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Full text of "Archiv für Kulturgeschichte 12 (1914)"

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UMIVERSITY ÖF CALIFOF 




UNTER MITWIRKUNG VON 

FR. VON BEZOLD • G. DEHIO • H. FINKE • K. HAMPE 
0. LAUFFER • C. NEUMANN • A. SCHULTE • E.SCHWARTZ 
E. TROELTSCH • W. WINDELBAND 

HERAUSGEGEBEN VON 


WALTER GOETZ und GEORG STEINHAUSEN 


XII. BAND 


INHALT: 


I. HEFT 


Dr. GEORG DEHIO, Universitätsprofessor, in Straßburg I. E.: 

Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert . . 1 


Dr. JOSEPH GOETZ in Heilbronn: 

Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria. 1.17 

Dr. SIEGFRIED SIEBER, Realschullehrer in Aue: 

Nachbarschaften, Gilden, Zflnfte und ihre Feste. II..56 

Prof. Dr. ALFRED MEICHE in Dresden: 

Der Lobetanz ..79 

Miszelle: 

Der Schmuck einer fränkischen Gräfin um 1611. 

Von Dr. FL. H. HAUG, Archivar ln Wertheim.97 

Literaturbericht: 


Geschichte der geistigen Kultur von der Mitte des 17. bis zum 
Ausgange des 18. Jahrhunderts. 

Eröffnungsbericht II von Prof. Dr. JUSTUS HASHAGEN, Privatdozent 


an der Universität Bonn.104 

Kleine Mitteilungen und Notizen.127 



LEIPZIG U. BERLIN 1914 


Ausgegeben am 9. April 1914 










ARCHIV FÜR: KULTURGESCHICHTE 

Herausgegeben von’Walter .Goetz und Georg Steinhausen 
Drue&iind’j V»tlp|£ vöQ B*G:*Teubher in Leipzig, Poststraße 3/5 


Jährlich 4 Hefte zu je etwa 8 Druckbogen; der Preis für den Jahrgang beträgt 
12 Mark. Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an. 


Das „Archiv für Kulturgeschichte“ will eine Zentralstätte für die 
Arbeit auf dem Gebiete der gesamten Kulturgeschichte sein und dabei 
vor allem im Zusammenhang mit neueren Richtungen der geschichtlichen For¬ 
schung der Arbeit auf dem Gebiet der Geschichte des höheren Geistes¬ 
lebens ein geeignetes Organ sichern. Als Aufgabe der kulturgeschichtlichen 
Forschung muß es gelten, aus dem ganzen für die geschichtliche Erkenntnis 
einer bestimmten Zeit vorhandenen Material das für deren Gesamtkultur und 
Gesamtgeist Bezeichnende festzustellen, und so wird sie in erster Linie als Spezial¬ 
forschung wissenschaftlichen Charakter tragen. Sie wird sich jedoch in aus¬ 
gedehntem Maße die Ergebnisse sonstiger Spezialforschung, freilich nicht durch 
einfache Übernahme, sondern durch selbständige Verarbeitung unter ihren be¬ 
sonderen methodischen Gesichtspunkten und für ihre besondere Aufgabe, zunutze, 
machen dürfen und müssen. Dieser Aufgabe soll insbesondere die Einrichtung' 
regelmäßiger Literaturberichte dienen. Sie stehen neben der I. Abteilung, die selb¬ 
ständige wissenschaftliche Abhandlungen enthält, als II. Abteilung und sollen je 
ein Spezialgebiet in dem bezeichneten Sinne in Bearbeitung nehmen, das für die 
kulturgeschichtliche Forschung Wertvolle aus der Fülle der literarischen Erschei¬ 
nungen des betreffenden Gebiets unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten 
herausheben. Diese Berichte behandeln folgende Gebiete: Prinzipien- und 
Methodenlehre (Oesterreich), allgemeine und lokale deutsche Kulturgeschichte 
(Goetz), Geschichte der wirtschaftlichen Kultur (Koetzschke, Kuske), der politisch- 
rechtlichen Kultur und Verfassung (Kalbfuß, von Müller), der gesellschaftlichen 
Kultur und der Sitten (Steinhausen), des Erziehungswesens, der Naturwissen¬ 
schaften, der Medizin (Diepgen), der technischen Kultur (Matschoß), der reli¬ 
giösen und ethischen Kultur (Hermelink, Troeltsch), der Sprache (Kluge), der 
literarischen Kultur (Legband), der Musik (Heuß), der künstlerischen Kultur (Freund, 
Hamann), der geistigen Kultur und Weltanschauung (Zeller, Funk, Hashagen, Jacoby), 
der Persönlichkeitsentwicklung (Misch), endlich Volkskunde (Mogk), Anthropologie 
und Gesellschaftsbiologie (Eug. Fischer). Im Vordergrund soll bei den Berichten 
über die einzelnen Kulturgebiete die europäische, insbesondere die deutsche 
Kultur des Mittelalters und der Neuzeit stehen. Sie sollen ergänzt werden durch 
zusammenfassende Berichte über altvorderasiatische und ägyptische Kulturgeschichte 
(Lehmann-Haupt), antike Kulturgeschichte (Laqueur, Winter), das Fortleben der 
Antike in Mitteialter und Neuzeit (Rüstow), französische (Ganzenmüller), italienische 
(Andreas), spanische, englische Kulturgeschichte (Hoops), Kulturgeschichte Nord¬ 
amerikas und der englischen Kolonien (Daenell), skandinavische (Bugge), 
slawische (Streltzow), jüdische (Buber), islamitische (Aug. Fischer), indische 
(Konow) und ostasiatische Kulturgeschichte (Conrady). Die einzelnen Berichte sollen 
je nach Bedeutung alle zwei Jahre oder seltener erscheinen. Mit ihnen zumal hofft 
das „Archiv“ der Kulturgeschichte ein vertieftes Interesse bei den Vertretern aller 
übrigen historischen Einzeldisziplinen zu sichern, zwischen denen sie ihrer Stellung 
nach eine universale Verbindung zu stiften berufen ist. Eine III. Abteilung bringt 

kleine Mitteilungen und Hinweise. 


Aufsätze für das „Archiv für Kulturgeschichte“ werden unter der Adresse des 
Herausgebers Prof. Dr. Georg Steinhausen in Kassel, Kaiserplatz 14, erbeten. 
Beiträge werden mit 40 Mark für den Druckbogen von 16 Seiten honoriert. 
Außerdem werden den Herren Verfassern von Aufsätzen und Berichten 20, von 
Mitteilungen 10 Sonderabdrücke unentgeltlich und postfrei, eine größere Anzahl v 
auf Wunsch zu den Herstellungskosten geliefert. 

Bücher zur Besprechung in den Berichten werden nur an die Verlagsbuchhandlung 
B.G.Teubner, Leipzig, Poststraße 3/5, erbeten. 



































DIE KRISIS DER DEUTSCHEN KUNST 
IM SECHZEHNTEN JAHRHUNDERT. 

Vortrag im Städelschen Museumsverein in Frankfurt, 1913. 

VON GEORG DEHIO. 

Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit, der Kunst, 
verläuft in wesentlich anderen Formen als die Geschichte der 
auf Verstand und Wissen beruhenden Geistestätigkeit. Diese 
ist fortlaufende Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt 
wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt. 
Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozu¬ 
sagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch 
nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die 
Kunst muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe 
ist's, das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristalli¬ 
sieren, wobei ihr die von früheren Zeiten errungenen Werte nur 
insoweit nützen, als sie sie umbildet und sich assimiliert. Die 
Fähigkeit, diese Aufgabe zu erfüllen, ist aber offenbar nicht kon¬ 
stant. Wir haben den Eindruck, daß in der Kunst es Zeiten 
der Blüte und Zeiten des Verfalls gebe. Leicht zu erklären ist das 
nicht. Wenn wir überzeugt sind, daß die Kunst zwar ein Spiel, 
aber keine Spielerei, zwar ein Schein, aber doch sehr wirklich, 
zwar ein Überfluß, aber doch ganz unentbehrlich ist; wenn wir 
wissen, daß schon die Höhlenmenschen vor dreißigtausend Jah¬ 
ren Kunst geübt haben, und glauben, daß der letzte Dichter der 
letzte Mensch sein wird — woher kommt dann das sehr ungleiche 
Funktionieren der kunsterzeugenden Seelenkräfte? dieser Wechsel 
von Blüte und Verfall? 

Eine sehr einfache und radikale Erklärung gibt eine Lehre, die 
vor einiger Zeit erst aufgetaucht ist und, wie es scheint, nicht wenig 
Anhänger sich erworben hat: sie durchhaut den Knoten, indem sie 
die Tatsache selbst leugnet. Es gebe im kunstgeschichtlichen Ver¬ 
lauf, so behauptet sie, gar keine Höhen und Tiefen, Blüte- und Ver¬ 
fallszeiten; was einer subalternen Auffassung so erscheine, erweise 
sich einer höheren wissenschaftlichen Betrachtung als eine in 
ununterbrochener Stetigkeit abrollende Entwicklung, in der auf 

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Georg Dehio 


jedem Punkte alles gleich notwendig und immer gleich wertvoll 
sei. Es dürfte dann natürlich auch von keiner Krisis gesprochen 
werden, mein Vortrag wäre von vornherein auf einen falschen 
Grund gestellt. 

Es ist kaum zu sagen nötig, daß die neue — wenigstens für die 
Kunstgeschichte neue — Evolutionstheorie zustande gekommen 
ist unter Anwendung naturwissenschaftlicher Analogien. Ich 
beabsichtige selbstverständlich an dieser Stelle keine eingehende 
Auseinandersetzung. Solange wir daran festhalten, daß der 
Begriff der Gesetzlichkeit in der Geschichte nicht das bedeuten 
kann wie in der Natur, solange muß dasselbe vom Entwicklungs¬ 
begriff gelten. Die geschichtliche Wirklichkeit, so wie wir sie allein 
kennen, ist eine unlösliche Ineinanderschiebung von Notwendig¬ 
keit und Freiheit, von Entwicklung und Verwicklung, von Kon¬ 
tinuität und Diskontinuität. Auf die Kunstgeschichte angewendet 
heißt das: alles Geschehen in ihr ist ein Zusammenwirken inner¬ 
künstlerischer und außerkünstlerischer Komponenten. Ihre Stel¬ 
lung zueinander ist in jedem Augenblick eine neue, gerade so noch 
nie dagewesene. Wird die Spannung zwischen beiden so groß, daß 
die innere, d.i. die innerkünstlerische, Kraftlinie von ihrem logi¬ 
schen Ziel abgedrängt wird, so entsteht das, was wir eine Krisis 
nennen. 

Unter den vielen, welche die Geschichte der deutschen Kunst 
durchzumachen gehabt hat, ist die Krisis des 16. Jahrhunderts 
die größte und folgenschwerste; wir dürfen sagen, daß wir noch 
heute unter ihrer direkten Wirkung stehen. 

An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stand die deutsche 
Kunst so voll im Saft, wie vorher nur einmal, im 13. Jahrhundert, 
und nachher nie wieder. Wie niemals wieder war in dieser Zeit 
die deutsche Kunst volkstümlich, insofern alle gesellschaftlichen 
Schichten an ihr Teil hatten und in einem gleichgestimmten Gefühl 
sich in ihr begegneten. Niemals hat das Bildungsprivileg für 
unsere Kunst so wenig bedeutet und standen sich kirchliche und 
profane Kunst in der Ausdrucksweise so nahe. Ganz überraschend 
sind die Zahlen der Statistik. Um irgendein Beispiel herauszu¬ 
greifen: die Stadt Erfurt, nach heutigen Begriffen gerade nur eine 
Mittelstadt, besaß achtzig Kirchen und Kapellen, und jede war 


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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 3 

mit Kunstwerken gefüllt, Kunstwerken, die keineswegs bloß der 
Devotion dienten, sondern ebensosehr Denkmäler des Familien¬ 
sinnes und des Korporationsgeistes waren. Aus dem damaligen 
Besitz einer größeren städtischen Pfarrkirche würde sich heute 
ein ganzes Museum zusammenstellen lassen. Und wie sehen die 
Landkirchen dieser Zeit aus? Mindestens drei Altäre waren vor¬ 
handen, ein Hauptaltar und zwei Nebenaltäre, ein jeder reich 
mit Schnitzbildern und bemalten Flügeln ausgestattet; an der 
Decke des Altarhauses Freskogemälde; in der Sakristei ein oft 
sehr auserlesenes Gerät und Parament; am Fußboden und an den 
Wänden Grabdenkmäler des örtlichen Adels, manchmal in den 
besten Werkstätten der benachbarten Städte angefertigt; draußen 
vor der Kirche regelmäßig ein ölberg und eine Kreuzigungsgruppe. 
Die wenigen heute noch einigermaßen vollständig erhaltenen 
Exemplare solcher Dorfkirchenausstattungen, wie etwa Pipping 
bei München oder Kronberg bei Frankfurt, erfüllen uns mit Stau¬ 
nen; damals aber gab es dergleichen hunderte. Denken wir dann 
noch an die elementar vordrängende Bilderlust, die im 15. Jahr¬ 
hundert zur Ausbildung des Holzschnittes und Kupferstichs 
führte und in der, wenn auch oft in derber Form, unendlich viel 
mehr Geist steckte als in dem mechanischen Illustrationswesen, 
durch das heute die rohe stoffliche Neugier befriedigt wird, so 
können wir nur sagen: wir sind heute vergleichsweise Bettler und 
Barbaren. Wir wollen es nicht verkennen, die künstlerische Mas¬ 
senproduktion jener Zeit hatte auch ihre Gefahren; als Ganzes, 
in der Leistung wie in der Wirkung, muß sie uns enorm impo¬ 
nieren. 

Auf die volkstümliche Kunst des 15. Jahrhunderts kam in 
den drei ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts die eigentlich große 
Zeit, über die ich weiter nichts zu sagen nötig habe — und auf 
diese folgte sofort eine ungeheure Senkung der Kurve. 1528 starb 
Dürer, 1529 starben Grünewald und Peter Vischer, 1531 Riemen¬ 
schneider und Burckmair, 1532 verschwand zum zweitenmal 
und nun auf Nimmerwiedersehen Holbein aus seinem Vaterlande, 
er, der am meisten dazu berufen gewesen wäre, das Problem der 
Renaissance im deutschen Sinne zu lösen; Cranach und Baidung 
lebten länger, bis gegen Ende der vierziger Jahre, waren aber mit ihrer 

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4 Georg Dehio 

Altarkunst schon auf abschüssiger Bahn. Dann die Angehörigen 
der jüngeren Generation, die Söhne Vischers, die Schüler Dürers 
usw,, sie haben um 1530, längstens 1535 ihre Erbschaft auch 
schon verbraucht. Schnell und gründlich vollzieht sich in der Male¬ 
rei wie in der Bildhauerkunst der Übergang zu einem geistesarmen 
Epigonentum. 

Die Architektur hatte sich zum Niedergang schon früher ge¬ 
neigt. Denn Niedergang ist es doch, daß in der Hauptgattung der 
monumentalen Baukunst, in der Kirchenbaukunst, ein so gut wie 
vollständiger Stillstand eintrat. Es war dies schon am Vorabend 
der Reformation geschehen und dauerte fast bis zum Ende des 
Jahrhunderts fort, auf katholischer Seite nicht weniger als auf 
protestantischer. Die Profanarchitektur blieb rege; aber sie war 
nicht monumental. Das Heidelberger Schloß, das fast die einzige 
Ausnahme darstellt, ist kaum das Werk eines Deutschen. Was 
wir in der Architektur des 16. Jahrhunderts frühe Renaissance 
nennen, ist im Grunde nur ein erweitertes Kunsthandwerk, zwischen 
den beiden großen Idealismen der mittelalterlichen Gotik und der 
italienischen Neoantike eine sicher liebenswürdige, aber sicher 
auch recht kleinbürgerliche Figur. Wenn wir sonst als Kennzeichen 
der Renaissance eine erhöhte Geltendmachung des Individuums 
ansehen, so ist diese deutsche Renaissancearchitektur mit Fug 
und Recht anonym, denn sie ist auch in ihrem inneren Wesen un¬ 
persönlich. 

Wirkliche Architekten treten erst am Schluß des Jahrhunderts 
wieder auf, und einige von unleugbarer und ernster Bedeutung, 
wie Hans Schoch, Jakob Wolff, Paul Franke, Elias Holl. Die 
mit ihnen verheißungsvoll aufleuchtenden Anfänge versinken aber 
schnell wieder in der Nacht des Dreißigjährigen Krieges. 

Die Kunst des Mittelalters, auf die wir einen Augenblick zu¬ 
rückschauen wollen, war als vorwaltend kirchliche eine vorwaltend 
öffentliche gewesen; es hatte, wie die fortschreitende Demokrati¬ 
sierung ihres Charakters es handgreiflich zeigt, wirklich das ganze 
Volk hinter ihr gestanden. Die Kunst des 16. Jahrhunderts 
verlor mit der Kirchlichkeit zugleich die Öffentlichkeit, ohne daß 
ihr an anderer Stelle dafür ein Ersatz geboten wäre. Und nun 
verkettete sich mit diesem Verlust ganz verhängnisvoll ein zweiter: 


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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 5 

der Verlust an Volkstümlichkeit. Von der Niederwerfung des 
Bauernkrieges ab, nicht allein durch ihn veranlaßt, aber sicher sehr 
beschleunigt, begann die Verschiebung der Gewichte in der so¬ 
zialen Ordnung, die wir alle kennen. Es ist merkwürdig, wie prompt 
die Kunst darauf reagiert. Ich nenne als leicht zu überschauende 
Belege die beiden großen populären Gattungen der Holzplastik 
und des Bilddruckes in Gestalt des Holzschnittes. Wie schnell 
verfallen sie! Man kann sagen, daß in dem einen Jahrzehnt von 
1500 bis 1510 mehr Holzplastik und vor allem unendlich viel 
bessere produziert worden ist als in dem Halbjahrhundert von 
1550 bis 1600. Als Kaiser Maximilian I. auf den Gedanken kam, 
die Kunst zum Herold seines Ruhmes aufzubieten, da war es ihm 
das Natürlichste und Zeitgemäßeste, sich dem Holzschnitt anzu¬ 
vertrauen; Karl V. oder Ferdinand hätten alles eher gewählt als ihn. 
Im 15. und frühen 16. Jahrhundert hatte zwischen höfischer und 
bürgerlicher Kunst ein Unterschied der Gesinnung noch nicht 
bestanden; mit- der Renaissance drang von den romanischen Län¬ 
dern her eine neue Idee von Vornehmheit ein, bei deren Assimilie- 
rung aber, wie wir gestehen müssen, die Deutschen über die 
äußerste Schale nicht vordrangen. Diese derben Genußmenschen, 
die an den damaligen Höfen jagten, turnierten und zechten, wie viel 
oder wenig sie an der höheren Gedankenwelt ihrer Zeit Anteil hatten, 
ist doch genugsam bekannt. Die Kunst, die in diesen Kreisen be¬ 
gehrt und befördert wurde, war eine sinnlich kräftige, einigermaßen 
prahlerische Repräsentationskunst ohne Mitklingen der tieferen 
Gemütslagen, hierin das vollendete Gegenteil zu dem, was am An¬ 
fang des Jahrhunderts den Deutschen als Wertvollstes erschienen 
war. Ihr bestes Teil bleibt die unverwüstliche Tüchtigkeit und 
Gewissenhaftigkeit der handwerklichen Faktur. Ich will nur ein 
einziges Beispiel aus einer langen Reihe ähnlicher Erscheinungen 
herausheben: die Wandlung im Typus des Grabmals. Schon in 
den ersten Dezennien des Jahrhunderts war die Grabkunst stark 
beschäftigt gewesen, aber das einzelne Denkmal war in der Regel 
noch von bescheidenem Umfang. Es herrschte der Typus des Bild¬ 
nisepitaphs. Die Fähigkeit, kraftvoll und geschmackvoll zu charak¬ 
terisieren, war verbreitet, ungezählte namenlose Handwerksmei¬ 
ster hatten teil an ihr. Im zweiten Drittel des Jahrhunderts, 


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6 Georg Dehio 

als sich das Renaissancegrab durchsetzte, wuchsen Verschwendung 
wie Prunksucht, aber in umgekehrtem Verhältnis zur künst- 
lerischen Gestaltungskraft. Der Schwerpunkt liegt bei diesem 
Typus im architektonischen Aufbau und seiner Ornamentierung, 
das Figürliche aber verfällt öder Banalität, die Porträtgestalten 
sind selten mehr als fleißige Kostümbilder, die überreichen Reliefs 
biblischen und allegorischen Inhalts Virtuosenstücke ohne Leben, 
ohne Liebe. 

An den wenigen Höfen, an denen die nordische Renaissance¬ 
bildung tiefer und feiner aufgefaßt wurde, entstand alsbald 
das Verlangen nach Berufung künstlerischer Kräfte aus dem 
Heimatlande der neuen Kunst. Das ist ein Neues in der deutschen 
Kunstgeschichte. Zwar schon früher einmal, im 12. Jahrhundert, 
waren Italiener in ziemlicher Menge in Deutschland beschäftigt 
worden, aber ohne den Gang der deutschen Kunst tiefer zu beein¬ 
flussen. Im 13. Jahrhundert, als es darauf ankam, das in Frank¬ 
reich entstandene gotische Bausystem kennen zu lernen, wanderten 
deutsche Bauleute in Scharen dorthin; nach Hause zurückgekehrt, 
opferten sie in der Reproduktion der fremden Formen doch nicht 
den eigenen Willen. Jetzt aber galt zum erstenmal der fremde 
Künstler als solcher und grundsätzlich für den besseren. Dies 
Vorurteil behielt von nun ab an den deutschen Höfen, wie man weiß, 
mehrere Jahrhunderte hindurch Bestand. Dagegen war die Zahl 
der Deutschen, die im 16. Jahrhundert die Renaissancekunst an 
der Quelle studierten, verhältnismäßig klein, man begnügte sich 
mit abgeleiteten Erkenntnissen zweiter Hand. Jener bairische 
Herzog, der im Jahre 1537 einen großen Trupp von Bauhand¬ 
werkern aus Mantua nach Landshut berief, tat nur, was viele 
seiner Standesgenossen gern getan hätten, aber nicht oft er¬ 
reichen konnten. Die meisten dieser als Ratgeber und Entwerfer 
berufenen italischen Künstler waren mediokre Leute. Aber sie 
besaßen die geistige Geschmeidigkeit, mit der deutschen Tradition 
Kompromisse einzugehen, gerade wie ihre nach Frankreich be¬ 
rufenen — übrigens im künstlerischen Range durchgehend höher¬ 
stehenden — Landsleute es für das beste hielten. Seitdem wir wis¬ 
sen, daß das Schloß von Chambord, das wir immer als ein beson¬ 
ders bezeichnendes Abbild französischen Wesens angesehen hat- 


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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 7 

ten, von einem Italiener herrührt, werden wir uns leichter in 
den scheinbaren Widersinn finden, daß unser Heidelberger Schloß 
höchstwahrscheinlich von keinem Deutschen entworfen ist; und 
falls etwa doch von einem Deutschen, so von einem ganz kosmo¬ 
politisch durchtränkten. Und noch wichtiger als die unmittelbar 
italienischen waren die italistisch-niederländischen Künstler¬ 
kolonien und Importe; in München und Augsburg, in Westfalen 
und Schlesien, an der ganzen Seeküste von Emden bis Königsberg 
rührt vieles, was wir zum Besten in unserer späteren Renaissance 
rechnen, von ihnen her. 

Unleugbar ist die Kunst in Deutschland am Ende des Jahrhun¬ 
derts eine andere geworden, als sie im Anfang zu werden ver¬ 
sprach. Ihre Wurzeln reichen nicht mehr in das Grundwasser 
des nationalen Lebens herab, es ist nur folgerichtig, daß sie 
in so umfassender Weise Fremden zur Ausübung überlassen wird. 
So wird sie ganz profan, eine Kunst neutraler Augenlust, in einer 
Zeit, die sonst alles und jedes auf die Religion bezieht, die leiden¬ 
schaftlich und rettungslos dem langen Glaubenskrieg entgegen¬ 
treibt. Wie stattlich, selbst glänzend sie noch aufzutreten vermag, 
sie sagt nur sehr unvollständig die Wahrheit über den inneren 
Zustand unseres Volkes in jener Zeit. 

Daß die Kunst der nachdürerischen Epoche in der Summe 
Verfall bedeutet, ist heute allgemeines Urteil. Aber es pflegt immer 
nur ästhetisch, also mit einem schwankenden Maßstab, begründet 
zu werden. Ich glaube, mit meinen Ausführungen auch objektiv¬ 
historisch nachgewiesen zu haben, daß es so ist, daß Verfall vor¬ 
liegt. 

Nun aber erhebt sich die Frage nach dem Warum. 

Mit dieser Fragestellung komme ich zum zweiten Teil meiner 
Erörterungen, mit dem erst sie problematisch werden. Für mich 
besteht kein Zweifel, daß es nicht im eigenen Kern und Wesen der 
Kunst gelegene Ursachen waren, keine inneren Entwicklungsnot' 
Wendigkeiten, die die Krisis herbeiführten und sie so unglücklich 
ablaufen ließen. Wenn die Kunst eines Dürer und Grünewald 
und ihrer Zeitgenossen, wie wir überzeugt sind, im Gesamtleben 
der Nation begründet und das organische Produkt der vorangehen¬ 
den Entwicklung war, so ist nicht einzusehen, warum sie auf er- 


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8 Georg Dehio 

reichtem Höhepunkte plötzlich abbrechen mußte. Wollte man sa¬ 
gen, es kam daher, daß auf einmal die Talente fehlten, so wäre das 
keine Erklärung, nur eine Tautologie. Nein, die Erklärung kann 
nur in der Richtung gesucht werden, daß nicht sowohl in der Kunst 
selbst als in ihrer geistigen Umwelt Veränderungen vor sich ge¬ 
gangen sein müssen, die unheilbringend in die Welt der Kunst 
eindrangen, ihren Zusammenhang mit dem allgemeinen Bewußt¬ 
sein lockerten; und zwar so tief lockerten, daß die bildende Kunst 
im Gesamtleben unseres Volkes niemals — ja, so ist es leider, nie¬ 
mals — die Bedeutung wiedererlangt hat, die sie im Mittelälter 
und am Beginn der Neuzeit, bis zu der Krisis, von der wir sprachen, 

besessen hatte.. Die geistige Struktur des deutschen Volkes konnte 

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sich nach und nach so einseitig umlagern, daß selbst ein so durch 
und durch ästhetisch angelegtes Zeitalter wie das Goethes und 
Schillers, Mozarts und Beethovens für die bildende Kunst ver¬ 
gleichsweise so gut wie unfruchtbar blieb. 

Also was waren die Ursachen? Die am öftesten gehörte Ant¬ 
wort lautet: es war die Reformation. Die einen sprechen sie 
im Tone bitterer Anklage aus, die anderen als ein verschämtes Zu¬ 
geständnis. Ich sehe nicht ein, warum hier nicht ein von Beschul¬ 
digung oder Rettung absehendes, rein historisches Urteil möglich 
sein sollte, und will gleich zu Anfang meine Meinung dahin ab¬ 
geben, daß zwar zweifellos die Reformation mit eine Ursache war, 
aber daß sie doch als einzige Erklärung nicht genügt. Daß ein in 
das deutsche Leben so tief und dauernd eingreifendes Ereignis 
die Kunst hätte unberührt lassen können, ist von vornherein un¬ 
denkbar. Und nun gar diese deutsche Kunst, sie, die in ihrer gan¬ 
zen bisherigen Geschichte aufs engste an das Institut der Kirche 
gebunden gewesen war. Wenn die alte Kirche stürzte, so war es 
notwendig auch mit der alten Kunst vorbei. Das fühlte auch das 
katholische Deutschland. Auch hier war die kirchliche Kunst 
wenn nicht vernichtet, so doch auf den toten Punkt gebracht, 
über den sie erst hinwegkam, als sie sich ins Schlepptau der roma¬ 
nischen Gegenreformationskunst begab. Die deutsche Reformation 
war an sich nicht kunstfeindlich — die gelegentlichen Aufwallun¬ 
gen der Bilderstürmer sind unter anderem Gesichtspunkte zu be- : 
urteilen —, sie hat die Hinterlassenschaft des Mittelalters sogar 


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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 


schonender behandelt als der Neukatholizismus, woher es z. B. 
kommt, daß wir heute intakte mittelalterliche Altäre weitaus am 
häufigsten in protestantischen, genauer lutherischen, Landschaften 
finden, in Altwürttemberg, Sachsen, Mecklenburg und Holstein. 
Aber — dies waren für den Protestantismus doch nur Antiquitäten. 
In seinem eigenen Ideenkreise war nichts, das nach bildkünst¬ 
lerischem Ausdruck verlangt hätte. Wenn er nach Abbruch der 
alten Traditionen eine neue kirchliche Kunst sich hätte aufbauen 
sollen, auf welchem Boden und aus welchen Stoffen hätte das ge¬ 
schehen können? Daß eine Kirche, welche Mythologie und Sym¬ 
bolik, also die beiden Hauptquellen der mittelalterlichen Kunst, 
für heidnische Greuel erklärt, welche in ihrem Gottesdienst auf 
die Mitwirkung der Sinne und der Phantasie verzichtet, welche das 
gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellt, welche die guten 
Werke verdammt und folglich auch für fromme Stiftungen keinen: 
Anreiz mehr bietet — daß eine so gewandelte Kirche die bildende 
Kunst nicht nötig hat, höchstens nebenher einen schmalen Raum 
ihr übrig lassen kann, ist so selbstverständlich, daß darüber kein 
Wort zu verlieren ist. Die Reformation, ich wiederhole es, war 
nicht der bildenden Kunst feindlich, aber sie war der Kunst un¬ 
bedürftig; sie glich darin, bewußt oder unbewußt, dem Urchristen¬ 
tum. Überhaupt war ja die große Stellung der Kunst im mittel¬ 
alterlichen Kirchenwesen gar keine Forderung des christlichen 
Geistes, sondern eine Forderung der in das Christentum aufge¬ 
nommenen griechischen Bildung gewesen, wodurch die merk¬ 
würdige Antinomie entsteht, daß der letzte noch in unmittelbarer 
Kontinuität aus der Antike herstammende Kulturbesitz unserer 
Nation aufgegeben wurde in demselben Augenblick, in dem sie sich, 
unter der Form des Humanismus wieder vertrauensvoll der 
antiken Bildungsquelle zuwendete. Und noch eine zweite Anti¬ 
nomie, die uns an einer früheren Stelle unserer Betrachtung rätsel¬ 
haft erschien, erklärt sich auf diese Weise: jene, daß die Reforma¬ 
tion, die doch zweifellos den religiösen Idealismus in unserem Volks¬ 
leben gestärkt hat, dennoch die Kunst ihrer Zeit einseitig auf die pro¬ 
fane und realistische Seite hindrängte. Die Kunst des nachrefor- 
matorischen 16. Jahrhunderts ist zweifellos am besten dort, wo 
sie in rein ornamentaler Phantasie sich ergeht — und so könnte 


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I o Georg Dehio 

man sagen, sie sei wieder auf dem Standpunkte des deutschen Alter¬ 
tums angelangt. 

Nun aber sind Kirche und Religion nicht dasselbe. Hatte die 
Reformation das Band zwischen der Kunst und der Kirche ge¬ 
löst — eine religiöse Kunst, die freilich nur noch eine freie, sub- 
jektivistische Kunst der einzelnen sein konnte, war auch im Pro¬ 
testantismus noch möglich. Das hat schon Dürer mit seinen ganz 
aus persönlichen Erlebnissen heraus zu begreifenden Apostel¬ 
bildern für sich in Anspruch genommen. Das hat gewaltig ergreifend 
Rembrandt dargetan. Aber Rembrandt steht fast allein. 

Wenn wir nun doch wissen, daß von den zwei evangelischen 
Bekenntnissen der Calvinismus dogmatisch, ethisch und liturgisch 
weit schroffer als das Luthertum die Kunst ablehnte und wenn 
trotzdem im calvinistischen Holland die große Kunstblüte ein¬ 
trat, während das lutherische Deutschland der Kunst abstarb, 
so ist dieser Gegensatz eine Mahnung, nicht alle negativen Posten 
der Rechnung dem Protestantismus als solchem aufzubürden. 
Es sind auch noch andere Ursachen dagewesen, einige sehr hand¬ 
greifliche, wie die wirtschaftliche Verarmung im Dreißigjährigen 
Kriege, andere im Psychischen zu suchen, aber so kompliziert, 
daß wir ihnen hier nicht mehr liachgehen können. Es genüge das 
deutliche Ergebnis hinzustellen: die norddeutschen Protestanten 
waren keineswegs Menschen ohne künstlerisches Bedürfen und 
Verlangen, aber dasselbe wandte sich bei ihnen mit einseitiger 
Entschiedenheit vom sinnlichen Bilde weg einer anderen Kunst zu: 
die protestantische Kunst wurde die Musik. Die Namen Schütz, 
Bach und Händel geben die Antwort auf die Frage, warum der 
deutsche Protestantismus keinen Rembrandt hervorgebracht hat. 

Allein noch die Baukunst, diese „gefrorene Musik“, hätte 
die gleiche Bedeutung erlangen können. Und eine Zeitlang schien 
es auch so werden zu wollen. Um dieselbe Zeit, als der katholische 
Kirchenbau sich aus seiner Lähmung erhob und als sein erstes 
bedeutendes Werk, die Jesuitenkirche S. Michael in München, er¬ 
richtet wurde — allerdings nicht von einem Deutschen, sondern 
von einem verwelschten Niederländer —, entstand in Norddeutsch¬ 
land die nach ihrem wahren und hohen Wert zu wenig erst bei 
uns bekannte Wolfenbütteier Marienkirche Paul Frankes, der 


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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert ri 

Münchner Jesuitenkirche künstlerisch ebenbürtig und viel ori¬ 
gineller, besonders genetisch viel deutscher. Daß sie keinen Nach¬ 
wuchs fand, dafür liegen die Gründe wieder nicht in der Kunst¬ 
entwicklung an sich, noch auch in der Religion, sondern in den 
allgemeinen Verhältnissen. 

Alles in allem: es ist eine unbestreitbare Tatsache, die Refor¬ 
mation und ihre Folgeerscheinungen haben der bildenden Kunst 
sehr wenig neue Lebenssäfte zugeführt und sehr viel alte eintröck- 
nen lassen. Mag ein jeder von uns, aus seiner Grundgesinnung 
heraus, sich entscheiden, worin er den durch die Reformation 
unserem Volke gebrachten Gewinn erkennt: zu den Opfern, mit 
denen er erkauft wurde, hat jedenfalls die Kunst eine starke Bei¬ 
steuer geliefert. 

Hiermit ist aber über das Thema „Reformation und bildende 
Kunst“ noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es kommt auf 
den Begriff der Reformation an. Läßt man sie erst mit dem Jahre 
1517 beginnen, dann allerdings wäre viel mehr nicht zu sagen. Ist 
man aber davon überzeugt, daß es lange vor dem Auftreten Luthers 
schon eine latente Vorreformation gegeben hat, dann wird man bei 
einem anderen Urteil anlangen. Ich halte die bildende Kunst im 
letzten Menschenalter des 15. und im ersten des 16. Jahrhunderts für 
eine Hauptquelle zur Erkenntnis dieser latentenVorreformation. Es 
sind noch die alten Schläuche, aber in ihnen ist ein neuer Wein. 
Aus dieser Vorabendkunst spricht ein Gemütszustand, der durch¬ 
aus ein anderer ist als der des klassischen Katholizismus im hohen 
Mittelalter, der in gerader Linie auf den religiösen Kern der Refor¬ 
mationsbewegung hinführt. Es wurden hier in aller Stille Blüten¬ 
träume geträumt, von denen freilich in den rauhen Frühlingstagen 
der Reformation nur ein kleiner Teil zur Reife kam. Ich kann 
dies hier nicht weiter ausführen. Wie ich es meine, wird schon 
ein einziges Beispiel erläutern. So sage ich: Albrecht Dürer steht 
im Grunde seines Empfindens Sebastian Bach sehr viel näher 
als nach der anderen Richtung dem Mittelalter, Dürer ist mehr 
als bloß ein Vorbote, schon ein Vollbürger der Reformation. 
Wäre der reformatorischen Bewegung, wie es in einem kurzen 
Augenblick wohl scheinen konnte, im ganzen ungeteilten Deutsch¬ 
land der Sieg zugefallen, so wären die Folgen für die bildende 


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Georg Debio 


Kunst wahrscheinlich sehr andere und glücklichere geworden. 
Die Spaltung brachte aber den Kampf, und der Kampf trieb ein¬ 
seitig eben in die Richtungen, die von der bildenden Kunst weg¬ 
führten. 

Würde ich meine Betrachtung schon hier schließen, so würde 
ein schiefes Bild Zurückbleiben. Die Krisis der deutschen Kunst 
im 16. Jahrhundert war eine Doppelkrisis. Um dieselbe Zeit, 
als die Kunst durch die Kirchenreform einer der wichtigsten ihrer 
alten Grundlagen verlustig ging, drang von Italien und bald auch 
von den Niederlanden die große Welle der Renaissance vor, von 
einem anderen Angriffspunkte aus, dem künstlerisch-formalen, 
das historisch entwickelte Kunstwollen an sich selbst irre machend 
und erschütternd. Die begeisterte Parteinahme für die Renaissance 
in unseren Tagen ließ diese Dazwischenkunft fast nur als eine glück¬ 
bringende ansehen. Man vergaß dabei dasselbe, was schon das 
16. Jahrhundert selbst nicht richtig erfaßt hatte, nämlich daß 
die Renaissance nicht gleich Antike, sondern eine spezifisch 
italienische, also national gebundene Kunst ist. So kam zu dem 
einen Zwiespalt jetzt noch ein zweiter hinzu. Die Renaissance 
trat in Gegensatz zu der deutschen Kunstüberlieferung und die 
Reformation in Gegensatz zu beiden. Denn es ist ein Irrtum, 
daß Renaissance und Reformation gleichsam Geschwister gewesen 
seien. Praktisch waren sie in manchen Momenten Bundesgenossen, 
aber innerlich einander durchaus fremd, aus gänzlich verschiedenen 
Entwicklungsreihen hervorgegangen. So entstand eine höchst ver¬ 
worrene und gefährliche Komplikation. Die herkömmliche Auf¬ 
fassung der Kunstgeschichte hat ihre Bedeutung bei weitem noch 
nicht richtig eingeschätzt. 

War etwa in dem Augenblick, wo sie von diesen zwei Gegnern, 
in die Mitte genommen wurde, die deutsche Kunst gealtert, de¬ 
generiert, innerlich unsicher und hilfebedürftig? Sie war es nicht. 
Und so war es auch die Sendung und Leistung der Renaissance nicht, 
die nordische Welt etwa von abgelebten Resten mittelalterlicher 
Kunst zu befreien, wie man es lange sich vorgestellt hat. Diese 
Auffassung wäre nur im Recht, wenn die Renaissance die einzige 
und allein gültige künstlerische Ausdrucksform für den Menschen 


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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 13 

der Neuzeit wäre. So ist es aber nicht. Allzulange hat die be¬ 
queme Schematisierung der Kunstgeschichte nach konventionellen 
Stilnamen den Weg zur Einsicht in die Sache versperrt. Die Wahr¬ 
heit ist: so wenig die italienische Kunst am Beginn der Neuzeit 
bloß Wiedergeburt der Antike ist, so wenig ist die nordische der¬ 
selben Zeit bloßes Fortdauern einer gealterten Gotik. Heute, nach¬ 
dem wir gelernt haben, Namen und Sache, Formalismus und Form, 
besser zu scheiden, sehen wir in der spätgotischen — wir müssen 
nun schon sagen: sogenannten spätgotischen — Baukunst eine tief¬ 
greifende Umwertung des Überlieferten. Man denke dann in der 
Bildhauerkunst an Erscheinungen wie Veit Stoß oder Hans Backofen 
oder den Meister des Isenheimer Altars; in der Malerei und Graphik 
an Grünewald und den jungen Dürer — hier ist in Klarheit und 
Kraft ein neues Wollen auf dem Plan, das mit der klassischen Gotik 
nichts mehr zu tun hat, ebensowenig aber auch der Renaissance 
geistesverwandt ist. Daß dieser aus der sich auflösenden Gotik 
selbstbewußt und lebenskräftig emporsteigende neue Stil ohne 
Namen geblieben ist, darf uns nicht irre machen. Suchen wir nach 
inneren Analogien, so finden wir sie am meisten in dem, was wir 
im 17. Jahrhundert Barockstil nennen. Ob nun der Name Früh¬ 
barock sich einbürgern wird oder nicht, die Tatsache wird immer 
deutlicher, daß nach dem Schluß des Mittelalters die Verjüngung 
der Kunst kein Privilegium Italiens war, vielmehr einen doppelten 
Ursprung hatte. Das Leben der europäischen Völker war zu reich 
geworden, zu komplex in der Verschlingung alter Traditionen mit 
neuem Ausdrucksverlangen, als daß es noch einen Einheitsstil, 
wie im Mittelalter die Gotik es gewesen war, hätte hervorbringen 
können. Die Größe und Fülle der neuzeitlichen Kunst Europas 
beruht auf der Spannung zweier verschieden gestimmter Grund¬ 
kräfte, deren Entwicklungslinien zuweilen getrennt verlaufen, 
öfter sich überschneiden und mischen, niemals ihren Sonderwert 
ganz aufgeben. Es ist ein Spiel und Gegenspiel des Klassischen 
und Barocken, des Klassischen und Romantischen, wenn man die¬ 
sen Namen vorziehen will; noch unsere letzte Vergangenheit im 
19. Jahrhundert steht deutlich unter diesem Zeichen. Im 16. Jahr¬ 
hundert hat es in Deutschland wohl nur einen einzigen Künstler 
gegeben, der den Konflikt in seiner ganzen Tiefe empfand und 


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14. Georg Dehio 

mit höchster seelischer Anstrengung für seine Person zu har¬ 
monischem Austrag zu bringen trachtete: Albrecht Dürer. Nichts 
Ergreifenderes als sein Ringen nach der Wahrheit. Zugleich 
aber werden wir uns gestehen müssen, daß diesem Mann, der 
zugleich ein Künstler und ein Denker sein wollte, darüber ein 
gut Teil von Unmittelbarkeit des Empfindens verloren ging. 
Wir Deutschen haben eine Erbeigenschaft, die sich nur mit nega¬ 
tivem Ausdruck bezeichnen läßt: die Formlosigkeit. Von Zeit 
zu Zeit ergreift uns die Sehnsucht, aus dem Dämmernden, Ver¬ 
worrenen, Unnennbaren, Überschwenglichen uns zu retten ins Helle 
und fest Begrenzte, in die Form. Dann wenden wir uns zum ewigen 
Schatzbehalter reiner Form, zur Antike. Sehr oft aber verwirrt uns 
ihr Anblick aufs neue, und wir verwechseln Form und Formalis¬ 
mus. So ist es der Generation nach Dürer geschehen. Auf Grund 
dessen, was Dürer am Ende seines Lebens erreicht hatte, hätte wohl 
eine neue Kunst entstehen können, die zugleich Renaissance und 
deutsch gewesen wäre. Was wirklich kam, war nur halb Renaissance 
und zugleich nur halb deutsch. Die Epigonen Dürers begriffen nur 
unvollkommen, was die Renaissance eigentlich von ihnen verlangte: 
daß sie einen ganz neuen Menschen anzögen. Sie begnügten sich 
mit einem oberflächlichen Kompromiß, sie verstanden an der 
Renaissance nicht die Form, nur den Formalismus. Es ist über¬ 
haupt fraglich, ob die Renaissance, wäre sie auf das Gebiet der 
Kunst beschränkt geblieben, es im damaligen Deutschland, wo 
sie auf so starke innere Widerstände stieß, je zu einem großen Er¬ 
folg gebracht hätte. Notwendig gemacht wurde sie erst, insofern 
sie eine Forderung der allgemeinen Kultur war. Der deutsche 
Humanismus war von der künstlerischen Seite der neuen Bildung 
kaum berührt; wenn er dennoch starke Propaganda auch für die For¬ 
men der Renaissance machte, so galt das wesentlich den von ihnen 
umschlossenen antikischen Stoffen. Man hat sehr richtig gesagt, 
daß das Größte und Beste in der italienischen Renaissancekunst 
allenfalls auch ohne die Antike denkbar sei, die deutsche Kunst 
aber wandte sich zur Renaissance, weil ihr Publikum aus ganz 
anderen als künstlerischen Überzeugungen in ihr das Bessere 
vermutete. Von dem Irrtum der Gleichsetzung von Italienisch 
und Antik habe ich schon gesprochen. Niemand kann sagen, 


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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 15 


was entstanden wäre, wenn die deutschen Künstler die Antike 
selbst kennen gelernt hätten. Tatsächlich machten sie ihre Studien 
nur an der oberitalienischen Kunst, die schon etwas eine Mischkunst 
mit barockem Anflug war; Florenz und Rom haben sie so gut wie 
nicht gekannt, es ist, als ob sie sich davor heimlich gefürchtet 
hätten. 

Ich möchte mit meiner Kritik nicht mißverstanden werden. 
Sie gilt nicht der Rezeption als solcher. Es ist durchaus eine Stärke 
des deutschen Geistes, daß er das Wertvolle fremder Kulturen 
in sich aufzunehmen fähig ist. Die früheren Rezeptionen, die 
antike im 9., die gotische im 13., die niederländische im 15. Jahr¬ 
hundert, wenn es ganz ohne Opfer auch bei ihnen nicht abging, 
waren im wesentlichen Bereicherungen gewesen. Die des sech¬ 
zehnten traf uns in einem Augenblick, in dem wir auf sie nicht 
vorbereitet waren. 

Die Deutschen der damaligen Zeit, als von Natur ganz un¬ 
klassische Menschen, haben von der Renaissance nur die Schale, 
nicht den Kern ergriffen. Erst dann, als auch die italienische 
Kunst aufhörte, klassisch zu sein, erst im Barock, verstanden die 
Deutschen die Italiener wirklich und konnten die fremde 
Gabe für sich fruchtbar machen. Im Friedrichsbau von Heidel¬ 
berg, in den Bauten Paul Frankes und Elias Holls sehen wir An¬ 
sätze zu einem deutschen Barock, der in seiner weiteren Entwick¬ 
lung doch noch etwas anderes bedeutet hätte, als was nach der 
Unterbrechung durch den großen Krieg die Kunst des 18. Jahrhun¬ 
derts tatsächlich gebracht hat. Wie vieles wir an dieser Kunst 
des 18. Jahrhunderts bewundern und wie falsch es ist, sie einfach 
als Verwelschung zu charakterisieren — eine Erfüllung der in dem 
Namen Dürer enthaltenen Verheißungen war sie in keinem Sinn. 

Unser Schlußurteil über das Eindringen der Renaissance und 
seine Folgen wird also ganz ähnlich zu lauten haben wie unter an¬ 
deren Gesichtspunkten das über die Reformation: beide waren histo¬ 
rische Notwendigkeiten, aber beide haben dem künstlerischen 
Teil des deutschen Lebens schwere Verluste gebracht; wohl auch 
einiges Wertvolle, aber nichts, was den Verlusten das Gleich¬ 
gewicht gehalten hätte. Mit der Reformation allein oder mit 
der Renaissance allein hätte die deutsche Kunst vielleicht noch 


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16 Georg Dehio 

sich auseinandersetzen können; beides gleichzeitig war zu viel. 
Ich spreche dies offen aus, meine aber damit keine Anklage weder 
gegen die Reformation noch gegen die Renaissance zu erheben. 
Beide hatten ihre besonderen Aufgaben zu erfüllen, der deutschen 
Kunst zu helfen waren sie nicht verpflichtet. Von dem Worte 
tragisch wird zu oft und leichthin Gebrauch gemacht: hierin aber 
liegt wirkliche historische Tragik, daß im 16. Jahrhundert die höch- 
sten Angelegenheiten im Geistes- und Gemütsleben unserer Nation 
miteinander in einen Konflikt gerieten, für den die Lösung nicht 
gefunden wurde. Wohl auch nicht gefunden werden konnte. 


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KRITISCHE BEITRÄGE 
ZUR GESCHICHTE DER PATARIA. 

VON JOS. GOETZ. 

Die große Bedeutung der Pataria, jener denkwürdigen Volks¬ 
bewegung mit ihrem teils religiös-kirchlichen, teils politisch-sozialen 
Charakter, welche Mailand in der zweiten Hälfte des II. Jahrhun¬ 
derts über 20 Jahre lang durchtobt hat, ist schon von den zeit¬ 
genössischen Schriftstellern wenigstens in den Grundzügen rich¬ 
tig erkannt und zum Ausdruck gebracht worden. 1 ) Die Lücken, 
die infolge der bald lokalpatriotischen, bald kirchenpolitischen, 
bald religiösen Tendenzen, welche die einzelnen Autoren, darin die 
echten Kinder ihrer leidenschaftdurchtobten Zeit, verfolgten, in 
der Beurteilung der patarenischen Bewegung sich fast notwendig 
einstellen mußten, hat dann die spätere Geschichtsschreibung Zug 
um Zug ausgefüllt und so jene Grundlinien zu einem einigermaßen 
abgeschlossenen Bilde zu vervollständigen gestrebt. 2 ) 

Indes lassen sich noch immer etliche Fragen namhaft machen, 
die bislang ungenügend geklärt erscheinen und deren weitere 
Aufhellung, die im folgenden angestrebt werden soll, doch einen 
kleinen Fortschritt in der Auffassung und Beurteilung einzelner 
Tatsachen und Geschehnisse verspricht und so auch für die Ge¬ 
samtanschauung über die Pataria von Wert sein möchte. 

