieses Zustandes gar nicht bewußt sein, und auch bei Frauen, die
1) Z. B. Eine Mutter faßt während der Geburt den Tötungsentschluß,
wird aber an der geplanten sofortigen Ausführung durch Dazwischenkommen
Dritter gehindert. Mehrere Tage später, nachdem ihr psychischer Zustand wieder
völlig normal geworden ist, tötet sie das Kind. Wenn der Entschluß das allein
Maßgebende wäre, müßte diese Mutter in gleicher Weise privilegiert werden,
wie eine andere, die die Tötung auch während der Geburt ausführt. Gerade von
dem Standpunkt aus, der abnorme Zustand bei der Geburt sei das Mildernde,
wird sich Niemand mit diesem Ergebnis befreunden können.
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bereits geboren haben, wird dieses Bewußtsein und selbst die Möglich¬
keit einer richtigen Vorstellung regelmäßig fehlen. Dazu kommt, daß
die Geburt des Kindes, dessen Tod die Mutter beschlossen hat, die
Situation nach manchen Richtungen hin doch auch zu dessen Gunsten,
also zu Ungunsten der Ausführung verschiebt Die leibliche Gegen¬
wart des hilflosen Nengeborenen z. B. birgt ein Motiv zu seiner
Schönung in sich >); daß es überwunden wurde, bringen wir offenbar
zu Ungunsten der Mutter in Anschlag, auch wenn der Tötungsent¬
schluß vor der Geburt gefaßt wurde. Es ist ebenso berechtigt, auf
dieses Moment überhaupt Rücksicht zu nehmen, als es unberechtigt wäre,
dabei auf den abnormalen Zustand der Täterin keine Rücksicht zu
nehmen und es also voll in Rechnung zu ziehen. Denn wir können eben
nicht mehr feststellen, als daß auch diese Hemmung von der unter
dem Einfluß der Geburt stehenden Täterin überwunden wurde. Daß
dasselbe auch bei normalen Zustand eingetreten wäre, wird umso un¬
wahrscheinlicher, als die Hemmungen sich mehren und als die Hand¬
lung als etwas ungewöhnliches erscheint. Wie schon oben bemerkt,
kann das Strafrecht auf die bloße Möglichkeit der Ausführung keine
Rücksicht nehmen. Aber der Abstand zwischen Entschluß und Aus¬
führung, bloßer Vorstellung und Wirklichkeit ist ein so großer, daß
auch die allgemeine Beurteilung nützlicher und schädlicher Hand¬
lungen auf diese Möglichkeit nicht oder nur in sehr bescheidenem
Maß Rücksicht nimmt und dem Zustand des Handelnden zur Zeit der
Ausführung des Entschlusses große Bedeutung beilegt. Nehmen wir
an, A. und B. beschließen unter ganz gleichen Umständen je eine große
Stiftung zu wohltätigem Zweck, beide führen ihren Entschluß auch
aus, aber während bei A. keinerlei bemerkenswerte Veränderung ein¬
trat, hat bei B. ein großer Glücksfall seine Geberlaune sehr erhöht
oder es war der Unterzeichnung der Stiftungsurkunde ein keineswegs
alkoholfreies dinner vorangegangen. Das allgemeine Urteil wird die
Tat des A. höher einschätzen, als die des B. und wird den A. höher
als den B. bewerten, weil sich eben die Erwägung unabweisbar auf¬
drängt: „Wer weiß, ob der B. die Stiftung wirklich durchgeführt hätte,
wenn der Glücksfall oder der Alkohol seinem altruistischen Entschluß
nicht zu Hilfe gekommen wäre?“ Und es ist nicht hämische Mi߬
gunst, die so urteilen läßt, sondern dieses Urteil ist durch ungezählte
Erfahrungen begründet Etwas tun wollen und es ausführen, sind
eben zwei verschiedene Dinge. So mancher faßt einen hochherzigen
1) Wenn freilich angenommen wurde, ein neugeborenes Kind könnne der
Mutter nur Mitleid einflößen (so z. B. die Verfasser des Berner St. G. v. 1S23,
vgl. NA 7, 45 ff), so ist das ganz falsch.
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X. Gleispach
Entschluß, aber wenn es ernst wird, kann er sich von seinem Geld
doch nicht trennen. Schließlich pflegen die meisten Menschen den
unmittelbaren Genuß dem anderen vorzuziehen, der darin besteht, das
Geld zur Linderung der Leiden von Mitmenschen zu verwenden. —
Es ergibt sich also folgendes: Auch wenn der Tötungsentschluß in
einem Zeitpunkt gefaßt wird, der einen Einfluß des abnormen Zu¬
standes der Gebärenden ausschließt, erfordert dieser Zustand eine
mildere Behandlung der Täterin, weil die Ausführung in diesen Zu¬
stand fällt Der Entschluß und der Zustand, in dem er gefaßt wird,
sind nicht schlechthin das Maßgebende, sondern die Ausführung be¬
hauptet neben diesen ihren Platz. Um im Anschluß an die von Groß
gebrauchte Formulierung zu sprechen: Die zur Tötung treibenden
Motive sind zwar beim Zustandekommen des Entschlusses noch nicht
mit abnormer Kraft ausgestattet, aber es fehlen da auch noch
Hemmungen, die erst bei der Ausführung auftreten, „die normalen
Instinkte auf Beschützung des Neugeborenen“ werden erst bei der
Ausführung überwältigt, da der abnorme Zustand bereits eingetreten
ist. Allerdings gibt es auch einen Instinkt auf Beschützung des noch
ungeborenen, zu gebärenden Kindes, aber der kann zumindest zur Zeit
des Eutschlusses wesentlich schwächer gewesen sein. Ein Gesamtbild
von Charakter und Gefährlichkeit des Täters gewährt nur die Rück¬
sichtnahme auf Entschluß und Ausführung und den psychischen
Zustand bei beiden. Wir können nicht wissen, ob schon beim Zu¬
standekommen des Entschlusses der ganze Inhalt der Persönlichkeit
ausgeschöpft wurde, alle Apperzeptionsmassen, die Einfluß gewinnen
können, sich betätigt haben. Bei der Ausführung aber stehen alle
Hemmungen unter dem Einfluß des abnormen Zustandes, dessen Ein¬
tritt vom Willen der Täterin unabhängig ist und dessen Wirkungen sie
nicht voraussehen kann.')
3. Die bisherigen Ausführungen haben sich auf dem Boden der
Auffassung zu bewegen versucht, die oben durch die Sätze 1 und 2
gekennzeichnet wurde. Doch auch sie dürfte nicht haltbar sein. Um
die Ergebnisse möglichst sicherzustellen, sei auch hier der bisher ein¬
geschlagene Gang der Untersuchung eingehalten. Wir nehmen also
zunächst den abnormen Zustand der Gebärenden als das Mildernde
schlechtweg an und fragen: Trifft dann die schon mehrfach erwähnte
psychologische Formulierung der Gründe für die milde Behandlung
der Kindesmörderin zu? Schon aus den früheren Ausführungen er-
1) Einen weiteren wichtigen Grund für die Bedeutung des Zustandes bei der
Ausführung siehe unteu am Schluß des folg. Absatzes 3.
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gibt sieb zum Teil, daß diese Frage nicht bejaht werden kann. Zu¬
nächst: wenn der abnorme Zustand bei der Geburt das Mildernde
schlechtweg ist, warum wird dann die Furcht vor Not und Schande
in die Formel überhaupt aufgenommen? Der Annahme, daß der
Zustand der Gebärenden nur dann ein abnormer sei, wenn sie Not
oder Schande zu fürchten hat, — dieser Annahme würde jede Grund¬
lage fehlen, und es läßt sich auch nicht behaupten, daß die Furcht
vor Not oder Schande bei jedem Eindesmord eine Bolle spiele.
Doch sehen wir davon ab: man kann ja etwa annehmen, es handle
sich um einen Satz, der bloß für die Kegel der Fälle gelten solle,
für die ja die Annahme des Einflusses dieser Furcht zutrifft. Oder
man kann den Satz etwas verallgemeinern, so daß er sich auf die
zur Tötung treibenden Vorstellungen überhaupt bezieht Die psycho¬
logische Begründung der Strafmilderung soll dann in der Formel
ausgedrückt sein, daß diese Vorstellungen durch den Geburtsakt mit
abnormer Kraft ausgestattet werden. Diese Formel ist nicht von Groß
zuerst aufgestellt worden; wir begegnen ihr in der kriminalistischen
Literatur des öfteren und namentlich Liszt bedient sich ihrer regel¬
mäßig. 1 ) Ich konnte nicht feststellen, woher sie stammt, hingegen
scheint mir allerdings festzustehen, daß sie in der maßgebenden
medizinischen Literatur 2 ) eine hinreichende Grundlage nicht besitzt.
Direkt läßt sich das nicht naebweisen und auch der indirekte Nach¬
weis muß unvollständig bleiben, weil es eben an der notwendigen
Voraussetzung, der genauen Kenntnis des Einflusses der Geburt auf
die Psyche der Gebärenden, noch fehlt. Immerhin wird vielleicht
1) Vergleichende Darstellung 5, 117: „Die weitgehende Berücksichtigung
des Ehrennotstandes bei der Kindestötung hat nur darum Eingang in die Gesetz¬
gebung gefunden, weil man annahm und auch heute noch annimmt, daß die
motivierende Kraft der Vorstellungen, die den Ehrennotstand begründen, unter
dem Einfluß des Gebäraktes wesentlich gesteigert werde.“ (ählich S. 119 und Lehr¬
buch S. 311.) Liszt sicht in dieser Annahme den richtigen legislativen Grundge¬
danken. Daß er nur den Ehrennnotstand in Rücksicht zieht, Groß auch wirtschaft¬
liche Not, kommt hier nicht in Betracht Im Übrigen stimmen beide überein in
der psychologischen Formulierung, obwohl Groß erklärt, das Mildernde ist nach
dem heutigen Stand der Lehre und Gesetzgebung der abnorme Zustand der Ge¬
bärenden, Liszt aber „das entscheidende Gewicht“ auf den Ehrennotstand legt
Um jedes Mißverständnis auszuschließen, möchte ich nochmals betonen, daß ich
hier nur gegen die Formulierung des Gedankens polemisiere, den Groß als den
allgemein herrschenden betrachtet.
2) Vgl. die Literaturangaben unten bei II. a, die Arbeiten von Kr aff t-
Ebing (Lehrbuch der gerichtl. Psychopatologie, Beitrag zur Lehre vom transi¬
torischen Irresein, die Lehre von der Mania transitoria) ferner die von Roustan
und Sigwart angeführte Literatur.
Archiv für Kriminal an thropolog io ■ 37. ßd. 16
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X. Gleispach
folgendes gesagt werden dürfen. Eine Verstärkung der zur Tötung
des Kindes treibenden Kraft verschiedener Vorstellungen mag sogar
regelmäßig schon beim Herannahen der Geburt eintreten und beim
Eintritt des Ereignisses noch erhöht werden. Schon der Umstand,
daß diese Erscheinung vor der Geburt beginnt, läßt deutlich erkenne^
daß sie keine Wirkung des Gebäraktes ist. Wenn hier etwa die
Furcht der Schwangeren vor der Schande zunimmt, so ist das die
Wirkung des Herankommens jenes Ereignisses, mit dem die ge¬
fürchteten Folgen verbunden sind, aber es hat dies mit der Eigenart
des Geburtsvorganges nichts zu tun. Wer sich etwa auf einem
sinkenden Schiff befindet, wird sich umsomehr fürchten, je mehr sich
das Schiff mit Wasser füllt und ebenso der zum Tode Verurteilte,
je näher der Tag der Hinrichtung kommt. Kurz: es handelt sich
hier nicht um eine Wirkung der Geburt als eines physiologischen
Vorganges, gerade das ist aber offenbar gemeint, wenn man von den
erschütternden und schwächenden Einflüssen bei dem Geburtsvorgang
spricht, von dem abnormen Zustand der Gebärenden. Dieser Zustand
ist ein solcher der verminderten Zurechnungsfähigkeit oder kommt
dem doch nahe. Daß die psychologische Bedeutung der verminderten
Zurechnungsfähigkeit allgemein in einer Verstärkung der motivierenden
Kraft jener Vorstellungen gelegen sei, die zur Handlung treiben, wird
niemand behaupten wollen. Es müßte also darin eine Besonderheit
gerade der Wirkungen des Gebäraktes gefunden werden, aber dieser
Annahme steht die Tatsache entgegen, daß die Einflüsse des Gebär¬
aktes auf den Geisteszustand der Gebärenden keine einheitlichen und
gleichmäßigen sind und deshalb auch das Bild der Abnormität ein
recht verschiedenartiges ist Dafür ist nichts so bezeichnend, als die
Einteilung der verschiedenen Zustände in Erschöpfungszustände und
Erregungszustände. Die ersteren werden nur beim Kindesmord durch
Unterlassung eine Rolle spielen und ihr, ganzes Wesen spricht da¬
gegen, daß sie die Kraft der maßgebenden Vorstellungen zu steigern
vermöchten. Vielmehr wird anzunehmen sein, daß die Wirksamkeit
der Hemmungsvorstellungen wesentlich beeinträchtigt ist und die zur
Rettung des Kindes notwendigen Handlungen umso leichter unter¬
bleiben als jede Vorstellung einer Tätigkeit wegen der körperlichen
Ermattung mit Unlust betont ist Wenn nun gesagt werden sollte,
die angefochtene Formel wolle ja auch nichts anderes zum Ausdruck
bringen, als daß der psychologische Gesamteffekt des Gebäraktes
darin bestehe, der Vorstellung von der Tötung des Kindes das Über¬
gewicht zu geben, so wäre vorerst noch immer der Vorwurf ungenauer
Ausdrucksweise zu erheben. Es muß aber dann auch bezweifelt
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werden, ob die Formel mit dieser Bedeutung irgend etwas erklärt
Doch fragen wir weiter, wie es sich bei den Erregungszuständen
verhält. Der medizinischen Literatur entnehmen wir zunächst, daß
der Gemütsaufregung durch die Gedanken an Not und Schande
ziemlich allgemein ein Einfluß auf das Zustandekommen der Er¬
regungszustände zugeschrieben wird, wenn auch die Bedeutung dieses
pathogenetischen Momentes verschieden bewertet wird. Das schließt
nun allerdings nicht aus, daß anch umgekehrt die motivierende Kraft
dieser Vorstellungen gesteigert werde und es soll überhaupt diese
Möglichkeit nicht verneint werden. Die erhöhte Reizbarkeit des Nerven¬
systems und namentlich die Trübung des Bewußtseins werden den Boden
abgeben, auf dem der Tötungsentschluß leichter zustande kommt, die
Hemmungsvorstellungen sein Zustandekommen oder seine Ausführung
nicht zu hindern vermögen, weil ihre Betätigung gehemmt ist
Die größte Bedeutung dürfte aber der Wirkung der Geburts¬
schmerzen zuzusprechen sein. Allgemein bekannt ist, daß namentlich
ungebildete Personen geneigt sind, sich das Unlustgefühl eines eben
erlittenen oder noch fortdauernden Schmerzes durch scheinbar sinn¬
loses Wüten gegen leblose Gegenstände oder nicht vernunftbegabte
Wesen erträglicher zu machen, wenn sie in diesen die nächste Ur¬
sache des Schmerzes zu erblicken glauben. Eine ähnliche Wirkung
erzeugt der Geburtsschmerz auch dann, wenn alle äußeren begleitenden
Umstände ihrem Auftreten ungünstig sind. Von vorübergehender
aber heftiger Abneigung der Mutter gegen das neugeborene Kind und
auch seinen Erzeuger dürfte jede erfahrene Hebamme zu berichten
wissen. Wigand 1 ) hat „mehrere sehr gebildete brave Frauen gekannt,
die im Arger oder in der Wut über die ausgestandenen heftigen Ge¬
burtsschmerzen stundenlang nach ihrer Entbindung weder ihren sonst
so geliebten Gatten noch das sehnlich gewünschte Kind vor Augen
haben mochten“. Schließlich wissen wir, daß sehr heftige Schmerzen
bei der Geburt transitorische Psychosen mit Neigung zu impulsiven
Gewaltakten hervorrufen können und daß diese Gewaltakte sich mit
Vorliebe gegen das neugeborene Kind richten. Diese Neigung läßt
sich umso sicherer auf die Geburtsschmerzen zurückführen, als auch
andere heftige Schmerzen bei entsprechender, namentlich hysterischer
Veranlagung solche Psychosen hervorrufen können. 2 ) Freilich wird
1) Die Gebart des Menschen 1, 81 angef. von Fabrice a. a. 0. S. 306.
Vgl. Roustand (a. a. 0. 26 ff.) mit einem trefflichen Zitat aas Marcö, Traite de la
folie des femmes enceintes et des nouvelles accouchßes.
2) Kraepelin Psychiatrie S. 35; Roustan, a. a. 0. S. 45ff., Dörffler,
aber anch Brouardel, l’infanticide 159ff.
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X. Gleispach
nun in den schwersten der zuletzt besprochenen Fällen die Zurech¬
nungsfähigkeit überhaupt aufgehoben sein. Aber aus der ganzen eben
vorgeführten Tatsachenreihe darf doch der Schluß abgeleitet werden,
daß unter dem Einfluß heftiger Geburtsschmerzeu ein mehr oder
minder kräftiger Impuls zur Tötung des Kindes entstehen kann.
Ungünstige äußere Umstände bei der Geburt, vielleicht auch die Furcht
vor Not und Schande, mögen dieses Ergebnis fördern. Wird die
Tötung rein triebartig ausgeführt, so muß auch dann, wenn Furcht
vor Not und Schande ein Motiv abgeben könnten, die Verantwortlich¬
keit der Mutter verneint werden. Aber für alle Fälle der bloß ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit sehen wir neben dieser Furcht als
Ergebnis des physiologischen Aktes ein neues Moment auftreten, das
auf die Tötung hinwirkt. Hier kann in keinem Sinne davon ge¬
sprochen werden, daß die Furcht vor Not und Schande mit abnormer
Kraft ausgestattet wird; vielmehr macht sich neben ihr eine neue
Kraft geltend. Darin liegt zugleich ein weiterer Grund dafür, daß
der Einfluß des Geburtsvorganges die Berücksichtigung des Gesetz¬
gebers verdient, wenn auch der Tötungsentschluß vor Beginn der
Geburt gefaßt wurde.*)
4. Es erübrigt noch, zu dem Satz Stellung zu nehmen, der
abnorme Zustand der Gebärenden sei „das mildernde“ schlechthin.
Diese Annahme findet in der geltenden Gesetzgebung keine Stütze
und angesichts der Verschiedenheit in der Gesetzgebung ist es über¬
haupt ein unausführbares Beginnen, einen allgemeinen und aus¬
schließlich maßgebenden Grund für die Privilegierung der Kindestötung
aufstellen zu wollen. Gerade das zeigt die „Vergleichende Dar¬
stellung“ jetzt mit vollster Deutlichkeit . T ) Für eine nicht unbedeutende
Gruppe von Gesetzen läßt sich nicht einmal eine „Mitwirksamkeit“
des abnormen Zustandes behaupten, denn hier wird, sofern nur das
Motiv der Ehrenrettung zur Tötung bestimmte, nicht bloß die Mutter,
sondern jeder in engerem oder weiterem Umfang zur Familie gehörige
privilegiert und nach manchem dieser Gesetze ist die Milderung für
den Dritten ganz dieselbe wie für die Mutter (z. B. Teßin 328).
Aber auch dort, wo zwar auch das genannte Motiv unmittelbar oder
mittelbar zum Tatbestand der Kindestötung gefordert, gleichwohl aber
1) Oder vielleicht wurde besser gesagt: „ein Tötungsentschluß“, denn bei
dem Auftreten des im Text erwähnten Faktors wird es sehr zweifelhaft, ob man
nicht das Zustandekommen eines neuen Entschlusses anzunchmen habe.
2i Vgl. Liszt a. a 0. 110 ff und 116. Wenn er die im Text weiter be¬
tonten Unterschiede nicht so sehr hervorhebt, so liegt das daran, daß er nur den
Entwicklungsgang der Gesetzgebung im Allgemeinen herausarbeiten will.
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Über Kindesmord.
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nur die Mutter milder behandelt wird, kann man nicht sagen:
das mildernde ist der abnorme Zustand. Groß beruft sich da¬
rauf, daß niemand dem Mädchen die Milderung zubilligen wird,
das die Geburt ihres Kindes fünf Jahre verheimlichen konnte,
und, als Entdeckung jetzt erst drohte, das Kind jetzt tötet. Hier
wären verschiedene Fragen auseinanderzuhalten, vor allem, ob dem
Mädchen jede Milderung versagt sein soll oder bloß die weitestgehende,
die wir bei der Kindestötung antreffen und ferner, ob das „Niemand“
besagen soll, die communis opinio oder jedes Gesetz verweigere die
Milderung. Bleiben wir bei den letzteren Alternativen. Gewiß läßt
kein Gesetz ') dieses Mädchen der besonders milden Strafe der Kindes¬
tötung teilhaftig werden. Aber ebensowenig geschieht dies nach den
Gesetzen, die jetzt im Vordergrund der Betrachtung stehen, etwa in
dem Fall, wenn ein Mädchen ihr Kind tötet zwar offenbar in einem
durch die Geburt verursachten abnormen psychischen Zustand, aber
nicht um ihre Ehre zu retten, die sie vielleicht nicht mehr zu verlieren
hat. Dennoch wäre es unrichtig zu sagen: Sofern diese Gesetze die
Kindestötung überhaupt milder bestrafen, ist der Ehrennotstand das
Mildernde. Vielmehr scheint die Wahrheit in der Mitte zu liegen:
das Mildernde ist das Zusammentreffen von abnormen Zustand und
Ehrennotstand. Als mildernd erscheint dem Gesetzgeber Beides, nur
die Vereinigung aber scheint ihm die besonders milde Behandlung zu
rechtfertigen. Dabei spielt wohl die Erwägung mit, daß es sich nicht
bloß um ein zeitliches Nebeneinander handelt, sondern jedes der
beiden Momente auf das andere steigernd einwirkt Ursache der
Milderung ist also hier der Ehrennotstand so gut, wie der psychische
Zustand der Gebärenden, denn das Fehlen des einen schließt die
Milderung ebenso aus, wie der Mangel des anderen. 1 2 )
Nur für jene Gesetze, die ohne Rücksicht auf das Motiv jeder
1) Auch nicht die Gesetze der südromanischen Gruppe, denn auch ihnen
ist Kindesmord nur die Tötung eines Neugeborenen. Sollten aber nicht diese
Gesetze folgerichtig auch das Mädchen in dem angeführten Beispiel in ganz
gleicher Weise priviligieren? Hier gibt es nur zwei Alternativen: Entweder
hat der Gesetzgeber den Zeitraum kurz nach der Geburt nur deshalb in den
Tatbestand aufgenommen, weil er von der Annahme ausging, nachher müsse
die Geburt bekannt werden und dann wäre nach der Absicht des Gesetzgebers
in der Tat auch dieses Mädchen der Privilegierung würdig. Oder aber es gibt
eben außer abnormem Zustand der Gebärenden und Ehrennotstand noch ganz
andere Gründe für die milde Behandlung der Tötung gerade eines neugeborenen
Kindes.
2) Geradeso Liszt a. a. 0. S. 117, der ein ganz ähnliches Beispiel wie
Groß bringt, auf das wir unten noch zu sprechen kommen.
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X. Gleisfach
Mutter die Milderung zuerkennen, die bei der Geburt ihr Kind tötet,
sei es ein uneheliches oder ein eheliches, — nur für sie scheint zu¬
nächst der abnorme psychische Zustand bei der Geburt das allein
Maßgebende zu sein. Wo nur die Tötung des unehelichen Kindes
milder behandelt wird, trifft das auch noch nicht zu. Doch auch für
die ersteren Gesetze ist m. E. nur scheinbar bloß ein Grund der
milden Behandlung vorhanden, andere Gründe, die sich vorzugsweise
aus der Beschaffenheit des Objektes ergeben, treten noch hinzu. Ob
der Gesetzgeber in der Begründung seiner Vorschläge auf sie Bezug
genommen hat oder nicht, ob er sich ihrer überhaupt bewußt war,
darauf kommt es hier nicht an. In der Literatur wird des öfteren auf
sie hingewiesen *) und ich kann darum auch etwa nur für das Gebiet
des deutschen und österreichischen Rechtes den Bestand einer communis
opinio über die Gründe der milden Behandlung der Kindesmörderin
nicht gelten lassen. 2 ) So bat man nicht mit Unrecht auf den nahen
physiologisch-psychischen Zusammenhang zwischen der Mutter und
dem Neugeborenen verwiesen, vermöge dessen die Mutter in dem
Kind eher einen losgelösten Teil von sich, als eine selbständige
Persönlichkeit erblicke, und auf das unentwickelte Bewußtsein des
Neugeborenen. Wer wollte leugnen, daß die Art der Fortpflanzung
für das primitive Denken eine Stütze bietet für jene Auffassung der
Stellung der Eltern gegenüber ihren Kindern, die in dem jus vitae
ac necis ihre schärfste Ausprägung erfahren, sich dann zwar allmählich
abgeschwächt hat, aber noch lange nicht verschwunden ist? So sehr
wir auch heute diese Auffassung verwerfen, so darf man darüber
doch nicht vergessen, daß die Kultur sie am wenigstens dort über¬
wunden hat, wo Not und Unbildung herrseben, daß ihr der Zeit¬
punkt unmittelbar nach der Geburt am günstigsten ist und daß sie
die Tat der Mutter in milderem Licht läßt, verminderte Gefährlichkeit
offenbart im Vergleich zu anderen Tötungen. In derselben Richtung
wirken die Unmöglichkeit einer Gegenwehr seitens des Neugeborenen
und überhaupt die ganz außergewöhnliche Leichtigkeit der Ausführung.
Sehr oft, vielleicht in der Mehrzahl der Fälle wird der Tod des Kindes
durch eine Unterlassung herbeigeführt Schließlich ist nicht zu ver¬
kennen, daß der wirtschaftliche und soziale Wert eines Neugeborenen
geringer erscheinen kann als der eines heranreifenden oder erwachsenen
Menschen. Das gilt ganz allgemein, in erhöhtem Maß aber dann
wenn man gerade die Neugeborenen ins Auge faßt, die in der Regel
1) Vgl. etwa Merkel in Holtzendorffs Rechtslexikon 2, 8 ff.
2) Vgl. z. B. einerseits die Lehrbücher von Binding, v. Liszt, anderer¬
seits Wachenfcld in der Encyklopaedie von Holtzendorff-Kohler 2 295.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Über Kindesmord.
247
das Opfer unseres Verbrechens werden, und die sie umgebenden Ver¬
hältnisse und die gebotenen Entwicklungsmöglichkeiten. l ) Gewiß
beruht die Zukunft jedes Gemeinwesens auf dem jungen Nachwuchs,
für die Gegenwart aber und unmittelbar nach der Geburt ist das
Kind doch nur eine oft sehr vage Hoffnung und die Gegenwart ist
für primitives Denken und Fühlen stärker als die Zukunft. Das
Neugeborene hat noch keinen Platz im Leben eingenommen, keine
Beziehungen angeknüpft, sein Verschwinden hinterläßt darum auch
keine Lücke; es ist auch noch nicht der Gegenstand irgendwelcher
wirtschaftlicher Aufwendungen geworden, die mit seinem vorzeitigen
Tod zu nutzlosen Opfern würden, es ist schließlich ein Lebewesen,
das nach seinem ersten Gebahren unter der Stufe der höher organi¬
sierten Säugetiere zu stehen scheint und in dem nur mit Hilfe der
Phantasie die Keime der Entwicklung zu dem am höchsten organi¬
sierten Lebewesen erkannt werden können. — Aus den vorstehenden
Ausführungen soll nicht etwa der Schluß gezogen werden, es sei
grundsätzlich und allgemein den Neugeborenen wegen objektiver
Minderwertigkeit nur ein geringerer strafrechtlicher Schutz einzu-
räumen; ebensowenig soll behauptet werden, daß etwa die Kindes¬
mörderinnen diese Erwägungen anstellen. Trotzdem lassen sie aber
erkennen, daß die Strafwürdigkeit der Tötung eines Neugeborenen
eine verminderte ist Für sich allein reichen die angeführten Momente
nicht aus, die weitgehende Milderung der Kindestötung zu recht-
fertigen, wohl aber im Zusammentreffen mit anderen, namentlich mit
dem durch die Geburt erzeugten abnormalen Zustand der Mutter.
1) Als drastische Illustration diene ein Schwurgerichtsfall aus Erain: Eine
völlig vermögenslose Dienstmagd vom Lande, die nicht einmal den Vater des von
ihr außerehelich geborenen Kindes namhaft zu machen wußte, war des Kindes¬
mordes angeklagt und vollkommen geständig. Die Beratung der Geschworenen
währte kaum fünf Minuten, dann verkündete der Obmann den Wahrspruch:
„12 Nein“. Nach dem in völlig autentischer Weise wiedergegebenen Bericht eines
der Geschworenen spielte sich die Beratung so ab: Zuerst wurde etwas „herum¬
geredet“, dann meinte einer der Geschworenen, für das arme Kind wäre es so
doch noch am besten gewesen. Diese Erwägung schlug so völlig durch, daß
der einstimmige Wahrspruch Bofort zu stände gekommen war! Nebstbei bemerkt,
auch ein klassischer Beitrag zu dem Kapitel: Fehlsprüche der Geschworenen!
Um freilich dem Gedankengang der Geschworenen so weit als möglich gerecht
zu werden, muß man sich auch das schreckliche Elend solcher Kinder ausmalen
können, die schließlich, — wie der so bezeichnende technische Ausdruck lautet, —
einer Gemeinde zur Last fallen. Ob bei der Entscheidung der Geschworenen
auch die Erwägung mitgespielt hat, daß die Angeklagte durch ihre Tat auch
die Gemeinde von einer ihr drohenden Last befreit habe, — das bleibe unent¬
schieden.
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248
X. Gleispach
Damit ist auch der naheliegende Einwand erledigt, daß folgerichtig
auch dritte Personen privilegiert werden müßten, wenn der Angriff
gegen ein neugeborenes Kind gerichtet war und ebenso der weitere
Einwand, daß dieselben Momente auch bei der Tötung von Kindern
zu berücksichtigen wären, deren Leben bereits nach Wochen oder
Monaten zählte. In diesem Fall sind übrigens mehrere der an¬
geführten Umstände überhaupt nicht mehr vorhanden und die anderen
nur in vermindertem Maß.
II.
Um noch einmal auf den Ausgangspunkt dieser Untersuchung
zurückzukommen, so befinde ich mich mit Groß insofern in vollem
Einklang, als ich auch der Ansicht bin, es sei „sehr fraglich“, ob die
Lehre vom sogenannten Ehrennotstand zur Begründung der Milderung
hinreiche; d. h. ich zweifle nicht im Mindesten daran, daß der Ehren¬
notstand allein ganz und gar nicht ausreicht und dies dürfte auch
dem Inhalt nach die Ansicht von Groß sein. Hingegen glaube ich
gezeigt zu haben, daß andere Momente vorhanden sind, die in Ver¬
bindung mit Ehrennotstand oder materieller Not weitestgehende Mil¬
derung der Strafe erfordern.
1. Da sind zunächst alle jene Milderungsgründe, die ich kurz
als solche bezeichne, die sich aus der Eigenart des Verbrechensobjektes
ergeben. Sie sind immer gegeben, bei der Tötung des ehelichen, wie
des unehelichen Kindes. Man wende nicht ein, daß ihnen der
Schärfungsgrund der Deszendententötung gegenüberstehe. Auch die
mütterliche Liebe stellt sich nicht mit einem Schlag ein, sie bedarf
auch der Zeit, des Verkehres mit dem Kind, um sich zu entfalten 1 )
und auch alle die näheren Umstände bei den Geburten, nach denen
sich Kindesmorde ereignen, pflegen dieser Entfaltung keineswegs
günstig zu sein.
2. Da ist sodann der abnorme psychische Zustand der Ge¬
bärenden. Daß er berücksichtigt werden muß — mag nun der Tötungs¬
entschluß schon vor seinem Eintritt oder unter seinem Einfluß gefaßt
worden sein — dürfte feststehen. Aber Umfang und Maß der Be¬
deutung, die ihm einzuräumen sind, und die legislativ-technische Be¬
handlung, alles dies hängt ab von Vorfragen, die zum Teil ganz der
Psychiatrie angehören, zum Teil auf juristisch-psychiatrischem Grenz¬
gebiet liegen und heute leider noch vielfach ungeklärt sind. Der
Geburtsvorgang kann die normalen psychischen Funktionen so sehr
1) Ebenso Liszt a. a. 0. 112.
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Über Kindesmord.
249
beeinträchtigen, daß schwere Bewußtseinsstörungen oder transitorische
Psychosen eintreten. Hier ist der Geisteszustand der Gebärenden
ein pathologischer, die schweren Fälle gehören gewiß in das Gebiet
der Zurechnungsunfähigkeit. Es darf wohl als feststehend angenommen
werden, daß solche die Zurechnungsfähigkeit aufhebende Zustände
auch ohne ererbte Belastung, ohne hysterische oder epileptische Basis
durch ungewöhnlich schwere Geburt, abnorm starke Geburtsschmerzen
in Verbindung mit heftiger Gemütsbewegung (heimliche Geburt, Furcht
vor Not und Schande) hervorgerufen werden können. Immerhin sind
solche Fälle wohl sehr selten. Psychische Störungen leichteren Grades,
die immerhin noch als akute Psychosen, also pathologische Er¬
scheinungen aufzufassen sind, werden nicht allgemein als Fälle der
Zurechnungsunfähigkeit, sondern auch als solche der verminderten
Zurechnungsfähigkeit betrachtet Dem letzteren Gebiet gehören wohl
zweifellos jene Trübungen des Bewußtseins und Aufregungszustände
an, die namentlich bei schweren Geburten dann auftreten werden,
wenn sie von heftigen Gemütsbewegungen begleitet sind, ohne daß
hier noch von Psychosen gesprochen werden könnte. Des weiteren
dürfte es wohl feststehen, daß — vielleicht abgesehen von höchst
vereinzelten Fällen, in denen die Geburt nach einer nicht beschwer¬
lichen Schwangerschaft ganz ungewöhnlich rasch und leicht verläuft
und die Gebärende geradezu ein schwer erregbares Nervensystem
besitzt — der Geburtsvorgang auch unter normalen Verhältnissen den
geistigen Zustand der Gebärenden nicht ganz unberührt läßt. Ob
aber diese ganz regelmäßig eintretende Beeinträchtigung, diese so¬
zusagen normale Abnormität des psychischen Zustandes der Gebärenden
wesentlich genug sei, um unter den Begriff der verminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit eingereiht zu werden und erhebliche Strafmilderung
zu begründen, ist eine offene Frage. Man ist vielfach geneigt, die
zweite Frage zu bejahen, die dahin geht, ob die allgemeine Annahme
verminderter Zurechnungsfähigkeit und weitgehende Strafmilderung
gerechtfertigt sei, sobald nicht mehr normale Verhältnisse vorliegen.
Dabei werden nun freilich diese der unehelichen Geburt meist gleich¬
gehalten, was offenbar unrichtig ist. Wann kann man von abnormalen
Verhältnissen sprechen? Drei Gruppen von Tatsachen, die sodann
auch die Wirkung des Geburtsaktes auf die Psyche der Gebärenden
wesentlich beeinflussen, lassen sich unterscheiden: erbliche Belastung
der Schwangeren, hysterische, epileptische Veranlagung; große körper¬
liche Beschwerden während der Schwangerschaft und schwerer Verlauf
der Geburt, namentlich besonders schmerzhafte Wehen, großer Blut¬
verlust; endlich heftige Gemütsbewegungen. Es leuchtet ohne weiteres
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250
X. Gleisfach
ein, daß diese Tatsachen durch das Verheiratetsein der Mutter eben¬
sowenig ausgeschlossen sind, als ihr Vorhandensein durch den Mangel
des Ehebandes bedingt wird. Die erste ist ganz unabhängig vom
Zivilstand der lautier, die zweite unmittelbar nicht abhängig, von der
dritten läßt sich nur ein sehr häufiges Zusammentreffen mit dem
Mangel des Ehebandes behaupten. Maßgebend ist eben in vielen
Richtungen nicht der Zivilstand als juristische Tatsache, sondern das
tatsächliche Verhältnis, der Umstand, ob sich die Mutter der Für¬
sorge und Unterstützung des Erzeugers des Kindes oder anderer ihr
nahestehender Personen erfreut oder nicht. *) Allerdings läßt sich
nicht verkennen, daß Tatsachen verschiedener Gruppen aufeinander
einwirken. Schwere Sorgen wegen der bevorstehenden Geburt können
den Verlauf der Schwangerschaft beeinflussen, ebenso den Verlauf des
Geburtsaktes selbst. Nimmt man an, daß solche Aufregungen oder
gemütliche Depressionen bei unehelich Gebärenden die Regel bilden,
so ergibt sich hier allerdings eine bedeutsame Stütze für die Annahme
regelmäßiger und erheblicher Beeinträchtigung des normalen Geistes¬
zustandes. Ein Umstand scheint mir hier aber noch besonderer
Hervorhebung wert und'bedürfte wohl auch eingehender Untersuchung.
Der Gemütszustand der verlassenen, verängstigten, zur Verheimlichung
der Schwangerschaft genötigten Geschwängerten scheint sowohl das
Zustandekommen etwas frühzeitiger Geburten, als auch einen raschen,
oft geradezu sturzartigen Verlauf der Geburt zu begünstigen. Der
damit verbundene große Blutverlust kann die des passiven Kindes¬
mordes Angeschuldigte allerdings wesentlich entlasten, anders aber
dürfte es sich verhalten, wenn aktive Kindestötung vorliegt. Der
Intensität der Geburtsschmerzen wird eine erhebliche Bedeutung für
die Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit zuerkannt werden
müssen und wenn diese Intensität und ihre Dauer bei den erwähnten
Geburten regelmäßig eine geringere ist, so scheint hier ein Umstand
gegeben, der zu Ungunsten der Mutter sprechen würde. Die die
Zurechnungsfähigkeit vermindernde Wirkung der Gemütserregungen
würde gleichsam paralysiert dadurch, daß die physiologische Wirkung
dieser eine solche ist, die andere Beeinträchtigungen der Zurechnungs¬
fähigkeit hintanhält
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Zurechnungsfähigkeit der
1) Die Furcht vor Schade wird allerdings oft nur durch die Ehe mit dem
Erzeuger des Kindes behoben werden können, doch gilt auch dies nicht all¬
gemein; in manchen Ländern und Bevölkerungsschichten hat schon das Ver¬
löbnis mit dem Schwängerer die Wirkung, das schwangere Mädchen vor jedem
Vorwurf zu schützen.
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Über Kindesmord.
251
Kindesmörderinnen im Besonderen zu untersuchen. Dieser Weg hat
gewiß seine Berechtigung, aber zu abschließenden Ergebnissen wird
man erst dann gelangen können, wenn der Einfluß des Geburtsvor¬
ganges auf den Geisteszustand der Gebärenden Überhaupt und dann
die Wirksamkeit besonderer Umstände auf Grund umfassendster Be¬
obachtungen klargelegt sind. Daran fehlt es heute noch. Ich
würde es nicht wagen, dies auszusprechen, wenn ich nicht bei einem
Psychiater mehrfache und aus der jüngsten Zeit stammende Be¬
stätigung gefunden hätte. Im Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie
von Hoche schreibt Aschaffenburg bei Besprechung des Geistes¬
zustandes der Gebärenden: „Wünschenswert wäre es aber, daß ein
psychiatrisch geschulter Frauenarzt vor allem die bei normalen, ehe¬
lichen sowie unehelichen Geburten auftretenden Zustände genauer
beobachtete und analysierte, um eine Grundlage zur Beurteilung
besonders auffälliger Erregungen zu schaffen, eine Grundlage, die, so
notwendig sie ist, vorläufig noch fehlt“ und an anderer Stelle wird
dieser Wunsch wiederholt, ü Dieser Grundlage bedarf nicht nur der
Psychiater, sondern auch der Kriminalist Da sie noch fehlt, kann
es nicht Wunder nehmen, daß die Ansichten auf unserem Gebiet
überhaupt und über die strafrechtliche Bedeutung des Geisteszustandes
der Gebärenden im Besonderen und zwar sowohl de lege lata als
auch de lege ferenda, so weit auseinandergehen. Es seien nur einige
Belege aus der nicht spezifisch kriminalistischen Literatur angeführt:
Wenn Jörg 1 2 ) die Ansicht vertrat, daß jede Gebärende mehr oder
minder zurechnungsunfähig sei, so wird zwar diese Ansicht heute in
dieser Formulierung wenigstens keine Anhänger mehr finden. Jedoch
hat kürzlich Audiffrent 3 ) sich folgendermaßen geäußert: „Sans
öoarter le cas de folie constatöe nous osons dire que la plupart des
infanticides sont commis dans des accös de simple aliänation, sans
qu’il soit possible d'y rattacher la folie proprement dite.“ Dr. H.
Dörfler 4 ) gelangt zu nachfolgendem Ergebnis: „Aus all’ diesen Be-
1) MSchr Krim Psych 2, (1905) 668, Besprechung der 2. Auflage von
Fabrice, Die Lehre von der Kindesabtreibung und vom Kindesmord. Bezüglich
der Ausführungen über den psychischen Zustand der Gebärenden heißt cs dort
ferner: „Im ganzen kann der Verfasser nur alte Arbeiten anführen, aus neuerer
Zeit ist auch mir keine Arbeit bekannt, die sich eingehend mit dem Gemütszustand
der Gebärenden befaßt."
2) Die Zurechnungsfähigkeit der Schwangeren und Gebärenden (1837).
3) Quelque considörationß sur l’infanticide, Archiv d’anthropologie crimi¬
nelle 17 (1902).
4) Der Geisteszustand der Gebärenden, Friedreich Bl. f. gerichtl. Medizin
44, 280.—.
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252
X. Gleispach
obachtungen und Äußerungen hervorragender Autoren erhellt die
Tatsache deutlich, daß der Geisteszustand einer Gebärenden jeder
Zeit einen mehr oder weniger hochgradigen Erregungszustand des
Gehirns und seiner psychischen Tätigkeit darstellt In den meisten
Fällen ist die Zurechnungsfähigkeit entschieden erhalten: Doch sind
die geringsten Begünstigungsmomente, wie neuropathische Belastung,
abnorm schmerzhafte Wehen, abnorme Widerstände, heimliche Geburt,
vorausgegangene Gemütsdepressionen besonders bei unehelich Ge¬
bärenden imstande, das Gleichgewicht des Geisteszustandes der
Kreißenden zu stören. Von der physiologischen Erregung zur patho¬
logischen ist kein allzu großer Zwischenraum in dieser Phase des
Lebens des Weibes.“ — Fabrice ! ) schließt den Abschnitt über die
Zurechnungsfähigkeit der Neuentbundenen mit den Sätzen: „Bei
vollster Berücksichtigung all des Vorstehenden aber müssen wir doch
anerkennen, daß weitaus in den meisten Geburtsfällen eine größere
physische und psychische Aufregung, als sie von der Gesetzgebung
Deutschlands bei Kindesmord ohnedem in Rechnung gebracht wird,
nicht anzunehmen ist.“ In der Regel dürfe die Zurechnungsfähigkeit
nicht als aufgehoben betrachtet werden und nur in seltenen Aus¬
nahmefällen sei man berechtigt, eine noch mehr geminderte (mehr als
der Gesetzgeber es schon allgemein voraussetzt) oder völlig auf¬
gehobene Zurechnungsfähigkeit der Gebärenden und Neuentbundenen
zu begutachten. Diese Sätze gehen von dem Grad der Aufregung
und der Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit, den die Gesetz¬
gebung Deutschlands in Rechnung bringt, wie von einem feststehenden
Maßstab aus, — sie sind aber von Fabrice zu einer Zeit aufgestellt
worden, da in Deutschland noch die Partikulargesetzgebung herrschte,
in vielen Ländern bloß die Tötung des unehelichen Kindes, in manchen
aber auch die des ehelichen privilegiert war und die Strafrahmen
die weitestgehenden Verschiedenheiten, so als Mindestmaße 2 neben
10 Jahren Zuchthaus, aufwiesen; und diese Sätze sind völlig un¬
verändert in die zweite Auflage übergegangen, ungeachtet dessen, daß
inzwischen das Reichsstrafgesetzbuch an die Stelle aller der recht
verschiedenartigen Landesstrafgesetzbücher getreten ist und daß gerade
darüber Meinungsverschiedenheit und Unklarheit besteht, ob und in
wieweit die vom geltenden Recht gewährte Strafmilderung in der
Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit ihren Grund finde. Ein¬
gehendere Untersuchungen hat Roustan angestellt, doch ist sein
Material an eigenen Beobachtungen wohl nur ein sehr beschränktes
1) a. a. 0. 307 und SOS, in der ersten Auflage 405 und 406. —
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Über Kindosuiord.
253
und die ältere Literatur vielfach und vielleicht ohne das erforder¬
liche Maß an Vorsicht herangezogen. Die Schlußergebnisse lauten:
1. Während der Geburt „kann" der Geisteszustand der Gebärenden
wichtigen Veränderungen unterworfen sein. 2. Diese Veränderungen
können die Klarheit des Geistes zum Teil beheben und die Ver¬
antwortlichkeit vermindern. 3. Unter dem Einfluß der Geburt kann
sich eine transitorische Psychose entwickeln. 4. Diese Psychose kann
mit hysterischer, epileptischer, alkoholischer Grundlage in Verbindung
stehen. 5. Die transitorische Psychose kann eine „reine“ und hervor¬
gebracht sein, sei es durch Aufregung (shok), sei es durch Auto-
Intoxation, sei es durch ein Zusammenwirken dieser beiden Faktoren.
Ergänzend wäre dazu noch zu bemerken, daß nach Roustan aus¬
nahmsweise die Geburt ohne wesentliche Einwirkung auf den Ge¬
mütszustand der Gebärenden vorübergehen kann, vor allem dann,
wenn die Schmerzen gering sind und die Geburt rasch erfolgt; doch
wird dies nur bei Besprechung der Geburt verheirateter Frauen ge¬
sagt. Ferner nimmt R. nicht bei jeder Psychose Zurechnungsunfähig¬
keit an; sie könne auch bloß Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
bewirken. — Jüngst hat Sigwart 1 ) über einen interessanten Fall
eines Selbstmordversuches einer Schwangeren während protrahierter
Geburt berichtet und dabei der Ansicht Ausdruck gegeben, daß bei
den Gewaltakten während oder gleich im Anschluß an die Geburt
auch bei unehelich Gebärenden die verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit, hervorgerufen durch die Aufregungen der
Geburt, eine wesentliche Rolle spiele und daß manche unehelich
Geschwängerte zur Kindesmörderin wurde, welche während der
Schwangerschaft nie daran gedacht oder nicht den Mut gehabt hat,
aus Furcht vor Schande ein Verbrechen wider das keimende Leben
zu versuchen.
3. Mildernd wirkt ferner das Motiv der Tat An erster Stelle
steht hier das Bestreben, die Ehrenminderung hintanzubalten, die bei dem
Bekanntwerden der Geburt und damit des außerehelichen Geschlechts¬
verkehres eintreten würde, jene Situation der außerehelich Geschwänger¬
ten, die man kurz als Ehrennotstand zu bezeichnen pflegt. Sie tritt am
häufigsten bei Ledigen in Wirksamkeit; wenn es auch offenbar irrig
wäre anzunehmen, daß sie bei verheirateten Frauen ausgeschlossen
sei, so wird sie hier doch nur verhältnissmäßig selten eintreten. Die
große Ausdehnung, in der unser Motiv wirksam wird, erhellt aus dem
starken Überwiegen der ledigen Kindesmörderinnen, deren Anteil den
1) Assistenzarzt an der Univ. Frauenklinik der kgl. Charitß zu Berlin:
Selbstmordversuch während der Geburt Archiv für Psychiatrie 42, 249 ff.
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254
X. Gleispach
der Ledigen an der weiblichen Gesamtbevölkerung in den entschei¬
denden Altersstufen bedeutend übersteigt, wobei noch die ungleich
größere Häufigkeit der ehelichen Geburten gegenüber den außer¬
ehelichen in Betracht zu ziehen ist. Es dürfte hier ferner auch auf
die verschiedene Belastung der einzelnen Berufe verwiesen werden;
namentlich die geringe Belastung der industriellen Arbeiterinnen wird
wenigsten zum Teil darauf zurückgeführt werden dürfen, daß gerade
in diesen Kreisen jene Auffassung die weiteste Verbreitung gefunden
hat, nach der außereheliche Schwangerschaft und Geburt nicht als
Schande betrachtet werden. Die Konzentration dieser Berufsange¬
hörigen, ein entwickelteres Klassenbewußtsein und die geringe Be¬
rührung mit anderen Schichten der Bevölkerung benehmen der in
anderen Kreisen herrschenden Ansicht ihre Bedeutung, so wie sie
auch die Ausbreitung und Festigung der ersterwähnten Auffassung
wesentlich fördern. Am deutlichsten aber spricht wohl eine nach
kleineren territorialen Gebieten durchgeführte Zusammenstellung der
Häufigkeit von unehelichen Geburten und Kindesmorden wie sie
Hoegel 1 ) für die österreichischen Kronländer gemacht hat Die Er¬
gebnisse sind so interessant, daß ich sie auszugsweise hier wieder¬
geben möchte.
Kindesmord
1889—1891
Niederösterreich
Oberösterreich
Salzburg
Steiermark
i
a
3
a
E
»8
M
Krain
Küstenland
_____
Tirol
Vorarlberg
Böhmen
Mähren
Schlesien
Galizien
•
Bukowina
Dalmatien
Auf 10000 Be¬
wohner Verur¬
teilte
0.02
0.02
0.03
0.04
0.01
0.04
0.03
0.04
0.05
0.03
0.06
0.05
0.04
0.03
0.03
1881—1890
kamen auf 100
gebärfähige
Ledige unehe¬
liche Geburten
5.7
4.3
5.3
1
5.3
8.9
2.2
1.8
1.0
1.0
3.8
2.7
2.7
5.o
5.8
1.0
„Die verhältnismäßig geringste Belastung mit Kindesmord findet
sich in Kärnten bei der größten Belastung mit unehelichen Geburten.
Länder mit wenig unehelichen Geburten, wie Dalmatien, Tirol und Vor¬
arlberg gehören (wenn man die hohen Freispruchsanteile von Dal
1) a. a. 0. 263.'
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Über Kindesmord.
255
matien berücksichtigt 1 ) za den schwerst mit Eindesmord belasteten.
Ähnlich ist es mit Mähren, Schlesien, Galizien and Bukowina.“ Aber
auch in Niederösterreich, Oberösterreich und Böhmen scheint das um¬
gekehrte Verhältnis vorhanden, wenn auch weniger scharf ausgeprägt,
sodaß es nur in Salzburg, Steiermark und im Küstenland nicht zum
Ausdruck kommt. Die Erklärung dafür wird in den wirtschaftlichen
Verhältnissen zu suchen sein, dem zweiten wichtigen Faktor, dessen
Mitwirksamkeit hier überall sehr zu beachten ist. Auch die Seltenheit
des Eindesmordes in Kärnten wird nicht ganz allein auf Rechnung der
freien Ansichten zu setzen sein, die in der den Ausschlag gebenden
bäuerlichen Bevölkerung Kärntens über den außerehelichen Geschlechts¬
verkehr und seine Folgen herrschen, in der hohen Zahl der unehe¬
lichen Geburten ihren Ausdruck finden, übrigens auch von jedem
Kenner des Landes bezeugt werden. Es kommt daneben wohl noch
der Umstand in Betracht, daß das Aufziehen der unehelichen Kinder
nicht mit allzugroßen Schwierigkeiten verbunden ist, von der Mutter
nicht nahezu oder ganz unerschwingliche materielle Opfer fordert,
(so wenig auch Kärnten ein reiches Land genannt werden kann) —
ein Umstand, der übrigens mit den erwähnten Ansichten der Be¬
völkerung auch einigermaßen im Zusammenhang steht.
4. Eine scharfe Trennung des eben besprochenen Momentes von
dem zweiten nicht minder wichtigen der materiellen Not läßt sich
überhaupt'nicht nach allen Richtungen hin durchführen, die für das
eine und das andere maßgebenden Tatsachenkomplexe wirken vielfach
aufeinander ein. Nehmen wir etwa das Beispiel einer außerehelich
Geschwängerten, für die das Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft
nach den in ihrem Kreis geltenden Ansichten schwere Schande be¬
deutet. Ist sie mittellos, so wird völlige Verheimlichung der Schwanger¬
schaft und Geburt und die Tötung des Neugeborenen oft als der ein¬
zige Weg erscheinen, um der Schande zu entgehen, namentlich in
ländlichen Verhältnissen. Auch wenn die Schwangere eine Mutter oder
sonst eine ihr nahestehende Person besitzt, der sie sich anvertrauen
könnte, was hilft es? Die engen Wohnungsverhältnisse machen es
unmöglich, daß eine den äußeren Umständen nach normal verlaufende
Niederkunft ein Geheimnis bleibe, jede Veränderung des Wohnortes
ruft Verdacht hervor, ist, wenn sie überhaupt wirksam sein soll, mit
Auslagen verbunden, die nicht gemacht werden können, die Unter¬
bringung des Kindes kann auch nicht in weiter Ferne und nur wieder
in dem Milieu erfolgen, dem die Mutter angehört, sodaß wieder die
1) 60 Freigesprochene auf 100 Verurteilte.
