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begründet von Dr. Hans Gross
Herausgegehett mn ~,fh
Dr. Robert Heindl,
Wirti U^.-aat, Vortr. Bat, Berlin
Di*; Üeiiwicb Schmidt,
RcJcbj 3 geftch 4 arfi^ l&ipzig
Dr. Franz Strafelia,
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Dr. Hermann Horeii,
Geh. JuAtizrat, Meli» ;: 1 ;
Dr. Robert Sommer,
Geh. Metfizinalraf, Uuiv -Prot, GieBßu
Dr. Hermann ZafitA,
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unter veraDtw.orüicJhBr ftodakiion von
Dr. Robert Heindl
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71. BAND,
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(Mit 6 Abbildungen.)
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LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1919
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Inhalt des 71. Bandes.
I. Heft
ausgegeben am 18. Februar 1919.
Original-Arbeiten. Seite
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik. Von Unter¬
staatssekretär z. D. Dr. Georg von Mayr, o. Universitätsprolessor 1
Der Zwang zum Fingerabdruck. Von Geheimrat Dr. Jose! Köhler,
o. ö. Professor der Rechte.19
Kriminalistische Übergangswirtschaft. IV. Die dänische Reichskriminal-
polizel. Von Justizminister Zahle . .23
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege
und deren Berücksichtigung in dem Strafrecht und bei der Straf¬
vollstreckung. Von Dr. med. Fr. Jos. Widmann, Abteilungsarzt
der Provinzial-Heilanstalt Warstein.27
Der Gesichtsausdruck der Leiche in kriminalistischer Beziehung. Von
Dr. E. Hurwicz.70
Neuerschienene Bücher und Broschüren.78
2. und 3. Heft
ausgegeben am 15. Juli 1919.
Original-Arbeiten.
Die Anwendung der Palimpsestphotographle auf forensischem Gebiete
Von P. R. Kögel. (Mit 5 Abbildungen).. . 85
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien. Von Dr. Erwein Ritter
v. Höpler, Hofrat und leitendem Erstem Staatsanwalt in Wien . . 103
Die Zentral-Polizeischule in Dänemark. Von Dr. Hakon Jörgensen,
Leiter der Polizeischule in Kopenhagen.127
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege
und deren Berücksichtigung in dem Strafrecht und bei der Straf¬
vollstreckung. Von Dr. med. Fr. Jos! Widmann, Abteilungsarzt
der Provinzial-Heilanstalt Warstein (Fortsetzung).132
Die Kriminalität in den Vereinigten Staaten von Amerika. Von Hans
Fehlinger.170
Über Privatgutachten. Von Prof. Dück, Innsbruck.176
Kriminalistische Übergangswirtschaft VI. Die Verstaatlichung der
ungarischen Polizei. Von Geheimrat Dr. Robert Heindl .... 179
Ergänzung meiner Schrift „An die deutschen Geschworenen". Einige
praktische Vorschläge von Landgerichtsrat Dr. v. Holten .... 201
Visitieren. Von Gerichtschemiker C J. van Ledden-Hulsebosch 215
IV
Inhaltsverzeichnis
Seit«
Kleinere Mitteilungen.
Privatdozent Dr. Eduard Ritter von Liszt:
1. Schutz vor verbrecherischen Dienstboten.219
Dr. jur. Hans Schneickert:
2. Zur Geschichte der Kritninalpsychologie.220
Geheimrat Dr. Robert Heindl:
3. Gaunerzinken? Belohnung von 3000 M. (Mit 1 Abbildung) . . 223
4. Krankhafter Zwang zttr Selbstbezichtigung.223
5. Der Erkennungsdienst der Polizeidirektion München.225
Zeitschriften.
Universitätsprofessor Nippe, Greifswald: Medizinische Zeitschriften . 226
Werner Kuhn und [Robert Heindl: Kriminalistische Aufsätze in
deutschen Zeitschriften des Jahres 1916.. 233
4. Heft
ausgegeben am 12. November 1919.
Originalarbeiten.
Hörigkeit Von Dr. Erwein Höpler, Hofrat und Leitendem Ersten
Staatsanwalt in Wien..253
Zwei Fälle von Kindermißhandlung. Von Dr. Paul Siegfried, Erstem
Staatsanwalt in Basel. 260
Blutrache und Sühngeld. Von Oberstleutnant-Auditor Dr. Ernst Junk 274
Defloration eines taubstummen Kindes. Von Staatsrat Dr. James
Brock, ehemals an der Kaiserl. St Petersburger Entbindungsanstalt,
und St Petersburger Stadtakkoucheur.282
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza. Gut¬
achten der Wiener medizinischen Fakultät Von Prof. H. Obersteiner 290
Versuche zur Unterscheidung von Einschuß und Ausschuß. (Aus der
Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde der Universität Berlin.) Von
Dr. Georg Straßmann.308
Kann die Verwendung von Privathunden zum Spurensuchen an Ver¬
brechenstatorten verboten werden? Von Generalstaatsanwalt Graf
Vitzthum in Dresden.320
Gerichtliche Verurteilung als Mittel des Selbstmords. Von Dr. Hans
von Hentig. 325
Beschleunigung
des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik.
Von
Unterstaatssekretär z. D. Dr. Georg von Mayr,
o. Universitätsprofessor, München.
Die Bearbeitung des dritten Bandes meiner „Statistik und
Gesellschaftslehre“ (Tübingen 1917) habe ich vor einem Jahrzehnt
im Frieden begonnen, und im Jahre 1916 in der Kriegszeit zum
Abschluß gebracht. Die Kriminalstatistik bildet den zweiten
größeren Teil dieses Bandes, der die „Moralstatistik mit Einschluß
der Kriminalstatistik“ behandelt. Bei der Untersuchung der all¬
gemeinen natürlichen und sozialen Verfehlungsbeeinflussungen
kam ich im Ausblick auf die in Betracht kommenden in zeitlichem
Verlauf auftretenden mit geringerer oder auch mit größter Wucht
wirksamen Sondererscheinungen politischer Art, insbesondere auf
den Krieg und die Beeinflussung der Verfehlichkeit durch denselben
zu sprechen. An kriminalstatistischen Ausweisen aus der Zeit
des gegenwärtigen Weltkriegs lag damals überhaupt und ins¬
besondere auch für Deutschland so gut wie nichts vor, und auch
heute nach fast zwei weiteren Jahren hat sich darin nur wenig
geändert. Was man als Kriegs-Kriminalstatistik bezeichnen kann,
war bei der Bearbeitung meiner Moralstatistik in der Literatur
nur sehr schwach vertreten. Vor dem Weltkriege gab der Krieg
von 1866 und der deutsch-französische Krieg von 1870/71 zu
einigen kriegskriminalstatistischen Betrachtungen Anlaß. Wie ich
in meinem Buche des Näheren dargelegt habe, brachte W. Starke
in seinem Buche „Verbrechen und Verbrecher in Preußen 1854—78
eine kulturgeschichtliche Studie“, Berlin 1884 u. a. auch zahlen¬
mäßige Darlegungen über die Einwirkungen dieser Kriegsjahre
auf die Verfehlichkeit — ich empfehle diese in meinem Buch
durchgeführte Verdeutschung von Kriminalität — in Preußen und
bzw. in Frankreich. Er bezeichnet es als unwiderleglich dar-
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 1
2
Dr. Georg von Mayr
zutun, daß während der Kriegsjahre in Preußen eine Abnahme,
im Jahre 1871 sogar in ganz außerordentlichem Umfang statt¬
gefunden habe. Dabei hebt er besonders hervor, daß diese Kriege
von Preußen bzw. Deutschland siegreich im Feindesland geführt
wurden, daß weiter in diesen Kriegen der nationale Geist seine
Wirkung gezeigt habe und daß außerdem während beider Kriege
Umstände eingetreten seien, welche die wirtschaftlichen Verhält¬
nisse in Preußen günstig gestalteten. Einige wenn auch nicht
eine wesentliche Bedeutung legt Starke der Hinausführupg eines
starken Kontingents junger kräftiger Männer auf den Kriegsschau¬
platz bei. Bedeutender hält er den Einfluß des Kriegs auf die
im Lande Zurückgebliebenen, der in der Vaterlandsliebe und Be¬
geisterung sich kundgab. Der im Jahre 1871 in Preußen einge¬
tretene starke Rückgang der eingeleiteten Untersuchungen wegen
Verbrechen und Vergehen habe, als durch außergewöhnliche Um¬
stände herbeigeführt, schon im nächstfolgenden Jahre eine Änderung
erlitten. Übereinstimmend zeige sich — hebt Starke schließlich
noch hervor — in Frankreich 1870/71 die Wirkung des Kriegs,
doch erleide die Vergleichung eine Störung, weil für das Departe¬
ment der Seine die Nachweise für 1871 fehlen. — Zu dieser
Starke’schen Darlegung und Würdigung des Einflusses der Kriege
von 1866 und 1870/71 habe ich in meinem Buch hervorgehoben,
es sei auffällig, daß er dabei der zur Kriegszeit veränderten Reiz¬
barkeit der Bevölkerung gegenüber leichteren Verfehlungen und
der namentlich bei längerer Kriegsdauer eintretenden Abnahme
der Verfolgungsintensität nicht gedenkt.
Eine Kriegs-Kriminalstatistik aus der Zeit des gegenwärtigen
Weltkrieges gibt es bisher für das Gebiet des Deutschen Reiches
noch nicht, wenn auch vereinzelt abgesehen von dem, was an
summarischen allgemeinen Ausweisen beispielsweise in der preus-
sischeii Justizstatistik 1915—1917 enthalten ist, spezielle kriegs¬
kriminalstatistische Nachweise sich finden, so z. B. die vom
württembergischen Justizministerium seit November 1915 veran-
laßten und monatlich in den Mitteilungen des k. Statistischen
Landesamtes veröffentlichten Nachweise über die wegen über¬
mäßiger Preisforderungen angefallenen und erledigten Strafsachen,
die vom Landesamt auf Grund monatlich ausgefüllter besonderer
Zählkarten für die bei den Justizbehörden angefallenen und dort
durch rechtskräftige Bestrafung erledigten Strafsachen wegen über¬
mäßiger Preisforderung aufgestellt werden. In Bayern ist vom
Justizministerium im Oktber 1916 angeordnet worden, daß über
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik 3
die Strafverfahren wegen Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften
zur Sicherung der Volksernährung eine monatliche Statistik auf¬
gestellt wird. (Erste Veröffentlichung im bayer. Justizministerial¬
blatt vom 11. 4. 16.) Die allgemeine deutsche Kriminalstatistik
liegt für keines der Kriegsjahre vor, weder soweit es sich um
die Kriminalstatistik auf Grund rechtskräftiger Aburteilung der
bürgerlichen Gerichte noch auch um die Militärkriminalstatistik,
also um Aburteilungen durch Militärgerichte handelt (Kriminal¬
statistik für Heer und Marine). Diese ist zum letztenmal für 1913
in den Vierteljahrsheften zur Statistik des deutschen Reiches (1914.
2. Heft) veröffentlicht, während die bürgerliche Kriminalstatistik
für 1914 noch nicht veröffentlicht ist, sondern sich noch in Be¬
arbeitung befindet. Summarische Zahlen — ohne irgendwelche
Unterscheidungen nach Verfehlungsarten oder auch nur Ver¬
fehlungsrichtungen wie auch nach den persönlichen Verhältnissen
der Verfehler — bietet die bayerische „Justizstatistik“, die für
die Jahre 1914 und 1915 in gedrängter Darstellung im Jahre 1917
vom k. Staatsministerium der Justiz herausgegeben worden ist.
Diese bayerische Justizstatistik hatte sich, zuletzt in der eingehen¬
den Veröffentlichung für 1913, zu einem sehr wertvollen Be¬
standteil der partikularen deutschen Statistik der Rechtspflege
entwickelt. In dem der „Kriminalstatistik“ gewidmeten Abschnitt
der Statistik der Strafrechtspflege, die außerdem in besonderen
Abschnitten die Prozeßstatistik, die Gefängnisstatistik und die
bedingte Begnadigung und vorläufige Entlassung behandelt, ist
vor allem aus der Reichskriminalstatistik (allerdings nicht für 1913,
sondern für 1912) der Ausweis über die Aburteilungen wegen Ver¬
brechen und Vergehen gegen Reichsgesetze (mit Ausschluß der Vor¬
schriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefälle) nach
Oberlandesgerichtsbezirken übernommen. (Eine weitere territoriale
Ausgliederung der schweren Verfehlichkeit mindestens für die haupt¬
sächlichsten Verfehlungen — mit Auseinanderhaltungauch von Ver¬
brechen und Vergehen — kann nach der Art der Aufarbeitung
und Veröffentlichung des von den Gerichten an das Kaiserliche
Statistische Amt gelieferten Zählkartenmaterials leider nicht geboten
werden. Man sollte wenigstens für die schwere Verfehlichkeit ersehen
können, wie sich solche nach Arten der Tat für die eineinen Land¬
gerichtsbezirke, besser noch für die einzelnen Amtsgerichtsbezirke
stellt und auch für die Zusammensetzung der Verfehlermasse nach
persönlichen Eigenschaften der Verfehler ist eine weitere terri¬
toriale Ausgliederung dringend geboten. Wie sogleich hervorzuheben
l*
4
DR. üeoro von Mayr
sein wird, bietet die partikulare bayerische Kriminalstatistik, wie
sie zuletzt für 1913 veröffentlicht ist, eine solche Ausgliederung.
Man wird unbedingt zugeben müssen, daß die gleiche Ausglie¬
derung dann doch jedenfalls vor allem auch für die schwere
Kriminalität geboten werden muß. Trägt man Bedenken, den
Umfang der reichskriminalstatistischen Jahresveröffentlichung in
der hiernach gebotenen Ausdehnung zu erweitern, so bleibt nichts
anderes übrig, als die vollständige Zentralisation des Zählkarten¬
materials für Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze beim
Statistischen Amt in Berlin aufzugeben und gegen Entschädigung
aus der Reichskasse die Herstellung der tabellarischen Ausweise
für die Reichsstatistik den statistischen Landesämtern, soweit dies
dem Wunsche der beteiligten Landesregierungen entspricht, zu
überlassen. Ich begnüge mich hier mit dieser kurzen durch den
Ausblick auf die tatsächliche Herstellung der bayerischen „Kriminal¬
statistik“ veranlaßten Zwischenbemerkung über eine für den Kriminal¬
politiker, der die Statistik ernstlich zu benützen versteht, meines
Erachtens sehr bedeutungsvolle Frage der Ausgestaltung der
deutschen Kriminalstatistik, an die sich gerade int Weltkrieg wie
nach demselben besondere Interessen knüpfen.) Eine sehr be¬
merkenswerte selbständige Ausgestaltung der partikularen baye¬
rischen Kriminalstatistik ist und zwar bisher zuletzt im Bericht
für 1913 in eingehenden Nachweisen über den Einfluß des Alkohol¬
genusses auf die Häufigkeit und die Erscheinungsformen des Ver¬
brechens enthalten. Von besonderer Bedeutung ist weiter die
Erstreckung der bayerischen Kriminalstatistik auf die gesamte
leichte Kriminalität durch Aufnahme der Übertretungs- und der
Forst-Verfehlichkeit, mit weitgehender Unterscheidung von Ver¬
fehlungsarten und Verfehlungsgruppen bei den Übertretungen
und Auseinanderhaltung bei den Forstverfehlungen von: Forst¬
polizeiübertretungen, Forstfreveln und Übertretungen nach R.St.G.B.
§ 361/9 — so noch im Bericht für 1913. Es ist ein Fehler der
Reichs-Kriminalstatistik, so weit sie auf die Aburteilungen der Zivil¬
gerichte gegradet ist, daß dieselbe die kleine Kriminalität, die
in der Übertretungsverfehlichkeit zur Erscheinung kommt, ganz
beiseite läßt, was um so auffälliger ist, als die deutsche Kriminal¬
statistik bei Heer und Marine zwar auch keine allgemeine Über¬
tretungsstatistik enthält aber doch immerhin bei den „bürgerlichen“
Verfehlungen außer Verbrechen und Vergehen au£& die Über¬
tretungen §§ 360 bis 370 St.G.B. bzw. Landesgesetze berück¬
sichtigt. Aus der 'Strafprozeßstatistik der bayerischen Justizstatistik
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik 5
sei noch kurz auf die dortigen allerdings knappen Notizen über
die Geschäftsaufgabe der größeren Jugendgerichte hingewiesen,
welche vielleicht die Hoffnung auf einen gründlichen Ausbau der
Jugendgerichts-Statistik nicht nur in Bayern, sondern im gesamten
Reich begründen. Über den notwendigen Ausbau einer ver¬
selbständigten Statistik der Jugendstrafrechtspflege und über die
dazu noch erforderliche Erweiterung der Statistik auch auf das
Gebiet der gesamten übrigen sozialen Fürsorge für die frühzeitig
der Verfehlung verfallenden Kinder und Jugendlichen habe ich
mich des näheren in meiner Moralstatistik mit Einschluß der
Kriminalstatistik ausgesprochen.
Leider hat die bis zum Jahre 1913 in ständigem weiterem Aus¬
bau begriffene bayerische Justizstatistik seitdem an starker Kriegs¬
beschädigung zu leiden: Nicht mehr ein ordentlicher Band für
jedes Jahr, sondern nur ein mäßiges Oktavheft von nicht einmal
100 Seiten bringt ein außerordentlich eingeschränktes auf sach¬
liche und territoriale Gliederung leider in den verschiedensten
Richtungen verzichtendes kleines Tabellenwerk für die zwei Jahre
1914 und 1915. Personalmangel während des Krieges wird als
Ursache der Verzögerung der Herausgabe und der Beschränkung
ihres Umfanges in der Vorbemerkung des Justizministers von
Thelemann angegeben, wodurch zugleich erhebliche Kosten er¬
spart worden seien. (!) Des weiteren wird hervorgehoben, daß
die Beschränkung des Umfangs nur dadurch erzielt worden
sei, daß die „Geschäftszahlen“ — hier wird also die modi¬
fizierte Statistik ausdrücklich als bloße „Geschäftsstatistik“ er¬
klärt — nicht mehr für die einzelnen Amts- und Landgerichts¬
bezirke, sondern für die Bezirke der Oberlandesgerichte, bei
einigen Geschäftsübersichten nur für das Königreich angegeben
seien. Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß abgesehen von der
allerdings nicht möglichen Übernahme von Zahlen der Reichs¬
kriminalstatistik, die leider noch gar nicht vorliegen, auch bei
der wertvollen spezifisch bayerischen Übertretungsstatistik die
wichtige Ausgliederung nach Verfehlungsarten fehlt. Was aber
die territoriale Ausgliederung anlangt, so ist es dringende Pflicht
gerade der partikularen Landesstatistik hier die möglichst weit¬
gehende Unterscheidung zu bieten, nachdem ja leider die Reichs¬
statistik und hier speziell die Reichskriminalstatistik gerade diese
territoriale Ausgliederung jedenfalls nicht in dem Maße zu bieten
in der Lage ist, wie die Landesstatistik, wenngleich hier, wie
schon erwähnt, auch die Reichsstatistik weiter gehen könnte.
6
Dr. Georg von Mayr
Gegenüber der noch für 1913 trefflich ausgestalteten bayerischen
Justizstatistik enthält die Veröffentlichung für 1914 und 1915
weitgehende, den Statistiker wie auch den Kriminalisten mit
schmerzlichem Bedauern erfüllende Einschränkungen, für welche
wie auch für die Weglassung des materiellen einleitenden Textes
die u. A. herangehobene Kostenersparung genügenden Ersatz
doch wohl nicht bieten kann. Wenn auch für die Veröffent¬
lichung in der Kriegszeit einige Einschränkungen geboten sein
mochten, so darf man sich doch wohl der Hoffnung hingeben,
daß das, was jetzt in einer solchen Kriegspublikation an wert¬
vollen mühsam gesammelten Nachweisen weggelassen ist, nicht
dauernd für die Justizverwaltung, die Justizpolitik und die Wissen¬
schaft verloren sein wird, sondern daß in der kommenden Friedens¬
zeit namentlich das, was an bedeutsamer sachlicher und geo¬
graphischer Gliederung weggelassen ist, unter Einbeziehung der
alsdann auch hoffentlich verfügbaren reichskriminalstatistischen
Ausweise über die bayerische schwerere und schwere Kriminalität
in einer ergänzenden Veröffentlichung nachgeholt werden wird.
Die voll ausgebauten Ausweise über die Kriminalität gerade
mit Einbeziehung auch der leichteren Kriminalität, wie dies für
Bayern nach der Einrichtung der Justizstatistik unter der Voraus¬
setzung auch für Verbrechen und Vergehen die bezüglichen Nach¬
weise für 1914 und 1915 der Reichskriminalstatistik entnehmen
zu können, der Fall wäre, würde schon einen wesentlichen
Beitrag zur Erkenntnis der Kriegskriminalität liefern, soweit
solche in den Ergebnissen des halben Kriegsjahres 1914 und
des vollen Kriegsjahres 1915 ersichtlich wird. Dies gilt sowohl
von dem Einblick in das Walten der Verfehlungsschwere nach
Verfehlungsrichtungen und Verfehlüngsarten unter Berücksich¬
tigung auch des Strafmaßes als von der territorialen Aus¬
gliederung der Verfehlichkeit und im besonderen auch von
den Gestaltungen der Morphologie der Verfehlermasse, beispiels¬
weise nach Geschlecht, Alter und Familienstand wie überhaupt
nach allen in Betracht gezogenen natürlichen und sozialen Eigen¬
schaften der Verfehler, wobei unter den sozialen Eigenschaften
auch die speziell kriminalistische Signatur (Vorbestrafte, Rück¬
fällige) von Bedeutung ist. Gegenüber solcher eingehender Be¬
lehrung über die Gestaltung der Kriegskriminalität, wie sie zwar
fürs Deutsche Reich im ganzen wegen bisherigen Mangels einer
Reichübertretungsstatistik für bereits abgelaufene Zeiträume wohl
überhaupt nicht zu erfassen ist, aber beispielsweise für Bayern
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminaistatistik
7
wohl in sichere Aussicht genommen werden darf, bieten ganz
summarische Zahlenausweise über die Gesamtzahl der Verurteilten
nach Verbrechen und Vergehen einerseits und nach Übertretungen
bzw. nach besonderen Forstverfehlungen andererseits nur einen
ungenügenden Einblick in die nicht bloß durch die Quantität
sondern namentlich auch durch die Qualität der Verfehlungen wie
der Verfehler bedingte Gestaltung der Kriegskriminalität. Als
allgemeines bedeutungsvolles Symptom sind aber allerdings auch
solche summarische Gesamtzahlen in der Ausgestaltung ihrer
zeitlichen Erscheinung im Krieg' gegenüber der Friedenszeit
immerhin beachtenswert. Ihre besondere Gestaltung kann nament¬
lich auch dazu dienen, das Verlangen nach gründlichem Ausbau
der besonderen Kriegskriminaistatistik zu unterstützen. Solche
summarische Zahlen bietet die bayerische Justizstatistik nicht bloß
in den vor dem Krieg, zuletzt für 1913 erfolgten Veröffentlichungen,
sondern auch für die Jahre 1914 und 1915 in der Veröffentlichung
vom Jahre 1917. Diese Zahlen sind in folgender knappen Über¬
sicht zusammengefaßt.
Königreich Bayern.
Von den Gerichten rechtskräftig abgeurteilte Personen.
Jahre
1.
Zahl der Verurteilten
1913
j 1914
j 1915
a) wegen Verbrechen oder Vergehen . . .
66263
54608
51561
b) wegen Übertretungen.
273000
215323
131380
c) im Forststrafverfahren.
; 43892
45016
37637
Zusammen
383155
314947
220578
2.
Es wurden verurteilt:
a) von den Amtsgerichten.
371047
304346
209417
b) von den Landgerichten.
11500
10188
10920
c) von den Schwurgerichten .......
608
413
241
3.
Wegen Übertretungen Verurteilte im ganzen
j 2730Ö0
215323
1 131380
Darunter
männlich . ..
235770
215346
200417
weiblich.
37230
31209
33452
Davon verurteilt
zu a) Haftstrafe..
70228
61636
32215
b) Geldstrafe.<
195407
147478 ;
93968
c) Verweis.|
7365
6209 !
6197
Was Starke aus ähnlichen summarischen Zahlennachweisen,
nämlich über die Zahl der wegen Verbrechen und Vergehen neu
eingeleiteten Untersuchungen für Preußen als Folge der Kriege
8
Dr. Georg-von Mayr
von 1866 und 1870/71 und weiterhin aus ähnlichem Material als
Kriegsfolge in Frankreich auch für 1870/71 dargelegt hat, näm¬
lich eine starke Rückläufigkeit der — wie ich sie wohl mit Über¬
setzung des französischen gebräuchlichen Ausdrucks criminalite
apparente als „sichtbare Verfehlichkeit“ bezeichnen darf — das
ergeben die vorstehenden summarischen bayerischen Zahlen und
zwar als fortdauernde Erscheinung ganz besonders auch im zweiten
Kalenderjahr des Kriegs namentlich bei der allgemein leichteren
Verfehlichkeit, weniger bei den besonderen Förstverfehlungen.
Die schwere Verfehlichkeit zeigt in Bayern im Jahre 1914, das
nicht ganz zur Hälfte Kriegsjahr war, einen erheblichen Rückgang,
der im Jahr 1915 nur schwach andauert, während bei der allge¬
mein leichten Verfehlichkeit ^ler Rückgang der Verurteilungen
gerade von 1914 auf 1915 sehr bedeutend ist, so daß hier für
1915 die Zahl der Verurteilten nicht einmal mehr die Hälfte der im
* Vorjahr Verurteilten ausmacht. Für den knappen Ausblick auf die
werdende Kriegskriminalstatistik, den ich in meiner „Moralstatistik
mit Einschluß der Kriminalstatistik“ bringen konnte, standen die
vorangeführten bayerischen Zahlen noch nicht zur Verfügung.
Dagegen konnte ich auf die niederländische Kriminalstatistik für
1914 und speziell auf deren von de Roos verfaßte Einleitung
verweisen, die eine Untersuchung der Einwirkung des Kriegs auf
die niederländische Kriminalität von 1914 — ‘ also auf die Ver¬
fehlichkeit eines neutralen Landes im Jahr des Ausbruchs des
Weltkrieges — efithält, und zwar mit Berücksichtigung der nach
Monaten unterschiedenen Gestaltung der verschiedenen Arten der
Verfehlichkeit. Auch in den Niederlanden zeigt sich in dem ersten
Halbjahr des Krieges die Rückläufigkeit der Kriminalität mehr
bei der leichteren als bei der schweren Verfehlichkeit. De Roos
meint, daß die erste Gemütserschütterung durch den Krieg und
die Einbeziehung einer großen Anzahl Männer unter militärische
Disziplin eine gewisse Abnahme der, leichteren Straftaten zur
Folge gehabt haben könnte, daß aber an erster Stelle an ein
Nachlassen in der Verfolgung in jenen Tagen der Unruhe zu
denken sei. Es wird gerade auch nach dem Ausbau der Kriegs-
kriminalstatistik in den kriegführenden Ländern von Interesse
sein, die Gestaltung der Kriminalität in den neutralen Ländern,
namentlich in den dem Kriegsschauplatz benachbarten Ländern
zur Vergleichung heranzuziehen.
Vor allem aber bedarf die Kriegskriminalstatistik in den krieg¬
führenden Ländern nicht etwa bloß aus soziologischen Motiven
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik 9
der sorgsamen Pflege, und gegebenenfalls eines besonderen in
der Friedenszeit nicht vorhersehbaren oder doch tatsächlich nicht
vorgesehenen Ausbaues; denn die Kriminalpolitik bedarf zur
Anregung und Ausgestaltung der Ideen, welche die durch den
Krieg veranlaßte besondere Bekämpfung des Verbrechens und
gegebener Verbrechensarten erheischen, der festen Unterlage
kriminalstatistischer Erkenntnis. Es kann hier nicht meine Auf¬
gabe sein, zu untersuchen, was hiernach etwa in allen einzelnen
kriegführenden Ländern veranlaßt ist. Naturgemäß bescheide
ich mich mit dem Ausblick auf die Probleme, die sich dabei für
Deutschland ergeben. Für einzeihe Fragen liegen einzelne Bruch¬
stücke zahlenmäßiger Orientierung vor, die aber einen Anspruch
auf erschöpfende statistische Klarlegung nicht erheben können.
Das gilt insbesondere von dem bedeutungsvollen Sonderproblem
über die Kriminalität der Jugendlichen im Krieg. Hier kommen
als Sondermaterial die Zahlen der Jugend-Fürsorge-Zentralen über
die ihnen überwiesenen Jugendlichen in Betracht. In dem lehr¬
reichen Vortrag: Der Krieg und die Kriminalität der Jugendlichen
hat Kollege v. Liszt beispielsweise die Zahlen der deutschen
Zentrale in Berlin angeführt, die allerdings von 1706 im Jahre 1913
auf 3000 im Jahre 1915 gestiegen sind (Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft 37. Band, Berlin 1916, S. 400), aber er
möchte es doch, wenn er auch persönlich daran glaubt, ganz
dahin gestellt sein lassen, ob wir eine gestiegene Kriminalität der
Jugendlichen heute schon mit wissenschaftlicher Exaktheit fest¬
stellen können. (S. 504.)
Als einigermaßen symptomatische Zahlen für die Kriegs¬
kriminalität der Jugendlichen in Bayern, die aber keineswegs
erschöpfende Einblicke über die Gesamtgestaltung dieser Krimi¬
nalität, sondern nur über ihre besondere Erscheinung in großen
und größeren Städten geben, können die in der bayerischen
Justizstatistik gegebenen Vergleiche über die Geschäftsaufgabe der
14 größeren Jugendgerichte angesprochen werden. Nach diesen
beträgt die Zahl der
Strafbefehle verurteilter Jugendlichen
im Jahre 1913 8730 2072
„ „ 1914 6771 1843
„ „ 1915 7290 2835
Das Jahr des Kriegsanfangs erscheint hiernach sowohl bei
der leichteren wie bei der schwereren Verfehlichkeit der Jugend
mit geringeren Zahlen als das vorhergehende Jahr; erst bei dem
10
Dr. Georg von Mayr
Jahr 1915 macht sich gegenüber der Friedenszeit speziell bei der
schweren Verfehlichkeit eine Steigerung bemerkbar; welches aber
die Hauptarten oder auch nur die Hauptrichtungen dieser ge¬
steigerten Verfehlichkeit im Kriege sind, darüber fehlt bisher wie
überhaupt für die Gesamtverfehlichkeit der deutschen und darunter
auch der bayerischen Bevölkerung jeglicher exakte Nachweis.
^ Die bisherigen Ausführungen genügen wohl zur Feststellung
der Tatsache, daß die bisher in Deutschland im Ganzen überhaupt
ganz fehlenden und auch in solchen Gebietsteilen, in denen vor
dem Krieg, wie insbesondere in Bayern die Kriminalstatistik eine
ausgiebigere Entwicklung gefunden hatte als für das Reich im
Ganzen, nur in durchaus ungenügender Weise vorliegenden Nach¬
weise eine exakte Ermittlung der Kriegskriminalität bis jetzt
überhaupt nicht gestatten. Es ist aber ein großes Interesse nicht
bloß der in dieser Hinsicht schon erwähnten Kriminalpolitik,
sondern auch der fortlaufenden Kriminalverwaltung über die Ge¬
staltung der Verfehlichkeit im Kriege genau zahlenmäßig unter¬
richtet zu sein.
Dabei erhebt sich die Vorfrage, was denn unter der Kriegs¬
kriminalstatistik, deren sorgsame Pflege — und zwar recht¬
zeitig noch während des Krieges — befürwortet und dringend
verlangt werden muß, zu verstehen ist. Im Anschluß an die
kurzen Andeutungen, die ich darüber in meiner „Moralstatistik
mit Einschluß der Kriminalstatistik“ gegeben habe, und in deren
weiterem Ausbau möchte ich hier zunächst in Kürze darlegen,
daß man allgemeine und besondere Kriegskriminalität
und dementsprechend auch allgemeine und besondere Kriegs¬
kriminalstatistik unterscheiden muß.
Die allgemeine Kriegskriminalität umfaßt die Gesamt¬
heit der in den einzelnen Zeitabschnitten der Kriegszeit vorge¬
kommenen Verfehlungen aller Art. Eine vollständige Erfassung
dieser Kriegskriminalität liegt — da nur summarische Geschäfts¬
ausweise über die Tätigkeit der Organe der Strafrechtspflege als
„Kriminalstatistik“ nicht anzusprechen sind — für die Kriegsjahre
für Deutschland ebenso wenig vor, wie für die vorhergehenden
Friedensjahre; denn abgesehen von den spezifischen Finanzdelikten
findet sich über das weite Gebiet der kleinen Kriminalität (Über¬
tretungen), wie bereits erwähnt, nur in der Kriminalstatistik für
Heer und Marine ein kleines Bruchstück. Eine Vervollständigung der
allgemeinen deutschen Kriegskriminalstatistik für die Kriegsjahre
1914 bis 1917 wird wohl jetzt nicht mehr zu erreichen sein. Man
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik 11
wird sich damit begnügen müssen, daß für diese Jahre die deutsche
Kriminalstatistik — die bürgerliche wie die militärische — in der
bisherigen Weise aufgestellt, daß aber diese Aufstellung, die ins
Stocken geraten ist, beschleunigt wird. Soweit die Auszählung
der von den Gerichten eingesendeten Zählkarten für die jüngsten
Jahre ab 1915 etwa noch gar nicht in- Angriff genommen sein
sollte, wird zu erwägen sein, ob nicht auch zur Verwirklichung
dieser Beschleunigung wie das oben schon aus anderem Anlaß
zur Erwägung gestellt worden ist, die statistischen Landesämter,
die dazu bereit wären, zur Aushilfe herangezogen und ihnen
die aus ihrem Staatsgebiet herrührenden Zählkarten zur Aus¬
zählung nach dem Reichsschema zu übersenden wären, wo¬
bei ihnen dann eine wertvolle Erweiterung der Auszählung so¬
wohl in territorialer und zeitlicher als in sachlicher Ausgliederung
Vorbehalten bliebe. Dann könnte in den deutschen Staaten, in
denen neben den aus der Reichskriminalstatistik zu entnehmenden
Nachweisen noch- erweiterte kriminalstatistische Ermittlungen vor¬
liegen, wie z. B. in Bayern, der vollständigen materiellen allge¬
meinen Kriegskriminalstatistik möglichst sich nähernde Ergebnisse
dargeboten werden. Erst dann kann ein erschöpfender jetzt noch
ganz fehlender Überblick darüber gegeben werden, wie die Ge¬
staltung der Verfehlichkeit in den einzelnen Gebietsteilen des
Reichs im Verlauf des Krieges sich entwickelt hat, welche Ver¬
fehlungsrichtungen und Arten dabei eine von der-Friedenszeit
abweichende charakteristische Vertretung zeigen und wie, wiederum
unterschieden nach Verfehlungsrichtungen, die Verfehlichkeit der
verschiedenen natürlichen und sozialen Schichten der Bevölkerung
in der Kriegszeit sich gestellt hat — soweit dafür — und in
vollem Maße ist dies ja nicht der Fall — die Einschränkung auf
die rechtskräftige Aburteilung wegen Verbrechen und Vergehen
als für die Gesamtgestaltung der Verfehlichkeit typisch angesehen
werden kann. Da nicht bloß Verurteilte, sondern überhaupt
Ab geurteilte in Betracht kommen, wird sich auch Gelegenheit
geben, die Gestaltung der Nicht-Verurteilung, insbesondere der
Freispruchsquoten territorial und zeitlich wie auch nach Ver¬
fehlungsrichtungen und persönlichen Eigenschaften der Angeklagten
für die Kriegsjahre zu untersuchen. Das ist eine Summe grund¬
legenden Wissens, bedeutungsvoll nicht bloß zur Kenntnisnahme
von dem Eingreifen der Kriminalverwaltung in seiner territorialen
Gestaltung und für daran sich knüpfende Erwägungen sowie
weiter für spezifisch kriminalpolitische Maßnahmen der Verbrechens-
12
Dr. Georg von Mayr
bekampfung, sondern auch für allgemein sozialpolitische Maßnahmen
der Fürsorge. Darum muß unter möglichster Heranziehung von
verfügbaren weiblichen Arbeitskräften das Auszählungsgeschäft
der Kriminalzählkarten bei dem Statistischen Amt des Reichs,
evtl, auch mit; Zuhilfenahme der statistischen Landesämter in
flotten Gang gebracht werden, damit wenigstens die Tabellen¬
werke für die Kriegsjahre schleunig veröffentlicht werden können.
Erwünscht ist, daß auch die einleitende wissenschaftliche Be¬
arbeitung unter Beifügung unentbehrlicher Verhältnisberechnungen
beigefügt werden kann.
Das erste berechtigte Verlangen des Kriminalisten wie des
Sozialpolitikers geht also einfach dahin, daß die vorgeschriebene
Jahresstatistik der deutschen Kriminalität für die Kriegsjahre ohne
Änderung der dafür geltenden Bestimmungen beschleunigt geliefert
werde. Das schließt aber nicht aus, daß gerade das Bedürfnis
die allgemeine Kriegskriminalstatistik nicht bloß beschleunigt zur
Verfügung zu erhalten, sondern auch solche beschleunigt für
Kriminalpolitik und allgemeine Sozialpolitik nutzbar zu machen
meines Erachtens unbedingt nötigt, auf eine Anregung zurück¬
zukommen, die ich wiederholt insbesondere seinerzeit in der Fest¬
gabe für v. Liszt gemacht und auch in meiner „Moralstatistik“
(S. 540) kurz vorgebracht habe. Dort habe ich hervorgehoben,
daß die Zeiten, da ein Guerry und ein Quetelet mit wenigen
Bänden französischer und englischer kriminalstatistischer Aus¬
weise arbeiten konnten, längst vorbei sind, und die gewiß nicht
minder arbeitsfreudigen Epigonen heute einem ungeheueren Zahlen¬
material mit einer gewissen Hilflosigkeit des Privatstatistikers
gegenüberstehen. Darum müssen Einrichtungen namentlich auch
in Deutschland getroffen werden, die mehr als bisher eine fort¬
laufende systematische Nutzbarmachung der kriminalstatistischen
Ausweise aller Art für die Politik und Wissenschaft sicherstellen.
Dazu ist als nationale Organisation erforderlich ein das anfallende
Material fortlaufend kontrollierender und durchleuchtender „Bei¬
rat für Kriminalstatistik“. Dieser Beirat hätte fortwährend Kenntnis
zu nehmen von dem kriminalstatistisch Errungenen, er hätte es
kritisch zu würdigen und die daraus für die spezielle Kriminal¬
politik und die allgemeine Sozialpolitik wie auch für die Wissen¬
schaft ersichtlichen Ergebnisse festzustellen; er hätte weiter Er¬
gänzungen und Verbesserungen der kriminalst^tistischen Er¬
mittlungen zu befürworten, namentlich* auch Vorschläge für die
Materialbeschaffung für die Lösung neuer Probleme mittelst In-
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik
13
gangsetzung des statistischen Apparates. Es ist dringend zu
wünschen, daß gerade die Kontrolle der Ergebnisse der allgemeinen
deutschen Kriegskriminalstatistik einem zu schaffenden deutschen
Beirat für Kriminalstatistik zufällt. Dieser wird dann gewiß auch
Anlaß haben, mit bedeutungsvollen Ergänzungen und Verbesse¬
rungen der deutschen Kriminalstatistik der nächsten Zukunft,
insbesondere der kommenden ersten Friedensjahre sich zu be¬
schäftigen, die gewiß von nicht geringerem Interesse sein wird,
als die jetzige Kriegskriminalstatistik. Auf dieses umfassende
Problem, da es mir zunächst nur darauf ankommt, die einzelnen
Jahres-Geburts-Akte der deutschen Kriegskriminalstatistik zu be¬
schleunigen, hier des näheren einzugehen, darf ich wohl ver¬
zichten. — So viel also in Kürze über diese dringend gebotene
Beschleunigung des Erscheinens der allgemeinen deutschen Jahres¬
kriminalstatistik der Kriegsjahre bis heran zum Jahre 1917 und
Vorbereitung schleuniger Bereitstellung auch für 1918, dem hoffent¬
lich letzten Kriegjahr!
Die besondere Kriegskriminalität oder die Kriegs¬
kriminalität im engeren Sinn beschränkt sich auf jene Ver¬
fehlungen, die durch besonderes Kriegsstrafrecht nur zum
kleinen Teil schon in Friedenszeit für den Kriegsfall in besonderem
Tatbestand festgestellt, in der Hauptsache aber erst' mit dem
Kriegsausbruch und weiterhin^ bei Fortdauer des Krieges durch
strafrechtliche Normenfestsetzung der Zivil- und Militärgewalt ge¬
schaffen sind. Im besonderen kommt hier die durch das grund¬
legende Reichsgesetz vom 4. August 1914 dem Bundesrat über¬
tragene gesetzgebende Gewalt gerade auch auf kriegsstrafrechtlichem
Gebiet und daneben namentlich die gleichfalls strafrechtliche Nor¬
mensetzung erschließende Befugnis der stellvertretenden General¬
kommandos in Befracht, Soweit die Kriegskriminalität in der Heimat
in Frage kommt. In weitester Erstreckung umfaßt die besondere
Kriegskriminalität auch noch die Verfehlungsgestaltung außer der
Heimat und insbesondere im besetzten Feindesland und zwar sowohl
die einschlägigen Verfehlungen innerhalb der Armee und der bei
dieser befindlichen Inländer als auch die kriegsstrafrechtlichen Ver-
fehlurtgen der ausländischen Militär- und Zivilbevölkerung. Die
Gesamtheit der statistischen Nachweise über die hier kurz be-
zeichneten Bestandteile der besonderen Kriegskriminalität macht
den Inhalt der besonderen Kriegskriminalstatistik aus.
Diese ist ihrerseits selbst wieder ein Stück der gesamten Kriegs¬
statistik, deren Ausgestaltung im Kriege vorzubereiten und die
14
Dr. Georg von Mayr
abschließend nach dem Friedensschluß herzustellen sein wird,
als sozialstatistische Rechenschaftsablage über das Kriegsunter¬
nehmen in seiner gesamten Ausgestaltung unter Einschluß aller
zahlenmäßig faßbaren Reflexwirkungen des Kriegszustands und
seines gesamten Verlaufs. Hat doch der Krieg erst recht die
gewaltige Bedeutung gut angelegter vorausschauender Statistik
klar gelegt und namentlich gezeigt, daß wir auf dem Gebiete
statistischer Erkundung namentlich vor dem Kriege viel zu
schüchtern gewesen sind und daß in Zukunft die Publizität
namentlich wirtschaftlicher Verhältnisse für die Zwecke- statistischer
Erkenntnis ganz anders geregelt werden muß, als dies in der
abgelaufenen Friedenszeit der Fall war. Wohl wird mit Recht
ein dauernder gesicherter Frieden erhofft, aber mit der Wieder¬
kehr eines Krieges wird doch auch dann noch gerechnet werden
müssen. Für die alsdann wiederum gebotene Feststellung der
Normen der Kriegskriminalität aber ist die genaue Kenntnisnahme
von der tatsächlichen Gestaltung der Normen für die Kriegsver¬
fehlungen im jetzigen Krieg und von dem Maß der Anwendung
dieser Normen von wesentlicher Bedeutung.
Auch die besondere Kriegskriminalstatistik bedarf hiernach
in allen ihren Teilen einer sorgsamen Pflege; über die mili¬
tärische Strafrechtshandlung im Feindesland wird wohl
die Heeresverwaltung eine angemessen gegliederte statistische
Nachweisung für die einzelnen tfriegsjahre nach Abschluß des
Kriegs zu liefern veranlaßt sein. Was dabei an Feststellungen
von Verfehlungen deutscher Reichsangehöriger sich ergibt, das
möchte, wenigstens anmerkungsweise auch in der allgemeinen
deutschen Kriegskriminalstatistik, also überhaupt in der kurzweg
als „Kriminalstatistik“ bezeichneten Zusammenfassung und Ver¬
öffentlichung zu berücksichtigen sein, ähnlich wie ja schon jetzt
in der deutschen Kriminalstatistik die — ihrer Zahl nach aller¬
dings sehr unbedeutenden — Aburteilungen deutscher Reichs¬
angehöriger wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze
durch die deutschen Konsulargerichte im Ausland berücksichtigt
werden. Erwünscht wäre .zur Feststellung eines Planes für dieses
Stück der besonderen Kriegskriminalstatistik ein Zusammentreten
von Vertretern der Heeresverwaltung sowie der besonders organi¬
sierten Verwaltung der besetzten Gebiete, insbesondere Belgiens
wie auch Polens und auch Kurlands, Livlands und Estlands mit
dem oben erwähnten kriminalstatistischen Beirat, in dem selbst
wieder die Interessen der Politik und der Verwaltung neben
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik
/
jenen der Wissenschaft angemessene Vertretung zu finden
hätten.
Das Hauptstück der besonderen Kriegskriminalstatistik ist in
der Statistik des durch das neugeschaffene materielle
Kriegsstrafrecht, wie Bundesrat und stellvertretende
Generalkommandos es normiert haben, in ihrem Tat¬
bestand näher bestimmten Verfehlungen, die im Inland
zur Aburteilung gekommen sind. Ein Teil dieser Sonder¬
statistik bildet gleichzeitig einen Bestandteil der allgemeinen
Kriegskriminalstatistik der Kriegsjahre, insofern nämlich als
es sich bei dem rechtskräftig abgeurteilten Verfehlungen um Ver¬
brechen und Vergehen gegen Reich^gesetze handelt, weil in diesem
Falle von den aburteilenden Gerichten Zählkarten nach dem all¬
gemein eingeschriebenen Muster an das Statistische Amt in
Berlin einzusenden sind. Wie schon in der Friedenszeit wegen
ausgiebiger Anwendung der strafgesetzlichen Sicherung neben
den systematisch aufgebauten Normen des Allgemeinen Straf¬
gesetzbuchs in den Jahresbänden der deutschen Kriminalstatistik
die Zahl der in Sondergesetzen enthaltenen straftrechtlichen Einzel¬
normen außerordentlich groß und in ständiger Zunahme begriffen
war, so hat nunmehr der Krieg einen gewaltigen Ansturm von
anderen nebenstrafrechtlichen Bestimmungen des Bundesrats und
der stellvertretenden Generalkommandos gebracht. Daß ein solches
Sonder-Kriegsstrafrecht notwendig war und wohl auch nicht als¬
bald mit dem Krieg ganz verschwinden kann, ist klar. Zweifel¬
haft ist allerdings — wie dies kürzlich ein hervorragender Sach¬
kenner Ministerialrat Dr. Karl Meyer in München in der April¬
nummer 1918 von „Recht und Wirtschaft“ hervorgehoben hat — ob
nicht durch unsere wirtschaftlichen Kriegsverordnungen der Straf¬
schutz zu stark in Anspruch genommen worden ist, so daß
das Gegenteil eintritt, nämlich statt einer Beachtung der
Gesetze eine Mißachtung und Schwächung des Rechtsbewußt¬
seins.
Es ist unbedingt geboten, daß auch insoweit Kriegsverfehlungen
in Frage kommen, bei denen es sich um rechtskräftige Aburteilungen
wegen Verbrechens oder Vergehens gegen Reichsgesetze handelt
und die deshalb auch in der allgemein fortlaufenden Kriminal¬
statistik der Kriegsjahre berücksichtigt werden müssen, in einem
besonderen Abschnitt sowohl für die Verfehlungen als die Ver-
fehler die Nachweise mit grundsätzlicher Auseinanderhaltung der
verschiedenen Verfehlungsarten gegeben werden. Über die hier-
16
Dr. Georg von Mayr
bei erforderliche Klassifizierung der Verfehlungen und weiter über
die Einreihung derselben nach Hauptrichtungen der Verfehlung,
— bei der vielfach eine Kombination der Verfehlung gegen den
Staat und die öffentliche Ordnung einerseits und gegen das Ver¬
mögen andererseits (so z. B. beim Kriegswucher) sich ergeben wird,
sollte alsbald eine gründliche Erwägung platz greifen, damit gleich
der erste Band der deutschen Kriminalstatistik aus der Kriegszeit in
dieser Hinsicht eine befriedigende Ausgestaltung erhält. Außer¬
ordentliches Interesse knüpft sich auch an die genaue Feststellung
der territorialen Verbreitung dieser von der allgemeinen deutschen
Kriminalstatistik mit erfaßten besonderen Kriegskriminalität; es
wird deshalb sehr darauf zu achten sein, ’daß nicht etwa die bei
der Verwaltungsstatistik waltende Tabellenfurcht hier die gebotene
detailgeographische Ausgliederung vereitelt. Auch hier würde für
die Ausgestaltung des Tabellenplanes, insbesondere auch für die
einschlagenden Klassifikations- und Kombinationsfragen die Mit¬
arbeit des oben geforderten kriminalstatistischen Beirats sehr
förderlich sein.
Mit der selbstverständlichen Aufnahme der durch das neue
Kriegsstrafrecht erst geschaffenen neuen Verfehlungen gegen
Reichsgesetze, welche die Qualität Verbrechen oder Vergehen
tragen, ist aber die besondere Kriegskriminalstatistik nicht er¬
ledigt. Es besteht vielmehr zur Erreichung des vollen Einblicks
in die Gestaltung der besonderen Kriegskriminalität das dringende
Bedürfnis die Gesamtheit dieser Kriegsverfehlungen gründ¬
lich zu erfassen. Auch das was man die kleine Kriegskriminalität
nennen darf, an der gerade breitere Massen der Bevölkerung be¬
teiligt sind, muß in ihrer durch die Rechtsprechung, wenn auch nicht
voll so doch symptomatisch erkennbaren Weise dargelegt werden.
Es müssen also auch die auf diesem Gebiet erfolgten Aburteilungen
und Verurteilungen wegen Übertretungen berücksichtigt werden.
Die allgemeine Erstreckung der Reichskriminalstatistik überhaupt
auf die Übertretungsstatistik, noch dazu mit rückwirkender Kraft
bis zum ersten Kriegsjahre wird — so erwünscht dies auch an
sich wäre — wohl nicht zu erreichen sein. Eher wird man hoffen
dürfen, daß in der kommenden Friedenszeit diese wichtige allge¬
meine Reform der deutschen Kriminalstatistik durchgeführt wird.
Für die besondere Kriegskriminalstatistik aber darf meines Er¬
achtens auf die Einbeziehung der gerade hier besonders be¬
deutungsvollen Übertretungstatistik nicht verzichtet werden. —
Darum muß man zu dem Vorschlag kommen, daß spätestens
Beschleunigung des Ausbaues der Kriegskriminalstatistik 17
unmittelbar nach dem Friedenssctiluß dieses Gesamt werk der
statistischen Rechenschaftsablage über die nach Kriegs¬
strafrecht im deutschen Reich abgeurteilten Verbrechen,
Vergehen und Übertretungen für die einzelnen Kriegsjahre
mit reichlicher territorialer, zeitlicher und sachlicher Ausgliederung,
nicht bloß eine Sammlung summarischer geschäftsstatistischer
Zahlenausweise, geliefert wird, wie solches, wenn auch noch nicht
von Reichswegen in verschiedenen deutschen Staaten vorgesehen
ist. (Ich verweise dazu auf die in der bayerischen Kammer der
Abgeordneten stattgehabten Verhandlungen betr. Übersicht über
die Bestrafungen wegen Übertretung der Kriegsvorschriften.) Es
wird bei Zeiten dafür Sorge zu tragen sein, daß demgemäß außer
den nach den geltenden Vorschriften schon sich ansammelnden
Zählkarten für die wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichs¬
gesetze Angeklagten auch noch Zählkarten für die wegen Über¬
tretungen Abgeurteilten hergestellt und zur Bearbeitung an eine
statistische Zentrale eingesandt werden. Bleibt es überhaupt bei
der Zentralisation der allgemeinen Kriminalstatistik bei dem Sta¬
tistischen Amt des Reichs, so werden wohl auch die Übertretungs-
Zählkarten der besonderen Kriegskriminalstatistik dorthin einzu¬
senden sein. Sollte aber die Dezentralisation an die hierzu sich
bereit erklärenden statistischen Landesämter eintreten, dann könn¬
ten diese für die im Statistischen Amte schließlich erfolgende
Zusammenfassung der gesamten Ergebnisse die Zählkarten-Aus-
beutung, wie schon oben bemerkt, gegen Entschädigung aus der
Reichskasse übernehmen und für das betreffende Staatsgebiet ab¬
geschlossene Tabellen an das Statistische Amt einsenden, während
für den Rest der Bundesstaaten, die etwa die Ausbeutungs¬
arbeit ihren statistischen Behörden nicht überlassen wollten, das
Statistische Amt selbst auch die Ausbeutungsarbeit und Tabellen¬
ansetzung übernehmen würde. Der erläuternde Text dieses
großen Gesamtwerkes, das für die Kriminalpolitik von hervor¬
ragender Bedeutung sein würde und zugleich ein wichtiges Stück
der gesamten deutschen Kriegsstatistik wäre — die im übrigen
namentlich auf dem Gebiete der Wirtschaftsstatistik eines weiten
Ausbaues bedarf — wird wohl zweckmäßig im Zusammenwirken
des Statistischen Amtes des Reichs, des Reichsjustizamtes und der
Heeresverwaltung hergestellt. Für die Entwertung des Planes aber
dieser ganzen großen Arbeit sollten die vorbereitenden Schritte
so bald als möglich unternommen werden. Die erste Plan-
Feststellung möchte im Entwurf durch Verständigung des Sta-
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 2
18
Dr. Georg von Mayr
tistischen Amtes, des Reichsjustizamts und 4er Heeresverwaltung
zu bewirken sein. Sehr erwünscht wäre es, wenn auch hierbei
der im Vorhergehenden mehrfach erwähnte Beirat für Kriminal¬
statistik in der Art mitwirken könnte, daß er über den ersten Ent¬
wurf der vorgenannten drei behördlichen Instanzen sich gutacht¬
lich äußerte und daraufhin durch Verständigung dieser drei In¬
stanzen der endgültige Entwurf für die Ausführung des Werkes
der zuständigen Reichsinstanz zur Beschlußfassung überwiesen
werden könnte.
Was ich in den vorstehenden Ausführungen über den Aus¬
bau, und zwar über den baldigen Ausbau der deutschen Kriegs¬
kriminalstatistik bringe, will nicht mehr sein, als eine erste, die
erheblichen aber nicht unüberwindlichen Schwierigkeiten der Aus¬
führung keineswegs verkennende Anregung in großen Zügen zur
Ausgestaltung einer statistischen Leistung, die für die Kriminal¬
politik, Kriminalverwaltung, für die Sozialpolitik überhaupt und
dann auch für die mit dem Staats- und dem gesamten sozialen
Leben in reger Wechselbeziehung stehende Wissenschaft von
größtem Werte wäre.
Der Zwang zum Fingerabdruck.
Von
Geheimrat Dr. Josef Köhler.
o. ö. Professor der Rechte an der Universität Berlin.
Die abwehrende, unheilverhütende Tätigkeit der Polizei auf
dem Gebiet des Kriminalwesens ist teils vorbeugender und
sichernder, teils konstatierender Art, konstatierend, soweit es sich
um Verbrecherverfolgung und Verbrecherbestrafung handelt. In
dieser Eigenschaft, als untersuchende und feststellende Behörde,
ist die Polizei ein unentbehrliches Hilfsmittel des Strafgerichtes,
ohne welches der Arm des Staates lahm wäre. Die Untersuchung
kann sich auf die Umstände des einzelnen Falles beziehen, sie kann
aber auch solche Umstände betreffen, welche für die gegenwärtige
oder künftige Verbrechertätigkeit einer Person tm allgemeinen be¬
deutsam sind. Dazu gehört vor allem die Untersuchung, welche
die Konstatierung der Persönlichkeit und ihrer Eigenart betrifft.
Von solchen Konstatierungen ist keine wichtiger als die
Daktyloskopie, umso bedeutsamer, als sie einmal mit höchst ein¬
facher Methode wirkt und auf der anderen Seite zu völlig ein¬
wandfreien und unzweifelhaften Resultaten führt.. Sie hat darum
die Bertillonage so viel wie vollständig abgelöst.
Es wird die Zeit kommen, in welcher man eine jede Person
ohne Ausnahme ebenso der Daktyloskopie unterwirft, wie man
die Eintragung ihres Namens und ihres Alters in die Listen ver¬
langt, und es wird eine derartige allgemeine Konstatierung um so
wichtiger sein, als sie nicht nur im Falle der Beschuldigung,
sondern auch im Falle der Entschuldigung von Bedeutung wird.
Man denke sich den Fall, daß wegen irgend einer angeblichen
Gewalttätigkeit einer verstorbenen Person ein Entschädigungs¬
anspruch gegen ihre Erben erhoben wird und der vielleicht sehr
starke Verdacht durch einen bei der Tat zurückgebliebenen Finger¬
abdruck völlig beseitigt werden kann, so daß die Beschuldigung
mit allen Folgen sofort zusammenbricht!
2*
20
Dr. Josef Köhler
Gesetze über die Daktyloskopie finden sich in einigen Län¬
dern, wie in Argentinien und in Mexiko; bei uns fehlt eine durch¬
greifende Bestimmung. Bei uns können nur die Grundsätze über
das Recht der Kriminalpolizei gelten: der Fingerabdruck kann
nur soweit vom Publikum verlangt werden, als die Kriminalpolizei
eine Einwirkung auf das Publikum beanspruchen kann, ln Preußen
ist hier bekanntlich das Landrecht II 17 § 10 von ausschlaggeben¬
der Bedeutung, wonach die Polizei die Anstalten zur Erhaltung
der nötigen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung
der dem Publikum oder einzelnen Mitgliedern desselben bevor¬
stehenden Gefahr zu treffen hat; und sodann das Polizeiverwal¬
tungsgesetz vom 8. März 1$50 § 6 a, 6 f, wonach Polzeiverord-
nungen zum Schutze der Person, des Eigentums, zur Sorge für
Leben und Gesundheit erfolgen können. In diesem Gebiete be¬
wegt sich die Kriminalpolizei, wenn sie Konstatierungen bezüg¬
lich der begangenen oder der in Entwickelung begriffenen Ver¬
brechen vornimmt, oder wenn sie peisönliche Feststellungen be¬
züglich derjenigen Schädlinge und negativen Naturen macht, von
denen eine künftige Bedrohung des Publikums zu befürchten
steht. Wenn die Polizei hier entweder bestimmt abgemessene
und fest begrenzte Verordnungen gibt oder wenn sie ohne der¬
artige Verordnungen im einzelnen Falle auf Grund ihrer ab¬
wägenden Prüfung einen Feststellungsakt beschließt, so liegt dies
im Kreise ihrer gesetzlichen Befugnisse.
Man könnte allerdings die zahlreichen Entscheidungen des
Kammergerichtes entgegenhalten, in welchen ausgesprochen wurde,
daß die Polizei nicht die Befugnis habe, beliebig Kontrollvor-
schriften zu erlassen. Derartiger Entscheidungen gibt es aller¬
dings eine große Zahl. Das Kammergericht hat angenommen,
daß die Polizei nicht befugt sei, beliebig Ausweise, Anzeigen oder
auch Ankündigungen von Privatpersonen zu verlangen, sie könne
nicht verlangen, daß die Hauseigentümer einen Nachweis über
die regelmäßige Kaminreinigung geben, daß .die Milchhändler
ihre Milchproben zur Untersuchung an einen bestimmten Ort
schaffen, daß der Autoeigentümer über Personen, welche das
Auto benutzt haben, Rechenschaft erstatte, sie könne von Händlern
mit Branntweinverkauf nicht verlangen, daß ihr Ladenraum so
gestaltet sei, daß er von außen leicht zu übersehen ist, sie könne
nicht vorschreiben, daß auswärtige Hauseigentümer einen Zu¬
stellungsgewalthaber für polizeiliche Verfügungen bestellen u. a.;
vgl. z. B. K.-G. 25. 4. 1904, D. J.-Z. IX 509; K.-G. 25. 4. 1910,
Der Zwang zum Fingerabdruck
21
D. J.-Z. XV 829; K.-G. 2. 11. 1908, Recht XIII S. 157 und allge¬
mein K.-G. 26. 4. 1906, Recht XI S. 75, ferner K.-G. 11. 3. 1901
Jahrbuch des K.-G. XXI C 62: K.-G. 6. 7. 1905, Jahrbuch XXX
C 47 u. a.
Nun ist es selbstverständlich, daß die Polizei nicht befugt
ist, vom Publikum wirkliche Frohndienste zu verlangen, um alles
mögliche zu tun, was der Polizei für die Vorbereitung ihrer
Untersuchungen bequem und förderlich erscheint. Da könnte
die Polizei auch eine beliebige Zusammenkunft von Menschen
vorschreiben, sie könnte verlangen, daß Instrumente geliefert, daß
Fuhrwerke zur Verfügung gestellt würden, und schließlich könnte
die Polizei einem jeden eine Tagesliste zumuten, wann er auf¬
steht und sich zu Bett legt, wann er auSgeht usw., weil hierdurch
die Kontrolle der Persönlichkeit erleichtert wird. Davon kann
natürlich keine Rede sein. Bekanntlich hat auch die Polizei keinen
Zeugniszwang, sondern sie kann nur eine Person, deren Zeugnis
als erforderlich erscheint, vor Gericht bringen, damit hier der
Zeugniszwang geübt wird.
Allein alles dies liegt hier nicht vor. Das, was die Polizei
bestimmt verlangen kann, ist, daß, wenn sie Untersuchungshand¬
lungen zur Abwendung von Gefahren für Leib, Leben, Gesund¬
heit oder Eigentum vornimmt, ihr kein Widerstand entgegengesetzt
wird und daß keine Widersetzlichkeit ihre Tätigkeit hemmt. Eine
solche Untersuchungshandlung ist die Abnahme des Fingerab¬
druckes; es handelt sich bei dem Zwang zur Daktyloskopie nicht
darum, daß das Publikum eine diese Untersuchungshandlung
vorbereitende oder ihr zur Kontrolle dienende Tätigkeit vornimmt
(dies wäre z. B. der Nachweis des erfolgten Abdruckes durch
Vorlegung eines polizeilichen Zeugnisses), sondern es handelt
sich einfach darum, daß das Publikum sich der Untersuchungs¬
handlung unterwirft und keine Hemmung bewirkt.
So rechtfertigt sich auch die berühmte Entscheidung des
Reichsgerichtes vom 2. Juni 1899, über den Zwang zur Duldung
der Bertillonage, E. Straf. 32 S. 199, worin gesagt ist:
„Die Zuständigkeit der Polizeidirektion zu der generellen
Anweisung, Verhaftete, die bereits mit Zuchthaus bestraft wurden,
den Bertillonsschen Messungen zu unterwerfen und gleichzeitig
zu photographieren, ist (aber) nicht zu beanstanden. Sie ergibt
sich aus der gesetzlich anerkannten Obliegenheit der Polizei, die
nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit zu
treffen (§ 10 A. L.-R. II. 17), welche, soweit die Verletzung oder
22
Dr. Josef Köhler
Bedrohung der öffentlichen Sicherheit durch strafbare Handlungen
in Frage kommt, die Aufgabe der Unterstützung der Strafrechts¬
pflege in sich schließt, ln dieses Gebiet ihrer Wirksamkeit fällt
unzweifelhaft die Aufnahme von sog. Signalements bezüglich
solcher Personen, welche wegen Verdachtes der Verübung einer
strafbaren Handlung festgenommen und bei der Polizeibehörde
eingeliefert sind.“
Mit Recht ist dort auf § 131 der St.P.O. Bezug genommen,
worin gesagt ist, daß der Steckbrief, soweit möglich, eine. Be¬
schreibung des Verfolgten erhalten soll, woraus von selbst her¬
vorgeht, daß zur befugten polizeilichen Untersuchung die Kon¬
statierung von Merkmalen einer PeVson gehört, um eine wirksame
Verfolgung zu ermöglichen.') Wenn dies von der Bertillonage
galt, so ist dies bei der einfachen Daktyloskopie umso unbe¬
denklicher.
Daraus ergibt sich der Satz: es steht in der diskretionären
Befugnis der Polizei, den daktyloskopischen Fingerabdruck von
allen Personen zu erzwingen, deren persönliche Feststellung
wegen des Verdachtes begangener oder der Erwartung künftiger
verbrecherischer Tätigkeit als erforderlich erscheint.
') Einen Zwang zur Bertillonage bestimmt auch das Gesetz von Canada
vom 13. Juni 1898, 61 Vict. ch. 54.
Kriminalistische Übergangswirtschaft.
IV.
Die dänische Reichskriminaipolizei.
Der Herr kgl.DänischeJustizminister
hat dem „Archiv für Kriminalogie* die
folgenden Ausführungen zugehen lassen,
deren Übersetzung Herr Halvar Chri¬
stiansen besorgte.
Die „Statspolitiet“ („Staatspolizei“, Reichskriminalpolizei) ist
durch Gesetz vom 13. Mai 1911 errichtet worden und bestand
damals aus einem Chef und 36 Beamten, wovon 8 zu Ober¬
beamten ernannt werden konnten.
Das Korps hat später zwei Erweiterungen erfahren, zuerst
durch Gesetz vom 29. April 1913, wodurch das Korps um
12 Beamte vermehrt wurde, und danach durch Gesetz vom
21. Dezember v. Js., welches dem Korps eine weitere Ver¬
mehrung von 24 Beamten gab, so daß das Korps jetzt aus 72 Be¬
amten besteht. Von diesen können bis zu 15 zu Oberbeamten
ernannt werden. Das Korps wird von einem Chef geleitet, welcher
sein Bureau in Kopenhagen hat, und dem 4 juristisch ausgebildete
Assistenten beigegeben sind. Zu dem Bureau gehört weiter eine
gewisse Anzahl von Oberbeamten und Beamten zur Verwendung
bei den Nachforschungen und Untersuchungen, zu welchen ein¬
gelaufene Anzeigen oder Ersuchen von den Polizeibehörden außer¬
halb Kopenhagens oder von den auf dem Lande stationierten
„Staatspolizisten“ Anlaß geben.
Im Bureau des Polizeichefs befindet sich alles Material ge¬
sammelt und durchgearbeitet, das nach und nach über Verbrecher
und Verbrechen verschafft wird und das bei der Nachforschungs¬
und Untersuchungsarbeit der Staatspolizei Bedeutung erhalten
kann.
Die übrige Mannschaft ist in den verschiedenen Gerichts¬
bezirken stationiert. Da aber das Korps bis jetzt so gering an
Zahl gewesen ist, versieht jeder einzelne Beamte in der Regel
24
Halvar Christiansen
Dienst in mehreren Bezirken, Den einem Beamten somit zu¬
geteilten Distrikt darf der Beamte nicht ohne Erlaubnis des Chefs
verlassen, es sei denn, daß es im Interesse des Dienstes not¬
wendig ist. ■
Die wesentlichste Aufgabe der „Staatspolizei“ ist bestimmt
durch eine für das Korps erteilte Instruktion vom 30. September
1911 und besteht darin, den Polizeibehörden außerhalb Kopen¬
hagens Hilfe bei Nachforschung und Verfolgung von Verbrechen
sowie Beistand in der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung
zu gewähren. Durch die Gesetze vom 29. April 1913 und 21. De¬
zember v. Js. ist weiter die große und zeitweise schwierige Auf¬
sicht über die hier im Lande sich aufhaltenden Ausländer dem
Korps übergeben.
Diese hat u. a. mit Hinblick auf die oben erwähnte Stationie¬
rung dazu beigetragen, daß Staatsbeamte in den Orten stationiert
sind, in welchen der größte Verkehr mit dem Ausland ist.
Da die Staatspolizei eine selbständige Institution ist, welche
direkt unter dem Justizministerium steht, kann ein untergeordnetes
Verhältnis zu der örtlichen Polizei nicht in Frage kommen, aber
der Ortspolizeidirektor kann anläßlich begangener Verbrechen die
Hilfe des zu seinem Gerichtsbezirk gehörigen Staatspolizisten ver¬
langen, und der Beamte ist dann verpflichtet, unverzüglich zu
helfen, aber in der Regel nur, bis der Verbrecher ausfindig ge¬
macht und seines Verbrechens überführt ist, wie der Beamte auch
verpflichtet ist, den Befehlen nachzukommen, welche der Polizei¬
direktor mit Rücksicht auf die ihpi somit übertragene Untersuchung
erteilt.
Die Beamten können jedoch, wenn sie der Meinung sind,
daß ihnen seitens der örtlichen Polizeidirektionen unberechtigte
Forderungen gestellt werden, Bericht hierüber an den Staatspolizei¬
chef senden, um von demselben nähere Instruktionen zu erhalten.
Insofern bei ernstlicheren Verbrechen der Polizeichef entweder
im Aufträge des Justizministeriums oder auf Verlangen des be¬
treffenden Polizeidirektors bei einer Untersuchung persönlich mit¬
wirkt, sind der Polizeichef und der örtlich zuständige Polizei¬
direktor als gleichgestelltzu betrachten, aber so, daß die Bestimmungen
des Polizeichefs bei allen Fragen über die Verwendung der Staats¬
polizei entscheidend sind.
Die Staatspolizei wirkt somit zum Teil auf Veranlassung der
respektiven Polizeidirektoren, aber das Korps soll auch infolge
seiner Instruktion aus eigener Initiative versuchen, Verbrechen und
Kriminalistische Übergangswirtschaft
25
Vergehen zu verhindern, worunter u. a. gehört, daß die Beamten den
ihnen unterstellten Distrikt so oft wie möglich abpatrouillieren sollen.
Es besteht dagegen für die örtlichen Polizeibehörden keine
Verpflichtung, Anzeigen an die Staatspolizei als solche zu machen,
und infolgedessen gibt es auch keine Strafbestimmungen für
Unferlassung solcher Anzeigen.
Wie aus dem Vorstehenden hervorgeht, steht der einzelne
Staatspolizist zwar direkt unter seinem Chef, kann aber, wenn
seine Hilfe von einem Polizeidirektor verlangt worden ist, diesem
bei einzelnen Untersuchungen zur Verfügung stehen. In letzterem
Falle sendet der Staatspolizist direkten Rapport an den betreffenden
Polizeidirektor oder Richter des Bezirks, dem er auch stets direkte
Meldung sendet, wenn von Verhaftung die Rede ist, damit die
richterliche Vernehmung innerhalb der gesetzlichen Frist von
24 Stunden geschehen kann. Im übrigen aber sendet der be¬
treffende Staatspolizist in der Regel direkten Bericht an den Chef
des Korps, welcher dann das weiter Erforderliche unternimmt und
in dessen Hand es liegt, den größtmöglichen Kontakt zwischen
den Beamten der Staatspolizei unter sich und zwischen der
Staatspolizei und den lokalen Polizeibehörden zu schaffen, ein
Verhältnis, das bis jetzt eine außerordentlich große Arbeit für den
Chef und sein Bureau mit sich gebracht hat.
Die direkte Verbindung zwischen dem Chef und den Beamten
wird durch Bekanntmachungen, enthaltend Mitteilungen über Ver¬
hältnisse im Korps sowie Instruktionen allgemeiner Bedeutung
hergestellt. (Bis zum Ausgang des Jahres 1917 sind im ganzen
100 Bekanntmachungen ausgegeben worden.) Weiter geschieht dies
durch einzelne Schreiben und Rundschreiben sowie eigentliche
Nachforschungsschreiben, wozu in besonders eiligen oder gra¬
vierenden Fällen selbstverständlich noch telephonische oder tele¬
graphische Aufträge kommen.
Es hat sich mehrmals gezeigt, daß das Korps auf Grund seiner
Beweglichkeit und, weil es ungehindert durch territoriale Grenzen
arbeitet, sowie endlich auf Grund des im Bureau des. Chefs ge¬
sammelten Materials sowohl bei der Untersuchungs- als auch
Nachforschungsarbeit gute Hilfe hat leisten können.
Was die Ausbildung und Ausrüstung der Staatspolizisten an¬
betrifft, wird bemerkt, daß so gut wie alle Beamten der Staats¬
polizei im Dienste der kommunalen Polizei angestellt gewesen
sind, ehe sie zur Staatspolizei übergingen. Sie hatten somit schon
dadurch Erfahrung erworben. Ihre übrige Ausbildung geschieht
26
Halvar Christiansen
durch die von dem Chef geleiteten Kurse in größeren oder
kleineren Zirkeln. Die Beamten sind alle in Zivil gekleidet, und
haben als Legitimation Polizeimarken. Sie sind mit dem Polizei¬
stab, Handfesseln, Führerkette, Polizeipfeife, elektrischen Taschen¬
lampen usw. ausgerüstet. Mehrere haben auch einen Polizei¬
hund, welcher der Staatspolizei gehört.
Außerdem sind sie mit verschiedenen Apparaten zum Ge¬
brauch bei ihrem Untersuchungsdienste versehen, u. a. zur Auf¬
nahme von Fingerabdrücken.
Sie sind alle mit Fahrrad und mehrere von ihnen mit Motor¬
rad versehen.
Mit Hinblick auf die Ausrüstung ging man bis jetzt und geht
man immer noch versuchsweise vor, aber der Zweck ist selbst¬
verständlich, den Beamten die bestmöglichste Ausrüstung zu
geben. Einen bedeutenden Schritt in dieser Richtung gedenkt
man zu machen bei der durch die Rechtspflegereform bestimmten
großen Erweiterung der Staatspolizei, welche, zur Folge haben
wird, daß, ohne der Gesamtarbeit zu schaden, Beamte als Spe¬
zialisten für Untersuchungen bestimmter Verbrechen ausgebildet
und ausgerüstet werden können.
Schließlich wird mit Rücksicht auf die Zusammenarbeit mit
den lokalen Behörden bemerkt, daß diese durchgehend gut ge¬
wesen ist, obwohl selbstverständlich ab und zu Reibung statt¬
gefunden hat, besonders in der ersten Zeit der Staatspolizei.
Eine Abhilfe der etwas unglücklichen Verhältnisse, die entstehen
können, wenn zwei voneinander unabhängige Polizeikorps in der¬
selben Untersuchung zu arbeiten haben, wird vermutlich die vor¬
genannte Rechtspflegereform gewähren, indem durch dieselbe eine
bedeutend größere Sammlung und Zusammenarbeit zwischen den
verschiedenen Polizeiorganen entstehen wird, so daß die ganze
Kriminalpolizei in weit größerem Grade, als bis jetzt der Fall
gewesen ist, als eine Einheit unter gemeinsamer Leitung auf-
treten wird.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für
die Rechtspflege
und deren Berücksichtigung in dem Strafrecht und bei der'
Strafvollstreckung.
Von
Dr. med. Fr. Jos. Widtnann, Abteilungsarzt der Provinzial-Heilanstalt Warstein
kreisärztlich approbiert, z. Zt. Münster i. W.
Die Psychiatrie versteht unter psychopathischer Konsti¬
tution nach dem Vorschläge J. A. L. Kochs, kurz gesagt, Zu¬
stände „geistiger Minderwertigkeiten“, prägnanter ausgedrückt, ange¬
borene oder erworbene geistige Schwächen geringen Grades, also auf
abnormer Veranlagung beruhende leichtere psychische Anomalien.
Das so veranlagte Individuum zeigt eine verringerte Widerstands¬
fähigkeit gegen physiologische und pathologische Reize, gegen
von außen kommende oder im Organismus selbst entstandene
Schädlichkeiten und ist somit sowohl für schwerere psychische
Störungen als auch für soziale Entgleisungen prädisponiert. Wenn
nun auch unter psychopathischer Veranlagung Übergänge vom
Physiologischen zum Pathologischen gekennzeichnet werden sollen,
so gehören dieselben ihrem Wesen nach doch zur Pathologie.
Dabei ist jedoch zuzugeben, daß diese Grenzzustände im Einzel¬
falle nicht immer leicht als pathologisch erkennbar sind. Jeden¬
falls bilden sie ein wichtiges, bei aller Klärung der letzten Jahre
noch weiter der Bearbeitung und Vertiefung bedürfendes Gebiet
der Psychiatrie. Dabei soll anderen Kreisen wissenschaftlicher
Forschung auf diesem Gebiete, wie den Pädagogen, Historikern,
Psychologen, Kriminalisten und vor allem den Juristen, durchaus
nicht das Recht bestritten werden, ihr Interesse ebenfalls diesen
psychopathologischen Bildern zu widmen, allein ohne die Beratung
und Mitarbeit seitens des Psychiaters dürfte ihnen eine vollkommene
Klärung vorenthalten bleiben, da wir bei diesen Grenzzuständen,
wenn auch meist nur episodisch, leicht mehr oder weniger aus¬
geprägten psychotischen Zuständen begegnen, zu deren erschöp-
28
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
fender Bewertung zweifelsohne psychiatrische Fachkenntnisse und
Erfahrung Bedingung sind. So mag auch psychopathische Ver¬
brecher nicht derjenige einwandfrei beurteilen, der nur normale
kennt, sondern zur Beurteilung der ersteren gehört die Kenntnis
psychopathologischer Menschen.
Um in das Wesen dieser psychopathologischen Grenzzustände
— wissenschaftlich auch als psychische Entartungsform bezeichnet —
weiter einzudringen, müssen wir von dem Grundbegriff der Ent¬
artung ausgehen, um den inneren Zusammenhang dieser Zustände
v mit wichtigen Lebenserscheinungen, biologischen und sozialen,
um ihre Ursachen, Grundlagen und Äußerungsweisen richtig zu
begreifen. Und zwar ist hier mit den Begriffserörterungen über
Degenereszenz, Dekadenz, Entartung u. dgl. seitens der Historiker,.
Anthropologen, Nationalökonomen u. a. allein nicht auszukommen,,
sondern der Entartungsbegriff ist im Sinne der Psychiatrie zu
fassen. Wie ich schon eingangs gesagt habe, beruht die Ent¬
artung auf einer abnormen Veranlagung, die sich wieder aus
zwei Momenten herleitet, indem es sich entweder um eine an¬
geborene (ererbte und intrauterin erworbene) oder um eine er¬
worbene Keimschädigung handelt. Beide sind uns ihrem Wesen
nach ziemlich unbekannt. Das dunkelste Gebiet ist die heredi¬
täre Belastung, an die vorderhand ebenso geglaubt weiden
muß wie an die Tatsache normaler Anlagen. Anders verhält es
sich mit der erworbenen Keimschädigung, die wir mit durch die
Erfahrung gestützten Faktoren eher begründen können. So
wissen wir, daß neben schweren, langdauernden Infektions- und
anderen Krankheiten, wie Lues, Tuberkulose, Typhus, Stoff¬
wechsel- und Bluterkrankungen, auch Giftstoffe wie Quecksilber,
Arsen, Blei und, nicht zu vergessen, der Alkohol zu derartigen
Schädigungen der Keimzellen führen können, daß dadurch in die
Zelle der Keim für die spätere psychopathische Konstitution ge¬
legt wird. Auch in gewissen anderen Ursachen mag dieselbe zu
suchen sein, als welche zu krasse Altersunterschiede der Erzeuger,
Blutsverwandtschaft, namentlich die in gewissen Gegenden aus
materiellen Prinzipien herrschende „Inzucht“, Unterernährung,
Zeugung im Rausch oder vielleicht auch Inkongruenz der elter¬
lichen Keime in Betracht kämen. Cramer 1 ) erwähnt u. a. und
verweist dabei auf genauere statistische Begründungen von T i gg e s 2 ),
*) Cramer, Gerichtl. Psychiatrie, 4. Aufl., 1908, S. 381.
*) Tigges, Aszendenz und Deszendenz. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie,
Bd. 64, S. 6, 1908.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 29
daß eine erbliche Belastung sich häufig im Sinne einer gekreuzten
endogenen Belastung derart bilde, daß bei direkter erblicher Be¬
lastung mit Geisteskrankheit der mütterliche Einfluß, bei Trunk¬
sucht des Vaters derjenige des letzteren prävaliere. Natürlich braucht
die Schädigung nicht bloß wie überhaupt nicht den Keim der Erzeuger
zu betreffen, sondern sie kann auch bei dem in der Entwicklung
befindlichen Keime, während der intrauterinen Entwicklung, während
der Geburt oder während des extrauterinen Individuallebens zur
Degeneration führen. Die Folgen ^solcher, die Keimanlage und
-entwicklung beeinflussenden Schädigungen zeigen sich dann in
den degenerativen Erscheinungen, die .morphologisch in dem ge¬
häuften Auftreten von Mißbildungen, den Stigmata degenerationis,
und funktionell in Anomalien verschiedenster Art, darunter Stö¬
rungen der psychischen Fähigkeiten, zum Ausdruck kommen.
Es kommt also der Übergang von erblicher Belastung zur
erblichen Behaftung zustande. Diese von BinswangeUj an¬
gegebene Unterscheidung sieht in der ersteren die Tatsache, daß
in der Familie des Patienten Geistes- oder Nervenkrankheiten
überhaupt vorgekommen sind, in der letzteren das Vorhandensein
gewisser körperlicher und geistiger Merkmale der vor sich ge¬
gangenen Übertragung pathologischer Keimesvariationen. Die
erbliche Belastung, bei der man eine direkte, indirekte und koila-
terale unterscheidet, darf nun in ihrer Bedeutung nicht überschätzt
werden. Wir dürfen uns keinenfalls zu der Annahme versteigen,
daß bei Individuen mit erblicher Belastung und bei Degenerierten
leichteren und höheren Grades eine krankhafte Störung der Geistes¬
tätigkeit vorhanden sein muß. Erst eine erbliche Belastung und
Entartung erheblicheren Grades berechtigt uns, dem Geistes¬
zustände eines Angeschuldigten unsere Aufmerksamkeit zuzu-
wenden, und da ist es dann durchaus möglich, daß wir auch
einer auf dem degenerativen Boden entstandenen degenerativen
Seelenstörung begegnen können. D. h. also, erblich Belastete
sowie degenerierte Individuen können in stärkerem und geringerem
Grade zu einer geistigen Erkrankung disponiert sein. Auf keinen
Fall dürfen aber die Begriffe erblich Belasteter, Degenerierter und
Geisteskranker von vornherein identifiziert werden, ebensowenig
wie wir in jedem Geisteskranken einen erblich Belasteten oder
Degenerierten sehen dürfen.
‘) O. Binswanger, Lehrb. d. Psychiatr. Bearb. v. Binswanger-Cramer-
Hoche-Siemerling-Westphal-Wollenberg.
30 Dr. med. Fr. Jos. Widmann
Kommt nun eine durch Erblichkeit, also auf endogenem Wege
erworbene, oder eine durch exogene Schädlichkeiten herbeigeführte
oder durch eine Verbindung beider zustande gekommene Dis¬
position in sichtbaren Erscheinungen auf physischem und psy¬
chischem Gebiete zum Ausdruck, so sprechen wir von einer Ent¬
artung. Die Entartung wäre demnach nicht nur die Folge einer
Erblichkeit, sondern auch anderer eine angeborene Disposition
bedingender Momente, wie ich solche bereits erwähnt habe. Aus
der Tatsache, daß ein großer Teil der Geisteskranken erblich
belastet ist, hat sich vorzugsweise die Lehre von der Entartung
herausgebildet, mit der sich bereits 1857 und noch früher der
bekannte französische Psychiater Morel 1 ) in streng wissenschaft¬
licher Weise beschäftigt hat. Die genauere Erschließung der
Eigentümlichkeiten des Seelenlebens der Entarteten gehört den
letzten zwei Dezennien an und ist das Hauptverdienst Magnans 2 )
und J. A. L. Kochs 3 ) 4 ). Die Lehre vom Geisteszustand der Ent¬
arteten, die Magnan in einer Reihe einzelner Veröffentlichungen,
in seinen „psychopathischen Minderwertigkeiten“, und Koch aus
einer Menge von Einzeltatsachen aufgestellt hat, hat sich in ihren
wesentlichen Zügen bis auf den heutigen Tag erhalten, wenn, man
auch nach Hoch es 5 ) Urteil nicht mit allem einverstanden zu sein
braucht, „was Magnans Neigung zum Schematisieren und Kochs
zu weite Fassung des Begriffs hineingebracht hat“.
Das Gebiet der erblichen Belastung und Entartung nebst den
sich daraus häufig ergebenden Grenzzuständen zwischen geistiger
Gesundheit und Krankheit hat namentlich auch in ihrer Beziehung
zur Strafgesetzgebung die Psychiater in zunehmendem Maße be¬
schäftigt, was in den Literaturerzeugnissen besonders auch der
letzten Zeit seine Bestätigung findet. Ich nenne unter den Psy¬
chiatern hier nur die Namen Aschaffenburg, Birnbaum, Bon-
hoeffer, A. Cramer, A. Leppmann, C. Moeli, R. Sommer,
Ziehen und verweise im übrigen auf die zahlreichen Literatur-
*) Morel, TraitS d£g6nerescences de l’espece humaine, 1857.
2 ) Magnan, Psychiatr. Vorlesungen, Heft 11,111, über die Geistesstörungen
der Entarteten. Deutsch v. P. J. Möbius. Leipzig b. Thieme, 1892.
3 ) J. A. L. Koch, Die psychop. Minderwertigkeiten, 1891, 1893. Ravensburg.
4 ) Derselbe, Abnormer Charakter in Grenzfragen, 1900, Wiesbaden bei
Bergmann.
5 ) A. Hoche, Die klin. Grundlagen d. gerichtl. Psychiatrie. Berlin 1901,
bei August Hirschwald, S. 415.
" Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 31
angaben bei A. Cramer (a. a. O. S. 47ff.), bei A. Hoche (a. a. O-
S. 554/55 u. 719) Und bei A. H. Hübner 1 ).
Die nächsten beiden Fragen seien nun die: Welche Merkmale
zeugen für die Wirksamkeit abnormer, erblich nervöser Einflüsse
in einem Menschen, und wann liegt für den Richter ein Anlaß
vor, die Untersuchung eines Individuums dem Sachverständigen
zu übertragen?
Einen gewichtigen Platz nehmen in der Lehre von der Ent¬
artung und der Erblichkeit überhaupt die bereits erwähnten Stig¬
mata degenerationis ein, und zwar sowohl körperlicher als auch
seelischer Art. Ich sehe von einer ausführlichen Erörterung der
ersteren ab, deren Bedeutung für die Beurteilung der psychopathi¬
schen Persönlichkeit als ebenso außer Frage stehend betrachtet
werden kann wie beim angeborenen oder frühzeitigst erworbenen
Schwachsinn und beim Jugendirresein, vorausgesetzt, daß wir das
Vorhandensein zahlreicher und ausgeprägter morphologischer Ab¬
weichungen und gleichzeitig mit diesen, wie R. Sommer 2 ) hervor¬
hebt, funktionelle Organschädigungen feststellen können. Wenn
wir uns auch vor einer Überschätzung. der körperlichen Kenn¬
zeichen hüten müssen, so vermag ich mich jedoch der Ansicht
Bumkes 3 ) u. a., die den Wert derselben überhaupt verneinen
wollen, auf Grund des Studiums der einschlägigen Literatur und
eigner klinischer Feststellungen keinesfalls anzuschließen. Be¬
züglich der morphologischen Deformitäten bin auch ich 4 ) in einer
früheren Arbeit, die ich der Anregung von Prof. R. Sommer-
Gießen danke, zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Summation,
erheblicher Deformitäten namentlich am Schädel beim einzelnen
Individuum zweifellos bei den geistig Abnormen häufiger anzu¬
treffen ist als beim Normalen. Und in diesem Hinblick möchte
ich auch meine eigenen Feststellungen resümieren, zu denen ich
neben meinen Untersuchungen auf Schädeldeformitäten bei Hebe-
phrenen und auch bei Gesunden gelangt bin. Damals zwangen
mich die gemachten Festlegungen zu der Annahme, daß unter
den von mir im beruflichen und außerberuflichen Verkehr zum
Teil unauffällig beobachteten und explorierten, zum Teil genau
*) A. H. Hübner, Lehrb. d. forens. Psych. Bonn 1914, Marcus u. Weber,.
S. 79 u. 674.
2 ) R. Sommer, Diagnostik der Geisteskrankheiten.
3 » Bumke, Über nervöse Entartung. Springer, Berlin 1912.
*) Widmann, Gibt es bei Dementia praecox Schädeldeformitäten und*
welcher Art? Eine psychiatr. Studie. Diss. (Gießen). CarlMarhold, Halle a. S. 1914..
32
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
untersuchten normalen Personen manche der Gruppe der Psy¬
chopathen zuzurechnen waren. Jedenfalls kann das Vorhanden¬
sein solcher Merkmale rein äußerlich als ein Anhaltspunkt ge¬
nommen werden, daß anamnestisch nachzuweisende geistige oder
nervöse Störungen der Vorfahren dem zu untersuchenden Menschen
anhaften. Sind wir zu der Erkenntnis bei der Untersuchung ge¬
langt, daß anamnestisch und morphologisch auffallende Sym¬
ptome der Entartung sich nachweisen lassen, dann dürfen wir in
forensischer Hinsicht den Eihfluß* nervöser Erblichkeit in Rech¬
nung setzen und von einer „psychopathischen Belastung“ sprechen
und dieselbe um so bestimmter in die Wagschale zugunsten des
Delinquenten werfen, je zahlreicher und ausgeprägter diese Er¬
scheinungen vorhanden sind. Dieselben dürfen jedoch niemals
für unser Urteil allein maßgebend oder gar ausschlaggebend sein.
Weit wichtiger sowohl für den Sachverständigen als auch für
den Richter sind die seelischen und sogenannten soziologischen,
d. h. im sozialen Leben hervortretenden Stigmata. Auf die ersteren
sehr wichtigen Kennzeichen gedenke ich gleich noch näher ein¬
zugehen. Die letzteren, die im äußeren Leben, im allgemeinen
äußeren Verhalten, in Lebensgang und Lebensführung in die Er¬
scheinung treten und dort die degenerative Eigenart in charakteri¬
stischer Weise zum Ausdruck bringen, sind in ihrer forensischen
Bedeutung als sehr wesentlich zu bewerten. Bei ihnen handelt
es sich nicht mehr wie bei den physischen und psychischen Stig¬
mata um Feststellungen und pathologische Eigenheiten von vor¬
wiegend theoretisch-wissenschaftlichem Werte, sondern hier wird
der Nachweis geführt, daß die psychopathischen Eigentümlich¬
keiten sich auch nach außen hin betätigen und im wirklichen
Leben, # der Lebensführung und -gestaltung evident bemerkbar
machen. „Also nicht bloß der Nachweis ihres Bestehens“, wie
Birnbaum 1 ) klar kennzeichnet, „sondern auch der ihres wirk¬
samen Funktionierens wird dadurch erbracht“. Hierzu zählen
nun nicht bloß die mit ausgesprochenen sozialen Verfalls- und
kriminellen Entgleisungstendenzen Behafteten, sondern auch die
leichteren Formen psychopathischer Entartung, wie sie sich aus
den gleich bei den psychischen Stigmata zu besprechenden psy-,
■chopathischen Wesenseigentümlichkeiten leicht äbleiten lassen.
Von diesen mannigfachen soziologischen Stigmata, die sich selbst
unter den günstigsten Lebensbedingungen finden, greife ich einige
') K. Birnbaum, Die psychopath. Verbrecher, 1914. Verl. b. Dr. P. Langen-
scheidt, Berlin S. 30.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 33
besonders wichtige heraus (nach Birnbaum): Frühzeitiges und
verschiedentliches Versagen in selbst unschwierigen Lebenslagen
und bei geringfügigen sozialen (wirtschaftlichen u. dgl.) Be-'
lastungsproben trotz an sich ausreichender geistiger Fähigkeiten;
mangelnde Anpassungsfähigkeit an die gegebenen Verhältnisse,
Neigung zu allerhand extravaganten Plänen, Entschlüssen und
Handlungen, Aufgeben bester Stellungen und geordneter Ver¬
hältnisse, Hinneigung zum Verkehr und Anschluß an sozial minder¬
wertige und bedenkliche Gruppen lind Berufe, wie dekadentes
Künstlertum, zweifelhafte Großstadtexistenzen (gewerbsmäßige
Spieler, bessere Zuhälter u. a. kriminelle Elemente mehr); Ten¬
denz zu Konflikten und Reibungen, kurz zur Erschwerung der
Beziehungen mit anderen, insbesondere der Familie und den Be¬
rufsgenossen, Hang zu törichter Verschwendung und Ausschwei¬
fungen verschiedener Art mit finanzieller und gesundheitlicher
Zerrüttung, kurzum eine allgemeine Tendenz zu einem abschüssigen
Lebensgang. Selbstredend sind derartige einzeln oder kombiniert,
stärker oder schwächer auftretende Züge noch keine untrüglichen
Beweise einer psychischen Entartung. (Es ist auch zu bedenken,
daß ähnliche Äußerungen durch äußere Momente, ungünstige
Lebens- und Milieuverhältnisse hervorgerufen sein können.)
Unter diesen Gesichtspunkten sind die soziologischen Stig¬
mata auch vom forensischen Standpunkt aus zu verwerten, wobei
vor allem neben dert morphologischen Kennzeichen das
Vorhandensein funktione Her und psychischer Störungen
von Wesentlichkeit ist. Es geht jedoch nicht an, — das sei
jetzt bereits hervorgehoben — mit all diesen Syndromen die Un¬
zurechnungsfähigkeit einer psychopathischen Person begründen
zu wollen, und mögen dieselben noch so zahlreich und ausgeprägt
nachzuweisen sein, aber immerhin läßt sich auf der anderen Seite
nicht verkennen, daß wir eine Minderung 1 der Zurechnungsfähig¬
keit vor uns haben können. Zu ihrer schärferen Erkenntnis führt
der Weg durch die Serie der funktionellen und psychischen Stö¬
rungen.
Die funktionellen Störungen des Zentralnervensystems äußern
sich beim Entarteten vornehmlich einmal in dem Mißverhältnis,
das vielfach zwischen Reiz und Reaktion besteht, und dann in der
ungleichmäßigen Entwicklung und Tätigkeit der einzelnen Seiten
des Seelenlebens, d. h. in einem Mangel an „Harmonie“. Bis
x zur frühesten Kindheitsentwicklung lassen sich gar oft diese Merk¬
male zurückverfolgen, die in der Pubertät dann meistens auffälliger
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 3
34
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
durch allerhand unüberlegte Impulsivitäten und Extravaganzen in
Erscheinung treten, um dem erwachsenen Degenerierten vollends
das Gepräge des von den Franzosen passend als „instable“ Be-
zeichneten zu geben. Einseitige Begabung, künstlerische Talente,
gehören nicht zu den Seltenheiten. Aber die Ausgeglichenheit,
die Selbstbeherrschung im psychischen Leben fehlen. Unstet,
sprunghaft das Wesen, „bizarre Einfälle“ auf der einen Seite, wie
Ziehen sich ausdrückt, rücksichtslosester Egoismus auf der anderen
Seite bestimmen oft ihre Handlungen, und so werden sie leicht,
zumal unter der Mitwirkung begünstigender Einflüsse, wie der In¬
toleranz gegen Alkohol und Nikotin oder der mangelnden Resi¬
stenz gegen klimatische und Witterungseinflüsse, bei allen Unter¬
nehmungen und Arbeiten immer mehr oder weniger ein Opfer
ihrer Unstetigkeit und unglücklichen Impulsivität. Im Affekt aller
Hemmungen bar folgen sie rücksichtslos ihren Trieben in nament¬
lich bei hochgradig ethisch Defekten unberechenbarer Weise. Nicht
selten begegnet man stärker oder schwächer ausgeprägten Zwangs¬
vorstellungen oder Zwangszuständen, die unter dem Einflüsse ge¬
wisser Phobien zu den perversesten Zwangshandlungen führen
können. Die Neigungen gewisser Degenerierter zu pathologischen
Einfällen (Bonhoeffer)')und zu lebhafter Phantasie (Birnbaum)-j,
welch letztere sie zum pathologischen Lügner ausarten lassen kann,
seien erwähnt. Natürlich gibt es je nach der Stärke der Störung
des Seelenlebens entsprechende Abstufungen von allen möglichen
Minderwertigkeiten, wie übrigens auf der anderen Seite die Mög¬
lichkeit der Regeneration besteht. Auf diese Spät- und Nachreife
bei psychisch Minderwertigen hat speziell A. Le pp mann aufmerk¬
sam gemacht.
, Von praktischer Bedeutung ist vor allem der verschieden hohe
Grad der intellektuellen Entwicklung bei vorhandenen ethischen
Defekten. Für die strafrechtliche Begutachtung ist es daher wesent¬
lich auseinanderzuhalten, ob wir es.mit rein moralisch d. i. ge¬
fühlsmäßig Schwachsinnigen zu tun haben, oder ob wir eine
Kombination von moralischer Degeneration und intellektuellem
d. h. verstandesmäßigfem Schwachsinn vor uns haben. Letzteres
erleichtert selhstredend die strafrechtliche Begutachtung nicht un¬
erheblich. Bei der Kennzeichnung des Wesens und der krimi-
') Bonhoeffer, Der patholog. Einfall. D. M. W. 1905, Nr. 38.
’S) Birnbaum, Degenerative Phantasten. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie,
,Bd. 64, Heft 3, S. 363. ... . .
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 35
nellen Artung des psychopathischen Rechtsbrechers kommt es
wie bei jedem normalen Individuum auf den Charakter an. Zu
seiner Kenntnis gelangen wir auf dem Wege über die Gefühls¬
sphäre des Menschen, von ihr leitet sich das ganze seelische
Leben'ab. Nicht zu Unrecht nennt Kurella die Erforschung der
individuellen Aflektdispositionen das grundlegende Problem der
Kriminalpsychologie (bei Birnbaum a. a. O. S. 30). Die Defekte
der Gefühlsanlagen geben jenem Typus moralischer Minder¬
wertigkeit das Gepräge, den man bekanntlich als eine Krankheits¬
form eigener Art hingestellt hat und für den im Jahre 1835 von
Prichard der Ausdruck „moral insanity“ eingeführt worden ist.
Prichard selbst wollte unter dieser Bezeichnung jedoch lediglich
ein Gefühlsirresein im Gegensätze zum Verstandesirresein, zur
„intellectual insanity“, verstanden wissen, wie denn auch der Streit
der Meinungen damit endete, in dem „moralischen Irresein“ eben
auch nur eine besondere Entartungserscheinung, ein Kennzeichen
degenerativer Veranlagung, zu sehen. Es ist nun durchaus nicht
notwendig, daß sittliche Gefühlsstumpfheit allein zur Kriminalität
ühren muß. Einmal können trotz ihrem Bestehen ausreichende
Hemmungen, insbesondere verstandesmäßige, Zweckrriäßigkeits-
erwägungen und Vernunftgründe von dem kriminellen Akte abr
halten, dann aber ist zunächst nur für das Wesen ethischer
Defektuosität wie eines jeden anderen Defektes der Ausfall sitL
licher Triebkräfte und Hemmungen charakteristisch. Das.äußere
Hapdeln reguliert sich sodann ohne deren Beteiligung, ohne darum
gleich kriminell zu werden. Die Antriebe zum Verbrechen werden
erst von vielen anderen Momenten, äußeren Einflüssen, sowie
auch und vornehmlich von der sonstigen Charakterveranlagung
bestimmt. Bestehen solche Wesenszüge, psychopathischer wie
auch normaler Art, in denen eine stärkere Betätigungs-, Ent-
ladungs- und Angriffstendenz schlummert, so erliegt das Indivi¬
duum um so leichter dem Antriebe, je mehr und je bestimmter
dem Psychopathen eigne Charakterzüge sich mit dem Moraldefekte
vereinigen, wie z. B. starker Egoismus, abnorme Großmannssucht,
pathologische Affekte und Leidenschaften, krankhaft vermehrte Be¬
gierden, Triebe und ähnliche Wesenszüge von starkem Betätigungs¬
drang. Alsdann ist allerdings der Schritt zum unsozialen Handeln
nur ein sehr kurzer. Und wir haben .eine Stufenleiter vor uns,
die uns von Entgleisungen geringfügiger Art bis zur Schwelle
perversesten Dranges zu antisozialer Betätigung schauen läßt.
Diese letzteren Individuen, denen alle Hemmungen, fehlen, finden
3*
36
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
einzig in der Freude am Verbrechen ihre Befriedigung, wie solche
Fälle, die jedoch zu den größten Ausnahmen zählen, von Lon-
gard 1 ) in ihrer krassesten Gestalt beschrieben worden sind. Siet
sind jener Verbreche^klasse ethisch defekter Degenerativer zuzu¬
rechnen, für die Lombroso die Bezeichnung des „delinquente
nato“ geschaffen hat, den in der Tat' etwas schiefen Ausdruck,
der mit den Lombrososchen Theorien über seinen „geborenen
Verbrecher“ s.Zt. zu einem scharfen Meinungsaustausch geführt hat,
der insbesondere die deutschen Irrenärzte anspornte, sich mit den Be¬
ziehungen zwischen Geistesstörungen und Verbrechen ins genaueste
zu beschäftigen, bis Bleuler 2 ) in einer gründlichen und grund¬
sätzlichen Auseinandersetzung und Gaupp :! ) in einem sachkun¬
digen und klaren Überblick über den heutigen Stand der Frage
eine Klärung der Ansichten bewirkten. Jedenfalls sind es aber die
umfangreichen Untersuchungen Lombrosos und überhaupt der
italienischen Schule über den geborenen Verbrecher gewesen, die
dazu beigetragen haben, allgemein die Kriminalisten in ihren
Studien mehr auf den Verbrecher und seine Natur zu lenken, als
sich in allen möglichen- spitzfindigen Lehren und Regeln zu ver¬
lieren. Sie gaben dann mit anderen die Anregung, den längst¬
gehegten und lebhaft geäußerten Wunsch einer neuen Hand¬
habung des Strafrechts und der Strafvollstreckung zur Tat werden
zu lassen.
Das Kapitel der „irren Verbrecher“ sowie der „verbrecheri¬
schen Irren“ bildete seit längem das Sorgenkind aller zur Lösung
der Frage berufenen fachwissenschaftlichen und gesetzgeberischen
Kreise, wie aus den in den 80er und 90er Jahren vornehmlich
angewachsenen Literaturerzeugnissen leicht zu ersehen ist
(C. Moeli 4 ), A. Cramer a. a. O. Lit.T S. 19). Vor allem aber war
es ein Teil der Strafrechtspflege, der damals bereits die Auf¬
merksamkeit der Irrenärzte fesselte, das war der Strafvollzug.
Ganz besonderen Schwierigkeiten in forensischer Beziehung
begegnen wir aber bei der Beurteilung und Berücksichtigung der
sogenannten Grenzzustände, wie wir sie speziell bei psycho¬
pathisch veranlagten und zu Delikten neigenden Individuen an-
*) Longard, Über „moral insanity“, Arch. f. Psychiatrie, Bd. 43.
*) Bleuler, „Der geborene Verbrecher“. Verlag von J. F. Lehmann, Mün¬
chen 1896.
3 ) Gaupp, Monatsschr. f. Krim.-Psychol. u. Strafrechtsreform, Bd. 1.
4 ) C. Moeli, Über irre Verbrecher. Berlin 1888.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 37
treffen. Über das Vorhandensein solcher Degenerierter in den
Strafanstalten äußert sich schon im Jahre 1888 C. Moeli (a. a. O.
S. 168) unter Hinweis auf andere Autoren in folgendem Sinne:
„Unstreitig aber finden sich die wohlbekannten Übergangsformen
zwischen gesunder und krankhafter Geistesbeschaffenheit, welche wir,
analog den Abstufungen in der Entwicklung und der funktionellen
Leistung der übrigen Körperorgane, als schwächliche, oder (vorüber¬
gehend) geschwächte oder kränkliche psychische Konstitutionen an-
sehen können, gerade bei den Insassen der Strafanstalten stark ver¬
treten. “
Diese Fälle stellen Richter und Sachverständige oft vor kom¬
plizierte Exempla des Meinungsaustausches und der Entscheidung.
Denn wir müssen uns immer vergegenwärtigen, daß ein ent¬
arteter, psychopathischer Verbrecher keineswegs schon 'gleich¬
bedeutend ist mit einem geisteskranken und unzurechnungsfähigen.
Die Feststellung der Psychopathie gestattet über die Unzurech¬
nungsfähigkeit eines Verbrechers noch kein Urteil. Nach Er¬
hebung genauester anamnestischer Daten müssen wir 'die Fülle
sämtlicher Stigmata sowie aller von außen einwirkenden Schädlich¬
keiten zur Klärung des psychopathologischen Zustandsbildes durch¬
gehen und in die Wagschale der Beurteilung hineinlegen, wir
müssen darauf achten, ob wir lediglich einen episodisch-psycho¬
tischen Ausnahmezustand oder einen pathologischen Habitual-
zustand für die Rechtsbrüche verantwortlich zu machen haben.
Zur völlig gesicherten Diagnose geistiger Minderwertigkeit ist der
Nachweis zu liefern, daß irgendeine Schädlichkeit endogenen
oder exogenen Ursprungs das Seelenleben zu beeinträchtigen im¬
stande war. Von den im Laufe des Lebens einwirkenden Schädlich¬
keiten sind vornehmlich die von Bedeutung, die das in der Ent¬
wicklung zur Vollreife befindliche Gehirn treffen, und da ist be¬
sonders an akute fieberhafte Gehirnkrankheiten und schwere Kopf¬
verletzungen zu denken. Im Laufe des weiteren Lebens sind
ebenfalls Kopftraumen außer dem Alkoholabusus als schwer¬
wiegende Ursachen in Betracht zu ziehen. Die bei der Zeugung
wirkenden Schädlichkeiten fassen wir in dem bereits ausführlicher
behandelten Begriffe der erblichen Belastung zusammen. Des
weiteren ist festzulegen, in welcher Richtung sich die geistige
Minderwertigkeit äußert, ob wir es mit einer Störung der Ver¬
standes-, Willens- oder Gemütstätigkeit zu tun haben. Bei
den Psychopathen der Verstandestätigkeit sind zwei Untergruppen
zu unterscheiden, einmal die im allgemeinen Verstandesschwachen,
38
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
dann die nach A. Leppmanns 1 ) Vorschlag als Paranoide Be¬
zeichnten, worunter der Autor Personen mit krankhafter Ver¬
standesrichtung bei sonstiger geistiger Leistungsfähigkeit ver¬
steht. Bei den allgemein Verstandesschwachen tritt zuweilen
als nennenswertes Begleitbild eine periodische Unruhe in Erschei¬
nung, während zu der zweiten Gruppe diejenigen zählen, deren
Phantasie von Geburt an alle anderen Verstandesfunktionen über¬
wuchert. Sie bieten das Bild der Pseudologia phantastica, jener
krankhaften Neigung zu phantastischen Erzählungen und Lügen
bei erhaltener Besonnenheit. Auch die Verkannten, die vermeint¬
lichen Genies, die Fanatiker sind dieser Rubrik zuzurechnen,
ebenso die Schwärmer, deren Bedeutung man, wie Leppmann
hervorhebt, entschieden noch unterschätze. — Von den Minder¬
wertigkeiten der' Willensleistung sind am bekanntesten die Un¬
steten. Ferner gesellen sich die krankhaft Willenlosen, die so¬
genannten Abulischen, hinzu und eine Gruppe mit sonderbaren
oder einseitigen Triebrichtungen, namentlich in sexuell abnormer
Richtung.' Wollenberg-) weist darauf hin, daß das ungehemmte
oft abnorm starke Triebleben sowie die lebhafte Affektbewegung
dieser Minderwertigen leicht zu strafbaren Handlungen führe,
ersteres vorwiegend zu perversen Sittlichkeitsverbrechen, letzteres
besonders unter Alkoholeinfluß gelegentlich zu Wutausbrüchen
mit nachfolgenden Gewaltakten. Eine Intoleranz gegen Alkohol
ist derartig Affizierten überhaupt eigen. — Die Minderwertigen der
Gefühlstätigkeit rekrutieren sich zunächst aus den krankhaft Ver¬
stimmten und leicht Reizbaren. Als weiteres Charakteristikum
der meist in keinem Verhältnis zur Reaktion stehenden patholo¬
gischen Reizbarkeit ist speziell ihr periodenartiges Auftreten zu
erkennen. Hierher gehören auch die jetzt in äußerster Euphorie
Schwelgenden und bald darauf aus nichtigen oder gar keinen
erkennbaren Anlässen in ebensolche Verzagtheit und Kleinmütig¬
keit fallenden Personen. Die kriminell wichtigste Untergruppe
ist hier jedoch diejenige mit ethischer Gefühlsstumpfheit. Bru¬
tale Herzenskälte, jeglicher Mangel an altruistischen Gefühlen,
*) A. Leppmann, Die gerichtl. Psychiatrie in bezug auf die Strafgesetz¬
gebung. Das Preußische Medizinal- und Gesundheitswesen in den Jahren
1883—1908. Festschr. d. Preuß. Med.-Beamt.-Vereins, Fischer-Kornfeld, Berlin
1908, S. 530.
2 ) Wollenberg, Die Seelenstörungen bei chron. Vergiftung u. bei Neu¬
rosen; die geistigen Schwächezustände b. A. Hoche, Hdbch. d. ger. Psych. (Lit. 8),
S. 705/06.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 3$
des geringsten Mitleids, leisester Reue, Pietät- und Lieblosigkeit
selbst gegen die nächsten Angehörigen, gepaart mit dem krassesten
Egoismus, sind Kennzeichen dieser Gruppe. Die Begriffe der
Nächstenliebe, des Rechts, von Wahrheit, Ehre .und Sittlichkeit
sind schwach oder gar nicht entwickelt oder werden lediglich von
selbstsüchtigen Utilitätserwägungen bestimmt, demgemäß fehlen
die höheren ästhetischen, sittlichen und religiösen Gefühle. Der
Begriff des „moralischen Irreseins“, in dem Sinne solcher tatsäch¬
lich bestehender Mängel sittlichen Empfindens oder sogar eines
völligen Ausfalls desselben genommen, ist unbestreitbar berechtigt.
Derartige Defekte können ebenfalls auf die bei den vorbeschriebenen
Gruppen genannte Weise von Geburt aus oder durch Schädigungen
des Gehirns während des Lebens bedingt sein.
Nach Darlegung der verschiedenen Zustandsbilder, denen wir
bei der sogenannten psychopathischen Konstitution begegnen
können, erübrigt noch ein kurzer Überblick über die allgemeinen
Beziehungen zwischen degenerativer Veranlagung und Verbrechen,
wobei ich mich im wesentlichen an die sehr gute Disposition
Birnbaums (Lit. 13 S. 357ff.) halten werde. Zunächst müssen
wir stets davon ausgehen, daß sich aus einer degenerativen Ver¬
anlagung durchaus nicht schon irgendwelche Neigung zu De¬
likten ergeben muß. Ein degenere braucht keineswegs gleich
ein sozialer Schädling oder gar Verbrecher zu sein. Vor allem
müssen wir uns davor hüten, in jedem kriminellen Degenerativen
zugleich ein sittlich minderwertiges Individuum erblicken zu wollen.
Einen bestimmten degenerativen Verbrechertypus gibt es über¬
haupt nicht. Entsprechend der Verschiedenartigkeit der degenera¬
tiven Charaktere sind die Varietäten der Verbrechertypen. Die
im vorstehenden geschilderten drei Hauptgruppen geistiger Minder¬
wertigkeiten kommen selten rein, sondern meist in Mischungen
und Übergängen vor. Die verschiedenartigen degenerativen Charakter¬
züge können entweder direkt oder auf Umwegen zur Übertretung
führen. Ein wichtiges den schwächlichen Charakter beeinflussendes
Moment ist das Milieu, in dem er sich bewegt. Die äußeren Ein¬
flüsse sind- beim Psychopathen oft ausschlagender für seine krimi¬
nelle Ausartung als der Grad der Psychopathie. Aus der Schwere
der psychopathischen Veranlagung läßt sich keine Schlußfolgerung
auf die Zahl und Schwere der Verbrechen ziehen. So kommt
beispielsweise ein so schwerer Grad psychopathischer Veranlagung,
wie die konstitutionell depressive Verstimmungsanlage, weniger
für kriminelle Handlungen in Betracht als eine relativ so leichte.
40
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
wie die Haltlosigkeit. Umgekehrt vom Verbrechen ausgehend,
ist die nächstliegende Frage, ob die soziale Entgleisung bzw. das
kriminelle Geschehen schon ausreicht, mit einer degenerativen
Veranlagung in.Zusammenhang gebracht zu werden. Aus krimi¬
nellen Neigungep und erwiesenen Verbrechen allein läßt sich die
Diagnose einer bestehenden psychopathischen Veranlagung nicht
stellen, auch dann nicht, wenn wir es mit Rückfalls- oder gar
Gewohnheitsverbrechern zu tun haben. Ebenso kann die Schwere
der Kriminalität nur bedingt einen Anhalt für eine vorhandene
psychopathische Veranlagung geben, obwohl sich gerade gewisse
Delikte zahlreicher bei Degenerierten finden. Auch das Fehlen
äußerer Einflüsse läßt keineswegs den Schluß auf eine endogen
bedingte Degeneration und daraus folgende Kriminalität zu. Früh¬
zeitige Kriminalität, der man allerdings gerade bei degenerativen
Naturen begegnet, kann ebenfalls nicht ohne weiteres als ein
Stigma degenerationis angesehen werden. Denn frühzeitige Krimi¬
nalität und die im Zusammenhänge mit ihr sich häufig findende
Unbeeinflußbarkeit auf erzieherische und strafende Maßnahmen
finden sich auch bei dem normal veranlagten Verbrecher, zumal
wenn derselbe von früher Jugend an sich in einer ungünstig be¬
einflussenden Umgebung befunden und von derselben gleichsam
großgezogen worden ist und somit, wie Birnbaum (a. a. O.
S. 359) sich ausdrückt, „fixierte kriminelle Gewohnheiten“ an¬
genommen hat. Verbrechen in der Familie deuten gleichfalls
nicht auf eine hereditär-psychopathische Veranlagung und be¬
sondere Disposition zu degenerierter Geistesstörung hin. Der
Unterschied zwischen degenerativen und normalen Verbrecher¬
typen ist überhaupt weniger in der Qualität der vorhandenen
Eigenschaften und Charakterzüge als in der Quantität, d. h. der
Intensität, der Ausprägung und dem Umfang zu suchen. Dennoch
lassen sich auch beim psychopathischen Rechtsbrecher dem Durch¬
schnittsverbrechertum analoge Gruppen aufstellen; Aschaffen¬
burg spricht ja nach der kriminellen Eigenart von psychopathi¬
schen Gelegenheits-, Zufalls-, Gewohnheits-, Affektverbrechern usf.,
und je nach der Verbrechensart von psychopathischen Vagabunden,
Prostituierten, Sittlichkeitsverbrechern, Dieben, Betrügern u. dgl.
Und wie die Summation der körperlichen Stigmata, namentlich
im Bereiche des Schädels, diagnostisch nur verwertbar ist, so
macht eben auch die einzelne kriminelle Eigentümlichkeit noch
lange keinen degenerierten Menschen aus, wohl aber ist das
gleichzeitige Bestehen verschiedener oder gar zahlreicher solcher
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 41
Züge von Belang. Bezeichnend für die degenerative Konstitution
ist häufig ein völlig gesetzloser Krankheitsverlauf, indem plötzlich
aus gar keinen sichtbaren oder geringfügigen Anlässen ganz epi¬
sodisch teils eine klinisch klar umrissene Psychose, teils eine völlig
unklare Mischform, z. B. wie Binswanger (Lit. 3 S. 58) hervor¬
hebt, ein hysterischer Dämmerzustand mit katatonischem Symptomen-
komplex emporschießt, um nach kürzerem oder längerem Bestehen
ebenso jäh wieder unterzutauchen. Da belehren dann erst die
Stammes- und Entwicklungsgeschichte des Patienten sowie
der fernere Krankheitsverlauf oder, namentlich bei rück¬
fälligen Rechtsbrechern, das nicht zu unterschätzende Akten¬
material über den eigenartig episodisch psychotischen Aus¬
nahmezustand, der allerdings dann in der Folgezeit in/totalem
geistigen Verfall, aber auch ebenso sich bessern oder gar in
völliger geistiger Erholung enden kann. Dergestalte Bilder er- '
leichtern und erschweren alsdann mehr oder weniger dem Sach¬
verständigen uud dem Richter das Endurteil und die Entschei¬
dung. Im übrigen bleibt für die Begutachtung eben die Masse
der Erscheinungen und Kennzeichen maßgebend, und dienen zur
Richtschnur für die Annahme einer Entartung die Abweichungen
vom Normaltyp, die, wie Möbius 1 ) betont, eine gewisse Größe
erreichen, von Dauer sind und vererbt werden, und zwar in letz¬
terer Hinsicht entweder als solche oder allgemeiner in Form
irgendeiner Schädigung der Nachkommenschaft zum Ausdruck
kommen können.
Die Unterscheidungen zwischen den ins philosophische Ge¬
biet fallenden Schwankungen und der „Entartung“ gehören oft
zu den schwierigsten Problemen für den Sachverständigen wie
auch für die endentscheidende Justiz. Und da heißt es klaren
(nicht autosuggestiven) Blickes hinreichend Merkmale erkennen,
welche diese Unterscheidungen bekräftigen.
Bei den schweren Fällen mit starker Belastung und zahl¬
reichen körperlichen und geistigen Spuren erleichtern die intellek¬
tuellen Mängel meist die Beürteilung erheblich. Bei guter In¬
telligenz liegen die Verhältnisse nicht so einfach. Es ist sodann
danach zu fahnden* ob und inwieweit die Beeinflussung des Han¬
delns von einer abnormen Reaktionsweise des Gehirns auf un¬
bedeutende äußere Reize ausgeht und darum als krankhaft zu
bewerten ist. Das trifft besonders zu bei allen Affekthandlungen,
’) Möbius, Über Entartung. Bergmann-Wiesbaden 1900.
Dr. mEd. Fr Jos. Widmann
4i
in denen die Entarteten neigen, und läßt sich außer an den übrigen
bekannten körperlichen, funktionellen, seelischen und soziologi¬
schen Begleiterscheinungen auch aus dem Verhalten der Erinne¬
rung erkennen. Ein wichtiges prädisponierendes Moment bietet
die Alkoholintoleranz des Entarteten, die sich in einem
etwa zur Begutachtung stehenden Falle wie bei sonstigen An¬
lässen seitens des Delinquenten gezeigt hat. Von besonderer
Schwierigkeit für die forensische Beurteilung sind die infolge von
£wangsgefühlen oder Zwangsimpulsen auftretenden Zwangs¬
handlungen. Für die Annahme einer solchen Handlung ist
nicht einfach die Tatsache hinzunehmen, daß das Individuum dem
Antriebe zu einer widerrechtlichen, strafbaren Handlung erlegen ist,
sondern' die Gewalt des Triebes sowie die Widerstands¬
kraft des Individuums sind bedeutungsvoll für die Beurteilung.
Die erstere erkennen wir oft in bestimmten Begleiterscheinungen,
als da sind Angstempfindungen und wiederum Erinnerungsmängel,
die letztere ist nach der ganzen Persönlichkeit in intellektueller
und ethischer Hinsicht zu beurteilen, wobei wiederum der Anteil
des Alkohols in Rechnung zu setzen ist.
Der Nachweis abnormer Gefühlsbetonungen allein — so
wichtig auch für die psychopathische Veranlagung die Feststellung
eines pathologisch affizierten Gefühlslebens ist — dürfte für die
Exkulpierung niemals genügen, wenn nicht ebenso wie bei den
anderen Anomalien noch andere wesentliche krankhafte Mängel
bestehen. Zur baldigen Erfassung des psychopathischen Charakters
bedeutet es ja zweifellos eine wesentliche Erleichterung, wenn
man von vornherein das Gefühlsleben zu ergründen sucht, weil
uns die Richtung, Stärke und Verteilung der Gefühlsbetonungen
am leichtesten zur Erschließung der psychopathischen Durch¬
schnittsverfassung führen.
Aus alledem erhellt schon, wie schwierig für die Rechtspflege
die Beurteilung und Behandlung der Rechtsbrecher psycho¬
pathischer Konstitution sein kann. Und das um so mehr, als im
geltenden Recht wohl für die Unzurechnungsfähigen, aber nicht
für die geistig Minderwertigen, zu denen die Psychopathen zu
zählen sind, besondere Bestimmungen vorgesehen sind, die auf
die Eigenart dieser Konstitution Rücksicht nehmen.