Die Frage nach dem Urheber der patarenischen Reformbe¬ 
wegung bietet z. B. immer noch ihre Schwierigkeiten, deren Lö¬ 
sung nun denn doch nicht so einfach liegt, wie man aus 0er neueren 

') Araulfi gesta archiepiscoporum Mediolanensium. MG. S. S. VIII, 
p. i8ff. — Landulfi historia Mediolanensis. MG. S. S. VIII, p. 32 ff. — An¬ 
dreas, Vita S. Arialdi. Migne, P. L. voL. 143, coli. 1437 fr. — Bonithonis epi- 
scopi Sutrini über ad amicum VI. Ja S 6 , bibl. rer. Germ. II, p. 638 ff. — Ben- 
zonis episcopi Albensis ad Heinricum IV. imp. libri VII. MG. S. S. XI, 
p.591 ff- 

*) Krüger, A., Die Pataria in Mailand. (Jahresbericht des Kgl. Fried- 
richsgymnasiums Breslau.) 2 Teile. Breslau 1873/74. — Päch, H., Die 
Pataria in Mailand 1056—1077. Sondershausen 1872. — Meyer von Knonau, 
G., Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Heinrich IV. und Heinrich V. 
Bd. I. Leipzig 1890. — Weitere Literatur am zugehörigen Orte. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 2 


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Jos. Goetz 


Literatur die Vermutung gewinnen könnte. 1 ) Darauf allerdings 
wird man sich wohl ziemlich leicht einigen können, daß Ariald 
die Pataria als rücksichtslose Betätigung der Reformforderungen 
in der lombardischen Hauptstadt in Fluß brachte. 

Allein es erhebt sich die Frage: wie konnte Ariald so plötzlich, 
sozusagen beim ersten Auftreten, in Mailand ein solch gewaltiges 
Echo finden, das ihn und seine Sache dermaßen populär machte, 
daß sich nicht nur die zunächst betroffenen Kreise, die verhei¬ 
rateten Kleriker*), kaum zum schwächlichsten Widerstand auf¬ 
zuraffen vermochten, sondern auch bei den sofort in Aufnahme ge¬ 
kommenen Plünderungen und Gewalttätigkeiten des fanatisierten 
Volkes die gesetzliche Obrigkeit völlig versagte? Man wird ja 
nun eben auf den Fanatismus der niederen Massen hinweisen, 
der blindlings und unwiderstehlich seine Bahn nehme, wohin ihn 
ungezügelte Leidenschaft, zerstörungssüchtige Habgier, langver¬ 
haltener Haß reiße. Man wird nicht versäumen, den Gegensatz zu 
betonen, in dem sich Adel und Erzbischof einerseits und ander¬ 
seits Adel und Bürgerschaft von Mailand seit einem vollen Jahr¬ 
zehnt befanden, ein politisch • sozialer Gegensatz, der in der 
langen Dauer keineswegs an Schärfe verloren hatte. Und doch 
bleibt dabei immer noch ein ungeklärter Rest übrig: denn auch 
nachdem einträgliche Rechte von Laien in Gefahr geraten waren, 
erhob sich nur geringer Widerstand. Da legt sich der Gedanke 
fast von selbst nahe, daß die Reformideen in Mailand bereits 
festen Fuß gefaßt hatten*), ehe denn Ariald sie mit dem frommen 
Fanatismus des einseitigen Gelehrten, der keine Rücksicht auf 
alteingewurzelte Zustände kannte, unter das Straßenvolk warf. 
Als nun dieses, schon seit langem in sozialer Gärung, zur offenen 
Gewalt überging, fehlte es in der Gegenpartei an der Kraft zu 
energischem Handeln; denn durch die Einflüsse der Reformideen, 

*) PächS. 19, wo Anm. i die entgegenstehende Literatur. — Meyer von 
Knonaul, S. 60 u. 669 f. (Excurs V.) 

*) Am. III, 10—12. Der Kampf gegen die Simonie begann erst nach 
der Synode von Fontanetto, vgl. Päch S. 18, 24. 

*) So lebte man z. B. in S. Ambrogio nach duniacensischer Regel, 
vgl. Sackur, E., Die Guniacenser in ihrer kirchlichen u. allgemeingeschicht¬ 
lichen Wirksamkeit bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts (2 Bde., Halle 
1892 f.) II, S. 206. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


19 


die das Geistliche überall und grundsätzlich über das Weltliche 
stellten, war auch in den konservativen Köpfen Mailands die 
Reflexion über Recht oder Unrecht von Simonie und Nikolaitis- 
mus stärker geworden als der Wille, den überkommenen Besitz¬ 
stand auf alle Weise zu wahren. 

Dazu kommt ein weiterer Umstand, der das frühere Eindringen 
der Reformgedanken in Mailand sehr wahrscheinlich macht. 
Ariald fand mit seinen Überzeugungen zweifelsohne nicht wenige 
Gesinnungsgenossen auch im Klerus: die entgegenstehenden 
Schilderungen des Andreas 1 ) und die offenkundigen Übertrei¬ 
bungen Bonithos*) wird man füglich auf die Rechnung der pata- 
renischen Parteiauffassung setzen dürfen. Erwägt man ferner¬ 
hin, welches Lob auch Freunde der Pataria den ambrosianischen 
Geistlichen ob ihrer hohen Bildung und Tüchtigkeit ehrlicher¬ 
weise zu spenden nicht umhin konnten 8 ), so müssen diese anerken¬ 
nenden Äußerungen in den tatsächlichen Verhältnissen begründet 
gewesen sein. Nun besaß Mailand freilich selber seine theologi¬ 
schen Schulen 4 ); aber die wissenschaftlichen Mittelpunkte der 
damaligen Gottesgelehrsamkeit lagen in Frankreich. Gerade hier, 
im Lande der pseudoisidorischen Dekretalen, empfingen auch die 
Reformideen ihre systematische Unterbauung und Ausbildung, 
die nun auch mit den wandernden Scholaren 6 ) nach Italien vor¬ 
drangen: wie denn Arialds Biograph ausdrücklich zu vermelden 
weiß, daß sein Heiliger auf Reisen im Auslande den Schatz seiner 
Kenntnisse, den sich der reichbegabte Jüngling in Mailand er¬ 
worben, erweitert und vertieft hätte. 6 ) 

Wenn sich nun bei Landulf die Bemerkung findet 7 ), daß in 
der Tat bereits zu Beginn der fünfziger Jahre sich eine reformato- 

‘) c. I § 7. *) Ja «6 II, S. 640. 

*) Am. III, 14 berichtet das Wort Peter Damianis: „numquam se 
talem vidisse clerum". Ähnlich Anselm von Lucca bei Land. III, 5. 

*) Land. II, 35; vgl. Mirbt, K., Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII. 
(Leipzig 1894) S. 245. 

4 ) Vgl. Krüger II, S. 13, Nr. 4; Endres, J. A., Die Dialektiker (Philos. 
Jahrbuch XIX, 1906) S. 24 ff. 

•) Andr. c. I, §6; vgl. Päch S. 18. Krügers Einwände sind nicht 
stichhaltig; vgl. Meyer von Knonau I, S. 6r, Nr. 10. — Gfrörer, A. Fr., Papst 
Gregorius VII. u. sein Zeitalter (Schafihausen 1859fr.) I, S. 568 rät auf Paris, 
Clugny, sogar Spanien. T ) Land. III, 5. 

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Jos. Goetz 


rische Strömung in der lombardischen Metropole breitgemacht 
habe, und wenn er diese mit dem späteren Bischof von Lucca 
und nachmaligen Papst Alexander II., Anselm von Badagio, in 
Verbindung bringt, dessen cluniacensische Geistesschulung keinem 
Zweifel unterliegt 1 ), so wird man sich nicht von vornherein der 
Frage verschließen dürfen, ob diese Nachricht keine Beachtung 
verdiene, wie in den seitherigen Darstellungen geschehen. 

Auch in der Chronologie der Pataria sind noch nicht alle Schwie¬ 
rigkeiten gelöst: so in der Datierung der Synode von Fontanetto. 
Arnulf*) erklärt nämlich aufs bestimmteste, diese Synode sei auf 
Anordnung Stephans IX. berufen und von Erzbischof Wido ge¬ 
halten worden. Aber auf Grund von gesicherten Urkundendaten 
sowie von inneren Bedenken lehnt Meyer von Knonau 3 ) diese 
Angabe ab und glaubt die Berufung und Abhaltung der Synode 
noch unter Viktor II. setzen zu sollen. Scheint schon um dieses 
Widerspruchs willen — und Arnulf gilt als die zuverlässigste 
Quelle für die Geschichte der Pataria — eine neue Untersuchung 
des wirklichen Tatbestandes gerechtfertigt, so mag noch ein 
anderer Gesichtspunkt auffordern, sie anzustellen: es wäre ein 
interessantes Streiflicht, das auf die Entwicklung der Reform¬ 
ideen am päpstlichen Hofe und besonders unter Stephan IX. fiele, 
wenn sich nach Beseitigung aller Schwierigkeiten Arnulfs An¬ 
gabe aufrechterhalten ließe! Denn es ginge dann aus ihr ganz 
deutlich hervor, daß man sich in Rom zwar über die Ziele der 
Reform und der künftigen Kirchenpolitik durchaus im klaren 
war, daß aber die erfolgreichen Wege dazu erst aus der praktischen 
Erfahrung erschlossen werden mußten. 

Schließlich darf die Behauptung gewagt werden, daß in der 
Benennung der Mailänder Reformbewegung als Pataria, ihrer 
Anhänger und Teilnehmer als Patariner (Pateriner) die seitherigen 
Deutungen des Namens bezüglich der Herkunft und Bedeutung 
keine volle Befriedigung gewähren; denn trotz aller gelehrten 
Gründlichkeit und allem methodischen Scharfsinn vermögen die 

*) Vgl. Giesebrecht, W., Geschichte der deutschen Kaiserzeit (Braun¬ 
schweig 1876 fr.) 4 III, S. 30; Gfrörer I, S. 567; Davidsohn, R., Geschichte 
von Florenz (Berlin i8g6ff.) I, S. 22z. *) III, 12, 13. 

*) I, S. 672. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


21 


seitherigen Auslegungen verschiedenen berechtigten Einwänden 
nicht standzuhalten. Vielleicht gelingt es dem unten angestellten 
Versuch, mehr Klarheit und Sicherheit in die beregte Frage zu 
bringen. 

I. „Pataria.“ 

Es entsprach durchaus der Bedeutung der Mailänder Reform¬ 
bewegung, wenn sie schon frühzeitig 1 ) durch einen eigenen Namen 
ausgezeichnet ward: bei dreien von den Hauptquellen geschieht 
desselben Erwähnung. Aber mit der bloßen Anführung des Na¬ 
mens durch die zeitgenössische Literatur hatte es nicht sein Be¬ 
wenden; vielmehr unternahmen die Schriftsteller auch den Ver¬ 
such, dem Namen eine Ausdeutung mit auf den Weg zu geben, 
mittels der er seine Herkunft erweisen sollte. Freilich konnte 
keiner dieser Versuche von bleibendem Werte sein; denn sie gingen 
zumeist von mutmaßlichen Äußerlichkeiten aus, ohne nach einem 
tieferen Tatsachenkern zu suchen. Nur soviel geht aus diesen 
Versuchen mit Sicherheit hervor: es muß dem Namen etwas ganz 
Merkwürdiges von Anfang an beigewohnt haben, daß er sich trotz 
allen Dunkelheiten nach Herkunft und Bedeutung so zähe erhielt; 
am bloßen Wortlaut kann das nicht ausschließlich gelegen haben; 
das dürfte ohne weitere Begründung klar sein für jeden, der sich 
vergegenwärtigt, daß sich im Volke nur Schlagwörter — und als 
solches hat doch Pataria — Patariner zu gelten — durchsetzen 
und behaupten, die sich für seine Phantasie mit einer ganz bestimm¬ 
ten Vorstellung verbinden. 

Es mag nun, bevor in die eigentliche Untersuchung eingetreten 
wird, von einigem Interesse sein, zunächst etliche Erklärungen 
des Namens durch ältere und neuere Schriftsteller anzuführen. 

Im 5. Bande seiner italischen Altertümer*) kommt Muratori 
u. a. auf die Manichäer und ihre orientalischen Ursprünge zu 
sprechen. Dabei tut er auch der Tatsache Erwähnung, daß man 
in Oberitalien hauptsächlich diese Häretiker als Patariner be- 

*) Nach Arn. III, 13 auf die Synode von Fontanetto hin, also etwa 
seit Ende 1057; ebenso setzt Bon. lib. ad am. VI (Ja S 6 II, S. 639) das Auf¬ 
kommen des Namens ins selbe Jahr; und auch für Land. III, 5 steht er mit 
den Anfängen der Bewegung im Zusammenhang. 

*) Antt. V, p. 81 ff. 


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Jos. Goetz 


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zeichnet habe. 1 ) Der Name reizte ihn seinerseits zu einer Ety¬ 
mologie, die weiter unten anzuführen sein wird.*) Auffällig ist 
dabei — das sei hier sofort angefügt —, daß Muratori, ohne 
Bonithos Etymologie zu kennen*), doch in der Sache zum gleichen 
Ergebnis kam. 

Mit der bewundernswerten Umsicht, welche diesen berühm¬ 
ten Geschichtsforscher in alleweg auszeichnet, hat Muratori über¬ 
dies die Gelegenheit nicht unbenützt vorbeigelassen, die Erklä¬ 
rungen einiger Schriftsteller mitzuteilen, die jedoch seine ent¬ 
schiedene Ablehnung erfahren. Da seine klare treffliche Art 
nicht kürzer und besser gegeben werden kann, habe er selber das 
Wort: quare e cerebro suo uti et in aliis locis, non autem ex veri- 
tate rei, Paterini nominis etymon deduxere Octavius Ferrarius 
et Aegidius Menagius in libris originis linguae Italicae, quum a 
‘pactis’ originem sumpsisse scripserunt. 'ita primum’ inquit Fer¬ 
rarius ‘in contumeliam Iudaei appellati a pactis, quum pignori- 
bus capiendis et pecunia foenore locanda caverent, ut nisi intra 
certam diem usura penderetur, res pignori opposita periret ac si- 
milibus pactis et conditionibus transigerent.’ Und er fügt diesem 
seltsamen Einfall die Kritik bei, daß man niemals die Juden Pa- 
teriner genannt habe, sondern nur die Manichäer oder die mai- 
länder Christen, welche die Unenthaltsamkeit der Priester mit 
Eifer und Ausdauer bekämpft hätten. 

Weiterhin macht Muratori noch auf eine Notiz aufmerksam, 
■die sich bei dem Mönch Wilhelm von Clusinum in der Lebensbe¬ 
schreibung des Abtes Benedikt aus demselben Kloster findet 4 ) 
und die von Cuniberts Nachfolger auf dem Turiner Bischofsstuhl 
sagt: 'qui prius fuerat Stoicus sive, ut aiunt, Paterinus, gaudens 

’) a. a. O. V, p. 83 sagt er, die Bezeichnung der Manichäer als 
Patariner sei in Mailand schon vor der Reformbewegung Mitte der fünf¬ 
ziger Jahre üblich gewesen (vgl. Hahn, Chr. U., Geschichte der neuma- 
nichäischen Ketzer [Stuttgart 1845] 1, S. 50; Kirchl. Handlexikon II [1912], 
1359) und dann von Arnulf u. Landulf auf die Reformfreunde übertragen 
worden, die mit bisweilen übertriebenem Eifer die Priesterehe bekämpften. 
Indes widerspricht diese Ansicht den übereinstimmenden Angaben der 
Quellen. *) S. 25 f. 

*) Da Bonithos Freundbuch erst später aufgefunden ward; vgl. Päch S. 5; 
Jaffö n, S. 602. 

4 ) Mabillon, Acta Sanct. ord. S. Ben., saec. VI, pars II, pag. 711, c. 33. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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Sorte mutata, quidquid undecumque compilare poterat, ventri 
donabat avaro.’ Demnach, bemerkt Muratori dazu, habe man 
jjene Pateriner geheißen, die gleich den Manichäern eine Verach¬ 
tung von Nahrung und Kleidung offen an den Tag gelegt hätten. 

Eine nicht weniger gekünstelte Auslegung des Namens bringt 
Du Cange in seinem Glossarium 1 ), indem er an die von ihm beige¬ 
zogene Stelle aus der Chronik des Hugo Flaviniacensis: iam vero 
si quis esset qui Gregorio (sc. VII. papae) communicaret . . . hic 
haereticus destructör regni ... et quodam adinventitio nomine 
Paterinus dicebatur*) die Vermutung anschließt: forte quod 
Papae, quemPatrem appellabant, adhaereret. 8 ) Um zunächst 
bei Hugo von Flavigny kurz stehen zu bleiben, so ist bei ihm die 
Beobachtung zu machen, daß er den Namen Patariner schlank¬ 
weg als Parteibezeichnung der Anhänger Gregors VII. kennt, 
die nach seiner zutreffenden Bemerkung 4 ) gelegentlich erfunden 
worden sei. Da nun Hugo um das Ende des II. Jahrhunderts 
schrieb 8 ) und somit vom wahren Sachverhalt Kenntnis haben 
konnte, so scheint aus seiner Notiz hervorzugehen, daß die Über¬ 
tragung des Namens Patariner auf Häretiker zu seiner Zeit noch 
nicht oder wenigstens nicht allgemein erfolgt war. 

Was aber die Auslegung von Du Cange betrifft, so war es schon 
für Muratori ein leichtes, sie mit der gelehrten Anmerkung abzu¬ 
weisen 8 ) : nimis contorta est interpretatio, tum quod Pater Papam 
nequaquam satis apte, hoc est nullo singulari titulo, designet ac 
genericum nimis sit; tum etiam quod presbyteri incontinentes 
ab obsequio erga Romanum pontificem revera non discessere, ita 
ut dicteriis impeterent adversarios Gregorio VII. adhaerentes. 

Übrigens bietet Du Cange noch eine ganze Reihe von Stellen, 
die sich mit der Deutung des Namens befassen. Die einen wollen 
Ihn von p a s s i 0 ableiten, weil die Träger desselben bereit und ent¬ 
schlossen gewesen seien, für ihre Überzeugung ihr Blut zu ver¬ 
gießen wie die Märtyrer der Kirche. Andere glauben seinen Ur- 

*) S. v. Paterinus. *) Vgl. Antt. V, p. 84. 

*) Vgl. Hurter, Fr., Geschichte Papst Innocenz III. u. seiner Zeitgenossen 
(Hamburg 1842) * 11 , S. 231, Nr. 420; Füsslin, J. C., Neue und unparteiische 
Kirchen- u. Ketzergeschichte der mittleren Zeit (Frankfurt 1770) I, S. 42. 

4 ) Vgl. Arn. IV, 11. 

*) Potthast * 1 , S. 625. Chevalier * 1 , col. 2203. ®) Antt. V, p. 


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sprung in dem Umstand zu erkennen, daß die Patariner des Glau« 
bens lebten, durch das am Sonntag gesprochene Pater noster ihr 
ewiges Heil sicherzustellen. Wieder andere bringen den Namen 
in Verbindung mit einem gewissen Römer Pate r n u s, che ricovero 
in Bosna et sparse semi della sua diabolica dottrina in quaesto 
regno. — Doch genüge hier diese Zusammenstellung, aus der 
offensichtlich hervorgeht, daß die Deutungen von dem rein äußer¬ 
lichen Wortbild bzw. Wortklang ihren Ausgang nehmen und daß 
die Geschichtsschreiber des Mittelalters unter den Patarinerri 
fast immer Häretiker begreifen. 

Sachlicher verfährt eine andere Gruppe, hauptsächlich von 
neueren Gelehrten 1 ), die ihre Auslegung auf eine Angabe in Boni- 
thos Freundbuch stützen 2 ), wonach Paterini mit pannosi gleich¬ 
zusetzen wäre; die Übersetzung wird dann kurzweg mit 'Lumpen* 
wiedergegeben. In der Tat möchte diese Auslegung vollen Beifall 
heischen, wenn man beachtet, daß der Bischof von Sutri als Zeit¬ 
genosse der Mailänder Reformbewegung 8 ), ja noch mehr als Sohn 
der ambrosianischen Erzdiözese und Leiter der Pataria in Pia- 
cenza 4 ), von wo aus Mailand und die Reformführer des öfteren 
zu besuchen die Möglichkeit sehr nahe lag 6 ), ganz wohl mit den 
Zuständen und Ereignissen in der lombardischen Hauptstadt 
bekannt und vertraut sein, also auch mit seiner Ausdeutung auf 
eigenen Erkundigungen und Beobachtungen fußen konnte; wenn 
man sich ferner vergegenwärtigt, was Arnulf berichtet 6 ), daß 
nämlich nach der auf der Synode von Fontanetto über Ariald 
und seinen Helfershelfer Landulf ausgesprochenen Exkommuni¬ 
kation bei Tag und Nacht ein dichter Haufen von Männern und 
Weibern sich um den letzteren scharte, der am meisten bedroht 
schien — er hatte keine Weihe, die ihn zum öffentlichen Predigen 

*) z. B. Gfrörer, Gregor VII. I, S. 569; Baxmann, R., Die Politik 
der Päpste von Gregor I. bis auf Gregor VII. (Elberfeld 1868) II, S. 265; 
vgl. Will, C., Die Anfänge der Restauration der Kirche im n. Jahrhundert 
(Marburg 1859/64) II, S. 123. *) Jaff<£ II, S. 639. 

*) Geb. ca. 1045; gest. 14. Juli 1090; vgl. Lehmgrübner, H., Benzo 
von Alba (Histor. Untersuchgn., hsg. v. J. Jastrow, Heft 6, Berlin 1887) 
S. 136, 150; Saur, H., Studien über Bonizo (Forschungen zur deutschen 
Geschichte VIII, 1868) S. 420 (übrigens S. 438 Todesjahr 1114 unhaltbar!). 

4 ) Lehmgrübner S. 131, 138. — Saur S. 415. — Krüger I, S. 20. 

*) Saur S. 421; vgl. dagegen Päch S. 6. *) III, 13. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 25 

berechtigt hätte —, und daß diese Gefolgschaft zumeist nur aus 
den niederen und niedersten Bevölkerungsschichten Mailands 
stammte 1 ), deren politische und soziale Halb- oder Unfreiheit 
auch in ihrem äußeren Gehaben und Betragen sich aufdringlich 
bemerkbar machen mochte. Allein faßt man die Angabe näher 
ins Auge, so droht der einnehmende Schein rasch zu verfließen. 

Bereits Will*) hat darauf hingewiesen, daß Bonithos Erklärung 
„gar keine etymologische Wahrscheinlichkeit hat, indem es sich 
auf keine Weise dartun läßt, daß Paterini für pannosi stehen 
könne“. Dieser Ansicht wird man füglich beipflichten müssen, 
soweit sie die formelle Ableitung des einen Wortes vom anderen 
als sprachliche Unmöglichkeit hinstellt. Trotzdem ließe sich ja 
Bonithos Angabe als sachliche Umschreibung des ursprüng¬ 
lichen Begriffs, die durchaus auf tatsächliche Verhältnisse zurück¬ 
gehen konnte, wohl aufrechterhalten, wenn sich nicht eine be¬ 
deutende Schwierigkeit von einer anderen Seite in den Weg stellte. 

Arnulf widmet nämlich der Etymologie des Namens Patarini 
ein ganzes Kapitel*); dabei müht er sich mit einer Ableitung des¬ 
selben ab, die ihm zuletzt selber nicht geheuer war, weshalb er 
jeder besseren künftigen Etymologie völlige Freiheit lassen will. 
Wehn nun Bonithos Erklärung vom Aufkommen des Namens an 
Kurswert besessen hätte, so stünde zu vermuten, daß der sach¬ 
lichste Gewährsmann der Pataria, dazu der geborene Mailänder 
und scharfe Beobachter, mit Freude von ihr in seiner Darstellung 
Gebrauch gemacht hätte. So aber bleiben Bonithos 'Lumpen’ wohl 
ein subjektiver Erklärungsversuch und zwar jüngeren Datums 4 ), 
als er selber wahr haben möchte. 

Daß Muratori in seiner Abhandlung über die Manichäer den 
Versuch einer selbständigen Etymologie gemacht habe, wobei er, 
ohne Bonitho zu kennen, merkwürdigerweise dessen Auslegung 
sachlich ziemlich nahegekommen sei, wurde bereits im Vorher¬ 
gehenden betont. Indem er auf Landulfs an verschiedenen Stel¬ 
len 5 ) zerstreute Schilderungen der Umtriebe, welche die Reform* 

*) Wie Land. III, 5, 9, 11, 21 u. Bon. VI (Ja S 6 II, S. 639) überein¬ 
stimmend und zweifelsohne zutreffend berichten; vgl. noch Will II, S. 123, 
Nr. 36. *) a. a. O. *) IV, 11. 

4 ) Vgl. Krüger I, S. 21; Meyer von Knonau I, S. 672. 

‘) *• B. III, 5, 9, ii, 21. 


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anhänger gerade unterm niederen Volk sich zu schulden kommen 
ließen, Bezug nimmt, führt er aus: patalia 1 ) sive pataria . . . si 
quid video, nihil aliud significavit primo quam vilium personarum 
congeriem ac deinde seditionem abiectorum artificum ac gentis 
indoctae rudisque ab Arialdo scilicet contra clerum incontinen* 
tem primo excitatam tum a quibusdam nobilibus magno aftimi 
aestu amplificatam. Der Fortschritt nun in der Etymologie, der 
Muratori verdankt wird, besteht darin, daß er Paterini ableitet 
von einem im Mailändischen ganz geläufigen Wort pate, das so» 
viel bedeutet wie propola, d. h. Trödler.*) Danach also "wären 
es die „Lumpenhändler“ — adeo abiecta gens ac illiterata nennt 
er sie — gewesen, die sich durch ihren erbitterten Kampf gegen 
Simonie und Nikolaitismus diesen Namen zugezogen hätten, der 
dann allmählich auf die ganze Bewegung als eine Art nom de 
guerre überging. Allein so interessant Muratoris Vermutung zu¬ 
nächst anspricht, muß doch dem beigepflichtet werden, was be¬ 
reits Krüger 8 ) bemerkt hat, „daß diese Ableitung gezwungen ist 
wie die früheren und im Grunde ebenso wie Bonitho der Versiche¬ 
rung Arnulfs widerspricht: non industria, sed casu prolatum.“ 4 ) 

Die seither angeführten Auslegungen des Namens Patariner 
hatten also ihren Zweck nicht erschöpft: sie schoben verschiedene 
Schwierigkeiten ungelöst beiseite. Um nun mit_ diesen aufzu¬ 
räumen, ward ein anderer Weg eingeschlagen. Man ging nämlich 
von dem Abstraktum Pataria aus, einem Begriff, der sich beson- 

*) So hat auch Landulf. Wenn Krüger I, S. 21, wo übrigens pathalia 
steht, was den M. G. unbekannt, seiner Abneigung wider diesen Autor 
so weit die Zügel schießen läßt, daß er ihm sogar aus dieser sprachlich 
leicht begreiflichen Schreibweise einen Strick drehen will, so geht diese 
Kritik entschieden zu weit. Vgl Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 14, 
wo Landulfs patalia auf pattele = Lumpen zurückgeführt wird. ‘ 

*) Vgl. die ergänzenden Angaben bei Meyer von Knonau a. a. O., dazu 
Perrens, F. T., St. Pierre Martyr et l’h^rdsie des patarins ä Florence (Revue 
hist. 1876) II, p. 339, Nr. 1. 

*) a. a. O. I, S. 21. — Vor allem enthalten gerade die Quellen keinerlei 
Angabe, daß ausgesprochen die Trödler einen solchen Reformeifer an 
den Tag legten, daß sie der ganzen Bewegung den Namen geben konnten. 

4 ) Pataria = Volksrotte findet sich, offenbar in Anlehnung an Landulf, 
bei Ne an der, A., Allgemeine Geschichte der christl. Religion u. Kirche IV 
(1836), S. 173; Giesebrecht, W., Annales Altahenses (Berlin 1841) S. 147; 
Realencyklopädie für prot. Theol. *XIII, S. 762 (Mirbt). Ähnlich Pataria 
= Bettlervolk bei Wetzer u. Welte, Kirchenlexikon *IX, 1595. 


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ders im Mailändischen nachweisen läßt und mit „Lumpen, Alt¬ 
eisen“ wiedergegeben wird. 1 ) Dieser Begriff, so nahm man an, 
hat sich frühzeitig auf den Stadtteil von Mailand übertragen, wo 
die Trödelwaren zum Verkauf standen.*) Und weil sich nun die 
Hauptmasse der Reformanhänger aus diesem Stadtteil rekrutierte, 
wo vielleicht auch, da man mit den beweibten oder simonistischen 
Priestern keinerlei kirchliche Gemeinschaft zu pflegen ernstlich 
gesonnen und entschlossen war 3 ), der Gottesdienst für die „Arial- 
disten“ abgehalten wurde, so konnte es sich gar leicht ergeben, 
daß man die Reformanhänger die Patariagemeinde nannte. 4 ) 

Eine Stütze erwuchs dieser Vermutung in der Tatsache, daß 
schon im 14. Jahrhundert der Mailänder Chronist Galvaneus 
Flamma 8 ) den Namen Pataria mit einem gleichnamigen Mai¬ 
länder Trödlerviertel in Zusammenhang brachte. Seinen Spuren 
folgte späterhin Sigonius 6 ), der freilich die Verwechslung beging, 
als habe man die reformfeindlichen Priester mit diesem Namen 

s 

bedacht. 7 ) Und noch im 18. Jahrhundert bestand nach des Mai¬ 
länder Grafen Giulini Bericht 8 ) ein Pataria benanntes Viertel in 
der lombardischen Hauptstadt. 9 ) 

Indes kann man sich nicht verhehlen, daß auch dieser Erklä¬ 
rung noch manche Bedenken und Fragen entgegenstehen. Ein¬ 
mal mag betont werden, daß Arnulf nicht die abstrakte Form Pa¬ 
taria, sondern nur die konkrete Paterini kennt; und Bonitho, 

*) Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 14. — Ja Ü 6 II, S. 639, Nr. 4. 

*) Vgl. Baxmann II, S. 265, Nr. 3; Jaffd II, S. 639, Nr. 4; Krüger I, 
S. 21; Will II, S. 123. *) Am. III, 13. 

4 ) Krüger I, S. 22; vgl. dazu Bildungen wie Jakobiner aus der fran¬ 
zösischen Revolution. 

6 ) Manip. flor. c. 625 (Muratori S. S.XI, p. 538); Chron. maius c 764 
(Giulini, Memorie della cittä e della campagna di Milano ne’ secoli bassi 
[Milano 1760] IV, p. 199); vgl. Potthast * 1 , S. 488! 

6 ) Hist, de regno ltal. IX, ad annum 1058. Opp. omn. (Mailand 1732) 
II, col. 535. 

7 ) Vgl. Giulini a. a. O. — Muratori, Antt. V, p. 84. 

8 ) a. a. O. IV, p. 199: lo sito... che oggidl pure chiamasi Pataria 
o contrada de’ Patari, ciofc rivenduglioli di panni vecchi da’ Milanesi 
chiamati patari, was ein alter Brauch sei (indes nicht vor dem 12. Jahrh.), 
a ciascuna delle principali arte e delle principali mercanzie eine besondere 
Straße zuzuweisen. 

®) Nach Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 13 besteht „auch noch 
zur Stunde eine via dei Pattari“ (nähere Ortsangabe daselbst). 


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der zwar auch die Form: Patarea 1 ) anführt, gründet seine Er* 
klärung doch auf das Konkretum Paterini. In der Tat wider¬ 
spräche es aller historischen und psychologischen Erfahrung, 
wenn die konkrete erst von der abstrakten Form ihren Ausgang 
genommen hätte; es ist vielmehr von vornherein höchstwahr¬ 
scheinlich, daß auch hier der umgekehrte Fall eingetreten ist. 

Eine weitere Schwierigkeit, die der Stadtviertelhypothese 
entsteht, liegt in der bestimmten Angabe Arnulfs, wer die Benen-: 
nung der Reformanhänger als Patariner zuerst aufgebracht habe: 
cetera vulgaritas. Nach Arnulfs Sprachgebrauch sind darunter 
die unteren Schichten der Mailänder Bevölkerung zu verstehen. 
Gegen diese deutliche Angabe kann Bonithos Bemerkung nicht 
aufkommen, wenn er die Erfindung des Schimpfnamens den über 
die raschen Fortschritte der Reform erbitterten simonistischen 
und nikolaitistischen Priestern ins Gewissen schieben möchte; 
überdies widerspricht eine solche absichtliche Erfindung auch der 
anderen ausdrücklichen Bemerkung Arnulfs, der Name verdanke 
durchaus dem Zufall seine Entstehung. 

Wenn von vornherein die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß ist, 
daß sich der Riß, der mit der Reformbewegung in die ambrosia- 
nische Kirchengemeinde kam, auch durch die niederen Bevölke¬ 
rungskreise zog, so erhebt Arnulfs eben angeführter Ausspruch 
diese Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit. Es erscheint demnach 
äußerst zweifelhaft, daß ein Teil der Volks- und Standesgenossen 
desselben Stadtteils den anderen mit einem Schimpfwort be¬ 
legt habe, das, von der gemeinsamen Wohnstätte hergenommen, gar 
keine scharfe Kennzeichnung der Betroffenen in sich schloß und 
darum unmöglich seinen spöttischen Zweck, den es laut Arnulfs 
Notiz hatte, erfüllte. Freilich pflegt ein Schlagwort auf derlei 
Bedenken nicht eben viel Rücksicht zu nehmen, wenn es nur 
eine bestimmte Vorstellung der zu treffenden Sache auszulösen 

*) Er hat Pataria (Jaflte II, S. 644); Patarea (ib. II, S. 651, 652, 659). 
Die letztere Form hat den Ton sicher auf der vorletzten Silbe. Dement¬ 
sprechend ist wohl auch Patarfa mit betonter Pänultima zu sprechen; was 
durch Benzo VI, 2 bestätigt wird, wo das Versmaß Patarfa zu lesen 
erfordert. Vgl. Rotondi, P., La Pataria di Milano (Arch. stör. Ital. Serie III, 
t. VI, parte I, 1867), der diese Betonung extra durch den Druck (Akzent) 
kennzeichnet. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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vermag. Das traf aber im Falle „Pataria“ nicht zu: denn hätten 
es sonst die beiden Mailänder Chronisten unterlassen, bei ihren 
etymologischen Versuchen der lokalen Herkunft des Namens Er¬ 
wähnung zu tun, wenn sie mit ihm die Vorstellung des von den 
„Trödlern“ bewohnten Stadtteils hätten verbinden können? 1 ) Zu¬ 
mal Arnulf hätte doch sonst gute Gelegenheit gehabt, seiner eigenen 
Forderung Genüge zu tun, indem er auf Grund jener von einem 
Stadtviertel hergenommenen Bezeichnung, das die verachteten, 
übelbeleumundeten „Lumpenhändler“, den Grundstock der Pa¬ 
taria, beherbergte, das ganze große Unrecht der Reformbewegung, 
wie es dieser konservative Aristokrat auffaßte, ins rechte Licht 
rückte. Der richtige Sachverhalt scheint demnach so zu liegen, 
daß zu Arnulfs Zeiten jenes späterhin als Pataria bezeichnete 
Stadtviertel noch gar nicht diesen Namen trug. Vielmehr kam 
der Name zuerst für die Anhänger Arialds und Landulfs in Auf¬ 
nahme; diese gehörten zu einem guten Teil den niederen Volks¬ 
schichten an, die teils in Lumpen einhergehen, teils mit Trödler¬ 
waren handeln oder in diesem Artikel irgendwelche Beschäftigung 
finden mochten. Da sie in einem bestimmten Bezirk zusammen¬ 
wohnten, so übertrug sich — vielleicht eben mit unter Einwirkung 
der Reformbewegung — auf diesen Stadtteil die Bezeichnung 
ihres Tun und Treibens. 

Noch einen letzten Einwand gilt es wider die Annahme ins 
Feld zu führen, als habe die Bezeichnung der Mailänder Reform¬ 
bewegung von einem Stadtviertel ihren Ursprung genommen. Be¬ 
kanntlich wurde der Name Patariner in der Folgezeit besonders 
auf die zumal in Oberitalien allenthalben auftauchenden Mani¬ 
chäer*) übertragen. 

Wie kam es aber, daß ein Name, der ursprünglich mit der 
Häresie (im eigentlichen Sinne) nichts zu schaffen hatte und dem 

*) Übrigens hat sich bereits Muratori Antt. V, p. 83 im Hinblick aut 
Arnulf gegen die Stadtviertelhypothese ausgesprochen. Auch Krüger I, 
S. 22 empfand dies Bedenken, das er mit der Bemerkung zu beseitigen 
vermeint: „Den tumultuarischen Charakter der Bewegung drückt diese 
Benennung (nach einem Stadtbezirk) keineswegs aus, und deshalb genügt 
sie dem Arnulf nicht." 

*) Vgl Döllinger, J. J. v., Beiträge zur Sektengeschichte des Mittel¬ 
alters (München 1890) I, S. 51, 67. 


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überdies ein gut Stück Mailänder Lokalfarbe anklebte, im Laufe 
der Geschichte fast ausschließlich für die Brandmarkung häreti¬ 
scher Bestrebungen gebraucht werden konnte? Der zureichende 
Grund für diese merkwürdige Erscheinung, welche die Stadt¬ 
viertelhypothese nicht zu erklären weiß, muß offenbar bei der 
wenn auch zufälligen Schöpfung des Namens bereits wirksam ge¬ 
wesen sein. 

Es ergibt sich demnach die Notwendigkeit, die seitherige Er¬ 
klärung des Namens Pataria — Patariner fallen zu lassen. Wird 
sich aber eine andere Deutung finden, die womöglich alle sach¬ 
lichen und auch formellen Bedenken zu beheben imstande ist? 
Die Frage wird sich am besten dadurch beantworten, daß alle 
Quellenstellen, welche den Namen anführen, aufs neue untersucht 
werden, wobei besonders der Zusammenhang, in dem er auftritt, 
sorgfältig beachtet und Zweck und Art der Deutung herausge¬ 
hoben und verglichen werden. 

Während sich bei Andreas keinerlei Andeutung des Namens 
Pataria — Patariner findet 1 ), hat Bonitho, der schon mehrerwähnte 
Bischof von Sutri*), eine ausführliche Erklärung desselben in 
seine Darstellung eingeflochten. Im 6. Buche seines Freund¬ 
buches kommt er auf die Mailänder Reformbewegung zu sprechen, 
die ihm geradezu ein Musterbeispiel für seinen zu Anfang des 
Werks aufgestellten Satz abgeben muß, daß gerade die Zeiten 
tiefster Erniedrigung der römischen Kirche zum Heile ausschlagen. 
Denn durch die Pataria oder, wie es Bonitho ansieht, durch den 
einheitlich organisierten Kampf der gregorianischen Orthodoxie 
wider Simonie und Nicolaitismus, wurde die ambrosianische 
Kirche, deren von einer ganzen Reihe tüchtiger und zielbewußter 
Erzbischöfe errungene Selbständigkeit und Eigenart ihm wie 
ein zweihundertjähriges Schisma erscheint, wieder unter Roms 

*) Er spricht nur von fideles, z. B. c. II, § 15, III, § 24, V, § 52, VI, § 57 

u. ö., von sequaces Arialdi c. VI, § 59. Der letztere Ausdruck enthält deut¬ 
lich den Grund für diese auffällige Tatsache: dem Biographen des hl. 
Ariald, dessen Schüler u. Begleiter er war, verschwindet das Werk der 
Reform völlig hinter dem Helden und Märtyrer. 

*) Über sein hartumstrittenes Werk zuletzt: Bock, R., Die Glaub¬ 
würdigkeit der Nachrichten Bonithos von Sutri im über ad amicum und 
derenVerwertung in der neueren Geschichtsschreibung (Histor. Studien hsg. 

v. E. Ebering, Heft 73), Berlin 1909. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 31 

unbedingte Herrschaft gebracht.*) Und wenn sich aus dem erz- 
bischöflichen Palast sogar die hochmütigen und trotzigen Worte 
hatten vernehmen lassen: Ambrosiana aecclesia in suo statu 
permaneat 1 ), so folgte diesem frevelhaften Selbständigkeits¬ 
dünkel auch der tiefste Fall nach: im Schoße der Mailänder Kirche 
selbst erstanden die Werkzeuge ihrer Demütigung. Vornehmlich 
den beiden Klerikern Landulf und Ariald gelang es, durch ihre 
von der frommsten Überzeugung getragenen Predigten vor dem 
armen und niederen Volke den cluniacensisch-römischen Reform¬ 
idealen in Lombardiens Hauptstadt zum Durchbruch und Sieg 
zu verhelfen. Dadurch aber sahen sich, bei den eigenartigen 
Verhältnissen in Mailand, die simonistischen*) und nikolaitisti- 
schen Priester in ihrer äußeren Existenz bedroht; und da sich 
zwischen ihnen und dem hohen und niederen Adel vielfache 
Bande der Familie und des Besitzes schlangen, machten sie mit 
diesen zur Abwehr jener oft gewalttätigen Reformbestrebungen 
gemeinsame Sache. Aber sie vermochten gegen die Begeisterung 
der eifervollen Masse so wenig aufzukommen, daß sie vielmehr es 
mit ansehen mußten, wie eines Tages ihr eigener Erzbischof aus 
seiner Kirche gejagt ward. 3 ) Alles, was die mit dem Adel ver¬ 
bundene Klerisei ausrichten konnte, war die Erfindung eines 
Schimpfwortes, wodurch sie, wie ihre eigene Ohnmacht und Hilf¬ 
losigkeit, so die innere Berechtigung und Notwendigkeit der refor- 
matorischen Bestrebungen offensichtlich zugab: indem sie den 
Anhängern der Reform deren Armut zum Vorwurf machte, gab 
sie ihnen den Namen Pateriner, d. h. „Lumpen“. 4 ) 

Aus dem Zusammenhang läßt sich unschwer erkennen, daß 
hier — wie auch sonst zumeist — hämische Parteileidenschaft 
dem Bischof die Feder führt: es war ihm offenbar nicht um eine 
sachliche Etymologie zu tun, sondern um die Brandmarkung der 
Reformgegner. Diesen letzteren gibt er darum im schroffsten 

l ) Jafig II, S. 638. 

*) Bonitho (Jaffi i II, S. 640) läßt von 1000 Priestern kaum 5 ohne 
Geldzahlung zu ihrem Amte gekommen sein. 

*) Vgl. Am. III, 12, der wenigstens von einem fanatischen Angriff 
des Volkes unter Landulfs Führung auf die zum Chorgebet versammelte 
Geistlichkeit berichtet. 

4 ) Jaffd II, S. 639. Die Abweisung dieser Erklärung s. o. S. 25. 


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Gegensatz zu Arnulf an der Erfindung schuld. Allein, so klittert er 
weiter, die schlimme Absicht, die sie damit verbanden, schlug voll* 
ständig fehl: denn weit entfernt, daß dieses Schimpfwort der Re¬ 
formsache irgend Abbruch getan hätte, war es ihr im Gegenteil 
nur förderlich, und zwar aus zwei Gründen: einmal hebt Bonitho 
in salbungsvollem Wortschwall geflissentlich hervor, daß zu denen, 
die zum Leben vorherbestimmt waren, d. h. zu den Reformfreun¬ 
den, hauptsächlich gehörten pauperes quos elegit Deus, ut con- 
fundat fortia (i. Cor. I, 27). Wie konnte denn ihnen, die unter 
Gottes besonderem Schutz und Schirm standen, ein übelwollendes 
Schimpfwort schaden! Vielmehr flog der giftige Pfeil auf die 
Schützen selber zurück: denn sie mußten die Strenge jenes Herrn¬ 
wortes erfahren: wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka, ist dem 
Hohen Rat verfallen (Mt. V, 22), indes die glückselig zu preisen 
sind, die würdig befunden waren, für Jesu Namen Schmach zu 
leiden. Und wirklich trat dieser Gottessegen auch nach außen 
für alle Welt deutlich sichtbar zutage: gewaltig nahm das glor¬ 
reiche Geschlecht der Pateriner täglich zu. 1 ) 

Was an diesem biblischen Zitat auffallen muß, ist nicht die 
Beziehung seines allgemein-sittlichen Inhalts auf einen speziellen 
Fall der Geschichte, den es zu bekämpfen gilt; das war und ist 
eine Gepflogenheit, die sich bei allen Religionsgemeinschaften fin¬ 
det, welche aus kanonischen Büchern Norm und Form schöpfen, 
und die von ihren streitbaren Dienern jederzeit bis zur Verkehrung 
der angezogenen Stellen in ihren gegenteiligen Sinn ausgenützt 
wird. Auffällig ist vielmehr der Kommentar, den Bonitho dem 
Wort „racha“ in seinem Zitat gibt, indem er es mit pannus über¬ 
setzt.*) Er hatte dabei wohl die Absicht, mit dieser sich als ge¬ 
lehrt gebenden Willkür mittelalterlicher Bibelbelesenheit seiner 
Etymologie: Paterini = pannosi eine unangreifbare Stütze 
zu geben; denn „die Deutung, welche Bonitho dem Worte fkucd 
gibt, indem er es für das griechische Wort jSdKOC, das ist Lumpen, 
erklärt, ist gewiß ganz verfehlt“. 8 ) Allein wie kam Bonitho ge¬ 
rade auf den Einfall, diese Stütze im Griechischen zu suchen? 

*) Jaffö II, S. 640. 

*) Ja ff 6 II, S. 640: rachos enim Grece Latine pannus dicitur. 

•) Will II, S. 123. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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Wenn man zudem bedenkt, daß er mit dieser exegetischen Eigen* 
mächtigkeit weit über seine wahrscheinlichen Gewährsmänner 
Augustinus und Chrysostomus, die ^axd für eine bloße Interjek* 
tion halten 1 ), hinausging, so gewinnt diese Frage noch an Be¬ 
deutung. Vielleicht trägt zu ihrer Lösung die Tatsache bei, daß 
auch Arnulf bei seiner Etymologie auf das Griechische zurück* 
geht. Wäre es nicht möglich, daß die beiden Schriftsteller, von 
einem dunklen Bewußtsein geleitet, das aus der Quelle der münd¬ 
lichen Tradition schöpfte, die sicherlich dem Drange nach einer 
Aufklärung des Ursprungs und der Bedeutung des Namens in 
immer neuen Vermutungen Luft machte, die Spur einer Herkunft 
aus dem Griechischen festgehalten hätten? Doch genüge hier 
vorerst, die Frage gestellt zu haben; sie wird weiter unten noch 
zu besprechen sein. 

Um nun zu Arnulf überzugehen, so befaßt sich dieser an zwei 
Stellen seines Werkes mit dem in Frage stehenden Namen. An der 
ersten erzählt er*), wie die Synode von Fontanetto in jeglicher Be¬ 
ziehung das gerade Gegenteil ihres über Ariald und Landulf ver¬ 
hängten Bannfluchs erreichte: denn Landulf, statt sich zu fügen 
und Buße zu tun, eiferte nun auch gegen Wido und seine Suffra- 
gane, die bislang unbehelligt geblieben waren, und schloß die 
Massen der Laien, die sich der Reform zugänglich erwiesen hatten, 
zu einem Eidverband zusammen, um so seine Zwecke, die Sache 
der Reform durch einen Boykott aller gottesdienstlichen Verrich¬ 
tungen der beweibten und simonistischen Priester durchzuführen 
und diese dadurch in die Reihen der Reform zu zwingen, leichter 
und sicherer durchzudrücken. Durch skrupelloses Vorgehen in 
der Beeinflussung der Massen erreichte er denn auch die Durch- 
iührung des Boykotts mit seinen bedenklichen Wirkungen. Diese 
Massen aber, sagt Arnulf, hießen bei ihren übrigen Standesgenossen 
ironisch Patariner. 

Der Wert dieser Nachricht liegt in der Tatsache, daß Arnulf 
hier als Augen- und Ohrenzeuge spricht, weshalb der vornehme 
und vernünftige Autor volles Vertrauen beanspruchen darf. 

*) Will, a. a. O. — Das {xncd bedeutet soviel wie Taugenichts, vgl. 
Holtzmann, Handkommentar zum N. T. i.Bd., i. Abt. (* 1901), S. 209. Dazu 
Wetzer u. Welte a. a. O. *X, S. 723. *) III, 13. 