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256
X. Gleispach
Wahrung des Geheimnisses völlig in Frage gestellt ist Alles das
liegt sofort ganz anders, wenn wir uns eine über reichliche Geld¬
mittel verfügende Person als die Schwangere vorstellen. Die
Schwierigkeiten der Geheimhaltung, die hier ja auch vorhanden sind,
können durch Geld überwunden werden. Gefährdung der Ehre also
hier und dort, aber während hier die Gefahr durch materielle Opfer
überwunden werden kann, kommt es dort wegen der Ungunst der
wirtschaftlichen Lage bis zu einem das Leben des Kindes bedrohen¬
den „Ehrennotstand“. Knappheit der Geldmittel kann zur Tötung des
Kindes drängen, ohne daß wirtschaftliche Not als Motiv der Tat an¬
genommen werden könnte. Dessenungeachtet kann doch aus allen
den Umständen, die einen weitgehenden Einfluß der wirtschaftlichen
Lage der Gebärenden auf das Zustandekommen der Kindestötung dar¬
tun, auch auf die große Bedeutung geschlossen werden, die wirt¬
schaftlicher Not als Motiv zukommen muß. Vor allem kommen hier
die Vermögenslosigkeit der überwiegenden Mehrzahl der Verurteilten,
Berufszugehörigkeit und Stellung im Beruf in Betracht Die rich¬
tigste Folgerung dürfte wohl noch immer die sein, daß die Kindes¬
tötung in der Mehrzahl der Fälle das Ergebnis des vereinten Wirkens
von Furcht vor Schande und von Not sei. Aber auch das wird noch
behauptet werden dürfen, daß — wenn auch vielleicht nicht sehr
häufig, so doch auch nicht bloß als Ausnahme, — Kindestötungen
lediglich unter dem Einfluß drückender Notlage, d. h. ohne Mit¬
wirkung der Furcht vor Schande zustande kommen. Schon der An¬
teil der Verheirateten an den Verurteilten überhaupt ist zu hoch, als
daß für alle diese Fälle Ehrennotstand angenommen werden könnte;
denn damit es bei einer verheirateten Frau zu einem solchen kommt,
bedarf es neben dem Verlassensein der Frau noch des Zusammen¬
wirkens besonderer außergewöhnlicher Umstände. Freilich fehlt hier
noch der besondere Anhaltspunkt dafür, daß bei dem nicht auf Ehren¬
notstand zurückführbaren Fällen wirtschaftliche Notlage maßgebend
war. Ein solcher Anhaltspunkt aber ergibt sich aus folgender,
nach der österreichischen amtlichen Statistik zusammengestellten
Tabelle (s. n. S.):
Auf 100 wegen Kindesmord Verurteilte entfallen 6.4 °/o Verheira¬
tete und 5.3 °/o verheiratet Gewesene. Von den ersteren hatten 71%,
von den letzeren 88 % Kinder. Diese Ziffern dürfen wohl als Be¬
weis für den unmittelbaren Einfluß der Not angesehen werden.
Gleichwohl ist er kürzlich von Aschaffenburg (Das Verbrechen
und seine Bekämpfung) sehr in Zweifel gezogen worden und zwar
auf Grund folgender Ergebnisse der amtlichen deutschen Kriminal-
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Über Kindesmord.
257
Jahr
!
1 Verurteilte
Verheiratete
Verheiratet
Gewesene
überhaupt
mit
Kinder
ohne
Kinder
mit
i Kinder
ohne
j Kinder
1SS6
120
8
1 2
5
1 3
ISST
120
4
2
1 4
—
1688
104
4
2
<\ 7
—
IS 89
99
1
| i
|| 2
! 2
1690
80
7
i i
4
i —
1891
97
3
1 4
i 2
i l
IS 92
85
4
1 1
6
i —
1693
80 'i
3
! 2
4
|
1694
95
5
1
0
1895
95
0
1 2
7
i —
Summen
981
45
! 18
47
0
i
Statistik über die Verteilung der Kindesmorde und der unehelichen
Geburten auf die einzelnen Monate:
Kindes¬
mord *)
89
|
127 1 127 | 121
1 1
11S ! 102 i 95
i
80
91
66
82 ! 87
1
Uneheliche
Geburten 1 2 )
1
i 110
l
116 109 i 104
100 ) 95 1 91
i ; i
| 88
i
100
91
95 103
Besonders anschaulich wird das Verhältnis der zwei Ziffernreihen
bei graphischer Darstellung (s. n. S.).
Aschaffenburg führt hierzu aus: „ ... Dabei ist besonders
interessant, daß die Neigung, sich des unerwünschten Sprosses zu
entledigen, offenbar in viel höherem Grade von der Zahl der Ge-
1) Die Ziffern geben an, wie viele Eindesmorde auf einen Tag im Monat
kommen, wenn im Jabr auf einen Tag 100 Kindesmorde entfallen, berechnet für
da» Jahrzehnt ISS3/92. (Stat. d. Deutschen Reiches N. F. 83, 52.)
2) Auf einen Tag des betreffenden Monates entfällt die angegebene Zahl der
Geburten, wenn durchschnittlich auf jeden Tag im Jahr 100 Fälle kommen, be¬
rechnet für die Jahre 1872 —1883. (Stat Jahrbuch 1885 S. 21.) Aschaffen-
burg hat an die Stelle der Geburtstage die Konzeptionszeiten gesetzt, die für
unsre Zwecke jedoch nicht in Betracht kommen.
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 17
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X. Geeispach
bärenden abhängig ist als von dem Gedanken, was aus dem Kinde
werden soll. Die Voraussetzung der milderen Beurteilung des Kindes¬
mordes war die Annahme einer verzweifelten Gemütslage, eines Ge¬
misches von Hilflosigkeit, Scham, Reue, Schmerz und Sorge um die
Zukunft. Die Zahlen der Statistik lehren, daß wenigstens die un¬
mittelbare Sorge keinen großen Einfluß hat; sonst müßten die Zeiten
Kindesmorde.
Unehelich Geborene.
130
der Not, die Wintermonate, während derer zu allem andern noch
die Stellenlosigkeit bedrohlich wirkt, stärker an dem Kindesmord be¬
teiligt sein. Statt dessen steht ihre Zahl in direktester Beziehung zur
Zahl der Geburten, so daß man fast zu sagen versucht ist: Unter der
gleichen Anzahl unehelicher Mütter findet sich, ganz unabhängig von
der wirtschaftlichen Lage, annähernd die gleiche Zahl solcher, die ihr
neugeborenes Kind mit Gewalt beiseite schaffen.“ Aschaffenburg
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Über Kindesmord.
259
hat gut daran getan, diesen letzten Satz mit einer so vorsichtigen
Einleitung zu versehen; er ist dadurch der Polemik entzogen und als
Behauptung hingestellt, wäre er sicherlich falsch. Aber auch die
weniger weitgehenden Sätze werden m. E. von den vorgeführten
Zahlenreihen nur vorgetäuscht, finden aber bei näherer Untersuchung
keine Bestätigung. Es sei zunächst davon abgesehen, daß von einem
Parallelismus der beiden Kurven im strengen Sinne des Wortes nicht
gesprochen werden kann. Daß die größere oder geringere Zahl der
Geburten in bestimmten Zeitabschnitten an und für sich nicht Ursache
der größeren oder geringen Häufigkeit der Kindesmorde sein kann,
versteht sich von selbst. x ) Wenn sich also zeigt, daß beim Ansteigen
der Geburten auch die Kindesmorde zunehmen und umgekehrt, so
weist diese Erscheinung auf solche Ursachen des Kindesmordes hin,
die unabhängig von dem Wechsel der Jahreszeiten gleichmäßig wirken.
Sind wir auf anderem Weg dazu gelangt, bestimmte Momente, deren
Wirksamkeit von der Jahreszeit unabhängig ist, als maßgebend für
das Zustandekommen des Kindesmordes anzusehen, dann bedeutet die
erwähnte Erscheinung offenbar eine bedeutsame Bestätigung dieser
Annahme. Dies trifft nun zweifellos zu für den „Ehrennotstand“, für
die Annahme einer verzweifelten Gemütslage, die sich aus Hilflosig¬
keit, Scham, Reue und Schmerz zusammensetzt; es scheint hingegen
nicht zuzutreffen für die Annahme des Einflusses der Sorge um die
Zukunft, der wirtschaftlichen Not Wenn aber die Wirksamkeit dieses
Faktors als widerlegt gelten soll, so müßte erst feststehen, daß seine
Wirksamkeit von der Jahreszeit wesentlich beeinflußt wird und nach
ihr schwankt. Aschaffenburg nimmt das ohne weiteres f^n, die
Zeiten der Not sind ihm die Wintermonate, in denen zu allem andern
noch die Stellenlosigkeit kommt. Dabei dürften zwei wichtige Mo¬
mente nicht genügend Beachtung gefunden haben, einerseits die Be¬
rufszugehörigkeit der Großzahl der Kindesmörderinnen und anderer¬
seits die besondere Eigentümlichkeit der Kindestötung auch in Beziehung
zur wirtschaftlichen Lage der Täterin, die es ausschließt, hier etwa
einen Parallelismus mit den Erscheinungen beim Diebstahl oder
anderen Vermögensdelikten vorauszusetzen. Über die Belastung der
verschiedenen Berufe in Deutschland gibt die folgende aus der
deutschen Kriminalstatistik zusammengestellte Tabelle Auskunft:
1) Deshalb ist es zumindest ungenau ausgedrückt, wenn Asch aff enburg
sagt, die „Neigung“ zum Kindesmord sei in viel höherem Grad von der Zahl
der Gebärenden abhängig, als von dem Gedanken, was aus dem Kind werden
soll. Gerade die Neigung, das Kind zu töten, kann unmöglich von der Zahl der
Geburten abhängen.
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Über Kindesmord.
261
Die Kindesmörderinnen zerfallen demnach in drei Gruppen; die
erste größte, die mehr als die Hälfte aller umfaßt, wird von den
landwirtschaftlichen Arbeiterinnen gebildet, die zweite im Ausmaß von
V-» bilden die Dienstboten, der Rest, etwa Vs, setzt sich aus An¬
gehörigen verschiedener Berufe in verschiedenen Stellungen zusammen.
Das heißt, daß überwiegend ländliche Verhältnisse in Betracht kommen
und daß mehr als 3 /4 der Verurteilten einer Kategorie von wirtschaft¬
lich abhängigen Personen angehören, in der vorwiegender Natural¬
lohn (freie Kost, Wohnung u. s. f.) bei geringfügigem Geldlohn die
Regel bildet. Das starke Ansteigen der Vermögensverbrechen mit
Beginn der kalten Jahreszeit erklärt man sich durch die Not des
Winters und sieht diese wieder vornehmlich in den durch die Witterung
gesteigerten Bedürfnissen, Mehrauslagen für reichlichere, erwärmende
Kost, warme Kleidung, Heizung, Beleuchtung, Notwendigkeit einer
Unterkunft, dazu erhöhte Preise. Alle diese Umstände kommen bei
der großen Mehrzahl der uns interessierenden weiblichen Personen
gar nicht oder nur in ganz geringem Maß in Betracht Für das
ganze Heer der ländlichen und städtischen Dienstboten bedeutet der
Winter keine Erschwerung der Existenz, so lange sie sich im Dienst
befinden. Was nun die Stellenlosigkeit anlangt, so gelten auch hier
für uns keineswegs die allgemeinen Sätze, die man meist für die Ge¬
samtheit annimmt. Auf dem flachen Land spielt sie überhaupt keine
Rolle, hier herrscht überwiegend „Leutenot“. Aber auch in den
Städten dürfte die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften der für
uns maßgebenden Kategorie überwiegend stärker sein als das Angebot
und neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß das Gesamtbild des
Arbeitsmarktes von dem ganz verschieden ist, das bei Trennung der
Geschlechter der weibliche Arbeitsmarkt darbieteb') Freilich wird
man hier noch lange nicht unanfechtbare Ergebnisse aufweisen können,
jedenfalls steht soviel fest, daß die Wintermonate nicht als die Zeit
besonders bedrohlicher Stellenlosigkeit angesehen werden können; es
wird das Zustandekommen einer sicheren Grundlage abgewartet
werden müssen, um auf diesem Gebiet Schlüsse ziehen zu können.
Dazu kommt aber noch ein weiterer Umstand: während bei aus
1) Vgl. Die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre
1900 ff. Bd. 5: Die Krisis auf dem Arbeitsmarkte, S. 1 ff. Auf S. 5 werden die
Verhältnisse des weiblichen Arbeitsmarktes auf Grund der öffentlichen Arbeits¬
nachweise für die Jahre 1S96—1902 tabellarisch dargestellt. Nach dieser Tabelle
herrscht überwiegend und selbst in den Krisenjahren ein Unterangebot, die
ungünstigsten Monate mit Überangebot sind Oktober und November, schon im
Dezember bleibt das Angebot wieder hinter der Nachfrage zurück.
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262
X. G -LEIS PA CH
Not begangenen Vermögensverbrechen das Streben darauf gerichtet
ist, Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zu gewinnen, handelt es sich
beim Kindesmord aus Not umgekehrt darum, schwere wirtschaftliche
Einbußen und Nachteile hintanzuhalten, die mit dem Bekanntwerden
der Geburt und der Erhaltung des Kindes verbunden wären. Dieser
Gegensatz ist offenbar bedeutsam für den Einfluß der wirtschaftlichen
Situation auf das Zustandekommen des Verbrechens, zumal wenn
man berücksichtigt, daß die Erhaltung des Kindes eine dauernde Be¬
lastung bedeutet. Unter den wirtschaftlichen Nachteilen spielt aber
auch der mit dem Bekanntwerden der Entbindung verbundene Ver¬
lust des Postens bei Dienstboten eine Rolle, so daß nnter Umständen
gerade die Tatsache, daß die Schwangere zur Zeit der Entbindung
nicht stellenlos ist, dem Leben des Kindes gefährlich werden kann.
Diese Erwägungen lassen jedenfalls soviel erkennen, daß der
Einfluß der wirtschaftlichen Lage hier ein keineswegs so einfacher
ist, wie es bei den Vermögensverbrechen angenommen wird. Weiter¬
gehende Schlüsse sollen nicht gezogen werden, nur soviel ergibt sich,
daß die Kurve der Kindesmorde den Einfluß der Not nicht widerlegt.
Auch noch nach einer anderen Richtung hin müssen wir uns
vorläufig mit negativen Ergebnissen und mit Fragezeichen bescheiden,
aber es wird nicht ohne Nutzen sein, auf sie hinzuweisen. Wir haben
bisher angenommen, die Kurve der Kindesmorde laufe der der Ge¬
burten parallel. In Wahrheit gilt das aber nur ganz im Allgemeinen,
genau genommen zeigen sich doch relativ starke Abweichungen und
für die erste Hälfte des Jahres ist die Kurve der Kindesmorde so¬
zusagen eine kräftige und phantasievolle Karikatur der Schwankungen
in der Häufigkeit der Geburten. Während die Geburten nach dem
Höhepunkt im Februar bereits im März und dann weiter stetig und
stark sinken bis in die zweite Hälfte des Jahres, bleibt die Zahl der
Kindesmorde noch im März ganz auf der gleichen Höhe wie im
Februar und sinkt nur langsam bis in den Mai hinein, um erst von
da ab plötzlich sehr stark herabzusinken, so daß im Mai die Kindes¬
morde noch auf der Höhe von 118 sich halten, während die Geburten
bereits auf das angenommene Mittel von 100 gesunken sind. Ferner
steigen die Geburten im Dezember und Januar stetig und rasch zur
Höhe des Februar, während die Kindesmorde in diesen Monaten noch
auf einem tiefen Stand verbleiben, um dann plötzlich auf das Maximum
des Februar hinaufzuschnellen. Wir haben also zwei Perioden auf¬
fallender Divergenzen der beiden Kurven vor uns: März bis Mai und
November bis Januar. Daraus ergibt sich, daß auch der Höhepunkt
der Kindesmorde im Februar keineswegs lediglich darauf zurück-
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Über Kindesmoid.
263
geführt werden kann, es komme hier die Wirksamkeit der uns be¬
kannten annähernd gleichmäßig wirkenden Ursachen wegen der
größeren Häufigkeit der Geburten stärker zum Ausdruck. Vielmehr
müssen in der Periode Februar bis März entweder diese Ursachen
aus irgendwelchen Gründen in ihrer Wirksamkeit besonders gesteigert
werden oder es sind hier Kräfte am Werk und begünstigen unmittel¬
bar das Zustandekommen des Verbrechens, die uns überhaupt un¬
bekannt sind; und in der zweiten Periode müssen umgekehrt gewisse
Hemmungen sich geltend machen. Mit anderen Worten: das Er¬
gebnis ist lediglich ein Fragezeichen, die Gründe der auffallenden
Schwankungen liegen noch im Dunkeln. 1 )
Auch von der Not geboren ist ein weiterer Grund, der vielleicht
nur sehr selten allein, nicht so selten aber im Verein mit anderen zur
Kindestötung drängen wird: die unvermeidliche Trennung der Mutter
von dem Kind sofort oder doch in kürzester Zeit nach der Geburt.
Die Mutter könnte vielleicht das Kostgeld für das Kind von ihrem
Lohn noch absparen, aber sie müßte das Opfer bringen und zugleich
auf jede Mutterfreude verzichten, sie müßte darben und dürfte doch
ihr Kind nicht bei sich behalten, weil sie sonst beide nicht leben
können — ein Sachverhalt, der wiederum bei Dienstboten typisch ist.
Im Zusammenhang damit steht auch die Vorstellung von der elenden
Zukunft, die dem Kind bevorsteht. Erlangt sie Einfluß auf das Ver¬
halten der Mutter, so ist es das Gefühl des Mitleids, das Bestreben,
das Kind vor einer qualvollen Zukunft zu bewahren, das zur Tötung
führt. Dasselbe Motiv kann selbst ohne wirtschaftliche Notlage dann
auftreten, wenn das Neugeborene mit einer schweren oder unheilbaren
Krankheit behaftet ist oder doch die Mutter das glaubt. Es mag
1) Mit bloßen Vermutungen scheint mir der Sache nicht gedient, solange
diese nicht durch feste Grundlagen wenigstens sehr wahrscheinlich gemacht
werden können. Nur die eine Bemerkung sei mir vorläufig dennoch gestattet,
daß nämlich die starke Häufung der Kindesmordo in der ersten Periode zum
Teil mit den Gründen in Zusammenhag stehen dürfte, auf die das Zunehmen der
Schwängerungen in den entsprechenden Monaten Mai bis Juni zurückgeführt
wird. Zur teilweisen Erklärung dafür, daß die Kindesmorde im Februar so auf¬
fallend zunehmen und im März nicht abnehmen, könnte man an die kontagiöse
Wirkung denken, die manchem schwerem Verbrechen zweifellos eigen ist und die
namentlich T a r d e (Phil, penal.) glänzend geschildert hat. Dann könnte man
wirklich davon sprechen, daß die Zunahme der Geburten, mit der ja eine Zu¬
nahme der Kindesmordo naturgemäß verbunden ist, die Neigung zum Kindes¬
mord erhöhe. Aber gegen diese Annahme spricht, daß der Kindesmord kaum
zu den Verbrechen gehört, die besonders geeignet sind, die Phantasie zu erregen,
daß das einzelne Verbrechen weitem Kreisen hier nicht bekannt wird, die Zeitungen
sich damit w r enig beschäftigen u. s. f. —
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264
X. Gleispach
sich hier um seltene Fälle handeln, sie sind darum doch weitest¬
gehender Rücksicht wert. Man hat nicht mit Unrecht gesagt, bei
heimlichen Geburten wird oft der erste Schrei des Kindes seinem
Leben gefährlich, er mahnt die Mutter, daß für sie Alles verloren ist,
wenn sie nicht eingreift. Aber das erste klägliche Wimmern des
Neugeborenen kann der Mutter auch geradezu wie eine Bitte um
Erlösung von allen Qualen und allem Elend in die Ohren klingen;
tötet dann die Mutter das Kind, so ist eine Ähnlichkeit dieses Falles
unverkennbar mit dem anderen der Tötung auf Verlangen des Ge¬
töteten, dem die moderne Gesetzgebung mit Recht auch eine privi¬
legierte Stellung eingeräumt hat
Man kann darüber streiten, ob in dem Mitverschulden des
Schwängerers und unter Umständen auch noch anderer Personen,
an dem es fast nie fehlen wird, ein selbständiger Grund zur Milderung
der Strafe zu erblicken sei. Ohne Zweifel aber ist dieser Umstand
geeignet, die Bedeutung jeder wie immer gearteten Notlage der Mutter
als Grund für eine milde Strafe wesentlich zu steigern.
4. Schließlich ist auch noch auf die nahe Verwandschaft zwischen
unserem Verbrechen und dem der Abtreibung der Leibesfrucht durch
die Schwangere selbst zu verweisen. Es sollen hier die Gründe nicht
erörtert werden, die für die Milde gegenüber der Abtreibung be¬
stimmend sind. Diese Milde besteht, ist unangefochten und wird in
Zukunft wahrscheinlich noch gesteigert werden; wird doch von
mancher Seite selbst Straflosigkeit gefordert. Der Strafsatz des Kindes¬
mordes muß den Anschluß haben an den der Abtreibung, jeder Sprung,
jede tiefgehende Abgrenzung tut den Tatsachen Gewalt an. So
mancher Kindesmord ist psychologisch nichts anderes als eine ver¬
spätete Abtreibung, aber auch umgekehrt manche Abtreibung ein
verfrühter Kindesraord. Der Eihautstich etwa im zweiten Monat der
Schwangerschaft und der Kindesmord liegen weit auseinander; nament¬
lich einer Erstgeschwängerten kann fast jede Vorstellung und jedes
Gefühl von der tieferen Bedeutung der erstgenannten Handlung fehlen;
aber Kindestötung und Bewirken einer Frühgeburt etwa im siebenten
Monat sind Geschwister. Die lange Dauer der Schwangerschaft und
die Kindesbewegungen im Mutterleib erzeugen bereits das Gefühl in
der Schwangeren, daß sie ein Lebewesen in sich trägt und sie rufen
Pflichtvorstellungen hervor; andererseits ist das neugeborene Kind,
wie bereits früher ausgefiihrt wurde, doch nichts anderes als ein
werdender Mensch, die Mutterliebe stellt sich nicht mit einem Schlag
ein und die Tötung des Neugeborenen wird ganz regelmäßig in einem
abnormalen psychischen Zustand ausgeführt, was für die Abtreibung
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Über Kindesmord.
265
nicht gilt. — Der Jurist ist gezwungen, unablässig Kategorien zu
bilden, Grenzen zu ziehen und damit Gegensätze zu schaffen, während
in der Natur alle Verschiedenheiten nur das Ergebnis allmählicher
Entwicklung sind und sich überall unendlich feine und vielgestaltige
Übergänge finden. In unserem Fall scheint die Natur selbst eine
scharfe Grenze gezogen zu haben; in Wahrheit aber besteht in allen
kriminalpolitisch bedeutsamen Richtungen auch hier nur eine all*
mähliche Entwicklung, ein langsamer Übergang. Darum muß auch
hier der erwähnte Gegensatz so gut es geht überwunden werden.
Dazu eröffnen sich im Allgemeinen zwei Wege: an Stelle der zuerst
geschaffenen gröberen Unterscheidungen werden immer feinere ge¬
setzt, man schreitet vor in der Differenzierung; oder man gleicht das
Übel, das in der gezwungen willkürlich gezogenen Grenze liegt, da¬
durch aus, daß man die Rechtsfolgen, die mit den getrennten Tat¬
beständen verknüpft werden, ganz aneinander annähert. In unserem
Fall ist der zweite Weg zu betreten und heißt hier: Anschluß, noch
besser Ineinandergreifen der Strafsätze. Damit wird eine ganz all¬
gemeine Tendenz von weit umfassender Bedeutung gefördert, die sich
schon vielfach geltend macht, am schönsten im Schweizer Strafgesetz¬
entwurf zu Tage tritt und die als wahrhaft modern weitgehende
Förderung verdient, denn sie ist modern nicht in dem Sinn, der an
„Mode“ anklingt, sondern deshalb, weil sie, durch das Fortschreiten
der Wissenschaft angeregt, den Bedürfnissen unserer Zeit entgegen¬
kommt und den Kulturfortschritt fördert.
III.
Der letzte Abschnitt dieses Aufsatzes hätte, auf den vorstehenden
Ausführungen fußend, noch die Frage eingehend erörtern sollen, wie
der zukünftige Strafgesetzgeber den Kindesmord zu behandeln habe.
Vor seiner Niederschrift kam mir die Ankündigung zw’eier Vorträge
über den Kindesmord zu, die Haberda und Bischoff demnächst
in einer Versammlung der Oe. K. V. in Wien halten werden. Die
Erörterung unseres Gegenstandes von Seite eines Vertreters der ge¬
richtlichen Medizin und eines Psychiaters läßt Aufschlüsse über
manche Einzelfragen erwarten, die heute noch ungeklärt sind und zu
denen ich Stellung nehmen möchte. Deshalb sollen die abschließenden
Ausführungen über die Gesetzgebungsfrage einem besonderen Aufsatz
bis nach dem Erscheinen der erwähnten Vorträge im Druck Vor¬
behalten bleiben und es sei hier nur mehr in Kürze angedeutet, wes¬
halb der legislative Vorschlag von Liszt in der „Vergleichenden
Darstellung“ m. E. eine befriedigende Lösung des Problems nicht
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266
X. Gleispach
bietet v. Liszt zieht von vornherein nur zwei Gründe der Straf¬
milderung in Betracht: den physiologischen Vorgang der Entbindung
und den Ehrennotstand. Der Gesetzgeber wird sich darüber klar zu
werden haben, auf welches der beiden Momente er, ohne damit das
andere notwendig auszuschalten, das entscheidende Gewicht legen
will. Liszt entscheidet sich zu Gunsten des Ehrennotstandes. Die
Erschütterung des seelischen und körperlichen Gleichgewichtes durch
den Gebärakt selbst fällt unter den Begriff der verminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit. Wird dieser, wie zu erwarten steht, in den all¬
gemeinen Teil des künftigen Gesetzbuches aufgenommen, so bedarf
die verminderte Zurechnungsfähigkeit bei der Kindestötung keiner
besonderen Berücksichtigung mehr. — „Dagegen greift der Begriff
des Ehrennotstandes über den der verminderten Zurechnungsfähigkeit
hinaus. Es kann sein, daß er eine Störung des seelischen Gleich¬
gewichtes zur Folge hat, die uns berechtigt, von verminderter Zu¬
rechnungsfähigkeit zu sprechen. Aber notwendig ist das nicht Und
auch in den Fällen, in denen eine Verminderung der Zurechnungs¬
fähigkeit zweifellos ausgeschlossen ist, verdient nach der heute
herrschenden Auffassung die im Ehrennotstand begangene Handlung,
da sie keine besonders antisoziale Gesinnung des Täters erkennen
läßt, die Berücksichtigung des Strafgesetzgebers.“ Weiter heißt es aber
dann: „Gerade nachdem ich oben auf die Notwendigkeit hingewiesen
habe, die beiden Momente, das physiologische und das psychische,
zunächst auseinander zu halten, möchte ich um so schärfer betonen,
daß sie nur in ihrer Verbindung die mildere Behandlung der Kindes¬
tötung zu rechtfertigen vermögen“.,Nur im Zusammenhang
mit dem Geburtsvorgang vermag der Ehrennotstand die
Strafmilderung für die Kindestötung zu rechtfertigen“ und
später kehrt derselbe Gedanke wieder: „Nicht die Furcht vor der
Schande an sich, sondern die motivierende Kraft, die diese Vor¬
stellung unter dem Einfluß des Gebäraktes erlangen kann,
gibt die Rechtfertigung für die Strafmilderung ab.“ Ich muß ge¬
stehen, daß ich trotz allen Bemühens die Widersprüche nicht zu lösen
vermochte, die in diesen Ausführungen enthalten zu sein scheinen.
Meine Bedenken gegen den Satz, daß die motivierende Kraft von Vor¬
stellungen unter dem Einfluß des Geburtsvorganges wesentlich ge¬
steigert werde, habe ich schon oben vorgebracht Entscheidend ist
zunächst die Frage: soll unter dem Einfluß des Gebäraktes doch
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit verstanden werden oder
nicht? Es scheint, daß die Frage bejaht werden soll.') Wieso
1) Dafür spricht auch folg. Satz in Liszts Lehrbuch: „Der Grund für
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Über Kindesmord.
267
kann dann aber behauptet werden, das entscheidende Gewicht sei dem
Ehrennotstand beigelegt? Dann sind beide Momente gleichwertig, wie
das schon früher ausgeführt wurde. Ferner sagt ja Liszt selbst sehr
richtig, die im Ehrennotstand begangene Handlung verdient auch bei
nicht verminderter Zurechnungsfähigkeit die Berücksichtigung des Ge¬
setzgebers. Das gilt aber wohl ganz allgemein, nicht gerade nur von
der Eindestötung. Die einzig richtige Folgerung ist dann die, daß
der Gesetzgeber durch eine allgemeine Bestimmung dem Ehren¬
notstand Bechnung zu tragen habe. Und dann trifft der Vorwurf,
den Liszt gegen den Schweizer Entwurf erhebt, auch seinen Vor¬
schlag. Strafmilderung bei verminderter Zurechnungsfähigkeit und
bei Ehrennotstand sind allgemeine Gesichtspunkte, beides ist im all¬
gemeinen Teil zu regeln. Liegt bei einer Kindestötung bloß das eine
oder andere Moment vor, so tritt Milderung der Strafe nach der ent¬
sprechenden allgemeinen Bestimmung ein. Treffen beide zusammen,
so tritt besonders weitgehende Strafmilderung ein, auf Grund der An¬
wendung beider allgemeinen Bestimmungen; jede Sonderbestimmung
für Kindesmord ist überflüssig. Schließlich ist die Untersuchung
der Zurechnungsfähigkeit für jeden Fall des Ebrennotstandes doch
wiederum ausgeschlossen, für diese Fälle wird die Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit praesumiert Wo ist aber die Grundlage für die
Annahme, bei Ehrennotstand müsse die Zurechnungsfähigkeit ver¬
mindert sein? Liszt selbst spricht von Fällen des Ehrennotstandes,
in denen verminderte Zurechnungsfähigkeit zweifellos ausgeschlossen
ist, von der motivierenden Kraft, welche die Vorstellung der Schande
erlangen „kann“. Also nehmen wir an, mit dem Einfluß des Ge¬
bäraktes, der zum Ehrennotstand zur Rechtfertigung der Milde hin¬
zutreten muß, ist nicht verminderte Zurechnungsfähigkeit gemeint.
Worin dann eigentlich das zweite mildernde Moment gelegen sein
soll, ist nicht ganz klar und es scheint wenig gerechtfertigt, daß dieser
Einfluß des Gebäraktes auf die Psyche der Täterin — denn nur iim
einen solchen kann es sich handeln — doch eine wichtige Rolle für
die Strafmilderung spielen soll, obwohl er sich nicht bis zu einer
die mildere Behandlung der Kindestötung liegt nicht so sehr in der durch den
Gebärakt überhaupt hervorgerufenen Erschütterung des körperlichen und seelischen
Gleichgewichtes (denn diese kann auch bei der ehelichen Mutter eintreten), als
vielmehr in den bei der unehelich Geschwängerten auftretenden Antrieben zur
Tötung des Kindes (Furcht vor Schande, Unterhaltssorgen), die unter dem Ein¬
fluß des Gebäraktes gesteigerte Kraft gewinnen können. Daher findet die mil¬
dere Behandlung ihre Grenze mit dem Aufhören dieses.Zustandes ge¬
minderter Zurechnungsfähigkeit/ (Bei Liszt sind die letzten
Worte nicht durch den Druck hervorgehoben.)
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268
X. G LEISPACH
Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit erhebt. Liszt bringt zur
Begründung das Beispiel von einem wohlhabenden Mädchen, dem die
Verheimlichung der Geburt gelungen. Erst nach Monaten oder Jahren
tritt der Ehrennotstand ein, das Mädchen tötet sein Kind. Kein Straf¬
gesetzgeber der Welt denkt daran, dem Mädchen die Strafmilderung
zu teil werden zu lassen, ruft Liszt aus. Die Strafmilderung des
Kindesmordes allerdings nicht, aber die Strafe der gemeinen Tötung
dürfte auch nicht angemessen sein. Daß es für den Wegfall der
weitgehenden Strafmilderung besondere Gründe gibt, daß die Tötung
eines Neugeborenen und eines Kindes im Alter von mehreren Monaten
oder gar Jahren eben niemals dasselbe sind, ist schon oben ausgeführt
worden. Vor allem aber beweist dieses Beispiel aufs deutlichste, daß
dem Ehrennotstand gerade das entscheidende Gewicht nicht zukommt,
das ihm Liszt beigelegt wissen will. Er empfiehlt als Fassung die
des niederländischen St.G.B.: „Die Mutter, die unter dem Einfluß der
Furcht vor Entdeckung ihrer Entbindung ihr Kind bei oder kurz
nach der Geburt vorsätzlich tötet“ Diese Fassung läßt aber auch
dem Zweifel Baum, ob der Gesetzgeber auf verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit bereits Rücksicht genommen habe oder nicht. Man könnte
schließlich noch daran denken, daß das zweite mildernde Moment im
Einfluß des Geburtsvorganges überhaupt gefunden werde, ohne Unter¬
scheidung, ob er sich bis zu einer Verminderung der Zurechnungs¬
fähigkeit gesteigert habe oder nicht. Doch auch diese Auffassung
begegnet dem Vorwurf, den Liszt gegen den Schweizer Entwurf
erhebt und auch die vorgeschlagene Fassung des Tatbestandes läßt
sie nicht deutlich erkennen. Dieser Fassung haftet übrigens gerade
vom Standpunkt Liszts aus noch ein weiterer Mangel an. Sie bringt
den Gedanken nicht klar zum Ausdruck, daß gerade der Ehrennot¬
stand, die Furcht vor Schande, das ausschlaggebende Moment sei.
Furcht vor Entdeckung der Entbindung und Ehrennotstand decken
sich nicht, vielmehr reicht die erstere weiter. „Unter dem Einfluß
der Furcht vor Entdeckung ihrer Entbindung“ tötet auch das Dienst¬
mädchen ihr Kind, das die außereheliche Niederkunft nicht als
Schande betrachtet, dem ferner die moralische Verurteilung seitens
der Dienstgeber sehr gleichgültig ist, das aber seine Stelle nicht ver¬
lieren, nicht mittellos mit dem neugeborenen Kind auf die Straße
gesetzt sein will. Das Dienstmädchen fürchtet die Entdeckung der
Entbindung, aber es befindet sich nicht im entferntesten in einem
Ehrennotstand, es handelt nicht aus Furcht vor Schande, sondern aus
Furcht vor Not Freilich verdient auch dieser Fall die Berücksichtigung
des Gesetzgebers, aber Liszt will ihn nicht berücksichtigen. Auch
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t'ber Kindesmord.
269
das kann ich nicht gerechtfertigt finden; gilt doch von materieller
Not gewiß ebenso wie vom Ehrennotstand der Satz, daß die unter
solchem Einfluß begangene Handlung eine besonders antisoziale Ge¬
sinnung nicht erkennen läßt. ( ) Zudem muß es kriminalpolitisch sehr
bedenklich erscheinen, die Strafmilderung für die Mutter, die ihr
Kind bei der Geburt tötet, einzig und allein gerade an ein solches Mo¬
ment anzuknüpfen, das das für das Leben des Kindes gefährlichste
Verhalten der Mutter zur notwendigen Voraussetzung hat, — das ist
die Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt.
IV.
Ich möchte nicht schließen, ohne noch auf die symptomatische
Bedeutung der ganzen Kontroverse hingewiesen zu haben. Sie liegt
offensichtlich darin, daß die Erörterung eine beträchtliche Zahl von
Einzelfragen aufgezeigt hat, über die heute Meinungsverschiedenheit
und Unklarheit besteht, während sie durch exakte Beobachtungen und
Forschung außer Zweifel gestellt sein könnten. Das führt auf unseren
Ausgangspunkt zurück, den Heidelberger Vortrag von Hans Groß.
Wenn er fordert, daß die Lehre von der Erscheinung und den Ur¬
sachen der Verbrechen gepflegt, ja vielfach erst geschaffen werde,
daß das Strafrecht psychologisch zu vertiefen sei, so ist dem nur
beizustimmen. Eine Unsumme von Erfahrungen und Beobachtungen
besteht heute nur in der Erinnerung ungezählter Praktiker oder ist
bereits vergessen; eine nicht minder große Summe von Beobachtungen
könnte gemacht werden, wenn die Aufmerksamkeit auf die ent¬
scheidenden Punkte gelenkt würde. Für die Wissenschaft geht das
Alles zum größten Teil verloren und wir streiten über Fragen, kon¬
struieren und kombinieren, während die gesammelten Tatsachen po¬
sitive Antworten geben könnten. In der gesamten Statistik liegen
große Schätze, die erst gehoben werden müssen. Der Beweis aber für
1) Hafter ist bei Besprechung der Liszt’sehen Vorschläge (Schwei¬
zer Z. 19, 147) dafür eingetreten, jedes bei der Täterin nachweisbare Gefühl, sie
hätte sich in irgend einem Notstand befunden, zu berücksichtigen. Sein Vor¬
schlag, der Art. G3 der Schweiz. Entwurfes verbessern soll, lautet: „Die Mutter
die unter dem Einflüsse der Furcht vor Entdeckung ihrer Entbindung oder in
einem anderen ihr Handeln beeinflussenden Notstand ihr Kind bei oder kurz
nach der Geburt tötet . . . .“ Dagegen ist aber vor allem einzuwenden, daß
„Notstand“ allgemein ein technischer Ausdruck ist und ebenso im Schweiz. Ent¬
wurf gebraucht wird: Art. 25 „Notstand“. „Die Tat,... (die jemand im Notstand
begeht)..., ist kein Verbrechen“ und bei notstandsähnlichen Fällen mildert der
Richter die Strafe nach freiem Ermessen. —
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270
X. Gleispach
die Berechtigung dieser Forderungen liegt in unserem Fall nicht da¬
rin, daß die Wissenschaft seit hundert Jahren über den Grund der
milden Behandlung des Kindesmordes geirrt hätte, sondern vielmehr
in der Erkenntnis, daß uns auch heute vielfach noch die feste Grund¬
lage fehlt, um das legislative Problem restlos und mit vollster Be¬
ruhigung und Befriedigung lösen zu können. Ich maße mir nicht
an, Wesentliches dazu beigetragen zu haben, diese Grundlage zu
schaffen; aber es ist vielleicht nicht ohne Nutzen, auf die bestehenden
Löcken hinzuweisen. Die Rechtsvergleichung kann sie nicht aus¬
füllen, sondern nur die Tatsachenforschung.
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XI.
Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten.
Von
Hofrat J. Hölzl.
I. Doch ein Erfolg.
Beharrlichkeit und Unverdrossenheit in Verbindung mit unab¬
lässiger Selbsttätigkeit verbürgen dem Kriminalisten am sichersten den
Erfolg, wie dies der nachstehende Fall aus meiner polizeilichen
Praxis zeigt
Am 17. September 1879 erschien im Polizeiblatte für Steiermark
folgende Ausschreibung der Bezirkshauptmannschaft Spital in Kärnten:
„Urban Drosger aus St Georgen, Gemeinde Renn weg, Bezirks¬
gericht Gmünd, Tischlergehilfe, zuletzt bei Johann Schäfer in Wels¬
berg in Tirol bedienstet, ist seit 12. August 1878 verschollen. Sein
Arbeitsbuch wurde bei dem derzeit zu Klagenfurt in Strafhaft befind¬
lichen, übelbeleumundeten Friseur Franz Haas aus Kremsbrücken ge¬
funden und demselben abgenommen. Franz Haas trat mit diesem
Arbeitsbuche zu St. Veit in Kärnten in die Arbeit des Johann Köpper,
aus welcher er am 21. Oktober 1878 wieder ausstand; weiters war
er mit demselben am 4. November 1878 in die Krankenpflege des
allgemeinen Krankenhauses zu Klagenfurt, in welchem er sich bis
zum 17. Dezember 1878 befand, eingetreten; endlich wurde er vom
Bezirksgerichte Graz am 11. Februar 1879 wegen Wachebeleidigung
zu 24 Stunden Arrest unter dem Namen Urban Drosger verurteilt,
nachdem er im unredlichen Besitze dieses Arbeitsbuches sich für den
Urban Drosger ausgab. Franz Haas hat bei seiner Vernehmung beim
Landgerichte Klagenfurt am 28. Juli 1879 angegeben, er hätte das
fragliche Arbeitsbuch in Bruck a. d. Mur in einem neben der Brücke
gelegenen kleinen Gasthause von einem Handwerksburschen um drei
Gulden gekauft; dieser Handwerksbursche, eben aus Deutschland
gekommen, hätte erklärt, das Arbeitsbuch irgendwo auf der Straße
gefunden zu haben. Meister Johann Schäfer sagt, daß Drosger von
ihm weg nach Innsbruck reiste, dort vom Meister Schönhuber
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272
XI. IIölzl
mehreren Meistern empfohlen wurde, aber keine Arbeit fand und
sonach von Innsbruck abreiste Meister Schäfer sagt weiter, daß
er Anfangs Jänner 1879 aus einem Orte in der Nähe von Graz,
dessen Namen ihm aus dem Gedächtnisse verschwand, eine Korre¬
spondenzkarte, die er gleich als nicht vom Drosger geschrieben er¬
kannte, erhalten habe, des Inhaltes, er möge den bei ihm in Ver¬
wahrung befindlichen Koffer des Drosger nach Graz poste restante
senden, was er aber nicht tat Leider sei ihm diese Karte verloren
gegangen. Es liegt nun die Befürchtung nahe, daß Urban Drosger
entweder verunglückt oder gar das Opfer eines Verbrechens geworden
ist. Urban Drosger ist 1860 geboren, also 19 Jahre alt, mittelgroß,
hat längliches Gesicht, braune Haare und braune Augen, regelmäßigen
Mund und rundes Kinn.“
Nach dem Inhalte dieser Ausschreibung war es unschwer anzu¬
nehmen, daß wenn Urban Drosger wirklich das Opfer eines Ver¬
brechens geworden ist, Franz Haas an demselben beteiligt gewesen
sein müsse. Es war hiernach ein eventueller Verbrecher vorhanden,
aber es fehlte noch der verbrecherische Tatbestand. Ich begab mich
deshalb in dieser Beziehung auf die Suche in den Polizeiblättern und
stieß hierbei auf eine Ausforschung des Kreisgerichtes Leoben, eben¬
falls im Polizeiblatte für Steiermark, laut welcher am 23. März 1879
nächst Hafning bei Trofaiach, teilweise aus dem Schnee hervorragend,
die nur notdürftig bekleidete Leiche eines Mannes, 18—20 Jahre alt,
aufgefunden wurde. Durch die gerichtliche Obduktion war festgestellt
worden, daß der fragliche Mann vor längerer Zeit durch gewaltige,
mittelst eines stumpfen Werkzeuges versetzte Streiche meuchlings er¬
mordet worden ist Eine Photographie der Leiche des Ermordeten
ward aufgenommen und bei Gericht deponiert
Da ich aus mehreren Gründen annehmen durfte, daß der bei
Hafning ermordet aufgefundene junge Mann mit Urban Drosger
identisch sein könnte, so teilte ich der Staatsanwaltschaft Leoben
diese meine Vermutung mit und haben die hierüber eingeleiteten um¬
fangreichen gerichtlichen Erhebungen dahingeführt, dass durch einen
Handwerksburschen aus der Photographie der Hafninger Leiche
Urban Drosger agnosziert wurde. Diese Agnoszierung stellte sich
jedoch gelegentlich einer Konfrontierung des Handwerksburschen mit
Franz Haas als unrichtig heraus. Der Handwerksbursche hatte
nämlich nur den Franz Haas, der mit der photographierten Leiche
einige Ähnlichkeit hatte, als Urban Drosger gekannt, da er mit diesem
unter dem Namen Urban Drosger im November und Dezember 1878
im Spitale zu Klagenfurt in Pflege stand. Damit kam man wieder
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Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten.
273
auf den ursprünglichen Standpunkt zurück, daß man wohl einen
eventuellen Täter, aber keinen objektiven Tatbestand vor sich hatte,
und es mußte deshalb das gerichtliche Verfahren eingestellt werden.
Ich selbst, dem sonach die Einsichtnahme in den Untersuchungs¬
akt ermöglicht ward, gelangte ebenfalls zur Überzeugung, daß die am
23. März 1879 bei Hafning aufgefundene Leiche die des verschollenen
Tischlergehilfen Urban Drosger nicht sein könne. Der Verdacht aber,
daß Franz Haas doch an dem Verschwinden des Urban Drosger be¬
teiligt sei, wollte bei mir durchaus nicht weichen, und zwar speziell
auch deshalb, weil Franz Haas, als er sich unter den Namen Urban
Drosger und mit dessen Arbeitsbuche im Krankenhause zu Klagen-
furt befand, den gepflogenen gerichtlichen Erhebungen zufolge ganz
solche Kleidungsstücke getragen hat, wie der vermißte Urban Drosger
zur Zeit seiner Abreise aus der Heimat.
Daran festhaltend, daß Franz Haas doch eventuell der Mörder
des verschollenen Urban Drosger sei, war es nun meine Aufgabe,
diesen anderswo ermordet zu eruieren, wozu ich folgenden Weg
einschlug:
Urban Drosger verließ am 12. August 1878 seinen letzten Dienst¬
platz bei Schäfer in Welsberg und hatte laut eines Ende August 1878,
angeblich aus St. Johann in Salzburg, an seinen Stiefvater Silvester
Erlsbacher gelangten Briefes die Absicht, nach Linz zu gehen, was
daraus hervorgeht, daß er sich vom Stiefvater ein Schreiben nach
Linz poste restante erbat. In dem Briefe an den Stiefvater erwähnte
er auch, daß er mit einem ihm bekannten Kollegen reise. (Franz
Haas ist aus demselben Bezirk.) Wenn er also das Opfer eines Ver¬
brechens geworden war, so mußte dies auf der Reise von Tirol nach
Oberösterreich geschehen sein, weil seit seinem vorerwähnten Briefe
aus St. Johann kein weiteres Lebenszeichen von ihm eingetroffen ist.
Ich stellte daher diesbezüglich zunächst wieder Nachforschungen
in den Polizeiblättern an und fand im Polizeiblatte für das Herzogtum
Salzburg Ausschreibungen des Bezirksgerichtes Traunstein in Bayern,
betreffend einen ermordeten unbekannten Mann, von dem ich der
Sachlage nach annehmen durfte, daß er mit dem vermißten Urban
Drosger identisch sein könnte. Die Ausschreibungen besagten, daß
am 30. August 1878 morgens bei der Schwarzbach wacht, ca. 200 Schritte
von der Reichenhall-Ramsauer Straße entfernt, eine nackte Leiche ge¬
funden wurde. Diese Leiche war männlichen Geschlechts, 1,63 Meter
lang, bei 20 Jahre alt, bartlos, hatte schwarzbraunes Haar, einen Kropf
und rauhe Hände. Der Schädel war wahrscheinlich mit einem Stein
zerschmettert. In der Nähe der Leiche wurden zwei Fußlappen, einer
Archiv für Krimirmlanthropologie. 27. Bd. IS
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274
XI. Hölzl
davon mit einem U gemerkt, ein weißbeinemer Löffel mit dem Bilde
des Heiligen Franz Seraficus und einem Vers, sowie ein weißes Zahn-
bürstchen gefunden.
Die Beschreibung der Leiche, der Bnchstahe U auf einem der
Vorgefundenen Fußlappen und auch der Fundort der Leiche, letzterer
mit Rücksicht darauf, daß der gewöhnliche Weg von Tirol nach
Oberösterreich durch die dortige Gegend führt, ließen mich auf den
vermißten Urban Drosger schließen.
Die vom königlich-bayrischen Bezirksgerichte Traunstein zur
Verfügung gestellten Akten samt Photographie der in der Schwarz¬
bachwacht aufgefundenen Leiche gaben dann noch weitere Anhalts¬
punkte dafür, daß meine Annahme Berechtigung hatte: Aus dem
Augenscheinsprotokolle war zu entnehmen, daß der im Salzburger
Polizeiblatte erwähnte Kropf des Ermordeten von mäßiger Größe war,
was erklärlich erscheinen läßt, daß bezüglich des Urban Drosgers eines
Kropfes nicht Erwähnnng getan wurde. Nach dem ärztlichen Gut¬
achten mochte die Leiche des Ermordeten bis zur Beschau, die am
30. August 1878 vorgenommen wurde, nicht unter 10 und nicht über
20 Stunden gelegen sein, so daß also auch hinsichtlich der Zeit, in
welche der Mord fällt, Urban Drosger für den Ermordeten gehalten
werden konnte. Die Zeugenaussagen wiesen bezüglich des Ermor¬
deten und des Mörders auf zwei reisende Handwerksburschen, was
wiederum für meine Annahme sprach, und namentlich die Aussagen
des Malers Ludwig Seitz und der Bäuerin Gertrud Weißbacher waren
in dieser Beziehung von besonderem Belange. Maler Seitz sagte nach
Vorweisung der Photographie des Ermordeten, daß er in derselben
bestimmt einen der beiden Handwerksburschen zu erkennen glaube,
die er am 28. August 1878 mittags bei dem Gradierhause in Reichen¬
hall traf und gab dann weiters an: „Dieser nun getötete Mann trug
eine Reisetasche zum Umhängen und sein Begleiter einen zusammen¬
geschnürten Berliner mit dunkler Wachsleinwand umhüllt“ Die
Bäuerin Weißbacher sagte, daß der photographierte Mann einer der
zwei Handwerksburschen sein könne, welche am 29. August 1878
abends in ihr Haus kamen und um Essen baten, was sie auch er¬
hielten. Der größere der beiden Burschen trug einen weißen Regen¬
schirm, der kleinere, wahrscheinlich der Getötete, einen schwarzen Regen¬
schirm und eine Umhängtasche. Auch zwei andere Zeugen sprachen
bei ihrer Einvernehmung von zwei Handwerksburschen mit Berliner
und Sonnenschirm.
Hierzu kommt zu bemerken, daß Franz Haas, laut des mit Anna
Köpper im Zuge der Vorerhebungen rücksichtlich der Leiche von
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Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten.
275
Häftling beim Bezirksgerichte St Veit in Kärnten aufgenommenen
Protokolles, im Besitze eines Schattenspenders gewesen ist, als er im
Herbste 1878 unter den Namen Urban Drosger und mit dem Arbeits-
bucbe desselben bei den Eheleuten Köpper in St Veit in Arbeit stand;
denn die Anna Köpper sagte: „Jener Taglöhner, welcher bei uns im
Herbste 1878 arbeitete, trug einen Schattenspender, worüber ich sehr
gelacht habe.“
Aus den Akten des Bezirksgerichtes Traunstein war noch hervor¬
zuheben, daß die bei der Leiche gefundenen Fußlappen blau ge¬
wesen und auf einem derselben der Buchstabe U rot eingemerkt war.
Die hiernach von mir veranlaßten Erhebungen durch die Bezirks¬
hauptmannschaft Spital in Kärnten und die Gendarmerie zu Welsberg
in Tirol lieferten ebenfalls ganz vorzügliche Resultate, welche sich
im Nachstehenden zusammenfassen lassen:
a) Dem Simon Drosger, Bruder des verschollenen Urban Drosger,
«war bekannt, daß dieser einen kleinen Steckkropf hatte.
b) Der Tischlermeister Schäfer in Welsberg konnte sich erinnern,
daß Urban Drosger einen weißbeinernen Löffel mit einem Vers hatte.
c) Urban Drosger pflegte sich die Zähne zu putzen und besaß
zu diesem Zwecke ein weißes Zahnbürstchen.
d) Urban Drosger hat Fußlappen getragen und besaß blaue
Schürzen, aus welchen er sich Fußlappen gemacht haben konnte.
e) Nach Angabe des Stiefvaters Silvester Erlsbacher und des
Bruders Simon Drosger waren die Hemden des Urban Drosger mit
den lateinischen Druckbuchstaben U D rot gemerkt
f) Wie sich Tischlermeister Schäfer in Welsberg und dessen
Wäscherin erinnerten, hatte Urban Drosger blau und weiß karrierte
Hemden (Oxfort) und Valentin Salzleitner, auch einer derjenigen, die
gleichzeitig mit Franz Haas (unter den Namen Urban Drosger) im
Herbste 1878 im Krankenhause zu Klagenfurt waren, erinnerte sich,
daß er bei Franz Haas ein Oxforthemd gesehen habe, welches der¬
selbe bald nach seinem Kommen ins Krankenhaus ausgewaschen hätte.
g) Urban Drosger trug sowohl bei seiner Abreise aus der Heimat
als auch bei der Abreise von Welsberg einen sogenannten Berliner.
h) Laut Relation des Gendarmeriepostens zu Millstadt in Kärnten
erzählte Johann Haas, ein Bruder des Franz Haas, daß er dem
letzteren, bei einem Zusammentreffen in Salzburg, wohin Johann
Haas im Jahre 1878 als Viehtreiber gekommen war, eine Reisetasche
gegeben habe.
i) Wie der Gendarmerieposten zu Welsberg berichtete, hatte Urban
Drosger einen Schattenspender, höchst wahrscheinlich von grauer
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276
XI. IIÖLZL
Farbe; nach den Erhebungen der Bezirkshauptmannschaft Spital
hatte Urban Drosger einen kleinen, mehr feinen Regenschirm und
Franz Haas einen kleinen Sonnenschirm.