Ein Kriterium für die Bewertung der rechtsverletzenden Per¬
sönlichkeit gibt dem Gerichtsarzte und dem Richter die bereits
im Zusammenhänge mit verschiedenen psychopathischen Zu-
startdsbildern erwähnte Alkoholintoleranz. Es ist dabei nicht zu
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 43
\
übersehen, daß auch bei normalen Menschen, die in der Regel
größere Alkoholmengen ohne nennenswerte Schädigung zu er :
tragen vermögen, unter gewissen Umständen doch eine krank¬
hafte Reaktion eintreten kann, z. B. bei großer Hitze (Insolation,
Hitzschlag), infolge einer Kopfverletzung (Schlag, Stoß, Fall) oder
durch starke gemütliche Erregungen aus Gründen seelischer und
körperlicher Erschöpfung, z. B. durch Notlagen aller Art, und aus
ähnlichen Ursachen mehr. Alsdann vermag auch der Normale
auf für ihn sonst indifferente Alkoholmengen mit lebhaften Er-
regungs- und Verwirrtheitszuständen, ja selbst schweren Bewußt¬
seinstrübungen zu reagieren. Hübner (Lit. 9 S. 119) ist dieser
Tatsache namentlich bei Unfallverletzten wiederholt begegnet. Bei
dem geistig Minderwertigen ist infolge seiner Veranlagung bei
viel geringerer Dosis die Rückwirkung eine relativ weit lebhaftere
und gefährlichere. Die genossene Alkoholquantität und -qualität,
Haltung, Gang, Gesichtsfarbe und'Art zu reden und sich 1 zu
geben allein genügen jedoch nicht zur Annahme einer Bewußt¬
seinstrübung, auch nicht tatsächlich vorhandene Erinnerungs¬
beeinträchtigungen, obwohl sie natürlich gewisse beachtenswerte
Anhaltspunkte geben.
Die genaueste Feststellung der geistigen Verfassung zur
Zeit der Tat eröffnet weitere Perspektiven; die seelische Labi¬
lität und erhöhte Beeinflußbarkeit der Psychopathen weist den
Weg für bestimmte Nachforschungen. Von Wichtigkeit ist vor
allem auch, das Mißverhältnis zu konstatieren zwischen Reiz, der
oft ganz geringfügigen äußeren Veranlassung, und Reaktion. Und
für dieses Moment gibt häufig das Verhalten des Delinquenten
nach der Tat gewisse Handhaben. Der unbedeutende Anlaß,
daß z. B. ein Exekutivbeamter (oder irgendeine andere Person)
entstandene Differenzen bei einem Streite beizulegen versucht,
reizt zu den schlimmsten Ausfällen gegen den Beamten als solchen
und die Behörde im allgemeinen, er kann weiter zu den rohesten
Ausschreitungen mit Zerstörungswut führen, die nicht selten auch
in der Isolierzelle noch nicht einmal in einem terminalen Schlafe
ein Ende finden. Tags darauf erweist sich dann die Erinnerung
meistens als auffallend lückenhaft.
Auf einen psychopathischen Menschen vermögen nun außer
dieser Noxe wesentlich leichter auch noch andere, wie plötzlich
lebhafte Gemütserregungen, starke geistige Inanspruchnahme oder
schwere körperliche Anstrengungen, klimatische Veränderungen
u. dgl. m. von Nachteil zu sein und ihn, der nicht im Sinne des §51
44
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
als geisteskrank und unzurechnungsfähig, sondern im gewöhnlichen
Leben nur als geistig minderwertig und darum nur vermindert zurech¬
nungsfähig zu bezeichnen ist, derart zu beeinflussen, daß er tatsächlich
als vorübergehend unzurechnungsfähigerscheinen muß.Aschaffen-
bürg 1 ) hat für diese Zustände den Ausdruck „partielle“ und später 2 )
zurVermeidung des Zusammenwerfens mit „partieller Zurechnungs¬
fähigkeit“ die noch klarere Bezeichnung „temporäre Unzurech¬
nungsfähigkeit“ geprägt. Der Autor versteht darunter, daß
ein im allgemeinen zurechnungsfähiger Mensch difrch irgend¬
welche Einwirkungen vorübergehend in einen Zustand der
Unzurechnungsfähigkeit geraten kann und bringt im besonderen
unter diesen Begriff „psychopathische, haltlose, minderwertige
Menschen, die im allgemeinen nicht exkulpiert werden können,
bei denen aber das Zusammentreffen schädigender Ursachen oder
das Vorwiegen bestimmter Vorstellungen die ohnedies verminderte
Zurechnungsfähigkeit für eine bestimmte Handlung ausschließen“.
Das herrschende Gesetz kennt jedoch weder temporär Unzurechr
nungsfähige noch vermindert Zurechnungsfähige. Und es bedarf
schon solcher, wie vorstehend geschildert, eklatanten Fälle durch
Bewußtseinstrübungen bedingter Rechtsverletzungen, um dem
Delinquenten, ohne den Dingen Zwang anzutun, den Schutz des
§ 51 zuteil werden zu lassen.
Wie ersichtlich, sind es gerade auch die Grenzzustände nach
einem Trauma — sowohl somato- als auch psychogener Art —
und die durch dasselbe bedingten Zustände von transitorischer
Bewußtseinsstörung, die Reizbarkeit im Affekt, der pathologische
Stimmungswechsel, die Verstimmungszustände, die mannigfachen.
Klagen über allerhand körperliche Sensationen, Kopfschmerz,
Schwindel, Angst, Rückenschmerzen, Reißen in allen Gliedern und
die Intoleranz gegen Alkohol, die gelegentlich bei der Beurteilung^
in foro Schwierigkeiten machen können. Es bestehen lediglich
Klagen dieser Art, im übrigen machen die betreffenden Kranken einen
geistig völlig intakten Eindruck. Dem zunächst in diesen Fällen
nicht ungerechtfertigten Mißtrauen gegen die Tatsächlichkeit solcher
Beschwerden kann nur durch eine möglichst eingehende klinische Be- 1
obachtung und Untersuchung, wobei auch die Anstellung von
Alkoholversuchen zu empfehlen ist, begegnet werden. Denn es
ist daran zu denken, daß diese Intoleranz sich oft nur kurze Zeit
_ i
') Aschaffen bürg, Die rechtlichen Grundlagen der ger. Psychiatrie.
A) Strafrecht und Strafprozeß b. Hoche, S- 41 (Lit. 8).
*) Derselbe, ebenda, 2. Aufl., 1909, S. 49.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 45
nach dem Trauma erhält. Gelingt der Nachweis der Intoleranz,
so ist das wertvoll, damit natüflich noch nicht bewiesen, daß ein
Trauma vorausgegangen ist. Ist jedoch die traumatische Schädi¬
gung durch einwandfreie Zeugenschaft ei»wiesen, deren Aus¬
sagen überhaupt unter individualisierender Berück¬
sichtigung des Wertes des einzelnen Zeugen für die
ärztliche Begutachtung von Wesentlichkeit sind, und finden sich
außerdem andere psychopathische Erscheinungen, so eröffnet sich
uns auch hier ein Weg für den Angeschuldigten, ihn unter den
Schutz des § 51 des RStGB. zu stellen oder ihm zum mindesten
doch mildernde Umstände zu erwirken. Allein man hüte sich
hier, wovor Cramer warnt, generell geltende Sätze aufzustellen.
Es ist genauestens immer auf alle Momente zu achten, welche
bei Begehung der Tat auf das einzelne Individuum gewirkt haben,
und auf das Verhalten desselben nach vollbrachter Tat. Birn¬
baum 1 )-), der die zahlreichen in Betracht kommenden-Einzel¬
heiten zur Sondierung der psychopathischen Persönlichkeit in
einer besonderen Arbeit dargelegt hat, gibt in einer weiteren
Abhandlung als bequemes Hilfsmittel zur Auffindung der psycho¬
pathischen Charakteranlagen und schärferen Fassung des psycho¬
pathischen Wesens folgende Disposition zur Hand: 1. die Fest¬
stellung des Durchschnittszustandes, 2. des Geisteszustandes zur
Zeit der Tat, wobei die Beachtung des Geisteszustandes bald nach
der Tat nicht zu vergessen ist, und 3. die strafrechtliche Zurech¬
nungsfähigkeit.
Zu pathologischer Reaktionsweise genügt bei den einen ein
Affekt, bei den anderen kommen Alkohol oder andere Gifte oder
bei besonders dazu disponierten Individuen mit dem Fortpflan¬
zungsgeschäft zusammenhängende Vorgänge in Frage, oder es
kommt — und das nicht selten — eine Kombination mehrerer
solcher Momente vor, so daß wir alsdann ohne besonderes Kopf¬
zerbrechen für die Zeit der Begehung der Tat eine krankhafte
Störung der Geistestätigkeit im Sinne des §51 annehmen dürfen.
Auch wo wir nicht zu einem klaren Entscheid gelangen können,
stehen dem Richter bei der lex lata bestimmte reichsgericht-
') Birnbaum, Über psychopathische Persönlichkeiten. Bergmann-Wies-
baden, 1909.
s t Derselbe, Einige wichtigere Gesichtspunkte für die strafrechtliche Be¬
urteilung konstitutionell-psychopathischer Personen. Monatsschr. f. Krim.-Psychol.
u. Strafrechtsreform, 7. Jahrg., 1911, S. 606/07.
46 Dr. med. Fr. Jos. Widmann
liehe Entscheidungen zur Seite, die dem Sachverständigen
es ermöglichen, geeigneten Falles* allerdings unvollkommen, aus¬
zukommen. So hat sich eine Reichsgerichtsentscheidung 1 ) vom
Jahre 1890 in dem Sinne ausgesprochen, daß bei berechtigten
Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit zugunsten des Angeklagten
zu entscheiden sei. In späteren Wahrsprüchen (Cramer a. a. O:
S.46/47, Schultze) 2 ) hat das Reichsgericht gleiche Stellungnahme
gezeigt. Für den Sachverständigen bleibt es die Hauptaufgabe,
soweit der § 51 in Betracht kommt, zu entscheiden, ob ein Zü-s
stand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes¬
tätigkeit zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung vorhanden
war oder nicht. Diese Entscheidung, ist manchmal unstreitig recht
schwer, insbesondere dann, wenn das Individuum eine solche
Handlung vornimmt, im Beginn einer für den Laien nicht be¬
merkbaren geistigen Störung, wie sie bei Psychopathen unter def
Einwirkung mehr oder weniger harmloser äußerer Einflüsse leicht
ausbrechend und ebenso rasch abklingend aufzutreten vermögeni
Das „non liquet“ des Sachverständigen bedeutet dann jederzeit
für ihn selbst, das Gericht und den Angeklagten einen un¬
befriedigenden Abschluß. Aber wer selbst als psychiatrischer
Sachverständiger vor Gericht aufzutreten hat, weiß, daß es solche
Kuriosa der Unklarheit gibt. Birnbaum (Lit. 13 S. 547) ver¬
gleicht die beim Psychopathen ungemein leicht auftretenden epi¬
sodischen Schwankungen, die zu einer Herabminderung der Zu- 1
rechnungsfähigkeit führen können, mit den schnell und leicht
wechselnden Zuständen, wie sie bezüglich der Haft- und Verhand¬
lungsfähigkeit bei den degenerativ-episodischen Haftzuständen und
-psychosen gefunden werden. Wie weit diese Schwankungen
gehen können, zeigt der letztgenannte Autor an einem seiner
Fälle. Ich schließe dabei, wie der Autor wohl selbst, die Möglich¬
keit einer gerissenen Simulation und Dissimulation aus. Es
handelte sich um einen Psychopathen, der hintereinander folgende
Stadien durchzumachen hatte: „Im Strafgefängnis geisteskrank
(strafvollzugsunfähig); zur Zeit der Tat (wie die Anstaltsbeobach¬
tung ergab) nicht geisteskrank; im Untersuchungsgefängnis geistes¬
krank; zur Zeit der Anstaltsbeobachtung nicht geisteskrank; im
Termin geisteskrank (nicht verhandlungsfähig); im Untersuchungs-
') Reichsgerichtsentscheidung, E. XXI, p. 131, Urteil des I. Strafsenats v.
23. 10. 1890. ;
2 ) Schultze, Entscheidungen, 1904, bei Carl Marhold-Halle. " ''
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 4 J.
"i
gefängnis wiederum geisteskrank (nicht haftfähig)“. AuchGöring 1 )
skizziert in seinem Buche über die „Gemeingefährlichkeit“ ein^n
in dieser Hinsicht klassischen Fall (Fall 122). ,
Bei den transitorischen’Störungen, episodischen Schwankungen
und zeitlich begrenzten Verstärkungen der Psychopathie ist es für
die strafrechtliche Beurteilung das Wesentliche, daß diese Erschei¬
nungen gleichzeitig eine zeitlich entsprechend begrenzte, tempo¬
räre Herabminderung der Zurechnungsfähigkeit bedingen. Für
eine bestimmte Epoche, insbesondere auch für die Zeit einer be¬
stimmten Straftat, kann die Zurechnungsfähigkeit eine Beschränkung
erfahren, die dem sonstigen psychopathischen Habitualzustandenicht
mehr entspricht. Der Grad der Herabsetzung ist natürlich wieder von
der Stärke des episodisch-psychopathischen Augenblickszustandes
abhängig. Steigt er, wie bei den Verstimmungs-, Erregungs-,
pathologischen Rausch- und Dämmerzuständen bis zu einwand¬
freier psychotischer Höhe, so sind die Voraussetzungen für die
Anwendung des §51 St.G.B. erfüllt. Aber mit Recht warnt hier
Birnbaum, in solchen Fällen bei der Begutachtung schematisch
zu verfahren. Die Begutachtung auf Zurechnungsfähigkeit oder
Unzurechnungsfähigkeit darf nur unter gewissenhaftester Zer¬
gliederung des einzelnen Falles und genauester Abwägung aller
in Betracht kommenden Momente erfolgen. An dieser Stelle sei
beispielsweise darauf hingewiesen, daß Erinnerungsdefekte, die
bei den Angaben der degenerativen Kriminellen eine recht er¬
hebliche Rolle spielen, gern vorgetäuscht werden. Und die Ent¬
scheidung, ob es sich um eine Vortäuschung handelt oder nicht,
bleibt dann wohl schwierig und zweifelhaft, wenn nicht bestimmte
pathologische Zeichen zur Seite stehen, wie sie zur Zeit der Tat
vorhanden sind, als da sind: zerfahrenes Wesen, pathologische
Affektanlage, Auffälligkeiten im allgemeinen Verhalten, körperliche
und speziell nervöse Begleitsymptome u. dgl. m. Der Begutachter
muß sich davor hüten, wegen einzelner psychopathischer Symptome,
die schließlich einen psychopathischen Charakter zusammensetzen,
und auf Grund dieses erwiesenen psychopathischen Charakters exkul-
pieren zu wollen, während psychotische Ausnahmezustände, sowohl
akute als auch chronische, jederzeit zu rechtfertigen sein werden. Die
eigentümlichen Schwierigkeiten in der Begutachtung und Beurtei-
teilung beginnen erst bei Bewertung der mannigfachen Abstufungen,
') Görin g, Die Gemeingefährlichkeit in psychiatrischer, juristischer und
soziologischer Beziehung. Julius Springer-Berlin, 1915, S. 76. .
48
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
r
Kombinationen und Komplikationen. Ebendiese Fälle, die so
verschiedenartig wie zahlreich sind, sind allerdings die häufigerem
Für diese mannigfachen Variationen, für die es keine festen Normen
gibt, ist die Entscheidung nach exaktfer Prüfung und Abwägung
der-Einzelfaktoren zu treffen, zu denen neben bestimmten psycho¬
pathischen Zügen zunächst deren Summation und episodische
Steigerung hinzukommen, ferner Komplikationen durch erworbene
pathologische Symptome, eventuell Kombination mit Schwachsinn
und allerhand innere und äußere Bedingungen, unter denen das In¬
dividuum zur Zeit der Tat gestanden hat. Nicht seiten kommt
es vor, daß dem eigentlichen Ausbruch schwerer -psychotischer
Störungen eine Reihe von mehr unbestimmten Symptomen, sogen.
Prodromalerscheinungen, vorausgehen, und dem Sachverständigen
alsdann die Entscheidung zufällt, ob das Vorhandensein dieser
Erscheinungen tatsächlich schon für eine Erkrankung im Sinne
des §51 spricht. Ferner darf nicht vergessen werden, worauf ich
weiter unten noch zu- sprechen komme, daß es Fälle gibt, bei
denen die Verhaftung mit ihren Aufregungen leicht eine Geistes¬
störung zu bewirken vermag, während zur Zeit der Tat eine
solche sicher nicht Vorgelegen hat. Und hier bieten gerade die
auf psychopathischer Grundlage sich entwickelnden Fälle häufiger
Schwierigkeiten. Aus allen diesen Gründen ermahnt Sommer 1 )
ganz mit Recht den Sachverständigen, der „Chronologie der Ge¬
schehnisse“ genauestens nachzugehen und in der Reihenfolge der
Ereignisse auch die in Betracht kommende Straftat mit einzu¬
beziehen, um so zu einem folgerichtigen Schlüsse auf den Kausal¬
zusammenhang der Tat mit einem bestimmten Geisteszustand zu
gelangen. Es ist die Pflicht des sachverständigen Arztes, in
allem der Berater des Richters zu sein, auch in der Frage nach
-der Beantwortung der freien Willensbestimmung bzw. Zurech¬
nungsfähigkeit. Das Endurteil spricht der Richter, der in keiner
Weise gezwungen ist, sich den ärztlichen Ausführungen anzu¬
schließen. Denn würde die Begutachtung des Sachverständigen
ausschlaggebend sein, so wäre schließlich, wie Cramer mit Recht
hervorhebt, dieser und nicht mehr der Richter der Rechtsprecher,
was. einer Umwälzung der ganzen Strafrechtspflege gleichkäme.
Auf der anderen Seite läßt sich die ablehnende Stellungnahme
mancher Sachverständigen nicht billigen, die sich ausschließlich
-b R. Sommer, Kriminalpsychologie und strafrechtliche Psychopathologie.
Joh. Ambr. Barth, Leipzig 1904,
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 49
über Krankheit und Gesundheit des Untersuchten äußern, das
.Urteil über den Einfluß der Krankheit aber allein dem Richter
anheimstellen wollen, eine Stellungnahme, wie sie Schaefer 1 )
unter Nichtbilligung dieses schroff ablehnenden Standpunktes
durch drei besonders krasse Fälle erläutert. Schaefer macht
dabei für den besonderen Fall den Vorschlag, sich etwa dahin
auszusprechen, daß der fragliche Rechtsbegriff zu kompliziert
wäre, als daß nicht seitens des ärztlichen Sachverständigen eine
falsche Deutung möglich wäre. Alsdann vermag der Richter
seinerseits belehrend und ergänzend einzugreifen, wie er selbst
dem Arzte im allgemeinen für sachgemäße Aufklärungen nur Ver¬
ständnis entgegenbringen wird. Darauf wird speziell von Cramer
und anderen namhaften Autoren hingewiesen. Ich selbst habe
in meiner Sachverständigentätigkeit die nämliche Beobachtung
gemacht. Je intensiver Richter und ärztlicher Sachverständiger
Zusammenarbeiten, je reichlicher sie sich ergänzen, um so er¬
sprießlicher das Arbeiten, um so sicherer der Rechtsspruch. Auf
diese Weise ist den in der lex ferenda besonders und entsprechend
bedachten Grenzfällen der gemindert Zurechnungsfähigen auch in
der herrschenden lex lata besser gerecht zu werden. Es darf
darum aber durchaus nicht •wundernehmen, wenn trotzdem der
Richter sich der Sachverständigenbegutachtung in seinem Urteil
nicht anschließt; um so weniger wird es befremdend anmuten,
je eindringlicher man sich vor Augen hält, was alles gerade auf
dem Gebiete, auf dem scharfe Grenzlinien nicht gezogen werden
können, in Erwägung zu ziehen ist, und wie schwer die Ab¬
schätzung all der einzelnen Faktoren, die letzten Endes bei allem
Willen zur Objektivität doch immer etwas Subjektives bleibt, sein
kann, und wie schließlich die Sachverständigen selbst, unter ihnen
bedeutende ihres Faches, verschiedener Ansicht sein können.
Wenn nun auch zwischen Richter und ärztlichem Sachverständigen
sich in strittigen, schwierigen Fällen im allgemeinen Einigungen
erzielen lassen, so fragt es sich doch, ob einmal das Urteil und
die etwa darauf folgende Strafvollstreckung dem Psychopathen
und dem Rechtsbrecher in seiner Doppeleigenschaft gerecht
wird, auf der anderen Seite aber ebenso, ob der durch ihn ge¬
schädigten und bedrohten Gesellschaft Genüge geleistet wird.
Entweder erfolgt auf Grund des § 51 Freisprechung des An-
') Senat er, Straf- und zivilrechtliche Begriffe in Sachen von Geisteskranken.
Separ. der Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin und öffentl. Sanitätswesen. 3. Folge,
XX, 1. 1900.
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 4
50
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
geschuldigten, und damit wird der antisoziale Exzedent von neuem
eventuell unter Einschränkung in zivilrechtlicher Beziehung auf
die menschliche Gesellschaft losgelassen, oder auch, er wird vor¬
übergehend bei nachweisbarer psychischer Störung in einer Irren¬
anstalt untergebracht, oder es erfolgt die Verurteilung mit darauf¬
folgendem Strafantritt, etwa noch unter Zubilligung mildernder
Umstände, womit er noch früher wieder in Freiheit gesetzt wird.
Ehe ich nun zu den ausgleichenden Vorschlägen der lex
ferenda übergehe, möchte ich an dieser Stelle noch einige Be¬
merkungen einschalten über die mit der Verhaftung oder der
folgenden Haft verbundenen psychischen Erregungen. Von älteren
Autoren, die sich mit der Frage der Haftpsychosen beschäftigt
und größere Arbeiten darüber veröffentlicht haben, sind zu nennen
Delbrück 1 ), Gutsch 2 ), Reich 3 ), Kirn 4 ), Knecht 5 ) und Som¬
mer 6 .) Eine kurze Würdigung dieser Arbeiten ist im literar-histori-
sehen Abriß bei Siefert 7 ) zu finden, ausführlicheren Hinweisen
begegnen wir in Moelis „Irre Verbrecher“.
Seit den letzten drei Dezennien betrachteten es nun die Irren¬
ärzte als eine ihrer wesentlichsten Aufgaben, die im Strafvollzug
entstehenden oder während desselben deutlicher hervortretenden
Geistesstörungen genauer zu beachten und dem allgemeinen Ver¬
ständnis näherzubringen. Gerade dieser Teil der Strafrechtspflege,
der Strafvollzug, war es, der das Interesse der Psychiater in hervor¬
ragendem Maße erregte. Die jetzt als unumstößlich geltende
Tatsache, daß in jeder Art Zwangsanstalt mit Naturnotwendigkeit
geistige Erkrankungen weit häufiger entstehen, danken wir der
grundlegenden Forschungsarbeit vor allem der bereits erwähnten
ersprießlichen 80er und 90er Jahre. Außer den vorstehend ge¬
nannten Forschern gelten hier die Werke von Sander und
Richter 8 ) und von Moeli (a. a. O.) als epochemachend. Und
da ja die Korrektionsanstalten auch zu den Zwangsanstalten
zählen, seien die Vagabundenanalysen Mendels und Kühns
>) Delbrück, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 14 1857,
*) Gutsch, ebenda. Bd. 19, 1862,
3 ) Reich, ebenda. Bd. 27, 1870.
4 ) Kirn, ebenda. 1881 u. 89.
*) Knecht, ebenda. 1881 u. 83.
•) Sommer, ebenda. 1884.
7 ) Siefert, Über die Geistesstörungen der Strafhaft. Bei Carl Marhoid,
Halle a. S. 1907.
e ) Sander und Richter, Die Beziehungen zwischen Geistesstörungen und
Verbrechen. Fischer-Kornfeld, Berlin 1886.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 51
und von neueren Arbeiten die Bonhoeffers und Wilmanns er¬
wähnt. Alle diese Autoren gelangen zu dem Resümee, daß die
Irren bei weitem häufiger das Strafgesetzbuch übertreten als
Geistesgesunde. Und es ist danach zunächst die Schlußfolgerung
gerechtfertigt, daß unter den geistig Gesunden sich sicher noch
eine Anzahl geistig minderwertiger Individuen befindet, die dann ihrer¬
seits ebenfalls einen höheren Prozentsatz an Exzedenten stellen wür¬
den. Man könnte nun weiter gehen und aus der Haft sich entwickelnde
psychische Störungen unter Umständen als ein Signum einer vor¬
handenen Prädisposition deuten und zugunsten des Rechtsbrechers
verwerten. Ich entsinne mich dabei der anregenden Kontroversen
bei den Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für gericht¬
liche Medizin gelegentlich der Deutschen Ärzte- und Naturforscher¬
tagung im September 1912 zu Münster i. W. Aschaffenburg 1 ) 2 )
betonte damals, daß derartig bedingte psychische Erregungen bei
prädisponierten Menschen neben anderen Formen von Psychosen
auch Syndrome auszulösen vermögen, die einen deutlich psycho¬
genen Charakter tragen. Aschaffen bürg vertritt nun, teils unter
Anziehung teils unter Widerlegung der Anschauungen anderer
Autoren, z. B. Wilmanns Karl 3 ), Wilmanns Kurt 4 ), Sieferts
(a. a. O.), Rüdins, Emsts 5 ), Bonhoeffers, Birnbaums u. a.
den Standpunkt, daß weder die Entstehung dieser Zustände in
der Haft noch ihr Schwinden nach der Enthaftung das tatsäch¬
liche Bestehen psychogener Entartungszustände beweisen, sondern
daß es sich weit häufiger um Exazerbationen oder die ersten
deutlichen Spuren der Dem. praec. handele. Die Haft gebe ihnen
nur eine eigenartige Färbung, die sie mit den sehr viel selteneren
psychogenen Haftpsychosen gemeinsam habe. Dem widersprach
in der Diskussion der erfahrene Strafanstaltsarzt und -Leiter
Pollitz. der übrigens einen m. E. nicht so ohne weiteres von
der Hand zu weisenden Unterschied zwischen Haft- und Gefängnis¬
psychosen gemacht wissen will, und wies darauf hin, daß die
eigentlichen Haftpsychosen, wie sie unmittelbar nach der Ver-
') Aschaffenburg, Degenerationspsychosen und Dementia praecox bei
Kriminellen. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin u. öffentl. Sanitätswesen.
3. Folge, 45. Bd, 1. Supplementsheft, 1913, S. 306ff.
2 ) Derselbe, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. XIV, S. 84.
3 ) Wilmanns, Karl, Über Gefängnispsychosen. Halle a. S., 1908.
4 ) Wilmanns, Kurt, Statistische Untersuch, über Haftpsychos. Allgem.
Zeitschr. f. Psych, Bd. 67.
s ) Rüdin, Ernst, Über die klinischen Formen der Gefängnispsychosen.
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 58, S. 446
4*
52
Dr med. Fr. Jos. Widmann
haftung oder wenige Wochen später eintreten, sich, wie ja auch
Aschaffenburg, Kraepelin, Sommer und andere Autoren
hervorheben, durch eine hochgradige plötzliche Erregung charakteri¬
sieren. Pollitz seinerseits hat in vielen dieser Fälle die ganze
Serie, der vermeintlichen hebephrenischen Symptome völlig ver¬
schwinden sehen, so daß die Leute zur weiteren Verbüßung ihrer
Strafe von der Irren- wieder nach der Strafabteilung zurückkommen
konnten. Pollitz spricht diese Erscheinungen, die bei so schweren
psychischen Insulten, wie sie eine Verhaftung darstellen, auch bei
ganz normal veranlagten Individuen Vorkommen können, als Zu¬
stände hysterischer Art an. Wie dem auch sei, eins ist klar, daß
auch in dieser Beziehung die Entwürfe eines künftigen Straf¬
gesetzes sowohl dem inhaftierten Normalen als auch dem in¬
haftierten Degenerierten, sei er nun hysterischer, psychopathischer
öder anderer Artung, Berücksichtigung angedeihen lassen müssen.
Rüdin 1 ) und Siefert (a. a. O.) unterscheiden scharf zwischen
echten Psychosen und haftpsychotischen Zuständen. Nach des
Letzteren Ansicht stehen die echten Psychosen verschiedenster Art
nur in lockerer Beziehung, die haftpsychotischen Zustände da¬
gegen in engem Zusammenhänge mit den Schädlichkeiten der
Strafhaft und sind durch Milieuwechsel leicht zu beeinflussen.
Siefert nennt unter seinen haftpsychotischen Formen u. a.
degenerative, phantastische und hysteriforme Entartungszustände.
Übrigens hält Siefert die Haftpsychosen für künstlich auf-
geztichtete „vermeidbare“ Krankheitsgebilde, die eben dann bei
den entarteten Gewohnheitsverbrechern zu verhindern sein werden,
wenn dieselben im frühesten Anfangsstadium der Entwicklung in
die Hand des Psychiaters gegeben werden. Kraepelin schreibt
mindestens die Hälfte aller dieser haftpsychotischen Fälle der
Katatonie zu, bestreitet aber nicht schlechtweg- das Auftreten
eigenartiger Produkte der Haft, bzw. Gefangenschaft. Auch
Staiger 2 ) kommt auf Grund eigner Beobachtungen zu dem Er¬
gebnis, daß annähernd ein Drittel der geistig erkrankten Zucht¬
hausgefangenen Symptome bieten, die sich unter keiner der be¬
kannten Krankheitsformen unterbringen lassen, und daß es nahe¬
liege, in diesen eigenartigen, meist kurz dauernden Zuständen eine
1 ) Derselbe, Eine Form akuten halluzinatorischen Verfolgungswahnsinns
der Haft ohne spätere Weiterbildung des Wahns und ohne Korrektur. AUgem.
Zeitschr. f. Psych, Bd. 60, S. 852.
2 ) Staiger, Erfahrungen in der Behandlung geisteskranker Verbrecher.
Monatsschr. t. Krim.-Psych. u. Strafrechtsreform. 5. Jahrg., 7. Heft, 1908, S. 428.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 53
Schädigung durch die Haft zu sehen. Staiger betont, daß es
aber gerade die Degenerierten, die „von Haus aus abnorm Ver-
anlagten“, sind, die einen hohen Prozentsatz zu den Geistes-;
Störungen der Strafhaft stellen; er selbst fand, daß fast ein Drittel
aller internierten Fälle mit nachfolgenden psychotischen Erschei¬
nungen der Gruppe der psychopathisch Degenerierten zuzurechnen
war. Ich verweise hierbei auch auf das bereits (S. 37) angeführte
Zitat Moelis. Von Moeli stammt übrigens auch die gerade hier
bemerkenswerte wichtige Feststellung, daß nicht die Leidem
Schafts-, sondern die Gewohnheitsverbrecher besonders gern
psychotisch werden. Unter den letzteren befinden sich eben
zahlreiche Degenerierte. Birnbaum (Lit. S. 446) schreibt wört¬
lich: „Vielmehr lehrt die Erfahrung mit ausreichender Sicherheit:
die Rückfälligen, die Vielbestraften, die Gewohnheitsverbrecher
sind es vor allem, die das Gros der degenerativen Haftpsychosen
bilden“. Aus meiner eigenen Erfahrung als Gefängnisarzt füge
ich hinzu, daß auch ich gelegentlich bei in Untersuchungshaft be¬
findlichen jüngeren Personen, bei denen die Haft sich über einige
Zeit erstreckt hat, auf Dem. praec. hinweisende Syndrome fest¬
stellen, mich trotzdem nicht zur Stellung dieser Diagnose ent¬
schließen konnte, da der Beginn mit plötzlicher innerer Unruhe
und Erregung, der phantastische Charakter des Krankheitsbildes
mit mehr oberflächlich anmutenden Halluzinationen und Wahn¬
bildern und der trotz der erkennbaren psychischen Störung nicht
wegzuwischende Eindruck der Aggravation seitens des Erkrankten
für die Eigenart des psychotischen Zustandes sprachen. Hier*
mit will ich jedoch die Frage nach einer sogenannten spezifischen
Haftpsychose offen lassen. Ich möchte mich der Ansicht Raeckes 1 )
anschließen, daß es sich vielfach um sogenannte Situations¬
psychosen handelt, um Psychosen, die aus der Situation heraus
geboren erscheinen und wohl, was jedoch seltener ist, in chror
nische Psychosen meist paranoischer Art übergehen können, zu¬
meist aber mit der Beseitigung der auslösenden Momente wieder
verschwinden, wie das ja auch von Pollitz, Staiger u. a. betont
wird. Sommer 2 ) (Lit. 37) fand allerdings seinerzeit eine für die
Haft charakteristische Psychose, die von ihm als „Gefängniswahm
sinn“ benannt wurde.
Dem begutachtenden Arzte des Untersuchungsgefängnisses
bleibt, wenn der Krankheitsprozeß sich bis zur Verhandlung nicht
') Raecke, Psychiatrische Diagnostik. 4. Aufl. Hirschwald, Berlin, 1913.
S. 122 u. 131.
54
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
geklärt hat, in solchen Fällen nichts weiter übrig, als von dem
§ 81 der Strafprozeßordnung Gebrauch zu machen, wobei, ich
seitens des Gerichtes keinen Schwierigkeiten begegnet bin. Der¬
artige z. B. infolge heftiger gemütlicher Affektion, wie nach Ver¬
haftung und Verurteilung, einsetzende, bald vorübergehende Psy¬
chosen finden sich nach Raecke u.a. sehr leicht bei psychopathisch
veranlagten Individuen und vermögen wohl anamnestische Hin¬
weise zu geben und die Beurteilung des Angeschuldigten dann
in foro wesentlich zu erleichtern. Aber alsdann bleibt auch hier
die Frage zu lösen: wohin mit ihnen nach erfolgtem Urteils¬
spruch? Ferner, was soll nach vollzogener Strafe geschehen,
einmal den infolge seiner psychischen Anomalien leichter zur
Rückfälligkeit neigenden Rechtsbrecher davor zu bewahren, dann
aber auch die durch ihn bedrohte menschliche Gesellschaft zu
schützen? Besteht der Zustand in die Verhandlung hinein, so
wird schließlich zunächst Überweisung in eine Irrenanstalt er¬
folgen bis zur Genesung des Delinquenten. Und danach wird
derselbe wieder dem Gerichte überantwortet, und es erfolgt nun die
Verurteilung, ohne daß die Zeit des Aufenthaltes in der Irrenanstalt
in Anrechnung gebracht würde. Wenn auch durch diese Verlängerung
der Internierung im gegebenen Falle die menschliche Gesellschaft
noch länger als die in Betracht kommende Strafzeit vor weiteren
Entgleisungen des Rechtsbrechers geschützt bleibt, so erhebt sich
doch die Frage, ob mit dieser Handhabung des Gesetzes einmal
dem Rechtsbewußtsein als solchem, dann aber auch dem Ver¬
urteilten selbst gedient ist, vor allem ob in der Nichtanrechnung
der in der Irrenanstalt verbrachten Zeit auf die Strafe nicht eine
unbillige Härte enthalten ist.
Erkennen wir, daß wir einen geistig minderwertigen und
darum nur vermindert zurechnungsfähigen.Rechtsbrecher vor uns
haben, so können wir denselben nicht ohne weiteres für seine
Handlungen verantwortlich machen; die Bedingungen des §51
erfüllt der Betreffende jedoch nicht, da er sich nicht in einem
solchen Zustande befindet, durch den „die freie Willensbestim¬
mung ausgeschlossen“ ist. Es ist demnach lediglich der psycho¬
pathischen Grundlage wegen, wenn eben nicht bei Begehung der
Tat zugleich ein Zustand „von Bewußtlosigkeit oder krankhafter
Störung der Geistestätigkeit“ nachzuweisen ist, die Zurechnungs¬
fähigkeit im Sinne der Erfüllung des § 51 nicht anzuzweifeln, es
muß somit Verurteilung erfolgen. Auf der anderen Seite ist, wie
wir gesehen haben, das Individuum, das infolge seiner psycho-
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 55
pathischen Veranlagung auf äußere Reize und Schädlichkeiten
viel leichter reagiert, nicht voll für seine Handlung verantwortlich
zu machen. Eine dem geistig Normalen gleichwertige Behand¬
lung in foro bliebe eine unlogische Härte. In voller Einsicht des
Vorhandenseins dieser Zwischenglieder, die ungefähr in den letzten
zwei Jahrzehnten klinisch sehr genau erforscht sind, deren
Eigenart aber vom heutigen Strafgesetzbuch in keiner Weise be¬
rücksichtigt wird, die aber auch beweisen, daß die Grenze zwischen
Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit oftmals keine
scharfe ist, in voller Bewertung all dessen hat das Reichsgericht
als oberste Instanz entschieden, daß schon bei begründeten
Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit eines Angeschuldigten dem¬
selben die Wohltat des § 51 zugebilligt werden müsse. Ich bin
an anderer Stelle bereits auf diese Reichsgerichtsentscheidungen
eingegangen, die es dem Gerichte immerhin ermöglichen,gegebenen¬
falls Milde walten zu lassen. Die nachfolgende reichsmilitär¬
gerichtliche Entscheidung vom 23. Juli 1909 bietet wohl die weitest¬
gehende Handhabe hierfür: „Die Feststellung, daß eine die freie
Willensbestimmung ausschließende geistige Erkrankung nicht nach¬
gewiesen sei, reicht nicht aus, um dem Angeklagten den Schutz
des § 51 des St.G.B. zu versagen. Vielmehr ist die positive Fest¬
stellung erforderlich, daß ein die Voraussetzung bildender Zustand'
nicht vorhanden war“ >). Eine Stellungnahme, die erneut in einer
Entscheidung des Reichsgerichts vom 4. März 1910 zum Ausdruck
kommt: „Für das Vorhandensein der Zurechnungsfähigkeit des
Täters besteht keine gesetzliche Vermutung. Der Richter hat die
Überzeugung von dem Vorhandensein dieser Schuldvoraussetzung
ebenso in freier Beweiswürdigung aus dem Ergebnisse der Haupt¬
verhandlung zu schöpfen, wie die von dem Vorhandensein eines
jeden anderen Tatbestandmerkmals. Es genügt nicht, daß ihm
der Beweis der Unzurechnungsfähigkeit mißlungen scheint, sondern
er darf nur dann verurteilen, wenn er an der Zurechnungsfähigkeit
keinen Zweifel hat“ 2 ). Damit ist zugleich festgelegt, daß die Zu¬
rechnungsfähigkeit die Voraussetzung jeder Schuld bilde und
daher, gleich jedem anderen Tatbestandsmerkmal dem Angeklagten
nachgewiesen werden müsse. Auch die Aufgaben des Sachver¬
ständigen und des Richters sind durch eine Entscheidung des
’) Reichsmilitärgerichtsentscheidung, RM.G. III, 23.7.1909,u.Allgem.Psychiatr.
Wochenschr. 1913, S. 4.
*) Reichsgerichtsentscheidung, RGV. 4. 3. 10, u. das Recht, 1910, Entsch.
Nr. 1303.
56 Dr. med. Fr. Jos. Widmann
Reichsmilitärgerichts vom 20. 9. 1907 zum Ausdruck gebracht 1 )»
womit sich die reichsmilitärgerichtliche Entscheidung an die Er*
läuterung des Paragraphen in den Motiven zum Strafgesetzbuch
hält 2 ). Die Aufgabe des medizinischen Sachverständigen ist es
lediglich, zu untersuchen, ob eine krankhafte Störung der Geistes-
fätigkeit bei der Begehung der Tat Vorgelegen hat oder nicht-
während der Richter die Schlußfolgerung selbst zu ziehen hat, ob
die freie Willensbestimmung in Beziehung auf die Handlung aus*
geschlossen war. Bei einseitiger Auslegung dieser Definition
könnte man schließlich zu dem Standpunkte der von Schäefer
(a. a. O.) zitierten und kritisierten Fälle kommen, ln Praxi ist;
wie ich bereits an anderer Stelle ansgeführt habe, die Handhabung
freilich — und das erfreulicherweise — eine gegenseitig sich er¬
gänzende. Es wird sogar nicht selten Vorkommen, daß der Sach¬
verständige direkt von dem Richter über das Vorliegen der freien
Willensbestimmung befragt wird, und da soll der Arzt dann nicht
davon abstehen, den Richter sorgfältig über die geistige Verfas¬
sung des Delinquenten und die etwaigen sozialen Konsequenzen
aufzuklären. Nach v. Liszts 3 ) Ansicht hat das Gutachten des
Arztes überhaupt auf den gesamten Wortlaut des § 51 Bezug zu
nehmen. Cr am er äußert sich dahin, daß der Arzt „moralisch
verpflichtet“ sei, dem Richter „mit allen Mitteln zur Bildung des
Urteils behilflich zu sein“. Die Beantwortung der Frage nach
der freien Willensbestimmung durch den Arzt ist von Jolly 4 )
und von einer Reihe unserer angesehensten Psychiater 3 ) in dem
Sinne beantwortet worden, daß das En durteil, ob der §51 in
Anwendung zu ziehen ist oder nicht, solange unsere heutige StraP
gesetzgebung gilt, ausschließlich von dem Richter zu erfolgen hat.
Im allgemeinen hat mit dem Fortschreiten der psychiatrischen
Wissenschaft besonders in der genaueren klinischen Kenntnis der
einzelnen Krankheitsbilder und der zunehmenden Erfahrung der
begutachtenden und beurteilenden Faktoren die Zahl der Fälle
abgenommen, bei denen Schwierigkeiten entstehen. Immerhin
gibt die Behandlung der Grenzfälle deren noch genug. Sie be-
*) Reichsmilitärgerichtsentscheidung, R.M.G III. 20.7.07, u. Jahrb. 1909. S. 16
2 ) Stenographische Berichte des Reichstages für den Norddeutscher! Bund,
1870, III. Bd., Anlagen 1 -12, p. 55
3 ) v. Liszt, Strafrecht. 1911, J. Guttentag, Berlin.
*) Jolly, Über geminderte Zurechnungsfähigkeit. Allgem. Zeitschr. f. Psy¬
chiatrie, 1888.
•') »Lotsen“, II. Jahrg, Heft 12, 27, 35.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 57
stätigen immer wieder von neuem, daß auf die Dau'er ohne den
gesetzlich anzuerkennenden Begriff der „verminderten Zurech-,
nungsfähigkeit“ nicht auszukommen ist. Während vor drei Jahr¬
zehnten bei den Juristen die Versuche der Irrenärzte zur Ein¬
führung dieses Begriffs immer noch auf unfruchtbaren Boden
fielen, und die Psychiater noch bei ihren Verhandlungen der
Jahre 1887’) und 1888 2 ) resigniert davon hätten Abstand nehmen
können, ihre Überzeugung im Gesetz praktisch verwirklicht zu
sehen, ja die Frage auch noch bei den Verhandlungen deutscher
Irrenärzte in Halle (1898) 3 ), wie Delbrück 4 ) in einem 1902 ge¬
haltenen Vortrage hervorhebt, von dem damaligen Referenten
Wollenberg nur zaghaft in dem Sinne gestreift wurde, nicht
quantitativ anders, einfach milder, zu strafen, sondern
qualitativ anders zu behandeln, und der einzige damals in
Halle anwesende Jurist (Liepmann) erklärte, die Initiative zur
Lösung der Frage erwarte man von juristischer Seite durch die
Psychiater, während die Dinge vor etwa 20 Jahren noch so
standen, ist jetzt die Stellungnahme der Juristen zu der Frage
eine weit andere entgegenkommendere geworden. Einmal mögen,
wie bereits erwähnt, die Fortschritte der psychiatrischen Wissen¬
schaft und die allseitig steigende Erfahrung dazu beigetragen und
die Aufmerksamkeit des Juristen viel mehr denn früher von dem
abstrakten Begriffe des Verbrechens zu der Persönlichkeit des
Verbrechers hingelenkt haben, dann aber auch wohl die Vertiefung
in eine Reihe der alten deutschen Landesgesetzgebungen und
fremder Gesetzgebungen. So kennen von außerdeutschen Gesetz¬
büchern die Strafgesetzbücher für Dänemark, Finnland, Italien,
Norwegen, Österreich, Rußland, Schweden und die Schweiz (letztere
im Entwurf 1903) einen Paragraphen der verminderten Zurech¬
nungsfähigkeit. Ebenso enthielten mit Ausnahme des Preußischen
und der ihm nachgebildeten Strafgesetzbücher Waldecks, Olden¬
burgs und Lübecks neben dem Paragraphen, durch den die Zu¬
stände völliger Unzurechnungsfähigkeit fixiert wurden, noch be¬
sondere Bestimmungen über die verminderte Zurechnungsfähigkeit
’) u.'-) Verhandlungen des Deutschen Vereins für Psychiatrie, 1887 und
1888. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 44, S- 461, u. 45, S. 545.
3 ) Verhandl. d. Vereins für Psychiatrie in Halle, 1898. Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie, 56, S. 615.
*) Delbrück, Vortrag über die vermindert Zurechnungsfähigen und deren
Verpflegung in besonderen Anstalten. Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft,
23. Bd., J. Guttentag, Berlin 1903.
58
DR. MED. Fr. Jös. WlDMANN
alle Strafgesetzbücher der deutschen Staaten, so beispielsweise
der § 68 des Bayerischen, § 88 des Sächsischen, Art. 98 des Würt-
tembergischen, § 114 des Hessischen und §§ 60, 62 des Braun¬
schweigischen Strafgesetzbuches. Die meisten deutschen Partikular¬
gesetzgebungen kannten mithin bis zupi Jahre 1872, dem Inkraft¬
treten des R.Str.G.B., die verminderte Zurechnungsfähigkeit
und hatten gute Erfahrungen damit gemacht. Auch in Preußen
enthielt der ursprüngliche Entwurf für das Strafgesetzbuch des
Norddeutschen Bundes im § 47 eine diesbezügliche Bestimmung,
die auf Grund von Gutachten der wissenschaftlichen Deputation
für das Medizinalwesen und der Berliner medizinisch-psychologi¬
schen Gesellschaft aufgenommen war; und zwar war von einem
Zustande der Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung
. die Rede, während der geltende § 51 nur eine völlige Ausschlie¬
ßung derselben kennt. Trotzdem brachte der dem Reichstag
seinerzeit vorgelegte dritte Entwurf keine diese Zustände be¬
treffende Fassung. Der Bundesrat hatte die „verminderte Zu¬
rechnungsfähigkeit“ gestrichen, und zwar, wie in der Begründungs¬
rede des Berichterstatters, des Generalstaatsanwalts Dr. Schwarze 9,
dargelegt wird, mit Rücksicht auf die in Aussicht genommene Zu¬
lassung der „mildernden Umstände“. Mit vollem Recht sagt aber
Asch affenburg (bei Hoche a. a. O. S. 42): „Die mildernden Um¬
stände sind aber tatsächlich so ungeeignet wie möglich, den
Fällen verminderter Zurechnungsfähigkeit gerecht zu werden.“
Ihrer psychischen Defektuosität wegen werden den psychopathi¬
schen Rechtsbrechern mildernde Umstände zugesprochen; sie
werden, wenn sie nicht ganz straflos ausgehen, kürzere Zeit als
normale Verbrecher bestraft, kommen aber gleich jenen hinter
Schloß und Riegel in ein Milieu, das ihrer Eigenart in keiner
Weise gerecht wird, und bedrohen dann nach der Entlassung nur
noch etwas früher die menschliche Gesellschaft wieder als die
geistig vollwertigen Delinquenten! Auch vom Gesichtspunkte des
Juristen sieht beispielsweise der bekannte Strafrechtslehrer Kahl 2 )
in dieser Art der Erledigung der verminderten Zurechnungsfähig¬
keit in dem am 1. Januar 1872 in Kraft getretenen Str.G.B. für
das Deutsche Reich die Unterbrechung einer bis auf die Carolina
zurückzuverfolgenden Rechtsentwicklung. Gewiß ist es nicht un-
’) Schwarze, Stenogr. Berichte des Reichstages des Nordd. Bundes, 1870,
I. Bd., S. 233.
J ) Kahl, Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen. Gut¬
achten, Febr. 1904.
Die Bedeutung der psychopathischen. "Konstitution für die Rechtspflege 59
richtig, wenn Cramer (a. a. O. S. 45) meint, daß ein Teil der
Grenzfälle, sofern sie nicht von vornherein unter dem § 51 unter¬
gebracht werden können, unter Annahme mildernder Umstände
Berücksichtigung zu finden vermögen. Aber präziser spricht sich
die Schlußfolgerung Jollys (ä. a. O. S. 472) aus: „Also bei der
großen Mehrzahl, bei nahezu dreiviertel der Fälle, ist deren An¬
nahme ausgeschlossen“. D. h. in den §§ 80 bis 359 des Deutschen
Str.G.B. sind 239 einzelne Verbrechen und Vergehen aufgezählt
und mit Strafe bedroht. Von diesen lassen 62 mildernde Um¬
stände zu, 177 dagegen nicht und von diesen letzteren beziehen
sich 104 auf solche.Delikte, für die es kein Strafminimum gibt,
und bei weiteren 29 schwankt das niedrigste Maß der Freiheits¬
strafe zwischen 1 Woche und 3 Monaten Gefängnis bzw. Festungs¬
haft. Es bleiben noch 44 Verbrechen, die, wie Mendel 1 ) betont,
«ine Milderung des Strafmaßes nicht zulassen, und zu diesen ge¬
hören gerade einige der schwersten, wie Meineid, Notzucht mit
verursachtem Tode, schwere Kuppelei, Brandstiftung, Raub, Mord,
Totschlag, schwere Körperverletzung, also Schwerdelikte, wie wir
ihnen neben den harmloseren Typen der Bettler und Vagabunden
gerade bei den Degenerierten, und speziell den rückfälligen Ver¬
brechern, unter denen sich ja eine große Anzahl degenäres be¬
finden, begegnen. Birnbaum und Wilmanns 2 ) heben den
■engen Zusammenhang zwischen Degeneration und Kriminalität
besonders hervor; ebenso weisen van Hamei und Weber 3 )
darauf hin, daß gerade unter den Gemeingefährlichen eine große
Anzahl Minderwertiger sind. Das herrschende Strafrecht und die
Maßnahmen des Strafvollzugs können denselben sowie auch der
von ihnen bedrohten Gesellschaft nicht in der gehörigen Weise
gerecht werden.
Eben das Verlangen nach Sicherungsmaßregeln gegen¬
über den vermindert Zurechnungsfähigen ist auch durchaus nicht
jüngeren Datums, sondern reicht bis in die erste ^Hälfte des
19. Jahrhunderts zurück. Bereits damals wurde die Verbindung von
Strafe mit sichernder oder erziehender Detenfion-als „notwendig
*) Mendel, Der ärztl. Sachverständige und der Ausschluß der freien
Willensbestimmung des § 51 d. Deutschen Str.G.B. Vieiteljairrsscly. f. gerichtl.
Medizin. N. F„ Bd. 44. '
s » Wilmanns, Die praktische Durchführbarkeit der Bestimmungen über
die verminderte Zurechnungsfähigkeit im V. E. Monatsschr. f. Krim.-Psych. und
Strafrechtsreform, 1911, 8, S. 136.
3 ) Weber, Die Unterbringung geisteskranker Verbrecher und gemein¬
gefährlicher Geisteskranker. Ergebn. d. Neurol. und Psychiatrie, Jena 19 2.
1, S. 497.
60
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
erkannt und als schwieriges Problem betrachtet. In neuerer Zeit
ist man der Lösung der Frage gewaltigen Schrittes näher gekommen,
dank unermüdlicher Einzelarbeit, wie sie z. B. bereits die grund¬
legenden Vorschläge Moelis aus dem Jahre 1888 für die irren Ver¬
brecher und auch die gemindert Zurechnungsfähigen dokumen¬
tieren, dank dem gemeinsamen Vorgehen von wissenschaftlichen
Vereinigungen, wie der Internationalen Kriminalistischen Ver¬
einigung, der Deutschen Juristentage, des jetzigen Deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie, des Deutschen Medizinalbeamtenvereins und
der verschiedenen forensisch-psychiatrischen Vereinigungen.
Im Jahre 1904 hat nun Aschaffenburg auf der dritten
Hauptversammlung des Deutschen Medizinalbeamtenvereins zu
Danzig die Wünsche der Gerichtsärzte bei der Revision der Straf¬
gesetzgebung vorgetragen. Der Widerstreit der Meinungen hat
damals u. a. folgenden festen Gesichtspunkt für die strafrechtliche
Behandlung der geistig Minderwertigen gezeitigt. Man einigte
sich zunächst darüber, daß der Begriff der geminderten Zurech¬
nungsfähigkeit mehr umgrenzt werden müsse, um mit ihm bei
gesetzgeberischen Maßnahmen gut operieren zu können. Die
Begriffsbestimmung der geistigen Minderwertigkeit sollte gesetz¬
lich festgelegt werden. In einem Gutachten für den Deutschen
Juristentag zu Innsbruck im Jahre 1904 wurde dieselbe von Kahl
geschaffen und von A. Leppmann (Lit. 20) mit Rücksicht auf die
medizinische Seite erweitert. Ihr Wortlaut ist: „Als geistig Minder¬
wertige im gesetzlichen Sinne sollen die Personen gelten, bei
denen infolge wesentlicher und dauernder krankhafter geistiger
Eigentümlichkeiten entweder das Verständnis für die Bestimmungen
des Strafgesetzes oder die Widerstandskraft gegen strafbares Han¬
deln vermindert ist. — Gegen die so gekennzeichneten Personen
sollen folgende Bestimmungen Platz greifen:
1. Sie sollen bei allen Straftaten milder bestraft werden oder milder
bestraft werddri "können, sowohl in bezug auf die Strafart, als in bezug
auf die Strafdauer.^ * 2 . Die Minderwertigkeit soll auch in der Art des
Strafvollzugs berücksichtigt werden. 3. Es soll die gesetzliche Möglich¬
keit geschaffen‘werden, Minderwertige, welche gemeingefährlich sind,
d. h. deren geistige Artung bzw. deren Vorleben neue Rechtsbrüche
nahelegt, nach Beendigung der Strafe einer Sicherheitsverwahrüng
zu unterziehen.“
Über die Gestaltung dieser Fürsorge gehen die Ansichten
noch auseinander. Von den einen werden besondere Sicherungs¬
anstalten empfohlen, einer zwischen Irren- und Strafanstalt stehenden
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 61
Einrichtung, die schon bei der Frage der Unterbringung der wegen
Geisteskrankheit Freigesprochenen und der während des Straf¬
vollzugs in Geisteskrankheit Verfallenen eine Rolle spielen. A.Lepp-
mann hat sich energisch gegen diese Art Anstalten ausgesprochen,
solange es sich um gefährliche Geisteskranke handelte, da er eine
Differenzierung in Kranke 1. und 2. Klasse verurteilte. Die anderen
sprechen einer Sicherung im Anschlüsse an bereits bestehende
Fürsorgeeinrichtungen das Wort, wie z. B. an Irrenanstalten,
Arbeits- und Korrektionshäuser, Trinkerbewahranstalten und Volks¬
heilstätten. Darüber, wer die Unterbringung beschließen und über
die Dauer der Festhaltung weiter entscheiden sollte, ob das ur¬
sprünglich erkennende Qericht, ob ein besonderes Verwaltungs¬
gericht oder eine entsprechende Kommission oder Behörde, wurde
damals keine Einigung erzielt. Jetzt geht die Ansicht der Mehrzahl
der Autoren dahin und kommt in den Reformvorschlägen und im
Vorentwurf zum neuen Strafgesetz zur Geltung, daß das Gericht
künftighin selbst die Verwahrung anzuordnen hat und die Landes¬
polizeibehörde verpflichtet ist, für die Unterbringung zu sorgen.
Bei den damaligen bedeutungsvollen Verhandlungert in Innsbruck
einigte man sich jedoch darüber, daß der Arzt bei Beginn und
Beendigung eines derartigen der Strafe folgenden Sicherungsver¬
fahrens weder Entscheidung noch Verantwortung übernimmt,
sondern lediglich sachverständiger Beirat ist. Bezüglich der Ein¬
führung des Begriffes der geistigen Minderwertigkeit, bzw. der
ge- oder verminderten Zurechnungsfähigkeit in das Strafrecht gibt
es sowohl auf juristischer wie auf medizinischer Seite einzelne
autoritative Gegner. Die Juristen, unter ihnen Birkmeyer-
München, repräsentieren die klassische Schule und sind über¬
zeugte Vertreter der Vergeltungsstrafe. Sie befürchten durch die
Einführung dieses Begriffes eine zu starke Einengung der für ihre
Taten Verantwortlichen, und daß gleichsam der Begriff des freien
Willens, also die Hauptvoraussetzung der Strafbarkeit immer mehr
verloren gehe. Die Gruppe der medizinischen Gegner, an ihrer
Spitze Reich und Longard, besorgt, daß seine Einführung für
die wirklich Geisteskranken von Nachteil sein könnte, und zwar
insofern, als ein Teil der geistig Gestörten, denen der § 51 zur
Seite stehen würde, im Sinne der dann vorhandenen milderen
Strafe verurteilt -würden. Nach Ansicht dieser Autoren ist es auch
eine prinzipielle Ungerechtigkeit, die Minderwertigen erst zu be¬
strafen und nach verbüßter Strafe noch in ihrer Freiheit durch
Sicherheitsmaßnahmen zu beschränken.
62
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
Der Gegensatz zwischen der klassischen und modernen Rich¬
tung ist grundsätzlich dahin zu fassen, daß die letztere sichernde'
Maßnahmen und im Strafvollzug individualisierende Be¬
handlung ergreifen will, wohingegen die erstere Rechtsstrafe
fordert. Der V.E. zum Str.G.B. trägt in dieser Beziehung einen
Kompromißcharakter, indem er neben der Vorbeugung
auch noch die Vergeltung zum Ausdruck konpnen läßt. Immer¬
hin aber ist, wie Cr am er in den Bemerkungen zum V.E. 1 ^
treffend sich äußert, diesem Charakter entsprechend das Prinzip
der absolut umgrenzten Strafen etwas durchbrochen, sowohl durch
die vorgesehene bedingte Verurteilung als auch durch die Ab¬
kürzung der verfügten Strafe.
Mir dünkt der Asch affenburg - v. Lisztsche Standpunkt
sehr einleuchtend. Die beiden Autoren erblicken, wie wir bei
Gretener 2 ) lesen, im Verbrechen ein Produkt von individueller
Veranlagung und sozialem Milieu, und letzteres wird als der ent¬
scheidende Faktor angesehen. Mithin kann der Strafe als der
individuellen Reaktion im Kampfe gegen das Verbrechen nur eine
geringe Bedeutung zukommen. Demgemäß sieht v. Liszt „in
der Rangerhöhung der vorbeugenden Maßnahmen eines der auf¬
fallendsten Kennzeichen der modernen Richtung“. Und gerade
für die zwischen den Geistesgesunden und Geisteskranken stehenden
geistig minderwertigen Gemeingefährlichen ist diese Prophylaxe
nicht zuletzt erforderlich. Für sie liegt nach Kahl 3 ), wie Göring
(a. a. Os S. 4) schreibt, der Grund der Gemeingefährlichkeit in der
Tatsache der wiederholten Begehung strafbarer Handlungen oder
in der Natur ihres chronisch krankhaften Zustandes. So richtet
sich der englische Entwurf zur Verwahrung geistig Minderwertiger
nur nach dem Zustande des Individuums, während das nieder¬
ländische Psychopathengesetz die Übertretung des Strafgesetzes
fordert. Einen interessanten Sonderstandpunkt nimmt Kraepelin
ein. Seine Anschauungen über Bedeutung und Wesen der Strafe
streiten der Gesellschaft das Recht ab, von antisozialen'Mitgliedern
bei Durchbrechung der Rechtsordnung eine dem Umfange des
') Cramer, Bemerkungen zum V.E. des Strafgesetzbuches. Herausgegeben
von der Justizkommission des Deutschen Vereins f. Psychiatrie: C. Moeli;
A. Ctamer, G. Aschaffenburg, A. Hoche, J. Longard, E. Schultze, F. Vockej.
Gustav Fischer, Jena, 1910.
*) Gretener, Die neuen'Horizonte im Strafrecht. 10. Heft der krit. Bei¬
träge zur Strafrechtsreform, Leipzig 1909, VI u. 1638.
3 ) Kahl, Die geminderte Zurechnungsfähigkeit Vergleichende Darstellung
des deutschen und des ausländischen Strafrechts. Allgem. Teil Berlin, 1908, 1.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 63
Schadens entsprechende Sühne zu fordern. Er hat sich daher
bereits vor Jahrzehnten für die Abschaffung des Strafmaßes aus¬
gesprochen und billigt nur die Schaffung von Sicherheitseinrich¬
tungen in dem Sinne, daß sie die Möglichkeit bieten, durch Be¬
handlung die antisozialen Elemente in ihren antisozialen Neigungen
abzuschwächen. Immerhin hat er sich den 1904 umgrenzten
zitierten Leitsätzen in Anbetracht des gegenwärtig dominierenden
Rechtsbewußtseins im Volke und des Standes der öffentlichen
Meinung angeschlossen.
Die Schaffung des Minderwertigkeitsbegriffes bedeutet vor
allem aber für den wichtigsten Teil der Strafrechtspflege, den
Strafvollzug, einen gewaltigen Fortschritt. Und wenn auch die
Strafrechtsreform in der nächsten Zeit noch nicht zur Verabschie¬
dung kommen sollte, was zur weiteren Klärung der Anschauungen
zwischen Juristen und Psychiatern einerseits*und jeder der beiden
Disziplinen für sich anderseits keineswegs zu bedauern ist, so ist
es doch bereits recht erfreulich zu sehen, daß und wie sich die
Annäherung immer mehr vollzieht. '
Was den Begriff des von Cramer vorgeschlagenen Aus¬
drucks der „geistigen Minderwertigkeit“ als solchen angeht, so
stieß sich Wollenberg an dem „minderwertig“, das er als all¬
gemeine Bezeichnung für die Grenzzustände nicht für zutreffend
hielt. Ein Individuum mit krankhafter Affektbewegung könne nicht
eigentlich als minderwertig bezeichnet werden, solange der Ter¬
minus nicht'der üblichen Bedeutung entkleidet sei. Demgegen¬
über erscheint er Ziemke (Lit. 69, Diskussion S. 267) recht zweck¬
mäßig, indem er einen medizinischen Begriff vorstelle, der zugleich
ein Rechtsbegriff werden könne. Ich möchte den Einwand Wollen¬
bergs für etwas zu weit gegangen halten. Wir setzen ja dem
Begriff „minderwertig“ bei Normalen nicht „hochwertig“ im Sinne
einer besonderen geistigen und ethischen Höhe,. sondern „voll¬
wertig“ entgegen, womit wir lediglich das auf normaler geistiger
und gemütlicher Durchschnittsverfassung stehende Individuum
kennzeichnen wollen; und mit dem Begriffe der „Minderwertigkeit“
soll auch nicht gleich eine absolute, sondern höchstens eine rela¬
tive Verneinung (geistiger oder) moralischer Fähigkeiten aus¬
gesprochen werden. Wir kennen ja auch vollwertige und minder¬
wertige Kriminelle.
Die Einführung des Begriffes der geistigen Minderwertigkeit
bzw. der verminderten Zurechnungsfähigkeit, die auch bei den
Strafvollzugsbeamten lebhaften Beifall findet, wie ein im Jahre 1915
64
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
erschienener Aufsatz des Strafanstaltsdirektors v.Michaelis 1 ) zeigt,
wird das Vertrauen zu den Psychiatern bei Richter und Publikum
nur heben. Man wird sie nicht mehr in dem Sinne befangen
wähnen, als ob sie jeden, dessen Geist nur irgendeine un¬
bedeutende Abweichung zeigt, sofort für unzurechnungsfähig
hielten. Man wird sich ihnen eher anschließen, wenn sie aus¬
führen, daß in dem oder jenem Falle die Deviationen so zahlreich
und umfangreich sind, daß sie die Annah me der geistigen Vollwertigkeit
ausschließen. Und so kam denn bald nach der Tagung zu Innsbruck
durch eine Verfügungdes Staatssekretärs des Reichsjustizamts derV.E.
zu dem neuen R.Str.G.B. zustande. Unter Zustimmung des preu¬
ßischen und bayerischen Justizministers trat am 1. Mai 1906 im
Reichsjustizamt eine Kommission von praktischen Juristen mit
dem Aufträge zusammen, einen formulierten V.E. zu einem neuen
deutschen Str.G.B. nebst Begründung auszuarbeiten. Der Ent¬
wurf stützt sich, wie Cramer 2 ) bemerkt, im wesentlichen auf das
ausgezeichnete literarische Hilfsmittel, das ebenfalls auf Anregung
des Reichsjustizamts von einer Anzahl von Rechtsgelehrten heraus¬
gegeben worden ist, und den Titel führt: „Vergleichende Dar¬
stellung des Deutschen und ausländischen Strafrechts“.
Der Entwurf sieht seine Aufgabe vornehmlich in der Berück¬
sichtigung der praktischen Bedürfnisse und hat sich, wenn auch
im allgemeinen auf dem Boden der sogenannten klassischen Straf¬
rechtsschule weiter beharrend, doch zu äußerst wichtigen, dem
Bedürfnis der Zeit und der öffentlichen Meinung gerecht werdenden
Zugeständnissen für die moderne Schule verstanden. Unter diesen
Zugeständnissen heben sich die heraus, die auf die Einführung
der bedingten Verurteilung oder, wie es im Entwurf heißt,
der „bedingten Strafaussetzung“ und auf die Verbindung ver¬
schiedener, sogenannter sichernder und erzieherischer Ma߬
nahmen mit Strafe Bezug nehmen. Wenn sie auch den Ver¬
geltungsgedanken nicht ausschalten, so ist ihr Ziel auf eine
gewisse Vorbeugung doch unverkennbar.
Für das vorliegende Thema sind in erster Linie der § 63 des
V.E. von Bedeutung, und zwar Absatz 2 und 3 des Paragraphen,
ferner die §§ 65 und 76 und schließlich auch im Zusammenhang
mit letzterem der §83. Die Paragraphen, soweit sie für unser
Thema interessieren, lauten:
') v. Michaelis, Groß’ Archiv, Bd. 57, S. 40.
s ) Cramer, Bemerkungen zu dem Vorentwurf zu einem deutschen Straf¬
gesetzbuch. Münch, med. Wochenschrift, Nr. 7, 15. Febr. 1910, S. 363
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 65
„Strafa-usschließungs- und Milderungsgründe. Geistige
Mängel, § 63 Abs. 1. • Nicht strafbar, ist, wer zur Zeit der Handlung
geisteskrank, blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine
freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde. Abs. 2. War die freie
Willensbestimmung durch einen der vorbezeichneten Zustände zwar
nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade vermindert, so finden
hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch (§76)
Anwendung. Abs. 3. Freiheitsstrafen sind an den nach Abs. 2 Ver¬
urteilten unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit
dieser es erfordert, in besonderen, für sie ausschließlich be¬
stimmten Anstalten oder Abteilungen zu vollstrecken.
Verwahrung in Anstalten, § 65. Wird jemand auf Grund des § 63
Abs. 1 freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt,' oder auf Grund
des § 63 Abs. 2 zu einer milderen Strafe verurteilt, so hat das Gericht,
wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in
einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt anzuordnen.
Im Falle des § 63 Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter
Freiheitsstrafe. '
Auf Grund der gerichtlichen Entscheidung hat die Landespolizei¬
behörde für die Unterbringung zu sorgen. Sie bestimmt auch über die
Dauer der Verwahrung und über die Entlassung. Gegen ihre Be¬
stimmung ist gerichtliche Entscheidung zulässig.
Die erforderlichen Ausführungsbestimmungen werden vom Bundes¬
rat erlassen.
Bestrafung des Versuchs, §76. Der Versuch ist milder zu
bestrafen als die vollendete Tat. Auch kann auf eine mildere Art der
Freiheitsstrafe erkannt und in besonders leichten Fällen (§ 83) von
Strafe überhaupt abgesehen werden.
Auf Nebenstrafen und sichernde Maßnahmen kann auch neben der
Versuchsstrafe erkannt werden.“ •
Der § 83 bestimmt, daß das Gericht in besonders leichten Fällen
nach freiem Ermessen die Strafe mildern und, wo dies ausdrücklich
zugelassen ist, von einer solchen überhaupt Abstand nehmen kann.
Ein derartiger Fall liegt vor, wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat
unbedeutend sind und der verbrecherische Wille des Täters nur gering
und nach den Umständen entschuldbar-erscheint, so daß -die Anwen¬
dung der ordentlichen Strafe des Gesetzes eine unbillige Härte be¬
deutete.
- > Von den Psychiatern wird nun mit Recht u. a. außer der
gleichsam eine Vergewaltigung der medizinischen Terminologie
bedeutenden, massiven Wucht der Ausdrücke „geisteskrank, blöd-
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 5
66
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
sinnig, bewußtlos“ vor allem die Wiederkehr der „freien Willens¬
bestimmung“ bemängelt und an Stelle der letzteren die Wahl
einer allgemein verständlichen, volkstümlicheren Ausdrucksweise
gefordert. Zwar wird in den Erläuterungen zum § 63 ausdrück¬
lich gesagt, daß sich die Gesetzgeber in Übereinstimmung mit
dem dominierenden Rechte einer entscheidenden Stellungnahme
zu den Lehren vom Determinismus und Indeterminismus ent¬
halten, daß die Erörterungen darüber in das Gebiet der Philo¬
sophie und Psychologie fallen, und daß der Gesetzgeber den
Ausdruck nicht in metaphysischem, sondern im Sinne des ge¬
wöhnlichen Lebens verstanden wissen will. Aber warum einen
Ausdruck beibehalten, über den Juristen, Psychiater, Philosophen
und Psychologen sich in allerhand Definitionen ergehen, die vom
theoretischen Standpunkt ja sicher nicht uninteressant sind, in
praxi aber den Begriff wegen der Möglichkeit verschiedener Aus¬
legung wenig brauchbar und daher zum mindesten unbequem
machen? Der österreichische Gesetzentwurf, dessen Formulierung
der Kahl-Leppmannschen Anregung auf der Innsbrucker
Tagung zu danken ist, ist den in dieser Beziehung geäußerten
Bedenken gerecht geworden und hat, wie Wollenberg 1 ) hervor¬
hebt, an die Stelle der freien Willensbestimmung die eigentlichen
Komponenten der Zurechnungsfähigkeit selbst gesetzt, nämlich
„das entsprechende Erkenntnisvermögen und die Bestimmbarkeit
des Handelns im Sinne der Zurückhaltung gegenüber verbreche¬
rischen Antrieben“, oder, negativ ausgedrückt, den Mangel dieser
Einsicht oder dieser Willensreaktion. Der Wortlaut des Para¬
graphen ist: *
„Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung*
Geistesschwäche öder Bewußtseinsstörung nicht die Fähigkeit besaß,
das Unrecht seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht
gemäß zu bestimmen.“
Über die Vorzüge dieser Fassung haben sich namhafte psy¬
chiatrische Fachgelehrte und Praktiker sowie Juristen, unter letz¬
teren Kahl, geäußert. Ich verweise hier nur auf die in jeder
Beziehung erschöpfenden Ausführungen Moelis, Aschaffen-
burgs, Cramers und anderer Autoren in den bereits erwähnten
„Bemerkungen zum Vorentwurf des Strafgesetzbuches“, die sich
in eingehender Weise mit der den Psychiater interessierenden
') Wollenberg, Der Vorentwurf zum deutschen Strafgesetzbuch. Verhandl.
d. 6. Tagung d. Deutschen Gesellschaft f. gerichtl. Medizin, 3. Folge, Bd. 41.
II. Suppiementsheft. Hirschwald, Berlin, 1911, S. 232.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 67
Reform beschäftigen und m. E. in den einschlägigen Fragen zu
vorzüglichen Gegenvorschlägen gelangen, auf die ich gleich noch
des näheren eingehen werde.
Wenn ich hier in eine Erörterung des Sorgenkindes der
„freien Willensbestimmung“ abgeirrt bin, so darf ich es einmal
mit der Bedeutung dieses Streitpunktes an sich entschuldigen,
dann aber auch damit begründen, daß die freie Willfensbestimmung
auch bei der unser Thema vornehmlich beschäftigenden Ein¬
führung des Begriffes der verminderten Zurechnungsfähigkeit
wiederkehrt. Im Abs. 2 des § 63, der sich streng — eigentlich
zu streng — an den Abs. 1 anschließt und der die Grenzzustände
zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit berücksichtigt und
insofern als wesentlicher Fortschritt zu begrüßen ist, wird auch
wieder die schärfere Fixierung der in Betracht kommenden Zu¬
stände von dem Begriffe der freien Willensbestimmung abhängig
gemacht, und zwar ist von einer in hohem Grade verminderten
freien Willensbestimmung die Rede. Cramer (Lit. 64, S. 364)
weist sehr richtig darauf hin, daß der Arzt, der seiner Disziplin
nach zu den beschreibenden Naturwissenschaftlern gehöre, mit
dem Begriffe eigentlich ebensowenig etwas anfangen könne wie
der Richter, der, wie die tägliche Erfahrung lehrt, nach wie vor
nicht selten den Sachverständigen direkt um Äußerung über die
freie Willensbestimmung ersuchen werde, eine Frage, zu deren
Beantwortung ein Philosoph oder Psychologe vernommen werden
müsse. Ich will ja nicht unerwähnt lassen, daß seitens der Ex¬
perimentalpsychologen eifrige Forschungen zur Festlegung der
Definition der freien Willensbestimmung betrieben werden und
diese, wie Ach in der Diskussion bei den Verhandlungen der
6. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche Medizin
(Lit. 69, S. 270/71) mitgeteilt hat, bereits zu einem Ergebnis ge¬
führt haben, das den Begriff im Interesse der richterlichen Funk¬
tionsweise zu erhalten wünscht. Hiervon abgesehen dürfte es
aber auch in landläufiger Auffassung schwer fallen, sich unter
einer hochgradig verminderten freien Willensbestimmung etwas
sicher Umgrenztes vorzustellen, und mit berechtigtem Hinweis meint
Cramer, werde von geschickten Verteidigern leicht der Versuch
gemacht werden, im Sinne einer derartigen hochgradigen'Ver¬
minderung der freien Willensbestimmung zu plädieren. Jeden¬
falls beweisen zahlreiche andere Gesetzbücher, daß ohne diesen
Begriff auszukommen ist. Unstreitig faßlicher ist die diesbezüg¬
liche Formulierung des zitierten österreichischen Paragraphen,
5*
68 Dr. med. Fr. Jos. Widmann
dessen Klarheit durch die Abänderungsvorschläge Aschaffen¬
bur gs, F. u.A. Le pp man ns, Wollenbergs nur noch gewinnen
kann. So ersetzt Aschaffenburg den Ausdruck „seinen Willen
dieser Einsicht gemäß zu bestimmen“ durch „dieser Einsicht ge¬
mäß zu handeln“. F. Leppmann und Wollenberg (Lit. 69,
S. 233/34) wollen aus einleuchtenden Gründen an Stelle des
Wortes „Unrecht“ „das Unrechte oder das Gesetzwidrige, oder
die Bedeutung seiner Tat“ gesetzt wissen. Doch das sind an
sich belanglose Unterscheidungen. Der Wunsch Wollenbergs,
Artur Leppmanns und Kahls, daß unser Entwurf dem öster¬
reichischen in dieser Hinsicht nachgebildet werde, hat sich nun
nicht erfüllt.
Was nun den für die lex ferenda vorgesehenen Begriff der
verminderten Zurechnungsfähigkeit angeht, so ist zu bemerken,
daß dieselbe in den in Betracht kommenden Paragraphen selbst
nicht direkt zum Ausdruck kommt. Der Begriff findet sich jedoch
an anderen Stellen, und zwar im § 70 (Freiheitsstrafen für
Jugendliche) und in den Motiven zum Abs. 2 des § 63, wo er
bald als ver-, bald als geminderte Zurechnungsfähigkeit auftaucht.
Auf Seite 229 der Motive heißt es wörtlich:
„Die Berücksichtigung der verminderten Zurechnungsfähigkeit in
einem Strafgesetz der Zukunft ist zu einer fast allgemeinen Forderung
der Juristen und der medizinischen Wissenschaft geworden. Danach
sollen von den voll zurechnungsfähigen Personen solche unterschieden
werden, deren geistiger Zustand infolge von Krankheit als unter dem
Durchschnittsmaß befindlich einzuschätzen ist, welches für die volle
oder regelmäßig eintretende strafrechtliche Verantwortlichkeit voraus¬
gesetzt wird“;
sodann auf Seite 230: '
„Die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist nur durch eine allgemeine
Bestimmung möglich. Durch die Strafbemessung kann ihm nicht ge¬
nügend abgeholfen werden. Denn trotz der weitgehenden Milde in
den Strafvorschriften des Besonderen Teiles bleiben auch nach dem
Entwurf noch eine beschränkte Anzahl solcher Strafdrohungen übrig,
welche' bei erhöhten Minimalstrafen mildernde Umstände nicht vorsehen
und deshalb gegenüber gemindert Zurechnungsfähigen zu hart erscheinen
können. Ferner aber ist nur durch eine allgemeine Vorschrift zu er¬
reichen, daß sich die richterliche Aufmerksamkeit in jedem einzelnen
geeigneten Falle der Frage der geistigen Minderwertigkeit genügend
zuwendet. Weiter ist auch nur so eine besondere Behandlung ver¬
mindert Zurechnungsfähiger im Strafvollzüge, sowie hinsichtlich der
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 69
später zu erwähnenden Sicherheitsmaßregeln zu erzielen. Endlich er¬
heischen die fast einstimmigen Wünsche der juristischen und medizini¬
schen .Wissenschaft, die auf eine allgemeine Vorschrift gerichtet sind,
Beachtung“.
Von einer Legaldefinition der verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit ist allerdings auch hier abgesehen worden.
(Fortsetzung folgt.)
Der Gesichtsausdruck der Leiche in kriminalistischer
Beziehung.
Von
Dr. E. Hurwicz, Berlin.
Im Jahre 1897 schrieb Jules Claretie einen Lombroso gewid¬
meten Roman „L’accusateur“ l ). In diesem Roman knüpft Claretie
an die von der Pariser Gesellschaft für gerichtliche Medizin im
Jahre 1869 untersuchte Frage an, ob die Netzhaut des Toten das
Bild des Mörders aufbewahren und so den Beweis des Ver¬
brechens liefern kann. Diese Frage ist zuerst von dem Provinz¬
arzt Bourion angeregt worden, der auf der Photographie der Netz¬
haut einer i. J. 1868 ermordeten Frau den Moment festgehalten
glaubte, wie der Mörder den Arm zum Schlage erhebt und der
Haushund dem Opfer zu Hilfe eilt. In der genannten gelehrten
Gesellschaft wurde aber die Photographie für ganz verschwommen
befunden und die Frage nach der Möglichkeit einer solchen
optischen Abbildung von ihr wie von der medizinischen Fakultät
der Universität auch prinzipiell verneint. Claretie nimmt nun für
sich die Freiheit des Dichters in Anspruch, diese Frage wieder
heraufzubeschwören und in bejahendem Sinne zu lösen. Der
Inhalt des Romans ist in wesentlicher Kürze der folgende. Im
Jahre 1895 wird in Paris der alleinstehende Rentner Rovfcre in
seiner Wohnung tot mit einer Messerwunde am Hals aufgefunden.
Dem herbeigerufenen Kriminalkommissar Bernardet fallen ganz
besonders der energische Gesichtsausdruck des Toten sowie dessen
Augen auf, „diese unbeweglichen Augen, an denen noch keine „
Verglasung bemerkbar war, und die aufgerissen, entsetzt, wut¬
entbrannt, drohend, anklagend und von Rache beinahe belebt“
schienen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, photographiert
der wissenschaftlich überhaupt interessierte Bernardet diesen Ge-
') In deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das Auge des Toten“ in Engel¬
horns Romanbibliothek, Jahrg. 15, Nr. 12, Stuttgart 1899.
Der Gesichtsausdruck der Leiche in kriminalistischer Beziehung 71
Sichtsausdruck und überredet seinen Chef, auch bei der Sektion
von der Netzhaut des "Getöteten einen photographischen Abzug
machen zu dürfen. Auch dieses zweite Bild gelingt vollkommen.
Auf ihm ist der Schattenriß eines männlichen Kopfes mit magerem
Gesicht, Spitzbart und ziemlich kahler Stirn mit charakte¬
ristischer Deutlichkeit erkennbar. Vor dem Begräbnis Rovfcres
werden Kondolenzlisten ausgelegt und Bemardet (verkleidet als
Angestellter der Beerdigungsgesellschaft) wird durch die Ähnlich¬
keit eines der Kondolenten mit dem von ihm aufgenommenen
Bilde überrascht. Er verfolgt ihn, gibt sich schließlich zu erkennen
und verhaftet den so durch das Auge des Toten Verratenen.
Beim Verhör vor dem Untersuchungsrichter bestreitet der verhaftete
Dantin, ein Freund des Ermordeten, jede Schuld, verwickelt sich
aber immer mehr in seinen Aussagen, behauptet die Existenz
eines Geheimnisses zwischen ihm. und dem Opfer und wird
schließlich fast in einen traumhaften Zustand versetzt durch den
Anblick der ihm überreichten Photographie der Netzhaut des
Ermordeten, auf der er sich selbst zu erkennen nicht umhin kann;
ebensowenig aber vermag er sein Alibi zu beweisen. — Der
Kriminalkommissar Bernardet indessen, der nach Versetzung
Dantins in Anklagezustand einen Spaziergang durch die Straßen
macht, entdeckt plötzlich bei einem Altmöbelhändler ein Porträt,
das ihn durch die Ähnlichkeit mit Dantin frappiert. Der Rahmen
des Bildes ist abgebrochen. Bernardet kauft das Bild, erfährt
nach und nach die Adresse des Verkäufers und verhaftet ihn.
Es findet eine Gegenüberstellung des neuverhafteten Prad£s mit
Dantin statt, bei der letzterer sein dem verstorbenen Freunde
geschenktes Porträt wiedererkennt, im übrigen jedoch bei seinem
Leugnen jeder Teilnahme am Verbrechen verbleibt. Pradfcs ist
nun gezwungen, den Besitz des Porträts zu erklären, und legt
schließlich ein Geständnis ab. Er habe von Rovere Geld erpressen
wollen; bei dem sich hierüber entspinnenden Streit tötete er
Rovere; den Geldschrank aufzumachen fand er keine Zeit, um
nicht überrascht zu werden; wohl aber fiel es ihm auf, daß die
Augen des verwundeten Roveres sich an das auf der gegenüber¬
liegenden Wand hängende Porträt hefteten, ja, daß Rovere seine
letzten Kräfte sammelnd, dieses Porträt von der Wand abnahm
und mit einem fixen, wie eine Rache vermachenden Blick betrach¬
tete. Prad£s empfand in diesem Augenblick, als wäre dieses Bild
der einzige Zeuge zwischen ihm und dem Ermordeten. Und da
außerdem der Rahmen mit, wie ihm schien, kostbaren Steinen
72
Dr. E. Hurwicz
besetzt war, löste er das Bild aus den erstarrten Händen des
Opfers und entfloh. — Nach diesem Geständnis wird Dantin in
Freiheit gesetzt, Prad£s sieht aber seiner Aburteilung entgegen. —
Mit der gleichen Frage beschäftigt sich auch der berühmte
französische Gerichtsmediziner Brouardel. In einer Untersuchung
„Les blessures et les accidents du travail“' (Paris 1906, p. 104)
sagt er: „Le docteur Vernois a fait ä la Societe de medecine
legale un rapport-sur la question suivante: Une personne morte
dans la terreür peut-elle conserver sur sa retine l’image pour ainsi
dire photogräphiee de la personne qui a commis l’attentat? Cette
question fut etudiee par Kühne de Heidelberg; il constata que si
l’on tuait un änimaLen lui maintenant Foeil grand ouvert et si
Ton photographiait la retine immediatement apres, on voyait sur
la retine une impression vague des objets voisins. II a egalement
sacrifie des aiiimaux auxquels il faisait regarder des grilles placees
devant des fen€tres vivement eclairees et il a trouve sur la retine
l’impression de ces grilles. J’ai ete temoin de ces curieuses
experiences; mais dies ne peuvent-pas nous servir en medecine
legale, car cette impression n’est obtenue avec netiete qu’en
obligeant l’animal ä rester les paupieres ouvertes pendant quelques
minutes devant une fenetre vivement eclairee et en examinant la
retine de suite >apr£s la mort. Des circonstances semblables sont
en dehors des probabilites medicinales“. („Dr. Vernois erstattete
der Gesellschaft für gerichtliche Medizin Bericht über die folgende
Frage: kann eine gewaltsamen Todes gestorbene Person auf ihrer
Netzhaut gewissermaßen das photographierte Bild der Person
bewahren, die das Attentat begangen hat? Diese Frage wurde
von Kühne in Heidelberg studiert; er fand, daß, wenn man ein
Tier tötete, indem man ihm das Auge offen hielt und unmittelbar
darauf die Netzhaut photographierte, auf der Netzhaut einen vagen
Abriß der nahen Gegenstände zu sehen war. Er hat gleicher¬
weise Tiere geopfert, die er zwang, Gitter anzusehen, die vor
stark beleuchteten Fenstern aufgestellt waren, und hat auf der
Netzhaut einen optischen Eindruck dieser Gitter wiedergefunden.
Ich wohnte diesen merkwürdigen Versuchen bei; sie können uns
aber in der gerichtlichen Medizin nichts nützen; denn der optische
Eindruck kann nur dann deutlich erhalten werden, wenn man
das Tier zwingt, mit aufgeschlagenen Augenlidern vor einem
stark beleuchteten Fenster zu bleiben, und die Netzhaut gleich
nach dem Tode untersucht. Solche Umstände sind außerhalb
der medizinischen Möglichkeit“.)
Der Gesichtsausdruck der Leiche in kriminalistischer Beziehung 73
Indessen stellt die behandelte Frage, gleichsam in physikalischer
Vertiefung, nur einen Teil eines allgemeineren Problems dar,
nämlich: ist das Gesicht des Toten ein psychophysischer
Spiegel des dem Tode unmittelbar vorangehenden
Zustandes? Lassen sich namentlich aus ihm Schlüsse
auf den freiwilligen oder aber gewaltsamen Charakter
des Todes ziehen? — Daher läßt denn auch Brouardel seinen
oben wiedergegebenen Worten unmittelbar die folgenden, auf
dieses Problem sich beziehenden Worte folgen:
„Dans la description de l’apparence du cadavre, ne. laissez
pas percer l’emotion trös naturelle qui peut vous avoir envahi et
qui est tres vive chez les assistants. Souvent ils pensent, en
voyant un cadavre les yeux ouverts, puisqu’on n’a pas fermes les
paupidres, que sur ses traits se trouve exprimee la terreur qu’a
provoquee la scene du crime. Si la rigidite cadaverique existe
dejä, les traits ont un relief singulier, mais celui-ci ne depasse
pas ce que l’on observe dans les cas oü il n’y a eu, dans les
demteres minutes, aucune cause - d’effroi. N’oubliez pas en outre
que la putrefaction, meine au debut peut notablement älterer les
traits de la face“.
(„Wenn man einen Leichnam mit aufgeschlagenen Augen —
weil man ihm die Augenlider nicht geschlossen hat — sieht,
glaubt man oft in seinen Gesichtszügen den Ausdruck des durch
die Verbrechenszene hervorgerufenen Entsetzens wahrzunehmen.
— Wenn die Leichenstarre bereits eingetreten, haben die Ge¬
sichtszüge ein eigentümliches Aussehen; genau dasselbe wird
aber in den Fällen beobachtet, wo es in den letzten Augenblicken
keine Ursache zum Schreck gab. — Man soll nicht vergessen,
daß die Fäulnis schon in ihrem Beginn die Gesichtszüge erheblich
entstellen kann“). —
Eine konkrete Bedeutung erlangt die Frage der kriminalistischen
Verwendung des Gesichtsausdruckes bei Selbstmordverdacht, ganz
besonders aber bei Doppelselbstmord. Denn bei diesem letzteren
wird ja von dem überlebenden Partner die Tötung des anderen
gar nicht bestritten, sondern nur das Einverständnis oder sogar
Verlangen behauptet; technische Zweifel bestehen somit nicht
bei der Leichenschau, wohl aber solche rein psychologischer
Natur. Daher ist hier die Versuchung, den Gesichtsausdruck des
Leichnams als Beweisgrund heranzuziehen, wohl am größten.
Anläßlich des in Frankreich seinerzeit berühmt gewordenen Falles
von Doppelselbstmord, in dem der Student und Literat Chambige
74
Dr. E. Hurwicz
eine verheiratete Frau G. ermordete, sich selbst aber nicht zu töten
vermochte, übermittelt uns Tarde 1 ) die sich auf die obige Frage
beziehende Ansicht Lacassagnes. Chambige behauptete nach
der Tat, daß die Frau, die verheiratet war und Kinder hatte, sich
ihm nur unter der Bedingung hingab, daß beide nachher Selbst¬
mord begehen sollten 2 ). Die Zeugen, die zuerst die Leiche der
Frau erblickt haben, waren denn auch von deren ruhigem Gesichts¬
ausdruck überrascht. Hierüber sagt nun Tarde: „M. Lacassagne -
me. fait observer le penchant qu’on a, en regardant le visage d’un
mort, ä lui preter une expression imaginaire. »Pour ce qui est des
doubles suicides — nous a-t-il ajoute — j’en ai observe un certain
nombre, des amants qui se sont noyes ensemble apres s’etre
ligotes, d’autres qui ont bu le poison dans un meme verre, d’autres
qui se sont asphyxies par le charbon. J’ai en aussi ä examiner
des assassinäts-suicides, Tarnant tue sa maitresse et se fait ensuite
justice. Sur ces victimes ou ces epouses de la mort si j’ose dire,
je n’ai jamais lu sur les traits du visage les traces d’une derniere
pensee ou d’une derniere consolation.« A l’inverse et pareillement
»j’ai observe plus de cinqnante cadavres de p,ersonnes assassinees et
j’ai remarque que l’effroi, la terreur n’etaient nullement figes
sur la figure«“. („Herr Lacassagne macht mich auf die Neigung
aufmerksam, die man beim Anblick des Gesichtes eines Toten hat,
ihm einen vermeintlichen Ausdruck zu verleihen. »Was Doppel¬
selbstmorde anbetrifft — hat er uns hinzugefügt — so habe ich
ihrer eine Anzahl beobachtet, Liebespaare, die sich zusammen¬
gebunden ertränkt haben, andere, die aus demselben Glas Gift
tranken, wieder andere, die sich durch Einatmung von Kohlen¬
dampf vergifteten. Ich hatte auch Fälle von Mord und Selbst¬
mord zu untersuchen, in denen der Mann seine Geliebte tötet
und dann sich selbst richtet. Bei diesen Opfern, oder wenn ich
so sagen darf Totesgattinen, habe ich nie die Spuren eines letzten
Gedankens oder Trostes wahrgenommen«. Gleicherweise aber
»habe ich auch umgekehrt bei den mehr als fünfzig Leichen ge¬
waltsam Ermordeter, die ich beobachtete, bemerkt, daß sich das
Entsetzen oder die Angst in keiner Weise auf dem Gesicht aus-
prägten«“). „Und doch — setzt Tarde seinerseits zu dem Fall der
Frau G. hinzu — will es mir scheinen, daß die Zeugen sich nicht
ganz geirrt haben und daß ihr Eindruck die übrigen Aussagen
') S. Archives d’anthropologie criminelle 1889, p. 103.
*) Ob der Koitus auch unmittelbar der Tötung voranging, ist aus der Dar¬
stellung des Falles nicht ersichtlich.
Der Gesichtsausdruck der Leiche in kriminalistischer Beziehung 75
tind Umstände eher bestätigt als widerlegt“ (die zur Annahme eines
indirekten Selbstmordes der Frau führen).
In der deutschen Literatur findet sich hingegen über die
Spezialfrage, die den Gegenstand unserer Abhandlung bildet, fast
gar nichts. Nur in Straßmanns Lehrbuch der gerichtlichen
Medizin (1895, S. 100) findet sich gelegentlich der Sexualdelikte
die folgende Notiz: „Albert (Henkes Zeitschr. 1843, H. 3) berichtet
über eine 24jährige Frau, die ein junger Bursche nach langem
Kampfe zum Beischlaf gezwungen hat, indem er ihr während des
Aktes, um sie am Hilferufen zu verhindern, Mund und Nase zu¬
gehalten hatte, wodurch Erstickung eintrat. Wenn der Autor in
diesem gewiß nicht dazu angetanen Falle „in der Physiognomie
deutlich jene Verzückung oder Extase“ ausgesprochen fand, »die
beim Koitus einzutreten pflegt«, und meint, „es lag in ihr der
Ausdruck der höchsten Geschlechtslust“, so dürfte seine Phantasie
wohl über die nüchterne Beobachtung gesiegt haben“.
Außerdem finden wir in dem Kollektivwerk von Niceforo-
Lindenau „Die Kriminalpolizei und ihre Hilfswissenschaften“
{Berlin 1908, S. 73) die folgende, wohl aber dem italienischen
Mitverfasser gehörende, Bemerkung: „Hinsichtlich der Frage, stirbt
ein Ermordeter mit offenen oder geschlossenen Augen? haben
die Beobachtungen an Leichen und die Versuche an Kaninchen
keine sicheren Resultate ergeben; immerhin erscheint die Annahme
gerechtfertigt, daß die von einem plötzlichen Tode Überraschten
meist mit offenen Augen sterben“. Diese Annahme wird auf die
Doktor-These Menards „L’etat des paupieres apr6s la mort“,
Lyon 1898 gestützt, widerspricht aber der oben angeführten rea¬
listischen Ansicht Brouardels über die gleiche Frage.
Bei dieser Dürftigkeit der Deutschen Literatur über das hier
interessierende Problem entschloß ich mich, einige Autoritäten auf
dem Gebiete der gerichtlichen Medizin über den Gegenstand- zu
befragen, und führe nachstehend die mir gütigst gewordenen
Ansichtsäußerungen an:
Herr Prof. Straßmann: „Eine Bemerkung über das Thema
findet sich auf S. 100 meines Lehrbuchs (s. oben). Sonst ist mir
aus unserer Literatur nichts dazu bekannt und auch eigene Be¬
obachtungen über einen der Situation im Tode entsprechenden
Gesichtsausdruck an Leichen habe ich in überzeugender Weise
nie machen können. Sie könnten wohl auch nur ausnahmsweise
zur Wahrnehmung gelangen, da ein solcher Ausdruck doch auf
der Zusammenziehung von Gesichtsmuskeln beruht, die im Tode
76
Dr. E. Hurwicz
wieder erschlaffen, wenn nicht etwa ausnahmsweise eine sogenannte
kataleptische Totenstarre eintritt.“
Herr Geh. Med. Rat A. Leppmann: „Im Laufe meines ärzt¬
lichen Wirkens habe ich Gelegenheit gehabt, viele Leichen teils
eines natürlichen, teils eines gewaltsamen Totes Gestorbener zu
sehen. Meine Meinung geht danach dahin, daß man aus dem
Gesichtsausdruck keinerlei verwendbare Beziehungen zur Todesart
herleiten kann.“
Herr Geh. Medizinalrat Dr. Hoffmann: „Ich habe im Laufe
der Jahre doch Hunderte von Leichen gesehen und zwar Leichen
von Personen, die eines natürlichen Todes gestorben waren, solche
von Selbstmördern und auch solche von anderer Hand Getöteter.
Ich.glaube, daß der’Gesichtsausdruck, den man von einer Leiche
wahrzunehmen glaubt, oft nur auf lebhafter Phantasie beruht. Nur
ausnahmsweise wird man etwas verzerrte oder schmerzhaft ent¬
stellte Züge wahrnehmen. Ich hatte früher in Halle auch eine
große ärztliche Praxis und kann mich dort auf Fälle besinnen, wo
Leute tatsächlich eines qualvollen, schmerzhaften Todes starben.
Die Leichen zeigten nachher die friedlichsten Züge. Vielleicht»
aber auch nur vielleicht ist die Bauchfellentzündung eine Aus¬
nahme. Wenigstens haben wir gerade bei Personen, die an dieser
Krankheit gestorben sind, öfter etwas Schmerzhaftes in den Zügen
zu erblicken geglaubt.“
Sapienti (ja eigentlich schon non sapienti) sat! Aus allem
Vorangehenden ergibt sich zur Genüge die Unzulässigkeit
jeder psychologischen und daher auch kriminalisti¬
schen Deutung des Gesichtsausdruckes eines Leich¬
nams. Es handelt sich jetzt nur darum, die Begründung dieses
Satzes methodisch zusammenzufassen.
1. Man kann hierbei wohl von einer gewissen Parallele mit
der Physiognomik ausgehen. „Alle Versuche — sagt hierüber
Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie, 6. Aufl.
Bd. 3, S. 268) — zwischen den Gesichtszügen eines Menschen
und seinem Inneren gewisse Gesetze der Beziehung aufzufinden,
leiden an dem Fehler, daß sie bleibende Verhältnisse der Form»
die auf den Knochenbau oder anderen Eigenschaften der physischen
Bildung beruhen, als bedeutungsvolle Symbole des geistigen
Charakters (oder des Temperamentes) ansehen. 1 )“ — Schon bei Leb¬
zeiten des Menschen, mithin zurZeit des Bestehens eines organischen
') Für die Kriminalistik erlangt diese Tatsache z. B. in der sog. Bauern¬
fängerei praktische Bedeutung.
Der Gesichtsausdruck der Leiche in kriminalistischer Beziehung 77
Zusammenhanges zwischen seinem Äußeren und Inneren, vereitelt
das Bestehen gewisser rein anatomisch-physiologischer Eigen¬
schaften die psychologische Deutung der Gesichtszüge. Nun
ist freilich die oben untersuchte Frage an sich sofern einfacher,
als sie nur der Aufdeckung eines Zusammenhanges zwischen den
Gesichtszügen und einem bestimmten elementaren Affekte gilt.
Um wie vielmehr muß aber hier die „physische Bildung“ auch diesen
Deutungsversuch vereiteln, als sie hier nicht einmal dem organischen
Leben, sondern nur mehr dem anorganischen Gebiete physikalisch¬
chemischer Veränderungen angehört! In Wahrheit handelt es sich
denn auch beim Gesichte des Toten im Grunde genommen nicht
mehr um einen psychologischen, sondern um einen anatojnisch-
physikalischen Gesichtsausdruck. Dies drückt wohl auch aus und
trifft damit den Kern der Frage Straßmann, indem er sagt, daß
ein der Situation im Tode entsprechender Gesichtsausdruck doch
auf der Zusammenziehung von Gesichtsmuskeln beruht, diese aber
im Tode wieder erschlaffen. Man kann also beim Leichnam
nicht sowohl vom Gesichtsausdruck, als vom Gesichtseindruck auf
die Überlebenden sprechen, der naturgemäß nur subjektiv, vom objek¬
tiven Standpunkt aus vielmehr imaginär (Lacassagne, Hoffmann) ist.
2. Man kann also m. a. W. von einer anorganischen Änderung
des Gesichtsausdruckes des Toten (durch die Erschlaffung der
Gesichtsmuskeln oder die Fäulnis [Brouardel]) sprechen. Nur
durch diese Veränderung erklärt sich die von den angeführten
Gerichtsmedizinern beobachtete Gleichheit des Gesichtsausdruckes
in Fällen, wo der Tod mit irgend einem Schrecken verbunden
war, und dort, wo es nicht der Fall war (Brouardel), bei gewalt¬
samem und freiwilligem Tode (Lacassagne), bei qualvollem und
schmerzhaftem, wie bei friedlichem Tode (Hoffmann).
3. Die Verwendung der psychologischen Deutung des Gesichts¬
ausdrucks des Leichnams zu kriminalistischen Zwecken ist dem¬
nach unstatthaft. Sie ist, bei methodischer Folgerichtigkeit, nicht
einmal in der (oben von Tarde verwendeten) komplementären
Form, als Bestätigung sonstiger Befunde, statthaft. Denn, wenn
man einmal dem Gesichtsausdruck des Toten überhaupt eine
psychologische Bedeutung beizumessen neigt, kann u. U. umge¬
kehrt sogar ein Widerspruch zwischen letzterer und den anderen
Beweisstücken behauptet werden, dessen Sinnlosigkeit indessen
der oben angeführte Fall Alberts zeigt.
Neuerschienene Bücher und Broschüren
in deutscher Sprache.
Zusammengestellt von Werner Kuhn und Robert Heindl.
1. Januar 1917 bis 31. Dezember 1917.
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Ministerialerlassen. Text'Ausgabe rti. Einleif. u. Erläut 3.. neubearb. Aufl. (374 S.)
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Kästner & Callwey. (München, Ch. Kaiser.)
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stelle i. d. Landesstatistik. Schriftleitung: Reg.-R. L. Knöpfei. G5. Bd., 2. Heft.
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beamtcn e. V. Herausgg. von Strafanst-Vorst. Dir. Dr. Schwandner. 51. Bd.
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Phrenologie. 2. Aufl. (17 S. m. Abb.) 1917. Nr. 37 d. Ostara, Bücherei d.
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der ,. Ostara“. Wien, F. Schalk in Komm.
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der Laien bei demselben. (IX, 82 S.) Kl. 8”. Freiburg i B. 1917. Geschäfts¬
stelle d. Caritasverbandes f. d. kathol. Deutschland.
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(VI, 72 6.). 8°. Berlin 1917. E. S. Mittler & Sohn.
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2. Heft (Schluß.) 3. Vorlesung 16—28. (Allgero. Neurosenlehre.) (VIII und
S. 271—545.) 1917.
15. Freud, Sigmund, Prof. Dr.: Vorlesungen z. Einführung i. d. Psychoanalyse*
2. Heft. Vorlesung 5—15: [Der Traum.] (S. 81—270 mit 1 Tafel.) Gr. 8°
Wien 1916. H. Heiler & Cie.
Neuerschienene Bücher und Broschüren
79
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Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum.] 5. verrn. Aufl.
tfli, 232 S. m. 1 Fig.l Gr. 8°. Berlin 1 Öl7. S. Karger
17. Gonser, Imman. Prof.: Der Kampf gegen die Alkoholschäden. (S. 721—765.)
Gr. 8°. Berlin 1917. Mäßigkeitsverlag.
Waitz, Sigmund, Weihbiseh. Dr.: Sanctificate pejunium. Bemerkungen zur
heut. Enthaltsamkeitsbewegung und zum Kampfe gegen die Trunksucht. (39 6.)
8°. Salzburg o. J. (1917.) Kathol.■ Vereinsbuchh.
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hüllungen aus dem Sklavenleben weißer Frauen und Mädchen. 4. verm. Aufl.
[8.—10. Taus.] (80 S.) 8°. Leipzig o. J. (1917.) H. Hedewigs Naehf.
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(äö S.) 8°. Berlin 1917. Jul. Springer.
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Theodor Soergel u. R**g.-R. J. Krause. 11. Jg. Rechtsprechg. u. Literatur. 1916.
[Einbd.: zu d Reichs- u. Landesgesetzen.J (XLIX, 377 S) Kl. 8*. Hannover
1917. Helwingsche Verlagsh
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d. moderne Theorie u. Methode der analyt. Psychologie. Herausgg. Zürich
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ticke. 1917.
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Berlin ö. J. (19.17.) S. Karger. S.-A. aus dem Jahresbericht f. Neurologie und
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u. Fritz Wolff (u. 3 photograph. Taf.) (94 S.) 17 X 25,5 cm. Berlin o. J*
(1917.) A. Jandorfs Verlag.
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lung des bern. Hilfsvereins f..Geisteskranke am 23. V. 1917. (19 S.) Gr. 8°.
Bern 1917. A. Francke.
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hörden in d. Kriegszeit haben sich bewähit und in welchem Umfange lassen
sich diese in d. Zeit nach d. Kriege übertragen? (28 s.) Gr. 8°. Berlin o. J.
(1916) Mäßigkeits-Verlag. S. A. a. d. Z.: Die Alkoholfrage, 12. Jh.
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aufsicht im Septbr. 1917 in Luzern. Gr. 8°. Aarau, H. R. Sauerländer & Co.
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Ausg. (III, 96 S.)
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schreiben, welche seit Herausgabe d. deutschen Fahndungsblattes im J. 1899
bis Ende Dezbr. 1916 in diesem veröffentlicht sind. Herausgg. v. d. Schrift-,
leitung d. deutschen Fahndungsblattes zu Berlin. 12rJahrg. (771 S.) Xl. ; 8‘V
Berlin 1917. Drucker: A. W. Hayns Erben. — Berlin (C. 2, Molke^markfcl),
Schriftleitg. d.; deutschen F|iudungsblattes. * «^
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Ober-Reg.-R. Präs. Dr. Georg Kautz. 25. Jg. 1917. 36 Nrn. (Nr. 1: 16 S.)
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Vorträge. Leipzig 1918. Joh. Ambr. Barth.
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7. Aufl. (27 S.) Gr. 8°. München 1918. E. Reinhardt.
6. Forel, August, ge wes. Prof. Irrenanst.-Dir. Dr.: Dej; Hypnotismus oder die
Suggestion u. d Psychotherapie. Ihre psycholog., psychophysiolog. u. medizin.
Bedeutung m. Einschluß d. Psychoanalyse, sowie der Telepathiefrage. Ein
Lehrbuch f. Studierende sowie f. weitere Kreise. 7. umgeb. Aufl. (VIII, 355 S.)
Lex. 8. Stuttgart 1918. F. Enke.
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prozeß. Vortrag, geh. in der n Jurist. Gesellschaft“ zu Frankfurt a. M. (31 S.)
Gr. 8°. Frankfurt a. M. o. J. (1918). Kesselringsche Hofbuchh. S.-A. a. d.
Frankfurter Rundschau. 1917/18.
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Der Polizeihund u. Die prakt. Gendarmenfrau. Herausgg.: Deutsche Staats
bürger- u. Beamtenschule Berlin. Hauptschriftleiter: Kommiss.-R. Rob. Gersbach
Verantwortlich: Pol.-Insp. a. D. E. R. Burg. 16. Jg. April 1918—März 1919
26 Nrn. (Nr. 1/2, 36 S.) Gr. 8°. Berlin, Kameradschaft.
9. Gendarmerie-Kalender 1918. Begr. V. Oberst a. D. vorm. Gendarmerie-Schul-
Kommandeur v. den Brincken u. Komm.-R. Rob. Gersbach. Neu bearb. u. erw.
unter Mitw. bewährter Fachmänner v. d. Schriftleitg. d. Zeitschr.: Der Gendarm.
11. Jg i419 S. mit Fig.) Kl. 8°. Berlin, Kameradschaft.
10. Der Gerichtssaal. Zeitschrift f. Zivil- u. Militär-Strafrecht n. Strafprozeßrecht,
sowie der ergänz. Disziplinen. Unter ständiger Mitarbeit von Prof. Dr. Allfeld.
Herausgg. von Proff. Dr. Frdr. Oetker und August Finger. 86. Bd. 6 Hefte.
(1. u. 2. Heft. 160 S.) Gr. 8°. Stuttgart 1918. F. Enke.
11. Gerland, Heinr. B., Oberlandesger.-R. Prof. Dr.: Grundfragen d. Strafrechts.
Vier Frontvorlesungen. (VI, 80 S.) Gr. 8°. Berlin 1918. F. Vahlen.
12. Grenzfragen, Juristisch-psychiatrische. Zwanglose Abhandlungen. Herausgg. v.
Geh. Just.-R. Dr. A. Finger, Geh. Hofr. Prof. Dr. A. Hoche, San.-R., Dr. Joh.
Bresler. X. Bd.. 5. u. 6. Heft. Gr. 8°. Halle, C. Marhold.
Bresler, Joh., San.-R. Dr.: Rentenkampfneurose („Unfallgesetzneurose“.)
(46 S.) 1918. 6. Heft.
Stoll, Stabsarzt d. R. a. D. Kreisarzt Dr.: Ergebn. psychiatrischer Begut¬
achtungen beim Kriegsgericht. (34 S.) 1918. 5. Heft.
Archiv für Kriminologie. 71. Bd.
6
82
Neuerschienene Bücher und Broschüren
13. Groß, Hans, weil. Prof. Dr.: Die Erforschung des Sachverhalts strafbarer
Handlungen. Ein Leitfaden f. Beamte d. Polizei- u. Sicherheitsdienstes. 4. er¬
neuerte u. verm. Aufl., bearb. von Hofr. leit. 1. Staatsanw. Dr. Er wein R tter
v. Höpler. Mit zahlreichen Abb. im Text. (XI, 224 S.) 8°. München 1918.
J. Schweitzer Verl.
14. Hellwig, Albert: Justizirrtflmer. Minden 1918. J. C. C. Braus’ Verl.
15. Henne am Rhyn, Otto, Dr.: Prostitution u. Mädchenhandel. Neue Ent¬
hüllungen aus dem Sklavenleben weißer Frauen und Mädchen. 5. verm. Aufi.
[11.—16. Taus.] (80 S.) 8°. Leipzig o. J. (1918.) H. Hedewigs Nachf.
16. Herzfelder, Henriette: Die Sozialisierung unseres Jugendrechtes. (21 S.)
o. J. (1918.) ex: Flugschriften d. Österreich. Gesellschaft f. soziales Recht. 8°.
Wien, Soziolog. Gesellschaft. — Wien, Anzengruber-Verlag.
17. Jaeneke, Wilh., Dr.: Die Grundprobleme d. türkischen Strafrechts. Eine
rechts vergleich. Darstell. (X, 144 u. LI S.) Gr. 8°. Berlin 1918. J. Guttentag.
18. Jahrbuch des Strafrechts und Strafprozesses. Herausgg. von Hofr. Dr. Hans
Thdr. Soergel u. Geh. Reg.-R. J. Krause. 12. Jg. Rechtsprechung u. Literatur
1917. (Umschi.: Rechtsprechung u. Rechtslehre d. J. 1917 zu den Reichs- u.
Landesgesetzen.) (LI, 326 S.) Kl. 8°. Hannover 1918. Helwingsche Verlagsh.
19. Kisch, E. Heinr., Reg.-R. Prof. Dr.: Die sexuelle Untreue der Frau. 1. TI.
Die Ehebrecherin. Eine sozial-medizin. Studie. (VIII, 206 S.) Gr. 8 °. Bonn
1918. A. Marcus & E. Weber.
20. Kisch, E. Heinr., Reg.-R. Prof. Dr.: Die sexuelle Untrene der Frau. 2. TI.
Das feile Weib. Eine sozial-medizin. Studie. (VIII, 210 8.) 8°. Bonn 1918.
A. Marcus & E. Weber.
21. Klumker, Chr. J., Prof., und Kurt Blaum, Verw.-Dir. Dr.: Jugendämter im
Deutschen Reich. (31 S.) o. J. (1918.) 178. Flugschrift d. Dürerbundes. Gr. 8°.
München, G. D. W. Callwey.
22. Kukula, Rud.: Der Verwaltungszwang. Eine krit. Studie d. sogenannten
Verwaltungsstrafrechtes. (V, 104 S.) Gr. 8°. Wien 1918. Manzsche Hofverlh.
23. Larsen, Niels: Moderner Aberglaube. Zur' Aufklärung d. Menschheit. (16 S.)
8°. Bremen o. J. (1918). Röpke & Co. in Komm.
24. Lehmann, K., Kreisarzt Dr.: Die Unwahrhaftigkeit. Versuch e. Studie z.
gerichtsärztL-psychol. Wertung der Aussage, m. besond. Berücke, v. Krankheit
u. Rentenkampf. [Für Ärzte, Juristen, Versicherungsbeamte u. Berufsgehossen-
schaften.] (77 S.) 1918. (8. Bd., 4. Heft [83. Heft.]) ex: Veröffentlichungen
aus dem Gebiete d. Medizinalverwaltung. Im Aufträge Sr. Exzellenz des Herrn
Ministers d. Innern herausgg. v. d. Medizinalabteilung d. Ministeriums. (Schrift¬
leitung: Wirkl. Geh. Obermed.-R. Prof. Dr. Dietrich.) 8. Bd., 2—4. Heft. [Der
ganzen Sammlung 81.—83. Heft.] Gr. 8°. Berlin, Verlagsh. R. Schoetz. '
25. Lund, David, Dr.: Über d. Ursachen d. Jugendasozialität. Kriminalpsychol.
u. soziale Untersuchungen mit Einschluß von Familienforschungen in Schweden.
(VI, 362 S.-m. Fig. u. 1 Tab.) Lex. 8°. Uppsala 1918. Almqvist & Wikseils
boktryckeri-A.-B. (Stockholm, Solnavägen 53, Adolf Werner.)
26. Mendheim, Max: Berühmte Kriminalfälle. Nach dem Neuen Pitaval u. a.
Quellen. Herausgg. von Dr. Max Mendheim. 12. Bdch.: Manolescu, der Fürst
der Diebe. Bearb. von Herrn. Pilz. (104 S.) o. J. (1918.) Reclam’s Universal-
Bibliothek Nr. 5987.
27. Mezger, Edmund: Der psychiatr. Sachverständige im Prozeß. (Beilagebeft
zu Bd. 117 des Archivs f. d. Zivilist. Praxis.) Tübingen 1918. J. C. B. Mohr.
28. Minck, Kreisschulinsp.: Die Jugendgerichtshilfe, ihre rechtl. Grundlage, ihre
Aufgabe U. ihre Organisation. Vortrag, beim Lehrgang z. Ausbildung u. Fort¬
bildung v. Jugendpflegern u. Jugendpflegerinnen in Merseburg Juli u. Aug. 1917
geh. (30 S.) 1918. Heft 6 der Hefte des Merseburger Lehrganges f. Jugend¬
pfleger und Jugendpflegerinnen. Gr. 8°. Langensalza, Julius Beltz.
29. Nej mark, Antoni, Dr.: Die geschichtl. Entwicklung d. Deliktes d. Aussetzung
u. seine Stellung im schweizer. Vorentwurfe. (VHI, 91 S.) 1918. Beiträge,
Züricher, zur Rechtswissenschaft, herausgg. von Proff. A. Egger, E Hafter, Max
Huber u. Hans Reichel. 67. Gr. 8°. Aarau, H. R. Sauerländer & Co.
30. Pharos, Prof.: Der Prozeß gegen d. Attentäter von Serajewo. Nach dem
amtl. Stenogramm d. Gerichtsverhandlung aktenmäßig dargest. u. e. Einleit, von
Prof. (Dr.) Geh. Just.-R. Josef Köhler. Mit d. Abb. d. Anstifter u. Attentäter,
Neuerschjenene Bücher und Broschüren
83
d. Attentatsorts u. a., e. (eingedr.) Plan von Serajewo u. e. (eingedr.) Karte von
Bosnien. (XII, 165 S. und 6 S. Abb.) Gr. 8°. Berlin 1918. E. v. Decker
S.-A. a. d. Archiv f. Strafrecht u. Strafprozeß.
31. Placzek, S. Künstliche Fehlgeburt u. künstliche Unfruchtbarkeit, ihre Indi¬
kationen, Technik und Rechtslage. Ein Handbuch f. Ärzte und Bevölkerung? -
Politiker. Unt. Mitw. v. C. Adam herausgg. v. Siegfr. Placzek. (XI, 460 S. ^n.
Fig.) Lex. 8°. Leipzig 1918. G. Thieme.
32. Die Polizei. Zeitschrift f. Polizeimannschaft, -dienst u. -wesen m. d.-Beil:
Der Polizeihund. Hauptschriftleiter: Komm.-R. Hob. Gersbach. Verantwortlich:
Pol.-Insp. a. D. E. R. Burg. 15. Jg. April 1918—März 1919. 26 Nrn. (Nr. 1/2,
36 S.) Gr. 8°. Berlin, Kameradschaft.
33. Schaller, L. F., San.-R. Dr.: Über d. Bevölkerungsfrage u. d. Anzeige¬
stellung z. künstl. Fehlgeburt. Aus d. geburtshilflich-gynäkologischen Abt. d.
Krankenhauses Bethesda Stuttgart. (14 S.) 8°. Stuttgart 1918. C< Grüninger Nachf.
3|. Schmidt, Wilh., Priv.-Doz. Dr.: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im
Kriege. (VIII, 219 S.) 1918. (5. Heft.) ex: Abhandlungen aus d, Neurologie,
Psychiatrie, Psychologie u. ihren Grenzgebieten. Beihefte zur Monatsschrift f.
Psychiatrie u. Neurologie. Herausgg. v. (Geh. Med.-R. Prof. Dr.) Karl Bou-
hoeffer. Lex 8°. Berlin, S. Karger.
35. Schneidemühl, G., Prof. Dr.: Handschriftenvergleichung und Schrift¬
sachverständige. (31 S.) Gr. 8°. Stuttgart 1918. F. Enke. S.-A. a. d. Z.
Der Gerichtssaal. 86. Bd.
36. Schriften Über Jugendpolitik. (Freiwilliger Erziehungsbeirat. Abteilung . f.
deutsches Jugendrecht.) Herausgg.: Wirkl. Geh. Adm.-R. Dr. Felisch. 1.—4. Heft.
8°. Berlin, H. Bousset.
Felisch, Wirkl. Geh. Adm.-R. Dr.: Wesen und Aufgaben der Jugendpolitik.
(54 S.) 1918. (1. Heft.) ,
Pfankuch, Wilh.: Deutsche Jugendpolitik u. ihre Bedeutung f. d, deutsche
Gemeinschaftsleben. (47 S.) 1918. (4. Heft.)
Stern, Jacques, Amtsger.-R. Dr.: Der Weg zum deutschen Jugendgesetz. —
Goeze, Landesr. Dr.: Jugendämter u. Wohlfahrtsverwaltung in Stadt u. Land.
(61 S.) 1918. (2. u. 3. Heft.)
Gleichen-Rußwurm, Aphorismen z. deutschen Jugendpolitik. Berlin 1918,
H. Bousset, Verlag d. Jugendlese.
37. Schulze-Berge, Franz, Dr/: Die Schutzhaft» ihr Begriff u. ihre rechtlichen
Grundlagen. (VIII, 89 S.) Gr. 8°. Berlin 1918. Puttkammer & Mühlbrecht.
38. Schultze, Emst: Die Prostitution der gelben Völker. (Abhandlungen aus
dem Gebiete d. Sexualforschung.) Bonn 1918. A. Marcus & E. Weber.
39. Schweizer Schriften f. allgem. Wissen. 6. Heft. 8°. Zürich, Rascher & Cie.
Pfister, Oskar,.Pfr. Dr.: Wahrheit u. Schönheit in d. Psychoanalyse. (1. u.
2. Taus.) (143 S.) 1918.
40. St oll: Ergebnisse psychiatr. Begutachtungen beim Kriegsgericht. (Jurist.-
psychiatr. Grenzfragen). Halle 1918. C. Marhold.
41. Utitz, Emil, Prof. Dr.: Psychologie der Simulation. (VIII, 99 S.) Gr. 8°.
Stuttgart 1918. F. Enke.
42. Verhandlungen der schweizer. Vereine f. Straf-, Gefängniswesen u. Schutz¬
aufsicht den 11. u. 12. September 1917 in Luzern. 8°. Aaräu, H. R. Sauer¬
länder & Co. Vereinsversammlg., 28, 2. Heft. Verhandlungsprotokoll u. Beilagen.
(HI, 148 S. m. 1 Bildnis.) 1918.
43. Vierteljahrsschrift f. gerichtliche Medizin u. öffentl. Sanitätswesen. Unter
Mitw. d. kgl. wissenschaftl. Deputation f. d. Medizinalwesen im Ministerium d.
Innern herausgg. von Geh. Med.-R. Dr. M. Beninde und Geh. Med.-R." Prof. Dr.
F. Straßmann. 3. Folge, 56. Bd. Suppl.-Jg. 1918. Suppl.- Festschrift, Herrn
Geh. Med.-R. Dr. F. Straßmann gewidmet. Mit 1 Bildnis, 3 Taf. u. 4 Kurven im
Text. (VIII, 318 S.) Gr. 8°. Berlin 1918. August Hirschwald.
44. Wittig, K ; Die ethisch minderwertigen Jugendlichen u. d. Krieg. (Neu¬
drucke zur Psychologie: Der Krieg und die komplementäre Kulturpsychologie.)
Langensalza 1918. Wendt & Klauwell.
44. Wüterich -Stuttgart, Stadtpfr.: Die Fürsorgeerziehung in Württemberg u.
d. Bedürfnisse d- Gegenwart. Gutachten f. d. Hausväterkonferenz d. evangel.
6»
84
Neuerschienene Bücher und Broschüren
Erziehungsanstalten Württembergs. (23 S.) 8°. Stuttgart 1918. Stuttgarter
Jugendsekretariat.' (Stuttgart, K. Thienemann.)
46. Wundt, Wilh.: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungs¬
gesetze von Sprache, Mythus und Sitte. 9. Bd. Gr. 8°. Leipzig, A. Kröner-
9. Das Recht. (XVIII, 484 S.) 1918.
47. Zeitschrift f. Medizinalbeamte. Zentralblatt f. d. gesamte Gebiet der gerichtl-
Medizin u. Psychiatrie, d. staatl. u. privaten Versicherungswesens, sowie f.
d. Medizinal- u. ölfentl. Gesundheitswesen, einschließlich d. Hygiene u. Bak¬
teriologie. Mit Beil : Rechtsprechung und Medizinalgesetzgebung. Herausgg.
von Geh. Med.-R. Prof. Dr. Otto Rapmund. 31. Jg. 1918. 24 Nrn. (Nr. 1
20 u. 4 S.) Gr. 8°. Berlin, Fischers medizin. Buchh.