Archiv für Kultur geschieht«. XII. z 3 


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Es war bereits an anderer Stelle Gelegenheit gegeben 1 ), darauf 
hinzuweisen, daß Arnulf ganz bestimmt den Ursprung des Na¬ 
mens in die Sphäre des niederen Volks verlegt. Freilich neigt er 
gern dazu, alle, die nicht dem Stande, der Kapitäne angehören, 
für niedriggeboren zu halten 2 ); freilich liebt er es, seiner. Gering¬ 
schätzung des niederen Volkes des öfteren unzweideutigen Aus¬ 
druck zu verleihen 8 ): aber seine sonstige Terminologie erheischt, 
den Begriff vulgalitas hier im ursprünglichen Sinne zu fassen. 4 ) 
Auch der Zweck der neuen Bezeichnung ist klar angegeben: die 
Anhänger, die Landulf für die Reform organisierte, sollten damit 
in ihrem Tun und Treiben lächerlich und verächtlich gemacht 
werden. 

Dieser beiläufigen Bemerkung über den Namen fügt Arnulf, 
nachdem er mit dem Untergang Erlembalds das Ende der Pataria 
herbeigekommen meint 6 ), den längeren Versuch hinzu, eine aus¬ 
führliche Etymologie desselben zu geben: unde Patarinum pro- 
cessit primo vocabulum, non quidem industria, set casu prolatum. 
cuius idioma nominis dum in quodam etymologiarum tomo nuper 
plura revolverem, ita scriptum reperio: pathos Graece Latine 
dicitur perturbatio, unde iuxta meae parvitatis ingeniolum sta- 
tim coniitio, quod Patarini possunt perturbatores rite nuncupari; 
quod plane rerum probat effectus. 6 ) 

Arnulf gibt hier zweifellos zu erkennen, daß die ominöse Be¬ 
zeichnung zuerst in der von Ariald und Landulf, später von des 
letzteren Bruder Erlembald geleiteten Reformbewegung aufge¬ 
treten ist. 7 ) Ferner betont er stark das zufällige Aufkommen 
des Namens. Und diese Angabe stimmt vorzüglich mit der frühe¬ 
ren zusammen, wonach die Bezeichnung im Anschauungskreis 
des niederen Volkes erwachsen sei: denn die überlegene Anschau¬ 
ung, nicht das überlegende Nachdenken schafft derlei Namen; 

*) S. o. S. 28. *) Vgl. Krüger II, S. 13. *) z. B. III, 12, 20. 

*) Vgl. III, 17: ipsa vulgalitas, symoniaca occasione divina execratur 
officia, cum quid sit inter dextram et sinistram, prorsus ignoret. 

*) Tatsächlich dauerte sie bis zur Aussöhnung Mailands mit Gregor VII. 
auf Canossa, ja infolge nochmaliger Trübungen bis zu Anfang der 90er 
Jahre; vgl. Anemüller, E, Geschichte der Verfassung Mailands in den 
Jahren 1075—1117 (Halle 1881) S. 14fr. 

•) IV, 11. 7 ) Vgl. oben. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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aber nur in bestimmten, jedoch nicht bestimmbaren Augenblicken 
gewinnt sie eine feste Form, deren Entstehung darum vielfach 
im Dunkel verharrt. So auch bei dem Schimpfwort Patariner. 
Aber dem Geschichtschreiber dünkte der Namen doch zu be¬ 
zeichnend, als daß er nicht den Wunsch empfunden hätte, seinem 
Dunkel ein Licht aufzusetzen. Wie er nun gelegentlich ein Ety¬ 
mologienlexikon zu Händen bekam und darin einiges nachschlug, 
suchte er diesem Wunsche Genüge zu tun. Da stieß ihm das Wort 
pathos auf, dessen Wiedergabe mit perturbatio seinem Urteil 
über die Reformbewegung so sehr entgegenkam: all die blutigen 
Wirren, die erbitterten Kämpfe mit ihren grundstürzenden Folgen 
für die Kirche und die Stadt des hl. Ambrosius tauchen ihm hinter 
dem Wort auf. So ergreift denn Arnulf diese Lösung, ist sich frei¬ 
lich dabei durchaus klar und macht in seiner offenen Weise auch 
gar kein Geheimnis daraus, daß ein wissenschaftlich höher gebil¬ 
deter Autor mit dieser Lösung, vielleicht nicht, ganz zufrieden, sein 
könne; darum versteift er sich nicht auf seine Meinung, sondern 
räumt jedem künftigen Erklärungsversuch bereitwilligst das Recht 
ein, sie abzulösen, wenn sich nur Namen und Inhalt decken. 1 ) 

Die schon bei Bonithos Etymologie angeschnittene Frage 
drängt sich auch hier wieder vor: wie kam denn Arnulf gerade 
auf den Gedanken einer griechischen Herkunft des Namens 
Patariner? Wenn ihm auch eine lateinische Form keine hinläng¬ 
liche Möglichkeit der Ableitung zu bieten schien, weil bei keiner 
das Umstürzlerische der Reformbewegung klipp und klar zum 
Ausdruck kam, muß doch die rasche Zuflucht zu einem griechi¬ 
schen Stammwort bei einem Schriftsteller auffallen, der selber 
das Mangelhafte seiner wissenschaftlichen Bildung unverhüllt zu¬ 
gibt 2 ), ein Geständnis, das keine der sonst üblichen Bescheiden- 

*) A. a. O.: Verumtamen si quando quis probatiori fuerit interpretatus 
sententia, concedo equidem tota mentis tranquillae convenientia, dummodo 
nomen concordet operi, opus vero respondeat nomini. — Es ist unbe¬ 
rechtigt, mit Will II, S. 124 in diesen Worten eine böswillige Erfindung 
zu sehen, die der Bezeichnung Patariner eine möglichst gehässige Be¬ 
deutung geben sollte. 

*) I, S. i: non michimetipsi confido, quem exilis ingenii adeo pau- 
pertas angustat, ut difficilis michi videatur Aristotelici laberinthi ingressus, 
laboriosus valde Tuliani palacii accessus. fateor me numquam conscendisse 
curules quadrivii rotas. 

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heitsphrasen ist, vielmehr von richtiger Selbsteinschätzung zeugt.*) 
So scheint sich also wiederum eine leise Spur darzubieten, daß 
man vielleicht den Ursprung des Namens tatsächlich im Griechi¬ 
schen zu suchen habe. Man wird Arnulfs Fingerzeig nicht ohne 
weiteres ablehnen, wenn man erwägt, daß es gar nicht im Cha¬ 
rakter des schlichten Mannes lag, mit einer wenn auch noch so 
spärlichen Kenntnis des Griechischen zu prunken.*) Indes ist 
auch jetzt nicht zu verkennen, daß diese Vermutung immer noch 
auf schwachen Füßen steht, solange sie keine zuverlässigeren 
Stützen in anderweitig berichteten Tatsachen erhält. 

Wenn Arnulfs Etymologie nirgends einen erkennbaren Wider¬ 
hall fand, so lag das nicht allein an dem gelehrten Rüchlein, das 
ihr merklich anhaftete und dem lebensvollen Zauber des Namens 
nicht entfernt gerecht wurde: Arnulf hatte ja sein Werk nur für 
begrenzte Kreise seiner Vaterstadt bestimmt; außerdem sollte 
es nicht sofort, sondern erst später, den Nachfahren zu Nutz und 
Frommen, ans Licht der breiten Öffentlichkeit treten. 8 ) So konnte 
es kommen, daß sein Landsmann Landulf einen neuen Versuch 
unternahm, der Bezeichnung der Reformbewegung als Pataria 
oder, wie er sagt, Patalia, mit einer erschöpfenden Deutung bei¬ 
zukommen. Doch bevor die Untersuchung fortgesetzt werden 
kann, ist eine Vorfrage ins Auge zu fassen, die nämlich: inwieweit 
ist angesichts der ablehnenden Haltung der historischen Kritik 
dem Landulfschen Werke gegenüber diesem Schriftsteller in der 
vorliegenden Frage Glauben zu schenken? 

Was die Kritik an den Darstellungen Landulfs vor allem aus¬ 
zusetzen und zu tadeln fand, war der in die Augen springende 
Mangel an jeglicher Zuverlässigkeit der Chronologie, der eng¬ 
wütige Parteistandpunkt, der sich allenthalben in unversöhnlicher 
Häßlichkeit hervordränge, die durch kein Gefühl für historische 

») Vgl. Krüger I, S. 3. 

*) Sporadische Kenntnisse des Griechischen waren in der Lombardei 
zweifelsohne verbreitet Vgl. z. B. Land. III, S. 5: Ambrosius Biffus . . . 
quasi bina colloquia Graece et Latine fando. — Auch der häufige Ge¬ 
brauch griechischer Wörter und Titel bei Benzo mag dafür sprechen. Wenn 
auch des letzteren Kenntnisse mit seiner unteritalienischen Herkunft Zu¬ 
sammenhängen (vgl. Lehmgrübner S. 4), so setzt doch diese Verwendung 
griech. termini bei den Lesern einiges Verständnis des Griechischen voraus. 

*) I, 1. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 37 

Wahrheit und Gerechtigkeit getrübte Vorliebe für Klatscherei und 
Verleumdung,, schließlich die ziemlich späte Abfassungszeit 1 ), 
welche die obigen Beanstandungen teilweise begreiflich mache, 
doch keineswegs entschuldige; nur weil er dem Kulturhistoriker 
gewisse Materialien biete, wollte man Landulf einige mildernde 
Umstände zubilligen. 8 ) 

Man wird nun freilich dem Werke Landulfs niemals denselben 
Wert einer zuverlässigen Geschichtsquelle zugestehen können, 
den Arnulf für seine Darstellung in Anspruch nehmen darf. Denn 
während letzterer nur und nichts als Geschichtsschreiber sein 
will, dessen Werk besonders den Nachfahren sicheren Aufschluß 
über eine ungemein wichtige Periode der Mailänder Geschichte 
und die erforderlichen moralischen Fingerzeige geben soll, verfolgt 
Dandulf durchweg apologetische und polemische Tendenzen, was 
er denn auch offen zugibt, wenn er sich zu Anfang des 3. Buches 
folgendermaßen vernehmen läßt 3 ): Nachdem ich die Geschichte 
unserer Erzbischöfe*) im vorhergehenden so weit zur Darstellung 
gebracht habe, als ich auf die verschiedensten urkundlichen oder 
mündlichen, jedenfalls wahrheitsliebenden Zeugnisse, die ich mit 
vieler Mühe und Ausdauer sammelte, angewiesen war, und nach¬ 
dem ich die Ergebnisse dieser Nachforschungen nach Vermögen 
zusammenfassend wiedergegeben habe, will ich nunmehr zu der 
Abfolge von geschichtlichen Ereignissen übergehen, die ich selbst 
erlebt habe; und diese will ich durchaus als objektiver Bericht¬ 
erstatter vorlegen, aber nicht so, wie etwa die Annalisten tun, 
die aiq Schema der Chronologie hängen bleiben, sondern syste¬ 
matisch geordnet, wie es wohl die Rechtsgelehrten in Übung 
haben. 5 ) 

*) Kurth, O., Landulf der Ältere von Mailand S. 11: „Alles ist zu einer 
Zeit geschrieben“, gegen 1100; vgl. Wattenbachs Einleitung, MG. S.S. VIII, 
p. 33. *) Päch S. 21; Kurth S. 2. *) III, 2. 

*) Denn eine solche lag von Anfang an in seiner Absicht; vgl. I, 
1; II, 1. 

6 ) III, 2: igitur praefinitis ac determinatis archiepiscoporum nostrorum 
causis, quas ego multo sudore multoque labore antiquos sciscitando omnes, 
veritatem tarnen amantes, curiose repperi accivitatum Italiae totius librorum 
paginas rimando fere scrutatus sum et prout potui multa in brevi com- 
prehendens meis cartulis subscripsi, nunc ad historiarum seriem redeam, 
quam legis peritus aliquis, prout fuit ac in veritate comperi, enarrare 


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Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit, den angeführten Satz 
in der Anlage des Landulfschen Werkes hier weiter zu verfolgen: 
es genüge der Hinweis, daß Landulf weit eher als eine Art Streit¬ 
schriftsteller, der mit geschichtlichen Argumenten operiert, gleich 
als wären sie aus der gerichtlichen Praxis abgezogene Rechtssätze, 
zu fassen ist denn als Geschichtschreiber. Unter diesem Gesichts¬ 
punkt wird manche Ungereimtheit, die man ihm zum Vorwurf 
machte, in eine verständlichere Beleuchtung gerückt werden kön¬ 
nen: so z. B. wird man in dem höchst merkwürdigen Umstand, 
daß Landulf bereits Gestorbene lange Reden halten läßt 1 ), nur 
einen methodischen Faktor der Landulfschen Arbeit erkennen 
dürfen, dazu eingeführt, den vom Schriftsteller ausgesprochenen 
Gedanken mit besonderem Nachdruck zu unterstützen; oder um 
in Kürze noch einen anderen Fall anzuführen, der Landulf von der 
Kritik sehr stark in Wachs gedrückt wurde: nach Arnulf*), An¬ 
dreas 8 ) und Bonitho 4 ) tritt Erlembald erst nach dem Tode seines 
Bruders Landulf aktiv in die Reihen der Pataria über; Landulf 
hingegen „läßt Erlembald schon bei Lebzeiten seines Bruders die 
Führung der Pataria übernehmen“. 5 ) Für Landulf sind eben, 
wie die Ereignisse, so die| Personen bloß Mittel zur Erreichung 
seines polemischen Zwecks: er sieht in den dreien gleichsam eine 
Person nach drei Seiten verkörpert; dabei vertritt Erlembald deut¬ 
lich die nach außen sich betätigende Kraft; in Landulf und Ariald 
kommen die Vertreter der eigentlichen Reform zum Wort, so zwar, 
daß Landulf mehr als Organisator und Redner, Ariald hauptsächlich 
als Lehrer und Seelsorger auf tritt. Und so müssen die Führer 
der Pataria noch zu einer weiteren Illustration seines Urteils 
über die Reformbewegung dienen: indem sie Landulf rasch nach¬ 
einander hinsterben läßt, macht er den Leser in dramatischer 
Wucht auf das Strafgericht aufmerksam, das Gott über die Re¬ 
former verhängte. 

(sc. studebo; cf. 1 , i). Die Stelle scheint verderbt; doch dürfte oben im 
Text der Sinn richtig wiedergegeben sein. — Ein Hinweis auf seine 
Darstellungsmethode enthält auch Ara. V, 2: praedictis igitur rebus non 
plane compositis, sed involutis utcumque. 

*) III, 14, 16; vgl. Päch S. 9. 

*) HI, 16. *) c. IV, § 33 - 

*) Jaflfd II, S. 647. 6 ) Päch S. 8. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 39 

Durch diese Erkenntnis gewinnt nun freilich Landulfs Werk 
nichts an historischer Glaubwürdigkeit. Aber man wird sich bei 
seinen Angaben stets vorsichtig zu fragen haben, ob die Tendepz 
zu systematisieren die geschichtliche Wahrheit wirklich ganz er¬ 
stickte, ob diese sich nicht aus der Schale der Landulfschen Me¬ 
thode mit Hilfe der anderen Autoren herausschälen läßt oder ob 
nicht am Ende gerade die Tendenz der Forschung wertvolle An¬ 
haltspunkte an die Hand gibt, um gewisse Dunkelheiten zu lösen, 
die über der Geschichte der Pataria noch lagern. 

Man wird also auch Landulf anhören müssen, wenn er sich zur 
vorliegenden Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des 
Namens Pataria äußert. Denn da sie unabhängig von ihrem zeit¬ 
lichen Auftreten besprochen werden kann, so war Landulf von hier 
aus wohl imstande, Zutreffendes zu berichten; um so mehr als 
dem Parteimann die Gelegenheit sehr erwünscht sein mußte, 
von einer Bezeichnung ausgiebigen Gebrauch zu machen, deren 
Herkunft und Inhalt ihm reichlich Wasser auf seine Mühle zu 
liefern versprach. 

Bekanntlich weist Landulf dem nachmaligen Bischof von 
Lucca, dem späteren Papst Alexander II., Anselm von Badagio, 
eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Pataria zu. 1 ) Nach 
seiner Darstellung 2 ) nun wurden die beiden Kleriker Landulf 
und Ariald, die schon länger und nicht eben aus den edelsten Be¬ 
weggründen den Reformbestrebungen ein tätiges Interesse ent¬ 
gegengebracht hatten, von dem über eine Weihehandlung des 
Erzbischofs Wido sehr ergrimmten Bischof von Lucca zum offenen 
Kampf gegen Simonie und Nikolaitismus aufgefordert und ermun¬ 
tert; und sie nahmen denn auch, von seinem eidlichen Unter¬ 
stützungsversprechen getragen, sofort ihre Wühlarbeit auf, in¬ 
dem sie zunächst unter den ihrer Obhut anvertrauten Scholaren 
und dann auch weiterhin im Volke einen Eidverband errichteten. 
Dem Erzbischof konnte das umstürzlerische Treiben der beiden 
nicht verborgen bleiben; aber zu einem energischen Eingreifen 
vermochte er sich nicht aufzuraffen. Das rücksichtslose Vorgehen 
der Reformer nicht weniger als das unentschuldbare Versagen 

*) Mit welchem Recht, wird weiter unten zu besprechen sein. 

*) HI, 5- 


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Widos entlockt dem Schriftsteller bewegliche Klagen: denn bei 
diesen heillosen Zuständen muß ja jede Ordnung und Autorität 
zugrunde gehen. Und anklagend bricht er in die Frage aus: cur 
isti obliti Dei euangelia coniurationem detestabilem terribilibus 
iuramentis in populo sub obtentu placiti Dei, quod postea pata- 
liam (I) vocatum est, exercebant? 

Für Landulf legt sich demnach die Ausdeutung des Namens 
Patalia (Pataria) folgendermaßen zurecht: die von Anselm von 
Lucca aufgestachelten Reformer warben in völlig unberechtigter 
Weise gegen die recht- und gesetzmäßige Obrigkeit, der sie doch 
nach den Lehren der Evangelien zum Gehorsam verpflichtet 
waren, in der Öffentlichkeit Anhänger zum Zweck der Durch¬ 
führung ihrer Ziele und schlossen sie dazu zu einem Eidverbande 
zusammen, durch welchen nach ihrer Behauptung der Wille Gottes 
rücksichtlich der Bekämpfung von Simonie und Priesterehe ver¬ 
wirklicht werden sollte. Dieser Eidverband aber mit seiner an¬ 
geblich göttlichen Sendung ward späterhin dann als Patalia be¬ 
zeichnet. 1 ) 

Schon aus dieser Stelle geht mit Sicherheit hervor, daß Lan¬ 
dulf mit dem Namen Patalia die Vorstellung einer gewissen festen 
Organisation 8 ) der Reformfreunde verbindet, die ganz bestimmte 
Zwecke verfolgt. Diese Zwecke werden zu einer Art Programm, 
das jedoch ohne den Zwang einer gewissen äußeren Verfassung 
nicht durchgeführt werden kann. Gehören nun zu dem „Pro¬ 
gramm“ Forderungen wie: Boykott der gottesdienstlichen Ver¬ 
richtungen von beweibten und simonistischen Priestern 3 ), Zwangs¬ 
maßregeln wider solche 4 ), engster Anschluß an Rom 5 ), Kampf 
um die Investitur 6 ) und ähnliches mehr, so läßt sich eine Art 
von äußerer Verfassung aus mehreren anderen Angaben erschlie- 

’) Ob Landulf dabei an eine förmliche Etymologie dachte, daß Patalia 
tatsächlich aus Placitum entstanden sei, läßt sich mit Sicherheit nicht ent¬ 
scheiden; die Möglichkeit dazu lag immerhin dem Geiste der Zeit und — des 
Autors nicht gar zu fern. 

*) Was schon der politisch-rechtliche Begriff placitum zeigen mag. 
Vgl. auch Bon. VI (Jafite II, S. 651). 

*) Am. III, 11, 13, 17. Andr. c. III, § 24 f. 

4 ) Am. III, 11, 12. *) Bon. VI (Jaffd II, S. 651). 

*) Am. III, 17, 21. Andr. c. IV, § 45 f. Land. III, 29. Bon. VI 
(Jaffö II, S. 651 ff.). 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 



ßent Krüger 1 ) gibt eine anschauliche Schilderung der in Mailands 
Mauern ausgebrochenen Pöbelherrschaft, die ihn unwillkürlich 
in die Zeiten der französischen Revolution versetzt. „Allmählich“, 
sagt er, „kam in die Plünderungen, welche die von Landulfs Reden 
fanatisierten Massen in Stadt und Land verübten, ein festeres 
System. Wie in den Schreckenstagen der französischen Revo¬ 
lution die Sturmglocke den mordlustigen Scharen in St. Antoine 
das Signal gab, so wurden auch hier, sollte eine neue Plünderung 
in Szene gesetzt werden, in den Quartieren die Glocken gezogen*), 
und die Töne einer seltsamen, gewaltigen, ehernen Trompete 3 ) 
hallten furchtbar durch die Gassen und beschieden die Massen 
zur Versammlung, gewöhnlich zum alten Theater . . .“ 

Ebenso ergibt sich eine Art äußerer Verfassung der Pataria 
aus Landulfs Angabe 4 ), Erlembald habe sich durch Konfiskation 
von Gütern jener Geistlichen, die durch zwölf Zeugen und einen 
Eid aufs Evangelium ihre geschlechtliche Enthaltsamkeit seit 
ihrer Weihe nicht zu erweisen vermochten, die Geldmittel zur Auf¬ 
rechterhaltung seiner Tyrannei verschafft; wie ein Kaiser habe er, 
von 30 Männern beraten 5 ), solcherlei Gesetze erlassen; der Rechts¬ 
titel zu diesem Vorgehen aber sei ihm aus dem Eidverband er- 
flossen: novum placitum nova dedit praecepta. 

Man braucht nun allerdings dabei nicht an eine festausgebaute, 
womöglich schriftlich fixierte Verfassung zu denken; das lag gar 
nicht im Rahmen einer Zeit, der die antiqua consuetudo — frei¬ 
lich fast stets mit vom Nutzen des Augenblicks geforderten Um¬ 
biegungen — alles galt. 6 ) Aber es stellten sich hinter die Programm¬ 
punkte wohl frühzeitig gewisse Ausführungsorgane, die natürlich 

*) A. a. O. II, S. 18. 

*) Land. III, 9, 18. Andr. c. VIII, § 75. Vgl. Peter Damianis Ge : 
sandtschaftsbericht v. J. 1059 an Hildebrand (Mansi, coli. conc. XIX, p. 887). 

*) Peter Damianis Bericht (Mansi a. a. O.). *) III, 21. 

*) Vgl. Mayer, E., Italienische Verfassungsgeschichte von der Goten¬ 
zeit bis zur Zunftherrschaft (2 Bde., 1911) II, S. 539: „Unter der Herr¬ 
schaft der Pataria hat eine Behörde von 30 Leuten die Gesetzgebung des 
Eidverbands.“ Ob sich dieser 30er Ausschuß gerade aus 10 Kapitänen, 
10 Valvassoren und 10 Cives zusammensetzte, ist bei den scharfen Gegen¬ 
sätzen der Stände um die Mitte des n. Jahrh. immerhin fraglich. — Vgl. 
Leo, H., Geschichte der italienischen Staaten (Hamburg 1829fr.) I, S. 435 f. 

*) LehmgriibnerS.11 6. Dresdner, A., Kultur-und Sittengeschichte der 
italienischen Geistlichkeit im 10. u. 11. Jahrhundert (Breslau 1890) S. 8f 


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von der Willkür der Führer, vor allem Landulfs und später Erlern* 
balds, in alleweg abhängig blieben: deren Willen galt als oberstes 
Gesetz. Indem sie ihren Rückhalt hauptsächlich bei der faüati* 
sierten Menge suchten und fanden, war es ihnen verhältnismäßig 
ein leichtes, die alten Hüter der gesetzlichen Ordnung über 
den Haufen zu rennen und sich an deren Stelle mit Erfolg 
selbstherrlich einzurichten. Und gefördert ward dieses Tyrannen¬ 
regiment durch die Tatsache, daß sich seit knapp einem Menschen¬ 
alter auch im niederen Volke ein politischer Machtwillen regte. 
Überhaupt war es das Gegebene, daß alle zielbewußten Äußerungen 
des öffentlichen Lebens alsobald nach rechtlichen Normen streb¬ 
ten in einer Stadt, die seit der Ottonenzeit eine angeregte politi¬ 
sche Entwicklung durchlaufen hatte, in der die Rechtspflege 
einer ganz besonderen Aufmerksamkeit sich erfreute 1 ), wo durch 
die konkurrierende Gewalt von Graf und Erzbischof*) das Selbst¬ 
bewußtsein der rechtsuchenden Klienten eine merkliche Steige¬ 
rung und Festigung finden mußte. 

Es schien notwendig, das Vorhandensein einer Art von Eid¬ 
verbandsverfassung stärker hervorzuheben, als es der geschicht¬ 
lichen Wirklichkeit entspricht, um so den Eindruck richtig zu 
verstehen und zu würdigen, den die Pataria auf ihre Gegner 
machte. Gerade Landulf hat ein Zeugnis überliefert, das dartun 
mag, wie man eben die Geschlossenheit der Reformfreunde als 
den verdammenswertesten Gegensatz im Schoße der ambrosia- 
nischen Kirche empfand. Suchte nämlich Bonitho die Feinde der 
Pataria wegen ihrer Worte und Werke als dem Gerichte Gottes 
verfallen hinzustellen, so griff Landulf zu einem anderen Mittel, 
um seinerseits die Verwerflichkeit der reformatorischen Umtriebe 
unzweideutig zu kennzeichnen, indem er ihre Anhänger mit den 

*) Ständige Königsboten! Vgl. Ficker, J., Forschungen zur Reichs- und 
Rechtsgeschichte Italiens (Innsbruck 1868ff.) II, S. 43ff.; Dümmler, E., 
Kaiser Otto d. Gr., S. 426. 

*) Bresslau, H., Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Konrad II. 
(1884) II, S. 2iof. — Hegel, K., Geschichte der Städteverfassung von 
Italien seit der Zeit der röm. Herrschaft bis zum Ausgang des 12. Jahrh. 
(2 Bde., Leipzig 1847) II, S. i4iff. — Bethmann Hollweg, M. A. v., Ur¬ 
sprung der lombard. Städtefreiheit (Bonn 1846) S. ii3ff. — Handloike, 
M., Die lombard. Städte unter der Herrschaft der Bischöfe und die Ent¬ 
stehung der Communen (Berlin 1883) II, S. 38 f. 


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Katharern, also mit der Sekte der Manichäer, in Zusammenhang 
brachte. Darin einzig und allein eine Phantasmagorie der blind¬ 
wütigen Verleumdungssucht eines Parteimannes zu sehen, erklärt 
die Tatsache nur zur Hälfte. Es mußten offenbar — unter einem 
bestimmten Gesichtswinkel gesehen — sachliche Momente vor¬ 
liegen, die den Anstoß zu einem solch gehässigen Urteil zu geben 
imstande waren. Sie sind zu erkennen in der Tatsache und in 
der Form der Sonderstellung, wie sie Patariner und Katharer 
zur Kirche, dieser festen und unabänderlichen Größe in der Welt¬ 
anschauung des Mittelalters, einnehmen. 

Doch ist hier sofort eine Einschränkung anzubringen: denn 
fair Landulf ist nicht so sehr die allgemeine Kirche, die in Rom 
ihre sichtbare Spitze hat, die Norm der praktischen Rechtgläu¬ 
bigkeit, sondern die mailändische Kirche, und zwar in der eigen¬ 
artigen und selbständigen Verfassung, die, in ihren Grundlagen 
vom hl. Ambrosius herrührend, um die Mitte des II. Jahrhunderts 
den Anlaß zum Eingreifen der Reform gegeben hatte. Aber diese 
für den Mailänder Polemiker selbstverständliche Voraussetzung 
zugegeben, konnte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Pataria 
und Manichäismus dem oberflächlichen Beobachter und vollends 
dem tendenziösen Schriftsteller sich leicht auf drängen; mehr als 
äußerlich war diese Ähnlichkeit allerdings nicht. 

Schon in dem seinem Werke voraufgehenden Widmungsbrief 
macht Landulf die Reformer als falsche Katharer 1 ) für den Nie¬ 
dergang und die Zerrüttung der erhabenen Stiftung des hl. Am¬ 
brosius verantwortlich. Ist hier auf eine nähere Charakterisierung 
dieser „Pseudokatharer“ verzichtet, so erweitert Landulf den 
von ihm aufgenommenen Begriff an einer anderen Stelle 2 ) nach 
einer Seite hin, die sehr bemerkenswert ist. 

Es handelt sich hier darum, nach dem Tode des Erzbischofs 
Wido 3 ) für den ambrosianischen Stuhl einen Nachfolger zu be¬ 
stimmen. Zwar hatte Wido in seiner vielfachen Bedrängnis sich 
selber einen Nachfolger in der Person eines unbedeutenden, aber 

*) Soviel als Pseudokatharer, die eben nur gewisse Seiten mit den 
wirklichen Katharern teilen. *) III, 29. 

*) 23. August 1071 (Catal. arch. Med., MG. S. S. VIII, p. 104); vgl. 
Am. III, 25. 


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zahlungskräftigen Klerikers mit Namen Gotfried ausgesucht, der 
auch den Beifall des deutschen Hofes gefunden hatte. 1 ) Allein 
Erlembald, der damals in Mailand eine unbeschränkte Tyrannei 
ausübte, war fest entschlossen, in der lombardischen Hauptstadt 
die Ziele Hildebrands, seines Gönners und Schützers, zur Ver¬ 
wirklichung zu bringen und nur einen Erzbischof auf dem Stuhle 
des hl. Ambrosius zu dulden, der ohne jegliche Einmischung von 
kaiserlicher Seite im vollen Einverständnis mit Rom aufgestellt 
worden sei.*) 

Interessant ist nun, daß Erlembald hier an der Spitze von 
chateri erscheint. Es kann kein Bedenken erregen, wenn die hier 
sich bietende Form mit der im Widmungsbrief vorkommenden 
cathari gleichgesetzt wird. 8 ) Das Wesentliche aber im Sinne Lan- 
dulfs ist der Umstand, daß die Interessen des deutschen Königs, 
welche ihm auch als die Interessen Mailands gelten, in gleicher 
Weise von Rom aus bedroht sind, bedroht durch eine Gemein¬ 
schaft, deren Organisation auch an dieser Stelle durchschimmert; 
das heißt anders ausgedrückt: Erlembalds und seiner Nachläufer 
angebliches Reformstreben ist nichts mehr und nichts weniger 
als ein offener Kampf wider die .bestehende Ordnung in Kirche 
und Staat; es ist nicht besser als die Häresie der Manichäer, einer 
Sekte, diedochschonlangedieVerurteilungderKircheerfahrenhat. 4 ) 

Ins hellste Licht sucht Landulf diese Anklage auf Häresie, 
deren sich die Patariner schuldig machen sollen, zu rücken, 
wenn er diese zunächst von ihm so bezeichneten Katharer mit einem 
überführten Anhänger des Manichäismus auf dieselbe Stufe stellt 
und so auch ein inneres Verhältnis von Pataria und manichäischer 
Häresie glaubhaft machen will. 

») Vgl. Am. III, 22; Bon. VI (Jaffd II, S. 651). 

*) III, 29: Herlembaldus, consilio Oldeprandi qui et Gregorius VII. 
est vocatus, edoctus, qui huius placiti caput et seminarium erat, suis 
cum chateris, qui omnia etiam regalia negotia multoque tempore tran- 
quilla conturbabant, sine virga et anulo ac regis consensu, cui Gregorius 
omnibus exercitiis insidiabatur, archiepiscopum habere statuit. — Vgl. 
Am. III, 21; Bon. VI (Ja ff<£ II, S. 65 2 f.). 

*) Vgl. Wattenbachs Bemerkung, Einleitung, MG. S. S. VIII, p. 88, 
Anm. 18. 

*) z. B. durch Leo IX. auf der Synode von Rheims 1049. (Döllinger, 
a. a. O. I, S. 72.) 


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In einem sonderbaren Bericht, von dem er übrigens selber 
bemerkt, daß er ihn einem Augenzeugen verdanke 1 ), bringt er 
den Faden seiner Erzählung auf eine Begebenheit, die, wenn sie 
wirklich einenhistorischenKern enthalten würde, was zu untersuchen 
für die vorliegende Frage von keinerlei Bedeutung ist, in die erste 
Zeit des Pontifikats Alexanders II. datiert werden müßte. Da» 
mals begaben sich einige zwanzig Leute aus Mailand und dessen 
Umgebung, darunter auch Ariald 2 ), nach Rom, um den neuen 
Papst der Simonie anzuklagen. 8 ) Sie mochten sich vielleicht mit 
der Hoffnung schmeicheln, aus der bedrohlichen Lage, in der 
sich Alexander durch seinen Kampf mit dem königlichen Gegen¬ 
papst Kadalus von Parma befand, für sich und die patarinische 
Sache Kapital zu schlagen, zumal ja nach Landulf Alexander II. 
bei dem Aufkommen der Pataria Pate gestanden hatte. Denn 
es läßt sich leicht denken, daß sie mit der schlichtenden Haltung 
Peter Damianis und seines Begleiters Anselm von Lucca (Früh¬ 
jahr 1059) unzufrieden gewesen waren. Allein durch den Einfluß 
Hildebrands, der zur Vermittlung angerufen ward, kam man über¬ 
ein, der Beschwerde durch ein Gottesurteil eine gerechte Entschei¬ 
dung zu setzen« Aber an dem dazu bestimmten Tage war der 
Papst abwesend; und Hildebrand steckte wohl (nach Landulfs 
Meinung) unter der Decke, wenn die Beschwerdeführer, statt die 
Entscheidung des Gottesurteils anzurufen, zu einem Eid ver* 
mocht wurden, der ihre Klagen zusammenfassen und erhärten 
sollte. Doch was geschah? Der Eid verfehlte nicht nur völlig 
diesen Zweck: er förderte im Gegenteil auf seiten der Beschwerde» 
führer *tanta cathedra’ zutage, daß Alexanders Unschuld aller Welt 
klar wurde, während es die so schmählich entlarvten falschen An¬ 
kläger am geratensten fanden, allen gefährlichen Weiterungen 
durch heimliche Flucht aus dem Wege zu gehen. 

Es ist in der Form cathedra 4 ) unschwer das neutr. plur. zu ca- 
thedri zu erkennen, welche Form im gleichen Satz gebraucht und 
wiederum mit chateri = cathari gleichzusetzen ist. Daraus ginge 

>) UI, 19. 

*) Also Reformfreunde, die aber für Landulf diversis ac variis dog- 
xnatibus irretiti sind. 

*) Vgl. dazu Benzos Vorwürfe gegen denselben Papst, II, 2; VII, 2. 

*) Vgl. Benzo IV, 1: pistica = meriKd 


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also hervor, daß cäthari bereits damals im Sinne von 'Ketzer’ 
angewendet wurde, d.h., daß man darunter kurzweg Häre¬ 
tiker verstand, ohne daß man dabei immer an die spezielle Sekte 
der Manichäer gedacht hätte. Bei Landulf ist der Gedankeiübri- 
gens noch lebendig: denn er bringt die Leute, welche in Rom diese 
grundlose Beschuldigung vorgebracht haben sollen, in Verbindung 
ntit einem gewissen Gerard von Monteforte, der unter Aribert II. 
von Mailand (1018—1045) wegen seiner manichäischen Irrlehren, 
denen sogar die Gräfin des von ihm heimgesuchten Kastells zum 
Opfer gefallen war, den Feuertod erlitten hatte. 1 ) 

Landulf war demnach durch seine Kenntnis 2 ) des Falles Ge¬ 
rard von Monteforte instand gesetzt, Vergleiche zwischen der 
Pataria und dem Manichäismus auch nach ihrem inneren Gehalt 
anzustellen. Es erhebt sich nun die Frage: mit welchem Recht 
konnte er der Pataria manichäische Tendenzen zuschreiben und 
so die Anhänger derselben als Katharer bezeichnen? 

Aus dem Verhör, das Aribert mit den eingefangenen Häretikern 
anstellte 3 ), geht hervor, daß sie vor allem jeglichen Geschlechts¬ 
verkehr verwarfen, selbst die Verheirateten konnten das ewige 
Heil nur erwarten, wenn „sie mit ihren Frauen wie mit Müttern 
oder Schwestern lebten oder sich vom Vorsteher die Erlaubnis 
erteilen ließen, zur größeren Sicherheit sich von ihren Gattinnen 
zu trennen. Die Vermischung der beiden Geschlechter und den 
dazu reizenden Trieb betrachteten sie vorzugsweise als das Ver¬ 
derben. Gleich den übrigen Gnostikern verwarfen sie alle Sakra¬ 
mente, verschmähten jeglichen Fleischgenuß und rühmten sich, 
strenge Fasten und ein Tag und Nacht fortdauerndes Gebet zu be- 

*) Land. II, 27. Rod. Glab. IV, 2. — Offenbar hat man es hier mit 
einer jener manichäischen Sekten zu tun, wie sie durch slawische Kauf¬ 
leute auf ihren Handelsreisen allenthalben im Abendlande gegründet 
wurden. Vgl. Müller, K., Kirchengeschichte *1, S. 495; Döllinger I, S. 60; 
Hurter, Innocenz III. *11, S. 222. Wegen der Todesstrafe vgl. Ficker in 
M.I.Ö.G.I (1880), S. 182.. 

*) Die er sehr wahrscheinlich nur aus mündlichen Quellen geschöpft 
hatte: er bezeichnet sich als Zeitgenossen Erzbischof Widos, vgl. Päch 
S. 8; Krüger I, S. 8. Daraus wäre auch erklärlich, warum Landulf in 
seinem Bericht über Gerard einige Nachrichten vermissen läßt, die von 
Wichtigkeit wären: so z. B. wie und wo Gerard mit dem Manichäismus 
bekannt geworden war; vgl. Döllinger I, S. 67. 8 ) Land. II, 27. 


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obachten, welches abwechselnd, wahrscheinlich bloß von den Voll¬ 
kommenen in der Sekte, verrichtet wurde. Diese waren es auch 
wohl nur, welche, wie Gerard zugab, allem eigenen Besitz entsagt 
hatten. Ein gewaltsamer Tod galt ihnen als der sicherste, ja als 
der einzige Weg zur Seligkeit; deshalb hegten sie .... die heftigste 
Begierde, für ihren Wahn das Märtyrertum zu erleiden.“ 1 ) Außer¬ 
dem erhoben die Katharer vielfach den Anspruch, ,,die einzig 
wahren Nachfolger der Apostel zu sein“. 2 ) 

Wenn nun ein Streitschriftsteller vom Range eines Landulf 
solcherlei Lehren mit dem verglich, was die Führer der Pataria 
in ihrem Programm aufstellten und in ihren Predigten verlangten, 
so mochte er sich für befugt erachten, diese Anklänge auch im 
Namen festzuhalten. Denn auch Ariald und Landulf predigen 
wider den geschlechtlichen Verkehr, allerdings nur gegen den der 
Kleriker. Ferner berichtet Arnulf, die Patariner hätten nicht nur 
jeden Gottesdienst der simonistischen und nikolaitischen Prie¬ 
ster gemieden 8 ), Landulf habe sogar einmal in einer seiner An¬ 
sprachen an das Volk deren Messe „Hundemist“ und ihre Kirchen 
„Viehställe“ genannt. 4 ) Und zumal Ariald war es, der, getreu sei¬ 
nen cluniazensischen Idealen den Priestern das Recht eigenen Be¬ 
sitzes absprechen wollte: darum griff er weder mit Worten noch 
mit Taten dazwischen, als die wilden Volkshaufen ihre Plünde¬ 
rungen an den Häusern und Gütern der Kleriker Vornahmen; 
darum entäußerte er sich selbst seines Besitzes, den er in den 
Dienst der Pataria stellte 6 ); darum drang er auf die Einrichtung 
der vita canonica in Mailand.®) Und floß nicht aus Arialds eigenem 
Munde das Gebet um den Märtyrertod 7 ), den er auch wirklich 
am 27. Juni 1066 erlitt ? ®) Welche auffälligen Formen aber die Fröm¬ 
migkeit Arialds annehmen konnte 9 ), zeigt ein anschaulicher Be¬ 
richt aus der Feder seines Biographen Andreas und des Priesters 

*) Döllinger I, S. 68. *) Müller, K., Theol. Lit-Zeitung 1890, S. 356. 

*) Am. III, 11, 13. Andr. c. III, § 24 f. *) Am. III, 11. 

*) Andr. c III, §§ 27, 31, 32. 

®) Andr. c. III, § 28. Bon. VI (Jaff 6 II, S. 647). 7 ) Andr. c. I, § 11. 

®) Andr. c. VIII, § 80; vgl. Acta S. S.JuiuV, S. 300. 

®) Wobei er auch Neuerangen einführen wollte, was ihm aber teuer 
zu stehen kam; vgl. Am. III, 17; Andr. c. III, § 29L; c. V, § 49ff.; Bon. VI 
(Ja£fd II, S. 648). 


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Syrus 1 ), der zuerst einen Lebensabriß des Heiligen verfaßt hatte, 
auf dem dann jener z. T. fußte. 

Aus den angeführten Punkten wird man erkennen, daß 
sich für die leidenschaftliche Tendenz eines Parteischriftstellers 
in der Tat einige entfernte Ähnlichkeiten zwischen Patarinern 
und Manichäern darboten. Aber es läßt sich unschwer er¬ 
weisen, daß die trennenden Momente jede innere Gemeinschaft 
ausschlossen. 2 ) 

Wenn dem Berichte Landulfs zu trauen ist, so verflüchtigte 
„die häretische Genossenschaft zu Monteforte die Grundlehren 
des Christentums zu Allegorien und Mythen“. 8 ) So soll Aribert, 
als er Gerard nach seiner Stellung zum Trinitätsdogma fragte, 
zur Antwort bekommen haben: der Vater sei Gott von Ewigkeit, 
der alles im Anfang erschaffen und in dem alles bestehe; der Sohn 
aber sei der von Gott geliebte Menschengeist und der Heilige Geist, 
der alles trefflich lenke, das Verständnis der göttlichen Lehren. 
Über seinen Glauben an Christus noch des näheren zur Rede ge¬ 
stellt, ließ sich Gerard folgendermaßen vernehmen: „Christus sei 
durch Empfängnis vom Heiligen Geist geboren aus Maria, heiße 
nichts anderes als: das höhere Leben des Geistes werde aus 
der Heiligen Schrift mittels der erleuchteten Einsicht in ihren 
Inhalt geboren.“ 4 ) Bezüglich der Sakramentspendung, insbeson¬ 
dere der Sündenvergebung, lautete Gerards Geständnis, seine 
Sekte anerkenne nicht den römischen Papst, sondern einen an¬ 
deren, der, täglich den Erdkreis durchziehend, die zerstreuten 

') Andr. c. V, §§ 47—53 ff-; c. VI, § 57, §§ 83-86. — Über die nicht 
weniger überspannten Äußerungen der Frömmigkeit Erlembalds a. a. O. 
c. IV, § 34. 

*) Wie schon Giulini IV, p. 200 feststellte. 

*) Döllinger I, S. 69. 

4 ) Döllinger a. a. O., wo diese Angabe starkem Zweifel begegnet, 
„daß diese Häretiker so weit gegangen sein sollten, die ganze Persönlich¬ 
keit und Geschichte Christi zu einer bloßen Allegorie der menschlichen 
Seele und ihrer religiösen Entwicklung zu machen“, worin eine auffällige 
Abweichung von den früheren und späteren Lehren des Gnostizismus läge; 
es sei vielmehr sehr wahrscheinlich, daß sie Christum für ein den 
menschlichen Seelen verwandtes, aus Gott gleich diesen emaniertes 
Wesen hielten und in diesem Sinne sagten, Christus sei der vorzugsweise 
von Gott geliebte Menschengeist, d. h. der dem menschlichen wesens¬ 
gleiche Geist. 


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Kritische Beitrage zur Geschichte der Pataria 


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Brüder besuche und ihnen, wenn Gott denselben ihnen zuführe, 
die Sündenvergebung erteile. 1 ) 

Läßt sich nun ein schärferer Gegensatz dieser manichäisch- 
gnostischen Lehren zu denen der Patariner denken? 1 ) 

Diese halten am kirchlichen Primat Roms unbedingt fest: 
ja sie suchen sogar die Verbindung mit dem apostolischen Stuhle 
selber nach, um so den stärksten Rückhalt und die beste Rechtfer¬ 
tigung für ihre unentwegten Reformbestrebungen zu gewinnen. 
Und wenn sie den Besuch der Kirchen und Gottesdienste von 
beweibten und simonistischen Priestern vermeiden, so beteiligen 
sie sich offenbar an den kultischen Veranstaltungen der reform¬ 
freundlichen Priester desto eifriger, je größeren Schmaus für 
Ohr und Hand sie sich aus den gerade bei solchen guten 
Gelegenheiten von Landulf und Ariald losgelassenen Kampfreden 
versprechen durften. Vergegenwärtigt man sich vollends eine der 
Landulfschen Predigten, die Arnulf aufgezeichnet hat 8 ), so drängt 
sich der Gegensatz der Patariner zu den Katharern, besonders 
auch in der Trinitätslehre, ganz scharf hervor. So begann Landulf 
z. B. einmal mit den Worten an seine Zuhörer: Sagt mir, glaubt 
ihr an den dreieinigen Gott? Worauf alle antworteten: Wir glau¬ 
ben! Darauf ließ er sie das Kreuzeszeichen auf die Stirne machen, 
ehe er in seiner Predigt fortfuhr, die ein unzweideutiges Bekennt¬ 
nis an Christus, den Weltheiland, enthält. Und was schließlich 
die Schriftauslegung betrifft, so kann gar kein Zweifel darüber 
walten, daß sie sich auch bei den patarinischen Predigern durch¬ 
aus auf dem von Kirche und Überlieferung vorgezeichneten Bo¬ 
den bewegte. 4 ) 

*) Während Neander, Kirchengeschichte IV, S. 469, in diesem umher- 
wandelnden Oberhaupt den Heiligen Geist erkennen wollte, der das unsicht¬ 
bare Band der sektirerischen Gemeinschaft gebildet habe, versteht Döl- 
linger (I, S. 70) einen wirklichen menschlichen Papst darunter, wie schon 
die Entgegensetzung gegen den römischen Papst und der Zusatz, daß jener 
keine Tonsur trage, dartun könne. 

*) Vgl. indes den Eid Arialds in Peter Damianis Gesandtschaftsbericht 
(Mansi XIX, p. 893): . . anathematizo quoque generaliter omnes haereses 
extollentes se adversus sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam, worauf 
erst Absage an Simonie und Nikolaitismus. 

*) III, 11: ein Beweis, welchen Eindruck auch die der Pataria 
Fernstehenden von diesen Reden bekamen. 

*) Was aus zahlreichen Stellen bei Andr. hervorgeht. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. x a 


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Man wird, demnach dem Ergebnis beipflichten müssen, daß 
Landulf aus sachlichen Gesichtspunkten heraus gar kein Rpcht. 
hatte, seine Gegner von der Fataria als Katharer zu bezeichnen. 
Das hinderte aber den eingefleischten Ambrosianer nicht, diese 
Verbindung durch den Namen herzustellen : gewann er doch so: ein 
ätzendes Mittel, der Pataria einen unauslöschlichen Schimpf an- 
zutun. 

Eis ist nun aber kaum zuviel behauptet mit der Annahme, 
daß die Anwendung dieser Bezeichnung der Reformfreunde als, 
Katharer sich nicht bloß auf Landulf und etwa einen engeren 
Kreis Gleichgesinnter um ihn beschränkte; vielmehr wird anzu¬ 
nehmen sein, daß sich die Reformgegner im allgemeinen die. Ge¬ 
legenheit nicht entgehen ließen,, die Sache Arialds und Landulfs. 
schon durch ihre Benennung in Mißkredit zu bringen. Doch ver¬ 
bot ihnen die Kenntnis der Tatsachen eine einfache Gleichsetzung 
mit der Häresie. 1 ) So griff man wohl zu einer denselben gewollten: 
Gedanken in gemäßigter Weise ausdrückenden Form, die jedoch 
auch so ihren Zweck vollauf erreichte: man verspottete die Re¬ 
formanhänger als Catharini, als Leute, die mit ihrer Organisation 
in der verwerflichen Richtung der Katharer wirken. 2 ) 

Einmal geschaffen, war es unausbleiblich, daß der Schimpf¬ 
name bald auch im Munde der breitesten Öffentlichkeit und be¬ 
sonders der unteren Schichten zu hören war, die um seine Her¬ 
kunft und eigentliche Bedeutung kaum recht wußten; jedenfalls 
fühlten sich diese Kreise außerstande, mit ihm eine faßliche, eine 
drastische Vorstellung zu verknüpfen. Und wie es nun die Art 
des gesunden Volkes ist, wenn es eine Dunkelheit mit eigenem 
Lichte aufhellen will: es suchte sozusagen gemeinschaftlich und 
im stillen nach einem ihm zusagenden und schlagenden Vorstel¬ 
lungsinhalt für einen Namen, der zum Gemeingut des ambrosia- 
nischen Konservatismus zu werden versprach, nicht nur seiner 

*) Vgl. Land. III, 19, der selbst schon sagt: qui Girardi di Monte- 
forti sententiis fere consentiebant; vgl. auch die pseudocathari im Wid¬ 
mungsbrief. 