Alles im allen war es nun wohl kaum mehr einem Zweifel
unterliegend, daß Franz Haas, mit Rücksicht auf die am 30. August
1878 bei Schwarzbachwacht in Bayern aufgefundene Leiche, doch der
Mörder des Urban Drosger sei, und ich sandte daher den Akt des
königlich-bayrischen Bezirksgerichtes Traunstein samt meinen Er¬
hebungen zur weiteren Veranlassung an die k. k. Staatsanwaltschaft
Leoben.
Von der beim königlich-bayrischen Bezirksgerichte Traunstein
aufgenommenen Photographie des in der Schwarzbachwacht Ermor¬
deten hatte ich vorsätzlich keinen Gebrauch gemacht, weil ich der
Ansicht war, daß diese Photographie gleichzeitig mit den mir nicht
zur Verfügung gestandenen corporibus delicti (blauer Fußlappen mit
rotem U, Zahnbürstchen und weißbeinemer Löffel) den Verwandten
und Bekannten des Urban Drosger behufs Agnoszierung vorgewiesen
werden solle.
Es kam sohin zur Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens
gegen Franz Haas und zwar in Folge von Eompetenzrücksichten
beim Landes- und Untersuchungsgericht in Graz. Die gerichtliche
Untersuchung, welche auch noch andere Beweismomente zu Tage
förderte, führte zur Anklage gegen Franz Haas wegen Verbrechens
des Raubmordes an Urban Drosger und am 14. Juli 1881 wurde
derselbe nach abgeführter Schwurgerichtsverhandlung des Verbrechens
des Raubmordes schuldig erkannt und zu lebenslanger schwerer
Kerkerstrafe verurteilt. —
Über die nächst Hafning bei Trofaiach aufgefundene Leiche
schwebt meines Wissens ein noch immer unaufgeklärtes Dunkel.
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XII.
Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
Vortrag,
gehalten am S. Dezember 1906 in der Vorlesung des Rechtsanwalts Dr. Görres
über forensische Psychologie, veranstaltet von der Vereinigung für staatswissen¬
schaftliche Fortbildung in Berlin.
Von
Constantin von Zastrow, Gerichtsassessor in Breslau.
Durch alle Erörterungen über die gegenwärtig in Vorbereitung
befindliche Reform unsres Strafrechts zieht sich wie ein tiefer, unüber¬
brückbarer Spalt der Streit zwischen der klassischen und der modernen
Strafsrechtsschule über die philosophische Begründung und Recht¬
fertigung der Bestrafung des Verbrechens, der Kampf um den Deter¬
minismus und die Verantwortlichkeit, ein Kampf, der von beiden
Seiten mit ungewöhnlicher Heftigkeit geführt wird und dessen Be¬
endigung nach seinen neusten Phasen aussichtsloser denn je erscheint.
Wenn Birkmeyer in seiner neusten Besprechung der gesammelteu
Reden und Aufsätze v. Liszts mit lakonischer Kürze anhebt: „wer
die Willensfreiheit leugnet, der kann kein Strafrecht begründen,“ wenn
Kohlrausch bei der Besprechung der neusten Monographie des Reichs¬
gerichtsrats Petersen über den Determinismus mit Bitterkeit von den
seit Jahrzehnten so oft von ähnlicher Seite ausgegangenen Aufsätzen
spricht, die auf ebenso geringer Belesenheit wie unscharfer Logik
beruhten und so häufig in persönliche Kränkungen ausmündeten,
wenn endlich Dohna in der Vorrede seiner kürzlich über Willens¬
freiheit und Verantwortlichkeit gehaltenen Vorträge auf die Beibringung
neuer Gedanken verzichtet und die Behauptung wiederholt „das Für
und Wider in Sachen der Willensfreiheit ist erschöpft“, so möchte man
an der Lösung dieser Streitfrage verzweifeln. Wenn der nachfolgende
Vortrag dennoch auf das Interesse eines sachkundigen Leserkreises
hofft, so geschieht das, weil der Verfasser durch das eingehende
Studium der Vorlesungen Wilhelm Windelbands über die Willens¬
freiheit zu der Überzeugung gekommen ist, daß Windelbands Lösung
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278
XII. von Zastrow
des Problems in der kriminalistischen Literatur nicht die gebührende
Beachtung gefunden hat und daß seine Lösung bei einer folgerichtig
durchgeführten Nutzanwendung auf die spezielle Problemstellung der
Kriminalistik zu einer Versöhnung der streitenden Gegner führen
muß. Die Nutzbarmachung der leitenden Gedanken Windelbands
führt insbesondere zu der Erkenntnis, daß es nur einen, bisher nur
von Schopenhauer angedeuteten, Weg zum unwiderleglichen Nach¬
weise der Richtigkeit des Determinismus gibt, den der logischen
Analyse der Worte Freiheit, Möglichkeit, Können. Es gilt zu be¬
weisen, daß die Lösung des Problems weder Sache des Glaubens
oder des Empfindens, des persönlichen Sentiments, noch eine Unmög¬
lichkeit ist sondern einzig und allein Sache der Logik und mittels
dieser jedem vorurteilslos Denkenden zur Evidenz gebracht werden
kann, wie sie ja auch unter den Philosophen der Gegenwart so gut
wie unstreitig ist — denn Eucken hat eine Widerlegung des Deter¬
minismus vorerst nur in Aussicht gestellt.
Auf eine Auseinandersetzung mit Windelband ist trotz einiger
abweichender Meinungen hinsichtlich der Gliederung der Bestandteile
des Problems und der Anordnung des Gedankenganges verzichtet
worden, um den schweren Stoff nicht noch mehr zu belasten. Es
mag deshalb nur erwähnt werden, daß mir in Windelbands Drei¬
teilung des Willensaktes in Begehren, Überlegung und Entschluß, die
Beziehung des eigentlichen Willensproblems auf die erste Stufe des
Begehrens unrichtig zu sein und die verwirrende Anordnung des
Stoffs, bei der sich der gleiche Gedankengang zweimal hintereinander
mit demselben Abschluß, in der Mitte als „sittliche Freiheit“, am Schlüsse
als „Verantwortung“ vollzieht, auf diesem Fehler zu beruhen scheint. *)
I _
Wir beginnen mit einer, uns wichtigen positiven Stimmung
unseres Strafgesetzes:
Der § 51 des Strafgesetzbuches erklärt bekanntlich eine strafbare
Handlung für nicht vorhanden, wenn der Täter z. Z. der Tat im
Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes¬
tätigkeit sich befand, durch die seine freie Willensbestimmung aus¬
geschlossen wurde.
Freie Willensbestimmung ist also die Voraussetzung der Straf¬
barkeit, und das entspricht unserem unbefangenen Empfinden: der
freie Wille des Menschen ist die Bedingung seiner Verantwortlichkeit
für seine Handlungen.
1) Diese Vorbemerkung vertritt hier die Stelle einiger andrer Worte, die
den mündlichen Vortrag einleiteten.
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Cber Windelband und den Streit um das Strafrecht.
279
So natürlich dieser Satz zunächst erscheint, so problematisch
erweist er sich bei tieferem Nachdenken. Denn aus den zwei Worten
freier Wille erwächst der genaueren Betrachtung eine Fülle von Fragen
und Bedenken, die gegeneinander streiten und unser Denken in einen
Strudel unlöslicher Widersprüche hineinzuziehen drohen.
Auf der einen Seite erwächst aus dem Bewußtsein des Sollens,
einer moralischen, rechtlichen und zuletzt religiösen Gebundenheit, die
praktische Forderung des Könnens: „Du kannst, denn Du sollst“
Auf der anderen Seite fühlen wir Schritt für Schritt unsere Abhängigkeit
von der Außenwelt und werden mit Beschämung dessen inne: „Du
glaubst zu schieben und Du wirst geschobeu.“
Der Widerstreit dieser Betrachtungen im Innern des Menschen
findet seinen Widerhall in der Erörterung des Willensproblems im
wissenschaftlichen und politischen Leben. Zwei feindliche Parteien
sind es, die einander in äußerster Leidenschaft bekämpfen: hier die
Indeterministen, die von dem Postulat der Verantwortlichkeit ausgehen,
in dem Satze „Du kannst, denn Du sollst“, die Grundlage von Moral,
Recht und Religion und in der Leugnung dieses Satzes die Zerstörung
aller Ideale unserer Kultur erblicken. Dort die Deterministen, die von
der exakten Beobachtung der Wirklichkeit ausgehen, sich auf das
allem Geschehen zugrunde liegende Gesetz der Kausalität berufen,
das auch auf das Willensleben des Menschen Anwendung finden
müsse, und daraus folgern: „Du glaubst zu schieben und Du wirst
geschoben.“ Der Wille ist, so sagen sie, durch Motive determiniert,
und daraus folgern sie, daß von Freiheit des Willens allerdings nicht
die Rede sein könne, und daß die bisherigen Grundlagen der Moral,
des Rechts und der Religion damit allerdings erschüttert seien, ja daß
es einer Umwertung aller Werte auf diesem Gebiete bedürfen werde.
So steigt das Determinismusproblem aus der Selbstbeobachtung des
einzelnen Menschen auf und erstreckt sich schließlich auf die höchsten
und tiefsten Fragen des Menschenlebens. Fast so alt wie die Philo¬
sophie unter den Menschen erscheint es heute noch so unausgetragen
wie je. Das zeigt uns wieder der neu entbrannte Kampf um die
Grundsätze der Strafrechtsform, deren eigentlicher Kern die Frage
nach der Willensfreiheit ist.
Zu dem Versuche, in einem kurzen Vortrage eine Orientierung
über dieses Problem und einen Versuch zu seiner Lösung zu geben,
ermutigt mich ein Buch, das vor nicht langer Zeit erschienen ist und
das mir eine bedeutungsvolle, ja entscheidende Wendung in der
Determinismusfrage zu bedeuten scheint. Wilhelm Windelband,
Professor der Philosophie in Heidelberg, hat zwölf Vorlesungen über
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280
XII. von Zastrow
Willensfreiheit herausgegeben, in denen er mit der ihm eigenen Gabe,
kühler, allem Parteigetriebe entrückter, rein wissenschaftlicher Be¬
trachtung das Problem untersucht hat. Und es ist ihm gelungen zu
zeigen, daß es eine Lösung gibt, die die streitenden Gegner versöhnen
und jedem von ihnen zu seinem Rechte verhelfen kann, daß die ver¬
meintliche Unvereinbarkeit von Determinismus und Verantwortlichkeit
ein Fehlschluß ist, der auf einseitiger und deshalb mangelhafter Be¬
trachtung der Wirklichkeit beruht. Der Determinismus erweist sich
dem konsequenten, die Dinge erschöpfenden Nachdenken als unum¬
stößlich richtige Anschauung, aber er widerspricht der Verantwortlich¬
keit nicht nur nicht, er ist vielmehr notwendige Voraussetzung für sie,
und was wir den freien Willen nennen, findet, sofern es die Bedingung
jener Verantwortlichkeit ist, seine Erklärung aus einer Betrachtungs¬
weise, die den Determinismus unberührt läßt Diese Lösung des
Problems bietet m. E. den Schlüssel zur Lösung aller im Determinismus¬
problem enthaltenen Streitfragen der praktischen Lebensgestaltung,
insbesondere für den Juristen den Schlüssel zum Verständnis der
Ideen, die den Kampf zwischen der klassischen und der modernen
Strafrechtsschule bestimmen.
Ich will versuchen, an der Hand der Gedankengänge Windelbands
das Problem und dessen Lösung Ihnen zu entwickeln, werde aber,
gezwungen durch die Kürze der Zeit und die besondere Interessensphäre
des Juristen, im Einzelnen andere und kürzere Wege einzuschlagen
suchen, und bitte deshalb, alles was ich sage, lediglich unter eigner
Verantwortung, nicht unter der Windelbands als gesagt zu betrachten.
Wir untersuchen den Sinn des Begriffes „freier Wille“ und fragen
zunächst: was heißt „frei“? und dann: was heißt „Wille“? Wir
werden finden, daß nur die schärfste Begriffsbestimmung uns vor der
Fülle von Mißverständnissen schützt, die im täglichen Sprachgebrauch
dem Ausdruck „freier Wille“ anbaften.
Das Wort „frei“ finden wir in unserer Sprache in unzähligen
Verbindungen, die scheinbar wenig gemeinsames haben. Wir sagen:
„fehlerfrei, fieberfrei, zollfrei, sprechen von Religionsfreiheit, Preßfreiheit,
Vertragsfreiheit und von Freigeist, Freihandel und Freibier. Über¬
blicken wir diese Worte nach etwas Gemeinschaftlichem, so scheint
darin das Fehlen von etwas Nichterwünschtem oder Störendem das
gemeinsame Merkmal zu sein. Unfreiheit wäre also etwas Norm¬
widriges. Deutlicher sehen wir, wenn wir den Begriff auf mechanische
oder organische Kräfte anweuden.
Ein durch Fesseln gehaltener Luftballon wird frei, wenn man
die Fesseln löst. Ein im Käfig gefangener Vogel wird frei, wenn
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
281
man den Käfig öffnet Der Luftballon steigt auf vermöge der Kraft,
die in dem Gewichtsverhältnis zwischen der Gasfüllung und der
atmosphärischen Luft liegt. Der Vogel fliegt fort, weil er von seiner
Lebenskraft getrieben wird, sich zu tummeln. Wäre der Ballon nicht
von dieser Kraft getrieben, der Vogel kein lebender, so würden beide
nicht frei. Also nur da, wo eine bestimmte Kraft sich zu betätigen
strebt und gehemmt ist, sprechen wir von Unfreiheit, wo sie entfesselt
wird, von Freiheit
Die Freiheit als das Ideal jedes Lebewesens, das seine Kräfte spielen
lassen und sich schrankenlos tummeln will, finden wir in dem be¬
rühmten Freiheitsliede Jung Siegfrieds in Wagners Nibelungenring
besungen:
Wie ich froh bin, daß ich frei ward,
Nichts mich bindet und zwingt,
Wie der Fisch froh in der Flut schwimmt,
Wie der Fink frei sich davon schwingt,
Flieg ich von hier, flute davon
Wie der Wind über’n Wald weh’ ich dahin.
Suchen wir den Begriff der Freiheit zu bestimmen, so finden
wir stets eine Triebkraft und eine Fessel, deren Beseitigung die Be¬
freiung darstellt.
Freiheit ist ungehemmte Kraftentfaltung.
Blicken wir auf unsere Beispiele zurück unn prüfen wir daran
die Definition:
Fieberfrei: das Fieber ist ein Krankheitssymptom, das die
natürliche Betätigung der Lebenskraft des Organismus hemmt.
Zollfrei, Freihandel: die Kraft ist der Pulsscblag des Verkehrs¬
umlaufs und Warenaustauschs, sie wird gehemmt durch die Zollschranke.
Nicht anders die Freiheit als Rechtsgut oder allgemeines
Menschenrecht. Das Rechtsgut der persönlichen Freiheit erwuchs als
solches mit dem Mündigwerden des Individuums im Laufe der Ge¬
schichte. Die Kraft ist die Entfaltung des Individuums vermöge
seiner Selbstbestimmung. Die Anfänge dieser Kraftentfaltung liegen
in der Renaissance, ihre Entwicklung bezeichnet die Periode des
Naturrechts, den Abschluß hat sie im modernen Verfassungsstaat
gefunden, der die menschliche Freiheit auf allen Gebieten ihrer Be¬
tätigung garantiert, so die Religionsfreiheit, die Gewerbefreiheit, die
Preßfreiheit, die Koalitionsfreiheit, die Vertragsfreiheit usw. Überall
äußert sich die Kraft individueller Lebensgestaltung auf allen Gebieten
des geistigen und wirtschaftlichen Lebens.
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282
XII. von Zastbow
Ja, auch im letzten unserer Beispiele sehen wir diese Kraft. Der
Zauber des Wortes Freibier liegt ja nur in dem scheinbar unstillbaren
und unausrottbaren Drange jedes guten Deutschen, immer noch eins
zu trinken, und bedeutet die Befreiung dieses Dranges von der leidigen
Fessel des Geldbeutels. Unter dem Zeichen des blauen Kreuzes wird
das Wort Freibier sinnlos.
Bei der Anwendung des Begriffs frei müssen wir also zweierlei
unterscheiden
1. die Fessel,
2. die Kraft.
Wir müssen deshalb, wo von Freiheit die Rede ist, stets fragen
1. frei wovon?
2. frei wozu?
Die Außerachtlassung dieser Unterscheidung, insbesondere die
der zweiten Frage, trägt die Hauptschuld an der Unfruchtbarkeit alles
Streitens um die Freiheit des Willens.
Wir fragen weiter, was heißt Wille? Der Wille ist ja hier
offenbar jene Kraft, um deren Freiheit es sich handelt Aber er ist
selbst ein vieldeutiger Begriff, dessen Verständnis die sorgfältigste
Untersuchung erfordert. Beim Zustandekommen einer Willenstätigkeit
kann man ein Dreifaches unterscheiden. 1. das Aufsteigen eines
Verlangens, 2. das Eintreten einer Überlegung, 3. die Fassung eines
Entschlusses.
Das wird am deutlichsten durch ein einfaches Beispiel aus dem
Leben der Tiere. Ein junger Jagdhund wird eines Hasen ansichtig,
sofort hetzt er ihn. Die Begierde setzt sich sofort in die Tat um.
Anders der abgeführte Hühnerhund. Auch ihn erfaßt die Begierde,
aber die Dressur hemmt ihn, der Begierde zu folgen. Dasselbe Ver¬
hältnis besteht zwischen dem kleinen Kinde und dem überlegenden
erwachsenen Menschen. Das Kind folgt blind der Begier, bei dem
erwachsenen Menschen schwächt sich das Verlangen zum bloßen
Wunsche ab, der aus dem gesamten Bewußtseinsinhalt heraus auf seine
Erfüllbarkeit geprüft wird. Das ist die vernünftige Überlegung, die
zu einer Wahlentscheidung führt.
Der Entschluß endlich setzt sich in die Tat um. Wunsch, Über¬
legung und Entschluß sind die drei Phasen in dem Zustandekommen
der Willenstätigkeit, aber sie sind nicht getrennt, sondern einheitlich
zu denken, etwa wie eine Linie, deren Anfangspunkt der Wunsch,
deren Verlauf die Überlegung, deren Endpunkt der Entschluß ist
Von diesen Phasen ist die erste für uns ohne Interesse, da bei dem
vernünftigen Menschen der Entschluß nicht aus der Begierde, sondern
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
283
erst aus der Überlegung hervorgeht. Dafür bedarf aber der genaueren
Betrachtung die Umsetzung des Entschlusses in die Tat Die alte
Streitfrage der Philosophie, wie sich diese Umsetzung vollzieht,
interessiert uns hier nicht. Wir werden ohne allzu weit von der
Wirklichkeit abzuweicben uns den Vorgang am anschaulichsten machen,
wenn wir ihn mit einer elektrischen Leitung vergleichen. Der
Willensentschluß ist die Einschaltung des elektrischen Stromes, die
leibliche Handlung beispielsweise das Ertönen einer elektrischen
Klingel. Dann bedeutet also der Willensakt selbst den Druck auf
den Klingelknopf. Das Festhalten dieses Bildes wird zum Verständnis
des Folgenden dienlich sein.
Wenn wir den Begriff der Freiheit auf den gefundenen Gesamt¬
inhalt des Willensvorganges anwenden, finden wir eine dreifache
Beziehung der Freiheit auf diesen Vorgang.
Die erste ist die Handlungsfreiheit. Sie betrifft die Aus- "
führung des bereits gefaßten Willensentscblusses und hat mit der
Willensfreiheit selbst nichts zu schaffen, wird aber meistens mit ihr
verwechselt, es bedarf deshalb der Klarstellung dieses Unterschiedes.
• •
Die zweite betrifft die Überlegung und führt uns auf den
Schauplatz der Hauptkämpfe, insbesondere der Strafrechtstbeorien,
wo sie unter dem Namen Wahlfreiheit bekannt ist Wir bezeichnen
sie lieber als die psychologische Freiheit.
Folgt die Handlungsfreiheit dem Willensentschluß nach, geht die
psychologische Freiheit ihm voraus, so betrifft die dritte Beziehung
den Willensentschluß selbst und führt uns an die Erforschung der
Tiefen unseres Problems, soweit sie menschlicher Erkenntnis zugänglich
sind. Hier finden wir die Lösung des Problems auf einem Gebiete,
das ich andeute, wenn ich diese letzte Freiheit als die sittliche
Freiheit bezeichne.
Mit dieser Einteilung habe ich den Rahmen für den Inhalt meiner
folgenden Ausführungen gezogen.
Die gemeine Meinung versteht unter Willensfreiheit die Fähigkeit,
zu tun was man will. „Ich kann was ich will“ das heißt ihr: ich
habe den freien Willen. Gewiß ist dieses Vermögen von großem
Werte, und es ist interessant genug, seine Grenzen zu untersuchen.
Diese Freiheit, die im gewöhnlichen, normalen Zustande jedem Menschen
gegeben ist, fehlt uns z. B. bei den Handlungen im Traumzustande,
bei den Reflexbewegungen wie Lachen und Weinen und bei krank¬
haften Störungen des Organismus wie dem Starrkrampf. Hier fehlt
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284
XII. von Zastrow
überall gleichsam die elektrische Leitung, die den Willensentschluß
in die Tat umsetzt, der leibliche Organismus gehorcht dem Willen
nicht oder er betätigt sich, ohne vom Willen bestimmt zu sein. Aber
auch da, wo die elektrische Leitung funktioniert, kann die Handlung
ausbleiben, obgleich der Willensakt stattfindet. Es geschieht dies in
all den Fällen, in denen wir durch physische Gewalt gehindert sind,
unseren Willen durchzusetzen. Es ist dies gleichsam so, als ob die
elektrische Leitung zwar eingeschaltet, aber die elektrische Klingel von
außen festgehalten und so am Ertönen gehindert wird. Beiden Fällen
gemeinsam ist, daß der Willensakt selbst vorhanden und nur an der
Umsetzung in die Tat gehindert ist, dort aus inneren, hier aus äußeren
Gründen. Daß in solchem Falle von Verantwortlichkeit keine Bede
ist, ist selbstverständlich, wie ja auch das Strafgesetz ganz zum Über¬
fluß bestimmt, daß eine strafbare Handlung nicht vorhanden ist, wenn
der Täter durch unwiderstehliche Gewalt genötigt worden ist Es
handelt sich hier also nicht um die Freiheit der Willensentschließung,
sondern um die Freiheit, einen gefaßten Willensentschluß in Handlung
umzusetzen, also um die Handlungsfreiheit
Wie leicht im täglichen Leben dies übersehen wird, mag ein ein¬
faches Beispiel aus dem Kinderleben uns lehren, ein Beispiel, das uns
bis ans Ende unserer Untersuchungen begleiten wird. Ein Schuljunge
kommt hungrig aus der Schule nach Hause und will sich eben an
das bereitstehende Mittagessen setzen, da hört er Soldaten am Fenster
vorüberziehen. Sogleich treibt ihn die Schaulust zum Fenster, der
Hunger aber zieht ihn zum Essen, das kalt zu werden droht Nehmen
wir an, er eilt zum Fenster, und als er zurückkehrt, ist das Essen kalt
geworden. Auf seine Klage erwidert die Mutter: „Es war ja Dein
freier Wille, das Essen kalt werden zu lassen, Du brauchtest ja nicht
zum Fenster zu gehen.“ Wir wissen, daß die Mutter hier nur jene
Handlungsfreiheit meint. Der Junge war durch nichts gehindert zu
tun, was ihm beliebte und es war in diesem Sinne sein freier Wille,
daß er sein Essen kalt werden ließ. Daß dies nicht die Freiheit ist,
nach der wir suchen, das bemerken wir sogleich, wenn wir beobachten,
wie der Junge neben dem Gefühl der Freiheit, tun zu können, was
ihm beliebt, auch das Gefühl der Unfreiheii hat, nicht beides zugleich
tun zu können, sondern eins von beiden wählen zu müssen. Dieses
Gefühl der Unfreiheit drückt das Sprichwort aus: „Wer die Wahl
hat, hat die Qual.“ Dieses Gefühl der Unfreiheit entsteht nun daraus,
daß widerstreitende Begehrungen, unvereinbare Motive, sich im Willens¬
leben kreuzen. Die Soldaten hindern den Jungen, mit Behagen sein
warmes Mittagbrot zu verzehren, das bereitstehende Essen und sein
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
285
Hunger hindern ihn, seiner Schaulust nachzngeben. Wie kommt es
nun zu einer Entscheidung zwischen diesen Motiven? In unserem
Beispiel ist die Lösung einfach; es kommt nur darauf an, ob der
Hunger oder die Schaulust größer ist. Das stärkere Motiv bestimmt
den Willensentschluß und das heißt nichts anderes als: dasjenige
Motiv nennen wir das stärkere, das den Willensentschluß bestimmt,
denn nur daran ermessen wir seine Stärke.
Hier haben wir den allereinfachsten Fall der Anwendung des
deterministischen Leitsatzes: der Willensentschluß des Menschen
wird determiniert durch das stärkste seiner Motive.
Schon an dieser Stelle setzt die Kritik der Gegner ein mit der
Frage: wie nun, wenn die Motive gleich stark sind? Um mit dieser
Frage den Determinismus ad absurdum zu führen, hat seit langer
Zeit ein vielgeplagtes Tier als Schulbeispiel herhalten müssen, um den
vermeintlichen Widersinn des obigen Satzes drastisch vor Augen zu
führen: der Esel des Buridan, genannt nach einem Scholastiker, der
als der Erfinder dieses Argumentes angesehen wird.
Ein Esel wird in die Mitte zwischen zwei gleich große, gleich
duftende, von seinem Maul gleich weit entfernte, also gleich ver¬
lockende Heubündel gestellt. Was wird er tun? Er wird Hungers
sterben, denn es fehlt ihm ja an ein Motiv, um das eine Heubündel
dem anderen vorzuziehen und somit die Möglichkeit, die Heubündel
zu verzehren. — Wir wollen den Esel einstweilen zwischen seinen
Heubündeln sich selbst überlassen und um sein Schicksal unbesorgt
sein, um zunächst einige alltägliche Beispiele des gedachten Falles zu
betrachten. Ich gehe spazieren und komme an ein Rondell, das ich
rechts oder links umkreisen muß. Ich wähle einen der beiden Wege,
ohne einen Grund dafür zu haben. Oder ich ziehe aus einem Fächer
von Karten eine Spielkarte; welche ich ziehe, ist gleichgültig. Oder
ich werde aufgefordert, eine beliebige dreistellige Zahl zu nennen und
nenne 427. Warum ist es gerade diese? Wie kommt hier ein Willens¬
entschluß zustande? Die Antwort, die Windelband sehr eingehend
und interessant begründet, ist kurz die: es kommt überhaupt kein
Willensentschluß zustande, die bestimmte Entscheidung zu treffen,
sondern diese erfolgt durch das Spiel eines unwillkürlichen Mechanis¬
mus, wie ihn der Mensch in all seinen Leibesbewegungen dauernd
ausübt, ohne sich über die einzelnen Muskeltätigkeiten, die er durch
Übung zu bewirken gelernt hat, Rechenschaft abzulegen. Bei dem
Umkreisen des Rondells wird der Spaziergänger von seinen Beinen
getragen, ohne seine Gedanken und seinen Willen mit Bewußtsein
auf die Tätigkeit des Gehens zu richten. Bei dem Zahlenbeispiel
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XII. VON Zastrow
tritt ein entsprechender Mechanismus des Vorstellungslebens ein. Man
läßt sich eine Zahl einfallen, d. h. man öffnet gleichsam ein Schub¬
fach, in dem die betreffenden Erinnerungen verwahrt liegen, und er¬
greift diejenigen, die einem zunächst in die Hand fallen. Daß auf
diese Weise gewisse Beispiele beim wiederholten Beispielbilden immer
wiederkehren, daß sie also gleichsam im Gedankenschubfach obenauf
liegen und beim Hineingreifen zunächst in die Hand fallen, lehrt
auch die Beobachtung, daß der Jurist, der ein Beispiel für einen
Kauf bilden will, stets auf den Kauf eines Pferdes verfällt. Von einem
berühmten Berliner Pandektisten wird sogar erzählt, daß sein Beispiel
für eine mangelhafte Kaufsache stets ein rotzkrankes Pferd war.
Eine solche Entscheidung durch den Mechanismns des Leibes
oder der Vorstellungen erfolgt überall da, wo es an einem Motive zu
einer Willensentschließung, die zwischen verschiedenen Möglichkeiten
wählt, fehlt
Nicht anders steht es bei Buridans Esel. Er hat inzwischen
längst seine Heubündel verzehrt und zwar vermöge jenes leiblichen
Mechanismus, der sich unwillkürlich betätigt und immer betätigen
muß, solange nicht ein absolutes Gleichgewicht aller Sinneseindrücke
und Muskeln hergestellt ist, wie es eben in der Wirklichkeit niemals
besteht Annähernd wird ein solches Gleichgewicht allerdings mitunter
erreicht Es ist eine Art toter Punkt im Mechanismus, den man auch
bei ganz gleichgültigen Entscheidungen augenblicksweise empfinden
kann. Man hat dann das Gefühl, sich einen Buck geben zu müssen,
um zum Entschlüsse zu kommen, aber dieser Buck ist garnichts
anderes, als die Empfindung des Bückstoßes von der Überwindung
jenes toten Punktes, die auf dem Wege der Leibes- oder Vorstellungs¬
mechanik vor sich geht.
Buridans Esel dient noch heute dazu den Determinismus zu be¬
kämpfen. Er ist aber dazu völlig ungeeignet, denn er vermag in
keiner Weise zu erklären, was denn die Kraft sein soll, die bei einer
motivlosen, d. h. freien Wahlentscheidung sich betätigt, und er vermag
in keiner Weise zu widerlegen, daß, wo ein Willensentschluß zustande
kommt, dies nur durch das stärkste der wirksamen Motive ge¬
schehen kann.
Schreiten wir nun von diesem Kampfe auf der Schwelle des
Freiheitsproblems zu diesem selbst vor.
Was uns interessiert, ist ja nicht eine Entscheidung zwischen
gleichgültigen Möglichkeiten, sondern die Willensentschließung über
gut und böse, recht und unrecht, an die wir die moralische und recht-
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
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liehe Verantwortung knüpfen. Wir bleiben bei unserem Beispiel vom
Schuljungen und wenden es etwas anders. Der Junge soll Schul¬
arbeiten machen, da ziehen die Soldaten am Fenster vorbei. Hier
beginnt der Streit zwischen Pflicht und Neigung in seinem Inneren.
Nicht mehr zwei einfache Motive wie Eßlust und Schaulust sind
es, sondern ganze Bündel von Motiven schießen in seinem Bewußt¬
sein hervor. Zunächst die Motive der Neigung: ich möchte die Soldaten
sehen — gesteigert: heute ist es besonders schön, heute kommen
Husaren vorbei — oder im Superlativ: heute kommt der Kaiser! Auf
der anderen Seite die Motive der Pflicht: Wenn ich nicht arbeite,
wird die Aufgabe nicht fertig — im Komparativ: wenn mich der
Vater am Fenster ertappt, gibts Prügel — im Superlativ: es ist die
Prüfungsarbeit, wenn sie schlecht wird, werde ich nicht versetzt. Das
wäre die unmittelbare Reihe der Motive. An sie schließt sich nun
eine Reihe mittelbarer Motive, die sich beliebig weit ausmalen ließe,
etwa die Erinnerung an das Strafgericht, das der Lehrer abhält, wenn
ein Schüler schlecht gelernt hat, der Gedanke an die Ehre eines guten
Zeugnisses und an eine Schulprämie, andererseits die Erinnerung an
Glücksfälle, wo man durch geschlüpft ist, ohne gelernt zu haben, oder
an dieses oder jenes, was einem bei den vorbeiziehenden Soldaten
besonders interessant ist. Die Gesamtheit dieser im Bewußtsein des
Jungen auftauchenden Motive bildet sich einmal aus seinem Bestände
von Erinnerungen und aus daran geknüpften Erwartungen. Aus dem
Inbegriff seiner Erinnerungen an die bisherigen Erfahrungen von den
Folgen seines Tuns schöpft er die Vorstellung von dem, was er als
Folge seines gegenwärtigen Tuns zu erwarten hat. Diese Motive
bilden einen zusammenhängenden Komplex seines Vorstellungslebens,
eine Art Gewebe, das in seinen einzelnen Fäden in Bewegung gesetzt
wird, wenn von der Außenwelt ein neues Motiv auf ihn einwirkt.
Im Innenleben des Kindes wird dieses Gewebe ein unausgeglichenes
sein, die Erinnerungs- und Erwartungsgefühle werden plötzlich, ab¬
gerissen, sprunghaft erscheinen. Man kann sich vorstellen, wie der
Junge plötzlich zum Fenster stürzt, wieder umdreht, zur Arbeit zu-
rückkebrt und im nächsten Augenblick das Buch wieder zuschlägt.
Man spricht hier von dem ungefestigten Charakter des Kindes. Je
weiter die Charakterbildung fortschreitet, desto fester wird dieses innere
Gewebe, desto einheitlicher und bestimmter reagiert es auf das von
außen einwirkende Motiv, desto bestimmter und zweifelloser kommt
die Willensentschließung des Menschen zustande.
In dieser Lage des Jungen, der von Pflicht und Neigung hin-
und hergezogen wird, haben wir das beste Beispiel zur Verdeutlichung
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XII. VON Zastrow
der landläufigen Art, wie Determinismus und Indeterminismus mit
einander streiten. Wir nehmen an, der Junge wird von seinem in¬
deterministischen Vater am Fenster ertappt — Väter sind immer In¬
deterministen. Der Vater geht zum Lehrer und klagt ihm sein Leid.
Der Lehrer hat philosophische Studien gemacht und ist überzeugter
Determinist. Er antwortet dem Vater: „der Junge kann in der Stube
nicht arbeiten, wenn immer Militär vorbeizieht, Sie müssen ihm ein
anderes Zimmer geben“. Der Vater antwortet: „er kann schon, er
will bloß nicht!“ Darauf der Lehrer: „er kann eben nicht wollen,
deshalb will er nicht“ Nun bricht der Vater ungeduldig aus: „Ach
was, er kann schon wollen, er will bloß nicht wollen!“ — Hier haben
wir den Dialog, wie er sich in der Praxis abspielt und auf beiden
Seiten das typische Bild einer ungeheuren Gedankenkonfusion ist,
deren Aufklärung eine notwendige Voraussetzung ist, um zur Klarheit
über unser Problem zu kommen. Merkwürdigerweise ist in der
Literatur Schopenhauer allein diesem Gedanken nachgegangen, Windel¬
band verfolgt ihn nicht, und doch ist er von der größten Wichtigkeit.
Was heißt das: „Ich kann wollen?“ „Ich will wollen“?
Offenbar ist der Ausdruck dem nachgebildet, der uns bei der
Handlungsfreiheit geläufig ist. Handlungsfreiheit bedeutet ja,
tun können, was man tun will. Hiernach soll also Willens¬
freiheit bedeuten: wollen können, was man wollen will.
Das klingt zunächst ganz einleuchtend. Der Willensentschluß wird
hier als eine Tat aufgefaßt, bei der man wie bei jedem andern Han¬
deln von Wollen und Können spricht. Dieses Wollen ist also ein
Wille, der hinter der Willenstat steht, der also das Wollen will. Nun
ist nicht einzusehen, warum von diesem Wollen nicht das gleiche
gelten soll wie von dem ersten. Es kommt also auf das Wollen¬
wollen an, also fragt es sich, ob man wollen-wollen kann? und der
gesuchte Freiheitsbegriff verlangte nun die Formel:
wollen-wollen können, was man wollen-wollen will. So stünde
hinter jedem Wollen ein weiteres Wollen ohne Ende. Das führt zu
einem logischen Widersinn.
Wo der Fehler steckt, erkennen wir an der Formel der Handlungs¬
freiheit Was dort Wollen und Können bedeutet, sehen wir an einem
Beispiel: ich will das Zimmer verlassen, gehe zur Tür und finde sie
verschlossen. Hier will ich eine Tat ausführen und kann es nicht.
Finde ich die Tür offen, so tue ich es. Ebenso kommt es nicht zur
Tat, wenn ich die Tür zwar geöffnet sehe, aber nicht hinausgehen
will. Die Tat erfordert also ein Wollen und ein Können, mit an¬
deren Worten: "Wollen und Können ergänzen einander zur Tat
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Über Wimlclband und den Streit um das Strafrecht.
2S9
Algebraisch ausgedrückt heißt das: Können-f-Wollen = Tun. Da¬
raus folgt aber, daß Tun weder gleich Wollen, noch gleich Können
sein kann. Man kann also in der obigen Formel für das Tun nicht
die Willenstat einsetzen, weil dieses Tun selbst ein solches ist, das
sich aus Wollen und Können zusammensetzt. Das ist der Grund,
warum man' nicht wollen auf wollen und können auf können, und
ebensowenig wollen auf können und können auf wollen beziehen
kann. Dasselbe gilt vom Müssen und Dürfen. Kein Mensch muß
müssen. Wollen und Können gehören also zu den Hilfszeitwörtern,
die nur auf ein von ihnen selbst verschiedenes Hauptzeitwort bezogen
einen Sinn ergeben. In dem Gespräch zwischen Vater und Lehrer
ist es deshalb ebenso unsinnig zu sagen, „der Junge kann wollen“
wie „der Junge kann nicht wollen“. Die soeben aufgestellte Formel
für die Willensfreiheit ergibt also so wie sie lautet keinen Sinn. Wir
haben aber das Gefühl, daß doch etwas darin steckt, was durch ein
Rechenexempel nicht wegzubringen ist. Dieses Gefühl trügt aueb
nicht, die Formel ist nicht wertlos, es steckt nur ein Fehler darin.
Wir finden ihn an unserer Definition der Freiheit Handlungsfreiheit
ist ungehemmte Kraft der Willensentschliessung. Können bedeutet
also die Verneinung der Fessel, Wollen bedeutet die Kraft Ebenso
muß in der zweiten Formel Fessel und Kraft bezeichnet sein. Von der
Fessel spricht auch das Können, die Kraft aber kann nicht „Wollen“
heißen, wie wir sahen. In diesem Worte steckt also der Fehler. Statt
des zweiten „will“ muß ein anderer Begriff stehen. Diese unbekannte
Größe zu suchen, wird unsere Aufgabe sein, und ihre Lösung ist
nicht schwer.
Was der Vater meint, wenn er sagt, der Junge will nicht wollen,
ist offenbar eine Unterscheidung zwischen dem einzelnen Willens¬
entschluß und jenem Gesamtwillen, den man sich als einen dauernden
Bestand im Innern des Menschen denkt, wenn man davon spricht,
jemand habe einen starken Willen. Wir sehen uns damit auf die
Frage hingeleitet, die die Verantwortlichkeit des Menschen für seine
Handlungen von dem inneren Gesamtwillen ableitet, den man kurz
den Charakter des Menschen nennen kann. Die Frage lautet jetzt so:
Ist der Mensch für seinen Charakter verantwortlich? Der Determinist
verneint dies und sagt, auch der Charakter des Menschen steht unter
dem Gesetz von Ursache und Wirkung, er ist kausal so geworden,
wie er ist, also determiniert.
Der Indeterminist bejaht die Frage mit der Begründung, daß
der innerste Kern des menschlichen Wesens wissenschaftlicher Be-
Archiv für Kriiinmitanthropnlogie. 27. Bd. 19
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XII. von Zastrow
trachtung und dem für sie allein geltenden Kausalgesetz entrückt sei,
daß gerade hierin der Begriff der Freiheit liege, auf die sich allein
die Verantwortlichkeit auf bauen könne.
Diese indeterministische Betrachtungsweise findet ihren Ausdruck
in der Lehre von der sogen. Wahlfreiheit, deren Vertreter unter
den Kriminalisten die Führer der klassischen Strafrechtsschule Birk-
roeyer und Kahl sind. Diese Lehre, auf unser Beispiel angewendet,
bedeutet: Der Junge mag all die genannten Motive auf sich ein¬
wirken lassen, er bleibt doch ihr Herr, d. h. er kann sie gleichsam
vor sich ausbreiten, prüfen, gegen einander abwägen, aber die Ent¬
scheidung geht doch nicht von diesen Motiven aus, sondern sie liegt
in ihm selbst. Die Motive wirken von außen, der Entschluß kommt
aus seinem Innern. Insofern hat er die freie Wahl über seine Mo¬
tive. Diese Unterscheidung zwischen außen und innen ist ohne
weiteres berechtigt Wir sahen bereits, wie ein äußeres Motiv, eine
aufsteigende Neigung, in das Gewebe des Innenlebens eintritt und
dieses in Bewegung setzt Nach der Struktur dieses Gewebes
sprechen wir von der Empfänglichkeit eines Menschen für einen Ein¬
druck, von der Nachgiebigkeit gegen einen Anreiz. Aber diese innere
Gesamtverfassung, die wir den Charakter des Menschen nennen, ist
zweifellos nicht das dem Kausalitätsgesetz entrückte innere Wesen
des Menschen, dessen Verantwortlichkeit wir fordern. Wir sprechen
ja von Charakterbildung und stellen damit den Charakter unter das
Gesetz von Ursache und Wirkung. Alle Erziehung leitet ihr Recht
aus der Möglichkeit dieser Charakterbildung her, und ihre Mittel sind
Beeinflussungen, die den Charakter des Menschen in bestimmter
Richtung gestalten. Auch darüber werden wir alle einig sein, daß
der Grundstock der Charakterbildung die ererbte Anlage des Men¬
schen ist und daß zu dieser bei dem heranwachsenden Kinde nach
und nach alle jene Beeinflussungen hinzutreten, die seinem Wesen
eine bestimmte Eigenart aufprägen. Vermöge dieser Eigenart rea¬
giert es in bestimmter Weise auf jeden neuen Eindruck, der von
außen kommt und verarbeitet diesen zugleich wieder in die Ge¬
samtheit seines Innenlebens. So bildet sich ein Bestand dauernder
Motive im Innern des Menschen; diese Motive bestimmen die Art
seiner Reaktion auf jeden äußeren Anreiz. Wir sehen also, es steht
nicht so, daß was von außen kommt die Motive wären, und was
von innen kommt, ein von diesen Motiven zu trennendes inneres
Selbst ist. Sondern gerade aus dem Innern heraus wirken jene
dauernden Motive, deren Gesamtheit für den Willensentschluß des
Menschen entscheidend ist Wir nennen sie deshalb die kon-
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht
291
stanten Motive und unterscheiden von ihnen die augenblick¬
lichen Motive als die jeweils von außen kommenden Eindrücke
und Willensantriebe.
Diese Grenze zwischen außen und innen ist freilich keine fest¬
stehende, denn jedes Motiv kommt zuerst von außen und wird erst
durch Verarbeitung in den Bestand der inneren Motive aufgenommen,
und diese Verarbeitung ist je nach der Größe und Stärke des Mo-
tives verschieden wirksam. Es vollzieht sich eine beständige Auf¬
lösung der Augenblicksmotive in der Gesamtheit der dauernden
Motive, die bei gewichtigen Motiven langsamer vor sich geht als bei
unbedeutenden. Ereignisse, die uns tiefen Eindruck gemacht haben,
stehen noch nach Jahren in aller Bestimmtheit als Einzelerlebnisse
vor unserer Seele, während die Begebnisse des Alltags scheinbar
spurlos an uns vorübergingen, in Wahrheit aber von unserem
Innenleben verarbeitet, d. h. von der Gesamtheit der dauernden
Motive gleichsam aufgesogen sind.
Diese Betrachtung lehrt uns, daß man nicht ein Außen und
Innen in dem Sinne unterscheiden kann, daß von außen die Motive,
von innen der freie Wille wirksam sei, sondern nur in dem Sinne,
daß gewisse Motive fühlbar von außen wirken, während alle anderen
die in den Bestand unseres dauernden Seins aufgenommen sind,
nicht mehr als einzelne Motive fühlbar werden. Sie wirken un¬
bewußt aus unserem Innern, gleichsam als Ausstrahlungen unseres
Charakters.
Die Indeterministen wenden dagegen ein: es müsse hinter diesen
Wirkungen des Charakters, die man in ihrer Gesamtheit Motive nennen
möge, doch noch eine letzte Instanz angenommen werden, die ihrer¬
seits eine freie Entscheidung zwischen allen jenen Motiven treffe.
Diese Annahme wird besonders anschaulich gemacht durch das viel¬
gebrauchte Gleichnis von der Arena des Bewußtseins, auf der die
Motive als Ringkämpfer vor dem zuschauenden Selbstbewußtsein auf-
treten. Wie, sagt der Indeterminist, der Mensch sollte ein Spielball
der auf ihn eindringenden Motive sein, ein bloßer Zuschauer des
Kampfes, der sich auf der Arena seines Bewußtseins abspielt? Darauf
ist zu erwidern, daß jenes Gleichnis aus der Teilung unseres Innen¬
lebens in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung entspringt und daß
jener innere Tatbestand zu der irrtümlichen Annahme führt, die für
das Selbstbewußtsein — im Gleichnis den Zuschauer — in Anspruch
nimmt, was in Wirklichkeit der Selbstbestimmung — im Gleichnis
dem Kämpfer in der Arena — zukommt. Wir erinnern uns unserer
Begriffsbestimmung der Freiheit, die wir als eine ungehemmte Kraft-
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XII. von Zastrow
29<2
entfaltung erkannt hatten, und wir fragen nun: welches ist hier die
Kraft, die in jener angeblich freien Willensinstanz tätig wird? Bei
der Handlungsfreiheit war jene Kraft der gefaßte Willensentschluß,
der in dem einen Falle frei, im anderen Falle gehindert war, sich in
die Tat umzusetzen. Hier dagegen ist ja ein Willensentschluß noch
nicht vorhanden, sondern wir suchen ja zu ergründen, wie er zu¬
stande kommt. Die vorhandenen Kräfte sind die einander wider-
streitenden Motive, die wir kurz als Pflicht und Neigung bezeichnet
haben, und eine Kraft, die von diesen Motiven unabhängig sich be¬
tätigte, ist schlechterdings nicht denkbar. Man müßte denn sagen,
die Entscheidung erfolgte ursachlos, das hieße aber durch Zufall, und
für eine zufällige Entschließung ist niemand verantwortlich. Zur
Begründung der Verantwortlichkeit kommen wir also auf diesem
Wege nicht.
Ein weiterer Ein wand ist nun der Hinweis auf das „Geheimnis
der Persönlichkeit“. Die Individualität des Menschen, so sagt man,
ist unergründlich, es steckt ein Etwas in ihr, das nicht in dem kausal
gewordenen Charakter restlos aufgeht, sondern sich der Erklärung
durch das Gesetz von Ursache und Wirkung entzieht.
Dieses Geheimnis der Persönlichkeit soll nicht geleugnet werden,
es läßt sich aber durch eine ganz natürliche Betrachtungsweise er¬
klären. Alle Charakterbildung ist ein innerer Vorgang, der sich der
unmittelbaren Beobachtung entzieht Wir kennen weder die ange¬
borene Anlage eines Kindes, noch können wir alle Einflüsse kon¬
trollieren, denen das Kind ausgesetzt ist, geschweige denn die Wirk¬
samkeit eines jeden ermessen. Charakterbildung ist eine Art chemischer
Prozeß, der sich nach Gesetzen vollzieht, die wir zwar im allgemeinen
kennen, die wir aber im einzelnen in ihrer Wirksamkeit nicht vorher¬
sehen und berechnen können, weil bei jedem Individuum eine neue
und eigenartige Zusammensetzung der einzelnen chemischen Stoffe
und somit eine neue und eigenartige chemische Verbindung vor sich
geht. Der Gärtner kennt dieNüesetze der Botanik und regelt nach
ihnen das Wachstum seiner Pflanzen, trotzdem vermag er nicht zu
erklären und es nicht zu beeinflussen, daß keine Pflanze der anderen,
kein Blatt dem anderen gleicht. Man kann auch hier von einem
Geheimnis der Natur sprechen, das unergründlich ist, aber so wenig
zur Erklärung dieses Geheimnisses die Annahme einer in jeder Pflanze
steckenden Urseele erforderlich ist, so wenig bedarf es einer ähnlichen
mystischen Vorstellung zu der Erklärung, daß auch jedes Menschen¬
kind, das heranwächst, eine eigene Persönlichkeit mit individuellem
Charakter ist.
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Über Windelbaud und den Streit um das Strafrecht.
293
Was aber die Annahme einer solchen aller Berechnung entzogenen
Instanz, die als Faktor bei der Willensentschließung mitwirken soll,
entgegensteht, das sind die Erfahrungen und Erfordernisse, auf denen
alle Pädagogik, alle Statistik und alle Strafrechtspflege beruht. Jede
Erziehung und jede Beeinflussung durch eine Strafe setzen voraus,
daß der Charakter des Menschen bildsam und lenkbar ist. Und wenn
die Kunst des Pädagogen oft an der Unberechenbarkeit des Kindes
scheitert, so liegt das nicht daran, daß der irrationale Faktor „Willens¬
freiheit“ seine Berechnung kreuzt, sondern daran, daß er den wahren
Charakter des Kindes nicht richtig erkannt hat. Wäre es anders, so
wäre alle systematische Pädagogik sinnlos Sinnlos wäre auch jeder
Versuch der Statistik auf dem Gebiete, das der menschlichen Willens¬
entschließung unterliegt. Die merkwürdig interessanten Wellenlinien,
die wir z. B. in der Kriminalstatistik beobachten, belehren uns deut¬
lich darüber, daß die menschliche Natur auch in ihrem Willensleben
keine Sprünge macht, auch wo der Wille, vulgär gesprochen, auf der
allerfreiesten Entschließung beruht. Und nehmen wir die Statistik
der Eheschließungen, so sehen wir, daß diese in dem gleichen Maße
zunehmen, wie die Kornpreise sinken. Sollen wir nun klagen, daß
nach dieser Beobachtung die Menschen im wichtigsten Entschlüße
ihres Lebens Spielbälle der Kornpreise seien? Ich meine, wir werden
uns lieber dessen freuen, daß die Menschen im Durchschnitt auch
hier nicht in blinder Willkür handeln, sondern sich durch die Rück¬
sicht auf ihre wirtschaftliche Lage, auf die Höhe ihres Lebensbedarfs
und ihrer Unterhaltsmittel determinieren lassen.
Der freie Wille, den unsere Gegner außerhalb aller Motive suchen,
findet aber nicht nur keinen Platz bei der Betrachtung der Wirklich¬
keit, auch die theoretische Betrachtung, die philosophische Spekulation,
die ihm seit den Anfängen philosophischen Denkens nachzuspüren
versucht hat, hat nicht zu ergründen vermocht, was denn dieses innere
Selbst des Menschen, diese von allen Schlacken irdischer Charakter¬
bildung losgelöste Urseele eigentlich sei.
Erlassen Sie mir die Darstellung aller der Versuche, die die Ge¬
schichte der Philosophie aufweist, jenes Geheimnis zu entschleiern;
ich will nur kurz erwähnen, daß Kant in seiner Lehre vom Ding-
an-sich hier den Begriff eines intelligiblen Ichs, im Gegensatz zum
Charakter, dem empirischen Ich, gebildet hat. Die Eigenart dieses
Begriffs ist — seine Unvorstellbarkeit! Nicht besser ergeht es uns
mit Spinozas Lehre von der causa sui, oder mit denr scholastischen
Begriffe der „Aseität der Substanz“, d. h. der ursachlosen Realität des
Seins. Diese und alle anderen Versuche kommen zu dem Ergebnis,
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XII. von Zastrow
daß die gesuchte Urseele des Menschen inhaltlos und deshalb unvor¬
stellbar ist. Am deutlichsten wird dies in einem von Platon ge¬
schilderten Mythos, den er zur Ausmalung der Seelenwanderungslehre
des griechischen Dionysos-Kultus heranzieht. Hiernach sind die Seelen
der Menschen unsterblich, d. h. sie überdauern den Wechsel körper¬
licher Erscheinung und wechseln nur ihren Träger. Nach Ablauf
eines Zeitalters müssen sie Lethe trinken, sie vergessen damit alles,
was zu ihrer irdischen Individualität gehörte, sie werden also ent-
individualisiert. Sie wählen dann ein neues Menschenloos, das ihnen
eine neue Individualität verleiht. Der Sinn dieses Mythos zeigt klar,
daß der des irdischen Charakters entkleidete Menschengeist merkmallos
und unvorstellbar ist Wovon wir aber keine Vorstellung haben, da¬
raus können wir auch nichts herleiten, am wenigsten den Begriff der
V erantwortlichkeit
Hier setzt nun der letzte und bedeutendste Einwand unserer
Gegner ein. Menschlichem Vorstellungsvermögen entrückt, so hören
wir, ist das Reich der Religion, in diesem wurzeln die Freiheit des
Willens und die Verantwortlichkeit, denn aus ihm leitet sich der Ur¬
sprung jeder Menschenseele ab.
Vor diesem Argument pflegen die Deterministen Halt zu machen.
Insbesondere Liszt und seine Schüler, von denen dies neuerdings
Dohna besonders betont, wollen zwischen Wissenschaft und Religion
eine strenge Scheidung machen, sie wollen jeden Übergriff auf das
Gebiet der Religion vermeiden und fordern dafür Alleinherrschaft auf
dem Gebiete der Wissenschaft, insbesondere der wissenschaftlichen
Grundsätze des Strafrechts.