48. Zentralblatt f. Vormundschaftswesen, Jugendgerichte u. Fürsorgeerziehung.
Organ des Archivs deutscher Berufsvormünder und des allgemeinen Fürsorge-
erziehungstages. Mit Unterstützung v. Prof. Dr. (Chr. J.) Klumker, Anst.-Vorst.
Past. (W.) Backhausen herausgg. v. Dr. Adolf Grabowsky. 10. Jg. April 1918
bis Mörz 1919. 24 Nrn. (Nr. 1 12 S.) Lex. 8°. Berlin, Carl Heymann.
Die Anwendung der Palimpsestphotographie auf
forensischem Gebiete.
Von
R. R. Kögel, O. S. B., Photochemisches Laboratorium Beuron.
Mit 5 Abbildungen.
Als Abbe die theoretischen Grenzen des mikroskopischen
Sehens begründete, schien es, daß ein weiterer Blick in die Welt
der kleinsten Materie den Menschen nicht vergönnt sein würde. 1 )
Abbe zeigte, daß die mikroskopische Bilderzeugung durch die
geometrische Optik allein ihre Erklärung nicht finden könne, son¬
dern durch die physikalische Optik ihre Begründung erhalte. Das
mikroskopische Objekt ist als ein enges Streifengitter aufzufassen,
das die Frauenhoferschen Beugungserscheinungen zeigt. Trifft
ein paralleles Lichtbüschel auf ein solches Gitter, so durchläuft
ein größer Teil der Strahlen unverändert das Gitter. Es entsteht
das sogenannte nullte Spektrum, das Hauptspektrum. Die Gitter¬
streifen erzeugen aber auch eine Anzahl Nebenspektren, die sym¬
metrisch zu beiden Seiten des Hauptspektrums sich anlagern. Der
Abstand der Gitterstreifen bestimmt die Anzahl der Nebenspektren.
Beträgt der Abstand zwischen zwei Gitterstreifen nur noch eine
halbe Wellenlänge, also bei Bestrahlung mit dem Licht der gelben
Natriumlinie, 0,00025 mm, so entstehen nur noch ein paar Neben-
spektren. Damit eine mikroskopische Abbildung eines Gitters
zustande komme, muß außer dem Hauptspektrum mindestens ein
Nebenspektrum in das Objektiv gelangen. Die Neigung der
Beugungsbüschel darf also den halben Öffnungswinkel des Ob¬
jektivs nicht überschreiten. Die Strahlen kurzer Wellenlänge
erfüllen diese Bedingung schneller als die größerer Wellenlänge,
weil die letzteren durch ein Gitter stärker gebeugt werden. Der
Neigungswinkel wird noch verringert, wenn der Beugungsvorgang
in einem Medium verläuft, dessen Brechungsindex größer als 1 ist.
Die mikroskopische Auflösung wird durch eine schiefe Be¬
leuchtung noch erweitert. Das beleuchtende Lichtbüschel verläuft
l ) Der Bau der Atome wird durch X-Strahlen spektral erforscht.
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 7
86
P. R. Kögel
nicht mehr in der Richtung der Objektivachse, sondern unter
einem Winkel, der gleich dem halben Öffnungswinkel des Ob¬
jektivs ist. Die numerische Apertur des Beleuchtungsbündels ist
dann gleich der numerischen Apertur des Objektivs. Die schiefe
Beleuchtung löst daher Streifen auf, die nur halb so groß sind
als die durch zentrale Beleuchtung aufgelösten.
Diese Verhältnisse wurden durch Abbe in sehr einfache For-
mein gebracht und lauten für zentrale Beleuchtung ö — - ; <5«= Ab¬
stand der Streifen, # = Wellenlänge, a = numerische Apertur. Für
schiefe Beleuchtung gilt dementsprechend d = ä == 2~i ~ 4 ‘ ^‘ er
ist a== 1,4, da, wie vorher gezeigt wurde, die numerische Apertur
der Beleuchtungseinrichtung bei schiefer Beleuchtung gleich der
des Objektives ist.
In dem mikroskopischen Bilde erzeugt das Hauptspektrum
das Hellfeld. Durch Interferenz zeichnen die Nebenspektren die
Struktur des Objektes in das Hellfeld ein. Blendet man das
Hauptspektrum ab und läßt nur die Nebenspektren, zum wenigsten
zwei - in das Objektiv gelangen, so entsteht die Dunkelfeld¬
beleuchtung.
Will man das mikroskopische Sehen und Darstellen nach, dem
Gesagten bis an die äußersten Grenzen bringen, so wird man
einerseits eine Vergrößerung der Apertur, andererseits die Anwen¬
dung von Strahlen kürzester Wellenlänge erstreben.
Die numerische Apertur, als Funktion eines Winkels von 90°,
hat feste, unüberschreitbare Grenzen. Scheinbar unbegrenzt — in
konsequenter Anwendung der Abbeschen Theorie — ist die Stei¬
gerung der Auflösung bei Verwendung von Strahlen immer kürzerer
Wellenlänge.
A. Köhler hat diesen Weg eingeschlagen und so weit be¬
gangen, als technische Möglichkeiten und praktische Anwendung
Erfolg in Aussicht stellten. Zur Beleuchtung benutzt er die ultra¬
violette Linie von =- 275 mi des Kadmiumfunkens. Die mono¬
chromatisch korrigierten Objektive und Okulare bestehen aus
Quarz, da Glas die kurzwelligen Strahlen nicht durchläßt. Das
unsichtbare Bild wird photographisch aufgenommen. Mit dem
Verfahren von A. Köhler sind wir zurzeit an den praktischen
Grenzen der direkten mikroskopischen Darstellung angelangt
Die gleiche Frage, die Abbe aufgeworfen, hat Helmholtz
behandelt, wobei er die gitterförmigen Objekte als selbst-
Die Anwendung der Palimpsestphotographie auf forensischem Gebiete 87
leuchtend annahm. Auch Helmholtz kam zu dem Schlüsse, daß
die numerische Apertur des Objektivs die optische Trennung
(j,
selbstleuchtender Objektive bestimme und daher «= sei. Dem¬
zufolge ist das Auflösevermögen des Mikroskops für selbstleuch¬
tende Objekte keineswegs größer als für beleuchtete. Den Selbst¬
leuchtern wollen wir aber noch besondere Aufmerksamkeit zu¬
wenden.
Außer den eigentlichen Selbstleuchtern, den glühenden Kör¬
pern, gibt es zwei Arten von Selbstleuchtern.
Die erste Art sind die phosphoreszierenden und fluoreszieren¬
den Körper. Solche Körper absorbieren zuerst Strahlen und
senden sie, meist mit kürzerer Wellenlänge, wieder aus. Fällt
die Dauer der Ausstrahlung mit der der Belichtung endlich zu¬
sammen, so nennt man diese Erscheinung Fluoreszenz. Übersteigt
die Dauer der Ausstrahlung endlich die der Beleuchtung, so spricht
man von Phosphoreszenz.
Die zweite Art von Selbstleuchtern sind ultramikroskopische
Objekte. Kleiner als eine Wellenlänge vermögen sie das Licht
weder zu brechen noch zu reflektieren, sondern nur zu beugen.
Um das Körperchen lagern sich abwechselnd helle und dunkle
Ringe. Diese Beugungsscheibchen werden bei Dunkelfeldbeleuch¬
tung sichtbar, die Körperchen selbst bleiben unsichtbar. Das Auf¬
lösungsvermögen des Ultramikroskops übersteigt also das Auf¬
lösevermögen des Mikroskops nicht.
Die Dunkelfeldbeleuchtung kann mit rechtwinkliger oder
gleichachsiger Anordnung der Beleuchtungs- und Beobachtungs¬
systeme erfolgen. Die gleichachsige Anordnung des Beleuchtungs¬
und Beobachtungssystems verlangt wirkliche Dünnschnitte des
zu beobachtenden Objektes. Zur Beleuchtung können Strahlen
kleinerer Apertur als zur Beobachtung gewählt werden oder um¬
gekehrt. Dunkelfeldbeleuchtung kann auch mit solchen Konden¬
soren erzeugt werden, die den Beleuchtungsstrahlen eine Apertur
geben, durch die sie am Deckglas totalreflektiert und auf das
Objekt zurückgeleitet werden. Nur den vom Objekt abgebeugten
Strahlen fällt die Bilderzeugung zu.
Für die mikroskopische Beobachtung und Photographie
fluoreszierender Objekte haben zuerst Reichert und dann Leh¬
mann die ersten Vorrichtungen geschaffen.
Reichert benutzt folgende Anordnung. Als Lichtquelle dient
elektrisches Bogenlicht. Die Strahlen werden durch eine Linse
7*
88
P. R. Kögel
aus Quarz oder aus dem für ultraviolette Strahlen größerer Wellen¬
länge besonders durchlässigen, weißen U.-V.-Glas gesammelt und
auf ein Doppelfilter geleitet. Dieses Filter gibt die ultravioletten
Strahlen frei, hält aber die sichtbaren bis auf einen nicht beson¬
ders störenden Rest zurück.
Das Filter, auf dessen Verwendung wir später noch hinzu¬
weisen haben, besteht aus einer Doppelküvette von blauem Uviol¬
glas. Die eine Hälfte der Küvette, die der Lichtquelle zugewandt
wird, wird mit einer 25 °/o wässerigen Kupfersulfatlösung gefüllt.
Für die andere Hälfte wird ein 0,1 g Nitrosodimethylamin in
100 ccm absolutem Alkohol gelöst, wovon 1 ccm mit 9 ccm Wasser
für den Gebrauch verdünnt werden. Die aus dem Filter tretenden
Strahlen gelangen zu einem dioptrischen Kondensor aus Quarz
von hoher Apertur. Eine Zentralblende hält die Strahlen mittlerer
Apertur zurück. Die ultravioletten Beleuchtungsstrahlen gelangen
so nicht in das Objektiv, wohl aber die Fluoreszenzstrahlen, die
von dem Objekt unter dem Einfluß der ultravioletten Strahlen
ausgesandt werden. Der optische Kontakt zwischen Kondensor
und Objektträger, der entweder aus Quarz oder aus weißem
U.-V.-Glas besteht, wird durch Glyzerin vermittelt. Die Deck¬
gläschen sind die üblichen, also aus gewöhnlichem Glas.
Da durch die Zentralblende die Strahlen bis zur Apertur von
etwa 1—0 abgeblendet werden und verloren gehen, hat Lehmann
ein lichtstärkeres System hergestellt. Er benutzt die volle Apertur
des Quarzkondensors und hält die ultravioletten Strahlen auf
ihrem Weg zum Objektiv durch ein gelbes Deckgläschen aus
Euphosglas zurück. Der zur Beobachtung dienende Teil des
Mikroskops ist der gleiche wie bei Reichert, und der gebräuchliche.
Die Gesetze und Methoden der mikroskopischen und ultra¬
mikroskopischen Darstellung wurden nun kurz besprochen, da es
unter den forensischen Untersuchungsobjekten Schriftstücke gibt,
die der Klasse der Selbstleuchter erster Art angehören und
Dunkelraum zu ihrer Untersuchung fordern. Gleichzeitig sollte
der Leser zu der Erkenntnis geführt werden, daß die Photographie
des Unsichtbaren nach den bisherigen Verfahren, soweit sie statische
Objekte betrifft, der des Kleinsten gleichkommt, daß auf diesem
Wege also keine Übersichtsbilder größerer Objekte gewonnen
werden können. Noch weniger wäre dies von der Röntgen¬
spektrumphotographie und Radiologie zu erwarten, die uns über
den inneren Bau der Atome Aufschluß zu geben hat.
Für die naturgroße Abbildung oder geringe Vergrößerung
*
Die Anwendung der Palimpsestphotographie auf forensischem Gebiete 89
* t
von Objekten, wie Schriftstücke, lassen sich die ultramikrosko¬
pischen und fluoreszenzmikroskopischen Methoden in ihrer Eigenart
nicht gebrauchen. Weder durch Beleuchtungskondensoren noch
durch optische Dünnschnitte können die Schriftstücke ins Dunkel¬
feld und zum Selbstleuchten gebracht werden. Das Dunkelfeld
kann nur der gewöhnliche Dunkelraum sein. Die Beleuchtungs¬
strahlen durch ein Deckglas auf dem Wege zum Objektiv zurück¬
zuhalten, wäre ebenso unzweckmäßig als überflüssig.
Es waren auch keine Überlegungen aus dem Gebiete der
Ultramikroskopie und Dunkelfeldbeleuchtung, diezuderPalimpsest-
und forensischen Fluoreszenzphotographie führten, obwohl sie
theoretisch (auf etwas langem Wege) davon abgeleitet werden
konnte, wie aus dem Gesagten hervorgeht. Es waren vielmehr
Erwägungen, die sich an die Photographie im allgemeinen an¬
schließen und die auch dem in den Theorien der Mikroskopie
weniger Bewanderten leicht verständlich sein werden.
Ursprünglich war die Fluoreszenzphotographie für die Er¬
schließung der für die klassischen und geschichtlichen Wissen¬
schaften so wertvollen Paliinpseste bestimmt. Das Verfahren
konnte jedoch ohne weiteres zur Aufnahme von forensischen
Schriftstücken u. dgl. Verwendung finden, da die Palimpseste und
die modernen forensischen Schriftstücke zum Teil gleichartig sind
oder wenigstens gleichartige Eigenschaften besitzen.
Die Palimpseste sind Pergamenthandschriften, die über einem
radierten Text einen zweiten, sichtbaren besitzen. In vergangenen
Jahrhunderten, in denen das Schreibmaterial, besonders zu den
fast stets andauernden Kriegszeiten, hoch im Werte war, wurden
oft ganze Bücher, die man entbehren zu können glaubte, ab¬
geschabt, um das Pergament für ein neues Werk benutzen zu
können. Der neue Text ist vielfach von dem alten inhaltlich
ganz verschieden. Dieser liefert uns Klassiker, Bibeltexte, Ge-
schichts- und Rechtswerke. Das Format der Palimpseste ist selten
kleiner als das von 13x18 cm, vielfach aber größer. Die Palim¬
psestphotographie mußte also von vornherein sich die Aufgabe
stellen, die einheitliche Wiedergabe großer radierter Flächen zu
erreichen.
Zur Einführung in die Technik des neuen Verfahrens soll
zunächst an bekannte Objekte, die einfachere Vorstellungen ge¬
statten, angeknüpft werden.
Das leuchtende Zifferblatt unserer Feldtaschenuhren ist heute
fast jedermann bekannt. Meist befindet sich oberhalb den Stunden-
90
P. R. Kögel
zahlen etwas Leuchtfarbe. Die Zeiger, ebenfalls mit etwas Leucht¬
farbe versehen, weisen gleich leuchtenden Fingern auf die Zahl
oder auf die leuchtenden Punkte hin, so daß man auf Grund der
Zwölfteilung des Zifferblattes den Wert der Zahlen wenigstens
erraten kann. Das Leuchten sieht man nur im dunklen Raum.
Die Zahlen hat man schwarz gelassen, damit man sie auch bei
Tag gut sehen kann. Man könnte aber auch ein Zifferblatt mit
Leuchtfarbe herstellen, dessen Zahlen bei Tag fast oder überhaupt
nicht, nachts aber oder im dunklen Raum sofort zu erkennen
wären. Wie würde ein solches Zifferblatt hergestellt sein oder
aussehen? Anstatt einer weißen Emaillefarbe würde man für den
Untergrund des Zifferblattes eine gelbe benutzen, die in ihrem
Ton mit dem der gebräuchlichen gelben Leuchtfarbe übereinstimmt.
Diese Unterlage würde man überall mit Leuchtfarbe bedecken, nur
dort nicht, wo die Ziffern gewöhnlich ihren Platz finden. Ziffern
werden aber nicht eingetragen. Am hellen Tage würde man nur
eine gelbe Scheibe sehen, im Dunkeln aber dunkle Ziffern in
einem hellen Felde. Das Email, das an der Stelle der Ziffern
freiliegt, leuchtet selbst nicht. Die Zeiger, die auch nicht leuchten,
würden als dunkle Finger über die leuchtende Fläche streichen.
Man könnte aber auf das gelbe Email Zahlen mit der gelben
Leuchtfarbe aufzeichnen. Die Zeiger würden ebenfalls mit Leucht¬
farbe versehen werden. Sie streichen dann als leuchtende Finger
über eine dunkle Scheibe. Wir sehen also, wie unsichtbare Zahlen
im Dunkeln sichtbar werden können.
Wir wollen noch ein anderes Beispiel geben, aber von einem
Objekt, das größere Flächen aufweist: Ich streiche eine Wand
mit einer weißen Farbe ( A ) an. Bevor die Farbe auftrocknet, setze
ich einen Strich mit einer anderen weißen Farbe ( B) ein. Wir
wollen annehmen, daß der Ton der beiden Farben völlig überein¬
stimmt. Nach dem Auftrocknen des Anstriches wird man das Vor¬
handensein eines besonderen Striches an einer Reliefbildung nicht
erkennen können. Wie kann dieser Strich auf rein optischem
Wege, ohne Zuhilfenahme chemischer Mittel, sichtbar gemacht
werden? Die Betrachtung oder Photographie unserer Wand
mittels farbiger Lichtfilter wird gemäß unseren Voraussetzungen
den Strich nicht erkennen lassep. Machen wir den Raum, in dem
sich die Wand befindet, dunkel, so ist überhaupt nichts zu sehen.
Wenn es aber auf irgend eine Weise gelingt, die Wand zum Selbst¬
leuchten zu bringen, wobei der Strich dunkel bleibt, so sehen wir
in dem dunkeln Raum eine helle Wand und einen dunkeln Strich.
Die Anwendung der Palimpsestphotographie au! forensischem Gebiete 91
Diese einfachen Verhältnisse wurden nun etwas länger be¬
sprochen, damit der Leser in den Stand gesetzt werde, ohne
weiteres zu sagen, in welchem Sinne ein radiertes Schriftstück,
das nur Spuren von unsichtbaren Tintenresten, z. B. von etwas
Säure, enthält, dem Beispiel der leuchtenden Wand und dem des
leuchtenden Zifferblattes entspricht.
Es empfiehlt sich über den Vergleich eine klare und schnelle
Auffassung zu verschaffen, da gewisse Untersuchungsobjekte eine
„unsichtbare Anfärbung“ gestatten (wovon an dieser Stelle noch
nicht berichtet werden kann), und die Anwendung eines solchen
Verfahrens zielbewußtes Handeln verlangt.
Zur Lösung der Frage sei bemerkt, daß Schwefelsäure nicht
fluoresziert. (Das radierte Schriftstück' entspricht also der leuch¬
tenden Wand und dem ersten Fall des Zifferblattes mit den un¬
sichtbaren Zahlen.)
Ich kehre aber nochmals zu der leuchtenden Wand zurück,
um sie vom photographischen Standpunkt aus etwas näher zu
betrachten und sie mit einer weißen Wand, die einen wirklich
schwarzen Strich enthält, zu vergleichen.
Die Wand wird mit sichtbarem Licht beleuchtet. Das weiße
Planum der Wand mit dem schwarzen Strich wifd die auffallenden
Strahlen reflektieren und sie durch das Objektiv der lichtempfind¬
lichen Platte zusenden. Der schwarze Strich verschluckt die Be¬
leuchtungsstrahlen. Der kongruente Teil bleibt also auf der Platte
unbelichtet. Zwischen dem schwarzen Strich und der Platte liegt
eine Art optischen Vakuums. Die Photographie der weißen Wand
mit dem schwarzen Strich beruht also im wesentlichen auf Unter¬
schieden des reflektierten Lichtes. Eine in einem dunkeln
Raum befindliche phosphoreszierende oder infolge dunkler wirk¬
samer Bestrahlung fluoreszierende Wand kann keine sichtbaren
Strahlen reflektieren, da solche nicht vorhanden sind. Die Photo¬
graphie der einfarbigen, fluoreszierenden Wand beruht also auf
der Wirkung einer sekundären Lichtquelle.
Wie kann man ein Blatt Papier zum Leuchten bringen?
Vielleicht würde man zuerst an eine Bestrahlung mit Radium
u. dgl. denken. Radium wäre aber ein teures Beleuchtungsmittel.
Eine Wirkung wäre von vornherein nur bei den dem Radium
unmittelbar nächstgelegenen Teilen zu erwarten. Die Bestrahlung
des Papiers mit Radium erzeugt aber keine Fluoreszenz. Ebenso
unwirksam sind Röntgenstrahlen. Anders die Kathodenstrahlen,
die die Röntgenstrahlen erzeugen. Die Kathodenstrahlen ent-
92
P. R. Köoel
stehen beim Durchgang des elektrischen Stromes durch hohes
Vakuum. Beim Aufprall auf Papier erzeugen sie aber nicht nur
Fluoreszenz,, sondern auch erhebliche Wärmemengen, die das
Papier schnell bräunen. Durch intermittente Bestrahlung kann
diesem Übel zwar teilweise abgeholfen werden. Immerhin wäre
es außerordentlich umständlich, wenn man die ziemlich großen
Untersuchungsobjekte zuerst ins Vakuum bringen müßte. Dazu
sind große Glasgefäße mit dicken Seitenwänden und einer schwer
abzudichtenden planparallelen Vorderwand erforderlich, ferner ein
teurer Induktor usw. Das Verfahren ist also sehr unwirtschaftlich.
An sich kann es je nach Umständen zum Ziele führen. Man wird
aber zur Erzeugung der Fluoreszenz einfachere und billigere Hilfs¬
mittel in Anwendung bringen und zwar in zweckentsprechender
Weise die ultravioletten Strahlen.
Wir wollen nun das fluoreszenzphotographische Verfahren
zuerst kurz schildern und dann den Einzelheiten weitere Auf¬
merksamkeit widmen.
Objekt und Apparate befinden sich in einem dunkeln Raume
(Zimmer). Mit der Beleuchtungsvorrichtung (Abb. 1) werden sehr
kurzwellige, ultraviolette Strahlen auf das Objekt geleitet. Dieses
ist eine visuell einfarbige Fläche, deren einer Teil bei der ultra¬
violetten Beleuchtung fluoresziert, während der andere teil dunkel
Die Anwendung der Palimpsestphotographie auf forensischem Gebiete 93
bleibt. Den fluoreszierenden Tpil wollen wir der Kürze wegen
mit A bezeichnen, den nichtfluoreszierenden mit B. (In der Abb. 1
entspricht A und B der Fläche u—i.) Der Umfang von B sei nun
im Verhältnis zu A klein. Wir wollen ferner noch annehmen,
daß A schwach leuchte — also ein ziemlich ungünstiges Objekt
sei —, und B daher mit dem bloßen Auge in der Dunkelheit nicht
deutlich von A zu unterscheiden ist. Vor A und B steht eine
\
photographische Kamera. Das von A kommende Fluoreszenz¬
licht gelangt durch das Objektiv auf die lichtempfindliche Platte.
Da die Wirkung der Strahlen auf der photographischen Platte
eine additive ist, entsteht durch eine Dauerbelichtung ein kräf¬
tiges Bild, selbst wenn die Strahlung an sich eine sehr schwache
ist. Der Teil B bleibt wirkungslos. Die beleuchteten Objekte,
und zwar sowohl A als B, reflektieren einen Teil der ultravioletten
Beleuchtungsstrahlen. Diese scheiden aber photographisch aus,
da sie durch das Glas des Objektivs vernichtet werden. Es ent¬
steht also keine Ultraviolettphotographie, sondern eine Fluoreszenz¬
photographie. 1 )
Di« Lichtquellen.
Es gibt verschiedene künstliche Lichtquellen, die ultraviolette
Strahlen in reichem Maße liefern. Als solche ist z. B. das Magne¬
sium, besonders in der Form des sogenannten Blitzlichtes, bekannt.
Magnesium ist aber in größeren Mengen teuer. Seine Anwendung
verbietet sich vor allem wegen der großen Rauchentwicklung.
Elektrisches Bogenlicht mit Eisen- oder besser mit Nickel¬
dochtkohlen liefert ebenfalls reichlich ultraviolette Strahlen und
zwar solche größerer Wellenlänge. Die Firma Carl Zeiß in Jena
hat eine Ultraviolettfilterlampe gebaut, die mit Nickeldochtkohlen
bestückt ist. Die Kohlen stehen zueinander senkrecht. Die po¬
sitive Nickeldochtkohle liegt in der optischen Achse. Vertikal steht
eine gewöhnliche Kohle, an die der negative Strom angeschlossen
ist. Die Lampe wird durch ein lichtdichtes Gehäuse, das abnehm¬
bar ist, abgeschlossen. An dem Gehäuse sitzt ein Tubus mit einem
Quarzkollektor und Blauviolettglasfilter, von dem schon früher die
Rede war. Das aus dem Filter austretende ultraviolette Licht wird
mit einem Kondensor von etwa 15 cm Brennweite auf die Vorlage
geleitet. Damit die von der Vorlage reflektierten ultravioletten
Strahlen, die Glas noch leicht in größeren Mengen durchdringen,
*) Weitere Einzelheiten wird der Leser in der Schrift »Die Palimsestphotographie“
von P. R. Kögel, O. S. B. B., die voraussichtlich in nächster Zeit im Verlag von
W. Knapp in Halle erscheinen wird, entnehmen können.
94
P. R. KöOEi.
durch das Objektiv nicht auf die Platte gelangen und diese ver¬
schleiern, muß vor das Objektiv ein Ultraviolettabsorptionsfilter
gebracht werden. Von diesen Filtern wird später noch die Rede
sein, und zwar bei der Besprechung der Verwendung spektraler,
ultravioletter Strahlen größerer Wellenlänge.
Die Zeißsche Lampe, sowie die ähnlich gebaute von Leitz
und Reichert, kann an jede elektrische Leitung mit Gleich- oder
Wechselstrom bei Sicherung für etwaö Ampere angeschlossen werden.
Den bisher genannten Lichtquellen ist das Quecksilberdampf¬
licht, wie es die Quarzlampe liefert, um vieles überlegen. Zwar
kann die Quarzlampe, je nach dem gewählten Typus, nur an
Gleichstrom mit bestimmter Voltspannung angeschlossen werden.
Dafür liefert sie aber um so mehr ultraviolette Strahlen und zwar
solche verschiedener Wellenlänge. Von diesen sind die kurz¬
welligen, die im Nickellicht nicht in hinreichender Menge enthalten
sind, von besonderem Wert.
Das „Quarzlicht“ hat in neuester Zeit als „künstliche Höhen¬
sonne“ den Weg in die breite Öffentlichkeit gefunden. Das Licht
hat diese Bezeichnung erhalten, da es durch seinen Reichtum an
ultravioletten Strahlen allerorts ähnliche Lichtverhältnisse schafft,
wie sie in hochgelegenen Gegenden herrschen. Die von der Sonne
ausgesandten ultravioletten Strahlen sind dort in viel größeren
Mengen vorhanden als in den Niederungen, wo sie durch den
Wassergehalt der Luft vernichtet werden. Die ultravioletten Strahlen
sind physiologisch sehr wirksam und daher heilend, erzeugen aber
auch den Sonnenbrand, selbst in kalten
Gletscherregionen. Besonders stark wirken
sie auf das Auge. Man muß sich daher
hüten, direkt in eine solche Lichtquelle
hineinzublicken. x
Die technischen Bestandteile der
Quarzlampe sind folgende (Abb. 2): Der
Hauptteil ist der „Brenner“. Er besteht
aus einer Röhre aus geschmolzenem
Quarz. An den beiden Enden der Röhre
befinden sich Kammern aus Quarz, die
mit Quecksilber gefüllt sind. Im übrigen be¬
sitzt der Brenner Vakuum. Zur Herstellung
der Röhre wurde Quarz verwendet, da er im
Gegensatz zum Glas auch für Strahlen kürzerer Wellenlänge gut
durchlässig ist. In die beiden Quecksilberkammern, die auch Polgefäße
Die Anwendung der Palimpsestphotographie auf forensischem Gebiete 95
genannt werden, münden zwei Elektroden. Die Einschmelzstellen,
durch die die Elektroden eingeführt werden, sind die empfind¬
lichsten Teile der Quarzlampe. Dies wird leicht verständlich,
wenn man bedenkt, daß Quarz einen sehr geringen, Metall aber
einen großen Ausdehnungskoeffizienten besitzt. Das Metall droht bei
Erwärmung die Einschmelzstellen zu sprengen. Erst nach langem
Suchen wurde eine Legierung gefunden, deren Ausdehnungs¬
koeffizient dem des Quarzes praktisch gleichkommt. Da sich
Metall beim Erhitzen immer leicht oxydiert, werden die Elektroden
in das Quecksilber selbst eingesenkt, das nun einerseits Kathode,
andererseits Anode ist. Die Schliffstellen werden mit Quecksilber
und etwas Zement abgedichtet.
Die Lichtausbeute einer Quarzlampe wird durch den mittleren
Dampfdruck, der im Brenner herrscht, bestimmt. Der Brenner
besitzt, solange er außer Betrieb und kalt ist, im Inneren Unter¬
drück. Sobald der elektrische Strom durchfließt, wird Wärme
erzeugt, der Drück des entstandenen Quecksilberdampfes steigt
entsprechend der Wärmezufuhr. Die Abdichtung muß also zwei
entgegengesetzten Anforderungen genügen, das eine Mal dem
äußeren Luftdruck, das andere Mal dem inneren Dampfdruck.
Der Brenner ist daher vor jeder starken Erschütterung sorg¬
fältig zu schützen.
Sehr wichtig ist, daß der elektrische Strom an die richtigen
Polgefäße angeschlossen wird. Der Dampfdruck wird nämlich
durch die Wattbelastung, d. h. durch die Wärmezufuhr, bestimmt.
Für eine zweckmäßige Unterteilung der Wärmezufuhr und Ab¬
kühlung werden die Oberflächen der negativen und positiven
Polgefäße nach dem Kathoden- zum Anodenfall bemessen. Bei
einer Verwechslung der Pole tritt aber eine unzweckmäßige Ver¬
teilung der Wärme ein und der Brenner wird bald zerstört.
Die Zündung des Brenners erfolgt durch flüssigen Kontakt
des Quecksilbers, was dem festen Kontakt der Kohlenstifte bei
der offenen Bogenlampe entspricht. Das positive Polgefäß wird
gehoben, das negative gesenkt. Sobald die Zündung stattgefunden
hat, wird der Brenner in seine ursprüngliche Lage zurückgebracht.
Das Kippen kann mit der Hand oder automatisch geschehen. Die
Industrie liefert Quarzlampen mit einem Werk für automatisches
Kippen. Der Vorgang der Stromverteilung un<J mechanischer
Werktätigkeit ist folgender. Der negative Strom tritt durch o ein
und läuft über die Widerstände e und die Drosselspule d zu dem
Solenoid g. Dadurch wird die Zugstange / in die Höhe gehoben.
96
P. R. Kögel
Mit dem nach p fließenden Quecksilber gelangt der Strom, der
von p aus nach 5 läuft, zu der positiven Klemme +. Der Haupt¬
strom ist geschlossen. Unterdessen hat die Drosselspule d den
Anker b angezogen, wodurch der Nebenstrom dauernd unterbrochen
wird. Die elektrische Zugkraft in g wird aufgehoben. Die Zug¬
stange i sinkt in ihre Anfangslage zurück, somit auch der Brenner.
Der Eisenwiderstand e hat den Zweck, die hohe Stromstärke beim
Anlassen der Lampe in mäßigen Grenzen zu halten. Durch den
hohen Anfangsstrom in schwache Rotglut versetzt, nimmt der Wider¬
stand um ein Mehrfaches seines Wertes zu. Der Widerstand e"
ist einem Gleitkontakt / regulierbar und dient dazu, die Strom-
zufuhr der Netzwandung anzupassen.
Die prismatische Zerlegung des Lichtes.
Nachdem wir uns etwas länger bei der Quarzlampe, die von
allen Teilen der Beleuchtungsvorrichtung die größte Sorgfalt ver¬
langt, verweilt haben, wollen wir uns bei den übrigen, einfacheren
Teilen kürzer fassen. Dies dürfte schon deshalb zulässig sein,
weil die gesamten optischen Hilfsmittel in festem Aufbau von
der Firma Carl Zeiß in Jena geliefert werden, ihre Handhabung
einfach ist und daher keine langen Ausführungen erfordert.
Die Quarzlampe ist in ein lichtdichtes Gehäuse eingebaut.
Nur durch eine runde Öffnung, in die der Vorderteil des Kon¬
densors eingeschoben wird, kann Licht nach außen gelangen.
Die Strahlen treffen auf einen Spalt, der durch ein feines Schrauben¬
getriebe geöffnet oder enggehalten werden kann (Abb. 1, d). Das
durch den Spalt austretende Licht wird durch einen Kollektor t
auf zwei Prismen e und s gelenkt. Die Prismen stellen wir in
einem Abstand von etwa 30 cm vom Spalt auf, den Kollektor
zwischen den Prismen und dem Spalt. Der Kondensor b, Kol¬
lektor t und die beiden Prismen e und s sind aus Quarz, da Glas
die kurzwelligen Strahlen nicht durchläßt, wie bereits erwähnt
wurde. Die beiden Prismen zerlegen das polychrome Licht in
ein Spektrum r—u. Dieses Spektrum zeigt eine Reihe von Linien,
die gemäß der Wellenlänge der Strahlen mit größeren Zwischen¬
räumen sich aneinanderreihen. Die Dunkelzonen entstehen, wenn
der Spalt eng gehalten wird. Die einzelnen Linien sind dann sehr
schmal und deutlich. Sobald der Spalt geöffnet wird, breiten sich
die Linien aus und fließen ineinander über. Halten wir aber den
Spalt zunächst eng und lassen die farbigen Linien auf einen
weißen Schirm u—i fallen, etwa auf ein großes Blatt Papier, den
Die Anwendung der Palimpsestphotographie auf forensischem Gebiete 97
wir in wenigstens tfngefähr zwei Meter Abstand von den Prismen
aufstellen. Wir werden sehen, daß nur einige Linien, aber nie
alle zugleich scharfe Ränder aufweisen. Verschieben wir den Kon¬
densor etwas, das eine Mal in der Richtung gegen den Spalt. Wir
werden feststellen, daß die Linien kürzerer Wellenlänge, wie die
blauen oder violetten schärfer werden. Bringen wir den Kondensor
aber den Prismen etwas näher, dann erhalten die Linien großer
Wellenlänge scharfe Ränder. Auf dem Bogen Papier, der uns
bisher als Schirm diente, werden wir die meisten ultravioletten
Linien nicht zu Gesicht bekommen oder vielleicht nur die erste,
starke Linie, die nicht weit ab von der schwachen violetten Linie
liegt. Diese, wie die anderen ultravioletten Linien werden wir
jedoch sehr deutlich mit einem Schirm, der mit Sidotblende
(Zinksulfid) überzogen ist, erkennen können. Der Schirm leuchtet
dort, wo die ultravioletten Strahlen auffallen, in gelbgrünem
Licht hell auf. Den einzelnen ultravioletten Linien verleihen
wir scharfe Ränder, indem wir den Kondensor durch Versuch in
die zweckmäßige Stellung bringen.
Welchen ultravioletten Strahlen haben wir nun unsere beson¬
dere Aufmerksamkeit zn schenken? Es sind zwei Linien, die nach
der Wellenlänge ihrer Strahlen bezeichnet werden. Es sind die
Linien von 7/ = 365 pp und 313 pp. Die letztgenannte Linie hat
zwei Trabanten kürzerer Wellenlänge zu ihrer Seite. Die Linien von
# = 365 und 313 pp sind leicht zu erkennen, da sie die stärksten
des ganzen ultravioletten Spektrums sind. Auf dem Phosphoreszenz-
schifm könnte man die schwache violette Linie vielleicht mit einer
ultravioletten Linie verwechseln. Die violette Linie wird durch
starkes Phosphoreszenzlicht, das sie erzeugt, fast überdeckt. Auf
dem Papierschirm wird man sie aber leicht an ihrer Eigenfarbe
wiedererkennen.
Neben der violetten Linie bemerken wir auf dem Phos¬
phoreszenzschirm eine schwache ultraviolette. In einigem Abstand
finden wir dann die kräftige Linie von # = 365 pp. In größerem
Abstand erscheint die Linie von # = 313^, schon an ihren beiden
schmäleren, aber doch kräftig leuchtenden Trabanten zu erkennen.
Zwischen den Linien von # = 313 und 365 pp etwa in der Mitte
befindet sich wieder eine schwache ultraviolette Linie.
Die beiden Linien von # = 313 und 365 pp können wir be¬
sonders leicht an ihren verschiedenen Vermögen, Glas zu durch¬
dringen, unterscheiden. Halten wir eine 2 mm dicke Glasscheibe
vor den Leuchtschirm. An der Einfallstelle der Linie von #=365 pp
98
P. R. Kögel
werden wir nur eine mäßige Verringerung der Phosphoreszenz
bemerken. Anders bei der Linie von # = 313 pp. Diese klingt
sofort deutlich ab, um dann allmählich fast ganz auszulöschen.
Öffnen wir nun den Spalt langsam. Die beiden Trabanten
der Linie von # = 313 pp gehen ineinander über und bilden ein
Band, das schließlich mit dem der Linie von # = 365 pp zusammen¬
trifft. Nun machen wir Halt. Die beiden Bänder dürfen nicht
ineinander übergehen. Unser Untersuchungsobjekt wird nämlich
auch, einen Teil der ultravioletten Strahlen reflektieren. Diese
würden durch das Objektiv in die Kamera gelangen. Dies muß
verhindert werden. Die Strahlen von # = 313 pp werden durch
das Glas des Objektivs der Linsen zurückgehalten. Die Strahlen
von # = 365 /ifi dagegen durchlaufen leicht die Linsen des Ob¬
jektivs und würden die Platte verschleiern. Wir dürfen also keine
Strahlen von # = 365 pp auf das aufzunehmende Objekt gelangen
lassen.
Allerdings kann man auch die Strahlen von # = 365 pp zu
Fluoreszenzaufnahmen benutzen. Dann muß vor das Objektiv
ein Filter gebracht werden, das die ultravioletten Strahlen .ab¬
sorbiert, die Fluoreszenzstrahlen, die bereits wieder dem sicht¬
baren Spektrum angehören, aber ohne merkbare Einbuße durchläßt.
Dazu dienen Flüssigkeitsfilter. Feste, farblose und durchsich¬
tige Körper, die diese Aufgabe in gleichem Maße erfüllen, sind
nicht bekannt. Von den flüssigen Ultraviolettabsorptionsfiltern
ist folgendes wegen seiner Haltbarkeit an erster Stelle zu empfehlen.
Man löst 0,5 g Triphenylmethan in 70 ccm absolutem Alkohol und
gibt die Lösung in eine Küvette von 5 mm Tiefe. Dieses Filter,
wie alle anderen, läßt noch einen kleinen Teil der ultravioletten
Strahlen durch, der für gewisse Zwecke aber nicht stört. Für
forensische Aufnahmen empfehlen sich solche Strahlen meist nicht.
Sie vermögen kein so vollkommenes Fluoreszenzbild zu liefern
wie die Strahlen von # = 313 pp. Die Strahlen von # = 365 pp
durchdringen nämlich noch leicht geringe Schriftspuren und er¬
regen die Papierfaser, die die Tintenreste trägt, zur Fluoreszenz.
Ein photographischer Unterschied zwischen Papierfaser und Tinten¬
rest kommt dann nicht zustande. Aus diesem Grunde ist die
Linie von # = 313 pp fast ausschließlich zu benutzen. Ihre Strahlen
werden durch Tintenreste kräftig absorbiert. Natürlich gibt es
auch hier Grenzen.
Wenn wir nun auf dem Phosphoreszenzschirm noch die anderen
Linien durchmustern, die unter der Linie von #=313^ liegen,
Die Anwendung der Palimpsestphotographie auf forensischem Gebiete 99
so finden wir noch ein paar stärkere. In ganz verzweifelten und
sehr wichtigen Fällen kann man ihre Benutzung noch versuchen,
da das Absorptionsvermögen mancher Substanzen bis zu einem
gewissen Grade mit der Abnahme der Wellenlänge zunimmt.
Selten werden sie aber irgendeinen Vorteil bieten.
Der Phosphoreszenzschirm kann durch den viel billigeren
Fluoreszenzschirm ersetzt werden. Dieser ist allerdings nicht so
haltbar, neu leuchtet er aber vorzüglich. Man kann ihn selbst
herstellen und tränkt zu diesem Zweck weißes Filterpapier mit
einer Lösung von wenig Fluoreszeinnatrium in Wasser, dem man
etwas Glyzerin beigibt.
Objektiv und lichtempfindliche Platte.
Die Fluoreszenzerscheinungen sind meistens nicht sehr kräftig.
Für die photographische Aufnahme wendet man daher zweckmäßig
alle Mittel an, durch die die Exposition möglichst herabgesetzt
werden kann. Die erhebliche Einsparung an elektrischem Strom,
die dadurch erzielt wird, sowie die geringere Abnutzung der Quarz¬
lampe lassen es ratsam erscheinen, sich schon bei der Anschaffung
der Apparate in dieser Hinsicht vorzusehen. Dies gilt an erster
Stelle für das Objektiv. Es soll bei bester sphärischer, anastig¬
matischer und chromatischer Korrektion möglichst lichtstark sein.
Für naturgroße Aufnahmen empfehlen sich daher nur gute Ana-
stigmate mit einem Öffnungsverhältnis von /= 4,5 oder höchstens
/= 5,6. Wenn für etwas stärkere Vergrößerungen Spezialobjek¬
tive benutzt werden müssen, bevorzuge man die besten und licht-
stärksten Typen. Auch der Gewinn an Zeit macht die größeren
Ausgaben für gute Objektive bald lohnend. Eine weitere Ab¬
kürzung der Exposition wird mit höchstempfindlichen Platten, wie
der Ultra-Rapidplatte von Hauff, erreicht.
Die Untersuchungsobjekte*.— ...
Viele organische und eine Reihe anorganischer Substanzen
fluoreszieren unter dem Einfluß ultravioletter Stilen. Diese
Eigenschaft kommt daher auch vielen forensischen O n ^ rsuc hungs-
objekten zu. »»••**
Wir wollen unsere Betrachtungen aber nur auf‘Schriftstücke,
bzw. Papier und Tinte beschränken.
Das neue Verfahren war ursprünglich, wie bereits erwähnt,
für die Aufnahme der Palimpseste bestimmt und hat dort zuerst
seine Erfolge erzielt. Das echte Pergament der vergangenen Jahr-
100
P. R. Kögel
hunderte besitzt eine lockere, faserige Struktur. Die Tinte kann
auch in die tieferen Schichten eindringen. Eine Radierung wird
zwar den oberen, schwarzen Tintenkörper entfernen, erreicht aber
die tieferliegenden farblosen Eisen- oder Tanninverbindungen u. dgl.
nicht so leicht. Die Fluoreszenz des Pergamentes ist kräftig, die
der Tintenreste fast null.
Das Papier der modernen Schriftstücke fluoresziert meist in
viel geringerem Maße. Der Tintenkörper sitzt gewöhnlich nur
auf der Oberfläche des Papiers und kann leicht vollständig ent¬
fernt werden. Was die Fluoreszenz daher zum Vorschein bringen
kann, sind solche Bestandteile dör Tinte, die etwas tiefer in das
Papier einsinken, z. B. freie Säuren, die den modernen Tinten
meist im Überschuß beigegeben werden. Ähnlich verhalten sich
Gerbsäure, Tanninverbindungen, organische Säuren u. dgl., die
sich in den Tinten häufig vorfinden. Kleine Mengen solcher Sub¬
stanzen sind mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, werden
aber durch Nichtfluoreszenz im fluoreszierenden Planum photo¬
graphisch darstellbar.
Die Erfahrung hat nun im allgemeinen gelehrt, in welchem
Maße die modernen forensischen Schriftstücke einen Erfolg ver¬
sprechen. Läßt ein Schriftstück bereits mit den bisher bekannten
Verfahren das Vorhandensein von Schriftspuren erkennen, aber
in einer für die forensische Beurteilung nur ungenügenden Weise,
so darf man von der Fluoreszenz wirksame Hilfe erwarten. In
anderen Fällen muß man seine Erwartungen stufen weis mäßigen.
Zu den schwierigen Objekten der forensischen Untersuchung
gehören radierte Blei- und Tintenstiftstriche. Bei. Bleistiftstrichen
steht ihre Existenz mit der Sichtbarkeil in engem Zusammenhang.
Die Hoffnungen sind also vielfach gering. Anders bei Tintenstift¬
schrift. Die mechanische Radierung schafft auch hier ungünstige
Verhältnisse* * Wurde die Tintenstiftschrift aber auf eine andere
Weise getilgt'' — ^was dem Fälscher erhebliche Vorteile bringen
kann —, so sfeigwi die Aussichten erheblich. Dies lehrt folgendes
Beispiel bestens (Abb. 3).
Aus der Zahl 3,79 M. wurde das Komma entfernt. Das Papier
war ziemlich glatte Der Vorversuch einer mechanischen Radierung
an einer anderen Stelle hatte den Urheber gelehrt, daß ein solcher
Eingriff an der Aufrauhung des Papiers zu erkennen wäre. Vor
allem wurde er sich bewußt, daß eine solche mechanische Ra¬
dierung im Falle der Entdeckung als ein freiwilliger Eingriff be¬
trachtet würde. Er zog es daher vor, das Komma mit einem
iPipPhi
mm
Die Anwendung der Pathnpsestphotographie auf forensischem Gebifele !<>s
Vm falle der Entdeckung
Bleichmittel vorsichtig zu entfernen
konnte er die Behauptung aulsteilen/ lüirctr Zufall seiieit Tropfen
irgendeiner Lösung auf das Papier gefallen. Ja, er konnte sogar
behaupten, durch diesen Zufall Des der Verrechnung selbst in Irrtum
geführt worden zu seih: Der -Fälscher stefite die Existenz eines
solchert Kommas aber überhaupt m.
das Vpriianüemeln d[es i<omrnas. Da-
irwi.sdre.it' V und 9, begründet. Nach
allgemeinem S.chreibbraucii wird ein
..soifher -größerer Abstand nur für-die
Untmüch nrtgen such übet die Identität
bzw. Unterschied von Papiersorten Auf- ' '"' '" w ~ *~
Schluß gegeben werden. Es soll zu m Bei- Abb. i
spiel festgesteilt werden, ob das Papier
von anonymen Brieten das gleiche ist, ob ein aus einem Geschäfts¬
buch entferntes Blatt der .gleichen Sorte angehört wie der übrige
Archiv für Krimümiogif», • * Bc 8
102
P. R. Kögel
Teil des Buches. Wenn die gebräuchlichen Methoden der mikro¬
skopischen Untersuchung versagen, wird man nicht selten mit der
Fluoreszenzphotographie zum erwünschten Ziele kommen. Meist
genügt eine naturgroße oder schwach vergrößerte Aufnahme, um
nicht nur Gesamtunterschiede der Fluoreszenz, sondern öfters auch
einzelne Fasern, die besonders leuchten, deutlich zum Ausdruck
zu bringen.
In unserem Beispiel (Abb. 4) zeigt der Papierstreifen A eine
ganz andere Faserung als der Streifen B. Dieser hat durch die
Fluoreszenz noch einen vollständig unsichtbaren und nicht ge¬
ahnten Fingerabdruck dem erstaunten Auge zu erkennen gegeben.
*
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien.
Von
Dr. Erwein Ritter von Höpler, Hofrat und Leitendem Erstem Staatsanwalt in Wien.
Mit einer Abbildung.
In den Nachmittagsstunden des 23. Mai 1918 wurde im Hotel
Bristol im I. Bezirk in Wien an der Gesellschafterin Julie Earl ein
Raubmord verübt, der nach durchgeführter gerichtlicher Vorunter¬
suchung unter dem 2. Juli 1918 die folgende gegen:
I. Kurt Franke, geboren am 22. Mai 1901 in Wien, dahin
zuständig, katholisch, ledig, Praktikanten der Ersten öster¬
reichischen Allgemeinen Unfallversicherungs- Gesellschaft
in Wien, zuletzt wohnhaft in Wien IX, Wasagasse 52, unn
bescholten,
II. Emo Davit, geboren am 14. Februar 1888 in Mailand, dahin
zuständig, katholisch, verheiratet, Beamten der Ersten öster¬
reichischen Allgemeinen Unfallversicherungs-Gesellschaft
in Wien, zuletzt wohnhaft in Wien V, Nikolsdorfer Straße 31,
angeblich unbescholten, s
erhobene Anklageschrift auslöste:
1. Kurt Franke und Emo Davit haben vom August 1917 bis
in den März 1918 in Wien die nachverzeichneten Personen und
Firmen durch listige Vorstellungen und Verfälschung von Privat¬
urkunden, nämlich durch Vorweisung verfälschter Behebungsscheine
und Vpllmachten in Irrtum geführt, wodurch die Erste österreichische
Allgemeine Unfallversicherungs-Gesellschaft in Wien an ihrem
Vermögen einen Schaden in nachfolgend verzeichneter Höhe er¬
leiden sollte:
(folgen 30 Namen mit einem Gesamtschaden im Betrage von 7346 K).
2. Emo Davit habe am 11. Januar 1918 in Wien um seines Vorteiles
willen aus dem Besitze und ohne Einwilligung des Fortunato Frei¬
herrn von Vivante fremde bewegliche Sachen, nämlich eine goldene
Schweizeruhr samt goldener Kette im gerichtlichen Schätzwerte
von zusammen 1860 K entzogen.
8
104
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
3. Kurt Franke habe am 23. Mai 1918 in Wien gegen Julie
Earl in der Absicht, sie zu töten und fremde, bewegliche Sachen,
nämlich eine dem Ehepaar Fortunat und Emma Freiherrn v. Vivante
gehörige Handtasche mit kostbarem Schmuck und etwa 50000 K
Bargeld mit Gewalttätigkeit gegen die Person an sich zu bringen,
tückischerweise durch einen Keulenschlag, Drosseln und Durch¬
schneiden des Halses auf solche Art gehandelt, daß daraus der
Tod der Julie Earl erfolgte.
4. Emo Davit habe im Jahre 1918 in Wien den Kurt Franke
zur Verübung der unter 3. beschriebenen Übeltat durch Anraten,
Unterricht, Befehl und vorher besprochene tätige Hilfeleistung vor,
bei und nach der Tat gedungen und bestellt.
5. Kurt Franke habe am 23. Mai 1918 in Wien die von Emo
Davit gestohlene, unter 2. erwähnte Uhr im gerichtlichen Schätz¬
werte von 1600 K verhehlt, es sei ihm aus dem Werte der Sache
bekannt gewesen, daß der Diebstahl auf eine Art begangen wurde,
die ihn zum Verbrechen eignet.
Hierdurch haben begangen:
Kurt Franke das Verbrechen des Betruges nach § 197, 200,
201 a St.G., das Verbrechen des tückischen Raubmordes nach § 134,
135 Z. 1 und 2 St.G. und das Verbrechen der Diebstahlsteilnehmung
nach § 135, 136a und b St.G., strafbar nach § 136, 52 St.G.
Emo Davit das Verbrechen des Betruges nach § 197, 200,
201a St.G., das Verbrechen des Diebstahls nach § 171, 173 St.G.
und das Verbrechen des bestellten tückischen Raubmordes nach
§ 134, 135 Z. 1, 2, 3 St.G. strafbar nach § 136 St.G.
Aus den Anklagegründen und dem Beweisverfahren der am
5., 6. und 7. August vor dem Wiener Geschworenengerichte durch-
geführten Verhandlung ergibt sich nachstehender Sachverhalt:
Zwischen l jz und 3 /4 5 Uhr nachmittags des 23. Mai 1918 hatte
der Tapezierer Franz Unsowsky auftragsgemäß in dem Zimmer
Nr. 51 des Hotels Bristol, I, Kärntner Ring 7 eine Fensterschnur
einzuziehen. Unter Begleitung des Stubenmädchens Marie Schuhes
begab er sich zu der Zimmertür und beide traten, da auf ihr
Klopfen nicht aufgemacht worden war, durch die nicht versperrte
Türe ein. Zu ihrem Entsetzen bemerkten sie hinter dem das
Nebenzimmer abtrennenden Türvorhang eine Frauenleiche, die in
einer großen ausgebreiteten Blutlache lag. Sie verständigten sofort
die Hoteldirektion; um 3 /4 5 Uhr nachmittags wurde die Anzeige
erstattet und vor 5 Uhr begannen bereits die behördlichen Er¬
hebungen, welche folgendes Ergebnis hatten:
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
105
Im Halbstocke des alten Hauses des Hotels Bristol hatten
seit längerer Zeit der Bankdirektor Fortunato Freiherr von Vivante
und dessen Gattin die Wohnung Nr. 51 und 52 gemietet. Die
bewohnten Räume bestehen aus drei Zimmern und einem Bade¬
zimmer. Vom Gang aus gelangt man in einen Salon, welcher
linker Hand zum Schlafzimmer des Ehepaares führt, aus welchem
durch das Badezimmer ein zweiter Ausgang zur Verfügung steht.
Rechts vom Salon stößt ein Zimmer an, das keinen eigenen Aus¬
gang hat und von der seit 16 Jahren bei Vivante beschäftigten
Gesellschafterin Juliane Earl bewohnt wurde. Die von diesem
Zimmer zum Salon führende Zwischentür ist ausgehängt und durch
einen Türvorhang ersetzt. In diesem rechts vom Salon befind¬
lichen Zimmer lag die Leiche der sofort von den Hotelbediensteten
erkannten Julie Earl, mit dem Kopf in der Richtung gegen die
Türe in einer ausgedehnten Blutlache; sie zeigte am Kopfe eine
Hiebwunde, der Hals war mit einer Schnur und noch einer darüber
gewickelten Gurte eng umwunden, der Kehlkopf scharf durch¬
schnitten. In der Nähe der Leiche wurde eine weiße Frauenbluse,
mit der offenbar versucht worden war, die Blutlache aufzuwischen,
ferner ein Schlüsselbund und eine mit Eisen beschlagene hölzerne
Schwungkeule vorgefunden, deren Stiel Blutspuren zeigte. Am
Fußende der Leiche lag ein geöffneter Reisekorb.
Nach 5 Uhr nachmittags noch war die Ermordete von der
Kassiererin Paula Horvath und der Telephonistin Mizzi Berger ge¬
sehen worden. Sie hatte aus dem von Vivantes gemieteten Panzer¬
fach des Hotels, wie dies schon öfter vorher geschehen war, eine
aus braunem Krokodilleder gearbeitete Handtasche in die Wohnräume
getragen und sich hierbei geäußert, sie müsse sich beeilen, da sie
zu einer Jause gehe, und werde die Tasche sofort wieder zurück¬
bringen; infolgedessen war seitens der Hotelbediensteten das
elektrische Licht in dem Depotraume nicht erst abgedreht worden.
Die lederne Tasche war jedoch in das Panzerfach nicht zurück¬
gebracht worden und fehll£ auch bei der behördlichen Nachschau.
Es lag daher ein Raubmord vor.
Nach dem Gutachten der Gerichtsärzte ist Julie Earl zunächst
an Überschwemmung der Lunge durch eingeatmetes Blut, welches
aus den Schnittwunden des Halses herrührte, eines gewaltsamen
Todes gestorben. Vorher war sie kräftig gedrosselt worden, wo¬
durch außer der Dunstung des Gesichtes auch zahlreiche Er¬
stickungsblutungen in der Gesichtshaut, den Bindehäuten der
Augenlider, der Schleimhaut des Rachensund Kehlkopfes entstanden
106
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
waren. Außerdem zeigte die Leiche in der linken Scheitelgegend
eine den Knochen bloßlegende Rißquetschwunde, die offenbar durch
einen Schlag mit der am Tatorte gefundenen Keule enstanden war
und zur Betäubung der Verletzten geführt hatte. Die Gerichts¬
ärzte erklären, daß der Keulenschlag der erste Angriff gewesen
und der Drosselung vorangegangen sein müsse. Der noch lebenden,
aber infolge der Erstickungserscheinungen bewußtlosen Julie Earl
sei dann der Hals anscheinend mit einem Rasiermesser durch¬
schnitten worden.
Nach diesen Erhebungen war es klar, daß für die Verübung
der Tat nur ein verhältnismäßig kurzer Zeitraum von etwa l /* Stunde
zur Verfügung gestanden hatte, und daß als Täter nur Personen
in Betracht kommen konnten, die mit den Haus- und Verijiögens-
verhältnissen der Eheleute Vivante wohl vertraut waren.
Die zunächst eingeleitete Forschung, ob nicht eine fremde
oder verdächtige Person in der Tatzeit in der Nähe der Hotel¬
zimmer gesehen worden sei, führte dazu, daß mehrere Hotel¬
bedienstete erklärten, gegen */< 5 Uhr nachmittags einen entfernten
Verwandten der Freifrau von Vivante, den Versicherungsbeamten
Emo Davit gesehen zu haben, der nahezu täglich seine Verwandten
im Hotel zu besuchen pflegte. Der Zimmerkellner Rupert Pfeifer
glaubte auch bemerkt zu haben, daß Davit anläßlich der Begegnung
um die fragliche Zeit eine gewisse Unsicherheit an den Tag legte;
er bestätigte ebenso wie der Kellner Gustav Sem in, daß Davit
einen Überzieher über den Arm trug.
Es wurde weiter erhoben,* daß Julie Earl sich geäußert habe,
sie würde an dem fraglichen Tage mit Emo Davit in den Kaiser¬
garten gehen, und daß sie vorher wiederholt habe verlauten lassen,
Emo Davit habe von ihr Geld verlangt.
Während dieser an Ort und Stelle stattfindenden Erhebungen
wurde um etwa 7 Uhr abends gemeldet, daß Emo Davit in der
Nähe des Hotels mit einer Dame gesehen worden sei. Es erfolgte
seine Vorführung: da fiel es gleich auf, daß er keinen Überzieher
bei sich trug, und seine Behauptung,’ er habe diesen im Bureau
zurückgelassen, wurde durch die sofort eingeleiteten Erhebungen
widerlegt. Davit behauptete, den üblichen Besuch seiner Ver¬
wandten beabsichtigt zu haben und wies darauf hin, daß er seit
3/4 5 Uhr in Begleitung seiner Bureaukollegin Hedwig Reis im
Kaffee Europe auf dem Stefansplatz gewesen sei und um etwa
» 4 5 Uhr im Kaufhause Neumann in der Kärntner Straße einen
Lüsterrock gekauft habe. Diese Behauptungen erwiesen sich als
Kärthnerring
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
107
richtig, doch hatte der Kauf des Lüsterrockes unter Umständen
stattgefunden, die auf eine gewisse Eile, sowie darauf den Schluß
gestatteten, daß es dem Käufer nicht so sehr um den Kauf als
um etwas anderes, allenfalls die Festlegung seiner Anwesenheit,
zu tun gewesen sei.
Im Gegensatz zu diesem auffälligen Umstand schien jedoch
der von Davit geführte Abwesenheitsbeweis geschlossen (vergleiche
nebenstehende Skizze) und auch die über Davit eingeholten ersten
Auskünfte waren derart günstig, daß ihm eine Beteiligung an
einem Raubmord nicht zuzumuten war.
Davit wurde von seinen Bureaukollegen bestens beleumdet
und als ruhiger, fleißiger Beamter geschildert, der in bescheidenen
und geordneten Verhältnissen lebe und an seinen reichen Ver¬
wandten Vivante eine mächtige Stütze habe.
• Erklärung:
A und B Hotel Bristol; A neues, B altes Haus.
C Kleiderhaus, in dem der Kauf des Lüsterrockes stattfand.
D Kaffee Europe (Stelldichein mit Hedwig Reis).
E Spielwarengeschäft, in dem die Keule gekauft wurde.
Am 23. Mai hatte er in den -ersten Nachmittagsstunden plan¬
gemäß eine Gesangsstunde genommen und war dann im Bureau,
aus dem er sich, wie gewöhnlich, nach 3 /4 4 Uhr entfernte. Als seine
Bureaukollegin Hedwig Reis gegen 5 Uhr nachmittags verab¬
redungsgemäß in dem auf dem Stefansplatz gelegenen Kaffee
Europe ankam, erwartete sie bereits Davit zeitunglesend: beide
blieben bis etwa 1/2 6 Uhr und gingen dann in der Richtung zum
Hotel Bristol, wo Davit täglich um diese Stunde seine Ver¬
wandten aufzusuchen pflegte, um mit ihnen gemeinsam zu nacht¬
mahlen.
Niemandem war bei Davit irgendeine Unruhe oder Aufregung
aufgefallen; er hatte in der Gesangsstunde schön und in bester
108 Dr. Erwein Ritter v. Höpler
Stimmung gesungen und die Unterhaltung mit Hedwig Reis be¬
wegte sich in den gewohnten Bahnen.
Außer diesen Umständen, die gegen eine Beteiligung Davits
sprachen, kam auch noch die Tatsache zu seinen «Gunsten in Be¬
tracht, daß am Tatort nicht eine einzige Fingerspur gefunden
wurde, die auf ihn hingedeutet hätte. '
Trotzdem verdichteten sich die gegen Davit sprechenden Ver¬
dachtsgründe. Schon die Erhebungen über die Herkunft der Keule
waren von großer Bedeutung. An dieser waren noch ganz deut¬
liche Aufzeichnungen zu sehen, die auf das Spielwarengeschäft
Pohl in der Kärntner Straße hindeuteten und dort wurde er¬
hoben, daß die Keule wenige Wochen vorher von einem Manne
gekauft worden war, dessen Beschreibung auf Emo Davit paßte.
Die vernommenen Verkäuferinnen erkannten auch' in Davit den
Käufer.
Durch die Aussage einer Schwester. der Ermordeten wurde
erhoben, daß Julie Earl sich wiederholt beklagt hatte, Davit ver¬
lange von ihr, sie möge die Tasche des Ehepaares Vivante aus
dem Panzerfach holen und habe auch ausfindig gemacht, daß ein
ihr zur Verfügung stehender Schlüssel auch zu jenem Kasten
passe, in dem Emma v. Vivante den Panzerfachschlüssel aufzu¬
bewahren pflegte. Tatsächlich konnte festgestellt werden, daß ein
von Julie Earl benutzter Schlüssel auch jenen Kasten sperrte, der
den Panzerfachschlüssel enthielt.
Außer dem Fehlen des Überziehers des Emo Davit war auch
das Fehlen seines Wohnungsschlüssels «in Verdachtsgrund. Seine
Behauptung, diesen Schlüssel in der Bureauschreibtischlade ver¬
gessen zu haben, erwies sich bei gepflogener Nachschau als un¬
richtig. Der schwerwiegendste Verdacht für die Täterschaft Emo
Davits war jedoch ein bei ihm gefundenes Notizbuch, in dem sich
der genaue Plan der von dem Ehepaar Vivante gemieteten Wohn-
räume eingezeichnet fand, der Richtungspfeile enthielt, die den
Weg in das Zimmer der Julie Earl und von da in den Gang an¬
zeigten und gerade jene Stelle des Zimmers in der Nähe des Tür¬
vorhanges markierten, an welcher der erste Überfall Earls statt¬
gefunden haben mußte. Daraus war einerseits die Beteiligung
Emo Davits an dem Raubmorde sichergestellt, andererseits in Ver¬
bindung mit der bereits erwähnten Tatsache, daß irgendwelche
Fingerspuren Davits am Tatorte nicht zu finden waren und auch
die Blutspur an einem Handtuche, das im Badezimmer hing und
vom Mörder zur Reinigung offenbar benutzt worden war, auf Davit
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien 109
nicht hinwiesen, der Schluß gerechtfertigt, daß Davit einen Ver¬
brechensgenossen hatte.
Es wurde daher im Bekanntenkreise Davits geforscht und
hierbei festgestellt, daß er mit einem um 15 Jahre jüngeren Bureau¬
kollegen Kurt Franke in einem auffallend vertrauten Verhältnisse
stand. Bei den nun weiter gepflogenen Erhebungen machte sich
Kurt Franke dadurch besonders verdächtig, daß er im Besitze
Davits Wohnungsschlüssels war, den er in der mittleren Lade des
Bureauschreibtisches des Emo Davit gefunden haben wollte, ob¬
zwar vorher diese Schreibtischlade nach diesem Schlüssel ergebnislos
genau durchsucht worden war. Franke suchte auch den Besitz eines
Sparkassenbuches zu verschweigen und diese Lüge damit zu recht-
.fertigen, daß das Geld Emo Davit gehöre.' Es wurden daher
sowohl in der Wohnung Frankes als in seinem Bureauschreib¬
tisch Durchsuchungen vorgenommen, die zu einem vollen Erfolge
führten. In der von Kurt Franke bewohnten Dachkammer fand
sich in einem Korbe versperrt die geraubte Tasche mit dem
geraubten Schmucke und der Überzieher Emo Davits; im Haus¬
keller wurde ein mit Blut befleckter Anzug Frankes, in seinem
Bureauschreibtisch endlich etwa 44000 K Bargeld und ein Bar¬
betrag von einigen tausend Lire vorgefunden, so daß von dem ge¬
raubten Gute nur ein Geldbetrag von etwa 2000 K fehlte.
Die Durchsuchung förderte aber auch eine kostbare Uhr zutage,
welche im Januar 1918 dem Fortunato Frhr. v. Vivante aus seinem
Bankbureau abhanden gekommen war.
Auf Grund dieses Ergebnisses sah sich Kurt Franke ge¬
zwungen, sein bisheriges Leugnen aufzugeben und zu einem
Geständnis zu schreiten.
Vor Wiedergabe dieses überaus wichtigen Vorbringens soll
nur einiges über das Vorleben der beiden Beschuldigten und
deren gegenseitiges Verhältnis mitgeteilt werden.
Emo Davit ist ein Reichsitaliener und hat seine Erziehung
teils in Udine, teils in Triest und Wien, woselbst er die Handels¬
akademie besuchte, erhalten. Er kam dann nach Hamburg als
Volontär, von da als Korrespondent nach Udine und im Jahre 1910
nach Como, wo er heiratete. Im selben Jahre noch wurde er
nach Courtray in Belgien versetzt und reiste für ein Haus in den
Jahren 1912 und 1913 in! Südamerika. Von dort kehrte er nach
Triest zurück und erhielt durch Fürsprache des Freiherrn von Vi¬
vante bei der Brünner Nebenanstalt der Ersten österreichischen
Allgemeinen Unfallversicherungs-Gesellschaft in Wien eine An-
110
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
Stellung. Vivante ließ auf seine Kosten dem Beschuldigten unter
dem Titel einer Teuerungszulage eine Gehaltsaufbesserung z*u-
kommen. Nach den Erhebungen der Brünner Polizeibehörde
führte Davit ein ziemlich leichtfertiges, verschwenderisches Leben
und unterhielt, obwohl verheiratet und Vater eines Kindes, mit
einer seither verstorbenen, verheirateten Frau ein Verhältnis. Auch
der Frau eines Bureaukollegen hatte er nachgestellt. Im April 1915
kam er nach Wien, wo er bei derselben Versicherungsgesellschaft
tätig war. Zwischen Davit und dem Ehepaar Vivante besteht kein
Verwandtschaftsverhältnis, eipe entfernte Schwägerschaft mit Emma
v. Vivante war jedoch die Quelle enger Beziehungen zwischen
Davit und dem Ehepaar, welchem der Beschuldigte viele Wohl¬
taten dankte.
Er selbst gibt zu, der Liebling des Ehepaares v. Vivante ge¬
wesen zu sein und begründete Aussicht gehabt zu haben, letzt¬
willig in sehr ausgiebiger Weise bedacht zu werden. Die Er¬
hebungen ergaben, daß Davit schon von seiner Jugend an in
wirksamster Weise von Vivantes unterstützt und gefördert wurde;
er war zu Abend täglicher Gast des Ehepaares, war im Jahre 1917
von Vivantes zu Erholungszwecken nach Bad Gastein mitgenommen
worden und konnte stets ausgiebigster Geldunterstützung durch
das Ehepaar sicher sein.
Nach den Erhebungen ist mit Recht anzunehmen, daß Emo
Davit noch in Como kurz nach seiner Verehelichung durch Vi¬
vantes Hilfe aus einer überaus peinlichen und heiklen Lage befreit
worden war. In Begleitung einer leichtsinnigen Frauensperson
war er aus Como verschwunden und in der Bank, bei der Davit
angestellt war, hatten 7000 Lire gefehlt. Davits Vater reiste von
Udine nach Triest, um dort von Fortunato Vivante die sofortige
Ordnung dieser Angelegenheit zu erbitten, die auch erfolgte.
Davit sucht die Sache als eine leichtsinnig gemachte private
Schuld darzustellen, doch erscheint nach dem Vorgesagten die von
einer gut unterrichteten'Freundin des Hauses aufgestellte Behaup¬
tung, Davit habe Bankgelder angegriffen, weitaus glaubwürdiger.
Daß die Ehe Davits keine glückliche war, kann nach dem’
Geschilderten nicht Wunder nehmen. Die Gattin des Beschuldigten
war — angeblich wegen der Ernährungsschwierigkeiten — im
Jahre 1917 von Wien nach Italien zurückgekehrt und Emo Davit,
der auch in Wien im Rufe eines Frauenjägers stand, unterhielt —
wie feststeht — zumindest mit zwei Mädchen Verhältnisse, deren
eines ihm immerhin nennenswerte Kosten verursachte.
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
111
Was seine sonstigen Ausgaben anlangt, wurde festgestellt,
daß Davit im großen und ganzen zurückgezogen lebte und gegen
Ende April etwas über 2000 K für Kleider und Schuhe aus¬
gegeben hatte.
Waren schon diese Erhebungen über das Vorleben des Be¬
schuldigten für diesen nichts weniger als günstig, so warf sein
von gröbstem Undank getragenes Vorgehen seinen Wohltätern
gegenüber die schwersten Schatten auf Davits Charakterbild.
Er muß zugestehen, dem Fortunate v. Vivante am 11. Januar 1918
eine kostbare Uhr samt Kette im gerichtlichen Schätzwerte von
zusammen 1860 K gestohlen zu haben. Vivante hatte diese Uhr
im Bureau vergessen und Davit ersucht, sie zu holen; dieser fand
tatsächlich die Uhr, steckte sie jedoch ein und täuschte Vivante
vor, sie nicht gefunden zu haben. Während er die Kette ver¬
pfändete, ist es zu einer Verwertung der Uhr offenbar nur deshalb
nicht gekommen, weil Vivante sofort die Anzeige erstattete und
den Verlust der durch ein emailliertes Wappen und Monogramm
besonders gekennzeichneten Uhr auch in den Zeitungen ankün¬
digen ließ, was er Davit auch mitteilte.
Davit steht auch im Verdachte, Emma von Vivante bestohlen
zu haben. Dieser war im Spätherbst 1917 aus einer Handtasche
eine den Barbetrag von mehreren hundert K enthaltende Geldtasche
abhanden gekommen; Vivante hatte anläßlich eines Gespräches
mit Emo Davit diese Geldtasche auf einem Tischchen liegen ge¬
lassen und Julie Earl hatte sie später an Ort und Stelle gebracht.
Am nächsten Tage fehlte die Geldtasche samt dem darin ver¬
wahrten Gelde. Eine Anzeige wurde nicht erstattet.
Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen müssen auch folgende
Umstände zu Ungunsten .Davits gewertet werden:
Einmal brachte er in das Bureau französische Geldmünzen,
die er Kollegen, darunter auch Kurt Franke, verkaufte; über die
Herkunft machte er verschiedene Angaben; einmal behauptete er,
die Münzen von seiner Tante zum Geburtstag als Geschenk er¬
halten zu haben, das andere Mal bezeichnete er sie als sein Eigen¬
tum aus seinem Aufenthalt in Südamerika.
Verwandte der Julie Earl bekräftigten als Zeugen, Earl habe
sich wiederholt darüber beklagt, Davit verlange von ihr die Aus-
folgung des Perlenhalsbandes der Emma v. Vivante; er wollte
einige Perlen an sich nehmen, deren Abhandensein nicht auffallen
werde, da er „gut Knoten machen“ könne.
Kurt Franke ist der Sohn des früheren Anstreichermeisters
112
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
und späteren Geschäftsdieners und Hausbesorgers Anton Franke;
er hat die Volks- und Bürgerschule durchgemacht; der Schulbericht
hebt die große Intelligenz Frankes hervor, bezeichnet diesen aber
als vorlaut, ungezogen, boshaft, verschlagen, nicht wahrheitsliebend
und strenger Zucht bedürftig. Nach dem Schulbesuch war Franke
zunächst in einer Druckerei tätig und seit Mai 1915 bei der Ersten
österreichischen Unfallversicherungs-Gesellschaft als Praktikant an¬
gestellt. Während dieser seiner Dienstleistung besuchte Franke
die Gremialhandelsschule.
Zwischen Emo Davit und Kurt Franke knüpfte sich eine Be¬
kanntschaft an, die weit über den Rahmen des nach Stellung und
Alter erklärlichen Verkehrs hinausging und von den Bureaukollegen
um so auffälliger bemerkt wurde, als die beiden Beschuldigten
wiederholt bei geheimnisvollem Tuscheln beobachtet wurden. Er
begann mit gemeinsamen Spaziergängen, die sie in verschiedene
Gasthäuser und auch in Freudenhäuser führten, wo Franke häufiger
Gast war.
Die vernommenen Zeugen schildern übereinstimmend den ver¬
derblichen Einfluß, den der vertraute Umgang mit Davit auf Franke
ausübte; war Franke früher fleißig, dienstbeflissen und zuvor¬
kommend, wurde er mit der zunehmenden Freundschaft Davits
nachlässig, störrisch, trotzig, kleidete sich über seine Verhältnisse
und protzte mit Geldbesitz.
Tatsächlich verfügte Franke schon viele Monate vor dem Raub¬
mord über Geldmittel, die weit über seine redlichen Einnahmen
hinausgingen; er kaufte teuere Schmuckstücke, brauchte viel in
Gasthäusern und unterhielt mit einem Freudenmädchen ein Ver¬
hältnis.
Seine Behauptung, er habe gemeinsam mit Davit mit Lebens¬
mitteln Schleichhandel getrieben und hierbei schön verdient, er¬
scheint völlig unglaubwürdig, denn er vermag nicht eine einzige
Person zu nennen, von der er Lebensmittel bezogen oder der er
solche verkauft; dagegen steht fest, daß Franke, der auch im
Bureau die Ansicht verbreitete, Schleichhandel zu treiben, die
Bitte einer Bureaiikollegin, ihr Zucker zu verschaffen, mit der
zugestandenermaßen falschen Ausrede ablehnte, er sei in seiner
Tätigkeit entdeckt worden und könne daher nicht liefern.
Den eigentlichen Grund des Vortäuschens von Schleichhandels¬
geschäften ergab alsbald die Untersuchung, die feststellte, daß
Kurt Franke seit dem Sommer 1917 im Einvernehmen und in
tätiger Mitwirkung mit Emo Davit die Erste österreichische All-
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
113
gemeine Unfallversicherungs-Gesellschaft dadurch geschädigt hatte,
daß unberechtigt bei verschiedenen Personen, die mit der Anstalt
im Geschäftsverkehr standen, Geld behoben und der Erlös aus
dieser verbrecherischen Handlungsweise unter die beiden Beschul¬
digten geteilt wurde.
Nach dem mit den Erhebungen übereinstimmenden Geständnis
des Kurt Franke wurden diese Betrügereien folgendermaßen durch¬
geführt:. Davit hat aus den ihm als Abteilungsvorstand vorgelegten,
bereits bearbeiteten Abrechnungen solche ausgesucht, die nach
der Höhe des Betrages und der in Betracht kommenden Partei
zum Betrug besonders geeignet erschienen und übergab sie Franke.
Dieser versah die Schriftstücke entweder mit der gefälschten
Unterschrift des Inkassanten Wilhelm Taglang oder fertigte als
Inkassanten einen tatsächlich nicht bestehenden F. Pohl. Die noch
fehlende Unterschrift eines zweiten Beamten wurde, sei es dazu
gefälscht, sei es mit der Unterschriftsstampiglie des Direktors
Weißensteiner ersetzt, die Davit unter Sperre zu halten hatte, aber
zu diesem Zwecke zur Verfügung stellte. Ähnlich wurden die auf
Pohl und Taglang lautenden Behebungsvollmachten nachgemacht,
wozu Davit die nötigen Vordrucke beistellte. Mit diesen ver¬
fälschten Urkunden behob Franke im Laufe der Zeit bei den im
Anklagesatze angeführten Personen und Firmen zusammen 4751 K
50 h, welcher Betrag zwischen Davit und Franke geteilt wurde.
Davit kann diese Betrügereien nicht in Abrede stellen, be¬
streitet jedoch in ganz unglaubwürdiger Weise das Maß seiner
Beteiligung und die Höhe der entlockten Beträge.
Er will erst verhältnismäßig spät sich an diesen Unredlich¬
keiten beteiligt haben und schiebt die in den ersten Monaten be¬
gangenen Entlockungen Franke allein zu.
Für die Beurteilung des Charakters Davits ist auch dieses
zugestandene Verhalten vernichtend, wenn bedacht wird, daß ihm
der um 15 Jahre jüngere Franke Davit dienstlich unterstellt war.
Die geschilderten Betrügereien beweisen aber auch, daß die
Beschuldigten schon zu einer Zeit gemeinsam die Bahn des Ver¬
brechens betreten hatten, welche weit vor dem an Julie Earl be¬
gangenen Raubmord zurückliegt.
Über den Werdegang der mit Davit bestandenen Beziehungen
gibt Franke in wesentlicher Übereinstimmung mit Emo Davit fol¬
gendes an :
Anfangs 1917 begann der Verkehr, der sich bis dahin nur in
rein dienstlicher Form abgespielt hatte, sich auch auf das private
114
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
Gebiet zu erstrecken, wobei auch Bücher hin- und hergeliehen
wurden.
Davit erzählte besonders gern von seiner amerikanischen Zeit,
schilderte die dort angeblich herrschende Freiheit und die leichte
Möglichkeit, rasch reich zu werden, in den grellsten Farben und
wußte den jugendlichen Franke so zu begeistern, daß dieser Spanisch
zu lernen begann, um auch nach Südamerika kommen zu können.
Ob es richtig ist, daß Davit Franke gegenüber den Plan entworfen,
sie würden in gelegener Zeit gemeinsam nach Südamerika fahren
und Farmer werden, muß dahingestellt bleiben; Davit bestreitet
diese Darstellung Frankes.
Seit dem Herbst 1917 begann Davit seinen Freund Franke in
die Verhältnisse des Ehepaares Vivante einzuweihen; er schilderte
dessen Reichtümer, dessen Lebensgewohnheiten und sprach auch
des öfteren von der Gesellschafterin Julie Earl. Er schilderte
Franke den reichen Schmuck der Tante, den sie bei verschiedenen
Anlässen anzulegen pflegte, beschrieb sogar die einzelnen (Schmuck¬
stücke unter stetem Hervorheben deren Wertes und teilte auch
Franke mit, daß dieser ganze Schmuck in einer Handtasche auf¬
bewahrt sei.
Ungefähr im Februar 1918 erzählte Emo Davit dem Franke
eines Morgens, er habe die vergangene Nacht schlaflos zugebracht,
denn es sei ihm im Kopf herumgegangen, wie leicht man der
unvorsichtigen Tante den kostbaren Schmuck wegnehmen und
dadurch leicht reich werden könnte. Auf den Einwand Frankes,
daß diese Unvorsichtigkeit^ denn doch nicht so gefährlich sein
würde, bemerkte Davit, man müsse nur jemanden umbringen. In
den nächsten Tagen kam Davit wieder auf die Möglichkeit des
Reichwerdens zurück und bemerkte, man müsse die Tasche, in
der das Vermögen seiner'Tante sich befinde, von Julie Earl holen
lassen. Dieser könnte man vorgeben, daß Davit das Testament
seiner Tante sehen wolle, und sie dann umbringen. Davit kam
nun wiederholt auf diesen Gegenstand zu sprechen und führte die
Einzelheiten des Raubmordes fortschreitend genauer aus. So machte
er Franke den Vorschlag, es müßte Julie Earl zunächst betäubt
werden, und zwar mit Chloroform, und veranlaßte Franke, sich um
Chloroform umzusehen, dann führte er aus, Jutie Earl müsse aus
dem Hotel verschwinden, man müsse sie erdrosseln und in einen
Korb verpacken, so daß der Verdacht entstände, Earl habe die
Tasche gestohlen und sei durchgebrannt. Zu diesem Zwecke
suchten Davit und Franke wiederholt einen Korb zu kaufen, wobei
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
115
Davit dem Franke unter Hinweis auf die Größe der Julie Earl
die entsprechenden Maße des Koffers mitteilte. Davit selbst er¬
klärte, den Mord als solchen nicht verüben zu können, da auf ihn
als Verwandten leicht der Verdacht kommen könne und von ihm
nicht die geringste Spur Zurückbleiben'dürfe; diese Rolle-müßte
daher Franke übernehmen.
Davit, der täglich mit Vivantes, daher auch mit Julie Earl
zusammenkam, hatte entdeckt, daß ein der Genannten zur Ver¬
fügung stehender Schlüssel auch jenen Kasten aufsperrte, in
welchem Emma Vivante den Panzerfachschlüssel aufbewahrte. Um
jedoch allen Zwischenfällen gegenüber gewappnet zu sein, ver-
anlaßte Davit den Franke zur Beschaffung eines Nachschlüssels
und stellte ihm zu diesem Zwecke einen Siegelwachsabdruck des
Schlüssels zur Verfügung.
Franke suchte unter verschiedenen im Bureau verwendeten
Schlüsseln einen geeigneten aus und ließ ihn durch Vermittlung
seiner Mutter bei einem Schlosser nach dem Abdruck zufeilen.
Über Auftrag des Davit mietete Franke bei Schellhammer u. Schat-
ters ein Panzerfach; dorthin sollte das geraubte Gut zunächst
gebracht werden, um, soweit eine Veräußerung nicht möglich
wäre, später einmal nach Amerika mitgenommen zu werden, wo¬
hin beide im geeigneten Zeitpunkte auswandern wollten.
Durch diese steten Wiederholungen des Gegenstandes und
die wiederkehrende Vorstellung, daß ja Franke auf einmal reich
werden könne, hatte sich dieser, wie er glaubwürdig angibt, an
den Gedanken des gemeinsamen Mordes nach und nach so ge¬
wöhnt, daß auch er sich seine Rolle in Gedanken wiederholt aus¬
malte, und Davit mit seiner tätigen Mithilfe sicher rechnen konnte.
Davit veranstaltete nun mit Franke wiederholt förmliche Proben.
Er unterrichtete ihn, daß er mit Handschuhen arbeiten müsse, um
nicht Fingerabdrücke zurückzulassen und stellte ihm zu diesem
Zwecke Handschuhe zur Verfügung. Er lieh ihm eine Art Sport¬
kleidung, in welcher Franke wiederholt ein Paket ins Hotel tragen
mußte, wodurch einerseits festgestellt werden sollte, ob beim
Heraustragen der Beute eine Beanstandung zu befürchten sei,
andererseits der Verdacht auf einen als Jokai bediensteten Bruder
der Earl als Mittäter des Diebstahls hätte gelenkt werden sollen.
Davit verfertigte einen ganz genauen Plan der Wohnräume des
Ehepaares Vivante, wobei er Franke genau jene Stelle bezeich-
nete, wo er auf Julie Earl lauern müsse. Nachdem Franke Chloro¬
form nicht auftreiben konnte, wurde beschlossen, Julie Earl durch
116
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
eine Hiebwaffe zu betäuben und es kaufte zunächst Franke über
Auftrag Davits zwei Sportkeulen, die jedoch von Davit als zu
schwach bezeichnet wurden. Infolgedessen kaufte Davit später
selbst die am Tatorte gefundene, mit Eisen beschlagene Keule
und übergab sie Franko
Die Besprechungen des geplanten Raubmordes gingen nun¬
mehr in die kleinsten Einzelheiten. Franke sollte den indessen
gekauften Korb, eine Schnur zum Erwürgen und auch ein Rasier¬
messer mitnehmen, um für alle Fälle unmöglich zu machen, daß
Julie Earl sprechen könnte. Auch eine Gurte zum Forttragen des
mit der Leiche zu füllenden Korbes und ein Rucksack zur Auf¬
nahme der Beute mußte von Franke bereitgestellt werden.
So war der Pfingstsamstag (18. Mai) herangekommen und
Davit erklärte, jetzt müsse die Tat vollbracht werden. Franke
holte von seiner Wohnung die zum Morde vorbereiteten Sachen
und die beiden Beschuldigten begaben sich zum Hotel Bristol.
Es kam an diesem Tage nicht zur Ausführung der Tat, weil —
wie Davit erklärte — Earl nicht allein sei. Die Tat wurde von
Davit auf den nächsten Mittwoch, den 22. Mai, festgesetzt. Der
Korb mit allem für den Mord Nötigen wurde in die Wohnung des
Davit geschafft. Um die Verwertung des zu raubenden Schmuckes
vorzubereiten, schickte Davit am 21. Mai den Franke zürn Ge¬
schmeidehändler Rabinowitsch und ließ diesen fragen, ob er
Perlen und Schmuck kaufe. Davit gab dem Franke auch die
Zeichnung einiger Schmuckstücke mit. Franke, der, um nicht leicht
wiedererkannt zu werden, sich zu diesem Behufe einen Zwicker aus¬
lieh und recht gebückt ging, erhielt von Rabinowitsch eine zu¬
sagende Antwort und sollte am nächsten Tage den Schmuck bringen.
Vom Mittwoch wurde die Tat auf Donnerstag, den 23. Mai
verschoben, weil — wie Davit sagte — Julie Earl nicht frei be¬
kommen habe. Auch wurde Rabinowitsch auf den nächsten Tag
vertröstet.
Am 23. Mai spielten sich die Geschehnisse der lange be¬
sprochenen und geprobten Mordtat nach der Schilderung Kurt
Frankes folgendermaßen aß:
Um etwa 4 Uhr nachmittags war Davit von einer Gesangs¬
stunde in sein Bureau zurückgekehrt, wies Franke an, den Korb
zu holen und zum Hotel Bristol zu kommen und übergab ihm zu
diesem Zwecke seinen Wohnungsschlüssel. Franke zog die bereit¬
gestellte Sportkappe an, fand in der Wohnung Davits den Korb samt
Inhalt wohl vorbereitet und traf Davit am besprochenen Treffpunkte.
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
117
Davit hatte am Vortage erfahren, das Ehepaar v. Vivante
beabsichtigte für den 23. Mai einen Besuch und hatte mit Julie
Earl vereinbart, diese würde durcji das öffnen des Fensters ihm
das Zeichen geben, daß sie zum Holen der Tasche behufs angeb¬
licher Einsicht in das Testament bereit sei. Dieses Zeichen wurde
auch gegeben, und daraufhin begaben sich die beiden Beschuldigten
von verschiedenen Seiten in das Hotel und trafen einander vor
der Wohnungstür Vivantes. Franke verbarg sich hinter einer
spanischen Wand und Davit trat ein; kurz darauf verließ Earl
das Zimmer und Franke betrat über einen Wink Davits den Wohn-
raum, worauf er über ausdrückliche Anordnung Davits den Korb
im Zimmer der Julie Earl zwischen dem Bett ünd dem Waschtisch
aufstellte, ihn öffnete, in die rechte Hand die Keule nahm, die
Schnur in die Rocktasche steckte und sich in der Nähe des Kleider¬
rechens hinter dem Türvorhang verbarg. Davit hatte nur noch
Zeit, Franke zuzuflüstern, er werde Julie zum Türvorhang locken,
Franke möge dann zuschlagen, er selbst werde hinausgehen, um
aufzupassen, und verließ das Zimmer; da kam auch schon Julie
Earl mit der Tasche zurück, suchte Davit und rief nach ihm. Als
sie das zweitemal an Franke vorbeikam, bemerkte sie diesen, stieß
Schreckenslaute aus und erhielt auch schon von Franke einen der¬
artigen Keulenschlag auf den Kopf, daß sie betäubt zu Boden fiel.
Franke stürzte sich sofort auf sein Opfer und würgte es, wobei
Julie Earl heftig um sich schlug. Franke nahm nun den Strick
aus der Tasche und schlang ihn fest um den Hals seines Opfers,
welches zwischen dem Würgen zu sprechen versuchte, wobei Franke
jedoch nur die Worte: Davit — Schuft verstand. Da trat Davit,
der auch schon früher einigemal in das Zimmer hergingesehen
hatte, ein, wies mit Entsetzen auf einen Blutfleck hin, versuchte
vergebens diesen mit einer Bluse wegzuwischen und gab dem
Franke den Auftrag, die Leiche in den Korb zu packen. Da
glaubten die Mörder eine Bewegung ihres Opfers zu bemerken,
weshalb der Plan auf Fortschaffung der Leiche aufgegeben wurde,
Franke die zum Forttragen des Korbes mitgenommene Gurte der
Julie Earj um den Hals schnürte und über den Auftrag Davits:
„Schneiden Sie!“ mit dem Rasiermesser einige kräftige Schnitte
durch den Hals des Opfers führte.
Franke, der in der Meinung, mit seiner Arbeit schon fertig
zu sein, schon vor dem „Schneiden“ die Handschuhe ausgezogen
hatte und infolge der entstandenen Blutlache selbst blutig geworden
war, wusch sich an dem neben der Leiche stehenden Waschtisch,
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 9
118
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
worauf ihn Davit in das Badezimmer wies, wo sich Franke aber¬
mals wusch und auch abtrocknete.
Davit packte nun die geraubte Tasche in den Rucksack und
richtete sich zum Fortgehen, bemerkte jedoch plötzlich, daß Franke
auf Rock und Hose Blutspuren zeige. Er zog ihm daher seinen
eigenen Überzieher an, der jedoch'Franke zu groß war, was auf¬
gefallen wäre. Der Überzieher wurde daher wieder ausgezogen
und Franke angewiesen, diesen über den Arm zu tragen und den
Rucksack auf den Rücken zu nehmen. So entfernten sich die
beiden Beschuldigten vom Tatorte durch verschiedene Ausgänge
des Hotels. In der Kärntner Straße trafen sie einander wieder und
Davit fragte, was am Tatorte zurückgeblieben sei. Auf die Ant¬
wort, es seien der Korb und die Keule dort geblieben, schickte
Davit Franke sofort zurück mit dem Aufträge, die Keule zu holen,
da er bei deren Kauf beobachtet worden war. Franke übergab
den Rucksack an Davit, zog dessen Überzieher an, kehrte ins
Hotel zurück, bemerkte jedoch, daß die Tat offenbar schon ent¬
deckt sei, weshalb er zu Davit zurückkehrte. Dieser hängte ihm
den Rucksack um, steckte ihm auch die im Januar dem Fortunato
v. Vivante gestohlene Uhr und den angefertigten Nachschlüssel
zu und gab ihm noch den Auftrag, die Perlen nicht zu verkaufen.
Damit trennten sich die Beschuldigten. Franke will den Nach¬
schlüssel und die beim Mord benutzten Handschuhe in ein Kanal¬
gitter geworfen haben.
Auf dem Heimwege begegnete Franke seinem früheren Mit¬
schüler Ferdinand Menzel, dem gegenüber er seinen ungewöhn¬
lichen Aufzug damit aufzuklären suchte, er sei hamstern gewesen
und trage Schmalz im Rucksack, und den er auch ersuchte, auf
ihn zu warten und ihn dann zu begleiten, da er Zigaretten
kaufen wolle.
Tatsächlich wartete Menzel nur verhältnismäßig kurze Zeit auf
Franke vor dessen Wohnung; Franke entledigte sich indessen
seines blutbefleckten Anzuges, den er im Keller verbarg, und ver¬
steckte die geraubte Tasche und den Überzieher Davits in der
Dachkammer. Er ging dann mit Menzel zu dem gemeinsamen
Bekannten Fritz Epstein, um sich dort Zigaretten zu beschaffen.
Später erbrach Franke die geraubte Tasche und entnahm ihr
das gesamte Bargeld, bestehend aus 46000 K und einigen tausend
Lire. Er erschien bei einer Bekannten Marie Pipitz, welcher er
unter Hinweis auf sein vor etwa 3—4 Wochen abgegebenes Ver¬
sprechen, ihr Geld zur Verfügung zu stellen, „bis er ein größeres
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
119
Geschäft gemacht haben werde“, 500 K einhändigte. Mit der
gleichen Begründung übergab er den Kindern der Marie Pipitz
200, bzw. 100 K als Geschenk.
Auch seiner Mutter Josefine Frahke übergab der Angeklagte
einige hundert K.
Es war nicht genau festzustellen, ob diese Hingabe des Geldes
noch am Abend des 23. oder erst am 24. Mai erfolgte, da die *
vernommenen Zeugen, in dem offenbaren Bestreben, die Annahme
des Geldes als völlig einwandfrei hinzustellen, diese auf den Abend
des Mordtages zu verlegen trachten, weil am nachfolgenden Tage
die Mordtat und die damit im Zusammenhang stehende Verhaftung
Davits durch die Zeitungsberichte allgemein bekannt geworden
war, die Geldannahme daher immerhin recht bedenklich erschiene,
Franke aber andererseits die Hingabe des Geldes auf den 24. Mai
verlegt.
Sichergestellt ist ferner, daß Franke an einem der nächsten
Tage das gesamte Geld in sein Bureau trug, daß er eine der
Tasche entnommene Kravattennadel trug, und daß er bis zu seiner
am 27. Mai erfolgten Verhaftung mehrere hundert K in Vergnü¬
gungslokalen verbrauchte.
Irgend welche Zeichen der Aufregung oder Unruhe wurden
auch bei Franke seit der Verübung des Raubmordes von keinem
der vernommenen Zeugen wahrgenommen.
Machte das Geständnis des Kurt Franke schon mit Rücksicht
auf seine Übereinstimmung mit den übrigen gepflogenen Er¬
hebungen von allem Anfang an den Eindruck der Glaubwürdig¬
keit, so ist die Verantwortung des Eijio Davit, der bis zur Ver¬
haftung des Kurt Franke und dessen Geständnis jede Beteiligung
an dem Raubmord mit aller Entschiedenheit geleugnet und sich
auf den von ihm künstlich geschaffenen Alibibeweis gestützt hatte,
und der erst nach Vorhalt des Geständnisses Frankes sich zu
Geständnissen seinerseits bequemte, als hinterhältig und un¬
glaubwürdig zu bezeichnen; obwohl schon die Tat als solche,
das Verhältnis des Emo Davit zu der Ermordeten und zum
Ehepaar Vivante und zu Kurt Franke andererseits klar er¬
kennen lassen, daß nur Davit der Urheber und sozusagen der
Unternehmer der Mordtat gewesen sein kann, suchte Davit in ganz
unglaubwürdiger Weise die Hauptschuld auf Kurt Franke abzu¬
wälzen. Er geht hierbei so weit, glauben machen zu wollen, daß
der Gedanke des Raubmordes von Kurt Franke ausgegangen sei,
daß er selbst sich gegen diesen Gedanken lange gesträubt und
9 *
120
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
erst nach langem Drängen seitens des Kurt Franke in die Tat
eingewilligt habe.
Die Entstehung des Mordgedankens sucht Davit folgender¬
maßen aufzuklären: Einmal im Januar 1918 habe ihm Emma
v. Vivante 40000 K Bargeld vorgezählt, das. sie zur Zeichnung
von Kriegsanleihe hatte verwenden wollen. Dies habe er am
nächsten Tage mehreren Bureaukollegen, darunter Kurt Franke,
erzählt und beigefügt, er könne verstehen, wie man in Versuchung
kommen könne. Franke habe diesen Gedanken mit der Frage auf¬
gegriffen, ob man zu diesem Gelde nicht kommen könnte, worauf
Davit dem Franke sie mit dem Beifügen bejahte, durch Julie Earl
wäre dies möglich. Franke habe darauf sofort erklärt, diese müßte
umgebracht werden. Auf diesen Gedanken sei nun Franke seit
diesem Gespräch wiederholt zurückgekommen, 'bis auch Davit
schließlich sich an ihn gewöhnt hätte und nun — wie er ausdrücklich
zugibt — die Einzelheiten der Ausführung mit Franke besprach.
Davit muß zugestehen, zu wichtigen Einzelheiten, so zur Weg¬
schaffung der Leiche, den Einschlag gegeben zu haben und kann
auch die Behauptungen Frankes, betreffend den Kauf der Keule,
des Korbes, die Beschaffung einer Zeichnung und eines Abdruckes
des Schlüssels, die Zeichnung einer Wohnungsskizze, die Aus¬
stattung Frankes mit einem Sportanzug nicht in Abrede stellen,
will aber dennoch glaubhaft machen, daß Franke zu dem Morde
gedrängt habe, zum Beweise hierfür sucht Davit den Umstand
heranzuziehen, daß er- zu wiederholten Malen schon am Tatorte
angelangt, Franke nach Hause geschickt habe, um die Ausführung
des Raubmordes zu verhindern.
Daß diese Verschiebungen der Tat nicht auf Reue, sondern
darauf zurückzuführen sind, daß Davit bei diesen Anlässen die
Gelegenheit nicht für genug sicher und günstig erachtete, beweist
am besten die am 23. Mai tatsächlich erfolgte Ausführung des
Mordes, in deren- Schilderung Davit von Franke charakteristischer¬
weise nur dort abweicht, wo die Behauptung Frankes ihm un¬
günstig ist. Er muß aber zugeben, auch am 23. Mai so wie früher
die letzten Aufträge zur Ausführung der Tat gegeben zu haben,
nachdem er die Gelegenheit ausgekundschaftet und Julie Earl zum
Abholen der Tasche gefügig gemacht hatte.
Er veranlaßte den Kurt Franke sich bereitzuhalten, er sandte
ihn um den schon hergerichteten Korb, bestellte ihn in das Hotel
und überließ Julie Earl, die er in den mit Franke verabredeten
Mordwinkel gelockt hatte, ihrem Henker.
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
121
Die gewählte Verantwortung haben beide Angeklagte im
wesentlichen während des ganzen Verfahrens aufrechterhalten, und
auch die Gegenüberstellung brachte nicht viel Neues. Franke hielt
alle seine Angaben vollständig aufrecht und brachte zu den Emo
Davit besonders belastenden Behauptungen Einzelheiten vor, welche
Davit nur mit Phrasen und Beteuerungen zu beantworten wußte.
Besonders kennzeichnend ist die Behauptung Frankes, Davit habe
den 22. Mai als Tag der Ausführung unter Hinweis darauf be¬
stimmt, es wäre dies die schönste Geburtstagsfeier für Franke,
der am 22. Mai' 1918 das 17. Lebensjahr erreichte, und die wider¬
sprechende Darstellung Davits, Franke habe sich die Ausführung
des Mordes als Geburtstagsgeschenk gewünscht; mag die eine
oder die andere Behauptung richtig sein, sicher ist das eine, daß
der Geburtstag Frankes mit der Ausführung der Tat in Zusammen¬
hang gebracht wurde.
Daß der Verantwortung Frankes ein weit höherer Grad von
Glaubwürdigkeit zuzugestehen ist als Davits Behauptungen, ergibt
sich nicht bloß aus der Tatsache, daß Davit sich bei Schilderung
von Einzelheiten wiederholt in Widersprüche und Ungereimtheiten
verwickelte, sondern auch aus der einfachen Betrachtung der Tat¬
geschichte.
Franke kannte die Verhältnisse Vivantes nur mittelbar durch
Davit; dieser wußte vom Inhalt der Tasche, von der wiederholten-
Sendung Julie Earls um diese, er war es, der ausgekundschaftet
hatte, daß ein Julie Earl zur Verfügung stehender Schlüssel zum
Panzerfach führen könne, er war es, der allein in der Lage war,
durch entsprechende Täuschung der Julie Earl diese zum Holen
der Tasche zu verleiten, um damit die wichtigste Voraussetzung
des Raubmordes zu schaffen.
Es spricht auch sehr für die Glaubwürdigkeit von Frankes
Geständnis, daß er im Gegensatz zu Davit weit davon entfernt ist,
alle Schuld auf diesen abzuwälzen, vielmehr ausdrücklich zugibt,
daß er sich der Schlechtigkeit und Ruchlosigkeit seines Tuns voll
bewußt gewesen sei, und die Tat trotzdem, in der Aussicht reich
zu werden und sorgenlos leben zu können, ausgeführt habe. Hatte
doch Davit seine gegen den Mord vorgebrachten Bedenken damit
zu zerstreuen gewußt, daß heute im Kriege ein Menschenleben
doch wenig wiege und war doch der Pla^ so zurechtgelegt worden,
daß eine Aufdeckung der Tat nicht zu befürchten, sondern viel¬
mehr anzunehmen war, Julie Earl, allenfalls auch deren als Jokei
dienender Bruder würden als die Diebe der Tasche angesehen werden.
122
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
Auch die innere Unwahrscheinlichkeit der Behauptungeu Davits
spricht gegen deren Glaubwürdigkeit. Es ist doch nicht anzu-
nehmen, daß der um 15 Jahre jüngere, Davit dienstlich unterstellte
Franke auf die nach Davits Behauptung doch mehr oder weniger
harmlos gemachte Bemerkung, Julie Earl hindere die Aneignung
der Tasche, gleich und geradezu unvermittelt mit dem unver¬
schämten und entsetzlichen Vorschlag hervorbrechen sollte, Earl
müsse umgebracht werden! Wenn dies richtig wäre, könnte es
nur damit erklärt werden, daß Davit diese Äußerung dem Kurt
Franke geradezu in den Mund gelegt hätte; danri muß aber das
Gespräch auf Seite Davits ganz anders geführt worden sein, als
er glauben machen will.
Aber auch die vorliegenden Beweise widerlegen die von Davit
gegebene Schilderung. Wie oben ausgeführt, will Davit die Ent¬
stehung des Mordgedankens auf eine Bemerkung zurückführen,
die er im Januar 1918 in Gegenwart Frankes und anderer Bureau¬
kollegen über den Bargeldbesitz seiner Tante gemacht haben will.
Sämtliche in Betracht kommende Personen wurden, vernommen
und keine einzige vermag diese Bemerkung zu bestätigen; die
Zeugen erklären sogar, sie könne nicht gefallen sein, weil deren
Wortlaut, der auch gar nicht der Redeweise Davits entspräche,
von den Zeugen hätte gehört werden müssen. . Es ist auch gar
nicht anzunehmen, daß Davit seine Gespräche, die darauf abge¬
stellt waren, Franke zum Morde zu dingen, in Gegenwart dritter,
nicht Eingeweihter geführt haben sollte.
Auch die Behauptung Davits, Earl habe einer anderen Ver¬
wandten Emma v. Vivantes, der Emina Floch, Einsicht in das
in der Tasche verwahrte Testament gegeben, ist durch die Aus¬
sage der Genannten widerlegt. Dagegen hat die frühere Gesell¬
schaftsdame Vivantes, die jetzt in Genf wohnhafte Auguste Moeckly,
angegeben, Davit habe sich schon im Laufe des Sommers 1917
bei ihr angelegentlich um den Inhalt der Tasche erkundigt. Davits
Begehrlichkeit nach dieser Tasche ist daher offenbar weit älter,
als die ersten mit Franke diesbezüglich geführten Gespräche, und
es ist mit vollem Rechte anzunehmen, daß Davit den Raub der
Tasche lange beschlossen hatte, bevor er Franke zu seinem Plan
zu werben begann. Da ein solcher Raub aber nur dann unent-
deckt bleiben konnte, wenn Julie Earl für ewig verstummte, ist
es klar, daß auch der Raubmord eine von Davit beschlossene
Sache war, noch bevor er Franke als Mörder zu dingen begann,
und daß Davit sich mit Franke nur zu dem Zwecke verband, um
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
123
für die Ausführung der Tat, vor welcher er persönlich aus Feig¬
heit und Furcht vor Entdeckung zurückschreckte, einen Helfer
zu gewinnen.
Um die Lockung mit dem bevorstehenden Reichtum in Franke
zu verstärken und ihm einen Vorgeschmack der Annehmlichkeiten
des Reichtums zu geben, wurde Davit mit Franke zum Betrüger
an ihren Dienstgebern; es ist gewiß von Interesse, daß nach Aus¬
sage des Zeugen Emil Kuh Davit schon lange vor Beginn der
von ihm und Franke zum Schaden der Unfallversicherungs-Ge¬
sellschaft begangenen Betrügereien darauf zu spre'chen kam, wie
leicht eigentlich ein Betrug an der Gesellschaft möglich sei. Davit
hat sich also auch mit diesem Gedanken schon zu einer Zeit befaßt,
in welcher die später durchgeführten Betrügereien noch nicht be¬
gonnen hatten, woraus sich dann selbst der Schluß ergibt, daß
auch beim Betrüge Davit da$ treibende Element war, wie dies
Franke behauptet.
Davit sucht die führende Stellung Frankes beim Raubmord
damit zu begründen, daß er auf sein Verhältnis zu Vivantes hin¬
weist, das ihm jede Aushilfe gestattete und die Tat als gegen seih
Interesse erfolgt, daher sinnlos erscheinen lasse.
Nun ist es allerdings richtig, daß Davit auf jede Unterstützung
von ‘seiten Vivantes jederzeit rechnen und mit Fug und Recht
darauf hoffen konnte, letztwillig sehr ausgiebig bedacht zu werden,
und daß der Angeklagte alle diese Vorteile durch die Straftat ver¬
nichtete. Allein ,es darf nicht übersehen werden, wie der Raub¬
mord hätte durchgeführt werden sollen. Die Leiche Julie Earls
sollte beseitigt und der Anschein erweckt werden, sie habe mit
Hilfe ihres Bruders die Tasche mit dem wertvollen Inhalt gestohlen.
Wäre dieser Plan zur Gänze gelungen, so wäre es Davit gewiß
nicht schwergefallen, seinen Verwandten gegenüber seiner Empörung
über die Treulosigkeit der Julie Earl beredten Ausdruck zu geben.
Hatte ja Davit die Stirn, sogar im Anblick der Leiche Earls seinen
Verwandten vor Augen zu treten; wie viel leichter wäre ihm dies
bei vollem Gelingen des Planes gewesen.
Gerade das innige Verhältnis Davits zum Ehepaar Vivante
spricht deutlich dafür, daß an der Ermordung Julie Earls nur
Davjt ein Interesse hatte. Wäre es Davit nur darum zu tun ge¬
wesen, die Tasche mit dem kostbaren Inhalt an sich zu bringen,
hätte er dies ohne Hilfe Frankes nicht allzu schwer durch Über¬
listen, allenfalls Betäuben der Julie Earl durchführen können, ohne
bei den bekannten Beziehungen zum Ehepaar Vivante fürchten zu
124 Dr. Erwein Ritter v. HöplEr
müssen, der Polizei überantwortet zu werden. Wohl aber hatte
Davit dann zu fürchten, d^ß das innige Band, das ihn mit Vivantes
verknüpfte, zerrissen und seine durch Vivantes in jeder Beziehung
gesicherte Zukunft in Frage gestellt werden würde. Mag auch
die persönliche Feigheit Davits ihn gehindert haben, Earl als
Räuber gegenüberzutreten, das eine ist sicher: Um den Raub der
Tasche durchzuführen, bedurfte es der Ermordung Julie Earls ge¬
wiß nicht; diese war jedoch notwendig, sollte durch den Raub die
Stellung Davits^ zum Ehepaar Vivante nicht untergraben werden.
Auch diese Erwägung spricht zugunsten der Darstellung
Frankes und macht es glaubhaft, daß Davit auf der Ermordung
Earls bestand, daß er es war, der Franke noch den letzten Auftrag
erteilte, der Earl die Kehle zu durchschneiden.
Die führende Rolle Davits dein Kurt Franke gegenüber wird
auch durch das Gutachten der Gerichtsärzte erhärtet, welche mit
der Untersuchung des Geisteszustandes der beiden Beschuldigten
betraut worden waren, und welche zu folgenden Schlüssen kamen.
Beide Beschuldigte sind als Verbrechernaturen zu bezeichnen,
die des Gefühls für Gut und Böse vollkommen bar sind.
Davit ist ein vollendeter Verbrecher, dabei ein Heuchler, ein
Komödiant der Rechtlichkeit und verbindet mit diesen Eigenschaften
einen hohen Grad von Feigheit.
Diese vollendete Verbrechernatur kreuzte den Weg des jungen,
unreifen Kurt Franke und brachte den auch in diesem vorhandenen
Keim des Verbrechertums zum Wachsen.
Während Davits Heuchelei und Komödiantentum den Plan
des Raubmordes ausheckte, diesen vorbereitete und das Opfer in
den Hinterhalt lockte, verfügte Franke über den zur Ausführung
der Bluttat nötigen Mut; seine immerhin vorhandene Aufrichtig¬
keit löste sofort nach Aufdeckung seiner Täterschaft ein Geständnis
aus, das jedoch jede Reue vermissen läßt.
Davits Einfluß auf den schon früher unmoralischen Franke
besteht darin, daß er den jungen und unreifen Burschen durch
Anreiz zum Verbrechen zum Verbrecher machte.
Bei keinem der Beschuldigten ist eine Geisteskrankheit, eine
Sinnesverwirrung oder Sinnesverrückung vorhanden, die Verbrechen
wurden von langer Hand sorgsamst vorbereitet und durchdacht;
beide Beschuldigte zeigten vor und nach der Tat die größte Ruhe.
Der Beweggrund der Verbrechen war bei beiden eitle Gewinnsucht,
das Streben, rasch und mühelos reich zu werden. Die völlige
Reuelosigkeit erklärt sich bei beiden Beschuldigten durch ihr
Der Raubmord im Hotel Bristol in Wien
125
verbrecherisches Wesen, dem alle Begriffe, die dem Ehrlichen lieb
sind, vollkommen fremd erscheinen.
Bei Davit war die Verbrechensnatur schon'lange vor Begehung
der Anklagetat zum Ausbruch gekommen, als er, jung verheiratet,
in Como mit einer leichtsinnigen Frauensperson durchging und
vorher die Bankkasse angegriffen hatte.
Der Betrug an der Versicherungsgesellschaft, der Uhrdiebstahl
an Fortunato Vivante bilden die weiteren Glieder der Kette, die
zum bestellten Raubmord führen. Das kaltblütige Beschaffen des
Alibibeweises und der völlig unbefangene Verkehr mit verschie¬
denen Personen unmittelbar vor und nach dem Mord vervollstän¬
digen das Charakterbild Davits.
Von Kurt Franke wird mit vollem Recht seitens der Schul¬
behörde darauf hingewiesen, daß er strenger Zucht bedürfe. Außer
der Schwäche seiner Eltern förderte der Umgang mit Davit den
in Franke schlummernden verbrecherischen Keim und ein klarer
Beweis für den sittlichen Tiefstand Frankes liegt in der Tatsache,
daß dieser seine eigenen Eltern in die Mordsache mit hineinzog,
indem er das Rasiermesser seines Vaters zur Verübung des Mordes
benutzte, es zu diesem Zwecke heimlich enttrug und heimlich
zurückstellte, und indem er die Mutter veranlaßte, an der Be¬
schaffung des für die Ausführung des Mordes nötigen Nach¬
schlüssels zu Vivantes Kasten mitzuwirken und nach der Tat der
Mutter 100 K von dem geraubten Geld übergab.
Der Eindruck, den - die beiden Angeklagten während der Ver¬
handlung machten, war ein mit dem entworfenen Charakterbild
völlig übereinstimmender.
Emo Davit, ein kleiner, schwächlich gebauter Mann mit tief¬
liegenden dunklen Augen, zeigt einen scheuen und lauernden
Blick und war bemüht, unter Ausnützung seiner gefälligen Um¬
gangsformen sein Vorgehen möglichst harmlos und sich selbst
als den von Kurt Franke Verleiteten darzustellen, der sich gar
nicht erklären könne, wie ^r sich zur Mithilfe habe herbeilassen
können. Mit größter Aufmerksamkeit verfolgte er alle Einzelheiten
der Verhandlung und wußte jeden ihm günstig scheinenden Um¬
stand sofort geschickt auszunützen. Von einem Gefühl der Reue
ist auch nicht die Spur zu merken, und diesbezüglich gestellte
Fragen lösen Bemerkungen aus, die klar komödiantenartige Ver¬
stellung erkennen lassen.
126
Dr. Erwein Ritter v. Höpler
Kurt Franke macht den Eindruck eines sehr aufgeweckten,
kecken jungen Mannes, der mit <jer größten Kaltblütigkeit und
Ruhe den begangenen Mord bis in alle Einzelheiten genauestens
schildert, diese Ruhe auch bewahrt, als die blutigen Kleider, die
Mordwerkzeuge ihm vorgewiesen werden, und dessen Darstellung
weit davon entfernt ist, zu übertreiben und eigene Schuld abzu¬
schwächen. Er bleibt bei den Gegenüberstellungen mit Davit mit
aller Festigkeit bei seinen Angaben, die er mit Einzelheiten stützt,
welche Davit nicht in Abrede stellen kann, und zeigt nicht die
geringste Erinnerungslücke oder Verwirrung. Auch bei ihm ist
ein mit Rücksicht auf das jugendliche Alter geradezu verblüffender
Mangel jeder Reue auffällig; auf einen Vorhalt des Verteidigers,
ob er denn nicht weinen könne beim Gedanken an das seinen
Eltern angetane Leid, bemüht sich Franke ohne Erfolg durch
Drücken der Augen Tränen hervorzurufen.
Die Verhandlung endete mit der Verurteilung beider Ange¬
klagten im vollen Umfang der Anklage. Die Geschworenen hatten
die sämtlichen an sie gerichteten Fragen bejaht, und zwar mit
Ausnahme der Davit betreffenden, auf gedungenen Raubmord ge¬
richteten Frage, die mit elf Ja und einem Nein beantwortet wurde,
einstimmig. Emo Davit wurde zum Tode, Kurt Franke zu 15 Jahren
schweren verschärften Kerker verurteilt.
Die von beiden Angeklagten erhobenen Nichtigkeitsbeschwerden
wurden vom obersten Gerichtshof verworfen.
Im Gnadenwege wurde die gegen Emo Davit verhängte Todes¬
strafe in lebenslängliche schwere Kerkerstrafe umgewandelt.
Die Zentral-Polizeischule in Dänemark.
Von
Dr. Hakon Jörgensen, Leiter der Polizeischule, Kopenhagen.
Eine fachliche Ausbildung der Polizisten, besonders der Kri¬
minalbeamten, war dringend notwendig geworden. Die Beamten
fühlten es selbst und versuchten ihre eigenen kleinen Schulen
einzurichten, wo sie in ihren Freistunden Unterricht nahmen.
Um diese Bestrebungen zu fördern traten, mehrere Repräsen¬
tanten der verschiedenen Polizeikorps (Hauptstadtpolizei, Staats¬
polizei, Landespolizei usw.), in welche die dänische Polizei leider
noch geteiltest, unter Vorsitz des Polizeidirektors zu Kopenhagen
zusammen und berieten, wie eine für das ganze Land bestimmte
Polizeischule eingerichtet werden müsse. Folgende Hauptlinien
wurden sofort festgelegt:
1. Alle Kosten müssen vom Staat getragen werden, denn die
wichtigsten Aufgaben der Polizei sind Staatsaufgaben.
2. In die Schule dürfen nur Schüler aufgenommen werden,
die schon als Polizisten angestellt sind, denn die Schule
kann nicht aus allerlei Leuten Polizisten bilden; sie kann
aber solchen, die Anlage für den Polizeidienst haben, den
notwendigen theoretischen Unterricht erteilen.
3. Die Lehrer der Polizeischule müssen im praktischen
Dienste ausgebildete Oberbeamte sein, Beamte, die nur
kurz an der Schule bleiben, damit sie den Kontakt mit
der Praxis nicht verlieren.
4. Die Lehrer müssen aus einem großen Korps — aus der
Hauptstadtpolizei — genommen werden, damit man viel¬
seitige praktische Erfahrung voraussetzen kann.
Auf der Basis dieser Hauptsätze wurde ein Antrag dem Justiz¬
ministerium eingeschickt. Umgehend hat der Reichstag das not¬
wendige Geld bewilligt, und im Oktober 1914 war die Zentral-
Polizeischule in der Lage, ihre ersten Kurse zu beginnen.
128
Dr. Hakon Jörgensen
Die Kosten für den Betrieb der Schule betragen für das
gegenwärtige Finanzjahr eine Summe von 33255 Kr. 50 Ore auf
die untengenannten Konti verteilt:
a) Gehälter und Honorare ....... 13755.50 Kr.
b) Unterricht im Turnen und Spezialfächern . 5080.00 „
c) Kosten für die Abhaltung der Prüfungen . 300.00 „
d) Lehrbücher und Unterrichtsmaterial . . . 2000.00 „
' e) Lokale und Inventar. 4600.00 „
f) Tagegelder für die Schüler aus den aus¬
wärtigen Jurisdiktionen. 6520.00 „
g) Kosten für die Abhaltung von speziellen
Kursen .. 1000.00 „
Die Schule wird von einem von dem Polizeidirektor dazu
kommandierten Kopenhagener Polizeikommissar geleitet. Als
ständige Gehilfen sind für den Leiter der Schule zwei Wacht¬
meister abkommandiert, einer aus der Ordnungspolizei, der andere
aus der geheimen Polizei zu Kopenhagen. Da die ständigen
Lehrer ausschließlich bei der Schule Dienst verrichten, ist die
Kopenhagener Polizei aus diesem Anlaß um einen Polizeikom¬
missar und zwei Wachtmeister vergrößert worden, deren Gehälter
vom Staat, derfcn Pensionen 1 dagegen von der Gemeinde Kopen¬
hagen übernommen worden sind.
Da es ursprünglich geplant war, ziemlich häufig — z. B. jedes
dritte Jahr — die Lehrer mit frischen Kräften zu vertauschen, so
waren die Gehälter in den ersten Jahren in der Wei^e berechnet,
daß der betreffende Lehrer genau dasselbe erhielt, was er bei
Ausübung seines praktischem Dienstes erhalten würde.
Später aber gab man diesen Plan auf, da man fürchtete, eine
zu häufige Vertauschung der Lehrer werde in mehreren Hinsichten
schädlich wirken. Jetzt ist angeordnet, daß der Schulvorsteher
und die ständigen Lehrer eine Zeitlang wirken sollen, und ihre
Gehälter sind derart reguliert worden, daß sie als Grundgehalt
dasselbe Gewalt erheben als dasjenige, welches sie, falls sie prak¬
tischen Dienst verrichteten, erhalten würden, und als Ziilage ein
besonderes Honorar, das die Stellung suchenswert machen soll.
Außer den ständigen Lehrern wirken noch eine Anzahl be¬
sonderer Lehrer in folgenden Fächern: a) Polizeikunde für die
Polizei außerhalb der Hauptstadt, b) Signalementslehre, c) Turnen
und Boxerei, d) Samariterdienst, e) Dressur von Polizeihunden,
f) Vorträge gemeinbildenden Inhalts.
Die Zentral-Polizeischule in Dänemark
129
Als Schüler werden nur solche Personen aufgenommen, die
im Dienste der Polizei als Polizeibevollmächtigte, Wachtmeister,
Inspektionsbeamte oder Schutzleute angestellt sind. Die Schüler
aus Kopenhagen werden vom Polizeidirektor zum Dienst bei der
Schule beordert, die auswärtigen Schüler vom Polizeimeister nach
vorhergehender Verhandlung mit dem Schulvorsteher.
Während der Zeit des Kursus verrichten die Schüler keinen
anderen Dienst. Sie erheben ihr volles' Gehalt, und die zuge¬
reisten Schüler erhalten außerdem 2 Kr. von der Schule als Tage¬
gelder. Ferner empfangen mehrere aus der Polizeikasse ihrer
Jurisdiktion so viel Unterstützung, daß der Aufenthalt in Kopen¬
hagen ihnen selbst keine Kosten verursacht.
In Bezug auf den Unterricht ist die Schule in zwei Abteilungen
geteilt. Abteilung A umfaßt Schüler aus der Kopenhagener Polizei,
Abteilung B umfaßt Schüler aus den übrigen Jurisdiktionen. In „
Kopenhagen werden alle neuangestellten Mannschaften recht schnell
nach der Anstellung — in der Regel ein bis zwei Monate nachher —
beordert, einen Anfängerkursus bei der Schule durchzumachen.
Dieser Kursus dauert zwei Monate; die Schüler werden in fol¬
genden Fächern unterrichtet: a) Instruktionen und Tagesbefehle
der Kopenhagener Polizei, b) das Polizeistrafgesetzbuch Kopen¬
hagens, c) mehrere Gesetze, welche die Polizisten kennen müssen,
wie: Feiertaggesetz, Gesetz des Beschließens, Gesetz der Gasthöfe,
Automobilgesetz, Gewerbegesetz, die Hauptpunkte des Strafge¬
setzes usw., d) Dänisch, e) Berichtschreiben, f) Gemeindelehre,
g) Samariterdienst, h) Turnen und Boxerei.