*) Daß eine solche Bildung im Geist der Zeit lag, möge man aus 
den fast unerschöpflichen Schimpfworten Benzos sehen. Dieser hatübrigens 
IV, 6 auch die Form Patari; aber da diese auch vom Reim gefordert 
sein kann, ist daraus für die obige Anschauung nichts zu schließen. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 51 

Klangfarbe wegen, auch weil ihm in jedermanns Mund ein so un¬ 
verkennbar spöttischer, ja wegwerfender Ton anklebte. Wenn 
nun eines Tages die sich um Landulf drängende Masse auf das 
Trompetenzeichen und das Glockengeläute hin sich nach dem 
Theater wälzte, die Männer auf Kampf und Raub gierig, die Weiber 
zeternd und Gebete heulend, alle aber insgesamt dürftig genährt 
und in flatternde Lumpen gehüllt — da konnte sich im Munde; 
eines witzigen, das ganze Treiben mit halb teilnehmendem, halb 
überlegenem Abscheu betrachtenden Gegners das in Kurs gekom¬ 
mene Catharini zu Patarini verschieben 1 ),, und die Zukunft des 
Namens war gemacht. Nun besaß das konservative Parteivolk 
ein Schimpfwort, dessen Vorstellungsinhalt, etwa Lumpenleute, 
trefflich mit jenem häretischen Beigeschmack zusammenpaßte, 
den es mit unbewußter Zähigkeit mit sich fortschleppte. 8 ) 

Waren die Patarini aber einmal der Zunge geläufig geworden, 
so war es nur noch ein kleiner Schritt von der Bezeichnung der 
in Lumpen umhergehenden Leute zur zusammenfassenden Be¬ 
nennung ihrer organisierten Gemeinschaft als Pataria = Lumpen¬ 
bande. 3 ) So schob sich allmählich Pataria an Stelle des Patarini, 
wohl unter dem Einfluß der immer weiter um sich greifenden 
Reform, die keine namhaften Gegner mehr, nur eine gleichge¬ 
stimmte Gemeinde kannte, und hielt sich in dieser abstrakten 
Form besonders bei den Schriftstellern, die um ihr Aufkommen 
in Mailand noch etwas Bescheid wußten. Und mit der Zeit blieb 
dann der Name Pataria an dem Stadtteil hängen, in dem die Haupt¬ 
masse der armen Reformanhänger wohnte, wohl auch ihre 
Gottesdienste feierte, und wo schließlich die aus dem niederen 
Volk erwachsenden Trödler bei der Entwicklung der städtischen 
Zünfte ihren Wirkungskreis angewiesen erhielten.. 

*) Der Wechsel von k > p ist auch lautgesetzlich möglich, wenn 
auch nicht häufig. 

*) Vgl. ein höchst merkwürdiges Gegenstück, das Vogel, A., Ratherius 
von Verona und das 10. Jahrhundert (Jena 1854) I, S. 15, Anm. anführt, wo 
er von der verschiedenen Überlieferung des Namens Ratherius spricht 
und beifügt: „Wie zu erklären ist, was wir z. B. in den Magdeburger Cen- 
turien X, S. 578 (der 1. Ausgabe) lesen: Ratherius seu Catherius, muß 
dahingestellt bleiben.“ 

*) Wobei jene Vermittlungsformen vorgeschwebt haben mögen, die 
Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 14 anführt. 

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Mit dieser versuchten Herkunfts- und Inhaltsdeutung des 
Namens Patarini scheinen sich die Schwierigkeiten beseitigen zu 
lassen, die den seitherigen Ableitungen mehr oder minder deut¬ 
lich angehaftet haben. 

Das Schimpfwort ist, wie Arnulf will, im niederen Volke ganz 
zufällig aufgekommen, und zwar bereits in den Anfängen der Re¬ 
formbewegung: denn nur aus den Wirren der ungeschwächten 
Parteileidenschaft heraus, die noch keine Versöhnung kennt, wird 
die Entstehung desselben verständlich. Auch seiner Forderung 
wird Genüge getan, daß bei einer neuen Etymologie Form und 
Inhalt sich entsprechen müßten: denn die Form ist aus der An¬ 
schauung ihres Inhalts entsprungen, der sich bei einer lärmenden, 
unheilschwangeren Situation darbot. Anderseits mag auch 
der Bischof von Sutri in gewissem Sinne auf seine Rechnung 
kommen, wenn er den Ursprung des Namens in die übelwollenden 
Kreise der verfolgten Priester verlegt: das war ja nach den obigen 
Ausführungen auch der Fall; nur irrt Bonitho, wenn er es in der 
absichtlichen Form Paterini geschehen läßt. Auch die schon 
oben angemerkten Beobachtungen, daß auffallenderweise Arnulf wie 
Bonitho bei ihren Erklärungen in mehr oder minder gezwungener 
Gelehrsamkeit auf einen griechischen Ursprung Bezug nehmen, 
findet durch die vorgetragene Auffassung eine interessante Be¬ 
leuchtung. Schließlich darf auch Landulf sich rühmen, durch die 
Äußerungen seines Reformhasses die Spur gezeigt zu haben, die 
zu einer immerhin möglichen Ableitung des Namens führte. 

Man kann hier allerdings den Einwand erheben, warum denn 
Arnulf zu dieser Ableitung nicht die mindeste Handhabe biete, 
da er nicht einmal den Begriff Katharer in seine Darstellung 
aufgenommen habe. Indes darf nicht übersehen werden, daß es 
der vornehmen Art Arnulfs widerstrebt, eine Sache schlechter 
zu machen, als sie ohnehin schon ist 1 ): und mit seinem grundsätz¬ 
lichen Standpunkt hat er ja nicht hinterm Berge gehalten. 

Noch einen weiteren Vorteil bietet die vorgebrachte Ety¬ 
mologie: man hat bislang vergebens darüber ins Klare zu kommen 

*) Vgl. z. B. III, 16, wo er von Landulfs Tode spricht: er verzichtet 
auf ein Urteil über den ihm im tiefsten Herzen unsympathischen Patariner, 
weil über den Toten nur Gott zu richten habe. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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versucht, wie denn die Bezeichnung der Mailänder Reformer als 
Patariner späterhin eine so hartnäckige Anwendung auf die mani- 
chäischen Sekten, zumal in Oberitalien, habe gewinnen können. 
Schon Giulini findet diese Übertragung schwer zu begründen. 1 ) 
Er bemerkt zwar richtig, daß Landulf zu Unrecht die Patariner 
mit den Anhängern des Gerard von Monteforte in Verbindung 
bringe. Aber die von ihm vorgebrachte Erklärung für die Über¬ 
tragung, daß nämlich die große Anzahl der Schismatiker 2 ) die or¬ 
thodoxen Grundsätze der Anhänger Arialds und Landulfs mit den 
falschen der Häretiker zusammengeworfen und beide mit dem ge¬ 
meinsamen Titel Patariner belegt habe, um diesen dann nach Be¬ 
endigung des Schismas der Pataria zuletzt nur noch für die letzte¬ 
ren beizubehalten, bleibt wirkungslos, weil sie den springenden 
Punkt nicht scharf genug ins Auge faßt, wie denn der Prozeß 
nun tatsächlich vor sich ging, der das merkwürdige Ergebnis 
zeitigte, daß der neue Ausdruck 8 ) tatsächlich die bleibende 
Bezeichnung der manichäischen Ketzer in Oberitalien werden 
konnte. 4 ) Denn eine Verwechslung der patarinischen mit den ma¬ 
nichäischen Lehren mußte sich doch sofort in ihrer Grundlosig¬ 
keit im Bewußtsein der öffentlichen Meinung heraussteilen, und 
ihre Böswilligkeit war außerstande, ihr einen dauernden Halt 
zu geben, weil sie für das Volk keinen anschaulichen Rückhalt 
bot. Freilich mag man einwenden: die Unhaltbarkeit der Ver¬ 
wechslung auch zugegeben, so schien doch, nachdem sie einmal 
festen Fuß gefaßt hatte und besonders mit dem anderen weit 
kräftigeren Vorstellungsmoment der „Lumpenhaftigkeit“ in Ver¬ 
bindung getreten war, der daraus entspringende Charakter eines 
beißenden Schimpfwortes der neuen Bezeichnung einigermaßen 

*) a. a. O. IV, p. 200: in quäl maniera si formasse una si strana meta- 
morfosi, b difficile il determinarlo giustamente. 

*) Im Sinne Bonithos, also: der Reformfeinde. 

*) Der nach Giulinis Auffassung zudem einen rein lokalen Ur¬ 
sprung hatte. 

*) Muratori, Antt. V, p. 83 hat eine ähnliche Ansicht wie Giulini. — 
Auch beiMirbt, in der Realencyklopädie f. prot. Theol. 8 XIII, S. 762, ist 
der Prozeß nur halb erkennbar: „Der Gesamtname Patareni (für Mani¬ 
chäer) . . . wurde in Mailand und Umgebung frühzeitig auf die neumani- 
chäischen Ketzer als Vertreter einer ähnlichen antiklerikalen Opposition (wie 
die der Anhängerschaft Arialds und Landulfs bzw. Erlembalds) übertragen.“ 


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eine lebenskräftige Zukunft sicherzustellen. Indes mag dies für 
Mailand gelten, solange der Gegensatz zwischen Freunden und Fein» 
den der Reform noch brennend war. Wie aber ist die Übertra¬ 
gung des Schimpfwortes nach der Aussöhnung der Mailänder 
Parteien von den romtreuen Reformern auf häretische Bewe¬ 
gungen auch außerhalb der lombardischen Hauptstadt zu er¬ 
klären ? 

Die gegebene Etymologie verspricht auch für diese Frage 
eine Lösung. 

Die Form Patarini, als gelegentlich aufgetauchte, witzige Pa¬ 
rallelbildung der Volksetymologie zu Catharini, dessen häretisches 
Odium auch jene Form nie verlor, ward als Schimpfwort für die 
großen Massen der Reformanhänger zunächst zum eisernen Be¬ 
standteil des mailändischen Lokalpatriotenspottes. 

Allmählich jedoch mußte das Schimpfwort diese scharfe Be¬ 
schränkung auf die Hefe der Stadtbevölkerung als Haupt¬ 
kontingent der Reformbewegung verlieren, als immer mehr Leute 
auch aus Adels- und Bürgerkreisen ins Lager der Pataria ab- 
schwenkten. Indem es auch diese in den Bereich seiner An¬ 
schauung zog, verlegte es seinen inhaltlichen Schwerpunkt aufs 
neue: es bezeichnete schließlich im Grunde nur noch die korpo¬ 
rative Gegensätzlichkeit der Reformer zur traditionellen Gestal¬ 
tung der ambrosianischen Kirche. 1 ) 

Nachdem dann seit Erlembalds Tod eine langsame Aussöh¬ 
nung der streitenden Parteien in Gang kam, war für die Anwen¬ 
dung des Schimpfwortes innerhalb der mailändischen Kirchen¬ 
gemeinde kein Platz mehr vorhanden. Aber es hatte sich doch 
andererseits zu fest eingebürgert, um ganz in Vergessenheit 
geraten zu können: es suchte gleichsam nach einem neuen Wir¬ 
kungskreis. Gerade in Oberitalien erhob damals die neumani- 
chäische Häresie immer wieder und immer nachhaltiger das Haupt. 
Legte sich da nicht eine Übertragung des beliebten Schimpf¬ 
wortes auf solche ketzerischen Richtungen von selbst nahe, wenn 
man sah, wie diese den Vorstellungsmomenten desselben sozu¬ 
sagen entgegenkamen? 

*) Worin freilich für den echten Mailänder von altem Schrot und Korn 
ein kaum zu überbietender Vorwurf beschlossen lag. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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Das Wesen dieser Häresie war doch, um von all den anderen 
Punkten zu schweigen, die bereits oben erwähnt wurden, Loslö¬ 
sung von der allgemeinen römischen Kirche und ihrem apostolischen 
Oberhaupt. Daß sie sich nach außen nicht immer als geschlosse¬ 
nes Ganzes zu erkennen gab, mochte dem Volksspott bei der 
ziemlichen Häufigkeit ihres Auftretens wenig verschlagen. Er¬ 
leichtert aber ward die Übertragung dadurch, daß die neumani- 
chäischen Sektenbildungen, die alle einem weitgehenden Kom¬ 
munismus huldigten, vor allem aus dem niederen Volke ihren grö߬ 
ten Zulauf erhielten; denn im. großen und allgemeinen neigen die 
in sicherem Besitz sich fühlenden Klassen aller Völker und Zeiten 
zum .Konservatismus wie im politischen so im kirchlichen.Leben. 

(Schloß folgt.) 



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NACHBARSCHAFTEN, GILDEN, ZÜNFTE 
UND IHRE FESTE. 

VON SIEGFRIED SIEBER. 

(Fortsetzung von XI. 4 Seite 482 und Schlaft.) 

In Frankfurt a. M. 1 ) gab es Weinstuben für geschlossene Kor¬ 
porationen. Die älteste war die der Ratsmitglieder (1352 erwähnt)^ 
Dazu hatten die Zünfte, die Gesellschaften Frauenstein, Limpurg 
und St. Leonhard ihre Trinkstuben. Bernhard Rorbach*), der lu¬ 
stige Frankfurter Junker, erzählt auch von Abendessen und Tanz, 
von Maienstecken und Badgang. Auch in Augsburg 8 ) und Nürn¬ 
berg gab es Trinkstuben. In Ulm 4 ) sorgten die Geschlechter 
durch Stiftung von Kapitalien für die Kübelesmahlzeiten ihrer 
Nachfahren, und der Herzog von Württemberg schenkte Wild- 
pret. Dort wurde jeder Geschlechter vom vollendeten 17. Jahre 
an zugelassen, hatte Stubengeld zu entrichten, sich in ritterlichen 
Künsten zu üben, durfte aber nicht in die Wirtshäuser gehen. 
Auch die Geschlechterhochzeiten wurden in den Trinkstuben ab¬ 
gehalten. Die Zünfte bildeten Gesellschaften für sich. 

In Freiburg i. B. 5 ) wurde sogar für jeden Bezirk eine Trink¬ 
stube bestimmt, selbst für die Vorstädte, und die Vorsteher der 
Bezirke erhielten zugleich die Oberaufsicht über die Stuben. 

Freilich dienten die Trinkstuben vielleicht zum größeren Teil 
der jungen Mannschaft und nicht so sehr den hier zu behandelnden 
verheirateten Männern, wie jene Notiz aus Augsburg beweist: 
man bedürfe einer Trinkstube für der „Geschlechter Söhnlein, 
wenn sie kurzweilen, lustig und guter Dinge sein wollten“. 4 ) Jetzt 

*) Kriegk I, S. 338. 

*) Grotefend, Quellen z. Frankfurts Geschichte I, Frankfurt 1884/85. 

*) Dirr, Kaufleutezunft und - stube in Augsburg, Zeitschr. d. Hist. Ver. 
f. Schwaben und Neuburg 35 (1909), S. 132—51. 

*) Karl Jäger, Ulms Verfassung im MA., 1831, I. S. 526fr. 

*) Ehrler, Stadtverfassung u. Zünfte Freiburgs i. B., Jahrbb. f. Natio- 
nalökon. u. Statistik 3. Folge 41, S. 751. 

•) Müller, Trinkstuben S. 249. Vgl. noch Mone, Zeitschr. f. Gesch. d. 
Oberrheins 15, S. 49; 17, S. 39; Stieda und Mettig, Schrägen der Gilden 
und Ämter der Stadt Riga bis 1621, Riga 1896, S. 94; Hoffmann-Krayer, 
Neujahrsfeier im alten Basel, Schweiz. Archiv f. Volksk. VII, S. 123 ff. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 


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sei nur betont, daß zwischen dem festgefügten Verein, der ein 
eigenes Haus oder eine besondere Trinkstube besitzt, und der 
Gilde oder Nachbarschaft, wo das Gelage reihum geht, nur ein 
Unterschied des Grädes, nicht des Wesens besteht, daß letztere 
nur die unvollkommene Vorstufe zu jenem ist. 

Die Pflichten der Gildegenossen waren höchst verschieden. 
Besuch des Gelages ist aber überall ein Hauptpunkt. In Dorpat 1 ) 
z. B. mußten unbedingt zwei Gelage, zu Weihnachten und Fastel¬ 
abend, in der Großen Gilde mitgemacht werden. 

An Nachbarpflichten erinnert es uns, wenn wir von den Frank¬ 
furter*) und Berner 3 ) Gesellschaften lesen, daß sie für Feuereimer 
und Hilfe bei Feuersgefahr sorgen mußten, oder daß in Eßlingen 4 ) 
überhaupt jeder, der Bürger wurde oder sich verheiratete, sich 
in eine Bürger- oder Zunftstube aufnehmen lassen und einen Feuer¬ 
eimer liefern mußte. Alte Borngemeinschaft oder mindestens alt¬ 
herkömmliche Heilighaltung des Brunnens scheint noch nachzu¬ 
wirken in dem Brunnentanz der Schwarzen Häupter zu Riga. 5 ) 

Je nachdem der Verein mehr eine Schutzgilde, Gewerbsgilde 
oder religiöse Gilde war, traten die einzelnen Pflichten in den 
Vordergrund. Es kann unmöglich Aufgabe unserer Untersuchung 
über die deutsche Geselligkeit sein, das Politische oder Gewerb¬ 
liche an den Gilden näher zu beleuchten. Das ist von anderer 
Seite ausgiebig geschehen. Hier sei hauptsächlich des religiösen 
Elements gedacht, das sich aus heidnischem Totenkult bis zur 
stärksten Betonung des Christentums entwickelt hat.*) Die reli¬ 
giösen Gilden des Mittelalters sind ungemein zahlreich. In großen 
Städten bestanden bis zu ioo nebeneinander. Gab es doch selbst 
Priester- und Schülergilden. Der Reiche konnte sich in viele Gil¬ 
den einkaufen und so vielfältig für sein Seelenheil sorgen. Denn 
die Gilden veranstalteten mindestens am Jahrtage, meist am Tage 
ihres Schutzpatrons, Seelenmessen für die verstorbenen Mitglieder. 
Die Gildebrüder waren gehalten, zu den Vigilien und Seelenmessen 

*) Mettig, Die GroBe Gilde zu Dorpat, Dorpat 1907, S. 40. 

*) Müller, Trinkstuben S. 264. 

*) Zesiger, Das bemische Zunftwesen, Bern 1911, S. 113. 

4 ) Müller S. 251. 

*) Stieda und Mettig S. 577. 

*) v. Amira in Pauls Grundriß III, S. 166. 


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Siegfried Sieber 


zu erscheinen. 1 ) Im Besitz der Gilden befanden sich meist besondere 
Kapellen, Altäre und Kerzen. Die Hauptsache war sicherlich die 
Begräbnisfürsorge. Bei den Stralsunder Schiffern mußte an einem 
Begräbnis aus jedem Haus eine Person teilneKmen. 8 ) Dafür sollten 
die Mitglieder Vermächtnisse in Tonnen Bier aussetzen, das von 
den am Begräbnis Beteiligten vertrunken wurde. Die Sonder¬ 
burger und Flensburger Schiffer*) hatten fürs Begräbnis eigene 
Bahrtücher, Fahnen und Kerzen. Ihre Mitglieder waren zum 
Sargtragen verpflichtet. Sehr streng ist die Bestimmung der 
Bursenfraternität zu Kolberg 4 ), die dreimaliges Ausbleiben bei 
Beerdigungen mit Ausstoßung bedroht. 

Auch übernahmen die Gilden die Almosenverteilung und sorg¬ 
ten so für das Seelenheil ihrer Angehörigen. Die Anrufung der Hei¬ 
ligen beim Gildegelag 8 ) ist ein Rest von dem altheidnischen Minne¬ 
trinken. Selbstverständlich beteiligten sich die Gilden wie schon 
die Nachbarschaften an den Prozessionen, am Straßen- und Altar¬ 
schmücken zu Fronleichnam. Die Teilnahme der Frauen an der 
Gilde ist nicht als christliche Neuerung aufzufassen. 

Da man in mehreren Gilden gleichzeitig Mitglied sein konnte 8 ), 
mußte auch der Fall vorgesehen werden, daß einer ,,zu Pfingsten 
in einer anderen Gilde trinken“ wollte. 7 ) Damit müssen wir aller¬ 
dings der weitverbreiteten Ansicht zweifelnd gegenübertreten, als 
hätten die mittelalterlichen Genossenschaften im Gegensatz zu 
den heutigen Vereinen den ganzen Menschen durchaus für sich in 
Anspruch genommen. 

Die Mitgliedschaft erstreckte sich in der Regel auf einen kleinen 
Kreis sozial Gleichgestellter. Man wollte im Mittelalter nur mit 
seinesgleichen verkehren. 8 ) v. Below nennt das ,,soziale Ab¬ 
schließung“. 9 ) Sommer hat festgestellt, daß verschiedentlich nur 
Bauern und nicht Kötter Gildemitglieder sein konnten, und daß 
letztere sich wieder zu einem Verein zusammenschlossen. Dadurch 

*) Mettig, Dorpat S. 41. 

*) Ebeling a. a. O. *) Döring a. a. O. 4 ) Riemann S. 105. 

*) Pappenbeim S. 4. ®) Hegel I, S. 215. 

*) Blümcke, Die Handwerkszünfte im mittelalterlichen Stettin, Bal¬ 
tische Studien 34 (1884), S. 195. 

*) Kriegk I, S. 338. 

®) v. Below CS. 432. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 

ist v. Below, der Anhänger der freien Einung, Zu der Frage ver¬ 
anlaßt worden, ob denn die übliche Erklärung der Gilde als einer 
gewillkürten Genossenschaft, einer freien Einung aufrechterhalten 
werden könne. 1 ) Pappenheim 2 ) verficht denselben Gedanken wie 
Sommer. Vortrefflich paßt hierzu auch Philippis Erklärung der 
Kölner Richerzeche 8 ) als der gildemäßig organisierten Genossen¬ 
schaft der altfreien Grundbesitzer in dem 1106 durch Eingemein¬ 
dung vergrößerten Köln. 

Für die Kaufleutegilden will Doren 4 ) die gemeinsamen Reisen 
der Kaufleute als Anlaß zur Entstehung ansehen. Danach hätten 
zunächst reisende Händler sich zu gegenseitigem Schutz und zur 
Versicherung zusammengeschlossen, wodurch allerdings ein gewill¬ 
kürter Verein entstanden wäre. 

Der hier entrollte Widerspruch ist im allgemeinen und gesamten 
nicht zu lösen. Denn die Entwicklung in verschiedenen Landschaf¬ 
ten und unter ganz abweichenden Verhältnissen muß sogar ver¬ 
schiedene Bildungen erzeugt haben. Ebensowenig dürfte die Frage 
zu entscheiden sein, welche Bedeutung der Eid bei der Gilde hatte, 
Pappenheims Hypothese, daß die Gilde sich aus der altgermanischen 
Blutsbrüderschaft zur Schwurbrüderschaft entwickelt habe, ist 
von Maurer zurückgewiesen worden. Meister nimmt eidliche An- 
brüderung an. Hegel 6 ) erklärt die ältesten Gilden teils für coniura- 
tiones, teils für consortia, also Genossenschaften ohne eidliche 
Verpflichtung. 

Eine Art der Gilden müssen wir noch besonders betrachten, die 
Schützengilden. Edelmann 8 ) erklärt sie zu oberflächlich als Brü¬ 
derschaften, im 13. Jahrhundert von den Mönchsorden zur Ver¬ 
mehrung ihrer Präbenden gegründet. Doch ist z. B. im Maigrafen¬ 
tum die Verbindung mit älterer Überlieferung so deutlich, daß 
wir die Wirksamkeit der Mönche nur gering in Anschlag bringen 
dürfen. Kähler 7 ) hat für holsteinische Schützengilden die Ent¬ 
wicklung aus Schutzgilden gezeigt. Und in der Tat bestand für 
die Gilde, die einmal für gegenseitigen Schutz sorgte, natürlich 

*) v. Below D. 

*) Pappenheim S. 56. *) Philippi, Köln S. 93. 

4 ) Doren S.i62.Vgl.auch Walter Stein, Hans. Geschbll. 1910, S. 571—92. 

*) Hegel I, S. 4. •) Edelmann S. 2. *) Kähler S. 26. 


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6o Siegfried Sieber 

die Notwendigkeit, sich in der Waffenführung zu üben. Noch 
jetzt pflegen Brandversicherungsgilden in Holstein nebenbei 
Scheibenschießen. Selten treten dort Schützengilden auf, deren 
ausschließlicher Zweck das Schießen ist; sie werden als Lustgilden 
bezeichnet. Für Westfalen behauptet Sommer 1 ), sie seien nicht 
aus älteren Vereinigungen hervorgegangen. Denn sie bestehen dort 
neben den Nachbarschaften. Verschiedentlich halten Bauern 
und Kötter je ihr eigenes Fest ab. Auch besteht zuweilen ein be¬ 
achtliches Nebeneinander von Gilden der Verheirateten und der 
Junggesellen. 

Eine kaufmännische Genossenschaft, die zur Schützengilde 
wird, ist die Herrenburse in Kolberg.*) Der Königsschuß muß 
am Johannistage fallen. Zum Königsmahl wird ein in der Johan¬ 
nisnacht gefangener Lachs aufgetischt. Besonders pflegten die 
Artushöfe, die vielfach aus Olav- oder Georgsgilden hervorgegan¬ 
gen sind 8 ), das Schützenwesen. In Dänemark übte die Knutsgilde 
zu Lund das Schießen aus; sie hielt dabei an den althergebrachten 
Gildeformen fest. 4 ) 

Die Schützenfeste überhaupt waren nach Heldmanns 6 ) Be¬ 
weisführung den alten Ritterspielen des Stadtadels nachgebildet, 
dem Rennen, Stechen, Quintäne- und Rolandreiten. Und da diese 
Patrizierfeste, wie wir bei den Zirklern gesehen haben, von einer 
Gilde in Szene gesetzt wurden, so liegt die Vermutung nahe, 
andere Kreise der Bürgerschaft, die bereits gildemäßig verbunden 
waren, hätten sie nur nachgeahmt. Doch ist der umgekehrte Vor¬ 
gang in Kolberg nachweisbar. 6 ) Die Bedeutung der Nachahmung 
muß überhaupt für das gesellige Leben hoch eingeschätzt werden. 
Für unseren Fall ist sie schon von Edelmann 7 ) festgestellt worden, 
der darauf hinweist, „die Urschützengilden seien von den Strö¬ 
mungen des Zunftwesens erfaßt worden“. Es ist aber nicht Nach¬ 
ahmung allein wirksam gewesen, vielmehr weist das gesellige 

*) Sommer S. 472/73. *) Riemann S. 103 f. 

*) Mettig, Olavgilden S. 19. 

4 ) Hegel I, S. 222 u. 225. 

*) Karl Heldmann, Mittelalterliche Volksspiele in sächsisch-thüringi¬ 
schen Landen, Neujahrsbl. d. Hist. Kommission f. d. Provinz Sachsen 
1908, S. 28. 

*) Riemann S. 103. 7 ) Edelmann S. 3. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 61 

Leben des Mittelalters aus inneren Gründen die gleiche Struk¬ 
tur auf. 

Betreffs der Schützengilden überhaupt verweise ich auf Edel¬ 
mann und die dort angeführte Literatur. Hervorheben will ich 
noch, daß die Schützengilden die Pflicht der Leichenfolge kennen 1 ), 
gemeinschaftliche Gottesdienste, Unterstützung armer und kran¬ 
ker Brüder und andere Züge mit den Gilden und Nachbarschaften 
gemeinsam haben. Sie besitzen Schutzheilige, meist den Seba¬ 
stian. Die Mitgliedschaft kann auch von Frauen erworben werden.*) 
Die Vorsteher heißen Scheffer, Gildemeister, Aldermänner usw. 8 ) 
Die Scheffer haben für Bier zu sorgen und das Schützenfest vor¬ 
zubereiten. Vielfach wird eigenes Gildebier gebraut und unter 
besonderen Zeremonien aus zinnernen Humpen getrunken. Bis¬ 
weilen hat auch der Schützenkönig, wie bei den Zirklern der Vor¬ 
steher, das Gildegelage auszurichten. 4 ) Die Vorrechte, die ihm zu¬ 
gestanden wurden, waren oft agrarischer Art, z. B. Nutzung einer 
Wiese, Schweinemast im Gemeindeland, auch steuerfreies Bier¬ 
brauen. 6 ) Die Geldpreise, die später ausgesetzt wurden, sind viel¬ 
leicht die Ablösung solcher Nachbarvorzugsrechte. Die Feste der 
Schützengilden hat Edelmann®) ausführlich (wenn auch schon et¬ 
was veraltet) dargestellt. 

Wir haben auffällig viel Gilden aus späteren Jahrhunderten 
mit in die Betrachtung hereingezogen. Das liegt an dem bereits 
erwähnten Versagen der älteren Quellen für unsere Zwecke. Aus 
solchen Gründen muß sich ja die Volkskunde wie die Völkerkunde 
so häufig der Analogie bedienen. Diese ist vorsichtig zu benutzen. 
Gerade in unserem Fall kann ja nicht häufig genug betont werden, 
wie stark der Nachahmungsprozeß in solchen Dingen ist. 7 ) Bei 
der Nachahmung können und werden sich aber gerade die ältesten 
Züge weitervererbt haben, und wir dürfen von späteren Gilden auf 
frühere schließen. 

Vom Untergang der Gilden kann man eigentlich nur reden, wenn 
man ihre gewerblichen oder politischen Bestrebungen betrachtet. 

*) Sommer S. 473. 

*) Edelmann S. 7 u. 4. *) Sommer S. 473. 4 ) Kähler S. 43, 69, 31. 

*) Edelmann S. 54. *) Edelmann S. 36 fl. 

7 ) F. Philipp! a. a. O. S. 121. Derselbe, Die gewerblichen Gilden des 
MA., PreuB. Jahrbücher 69 (1892), S. 658 . 


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Siegfried Sieber 


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Derlei Gilden mußten untergehen, sobald die Wirtschaftsformen 
oder politischen Zustände sich änderten. Die geselligen Zwecke 
blieben bestehen, machten nur unbedeutende Wandlungen durch. 
Je stärker eine Gilde wirtschaftliche oder politische Zwecke be-» 
tonte, desto eher ging sie unter oder bildete sich innerlich um. 

III. 

Hegel hatte uns schon darauf hingewiesen, daß Zunft und 
Gi.lde verwandt seien. Wir haben uns an die Gepflogenheit gehal¬ 
ten, Gilde für Norddeutschland und die nordischen Länder in An¬ 
spruch zu nehmen und darunter im allgemeinen Kaufmanns¬ 
genossenschaften zu verstehen. Bei dem Ineinanderübergehen von 
Nachbarschaft und Gilde hielten wir uns ja auch erst an die ge¬ 
bräuchlichen Bezeichnungen, bis wir sie vielfach gleichsetzen 
konnten. Auch bei dem folgenden Abschnitt fassen wir zunächst 
das ins Auge, was gemeinhin Zunft genannt wird, den Handwerker¬ 
verband. Und zwar kommen wir dabei vornehmlich nach Ober¬ 
deutschland, treffen dort aber erheblich mehr Vereine an, die sich 
selbst Zunft nennen, als sonst von den zahlreichen Gesamt- und 
Einzeluntersuchungen zur Zunftgeschichte berücksichtigt werden. 
Denn bei der Forschung über die gewerblichen Zünfte hat man sich 
einen engen Begriff 1 ) zurechtgezimmert, der eine ganze Menge Bil¬ 
dungen ausschließt oder höchstens als „zunftartig“ gelten läßt. 
Das Recht dazu soll dem Forscher nicht bestritten werden, wenn 
er glaubt, nur auf solche Weise Ordnung in das Chaos bringen zu 
können. Aber für unsere ganz andersartige und aller juristi¬ 
schen Formelfassung abholde Untersuchung gilt dieser 
Zunftbegriff nicht. 

Betreffs der Verwandtschaft von Gilde und Zunft wird uns auch 
von Wirtschaftshistorikern bestätigt, daß „die Grenze zwischen 
Kaufmannsgilde und Handwerkerzunft ganz nach den Verhält¬ 
nissen der einzelnen Städte schwankt.“ 2 ) Weiter gibt es nach 
Hermandung 3 ) in Aachen Zünfte ohne gewerblichen Charakter, 

‘) Eberstadt, Ursprung d. Zunftwesens, Leipzig 1900, S. 19. 

*) Dören S. 45. 

*) A. Hermandung, Die Zünfte der Stadt Aachen bis 1681, Münst. 
Diss., Aachen 1908, S. 97 ff. 


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Nachbarschaften,. Gilden, Zünfte und ihre Feste 63 

die durchaus die Züge der Gilden tragen, ihre „Greven“ wählen 
und ihre Feste feiern. Dagegen finden sich in Oberdeutschland, 
z. B.,in Schaffhausen 1 ), Kaufleutzünfte, die auch den Kaufmanns¬ 
gilden zuzurechnen sind.. Noch verwickelter würde die Sachlage 
werden, wollten wir all die Synonyma, für Zunft berücksichtigen.*) 
Kurz, wir müssen uns klarmachen, daß alle diese Namen ursprünglich 
nur in dem Sinne gefaßt wurden: Verein mit Verpflichtung zur 
Zusammenkunft 3 ),, ganz gleich, was der Zweck des Vereins war. 
Die Leute, die einer Zunft angehörten, hatten keinesfalls die Vor¬ 
stellung, daß zur Zunft der Zunftzwang nötig sei, und daß eine 
Zunft nur von Handwerkern gleicher Gattung gebildet werden 
könne.. Ebenso muß man die Auffassung als falsch bezeichnen, 
die Handwerker hätten sich den vornehmeren Namen Gilde an¬ 
gemaßt,, zumal v. Below 4 ) die Handwerkerzünfte im allgemeinen 
für älter hält als die Kaufmannsgilden. Eine befriedigende Er¬ 
klärung dürfte meine für Nachbarschaft und Gilde schon durch¬ 
geführte Hypothese bieten, wonach alle in Frage kommenden 
Benennungen zum guterf Teil identisch sind und einen Gesellig¬ 
keitsverein bezeichnen, der bald nach dieser oder jener Seite sich 
gewerblich oder politisch betätigt. 

Ehe wir uns aber der Frage nach Verwandtschaft von Nach¬ 
barschaft, Gilde und Zunft nähern, müssen wir kurz die wichtigsten 
Ansichten über die Entstehung der Zunft betrachten. Sie basieren 
auf Quellenforschungen in den ältesten uns erhaltenen Zunft¬ 
urkunden, die nicht im mindesten ein Bild vom Werden eines sol¬ 
chen Vereins geben können, da sie ja schon die vollständig fertige, 
juristisch faßbare Körperschaft darstellen. Es ist darum kein 
Wunder, daß gerade über die vor den Urkunden liegende Ent¬ 
wicklung der Genossenschaften grundverschiedene Ansichten be¬ 
stehen.. Während die eine Theorie in den Urzünften Organisationen 
des Hofrechts sieht, die Handwerker also aus Unfreien rekrutieren 

*) Schweiz. Idiotikon 3, S. 334. 

*) Oskar Schade, Vom deutschen Handwerksleben, Weimar. Jahrbuch 
I V, S. 248 ff. 

*) In conventu, glossiert in der Benediktinerregel als zumfti. Vgl. 
M. Heyne, Das altdeutsche Handwerk, 1908, S. 131. 

4 ) v. Below, Die Bedeutung der Gilden f.die Entstehung d. deutschen 
Stadtverfassung,Jahrbücherf. Nationalökon.u. Statist. 3. F. III (1892), S. 64. 


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Siegfried Sieber 


will, betont die andere die Freiheit der Zünftler und will den 
Zunftzwang aus einer Anordnung der Stadtobrigkeit herleiten. 
Nach dem Siege von Keutgens 1 ) klarem Buch über Eberstadts 2 ) 
etwas verschwommene Arbeiten haben die Hofrechtler neuerdings 
Walther Müller 8 ) vorgeschickt, der die herrschaftliche Abhängig¬ 
keit der Handwerker verficht. 

Eberstadt geht von dem richtigen Gedanken aus, daß der Zunft 
Verbände vorausgegangen sein müssen, und glaubt kirchliche Bru¬ 
derschaften als Vorläufer der gewerblichen Zünfte feststellen zu 
können. So heißen die Schuhmacher in Rouen gulde, die Schil- 
derer in Magdeburg societas. Zweck dieser Verbände sei die Be¬ 
tätigung religiösen Sinnes und christlicher Nächstenliebe gewesen. 4 ) 
Meine Ansicht von den Vorläufern der Zünfte weicht von dieser 
Aufstellung nur insoweit ab, als ich nicht rein kirchliche 
Bruderschaften, sondern gesellige Verbände, Vereine, Gilden an¬ 
nehmen möchte. 

Auch Keutgen 6 ) will „den kirchlichen wie den geselligen Be¬ 
strebungen eine gewisse Bedeutung für die Entstehung der Zünfte 
zuerkennen“. Er nimmt als Motive zur freien Einung der Hand¬ 
werker gottesdienstliche, wohltätige und gesellige, außerdem ge¬ 
werbliche an. Die ersten drei entsprechen durchaus den von mir 
aufgestellten Hauptstücken der Geselligkeit: gemeinsames Mahl 
und Leichenfolge, woraus sich natürlich kirchliche und gottes¬ 
dienstliche Verpflichtungen bildeten. Zudem betont Keutgen, 
daß „Bruderschaft“ durchaus nicht, wie von Eberstadt geschehen, 
in kirchlichem Sinne gebraucht werden muß, da die Idee, den Näch¬ 
sten als Bruder zu betrachten, schon germanisch ist. Bei seiner 
weiteren Betrachtung geschieht es freilich Keutgen, daß er nur 
von religiöser Betätigung der Zünfte zu erzählen weiß und sich 
sogar zu der Behauptung versteigt, die Obrigkeit hätte den Zünf- 

*) F. Keutgen, Ämter u. Zünfte, 1903. 

*) R. Eberstadt, Magisterium u. Fraternitas, 1897, — Ursprung des 
Zunftwesens, 1900, 

*) Walther Müller, Zur Frage des Ursprungs der mittelalterl. Zünfte, 
Leipz. Hist. Abhandl. Heft 22, 1910. Vgl. A. Doren, Über den heutigen 
Stand der Frage nach der Entstehung der Zünfte, Mitt. d. deutsch. Gesellsch. 
z. Erforsch, vaterl. Sprache u. Altertümer in Leipzig Bd. X, H. 5 (1912), 
S. 92 ff. 

4 ) Eberstadt, Ursprung S. 22 u. 10. e ) Keutgen S.%83, 169 fr. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 65 

ten Zwangsbefugnis verleihen müssen, ehe sie ihre Mitglieder zur 
Leichenfolge verpflichten konnten. 1 ) Wer gab denn den Nach¬ 
barschaften und Gilden eine ähnliche Zwangsbefugnis ? — Nur das 
Herkommen. Denn es mußten sich eben Leute zusammentun, 
um die Toten zu begraben. Gerade dieser Grund ist bei der all¬ 
gemein menschlichen Totenfürsorge der zwingendste für Bildung 
eines Nachbarverbandes. Damit fällt auch Keutgens Stellung¬ 
nahme gegen Eberstadts Meinung, daß die Bruderschaften erst 
rein private Vereinigungen waren, ehe sie Zunftrechte und -briefe 
erwarben. Bei Keutgen werden nämlich die Handwerker von 
Obrigkeits wegen nach ihrem Gewerbe auf dem Markt zusammen¬ 
gestellt. So entsteht das Amt. Doch sehnen sich seine Mitglieder 
nach einem „intimeren Verein, als ihn das bloße Amt bietet“, 
und finden in der Brüderschaft „die Form, an der es bis dahin 
noch gefehlt“. Mich will der gesellige Zusammenschluß als der 
einfachere bedünken gegenüber dem gewerblichen, und darum 
möchte ich ihn als den primären auf fassen.*) Erkennt doch 
Keutgen*) selbst die im Mittelalter viel stärkeren „gesellschaft¬ 
lichen Notwendigkeiten“ als vereinsbildende Kräfte an. Bemerkens¬ 
wert ist ferner, daß der Bruderschaft (z. B. der Kölner Drechsler¬ 
bruderschaft) Personen beitreten konnten, die das „Amt" nicht 
ausüben wollten. Soll man denn annehmen, daß die Handwerker, 
nachdem sie einen scharf abgeschlossenen Verein gebildet hatten, 
für ihre Brüderschaft nicht dies Bedürfnis sozialer Abschließung 
gehabt hätten ? Oder erscheint die Erklärung besser, daß innerhalb 
einer bestehenden Brüderschaft die gewerblich zusammengehörigen 
Brüder einen engeren Verein gebildet haben ? 4 ) Mit der Zeit werden 
ja überhaupt die zünftischen Brüderschaften immer exklusiver, 
wie Keutgen 5 ) an den Mainzer Webern zeigt, die sich 1099 einen 
eigenen Begräbnisplatz einräumen lassen. Gegen Eberstadt muß 
ich mich allerdings einer Bemerkung Keutgens anschließen, der 
nicht glaubt, daß gerade die gleichartigen Gewerbe stets von der 
Religion allein zusammengeführt worden wären. 

*) Keutgen S. 173, 174, 183. 

*) Vgl. Thoms, Die Entstehung der Zünfte in Hildesheim, 1908, S. 69. 

*) Keutgen S. 91 u. 181. *) VgU Zesiger S. 91. 

6 ) Keutgen S. 174 u. 176. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 5 


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Siegfried Sieber 


Wir werden von diesen Betrachtungen zu der Frage hin» 
geführt: wie ging das wohl vor sich, der Zusammenschluß von 
Neuzugewanderten in der entstehenden Stadt? Der Neuling sie¬ 
delte sich von selbst dort an oder, wie Müller 1 ) will, wurde von 
den Machthabern dort angesiedelt, wo bereits Genossen gleichen 
Gewerbes wohnten. Die Nachbarn, zu denen er hinzukam, be¬ 
standen aus den „heterogensten Elementen“ 2 ), waren Freie, Un¬ 
freie, Stadteingesessene und Zugewanderte. Sie „hatten keine alt¬ 
ererbte Gemeinschaft“. Dagegen besaßen die meisten übrigen 
Bewohner der Stadt von jeher ihren geselligen und auch wirtschaft¬ 
lichen Verband als Bauerschaft, Laischaft, Nachbarschaft, Gilde. 
Sie waren schon zu zahlreich, als daß sie Neue hätten aufnehmen 
können. Ein Nachbarmahl aller Mitglieder wäre z. B. sonst un¬ 
möglich geworden. 3 ) Zuzügler waren aufeinander angewiesen, 
sie vermißten schmerzlich den Rückhalt und Beistand, den sie an 
der alten Geschlechtsgenossenschaft gehabt hatten. 4 ) Um die noch 
immer ehrfürchtig begangenen heiligen Tage der Heidenzeit, 
Rauchnächte, Fastnacht, Mittsommer, mit gemeinsamen Mahl¬ 
zeiten zu feiern, sowie zum Begraben ihrer Toten schlossen sie sich 
zusammen. Es bildeten sich in den Städten neben den schon vor¬ 
handenen Verbänden neue Nachbarschaften oder Gilden. 6 ) Das 
Merkwürdige an diesen war, daß sie in der Hauptsache Angehörige 
eines bestimmten Handwerks vereinigten. Daß auch Nichthand¬ 
werker zugelassen waren, wurde vorhin schon bei den Kölner 
Drechslern erwähnt. Ähnlich wird bei den Plauenschen Fleischern 
von Zechbrüdern und Zechschwestern gesprochen, so es mit dem 

*) W. Müller S. 64 u. 67. *) Keutgen S. 170. 

*) Darum erklärt sich auch v. Below gegen die Gildemäßigkeit der 
coniuratio von Freiburg i. B. „Es wäre gar nicht so einfach, sich Ge¬ 
lage der gesamten Bürgerschaft vorzustellen.“ (v. Below C S. 432.) Wie 
stark war aber wohl die erste Bürgerschaft, auf die sich dies bezieht ? 

4 ) Hegel I, S. 244. 

*) Ich verstehe nicht, wie Philippi behaupten kann: „Die gesellschaft¬ 
lichen Einrichtungen der Zünfte sind Analogiebildungen, haben an der 
Entstehung der Zünfte keinen Anteil“ — und auf der nächsten 
Seite ausführen kann, wie die Nachbarschaften in den Städten, bestehend 
aus Grundbesitzern, den nicht am Grundbesitz beteiligten Handwerkern 
keine Aufnahme gewährten, so daß diese „selbständig Genossen¬ 
schaften nach Vorbild der Ackerbürger, Gilden“ aufrichteten. 
Philippi, Mitteil. d. Inst. f. Österreich. Geschichtsforsch. 25, S. 121/22. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 

Handwerk halten. 1 ) Sie sind vielleicht aus Nachbarn hervorge¬ 
gangen, die ursprünglich mit den Fleischern zusammenwohnten, 
aber deren Übergang zum Gewerk nicht mitgemacht hatten. 

Keutgen 2 ) erinnert an heutige Verhältnisse auf afrikanischen 
Märkten. Dort kommt es zu einem geselligen Zusammenschluß 
der Gewerbetreibenden, weil die Verkäufer ihre Sitze nebenein¬ 
ander haben. So sei auch bei uns, meint er, das Nebeneinander 
von Buden und Verkaufsständen der einzelnen Handwerke auf 
dem Markt Ausgangspunkt der Vereinigung gewesen. Das dürfte 
nicht ganz zutreffen. Denn v. Loesch, der auch das Zusammen¬ 
wohnen der Fachgenossen also „der Vereinsbildung sehr förderlich“ 
ansieht 8 ), weist darauf hin, daß die Gewerbestraßen sich nicht auf 
den Markt und seine Umgebung verteilen, sondern oft weitab lie¬ 
gen. Überdies stehen manche Gewerbe als Lohnwerke 4 ) gar nicht 
im Zusammenhang mit Markt und Marktordnung, und andere 
Handwerker siedelten sich ohne Eingreifen des Marktherren neben¬ 
einander an, so die Gerber und Fischer am Wasser. 6 ) Zusammen¬ 
wohnen von Schmieden weist W. Müller schon für das Ende des 
8. Jahrhunderts in Centula nach. Philippi 6 ) hat für die westfäli¬ 
schen Bischoftstädte Fleischer- und Bäckerstraßen als die ältesten 
Anlagen neben den Domburgen nachgewiesen, und Julian Weiter 
glaubt 7 ) die Hebung des genossenschaftlichen Sinnes der Ham¬ 
burger Handwerker bedingt durch Zusammenwohnen in einer 
Straße und durch nachbarlichen Verkehr auf dem Markte. Oft 
hatten Glieder ein und desselben Handwerks zusammenhängende 
Häuserkomplexe in Besitz. 8 ) Sehr hübsch ist das Beispiel von Hil¬ 
desheim. 9 ) Die Stadt war in sechs Bauerschaften eingeteilt, deren 

*) Rieh. Helmrich, Z. Gesch. d. Fleischerinnung in Plauen i. V., Mit¬ 
teil. d. Altertumsver. Plauen 20 (1910), S. 230. 

*) Keutgen S. 139. 

8 ) Loesch, Rezens. v. Keutgen, Westdeutsche Zeitschr. 23 (1904), S. 74; 
vgl. auch Thoms S. 75. 

4 ) W. Müller S. 62/63. *) Zesiger S. 49. 

®) Philippi, Z. Verfassungsgesch. d. westfäl. Bischofsstädte, 1894, S. 6 ff. 

’) J. Weiter, Studien z. Gesch. d. hamburgischen Zunftwesens im MA., 
Diss. Berlin 1895, S. 25. 

*) Gengier, Stadtrechtsaltertümer S. 96. 

*) Moritz Hartmann, Gesch. d. Handwerkerverbände d. Stadt Hildes¬ 
heim im MA. (Beiträge f. d. Gesch. Niedersachsens u. Westfal. i.Jahrg., 
1. Heft, 1905) S. 13. 