Diesen Standpunkt vermag ich nicht zu teilen. Gewiß ist es für
den Juristen mißlich, dem Theologen in sein Fach hineinzureden und
umgekehrt, aber es handelt sich doch nur um die Grenzen individueller
Fachkenntnisse, nicht um die Grenzen, die in den Dingen selbst liegen.
Für den denkenden Geist existieren die Kreidestriche nicht, die die
eine Fakultät von der anderen trennt. Die Philosophie, als die uni¬
verselle und prinzipielle Theorie der Wirklichkeit (wie Paulsen sagt)
umfaßt alles, was menschlichem Denken erschließbar ist, sie umfaßt
die Rechtsphilosophie und die Religionsphilosophie. Sie kann die
Dinge nicht einfacher machen als sie sind und nichts daran ändern,
wenn hier beide Gebiete in einander übergehen und unlöslich mit
einander verbunden sind. Zum Glück brauchen wir auch für unser
Problem keinerlei theologischen Apparat. Die religiöse Vorstellung,
um die es sich handelt, ist uns allen bekannt, sie besteht in der
Meinung, Gott habe den Menschengeist frei geschaffen, so daß es nun
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
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beim Menschengeiste stehe, das Gute oder das Böse zu wählen. Wir
begegnen hier wieder dem harmlosen Gebrauche des Wortes frei.
Erinnern wir uns unserer Analyse dieses Begriffs und fragen wir,
welche Kraft ist hier frei im Menschengeiste? Es muß entweder die
Kraft des Guten oder die des Bösen sein. Ist es aber eine von diesen,
so ist sie eben von Gott in den Menschen hineingelegt, sie ist dann
die Grundlage seines Charakters, also gerade dasjenige, was den Ent¬
schluß des Menschen determiniert Ist aber keine der Kräfte gemeint,
so fehlt dem Worte frei wiederum jeder Inhalt. Wir sehen also auch
im Bereich des religiösem Denkens ist ein der Charakterbildung ent¬
rücktes persönltches Wesen des Menschen nicht auffindbar. Es ist
aber garnicht einmal wahr, — und das muß gegenüber denjenigen
Indeterministen betont werden, die sich für ihre Meinung auf die
christliche Weltanschauung berufen zu sollen glauben — daß unsere
Religion indeterministisch gerichtet sei. Die eben besprochene Vor¬
stellungsweise besteht zwar in der Theorie, in der Praxis herrscht
aber die gegenteilige. Sie kennen alle das vielzitierte Wort von
dem Gott, der die Herzen der Menschen lenkt, wie die Wasserbäche.
Das Wort ist vergeblich in der Bibel gesucht worden, es steht nicht
darin, aber es ist offenbar eine Umdichtung eines anderen Bibelwortes,
das mir kürzlich begegnet ist. Es steht in den Sprüchen Salomos
21, 1 und heißt: „Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn wie
Wasserbäche und er neigt’s, wohin er will.“ Das echte wie das un¬
echte Zitat, sie bilden in gleicher Weise den tausendfach wiederholten
Ausdruck einer allgemein feststehenden Überzeugung der Christenheit.
Und beachten Sie, wie streng deterministisch der alttestamentliche
Spruchdichter hier in dem Gleichnis von den Wasserbächen spricht.
Das Ergebnis dieser Betrachtung versuche ich dahin zusammen¬
zufassen :
Eine Instanz, die unabhängig von Motiven aus sich selbst
heraus im Willensleben des Menschen eine Wahlentscheidung
träfe, ist der psychologischen, der metaphysischen und der
religiösen Betrachtungsweise gleichermaßen unauffindbar, viel¬
mehr lehrt die Beobachtung des Lebens, es fordern Pädagogik
und Strafrechtspflege und es bestätigt das im Bereiche der
christlichen Weltanschauung herrschende religiöse Empfinden,
daß der Mensch in seinen Willensentschlüssen von seinem
Charakter, d. h. dem Inbegriffe der in seinem Innern wirk¬
samen Motive, determiniert wird.
Ich kann den Versuch der Rechtfertigung des Determinismus
nicht schließen, ohne Ihnen ein Wort anzuführen, das eine muster-
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XIL von Zastrow
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gültige Zusammenfassung aller hier von mir aufgerollten Gedanken,
gleichsam eine Stichwortsammlung in gebundener Rede darstellt, bei
der auch der Rahmen religiöser Weltanschauung nicht fehlt, wenn
auch die Beziehung zur Religion in eine Form gekleidet ist, die dem
Zeitgeist des Sprechers dieser Worte entstammt und deshalb den
Ernst und die Wahrheit leicht verkennen läßt, die darin enthalten
sind. Es ist der Schiller’sche Wallenstein, der mit Bezug auf seine
astrologischen Studien zu seinen Generalen spricht:
Des Menschen Wollen und Gedanken, wißt
Sind nicht wie Meeres blind bewegte Wellen.
Die innre Welt, sein Mikrokosmos ist
Der tiefe Schacht, aus dem sie ewig quellen.
Sie sind notwendig wie des Baumes Frucht,
Sie kann der Zufall gaukelnd nicht verwandeln.
Hab ich des Menschen Kcm erst untersucht,
So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.
Ehe ich von diesem, dem schwierigsten, zum letzten und wich¬
tigsten Teil meines Vortrags übergehe, bedarf es der Erklärung eines
hier wichtigen Freiheitsbegriffs, der insbesondere forensisch von der
größten Bedeutung ist, es ist die psychologische Freiheit.
Wir kehren zu unserem Beispiel zurück und denken uns, der
Vater des Jungen sieht den Kampf zwischen Pflicht und Neigung
im Innern seines Sohnes und sagt zu ihm: „geh zum Fenster, wenn
Du magst, ich lasse Dir Deinen freien Willen“. Hier haben wir
wieder den Ausdruck „freier Wille“, aber offenbar anders gemeint
als vorhin bei der Mutter. Der Vater meint damit: ich will Dich
nicht beeinflussen durch mein Verbot. Das Verbot des Vaters ist an
sich auch nur ein Motiv unter vielen im Innern des Jungen. Sitzt
aber der Vater neben ihm, so kann man sich denken, wie dieses
Motiv alle andern überwiegt, sodaß cs nicht zum Kampf zwischen
Pflicht und Neigung in dem Jungen kommt, sondern nur zu dem
Gedanken: „Wie schade, daß ich nicht zum Fenster gehen kann,
aber der Vater erlaubt es nicht.“ Dieses Überwiegen eines einzelnen
Motives derart, daß alle anderen lahmgelegt sind, nennen wir den
Zustand des psychischen Zwanges; wo er vorliegt, fehlt die psycho¬
logische Freiheit. Unfrei ist der Junge insofern, als er durch den
Zwang, den das Verbot des Vaters ausübt, gehindert ist, aus seinem
eigenen Innern heraus, aus seiner Natur und seinem Charakter die
Entscheidung zwischen Pflicht und Neigung zu treffen. In diesem
Sinne können wir die hier in Rede stehende Freiheit als natürliche
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
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Freiheit bezeichnen. Die Natur des Menschen ist dann als die Kraft
gedacht, die entweder frei sich betätigt oder durch ein bestimmtes
Motiv, daß durch äußere Umstände zur Alleinherrschaft gelangt, an
der Betätigung gehemmt wird. Solche Beeinträchtigungen der natür¬
lichen Freiheit gibt es unendlich viele. Den Juristen interessieren
drei von ihnen ganz besonders: die Drohung, der Rausch und der Affekt.
Die Drohung ist die Beeinträchtigung, die man juristisch als
psychischen Zwang, vis compulsiva, bezeichnet. Gegen diesen Zwang
ist die natürliche Freiheit des Menschen allenthalben zivilrechtlich
und strafrechtlich geschützt. Ich erinnere an die Vorschriften des
Zivilrechts zum Schutze gegen Bewucherung, gegen Mißbrauch eines
Abhängigkeitsverhältnisses, gegen die erzwungene Ehe oder letztwillige
Verfügung und an das Heer von Strafbestimmungen gegen alle Arten
von Bedrohung. Andererseits ist der unter dem psychischen Zwange
einer Drohung oder eines drohenden Übels Handelnde entweder straf¬
frei — so im Falle des § 52 — oder er wird milder bestraft, so wer
falsch schwört, wenn die Aussage der Wahrheit ihm Strafverfolgung
zugezogen hätte.
Wichtiger ist die Störung der natürlichen Freiheit durch den
Rausch. Von ihm herrscht in der Praxis meist die falsche Vor¬
stellung, er wirke insoweit als geistige Störung, als er das Bewußtsein
trübe oder aufhebe. Unsere Einsicht in das Zustandekommen des
Willensentschlusses durch das Spiel der Motive lehrt uns, daß diese
Annahme falsch ist. Das Verhängnis des Rausches liegt darin, daß
er bei klarer Vorstellung den Willen lähmt, d. h. die Reihe der
konstanten Motive lahmlegt, die für gewöhnlich den Willen bestimmen.
Man weiß im Rausche sehr wohl, was man tut, aber man kümmert
sich nicht darum, was man anrichtet, man verliert die richtige
Schätzung des Wertes der eignen Handlungen. Man wird ein Opfer
der Augenblicksmotive, und die scheinbare Erregung, Weinen, Toben,
Zerstörungswut, Zärtlichkeit usw., alles dies ist nur die Folge einer
Lähmungserscheinung, nämlich der Lähmung aller jener konstanten
Motive, deren Wirksamkeit uns sonst im seelischen Gleichgewichte
erhält. Man sieht, daß die richtige Beurteilung des Rausches, die
nur dem Determinismus möglich ist, in vielen Fällen eine erheblich
andere straftrechtliche Würdigung, als sie jetzt üblich ist, mit sich
bringen muß.
Das Gleiche gilt von der Frage der Einsicht, die der jugendliche
Verbrecher haben muß, um strafbar zu sein. Diese zur Erkenntnis
der Strafbarkeit erforderliche Einsicht wird von der Praxis meistens
irrigerweise im Vorstellungsleben statt im Willensleben des Kindes
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XII. von Zastrow
gesucht Ich meine damit nicht, daß man sie in der moralischen
Reife suchen soll, die tritt bei Manchem überhaupt nicht ein, sondern
es handelt sich dabei nm diejenige Abrundung und Festigung des
Motivationslebens, die das Kind über das Stadium hinaushebt, in dem
es ein Spielball seiner Augenblicksmotive ist, eine Entwicklungsstufe
die allerdings mit dem 12. oder 14. Jahre eintritt, was übrigens auch
von unseren Kirchen durch den auf diesen Zeitpunkt gelegten Akt
der ersten Kommunion oder Konfirmation anerkannt wird.
Der Affekt schließlich ist ein Motiv, das so schnell wirksam
wird, daß es dem Menschen nicht Zeit läßt, seinen Willensentschluß
gleichsam aus dem Schacht seines Innenlebens heraufzuholen. Insofern
handelt der Mensch im Affekt unfrei. Unser Strafgesetzbuch erkennt
dies in einigen besonders ins Auge springenden Fällen durch die
Bestimmung der Straflosigkeit oder Strafmilderung an, so bei dem
in Furcht, Bestürzung oder Schrecken begangenen Notwehrexzeß,
dem Kindsmorde, der Tötung im Affekt und beim Totschlage. Dieser
ist das deutlichste Beispiel für das Fehlen der konstanten Motive,
deren Vorhandensein das Gesetz als Überlegung bezeichnet und zum
Tatbestandsmerkmal des Mordes erklärt. Es ist indessen nicht einzu¬
sehen, warum diese zwischen Mord und Totschlag gemachte Unter¬
scheidung nicht auch bei allen anderen Vergehen in Betracht gezogen
werden muß. Insbesondere bedürfen auch Eigentumsvergehen einer
unterschiedlichen Bestrafung, je nachdem, ob sie mit vollem Bedacht
oder im Drange einer augenblicklichen Versuchung begangen sind.
Das System der mildernden Umstände trägt diesem Bedürfnis im
geltenden Recht noch nicht im vollen Umfange Rechnung, sein Ausbau
ist eine der dringendsten Forderungen der Strafrechtsreform, über deren
Berechtigung erfreulicherweise unter den Kriminalisten der modernen
und der klassischen Schule volle Übereinstimmung herrscht
Diese psychologische oder natürliche Freiheit ist es endlich auch,
die der § 51 des Strafgesetzbuches mit den Worten „freie Willens¬
bestimmung“ meint' Daß diese Freiheit die Voraussetzung der Ver¬
antwortlichkeit ist, versteht sich von selbst.
Eine weitergehende Bedeutung aber kann den Worten freie
Willensbestimmung nicht beigemessen werden. Das muß besonders
betont werden gegenüber einer Bemerkung von Lucas in seiner „An¬
leitung zur strafrechtlichen Praxis“, in der er die Meinung zu ver¬
treten scheint, das Gesetz habe den Streit um die Willensfreiheit im
Sinne der indeterministischen Theorie entscheiden wollen. Meine
Herren, kein Gesetz der Welt hat die Macht, über die Richtigkeit
logischer Gedankengänge zu entscheiden, und auch der § 51 vermag
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
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nicht dem Worte „frei“ einen Sinn zu geben, den es seiner logischen
Bedeutung nach nicht bat. Den Beweis aber, daß das System unseres
Strafrechts der indeterministischen Theorie zu seiner Stütze auch nicht
bedarf, daß es vielmehr nur auf deterministischem Boden einen be¬
friedigenden Sinn erhält, will ich in dem letzten Teile meines Vor¬
trags zu führen suchen.
Sie haben bis jetzt, meine Herren, in mir nur den Anwalt der
Deterministen gehört Sie sollen jetzt deren Ankläger hören. Die
Mehrzahl der Deterministen schließt an diesem Punkte der Erörterung
ihre Akten und hat auf die Frage der Rechtfertigung der Strafe nur
ein Achselzucken, ja sie spricht es mehr oder weniger unverhohlen
aus, daß sie die Zeit kommen sieht und sehnlichst herbeiwünscht
wo die staatliche Strafe mit samt ihrer ethischen Begründung als
eine barbarische Institution mittelalterlichen Aberglaubens für immer
der Vergangenheit angeboren wird. Ich nenne für viele nur zwei
hochangesehene Namen: Forel und Aschaffenburg. Forel begegnet
in seinem sonst so vorzüglichen Buche über die sexuelle Frage der
Strafrechtspflege mit ausgesuchter Unfreundlichkeit und er spricht
es als seine ernsthafte Ansicht aus, daß unser geltendes Strafrecht in
Theorie nnd Praxis durch den Determinismus ad absurdum geführt
wird. Und Aschaffenburg erklärt in seinem Buche „Das Verbrechen
und seine Bekämpfung“ am Schlüsse des bis dahin ausgezeichneten
Kapitels über den Determinismus, auf die moralische Verantwortung
verzichte der Determinismus. Gegenüber solchen Stimmen ist es nun
das besondere Verdienst Windelbands, einer Betrachtungsweise zu
ihrem Recht verholfen zu haben, die sich als eine philosophisch um¬
fassendere ausweist und uns in den Stand setzt solche Konsequenzen
eines einseitigen Determinismus zu widerlegen.
Wir knüpfen an die letzte Betrachtung über den Affekt an, wo
wir sahen, daß der im Affekt handelnde Mensch unfrei heißt Affekt¬
zustände, die sich häufig wiederholen, verdichten sich zu dem, was
man Leidenschaft nennt In diesem Sinne spricht man von leidenschaft¬
lichen Naturen. Macht nun auch die Leidenschaft den Menschen
unfrei und weniger strafbar? Das scheint der gesunden Vernunft
zu widersprechen, wenn wir an Leidenschaften wie Haß, Neid oder
Habsucht denken. Unser Empfinden belehrt uns, daß wir hier un¬
bemerkt die Grenze zweier verschiedenen Gedankenwelten über¬
schritten haben, eine Grenze, die wir nur an der Unterscheidung
zwischen konstanten und momentanen Motiven wahrnehmen können
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XII. von Zastrow
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Eine eingewurzelte Leidenschaft gehört zu den konstanten Motiven,
also zur inneren Natur und dem Charakter des Menschen. Das
unterscheidet sie vom Affekt, der eben Natur und Charakter nicht
zur Geltung kommen läßt. Während also dieser Affekt strafmildernd
wirkt, macht die im Charakter wurzelnde verbrecherische Leiden¬
schaft das Verbrechen nur um so strafbarer. Diese Unterscheidung
fehlt vielfach der Praxis, in der bald der Affekt mit der Leidenschaft
als strafschärfend, bald die Leidenschaft mit dem Affekt als straf¬
mildernd beurteilt wird. Und doch sprechen wir davon, daß jemand
ein Sklave seiner Leidenschaften sei und meinen damit einen Zustand
höchster Unfreiheit. Welchen Sinn hat hier der Begriff der Frei¬
heit? Wir meinen offenbar damit, daß gewisse Motive, die zu den
konstanten gehören mögen, vorherrschen und die andern unter¬
drücken. Herrscht aber bei jemandem das Gefühl der Rechtlichkeit
oder der Nächstenliebe so vor, so sprechen wir nicht von Sklaverei,
höchstens wenn wir meinen, daß er darin zu weit gehe. Es liegt
also in diesem Urteil der Unfreiheit eine Mißbilligung. Und das
zeigt uns, daß wir hier das Gebiet der Werte des geistigen Lebens,
der Bewertung eines Motivs und des hinter ihm stehenden Charakters
betreten haben. Wir nennen den „unfrei“, der von Motiven be¬
herrscht ist, die wir mißbilligen, „frei“ den, dessen leitende Motive
unsere Billigung finden. Woher nun diese Billigung und Mißbilligung
und was ist ihr Recht? Es ist eine Funktion in der Welt der Werte,
einer Welt die wir kurz überschauen müssen. Wir finden darin eine
Dreiteilung, nämlich die Funktionen des Denkens, des Wollens und
des Empfindens. Das Gebiet des Denkens ist die Logik, ihr Ideal
die Wahrheit; das des Empfindens die Aesthetik, ihr Ideal die Schön¬
heit; das des Wollens die Ethik, ihr Ideal die Sittlichkeit oder das
moralisch Gute.
Das Gemeinsame dieser drei Ideale ist nun, daß sie unabhängig
von dem ursächlichen Entstehen der Gedanken, der Willensentschlüsse
und der Empfindungen sind. Das ist am einleuchtendsten beim
ästhetischen Empfinden und künstlerischen Schaffen. Die Entstehung
eines Gemäldes ist in allen seinen Teilen ein Ergebnis aus Ursache
und Wirkung, ob es nun schön oder unschön ausfällt Nicht anders
steht es beim Denken. Der Irrtum im Gedankenlaufe eines Menschen
ist ebenso kausal entstanden wie der wahre Gedanke. Die Frage
nach der Wahrheit eines Gedankens berührt sich garnicht mit der
anderen Frage, wie der Mensch, der ihn denkt, dazu gekommen ist.
Genau so steht es mit dem moralischen Urteil und dem determinierten
Wollen. Daß ein jeder Willensentschhiß die Wirkung bestimmter
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Über Windclbaud und den Streit um das Strafrecht.
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Ursachen ist, die wir hier Motive nennen, das teilt er mit dem Denken
und mit dem Empfinden. Und ebenso berechtigt wie es ist, das Er¬
gebnis einer Denkoperation richtig oder falsch, das Produkt künstler¬
ischen Gestaltens schön oder häßlich zu nennen, ebenso berechtigt ist
es, das durch Motive determinierte Wollen des Menschen mit dem
Werturteil „gut“ oder „böse“ zu belegen. Wir sehen:
Das logische, das ästhetische und das ethische Werturteil, sie
sind unabhängig von der kausalen Entstehung des bewerteten
Phänomens.
Das ist das Eine. Zum Andern sehen wir aber — und das ist das
Entscheidende für unser Problem — eine Verschiedenheit im Gebiete
des Wollens vom Denken und vom Empfnden. Das logische Ideal
der Wahrheit setzt sich ungehemmt durch, sobald es seinen Feind
im Irrtum überwunden hat. Nicht anders das Schönheitsideal, bei dem
der Künstler über das, was schön und unschön ist, klar geworden
ist. Soviel Streit unter den Menschen über die Wahrheit und die
Schönheit herrschen mag, so vermag doch niemand absichtlich etwas
Unwahres zu denken, und kein Maler wird absichtlich häßlich malen.
Ganz anders steht es im Willensleben. Hier erleben wir es auf
Schritt und Tritt, daß wir geflissentlich, mit vollem Bedacht, den
Willensentschluß fassen, der unserem eigenen, deutlich erkannten
moralischen Ideal widerspricht. Das heißt, der Wille gehorcht nicht
der ethischen Norm im Bewußtsein des Menschen, wie das Denken
der logischen und das Empfinden der aesthetischen Norm gehorcht.
Der Wille lehnt sich gegen die ethische Norm auf: „Das Gute, das
ich will, das tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will, das tue
ich“, wobei Wollen für die Stimme der ethischen Norm in unserem
Bewußtsein gesetzt ist und Tun für den Willensentschluß. In unserer
früheren Formel ausgedrückt sind es Pflicht und Neigung, die um
den Sieg kämpfen. Die Pflicht ist der Ausdruck unseres Norm¬
bewußtseins. Ob dieses sich aber durchzusetzen vermag, d. h. ob
seine Motive stärker sind als die der Neigung, das ist eine Tatfrage.
Aus dieser Divergenz zwischen der ethischen Norm und dem fak¬
tischen Willensentschluß, die eine Eigentümlichkeit des ethischen
Lebens ist, entsteht nun derjenige innere Vorgang, den wir das Ge¬
fühl der Verantwortlichkeit oder das Gewissen nennen. Es ist ein
Unlustgefühl, das sich bei dem Auseinandergehen des Normbewußt¬
seins und unserer Willensentschließung einstellt und umso heftiger
wird, je weiter unser Wollen von dieser Norm abweicht. Es mindert
sich entsprechend, je mehr sich dieses Wollen wieder der Norm
nähert und geht, wenn Norm und Wollen übereinstimmen, in das
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XII. VON Zastbow
Lustgefühl über, das wir das gute Gewissen, den inneren Lohn der
guten Tat nennen. Wir beobachten also, daß dieses Verantwortlich¬
keitsgefühl eine bestimmte Funktion in unserm Innern ausübt, näm¬
lich unser Wollen dem Normbewußtsein anzunähem. Der Mensch
sucht, was Imst und meidet, was Leid bringt. Lust und Leid wirken
also als Motive auf seinen Willen. Die Funktion der inneren Ver¬
antwortung besteht also darin, inneres Leid zuzufügen, das zum Mo¬
tive wird, solches Handeln zu meiden, mit dem dieses Leid verknüpft
ist und solches Handeln anzustreben, das Lust bringt In dieser
selbsttätigen Wirkung der inneren Verantwortung in der Richtung
auf die Verwirklichung der ethischen Norm liegt das, was man die
teleologische Funktion der Verantwortung nennen kann.
Was nun diese im Innenleben des Menschen, das bedeutet in der
äußren Lebensordnung die äußere Verantwortlichmachung, die wir
in der Erziehung und Rechtspflege ausüben und die wir Strafe
nennen. Auch sie ist die Zufügung eines Leides, das zum Motive
werden soll, zu meiden, was Ursache des Leides war. Dieses Motiv
wird im einzelnen Menschen wie in der Allgemeinheit durch Straf¬
drohung und Strafvollzug gesetzt, und die Setzung dieses Motives
macht die Berechtigung des staatlichen Strafrechts aus.
Auch die staatliche Strafe erschöpft ihre Bedeutung in der teleo¬
logischen Funktion, die wir mit dem Worte „Vergeltung“ bezeichnen
und die frühere Zeiten als ein nicht erklärbares, religiös sanktio¬
niertes Dogma ansahen, das sie mit dem Spruche „Auge um Auge,
Zahn um Zahn“ Wiedergaben. Wir sehen daraus, daß es ein Irrtum
ist, die Vergeltungstrafe der Zweckstrafe gegenüberstellen, dennn
alle Strafe ist Zweckstrafe, und der von der Natur gesetzte Zweck
liegt eben in der heilsamen Wirkung innerer Befriedigung, die
man empfindet, wo das Verbrechen seine Sühne findet und deren
heilsame Bedeutung auch der einfachste Mann des Volkes in seinem
Innern fühlt und mit den selbstverständlichen Worten bekennt:
„Strafe muß sein“.
Die innere und die äußere Verantwortung in ihrer Bedeutung
zusammenfassend, können wir deshalb sagen:
Die Verantwortung hat die Funktion, durch Ver¬
hängung eines Leides als Folge normwidrigen Tuns
Motive für das normgemäße Verhalten der Menschen
zu setzen.
Wir haben somit den Begriff der Verantwortung vom determi¬
nistischen Standpunkte erklärt; es bleibt nur übrig zu untersuchen,
woher die enge Verbindung kommt, die dieser Begriff mit der Vor-
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
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Stellung eines freien Willens zu haben scheint. Wir haben bereits
am Anfänge gesehen, daß frei sein das Fehlen von etwas Norm¬
widrigen bedeutet, und wir sahen weiter, daß die Freiheit die Ent¬
faltung einer bestimmten Kraft bedeutet. Aus beiden ergibt sieb uns
die Erklärung, was hier freier Wille bedeutet. Die sittliche Norm ist
die Kraft, die sich ebenso wie die logische und aestbetische Norm im
Bewußtsein des Menschen betätigt Die Betätigung ist bei dem ge¬
sunden und normalen Menschen ungehemmt, sie kennt ihrer Natur
nach keine Fesseln ihrer Wirksamkeit, das Gewissen schläft nie, sagt
man, und nur sofern das zutrifft, sprechen wir von Verantwortlich¬
keit. Geisteskranke, bei denen dieses Normbewußtsein gestört ist,
und Kinder bei denen es noch nicht entwickelt ist, sind nicht verant¬
wortlich. Die Bedingung der Verantwortlichkeit ist also nichts anderes
als diese Wirksamkeit der moralischen Norm. Sofern man sie freien
Willen nennen will, hat der normale Mensch allerdings freien Willen
und ist dieser freie Willen die Voraussetzung unserer Moral und
unserer Rechtsordnung. Aber wir haben bereits gesehen, daß diese
Kraft des Normbewußtseins nicht allein wirksam für den menschlichen
Willensentschluß ist, sie ist nur eine unter den Triebfedern des
menschlichen Willens, nur eines in der Reihe der Motive, die den
Entschluß herbeiführen. Deshalb ist der Willensentschluß selbst oder
der menschliche Wille nicht frei in dem Sinne, daß die Kraft der
sittlichen Norm ihn ungehemmt bestimmte, diese Freiheit ist keine
Tatsache, sondern ein Ideal: Der Mensch, der in seinen Entschlie¬
ßungen der sittlichen Norm folgt, zeigt damit, daß er alle entgegen¬
stehenden, sie hemmenden Motive überwunden hat, daß sie also frei
in ihm geworden ist. Diese Freiheit nennen wir deshalb die sittliche
Freiheit.
In welcher Beziehung und vielfachen Vertauschung diese sitt¬
liche Freiheit mit der vorher besprochenen natürlichen Freiheit in den
Erörterungen über menschliche Willensfreiheit erscheint, zeigt uns als
lehrreiches Beispiel die christliche Ethik. Ihre Grundidee geht davon
aus, daß die Natur des Menschen böse ist und der Fessel durch das
Sittengesetz mit religiöser Sanktion, wie es der mosaische Dekalog
darstellt, bedarf. Somit bedeutet die böse Natur des Menschen die
Kraft, das Sittengesetz die Fessel. Das Gesetz macht also den
Menschen unfrei. Diese Auffassung kehrt nun das Christentum in
ihr Gegenteil um. Seine Idee geht dahin, die Natur des Menschen der¬
gestalt umzuwandeln, daß er das Sittengesetz in sich aufnimmt und
als das seiner Natur entsprechende aus eigenem Antriebe befolgt.
In diesem Sinne allein ist die scheinbar so paradoxe Grundforderung
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XII. vox Zastrow
der christlichen Ethik: „Du sollst lieben“, zu verstehen, die etwas zu
fordern scheint, was doch nur der allerspontansten inneren Betätigung
menschlichen Empfindens entspringen kann. Sie erklärt sich nur daraus,
daß das Christentum diejenige Gesinnung im Menschen schaffen will,
die diese Liebe als reife Frucht hervorbringt. In diesem Sinne handelt
der Mensch aus seiner inneren Natur heraus sittlich, er handelt also
frei, denn seine Natur ist nach wie vor die Kraft, die sich betätigt,
und sie ist nunmehr ungefesselt, denn kein Sittengesetz tritt von
außen hemmend entgegen, sondern die sittliche Norm ist dem Men¬
schen selbst zur Natur geworden. Diese eigentümliche Umkehrung
der Begriffe mit allen darin enthaltenen Paradoxen ist das Thema
des Hauptwerkes der christlichen Ethik des Urchristentums: des
Römerbriefes. Und in diesem Sinne spricht auch Luther von der
Freiheit eines Christenmenschen.
Wir wissen jetzt, wie die Unbekannte heißt, die wir in die vorhin
aufgestellte Formel einsetzen müssen, um zum Begriffe der sittlichen
Freiheit zu kommen. Statt „wollen können, was man wollen will“,
muß es heißen: „wollen können, was man wollen soll“, dann gibt
die Formel einen Sinn. Zwar nicht den, daß dieses Können eine
Freiheit im Sinne der Handlungsfreiheit wäre, denn wir wissen ja
alle, daß sich dieses soll eben nicht frei durchsetzt, sondern nur zu
oft durch entgegenstehende Motive der Neigung gehemmt ist; der
Sinn der Formel ist vielmehr der einer Triebfeder und Mahnung
daran, daß die Kraft des Gewissens rege ist und sich betätigt. „Du
kannst,“ bedeutet hier, daß eine innere Tendenz auf die Befolgung
des Sittengesetzes hindrängt und daß eine Chance für seine Ver¬
wirklichung gegeben ist, die es auszunutzen gilt, indem man die er¬
forderlichen Motive zur Durchsetzung dieser Kraft hinzufügt durch
das, was wir gewöhnlich Selbstzucht, Zusammenraffung, Selbst¬
erziehung, Selbstbeherrschung usw. nennen. Diese Begriffe sind
keineswegs entwertet durch die Einsicht, daß alles Wollen und auch
alles Motivsetzen in den Zusammenhang des kausalen Geschehens ein¬
gespannt ist, denn diese Begriffe der Verantwortung, des Gewissens,
der Selbstbeherrschung und Selbstzucht, sie alle werden von diesem
Zusammenhänge mit umfaßt und spielen in ihm ihre bestimmte Rolle.
Der zu Ende gedachte Determinismus widerlegt den gewöhnlichen
Einwand des oberflächlichen Denkens: was nützt alle Mühe und An¬
strengung? es kommt ja doch, wie es kommen soll! — Sie nützt
sehr viel, denn jedes Motiv, das durch sittliche Anstrengung in die
Reihe aller wirksamen Motive miteingestellt wird, ist die notwendige
Ursache einer Folge, die ohne es nicht eintreten kann. Also wird
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Über Wmdelband und den Streit um das Strafrecht.
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jede moralische Anstrengung selbst zur Ursache, von der alles weitere
Geschehen mit abhängt.
Der zu Ende gedachte Determinismus schwächt nicht die Ver¬
antwortlichkeit, sondern stärkt sie durch die Einsicht in die notwen¬
dige, kausale Bedeutung, den jede menschliche Willensentschließung
für den gesamten weiteren Verlauf alles Geschehens hat.
Der zu Ende gedachte Determinismus führt endlich allein zu
einem befriedigenden religiösen Ausblick, denn er lehrt uns, daß das
Menschenleben mit seinem ganzen geistigen Inhalt eingespannt ist in
den Rahmen eines Weltgeschehens, das im Ganzen und allem Einzelnen
das Werk einer überweltlichen Macht ist, von der jeder Einzelne ab¬
hängt. Diesem Gefühle der Abhängigkeit haben die größten Denker
des Christentums aller Zeiten Ausdruck gegeben, ihm entspricht im
Reiche der Werte das Bewußtsein der Unerreichbarkeit der sittlichen
Norm, das Gefühl einer Unvollkommenheit, das nach einer trans¬
zendenten Gnadeninstanz verlangt. Das Wort Gnade entspringt keines¬
wegs rein theologischer Betrachtungsweise, es enthält einen allgemein
menschlichen Gedanken, der Bich im Gerichtssaal ebenso überwälti¬
gend geltend macht, wie im religiösen Leben. Das sagt uns Shakes¬
peare in den schlichten Worten, die er in der großen Gerichtsszene
des Kaufmanns von Venedig der Porzia in den Mund legt:
Suchst du um Recht schon an, erwäge dies,
Daß nach dem Lauf des Rechtes unser keiner
Zum Heile käm, wir beten all’ um Gnade.
Ich bin am Schluß und suche das Fazit zu ziehen: in der grund¬
sätzlichen Betrachtung des Problems der Freiheit und Verantwortlich¬
keit sind die Deterministen im Unrecht, sie irren, wenn sie meinen,
der Determinismus hebe Moral und Strafrecht aus den Angeln. Sie
leiden hier an einer Einseitigkeit der Betrachtungsweis, die ihren
historischen Grund hat. Die extremen Deterministen sind über¬
wiegend Ärzte und Naturforscher und sie stehen noch im Banne der
alten Feindschaft, die seit der Säkularisierung der Philosophie und Natur¬
wissenschaft zwischen dieser und der Kirchenlehre herrscht Die
Naturforscher denken überall, wo sie von Moral hören, an die Moral,
die mit einer Weltanschauung verknüpft ist, deren Feinde sie sind,
nämlich der altkirchlichen. Es ist dies ein Vorurteil, an dem die
Kirche nicht ohne Schuld ist, aber die Theologie, die heute auf
unseren Universitäten die herrschende ist und es immer mehr zu
werden verspricht, ist am Werke diese Kluft zu überbrücken und
Arohir für Krimm&lanthropologie. 27. Bd. 20
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eine Einigung wissenschaftlichen und religiösen Denkens herbei¬
zuführen auf einem Boden, der inzwischen von unseren zünftigen
Philosophen, zu denen auch Windelband gehört, bereitet worden ist
und auf dem die Interessen vorurteilsloser Wissenschaft und die
idealen Werte des geistigen Lebens in gleichem Maße zu ihrem
Rechte kommen.
Die größere Schuld aber scheint mir auf Seiten der Indetermi¬
nisten zu liegen; sie überschätzen die praktische Bedeutung der Straf¬
funktion und sie unterschätzen die Kraft aller Motive, die das ver¬
brecherische Verhalten hervorrufen. Sie verschließen mit Unrecht
ihr Auge den neuen und wichtigen Erfahrungen, die die neuen
Wissenschaften der Biologie, Pathologie und Soziologie für die Er¬
forschung des Zustandekommens menschlicher Willensentschlüsse ge¬
geben haben und die uns erkennen lassen, daß die große Mehrzahl
der Menschen nicht deshalb auf dem Wege Rechtens bleibt, weil das
Rechts- und Pflichtgefühl sie abhält das zu tun, wozu sie ihre Nei¬
gung treibt, sondern, weil es an solchen Neigungen fehlt. Mit der
zunehmenden Kultur können die der Kulturgüter Teilhaftigen ihre
Neigungen auf dem Wege des Rechts befriedigen, es treibt sie des¬
halb nichts, ihn zu verlassen. Wo aber die Natur oder die soziale
Not wirklich Motive zur Rechtsverletzung setzt, da sind Rechtsgefühl
und Moral, ja auch die Furcht vor Strafe meist von recht geringem
Einfluß. Diese Erkenntnis hat die moderne Strafrechtsschule zu ihrem
Geständnis bewogen, daß die Strafe in der Bekämpfung des Ver¬
brechens eine untergeordnete Bedeutung hat, womit keineswegs ge¬
sagt werden soll, daß sie gar keine Bedeutung habe. Es ist nur der
Ausdruck der Beobachtung, daß man den Willensentschluß des Men¬
schen dadurch bestimmen muß, daß man den Motiven des Pflicht¬
gefühls und der Rechtlichkeit unter der Gesamtheit der konstanten
Motive die Majorität verschafft. Dies kann geschehen, indem man
diese Motive zu vermehren oder die entgegenstehenden Motive zu
vermindern sucht, und die Erfahrung lehrt, daß das letztere meistens
viel leichter ist, als das erstere. In unserem Beispiel vom Schul¬
jungen gleicht der Jurist dem Lehrer, der bei unzähligen seiner
Schüler die Beobachtung gemacht hat, daß sie in der gleichen Lage
%vie dieser Junge der Versuchung nicht widerstehen können. Und
so wichtig nun auch die Aufgabe der Erziehung ist, gegenüber sol¬
chen Versuchungen, die sich nicht fern halten lassen, die moralische
Widerstandskraft zu stärken, viel wichtiger ist praktisch die Aufgabe,
solche Versuchungen fern zu halten. Deshalb hat der Lehrer Recht,
daß das beste Mittel dem Übelstande abzuhelfen allerdings das ist,
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Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.
307
dem Jungen ein Arbeitszimmer einzuräumen, in dem er nicht gestört
wird. Das kleine Beispiel wird uns zum Symbol einer mit Recht
mehr und mehr betonten Wahrheit: die Frage der Bekämpfung des
Verbrechens ist zu einem erheblichen Teil eine Wohnungsfrage.
Die praktische Nutzanwendung, die der Determinismus mit seiner
Einsicht in das Zustandekommen menschlicher Willensentschlüsse
durch das Spiel der jVJotive lehrt, stimmt überein mit dem Ergebnis
der praktischen Lebenserfahrung, das kürzlich Herr Geh. Rat
Krohne hier in anderem Zusammenhänge mit den Worten aus¬
sprach: das Verbrechen bekämpfen heißt seine sozialen Ursachen
bekämpfen.
20 *
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XIII.
Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
(Genesis der Geständnisse, Lügen geständiger Mörder in Nebenpunkten,
Gefühisvorrohung.)
Aus der Braunschweigischen Strafrechtspraxis
mitgoteilt vom
Ersten Staatsanwalt Oberlandesgerichtsrat Pessler, Braunschweig.
Sowohl für den Strafrechtspraktiker wie für den Psychologen
haben vor allen Arten der Verbrecher die Mörder ein ganz be¬
sonderes Interesse.
Ich greife im nachstehenden eine Anzahl Strafprozesse wegen
Mordes aus unserer Braunschweigischen Praxis heraus, um auf einige
psychologische Eigentümlichkeiten hinzuweisen, die mir bei
den verurteilten Mördern aufgefallen sind.
Die anderweite schriftstellerische Behandlung und Darstellung
der hier erwähnten Fälle behalte ich mir ausdrücklich vor.
Diejenigen Punkte, welche ich an dieser Stelle besprechen möchte,
sind folgende:
A. Die Tatsachen und Umstände, welche bei den ursprünglich
leugnenden Mördern ein Geständnis verursacht haben. (Die Genesis
der Geständnisse);
B. Die Tatsache, daß die in der Hauptsache vollständig ge¬
ständigen Mörder in Nebenumständen hartnäckig beim Lügen ge¬
blieben sind;
C. Die bei einzelnen der verurteilten Individuen hervorgetretene
maßlose Gefühlsverrohung.
Der Tatbestand der ins Auge gefaßten Strafrechtsfälle ist in
kurzen Worten folgender:
1. Im Dorfe Ampleben wurden eines Morgens eine 48 Jahre
alte f'rauensperson und deren 13jährige Tochter, welche in einem
einsamen Häuschen gewohnt hatten, in ihrem Bett tot aufgefunden.
Das Bettstroh war angesteckt, und die Leichen waren halb verkohlt.
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
309
Durch Leichenschau wurde festgestellt, daß beiden Frauenspersonen
mit einem schweren Werkzeuge die Schädel eingeschlagen waren.
Die Barschaft der Ermordeten war geraubt.
Als des Doppelmordes verdächtig wurde der in der Nachbar¬
schaft des Tatorts wohnende 33jährige verheiratete, verschuldete
Schuhmacher Jonas Segger verhaftet, weil er schon am Tage der
Auffindung der Leichen seltene alte Münzen verausgabt hatte, die
nachgewiesenermaßen im Besitze der Erschlagenen gewesen waren.
Der bisher hartnäckig leugnende Angeschuldigte legte plötzlich
am zweiten Tage der Schwurgerichtsverhandlung das Geständnis ab,
daß er nächtlich in die Wohnung der beiden Frauenspersonen ein¬
gedrungen sei, diese erschlagen, ihre Barschaft geraubt und dann das
Bett angezündet habe, um ein Verbrennen der Leichen zu verursachen
und ein Brandunglück vorzutäuschen.
2. Am Frühniorgen eines Oktobertages wurde auf der Feldmark
des Dorfes Meinkoth die Leiche des 40jährigen, in Meinkoth wohn¬
haft gewesenen, verheirateten Steinbruchsarbeiters Kaspar Koßraieder
mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. Neben der Leiche lag
ein mit Steckrüben gefüllter Sack.
Als des Mordes verdächtig wurden der Kostgänger des Er¬
schlagenen, der 27jährige ledige polnische Arbeiter Anton Giepsz,
und die Ehefrau des Ermordeten, die 35jährige Antonie Koß-
mieder geb. Bialsczynska, die schon längere Zeit mit einander
in ehebrecherischen Beziehungen gestanden hatten, eingezogen.
Nach längerem hartnäckigen Leugnen gestand Anton Giepsz ein,
daß er mit der Ehefrau Koßmieder verabredet habe, deren Mann
beim nächtlichen Steckrübenstehlen auf dem Felde zu erschlagen, und
daß er die Tat der Verabredung gemäß ausgeführt habe. Die Ehe¬
frau Koßmieder, die bisher ebenfalls geleugnet hatte, legte nach
Gegenüberstellung mit ihrem Mitbeschuldigten dann auch ein Ge¬
ständnis ab.
3. Beim Aufräumen eines wenig gebrauchten Gelasses der Aktien
Zuckerfabrik in Salzdahlum fand man, im erdigen Fußboden verscharrt,
eine stark in Verwesung übergegangene männliche Leiche, deren
Schädel eingeschlägen war. Sie wurde als die eines Eichsfelder
Fabrikarbeiters anerkannt, der 9 Monate vorher, während er Nacht¬
schicht im Gasbereitungsraum der Fabrik gehabt hatte, verschwunden
und nie wieder aufgetaucht war.
In Verdacht geriet ein Landsmann und Mitarbeiter des Erschlagenen,
der 21 jährige ledige Clemens Jünemann, der inzwischen wieder
in seine Eichsfelder Heimat zurückgekehrt war.
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310
XIII. Pesslkk
Zunächst leugnete Jünemann, irgend etwas von der Tötung seines
Kameraden zu wissen; endlich gab er an, er habe letzteren in gerechter
Notwehr mit einer Spitzhacke geworfen, wider seinen Willen habe
dieser Schlag den Tod des Getroffenen herbeigeführt, und aus Angst
vor strafrechtlicher Verfolgung habe er die Leiche verscharrt, nach¬
dem er ihr Uhr und und Barschaft abgenommen habe.
Mit zynischer Ruhe und Dreistigkeit erzählte er diese Geschichte auch
in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgerichte. Nach einer Mittags¬
pause gestand er jedoch plötzlich zu, daß er sein Opfer in Raubmord¬
absicht im Schlafe beschlichen, vorsätzlich getötet und beraubt habe.
4. Im Dorfe Ostharingen wurden an einem Novembertage eine
67 jährige Witwe und ihr 22jähriger So hn, die gemeinschaftlich ihren
kleinen Bauernhof bewirtschaftet und allein in ihrem Anwesen ge¬
wohnt hatten, tot aufgefundeD.
Die Witwe lag mit zerschlagenem Schädel unter ihrem Bette, der
Sohn war am Holme der Kuhkrippe an seinem Halstuche aufgehängt.
Durch Leichenöffnung wurde festgestellt, daß auch er durch einen
Schlag auf den Kopf getötet und die Leiche dann aufgehängt war.
Die Wertpapiere, welche die Getöteten besessen hatten, fehlten.
Verdächtig des Doppelmordes war ein in Braunschweig wohn¬
hafter Neffe der erschlagenen Witwe, der 35 Jahre alte, verheiratete
frühere Portier Heinr. Ö hl mann.
Nach langem Leugnen gestand er ein, zunächst seine Tante er¬
schlagen, dann seinen im Kuhstalle aufhältlichen Neffen beschlichen
und ebenfalls totgeschlagen, sich auch die Wertpapiere der Ermordeten
angeeignet zu haben.
5. Im Dorfe Neu - Ölsburg fand man eines Morgens die
60jährige Ehefrau eines Zugführers, deren Ehemann dienstlich ab¬
wesend war, an der Klinke ihrer Kammertür aufgehängt. Es wurde
festgestellt, daß die Frau durch Erwürgen getötet und dann deren
Leiche aufgeknüpft war. Eine Schürze war bei dem Würgeakte
der Frau vor das Gesicht gehalten.
Der 19jährige Nachbarssohn, Arbeiter Wilh. Rühmann, ein
nichtsnutziger Bursche, gestand ein, die alte Frau erwürgt, die Leiche
behufs Vortäuschung einer Selbsttötung aufgehängt und sich dann
das vorhandene Geld im Betrage von 60 M. angeeignet zu haben.
6. Eine im Dorfe Harvesse dienende 21jährige Magd war an
einem Juniabend von einem Ausgange nicht zurückgekehrt. Am
anderen Morgen fand man ihre Leiche in einem nahe beim Dorfe
liegenden Gehölze, an einer Kiefer erhängt, auf. Als Todesursache
wurde Erdrosselung ermittelt.
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Ein Beitrag zur Psychologie der .Mörder.
311
ln den Verdacht der Tat geriet der in Harvesse auf einem Bauern¬
höfe dienende, ledige 24 jährige Knecht Heinr. Stolte, der mit dem
Mädchen in Beziehungen gestanden haben sollte, daneben aber mit
einem in einem Nachbardorfe dienenden anderen Mädchen öffentlich
verlobt war.
Stolte leugnete hartnäckig, auch noch in der Schwurgerichts¬
verhandlung. Am dritten Verhandlungstage gestand er aber plötzlich
ein, die Magd zu einem Stelldichein in das Gehölz bestellt, sie dort
mittels eines ihr über den Kopf geworfenen Strickes erdrosselt und
dann die Leiche an der Kiefer aufgehängt zu haben.
7. Der 9jährige Sohn eines Schlachters im Orte Dibbesdorf
hatte sich eines Abends mit dem seit 3 Tagen im Hause anwesenden
1 (3V 2 jährigen Laufburschen Joseph Jankowski in den Futterraum
des Pferdestalles begeben, um Häcksel zu schneiden. Als nach ge¬
raumer Zeit die beiden nicht wieder ins Wohnhaus zurückgekehrt
waren, ging die Mutter des Knaben in die Stallungen, um ihren Sohn
zu holen. Sie fand seine Leiche in dem dem Futterraum benachbarten
Ziegenstalle. Am Hinterkopfe war eine von einem Hammer her-
rührende Wunde sichtbar, der obere Teil der Schädeldecke war durch
mehrere parallel laufende scharfe Beilhiebe gespalten.
Joseph Jankowsky war verschwunden, er stellte sich aber nocli
an demselben Abend in Braunschweig einem Polizeibeamten, dem
er zugestand, den Knaben zunächst mit einem Hammerschlage be¬
täubt, ihn dann vom Futterraum in den Ziegenstall geschleppt und
ihm hier mittels eines kleinen Handbeiles den Schädel gespalten
zu haben.
8. Auf dem Klostergute Hagenhof bei Königslutter hatte der
verheiratete 27jährige Kuhknecht Wilh. Duwe die 11jährige Tochter
einer auf demselben Gute wohnhaften Witwe erstochen, weil ihm das
Mädchen erklärt hatte, es werde frühere Unzuchtshandlungen, die
Duwe mit ihr vorgenommen, ihrer Mutter mitteilen.
Diesen, in kriminalistischer wie psychologischer Beziehung in¬
teressanten Strafrechtsfall habe ich im: Pitaval der Gegenwart,
Bd. 3. S. 103—138, ausführlich dargestellt. Ich nehme auf diese
Darstellung Bezug und teile unten nur mit, was ich bei der Dar¬
stellung im Pitaval nicht erwähnt habe.
Abgesehen von dem (nur relativ strafmündigen) Joseph Jankowski,
welcher 15 Jahre Gefängnis erhielt, sind die sämtlichen hier auf¬
geführten Mörder zum Tode verurteilt, und an allen ist auch die
Todesstrafe vollstreckt. 1 -
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XIII. Pessler
A.: Genesis der Geständnisse.
Jonas Segger hatte während der ganzen Voruntersuchung
hartnäckig geleugnet. Er wollte zur Zeit der Tat sein Gehöft nicht
verlassen haben. Dem Vorhalte, daß er schon am Tage der Auf¬
findung der Leichen alte seltene Münzen verausgabt hatte, die im
Besitze der Verstorbenen gewesen waren, setzte er die Ausrede von
dem „zufälligen Finden“ dieser Münzen entgegen.
Am zweiten Tage der Hauptverhandlung demonstrierten in seiner
Gegenwart die ärztlichen Sachverständigen, daß mit großer Wahr¬
scheinlichkeit angenommen werden müsse, die Schädelwunden der
einen Erschlagenen seien mit einem bei Segger beschlagnahmten s. g.
Schusterhammer verursacht, ja einer der Arzte unterschied solche
Wunden, die mit der „Platte“ und solche, die mit der „Pinne“ des
Hammers zugefügt sein würden.
Nach Anhörung dieser Gutachten erklärte Segger plötzlich, daß
er jetzt die Wahrheit sagen wolle, und nunmehr gestand er schlank
ein, daß er nächtlich in die Wohnung der beiden Frauenspersonen
eingedrungen sei, diese in ihrem Bette mittels eines von ihm
mitgebrachten Beiles erschlagen und sich dann ihre Barschaft
und die in «ihrem Besitz befindliche Münzsammlung angeeignet habe,
schließlich habe er, um die Verbrennung der Leichen herbeizuführen,
das Bettstroh angesteckt Mit großer Bestimmtheit betonte er aber,
daß der bei ihm beschlagnahmte Schusterhammer zur Zeit der Aus¬
führung der Tat ruhig auf dem Tische seiner Werkstatt gelegen habe,
und daß das von ihm gebrauchte Mordbeil noch in seiner Küche zu
finden sei.
Ein sofort nach Ampleben geschickter Gendarm fand das be¬
zeichnte Beil an dem von Segger genau bezeichneten Orte, und nun¬
mehr erklärten die ärztlichen Sachverständigen, daß die an den Leichen
festgestellten Wunden sehr wohl auch durch Schläge mit dem Rücken
dieses Beiles verursacht sein könnten.
Anton Giepsz, dem die ehebrecherische Frau seines Logiswirts
Koßmieder dazu vermocht hatte, mit dem schwächlichen, impotenten
Manne nächtlich zum Steckrübenstehlen zu gehen und den mit dem
Steckrübensacke beladen Koßmieder auf dem Heimwege hinterrücks
mittels Beiles zu erschlagen, war trotz Vorhaltes aller Verdachts¬
momente beim Leugnen geblieben. Er hatte mit größter Ruhe eine
von seiner Mittäterin erfundene Geschichte erzählt, nach welcher er
und Koßmieder beim Steckrübenstehlen von zwei Männern, darunter
einem Arbeiter Sch., überrascht seien, worauf Giepsz geflohen sei,
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 313
während Koßmieder jedenfalls von den beiden Männern erschlagen
sein würde.
Da wollte es die Vorsehung, daß der von Giepsz verdächtigte
Arbeiter Sch., als er eines Tages in dem nahe am Tatorte vorüber¬
fließenden Bach spähte, um nach Fischen zu sehen, das Mordbeil
fand, welches Giepsz gleich nach der Tat ins Wasser geschleudert hatte.
Der Tag, 'an dem ich Giepsz dies Überführungsstück vorzeigen
wollte, war der Bußtag. Ich hielt das Beil zunächst verborgen, und
Giepsz erzählte mit großer Ruhe und Breite wiederum seine Geschichte
von den beiden fremden Männern. Plötzlich hielt ich ihm das Beil
vor und fragte: „Giepsz, kennen Sie dieses Beil?“ In demselben
Augenblicke fiel gerade das Geläut der Bußtagsglocken der dem Ge¬
richtsgebäude benachbarten Kirche ein. Als er die Glockentöne hörte
und dabei das Werkzeug seiner Mordtat vor sich sah, wurde Giepsz
kreidebleich, er taumelte zurück und legte ein Geständnis ab.
Seine buhlerische Mittäterin war erst zur Anerkennung ihrer
Mittäterschaft zu bewegen, nachdem ihr Giepsz bei einer Gegenüber¬
stellung alles haarklein ins Gesicht gesagt hatte.
ClemensJünemann war ein besonders hartgesottener Sünder.
Habsucht, Rachgier, Verschlagenheit und Heuchelei bildeten seine
Hauptcharakterzüge. Seine Geschichte von dem Notwehrakte trug
er auch noch bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung mit
solcher Ruhe und Sicherheit vor, daß eigentlich niemand an einem
Freispruch seitens der Geschworenen — soweit Mord oder Totschlag
in Betracht kam — zweifelte.
Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung legten die ärztlichen
Sachverständigen den von ihnen präparierten Schädel des Ermordeten
auf den Gerichtstisch und demonstrierten an ihm die Art der Vor¬
gefundenen Verletzungen.