Im Anschluß an den Unterricht über Gemeindelehre werden
Besuche der verschiedenen Museen und Sammlungen und des
Reichstags und des Höchsten-Gerichtes unter sachverständiger
Anleitung abgestattet.
Nach diesem Kursus, der zwar mit keiner Prüfung endet,
jedoch mit einer vorläufigen Beurteilung des Schülers, kehren die
Schüler nach ihren Abteilungen zurück und verrichten während
einer Zeit, die «wischen zwei und drei Jahren variiert, ihren gewöhn¬
lichen Dienst. Dann werden sie nochmals für einen Wieder¬
holungskursus, in gleicher Weise auf zwei Monate, beordert, wo
der Stoff aufs neue durchgegangen und vertieft wird, und wo
man den Schülern etwas Kenntnis von der Signalementslehre, der
Fahndungslehre u. dergl. gibt.
Beim Schluß dieses Kursus wird eine mündliche Prüfung
130
Dr. Hakon Jörgensen
— bei welcher der Polizeidirektor oder der Chefinspektor oder ein
Polizeikommissar als Zensoren fungieren — abgehalten.
Außer diesen Kursen für junge Schutzleute werden — so
häufig es die Verhältnisse gestatten — Abteilungen von etwas
älteren »Polizisten zu einem zweimonatigen Wiederholungskursus
auf die Schule beordert. Der Unterricht ist hier derselbe als der
auf den Wiederholungskursen für die jüngeren Abteilungen. Jede
der genannten Abteilungen hat höchstens 16 Schüler.
Im Juli und August findet bei der Polizeischule kein Unter¬
richt statt.
Seit der Etablierung der Schule sind in Klasse A 270 Beamte
ausgebildet worden.
In der Abteilung B werden Polizeibeamte aus den Juris¬
diktionen außerhalb Kopenhagens unterrichtet. Es werden teils
kurze Kurse von einem Monat, teils lange Kurse von drei Monaten
abgehalten.' Die kurzen Kurse sind für die wenig älteren, wohl-
begabten Schüler berechnet, die im Stande sind, einem schnell
fortschreitenden Unterricht zu folgen. Die Fächer sind folgende:
a) Bericht-Theorie, b) Signalementslehre, c) Fahndungslehre,
d) Spurenbehandlung, Lageplan und Fernidentifizierung. Der
Kursus wird durch eine Prüfung beschlossen.
Die langen Kurse sind teils für jüngere Schutzleute, die eines
mehr elementaren Unterrichts bedürftig sind, und teils für Polizei¬
beamte, die für die Beförderung in überordnete Stellungen oder
für den speziellen Kriminaldienst ausersehen sind. Die Fächer
bei diesen Kursen sind folgende: a) Polizeikunde, b) Strafgesetz,
c) die Ausforschung des Verbrechers, d) Signalementslehre, e) Fern¬
identifizierung, f) Samariterdienst, g) Berichtschreibung, h) Be¬
handlung der Spuren des Verbrechens und Zeichnen von Grund¬
rissen, i) Dänisch, j) Turnen und Boxerei, k) Polizeihunddressur.
Jeder Kursus wird durch eine schriftliche und mündliche
Prüfung beendet; ein Polizeimeister, ein Polizeibevollmächtigter
und ein Polizeikommissar fungieren als Zensoren.
103 Beamte sind schon ausgebildet worden.
Außerdem haben etwa 40 Beamte in ihrer Freizeit die Schule
besucht um einen Kursus in Polizeitechnik zu haben.
Nach Ende des Kursus haben sie die Prüfung beständen.
Der Polizeidirektor versendet jährlich eine Übersicht über die
für das nächste Schuljahr festgestellten Kurse. Die Polizeimeister
entscheiden selbst nach vorhergehender Verhandlung mit dem
Schulvorsteher, welche Kurse dem einzelnen Schutzmann am
Die Zentral-Polizeischule in Dänemark
131
besten angemessen sind und ersuchen dann um die Aufnahme in
die Schule. Die Schule wird den Ersuchen immer Folge leisten.
Im September wird ein besonderer Kursus fürPolizeibevollmäch-
tigte gehalten. Die Fächer sind folgende: a) Kriminalprozeß, b) Unter¬
suchungstechnik, c) Erforschung des Verbrechers, d) Spurenbehand¬
lung, e) Signalementslehre, f) Fernidentifizierung, g) Dechiffrierung
von Codesignalemeiits, h) Behandlungvon Spezial- u. Kartenregistern.
Am Ende des Kursus wird eine Prüfung in Signalementslehre
abgelegt. Um die Prüfung bestehen zu können, wird gefordert,
daß der Polizeibevollmächtigte auf Grund eines geschriebenen
Signalements nach dem System Bertillon unter 50 Photographien
die richtige hervorziehen kann. In „Femidentifizierung* müssen
sämtliche Schüler auf Grund eines Fingerabdruckes diejenigen
Personen identifizieren können, deren Signalements in die vom
Schulvorsteher mit Staatsunterstützung herausgegebenen Fern¬
identifizierungsregister (in denen sich vorläufig etwa 7000 Signale¬
ments befinden) aufgenommen sind. Als Zensoren in diesen
Fächern fungieren teils Praktiker teils Wissenschaftler, welche die
an der vom Schulvorsteher errichteten Versuchsstation für Fern¬
identifizierung seit mehreren Jahren unternommenen Versuche,
die sich jetzt ihrem Abschluß nähern, verfolgt haben.
Bei der Beurteilung der Schüler werden nachstehende Cha¬
raktere: ug (ausgezeichnet), mg (sehr gut), g (gut), tg (ziemlich
gut), mdl (mäßig), siet (schlecht) verwendet.
51 Polizeibevollmächtigte haben schon die Prüfung bestanden.
Im Anschluß an die vom Justizministerium für Polizeimeister
und ältere Bevollmächtigte usw. bei der Universität veranstalteten
Kurse über den neuen Strafprozeß — welcher im Oktober 1919
eingeführt werden soll — sind in den vergangenen Jahren und
in diesem Jahr auf der Schule Vorlesungen über Verbrechens¬
erforschung und praktische Übungen in Identifizierung und Spuren¬
behandlung gehalten worden.
100 von diesen Oberbeamten haben schon diesen Kursus
mitgemacht.
Schließlich wird bemerkt, daß im Auftrag des Justizministeriums
ein Plan einer bedeutend erweiterten Polizeischule entworfen
worden ist. Diese Schule soll außer den schon erwähnten Kursen ,
noch Kurse für Kriminalbeamte, künftige Polizeimeister und even¬
tuell eine Chargenschule für die untergeordneten Klassen umfassen.
Dieser Plan ist jetzt einer Kommission für die künftige Organi¬
sation und Ausbildung der Polizei überwiesen.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für
die Rechtspflege
und deren Berücksichtigung in dem Strafrecht und bei der
Strafvollstreckung.
Von
Dr. med. Fr. Jos. Widmann, Abteilungsarzt der Provinzial-Heilanstalt Warstein
kreisärztlich approbiert, z. Zt. Münster i. W.
(Fortsetzung.)
Der Abs. 2 des § 63 macht verschiedene Abänderungen
wünschenswert. Wollenberg verwirft zunächst die Unklarheit
der Fassung, die augenscheinlich werde, sobald man anstatt „der
vorbezeichneten Zustände“ (Abs. 2) die Zustände selbst (Abs. 1)
setze, woraus übrigens auch das Störende der bereits bemängelten
zu engen Anlehnung der beiden Absätze aneinander ersichtlich
ist. Ferner ist es nicht zulässig, diese Zustände (im Abs. 2) nur
dem Grade und nicht dem Wesen nach zu unterscheiden oder
gar anzunehmen, daß den Zuständen einer verminderten Zurech¬
nungsfähigkeit mit der Zeit ein solcher der Unzurechnungsfähig-
heit folgen müsse. Gerade für unsere Psychopathen wäre nichts
irriger als diese Folgerung. Überhaupt erweckt die Fassung des
Entwurfes mehr den Eindruck, als handele es sich um Zustände,
die der Unzurechnungsfähigkeit näher stehen, woraus, wieMoeli
scharfsinnig bemerkt, eine Verschiebung nach der „verminderten
Unzurechnungsfähigkeit“ entstünde. Es soll sich aber, wie sich
ebenfalls Moeli sehr klar ausspricht, bei den vermindert Zurech-
rechnungsfähigen um „Zurechnungsfähige trotz psychischer Mängel“
handeln, d. h. die in Frage kommenden psychischen Mängel
schließen die Zurechnungsfähigkeit in keiner Weise aus. Nur
von diesem Gesichtspunkte aus hat der Paragraph einen Zweck
für all die verschiedenen diesbezüglichen Grenzfälle, die sich in
großer Zahl aus den Psychopathen und unter ihnen den be¬
sonders degenerierten Affektmenschen rekrutieren. A. Leppmann
spricht nun allgemein von einem krankhaften Zustande, unter
welchen Begriff auch die milderen Störungen der Geistestätig-
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 133
keit gefaßt werden könnten, Wollenberg bevorzugt „krankhafte
Störung der Geistestätigkeit“, um den feineren Unterschied
zwischen Krankheit und krankhafter Störung zu präzisieren,
und empfiehlt auch, m. E. mit Recht, an Stelle des „in hohem
Grade“ vermindert, die dem Bilde und Grade der Störung näher¬
kommenden Epitheta „erheblich“ oder „wesentlich“. Von den
einzelnen, in wesentlichen Punkten nicht verschiedenen Ab¬
änderungsvorschlägen wird m. E. die von Aschaffenburg
(Lit. 64, S. 34) gegebene Formulierung allen Wünschen einer mög¬
lichst absoluten Klarheit am meisten gerecht. Die Modifikation lautet:
„War die Fähigkeit, das Unrecht einzusehen oder dieser Einsicht
gemäß zu handeln, durch einen Zustand geistiger Störung, Geistes¬
schwäche oder Bewußtseinstrübung nur erheblich beeinträchtigt, so wird
die Strafe gemildert, oder es kann in geeigneten Fällen auch ganz
davon abgesehen werden.“
Zunächst hat diese Fassung vor der Kahl-Leppmannschen
insofern einen Vorzug, als sie die Beeinträchtigung nicht bloß auf
„dauernde krankhafte geistige Eigentümlichkeiten“ beschränkt,
sondern auch die Anerkennung derartiger vorübergehender
geistiger Störungen ermöglicht. Mit dieser klaren Abstufung ist
der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit umgrenzt,
gleichzeitig aber auch die Ablehnung bezüglich des weiteren
Passus des Abs. 2 ausgesprochen. Die geistig Minderwertigen
nach den Vorschriften des § 76 zu bestrafen, kann nicht nur nicht
* die Billigung der Psychiater finden, sondern hat auch auf juristi¬
scher Seite Bedenken erregt, zumal nicht einmal sämtliche Straf¬
taten eine Bestrafung wegen Versuchs zulassen. Eine Bestrafung
geistig Minderwertiger danach muß daher um so mehr befremden.
Außer Reich und Longard wünschen auch Bleuler, Schultze
und andere Autoren, überhaupt keine Bestrafung, sondern nur
Verwahrung für vermindert Zurechnungsfähige. Es läßt sich nicht
bestreiten, daß bei einer Anzahl solcher Kranken Strafen etwa in
Verbindung mit bedingter Verurteilung nutzbringend sein können.
Im allgemeinen dürfte eine kurze Strafe, wie Aschaffenburg
ausführt, in Anbetracht der nach ihrer Verbüßung einsetzenden
länger dauernden Sicherheitsmaßnahmen (§ 65 Abs. 2) ziemlich
wirkungslos verlaufen. Aschaffenburg empfiehlt daher, sich am
besten auf den Standpunkt derer zu stellen, die je nach der
Individualität des Täters eine Strafe oder Sicherheits¬
maßregeln oder die Kombination beider für erforder¬
lich halten. M. E. ist die Betonung dieses Standpunktes, den
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 10
I
134 Dr. med. Fr. Jos. Widmann
auch Wollenberg durch die Forderung unterstreicht, die Milde¬
rung der Strafe nicht obligatorisch zu machen, sondern rein indi¬
vidualisierend zu entscheiden, von wesentlichster Bedeutung. In
Anbetracht dessen, daß die lex ferenda Strafmilderungen in weitem
Umfange vorsieht und dem Richter in dieser Beziehung weit¬
gehendste Bewegungsfreiheit zugesteht, entschloß sich Aschaffen-
bürg zu der oben zitierten Formulierung.
Die psychopathische Konstitution vieler Häftlinge fordert ge¬
rade hier eine individuelle Berücksichtigung. Ich darf an das bei
Besprechung der Haftpsychosen Gesagte erinnern. Wenn es auch
durchaus nicht im Wesen degenerativer Charakterzüge liegt, daß sie
unter allen Umständen die Haft erschweren oder aufheben, so
wenig, wie es ohne weiteres zur psychopathischen Konstitution
zu gehören braucht, sich unsozial oder kriminell zu betätigen, so
läßt sich jedoch keineswegs verkennen, daß das psychopathisch
veranlagte Individuum leichter, namentlich unter Einwirkung der
nun auf ihn einwirkenden Momente, zu psychotischer Bildung
disponiert ist. Die Besonderheiten der Einflüsse, wie sie die
Situation, Vorgänge und Geschehnisse durch die Verhaftung, Ver¬
nehmungen und Konfrontationen, kurz das ganze Strafwesen,
Strafverfahren und der Strafvollzug mit sich bringen, sind es, die
das Gefühlsleben des Psychopathen besonders alterieren und dem¬
nach in der Haft psychotische Wirkungen entfalten. Außer diesen
mit Strafverfahren und Haft zusammenhängenden seelisch er¬
regenden Vorkommnissen können natürlich auch andere mehr'
zufällige in gleichem Sinne wirken. Kurz vor Ausbruch der see¬
lischen Erschütterung beobachtet man oft eine seelische Erregung,
die sich vor allem in Briefen in einer Fassungslosigkeit über die
Höhe des Strafmaßes, das ganze Strafverfahren, auch in Sorge
um die Angehörigen und ferner liegende Dinge äußert. Um¬
gekehrt vermögen analoge Vorkommnisse günstiger Art, wie z. B.
Einstellung des Verfahrens, Freisprechung, Erlaß des Strafrestes,
Entlassung aus der Haft oder auch geglückte Entweichung oder
Überführung in eine Irrenanstalt, kurz jede Befreiung aus dem be¬
sonderen Druck und Zwang der Detention Besserung und Rück¬
bildung der psychischen Störung herbeizuführen. Diese psychisch
ausgelösten, psychogenen Krankheitszustände brauchen nun
nicht immer auf gefühlserregende äußere Vorkommnisse, sondern
können auch auf seelisch erregende innere Momente, gefühls¬
wirksame Vorstellungen, wie Birnbaum ausführt, zurückgeführt
werden. Auch diese hängen erfahrungsgemäß zumeist mit Straf-
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 135
angelegenheiten und Gefängnis zusammen. Vor allem sind es
auch hier die Sorgen und Befürchtungen für die Zukunft, betreffs
der Existenz usw., die sich an die Verurteilung, Strafe und Haft
knüpfen. Scham, Reue und Gewissensbisse über die begangene
Tat kommen in Anbetracht der allgemeinen Eigenart krimineller
Psychopathen kaum in Frage. Es wäre nun naheliegend, der
Entstehungsweise dieser psychogenen Krankheitszustände nach
anzunehmen, wie das früher auch geglaubt wurde, daß gerade
die Affekt- bzw. Leidenschaftsverbrecher, also solche, die ohne
eigentliche kriminelle Absicht und Neigung kriminell entgleisten,
es sind, die in der Haft psychotisch werden. Dem ist nun ebenso¬
wenig so, wie diese Annahme lediglich für die erstmalig Inhaf¬
tierten zuträfe. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt mit hinreichender
Gewißheit, daß es eben die Rückfälligen, die Vielbestraften, die
Gewohnheitsverbrecher vorwiegend sind, die den Hauptteil der
degenerativen Haftpsychosen stellen; und bei diesen schlecht oder
gar nicht anpassungsfähigen Elementen ist es der Wunsch und
Wille geisteskrank zu sein, der die psychische Störung schließlich
auslöst. Durchaus verständlich erwähnt Birnbaum (Lit. 13 S.447)
das für den ersten Augenblick Unglaubhafte und Unwahrschein¬
liche dieser Annahme, um dann aber mit Recht zu unterstreichen,
daß es sich hier nicht um „etwas extra für unsere Zwecke Zurecht¬
gelegtes“, sondern tatsächlich um eine psychogene Geistesstörung
handelt, bei der als wirksame Ursache der Wunsch und Wille,
geisteskrank zu sein, in Betracht kommt. Diese Art der Ent¬
stehung psychogener Erkrankung ist ja auch sonst der Psychiatrie
nicht fremd; es sei nur der Zustände gedacht, wie wir sie bei
degenerativ hysterisch Veranlagten finden, und mit denen die¬
selben ihre Zwecke zu erreichen suchen. Bei diesen Kranken
erwächst aus dem Wunsche krank zu sein zur Erreichung irgend¬
eines Zweckes zunächst nur die Vorstellung körperlicher Störungen,
die sich dann vermöge der krankhaften Selbstbeeinflussung schlie߬
lich in tatsächliche nervöse Funktionsabweichungen umsetzen.
Das ausschlaggebende krankhaft machende Moment ist das Inter-
' esse am Krankwerden und Kranksein. Und das findet sich aber
erst in dem Augenblicke, wenn Strafverfahren und Haft in Aus¬
sicht stehen und läßt alsdann bald die labile Psyche des Psycho¬
pathen ins Psychotische abirren. Außer den vorerwähnten Reiz¬
faktoren darf natürlich nicht vergessen werden, daß die Strafhaft
selbst mit ihren mißlichen Situationen, dem Drucke des Arbeits¬
zwanges, der Disziplinarstrafen, event. auch d$r Einzelhaft und
io*
136
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
deren materiellen Unzulänglichkeiten hinsichtlich Licht, Luft, Be¬
wegung und Ernährung die bei den Degenerativen bereits vor¬
handene Disposition zu psychogener Störung zu erhöhen vermag.
Hierbei spielen allerdings auch der Anfang der Haft und das
Alter der Inhaftierten zwischen 20 und 30 Jahren eine weiter be¬
günstigende Rolle.
Man wird in diesem Zusammenhänge die Frage nach der
Simulation der psychopathischen Kriminellen aufwerfen. Es soll
nicht außer acht gelassen werden, daß bei solchen Kriminellen
ebenso wie bei den normal veranlagten Kriminellen das Milieu
der Absiammung, ihres Vorlebens, die Bekanntschaft mit „geistig
Minderwertigen“, der vorübergehende Aufenthalt in einer Irren¬
anstalt, gelegentlich auch eigene psychotische Zustände, begün¬
stigt durch bestimmte schauspielerische Fähigkeiten, eine gewisse
„Begabung“ zur Vortäuschung psychischer Störungen schaffen,
aber gerade bei ihnen wird man bei aufmerksamer Beobachtung
alsbald das Übertriebene, Gemachte und Gekünstelte vom Tat¬
sächlichen trennen können, wobei das Widerspruchsvolle ihres
ganzen Wesens, Verhaltens und ihrer Äußerungen noch zur Klä
rung mitwirkt. Die für die Simulation charakteristische ziel¬
bewußte Durchführung der Vortäuschung mit ständig darauf ge¬
richteter Aufmerksamkeit und Willensspannung ist kein Charakte¬
ristikum für den labilen psychopathischen Simulanten, bei ihm
handelt es sich eben in der Norm um einen „automatisch ver¬
laufenden pathologischen Prozeß, bei dem die äußere Haltung
nicht mehr lediglich von solchen bewußten Willenseinflüssen ab¬
hängig ist“ (Birnbaum). Bei dieser Erörterung über die Vortäu¬
schung psychischer Krankheit darf man auch nicht die entgegen¬
gesetzte Erscheinung vergessen, die Dissimulation, die Verheim¬
lichung und Ableugnung effektiver geistiger Störung. Gerade die
degenerativ Kriminellen, unter ihnen insbesondere die gewitzteren
Rückfalls- und Gewohnheitsverbrecher, suchen oft eine tatsächlich
bestehende geistige Erkrankung zu verheimlichen, namentlich
wenn eine wichtige Entscheidung vom Bestehen der Krankheit
abhängt, wie z. B. die weitere Festhaltung in der Irrenanstalt.
Wenn man sich die Einwirkungen der Haft auf das psycho¬
pathisch veranlagte Individuum vor Augen hält, dann könnte man
die Stellungnahme derjenigen Autoren, die für den als Psycho¬
pathen Erkannten überhaupt eine Strafe ablehnen, für die allein
richtige halten. Immerhin aber halte ich die Ausführung im Sinne
der Aschaffenburgschen Auffassung und Formulierung nicht
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 137
so sehr des Kompromisses als noch mehr der weitgehenderen
Individualisierungsmöglichkeit wegen — als welche schließlich bei
manchen derartigen Individuen auch eine Strafe anzusehen ist —
für den richtigeren und annehmbaren Weg. Vielleicht aber er¬
öffnet sich den Juristen auch noch ein anderer Weg als der der
Bestrafung nach dem Versuch, den zu finden Aschaffenburg ihnen
jedoch überläßt.
Mit Recht warnt derselbe Autor auch vor Anwendung des
§ 18 des V.E. (Strafverschärfungen bei Taten von besonderer Roh¬
heit, Bosheit oder Verworfenheit oder wenn in Anbetracht der
Vorbestrafungen eine unzureichende Wirkung des Strafvollzugs
anzunehmen ist) bei vermindert Zurechnungsfähigen. Beide Cha¬
rakterisierungen, namentlich die letztere, trifft auf dieselben vielfach
zu; demgemäß wäre die Anwendung derartiger „Strafschärfungen“,
wie beispielsweise durch geminderte Kost, harte Lagerstätte, bei
den vermindert Zurechnungsfähigen unangebracht. Es wäre viel¬
leicht opportuner, die vermindert Zurechnungsfähigen ausdrücklich
von den Verschärfungen der Strafe auszuschließen. In den Er¬
läuterungen zum § 18 ist nur kurz auf den Gesundheitszustand
der betreffenden Personen eingegangen, jedoch verlangt der Abs. 3
des Paragraphen das Gutachten des Anstaltsarztes über den Ge¬
sundheitszustand, und hier wäre es durchaus am Platze, neben
dem körperlichen Zustande, der z. B. bei schwangeren und
nährenden Frauen den Vollzug der Schärfung verbietet, den von
ihm abhängigen geistigen Zustand des Sträflings zu berück¬
sichtigen. Auch für die Jugendlichen wird die Schärfung aus¬
geschlossen, damit, wie in den Erläuterungen ausgeführt wird,
der neben der Strafbehandlung zu wahrende erziehliche Charakter
nicht beeinträchtigt werden soll. Cramer fordert daher zu Recht,
daß in den Fällen, wo durch die Schärfungen die Ent¬
wicklung eines ausgeprägten Grenzzustandes zu er¬
warten ist, der Gefängnisarzt sich gegen diese Schär¬
fungen auszusprechen hat. Daß dagegen bei Grenzzu¬
ständen, bei denen die Verschärfung erziehlichen Wert
verspricht, indem sie die Anerziehung von Hemmungen
erwarten läßt, die Strafschärfung anzuwenden ist.
In analoger Weise muß der Psychopath wie jeder Grenzfall
bei Anwendung der Einzelhaft (§ 22 des V.E.) Berücksichtigung
finden, was übrigens im Wortlaut dieses Paragraphen im gewissen
Sinne vorgesehen ist. Die Bestimmungen berücksichtigen die
Verschiedenheit der Wirkung: „Die Einzelhaft ist zur Individuali-
138
Dr. meü. Fr. Jos. Widmann
sierung der Gesamtwirkungen des Strafvollzugs da, nicht zur
Peinigung der Gefangenen“ (bei Moeli, Lit. 64, S. 12).
Bei der lex ferenda — es sei mir diese Abschweifung ge¬
stattet — ist die Dreiteilung der strafbaren Handlungen in Ver¬
brechen, Vergehen und Übertretungen, die man vielfach an-
gefochten hat, beibehalten worden. Ebenso sind die Strafsysteme
bestehen geblieben. Der Entwurf sieht Zuchthaus-, Gefängnis-
und Haftstrafen vor. Eine Möglichkeit, diese Strafen auf un¬
bestimmte Zeit zu verhängen, und ihre Dauer allgemein vom
Zustand des Delinquenten abhängig zu machen, ist nicht vor¬
gesehen. Neben der Vorbeugung soll eben auch noch die Ver¬
geltung zum Ausdruck kommen. Allerdings bringen die bedingte
Verurteilung und die Abkürzung der verfügten Strafe nicht un¬
erhebliche Neuerungen, die den ganzen Strafrahmen elastischer
gestalten und so eine größere Individualisierung ermöglichen,
so daß den verhängten Freiheitsstrafen im allgemeinen der Vor¬
wurf der Unwirksamkeit oder gar Schädlichkeit nicht mehr ge¬
macht werden kann. An den §§38—41 der bedingten Verurtei-
teilung, bzw. „bedingten Strafaussetzung“ möchte ich nicht wortlos
vorübergehen. Wenn ihre Vergünstigung auch hauptsächlich für
Jugendliche gedacht ist, so kann sie jedoch auch, wie das Gesetz
ausdrücklich sagt, Erwachsenen gewährt werden, und es ist vom
ärztlichen Standpunkt höchstens zu bedauern, daß die bedingte
Strafaussetzung nur bei einer Verurteilung bis zu 6 Monaten
(Gefängnis oder Haft) zur Anwendung gelangen kann. Es läßt
sich nicht leugnen, daß die Strafaussetzung zur Erkenntnis nicht
bloß einer langsam sich entwickelnden geistigen Störung, sondern
auch eines allmählich sich zeigenden Grenzzustandes, der sich
oft lange vor Fixierung der Diagnose durch eine kriminelle Ent¬
gleisung bemerkbar macht, von hohem Wert ist. Natürlich soll
damit nicht beansprucht werden, daß ein später in Erschei¬
nung tretender psychopathischer Zustand bedingte Strafaussetzung
veranlassen soll. Das würde zum Rechtssystem des ganzen Ent¬
wurfs in Widerspruch stehen. Im übrigen ist anzuerkennen, daß
durch die bedingte Strafaussetzung das Vergeltungsprinzip hier
durchbrochen ist und das Prinzip die Oberhand gewonnen hat,
das sich mehr der Natur des Rechtsbrechers als dem, was er
getan hat, züwendet, womit der Gesetzentwurf sich auf den
naturwissenschaftlichen Standpunkt stellt, „daß einem Menschen
durch die drohende Strafvollstreckung Hemmungen anerzogen
werden können“ (Cramer).
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 139
Moeli (Lit. 64, S. 10) hebt bei klarer Scheidung der Vor-
und Nachteile der bedingten Strafaussetzung unter den Vorzügen
heraus die erziehliche Wirkung an Stelle nutzloser oder schäd¬
licher kurzer Freiheitsstrafe, zuverlässigeres Urteil über die er¬
reichte Besserung, Wegfall der Nachteile für die Zukunft des
Verurteilten und für seine Umgebung, große Elastizität in der
Verwendung. Somit wäre eine Art der Behandlung der Neulinge
auf dem Gebiete des Verbrechens gegeben. Und gerade auf jene
leicht psychopathisch veranlagten Individuen, die eine von Haus
vorhandene leichtere Bestimmbarkeit, ein Fehlen von Hemmungen,
wie sie der ganz Gesunde besitzt, in die Erstlingsscbuhe des
Rechtsbrechers gleiten ließ, gerade auf die wird nicht selten die
erste Verwicklung mit einem Strafprozeßverfahren nicht ohne
nachhaltigen Eindruck bleiben. Und manch einer von ihnen dürfte,
wenn er erst die ganze Stufenleiter vom Beginne eines Strafpro¬
zesses bis zur Strafaussetzung durchkostet hat, mit so nachhaltigen
Hemmungen geläutert daraus hervorgehen, daß er, wie Cramer
sehr richtig betont, nie wieder rückfällig wird.
Der nämliche Autor fordert mit Recht in diesem Zusammen¬
hänge, ohne die ausgesprochen unter den § 63 Abs. 2 fallenden
plötzlichen Affekthandlungen der Grenzzustände außer acht zu
lassen, für weniger ausgesprochene Fälle, daß eine bedingte
Strafaussetzung bei erstmalig Verurteilten möglichst ohne Berück¬
sichtigung der Höhe der Strafe und unter möglichst genauer Be¬
rücksichtigung der Natur des Rechtsbrechers erfolge, was am
besten dadurch erreicht werden dürfte, wenn die Dauer der
Strafe entweder gar nicht oder wenigstens nicht so niedrig be¬
grenzt würde. Moeli vertritt die Ansicht, daß die Strafaussetzung
für einzelne Fälle, in denen leichte Vergehen erst die Auf¬
merksamkeit auf psychische Minderwertigkeit lenken, die mehr
aus Mangel an Überlegung wirkt, am Platze wäre. In solchen
Fällen mag gegebenenfalls auch der § 83 einen Ausweg schaffen.
Auch Wollenberg fordert für die vermindert Zurechnungs¬
fähigen eine möglichst ausgedehnte Anwendung der bedingten
Strafaussetzung, vertritt im übrigen aber den vom V.E. ab¬
weichenden Standpunkt, daß bei ihnen eine obligatorische Straf¬
milderung nicht erfolgen solle. Ich möchte diesem Modus der
ausgedehnten Benutzung der §§ 38—41 in praxi für einen im
allgemeinen nicht unersprießlichen halten. Man umgeht auf diese
Weise die Strafmilderung. Immerhin möchte ich es auch hier für
dringend geraten halten, ganz individuell zu verfahren.
140
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
Erwähnt sei, daß Österreich (nur für Jugendliche) und die
Schweiz bei der Strafaussetzung Schutzaufsicht einrichten, was der
V.E. mit Rücksicht auf die Schwierigkeit einer wirksamen Organi¬
sation und auf die Lage des Verurteilten selbst ablehnt. Für
unser neues Gesetz bliebe jedenfalls zu wünschen, da nun einmal
die Strafe für geistig Minderwertige prinzipiell beibehalten worden
ist, und die Psychiater sie einerseits nicht ad extremum abzu¬
lehnen brauchen, anderseits aber auch in Anbetracht des Kom¬
promisses der beiden sich am schärfsten gegenüberstehenden
strafrechtlichen Richtungen sich damit abfinden müssen, daß die
bedingte Strafaussetzung für einen als Grenzzustand erkannten und
begutachteten Fall in ausgedehntem Umfange zur Anwendung
komme, wozu die Anregungen Cramers in seinen Bemerkungen
zum V.E. die nötige Handhabe bieten.
Was sieht das neue Gesetz nun vor bei den nach § 63 Abs. 2
Verurteilten und Bestraften? Darauf gibt der Abs. 3 desselben
Paragraphen die Antwort. Dieser letzte Absatz des § 63 muß ent¬
schieden alsein wesentlicher Fortschritt anerkannt werden. Er
drückt aus, daß die Freiheitsstrafen an den nach Abs. 2 Verurteilten
unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes, soweit dieser es
erfordert, in besonderen, für sie ausschließlich bestimmten
Anstalten oder Abteilungen zu vollstrecken sind. Damit
ist zweifelsfrei das von verschiedensten Seiten angestrebte Ziel der
Möglichkeit einer strafrechtlichen Behandlung der Grenzzustände
in gewissem Sinne erreicht. Die ganze Verwahrung in An¬
stalten stellt an sich schon ein erfreuliches Novum in der Straf¬
gesetzgebung dar und wird im §65 geregelt. — Cr am er inter¬
pretiert aus dem Abs. 2 des § 63, wonach die Verwahrung erst
nach verbüßter Strafe zu erfolgen hat, daß der Entwurf den durch¬
aus richtigen Standpunkt vertrete, daß die öffentlichen Heil- und Pflege¬
anstalten mit dem Strafvollzüge nichts zu tun haben. Das wird von
Cramer in seinen Bemerkungen zum Entwurf mit vollem Rechte
hervorgehoben. Denn der Charakter unserer Heil- und Pflegeanstalten
als Krankenanstalten, die ausschließlich der Behandlung und Pflege
geisteskranker Personen dienen, muß unbedingt gewahrt werden.
Dienten sie auch der Strafvollstreckung, so büßten sie vollständig
ihre Eigenschaft als Krankenanstalten ein, und die berechtigten
Insassen, die weitaus die Mehrzahl bilden und in keine Konflikte
mit der Strafgesetzgebung geraten sind, würden schwer geschädigt
werden. Die Anstalten wären außerstande, ihre Aufgaben wie
bisher durchzuführen.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 141
%
Zu diesem Ergebnis wird ein jeder Psychiater kommen, der
an Irrenanstalten tätig gewesen ist, wo neben den Geisteskranken
auch verschiedengradig schwachsinnige Kriminelle (Fürsorgezög¬
linge) Aufnahme gefunden haben. Die aufrührerischen, unzu¬
friedenen und Unzufriedenheit säenden Elemente sind neben den
Debilen und leicht Imbezillen vorwiegend die Fälle, die wir mit
Ziehen am treffendsten als die mit ..erblich degenerativer psycho¬
pathischer Konstitution“ Behafteten bezeichnen, eben die geistig
Minderwertigen. Mit Vorliebe ergreifen sie die Gelegenheit,
irgendwelche krankhafte Eigenschaften der anderen auszunutzen
und dieselben entweder direkt oder noch lieber indirekt für ihre
Zwecke zu mißbrauchen. Aber nicht bloß durch diese mittelbare
und unmittelbare Ausnutzung der psychischen Defekte dieser
Kranken üben sie einen unheilvollen Einfluß aus, sondern überhaupt
durch all die verschiedenen psychopathischen Züge, die als Anomalie
zu erkennen den meisten der sie umgebenden, in ihrem Urteils¬
vermögen mehr oder weniger geschwächten Kranken selbstredend
abgeht.
Ebenfalls geht es nicht an, auf einer bestimmten Abteilung
an Heilanstalten die kriminell entarteten Psychopathen zusammen¬
zulegen; es müßte dann schon in dem Sinne der Einrichtung
eines festen Bewahrhauses als Annex an einer Heilanstalt der
Ausweg gefunden werden, wie es z. B. hier in Westfalen die
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn besitzt. Aber gerade
hier sind es, wie He'rmkes in einem Vortrage auf der 8. Tagung
der Deutschen Gesellschaft für gerichtl. Medizin (Münster i.W. 1912)
hervorhebt, auch die Psychopathen, die unter den Geisteskranken und
Geistesschwachen mit kriminellen Neigungen die größten Schwierig¬
keiten bei der Behandlung bieten, indem sie „durch Querulieren,
brutale Gewalttätigkeiten, Entweichungssucht, besonders aber auch
durch ungünstige Beeinflussung der übrigen Kranken den ge¬
ordneten Betrieb des Bewahrhauses empfindlich stören“.
Umgekehrt ist zu bedenken, daß mancher kriminelle Psycho¬
path durch die geisteskranke Umgebung nachteilig beeinflußt
wird; er sieht sich manches ab, was ihm bei einem späteren
Strafverfahren zur Erreichung milderer Beurteilung vorteilhaft
dünkt anzuweriden; ferner ist es bei der nun einmal vorhandenen
Disposition zu psychogener Erkrankung keineswegs auszu¬
schließen, daß der Aufenthalt unter Geisteskranken schließlich
noch eher zu einer psychotischen Erkrankung führen kann, als
in der Haft oder im Gefängnis. Der reine Psychopath und auch
142
Du. med. Fr. Jos. Widmann
schließlich noch der Psychopath mit debilem Einschlag gehören
eben weder unter normale Rechtsbrecher noch geistesgestörte
Delinquenten, noch unter Geisteskranke oder Geistesschwache
überhaupt. Die geistige Verfassung des Psychopathen ist eine
solche, daß er seine Verkehrtheiten wohl zu erkennen vermag;
bei allem Wohlwollen ärztlicherseits gegen ihn und allen Ver¬
suchen milder Behandlung wird man zeitweilig nicht ohne straffe
Disziplin, konsequente, zielbewußte Strenge, bei peinlicher Ver¬
meidung jeglicher Willkür auskommen können. Im Rahmen
einer Irrenanstalt ist dies jedoch nur schwer zu ermöglichen, ganz
abgesehen davon, daß die Irrenanstalten eben Krankenanstalten
sind und es bleiben müssen und nicht zu Anstalten zur Fort¬
setzung des „Sühneprinzips“ modifiziert werden dürfen. Stellen
sich bei Strafgefangenen auf dem Boden der psychopathischen
Konstitution schwerere geistige Störungen ein, so sind sie ebenso
wie körperlich Kranke im Lazarett baldmöglichst in organisch zur
Strafanstalt gehörige Irrenabteilungen unterzubringen. Erst wenn
nach Strafverbüßung einzig und allein das geistige Befinden des
Rechtsbrechers es noch erheischt, ist die Unterbringung in einer
Irrenanstalt gerechtfertigt; keinenfalls darf aber für die Unter¬
bringung in einer Irrenanstalt die Rücksichtnahme auf die von
dem Delinquenten bedrohte Gesellschaft maßgebend sein. Auch
dann, wenn der Geisteszustand eines derartigen Strafgefangenen eine
Veränderung in Jahren nicht erwarten läßt oder gar nach mensch¬
lichem Ermessen als unheilbar zu erkennen ist, wird gegen
die Überführung in eine Irrenanstalt nichts einzuwenden sein.
Jedoch sollte der Strafvollzug sodann nicht bloß unterbrochen,
sondern endgültig abgebrochen werden, da wir es ja nun mit
einem in wirkliche geistige Störung Verfallenen zu tun haben.
Von diesem Gesichtspunkte geleitet, sind in Preußen im
Laufe der Jahre 7 Irrenbeobachtungsabteilungen als An¬
nexe an Straf- und Gefangenenanstalten geschaffen worden, und
zwar an den Gefängnissen zu Breslau, Düsseldorf-Derendorf,
Moabit, Halle, Graudenz, der Strafanstalt zu Münster i. W. und
dem Gefängnisse und der Strafanstalt zu Cassel-Wehlheiden. In
diesen wird namentlich bei Zuchthausgefangenen und langstrafigen
Gefängnisgefangenen durch eine Beobachtung bis zu 6 Monaten
die Geistesstörung unter Heilversuchen bei entsprechenden Fällen
endgültig festgelegt. Diese Beobachtungszeit dürfte m. E. unter
Umständen allgemein und speziell für geistig erkrankte Psycho¬
pathen zu kurz bemessen sein.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 143
Was soll nun mit den reinen Psychopathen geschehen? Für
sie kommen die für,die geistig Minderwertigen seitens der Psy¬
chiater mit vollem Rechte geforderten Zwischenanstalten in
Betracht, die weder Gefängnisse noch Irrenanstalten sein dürfen
und in ihrem weiteren Ausbau ein außerordentlich wichtiges Zu¬
kunftsproblem für den Staat bedeuten. Der § 65 der lex ferenda,
der die Verwahrung auch des nach § 63 Abs. 2 Verurteilten in
einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt anordnet, „wenn es die
öffentliche Sicherheit erfordert“, kann in dieser Fassung nicht die
Billigung der Psychiater finden. Die Irrenanstalten zu Instituten
zu stempeln, denen die Bewahrung lediglich antisozialer, die
öffentliche Sicherheit gefährdender Elemente zufällt, geht aus den
oben ausführlicher entwickelten Gründen nicht an; für die Auf¬
nahme in die Irrenanstalt entscheidet das eigene Interesse des
Kranken in erster Linie.
In dem Sicherungsverfahren streiten, wie E. Schultze
(Lit. 64, S. 73) bemerkt, miteinander die Interessen der Allgemein¬
heit, die vor den Rechtsbrüchen eines nicht ganz verantwortlichen
Individuums geschützt werden muß, und das Interesse des
einzelnen, der sich keine größere Beschränkung seiner persön¬
lichen Freiheit bieten zu lassen braucht, als das Wohl der Ge¬
sellschaft und seine etwaige Heilung oder Besserung erheischen.
Schultze tritt für die Verwahrung in doppeltem Sinne ein, zum
eignen und zum Schutze der Gesellschaft, und hat nicht unrecht,
wenn er meint, der Zweck des Verfahrens sei der gleiche: die
Allgemeinheit vor dem psychisch abnormen Delinquenten zu
schützen und dem letzteren selbst aber auch das Recht auf
Schutz seiner persönlichen Freiheit zu wahren.
Während es früher dem Ermessen der Landespolizei über¬
lassen war, über die sichere Unterbringung der ihr seitens des
Gerichtes als gemeingefährlich übergebenen Geistesgestörten zu
entscheiden und hier bei der Ausführung des richterlichen Ent¬
scheids allerhand, namentlich finanzielle Rücksichtnahmen eine
nicht unbedenkliche Rolle spielten, trifft jetzt erfreulicherweise
der Richter die Anordnung auf Verwahrung, und die Landes¬
polizeibehörde muß ihr Folge leisten. Natürlich hat diese treff¬
liche Neuerung nur dann praktischen Nutzen, wenn ihr auf dem
Fuße der richterlichen Anordnung stattgegeben wird. Und hier
fordert Schultze sehr richtig seitens des Staates Vorkehrungen,
daß der verwahrungsbedürftige Anomale ohne Verzug am ge¬
eigneten Orte untergebracht werden kann.
144
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
Die geistig Minderwertigen, für die das Gesetz nun gleich
den Unzurechnungsfähigen Verwahrung in einer Heil- und Pflege¬
anstalt vorsieht, würden, ganz abgesehen daß sie aus den oben
erörterten Gründen nicht in eine Irrenanstalt gehören, nun auch
noch die an sich schon überfüllten Heil- und Pflegeanstalten
füllen. Auch von diesem. Gesichtspunkte gewinnt die Forderung
zur Schaffung eigner Anstalten oder Abteilungen Berechtigung.
Mit diesen Sonderabteilungen, zu deren eifrigen Vorkämpfern
besonders A. Leppmann gehört, ist bereits der Anfang gemacht,
und zwar ein Anfang mit Gutes versprechenden Erfolgen. Der
genannte Autor denkt sich diese Sonderabteilungen als Annexe
von Str^f- und Gefangenenanstalten entweder in besonderen Bau¬
lichkeiten oder wenigstens in besonderen Flügeln und empfiehlt
die Bevorzugung der Anstalten, die den Detinierten Gelegenheit
zur Garten- und Feldarbeit geben. Die weitere Forderung, dem
Arzte über diese Abteilungen die alleinige Oberaufsicht zu über¬
tragen, ihn neben der Verwaltung auch die Verantwortung für
die Sicherungsmaßregeln übernehmen zu lassen, ist die natür¬
liche; zum mindesten muß dem Arzte ein weitgehender beratender
Einfluß in diesen Abteilungen auf die Gestaltung des Strafvoll¬
vollzugs, namentlich auf die disziplinäre Behandlung, gesichert
sein. Auf diese Weise wird das Prinzip der Individualisie¬
rung im Strafvollzug, als deren Hauptvertreter sichKrohne 1 )
durch persönliches tatkräftiges Eingreifen und in seinem Haupt¬
werke über Gefängniskunde hervorragende Verdienste erworben
hat, praktisch wohl am besten zur Geltung gelangen. Krohnes
Anregung ist es zu danken, daß zunächst das Lazarett jier Straf¬
anstalt zu Brandenburg zu einer Minderwertigen-Abteilung um¬
gebaut wurde und neuerdings sind auch in der Strafanstalt zu
Rheinbach eine Abteilung von 80 Plätzen sowie eine Sonder¬
abteilung in Insterburg für geistig Minderwertige eingerichtet
worden. Wenn Wilmanns 2 ) in seiner Besprechung über die
verminderte Zurechnungsfähigkeit die individualisierende Behand¬
lung als ein beliebtes Schlagwort des Strafvollzugsbeamten kenn¬
zeichnen möchte, so muß ich doch mitTöbben 3 ) diese Behauptung
Wilmann’s als sicher zu weitgehend erachten, und kann dieselbe
J ) K roh ne, Lehrb. der Qefängniskunde. Enke, Stuttgart 1889.
-) Wilmanns, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 71. Bd., 4. u. 5. Heft.
y ) Többen, Über die individualisierende Behandlung der vermindert Zu*
rechnungsfähigen im Strafvollzug. Sonderabdruck der Zeitschrift für Medizinai-
beamte, 1915, Heft 6, Fischer-Kornfeld, Berlin.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 145
kaum die Zustimmung- der Psychiater im allgemeinen und der
Strafanstalts- und Gefängnisärzte im besonderen finden. Die Be¬
tätigung für die einzelnen Strafvollzugsbeamten ist in dieser Hin¬
sicht deutlich in dem oben angegebenen Lehrbuche Krohnes
(§81) ausgesprochen und vor allem auch in dem §73 der Dienst¬
ordnung für die dem Ministerium des Innern unterstellten Straf¬
anstalten und größeren Gefängnisse vom 14. Nov. 1902 (Berlin,
Druckerei der Strafanstaltsverwaltung).
Es liegt auf der Hand, daß dem Arzte, und zwar dem psy¬
chiatrisch vorgebildeten Arzte bezüglich der geistig affizierten
Inhaftierten ein spezifisches Arbeitsfeld sich bietet, auf dem die
Pädagogen und Geistlichen gleichfalls nicht ausgeschlossen sein
sollen. Im Rahmen der bestehenden Verwaltungsbestimmungen
vermag ein individualisierender Strafanstaltsarzt für seine geistig
Minderwertigen viel zu tun. Er kann die Minderung ihrer
Arbeitsleistungen und ihrer Disziplin bewirken, er kann ihnen die
im Umfange des Strafvollzugs zustehenden Erleichterungen in er¬
höhtem Maße zukommen lassen. Ein Erlaß des preußischen
Ministers des Innern vom 16. Juni 1908 kommt der Eigenart der
psychopathischen Individuen insofern entgegen, als er bestimmt,
daß den Eingaben an die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und
die Aufsichtsbehörden von derartigen Gefangenen, die in Irren¬
anstalten bzw. in Irrenabteilungen der Strafanstalten untergebracht
sind und dort zwar als strafvollzugsfähig, jedoch geistig defekt
erkannt und in den Strafvollzug zurückgebracht worden sind,
oder von solchen Gefangenen, die vom Arzte als geistig minder¬
wertig bezeichnet worden sind, eine kurze Äußerung des Anstalts¬
arztes über den Geisteszustand des Kranken beizufügen ist. Bei
den wöchentlich mehrmals stattfindenden Konferenzen des Be¬
amtenkörpers der Strafanstalt sowie auch gelegentlich der Be¬
suche des Regierungsreferenten ist es nach Többen dem Arzte
wohl möglich, auf die dem Gefangenen dienliche ärztliche Be¬
handlung, Beschäftigung, Unterricht und Ernährung hinzuweisen.
Pollitz 1 ) und F. Leppmann 2 ), die beiden bekannten Autoren
gerade auf diesem Gebiete, geben in dieser Beziehung mancherlei
Anhaltspunkte und Anregungen. Bei Verhängung einer schw*eren
Disziplinarstrafe wird der Arzt, der ja die verhängten Strafen
unterzeichnen muß, die Schärfe der Strafe mildern oder selbst
') Pollitz, Strafe und Verbrechen. Teubner, Leipzig 1910.
-) F. Leppmann, Der Gefängnisarzt. Richard Schoetz, Berlin 1909.
146
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
eine Unterbrechung derselben, z. B. bei beginnender Psychose,
bewirken können. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß hier
gar nicht selten besondere Schwierigkeiten dadurch entstehen,
daß die ersten dem Laien noch völlig unsichtbaren Anfänge einer
Psychose mit Unbotmäßigkeiten und darum gebotenen Diszipli¬
nierungen zusammenfallen, und hier stellen ja bekanntlich die
Psychopathen, deren geistige Minderwertigkeit sie leichter denn
geistig Vollwertige zu Situationspsychosen prädisponiert, einen
Hauptanteil. Und es ist sicher, daß manche derartige aus der Situation
herausgeborene Psychose durch die Inhibierung einer Strafverschär¬
fung und die intensivere Beschäftigung seitens des Arztes mit dem
Gefangenen im Keime erstickt wird. Daraus folgt, daß die der
Entscheidung des Anstaltsvorstehers unterstehenden Strafmittel
genau festgelegt und vor der Exekution der Begutachtung des
Arztes vorgelegt werden müssen, der sich über den Gesundheits¬
zustand des Delinquenten im allgemeinen und über seine ge¬
mütliche Verfassung dabei genau zu orientieren hat. Hierbei darf
sich, wie F. Leppmann richtig bemerkt, der Arzt in seiner Ent¬
scheidung nur von diesen beiden Gesichtspunkten aus bestimmen
lassen, ob der Sträfling für seine Disziplinarwidrigkeit nicht oder
vermindert zurechnungsfähig ist, und ob die Strafe seiner Gesund¬
heit schädlich sein könnte; nicht aber dürfen irgendwelche Er¬
wägungen, ob das vorzunehmende Zuchtmittel zweckmäßig oder
grausam ist, bestimmend sein. In Preußen hat der Arzt ein Ein¬
spruchsrecht nur bei der schwersten Disziplinär-, der Prügelstrafe.
Finkelnburg und A. Leppmann haben sich bereits 1904 ent¬
schieden für Erweiterung des ärztlichen Einflusses ausgesprochen,
namentlich in weitgehendem beratendem Sinne auf die diszipli¬
näre Behandlung. Gerade die psychisch weniger widerstands¬
fähigen Psychopathen, die durch die Strafhaft an sich schon
stärker getroffen sind, sind es, deren Anpassungsfähigkeit und
Spannkraft es übersteigt, sich in die straffe Disziplin und hoch¬
gradigen Beschränkungen einzuleben. Und darum findet man
unter den vermindert zurechnungsfähigen Stra f gefangenen zahl¬
reiche, die für Disziplinierungen in Frage kommen, bei denen
aber die Auflehnung gegen die Hausordnung häufig das erste
Zeichen einer beginnenden Psychose ist; hier hat der Arzt mit
allem Nachdruck Wert darauf zu legen, daß von der Bestrafung
Abstand genommen und der betreffende Häftling zwecks ge¬
nauerer Beobachtung und anschließender Behandlung der Irren¬
abteilung überwiesen wird.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 147
Den hier naheliegenden Gedanken der gänzlichen Übertra¬
gung des Disziplinarrechts und der Strafmilderung bei Minder¬
wertigen an den Arzt verwirft Staig er 1 ) — m. E. wohlbedacht —,
da dadurch eine bedenkliche Zweiteilung in den Betrieb der An¬
stalt eingreife mit der ständigen Gefahr von allerhand Meinungs¬
verschiedenheiten und Reibungen zwischen Direktion und Arzt.
Diese Bedenken entfallen, wenn der Anstaltsleiter ein Arzt ist,
und dies ist auch einer von den Punkten, die das Bestreben der¬
jenigen Psychiater unterstützen, die sowohl die kriminellen als
auch die noch nicht kriminellen Minderwertigen in besonderen
Anstalten unter besonderer Leitung untergebracht wissen wollen.
A. Leppmann*) verlangt durchaus richtig, daß nicht bloß bei
denjenigen, die ihre Minderwertigkeit durch die zur Verhandlung
oder Untersuchung gelangenden kriminellen Handlungen bekunden,
seitens des Richters die Detention in Anstalten verhängt werden
soll, sondern daß dieselbe auch logischerweise bei denen aus¬
geführt werden müsse, die zwar dieselben antisozialen Eigen¬
schaften zeigen, aber durch irgendwelche Zufälle nicht zur straf¬
rechtlichen Untersuchung oder Aburteilung gelangt sind. A.Lepp*-
mann vertritt nun die Gruppe von Psychiatern, welche die
gemeingefährlichen geistig Mangelhaften in Annexen unserer
Fürsorge, in Arbeits-, Korrektionshäusern, Trinkerheil-, Erziehungs¬
anstalten für Schwachsinnige und in Irrenanstalten internieren
wollen, und läßt „diese Zwischenanstalt zwischen Irrenanstalt und
Gefängnis“ allenfalls für die geistig Minderwertigen gelten.. Wil¬
ma nns») möchte lieber eine Reform aller Strafanstalten herbei¬
führen und glaubt, daß die Beurteilung der verminderten Zurech¬
nungsfähigkeit in praxi Schwierigkeiten bereiten würde, wogegen
mit Recht im Anschluß an Aschaffenburgs Referat auf der
Versammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie 1914 Bon-
hoeffer, Hoche, Kraepelin undMoeli darauf hinwiesen, daß
die Erkenntnis von Schwierigkeiten nicht dazu führen dürfe, an
der Notwendigkeit der Anerkennung der verminderten Zurech¬
nungsfähigkeit zu zweifeln. Im Gegensatz zu Leppmann tre-
’) Staiger, Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener
jetzt und nach dem V.E. zu einem deutschen Strafgesetzbuch Zeitschr. f. Psy¬
chiatrie, Bd. 69.
-) A. L epp mann, Der Schutz gegen Geisteskranke. Offizieller Bericht
über die 9. Hauptversammlung zu Breslau, 12.—13. Sept. 1913. Fischer-Kornfeld,
Berlin, 1913, S. 15.
Wilmanns, Referat. — Psychiatr. Neurol. Wochenschr., 1914, 15, S. 95.
148
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
ten andere Psychiater, wie Dannemann 4 ), Kielhorn und
F. Straßmann 1 ) entschieden unter Betonung der individuellen
Behandlung und langdauernder erzieherischer Internierung auf
unbestimmte sich lediglich nach der Verfassung des Internierten
richtende Zeit für die Schaffung der Zwischenanstalten ein,
die nach Straßmann, bei dem der Besuch der analogen An¬
stalt zu Broadmoor in England besondere Eindrücke hinterlassen
hat, kein Mittelding zwischen Irrenanstalt und Gefängnis, sondern
in ihrer Art Irrenanstalten sein und völlig unter ärztlicher Leitung
stehen sollen.
An dieser Stelle möchte ich, auch aus ökonomischen Gründen,
für Preußen zur Erwägung geben, mit den Landeshauptverwal¬
tungen für die nächste Zeit nach dem Kriege Abkommen dahin
zu treffen, etwa unbenutzte oder unzureichend belegte Provinzial-
Heil- und Pflegeanstalten als derartige Zwischenanstalten unter
irgend einer Form zu übernehmen, da der Krankenbestand der
Irrenanstalten durch lokale Abgänge derart zurückgegangen ist,
daß nicht bloß ganze Abteilungen, sondern auch kurz vor dem
■Kriege erbaute und in ihm vollendete Anstalten leer stehen' Es
ist meines Erachtens nach dem Kriege zunächst weniger mit einer
abnormen Zunahme der Psychosen zu rechnen als vielmehr mit
einer namentlich mit der Verwahrlosung der Jugendlichen zu¬
sammenhängenden erhöhten Psychopathenfrequenz.
Die Zahl der kriminellen Minderwertigen sowie ihre besondere
Disziplinierung und andere Behandlung werden mit der Zeit sicher
zur Lösung der Frage im Sinne eigner Anstalten unter fach-
ärztlicher Ägide führen. Wie die Erkenntnis der psychopathi¬
schen Minderwertigkeit selbstverständlich nur Sache des Arztes
ist, so muß es auch deren Behandlung sein. Es muß bei der
Aufnahme des Delinquenten in die Untersuchungshaft seitens
kreisärztlich geprüfter und psychiatrisch vorgebildeter Gefängnis¬
ärzte, erst recht nach der Internierung in Gefängnis oder Straf¬
anstalt von den zuständigen Fachärzten von vornherein darauf
geachtet werden, ob etwa geistige Minderwertigkeit in irgendeiner
Form vorliegt. An der enormen Verbreitung derselben unter den
Häftlingen ist ja nicht mehr zu zweifeln. Aschaff enburg nennt
allein 75 ®'o Degenerierte unter 200 Sittlichkeitsverbrechern, zu einem
') Dannemann, Die Gemeingefährlichkeit bei Geisteskranken und ihre
Bekämpfung. D. M. W. 1905, 31, S. 546.
2 ) F. Straßmann, Diskussion zu A. Leppmanns Vortrag „Der Schutz gegen
Geisteskranke“ (Lit. 76), S. 25/26.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 149
ähnlichen Ergebnis kommt Le pp mann. Bon ho eff er hat unter
den Bettlern und Vagabunden nur einen kleinen Teil Normaler
gefunden, und Rtidin, Liepmann, Viernstein, Lumpp,
Pollitz, Többen haben unter den Lebenslänglichen eine große
Anzahl von Minderwertigen gezählt. Hieraus ergibt sich gleich¬
zeitig, worauf ich früher schon hingewiesen habe, daß dem geistig
Minderwertigen gewisse Arten von' Übertretungen, Vergehen und
Verbrechen eigen sind, welche die Gemeingefährlichkeit, -Schäd¬
lichkeit und -lästigkeit bedingen, um die von Dannemann und
Göring angewandten Unterscheidungen zu erwähnen.
Der V.E. und der G.E. kennen allerdings den Begriff der
Gemeingefährlichkeit nicht, dessen verschiedenartige Bedeutung
Asch affenburg nicht zu Unrecht „ein buntscheckiges Bild“ nennt,
dessen exakte, kurze Abgrenzung C f anier negiert, was sich auch
mit der Auffassung des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes deckt,
wie die von Moeli mitgeteilte Entscheidung vom 6. Juni 1913besagt:
„Eine Gemeingefährlichkeit ist im allgemeinen dann anzunehmen,
wenn ein öffentliches Interesse an der Unterbringung des Geisteskranken
in eine Anstalt obwaltet. Das Vorliegen einer solchen wird stets dann
anzuerkennen sein, wenn von dem Kranken eine Störung der öffent¬
lichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung oder eine Gefährdung von Rechts¬
gütern anderer Personen zu fürchten ist.“
Unter diese weite Fassung des Begriffs lassen sich dann auch
die nur als gemeinschädlich oder -störend zu bezeichnenden De¬
likte unterbringen. Bei der engeren Fassung des Begriffes würden
nach vanHamel 1 ) die Verbrechen gegen das Leben und die Sittlich¬
keit, Diebstahl und Betrug — also solche, denen man bei geistig
Minderwertigen häufig begegnet — als gemeingefährlich gelten,
während leichtere Körperverletzungen und Eigentumsdelikte nament¬
lich im Wiederholungsfälle als gemeinschädlich, und Leute, wie
die auch aus unseren geistig Minderwertigen vorwiegend sich
rekrutierenden Bettler und Landstreicher, die der Allgemeinheit
ständig lästig fallen, als gemeinlästig oder -störend bezeichnet
werden können. Ob nun ein Individuum zu dieser oder jener
der genannten Gruppe zu rechnen ist, hängt nicht allein von der
Handlung als solcher, sondern auch von der Art und Häufigkeit
der Ausführung ab. Doch es ist hier nicht meine Aufgabe, auf
die weiteren Differenzierungen einzugehen, um so mehr als eine
gesetzliche Operation mit dem Begriffe anscheinend vermieden
*) van Hamei, Diskussion. Mitteilungen d. I.K.V., 1910, 17, S. 449.
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 11
150
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
werden soll. Im übrigen verweise ich dabei auf die anregende
Lektüre des Göringschen Buches über die „Gemeingefährlichkeit“.
Jedenfalls finden wir die geistig Minderwertigen in allen drei
Gruppen wieder. — Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß man¬
che praktische Juristen bei bestimmten Verbrechen wenig Nei¬
gung für die Anerkennung des.etwaigen Vorhandenseins einer
geistigen Minderwertigkeit zu haben scheinen. So sagte mir
kürzlich ein erfahrener Strafrichter, daß er bei Einbruchs¬
diebstählen, die in der Regel ein Maß raffiniertester Über¬
legung bekunden und fast, ausschließlich in der Absicht, sich zu
bereichern, ausgeführt werden, nicht von dem Vorhandensein einer
geistigen Minderwertigkeit zu überzeugen sein werde. Diese Art
des Verbrechens ist allerdings auch mehr den gewerbsmäßigen
Verbrechern eigen. Sommer (Lit. 30) warnt hierbei vor der
Gleichsetzung von Rückfälligkeit mit ausgeprägter krimineller An¬
lage. Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen bleibt es
eben in jedem Falle, stets nur kühlen Herzens und klaren Blickes
zu arbeiten, zu suchen, zu finden und in sachlichster Verwertung
aller Einzelheiten zu begutachten, um selbst vor aller Einseitigkeit
und aller Autosuggestion bewahrt zu bleiben, und so immer mehr
das Vertrauen des Richters, sowie überhaupt der Außenwelt zu
ihm zu festigen.
Die Unterbringung der psychopathisch Minderwertigen in be¬
sonderen Anstalten oder Abteilungen während der Strafverbüßung
und vor allem ihre Separierung in eigenen Anstalten nach Straf-
ablauf bieten die sicherste Gewähr für eine individualisierende
Behandlung und deren Erfolg. Die nach ärztlichen Prinzipien
geleitete und eingerichtete Anstalt soll nach der einen Ansicht,
derer, die für eigne Zentralanstalten sind, ein Mittelding zwischen
Irrenanstalt und Strafanstalt, nach der anderen Meinung ein solches
zwischen Irren- und Arbeitsanstalt sein, wieder andere verlangen,
wie bereits erwähnt, Annexe an Straf-, Irren- oder anderen An¬
stalten. Darüber ist viel geschrieben und gesprochen worden,
beispielsweise von Aschaffenburg und Weber, in denVerhand-
lungen des 27., 28. u. 31. D.J.T., sowie der I.K.V. von 1905 und
1910, endlich auch von van Hamei, Schermers und van der
Torren über die niederländischen Gesetzentwürfe für Psycho¬
pathen. Und wieder sind es vor allem A. Le pp mann 1 ) und der
') A. Leppmann, Der Minderwertige im Strafvollzug. Ein Leitfaden für
die Gefängnispraxis. Richard Schoetz, Berlin 1912.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 151
verstorbene Reformator des Gefängniswesens, Karl Kro hne'm
deren großen Erfahrungen wir hinsichtlich der Erkennung, Unter¬
bringung und Behandlung der geistig Minderwertigen mannig¬
fache Anregungen danken. Der Versuch ihrer Separierung in den
Sonderabteilungen zu Brandenburg, Rheinbach und Insterburg
soll sich bislang bewährt haben. Seit Entfernung der geistig
Minderwertigen aus der Gemeinschaft der anderen Gefangenen
hat sich die Disziplin wesentlich gebessert. Die krankhaften
Elemente werden von den vollwertigen nicht zur Unbotmäßigkeit
aufgestachelt, und letztere fürchten, wenn sie häufiger die Ord¬
nung stören, selbst für geistig minderwertig gehalten zu werden
und damit ihre Internierung zu verlängern. So übt in dieser Be¬
ziehung bereits die Trennung der minderwertigen Kriminellen von
den vollwertigen auf beide Gruppen einen erzieherischen Einfluß
aus. Damit wird auch zugleich die Sorge derjenigen zerstreut,
die durch die Einführung des Begriffes der verminderten Zurech¬
nungsfähigkeit bei einer erheblichen Anzahl von Menschen eine
Abschwächung des Verantwortlichkeitsgefühls befürchten; dem
Betreffenden winken warnend die nach Annahme einer ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit unbedingt erforderlichen, er¬
weiterten Sicherungsmaßnahmen.
Die Lektüre der Statistik über die Gefängnisse der Justizver-
waltüng in Preußen für das Jahr 1911 erweist sich für die Frage
der Individualisierung durch ihre Zusammenstellung über die zur
Entscheidung des Justizministers gebrachten Anträge auf vor¬
läufige Entlassung als sehr belehrend. Danach hat die Bewilli¬
gung der Anträge auf vorläufige Entlassung, ohne daß die¬
selben selbst sich erheblich vermehrt hätten, in ganz erheblichem
Maße zugenommen, und zwar in den Jahren 1902—1911 von
53,51% bis 79,50°/o. Bei der Wiedergabe dieser Zusammen¬
stellung wird von der Feststellung abgesehen, wie viele dieser
Anträge’und Bewilligungen auf die Gefängnisse des Ministeriums
des Innern und der Justiz entfallen. Ein Widerruf der Bewilli¬
gungen brauchte nur ganz selten zu erfolgen. Dieses überaus
günstige Ergebnis liefert den Beweis, wie Többen (Lit. 72) aus¬
führt, daß unsere Gefängnisverwaltungen die gerade bei der sehr
l ) Krohne, Bericht über den Strafvollzug an geistig Minderwertigen. Mit¬
teilungen d. I.K.V., Bd. 12, S. 267/72, 274, 281, 284. Stuttgart 1904.
-) Derselbe, Blätter f. Gefängniskunde, Bl. 43, S. 109. 1908.
3 ) Derselbe,'Strafvollzugsbericht über den 7. Internat. Kongreß f. Anthro¬
pologie, 1912, S. 28.
11*
152
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
schwierigen Bearbeitung der Anträge- auf vorläufige Entlassung
besonders notwendige individualisierende Fürsorge, deren Evidenz
hier aus ihren Früchten erhellt, mit großem Erfolge ausgeübt
haben. Demnach zeigt diese Art des Strafvollzugs wohl den
richtigen Weg bei Anwendung der Mittel zur Besserung und
demnächstiger Einordnung der Gebesserten in die menschliche
Gesellschaft, dank der vom Ministerium des Innern und von
Krohne vorgezeichneten Wege. Für die Behandlung lassen sich,
abgesehen von den vom Ministerium des Innern und Krohne ge¬
gebenen Leitsätzen, allgemein geltende Regeln nicht aufstellen;
jeder Fall ist individuell zu betrachten und zu behandeln, nach
Art der Veranlagung, der Abstammung, dem Vorleben, den beruf¬
lichen und sonstigen Neigungen des Bestraften unter stetem Hinblick
auf die gewesene und etwa noch zu gewärtigende antisoziale Betäti¬
gung. Je nach der Art der Vergehen muß unter Umständen die
freieste Form der Internierung gewählt werden; man mache sich
nicht zum ausschließlichen Grundsätze, daß kriminelle Individuen
nur als Kandidaten für feste Häuser in Betracht kommen. Es ist
ferner zu bedenken, worauf auch Aschaffenburg in der Jahres-,
Versammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie im Jahre
1914 hingewiesen hat, daß ein Teil und vielleicht der wichtigste
Teil der Entscheidungen über das weitere Schicksal der geistig
Minderwertigen erst im Laufe der Strafverbüßung fallen kand, da
alsdann die psychischen Mängel erst greifbarer oder überhaupt
erst hervortreten. Man wird dann betreffs der Strafvollstreckung
der Eigenart des psychopathischen Individuums Rechnung zu
tragen haben und wird vornehmlich in Erwägung dessen, daß die
erregenden Einflüsse der Haft und die geringe Widerstandsfähig¬
keit gegen äußere Reize beim Psychopathen heißt, den Teufel mit
dem Beelzebub austreiben, darauf bedacht sein, dem psycho¬
pathischen Entarteten bei geeigneten Fällen bestimmte Erleichte¬
rungen und Milderungen, z. B. in Gestalt der Begnadigung oder
bedingten Strafaussetzung zu verschaffen. Denn bei diesen Ge¬
fangenen ist nun einmal nicht bloß die strafrechtliche, sondern
auch die disziplinäre Verantwortlichkeit herabgesetzt. Daraus er¬
gibt sich, daß für sie, ohne dabei für eine Beseitigung der Ord¬
nungsstrafen plädieren zu wollen, eine mildere Bestrafung ge¬
gebenenfalls angezeigt ist, da bei diesen Delinquenten die Hem¬
mungen fehlen oder doch herabgesetzt sind.
Ein vorschriftsmäßiger Strafvollzug und individualisierende
Behandlung vertragen sich durchaus miteinander, das Individuali-
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 153
sierungsprinzip muß zur Richtschnur jedes zielbewußten Strafvoll¬
zugs dienen. Natürlich ist es nicht der Arzt allein, der in diesem
Sinne seine umfassende Tätigkeit zu entfalten hat, sondern es be¬
darf der gewissenhaften Mitwirkung aller im Strafvollzug tätigen
Beamten, insbesondere eines hinreichend ausgebildeten Pflege-
und Hilfspersonals. Dadurch, daß der Arzt in ausreichendem
Maße psychiatrisch vorgebildet ist, hat das Personal mittelbar
ebenfalls einen Nutzen. Seitens des Ministeriums des Innern ist
der Ausbildung eigens vorgesehenen Aufsichtspersonals hierfür
durch Erlaß vom 7. Mai 1912, S. 580, noch erhöhte Aufmerksamkeit
zugewandt worden, und sind im Einvernehmen mit dem Finanz¬
minister an den bereits erwähnten 7 Strafanstalten und Gefäng¬
nissen je 3 Hilfsaufseherstellen geschaffen worden, woselbst alle
Bewerber um Aufseherstellen eine sechsmonatige Ausbildung für
den Gefängnisdienst durchmachen sollen. Die Ausbildung zer¬
fällt in eine theoretische und praktische; neben dem allgemeinen
Unterricht, dem Gefängnisdienst und der Gefängniskunde wird
besonders vom Arzte die allgemeine Gesundheitspflege behandelt,
und zwar neben der Ausübung der Krankenpflege, dem Verhalten
bei ansteckenden Krankheiten, der ersten Hilfe bei Unglücksfällen,
neben dem Verkehr mit Geisteskranken und Epileptikern bei Erre-
gungs- und Tobsuchtsanfällen, bei falscher Beschuldigung und Wider¬
setzlichkeiten solcher Geistesgestörten und etwaigen Ausbrüchen
der Verzweiflung auch der Verkehr mit den geistig Minderwertigen
eingehend erörtert. «Die Beobachtungsgabe und das Interesse des
Personals dürften zweifellos durch diesen Unterricht in weitem
Umfange angeregt und durch die Übung erweitert werden und
werden den Aufseher mit der Zeit befähigen, aus seinem Beob¬
achtungsschatze dem Arzte manche bemerkenswerte Mitteilung
zu machen, die denselben in der erfolgreichen Behandlung der
Charakter- und Willensschwäche des Häftlings unterstützt. Generell
wird die Einführung des Ausdrucks der geminderten Zurechnungs¬
fähigkeit, wie ich mit Többen glauben möchte, schon dadurch
an Bedeutung gewinnen, daß von seiten der Strafanstaltsbeamten
den so gekennzeichneten Individuen ein größeres Verständnis für
die feineren Schuldunterschiede auch bei Disziplinarvergehen ge¬
rade während des Strafvollzugs entgegengebracht werden dürfte.
In diesem Sinne bleibt auch die Entwicklung der als Siche¬
rungsanstalten gedachten Sonderabteilungen oder Zwischenanstalten
zu erwarten, deren Anlage und Ausbau wohl so zu treffen wären,
daß die beruflichen und sonstigen Fähigkeiten der Internierten
154
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
soweit als möglich Berücksichtigung finden.' Es sei mir der
Gedanke einer gewissen Scheidung der Anstalten nach Berufs¬
klassen gestattet. Denn wir müssen selbst bei den mehrfach
rückfälligen, für eine längere Internierung in Betracht kommenden
Rechtsbrechern stets daran denken, daß eine Besserung möglich
ist, und daß die Internierung nicht bloß das Interesse der von
dem Internierten bedrohten Gesellschaft im Auge zu behalten
hat, sondern auch das Interesse für den Verwahrten selbst, und
daß, da die Sicherung durch geeignete Behandlung die allmäh¬
liche Wiedereinführung des Entgleisten in die menschliche Ge¬
sellschaft bezweckt, es auch im Interesse des Internierten, der sich in
seinem beruflichen Milieu sonst bewährt hat, liegen dürfte, ihn dem¬
selben durch eine Reihe von Jahren nicht gänzlich zu entfremden.
Und hier setzt gleichzeitig der Hebel ein für ein eminent wich¬
tiges Arbeitsfeld der Prophylaxe: Die Zukunft der entarteten
Jugendlichen. Die Frage, ob man aus dem Verhalten der Jugend¬
lichen Schlüsse auf ihre Zukunft ziehen darf, ist, wie' Göring
(a. a. O. S. 95) betont, zwar äußerst wichtig, aber auch sehr schwer
zu beantworten. Die Bedeutung der Pubertätszeit und deren
Überwindung sind hier die entscheidenden Wendepunkte. Mönke-
möller ist, wie ich bei Göring lese, mit der Abfassung eines
Werkes über die Gemeingefährlichkeit und Kriminalität der Jugend¬
lichen und mit Erhebungen beschäftigt, was aus den von ihm
untersuchten Fürsorgezöglingen geworden ist. Es unterliegt jeden¬
falls keinem Zweifel, daß man bei manchen der aus der Fürsorge¬
erziehung entlassenen Zöglinge keine absolute Garantie übernehmen
kann, daß sie im Leben bestehen werden. Und mit Recht sagt
Mönkemöller in Beziehung auf einige von ihm in dieser Hin¬
sicht besonders beachteten Fälle:
„Bei ihnen konnte man jetzt schon den trüben Werdegang so
mancher Psychopathen ahnen, die direkt dem sozialen Verfall zutreiben
und nach der üblichen Ausnützung der Unterkunftstätten, die der so¬
ziale Parasitismus sich erschließt, den Arbeitshäusern, Zuchthäusern,
schließlich der Irrenanstalt zutreiben . 1
Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, hat man an dem
Jugendgefäpgnis zu Wittlich mit der Durchführung des Indivi¬
dualisierungsprinzips begonnen. Der Strafanstaltsdirektor Ellger ■)
tritt warm für das Jugendgefängnis an Stelle der Fürsorgeerziehung
’) Ellger, Deutsche Strafrechtszeitung, Heft 10/11, S. 575ff., 1914.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 155
ein. E. Kracht 1 ) verspricht sich von der eingehenden ununter¬
brochenen individualisierenden Behandlung einzig und allein einen
dauerhaften Erfolg. Dabei solle auch den Wünschen der Zög¬
linge betreffs der Berufswahl in den Anstalten möglichst Rechnung
getragen,, nicht bloß Landwirtschaft betrieben, sondern auch die
Veranlagung der Einzelnen mehr berücksichtigt werden. Denn
man frage sich nur, wie viele der Zöglinge, die vielfach Gro߬
stadtelemente sind, bleiben bei der landwirtschaftlichen Arbeit?
Die meisten kehren zur Großstadt zurück und vermögen dann
die gewonnenen Fertigkeiten nicht zu verwerten. Übrigens wurden
in den Irrenanstalten, an denen ich tätig war, und woselbst sich
debile und imbezille Fürsorgezöglinge befanden, stets auf deren
Wünsche und Fähigkeiten, irgendein Handwerk zu erlernen, Rück¬
sicht genommen. Die Entwicklung und Bewährung im Berufe,
das Aushalten in ihm, wie der Drang zum Berufswechsel sind
dann meines Erachtens nicht zu unterschätzende Gradmesser für
den psychischen Werdegang des Betreffenden.
Asch aff enburg fordert bei der Entscheidung aller Straf¬
sachen gegen Jugendliche stets statt der Strafe Erkennung auf
Fürsorgeerziehung und will eine Strafverfolgung der Jugendlichen
erst mit vollendetem 16. Lebensjahre zulassen. Und diese „Un¬
verbesserlichen“, die dabei noch auf die anderen Zöglinge einen
ungünstigen Einfluß ausüben, sucht er ; n ähnlicher Weise in be¬
sonderen Anstalten zu eliminieren, wie es mit den geistig Minder¬
wertigen geschehen soll. — Es muß jedoch eine Trennung in den
Sonderanstalten zwischen Jugendlichen und älteren Psychopathen
durchgeführt werden. Die Unterbringung in derartigen Anstalten
muß meines Erachtens auch ziemlich frühzeitig erfolgen. Am vor¬
teilhaftesten — in individualisierender wie auch betrieblicher Hin¬
sicht— wird meines Erachtens diese Trennung durch entsprechende
Vorschläge Moelis erreicht. Moeli 2 ) tritt in seinem neuen Buche
über die Fürsorge geistig Abnormer, das eine Fülle von Anre¬
gungen enthält, und in dessen Besitz und somit zu seiner Benutzung
ich leider erst kurz vor dem endgültigen Abschlüsse dieser Arbeit
kommen konnte, dafür ein, daß die psychopathischen Fürsorgezög-
*) E. Kracht, Zwei Fragen aus dem Gebiet des Vollzugs in der Fürsorge¬
erziehung. Monatsschr. f. Krim.-Psych. und Strafrechtsreform, II. Jahrg., 9. bis
10. Heft, Jan. 1916, Carl Winter, Heidelberg.
2 ) C. Moeli, Die Fürsorge f. Geisteskranke und geistig Abnorme nach den
gesetzl. Vorschriften, Ministerialerlassen, behördlichen Verordnungen und der
Rechtssprechung. Carl Marhold, Halle a. S. 1915.
156
Dr. med. Fr. Jos. Wjdmann
linge, bei denen vor allem die Frage der Disziplin Schwierigkeiten
mache und für die sonst verwendbare Strafmaßregeln nicht passen,
am zweckmäßigsten in einer mit den geeigneten ärztlichen, Lehr-
und Erziehungskräften versehenen Anstalt gefördert und nicht
über zahlreichere kleinere Anstalten verstreut werden. .Von Auf¬
nahmestationen der Fürsorgeerziehungsanstalten, die allerdings
eine sachgemäße Beobachtung garantieren müssen, hält er die
Abgabe der zu Eliminierenden an eine für längeren Aufenthalt
bestimmte Abteilung für psychopathische oder geistig abnorme
Zöglinge für erfolgversprechend und empfiehlt die Angliederung
dieser Sonderabteilungen an durch ihre Lage besonders geeignete
Erziehungsanstalten, vorausgesetzt, daß die fachärztliche Leitung
dieser Abteilungen gesichert ist. Über den Charakter dieser' Ab¬
teilungen äußert sich der Autor wörtlich, wie folgt:
„Diese Abteilungen können beschränkten Umfang besitzen, müssen
aber mit mehrfachen Beschäftigungsgelegenheiten innerhalb wie außer¬
halb des Hauses und mit sonstigen mannigfachen Einrichtungen, bei
stark antisozialen außerdem mit Sicherung, ausgestattet sein. Sie müssen
die Bildung familiär zu behandelnder kleiner Gruppen ermöglichen und
damit das Einleben und die Anpassungsfähigkeit an soziale Forderungen
bei dem Einzelnen zu prüfen gestatten. Nur die längere Beobachtung
unter verschiedenartigen Bedingungen, namentlich auch in tunlichst
freier Bewegung, die auf Entwicklung zweckmäßiger Willensbetätigung
hinwirkt, erlaubt ein richtiges Urteil. Auch bestehen sehr häufig Schwan¬
kungen der Stimmung, wechselnde Erregungszustände, so daß sich ein
Urteil erst nach längerer Beobachtung gewinnen läßt.“
Moeli weist weiter darauf hin, daß bei den Psychopathen die
Affektschwankungen, die manchmal rasch zu Taten führen, durch
anfängliche Ausschaltung der Gelegenheit, später aber durch
systematische Erhöhung der Widerstandsfähigkeit beseitigt werden
müssen. Und der Erfolg sei um so eher garantiert, je früher auf
diese Beherrschung der gemütlichen Ausbrüche hingewirkt werden
kann, zwecks Herabminderung der drohenden Gefahren der
Pubertät und somit günstiger Ausnutzung der wachsenden Reife.
Nur von den eingehenden und fortgesetzten psychotherapeutischen
Anordnungen in den psychiatrisch geleiteten Sonderabteilungen
verspricht sich der Autor einen, wenn auch nicht allseitigen, so
doch ausreichenden Erfolg. Und mit der Ausbildung der sozialen
Gefühle müßten selbstredend auch die praktischen Fertigkeiten
gesichert und die Brauchbarkeit in einem Gewerbe oder sonstigen
Berufe möglichst der Eigenart des Einzelnen angepaßt und damit
zugleich auch das Verständnis des Personals für diese Aufgabe
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 157
gefördert werden. Die an anderer Stelle (Lit. 87 S. 117) emp¬
fohlenen Aufseherschuleil, die den persönlichen Einfluß des Per¬
sonals auf den Internierten bezwecken, dürften vielleicht auch
hier angebracht sein. Für die psychopathischen Jugendlichen
darf selbstredend nur eine Internierung von relativ unbegrenzter
Zeitdauer und nicht wie bedauerlicherweise bei den Normalen
mit dem 21. Lebensjahre vorgesehen werden.
Im allgemeinen bedeutet die lex ferenda für die Jugendlichen
einen gewaltigen Fortschritt, einmal schon deswegen, weil das
Vergeltungsprinzip für die Tat sichtlich zurücktritt hinter der in¬
dividualisierenden Betrachtung und Behandlung des Täters und
dann, weil auch die Schutzbedürftigkeit der Gesellschaft zu ihrem
Rechte kommt.
Ebenso selbstverständlich und unbedingt brauchen wir eine
Internierungsmöglichkeit von unbestimmter Dauer bei er-,
wachsenen geistig Minderwertigen, ähnlich wie wir in .der lex
lata die Möglichkeit haben, Geisteskranke auf unbestimmte
Zeit zu internieren. Leider haben wir aber in der lex lata nur
für diese die Möglichkeit; die gemeingefährlichen Verbrecher, noch
eher die gemeingefährlichen geistig Minderwertigen, die ja nach
den reichsgerichtlichen Entscheidungen milder zu beurteilen sind
und daher in praxi entsprechend milder bestraft werden, müssen
nach Strafverbüßung wieder in Freiheit gesetzt werden.
Eine Sicherungshaft von unbestimmter Dauer ist ebenso
dringend erforderlich zu erreichen wie eine Sicherungshaft mit
Aufhebungsmöglichkeit. Sehr richtig sagt bezüglich letzterer
Mittermaier:
„Wir dürfen uns nicht scheuen, einen Menschen, der für „unver¬
besserlich“ erklärt wurde, unter Umständen wieder nach einiger Zeit
unter die sozial Brauchbaren einzureihen.“
Von .den ausländischen Gesetzbüchern scheint es nach Stam-
mer 1 ) nur in einigen Staaten Amerikas eine unbestimmte Verurtei¬
lung zu geben. Einen beschreitbaren Weg enthalten meines Erach¬
tens die von v. Hentig mitgeteilten englischen Entwürfe zur
Verwahrung geistig Minderwertiger. Danach soll die Notwendig¬
keit der Verwahrung von Zeit zu Zeit durch eine neue ärztliche
Untersuchung festgestellt werden und kann von einer Verwahrung
l ) Stammer, Bemerkungen über amerik. Strafpolitik Arch. f. Krjminalanthr.
und Kriminalistik, 47, S. 79, 1912.
158
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
Abstand genommen werden, wenn die Angehörigen dem Internierten
die gleiche Aufsicht wie in der Anstalt angedeihen lassen können.
So macht Wollenberg den beachtenswerten Vorschlag, bei den
Minderzurechnungsfähigen, bei denen eine Gemeingefährlichkeit
überhaupt nicht oder nicht mehr besteht, nach der Strafverbüßung
eine Versorgung in anderer Weise zu bewirken, durch Verbesse¬
rung der Lebensverhältnisse, Verschaffung von Arbeitsgelegenheit,
Familienpflege, vor allem aber auch durch die Bestellung eines
Beraters, der — unter Vermeidung der zivilgesetzlich fixierten
Begriffe des „Vormunds“ und „Pflegers“ — einfach als Helfer
oder nach E. Schultze (a. a. O. S. 74) als „Fürsorger“ be¬
zeichnet werden könnte. Diese Art Schutzaufsicht darf jedoch
von dem Beaufsichtigten und der Öffentlichkeit nicht gleichsam als
polizeiliche Überwachung empfunden werden. Der „Fürsorger“
;nuß ein verständiger Berater und Helfer sein, der sich nicht
lediglich auf Worte und Ermahnungen beschränkt, sondern auch
tätig beim Stellensuchen, bei der Besorgung von Unterkunft u.a.m.
«ingreift. Mir dünkt mit Hübner, daß von einer derartigen In¬
stitution nur dann etwas zu erwarten ist, wenn sie ähnlich wie
bei der Berufsvormundschaft vorwiegend von Beamten Im Haupt¬
beruf ausgeübt wird. Fürsorgevereine sollten daher nur dann
herangezogen werden, wenn ihre Organisation und die dabei
tätigen Helfer persönlich die Gewähr bieten, im besprochenen
Sinne zu arbeiten. Das Zusammenpassen behördlicher und pri¬
vater Tätigkeit ist, wieMoeli hervorhebt, unentbehrlich utfd der
freiwillige Helfer würde eines genügenden gesetzlichen Rückhaltes
bedürfen.
Nach § 65 Abs. 3 des V.E. hat die Landespolizeibehörde
für die Unterbringung zu sorgen. Sie bestimmt auch die Dauer
der Verwahrung und über die.Entlassung. Gegen ihre Be¬
stimmung ist allerdings gerichtliche Entscheidung zulässig.
Die Dauer der Verwahrung hat sich m. E. fürs erste nur
nach dem Zustande des Täters und der aus diesem Zustande
sich ergebenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu richten;
die weitere Entwicklung des einzelnen psychopathischen Rechts¬
brechers läßt sich im voraus jedoch selten bestimmen. Die Frage
der Verwahrungsdauer müßte daher wieder durch die Begutach¬
tung der behandelnden Ärzte in ausschlaggebender Weise ge¬
regelt werden. Darum ist auch jede Festlegung auf eine be¬
stimmte Zeit widersinnig. Nach Anhörung der Sachverständigen
wäre ja nun nach den herrschenden gesetzlichen Maximen die
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 159
Entlassung durch die Landespolizeibehörde verständlich, da
der Täter, nachdem er seine Strafe abgebüßt hat, freigtfsprochen
oder außer Verfolgung gesetzt worden ist,. aufgehört habe, Objekt
der Strafrechtspflege’zu sein. Seine Verwahrung oder Entlassung
sei dann als eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit von der Ver¬
waltungsbehörde zu erledigen, gegen deren Verfügungen jedoch
wieder das Rechtsmittel der richterlichen Entscheidung zur Hand
gegeben ist. Der V.E. und G.E., mit ihnen Kahl, sprechen
dieser Form der Überweisung an die Verwaltungsbehörden das
Wort, während andere Autoren, sowie der österreichische und
schweizerische Entwurf den Strafrichter weiter walten lassen und
in Schottland sogar der Staatsanwalt maßgebend ist. Die Mehr¬
zahl der Psychiater schaltet lieber den Strafrichter, nachdem er
vorläufig entschieden hat, sowie auch die Verwaltungsbehörde
aus, indem sie den Strafrichter für voreingenommen halten und
die Entscheidung der Verwaltungsbehörde bei einer so ein¬
schneidenden Maßnahme nicht genüge. Dem kann entge-
gengehälten werden, daß der Strafrichter auf Grund seiner
Kenntnis des Falles besser im Bilde ist und die ganze An¬
gelegenheit daher folgerichtiger beurteilen kann? dann aber könnte
man schließlich dem Strafrichter unter Ausschaltung der Ver¬
waltungsbehörde die weiteren Entscheidungen überlassen.
Abgesehen v. A. Leppmann, der eine aus Ärzten, Juristen
und Laien bestehende Feststellungsbehörde empfiehlt, wollen die
meisten anderen Autoren sowohl die Aufnahme- als auch die
Entlassungsfrage der Entscheidung des Zivilrichters anheim¬
geben, und zwar die einen in einem Entmündigungsverfahren,
die anderen in einem diesem ähnlichen Feststellungsverfahren
(Aschaffenburg) oder Sicherungsverfahren (Schultze). Auch
von juristischer und kriminalistischer Seite, sowie in dem Ent¬
würfe zu einem niederländischen Psychopathengesetze wird dieser
Standpunkt vertreten. Diejenigen, die das Entmündigungsver¬
fahren selbst ablehnen und ein analoges an seine Stelle für die
in Betracht kommenden Fälle setzen wollen, suchen eine Ver¬
quickung des Entmündigungsverfahrens mit den demselben recht
fernliegenden strafrechtlichen Dingen zu vermeiden. Diejenigen,
die für ein reines Entmündigungsverfahren eintreten, wollen dem
Internierten vor allem für die Zeit seiner Verwahrung eine Person
zur Seite stellen, die ihm hilft, den Verkehr mit der Außenwelt
regelt und auch bei dem Entlassungsmodus ihm behilflich ist.
Sehr richtig hebt Göring hervor, daß eins vor allen Dingen be-
160
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
rücksichtigt werden müsse, daß dem Entlassenen diese Hilfs- oder
Aufsichtsperson in der Regel auch nach der Entlassung noch
beigegeben bleiben müsse. Also den von Schultze mit Recht
befürworteten „Fürsorger“! — Das Feststellungsverfahren in Hessen
scheint mir ganz vorteilhaft. Dort beanspruchen die Anstalten
von den Behörden, nicht bloß bezüglich der Entlassung gehört zu
werden, sondern suchen auch durch Zeugenvernehmungen vor der
Entlassung ein brauchbares Bild von dem künftigen Milieu und Leben
des Kranken außerhalb der Anstalt zu gewinnen. Schultze, der
den Abs. 3 des § 65 in seinen Bemerkungen zum V.E. besonders
ausführlich behandelt hat, hält das Entmündigungsverfahren für
völlig ungeeignet, empfiehlt jedoch sehr eine Nachahmung in Form
eines sogen. „SicherungsVerfahrens“ unter ausführlicher Darlegung
der Unterschiede zwischen beiden Motiven: Die Entmündigung
setzt eine geistige Störung voraus, derentwegen der davon Be¬
fallene seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, die
Verwahrung wird durch eine geistige Störung bedingt, derzufolge
der zu Internierende die öffentliche Sicherheit gefährdet. Die
Entmündigung erfolgt im Interesse des Einzelnen, bei der Siche¬
rung streiten zwei Interessen miteinander, die der Allgemeinheit,
die in erster Linie vor den Rechtsbrüchen eines weniger verant¬
wortlichen Individuums geschützt werden soll, und das Interesse
des Einzelnen, dem nur soweit eine Beschränkung seiner persön¬
lichen Freiheit zugemutet werden darf, als das Wohl der Gesell¬
schaft und seine Heilung oder Besserung es erfordern. Die Dinge
liegen hier umgekehrt wie bei den Irrenanstalten, bei denen der
Eingriff in die Freiheit des Einzelnen oft den Charakter einer
therapeutischen und stets den einer Sicherungsmaßregel trägt,
wobei die Sicherung in erster Linie dem Kranken selbst, in zweiter
der Gesellschaft zugute kommt. — Die vornehmste Aufgabe des
Fürsorgers, dem das Recht zustehe, Anträge zu stellen und den
Verhandlungen beizuwohnen, und der von der Behörde unter
etwaiger Berücksichtigung der Wünsche des Internierten bestellt
werde, sieht Schultze darin, daß er dem Verwahrten bei seiner
Entlassung grundsätzlich beisteht, ihm in einer sozial gesunden
Umgebung eine gemütlich und beruflich befriedigende und aus¬
kömmliche Beschäftigung verschafft, ihn in einer ordentlichen
Familie unterbringt und auch geeignete Personen in den Für¬
sorge- und namentlich Abstinenzvereinen auf ihn aufmerksam
macht — das alles mit tunlichster Unterstützung von seiten der
Polizeibehörden —, um ihm so immer mehr die Wege zur Rück-
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 161
kehr in die Gesellschaft zu ebnen. Neben der Möglichkeit der
Beiordnung eines Verteidigers gegebenen Falles dringt Schultze
meines Erachtens mit vollem Rechte darauf, keine Entscheidung
zu treffen ohne Anhörung eines Sachverständigen.
Es wäre zu erwägen, den Zwang der Anhörung von Sach¬
verständigen überhaupt zu erweitern, namentlich aber bei der
Entlassung. Als solche können bei derselben zunächst die Ärzte
der Anstalt in Frage kommen, in der der Kranke untergebracht
ist, und zwar nicht bloß vorwiegend der leitende Arzt, dem nach
Schultze auch das Antragsrecht eingeräumt werden soll, sondern
m. E. auch der oder die Abteilungsärzte, die sich mit dem Inter¬
nierten intensiv längere Zeit beschäftigt, ihn beobachtet und be¬
handelt haben. Merkwürdigerweise verbietet der österreichische
Entwurf die Verwendung der Anstaltsärzte zu Sachverständigen,
was' keineswegs zur Hebung des Ansehens dieser Ärzte und des
Vertrauens der Verwahrten zu ihnen und zur Erleichterung der
Stellung des Arztes im Anstaltsbetriebe beitragen dürfte. Daß
der Verwahrte den Anstaltsarzt als befangen ablehnen könnte, ist
zu bedenken, und würde die Hinzuziehung weiterer, natürlich
hinlänglich vorgebildeter Psychiater berechtigt erscheinen lassen,
als welche z. B. die Kreisärzte mit. in Betracht zu ziehen wären!
Über die Entlassung selbst entschiede dann der Richter. Sollte
das Gericht eine dem Anträge des Anstaltsarztes auf Entlassung
des Verwahrten entgegenlaufende Entscheidung treffen, so könnte
demselben ja die Anrufung höherer Instanzen eingeräumt werden.
Und dann fragt es sich auch, ob dem Internierten selbst nicht
ruhig die Möglichkeit zu lassen ist, seine Entlassung zu beantragen,
womit der von Moeli 1 ) für geisteskranke Eingewiesene gegebene
Rat der weitestgehenden selbständigen Mitwirkung bei dem Ent¬
lassungsverfahren auf die als vermindert zurechnungsfähig Inter¬
nierten übertragen würde.
Vor allem dünkt mir auch Hübners Rat, die Entlassung auf
Widerruf in Erwägung zu ziehen, sehr beachtenswert, schon
deshalb, weil Wohlverhalten in der Anstalt immer noch nicht ein
solches in der Freiheit garantiert. Bei der Entlassung muß dann
das Hand in Hand-Arbeiten von Verwahrung und Schutzaufsicht
*) C. Moeli, Einige Bemerkungen über die Regelung der Rechtsverhält¬
nisse der in Anstaltsbehandlung oder in Pflege fremder Personen befindlichen
Geisteskranken in Preußen. Monatsschr. f. Krim.-Psych. u. Strafrechtsreform, 10,
S. 449, 1913.
162
Dr. .med. Fr. Jos. Widmann
sich besonders bemerkbar machen, um gerade den Übergang zur
Freiheit sorgfältigst vorzubereiteq und zu überwachen.
Mit Hübner glaube ich, daß der Schutzaufsicht in irgend¬
einer Form große Bedeutung beizmnessen ist. Hübner stützt
sich dabei besonders auf die Erfolge, die in der praktischen
Trinkerfürsorge oder in der an vielen Stellen in Deutschland ein¬
geführten Familienpflege für Geisteskranke und Schwachsinnige
und auch für entlassene Strafgefangene zu verzeichnen sind.
Unter folgenden Gesichtspunkten tritt er warm für die Ausgestal¬
tung der Schutzaufsicht ein: indem er sie 1. für die billigste Form
der Fürsorge hält,' indem sie 2. die Freiheit des Betroffenen am
wenigsten einschränkt, 3. seine Arbeitskraft am zweckmäßigsten
auszunutzen gestattet und 4. ihm die Möglichkeit der Rückkehr
in die Gesellschaft gibt. Hier ist es dann in erster Linie der
„Fürsorger“, der für den Entlassenen sorgt. Neben dessen Be¬
ratung und eventuellem aktiven Eingreifen, sowie auch der Hilfe¬
leistung durch entsprechende Organisationen käme dann vielleicht
noch eine staatliche Oberaufsicht durch den zuständigen Kreis¬
arzt zur Erwägung. Dannemann wünscht diese diskrete Be¬
aufsichtigung durch die Kreisärzte, die ich für recht vorteilhaft
hielte, und die ohne Zweifel einer Kontrolle durch Polizeiorgane
vorzuziehen ist. Derselbe Autor hält es für zweckmäßig, daß die
in Betracht kommenden Personen einer Zentrale namhaft gemacht
werden, über sie eine Liste geführt wird mit kurzen chronologi¬
schen Daten über ihre geistige Störung, ihre etwaigen strafbaren
Handlungen, ihre Haft, Verwahrung, Entlassung usw., und diese
Akten von Zeit zu Zeit durch kurze Berichte der zuständigen
Kreisärzte ergänzt werden. Auch Leppmann tritt für diese Be¬
aufsichtigung ein. Erwähnt sei, daß der Entwurf zum nieder¬
ländischen Psychopathengesetz eine Bestimmung enthält, wonach
der zur Entlassung Gekommene auf Verlangen sich in ärztliche
Beratung zu begeben hat.
Gerade diese letzten Gesichtspunkte eröffnen meines Erachtens
bemerkenswerte Perspektiven, auch nach der Entlassung weiterhin
auf unsere Psychopathen ein wachsames Auge zu haben und so
noch stützend und fördernd ihnen beizustehen, um die Kluft
zwischen ihnen und der Gesellschaft nicht tiefer werden zu lassen,,
sondern eher zu überbrücken.
Die von mancher Seite geäußerte Besorgnis einer durch den
Weltkrieg verzögerten Abschließung der Novelle ist insofern wohl
weniger gerechtfertigt, als durch diese Verzögerung zweifellos
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 163
eine Überstürzung vermieden wird. Eine möglichst alle Teile be¬
friedigende Lösung solch wichtiger Fragen kann hier nur durch
ein fast pedantisch zu nennendes Erwägen und Abwägen mit der
Zeit erreicht werden. Und auf diesem Wege möge sich auch die
Gesetzgebung für unsere Psychopathen weiter entwickeln und der¬
einst den Stempel fühl- und sichtbaren Fortschrittes tragen, damit
die bereits 1888 geschriebenen, heute noch hochaktuellen Worte
und Wünsche Moelis, mit deren Wiedergabe ich schließen
möchte, zur Wirklichkeit werden: „Und so sei denn zum Schlüsse
dem Wunsche und der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß es dem
fortschreitenden geregelten Zusammenwirken der privaten und
Vereinstätigkeit mit den heilsamen Maßnahmen der staatlichen
und kommunalen Behörden auf Grund entsprechender Ausbildung
der Gesetzgebung gelingen möge, Verbrechen von jugendlichen,
geistig gering begabten und verwahrlosten Personen im weiteren
Umfange, als bisher erreicht worden, zu verhüten und solcher¬
gestalt vollkommenere Gerechtigkeit zu üben.“
Zusammenfassung. ,
1. Die psychopathische Konstitution ist den Grenzzuständen
zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zuzurechnen. Ihr
Übergang ins Pathologische ist nicht immer leicht zu erkennen.
2. Nicht bloß für den psychiatrischen Sachverständigen, son¬
dern auch vor allem dem Richter bieten diese Fälle an sich schon
nicht selten Schwierigkeiten in der Beurteilung und demgemäß
in der Entscheidung.
3. ln der lex lata wird diesen Schwierigkeiten ungenügend
Rechnung getragen. Das geltende Recht kennt nur zu- und un¬
rechnungsfähige Delinquenten. Der hierauf bezügliche § 51 des
R.Str.G.B. kann in den seltensten Fällen für die Psychopathen in
Anwendung kommen.
4. Man hat sich bisher in entsprechenden Fällen mit den
durch' reichsgerichtliche Entscheidungen hierfür sanktionierten
„mildernden Umständen“ ausgeholfen.
Der psychopathischen Eigenart wird jedoch weder dadurch
noch überhaupt in dem herrschenden Gesetzesmodus in der ge¬
hörigen Weise Rechnung getragen.
5. Der zwar gerechtsamerweise milder be- und verurteilte
psychopathische Rechtsbrecher findet in der Strafhaft für seine zur
164
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
Entgleisung prädisponierte Psyche nicht die ihr notwendige in¬
dividualisierende Berücksichtigung.
Abgesehen davon, daß der Psychopath seiner mangelnden,
ebenfalls aus seiner Konstitution sich ergebenden Anpassungs¬
fähigkeit wegen zu den übelsten Insassen der Strafanstalten zählt,
ist die häufigere Erkrankung psychopathischer Degenerierter an
sogen. Haftpsychosen ein besonderer Beweis dafür, daß sich hier
eine Lücke im Gesetz befindet.
6. Es sind bereits seit langer Zeit alle in Betracht kommenden
Kreise, namentlich die am meisten interessierten Juristen und
Psychiater, mit den Arbeiten zu einem Gesetzesentwurf be¬
schäftigt, der den geistig Minderwertigen gerecht wird.
Der V.E. zum neuen Str.G.B. sieht die Einführung einer ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit vor, die in dem § 63 Abs. 2 in¬
haltlich zum Ausdruck kommt.
Von psychiatrischer Seite wird mit Recht der enge Zusammen¬
hang mit dem Abs. 1 des § 63 bemängelt, wodurch eine Ver¬
schiebung der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ nach der
„verminderten Unzurechnungsfähigkeit“ zustande komme, während
es sich doch tatsächlich um »Zurechnungsfähige trotz psychischer
Mängel“ (Moeli) handelt.
7. Der V.E. trägt einen Kompromißcharakter, indem neben
der Vorbeugung auch die Vergeltung zum Ausdruck kommt, sieht
eine Bestrafung der geistig Minderwertigen nach dem Versuch
(§ 76) vor und läßt in der Strafmilderung dem Richter weitgehende
Entscheidungsmöglichkeit.
Auch hier bleibt, wie für den ganzen Strafvollzug, rein in¬
dividuelle Betrachtung und Behandlung des einzelnen Falles
wünschenswert, also keine obligate Strafaussetzung.
. 8. Nach Abs. 3 des § 63 sind diese Strafen in besonderen,
ausschließlich für diese Klasse der Verurteilten vorgesehenen An¬
stalten oder Abteilungen zu vollstrecken. Dies bedeutet einen
gewaltigen Fortschritt zum individualisierenden Straf¬
vollzug.
9. Derselbe findet seinen vornehmlichen Ausdruck durch den
§ 65, der für den zu einer milderen Strafe Verurteilten die Ver¬
wahrung in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt bringt, so¬
fern das Gericht es im Interesse der öffentlichen Sicherheit für
erforderlich hält. Und zwar wird diese Verwahrung jetzt direkt
vom Gerichte verfügt und nicht mehr der Landespolizeibehörde
überlassen.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege 165
Es liegt im Interesse unserer Irrenanstalten, daß dieselben
nicht zur Bewahrung der Psychopathen geöffnet werden. Im
Gegenteil bleibt für die geistig Minderwertigen, zu denen die
Psychopathen gehören, die Schaffung eigner Sicherungsanstalten
zu wünschen. Diese sollen in ihrem inneren und äußeren Auf¬
bau ganz der psychopathischen Eigenart angepaßt, und vor allem
soll dem Psychiater ein weitgehender Einfluß gewährt werden.
Ob sie als selbständige Anstalten oder Annexe zu denken sind,
bedarf weiterer Versuche.
10. Der Abs. 3 des § 65 äußert sich über die Unterbringung,
für welche die Landespolizeibehörde Sorge zu tragen hat. Ebenso
hat dieselbe über die Dauer der Verwahrung und Entlassung zu
bestimmen. Gegen die Bestimmungen der Verwaltungsbehörde
ist allerdings gerichtliche Entscheidung zulässig. Hiergegen ist
einzuwenden, daß die Dauer der Verwahrung nicht zahlenmäßig
begrenzt werden kann, da dieselbe sich ausschließlich nach dem
Zustande des Verwahrten und nach der durch diesen Zustand
bedingten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu richten hat.
Von diesem Gesichtspunkte aus muß auch die Entlassungsfrage
in erster Linie durch die Begutachtung des behandelnden An¬
staltsarztes angeregt werden.
Es bleibt aber eine weiter zu lösende Frage, inwieweit außer
dem Gerichte andere ärztliche Sachverständige hinzuzuziehen
sind. — Ein beachtenswerter Vorschlag geht dahin, dem Ver¬
wahrten von vornherein einen „Fürsorger“ zur Seite zu stellen.
11. Es empfiehlt sich aber wohl die Entlassung nur auf
Widerruf durchzuführen und nach derselben noch eine Schutz¬
aufsicht vorzusehen. Die zweckentsprechende Ausgestaltung
• der letzteren ist von wesentlicher Bedeutung und eröffnet der
Zukunft noch ein umfangreiches Arbeitsfeld.
12. Die frühzeitige Erkennung und Verwahrung des psycho¬
pathischen Rechtsbrechers ist sehr wichtig. Einer besonderen
Beachtung bedürfen schon aus diesem Grunde die entarteten
Jugendlichen.
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Verbrechen. Fischer-Kornfeld, Berlin 1886.
40. Aschaffenburg, Degenerationspsychosen und Dementia praecox bei
Kriminellen. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin u. öffentl. Sanitätswesen
3. Folge, 45. Bd., 1. Supplementheft, 1913, S. 306 ff.
41. Derselbe, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, XIV, S. 84.
42. Wilmanns, Karl, Über Gefängnispsychosen. Halle a. S., 1908.
43. Wilmanns, Kurt, Statistische Untersuchungen über Haftpsychosen.
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 67.
44. Rüdin, Ernst, Über die klinischen Formen der Gefängnispsychosen.
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 58, S. 446.
45. Derselbe, Eine Form akuten halluzinatorischen Verfolgungswahnsinns
der Haft ohne spätere Weiterbildung des Wahns und ohne Korrektur. Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 60, S. 852.
46. - Staiger, Erfahrungen in der Behandlung geisteskranker Verbrecher.
Monatsschr. f. Krim.-Psychol. u. Strafrechtsreform, 5. Jahrg., 7. Heft, 1908, S. 428.
47. Raecke, Psychiatrische Diagnostik, 4. Aufl., Hirschwald, Berlin 1913
S. 122 u. 131.
48. Reichsmilitärgerichtsentscheidung, R.M.G. III, 23. 7. 1909, u. Allgem.
Psychiatr. Wochenschr., 1913, S. 4.
49. Reichsgerichtsentscheidung, R.G.V. 4. 3. 10., u. das Recht, 1910, Entsch.
Nr. 1303.
50. Reichsmilitärgerichtsentscheidung, R.M.G. III, 20. 7. 1907, u. Jahrb.,
1909, S. 16.
51. Stenographische Berichte des Reichstages für den Norddeutschen Bund,
1870, III. Bd., Anlagen 1-12, p. 55.
52. v. Liszt, Strafrecht, 1911, J. Guttentag, Berlin.
53. Jolly, Über geminderte Zurechnungsfähigkeit. Allgem. Zeitschr. f.
Psychiatrie, 1888.
54. .Lotsen*, II. Jahrg., Heft 12, 27, 35.
55. u. 56. Verhandlungen, des Deutschen Vereins für Psychiatrie, 1887 u.
1888. Allgem. Zeitsch. f. Psychiatrie, 44, S. 461, u. 45, S. 545.
57. Verhandlungen des Vereins f. Psychiatrie in Halle, 1898. Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, 56, S. 615.
.58. Delbrück, Vortrag über die vermindert Zurechnungsfähigen und deren
Verpflegung in besonderen Anstalten. Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft,
23. Bd. (Beilage: Mitt. d. inlern. krim. Vereinig., Bd. 10, Heft 2,) J. Guttentag,
Berlin 1903.
12*
168
Dr. med. Fr. Jos. Widmann
59. Schwarz,e, Stenograph. Berichte des Reichstags des Nordd. Bundes.
1870, I. Bd., S. 233.
60. Kahl, Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen. Gut¬
achten, Febr. 1904.
61. Mendel, Der ärztl. Sachverständige und der Ausschluß der freien
Willensbestimmung des § 51 d. Deutschen Str.G.B. Vierteljahrsschr. f. gerfchtl.
Medizin, N. F., Bd. 44.
62. Wilmanns, Die praktische Durchführbarkeit der Bestimmungen über
die verminderte Zurechnungsfähigkeit im V.E. Monatsschr. f. Krim.-Psychol. und
Strafrechtsreform, 1911, 8, S. 136.
63. Weber, Die Unterbringung geisteskranker Verbrecher und gemein¬
gefährlicher Geisteskranker. Ergebn. d. Neurol. und Psychiatrie. Jena 1912, I,
S. 497.
64. Cramer, Bemerkungen zum V.E. des Strafgesetzbuches. Herausgegeb.
von der Justizkommission des Deutschen Vereins f. Psychiatrie: C. Moeli,
A. Cramer, G. Aschaffenburg, A. Hoche, J. Longard, E. Schultze,
F. Vocke. Gustav Fischer, Jena 1910.
65. Gretener, Die neuen Horizonte im Strafrecht, 10. Heft der kritischen
Beiträge zur Strafrechtsreform. Leipzig 1909, VI u. 1638.
66. Kahl, Die geminderte Zurechnungsfähigkeit. Vergleichende Darstellung
des deutschen und des ausländischen Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin
1908, 1.
67. v. Michaelis, Groß’ Archiv, Bd. 57, S. 40.
68. Cramer, Bemerkungen zu dem Vorentwurf zu einem deutschen Straf¬
gesetzbuch. Münch, med. Wochenschr., Nr. 7, 15. Febr. 1910, S. 363.
69. Wollenberg, Der Vorentwurf zum deutschen Strafgesetzbuch. Verhand¬
lungen der 6. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtl. Medizin, 3. Folge,
Bd. 41, II. Supplementheft. Hirschwald, Berlin 1911, S. 232.
70. Krohne, Lehrbuch d. Gefängniskunde. Enke, Stuttgart 1889.
71. Wilmanns, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 71. Bd., 4. u. 5. Heft.
72. Többen, Über die individualisierende Behandlung der vermindert Zu¬
rechnungsfähigen im Strafvollzug. Sonderabdruck der Zeitschrift für Medizinal¬
beamte, 1915, Heft 6. Fischer-Kornfeld, Berlin.
73. Pollitz, Strafe und Verbrechen. Teubner, Leipzig 1910.
74. F. Leppmann, Der Gefängnisarzt. Richard Schoetz, Berlin 1909.
75. Staiger, Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener
jetzt und nach dem V.E. zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Zeitschr. f. Psy¬
chiatrie, 69. Bd. '
76. A. Leppmann, Der Schutz gegen Geisteskranke. Offizieller Bericht
über die 9. Hauptversammlung zu Breslau, 12.—13. Sept. 1913. Fischer-Kornfeld,
Berlin 1913, S. 16.
77. Wilmanns, Referat. Psychiatr.-neuroi. Wochenschr., 1914/15, S. 95.
78. Dannemann, Die Gemeingefährlichkeit bei Geisteskranken und ihre
Bekämpfung. Deutsche Medizin. Wochenschr., 1905, 31, S. 546.
79. F. Straß mann, Diskussion zu A. Leppmanns Vortrag »Der Schutz
gegen Geisteskranke* (Lit. 76), S. 25/26.
80. van Hamei, Diskussion. Mitteilungen der I.K.V., 1910, 17, S. 449.
81. A. Leppmann, Der Minderwertige im Strafvollzug. Ein Leitfaden
für die Gefängnispraxis. Richard Schoetz, Berlin 1912.
Die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für die Rechtspflege - " 169
82. Krohne, Bericht über den Strafvollzug an geistig Minderwertigen.
Mitteilungen der I.K.V., Bd. 12, S. 267/72, 274, 281, 284. Stuttgart 1904.
83. Derselbe, Blätter für Gefängniskunde, Bl. 43, S. 109, 1908.
84. Derselbe, Strafvollzugsbericht über den 7. Internat. Kongreß für An¬
thropologie, 1912, S. 28.
85. Ellger, Deutsche Strafrechtszeitung, Heft 10/11, S.575ff., 1914.
86. E. Kracht, Zwei Fragen aus dem Gebiet des Vollzugs in der Fürsorge¬
erziehung. Monatsschr. f. Krim.-Psychol. und Strafrechtsreform, II. Jahrg.
.9.-10. Heft, Jan. 1916. Carl Winter, Heidelberg. •
87. C. Moeli, Die Fürsorge f. Geisteskranke und geistig Abnorme. Nach
den gesetzl. Vorschriften, Ministerialerlassen, behördlichen Verordnungen und der
Rechtssprechung. Carl Marhold, Halle a. S. 1915.
88. Stammier, Bemerkungen über amerikanische Strafpolitik. Arch. f.
Kriminalanthr. und Kriminalistik, 47, S. 79, 1912.
89. C. Moeli, Einige Bemerkungen über die Regelung der Rechtsverhältnisse
der in Anstaltsbehandlung oder in Pflege fremder Personen befindlichen Geistes¬
kranken in Preußen. Monatsschr. f. Krim.-Psychol. u. Strafrechtsreform, 10,
S. 449, 1913.
Die Kriminalität in den Vereinigten Staaten von
• Amerika.
Von
Hans Fehlinger, München.
Das amerikanische statistische Amt zu Washington (Bureau
of the Census) hat einen Band Tabellen über Gefangene und
jugendliche Delinquenten veröffentlicht, der die wichtigsten Ergeb¬
nisse einer auf den 1. Januar 1910 bezüglichen Zählung der
Insassen von Straf- und Besserungsanstalten enthält. Eine Tabelle
gibt überdies Auskunft über die Zu- und Abgänge während des
Jahres 1910. *) Die Gesamtzahl der Gefangenen — ohne jugend¬
liche Delinquenten — betrug am 1. Januar 1910 111498, wovon
105362 männlichen und 6136 weiblichen Geschlechtes waren. In
den einzelnen Staatengruppen ist der Anteil der weiblichen Per¬
sonen an der Gesamtzahl der Gefangenen sehr verschieden. Über
dem Gesamtdurchschnitt stehen die der atlantischen Küste zunächst
gelegenen Staatengruppen, nämlich die Neu-Englandstaaten, sowie
die mittel- und südatlantischen Staaten, also Gebiete von recht
abweichender wirtschaftlicher und sozialer Eigenart. Die Neu-
England- und die mittelatlantischen Staaten gehören zu den Haupt¬
aufnahmegebieten der Einwanderung, die südatlantischen Staaten
aber nicht. Sehr stark vertreten ist das eingewanderte Bevölkerungs¬
element, das durch ein starkes Defizit weiblicher Personen aus¬
gezeichnet ist, in den nördlichen Zentralstaaten, wo auch der Anteil
der weiblichen Personen an der Gesamtzahl der Gefängnisinsassen
unter dem Durchschnitt zurückbleibt. Am geringsten ist jedoch die
weibliche Kriminalität in den Staaten der Felsengebirgsregion und an
der Küste des Stillen Ozeans, wohin verhältnismäßig wenige Ein-'
Wanderer kommen. Bestimmte Beziehungen zwischen dem Anteil
der Einwanderer an der Gesamtbevölkerung und dem Anteil der
weiblichen Personen an der Gefängnisbevölkerung bestehen also
nicht, obwohl die Einwanderer zur Gefängnisbevölkerung einen
i) Prisoners and Juvenile Delinquents, 1910. Washington, 1914. Government
Printing Office.
Die Kriminalität in den Vereinigten Staaten von Amerika ' 171
höheren Prozentsatz stellen als zur Gesamtbevölkerung. Die beiden
Gruppen der Neu-England- und der mittelatlantischen Staaten,
wo der Prozentsatz der Frauen unter den Gefangenen am höchsten
ist, weisen hingegen auch den größten Umfang der industriellen
Frauenarbeit auf. In den südatlantischen Staaten ist die industrielle
Frauenarbeit zwar von unterdurchschnittlichem Umfang, aber immer¬
hin noch umfangreicher als in allen andern Stäatengruppen mit
Ausnahme der beiden vorher genannten. Dieses Ergebnis wider¬
spricht anscheinend den Resultaten, zu welchen Mary Conyngton
gelangte, die fand, daß die in Fabriken und Werkstätten beschäf¬
tigten Frauen und Mädchen einen erheblich geringeren Prozent¬
satz der Straftätigen bilden, als ihrem Anteil an der Gesamtzahl
der Erwerbtätigen entspricht. 1 )
Die Zahl der Gefängnisinsassen in den einzelnen Staaten¬
gruppen war wie folgt:
Frauen
Oberhaupt
Männer
absolut
Proz.
Neu-England.
10588
9600
988
9,3
Mittelatlantische Staaten
23673
21629
2044
8,6
Nordöstl. Zentralstaaten
16 250
15576
674
4,1
Nordwestl. Zentralstaaten
9329
8981
348
3,7
Südatlantische Staaten .
17878
16814
1064
6,0
Südöstl. Zentralstaaten .
11341
10854
487
4,3
Südwestl. Zentratstaaten
9602
9298
304
3,2
Felsengebirgsstaaten .
4503
4403
100
2,2
Staaten am Stillen Ozean
6430
6303
127
2,0
Die Gruppierung der Gefängnisinsassen nach Rasse und Her¬
kunft ergibt zwei recht auffallende Tatsachen; nämlich, daß der
Anteil der Neger sowie der Anteil der weißen Einwanderer an
den Gefangenen erheblich größer ist als der Anteil dieser beiden
Bevölkerungselemente an der Gesamtbevölkerung. Die folgende
Tabelle macht dies anschaulich.' 2 )
Bevölkerung Gefangene
Weiße überhaupt.
Zahl
Proz.
Zahl
Proz.
81731957
88,9
72797
64,5
davon Einheimische . .
68386412
74,3
52473
47,1
Eingewanderte .
13345545
14,5
19438
17,4
unbekannt . . .
—
—
886
0,8
Neger.
9827763
10,7
37874
34,0
Andere Farbige .
412546
0,4
827
0,7
•) Vgl. Fehlinger, Erwerbsarbeit und Kriminalität von Kindern und Frauen
in den Verein. Staaten. Groß’ Archiv, 49. Bd., S. 200-203.
-) Bevölkerungszahlen nach dem Original des Volkszählungswerkes von 1910.
172
Hans Fehlinger
Besonders bei den Negern (einschließlich der Negermischlinge)
ist der Gegensatz groß; sie stellen nur etwas über ein Zehntel
der Bevölkerung, aber über ein Drittel der Gefangenen. Die Zahl
der letzteren ist um rund zwei Drittel größer als ihrem Bevöl¬
kerungsanteil entspricht. In den südatlantischen Staaten und den
südöstlichen Zentralstaaten, wo die Neger absolut am zahlreichsten
vertreten sind, ist ihr Anteil an der Gefangenenzahl etwa doppelt
so groß als ihr Bevölkerungsanteil; die Neger bildeten nämlich:
Von der Von den
In den Bevölkerung Gefangenen
südatlantischen Staaten. 33,7 Proz. 66,5 Proz.
südöstlichen Zentralstaaten ... 31,5 „ 77,0
Die wenigsten Neger gibt es in den Staaten am Stillen Ozean
(0,7Proz. der Bevölkerung) und in denFelsengebirgsstaaten(0,8 Proz.).
Ihr Anteil an den Gefangenen ist aber in der erstgenannten Staaten¬
gruppe über siebenmal und in der zweiten über neunmal so groß
als ihr Bevölkerungsanteil. Die Kriminalität nimmt also zu, je
vereinzelter die Neger leben, je mehr sie die wirtschaftliche Kon¬
kurrenz mit Angehörigen der weißen Rasse zu bestehen haben.
Nur zu leicht unterliegen sie in diesem wirtschaftlichen Wettstreit
und greifen dann zu Mitteln, die sie in Konflikt mit den Ge¬
setzen bringen. Hierauf hat schon 1899 W. F. Willcox in einem
Vortrag vor der amerikanischen Gesellschaft für Sozialwissenschaft
aufmerksam gemacht. *) Seit - der Sklavenbefreiung wurden die
Neger mehr und mehr aus der Landwirtschaft verdrängt. Sie
wenden sich nicht etwa den weiterverarbeitenden Industrien zu,
sondern vor allem den Berufen der häuslichen und persönlichen
Dienstleistung, und hauptsächlich die in den letzteren Tätigen sind
es, die am meisten mit den untersten Schichten der städtischen
Bevölkerungen in Berührung kommen und dabei sehr leicht den
moralischen Halt verlieren — umsomehr, als die natürlichen mora¬
lischen Hemmungen bei ihnen wahrscheinlich schwächer ausgebildet
sind als bei den Weißen, welch letztere viel länger und intensiver
einer scharfen Auslese ausgesetzt waren, die auf Beseitigung der
für unsere Kultur nicht angepaßten Varietäten gerichtet war. Man
kann also nicht Mängel der Erziehung allein für die größere Krimi¬
nalität der Neger verantwortlich machen, wie es Willcox tut. Zu¬
zugeben ist, daß widerwärtige wirtschaftiiche und soziale Zustände
das meiste zur Begehung von Vergehen und Verbrechen durch die
') Abgedruckt in Studies in the American Race Problem, herausg. von
A. H. Stone. New York 1908. (S. 443 u. ff.)
Die Kriminalität in den Vereinigten Staaten von Amerika
173
Neger beitragen. Sie werden aber, infolge geringerer Anpassung
an die europäische Kultur, leichter als die Weißen aus ihrer wirt¬
schaftlichen Existenz herausgedrängt, wodurch viele von ihnen auf
die Bahn einer unsozialen Lebensführung kommen. Viel beige¬
tragen zu der Unstetigkeit und Haltlosigkeit der Neger hat gewiß
die Abstumpfung des Familiensinnes in der Zeit der Sklaverei,
wo es dem Sklavenbesitzer anheimgegeben war, nach Belieben
die Familienbande seiner Sklaven zu zerreißen. Nicht außer acht
zu lassen ist freilich, daß diese Bande schon in der afrikanischen
Heimat der Neger viel lockerer waren als sie bei den Europäern
sind. Die Arbeitsfreudigkeit der Neger ist gering. Das Ackerbau¬
ministerium zu Washington stellte fest, daß die bäuerlichen Neger
durchschnittlich nicht mehr als 7'/2 Monate im Jahre zu arbeiten
pflegen. 1 ) Infolge ihrer stärkeren Sexualität verstoßen die Neger
gleichfalls viel häufiger gegen die Gesetze als die Weißen, und
namentlich im puritanischen Norden der Vereinigten Staaten werden
derartige Verstöße ungemein ernst genommen. Der Hang zum
Spiel ist eine weitere ungünstige Charaktereigenschaft der Neger,
durch welche viele ins Verderben geführt werden.