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68 Siegfried Sieber 

eine spätestens 1404 villa sutorum hieß, es war die Umgebung der 
Andreaskirche, wo die Handwerker um 1300 nachweisbar in beson¬ 
deren Straßen wohnten. Ihre „Bauerschaft“ wurde eben nach den 
zahlreichen Schustern benannt. Ähnlich war in Halberstadt die Ge¬ 
meinde in Nachbarschaften und Innungen eingeteilt. 1 ) Die wei¬ 
tere Entwicklung wird gekennzeichnet durch Keutgens Mitteilung 
aus Regensburg 2 ), wo die Korduaner, Gademer, Schreiner und 
Schuhflicker ursprünglich besondere Marktstraßen innehatten, aber 
um 1244 über die ganze Stadt verbreitet waren. Wenn nämlich 
die Handwerkerstraßen dicht besiedelt waren, mußten Neulinge 
anderswo Unterkommen. Überhaupt wurden die einfachen Ver¬ 
hältnisse der ersten Stadtanlagen bald verschoben und überkreuzt. 
Bezeichnend*) ist auch der Sonderbestand von Gilden gleichen 
Gewerbes in den fünf Weichbildern Braunschweigs um 1445, also 
lange nach der Union zu einer Stadt. Sie sind eben als nachbar¬ 
schaftliche Bildungen zu erklären, nicht als Zusammenschluß aus 
gewerblichen Rücksichten. Auch in anderen Städten, die aus Alt- 
und Neustadt zusammengewachsen sind, findet sich dergleichen. 
Da sich die Handwerker oft vor den Toren der Stadt niederließen, 
wurden die Vorstädte geradezu Handwerkerviertel^) Die Zunft 
der vorstetter und niderling in Schlettstadt 6 ) scheint auf ähnliche 
Verhältnisse zu deuten. Ganz an eingepflanzte Bauerschaften er¬ 
innert die Zunft der Gaupörtner in Oppenheim und die Hasen- 
pfühler Zunft, wohnhaft im Stadtteil Hasenpfühl bei Speier. 6 ) 

Und noch deutlicher sprechen die Verhältnisse im Vorstadt¬ 
bezirk Oldenburgs. 7 ) Dort schlossen die Handwerker der Dämme 
und der Mühlenstraße eine besondere Innung, nicht für jedes Ge¬ 
werk, sondern eine einzige für alle Handwerker. Gewerbliche 
Zwecke waren hier nicht maßgebend, da sich in diesem Falle jeder 
Handwerker seiner Innung in der Stadt hätte anschließen können. 

: ) Philippi, Mitteil. d. Inst. f. österr. Geschforsch. 25, S. 122. 

*) Keutgen S. 240. *) Hegel II, S. 422. 

4 ) W. Varges, Zur Entstehung d. deutschen Stadtverfassung, Jahrbb. 
f. Nationalök. u. Statistik 3. Folge VIII, S. 814. 

*) Jos. Gdny, Schlettstadter Stadtrecht, 1902, S. 1114. 

®) Mone, Zunft Organisation, Zeitschr. f. Gesch. d. Oberrheins lt, 
S. 54 u. 283. 

*) H. Hemmen, Die Zünfte der Stadt Oldenburg im MA., Jahrb. f. d. 
Gesch. d. Herzogt. Oldenb. XVIII, 1910, S. 204f. u. 273 fr. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 


69 


Bezeichnenderweise ward noch dazu eine Brüderschaft gebildet, 
die für Leichenbegängnis und Seelenmesse sorgen, Eintrittsgeld 
erheben und ein Abzeichen führen sollte. Zur Brüderschaft ge¬ 
hörte der Graf samt seinem Hause. 

Mit vorstehenden Ausführungen glaube ich wahrscheinlich 
gemacht zu haben, daß der Zusammenschluß der Handwerker zu¬ 
erst in Form einer Nachbarschaft erfolgte. Sehr leicht entwickelte 
sich aus dieser eine Bruderschaft, oder, bei stärkerer Betonung des 
Gewerblichen, eine Zunft. Daß eine lange Entwicklung durch¬ 
laufen sein muß bis zur Abfassung einer Zunfturkunde, die den 
Zunftzwang vorsieht, ist wohl jedem Zunftforscher klar. Und 
ebenso ist es selbstverständlich, daß eine stets im Fluß befindliche 
Weiterbildung zu Bruderschaft und Zunft nicht durch Urkunden 
belegt, sondern höchstens aus Analogien wahrscheinlich gemacht 
werden kann. Sagt doch auch Paul Sander 1 ) sehr treffend: ,,Wo 
die Gesamtheit der Angehörigen eines Gewerbes eine Bruderschaft 
gründet, da ist eine Zunft vorhanden, auch wenn ihre Tätigkeit 
zunächst nur darin besteht, daß sie den Altar des Heiligen mit 
Wachskerzen versieht.“ Uns ist aber noch mehr glaubhaft ge¬ 
worden als nur die gemeinsame kirchliche Betätigung der Zunft¬ 
mitglieder: wir stellen uns die Handwerker als nachbarlich eng 
verbundene, oft zu geselligen Festen (und sei es Kindtaufe oder 
Schweinschlachten) zusammenkommende Genossen vor, die bei sol¬ 
chen Gelegenheiten natürlich ihre gewerblichen Sorgen und Fragen 
erörterten und auf höchst einfache Weise zu gemeinsamer Vertre¬ 
tung dieser Interessen fortschritten. Das ging dort um so schneller, 
wo die Obrigkeit aus wirtschaftlichen Gründen den Zusammen¬ 
schluß der Handwerker begünstigte*), z. B. auch durch den markt¬ 
herrlichen Gewerbebeamten jährlich dreimal ungebotenes Ding 
abhalten ließ. Sobald sich einmal in einer Stadt eine Handwerker¬ 
genossenschaft zu einem Verein fortentwickelt hatte, der die Aus¬ 
übung eines bestimmten Gewerbes zur Bedingung für die Mit¬ 
gliedschaft machte, fielen natürlich die Schranken der Nachbar¬ 
schaft, und das Zusammenwohnen ward untergeordnetes Prinzip. 

*) Paul Sander, Zur Verständigung über das mittelalterliche Zunft¬ 
problem, Schmollers Jahrbuch 28 (1904), S. 1509. 

*) Keutgen S. 155. 


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70 


Siegfried Sieber 


Ich halte diesen Gesichtspunkt für besonders wichtig zur Er¬ 
klärung des Umstandes, daß in den Städten so selten etwas von 
der Nachbarschaft zu spüren ist: die Nachbarschaftsverfassung 
zum Zweck der Geselligkeit ward gesprengt durch Ausbildung der 
Zünfte. Z. B. scheiden in Riga 1 ) zuerst die Handwerker 1352 aus 
der alle Berufe umfassenden Heilig-Kreuz-Gilde aus, so daß eine 
Kaufmannsgilde ohne Erwerbszwecke und nur zur Pflege der 
Geselligkeit, der Trinkgelage sowie der Fürsorge für Begräbnis 
und Seelenheil, übrigblieb. 

Beim Übergang zur Betrachtung der Geselligkeit bei den Zünf¬ 
ten darf ich wohl erinnern an einen früheren Aufsatz*) über Zunft¬ 
feste, worin ich besonders die Erhaltung agrarischer Bräuche bei 
den Zünften dargestellt habe. Jedoch muß ich gleich die Ein¬ 
schränkung machen, daß ich diesmal nicht wie a. a. 0 . Meister 
und Gesellen zusammenbetrachten will, sondern die Behandlung 
der Gesellenfeste und aller Veranstaltungen, bei denen sie einen auf¬ 
fälligen Anteil neben den Meistern behaupten, in einer späteren 
Untersuchung plane, die sich mit der Jungmannschaft, ihrer Weihe 
und ihren Festen beschäftigen soll. Außer Betracht bleiben des¬ 
halb hier im allgemeinen die Umzüge, Tänze, Fastnachtsmumme¬ 
reien und andere Späße. 

Es liegt nahe, bei der Geselligkeit im deutschen Zunftwesen 
einen Blick auf die römischen Zünfte zu werfen. Während Schade 3 ) 
noch an einen Zusammenhang zwischen römischem und deutschem 
Zunftwesen glaubte, findet W. Müller 4 ) gerade hier den charak¬ 
teristischen Unterschied, insofern die römischen Zünfte in erster 
Linie gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigten, die deutschen be¬ 
rufliche Ziele im Auge hätten. Der zweite Teil dieser Behauptung 
ist falsch, der erste ist für uns deshalb beachtlich, weil wir in 
den römischen Zünften Analogien zu den deutschen Geselligkeits¬ 
vereinen finden. Schon Hegel 6 ) macht auf die römischen Leichen¬ 
kassenvereine mit gemeinsamen Mahlzeiten aufmerksam. Bei ihnen 
treten uns die allgemeinen Grundzüge einfacher Geselligkeit wieder 
entgegen: gemeinsames Mahl und Leichenfolge. 

*) Stieda und Mettig S. 90/91. 

*) Mitteil. d. Ver. f. sächs. Volksk. V (1911), Heft 11 u. 12. 

*) O. Schade S. 246. 4 ) Walther Müller S. 3. 6 ) Hegel I, S. 9. 


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III III III 11 




Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 


7i 


Wir sind vielfach darüber unterrichtet, daß die Zünfte gemein¬ 
same Mahlzeiten und Gelage hielten, da viele Zunftordnungen auch 
die Bestimmungen über das Verhalten bei Gelagen und beim 
Begräbnis eines Genossen umfassen. Nach unserer Ansicht sind 
diese Anordnungen ja ein besonders wichtiger Kern. Als eigen¬ 
artige Gegenstücke müssen die Skrane der Handwerkergilden in 
Odense und Sveaborg 1 ) angeführt werden, die lediglich Gilde¬ 
ordnungen für die Zwecke der religiösen und geselligen Vereinigung 
sind ohne gewerblichen Beigeschmack. Die großen Zunftschmäuse, 
die durchaus den Gildemahlzeiten entsprechen 2 ), fanden z. B. in 
Bremen vor 1322 um Pfingsten, Weihnacht und Fastnacht 
statt, erinnern also an Opferschmäuse. Der Züricher Bächtelitag, 
der besonders von den Zünften durch Gelage gefeiert wurde 
(2. Januar), gemahnt an Berchta. 3 ) In Großstrehlitz 4 ) hielten noch 
um 1860 die Webermeister zu Fastnacht ihren Malzbiertrunk, 
während die Gesellen am nächsten Tage ihr Fest hatten. Auch 
in Hildesheim 6 ) veranstalteten die Leineweber gesellige Zusammen¬ 
künfte zu Fastnacht und zur Maizeit. 1506 zogen die Knochenhauer 
daselbst mit Musik vors Tor hinaus, wie es sich zu einem richtigen 
Maifest geziemte. 

Ein eigenartiges zünftisches Maifest scheint in den Städten 
des Elstertales gefeiert worden zu sein 6 ), „der Pfingstquaas“, der 
an ein Fest der Annaberger Bergleute, den Quaß, erinnert. 7 ) Die 
Zünfte im Elstertale feierten ihr Fest zu Fronleichnam, in Zeitz 
1560 an zwei Tagen. Dabei tranken die Pegauer Lohgerber sechs 
Faß Bier oder die Zeitzer Bier und i 1 /« Eimer Wein. Offenbar ist 
es ein Fest der Meister gewesen, denn in Kahla kommt die Wen¬ 
dung vor: „So die meistere in quassen bei einander sein werden ...“ 
Ferner kehrt der Ausdruck „quässereyen“ wieder in Verordnungen 


*) Hegel I, S. 219; vgl. I, S. 338. *) Schade S. 251. 

*) Zeitschr. f. d. deutschen Unterricht 13, S. 838/39 u. 14, S. 551. 

*) E. Krawczynski, Großstrehlitzer Handwerkerinnungen, Programm 
Großstrehlitz 1909 u. 1910, S. 14. 

®) Hartmann S. 68 

6 ) Rud. Lobe, Z. Gesch. d. deutschen Zunftwesens, Mitteil, des Ge- 
schichts- und Altertumsvereins Eisenberg, S.-A., 19. Heft (1904)» S. 28. 

7 ) W. Mannhardt, Wald- u. Feldkulte, 2. Aufl., 1904, I, S. 336. 
Vgl. auch Grimm, Wb. unter Quaß. 


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7 2 Siegfried Sieber 

Georgs des Bärtigen 1524 für die Rochlitzer Handwerker 1 ): sie 
sollten nicht Geld auf Vorrat sammeln und „in Quässereyen ver- 
tzeren.“ 

Unter den Zünften in Zofingen (Aargau)*), die 1484 einen 
großen Maiumzug veranstalteten, war eine Schützenzunft, zu der 
Müller, Pfister, Schreiner, Glaser und verwandte Gewerbe gehörten. 
Diese Zunft hielt Schützenfeste ab, wobei der Preis aus einem Paar 
Hosen bestand. In Kolberg 8 ) hielten die Zünfte festliche Umzüge 
und stellten zum Schützenfest Meisterfrauen als Schaffnerinnen. 
Bei den Stettiner Zünften 4 ) galt das Maigrafenfest als wichtigstes 
ihrer „Hoygen“. Man erkor bei den Tischlern einen Maigrafen 
und eine Maigräfin, die jedes „dem samenden wercke vier gro- 
schen“ spenden mußten. Die Schneider daselbst hatten im Gegen¬ 
satz zum Pfingstbier der Tischler ihren „Mertenswein“, ähnlich 
wie die Schneider zu Warburg 6 ) im Herbst am „Roten Montag“ 
nach Michaelis ein Fest hatten. Vielfach wurden die Zunftfeste 
am Tage des jeweiligen Schutzpatrons begangen, eine Erscheinung, 
die natürlich den starken kirchlichen Einfluß beweist und eine 
Vernachlässigung der altheidnischen Festzeiten zugunsten der 
neuen Jahrtage bedeutet. So rüsteten die Barbiere in Lübeck 
(Statuten von 1480)*) nicht nur zu Weihnacht, sondern auch am 
Tage Kosmas und Damian für Männer und Frauen ihrer Bruder¬ 
schaft Mahlzeiten. In Fulda 7 ) fiel das Zunftfest der Schuster auf 
St.Michael, das der Leineweber auf Petri Stuhlfeier, das der Schreiner 
auf Kreuzerfindung, doch das derWollweber auf den uralten Festtag 
Dreikönig. Die Schneider gar zechten zweimal, zu Michaelis und 
Corpus Christi, was der Rat 1631 verbot. Die Hamburger Wand- 


*) Paul Lorenz, Die Gesch. d. Rochlitzer Tuchmacherhandwerks, Leip¬ 
ziger Diss. 1906, S. 35. 

*) Franz Zimmerlin, Die Zünfte der Stadt Zofingen, Argovia33 (1909), 
S. 21 u. 34 fr. 

*) H. Riemann, Gesch. d. Stadt Kolberg, 1873, S. 105 u. 107. 

4 ) Blümcke S. 195 u. 239. 

*) A. Mönks, Die gewerblichen Verbände der Stadt Warburg, Mün- 
stersche Diss. 1908. 

*) Wehrmann, Die älteren Lübeck. Zunftrollen (1864), S. 164. 

7 ) Jos. Hohmann, Das Zunftwesen d. Stadt Fulda, Münstersche Diss. 
1909, S. 118 u. 122. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 


73 


Schneider 1 ) feierten ihre Höge alljährlich Sonntag nach Johannis. 
Alle Mitglieder nebst Frauen mußten bei Strafe einer Tonne Bier 
erscheinen. Die Leipziger Kürschner 2 ) schmausten Montag und 
Dienstag nach Dreikönig im Hause eines Meisters. In Bern 8 ) gab 
es Zunftschmäuse zu Weihnachten, Neujahr, Aschermittwoch, 
Ostern und Johannis, dazu besondere Fastnachtsvergnügungen. Je¬ 
dem Mahl ging eine Weinprobe voraus, und ein Pudris (Nachfeier 
mit aufgewärmten Resten) folgte. In Eger 4 ) waren überall Zunft¬ 
mahlzeiten gebräuchlich, ganz besonders feierten aber die Schmiede 
und Wagner den „Gloytag“, den Tag ihres Zunftheiligen Eligius. 
Durchaus modernen Verhältnissen nähert sich die Gepflogenheit 
der Iglauer Zünfte 6 ) (18. Jahrh.), aus Anlaß des Geburtstages des 
Kaisers ein Fest zu feiern. 

Ein höchst ergötzliches Kulturbildchen von deutscher Zunft¬ 
geselligkeit hat Crull 6 ) aus den Rechnungsbüchern der Rostocker 
Fischer von 1496—1560 mosaikartig zusammengefügt. Diese 
nicht eben reiche Innung besaß einen Krug oder Schütting, in 
dem sie ihre Feste abhielt und auch sonst die Geselligkeit pflegte, 
z.B. Kegel- und Brettspiele zur Verfügung stellte, später auch Spiel¬ 
karten. Zwei Schaffer wurden alljährlich Mittwoch nach Pfingsten 
gewählt. Sie und später die „Bauherren“ hatten die Aufsicht über 
den Schütting und die Sorge für die Feste. Das erste derselben fand 
am Tag vor Johannis statt und hieß bis 1560 „bei dem Nothfeuer“. 
Das ist höchst beachtlich, denn es kennzeichnet die Stellung der 
Zünfte als Erhalter heidnischer Sitten. Notfeuer und Johannisfeuer 
sind übrigens hier eins geworden. 7 ) Aufgetischt wurden Fische, 

*) Otto Rüdiger, Die ältesten Hamburgischen Zunftrollen u. Bruder¬ 
schaftsstatuten, Hamburg 1874, S. 297. 

*) G. Berlit, Leipziger Innungsordnungen a. d. 15. Jahrh., Programm d. 
Nikolaigymn., Leipzig 1886, S. 27. 

*) Zesiger S. 149 u. 154. 

4 ) Karl Siegl, Die Egerer Zunftordnungen, Prag 1909, S. 19. 

®) Franz Ruby, Das Iglauer Handwerk, 1887, S. 55. Vgl. Paul Piger, 
Handwerksbrauch in der Iglauer Sprachinsel, Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 2 
(1892), S. 272ff., 382fr. 

') Friedrich Crull, Der Schütting und die Festlichkeiten des Amtes 
der Bruchfischer, Beiträge z. Gesch. d. Stadt Rostock I (1890), Heft 3, 
S. 93—108. 

*) Vgl. Mogk, Altgermanische Kultfeuer, Mitteil. d.Ver. f. sächs. Volksk. V, 
S. 107—ro. 


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74 


Siegfried Sieber 


(Hering, Lachs) oder Lammbraten. Dazu gab es Bier. Das zweite 
Fest fand statt zu Peter und Paul. Da erfolgte Rechnungslegung; 
Wahl und geselliges Beisammensein schlossen sich an. Haupt¬ 
festtag war der in Niederdeutschland vielfach gefeierte Pantaleons¬ 
tag (28. Juli); auch an diesem gab es verschiedene Braten, als 
Hauptgericht einen am Spieß gebratenen Schwan, dazu Brot, 
Butter, Käse sowie drei bis vier Tonnen Bier. Im Herbst kamen 
bisweilen die „Weddeherren“ in den Schütting und wurden in 
einer „Herrenköste“ bewirtet. Gelage fanden weiter statt zu Neu¬ 
jahr und Fastnacht. Einmal wurde zu Fastnacht sogar ein Spruch¬ 
dichter (rymer) bestellt, und mehrfach sind Spielleute bezahlt wor¬ 
den. Zu Pfingsten wurden auch die Frauen eingeladen, der Schüt¬ 
ting ward mit Maien geschmückt und im Garten eine Ruhebank 
errichtet. Vier bis sechs Tonnen Bier mußten in wenig Tagen ver¬ 
tilgt werden. 

Neben dieser Schilderung Crulls zeigen sich unsere sonstigen 
Aufzeichnungen wortkarg. Die Leipziger Handwerker 1 ) begnügten 
sich auf ihren Innungsfesten im Sommer oder Winter mit einem 
„gemeinen Bier“, wogegen in Schlettstadt 2 ) die Zünfte von 
der Stadt Gänse und Wein für ihre Feste bekamen und in Bern 3 ) 
häufig vom Rat Weinschenkungen an die Zünfte erfolgten. In 
Soest 4 ) erhielten die Gewerksgenossenschaften zu ihren Gelagen 
Wenigstens das Bier akzisefrei. 

Die Hamburger Wollenweber 5 ) brachten sich Birnen, Äpfel, 
Nüsse mit auf die Morgensprache, warfen wohl gar damit, bis 
ihnen dieser Unfug ebenso wie Würfeln, Kartenspielen und „Toback- 
trinken“ verboten ward. Die Bäcker in Warburg 6 ) ließen schon 
14 Tage vor ihrem Schmaus Bier und Kost durch ihre „Dechen“ 
einkaufen, die auch noch, ähnlich wie Nachbar- und Gildemeister, 
ihre Wohnung zur Verfügung stellen mußten. Übrigens feierten 
bei ihnen auch die Meisterinnen die Aufnahme einer neuen Schwe¬ 
ster, wobei es Kuchen gab. 

Der Eintritt eines neuen Meisters gab erst recht den Männern 
Gelegenheit zum Zechen. So mußte jeder Neuling in Olden- 

*) Wustmann, Aus Leipzigs Vergangenheit III (1909), S. 34. 

*) Geny S. 1114. *) Zesiger S. 68. *) Hegel II, S. 387. 

6 ) Rüdiger S. 312. 6 ) Mönks S. 36 u. 37. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 


75 


bürg 1 ) sowohl beim Ansuchen um Aufnahme in die Zunft eine 
„escheltonne“ spendieren, als auch später Bier und Eßwaren an¬ 
statt der Aufnahmegebühren, Ähnlich hatte bei den Hökern 
in Hameln 2 ) der Neuling die Gildschaft, d. h. die Verpflichtung, 
das jährliche Fest = Gilde auszurüsten. War keiner eingetreten, 
so ging die Gildschaft reihum ebenso wie das Brauen des Amts¬ 
bieres zu den Oldenburger Morgensprachen. 3 ) An den Pflichttagen 
der Gilden zu Lünen 4 ) fanden Feste mit Freibier statt; letzteres 
ward von den Neulingen gespendet. Das Meisteressen beim Berlin- 
Kölnischen Schustergewerk 6 ) dauerte einen Tag. Der Jungmeister 
hatte an diesem sämtliche Meister nebst Weibern und Kindern 
mit Hühnerfleisch und anderen Leckerbissen zu bewirten, zwei 
Tonnen Bier, zwei Pfund Wachs sowie Geld zu geben. Die Auf¬ 
nahmegebühren, oder mindestens ein Teil davon, wurden wohl 
meist zu Gelagen verwendet. 6 ) Denn oft werden sie ja, ebenso 
wie die Bußen, in Bier oder Wein angesetzt, z. B. in Basel im 
13. Jahrhundert. 7 ) Später waren die Meister so begehrlich, sogar 
von den Lehrlingen fürs Lossprechen ein Gelage oder Essen zu 
verlangen, so die Dippoldiswaldaer Schneider 8 ) eine Tonne Bier 
und einen Taler zur Mahlzeit und ähnlich die Öderaner Tuchscherer 
und Freiberger Kandelgießer. 

Durchaus an nachbarliche Verhältnisse gemahnt die Bewirtung 
der Zunftgenossen 9 ) bei Kindtaufen, Hochzeiten, Begräbnissen, 
wogegen 1612 ein Luxusverbot des Kurfürsten Johann Georg von 
Sachsen nötig ward, ferner die Brautsuppe und das Brömelbier, 
das einer spenden muß, wenn er innerhalb eines Jahres nach seiner 
Meisterwerdung nicht geheiratet hat. 

Die Zechordnungen lassen sich auch weiter verfolgen bis in die 


*) Hemmen S. 234. 

*) Keutgen S. 214. *) Hemmen S. 250. 

4 ) F. Nigge, Die alten Gilden der Stadt Lünen, Münster 1912, S. 36. 
*) Ferdinand Meyer, Das Berliner Schuhmachergewerk, 1884, S. 53. 
*) Hans Stromeyer, Die Gesch. der badischen Fischerzünfte, Heidel¬ 
berg. Volkswirtsch. Abhandl. I, 3 (1910), S. 21. 

7 ) G. Croon, Zur Entstehung d. Zunftwesens, Marburger Diss. 1901, 
S. 49. 

*) K. Knebel, Handwerksbräuche, Mitteil. d. Freiberger Altertumsver. 
22, S. 28. 

•) H. A. Berlepsch, Chronik d. Gewerbe, St. Gallen o. J., I, S. 85 u. 93. 


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76 


Siegfried Sieber 


Meistersingerschulen 1 ), die hin und wieder vielleicht sich eng an 
eine Zunft anschlossen 2 ), vielfach aber Handwerker aller Gattun¬ 
gen umfaßten und damit wieder einen Beweis liefern, daß mittel¬ 
alterliche Vereine ihre Angehörigen durchaus nicht in ihrem ganzen 
Menschen ergriffen. 

Neben der Mahlgeselligkeit tritt die Leichenfolge aufs stärkste bei 
den Zünften hervor. Fast überall wird sie ausdrücklich zur Pflicht ge¬ 
macht. Die Leiche des Genossen wurde von den „vier nechsten Zunft- 
briudern“, die bei ihm gesessen, hinausgetragen (Zürich, Zimmer¬ 
leute) 3 ) oder auch von den vier jüngsten Meistern, bei den Stra߬ 
burger Fischern sogar von acht Männern. 4 ) Die Zünfte besaßen 
zum Begräbnis eigene Leichentücher 6 ), stifteten wohl auch Zitro¬ 
nen, die entweder gegen Ansteckung schützen oder den Leichen¬ 
geruch abwehren sollten.*) Nach der Bestattung wurden Toten- 
mähler abgehalten, in Riga 7 ) die „Drünke“. In Bern bewahrte 
man sogar eine uralte Sitte: man ging (tanzte?) am Begräbnistage 
nach dem Imbiß über die Gräber (1370 verboten). 8 ) Dann fanden 
noch Seelenmessen für den Zunftgenossen statt, und Totenlichter 
wurden von der Zunft gestiftet. Am Jahrestag teilte man schlie߬ 
lich noch „Seelensemmeln“ aus, z. B. bei den Flößern in München 
und Gärtnern in Straßburg. 9 ) Auf diese Weise kamen die Zünfte von 
der einfachsten Totenfürsorge unter dem Einfluß der Geistlichen 
und Mönche zur Erweiterung ihrer kirchlichen Pflichten, denen 
sie sich oft als besonders organisierte Bruderschaften unterzogen. 
Die Baseler Zünfte 10 ) sorgten für Lichter im Münster, sie schafften 

*) F. W. E. Roth, Z. Gesch. d. Meistersinger zu Mainz und Nürnberg, 
Zeitschr. f. Kulturgesch. N. F. III (1896), S. 271. 

*) Heinrich Schreiber, Gesch. d. Stadt Freiburg i. B., 1857, III, 
S. 170. 

*) Ottmar Fecht, Die Gewerbe d. Stadt Zürich im MA., Freiburger 
Diss. 1909, S. 84. 

*) Stromeyer S.31. 

8 ) Zesiger S. 155. Herrn. Schloemer, Z. Gesch. d. Gilden in Einbeck, 
Hannoversche Geschbll. 4 (1901), S. 499. 

•) A. F. Lingke, Die Schuhmacherinnung zu Dresden, 1901, S. 51. 

’) Stieda und Mettig S. 110. *) Zesiger S. 149. 

*) M. Höfler, Allerseelengebäcke, Zeitschr. f.österr.Volksk. XIII (1907), 
S.79. 

1# ) Croon S. 44 u. 46. 


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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 77 

sich besondere Kirchenfahnen 1 * * ) an mit dem Bilde ihres Schutz¬ 
heiligen, trugen diese sowie Kerzenstangen bei den Passionen mit, 
wohl auch, wie in Wien 4 ), „schöne geschnitzte Bilder“, offenbar 
Heiligenstatuen, bildeten überhaupt nächst den Mönchsorden den 
Kern einer jeden Fronleichnamsprozession sowie der Feldprozes¬ 
sionen der Stadtgemeinde. 8 ) In der Schweiz 4 ) zogen sie auch den 
hölzernen Palmesel durch die Straßen; ebenso taten in Fulda die 
Wollenweber. 6 ) In einzelnen Städten sind die Prozessionen zu 
ganzen Passionsspielen ausgebildet worden, und überall haben die 
Zünfte, besonders aber die Gesellen den Löwenanteil. 

Die Untersuchung hat ergeben, daß Nachbarschaften, Gilden 
und Zünfte aus der gleichen Wurzel erwachsen sind. Nicht, daß 
ich behaupten möchte, sie seien auf dieser Stufenleiter emporge¬ 
kommen, oder auch nur, sie seien überall so erwachsen; denn ge¬ 
rade bei später Ausbildung einer Zunft hat das Vorbild schon vor¬ 
handener Gilden und Zünfte ganz bedeutenden Einfluß geübt. 
Es soll nur daran festgehalten werden, daß die allgemeine Grund¬ 
lage aller drei Gebilde die Geselligkeit ist, wie sie in Leichenfolge 
und Schmaus ihre primitivsten Kennzeichen hat. Mit meiner Hypo¬ 
these fallen die Bedenken der Wirtschaftshistoriker, daß zwischen 
den fränkischen Gilden und den späteren Gilden sowie Zünften ein 
zu großer Abstand sei. Ihre Ansicht, das Gesellschaftliche sei nur se¬ 
kundär zur gewerblichen Zweckgemeinschaft hinzugekommen, ist 
zurückgewiesen worden. Wenn sie glauben, in der stärkeren Hervor¬ 
hebung des Geselligen in Urkunden einen Maßstab für das Anwach¬ 
sen der Geselligkeit zu finden, so sind sie völlig im Irrtum. Denn wie 
aus Volkskunde und Völkerkunde klar hervorgeht, ist das gesellige 
Bedürfnis und die gesellige Betätigung gerade bei einfachen Kultur¬ 
zuständen außerordentlich stark, zumal dann meist noch reli¬ 
giöse Vorstellungen und Gebräuche damit verknüpft sind. 


1 ) G6ny S. 1117. P. Dittrich, Einiges über Handwerksgebräuche, Mit¬ 
teil. d. Schles. Ges. f. Volksk. 20, S. 115. 

*) Vulpius, Kuriositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen 
Vor- und Mitwelt, 1811—1823, I, S. 35. 

*) Scharold, Beiträge zur Chronik von Würzburg, 1821, I, S. 160/61. 
Schulte, Die Andemacher Schmiedezunft, Annalen d. hist. Ver. f. d. Nieder¬ 
rhein 88, S. 103. 

4 ) Schweiz. Idiotikon I, S. 520. 6 ) Hohmann S. 118. 


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78 Siegfried Sieber — Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 

Nachbarschaft, Gilde und Zunft sind in der Hauptsache Ver¬ 
eine der verheirateten Männer. Nur an wenigen Stellen, z. B. in 
Patriziergesellschaften und Trinkstuben, sind wir den jungen Män¬ 
nern begegnet, was auf Verwischung der einst strengen Scheide¬ 
grenze zwischen Ehemännern und Junggesellen zurückzuführen 
ist. Das rechte Licht in diese Verhältnisse kann vielleicht die von 
mir geplante Untersuchung über die Junggesellenvereine bringen. 

Nachschrift: Nach Erscheinen des ersten Teiles macht mich Herr 
Dr. Wolfart (Lindau) aufmerksam auf: Blesch, Die Überlinger Nachbar¬ 
schaften, Schriften d. Ver. f. Gesch. d. Bodensees 1909. — Leider kam 
mir erst jetzt zu Gesicht: G. v. Below, Die Motive der Zunftbildung im 
deutschen Mittelalter, Hist. Zeitschr. 109, S. 23—48. 


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DER LOBETANZ. 

VON ALFRED MEICHE. 


„Mein Vater hieß, ich weiß nicht wie. 
Meine Mutter verlor den Myrtenkranz, 
Meine Mutter, die herzliebe Frau, die 
Nannte mich Lobetanz.“ 

O. J. Bierbaum. 

Als Otto Julius Bierbaum 1895 sein Märchen „Lobetanz“ 
erscheinen ließ 1 ), da mag der Titel wohl manchem Ohre fremd 
geklungen haben. Denn zum Lobetanze schreitet man heute nur 
noch an wenigen Orten Deutschlands, und auch Volkskunde 
und Sprachwissenschaft haben sich nicht gerade viel mit ihm 
beschäftigt. Zahlreiche Belege des Wortes bot bisher nur M. 
Heyne im D. Wb., Bd. VI (1885), Sp. 1084L Dann brachten 
mein „Sagenbuch der sächsischen Schweiz“, Leipzig 1894, S. 118, 
137, und ein Aufsatz von Markgraf in den „Mitteilungen des Ver¬ 
eins für Sächs. Volkskunde“, 1908, Heft 9, S. 309—311, einige 
Ergänzungen. Endlich hat M. Klinkenborg in den Geschichts¬ 
blättern f. Stadt und Land Magdeburg, 1908, S.403—409, einige 
Aktenstücke veröffentlicht, die über die Form des Lobetanzes 
im Anfang des 18. Jahrhunderts manches Interessante bieten. So¬ 
weit an den genannten Stellen Deutungsversuche unternommen 
worden sind, können sie nicht als abschließend gelten. 

Wahrscheinlich ist der Lobetanz ein uralter Brauch. Geiler 
von Kaisersberg (geb. 1445) sagt in einer seiner Predigten gegen das 
unzüchtige Tanzen: „Deßgleichen bringt man so vil täntze auff 
die ban, die vor nie in brauch sein gewesen,, das sich nicht genug 
darob zu verwundern ist. Als da ist: der schäffer tantz, der bawren 
tantz, der welsch tantz, der edelleuten tantz, der Studenten tantz, 
keßler tantz, bettler tantz und in summa, wenn ich sie all wolt 
erzeilen, hett ich woll ein gantze Wochen genug zu schaffen.“ 
(Vgl. Schultz, Deutsches Leben, Wien 1892, II, S. 491.) Daß 
der Lobetanz unter den summarisch erwähnten neuen Tänzen 
stecke, ist darum nicht anzunehmen, weil er gerade zu jener Zeit 

*) Die prächtige Musik zu dem gleichnamigen Bühnenspiel stammt 
von Ludwig Thuille. 


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80 Alfred Meiche 

weit verbreitet ist und ob der mit ihm verbundenen Unziemlichkeit 
hart angefeindet wird. Er scheint also damals nicht erst aufgekom¬ 
men zu sein. Aber auch in anderen Aufzählungen mittelalterlicher 
Bauerntänze wird seiner nicht gedacht. Uns begegnen die Namen: 
Firlei, Firlefei, Folafranz, Firgamdrey, Govenanz, Ridewanz, 
Sulawranz, Adelswank, Schwingewurz, Mürmum, Ahsel, Hou- 
betschoten, Heierlei, Hoppeidei, Troialdei, Wänaldei, Treiros, 
Bözult, Drauraran, Trümmekentanz, Springei- oder Langetanz, 
Gimpelgampel u. a. m. (Vgl. Bartels, Der Bauer in der deutschen 
Vergangenheit, Leipzig 1900, S. 70, und Schultz, Höfisches 
Leben, I, S, 548.) Der „Lobetanz“ ist nicht unter ihnen. 

Man kann wohl auf den Gedanken kommen, das Wort be¬ 
zeichne nicht eine Art, sondern eine Gattung von Tänzen. 

Die älteste Erwähnung hat sich bislang in dem mhd. Gedicht 
von der „Erlösung“ gefunden (ed. K. Bartsch, Quedlinburg u. 
Leipzig 1858). Es heißt dort (v. 4164—4170), wo von der Hoch¬ 
zeit des Herodes mit dem Weibe seines Bruders die Rede ist: 

,, dö häte Herödes Wirtschaft 
mit löten vil in ganzer craft 
unz daz die höchzit wurde ganz, 
sa höp sich ein lobedanz. 

Herödes dohter drat dä hin, 
sie danzte unde wiherte in, 
daz es die geste dühte güt." 

Das Gedicht ist nur in einer Hdschr. des 14. Jahrhunderts er¬ 
halten, muß aber nach Ansicht des Herausgebers (Einleitung, 
S. VII) spätestens in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden 
sein. Als Heimat des Dichters wird Hessen angenommen. 

Schon ins 14. Jahrhundert gehört dann die Belegstelle bei Hein¬ 
rich von Mugelin (gedr. in Pfeiffers Germania, V, S. 288). Sie lautet: 

„ich pin ein herre groz ob allen tieren (sagt der Ochse), 
und het ich einen grözen, witen lobetanz, 
daran nem ich ein ungefügen umbeswanz. 
wan min gestalt, die mus sich grözlich zieren.“ 

Daraus ersieht man, daß der Lobetanz (wofür auch noch andere 
Nachrichten sprechen) ein Tanzreigen mit Umzug war. Heinrich 
von Mügeln entstammte einem meißnischen Geschlechte und 
dichtete längere Zeit am Hofe Karls IV. (1346—1378) in Prag. 
(Siehe Vogt in Pauls Grundriß der germ. Philol. 2 , II, 1, S. 313.) 


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Der Lobetanz 


81 


Also haben wir hier zugleich einen Beleg für die Kenntnis des 
Brauches in Böhmen und Meißen. 

Und in Meißen und seinen Nachbarländern ist denn auch der 
Lobetanz vorzugsweise gepflegt worden, wie schon das D. Wb. 
andeutet und fast alle weiteren Belege dartun. Auf rein ober* 
deutschem oder niederdeutschem Sprachboden ist das Wort bisher 
kaum bezeugt. Nur die Stelle: 

„ein ameiz hät sich schone bereit 

wol in der eren kranz; 

si wil sich zieren an dem lobetanz“ 

aus den Meisterliedern der Kolmarer Hdschr. (ed. Bartsch, Stutt* 
gart 1862, Bd. 68 der Bibliothek d. Liter. Vereins), Nr. 90, V. 61 ff. 
ist ihrem Ursprünge nach zweifelhaft. Wenn man (was Bartsch 
a. a. O., S. 186, freilich bestreitet) Heinrich Frauenlob, der um 
1250 zu Meißen geboren wurde (f 1318), einen Anteil an dem Ent¬ 
stehen der Liedersammlung, die nur in einer Abschrift aus dem 
15. Jahrhundert vorliegt, zuschreiben dürfte, so würde vielleicht 
auch dieser Beleg für Lobetanz auf obersächsische Heimat 
weisen. 

Für das Alter des Lobetanzes in Meißen spricht wohl auch 
der Umstand, daß er hier schon frühzeitig als Familienname be¬ 
gegnet. Schon 1362 und 1368 erscheint Henel Lobetanz als Ge¬ 
schworener (Ratsherr) zu Freiberg (Cod. dipl. Sax. reg., II, 12, 
S. 83, 334); seine Nachkommen hausen dort noch im 16. Jahr¬ 
hundert (a. a. O. S. 392). Der Brauch selbst ist aus dem 14. und 
15. Jahrhundert mehrfach bezeugt. In einer Urkunde des Mark¬ 
grafen Wilhelm von Meißen (dat. 3. Juli 1400) heißt es: ,,alz 
bisher eine gewonheit gewest ist, daz man undir den lynden bie 
dem dorffe czu Russin (Rüsseina) in der pflege zcu Missin an 
der mittewochin nach pfingistin czu lobetenczin wyn, bir adir 
mete geschangkit hat ane loube vnd gunst der lehenherren des- 
selbin dorffis Russin.“ Nur bis dahin wird der Urkundentext 
in den Wörterbüchern meist wiedergegeben. Aber er ist auch in 
seinem zweiten Teile interessant. Der Markgraf bestätigt nämlich 
mit dieser Gewohnheit zugleich das alte Herkommen, „daz ein 
itzlichir, der da so schengken wolde, welchirleye trang er schengkte, 
den geburen daselbis vor ire Unlust vnd schaden, das man ire 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 6 


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Alfred Meiche 


82 

zcune czurist (Zäune zerreißt), iren anger czugrebt (zerwühlt) 
vnd ir getrehede trettet (Getreide zertritt), eynn trage Eimer, 
alz uff den dorffern gewonlichin ist, bir, wyns adir mete gegebin 
hat vnde gebin solde“. (Hauptstaatsarchiv Dresden, Orig.-Urk. 
Dep. Cap. Misn. Nr. 548.) — Zum Jahre 1458 wird der Lobetanz 
in Lobstädt (Amtshauptmannschaft Borna) erwähnt. Er fand am 
Himmelfahrtstage statt und hatte Zulauf aus der ganzen Umgebung. 
Ein Blitz schlug damals in einen Haufen Heimkehrender, ver¬ 
letzte mehrere Personen und tötete einen Mann aus der nahen 
Stadt Borna. (Neue Sächs. Kirchengalerie, Die Ephorie Borna, 
Leipzig, Sp. 667.) — Aus dem Geständnis eines Straßenplackers 
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erfahren wir, daß 
der Lobetanz auch zu Moritz (Amtshauptmannschaft Großenhain) 
üblich war. Die Aussage lautet: ,,Item vf sonntag noch Marga¬ 
rethe (d. i. Juli 13.) so wird kermeß adder lobetantz zcu Merticz 
an der Elbe, do die fer (Fähre) vbere geet, do werden sy (d. h. 
seine Spießgesellen) alle zcusamen komen.“ (H.-St.-A. Dresden, 
W. A. Fehde- vnnde gefangenn-buche, Bl. 53 b.) 

Auch in den meißnischen Städten wurde der „Lobetanz“ ge¬ 
übt. So enthalten die Dresdner Stadtrechnungen zum Jahre 1412 
folgenden Eintrag: „feria sexta post Penthecost den fedelern 
viij gr., die zcu dem labetancze fediltin.“ (Ratsarchiv Dresden, 
Kämmerei- und Geschoßrechnungen, 1410—1420, A. XVb, 2, 
Bl. 112b.) 1 ) Ebenso gab man in Pirna noch zu Ausgang des 15. 
Jahrhunderts im Juni alljährlich den Edelleuten Wein und Bier 
„zum Lobetanz“ auf dem Rathause. (R. Hofmann im N. Archiv 
f. Sächs. Gesch., Bd. IX, S. 200, und bei Dibelius-Brieger, Bei¬ 
träge zur Sächsischen Kirchengesch., Heft 8, Leipzig 1893, 

S. 32.) 

Fränkischen Ursprunges sind wohl die Fastnachtsspiele aus 
dem 15. Jahrhundert, in denen der Lobetanz vor kommt. Im 
sog. „Neithartspiel“ spricht ein Bauer zu den Jungfrauen der 
Herzogin von Österreich, denen er beim Tanze gegenübersteht: 

„Mir haben wol vor dreizehen 

Disen lobtanz her genomen“ 


l ) Nach gütiger Mitteilung von Oberlehrer Dr. Pilk, Dresden. 


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Der Lobetanz 


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(Fastnachtsspiele aus dem 15. Jahrhundert, Stuttgart 1853, Teil I, 
S. 459, 24), und in dem ,,spil von Fraw Jütten“ heißt es: 

„Nu kompt her aus holze und aus felden. 

Eher, denn ich euch begin zu scheiden, 

Alle meine liebe hellekint 
Die mit mir in der helle sint, 

Krenzelin und Fedderwisch, 

Darzu Nottis, ein teufel frisch, 

Astrott und Spiegelglanz, 

Und machet mir ein lobetanz!“ 

(Ebda. Teil II, S. 910, iof.) 

Auch die drei Vokabularien des 15, bzw. 16. Jahrhunderts, 
aus denen Diefenbach, Glossarium latino-germanicum, Francof. 
ad. M. 1857, die Formen lob-, lobentantz (-danz) = coraula? „Tanz¬ 
lied“ beibringt, scheinen auf Franken (Frankfurt, Nürnberg) zu 
weisen. (Siehe Diefenbach, a. a. O., Quellenverzeichnis.) 

Um die Wende des 15. Jahrhunderts beginnt der Kampf gegen 
den Lobetanz. Wenn Cyriakus Spangenberg in seinem „Ehe¬ 
spiegel“, Straßburg 1578, (in Scheibles Kloster, 6) noch sagt: 
„unsere Vorfahren haben solche öffentliche täntze auch darumb 
gehalten, damit ihre kinder von den nachbauern mochten gesehen 
werden, ehestiftungen fürzunehmen, daher in Meiszen und anders¬ 
wo jährlich zu gewissen tagen jetzt auf diesem, dann auf dem an¬ 
dern dorf, durch der oberkeit Verordnung die lobetänze gehalten 
werden“, so schildert der Verfasser beinahe vergangene Zeiten. 
Denn mindestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts förderte 
gerade in Sachsen die Behörde jene Tänze durchaus nicht mehr, 
sondern schritt wiederholt gegen sie ein; und vor allen sind es 
die berufenen Hüter der neuen Lutherlehre, die bei ihren Kirchen¬ 
visitationen allerorten dagegen eifern. Freilich, wie gleich gesagt 
werden muß, oft ohne oder nur mit vorübergehendem Erfolg. 

Schon 1541 ward „der öffentliche Lobetanz (zu Döbeln) 
durch hohe Verordnung allhier untersaget; doch anno 1548 wieder 
erlaubet“. (Moerbitz, Chronica Doebelensia, Leißnig 1727, S. 176.) 
Im Jahre 1555 verfügen die Visitatoren: „Die Lobentenze zu 
Klotzschaw (Klotzsche bei Dresden) sollen of den pfungstdinstag 
gantz apgeschaft werden“ (H.-St.-A. Dresden, Loc. 1987, Visitat.- 
Buch d. Meißn. Kreises, 1555—56, Bl. 214b), und wohl auch 

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Alfred Reiche 


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gegen die Lobetänze, obwohl sie nicht ausdrücklich genannt wer* 
den, richten sich 1556 Ermahnungen derselben Visitatoren an die 
Bewohner von Mügeln bei Oschatz (Stammort der Familie Hein¬ 
richs v. Mügeln, der schon vom Lobetanze wußte), wo „alle Son- 
tage Im Sommer vor den birheusern vff den gassen unziemliche 
Tentze gehalten werden, daraus viel vntzucht vnnd Ergernusse 
herfliessen“, weshalb dem Rate und dem Amtmann befohlen 
wird, „solche ergerliche Tentze, welche auch vff den dorffern 
nicht sollen gestadtet werden,... gentzlich ernstlich abtzuschaffen“. 
(Ebda., Bl. 835.) 

Offenbar unter kirchlichem Einfluß erfolgte dann ein allge¬ 
meines Verbot. 

In der Generalverordnung vom 8. Mai 1557, Kapitel XVIII, 
Von denen Täntzen (Cod. Augusteus I, Sp. 693) heißt es: „Weil 
auch in denen Kretzschmarn hin und wieder auf denen Dörffern 
auf die Sonntage Lobe- und andere Täntze geleget worden, so 
aus denen umliegenden Dörffern durch Jungfrauen, junge Ge¬ 
sellen, Knechte und Mägde besuchet, und hierdurch besonders 
die allernothwendigsten und nützlichsten Predigten des Cate- 
chismi versäumt werden . . ., desgleichen [sie dabei] auch viel 
andere Unzucht und Leichtfertigkeit üben und mehrmals solche 
Täntze biß in die tiefste Nacht treiben, nachmals im Finstern 
heimgehen und auf dem Wege beyderseits wohl bezecht, unbe¬ 
dacht einiger Sünde oder Schande sich beysammen finden, schwä¬ 
chen oder schwängern oder auch härtiglich verwunden oder 
tödten . . ., [so werden] die ärgerlichen Lobe-Täntze, Bettler- 
Täntze, und was dergleichen an etzlichen Orten bißhero mehr 
ärgerliches gestattet worden seyn mag, . . . gäntzlich bey nam- 
haffter Pön verboten etc.“ 

Unter dem Eindruck dieses Mandats sagt Zedlers Universal- 
Lexicon, 18. Bd., Halle u. Leipzig 1738, (wo es ausführlich wieder¬ 
gegeben ist) in ungeschickter Definition: „Lobe-Tantz ist, wenn 
Knechte und Mägde einen weiten Weg miteinander bey nächt¬ 
licher Weile nicht ohne Verdacht der Unzucht vom Täntze heim¬ 
gehen.“ (Sp. 64.) 

Doch das Volk hing fest an seiner alten Gepflogenheit. Die 
Pfarrhöfe aber wurden von dem tanzlustigen Volke gemieden, 


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Der Lobetanz 


85 


wie man aus Peter Glaser, Gesindt-Teuffel, 1564, (hier zitiert 
nach der Ausgabe von 1598, Frankfurt a. M., S. 26, die mir allein 
zugänglich war) erfährt: „Darvmb pflegen die Mägde auff den 
Dörffern zu sagen, Ich mag nicht auff der Pfarre dienen, denn 
(da) darff einer weder zu Plane, das ist vber Felde zun Lobetän¬ 
zen, noch in die Spinnstuben zum Rocken gehen.“ Dafür eifert 
denn auch unser Autor fast mit den Worten des kurfürstlichen 
Mandats gegen „Lobetänze“ und „Rockenstuben“ (S. 36). Da 
sich Peter Glaser als „Prediger zu Dresden“ bezeichnet, so hat er 
offenbar sächsische Verhältnisse im Auge. 