Von diesem Augenblicke an erschien Jünemann wie verwandelt.
Sein bisher ruhiger, sicherer Gesichtsausdruck wich einer ängstlichen
Miene, durch seinen Körper ging ein sichtbares Zittern und Beben,
und trotzdem er alle Anstrengung machte, sich zusammenzunehmen,
entrangen sich seiner Brust unterdrückte schluchzende Laute. Zuerst
versuchte er mit erkennbarer Anstrengung einige scheue Blicke auf
den Schädel zu werfen, dann blickte er krampfhaft seitwärts.
Jetzt trat eine Pause in der Verhandlung ein und Jünemann
wurde in das Arrestzimmer abgeführt, wo ihn zwei Gendarmen be¬
wachten. Nach kurzer Zeit begannen seine Gesichtsmuskeln krampf¬
haft zu zucken, Jünemann ergriff die Hand des einen Gendarmen
und legte nunmehr das Geständnis ab, daß er seinen Landsmann,
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XIII. Pessler
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um ihn zu töten und zu berauben, nächtlich im Gasraum der Fabrik
beschlichen, ihn im Schlafe erschlagen, seiner Habseligkeiten beraubt
und die Leiche beigescharrt habe.
Wieder in den Sitzungssaal geführt, wiederholte er dies ihm den
Kopf kostende Geständnis unter heftigem Schluchzen.
Heinr. Öhlmann, dessen unvorsichtige Frau die Wertpapiere
der Gemordeten an den Mann gebracht hatte und dabei ab¬
gefaßt war, versuchte mit unglaublicher Beharrlichkeit seinen Kopf
dadurch zu retten, daß er „den großen Unbekannten“, den er zuerst
Meier, dann Weiß nannte, als den Mörder hinstellte. Selbst wollte
er nichts weiter getan haben, als die Leiche seines von dem Un¬
bekannten erschlagenen Neffen aufgehängt und die von seiner Ehefrau
verausgabten Papiere von dem Unbekannten angenommen haben.
Während der Voruntersuchung wurde er vom Untersuchungsgefängnis
von Braunschweig aus mittels Wagen zum Tatort geführt, um dort
an Ort und Stelle die von ihm geschilderten einzelnen Vorgänge
zu erläutern.
Je näher der Wagen dem Schauplatze seiner Verbrechen kam,
desto stiller und gedrückter wurde Öhlmann, und ehe noch das Dorf
Ostharingen erreicht war, legte er den ihn bewachenden Polizei¬
beamten das Geständnis ab, daß er allein seine Tante und seinen
Neffen in Raubmordsabsicht erschlagen und die ganze Geschichte von
dem geheimnisvollen Meier oder Weiß erlogen habe. Dieses Geständ¬
nis wiederholte er vor dem Richter.
Heinr. Stolte hatte, mit seinen kalten hellblauen Augen die
untersuchungsführenden Beamten ruhig anblickend, alles geleugnet.
Er wollte nichts von einem geschlechtlichen Verhältnis mit der später
tot aufgefundenen Magd wissen, er wollte in der Zeit vom Verschwinden
des Mädchens bis zur Auffindung der Leiche die Ortschaft Harvesse
nicht verlassen haben.
Auch in der Schwurgerichtsverhandlung beobachtete er dieselbe
Taktik, und es „sickerte deutlich durch“, daß die Geschworenen auf
die vorgebrachten Indizien hin die Schuldfrage nicht bejahen würden.
Am dritten Verhandlungstage wurde der Angeklagte zum Tatorte
geführt, wo in Gegenwart des Gerichts, der Geschworenen und der
Staatsanwaltschaft der Augenschein eingenommen wurde. Das ruhige,
dreiste Benehmen Stoltes blieb zunächst dasselbe wie zuvor; gegen
Schluß des langen Augenscheinstermins wurde er aber immer gedrückter
und stiller, und auf der Rückfahrt zum Untersuchungsgefängnis in
Braunschweig legte er zunächst den ihn begleitenden Polizeibeamten
ein teilweises, am folgenden Tage in der Hauptverhandlung aber ein
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
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umfassendes Geständnis ab. Er gab zu, daß er seine Geliebte zu
einem abendlichen Stelldichein in das Gehölz bestellt, daß er ihr
dort hinterrücks den Strick um den Hals geworfen und sie erdrosselt,
darauf aber die Leiche zu einer nahestehenden Kiefer geschleift und
sie an dieser (behufs Vortäuschung eines Selbstmordes) aufgehängt habe.
Willi. Dutve ist, wie ich im „Pitaval der Gegenwart“ ausführ¬
lich geschildert habe, durch das Verhalten eines Polizeihundes dazu
bewogen, zunächst dem Gefangenenaufseher und gleich darauf auch
dem Gerichte ein Geständnis des von ihm begangenen scheußlichen
Mädchenmordes abzulegen.
B.: Das Lügen der in der Hauptsache geständigen Mörder
über einzelne nebensächliche Punkte.
Clemens Jünemann hat, wie hervorgehoben, in der Haupt¬
verhandlung ein Geständnis abgelegt, aus dem der Tatbestand des
Mordes, und zwar des s. g. Raubmordes mit völliger Klarheit hervorging.
Sein Landsmann hatte in der Mordnacht die Nachtschicht im
Gasbereitungsraum der Fabrik gehabt. Gegen 2V-2 Uhr hatte der
revidierende Fabrikbeamte die Entdeckung gemacht, daß der Retorten¬
deckel des Gasbereitungsapparats abgeschlagen, der diensttuende
Landsmann Jünemanns aber spurlos verschwunden war. Sofort wurde
festgestellt, daß auch die Kleidungsstücke des Verschwundenen, die
in einem gemeinschaftlichen Schlafsaal untermischt mit den
Kleidungsstücken anderer Arbeiter gehangen batten,ingleichen
die sonstigen Habseligkeiten des Verschwundenen, sämtlich fort waren.
Hiernach wurde allseits angenommen, daß der Bezeichnete, der
kurz vorher einen Verweis seitens eines Fabrikaufsichtsbeamten erhalten
hatte, aus Rache gegen die Fabrikorgane den Retortendeckel ab¬
geschlagen habe, um das Fabrikgebäude in Brand zu setzen, und daß
er dann „ausgerückt“ sei.
Nachdem Jünemann nun das oben bezeichnete Geständnis ab¬
gelegt hatte, war es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme un¬
zweifelhaft, daß er sich am Abend vor der Tat bereits vor dem
Schlafengehen der Arbeiter die Kleidungsstücke seines späteren
Opfers in dem gemeinschaftlichen Scblafsaal in aller Ruhe zusammen¬
gesucht, darauf, ohne selbst im Schlafraum zu Bett zu gehen, in der
Nähe des Gasbereitungsraums solange herumgelungert hatte, bis sein
Landsmann (wie er dies stets zu tun pflegte) im Gasraum „sein
Stündchen schlief“, und daß er dann den Schlafenden gemordet hatte.
Diesem feststehenden Tatbestände gegenüber blieb Jünemann
trotz aller Vorstellungen von der völligen Unmöglichkeit und der er-
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XIII. Pessler
weislicben Unwahrheit seiner Angaben bei folgender zweifellos er¬
logenen Darstellung:
„Ich bin nach 11 Uhr abends im Schlafsaal (mit den anderen
10 Arbeitern) zu Bett gegangen. Nach einiger Zeit bin ich wieder
aufgestanden, habe mich in den (ziemlich entfernt liegenden) Gas¬
bereitungsraum geschlichen, habe dort meinen schlafenden Kameraden
ermordet, ihm Uhr und Geldbeutel fortgenommen und habe die Leiche
verscharrt. Dann bin ich wieder in den Schlafsaal zurückgegangen,
habe (trotz der Dunkelheit und unbemerkt von den 10 dort lagernden
Arbeitern!) sämtliche Sachen des Erschlagenen (trotzdem sie mit den
Kleidungsstücken anderer Arbeiter untermischt hingen!), ohne ein
einziges liegen zu lassen und ohne ein einziges falsches zu greifen (!)
gefunden, bin, mit diesen Sachen beladen, wieder über den Hof zum
Gasraum gegangen, habe die Kleidungsstücke dort im Gasofen ver¬
brannt, und dann habe ich, um ein „Ausrücken“ meines Landsmanns
vorzutäuschen, den Retortendeckel abgeschlagen. Hierauf habe ich
mich schließlich wieder, ohne von jemand bemerkt zu werden, im
Schlafsaal zu Bett gelegt.“
Mit diesen offensichtlichen Lügen ist Jünemann in den Tod gegangen.
Eine fernere nachweisbare Lüge Jünemanns, von der er nicht ab¬
zubringen war, bezog sich auf den Hauptbeweggrund zum Morde. Ge¬
wiß mag es ihm nach der Barschaft seines Opfers gelüstet haben, nach
dem ganzen Untersuchungsergebnis hat aber sein Landsmann zweifel¬
los deshalb sterben müssen, weil er mundtot gemacht werden mußte.
Nicht nur gegen Jünemann selbst, sondern auch gegenüber ganz ein¬
wandfreien Zeugen hatte der später Getötete mit aller Bestimmtheit
erklärt, er werde sofort nach der Heimkehr in die Eichsfelder Heimat
der dortigen Behörde mehrere von Jünemann begangene Verbrechen,
von denen er sichere Kunde habe, zur Anzeige bringen. Kurz nach
diesen Drohungen war der Mord geschehen. Tatsächlich stellte sich
denn auch später heraus, daß Jünemann verschiedene schwere Dieb¬
stähle begangen hatte, von denen der Erschlagene Kenntnis gehabt
haben wird. Trotz des eindringlichsten Vorhalts, über den bezeich-
neten Hauptbeweggrund seiner Tat der Wahrheit die Ehre zu geben,
ist Jünemann zunächst stets dabei geblieben, daß er überhaupt keine
Straftaten begangen habe, und als er dann der Diebstähle überführt
war, mußte er diese zwar einräumen, er blieb aber dabei, daß sein
Landsmann nichts von diesen oder anderen von ihm (Jünemann) be¬
gangenen Straftaten gewußt habe.
Daß endlich Jünemann über die Höhe des dem Ermordeten ge¬
raubten Geldbetrages und über die Mitnahme des zur Tat gebrauchten
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 317
Werkzeugs bis an sein Ende gelogen hat, mag nur nebenbei erwähnt
werden.
Heinr. Öhlmann behauptete mit Beharrlichkeit, er habe seine
Tante in derjenigen Kammer totgeschlagen, in der später die Leiche
gefunden wurde. Wieder und wieder wurde ihm vorgehalten, daß
diese Angabe eine unwahre und widerlegt sei. Gleich nach Ent¬
deckung der Tat hatte ich mit dem Gerichtschemiker festgestellt, daß
in dem engen, mit Möbeln und anderen Gegenständen vollgepfropften
Baume, in dem die feine überall lagernde Staubschicht nicht
im geringsten an den in Betracht kommenden Stellen verletzt war,
die Tat überhaupt gar nicht begangen sein konnte, sondern daß die
Leiche in die Kammer geschleppt sein mußte. Die alte Frau war
zweifellos in einer (an der anderen Seite des Hauses liegenden) Wurst¬
vorratskammer erschlagen, als sie aus diesem Baume früh morgens
Schlachtwerk zum Frühstück hatte holen wollen.
Ferner blieb öhlmann dabei, er habe seine beiden Opfer mittels
einer Staketlatte erschlagen, obwohl die bei den Leichen Vorgefundenen
Schädelverletzungen auf ein viel schwereres und anders geartetes
Werkzeug hinwiesen.
Selbst, als ich ihm am Tage vor der Vollstreckung des Todes¬
urteils eröffnet hatte, daß sein Kopf nach 24 Stunden fallen werde,
blieb der Verbrecher trotz nochmaligen eindringlichen Vorhalts bei
den bezeichneten beiden erlogenen Angaben.
Da trat ein Ereignis ein, das ihm in letzter Stunde noch das
Bekenntnis der vollen Wahrheit abrang.
Am Nachmittage vor der Hinrichtung sollte Öhlmann seinem
Wunsche gemäß in dem im Erdgeschoß des Untersuchungsgefängnisses
liegenden Sprechzimmer das heilige Abendmahl empfangen. Als er
zwischen zwei ihn haltenden Gefangenenaufsehern die Treppe hin¬
untergeführt wurde, sprang er plötzlich, die Wächter fast mit sich
reißend, in selbstmörderischer Absicht über das Treppengeländer. Er
blieb aber, ohne in die erhebliche Tiefe zu stürzen, an einer Be¬
leuchtungsvorrichtung hängen und wurde wieder in seine Zelle ge¬
schafft. Dort lag er, als ich hinzugerufen wurde, mit zerschmettertem
Schlüsselbein und schrie laut vor Schmerzen. Bei seiner Entkleidung
fand sich in einem Hosenbein ein Strick, den er sich aus dem ab¬
gekauten Bande seiner Bettdecke hergestellt hatte, um sich, wenn
möglich, vor der Hinrichtung noch zu erhängen. (Da durch die
schwere Fesselung die Arme mittels einer Stange auseinandergehalten
wurden, hatte er nur mit den Zähnen an der Bettdecke arbeiten
können!) Als ihm die nötige ärztliche Hilfe geleistet war und er
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sich beruhigt hatte, gab ich ihm nochmals anheim, mit der vollen
Wahrheit auch in den bezeichnten Nebenpunkten herauszukommen,
ehe er morgen seinen letzten Gang anträte.
Jetzt endlich kam Öhlmann damit heraus, daß er tatsächlich
seine Tante in der oben bezeichneten Wurstkammer beschlichen, er¬
schlagen und dann die Leiche in die Schlafkammer geschleppt habe;
auch erklärte er, daß er beide Mordtaten nicht mit einer Staketlatte,
sondern mit einer s. g. „Schute“ begangen habe und zwar habe er
mit der eisernen „Öse“ dieses Grabscheits auf seine Tante und auf
seinen Neffen eingeschlagen.
Seine jetzige Angabe über den Tatort stimmte genau mit den
Ermittelungen und den aus ihnen gezogenen Schlüssen; seine Aus¬
sage über das gebrauchte Werkzeug bestätigte sich durch Nach¬
prüfung:
Es wurde eine der (massenhaft fabrikmäßig her gestellten) s. g.
Schuten von einem Kaufmann herbeigeholt, und zwei zugezogene
ärztliche Sachverständige stellten fest, daß die Form der „Öse“ genau
in die Verletzungen des präparierten Schädels der Erschlagenen paßte.
Willi. Rühmann hat in seinem (gleich beim ersten Angriff
abgelegten und bei allen späteren Vernehmungen wiederholten) Ge¬
ständnis über die Herkunft des von ihm zum Aufhängen der Leiche
der Erdrosselten gebrauchten Strickes folgendes angegeben:
„Als ich mich früh morgens in das Haus der später Getöteten
eingeschlichen hatte, bin ich vom Hausflur aus die Treppe hinauf
auf den Boden gegangen, um dort nach einem geeigneten Stricke zu
suchen. Ich fand dort denjenigen Strick, an dem ich nachher die
Leiche aufgehängt habe.“
Eine Untersuchung des Strickes ergab, daß dieser ein solcher
war, den der s. g. „Selbstbinder“ einer Dampfdreschmaschine geknotet
hatte. Es wurde festgestellt, daß auf dem in Frage kommenden
(übrigens winzig engen) Boden niemals ein derartiger Strick, auch
niemals Stroh gelegen hatte, das von einem Selbstbinder gebunden
war; außerdem war es ja auch ganz unglaublich, daß der Mörder
erst im Hause seines Opfers auf gut Glück nach einem Stricke ge¬
sucht haben sollte. Alles dieses wurde Rühmann vorgehalten, doch er
blieb bei seinen Angaben. Die weiteren Ermittelungen ergaben folgendes:
Rühmann hatte die letzte Nacht vor der Ausführung der Tat
auf dem Felde in einer Kornstiege genächtigt. Es wurde festgestellt,
daß kurz vorher auf einem benachbarten Felde, welches Rühmann
auf dem Wege zum Tatorte überschritten hatte, eine Dreschmaschine
tätig gewesen war, deren Selbstbinder Stricke geknotet hatte, deren
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Beschaffenheit genau mit dem zum Aufhängen der Leiche gebrauchten
Stricke übereinstimmte.
Auch diese ihm vorgehaltenen Ermittelungen vermochten Rübmann
nicht zu dem Bekenntnis zu bringen, daß er den Strick schon vom
Felde mitgebracht habe. Ebenso bestritt er den Gebrauch der Schürze.
Heinr. Stolte hat ebenfalls über die Herkunft des Strickes,
mit dem er seine Geliebte erdrosselt und an dem er dann deren
Leiche aufgehängt hatte, bis ans Ende hartnäckig gelogen. Er gab an:
„Erst am Abend der Tat, als ich zu dem verabredeten Stelldichein
ging, suchte ich im Hofschauer meines Dienstherrn nach einem ge¬
eigneten Stricke. Ich fand dort auch den nachher zur Ausführung
des Mordes gebrauchten und steckte ihn zu mir. Am Ende des
Strickes saß ein Messingring.“
Der Strick war, wie die weiteren Feststellungen ergaben, aus
Jute gedreht, an das eine Ende war ein Messingring geknotet, wie
solche an Pferdegeschirren gefunden werden. Durch Umfrage im
Dorfe wurde ermittelt, daß von den dortigen Landwirten nie Stricke
von der hier in Betracht kommenden eigentümlichen Beschaffenheit
gebraucht wurden, und der Dienstherr Stoltes sowie sein Personal
erklärten, daß sie auf ihrem (kleinen und leicht zu übersehenden) Ge¬
höft niemals einen derartigen Strick gehabt hätten.
Auf Vorhalt, daß seine Angabe über die Herkunft des Strickes
falsch sei, und daß er selbst augenscheinlich den Messingring deshalb
an dem Ende des Strickes befestigt habe, damit sich bei der beab¬
sichtigten Erdrosselung seiner Geliebten die Schlinge rasch und sicher
zuziehe, beharrte Stolte bei seinen Angaben; er ist auch beim Lügen
geblieben, trotzdem die anderweitige Herkunft des Strickes durch
folgende Tatsachen festgestellt war:
Etwa 3—4 Tage vor dem Morde hatte sich Stolte unter den)
Vorwände, eine Ausbesserung an seinem Fahrrade vorzunehmen, in der
Werkstatt eines benachbarten Handwerkers zu tun gemacht. In dieser
Werkstatt hatte genau solcher Strick, wie der zum Morde gebrauchte,
gehangen, auch hatten Messingringe dort gelegen, die von derselben
Beschaffenheit waren wie der an den Mordstrick geknotete. Nach Stoltes
Hantieren in der Werkstatt war der Strick verschwunden gewesen.
Auch auf Vorhalt dieser Tatsachen blieb Stolte bei seinen früheren
Angaben.
Eine weitere wissentliche Unwahrheit des in der Hauptsache völlig
geständigen Stolte war folgende:
Die später Ermordete hatte schon seit langer Zeit mit der für
sie charakteristischen Offenheit erzählt, daß sie seit Monaten mit Stolte
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XIII. Pessler
im Geschlechtsverkehr stehe, auch waren von einwandfreien Zeugen
abendliche Zusammenkünfte des Paares an verschiedenen Orten be¬
obachtet, die auch nicht den geringsten Zweifel darüber bestehen
ließen, daß Stolte das Mädchen häufig geschlechtlich gebraucht hatte.
Stolte ist trotz aller Vorhalte stets dabei geblieben, daß er mit dem
Mädchen (abgesehen von dem Beischlafe am Mordtage) überhaupt
nur einmal geschlechtlich verkehrt habe.
Noch in einem dritten Punkte ist Stolte beharrlich beim Lügen
geblieben.
Als ihm das Mädchen mitgeteilt hatte, es glaube bestimmt von
ihm schwanger zu sein, hatte er es schon zwei Tage vor dem Morde
(genau in derselben Weise wie am Mordabend selbst) zu einem abend¬
lichen Stelldichein in ein nahe gelegenes Gehölz bestellt Das Mädchen
war auch festgestelltermaßen zum verabredeten Orte gegangen, doch
Stolte war ausgeblieben und hatte nachher einen ziemlich albernen
Vorwand für sein Nichterscheinen angegeben. Nach allen ermittelten
Tatsachen unterlag es keinem Zweifel, daß Stolte schon an diesem
Abend den Mord hatte ausführen wollen, entweder aber im letzten
Augenblicke vor der Tat zurückgeschreckt oder wider seinen Willen
am Erscheinen auf dem Platze des Stelldichein gehindert war. Stolte blieb
dabei, an dem betreffenden Abend noch gar nicht an den Mord ge¬
dacht zu haben, trotzdem er durchaus keinen glaubhaften Grund dafür
anfübren konnte, daß er das Mädchen, mit dem er sonst stets im
Dorfe selbst zusammengekommen war, gerade an diesem Abend in
das ziemlich weit abgelegene Holz bestellt hatte.
Endlich ist Stolte bei einer vierten Unwahrheit geblieben:
Seine offenherzige Geliebte hatte ihrer Freundin und Mitmagd
vor ihrem Fortgänge zum Schauplatze des Verbrechens ausführlich
erzählt, daß ihr Stolte geheißen habe, einen bestimmt vorgeschrie¬
benen Weg zu nehmen, und daß er ihr eingehend geschildert
hatte, auf welchem anderen Wege er selbst gehen werde. Es
sollte niemand im Dorfe, wie er geäußert hatte, von der Zusammen¬
kunft etwas merken. In der Untersuchung wurde festgestellt, daß
das Mädchen und Stolte sich auf den beschriebenen Wegen tatsächlich
r getrennt marschierend“ zu dem Platze des Stelldichein begeben hatten.
Stolte hat trotz allem Vorhalts jede Mitteilung an das Mädchen über
den vonihmselbstzu wählenden Weg bis zum Tode in Abrede gestellt
JosephJankowski, der degenerierte, verwahrloste 16 V 2 jährige
Mörder, war seit frühester Jugend ein unverbesserlicher Gewohnheits¬
dieb ; seit seinem vollendeten 12. Lebensjahre war er wegen Diebereien
(teils schwerer Art) von einem Gefängnis ins andere gewandert
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Ein Beitrag znr Psychologie der Mörder. 321
Arbeitsscheu und • Hang zur Grausamkeit vervollständigten sein Cha¬
rakterbild.
Von der „Wanderschaft“, d. h. vom Umherbummeln, hatte ihn
sein Dienstherr, der Dibbesdorf er Schlächtermeister, ins Haus ge¬
nommen. Schon am ersten Abende seiner Anwesenheit hatte in seinem
Beisein ein Nachbar dem Schlächtermeister eine Summe Bargeld
aufgezählt, und dieser Nachbar hatte sofort darauf aufmerksam ge¬
macht, daß Jankowski in bedenklicher Weise die aufgezählten blanken
Geldstücke mit den Augen geradezu gierig verschlungen hatte. Am
folgenden Tage hatte es das Unglück gewollt, daß der Bursche ge¬
sehen hatte, wie seine Dienstherrin aus einem auf ihrer Schlafkammer
stehenden Schranke eine größere Summe Geldes herausholte.
Am dritten Abend seiner Anwesenheit im Hause war sein
Dienstherr verreist, die übrigen Hausbewohner hatten sich zu einer
länger dauernden Verrichtung in die Wohnstube zurückgezogen, und
Jankowski selbst war mit dem später von ihm ermordeten 9 jährigen
Sohne seines Diensthern und dessen jüngerem Bruder beim Häcksel¬
schneiden im Futterraume. Planmäßig hatte Jankowski den jüngeren
Knaben unter Verabreichung einer Ohrfeige aus dem Futterraume
verwiesen; seinen 9 jährigen Bruder hatte er nicht loswerden können.
Dieser war ihm das einzige Hindernis, die überaus günstige Gelegenheit
zum Stehlen zu benutzen: den sonst für ihn freien Weg zu der Schlaf¬
kammer seiner Herrschaft zu betreten, um dort den Schrank zu
plündern und mit dem Gelde zu verschwinden.
Um dieses einzige Hindernis seines diebischen Planes aus dem Wege
zu räumen, hatte er dann den 9 jährigen Knaben mittels der im Stalle
vorhandenen Werkzeuge, einem Hammer und einem kleinen Handbeile,
ermordet, und gleich nachher war er in das — mit im Wohnhause
liegende — Schlachthaus gegangen, um sich von dort ein sehr
schweres, zum aufbrechen von Schränken vorzüglich geeignetes
Werkzeug (ein s. g. Ochsenbeil), das er sich an der Tür des Schlacht¬
hauses vorher zurecht gestellt hatte, zu holen. Zufällig war aber
in diesem Augenblick die Magd des Schlachters einen Augenblick im
Schlachthause anwesend gewesen, Jankowski hatte deshalb, da er
den Weg zur Schlafkammer, der durch das Schlachthaus führte, nun
nicht mehr unbemerkt einschlagen konnte, seinen Diebstahlsplan als
gescheitert angesehen, und er war, nachdem er das schwere Ochsenbeil
weggeworfen hatte, entflohen. Alles dieses war, wie hier im einzelnen
nicht näher ausgeführt werden kann, durch die Untersuchung ein¬
wandfrei festgestellt.
Jankowski hat den geschilderten Hergang nie zugestanden, er
Archiv für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 21
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XIII. Pessler
ist vielmehr bei der gänzlich unglaubwürdigen Angabe geblieben, daß
er den Knaben nur deshalb kaltblütig erschlagen habe, weil dieser
ihn „geneckt“ hätte.
Wilh. Duwe endlich ist, wie aus der Darstellung im Pitaval
der Gegenwart a. a. 0. des näheren zu ersehen ist, trotz seines
Geständnisses in der Hauptsache während der ganzen Untersuchung,
und auch noch in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht, bei
einer ganzen Reihe von Lügen in Nebenpunkten geblieben, und erst
durch den Druck, den das Todesurteil auf ihn ausgeübt hat, ist er
bewogen, mir am Tage nach der Verurteilung seine Lügen einzugestehen.
C.: Züge unglaublicher Gemütsverrohung.
Anton Giepsz und seine Mittäterin Ehefrau Koßmieder
zeigen, ganz abgesehen von der begangenen Bluttat, arge Züge einer
nur als „viehisch“ zu bezeichnenden Verrohung.
Als Giepsz seinen Logiswirt Koßmieder auf dem Felde hinterrücks
ermordet hatte und die blutende Leiche vor sich liegen sah, hatte
er doch für Augenblicke die Wahrheit des Wortes an sich erfahren:
„Ein anderes Antlitz, eh 7 sie geschehen, Ein anderes zeigt die
vollbrachte Tat:“
Von Angst und Gewissensbissen gequält, war er querfeldein ge¬
laufen; das Mordbeil hatte er in den vorüberfließenden Bach geschleu¬
dert. Zu Hause angekommen, hatte er sich dann weinend auf das
Bett der Eheleute Koßmieder geworfen; er war außer sich gewesen.
Bald aber batte ihn die buhlerische Ehefrau des Ermordeten
zu beruhigen gewußt, und es hatte das ehebrecherische Mörderpaar,
wie es mir selbst zugegeben hat, im Ehebette des Erschlagenen den
Beischlaf miteinander vollzogen, als das warme Blut des Gemordeten
noch gen Himmel rauchte!
Nachdem Giepsz das oben geschilderte Geständnis abgelegt und
am folgenden Tage in sichtlicher Erregung der Ehefrau Koßmieder
ihre Mittäterschaft ins Gesicht gesagt hatte, sollte er wieder ins Ge¬
fängnis abgeführt werden. Er bat noch eine Bitte vortragen zu
dürfen. Ich glaubte, daß er unter dem furchtbaren Eindrücke der
eben vollendeten Verhandlung etwa nach einem Geistlichen oder nach
einem Gebetbuche verlangen würde, doch zum Erstaunen aller An¬
wesenden trug er vor:
„Ich bitte darum, daß ich jetzt morgens Wurst zu meinem Früh¬
stück bekomme!“
Clemens Jiinemann war, wie er zugestand, nachdem er eben
die Leiche seines von ihm ermordeten Landsmanns verscharrt hatte,
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
32B
von der Mordstelle in den Eßsaal der Fabrikarbeiter geeilt, batte dort
den Schrank des Erschlagenen aufgebrochen und sofort in größter
Gemütsruhe dessen Mundvorräte verzehrt.
Heinr. Ohl mann tat, als er mit den ersten, wenn auch noch
von Lügen wimmelnden, Anfängen eines Geständnisses herauskam,
ganz zerknirscht und verzweifelt und bat inständigst, seine Kinder,
ein Paar kleine Knaben, sehen zu dürfen. Ich erfüllte seinen Wunsch.
Als ich am folgenden Tage die Knaben hatte hereinführen lassen,
brach Öhlmann in lautes Schluchzen und Weinen aus, nahm seine
Kinder auf den Schoß und herzte und küßte sie leidenschaftlich. Dies
dauerte aber nur wenige Minuten. Öhlmann benutzte die noch übrig
bleibende Zeit des Zusammenseins mit seinen Kindern dazu, mir mit
der größten Umständlichkeit auseinanderzusetzen, daß er vor dem
Fenster seines Hauses noch eine Gans hängen habe, und er bat mich
dringend, dafür zu sorgen, daß diese (N.B. von dem geraubten Blutgelde
gekaufte!) Gans ja nicht verdürbe.
Als ich Öhlmann eröffnet hatte, daß nach Ablauf von vierund¬
zwanzig Stunden sein Kopf fallen würde, fragte ich ihn, wie üblich,
nach seinen Wünschen in Beziehung auf leibliche Genüsse, erwähnte
auch, daß ich ihm das Rauchen gestatten würde. Hierauf ließ ich
den würdigen Gefängnisgeistlichen eintreten, und als dieser dem Ver¬
brecher den Trost der Religion in ergreifender W eise spendete, weinte
und lamentierte Öhlmann heftig und laut, sodaß ich den Eindruck
hatte, er sei von tiefer Reue ergriffen und nur von dem Gedanken
an seinen nahen Schritt in die Ewigkeit beherrscht. Als er dann
wieder abgeführt werden sollte, drehte sich Öhlmann in der Tür
noch einmal um und erklärte, noch etwas vortragen zu wollen. Mit
Sicherheit erwartete ich eine wichtige, auf seine Tat oder doch auf
sein sonstiges Vorleben sich beziehende Mitteilung. Als ich ihn aber
aufforderte, sich auszusprechen, sagte er:
„Herr Staatsanwalt, ich wollte sie nur daran erinnern, daß Sie
die Zigarren nicht vergessen, die Sie mir versprochen haben!“
Befriedigt zog er dann mit meinem ihm sofort gereichten Zigarren¬
vorrat ab.
Wilh. Rühmanns Gefühlsverrohung verrät schon die von ihm
zugestandene Tatsache, daß er mit dem Plane, den Mord am nächsten.
Frühmorgen auszuführen — während der ganzen Nacht vortrefflich
in einer ihm zum Unterschlupf dienenden Kornstiege geschlafen habe.
Noch mehr tritt aber seine Entmenschtheit durch sein folgendes Ver¬
halten zutage: Nachdem er eben seine, von ihm stets „Tante“ genannte
alte Wohltäterin mit eigenen Händen erwürgt und die Leiche an den
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XIII. Pessler
Kammertürpfosten aufgehängt hatte, stellte er zunächst, wie er selbst
angibt, mit aller Kaltblütigkeit durch Befühlen des Pulses fest, ob
der Tod auch zweifellos eingetreten sei. Dann bemächtigte er sich
der im offenen Pulte liegenden Barschaft und eilte spornstreichs nach
einem nahe dem Tatort gelegenen Arbeitsplatz. Hier rief er einen
Arbeiter heran, dem er einige Mark schuldete, zeigte ihm mit Froh¬
locken die drei geraubten Goldstücke mit dem Bemerken, er habe
eben den zweiwöchigen Lohn in dem Kaliwerke bekommen und wolle
nun seine alte Schuld bezahlen. Dann ging er mit dem Arbeiter in
die nächste Kneipe, ließ ein Frühstück auftragen und verzehrte mit
den ungewaschenen Mordhänden Fleischwaren — darunter Blutwurst
mit größtem Wohlbehagen.
Heinr. Stolte hat das unglaublichste in der hier in Rede
stehenden Richtung geleistet.
Wie schon mitgeteilt, hatte er seine Geliebte zu einem zärtlichen
Stelldichein in ein einsames Gehölz bestellt, um sie dort zu erdrosseln.
Sie sollte sterben, weil er fürchtete, sie sei schwanger geworden, und
er werde nach der Geburt eines Kindes nicht nur zu Geldopfern ge¬
zwungen werden, sondern namentlich auch mit seiner „wirklichen
Braut“, einem in einem Nachbardorfe dienenden Mädchen, das etwas
„Geld hatte“ in ein Zerwürfnis geraten. Den Mordstrick hatte er in
der Tasche. An einem Grabenrande setzte sich das Paar nieder,
tauschte Zärtlichkeiten aus, und schließlich vollzog Stolte, wie er
selbst eingesteht, und wie die später an der Kleidung des Mädchens
durch den Mikroskopiker gefundenen Spuren bestätigen, mit dem von
ihm auserkorenen Opfer rite den Beischlaf. Gleich nachdem ihm die
Ahnungslose diese „höchste Liebeshuld“ gewährt hatte, legte Stolte
in erheuchelter Zärtlichkeit den linken Arm um die Schultern des
Mädchens, zog heimlich mit der rechten Hand den Strick aus der
Tasche, warf ihn seiner Geliebten um den Hals, erdrosselte sie und
bängte ihre Leiche an der nahe stehenden Kiefer auf.
Wilb. Duwe vermochte es, wie aus dem Pitaval der Gegenwart
näher zu ersehen ist,') unmittelbar nach dem von ihm verübten
Morde frivole Witze mit seiner gerade im Bett liegenden Ehefrau zu
machen; seine völlige Verrohung zeigte sich aber in seinen allerletzten
Stunden, über welche ich im Pitaval der Gegenwart in Rücksicht
auf den ausgedehnten Leserkreis dieses Sammelwerks keine Angaben
gemacht habe:
1) bicho dort auch die falsche Anschuldigung, welche Duwe noch am Abend
vor der \ ollstreckung des Todesurteils gegen einen ganz Unschuldigen wegen
einer (von ihm selbst verübten) Brandstiftung machte.
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
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In seiner letzten Nacht begann er mit den ihn bewachenden
beiden Gefangenenaufsehern „sich gemütlich was zu erzählen“.
Hierbei kam er auf das ihm in wenigen Stunden bevorstehende
„Köpfen“ zu sprechen. Er sagte zu seinen Wächtern u. a. folgendes:
„Ich habe immer sagen hören, daß der Kopf eines Gerichteten,
wenn er vom Rumpfe getrennt ist, noch sehen und denken kann.
Wenn ich nun morgen früh geköpft bin, dann passen Sie einmal
ordentlich auf. Hat mein Kopf dann noch Bewußtsein, dann will
ich zum Zeichen hierfür dreimal die Zunge aus den Mundwinkeln
herausstrecken!“ Hierbei machte er den Gefangenenaufsehern die
entsprechenden Bewegungen vor.
Am folgenden Morgen ordnete ich Schlag 8 Uhr die Vorführung
Duwes behufs Vollstreckung der Todesstrafe an. Die Vorführung nahm
etwas längere Zeit in Anspruch, als nach meiner Berechnung nötig
war. Nach Vollendung der Hinrichtung berichtete mir der wegen
dieser Verzögerung befragte Gefängnisinspektor folgendes:
„Duwe war, als ich zu seiner Vorführung in der Zelle erschien,
gerade dabei, noch eine Tasse von dem ihm gereichten (guten und
starken) Kaffee zu trinken. Als ich ihn zum Schafott führen lassen
wollte, erklärte er, auf seine noch etwa halb gefüllte Tasse deutend:
„Dä (sc. der Kaffee) sali noch midde!“, dann schlürfte er ruhig seine
Tasse aus.
„Dä sali noch midde!“ waren die letzten Worte, welche der
entmenschte Verbrecher in diesem Erdenleben sprach.
Daß nicht nur bei Mördern sondern überhaupt bei hartnäckig
leugnenden schweren Verbrechern sehr oft ganz eigentümliche Umstände,
die der untersuchende Beamte gar nicht in Rechnung ziehen konnte,
ganz plötzlich und unerwartet ein Geständnis zeitigen, welches durch
die geschicktesten Vorhalte und den bestgemeinten Zuspruch nicht zu
erreichen war, ist eine jedem Kriminalpraktiker bekannte Tatsache.
Es ist uns mit unserem Fühlen und Denken oft gar nicht möglich,
die psychologischen Vorgänge zu verstehen, die im Inneren des Ver¬
brechers durch einen anscheinend unerheblichen äußeren Umstand
verursacht werden und ihn so zu sagen zwingen, plötzlich mit der
Wahrheit herauszukommen.
Die vorausgeschickte kleine Kasuistik soll nun drei ziemlich
häufige Umstände klar legen, welche die nächste Veranlassung zu
den plötzlichen Geständnissen von leugnenden Verbrechern der
schwersten Art gegeben haben. Diese Umstände sind:
1. Die mit unwiderstehlicher Gewalt in dem Beschuldigten auf¬
tauchende Wut und Empörung, die lediglich ihren Grund darin hat,
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XIII. Pessler
daß in der Untersuchung oder Verhandlung etwas objektiv unwahres
von den beteiligten Zeugen oder Sachverständigen vorgebracht wird,
das den Widerspruch des Verbrechers herausfordert.
2. Die Hinführung des Verbrechers zum Schauplatze seiner Tat
und das damit verbundene innere Wiedererleben des Verbrechens in
der Psyche des Schuldigen.
3. Der Einfluß, welchen die aus der Kindheit stammenden Reste
von Mystik und anerzogener Religiosität auf den Verbrecher ausüben.
Daß der zu 1 gedachte „Geist des Widerspruchs“ plötzlich ein
Geständnis „hervorzaubert“, habe ich schon recht häufig in meiner
Praxis erlebt. Oft ereignete es sich, daß, wenn ein Zeuge ohne jede
böse Absicht, lediglich aus menschlichem Irrtum, über ganz gering¬
fügige Nebenumstände etwas unrichtiges aussagte, und ich dann
diesen Zeugen dem leugnenden Beschuldigten gegenüberstellte, der
Verbrecher plötzlich in große Erregung geriet und mit den in den
verschiedenen Fällen fast stereotyp wiederkehrenden Worte berausplatzte:
„Das ist aber nicht wahr, nun will ich auch alles sagen, wie
es wirklich gewesen ist.“
Darauf erfolgte dann schlank das bisher hartnäckig verweigerte
Geständnis.
Hiernach erklärt sich ungezwungen die Genesis des plötzlichen
Geständnisses von Jonas Segger.
Die ärztlichen Sachverständigen demonstrierten in der Haupt¬
verhandlung in Seggers Beisein mit ziemlicher Entschiedenheit, daß
mindestens eine der Mordtaten höchstwahrscheinlich mit dem bei dem
Angeklagten beschlagnahmten Schusterhammer ausgeführt sei; bei
einer der ermordeten Personen sollten sogar einige Verletzungen mit
der Platte, andere mit der Pinne des Hammers wahrscheinlich verursacht
sein. Das war ja aber alles nicht wahr, sagte sich Segger, sein
Schusterhammer war niemals von seinem Arbeitstisch fortgekommen,
er hatte ein ganz anderes Werkzeug, ein Beil, zu seiner Tat benutzt!
Seggers Widerspruchsgeist regte sich mächtig gegen diese objektiv
unrichtigen Schlüsse; noch mehr wurde er erregt, als ihm nun der Vor¬
sitzende die sich darauf gründenden Vorhalte machte.
Noch einen Augenblick hatte er Überlegung genug, nicht durch
ein „Herausplatzen mit der Wahrheit“ sich als Täter zu bekennen,
als er aber gleich darauf in das Arrestantenzimmer abgeführt war
dort über die von ihm gehörte und ihn empörende „Unwahrheit“
nachgrübelte, trat für ihn jede andere Rücksicht in den Hintergrund,
und er konnte seinem Drange — selbst auf Kosten seines Kopfes —
nunmehr mit dem richtigen Sachverhalte herauszukommen und da-
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
327
durch zugleich die Sachverständigen (gewissermaßen triumphierend)
„abzuführen“, nicht länger widerstehen. Die Konsequenz dieser inneren
Vorgänge war das Geständnis.
Der psychologische Vorgang, welcher sich bei Heinr. Ohlmann
und bei Heinr. St ölte abspielte, als bei diesen durch die zu 2 er¬
wähnte Veranlassung, durch die Hinführung zum Tatorte, plötzlich
ein Geständnis „ausgelöst“ wurde, ist einfacher Natur.
Die Betrachtung des Tatortes, oder auch nur die (gezwungene)
Annäherung an denselben, rief in der Seele der beiden Verbrecher
alle Einzelheiten ihrer Tat in der lebhaftesten Weise wach. Der Wider¬
stand, den sie bei der Verübung ihrer Verbrechen in ihrem Innern
hatten überwinden müssen, „die Hemmungen“, wie der psycho¬
logische Kunstausdruck lautet, traten mit Lebhaftigkeit vor ihre Seele,
während die bei der Tat in ihnen herrschenden „Lustgefühle“
jetzt nach langem Zeitlauf und der Ausschaltung der bei der Tat vor¬
handen gewesenen Leidenschaft, verschwunden oder doch völlig in den
Hintergrund getreten waren. Gezwungen durchlebten die Täter innerlich
noch einmal die Einzelvorgänge, sie sahen mit ihrem geistigen Auge
nochmals ihre Tat; aber jetzt mit „dem anderen Antlitz, das die voll¬
brachte Tat zeigt!“ Alles dieses übermannte die Schuldigen; es traten
Angstgefühle in ihnen auf, und diese bewirkten jene „Spannung“
die sie gewaltsam „lösen“ mußten, und nur durch die Ablegung
eines Geständnisses lösen konnten. Die Ablegung des Geständnisses
war für die beiden (geistig normalen) Männer in gleicher Weise die
„sie erlösende Tat“, wie ja auch bei psychopathischen (nament¬
lich mit Zwangsgedanken behafteten) Persönlichkeiten irgend eine außer¬
gewöhnliche, meist gewaltsame, Handlung, das innere Gleichgewicht —
wenigstens momentan — wieder herstellt.
Von ganz besonders hervorragender Bedeutung für die Entstehung
von Geständnissen ist aber der zu 3 gedachte Einfluß, den der Best
von Mystik und anerzogener Religiosität selbst auf den verworfensten
Menschen auszuüben vermag.
Das Einfallen der Bußtagsglocken im Augenblicke der Vorzeigung
des Mordbeils riefen in Anton Giepsz, der ihm plötzlich vor die
Augen tretende grinsende Schädel des Ermordeten rief in Clemens
Jünemann (beide waren Katholiken) plötzlich mystische und reli¬
giöse Empfindungen wach, die noch aus ihrer Knabenzeit stammten.
Längst waren diese Empfindungen durch das Leben bei ihnen zwar
abgestumpft, aber nicht getötet; sie schlummerten nur in ihrem Inneren,
und mit elementarer Gewalt brachen sie blitzartig wieder hervor, als
die Bedingungen für dieses Hervorbrechen plötzlich gegeben waren.
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XIII. Pessler
Wie den vor dem Selbstmorde stehenden Faust das Osterlied und die
Osterglocken wieder in die Zeit seiner Kindheit plötzlich zurückver¬
setzen und ihm „vom letzten ernsten Schritt zurückhalten“, so läuteten
auch den hier genannten Verbrechern die Jugendglocken, ihr „Kinder¬
glaube“ und ihre „Kinderfurcht“ trat für den Augenblick mit unbe-
zwinglicher Kraft wieder in ihre Hechte und sie übten einen derartigen
inneren Zwang auf die sonst hartgesottenen Sünder aus, daß alle
Gegenvorstellungen, alle kühlen Überlegungen in den Hintergrund
traten und sie gezwungen ^wurden, sich durch ein Geständnis Luft
zu machen.
In ganz ähnlicher Weise ist auch das erste Geständnis des oben
genannten Wilh. Duwe entstanden. Auch in ihm war es das
Mystische, das er in dem Verhalten des Tieres, des vielumfabelten
Hundes erblickte, das Gottesurteil, das für ihn darin lag, daß er
meinte, das Tier habe ihn als Mörder erkannt und „gerichtet“, was ihn
unwiderstehlich zwang, ein Geständnis seines Verbrechens abzulegen.
Beispiele der hier geschilderten Art wird jeder erfahrene Kriminal¬
praktiker erlebt haben; namentlich wird er bestätigen können, wie
auch oft der eigentliche „Aberglaube“ eines Verbrechers bei irgend
einem geeigneten Anlaß plötzlich ein Geständnis hervorgebracht hat
Wenden wir uns nun zu den Lügen der in der Hauptsache ge¬
ständigen Verbrecher über anscheinend ganz nebensächliche Punkte.
Daß ein derartiges Manöver immer wieder kehrt, steht für jeden er¬
fahrenen Praktiker fest.
Von den Kollegen, mit denen ich diese „kuriose Tatsache“ be¬
sprochen habe, sagen einige: „Es läßt sich kein stichhaltiger Grund
für diese Lügen in Nebenumständen ermitteln.“ Andere meinen: „Es
ist entweder geradezu eine Art Sport, den sich die Verbrecher durch
Lügen in Nebenumständen leisten, oder es ist der in solchen Personen
vorhandene Hang zum Lügen. Oder aber ein noch vorhandener
Rest des Widerstandes, alle Umstände der Wahrheit gemäß anzu¬
geben, treibt die in der Hauptsache Geständigen zum Lügen in Neben¬
punkten.“
Gewiß mag in Einzelfällen der Hang zum Lügen des Rätsels
Lösung sein, denn gerade wie bei gewissen Arten psychopathisch be¬
lasteter Personen findet man auch unter den schweren Verbrechern
recht viele „habituelle Lügner“, die, nicht etwa aus Berechnung, um
Vorteile zu erlangen, sondern lediglich deshalb die Wahrheit ver¬
drehen, weil sie „das Lügen nicht lassen können“.
Von größerer Erheblichkeit zur Erklärung unseres Kuriosums
dürfte ein fernerer Umstand sein:
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
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In zahlreichen Fällen — und so in fast sämtlichen in unserer
Kasuistik angeführten Beispielen — war das Geständnis in der Haupt¬
sache durch einen impulsiv wirkenden mächtig hervorbrechenden
inneren Trieb ausgelöst, der durch ein ganz bestimmtes äußeres, auf
die Psyche des Verbrechers überwältigend ein wirkendes Ereignis ver¬
ursacht war. Diesem „Triebe“ war der Verbrecher gefolgt und deshalb
war er mit dem Geständnis in der Hauptsache s. z. s. „herausgeplatzt“.
Zurück konnte er nicht mehr, zumal die untersuchende Behörde die
von ihm angegebenen Hauptzüge der Tat sofort nachgeprüft hatte
und es dem Geständigen klar geworden war, daß jetzt ein Widerruf
gänzlich zwecklos erschien. Nun trat aber mit der wieder eingetretenen
Ruhe und berechnenden Überlegung ein anderes Gefühl in dem Ver¬
brecher auf: Er schämte sich, daß er als Lügner dastand. Ja, so
wunderbar es klingt, dieses Schamgefühl finden wir bei Verbrechern,
denen sonst „das Schamgefühl“ im weiteren Sinne längst abhanden
gekommen ist. Geht nun „der Inquirent“ mit seinem logischen Sezier¬
messer an die Erörterung der Nebenpunkte, die zum Teil schon vor
der Ablegung des Geständnisses wahrheitswidrig angegeben waren,
so sucht „der Inquisit“, eben weil er sich schämt, in allen Punkten
gelogen zu haben, sich noch einen Schein von Wahrheitsliebe da¬
durch zu retten, daß er in diesen nebensächlichen Tatsachen wider
besseres Wissen bei seinen unwahren Angaben beharrt, indem er der
Hoffnung ist, in diesen Nebensachen werde ihm geglaubt werden.
Ganz abgesehen von unseren wenigen hier angeführten Beispielen
habe ich den geschilderten psychologischen Vorgang schon in zahl¬
reichen anderen Fällen zu beobachten Gelegenheit gehabt. Geradezu
mit einer gewissen Entrüstung sagt der in der Hauptsache völlig ge¬
ständige Verbrecher, wenn man auf einen offenbar noch lügenhaft
dargestellten Nebenpunkt zu sprechen kommt: „Nein das ist aber
genau so, wie ich es gesagt habe; weshalb sollte ich denn auch in
diesem Punkte etwas unwahres angeben, wo ich doch nun alles ein¬
gestanden habe und meine Strafe kriege?“ Diese Redewendung ist
bei Individuen, wie wir sie hier im Auge haben, nach den von mir
gemachten Erfahrungen geradezu stereotyp.
Übrigens ist es — nebenbei bemerkt — das Schamgefühl, das
den Verbrecher in manchen Fällen abbält, trotzdem er sich selbst
überführt glaubt, überhaupt ein Geständnis abzulegen. Der
Schuldige kann es nicht über sich gewinnen, sich als Lügner zu be¬
kennen. Ganz besonders schwer wird es ihm, der bisher hartnäckig
geleugnet hat, gerade demjenigen Untersuchungsbeamten gegen¬
über, den er beharrlich „angelogen hat“, mit der Wahrheit heraus-
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zukommen. Es wird deshalb auch oft mit Erfolg das „changer les
cavaliers“ im Untersuchungsverfahren angewendet, indem man den
leugnenden Beschuldigten durch einen anderen Beamten als denjenigen,
den er bereits wiederholt angelogen hat, nochmals vernehmen läßt.
Diesem neuen, ihm bisher unbekannten Beamten gegenüber tritt das
Schamgefühl des Schuldigen nicht so stark hervor, und seine Über¬
windung, die früheren Lügen zu bekennen, geht rascher vonstatten.
Besonders leicht wird dem bisherigen Lügner die Überwindung des
Schamgefühls, wenn der neueintretende „Inquirent“ nicht, wie bisher,
ein höherer Justizbeamter (Richter oder Staatsanwalt), sondern ein
Polizist, Gendarm oder dergleichen ist. Derartigen Organen gegen¬
über kommen die Verbrecher, wie auch ein Teil unserer Beispiele
zeigt, leichter mit einem Geständnis heraus wie gegenüber den höheren
Strafjustizbeamten; vielleicht, weil sich Personen der erstgenannten Art
leichter der ganzen Denkungsweise des zu Vernehmenden anzupassen
wissen wie der „studierte“ Richter oder Staatsanwalt.
Man soll den Grund für das Lügen der im übrigen geständigen
Verbrecher über einzelne — von dem untersuchenden Beamten als
„nebensächliche Punkte“ angesehene — Tatsachen aber nicht von
vornherein in dem Hange zum Lügen oder in dem Schamgefühle
des Beschuldigten suchen, sondern man muß vor allen Dingen danach
forschen, ob es nicht doch aus Berechnung geschieht, ob nicht
die von uns als gleichgültig angesehene Tatsache, „der Nebenpunkt“
nach der Anschauungsweise des Verbrechers (der ja in der
Regel weder juristisch noch logisch genügend gebildet ist, um die
Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der Einzeltatsache und ihren Einfluß
auf das Urteil richtig zu erkennen) sich nicht als eine wesentliche
Tatsache, als „ein Hauptpunkt“ darstellt; ob nicht der Verbrecher den
ihm klar bewußten Zweck hat, durch das Lügen über die hier in
Rede stehenden Tatsachen sein Verbrechen irgendwie zu beschönigen
und dadurch ein günstigeres Urteil zu erreichen.
Bei Anwendung gehöriger Sorgfalt wird es gewiß in vielen Fällen
gelingen, den Zweck, den der Verbrecher mit seinem Lügen verfolgt
zu ermitteln, und hat man einen solchen Zweck einwandfrei fest-
gestellt, so fällt selbstverständlich das auf den ersten Blick so wunder¬
bare in dem geschilderten Verhalten der in der Hauptsache geständigen
Täter fort.
Es kommt vor, daß ein in allen Hauptpunkten völlig ge¬
ständiger Verbrecher, der über einige durchaus für die Beurteilung
der Sache gleichgültig erscheinende Punkte beim Lügen blieb, wenn
er seine Strafe bereits angetreten hat und an seinem Urteil nichts
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
331
mehr zu ändern ist, bei einem gelegentlichen Vorhalt über das „albern“
erschienene Lügen gutmütig grinsend sagt: „Ja, Herr Staatsaanwalt,
ick harre aber doch wat derbie!“ Dann setzt der Mann den Zweck
seiner Lüge auseinander, und es fällt wie Schuppen von den Augen,
wenn man sich ganz in die Seele und die krause Denkungsweise des
Verbrechers hereinversetzt hat
Versuchen wir einmal, bei einigen der von uns angeführten
Beispielen den Zweck zu ergründen, den die im übrigen geständigen
Mörder mit ihren Lügen in Einzelpunkten verfolgten, und schicken
wir erläuternd voraus, daß Mörder fast immer sehr genau wissen,
wieviel auf das Moment der Überlegung bei der Tat und auf den
Grad dieser Überlegung ankommt Jedenfalls merken sie dies im
Laufe der Untersuchung, bei der ja naturgemäß auf denjenigen vor,
bei oder nach der Tat liegenden äußeren Umständen, aus denen auf den
inneren Vorgang der Überlegung Schlüsse gezogen werden können,
wieder und wieder (venia sit verbo) „herumgeritten wird“.