Von den am 1. Januar 1910 gezählten Negergefangenen waren
6,5 Proz. weiblichen Geschlechts, gegen 5,0 Proz. bei den weißen
Gefangenen.
Nach der Art der Verbrechen und Vergehen, wegen welcher die
Verurteilung erfolgt war, verteilten sich alle 111498 am 1. Januar 1910
gezählten Strafgefangenen wie folgt:
Mord .
6890
oder
6,2
Proz.
Totschlag .
7367
n
6,6
rt
Tätliche Mißhandlung . . .
9719
7t
8,7
n
Raub.
4 729
n
4,2
n
Einbruch .
16268
r>
14,6
n
Diebstahl.
21397
n
19,2
»
Betrug . ..
1481
n
1,3
n
Fälschung .
3145
n
2,8
7>
Notzucht.
4465
7t
4,0
**
Prostitution und Unzucht .
825
71
0,7
n
Trunkenheit und unordentliche Aufführung
13704
V
12,3
r>
Landstreicherei .
6004
7t
5,4
7>
Vergehen gegen die Schankgesetze . . .
2148
7t
2,0
y>
Andere Vergehen und mehrfache Vergehen .
13356
n
12,0
n
Vergehen gegen die Sicherheit der Person kommen in den
Südstaaten relativ häufiger vor als in den Nord- und Weststaaten.
') Office of Experiment Stations, Bulletin No. 38.
174
Hans Fehlinger
Wegen Mord und Totschlag waren verurteilt in den Südstaaten
19,3 Proz. aller Gefangenen, überhaupt jedoch nur 12,8 Proz.;
wegen tätlicher Mißhandlung waren in den Südstaaten 10,9 Proz.
gefangen und wegen Notzucht 4,3 Proz.; dagegen wegen Raub
bloß 3,3 Proz., Einbruch 14,1 Proz. und Diebstahl 19,1 Proz. Die
Trunkenheit und unordentliche Aufführung kommt im Süden sehr
wenig als Strafgrund in Betracht, wohl deshalb, weil man sie dort
weniger streng verfolgt als in dem puritanischen Norden.
86525 Personen wurden zur Todesstrafe oder zu Freiheits¬
strafen ohne die Möglichkeit ihrer Umwandlung in Geldbußen
verurteilt, und zwar zur Todesstrafe 143, zu lebenslänglicher Frei¬
heitsstrafe 6430 (7,4 Proz.), zu 20 oder mehr Jahren 3717, zu 10
bis 19 Jahren 7849, zu 5 bis 9 Jahren 10192, zu 1 bis 4 Jahren
20704 und zu weniger als 1 Jahr 16640; unbefristet war die Frei¬
heitsstrafe in 20717 Fällen (24,9 Proz.). In einer kleinen Anzahl
von Fällen war die Dauer der Freiheitsstrafe nicht angegeben.
♦ *
*
Von 24974 jugendlichen Delinquenten waren 19062
männlichen und 5912 oder 23,6 Proz. weiblichen Geschlechts.
Wie anderwärts ist auch in Amerika der Anteil des weiblichen
Geschlechts bei den jugendlichen Missetätern größer als bei den
Erwachsenen. Der weißen Rasse gehörten 21044 jugendliche De¬
linquenten an (davon 4980 oder 23,7 Proz. weibliche), der Neger¬
rasse 3855 (davon 915 oder 23,2 Proz. weibliche), anderen Rassen 75.
Es fällt auf, daß der Anteil der Neger an der Gesamtzahl der
jugendlichen Delinquenten viel geringer ist als der Anteil der
Neger an den erwachsenen Strafgefangenen; von den Jugendlichen
waren nämlich nur 15,4 Proz. Neger. Das beweist, daß die Nei¬
gung zum Verbrechen bei der Negerrasse erst im Mannes- und
Frauenalter übernormal groß ist, wenn die Personen ihre Selb¬
ständigkeit und ein großes Maß von Unabhängigkeit von den
Eltern erlangt haben. In den Südstaaten ist der Anteil der Neger
an der Gesamtzahl der jugendlichen Delinquenten erheblich höher
als im Landesdurchschnitt; er betrug nämlich in den südatlantischen
Staaten 40 Proz., in den südöstlichen Zentralstaaten 34,9 Proz. und
in den südwestlichen Zentralstaaten 36,3 Proz. In diesen Staaten
bilden aber auch die Neger einen weit größeren Prozentsatz der
Bevölkerung als im Norden und Westen.
Wegen Mord und Totschlag waren von den jugendlichen Per¬
sonen 59 verurteilt worden, wegen tätlicher Mißhandlung 323
(1,3 Proz.), Raub 208 (0,8 Proz.), Einbruch 2039 (8,1 Proz.), Dieb-
Die Kriminalität in den Vereinigten Staaten von Amerika 175
stahl 6420 (25,7 Proz.), Prostitution usw. 1187 (4,7 Proz.), Land¬
streicherei 952 (3,8 Proz.), Trunkenheit und unordentlicher Auf¬
führung 210 (0,8 Proz.) und wegen sonstiger oder mehrfacher
Vergehen 13519 (54,1 Proz.). Betrug, Fälschung sowie Vergehen
gegen die Schankgtesetze spielen bei den Jugendlichen keine Rolle.
Wegen Minderjährigkeit wurden 16839 von den 24974 Jugend¬
lichen an Besserungsanstalten übergeben; 6404 wurden auf un¬
bestimmte Zeit ip Gefängnisse gesetzt, 41 wurden zu Freiheitsstrafen
von weniger als einem Jahr verurteilt, 1272 zu 2 bis 4 Jahren, 379
zu 5 bis 9 Jahren und 36 zu 10 oder mehr Jahren.
* *
*
Im Laufe des Jahres 1910 belief sich der Zugang in die Ge¬
fängnisse und Besserungsanstalten auf 493934 Personen', von
welchen 48503 oder 9,8 Proz. weiblichen Geschlechts waren. Nach
Rasse und Herkunft verteilten sich diese Personen wie folgt;
Weiße überhaupt. 381498 oder 71,4 Proz.
davon Einheimische. 254 525 „ 51,5
Eingewanderte. 98532 „ 19,9 *
unbekannter Herkunft .... 28441 „ 5,9 *
Farbige. 112436 „ 22,7 „
Diese Zahlen sind weniger zuungunsten der Neger als die
Ergebnisse der Zählung der Gefangenen vom 1. Januar 1910, aber
sie sind mehr zuungunsten der Eingewanderten.
In Gefängnissen gestorben sind im Jahre 1910 1505 Personen,
darunter 736 Neger und andere Farbige. Diese scheinen demnach
den Aufenthalt in Gefängnissen viel schwerer zu ertragen als An¬
gehörige der weißen Rasse.
Nach Verbüßung der Strafe oder nach erfolgter Begnadigung
entlassen wurden’ 468277 Personen, unter welchen 103267 Farbige
waren.
Über Privatgutachten.
Grundsätzliche Darlegungen von Professor Dück, Innsbruck.
Im 2. Heft des 69. Bandes dieser Zeitschrift hat H. Hentschel
an der Hand eines typischen Falles die Schwierigkeiten auf¬
gezeigt, die sich auf psychiatrischem Gebiet angesichts einer
großen Anzahl weit auseinandergehender, ja z. T. sich sogar
direkt widersprechender Gutachten für die Richter ergeben; mit
Recht wurde dabei ausgeführt, *daß hauptsächlich für die Privat¬
gutachten die notwendigen gesicherten Grundlagen insofern fehlten,
als diesen Gutachtern (es handelte sich um. die Frage der Zu¬
rechnungsfähigkeit) keine genügend lange Beobachtung möglich
war, wie sie eben nur in einer geschlossenen Anstalt durchzu¬
führen ist. Diese Frage der genügend gesicherten Grundlagen
für ein Gutachten aber ist von so grundsätzlicher Bedeutung,
daß es gestattet sein mag, ihre alles überragende Bedeutung auch
auf einem anderen recht viel umstrittenen Gutachtergebiet, dem
der Schriftbegutachtung, insonderheit des Schriftvergleiches, dar¬
zutun. Wenn wir uns dabei auf einen ganz typischen Fall aus
der Praxis stützen, so hat dies vielleicht den Vorteil, die immer¬
hin mögliche Einwendung, so etwas komme in Wirklichkeit nicht
vor, von vornherein zu entkräften; wer schon, wie der Ver¬
fasser, viele Hunderte von Gutachten abgegeben' hat und wieder¬
holt bei Gelegenheit von Obergutachten Einblick erhielt in die ver¬
wendeten Grundlagen für Abgabe von Gutachten und das, was
manch einer von privater Seite als Grundlage für Gutachten
zugemutet bekam, wird zugeben, daß es sich hier tatsächlich
um etwas Typisches handelt, bezüglich dessen die unver¬
rückbare Festlegung und unbedingte Einhaltung von
Grundsätzen zur Vermeidung einer unnötigen Belastung der Ge¬
richte notwendig ist und von allen nach den allgemeinen Grund¬
sätzen der Wissenschaft arbeitenden Sachverständigen dringendst
gewünscht werden muß; hier ist nämlich der wichtigste Scheide¬
weg, wo sich allüberall der ernst zu nehmende wissenschaftliche
Forscher vom Dilettanten trennt.
Über Privatgutachten
177
Wie schon von verschiedenen Seiten, insbes. im Archiv für
gerichtliche Schriftuntersuchung dargetan wurde, kann ein selbst
noch so gutes photographisches Bild keinen vollen Ersatz für das
Original bieten; daß trotzdem die Photographie anderweitig un¬
schätzbare und unentbehrliche Dienste leistet, ist natürlich dadurch
nicht bestritten; b$i Schriften aber kann sie unmöglich alles
Wünschenswerte ebensogut wie das Original wiedergeben, man
denke nur an die Untersuchung des Papieres, bezw. der Schreib¬
materialien überhaupt. Weit bedenklicher aber ist die einseitig
von einer Partei besorgte Beibringung von Vergleichsschriften;
man hat da niemals eine Gewähr dafür, daß es sich nicht um
sorgfältig „in usum delphini“ ausgewählte Schriften, ja, noch
mehr, am Ende gar zum Zwecke dieses Schriftvergleiches eigens
hergestellte und zwar mit gewissen Änderungen und Auslassungen
hergestellte Schriften handelt; ist nämlich schon jede vor Gericht
abgegebene Schriftprobe infolge der (willkürlichen und unwill¬
kürlichen) Antriebe und Hemmungen verändert, also in gewissem
Sinne unnatürlich und daher jedenfalls weniger geeignet als un¬
gehemmt zustande gekommene Schriften, so trifft dieser Einwand
erst recht da zu, wo die Partei Gelegenheit, Zeit und Interesse
genug hat, ein bestimmtes Vergleichsmaterial erst zu schaffen.
Eine gewisse Sicherung bieten also (bes. bei Privatgutachten) nur
solche Dokumente, wo zweifellos die Schrift nicht nachher erst
absichtlich angefertigt worden sein kann; das sind z. B. ge¬
richtliche und notarielle Urkunden mit Datum oder auch, was
wohl meistens in Frage kommt, Briefe und Postkarten mit Post¬
stempel. In allen anderen Fällen aber sind die Vergleichs¬
materialien nicht ganz einwandfrei und es darf grundsätzlich,
wenn überhaupt, ein Privatgutachten nur unter dem ausdrück¬
lichen Vorbehalt abgegeben werden, daß das Vergleichsmaterial
sich nicht etwa hinterher als nicht einwandfrei herausstellte.
In unserem typischen Fall handelt es sich um den (gegen¬
wärtig so beliebten) Weg anonymer Verdächtigungen bei den
Militärbehörden. Auf Grund eines sehr umfangreichen Materials,
das nicht bloß vom Angeklagten beigebrachte Schriften, sondern
vor allem auch eine Reihe bei den Behörden ausgehobener Akten
umfaßte, waren die Innsbrucker Sachverständigen, Prof. D. und
Prof. R., zu dem Ergebnis gekommen, daß die fraglichen anonymen
Briefe bestimmt von der Hand des Beschuldigten herrührten, daß
es sich bei allen Schriften um eine gleichartige Tinte, um moderne
Eisengallustinte, handle und daß es mindestens sehr wahrschein-
178
Professor Dück
lieh sei, daß die vom Angeklagten beigebrachten, angeblich erst
nach und nach im Laufe einer längeren Zeit entstandenen Ver¬
gleichsschriften alle auf einmal und zwar zum Zwecke der Ent¬
kräftung des Indizienbeweises angefertigt worden seien; dazu führte
vor allem der Umstand, daß sich darin gewisse abweichende Formen
fanden, die der Angeklagte bei seiner Verteidigung immer wieder
hervorhob, während sich aus den behördlichen Dokumenten ein¬
wandfrei nach weisen ließ, daß passende eben dort vom Angeklagten
verwendet worden waren. Auch andere Gründe sprachen für
diese Annahme. Der Angeklagte wurde daraufhin vom Gericht
verurteilt und suchte nun das Wiederaufnahme-Verfahren zu er¬
reichen, indem er einem Wiener Sachverständigen privatim eine
Photographie eines Teiles aus einem der anonymen Briefe und eben
das Konzeptbuch „Agenda“, sandte, welches die Innsbrucker
Sachverständigen als bedenkliches Vergleichsmaterial festgestellt
hatten; weitere Mitteilungen machte er nicht. Auf Grund dieses
Materials gab nun der Wiener Sachverständige ein Gutachten
dahin ab, daß die anonymen Briefe nicht von der Hand des
Angeklagten herrührten. Das Gericht beschloß nun, im Wieder¬
aufnahmeverfahren dem Wiener Sachverständigen sämtliche Akten
mit der Frage vorzulegen, ob er nunmehr sein Gutachten auch
noch aufrecht erhalten könne. Dies war nun nicht der Fall,
der Wiener Sachverständige kam vielmehr nun zu einem ganz
entsprechenden Ergebnis wie die Innsbrucker Sachverständigen. —
Zweck dieser Zeilen ist die Forderung, daß grundsätzlich
kein wissenschaftlich arbeitender Sachverständiger irgend eines
Gebietes ein Gutachten abgebe, ohne genügend gesicherte
Grundlagen dafür zu haben; können oder wollen ihm diese
nicht beschafft werden, so ist unbedingt die Erstattung eines
solchen Privatgutachtens abzulehnen, bei Erstattung eines amt¬
lichen Gutachtens aber ausdrücklich der entsprechende Vorbehalt
zu machen. Für den Schriftsachverständigen im besonderen aber
ergibt sich die Folgerung:
1. Nach einer Photographie allein niemals ein bestimmtes
Gutachten abzugeben;
2. Bei Vergleichsschriften stets an die Möglichkeit zu
denken, daß unter Umständen auch verstellte Schriften vor¬
liegen können, und sich durch Verlangen nach Vorlage einwand¬
freien Vergleichsmaterials gegen irrige Schlußfolgerungen zu sichern.
Nur wenn diese Grundlagen gegeben sind, kann ein Gut¬
achten Anspruch auf gerichtliche Beachtung erheben.
Kriminalistische Übergangswirtschaft.
VI.
Die Verstaatlichung der ungarischen Polizei.
Gesetzentwurf
über die Organisation der k. ung. Staatspolizei.
Ins Deutsche übertragen von Regierungsrat Dr. Robert Heindl.
I. Organisation der k. ung. Staatspolizei.
§ 1 .
ln den Städten mit Munizipalrecht und in denen mit Magistrats¬
ordnung übt die k. ung. Staatspolizei die Polizeihoheit aus und
versehen die k. ung. Staatspölizeiorgane den Polizeidienst.
Die Kompetenz und das Funktionsgebiet der Budapester k.
ung. Staatspolizei werden durch dieses Gesetz nicht berührt.
§ 2 .
In begründeten Fällen kann der Minister des Innern die Be¬
stimmungen des § 1 auch auf einzelne Gemeinden oder auf ein¬
zelne Gemeindegruppen ausdehnen.
Über die Ausdehnung des Funktionskreises der k. ung. Staats¬
polizeibehörden auf einzelne Gemeinden oder Gemeindegruppen
hat der Minister des Innern dem Reichstag von Fall zu Fall Be¬
richt zu erstatten.
Begründung zu § 1 und 2:
Die Wichtigkeit der Polizei tritt in den Städten besonders in den
Vordergrund. Deshalb ist die Hebung des Niveaus der Polizeibehörden
in den Städten eine dringende Aufgabe.
Hierauf weist bereits der § 30 des G.A. LVII1 v. J. 1912 hin, welcher
die Landesorganisation der Polizei obligatorisch macht, und dies stellt
auch der § 1 des Entwurfes fest. Hierbei stellt er aber ausdrücklich
fest, daß die Kompetenz und das Funktionsgebiet der k. ung. Staats¬
polizei der Residenzstadt Budapest, welche mit besonderen Gesetzen:
G.A. XXI: 1881, XLVI: 1889, LX: 1912 und XXXVIII: 1916 geregelt
sind, unberührt bleiben.
Es gibt viele die Staatsinteressen eng berührende Aufgaben, welche
unbedingt eine verläßliche Polizei auch in den einzelnen Gemeinden,
180
Dr. Robert Heindl
insbesondere in den Grenzgemeinden erfordern. § 2 des Entwurfes er¬
mächtigt daher den Minister des Innern den Funktionskreis der Staats¬
polizei auch auf einzelne Gemeinden oder Gemeindegruppen, insbesondere
auf solche auszudehnen, in welchen derzeit — obzwar mit besonderem
Wirkungskreis — die k. ung. Grenzpolizei funktioniert.
Die Beurteilung der Gründe, welche in irgendeiner Gemeinde die
Organisierung der Staatspolizei erwünscht erscheinen lassen und dem¬
zufolge die Wahl der in den Kreis der Staatspolizei einzubeziehenden
Gemeinden, überläßt der Entwurf dem Minister des Innern, als dem be¬
rufensten Faktor, welcher aber seinen diesbezüglichen Entschluß zur
Orientierung dem Reichstag von Fall zu Fall berichtet.
§ 3.
Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gehen die auf Grund
des G.A. VIII: 1903 mit besonderem Wirkungskreis organisierte k.
ung. Grenzpolizei und die auf Grund des G.A. XXXVII: 1916 er¬
richtete Fiumaner k. ung. Staatspolizei in der k. ung. Staatspolizei
auf, mit der sie einen einheitlichen Landesstand bilden.
Das Personal und der Stand der Budapester k. ung. Staats¬
polizei werden durch diese Bestimmungen nicht berührt.
Es können die Angestellten der k. ung. Staatspolizei zu An¬
gestellten der Budapester k. ung. Staatspolizei und umgekehrt auch
gegen ihren Willen ernannt werden und zwar in gleicher oder
höherer Dienststellung.
Begründung zu § 3:
Derzeit ist die k. ung. Staatspolizei als Polizeibehörde, nur in den
Städten Budapest und Fiume und deren Umgebung derart organisiert,
daß die Budapester k. ung. Staatspolizei im Sinne des G.A. XXI: 1881
mit vollkommen separater Organisation und separaten Vorschriften funk¬
tioniert, während das Personal der Fiumaner k. ung. Staatspolizei mit
dem Personal der k. ung. Grenzpolizei einen einheitlichen Landesstand
bildet.
§ 3 des Entwurfes läßt die Abgesondertheit der „k. ung. Staats¬
polizei der Residenzstadt Budapest“ unberührt, während er das Personal
der k. ung. Grenzpolizei mit der neuzuschaffenden „k. ung. Staatspolizei“
verschmilzt. Er erstreckt gleichzeitig den Wirkungskreis der Grenz¬
polizei auf die gesamten polizeilichen Obliegenheiten.
Demzufolge hört die k. ung. Grenzpolizei mit dem Inkrafttreten
dieses Gesetzes als solche auf und die auf sie Bezug habenden be¬
sonderen Bestimmungen verlieren ihre Wirksamkeit.
Zufolge des abgesonderten Personalstandes der Budapester k. ung.
Staatspolizei und der k. ung. Staatspolizei kann eine Transferierung unter
den Angestellten dieser beiden Gruppen nicht stattfinden. Es kann aber
aus Staatsinteressen hin und wieder sich für notwendig erweisen, daß
die Arbeitskraft eines oder mehrerer in den Stand des einen Korps ge¬
hörenden Angestellten im Wirkungskreis des anderen Korps in Anspruch
genommen werde.
Kriminalistische Übergangswirtschaft
181
Aus diesem Grunde ist es notwendig festzustellen, daß die Er¬
nennung aus dem einen Stande in den anderen auch gegen den Willen
des Angestellten erfolgen kann.
§ 4.
Zur Ausübung der Polizeihoheit ist in jeder Stadt mit Muni¬
zipalrecht eine Polizeihauptmannschaft zu organisieren.
Dasselbe gilt in der Regel auch für die Städte mit Magistrats¬
ordnung und für die in den Wirkungskreis der k. ung. Staats¬
polizei einbezogenen Gemeinden, doch kann der Minister des
Innern ausnahmsweise auch mehrere Städte mit Magistratsordnung
oder mehrere Gemeinden in den Funktionskreis einer Polizeihaupt¬
mannschaft überweisen, und dort, wo eine Polizeihauptmannschaft
keinen Sitz hat, nach Bedarf eine Polizeiexpositur errichten.
Der Innenminister ist berechtigt, wenn es die Ausdehnung des
Extravillans der Stadt begründet, im Extravillan der Stadt eine
oder mehrere Polizeiexposituren zu errichten und den Territorial¬
wirkungskreis derselben festzustellen.
Die Polizeiexposjturen üben in dem Ihnen übertragenen Wir¬
kungskreise die Polizeihoheit selbständig, aber unter Aufsicht der¬
jenigen Polizeihauptmannschaft aus, in deren Funktionskreis sie
gehören.
Begründung zu § 4:
§ 4 des Entwurfes stellt den behördlichen Ausbau der k. ung. Staats¬
polizei fest. $ 4 bezeichnet als Polizeibehörde erster Instanz in der
Regel. den Polizeihauptmann. Wenn aber mehrere Klein- oder Gro߬
gemeinden oder Städte mit Magistratsordnung in den Funktionskreis
einer Polizeihauptmannschaft gehören, können an jenen Stellen, welche
außerhalb der Residenz des Polizeihauptmannes liegen, Polizeiexposituren
organisiert werden. Es können weiter auch im Extravillan der Stadt
Polizeiexposituren errichtet werden. Die Leiter der städtischen und der
Gemeinde-Polizeiexposituren üben zwar ihr Amt in dem ihnen über¬
tragenen Wirkungskreis ganz unabhängig und auf ihre eigene Verant¬
wortung aus, doch steht ihre Funktion unter der unmittelbaren Kon¬
trolle desjenigen Polizeihauptmannes, in dessen Sprengel sie gehören.
§5.
Die Polizeihoheit zweiter Instanz wie auch die Aufsicht und
Kontrolle über die k. ung. Rolizeihauptmannschaften üben die k.
ung. Distriktspolizei-Oberhauptleute aus, denen auch das unmittel¬
bare Aufsichts- und Kontrollrecht über die Polizeiexposituren zusteht.
Die Zahl, der Sitz und das Funktionsgebiet der Distriktsober¬
hauptmannschaften bestimmt das Ministerium mit Verordnung, doch
kann ihre Zahl die der Gendarmeriedistriktskommandos nicht über-
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 13
182
Dr. Robert Heindl
steigen; ihr Sitz und ihr Funktionskreis müssen aber mit diesen
zusammenfallen.
§ 6 .
Die oberste Aufsichts- und Kontrollbehörde der k. ung. Staats¬
polizei ist der Minister des Innern. Das Aufsichtsrecht des Mi¬
nisters des Innern erstreckt sich auf die Distriktsoberhauptmann¬
schaften und Hauptmannschaften, sowie auch auf die Polizeiexpo¬
situren. Der Minister kann es allen Behörden gegenüber unmittel¬
bar ausüben.
Begründung zu § 6:
§ 6 sichert dem Innenminister als oberster Polizeibehörde das Kon¬
trollrecht und, um dieses wirksamer zu gestalten, stellt der Entwurf fest,
daß es der Innenminister auch den Polizeibehörden erster Instanz gegen¬
über unmittelbar austiben kann.
§ 7.
Der Minister des Innern ist berechtigt, im Rahmen des Per¬
sonals der k. ung. Staatspolizei eine Zentralvorerhebungsbehörde
(Zentraluntersuchungsbehörde) zu organisieren, deren Beruf die
Evidenthaltung, Leitung, Kontrolle und eventuell die unmittelbare
Erledigung der Staatspolizeisachen des ganzen Landes ist, wie auch
die zentrale Leitung und eventuell unmittelbare Durchführung der
Erhebungen bei bedeutenderen Delikten. •
Die Organisation und das Verfahren der Zentralvorerhebungs¬
behörde bestimmt der Minister des Innern im Einvernehmen mit
dem Justizminister durch Verordnung.
Begründung zu § 7:
§ 7 ermächtigt den Minister des Innern eine Zentralvorerhebungs¬
behörde zu organisieren, welche die raschere und erfolgreichere Fest¬
stellung der Täter und der Umstände der wichtigeren oder gefährlicheren
Delikte dadurch sichert, daß die Leitungs- und Exekutivorgane gleich¬
mäßig aus den in diesem Aufgabenkreis arbeitenden geschicktesten und
geübtesten Elementen ausgewählt werden können, welche in der Arbeit
der Aufdeckung von größeren Delikten mit ihrem Wissen und ihren Er¬
fahrungen bedeutende Leitungs-, eventuell unmittelbar Exekutiv.-Arbeit
ausüben können. Des weiteren obliegt auch der Zentralvorerhebungs¬
behörde, daß sie die staatsfeindlichen Bestrebungen stets beobachtet,
die verdächtigen Individuen und Bestrebungen evident hält, die auf die
Wahrung der Interessen des Staates abzielende Abwehr leitet und kon¬
trolliert und sie in wichtigeren Fällen auch unmittelbar erledigt.
§ 8.
Der Minister des Innern kann in allen Städten sowie in Ge¬
meinden, in denen die k. ung. Staatspolizei funktioniert, die Organi-
Kriminalistische Übergangswirtschaft I85T
sierung eines Anmeldungsamtes anordnen. Die Aufgaben des An-
meldungsamtes versieht das Personal der k. ung. Staatspolizei.
Wo ein Anmeldungsamt organisiert ist, dort erstreckt sich die
Anmeldungspflicht auf das ganze Intra- und Extravillan der be¬
treffenden Stadt oder Gemeinde.
Die Bestimmungen des § 23 des G.A.: 1879 treten außer Kraft.
Begründung zu § 3:
Das nahezu unerläßliche Hilfsmittel zur wirksamen Funktion der
Polizei ist die Organisierung der Anmeldungsinstitution. »
G.A. XXVIII: 1879 hat die Anmeldepflicht nur für Budapest be¬
stimmt, und § 23 ermächtigte bloß den Minister des Innern, dieselbe
auf Städte mit Munizipalrecht sowie mit größerer Bevölkerung auch aus¬
zudehnen und die Anmeldungsinstitution auf Kosten der Stadt zu ver¬
wirklichen. Heute sind in 16 Städten mit Munizipalrecht und in 22
mit Magistratsordnung, also insgesamt an 38 Stellen Anmeldungsämter
organisiert.
Bezgl. der Ausländer hat § 2 des G.A.: 1903 die Anmeldungs¬
pflicht für sämtliche Städte und Gemeinden festgestellt. § 6 des G.A.
LXIII1912 hat aber die Regierung ermächtigt, die im Frieden sich nur
auf die Ausländer beschränkende Anmeldepflicht auf Kriegsdauer auch
auf Inländer auszudehnen. Dies ist auch mit Verordnung Nr. 5475/1914
M.E. und mit Pkt. 4 der Verordnung 5735/1914 M.E. bezgl. des ganzem
Gebietes des Landes geschehen.
Bei der Organisierung der Staatspolizei muß aber dafür gesorgt
werden, daß die Möglichkeit der Anordnung der obligatorischen An¬
meldung überall besteht, wo die Staatspolizei funktioniert.
Deshalb ermächtigt der Entwurf den Minister des Innern nicht nur
in allen Städten, sondern auch in solchen Gemeinden, wo die Staats-
polizei funktionieren wird, ein Anmeldungsamt zu organisieren, und der
Entwurf stellt für das* Intra- und Extravillan aller solcher Städte und Ge¬
meinden die allgemeine Anmeldepflicht fest.
Die Errichtung der Anmeldeinstitution wird eine besondere Be¬
lastung der betreffenden Stadtgemeinde nicht nach sich ziehen; denn
die Aufgaben des Anmeldungsamtes versieht das Personal der Staatspolizei.
Zufolge dieser .Ermächtigung mußte §23 des G.A.: 1879, welcher
die Anordnung der Anmeldepflicht nur' auf die Städte mit Munizipal¬
recht und auf größere Städte, mit Magistratsordnung beschränkt hat,
welcher weiter mit den Kosten der Anmeldeinstitution die Stadt be¬
lastete und das Ernennungsrecht des Offizierspersonals der Anmeldungs¬
ämter auf die Obergespane übertragen hat, außer Kraft gesetzt werden.
II. Wirkungskreis der k. ung. Staatspolizei.
•1. Territorialer Wirkungskreis.
§ 9.
Das Polizeihoheitsrecht des Ministers des Innern erstreckt sich
mit Ausnahme der Länder Kroatien-Slawonien auf das ganze Ge-
13*
184
Dr. Robert Heindl
biet des ungarischen Staates. Auf dasselbe Gebiet erstreckt sich
auch der Wirkungskreis der Zentralvorerhebungsbehörde.
Das Aufsichts- und das zweitinstanzliche Polizeihoheitsrecht
der Distriktspolizeioberhauptmannschaften erstreckt sich auf das für
sie von dem Ministerium als Wirkungskfeis bestimmte Gebiet. (§5.)
Das Hoheitsrecht des Polizeihauptmannes (des Leiters der
Polizeiexpositur) als erstinstanzlicher Polizeibehörde erstreckt sich
auf das ganze Intra- und Extravillan der betreffenden Stadt (Ge¬
meinde) und auf alle Personen und Sachen auf diesem Gebiete,
welche der Hoheit dieser Gemeinde unterworfen sind. (§§ 3 u. 4.
A. XXII: 1886.)
Das auf Punkt A. des § 57 des G.A. XXI: 1886 basierte Auf¬
sichts- und Kontrollrecht der Obergespane wird durch dieses Ge¬
setz nicht berührt.
Begründung zu § 9:
§§ 9—15 regeln den Wirkungskreis der Staatspolizei und zwar § 9
den territorialen, die §§ 10—15 den dienstlichen Wirkungskreis.
§ 9 stellt fest, daß das Hoheitsrecht des Ministers des Innern als
oberste Polizeibehörde, ferner der Wirkungskreis der Zentralvorerhebungs¬
behörde mit Ausnahme der Länder Kroatien - Slawonien, deren Polizei¬
direktion in ihren eigenen autonomen Rechtskreis fällt, sich auf das
ganze Gebiet des ungarischen Staates erstreckt.
Er stellt ferner fest, daß das Hoheitsrecht der Distriktspolizei-Ober¬
hauptleute gemäß der Bestimmung des § 5 auf das vom Ministerium
bezeichnete Gebiet, der Wirkungskreis der Polizeihauptleute und der
Leiter der Polizeiexposituren aber auf das ganze Intra- und Extravillan
der Stadt bzw. der Gemeinde und auf diesem Gebiet sich auf alle Per¬
sonen und Sachen erstreckt, welche im Sinne de/ Bestimmungen des
Gemeindegesetzes der Gemeindebehörde unterworfen sind. Eine Aus¬
nahme bezüglich des Wirkungskreises des städtischen Polizeihauptmannes
besteht nur insofern, als, wenn auf dem Extravillan irgendeiner Stadt
eine Polizeiexpositur organisiert ist, der Leiter dieser Expositur das
Polizeihoheitsrecht auf seinem Funktionsgebiet in dem ihm übertragenen
Wirkungskreis selbständig, jedoch unter Aufsicht des *städtischen Polizei¬
hauptmannes, ausübt; der Wirkungskreis des Polizeihauptmannes solcher.
Städte erstreckt sich also nicht auf das ganze Gebiet des Extravillans,
eventuell auf gar keinen Teil des Extravillans der Stadt. Zur Vermeidung
von Mißverständnissen bestimmt § 9 auch, daß das Aufsichts- und Kon¬
trollrecht der Obergespane unberührt bleibe, dieses also sich auch auf
das Personal und auf die Funktion der k. ung. Polizei erstreckt.
2. Dienstlicher Wirkungskreis. .
§ 10 .
In den Wirkungskreis der k. ung. Staatspolizei gehören:
A. Die Ausübung der öffentlichen Sicherheitspolizei:
Kriminalistische Übergangswirtschaft
185
B. Die Ausübung der Verwaltungspolizei in allen durch eine
Rechtsvorschrift (Gesetz, Verordnung, Statut) ausdrücklich in den
Wirkungskreis der Polizeibehörden gewiesenen Verwaltungsange¬
legenheiten;
C. Die Ausübung der Polizeistrafgerichtsbarkeit in den in die
Kompetenz der Verwaltungsbehörden gehörenden Übertretungs¬
fällen, welche in solchen Verwaltungsangelegenheiten aufgetaucht
sind, in welchen die Polizeibehörde zu verfügen hat, oder welche
ausdrücklich vor die Polizeibehörde gewiesen sind.
Die Ausübung des Polizeidienstes im engen Sinn auf dem
Funktionsgebiet der k. ung. Staatspolizei gehört in sämtlichen Ver¬
waltungsangelegenheiten in den Aufgabenkreis der k. ung. Staats¬
polizei.
A. öffentliche Sicherheitspolizei.
§ 11 .
Die dem öffentlichen sicherheitspolizeilichen Wirkungskreis ent¬
springende Aufgabe der k. ung. Staatspolizei ist, gegen jene Ge¬
fahren Schutz zu bieten, welche aus dem Verhalten der Massen
der Menschen (Staatspolizei) oder einzelner Menschen (öffentliche
Polizei) entspringen.
Hierher gehören insbesondere die Vereins- und Versammlungs¬
polizei, ferner die Polizei über die Ausländer und die gegen ein¬
zelne Menschen anwendbaren Zwangsmaßregeln. (Anweisung, Ab¬
schub,-Verhaftung usw.)
B. Verwaltungspolizei.
§ 12 .
Die Verwaltungspolizei, das heißt die Feststellung der Funk¬
tionsordnung einzelner Verwaltungszweige und die Vorsorge für
deren Aufrechterhaltung obliegt auch auf dem Gebiete der k. ung.
Staatspolizei den Verwaltungsbehörden, ausgenommen einzelne
Verfügungen, welche durch eine Rechtsvorschrift (Gesetz, Verord¬
nung, Statut) ausdrücklich in den Wirkungskreis der Polizeibehörden
gewiesen sind.
In jenen in den Wirkungskreis der Verwaltungspolizei ge¬
hörenden Angelegenheiten, in welchen eine Rechtsvorschrift als
Behörde erster Instanz den Polizeihauptmann der Stadt mit Muni¬
zipalrecht, als Behörde zweiter Instanz' deren Magistrat bezeichnet,
wird nach Inslebentreten dieses Gesetzes als Behörde erster Instanz
der vom Magistrat bestimmte Beamte vorzugehen berufen bleiben.
186
Dr. Robert Heindl
Das in einzelnen Rechtsvorschriften bestimmte Hoheitsrecht der
übrigen Behörden wird durch diese Verfügung nicht berührt.
Die in den Kreis der Verwaltungspolizei gehörenden Obliegen¬
heiten der Polizei bestimmt der Minister des Innern mit Verord¬
nung.
In den Wirkungskreis der Polizeibehörden müssen jene ver-
waltungspolizeilichen Obliegenheiten gewiesen werden, welche vom
Gesichtspunkte der Staatsinteressen, ferner der Persons- und Ver¬
mögenssicherheit besondere Bedeutung haben.
Die zwischen den Verwaltungsbehörden und der k. ung. Staats¬
polizei auftauchenden Kompetenzkonflikte entscheidet der Minister
des Innern endgültig.
C. Polizeigerichtsbarkeit.
§ 13 -
Die Ausübung der Polizeistrafgerichtsbarkeit in den Über¬
tretungsfällen, welche vor die Polizeibehörde gewiesen sind, be¬
trifft die k. ung. Staatspolizeibehörden:
1. Bei den Übertretungen, welche in den in den Wirkungs¬
kreis der Polizeibehörden zugewiesenen Angelegenheiten verübt
wurden.
2. Bei den Übertretungen,* welche zwar in den Angelegen¬
heiten verübt wurden, die in den Wirkungskreis der Verwaltungs¬
behörden gehören, deren Entscheidung aber eine Rechtsvorschrift
(Gesetz, Verordnung, Statut) ausdrücklich in den Wirkungskreis
der k. ung. Staatspolizei überweist.
§ 14.
Auf dem Funktionsgebjet .der k. ung. Staatspolizei gehen als
Polizeistrafgerichte folgende Behörden vor:
1. In den vor die Staatspolizei gehörenden Übertretungsfällen:
In erster Instanz: der Polizeihauptmann, bzw. der Leiter der
Polizeiexpositur, oder anstatt dieser der durch den Minister des
Innern betraute Beamte.
In zweiter Instanz: der Distriktspolizei-Oberhauptmann, in
der Stadt und dem Distrikt Fiume der Gubernialrat.
In dritter Instanz: der Minister. •
2. In den in den Wirkungskreis der Verwaltungsbehörden ge¬
hörenden Übertretungsfällen:
In erster Instanz: der Oberstuhlrichter oder der Stuhlrichter,
Kriminalistische Übergangswirtschaft
187
in Städten mit Munizipalrecht und mit Magistratsordnung der durch
den Magistrat betraute Beamte.
In zweiter Instanz: in Gemeinden und in Städten mit ge¬
regeltem Magistrat der Vizegespan, in Städten mit Munizipalrecht
der Magistrat.
In dritter Instanz: der Minister.
D. Die Ausübung des Polizeidienstes.
§ 15.
Die k. ung. Staatspolizei verfügt in eigenem Wirkungskreis
auch dann, wenn sie auf Ansuchen einer Behörde vorgeht.
Die k. ung. Staatspolizei ist den Verwaltungsbehörden nicht
untergeordnet, doch hat sie diese in ihren gesetzlichen Verfügungen
zu unterstützen, ihnen auf Ansuchen die notwendige polizeiliche
Hilfe zu bieten, wie auch in den ddrch die Verwaltungsbehörden
versehenen Polizeisachen die polizeilichen Aufgaben zu erfüllen
und Brachialgewalt beizustellen.
Die k. ung. Staatspolizei ist auf ihrem Funktionsgebiet auch
ohne Ansuchen verpflichtet, die Übertretung der genehmigten
Statuten sowie der durchführbaren Gemeindevertretungs - oder
Magistratsbeschlüsse und Verfügungen nach Möglichkeit hintan¬
zuhalten, die Dagegenhandelnden auszuforschen und anzuzeigen.
Begründung zu §§10—15:
§ 10 umschreibt im allgemeinen den Wirkungskreis der Staats¬
polizei und zählt zu diesem das ganze Gebiet der Sicherheitspolizei,
aus dem Kreise der Verwaltungspolizei aber nur jene Aufgaben, welche
durch eine Rechtsvorschrift — ausnahmsweise — in den Wirkungskreis
der Polizeibehörden überwiesen sind, ferner die Polizeistrafgerichtsbar¬
keit und endlich die Ausübung des Polizeidienstes im engeren Sinne.
§§11 und 12 umschreiben insbesondere die polizeilichen Aufgaben
und klassifizieren auf prinzipieller Grundlage die Kompetenz der Polizei
einerseits und der Verwaltungsbehörden andererseits.
Man pflegt zu unterscheiden die Verwaltungs- und die Gerichtspolizei,
oder die mit diesen beinahe übereinstimmende Präventiv- und Repressiv¬
polizei. Beide Klassifizierungen können jedoch deshalb beanstandet
werden, weil die gerichtliche oder nach der anderen Klassifizierung die
Repressivobliegenheit eigentlich gar keine polizeiliche, sondern richter¬
liche Obliegenheit ist.
Man pflegt noch die Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei zu unter¬
scheiden und versteht unter der ersteren die Zwangsabwehr jener Ge¬
fahren, welche die öffentliche Ordnung gefährden; unter der letzteren
aber die auf die Hebung der allgemeinen Wohlfahrt hinzielende Tätig¬
keit. Diese Klassifizierung wurde aber nicht angenommen, denn die
auf die Hebung der allgemeinen Wohlfahrt hinzielende Tätigkeit besteht
188
Dr. Robert Heindl
vorwiegend in der Pflege von Einrichtungen, deren Inanspruchnahme
nicht erzwungen werden kann ^ demzufolge fällt die auf die allgemeine
Wohlfahrt hinzielende Tätigkeit außerhalb der Obliegenheiten der Polizei.
Schließlich stellt die am allgemeinsten angenommene Klassifizierung
die Verwaltungspolizei der Sicherheitspolizei gegenüber, indem sie unter
Sicherheitspolizei alle Obliegenheiten versteht, welche die öffentliche
Ordnung denjenigen rechtswidrigen Handlungen gegenüber schützen,
die nicht in der Störung der einzelnen Verwaltungszweige bestehen.
Diejenigen störenden Handlungen aber, welche die Ordnung irgend¬
eines Verwaltungszweiges verletzen, bilden den Funktionskreis der Ver¬
waltungspolizei.
Diese Klassifizierung verfolgt auch der Entwurf und zwar nicht
nur deshalb, weil es das am allgemeinsten angenommene System ist,
sondern hauptsächlich deshalb, weil diese Klassifizierung bei der Be¬
stimmung des Wirkungskreises der Staatspolizei der Residenzstadt Buda¬
pest zur Geltung kommt; auf dieselbe prinzipielle Basis stellte sich auch
der Gesetzartikel XXXVII: 1916 bei der Regelung der Hoheitsrechte der
Fiumaner k. ung. Staatspolizei*.
Dieses System vereinfacht die Bestimmung der Hoheitsrechte der
Polizei und Verwaltungsbehörden auf prinzipieller Grundlage, indem es
den vom Standpunkte der Staatsinteressen in erster Linie wichtigen Auf-
gabenkreis der Sicherheitspolizei' überträgt, hingegen die Versehung der
Verwaltungspolizei im Aufgabenkreis der Verwaltungsbehörden beläßt
und aus diesem Kreis nur ausnahmsweise solche Obliegenheiten in den
Wirkungskreis der Polizei überweist, welche vom Standpunkte der Per¬
sonen- und Vermögenssicherheit den Kreis der Lokalinteressen über¬
schreiten und das allgemeine Interesse berühren.
Diese Trennung ist aber nur im Hinblick auf die behördlichen
Hoheitsrechte so starr. Denn wenn die Ausübung der Zwangsgewalt
sich für notwendig erweist, kann dies auch im Rahmen der Verwaltungs¬
polizei nur .die Polizei besorgen. Ebenso ist es Pflicht der Polizei¬
organe, auch den in den Kreis der Verwaltungspolizei fallenden Rechts¬
vorschriften Geltung zu verschaffen und nur, wenn eine behördliche
Verfügung notwendig ist, müssen sie im Rahmen der Verwaltungspolizei
mit Ausnahme der früher erwähnten Ausnahmefälle — sich an die
Verwaltungsbehörden wenden.
Bei der Bestimmung der Kompetenz wird der Minister des Innern
ermächtigt, die aus dem Wirkungskreis der Verwaltungspolizei in den
Wirkungskreis der Polizei zu verweisenden einzelnen Obliegenheiten
mit Verordnung zu bestimmen.
Die in dem Wirkungskreis der Staatspolizei der Residenzstadt Buda¬
pest überwiesenen verwaltungspolizeilichen Obliegenheiten werden zum
größten Teil im § 7 des G.A. XXI: 1881 aufgezählt, jene aber, welche
in den Wirkungskreis der Fiumaner k. ung. Staatspolizei überwiesen
sind, werden — auf Grund der im § 2 des G.A. XXXVII: 1916 ent¬
haltenen Ermächtigung *— in § 11 der unter B.M. Nr. erlassenen Ver¬
ordnung aufgezählt.
Begründung zu § 15:
Beim Erlaß polizeilicher Verfügungen verträgt sich die staatliche
Kriminalistische Übergangswirtschaft
189
und die autonome Polizeibehörde ganz gut nebeneinander, weil jede im
eigenen Wirkungskreise vorgeht. Bei der Ausübung des Polizeidienstes
aber würde es zu Konflikten, Reibungen und Konkurrenzneid führen.
Es würde obendrein auch zwei vollständig ausgebaute Wachpersonale
voraussetzen, was schon mit Rücksicht auf die großen Auslagen zu ver¬
meiden ist.
Das ist aber auch nicht notwendig, denn die Verfügung rührt von
den kompetenten staatlichen oder autonomen Behörden her, deren Hoheits¬
recht ist also vollständig gewahrt; der Vollzug berührt aber die Hoheits¬
rechte nicht, verletzt also die Autonomie ebensowenig, wie das auto¬
nome Recht des Komitates dadurch nicht verletzt wird, daß das k. ung.
Steueramt über Anweisung des Vizegespans Gelder flüssig macht.
Der Entwurf wird auch darauf begründet, daß dort, wo die Staats¬
polizei funktioniert, der Polizeidienst im engeren Sinne auch im Rahmen
der Verwaltungspolizei von den Organen der Staatspolizei versehen.wird.
Hieraus folgt, daß die Staatspolizei, obwohl sie den Verwaltungs¬
behörden nicht unterworfen ist, verpflichtet ist, diese in ihren gesetz¬
lichen Verfügungen zu unterstützen, das heißt auf ihr Ansuchen die
notwendige polizeiliche Hilfe, zu bieten. Sie ist überhaupt verpflichtet,
die Übertretung der Statuten und der vollziehbaren Beschlüsse und An¬
ordnungen hintenanzuhalten und die Dawiderhandelnden auszuforschen
und anzuzeigen. Dies bedeutet, daß auf dem Gebiet, wo die Staats¬
polizei funktioniert, zur Ausübung der staatlichen Zwangsmacht, d. i.
der Brachialgewalt nur die Staatspolizeiorgane berufen sind.
III. Inhalt des Polizeirechtes.
§ 16.
Die Aufgabe der k. ung. Staatspolizei ist, auf ihrem Funk¬
tionsgebiete die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit auf¬
rechtzuerhalten.
Zu diesem Behufe beobachtet sie ständig die öffentlichen Zu¬
stände, und sie ist bestrebt, drohenden Gefahren zuvorzukommen,
die gestörte Ordnung und den gestörten Frieden wieder herzu¬
stellen; in Fällen begangener Delikte aber zu ihrer Aufklärung
und Bestrafung den Rechtsvorschriften entsprechend vorzugehen.
§ 17.
Zur Wahrung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit
haben die Polizeibehörden und Organe von Amtswegen, ohne
Aufforderung, vorzugehen.
Sie haben ferner die zu ihrer Kenntnis gelangenden Delikte
der Staatsanwaltschaft anzuzeigen und die Erhebungen dem G.A.
XXXIII: 1896 und den Ausführungsverordnungen entsprechend
durcJizuführen, insbesondere aber jene Vorkehrungen zu treffen,
welche zur Aufrechterhaltung der Spuren des Deliktes, zur Ver-
190
Dr. Robert Heindl
hinderung des Verbergens und der Flucht des Täters und der
Komplizen und zur Aufdeckung des Tatbestandes notwendig sind.
(§ 94. G.A. XXXIII: 1896.)
Bei Delikten, bei welchen im Sinne der Strafgesetze nur auf
Privatklage vorgegangen werden kann, können die Polizeibehörden
und Polizeiorgane nur auf Ersuchen der antragsberechtigten Par¬
teien vorgehen.
§ 18.
Die Tätigkeit der k. ung. Staatspolizei richtet sich nach den
Rechtsvorschriften (Gesetz, Verordnung, Statut).
Die Polizeibehörden sind berechtigt, alle mit den Rechtsvor¬
schriften nicht in Widers'pruch stehenden Verkehrungen zu treffen,
welche zur Abwehr der die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicher¬
heit unmittelbar drohenden Gefahren notwendig sind.
§ 19. -
Gerät jemand durch seine Handlung oder Unterlassung mit
einer Polizeiverfügung in Gegensatz und kann hieraus eine un¬
mittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicher¬
heit entstehen, so kann die Polizeibehörde der betreffenden Ver¬
fügung auf Kosten der verschuldenden Partei Geltung verschaffen.
§ 20 .
Falls Rücksichten der öffentlichen Sicherheit es dringend er¬
fordern, ist die k. ung. Staatspolizei berechtigt, den Gebrauch
einzelner Sachen provisorisch zu verbieten und zu diesem Behufe
sie unter Sperre zu nehmen, oder die Fortführung einzelner Be¬
triebe provisorisch einstellen. Doch hat sie diese Verfügung der
betroffenen Behörde sofort anzuzeigen.
§ 21 .
Die k. ung. Staatspolizei verschafft den Bestimmungen der
Rechtsvorschriften und den behördlichen Verfügungen im Notfälle
zwangsweise (mit Brachialgewalt) Geltung.
Die Anwendung der Brachialgewalt, im äußersten Notfälle
auch der Gebrauch von Waffen, hat insbesondere zur Verteidigung
im Falle eines unmittelbaren Angriffes oder der unmittelbaren. Ge¬
fahr eines solchen wie auch zur Bekämpfung eines tätlichen Wider¬
standes stattzufinden.
Fesseln können nur den einschlägigen Vorschriften, ent¬
sprechend angewendet werden.
Kriminalistische Übergangswirtschaft 191
§ 22 .
Vermag die k. ung. Staatspolizei die öffentliche Ruhe und die
öffentliche Ordnung mit der eigenen Brachialgewalt nicht auf¬
rechtzuerhalten, so kann die Polizeibehörde die Hilfe des Militärs
in Anspruch nehmen.
Die Art und die Fälle der Inanspruchnahme dieser mili¬
tärischen Brachialgewalt und das Vorgehen des Militärs regeln
besondere Verordnungen.
§ 23.
Jedermann hat der schriftlichen Vorladung der Polizeibehörde
Folge zu leisten, derjenige, der auf dem Gebiete der Polizeibehörde
wohnt, oder sich dort aufhält, hat in der anberaumten Zeit vor
der Polizeibehörde zu erscheinen und die an ihn gerichteten
Fragen zu beantworten, ausgenommen diejenigen Fragen, welche
der Zeuge nach den Bestimmungen der Strafprozeßordnung
{$§ 204—209 G.A. XXXIII: 1896) nicht beantworten muß.
Denjenigen, der der vorschriftsmäßigen Vorladung der Polizei
ohne Grund nicht Folge leistet, kann die Polizeibehörde auf Grund
eines schriftlichen Beschlusses vorführen lassen.
Die Mitglieder im Dienste der bewaffneten Macht oder der
Gendarmerie, ferner die zum Personal der Polizei oder der Finanz¬
wache gehörigen Personen, endlich die in den übrigen öffentlichen
Diensten stehenden Angestellten oder jene solcher Privatunter¬
nehmungen, für deren Vertretung aus öffentlichem Interesse zu
sorgen ist, hat die Polizeibehörde der im § 130 des G.A. XXXIII:
1896 festgestellten Bestimmungen entsprechend vorzuladen.
Das Vorladungs- und Vernehmungsrecht der erhebenden Polizei¬
behörde regeln die Strafprozeßordnung (G.A. XXXIII: 1896) und
besondere Verordnungen.
§ 24.
Jedermann hat, wenn ein sich entsprechend ausweisendes
Polizeiorgan ihn im Namen des Gesetzes hierzu auffordert, im
nächsten Polizeilokale zu erscheinen. Derjenige, der dieser Auf¬
forderung nicht Folge leistet, kann von dem Polizeiorgan vor¬
geführt werden.
§ 25.
Das Polizeiorgan ist berechtigt, in begründeten Fällen die¬
jenigen vor die Polizeibehörde zu begleiten, die die öffentliche
Ruhe und die öffentliche Ordnung stören oder die öffentliche
Sicherheit gefährden.
192
Dr. Robert Heindl
Die Gründe der Begleitung, ferner jene Personen, welche
schon auf Grund eines Verdachtes begleitet werden können, be¬
stimmt der Minister des Innern mit Verordnung.
Das Vorführungs- und Begleitungsfecht der .erhebenden Po¬
lizeibehörden und Organe bestimmen die Strafprozeßordnung und
andere Rechtsvorschriften.
§ 26.
Eine Vorführung kann durch das Polizeiorgan nur auf Grund
eines schriftlichen Erkenntnisses (Vorführungsbefehl) erfolgen.
Die Fälle der Vorführung, welche im Laufe der Erhebung er¬
folgen können, bestimmen die Erhebungsvorschriften.
§ 27.
Die Vorführung und Begleitung erfolgt möglichst ohne An¬
wendung von Gewalt, mit einer auf das Gesetz hinweisenden Er¬
klärung.
• Das Polizeiorgan hat das begleitete oder vorgeführte Indivi¬
duum unverzüglich in das Lokal der Polizeibehörde zu bringen.
Das weitere Verfahren bestimmen besondere Vorschriften.
§ 28.
Eine Privatwohnung können Polizeiorgane in der Regel nur
zur Durchführung eines amtlichen Auftrages betreten.
Auch ohne solchen Auftrag kann das Polizeiorgan zur Durch¬
führung seiner amtlichen Obliegenheiten eine Privatwohnung be¬
treten, wenn es dort Hilferufe hört, oder durch einen .dortigen
Einwohner unmittelbar und begründeterweise hierzu aufgefordert
wird, oder wenn eine verfolgte Person dorthin geflüchtet ist,
schließlich im Falle von Feuer- und Überschwemmungsgefahr.
§ 29.
Haus- oder Personendurchsuchungen kann die Polizeibehörde
nur in unaufschiebbaren Fällen und nur mit schriftlichem Er¬
kenntnis anordnen, und das Polizeiorgan kann solche in der Regel
nur auf Grund eines schriftlichen Erkenntnisses durchführen.
Die Bedingungen und die Form der Anordnung der Haus¬
und Personendurchsuchung sowie die Art der Durchführung der¬
selben bestimmen die Strafprozeßordnung und andere Rechtsvor¬
schriften; dieselben Rechtsvorschriften bezeichnen auch jene dem
Publikum offenstehenden Lokale (Wirtshäuser, Trinkstuben), in
welchen die Erforschung auch selbst auf Grund des Verdachtes
durchgeführt werden kann.
Kriminalistische Übergangswirtschaft 193
IV. Personal- und Dienstverhältnisse der k. ung. Staatspolizei.
§ 30.
Die k. ung. Staatspolizei besteht aus dem Offiziers-, dem
Zivilkommissärs- und dem Wachpersonal und aus den Amts¬
dienern.
Das Offizierspersonal bilden die Mitglieder des Konzepts- und
des Aufsichtspersonals, wie auch die den Hilfs- und Manipulations¬
dienst versehenden Angestellten, — das ZivilkommisSärspersonal
die Zivilkommissäre, das Wachpersonaj die Polizeiunteroffiziere
und die Polizisten.
Nach Bedarf können auch Diurnisten verwendet werden, die
nicht dem Stande des Polizeipersonals angehören, und welche
'unter den auf die Staatsdiurnisten bestehenden Bestimmungen
stehen.
§ 31.
Die in die IV. oder in eine höhere Gehaltsklasse eingeteilten
Mitglieder des Offizierspersonals der k. ung. Staatspolizei werden
— auf Vorschlag des Ministers des Innern — durch Seine Majestät,
die übrigen wie auch die Zivilkommissäre durch den Minister des
Innern, die Mitglieder des Wachpersonals aber durch den zu¬
ständigen Distriktsoberhauptmann ernannt.
Amtsdiener und Diurnisten werden für das eigene Amt durch
die Distrikts-Oberhauptleute und durch die Leiter der Hauptmann¬
schaften angestellt.
Bei der Besetzung jener polizeilichen Stellen, auf welche die
mit Legitimation versehenen Unteroffiziere das Vorrecht haben,
sind die Bestimmungan des G.A.: 1873 maßgebend.
§ 32.
Der Minister kann die Mitglieder des Offiziers-, Zivilkom¬
missärs- und Wachpersonals der k. ung. Staatspolizei auf eine
andere entsprechende Polizeistelle versetzen.
§ 33.
In den Konzeptsstand der k. ung. Staatspolizei kann nur der¬
jenige ernannt werden, welcher die im § 3 des G.A. I: 1883 vor¬
geschriebene Qualifikation besitzt.
Die für die Polizeiinspektorstelle vorgeschriebene Qualifikation
regelt der Minister des Innern.
Für die Qualifikation der einen fachmännischen Hilfsdienst
(ärztlichen Dienst, Buchhaltungsdienst usw.) oder einen Manipula-
194
Dr. Robert Heindl
tionsdienst versehenden Angestellten sind die Bestimmungen des
G.A. 1: 1883 und der auf die betreffende Stelle bezughabenden
anderen Rechtsvorschriften maßgebend.
Die von den staatspolizeilichen Zivilkommissären, sowie von
den Mitgliedern des Wachpersonals zu erfordernde Qualifikation
regelt der Minister des Innern mit Verordnung; er sorgt auch für
die zentrale Organisierung der Fachschulung.
§ 34.
Die Mitglieder des Offiziers-, des Zivilkommissärs-, des Wach-
und des Dienerpersonals der k. ung. Staatspolizei haben anlä߬
lich ihrer ersten Ernennung, vor Antritt ihrer Stellung, einen Eid
zu leisten.
Den Eid leisten die Distrikts-Oberhauptleute vor dem Minister
des Innern, das Personal der Distriktsoberhauptmannschaften, wie
auch die Leiter der Hauptmannschaften und der Expositureh vor
dem betreffenden Distriktsoberhauptmann, die übrigen Angestellten
Vor dem Polizeihauptmann.
Über die Eidesleistung ist ein Protokoll aufzunehmen.
' § 35.
Die Vorschriften für die Geschäftsführung, für die dienstliche
und ökonomische Administration, sowie für den Waffengebrauch
der k. ung. Staatspolizei bestimmt der Minister des Innern mit
Verordnung.
Soweit diese. Vorschriften nicht abweichende Bestimmungen
enthalten, unterliegen die Angestellten der k. ung. Staatspolizei
in jeder Hinsicht derselben Behandlung wie die übrigen staat¬
lichen Angestellten.
8 36.
Der Minister des Innern kann das Wachpersonal der k. ung.
Staatspolizei im Notfälle durch k. ung. Gendarme verstärken.
Die Verstärkung erfolgt durch die provisorische Komman¬
dierung der einzelnen Mitglieder der Gendarmeriemannschaft zur
k. ung. Staatspolizei. Die Vorschriften der Kommandierung be¬
stimmt der Innenminister im Einverständnis mit dem Honved-
minister.
Die zur Dienstleisturtg bei der k. ung. Staatspolizei komman¬
dierten Gendarme sind in ihren Personal-, Avancements- und Dis-
ziplinarangelegenheiten auch während der Kommandierung ihren
Gendarmerievorgesetzten, in oberer Instanz dem Honvedminister
Kriminalistische Übergangswirtschaft
195
unterstellt, in dienstlicher Hinsicht sind sie aber jener k. ung.
Staatspolizeibehörde untergeordnet, zu welcher sie kommandiert
bzw. zugeteilt wurden.
V. Disziplinarbestimmungen.
§ 37.
Gegen jedes Mitglied der k. ung. Staatspolizei findet ein
Disziplinarverfahren statt:
1. wenn es seine Amtspflichten verletzt oder nachlässig erfüllt;
2. wenn es durch sein Betragen seiner Stelle unwürdig wird;
3. wenn es seine unbeschränkte Handlungsfähigkeit verliert
oder aus einem anderen Grunde unfähig wird, seine Amtspflichten
zu erfüllen.
§ 38.
Die dem Disziplinarverfahren vorangehende Untersuchung
ordnet gegen die Distriktspolizeioberhauptleute* der Minister des
Innern; gegen das Personal der Polizeioberhauptmannschaften, ferner
gegen die Polizeihauptleute und gegen die Leiter der Exposituren
außer ihm der kompetente Distriktsoberhauptmann an; gegen das
Offizierspersonal der Polizeihauptmannschaften, und der Polizei¬
exposituren außer den obengenannten auch der betreffende Polizei¬
hauptmann.
Die dem Disziplinarverfahren vorangehende Untersuchung
gegen die Mitglieder des Zivilkommissärs-, Wach- und Diener¬
personals ordnet der Polizeioberhauptmann, bzw. der Polizei¬
hauptmann an.
Wenn die dem Disziplinarverfahren vorangehende Unter¬
suchung vom Distriktspolizei-Oberhauptmann angeordnet wurde,
kann gegen sein Erkenntnis zum Minister des Innern appelliert
werden.
Wenn die Untersuchung der städtische Polizeihauptmann an¬
geordnet hat, kann gegen sein Erkenntnis zum Distriktsoberhaupt¬
mann und von ihm zum Minister des Innern berufen werden.
Derjenige, der in erster oder höherer Instanz die dem Dis¬
ziplinarverfahren vorangehende Untersuchung anzuordnen berufen
ist, kann mit der Anordnung gleichzeitig oder im Laufe derselben,
wenn er es für notwendig erachtet, den in Untersuchung Ge¬
zogenen seines Amtes entheben. Gegen die Enthebung finden
genau dieselben Rechtsmittel statt wie gegen die Anordnung der
Untersuchung.
196
Dr. Robert Heindi.
§ 39.
In den Disziplinarangelegenheiten der k. ung. Staatspolizei
sind zu entscheiden berufen:
1. bezgl. der Distriktspolizei-Oberhauptleute: der Minister des
Innern;
2. bezgl. der übrigen Mitglieder des Polizeioffizierspersonals:
in erster Instanz der unter dem Vorsitze des Oberhauptmannes
zu bildende dreimitgliedrige Disziplinarrat; in zweiter Instanz der
Minister des Innern;
3. bezgl. der Mitglieder des Zivilkommissärs, des Wach- und
Dienerpersonals: in erster Instanz der betreffende Polizeihaupt¬
mann, in zweiter Instanz endgültig der Distriktspolizei-Oberhaupt¬
mann.
Das Disziplinarerkenntnis zweiter Instanz des Distriktspolizei-
Oberhauptmannes, wenn es auf Amtsverlust erkennt, hat zur Ge¬
nehmigung dem Minister des Innern vorgelegt zu werden.
Gegen die Disziplinarerkenntnisse können die Interessierten
(der Kläger, der Beschuldigte, der Vertreter der Anklage und
— im Interesse des öffentlichen Dienstes — der Amtschef) be¬
rufen.
§ 40.
Die verhängbaren Disziplinarstrafen sind:
1. die Rüge;
2. die Geldstrafe;
3. die Entziehung der Avancementsansprüche für bestimmte Zeit;
4. die strafweise Versetzung;
5. die Degradierung;
- 6. der Ausschluß aus dem Dienstverband (Amtsverlust).
Wenn von der Disziplinarbehörde die im Pkt. 3 des § 37 er¬
wähnte Unfähigkeit festgestellt wird, verhängt sie keine Disziplinar¬
strafe, sondern spricht in ihrem Erkenntnis aus, daß dem betreffen¬
den Angestellten gegenüber das vorschriftsmäßige Vorgehen (vor¬
letzter Absatz des § 25 des G.A. LXV: 1912) Platz zu greifen hat.
Neben der Disziplinarstrafe bleibt die strafrechtliche Verant¬
wortlichkeit und die Schadenersatzpflicht unberührt.
§ 41.
Die Detailvorschriften des Disziplinarverfahrens bestimmt — bei
Beobachtung der Bestimmungen des G.A. XXIII: 1886 — der Mi¬
nister des Innern mit Verordnung.
Kriminalistische Übergangswirtschaft
197
§ '42.
Die Distriktspolizei-Oberhauptleute, die Polizeihaüptleute, so¬
wie die Leiter der Polizeiexposituren können gegen die Mitglieder
des unmittelbar ihnen untergeordneten Offiziers-, Wach- und
Dienerpersonals wegen Nachlässigkeit oder Vorschriftswidrigkeit
minderen Grades im Amte, nach Anhören desselben, doch mit
Ausschluß der Appellation, eine Ordnungsstrafe verhängen, die je¬
doch den Mitgliedern des Konzepts- und Inspektorpersonals gegen¬
über 40 Kronen, den Mitgliedern des Hilfs- und Manipulations-
personals gegenüber 20 Kronen, den Mitgliedern des Wach- und
Dienerpersonals gegenüber 10 Kronen nicht übersteigen kann.
VI. Kosten.
§ 43.
Die Kosten der k. ung. Staatspolizei belasten das Staatsärar,
und sie sind in das Budget des Ministeriums des Innern aufzu¬
nehmen.
Diejenige Stadt, in welcher die Organisierung der k. ung.
Staatspolizei erfolgt ist, hat von dem der Organisation folgenden
staatlichen Budgetjahr an zu den Unterhaltungskosten der Polizei
nicht mehr beizutragen; dagegen kann sie auf die staatliche Unter¬
stützung, welche sie bis dahin unter dem Titel der Entwicklung
der städtischen Polizei erhalten hat, von diesem Zeitpunkt an
keinen Anspruch erheben.
Die Haupt- und Residenzstadt Budapest und die in den
Wirkungskreis der Budapester k. ung. Staatspolizei einbezogenen
Gemeinden: Ujpest, Stadt mit Magistratsordnung, Räkospalota,
Erzsebetfalva, Kispest, Pestszentlorincz und Csepel, ferner die Stadt
und Distrikt Fiume — von dem auf die Verlautbarung dieses Ge¬
setzes folgenden staatlichen Budgetjahr an — werden der Ver¬
pflichtung zu den Kosten der k. ung. Staatspolizei durch Be¬
zahlung von jährlichen Pauschalsummen wie bisher beizutragen,
enthoben.
§ 44.
Wenn die Polizeiangestellten zur Zeit des Beginnes der Funk¬
tion der k. Staatspolizei in einer Stadt auch. Verwaltungsobliegen¬
heiten nicht staatlicher Natur versehen, so hat die Stadt dafür zu
sorgen, daß diese Obliegenheiten von diesem Zeitpunkte an von
ihren eigenen Organen versehen werden. Diese Obliegenheiten
bestimmt der Minister des Innern endgültig.
Archiv für Kriminologie. 71. Bd.
14
198
Dr. Robert Heindl
Jene Bestimmungen der Statuten, welthe Angelegenheiten
nicht polizeilicher Natur in den Aufgabeijkreis der städtischen
Polizeiorgane weisen, verlieren ihre Wirkung auf dem Funktions¬
gebiet der k. ung. Staatspolizei mit dem Inkrafttreten dieses Ge¬
setzes.
VII. Diverses und Übergangsbestimmungen.
§ 45.
In Städten, wo die Organisierung der Staatspolizei erfolgt ist,
gelangen die Angestellten der städtischen Polizei mit dem Tage
des Beginnes der Funktion der Staatspolizei in Dispositionszu¬
stand und unter die Verfügungs- und Disziplinarmacht der k. ung.
Polizeibehörden.
Die Stadt kann den in Dispositionszustand befindlichen
städtischen Polizeiangestellten während des Dispositionszustandes
weder in eine höhere Gehaltsklasse ernennen, noch ihm neue Be¬
züge (Gebühren, Zulagen, Pauschale usw.) zukommen lassen.
Der im Dispositionszustand befindliche städtische Polizei¬
angestellte hat auf jene Gebühren Anspruch, welche die am Tage
des Inslebentretens des Gesetzes in Kraft stehenden Rechtsvor¬
schriften für ihn feststellen.
Im übrigen, insofern dieses Gesetz keine abweichenden Be¬
stimmungen enthält, sind die für die staatlichen Angestellten gül¬
tigen Rechtsvorschriften maßgebend.
§ 46.
Jene städtischen Polizeistellen, welche während des Disposi¬
tionszustandes vakant werden, sind mit definitiver Ernennung und
bis dies erfolgen kann, mit provisorischer Vertretung zu besetzen.
Das Vertretungsrecht bezgl. der Beamtenstellen steht dem Minister
des Innern; jenes bezgl. der Zivilkommissärs-, Wach- und Diener¬
personalstellen dem Distriktsoberhauptmann zu.
Derjenige in Dispositionszustand geratene städtische Polizei¬
beamte, welcher spätestens innerhalb sechs vom Tage des Be¬
ginnes seines Dispositionszustandes an gerechneten Monaten als
Angestellter der k. ung. Staatspolizei nicht ernannt wird, ferner
derjenige, dessen Stelle innerhalb dieser sechs Monate mit einem
anderen definitiv besetzt wurde, endlich derjenige, welcher die Er¬
nennung nicht annimmt, muß mit dem letzten Tag der sechs Mo¬
nate, oder mit dem Tag der erfolgten Besetzung der Stelle durch
einen andern, oder mit dem Tag der Nichtannahme der Emen-
Kriminalistische Übergangswirtschaft
199
nung, beziehungsweise mit dem auf den letzten Tag der zur Eides¬
leistung anberaumten Frist folgenden Tage, wenn ihn die Stadt
mit anderen Verwaltungsobliegenheiten nicht betraut, als von seiner
Stelle enthoben betrachtet werden und muß einer vorschriftsmäßigen
Behandlung (Pension, Pensionslohn, Abfertigung, Entlassung) unter¬
zogen werden.
Die Stadt belasten auch jene Versorgungen, welche den
während des Dispositionszustandes pensionierten städtischen
Polizeiangestellten und nach seinem Tode seinen Angehörigen,
sowie den Angehörigen des vor dem Inslebentreten dieses Ge¬
setzes oder während des Dispositionszustandes verstorbenen
städtischen Polizeiangestellten gebühren.
Die im Dispositionszustand verbrachte Zeit ist in die Dienst¬
zeit des Angestellten einzurechnen.
§ 47.
Derjenige städtische Polizeiangestellte, welchem in dem Stand
der k. ung. Staatspolizei eine Stelle verliehen wurde, in welcher
der Grundgehalt und die Zulage ständigen Charakters seine mit
seiner früheren Stelle verbundenen derartigen Gebühren nicht er¬
reicht, genießt die Differenz — insofern seine Zulage bei Fest¬
stellung der Pension in Betracht kommt — unter dem Titel einer
Personalzulage. Wenn der Gehalt des Angestellten später erhöht
wird, ist seine Zulage in den höheren Gehalt einzurechnen.
Die dem städtischen Pensionsfond gegenüber bestandenen
Ansprüche des in den Stand der k. ung. Staatspolizei ernannten
städtischen Polizeiangestellten sowie seine weiteren diesbezgl.
Pflichten hören mit dem ersten des auf die Ernennung folgenden
Monates auf.
§ 48.
Die Stadt (Gemeinde) hat die Gebäude, beziehungsweise die
Räumlichkeiten, die zu Beginn der Funktion der k. ung. Staats¬
polizei zu städtischen Polizeizwecken gedient haben, wenn sie
Eigentum der Stadt bilden, dem Staatsärar unentgeltlich zur Ver¬
fügung zu überlassen; die Mietverträge der zum gleichen Zweck
gemieteten Immobilien aber auf das Staatsärar zu übertragen.
Ferner hat die Stadt (Gemeinde) alle beweglichen Sachen
(Möbel, Kanzleieinrichtungen, Uniformen, Gewehre, Munitionsvor¬
räte usw.), welche zu Beginn der Funktion der k. ung. Staats¬
polizei zu Zwecken der städtischen (Gemeinde-) Polizei dienen,
14*
200
Dr. Robert Heindl
zur Verfügung der k. ung. Staatspolizei dem Staatsärar ohne
Gegenleistung zu überlassen.
Für die Instandhaltung der zur Benützung überlassenen Ge¬
bäude sorgt das Staatsärar.
§ 49.
Die Zeit für das stufenweise Inkrafttreten dieses Gesetzes be¬
stimmt der Minister des Innern; er vollzieht dasselbe im Ein¬
vernehmen mit den beteiligten Ministern:
Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes treten der Gesetzartikel
VIII: 1913 über die k. ung. Grenzpolizei, ferner der Gesetzartikel
XXXVII: 1916 über die Fiumaner k. ung. Staatspolizei außer Kraft.
Budapest, am 9. Juli 1918.
Alexander Wekerle m. p.,
mit der Leitung des Ministeriums des
Innern betrauter k. ung. Ministerpräsident.
Ergänzung meiner Schrift
„An'die deutschen Geschworenen“.
(Leipzig, F. C. W. Vogel.)
Einige praktische Vorschläge
von
Landgerichtsrat Dr. v. Holten, Magdeburg.
Unter der Überschrift „Mitteleuropäische Rechtsgemeinschaft“
habe ich ah anderer Stelle 1 ) darauf hingewiesen, daß im Wesen
der Nützlichkeitswerte nichts liegt, was ihre Hervorbringung und
ihren Gebrauch auf bestimmte Völker einschränkt, während das
Gepräge der Werte höchster, freier Geisteskultur durchaus per¬
sönlich, individuell, national ist: Chemie und Physik sind in Paris,
Berlin,-Petersburg, Tokio, Kalkutta dieselben, nicht aber Kunst,
Philosophie, religiöse Lebensform und das Rechtsleben; denn
Rechtserfordernisse werden durch die Bedürfnisse materieller und
geistiger Kultur hervorgerufen. So wirkte nicht nur der ana¬
lytische Scharfsinn, in noch höherem Maße vielmehr auch der
moralische Charakter der Nationen Richtung gebend auf die Ge¬
staltung ihres Rechts ein: Wie andere Kulturerscheinungen gibt
auch das Recht eines Volkes ein Abbild seines Wesens. Für uns
Deutsche wurde die Berührung mit vergangenen Kulturen vielfach
zum Fluch, weil wir die Individualität einer jeden Kulturerschei¬
nung nicht begriffen. In meiner Schrift „An die deutschen Ge¬
schworenen“ (S. 7) habe ich hervorgehoben, daß die deutschem
Wesen, deutscher Gründlichkeit widersprechende Einrichtung der
Schwurgerichte englischen und französischen Ursprungs ist. Hieran
knüpfte ich die Frage: „Sollten nicht die Erfahrungen dieses Welt¬
krieges unser Mißtrauen diesem fremden Eindringling gegenüber
wachrufen?“ In seiner fast gleichzeitig erschienenen, mir damals
noch nicht bekannten geistvollen Schrift „Nationalcharakter und
Strafprozeß. Erfahrungen und Lehren aus den Charaktereigen¬
schaften der kriegführenden Völker für die Strafprozeßreform“
*) Im roten „Tag“ vom 30. Oktober 1917.
202
Dr. v. Holten
(Leipzig, bei Rudolf Hartmann) bejaht Dr. Leo Haber in Wien
diese .Frage restlos mit der ganzen Kraft seiner inneren Über¬
zeugung. An der Hand einer Fülle deutscher und fremdländischer
Literatur der historischen, philosophischen, juristischen Disziplinen,
auch durch Beläge aus der Tagespresse weist Haber mit zwin¬
gender Logik nach, daß eine Reihe strafprozessualer Einrichtungen
französischen und englischen Ursprungs (u. a. die militärisch
organisierte Staatsanwaltschaft, die gerichtliche [Kriminal-] Polizei,
die Überwachung der sonst unabhängigen Gerichte — insbeson¬
dere bei der Voruntersuchung — durch die Staatsanwaltschaft,
endlich die Schwurgerichte) ihrer Wesensart nach wohl dem fran¬
zösischen Nationalcharakter, welcher in einer äußeren Formkultur,
dem englischen, welcher in einer bloßen Nützlichkeitskultur sein
Genügen findet, entsprechen, daß sie aber vielfach im schärfsten
Gegensatz zu deutscher Innerlichkeit und Wahrhaftigkeit stehen,
die sonst unser Rechtsleben beherrschen.— Diese Schrift Habers
verdient die Beachtung aller, die dereinst berufen sein werden,
an der Verbesserung unseres Strafprozesses mitzuwirken.
Geheimer Justizrat Professor Dr. v. Liszt 1 ) freilich erblickt
in der Einbürgerung des Schwurgerichtsverfahrens in Deutschland
das Ergebnis einer Jahrhunderte alten geschichtlich-politischen Ent¬
wicklung: Feuerbachs Betrachtungen über das Geschworenen¬
gericht seien schon 1812 geschrieben; und nicht vom politischen,
sondern vom nationalen Standpunkt aus hätten die Germanisten¬
versammlungen zu Frankfurt 1847 und Lübeck 1848 die Ein¬
führung des Schwurgerichts gefordert. Dennoch bezeichnet v. Liszt
a. a. O. das Schwurgericht nicht als deutsche Rechtsschöpfung,
sondern als „Weltinstitut“. — Das Rechtsleben ist aber, wie gezeigt
wurde, nicht internationalen Gepräges, und ich bezweifle, daß die
Leser des Haberschen Werkes sich zu der Auffassung v. Liszts
bekennen werden.
Doch mag diese Frage auf sich beruhen bleiben; „Prinzipien
sind immer etwas Sekundäres und man sollte Bestimmungen nicht
nach ihnen treffen, sondern danach, welche Regelung das prak¬
tischste, den Parteien wie der Allgemeinheit am meisten gerecht
werdende Ergebnis verspricht.“ 2 ) Die gleiche Mahnung entnehme
ich der Auslassung Kades 3 ), der es als bedauerlich bezeichnet,
') v. Liszt, Die Reform des Strafverfahrens. Berlin 1906. J. Guttentag.
a ) Bozi, Heft 14 der „Einführungen in das lebende Recht“. Hannover 1915.
Hellwingsche Buchhandlung.
3 ) Kade, Deutsches Recht. Nr. 36. Dezember 1916.
Ergänzung meiner Schrift „An die deutschen Geschworenen“ 203
daß bei dem Erscheinen meiner Schrift „An die deutschen
Geschworenen“ die Meinungen, unter Einmischung der Partei¬
anschauungen, sich alsbald deutlich in eine rechte und linke Seite
geteilt hätten.
Meine Schrift sollte zwar ein „Wegweiser“ auch sein (diese
bildliche Bezeichnung hat Professor von Liszt mißverstanden),
insofern sie die Geschworenen vor gesetzwidriger Rechtsprechung
nach bloßem, dunklen Gefühl warnt und ihnen empfiehlt, aus
ihren Beratungen tunlichst oft die ergänzende Rechtsbelehrung
des Vorsitzenden in Anspruch zu nehmen. In erster Linie aber
bezweckte ich, die Laien (d. s. diejenigen, welche Geschworene
gewesen sind oder es werden könnten) zu veranlassen, auf eine
Beseitigung des jetzigen unhaltbaren gesetzlichen Zustandes zu
dringen, der sie zwingt, im Beratungszimmer unter sich, ohne sich
der führenden Hand eines rechtskundigen Beraters bedienen zu
dürfen, Recht finden zu müssen. Dem in juristischer Denkarbeit
(historischer Kritik, praktischer Logik) ungeschulten Laien, der
überdies nur selten über eindringende Kenntnis psychologischer
Vorgänge (Kriminal - Psychologie) verfügt, wird es ebenso schwer
fallen, auf Grund der Hauptverhandlung (der Vernehmung der
Angeklagten und der Beweiserhebung) den objektiven und sub¬
jektiven Tatbestand vollständig zu erfassen und im einzelnen zu
zergliedern, wie ihn in seiner juristischen Bedeutung richtig zu
würdigen. — Um eindringlich klarzulegen, daß dem auf sich selbst
gestellten Laien hier Unmögliches zugemutet wird, habe ich es
nicht "gescheut, mich in zwei Fällen des Beispieles der Paradoxe
zu bedienen (vgl. S. 6, 7 und S. 57, 58 meiner Schrift). Professor
v. Liszt sucht zu Lfnrecht das zweite Beispiel im Wege der Per¬
siflage abzutun (Jur. Wschr. vom 16. Oktober 1916 S. 1307): „Denn es
ist nur ein geistreiches Spiel mit ernsten Dingen, wenn man
behauptet, nur ein durchgebildeter Jurist könne sich gegen ein
Strafgesetz verfehlen, weil nur einem solchen die Tragweite der
gesetzlichen Bestimmungen bekannt sei. Die ignorantia juris
schließt nicht die Täterschaft aus, wohl aber das Judizieren! So
muß der Geschworene dazu gedrängt werden, er mag wollen oder
nicht, an die Stelle klarer, scharf umrissener Gesetzesnormen für
seine Beurteilung Billigkeitsprinzipien und Sittlichkeitserwägungen
treten zu lassen“ ‘)- —Diese unvollkommene Ausübung der Rechts-
') So zutreffend Rechtsanwalt Dr. Karl Heinrich Görres, Der Wahrspruch
der Geschworenen und seine psychologischen Grundlagen. Halle 1903, bei
Karl Marhold.
204
Dr. v. Holten
pflege ist aber auch geeignet, verhängnisvollen Verirrungen der
allgemeinen Rechtsanschauung, den Boden zu bereiten; dafür ein
schlagendes Beispiel: In der Zeitschrift „Das Recht“ (1910 S. 124)
gibt Landgerichtsrat Meikel folgende Erklärung des Justizrats
Bernstein aus den Münchener Neuesten Nachrichten Nr. 46 vom
28. Januar 1910 wieder (auf den Vorschlag des Prof. Heimburger,
nicht nur am Schlüsse, sondern auch am Anfang jeder schwur¬
gerichtlichen Verhandlung den Geschworenen eine Rechtsbeleh-
r«ng zu geben): „Die Rechtsbelehrung ist die Belehrung über
die juristischen Begriffe, welche für den Fall in Betracht kommen
können. Mit allen juristischen Dingen sollten aber die Geschwo¬
renen so viel wie möglich verschont werden. Schon die jetzige
Rechtsbelehrung (Rechtsbelehrung am Schluß der Verhandlung)
ist eine Ungeheuerlichkeit. Der Jurist muß jahrelang das Straf¬
recht kennen lernen, bis gr es anwenden darf. Dem Geschworenen
wird am Ende der Verhandlung ein Vortrag aus einem ihm völlig
fremden Denkgebiete gehalten, und daraufhin soll er über Ehre,
Freiheit, Leben, Vermögen eines Menschen sofort und endgültig
entscheiden. Welcher Kaufmann, welcher Apotheker ließe einen
Lehrling nach viertelstündiger Belehrung selbständig Geschäfte
machen, bzw. Rezepte anfertigen? Und der Lehrling wäre ge¬
wissenlos, wenn er es täte, wenn er nicht solche Zumutung ab¬
lehnte. In Wirklichkeit lehnt auch der Geschworene sie ab. Nicht
die juristischen Rechtsbegriffe sind für seine Entscheidung bestim¬
mend, sondern seine Begriffe von Recht undUnrecht. Wenn er
findet, daß es Unrecht wäre, zu verurteilen, so spricht er frei.' Mit¬
unter mag sich ein Geschworener finden, dem es auf juristische
Begriffe ankommt, der über das, was ihm der Vorsitzende als
Judikatur bezeichnet, sich den Kopf zerbricht. Dieser Geschworene
ist sicher nicht der wünschenswerte Richter aus dem Volke: er
dilettiert, er pfuscht in einer sehr ernsten Sache, die er nicht versteht.
Darum meine ich: nicht zwei Rechtsbelehrungen, sondern gar keine“.
S. 28, 29 meiner Schrift habe ich dargelegt, welche drückende
Verpflichtung die Geschworenen eingehen, indem sie sich eidlich
bereit erklären, ihre Stimme nur nach bestem Wissen und
Gewissen abzugeben. In scharfem Gegensatz hierzu fordert Justiz¬
rat Bernstein (ein Anhänger des Schwurgerichtsverfahrens), die
Geschworenen sollen, da sie zu geistigen Operationen auf wissen¬
schaftlicher Grundlage unfähig seien, von vornherein die geistigen
Waffen strecken, ausschließlich ihrem Gefühl, ihrem persönlichen
Empfinden folgen und auf unklare Erwägungen dieser Art ihren
Ergänzung meiner Schrift „An die deutschen Geschworenen“ 205
Wahrspruch gründen. Jedem unbefangenen Beobachter muß eine
solche Ausübung der Rechtspflege als rückständig, als eines Kul¬
turvolkes mit hochentwickeltem Rechtsgefühl unwürdig erscheinen.
Entspricht sie doch völlig der Theorie Mephisto’s:
Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft.-
Dann hab’ ich dich schon unbedingt. —
Der bestehende gesetzliche Zustand ist besonders unbefrie¬
digend, weil den Geschworenen eine gesetzliche Verpflichtung,
ihren Wahrspruch (mündlich oder schriftlich) zu begründen, nicht
auferlegt, aus diesem ihrem Spruch somit nicht zu erkennen ist;
ob sie die Tat- und Rechtsfrage einwandfrei entschieden, oder bei
der Beantwortung der einen oder anderen, vielleicht gar beider
sich geirrt haben. Hat im Laufe des Verfahrens ein formaler Ver¬
stoß stattgefunden, so kann das Revisionsgericht daher mangels
des Vorhandenseins von Urteilsgründen niemals mit Sicherheit
erkennen, ob dieser Verstoß mit dem Wahrspruch in ursächlichem
Zusammenhang stand; es muß deshalb das Urteil stets, als auf
einer Gesetzesverletzung beruhend, aufheben. — Welche beson¬
deren, forensischen Mißstände diese Unzulänglichkeit des Schwur¬
gerichtsverfahrens herbeigeführt hat, habe ich in meiner Schrift
(S. 33ff.) dargelegt. Gerade dieser Teil meiner Ausführung ist einer
scharfen Kritik unterzogen worden. Man hat mir u. a. vorgeworfen,
daß ich die wirklichen Verhältnisse, damit sie leichter wahrzunehmen
seien, übertrieben habe. Diesem Vorwurf begegne ich mit dem
Hinweis, daß ich mehrere tatsächliche, aktenkundige Vorkommnisse
als Beispiele anführe. Ihre Zahl ließe sich erheblich vermehren:
denn ich bin im Besitz einer Reihe von Zuschriften angesehener
hoher richterlicher Beamten, die nachdrücklich bestätigen, daß sie
gerade in diesem Punkte die gleichen Erfahrungen gemacht haben.
— Ich habe durch jene Darlegungen (dem Sinne nach) hervorheben
wollen, daß das geltende unvollkommene Recht die Verteidiger
leider in eine Art Zwangslage versetzt; in mißverständlicher Auf¬
fassung ihrer Pflichten können sie bei dieser Rechtslage ziemlich
leicht der Versuchung unterliegen, absichtlich Revisionsgründe
(formale Verstöße) zu schaffen, weil ja diese die einzige Hand¬
habe bieten, ein unzutreffendes Urteil zur Aufhebung zu bringen.
Absichtlich habe ich mich über den oft besprochenen Umstand,
daß der Zufall (Auslosung, Ablehnung) bei der Bildung der Ge¬
schworenenbank die Hauptrolle spielt, nicht näher ausgelassen. Die
206
Dr. v. Holten
Hauptmängel des Schwurgerichtes hebe ich noch einmal, zusam¬
menfassend, hervor:
Die verhängnisvolle Trennung zwischen Gerichtshof und Ge¬
schworenenbank schließt eine geistige Berührung zwischen beiden
fast in allen Stadien der Verhandlung aus und bildet die Quelle
zahlloser Mißverständnisse. „Wenn jemand vorschlagen wollte, in
einer ernsthaften Angelegenheit sollten zwei Menschen, die sich
zu verständigen haben, gezwungen werden, das nur in' der Form
zu tun, daß der eine fragt und der andere „ja“ oder „nein“ ant¬
wortet, ' so würde man ihn für unzurechnungfähig erklären. Der
Gesetzgeber hat diese Unzurechnungsfähigkeit bewiesen, indem
er zwei Gruppen von Menschen, die bei der Entscheidung über
Leben urid Freiheit eines anderen zusammenzuwirken haben, auf
diese kindische Art der Verständigung verwiesen hat.“*)
„Zufall ist es, wenn die Geschworenen die Beweisaufnahme
so vollständig erfassen wie der Leiter der Verhandlung, Zufall,
wenn «die Fragen ihrem Verständnis angepaßt sind, Zufall, wer von
den dreien, Vorsitzender, Staatsanwalt oder Verteidiger der geistig
hervorragendste ist und auf die Geschworenen am mächtigsten
einwirkt, Zufall, wer Obmann wird. So ist der Wahrspru'ch der
Geschworenen mehr ein Wahrsagen.“ 2 )
^Der Staatsanwalt hat meist das gewonnene Spiel, wenn er
an die urmenschlichen Lynchinstinkte der zwölf Männer aus dem
Volke appelliert, und der Verteidiger das verlorene, wenn er ver¬
sucht, die Geschworenen auf die Höhe der Gerechtigkeit zu bringen.“ 3 )
Mit anderen Worten: Die Geschworenen urteilen, da sie klarer
Erkenntnis von Tatbestand und Rechtsnormen (mangels eigener
Schulung und sachkundiger, fachwissenschaftlicher Leitung) schlech¬
terdings unfähig sind, nach einem dunklen, unausgesprochenen
Wahrheits- und Gerechtigkeitsgefühl. Ihre Beratung ist in einen
undurchdringlichen Schleier gehüllt: Der Mangel jeglicher Begrün¬
dung schließt die Nachprüfung ihres Wahrspruches aus und stellt
ihn auf die Stufe eines unkontrollierbaren Willküraktes. Ich möchte
diesen Zustand die absolute Diktatur des Laienelementes in der
Rechtspflege nennen: „Inmitten dieses kritischen Zeitalters steht
die Spruchpraxis der Geschworenenbank wie ein erratischer Block.
‘) So zutreffend W. Kuletnann, Die Beteiligung der Laien an der Straf¬
rechtspflege, 1909, Leipzig, bei B. G. Teubner.
2 ) Görres a. a. O.
s ) Justizrat Dr. Erich Seilo, Die Irrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen.
Berlin 1911, bei R. v. Decker.
Ergänzung meiner Schrift „An die deutschen Geschworenen“ 207
Kraft dieses Instituts werden jährlich Hunderte von Wahrsprüchen
gefällt, welche, entstanden in geheimer Beratung, als einzigen
Grund ihrer Wirksamkeit die Parole anzugeben imstande sind, mit
der sich die Ordonnanzen der französischen Könige in den Jahr¬
hunderten des Absolutismus schmückten: car tel est notre plaisir.
Kein noch so mächtiger Monarch, dessen Wort heute nicht be¬
krittelt, kein Philosoph, dessen System nicht zerpflückt, keine Ent¬
scheidung eines höchsten Gerichtshofes, welche nicht mit dem Auf¬
gebot allen Scharfsinns bekämpft würde, — nur die Sprüche der
Geschworenen werden mit der Resignation entgegengenommen,
welche der Dunkelheit und Weisheit des Orakels ziemt. Kein
Urteil, keine Gerichtsentscheidung von noch so minimaler Trag¬
weite, gegen die nicht in irgendeiner Form der Rekurs, an eine
höhere Instanz statthaft wäre. Nur der Wahrspruch ist in seinem
sachlichen Kern nahezu irrevisibel, inappellabel — irreparabel. —
Durch die Einführung von Gründen in das Urteil wird aber die
Harmonie zwischen Kritizismus und Psychologie wieder hergestellt:
Das Urteil wird wirklich appellabel, wirklich revisibel. Die Ver¬
nunft tritt wieder in ihre Rechte ein: Die Sonne der Öffentlichkeit
durchflutet das Beratungszimmer, die Kritik kann wieder sprechen.“ >)
— Die Laien (Geschworenen) unter sich sind aber nicht imstande,
für ihren Spruch die Gründe zu geben, welche das Gesetz billiger¬
weise für alle anderen Urteile verlangt (§ 266 der Strafprozeßord¬
nung: Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe
die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in welchen die
gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden.
Insoweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen
auch diese Tatsachen angegeben werden). Diese Sachlage führt
zu der kategorischen Forderung: den Laien-Richtern muß min¬
destens ein gelehrter Richter von Beruf beigegeben werden; dieser
Richter muß mit den Laien in einem Kollegium einheitlich zu¬
sammen wirken; dieser Berufsrichter wird die Urteilsgründe ab¬
zufassen haben.
Das Volk hat in erster Linie nur ein Verlangen: nach ver¬
trauenswürdigen Gerichten. 2 ) Der Gedanke der Selbstver¬
waltung des Volkes ist auf allen Gebieten des staatlichen Lebens
tief in das allgemeine Volksempfinden eingedrungen. Die Rechts¬
pflege kann sich von diesem Gedanken der Selbstverwaltung nicht
l ) Görres a. a. O.
*) Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreformen. Berlin 1906, bei J.
Guttentag.
208
Dr. v. Holten
abschließen. „In den Volksgenossen sieht das Volk gewissermaßen
seine Vertreter, ja sich selbst den Richterstuhl besteigen, verwandelt
sich die Arkandisziplin der Rechtswissenschaft in das offen vor
ihm aufgeschlagene Buch, zu dessen Deutung und Übertragung
auf das praktische Leben das Volk selbst mit berufen ist.“t) Der
Wert aber, der den Laiengerichten überhaupt innewohnt, daß sie
Verirrungen der Wissenschaft nicht so leicht mitmachen, dürfte
auch den gemischten Kollegien zukommen. Als man zuerst die
Schwurgerichte in Deutschland einführte, handelte man zwar auf
Grund eines gesunden Gedankens: man wollte die (allzusehr ver¬
loren gegangene) Fühlung zwischen Recht und Volksleben wieder
hersteilen. Man übersah aber, daß die ursprünglich germanische
Form der Laienjustiz nicht Schwurgerichte, sondern Schöffengerichte
waren, in denen das Recht von allen zur Mitwirkung berufenen
Personen im gemeinsamenZusammen wirken gefunden wurde.
Die Vorzüge des bisherigen Schwurgerichtsverfahrens, besonders
die Unabhängigkeit der Geschworenen von den Berufsrichtern,
sind aber nicht nur an die Form der Geschworenengerichte ge¬
bunden (Überstimmung des Berufsrichters durch die Schöffen!).
So hoffe ich, werden auch in Süddeutschland kaum Bedenken be¬
stehen, die Schwurgerichte zu beseitigen und Schöffengerichte mit
der Erledigung der Preßdelikte zu betrauen. —
Unser Strafverfahren kennt zurzeit nicht weniger als fünf z. T.
grundverschiedene Gestaltungen des Spruchgerichts erster Instanz:
das Amtsgericht in der Besetzung mit einem Einzelrichter, das
Amtsgericht als Schöffengericht, die Strafkammer des Landgerichts
in der Besetzung mit fünf gelehrten Richtern ohne Schöffen, das
Schwurgericht und die vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts.
Dazu treten die Strafkammern der Landgerichte als Berufungs¬
instanz mit drei oder fünf gelehrten Richtern, endlich die Straf¬
senate der Oberlandesgerichte und des Reichsgerichts, jene mit fünf,
diese mit sieben gelehrten Richtern. — Für die Zukunft muß m. E.
unbedingt eine systematische einheitliche Gestaltung der Spruch¬
gerichte erster Instanz geschaffen werden. In der Literatur wurde
am häufigsten eine dreifache Gliederung in kleine, mittlere und
große Schöffengerichte gefordert. Wird diese Forderung von der
überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes vertreten, so ist
ihr Rechnung zu tragen. M. E. würde eine zweifache Gliederung
genügen, in kleine und sog. große Schöffengerichte.
\) Qörres a. a. O.
Ergänzung meiner Schrift „An die deutschen Geschworenen^ 209
Meine Forderung ist folgende:
1. Beim Amtsgericht nur kleine Schöffengerichte (ein Berufs¬
richter, zwei Schöffen) als Gerichte erster Instanz,
2. beim Landgericht nur eine Art der Schöffengerichte, in der
Besetzung mit einem Berufsrichter und vier Schöffen, als Gerichte
erster Instanz (bezüglich aller zurzeit den Strafkammern und den
Schwurgerichten,zugeteilten Sachen) und als Berufungsgericht
bezüglich der Urteile der amtsgerichtlichen Schöffengerichte,
3. gegen die Berufungsurteile der Schöffengerichte des Land¬
gerichts gibt es kein Rechtsmittel,
4. gegen die erstinstanzlichen Urteile der Schöffenjgerichte
beim Landgericht ist nur die Revision ans Reichsgericht als Rechts¬
mittel zulässig. —
Im Kreise der Berufsrichter wird am meisten Widerspruch
meine Forderung hervorrufen, daß die Schöffengerichte am Land¬
gericht nur mit einem berufsgelehrten Richter (als Vorsitzenden)
zu besetzen seien, der seinerseits auch die Urteilsgründe abzufassen
hat. Zur Begründung verweise ich in erster Linie auf den Ab¬
schnitt „Die Persönlichkeit des Vorsitzenden“ in meiner Schrift
(S. 48 ff.), aber auch auf die Ausführung bei Adickes (a. a.' O.).
Keine andere richterliche Berufsübung erfordert so große Selb¬
ständigkeit der Entschließung, so vielseitige Begabung, so ernste
und humane Auffassung der Amtspflichten wie jene des Schwur¬
gerichtsvorsitzenden; von ihm gilt in ungewöhnlichem Maße das
Dichterwort:
Da tritt kein anderer für ihn ein,
Auf sich selber steht er da ganz allein.
Die beiden beisitzenden Richter werden in der Leitung der Haupt¬
verhandlung nur selten eine wertvolle Stütze für den Vorsitzenden
sein: jüngeren, auch allzu einseitig als Zivilrichter ausgebildeten
Richtern, die zu Mitgliedern des Schwurgerichtskollegiums ernannt
werden, fehlt bisweilen die Fähigkeit, den Überblick über die Sach-
und Rechtslage rasch zu gewinnen; sie sind auch nicht immer
gewillt, die Verantwortung für einschneidende prozessuale Ma߬
nahmen mit zu übernehmen, die der Vorsitzende nach Lage der
Sachen für zweckmäßig erachtet (vgl. den unter Ziffer 2 des Ab¬
schnittes „Revisionsgründe“ meiner Schrift, S. 36ff., besonders
S. 38 geschilderten Fall). Die Besetzung der Richterbank im
Schwurgerichtsverfahren mit drei Richtern mag die Strafzumessung
hin und wieder günstig (mildernd und abklärend) beeinflussen;
die Güte und Gerechtigkeit des Urteils würde aber durch gemein-
210
Dr. v. Holten
same Beratung des Vorsitzenden Berufsrichters mit den Schöffen
mindestens in gleichem Maße sichergestellt werden. — Man wird
mir entgegenhalten, dem Berufsrichter werde eine unmögliche
Leistung zugemutet, wenn er die oft umfangreiche Hauptverhand¬
lung leiten und auch noch die Urteilsgründe abfassen solle. Diese
Leistung ist schwierig, aber keineswegs unmöglich, und die Vor¬
teile für das Ergebnis, wenn Leitung der Verhandlung, der Be¬
ratung und Formulierung der Urteilsgründe in einer Hand liegen,
sind in die Augen springend.
An dieser Stelle sei mir ein offenes Wort gestattet: An den
Landgerichten der Hansastädte entnimmt man die Vorsitzenden
der Kammern für Handelssachen vornehmlich dem Kreise der
Landgerichtsdirektoren: der beste Richter (das ist offensichtlich
die Annahme) ist gerade gut genug, seinerseits Urteile nicht nur
mit zu sprechen, sondern auch abzufassen. In anderen Bundes¬
staaten sind die Landgerichtsdirektoren im allgemeinen jeglicher
Urteilsfassung enthoben. Besondere Vorliebe für den Strafkammer¬
vorsitz haben sie nur selten, für den Vorsitz im Schwurgericht
noch seltener; vielfach lehnen auch die dafür gut veranlagten
Direktoren die Übernahme solchen Vorsitzes gern ab mit dem
Hinweis auf ihr Alter, ihre Gesundheit: es ist unbestreitbar, daß
diese bisher viel zu gering gewertete richterliche Tätigkeit die
Nerven mehr abnutzt als die bequemere Tätigkeit des Zivilkammer-
Vorsitzenden. Die Justizverwaltungen werden sich entschließen
müssen (vgl. meine Schrift S. 48), mit allem Eifer gute Vorsitzende
für die großen Schöffengerichte ausfindig zu machen und heran¬
zubilden. Die bisherige schablonenhafte Auswahl solcher Vor¬
sitzenden aus dem Kreise der'Landgerichtsdirektoren (die zum
größten Teil nur als Zivilrichter ihre Sporen verdient, in Straf¬
sachen aber oft nur geringe Gewandtheit und Erfahrung haben)
bildet einen Mißstand unserer Strafrechtspflege. Wie man in Zu¬
kunft das Amt des-Untersuchungsrichters besonders geeigneten
Richtern tunlichst auf Lebenszeit übertragen sollte, wird auch der
Vorsitz im großen Schöffengericht geeigneten Richtern für immer
zti übertragen sein: sie werden dadurch besondere Achtung, großes
Vertrauen bei den Schöffen, in weitesten Kreisen des Volkes ge¬
winnen. Adickes a. a. O. macht den ausgezeichneten Vorschlag,
die höchsten Richter (Reichsgerichtsräte, Senatspräsidenten der
Oberlandesgerichte) zur Leitung der Verhandlung der schwersten
Straffälle zu berufen. — Sollten sich im Kreise der Richter geeig¬
nete Vorsitzende in genügender Anzahl nicht finden, so wird es
Ergänzung meiner Schrift „An die deutschen Geschworenen“ 211
sich empfehlen, solche evtl, aus dem Kreise angesehener Rechts¬
anwälte oder Rechtslehrer an den Universitäten zu ernennen (da¬
mit würde freilich eine andere Regelung ihrer Besoldung erforder¬
lich werden).
Eine besondere Gewährleistung der Unabhängigkeit des deut¬
schen Richterstandes erblickt man mit Recht in dem Umstand,
daß der Richter auf Lebenszeit angestellt wird. Die Versetzung
des Richters in den Ruhestand i§t mangels gesundheitlicher Be¬
einträchtigung seiner Dienstfähigkeit vor vollendetem 65. Lebens¬
jahre gesetzlich unzulässig. Die Prüfung der Dienstfähigkeit wurde
bisher sehr milde gehandhabt, und viele Richter suchten ihre Pen¬
sionierung sehr spät nach. • Um unsere Rechtspflege würde es
besser gestellt sein, wenn spätestens mit dem vollendeten 65. Lebens¬
jahre die zwangsweise gesetzliche Pensionierung einträte, Gesuchen
um Versetzung in den Ruhestand zu früherem Zeitpunkte aber
(etwa nach vollendetem 60. Lebensjahre) kein gesetzliches Verbot
entgegenstünde. Durch Abstufung der Ruhegehälter nach dem
Dienstalter würden die Bundesstaaten vor zu hohen Ausgaben
bewahrt bleiben.
Der vollkommene Vorsitzende in Strafsachen ist imstande,
sofort bei der Verkündung des Urteils die Urteilsgründe in gute,
druckreife Form zu bringen und ihren wesentlichen Inhalt tatsäch¬
lich und rechtlich so vollständig wiederzugeben, daß eine noch¬
malige Urteilsfassung erübrigt, wenn (wie Adickes a. a. O. anregt)
die mündlich wiedergegebenen Urteilsgründe alsbald stenographisch
festgehalten werden. — Ich möchte hier einen weiteren Vorschlag
anschließen: In allen Parlamenten werden sämtliche Äußerungen
der Volksbeauftragten stenographisch festgehalten. Die im Gerichts¬
saal erstatteten Zeugenaussagen aber, welche die hauptsächlichste
Unterlage für den Urteilsspruch bilden, werden im amtsgericht¬
lichen Schöffengericht durch den (oft nicht sonderlich gewandten)
Gerichtsschreiber, im Landgericht überhaupt nicht protokolliert:
Das Urteil wird auf Grund der Notizen des Berichterstatters aus¬
gearbeitet, der meistens das Stenographieren nicht erlernt hat. —
Es würde m. E. den modernen Lebensverhältnissen entsprechen,
wenn in den Gerichtssälen ein beamteter Stenograph die Aussagen
der Angeklagten und Zeugen wörtlich festhielte. Oftmals entsteht
im Laufe der Verhandlung, auch bei der Beratung der Richter
Zweifel über den genauen Sinn und Inhalt einer Zeugenaussage-
Weiche Erleichterung für alle Prozeßbeteiligten, wenn der Wortlaut
des Stenogramms alsbald eingesehen werden kann! Wie vielen.
212
Dr. v. Holten
Anzeigen wegen Meineides aber würde von vornherein die Spitze
abgebrochen, wie vielen Anreizungen zur Leistung eines falschen
Eides würde ein überwiegendes Gefühl der Unlust entgegenstehen
angesichts des steten Vorhandenseins einer sicheren Kontrolle der
erstatteten Aussage! Auch für die Entscheidung über Anträge auf
Wiederaufnahme des Verfahrens würde' ein wertvoller Anhalt ge¬
wonnen werden.
Wenn diejenige Rechtsprechung am meisten befriedigt, welche
sich des größten Vertrauens im Volke erfreut, so dürfte die Be¬
setzung eines Gerichtshofes mit einem Berufsrichter und vier Schöf¬
fen als ausreichend auch anzusehen sein für die Aburteilung der
schwersten (bisher den Schwurgerichten vorbehaltenen) Verbrechen.
Erblickt aber (was ich kaum annehmen möchte) die überwiegende
Mehrzahl des deutschen Volkes in einer größeren Anzahl von
Schöffen eine noch sicherere Garantie für eine unabhängige und
unparteiische Rechtspflege, so müßte man noch eine dritte Art von
Schöffengerichten schaffen, bestehend aus dem gelehrten Berufs-
richter als Vorsitzenden und (höchstens) sechs Schöffen. Hier
könnten aber Schwierigkeiten entstehen, weil vielleicht das vor¬
handene Material an Schöffen nicht ausreicht (obwohl diesem Um¬
stande bis zu einem gewissen Grade durch Einführung angemes¬
sener Tagegelder zu begegnen wäre).
Bisher wurde allgemein die Einführung der Berufung gegen
die Strafkammerurteile gefordert. Wenn aber am Landgericht nur
Schöffengerichtsurteile unter überwiegender Mitwirkung von Laien
gesprochen werden, dürfte sich diese Form der Rechtspflege so
allgemeinen Vertrauens erfreuen, daß sich die Berufung gegen diese
Urteile erübrigt. In Zukunft wird ja durch die Urteilsgründe (in
Verbindung mit dem etwa vorliegenden Stenogramm über die
Beweiserhebung) eine sichere Nachprüfung der Vorgänge im
Sitzungssaal und im Beratungszimmer ermöglicht werden. Das
Revisionsgericht wird ein getreues Bild der psychologischen und
rechtlichen Erwägungen gewinnen, welche der Feststellung des
subjektiven und objektiven Tatbestandes zugrunde liegen, und
somit den materiell-rechtlichen Inhalt des Urteils bis ins kleinste
nachprüfen können. Dieser (im Gegensatz zu dem bisherigen, mit
Gründen nicht versehenen Wahrspruch der Geschworenen) eines
aufgeklärten Volkes allein würdige Rechtszustand führt dazu, daß
auf Innehaltung rein formeller Vorschriften nicht mehr so viel Ge¬
wicht gelegt zu werden braucht. Das von mir angegriffene, von
einzelnen Verteidigern bisher geübte Verfahren (Herbeiführung
Ergänzung meiner Schrift „An die deutschen Geschworenen“
213
formeller Verstöße) wird überflüssig! — Meine Vorschläge aber auf
tunlichste Einschränkung der Revisionsgründe halte ich aufrecht
(vgl. meine Schrift S. 41). Zur Vermeidung der unnötigen Auf¬
regungen und Kosten einer wiederholten Hauptverhandlung würde
es beitragen, wenn dem Reichsgericht die diskretionäre Befugnis
verliehen würde, etwaige formale Verstöße, auch wenn sie den
strengen Buchstaben des Gesetzes verletzen, als unerheblich zu
bezeichnen.
In Zivilsachen ist das Landgericht als Berufungsgericht für die
in erster Instanz vor dem Amtsgericht verhandelten Sachen die
letzteinstanz. Warum muß es in Strafsachen anders sein? Zweck¬
mäßig mag es erscheinen, die Berufung gegen die amtsgericht¬
lichen Schöffengerichtsurteile aufrecht zu erhalten; das landgericht¬
liche Schöffengericht wird den Tatbestand, die Rechtsfrage noch
sorgfältiger prüfen als das kleine amtsgerichtliche Schöffengericht.
Aber das Bestehen einer zweiten Instanz leistet auch dem pein¬
lichsten Rechtsgefühl Genüge, wenn den Spruchgerichten jeder von
beiden Instanzen die Befugnis eingeräumt wird, beim Auftauchen
schwieriger Rechtsfragen (z. B. bezüglich der Rechtsgültigkeit von
Polizeiverordnutjgen) von amtswegen, bevor sie ihr Urteil sprechen,
einen höchsten Gerichtshof um Abgabe eines Rechtsgutachtens
anzugehen (so AdickeS a. a. O.). Unerträglich aber (wie von be¬
rufener Seite wiederholt hervorgehoben) ist der Zustand, daß über
Fragen solcher Art etwa das Kammergericht (oder ein anderes Ober¬
landesgericht), das Oberverwaltungsgericht und endlich noch das
Reichsgericht voneinander abweichende Rechtsanschauungen ver¬
treten: hier wird eine gesetzliche, einheitliche Schlichtung erfolgen
müssen.
Justizrat Dr. Sei lo gibt in einem Aufsatz „Strafprozeßreformen“ ‘)
folgenden Fall aus der Praxis wieder: „Eine Polizeiverordnung
gebietet, daß gewisse Fuhrwerke ein Schild mit Namen und Wohn¬
ort des Besitzers tragen müssen. Einem Bauern reißt während
der Fahrt die Namenstafel ab.- Er kann sie nicht sogleich wieder
befestigen, bekommt einen Strafbefehl über eine Mark, erhebt
Widerspruch und nun wird diese weltbewegende Sache vor drei
gerichtlichen Instanzen ausgefochten. Bis das Kammergericht das
letzte Wort sprach, waren folgende Personen darin amtlich tätig
gewesen: der Amtsvorsteher, der den Strafbefehl erließ; beim
Schöffengericht der Vorsitzende, zwei Schöffen, der Amtsanwalt
') „Die Zukunft“, Berlin, vom 17. Dezember 1904.
Archiv für Kriminologie. 71. Bd.
15
214
Dr. v. Holten
und der Gericjitsschreiber; in der Berufungsinstanz drei gelehrte
Richter, ein Staatsanwalt und ein Gerichtsschreiber; in dritter Instanz
fünf Richter und ebenfalls je ein Staatsanwalt und ein Gerichts¬
schreiber. In Summa: achtzehn Beamte. — Ich glaube nicht zu
übertreiben, wenn ich behaupte, daß vor deutschen Gerichten täg¬
lich viele hundert Fälle von ähnlicher Richtigkeit den Geist von
tausend gelehrten Beamten beschäftigen.“
Solche Rechtszustände sind unerträglich; sie zeugen von man¬
gelnder Reife des Rechtsempfindens und erziehen das ihnen unter¬
worfene Volk zur Unfreiheit, zu querulantenhafter Auffassung des
Lebens.
Ich schließe: die Einrichtung der Schwurgerichte in ihrer
jetzigen Form verletzt das Rechtsempfinden weitester Volkskreise
und hat sich überlebt. Eine gesunde Neugestaltung der deutschen
Strafprozeßordnung im Sinne aufgeklärter, volkstümlicher Rechts¬
anschauungen wird aber nur gelingen, wenn für die Beantwortung
aller sich aufdrängenden Fragen die Weisung Goethes Richtung
gebend bleibt:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben!
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen:
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben!
Visitieren.
Von
Gerichtschemiker C. J. van Ledden-Hulsebosch, Amsterdam.
Beim Niederschreiben dieses Titels frage ich mich unwillkür¬
lich, weshalb das typische französische Wort „fouiller“ ein solches
Bürgerrecht erhalten hat, während in keiner der sonstigen modernen
Sprachen ein gehöriges Synonym zu finden ist. Die spezielle Be¬
deutung von „die Taschen jemandes durchsuchen“ liegt, soweit
ich nachspüren konnte, in keinem einzigen Worte unserer übrigen
modernen Sprachen. Das deutsche „durchsuchen“ oder „revidieren“
drückt keinesfalls das spezielle „Taschen durchsuchen“ allein aus,
sondern wird ebenso für visitieren und Haussuchung halten
gebraucht.
Dem sei wie ihm wolle — ich werde jetzt das Visitieren ein¬
mal besprechen, eine Handlung, welche täglich von fast jedem
Polizeimann verrichtet wird.
Meistens findet es Platz, um bei Arrestierten bloß eine Inventur
aufzustellen, welche Objekte sich in den Taschen vorfinden, damit
diese nachher völlig zurückgegeben werden können. Dann und
wann wird aber eine genauere Untersuchung der Taschen nötig,
wenn man sich für dasjenige interessiert, was der Verhaftete bei
sich trägt und ... bei sich trug. Es ist gerade letzteres, was in
diesem Artikel behandelt werden soll.
Ich erachte es für durchaus falsch, wenn die Hand, welche in
einer Tasche steckte und hieraus keine tastbaren Objekte zum
Vorschein bringt, sofort in eine andere Tasche übersiedelt, um
dort rund zu greifen. Bei dieser Art „durchsuchen“ kümmert man
sich offenbar bloß um größere Objekte und läßt die kleineren Partikel -
Staubteilchen, welche doch fast regelmäßig in den Taschen vor¬
gefunden werden, außer Betracht.
Die Kriminalistik, welche über so viel Hilfsmittel verfügt, um
auGh einen Blick in die Welt der kleinsten Teilchen zu ermög¬
lichen, fordert, daß auch der Staub der Taschen tüchtig ge¬
prüft wird.
15*
216 •
C. J. VAN LeDDHN-HULSEBOSCH
Wird jemand, des Meuchelmords durch Vergiftung (z. B. mit
Arsenik) verdächtig, durchsucht, so würde es doch unverzeihlich
sein, wenn diese Handlung sich nur auf ein grobes Herumtasten
in den Taschen des Verdächtigen beschränkte, weil die Möglich¬
keit sehr groß ist, daß er sein Säckchen, Schächtelchen oder
Fläschchen mit Gift nach der Ausführung der sträflichen Tat sofort
weggeworfen hat. Es besteht die Möglichkeit, daß der Mörder
vor dem Verabreichen des Giftes, in Erwartung einer guten Ge¬
legenheit, einige Zeit damit in seiner Tasche herumgelaufen ist
und von dem ungemein schweren Pulver einige Staubteilchen aus
der Packung entschlüpft und mit dem Taschenschmutz gemischt
sind. Diesenfalls kann das mit dem Mikroskop bewaffnete Auge des
Sachverständigen sehr bequem die kleinen typischen oktaedrischen
Kristalle des Arseniks zwischen den sonstigen Staubteilchen erkennen.
Will man von dieser Untersuchung einen Erfolg erwarten, so
muß natürlich von Anfang an (also schon bei dem Visitieren) alles
entsprechend den Vorschriften der Kriminalistik ausgeführt werden.
Nachdem zuerst — am liebsten auf einem großen Bogen hell¬
gefärbten Papieres, das man so glatt als möglich (ohne Falten!) auf
den Tisch legt — bei tüchtiger Beleuchtung die Taschen von den
größeren Objekten befreit sind, werden diese besonders auf dem
Bogen Papier auf das Vorhandensein von angeklebten Staubteilchen
— womöglich mit Benutzung einer Lupe — untersucht, indem man
sie ausschüttelt, entleert, klopft oder mit einer kleinen Bürste
abbürstet. Ich benutze dabei mit gutem Erfolg ein Stück rein
weißes Linoleum.
Ein Taschenmesser kann in seiner hohlen Handbabe leicht
interessante kleine Objekte enthalten. Ein Taschentuch kann,
ebensogut als die Falten eines Portemonnaies, vielleicht Staub¬
teilchen festhalten, welche für die Untersuchung von großem In¬
teresse sind. Der aus diesen Objekten zu sammelnde Staub,
welcher in Fällen von weniger ernster Natur weniger interessiert
als bei Vergiftung und dergleichen, kann nötigenfalls aus den
verschiedenen Taschen abgesondert aufbewahrt werden.
Die auf diese Weise gesammelten Stäubchen können in einem
gut schließenden Schächtelchen aufbewahrt werden oder — voraus¬
gesetzt, daß sie dazu geeignet sind — auch in Papier gefaltet
werden. Letzteres hat aber in meiner Praxis öfters zu Täuschungen
Veranlassung gegeben, als die mir zur Untersuchung verabreichten
Papiere zufolge mangelhafter Faltung ihren Inhalt verloren hatten.
Will man Stäubchen so in gefaltetem Papier einschließen, daß
Visitieren
217
dieselben daraus nicht mehr entschlüpfen könnet, so verrichte man
diese Beschäftigung nach dem Beispiel der Pulver, welche der
Apotheker faltet. Hierzu nehme man ein größeres oder kleineres
Stück Papier, ungefähr anderthalb mal so lang als breit und falte
dieses nach „Modell“. Man erhält so eine geeignete Packung,
welche alle Gewähr bietet gegen unerwarteten Verlust des Unter¬
suchungsmaterials.
Ich möchte bezüglich eines Falles aus der Praxis eine Warnung
hier anfügen. Die Verführung ist groß, ein Lacksiegel auf die
zwei Endzipfel der Verpackung zu drücken und auf diese Weise
das Überzeugungsstück zu versiegeln. Bevor man das tut, stelle
man sich die Frage, ob die Hitze des fließenden Lackes dem Inhalt
des Pakets nicht schaden kann. Ein Einbrecher, der Stümpfchen
Kerze in seiner Tasche trug, kann leicht Krümchen Stearin in den
Taschenschmutz gebracht haben, und jeder fühlt, wie in solchen
Fällen die Hitze des Siegellackes für den gesammelten Staub
schädlich sein kann! Deshalb ist Packung in Fläschchen oder
Schächtelchen mehr empfehlenswert.
Zur Illustration des eben Angeführten will ich einen Fall er¬
wähnen, der sich vergangenes Jahr hier in Amsterdam dar¬
geboten hat.
In einer Chfemikalien-Großhandlung wurde an einem Morgen
mitten unter den Vorratsflaschen mit Perubalsam eine ausgeleerte und
eine gebrochene, leergelaufene Flasche entdeckt. Sofort wurde an
Diebstahl gedacht, und der Verdacht fiel auf einen Ladengehilfen
— einen Packknecht, der nicht günstig angeschrieben stand — auf
dessen Werkhose unterhalb des Knies ein dunkelbrauner Fleck ge¬
funden wurde. Das Beinkleid wurde mir vorgezeigt und ich wurde
beauftragt zu untersuchen, ob der genannte Fleck wirklich von
Perubalsam stammte oder von Blut, wie der Verdächtige erklärte.
Die Untersuchung lehrte — konform der Erklärung des Ver¬
dächtigen —, daß der Fleck von Blut herrührte, das von innen
nach außen in den Stoff des Beinkleides gedrungen war. Den
Rechercheur, welcher mit der Hose in mein Laboratorium gekommen
war, befremdete es anfangs, daß ich, nachdem ich ihm das Re¬
sultat meiner Untersuchung mitgeteilt hatte, ihn ohne die Hose
wegschickte, doch ich erklärte ihm sofort, daß ich — weil der
Eigentümer einmal verdächtig war — die Hose nicht abgeben
wollte, bevor ich sie nicht auch noch in anderer Richtung unter¬
sucht hatte. Hierzu kehrte ich bei allen Taschen das Innere nach
außen und bürstete vorsichtig alle Staubteilchen der Fütterung
218
C. J. van Ledden-Hulsebosch
hinaus, worauf die Untersuchung anfing. Ich fand damals überall
mikroskopisch 1 kleine Quecksilberkügelchen sowie Pulver von Tee¬
blättern, welcher Fund mich veranlaßte, dem Vorstand der be¬
treffenden Firma zu raten, seinen Vorrat an Quecksilber und Tee
einmal kontrollieren zu wollen. Als dieses stattfand, entdeckte
man, daß davon bedeutende Mengen gestohlen waren!
Der folgende Fall illustriert nicht weniger klar die Vorteile
einer tüchtigen Visitierung.
Eines Tages wurde von einem Eier-Distributionsbureau an¬
gezeigt, man habe in der Nacht eipgebrochen und unter anderem
zwei Stempel gestohlen. Einer der Stempel war immer mit roter,
der andere mit violetter Stempelfarbe benutzt. Am nächsten Tage
wurde in einem anderen Polizeiamt ein Arrestant eingebracht,
dessen Kleidung nach den Regeln der Kunst durchsucht wurde.