Zwischen 1578 und 1582 lesen wir besonders in den Visitations¬ 
berichten des Leipziger Kreises 1 ) von zahlreichen Ermahnungen, 
die „Lobtänze“ abzuschaffen; so von solchen in Altenhain bei 
Brandis, Burkhartshain und Fremdiswalde bei Wurzen, Köhra bei 
Grimma, Leulitz bei Wurzen, Mahlis bei Mügeln, Seelingstädt bei 
Trebsen, Seifertshain, Threna und Zweenfurth bei Grimma. 
Auch zu Eilenburg (Kreis Bitterfeld, Provinz Sachsen) wurden sie 
verboten. (H.-St.-A. Dresden, Locate 1989, 2000, 2002.) Zuweilen 
richtet sich der Tadel ganz allgemein gegen „unordentliche Täntze“, 
z. B. 1578 in Mägdeborn, Gern. Tanzberg, (Loc. 2002, Visit. Leipz. 
Kr. 1578, Bl. 24) oder gegen „Nachttentze“, z. B. 1579 in Hartha- 
Lauenhain b. Crimmitschau (Loc. 1998, Visit. d. Leipz. Kr., 1579, 
Bl. 156). Letztere lassen nach Ansicht der Leute „den Flachs 
gut geraten“. 

Unmittelbar auf den „Lobetanz“ weisen wieder die Verbote 
1575 in der Kirchfahrt Brockwitz bei Meißen, 1585 und 1595 
im Rittergutsbezirk Niederpolenz bei Meißen. Für Brockwitz 
lautet das Verbot: „Sonntagsdentz vnnd Lobedentz, so des 
Orts auch vleissig gehalten werden, sollen ganz und gar verbotten 
seyn etc.“ (Markgraf, a. a. O.) Wie unwirksam aber alle Ermah¬ 
nungen und Strafandrohungen von Kirche und Obrigkeit waren, 
zeigt der Umstand, daß im selben Polenz bei Meißen schon 1592 
der dortige Schankwirt vor dem Gemeindegericht rügen konnte, 
beim „Lobetanz“ habe eine Rauferei stattgefunden. (Ebenda.) 

Ganz allgemein ist 1578 wieder die Rede von „Nachttenzen 

*) Auszüge daraus wurden mir von Herrn cand. Paul Köhler aus 
Rochlitz freundlichst zur Verfügung gestellt. 


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86 Alfred Meiche 

mit großer Unzucht“ in Visitationsakten von Serkowitz, Otten- 
dorf und Okrilla (Amtshauptmannschaft Dresden-N.); ähnlich 
in denen von Glaubitz bei Riesa. (Pilk, Geschichtl. Nachrichten 
über Glaubitz, S. 82.) 

Auch in der sächsischen Oberlausitz wurde durch ein strenges 
Mandat gegen die Auswüchse der Tanzlust vorgegangen. In der 
„Landes - Ordnung gemeiner Stände des Marggrafthums Ober- 
Lausitz aufgerichtet .... d. 20. Nov. 1551“ (Cod. Augusteus III, 
Sp. 84) wird angeordnet: „Alle hochzeitliche und andere ehrliche 
und erlaubte Täntze, so aufm Rathhause oder sonsten in Häusern 
und anderswo geschehen, sollen sich um den Abend um 9 Uhr 
enden, und darbey das scheußliche Verdrehen und andere Unzucht 
gäntzlich verboten seyn etc. Aber die Lob- und Spinne-Täntze, 
desgleichen die 6 Wöcher-, Spinner- und Rocken-Gänge u. s. w. 
sollen hiermit allenthalben bei Vermeidung vermeldter Strafe 
eines Schock Geldes abgestallt sein.“ 

Doch auch hier blieb das Verbot ohne dauernde Wirkung. 1578 
rügen die Visitatoren: „Der Richter zu Bitzschwitz (Pietzsch¬ 
witz, Amtshauptmannschaft Bautzen) hatt diß Jhar etzliche 
Lobetenze gehaltenn“ (H.-St.-A. Dresden, Loc. 2004, Visitations¬ 
akten d. Consistorii Meißen, 1578, Bl. 228); ebenso wird 1579 in 
Göda (Amtshauptmannschaft Bautzen) über sie geklagt. (Loc. 
1999, Visit.-Akten Bischoffswerda, Bl. 23.) 

Unser Lobetanz ist auch der schlesischen Dichterschule nicht 
unbekannt. So singt ihr Oberhaupt Martin Opitz (1, S. 71): 

„Ihr Nymfen, windet Kränze, 

Hegt schöne Lobe-Tänze, 

Kompt kühnlich in den Wald: 

Singt, daß die Heid erschallt,“ 

und sein Dichtergenosse Paul Fleming, von Geburt allerdings 
ein Sachse (aus Hartenstein), in dem „Hochzeitsgedicht“ (ed. 
Lappenberg, I, S. 300): 

„Heute sind der Götter Scharen 
Ausspazieret allzumal, 

Haben sich verfügt bei Paaren 
In dem weiten Stemensaal. 

Pflocken Blumen, 

Winden Kränze. 

Führen liebe Lobetänze.“ 


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Der Lobetanz 


8 7 


Wiederum aus Sachsen stammt wohl jenes Lied, das zuerst L. Uh* 
land mit der Überschrift „Blumenhaus“ in seinen „Alten hoch* 
und niederdeutschen Volksliedern“, I. Abt., Stuttgart und Tübin¬ 
gen 1844, S. 70, veröffentlichte und dessen dritte Strophe (hier 
nach einer Ausgabe des „Sächsischen Bergliederbüchleins“ von 
A. Kopp, Leipzig 1906, S. 23, wiedergegeben) lautet: 

„Ich brach mir die Rößlein abe 
Zu einem Krantze; 

Ich schickt sie mein fein Lieb 
Zum Lobetanze." 

Die Quelle, jenes Bergliederbüchlein, scheint 1700/10 in Sachsen 
gedruckt worden zu sein. (Siehe Kopp, a. a. O., S. 4 u. 5.) 

Der „Lobetanz“ ist ferner aus dem deutschböhmischen Eger- 
gau belegt. Derselbe, „so jehrlich weynachten zu Treunitz (bei 
Eger) vor der Kirchen gehalten worden“, wird 1620 und 1628 
vom Rate zu Eger verboten. Auffällig ist hier vor allem die 
Zeit seiner Aufführung (A. John in den Mitt. d. Vereins f. Sächs. 
Volkskunde, 1908, Heft 10). Aus Hof in Franken berichtet uns 
Wilwolt von Schaumburg (Geschichten und Taten W.s v. Sch., 
herausg. v. A. v. Keller, Stuttgart 1859, Bibliothek d. Literar. 
Vereins in Stuttgart, S. 68) vom Lobetanze: „Man wais, wie 
jarlich uf sant Lorenzen (10. August) ein sonderlich tanz zum 
Hoff in der Voitland gehalten, zu wölichem vill hübscher frauen, 
junkfrauen und gueter gesellen kumen. Wilwolt füget sich auch 
dahin, den lobtanz zu schauen. Im wart ein tanz gegeben, und 
fingen die hofierer den zeiner an zu machen (d. h. wohl die Tanz¬ 
figuren zu flechten; vgl. auch Schmeller, Bayer. Wb., II, Sp. 1132). 
Wilwolt aber, der sich sein tag mer reuterei den tanzens geflißen, 
was der krumen denz nit ganz wol bericht.“ Der Verfasser ist 
anscheinend ein Franke. Er schloß sein Werk kurz nach Georgen¬ 
tag 1507. (A. a. O., S. 204.) 

Auch später noch kennt man den Lobetanz in Oberfranken. 
Ein bayreuthisches Mandat von 1712 nennt ihn in Verbindung 
mit anderen Lustbarkeiten: „Hochzeiten, Kindtaufen, Kirchmes- 
sen, Lobetänze und dergleichen Konvivien.“ (Schmeller, Bayer. 
Wb., I, Sp. 1417.) 

Hatte der Lobetanz dem ersten Ansturm sittlich empörter 
Kreise in der Reformationszeit widerstanden, so erhielt er sich trotz 


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Alfred Meiche 


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mehrfacher Wiederholung der behördlichen Verbote (das letzte 
soll in Sachsen 1839 erfolgt sein) vereinzelt selbst bis in die Gegen* 
wart, da er in der Zwischenzeit oft stillschweigend geduldet oder nur 
unter Aufsicht gestellt wurde. So fand ein solcher 1601 in Gott* 
scheina bei Taucha (Amtshauptmannschaft Leipzig) statt, wobei 
allerdings „Hader und Schlegerei vorgegangen“ (D. Wb., Bd.VI, 
Sp. 1085), und 1706 noch untersagten die Generalartikel des Amtes 
Torgau zwar nicht die Lobetänze, forderten aber, daß sie „nicht 
ohne des Amtes Vorwissen“ abgehalten würden (Markgraf, 
a. a. O.). Zwischen 1716 und 1724 wurde der Lobetanz (von 
einem erzürnten Seelsorger „des Teufels Tobetanz“ geheißen) zum 
„Johannisfest“ wieder zu tanzen versucht in Langenlippsdorf, 
Bocha, Borgisdorf und Neumarkt im Amte Jüterbog, also eben* 
falls auf obersächsischem Sprachboden (Dessau - Herzbergischer 
Dialekt). Wir erfahren dabei, daß -um jene Zeit Lobetänze noch 
in Oehna, Gölsdorf, Nauendorf und Seehausen im kursächsischen 
Amte Seyda und zu Melmsdorf im Amte Wittenberg abgehalten 
wurden (Magdeburg. Geschichtsblätter, 1908, S. 407). 

Ein kursächsisches Mandat vom IO. Juli 1650 (Cod. Aug. I, 
Sp. 429) führt aus, der Oberhof- und Feldtrompeter Hans Arnold 
habe sich beklagt, daß „dieThürmer und Haus-Leute, auch Gauck- 
ler und Comödianten, nicht nur die Trompeten, wie ihnen etwan 
dißfalls vergönnet, auf Thürmen sowohl bey Comödien und Gauckel- 
Spielen, sondern aller und ieder Orte, do es ihnen beliebet, fümem* 
lieh in Gelacken, Bürger- und Bauer-Hochzeiten, Kind-Tauffen, 
Jahrmärckten, Kirchmessen, Lobe-Täntzen u. dergleichen Con- 
vivien.mit allerhand Üppig- und Leichtfertigkeit ge¬ 

brauchen“. Es wird 1661 und 1711 wiederholt (H.-St.-A. Dresden, 
Loc, 11964, Mandate 171.1) und hat anscheinend dem schon an¬ 
geführten bayreuthischen Mandate von 1712 als Vorbild gedient. 

Erst nach den großen Umwälzungen an der Wende des 18. Jahr¬ 
hunderts scheint der Lobetanz an den meisten Orten Sachsens ab¬ 
gestorben zu sein. Ob es noch ein solcher war, den zu Anfang 
des 19. Jahrhunderts während der Kirmeszeit die jungen Leute 
„unter der Linde bei der Pfarrwohnung“ zu Grumbach (Amts¬ 
hauptmannschaft Meißen) abhielten (Schumann, Lexikon v. Sach¬ 
sen, 1816, Bd. III, S. 622), muß hier dahingestellt bleiben. 


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Der Lobetanz 


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Für unsere Tage verzeichnet ihn das Deutsche Wörterbuch 
1885 (Bd. VI, Sp. 1085) noch aus der Gegend von Roßwein (Amts¬ 
hauptmahnschaft Döbeln) als einen Rundtanz mit Solo bei Hoch¬ 
zeiten und Kindtaufen, und in Köhra bei Grimma findet er noch 
heute am zweiten Sonntag nach Pfingsten statt (Markgraf a. a. 0 .). 
Vor einem Menschenalter und früher soll er sich dadurch aus¬ 
gezeichnet haben, daß die Bauern aus der ganzen Umgegend 
zusammenströmten. Eine Frau von etwa 65 Jahren erzählte 
mir, daß sie in ihrer Jugendzeit von ihrem Geburtsorte Belgers¬ 
hain aus oft nach Köhra zum Lobetanz gegangen sei; dabei hätten 
die Mädchen, im Gegensatz zu anderen Tanzgelegenheiten, mit 
Vorliebe weiße Kleider getragen. 

Auch mir selbst ist der Lobetanz aus meiner Heimat, der sog. 
Sächsischen Schweiz, noch wohlbekannt. Dort, wo die einheimische 
Bevölkerung trotz der schon mehr als ein Jahrhundert dauernden 
Überflutung durch einen breiten Touristenstrom zäh an mancher 
alten Sitte, z. B. auch dem Johannisfeuer, festhält, nehmen die 
Lobetänze alljährlich 14 Tage nach Pfingsten ihren Anfang. Sie 
werden abwechselnd allerdings nur noch in einigen Dörfern auf 
dem linken Elbufer abgehalten, vornehmlich in Krippen, Klein¬ 
gießhübel, Kleinhennersdorf, Reinhardsdorf und Schöna (sämtlich 
in der Amtshauptmannschaft Pirna). Man bäckt Kuchen wie 
anderwärts zur Kirmes, hängt Wimpel und Fahnen aus und 
vergnügt sich am Abend bei freier Tanzmusik; früher aber wurde 
der „Lobetanz" den drei kirchlichen Hauptfesten gleichgestellt, 
wo nicht gar höher geachtet als diese. Bald danach findet der 
„Blumentanz“ statt, wozu die erwachsene Jugend den Saal des 
Erbgerichts oder Gasthofs mit Blumen und Girlanden schmückt, 
und etwa vier Wochen später, wenn „bluomen unde gras“ ver¬ 
trocknet sind, folgt der „Rascheltanz“ in dem herabgewelkten 
Laube. Die beiden letztgenannten Tänze pflegt man übrigens in 
fast allen Dörfern des Meißner Hochlandes, auch auf dem rechten 
Elbufer. (Vgl. mein Sagenbuch der Sächs. Schweiz, 1894, S. 118.) 

Und alljährlich läuft durch die Provinzpresse die Nachricht, 
daß der „Lobetanz“ ursprünglich ein „Lob- und Dank“-Fest 
zum Gedächtnis der Errettung aus schwerer Pestnot sei und darum 
richtiger „Lobedanz“ geschrieben werden müsse. (Vgl. auch 


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Alfred Meiche 


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Über Berg und Tal, Dresden 1893, S. 341; 1896, S. 279 und die 
Leipziger Zeitung vom 4. Juli 1889.) Da haben wir ein Muster¬ 
beispiel der Volksetymologie. Läge dem Lobetanze wirklich ein 
ähnliches Ereignis zugrunde, dann würde die Überlieferung über 
den Lobetanz aus dem 15. und 16. Jahrhundert gewiß einmal da¬ 
von sprechen, und vor allem würde stark und klar eine Be¬ 
teiligung der Kirche an dem Lobetanze hervortreten. Aber da 
schweigen alle Nachrichten. — — 

Blickt man auf das hier beigebrachte Belegmaterial zurück, 
so sieht man zunächst, daß der Lobetanz in der Hauptsache 
ein Frühlings-, speziell ein Pfingsttanz ist; soweit er zu anderer 
Zeit geübt wird, etwa gar zu Weihnachten, dürfte eine spätere 
Verschiebung vorliegen. F. M. Böhme in seiner „Geschichte des 
Tanzes in Deutschland“, Leipzig 1886, I, S. 155, erwähnt gewisse 
Pfingst- und Kirmestänze in der Oberlausitz und Provinz Sach¬ 
sen, die „Laubtänze“ heißen sollen, weil sie zur Sommerszeit in 
besonders dazu erbauten Tanzlauben von grünem Reisig und 
mit einem Maibaume in der Mitte des Tanzplatzes abgehalten 
wurden. Auf sie weist auch das Zitat aus Kaisersbergs 
Postille, Straßburg 1522 (bei Brinckmeier, Glossarium diplomati- 
cum, II, 83): „ein bilger, wann er durch ein dorf gat, da er die 
bauren unter den lauben sieht tanzen“. Böhme trennt sie von 
den Lobetänzen. Wenn man aber daran denkt, daß sie zur selben 
Zeit wie diese abgehalten werden, und daß auch die Lobetänze 
vielfach im Freien (1400 undir den lynden zeu Russin) statt¬ 
fanden und Blumenschmuck dabei eine Rolle spielt (vgl. die Stel¬ 
len bei Opitz, Fleming, Uhland und die Blumentänze der Sächsi¬ 
schen Schweiz), so scheint es doch, als ob ein Zusammenhang 
zwischen beiden bestehe. 

Fast möchte ich glauben, daß der Name „Laubtanz“ nichts 
anderes sei als eine volkstümliche Umdeutung des nicht mehr 
verstandenen „Lobetanzes“. Denn umgekehrt etwa den „Lobe¬ 
tanz“ als Tanz „im Laub, unter dem Laubdach, in der Laube“ 
zu erklären, ist sprachlich unmöglich. Das „Laub“, frons, folia, 
heißt zwar in den ostmitteldeutschen Dialekten 16 b (loup), ostfrän¬ 
kisch jedoch lab, und die etymologisch damit zusammenhängende 
„Laube“, Vorbau, Lusthaus u. dergl., bleibt sogar im Obersächsi- 


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Der Lobetanz 


9i 


sehen ,,laube, lauwe“, während sie oberlausitzisch-schlesisch 
auch zur „leube“ oder „lobe“ wird. Niemals aber begegnen die 
mhd. Formen von Laub (mhd. loup) und Laube (mhd. loube) 
in den zahlreichen Belegen für den „Lobetanz“ aus älterer Zeit. 
Er heißt stets nur „Lob-, Lobe-, Lobentanz“, einmal (Dresden 
1412) „labetanz“. 

So könnte man wohl an mhd. lop, md. lob, lab = lat. laus 
denken, also Preis- oder Ehren tanz (Lexer, Mhd. Handwörter¬ 
buch, I., Sp. 1948), und die im D. Wb. (a. a. O.) zitierte Stelle: 
„lobtanz, coraula, estcorea laudabiliset specialis“ (vgl. Diefenbach, 
Glossarium, 1857, S. I50 b ) scheint stark dafür zu sprechen. Allein 
auch das klingt beinahe wie ein etymologischer Versuch. Denn 
es ist uns trotz reicher Überlieferung nur ein sicherer 
Hinweis bekannt geworden, daß der „Lobetanz“ (wenn auch 
spöttisch gemeint) zu Ehren einer bestimmten Person veranstaltet 
wurde. Das geschieht im Alsfelder Passional (ed. Grein, Kassel 
1874). Die Handschrift stammt aus dem Ende des 15. Jahr¬ 
hunderts und wurde bis 1841 im Ratsarchiv zu Alsfeld im 
Großherzogtum Hessen aufbewahrt. Die einschlägige Stelle 
schließt sich an das Gespräch Christi am Kreuz mit den beiden 
Schächern an. Die Juden frohlocken; die Engel singen zum 
Lobe des Heilands, und ein Engel klagt. 

Hoc facto Sinagoga cantat 
cum Judeis et dicit Sinagoga: 

Z. 5790. Ir herren, mer machen ein loibedancz 

Dem, der uff hoit den königlichen krancz! 

Nu hirumb gebet em ein ende 
Und singet mer nach dijt gesengel 
Et sic Judei corizando per crucem 
cantant. Hoc completo dicit Sinagoga: 

Z. 5796. Ihesus, der wemde Heilant, 

Wie behaget dir, meinster, disser gesangk? 

Laiß dir den woil gefallen, 

Zu loibe singen mer dir alle. 

Daher erklärt auch Grein im anhängenden Wörterbuch (S. 353) 
den „lobe-dancz“ als Tanz, der einem zu Lob und Ehren auf¬ 
geführt wird. — Vielleicht kann man danach auch den Lobetanz 
der Tochter des Herodes (vgl. oben das Gedicht von der Erlösung) 
als einen Tanz derselben zu Ehren ihres Vaters auffassen. Auch 


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Alfred Meicbe 


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diese Quelle führt übrigens nach Hessen. Ähnlich scheint der 
Tanz der Teufel im Spiel von Frau Jütten (s. 0.) gemeint zu sein. 

Wenn schließlich R. Hofmann (bei Dibelius-Brieger, Beiträge 
zur sächs. Kirchengesch., Heft 8, Leipzig 1893, S. 32, Anm. 1) 
meint, die Lobetänze sollen „Gott ein Lob für den gnädigen Stand 
der Saaten ausdrücken“, so ist er doch den Beweis dafür schuldig 
geblieben. 1 ) Schon die Zeiten, zu denen Lobetänze gehalten 
wurden, sprechen eigentlich dagegen; ebenso die Verwüstung der 
Fluren bei dem Lobetanze in Rüsseina. Und vor allem wider« 
strebt dieser Deutung (wie auch der Anknüpfung an „Laub“ und 
„Laube“) eine Form „Gelobtänze, die da geschehen auf der 
Gassen“, die Schmeller (Bayer. Wb., I, Sp. 1417) aus einem Cod. 
germ. der Hof- und Staatsbibliothek zu München beibringt. 

Damit werden wir zu „geloben“, vovere (md. auch gelauben, 
gelaben) geführt, und das D. Wb. (a. a. O.) schließt, daß „man 
zwar nicht an ein Gelübde, wohl aber an ein Verbündnis von 
Leuten gleichen Standes (von Gesellen) zu einer gemeinschaft¬ 
lichen Lustbarkeit zu denken habe“. Mir will es nun scheinen, 
als ob man die Bestimmung noch etwas enger fassen müßte. Mhd. 
loben (auf das Simplex weist ja zunächst auch die vorherrschende 
Form: Lobetanz) bedeutet an und für sich „etwas geloben, feier¬ 
lich versprechen“, dann aber auch „sich verloben mit jem.“. 
(Siehe Lexer, Mhd. Handwörterbuch, I, 1872, Sp. 1947, und Grimm, 
D. Wb., IV, I, 2, Sp. 3043, Abs. c.) So heißt es z. B. im Nibe¬ 
lungenliede (ed. Zarncke®, Leipzig 1897, S. 93): 

„ich sol in loben gerne, den ir mir, herre, gebt ze man“ 

und 

„ouch lobte si ze wlbe der edel künec von Niderlant“ 
und in der Kudrun (ed. Symons, Halle 1883), S. 156 (Strophe 770): 

„Dem bin ich bevestent: ich lobete in zeinem man.“ 

Auf niederdeutschem Sprachgebiete (Bremen und Hamburg) 
wurde lovte, lövte von den Bauern ebenfalls in der Bedeutung 
„Verlöbnis“ gebraucht; daher auch Lövelbeer (Lavelbeer), „Ver- 

') Zu bedauern ist es auch, daß weder hier noch in den „Dresdner 
Nachrichten“ vom 5. Juli 1891, Nr. 186, S. 2 eine Quelle für die Behaup¬ 
tung angegeben wird, daß bei den Lobetänzen zugleich die Brautpaare 
bekränzt wurden. Wahrscheinlich hat man das nur aus Flemings schon 
erwähntem Gedicht geschlossen. 


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Der Lobetanz 


lobungsmahlzeit“. (Versuch eines bremisch-niederd. Wörterbuchs, 
III. Theil, L—R, Bremen 1768.) 

Unsere Deutung des „Lobetanzes“ als „Verlobungsreigen“ ist 
aber eigentlich gar nichts Neues, denn schon 1579 gibt Spangenberg 
in seinem Ehespiegel (s. 0.) dieselbe Erklärung. Die oben schon 
abgedruckte Stelle sei hier nochmals hervorgehoben: „Unsere Vor* 
fahren haben öffentliche Täntze auch darumb gehalten, damit ihre 
Kinder von den Nachbauern mochten gesehen werden, Ehe* 
Stiftungen furzunehmen, dahero in Meißen usw. . . . die Lobe¬ 
tänze gehalten werden.“ Und es mutet fast wie ein Nachhall besserer 
Kunde (und nicht nur wie eine bloße Volksetymologie) an, wenn 
der Volksmund den Lobetanz zu Köhra bei, Grimma (s. 0.) als 
Erinnerung an ein Fest anspricht, das vor alters der Herr auf dem 
nahen Rittergute Belgershain seinen Untertanen aus Anlaß der Ver¬ 
lobung seiner Tochter gegeben habe, ein Volksfest mit Schmaus und 
Tanz (Markgraf, a. a. O., S. 389). Wer sich mit Sagenforschung 
beschäftigt hat, weiß es, daß in der Volksüberlieferung oft alte, 
unverstandene Sitten auf einen besonderen Fall zurückgeführt 
werden. (Allerdings wußte jene Frau aus Belgershain, von der 
ich oben schon erwähnte, daß sie den Lobetanz zu Köhra öfter 
besucht habe, davon nichts. Dagegen hatte man ihr erzählt, es sei 
ein Lob- und Dankfest zum Gedächtnis einer schweren Seuche, aus 
der doch einige Bewohner der Gegend gerettet worden seien, es istalso 
dieselbe naive Erklärung versucht wie in der Sächsischen Schweiz.) 
Als ein Verlobungstanz erscheint endlich unser Reigen auch nach 
der Erklärung, die ein Kenner 1723 im Amte Jüterbog abgibt. 
Nach ihm wurde der „rechte Lobetantz“ l) auf den Gassen 
getanzt, 2) war er mit einem Freiskegeln um ein Hemd verbunden, 
3) mußte eine Magd dem Gewinner das Hemd über den Kopf 
stülpen und jener dann so mit ihr tanzen (Magdeb. Geschichts* 
blätt., 1908, S. 409). Hier handelt es sich doch offenbar mehr 
um die Braut als um das Hemd. Letzteres aber ist im Grunde 
wohl das Brauthemd, das ja noch heute vielfach der Bräutigam 
von seiner Verlobten empfängt. 

Aus der Deutung des „Lobetanzes“ als „Verlobungs- oder 
Angelobungsreigen“ erklärt sich nun sofort die reichliche Ver¬ 
wendung von Blumen und Laubgewinden bei diesem Feste, aus 


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Alfred Meiche 


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ihr erklärt sich der feierliche Umzug paarweise (der gröze, wite 
lobetanz; die krumen denz), der der Lobetanz ursprünglich war; 
darum wird er so häufig gerade bei Hochzeiten und in Hoch* 
zeitsgedichten erwähnt; darum fand er gern an den Stätten 
öffentlichen Rechtes statt (unter der Dorflinde, auf dem Rat¬ 
hause, vor der Kirchtür); nun verstehen wir es, warum gerade zu 
den ,,Lobetänzen“ so viele Leute oft aus weitem Umkreise zu¬ 
sammenkamen. Es war eben die große Brautschau der Landschaft. 
Und wie die Bauern unter ihren Tanzlauben und auf den Dorf¬ 
gassen, so fand sich der Adel und das Bürgertum auf dem Rat¬ 
hause (Tanzhause) der Städte zu gleichem Zwecke zusammen. 
Wahrscheinlich hat .sich der Brauch übrigens nicht auf Mittel¬ 
deutschland beschränkt, sondern unter anderem Namen einst¬ 
mals in allen deutschen Gauen bestanden. Letzten Endes ist er 
wohl ein altgermanisches Frühlingsfest, bei dem sich ursprüng¬ 
lich der Pfingstkönig seiner Maikönigin angelobte, ein Spiel, aus 
dem wahrscheinlich meist ein dauerndes Verhältnis ward. Noch 
heute finden im deutschböhmischen Niederlande (Bezirkshaupt¬ 
mannschaft Schluckenau) zwei solcher Volksfeste, verbunden mit 
kirchlichen Prozessionen, statt: das eine, Heilbornfest genannt, 
im Hochsommer zu Wölmsdorf, das andere, Dreifaltigkeitsfest, 
am Trinitatissonntage (also in der Zeit, wo meist die Lobe¬ 
tänze begannen) am Spitzberge bei Lobendau. Letzteres ist das 
ältere, die Wallfahrt dahin ist seit 1757 nachweisbar. (Vgl. Mit¬ 
teilungen des Nordböhm. Excursions-Clubs, 1894, S. 299.) Das 
Volk aus den umliegenden Ortschaften, besonders die erwach¬ 
sene Jugend, zieht unter Musikbegleitung und Böllerschüssen 
von der Neudörfeler Kapelle aus auf die Höhe; schon während der 
Predigt halten die jungen Burschen in der malerisch gruppierten 
Berggemeinde Umschau nach solchen Mädchen, die ihnen gefallen 
könnten. Sie begleiten dann die Erwählten (von denen ein herzens¬ 
kundiger Landsmann zu sagen pflegt: ,,sie beten — um einen 
Mann“) nach Neudörfel zurück, wo früher bei den Klängen einer 
Ziehharmonika in der Gaststube des „ Gerichtes“, jetzt bei voller 
Instrumentalmusik im Tanzsaale, die Paare den Reigen schlin¬ 
gen. Nebenbei gibt es Kaffee und Kuchen. Im Volksmunde 
aber heißt dieses Fest (wie jenes zu Wölmsdprf) der „Mädel- 


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Der Lobetanz 


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markt“, und wirklich ist gar manches Band fürs Leben dort an¬ 
geknüpft worden. 

Schon von anderer Seite (Dresdner Nachrichten, 1891, Nr. 186) 
ist bei den Lobetänzen vielleicht nicht ganz unpassend auf die 
römischen Floralien hingewiesen worden, die vom 28. April bis 
zum 3. Mai gefeiert wurden, wobei man Häuser und Menschen 
mit Blumen bekränzte, die Frauen bunte, ihnen sonst verbotene 
Kleider trugen und alles sich einem ausgelassenen Lebensgenüsse 
hingab. Noch deutlicher weist auf unsere Lobetänze = Verlobungs¬ 
tänze ein in Norddalmatien geübter Brauch. Dort führen Mütter 
ihre reifen Töchter auf Jahrmärkte, Volks- und Kirchenfeste 
zur Beschau für die Burschen. Das Mädchen trägt dabei den 
sog. gjendar, ein Fürtuch, das mit Silberstücken mehr oder min¬ 
der reich besetzt ist, die als Aussteuer bei der beabsichtigten 
„Zeitehe“ anzusehen sind. Das so herausgeputzte Frauenzimmer 
unterhält sich mit anderen ihresgleichen. Tritt ein Bursche auf 
sie zu, dem sie zu Gesicht steht, so führt er sie ab und tanzt mit 
ihr allein einen sogenannten kolo (Reigen). Dabei wird die Ehe 
unter ihnen vereinbart. Einigt sich das Paar, so führt der Bursche 
das Mädchen noch in derselben Nacht zu sich heim. Mit der 
Trauung aber hat es noch lange Zeit, und oft wird das Weib von 
ihm zu ihren Eltern zurückgeschickt. (A. Mitrovic bei Krauss, 
Anthropophyteia, Bd. IV, S. 37 ff.) 1 ) 

Nach alledem versteht man gar wohl, warum gerade die „Lobe¬ 
tänze“ so oft mit einer Schlägerei der (eifersüchtigen) Burschen 
endeten, begreift aber auch, warum gerade sie so vielfach mora¬ 
lische Entrüstung weckten. Die jungen Leute, denen im Früh¬ 
ling das Blut rascher durch die Adern kreiste, schlossen auch bei 
uns jedenfalls nicht selten an den Brauttanz die Brautnacht an. 
Durch die Verlobung entstanden nach altem Rechte dem Bräuti¬ 
gam bereits allerhand Ansprüche an die Braut, deren Verletzung 
durch Dritte in bestimmten Fällen gesetzliche Ahndung findet. 
Daher wird auch der Satz aufgestellt, daß die Verlobung die Ehe- 

*) Ob die Sperlingskirmes (wrobliaca kermusa) der sächsischen 
Wenden, die sie auch Liostanz genannt haben sollen (?), etwas Ver¬ 
wandtes gewesen ist, kann ich nicht sagen. Daß unser Lobetanz von 
dorther seinen Ursprung habe (Boehme, a.a.O., S. 59), ist aber ganz aus¬ 
geschlossen. 


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Alfred Meiche — Der Lobetanz 


Schließung, die Trauung aber nur den Vollzug der Ehe darstelle. 
Wenn derselbe auch von anderer Seite bestritten wird, so muß 
doch allgemein anerkannt werden, daß die Trauung nur unter der 
Voraussetzung der vorhergegangenen Verlobung rechtlich wirk- 
sam war. Allerdings war der Geschlechtsverkehr zwischen Ver¬ 
lobten eigentlich verpönt, und die Geistlichkeit verlangte schon 
vom 8. Jahrhundert ab die kirchliche Einsegnung, wenn sie auch 
bis ins 13. Jahrhundert hinein sich schließlich damit begnügte, 
daß die Laientrauung vor der Kirchtüre stattfand, was uns den 
Lobetanz vor der Kirche zu Treunitz bei Eger erklären kann. 
Aber die breiten Schichten des Volkes gaben diesem Anspruch nur 
ungern nach und beschränkten sich auf die einfache bürgerliche 
Eheschließung „an (ohne) schuoler und an pfaffen“, die Bauern 
sogar bis ins 15. Jahrhundert. (Bauer, Das deutsche Geschlechts¬ 
leben in der Vergangenheit, Leipzig 1902, S. 92, IOO; Schröder, 
Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte 8 , Leipzig 1894, S. 291 ff. 
u. S. 700; Götzinger, Reallexikon der deutschen Altertümer, 
Leipzig 1885, S. 392.) 

So begreift man wohl auch das Eifern der Kirche, besonders 
in der Reformationszeit, die manches schroff verurteilte, was 
man vordem nachsichtig geduldet hatte, gegen den Lobetanz. 

Uns aber erscheint er nach dieser Betrachtung als eine uralte 
Sitte unseres Volkes, die erst zur Unsitte ward, nachdem eine neue 
Zeit andere Formen des Verlöbnisses geboren hatte und weiten 
Kreisen der ursprüngliche Sinn des Brauches verloren gegangen war. 
In einzelnen Landschaften (z. B. Hessen) mag der ursprüngliche 
Zweck des Lobetanzes schon sehr früh in Vergessenheit geraten 
sein, weshalb sich dort schon im Mittelalter die Bedeutung 
„Preis- und Ehrentanz“ entwickelte. Vielleicht darf man es als 
einen Übergangsbegriff ansehen, daß der Lobetanz zu Ehren 
der Braut (der Verlobten) geschritten wurde. Aus der Mischung 
der Vorstellungen erklärt sich wohl die Schwierigkeit einer 
exakten sprachlichen Deutung. 


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MISZELLE. 

DER SCHMUCK EINER FRÄNKISCHEN GRÄFIN 

UM 1611. 

VON FL. H. HAUG. 

Gräfin Walburga von Löwenstein-Wertheim hat eine eigenhändige 
Aufzeichnung ihrer sämtlichen Schmucksachen und Kleinodien aus der 
Zeit nach der ersten löwensteinischen Teilung, also bald nach i6ii, hinter¬ 
lassen. 1 ) Die Gräfin war die Zweitälteste Tochter Ludwigs II. zu Löwenstein, 
eine Schwester Christoph Ludwigs und Johann Dietrichs. 

Wohl der kleinste Teil des verzeichneten Schmuckes wird in Wertheim 
selbst entstanden sein. Er war ja fast ausnahmslos Familiengut, das von 
der Mutter, der Gräfin Anna von Stolberg, auf die Tochter gekommen ist. 
Und gar manches Stück dürfte wohl die Großmutter schon mit liebender 
Sorgfalt als Kleinod gehütet haben. Daraus ergibt sich für die Ent¬ 
stehungszeit des Schmuckes der Zeitraum von 1530 bis 1611 oder, enger 
begrenzt, bis 1599, dem Todesjahr der Gräfin Anna von Stolberg. Der 
mütterliche Schmuck wurde den beiden Schwestern, Gräfin Walburga 
und Gräfin Katharina Elisabeth, von ihren Brüdern am 31. Oktober 1611 
in einer kleinen, schwarzen Truhe mit 8 Schubladen, versiegelt mit dem 
Petschaft des Bruders Wolfgang Ernst, übergeben. Interessant ist für uns, 
daß wir bei dieser Gelegenheit die beiden damals lebenden Wertheimer 
Goldschmiede, die der Notar als Sachverständige zu Zeugen nahm, mit 
Namen aufgeführt finden; es sind das Elias Pfeil und Michael Böhm. 
Wenn also gräflicher Schmuck in Wertheim selbst erworben war, so 
stammte er wohl von diesen beiden Meistern. Das Verzeichnis selbst 
weist uns aber in vielen Fällen auf andere Entstehungsorte hin. Wir hören 
von Pariser und von spanischer Arbeit. In der Behandlung des Metalles 
waren die Goldschmiede Frankreichs und Spaniens um diese Zeit den 
fränkischen offenbar überlegen. Bei französischem und spanischem Schmuck 
bemerkt die Gräfin immer, daß er „geschmelzt“ sei. Der Schmelz bestand 
in der Färbung der Metalle: grün, blau, rot, weiß, meist aber schwarz 
sind die Farben. Das Metall ist überwiegend Gold, in ganz geringem 
Maße ist Silber vertreten. Wir hören aber auch von einer Kette, deren 
Teile eben der Juwelier in Nürnberg hat. Die reichen Handelsstädte 
Nürnberg und Frankfurt und die durch die kirchlichen Aufträge gerade 
in der Goldschmiedekunst gehobenen Bischofsstädte Würzburg und Mainz 
dürften den fränkischen Schmuck geliefert haben. Die Gräfin bezeichnet 
ja einzelne Stücke wiederholt als altfränkischen*) Schmuck, öffnen wir 
nun die Truhe, so sehen wir auf den ersten Blick, daß hier die Renais- 

*) Wertheim, Fürstl. Gemeinsch. Archiv. 

*) Doch wohl ca altmodisch. D. Red. 

Archiv fiir Kulturgeschichte. XII. i 7 


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g8 Fl. H. Haug 

sance die .duftigsten Blüten von Kleinkunst getrieben hat. Schwer und 
wuchtig wirken die rechteckigen Stücke, aus denen die goldnen Ketten 
bestehen; Füllhörner, Blumenvasen, die Gräfin nennt sie Maienkrüge, 
Obstgirlanden verzieren in reicher Fülle die massigen Formen der einzelnen 
Schmuckstücke. Große Perlenbandelotten hängen Weintrauben gleich 
herab. Die Steine sind zu quadratischen oder rechteckigen Tafeln geschliffen 
oder als Körner eingesetzt, schöne Renaissanceköpfchen sind in Karneol 
und Achat geschnitten. Geschmelzte Goldrosen, mit bunten Steinen besetzt, 
leuchten uns aus der Truhe entgegen. 

Kleinodien in Rosenform trug die fränkische Gräfin der damaligen Zeit 
vor allem im Haar. So finden wir im Schmuckverzeichnis 7 schwarze 
Diamantenrosen in geschmelztem Metall gefaßt, spanische Arbeit, jede 
Rose bestehend aus 7 Diamanten und verziert mit kleinen grünen Blättern. 
Die Gräfin bemerkt, daß sie im Haar getragen werden. Reine Renais¬ 
sancestücke sind die 9 großen goldnen Haarsträuße, Pariser Arbeit, in 
allen Farben geschmelzt. Sie sind mit Obstwerk verziert, 5 tragen je 
eine rechteckige Diamanttafel und 3 kleine Rubine, 4 je eine Rubintafel 
und 3 kleine Diamanttafeln, an jedem Strauß sind 4 Perlen. Ein weiterer 
Haarschmuck stellt ein Maienkrüglein dar, wie es die Gräfin nennt. Mai 
wurde damals für Blume gebraucht. Es ist also ein Blumenkrüglein, es 
war geschmelzt und trug 4 kleine Rubintafeln. Neben der Rose spielte 
das Vergißmeinnicht im damaligen Schmuck eine bedeutende Rolle. 
Ein Vergißmeinnicht, ebenfalls Haarschmuck, ist in verschiedenen Farben 
geschmelzt und trägt in der Mitte einen böhmischen Diamanten, ein 
anderes 1 Diamanttafel, hier ist das Vergißmeinnicht gesponnen. Die 
Gräfin nennt es Gedenkblümlein im Verzeichnis. Neben Obst und Blumen 
dienten auch Vögel und Schlangen als Ornamente im Haarschmuck. So 
finden wir eine goldne Haarnadel, Pariser Arbeit, in der Mitte mit 
1 Vögelein, daneben 4 Rubintafeln und 7 Perlen. Diese Nadel ver¬ 
schenkte die Gräfin an ihr Patenkind Josina Walburga, die Tochter Johann 
Dietrichs, ihres Bruders. Daß Gräfin Walburga die Taufpatin dieser 
Komtesse, ihrer „Gote 11 , wie sie schreibt, war, das verrät uns auch der 
Name des Patenkindes: Walburga nach der Taufpatin, Josina nach der 
Mutter, der Gräfin Josina von der Mark. Dem Patenkind muß Gräfin 
Walburga offenbar sehr zugetan gewesen sein; denn es erhält noch eine 
Reihe wertvoller Schmuckgegenstände. Es scheint, daß zwischen der 
Familie Johann Dietrichs und Gräfin Walburga eine besonders innige 
Freundschaft bestand. So verzeichnet Gräfin Walburga auch eine Haar¬ 
nadel, die ihr Gräfin Josina verehrte. Die Haarnadel war aus Gold, daran 
hing 1 Anker, besetzt mit 19 Diamanten, darunter 3 Bandelotten. Eine 
Haarnadel trägt ein geschmelztes Schlänglein, an dem unten 1 Perle 
hängt. Diese Nadel ist ausnahmsweise aus Silber, aber vergoldet. Eine 
andere Haarnadel stellt eine Feder dar, sie trägt in der Mitte 
1 Diamanttafel, daneben 3 Perlen. Diese wie das oben angeführte Maien¬ 
krüglein und die Nadel mit dem Vogel erhielt das Patenkind Josina 


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Miszelle 


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Walburga. Eine goldne Lanze mit 20 kleinen Rubintafeln, daran hangend 

1 Rose mit 13 Diamanttafeln urid 3 hangenden Bandelotten, diente 
ebenfalls als Haarnadel. Greifen wir aus dem Schmuckschatze noch 

2 Nadeln heraus; jede trägt eine weißgeschmelzte Hand, daran hangend 
ein mit 32 Diamanten besetztes W, die Namensinitiale der Gräfin, den 
Abschluß bildet eine Diamantbandelotte. Neben den Nadeln dienten 
auch Haarschnüre als Kopfputz: so ein kleines vergoldetes Kettlein, an 
beiden Seiten an eine fleischfarbige Haarschnur gebunden, 12 Schnüre 
mit einem Zöpflein in der Mitte, auf beiden Seiten Perlen und Blättchen, 
die beiden Enden an fleischfarbige Seidenbänder gebunden, eine Haar¬ 
schnur, durchwoben mit geschlagenem Gold. Dies einige Proben des 
Haarschmucks. Alle Gegenstände des Schmuckverzeichnisses hier zu 
besprechen, würde zu weit führen. 

Noch mehr als in den Haarnadeln konnte die Renaissance in den 
Ohrgehängen ihre schönen Kunstformen zur Geltung bringen. Die Ohr¬ 
gehänge entsprachen dieser Kunstrichtung mehr als die Ohrringe, daher 
kommt es auch, daß die Gräfin nur 1 Paar Ohrringe besitzt gegen¬ 
über einer großen Anzahl von Gehängen. Als Ohrgehänge trug sie 
2 schöne Diamantenrosen alten Musters, wie sie schreibt, die eine 
mit 18, die andere mit 16 geschnittenen Diamanten, eine jede 3 große, 
herabhängende Perlen tragend; weiter 1 Paar Ohrgehänge, spanische 
Arbeit, schwarz geschmelzt, jedes Stück mit 32 Diamanten, 1 Paar 
Ohrgehänge aus Goldstein, in Gold gefaßt; 1 Paar stellt Schlangen 
dar, sie tragen 1 Rubintafel auf dem Köpfchen und 1 große Perle im 
Maul. Die meisten Gehänge sind besetzt mit Diamanten und Rubinen 
und tragen Perlenbandelotten als Abschluß. Den Renaissancecharakter 
sehen wir besonders an einem Paar, es stellt Goldkörbchen dar mit allerlei 
Obst, 5 Perlen hängen unten an jedem Stück; ein anderes zeigt uns schwarze 
Trauben, wieder ein anderes 2 Fläschchen, bestehend aus großen, halbierten 
Perlen, weiß gefaßt, an goldnen Kettchen hängend und mit 7 Diamanten 
verziert. Die Gräfin muß ab und zu auch englische Tracht getragen haben; 
denn sie verzeichnet 1 Kettchen an ein Ohr, „wie man es zur englischen 
Tracht trägt“; es besteht aus 12 Teilen mit je 1 Diamanten und 12 schwarz 
geschmelzten Teilen dazwischen, unten 1 Diamantenbandelotte. 6 ge¬ 
schmelzte Röschen, Pariser Arbeit, verschenkte sie: 1 Paar an die Hof¬ 
meisterin, die Geider, 1 Paar an ihre Jungfer, die Heid, 1 Paar an die 
von Thüngen. Mit den Thüngen war die Gräfin durch ihres Bruders 
Ludwig Frau verwandt; diese war nämlich eine Tochter der Freiin 
Dorothea von Thüngen. 

Je nach dem Kostüm mit oder ohne Dekolletierung trug die Gräfin 
große Halsbänder oder enge am Hals anliegende. Wir finden beide 
Arten in reicher Fülle in ihrem Schmuckverzeichnis. Auch sehen wir 
wieder die feine Arbeit der Spanier und Pariser, die Diamanten, Perlen 
und Rubine zu großen Halsketten faßten. So besteht ein Halsband aus 
20 Stücken: das Hauptstück mit einer großen Smaragdtafel und 4 runden 

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loO Fl. H. Haug 


Perlen auf 4 geschmelzten Röslein, dann 5 Stücke, jedes mit 1 Diamant¬ 
tafel, 4 Stücke, jedes mit 1 Rubintafel, und 10 Stücke, jedes mit 2 großen 
Perlen. Welche Farbenfreude spricht aus diesem Schmuck! Ein anderes 
Halsband, ebenfalls Pariser Arbeit, besteht aus 24 Stücken: 10 mit Rubin¬ 
tafeln, 2 mit Rubinkörnern und 12 mit je 4 Perlen. Ein kleines Halsband, 
das eng um den Hals zu tragen war, war spanische Arbeit, es bestand 
aus 5 Röschen, jede Rose mit 7 Diamantentafeln, unten an jeder Rose 
hingen 3 Diamantenbandelotten, zwischen den Rosen waren 6 Verbindungs¬ 
stücke, jedes mit 1 Diamanttafel und 1 Bandelotte daran. Ein kleines 
Halsbändchen, Pariser Arbeit, war schwarz und rot geschmelzt und be¬ 
stand aus 9 Stücken, das Mittelstück hatte 1 Diamanttafel in der Mitte 
und 4 Diamanten auf den Ecken, dabei 4 Rubintafeln, unten 3 Perlen 
daran hangend, von den anderen 8 Stücken hatte jedes 4 Rubintafeln und 
unten 1 Perle. Zwischen diesen 9 Stücken waren 10 flammende Herzen, 
unten Perlen daran; es scheint, daß man damals nicht nur Blumensprache, 
sondern auch Halsbandsprache gesprochen hat. Natürlich finden sich im 
Schmuck auch reine Perlenhalsbänder, so eines mit 133 runden Perlen 
und 17 großen runden Perlen, in Gold gefaßt, daran hangend, ein anderes 
mit 137 großen und ebensoviel kleinen Perlen dazwischen. Ein kleines Hals¬ 
band besteht aus 4 Lapis lazuli und 3 geschnittenen Karneolen, in Gold 
gefaßt, dazwischen 8 Vergißmeinnicht, an diesen und an den Steinen je 
1 Perle herabhangend. Dieses schenkt die Gräfin ihrer Schelmin zum Christ¬ 
kind. Also 1611 schon in Wertheim die Sitte, an Weihnachten Geschenke 
zu geben. Unter der Schelmin müssen wir eine adelige Hofdame an¬ 
nehmen; denn eine gewöhnliche Dienerin hätte wohl kein Halsband mit 
geschnittenen Karneolen und 15 Perlen erhalten. Die Schelmin erhielt 
auch noch anderen Schmuck. An den Halsbändern wurden auch Me¬ 
daillons getragen, so hat die Gräfin eins aus purem Gold, bunt geschmelzt, 
innen mit dem Bildnis ihres Vaters 

An Armbändern hat die Gräfin ebenfalls zwei verschiedene Arten, 
solche für den Oberarm bei einem Kostüm mit Dekolletierung und solche für 
die Handgelenke. An diesen trug sie immer zwei gleiche. So verzeichnet 
sie 1 Paar Armbänder, jedes mit 4 Gliedern, jedes Glied mit 4 Rubin¬ 
tafeln und 4 großen runden Perlen, 1 Paar aus lauter Gold, bunt ge¬ 
schmelzt, ein anderes Paar trägt in Goldfassung gefundene Steine ver¬ 
schiedenster Gattung. Weiter finden wir Paare aus schwarzen Achaten, 
in Gold gefaßt, aus Perlen, aus „orientalischen“ Granaten. Ein einzelnes 
Armband stellt eine goldene Panzerkette dar, auf das Schloß ist ein Papa¬ 
gei geschmelzt. Der Papagei wird hier offenbar wegen seines bunten 
Gefieders benützt, das in den verschiedenen Schmelzfarben prächtig zur 
Darstellung kommen konnte. 1 Paar Armbänder ist schwarz geschmelzt, 
sehr schmal mit je 14 Diamanten und 15 halben Perlen besetzt; die Gräfin 
schreibt, man kann sie auch über das Haar tragen. 1 Brasselett, das 
am Oberarm zu tragen war, enthielt in Goldschmelzfassung Bisamkörner, 
und 1 Sanduhr war daran. Wie modern war man damals schon! Die 


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Bisamkömer wurden wegen ihres Duftes in den Schmuck gesetzt. Sie 
verbreiteten beim Warm werden am Körper Moschusgeruch. Bisammehl 
streute man ja im Mittelalter auf den frisierten Kopf, Wir werden später 
auch sehen, daß man, um den Schmuck duftend zu machen, auch Orangen¬ 
holz einlegte. Die Armbänder um die Handgelenke hatten meist Pater - 
noster-Form, d. h. es waren Kettchen ohne Anfang und ohne Ende, also 
ohne Schloß. So ist ein Paternoster verzeichnet mit 66 Bisaml^örnern 
und Perlen dazwischen, ein anderes bestehend aus 32 weißen, geschnittenen 
Jaspisen und 32 Zwischenstücken aus Gold, blau geschmelzt, ein weiteres — 
es ging 3mal um die Hand — mit 20 Karneolen, 18 durchbrochenen Gold- 
kömem und 40 großen Perlen, ferner 3 Korallenpatemoster, mit Perlen 
durchsetzt, 2 Paternoster mit 335 großen eckigen und ebensoviel runden 
Perlen dazwischen usw. 