Clemens Jünemann hatte, wie wir gesehen haben, nachdem
er sich überzeugt, daß mit seinem ersten Leugnen jeder Wissen¬
schaft von der Todesursache seines Landsmanns nichts zu erreichen
war, noch in der Hauptverhandlung mit großem Geschick die Taktik
verfolgt, die Sache auf eine „gerechte Notwehr“, mithin auf eine
straflose Handlung, hinauszuspielen.
Als ihm dann infolge der oben geschilderten psychologischen
Vorgänge das Geständnis in der Hauptsache mit unwiderstehlicher
Gewalt über den Eqy.oc; ööövtiov geglitten war, trat sofort bei ihm
wieder die Berechnung soweit in ihre Rechte, daß er das Moment
der Überlegung bei Ausführung der Tat durch erlogene (und, wie er
glaubte), nicht zu widerlegende Tatsachen, um möglicherweise den
Kopf noch zu retten, auf ein Minimum herabzuschrauben suchte.
Aus diesem Grunde wollte er nicht zugeben, daß er die Tat „von
langer Hand“ vorbereitet, indem er bereits früh am Abend die Hab¬
seligkeiten seines Opfers aus dem Schlafsaal beseitigt, daß er stunden¬
lang vor der Gasbereitungsanstalt herumgelungert hatte, um den rechten
Augenblick zum Morde zu erspähen.
Er hoffte noch immer (was übrigens auch aus verschiedenen von
ihm geschriebenen Briefen hervorgeht) mit einer zeitigen Freiheits¬
strafe davonzukommen.
Traf aber seine Hoffnung ein, so durfte er, wie er weiter über¬
legte, auch nicht zugeben, daß der Ermordete um schwere von ihm
(Jünemann) begangene Verbrechen gewußt hatte, denn sonst hätte er
neue schwere Straftaten bekennen müssen, die ihm mindestens eine
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332
XIII. Pessleb
erhebliche Verlängerung seiner Freiheitsstrafe eingetragen haben würden.
(Die Straftaten, um die der Erschlagene wußte, waren offenbar weit
schwererer Natur als die nachher von Jünemann eingeräumten Dieb¬
stähle!)
Daß Jünemann auch im letzten Augenblick vor der Vollstreckung
der Todesstrafe nicht mit der Wahrheit herauskam, erklärt sich aus
der bekannten Hoffnung der zum Tode Verurteilten von der „Be¬
gnadigung im letzten Augenblick“.
Heinr. Ohlmann versuchte durch die lügenhafte Angabe, er
habe seine Tante in derjenigen Schlafkammer erschlagen, in der
die Leiche gefunden wurde, die Sache als einen (vielleicht nach
§ 214 RS.G.B. erschwerten) Totschlag vor den Geschworenen hinzu¬
stellen. In der fr. Schlafkaramer stand der Koffer, aus dem er die
Wertpapiere gestohlen hatte, und nach seiner Angabe sollte seine
Tante auf den Diebstahl zugekommen sein. In diesem Augenblick
wollte er die — von ihm allerdings schon in eventum vorher be¬
schlossene — Tötung mit der bereit gestellten Latte verübt haben.
Dann wollte er, in Verzweiflung darüber, daß ja sonst seine Tat so¬
fort an den Tag kommen würde, auch seinen Neffen erschlagen haben.
Diese Darstellung klang nach Öhlmanns Ansicht doch ganz anders
und für ihn günstiger, als wenn er die (im letzten Augenblicke ein¬
gestandene) Wahrheit angab, daß er seine (arglos Würste holende)
Tante in der Vorratskammer heimtückisch beschlichen und getötet,
und dann, den geeignetsten Augenblick ruhig abwartend, auch seinen
Neffen erschlagen hatte.
Bei seiner Lüge über das Mordwerkzeug hat Öhlmann, wie ich
glaube, folgenden — wenn auch etwas sonderbaren — Ideengang
verfolgt:
„Eine Staketlatte ist ein viel harmloseres Werkzeug als der
schwere Eisenteil einer Schute, setzt du deshalb an die Stelle der
wirklich gebrauchten Schute die Latte, so sieht die ganze Sache milder
aps, als wenn du der Wahrheit gemäß zugibst, daß du gleich mit
der (sicher tötlich wirkenden) Schutenöse zugeschlagen hast, min¬
destens kann doch für die Begnadigungsfrage die nicht zu wider¬
legende Lüge von Wichtigkeit sein!“
Heinr. S t o 11 e, ein überaus aufgeweckter, ja intelligenter
Mann, hat im wesentlichen denselben Zweck bei seinen Lügen ver¬
folgt, wie Öhlmann.
Seine Angaben, daß er seine Geliebte, als er sie bereits zwei
Tage vor der Tat zu einem abendlichen Stelldichein in ein einsames
Gehölz bestellt hatte, nicht schon bei dieser Gelegenheit töten wollte,
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
333
sollte die Annahme von der Hand weisen, daß sein Mord „von langer
Hand u geplant war, daß er sich die Sache schon mindestens mehrere
Tage überlegt hatte.
Eine Konsequenz dieser Lüge war die fernere, daß Stolte ab¬
stritt, sich bereits 3 Tage vor der Tat den Mordstrick in der Werk¬
statt des Nachbarn angeeignet zu haben, denn gab er diese wahre Tat¬
sache zu, so gestand er damit ja wieder ein, daß er schon am Tage
vor der Bestellung des Mädchens zu dem ersten Stelldichein, also
mindestens drei Tage vor der Tat selbst, diese bereits eingehend über¬
legt hatte.
Auf eine Einschränkung des Moments der Überlegung lief es
auch h inaus, daß Stolte nicht zugab, er selbst habe, um ein Zuziehen
der Schlinge zu erleichtern, den Messingring an den Strick gebunden,
und daß er bestritt, er habe dem Mädchen die ausführlichen Angaben
über den von ihm zum verabredeten Platze einzuschlagenden Weg
gemacht.
Endlich erklärt sich auch der Zweck seiner lügenhaften Angabe,
er habe, abgesehen von dem Mordabende, nur einmal mit der Magd
Geschlechtsverkehr gehabt, wenn man Nachstehendes berücksichtigt:
Stoltes Bestreben ging dahin, den Glauben zu erwecken, daß er
durch das Verhalten seiner Geliebten selbst aufs äußerste zu seiner
grausigen Tat gereizt sei, er wollte so halb und halb behaupten,
das Mädchen hätte eigentlich selbst Schuld daran, daß er es ge¬
tötet habe.
Seine Geliebte hatte ihm (und zwar, wie sich bei der Leichen¬
öffnung herausstellte, irrtümlicherweise) einige Tage vor
dem Morde gesagt, sie sei von ihm schwanger. Stolte suchte nun
glauben zu machen, daß das Mädchen sich jedenfalls von einem anderen
habe schwängern lassen, er aber „Vater spielen“ und die Folgen
tragen sollte. Dieses von ihm als „empörend“ geschilderte Verhalten
des Mädchens sollte der Stachel gewesen sein, der ihn zu dem
Morde hingerissen hatte. Um eine solche — mindestens für die s. g.
„Gnadeninstanz“ möglicherweise erhebliche — mildere Auffassung
seines Verbrechens hervorzurufen, gab Stolte nur einen einmaligen Bei¬
schlaf mit dem Mädchen, welchen er überdem (wie aus anderen An¬
deutungen hervorgeht) anscheinend unter Anwendung s. g. Präservativ¬
mittel vorgenommen haben wollte, zu, indem er seine Meinung, das
Mädchen könne von ihm nicht geschwängert worden sein, dadurch
zu motivieren suchte.
Wilh. Rühmanns Lügen über die Herkunft des bei der Tat
gebrauchten Strickes erklären sich in derselben Weise wie die gleich-
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XIII. Pessler
artigen Lügen des Heinr. Slolte. Rühmann wollte den Glauben er¬
wecken, daß er die Einzelheiten der Ausführung seines Plans erst
überlegt habe, als er beim Hause seines Opfers angelangt war.
Gab er nun aber der Wahrheit gemäß zu, daß er den Mordstrick
schon auf dem — ziemlich weit vom Tatort liegenden — Felde zu
sich gesteckt hatte, so gestand er damit ja ein, daß er schon zu
dieser Zeit über das Aufhängen der zu Ermordenden eingehend nach¬
gedacht hatte.
Für Rühmanns zweite Lüge über den Nichtgebrauch der Schürze
bei dem Erdrosselungsakte kann ich den von dem Verbrecher dabei ver¬
folgten Zweck nicht angeben, ich glaube aber sicher, daß er auch
hierbei ein bestimmtes Ziel im Auge gehabt hat
Joseph Jankowski, der jugendliche degenerierte und ver¬
wahrloste Gewohnheitsdieb und Müßiggänger besaß trotz seiner „moral
insanity“ im früher modernen Sinne eine gerade derartigen Leuten
oft innewohnende Schlauheit. Er war gerieben genug, sich zu sagen,
daß seine Tat als eine ganz besonders schwere und raffinierte an¬
gesehen werden würde, wenn er der Wahrheit gemäß zugab, daß er
den Knaben getötet habe, um einen von ihm geplanten schweren Dieb¬
stahl bei seinem Dienstherrn zu ermöglichen. Aus diesem Grunde,
und um eine vorhergegangene Reizung zur Tat ins Feld zu führen,
gab er an, er habe den unschuldigen neunjährigen Jungen nur des¬
halb ermordet, weil dieser ihn vorher geneckt habe.
W i 1 h. D u w e endlich hat, wie im Pitaval der Gegenwart aus¬
führlich angegeben ist, durch sein nach der Fällung des Todesurteils
abgelegtes neues Geständnis selbst eingehend zugegeben, welchen
Zweck er bei den einzelnen, in seinem früheren Geständnis enthaltenen
Lügen mit großer Hartnäckigkeit verfolgt hat.
Wenn ich als „Eigentümlichkeit“ unserer besprochenen Mörder
eine Anzahl Züge von besonderer „Verrohung“ hervorgehoben
habe, so kann man, glaube ich, nicht behaupten, daß diese Züge bei
Leuten, welche die Tötung eines ihrer Mitmenschen mit Über¬
legung ausführen, nichts besonders bemerkenswertes sind. Ich glaube
vielmehr, daß die in dieser Richtung angeführten Tatsachen denn
doch weit über das selbst bei einem Mörder vorauszusetzende Mall
der Verrohung hinausgehen.
Wie es Anton Giepsz und seiner Genossin Ehefrau
Koßmieder überhaupt physisch möglich war, im Ehebette
des Ermordeten, als dessen Leiche noch nicht erkaltet war, sich der
geschlechtlichen Wollust hinzugeben; wie der einzige Gedanke des
Giepsz unmittelbar nach der (selbst die beteiligten Untersuchungs-
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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.
335
beamten aufs tiefste erschütternde) Geständnisszene sein konnte, die
Erlangung von Wurst zu erstreben; wie es zu erklären ist, daß
Clemens Jünemann unmittelbar nach dem grausigen Morde
mit Appetit die dem Erschlagenen gehörenden Mundvorräte verzehren
konnte, und daß Wilh. Rühmann nach Erdrosselung der alten Frau
trotz der ungewaschenen Hände, unter deren Nägeln noch die Haut¬
fetzen vom Halse der Getöteten kleben mußten, mit größter Behaglich¬
keit ein Blutwurstfrühstück einzunehmen vermochte, wie H e i n r. Ö h 1 -
mann unmittelbar nach den geschilderten ergreifenden Szenen nur an
die vor seinem Fenster hängende Gans und an die ihm versprochenen
Zigarren denken, wie Wilh. D u w e seine letzten Stunden zu
frivolen Witzen benutzen konnte, erscheint sehr schwer begreiflich.
Noch weit schwerer begreiflich aber ist es, daß Heinr. Stolte,
den Mordplan im Herzen und den Mordstrick in der Tasche, das
ahnungslose, von ihm dem Tode geweihte Mädchen in heißer Sinnen¬
lust umfangen, und daß er, unmittelbar nachdem seine Geliebte sich
ihm hingegeben hatte, diese erdrosseln konnte!
Die geschilderten Züge von völliger Gemütsverrohung, die man,
wenn sie in einem „Schauerromane“ erzählt würden, als plumpe, ekel¬
hafte Unglaublichkeiten ansprechen würde, scheinen mir denn doch
zu Betrachtungen Anlaß zu bieten, die ich der berufeneren Feder eines
Psychologen oder — Kriminalpsychiaters überlassen zu müssen glaube.
Zum Schluß seien mir noch einige Bemerkungen gestattet
Man könnte ein werfen, daß ich in einigen Fällen Lügen der in
der Hauptsache geständigen Mörder behauptet habe, wo nicht
durch die endlichen Schlußgeständnisse und eine Nachprüfung (wie
bei Öhlroann und Duwe) die Lügen als solche festgestellt sind, daß
also die von mir auf Grund eines „Indizienbeweises“ ausgesprochene
Meinung, es bandele sich tatsächlich um Lügen, irrig sein könnte.
Gewiß gebe ich als alter Kriminalpraktiker die Möglichkeit eines
Irrtums in dem einen oder anderen Falle zu, ich kann aber versichern,
daß sowohl ich als meine sonstigen den Akteninhalt genau kennenden
Kollegen einen derartigen Irrtum für ausgeschlossen halten.
Sollte ein solcher aber trotzdem in einem Einzelfalle in Betracht
kommen, so dürften doch wenigstens bei Unterstellung der
Richtigkeit meiner Ansicht, die erörterten Fälle zum weiteren
Nachdenken, und vielleicht auch zu weiteren Ausführungen, über
den Erfah rungssatz von dem „Lügen efer in der Hauptsache
geständigen schweren Verbrecher in Einzelpunkten" Anlaß zu bieten
geeignet sein. 1 )
I) Vgl. Hans Groß, „Kriminalpsychologie“, 2. Aufl., p. 132ff.
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XIII. Pessler
Da ich mich bei meiner „aus dem vollen Menschenleben“ ge¬
griffenen Plauderei nur auf eine Verbrecherkategorie, auf Mörder,
beschränkt habe, sei es mir gestattet, noch zu erwähnen, daß in den
innerhalb des letzten halben Jahrhunderts in unserem Herzog¬
tum geführten Prozeßen wegen Mordes nur eine Freisprechung
— meines Wissens — erfolgt ist (die rechtliche Qualifikation der
Tat war in einzelnen Fällen eine verschiedene), daß von den zum
Tode verurteilten 18 Personen nur vier, und zwar ein Raub¬
mörder und drei Giftmörder, ohne Geständnis der Tat
selbst verurteilt, und daß von diesen zum Tode verurteilten Per¬
sonen eine Begnadigung (zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe) nur in
vier Fällen stattgefunden hat. (In drei Fällen handelte es sich um
Mädchen, die ihr wenige Wochen altes Kind getötet hatten, im vierten
Falle waren nach der Verurteilung Bedenken über das Vorliegen des
Moments der Überlegung auf getaucht). An den übrigen 14 Personen
ist die erkannte Todesstrafe vollstreckt. Ungesühnt sind seit
66 Jahren nur vier Morde geblieben.
Endlich ist es vielleicht nicht ohne Interesse zu erfahren, daß
bei den im Herzogtum zur Sprache gekommenen Verbrechen der
vorsätzlichen Tötung in zahlreichen Fällen der Täter einen Un¬
glücksfall oder einen Selbstmord des Getöteten in
äußerst geschickter Weise vorzutäuschen versucht hat. Dieses
Manöver hat mich dazu veranlaßt, in den s. g. „Leichensachen“
trotz aller Redereien über „das viele unnütze Obduzieren
und Sezieren“ mit ganz besonderer Sorgfalt zu verfahren.
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XIV.
Meuchelmord zweier Friseurlehrlinge.
MilgeteUt von
Dr. Richard Bauer, k. k. Staatsanwaltssubstitut in Troppau.
Sonntag den 11. November 1906 nach 8 Uhr abends kamen die
Friseurlehrlinge Adolf R. und Gustav W. mit der Kunde zu ihrem
Lehrherrn S., welcher in dem kleinen Städtchen H. einen Friseurladen
hatte, daß der Gehilfe Moritz H. oben in der Dachkammer tot in
seinem Blute liege. — Diese Dachkammer war 3,5 m breit, 2,7 m tief,
und standen in derselben die Betten des Gehilfen Moritz H. und der
Lehrlinge R. und W. — Der rasch herbeigeholte Gendarm fand die
Leiche des Moritz H. zwischen der Tür und dem Bett auf der Erde
liegen, die linke Hand ausgestreckt mit geballter Faust, die Finger
der rechten Hand eingebogen, die Füße übereinandergeschlagen, den
Kopf in einer ziemlich großen Blutlache liegend. Auf den Bettpolstern
fanden sich feuchte Blutflecken, unter dem Bett lag ein blutbeflecktes
Taschenmesser, und auf einem Teller lag ein mit Bleistift beschrie¬
bener Zettel, auf welchem die Worte standen: „bei normalem Ver¬
stände habe ich mich erschlagen“. Die am 14. November 1906 vor¬
genommene Obduktion ergab nachstehende Wunden am Haupte des
Moritz H.:
1. Am linken Stirnbein eine 1,5 cm lange, etwas klaffende, blutig
suffundierte, nicht ganz bis auf den Knochen reichende, fast scharf-
randige, elliptisch geformte Wunde.
2. Am Schläfenbein, 5,5 cm oberhalb der linken Ohrmuschel,
eine oberflächliche, die Haut in ihren obersten Schichten nur leicht
trennende, 1,5 cm lange Wunde mit blutig suffundierten Rändern.
3. Am linken Scheitelbein 11,5 cm vom linken Augenbrauen¬
bogen entfernt eine 1,5 cm lange, bis auf den Knochen reichende,
dreieckig gestaltete, zu den zwei vorhergehenden fast parallel ge¬
stellte, scharfrandige, mit noch hellem Blute bedeckte Wunde.
Archiv für Kriminal&nthropolottie. 27. Bd. 22
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338
XIV. Baceb
4. Von dieser 2 cm entfernt eine auf die Richtung der letzteren
senkrecht stehende, gleichfalls 1,5 cm lange, scharfrandige, elliptisch
geformte, bis auf den Knochen reichende, blutbedeckte Wunde.
5. In der Höhe des oberen Randes der rechten Ohrmuschel eine
1,5 cm lange, die Haut durchsetzende, nicht bis auf den Knochen
reichende, scharfrandige, elliptische Wunde.
6. I cm von letztbeschriebener Wunde rechts hinten, oben ent¬
fernt eine 2,5 cm lange, stärker klaffende, bis auf den Knochen
reichende, scharfrandige Wunde.
7. Bei den zwei letztbeschriebenen Wunden eine 1,5 cm lange,
scharfrandige, klaffende, nicht ganz bis auf den Knochen reichende
Wunde.
8. Auf der Höhe des Scheitels eine 1,5 cm lange, nur die oberen
Schichten durch trennende, scharfrandige Wunde.
9. Über dem Hinterhauptbein 10,5 cm vom oberen Rande der
linken Ohrmuschel entfernt, eine 1,5 cm lange, klaffende, bis auf den
Knochen reichende, scharfrandige Wunde.
10. Am rechten Stirnbein, unmittelbar über dem rechten Auge,
begrenzt von der klaffenden Umrandung der Augenhöhle und vom
Augenbrauenbogen eine 3,5 cm lange, stark klaffende, scharfrandige,
etwas dreiekig gestaltete Wunde, welche vom äußersten Rande des
Augenbrauenbogens von innen oben nach unten leicht schräge ver¬
läuft. — Das obere Augenlid ist blutig unterlaufen. — Nach Entfer¬
nung der Weichteile von der letzterwähnten Wunde präsentiert sich
eine etwas ovale, vom äußeren Augenbrauenbogen bis zur Mitte der
Ohrmuschel reichende, 8 cm lange, nach unten convex verlaufende
Knochenwunde, von welcher der obere Teil 1,5 cm gegen das Schädel¬
innere hineingedrückt ist. — Zwischen den bloßgelegten Knochen¬
wänden ist in einer Ausdehnung von 5,5 cm das Stirnhirn durch¬
zutasten.
Auch ein Arzt wurde bald nach dem Auffinden der Leiche ge¬
holt, welcher nach der Untersuchung der Wunden erklärte, daß wahr¬
scheinlich — ein Selbstmord! vorliege. — Diese Äußerung veran-
laßte den Gendarmen und die Behörde, nicht sofort mit der größten
Energie die Erhebungen durchzuführen. — Erst, als bei näherer Über¬
legung die Unwahrscheinlichkeit eines Selbstmordes immer stärker
und der Verdacht schon laut ausgesprochen wurde, daß Moritz H.
von den beiden Lehrlingen W. und R. ermordet worden sei, wurden
dieselben am 13. November 1906 verhaftet und dem im selben Orte
befindlichen Gerichte überstellt — Nachdem die Burschen zuerst an¬
gegeben hatten, daß sie den H. in Notwehr töteten, schritten sie bald
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Meuchelmord zweier Friseurlehrlinge.
839
zu einem umfassenden Geständnisse, laut dessen sich die Mordtat
folgendermaßen abspielte. — W. und R. hatten schon seit einigen
Wochen die Ermordung des ihnen mißliebigen Gehilfen H. beschlossen
und einigten sieb endlich dahin, denselben mit einer Holzhacke, welche
sie schon durch einige Zeit im Bett des W. versteckt hatten, umzu¬
bringen.— Sonntag den 11. November 1906 legte sich Moritz H., der
sich diesen Tag etwas unwohl fühlte, gegen 4 Uhr nachmittags in
seiner Dachkammer zu Bett, und bald darauf verabredeten die Bur¬
schen bis ins kleinste Detail den nun zur Ausführung zu bringenden
Plan. — Als sie sich vor 7 Uhr abends zu H. in die Dachkammer
begaben, lag dieser auf seinem Bett und las bei dem Scheine einer
Kerze die Zeitung. H. schickte nun die beiden Jungen in ein Gast¬
haus um ein Nachtmahl, welches die Beiden wohl brachten, allein
dasselbe im Vorhause stehen ließen und mit der Ausrede, es sei noch
nicht fertig, ohne dasselbe zu H. in die Kammer zurückkehrten.
Während sich nun W. zu H. auf den Rand des Bettes setzte und
ihn im Scherze auf der Brust kitzelte, stellte sich R. unbemerkt mit
erhobener Hacke an dem Kopfende des Bettes auf und führte nun
einen Hieb auf den Hinterkopf des H., welcher die Hände aufhob
und zu schreien begann, worauf nun R. noch einige Schläge auf das
Haupt des H. sausen ließ, während ihm indessen W. die Hände
hielt. — Nun schlug W., welcher inzwischen die Hacke von R. über¬
nommen batte, zweimal heftig auf das Gesicht des H., „damit dieser
nicht so lange leiden müsse,“ und verursachte ihm so die unter 10.
angeführte Verletzung. — Da sich nun H. nicht mehr rührte, zogen
ihn nun W. und R. vom Bett herunter und legten ihn auf die Erde.
Beide Burschen beschlossen nun, einen Selbstmord des H. zu mar¬
kieren. — Erst befestigte W. einen Strick an einem in der Mauer
befindlichen Nagel, ließ aber bald von diesem Vorhaben ab, da er
einsah, daß ein Aufhängen bei dieser Sachlage nicht glaubhaft er¬
scheinen würde. Dann ließ W. durch R. aus einer Tasche des toten
H. ein Notizbuch herausziehen, und schrieb unter Nachahmung der
Schriftzüge des H. den schon anfangs erwähnten Zettel. — W. wischte
nun die blutige Hacke ab, versperrte die Dachkammer, und beide
Burschen begaben sich zum Mühlgraben, warfen den blutigen Fetzen,
mit dem die Hacke gereinigt worden war, ins Wasser, steckten dann
die Hacke in das Kellerfenster. Hierauf nachtmahlten sie in der
Küche, gingen dann in die Dachkammer, um gleich darauf mit der
Schreckensnachricht zu ihrem Lehrherrn zu eilen, der sich sofort mit
ihnen auf den Tatort begab.
Erwähnenswert wäre noch, daß W., als er vom Arzte den Selbst-
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340
XIV. Bauer
mord bestätigen hörte, sein Taschenmesser mit Blut befleckte und
unter das Bett des H. legte, wobei er sich mit R. besprach, eventuell
anzugeben, daß er dieses Messer vor einiger Zeit dem H. verkauft
hatte. — Am 12. November 1906 schrieb W. an einen Bekannten eine
Postkarte des Inhalts, daß sich der Gehilfe H. erstochen habe.
Viel erörtert wurde in dieser Strafsache der Beweggrund, der
die beiden jungen Burschen zu einer so gräßlichen Tat veranlaßt
haben könnte.
Beide gaben übereinstimmend an, daß sie deshalb über H. so
erbittert gewesen seien, weil er sie öfters beim Meister „verklatscht“
habe. — Es wurde festgestellt, daß der Gehilfe H. ein äußerst gut¬
mütiger Mensch war, der die Lehrjungen nicht nur nicht quälte,
sondern sich sogar von ihnen manche Frechheiten gefallen ließ.
Nur manchmal, wenn sie es schon zu arg trieben, machte er dem
Meister Mitteilung, welcher sie dann hie und da mit einer Ohrfeige
bedachte.
Nach anderen Motiven wurde nach allen Richtungen, allein ver¬
gebens, geforscht, so daß man annehmen muß, daß diese gering¬
fügige Ursache die beiden Burschen zu dem Mord veranlaßte.
Gustav W. ist am 12. Januar 1890 geboren, wird von seinem
Meister als intelligent, aber unaufrichtig geschildert. Die Leitung
einer Schule, welche er von 1896—1900 besuchte, gab ihm nach¬
stehendes Zeugnis: „Verleumdet, lügt, ist roh und hinterlistig!“
Bei der Hauptverhandlung sprach W. fließend und unbefangen,
suchte sich in ein möglichst vorteilhaftes Licht zu setzen und die
geistige Urheberschaft auf R. zu wälzen.
Adolf R. ist am 17. März 1891 geboren, wird als verlogen, trotzig
und unintelligent bezeichnet. — Sein Benehmen machte den Eindruck,
als ob er unter dem geistigen Einflüsse des W. gestanden wäre.
Beide genossen die gewöhnliche Volksschulbildung.
Bei der am 21. Januar 1907 abgehaltenen Schwurgerichtsverhand¬
lung wurden W. und R. wegen des Verbrechens des Meuchelmordes
zu schwerem Kerker in der Dauer von 8 Jahren verurteilt.
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XV.
Die Strafrechtsreformer aus dem Zeitalter der Tortur.
Von
Dr. jur. Hans Sohneiokert, Berlin.
In unserer Zeit der Reformbestrebungen auf dem Gebiete des
Strafprozesses und Strafvollzuges verlohnt es sich, einen Blick auf
die Reformbestrebungen unserer Vorfahren zurückzuwerfen und jener
Männer zu gedenken, deren aufklärenden Schriften wir vor allem die
Abschaffung menschenunwürdiger Beweismittel im Strafverfahren, be¬
sonders der Tortur, in Europa verdanken, und die sich in der Ge¬
schichte der Kriminalgesetzgebung ein dauerndes Denkmal gesetzt
haben. Der ganze Kampf gegen die kriminalistischen Terroristen des
Mittelalters ist reich an interessanten Tatsachen, und gar manches
goldene Wort jener humanen Vorkämpfer für strafprozessuale Freiheit
und Schonung hat heute noch nicht an Wert verloren.
Es sei mir gestattet, hier einige kurze sachdienliche Daten aus
der Geschichte der Tortur vorauszuschicken. Die Folter (tortura),
die im 13. Jahrhundert mit dem römischen Recht aus Italien nach
Deutschland übernommen und nicht nur bei Angeschuldigten, namentlich
Leibeigenen, sondern auch nicht selten bei Zeugen und Klägern zur
Erpressung von Geständnissen angewendet wurde, beruht auf dem
Glauben, daß die Gottheit durch dieses Gewaltmittel, wie beim Duell,
Schuld oder Unschuld auf eine außerordentliche Weise erklären und
auf keinen Fall zugeben werde, daß ein Unschuldiger unterliege. Der
römische Strafprozeß war nach dem Grundsätze: nemo judex sine
actore ein Anklageprozeß; erst allmählich wurde neben dieser
Prozeßart auch die Berechtigung eines Verfahrens „per inquisitionem,“
also ohne Ankläger, in der Gesetzgebung anerkannt, bis schließlich der
Inquisitionsprozeß mit allen seinen grausamen Zwangsmaßregeln
und Beweismitteln allherrschend wurde. Kein Volk der Erde blieb
eigentlich von der strafprozessualen Tortur verschont'). auch die hoch-
1) Eino ausführliche und zuverlässige Quellensammlung bietet Franz
JHelbing* in seinem Werke „Die Tortur** (Verlag von Dr. P. Langenscheidt,
Berliner.-Lichterfelde).
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XV. SCHNEICKKRT
kultivierten Völker machten hiervon keine Ausnahme, zeichneten sich
vielmehr noch dadurch aus, daß sie sich in der systematischen Grau¬
samkeit gegenseitig tiberboten.
Fast fünfzehnhundert Jahre verstrichen, bis man die Unzuverlässig¬
keit und Ungerechtigkeit jenes grausamen Zwangsverfahrens begriffen
hatte und durch die Gesetzgebung dem Mißbrauch der Tortur Ein¬
halt gebot. Und zwar geschah dies zum Teil schon durch die Caro¬
lina, die auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahre 1532 zum
Reichsgesetz erhobene „Peinliche oder Halsgerichtsordnung Kaiser
Karls V. u . Die Carolina spielte im Kriminalrecbt des Mittelalters
eine sehr bedeutende Rolle und blieb nicht ohne Einfluß auf die
Partikulargesetzgebung der nachfolgenden Zeit. Nur wenige Gesetze
deutschen Ursprungs sind so häufig herausgegeben, übersetzt, erläutert,
ergänzt, gelobt und getadelt worden wie die Carolina. Aber gerade
durch diese Bearbeitungen wurde der Weg zu reiferen Versuchen ge¬
bahnt, den human gesinnte Kriminalisten und Philosophen mutig
betraten.
Wie eine Erlösung aus Jahrhunderte langer demütigender Kerker¬
haft wurde das um die Mitte des 18. Jahrhunderts erschienene
Lebenswerk Montesquieu’s „De l’esprit des lois“ in der gebildeten
Welt empfunden. 1 ) Dieses in dreißig Bücher eingeteilte Werk, dem
Montesquieu zwanzig Jahre seines Lebens gewidmet hat und das einen
großen Schritt vorwärts in der Befreiung der Menschheit von unwür¬
digen Gesetzen bedeutet, erlebte sehr zahlreiche Veröffentlichungen,
Erläuterungen und Übersetzungen und wurde in Europä vielen neuen
Gesetzesentwürfen zugrunde gelegt. Von ihm sagte Voltaire:
L’humanite avait perdu ses titres, Montesquieu les a retrouves.
Folgende Stelle aus Band VI, Kap. IX, ist für den Geist seiner Grund¬
sätze sehr bezeichnend: La severite des peines convient mieux au
gonvernement despotique, dont le principe est la terreur, qu’ä la
monarchie et h la republique qui oni pour ressort Vhonneur et la
vertu. Dam les etats moderes, Vamour de la patrie, la honte et la
crainte du blame sont des motifs reprimants qui peuvent arreter bien
des crimes. La plus gründe peine d’une mauvaise action sera d’en
etre convaincu. Les lois civiles y corrigeront done plus aisement
et nauront pas besoin de tant de force. Dam ces etats, un bon
legislateur s'attacliera moins ä punir les crimes qu’ä les prevenir.
Sechzehn Jahre nach dem ersten Erscheinen dieses Werkes schrieb
der Mailänder Marquis Caesare Bonesano de Beccaria (1735—1794)
1) Die Literaturangaben sind dem „Handbuch der Literatur des Kriminal¬
rechts“ von Georg Wilhelm Böhmer (Göttingen 1S16), entnommen.
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Die Strafrechtsreformer aus dem Zeitalter der Tortur.
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ein Buch „Über Verbrechen und Strafen“, dem Montesquieu’s Werk
als Vorbild diente und das gleichfalls von hoher Bedeutung für die
Kriminalgesetzgebung Europas wurde. Selbst in Deutschland, wo die
Stimme des Reformers Christian Thomasius (1655 — 1728) fast un-
gehört verhallt war, begründete Beccaria’s Werk eine auf humaner
Basis beruhende Periode des Kriminalrechts.
In einer Dissertation 1 ): „Principis cura leges“ (Leipzig 1765) ver¬
teidigte Karl Ferdinand Hommel, ohne den in Deutschland damals
noch ganz unbekannten Beccaria gelesen zu haben, einen großen
Teil der von diesem aufgestellten Grundsätze. Einige davon seien
hier zitiert:
1. Härte schadet, übertriebene Gesetze werden lächerlich und am wenigsten
gehalten. . . Als man die Hexen verbrannte, gab es deren viele; jetzt,
da man sie nicht verbrennt, gibt es deren keine mehr.
2. Wir haben kein charakteristisches Kennzeichen von einem göttlichen
allgemeinen Positivgesetze. Alle Kennzeichen, welche man seither
davon gegeben hat, trügen.
3. Ich wünschte, daß die Strafen, welche bloß aus einer üblen Anwendung
der mosaischen Gesetze entstanden, unter dem Trommelschlage abge¬
schafft und für jüdische erklärt werden möchten, weil das mosaische
Gesetz uns ganz und gar nichts angeht.
4. Man muß Sünde, Verbrechen und verächtliche Handlungen nicht unter
einander weifen. ... Es kann etwas schändlich, es kann etwas sünd-
lich und doch bürgerlich kein Verbrechen sein.
Freilich fehlte es in jener Zeit auch nicht an Vertretern des
kriminalistischen Rigorismus, unter denen vor allem der Leipziger
Kirchenlehrer Benedikt Carpzov (1595—1666) hervorragt. Er wurde
zwar als Verfasser des ersten ausführlichen Systems des deutschen
Kriminalrechts der „Vater der Kriminalisten“ genannt, war aber ein
fanatischer Anhänger der Todesstrafen. Von ihm wird berichtet, daß
er im Laufe seiner richterlichen Tätigkeit gegen 20000 Todesurteile,
namentlich in Hexenprozessen, veranlaßt habe.
Doch blieben bei der fortschreitenden Erkenntnis der Ungerechtig¬
keit grausamer Strafen und Zwangsmaßregeln die Gegner der Tortur
in der Mehrheit. Von ihnen verdienen noch folgende genannt zu
werden:
Johann Christian Quistorp, der in einem „Entwurf zu einem
Gesetzbuch in peinlichen und Strafsachen“ (1782) die Tortur gänzlich
verwirft: „Das barbarische Mittel, durch Schmerzen oder andere zu¬
gefügte Übel jemand zum Bekenntnis oder Geständnis der Wahrheit
1) Dissertatio extemporanea praescripti argnmenti praesente Ser. Sax. Elec-
torc D. Friederico Augusto, d. XXX April» 1765 defensa.
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344
XV. SCHKEICKERT
bringen zu wollen, . . . soll künftig unter keinen Umständen weiter
stattfinden, selbst auch nicht einmal zur Herausbringung der Mit¬
schuldigen ferner angewandt werden.“
Gal. Al. Kleinscbrod verlangt in einer (1798 in Halle er¬
schienenen) Schrift: „Das Strafsystem beruhe auf Gelindigkeit und
größtenteils richtiger Proportion zwischen Verbrechen und Strafen.
Das peinliche Verfahren zeichne sich durch Pünktlichkeit und Schonung
der Rechte der Menschheit aus.“
Karl Freiherr von Dalberg fordert in seinem „Entwurf eines
Gesetzbuches in Kriminalsachen“ (Leipzig 1792), daß durch die
möglichst gelindesten Mittel das möglichst größte Gute bewirkt werde.
„Es ist unbillig und demjenigen zuwider, was ein Mensch dem andern
schuldig ist, wenn man einem Verbrecher mehr Leid zufügt, als
wegen der öffentlichen Sicherheit unumgänglich nötig ist“
Die Schriften des Wiener Professors der Staatswissenschaften,
Joseph von Sonnenfels (1732—1817), des deutschen Montesquieu,
haben nicht nur auf die Kriminalgesetzgebung seines Vaterlandes,
sondern auch in Deutschland und anderen europäischen Staaten einen
wohltätigen Einfluß ausgeübt. Hervorzuheben ist seine Schrift:
„Mömoire sur habolition de la torture“ und seine „Grundsätze aus der
Polizei etc.“ (3 Bde., Wien 1765). v. Sonnenfels war als Kommissions¬
mitglied auch an den Vorarbeiten zu dem „Neuen Gesetzbuch über
Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen in den k. k. deutschen
Erbstaaten“ (Wien 1803) beteiligt.
Ernst Lorenz Michel Rathleff geht in seinem Buche „Vom
Geist der Kriminalgesetze“ (Hamburg 1777) von Montesquieu’s
und Beccaria’s humanen Ideen aus und eifert ebenfalls gegen die
Tortur. „Was soll man von den schrecklichen Werkzeugen des Todes
halten, welche die sinnreichste Grausamkeit ausgedacht bat? Auch
der größte Verbrecher erhält Mitleiden in dem Augenblicke, da er den
Lohn seiner Taten empfängt, und es sollte den Gesetzen billig daran
gelegen sein, daß man in diesem Augenblicke den Richter nicht mehr
hasse als den Verbrecher.“
Auch Julius Graf von Soden bekennt sich in seinem Werk
„Geist der deutschen Kriminalgesetze“ (Dessau 1782, Frankfurt 1792)
als einen von dem edelsten Wohlwollen für Menschheit, der größten
Achtung für Sittlichkeit und Menschenrechte belebten Kriminalisten.
Ebenso erklärt Ernst Karl Wieland in seinem Buche „Geist der
peinlichen Gesetze“ (Leipzig 1783) die Tortur für gänzüch unzulässig.
Allmählich drang in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts
das Verlangen nach einer menschenwürdigeren Strafgesetzgebung
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Die Strafrechtsieformer aus dem Zeitalter der Tortur.
345
in weite Volkskreise ein. Bezeichnend für diese neue Zeitströmung
ist die Aussetzung verschiedener Preise, die der „Ökonomischen Ge¬
sellschaft in Bern“ von unbenannten Menschenfreunden zur Verfügung
gestellt wurden für den Verfasser derjenigen Schrift, die nach dem v
Urteile dieser Gesellschaft den vollständigsten und ausführlichsten
Plan einer Kriminalgesetzgebung nach bestimmten Anhaltspunkten
darstellte, wobei u. a. als zu beachtende Grundsätze „möglichste
Schonung im Untersuchungsverfahren, schleunige Bestrafung, größte
Ehrfurcht für Menschlichkeit und Freiheit“ vorgeschrieben wurden.
Als Preis waren 50 Louisd’ors ausgesetzt. Voltaire erhöhte diesen
Preis um weitere 50 Louisd’ors unter gleichzeitiger Erläuterung der
Berner Preisfrage in einer besonderen Abhandlung: „Prix de la
justice et de l’humanitö par l’auteur de la Henriade.“ (Ferney 1778;
deutsch : Leipzig 1778, 120 S.)
Unter 44 fast aus allen Gegenden Europas eingelaufenen Preis¬
schriften wurde die folgende preisgekrönt: „Abhandlung von der
Kriminalgesetzgebung von Hans Ernst von Gl obig und Johann
Georg Hu st er.“ (Zürich 1783, 440 S.).
Jedenfalls hat die Berner Preisfrage auch in Deutschland gute
Früchte gezeitigt und manchen Bekämpfer der Tortur und Verfechter
der Menschenwürde und Freiheit neu erstehen lassen; sie trugen schlie߬
lich auch den Sieg über die kriminalistischen Terroristen davon, die
noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein die Ausführung ihrer Ideen
erlebten. Die Tortur wurde gesetzlich abgeschafft: in Preußen durch
Friedrich den Großen 1740 (bzw. 1754), in Sachsen 1770, in Öster¬
reich 1776, in Bayern und Württemberg 1809, in Hannover 1822 und
erst 1828 in Gotha.
Wenn wir auch heute unsere Kampfmittel nicht mehr gegen
physische Tortur bereitzustellen haben, so doch gegen die fast ebenso
empfindlichen psychischen Torturen der in ein Strafverfahren ver¬
wickelten Personen. Als eine dankenswerte Vorarbeit in diesem
Sinne sind die Beschlüsse unserer „Kommission für die Reform des
Strafprozesses“ anzusehen, die u. a. eine viel schonendere Vorunter¬
suchung und eine Verbesserung der Bestimmungen über die Ver¬
hängung der Untersuchungshaft anstreben. Vergessen wir nie, daß
auch im 20. Jahrhundert ein in jener Schreckenszeit geprägtes Wort
noch volle Geltung haben muß: L’humanite est un sixiöme sens!
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XVI.
Über eine gewisse Form von Erinnerungslücken und deren
Ersatz bei epileptischen Dämmerzuständen
Von
Dr. Clemens Gudden, Nervenarzt in Bonn a. Rh.
Vollständige Erinnerungslosigkeit bei epileptischen Dämmerzu¬
ständen ist ein bekanntes und allgemein anerkanntes Vorkommnis,
bei dessen Verwertung in forensischen Fällen der sachverständige
Arzt gegenüber Laien und Berufsrichtem nicht sehr häufig auf Wider¬
spruch oder Verständnislosigkeit stoßen wird, indem er unter Berück¬
sichtigung der allgemeinen ursächlichen Krankheitserscheinungen, kurz
gesagt unter Nachweis der epileptischen Grundlage aus der absoluten
Erinnerungslosigkeit des Angeklagten Rückschlüsse auf dessen verän¬
derten Bewußtseinszustand in der kritischen Zeit des Delikts macht.
Es schließt eine derartige Deduktion sich eben zwanglos und glatt
an die Forderung des § 51 Str.G.B. an. Schwieriger wird die Sache
in foro, wenn die Erinnerung des Angeklagten sich als lückenhaft
erweist. Doch auch für diesen Fall steht schon längst eine Unzahl
von einwandfreien Beobachtungen zur Verfügung, auf Grund welcher
den Richtern der Nachweis geliefert werden kann, daß die Erinne¬
rung an einzelne Phasen der inkriminierten Tat sehr wohl vereinbar
ist mit der Annahme, daß sie trotzdem vollständig in einem krank¬
haft veränderten Bewußtseinszustand vollführt wurde und demgemäß
straflos bleiben muß. Aus dem Vorhandensein einzelner „Inseln“
klarer Erinnerung darf nicht der Schluß gezogen werden, daß zur
fraglichen Zeit ein normaler Bewußtseinszustand bestanden hat (Wollen-
berg, Moeli).
Geradezu tragisch kann aber eine Verhandlung verlaufen, wie
wir kürzlich in einem Strafprozeß gegen einen Epileptiker gesehen
haben (Fall Tessnow in Stralsund), wenn die Erinnerungslücken sich
gerade mit einer Reihe strafbarer Handlungen decken, eine gute Er-
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Über eine gew. Form v. Erinnerungslücken u. deren Ers. b. epil. Dämmerzust 347
innerung aber für gewisse Momente besteht, die zwischen den straf¬
baren Handlangen eingestreut sich abgespielt haben und die teils die
verbrecherische Tat in milderem Licht erscheinen zu lassen, teils ihre
Spuren zu verwischen geeignet sind und deren Betonung endlich auch
von dem Angeklagten benutzt wird, um sich zu exkulpieren. Diese
Konstellation hat trotz Vorhandenseins aller übrigen auch vielleicht
von den Richtern anerkannten Grundbedingungen eines epileptischen
Dämmerzustands das Mißtrauen erregt und den Gedanken an Simu¬
lation erweckt, was die Verurteilung zur Folge hatte. Siemerling
sagt: „Es ist begreiflich, daß das eigenartige Verhalten der Erinne¬
rung: Haftenbleiben von belanglosen Ereignissen, Ausfall oft der
wichtigen Daten mit besonderer Tragweite den Verdacht auf Simu¬
lation erweckt“; ja wenn schon diese Form der Erinnerungslücken
Schwierigkeiten in der Beurteilung zu machen geeignet ist, um wie¬
viel mehr dann, wenn die Verhältnisse kompliziert wie oben ange¬
deutet liegen. Nur drängt sich unwillkürlich die Frage auf, mit
welchem Recht wirkt eine solche auf den ersten Blick sicher frap¬
pierende Auswahl von Erinnerungsinseln verdächtig? Liegen innere
Widersprüche vor, spricht die ärztliche Erfahrung dagegen oder ist
sie nicht vielmehr unter Umständen geradezu eine Forderung des
wechselnden Bewußtseinszustandes? Zur Beantwortung möchte ich
folgenden Fall anführen, der einwandsfrei und ganz beziehungslos
ist, insbesondere fehlt jeder Zusammenhang mit Kriminalität. Er
eignet sich also gerade deshalb vorzüglich zu einer Exemplifizierung
in forensischer Beziehung.
Frau X. aus Z., erblich belastet, hatte mit 17 Jahren einige
epileptische Anfälle. Anfang der zwanziger Jahre heiratete sie, blieb
von Anfällen verschont, gebar einige Kinder, die sich normal ent¬
wickelten. Im Frühjahr 1906 bekam Patientin zum erstenmal wieder
einen kurz andauernden epileptischen Anfall; im Anschluß an ihn
wurde Pat. verwirrt, sie halluzinierte in verschiedenen Sinnesgebieten,
die Erregung steigerte sich, kurz ein postepileptisches Irresein machte
ihre Aufnahme in eine Anstalt nötig. Nach mehrmonatigem Aufent¬
halt erfolgte die Rückkehr nach Hause. Das Befinden war annähernd
normal bis Mitte Dezember. Damals trat wieder ein kurzer Anfall
auf, an den sich ein ähnlicher Zustand anzuschließen schien wie im
Frühjahr. Ich sah die Pat. am zweiten Tag der Erkrankung. Der
Mann gab an, daß das Wesen der Pat ihn ängstige, sie sei manch¬
mal merkwürdig still wie traumverloren, dann sei sie wieder ge¬
schäftig ohne rechtes Ziel. Sie habe angefangen, alte Briefe zu ord¬
nen und sich für Abend ein Bad bestellt. Während der ungefähr
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348
XVI. Gcddek
einstündigen Untersuchung wechselte das Wesen der Kranken ziem¬
lich häufig und stets ganz plötzlich. Bald beteiligte sich Frau X.
mit Interesse an der Unterhaltung, ihre Form war verbindlich, dem
Bildungsgrad entsprechend, sie gab klare und richtige Antworten,
bald versank sie in einen schlaffen oder auch starren Zustand, in
dem die Antworten zögernd, falsch oder auch gar nicht gegeben
wurden und das Benehmen war dann im höchsten Grade unhöflich,
brüsk. Einmal stand Pat. triebartig auf, suchte den Ausgang des
Zimmers zu finden, aber auf der falschen Seite, wo keine Tür war-
Einmal nestelte Pat. in der Art, wie man es nach einem epileptischen
Insult häufig beobachtet, an ihrer Bluse herum, so daß sie sich teil¬
weise entblößte, um wenig Minuten später in großem Schrecken über
die ihr plötzlich *zu Bewußtsein kommende Situation sich zu ent¬
schuldigen und zwar charakteristischer Weise folgendermaßen: Frau X.
erklärte in dem Tone und der Form absoluter Glaubwürdigkeit, daß
sie ein Bad habe nehmen wollen und da habe sie schon angefangen,
sich auszuziehen, als sie durch meinen Besuch gestört worden sei.
In Wirklichkeit hatte sie wenige Augenblicke vorher vor meinen
Augen das Kleid geöffnet. Ohne erhebliche Einwände zu machen,
ließ sich Pat. in eine Anstalt bringen. Von einem ihrer Kinder
nahm sie traurigen Abschied und empfahl es dem Schutze der Um¬
gebung. In der Folge wurde der, etwa als besonnenes Delirium zu
bezeichnende Dämmerzustand abgelöst durch schwerere Erscheinungen.
Insbesondere des Nachts traten starke Erregungszustände auf, Pat.
sah Feuer, schrie heftig, drang auf das Pflegepersonal ein, während
tagsüber tiefe Benommenheit vorherrschte. Nur ein kleiner Krampf¬
anfall trat noch auf. Nach einigen Wochen besserte sich das Be¬
finden. Für die Zeit der schweren Erkrankung bestand fast völlige
Amnesie, nur ganz summarische Erinnerung, völlige Einsichtslosig¬
keit. Wenige Tage nach der Aufnahme, bevor noch eine Verschlim¬
merung des Zustandes eingetreten war, fiel die eigentümliche Form
der Erinnerungsstörung auf, welche Pat. bezüglich der Vorgänge
während der ersten Untersuchung darbot. Am besten vergleichbar
war das Erinnerungsbild mit einem grob durchlöcherten Sieb und
zwar fehlte die Erinnerung ganz ausnahmslos und völlig für die
Momente, in denen eine Änderung ihres Wesens zu konstatieren war,
ihre Antworten zögernd oder unrichtig erfolgten und sie triebartige
Handlungen vollzog. Diese Momente offenbar veränderten Bewußt¬
seins schienen auch mit einer Erweiterung der Pupillen einherzu¬
gehen, eine genaue Bestimmung ist leider unterblieben. Frau X. er¬
klärte ganz genau bei der Rekapitulation: „Das habe ich nicht ge-
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Über eine gew. Form v. Erinnerungslücken u. deren Eis. b. epil. Dämmer/,ust. 349
sagt, das habe ich gesagt, das weiß ich, jenes ist nicht wahr, wie
können Sie so etwas behaupten?“ Pat. wurde trotz der Gleichgültig¬
keit der Tatsachen oft ganz unwillig, wenn sie einer Behauptung
widersprechen zu müssen glaubte. Über ihr bekannte Vorgänge
wußte sie ausführlich und richtig zu berichten. Absolut entfallen
war ihr, um nur einiges anzuführen, daß wir über die Schule ge¬
sprochen, wo ihre Söhne waren, und daß sie den Namen der Lehrer
nicht gewußt. Dagegen erinnerte sie sich sehr wohl des Abschieds
vom Kinde, aber nicht, wer mit ihr im Wagen zur Anstalt gefahren
war. Auf die Entkleidungsszene bin ich aus naheliegenden Gründen
nicht zurückgekommen. Auf den Vorhalt, warum denn Pah plötzlich
ihre Briefe geordnet und ein Bad verlangt habe, erinnert sie sich des
ersten Faktums nicht, wohl des zweiten, aber sie erklärte sofort das
erste, sofern es wirklich richtig sei, mit einer schon längst gehegten
Absicht und leugnet entschieden, Todesgedanken gehabt zu haben. —
Die Analyse des geschilderten Falles ergibt unter Weglassung
des Nebensächlichen folgendes: Eine Epileptika leidet an einem
Dämmerzustand ohne allzu auffällige Erscheinungen, währenddessen
aber doch, wie Siemerling treffend sich ausdrückt „ein schnelles
Nebeneinander von anscheinend geordneten, gleichgültigen mehr unauf¬
fälligen Erscheinungen mit befremdlichen, unerwarteten zu beobachten
ist“. Die spätere Untersuchung zeigt, daß die Erinnerung
während dieser Periode erloschen ist für die diejenigen
Vorkommnisse, die in einem veränderten Bewußtseins¬
zustand sich abgespielt haben; es sind das die auffälligen
Vorkommnisse, welche dem Grundcharakter der Pat., einer sonst ver¬
ständigen, mit ziemlich gutem Gedächtnis begabten, gebildeten und
auf äußere Form achtenden Frau, widersprechen. Erhalten
dagegen ist die Erinnerung für jene Momente, in denen
Pat. ihrem Grundcharakter (normaler Bewußtseinszu¬
stand) entsprechend sich gezeigt hatte. Und endlich dort,
wo Pat. das Bestreben hat zu korrigieren oder auffällige Tatsachen,
die ihr nachträglich entweder durch Vorhalt oder eigene Erkenntnis
zum Bewußtsein gekommen sind, zu erklären, da tut sie es in
ganz natürlichem Bestreben, das ihr sonst fremde Be¬
nehmen in Einklang zu bringen mit ihrem normalen
Empfinden und Handeln, aber ohne Rücksicht auf die
objektive Wahrhaftigkeit.
Übertragen wir nun die gefundenen Tatsachen auf einen beliebig
konstruierten Kriminalfall — und es steht dem nichts entgegen, da
es sich nicht um prinzipielle Unterschiede handelt, sondern nur um
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Original frorn
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350
XVI. Gudden
eine Unterstreichung gewisser Symptome, ihre schärfere Betonung
oder Färbung, — so ergibt sich in erster Linie der zwingende Schluß
daß die ausschließliche Koinzidenz der Erinnerungsinseln mit nicht
belastenden Handlungen und Äußerungen keine Erscheinung ist, die
bei dem urteilenden Richter Mißtrauen zu erregen braucht. Sie scheint
vielmehr unter gewissen Umständen geradezu eine Notwendigkeit zu
sein. Sehr oft, wenn ein im Dämmerzustand befindliches, natürlich
nicht an sich verbrecherisches Individuum zu kurzer Klarheit auf¬
taucht, wird es durch das Einsetzen des normalen Denkens und
Fühlens verpflichtet und befähigt, korrigierend in den Gang der
bisher von einem fremden „Ich“ geleiteten Handlungen einzugreifen,
es wird z. B. die Spuren der mehr oder weniger scharf zur Wahr¬
nehmung bezw. Erkenntnis gekommenen strafbaren Handlung zu ver¬
wischen suchen, nach Ausreden fahnden, die den Eindruck bewußter
Lügen machen. Dann wieder in den veränderten Bewußtseinszustand
versinkend wird es die verbrecherische Handlung vielleicht trotz- und
alledem weiterführen und nach Wiederholung des Wechselspiels
vollenden. Bei der späteren Vernehmung sind es dann nicht etwa
nur nebensächliche Momente, an die sich der Angeklagte erinnern
kann, während er das ihn belastende völlig vergessen hat, sondern
es sind die Augenblicke, in denen er wirklich selbst, mit dem
eigenen „Ich“ oder mit weniger krankhaftem Bewußtsein han¬
delnd eingegriffen hat. Daß dieses Eingreifen unter unsern Voraus¬
setzungen ein mehr oder weniger vernunftgemäßes, den Interessen
des Individuums dienendes, zweckmäßiges sein wird, ist klar.