Beim Umwenden der Taschen entdeckte der Kriminalbeamte auf
dem Futter Flecken in rot und violett. Sofort fiel ihm ein, daß
unter den Anzeigen der letzten 24 Stunden eine betreffend ge¬
stohlener Eierstempel war, und er sorgte dafür, daß ich den Rock
und die Stempelkissen in mein Laboratorium bekam. Resultat:
die Farbstoffe wurden identisch befunden, der Verdächtige war
seines Verbrechens geständig und eine Stunde später waren die
Stempel beschlagnahmt bei einem der vielen Aufkäufer. Ohne das
Visitieren „comme il faut“ würde der Endzweck keinesfalls so
schnell, vielleicht gar nicht erreicht worden sein'
Hinterläßt ein Einbrecher im Tausch für ein Kostüm des
Herren des Hauses sein Gaunerpack, so kann ein tüchtiges Visi¬
tieren oft Licht verbreiten über Beruf, Gewohnheiten und dergleichen
des Trägers.
Ich rate darum jedem Polizeimann: visitiere immer so tüchtig
als möglich wie angegeben; früher oder später werden Fälle ein-
treten, wobei durch einen nicht erwarteten Erfolg reichlich die Mühe
belohnt wird, die du in anderen Fällen aufwendetest, ohne daß diese
Methode besondere Vorteile bot.
Kleinere Mitteilungen.
i.
Schutz vor verbrecherischen Dienstboten.
Von Bezirksrichter Privatdozent Dr. Eduard Ritter von Liszt in Graz.
Im Hinblick auf die Notiz „Schutz vor verbrecherischen Dienst¬
boten“ von Herrn Regierungsrat Dr. Heindl im Bd. 70 S. 232 des
„Archiv“ wurde mir gegenüber von mehreren Seiten dem Zweifel daran
Ausdruck gegeben, daß die vom Herrn Verfasser geäußerten Befürch¬
tungen begründet seien. Da solche Zweifel gewiß auch in vielen anderen
Kreisen bestehen dürften, möchte ich einen lehrreichen einschlägigen
Fall aus meiner straf- und untersuchungsrichterlichen Praxis mitteilen,
den ich während meiner Tätigkeit am Bezirksgericht Klosterneuburg im
Jahre 1900 erlebte.
Die bei einer dortigen Familie bedienstete Köchin mit einem auf
den Namen Marie N. lautenden, von einem Wiener Polizeikommissariat
ausgestellten Dienstbotenbüchel war mir wegen einiger Betrügereien ein¬
geliefert und von mir zu einer entsprechenden Arreststrafe verurteilt
worden. Trotzdem ihr bei Abnahme der Generalien keine Unrichtigkeit
unterlief, stiegen mir doch infolge eines gewissen lauernden Verhaltens
der Verhörten Zweifel an der Richtigkeit ihrer Angaben und an ihrer
Identität auf. Ich ließ sie deshalb in der Folge unter verschiedenen Vor¬
wänden einige Male wieder vorführen und streute unter anderen Fragen
scheinbar ganz nebenher auch solche nach ihren Generalien ein. Sie be¬
stand diese Prüfungen glänzend, aber mein Zweifel schwand nicht. So
schrieb ich an die Polizeidirektion Wien das Ersuchen um Erhebung
und Mitteilung, ob einmal einer Köchin des Namens Marie N. ihr
Dienstbotenbuch abhanden gekommen sei.
Die Antwort lautete positiv. Die Marie N. hatte in einem Dienst¬
vermittlungsbureau ihr Dienstbotenbuch auf einen Tisch gelegt und aus
dem Auge gelassen. Als sie es wieder nehmen wollte, war es ver¬
schwunden.
Trotz dieser zweifelfreien Feststellung behauptete die Verdächtige
auch weiterhin, mit der Marie N. identisch zu sein. Erst als sie auf
Fragen nach ihrer angeblichen Heimat und Familie — ich hatte
über beides inzwischen durch die wirkliche Marie N. genaue Angaben
erhalten — keine richtige Antwort zu geben wußte, bequemte sie sich
zum Eingeständnis, daß sie nicht die Marie N. sei. Das Dienstboten¬
büchel auf diesen Namen wollte sie selbstverständlich auf der Straße
220
Kleinere Mitteilungen
gefunden haben. Zunächst gab sie wieder einen falschen Namen an,
doch sah sie bald ein, daß sie auf diese Art ihre Lage nicht zu ihrem
Vorteil änderte. So rückte sie denn endlich mit ihrem wahren Namen heraus.
Wie meine Erhebungen ergaben, hatte sie schon früher einmal
ein Dienstbotenbuch gestohlen und war auch unter dem Namen dieser
Bestohlenen wegen eines anderen Diebstahls verurteilt worden. Nach¬
dem selbstverständlich die über die Diebin verhängten Strafen in den
behördlichen Vormerken zum Nachteile der beiden Bestohlenen einge¬
tragen worden waren, veranlaßte ich deren Löschung bzw. ihre Über¬
tragung in die Vormerke über die wirklich Schuldige und sprach in
meinem neuerlichen Urteile auch die Zulässigkeit der Verhängung der
Polizeiaufsicht über' diese aus.
Die Personsbeschreibung der Marie N. paßte übrigens auf die Ver¬
urteilte ebenso wie gewiß auf einige hundert andere Frauenspersonen
tadellos.
Auch ich bin der Ansicht, daß die Anbringung des Bildes des
Inhabers (der Inhaberin) in jedem Dienstbotenbuche zu fordern wäre
und möchte auch die Beisetzung des Fingerabdrucks befürworten. Ob
eine solche Maßregel da oder dort (wirklich oder angeblich) als „un¬
demokratisch“ empfunden würde — Herr Dr. Heindl erwähnt diese
Möglichkeit —, scheint mir ganz und gar nebensächlich. Dies umso¬
mehr, als bekanntlich auch die Meldungsbücher der Studenten, die
Eisenbahnausweise der Staatsbeamten usw., neuerdings auch die Reise¬
pässe, mit den Bildern der Inhaber versehen sind und bei Reisen ins
Ausland zur Überschreitung der Grenze sogar die Abgabe des Finger¬
abdrucks vom Reisenden gefordert wurde.
„Die Zeit ist vorüber, wo man es für notwendig hielt, bei Be¬
schreibung der Sitten eines Negerstammes moralische Entrüstung über
Menschenfressen an den Tag zu legen“, sagt Schumpeter („Wie
studiert man Sozialwissenschaft?“ München 1915, 2. Auflage, S. 22).
Ebenso sollte die Zeit vorüber sein, in der man bei sachlicher Kritik
oder notwendiger' Verfügung von Sicherheitsmaßnahmen gegen Aus¬
würflinge bestimmter Kreise mit einer gewissen Ängstlichkeit versichert,
daß man diesen Kreisen als Ganzes bzw. allen ihren Zugehörigen
nicht nahetreten wolle.
2 .
Zur Geschichte der Kriminalpsychologie.
Von Dr. jur. Hans Schneickert, Berlin.
Die Kriminalpsychologie entwickelte sich in ihren Anfängen aus
der gerichtlichen Medizin. Am Anfänge des 18. Jahrhunderts erschienen
einige in lateinischer Sprache verfaßte Werke über gerichtiche Ärznei-
kunde, das erste nachweislich im Jahre 1715 in Leipzig. Prof. Groß
hat in der Einleitung zu seiner Kriminalpsychologie nur einige wenige
literarische Hinweise auf die Geschichte dieser Hilfswissenschaft gegeben.
Kleinere Mitteilungen
221
die ich durch das von Dr. Georg Wilhelm Böhmer im Jahre 1816 in
Göttingen herausgegebene „Handbuch der Literatur des Kriminalrechts“
zu ergänzen in der Lage bin. Damals wurde die Psychologie noch als
ein Teil der Philosophie angesehen und war noch beschränkt auf die
psychologische Beurteilung des Täters und seiner Motive. Erst in
unserer Zeit wu/de die Kriminalpsychologie weiter ausgedehnt und um¬
faßt, kurz gesagt, die psychologische Beurteilung aller Beweismittel des
Strafrechts.
Das ernste Studium dieser Hilfswissenschaft hat bereits Christ. Karl
Stil bei in seinem „System des allgemeinen peinlichen Rechts“ (Leip¬
zig 1795) betont, indem er sagte, daß die Kriminalpsychologie in Ver¬
bindung mit der praktischen Philosophie bei Anwendung, .der Grund¬
sätze des Kriminalrechts auf einzelne Fälle die Richtlinie)* an die Hand
geben muß, welche sowohl die Beurteilung der einzelnen Handlungen
als auch die davon abhängige Schuldzurechnung und Bestrafung be¬
treffen. Karl August Tittmann hat in seinem Buch über „die wissen¬
schaftliche Behandlung des peinlichen Rechts“ (Leipzig 1798) ebenfalls
ein Programm des Studiums der Kriminalpsychologie aufgestellt. Er
führt nämlich aus: „Es kommt bei der Schuldzurechnung und Bestrafung
nicht allein auf die äußere Handlung selbst, sondern auch teils auf die
Gesinnung des Handelnden, inwiefern dieselbe geäußert wird, teils auf
unzählige andere Umstände an, welche die Grade der Zurechnung und
mithin in einzelnen Fällen dieselbe Handlung ganz verändern. Kein Fall
ist dem anderen gleich, sondern jeder erhält nach den verschiedenen
Graden der Willensfreiheit, mit der sich der Handelnde zur Unterneh¬
mung einer Rechtsverletzung bestimmte, eine verschiedene Beurteilung.
Selbst die individuelle Beschaffenheit des Handelnden, sein Rang, Alter,
körperlicher Zustand und andere dergleichen Dinge erfordern eine be¬
sondere Rücksicht bei der Abmessung und Zuerkennung der Strafe.
Überhaupt hat der Gesetzgeber bei der Wahl der in den Gesetzen an-
züdrohenden Übel auf eine Menge von Umständen und Verhältnissen
Rücksicht zu nehmen, die nur dann gehörig beobachtet werden können,
wenn philosophische Resultate den Weg ,hierzu zeigen. Er muß auf
den Geist der Nation, auf ihre physische Beschaffenheit, auf das Klima
und andere dergleichen Umstände, durch welche Veranlassung zu häu¬
figen Rechtsverletzungen gegeben werden könnte, sorgfältige Rücksicht
nehmen, wenn er Verbrechen verhindern und wirksame Strafen androhen
will. Es ist mithin schlechterdings unmöglich, bestimmen zu können,
inwiefern dem Handelnden seine Tat zuzurechnen, und ob diese oder
jene Strafe in einem vorliegenden Falle gerecht und zweckmäßig sei,
wenn man nicht die Grundsätze hierbei aus der Philosophie entlehnt,
wenn man sich nicht Kenntnisse der Psychologie erworben hat, durch
die man in den Stand gesetzt wird, die Triebfeder zu den Rechtsver¬
letzungen und den Einfluß derselben auf die Denkungsart und Hand¬
lungsweise der Menschen genauer kennen zu lernen, wenn man nicht
die Unlust, die diesem oder jenem Vergnügen, welches zur unerlaubten
Tat bestimmte* am meisten entgegenwirkt, zu beurteilen und das ver¬
schiedene Verhältnis, welches hierbei eintreten kann, genau zu bestimmet
imstande ist.“
222
Kleinere Mitteilungen
Auch eine Äußerung aus dem erwähnten Werke von St übel ist
noch- bemerkenswert : „Das positive Strafrecht ist der kleinste Teil der
Rechtswissenschaft und besteht größtenteils wieder aus Gedächtnissachen,
die man auf der Hochschule sich auf einmal so nicht zu eigen machen
kann. Begriffe daher diese Wissenschaft etwas weiter nicht in sich,
so würde das akademische Studium derselben sehr unbedeutend sein.
Einen Kriminalisten, der nicht zugleich Philosoph ist, übertrifft oft ein
Gerichtsschreiber oder Gerichtsfrohn, der aus der Erfahrung das näm¬
liche noch vollständiger lernen kann.“ Man kann daraus ersehen, daß
das juristische Studium schon damals gleichen Vorwürfen ausgesetzt
war, wie heute noch, von Fortschritt läßt sich da noch wenig bemerken.
Die erste von Böhm er erwähnte, einigermaßen grundlegende Arbeit
„Ideen zur Kriminalpsychologie“ veröffentlichte J. Chr. Gottl. Schau¬
mann im Jahre 1792 in Halle; das in dieser Abhandlung angekündigte
System kriminalpsychologischer, Schriften ist aber nicht erschienen, und
Böhmer knüpfte daran den Wunsch, daß der damalige Professor der
Philosophie Jak. Fried. Fries diese Schuld abtragen möge. Tatsäch¬
lich erschien auch einige Jahre später dessen „Handbuch der psycho¬
logischen Anthropologie“ (Jena 1820). Bereits im Jahre 1791 war in
München eine hierher gehörige Schrift „Über die Notwendigkeit psycho¬
logischer Kenntnisse bei Beurteilung von Verbrechen“ von Eckarts¬
hausen veröffentlicht worden, eine weitere im Jahre 1799 in Nürn¬
berg von J. Gottl. Münch, „Über den Einfluß der Kriminalpsychologie
auf ein System des Kriminalrechts, auf menschlichere Gesetze und Kultur
der Verbrecher“, sowie im Jahre 1808 in Halle von Joh. Casp. Hof-
bauer, „Die Psychologie ln ihrer Hauptanwendung auf die Rechts¬
pflege“. Aber schon vor dem Jahre 1790 hat eine Reihe von Schrift¬
stellern sich mit dem Problem der empirischen Psychologie beschäftigt,
wie aus den Angaben in Böhmers Handbuch zu ersehen ist.
Wenn sich in unserer Zeit jene, die sich mit der Strafrechtspflege
und Strafverfolgung zu befassen haben, auch ein gewisses Maß von
empirisch-psychologischen Kenntnissen in der Praxis anzueignen ver¬
mögen, so kann das weder den Forderungen unserer Vorfahren, noch
viel weniger jenen der heutigen Vertreter der kriminalistischen Hilfs¬
wissenschaften, wie überhaupt den Interessen einer gerechten Straf¬
rechtspflege genügen, solange diese Hilfswissenschaften und insbeson¬
dere auch die Kriminalpsychologie nicht in den Lehrplan unserer juri¬
stischen Fakultäten aufgenommen worden sind. Nach unseren heutigen
Bedürfnissen müßte ein vollständiges System der Kriminalpsychologie
folgende Gebiete umfassen:
1. Die Psychologie der Aussage.
2. Die Psychologie des Verbrechens und seiner Ursachen
3. Die Psychologie des Verbrechers (sein Lebensgang, Lebens¬
gewohnheiten, Ausführungsarten seiner Verbrechen, Gaunertricks, die
Wahl des Verbrechens, die Strafwirkung).
4. Die Psychologie der Urteilsfindung.
Systematische kriminalpsychologische Arbeiten, die sich mit diesen
vier Gruppen befassen, liegen bis jetzt noch nicht vor; was auf diesem
Gebiete bisher veröffentlicht ist, sind lediglich Materialsammlungen.
Kleinere Mitteilungen 223
3.
Gaunerzinken ? #
Belohnung von 3000 M.
Mit 1 Abbildung.
In der Nacht zum 21. Juni 1918 wurden aus einem Kaufhaus in
Kassel Seidenwaren im Werte von 16000 M. gestohlen. Die Ein¬
brecher versahen eine Tür des Tatortes mit folgenden Zeichen:
A tS.rU. tu
/•t, * * * o * 4 \ f
o * L M * ff A4 +
1+ A + 9
6 + 9 f o P t $
* ^ 4 % /<iJ8
Dem Dresdener Erkennungsdienst, dem die Geheimschrift übersandt
wurde, ist bis jetzt die Entzifferung nicht gelungen. Die Kriminal¬
polizei Kassel teilt mit, daß in dieser Einbruchsangelegenheit eine Be¬
lohnung von 3000 M. ausgesetzt ist. (Aktenzeichen C 7755). Die
Redaktion des „Archivs“ ist gern bereit, Lösungsversuche, die ihr ein-
gesandt werden, zu veröffentlichen.
4.
Krankhafter Zwang zur Selbstbezichtigung.
Ein seltsamer Fall geistiger Verirrung beschäftigte am 21. Sep¬
tember 1918 die 6. Strafkammer des Landgerichts 1 Berlin. Wegen
unbefugter Amtsausübung in 13 Fällen und Urkundenfälschung in 4 Fällen
M tte sich ein aus Ungarn gebürtiger Kellner Ludwig Herrnfeld zu ver-
tworten.
Seit fünf Jahren beschäftigt dieser Mann Kriminalkommissare und
-beamte, Schutzleute und Polizeireviere. Sowie ein größeres Verbrechen
entdeckt und bekannt wurde, trat er in Tätigkeit. Schriftlich und durch
den Fernsprecher liefen Anzeigen ein, man solle einen gewissen Ludwig
Herrnfeld verhaften, der sei der Schuldige. Einmal rief ein Staatsanwalt
an, er habe den Gesuchten ermittelt, er sei sofort festzunehmen. Es
war wieder einmal Ludwig Herrnfeld. Der Mann sollte den Mord am
Teufelssee begangen, den Raubmord Klaus ausgeführt, dann die Schülerin
Ley getötet haben. Da die Beschreibung stets genau auf Herrnfeld
zutraf und die Kriminalpolizei es nie unterläßt, auch unwahrscheinliche
Spuren zunächst zu verfolgen, wurde Herrnfeld unzählige Male fest-
224
Kleinere Mitteilungen
genommen, verhört, in Haft behalten und dann wieder freigelassen, weil
sich jedesmal herausstellte, daß die Anzeige vollkommen unbegründet
war. Herrnfeld setzte nach jeder Festnahme eine ausführliche Beschwerde
auf, rief alle möglichen Stellen an und beklagte sich bitter über das
ihm zugefügte Unrecht, bis bei einem neuen Verbrechen die Kriminal¬
polizei wieder auf ihn hingewiesen und Herrnfeld wieder verhaftet wurde.
Fünf Jahre lang hielt der sonderbare Mann eine ganze Gruppe von
Beamten in Bewegung.
Auf die Dauer mußten diese irreführenden Anzeigen, die immer
wieder Herrnfeld bezichtigten, auffallen und nun wirklich auf seine Spur
führen. Herrnfelds Beschwerden und die Schrift einiger ihn beschul¬
digender Anzeigen wurden verglichen, und die unverkennbare Ähnlich¬
keit bestätigten den Verdacht, daß Herrnfeld, der ungestüm sich Be¬
schwerende, seine Festnahme immer selbst verlangt hatte. Da von einem
so rückfälligen „Verbrecher“ viele Fingerabdrücke aufgenommen waren,
fiel es nicht schwer, auf Grund des Abdrucks auf einer der Anzeigen
die Schuld zweifelsfrei festzustellen.
Inzwischen hatte eine dieser Selbstanzeigen '„Erfolg“ gehabt. Herrn¬
feld war in einen großen Einbruchsdiebstahl verwickelt worden, verhaftet,
auf seinen Geisteszustand untersucht und schließlich zu secljs Jahren
Zuchthaus verurteilt worden.
Die Anklage wegen unbefugter Amtshandlungen — er hatte sich
als Staatsanwalt, als Kriminalbeamter u. dgl. ausgegeben, um seinen
Anzeigen mehr Gewicht zu geben — sollte schon verschiedene Male
zur Verhandlung kommen, mußte aber immer wieder vertagt werden,
weil Herrnfeld, die Selbstbezichtigungen hartnäckig leugnend, unter epi¬
leptischen Krämpfen zusammenbrach. Schließlich wurde der seltsame
„Verbrecher“ in Herzberge auf seinen Geisteszustand beobachtet, und
es wurden gewisse Krankheitszustände festgestellt.
In der Verhandlung vom 21. September 1918 gab der Angeklagte
zu, tatsächlich in dieser unglaublichen Weise gegen sich selbst vor¬
gegangen zu sein und dadurch seine wiederholten Festnahmen und die
öffentliche Brandmarkung seines Namens veranlaßt zu haben. Seit Jahren
stehe er, wenn irgendein großes Verbrechen begangen werde, und wenn
er v die polizeilichen Bekanntmachungen lese, unter dem Drange, sich
selbst Schaden zuzufügen und als den Schuldigen anzuzeigen. Tagelang
habe er unter solchen Zwangsvorstellungen gelitten und sich zuweilen
noch nachts hingesetzt und die Anzeigen geschrieben. Nach seiiwr
Festnahme habe er jedesmal eine Art Erleichterung empfunden.
Der ärztliche Sachverständige erklärte, daß der Angeklagte infolge
schwerer Hysterie für diese Taten nicht verantwortlich sei. Der Ver¬
teidiger wies auf die Freudsche Theorie hin, nach der ein aus der Kind¬
heit zurückgedrängter Zustand des Unterbewußtseins anzunehmen sei,
der in dem Dämmerungszustand der Epilepsie eine Art masochistischen.
Triebes auslöse. Hiernach sei die Freisprechung geboten, und er habe
auch gegen die Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus Revision ein¬
gelegt und hoffe, daß auf Grund der neuen Ermittelungen festgestellt
wird, daß auch dort eine Straftat des Augeklagten nicht vorliegt.
Das Gericht sprach den Angeklagten frei.
Kleinere Mitteilungen
225
Der Erkennungsdienst der Polizeidirektion München hatüm letzten
Jahre eine umfangreiche, in vielen Fällen erfolggekrönte Arbeit ge¬
leistet. Bei der Sicherheitsabteilung wurden von 3943 (1917: 3008)
Personen Fingerabdrücke genommen. Mit den Nachprüfungen durch
Abdruck des rechten Zeigefingers wurde das Fingerabdruckverfahren ins¬
gesamt auf 7494 (1917: 6050) Personen angewendet. Die Neuzugänge
an Fingerabdruckblättern beliefen sich auf 8610. Der Gesamtbestand
der Fingerabdruckblätter erhöhte sich seit 1. Januar 1918 von 116544
auf 124519. Durch das Fingerabdruckverfahren konnten im Jahre 1918
von 389 Personen, die falsche Namen führten — darunter 138 Zigeuner —,
der richtige Name festgestellt werden. Dazu kommen noch neun Fälle,
in denen die betreffenden Personen unmittelbar vor der Aufnahme des
Fingerabdruckes ihren richtigen Namen bekannten.
Lichtbildaufnahmen wurden von 1769 (1917: 1592) lebenden
Personen und zwei Leichen gemacht. Die Gesamtzahl der Aufnahmen
betrug 3084, die Zahl der gefertigten Lichtbilder 13487. Die Neu¬
zugänge zur amtlichen Lichtbildersammlung (Verbrecheralbum-System
Heindl) beliefen sich auf 2716 Bilder. Der Gesamtbestand der Licht¬
bildsammlung erhöhte sich von 30532 auf 32971. Die Lichtbilder¬
sammlung wurde in 203 Fällen zur Ermittelung von unbekannten Tätern
in Anspruch genommen, in 44 Fällen wurde dabei ein Erfolg erzielt.
Im Vorjahre wurde auch das Lichtspieltheater zum ersten Male in den
Dienst der Fahndung gestellt. Der Erkennungsdienst hat in einem Falle
Diapositive des Bildes eines gesuchten Verbrechers an die Lichtspiel¬
theater gegeben.
Zur Tatbestandsaufnahme wurde der Erkennungsdienst in 505
(1917: 358) Fällen zugezogen, darunter in zehn Fällen bei Straftaten,
die außerhalb Münchens verübt wurden. In zwölf Fällen wurden Licht¬
bildaufnahmen gemacht, in 200 Fällen brauchbare Fingerabdrücke fest¬
gestellt. In 32 Fällen wurden die Täter auf Grund der Tatortsfingerabdrücke
überführt, in vier Fällen wurden die Täter durch die Einbrecherfinger¬
sammlung und in 19 Fällen durch die Tatortsfingersammlung .ermittelt.
Insgesamt erfolgten 70 Überführungen auf Grund der Tatortsfingerabdrücke
mit Einschluß der Abdrücke, die von Gendarmeriestationen oder aus¬
wärtigen Polizeibehörden eingesandt wurden.
Das polizeiliche Laboratorium nahm 47 Untersuchungen von
Kleidungsstücken, Stoffen, Flüssigkeiten, Menschen- und Tierhaaren,
Schriftstücken u. dgl. vor. In 28 Fällen wurde ein Erfolg erzielt. Hand¬
schriftengutachten wurden 12 gefertigt. In neun Fällen wurden
die Täter überführt, während in drei Fällen festgestellt wurde, daß die
verdächtige Person nicht in Frage kam.
Zeitschriften.
Medizinische Zeitschriften.
Von Universitätsprofessor Nippe, Greifswald.
Viertehjahrsschrift für gerichtliche Medizin:
Bd. 56. 1. und 2. Heft. 1918: „Die zentrale Leberruptur und
ihre Folgen“ von H. Bauer. Die Arbeit bringt eine eingehende Be¬
schreibung der zentralen Leberrupturen, die zum Teil zwölf von Prof.
H. Merkel beobachtete Fälle betrifft und weiter 18 aus der Literatur
gesammelte. Verf. bezeichnet als zentrale Leberrupturen Höhlen und
Risse, die meist mit Blut gefüllt sind, ringsum abgeschlossen inmitten
des Lebergewebes liegen, geht dann weiter auf die Genese ein, stellt
aber fest, daß das direkte Trauma die Hauptrolle bei der Entstehung
spiele in der Form, daß flächenhaft angreifende Gewalten die Leber
umfassen und gegen den anderen,, durch seine Befestigung oder Kom¬
pression fixierten Teil des Organs torquieren.
„Ober die Bedeutung der Nebennieren-BIutungen“ von H. Kempf,
Leipzig. Ausführliche Abhandlung über das Thema aus dem Institut
von Ko ekel, Leipzig, unter Beibringung zweier Fälle. Der Bau der
Nebennieren läßt die Organe zu Blutungen prädisponiert erscheinen,
so daß rein toxisch bedingte Blutungen auftreten können, wobei eine
fettige Degeneration weiterhin zu Blutungen Veranlassung dazu werden
kann. Am empfindlichsten ist der Zentralteil der Nebennieren. Bei
beiden genau untersuchten Fällen wird die Vermutung ausgesprochen,
daß Darmerkrankungen die Ursache der allgemeinen Infektion und nach¬
gehender Nebennierenblutungeri gewesen seien.
„Die Berücksichtigung der Geistesanomalien durch die Zivil«
gesetzgebung in der Schweiz und Österreich“ von Moeli, Berlin.
Verf. leitet die große Arbeit mit folgenden Worten ein: Die zivilgericht¬
lichen Bestimmungen krankhafter Geisteszustände haben seit dem Inkraft¬
treten des BGB. in zwei dem Deutschen Reiche benachbarten, ihm völkisch
und sprachlich nahestehenden Staaten eine neue Ordnung erfahren. In
der Schweiz ist das Zivilgesetzbuch am 10. Dezember 1907 beschloss'en
und am 1. Januar 1912 in Kraft getreten. In Österreich ist eine Ent¬
mündigungsordnung nebst Vorschriften über ein gerichtliches Verfahren
bei Aufnahme in geschlossene Anstalten durch kaiserl. Verordnung vom
28. Juni 1916 wirksam geworden, so daß das allgemeine bürgerliche
Zeitschriften
227
Gesetzbuch (abGB.) für diesen Abschnitt erhebliche Ergänzungen erfahren
hat. Es verlohnt sich deshalb, nunmehr die Bestimmungen der beiden
Gesetze, soweit sie für die Psychiatrie Bedeutung haben, sie bezüglich
der rechtlichen Fürsorge für geistig Abnorme, namentlich vom Stand¬
punkte des Sachverständigen aus, mit dem deutschen Recht in Vergleich
zu setzen. Der Inhalt der Arbeit ist in diesen einleitenden Worten ent¬
halten. Die Einzelheiten müssen nachgelesen werden.
„Selbstmorde und Selbstmordversuche durch Gift in der Stadt
Hamburg in den Jahren 1904—1907“ von Sieveking, Hamburg.
Die statistische Zusammenstellung bringt nach den einzelnen Giften
geordnet insgesamt 1012 Fälle, davon fallen 318 auf Männer und 694
auf Frauen. ,
„Der Mechanismus des Todes durch elektrischen Starkstrom
und die Rettungsfrage auf Grund eines amtlichen Materials von
1190 elektrischen Unfällen“ von H. Bo]ruttau, Berlin. (Bd. 55. 1. Heft.
1918 und eine Erwiderung auf Boruttaus gleichnamigen Aufsatz von
St. Jellinek, Wien. Bd. 56. Heft 1.) Die Arbeiten sollen zusammen
besprochen werden. Es handelt sich um einen wissenschaftlichen Streit
über den Todesmechanismus durch den elektrischen Starkstrom, der um
dieses viel umforschte Gebiet geführt wird, wobei es zwar nicht zu'
einer Verständigung der Autoren gekommen ist, diese Frage auch nicht
endgültig der wissenschaftlichen Klärung zugeführt worden ist, die beiden
in der Elektro-Pathologie aber sehr verdienten Autoren zweifellos das
Gebiet von neuem in wissenschaftlicher Beziehung sehr gefördert haben.
Auch für die Rettungsfrage bei elektrischen Starkstromunfällen spielt diese
Kontroverse eine große Rolle. Nach Boruttaus Auffassung ist der Mecha¬
nismus des elektrischen Todes ein einheitlicher. Nach ihm kommt es
bei Durchtritt von elektrischem 'Strom durch das Herz zum plötzlichen
Stillstand der Herzkammern, während die Vorhöfe noch weiter in schneller
Abwechslung sich kontrahieren, „flimmern“, während Jellinek eine Ein¬
heitlichkeit deF Todesursache leugnet, mehrere Todesursachen annimmt,
vor allen Dingen auch dem Tod durch plötzlichen Atem Stillstand, und
infolgedessen lang fortgesetzte künstliche Atmung anzuwenden empfiehlt,
was nach Boruttaus Ansicht zwecklos wäre, da ein plötzlicher Herz¬
stillstand mit Vorhofflimmern beim Menschen bis jetzt durch keinerlei
Mittel überwunden werden kann, so daß nach Boruttau nur fortgesetzte
Aufklärung die meist durch Leichtsinn bedingten Unfälle verringern
kann. Weitere Einzelheiten müssen in den Originalarbeiten nachgelesen
werden. Nach Ansicht des Ref. liegt in der Tat ein fahrlässiges Unter¬
lassen vor — nach unseren Erkenntnissen der Todesursachen durch den
elektrischen Starkstrom — wenn bei elektrischen Unfällen künstliche
Atmung nicht angewendet wird.
„Über den Tod durch Verschüttung“ von A. M. Marx, Prag.
Verf. bringt aus dar Literatur interessante Kasuistik und bespricht die
Todesursachen auch an selbst beobachteten Fällen und die Pathologie
dieser Todesart ausführlich. Bemerkenswert ist die Lokalisation von
Blutungen der Haut und der Schleimhäute, die sich auf die obere
Körperhälfte beschränkt. Sehr häufig findet sich Mageninhalt aspiriert
228
Zeitschriften
t
in den Luftröhren und sodann wird genau das Auftreten von Haut¬
abhebung und Hautblasen besprochen, die eine besondere forensische
Bedeutung deswegen beanspruchen, weil sie nur im Leben entstehen
können.
Supplement des 56. Bd. Festschrift für Geheimrat F. Stra߬
mann 1918:
„Die Schädigungen durch Röntgenstrahlen und ihre strafrecht¬
liche Beurteilung“ von Bucky, Berlin. Röntgenstrahlenschädigungen
entstehen durch eine ein- oder mehrmalige große Strahlendosis akut,
oder durch kleine wiederholt einwirkende Strahlendosen chronisch. Be¬
sonders empfindlich für Röntgenstrahlen sind die wachsenden Gewebe
mit Zellen reger Teilung, weshalb das Lebensalter des Individuums
besonders zu berücksichtigen ist. Je höher differenziert die Zellen eines
Gewebes sind, um so wenige; sind sie röntgenempfindlich. Besonders
unempfindlich ist daher das Gewebe der Nerven und Sinnesorgane.
Die Hautbezirke sind je nach den Körperstellen verschieden in ihrer
Sensibilität. Es kommen auch da individuelle Schwankungen vor. Weiter
wird jetzt allgemein anerkannt das Vorkofhmen von Röntgenstrahlenidio¬
synkrasie. Gewisse pathologische Gewebe, namentlich Geschwülste zeigen
eine erhöhte Strahlensensibilität und gewähren deshalb die therapeutische
Beeinflussung dieser Geschwülste. Neben der lokalen Schädigung der
einzelnen Gewebe kann es nach der Röntgenbestrahlung zu Fieber¬
steigerungen kommen, die analog denen bei Verbrennungen als Re¬
sorptionsfieber (Aufnahmfc von giftigen Abbauprodukten ins Blut) zu
deuten sind. Auf der Haut werden neben Rötungen mit nachfolgenden
Pigmentierungen schwere Verbrennungen beobachtet. Man hat den Be¬
griff des Röntgenkaters geschaffen für eine Reihe von Beeinträchtigungen
des allgemeinen Befindens. Da namentlich das Röntgenpersonal bei
ungenügenden Schutzvorrichtungen gefährdet ist, bei Frauen und Männern
Sterilität, bei Frauen Störung der Regeltätigkeit beobachtet wird, bedürfen
diese-Schädigungen der besonderen Berücksichtigung der Gewerbehygiene.
Die Röntgenschädigungen lassen sich einteilen in vier Gruppen:
1. hervorgerufen durch therapeutische und diagnostische Maßnahmen
mittels Röntgenstratjlen,
2. durch nebenhergehende Röntgenanwendungen von anderen Ärzten,
3. durch nebenhergehende Anwendung besonderer sensibilisierender
Mittel und
4. .bei bestehender Idiosynkrasie gegen Röntgenstrahlen.
Diese vier Gruppen der Röntgenschädigungen werden besprochen.
Das größte praktische Interesse beansprucht das Vorliegen von Fahr¬
lässigkeit bei der Anwendung von Röntgenstrahlen. Nach dem Verf.
liegt solche vor bei
1. Überschreiten der maximal zulässigen Strahlendosis,
2. Unterlassung der Dosierung oder Rohreneichung,
3. mangelhafter Beaufsichtigung während der Bestrahlung,
Zeitschriften
229
4. Nichteinhaltung der Latenzzeiten,
5. ungenügender Vorbildung und
6. mangelhaften Schutzvorrichtungen.
Verf. betont noch, daß Röntgenstrahlen geeignet sind, Fehlgeburten
herbeizuführen, setzt jedoch hinzu, daß es häufig nicht möglich sei,
den Nachweis dafür zu führen.
„Gerichtliche Medizin und Krieg“ von L. Bürger, Berlin. Bürger
bringt eine Reihe von Einzelheiten und Fällen, die zeigen, wie in Front,
Etappe und Heimat der Krieg mit seinen mannigfachen Schädigungen
auch die Aufgaben der gerichtlichen Medizin vermehrt hat, weist auf
die Zunahme der Kriminalität hin, besonders auch der Jugendlichen,
und ihre wirtschaftlichen und anderen Ursachen. Er schließt mit dem
Hinweis auf zweckentsprechend geleitete gerichtsärztliche Polikliniken
und Kliniken, die der Aufklärung und Untersuchung gerichtsärztlicher
und versicherungsmedizinischer Fälle dienen.
„Einige gerichtsärztliche Kriegserfahrungen“ von Dyrenfurth,
Marggrabowa. Auch dieser Verfasser betont den unheilvollen Einfluß des
Krieges auf die Vermehrung der Neurastheniker und der Schwachsinnigen
mit vorwiegender moralischer Verkümmerung; ferner, daß die Jugend¬
lichen besonders gefährdet sind und tritt für eine individualisierte Kriegs¬
fürsorge ein und für Fürsorgemaßnahmen für die Elemente, die, beson¬
ders in den Großstädten, haltlos, für den Heeresdienst- untauglich, in
das Kriegsgetriebe gestellt worden sind. Zu unterstreichen ist besonders
seine Forderung, daß auch in Zukunft der Alkoholgenuß weiter erschwert
bleiben möge.
„Die Verwertung der Temperaturkurve zur nachträglichen Er¬
kennung von Krankheitszuständen“ von P. Fränckel, Berlin. Verf.
•macht darauf aufmerksam, daß für die rückschauende Diagnostik des
Klinikers auch die Temperaturkurve eines völlig gesunden Menschen in
manchen Fällen geeignet sein dürfte, eine durchgemachte Krankheit
anzuzeigen. Er unterscheidet dabei zwei Typen: einmal die mit regel¬
mäßigen Zacken subfebriler Natur in Zwischenräumen einiger Tage, und
dann, wo sich Gruppen von übergroßen Tagesunterschieden mit solchen
von normalen, unternormalen oder ganz aufgehobenen Tagesunterschieden
mehr oder weniger regelmäßig abwechseln. Die erste Form biete der
rückläufigen Diagnostik keine Stütze, wohl aber die zweite Form, die
unverkennbar Beziehungen zum periodischen Fieber habe. Verf. betont,
dann noch, daß vorübergehend immer wieder vorkommende Temperatur¬
steigerungen von ihm beobachtet worden seien, bei Leuten mit lympha¬
tischer Konstitution und solchen mit leicht thyreotoxischen Erscheinungen
{d. h. Vergiftungssymptomen von seiten der Schilddrüse).
„Gerichtsärztliche Erfahrungen öber die Fruchtabtreibung in
Wien“ von A. Haberda, Wien. Verf. bringt in seiner großen Arbeit
mit objektiver, nichts verschlimmernder und nichts verschönernder Klar¬
heit ein Bild dieses den Gynäkologen, den Pathologen, den Volks¬
wirtschaftler und Juristen gleichmäßig berührenden Kapitels, welches
den Leser erschüttert und Zustände heraufzubringen scheint, wie sie
Aage Madelung in seinem prophetischen Zukunftsroman „Zirkus-
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 16
230 Zeitschriften ,
Mensch“ beschreibt. Wien steht mit diesen Zuständen nicht allein
da. In jeder anderen deutschsprechenden Großstadt, ja vielfach auch
schon auf dem Lande, herrschen die gleichen Unsitten und Praktiken.
Unsere sozialen Maßnahmen sind nicht in der Lage, dem jetzt herr¬
schenden Treiben Einhalt zu tun, ebenso wie, unser Gesetz es anschei¬
nend nicht verhindern konnte, daß ein Universitätskliniker straflos die
objektive wissenschaftliche Indikation für die Schwangerschaftsunter¬
brechung beiseite lassen konnte, und jeder Kundige weiß, daß wenn
einmal wirklich ein solcher männlicher oder weiblicher Schädling be¬
seitigt wird, eine Reihe anderer hydraartig dafür eintreten. Man weiß
auch, daß eine Reihe Staatsanwaltschaften nicht mit der genügenden
Festigkeit gegen die mehr oder weniger berufsmäßigen Abtreiber Vor¬
gehen , auch wenn ihnen einiges Material als Unterlagen von seiten
der Ärzte gegeben wird. In Wien hat sich nach Hab er da für Frucht¬
abtreibungsprozesse ein besonders eingesetzter Gerichtshof gut bewährt.
Die Ärzte sind nach dem' österreichischen Strafgesetz zur Anzeige von
verdächtigen Fällerr von Aborten verpflichtet, doch fördert in Wien auch
diese Bestimmung nur wenig positives Material zur Kenntnis der Be¬
hörden. Es wäre zu wünschen, daß diese Haberdasche Arbeit den Leuten
mit vorhandenem Verantwortlichkeitsgefühl zur Kenntnis käme, welche
sich jetzt ganz offen in gewissen Zeitungen für die Straflosigkeit der
Fruchtabtreibung einsetzen.
„Über den vom Arzt unbeabsichtigt eingeleiteten Abort und
seine strafrechtliche Bedeutung“ von L. Hirsch, Berlin. Verf. ver¬
mißt Angaben darüber und bringt eine Zusammenstellung. Was innere
Abortivmittel anlangt, glaubt er annehmen zu können, daß die Möglich¬
keit, daß der Arzt versehentlich den Abort damit einleitet, im ganzen
gering ist. Anders ist es mit den instrumentellen Eingriffen, wodurch
selbstverständlich bei Übersehen von Schwangerschaft Aborte fahrlässig,
eingeleitet werden können. Dabei wird Liszt zitiert, der der Ansicht
sei, daß zwar fahrlässige Tötung, nicht aber fahrlässige Abtreibung der
Frucht unter Strafe gestellt sei. Es kommt auf das Gutachten sach¬
verständiger Ärzte an, ob inj. konkreten Falle von seiten des Arztes
ein Kunstfehler anzunehmen sei. Von vornherein müßten solche Fälle
straffrei ausgehen, bei denen ein Notstand Vorgelegen habe, d. h. bei
denen infolge einer dringenden Gefahr für Leib und Leben der Mutter
auf den Embryo keine Rücksicht hat genommen werden können.
„Schädelbasis-Brüche“ von E. Hoff mann, Berlin. Verf. unter¬
scheidet leichte Fissurenbrüche, die nur eine Seite der Schädelgrund-
fläche betreffen, solche, die die ganze Basis durchqueren (Scharnier¬
brüche), solche, die ringförmig um das große Hinterhauptsloch gelagert
sind (Ringbrüche) und solche, die eine völlige Zertrümmerung der Basis
darstellen. Das große Berliner Material ist zusammengestellt und be¬
sprochen nach der Aetiologie. Unterschieden werden Schädelbasis¬
brüche, die entstanden sind durch Sturz, sodann durch Schlag oder Stoß
gegen den Kopf, weiterhin die durch Überfahren, die durch Fallen einer
Last auf den Kopf und schließlich in die, wo eine Ursache der Ver¬
letzung nicht bekannt wurde. Schließlich werden die gangbaren Theorien
über die Entstehung der Schädelbrüche angeführt.
Zeitschriften
231
„Die Zurechnungsfähigkeit von Straftaten, die im alkoholischen
Dämmerzustände begangen sind“ von C. Kade, Weidmannslust Verf.
erscheint der Standpunkt der neuen Gesetzgebung, die Schuld an einer von
einem Betrunkenen begangenen Straftat nicht in vollem Umfange anzuer¬
kennen und sie nur als Fahrlässigkeitsschuld hinzustellen, nicht für gerecht¬
fertigt. Habe’ der Betrunkene in seinem alkoholischen Dämmerzustände
etwas Böses getan, so müsse er dafür büßen, weil sein wahrhaftes Ich die
Schuld daran habe, wenn er sich schon der Tat selbst nicht erinnert.
Allerdings ist Verf. der Ansicht, daß ein solcher Zustand von Trunken¬
heit, bei dem völlige Bewußtlosigkeit und vorübergehende geistige Um¬
nachtung vorhanden gewesen sei, in der Regel § 51 StGB, bedinge.
Die Schwierigkeit dieser Unterscheidung will der juristische Verfasser
weiterhin dem medizinischen Sachverständigen zuteilen.
„Die Unterbringung des Angeschuldigten in einer Irrenanstalt
zwecks Untersuchung seines Geisteszustandes“ von Kronecker,
Charlottenburg. Ausführliche Abhandlung über den § 81 StPO., die
nacheinander die Entstehung, die Zulässigkeit für die einzelnen Rechts¬
gebiete abhandelt, weiter die Fragen beantwortet, in welchen Proze߬
abschnitten dieser Paragraph Anwendung zu finden habe, die Kompetenzen
des Gerichtes, des Sachverständigen erörtert usw. Die zahlreichen Einzel¬
heiten müssen in der Originalarbeit, der noch ein Anhang über das
Militär-Strafgerichtsverfahren beigegeben ist, nachgelesen werden.
„Ein Mörder.“ Kriminal-psychologische Betrachtungen von
A. Leppmann, Berlin? Verf. bringt einen’Fall, wo ein mehrfacher
Mörder Starrsucht vorgetäuscht hat, ausführlich und aktenmäßig zur
Darstellung. Er weist dabei darauf hin, daß die sechs Wochen des § 81
StPO, für manche Fälle nicht genügen, um volle Klarheit zu schaffen;
weiter, daß der Kriminal-Psychiater auch ein Kriminal-Psycholog sein
müsse, und dann zeigt er an dem Beispiel, daß ein Verbrecher keines¬
wegs ein Lombroso’cher delinquente nato zu sein brauche.
„Über Rückenmarkerschätterung und ihre Begutachtung“ von
P. Leppmann, Berlin. Die Arbeit bringt über diese schwierige Materie
ausführliche Kasuistik sowie eine sehr vollständige Literaturzusammen¬
stellung. Ein Teil der Schlußsätze des Verf. lautet: Rückenmarke,rschüt-
terung ist eine überaus häufige Begleiterscheinung stumpfer Rücken¬
markverletzungen aller Art. Sie kennzeichnet sich klinisch durch die
Flüchtigkeit eines großen Teiles der spinalen Anfangserscheinungen,
anatomisch durch die Ausbreitung der primären Markiäsicn über die
unmittelbar gequetschten Teile hinaus. Ein einheitliches Gesamtbild,
wie die Gehirnerschütterung, hat auch die Rückenmarkefschütterung im
engsten Sinne nicht. J
„Das Gesetz des kürzesten Weges“ von H. Marx,’Berlin. Verf.
bezeichnet für die unbefangenen Leser dieser Arbeit" das Verbrechen
als ‘ein Handeln nach dem Prinzip des kürzesten Weges und glaubt
damit das Phänomen des Verbrechens unter ein Gesetz gestellt zu haben,
welches auch auf anderen Gebieten fruchtbare Erklärungen liefert. Es
handelt sich dabei um einen willkürlich formulierten Einfall, den man
gelten lassen kann, der aber erst aus dem Rahmen der Trivialität heraus-
16 *
232
Zeitschriften
tritt, wenn man ihn im Sinne älterer Theorien des Verbrechens weiter
ausdehnt Darnach ist „kürzester Weg“ einmal ein Prinzip des Han¬
delns, bei dem ein Zusammenwirken verschiedener Komponenten aus¬
geschlossen ist und infolgedessen der normale Kausalzusammenhang
zur Herbeiführung eines Zieles verlassen wird. Das ist also die Theorie
des Verbrechens, wonach ein solches zustande kommt, durch ausschlie߬
lich triebmäßiges Wirken eines selbstischen Motives. Ein anderer
Gedankengang würde sich dadurch anknüpfen, daß „kürzester Weg“
gleich gerade Linie, gleich Richtungsidentität ist und damit das Ver¬
brechen also bezeichnet wird als selbstisches Isolieren in abstrakter
Identität des Subjektes mit sich. Ein Fortschritt über diese ältereh
Theorien des Verbrechens ist also in diesem „Kriminalphilosophischen
Vorwort“, wie Verf. den Aufsatz auch bezeichnet, nicht zu erblicken,
da es zu seinem Verständnis erst der Heranziehung älterer konkret-
psychologischer Theorien in angedeuteter Weise bedarf.
„Die geriehtsärztliche Beurteilung durch den Arzt herbeigeführter
Schwangerschaftsunterbrechungen und Unfruchtbarmachungen“ von
Puppe, Königsberg i. Pr. Verf. publiziert das Gutachten, welches er
in dem Dienststrafverfahren gegen Prof. Henkel, Jena, erstattet hat. Mit
Recht hebt Verf. hervor, daß nicht nur wichtige allgemeine Gesichts¬
punkte, sondern auch ein reiches kasuistisches Material darin zu finden
sind. Ein Referat kann nie die Originalarbeit erschöpfen und Ref. muß
sich in diesem Falle mit dem besonders betonten Hinweise begnügen,
daß jeder Leser, nicht nur der an der Matetie besonders interessierte,
an der musterhaft klaren Anordnung des Stoffes und der ebenso muster¬
haften sachlichen Objektivität ein lehrreiches Beispiel finden wird."
„Über die kriminelle Zerstückelung von Leichen und Sicher¬
stellung ihrer Identität“ von E. Tiemke, Kiel. Verf. hat in dieser
ausführlichen Arbeit den Stoff erschöpfend behandelt, dem 94 eigene
und aus der Literatur gesammelte Fälle zugrunde liegen. Darunter
befindet sich kein Fall, wo der Getötete nachweislich noch gelebt hat,
als sein Körper zerstückelt wurde. Die Mehrzahl der Fälle ist defensiv,
um ein Verbrechen zu verbergen. Bei den zehn Fällen, wo die Zer¬
stückelung offensiv vorgenommen wurde, also als Verbrechen dieser Art
an sich, lag immer Geisteskrankheit des Täters vor. Bei 83 Proz. der
Fälle war die Identifizierung der zerstückelten Leichen möglich. Die
Gesichtspunkte und die Technik, welche die Identifikation zerstückelter
Leichen »ermöglichen, werden genau besprochen.
• Kriminalistische Aufsätze
in
deutschen Zeitschriften
des Jahres 1916.
Zusammengestellt von Werner Kuhn und Robert Heindl.
Aberglaube
l.-Hellwig, A.: Fall Bellenot [1861]. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 65.
S. 254—77.)
2- O. A.: —, gesammelt von Bewilogua. (Mitteil. d. Ver. f. sächs. Volkskunde.
• VI. 1916. S. 365.)
3. Heil. K.: — in d. Heilkunde. (Arzt, der praktische [jetzt Repertorien-V., L.i
56. J. 1916. S. 8-12, 29-34.)
4. Seyfarth, C.: — u. Zauberei in d. Volksmedizin d. weiteren Umgeb.Leipzigs.
(Janrb. d städt. Museums f. Völkerkunde, zu Leipzig. 6. Bd. Voigtländer,
Leipzig. 1916. S. 58.)
Abortus
5. Bumm, E.: Frage d. künstl. —.
1916. Bd. 43. S. 385-95.)
(Monatsschr. f. Geburtshilfe u. Gynäkologie.
Abtreibung
6. O. A.: — u. Strafrechtsreform. (Generation, d. neue. 1916. S. 106.)
7. Oetker, — b. Schwangersch. infolge erlitt. Notzucht. (Gerichtssaal, Der.
1916. Bd. 84. S. 1-13.)
8. O. A.:.Notstand bei d. —. (Volkswart, Köln. 1916. S. 88.)
9. Hofacker: Frucht- — durch Gebärmutterauskratzung. (Zeitschr. f. Medizinal¬
beamte. 1916. S. 597.)
10. Benthin, W.: Kriminelle Frucht- —. (Die Umschau. 1916. S. 567.)
11. Roepke: Kriminelle Frucht- —, künstl. Unterbrech, d. Schwangersch. u. Für¬
sorge f. tuberkulöse Schwangere. (Zeitschr.f.Medizinalbeamte. 1916. S.281—98.)
Adler, F.
12. Ratner: Was lehrt uns forensisch »der Fall —? (Fortschritte der Medizin.
1916. 34. Jährg. S. 63.)
Ähnlichkeit (s. auch Photographie)
i3. Franken, A.: Beitr. zur —s-Statistik. ([Schulmann, D. praktische.) Jetzt:
• Archiv f. Pädagogik. Abt I u. II. 1916. S. 333—66.)
Alkohol
14. Tausk, V.: Psychol. d. —isch. Beschäftigungsdelikts. (Zeitschr., intern., f. ärztl.
Psychoanalyse. III. J. 1915. S..204—26»)
15. Blocher/E.: —ismus u. Strafrecht. (Schweizerland. Ebner, Chur. II. J.
1916. S. 187.)
16. Juliusburger, O.: — ismus u. Psychosexualität. (Zeitschr. f. Sexualwissen¬
schaft. II. Bonn, Marcus & Weber. 1916. S. 357—66.)
17. O. A.: Amtl. Bericht d. Medizinalabt. d. Min. d. Innern. Mißbrauch v. — etc.
Jahrg. 15. (Blätter f. prakt. Trinkerfürsorge. IV. 1916. S. 136.)
18. Bauer, O.: Gesetz üb. d. Behandl. von —isten. (Alkoholfrage. 12. Jahrg.
1916. S. 123—29.)
19. Retzlaff: Befugnisse der Polizei in d. Beschränk, des — mißbrauchs vor d.
Kriege u. währ. d. Krieges, i Alkoholfrage, 12. Jahrg. 1916. S. 130—145.)
234
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
. Anarchistisch
20. Mettgenberg: -e Verbrecher, Auslieferung nach deutsch. Recht. (Strat-
rechtszeitung, deutsche. Berlin. III. 1916. S. 326.)
Anonymität
21. Dück: — u. Sexualität. (Sachverständigen - Zeitung, Ärztliche. 22. Jahrg.
1916. S. 280.)
Anthropometrisch
22. Czuber, E.; —e Zahlenreihen, Bedeut, d. Kollektivmaßlehre f. d. Bearbeit.
(Mitteilungen d. Anthropol. Gesellschaft, Wien. 46. Bd. [31] 1916.)
Apachen
23. Becker, M. L: — in d. französ. Armee. (Liller Kriegszeitung. Auslese.
Leipzig, Vobach. 1916. Bd. II. S. 78.)
Autogen
24. O. A.: Kriminelles v. autogenen Schneiden. (Draeger-Hefte. Period. Mitteil,
d. Draeger-Werkes, Lübeck. 1916. S. 442.)
Beschlagnahme
25. Lindenau: Ist — f. Verfolgungszwecke zulässig? (Strafrechtszeit., Deutsche.
1916. Berlin. III. S. 396.) A
Bettel
26. Rotering: — als antisoziale Erscheinung. (Archiv f. Rechts- u. Wirtschafts-
philosophfe. 1916. X. S. 62—80.)
Bettler
27. Conrath, R.: Heimweisung bestrafter bayer. — ü. Landstreicher unter d.
Herrsch, d. neuen bayer. Aufenthaltsrechts. (Gemeindezeitung, Bayerische.
26. Jahrg. 1916. S. 459, 483.)
Beweis
28. Raschle, H. H.: --Aufnahme, Institut der vorsorgl. (Juristen-Zeitung,
Schweizer. 12. Jahrg. 1916. S. 226—30.)
29. Köhler, J.: — im Strafprozeß. (Archiv f. Strafrecht u. Strafprozeß. 1916.
Bd. 63. S. 70-80.)
30. Bendix, L.: Freie —Würdigung d. Strafrichters. (Archiv für Strafrecht u.
Strafprozeß. 1916. Bd. 63. S. 31—45.) •
Bild
31. Hansen, F.: Wie reproduziert man —er aus gedruckten Büchern? (Kunst¬
handel, Lübecker. 1916. S. 188.)
Bildtelegräphie
32. O. A.: Neues Verfahr, z. elektr. Fernphotogr. [—]. (Technik f. Alle. Technische
Monatshefte. (Auswahl). 1916. S. 381.)
33. Korn, A.: Entwickl. der — i. d. letzt. 10 Jahren. (Die Naturwissenschaften.
4. Jahrg. [Berlin, SpringerJ. 1916. S. 689 —96.)
34. Korn, A.: Vorschläge z. Erricht, v. —Stationen in Wien, Budapest, Sofia
u. Konstantinopel. (Wirtschaftszeitg. d. Zentralmächte. 1916. Nr. 47.)
35. Korn, A.: —. (Wochenschr., deutsche, optische. Verl.: Ehrlich, Berlin W35.
J. 1915H6. Nr. 1-32. S. 71-75.)
Blitzlichtlampe
36. Mecke, H.: —, preiswerte. (Das Bild, Berlin. 12. Jahrg. 1916. S. 118.)
Blut
37. O. A.: Neue Methode z. quantit. —Untersuchung. (Apothekerzeitg. Schweizer.
54. J. 1916. S. 541, 575.)
38. Heller, R.: Fluoreszenz d. Hämoglubinderivate u. ihre Bedeut, f. d. forensisch.
— nachweis. (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Mediz. u. öffentl. Sanitätswes. III. F.
1916. Bd. 51. S. 219-34.)
Brand (s. auch Feuer, Selbstentzündung)
39. O. A.: Ursachen der —e in Preußen u. der dadurch entstand. Schaden von
1902—13. (Korrespondenz, Statistische. 56. Jahrg. V. iBeiblatt zu: Zeit-,
schrift d. kgl. preußisch, statistisch. Landesamtes.] 1916.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
235
40. Hasterlik, A.: Geheimnisvolle —Stifter. [Selbstentzünd, etc.] (Kosmos.
S. 290. 1916.)
41. O. A.: Ursache der —e in Preußen u. der dadurch entstand. Schäden von
1902—13. (Versicherungszeitschrift, Wallmanns. 50. Jahrg. 1916. S. 840.)
42. Heine: --Stiftung durch den Nießbraucher. (Recht, Das. 1916. S. 104.)
43. Brämer, K.: —Statistik. (Wirtschaft u. Recht der Versicherung. Beih. z.
„Zeiftchr. f. Versicherungswesen“. [48. Jahrg] S. 207—67.)
44. Preuß, W.: Interess. —Schadenursachen. (Zeitung, Wiener landwirtschaftl.
[Mit Beil.: Mitteilungen d. Fachberichterstatter.J 1916. S. 465, 472.)
45. O. A.: Großbrände in Preußen in den Jahren 1901—12. (Versicherungszeit-
schqft, Wallmanns. 50. Jahrg. 1916. S. 664.)
46. O. A.-: Begriff des —es in d. Literatur u. Rechtsprech. (Versicherungszeit¬
schrift, Wallmanns. 50. Jahrg. 1916. S. 977.)
Brüssel
47. Gerstein: Deutsche Sittenpolizei von Groß— im Rahmen d. belg. Roten
Kreuzes. (Kreuz, Das Rote. 34. Jahrg. 1916. S. 560.)
Dämmerzustand
48. Tintemann, W.: Tötung mehr. Personen durch e. Epileptiker im —. [Un-
zweckmäß. Unterbring, v. Geisteskranken.] (Sachverständigenzeitung, Ärztliche.
22. Jahrg. 1916. S. 494
Daktyloskopie is. auch Finger)
49. Weiß, E.: Beobacht, u. mikrophotogr. Darstellung, d. Hautpapillen am lebend.
Mensch. (Archiv, Deutsches, für klinische Medizin. 1916. Bd. 119. S. 1—38.)
Diebstahl
50. Sartori, P.: — als Zauber. (Archiv, Schweizer., f. Volkskunde. 20. Jahrg.
1916. S. 380-88.)
51. Eckstein, E.: — aus off. Waggons. (Entscheidungen u. Abhandlungen,
Eisenbahn- u. verkehrsrechtliche. 1916. Bd. 32. S. 249.)
Dienstboten
52. Hurwicz, E.: Kriminalität u. Prostitut. d. weibl. —. (Archiv f. Kriminologie.
1916. Bd. 65. S. 185-231.)
Ehe
53. Weber: Forens.-psychiatr. Beurteil, von —angelegenheiten. (Sachverstän-
digen-Zeitung, Ärztliche. 22. Jahrg. 1916. S. 157.»
54. Fehlinger, H.: Polyandrie in Indien. (Zeitschrift f. Sexualwissenschaft. II.
Bonn, Marcus & Weber. 1916. S. 249.)
Embryo
55. Bickel, B.: —nen, Altersbestimmung an menschl. (Zeitschrift f. Ethnologie.
48. Jahrg. 1916. S. 75-81.)
Erhängung
56. Langermann: —stod. Zur Kasuistik des. (Zeitschrift f. Medizinalbeamte
1916. S. 589-94.)
Fetischismus
57. Sigg, E.: —, Zur Kasuistik des. (Zeitschrift f. Sexualwissenschaft II. Bonn.
Marcus & Weber. 1916. S. 366—77.)
58. Stekel, W.: —, Zur Kasuistik des. (Zeitschrift f. Sexualwissenschaft. II. Bonn.
Marcus & Weber. 1916. S. 377.)
Feuer (s. auch Brand)
59. Werneburg: Begriff d. Brandes in d. Literatur u’. Rechtsprechung. (Ver¬
sicherungszeitschrift, Wallmanns. 50. Jahrg. 1916. S. 817.)
I
236 Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
Feuerbestattung
60. Marcuse, O.: — u. Strafrecht. (Strafrechtszeitung, Deutsche. Berlin. 111.
1916. S. 324.)
Finger (s. auch Daktyloskopie)
61. Friedländer, E.: Kasuistik der Brachydaktylie. (Fortschritte auf d. Gebiete
der Röntgenstrahlen. 1916. Bd. 24. S. 230—34.)
62. Heindl,R.: —abdrticke als Überführungsmittel. (Strafrechtszeitung, Deutsche.
Berlin. III. 1916. S. 144.)
63. Sommer: Forens. Beurteil, d. Erblichkeit v. morphol. Abnormitäten u. der
Papillarlinien der —. (Archiv für Kriminologie. 1916. Bd. 67. S. 161—74.)
64. Schneickert, H.: Die monodaktyloskop. Registrat. d. Berlin. Kriminalpolizei.
(Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 66. S. 121-26.)
65. Streicher, H.: Zum daktyloskop. Verfahren. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
Bd. 65. S. 284-300.)
66. Grosch: Sichtbarmachung von —spuren u. Geheimschriften im Kriege.
(Strafrechtszeitung, Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 154.)
67. Schneickert, H.: Beweiskraft des — abdrucks. (Archiv für Strafrecht u.
Strafprozeß. 1916. Bd. 63. S. 388—94.)
, Fürsorge (s. auch Jugend)
68. Isermeyer: Nur männl. Erzieher für männl. Zöglinge? (Zentralblatt f. Vor¬
mundschaftswesen. VIII. S. 1—6.)
69. Hansen: — oder Zwangserziehung. (Blätter f. Rechtspflege in Thüringen
u. Anhalt. (63 Jahrg.] 1916. S. 172—82.)
70. Goeze: Brandenburg.—erziehungsamt. (Zentralblatt f. Vormundschaftswesen.
7. Jahrg. S. 241.)
71. Rupprecht: —erziehung in Bayern 1904-13. (Die Jugendfürsorge. Mit¬
teilung. d. deutsch. Zentrale für Jugendfürsorge. Berlin. XI. 1916. Nr. 4/5.)
72. Kipp, Th.: Rechtsfrag. d. —erziehung. (DieJugendfürsorge. Mitteilung, d.
deutsch. Zentrale f Jugendfürsorge. Berlin. XI. 1916. Nr. 7.)
73. Knaut: Recht d. —Zöglings auf d. während d. Erziehung gesammelten Spar¬
guthaben. (Jugendfürsorge, Die. Mitteilung, d. deutsch. Zentrale f. Jugend¬
fürsorge. Berlin. XI. 1916. Nr. 9.)
74. Knaut: Wie erklärt es sich, daß in Berlin verhältnismäßig erhebl. weniger
Kleinkind, u. Schulpflichtige in —erzieh, kommen als in allen and. Kommunal¬
verbänden Preußens? (Jugendfürsorge, Die. Mitteilung, d. deutsch. Zentrale f.
Jugendfürsorge. Berlin. XI. 1916. Nr. 1.)
75. O. A.: —erziehung Minderjähr. in-Sachsen. ((Monatsschrift) jetzt: Viertel-
jahrsschr. f. innere Mission 1916. 36. Bd. S. 456.)
76. Dietrich, R.: —Zöglinge — Zuchthauskandidaten. (Der Türmer. 1916 r
Nov. S 184.)
77. Schmalz, C.: —Zöglinge. (Der Türmer. 1916, Dez. S. 397.)
78. Schmidt: Neue Ziffer 1 in § 1 d. —erziehungsgesetzes. (Verwaltungs-Blatt,
Preuß. 36. Jahrg. 1916. S. 657.) r
79. Backhausen: Sonderein rieht, f. kranke —Zöglinge u. Anstalten, die auch
kranke —Zöglinge aufnehmen. (Zentralblatt f. Vormundschaftswesen. 7. Jahrg.
S. 232.)
80. Isermeyer: Aufnahmefamilien in —Erziehungsanstalten. (Zentralblatt für
Vormundschaftswesen. 7. Jahrg. S. 220.)
81. Remppis, P.: Hort u. —erziehung. (Zentralblatt f. Vormundschaftswesen.
8 Jahrg. S. 25.)
82. Hartmann: Zur Frage der —Erziehungsämter. (Zentralblatt f. Vormund¬
schaftswesen. 8 Jahrg. S. 18.)
83. Schmidt: Wirkungen des Gesetzes, betr. die —erzieh. Minderjähr. vom
2./7. 1900 während der Zeit vom 1./4. 1901—31./3. 1915. (Verwaltungsblatt,
Preuß. 37. Jahrg. 1916. S. 657.)
84. Mönkemüller: Kindl. Kriminalität in der —erzieh. (Vierteljahrsschrift für
gerichtl. Medizin u öffentl. Sanitätswesen. III. F. 52. Bd. 1916. S. 207—43.)
85. Weller: Bericht über unsere ausmarschiert. —Zöglinge, erstatt, von Weller.
(Lehrerzeit., Deutsche. Berlin C 19. (Auswahl.J 191o. Nr. 32.)
86. Hellwig, A.: Krieg u. —erziehung. (Volkswart, Köln. 1916. S. 107.)
237
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
87. Timmen, W.: Offizielle Anstaltszeugnisse? (Zeitschrift für kathol. caritat.
Erziehungstätigkeit. 5. Jahrg. 1916. S. 67.).
88. Esser: Einwirk, des Krieges auf die —erzieh, in großen Erziehungsanstalt.
(Zeitschrift für kathol. caritat. Erziehungstßtigkeil. 5. Jahrg. 1916. S. 88.)
89. Becker: Uns. Zöglinge als Helfer in d.Kriegszeit namentl. f. die Landwirtsch.
(Zeitschrift für kathol. caritat. Erziehungstätigkeit. 5. Jahrg. 1916. S. 90.)
90. Becker: ln welch. Alter können Kinder der —erzieh, überwiesen werden?
(Zeitschrift für kathol. caritat. Erziehungstätigkeit. 5. Jahrg. 1916. S. 93.)
91. Esser., P.: Aufnahme ein.—Zöglings in die Anstalt. (Zeitschrift für kathol.
caritat. Erziehungstätigkeit. 5. Jahrg. 1916. S. 126.)
92. Riß mann: Zentralisat. der gesamt. —bestrebungen. (Zeitschrift für Medi¬
zinalbeamte. 1916. S. 678.)
93. O. A.: Zum —erzichungs-Gesetz. (Zeitschrift f. Rechtspflege in Bayern. XII.
1916. S. 1-5.)
94. O. A.: —erziehung u. Tuberkulosebekämpf. (Zeitschrift f. Kommunalwirtsch.
u. Kommunalpolitik. 6. Jahrg. 1916. S. 85.)
95. Hopmann, E.: Weibl. —Zöglinge *im Dienst. (Zeitschrift Jt. kathol. caritat
Erziehungstätigkeit. 5. Jahrg. 1916. S. 43—47.)
96. O. A.: —erziehung ein. ausländ. Minderjähr. ist zulässig. (Zeitschrift für
die freiwill. Gerichtsbarkeit u. die Gemeindeverwalt, in Württemberg. [J. B.
Metzler, Stuttgart.) 1916. S. 161—66.)
97. O. A.: Abänder, des preuß. —erzieh.-Gesetzes u. Kriegsschuldienst. (Warte,
Pädagog. 1916. S. 27-31.)
98. Dresel, E. G.: Bevölkerungspolitik u. Organis. der —bestreb. (Staats- u. Wirt¬
schaftszeit., Europäische. [Neue deutsche Bücherei.) München. I 1916. S.631.)
99. Molsberger, C.: Abänder, des Preuß. —erzieh.-Gesetzes. (Monatsschrift
f. kathol. Lehrerinnen. 1916. S. 26.)
100. Kracht, E.: Vollzug in der —erzieh. (Monatsschrift f. Kriminalpsychol. u.
Strafrechtsreform, m. Jahrg. 1916. S. 536.)
101. Büchner, F.: Ländl. Geschwisterheime, [—erziehung.] (Menschenmarkt.
3. Jahrg. 1916. S. 49- 60.)
102. Wittig, K.: Statistik über die —erzieh, im Königr. Sachs. ([Kinderfehler,
Die.] Jetzt: Zeitschrift f. Kinderforschung. 21. Jahrg. 1916. S. 165—70.)
103. Faubel, L.: — anstatt u. der Krieg. (Die deutsche Frau. 1916. Nr. 27. S. 3.)
104. O. A.: Neuzeitl. —bestrebung. u. ihre Verwirklich, im Verein f. Volkswohl¬
fahrt Heidelberg-Land e. V. (Zeitschrift f. badische Verwaltung u. Verwal¬
tungsrechtspflege. 1916. S. 125 —32.)
105. Scheck: Volksversicher, der —Zöglinge. (Zentralblatt f. Vormundschafts-
. wesen. VIII. 1916. S. 81.)
106. Brückler: —erzieh, in Sachsen 1913—15. (Zentralblatt f. Vormundschafts¬
wesen VIII. 1916. S. 107.)
107. Boschan: Dienst u. Arbeitslohn des —Zöglings. (Zentralblatt f. Vormund¬
schaftswesen. VIII. 1916. S. 169.)
Fuß
108. Strafella, F. G.: —Spurenvergleichung.
Bd. 66. S 129.)
(Archiv f. Kriminologie. 1916.
Gefängnis
109. Klein: —wesen. (Zeitschrift f. die gesamte Strafrechtswissenschaft. 1916.
Bd. 38. S. 754.)
110. Braune, R : Jahresber. e Strafanstaltspfarrers bei Ablauf des 50. Dienst¬
jahr. an d. Strafanst (Zeitschrift f. die gesamte Strafrechtswissenschaft. 1916.
Bd. 38. S. 162-73.)
111. Kleemann, E.: Kriegserfahrungen in Gefängnissen. (Archiv f. Kriminologie.
1916 Bd. 67. S. 1-24.)
Gefangene (s. auch Ödland)
112. Deetj en: Recht der —n. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 47.)
113. v. Baehr: Gesch. der —nlagerung. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III.
1916. S. 163.)
114. Hage: Übergangsstat. im Dienste d. Fürsorge an d. entlass. —n. (Jahrbuch
der Gefängnisgesellschaft Halle a. S. 1916. 32. Jahrg. S. 41—52.)
238
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
115. O. A.: Beschäftig, von Straf—n. (Mitteilung, der Handelskammer Dresden.
V. 1916. S. 522.)
116. O. A.: Beschäftig, von Straf—n in d. Industrie. (Mitteil. d. Handelskammer
zu Zittau. IV. 1916. S. 351.)
117. O. A.: Unterricht f. jugendl. —. (Zeitschr. f. Behandl. Schwachsinniger etc.
1916. 36. Jahrg. S. 135, 193.)
118. Lin den berg: Statistik d. unt. d. Minist, d. Innern steh.Strafanstalt, u.Gefängn.
in Preußen für 1914. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 202.)
119. Moll, N.: Pädagogik e. Jugendgefängnisses. (Pharus. Kathol. Monatsschr.
1916. Jan. S. 52-63.)
120. Schönewolf, J.: —nfürsorge. (Jugend, Freideutsche. Saal, Hamburg
2. Jahrg. 1916. S. 15-20.;
Gefühl
121. Peters: A.: — u. Wiedererkennen. (Fortschritte d. Psychologie. IV. 1916.
S. 120-33.)
Geheimschriften
122. Weinbarg*E. A.: — u. ihre Entzifferung. (Das Wissen. Berlin. X. S.259 —62.)
Geisteskrank
123. Boas, K:: Frage d. fonens.-psychiatr. Unterrichts an Universitäten. (Archiv
f. Kriminologie. 1916. Bd. 67.- S. 95-102.)
124. O. A.: Fürsorge des Rhein. Provinzial- bzw. Landarmenverband, f. —e,
Idioten u. Epileptiker. 1914/15. (Wochenschrift, Psychiatrisch-neurologische.
18. Jahrg. 1916. S. 8.)
125. Brückner: Psychiatr. Kriegserfahrungen. (Wochenschrift, Münchner medi¬
zinische. 63. Jahrg. 1916. Nr. 23.)
126. Fischer, Edm.: Fürsorge f. —e. (Monatshefte, Sozialistische. 1916. *S. 107.)
127. Kastan, M : Strafb. Handl. psychisch-kranker Angehörig, d. Feldheeres.
(Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheit. 56. Jahrg. 1916. S. 573—631.)
128. Ilberg: Psychosen im Kriege. (Jahresbericht d. Gesellsch. f. Natur- u. Heil¬
kunde. Dresden. 1914/15. S. 29.)
129. Alter, W.: Irrtümer bei —en. (Wochenschrift, Psychiatrisch-neurologische.
1916. S. 279 -83, 289.)
J30. Bresler, H.: Wichtige Entscheid, aus d. Gebiete d. gerichtl. Psychiatrie.
(Wochenschrift, Psychiatrisch-neurologische. 18. Jahrg. 1916. S. 309.)
131. Siebert, H.: Über ein. von ein. — en ausgeführt. Raubmord. (Zeitschrift,
Allgem., f. Psychiatrie u. psychisch-gerichtl. Medizin. 1916. Bd.72. S. 485—95.)
132. Kraepelin, E.: Forschungsinstitut f. Psychiatrie. (Zeitschrift f. die ges.
Neurologie u. Psychiatrie. 1916. Bd. 32. S. 1—38.)
Geistesschwach
133. Fehling er, H.: Engl. Gesetz über die Internier, geistig-minderwert. Per¬
sonen. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 66. S. 333—38.)
• Gericht
134. Friedrich, K.: Sittliche Fragen aus d. —ssaal. (Der unsichtbare Tempel.
München. 1916. S. 83— 86.)
135. Nippe, M.: —särztliches u. anderes von d. Front. (Erlanger im Kriege.
1916. S. 52.)
136. Sommer, P.: — sbibliothek. (Gerichtssaal, Der. 1916. Bd. 84. S. 263.)
Geschlecht (s. auch Fetischismus)
137. Placzek: Freundschaft u. Sexualität. (Zeitschrift f. Sexualwissenschaft. II.
Bonn, Marcus & Weber. 1916. S. 265—83.)
138. Saal er, B.: Vita sexualis d. Hysterischen von M. Kossak. (Zeitschrift für
Sexualwissenschaft. II. Bonn, Marcus & Weber. 1916. S. 422.
M. Kossak - S. 162—71, 423.)
139. Stümcke, H.: Sexualverbrech, in d. dramat. Dichtung. (Zeitschrift f. Sexual¬
wissenschaft. 11. Bonn, Marcus & Weber. 1916. S. 305—22.)
140. Werthauer: Sexuelle Sittlichkeit u. Strafrecht. (Generation, Die neue. 1916.
S. 117.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
239
141. Landsberg, J. F.: Sexuelle Verwahrlosung d. Jugend u. ihre Behandlung.
(Archiv f. Sexualforsch. I. 1916. S. 270—83.)
142. Moses, J.: Auspräg. d. weibl. Sonderart u. Sexualität in d. Psychol. ver¬
wahrlost. u. kriminell. Mädchen. (Archiv f. Sexualforsch. 1. 1916. S. 244.1
143. Gaedeken, P.: Sexualverbrechen u. Jahreszeit. (Archiv f. Sexualforsch. 1.
1916, S. 227-36.)
144. Strafella, F. G.: —sieben Geisteskranker. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
Bd. 66. S. 58-70.)
Geschlechtskrankheiten (s. auch Prostitution)
145. Schapira, S.: Krieg u. —. Deren strafrechtl. Bekämpf. (Wochenschrift,
. Wiener klinische. 29. Jahrg. 1916. S. 918.)
146. Heine: In welch. Verfahren sind Ansprüche d. Polizeibehörd. weg. Zwangs¬
heil. Geschlechtskranker geltend zu machen? (Centralblatt der Reichsver¬
sicherung. 12. Jahrg. 1916. S. 927.)
147. v. Düring: Prostitution u. —. (Jahrbücher, Preußische. H. v. Delbrück.
V.: G. Stifke, Berlin. 1916. Bd. 164. S. 446-74.)
Gewissen
148. Boden, F.: —. (Archiv f. systematische Philosophie. N. F. 1916. Bd. 22-
S. 118-32.)
149. Kröger, O.: Wesen des moral. —s. (Archiv f. systematische Philosophie.
N. F. 1916. Bd. 22. S. 156-69.)
150. Behrend, W.: — u. Erziehung. (Monatshefte, Protestant. 1916. S. 151.1
Graph ometrie
151. Hellwig, A.: — im Strafverfahren. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd.67.
S. 42-68.)
152. Meyer, Georg; Schneikert, H.: — u. ihre Gegner. (Archiv f. Krimino¬
logie. 1916. Bd. 65. S. 331—43.) ;
Groß, H.
153. Lindenau: — u. sein Werk. (Archiv f. Strafrecht u. Strafprozeß. 1916.
Bd. 63. S. 353.)
154. O. A.: —, f. (Zeitschrift, Österreich., f. Strafrecht. 6. Jahrg. 1916. I.
155. Lenz, A.: —, j. (Zeitschrift f. die gesamte Strafrechtswissenschaft. 1916.
Bd. 36. S. 595-604.)
156. Stoß, C.: —, t- (Zeitschrift, Schweiz., f. Strafrecht. 28. Jahrg. 1916. S. 325.)
157. O. A : —, +. (Zeitschrift f. angew. Psychol. XII. 1916. S. 111.)
158. Zürcher, E.: —, f. (Juristen-Zeitüng, Schweizer. 12. Jahrg. 1916. S. 230.)
159. Strafella, F. G.; Zafita, H.: —, t- (Archiv f. Kriminologie. 1916. I—V.)
160. Cochlovius: — f.
41. Jahrg. 1916.
Haftung
Polizeihunde, (österr. Revue. Organ f. Assekuranz.
Handschrift
161. Lomer, G.: Wie sehen Verbrecher—en aus? (Die Umschau. 1916. S. 583.)
Haut
162. Oppenheim, M.: Neue Meth. d. graph. Darstell, von —Veränderung., ins-
besond. der Schwielenbildung, der Flachhand. (Archiv f. Dermatologie u.
Syphilid 1916. Bd. 122. S. 709-14.)
International
163. Wachenfeld: — isierung od. Nationalisier, d. deutsch. Strafrechts? (Archiv
f. Rechts- u. Wirtschaftspnilos. 1916. X. S. 14—26.)
Jugend (s. auch Fürsorge)
164. Reichen, A.: Neue Wege u. Ziele d. -»-fürsorge im Hinblick auf e. neue
Strafprozeßordn, im Kant. Zürich. (Der pädagog. Beobachter. Beilage zu:
Schweizerische Lehrerzeit. 1916. S. 45, 59.)
165. Meister, 0-: Sicherheitsbehörde u. —Strafrecht. (Archiv f. Kriminologie.
1916. Bd. 65. S. 312-25.)
166. Matthießen, W.: Unsere — u. der literar. Schund. (Jugendführ., Düssel¬
dorf. 3. Jahrg. 1916. S. 375-81.)
240
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
167. Herzfelder, H.: Zukunft unser. —fürsorge. (Rundschau, Österreich. 1916.
Bd v 49. S. 69-76.)
168. Janisch, F.: Reichsamt f. Kinderschutz u. —fürsorge, Österreich. (Zeitschr.
f. Notariat u. freiwill. Gerichtsbarkeit in Österreich. 1916. S. 69.)
169. Wild, A.: Übersicht über d. gegenwärt. Stand d. —fürsorge in d. Schweiz.
(Zeitschrift, Schweizer., f. Gemeinnützigkeit. Zentralsekret. Zürich 6, Volk-
marstr. 9. iGebr. Leemann, Zürich.l 1916. S. 224 —41.)
170. Lieske, H.: —kriminalität u. Strafgesetzreform. (Lyceum, Frankfurt. III.
1916. S. 213—19.)
171. Hellwig-, A.: Kriegskriminalität d. — in d. Stadt u. auf d. Lande. (Land,
Das. 24. Jahrg. 1916. S. 227.)
172. Duensing, F.: Gegenwärt. Kriminal, d. —u. Gegenmaßnahmen. (Monats¬
schrift f. das Kinderhortwesen. I. Charlottenburg. 1916. S. 221—26.)
173. Rupprecht: —Straffälligkeit in Bayern im Frieden u. im Kriege. (Straf¬
rechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 128—34.)
174. Seilmann: Überwind, d. Verwahrlos, d. —. (Zeitschrift f. das ge¬
samte Fortbildungsschulwes. in Preußen. VII. 1916. Lipsius & Tischer,
Kiel. S. 97.)
175. Kuckhoff: Ein wenig beacht. Gebiet unser, —fürsorge. [Schwachsinnige.)
(Rundschau, Allgemeinere. München. 1916. Nr 44.)
176. Rahm: Staatl. —pflege-örganisat. d. Regier.-Bez. Arnsberg (Mitteil. d. Zen¬
tralstelle f. Jugendpflege, Arnsberg. 4. Jahrg. Dortmund. 1916. S. 109—22.)
177. Ragl, F. X.: Staatl. —fürsorge. '(Jugendpflege, Neudeutsche. II. Abel &
Müller, Leipzig. 1916. S. 152.)
178. Hartmann: Reichs—gesetz u. Fürsorgeerzieh. (Zentralblatt f. Vormund¬
schaftswesen. VIII. 1916. S. 161—65.)
179. Felisch: Deutsch, —gesetz. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916.
S. 435—42.)
180. O. A.: Krieg u. —verwahrlos. (Schule, Christi. Pädagog. Studien u. Mit¬
teilung. 7. Jahrg. 1916 S. 633.)
181. Rosenfeld: Zwei notwendige Änderungen im—Strafrecht. (Strafrechtszeit.,
Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 162.)
182. Polligkeit, W.': Frage d. Freizügigkeit vom Standpunkt d. —fürsorge.
(Zentralblatt f. Vormundschaftswesen. VIII. 1916. S. 165.)
Jugendliche (s. auch Kriminal)
183. Haldy: Psychologie d. Strafanzeige weibl. — r. (Archiv f. Kriminologie.
1916. Bd. 65. S. 326- 30.)
184. Guradze, H.: — Schlafgänger in Berlin. (Jugendfürsorge, Die. Mitteil,
d. deutsch. Zentrale f. Jugendfürsorge. Berlin. XI. 1916. Nr. 9.)
185. Hellwig, A.: Kriminalität d. —n in Dresden unter d. Einfluß d. Krieges.
(Annalen d. deutsch. Reiches f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft
49. Jahrg. 1916. S. 586-612.)
186. Rupprecht: Kriegskriminalität d. — n in Bayern. (Zentralblatt f. Vormund¬
schaftswesen. VIII. 1916. S. 141.)
187. Hellwig, A.: Krieg u. Kriminalität d. —n. (Rundschau, Österreich. 1916.
Bd. 49. S. 211—21.)
188. Moll, N.: Kriminelle Jugend (Pharus, Katholische Monatsschrift. 1916.
S. 775-90.)
189. Hellwig, A.: Kritisch, z. Kriegskriminalität d. —n. (Grenzboten, Die.
Berlin. 1916. Nr. 11.)
190. Korn: Krieg u. Kriminalität d. —n. (Recht, Das. 1916. S. 154.)
191. O. A.: Kriminalität d. —n währ. d. Krieges. (Schulwochenblatt, Württem-
bergisches. 1916. S. 127. Wüterich: S. 134.)
192. v. Liszt: Krieg u. Kriminalität der —n. (Zeitschrift f. die gesamte Straf¬
rechtswissenschaft. 1916. Bd. 36. S. 496-516.)
193. O. A.: Maßnahmen geg. die Verwahrlos. —r, Niederösterreich, Steiermark,
Tirol. S. 150.
do. Oberösterreich. S. 217.
do. Salzburg, Kärnten, Krain, Küstenland u. Tirol. S. 276. (Rundschau,
Soziale. Wien. 17. Jahrg. 1916.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
241
194. Mende, K.: Maßnahmen geg. die Verwahrlos. —r. (Jugendfürsorge, Die.
Mitteil. d. deutsch. Zentrale f. Jugendfürsorge. Berlin. XI. 1916. Nr. 4/5.)
Jugendgericht
195. Nagler, J.: Künftig. —sges. (Rechtsgang. Stuttgart. III. 1916. S. 33 - 92.)
196. Liszt, E. v.; Leyen, R. v. d.: Zusammenarbeit zwisch. Jugendstraf kämm,
d. kgl. Landesgerichts u. d. Berlin. —shilfe. (Jugendfürsorge, Die. Mitteil,
d. deutsch. Zentrale f. Jugendfürsorge Berlin. XL 1916. Nr. 6.)
197. Lucas, S.: —s-Hilfe. (Frau, Die deutsche. 1916. Nr. 47.)
Jugendschriften (s. auch Nr. 166)
198. Meyer, Karl Jul.: Stellung d. Vorortausschuss. Hamburg d. Vereinig,
deutsch. Prüfungsausschüsse f. — im Kampfe geg. Schundliteratur durch d.
Krieg. (Hochwacht. Monatsschr. z. Bekämpfung d. Schundes. VI. 1916.
S. 187-93.)
Justiz
199. Bovensiepen: Deutsche Reichs—Statistik. 1914. (Richterzeitung, Deutsche.
Hannover. 8. Jahrg. 1916. S. 574. — Vierteljahrshefte zur Statistik des Deut¬
schen Reichs. 25. Jahrg. 1916. 1. Heft. S. 91—97.)
200. Wilke-Jänlg: —zauber. (Natur u. Gesellschaft. Berlin. III. 1916. S. 150—57.)
Kettendelikte
201. Schaeffer: — u. Strafprozeßordnung.
III. 1916. S. 401.)
(Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin.
Kinematograph
202. Strafelia, Fr. G.: Verwertung der —en in der Wissenschaft. (Archiv f.
Kriminologie. 1916. Bd. 67. S. 67.)
203. Stein, O. Th.: Bewegungslichtbilderei als modern. Forschungsmittel. (Kos¬
mos: 1916. S. 39.)
204. Thieme, B.: Technik der —ie im naturwiss. Unterricht. (Monatshefte f. d.
naturwiss. Unterricht. 1916. S. 311—15.)
205. Lassally, A.: Techn. Film (Umschau, Die. 1916. S. 585.)
Kriegsauszeichnung
206. Boas, K.: —en, Unberechtigt Anleg. von, besond. im Verein mit and.
forensisch. Komplikat. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 67. S. 103.)
Kriminal (s. auch Jugend)
207. Lenz; Haber, L.: Denkschrift üb. die Errichtung —ist. Institute. (Straf¬
rechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 207.)
Lindenau; v. Liszt; Straßmann: 1./2. Heft. Beil., S. 97—104.
208. Hoegel: —Statist. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 3—9.»
209. Hellwig, A.: Krieg u. —Wissenschaft. (Zeitschrift f. die gesamte Straf¬
rechtswissenschaft. 1916. Bd. 36. S. 465.)
210. Zürcher, E.: —Statist, in d. Schweiz. (Zeitschrift, Schweiz., f. Strafrecht.
28. Jahrg. S. 342.)
211. Lenz, A.: —ist. Institut. (Zeitschrift, Schweiz., f. Strafrecht. 29. Jahrg.
1916. S. 95-103.)
212. O. A.: —pädag. Instit. in Budapest—Elisabethdorf. (Zeitschrift f. angew.
Psychol. XII. 1916. S. 110.)
213. Bächtold, H.: —ist. Volkskunde. (Volkskunde, Schweizer. 6. Jahrg. 1916.
S. 17-20.)
214. Hellwig:—ität der Jugendl. u. der Krieg. (Universum. 32.Jahrg. 1916. Nr.27.)
215. Böckel, F.: —gesch (Monatsschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsreform.
11. Jahrg. 1916. S. 503—12.)
216. Hurwicz, E.: —stat. Probleme. (Monatsschr. f. Kriminalpsychol. u. Straf¬
rechtsreform. 11. Jahrg. 1916. S. 513—29.)
217. Meyer v. Schauensee, P.: —fall Wütschert, dargestellt im Lichte d. Straf¬
rechtsreform u. der Lehre von d. moral insanity. (Monatsschrift f. Kriminal¬
psychol. u. Strafrechtsreform. XI. Jahrg. 1916. S. 489—503.)
218. O. A.: Institut f. —pädagogik. [Budapest, Jugendfürsorge.] (Lehrerzeitung,
Leipziger. 23. Jahrg. 1916. Nr. 6.)
242
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
219. Walter: Resultate d. engl.—reform. »Kultur, Soziale. 1916. S. 236.)
220. Schulzt: 10 Jahre -statist. (Kultur, Soziale. 1916. S. 233.)
221. O. A.: Neues —pädagog. Institut. (Jugendfürsorge, Die. MitteiJ. d. deutsche
Zentrale f. Jugendfürsorge. Berlin. XL 1916. 5. 9.)
222. Knapp, H.: Übersiebnen d. schädl. Leute. (Archiv f. Strafrecht u. Straf¬
prozeß. 1916. Bd. 62. S. 297-305.)
223. Höpler, E. Ritter v.: —istische Mitteilungen. Archiv f. Kriminologie. 1916
Bd. 66. S. 29-41.)
224. Höpler, E. v.:.—ist. Mitteilungen. (Archiv f Kriminologie. 1916. Bd. 67.
S. 108-13.)
225. O. A.: Zunahme d. —ität d. Jugendlichen während d. Krieges. (Gesetz u.
Recht. 17. Jahrg. 1916. S. 11.)
226. O. A.: —ist. Universitätsinstitut in Graz. (Der Gerichtssal. 1916. Bd. 84,
85. S. 121.)
227. Schmidt, C.: Krieg u. —ität. (Deutsch-Evangelisch. Monatsbl. f. Prote¬
stantismus. VII 1916. S. 401—7.)
228. Mayr, G. v.: —ist. Probl. (Archiv, Allgemeines statistisches. 1916, IX, 2—4.
S. 465-501.)
229. Bächtoid, H.:—ist. Volkskunde. (Helvetia, Bern. 35. Jahrg. 1916. S. 334.)
230. Hellwig, A.: Volkskund.—istik. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd.67. S.123.)
231. Karman, E. v.: —pädagog. Institut. ([Kinderfehler, Die.) Jetzt: Zeitschrift f.
Kinderforschung. 21. Jahrg. 1916. S. 359—403.)
232. Moede, W.: — psychol. Umschau. (Kosmos. 1916. ’S. 283.)
233. Eulenburg. A.: —psychol. u. Strafrechtsreform. (Sammelref.) (Klinik,
Medizin. 1916. S. 881.)
234. Bovensiepen: —ität im Deutschen Reiche 1913. (Richterzeit., Deutsche.
Hannover. 8. Jahrg. 1916. S. 562.)
235. Schneickert, H.: —ist. Spurensicherung. (Zeitschrift f. die gesamte Straf¬
rechtswissenschaft. 1916. ßd. 38. S. 46—50.)
236. Hauser, E.: Individualpsychol. u. —polit. (Zeitschrift f. Individualpsycho¬
logie. München. I. E. Reinhardt, München. 1916. S. 174—85.)
237. Anuschat, E.: „Erkennungsmarkenhalter“ f.—beamte. (Strafrechtszeitung,
Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 399.)
238. Lindenberg: Niederländ. —Statist, f. 1914. (Strafrechtszeitung, Deutsche.
Berlin. III. 1916. S. 470.)
Leiche
239. Lindenau: Ermittelungsgang b. Auffinden zerstückelt. —n. (Strafrechts- .
zeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 311.)
240. Photakis, B : Bestimmung d. Lebensalters an Kinder—n auf Grund der
Histologie d. Nebennieren. (Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin u. öffentl.
Sanitätswesen. III. Folge. 1916. Bd. 51. S. 48—53.)
241. Horch: Z. Maes: Identifizierung v. zerstückelten — nteilen d. Kontorburschen
Müller. (Archiv f. Kriminologie. 1916. S. 165.)
242. Hellwig, A.: —nteile als Talismane. (Sachverständigenzeitung, Ärztliche.
•22. Jahrg. 1916. S. 16.) .. J
Mord
243. Reukauff, H.: —e u. Mörder. (Wochenschrift, Psychiatrisch-neurologische.
1916. S. 27, 55-62, 67-73, 81-87.)
244. Doerr, Fr.: Doppelkindes—. (Archiv f. Kriminologie. 1916. S. 148.)
245. Reukauff, H.: —e u. Mörder (Wochenschrift, Psychiatrisch-neurologische.
18. Jahrg. 1916. S. 95, 104-11, 131 ff.)
246. Straßmann, P.: Neue Erfahrung, über Familien— in gerichtl.-psychiatr.
Bezieh. (Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin u. öffentl. Sanitätswesen.
III. Folge. 1916. Bd. 51. S. 54-68)
247. Amschi, A.: —unters, ohne Leiche. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 66.
S. 161.) *
248. Altmann, L.: —Untersuchung ohne Leiche. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
249. Schöttle, G.:—Verbrecheralbum. (Zeitschrift, Numismatische. Wien, Manz
1916. N. F. IX. Bd. 49. S. 117-48.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916 243
Neurose
250. v. Olshausen: Jurist, z. Prozeß —. (Klinik, Mediz. 1916. S. 30.)
Ödland
251. Wense. H. v. d : Verwend von Strafgefangenen in d. —kultur. (Zeitung,
III. landw., Organ d. Bund. d. Landw. 1916. S. 455.)
Paralyse
252. Bendixsohn, H.: —diagn. b. psychopath. veranlagt. Verbrechern. (Monats¬
schrift f. Psychiatrie u. Neurologie. 1916. Bd. 39. S. 104 - 26.)
Phonographisch
253. Haber, L.: —e Aufnahm, im Untersuchungsverfahr. (Blätter, Juristische.
1916. S. 170, 183, 193.)
Photogrammetrie
254. Sbhneickert, H.: Vereinfachte—. (Chronik, Photogr. Halle. 1916. S 313.
255. Köettig: — im Dienste d. Kriminalpolizei. [System Dr. Heindl.] (Straf¬
rechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. .206.)
256. Dokulil, Th.: Dr. Fr. Eichbergs Apparate f. photogrammetr. Tatbestands¬
aufnahmen. (Zeitschrift f. Feinmechanik. 24. Jahrg. 1916. S. 61, 72, 84.)
257. Dokulil, Th.: Dr. Eichbergs Kamera f. photogrammetr. Tatbestandsauf¬
nahmen. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 66 S 87-93.)
258. Heindl, R.: — ohne Spezialkamera. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 65.
S. 1—32.)
Photographie
259. Würschmidt, J.: —ren m.d.Lochkamera. (Wochenschrift, Deutsche optische.
Verl.: Ehrlich, Berlin W 35. Jahrg. 1915/16. Nr. 1-32. S. 247.)
260. Hansen, Fr.: Wie photographiert man Maschinen? (Werkzeugmaschine.
1916. S. 117.)
261. O. A.: Beachtenswert. Hilfsapparate f. Forscher, Ingenieure u. Gelehrte.
(Photogr. Appar. Famulus.] (Umschau, Die. 1916. S. 128.)
262. Wurm-Reithmayer: Zweckmäß. Zusammenstell, e. Ausrüst. f. Personen-
aufnahm. (Rundschau, Photogr. 1916. S. 66.)
263. Bencke, A.: Mikro—. (Photographenzeitg. 1916. S 199.)
264. Preiß, C.: Blitzlicht-. (Photographenzeitg. 1916. S. 82.)
265. Karpinsky, W.: Bestimm, u. graph. Darstell. d. höchstzulässig. Belichtungs¬
zeit bei Momentaufnahmen. (Photographenzeit. 1916. S. 47, 59.)
266. Irmenbach, E.: Schnellaufnahmen d. Fachwelt. (Photographenzeitg. 1916.
S. 27, 41.)
267. Grainer.Fr.: Ähnlichk. in d. Bildnis—. (Kunst, Photographische. München,
Süddeutsche V.-A. 1916. S. 2, 25.)
268. Günther, H.‘: — im Dienste d. Ballistik. (Jägerzeit., Deutsche. Neudamm.
1916. Bd. 67. S. 265-69, 301-4..
269. Hann eke, P.: Stand d. Farben—. (Chronik, Photogr. Halle. 1916. S. 97.)
270. Hansen, K.: Einfache Apparatur f. Mikro-. (Chronik, Photograph. Halle.
1916. S. 89)
271. Betsch, R.: Ballist. —. (Bergstadt, Die. Breslau. 4. Jahrg. 1S16. März.
S. 480 -94.)
272. Frank, M.: Gründl. Erforsch, d. Quellen von Mißerfolgen in d. photograph.
Technik. (Apothekerzeit., Schweizer. 54. Jahrg. 1916. S. 98.)
273. Frey, O.: Auskunftstelle f. — u. Projektion. (Arbeit, Schaffende, u. Kunst
in d. Schule. Prag. 4. Jahrg. 1916. S. 306.)
274. Block, W.: — in Wissensch. u. Leben.' (Allgemeine Zeitung, München.
1916. S. 159, 176, 187, 199.)
275. Linck,E.: Nachtaufnahmen. (Camera-Almanach, Deutsch. Berlin. 9. Jahrg.
.1916. S. 81-88.)
276. Wolf-Czapek, K. W.: Münchner Lehranstalt u. ihre Wirkung. (Camera-
Almanach, Deutsch. Berlin. 9. Jahrg. 1916. S. 177—86.)
277. Hoppe-Seyler, G.: Einfach., leicht transportabl. Apparat f. photograph.
Aufnahm, an d. Sektionstisch. (Centralblatt f. allgem. Pathologie u. patholog.
Anatomie. 27. Jahrg. 1916. S. 294.) i
244
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
278. Wolff, P.: Photograph. Nachtaufnahm. (Kosmos. 1916. S. 120.)
279. Warstat, W.: Ähnlichkeit im photograph. Bildnis. (Kunst u. Dekoration,
Deutsche. 1916. Bd. 38, 39. S. 171.)
280. Bencke, A.: Mikro—. (Photographenzeitg. 1916. S. 205 —8.)
281. Hoßfeld.L.: —ren von Siegelzylindern. (Rundschau, Photogr. 1916. S. 141.)
282. Heindl, R.: — im Dienste d. Kriminalpolizei. (Über Lana u. Meer. 1916.
S. 138.)
283. Hachstetter, F.: —ren klein. Objekte bei schwach. Vergrößer. in auffall,
u. durchfall. Lichte. (Verhandlung, der k. zoolog.-botan. Gesellschaft in Wien.
66 Jahrg. 1916. S. 71.)
284. Mente, O.: Verbesserung, in d. Palimpsest— u. Ergänzungsverfahr. (Zeit¬
schrift f. Reproduktionstechnik. 1916.- S. 66 )
285. Schneickert: Ist die — d. flüchtig. Täters e. Beweismittel u. unterliegt sie
d. Beschlagnahme? (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 475.)
Polizei (s. auch Haftung)
286. Schwandner: —stunde vor, in u. nach d. Kriege. (Alkoholfrage. 12. Jahrg.
1916. S. 97-105.)
287. Koettig: Bemerkenswert, aus d. Jahresber. d. Kgl. —direkt. Dresden. (Straf¬
rechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 11/—23.)
288. Wilz, L.: 3 —Verordnung, früh. Zeit üb. einfach. Lebenshalt. (Frankenland.
R. : H. Walter, Dettelbach a. M. 3. Jahrg. 1916. S. 2-20.)
289. Blei, F.: — u. Sprache. (Blei, Frz.: Menschl. Betracht, zur Politik. 1916.)
290; Zahn,F.: Aufgab. u. Leistung, d. —statist. (Archiv, Allgem. statistisch. IX. 2.
1916. S. 364-96.)
291. Lotz: Städt. od. staatl. —. (Recht u. Wirtschaft. 5. Jahrg. 1916. S. 66.)
292. Badtke, W.: — im J. 1912. (Jahrbuch, Statistisch., deutsch. Städte. 21. Jahrg.
1916. S. 233-49.)
293. Hellwig, A.: Ein angeblicher —hunderfolg. — Archiv für Kriminologie.
1916. Bd. 65. Hft. 3, 4.
294. v. Buchka: Geschichtl. Entwickl. d. Staatsaufsicht üb. die —Verwaltung d.
Städte in Preußen. (Verwaltungsblatt, Preuß. 37. Jahrg. 1916. S. 4227)
295. Lindenau: Deutsch-österr.-ung. —annäherung. (Verwaltungsblatt, Preuß.
37. Jahrg. 1916. S. 713.)
Prostitution (s. auch Geschlechtskrankheiten)
296. O. A.; Krieg u. —. (Zeitschrift d. deutsch-evang. Vereins z. Förderung d.
Sittlichkeit. 30. Jahrg. 1916. S. 20.)
297. Pappritz, A.: Welche Maßregeln könn. wir Abolitionist. an Stelle d. Regle¬
mentierung d. — z. Schutze d. Volksgesundheit u. Volkssittlichk. Vorschlag. ?
(Zeitschrift f. Bekämpf, d. Geschlechtskrankheit. 1916. Bd. 16. S. 364— 84.
Nachwort: A. Blaschko. S. 385.)
298. Blaschko: Reform d. Prostituiertenüberwach. (Strafrechtszelt., Deutsche.
Berlin. III. 1916. S. 43.)
299. Schlenzka, A.: Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. u. —. (Zeitschrift f.
Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. 1916. Bd. 17. S. 227—36.)
300. Pappritz, A.: Früh. Polizeiarzt geg. die Reglementierung. (Abolitionist,
Der. 1915. S. 9.)
301. Scheven, K.: Bekämpf, d. — u. der Geschlechtskrankheit, in u. nach d.
Kriege. (Frauenfrage. Zentralbl. d. Bund, deutsch. Frauenvereine. 18. Jahrg.
1916. S. 2.)
302. Block, J.: Zur Lösung d.. — sfrage. (Frauenfrage. Zentralbl. d. Bundes
deutsch. Frauenvereine. 18. Jahrg. 1916. S. 57.)
303. Rupprecht: — jugendl. Mädchen in München 1915. (Volkswart, Köln.
1916. S. 26. — Zentralblatt f. Vormundschaftswesen. 8. Jahrg. S. 28.)
304. Fürth, H.: Reglementierung d. —. (Wort, Das freie. 16. Jahrg. 1916.
S. 474.)
305. O. A.: Eingabe d. Heidelberg. Ver. z. Hebung d. Sittlichkeit an d. Militär¬
behörde, Beseitigung d. Bordells Schwetzinger Str. betr. (Abolitionist, Der.
1916. S. 62.)
306. O. A.: öffentl. — in Rangoon. (Abolitionist, Der. 1916. 'S. 72, 81, 87.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
245
307. O. A.: Schmöldersche Vorschläge I. Neuregel, d. —sfrage. (Abolitionist,
Der. 1916. S. 83-87.)
308. Scheven, K.: Neue Vorschläge z. Lösung d. Reglementierungs— u. Bordell-
frage. (Frauenfrage. Zentralbl. d. Bund, deutsch. Frauenvereine. 18. Jahrg.
1916. S. 169.)
309. Giith: —spolitik n. d. Kriege. (Vierteljahrsschrift, Deutsche, f. öffentl. Ge¬
sundheitspflege; Forts.: öffentl. Gesundheitspflege. I. 1916. S. 257—82.)
310. Rupprecht: — jugendl. Mädchen in München 1915. (Wochenschrift,
Münchner medizinische. 63. Jahrg. 1916. Nr. 32 ff.)
311. Fabry, J.: Reglementierung, Kasernierung u. Behandl. d. — in Dortmund.
jZeitschrift f. Bekämpf, d. GeschlechtskranKheit. 1916. Bd. 17. S. 159—82.)
312. Blaschko, A.: Vorschläge z. Neuregel, d. —swesens. (Zeitschrift f. Bekämpf,
d. Geschlechtskrankheit. 1916. Bd. 17. S. 183—92.)
313. Neißer, A.: Neo-Reglementarismus u. Neo-Abolitionismus. (Zeitschrift f.
Bekämpf, d. Geschlechtskrankheit 1916. Bd. 17. S 193 - 98.)
314. Ulitzsch, E.: Seemann u.—. (Zeitschrift f.Sexualwissenschaft. 111. Bonn,
Marcus & Weber. 1916. S. 89-92, 132-36.)
315. O. A.: Bremer System. (Zeitschrift d. deutsch-ev. Vereins z. Förderung d.
Sittlichkeit. 30. Jahrg. 1916. S. 31, 33.) — S. auch Tuberkulose!
Psychologie
316. Wreschner, A.: Bedeut, d. — f. d. Untersuchungsbeamten. (Juristenzeiti,
Schweizer. 12. Jahrg. 1916. S. 209—15.)
317. Marbe: Bedeut, d. — f. d. Rechtswissenschaft. (Juristenzeit., Deutsche.
1916. S. 302.)
318. Petersen, P.: Bericht über psychologische Literatur 1915. (Zeitschrift für
Philosophie u. philosophische Kritik. 1916. Bd. 161. S. 83—115.)
319. Kammei, W.: — als Hilfswissenschaft im techn. Betrieb^ (Österreich, Das
neue. Monatsschr. Wien I. Hegelg. [Braumüller.] 1916. April, S. 38—43,
Mai, S. 43-48.)
Psychopath (s. auch Simulation)
320. Bittinger: — u. Ästhetin. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 66. S. 132—46.
321. Major, G.: Bedürfn. d. —en e. besond. Erziehung? (Zeitschrift f. Psycho¬
therapie u. med. Psychologie. VI. 1916. S. 328—42.)
Psychopathologie
322. Wendenburg, K.: Gerichtl. —, (Zeitschrift, Allgem., f. Psychiatrie u.
psychisch-gerichtl. Medizin. 1916. Bd. 72.)
323. Raecke: Kenntn. u. gerichtsärztl. Beurteil, psychopath. Zustände. (Sach¬
verständigenzeitung, Ärztliche. 22. Jahrg. 1916. S. 253—59.)
Psychose
324. v. Pfungen: Methode d. Mess. d. Widerstand, v. Hand zu Hand durch d.
Körper bei —. (Wochenschrift, Wiener mediz. 66. Jahrg. 1916. Nr. 35.)
325. Bresler: H. Bickels Untersuchung, über d. wechselseit. Beziehung, zwisch.
psychol. Geschehen u. Blutkreislauf mit besond. Berücksicht, d. —n. (Wochen¬
schrift, Psychiatrisch-neurologische. 18. Jahrg. 1916. S. 115—20.)
326. Koehne: Vom — s-u. Polizeibegriff.
1916. S. 437.)
Recht
(Gemeindezeitung, Deutsche. Berlin.
Reproduktion (siehe Bild)
Ronci&re
327. Horch: Prozeß des Leutnants de la —. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
Bd. 66. S. 193-225.)
Schädel
328. O. A.: Fehlende Erinnerung d. Verletzt, für e. —schuß. Verkannt. Mord¬
versuch. (Wochenschrift, Deutsche medizinische. 42. Jahrg. 1916. S. 1351.)
329. Thiemann, H.; Bauer, H.: —schüsse im Röntgenbild. (Fortschritte auf
d. Gebiete d. Röntgenstrahlen. 1916. Bd. 24. S. 491—95.)
Archiv für Kriminologie, 71. Band.
17
246
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
Schundliteratur (s. auch Jugendschriften, Verbrechen)
-330. Brunner, K.: Kampf geg.d. — im Kriege. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin.
III. 1916. S. 137-41.)
-331. Beyel, C.: Der Schweiz. Bund geg. d. unsittl. Literatur [deutsch Zweigl.
(Zeitschrift, Schweizer., f. Gemeinnützigkeit. Zentralsekret. Zürich 6, Volk-
marstr. 9 [Gebr. Leemann, Zürich). 1916. S. 161—77.)
332. Will, C.: — u. ihre Bekämpf. (Vortrupp, Der. 5. Jahrg. 1916. S.368—74.)
333. O. A.: Verordnung, des Generalkommandos geg. — u. Schmutz im Reichstag.
(Volkswart, Köln. 1916. S. 75.1
334. O. A : Immer wieder: —. (Lehrerzeit., Leipziger. 23. Jahrg. 1916. Nr. 15.)
335. O. A.: Geg. —Kriegsbücher. ([Kunstwart, Der.) Von Okt. 1915 ab: Deut¬
scher Wille. 29. Jahrg. 1916, Febr. S. 166)
336. Hauert, B.: Waffen im Kampf geg. d. —. (Philologenblatt, Deutsch. [Früher:
Korrespondenzblatt f. d. akadem. gebild. Lehrerstand.] 1916. S. 269.)
337. O. A.: Bekämpf, d. — durch Generalkommandos. (Jugendschriftenwarte.
1916. S. 11.)
•338. Brunckhorst, H.: Ästhetisches bei d. —kritik. (Jugendschriftenwarte.
1916. S. 8.)
•339. O. A.: Eine pädagog. Tat [—Erlaß d. Generalkommandos]. (Jugendschriften¬
warte. 1916. S. 1.)
-340. Brunner, K.: Kampf geg. d. — im Kriege. (Hochwacht Monatsschrift z.
Bekämpf, d. Schundes VI. 1916. S. 155.)
341. Wittig, K.: —buch u. -kino im Urteil jugendl. Gefangener. (Bahnen, Neue.
Monatsschr. f. wissenschaftl. u.prakt.Pädagogik. 27. Jahrg. 1916. S. 158—71.)
342. Hellwig, A.; — als Verbrechensanreiz. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
Bd. 66: S. 127.)
343. Hauert, B.: Kampf geg. d. Kriegs—. (Blätter, Akadem. 31. Jahrg. 1916.
S. 150.)
344. O. A.: Verbotene —. (Börsenblatt f. d. deutsch. Buchhandel. 1916. 9./8.)
345. Gebhardt, F.: Kapitel z. —in d. Tageszeitung. (Hochwacht. Monatsschr.
z. Bekämpf, d. Schundes. 1916. VII. S. 13.)
346. Kochen, J.: Lesen uns. Jünglinge Schundlektüre? (Jugendführ. Düssel¬
dorf. 3. Jahrg. 1916. S. 152.)
347. Hammelrath: Frage d. Schundlektüre. (Jugendführ. Düsseldorf. 3. Jahrg.
1916. S. 188.)
348. O. A.: Schundschriftenbekämpf. im rhein.-westf. Industriebezirk. (Jugend¬
führ. Düsseldorf. 3. Jahrg. 1916. S. 382—92.)
349. Hassenpflug, G.: Kann d. — durch d. stellvertret. Generalkommando aus-
schließl. nach d. Berlin. Liste m. durchschlag. Erfolg bekämpft werden?
(Jugendschriften-Warte. 1916. S. 29.)
350. Murawski, F.: Von d. Arbeit geg. d. Kriegsschund. (Jugendschriften-
Warte. 1916. S. 45.)
351. Hassenpflug, G.: Bekämpf, d. — durch d. stellvertret. Generalkommandos.
(Jugendschriften-Warte. 1916. S. 21—25 —Lehrerzeit., Leipzig. 23. Jahrg.
1916. Beil. 21.)
352. Samuleit, P.: Kriegs--. (Land, Das. 25. Jahrg. 1916. S. 76.)
353. O. A.: Verbot d. — in Sachsen. (Lehrerzeit., Leipzig. 23. Jahrg. 1916. Nr. 27.)
354. Tessendorff, W.: Kampf geg. d. Kriegs-—. (Praxis d. Landschule. Goslar.
25. Jahrg. 1916. S. 83-91.)
355. Hildebrandt, G. O.: Mod. Volksseuche [Kriegs—]. (Reformation, Die.
1916. Nr. 38.)
356. O. A.: Gegen d. Kriegsschund. (Rundschau, Pädagog. Wien. 30. Jahrg.
1916. S. 214—18.)
257. Süersen, E.: Stell, d. Militär- u. Zivilbehörden z. —. (Volksbildungsarchiv.
IV. 1916. S. 209-25.)
358. O. A.: —. (Volksbücherei in Oberschlesien. [Priebatsch, Breslau.] 10. Jahrg.
1916. S. 74.)
359. O. A. -. Eingabe d. Verband, d. Männervereine z. Bekämpf, d. öffentl. Unsitt.
lichkeit betr. Bekämpf, d. Schund- u. Schmutzliteratur. (Volkswart, Köln.
1916. S. 129.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
247
Schufi
360. Anuschat, E.: —Waffe in d. Hand d. Polizeibeamt. (Archiv f. Strafrecht
u. Strafprozeß. 1916. Bd. 63. S. 1—31.)
Schwangerschaft
361. Boas, K.: Forens. Beurteil, von vermeintl. Schwangeren. (Archiv f. Krimino¬
logie. 1916. Bd. 66. S. 42-58.)
362. Ktistner, O.: Pathologie d. —. (Handbuch d. Geburtshilfe. II. Bergmann.
Wiesbaden. 1916. S. 3-136.)
Seele
363. Halbey, K.: — nstörungen u. ihre Beziehung, z. gerichtl. Psychiatrie.
(Klinik, Mediz. 1916. S. l'28, 153.)
Selbstentzündung
364. Winter, A.: — u. Verderbnis feuchtlagernd. Ware. (Färberzeitung, Deutsche.
52. Jahre. 1916. S. 179.)
365. Beck, W.: Gefahr., Die, in d. Landwirtsch. (Zeitschrift, Feuerwehrtechnische.
IV. 1916. S. 157. — Zeitschrift, Sächs. landwirtsch. Dresden. 1916. S. 571 .>
366. Tamm: — von Häcksel. (Deutsche landwirtschaftl. Presse. 1916. S. 752.)
Selbstmord (s. auch Unfall)
367. Dörschlag: —versuch durch Verschluck, von Fremdkörp. (Wochenschrift,.
Deutsche medizinische. 42. Jahrg. 1916. Nr. 35.)
368. Lipschitz, J.: — durch Erdrosseln. (Amtsarzt, Der. Wien. VIII. [Deu-
ticke.] 1916. S. 194 -98.)
369. Schultz, J. H : Heterosuggestion u. hysterisch. Suizid. (Zeitschrift f. Psycho-
therap. u. mediz. Psychologie. VI. 1916 S. 324.)
370. Placzek: Die Selbstmörderpsyche. (Zeitschrift f. Psychotherap. u. mediz.
Psychologie. VI. 1916. S. 299 —310.)
371. Böhler: — durch Resekt. d. Querkolons. (Wochenschrift, Wiener klinische.
29. Jahrg. 1916. S. 257.)
372. O. A.: Art, Gründe u. Zeit d. —e in Preußen 1913. (Korrespondenz, Stati¬
stische. Jahrg. 1915. LXXXII1. [Beiblatt zu: Zeitschrift d. kgl. preußisch,
statistisch. Landesamtes. 55. Jahrg. 1915.])
373. Kötzschke, W.: Kirchengesetzl. Bestimmung, üb. Selbstmörderbegräbnisse.
(Kirchenblatt, Neues sächsisches. 1916. Nr. 11.)
374. O. A.: —versuch u. Invalidenrente. (Centralblatt d. Reichsversicherung.
12. Jahrg. 1916. S. 350.)
375. Fröhlich, J.: — unter Verwend. von Dum-Dum-Geschossen. (Amtsarzt,
Der. Wien. VII. |Deuticke.] 1916. S. 115.)
Selbstverdächtigung
376. Ludwig, C.: Fall wissend, unwahr. (Archiv, f. Kriminologie. 1916.
Bd. 65. S. 301—11.)
Simulation
377. Strafella, Fr. G.: — von Taubst, u. Schwerhörigk. (Archiv f. Krimino¬
logie. 1916. Bd. 67. S. 71.)
378. Engelen, Rangette: —, Nachweis von, durch Assoziationsexperiment.
(Sachverständigenzeit., Ärztliche. 22. Jahrg. 1916. S. 37.)
379. Hoppe. H.: — e. Psychopathen. (Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin u.
öffentl. Sanitätswesen. III. F. 1916. Bd. 51. S. 69—78.)
380. Goldmann, R : Methode z. Entlarv, d. — von Schwerhörigk. od. Taubh.
(Beilage z. Wiener medizin. Wochenschr.: Militärarzt. 50 Jahrg. 1916. S. 118.)
381. Majewski, K.: Entlarv, d. —. (Blätter, Medizinische. 38. Jahrg. 1916.
S. 252. [Identisch mit »Centralblatt, Med.-chirurg.“ 49. Jahrg.])
382. Voß, G.: — b. Soldat. (Wochenschrift, Deutsche medizinische. 42. Jahrg.
1916. S. 1476.)
383. Serog: Zwei Fälle v. krankhaft. Selbstbezichtig, d. —. (Klinik, Medizin.
1916. S. 1100.)
17*
248
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
384. Birnbaum, K.: Zur — geistig. Störungen. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
Bd. 66. S. 71-79.»
Sittenpolizei (s. auch Brüssel)
385. Lindenau: Neuerung, bei d. Berlin. —. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin.
III. 1916 S. 157.)
Sittlich
386. Pappritz, A.:—keitsbeweg. (Jahrb. d. Frauenbeweg. Leipzig. Jahrg. 1913.
S. 138 - 48.)
387. Mahling: Gegenwärt. Stand d. —keitsfrage. ([Monatsschrift.] Jetzt: Viertel¬
jahrsschrift f. innere Mission. 1916. S. 3—123.)
388. Schnitzler: Unbeachtete Quellen d. sittlich. Gefährdung. (Monatsblätter,
akadem.Organ d. Verbandes d. kathol. Studentenvereine. 28. Jahrg. 1916.S. 106.)
389. Horch: Erweiter. d. Str.G.B. in Bezieh, auf - keitsdelikte. (Archiv f. Krimino¬
logie. 1916. Bd. 67. S. 127-32.)
390. Schneickert, H.: Körperl. Untersuch, z. Nachweis v. — keitsverbrech. (Zeit¬
schrift f. Sexualwissenschaft. III. Bonn, Marcus & Weber. 1916. S. 223—26.)
Straf
391. Alsberg, M.: Vernehmungs-u. Fragerecht d. Parteien im —prozeß. (Archiv
f. Strafrecht u. Strafprozeß. 1916. Bd. 63. S. 99—108.)
392. Köhler, J.: —recht u. Völkerrecht. (Archiv f. Strafrecht u. Strafprozeß.
1916. Bd. 63. S. 354-72.)
393. Haber, L.: Weged. mitteleurop.—rechtsgemeinschaft. (Gerichtshalle. Wien.
60. Jahrg. 1916. S. 580.)
394. Eckstein. E.: Wiederaufnahme d. —verfahr, weg. Anwendbark. e. milder.
—gesetz. (Gerichtssaal, Der. 1916. S. 107—12.)
395. Glauning, R.: Gesch. d. —rechtspflege im Kurfürstent. Sachsen währ. d.
18. Jahrh. (Archiv, Neues, f. sächs. Geschichte u. Altertumskunde. 1916.
Bd. 37. ' S. 316-29.)
396. Sturm, F.:—rechtswissenschaftu.—maß. (Gerichtssaal, Der. 1916. S. 112.)
397. Bornhak, C.: Vereinfach, d. —prozess. (Gerichtssaal, Der. 1916. S. 115.)
398. O. A.: Berufungsverfahren in —Sachen. (Gerichtszeit., Allgem. Österreich.
Wien. 1916. S. 309.)
399. Becker, H. O.: Ehren—en d. Mittelalters. (Gesetz u. Recht. 17. Jahrg.
1916. S. 460.)
400. O. A.: Dringl. Reform d. —rechts. (Gesetz ü. Recht. 17. Jahrg. 1916. S.473.)
401. Hoege 1: —rechtsannäherung. (Juristenzeitung, Deutsche. 1916. S. 1020.)
402. Meyer, K.: Zu viele —en. (Juristenzeitung, Deutsche. 1916. S. 1023.)
403. Freudenthal: —Vollzug nach d. Kriege. (Juristenzeitung, Deutsche. 1916.
S. 1114.)
404. Pfenninger, H. F.: Anklagezulass. im modern. —Prozeßrecht. (Juristen¬
zeitung, Schweizer. 13. Jahrg. 1916. S. 21—29.)
405. Cleric, G. F. v.: Dogmat. u. —rechtspflege. (Juristenzeitung, Schweizer.
13. Jahrg. 1916. S. 61.)
406. Lilienthal, K. v.: Soziale Aufgaben d. —rechts vor u. nach d. Kriege.
(Recht, Verwaltung u. Politik im neuen Deutschland, hrsg. v. A. Bozi u.
H. Heinemann. 1916. S. 105—20.)
407. Kloß, Lobe, Riß, Statz, Thomsen: Ergänzungsentwurf d. Str.G.B. im
Sinne d. Verbrechensbekämpf. (Richterzeitung, Deutsche. Hannover. 8. Jahrg.
1916. S. 217.)
408. Riß, Fr.: Beruf d. —gerichte z. Verbrechensbekämpf. (Richterzeit., Deutsche.
Hannover. 8. Jahrg. 1916. S. 423—32.)
409. Correll: —zumessung. (Richterzeitung, Deutsche. Hannover. 8. Jahrg.
1916 S. 451.)
410. Sturm, Fr.: Nationalcharakter u.—prozeß (Richterzeitung, Deutsche. Han¬
nover. 8. Jahrg. 1916. S. 565.)
411. Cerf: Wiederaufhebung erlass, —befehle durch d. Richter ohne Hauptver-
handlg (Wochenschrift, Jurist. 45. Jahrg. 1916. S. 1523.)