Am verschiedenartigsten waren die Ringe gestaltet. Wir finden da 
einen Ring, schwarz geschmelzt, in neuer Fagon, schreibt die Gräfin, oben 
rund mit 7 schönen Diamanten, ferner einen Ring mit 1 Türkis, schwarz ge¬ 
schmelzt; diesen verehrte sie ihrem Bruder Ludwig. Bei der Teilung des 
Schmuckes unter die Geschwister war Ludwig für die Schwestern bei 
den anderen Brüdern eingetreten; vielleicht hängt dieses Geschenk damit 
zusammen. Ein kleines Ringlein hatte die Gräfin, es trug den Namen 
Jesus, ein blau geschmelzter Ring den Namen derer von Solms. Natür¬ 
lich befindet sich im Schmuck eine große Anzahl von Diamantringen, 
auch solche mit Rubinen und Smaragden. Die quadratische und recht¬ 
eckige Diamanttafel steht hier im Vordergrund, neben ihr erscheint der 
spitzige Diamant. Ein weiterer Ring trägt eine „altfränkische Diamant¬ 
rose“ mit 5 Diamanten, ein neuer 1 Rose mit 7 Diamanten, ein Ring 
hat ein Herz, gehalten von 2 Händen, im Herz 1 Diamanttafel, ein Ring 
trägt ein dreifaches Herz mit 8 Diamanten. Diesen gab die Gräfin der 
Gräfin Barbara Elisabet von Limpurg. Walburgas Bruder Ludwig war 
mit Gräfin Anna von Limpurg vermählt. Bei verschiedenen Ringen be¬ 
merkt die Gräfin ausdrücklich, daß sie von ihrer „Frau Mutter“ seien. 
Einen Ring mit 1 Diamanttafel und 4 Rubintafeln und einen mit 1 Rubintafel 
verehrt sie wieder ihrer Schelmin, einen mit 5 Rubintafeln der jungen Gräfin 
Josina Walburga, ebenso ein kleines, bunt geschmelztes Ringlein mit 1 Rubin; 
einen Ring mit 1 Türkis schenkt sie Dr. Berger aus Rottenberg, einen 
gleichen dem „gewesenen Chorverwalter“. Von der Mutter hat sie einen 
großen goldenen Ring mit 1 großen Diamanttafel und einen ähnlichen mit 
1 großen Rubintafel. 

Je nach dem Kostüm trug die Gräfin auch Gürtel aus Metall, so 
1 goldnen Gürtel mit 12 langen, geschmelzten Knöpfen, jeder Knopf mit 
4 Granaten, dazwischen 83 goldne Ringe; 1 goldnen Gürtel, schwarz 
und weiß geschmelzt; 1 Silbergürtel mit vergoldeten Gliedern dazwischen; 
1 dreifach geflochtenen Silbergürtel mit 8 geschnittenen Granaten. 

Wie man aus den Bildern jener Zeit erkennt, waren große, schwere 
Ketten sehr in Mode; massig und gedrungen paßten sie vor allem zu den 


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schweren, reichen Kostümen der Renaissancezeit. Aber wie überall beim 
Schmuck finden wir auch bei den Ketten das Streben nach rechteckiger 
Gliederung, dasselbe Streben, das die Renaissancefassaden streng und 
scharf in die einzelnen Stockwerke teilt. Namentlich bei der grofien Kette 
konnte der Renaissancekünstler durch die Wucht des Eindruckes wirken. 
Die Gräfin verzeichnet i Kette aus goldnen Ringen von Dukatengold, 
i Ket(e bestehend aus 123 schwarzen Bisamkömern, dazwischen 123 gol¬ 
dene Sterne und 123 große und 246 kleine Perlen, weiter 1 ähnliche, 
aber ohne Bisamkömer und eine mit Bisamkömern, aber ohne Perlen; 

1 Kette aus Orangenholz, mit kleinen Perlen überfaßt: sie hat 170 mit 
Perlen überfaßte Orangenköraer, 56 große und 224 kleine durchbrochene 
Goldköraer und 340 Perlen dazwischen, außerdem ein goldenes Schloß mit 

2 Diamanttafeln und 4 Rubintafeln. 1 Kette hat nicht weniger als 
1500 Perlen, sie sind in 5 Reihen gefaßt. Auch 1 feine Kette hatte die 
Gräfin, sie war so dünn wie Goldfaden und ging 12mal um die Tailie. 
Wie uns die Gemälde aus jener Zeit zeigen, wurden die Ketten vom Hals, 
herabhängend oder um die Taille getragen. 1 Kette von lauter kleinen 
gefaßten Perlen mit 96 Ringen schenkte die Gräfin ihrer Schwägerin, als 
diese in’s Bad reiste. 1 Kette bestand aus Achaten, in Gold gefaßt, so daß sie 
Blumenkrüge darstellten. Von dieser Kette befand sich ein Teil beim Ju¬ 
welier in Nürnberg (s. oben), als die Gräfin das Schmuckverzeichnis anlegte. 

I Kette bestand aus 28 Bisamkömern, mit Perlen überfaßt, mit Gold¬ 
körnern und Goldblättchen unterlegt, dazwischen 28 große, durchbrochene 
Goldkömer, 28 Paar goldne Sterne und 56 große Perlen. Ketten mit 
Perlen und Goldkömem in den verschiedensten Fassungen befinden sich 
sonst noch im Schmuck. 

Natürlich wurden auch die Kostüme mit Schmuck verziert. So fin¬ 
den wir 1 Hutschnur mit 11 länglichen Knöpfen von Kronengold, dar¬ 
unter 1 mit 6 Rubinen, ringsum kleine eingelegte Perlen, zwischen den 

II Knöpfen solche mit je 32 und solche mit je 18 Perlen. Die Kleider 
wurden mit Goldrosen übersät. Die Gräfin hat 5 Dutzend weiß geschmelzte 
Rosen, jede oben mit einer Rubintafel, weiter 18 goldene, bunt geschmelzte 
Rosen von spanischer Arbeit, 9 davon enthalten je 1 große und 4 kleine 
Diamanttafeln, die andern 9 je 5 Diamanttafeln und 4 Perlen. Die Gräfin 
bemerkt ausdrücklich, daß man diese Rosen auf den Röcken trägt. Ab 
und zu wurden auch Knöpfe am Kostüm zu Schmuckgegenständen aus¬ 
gestaltet. Wir lesen von einem großen, goldgefaßten Bisamknopf, spanische 
Arbeit, in Farben geschmelzt, mit 12 Granaten besetzt, weiter von 1 Knopf, 
aus 2 Achaten zusammengesetzt; sie stellen Maienkrüglein dar. 

Außer dem Schmuck kommen noch die eigentlichen Kleinodien in 
Betracht. Es waren Gegenstände in den verschiedensten Formen, die 
sehr gern als Geschenke gegeben wurden und durch ihre Formen oft Ge¬ 
fühle und Empfindungen Wiedergaben, die man nicht in Worte kleiden 
wollte. So hatte die Gräfin ein großes Kleinod, einen Amor darstellend; 
es bestand aus 18 Diamanttafeln, 75 Rubintafeln, 4 hängenden und 


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2 z kleineren Perlen. 1 Kleinod stellte ein brennend Herz dar, es trug 
1 Rubinkorn, 5 Rubintafeln, 1 Saphirtafel, in der Mitte 2 Sandührlein, 
bestehend aus 4 großen Perlen, außerdem waren noch 2 Perlen daran, 

3 hingen herab. 1 Kleinod war ein Männchen, es trug 1 große, schön 
geschnittene Saphirtafel, 3 große Rubinkömer, 3 große runde Perlen und 
auf dem Hütlein 1 kleinen Smaragd. Dieses Männchen schenkte Wal¬ 
burga ihrer unverheirateten Schwester Katharina Elisabeth, mit der sie 
zusammen im damals sogenannten neuen Bau, dem heutigen Schubert¬ 
haus vis-ä-vis der Pfarrkirche, wohnte. Weiter lesen wir von einem aus 
Diamanten und Perlen bestehenden Kleinod, 1 Lilie darstellend, von 
1 burgundischen Kreuz aus Diamanten, Rubinen und Perlen, von 2 Peli¬ 
kanen aus Diamanten, mit Rubinen auf der Brust, Saphiren und Perlen. 
Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß diese Kleinodien 
der Gräfin bei besonderen Abschnitten ihres religiösen Lebens von Eltern, 
Geschwistern und Paten verehrt wurden. 1 Kreuz mit einem Cruzifixus 
daran, besetzt mit Rubinen und Perlen, schenkte die Gräfin ihrem Paten¬ 
kind Josina Walburga zum neuen Jahr. Dieses Geschenk dürfte aber 
auch nichts anderes als eine Weihnachtsgabe gewesen sein. Denn nach 
einer Urkunde im Schloßarchiv läßt sich mit Evidenz beweisen, daß in 
der Grafschaft Wertheim, wie in der ganzen Erzdiözese Mainz mit ihren 
sämtlichen Suffraganbezirken, der Weihnachtstag, der 25. Dezember, der 
Jahresanfang war. 

Ein anderes Kleinod der Gräfin stellte einen Schlitten dar, er trug 
12 Diamanttafeln, 37 Rubintafeln, 7 große und 10 kleine Perlen; ein 
anderes Kleinod war 1 weißer Hirsch, bestehend aus Metall, Diamanten, 
Rubinen und Perlen. Daneben hatte die Gräfin verschiedene Pfaue, am 
Pfau konnte ja am besten die Farbenglut der verschiedenen Edelsteine 
ihr Feuer entfalten. Einen solchen Pfau schenkte die Gräfin auch ihrem 
Patenkind, Josina Walburga. Natürlich finden sich bei den Kleinodien 
auch Namensinitialen und allerlei geometrische Figuren, auch Maienkrüge, 
Pferdchen usw. Ein „altes Kleinod“, in der Mitte mit 1 Männchen, 
unten und oben mit 2 länglichen Smaragden, auf beiden Seiten mit 

4 Rubintafeln und 4 Perlen, unten 1 Perlentraube daran hängend, schenkte 
die Gräfin ihrer Schelmin. 

So erscheint nun dieser fränkische Renaissanceschmuck vor uns in seinen 
ernsten Formen, vermischt mit den daran haftenden Gedanken zartesten 
Familiensinnes. 1300 Diamanten, 5200 Perlen, eine Unzahl von Rubinen, 
Smaragden, Saphiren, Granaten und Jaspisen, welchen Wert würden 
sie heute repräsentieren! Ein Hochstand von Goldschmiedekunst hatte 
hier Kunstwerke ersten Ranges geschaffen. Familiensinn hat sie vererbt 
von Geschlecht zu Geschlecht, bis sie den Schweden in die Hände fielen. 


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LITERATURBERICHT. 

GESCHICHTE DER GEISTIGEN KULTUR 

VON DER MITTE DES 17. BIS ZUM AUSGANGE 
DES 18. JAHRHUNDERTS. 

ERÖFFNUNGSBERICHT 
(Schluß zu Band 11, 1913, S. 241—262). 

6. Geschichte der Philosophie und Pädagogik, Wissenschaftsgeschichte. 
— 7. Literaturgeschichte. — 8. Geschichte der Staats-, Gesellschafts- und 
Wirtschaftsanschauungen. — 9. Geheime Gesellschaften. 

VI. 

Die klassische Bedeutung unserer Periode für die Weiterbil¬ 
dung der Philosophie hat umgekehrt auch den außerordentlichen 
Anteil der Philosophie am allgemeinen Geistesleben zur Folge. Die 
wissenschaftliche Ideengeschichte ist deshalb auf die Geschichte 
der Philosophie besonders angewiesen und für das ständig große 
Angebot allgemeinerer historischer Darstellungen dankbar. Neben 
Neuauflagen bewährter Einführungsbücher 1 ), unter denen die 
von WilhelmWindelband 2 ) von unserem Standpunkte über die 
andern hervorragen, treten der neue praktische Versuch Karl 
Vorländers 3 ) und Moritz Kronenbergs Geschichte des 
deutschen Idealismus (2 Bde., 1909—1912). Kronenbergs Verdienst 
liegt vor allem darin, daß er in derGeschichteder neueren Philosophie 
und der Philosophie überhaupt den Gegensatz zwischen „Natur¬ 
philosophie“ (I, 348; II, 9) und Idealismus als den grundlegenden 
herausarbeitet und darüber den Gegensatz zwischen Rationalis¬ 
mus und Empirismus als sekundär zurückdrängt. Dieser grund¬ 
sätzliche Gesichtspunkt verhilft ihm schon zu einer besonders 
klaren u^d neuen Würdigung der drei großen Anfänger Descartes 
(„Cartesius-Faust“), Spinoza und Leibniz. Sie werden als Über- 

*) R.Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, 7. Aufl., 
1913. Überweg-Heinze III 1, 10. Aufl., 1907. R. Eucken, Geistige 
Strömungen der Gegenwart, 4. Aufl., 1913. Lebensanschauungen der großen 
Denker, 9. Auf!., 1911. Harald Höffding, Lehrbuch der Geschichte 
der neueren Philosophie, 1907, u. d. ältere Hauptwerk. 

Die Verleger der in diesem Bericht besprochenen Bücher werden nur 
dann genannt, wenn sie Rezensionsexemplare geliefert haben. 

*) Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 6. Aufl., 1912. Geschichte 
der neueren Philosophie, 2 Bde., 4. Aufl, 1907. 

*) Geschichte der Philosophie, 3. Auf!., 2. Bd. (= Philosophische Biblio¬ 
thek 106, 1911). Leipzig, Meiner. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 j 05 


gangserscheinungen zwischen „Naturphilosophie“ und Idealis¬ 
mus aufgefaßt; sie eilen ihrer Zeit voraus; daher sind die idealisti¬ 
schen Kernstücke ihrer Gedankenarbeit bei allen dreien posthum. 
Von hier aus wird auch eine recht beachtenswerte und scharf- 
umrissene Charakteristik der Aufklärung (I 191 ff.) möglich, 
die Kronenberg als „Naturphilosophie mit überwiegender Rich¬ 
tung auf das Problem des Menschen“ definiert. Die zersetzende 
Wirkung des anthropozentrischen Eudämonismus auf die ver¬ 
schiedenen Betätigungen der Aufklärung wird mit eingehender 
Kritik geschildert, hie und da wohl zu dunkel, wie denn die Auf¬ 
klärung in der Vorgeschichte des Idealismus überhaupt zu sehr 
nur als retardierendes Moment behandelt wird und auch ihre 
Befruchtung durch Leibniz vielleicht nicht ganz zu ihrem Rechte 
kommt. Troeltschs parallele Ausführungen, wie er sie in dem 
Aufsatze „Renaissance und Reformation“ (Historische Zeitschrift 
HO, 1913, S. 552 ff.) von neuem zu einer lichtvollen Charakteristik 
der Aufklärung zusammengefaßt hat, kommen der Wirklichkeit 
oft näher. Dagegen ist Kronenberg ganz in seinem Elemente, wo 
er bei den direkten Anfängern des neuen Idealismus, bei Ha¬ 
mann, F. H. Jacobi und Winckelmann die „Auflösung des Geistes 
der [protestantischen] Mystik in Erkenntnis“ verfolgt und für 
die Einreihung dieser drei Größen wesentliches leistet. Auch bei 
der Behandlung Kants und der Späteren erweist sich der leitende 
Grundgedanke als fruchtbar. Durch eine weitgespannte Ein¬ 
leitung über griechischen und christlichen Idealismus wird sein 
Verständnis entscheidend vorbereitet. Wer so viel bietet, kann 
nicht überall gleichmäßig alles berücksichtigen. Die Schilderung 
des Sturmes und Dranges ist weniger gelungen als die der Auf¬ 
klärung. Aus dem Lamprechtschen Begriffe des Subjektivismus 
hat Kronenberg auch hier keinen Nutzen gezogen. Eine Reihe 
von Lücken hätte man gern ausgefüllt gesehen. Berühmte Grund¬ 
gedanken bei Leibniz, wie Prästabilierte Harmonie, Theodizee, 
überhaupt Leibniz’ ganzer theistisch gefärbter Optimismus 
treten stark zurück. Shaftesbury und Montesquieu werden über¬ 
gangen. Nach der ganzen Anlage seines Werkes bevorzugt der 
Verfasser durchweg die retrospektive vor der zeitgeschichtlichen 
Motivierung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge. Es ist be¬ 
zeichnend, daß Kronenberg Descartes und Spinoza für das spezi¬ 
fisch deutsche Geistesleben in Anspruch nimmt, wie er denn sei¬ 
nen Idealismus und besonders den ersten „Durchbruch“ dieses 
Idealismus außer bei den Griechen nur bei den Deutschen wirklich 
ausgebildet zu sehen glaubt. Durch diese und andere Einseitig¬ 
keiten und Übertreibungen kommt etwas Starres und Konstruk¬ 
tives in den ganzen Aufbau, wenn auch biographische Ableitungen 


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J. Hasbagen 


keineswegs fehlen. Aber oft werden statt des Nachweises tatsäch¬ 
licher Zusammenhänge nur geistreiche Parallelen geboten. .Dies 
und anderes sollte aber von einem eingehenden Studium des 
Werkes nicht abschrecken. Zu Kronenbergs erstem Bande nimmt 
Johann Plenge im Archiv für Sozialwissenschaft 32 (1911) 
vom Standpunkt seiner speziellen Hegel-Marx-Forschungen aus 
in interessanter Weise Stellung. Lamprechts Begriff des Sub¬ 
jektivismus scheint ihm durch Kronenberg widerlegt zu sein, 
wenn er S. 4, Anm. 3 sagt: „Gegenüber der durch Lamprecht 
vertretenen Auffassung, daß der Subjektivismus ein spätes Ge¬ 
bilde unserer Kultur ist, wird . . . mit Recht die Tatsache ans 
Licht gerückt, daß durch die übernommene subjektivistische 
Religion unsere Geistesgeschichte von Anbeginn ein Abringen (!) 
mit subjektivistischen Problemen ist“ .... Durch solche All¬ 
gemeinheiten, die kein Mensch leugnet, wird aber der Begriff 
des Subjektivismus in seinem heuristischen Werte kaum beein¬ 
trächtigt. Dagegen wird S. 18 sehr richtig auf eine innere 
Verwandtschaft zwischen Aufklärung und Idealismus hinge¬ 
wiesen, und Plenges glücklich formulierter Einspruch gegen Kro¬ 
nenbergs Überschätzung des spezifisch Deutschen („Der deutsche 
Idealismus bleibt deutsch genug, auch wenn man seine allge¬ 
meinen Voraussetzungen in ökumenischen Kulturbedingungen 
findet“) ist für das 18. Jahrhundert ganz an seinem Platze. Frei¬ 
lich muß noch manche unter neuen Gesichtspunkten vollzogene 
Einzelforschung einsetzen, ehe die auch bei der Lektüre Kronen¬ 
bergs sich überall aufdrängenden Fragen nach den „Zusammen¬ 
hängen“ der Lösung nähergeführt werden können. Einen er¬ 
folgreichen Schritt in dieser Richtung bedeutet die Untersuchung 
von H. Heimsoeth über die Methode der Erkenntnis bei Des- 
cartes undLeibniz(I: Descartes=Philosophische Arbeiten, herausg. 
von Cohen und Natorp, 6, 1911), weil sie der Entstehungs¬ 
geschichte des Cartesianismus und damit auch der Aufklärung 
nachgeht. 

Für die Geschichte der Psychologie, Ethik und Erkenntnistheorie 
leisten die neuaufgelegten Werke von Max Dessoir *), Friedrich 
Jo dl (t)*) und Alois Riehl®) die besten Dienste. Dazu kommt die 
wertvolle Arbeit über den Hauptgedanken der Geschichtsphilosophie 
des 18. Jahrhunderts, den Fortschrittsgedanken, von J. Delvaille: 
Essai sur l'histoire de l’id6e de progrfcs jusqu'ä la fin du 18® si£cle 
(1910). Für diese philosophischenEinzeldisziplinen nicht nur, sondern 
auch für die Hauptrichtungen der allgemeinen Geistesgeschichte 

*) Geschichte der neueren Psychologie, 2 . Aufl., 1902. 

*) Geschichte der Ethik, 2. Aufl., 1906—1907. 

*) Geschichte des philosophischen Kritizismus, 2 Aufl., 1908. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 107 


enthält die später zu besprechende reichhaltige Literatur über das 
Theodizeeproblem eine ungewöhnlich große Ausbeute. 

Dagegen werden die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen und 
Begleiterscheinungen der philosophiegeschichtlichen und allgemei¬ 
nen ideengeschichtlichen Entwicklung, wie auch Plenge S. 14 ff. 
mit vollem Rechte gegen Kronenberg geltend macht, noch nicht 
genügend beachtet. Um so erwünschter kommt das Buch von M. 
Roustan 1 ), das wenigstens in einem ersten Anlaufe das Verhältnis 
der französischen Philosophen zum Königtum, den verschiedenen 
Ständen und Salons untersucht. Nachahmung verdiente auch das 
allgemeinere und gründlichere Werk von L. Charlanne 2 ), das den 
französischen Einflüssen im englischen Geistesleben auf den Ge¬ 
bieten der Mode, Wissenschaft, Kunst, Sprache, Literatur für das 
17. Jahrhundert nachgeht. 

In weit höherem Maße als bei der Theologie ist aber bei der 
Philosophie wie (vgl. später) bei der Kunst die Aufmerksamkeit der 
Forscher auf einzelne hervorragende Persönlichkeiten gerichtet, für 
Deutschland auf Leibniz, Tschirnhaus, Wolff, Tetens, Hermann Sa¬ 
muel Reimarus, F. H. Jacobi, Lichtenberg und besonders auf Kant, 
für die Niederlande auf Spinoza und auf Hemsterhuis, für Eng¬ 
land auf Hobbes, Locke und Hume, für Frankreich auf Pascal, 
Montaigne, Malebranche, d’Alembert und besonders auf Rousseau. 
Aus dieser unübersehbaren Gruppe der philosophiegeschichtlichen 
Literatur werden hier vorerst nur einige Neuerscheinungen aus¬ 
gewählt, die entweder das Leben oder das System eines Philosophen 
zusammenfassend, wenn auch kritisch, würdigen, oder solche Spe¬ 
zialarbeiten, die sich mit philosophischen Einzelwissenschaften wie 
Erkenntnislehre, Ethik, Geschichtsphilosophie beschäftigen, die 
dem Ideenhistoriker besonders naheliegen. 

Zu der ersten Gruppe gehört bei Leibniz Ernst Cassirers 8 ) 
neues zusammenfassendes Werk, das das System Leibnizens zwar 
von Grund aus neu darstellt und in breiterem Rahmen und tiefer als 
die meisten Vorgänger (vor allem mathematisch) deutet, das aber 
der bei Leibniz so besonders wichtigen Entwicklungsgeschichte der 
philosophischen Gedankenwelt nur für einen Teil gerecht wird, zur 
zweiten etwa Rintelens 4 ) Aufsatz über Leibnizens Beziehungen 

*) Les philpsophes et la socidt£ frangaise, 1911. Vgl. H. Pieron, 
De l’influence sociale des principes Cartösiens: Revue de Synthese Hi- 
storique 5 (1902). 

*) L’influence fran£aise en Angleterre au 17« sikcle, 2 Bände, 1906. 

®) Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, 1902. 
W. Kabitz, Die Philosophie des jungen Leibniz, Untersuchungen zur 
Entwicklungsgeschichte seines Systems, 1909. 

4 ) Archiv für Geschichte der Philosophie 16 (1903). 


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J. Hashagen 


zur Scholastik und Heinrich Hoffmanns 1 ) religionsphilosophie¬ 
geschichtlicher Beitrag. Was Cassirer für Leibniz geleistet hat, ist 
für Kant wohl erst nach Erscheinen der auf 25 Bände berechneten 
Akademieausgabe möglich. Immerhin zeigt sich auch bei der Be¬ 
schäftigung mit Kant neuerdings mehr das erfolgreiche Streben nach 
ideengeschichtlicher Zusammenfassung. Neben R. A. Wenley 2 ) 
wäre Vorländers Aufsatzreihe „Kant — Schiller — Goethe“ 8 ) 
und A.Wernickes Darstellungder,, Begründung des deutschenldea - 
lismus durch Imm. Kant“ *) zu nennen. Vorländ er hat den Kant¬ 
forschungen auch mit einer kurzen Kantbiographie 6 ) genützt, der 
zwei weitere zusammenfassende, für einen weiteren Kreis bestimmte 
Überblicke von M. Kronenberg 6 ) und Oswald Külpe 7 ) an die 
Seite treten. Seitdem der Neukantianer H. Cohen 8 ) Kants Sitten¬ 
lehre als eine seiner Hauptlehren mit allen ihren Auswirkungen 
umfassend gewürdigt hat, istP. Menzer, der sich neben F. Medi- 
cus 9 ) auch um die Erforschung der Kantischen Geschichtsphilo¬ 
sophie 10 ) verdient gemacht hat, mit einer weniger dogmatischen 
und mehr entwicklungsgeschichtlichen Darstellung hervorge¬ 
treten. 11 ) Da Kants Verhältnis zum Christentum das Urteil der Zeit 
stark beeinflußt hat, so hat man ihm mit Recht mehr Beachtung 
geschenkt. 1 *) 

Während bei Kant das systematisch-sachliche Interesse immer 
vorwiegt und auch in den „Kantstudien“ und der 1904 gegrün- 


*) Die Leibnizsche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Stel¬ 
lung, 1903. Vgl. A. Görland, Der Gottesbegriff bei Leibniz: Philosophi¬ 
sche Arbeiten 1 (1907). 

*) Kant and his philosophical revolution, 1910. 

*) 1907; rec. H. Nohl, D. L. Z. 29 (1908). 

4 ) Ein Beitrag zum Verständnis des gemeinsamen Wirkens von Goethe 
und Schiller. Braunschweig, J. H. Meyer, 1910. 

*) 1911; rec. G. Jacoby, Archiv für Kulturgeschichte 9 (1911), S.49if. 

*) 4. Aufl, 1910. 

7 ) Aus Natur und Geisteswelt 146, 2. Auf!., 1908. 

, ) Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, 
Religion und Geschichte, 2. Aufl., 1910. W. Koppelmann, Die Ethik 
Kants, 1907; rec. F. Staudinger D. L. Z. 29 (1908). Fittbogen, Kants 
Lehre vom radikalen Bösen: Kantstudien 12 (1907). M. Weißfeld, Kants 
Gesellschaftslehre: Bemer Studien 52 (1907). 

*) Kants Philosophie der Geschichte: Kantstudien 7 (1902). 
l0 ) Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte, 19n. 
,l ) Kantstudien 2f. (1898 f.). 

**) Lülmann, Kants Anschauung vom Christentum: Kantstudien 3 
(1899). H. Staeps, Das Christusbild bei Kant: Kantstudien 12 (1907). 
O. Friedrich, Kants Auffassung vom Wesen des Christentums. Erlanger 
Dissertation 1909. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 109 


deten „Kantgesellschaft“ an erster Stelle steht, hat die besonders 
reizvolle Aufgabe einer Lebensbeschreibung Spinozas auf breitester 
zeitgeschichtlicher Grundlage von jeher die Forschung besonders 
gefesselt. Ein älteres holländisches Werk von K. 0 . Meinsma 1 ) ist 
1909 ins Deutsche übertragen worden. 2 ) Meinsmas Werk ist zwar 
teilweise tendenziös antikalvinistisch, auch begrifflich recht ver¬ 
schwommen. Von einer geistigen Durchdringung des Stoffes kann 
man kaum sprechen. Aber dieser wird in reicher Fülle, unter Her¬ 
anziehung vieler ungedruckter Materialien geboten, so daß die 
Übersetzung durchaus berechtigt ist. Nochvordem Erscheinen dieser 
Übersetzung hatte L. Freudenthal (t), der Führer der deut¬ 
schen Spinozaforscher, 1904 seine allgemein anerkannte Lebensbe¬ 
schreibung beendet, die kürzlich auch von jesuitischer 8 ) Seite, 
übrigens umstrittene, Ergänzungen erfahren hat. Auch die Würdi¬ 
gungen des Spinozismus haben von neuem lebhaft eingesetzt. 4 ) 

Nicht in demselben Umfange ist die englische und französische 5 ) 
Philosophie bearbeitet worden. Der Deismus 6 ) als Gesamterschei¬ 
nung wird immer noch über Gebühr vernachlässigt. Hier vor allem 
hätten auch sozialgeschichtliche Studien zur Philosophiegeschichte 
einzusetzen. Nicht minder erwünscht wäre eine einigermaßen ab¬ 
schließende Würdigung Lockes, wie sie für Hobbes 7 ) und neuer¬ 
dings für Hume 8 ) schon versucht worden ist. Die scholastische 
Vorgeschichte der Lockeschen Begriffe „tabula rasa“ und „quali- 
tates primae et secundae“ behandelt Clemens Bäumker im Archiv 
für Geschichte der Philosophie 21 f. (1908 f.) — 

*) Spinoza en zijn Kring, 1896. 

*) Spinoza und sein Kreis .... Deutsch von Lina Schneider. Ber¬ 
lin, Karl Schnabel, 1909. 

*) St. von Dunin-Borkowski, Der junge De Spinoza, 1910, und 
Aufsätze im Archiv für Geschichte der Philosophie. 

4 ) A. Wenzel, Weltanschauung Spinozas I, 1907. Franz Erhardt, 
Die Philosophie des Spinoza im Lichte der Kritik, 1908. Vortrefflich ist 
Carl Gebhardts Einleitung zum Theologisch-Politischen Traktat (3. Aufl.) 
(= Philosophische Bibliothek 93, 1908), Leipzig, Meiner. Vgl.R. Ä. Duff, 
Spinoza’s ethical and political theories, 1903. 

•) Siehe die späteren Berichte und dieses Archiv Bd. 11, S. 255 fr. über 
Voltaire. 

*) E. Crous, Die religionsphilosophischen Lehren Lockes und ihre 
Stellungzum Deismus...: Benno Erdmanns Abhandlungen z.Philos. 34 (1910). 

T ) Leslie Stephen, 1904. Von demselben: TheEnglishUtilitarians, 
3 Bde., 1900. 

*) A. Thomsen, 1912. Die Vorgeschichte und Geschichte des eng¬ 
lischen Empirismus behandelt teilweise auch R. Herbertz, Studien zum 
Methodenproblem und seiner Geschichte, Köln, DuMont-Schauberg, 1910. 
Über Shaftesbury s. die Bibliographie im Archiv für Geschichte der 
Philosophie 17 (1904). 


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I IO 


J. Hashagen 


Eine der LiebKngswissenschaften und Lieblingsbeschäftigungen 
des 18. Jahrhunderts ist die Pädagogik. Alle großen geistigen Be¬ 
wegungen dieser Zeit haben ihren ideengeschichtlich stets beson¬ 
ders lehrreichen theoretischen und praktischen pädagogischen Nie¬ 
derschlag gefunden. Wenn auch die ungemein umfangreiche Lite¬ 
ratur der letzten Jahre über diesen beliebten Gegenstand vielfach 
mehr von praktischen Gesichtspunkten und zufälligen Veranlas¬ 
sungen ausgeht, wie besonders die unübersehbar große Zahl von 
Geschichten einzelner Schulanstalten erkennen läßt, nicht immer 
zur Förderung wissenschaftlicher Gesamterkenntnis: so bietet 
doch diese Literatur im Verein mit mancher dankenswerten neuen 
Edition stets ideengeschichtliche Anregung genug. Die Ge¬ 
fühlsreaktionen lassen zwar ihrem Wesen entsprechend einen äu¬ 
ßerlich geringeren pädagogischen Niederschlag zurück als die Auf¬ 
klärung. Aber auch sie geben sich fast stets der Hoffnung hin, 
für ihre neue Lebensanschauung die Jugend zu gewinnen, und 
setzen diese Hoffnung auch vielfach in die Praxis um. Gleich der 
Pietismus hat hier so umgestaltend eingegriffen, daß eine Darstel¬ 
lung eines Teiles seiner Bestrebungen auf diesemGebiete für sich eine 
lohnende Aufgabe ist. Sie hat in O. Ut t e n d ö r f e r einen tüchtigen Be¬ 
arbeiter gefunden. x ) —Geistesgeschichtlich werden derartige Arbeiten 
am meisten befriedigen, wenn sie die Gedankenwelt der führenden Pä¬ 
dagogen auch über das engere pädagogische Gebiet hinaus unter¬ 
suchen. Besonders die neuerdings wieder stark belebte Pestalozzi¬ 
forschung kann dadurch gewinnen. Neben einer sehr förderlichen 
Gesamtwürdigung von A. Heubaum 2 ) sind auch speziellere Arbei¬ 
ten über Pestalozzis „Menschenbildung“ 3 ), seine „sozialethischen 
Anschauungen“ 4 ) und seine „religionsphilosophischen Hauptpro¬ 
bleme“ 6 ) heranzuziehen. — Für die Erforschung der Erziehungslehre 
der Aufklärung 6 ) bieten ein trefflicher, mit Chodowieckischen 
Kupfern geschmückter und fleißig kommentierter Neudruck des 
Basedowschen Elementarwerks, herausgegeben von Th. Fritzsch 7 ), 
sowie die von F. Jonas und F. Wienecke 8 ) besorgte Edition der 
sämtlichen pädagogischen Schriften F. E. v. Rochows willkom¬ 
mene Hilfsmittel. Neben der letzteren steht eine brauchbare Auswahl 

*) Das Erziehungswesen Zinzendorfs und der Brüdergemeinde, Mo- 
numenta Germaniae Paedagogica 51, 191z; ree. Ph. Meyer, Gött. Gelehrte 
Anzeigen 175 (1913). 

*) Die großen Erzieher 3, 1909: ree. P. Natorp, D. L. Z. 31 (1910). 

*) W. Frey tag, Leipziger Dissertation 1907. 

4 ) P. Graudlitz, desgl. 1911. 

6 ) L. Cadier, Haller Dissertation 1910. P. Natorp, Pestalozzi und 
Rousseau: Ges. Abh. 1, 1907. K. Muthesius, Goethe und Pestalozzi, 1908. 

®) A. Römer, Gottscheds pädagogische Ideen, 191z. (Leipz. Diss. 1911). 

7 ) 3 Bde., 1909. 8 ) 4 Bde., 1907—1910. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 j t x 


von J. Gänsen. 1 ) Von besonderem geistesgeschichtlichen Interesse 
sind die mehr oder minder starken Reflexe, die die aufklärerische 
Pädagogik auch in katholischen Gebieten aufzuweisen hat. Beson¬ 
ders fruchtbar erweisen sich dabei Vergleiche zwischen dem 17. 2 ) 
und dem 18. Jahrhundert. 3 ) Auch Forschungen über die äußere 
Lage des Lehrerstandes, wie Max Moser 4 ) sie in einer fleißig 
ausgeführten Spezialstudie für den Breisgau darbietet, sind bei 
einer Würdigung des Ideengehaltes der Pädagogik unserer Periode 
nicht zu entbehren. Außerordentlich zersplittert sind die Unter¬ 
suchungen über das Mittelschulwesen. Auf sie sowie besonders auf 
die Arbeiten über die preußische Mittelschulreform sei nur im all¬ 
gemeinen verwiesen. 8 ) 

Die Jubiläen der Universitäten Gießen und Leipzig haben in 
dan Jahren 1907 und I909ff. zu besonders hochstehenden histori¬ 
schen Würdigungen Anlaß gegeben, die auch auf das Geistes¬ 
leben unserer Periode viel neues Licht werfen. P. Drews 8 ) 
schildert im besonderen das Eindringen der Aufklärung in die Uni¬ 
versität Gießen, Bruchmüller den Leipziger Studenten des 18. 
Jahrhunderts. 7 ) Die neue Ausgabe von „Magister Laukhards 
Leben und Schicksalen“ von Petersen-Holzhausen 8 ) enthält viel 
Interessantes zur allgemeinen Universitätsgeschichte. — 

Dagegen wird der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte viel¬ 
leicht noch nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Wie 
sie geistesgeschichtlich fruchtbar zu behandeln ist, zeigt Ernst 
Landsberg in vorbildlicher Weise in seiner Geschichte der deut¬ 
schen Rechtswissenschaft. Auch Adolf Harnacks grundlegen¬ 
des und abschließendes Werk über die Berliner Akademie 9 ) for¬ 
dert zu geistesgeschichtlicher Verwertung heraus. Insbesondere 
die Geschichte der Geschichtswissenschaft ist neuerdings auch für 

*) 2. Aufl., 1908. Paderborn, Schöningh. 

*) A. L. Veit, Das Volksschulwesen in Kurmainz unter Erzbischof 
Johann Philipp von Schönbora. Gießener Dissertation 1909. 

*) J. Niedieck, Das Erziehungs- und Bildungswesen unter dem letzt¬ 
regierenden Kurfürsten vonCöln, Max Franz. Münsterer Dissertation 1911. 
Vgl. W. O. Nicolay, J. J. Felbiger, Bonner Dissertation 1908. 

4 ) Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 3 (1908). Vgl. 
die wichtige Arbeit von F. Vollmer, Friedrich Wilhelm I. und die Volks¬ 
schule, 1909; ree. W. Stolze, Hist. Zschr. 107 (1911). 

*) Vgl. F. Straßburger, Die Mädchenerziehung in der Geschichte 
der Pädagogik des 17. und 18. Jahrhunderts, Erlanger Dissertation 1911. 

*) Preußische Jahrbücher 130 (1907). 

*) Neues Archiv für sächsische Geschichte 29 (1908). 

®) 2ßde., 1908—9. Memoirenbibliothek II. Serie, Bd. 14, 15. Stuttgart, 
Robert Lutz; rec. Edward Schröder, G. G. A. 172 (1910). 

*) Vgl. F. Masson, L’acaddmie frangaise, 3. Aufl., Paris [1913]. 


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I I 2 


J. Hashagen 


unsere Periode durch das in mancher Hinsicht treffliche Werk 
Eduard Fueters 1 ) weit unbefangener als früher gewürdigt und 
auch stofflich bereichert 2 ) worden. W. Sulzbach zeigt in seiner 
belehrenden Schrift über die Anfänge der materialistischen Ge¬ 
schichtsauffassung (1911) sehr deutlich, wieviel das 19. auch auf 
diesem Gebiete dem 18. Jahrhundert verdankt. Die späteren Be¬ 
richte werden auf das ideengeschichtlich ertragreiche Gebiet der 
Wissenschaftsgeschichte noch besonders zu achten haben. Zum 
ersten Male hat Karl Lamprecht in seiner Deutschen Geschichte 
größere Abschnitte daraus zur Aufhellung der allgemeinen Zu¬ 
sammenhänge herangezogen. Aus der Fülle der Spezialliteratur sei 
die Untersuchung über ,,die Hellenisierung des Christentums in 
der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart“ 
von Walter Glawe 3 ) genannt, weil sie über die behandelte Einzel¬ 
wissenschaft hinaus und zur allgemeinen Geistesgeschichte häufiger 
hinüberführt. Noch bedeutender ist der Beitrag, den Th. Zielinsky 
in seinem schönen Buche über „Cicero imWandel der Jahrhunderte“ 4 ) 
zur Charakteristik der englischen und französischen Aufklärung 
liefert. Auch hier sind Diltheys Arbeiten, dessen Gesammelte 
Schriften jetzt zu erscheinen beginnen, unschätzbar. 

VII. 

Die Literaturgeschichte ist sich neuerdings, besonders unter dem 
Einflüsse Hayms und Diltheys, immer mehr ihrer ideengeschicht¬ 
lichen Verpflichtungen bewußt geworden. Neue Fachzeitschriften 
wie die Annales de la sociötö Jean-Jacques Rousseau seit 1904, 
die Revue Germanique seit 1905 und die Germanisch-Romanische 
Monatsschriftseit 1908 geben solchen Arbeiten mehr Raum. Auch die 
mehr systematisch gerichteten Zeitschriften, wie Dessoirs Zeitschrift 
für Ästhetik seit 1905, der Logos seit 1910 und die Imago seit 
1912 wirken in dieser Richtung. Dasselbe gilt von der ausgezeich¬ 
neten Revue de Synthese Historique, die in Deutschland noch nicht 
genügend bekannt ist, obwohl sie schon seit 1900 erscheint und über 
das Gebiet der Literaturgeschichte weit hinausgreift. Aber nicht 

') Geschichte der neueren Historiographie, 1911; rec. Westdeutsche Zeit- 
schrift31(1912). Hier weiteres über die Literatur zur Geschichte der Geschichts¬ 
schreibung unserer Periode. Nachzutragen ist u. a ein Hinweis auf M. 
Ritters Studien in der Historischen Zeitschrift 112 (1913). 

*) Vgl.noch L.D a v i 11 6 , Leibniz historien, Essai sur l’activitö et la möthode 
historique de Leibniz, 1909, und Revue de synthfcse historique 23L (1912); 
M. Schurig, Die Geschichtsschreibung des Grafen Heinrich von Bünau, 
Leipziger Dissertation 1911, und besonders O. Klemm, Vico als Ge¬ 
schichtsphilosoph und Völkerpsycholog, 1906. 

*) Neue Studien zur Geschichte der Theologie und Kirche 15 (1912). 

4 ) 3. Auf!., 1912. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 113 


nur die organisierte wissenschaftliche Arbeit läßt hier Fortschritte 
erkennen, die dem Kulturhistoriker besonders lieb sind, sondern 
auch einzelne literarhistorische Forscher wie Oskar F. Walzel 1 ) 
stellen sich mit Bewußtsein in den Dienst der neuen zukunftsreichen 
,,Richtung“, ohne die nötige philologische Kleinarbeit darüber 
zu vernachlässigen. Die Grenze nach der Geschichte der Philo¬ 
sophie hinüber wird dann leicht flüssig, aber das ist nur ein Vor¬ 
teil, wie man auch an den verschiedenen Arbeiten Eugen Kühne¬ 
manns über unsere Periode feststellen kann. Aus Lamprechts 
Schule ist jüngst eine interessante „Geschichte des Übersetzens 
im 18. Jahrhundert“, verfaßt von W. Fränzel (Lamprechts Bei¬ 
träge 25, 1914) hervorgegangen* — 

Die Einzelforschung geht unbeschadet dessen ihren Weg, 
freilich oft mit so schwerem philologischen Gepäck belastet, daß 
der für die Ideengeschichte dabei herausspringende Ertrag zu der 
aufgewendeten Arbeit in keinem Verhältnisse mehr steht. Die 
Literaturgeschichte hat den ganzen Zeitraum von der Mitte des 
17. bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts mit einer Fülle von 
Einzeluntersuchungen übersponnen. Schon für das 17.Jahrhun¬ 
dert (s. die späteren Berichte) ist die Ernte überreich. Eine 
Zeitlang ist dann die Periode des 18.Jahrhunderts vor dem 
Auftreten Klopstocks vielleicht etwas vernachlässigt worden. 
Aber auch darin ist neuerdings ein Wandel eingetreten, vor allem 
durch den lauten Vorstoß, den Eugen Reichel 2 ) zugunsten 
Gottscheds unternommen hat. Seine Gottschedbiographie um¬ 
faßt zwar über 1700 Seiten und ist, wie uns der Verfasser mitteilt, 
ursprünglich auf fünf Bände berechnet gewesen. Sie ist aber kein 
würdiges Gegenstück zu den erlesenen klassischen biographischen 
Werken, die wir über das 18. Jahrhundert bereits besitzen. Daran 
ist einmal schuld die alles Maß und Ziel überschreitende apologe¬ 
tische Tendenz. Man wird gewiß die etwas einseitigen Verdam¬ 
mungsurteile früherer Gottschedforscher nicht gutheißen. Wer 
aber so wie Reichel alle Entgleisungen seines Helden beschönigt, 
wer vor allem beim Vergleich mit anderen so völlig jeden Maßstab 
verliert, der kann trotz allen Fleißes und aller Entsagung wissen¬ 
schaftlich kaum noch ernst genommen werden. Alle Gegner 
Gottscheds werden systematisch verkleinert, nicht nur die Klas¬ 
siker, besonders natürlich Lessing, sondern auch „Vorläufer“ wie 
Leibniz, Pufendorf, Thomasius, denen Gottsched doch nicht das 

*) Analytische und synthetische Literaturforschung: Germanisch-roma¬ 
nische Monatsschrift 2 (1910). R. Unger, Walzels Aufsätze zur deutschen 
Geistesgeschichte, D. L. Z. 33 (191z). 

*) Gottsched. 2 Bde. Berlin, Gottschedverlag, 1908—1912; ree. Leg¬ 
band, Archiv für Kulturgesch. 10 (1913), S. 498f. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 8 


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114 J. Hashagen 


Wasser reicht, und Georg Friedrich Meier, der durchaus ach¬ 
tungswerte Kritiker der ,,Critischen Dichtkunst“. Reichel be¬ 
handelt Gottscheds Gegner schlechter, als Gottsched je von 
seinen literarhistorischen Gegnern behandelt worden ist. Es wäre 
aber weiter ein großer Irrtum, wenn man Reichels Fehler nur in 
seiner Tendenz erblicken wollte. Denn trotz des ungeheuren Um¬ 
fangs dieser Biographie läßt sie Grundfragen der Gottschedfor¬ 
schung ohne befriedigende Lösung. Die Antwort auf die Frage 
nach dem Verhältnis Gottscheds zu den Schweizern wird I, S. 292, 
Anm. 7 geradezu beiseite geschoben. Und Gottscheds inneres Ver¬ 
hältnis zu Wolff wird ebensowenig genauer untersucht wie sein 
Verhältnis zur Aufklärung überhaupt. In seinem Zorne sieht der 
Verfasser den Wald vor Bäumen nicht mehr und unterläßt das 
Nächstliegende: eine Schilderung Gottscheds als typischen Lite¬ 
raten und Kritikers der Aufklärung. Aber auch bescheidenere 
Wünsche wie z. B. der nach einer wirklichen Analyse des Sterben¬ 
den Cato werden nicht erfüllt. Das Beste an Reichels mühevoller 
Arbeit ist die Feststellung der äußeren Lebensverhältnisse und der 
dramaturgischen Reformbestrebungen. Zu einem tieferen Ein¬ 
dringen in Gottsched und seine. Zeit ist der Verfasser nicht fähig. 
Die literarhistorische Schulung, auf die doch auch die erwähnte 
ideengeschichtliche Richtung der Literaturforschung das größte Ge¬ 
wicht legt, ist bei ihm nur mangelhaft entwickelt. Das muß man 
bedauern; denn es gibt gewiß wenige Bücher über die Literatur¬ 
geschichte des 18. Jahrhunderts, die so gut gemeint sind wie diese 
monumentale „Rettung“. Auch K. Aners Buch über Gottscheds 
Nachfahren Nicolai 1 ) ist etwas apologetisch gehalten, steht aber 
durchweg in wohltuendem Gegensätze zu Reichels Unternehmen, 
besonders auch deshalb, weil Aner Nicolai als Theologen gründ¬ 
lich würdigt und sich damit auf festem fachwissenschaftlichen 
Boden bewegt. Auch sonst werden die vorklassischen bzw. anti¬ 
klassischen Schulen von der gelehrten Arbeit nicht vernachlässigt, 
und der herkömmlichen Motivenforschung wird man nur dankbar 
sein, wenn sie so wesentliche Bereicherungen des Bildes bringt wie 
bei F. Ausfeld in seiner Arbeit über die deutsche anakreontische 
Dichtung des 18. Jahrhunderts. 2 ) 

Vor der Überschätzung der älteren Richtungen, wie sie bei 

*) Der Aufklärer F. Nicolai: Studien zur Geschichte des neueren 
Protestantismus, herausg. von Hoffmann undZschamack6(i9i2). Vgl. von 
demselben: G. Ploucquets [+ 1790] Leben und Lehren: Erdmanns Ab¬ 
handlungen 23 (1909). Halle, Niemeyer. 