Für Simulation spricht dabei nichts. Der Nachweis solcher
eigentümlichen Erinnerungsinseln ist also diagnostisch
ebenso wichtig wie der Nachweis partieller Amnesie im
allgemeinen, „die kaum oder schwerer als eine totale Amnesie zu
simulieren ist“ (Wollenberg). Als zweite auffällige Erscheinung, die
den Gedanken an einen absichtlichen Täuschungsversuch aufkommen
lassen könnte, imponiert in unserm Falle der Entschuldigungsversucb
wegen des offenen Kleides. Er gleicht den Versuchen gesunder Ver¬
brecher, sich zu exkulpieren, wie ein Ei dem andern. Den Laien
und leider vielen Sachverständigen erscheint das Vorbringen solcher
Unrichtigkeiten, falls es sich um einen Angeklagten handelt, höchst
verdächtig aber sehr mit Unrecht, denn die scheinbare Ausrede oder
„raffinierte Lüge“ ist ein psychologisch notwendiger Versuch, einen
Ausgleich zwischen bewußter Überlegung und krankhaftem unbewußten
Handeln herbeizuführen. Daraus ergeben sich leicht auch viele
Widersprüche dh. Abänderungen in den Erklärungsversuchen der
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Über eine gew. Form v. Erinnerungslücken u. deren Ers. b. epil. Dämmerzust. 351
Kranken. Damit glaubt man dann den Angeklagten der Lüge und
Simulation „überführt“ anseben zu müssen. Als kriminelles Beispiel
eines Erklärungsversuchs sei der Fall von Cramer angeführt, wo der
wahrscheinlich einem epileptischen Dämmerzustand verfallen gewesene
Exhibitionist die Tatsache, daß er mit dem Penis in der Hand ange¬
troffen wurde, dadurch erklären zu können glaubte, daß er auf der
Promenade habe urinieren müssen. Der gewiß banal erscheinenden
Entschuldigung wohnt nach unserer Beobachtung eine große Wahr¬
scheinlichkeit inne.
Nach Fertigstellung dieses Aufsatzes fand eine Gerichtsverhandlung
in Dessau statt, in welcher ein ärztl. Gutachter wiederum glaubte
aus der oben geschilderten Form von Erinnerungslücken Schlüsse ziehen
zu müssen, deren Berechtigung oder Notwendigkeit ich nicht aner¬
kennen kann. Nach den Meldungen der Tagesblätter äußerte sich
nämlich Herr Dr. von Feilitzscb-Dessau: „Zurzeit liegt eine geistige
Störung beim Angeklagten nicht vor. Was seinen Zustand zur Zeit
der Tat anbetrifft, so muß zugegeben werden, daß bei Epilepsie Zu¬
stände Vorkommen können, sogenannte Dämmerzustände, die die freie
Willensbestimmung ganz oder teilweite aufheben. Er könne nicht
mit absoluter Sicherheit behaupten, daß Epilepsie vorliege. Es könne
sich auch bei den Krampfanfällen um Reizzustände infolge von Alkoho¬
lismus gehandelt haben. Die von den Zeugen geschilderten Anfälle
entsprechen ja ziemlich dem Bilde der Epilepsie, aber es handle sich
um die Beobachtung von Laien, da sei immerhin ein Irrtum möglich.
Ein Dämmerzustand würde aber der Umgebung aufgefallen sein. Die
von den Zeugen bekundeten Vorgänge fallen durchaus nicht sämtlich
in den Rahmen des Dämmerzustandes. Denn es ist auffällig, daß der
Angeklagte sich verschiedener Umstände erinnert, anderer Umstände
aber, die ihm ungünstig sind, sich nicht erinnert. Alles dies lasse
ihn schwer dazu kommen, einen Dämmerzustand zur Zeit der Tat
anzunehmen. Auch die Alkoholwirkung möchte er relativ recht gering
anschlagen. Der Angeklagte habe am Nachmittag höchstens 1 */ 4 Liter
Schnaps getrunken; in Anbetracht dessen aber, was er vertrage, könne
dies nicht als übermäßig großes Quantum gelten. Es sei also kein
genügender Grund vorhanden, einen epileptischen Dämmerzustand an¬
zunehmen.“ — Wie die Berliner Blätter melden, lautete das Urteil gegen
Galbierisch auf Todesstrafe.
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XVII.
Einige merkwürdige Fälle von Irrtum über die Identität
von Sachen oder Personen.
Von
Dr. Albert Hellwig.
Schon des öftern sind in diesen Blättern Fälle mitgeteilt worden,
wo Zeugen sich unglaublich geirrt hatten. Daß aber ein Mann eine
fremde Frau, die mit seiner eigenen gar keine Ähnlichkeit hat, für
seine eigene hält, dürfte doch selten Vorkommen. In einem kleinen
Lokalblatt fand ich folgende Notiz: >)
„Braunschweig, 22. November. Daß jemand seine eigene Frau
nicht erkennt, ein gewiß seltener Fall, ereignete sich am Sonnabend
hier. Ein an der Eisenbütteierstraße wohnender Straßenbahnführer
hatte am Sonnabend Abend mit seiner Frau einen ehelichen Zwist,
der damit endigte, daß die Frau erregt das Zimmer verließ. Nach
kurzer Zeit hört der Zurückgebliebene im Garten, der nach der Oker
führt, Lärm. Als er aus dem Hause trat, vernahm er, daß eben eine
Frau in den Fluß gesprungen und ertrunken sei. Inzwischen hatte
Herr Restaurateur Kaselitz die Selbstmörderin an Land geschafft und
Wiederbelebungsversuche gemacht, die aber vergeblich waren. Als
der Straßenbahnführer von dem Selbstmord der Frau hörte, glaubte
er fest, es sei seine Frau, die in der Erregung in das Wasser ge¬
sprungen sei. Er trat an die Leiche heran und vermeinte, die Tote
als seine Frau zu erkennen. Auch auf Befragen eines herbeigerufenen
Polizeibeamten gab er seiner Ansicht bestimmten Ausdruck. Er zog
der Toten den Trauring ab und nahm das Geld, das sie in der Tasche
trug, an sich. Nachdem die Leiche im Cisseeschen Leichenwagen
in das Herzogi. Krankenhaus geschafft war, trat der betrübte Straßen¬
bahnführer wieder in seine Wohnung und suchte nach kurzer Zeit
die Kammer auf, um sich zur Ruhe zu begeben, soweit sein erregter
1) „Intelligenzblatt“, Wittenberge, 24. November 1904.
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Einige merkwürdige Fälle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od Personen. 853
Zustand eine solche zuließ. Da, was war denn das? Er glaubte zu
träumen, denn im Bette seiner Frau regte es sich. Er stürzt hinzu
und findet — seine Frau lebend. Die Tote war eine fremde Frau,
deren Namen noch nicht festgestellt ist“
Ich bat darauf Herrn Restaurateur Kaselitz unter Übersendung
jenes Zeitungsausschnittes um gütige Mitteilung, ob sich der Vorfall
in der Tat so wie geschildert zugetragen habe. Herr Kaselitz war
so liebenswürdig, mir einen ausführlichen Bericht, sogar mit einem
Situationsplan, zu schicken. Der Bericht enthält viele interessante
Einzelheiten, welche es als angebracht erscheinen lassen, ihn hier
ausführlich wiederzugeben, trotzdem die Angaben jener Zeitungsnach¬
richt im Großen und Ganzen durch ihn nur bestätigt werden. Die
Zeitungsnotiz habe ich aber auch wörtlich angeführt, weil ich gleich¬
zeitig einen Beitrag geben wollte zu der von mir schon wiederholt
berührten Frage, welchen Wert Zeitungsnachrichten für den Krimi¬
nalisten haben, worüber ich demnächst ausführlicher zu handelu gedenke.
An dem fraglichen Abend befand sich Herr Kaselitz mit ver¬
schiedenen Stammgästen in gemütlicher Stimmung in seinem Lokal,
als gegen 11 Uhr abends zwei Straßenbahnschaffner eintraten mit der
Bitte, doch schnell mit dem Kahne zu kommen, es hätte sich eben
vor ihren Augen eine Frau ins Wasser gestürzt Schleunigst eilten
sie durch den Restaurationsgarten und bestiegen ein Boot. Ehe sie
zur Unfallstätte kamen und die Leiche auffischen konnten, vergingen
immerhin einige Minuten. Mittlerweile waren die beiden Schaffner
zu dem Bewohner des Grundstücks gegangen, von dem aus sich die
Frau ins Wasser gestürzt. Dies war ein gewisser Straßenbahnführer
'Kirstein, der auch mit Flaschenbier, Viktualien u. s. w. einen kleinen
Handel treibt. Die beiden Schaffner machten ihm Mitteilung davon,
daß sich soeben ca. 20 m von seinem Grundstück eine Frau ins
Wasser gestürzt hätte und ertrunken wäre.
Zufälligerweise hatte nun Kirstein kurz vorher mit seiner Frau
sehr heftige Differenzen gehabt. Die Frau hatte sich daher in ihr
Schlafzimmer zurückgezogen und soll sich so aufgeregt haben, daß
sie in Krämpfe verfiel. Wenigstens behauptet sie das und will damit
erklären, daß sie von dem, was in den nächsten Minuten vor sich
ging, nichts gehört habeh^; dann will sie vor Müdigkeit in Schlaf ver¬
sunken sein und so von den lärmenden Szenen, die sich in den
nächsten Stunden abspielten, nicht das mindeste wahrgenommen haben.
Doch ist dies ja auch nur nebensächlich: Wichtig ist nur, daß der
Streit der Eheleute ungewöhnlich heftig gewesen war, und daß die
Frau in größter Aufregung von ihrem Mann weggegangen war.
Archiv für KriminaUnthropologie. 27. Bd. 23
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354
XVII. Hellwig
Als Kiretein daher von den beiden Schaffnern von dem Selbst¬
morde einer Frau bei seinem Grundstücke hörte, war er von vorn¬
herein fest überzeugt, seine Frau habe sich in der ersten heftigen
Aufwallung das Leben genommen. Hierdurch wurde er aufs hef¬
tigste erschüttert, nahm die Tischlampe, deren Kuppel er in seiner
Aufregung entzwei machte, und eilte mit den beiden Leuten in den
Garten. Schon dort glaubte er beim Scheine der Lampe in der mitt¬
lerweile ans Ufer gebrachten Leiche seine Frau wiederzuerkennen,
weinte laut und war ganz außer Fassung. Unterdessen waren auch
sein Bruder und seine Schwester, die mit ihm im selben Hause
wohnten, durch den Lärm herbeigelockt, heruntergekommen. Mit
ihrer Hülfe wurde die Leiche in das Zimmer getragen. Dort wurden
Wiederbelebungsversuche gemacht, aber vergeblich. Kirstein befand
sich in einer furchtbaren Aufregung, er jammerte fortwährend laut,
leuchtete der Leiche ins Gesicht und schrie in einem fort: „Ach,
Emma, das durftest du doch nicht machen!“ Unterdessen war die
Polizei von dem Vorfall benachrichtigt worden. Gegen 2 Uhr nachts
kam der Wagen, um die Leiche abzubolen. Auf Anraten der Be¬
amten und Geschwister zog Kirstein der Frau den Trauring ab und
nahm das wenige Kleingeld, das sich in der Tasche der Ertrunkenen
vorfand, an sich. Sein Jammern hörte nicht auf.
Mit der Zeit legte sich doch die heftigste Aufregung, so daß sich
die drei Geschwister die nötigsten Maßnahmen überlegen konnten.
Kirstein meldete sich für den nächsten Tag vom Dienst ab, beschloß
am frühen Morgen an die Eltern zu telegraphieren u. s. w. Plötzlich
fiel ihm ein, seine Frau müsse doch entschieden mehr Geld bei sich
gehabt haben als die paar Pfennige, die sich in den Taschen der
Leiche gefunden hatten. Die Schwester meinte, Frau Kirstein hätte
das Geld vielleicht in der Tasche eines anderen Kleides gehabt oder
habe sich vor der verhängnisvollen Tat erst umgezogen. Kirstein be¬
gab sich darauf in das Schlafzimmer und suchte nach den Kleidern
seiner Frau. Da er nicht mehr recht wußte, welches Kleid seine
Frau am Tage angehabt hatte, rief er seinen Geschwistern, die in der
Wohnstube geblieben waren, zu: „Was hat sie denn angehabtV“ Zu
Tode erschrocken war er, als er plötzlich dicht neben sich von dem
Bette seiner Frau eine Stimme hörte, die der seiner Frau aufs Haar
glich und sagte: „Was ich angehabt habe, hängt da!“ Wie vom
Blitze getroffen, prallte Kirstein zurück und stürzte ins Wohnzimmer
mit den Worten: „Jetzt glaube ich an Gott, soeben ist Emma als
Geist in der Kammer!“ Nun wagte sich keiner mehr ins Schlaf-
gemach; das beklemmende Gefühl, das sich aller bemächtigt hatte,
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Einige merkwürdige Fälle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od. Personen. 355
wich erst, als bald darauf Frau Kirstein wohlbehalten in eigener
Person erschien. Der Gedanke, daß die Tote nicht Kirsteins Frau
gewesen sein könne und daß sich so die angebliche Geistesstimme
auf sehr natürliche Weise erklären lasse, war niemand gekommen.
Soweit der interessante Bericht über den fraglichen Vorgang.
Was den Irrtum Kirsteins ganz besonders wichtig macht, ist, daß
Frau Kirstein und die Frauenleiche keine Spur von Ähnlichkeit mit¬
einander haben. Auffallen mußte schon, daß sie ganz andere Kleidung
und Schuhe trug. Ferner ist Frau Kirstein blond, die Leiche dagegen
dunkel, auch war die Selbstmörderin augenscheinlich korpulenter und
älter als Frau Kirstein. Auch in den Gesichtszügen bestand keinerlei
Ähnlichkeit.
Und doch hat der eigene Ehemann die Tote nicht nur im Garten
beim Lampenschein für seine Frau gehalten, sondern auch während
dreier Stunden bei heller Beleuchtung — er leuchtete der Leiche
öfters ins Gesicht — den Irrtum nicht gemerkt, hat der Leiche den
Trauring vom Finger gezogen, der doch andere Buchstaben trug, hat
ihr das Geld aus der Tasche genommen und sich nicht darüber ge¬
wundert, daß es nur ein paar Pfennige waren, hat vielmehr bis zu¬
letzt fest geglaubt, daß die Tote seine Frau wäre. Auch als ihm bei
seinem Nachdenken über die Benachrichtigung, Beerdigung u. s. w.,
wobei er naturgemäß an die Kosten denken mußte, einfiel, daß seine
Frau noch eine größere Summe gehabt haben müsse und daß sich
dieses Geld doch irgendwo vorfinden müsse, auch da kommt er nicht
auf den Gedanken, die Tote sei garnicht seine Frau gewesen. Ja,
was noch viel wunderbarer ist, selbst als seine Frau ihn anrief, glaubt
er, der sonst anscheinend nicht allzu gläubig veranlagt ist — „Jetzt
glaube ich an Gott!“ — einen Geist zu hören, stürzt aas dem Schlaf¬
zimmer heraus und traut sich nicht wieder hinein, da ihm auch nicht
einen Augenblick der Gedanke kommt, seine Frau lebe noch und er
habe sich nur geirrt, als er die Tote für seine Frau hielt. Bei Kirstein
selber ist dieser auffällige Rekognitionsirrtum noch durch seine hoch¬
gradige Erregung zu erklären. Seine Frau hat nach heftigstem Streite
das Zimmer verlassen; kurz darauf wird ihm mitgeteilt, daß eine
Frau sich soeben vor seinem Grundstück ertränkt habe. Daß er da
auf den Gedanken kam, diese Selbstmörderin müsse seine Frau sein,
ist nur allzu natürlich. Als er draußen beim ungewissen flackernden
Lampenlicht, von dieser Voreingenommenheit schon befangen, die
Leiche sah, setzte sich in ihm der Gedanke, daß dies seine Frau sei,
unumstößlich bei ihm fest. Die Möglichkeit eines Irrtums kam ihm
keinen Moment. Durch diese autosuggestive hochgradige Befangen-
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356
XVII. Hkllwig
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lieit ist es auch erklärbar, daß Kirstein auch drinnen in der Stube
seinen Irrtum nicht merkte, trotzdem er stundenlang bei der Leiche
war, mit ihr in engste Berührung kam, indem er Wiederbelebungs¬
versuche machte, die Leiche aufs genaueste betrachtete, indem er ihr
mit der Lampe ins Gesicht leuchtete. Vielleicht sah er wohl rein
körperlich die großen Verschiedenheiten in Körpergestalt, Gesichts¬
zügen, Haarfarbe und Bekleidung — darauf scheint zu deuten, daß
er der Leiche offen ins Gesicht leuchtete —, aber er nahm sie nur
wahr, ohne sich ihrer bewußt zu werden. Er war fest überzeugt da¬
von, die Tote sei seine Frau und übertrug nun die ihm bekannten
Züge seiner Frau auf die Leiche, so daß er in der Tat seine Frau
zu sehen glaubte. Es handelt sich also um eine duch Autosuggestion
hervorgerufene Illusion. Für die Stärke dieser Illusion autosuggestiven
Charakters ist ganz besonders bezeichnend, daß sie selbst der Geister¬
stimme stand hielt: Eher hielt der sonst nicht leichtgläubige Kirstein
die Stimme für die Stimme des Geistes seiner Frap als für die seiner
Frau selber. Ein solcher Grad von autosuggestiver Illusion ist zwar
ungewöhnlich, läßt sich aber durch die Stärke der Autosuggestion,
die in den ganzen Umständen begründet war, immerhin erklären.
Schier unglaublich aber klingt es, wenn es nicht so sicher be¬
zeugt wäre, daß auch die minder stark an dem Ereignis Beteiligten,
nämlich Kirstcins Geschwister, und die wenig beteiligten Dritten, die
doch offenbar auch die Verstorbene kannten, die ganze Zeit sich in
demselben Irrtum befunden haben. Eine gewisse Disposition war
allerdings bei allen Beteiligten vorhanden: Bei den Geschwistern
Kirstein, weil sie diesen kannten, bei den andern, weil die Frau sich
bei Kirsteins Grundstück ertränkt hatte, weshalb sie zunächst an-
nahmen, die Frau gehöre dorthin; aus diesem Grunde begaben sich
ja auch die beiden Kollegen des Kirstein gleich zu ihm und machten
ihm von dem traurigen Funde Mitteilung. Auch ist es durchaus ver¬
ständlich, daß alle Beteiligten zunächst der Überzeugung waren, es
handle sich in der Tat um Frau Kirstein, da sie ja die feste Über¬
zeugung Kirsteins sahen, der doch seine Frau am besten kennen
mußte. Merkwürdig aber ist, daß diese Suggestivvorstellung auch
bei ihnen so stark war, daß sie auch später die auffallenden Ver¬
schiedenheiten nicht bemerkten, ja selbst an die Erscheinung des
Geistes der Frau glaubten und sich nicht ins Schlafzimmer herein¬
trauten, ebensowenig wie der Ehemann selber. Dieser vollkommen
verbürgte Fall zeigt, in wie hohem Grade autosuggestive und
suggestive Wahnvorstellungen die Wahrnehmungsfähigkeit trüben
können.
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Einige merkwürdige Fälle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od. Personen. 357
Derartige erstaunliche Fälle von Irrtum über die Identität einer
Person kommen häufiger vor. So stand in der Zeitschrift „Das Neue
Blatt* (1904, Nr. 50), die ihre Notiz wiederum dem „Leipziger Tage¬
blatt“ entnommen hatte, vor nicht langer Zeit ungefähr folgendes zu
lesen. Im August 1904 war der vierundzwanzigjährige Sohn eines
wohlhabenden Fabrikanten Fr. aus Sachsen bei einem Geschäftsmann
(Bleicher) in der Steckshoperstraße in Hamburg in Stellung. Der
junge Mann war auf die abschüssige Bahn geraten, hatte schon
mehrere Straftaten verübt und machte sich auch seinem Prinzipal
gegenüber der Unterschlagung schuldig. Er flüchtete und schrieb
an den Bleicher, er werde sich im Falle einer Anzeige erschießen,
ln der Nacht vom 25. zum 26. August wurde nun ein junger Mann
in der Hudtwalkerstraße bei einem Einbruch bei der Witwe Zimmer¬
mann ertappt und verfolgt. Als er sah, daß es für ihn kein Ent¬
rinnen mehr gab, erschoß er sich auf der Flucht. In seiner Tasche
wurde ein Zettel mit den Worten gefunden: „Ich heiße Moriturus.
Forscht nicht nach mir!“ Durch angestellte Erkundigungen und
namentlich durch die bestimmte Aussage des Bleichers und anderer
Personen, die mit Fr. verkehrt hatten, wurde der Erschossene als
jener Fr. erkannt. Auch die bei dieser Leiche gelegenen Sachen
wurden von diesen Personen als dem Fr. gehörig bezeichnet. Durch
diese Erklärungen wurde die Polizeibehörde genugsam überzeugt, daß
man es in der Tat mit Fr. zu tun habe, und ließ die Leiche beer¬
digen. Der Vater des Fr. wurde von der Polizei von dem Vor¬
gefallenen benachrichtigt. Da der Vater auf die bei der Leiche ge¬
fundenen Sachen verzichtete, wurden sie vernichtet. Nach einigen
Wochen tauchte nun aber plötzlich der wirkliche Fr. wieder auf.
Man batte also einen gänzlich unbekannten Menschen als den Sohn
des sächsischen Fabrikanten rekognosziert und beerdigt. Der wirk¬
liche Fr., der sich zur Zeit des Einbruchs und des Selbstmordes
des Unbekannten außerhalb Hamburgs befand, hatte sich in ver¬
schiedenen Städten verborgen gehalten, bis er in Bremen bei einem
Einbruch erwischt wurde. Bei der gegen ihn eingeleiteten Unter¬
suchung kam auch die Unterschlagung bei seinem früheren Prinzipal,
dem Bleicher in Hamburg, zur Sprache. Nachdem er in Bremen
seine Strafe verbüßt hatte, wurde er nach Hamburg transportiert.
Gegen Ende des Jahres fand auch dort die gerichtliche Verhandlung
gegen ihn statt, und der Bleicher, der als Hauptzeuge geladen war,
konnte sich überzeugen, daß er sich bei der Ermittelung der Persön¬
lichkeit des erschossenen Einbrechers gründlich geirrt hatte. Eine
Ermittelung der Persönlichkeit des Erschossenen dürfte jetzt nur noch,
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358
XVII. Hellwig
durch einen Zufall möglich sein, da ja alle Erkennungszeichen, wie
Kleidungsstücke usw., vernichtet sind.
Auch dieser Fall kann als durchaus feststehend erachtet werden,
wenngleich ich ihn weder aktenmäßig, noch durch Darstellung eines
Augenzeugen erweisen kann. Ich wandte mich unter Darstellung
des Sachverhalts an die Hamburger Polizeibehörde mit der Bitte, mir
womöglich die Akten zu übersenden. Diesem Wunsche konnte freilich
nicht entsprochen werden, da die Hamburger Polizeibehörde grund¬
sätzlich an Privatpersonen keine Akten abgibt. Der Abteilungsvor¬
stand der Abteilung V (Wohlfahrtspolizei), Rat Dr. Stürken, war aber
gleichzeitig so liebenswürdig mir mitzuteilen, daß die gegebene Schil¬
derung in allen wesentlichen Einzelheiten den Tatsachen entspreche.
Ich hätte mich nun ja noch an das Hamburger Gericht wenden
können, doch versuchte ich das gar nicht, einmal weil mir der Name
des Verurteilten nicht bekannt ist, dann auch weil ich nicht erwarten
konnte, irgend etwas wesentlich Neues zu erfahren.
Von Interesse wäre es gewesen zu erfahren, ob die Person des
Selbstmörders und die des jungen Fr. einander auffallend ähnlich
waren oder ob sie einander so wenig glichen, daß sie bei nicht
voreingenommener Betrachtung unterschieden werden mußten; dann
welche Gegenstände, die bei der Leiche gefunden waren, von dem
Bleicher und anderen Personen als dem Fr. gehörig rekognisziert
wurden, und ob diese Gegenstände überall vorhandene Fabrikware
waren oder irgend welche charakteristischen Merkmale aufzuweisen
hatten; endlich, welche Personen außer dem Bleicher den Fr. rekog¬
nosziert haben und wie weit sie ihn kannten.
Doch auch so ist der Fall schon interessant genug, besonders
deshalb, weil es sich hier nicht wie im vorigen Falle um einen in
großer Aufregung begangenen Irrtum bei der Rekognition handelt
sondern um eine Rekognition psychisch nicht näher mit dem Be¬
treffenden in Verbindung stehender Personen, denen es im Grunde
genommen gleichgültig sein konnte, ob derjenige, dessen Identität sie
feststellen sollten, X. oder Y. war. Mit einer gewissen Voreingenom¬
menheit werden auch der Bleicher und die anderen an die Rekog¬
nition herangegangen sein. Hierzu wird besonders beigetragen haben
der Brief an den Bleicher, in dem Fr. drohte, sich bei Entdeckung
zu erschießen. Sollte nicht eine sehr große Ähnlichkeit des Selbst¬
mörders mit Fr. gegeben sein, so bliebe der Irrtum mehrerer ruhiger
Personen immerhin noch sehr merkwürdig.
Aber selbst unter der Annahme, daß Fr. und der Selbstmörder
einander ähnlich waren — zu beachten ist noch, daß zwischen dem
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Einige merkwürdige Fälle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od. Personen. 359
Verschwinden des Fr. und der Rekognition des Selbstmörders nur
wenige Wochen liegen — bliebe noch als sonderbares Faktum be¬
stehen die gleichzeitige Rekognition der Sachen des Selbstmörders
als diejenigen des Fr. Es wird doch wohl kaum anzunehmen sein,
daß auch diese einander auffallend ähnlich gewesen seien. Mag dies
selbst bei dem einen oder anderen Stück, so z. B. bei einem Taschen¬
messer als einer Fabrikware, der Fall gewesen sein, so wird der
Selbstmörder aller Wahrscheinlichkeit nach auch Sachen gehabt haben,
in denen er sich auffällig von dem Fr. unterschied, z. B. Kleidungs¬
stücke. Weniger sonderbar erscheint uns aber das Faktum, wenn
wir einmal selber in Gedanken versuchen festzustellen, welche Farbe
der Anzug von Leuten hat, mit denen wir tagtäglich des öfteren in
Berührung kommen, z. B. eines Kollegen oder unseres Wirtes oder
Wirtin. Wenn die betreffenden Kleidungsstücke nicht gerade eine
ganz auffällige Form oder Farbe haben, werden wir im allgemeinen
über einen allgemeinen Eindruck über die Farbe nicht herauskommen.
Verständlich ist es daher, daß jemand, der denjenigen, den er iden¬
tifizieren soll, seit mehreren Wochen nicht gesehen hat, die Kleidungs¬
stücke der betreffenden Person ohne weiteres als demjenigen ge¬
hörend anerkennen wird, für den er das Objekt der Rekognition hält,
es sei denn, daß entweder die Kleidung der Leiche usw. oder dessen
mit dem sie der Betreffende verwechselt hat, besonders auffallende
Eigentümlichkeiten habe. Diese Überlegung zeigt, wie vorsichtig
man bei der Rekognition namentlich auch von Sachen sein muß.
Es können dabei optima fide die haarsträubendsten Irrtümer Vor¬
kommen, namentlich wenn noch der Einfluß der Zeit hinzukommt.
Es wird sich daher stets empfehlen, bevor man die Gegenstände zur
Rekognoszierung vorlegt, ihre möglichst genaue Beschreibung von
dem Zeugen zu verlangen. Dabei muß man sich natürlich davor
hüten, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen, bei jeder nicht
ganz geringfügigen Differenz zwischen Beschreibung der Sache durch
den Zeugen und ihrem wirklichen Aussehen die Identifikation als
mißlungen zu betrachten, da das Gedächtnis des Zeugen vielfach auch
nicht mehr einwandfrei produzieren wird.
Jetzt will ich einen in anderer Hinsicht nicht minder interes¬
santen Fall mitteilen, für den mir nicht weniger als drei verschiedene
Quellen zu Gebote stehen, nämlich ein Zeitungsbericht, eine beglaubigte
Abschrift des gerichtlichen Urteils, sowie einige briefliche Mitteilungen
des in dieser Sache als Verteidiger fungierenden Rechtsanwaltes.
Was zunächst die Zeitungsnotiz anbelangt, so stand am 23. Sep¬
tember 1904 im „Berliner Lokal-Anzeiger“ folgendes zu lesen:
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360
XVII. Hellwig
„Der Doppelgänger. Wie man sich beim Wiedererkennen von
Personen täuschen kann, zeigte ein gestern vor dem Schöffengericht
verhandelter Betrugsfall. Ein Mann namens Wiese, der seit Jahren
in einem kaufmännischen Geschäfte tätig ist, wurde eines Abends in
einer Restauratiou in der Friedrichstraße auf Veranlassung zweier
Männer verhaftet, die ihn dort zufällig getroffen hatten und behaup¬
teten, daß er gegen sie einen Betrug ausgeübt habe. Nach ihren
Angaben sind sie eines Abends in der Friedrichstraße von einem
Manne angesprochen worden, der ihnen billige Goldsachen zum Kaufe
angeboten habe. Der eine Zeuge habe auch einen der offerierten
Gegenstände gekauft; es habe sich aber herausgestellt, daß dieser
absolut minderwertig war. Die Zeugen behaupteten mit aller Be¬
stimmtheit, daß der Angeklagte der Verkäufer gewesen sei, was dieser
ebenso bestimmt bestritt. Er wurde, nachdem er längere Zeit auf der
Polizeiwache hatte zubringen müssen, wieder entlassen; aber die An¬
klage wegen Betruges wurde erhoben. Im gestrigen Termin konnte
sein Verteidiger, Rechtsanw. Dr. Löwenstein, für ihn einen ganz un¬
anfechtbaren Alibibeweis führen. Der Angeklagte war nämlich zu
seinem Glücke noch im Besitze einer Postkarte, laut deren Inhalt er
daran erinnert wurde, daß er zu derselben Stunde, als er den Be¬
trug ausgeübt haben sollte, fernab von dem Tatort mit einem Herrn
längere Zeit zusammengewesen war. Dieser bestätigte als Zeuge,
daß Wiese unmöglich der Täter sein könne. Beide Belastungs¬
zeugen blieben dennoch unter ihrem Eide dabei, daß nach ihrer An¬
sicht jeder Irrtum in der Person ausgeschlossen sei. Der Gerichts¬
hof, der die volle Unschuld des Angeklagten für dargetan hielt, kam
bei dieser Sachlage zu dem Schluß, daß letzterer einen Doppelgänger
haben müsse. Er sprach den Angeklagten nicht nur frei, sondern
legte auch die Kosten der Verteidigung der Staatskasse zur Last.“
Aus dem Urteile des Schöffengerichts Berlin vom 20 . September
1904 (140 D. 862/04) ergibt sich folgendes Bild der Sachlage. Am
18. Juli 1904 abends gegen 8 V 2 Uhr ging der Hausdiener Hensel die
Mittelstraße zu Berlin entlang. Ein unbekannter Mann bot ihm eine
angeblich wertvolle Uhrkette und einen Ring zum Kaufe an. Beide
gingen hierauf wieder die Mittelstraße zurück und verhandelten über
den Ankauf. An der Ecke der Neustädtischen Kirchstraße trat ein
zweiter junger Mann an beide heran und fragte nach dem Wege
nach Schöneberg, wobei er kurze Zeit stehen blieb und erfuhr, daß
es sich um den Verkauf der Uhrkette und des Ringes handele. Als
dieser junge Mann dem Hensel bestätigte, daß beide Gegenstände
wertvolle Stücke seien, entschloß sich Hensel zum Kaufe für den
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Einige merkwürdige Fülle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od. Personen. 361
Preis von 6 Mark. Später stellte sich heraus, daß Kette und King
fast wertlos waren. In der Hauptverhandlung haben nun die Zeugen
Hensel und Denner den Angeklagten „mit ziemlicher Bestimmtheit“
als diejenige Person wiedererkennen wollen, welche dem Hensel zu
dem Kaufe zugeredet hat. Denner hat bei dem ganzen Vorgang in
einiger Entfernung auf der Straße gestanden. Hensel glaubt sich zu
erinnern, daß der betreffende junge Mann damals eine weiße Weste
getragen habe. Dem gegenüber ist jedoch durch die eidliche Aus¬
sage des Zeugen Rosenthal erwiesen, daß der Angeklagte an dem
betreffenden Abend von 8 bis 10 Uhr in der Elsässerstraße und
Brunnenstraße mit ihm zusammengewesen ist, so daß auf seiten des
Hensel und Denner eine Personenverwechslnng vorliegen muß. Dies
ist um so wahrscheinlicher, als dem Angeklagten von seinem Dienst¬
herrn, dem Buchbindermeister Most, das denkbar günstigste Zeugnis
ausgestellt ist und ihm daher eine solche Tat kaum zuzutrauen ist.
Daß die Aussagen des Hensel und Denner, insbesondere die des
letzten, mit Vorsicht aufzunehmen sind, erhellt aus seiner weiteren Be¬
kundung, der Angeklagte habe ihm bereits einmal, um Ostern 1904,
an der Spandauerbrücke eine Uhr zum Kauf angeboten, woraus
sich ergibt, daß der Angeklagte offenbar das Opfer einer Personen¬
verwechselung geworden ist. Daher wurde er kostenlos freigesprochen
und die ihm erwachsenen notwendigen Auslagen der Verteidigung der
Staatskasse auferlegt.
Aus den brieflichen Mitteilungen des Rechtsanwaltes Dr. Löwen¬
stein ergeben sich einige Modifikationen dieses Sachverhaltes. Danach
fand die Rekognition durch die Zeugen nicht mit „ziemlicher“ Be¬
stimmtheit statt, vielmehr bezeichneten die Zeugen den Angeklagten
mit voller Bestimmtheit als den Täter. Auch ist im Urteil die Art
des Alibibeweises nur unvollständig angegeben. Er wurde haupt¬
sächlich durch eine Postkarte geführt, die der Angeklagte am Tage
nach dem Zusammentreffen mit dem Zeugen Rosenthal an diesen
geschrieben hatte und in der er auf das Zusammentreffen vom
-gestrigen Abend“ Bezug nimmt.
Diese Beispiele, die der Praxis von neuem zeigen, wie schwer
eine sichere Rekognition ist, lassen sich noch bedeutend vermehren.
Und da Rechtsanwalt Löwenstein so gütig war, mir zu versprechen,
mir weiteres literarisch verwertbares Material zur Verfügung zu stellen,
hoffe ich in einiger Zeit auf das Thema zuriickkommen zu können»
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XVIII.
Aus dem gerichtsärztlichen Institut und dem Allerheiligen-Hospital
in Breslau.
Erinnerungstäuschung in Bezug auf den Ort.
Von
Dr. med. Bugen Jakobsohn,
Assistenzarzt am Allerheiligen-Hospital in Breslau.
Die Reproduktion von Erinnerungsbildern kann durch mannigfache
krankhafte Zustände eine Einbuße erleiden. Diese erstreckt sich ent¬
weder nach der quantitativen Seite hin, indem für umgrenzte Zeit¬
abschnitte mehr oder minder vollständige Erinnerungslosigkeit eintritt,
oder sie ist qualitativer Art, d. h. sie ist mit inhaltlichen Veränderungen
des Reproduzierten verknüpft. Neben diesen Störungen des Gedächt¬
nisses finden sich noch recht häufig solche in der zeitlichen, sehr selten
in der örtlichen Einordnung der Erinnerungsbilder. Mit letzterem soll
gesagt werden, daß bei fast fehlender quantitativer wie qualitativer
Gedächtnisanomalie nur ein sich auf die örtlichen Verhältnisse be¬
ziehender Erinnerungsausfall besteht.
Eine derartige Erinnerungsentstellung, allerdings nicht ganz rein,
sondern kombiniert mit einer Störung auch der zeitlichen Einordnung
des Erinnerungsbildes, soll in Folgendem geschildert werden:
Der Fall, um den es sich handelt, betrifft die 53 Jahr alte
Frau M. aus Breslau. In der Nacht vom 21. zum 22. VII. 06, ca.
V S 1 Uhr, wurde die M. auf der Füllerinsel, einem von einem Holz¬
zaune umgebenen Platz, von mehreren jungen Burschen überfallen.
Der Holzzaun hatte eine Tür, die abends 10 Uhr verschlossen wird.
Nachts ca. ‘/»I Uhr bat die Frau vorübergehende junge Leute, ihr
herauszuhelfen. Einige von ihnen rissen Latten aus dem Zaune,
stiegen dann hinüber und vergewaltigten die Frau oder leisteten Bei¬
hilfe bei diesem Akt. Die Frau schrie und bat um Schonung. Ein
in der Nähe befindlicher Schutzmann hörte den Lärm und ging an
den Ort der Tat. Es gelang ihm, von den fliehenden Burschen einen
festzunehmen. Die anderen wurden im Laufe der nächsten Tage
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363
Erinnerungstäuschung in Bezug auf den Ort.
t
hinter Schloß und Riegel gebracht Die M. war, als der Schutzmann
hinzukam, bei Besinnung. Auf dem Heimweg in ihre Wohnung er¬
zählte sie ihm, daß sie von ihrem Aufenthalt auf der Füllerinsel
nichts wisse, auch nicht, wie sie dorthin gekommen sei. „Ich bin,“
so sagte sie, „abends 9 Uhr in völlig nüchternem Zustande auf die
Straße gegangen und habe mich auf einer Bank auf dem Roßplatz
(einem ca. 5 Minuten von der Füllerinsel entfernten Ort,) hingesetzt
Auf dieser Bank bin ich gegen 10 Uhr von 4 Burschen vergewaltigt
worden. Einige haben mich gehalten, andere das Verbrechen voll¬
führt. Außerdem habe ich eine Reihe heftiger Schläge gegen Kopf,
Brust und Bauch erhalten. Schließlich verlor ich die Besinnung.
Ich bleibe dabei, daß sich dieser Vorgang auf dem Roßplatz abge¬
spielt hat“.
Die Frau kam dann ins Allerheiligen-Hospital zu Breslau, wo
sie mehrere Wochen wegen eines Haematoms der rechten Scheitel¬
region, eines linksseitigen Rippenbruches sowie verschiedener Kontusions¬
wunden beider Brustseiten, des Schambeines und der Innenflächen
der Oberschenkel behandelt wurde. Auch hier im Hospital und nach
der Entlassung bei den verschiedenen Vernehmungen, ferner bei der
späteren Nachuntersuchung durch den Gerichtsarzt hält sie die Be¬
hauptung, daß sich die Affaire auf dem Roßpatz, nicht auf der Füller¬
insel abgespielt habe, aufrecht und erklärt mit aller Entschiedenheit,
sie könne sich in dieser Angabe nicht irren.
Im November 1906 fand die Schwurgerichtsverhandlung gegen
die Angeklagten statt. Fast alle waren geständig, das Verbrechen
entweder selbst ausgeführt oder Beihilfe geleistet zu haben und zwar
auf der Füllerinsel. Soweit wäre also der Sachverhalt sehr einfach
und klar gewesen, hätte nicht die M. wiederum die bestimmte, durch
nichts zu ändernde Aussage abgegeben, daß sie nicht auf die Füller¬
insel, sondern auf dem Roßplatz genotzüchtigt und mißhandelt sei;
ja, sie wollte sogar genau die Bank zeigen können, auf der die An¬
griffe gegen sie vorgenommen seien.
Diese Angabe sollte nun im Verlauf der Gerichtsverhandlung
von einer nicht zu unterschätzenden forensischen Bedeutung sein.
Der Staatsanwalt erhob die Anklage wegen Notzucht, Versuchs der
Notzucht oder Beihilfe dazu, außerdem aber auch wegen Mißhandlung.
Letzteres geschah aus folgendem Grunde: Es stellte sich nämlich
während der Verhandlung heraus, daß Notzucht im Sinne des Gesetzes¬
paragraphen, d. i. Ausübung des außerehelichen Beischlafes unter
Anwendung von Gewalt und unter Überwindung eines Widerstandes,
im vorliegenden Fall evtl, nicht in Betracht komme, weil es nicht
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364
XVIII. Jacobsohn*
klar zu Tage trat, daß die M. — eine Potatrix und wenigstens in
den früheren Jahren auch puella publica — wirklich ernsthafte
Gegenwehr geleistet hatte. Der Staatsanwalt erklärte daher in seiner
Rede, daß, falls die Geschworenen die Frage der Notzucht verneinen
sollten, sie die Angeklagten der Körpermißhandlung für schuldig
sprechen müßten.
Die Verteidigung suchte nachzuweisen, daß Notzucht gar nicht
vorliege; was die Körpermißbandlung anbeträfe, so sei diese natürlich
nicht zu bestreiten, aber sie könne den Angeklagten mit Bestimmtheit
nicht zur Last gelegt werden.
Die Frau M. erkläre immer wieder, daß sie auf dem Roßplatz
überfallen sei. Da dürfe man sich doch nicht ganz der Ansicht ver-
schliessen, daß an demselben Abend zwei Mal ein Gewaltakt an der
Frau M. vollführt worden sei, das erste Mal auf dem Roßplatz, das
zweite Mal auf der Füllerinsel. Die nacbgewiesenen Verletzungen
könnten sehr wohl von den Attentätern des ersten Schauplatzes her¬
rühren. Daß die Frau später auf der Füllerinsel gefunden wurde,
habe seine Erklärung darin, daß die Missetäter ihr Opfer, das durch
den ausgestandenen Schreck und die erlittenen Mißhandlungen be¬
sinnungslos geworden, dorthin geschleppt hätten. Dieses alles klinge
zwar sehr abenteuerlich; die Möglichkeit jedoch, daß es so geschehen,
sei nicht bestimmt in Abrede zu stellen, und da die Möglichkeit vor¬
handen, müßten die Angeklagten auch wegen der ihnen zur Last ge¬
legten Körpermißhandlung freigesprochen werden.
Die Geschworenen legten anscheinend auf diese Beweisführungen
der Verteidiger kein zu großes Gewicht; ihr Urteil lautete gegen zwei
der Angeklagten auf schuldig des Verstoßes gegen die §§ 176 resp. 177,
bei den anderen auf schuldig der ausgeführten Körpermißhandlung.
Dier Fall ist nach zweierlei Richtung von Interesse. Einmal
zeigt er uns einen solitären Gedächtnisdefekt, der sich in der Haupt¬
sache auf eine Erinnerungsabweichung in bezug auf den Ort bezieht.
Zwar ist auch die zeitliche Einordnung des Erinnerungsbildes insofern
nicht ganz richtig, als die Frau M. die Zeit, in der das Attentat statt¬
fand, ca. 27* Stunden zu früh angegeben hat; jedoch das eigentlich
Hervorstechende und Charakteristische an diesem Bilde ist die Ver¬
legung eines im großen und ganzen quantitativ und qualitativ richtig
reproduzierten Gedächtnisbildes an einem falschen Ort.
Als Ursache dieses Erinnerungsdefektes können wir in der Haupt¬
sache das Kopftrauma annehmen, daß die Frau M. während des Über¬
falles erlitten hat. Dazu kommt dann noch eventuell eine vor dem
Attentat bestandene Alkoholwirkung. Diese wird zwar von der Frau
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Erinnerungstäusclnmg in Bezug auf den Ort.
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an dem betreffenden Abend geleugnet; allein man wird sie doch
nicht ganz von der Hand weisen können, weil sich die Frau nach¬
gewiesenermaßen dem Alkoholgenuß hingegeben hat. Bausch und
Kopftrauma können aber eine derartige Wirkung auf das Erinnerungs¬
vermögen hervorrufen.
Das Zweite, was an dem Fall interessiert, sind die Folgen, die
aus der Aussage der Frau M. resultierten. Dadurch, daß sie immer
wieder bestimmt behauptete, die Tat sei auf dem Boßplatz, nicht auf
der Füllerinsel vorgenommen, wurde das sonst ganz klar und einfach
vorliegende Beweismaterial verdunkelt und kompliziert. Die Ver¬
teidigung suchte die M.’schen Angaben in der vorhin erörterten Weise
zugunsten der Angeklagten zu verwerten.
Zum Schluß ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prof. Lesser
für die Anregung zu dieser Veröffentlichung meinen verbindlichsten
Dank auszusprechen.
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Kleinere Mitteilungen.
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Von Medizinalrat Dr. P. Näcke.
1 .
Dr. P. Möbius. In memoriam. Anfang Januar 1907 starb im
54. Lebensjahre der bedeutende Neurolog und Schriftsteller P. Möbius, der
auch die wundersame Kunst verstand, gut deutsch und allgemein verständ¬
lich zu schreiben. Erst studierte er Theologie, dann Medizin, habilitierte
sich in Leipzig für das Fach der Nervenheilkunde, trat von seinem Amte
aber bald zurück, um ganz der Praxis und seiner Wissenschaft zu
leben und zu sterben. Er litt zuletzt schwer und tapfer, ließ sich aber
nicht ärztlich behandeln, lebte überhaupt einsam. Seine ausgesprochene
Misoygnie (siehe besonders im: „physiologischen Schwachsinne des Weibes a )
kam wahrscheinlich zum guten Teile von einer traurigen Ehe. Er hatte
eine ausgedehnte Konsiliarpraxis und wurde von seinen Patienten vergöttert,
während er, namentlich in seinen Schriften, oft sehr scharf war und ver¬
letzte. Er war ein großer Gelehrter, origineller und geistreicher Schrift¬
steller, Denker und Pfadfinder, der freilich auch eigensinnig gewisse Rich¬
tungen verfolgte (z. B. in der Wiederbelebung der Gall’schen Phrenologie,
in der Feindschaft gegen die experimentelle Psychologie etc.) und oft die
nötige Kritik vermissen ließ. Sein Größtes leistete er in seinem Spezial¬
fache: der Neurologie. Er war kein gelernter Psychiater, hielt sich aber
für einen solchen und irrte sich daher öftere. Er gab viel Anregungen
allerlei Art, bekämpfte den Alkoholismus, trat für die Fechner’sche
Philosophie ein und wohl nur wenigen Gebieten war er fremd. Eine un¬
geheure Belesenheit zeichnete ihn aus. In den letzten Jahren gab er sich
besondere mit den sog. „Pathographien“, d. h. dem Aufsuchen der patho¬
logischen Momente im Leben und Wirken großer Männer ab und war da
meist glücklich. So haben wir von ihm Schriften über Göthe, Nietsche,
Rousseau, Schopenhauer etc. Unendlich viel hätte er noch geben können!
Freuen wir uns aber des schon Geleisteten und möchte er uns in vielem
vorbildlich sein und bleiben! Titel und Orden hatte er nicht, aber sicher
wog er Hunderte von Inhabern solcher auf.
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Kleinere Mitteilungen.
367
2 .
Dr. L. Woltmann. In memoriam. Anfang Febr. 1907 ist ein be¬
deutender Denker, Philosoph, Sozio- und Anthropolog elendiglich beim Baden')
an der Riviera gestorben: Dr. L. Woltmann, der Gründer der ausgezeich¬
neten und auch an dieser Stelle öfters erwähnten „Politsch-Anthropologischen
Revue“, die jetzt soeben den 5. Jahrgang beendete. Er hat darin vor¬
treffliche Beiträge und scharfe Kritiken mit leider nicht selten persön¬
lichen Spitzen geschrieben. Seine Hauptwerke aber sind außer früheren
philosophischen und sozialen Schriften: die Politische Anthropologie (1903),
die Germanen und die Renaissance in Italien (1905) und Ende vorigen
Jahres: die Germanen in Frankreich. Er war einer der Hauptbegründer
und Verbreiter der „Germanentheorie“, d. h. daß die Germanen nicht nur
im Norden Deutschlands, Südschwedens etc. entstanden, sondern, daß sie auch
die Blüte der Arier darstellten und als solche in den romanischen Ländern,
speziell in Frankreich, Italien und Spanien die Hochkultur, die Renaissance
geschaffen haben. Man muß sagen, daß er seine Thesen wenigstens sehr
wahrscheinlich zu machen verstand, bei seinem weitem Wissen, scharfer Kritik
und wissenschaftlicher Methodik. Wenn die Geschichte, wie kaum zu be¬
zweifeln steht, sich immer mehr vorwiegend der anthropo-biologischen Be¬
trachtungsweise zuwenden wird, so ist dies sicher mit sein Verdienst und
zwar ein ganz außerordentliches! Überall sonst auch focht er für Wahr¬
heit und Licht gegen alle Sorten von Dunkelmännern und er führte da¬
bei eine scharfe Klinge. Wieder wandte sich der vielgereiste Mann seinem
geliebten Italien zu, um neue Studien für seine Lieblingsideen zu machen,
als ihm die unerbittliche Atropos an der Eingangspforte den Lebensfaden
abschnitt. Er war berufen, noch viel zu leisten; er war ein Kenner und
Könner ersten Ranges! Ehre daher seinem Andenken, das uns ein
neuer Antrieb zum steten Forschen und Denken sein soll!
3.
Können Augen blicks-Eindrücke forensischen Wert habenV
In seinem grausigen Verbrecher-Roman „La bete humaine“, der eine Fülle
von Verbrecher-Psychologie enthält, schildert Zola auch folgenden Vorgang.
Ein Lokomotivführer, Jaques Länder, streift einmal nachts in öder Landschaft
herum und findet sich am Bahngeleise, als er nach leisem Donner aus einem
Tunnel den Pariser Schnellzug von 80 km Geschwindigkeit heraustreten
sieht. Wie ein Blitz fuhr der Zug vorbei. „Und Jaques (pag. 63) sah
sehr genau in der Viertelsekunde, durch die flammenden Fenster eines
Coupes einen Mann, der einen anderen auf die Bank auf den Rücken ge¬
legt festhielt und ihm ein Messer in die Brust stieß, während eine schwarze
1) Mit Entrüstung weise ich die vermutete Möglichkeit eines Selbstmords
bei seiner Lebensfreude, seinem Kampfesmute und seinem Wissensdurste zurück!
Er hatte einen Herzfehler und ist wohl an Herzschlag gestorben.
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Masse, vielleicht eine dritte Person, vielleicht herabgefallenes Gepäck, mit
aller Gewalt auf die gekrumpften Beine des Ermordeten drückte. . . .“ Er
frug sich gleich, ob er richtig gesehen habe, er wagte nicht die “Wirklichkeit
dieser Vision zu behaupten. „Nicht ein einzelner Zug der zwei handelnden
Personen des Dramas war ihm lebhaft zurückgeblieben.“ Er glaubte aber
doch am Mörder ein schmales, blasses Gesicht unter dichtem Haarwuchse
zu erkennen. Bei dem Verhör spielte diese Szene natürlich eine Rolle.
Lantier erzählte seine Beobachtung und glaubte bei sich plötzlich in dem
mitanwesendeu Roubaud den Mörder zu sehen, wie es auch der Fall war.
Später ward ihm dies sogar zur Gewißheit. Noch später suggestioniert er
sich, daß die herabfallende Masse eine Reisedecke war, während es die Frau
Roubauds gewesen war, die auf das Opfer niederkniete, um ihrem Manne
die Mordtat zu erleichtern. Es fragt sich nun, ob Lantier wirklich das gesehen
haben kann. In tiefster Nacht rast plötzlich aus einem Tunnel ein Schnell¬
zug heran. Das plötzlich auftauchende Licht müßte wohl jeden blenden,
weniger allerdings einen Lokomotivführer, der au solche Lichteffekte
gewöhnt ist. Ohne besondere Aufmerksamkeit sieht Lantier die hell¬
erleuchteten Fenster der Waggons dahinfliegen und bemerkt in einem Coupö
obige Szene, in vielleicht */■» Sekunde. Ist dies wohl möglich, wenn man nicht
speziell aufmerktV Kaum oder doch nur ganz verschwommen! Lantier hat
aber sogar auch das schmale, blasse Gesicht des Mörders unter dichten Haaren
gesehen. Das halte ich für fast unmöglich! Am Tage vielleicht eher. Sitzen
wir tagsüber im Schnellzuge und blicken zerstreut hinaus, so sagen wir uns
nicht selten, daß wir z. B. soeben einige Leute auf dem Felde bei der Arbeit
sahen. Meist können wir aber nicht sagen, wie viele es waren, oft auch
nicht, was sic taten, erst recht nicht, wie sie aussahen. Anders, wenn wir
auf einen bestimmten Punkt unsere ganze Aufmerksamkeit konzentrieren.