412. Eichelbaum: Absicht u. verwandte Begriffe im Str.G.B. ((Zeitschrift, Leip¬
ziger, f. Handels-, Konkurs- u. Versieh.-Recht.] Jetzt: Leipzig. Zeitschrift f.
deutsch. Recht. X. 1916 S. 985.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
249
413. SJrupp, K.: Amtsrichterl. —befehl u. Standrecht. ([Zeitschrift, Leipziger, f.
Handels-, Konkurs- u. Versich.-Recht.] Jetzt: Leipzig. Zeitschrift f. deutsch.
Recht X. 1916. S. 1085.)
414. Ebermayer: —rechtseinh. in österr.-Ungarn u. im Deutsch. Reiche. ([Zeit¬
schrift, Leipzig., f. Handels-, Konkurs- u.'Versich.-Recht.] Jetzt: Leipziger
Zeitschrift f. deutsch. Recht. X. 1916. S. 1393.)
415. Kahl, W.: —rechtseinh. in Österr.-Ungarn u. im Deutsch. Reiche. (Straf¬
rechtszeitung, Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 275—85.)
416. Binding, K.: Hochflut von Normen u. — gesetz. in d. Kriegsjahren u. die
angebl. Unentschuldbarkeit d. sog. Rechtsirrtums. ([Zeitschrift, Leipziger, f.
Handels-, Konkurs- u. Versich.-Recht.] Jetzt: Leipzig. Zeitschrift f. deutsch.
Recht. 11. Jahrg. 1916. S. 1-16.)
417. Krauß, J.: „—recht u. —prozeß“ an d. höh. Lehranstalt. (Zeitschrift, Bayr.,
f. Realschulwesen. 1916. S. 174—83.)
418. Werner, G.: Chambre d’instruct., autorite de contröle de l’informat. pönale.
(Zeitschrift, Schweiz., f. Strafrecht. 29. Jahrg. 1916. S. 231—58.)
419. Liszt, F. v.: Einheit!. mitteleurop.—recht. (Zeitschrift f. die gesamte Straf¬
rechtswissenschaft. 1916. Bd. 38. S. 1—20.)
420. Moses, S.: Kriegswirtschafts-—recht u. Staatsanwaltsch. (Zeitschrift f. die
gesamte Strafrechtswissenschaft. 1916. Bd. 38. S. 78.)
421. Freudenthal; Rittler: —recht. (Zeitschrift f. die gesamte Strafrechtswissen¬
schaft. 1916. Bd. 38. S. 726—34.)
422. Feisenberger: —recht. (Zeitschrift f. die gesamte Strafrechtswissenschaft.
1916. Bd. &. S. 734-42.)
423. Beling, E.: —prozeß. (Zeitschrift f. die gesamte Strafrechtswissenschaft.
1916. Bd. 38. S. 742-53.)
424. Schultze, M.: Erläuterung d. §§ 2 u. 4 R.Str.G. (Zeitschrift f. Zollwesen
u. Reichssteuern. 1916. Ba. 16. S. 193—98.)
425. Ahlborn: Zur Auslegung u. Durchführ. d. §§ 16 u. 17 R.Str.G. (Zollwarte.
XI. Berlin. 1916. S. 137.)
426. Schuntner: Auskunft üb. gelöschte Vor-en. (Zeitschrift f. Rechtspflege
in Bayern. XII. 1916. S. 224.)
427. Simon, F.: Kosten bei —antragszurücknahme im Fall d. § 196 R.Str.G.B.
(Zeitschrift f. Rechtspflege in Bayern. XII. 1916. S. 282.)
428. Lenz, A.: Völkerrechtl. Vorfragen d. —rechts in Kriegszelten. (Zeitschrift,
Österr., f. Strafrecht. VII. 1916. S. 181-98.)
429. Grohmann, H.: Beleidigende Schreibart in Eingaben in —Sachen. (Zeit¬
schrift, Österr., f. Strafrecht. VII. 1916. S. 285.)
430. Zeller, H.: —recht in sein. Beziehung, zur Individual-Psychol. (Zeitschrift
f. Individualpsychologie. München. I. E. Reinhardt, Münch. 1916. S. 145—56.)
431. v. Staff: „Viel Mühe um wenig“ [—befehl betr.]. (Strafrechtszeit., Deutsche.
Berlin. III. 1916. S. 295.)
432. Klee: „Löschung“ d. —vermerke in d. Praxis d. Hamburg. Polizeibehörde.
(Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 321.)
433. Heldmann: Vernehmung d. Beschuldigt. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin.
III. 1916. S. 366-72.)
434. Neuberg: Blick in alte Zeit. —rechtl. aus d. Kriegsgesetzgeb. von 1813.
(Strafrechtszeitung, Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 372.)
435. Koettig: Fassung d. Führungszeugnisse bei —löschung. (Strafrechtszeit.,
Deutsche. Berlin. III. 1916. 5. 394.)
436. Peschke: —rechtl. Irrtum bei Überschreit, d. Metallhöchstpreise. (Straf¬
rechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 404.)
437. Friedersdorff: —rechtl. Behandl. landesverräterisch. Handlung, n. Kriegs¬
gebrauch. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 449.)
438. Kern, E.: Formelle Grundlag. d. —Vollstreckung. (Strafrechtszeit., Deutsche.
Berlin. III. 1916. S. 452.) „
439. Schaeffer: —befehle in d. Kriegsnotverordnungssach. (Strafrechtszeitung,
Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 474.)
440. Bittinger: —liste sollte auch Freisprechung, nach § 51 R.Str.G.B. enthalt.
(Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. S. 476.)
250
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
441. Sonnenschein, M.: Heranzieh.’von Unfallsrenten zur Deckung d. Kosten
d. —verfahr, u. d. —Vollzugs. (Zeitschrift, österr., f. öffentl. u. priv. Ver-
sicher. VI. 1916. S. 500.)
Tätowierte
442. Arning, E.: —n, Kiin. u. histolfog. Beobacht, an. (Archiv f. Dermatologie
u Syphilis. 1916. Bd. 122. S. 225-41.)
Tatbestand
443. Hellwig.A.
S. 432—38.)
: —s-Diagnostik, Probleme der. (Gerichtssaal, Der. 1916. Bd. 84.
Tinte
444. Kempf, R.. Untersuchung, üb. Eisengallus—n. (Mitteil, aus d. Materials¬
prüfungsanstalt zu Lichterfelde. 33. Jahrg. 1916. S. 241—70.)
445. Mecklenburg, W.: Schwärze von —nflecken auf Papier. (Zeitschrift f.
Elektrochemie u. angewandte physikai. Chemie. 1916. Bd. 22. S. 23.)
Tötung
446. Klee, K.: — Fahrläss., in d. preuß. Praxis 1792—1812. (Archiv f. Strafrecht
u. Strafprozeß. 1916. Bd. 63. S. 394—455.)
Tod
447. Schneider:. Ein Jahr —esursachenstatistik im Regierungsbezirk Arnsberg.
(Veröffentlichung, auf d. Gebiete d. Medizinalverwalt. V. 1916. S. 433 —511.>
448. Zsakö, St. Bestimmung d. —eszeit durch d. muskelmechan. Erscheinungen.
(Wochenschrift, Münchner medizinische. 63. Jahrg. 1916. S. 32.)
449. O. A.: Abgabe von —esurteilen. (Wochenschrift, Jurist. 45. Jahrg. 1916.
S. 957•)
450. Kraehling: —esstrafe in England. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. IIL
1916. S. 466.)
451. O. A.: — esfailuntersuchung. d. amerikan. Versicherungs-Gesellschaften. (Ver¬
sicherungszeitschrift, Wallmanns. 50. Jahrg. 1916. S. 553.)
452. Prinzing, Fr.: —esursachenstatistik im Deutschen Reiche f. 1912. (Archiv
f. soziale Hygiene. XI. 1916. S. 155—64.)
Transvestie
453. Pettow, R.: Psychologie d. —. (Archiv für d. gesamte Psychologie. 1916-
Bd. 36. S. 136-44.)
Trinker
454. Holitscher: Der geborene —. (Monatsschrift, Intern., z. Erforschung d.
Alkoholismus. 26. Jahrg. 1916. S. 145.)
Trunksucht
455. O. A.: Mißbrauch geistig. Getränke. Trunkenheit, Behänd), trunk. Soldaten..
Strafrecht), u. disziplin. Gesichtspunkte. (Archiv f. Militärrecht. VI. 1916.
,S. 296.)
Tuberkulose (s. auch Fürsorge>
456. Köhler, F.: — u. Prostitution. (Tuberkulosis. Leipzig. 15.Jahrg. 1916. S. 13.>
Unfall (s. auch Straf)
457. Weygandt, W.: Frage d. Zusammenh. zwisch. — u. Selbstmord. (Viertel¬
jahrsschrift f. gerichtl. Medizin u. öffentl. Sanitätswesen. III. F. 1916. Bd. 52.
S. 75-93.)
Unfruchtbar
458. Fehlinger, H.: —machung, Gesetze über, in d. Vereinigt. Staaten. (Ge¬
schlecht u. Gesellschaft. Bd. 10. S. 62—68.)
Unzucht
459. Knabe: Unser ärgster Volksfeind. (Kirchen- u. Schulblatt, Sächsisches.
1916. Nr. 14.)
Unzüchtig
460. Wörter,E.:—er Handlung., Durch Täuschung ermöglichte Vornahme. (Archiv
f. Kriminologie. 1916. Bd. 67. S. 25-41.)
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
251
Urkunden (s. auch Wasserzeichen)
•461. Lindekam, O.: —fälschung durch Tintenflecke. (Archiv f. Kriminologie.
1916. Bd. 65. S. 278—83.)
462. O. A.: —fälschung durch Ander, e. Abklatsches e. versandt. Originalrechn.
(Mitteil. d. Handelskammer zu Berlin. 14. Jahrg. 1916. S. 159.)
Vaganten
463. Tramer, M.: — ein. »Herberge z. Heimat* in d. Schweiz. (Zeitschrift f.
die ges. Neurologie u. Psychiatrie. 1916. Bd. 35. S. 1—150.)
464. Benesch.L.: —plage u. Bauern. (Zeitung, Wiener landwirtsch. [Mit Beil.:
Mitteil. d. Fachberichterstatter.) 1916. Nr. 26.)
Verbrechen
465. Zeiler, A.: Behandl. d. rechtl. Zusammenfluss, b. kriegsgerichtl.—. (Straf¬
rechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 155.)
466. Bonne: Prophylaxe d. Roheits— u. militär. Vergehen unter bes. Berück¬
sichtig. d. Kriegszeit. (Strafrechtszeit., Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 29—35.)
467. Hellwig, A.: Problem d. —sanreizes durch Schundliteratur. (Monatsschrift
f. Kriminalpsychologie u. Strafrechtsreform. XI. Jahrg. 1916. S. 560.)
468. Hellwig, A.: Aktenmäßig. Fälle über Schundliteratur u. Schundfilms als
— sanreiz. (Gerichtssaal, Der. 1916. Bd. 84. S. 402—31.)
469. Zafita, H. J.: System d. Verbrechertypen. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
S. 169 -75)
470. Strafelia, Fr. G : Degeneratives im —. Individuelle und soziale
Degeneration. (Archiv f. Kriminologie. 1916. Bd. 66. S. 289—312.)
471. Auer, G.: Verbrecher, — u. Strafen Während d. Krieges. (Archivf. Krimino
logie. 1916. Bd. 67. S. 133—48.)
472. Wulffen, E.: Geist d.-s. (Natur u. Gesellschaft. Berlin. III. 1916. 7. H.
S. 105—11, 125-30.)
473. Metelm ann: Kenntnis d. Verbrechersprache. (Strafrechtszeit., Deutsche.
Berlin. III. 1916. S. 405.)
Vergiftung
474. Heiduschka, A.: Merkwürdig. —sverfahren. (Zeitschrift f. öffentl. Chemie.
1916. S. 351.)
475. Jacoby, M.: Stud. z. allgem. —slehre. (Biochemische Zeitschrift. 1916.
Bd. 76. S. 275-96, 321-25. Bd. 77. S. 402, 405.)
Versicherung
476. Heine: Zur Frage d. —spflicht d. Fürsorge-[Zwangs-]Erziehungszöglinge.
(Centralblatt d. Reichsversicherung. 12. Jahrg. 1916. S. 752—57.)
Verständigung
477. Strafelia, Fr.G.: —.Geheime. (Archivf. Kriminologie. 1916. Bd.'67. S.69.)
Verwahrlosung (s. auch Jugend)
478. Roller, M.: Gegen d. — unserer Jugend. (Arbeit, Deutsche. Prag. XV
16. Jahrg. 1916. S. 98-108.)
479. Böhme, H.: Jugendl. im Kriege, Maßnahm. z. Verhütung u. Bekämpfung
d. —. (Jugendfürsorge, Die. Mitteil. d. deutsch. Zentrale f Jugendfürsorge.
Berlin. XI. 1916. S 3.)
480. O. A.: Zwangshort f d verwahrloste Schuljugend in Graz. (Monatsschrift
f. d. Kinderhortwesen. I. Charlottenburg. 1916. S. 179.)
481. Sellmann, A.: — d. Jugend. (Philologenblatt, Deutsches. [Früher: Korre¬
spondenzblatt f. d. akadem. gebildet. Lehrerstand.] 1916. S. 168.)
482. O. A.: Maßnahmen geg. die — d. 12—14j. Großstadtjungen. (Jugendfür¬
sorge, Die. Mitteil. d. deutsch. Zentrale f. Jugendfürsorge. Berlin. XI. 1916.
Nr. 2/3.)
483. Backhausen, W.: Beiträge d. evang. Liebestätigkeit z. Bekämpf, d. — u.
Kriminalität d. Jugend. (Jugendfürsorge, Die. Mitteil. d. deutsch. Zentrale
f. Jugendfürsorge. Berlin. XI. 1916. Nr. 4/5.)
252
Kriminalist. Aufsätze in deutschen Zeitschriften des Jahres 1916
484. Siegmund-Schultze, F.: Maßnahmen gegen — d. Jugend. (Monats¬
schrift f. d. Kinderhortwesen. I. Charlottenburg. 1916. S. 25—43.)
Warenhaus
485. Boas, K.: —Diebinnen, mit besond. Berücksicht, sexueller Motive. (Archiv
f. Kriminologie. 1916. Bd. 65. S. 103—32.)
Wasserzeichen
486. Lindekam, O.: — u. Urkundenfälschung. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
Bd. 67. S. 86-94.)
Wetter
487. Linke, F.: Meteorologie im Dienste d. Rechtspflege. (Umschau, Die. 1916-
S. 781-85.)
488. Brezina, E.; Schmidt, W.: Beziehung, zw. d. Witterung u. d. Befinden
d. Menschen auf Grund Statist. Erhebungen. (Anzeiger d. kgl. Akademie d.
Wissenschaften. Wien. Math.-naturw. Klasse, 51. Jahrg. 1916. S. 350.)
Whitman
489. Praetorius, N.: — s, W., Homosexualität, Streit um, im „Mercure de France*
u. d. „Archives d'anthropol. criminelle* 1913—14. (Zeitschrift i. Sexual¬
wissenschaft. III. Bonn, Marcus & Weber. 1916. S. 326 —39.)
Wiederaufnahmebegehr
490. Höpler, E. v.: — als Verbrechensmötiv. (Archiv f. Kriminologie. 1916.
Bd. 67. S. 223-30.)
Wiedererkennung
491. Bonsset, W.: —smärchen, Gesch. e. (Nachricht, d. kgl. Gesellsch. d. Wissen¬
schaft. zu Göttingen. Philolog.-histor. CI. (Jahrg. 1916.) S. 469—551.)
Zahn
492. Boas, K-: Was lehrt d. Inspekt. d. Zähne d. Kriminalisten? (Archiv f. Krimi¬
nologie. 1916. Bd. 66. S. 324— 32.)
493. Polzer, W.: Berufsmerkmale an d. Zähnen. (Archiv f. Kriminologie. Bd.67.
S. 114-22.)
Zauber
494. Helm, K.: —mittel, Häufungd. (Archiv, Schweizer.,f. Volkskunde. 20. Jahrg.
1916. S. 177-83.)
495. Schmidt, W.: —praktiken, Fall kausaler Priorität rationeller Zweckhandlung,
von irrationellen. (Anthropos. 1916. S. 274.)
496. Abels, A.: Gifthalt. ,—“-Mixturen als Aphrodisiaca. (Archiv f. Krimino¬
logie. 1916. Bd. 66. S. 226-88.)
497. Sommer, B.: Krieg u. —kunst. (Zeit, Die neue. Wochenschrift d. deutsch.
' Sozialdemokratie. 34. Jahrg. 1916. Nr. 21.)
498. Goldziher, Ignaz: —kreise. (Aufsätze z. Kultur- u. Sprachgesch., vor-
nehml. d. Orients. Ernst Kuhn gewidmet. München. 191 b. S. 83—86.)
Zeuge
499. Hofmann: Tätige Vorbereitung d. —n auf Vernehmung. (Strafrechtszeit.,
Deutsche. Berlin. III. 1916. S. 402.)
Zigeuner
500. Papus: Tarokspiel d. — im Lichte d. Geisteswissenschaft. (Prana. Leipzig.
VII. 1916. S. 63.)
501. O. A.: —dorf, Im serbisch. (Gartenlaube. 1916. Nr. 16.)
502. Lindenberg, P.: Bei den —n. Uber Land u. Meer. 58. Jahrg. 1916.
S. 434.)
503. O. A.: —romantik, Ende d. (Daheim. 52. Jahrg. 1916. Nr. 52.)
504. Lesny, V.: Lange Vokale in d. — dialekten. (Zeitschrift d. deutschen morgen¬
ländischen Gesellschaft. 1916. Bd. 70. S. 417—46.)
Hörigkeit.
Von
Dr. Erwein Höpler, Hofrat und Leitendem Ersten Staatsanwalt in Wien.
Der 21 Jahre alte Student der Medizin A. ist der Sohn eines
Kaufmanns und lebte bei seinen Eltern, die außer ihm noch zwei
erwachsene Söhne haben, in geordneten Verhältnissen. Er wird
als überaus fleißig und begabt geschildert, was auch durch seine
stets mit ausgezeichnetem Erfolge abgelegten Prüfungen und die
Angaben seiner Universitätsprofessoren bestätigt wird, die ihn als
selten begabten und verwendbaren Studenten bezeichnen. A. ob¬
lag jedoch nicht bloß seinem Berufsstudium mit großem Fleiß,
sondern wurde mit bestem Erfolge auch auf den Kliniken ver¬
wendet; durch einige Zeit war er als Hilfskraft dem Bezirksarzt
zugeteilt, der die regelmäßige ärztliche Untersuchung der unter
Aufsicht stehenden Schanddirnen durchzuführen hat. Außerdem
gab A. Privatstunden, deren Ertrag sein Taschengeld bildete.
Körperlich ist er schwächlich und klein, so daß er selbst im Kriege
nicht militärdiensttauglich wurde. Bis auf verhältnismäßig ge¬
ringe Auftritte mit seinem etwas nervösen Vater lebte er mit
seinen Familienangehörigen im besten Einvernehmen. Seine
Freunde schildern A. übereinstimmend als eine sehr nüchterne,
äbwägende, furchtsame, mitunter geradezu feige, dabei überaus sinn¬
liche Natur. A. nahm, wie einer seiner Freunde erzählt, gerne den
Mund recht voll, um sich bei drohendem Widerstand aus dem
Staub zu machen. Das weibliche Geschlecht schien ihm minder¬
wertig und nur zur sinnlichen Befriedigung bestimmt zu sein; mit
Vorliebe rühmte er sich seiner Erfolge bei Mädchen, wobei er stets
nur die sexuelle Seite betonte, und einer platonischen Zuneigung
nicht fähig schien. Im Alter von 18 Jahren hatte er wegen einer
Trippererkrankung Spitalsbehandlung genossen und hierbei einen
Kellner eines Nachtkaffees kennen gelernt, den er nach seiner
Genesung wiederholt aufsuchte, um von ihm „gute Tips“ zu er¬
halten. Hierbei sprach er über die einzelnen Mädchen in einer
Weise, die sogar dem Kellner unangenehm wurde.
Archiv für Kriminologie. 71. Bd.
18
254
Dr. Erwein Höpler
Um die Mitte des Jahres 1918 nahmen die Freunde bei A.
eine Veränderung wahr; er hatte ein Mädchen kennen gelernt, zu
dem er eine tiefe Neigung gefaßt zu haben schien. Wiederholt sprach
er im Freundeskreise über sein Liebesverhältnis, erklärte auch, er
wisse, das Mädchen sei oberflächlich und kokett, er könne aber
nicht von ihm lassen.
Die Beziehungen zu dem Mädchen wurden im Herbst 1918
intime und er pflegte regelmäßig einmal in der Woche, meist
nach einem gemeinsam gemachten Spaziergang in einem Hotel
mit seiner Geliebten einzukehren.
Im Winter 1918 begann A. eifersüchtig zu werden, was darin
seinen Grund hatte, daß das Mädchen Tanzstunden besuchte,
denen A., der nicht tanzte, fernblieb. Er ließ seine Geliebte über¬
wachen, doch konnte er auf eine Untreue picht kommen. Sein
Freundeskreis wußte von dem Verhältnisse ebenso wie seine Eltern,
und A. sprach von dem Mädchen als von seiner Braut.
Am 24. Jänner 1919 erhielt A. von dem Mädchen einen Ab¬
sagebrief, der folgende Vorgeschichte hatte: Gegen Mitte Jänner
begann A. dem Mädchen wegen angeblicher Vernachlässigung
seiner Person Vorwürfe zu machen, die nicht ohne Kränkungen
abliefen. Am 20. Jänner war das Mädchen mit A. nach einem
gemeinsamen Spaziergang wieder ins Hotel gegangen; dort hatte
A. seiner Geliebten abermals Vorwürfe gemacht und ihr erklärt,
sie sei ihm nicht mehr, wie alle anderen Frauen, ein Zeitver¬
treib, er schätze sie nicht höher als die anderen. Trotz dieser
schweren Kränkung zwang er die Widerstrebende zum Beischlaf.
Dieses Vorgehen löste den Brief aus, in welchem das Mädchen
versichert, es habe A. ehrlich geliebt, sehe sich schwer enttäuscht,
die Liebe sei in Haß verwandelt, seit er es wie eine Dirne behandelt
A. schien durch den Brief tief ergriffen zu sein; er zeigte ihn
seinen Freunden und äußerte Selbstmordgedanken. Einzelne'
suchten ihn zu trösten, andere trachteten eine Versöhnung herbei¬
zuführen. Zu diesem Zwecke wurde für den 25. Jänner eine Zu¬
sammenkunft, für den 26. Jänner (einen Sonntag) ein Rodelaus¬
flug besprochen, an dem A. sowohl als seine Geliebte teilnehmen
sollten. Beide fanden sich auch am Treffpunkt ein, doch kehrte A. um
und ging nach Hause, weil das Mädchen keine Freude über sein
Mitgehen zeigte. Eine Aussöhnung fand an keinem der Tage statt.
Am 26. Jänner ging A., nachdem er sich von der Rodel¬
gesellschaft getrennt, aus dem Dorfe und traf dort einen Freund
in der Begleitung eines Mädchens; er schloß sich den beiden an;
Hörigkeit
255
plötzlich erblickte er ein auffallend angezogenes, junges Mädchen;
mit den Worten: Die ist eigentlich sehr fesch! entfernte er sich
von seinen Begleitern und ging dem Mädchen nach. Nach kurzer
Zeit schon kam er mit der Unbekannten seinem Freund und dessen
Begleiterin entgegen. Nach einer flüchtigen Vorstellung gingen
die zwei Paare gemeinsam in ein Kaffeehaus, wo eine anregende
Unterhaltung über harmlose Dinge sich entwickelte. Um 4 Uhr
nachm, entfernte sich der Freund mit seiner Begleiterin und ver¬
sprach, um 6 Uhr wiederzukommen. Bei seiner Rückkehr traf er
weder A. noch die Unbekannte an.
Diese hatte, als sie mit A. allein war, sofort mit der Enthüllung,
ihres Lebensschicksals begonnen; sie erzählte von großem Ver¬
dienste in einem künstlerischen Erwerbe, schilderte A., wie un¬
glücklich sie sich infolge schwerer Krankheit und homosexueller
Veranlagung fühle und sprach schließlich eindringlich von ihrem
Lebensüberdruß und ihrem feststehenden fcntschluß, freiwillig aus
dem Leben zu scheiden. Durch dieses Vertrauen ließ sich A.
bewegen, auch sein Mißgeschick mit seiner Geliebten vorzubrin¬
gen, das auch in ihm Selbstmordgedanken ausgelöst habe. Die
Unbekannte nahm dies gierig auf, sprach eindringlich vom ge¬
meinsamen Sterben und brachte es schließlich dazu, daß A. ihr
ehrenwörtlich versprach, sie noch am gleichen Tage zu erschießen.
Über ihr Andringen fuhr A. in einem von dem Mädchen be¬
stellten und bezahlten. Auto nach Hause, um einen Revolver zu
holen; er sollte baldmöglichst die Unbekannte in deren Hotel
aufsuchen und erhielt zur Ermöglichung des Wiederfindens eine
bezahlte Rechnurig, aus der A. erst den vollen Namen des Mädchens
erfuhr. Zu Hause traf er seine Mutter, einen der Brüder und eine
bekannte Frau an. A. schien aufgeräumt, gegen sonst un¬
verändert, sprach mit der bekannten Frau scherzhaft über
sein Liebesverhältnis und den erhaltenen Abschiedsbrief
und entfernte sich nach kurzer Zeit mit dem Bemerken, sein
Freund erwarte ihn wieder und nahm einen seinem Bruder ge¬
hörigen Revolver mit. Im Hotel erwartete ihn bereits im Stiegen-.
hause die Unbekannte und führte ihn in ihr Zimmer; ihrem
Wunsch, sie dort zu erschießen, widersetzte sich A., worauf die
Unbekannte einige Abschiedsbriefe schrieb und dem herbeigerufenen
Stubenmädchen übergab; auch A. schrieb einen Abschiedsbrief an seine
Mutter; die Unbekannte verlangte nun von A., dieser möge in
ihrer Gegenwart mit dem Stubenmädchen Beischlaf pflegen und
A. versuchte auch dieser Aufforderung nachzukommen, wobei er
18 *
256
Dr. Erwein Höpler
auch eine ihm von der Unbekannten zu diesem Zwecke über¬
gebene 50 K Note anbot. Da das Stubenmädchen trotzdem bei
seiner Weigerung verblieb, entfernten sich A. und die Unbekannte
aus dem Hotel. Auf der Straße näherte sich A. über Aufforderung
seiner Begleiterin einer Straßendirne, mit welcher er ein Hotel
besuchte, während die Unbekannte, die zunächst hatte mitgehen
wollen, vor diesem Hause auf A. wartete.
Nach seiner Rückkehr sprach die Unbekannte den Wunsch
aus, A. möge an seine Geliebte telefonieren. Dies geschah auch;
A. rief das Mädchen auf und sagte: „Ich will mich von Dir ver¬
abschieden, ich erschieß mich jetzt“. Auf den Vorhalt, A. möge
keine schlechten Witze machen, rief die Unbekannte: „Ja Fräu¬
lein, es ist gar nicht lächerlich, wir machen das jetzt gemeinsam.“
Die weitere Frage des Mädchens, wer die Unbekannte sei, wurde
nicht beantwortet und das Gespräch abgebrochen.
Die Unbekannte nahm nun ein Auto auf, bezeichnete dem
Lenker als Ziel ein Krankenhaus, stieg mit A. ein und legte das
Fahrgeld in die Wagentasche.
Auf dem nur kurzen Wege zum Fahrziel setzte die Unbe¬
kannte, die links von A. saß, diesen unausgesetzt zu, endlich zu
schießen und warf dem Zögernden Feigheit und Wortbruch vor.
Kurz vor der Ankunft im Krankenhause gab A. zwei Schüsse ab;
den einen legte er an der rechten Gesichtsseite seiner Begleiterin
an, so daß diese schwer blutend auf sein Haupt sank, den zweiten
feuerte er gegen seine Brust ab.
Als die beiden Verletzten im Krankenhause übernommen
wurden, verlangte A. unter Hinweis auf seinen ärztlichen Beruf,
zuerst behandelt zu werden, wünschte verschiedene bekannte
Professoren zu seiner Behandlung beizuziehen und zeigte große
Angst vor dem Tode.
Das schwerverletzte Mädchen wurde als die 19 Jahre alte H. Z.
festgestellt. Die Schußwunde hatte das Gesicht knapp unter dem
Schädelraum durchdrungen, wobei das Geschoß in der rechten
Gesichtshälfte unter der Schläfe eingetreten und links im Kaumuskel
steckengeblieben war. Am 28! Jänner starb die Verletzte und die
gerichtliche Leichenöffnung stellte als Todesursache eitrige Hirn¬
hautentzündung, als Folge einer Infektion der Hirnhäute durch
das Geschoß, fest.
A. hatte eine die Lunge streifende, den Körper von vorn nach
rückwärts durchziehende Schußverletzung erlitten, die nach etwa
10 Wochen folgenlos verheilte.
Hörigkeit
257
Ober die Persönlichkeit der H. Z. wurde folgendes erhoben:
Sie ist die Tochter einer schwer nervösen Mutter, einer galizischen
Jüdin, und wird als überaus begabt und künstlerisch veranlagt ge¬
schildert; sie hatte das Mädchenlyzeum absolviert, hatte infolge
Zwistigkeiten das Elternhaus verlassen, wohnte zunächst bei einer
Verwandten, später unter falschen Namen in einem Hotel; sie war
als künstlerischer Beirat bei einem kunstgewerblichen Institute
angestellt, doch lebte sie weit über diese Erwerbsverhältnisse, tat¬
sächlich kam hervor, daß H. Z. gewerbsmäßig Warendiebstähl be¬
ging; hierbei half ihr eine Freundin, die vollkommen unter dem Banne
der H. Z. stand. Öiese hatte sich wiederholt gebrüstet, es sei ihr
gelungen, aus dem Mädchen, das eine Vorzugsschülerin gewesen
war, eine sittenlose Diebin zu machen, die das Studium hatte auf¬
geben müssen. H. Z. erzählte jedermann mit seltener Scham¬
losigkeit von ihren sittlichen Verfehlungen und von ihrer homo¬
sexuellen Veranlagung, wobei sie ihrer Freundin den Männer¬
namen „Peter“ beilegte.
Im Frühjahr 1918 war H. Z. durch etwa 4 Wochen in irren¬
ärztlicher Behandlung; die Krankengeschichte hebt vor allem ihre
besondere Scham- und Reuelosigkeit hervor, mit der H. Z. mit
Schamlosigkeit geradezu großtue. Ihre Bekannten schildern sie
als sprunghaft, heben ihre daseinszerstörende Weltauffassung und
die Tatsache hervor, H. Z. habe seit langer Zeit nach Jemanden
gesucht, der sie töten würde, da ihr selbst der Mut fehle, ihren
feststehenden Selbstmordgedanken auszuführen. Vor ihrem Tode
hatte sie, von einer Krankenschwester befragt, angegeben, der
junge Mann, den sie erst wenige Stunden gekannt, habe sie an¬
geschossen, nachdem sie lange auf ihn eingeredet und ihn hierzu
bestimmt habe. Die gerichtliche Leichenöffnung zeigte eine
schwere geschlechtliche Erkrankung der H. Z.
Dies der Sachverhalt; zu einer Anklage und Verhandlung
kam es nicht, da das Strafverfahren im Gnadenwege niederge¬
schlagen und eingestellt wurde. Es kam daher auch nicht zu
einer Begutachtung des Falles durch die Psychiater, was gewiß
von großen Interesse gewesen wäre. Der Fall kann daher heute
nur vom Laienstandpunkte beurteilt werden.
A. hatte bei seiner ersten gerichtlichen Vernehmung, die nach
Eintritt seiner Vemehmungsfähigkeit vorgenommen wurde, den
Sachverhalt vollkommen klar bis in alle Einzelheiten geschildert;
er hatte das Zusammentreffen mit H. Z. mit dem Wunsche, in
seinem Liebesschmerz Trost durch leichte Unterhaltung zu suchen,
258
Dr. Erwein Höpler
begründet. Einige Zeit nach dieser Vernehmung schrieb er an
den Untersuchungsrichter einen Brief, in dem er behauptet, seine
Angaben nur auf Grund einer Reproduktion eines Gespräches
mit seiner Mutter gemacht zu haben, über die Einzelheiten der
Tat und deren kurze Vorgeschichte jedoch keine genaue Erinne¬
rung zu haben. Diese Behauptung, hielt A. auch später aufrecht
trotz des Vorhaltes deren Unglaubwürdigkeit; tatsächlich ist es
. nicht zu erklären, woher A. die in alle Einzelheiten gehende rechte
Darstellung hätte reproduzieren können, die — soweit dies mög¬
lich war — durch die Aussagen des Stubenmädchens, des Auto-
kutschers und der von A. aufgeläuteten Geliebten als richtig fest¬
gestellt wurde. Eine Vernehmung der schwer kranken H. Z. war
nicht möglich, weder A., noch dessen Mutter hatten Gelegenheit,
mit H. Z., die doch außer A. die einzige Zeugin der fraglichen
Ereignisse war, über die Sache zu sprechen und die wenigen von
H. Z. der Krankenschwester gegenüber gemachten, oben wieder¬
gegebenen Äußerungen, können für die Reproduktion unmöglich
hinreichen.
Es rückt nun die Frage näher, ob A. die Tat mit eigenem
Willen nur über Anstiften der H. Z. begangen hat, oder ob er
unter einem geradezu krankhaften Einflüsse den tödlichen Schuß
abfeuerte.
Eine Hypnose ist wohl auszuschließen und A. behauptet eine
solche auch gar nicht; es wäre ihm eine Hypnotisierung wohl
auch kaum entgangen.
Es könnte sich noch darum handeln, ob nicht die Annahme
einer Wachsuggestion gerechtfertigt ist.
Vielleicht sind in dieser Richtung auch noch folgende Beweise
verwertbar:
A. ging nie mit Waffen um; als im Herbst 1918 sein' beim
Militär dienender Bruder zu Hause mit einem Revolver hantierte,
begab sich A. aus Furcht in das weitgelegenste Zimmer der
Wohnung.
Ein Universitätskollege A.s erzählt, er habe ihn einmal mit
größter Leichtigkeit hypnotisiert.
A. wird von einzelnen Freunden als willensschwach bezeichnet
und ist nach dem Vorgesagten zweifellos charakterlogisch min¬
derwertig zu nennen. Hierfür spricht auch die von einer Labo¬
rantin bestätigte Tatsache, daß A. ihr davon erzählt habe, seine
Braut habe sich vergiftet und daß er um die gleiche Zeit vom
Begräbnis des Mädchens sprach, als er anderen gegenüber, Selbst-
Hörigkeit
259
mordgedanken wegen des Abschiedsbriefes äußerte. Auch am
24. Jänner hatte er im Freundeskreis von Selbstmordabsichten ge¬
sprochen; die Freunde zogen die Sache ins Spaßhafte, indem sie
erwähnten, die Geschiche sei schmerzhaft, A. möge warten, bis
genügend Geld zu einem Kranz beisammen sei u. ähnl. Schlie߬
lich wurde davon gesprochen, einen Selbstmord vorzutäuschen
und etwa an der Naje vorbeischießen und A. schien sich mit
diesem Gedanken zu befreunden.
A. hat sich daher vor seinen Zusammentreffen mit H. Z. mit
dem Gedanken eines Selbstmordes scheinbar nicht allzu ernst be¬
faßt, was ja nach seinem Benehmen der Geliebten gegenüber
verständlich ist. A. hat doch den Abschiedsbrief durch schwere
Kränkung des Mädchens selbst veranlaßt, was gegen das Vor¬
handensein einer echten tiefen Neigung spricht. Er hat auch trotz
der ihm gegeberien Möglichkeit nichts getan, um diese Kränkung
zu mildern oder wett zu machen.
A. hat also mit dem Selbstmordgedanken wohl nur gespielt
und trat in dieser Stimmung der sehr willensstarken H. Z. ent¬
gegen, die— wie sie sich rühmte — eine brave Freundin hörig
gemacht und auf die Bahn des Verbrechens geführt hatte. Daß H.
Z. die Führung über A. nach so kurzer Zeit erlangt haben muß,
ergibt sich aus den Aussagen des Hotelstubenmädchens, dem In¬
halt des telefonischen Gesprächs mit der Braut A.s und den Mit¬
teilungen des Autolenkers.
Gegen eine Wachsuggestion spricht m. E. vor allem die Tat¬
sache, daß zwischen der Anstiftung zur Tat und deren Verübung
ein immerhin längerer Zeitraum liegt, den A. außerhalb der Ein¬
flußsphäre der H. Z. bei seinen Angehörigen in seiner Wohnung
verbrachte und in dem er nicht die geringsten Spuren einer krank¬
haften Beeinflussung zeigte, obwohl von seinem unglücklichen
Liebesverhältnis gesprochen wurde.
Es liegt daher wohl nur eine durch die intensive Willenskraft
der H. Z. hervorgerufene Hörigkeit vor, welche bei A. die Straf¬
tat auslöste. .
Zwei Fälle von Kindermißhandlung.
Von
Dr. Paul Siegfried, Erstem Staatsanwalt in Basel.
I.
Der Titel dieses Aufsatzes spräche besser von Kindestötungen;
ich habe ihn aber gewählt, weil ich die Anregung zu dieser Arbeit
erhalten habe durch die Darlegungen, die v. Höpler im 3./4. Hefte
des 69. Bandes dieser Zeitschrift auf Seite 223ff. „über Kinder¬
mißhandlung“ veröffentlicht hat. Zu Beginn dieses Aufsatzes
spricht er die Bitte aus, seine Arbeit dadurch zu fördern, daß ihm
— am besten durch Veröffentlichung in diesen Blättern — mög¬
lichst viel andere Prozesse dieser Art zur Verfügung gestellt werden.
Das freundliche Entgegenkommen des Herausgebers dieser Zeit¬
schrift macht es mir möglich, zu meinem bescheidenen Teil etwas
an die Erfüllung dieses Ersuchens beizutragen, indem ich im
folgenden zwei Fälle veröffentliche, die in dieses Gebiet gehören,
zum Teil allerdings darüber hinausgehen. Zu ihrer Darstellung
glaube ich mich deshalb für befähigt erachten zu dürfen, weil ich
sie nicht nur aus den Akten, sondern aus eigenster Anschauung
kenne. Ich hatte mich mit ihnen als Untersuchungsrichter zu be¬
fassen, in einer Stellung also, die weitaus tiefere Einblicke ge¬
währt, als sie dem Richter, dem Staatsanwalt, dem Verteidiger,
ja vielleicht sogar dem Beschuldigten selbst gegeben sind. Zwar
ist seit jener Zeit schon rund ein Jahrzehnt verflossen; allein da
beide Fälle zu den größten und eindrucksreichsten gehörten, die
ich als Untersuchungsrichter je zu bearbeiten hatte, führte mich
jetzt jede Seite jener schon jahrelang mir nicht mehr zu Gesichte
gekommenen Akten wieder so vollständig in das damals Miterlebte
zurück, daß ich diese Zeilen aus ungetrübter und frischer Erinne¬
rung niederschreibe.
Die seither im Dienste der Verbrecherverfolgung erworbene
Erfahrung läßt allerdings den Verfasser das eine oder andere
Zwei Fälle von Kindermifihandlung. Der Fall P.
261
heute anders als damals betrachten, wie mir denn erst während
der Abfassung dieser Arbeit so recht klar geworden, wie wertvoll
es für jeden Kriminalisten ist, eine von ihm selbst vor Jahren
geführte Untersuchung eines Tages wieder vorzunehmen, sie mit
der durch die zeitliche Trennung bewirkten Sachlichkeit fast wie
das Werk eines andern zu betrachten und sich selbst die Frage
zu beantworten, ob einem alles damals Angeordnete auch jetzt
noch als richtig erscheint und was man heute anders ansehen
oder anfassen würde.
1. Der Fall P.
Montag den 15. Juli 1907, vormittags erstattete ein im Hause
S.straße 62 in B. wohnhafter Handwerker bei der Abteilung für
Strafsachen des Polizeidepartementes, der die erste Verbrechens-
verfolguiy* obliegt, die Anzeige, es sei am Abend des Samstags
13. Juli ein Kind plötzlich gestorben,. das bei der im gleichen
Hause wohnhaften Familie P. untergebracht gewesen sei; da dieses
Kind von seiner Pflegemutter Frau P. beständig schwer mißhandelt
worden sei, gehe sein Tod möglicherweise auf- diese Mißhand¬
lungen zurück. Die alsobald durchgeführten polizeilichen Vor¬
untersuchungen waren für Frau P. dermaßen belastend, daß sie
deren Verhaftung noch am gleichen Tage nach sich zogen. Am
16. Juli wurde gegen Frau P. und ihren Mann die richterliche
Voruntersuchung wegen fahrlässiger Tötung, eventuell wegen
Mordes, eröffnet und dem Verfasser übertragen.
Diese Untersuchung ergab folgendes:
Johann Ulrich P., gebürtiger Schweizer, geboren 1880, also
damals 27 Jahre alt, von mäßiger Volksschulbildung, erlernte
keinen Beruf und betätigte sich nach Schulentlassung an ver¬
schiedenen Orten der Schweiz als Verkäufer, Hausdiener, Hotel¬
portier und in ähnlichen, häufig wechselnden Stellungen.
Im März oder April 1904 knüpfte er in Z. mit Emilie B.,
seiner nachmaligen Frau, ein Verhältnis an und verkehrte ge¬
schlechtlich mit ihr, verlor sie dann aber, wohl wegen seiner und
der B. unsteten Lebensweise, vorläufig wieder aus den Augen.
Emilie B., die spätere Frau P., wurde am 9. September 1884
in einem elsässischen Vororte B.s als Tochter reichsdeutscher
Eltern des untern Bürgerstandes geboren; zur Zeit der Tat war
sie demnach 23 Jahre alt. Mit 17 Jahrea verließ sie das elter¬
liche Haus, wo sie eine ordentliche Erziehung scheint erhalten zu
haben; sie hatte die gewöhnlichen Volksschulen besucht, ohne sich
262
Dr. Paul Siegfried
angeblich irgendwie günstig oder ungünstig auszuzeichnen. Zu¬
erst versah sie verschiedene Stellen als Kellnerin oder Magd in
der Stadt B.. Die Erkundigungen, die an diesen Orten eingezogen
wurden, als sie bereits unter der Beschuldigung des Mordes in
Untersuchungshaft saß, ergaben, daß sie von ihren Arbeitgebern,
soweit sie sich noch an sie erinnern konnten, als frech, lügen¬
haft, diebisch, gleichgültig, störrisch, leichtsinnig, flüchtig in der
Arbeit, mannssüchtig bezeichnet wurde. Solche unter den eben-
bemeldeten Umständen abgegebenen Zeugnisse haben nun aller¬
dings wenig Wert, wenn ihnen andere, günstige entgegenstehen.
Hier war das aber nicht der Fall, und zudem erwies sich in der
Untersuchung das durch diese Zeugnisse gezeichnete Charakter¬
bild der Frau P. als richtig. Namentlich zeigte es sich, daß sie
in bezug auf Arbeitsorte mehrmals, und wohl nicht immer un¬
absichtlich, falsche Angaben gemacht hatte. FestgestellUst ferner,
daß die P. in dieser Wanderzeit während zwei Jahren ihren Eltern
keine Nachricht zukommen ließ.
Nicht lange, nachdem P. der Emilie B. vorläufig entschwunden
war, scheint sie ein anderes Verhältnis eingegangen zu haben:
am 8. September 1905 gebar sie in L. das Kind Hedwig. Von
dessen Dasein erhielten ihre Eltern erst bei ihrer Verheiratung,
zwei Jahre später, Kenntnis. Die B. gab als den Vater dieses
Kindes nicht den P., sondern einen F. an, mit dem sie in Z.
Verkehr gehabt habe. Allerdings behauptete sie dann später auch
wieder die Vaterschaft des P., wenn es ihr paßte. So legitimierte
denn P. bei der spätem Verheiratung das Kind Hedwig als sein
eigenes; er scheint auch Liebe zu ihm gehabt zu haben, obschon
er über seine Vaterschaft zum mindesten stark im Zweifel sein
mußte.
In Z., woselbst die B. ihrem spätem Manne zuerst begegnete
und wo sie wiederum an verschiedenen Orten als Kellnerin arbeitete,
scheint sie ausschweifend gelebt zu haben. Sie wurde wegen
»Anlockung zur Unzucht“ verhaftet und am 2. Dezember 1904
für fünf Jahre aus dem Kanton ausgewiesen. Gegen diese Ma߬
nahme scheint sie sich zweimal verfehlt zu haben, denn am
4. August und am 1. September 1905 wurde sie vom Bezirks¬
gericht wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen das
erstemal mit einer Woche, das zweitemal mit drei Wochen Ge¬
fängnis bestraft. . •
Im Jahre 1905 finden wir sie dann in L. Der dortigen Sicher¬
heitsbehörde scheint ihr übler Ruf bekannt gewesen zu sein; sie
i
Zwei Fälle von Kindermißhandlung. Der Fall P. 263
wird in einem späteren Polizeibericht als „bekannte Dirne“ be¬
zeichnet, die sich nun mit dem „hier als Zuhälter bekannten“ P.
verheirate.
Im Jahre 1906 hatte nämlich P. in L. die Emilie B. wieder
getroffen. Sie erzählte ihm, daß sie von ihm ein Kind, die Hed¬
wig, bekommen habe, und so kam es am 21. Januar 1907 zur
Heirat, wobei, wie bereits bemerkt, P. die Hedwig als voreheliches
Kind legitimierte. Von Anfang an hatten die Eheleute ihren Wohn¬
sitz in B., S.straße 62. Bei ihnen war das Kind Hedwig. P., im
Anfang der Ehe arbeitslos, bekleidete vom 1. April 1907 an in
einem Gasthof die Stelle des Portiers.
Doch bald bekam die kleine Familie Zuwachs: das bedauerns¬
werte Kind, das den Gegenstand dieser Darstellung bildet.
Im Sommer 1904, also kurz nachdem er die Emilie B., seine
nachmalige Frau, verlassen, hatte nämlich P. eine Flora Sch. ge¬
schwängert, die mit ihm in einem Gasthof der Innerschweiz an¬
gestellt gewesen war. Die Sch. gebar am 11. Juni 1905 einen
Knaben; er erhielt den Namen Alois. P. hatte sich damals als
seinen Vater bekannt; in der Untersuchung N behauptete er dann
allerdings, er sei schon zu jener Zeit hierüber nicht ganz sicher
gewesen, indem er Anhaltspunkte dafür gehabt habe, daß sich die
Flora Sch. zur kritischen Zeit auch mit andern abgegeben. Von
ihr wurde dies immer mit Entschiedenheit bestritten: sie habe nie
mit einem andern Manne als mit P. zu tun gehabt. Die Zweifel
des P. an seiner Vaterschaft scheinen nach der Geburt des Alois
keineswegs stark gewesen zu sein, indem es zu einer Verlobung
des P. mit der Flora Sch. kam. Sie löste sich aber wieder, an¬
geblich erst im letzten Augenblicke vor dem Standesamt, nach P.
hauptsächlich wegen falscher Angaben der Sch. über Alter und
Vermögen, nach ihr, die solche falsche Angaben bestreitet, ohne
triftigen Grund. Im März 1907 beschuldigte dann die Sch. den
P, des Betruges, indem sie ihn bezichtigte, ihr unter der unwahren
Angabe, er wolle sie heiraten, Geld abgelockt zu haben. Die
Anzeige wurde wegen Inkompetenz abgewiesen und die Sch. kam
nicht mehr auf die Sache zurück.
P. kümmerte sich in der Folgezeit um das Kind Alois nicht
und zahlte nichts an das Kostgeld; infolgedessen wurde der kleine
Alois von einer in seinem Geburtsort wohnenden Frau, bei der
er zuerst verkostgeldet gewesen, w.eggenommen und in das Waisen¬
haus seiner Heimatgemeinde verbracht. Dann kam er Ende De¬
zember 1906 zu dem Stiefbruder seiner Mutter, einem Alois v. A. in R.
264
Dr. Paul Siegfried
Die Mutter Flora Sch., die immer in auswärtigen Dienststellen
ihrem Gewerbe nachging, sah das Kind fast nie; nach ihren eigenen
Angaben hat sie es während seines ganzen Lebens nur vier Wochen
lang gepflegt: im Jahre 1907, als sie sich krankheitshalber bei
ihrem Stiefbruder in R. aufhielt. Aber auch dieser, Alois v. A.,
wollte das Kind nicht behalten, nachdem ein heftiger Briefwechsel
des v. A. mit P., der diesen zur Erfüllung seiner Alimentations¬
pflicht hätte bringen sollen, ergebnislos gewesen war. So brachte
denn v. A. den kleinen Alois am 19. Mai 1907 kurz entschlossen
zu P. nach B., erklärte, er könne das Kind nicht mehr länger be¬
halten und ließ es einfach da, ohne sich um alles weitere zu be¬
kümmern, indem er schleunigst wieder abreiste. Frau P. erklärte
sich einverstanden, das Kind Alois zu behalten und es mit ihrem
eigenen — Hedwig — aufzuziehen.
Dies die bei näherer Überlegung geradezu grauenvolle Um¬
gebung, in die das zweijährige uneheliche Kind nun hinein¬
gestellt war.
Seine leibliche Mutter und deren Verwandte bekümmern sich
nicht im mindesten um sein Wohl; später in der Untersuchung
erklärt sogar die Mutter, sie habe von der Verbringung ihres
Kindes zu P. nichts gewußt und den Tod des Alois habe sie erst
Monate nachher erfahren! Der durch und durch leichtsinnige und
gleichgültige P., der ebenso wenig sicher ist, der Vater der Hed¬
wig als des Alois zu sein, unterlaßt es, das neu -in seinen Haus¬
halt gekommene Knäblein bei der Polizeibehörde anzumelden.
Er scheut die kleine Mühe, die hierzu notwendigen Schriften des
Kindes zu beschaffen, wenn man aus dieser Unterlassung nicht
den furchtbaren, aber durch die Untersuchung nicht genügend
erwiesenen Verdacht schöpfen will, er habe damals schon geplant,
was seine Frau dann so gräßlich ausführte.
Es sei hier vorweggenömmen, daß die gegen den Ehemann P.
wegen Mitbeteiligung an dem Verbrechen seiner Frau durchgeführte
Untersuchung trotz den von jener gegen ihn erhobenen Anschuldi¬
gungen zu keinem Ergebnis führte. Wohl konnte es als erwiesen
erachtet werden, daß ihn mehrmals Hausbewohner auf die im
folgenden darzustellende Behandlung aufmerksam machten, die
seine Frau dem Knaben angedeihen ließ. Allein er konnte es als
glaubhaft erscheinen lassen, daß er sie immer darüber zur Rede
stellte. Allerdings gab er sich dann stets mit den leeren Aus¬
reden seiner Frau zufrieden. Auch die Behauptung der Frau P.
ist unbewiesen, sie habe ihn mehrmals gebeten, er solle doch das
Zwei Fälle von Kindermifihandlung. Der Fall P. 265
Kind anderswohin tun, sonst gebe es noch etwas Dummes, er
habe sie aber immer au! später vertröstet. So konnte ihm zwar
eine moralisch unverantwortliche Gleichgültigkeit nachgewiesen
werden, aber ein verbrecherischer Tatbestand nicht, und gar für
eine tätige Beteiligung an den Mißhandlungen war außer mehr
oder weniger bestimmten Behauptungen seiner Frau kein An¬
haltspunkt vorhanden. Von Anfang an erschien er auch deshalb
weit weniger belastet, weil sein Beruf ihn von morgens früh bis
abends spät stets außer dem Hause hielt. Frau P. wurde des¬
halb allein dem Strafgericht überwiesen.
Die gegen sie geführte Untersuchung ergab keine bestimmten
Beweise dafür, daß Frau P. den Knaben von Anfang an haßte und
ihm schon damals nach dem Leben trachtete; es war wohl so,
wie sie einmal dem Untersuchungsrichter sagte, daß sie das ihr
aufgedrungene Kind zwar nicht mit Freude, doch gleichmütig in
ihre Haushaltung aufnahm,.im Gedanken, ob sie nun ein Kind
habe oder deren zwei, das komme aufs gleiche heraus. Immer¬
hin scheint sie nichtdie Absicht gehabt zu haben, das Kind dauernd
zu behalten: es geht dies aus einer von einer Zeugin berichteten
Äußerung hervor. Frau P. sagte nämlich dieser Zeugin wahr¬
heitswidrig, das Kind gehöre einem Bruder ihres Mannes; die
Mutter sei gestorben und der Vater krank in einem Spital.
Aber was dem Kinde zum Verhängnis gereichte, war folgendes.
Alle Zeugenaussagen — sogar die seiner leiblichen Mutter —
stimmen mit Frau P. darin überein, daß das im übrigen wohl ge¬
bildete, gesunde und zutrauliche Kind in hohem Grad unreinlich
war und beständig das Zimmer und sein Bettchen beschmutzte.
Darüber geriet die Pflegemutter, die sich häufig zu Hausbewohnern
und Besuchern in den rohesten Ausdrücken über diese Eigen¬
schaften des Alois äußerte und die übereinstimmend als eine leicht
erregbare Frau geschildert wird, jeweilen in unmäßigen Zorn, und
dieser ging bald in einen bleibenden Haß gegen das Kind über,
dem sie oft den unverhohlensten Ausdruck gab.
ln stärkstem Gegensatz zu dem liebreichen Benehmen, das
sie allezeit ihrem eigenen Kinde gegenüber an den Tag legte, be¬
gann sie bald den kleinen Alois auf die scheußlichste Weise zu
mißhandeln.
Nicht nur fuhr sie das Kind häufig mit harten und lieblosen
Worten an, nicht nur weigerte sie sich, als einmal Alois ziemlich
stark unpäßlich war, den Arzt herbeizuziehen und holte nicht ein¬
mal das ihr von Bekannten angeratene Mittel in der Apotheke,
266
Dr. Paul Siegfried
iricht nur nahm sie ihn fast nie zu den Gängen ins Freie mit,
die sie mit ihrem eigenen Kinde unternahm, so daß der Knabe
stundenlang allein war und weinte: £ie schlug und mißhandelte
den kleinen Knaben — meist wenn er wieder unreinlich gewesen
war — von Tag zu Tag mehr.
Das unschuldige und wehrlose Kind erlebte eine fürchterliche
Leidenszeit. Wie sich in der Untersuchung herausstellte, hörten
die Hausbewohner täglich dessen Schreien, sei es, daß es stunden¬
lang allein gelassen, sei es, daß es unmenschlich geschlagen
wurde. Einzelne sagten aus, sie hätten gehört, wie die P. das
Kind gleich einem „Mehlsäckli“ fortschleuderte. Und dies, trotz¬
dem Frau P. das Kind wohl überlegend in solchen Augenblicken
in ein Zimmer zu bringen pflegte, von wo aus sein Geschrei nicht
so deutlich hörbar war, wie sie es überhaupt so viel als möglich
den Blicken der Hausbewohner entzog. Mehrmals hielt sie auch
das gänzlich nackte Kind während langer Zeit unter das laufende
kalte Wasser.
Daß sie, wie einige Hausgenossen vermuteten und wie Frau
P. selbst auch einer Mitgefangenen später bekannt haben soll,
das Kind auch hungern ließ, nahm zwar das Urteil als erwiesen
an; es spricht sogar davon, sie habe es „halb verhungern“ lassen.
Doch liegt m. E. ein genügender Beweis hierfür nicht vor.
Die körperliche Abnahme des Knäbleins kann ebensogut einzig
durch die Mißhandlungen und durch die schlechte Pflege herbei¬
geführt worden sein.
ln der letzten Zeit — ungefähr drei Wochen vor seinem
Tode — hörte man das Kind wenig mehr schreien, und nur mit
heiserer Stimme. Während es bei seiner Ankunft in B. schöne
rote Wangen gehabt, war es jetzt sehr mager und bleich, über¬
haupt weit heruntergekommen; während es zuerst sehr zutraulich
gewesen, war es jetzt ganz verschüchtert. Es hatte sichtlich Angst
vor seiner Pflegemutter; ja es zitterte vor, ihr.
Nach zwei Monaten war das Marterwerk zu Ende; am
13. Juli 1907 trat der Tod des kleinen Alois ein. Ein namenloses
Grauen steigt aus den alten Akten empor, da, wo sie vom Sterben
dieses unglücklichen Kindes reden, wie es in seinem Bettlein liegt,
mit verbundenem Kopfe, Schaum vor der Nase und erbrochene
Milch vor dem Munde.
Der Vater P. steht erschrocken an diesem Sterbebett; ein¬
dringlich will er damals seine rührungslose Frau befragt haben,
was sie gemacht habe, wobei sie schon damals mit der Ausrede
Zwei Fälle von Kindermißhandlung. Der Fall P. 267
antwortete, die Verwundung am Kopfe, die sie mit Tüchern um¬
wunden hatte, wohl um die Aufmerksamkeit noch mehr auf sie
zu lenken, komme vor einem vor zehn Tagen erlittenen Falle her.
Das gleiche erzählt sie dem Arzt, den ihr Mann, nicht etwa sie,
zu ,d«n bereits gestorbenen Kinde gerufen hat. Aber der Arzt
erkannte, daß die Verletzungen frisch waren. Er argwöhnte jedoch
kein Verbrechen und unterließ deshalb eine Anzeige. Wie an¬
fangs gesagt, wurde dann durch einen Hausgenossen das Ein¬
greifen der Behörden herbeigeführt.
Die unter dem Namen der „kleinen Wundschau“ zusammen¬
tretende, damals aus dem stellvertretenden Gerichtsarzt und dem
Professor der pathologischen Anatomie an der Universität be¬
stehende ärztliche Kommission nahm die Leichenöffnung vor.
Sie stellte dabei sehr zahlreiche äußere und mehrere innere Ver¬
letzungen fest, nämlich Blutunterlaufungen und Schürfungen an
den verschiedensten Teilen des Körpers, die von Einwirkung
stumpfer, nicht sehr heftig wirkender Gewalt herrührten, darunter
auch zwei Blutunterlaufungen an den Armen, die nach ihrer
Anordnung wahrscheinlich Fingerabdrücke waren. Ferner waren
die 6., 7., 8. und 9. Rippe links gebrochen, an der Bruchstelle
der 7. Rippe das Brustfell eingerissen, beide Nieren klaffend zer¬
rissen, die rechte Nebenniere, die Gekrösewurzel und das vor und
neben der Wirbelsäule liegende Bindegewebe blutig durchsetzt.
Diese letztbeschriebenen Verletzungen waren nach dem Gutachten
der Kommission durch sehr intensiv einwirkende stumpfe Gewalt
zustande gekommen. Sämtliche Verletzungen waren frisch und
erst kurze Zeit vor Eintritt des Todes entstanden.
Die „kleine Wundschau“ kam zum Schlüsse, daß der Tod
infolge von sogenanntem „Chok“ eingetreten sei, verursacht durch
starke Kontusion des Bauches, wie dies oft bei Stößen oder
Schlägen gegen die Magengegend oder den Unterleib vorkomme.
Bei den ausgedehnten Rissen der Nieren waren nämlich nur ganz
geringe Blutungen vorhanden; die ärztlichen Sachverständigen
folgerten daraus, daß der Tod ganz kurze Zeit nach dem Zu¬
standekommen der Nierenrisse eingetreten sei.
Bei seiner ergänzenden Einvernahme durch den Untersuchungs¬
richter sprach sich Professor H. dahin aus, daß die Rippen- und
Nierenverletzungen durch stumpfe Gewalt zustande gekommen
sei; welcher Art diese Gewalt gewesen sei, das sei ungewiß.
Doch sei es recht unwahrscheinlich, daß es nur Schläge mit der
Hand waren. Todesursache sei Chok; hätte dieser nicht den
268
Dr. Paul Siegfried
Tod bewirkt, dann wäre er wegen der sehr schweren Nierenver-
letzungen eingetreten.
Bestimmter äußerte sich der stellvertretende Gerichtsarzt Dr. Sch.:
Der den Tod verursachende Chok sei durch dieselbe Gewaltein¬
wirkung zustandegekommen wie die Rippenbrüche und Nieren¬
risse. „Welcher Art diese Gewalt war, dafür bietet die Leichen¬
öffnung keine Anhaltspunkte. Rein auf dem Wege der logischen
Folgerung kommt man allerdings zu dem Schlüsse, daß mög¬
licherweise auf dem Kinde mit Füßen herumgetreten wurde, während
es am Boden lag.“
In der Untersuchung hielt Frau P. zunächst die Darstellung
aufrecht, die sie beim Tode des Kindes ihrem Manne und dem
Arzte gegeben; nach wie vor bezeichnete sie als Todesursache
einen Fall, den Alois am 10. Juli von der Treppe und einen
zweiten, den er am 13. Juli von einer Kommode im Zimmer
herab mit dem Kopf auf ein Glätteisen getan habe; sie fügte bei,
Alois sei immer ein ungeschicktes Kind gewesen, das öfters um¬
fiel oder anstieß und sich auf diese Weise häufig selbst beschädigte.
An diese Erklärung klammerte sich die Angeschuldigte fast während
der ganzen Untersuchung; erst am 20. August 1907 legte sie dem
Untersuchungsrichter ein Geständnis ab, bewogen wohl durch die
unterdessen gesammelten erdrückenden Beweisergebnisse, die ihr
nun vorgehalten wurden.
Das Kind sei sehr unreinlich gewesen, damit eröffnete sie ihr
Geständnis. Deshalb habe sie sehr oft und in stets wachsendem
Maße der Zorn übermannt. Wenn das Kind wieder den Boden
verunreinigt, habe sie sich manchmal vor Wut gar nicht mehr
gekannt und es wirklich ganz unvernünftig geschlagen. „Ich
bekam ganz einen Ekel vor dem Kind und konnte es nicht mehr
sehen. Ich bat deshalb mehrmals meinen Mann, er möchte doch
um Gotteswillen das Kind anderswohin tun, sonst gebe es noch
etwas Dummes. Er vertröstete mich immer auf später.“ Es sei
möglich, gab sie nun zu, daß sie dem Kinde die Verletzungen
zugefügt habe, die seinen Tod herbeiführten. Aber sie bestritt
auch jetzt des Entschiedensten, jemals die Absicht gehabt zu
haben, das Kind zu töten. Sie gab nichts zu als Schläge mit
den Händen; nicht Schläge mit Gegenständen, nicht Stoßen, nicht
treten mit den Füßen. Das letztemal habe Sie das Kind am
12. Juli, am Tag vor seinem Tode, ganz außergewöhnlich heftig
geschlagen im Bettlein, das es eben wieder verunreinigt hatte.
„Ich glaube sagen zu dürfen,“ heißt es dann in den Akten, „daß
Zwei Fälle von Kindermifihandlung. Der Fall P. 269
ich nicht, recht bei mir war, wenn ich jeweilen in so großem
Zorne das Kind mißhandelte.“
Als der Verfasser dieses Protokolles es nach mehr als zehn
Jahren zum ersten Male wieder las, da fiel ihm diese Wendung
auf: „Ich glaube sagen zu dürfen“. So, wie mir Frau P. noch
deutlich in Erinnerung steht, auch ihrem ganzen Bildungsgrade
nach, hat sie sich ganz gewiß nicht auf diese Weise ausgedrückt.
Dem Sinne nach wohl, aber diese Worte hat sie sicherlich nicht
gebraucht.
Es handelt sich hier nicht um eine Kleinigkeit, wie es auf
den ersten Blick scheinen möchte. Zwar hatte in diesem Falle
die Ungenauigkeit nicht viel zu sagen, da sie meines Erinnerns
keinerlei Erörterungen oder gar Schwierigkeiten in der Hauptver¬
handlung nach sich zog. Doch sind mir andere Fälle bekannt,
da solch eine Stelle, von einem gewandten Verteidiger aufgegriffen,
vor Gericht der Anklage die größten Ungelegenheiten verursacht
hat. Bei uns, da alles in der Mundart verhandelt wird und des¬
halb der Nidderschrift jeweilen eine Übersetzung ins Schriftdeutsche
voranzugehen hat, hat man sich doppelt vor solchen Verstößen zu
hüten, die im Drange der Verhöre so leicht Vorkommen können,
und jeder Untersuchungsrichter tut klug daran, wenn er sich
die Mühe und den Zeitaufwand nicht verdrießen läßt, die eine
ganz sorgfältige Abfassung des Protokolles von ihm verlangt.
Am 24. August 1907 verfügte der Untersuchungsrichter die
Überführung der P. in die Irrenanstalt zur Beobachtung ihres
Geisteszustandes, eine Maßnahme, die man hier wie wohl auch
anderwärts bei solch schweren Fällen immer zu treffen pflegt,
unabhängig davon, ob der Beschuldigte'den Verdacht auf Geistes¬
krankheit erweckt hat oder nicht. Bei Frau P. war das in keiner
Weise der Fall gewesen. Am 23. September wurde sie wieder
ins Untersuchungsgefängnis zurückgebracht, und am 26. September
ging das psychiatrische Gutachten ein.
Dieses Schriftstück gibt zunächst einen Auszug der Akten
und berichtet dann über das Verhalten der P. während der Be¬
obachtungszeit. Aus diesem Berichte sei hervorgehoben, daß die
P. auch nach Ansicht des Psychiaters keine wirkliche Reue zeigte
Und daß ferner zweifelsfrei festgestellt wurde, daß Frau P. während
der Beobachtung eine Ohnmacht simulierte. Auch stellte sie sich
bei der Prüfung ihrer Schulkenntnisse absichtlich unwissender, als
sie in Wirklichkeit war.
Im wesentlichen sagt das Gutachten, die P. sei von den Groß-
Archiv für Kriminologie. 71 . Bd. 19
270
Dr. Paul Siegfried
eitern her nicht unbedeutend erblich belastet und zeige deutlich
degenerative Züge. Namentlich bestehe in der Tat eine große
Reizbarkeit, wohl noch erhöht durch ein leichtes Unterleibsleiden,
das sich nach ihrer ersten Niederkunft einstellte, vermutlich in¬
folge einer in jenen Jahren erworbenen Tripperinfektion. Zur
Zeit der Tat bestand dies Leiden noch. Die P. hatte auch immer
angegeben, wenn sie die Periode habe, so rege sie sich übermäßig
auf. Abgesehen davon, daß sie nicht mehr wußte, ob sie bei der
letzten Mißhandlung des Kindes menstruiert war oder nicht, konnte
aber ein solcher Einfluß dieses körperlichen Vorganges in der
psychiatrischen Beobachtung nicht festgestellt werden. Aber das
Gutachten sagt, die P. sei Zornanfällen unterworfen, in denen sie
die Selbstbeherrschung in hohem Grade verliere. Mit Sicherheit
habe sie auch in einem solchen Affektzustande die Mißhandlungen
des Kindes und namentlich die letzte, den Tod des Alois ver¬
ursachende, begangen. Allein ein so weit gehender Schwachsinn,
daß Exploranda durch ihn als entschuldigt angesehen werden
könne, sei nicht festgestellt worden. Erscheine also ihre Zurech¬
nungsfähigkeit durch diese Eigenschaften gemindert, so seien doch
bei ihr keinerlei Symptome einer eigentlichen geistigen Erkran¬
kung nachzuweisen, so daß von Unzurechnungsfähigkeit nicht die
Rede sein könne.
Am 12. Oktober 1907 überwies die Überweisungsbehörde
Frau P. unter der Anklage des Mordes dem Strafgericht; am
gleichen Tag erhob gemäß diesem Beschlüsse die Staatsanwalt¬
schaft die schriftliche Anklage.
Am 15. Oktober 1907 verfügte der Strafgerichtspräsident ver¬
schiedene Ergänzungen der Untersuchung namentlich im Sinne
einer noch eingehenderen Aufhellung des Vorlebens der An¬
geklagten. Diese Ergänzungen sind in der vorliegenden Dar¬
stellung berücksichtigt. Vermutlich — ich erinnere mich nicht
mehr — hat damals der Verfasser jene Ergänzungen als höchst
unnötig betrachtet und sich über das Begehren geärgert; heute
wundert er sich darüber, daß er all das, was man nachträglich
von ihm verlangen mußte, nicht von Anfang an von sich aus vor¬
nahm; denn heute sieht er ein, daß eine solche Tat, wenn über¬
haupt, nur dann einigermaßen begriffen werden kann, wenn der
ganze Lebensgang des Angeklagten in möglichster Vollkommen¬
heit vor dem Richter ausgebreitet liegt.
Am 26. Oktober 1907 machte der Direktor der Strafanstalt
dem Strafgerichtspräsidenten, unter dessen Verfügung die P. jetzt
Zwei Fälle von Kindermißhandlung. Der Fall P. 271
stand, die Mitteilung, die Strafgefangene L. habe ihm gesagt, daß
ihr die P., mit der sie während der Untersuchung die Zelle ge¬
teilt, erzählt habe, wie sie das Kind mißhandelt habe, um es zu
töten.
Auf Weisung des Präsidenten wurde am 28. Oktober 1907
durch den Untersuchungsrichter die L. hierüber einvernommen. Sie
sagte aus, die P. habe ihr folgendes erzählt: sie habe das Kind
ungern und nur deshalb ins Haus genommen, damit ihr Mann
kein Kostgeld mehr zahlen müsse. Von Anfang an habe sie einen
Haß gegen das Kind gehabt, da es von ihrem Mann mit einer
andern erzeugt worden sei; dieser Haß habe sich infolge der Un¬
reinlichkeit des Kindes noch verstärkt. Sie habe das Kind ständig
mißhandelt; es sei dabei zuweilen „wie eine Mücke herumgeflogen“.
Manchmal habe sie ihm derart Fußtritte gegeben, daß es cfcrei- bis
viermal hintereinander „überbockt“ sei. Wenn es geschrieen, habe
sie es bisweilen mit beiden Händen heftig gepreßt. Nachher habe
sie allerdings wieder Bedauern mit ihm gehabt, wenn das Kind
so dagelegen habe. Doch als es gestorben, sei sie doch froh
darüber gewesen. Wenn das Kind sich beschmutzt, habe sie es
direkt unter den geöffneten Wasserhahn gesetzt. Sie habe es
halbe Tage lang allein zu Hause gelassen; sie habe ihm auch
weniger als ihrem eigenen Kinde zu trinken gegeben, „damit es
nicht so viel an den Boden mache“.
Von ihrem Geständnis vom Untersuchungsrichter zurück-
kommefid habe sich die P. zu ihr, der L., geäußert, es reue sie,
daß sie nun so viel zugegeben habe.
Aus der bei der Hauptverhandlung dann stattfindenden Gegen¬
überstellung der Angeklagten und der L. gewann man den Ein¬
druck, die P. habe aus dem bekannten Mitteilungsbedürfnis der
Untersuchungsgefangenen heraus im wesentlichen der L. wirklich
diese Eröffnungen gemacht, die ja in allen entscheidenden Punkten
durch die sonstige Beweiserhebung bestätigt wurden. An diesem
Eindruck konnte der Umstand nichts ändern, daß sicherlich Einzel¬
heiten von der L. absichtlich oder unabsichtlich unrichtig wieder¬
gegeben wurden.
In der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht, die am 16. No¬
vember 1907 stattfand, bestritt die Angeklagte, jemals der L. oder
irgend einer andern Person solche Eröffnungen gemacht zu haben;
auch das dem Untersuchungsrichter gemachte Geständnis nahm
sie zurück. In bezug auf die Verletzungen des Kindes brachte,
sie die alte Ausrede wieder vor, es habe sie sich selbst durch
19*
272
Dr. Paul Siegfried
Fallen zugezogen. Die anwesenden Amtsärzte erklärten neuer¬
dings diese Entstehung der Verletzungen für unmöglich.
Das Urteil nahm an, gestützt auf das Gutachten der „kleinen
Wundschan“, das es als „geradezu vernichtend für das Lügen¬
gebäude der Angeklagten“ bezeichnet, die P. habe, nachdem eine
zwei Monate lange systematische Quälerei vorausgegangen, durch
eine außerordentlich heftige Mißhandlung am 13. Juli 1907 den
noch am gleichen Tag eintretenden Tod des Kindes verursacht.
Ferner nahm das Gericht vorsätzliches, nicht fahrlässiges Handeln
an, und zwar den Vorsatz, das Kind zu töten. Obschon sich das
Urteil bei der Prüfung der letzten noch zu entscheidenden Frage,
ob außer dem Vorsatz auch noch Überlegung und somit, wie die
Anklage lautete, Mord vorliege, dahin aussprach, daß die ganze
Aktenlage auf eine Bejahung dieser Frage hinweise, indem die
Kette roher Mißhandlungen und die mangelhafte Ernährung des
Kindes keine andere Erklärung als die eines systematisch wohl
überlegten Vorgehens zulasse, gelangte das Gericht, gestützt auf
das psychiatrische Gutachten, doch dazu, im Zweifel zugunsten
der Angeklagten anzunehmen, daß sie in einem hochgradigen
Affektzustande gehandelt haben könne, durch welchen ihre Über¬
legungsfähigkeit ausgeschlossen war, und Frau P. deswegen nur
wegen Totschlags zu bestrafen. „Bei der Strafausmessung“ endet
die Begründung des Urteils, „fällt einerseits der schlechte Leu¬
mund der Angeklagten und deren freches Leugnen, insbesondere
aber die an den Tag gelegte Grausamkeit gegenüber dem wehr¬
losen Kind und ihr raffiniertes Vorgehen nach der Tat, wobei sie
durch Wickel die Spuren ihrer Handlung zu verdecken bestrebt
war, erschwerend, andrerseits ihre erbliche Belastung und patho¬
logische Reizbarkeit mildernd in Betracht.“
Die Strafe wurde auf fünfzehn Jahre Zuchthaus bemessen,
während das Höchstmaß für Totschlag zwanzig Jahre beträgt.
Am 7. Dezember 1907 bestätigte das Appellationsgericht auf
die Berufung der Verurteilten hin dieses Urteil.
Der weitere Verlauf der Dinge sollte zeigen, daß das psy¬
chiatrische Gutachten zum mindesten mit seiner Behauptung erb¬
licher Belastung recht gehabt hatte. Am 23. Juli 1910 unterbrach
der Regierungsrat (die höchste ausführende Behörde des Kantons,
welche die Oberaufsicht über den Strafvollzug ausübt), die Voll¬
ziehung des Strafurteils, da sich die P. laut einem — auffallend
kurz gehaltenen — psychiatrischen Gutachten vom 7. Juli 1910
„in einem Zustande von Geisteskrankheit befinde“. Am l.Sep-
Zwei Fälle von Kindermißhandlung. Der Fall P.
273
tember 1910 wurde sie deshalb zur Versorgung den Behörden
'desjenigen Kantons übergeben, deren Bürgerin sie durch ihre
Heirat geworden war. Daß die damals aufgetretene Geisteskrank¬
heit nicht auf Simulation beruhte, zeigt ein durch die freundliche
Vermittlung eines Kollegen mir dieser Tage zugegangener Bericht
des ärztlichen Leiters der Anstalt, in der Frau P. seit acht Jahren
sich befindet. Darnach ist sie chronisch und unheilbar geistes¬
krank, fast immer erregt, leidet unter Gehörshalluzinationen und
Störungen des Allgemeingefühls. Sie beklagt sich über die ver¬
schiedensten Empfindungen im ganzen Körper, die sie elektrischer
Einwirkung zuschreibt; sie hört Stimmen, denen sie mit Beschimp¬
fungen antwortet usw. In bezug auf Ort und Zeit ist sie wenig
orientiert. Früher bedrohte sie die Kranken und die Pflegerinnen;
jetzt ist sie weniger bösartig. Wenn auch ihr körperlicher Ge¬
sundheitszustand gut ist, schließt der Arzt, so wäre es doch nicht
ratsam, sie aus der Anstalt zu entlassen.
Ob dieser ihr jetziger Zustand Rückschlüsse auf ihre Geistes¬
verfassung zur Zeit der Tat gestattet, und wenn ja, ob Frau P.
als schon damals unzurechnungsfähig betrachtet werden muß, das
kann, sofern dies überhaupt möglich ist, natürlich nur der Psy¬
chiater entscheiden.
Blutrache und Sühngeld.
Von
Oberstleutnant-Auditor Dr. Ernst Junk (Wien).
Am 9. Dezember 1915 schoß in einem Walde nächst dem Dorfe
Donji Stepos, Bez. Kruäevac, in Serbien der Hirte Manojlo Tri-
funoviö hinterrücks auf Alexander Smiljkoviö, der mit ihm Vieh
geweidet hatte. Als der Tod bei diesem nicht sogleich eintrat,
erwürgte er ihn und beraubte ihn sodann seiner Barschaft im Be¬
trage von 710 Dinar. Der Mörder war, wie in einem Zeugnis des
Gemeindeamts Stepos ausgeführt wird, „ein gefährlicher Verbrecher
und Dieb und als solcher allgemein betrachtet“. Er soll auch
seinen eigenen Vater erschlagen haben, was in diesem Zeugnis
und von den Landleuten Milenko Petroviö und Dragoslav Grujiö
bestätigt wird, wurde jedoch wegen des Vatermordes weder an¬
gezeigt noch zur Verantwortung gezogen, offenbar, weil sich die
Bevölkerung vor ihm fürchtete. Der ermordete Hirte Alexander
Smiljkovi6, der Sohn des Veselin und der Anica Smiljkoviö, hatte
sich des besten Leumunds erfreut
Nachdem österr.-ung.-und deutsche Streitkräfte Serbien be¬
setzt hatten, lief am 24. Juli 1916 beim Gericht des k. u. k. Kreis-
' kommandos Jagodina folgende, in ungarischer Sprache verfaßte
Meldung des Gendarmeriepostenkommandos Dvorani ein: „Ich
melde, daß am 19. d. M. um 7 Uhr nachmittags die Witwe Savka
Trifunoviö, 64 Jahre alt, aus Donji Stepos einer Gendarmerie¬
patrouille, bestehend aus (folgen die Namen der Gendarmen) die
Anzeige erstattet hat, daß am 10. Dezember 1915 in der Zeit
zwischen 2—3 Uhr nachm, der Veselin Smiljkoviö und seine Frau
Anica Smiljkovfe den Manojlo Trifunovi6 getötet haben.
Die Patrouille hat den 66 jährigen, verheirateten Veselin
Smiljkovid, Vater von acht Kindern, griechisch-orientalisch, unbe¬
scholten, aus Donji Stepos, in Gegenwart des Gemeindevorstehers
(kmet) Dragoljub Dimitrieviö ausgefragt, und er hat angegeben,
Blutrache und Siihngeld
275
daß er zu der oben erwähnten Zeit aus dem Wirtshause heim
gekehrt war und in den Wald gegangen ist, um seinen Sohn
Alexander Smiljkovid zu suchen, und daß er zu dieser Zeit ver¬
ständigt wurde, daß der Sohn der Anzeigerin seinen Sohn mit
Namen Alexander erschossen habe. Seinen Sohn habe er schon
tot gefunden und gesehen, daß er aus dem Hinterhalte erschossen
wurde. Er habe auch gesehen, daß alle seine Taschen umge¬
wendet seien und daß an Geld im ganzen 710 Dinar fehlen, weil
er bei sich 40 Stück serbische 10-Dinarscheine, 14 Stück serbische
20-Frankgoldstücke und 30 Dinar in Silber gehabt habe. Dann
sei er vom Tatorte zu dem Manojlo Trifunovid gegangen, der sich
an der Dorfgrenze bei Hirten aufhielt und habe ihn gefragt, warum
er seinen Sohn erschossen habe. Manojlo Trifunovid habe ge¬
antwortet, daß er gefehlt habe, da er aber Geld benötigt habe,
habe er den Alexander erschossen und seine Geldbörse mit 710
Dinar geraubt. Als der Räuber vor ihm die Tötung des Alexander
Smiljkovid gemäß oben Gesagtem eingestand, wollte er den Ma¬
nojlo Trifunovid zu dem deutschen Militärkommando in Donji
Stepos führen. Trifunovid ging auch ein Stück mit ihm, auf ein¬
mal jedoch habe er sich niedergelegt und gesagt, er solle ihn nur
umbringen, aber nicht quälen, denn er habe den Alexander auch
nicht gequält. Inzwischen sei seine Frau, die Anica Smiljkovi6,
dorthin gekommen, wo derManojlo lag, dieser habe um seineTötung
ersucht und sogleich sei sie bei Alexander Smiljkovid (soll wohl
heißen: bei Manojlo Trifunovid) mit einem Messer gewesen und
habe den Manojlo Trifunovid so in den Hals gestochen, daß er
sofort starb.
Anica Smiljkovid, 63 Jahre alt, gr.-orient. Glaubens, verheiratet,
Mutter von acht Kindern, aus Donji Stepos, wurde auch befragt
und gab an, daß sie, als sie ihren Sohn Alexander tot sah, in
Ohnmacht fiel, so daß sie sich nicht erinnert, auf welche Weise
sie den Manojlo Trifunovid umgebracht habe.
Die Verhaftung hat die Patrouille nicht bewirkt, weil man seine
Flucht nicht annehmen muß und weil die Frist zur Erstattung der
Anzeige als abgelaufen anzusehen ist (?), weshalb ich auch um
einen auf die Verhaftung gerichteten Befehl bitte. Das den Über¬
führungsgegenstand bildende Messer konnte in Verwahrung nicht
genommen werden, weil die Soldaten es weggetragen hatten.
Milenko Petrovid, 28 Jahre alt, Dragoslav Gruid, 24 Jahre alt,
Milan Pantelid, 35 Jahre alt, Radomir Vasiljevid, 18 Jahre alt,
Miodrag Stefanovid, 17 Jahre alt, Zsivojin Petrovid, 18 Jahre alt,
276
Dr. Ernst Junk
sämtlich Zeugen aus Donji Stepos haben den Fall dem Obgesagten
entsprechend mit dem Beifügen vorgebracht, daß Manojlo Trifu-
noviß ein Individuum von schlechter Vergangenheit war, das zur
Verübung schwerer Verbrechen sehr, neigte“.
Es geht aus dieser Gendarmeriemeldung hervor, daß der von
mehreren Personen bestätigte, an Alexander Smiljkoviß und an
Manojlo Trifunoviß verübte Mord erst nach mehr als einem halben
Jahre und wohl nur infolge des durch unseren Einmarsch be¬
wirkten Rechtszustandes zur Anzeige gebracht wurde. Bezeichnend
für die Rechtsanschauungen der Bevölkerung ist auch der Um¬
stand, daß ein Sohn der Eheleute Smiljkoviß in einer an das
Kreisgericht in Jagodina am 28 Juli 1916 gerichteten Eingabe
allen Ernstes behauptet, Savka Trifunoviß habe die Anzeige wegen
Ermordung ihres Sohnes nur deshalb gemacht, um einer Anklage
wegen Teilnehmung an der Beraubung des Alexander Smiljkoviß
„entgegenzutreten“. Sonderbar ist auch die Ausdrucksweise,
auf die er die Mordtat seiner Mutter rechtfertigt: Sie habe in
schwerer Seelendepression und aus mütterlicher Verzweiflung den
T. umgebracht.
Auf Grund der Gendarmerieanzeige hat der zuständige Kom¬
mandant am 26. Juli 1916 gegen Veselin und Anica Smiljkoviß
das Ermittlungsverfahren wegen des Verbrechens des Mordes unter
Haft angeordnet. Aus den „Zuwachsmeldungen“ des Feldarrestes
vom 27. Juli 1916 geht hervor, daß Anica Smiljkoviß an einem
Auge blind ist, und daß Veselin und Anica S. Analphabeten sind.
Im Ermittlungsverfahren hat sich das Bild der der Gendarmerie¬
anzeige wohl zu entnehmenden gemeinsamen Schuld des Ehe¬
paares vollkommen verändert, denn Veselin S. hat am 28. Juli in
seinem Verhöre vor dem Untersuchungsführer jedwede Schuld ge¬
leugnet und zur Gänze seine Frau belastet, die in ihrem am
selben Tag aufgenommenen Verhöre der Verantwortung ihres
Mannes vollkommen beipflichtet. Die Aussagen der Eheleute
lauten: Veselin Smiljkoviß: „Am Samstag den 13. November (?)
1915 erzählte mir Stojanka Alexiß, daß auf der Slatina in der
Nähe des Dorfes Stepoä die Leiche eines Mannes liege. Ich ver¬
mutete sofort, daß dies mein Sohn Alexander sein könnte, weil
er am Tage zuvor dortselbst Vieh weidete und in der Nacht nicht
nach Hause gekommen war. Ich begab mich in Begleitung der
Tina Sibinoviß und Senija Panteliß, beide aus Stepos, dorthin und
fand meinen Sohn mit einem Kopfschuß auf der Erde liegend
tot an. Er war auch am Halse stark verkratzt und es fehlte auch
Blutrache und Sühngeld
277
sein Leibgürtel. Mein Verdacht, diese Tat begangen zu haben,
lenkte sich sofort auf Manojlo Trifunovid, weil dieser Tags zuvor
gemeinsam mit meinem Sohne das Vieh auf jener Weide geweidet
hatte. Ich machte mich sofort auf die Suche nach Trifunovid und
fand ihn auf einer Wiese bei Rasina auf einem Strohhaufen sitzend.
Als er meiner ansichtig wurde, sah ich, wie er die Geldbörse
meines Sohnes unter das Stroh versteckte. Ich beschuldigte ihn^
gleich, daß er meinen Sohn ermordet habe, doch stellte Trifunovid"
dies in Abrede und gab es erst zu, als ich auch den Gürtel meines
Sohnes bei ihm bemerkte und ihm dies vorhielt. Ich forderte die
anwesenden Milenko Petrovid und Dragoslav Grujid auf, den Tri-
funovid zu binden und 7 zum deutschen Kommando zu führen.
Trifunovid ging auch mit uns, doch legte er sich nach etwa 200
Schritten plötzlich auf die Erde und sagte, er lasse sich nicht
weiter führen. Inzwischen war meine Frau Anica herbeigekommen
und fragte den Trifunovid, warum er ihren Sohn ermordet habe.
Er antwortete ihr: „Ich habe meinen Vater und deinen Sohn er¬
mordet, töte mich auch, aber mache es schnell.“ Meine
Frau, die ein offenes Messer in der Hand hielt, schnitt dann mit
demselben dem keinerlei Widerstand leistenden Trifunovid
einfach die Gurgel durch. Dies erfolgte derart plötzlich, daß nie¬
mand von den Anwesenden dies verhindern konnte. Trifunovid
starb gleich darauf. Ich habe den Vorfall am nächsten Tage so¬
fort einem Kmeten gemeldet, doch wurde deswegen nichts ver¬
anlaßt, weil damals noch keine Behörden funktionierten. Ich fühle
mich unschuldig, da ich an der Ermordung des Trifunovid in keiner
Weise beteiligt bin.“
Anica Smiljkovid: „Die Tat beging ich so, wie sie mein Mann
Veselin Smiljkovid geschildert hat. Ich war damals infolge der
Ermordung meines Sohnes durch Trifunovid derart aufgeregt, daß
ich mir im Augenblick gar nicht bewußt war, was ich tat. Sonst
kann ich nichts zu meiner Rechtfertigung anführen.“
Veselin S. wurde am 7. August 1916 auf freien Fuß gesetzt.
Sein weiteres prozessuales Geschick ist dem Akte nicht zu ent¬
nehmen, ohne Zweifel ist die gegen ihn erstattete Anzeige zurück¬
gelegt worden. Gegen Anica S. wurde der Anklagebefehl wegen
Verbrechens des Mordes nach den §§ 413 und 414:4 M.St.G. (ge¬
meiner Mord) erlassen. Am 24. August 1916 fand gegen sie beim
(österr.-ung. Feld-) Gerichte des k. u. k. Kreiskommandos Jago-
dina die Hauptverhandlung statt, in der sie sich auf die Wieder¬
holung der vor dem Untersuchungsführer gemachten Angaben be-
278
Dr. Ernst Junk
schränkte. Veselin S. hat als Zeuge nach Verzicht auf die Rechts¬
wohltat der Zeugenschaftsentschlagung seine früheren Angaben
wiederholt und hinzugefügt: „Unmittelbar nach der Tat hat meine
Frau folgende Worte ausgesprochen: .Jetzt habe ich mich für
meinen Sohn gerächt und das Gericht kann mich aufhängen‘.“
Als der Verhandlungsleiter die Angeklagte frägt, ob sie diese
Worte ausgerufen habe, antwortet sie, daß sie sich dieser Worte
nicht erinnern könne. Die Frage, warum sie ein Messer mitge¬
nommen habe, läßt sie unbeantwortet und bereitet auch sonst den
belastenden Angaben ihres Mannes keinerlei Widerspruch. Sie
wurde mit dem Urteile des genannten'Gerichtes vom 24. August
1916 schuldig erkannt, daß sie am 13. November (?) 1915 in Ra-
sina dem Manojlo Trifunovi<$ in der Absicht, ihn zu töten, mit
einem Bauernmesser die Kehle durchschnitt, so daß dessen Tod
erfolgte, wodurch sie das Verbrechen des Mordes nach den oben
genannten Gesetzesstellen begangen habe und wurde hierfür zum
Tode durch den'Strang verurteilt. Die Verurteilte hat von dem
ihr zustehenden Beschwerderecht keinen Gebrauch gemacht. Wie
aus den im Akte offenliegenden, gemäß § 313 M.St.P.O. aufge¬
nommenen Beratungsprotokolle hervorgeht, hat das Kriegsgericht
die Verurteilte einstimmig der Begnadigung würdig gehalten, wo¬
bei es sich von der Erwägung leiten ließ, daß sie die Tat in einer
das Bewußtsein nicht ganz ausschließenden Sinnesverwirrung ver¬
übt habe, weiter von der Rücksicht auf ihr Geständnis, auf die
durch dip mehreren langwierigen Kriege hervorgerufene allgemeine
Sittenverrohung, auf ihre schuldlose Familie und auf ihr unbe¬
scholtenes Vorleben. Anderer Ansicht war der zuständige Kom¬
mandant, der das Todesurteil gemäß § 475 M.St.P.O. dem Armee¬
oberkommandanten zur Bestätigung vorzulegen hatte, und der sich
im Vorlagebericht gegen die Begnadigung der Verurteilten aus¬
sprach. Der Armeeoberkommandant hat dem Gnadenantrage des
Kriegsgerichtes und v dessen Erwägungen, denen sich auch der
Militärgeneralgouverneur angeschlossen hatte, stattgegeben und
die Todesstrafe der Anica S. in zehnjährigen schweren und ver¬
schärften Kerker im Gnadenwege umgewandelt. Von dieser Strafe
hat sie nur zwei Jahre verbüßt, da der (neue) zuständige Kom¬
mandant, dessen Gnade ein Sohn der Verurteilten angerufen hatte,
ihr am 13. Juli 1918 den Rest der Strafe mit folgender Begrün¬
dung nachgesehen hat: „In weiterer Berücksichtigung der großen
Aufregung, in der sich die Verurteilte zur Tat hat hinreißen lassen,
ferner in Erwägung der zur Erfolg versprechenden Wiederauf-
Blutrache und Sühngeld
279
nähme des Prozesses jedenfalls vorhandenen Gründe und in der
Überzeugung, daß die Tat durch <iie zweijährige Haft'und tadel¬
lose Aufführung der Verurteilten genügend gesühnt ist, sehe ich
ihr den Rest der Strafe im Gnadenwege nach.“
Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß selten ein
Straffall in kriminalpsychologischer Hinsicht soviel Anregung bot
und in dieser Hinsicht so wenig erfaßt wurde, wie der vorliegende,
doch sollte der Vorwurf der Oberflächlichkeit gegen die an einem
feldgerichtlichen Verfahren beteiligten Funktionäre in diesem und
in anderen Fällen erst dann erhoben werden, wenn unzweifelhaft
feststeht, daß sie nicht unter außergewöhnlichen Verhältnissen
(z. B. Amtshandlung im Schützengraben, übergroße Arbeitshäufung,
namentlich während der letzten Kriegsjahre infolge Mangel an
Justizoffizieren) ihr Amt fehlerhaft versahen.
Es drängt sich die Vermutung auf, daß die Eheleute S. an
dem Mörder ihres Sohnes Blutrache geübt haben. Allerdings
wird von Kennern südslavischer Verhältnisse*) behauptet, daß die
Blutrache im heutigen Serbien, in dem sich der geschilderte Straf¬
fall zutrug, nicht mehr vorkomme, doch bezieht sich dieses Zeug¬
nis wohl nur auf die feierliche, vom ganzen Stamm oder der Sippe
geübte Rache. Es ist auch zu erwägen, daß die langen Kriege,
in die die Bevölkerung Serbiens verwickelt ist, die Staatsgewalt
schwächte und alte Instinkte im Volke wieder aufleben ließ. Sie
treten in dem uns fremdartig berührenden widerstandslosen Ver¬
halten des Trifunoviß zu Tage, der wohl wußte, daß er der Rache
verfallen ist und seiner Rächerin zuruft: „Ich habe deinen Sohn
ermordet, töte auch mich“, und in den Worten der Rächerin ihres
Sohnes: „Jetzt habe ich mich für meinen Sohn gerächt und das
Gericht kann mich aufhängen“. Die Behauptung des Veselin S.,
daß er den Trifunovfe zum deutschen Kommando habe führen
wollen, daß er also Selbsthilfe nicht beabsichtigt habe, sowie daß
er den Vorfall einem Kmeten gemeldet habe, findet keine Unter¬
stützung durch gerichtliche Erhebungen.
Veselin und Anica S. haben vermutlich im Einverständnis %
gehandelt — das behauptete Nacheilen und wie zufällige Auf¬
treten der mit dem Messer bewaffneten Frau ist sehr unwahr¬
scheinlich —, wenn nicht gar die Frau, deren Körperkraft ärzt¬
liche Bestätigung im Akte findet, das Rachewerk auf Befehl ihres,
hierzu viel leicht weniger geeigneten Mannes mit so meisterhafter
*) So WesnitscH, Die Blutrache bei den Südslaven, Zeitschrift für ver¬
gleichende Rechtsforschung, Band 8 und 9.
280
Dr. Ernst Junk
Raschheit vollzogen hat. Zumindest scheint Veselin S. sich der
absichtlichen Nichthinderung des Mordes schuldig gemacht zu
haben, wofür auch die Gendarmeriemeldung zeugt, die in ihrer
Ausführlichkeit kaum auf ein sprachliches Mißverständnis des
ungarischen Gendarmen zurückzuführen ist. Der Umstand, daß
die eines Kapitalverbrechens Angeklagte die Angaben ihres Mannes,
der sie ohne Zwang schwer belastet, widerspruchslos hinnimmt,
läßt sich durch die notorische Unterwürfigkeit der südslavischen
Frau nicht hinlänglich erklären, sondern spricht für die Kom-
plizität des Ehepaares und das Bestreben der Frau, ihren Mann,
den Ernährer von acht Kindern, zu schützen. Daß der rechts¬
kundige, offenbar dem Soldatenstande angehörige Verteidiger der
Angeklagten in der Hauptverhandlung ihre Handlungsweise nicht
mit der Institution der Blutrache in Verbindung gebracht hat,
könnte leicht dadurch Erklärung finden, daß die Kommandanten
der verbündeten Streitkräfte der Bevölkerung Selbsthilfe jeder Art
in ihrem Kommandobereiche untersagt hatten.
Nur dem Mangel an gründlicher Erforschung, insbesondere
psychologischer Klärung der Straftat, die sie in milderem Lichte
hätte erscheinen lassen, ist es wohl zuzuschreiben, daß der zu¬
ständige Kommandant das Urteil mit dem Bemerken vorlegt, es
seien bei der zum Tode Verurteilten keinerlei Gnadengründe vor¬
handen. Seinem Nachfolger sind diese Mängel nicht entgangen;
er hat sie im Auge gehabt, als er von der Wiederaufnahme des
Prozesses sprach, deren gesetzliche Voraussetzungen in Wirklich¬
keit nicht gegeben sind. Der reiferen Einsicht des Armeepber-
kommandanten ist die Abwendung der Todesstrafe zu verdanken,
die dem Rechtsempfinden gewiß nicht entsprochen hätte.
Am 11. August 1916 wurde beim k. u. k. Bezirkskommando
in Kruäevad zwischen Savka Trifunovic, der Mutter des Ermordeten
und Dragoljub Smiljkoviö, dem Sohne der Mörderin, ein Vertrag
geschlossen. Das hierüber aufgenommene Protokoll sei hier wort¬
getreu wiedergegeben: „Protokoll, aufgenommen am 11. August
in KruSevaö in der Angelegenheit der Savka Trifunoviö gegen
Anica Smiljkoviö aus Donji StepoS. Anwesend die Gefertigten.
Savka Trifunoviß aus Donji StepoS erklärt, daß, wenn sie von der
Anica Smiljkoviö aus Donji Stepos 500, sage fünfhundert Dinar
als Entschädigung bekommt, sie ihrerseits gar keinen weiteren
Anspruch gegen die Anica Smiljkovi6 wegen des Totschlags ihres
Sohnes Manojlo erhebt. Dragoljub Smiljkoviö erklärt, daß er für
seine Mutter Anica die geforderten 500 (sage fünfhundert) Dinar
Blutrache und Stlhngeld
281
zu bezahlen geneigt ist und übergibt sofort die 500.— Dinar der
Savka Trifunovfe aus Donji StepoS. Savka Trifunoviß bestätigt
die Übernahme der 500 Dinar und erklärt, daß sie gegen die
Anica Smiljkovi6 wegen Totschlag ihres Sohnes keinen weiteren
Schadenersatz zu fordern hat und ihrerseits die Bestrafung
der Anica Smiljkovi6 nicht wünscht. Das Protokoll wurde
vorgelesen, in der Muttersprache der Partei erklärt und unter¬
schrieben . .
Wenn man erwägt, daß den Vertragschließenden der Umstand
gewiß nicht bekannt war, daß im geltenden Militärstrafverfahren
Privatansprüche nicht erledigt werden, und daß es dem Dragoljub
S. kaum darum zu tun war, einen im gegebenen Fall unerheb¬
lichen Milderungsgrund für seine Mutter zu erwirken, geht man
kaum fehl, wenn man in dem beurkundeten sonderbaren Vorgang
die unter der Patronanz einer k. u. k. Behörde zustande ge¬
kommene Erstattung eines Sühngeldes erblickt.
Defloration eines taubstummen Kindes.
Von
Staatsrat Dr. James Brock,
ehemals an der Kaiser!. St. Petersburger Entbindungsanstalt
-und St Petersburger Stadtakkoucheur.
Wenn schon jedesVerbrechen begangen an einem hilflosen Kinde,
Abscheu und Empörung bei allen rechtlich Denkenden hervorruft,
so müssen diese Gefühle den höchsten Grad erreichen in den
Fällen, wo das Objekt des Verbrechens ein noch besonders von
der Natur stiefmütterlich bedachtes und von der Gesellschaft zu¬
rückgesetztes Wesen bildet; und Taubstumme sind solche. Denn
gleich Blödsinnigen und Schwachsinnigen genießen die Taub¬
stummen nicht alle bürgerlichen Rechte. Destomehr sind sie zu
bedauern, wenn sie der perversen Sinnlichkeit eines satyriasisch
veranlagten Unholdes zum Opfer fallen. Für pädophil-sexuell
veranlagte Männer sind hilflos dastehende Mädchen, Waisen,
Kinder von Säufern, armen, von Not gebeugten Witwen und ähn¬
liche bedauernswerte Wesen stets besonders begehrenswert. Dieses
weist deutlich auf den sadistischen Zug bei diesen Verbrechertypen
hin. Es ist deshalb verständlich, wenn solche sich zu einem taub¬
stummen Mädchen leichter hingezogen fühlen. Und hierzu kommt
noch der verführerische Umstand, daß dieses Mädchen kaum im
Stande ist, den Stuprator verraten zu können und vom Gesche¬
henen Mitteilung zu machen. Wenn nun Prozesse über Sittlich¬
keitsverbrechen, begangen an Taubstummen, so überaus selten ziir
gerichtlichen Verhandlung gelangen, so ist eben det Grund darin
zu suchen, daß die unglückliche Geschändete stumm ist. Die
Zeichen, durch die sie sich ihrer nächsten Umgebung, in der sie
sich täglich bewegt, verständlich zu machen imstande ist, würden
dem Gerichte unverständlich bleiben und die, die als Deuter
dieser Zeichen wohl allein in Betracht kommen, die Eltern und
nächsten Angehörigen, werden vom Gerichte kaum als unbe¬
fangene Dolmetscher zugelassen werden können. Hierzu würde
sich nur ein Taubstummenlehrer eignen. Doch wo ist wohl stets
Defloration eines taubstummen Kindes
283
solch einer zu erreichen? Wenn wir dann noch bedenken, daß
bei Sittlichkeitsverbrechen, begangen an Kindern, eine Verletzung
des Hymens, des Attributes der Virginität, meistens nicht statt hat,
so verstehen wir, daß Prozesse, wo ein taubstummes Kind das
Objekt cles Verbrechens ist, eine große Seltenheit bilden, ja,
daß in den meisten Fällen sogar keine Klage erhoben wird.
In meiner Eigenschaft als St. Petersburger Stadtakkoucheur hatte
ich Gelegenheit Sachverständiger in einem Prozesse zu sein, wo es
sich um Defloration eines neunjährigen taubstummen Mädchens
handelte. Das Interesse, das auch weitere Kreise einem der¬
artigen Gegenstände entgegenbringen könnten, veranlaßt mich
zur Mitteilung dieses Falles.
Zunächst möchte ich die offizielle gerichtliche Anklageschrift
wörtlich ins Deutsche übersetzt anführen:
Anklageakt
über den Kleinbürger Alexei D ... dow.
Um 3 Uhr tags am 4. August 1911 erschien in St. Petersburg
in der Hausknechtswohnung des Hauses Nr. 15/17 der P... Straße
der im selben Hause wohnhafte Monteur Alexei D. und traf dort
den Hausknecht Anton L., dessen Frau Antonina und ihre neunjährige
taubstumme Tochter Marie beim Mittagessen an. Da zwischen
L. und D. ein Freundschaftsverhältnis bestand, so forderte besag¬
ter Hausknecht den Monteur auf, sich hinzusetzen und mitzu¬
speisen. D. erklärte sich bereit und machte den Vorschlag nach
Bier zu schicken, worauf er hinausging; nach ihm verließ auch
Marie L. das Zimmer. Nach ungefähr 20 bis 25 Minuten kam
letztere in die Hausknechtswohnung zurückgelaufen, stürzte sich
weinend auf die Mutter und begann ihr die Hände zu küssen.
5 Minuten später trat auch D. hinein und setzte sich wieder an
den Tisch. Als Marie jedoch seiner ansichtig wurde, lief sie mit
einem Aufschrei ins benachbarte Zimmer, und da fragte die dar¬
über erstaunte Antonina L. den D., wodurch er das Mädchen so
erschreckt habe. Auf diese Frage erwiderte D. verwirrt, daß er
Marie nichts Böses zugefügt habe; er habe ihr sogar 10 Kopeken
für Naschwerk gegeben, als sie zu ihm in die Wohnung kam;
dem Anton L. erklärte D., daß er gesehen habe, wie ein Knabe
Manja 1 ) geschlagen hätte. Die Antonina L. begnügte sich jedoch
nicht mit den Worten D.’s und unterzog Marie einer Besichtigung,
wobei sie bemerkte, daß die Wäsche der letzteren blutig war. Auf
*) Kosungsname für Marie.
284
Dr. James Brock
Ajnfrage der Ellern erklärte Marie, durch Zeichen, daß D. sie zu
sich ins Zimmer gerufen, ihr den Rock aufgehoben und ihr was
Großes und Hartes zwischen die Beine gesteckt habe. Hierauf
schickte L. nach der Hebamme N.; doch nahm diese nur eine
äußere Besichtigung der Marie vor, da das Mädchen die Geschlechts¬
teile nicht zeigen wollte, mit den Händen sie zu verbergen suchte
und heftig weinte. Den D. der Defloration ihrer minderjährigen
Tochter verdächtigend, wandten’sich die Eheleute L. an die Polizei.
Das oben Dargestellte wurde in der Voruntersuchung durch die
Zeugenaussagen des Anton und der Antonina L., wie auch der
N. bestätigt.
Die in der Voruntersuchung durch den Dolmetscher, den
älteren Erzieher an der Kaiserlichen Taubstummenschule, befragte
Marie L. erklärte,* daß „der Onkel mit dem Verbände“ (so nannte
sie D.) sie in sein Zimmer gerufen, sie zum Tische geführt und
ihr 10 Kopeken Geld angeboten habe, selbst setzte er sich auf
einen Stuhl und stellte sie, Marie, vor sich hin; darauf erhob er
ihr Kleid, knöpfte ihr Beinkleid auf und steckte ihr etwas Hartes
und Großes zwischen die Beine. Sie empfand heftigen Schmerz,
fing wohl an zu weinen, nicht aber zu schreien. Hierauf führte
der „Onkel“ sie, die L., zum Tisch, zwang sie, sich mit den Händen
daran zu halten und schob ihr von hinten abermals was Hartes
zwischen die Beine. Beide Male blutete sie. Nach dem zweiten
Male entließ der „Onkel“ sie aus dem Zimmer und sie lief an¬
fangs in die Waschküche, wo sich ein ihr bekanntes Mädchen
befand, darauf aber kam sie nach Hause und erzählte alles der
Mutter.
Bei der am 6. August durch den Experten, Akkoucheur Dr.
Brock, vorgenommenen gerichtlich-medizinischen Untersuchung der
Marie L. erwies es sich, daß die Scheide 2 ) der Geschlechtsteile
stark gerötet war, besonders rechts von der Basis des Hymens,
wo sich ein deutlich ausgesprochenes Blutextravasat von Erbsen¬
größe wahmehmen ließ. An der hinteren Kommissur des Hymen,
der von halbmondförmiger Gestalt ist, wurde ein Einriß derselben
entdeckt, der bis zur Basis reichte. Auf Grund dieser Ergebnisse
schloß der Expert, daß die L. der physischen Jungfernschaft beraubt
ist, wobei die Defloration im Laufe der letzten Woche stattgefunden
hat, doch infolge mangelhafter Entwicklung der Geschlechtsteile
eine vollständige Einführung des männlichen Gliedes nicht ge¬
lungen ist.
l ) Im Untersuchungsprotokoll steht .Scheideneingang*.
Defloration eines taubstummen Kindes
285
Bei der chemisch-mikroskopischen Untersuchung der auf dem
Hemde, dem Beinkleide und dem Rocke der Marie L. befindlichen
Blutflecke, vorgenommen von Dr. med. Korowin, kam erwähnter
Arzt zur Überzeugung, daß das in diesen Flecken vorhandene
Blut nach den in ihm konstatierten Elementen und nach den
Stellen, wo es sich vorfindet, beurteilt, augenscheinlich aus den
Geschlechtsorganen herstammt.
Bei der weiteren in dieser Sache vorgenommenen Unter¬
suchung bestätigte die Zeugin S. R., daß am genannten Tage gegen
3 Uhr in die Waschküche, wo sie Wäsche wusch, die heftig erregte
Marie L. gelaufen gekommen wäre und sie durch Zeichen versucht
habe zu bitten, ihr zu helfen, die Tür festzuhalten. Nach der L.
sei D, der nicht nüchtern war, eingetreten und begann sich in
einem Gefäße die Hände zu waschen. Beim Anblicke des D. fing
Marie zu weinen an und versteckte sich, wobei sie der Zeugin
erklärte, daß D. ihr, der Marie, in der Bauchgegend Schmerz
zugefügt habe.
Nach Aussage des Hausknechtes des obengenannten Hauses
Sch., äußerte der in die Polizeiverwaltung geschaffte D. zu Anton L.
gewandt: „verzeihen Sie“, ohne jedoch zu erklären, wozu er sich
schuldig bekannte. Am folgenden Tage kam D. zum Zeugen, bat
ihn, sich zu L. zu begeben und ihm einen friedlichen Ausgleich
anzutragen, mit der Bedingung, daß er, D., dem L. 200 Rubel in
barem Gelde bezahlen und ihm 300 Rubel in Wechseln übergeben
würde. Hierbei sagte D., daß er dieses nicht tut, weil er sich hin¬
sichtlich des Vorgefallenen schuldig fühlt, sondern nur weil er
nicht wünscht, daß die Angelegenheit an die Öffentlichkeit kommt.
L. jedoch wies den Vorschlag, nach der Aussage des Sch., ab.
Auf Grund der angeführten Tatsachen wurde Alexei D. als
Angeklagter in Untersuchung gezogen, wegen Defloration der
minderjährigen Marfe L. durch Ausübung des Geschlechtsaktes.
Doch bekannte er sich der ihm vorgeworfenen verbrecherischen
Handlung für nicht schuldig mit der Erklärung, daß die Eltern L.
gegen ihn eine falsche Anklage erhoben hätten. Am 4. August
habe er in seiner Wohnung mit seinem Bekannten, Alexei Sp.,
gesessen und Bier getrunken, in der Hausknechtswohnung ist er
überhaupt hicht gewesen.
Diese Erklärung des Angeklagten D. fand jedoch keine voll¬
ständige Bestätigung durch die Aussage des Zeugen Sp., welcher
bekräftigte, daß er am 3. oder 4. August den D. in der G... Straße
getroffen habe, der ihn dabei aufforderte in eine Bierbude zu
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 20
286
Dr. JaMes Brock
gehen, wo sie sich nicht mehr wie 3 /4 Stunden aufgehalten haben;
hierauf begaben sie sich in die Wohnung des D., wo Sp. nicht
länger als zehn Minuten verweilte. Nach den Worten des Zeugen
war A. D. an diesem Tage betrunken, wobei sich dieser Zustand
durch erhöhte Fröhlichkeit äußerte. Auf Grund des dargelegten
wird der Kleinbürger der Stadt Rjibinsk Alexei D., 39 Jahre alt,
dessen angeklagt, daß er am 4. August des Jahres 1911 in St.
Petersburg im Hause Nr. 15/17 der P... straße die Unwissenheit
und Unerfahrenheit der Marie L., bäuerlichen Standes, sich zu¬
nutze machend, mit ihr den Geschlechtsakt ausgeübt hat, wobei
er sie der physischen Jungfernschaft beraubte.
Das angeführte Verbrechen ist vorgesehen in I. Th. des § 1524
des Kriminalrechts. Deswegen und auf Grund des § 201 des
Statutes der Kriminalgerichtsordnung unterliegt genannter D. dem
Urteile des St. Petersburger Bezirksgerichts mit Hinzuziehung
von Geschworenen.
Dieses der Anklageakt des Staatsanwaltes.
Betrachten wir uns nun näher die einzelnen uns mehr inter¬
essierenden Momente des vorliegenden Falles:
Sofort nach dem an ihr begangenen Verbrechen läuft die
kleine Marie zur Mutter, um ihr das Geschehene zu melden. Es
klingt das so natürlich und man müßte annehmen, daß alle
kleinen Mädchen, die sich in derselben Lage befinden, ebenso
handelten. Aber nicht immer geschieht dieses; öfters verstehen
sie das Vorgefallene vor der Mutter zu verheimlichen und diese ent¬
deckt erst durch Zufall, meist durch die blutbefleckte Wäsche auf die
richtige Fährte geleitet, den Sachverhalt. Dem Verbrecher gelingt es
nämlich nicht selten, sein Opfer durch Drohung derart einzu¬
schüchtern, daß dieses alle Schmerzen ruhig erträgt und ihn nicht
verrät. Das Versprechen, die Geschändete im entgegengesetzten
Falle „totzuschlagen“ oder „mit dem Messer zu zerfleischen“ übt
eine prompte Wirkung auf die armen, schon durch den Vorfall
selbst stark alterierten Kinder aus. Wenn D. also eine Drohung
ausgesprochen haben sollte, so hat Marie sie nicht gehört und
verstanden oder man kann wohl eher annehmen, daß er dieses zu
tun unterließ, weil er einen Verrat von seiten der Stummen nicht
fürchten zu müssen wähnte. Hierin glaube ich den Grund zu
sehen, daß dem Gegenstände sofort die nötige Aufmerksamkeit
geschenkt werden konnte.
Verfolgen wir nun den Gang der Untersuchung des Falles,
so bemerken wir, daß sich die Eltern der Geschändeten zuerst
Defloration eines taubstummen Kindes
287
an eine Hebamme wenden. Es ist das der häufigste Weg, der
eingeschlagen zu werden pflegt, doch ist von einem solchen Vor¬
gehen dringend abzuraten. Man kann nur wünschen, daß in der
Zeit zwischen stattgehabtem Verbrechen und der offiziellen ge¬
richtlich-medizinischen Expertise niemand an den Genitalien herum¬
manipuliert hat. Gerade Hebammen sind sich dabei der Tragweite
ihrer Handlungen nicht bewußt und schaden gewöhnlich mehr
als sie nützen. Von den zahlreichen Beispielen, die ich zur Be¬
stätigung hierfür anführen könnte, sei nur eines Falles Erwähnung
getan: StujJrata — ein 15jähriges Mädchen; die Angehörigen
wenden sich sofort nach stattgehabtem Delikte an eine Hebamme,
die das Mädchen untersucht und eine schriftliche Bescheinigung
ausstellt, in der gesagt ist: „Starke Blutung, Hymen unverletzt,
für zwei Finger durchgängig“. Daß es unstatthaft ist, in solchen
Fällen die Finger in die Geschlechtsteile einzuführen, braucht
wohl nicht hervorgehoben werden zu müssen; unter Umständen
könnte sich eine solche Person selbst eine Anklage wegen Fahr-
läßigkeit zuziehen. Daß ein schriftliches Zeugnis der Hebamme
gar keine gerichtliche Bedeutung hat, ist selbstverständlich. In
Betracht kommt nur das offizielle Protokoll über die gerichtsärzt¬
liche Untersuchung nebst dem sich daranschließenden Gutachten des
Experten. Auch Ärzte können nicht dringend genug davor gewarnt
werden, schriftliche Bescheinigungen über durch Sittlichkeitsver¬
brechen entstandene Beschädigungen auszustellen. Es macht doch
gewiß keinen guten Eindruck, ein auf bedrucktem Blankette aus¬
gestelltes, mit Unterschrift und Siegel versehenes, ärztliches Zeug¬
nis zu lesen, auf dessen Rückseite die Verplichtung des Ange¬
schuldigten sich befindet, zugunsten der von ihm Geschändeten ein¬
malig eine größere Summe und im Verlaufe einer gewissen Zeit
so und soviel ratenweise zahlen zu wollen. Auf ein derartiges
Dokument bin ich in einer Gerichtsakte gestoßen. Ich bin über¬
zeugt, daß der Arzt bei Ausstellung des Zeugnisses, keine Ahnung
davon hatte, daß dieses sich in der Folge in ein gut kotiertes
Wertpapier verwandeln würde.
Ist sofortige ärztliche Hilfe nötig, und besonders bei kleinen
Mädchen kann dieser Fall eintreten — ich habe mehrere Male z. B.
vollständigen Dammriß bis zum Rektum, hervorgerufen durch
Notzucht, gesehen — so kommt einzig und allein Anstaltsbehand¬
lung in Betracht. Auf Grund der dann später — selbst nach
Wochen — vorgenommenen offiziellen Untersuchung und der
Aufzeichnungen im Krankenjournal wird es dem Experten wohl
20 *
288
Dr. James Brock
stets gelingen, ein klares Bild vom Vorgefallenen zu gewinnen
und sein Gutachten abgeben zu können.
Es wird oft der Befürchtung Ausdruck gegeben, leichte Ver¬
letzungen könnten zu rasch heilen, verschwinden und die Spuren
des Verbrechens verwischt werden. Dieser Einwand ist zurück¬
zuweisen; wirklich ins Gewicht fallende Traumata bleiben stets
einige Tage erhalten und ganz geringfügigen, zweifelhafte Deu¬
tung zulassenden Erscheinungen darf der gewissenhafte Sachver¬
ständige keine so schwerwiegende Bedeutung beimessen, daß
durch sie allein die Anklage steht oder fällt.
Wenn wir mein im vorliegenden Falle abgegebenes Gutachten
näher ins Auge fassen, so tritt uns ein scheinbarer Widerspruch
im Gutachten selbst und daher ein Widerspruch dieses mit dem
vom Staatsanwalte angezogenen Gesetzesparagraphen entgegen.
Der § 1524 lautet in seinem I. Teile: „Wenn die Defloration eines
Mädchens, das das 14. Lebensjahr noch nicht erreicht hat, ohne
Anwendung von Gewalt erfolgt ist, doch unter Mißbrauch ihrer
Unwissenheit und Unerfahrung, so unterliegt der Schuldige der
Strafe des Verlustes sämtlicher ihm zustehenden Rechte und der
Zwangsarbeit von acht bis zehn Jahren.
Das Gesetz verlangt also strikt, daß eine stattgehabte Deflo¬
ration nachgewiesen sein muß. Eine „Defloration“ kann jedoch
nur in den Fällen angenommen werden, wo der „Geschlechtsakt“
ausgeübt worden ist, wie eine Senatsentscheidung es ausdrücklich
hervorhebt 1 ). In meinem Gutachten habe ich nun aber direkt da¬
rauf hingewiesen, daß eine vollständige Einführung des Gliedes
wegen mangelhafter, d. h. kindlicher Entwicklung der Geschlechts¬
teile der Suprata nicht gelungen ist. Dieser Widerspruch findet
sofort seine Erklärung, wenn wir uns sagen, daß die gerichtliche
Medizin unter Ausübung des Geschlechtsaktes („Beischlafes“) nicht
den physiologischen Coitus — immissio penis et ejaculatio seminis—
versteht. Es genügt schon ein Eindringen des Gliedes in die vulva,
sagt Stumpff in seiner gerichtlichen Geburtshilfe, um die Tat als
vollzogenen „Beischlaf“ betrachten zu können. Derselben Ansicht
ist auch Fritsch: „Das Gesetz bestraft die beleidigte Frauenehre in
erster Linie“ betont er ausdrücklich in diesem Zusammenhänge.
Auf ejaculatio seminis kommt es nicht an. Dieser Auffassung
wird wohl auch das Gericht gewesen sein, das den Angeklagten
zum höchsten vom Gesetze zulässigen Strafmaße, zu 10 Jahren
Zwangsarbeit, verurteilte.
') Nr. 1098 v. Jahre 1869 im Falle Grigoriew.
Defloration eines taubstummen Kindes 289
Stellen wir uns noch zum Schluß die Frage: Welche Folgen
hat ein Sittlichkeitsattentat, begangen an einem Kinde, für das
Objekt des Verbrechens? Zuerst kommt bei ihm wohl nächst den
erlittenen Verletzungen, die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten
in Betracht. Denn in den niederen Schichten der Bevölkerung
herrscht der Aberglaube, daß ein mit solchen Krankheiten behaf¬
teter Mann Heilung durch Kontakt seines kranken Gliedes mit den
Geschlechtsteilen einer „Jungfer“ finden kann. Und wo sollte
wohl die weibliche Unschuld zweifelsfreier vorhanden sein, als
bei einem in der ersten Blüte der Jugend stehendem kleinen
Mädchen? Die somatischen Störungen spielen jedoch nicht die
Hauptrolle — sie verheilen. Mehr ins Gewicht fallen die psy¬
chischen und moralischen Schädigungen der unglücklichen Opfer*
solch* tierischer Instinkte. In dieser Hinsicht sind die Folgen des
Sittlichkeitsverbrechen, begangen an einem Kinde, unberechenbar
und unabsehbar. Wer wollte es wohl vorausbestimmen, welche
Bahnen die zu früh und auf so unnatürlich rohe Weise geweckte
libido sexualis eine in früher Jugend Geschändete einst zu schrei¬
ten, veranlassen wird?
Literatur: Dr. Erich Wulffen: Der Sexualverbrechen Berlin-Lichterfelde.
Dr. M. Stumpff: Gerichtl. Geburtshilfe. Wiesbaden 1907.
Prof. Dr. H. Fritch: Gerichtsärztl. Geburtshilfe. Stuttgart 1901.
Prof. Hoffmann: Gerichtliche Medizin.
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium
nach Influenza.
Gutachten der Wiener medizinischen Fakultät.
Von
Prof. H. Obersteiner, Wien.
Das nachfolgende Fakultätsgutachten stammt aus dem Jahre
1902. In Rücksicht auf die 1918 einsetzende Grippeepidemie schien
es mir zeitgemäß, auf diesen alten Fall zurückzugreifen, da es nicht
ausgeschlossen ist, daß bei ähnlichen Vorkommnissen der jetzigen
Epidemie der Zusammenhang der Tat mit der Erkrankung ebenso
übersehen wird, wie hier von den früheren Begutachtern.
Auch in formeller Hinsicht muß auf das Datum aufmerksam
gemacht werden. Die Referenten der Wiener medizinischen Fakul¬
tät haben sich schon seit längerer Zeit dahin geeinigt, eine Sub-
sumption unter die einzelnen Punkte des § 2 öst. Str.G., wie sie
ja in der Zuschrift des Kreisgerichtes S. verlangt wird, abzulehnen,
da damit die.Kompetenz des Arztes gegenüber der des Richters
überschritten würde — wie e$ aber in dem vorliegenden Gutachten,
nach früherer Gepflogenheit noch geschehen ist. Ferner wird jetzt
immer neben dem Referenten, der dem Professoren-Kollegium an¬
gehören muß, ein Korreferent bestellt, Extraordinarius oder Dozent.