V isseu wir z. B.: jetzt kommt eine schöne Kirche, so sehen wir auch in
dieser Schnelligkeit ziemlich viel auf einmal. Man sieht, solche Augenblicks-
Szenen, wie sic Zola beschrieb, könnten Vorkommen — z. B. auch bei Ein¬
stürzen, Zusammenstößen etc. — und zu ernsten Erwägungen, aber auch
Bedenken führen. Die ganze Szene kann suggestioniert sein, und einzelne
Data natürlich um so leichter, wie z. B. Lantier später in der schwarzen
drückenden Masse eine Reisedecke erkennen will. Noch zweifelhafter frei¬
lich ist es, daß er — ohne es zu äußern — nachher fest überzeugt ist, daß
Roubaud der Mörder war, selbst wenn wir zugeben, daß später gewisse
unbemerkte oder wenig markante Beobachtungen ins Bewußtsein treten und
so ein leidliches Bild der Wirklichkeit geben können. Das Fazit unserer Er¬
wägungen also ist, daß ein Richter stets mit der größten Skepsis
solchen Augenblicks-Eindrücken gegenüber stehen muß, daß
aber auch hier von Fall zu Fall zu unterscheiden ist, jedenfalls aber eine
solche Beobachtung nie für das Urteil ausschlaggebend werden darf.
4.
Motive des Aberglaubens. Seit jeher fand ich es anziehend, den
verschiedenen Motiven zu abergläubischen Praktiken nachzuspilren. Be¬
trachtet man nämlich letztere genauer, so wird man finden, daß doch ein
gewisser pliysio- oder psychologischer Sinn auch im Unsinn liegt und vielleicht
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Kleinere Mitteilungen.
369
nur relativ selten findet man keine Verbindungsbrücke und muß zum
Schlüsse kommen, daß gerade der Unsinn der Handlung als solcher be¬
zweckt war, um ja das Wunderbare des Erfolgs noch krasser hervortreten
zu lassen. Schon früher glaube ich einmal bemerkt zu haben, daß den
Ingredienzen der Liebestränke: Schweiß, Menstmalblut etc. ein starker Ge¬
ruch eignet, der bei vielen in Beziehung zum Geechlechtstrieb tritt, bewußt
oder unbewußt. Freilich ist der physiologische Vorgang namentlich zeitlich
ein ganz anderer, als diese Philtra es wollen. Neulich las ich nun in dem
vortrefflichen Buche von A. Harpf: Morgen- und Abendland (Stuttgart 1905)
folgenden Passus (Seite 211): „Im ganzen Orient suchen die Frauen des
Volkes auf allerlei abergläubische Weise zu bewirken, daß sie empfangen,
wenn dies längere Zeit ausbleibt. Sie gehen zu Hinrichtungen in der Ab¬
sicht, um, wie sie sagen, durch den Schrecken des vergossenen Blutes und
das Anschauen der Todeszuckungen empfänglich zu werden. Sie gehen
jetzt so zahlreich mit derselben Absicht in das Schlachthaus von Kairo und
sehen dort dem blutigen Handwerk zu, daß man dafür im letzten Jahre
ein Eintrittsgeld zu erheben begann. In derselben Absicht wird vor den
Augen der Braut, wenn sie in feierlichem Hochzeitszuge und reich ge¬
schmückt am Hause des Bräutigams angelangt ist, an der Hausschwelle
ein großer Hammel geschlachtet, und das ist in gleicher Weise bei Musel¬
männern nnd Kopten Brauch. Doch das alles mag vielleicht noch nicht
einmal jedes natürlichen Zusammenhanges entbehren, wenn man die be¬
kannte, oft zu perversen Neigungen führende Parallelwirkung ins Auge faßt,
welche bei manchen Menschen zwischen fließendem Blute und geschlecht¬
lichem Reiz beobachtet wurde.“ Und darin hat Harpf völlig Recht, nur daß
zugleich dort zeitlich eine Verschiebung des Reizes stattfindet. Die
sadistischen Handlungen geschehen nämlich vor oder am Anfänge des
Coitus, bisweilen zuletzt, oder stehen allein als Äquivalent für den Bei¬
schlaf, nie aber längere Zeit vorher, wie es doch in obigen Fällen statt¬
finden müßte. Solche physiologische Ungenauigkeiten kommen im Aber¬
glauben eben vor. Aber alles das reizt nur den Geschlechtstrieb an,
hat zunächst nichts mit der Empfängnisfähigkeit direkt zu tun, deren Be¬
dingungen uns z. T. noch sehr dunkel sind. Auf rascheres oder lang¬
sameres Ablösen der Eichen aus dem Eierstocke hat kaum irgend etwas
Einfluß, und es scheint, als ob sogar bei Blutarmut etc., wo keine Periode
eintritt, trotzdem regelmäßig die Eilösung erfolgt. Anders steht es mit dem
erleichterten Eintritt des Samens in die Gebärmutter. Es steht jetzt wohl
fest, daß während des Coitus der ganze Genitalschlauch, besonders aber
die Gebärmutter sich kontrahiert und öffnet, verkürzt. Starke Geschlechts¬
reizung muß dies befördern, also eventuell auch solche auf sadistischem
Wege erzeugte und demnach könnten so manche Mittel als Empfängnis
befördernd gelten. Bei organischen Fehlern ist freilich Hopfen und Malz
verloren, ebenso bei impotentia generandi auf beiden Seiten. An vielen
Orten, Wallfahrtsorten bei uns und in Indien aber geschieht das Wunder der
Empfängnis oft auf sehr natürliche Weise, was noch mehr Frauen zu den
heiligen Stätten hinzieht. Der oben geschilderte Aberglaube steht wohl
einzig da. Dagegen scheint mir die Schlachtung des Hammels vor der
Braut an der Türschwelle nur ein reines Opfer zu sein, um böse Geister
zu bannen, was nichts mit sadistischen Dingen zu tun hat. Harpf gibt
Archiv fhr KriminalRnthropologie. 27. Bd. 24
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Kleinere Mitteilungen.
noch eine ganze Reihe abergläubischer Praktiken bei den Ägypterinnen,
die alle sich bis zu einem gewissen Grade erklären lassen, wenn auch
anders, als bei den oben erwähnten.
5.
Gefährliche Träume. Dem Bericht über die psychiatrische Litera¬
tur im Jahre 1905, Literaturbericht zum 63. Bd. (1906) der Allgemeinen
Zeitschrift für Psychiatrie etc. (pag. 169*) entnehme ich folgendes Referat:
„Knauer, G., Progressive Paralyse? Münchner medizin. Wochenschrift Nr. 8.
Ein syphilitisch gewesener Kaufmann träumte mit Verfolgern zu ringen und
fand beim Erwachen, daß er seine Frau fast erwürgt hatte; einige Wochen
später träumte er, mit Licht etwas suchen zu müssen, und erwachte, ein
brennendes Zündholz in der Hand. Belastung, Wutausbrüche seit der Kind¬
heit, Alkoholmißbrauch machen doch zweifelhaft, ob, wie K. annimmt, Epi¬
lepsie „ganz ausgeschlossen“ ist. Matusch.“ Zu der von mir wiederholt
betonten Gefahr, Träume für Wirklichkeit zu halten und unter Umständen
aggressiv zu werden, bietet obiger Fall eine neue Illustration. Leider ist
nicht sicher, ob der Betreffende ein Paralytiker oder — fast noch wahr¬
scheinlicher, wie es auch Referent hervorhebt — ein Epileptiker war,
ja es ist nicht einmal sicher, ob er deutlich krank war. Doch das ist
Nebensache. Solche überaus lebhafte Träume mit plastischer Deutlichkeit
und Reaktion darauf können bei Gesunden und Kranken Vorkommen, bei
Letzteren vielleicht häufiger. Namentlich sind in dieser Hinsicht die Epi¬
leptiker sehr verdächtig mit ihren vorwiegend schreckhaften Träumen. In¬
teressant ist in obigem Falle auch, daß bei demselben Kranken zweimal
solche gefährliche Handlungen durch den Traum ausgelöst vorkamen. Man
könnte noch die Frage aufwerfen, ob bei wiederholtem Auftreten solcher Reak¬
tionen nicht die Verwahrung eines solchen Träumers wegen Gemeingefähr¬
lichkeit beantragt werden sollte.
6 .
Schranken in der Größe des Schätzens, Erkennens und
Beurteilens bei demselben Individuum. Prof. Groß behauptet-in
seiner Arbeit: Die Zeugenprüfung (Monatsschrift für Kriminalpsychologie etc.
1906, p. 580) daß, „wer heute eine Entfernung, eine Menge, eine Zeit usw.
richtig schätzt, wer heute einen Menschen auf ungewöhnliche Distanz er¬
kennt, wer heute für irgend etwas ein gutes Gedächtnis, gute Unterscheidungs¬
gabe und gutes Vergleichsvermögen zeigt, der hat dieselbe Gabe auch vor
8 Tagen gehabt und wird sie in 14 Tagen auch wieder haben . . . Aber
bei der Frage des Wahrnehmens, Merkens und Wiedergebens wissen wir
im allgemeinen manches, jedoch nicht genug, um im einzelnen Falle be¬
weisende Experimente machen zu dürfen.“ Nun, ich glaube, daß wenn
auch bez. des Schätzens und Erkennens der Gegenstände Stimmung, Auf¬
fassung, Affekt etc. nicht so großen Einfluß haben, als beim Wahrnehmen,
Merken und Wiedergeben, sie doch auch bei jenen psychischen Tätig¬
keiten mitredend und daher zu berücksichtigens sind. Ein halbverschlafener
oder stark ermüdeter Förster z. B. wird eine Distanz heute nicht so richtig
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Kleinere Mitteilungen.
371
einschätzen, wie gestern, wo er frisch war. Zu diesem Einschätzen gehören
ja nicht nur Schärfe des Gesichts, sondern auch starke Konzentrierung
der Aufmerksamkeit und nicht weniger ein gewisses Gedächtnis. Alle diese
Komponenten müssen selbstverständlich unter Ermüdung, Affekt, Verschlafen¬
sein etc. leiden und dies sogar, wenn auch weniger, bei denen, die gewohn¬
heitsmäßig Entfernungen (Geometer) oder Gewicht (Fleischer) schätzen. Es
müßte also, wenn einer heute gut Distanz schätzt, immer noch eruiert
werden, unter welchen geistigen und körperlichen Bedingungen
er früher beim Distanz-Abschätzen etc. stand, um sicher zu
sein, daß die Schätzung richtig war.
i.
Feinfühligkeit eines Idioten. Wenn auch im Allgemeinen, wie
ich dies oft betont habe, die ethische mit der intellektuellen Entwickelung
Hand in Hand geht und der Intellekt auch auf die ethische Seite zurück¬
wirken kann, so gibt es davon immerhin Ausnahmen, wie jeder solche
kennt. Auch bei Idioten ist meist die ethische Seite ganz verkümmert und
wo etwa Anhänglichkeit an Personen besteht, so dürfte sie sich kaum über
die des Tieres erheben. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. So haben
wir z. B. einen 11 jährigen Idioten hier, auch körperlich schlecht entwickelt,
mit vielen Entartungszeichen behaftet, der in Folge schwerer Zangengeburt
eine Kopfverletzung davontrug, wonach bald Krämpfe auftraten und eine
Halblähmung der ganzen rechten Seite zurückblieb. Er ist unehelich ge¬
boren; der Vater hat die Mutter bald verlassen. Im vierten Jahre erst
lernte das Kind gehen und konnte nie ordentlich sprechen. Immerhin ver¬
steht man ihn einigermaßen. Er ist aufmerksam, ahmt gut nach, kennt
die Gegenstände und ist unter unsem Idioten-Kindem entschieden ein
lumen. Er ist für jede Aufmerksamkeit, jedes gute Wort sehr dankbar,
errötet vor Freude und sucht zu helfen, wo er kann, so daß er von den
Pflegern und Mitkranken sehr gern gesehen wird. Erwähnt man ihm
gegenüber nun, daß er ein uneheliches Kind ist, so errötet er
schamhaft, obgleich er offenbar nicht die volle Tragweite der unehelichen
Geburt kennt. Er errötet aber auch, wenn erzählt wird, daß sein Vater
die Mutter verlassen hat, sie sitzen ließ. Sicher sind das hohe Beweise
einer angeborenen Feinfühligkeit. Seine intellektuellen Kräfte sind aber,
wie schon gesagt, für einen Idioten noch recht anerkennenswerte. In seinem
feinen Takte und in seinem sozialen Verhalten dürfte er manche normal
Geistige sicher beschämen.
24*
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Besprechungen.
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i.
Dr. Friedri ch Stein, Professor in Halle: „Zur Justitzre form“,
sechs Vorträge. Tübingen. J. C. B. Mohr (Paul Sie¬
beck). 1907.
Vor nicht ganz einem Jahre ist die Schrift „Grundlienien durch¬
greifender Justizreform 4 * von F. Adickes erschienen, in welcher die eng¬
lischen Justizeinrichtungen als Grundlage für ein neues deutsches Zivil- und
Strafverfahren empfohlen werden. Der Widerlegung dieser Vorschläge
sind die Vorschläge Steins gewidmet, der in klarer und überzeugender
Weise die Unmöglichkeit solcher Umformungen dartut und beweist, daß
manches von den Justizeinrichtungen Englands auch dort nicht mehr be¬
friedigt, manches andere aber auf unsere Verhältnisse nicht paßt. Beide
Schriften, die von Adickes und die von Stein beanspruchen das größte
Interesse und eingehendes, vergleichendes Studium. Recht haben dürfte
Stein, die Anregung zur neuerlichen Überlegung der Fragen hat aber
Adickes gegeben. Hans Groß.
2 .
L. S. A. M. von Römer, med. Di\ und Nervenarzt in Amsterdam:
Die Uranische Familie. Untersuchungen über die Ura-
nier. Beiträge zur Erkenntnis des Uranismus. Deutsch von
E. W. Lpzg., Amsterdam, Maas u. van Suchtelen. 1906.
Das klug und überlegsam geschriebene, mit vielen Diagrammen aus¬
gestattete Heft kommt zu einer Anzahl von Grundsätzen, die wichtig zu
sein scheinen: Uranismus an sich vererbt sich wenig, aber familiäres Vor¬
kommen ist sehr häufig; ihr Prozentsatz beträgt minimum 2 %, maximum
33 ", u; der Altersunterschied zwischen Vater und Mutter ist häufig be¬
sonders groß; in uranisehen Familien kommt Carcinom viel häufiger vor,
als Tuberkulose; Anlage zum Uranismus zeigt sich meistens sehr früh;
bleibender (echter) Uranismus ist Prädisposition, die durch äußere Momente
ausgelöst, aber nicht hervorgerufen werden kann; Heilung durch Suggestions¬
therapie ist verschwindend selten, diese Therapie ist wegen der zumeist
anzuwendenden Nebenmittel als verwerflich zu bezeichnen.
Hans Groß.
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Besprechungen.
373
3.
Carl Kurtz, Amtsgerichtsrat: Die Untersuchungen von
Körperverletzungen insbesondere der tötlichen. Zu¬
sammenstellung der hierauf bezüglichen gesetzlichen
und Verwaltungs-Bestimmungen einschließlich der
neuesten Vorschriften über Leich e n u nt ersuch ungen
zum Gebrauch für Gerichts- und Polizeibehörden,
Staatsanwaltschaften und Gerichtsärzte. Textausgabe
mit Vorbemerkungen, Anmerkungen, Beispielen, Ge¬
bühren- und Reisekosten-Vorschriften und Sachregister.
Düsseldorf, 1906, L. Schwarz.
Zweck und Inhalt der sehr bequemen und übersichtlichen Zusammen¬
stellung ist aus dem umständlichen Untertitel deutlich zu entnehmen. Mit
den selbständigen Ansichten des Verf. bin ich nicht überall einverstanden;
so wird in einem „Beispiele für die Praxis“ in der ersten Vorerledigung
einer Anzeige, der Amtsvorsteher aufgefordert, ein Lokal zur Obduktion
bereit zu halten, „wohin die horizontal zu lagernde Leiche vorsichtig zu
schaffen ist“. Es wird also von vornherein darauf verzichtet, an der Leiche
des erschossen im Walde Aufgefundenen in loco rei sitae einen Augenschein
vorzunehmen!
In dem folgenden „Beispiel“ (Protokoll der Leicheneröffnung des Er¬
schossenen) fehlt negative Feststellung, daß in der Leiche kein Geschoß,
kein Kugelpflaster oder Pfropfen, kein, von den Kleidern mitgerissener
Fetzen etc. gefunden wurde. Es ist auch nicht möglich, aus dem Befunde
zu entnehmen, ob es sich um mehrere Kugelschüsse, einen Pfosten- oder
Schrotschuß handelt, auch vom Brandsaum, eingesprengten Pulverkörnern
etc. (was auch negativen Falles festgelegt werden muß) ist nicht die
Rede — etc. Hans Groß.
L
Ernst Zitelmann: „Ausschluß derWiderrechtlichkeit". Tübingen
19U6. J. C. B. Mohr (Sonderabdruck a. d. 99. Bd. des
„Arch. f. d. ziv. Praxis“).
Die heute so vielfach behandelte, freilich auch außerordentlich wichtige
Frage nach der Widerrechtlichkeit hat durch die feine, schwungvolle und
tiefgründige Arbeit Ziteimanns namentlich deshalb eine so wichtige Be¬
reicherung erfahren, weil sie Verfasser namentlich von der zivilistischen Seite
beleuchtet und sie hierdurch auf eine breitere, sicherere Grundlage stellt.
Man liest das Buch mit, ich möchte sagen, Spannung und legt es mit Dank
für den Verf. aus der Hand.
Wenn man einen Zweifel nennen dürfte, so ginge er dahin, ob Verf.
wohl Recht hat, wenn er viele Fälle, namentlich bei der Frage nach der
Einwilligung, dahin löst, dass manche Einwilligung, als gegen die guten
Sitten verstoßend, nichtig sei.
Wenn ich mich, sagt Zitelmann, über Mittag vom fortgehenden Be¬
amten in der Bibliothek einsperren lasse, so handelt der Beamte natürlich
nicht strafbar; wenn aber der, der einen Dieb erwischt, ihn mit seiner Ein-
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374
Besprechungen.
willigung statt der Anzeige 24 Stunden im Keiler einsperrt, so ist das straf¬
bar, weil die Einwilligung contra bonos mores verstößt, also ungültig ist.
Ich glaube der Grund der Strafbarkeit liegt darin, daß die Einwilligung
erpresst war: „entweder läßt du dich einsperren, oder ich übergebe dich
der Polizei“.
Ebenso: wenn sich die Frau vom Arzt kastrieren läßt, um (etwa
wegen erblicher Belastung etc.) keine Kinder zu bekommen, so sei die Ein¬
willigung nichtig, w r eil gegen die guten Sitten verstoßend. Ich glaube, die
Strafbarkeit liegt hier im Dilemma: entweder ist eine solche Operation be¬
denklich, dann hat der Arzt das Leben der Frau nicht gefährden dürfen,
oder sie ist gleichgültig, dann verallgemeinert sich die Sitte, wir bekommen
wenig Nachwuchs und zu wenig Rekruten. Vielleicht könnte man aber
den Vorgang auch als nicht strafbar bezeichnen? Sagen wir, der Gatte
ist geisteskrank, Abstinenz ist nicht zu erreichen, verlassen will sie den
Mann auch nicht — hat die Menschheit etwas davon, wenn geisteskranke
Kinder gezeugt werden ?
Wir müssen uns dahin bescheiden, daß wir so oft nichts Gutes schaffen,
sondern nur das geringere Übel passieren lassen müssen. Wenn ein ge¬
sunder Mensch vom Arzt die Vornahme einer Blinddarmoperation verlangt,
weil er die Angst vor einer solchen überstanden haben möchte, so wird
ihn der Arzt abweisen; er wird das aber nicht tun, wenn Patient schon
oft ernste Mahnungen einer Blinddarmreizung hatte und jetzt eine Reise
nach Südafrika antreten muß, wo er gegebenen Falles nicht operiert werden
kann und zugrunde gehen muß.
Im ersten Falle ist operieren das größere, im zweiten Falle das ge¬
ringere Übel, und die Abwägung der Übel also ist für uns bei der Be¬
urteilung eines Vorganges die freilich armselige, aber oft einzige Anweisung,
wie wir entscheiden müssen. Hans Groß.
D*
Dr. jur. Karl Weidlich: „Die englische Strafprozeßpraxis
und die deutsche Strafprozeßreform“. Berlin 1906.
J. Guttentag.
Diese Arbeit ist zwar durch die von Stein und Adikes überholt, bietet
aber einerseits für diese eine gute Unterstützung und ist auch andrerseits
durch ihre klare Zusammenstellung von Wert. Verf. kommt zu dem Schluß,
daß vieles im engl. Prozeß und auf national-englischen Boden wurzelt
und daher nicht übertragbar sei; das meiste sei auch durch deutsche Ein¬
richtungen überholt. Hans Groß.
6 .
Dr. Max Altberg, Gerichtsassessor: „Vollendung und Real¬
konkurrenz beim Meineid des Zeugen und Sachver¬
ständigen“ (zugleich eine Lehre vom fortgesetzten Ver¬
brechen). Berlin 1906. J. Guttentag.
Die Schrift befaßt sich mit der Einzelbekundung und Gesamtaussage
(Vollendung und Verbrechenseinheit), die Vollendung, Fixierung des „Ab-
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Besprechungen.
375
Schlusses der Vernehmung“, Verbrechenseinheit und -Mehrheit und den Kon¬
sequenzen der Auffassung, daß mehrere falsche Einzelbekundungen ein fort¬
gesetztes Verbrechen bilden. Hans Groß.
i.
Dr. med. Arnemann in Großschweidnitz: „Über Jugendirre¬
sein“ (Dementia präcox). Leipzig 1906. B. Konneger.
Ob es richtig ist, wenn heute der Begriff der Dementia präcox so
weit ausgebildet wird, daß für alle anderen Geisteskrankheiten verhältnis¬
mäßig wenig übrig bleibt, das haben wir Juristen nicht zu erörtern, wir
wissen aber, daß für den Kriminalisten kaum eine andere Psychose so
wichtig ist, als die Dementia präcox (vielleicht neben den larvierten Formen
der Epilepsie), da sie am leichtesten den Laien in medizinischen Dingen
irreführen kann. Einerseits kann dieser selbst weit vorgeschrittene Formen
mit Eigensinn, Bosheit, Faulheit, Hinterlist und allen möglichen anderen
Übeln Eigenschaften verwechseln, ohne überhaupt an das Vorhandensein
einer Krankheit zu denken, andererseits wird der Laie und selbst der
psychiatrisch nicht besonders geschulte Arzt mitunter zwar die Erscheinung
von Irrsein wahrnehmen, diese aber, eben nach der seltsamen Natur der
Dementia präcox, für Simulation halten. Da nun aber gerade der Richter,
der medizinische Laie, derjenige ist, welcher die psychiatrische Untersuchung
eines Beschuldigten zu veranlassen hat, so sollte er doch über das Wesen
der fraglichen so rätselhaften Krankheit so weit informiert sein, daß er auch
hier weiß, wann er nicht an Bosheit, nicht an zweifellose Simulation zu
glauben, sondern den Arzt zu fragen hat
Das vorliegende Schriftchen (47 S.) informiert hierüber in klarer, jedem
gebildeten Laien verständlichen Weise vortrefflich, seine Lektüre kann vor
schweren Irrtümem bewahren. Hans Groß.
8 .
Prof. Dr. Max Ernst Mayer in Straßburg i. E.: „Die Befreiung
von Gefangenen.“ Eine Ergänzurtg zum ersten Bande
der auf Anregung des Reichsjustizamtes herausge¬
gebenen „Vergleichenden Darstellung des Deutschen
und ausländischen Strafrechts“ (besonderer Teil).
Leipzig 1906. C. J. Hirschfeld.
Die im Titel genannte Materie, welche aus Rücksicht auf den Raum
im großen Sammelwerke nicht Platz fand, wird hier als besondere Arbeit
in erschöpfender und übersichtlicher Weise bearbeitet. Die äußere An¬
ordnung ist dieselbe, wie im großen Sammelwerk: zuerst das Deutsche
Recht (Objekt und Subjekt der Befreiung und Befreiungshandlung) und das
ausländische Recht (mit derselben Materieneinteilung). Die Schrift stellt
sich als eine erwünschte Ergänzung des genannten Sammelwerkes dar.
Hans Groß.
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376
Besprechungen.
9.
Dr. Ed. Löwentlial: „Grundzüge zur Reform des Deutschen
Strafrechts und Strafprozesses. 2. Aufl. Berlin. H. Mus¬
kalla. 1905.
Auf 19 Seiten wird dargelegt, daß das „Buchstabenrecht“ zu sehr im
Vordergründe stehe, das Ermittlungsverfahren müsse in der Form des Verf.
bei Privatbeleidigungsklagen umgestaltet werden, das Beweisverfahren sei
zu reformieren und z. B. ein notorischer Feind des Beschuldigten nicht als
Zeuge zuzulassen, Untersuchungshaft darf nur bei Mord und Todschlag
Vorkommen etc. Hans Groß.
io.
Wilhelm Wundt: „Völkerpsychologie“. Eine Untersuchung
der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und
Sitte. II. Bd. Mythus und Religion. 2. Teil. Leipzig
1906. W. Engelmann.
Ich beziehe mich auf das über dieses großartige Werk schon früher
(Bd. IV p. 359, Bd. VII p. 179, namentlich Bd. XXIV p. 185) Gesagte.
In dem vorliegenden Bande dieses Standard work hat nun Verf. mit be¬
wundernswerter Übersicht und Belesenheit die Frage der Seelenvorstellungen
behandelt, was in der Tat eine Grundlage für die Entwicklung des für uns
so wichtigen kriminellen Aberglaubens darstellt. Es wäre dringend zu
wünschen, daß ein Kenner des Kapitels „Krimineller Aberglauben“, z. B.
A. Hellwig, diesen Band ad hoc ausbeutet und die daselbst vorfindliche
große Menge von Tatsachen, die Erklärungen, Untersuchungen und Er¬
örterungen Wundts für unsere Zwecke verwertet. Das wäre eine dankens¬
werte Aufgabe. Besonders wichtig wären die Abschnitte: Das Blut als
Seelenträger; Hauchzauber; der Seelenvogel; Vision und Ekstase; Wach-
und Traumvision, die Prophetie; Seelen, Geister und Dämonen; Zauber¬
glaube; Fetischismus (nicht im psychiatrischen Sinne); Ursprung des Sühn¬
opfers, Kannibalismus und Menschenopfer; Gespenster; Behexung; Krank-
heits- und Wahnsinnsdämonen etc. — kurz Belehrung und Aufklärung über
Geschichte, Entstehung und Wesen vieler Aberglaubensformen ist überall in
dem schönen Werk zu finden. Hans Groß.
11 .
Hans Ostwald: „Das Berliner Dirnentum. 5. Band: Männliche
Prostitution“. Leipzig, Walter Fiedler. Ohne Jahres¬
zahl.
Viel Neues enthält dieses Heft nicht: Zeitungsberichte über die be¬
kannten Erpressungsgeschichten der letzten Zeit (Hasse, Israel, Acker¬
mann etc.) und auch ähnliche, weniger oft genannte, Auszüge aus den
Arbeiten von Dr. Magnus Hirschfeld, Berichte über Bälle und sonstige
Unterhaltungen der Homosexuellen etc. Aber im ganzen ist das so entsetz¬
lich widerliche Thema gut dargestellt. —
Ob blos Not die männliche Prostitution erzeugt ist ebenso zweifelhaft,
wie die Erwartung, daß mit der Beseitigung des § 175 D. R.St.G. und
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Besprechungen.
377
§ 129b Oestr. St.G. alle Erpressung verschwinden würde. Dann würden die
Erpresser eben mit Mitteilung an die Frau, an Vorgesetzte, an die Öffent¬
lichkeit, mit Briefen und Postkarten drohen. Man kann Betätigung der
Homosexualität zu etwas Nichtstrafbarem, aber sicher nie zu etwas Sym¬
pathischem, nicht Ekelhaftem machen, sodaß immer noch erpreßt werden
würde. Hans Groß.
12 .
Theodor Lipps: „Leitfaden der Psychologie“. Zweite, völlig
umgearbeitete Auflage. Leipzig 1906. Willi. Engelmann.
Es hat selten eine Behauptung so rasch bei den betreffenden Leuten
Geltung erlangt, als die, daß der moderne Kriminalist unbedingt als Psy¬
chologe ausgebildet sein muß, daß er sich um die Lehren der Allgemein¬
psychologie und dann um die der Kriminalpsychologie eingehend zu kümmern
hat. Der Nutzen, den die Verbreitung dieser Überzeugung gebracht hat,
ist ein unabsehbar großer, kein gewissenhafter Kriminalist zweifelt mehr an
der Notwendigkeit, sich die betreffenden Kenntnisse zu erwerben, es wird
höchstens darum gefragt, wie dies am besten und einfachsten geschieht.
Diesfalls kann das klare, erschöpfende und vollständig moderne Buch des
berühmten Münchener Philosophen dringend empfohlen werden.
Hans Groß.
13 .
Med. und phil. Dr. Georg Buschan: „Gehirn und Kultur“.
Wiesbaden 1906. J. F. Bergmann.
Die so wichtige Frage nach der Bedeutung der Hirnmenge ist über¬
sichtlich und für jedermann verständlich dargestellt. Manche Ergebnisse der
Forschung geben vielfach Anlaß zum Überlegen: z. B. daß man die größten
Gehirne bei Idioten und Epileptikern, dann aber bei den bedeutendsten
Männern gefunden hat; weiter: nicht nur haben gebildete Leute durch¬
schnittlich mehr Gehirn und größere Köpfe, als ungebildete, sondern es
wurde (in Cambridge) festgestellt, daß die Studenten mit erster Note die
grüßten, die mit zweiter Note kleinere Köpfe hatten, und die Durchge¬
fallenen hatten die kleinsten Köpfe. Da werden ja die Examina über
flüssig! Bei Hutmachern hat man erhoben, daß sie erfahrungsgemäß die
ordinären Hutsorten (für minder günstig gestellte und weniger unterrichtete
Leute) in viel kleineren Nummern erzeugen müssen, als die feinen Hüte
(für günstig gestellte und gebildete Leute). Solche und zahlreiche ähnliche
Daten bringen zur Überlegung, daß die Frage über die Kopfgröße der
Leute vielleicht einmal von erheblicher kriminalistischer Bedeutung werden
kann. Hans Groß.
14.
Dr. med. Emil Lobedank, Stabsarzt in Hann. M finden: „Rechts¬
schutz und Verbrecherbehandlung“. Ärztlich-natur¬
wissenschaftliche Ausblicke auf die zukünftige Kri¬
minalpolitik. Wiesbaden 1906. J. F. Bergmann.
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378
Besprechungen.
Der Wert des in dieser Schrift Gesagten ist ein sehr ungleicher: Was
Verf. über Ursachen des Verbrechens, über Willensfreiheit und Determinis¬
mus sagte, ist vortrefflich — namentlich die klare, einfache und ungemein
fixe Begründung der deterministischen Weltanschauung ist wirklich wertvoll.
Aber der kriminalistische Teil (Schuld und Sühne, künftige Stellung der
Richter, die Strafen, Strafvollzug etc.) ist mitunter recht bedenklichen In¬
halts. Daß Verf. größten Wert auf Schadensersatz durch den Verbrecher
legt, ist ja ganz gut, aber wie viele können diesen Ersatz leisten? Wie
sich Verf. den Vorgang in der Zukunft vorstellt, zeigt eines seiner Bei¬
spiele. Ein Bursche war bis zu seinem 20. Lebensjahre unbeanstandet.
Nun bettelt er: eine scharfe Verwarnung ist die Folge. Nun leistet er
dem Wachmann Widerstand: verhältnismäßig hohe Geldstrafe (gegen den,
der vor kurzem bettelte!). Jetzt stiehlt er: er muß auf 5 Jahre Friedens¬
bürgschaft leisten (wie denn?). Er stiehlt wieder; nun wird eine Minimal-
und Maximal-Freiheitsstrafe ausgesprochen — wie viel er wirklich kriegt,
bestimmt der Strafhausbeamte etc. Ich glaube: eigentlich medizinische
Fragen überläßt man den Ärzten, eigentlich kriminalistische den Krimi¬
nalisten. Hans Groß.
15 .
Prof. Dr. Berthold Kern, Generalarzt: „Das Wesen des mensch¬
lichen Seelen- und Geisteslebens als Grundriß einer
Philosophie des Denkens“. 2. völlig neubearbeitete
Auflage. Berlin 1907. Aug. Hirschwald.
Das interessante und sehr lesenswerte Buch ist eine weite Ausgestaltung
der Festschrift zur 110. Stiftungsfeier der Kaiser Wilhelm-Akademie, die
im XXIV. Bd. p. 174 besprochen wurde und worauf hiermit verwiesen wird.
Hans Groß.
16 .
K. A. Wettstein: „Die Straf Verschickung in deutsche Kolonien
Zürich 1907. Zürcher & Furrer.
Bedauerlicher Weise haben sich zur hochwichtigen Frage der Depor¬
tation nur sehr Wenige zum Worte gemeldet, die das fragliche Land kennen.
Es ist daher wertvoll, wenn sich im Verf. ein Mann äußert, der als Ver¬
messungsoffizier lange Jahre in D. S.-W.-Afrika war und außerdem auch
Süd-Brasilien aus eigener Anschauung kennt. Verf. verlangt nachdrücklich,
daß sich die Gegner der Strafverschickung wenigstens nicht gegen einen
Versuch wehren, der im Kleinen und mit Rücksichtnahme auf früher be¬
gangene arge Felder unschwer gemacht werden könnte. Verf. schlägt
zweierlei vor:
1. Sollen besserungsfähige Verurteilte, namentlich Augenblicksverbrecher,
nach vorzüglicher Gefängnisführung und mit ihrer Zustimmung verschickt
werden, in der Kolonie zuerst unter Aufsicht arbeiten und dann ein Stück
Land zugewiesen bekommen.
2. Zum Tode Verurteilte und begnadigte, sowie zu lebenslangem Zucht¬
haus Verurteilte sollen zwangsweise zu Erschließungs- und Assanierungs¬
arbeiten deportiert werden.
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Ich glaube, daß man vorläufig die Versuche nur mit Freiwilligen, die
sich gewiß in Menge melden würden, machen sollte; ich freue mich, im
Verf. Abschluß an Ansichten gefunden zu haben, die ich seit 11 Jahren ver¬
trete, und namentlich in der „Polit. anthropol. Revue“ vom August 1905
TV. Jahrg. No. 5 p. 281 („Degeneration und Deportation“) ausgesprochen
habe. Hans Groß.
17.
E. Riggenbach: ,,Vererbung und Verantwortung“. Stuttgart
1906. Chr. Belser.
Die Broschüre behandelt die Frage vom religiösen Standpunkt, „Ver¬
erbung als Zuchtmittel in Gottes Vaterhand“. Hans Groß.
IS.
Dr. G. von Rhoden/ Gefängnisgeistlicher in Düsseldorf: „Erb¬
liche Belastung und ethische Verantwortung“. Drei
Vorträge. Tübingen 1907. J. C. B. Mohr.
Ebenso; Gottes Kraft wird gerade in der Schwachheit vollendet.
Hans Groß.
19.
Dr. J. Starke: „Die Berechtigung des Alkoholgenusses. Wissen¬
schaftlich begründet und allgemein verständlich dar¬
gestellt von einem Physiologen. Stuttgart. Jul. Hoff-
mann. Ohne Jahreszahl.
Entgegen der heute wohl am meisten verbreiteten Ansicht, daß der
Alkohol in jedem Quantum schädlich sei, versichert Verf., daß dieser kein
Gift, sondern ein Nähr- und Genußmittel sei, dessen vernünftiger Gebrauch
nicht schaden könne. Ob Verf. recht hat, oder nicht, das weiß ich nicht,
was er aber über chronischen Alkoholismus und Rausch sagt, ist sicher gut
und für den Kriminalisten von Wert. Hans Groß.
20 .
Ludwig Günther: „Ein Hexenprozeß“. Ein Kapitel aus der
Geschichte des dunkelsten Aberglaubens. Gießen 1906.
Alfr. Töpelmann.
Historische, aktenmäßig dargestellte Prozesse aus alter Zeit sind immer
lehrreich, wenn sie aber mit einer Persönlichkeit von der Bedeutung Keplers
in Verbindung stehen und so ausgezeichnet dargestellt werden, wie es Verf.
im vorliegenden Falle getan hat, so muß unser Interesse in hohem Grade
angeregt werden. Der Hexenprozeß ist nicht blos historisch merkwürdig,
sondern auch kriminalpsychologisch; wir können uns die entsetzlichen Vor¬
gänge, in denen so viele arme Weiber zu Tode gemartert wurden, nur er¬
klären, wenn wir eine zweifache contagion morale annehmen: die eine, die
das Hexenwesen bei anderen voraussetzte, sie verfolgte nnd verbrannte^
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eine zweite bei den Opfern selbst, die sich zweifellos im Bunde mit dem
Teufel geglaubt haben. So nahm dieser Wahn immer größeren Umfang
an, es wurden auch Weiber gerichtet, die wußten und sich darüber klar
waren, daß sie unschuldig sind.
Diese Momente sind kriminalistisch von großer Bedeutung, und so
nehmen wir die Arbeit von Günther gerne entgegen. Sie liest sich übrigens
auch gilt und spannend. Hans Groß.
21 .
Hugo Marx: Einführung in die gerichtliche Medizin für
praktische Kriminalisten. Mit 14 Textfiguren. Berlin
1907. Aug. Hirschwald.
Im engen Rahmen von vier Vorträgen unterrichtet der Verf. Anfänger
übersichtlich, zweckmäßig und gut über die wichtigsten Fragen der gericht¬
lichen Medizin. Wie der Titel besagt, beabsichtigt das Werk keine end¬
gültige Belehrung, sondern bereitet nur auf das Studium eines Lehrbuches
für gerichtliche Medizin zweckmäßig vor.
Ausnahmsweise sei es mir hier gestattet, etwas pro domo zu sagen,
da mir Verf. Vorwürfe macht, die ich mir nicht gefallen lasse. Er sagt
(pag. 32): „Ganz besonders widerrate ich, nach dem Vorschläge von Groß
die sogen. Quajakprobe . . . an Ort und Stelle vorzunehmen. Sie
könnte auf solche Weise das kostbarste Material vergeuden.“
Wie lautet aber bei mir') die angegriffene Stelle?
„Die einzige Reaktion, welche zu machen ich dem U.R. auf Blut zu
machen gestatten würde, wäre die mit Quajaktinktur, wie sie Dragendorf
angegeben hat. Aber auch das wäre nur gestattet, wenn:
1. die Sache äußerst dringend ist, etwa eine Verhaftung davon
abhängt, und in der Tat nicht so lange gewartet werden kann, bis man
das Gutachten des Gerichtschemikers erlangt — also weit entfernt vom Ge¬
richtsort;
2. mehrere Flecken zur Verfügung stehen, so daß durch den Verlust
eines derselben durchaus kein Nachteil entstehen kann;
3. ein Arzt oder doch ein Apotheker zur Hilfeleistung vorhanden ist.“
Wenn man das unter 2. angegebene liest, so begreift man allerdings
nicht, wie Herr II. Marx behaupten kann, ich hätte zur „Vergeudung von
kostbarem Material“ angeraten.
Ein ähnlicher Vorwurf findet sich auf pag. 33; es heißt: „Eine nicht
sehr empfehlenswerte, von Groß vorgeschlagcne Maßregel ist die, schwer
zu entfernende Blutspuren mittelst feuchten Fließpapier abzusaugen; auch
dabei kann kostbares Material verloren gehen. In Fällen von bedeutender
Wichtigkeit würde ieh viel eher empfehlen, den Sachverständigen selbst an
Ort und Stelle zu zitieren, als zu solchen nicht absolut zuverlässigen Mitteln
zu greifen.“ Wie lautet aber die hier angegriffene Stelle 2 )? „In despe¬
raten Fällen muß man sich noch anders helfen. Ich hatte einmal auf
einem Felsen (grober, nicht geschichteter, sehr harter „gewachsener“ Gneis)
1) Handbuch f. U.K., 4. Auf!., 11. Band, pag. 111.
2i Pag. 121 loc. cit.
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eine wichtige Blutspur zu behandeln. Absprengen gestattete die Härte und
Struktur des Gesteines nicht, schaben war wegen der allzu großen Rauhheit
der Oberfläche unmöglich. Die Fläche, auf der der Tropfen auflag, war
etwas geneigt; ich machte also aus Wachs um den Blutstropfen einen Rand,
und tropfte nun etwas reines Wasser auf den Tropfen. Dieser war nach
etwa einer halben Stunde erweicht und gelöst. Ich rührte mit einem reinen,
spitzen Hölzchen um und saugte das Gemenge mit Filtrierpapier auf. Das
getränkte Filtrierpapier wurde in einem reinen Fläschchen verwahrt, durch
einige Tropfen Wasser feucht erhalten und dem Sachverständigen unter
genauer Bekanntgabe des Sachverhaltes (und Anscliluß des Wachsrandes,
des RUhrhölzchens, unbenutzten Filtrierpapiers und einer Probe des benutzten
Wassers) übergeben. 4.
Ich möchte wissen, wer diesen Vorgang angreifen kann. In unseren
Fällen darf man eben nicht immer mit den Verhältnissen der Reichshaupt¬
stadt rechnen, w r o man um die richtigen Sachverständigen telephoniert. Da
ich von „desperaten Fällen“ und davon sprach, daß die Blutspur sich
auf „einem Felsen“ befand, so war zu entnehmen, daß dies auf dem Lande
war (tatsächlich im Gebirge, 6 Stunden vom nächsten Orte), so daß ich
die Sachverständigen sicher nicht vor einigen Tagen hätte dahin geleiten
können. Wie hätte ich die Blutspur gegen Tiere, Menschen, Regen und
Sonne schützen sollen, bis die Sachverständigen kommen? Etwa gericht¬
lich versiegeln? Oder einen Gendarmen, den ich übrigens nicht zur Ver¬
fügung hatte, einige Tage dabei stehen lassen, der bei Regen seinen Helm
über die Blutspur hält? Ich glaube, daß ich das Zugeständnis beanspruchen
darf, nichts Unsinniges oder Bedenkliches vorzuschlagen und wenn Herr
H. Marx die Verhältnisse, unter welchen der U.R. auf dem flachen Lande
oder im Hochgebirg arbeiten muß, vielleicht nicht kennt, so möge er anderen
keine ungerechten Vorwürfe machen. Ich wiederhole: In meinem Vorschlag
ist nicht gesagt, wo sich der Fall zutrug, aber bei aufmerksamen Lesen
der fraglichen Stelle konnte man entnehmen, daß es sich um einen „des¬
peraten“ Pall gehandelt hat.
Einen dritten Angriff erhebt Verf. gegen „einen jungen Juristen“, der
in diesem Archiv (Bd. XXV, p. 1) zum Dilettantismus anregen wolle. Wer
diesen Aufsatz genau liest, muß zu der Überzeugung kommen, daß dessen
Verf. zweierlei beabsichtigte:
1. Der Kriminalist möge sich mit Hilfe eines Taschenmikroskopes
(um 5—6 Mark) an verschiedenen harmlosen Objekten einige Kenntnisse
darüber verschaffen, was man mit dem Mikroskope überhaupt erreichen
kann, was also der Kriminalist vom Mikroskopiker (der ja den allerver¬
schiedensten sachlichen Fächern angehören kann) verlangen kann. Er soll
also angeleitet werden, der Arbeit der Mikroskopiker nicht völlig verständ¬
nislos gegenüberzustehen.
2. Er soll aber auch in die Lage versetzt werden, in den sogen,
„desperaten“ Fällen — wenn also 1. die Sache dringend ist, 2. kein Sach¬
verständiger zur Verfügung steht, und 3. nichts verdorben werden kann —
sich selber vorläufig Hilfe zu schaffen.
Auch hier darf man nicht die Verhältnisse in der Reichshauptstadt
allein vor Augen haben, man denke auch an den U.R. an ferne ab gelegenen
kleinen Orten und noch dazu bei einer Lokalerhebung in einsamer Gegend,
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wo er höchstens einen alten Landarzt zu Hilfe hat, der auch nicht mehr
vom Mikroskopieren versteht als der U.R. Es heißt doch, empfindliche
Eifersüchtelei zu weit treiben, wenn man behauptet, daß dieser
nicht genau schauen darf!
An dem Tage, als ich U.R. wurde, habe ich ein ausgezeichnetes in
Nickel gefaßtes Koneopsid an meiner Uhrkette befestigt (an der es heute
noch hängt), und mit Hilfe dieser Lupe habe ich mir erlaubt, in einer sehr
großen Menge von Fällen wichtige Klärung zu schaffen und ich habe ge¬
wiß nicht ein einziges Mal „wichtiges Material vergeudet“. — Ich möchte
daher dem Herrn Verf. raten, die Erfahrungen erst einmal genauer anzu¬
sehen, bevor er Bie angreift Hans Groß.
22 .
D r. Gustav Radbruch, Privatdozent der Rechte in Heidelberg,
„Geburtshilfe und Strafrecht“, Jena. Gust. Fischer. 1907.
In sympathisch vorsichtiger überlegsamer Weise behandelt Verf. die
schwierige Frage, welche Rechte dem Geburtshelfer zustehen, wenn es sich
um Tötung der Frucht zur Rettung der Mutter handelt; hierbei bespricht
er natürlich das gesamte schwierige, heute mit Vorliebe behandelte „Ärzte¬
recht“, nennt und verwertet die ganze Literatur und kommt klugerweise
zu keinem bestimmten Vorschlag, sondern nur zu Möglichkeiten: Die eine
geht dahin, daß die Perforation eine chirurgische Operation ist, die man
in einem künftigen St. G. zugleich mit einer Bestimmung über die Recht¬
mäßigkeit chirurgischer Operationen decken könnte. Die andere geht auf
die Regelung einer besonderen Bestimmung über die Rechtmäßigkeit der
Perforation — was allerdings eine Menge Zweifel rege machen würde.
Jedenfalls, sagt Verf., müßte dann eine Reformierung der Notstandsfrage
geschehen, etwa dahin, daß Notstand vorliegt, wenn .... Einer . . einen
Anderen (also nicht bloß sich und seine Angehörigen) aus einer Gefahr .. rettet.
Durch seine vorsichtigen Äußerungen hat Badbruch der wichtigen Sache
mehr genügt, als durch einen bestimmten, vielleicht doch nicht haltbaren
Vorschlag 1 ). Hans Groß.
23.
Dr. jur. Oskar Holer: „Die Einwilligung des Verletzten. Ein
Beitrag zu den allgemeinen Lehren des Strafrechts.“
(Aus den „Züricher Beiträgen zur Rechtswissenschaft“).
Zürich 1906. Schultheß & Comp.
Die scharfsinnige Arbeit, so ungefähr in der Richtung von Hold
v. Femecks „Rechtswidrigkeit“ gehalten, erörtert zuerst die objektive und
subjektive Seite der Rechtswidrigkeit, dann den Begriff der Einwilligung
und die Frage, ob sie die Rechtswidrigkeit zu beseitigen vermöge. Die
gefundenen Interpretationsregeln werden dann an Beispielen geprüft; Ein-
1) Meine Ansicht über die Frage habe ich in einem dem „Vereine für
Psychiatrie und Neurologie in Wien“ am 21. Februar 1905 erstatteten Referate
(„Wiener klinische Wochenschrift“, XVIII. Jhrgg. Nr. 10 ex 1905) niedergelegt
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willigung beim bedingten und unbedingten Rechtsgut (Körperverletzung,
ärztlicher Eingriff, Zweikampf). Hans Groß.
24.
Josef Poppenscheller: Die Daktyloskopie als Erkennungs¬
mittel für Wechselfälschungen. Prag 1906. Selbstverlag.
Yerf. schlägt vor, den Aussteller und Akzeptanten eines Wechsels zu
veranlassen, auf jedem Wechsel den Abdruck eines bestimmten Fingers an¬
zubringen. Kontrollabdrücke müßten dann in den Bankinstituten erliegen.
Hier liegt aber eine Verwechslung vor. Damit, daß auf der ganzen Welt
vielleicht nicht zwei Menschen gleiche Papillarlinien haben, ist nicht gesagt,
daß ein Fingerabdruck nicht nachgemacht werden kann. Freilich muß
man einen Wechsel mit einem echten Abdruck haben, aber dann kann
man mit Hilfe von Photographie und Photogravure unkenntliche Abzüge
in beliebiger Menge machen, wie man sie in allen Lehrbüchern der Dak¬
tyloskopie findet. Auch zur Unterschriftsfälschung muß man eine echte
Vorlage haben — es wäre also mit dem Vorschläge nichts geholfen.
Hans Groß.
25.
Dr. Erich Wulffen, Staatsanwalt in Dresden: „Georges
Manolescu und seine Memoiren. Kriminalpsychologische
Studie. Dr. F. Langenscheidt, Berlin-Groß-Lichter-
felde-Ost. Ohne Jahreszahl.
Georges Manolescu, „Der Fürst der Diebe“, hat vor Kurzem durch
seine Taten und Schicksale viel Aufsehen erregt. Ein auffallend schöner,
kräftiger und sicher intelligenter Mensch ohne eigentliche Bildung, Sohn
eines rumänisches Offiziers, genießt er keinen eigentlichen Schulunterricht,
gerät früh auf Abwege und stiehlt unzählige Male in Hotels und bei Juwe¬
lieren, treibt sich als Hochstapler unter dem Namen Prinz Georges Lahovary
herum, wird oft und empfindlich bestraft, heiratet eine deutsche Gräfin,
verläßt sie wieder, stiehlt und wird wieder eingesperrt, kommt ins Irren¬
haus, geht durch und stiehlt wieder, geht als Goldgräber nach Nordkanada,
bricht den Arm, kommt wieder heim, schreibt zwei Bände Memoiren, und
heiratet eine sehr reiche Französin, nachdem ihm der Arm im Schulterge¬
lenk abgenommen wurde.
Wulffen hat sich nun der großen Mühe unterzogen, die Memoiren auf
Grand der Gerichtsakten und sonstiger verläßlicher Behelfe genau zu prüfen,
eine Menge Richtigstellungen vorzunehmen und namentlich die großen Über¬
treibungen, die Manolescu begeht (besonders bei Angabe des Wertes des
Gestohlenen), zu korrigieren. Memoiren von Verbrechern haben zweifachen
Wert: einerseits bezüglich des Dargestellten als Vorgang und als psycho¬
logisches Moment, wobei allerdings die Frage nach der Wahrheit der An¬
gaben offen bleibt; anderseits als Tatsache, daß der Verbrecher dies ge¬
schrieben hat, wobei uns nur dieses, oft so eigentümliche Vorgehen inter¬
essiert. Wulffen hat uns nun die Memoiren M.’s in beiden Richtungen
wertvoll und lehrreich gemacht, indem er uns zeigt, was daran wahr ist
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und indem er alle einzelnen Vorgänge scharfsinnig vom kriminalpsycholo¬
gischen Standpunkte aus untersucht. Wenn Verbrechermemoiren noch weiter
in ähnlicher Weise bearbeitet werden, so hat Wulffen eine wertvolle Art
der kriminellen Forschung inauguriert. Hans Groß.
26.
Robert Gaupp: Wege und Ziele psychiatrischer Forschung.
Eine akademische Antrittsvorlesung. Tübingen 1907.
H. Laupp.
In formschöner Sprache und alle einzelnen Momente wissenschaftlicher
Forschung auf psychiatrischem Gebiete von Heinroth an bis in unsere Tage
kurz streifend, kommt der ausgezeichnete Tübinger Forscher zu dem Er¬
gebnisse, daß die Aufgabe moderner Psychiatrie darauf hinausgeht, Samm¬
lung der Tatsachen vorzunehmen und das gefundene, zweifellos gesicherte
Tatsachenmaterial zu gruppieren, die Symptome zu Symptomenkomplezen
und diese zu Krankheitseinheiten zusammenzufügen.
Das ist, wie Verf. selbst sagt, allerdings nicht neu, aber, wie er zu
diesen Ergebnissen mit fortwährenden Seitenblicken und Ausblicken auf die
Zukunft kommt, ist überzeugend, schön und belehrend durchgeführt.
Hans Groß.
27.
Rechtsanwalt Rothe in Chemnitz: „Gegen den Gottesläste¬
rungsparagraphen“ und
Pfarrer Adolf Schreiber in Wedlitz: „Gegen das Jesuiten¬
gesetz.“ Tübingen 1906. J. C. B. Mohr.
Der erste Vortrag zeigt uns die für die Gesetzgebung wichtige Tat¬
sache, daß wenigstens ein großer Teil der protestantischen Orthodoxen einen
„Gotteslästerungsparagraphen“ (d. h. den ganzen § 166 D. R. G. B.) im
künftigen Gesetze nicht mehr wünscht. Hierfür werden eine Menge von
Gründen angegeben, von denen als wichtigster, nur indirekt ausgesprochener
der zu sein scheint, daß Gotteslästerung immer weniger und weniger be¬
straft wird, so daß es am klügsten erscheint, wenn die zunächst Betroffenen
selbst auf Bestrafung verzichten.
Der Herr Verf. wolle als Jurist zur Kenntnis nehmen (ad pag. 6),
daß in Österreich „die Verleitung eines Christen zum Abfall vom Christen¬
tum“ und „die Ausstreuung einer der christlichen Religion widerstrebenden
Irrlehre“ seit fast 40 Jahren (Ges. v. 25. 5. 1S68 No. 49 R. G. Bl.) nicht
mehr strafbar ist.
Die zweite Rede über die Jesuiten interessiert hier nicht.
Hans Groß.
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Archiv für kriminal- A7
anthropologie und v.27
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