Z. 4324 Strf.
An die löbliche
medizinische Fakultät der k. k. Universität in
Wien.
Simo Sokolovis aus Lepenica befindet sich hiergerichts in
Strafuntersuchung wegen Verbrechen des Meuchelmordes.
Über den Geisteszustand desselben haben Gutachten Dr. A.
und Dr. B. abgegeben.
Da dieselben sich wiedersprechen und die Strafsache sehr
wichtig und schwierig ist, wird unter Anschluß der Strafakten
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 291
samt beglaubigter Übersetzung im Sinne des § 133 St.P.O. das
dienstfreundliche Ersuchen gestellt, anher das Gutachten abgeben
zu wollen:
1. ob Simo Sokoloviß des Gebrauches der Vernunft ganz be¬
raubt ist;
2. ob Simo Sokoloviß die Tat bei abwechselnder Sinnen
verrückung zu der Zeit, da die Verrückung dauerte, begangen hat.
Kreisgericht
Serajewo am 9. Juli 1902.
Der Leiter.
i
Auszug aus den Akten.
Simo Sokoloviß hat am 21. Juni 1901 seinen schlafenden
Stiefsohn Milan Dokolya mit der Hacke erschlagen. Das Kreis¬
gericht Serajevo ersucht um ein Gutachten, ob dieser Sokoloviß
des Gebrauches der Verfiunft ganz beraubt ist, oder ob er die
Tat bei abwechselnder Sinnesverrückung zur Zeit, da diese Ver¬
rückung dauerte, begangen habe.
Simo Sokoloviß hat vor 5 Jahren zum dritten Mal geheiratet
und zwar eine Witwe, welche 3 Söhne mitbrachte, von denen der
älteste jener Milan ist. Dieser Letztere soll ein ziemlich leicht¬
sinniger Mansch gewesen sein, daher es häufig zu Konflikten mit
seinem Stiefvater kam, welcher verschiedene Bemühungen machte,
den jungen Mann zu ernster Arbeit anzuhalten. Er nahm ihn, da
er Wanderschneider war, auf seinen Touren mit, um ihm das Hand¬
werk beizubringen; er gab ihn dann zu einem Klempner in die
Lehre: nirgends hielt es Milan lange aus, er verdingte sich
schließlich als Knecht, kam aber wiederholt nach Hause. Dabei
kam es einmal zu einem schweren Auftritt zwischen Vater und
Sohn, der beinahe in eine arge Schlägerei ausartete. Simo Sokoloviß
verließ im Winter 1900—01 das Haus und kehrte im Frühjahr
1901 zurück, nachdem ihm seine Frau versprochen hatte, daß der
Milan nicht mehr ins Haus kommen werde. Im Mai 1901 kehrte
aber Milan krank wieder ins Haus zurück. Damals war das Ver¬
hältnis zwischen Vater und Sohn ein besseres, denn der Simo
Sokoloviß pflegte sogar seinen Stiefsohn während dessen Krank¬
heit, deren Natur nicht näher bekannt ist. Doch wissen wir, daß
auch die anderen Familienmitglieder, zuerst die Frau und schlie߬
lich Sokoloviß selbst in ähnlicher Weise erkrankten. Er war meh¬
rere Wochen bettlägerig, klagte, daß ihm alles weh tue, litt an
Kopfschmerzen und fieberte. Zur Zeit der beginnenden Rekon-
292
Prob. H. Obersteiner
valescenz traten vorübergehende Delirien auf. Von mehreren
Zeugen, welche den Sokolovis in seinem Hause 3 Tage vor der
Tat besuchten, wird übereinstimmend angegeben, daß er ganz -
verrücktes Zeug gesprochen habe: es fehle ihm nichts, der Lump
habe ihn dran bekommen, er habe schon viele Lumpen hin¬
geschlachtet, aber keiner von denen, die er niedermetzelte, sei
wieder zum Leben gekommen, und dieser Lump (damit meinte
er den danebenstehenden Milan), trotzdem er ihn in Stücke gehauen
habe, sei wieder lebendig geworden, den kann nur der Teufel
umbringen. Wenn er nicht wäre, würde Bosnien verbrennen.
Dann fragte er was die „Schwaba“ immer von Fechten sprechen
und anderes mehr. Die Anwesenden hielten ihn für verrückt und
machten die Frau aufmerksam, ihn nicht allein zu lassen, auf
hn Acht zu geben.
Am 21. Juni früh war alles aufgestanden, auch der Sokolo-
viß, der aber, nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, sich wie¬
der zu Bett begab. Während sich die Andern anschickten aufs
Peld zu gehen, legte sich Milan, der über Bauchschmerzen klagte,
neben Simo Sokolovifc ins Bett. Zu Hause blieben nur der S.
Sokoloviß, der Milan und die zwei jüngsten Kinder, 6 und 3
Jahre alt. Die Frau hatte kaum eine viertel- bis eine halbe Stunde
im Felde gearbeitet, als der 6 jährige Sohn Nenat 91 ihr kam
und sagte, der Vater rufe sie. Im Hause fand sie den Sokoloviß
in der Küche mit einer blutigen Hacke in der Hand. Er empfing
sie mit den Worten: „Mach was du willst, ich habe den Milan
erschlagen, es kam so über mich und ich schlachtete ihn ab.“ —
Im Zimmer lag der tote Milan auf der rechten Seite nahezu voll¬
ständig zugedeckt, den Kopf fast vollständig vom Rumpfe abge¬
trennt mit 3 stumpfen und 2 scharfen Hieben. Niemand hatte
einen Streit zwischen Sokoloviß und Milan gehört; der kleine
Nenat erzählte nur, daß er vor dem Hause war, der Vater sei
herausgetreten, habe eine Hacke genommen und habe sich, bevor
er wieder ins Haus ging, bekreuzigt. Gleich danach habe Nenat
dumpfe Schläge gehört.
Den herbeieilenden Nachbarn und Gendarmen, die gleich
darnach eintrafen, sagte Sokoloviß bleich und zitternd, er habe
den Milan aus Furcht erschlagen, daß er ihm etwas antun werde.
Vor dem Untersuchungsrichter in Rogatica erzählte Sokoloviß:
„Während ich schlief schlich sich Milan in die Stube und legte
sich neben mich, was mir verdächtig vorkam, ich glaubte, er habe
die Absicht mich im Schlafe zu ermorden, ich fühlte, daß er unter
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 293
mein Kopfpolster griff, um ein dort liegendes Messer (das aber
an dieser Stelle nicht mehr war, weil es die Frau schon vorher
entfernt hatte) hervorzuziehen,“ dann wäre er, Sokoloviö, hinaus¬
gegangen, habe die Hacke geholt und dem Milan einen Hieb
auf den Schädel und einen mit der Schneide auf den Hals gegeben.
Er habe sich damals in einem krankhaften Zustande befunden.
Beim 5. Verhör sagte er: „Ich bleibe dabei, daß ich damals nicht
bei Bewußtsein war: wenn ich den Milan hätte erschlagen wollen,
hätte ich es getan, solange ich gesund war und wäre nach Ser¬
bien geflüchtet.“— Am Tage nach der Tat wurde er auch von
Regimentsarzt Dr. C. untersucht. Dieser fand den Puls normal,
die Zunge rein, er fühlte die Körperwärme normal, fand nichts
Abnormes an den Pupillen. Den Untersuchten fand er schwach
und schlecht aussehend, erklärte ihn für gesund.
Bei der Hauptverhandlung, die am 2. November 1901 begann,
bekannte sich SokoloviS schuldig, er sei während seiner Krankheit
in ein arges Fieber verfallen, so daß er sich lange Zeit in völliger
Bewußtlosigkeit befand, er wußte nicht, wer ihn besuchte und
erkannte niemanden. Nach 11 Tagen sei es ihm besser gegangen,
doch wäre er noch sehr schwach gewesen. Den Milan habe er
aus Angst, daß er ihm etwas 4 antun wolle, umgebracht; erst wie
er das Blut fließen sah, sei er wieder zur Besinnung gekommen
und habe den Sohn Vukola (es war aber Nenat) um die Frau
geschickt. Er sei damals nicht bei Besinnung gewesen, seine
Krankheit habe in Schmerzen im Rücken, in der Brust bestanden,
er habe gehustet, Ohnmachtsfälle gehabt. Die Sachverständigen
Dr. D. und Dr. E. sprachen sich in ihrem Gutachten dahin aus,
daß Sokoloviß zur Zeit der Begehung der Tat sich nicht in einem
Zustande von krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden
habe, durch welche eine freiwillige Betätigung ausgeschlossen
werde. Auch während der Hauptverhandlung äußerten sich die
Sachverständigen in gleicher Weise, es dürfte Influenza oder ein
leichter Typhus gewesen sein, jedenfalls ein so leichter, daß er
keine Folgen für den Geisteszustand des Angeklagten haben
konnte. Von der Influenza sei nicht bekannt, daß die Kranken
in bewußtlosem Zustande Gewalttaten ausführen, weil sie sich zu
schwach dazu fühlen.
Der Verteidiger beantragte die Untersuchung durch sachver¬
ständige Psychiater. Es wurde aber Sokoloviß am 6. November
für schuldig befunden und zujn Tode verurteilt.
Gegen dieses Urteil überreichte Sokolovjfi die Nichtigkeits-
294
Prof. H. Obersteiner
beschwerde, da ein Zweifel darüber bestehe, ob er bei Verübung
der Tat geistig gesund war oder nicht und die vorliegenden
Gutachten nicht von psychiatrisch geschulten Ärzten ausgestellt
sind. Der Verteidiger führte diesbezüglich eine Anzahl von sehr
wichtigen Daten an: daß der Vater des Angeklagten geistig krank
gewesen sei, daß dieser selbst wiederholt an epileptischen Anfällen
gelitten habe und endlich gab er eine ganz neue Darstellung
des Sachverhaltes während der Tat. Sokolovis habe damals
geträumt, daß er wegen eines Diebstahles, den Milan begangen
hätte, vor Gericht stand und der Richter ihm sagte, er müsse den
Milan erschlagen. Da sei er erwacht und aus Furcht vor dem
Milan aus dem Hause gelaufen; da schien es ihm, als ob eine
große Ebene da wäre, auf welcher ein Bataillon Soldaten stand.
Zwei Offiziere zogen den Säbel, um ihn zusammenzuhauen, falls
er nicht, wie es der Richter befohlen habe, den Milan erschlage.
Einer gab ihm die Hacke dazu in die Hand. Auf welche Art er
den Milan erschlagen habe, wisse er nicht genau, erst als er Blut
sah, wäre er zu sich gekommen. Er gab ferner an, daß er diesen
Umstand früher vor Gericht nicht sagen wollte, weil er glaubte,
dies sei eine Thorheit, die ihm niemand glauben wolle. Auch
bezüglich der anderen Punkte habe er früher vor Gericht nichts
erwähnt, da er sich teils nicht daran erinnerte, teils sie nicht für
wichtig hielt.
Das Obergericht für Bosnien und Herzegowina hat mit Be¬
schluß vom 29. November 1901 dieser Nichtigkeitsbeschwerde
Folge geleistet, da es sich hauptsächlich darum handle, wie der
geistige Zustand des Sokolovic in der Krankheit selbst und zur
Zeit der Tat war. Seine damalige psychische Verfassung hätte
müssen durch sachverständige Psychiater erhoben werden, nachdem
denselben alle zur Beurteilung der Sache erforderlichen Dinge
und Umstände vorgeführt wurden.
Es wurden neuerlich Zeugen einvernommen, welche nament¬
lich auch über die Anfälle des Sokoloviß aussagen konnten, ferner
die Mithäftlinge und Kerkermeister, welche Auskunft geben sollten
über sein Verhalten während der Untersuchungshaft vom 7. Juli
bis 4. Dezember 1901. Der Kerkermeister und der Beschließer
fanden nichts Besonderes an ihm, keine epileptischen Anfälle.
Auffallend ist es, daß im Widerspruch damit eine Reihe von Zell-
genossen ganz übereinstimmend Angaben machen über ein sonder¬
bares Benehmen des Sokoloviö. Es sei etwa alle 6—8 Tage
vorgekommen, daß er des Nachts Unsinn machte und sagte:
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 295
„Man ruft mich“, — er sah in die Ventilation und sagte, er höre
dort die Hähne krähen, knüllte die Bettdecke zusammen, ging
damit zur Tür, um fortzugehen, empfahl sich: „Gott mit Euch“ —
kehrte dann wieder um. Auch bei Tag soll es vorgekommen
sein, daß er vom E$sen verspritzte und sagte, er gebe seinem
Vater zu essen, auch erzählte er ihnen die Geschichte mit den
Soldaten.
Am 4. Dezember 1901 wurde er in die Irrenabteilung gebracht,
wo er bis zum 4. März 1902 in Beobachtung stand. Auf Grund
dieser Beobachtung und des Aktenmaterials wurden von Dr. A.
am 2. März und von dem Dr. B. am 14. März zwei widerspre¬
chende Gutachten abgegeben. In dem Gutachten von Dr. A.
wird die Geisteskrankheit des Vaters, es werden die verschiedenen
Anfälle des Angeklagten hervorgehoben. Ferner gibt er die
anderen bereits angeführten anamnestischen Daten an. Die körper¬
liche Untersuchung ergab, daß SokoloviS schwächlich, herabge¬
kommen aussehe, leichte Arhythmie des Herzens, Steigerung der
Sehnenreflexe (der unteren und oberen Extremitäten), leichte
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit, rechts geringe Schwäche
beider Extremitäten, ferner eine tiefer ausgeprägte Nasolabialfalte.
Klage über Kopfschmerzen, er müsse sich oft anhalten, um nicht
niederzustürzen, dann vergehe dieses wieder und er fühle sich
wieder wohl, öfters Aufschrecken aus dem Schlaf. Psychisch
mache er den Eindruck eines mit gesundem Verstände begabten
Menschen. Sein Gedächtnis, inwieweit es nicht die Tat betrifft,
gut erhalten. Sokolovic war wiederholt krank; auffallend sind bei
jeder Krankheit die angeführten Delirien, Visionen, Gehörs- und
Gesichtshallucinationen, welche neben anderen Krankheitssymp¬
tomen mit höchster Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten, daß die
Psyche krank war. Die Anfälle sind epileptischer Natur, petit
mal oder nur epileptischer Schwindel. Sokoloviß hat die Tat
während eines solchen Anfalles im epileptischen Zustande began¬
gen. Es handelt sich um eine transitorische Bewußtseinsstörung,
die sich äußert in einem traumhaft veränderten Bewußtseinszustand
und dem damit verbundenen minder deutlichen Erinnerungsdefekt
an die gewalttätige Handlung selbst, auf Grund von epileptoiden
Zeichen erwiesener epileptischer Grundlage.
Das Bewußtsein war nicht aufgehoben, es war nur beschränkt.
Er kommt dann zu dem Schlüsse: 1. Sokolovic ist ein neuro-
pathisch, neurasthenisches Individuum. 2. Sokoloviö litt öfters an
traumhaften Hallucinationen und Visionen, so wurde auch bei
296
Prof. H. Obersteiner
ihm ein somnambuler Zustand beobachtet 3. Die traumhaften
Hallucinationen basieren sich auf epileptoider, epileptischer Grund¬
lage. 4. Sokoloviß konnte die inkriminierte Tat, die Ermordung
des Milan, in geistiger Verwirrung vollbracht haben. .Der letzte
Satz wurde ursprünglich so gefaßt: Simo Sokoloviß hatte die
inkriminierte Tat in geistiger Verwirrung vollbracht, — und ist
dann in der obigen Weise ausgebessert worden.
Wir gehen an die Besprechung des zweiten von Dr. B. ver¬
faßten, circa 150 Seiten fassenden Gutachtens. Dieser Begutachter
legt der leichten Schwäche des rechten Armes und dem Verstrichen¬
sein der rechten Nasolabialfalte keine Bedeutung bei, wohl aber
berechtigen die Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit und
die gesteigerten Sehnenreflexe zur Annahme einer neuropathischen
Konstitution. Des Weiteren wird nun die Frage erörtert, ob Soko¬
loviß Epileptiker sei oder nicht. Das wichtigste ätiologische
Moment der erblichen Belastung fehlt, denn wenn auch der Vater
des Angeklagten einmal durch mehrere Wochen geistesgestört
war, so hat es sich hierbei wahrscheinlich nur um ein im Verlaufe
einer fieberhaften Krankheit aufgetretenes Delirium gehandelt.
Objektive Zeichen der Epilepsie, z. B. Zungenbiß, fehlen, es
bleiben also nur die von dem Angeklagten selbst und von Zeugen
gemachten Angaben über wiederholte Anfälle, deren epileptischer
Charakter aber nicht festgestellt erscheint. Die Annahme einer
Epilepsie erscheine daher erschüttert, wenn auch nicht widerlegt.
Jedenfalls aber kann bei ihm von einer epileptischen Degeneration
nicht die Rede sein, welche die Straffreiheit bedingen würde.
Schwer zu entscheiden wäre die Frage, ob Sokoloviß die Tat in
einem Anfalle von Epilepsie verübt habe; es ist nicht bekannt,
ob Sokoloviß kurz vorher einen epileptischen Anfall gehabt habe
oder irgendwelche Zeichen geistiger Abnormität dargeboten hätte.
Die Angaben des Angeklagten über die Tat selbst und ihre Motive
sind ungemein widersprechend. Es wäre ja, wenn auch ein
Krampfanfall nicht nachweisbar ist, zu erwägen, ob es sich nicht
um epileptische Dämmerzustände als psychisches Äquivalent ge¬
handelt habe, wenn auch dafür durchaus nicht totale Amnesie
verlangt werde und häufig eine partiell getrübte Erinnerung an
die Tat zurückbleibt. So fällt es auf, daß Sokoloviß über seine
ganz delirienhaften Trugwahrnehmungen ganz genau Auskunft
gibt, wie die Soldaten ausgesehen haben, welche Farbe die
Schnüre auf ihren Röcken hatten. Er selbst gibt zu, sich an die
Tat zu erinnern und wenn er auch meint, nur zwei Hiebe geführt
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 297
zu haben, so entsprechen doch seine übrigen Angaben vollkommen
dem Tatbestände. Der Umstand, daß er anfangs von den Hallu-
cinationen nichts sprach, sondern erst viel später nach der Ver¬
urteilung, werde von Sokolovic dadurch erklärt, daß er sich ge¬
schämt habe darüber zu sprechen und er fürchtete, man werde
ihm einen solchen Unsinn nicht glauben. Es sei aber doch recht
unwahrscheinlich, daß Sokoloviß, der von allem eine präzise Er¬
innerung haben will, gleich nach der Tat, resp. der Aufhellung
des Bewußtseins angesichts der gewaltigen psychischen Erregung
soviel 1 Überlegung besessen habe, um diese Tatsachen zu ver¬
schweigen. Um einen Zustand ängstlichen epileptischen Deliriums
kann es sich noch weniger gehandelt haben, da ein solcher längere
Zeit dauert, auch nicht um Schlaftrunkenheit; es ist nicht einmal
erwiesen, daß Sokoloviß vorher geschlafen habe. Gewaltakte der
Epileptiker sind meist unmotiviert, plan- und rücksichtslos, während
Sokoloviß in allen Einzelheiten planmäßig und zielbewußt vorge¬
gangen ist. Von einem automatisch ausgeführten, impulsiven Akte
kann keine Rede sein, — ja, er bekreuzigte sich, bevor er mit
der Hacke ins Zimmer zurückging. Er will erst beim Anblicke
des spritzenden Blutes wieder zum Bewußtsein gekommen sein:
Eine solche Bewußtseinstrübung kann 'aber nur in der physiolo¬
gischen Breite zugegeben werden, nicht aber für eine traumhafte
Sinnesverwirrung. Gegen einen transitorischen epileptischen Zu¬
stand spricht das Verhalten des Sokoloviß nach der Tat. Mit Rück¬
sicht darauf, daß Sokoloviß an einer fieberhaften Krankheit ge¬
litten hat, könnte man eher an ein Fieberdelirium denken, doch
war er am Tage der Tat bereits fieberfrei und auch der Inhalt
der Delirien entspricht nicht dem bekannten Bilde der Fieberde¬
lirien. Analoge Erwägungen schließen auch ein Kolapsdelirium
aus. — Es geht wohl nicht an, der viele Seiten füllenden psycho¬
logischen Analyse zu folgen, welche das Gutachten dem Ver¬
halten des Angeklagten insbesondere mit Rücksicht darauf, was
er über die nächsten Motive seiner Tat äußert, widmet. Es mag
genügen, daß sowohl die späteren Angaben des Angeklagten
über die Vorgänge bei der Tat (z. B. die halluzinatorischen Sol¬
daten) als auch vielfach anscheinende Erinnerungstrübungen, die
sich auf die ersten Vernehmungen beziehen, in das Gebiet der
bewußten Simulation verwiesen werden. Die festgehaltene Angabe
des Sokoloviß, er habe dem Milan nur zwei Hiebe mit der Hacke
versetzt, während es zirka fünf waren, erklärt das Gutachten mit
dem Bemühen des Sokolovic, seine Tat minder brutal erscheinen
298
Prof. H. Obersteiner
zu lassen. Eine weitere Aussage des Sokoloviß, er habe seinen
Sohn Vukola und nicht den Nenat um die Mutter geschickt, könne
durchaus nicht als pathologische Sinnesverwechslung oder Er¬
innerungstäuschung erklärt werden. Das eigentümliche Verhalten
des Angeklagten im Gefängnis dürfte als Simulation aufgefaßt
werden und zwar hat er es sich dadurch leicht gemacht, daß er
keinen dauernden Zustand simuliert hat, sondern nur einen vorüber¬
gehenden. Das Gutachten schließt: „Wenn auch die Epilepsie des
SokoloviS kaum genügend erwiesen wurde, da er jedenfalls sehr
selten Anfälle gehabt hat, so können wir die Möglichkeit daß er
zur Zeit der Begehung der Tat einen epileptisch psychischen In¬
sult gehabt hat, nicht ausschließen. Wenn die Handlung in blinder
zielloser Vernichtung, mit einer unter der Hand befindlichen
Waffe oder in automatischer Weise verübt worden wäre, wenn
die Angaben des Nenat nicht vorlägen und wenn das Verhalten
der Erinnerung mit denjenigen bei epileptischen Zuständen vor¬
kommenden mehr übereinstimmen würde, wenn nicht die nach¬
träglich simulierte Amnesie, wenn die Angaben über die Visionen
nicht zu so verdächtiger Zeit erfolgt wären und dieselben nicht
an und für sich so unwahrscheinlich wären, wäre die Annahme
eines transitorischen Zustandes von Sinnesverwirrung nicht von
der Hand zu weisen.“ Auf Grund des hier niedergelegten Mate¬
rials gibt Dr. B. das von ihm abverlangte Gutachten über den
Geisteszustand des Sokolovic wie folgt:
ad 1. Simo Sokolovis ist des Gebrauches der Vernunft nicht
nur nicht ganz beraubt, sondern er stellt ein geistig ganz integres
Individuum dar, dessen Geist weder durch die Zeichen der neu-
ropathischen Konstitution, noch durch die (eventuell vorhandene)
Fallsucht gelitten hat. ad. 2. Es lassen sich keine Anhaltspunkte
dafür auffinden, daß S. SokoloviS bei abwechselnder Sinnesver¬
rückung die Tat zu der Zeit, als die Verrückung dauerte, be¬
gangen habe.
Mit Rücksicht auf die Widersprüche dieser beiden Gutachten
und auf gewisse Mängel derselben, wurde vom Staatsanwalte
ein Fakultätsgutachten abverlangt; vom Untersuchungsrichter wurde
beantragt Herrn Dr. F. als dritten Sachverständigen heranzuziehen.
Das Gericht beschloß dem letzteren Anträge Folge zu leisten. Am
17. März wurde Dr. F. beauftragt, den SokoloviS zu beobachten
und dann sein Gutachten abzugeben. Am 21. Mai wurde er ur-
giert und versprach das Gutachten in mehreren Wochen. Neuer¬
lich am 30. Juni urgiert beruft sich Dr. F. am 1. Juli auf seine
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 299
Facialisparese und schickt die Akten'zurück, bemerkt aber, daß
er bei SokoloviS unzweifelhaft Zeichen einer überstandenen Ge¬
hirnapoplexie konstatiert habe. Zunächst wurde daher Dr. B. wieder
einvernommen und befragt, wieso es denn käme, daß er bei So-
koloviö die Apoplexie nicht konstatiert habe. Er gab zu, daß er
der rechtsseitigen Parese nicht die genügende Bedeutung beige¬
messen habe, daß ihm später selbst Bedenken diesbezüglich auf¬
gestiegen seien, daß er den SokoloviS nochmals untersucht habe
und zur Überzeugung gekommen sei, daß es sich tatsächlich um
eine Apoplexis handle; er müsse annehmen, daß der apoplek-
tische Insult in einem der Anfälle, welche mit Bewußtseinsstörung
verliefen, stattgefunden habe. Damit würde aber die Annahme
einer Epilepsie noch mehr erschüttert werden, wenn ihr auch der
Boden nicht ganz entzogen sei. Da aber der Schlaganfall auf die
geistige Integrität des Exploraten keine nachteilige Wirkung aus¬
geübt hat, bleibt im Übrigen die Begutachtung des Falles die
gleiche. Ferner fragte der Richter, warum er keine erbliche Be¬
lastung annehme, worauf Dr. B. erwiderte, daß er die Geistes¬
störung des Vaters als Fieberdelirium auffasse und daß der
Mangel von Erscheinungen bei den übrigen Familiengliedern gegen
die Belastung spreche. Daß Sokolovic Anfälle von Somnambulis¬
mus gehabt habe, ist nicht erwiesen, doch wolle er deren Mög¬
lichkeit einräumen. Ferner wurde er wegen der angenommenen
Simulation der Gedächtnisstörung und der Anfälle im Gefängnisse
vom Richter ausgefragt.
Endlich liegt in den Akten noch das Protokoll einer münd¬
lichen Einvernahme des Dr. F. vom 10. Juli 1902 vor. Dieser
konnte auch leichten Tremor der Hände konstatieren, sowie die
Zeichen der Apoplexie: Schädel schwach zuckerhuthörnig mit
steil abfallendem Hinterhaupt und Atheromatose. Simo Sokoloviö
läßt keine Zeichen einer geistigen Störung erkennen, er erscheint
als vollkommen geistig gesund, seine Halluzinationen sind simu¬
liert, ein sicherer epileptischer Anfall sei nie beobachtet worden.
Es wurde nun auf Antrag des Staatsanwaltes, mit Rücksicht
auf die Ablehnung des Dr. F., ein Fakultätsgutachten einzuholen
beschlossen.
Bevor wir an das Gutachten gehen, muß noch einiges über
die Person des Angeklagten nachgetragen und näher ausgeführt
werden, was früher nur angedeutet wurde. Der Vater des Simo
Sokoloviß ist, wie durch verschiedene Zeugenaussagen nachge¬
wiesen erscheint, vor 40 Jahren durch 4 Wochen geistig krank
300
Prof. H. Obersteiner
gewesen. Die Krankheit trug den Charakter eines furibunden
Deliriums: er wollte seine Frau umbringen; wurde in eine Wall¬
fahrtskirche gebracht und soll bald darauf gesund geworden sein.
Die Geschwister des Angeklagten sind weder geistes- noch nerven¬
krank. Bloß von einem Bruder sagte ein Zeuge, er sei verrückt,
ohne daß er dieses begründen konnte. Simo Sokoloviö soll in
seiner Kindheit schwächlich und anämisch gewesen sein und ver¬
schiedene Kinderkrankheiten, z. B. Keuchhusten durchgemacht
haben. Auch soll er damals unruhig geschlafen, im Schlafe auf¬
geschrieen haben. Ferner soll er als Knabe und auch noch später
manchmal Bettnässen gehabt haben. Er selbst gibt an, seit länge¬
rer Zeit an epileptischen Anfällen zu leiden. Solche Anfälle von
Bewußtlosigkeit hätte er bereits in seiner Jugend gehabt. In den
70iger Jahren sei er im Hause zusammengestürzt, was seine
Schwester bestätigt und auch wiederholt in den folgenden Jahren.
Sicher konstatiert ist, daß Sokoloviö vor 3—4 Jahren während des
Gebetes in Anwesenheit einer Anzahl von Personen, die darüber
aussagen, plötzlich zusammengestürzt und einige Minuten liegen
geblieben sei. Sokoloviö sagte, als er wieder zu sich gekommen
war, daß ihm die Ohnmacht ins Gehirn gestiegen sei. Krämpfe
oder Schaum vor dem Munde konnten dabei nicht beobachtet
werden. Ferner soll er im Jahre 1878 in Serbien an einer Krank¬
heit (Typhus?) mit schweren Delirien gelitten haben. Endlich
hatte er vor 15 Jahren einen Zustand von Geistesabwesenheit
gehabt. Er sei des Nachts unbekleidet über die schneebedeckten
Wiesen gegangen und habe erst dann das Bewußtsein erlangt,
als sich ein Hund mit ihm zu schaffen machte. Diesen Vorgang
habe er damals gleich seinem Schwager erzählt, welcher in einer
Zeugenaussage darüber berichtet.
Simo Sokoloviö wi'rd als ein ernster, stiller Mensch geschildert,
der wegen seines Verstandes und seiner Bildung (er kann cyrillische
Buchstaben lesen) sich einer besonderen Achtung erfreut. Er sei
so klug, daß man auf ihn das Sprichwort anwendete: „Er könnte
einen Durstigen über einen Fluß tragen. 8
Gutachten.
Mit Rücksicht auf die Widersprüche, die sich nicht blos in
den Gutachten der verschiedenen Sachverständigen finden, son¬
dern auch deshalb, weil die einzelnen Begutachter in ihren
Äußerungen stellenweise mehr oder minder unsicher und schwan¬
kend sind, erscheint es notwendig, zuerst jene in den Akten vor-
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 301
fmdlichen Tatsachen, welche für die Beurteilung des psychischen
Verhaltens des Simo Sokoloviß zur Zeit der Tat und nachher
von Belang und die als sicher festgestellt anzusehen sind, von
jenen zu trennen, deren Wahrheit möglicherweise angezweifelt
werden kann.
1. Bezüglich einer etwa hereditären Disposition resp.
nervösen Konstitution steht fest, daß sein Vater durch einige
Wochen einen schweren delirienhaften Zustand gehabt habe; nach
den Zeugenaussagen soll es sich entweder um ein Alkoholdelirium
oder ein solches im Anschluß an einen fieberhaften Zustand ge¬
handelt haben. Es scheint für die vorliegende Frage ziemlich
gleichgültig, welche von diesen beiden Anschauungen die richtige
ist, denn ob der Vater ein Alkoholiker war, was von den Meisten
geleugnet wird, oder ob er selbst derart nervös veranlagt war,
daß sich bei ihm im Anschluß an eine, wie es scheint, nicht sehr
schwere Erkrankung lange anhaltende Delirien einstellten, in
beiden Fällen ist dofch der Hinweis auf die Möglichkeit einer erb¬
lich übertragenen Disposition zu nervösen Erkrankungen gegeben.
Eine solche Disposition wird noch wahrscheinlicher, wenn wir er¬
fahren, daß Simo Sokoloviß in seiner Kindheit schlecht geschlafen,
Zeichen von pavor nocturnus dargeboten habe und längere Zeit
Betfhässer geblieben sei. Die Geschwister des Angeklagten sollen
zwar normal sein, doch weist die Bemerkung eines Zeugen, daß
der eine Bruder verrückt sei, immerhin daraufhin, daß jener
Bruder vielleicht ein Sonderling, kein ganz normaler Mensch wäre.
Für eine nervöse Disposition des Simo Sokolovic spricht dann
noch eine Anzahl von weiteren, ärztlich konstatierten Symptomen:
gesteigerte Sehnenreflexe, herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit,
wohl auch die bilateral ungleiche Innervation der Körpermuskulatur,
die von einigen Ärzten als Zeichen eines überstandenen apo-
plektischen Insultes angesehen wurde, worauf wir bald wieder zu
sprechen kommen werden. Ferner wären noch allenfalls einige
unkontrollierbare Angaben des Angeklagten, wie Klagen über
häufigen Kopfschmerz, unruhigen Schlaf usw. zu erwähnen.
2. Bezüglich der Anfälle des Simo Sokoloviß wissen wir
mit Sicherheit, daß solche vorgekommen sind. Einen solchen
Anfall sah seine Schwester im Jahre 1870. Bei dem Anfalle vor
3—4 Jahren war eine Anzahl von Personen gegenwärtig. Über
eine Reihe weiterer Anfälle, die sich auch schon in der Jugend¬
zeit gezeigt haben sollen, berichtet der Angeklagte, ohne daß da¬
für Zeugenaussagen vorlägen. Niemand hat bei den Anfällen
Archiv für Kriminologie. 71. Bd. 21
302
Prof. H. Obersteiner
Krämpfe oder Schaum vor dem Munde gesehen, aber der Um¬
stand, daß diese Anfälle wiederholt auftraten, und auch das, was
wir darüber von den Augenzeugen wissen, spricht sehr für deren
epileptischen Charakter. Beim letzten Anfalle, der in Anwesenheit
zahlreicher Personen während des Gebetes eintrat, fiel Simo
Sokoloviö plötzlich um, wurde bewußtlos, kam aber nach einigen
Minuten zu sich und sagte, die Ohnmacht sei ihm zu Kopfe ge¬
stiegen. Ein apoplektischer Insult scheint hier vollkommen aus¬
geschlossen.. Niemand, auch nicht der Angeklagte, gibt an, daß
nach einem Anfalle irgendwelche Lähmungserscheinungen zurück¬
geblieben wären. Da aber heute noch eine Schwäche der rechten
Körperseite vorliegen soll, die von zwei Begutachtern als Folge
eines apoplektischen Insultes angesehen wird, der vor mehreren
Jahren stattgefunden hätte, so müßte doch angenommen werden,
daß diese Paresen und zwar in viel höherem Grade, als sie jetzt
bestehen, gleich im Anschluß an einen Anfall aufgetreten seien
und gewiß, mindestens dem Kranken selbst, nicht entgangen
wären. Ferner pflegen rechtsseitige Hemiplegien und Paresen,
besonders wenn sie Gesicht und beide Extremitäten betreffen,
meistens mit einer, wenn auch vorübergehenden, sehr auffälligen
Sprachstörung einherzugehen. Simo Sokoloviß konnte aber, nach¬
dem der Anfall vorbei war, gleich wieder deutlich sprechen.
Endlich wäre später in den paretischen Gliedern eine vielleicht
auch nur leichte Kontraktur eingetreten, die Sehnenreflexe sind
gewöhnlich auf der gelähmten Seite stärker als auf der gesund
gebliebenen, was alles in diesem Falle nicht zutrifft. Wir werden
demnach zur Annahme gedrängt, daß es sich gewiß nicht um
apoplektische, wohl aber um epileptische Anfälle unter der Form
des petit mal handelt, eine Annahme, gegen die sich gewichtige
Gründe nicht Vorbringen lassen. Simo Sokoloviß berichtet, daß
er im Winter einmal Nachts sinn- und zwecklos halbnackt auf
das Feld gelaufen sei. Diese Exkursion, an die ihm eine dunkle
Erinnerung geblieben ist und die er gleich damals vor 15 Jahren
weiter erzählte, zu einer Zeil, da ja keine Veranlassung zu eirfer
Täuschung vorlag, muß jedem erfahrenen Arzte den Verdacht auf
Epilepsie aufsteigen lassen. Es ist demnach bei Simo Sokoloviö
das Auftreten nervöser Anfälle sichergestellt, deren epileptische
Natur zum mindesten höchst wahrscheinlich ist.
3. Wir wissen, daß Simo Sokolovic anfangs Juni 1902 an einem
fieberhaften Zustande erkrankte. Da er nicht in ärztlicher
Behandlung stand, liegt keine Diagnose dieser Erkrankung von
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 303
fachmännischen Augenzeugen vor; wir müssen" daher versuchen,
aus den vorhandenen Umständen uns nachträglich über die Natur
dieser Erkrankung ein Bild zu machen. Der ermordete Milan
scheint diese Krankheit bei seiner Rückkehr ins Haus gebracht zu
haben, denn er kam krank, fiebernd, schwach usw. heim. Bald
danach erkrankten seine Mutter und andere Hausgenossen und
schließlich Simo Sokoloviß. Es war also jedenfalls eine Infektions¬
krankheit. Wenn die Ärzte in ihrem Gutachten zwischen Typhus
und Influenza schwanken, so ist wohl ersterer mit Sicherheit aus¬
zuschließen. Wie sollten wir erwarten, daß zufällig in dieser
Familie lauter abortive Fälle von so kurzer Dauer aufgetreten
seien? Nachforschungen, ob im Dorfe, woher Milan kam, oder
in dem Wohnorte des S. Sokoloviß Typhusfälle vorgekommen
seien, wurden nicht gepflogen. Die zweite Annahme, daß es sich
um Influenza handeln könne, verdient aber volle Beachtung, in¬
soweit uns das Krankheitsbild bei Simo Sokoloviö bekannt ist:
Fieber, Schmerzen im Kopf und Rücken, Husten, Abgeschlagen-
heit usw., die Dauer von 1—2 Wochen lassen sich im Verein mit
der auffallend leichten Übertragbarkeit auf verschiedene Familien¬
mitglieder ohne Schwierigkeit mit den bekannten Erscheinungen
der Influenza vereinigen. Ja, es gibt wohl keine andere Infektions¬
krankheit, auf die diese Symptome, dieser Verlauf passen würde.
Wir können also, ohne Gefahr einen Fehlschuß zu tun, sagen, daß
Simo Sokoloviß im Juni an schwerer Influenza erkrankte.
4. Durch mehrere Zeugen ist festgestellt, daß Simo Sokolovic
3—4 Tage vor dem Morde sich in einem delirienhaften Zu¬
stande befunden habe: er sprach tolles, wirres Zeug zusammen,
daß er die Menschen hingeschlachtet habe, der Milan sei wieder
lebendig geworden, ganz Bosnien müßte verbrennen, wenn er nicht
wäre, fragte, was denn da die „Schwabn“ von Fechten sprechen,
usw. Er machte auf die Anwesenden den Eindruck eines Ver¬
rückten, so daß diese, gleichsam in Vorahnung dessen, was dann
geschehen ist, die Frau aufmerksam machten, den Kranken zu
überwachen und nicht allein zu lassen, was vielleicht der Frau
schon früher in den Sinn gekommen war, als sie das Messer unter
dem Polster entfernte. Nach dem Obigen dürfen wir mit Recht
das damalige Gebahren des Sokoloviß auf ein Influenza-Delirium
zurückführen.
5. Wenden wir uns nun zur Tat selbst und zu den näheren
Umständen, unter welchen sie verübt wurde. Augenzeugen fehlen;
nur der kleine 6jährige Nenat befand sich in der Nähe. Sicher
21 *
304
Prof. H. Obersteiner
ist, daß Simo Sokoloviß aus dem Hause trat, die Hacke nahm und,
nachdem er sich bekreuzigt hatte, wieder in das Zimmer zurück¬
kehrte und gleich danach, ohne daß irgend ein Streit oder Wort¬
wechsel vorgekommen wäre, den Milan mit einer Anzahl von etwa
5 Hieben ermordete. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf ange¬
nommen werden, daß Milan auf der rechten Seite liegend im
Schlafe getroffen wurde: die Lage des Ermordeten und die Art,
wie er zugedeckt war, sprechen dafür. Ferner wissen wir, daß
Simo Sokoloviß gleich nach der Tat seinen Sohn Nenat beauf¬
tragte die Mutter zu holen. Als diese kam,- fand sie ihn vor sich
hinbrütend dasitzen und er sagte ihr: „Mache, was du willst, ich
habe den Milan erschlagen, es kam so über mich.“ Über die
Motive der Tat äußerte er sich damals und in den Verhören zu¬
nächst immer dahin, daß er sich vor Milan gefürchtet habe, dann
sei es so über ihn gekommen. Dies wird später dahin erklärt,
er sei nicht bei Sinnen gewesen. Und endlich nach Monaten er¬
zählte er den Vorgang so, als ob er im Verlaufe eines hallucina-
torischen Deliriums impulsiv vorgegangen wäre. Die Erfahrung
lehrt auch, daß rezidivierende Delirien nicht nur häufig, sondern
meist inhaltlich sich in auffallender Weise gleichen. Dies trifft
aber hier zu: in seinen wirren Reden 3 Tage vor dem Morde
sprach er von Umbringen, Abschlachten, speziell den Milan könne
er dauernd nicht umbringen. Es muß allerdings auffallen, daß
der Angeklagte zunächst nichts davon erwähnte; es'mögen auch
die Gründe, welche er für das anfängliche Verschweigen dieses
Umstandes angab, Manchen nicht befriedigen. Ganz ohne weiteres
kann aber doch nicht auf Simulation geschlossen werden. Wenn
er gleich nach der Tat, noch im Anschluß an einen delirienhaften
Zustand, unter dem Eindrücke seines Verbrechens, aber mit noch
halb benommenen Sensorium in dumpfem Hinbrüten, seiner Um¬
gebung und vielleicht sich selbst keine Rechenschaft geben konnte
darüber, was ihn zu dieser Handlung antrieb, so braucht dies
nicht wunderbar zu erscheinen. Und schließlich ist selbst seine
Angabe, daß er sich schämte diese ihm unglaublich scheinende
Geschichte von den Soldaten und den Offizieren dem Richter zu
erzählen, nicht einfach von der Hand zu weisen. Einem ungebil¬
deten Menschen muß freilich eine Halluzination, wie er sie schildert,
als etwas Unbegreifliches und Unglaubwürdiges Vorkommen,
während dies für den Arzt nicht zu gelten braucht. Ebensowenig
spricht es für eine Simulation, wenn Simo Sokoloviö für die Vor¬
kommnisse nach der Tat nur eine getrübte Erinnerung bewahrt
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Influenza 305
hat und infolgedessen bei seinen verschiedenen Vernehmungen
vor den Richtern und im Spital Aussagen macht, welche in manchen
Details nicht übereinstimmen. Auch der Umstand, an dem er
festhält, daß er den Vukola und nicht (Ten Nenat um die Mutter
geschickt habe, kann im Sinne eines pathologischen Zustandes
nach der Tat verwertet werden, ohne daß die Möglichkeit eines
in der physiologischen Breite liegenden Verkennens ausgeschlossen
wäre.
Bedenken wir weiter, daß als einziges Motiv nur sein Haß
gegen den Stiefsohn herangezogen werden könnte; dieses Motiv
verliert aber an Wert, da das Verhältnis zwischen Vater und Sohn
gerade in der letzten Zeit ein viel besseres geworden war, Simo
Sokoloviß den kranken Milan gepflegt hat und auch nicht als
letzte veranlassende Ursache irgend ein Streit oder Wortwechsel
zwischen beiden vorgefallen ist. Wenn Sokoloviß angibt, er habe
- sich gefürchtet, Milan wolle das Messer unter dem Kopfpolster
hervorziehen, um ihm etwas anzutun, so ist auch die Furcht eine
unbegründete, krankhafte gewesen, denn Simo Sokoloviß wußte
ja entweder, daß das Messer schon lange nicht mehr unter dem
Kopfpolster war, sondern von seiner Frau auf ein Brett gelegt
worden war oder, was vielleicht ebenso wahrscheinlich ist, er be¬
fand sich schon früher durch längere Zeit in einem halbbenöm-
menen Zustande, wie er selber angibt, so daß er es nicht fühlte
wie seine Frau das Messer unter dem Kopfpolster wegnahm, noch
auch das Fehlen des Messers später erst bemerkte. Die Angabe
des Nenat, daß sich Sokoloviß, ehe er ins Haus zurückkehrte, be¬
kreuzigte, kann keineswegs unbedingt für ein Zeichen seines freien
Bewußtseins angesehen werden, es könnte ebensogut in dem Sinne
gedeutet werden, daß er in seiner Vorstellung das Urteil zu voll¬
ziehen, in Gottes Namen ans Werk ging.
Fassen wir also das Ergebnis dieser 5 Punkte zusammen, so
kommen wir zum Schlüsse, daß Simo Sokoloviß ein Mensch
von ausgesprochener nervöser Disposition ist, bei wel¬
chem wiederholt epileptische Anfälle unter der Form
des petit mal aufgetreten sind. Sokoloviß erkrankte
Anfangs Juni an Influenza, in deren Verlaufe sich mehr¬
mals transitorische, delirienhaf te Zu stände ein stellten.
Wenn wir also das Motiv zur Ermordung des Milan in einer
derartigen transitorischen Psychose suchen wollen, so müssen wir
fragen, ob denn die wissenschaftlichen Erfahrungen über geistige
Störungen bei Influenza sich mit einer solchen Annahme verein-
306
Prof. H. Obersteiner
baren lassen. Wir wissen, daß durch die verschiedenen fieber¬
haften, namentlich die Infektionskrankheiten das Nervensystem in
hohem Grade in Mitleidenschaft gezogen werden kann, z. B. Ty¬
phus, Scarlatina, Variola, Pneunomie usw. Wir kennen aber, nach
dem Ausspruche von Kirn, der sich mit dieser Frage eingehend
befaßt hat, keine andere akute Infektionskrankheit, die in Bezug
auf das Auftreten von dem Nervensystem angehörigen Symptomen
der Influenza an die Seite zu stellen wäre. Es darf sogar be-
, hauptet werden, daß nervöse Symptome zu den typischen Er¬
scheinungen jeder stärkeren Grippe gehören. Sie treten unter den
verschiedensten Formen auf, so auch als Delirium, welches von
ganz kurzer oder langer Dauer sein kann. Dabei mag das Be¬
wußtsein ganz aufgehoben sein, oder der Kranke bleibt mehr oder
minder bei Besinnug, macht vergebliche Anstrengungen die Illu¬
sionen und Hallucinationen zu bemeistern. Aus den statistischen
Zusammenstellungen von Intrasinski geht hervor, daß gerade
disponierte Individuen durch die Influenza psychisch erkranken
und daß das Rekonvalescenzstadium für den Ausbruch einer psy¬
chischen Störung bevorzugt erscheint. Wenden wir diese Erfah¬
rungen auf unseren Fall an, so treffen sie vollkommen zu. So-
kolovic hat mit teilweise, aber nicht vollständig aufgehobenem
Bewußtsein den Mord begangen. Es handelt sich um einen Mann,
dessen Nervensystem durchaus nicht als intakt angesehen werden
darf und der sich zur Zeit der Tat bereits in dem besonders dis¬
ponierenden Rekonvaleszentenstadium befand; also auch diese
Erfahrungen stimmen mit unserer obigen Annahme vollkommen
überein. Wir können somit von langwierigen und aussichtslosen
Auseinandersetzungen absehen, öb er den Mord in einem epilep¬
tischen Anfalle oder postepileptischen Zustande usw. begangen
habe. Wir sind auch durchaus nicht in der Lage nachzuweisen,
ob Simo Sokoloviö an diesem Morgen einen epileptischen Anfall
gehabt habe; ein solcher Nachweis wird aber überflüssig. Die
Epilepsie hat nur einen indirekten Bezug zur Tat, indem sie uns
den Mann als einen Menschen von schwerer krankhafter nervöser
Veranlagung kennen lernen läßt.
Halten wir an diesem Punkte fest, so wird eine Diskussion
über das weitere Verhalten des Simo Sokoloviö nur von neben¬
sächlicher Bedeutung sein. Epileptische Anfälle wurden weder
im Gefängnisse noch im Spitale beobachtet Es beweist dieser
Umstand nichts, da ja auch vorher die Intervalle zwischen den
Anfällen ziemlich lang gewesen zu sein scheinen, auch nach den
Ermordung des eigenen Stiefsohnes im Delirium nach Iufluenza 307
Angaben des Angeklagten. Sein sonderbares Benehmen des Nachts
im Gefängnisse mag allerdings Verdacht auf Simulation erregen,
aber auch dieser Verdacht erscheint eher unbegründet; ähnliche
Vorkommnisse, wo Menschen im Schlafe aufstehn, unsinniges Zeug
treiben und reden, kommen ja, wenigstens bei nervösen Indivi¬
duen, recht häufig vor, besonders, wenn sich diese in einer ge¬
wissen psychischen Aufregung befinden, was ja sicher bei Simo
Sokoloviß der Fall war. Andererseits darf angenommen werden,
daß Simo Sokolovig, hätte er simulieren wollen, dieses gewiß in
viel auffälligerer Weise getan hätte. Weder der Kerkermeister,
noch später ein Arzt im Spitale, haben ihn bei einem solchen
Benehmen betroffen: Gerade das verkehrte Verhalten, das Simu¬
lanten sonst zu beobachten pflegen. Und wenn einer der Sach¬
verständigen meint, Simo Sokolovic habe es sich leicht gemacht,
indem er nur alle 6—8 Tage durch kurze Zeit simulierte, so ent¬
spricht das auch nicht den Erfahrungen, da ja Simulanten eher
etwas zu viel als zu wenig tun, oft mit größter Überwindung und
Ausdauer. Es darf also das Benehmen des Sokoloviß im Gefäng¬
nisse mit viel mehr Berechtigung auf seine nervöse Konstitution
und seine psychische Erregung als auf Simulation zurückgeführt
werden. Ob es sich dabei um wirkliche epileptoide Dämmerzu¬
stände gehandelt habe, mag dahin gestellt bleiben und erscheint
für die Frage der Strafbarkeit seiner Handlung irrelevant.
■* Die Fakultät spricht sich demnach dahin aus, daß Simo
Sokoloviö ein Mensch von sicherer nervöser Disposi¬
tion ist und die Ermordung seines Stiefsohnes Milan
während eines im Verlaufe einer fieberhaften Krank¬
heit (mit größerer Wahrscheinlichkeit Influenza) auf¬
tretenden Deliriums vollbracht hat.
Die vom löblichen Kreisgerichte in Sarajewo gestellten Fragen
beantworten sich demnach dahin:
1. Simo Sokoloviß ist des Gebrauches der Vernunft
nicht ganz beraubt.
2. Simo Sokolovic hat die Tat bei abwechselnder
Sinnesverrückung, zur Zeit, als die Verrückung dau¬
erte, begangen.
(Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde
der Universität Berlin.)
Versuche zur Unterscheidung von Einschuß
und Ausschuß.
Von
Dr. Georg Straßmann, Berlin.
Die Schießversuche, die ich auf Leichenteile unternommen
habe und über die ich berichten will, dürften ein nicht unwesent¬
liches gerichtlich medizinisches Interesse haben. Die äußere Ur¬
sache für diese Versuche gab der bekannte Fall L. ab, der sich
im Januar 1919 in Berlin ereignete. Es kam hier auf die Fest¬
stellung an, aus welcher Entfernung und welcher Richtung die
tötlichen Schüsse auf L. aus dem Parabellum, das als Waffe be¬
nutzt wurde, abgegeben worden waren. Die Angeschuldigten
behaupteten, den L. bei einem Fluchtversuch von hinten aus
einiger Entfernung erschossen zu haben. Die Feststellung, ob
diese Behauptung mit dem Obduktionsergebnis übereinstimmte,
war für die Gerichtsverhandlung, für die Beurteilung der straf¬
baren Handlung von ausschlagebender Bedeutung. L. hatte
3 Schüsse erhalten. Der Verlauf, den der unmittelbar tödliche
Schädelschuß genommen hatte, War an der Knochenverle zung
sicher zu erkennen, welche die typische kraterförmige Erweiterung
nach außen an der (vorne gelegenen) Ausschuß- und nach innen
an der (hinten gelegenen) Einschußöffnung aufwies. Bei den
anderen Schüssen, die Arm, Brust und Rücken betroffen hatten
war, da Nahschußzeichen fehlten und die Größe und Gestalt der
Schußöffnungen wenig differierten, eine gleich sichere Unter¬
scheidung von Ein- und Ausschuß zunächst nicht möglich ge¬
wesen.
Ebensowenig war die Unterscheidung von Ein- und Ausschuß
bei mehreren anderen tötlichen Schußverletzungen gelungen, die
im April 1919 gerichtlich obduziert wurden. Die Erschossenen
Versuche zur Unterscheidung von Einschuß und Ausschuß 309
hatten nach dem Tode 6—8 Wochen im Wasser gelegen, die
Leichen waren hochgradig faul, und das Gewebe in der Um¬
gebung der Schußöffnung zeigte keinerlei charakteristische Merk¬
male, sodaß nach dem Aussehen der Hautwunden eine sichere
Unterscheidung von Ein- und Ausschuß nicht möglich war. Nur
in einem einzigen dieser Fälle, der am 5. Mai 1919 von Geheimrat
F.Strassmann und Professor Strauch gerichtlich obduziert wurde,
fiel bei der aus dem Wasser gezogenen, sehr faulen Leiche auf,
daß die Umgebung der Brustwunde und die benachbarte Brust¬
muskulatur auffallend rot gefärbt war, während die Umgebung
einer am Rücken gelegenen Hautwunde eine mehr grünliche Färbung
aufwies. Ich stellte aus dem rot gefärbten Gewebe in der Nähe
der Brustschußöffnung einen wäßrigen Extrakt her. In diesem
ließ sich trotz der Fäulnis spektroskopisch deutlich Kohlenoxyd¬
hämoglobin nachweisen. Die Schußwunde an der Brust mußte
demnach den Einschuß darstellen. Der Schuß, welcher das Herz
und die linke Lunge durchbohrt hatte, war vermutlich aus größerer
Nähe abgegeben worden, da Kohlenoxydnachweis nur bei Nah¬
schüssen in der Nähe des Einschusses zu gelingen pflegt. Etwa
vorhanden gewesener Pulverschmauch war durch die Fäulnis und
den Aufenthalt im Wasser jedenfalls abgespült worden und ver¬
schwunden. Pulvereinsprengungen habe ich bei der Untersuchung
der Schußöffnung nicht gefunden.
Während hier die Bildung von Kohlenoxydhämoglobin den
Einschuß charakterisierte, gelang bei einigen anderen tödlichen
Schußverletzungen kein Nachweis von Kohlenoxydhämoglobin,
ebensowenig derjenige von Pulverschmauch, Pulvereinsprengungen
oder sonstigen Nahschußerscheinungen noch auch der eines aus¬
gebildeten Kontusionsringes, der die Erkennung des Einschusses
ermöglicht hätte. Als besondere Schwierigkeit kam hinzu, daß die
Größe und das Aussehen der Schußöffnungen in einzelnen dieser
Fälle wenig von einander abwichen.
Es ist bekannt, daß bei Fernschüssen, bei denen nur das Pro¬
jektil zur Wirkung kommt, die Unterscheidung von Einschuß und
Ausschuß schwierig sein kann, wenn nicht sonstige Feststellungen
einen bestimmten Anhaltspunkt dafür geben, was Ein- oder Aus¬
schuß sein muß. Ist allerdings ein Kontusionsring um die Haut¬
wunde deutlich ausgeprägt, so wird man daran den Einschuß fest¬
stellen, Fehlt er jedoch oder läßt er sich bei sehr faulen Leichen
nicht mehr erkennen, so stößt die Unterscheidung auf Schwierig¬
keiten, zumal die für Ein- 4 oder Ausschuß angegebenen sonstigen
310
. Dr. Georg Strassmann
Erkennungsmefkmale bei Femschüssen häufig nicht sehr charakte¬
ristisch sind. Jene Behauptung voii Devergie, daß die Ränder
des Einschusses eingestülpt, die des Ausschusses nach auswärts
gekehrt seien, trifft nicht für alle Fälle zu, denn durch Fäulnis
und sich vordrängendes Fett können auch die Ränder des Ein¬
schusses nach auswärts gestülpt werden (Haberda). Auch an
der verschiedenen Größe der Schußöffnungen ist die Unterscheidung
von Ein- und Ausschuß nicht immer möglich. Bei Schüssen aus
großer Nähe ist zwar der Einschuß meist größer als der Ausschuß
wegen der Wirkung der Explosionsgase, hier wird sich der Ein¬
schuß auch durch Nahschußzeichen bemerkbar machen. Bei Fern¬
schüssen ist zwar der Ausschuß meist größer als der Einschuß,
aber bei glatten Weichteildurchschüssen kann diese Differenz so
gering sein, daß eine Unterscheidung unmöglich wird. Deutlich
erkennbar ist natürlich der Ausschuß, wenn das deformierte Geschoß
und mitgerissene Knochensplitter einen großen Ausschuß bewirken
oder wenn das Projektil als Querschläger herauskommt. Wenn
aber keine Knochenverletzung vorliegt, an der man die Schu߬
richtung erkennen kann, keine aus der Wunde heraushängenden
Knochensplitter oder Gewebsfetzen den Ausschuß kennzeichnen,
wenn der Kontusionsring am Einschuß fehlt, beide Schußöffnungen
klein sind und hochgradige Fäulniserscheinungen genaue Fest¬
stellungen erschweren, dann kann die Unterscheidung von Ein-
und Ausschuß sehr schwierig oder unmöglich sein.
Dabei kann die Feststellung der Ein- und Ausschußöffnung
bisweilen, wie in dem oben erwähnten Fall, von großer forensischer
Wichtigkeit sein.
Die mikroskopische Untersuchung eines eingebetteten Haut¬
stückes, das aus der Schußwunde am Arm in dem Falle L. stammte,
veranlaßte die später zu erwähnenden Versuche, die ich vornahm,
um Unterscheidungsmerkmale für Ein- und Ausschuß zu finden.
Bei der Durchmusterung des Präparates — es war fraglich, ob die
Wunde am Arm den Ein- oder Ausschuß darstellte — fand sich
außer Blutungen im Unterhautgewebe ein Gewirr von dunkelblauen,
grünen und braunen länglichen Fasern, die offenbar von dem Rock
des Erschossenen herrührten und von dem Projektil mitgerissen
worden waren.
Es ist öfters beobachtet worden, daß Tuchfetzen von den Ge¬
schossen mitgerissen wurden und sich im Schußkanal fanden (Puppe.)
Bei der großen Durchschlagskraft und Anfangsgeschwindigkeit der
modernen kleinkalibrigen Waffen, insbesondere des Infanterie-
Versuche zur Unterscheidung von Einschuß und Ausschuß 311
gewehrs, ist es verständlich, wenn das Geschoß, das die bedeckenden
Kleidungsstücke durchbohrt, Fetzen davon weit in den Körper hinein
verschleppt. Seltener dürfte es sein, daß das Geschoß nur Teile
von Kleidungsstücken in die Wunde hinein vorstülpt, so daß beim
Heraufziehen des vorgestülpten Kleidungsstückes das Projektil aus
der Wunde herausfällt (Lochte).
Während über Verletzungen an Kleidern durch Schüsse be¬
sonders von Lochte eingehende Untersuchungen angestellt worden
sind, fehlen Angaben darüber, wie weit das Geschoß imstande ist,
getroffene Kleidungsfetzen in den Körper mitzureißen und von
welchen Bedingungen es abhängt, wie weit in den &chußkanal
hinein abgerissene Tuchfetzen von der den Körper bedeckenden
Kleidung verschleppt werden.
Ich habe zunächst, ehe ich Schießversuche anstellte, die Haut¬
schußöffnungen und den Schußkanal bei einer Anzahl von Leuten,
die an einer Schußverletzung zu Grunde gegangen waren und bei
denen nach Lage des Schusses anzunehmen war, daß die Kleidnng
durch das Geschoß 'getroffen worden war, auf das Vorhanden¬
sein von Tuchfasern untersucht. Dazu wurden entweder Gewebs-
stücke in der Umgebung der Hautschußwunden und des Schu߬
kanals mit sauberen Nadeln in physiologischer Kochsalzlösung
zerzupft und mikroskopisch untersucht, oder es wurden Gewebs-
stücke eingebettet, geschnitten und in der üblichen Weise mit
Hämatoxylin-Eosin gefärbt. Die bunten Tuchfasern, die von der
Kleidung stammen, haben sowohl im frischen wie im eingebetteten
. Präparat ein so typisches Aussehen, daß sie nicht verkannt oder
mit anderen Fremdkörpern verwechselt werden können.
Der erste von mir untersuchte Fall war ein am 16. Juni 1918 ge¬
richtlich obduzierter älterer Mann, der irrtümlich für einen Einbrecher
gehalten und mit einem Infanteriegewehr erschossen worden war. Es
war nur eine Schußwunde vorhanden, die in einer riesigen Zerreißung
der rechten Achselhöhle bestand und eine Verletzung der Achselhöhlen¬
schlagader und eine Zertrümmerung der rechten 3.—9. Rippe verursacht
hatte. In dem eingebetteten Hautstück fanden sich im durchbluteten
Unterhautgewebe eine Anzahl bunter Kleidungsfasern.
Ebenso sah man solche Tuchfasern bei genauer Durchmusterung
der eingebetteten Hautstücke sowohl in der Umgebung des Einschusses
wie des Ausschusses im Unterhautgewebe bei einem jungen, von Ein¬
brechern erschossenen Mann, bei dem der Einschuß an der rechten
Schulter, der Ausschuß an der linken Schulter sich befand und das Ge¬
schoß beide Lungen durchbohrt hatte. Jedoch waren die Tuchfasern
um den Ausschuß herum nur sehr spärlich vorhanden (gerichtl. obdu¬
ziert 24. Dezember 18). Die Schußwaffe ist mir in diesem Falle nicht bekannt
312
Dr. Georo Strassmann
gewesen. Bei Durchsicht anderer eingebetteter Präparate von Hautschuß-
wund^n bei tötlichen Schußverletzungen, die gerichtlich obduziert worden
waren, habe ich keine Tuchfasern gefunden.
Die Resultate bei der frischen Untersuchung von Schußwunden,
die ich vomahm, waren nicht ganz eindeutig.
Bei einem im Straßenkampf mit Infanteriegewehr erschossenen Ver¬
brecher, den ich am 23. April 1919, neun Tage nach dem Tode sezierte
und der eine größere Anzahl Schüsse erhalten hatte, fand ich folgendes:
In 2 Schußöffnungen (Einschuß und Ausschuß) im Nacken, die nur
5 cm von einander entfernt lagen — es handelte sich um einen ein¬
fachen oberflächlichen Weichteildurchschuß der Nackengegend, — waren
bunte Tuchfasern beim Zerzupfen nachweisbar. In einem kleinen Ein¬
schuß der rechten Brustseite fanden sie sich auch, dagegen nicht in 2
größeren, dicht neben einanderliegenden zerfetzten Öffnungen am Rücken,
die jedenfalls Ausschüsse darstellten. Tuchfasern fanden sich ferner in
dem Einschuß des rechten Unterschenkels, dagegen nicht im Ausschuß
an demselben Bein, aus welchem Knochensplitter herausragten, waren
aber in dem Einschuß am linken Unterschenkel vorhanden.
Ich untersuchte dann noch bei mehreren sehr faulen Leichen, die
nach dem Erschießen mehrere Wochen im Wasser gelegen hatten und
bei denen es bei der Obduktion fraglich geblieben war, welche Haut¬
öffnung den Einschuß, welche den Ausschuß darstellte, das zerzupfte
Gewebe in der Nähe der Schußöffnungen. Bei einer am 5. Mai 1919
obduzierten Leiche, die eine Schüßöffnung an der rechten Halsseite und
eine an der linken Brustseite hatte, wobei der Schuß das Herz durch¬
bohrt hatte, fanden sich in der Halswunde viel bunte Fasern, in der
Brustwunde wenig. Auch bei einigen anderen durch Infanteriegewehr
erschossenen Männern fand ich in der Umgebung beider Hautwunden
sowohl des Einschusses wie des Ausschusses Tuchfasern. Dagegen
waren bei einem Manne, der am 12. Juli 19 dnrch einen Schuß aus einer
Dreyerpistole getötet worden war und am 19. Juli 19 obduziert wurde,
nur bunte Tuchfasem im zerzupften Gewebe um den Einschuß herum
sichtbar, während sich in der Nähe des Ausschusses nur freies Blut,
aber keine Tuchfasem fanden. Das Geschoß war in diesem Falle in
der linken Brustseite eingedrungen, hatte das Zwerchfell, den Magen und
die linke Niere durchbohrt und war am Rücken herausgekommen.
Ehe ich auf die Bedeutung des Auffindens von Tuchfasern im Ge¬
webe um eine Schußwunde herum eingehe, muß ich betonen, daß bei
dem Präparieren und Zerzupfen besondere Sorgfalt nötig ist und ganz
reine Instrumente benutzt werdep müssen, da es sonst leicht geschehen
kann, daß von der zuerst präparierten Schußwunde oder von anders¬
woher Tuchfasem an einem Instrument haften bleiben, in das Präparat
gelangen und auf diese Weise das Urteil trüben. Auch beim Einbetten
und Schneiden von Hautwunden muß es vermieden werden, daß Tuch¬
fasern von anderer Stelle in das zu untersuchende Gewebsstück gelangen.
Wenn man die zufällige Verunreinigung durch einzelne Tuchfasem nicht
mit Sicherheit ausschließen kann, ist nur das Vorhandensein zahlreicher
Tuchfasern oder eines Fasergewirrs in einer Schußwunde zu verwerten,
worauf ich noch zurückkomme.
Versuche zur Unterscheidung von Einschuß und Ausschuß
313
Mir schien die Feststellung wichtig, ob der Befund dieser
mitgerissenen Tuchfasern überhaupt in irgendeinem Sinne zur
Charakterisierung von Einschuß oder Ausschuß Verwendbar sei.
Ich suchte daher zu ermitteln, wie weit grösere Mengen von Tuch¬
fasern, die als solche unzweifelhaft erkennbar sind, in den Schu߬
kanal mitgerissen würden, ob sie z. B. bei einer bestimmten
Schußdistanz, bestimmter Waffe und Ladung bis zum Hautaus¬
schuß gelangten oder ob der Befund eines Fasergewirrs im Ge¬
webe einer Hautschußwunde den Einschuß in dem Falle kenn¬
zeichnet, in dem das Projektil das bedeckende Kleidungsstück
getroffen haben muß, ehe es in den Körper eindrang. Die von
mir zu diesem Zweck angestellten Schießversuche auf Leichen
gelten natürlich nur für die von mir benutzte Waffe und Ladung.
Es bleibt daher Vorbehalten, in gegebenen forensischen Fällen erneut
Schießversuche mit der in Betracht kommenden Waffe anzustellen.
Da mir ein Parabellum Kaliber 7,65 mm, die Waffe, mit der
L. erschossen worden war, nicht zur Verfügung stand, habe ich
für meine Versuche eine Browningpistole benutzt, deren Kaliber
ebenfalls 7,65 mm betrug. Um eine möglichst einheitliche Ver-
suchsanordriung herzustellen und möglichst natürliche Verhältnisse
wiederzugeben, bin ich bei meinen Schießversuchen in folgender
Weise vorgegangen, da bei Schießversuchen auf Leichen sich die
Ergebnisse verschieden gestalten können, je nach der Körpergegend,
welche man trifft. Ich habe Knochenverletzungen zu vermeiden
gesucht, weil aus der Betrachtung der Knochenverletzung selbst
und aus den fortgerissenen Knochensplittern die Schußrichtung
sich meist wird erkennen lassen. Ich habe in allen Fällen den
Oberschenkel der betreffenden Leiche im oberen Drittel aus ver¬
schiedener Entfernung mit der Browningpistole durchschossen.
Die tiefen Muskeln wurden dabei durchbohrt; eine Verletzung des
Oberschenkelknochens hat in keinem Versuche stattgefunden. Als
bedeckendes Kleidungsstück, das von dem Geschoß durchbohrt
werden sollte, wählte ich ein buntes Wolltuch, das ich auf den
Oberschenkel legte. Ich glaubte, unberücksichtigt lassen zu können,
daß im Leben die Kleidungsstücke meist nicht so dicht dem Körper
anliegen, wie das von mir aufgelegte Stück Wolltuch, und daß
sich zwischen Kleidung und Körper eine Luftschicht befindet, die
das Geschoß durchdringen muß, da der Einfluß dieser Umstände
kaum erheblich sein oder das Ergebnis wesentlich ändern dürfte.
Ganz dem Leben entsprechende Verhältnisse können Schießversuche
auf Leichen natürlich nicht wiedergegeben.
314
Dr. Georg Strassmann
Nachdem der Schuß auf das Tuch und den Oberschenkel
abgegeben worden war, schnitt ich zunächst Stücke aus der Um¬
gebung des Ausschusses heraus, zerzupfte sie in physiologischer
Kochsalzlösung und untersuchte sie auf das Vorhandensein von
Wollfasern. Dann erst untersuchte ich auf dieselbe Weise das Ge¬
webe um den Einschuß. Ich wollte dadurch vermeiden — das
Ergebnis dieser Versuche kann ich vorwegnehmen —, daß von
den Wollfasern, die sich um den Einschuß meist zahlreich herum¬
finden, einige zufällig an den Nadeln oder der Pinzette hängen
blieben, in das Präparat des Ausschusses gelangten und das Bild
verfälschten. Eine Gefahr, das Präparat des Einschusses mit
Fasern aus dem Ausschuß zu verunreinigen, besteht darum kaum,
weil sich um den Eiqschuß fast durchweg mehr Tuchfasern finden,
als um den Ausschuß. Die Leichen, auf die ich schoß, boten an
sich nichts Bemerkenswertes, sie hatten meist bereits einige
Tage seit dem Tode gelegen. Die Todesursache war eine ver¬
schiedene. Ich benutzte für alle Fälle dasselbe bunte grünblaue
Wolltuch und legte es so auf den Oberschenkel, daiß es nur von
der 'eindringenden Kugel getroffen werden konnte, während die
Seite des Ausschusses unbedeckt blieb, um jede zufällige Ver¬
unreinigung des Ausschusses durch Wollfasern, die nicht von dem
Geschoß mitgerissen wurden, auszuschließen.
Die von mir angestellten Versuche waren im einzelnen fol¬
gende:
1. Schuß mit Browning auf den rechten (Oberschenkel einer an
Leuchtgasvergiftung gestorbenen Frau am 16. Mai 1919. Die Waffe
wurde auf das auf den Oberschenkel gelegte Wolltuch aufgesetzt, also
der Schuß aus unmittelbarer Nähe abgegeben. Ziemlich großes Loch
im Wolltuch, Weichteildurchschuß des Oberschenkels, im Gewebe um
den Einschuß herum neben eingesprengten Pulverkörnern eine Anzahl
Wollfasern, die sich auch in der Tiefe des Schußkanals und in der
Umgebung des Ausschusses finden, so daß sie durch das Geschoß
mit fortgerissen sein müssen. Diese bunten Fasern um den Ausschuß
herum sind nach Zerzupfen des Gewebes in Canadabalsam eingelegt
und auf Figur 1. (Mikrophotogramm Leitz, Okular 1, Objektiv 3) deutlich
sichtbar.
2. 30. Mai 1919. Schuß mit Browning aus unmittelbarer Nähe
auf das auf den linken Oberschenkel einer männlichen Leiche gelegte
Wolltuch. Mikroskopisch finden sich um den Ausschuß eine Anzahl
Wollfasern neben einigen Holzsplittern, die von dem hinter dem Ober¬
schenkel aufgestellten Kugelfang, einem Holzblock, stammen. Zahlreithe
Wollfasern sind im Gewebe des Einschusses neben Pulverkörnchen sichtbar.
3. 30. Mai 1919. Schuß mit Browning auf den rechten Ober¬
schenkel derselben Leiche, wie bei Versuch 2, jedoch aus 5 cm Ent-
Versuche zur Unterscheidung von Einschuß und Ausschuß 315
fernung. Mikroskopisch finden sich in der Tiefe des Schußkanals in
der Nähe des Ausschusses eine Anzahl Wollfasern, um den Ausschuß
herum jedoch keine. Ein zahlreiches Wollfasernetz ist in der Umgebung
des Einschusses vorhanden.
4. 23. Mai 1919. Schuß mit Browning aus 5 cm Entfernung auf
den linken Oberschenkel einer männlichen Leiche. Während um den
Einschuß herum sich zahlreiche Tuchfasern erkennen lassen, finden sich
um den Ausschuß trotz sorgfältiger Durchmusterung keine Wollfasern,
sondern nur Holzsplitter, die von dem hinter dem Oberschenkel aufge¬
stellten Kugelfang herrühren.
* 5. 20. Mai 1919. Schuß mit Browning auf den mit Wolltuch be¬
deckten rechten Oberschenkel einer weiblichen Leiche aus 10 cm Ent¬
fernung. Mikroskopisch sind um den Einschuß zahlreiche Tuchfasern,
um den Ausschuß keine Fasern, nur Holzsplitter sichtbar, die von dem
Kugelfang stammen.
6. 23. Mai 1919. Schuß mit Browning auf den rechten Ober¬
schenkel derselben Leiche, wie bei Versuch 4, jedoch aus 15 cm Ent¬
fernung. Mikroskopisch finden sich zahlreiche Wollfasern in dem Ge¬
webe um den Einschuß herum, jedoch keine um den Ausschuß.
7. 8. Juni 1919. Schuß aus 20 cm Entfernung mit Browning
auf den mit Wolltuch bedeckten rechten Oberschenkel einer männlichen
Leiche. Mikroskopisch sind im zerzupften Gewebe des Einschusses
zahlreiche Tuchfasern sichtbar, dagegen finden sich keine Tuchfasern
in der Umgebung des Ausschusses, nur Holzsplitter.
8. 8. Mai 1919. Schuß mit Browning auf den mit Wolltuch
bedeckten linken Oberschenkel einer männlichen Leiche aus 25 cm
Entfernung. Mikroskopisch.finden sich zahlreiche Tuchfasern um den
Einschuß herum und im Anfangsteil des Schußkanals, wie sie Figur 2
(Mikrophotogramm Leitz, Okular 1, Objektiv 3j zeigt. Keine Tuchfasern
sieht man in der Tiefe des Schußkanals und um den Ausschuß herum.
9. 16. Mai 1919. Schuß mit Browning auf den mit Wolltuch
bedeckten rechten Oberschenkel einer männlichen Leiche aus 50 cm
Entfernung. Mikroskopisch finden sich um den Einschuß herum und
im Beginn des Schußkanals zahlreiche Wollfasern, jedoch sind keine
derartigen Fasern in der Nachbarschaft des Ausschusses vorhanden.
10. 20. Mai 1919. Schuß mit Browning auf den linken mit
Wolltuch bedeckten Oberschenkel derselben Leiche, wie im Versuch 5,
aus einer Entfernung von 70 cm. Mikroskopisch finden sich zahlreiche
Wollfasern um den Einschuß herum, wie sie Figur 3 (Mikrophotogramm
Leitz, Objektiv 3, Okular 1) sichtbar macht. Keine Wollfasern sind in
dem Gewebe um den Ausschuß herum vorhanden.
Weitere Versuche habe ich znnächst nicht vorgenommen, da
die Ergebnisse für die Browningpistole von 7,65 mm Kaliber
ziemlich eindeutig erscheinen. Zusammenfassend hebe ich als Er¬
gebnis dieser Schieß versuche hervor:
Weichteildurchschüsse des oberen Drittels des Oberschenkels,
auf den ein buntes Wolltuch so gelegt worden war, daß es von
3)6 Dr. ■uEoro Strassmann
dem Projektil durchbohrt' wurde- ehe dieses in den Körper ein¬
drang. ergaben folgende Resultate:.
in -allen lö Fallen.: in denen das Wolltuch und der Ober¬
schenkel durch das Geschoß getroffen wurde, sei es aus unmittel¬
bare: Nähe, sei es aus einer Entfernung von 5— 70 cm fanden
sich zahlreiche bunte WölUasern in dem zerzupften Gewebe um
den Einschuß herumy die mikroskopisch häutig ein dichtes Faser-
gewirr dafstdlten und sich auch bei gewöhnlichen irischen Zupi-
präparaten. durch Einlegen in Canadabalsam für längere Zeit
isüfbeytahrfen ließen, Auch irr dem Anhmgsteü des Schußkaaals
fanden sich häufig bet Schüssen aus verschiedener Entfernung
Wollfasern, In dem um den Ausschuß herum gelegenen Gewebe
War beim Zerzupfen nur bei den beiden aus unmittelbarer Nähe
abgegebenen Schüssen, in denen die Waffe direkt .auf das Tuch
aufgesetzt . Wipbdeh
(hier jiedoch nicht unmittelbar am Au^chußy.eine größere. Anzahl
Wollfasern sichtbar, die vom Projektil durch den ganzen Schuß-
känal bis zum Ausschuß mügterissen worden waren iFig. 1). Bei.
dem ^Weiten Schuß aus 5cra Entfettung und bei .-allen Schüssen»
die aus einer Entfernung abgefeüert wurden, die mehr öls 5 cm
betrug,, ließen sich trotz sorgfältigen Zerzupfeis und Durehsneberrs
VsrsucölS zut Unterscheidung Vpri Einschuß und Ausschuß 317
des- ganzen Gewebes .asm Ausschuß keine Wollfasern finden. Es
waren nur einige brsunscHwärziiche, unregelmäßig gestaltete Holz¬
splitter in dem Gewebe des Ausschusses erkennbäiY die von dein
dicht hinter dem Oberschenkel aüfgestellten Kugelfahg) einem Holz¬
klotz, herrührten und beim Eindringen der Kugel iß das Höiz sich
von diesem abgelöst hatten und oberflächlich auf dem Ober¬
schenkel haften geblieben waren. 'Eine: /Verweehseltiog- •.dieser..
Splitter, die verschieden gestaltete kleinere und größere dunkle
Gebilde im mikroskopischen Bild darstellen, mit bunten Wolifasem
ist nicht möglich. Ein Fasergewirr, wie es sich im Gewebe, des
Einschusses in allen untersuchten Fällen fand (Fig, 2 u. 3), war
also am Ausschuß nur bei Schüssen mit dem Browning aus näch¬
ster Nähe vorhanden. Bei Browningschüssen • aus einer Distanz
von mehr als 5 cm.fand sich ein solches Fasergewirr urn den Aus-
schuß niemals. Man kann daraus den Schluß ziehen, daß Brow-
niiigpistölen vom Kaliber 7,85 mm nur dann f went3 sie aus un¬
mittelbarer Nähe oder höchstens einer Entfernung von 5 cm auf
einen bekleideten Oberschenkel abgeschossen werden, imstande
sind, Stücke des durchbohrten- Kleidungsstückes' bis zum Ausschuß
mitzureißen. Werden sie aus IG cm Entfernung; oder noch größerer
Distanz abgefeuert, so verschleppen sie Fasern des durchschossenen
Ardhiy jOt KrUNinoiotfie. 7t, BdL 22
Dfit. ücoaci Strassmann
Kleidungsstückes: wohl fn\den Anfangsteil des Schnßkanals, aber
nicht bis zum Ausschuß. Läßt sich also gegebenenfalls ein Schuß
aus unmittelbarer Nähe aus irgendwelchen Gründen ausschHeßen,
z. B. weil jegliche NahschitSefScheinyngen an der durchbohrten
Kleidung oder am Hanteinschuß fehlen, so läßt sich aus dem Be¬
fund eines Tuchfasergewirrs in dem sorgfältig arigefertigten frischen
Zupfpräparat aus dem. Gewebe einer HaUtsehußwunde oder aus
dem ähnlichen Befund an einem eingebetteten Hautstück der Schluß
ziehen, daß die fragliche Hautwunde, an der sich die Tticbfäsem
iiflden, den Einschuß Und nicht den Ausschuß darstellt. Voraus’
Setzung ist. daß eine Browningpistole von 7,65 mm Kaliber be¬
nutzt wurde.
Will man diese Ergebnisse auch für andere Körperteile» die
so wird
von einem solchen Geschoß durchbohrt sind, artwenden,
man sich zwar eine gewisse Zurückhaltung auferlegen, falls es sich
um ein Gewebe handelt, das der Kugel weniger Widerstand ent¬
gegensetzt, als es die tiefe Muskulatur des Oberschenkels tut. Man
Wird hier das Ergebnis von Schießversuchen auf den betreffenden
KörpefteH abwarten. Hat aber die. Kugel Körpergewebe durchbohrt,
das noch stärker widerstandsfähig ist als die Oberscbenkeimusku-
latur, 2 . B. einen Knochen, so wird es nach dem Ergebnis meiner
j
Versuche zur Unterscheidung von Einschuß und Ausschuß 319
Schießversuche kaum möglich erscheinen, daß das Geschoß, welches
infolge der Perforation des Knochens eine erhebliche Abschwächung
erfahren hat, Kleidungsfetzen bis zum Ausschuß verschleppt. Ich
glaube daher, daß man bei allen forensischen Fällen, in denen die
L^nterscheidung von Einschuß und Ausschuß zwar Schwierigkeiten
rnacht, aber von Wichtigkeit ist und wo die Wahrscheinlichkeit be¬
steht, daß die Kugel ein Kleidungsstück durchbohrt hat und eine
Browningpistole benutzt wurde, mikroskopische Zupfpräparate des
Gewebes um die betreffende Hautwunde in physiologischer Koch¬
salzlösung herstellen sollte. Man kann auch Hautstücke von der
Schußwunde einbetten, schneiden und mit Hämatoxylin-Eosin
färben. Man muß sich dabei nur hüten, mit den benutzten In¬
strumenten Tuchfasern von irgendeiner Stelle auf tlas Präparat zu
bringen, die das Urteil beeinträchtigen können.
Wenn in einem forensischen Fall eine andere Waffe benutzt
worden ist, als die Browningpistole, mit der ich die Schreßver-
suche angestellt habe, würde es natürlich erforderlich sein, mit
der entsprechenden Waffe Schießversuche auf bekleidete Leichen¬
teile anzustellen, um zu ermitteln wie weit durch die betreffende
Waffe und Ladung Tuchfasern in den Schußkanal hinein mitge¬
rissen werden. Für Waffen desselben oder noch kleineren Kalibers
als 7,65 mm werden die Versuche wohl ähnlich ausfallen.
Die angestellten Schießversuche sollten hauptsächlich auf die
Möglichkeit hinweisen, in gegebenen Fällen durch den Nachweis
mitgerissener Kleidungsfasem eine Unterscheidung von Einschuß
und Ausschuß herbeizuführen. Für Schüsse mit einem Brownin'g
von 7,65 mm halte ich, wenn man Schüsse aus unmittelbarer Nähe
ausschließen kann, das Auffinden einer größeren Anzahl von Tuch-
fasem im zerzupften Gewebe einer Hautschußwunde für ein charak¬
teristisches Merkmal des Einschusses. Eine Ausnahme bilden nur
die Schüsse, die einen kleinen Schußkanal verursacht haben, sowie
einfache Konturschüsse.
Ich möchte anregen, daß auch von anderer Seite ähnliche
Schießversuche angestellt werden, um nachzuprüfen, ob die von
mir erhobenen Befunde für alle oder die meisten . Fälle zutreffen.
22*
Kann die Verwendung von Privathunden zum Spureö-
suchen an Verbrechenstatorten verboten werden?
Alls den Akten mitgeteilt mit Genehmigung
von
Generalstaatsanwalt Graf Vitzthum, Dresden.
Gegenwärtig ist den Besitzern von Privathunden für deren
Verwendung keinerlei Schranke gezogen. Ebenso ist jede durch
eine Straftat verletzte Person befugt, zum Aufsuchen der Verbrecher¬
spur sich der Hilfe eines von einem Privatführer geleiteten Hundes
zu bedienen genau so, wie er zur Verfolgung des Verbrechers die
Unterstützung eines Privatdetektivs in Anspruch nehmen kann.
Manche Polizeifachleute wünschen eine Änderung dieses
Rechtszustandes und rechtfertigen diesen Wunsch mit vier Gründen:
1. Die Verwendung von im Privatbesitze befindlichen Hunden
zu polizeilichen Zwecken soll insofern zu Unzuträglichkeiten
geführt haben, als durch die Tätigkeit dieser Privathunde¬
führer bisweilen Spuren verwischt worden sind, die für die
Verfolgung durch einen sachgemäß geführten Diensthund
von Wert hätten sein können.
2. Durch die Duldung polizeilicher Arbeit von Privathunden
soll den beamteten Polizeihundeführern die Gelegenheit,
sich und ihre Hunde in praktischen Fällen weiterzubilden,
in unerwünschter Weise beschnitten werden.
3. Auch rechtliche Bedenken sollen der Verwendung von
Hunden, die bei Polizeiarbeit von Privatführem geleitet
werden, entgegenstehen. In dieser Beziehung wird auf die
Ausführungen Hellwigs in der Zeitschrift „Der Polizeihund“,
Jahrgang 1913/14, Seite 720 flg. und Jahrgang 1914/15, Seite
24 flg. verwiesen.
4. Endlich wird darauf hingewiesen, daß das staatliche Polizei¬
hundewesen jetzt soweit organisiert sei, daß auf die Mit¬
wirkung von Privatpolizeihunden verzichtet werden könne.
Die rechtlichen Bedenken, die aus dem Aufsatze Hellwigs
entnommen werden, betreffen die Personen der Privathundeführer,
Verwendung von Privathunden zum Spurensuchen usw. 321
die bei Verfolgung von polizeilichen Zwecken sich leicht zivil-
und auch strafrechtlich verantwortlich machen sollen. Im Hinblick
auf solche Erscheinungen ließe sich, wie keiner Ausführung bedarf,
ein Verbot der Verwendung von Privathunden zu polizeilicher
Arbeit nicht rechtfertigen.
Dasselbe gilt von dem Grunde unter 2., wenn überhaupt zu¬
zugeben wäre, daß die Ausbildung von Polizeihunden durch be^
amtete Führer bei einem Weiterbestehen des jetzigen Zustandes
beeinträchtigt werden könnte.
Nur der erste Grund könnte meines Erachtens unter Umständen
geeignet sein, das yorgeschlagene Verbot zu rechtfertigen. Es
müßte dann aber erwiesen sein, daß die oben unter 1. geschilderten
nachteiligen Folgen der Arbeit von Privathunden einen so hohen
Grad erreicht hätten, daß hieraus eine ernstliche und erhebliche Ge¬
fährdung der öffentlichen Sicherheit im allgemeinen erwachsen wäre.
Könnte man in der Tat von einer Beeinträchtigung der öffent¬
lichen Sicherheit durch die Tätigkeit der Privatführer mit ihren
Hunden reden, so wäre ein gesetzliches Verbot ihrer Tätigkeit
rechtlich als zulässig zu erachten. Im Interesse des allgemeinen
Wohles ist die Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit jederzeit
zu erfordern. Die nötigen Maßregeln hierzu zu treffen, ist Sache
der Polizei, deren Aufgabe unbestritten darin besteht, daß sie die
zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe,, Sicherheit und Ordnung er¬
forderlichen Vorkehrungen trifft. Es wäre freilich nicht zu verkennen,
daß ein allgemeines Verbot der Verwendung von Privathunden zu
Polizeiarbeit einen schweren Eingriff in die Eigentumsrechte der
Privathundeführer bedeute. Soweit indessen derartige Beschrän¬
kungen der aus dem Privateigentume fließenden Befugnisse zum
Schutze der Allgemeinheit sich als nötig erweisen, müßte sie sich
der einzelne gefallen lassen. § 27 der Sächsischen Verfassungs¬
urkunde schreibt vor: „Die Freiheit der Personen und die Ge¬
barung mit dem Eigentume sind keiner Beschränkung unterworfen,
als welche Gesetz und Recht vorschreiben.“ Gesetzliche Vor¬
schriften,, auf die ein Verbot der Verwendung von Privathunden
zu polizeilichen Zwecken zu stützen wäre, bestehen nicht. Ins¬
besondere könnte nicht die Vorschrift in § 2 Ziffer 1 des A-Gesetzes
als eine Rechtsgrundlage, wie sie § 27 der Verfassungsurkunde
voraussetzt, angesehen werden. Indem § 2 Ziffer 1 des A-Gesetzes
davon spricht, daß die Verwaltungsbehörden ihre Verfügungen
mit Nachdruck „durchführen“ und zu dem Ende Strafen androhen
können, läßt es die Frage unberührt, ob und inwieweit sie polizei-
322
Vitzthum
liehe Ge- oder Verbote „erlassen“ dürfen. Die in § 2 Ziffer 1
festgesetzte Strafgewalt setzt eine Befehlsgewalt der Verwaltungs¬
behörde voraus (vgl. hierzu Jahrbücher des Sächs. Oberverwaltungs¬
gerichts Bd. 7 Seite 15, 100 — Schanze —, die Grenzen der
Polizeigewalt im Sächs. Archiv 1909, Seite 162 — OLG. Dresden
in Fischer Bd. 36 Seite 156 — A. M. Ministerium des Innern bei
Fischer 22, 365 — v. Feilitzsch im Sächs. Archiv 1907, Seite 5).
• Soweit § 27 der Verfassungsurkunde von „Gesetz und Recht“
spricht, ist neben den geschriebenen Rechtsvorschriften vor allem
an das „Gewohnheitsrecht“ zu denken. Dieses Gewohnheitsrecht
bildet gerade für die Ausübung der Polizeigewalt in weitem Um¬
fange die Grundlage. In Wissenschaft und' Rechtsprechung ist
anerkannt, daß dieses Gewohnheitsrecht in Sachsen kein spezielles
zu sein braucht, daß vielmehr ein generelles genügt. Demgemäß
ist für das sächsische Polizeistrafrecht eine allgemeine Ermäch¬
tigung der Polizeibehörden als bestehend anzuerkennen, „alles zur
Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, Ordnung, Wohlfahrt,
Gesundheit und Sittlichkeit Erforderliche“ anzuordnen und diese
Anordnung mit Strafandrohungen zu verbinden (vgl. Schanze,
die Grenzen der Polizeigewalt a. a. O. S. 163; Schanze, „Die
obrigkeitliche Gewalt und der verfassungsrechtliche Schutz der
Freiheit und des Eigentums“ bei Fischer Bd. 36, S. 14, 23; OVG.
in Jahrb. Bd. 7 S. 12 — OLG. bei Fischer Bd. 36 S. 156).
Diese weitgehenden Befugnisse der Polizei haben allerdings
zur Voraussetzung, daß ein Erlaß der Polizeivorschriften im Inter¬
esse des Gemeinwohls dringend geboten erscheinen muß. Wenn
ein allgemeines Verbot der Verwendung von Privathunden zu Poli¬
zeiarbeit erlassen werden sollte, so würde hierzu die Möglichkeit
nicht genügen, daß die öffentliche Sicherheit bei dem Fortbestehen
des jetzigen Rechtszustandes beeinträchtigt würde, vielmehr müßte
die Wahrscheinlichkeit einer solchen Gefährdung bis zu einem ge¬
wissen Grade bereits durch Tatsachen zu belegen sein (vgl. Jahrb. 6,
240; 15; 42; 20; 128). Sollten genügende tatsächliche Unterlagen
zurzeit nicht vorliegen und sollte insbesondere der Beweis, daß
die Interessen der Öffentlichkeit, das allgemeine Wohl ge¬
fährdet werden, gegenwärtig nicht zu erbringen sein, so würde das
vorgeschlagene Verbot schon im Hinblick auf den Mangel dieser
rechtlichen Voraussetzung unzulässig sein.
Wie bereits angedeutet, vertrete ich auf Grund der Erfahrun¬
gen der sächsischen Staatsanwaltschaften den Standpunkt, daß ein
allgemeines Verbot der polizeilichen Arbeit von Privathundeführern
Verwendung von Privathunden zum Spurensuchen usw. 323
als ein Bedürfnis im Interesse der Rechtspflege und der Sicher¬
heit des Publikums heute jedenfalls noch nicht anzuerkennen ist.
Ich würde aber auch ein derartiges Verbot teilweise gerade im
Interesse der Weiterbildung des Spürhundewesens nicht für zweck¬
mäßig erachten. Hätte die Polizei allein die Befugnis, ihre Hunde
zu Polizeiarbeit zu verwenden, so würde den Privatbesitzern die
Möglichkeit genommen oder doch sehr beschränkt, ihre Spürhunde
zu polizeilicher Arbeit auszubilden. Die Spürhundezucht scheint
noch keinen derartigen Umfang genommen und noch nicht so weit
ausgestaltet zu sein, daß man daran gehen könnte, die Zucht und
die Abrichtung solcher Hunde zu beschränken und durch Aus¬
schaltung der freien Konkurrenz den in dieser liegenden Anreiz
zur Erzielung möglichst guter Ergebnisse zu beseitigen.
Eine andere Frage wäre es, ob man an Stelle eines allgemeinen
Verbotes der Verwendung von Privathunden durch Privatführer
zu pplizeilichen Zwecken etwa sich darauf beschränkte, jetzt eine
Maßregel zu ergreifen, die den Übelstand wenigstens zum Teil be¬
seitigte. Ob und inwieweit rechtlich eine derartige Maßregel zu
rechtfertigen wäre, hinge wiederum von der Art und dem Um¬
fange des vorliegenden Tatsachenmaterials ab. Wäre ein Bedürf¬
nis zu einer Hilfsmaßnahme tatsächlich anzuerkennen, so könnten
etwa folgende Wege beschritten werden:
Da der erwähnte Übelstand in der Hauptsache in Fällen zu
Tage treten dürfte, wo private Besitzer von Spürhunden ein Ge¬
schäft daraus machen, ihre Hunde gegen Entgelt zugunsten Dritter
auf Verbrecherspuren zu setzen, so könnte man daran denken, diese
Tätigkeit, soweit' sie gewerbsmäßig ausgeübt wird, zu verbieten.
Ein solches Verbot könnte aber im Hinblick auf § 1 der G. O.
nur durch Reichsgesetz erfolgen.
Weiter käme etwa in Betracht, die Verwendung der Privat¬
hunde von dem Nachweis abhängig zu machen, daß sie eine —
noch einzuführende — staatliche Prüfung bestanden hätten. Das
Erfordernis einer Staatsprüfung würde den Wünschen derer gerecht,
die nur durchaus zuverlässige Hunde zur Polizeiarbeit zugelassen
sehen wollen.
Den Privatführern könnte die Verpflichtung auferlegt werden,
ihre Hunde erst dann auf die Verbrecherspur zu setzen, wenn sie
der nächsten Polizeibehörde vorher entsprechende Nachricht ge¬
geben haben. Durch eine derartige Vorschrift würde die Polizei
in die Lage gesetzt, die Arbeit der Privathundeführer zu überwachen.
Es würde so den Bedenken derer Rechnung getragen, welche die
324
Vitzthum
Privathundeführer mit Rücksicht auf ihre persönliche Unzuver¬
lässigkeit ausgeschaltet haben möchten. Gegebenenfalls ließen sich
auch die beiden letzterwähnten Maßnahmen zusammen aufstellen
In gleicher Weise ließe sich auch, sobald weitere Erfahrungen
derselben Art gesammelt wären, ein allgemeines Verbot dahin
rechtfertigen, daß Privatdetektive, und Rechtskonsulenten bei Er¬
ledigung der ihnen übertragenen Arbeiten Spürhunde nicht ver¬
wenden dürfen. Ein derartiges Verbot würde die gesetzlich ge¬
währleistete Gewerbefreiheit nicht verletzen. § 1 der Gew.-O. be¬
zieht sich auf die Zulassung zum Gewerbebetrieb, nicht aber auf
die Ausübung des Gewerbes. Für die Ausübung können im Inter¬
esse der allgemeinen Ordnung und Sicherheit unbedenklich Be¬
schränkungen festgesetzt werden. Das ist in der Rechtsprechung
allgemein anerkannt worden (vgl. Sächs. OVG. Jahrb. Bd. 3, S. 187,
191, Bd. 10, S. 24 — Preuß. OVG. in Gewerbearchiv 1905, S. 1 —
1910, S. 529 — Kammergericht in Johows Jahrb. Bd. 16, S, 348).
Durch ein derartiges Verbot würde den Wünschen der Polizei ge¬
wiß in ausreichendem Maße Rechnung getragen. Die Fälle, in
denen Privatführer ihre Hunde außerhalb des Rahmens des § 35
Abs. 3 der Gew.-O. gewerbsmäßig auf Verbrecherspuren setzen,
werden sehr selten sein. (Man könnte z. B. daran denken, daß
jemand eine derartige Tätigkeit lediglich als eine Schaustellung
betriebe.) Ebenso werden die Fälle, in denen die beanstandete
Tätigkeit der Privatführer nicht gewerbsmäßig betrieben wird, kaum
Anlaß zu gesetzgeberischem Einschreiten bieten; sie werden auch .
an Zahl weit hinter den Fällen der Gewerbsmäßigkeit Zurückbleiben.
Im übrigen möchte noch erwähnt werden, daß selbst bei Er¬
laß eines allgemeinen Verbotes der vorgeschlagenen Art häufig die
Verwendung von privaten Spürhunden nicht rechtswidrig und da¬
her nicht strafbar sein wird und zwar deshalb, weil die Bestim¬
mungen über Notstand und Selbsthilfe einschlagen. Endlich würde
darüber hinaus auch von vornherein eine gesetzliche Ausnahme
für die Fälle vorzusehen sein, in denen der Verletzte selbst den
Anlaß gibt, daß ein privater Spürhund auf die Verbrecherspur ge¬
setzt wird. Es wäre in hohem Grade unbillig, wenn dem Verletz¬
ten, der an der Entdeckung des Verbrechers das größte Interesse
hat, und der über das Verbrechen, so über den Gegenstand des
Diebstahls, meist die sicherste Auskunft geben kann, zugemutet
werden sollte, seinen eignen oder einen sofort zur Stelle gebrachten
fremden Hund nicht zur Verfolgung des Verbrechers zu verwenden.
Gerichtliche Verurteilung als Mittel des Selbstmords.
Von
Dr. Hans von Hentig, München.
Vor einigen Jahren habe ich über drei Fälle gerichtlicher Ver¬
urteilung als Mittel des Selbstmordes und der Selbstverstümmlung
berichtet. 4 ) Im Laufe meiner kriminalhistorischen Studien bin ich
auf einen neuen, besonders auffälligen derartigen Fall gestoßen,
dessen psychologisches Verständnis dadurch erleichtert wird, daß
in der Deszendenz die gleiche Anlage mit geringen Abweichungen
sich präsentiert. In einer Zeit, in der ganze Völker aus der manischen
Phase ihres Selbstgefühls in die depressive fallen und von einem
pathologischen Schuldbewußtsein verwirrt und zerrissen von einer
Fehlhandlung in die andere taumeln, darf die Geschichte des Adam
Lux von Mainz auf besonderes Interesse rechnen.
I.
Adam Lux wurde im Jahre 1766, nach französischen Quellen
ihi Jahre 1763 in Obernburg bei Aschaffenburg geboren, das damals
zum Kurbistum Mainz gehörte. Intellektuell frühreif, erwarb er
mit 18 Jahren im November 1784 den Mainzer philosophischen
und medizinischen Doktor, doch werden auch schon aus dieser
Zeit Stimmungsschwankungen mit depressivem Einschlag berichtet,
die aber Pubertätserscheinungen sein können und die wir als ein
Massensymptom unter der Bezeichnung Sturm- und Drangperiode
aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in ganz Mitteleuropa
wiederfinden. Nach der Besetzung von Mainz durch die franzö¬
sische Rote Garde unter Custine 2 ), sah sein überschwänglicher,
*) Groß’ Archiv Bd. 54, S. 54f., und in Strafrecht und Auslese. Berlin 1914. 38.
*) In dem Prozeß Custine vor dem Revolutionstribunal (15.—27. August 1793)
erschien ein gewisser Zimmermann, ein Deutscher, als Belastungszeuge und gab
an, er habe dem General Mannheim ausliefem wollen. Ein anderer Zeuge er¬
klärte, das gleiche Anerbieten sei für Koblenz und andere Städte gemacht worden.
Custine entgegnete: Sowie ich in Deutschland einmarschiert war, „tous les fous
de ce pays sont venu me trouver*. Sie wollten mir ihre Städte ausliefern, aber
als es ans Handeln ging, war keiner mehr da.
326
Dr. Hans von Hentio •
aber gänzlich unpolitischer Enthusiasmus eine neue Ära von Würde,
Schönheit und Menschenbeglückung für Deutschland anbrechen.
Nur unter der Trikolore schien die Realisierung dieser schönen
Träume möglich, ein Gedankengang, für dessen Bekräftigung der
Wohlfahrtsausschuß damals in Deutschland, der Schweiz und Italien
ungezählte Millionen ausgab. Am 22. März 1793 wählten die
Mainzer Lux in die Deputation, die dem Konvent die Bitte der
eroberten deutschen Gebiete um Aufnahme in die glorreiche fran¬
zösische Republik überbringen sollte. Solche spontane Kund¬
gebungen, die das Volk von Paris gläubig bejubelte, wurden von
den damaligen Machthabern nicht ohne Geschick inszeniert.
In Paris traf den jungen erregbaren Menschen ein Eindruck,
wie er etwa Luther in der ewigen Stadt überfallen haben mag.
In der Nähe betrachtet, sah die Welt anders aus als in den Ver¬
heißungen der französischen Propagandisten und seiner eignen
Phantasie. Er sah den tötlichen Kampf der Parteien um den Futter¬
platz. Er sah die wenigen bedeutenden Männer von Verbündeten
zu Feinden werden und von Feinden zu Verbündeten. Alle
sprachen immer nur vom Wohl des Volkes und alle meinten immer
nur ihre eigene Macht. Beschämt durchschaute er die Grobheit
der Mittel, mit denen die Demagogen die Instinkte der Massen
vor den Wagen ihrer persönlichen Interessen spannten. Am
2. Juni waren die Girondisten verhaftet worden. Der Weg für
die Diktatur der Anarchie war frei.
Die Verzweiflung gab dem jungen Schüler Jean Jacques
Rousseaus einen seltsamen Gedanken ein. Bisher war sein Lebens¬
ekel nicht stark genug gewesen, um über das Spiel mit dem Todes¬
gedanken hinauszugehen. Jetzt kam die politische Situation, gab
ihm ein Objekt und damit größere Intensität. Er wollte durch
seinen Tod mehr erreichen als bloß aus dem Leben scheiden. Er
wollte eine große rettende Tat tun. *) Seine Absicht war — und wir
sehen hier feinen der stärksten menschlichen Impulse, die Eitelkeit,
*) Jetzt noch herrscht unter den geborenen Revolutionären der Aberglaube,
eine revolutionäre Bewegung sitze erst dann fest im Sattel, wenn Blut dafür ge¬
flossen sei. Eine rationelle Erklärung habe ich von Anhängern dieses Gedanken¬
gangs nie bekommen können, obwohl sich Gründe (ziemlich kurzsichtiger Art)
wohl finden ließen. Vielleicht besteht ein Zusammenhang mit uralten Anschau¬
ungen wie sie hauptsächlich in China und Indien zu finden sind, daß die wandern¬
den Seelen gewaltsam Getöteter besonders ruhelos und bösartig umhergehen
und ihren Gegnern Unheil bringen. Man hat daher in der Hand, sich durch Selbst¬
mord an seinen Feinden wirksam zu rächen. Auch die ganz frühen Kirchenväter
billigen, vielleicht in einem ähnlichen Gefühl, den Selbstmord, um Märtyrer zu werden.
Gerichtliche Verurteilung als Mittel des Selbstmords
327
auf den Plan treten — in einer Sitzung des Konvents zu erschei¬
nen, mit ergreifenden Worten auf die geschändete Unverletzlich¬
keit der Abgeordneten hinweisen und sich einen Dolch in die Brust
zu stoßen. Er'hoffte durch diesen starken Eindruck den Konvent
zur Umkehr zu zwingen.
Die Rede hatte er bereits am 6. Juni verfaßt. Wie zahlreiche
Selbstmörder, die noch nicht ganz fest entschlossen sind, teilte
er den Häuptern der Girondisten Guadet und P£tion seinen un¬
sinnigen Plan mit. Mit Mühe hielten diese ihn von der Durch¬
führung zurück.
Einen richtigen Selbstmordversuch unternahm Lux, als er am
13. Juli die Schrift: Avis aux Citoyens Francais par Adam Lux,
d£pute extraordinaire de Mayence veröffentlichte. Die Jakobiner
wurden aufs schärfste angegriffen. Er schloß mit der Aufforderung,
auch ihn der Ehre des Schafotts zu würdigen. Da das Revolutions¬
tribunal psychiatrische Sachverständige nicht zu hören pflegte, war
mit diesem Schritt sein Urteil gesprochen.
.Aber noch bemerken wir die leichte Hemmung seines Selbst¬
vernichtungstriebes, die sich in der Wahl des indirekten Weges
über ein politisches Manifest gegen die Herren Frankreichs und
der Strafgesetzgebung äußert. Neben seine Depression, neben
den stark mit Eitelkeit durchsetzten Drang, politischer Märtyrer
zu sein, muß noch ein weiteres Motiv treten, ehe es zur energischen
Entschlußbildung kommt. Am 14. Juli ermordet Charlotte Corday
den heimlichen Diktator Marat. Am 19. Juli, während Paris, ja
alle großen Städte Frankreichs den toten Demagogen wie einen
Gott feiern, wird die Stadt durch eine Schrift in starres Erstaunen
versetzt, „Charlotte Corday“, in der vorgeschlagen wird, dem
jungen Mädchen ein Denkmal zu setzen und die Inschrift daran
anzubringen „Plus grande que Brutus“.
Jetzt hatte sich ein Drittes zu politischer Exaltiertheit und der
Selbstmordneigung gesellt. Lux hatte das ungewöhnlich schöne
Mädchen auf der endlosen Fahrt zum Schafott gesehen, er hatte
gesehen, wie unter dem Jubel des Mobs der Henker das abge¬
schlagene Haupt hochhielt und ohrfeigte (die Legende erzählt, sie
sei davon noch einmal errötet). Das Erotische verband sich mit
dem Triebe, Opfer zu sein und als Opfer noch nützlich zu sein.
Dieser psychischen Konstellation war keine Hemmung mehr
gewachsen.
Seltsamerweise wurde er erst am 24. Juli im Comit£ de sürete
generale verhört und erst vier Tage später im Gefängnis de la
328
DU. Hans von Hentiq
Force eingeliefert. Aus den Briefen seines Kollegen, des einst¬
mals so berühmten Georg Förster, eines ebenso hochbegabten
Psychopathen, wissen wir, daß er 8 Tage lang kaum etwas gegessen
hatte, daß also auch diese Komponente im Bilde der Depression
nicht fehlt. Beim Verhör antwortete er auf die Frage, warum er
die unsinnige Idee habe, sich selbst zu töten:
„Die Absicht, sich zu vernichten, ist nicht unsinnig, wenn es sicher
ist, daß der Tod eines Mannes dem Vaterlande nützlicher ist als sein
Leben, und ich füge hinzu, daß es eine Sprache der Tugend gibt, auf
die man sich mit denen nicht verständigen kann, die ihre Grammatik
nicht kennen.“ *)
Am 30. August wurde er von dem Untersuchungsrichter des
Revolutionstribunals verhört, dann stockte der Prozeß wieder. Am
7. September suchte seine Todessehnsucht durch folgenden Brief
an den Staatsanwalt Fouqier-Tinville endlich zu seinem Ziel zu
gelangen.
Gefängnis de la Force, d. 7. Sept. 1793.
(des Jahres II)
Bürger!
In zwei kleinen Schriften habe ich meine politischen Ansichten
zu Worte kommen lassen, derentwegen ich im Gefängnis seit dem
25. Juli bin. Ich habe immer meine Aburteiluug gewünscht, ich er¬
sehne sie aber noch dringlicher, seitdem ich bemerke, daß wohl- oder
schlechtgesinnte Menschen, die mich nicht kennen, mich als einen
vollkommen verrückten Menschen hinstellen wollen (z. B. das Journal
de la Montagne No. 94)."
Es ist vielleicht ein Unglück, Ansichten zu haben, die von.denen
der Machthaber abweichen; sie zu veröffentlichen ist vielleicht eine
Torheit; aber warum ist es völliger Wahnsinn, nicht ganz so wie
andere Menschen zu sein?
Da der anständige Mensch kein Gut kennt, das höher steht als
seine Ehre, und da der Republikaner kein unerträglicheres Unglück
kennt als für die Republik eine nutzlose Last zu sein, so verlange
ich schleunigst abgeurteilt zu werden, damit das Gericht entscheide,
ob ich Republikaner oder Gegenrevolutionär, wahnsinnig oder gesund,
vernünftig oder abwegig bin; denn alles scheint mir besser als die
unverdiente Schande wie ein nutzloser, erbärmlicher und verächtlicher
Mensch gefüttert und festgehalten zu werden.
Aus diesen Gründen bitte ich Sie inständig, bald darüber eine
Entscheidung zu treffen, ob Anklage gegen mich erhoben wird, ja
oder nein, und im ersten Falle mich aburteilen zu lassen.
Welches auch die Folgen dieses Urteils sein werden, seien Sie
überzeugt stets mich zu Dank verpflichtet zu haben.
Adam Lux,
Außerordentlicher Gesandter von Mainz.
') Walion, Histoire du Tribunal Rdvolutionnaire de Paris, Paris 1880, I, 221.
Gerichtliche Verurteilung als Mittel des Selbstmords 329
Am 20. September wiederholte dieser sonderbare Exterritoriale
sein Gesuch in dringender Weise. 1 )
Die Verhandlung gegen Lux fand am 4. November, wenige
Tage nach der Hinrichtung der Girondisten, statt. Er gab seine
Verbindung mit den Verurteilten freudig zu. Er weigerte sich den
Namen des Buchdruckers zu nennen, der seine Schriften herge¬
stellt hatte.
Lächelnd bestieg er am gleichen Tage das Schafott. Es war
ein Symbol tiefster Triebhaftigkeit, wenn er, ehe sein Haupt fiel,
den Henker umarmte.
II.
Wenn der Richter und der psychiatrische Sachverständige
derartigen Fällen gegenüber steht, so wird bisweilen ein Blick in
die Aszendenz oder die Deszendenz Zweifel lösen und die Diagnose
erleichtern. In unserem Falle finden sich bei einem Kinde des
Selbstmörders Züge, die mit großer Sicherheit eine Rekonstruktion
des väterlichen Geisteszustandes gestatten. Während wir über den
Vater nur wenige Tatsachen und ntir spärliche Äußerungen von
ihm kennen, hat ein Zufall über die. Psyche des Kindes eine
größere Anzahl von Dokumenten aufbewahrt.
Lux hatte drei Töchter. Eine ist früh gestorben, eine weitere
hat in dürftigen und unbekannten Verhältnissen bis ins hohe Alter
gelebt. Die Erstgeborene schwärmte für Jean Pauls Schriften und
schließlich für den Dichter selbst. Es ist auffällig, daß Jean Paul
im Jahre 1799 eine Schrift »Tod der Charlotte Corday“ verfaßt
*) Ein politischer Spekulant, der Deutsche Möschenberg, unterstützte das
Gesuch auf seine Art durch folgende Eingabe:
Wenn nicht alle Welt von Ihrem unermüdlichen Eifer, die Feinde der Patrioten
zu verfolgen, überzeugt wäre, würde ich wagen bei Ihnen (Fouquier-Tinville) eine
kleine Nachlässigkeit im Falle Adam Lux zu vermuten. Was! Dieser verwegene
Schriftsteller lebt noch, der den Mut hat, Marat als ein Monstrum, seine Mörderin
als Brutus, seine Richter als Henker hinzustellen. Heißt es nicht die Gemäßigten,
die Aristokraten, die Partikularsten ermutigen, wenn man den Verfasser des Avis
aux Francais ungestraft läßt, in dem behauptet wird, das Revolutionstribunal, diese
Säule der Freiheit, verurteile Unschuldige und folge den Anordnungen von Ver¬
schwörern?
Ich, sein Landsmann, nehme seine Verfolgung in die Hand und mit Rück¬
sicht auf Ihren unerschütterlichen Patriotismus teile ich Ihnen mit, daß Ich die
Angelegenheit bei den Cordellers und den Jakobinern zur Sprache bringen werde.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Der Patriot Möschenberg.
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Dr. Hans von HCntio
hat, dann aber auch mit Todesahnungen spielte.‘) Schließlich
schrieb das Mädchen an den Dichter einen leidenschaftlichen Brief.
Darin wäre an sich noch nichts Auffälliges zu erblicken, wenn
man an das Assoziationsbedürfnis unglücklicker Zeiten denkt. Es
ist bekannt, daß sich damals eine Menge trostbedürftiger Seelen
an den Dichter gewandt haben. Der Inhalt des Briefes aber ist
durchaus ungewöhnlich: 2 )
„Ach mein ganzes Leben ist nur ein Streben nach Wert und doch
o Vater, warum geht es so langsam vorwärts? . . . Ach da ich nicht
Dein Kind sein kann, so hat der Wunsch zu sterben recht viel Süßes
für mich, und der Tod wird mir ein Strahl des Himmels sein, der
mich berührt und meine Seele zur ewigen Liebe und zu Dir mein
Vater erhebt. Denn ich wefde gewiß den Weg unter die Erde zuerst
gehen müssen, ehe ich zu Deinem himmlischen Herzen komme.
Nachschrift: n O warum kann nicht die ganze Welt in Ihr Haus
kommen und bei Ihnen bleiben. Wirklich wir wären alle gerettet.
O wie oft träumte ich schon ich wäre es und hätte als die Älteste
und die zu seinen Künsten am wenigsten begabte Tochter — denn
ich bin unglaublich unwissend und einfältig — auch die schwersten
Arbeiten darin, für mich wahre Spielerei, zu besorgen. Wie recht
froh wollte ich sein, wenn ich so ein recht nützliches Mitglied Ihrer
Haushaltung würde und gar keine Magd da wäre.“ . . .
Jean Paul antwortete nicht auf den Erguß des jungen Mädchens.
Nun geriet das junge Mädchen in Verzweiflung. Sie glaubte einen
ungeheuerlichen Schritt getan zu haben, für den der angebetete
Mann nun nichts als Verachtung und moralische Entrüstung habe. 3 )
Sie beschloß zu sterben und begab sich Nachts mit einem Dolch 4 )
auf eine Brücke, um sich zu erstechen und dann in das Wasser
zu stürzen. Sie wartet aber damit einige Zeit. „Sie will nur noch
den ersten Morgenstrahl erwarten.“ Hier wird sie von ihrer
ängstlich gewordenen Schwester überrascht und mit Mühe nach
Hause gebracht.
Kaum war sie zu Hause, so kam ein freundlicher Brief Jean
Pauls an, in dem er die Verzögerung mit den Kriegszeiten und-
') In einem am 15. Nov. 1790 niedergeschriebenen Tagebuchblatt hatte er
eine Vision. Er sah sich 30 Jahre später auf dem Totenbett. Jean Paul starb
am 15. November 1825.
2 ) Jean Pauls ausgewählte Werke Bd. 16, Aus Jean Pauls Leben. Angefangen
von ihm selbst, fortgesetzt von Emst Förster. Berlin 1849. 297 ff.
s ) Sie schreibt: „Die Vorstellung, der Gedanke an sie sei widerlich, wirke
so vernichtend, dafi sie nicht mehr leben könne.“
*) Dieser Dolch und der weiter unten im Traum gesehene Dolch erinnert
um so auffälliger an die geplante Erdolchungsszene des Vaters im Konvent, als
die Anwendung von Stichwaffen bei Frauen eine ungewöhnliche Selbstmordart ist.
Gerichtliche Verurteilung als Mittel des Selbstmords
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den schlechten Postverhältnissen entschuldigte. Marie war nun
plötzlich eitel Sonne und Freudenschein. Dann kommt allmählich
wieder die Depression. Sie schreibt, „sie sehe, daß der einzig
ehrenhafte Weg zu ihm durch das Grab führe“. Sie bittet um
eine Locke. Jean Paul schickte sie und bemerkt abkühlend dazu,
seine Frau habe sie seinem Glatzkopf für das Mädchen abge¬
schnitten. Maries Leidenschaft bleibt unverringert. Im Schlafe
„umfaßt sie sein Bild und preßt ihr tränenvolles Auges an seine
Brust und gibt ihm den Dolch in die Hand, damit er sie töte,
weil sie ohne Fortdauer dieser Seligkeit nicht leben könne“.
Ruhiger klingt, resigniert und melancholisch der Abschieds¬
brief. „Meine Mutter ist vor zwei Monaten gestorben. Sie litt es
gern, daß ich ihr nachfolge. Aber sie bat mich vorher alles zu
ordnen, für meine Schwester zu sorgen und sie nicht in den
Schreckenszeiten des Krieges (1813/14) zu verlassen. Diese sind
nun vorbei und ihre Existenz gesichert. ‘) . . . Ach Sie werden
mich verachten, solange Sie leben und es nie glauben, wie ich
danach schmachtete, für Sie und die Ihrigen etwas tun zu können.“ 2 )
Kurz darauf stürzt sich Marie Lux in den Rhein, wird gerettet,
stirbt aber trotz aller Bemühungen. ,
III..
Bei Vater und Tochter sehen wir die Selbstmordneigung allmäh¬
lich anwachsen, sich mit einer aus Triebschwäche hervorgehenden
Art von Fem-Erotik verbinden und schließlich zu einem starken
motorischen Impuls ansteigen. Bei beiden finden wir die gleiche
Überempfindlichkeit, das gleiche grobe Mißverhältnis zwischen
psychischer Beanspruchung und morbider Reaktion. Konnte beim
Vater noch zweifelhaft sein, ob der Anblick des gefesselten, von
der Menge verhöhnten, nach dem Tode noch gemißhandelten
jungen Mädchens seine sexuelle Passivität erregt habe, so zeigen
sich bei der Tochter ganz deutliche passiophile Anzeichen. Marie
betont immer wieder, daß sie unbegabt, einfältig, „nur die Erst¬
geborene sei“; wie das Käthchen von Heilbronn will sie als niedrige
Magd, wenn auch möglichst allein, um den angeschwärmten Mann
sein. Ihre Vorstellungswelt ist mit erniedrigenden Lustbildem an¬
gefüllt (illusionäre Algolagnie Eulenburgs). Schwächer entwickelt
als beim Vater, aber doch erkennbar, „illusionär“ ist ihr Wunsch
*) Die Schwester hatte sich verlobt.
s ) Förster 308/309.
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Dr. Hans von Hentig
zu sterben, aber nicht durch eigene Hand. Der Vater bedient sich
zur Erreichung seines Ziels des sicheren Mechanismus’ der revo¬
lutionären, Strafjustiz. Die Tochter träumt davon, sie drücke dem
Geliebten einen Dolch in die Hand, damit er sie töte. Beim Vater
legte der erste theatralisch geplante Selbstmordversuch in dem
Plenum des.Konvents den Verdacht hysterischer Anlage nahe. Die
Geschichte der Tochter zeigt, daß wir uns mit stärkeren Gründen
für einen manisch-depressiven Komplex entscheiden müssen und
daß die Pose des Vaters mehr aus dem krankhaften Gedanken¬
gang einen heilsamen Eindruck auf die inegeleiteten Abgeordneten
machen zu müssen, zu erklären ist, als aus der Autosuggestibilität
einer hysterischen Veranlagung.
Die pathologische Unzufriedenheit revolutionär erregter Zeiten
äußert sich, wenn Ich so sagen darf, nur privatim in der Stimmungs¬
lage gegen sich selbst und kommt häufig in einer überaus charak¬
teristischen Mimik zum Ausdruck. Sie wird dafür möglichst kräftig
nach außen projiziert und tritt als pathologischer Neid, als patholo¬
gisches Gefühl, Fehler gemacht zu haben, jetzt aber „aufgeklärt“ zu
sein, in Erscheinung. Selbstanklagen werden durch Kritik der Außen¬
welt ersetzt und so können wir das seltsame Phänomen erklären,
daß in revolutionären Zeiten die Zahl der Selbstmorde zurückgeht.
Masaryk hat nicht ohne Klugheit bemerkt ‘), daß sich alle Un¬
zufriedenen um die Freiheitskämpfer scharen und viele den Tod
finden, die ihn sich sonst selbst gegeben hätten. So betrachtet
erscheine die Revolution als ein indirekter Massenselbstmord, als
eine Art gewaltsamer Reinigung vom Lebensüberdruß. Nimmt
man die Beobachtung hinzu, daß die Revolutionen um so grau¬
samer und brutaler werden, je unglücklicher (auch durch eigene
Schuld) das Volk sich fühlt, je ungünstiger die auswärtige Lage
etwa ist, so sehen wir, daß die Art der Reaktion nebensächlich
ist, daß vikariierend gerichtlicher Massenmord, Bürgerkrieg oder
ein Krieg gegen das Ausland die Entspannung der Depression
übernehmen können.
Der erschossene Führer der Münchner Aprilkommune Levinie
hat in seiner Verteidigungsrede geäußert, die Kommunisten seien.
Tote auf Urlaub. Die psychologisch erfaßte Geschichte des Adam
Lux und seines unglücklichen Kindes erlaubt uns, diesem Wort
eines intellektuell hochstehenden Revolutionärs einen tieferen, ja
einen tiefen Sinn zu geben.
*) Th.G.Masaryk, DerSelbstmordalssozialeMassenerscheinung, Wien 1881. 50.
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