*) Ihre Beziehungen zur französischen und zur antiken Lyrik: Quellen 
und Forschungen usw. 101 (1907). E. Stemplinger, Das Fortleben der 
Horazischen Lyrik seit der Renaissance, 1906. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 115 


Reichel hervortritt, bleibt man am besten bewahrt, wenn man 
sich der Entstehungsgeschichte der neuen deutschen Ästhetik 
erinnert, die ohne den Gegensatz gegen die Gottschedischen An¬ 
schauungen nicht zu denken ist. E. Bergmann 1 ) hat dieses wich¬ 
tige Stück der deutschen Geistesentwicklung u. a. durch seine 
gründliche Arbeit über die beiden Anfänger Baumgarten und 
Meier neu erschlossen. Von hier aus wird sich das Bedürfnis 
einer genaueren Untersuchung der Anregungen des Auslandes, 
besonders Englands, als Notwendigkeit ergeben. Den englischen 
Einflüssen wird neben den französischen auch sonst mit Recht 
besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 2 ) 

Internationale Weite des Blicks ist auch einer der vielen Vorzüge 
desbedeutendenWerkes von R. Unger über,, Hamann und die Auf¬ 
klärung" (2ßde., 1911), das besonders auch als Beitrag zur Geschichte 
der Ästhetik zu gelten hat. Deshalb schildert schon die aufschlu߬ 
reiche Einleitung einmal die alte Ästhetik, namentlich die auf der 
zugleich rationalistischen und einseitig attisierenden aristotelischen • 
Poetik beruhende Renaissancepoetik und ihr „letztes Bollwerk": 
Gottsched, der hier im Gegensätze zu den Verschwommenheiten 
Reichels wirklich historisch begriffen wird, und sodann im Kampfe 
mit der alten die neue Ästhetik, wie sie sich aus der neuen Psycho¬ 
logie in England 8 ), Frankreich und schließlich auch in Deutsch¬ 
land entwickelt. Ihr Vorkämpfer ist auch Hamann, der aber 
mit der Vorstellung vom Ästhetischen als einer „anderen Seite 
des Religiösen“ alle äußeren Anregungen, z. B. die Youngs, ganz 
individuell verarbeitet. Deshalb wird auch die Analyse der 
Aesthetica in Nuce als einer der Höhepunkte des Werkes gestaltet. 
Von hier aus ergibt sich dem Verfasser als die schöpferische Haupt¬ 
tat Hamanns die Verschmelzung des Religiösen mit dem Ästheti¬ 
schen, des Sinnlichen mit dem Übersinnlichen, die Verbindung 
von Moses und Bacon (I, S. 244). Schon die Einleitung verfolgt im 
Hinblick darauf die Einwirkung des Pietismus und des wieder 
z. T. englisch bedingten Sensualismus — auch Hume fehlt nicht — 
auf die Literatur: der Pietismus, aber auch „der paulinische Glau¬ 
benstrotz des älteren Luthertums“ (I, S. 126), und ferner der Sen¬ 
sualismus sind die beiden entscheidenden zeitgeschichtlich gegebe¬ 
nen Gedankenrichtungen, in deren Dienste Hamann den „For¬ 
malismus und Intellektualismus der Renaissanceästhetik von innen 


*) Die Begründung der deutschen Ästhetik durch A. G. Baumgarten 
und G. F. Meier. Leipzig, Schunke, 1911; rec. E. Spranger, Historische 
Zeitschrift 108 (1912). 

*) Über das Ausland s. die späteren Berichte. 

*) M. Joseph, Die Psychologie Homes. Haller Dissertation 1911. 

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ix6 J. Hashagen 


heraus“ (I, S. 205) überwindet. Von innen heraus; denn Unger 
ist weit davon entfernt, über all den zeitgeschichtlichen „Ab¬ 
leitungen“ die große Persönlichkeit des Magus aus den Augen 
zu verlieren. Sie wird mit tiefem psychologischen Verständ¬ 
nisse und entschiedener Gestaltungskraft geschildert. Eine 
•der unverständlichsten Geistesgrößen des i 8. Jahrhunderts wird erst 
jetzt für das allgemeine wissenschaftliche Bewußtsein zurückge¬ 
wonnen. Und dabei gibt der Verfasser keineswegs einen Panegyri- 
cus. Er bezeichnet vielmehr die Grenzen des Hamannschen 
„Genies“ überall deutlich, wenn er auch bisweilen zu sehr mit 
Hamannschem Auge sieht und der merkwürdigen, ganz individuell 
gearteten Interferenz zwischen Religion und Schönheitsdurst bei 
Hamann vielleicht eine zu große allgemeine Bedeutung beimißt. 
So sehr Unger bemüht ist, seinen Helden mit der Vergangenheit 
und der eigenen Zeit zu verknüpfen, so aufmerksam spürt er 
doch auch dem Prophetischen in Hamanns Wesen und Geistes¬ 
arbeit überall nach. Sturm und Drang und Romantik, aber auch 
die Identitätslehre des „objektiven Idealismus“ (I, S. 188) sind 
bei Hamann vorbereitet. Erst durch Ungers Werk gewinnt man 
einen erschütternd tiefen Einblick in die gewaltige Kraft der hef¬ 
tigsten Gefühlsreaktion, wie sie zuerst einen einzelnen Men¬ 
schen läutert und dann von da aus die neue literarische Kultur 
der produktiven Geister hervorruft. Es ist deshalb auch kein Zu¬ 
fall, daß der Verfasser die beiden älteren Gefühlsreaktionen, 
Pietismus und Empfindsamkeit, zugleich mitbeleuchtet. Wenn 
Plenge (s. oben) S. 11, Anm. 5 an dem Hamannbilde Kronenbergs eine 
„ungesunde Idealisierung“ bemängelt, so müßte Plenge das auch 
gegenüber demUngerschenBilde tun, wenn dieser auch dieBedeutung 
der Mystik im engeren Sinne für Hamann vorsichtiger bewertet 
als Kronenberg. Aber der Reichtum dessen, was Ungers wissen¬ 
schaftliche Rekonstruktion bietet, wird leicht davon überzeugen, 
daß ein solcher Vorwurf kein Recht hätte. Eine andere Frage ist, 
ob Unger seine Aufgabe nicht weniger umständlich und unüber¬ 
sichtlich hätte lösen können. Trotzdem ist das Werk auch durch 
gute zusammenfassende Rückblicke und zusammenfassende 
Sätze ausgezeichnet: „Wo Lessing höchsten Kunstverstand sah, 
erschaute der Magus die Naturkraft des Genies“ (I, S. 228). Die 
Literaturgeschichte in ihrer Stellung als fruchtbare Hilfswissen¬ 
schaft der Ideengeschichte ist von Unger an einem glänzenden 
Beispiele vorgeführt worden. Ein anderes bleibendes Verdienst, 
das sich Unger um die Deutung der dunklen Schriften Hamanns 
erworben hat, kann hier nur noch andeutungsweise erwähnt wer¬ 
den. Daß Hamann jetzt auch als religiöser Reformator in hellem 
Lichte erscheint, ist ebenfalls ein schöner Ertrag der Arbeit Ungers, 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. i8co 1x7 


der durch zeitgeschichtliche, z. B. von F. Strich 1 ) aufgedeckte 
Parallelen nicht beeinträchtigt wird. 

Der Sturm und Drang, zu dessen Anfängern Hamann beson¬ 
ders als Lehrer Herders gehört, ist schon seit der Literaturrevo¬ 
lution der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts auch von 
der wissenschaftlichen Forschung mehr beachtet worden. Neuer¬ 
dings haben eine Anzahl kritischer und sonstiger Ausgaben hier erst 
die sichere Grundlage geschaffen, so bei Bürger und Lenz und be¬ 
sonders bei dem zum Klassizismus hinüberführenden Heinse. In¬ 
gleichen ist die Literatur über den Sturm und Drang stark ange¬ 
schwollen. Außer Klinger, Maler Müller, Moritz, Sprickmann u. a. ist 
namentlich das vielumstrittene Bild Schubarts sorgfältig, wenn auch 
keineswegs abschließend nachgezeichnet worden. Wegen der vielen 
aufklärerischen Überbleibsel, die sich bei Schubart noch finden, 
bietet seine Gestalt ein besonderes entwicklungsgeschichtliches 
Interesse. Außerdem beobachtet man bei fast allen Vertretern 
dieser lebensvollen Richtung eine innige Wechselwirkung zwischen 
Ideen und gesellschaftlich-politischer Umwelt, welche auch an 
dieser Stelle die Literaturforschung über die Fachgrenzen mit 
Notwendigkeit hinausführt und für die allgemeine Kulturgeschichte 
fruchtbar macht. Wenn auch beim Sturm und Drang das moderne 
Interesse vor allem auf die Ästhetik, z. B. bei Bürger und Heinse 2 ), 
oder auch auf die Dramaturgie im besonderen gerichtet ist, so 
darf man das als neues Zeichen für die wachsenden ideengeschicht¬ 
lichen Interessen der Literaturgeschichte, die dann mit der Philo¬ 
sophiegeschichte nahe zusammengeht, ansehen. Erst so wird 
auch diese ganze Literatur für die noch vielfach unerforschte 
Geschichte der Vorromantik zu greifbaren Ergebnissen führen. 

Für die Aufdeckung solcher Zusammenhänge hat unter den 
Klassikern von jeher Herder die Forschung besonders angezogen. In 
Kühnemanns 1912 in zweiter Auflage erschienenem feinsinnigen 
Herderbuche kommt das ebenso zum Ausdruck wie in zahlreichen 
Spezialarbeiten, die freilich den Mann mehr vom Standpunkte 
seiner Bedeutung für einzelne Fachwissenschaften, wie namentlich 
für die Philosophie 8 ) und für die Theologie 4 ), behandeln, als daß 

l ) Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis 
Wagner, 2 Bde., 1910; ree. Richard M. Meyer, Euphorion 19 (1912). 

*) E. Utitz, Heinse und die Ästhetik zur Zeit der deutschen Auf¬ 
klärung, 1907. W.Brecht, Heinse und der ästhetische Immoralismus, 1911. 

*) C. Siegel, H. als Philosoph, 1907. G. Jacoby, H.s und Kants 
Ästhetik, J907. H. in der Geschichte der Philosophie: D. L.Z, 29 (1908). 

*) R. Wielandt, H.s Theorie von der Religion und den religiösen 
Vorstellungen, 1903. G. E. Burckhardt, Die Anfänge einer geschicht¬ 
lichen Fundamentierung der Religionsphilosophie. Berlin, Reuther & 
Reichard, 1908. 


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118 


J. Hashagen 


sie einzelne Phasen seiner geistigen Entwicklung allseitig genauer 
untersuchten. 1 ) Die Geschichts- und Kulturphilosophie, Herders 
größte Leistung, ist kürzlich nach dem Vorgänge von Kühne¬ 
mann 2 ) in zwei Aufsätzen von O. Braun 8 ) in ihrer Entwicklung 
geschildert worden. Zu der Größe des Gegenstandes stehen aber 
diese Aufsätze in keinem ganz angemessenen Verhältnisse; denn 
ihr Verfasser begnügt sich mit einer zu kurzen Analyse der fast 
von Anfang an geschichtsphilosophisch gerichteten Gedankenarbeit 
Herders. Weder werden hier die merkwürdigen Gegensätze z. B. 
zwischen der Bückeburger Programmschrift und den Ideen scharf 
genug herausgearbeitet, noch wird den zeitgeschichtlichen Zu¬ 
sammenhängen größere Aufmerksamkeit geschenkt. So können 
die Aufsätze mehr nur als auf Herder beschränkte fleißige Vorar¬ 
beit aufgefaßt werden, und eine tiefere Entwicklungsgeschichte 
der Herderschen Geschichtsphilosophie, zu der Suphans ausge¬ 
zeichnete Ausgabe, soweit Herder selbst in Betracht kommt, 
alles Nötige bietet, wäre erst von der Zukunft zu erwarten. 4 ) 

Bei Lessing überschattet Erich Schmidts 1909 in dritter Auf¬ 
lage erschienene Biographie ähnlich wie Kosers Werk bei Friedrich 
dem Großen so sehr alles andere, daß die Lessingforschung mehr 
nur auf die Spezialarbeit 6 ) beschränkt zu sein scheint. Außer 
kleineren zusammenfassenden Arbeiten verdient aber neben Erich 
Schmidt Karl Borinskis schon seit längerer Zeit vorliegende, 
für einen weiteren Kreis bestimmte Biographie 6 ) wegen der 
Selbständigkeit ihres Urteils alle Beachtung. Außerdem hat aber 
Erich Schmidts doch immer mehr artistisch gerichtetes Werk 
Lessings Stellung in der allgemeinen Geistesgeschichte natürlich 
nicht abschließend behandeln wollen. So haben sich neuere Ar¬ 
beiten besonders der Philosophie und Theologie Lessings zu¬ 
gewandt. P. Lorentz gibt im 119. Bande der Philosophischen 
Bibliothek (1909) durch Zusammenstellung der philosophischen 
Schriften einen überraschenden Einblick in die Interessen und 
Leistungen des Mannes auf diesem Gebiete. Auch die von neuem 
wieder einsetzende Beschäftigung mit Lessing im Alter und beson¬ 
ders mit seiner dem Verständnis und der historischen Einordnung 

x ) H. Stephan, H. in Bückeburg, 1905. Von demselben: H.s Philo¬ 
sophie (=» Philos. Bibliothek 112, 1900). 

*) Deutsche Monatsschrift 5 (1904). 

^Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 144-145 
(1911—1912) und Historische Zeitschrift 110 (1913). 

4 ) Vgl. R Unger, Zur neueren Herderforschung: Germanisch-roma¬ 
nische Monatsschrift 1 (1908). 

*) Z. B. F. Rosiger, Lessings Heldenideal und der Stoizismus: Neue 
Jahrbücher etc. 19 (1906). 

*) Lessing, 2 Bde., Geisteshelden 34/35, 1900. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 11 g 


in jeder Hinsicht große Schwierigkeiten entgegenstellenden „Er¬ 
ziehung des Menschengeschlechtes“ findet hier, abgesehen von der 
kritischen 1 ) Frage, ihre Erklärung. 

Manche Leistung der vielgeschmähten Goethephilologie ist 
gewiß den ideengeschichtlichen Interessen wenig entgegengekom¬ 
men. Aber der Tiefpunkt ist doch auch hier längst überschritten. 
Der kostbare Fund eines Goethischen Jugendwerkes, des Ur- 
meisters 2 ), der G. Billeter in Zürich 1910 gelungen ist, fordert 
gewiß zunächst zu sorgfältigster philologischer Vergleichung mit 
den Lehrjahren heraus. Er wird aber auch für eine geistesgeschicht¬ 
liche Charakteristik des jungen Goethe bald unschätzbar werden. 
Goethe ist zu reich, als daß ihm eine nur artistische Betrachtung 
je gerecht werden könnte. Die Neuschöpfung des Geisteslebens, 
die er in sich vollzieht, bleibt darüber hinaus immer der vornehmste 
Gegenstand der Forschung. Zu dieser Erkenntnis gelangt man 
schon auf Grund der wertvollen Studie von E. A. Boucke 8 ) und 
manches anderen später zu würdigenden allgemeinen Goethe¬ 
buches. Größere Zusammenhänge unparteiisch darzustellen, er¬ 
schwert Goethe selbst besonders. Otto Harnack*) schildert 
von Goethe als Gipfel aus skizzenhaft die Entwicklung des Klassi¬ 
zismus als „Stilprinzipes“, wobei auch Vorbereiter wie J. H. Voß, 
J. H. Merck u. a. sowie die Epigonen zu ihrem Rechte kommen. 
Da sich aber Harnack schon in seinen früheren wichtigen einschlä¬ 
gigen Arbeiten selbst als Klassizisten ausweist, so hat er auch dies¬ 
mal nicht die nötige Distanz. 

Die im letzten Jahrzehnt ganz wesentlich bereicherte und ver¬ 
tiefte Literatur über Schiller und die Brüder Humboldt soll später 
behandelt werden. Auch Wieland findet schon wegen seiner Be¬ 
ziehungen zur Romantik und im Anschluß an die seit 1909 er¬ 
scheinende Akademieausgabe steigende Beachtung. E. Erma- 
tingers Untersuchung über die Weltanschauung des jungen 
Wieland 5 ) begründet vermittels einer eingehenden Betrachtung 
der Jugendschriften der fünfziger Jahre, besonders des Lehrge¬ 
dichtes von der Natur der Dinge, zwei auch innerlich berechtigte 

') H. Scholz: Preußische Jahrbücher 155 (1914). 

*) Wilhelm Meisters theatralische Sendung, herausg. von Harry 
Maync, 1911. 

*) Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage, 1907; rec. 
M. Morris, Euphorion 16 (1909). Vgl. E. Menke-Glückert, Goethe als 
Geschichtsphilosoph: Lamprechts Beiträge 1 (1907). 

4 ) Der deutsche Klassizismus im Zeitalter Goethes. Eine literarhisto¬ 
rische Skizze. 1906; rec. R.Weißenfels, Gött. Gelehrte Anzeigen 171 (1909). 

®) Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, 1907; rec. Seuffert, 
Euphorion 17 (1910). — Ermatinger, Das Romantische bei Wieland: 
Neue Jahrbb. etc. 11 (1908). 


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120 J. Hashagen 


Thesen: die relative geistige Selbständigkeit des jungen Wieland 
und im Zusammenhang damit die relative Kontinuität in seiner 
inneren Entwicklung. Manches hätte vor einen breiteren Hinter¬ 
grund gestellt werden können. Auch ist der Untertitel ,,ein Bei¬ 
trag zur Geschichte der Aufklärung“ nicht ganz gerechtfertigt. 
Denn Ermatingers Studie ist mehr ein Beitrag zur Vorgeschichte 
des Neuhumanismus, die man über der Vorgeschichte der Romantik 
nicht vergessen sollte, zumal da auch Hemsterhuis in ihr so erfolg¬ 
reich arbeitet, weshalb auch Shaftesburys Einfluß auf Wieland von 
Ermatinger mit Recht näher geprüft wird. 

Es liegt nicht mehr in der Absicht dieses skizzenhaften Eröff¬ 
nungsberichtes, auf die Literatur zur Romantik einzugehen, ob¬ 
schon die gesamte Frühromantik noch dem 18. Jahrhundert an¬ 
gehört und der geistesgeschichtliche Ausgang des Jahrhunderts 
ohne tieferes Studium auch der Blüte und des Verfalls der Romantik 
nicht zu verstehen ist, wie besonders F. Meineckes „Weltbürger¬ 
tum und Nationalstaat“ (2. Aufl. 1911) und schon A. Poetzschs 
„Studien zur frühromantischen Politik und Geschichtsauffassung“ 
(Lamprechts Beiträge 3, 1907) trefflich erkennen lassen. Der 
ideengeschichtliche Aufschwung, den speziell die Literaturgeschichte 
in der letzten Zeit genommen hat, ist nirgends so deutlich zu spüren 
wie bei einer Reihe von ausgezeichneten Arbeiten über die Roman¬ 
tik. — Der energische Übergang von äußerlicher Motivenforschung 
und „Parallelenjagd“zur Ideengeschichte führt aber auch zu neuen 
ungeahnten Schwierigkeiten. Die höheren Ziele, die sich diese 
Forschung jetzt steckt, sind nur mit außergewöhnlichen Mühen zu 
erreichen. Aus solchen neuen und neu geschaffenen Verwicklungen 
erklärt es sich auch, daß geistige Charakterbilder, die in den Haupt¬ 
zügen schon festzustehen schienen, von neuem einer Flut vonKontro- 
versen verfallen sind. Das beste Beispiel dafür ist Heinrich von 
Kleist. Sein Schaffen gehört zwar fast ganz erst dem ersten Jahrzehnt 
des 19. Jahrhunderts an. Aber was von der Romantik gilt, ist 
auch für ihn richtig: von der Kleistforschung wird auch die 
Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts nachhaltig befruchtet. Von 
der einen Seite wird Kleist, wenigstens der Dramatiker Kleist, auf¬ 
gefaßt als einer der Vollender des Klassizismus 1 ); auch die bei ihm 
deutlichen Gegensätze gegen die Romantik werden nicht über¬ 
sehen. 8 ) Von hier aus wäre auch das sonst so ergebnisreiche 
Buch Steigs zu berichtigen, das Kleists Einigkeit mit .den Roman¬ 
tikern zu überschätzen scheint. Bei aller Begeisterung für Kleist 


') H.Meyer-Benfey, Das Drama Heinrich von Kleists, 2Bde„ 1911. 
*) E. Kayka, Kleist und die Romantik: Munckers Forschungen 31 
(1906). 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 121 


verwendet die zünftige Kleistforschung aber oft noch recht ratio¬ 
nalistische Maßstäbe. Gegen diese richtet Julius Hart in seinem 
„Kleistbuch“ [1912] einen heftigen, aber nicht unbegründeten 
Angriff. Der Kampf der Natur und des Gefühles, der Naturethik 
und der Naturästhetik bei Kleist erscheint Hart als das Wesent¬ 
liche in Kleists Entwicklung. Eben damit behandelt das Buch 
ein dem 18.Jahrhundert geläufiges Problem. Kleist wäre dann, 
wie auch Hart meint, der Vollender des Sturmes und Dranges 
und damit einer der mächtigsten Gefühlsreaktionen des 18. Jahr¬ 
hunderts. Man braucht dafür neuerdings gern den Ausdruck 
Irrationalismus. Er würde dann auch auf Kleist in vollem Um¬ 
fange anwendbar sein. Übrigens sollten sich auch die Historiker 
der deutschen Erhebungszeit, denen Kleist noch recht fremd zu sein 
scheint, nicht entgehen lassen, was Kleist z. B. im Kohlhaas 
und besonders im Prinzen von Homburg nach Hart wirklich ver¬ 
ficht. Das viele Neue, was außer Erich Schmidt besonders Rahmer 
und auch Wilhelm Herzog über Kleist gebracht haben, scheint 
für Leben und Werke Kleists der Hartschen Auffassung manche 
Stütze zu bieten. 


VIII. 

In der Geschichte der Staatsanschauungen im Zeitalter des 
Absolutismus sind gerade für Deutschland entscheidende Fragen 
noch immer unbeantwortet. Solange die Stellung von Pufendorf, 
Thomasius 1 ) und Christian Wolff in der Entwicklung der euro¬ 
päischen Staatslehren (denn auch hier handelt es sich um eine 
internationale Bewegung) noch nicht durch Spezialarbeiten be¬ 
stimmt und die außerordentlichen Verdienste des Hugo Grotius 
noch nicht fachmännisch nach allen Seiten beleuchtet worden sind, 
bleibt vieles an der Entwicklung der Theorien im Dunkeln. Die 
ganze Materie, besonders die Geschichte des Naturrechts, ist 
seinerzeit von Gierke zwar vorbildlich behandelt worden; aber das 
Vorbild ist vielleicht zu glänzend, als daß es zu häufigerer Nach¬ 
folge gereizt hätte. Zudem ist gerade die Staatslehre unserer 
Periode mehr als andere geistige Betätigungen der Vergangenheit 2 ) 
verpflichtet. Ein Haupterfordernis wissenschaftlicher Arbeiten 
auf diesem Gebiete ist deshalb die Aufdeckung der literarischen 
und, wie man gegen konstruktive Juristen betonen muß, der bio- 


*) Joseph, Die Ethik des Naturrechtslehrers Christian Thomasius mit 
Berücksichtigung seiner Rechtsphilosophie: Archiv für Geschichte der 
Philosophie 26 (1912). 

*) J. N.Figgis, Studies of political thought from Gerson to Grotius, 
1907. 


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122 }• Hashagen 


graphischen Quellen. Daran läßt es z. B. R. Oster lohs Studie über 
Fenelon und die Anfänge der literarischen Opposition gegen das 
politische System Ludwigs XIV. (1913) noch fehlen, der aber sonst 
F&ielons widerspruchsvolle Anschauungen genauer beschreibt. 
In Deutschland wäre solchen Oppositionsstimmungen größere Be¬ 
achtung zu schenken. 1 ) Den Einfluß des Naturrechts auf Fried¬ 
rich den Großen und besonders auf Josef II. und ihre Staaten 
behandelt Hans von Voltelini 2 ) mit sicherer Hand. Sein in¬ 
haltreicher Aufsatz hat auch für die Geschichte der Staatslehren 
an und für sich, der Souveränitäts- und allgemeinen Fürstenlehre, 
der Menschenrechte als eines integrierenden Bestandteiles des 
Naturrechtes des 18. Jahrhunderts, der Toleranz, der Adelstheo¬ 
rien u. ä. D. große Bedeutung. Zur Staatsanschauung gehört auch 
die Theorie der auswärtigen Politik, die früher vor allem bei 
Leibniz 8 ) untersucht worden ist, später aber auch in allgemeine¬ 
rem Rahmen 4 ) eine eingehende Behandlung erfahren hat. Auch 
die Literatur über Montesquieu und Rousseau, Fontenelle und 
St. Pierre ist in Frankreich und Deutschland noch jüngst erfreu¬ 
lich erweitert worden. Dagegen ist G. Falters 6 ) Schrift über 
die Staatsideale unserer Klassiker nur eine kurze, im Hinblick 
auf manche noch fehlende Spezialuntersuchung verfrühte und 
■dabei konstruktive Skizze. Daß die politische und Verwaltungs¬ 
geschichte im weitesten Sinne mit der Geschichte der Staats¬ 
anschauungen in dauernde Beziehungen zu setzen ist, versteht 
sich. Arbeiten wie die von M. Lehmann, M. Lenz, Hintze, Zie- 
kursch, Glagau, Wahl, W. Andreas, Gothein, G. Jellinek, Aulard, 
Mathiez, E. Hubert und viele andere knüpfen diese Beziehungen 
fester. 

Die Geschichte der französischen Revolution und ihres Ein¬ 
druckes in Deutschland ist ein weiteres bevorzugtes Thema der 
Geschichte der Staatsanschauungen in unserer Periode. Einen 
wesentlichen Fortschritt in der Charakteristik der theoretischen 


*) Vgl. J. Hashagen, Der „Menschenfreund“ des Freiherm F. von 
der Trenck, ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Aachen: Zeit¬ 
schrift des Aachener Geschichtsvereins 29 (1907). Zur Geschichte der 
Presse in der Reichsstadt Cöln: Annalen des historischen Vereins für 
den Niederrhein 86 (1908). *) Historische Zeitschrift 105 (1910). 

*) S. jetzt F. X. Kiefl, Leibniz (Weltgeschichte in Charakterbildern), 
1913, der allerdings zu Übertreibungen neigt. Vgl. E. Ruck, Die Leib¬ 
niz’sehe Staatsidee, 1909. 

4 ) E. Kaeber, Die Idee des europäischen Gleichgewichts . . vom 
16. bis zur Mitte des 18 Jahrhunderts, 1907. — G. B. Hertz, British 
Imperialism in the i8th Century. London, Constable, 1908. 

6 ) Die Staatsideale unserer Klassiker, 1911. 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 123 


Arbeit der Assembtee Constituante bringt R. Redslob 1 ) in einer 
wohldurchdachten Studie. Die deutschen Revolutionsfreunde sind 
von jeher ein Lieblingsgegenstand der mit der besonderen Gabe 
der Einfühlung ausgestatteten Forschung A. Chuquets. 2 ) Die 
Untersuchungen über die Stellung einzelner deutscher Persönlich¬ 
keiten zur Revolution werden natürlich auch in Deutschland 
fortgeführt, so für Gleim, Rebmann, Rehberg u. a. Sie haben 
durchweg allgemeinen Wert, da sie der Vergangenheit der Auf¬ 
klärung und der Zukunft des 19. Jahrhunderts in gleicher Weise 
angehören. Die in der deutschen Revolutionstheorie hervortreten¬ 
den aufklärerischen Bestandteile sind selbst bei Görres noch mit 
Händen zu greifen. 8 ) Nach langer Vernachlässigung erinnert 
man sich heute endlich wieder der wissenschaftlichen Verpflich¬ 
tungen gegenüber diesem Universalgeiste und wird dann freilich 
nach Ausweis der nach allen Seiten wachsenden Görresliteratur 
über die Staatslehre bald hinausgeführt. Ähnlich sind für Gentz 
durch die Bemühungen der Brüder F. K. und P. Wittichen (f) u. a. 
bessere Grundlagen geschaffen worden. 

Der bedeutendste Gegner der Revolution in England und zu¬ 
gleich Gentzens bedeutendster Lehrer ist Edmund Burke. ' Seine 
menschliche, allgemein geistige, schriftstellerische und politische 
Charakteristik wird durch die fleißige und sorgfältige Arbeit 
F. Meusels 4 ) überall vertieft. Das Hauptinteresse des Verfassers 
ist auf die Deutung der seelischen Eigentümlichkeiten Burkes ge¬ 
richtet. Besonders gelungen ist der Abschnitt über die Charak¬ 
terisierungskunst des vielseitigen Engländers, der ja auch in der 
Geschichte der Ästhetik 6 ) nicht zu übersehen ist. Das Politische 
ist freilich darüber bei Meusel etwas zu kurz gekommen. Eine sy¬ 
stematische Auslegung der Revolutionsanschauung Burkes wird 
leider nicht geboten. 

Für die Geschichte der Staatsanschauungen und für die Gei¬ 
stesgeschichte des 18. Jahrhunderts überhaupt ist eine der wich¬ 
tigsten Quellen die periodische Presse. Auch hier ist die Zahl 


') Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789, 
1912; rec. Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germ. Abt., 1913, und Wahl, 
Hist. Vierteljahrschrift 1913. Sehr umfassend ist die neueste Literatur 
über Condorcet. 

*) F. Stolberg et la Evolution fran$aise: Revue Germanique 6(1910). 

*) J. Hashagen, Das Rheinland und die französische Herrschaft, 
Beiträge zur Charakteristik ihres Gegensatzes, 1908. 

4 ) Edmund Burke und die französische Revolution. Berlin, Weid¬ 
mann, 1913. Vgl.John Mac Cunn, ThepoliticalphilosophyofBurke, 1913. 

6 ) W. G. Howard, Burke among the forerunners of Lessing: Publi- 
cations of the modern language association of America 22 (1906). 


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124 J. Hashagen 


der Spezialarbeiten in steigendem Wachsen. Freilich fehlt ihnen 
noch häufig die nötige Klarheit über Elementarsätze der preß- 
geschichtlichen Methodik. Diese lauten für die mehr politisch¬ 
aufklärerische und für die mehr literarische Presse im wesentlichen 
gleich, sind aber noch weit entfernt von energischer Anwendung. 
Ohne zielbewußte Arbeitsvereinigung läßt sich besonders in der 
Preßgeschichte nichts Dauerndes leisten. Doch finden sich gute 
Ansätze in den Arbeiten von K. Beckmann, P. Bensel, E. Consentius, 
K. d'Ester, Hartung, F. Ulbrich und besonders bei W. Hof- 
staetter. 1 ) 

Die Schwierigkeiten einer brauchbaren Rekonstruktion des 
staatstheoretischen Entwicklungsganges unserer Periode erklären 
sich nicht zuletzt aus der ständigen Verflechtung der Staats- mit 
der Gesellschafts- 2 ) und Wirtschaftslehre. Für das England des 
17.Jahrhunderts ist das u. a. von Max Weber und Troeltsch 
überzeugend nachgewiesen worden. Ihren Forschungen sind trotz 
Bedenken im einzelnen die Geschichte der Staats-, Gesellschafts¬ 
und Wirtschaftslehre in gleicherweise verpflichtet. Auch Eduard 
B e r n s t e i n 8 ) hat sich auf dies schwierige Gebiet gewagt und zunächst 
die englische Revolution mit deutlicher Bevorzugung der Theorie, 
dann auch ihre Ausläufer bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts an¬ 
schaulich, wenn auch in sozialdemokratischen Vorurteilen befangen, 
und ausführlich dargestellt. Von Interesse ist besonders die Schil¬ 
derung Harringtons.—Adam Smith und seine Vorläufer in England, 
die Physiokraten in Frankreich und Deutschland, kürzlich auch 
die ältere deutsche Kameralistik und ähnliche Gegenstände 
brauchen nur erwähnt zu werden, um die geistesgeschichtliche 
Bedeutung der .modernen Spezialliteratur über sie (s. die späteren 
Berichte) abzuschätzen. Aus der Geschichte der Wirtschaftspraxis 
ragt von diesem Standpunkte hervor J. Goldfriedrichs sehr 
willkommene „Geschichte des deutschen Buchhandels“. 4 ) 

*) Das Deutsche Museum (1776—1788) und das Neue Deutsche Mu¬ 
seum (1789—1791): Probefahrten, herausg. von A. Köster, 12 (1908). 

*) Vgl. A. Voigt, Die sozialen Utopieen, 1906. Wichtige neue, zu¬ 
nächst literarhistorische, dann aber auch sozialgeschichtliche Aufschlüsse 
findet man bei Fritz Brüggemann, Utopie und Robinsonade, Unter¬ 
suchungen zu Schnabels Insel Felsenburg: MunckersForschungen 46(1914). 

*) Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution. 
2. Ausg. Stuttgart, Dietz, 1908. 

4 ) II (1648—1740). III (1740—1804). Leipzig, Verlag des Börsenver¬ 
eins, 1908—9. Von demselben: Grundzüge der Entwicklung des deutschen 
Buchhandels in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts: Studium 
Lipsiense, Ehrengabe, K. Lamprecht dargebracht, 1909. Vgl R.Jentzsch, 
Der deutsch-lateinische Büchermarkt nach den Leipziger Ostermeßkatalogen 
von 1740, 1770 und 1800 . . .: Lamprechts Beiträge 22 (1912). 


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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 125 


IX. 

Es bestand die Absicht* in diesem Eröffnungsberichte auch 
zur neueren Literatur über bildende Kunst, Musik und geheime 
Gesellschaften vom Standpunkte der Ideengeschichte unserer 
Periode Stellung zu nehmen sowie zu einer großen Fülle von 
lokal- 1 ) und sozialgeschichtlichen 2 ) Arbeiten über die Zeit von 
1650—1800. Da aber dieser Bericht ohnehin schon zu ausführ¬ 
lich geraten ist, können hier nur noch einige kurze Bemerkungen 
über die geheimen Gesellschaften Platz finden. Alles weitere 
muß für die späteren Berichte zurückgestellt werden. 

Die Geschichte der Freimaurerei wird seit Jahren von maure¬ 
rischer Seite unter der Führung von L. Keller, A. Wolfstieg, 
W. Begemannu.a. in internationalem Rahmen nach allen Seiten 
so eifrig durchforscht, daß sich das geheimnisvolle Dunkel nach¬ 
gerade allmählich zu lichten beginnt. Kellers neue zusammen¬ 
fassende Arbeit 3 ) könnte nach ihrem Titel auf einen stark histo¬ 
risch gerichteten Inhalt schließen lassen. Sie bereitet aber in dieser 
Hinsicht für unsere Periode doch eine Enttäuschung, da die 
systematischen Interessen in ihr weit überwiegen und sie als Pro¬ 
grammschrift, wenn nicht gar als Werbeschrift auftritt. Außerdem 
neigt die maurerische historische Literatur leicht zu Überschät¬ 
zungen, indem sie alle möglichen geistigen Strömungen wie die 
Humanität aller Zeiten für die Freimaurerei sozusagen in An¬ 
spruch nimmt, oft zweifellos mit Unrecht, wie an dem Beispiele 
der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts gegen Keller 4 ) 
nachgewiesen worden ist. Ähnlich hat man beispielsweise den 
Einfluß von Freimaurerliedern auf Schillers Lied an die Freude 
übertrieben. Oft verlieren sich die maurerischen historischen 
Untersuchungen auch in die stark kontroversen Kleinigkeiten 
der Filiationen einzelner Logen, die die Ideengeschichte nicht im- 

*) Gute Beispiele sind F. X. Münch, Die philosophischen Studien an 
der kurkölnischen Universität zu Bonn: Annalen des historischen Vereins 
für den Niederrhein 87(1908), R. M. Ritscher, Versuch einer Geschichte 
der Aufklärung in Schlesien, Göttinger Dissertation 1912, und S. Merkle, 
Würzburg im Zeitalter der Aufklärung [mit besonderer Berücksichtigung 
der Pädagogik und Theologie]: Archiv für Kulturgeschichte 11 (1913). 

*) Auch die Literatur über Sittengeschichte und Geschichte der 
äußeren Lebenshaltung liefert natürlich geistesgeschichtlichen Ertrag. 

8 ) Die geistigen Grundlagen der Freimaurerei und das öffentliche 
Leben. Jena, Diederichs, 1911. Vgl. F. Kreisner, Geschichte der deut¬ 
schen Freimaurerei, 1912. 

4 ) Die Große Loge vom Palmbaum und die sog. Sprachgesellschaften 
des 17 Jahrhunderts: Monatshefte derComeniusgesellschaft 16 (1906); rec. 
C. Borchling, Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte 
17/18 (1910), S. 522. 


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126 J- Hashagen — Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur 


mer interessieren. Für die historische Orientierung hält man sich 
vielleicht noch immer am besten an H. Boos' Geschichte der Frei¬ 
maurerei (2. Aufl., 1906). Denn das kann allerdings nicht geleug¬ 
net werden, daß solide maurerische Studien überall die merkwür¬ 
digsten ideengeschichtlichen Entdeckungen vermitteln, ebenso wie 
die Vertiefung in die Geschichte der Rosenkreuzer und des ganzen 
Okkultismus, dessen mit besonderen Schwierigkeiten verbundeneEr- 
forschung doch schon mit Rücksicht auf den erwähnten Irratio¬ 
nalismus und die immer höher gewerteten mystischen Einflüsse 
innerhalb des aufgeklärten Jahrhunderts alle Förderung ver¬ 
diente. Auch für diese Gebiete ist die Grenze zwischen 18. und 
19. Jahrhundert natürlich flüssig. Noch die spätere Romantik und 
das Schicksalsdrama haben hier merkwürdige ältere Einflüsse er¬ 
fahren. Der bedeutende Anteil der Freimaurerei an der Geistes¬ 
bewegung der deutschen Erhebungszeit, der kürzlich von J. R. 
Haar haus 1 ) treffend aufgezeigt worden ist, schafft einen bedeu¬ 
tungsvollen Epilog zur maurerischen Geschichte des 18. Jahr¬ 
hunderts. 

J. Hashagen. 

’) Deutsche Freimaurer zur Zeit der Befreiungskriege. Jena,Diederichs, 

1913- 


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KLEINE MITTEILUNGEN UND NOTIZEN. 


Die Königl. Sächsische Kommission für Geschichte hielt 
am 20. Dezember 1913 im Augusteum in Leipzig ihre 18. Jahres¬ 
versammlung ab. 

Über den Stand der wissenschaftlichen Unternehmungen der Kom¬ 
mission ist das Folgende zu berichten. Im vergangenen Jahre sind zwei 
Kommissionsschriften erschienen. Eine von Landgerichtsrat M. Stübel- 
Dresden bearbeitete Veröffentlichung ist dem Landschaftsmaler J. A. Thiele 
und seinen sächsischen Prospekten gewidmet und damit nicht nur das 
Verständnis für eine bisher wenig bekannte Künstlerpersönlichkeit er¬ 
schlossen, sondern auch zugleich ein wertvoller Beitrag zur Kulturgeschichte 
Sachsens im 18. Jahrhundert geboten worden. In der Reihe der kleinen 
Schriften der Kommission „Aus Sachsens Vergangenheit“ hat Studienrat 
Prof. E. Schwabe-Leipzig das Gelehrtenschulwesen Kursachsens von seinen 
Anfängen bis zur Schulordnung von 1580 in einem Überblick dargestellt. 
Im Druck nahezu abgeschlossen ist Band II der Akten und Briefe Herzog 
Georgs, herausgegeben von Geheimrat Geß-Dresden, sowie die Ausgabe 
der Schriften Melchiors von Ossa, die Privatdozent Dr. Hecker-Dresden 
bearbeitet. Ebenso wird die für die Geschichte Deutschlands im Zeitalter 
der Reformation wichtige Veröffentlichung der Akten des Bauernkriegs in 
Mitteldeutschland, bearbeitet von Archivrat Dr. Merx-Münster i. W., im näch¬ 
sten Jahre zu erscheinen beginnen; Band I ist schon im Druck weit fort¬ 
geschritten. Die von Dr. Rudolf Wustmann in Bühlau bei Dresden mit 
anerkanntem Erfolg begonnene Musikgeschichte Leipzigs wird im Jahre 
1914 eine Fortsetzung erfahren, indem ein erster Teil des II. Bandes, der 
Leipziger Musikverhältnisse im 18. Jahrhundert behandeln wird, ausgegeben 
werden soll. Auch eine 4. Lieferung der von Professor Eduard Flechsig- 
Braunschweig herausgegebenen Publikation: Sächsische Bildnerei und 
Malerei vom 14. Jahrhundert bis zur Reformationszeit ist der Fertigstellung 
nahe. Bei einer Anzahl schon von früher in Bearbeitung befindlicher 
Unternehmungen ist der Abschluß des Manuskriptes im Laufe des näch¬ 
sten Jahres zu erwarten: so für die Geschichte des Heilbronner Bundes, 
welche Archivrat Kretzschmar-Lübeck bearbeitet hat; ferner für die Aus¬ 
gabe der eigenhändigen Briefe und Aufzeichnungen Augusts des Starken, 
deren Veröffentlichung Privatdozent Dr. Haake-Berlin vorbereitet, sowie 
für die Ausgabe des Briefwechsels zwischen dem Grafen Brühl und von 
Heinecken, welcher von Professor O. E. Schmidt-Freiberg bearbeitet 
worden ist. Auch wird Oberschulrat Prof. G. Müller-Leipzig einen I. Band 
der Kirchenvisitationsakten der Kommission druckreif vorlegen können. 
Die schon lange sorgfältig vorbereitete Bibliographie der sächsischen Ge¬ 
schichte, deren Bearbeitung zurzeit Herrn Dr. Bemmann-Dresden obliegt, 


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128 Kleine Mitteilungen und Notizen. 


ist so weit gefördert, daß der Druck wohl s*hon im Jahre 1914 wird be¬ 
ginnen können. Dem Abschluß nahegerückt ist auch Band I des von 
Professor Meiche-Dresden bearbeiteten Historischen Ortsverzeichnisses 
für das Königreich Sachsen sowie das Register der Einkünfte und Gerecht¬ 
same der Markgrafen von Meißen vom Jahre 1378 (Archivrat Beschomer- 
Dresden). Guten Fortgang genommen hat die unter Leitung von Geheim¬ 
rat Seeliger in Leipzig stehende große Ausgabe der sächsischen Stände¬ 
akten. Außer Dr. Görlitz-Niesky, der schon längere Zeit mit der Bear¬ 
beitung der ältesten Ständeakten bis 1539 beschäftigt ist, sind Dr. Oßwald- 
Leipzig und Dr. Kaphahn-Dresden als ständige Mitarbeiter des groß an¬ 
gelegten Unternehmens eingetreten und haben die Arbeit für die Zeit 
nach 1539 und weiter von 1680 ab nach Errichtung des stehenden Heeres 
begonnen. Weitere Förderung erfahren haben die übrigen von der Kom¬ 
mission unternommenen größeren Publikationen: Politische Korrespondenz 
des Kurfürsten Moritz, Band III (Professor Brandenburg-Leipzig und 
Privatdozent Dr. Hecker-Dresden), Briefe und Denkschriften des Grafen 
Manteuffel (Realgymnasiallehrer Dr. Philipp-Borna), Denkschriften der 
Restaurationskommission 1762/63 (Dr. Schmidt-Breitung-Leipzig), Be¬ 
schreibung des Bistums Meißen (Professor Becker-Dresden), Briefe des 
Humanisten Stephan Roth (Professor Clemen - Zwickau), Geschichte des 
kirchlichen Lebens in Leipzig (Pfarrer Professor Hermelink-Thekla), Ge¬ 
schichte der bildenden Kunst in Leipzig (Direktor des stadtgeschichtlichen 
Museums Professor Kurzwelly-Leipzig), Flurkartenatlas (Professor Kötzschke- 
Leipzig). Die von Archivrat Beschorner-Dresden geleitete Flur- und Forst- 
ortsnamensammlung hat im Berichtsjahre eine weitere Ausdehnung erfahren. 
In der Reihe der kleinen Schriften ist das von Realgymnasiallehrer 
Dr. Philipp-Borna vorbereitete Heft über Brühl und Sulkowski, die Ent¬ 
stehung des Premierministeramts in Sachsen, dem Abschluß nahe. Neu 
beschlossen ist die Aufnahme einer Veröffentlichung von Pfarrer D. Buch¬ 
wald-Leipzig, betreffend die für die Reformationsgeschichte und auch 
die Geschichte der Leipziger Universität wichtige Matricula Ordinatorum 
des Bistums Merseburg von 1469 bis 1543, sowie eines Heftes von Rektor 
O. E. Schmidt-Freiberg: Aus der Zeit der Freiheitskriege und des Wiener 
Kongresses 1813—1815 mit Briefen und anderen unmittelbaren Zeug¬ 
nissen der damaligen Stimmungen in Sachsens Bevölkerung. 

Preisaufgabe. Für den zweiten Preis der v. Frege-Weltzien- 
stiftung hat die Königlich Sächsische Kommission für Geschichte die 
folgende Aufgabe gestellt: „Die Sequestration der Leipziger Ratsver¬ 
waltung im 17. Jahrhundert“. Bearbeitungen sind unter Beigabe des 
Namens des Verfassers in einem verschlossenen Briefumschläge, der ein 
Kennwort und eine Adresse für die Rücksendung des Manuskriptes tragen 
muß, bis zum 31. Dezember 1914 an die Königlich Sächsische Kommission 
für Geschichte, Leipzig, Universitätsstraße um, einzusenden. Preis 1000 M. 


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DIE ENTWICKLUNG DER HISTORISCH - GEO¬ 
GRAPHISCHEN FORSCHUNG IN DEUTSCHLAND 
DURCH ZWEI JAHRHUNDERTE. 

VON FRITZ CURSCHMANN. 

I. 

Inhalt: Reichsgeschichte — Landesgeschichte, gepflegt durch die Ge¬ 
schichtsvereine S. 129. — Landesgeschichte und historisch-geographische 
Forschung S. 131. — Gaugeographie S. 132. — Die Anfänge der 
Gauforschung im 16. Jahrh. S. 134. — Die Gauforschung von Freher bis 
zum Chronicon Gotwicense S. 135. — Die Mannheimer Akademie und 
die Theorie von der Übereinstimmung der Gaugrenzen mit kirchlichen 
Grenzen S. 139. — Die Gauforschung Ende des 18. und Anfang des 
19. Jahrh. S. 146. — Lang und Spruner S. 147. — Die Gauforschung in 
Norddeutschland, Ledebur und seine Nachfolger S. 150. — Versuche, die 
Ergebnisse der Gauforschung zusammenzufassen S. 154. — Die Gau¬ 
forschung in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrh. S. 157. 
— Die Preisaufgabe der Berliner Akademie und ihre Lösung durch 
Theodor Menke S. 157. — Heinrich Böttgers Diöcesan- und Gaugrenzen 
und das Ende der alten Gauforschung S. 160. 

,, Sanctus amor patriae dat animum“, so lesen wir die Worte 
von einem Eichenkranz umgeben seit bald IOO Jahren an der 
Spitze eines jeden Bandes der Monumenta Germaniae historica 1 ), 

Vorbemerkung. In der folgenden Abhandlung wird der Kundige 
mancherlei vermissen. Es sei daher dem Verfasser gestattet, einige er¬ 
klärende Bemerkungen vorauszuschicken über das, was dieser Aufsatz 
will. Er will zunächst nicht eine vollständige Geschichte der historisch- 
geographischen Forschung bieten, sie würde bei der Natur des Stoffes, 
der immer wieder zum Eingehen auf Einzelheiten auffordert, schon heute 
ein Buch von nicht ganz geringem Umfange erfordern. Auf das Wort 
Entwicklung im Titel möchte ich Gewicht legen. Nur eine Ent¬ 
wicklungslinie in der historisch-geographischen Forschung 
wollte ich verfolgen, aber die, die mir als die wichtigste erscheint, weil 
sie zur Entwicklung einer festen Methode der Forschung geführt 
hat, die in Zukunft mehr und mehr in allen Teilgebieten der historisch¬ 
geographischen Arbeit zur Anwendung kommen wird. Diese Beschrän¬ 
kung bringt es mit sich, daß ich über die schon fast unübersehbare 
siedlungsgeschichtliche Forschung stillschweigend hinweggegarigen bin, 
daß die vielverheißenden Anfänge der historisch-topographischen Erfor¬ 
schung unserer Städte nicht berücksichtigt worden sind und ebenso nicht 
die verfrühten Versuche, zusammenfassende historische Geographien 
Deutschlands zu schreiben. 

*) Die beschriebene Vignette steht über jeder Vorrede; das in ihr 
enthaltene Motto hatte der Freiherr vom Stein selbst auf Vorschlag 
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 g 


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Fritz Curschmann 


und sie erinnern unsere nüchtern gewordene Zeit daran, in wel¬ 
chem Frühling nationaler Hoffnungen das größte Werk der deut> 
sehen Geschichtsforschung einst begonnen wurde. Es war im 
Jahre 1819, als sich in Frankfurt a. M. auf ganz persönliches Be¬ 
treiben des Freiherrn vom Stein die Gesellschaft für ältere deutsche 
Geschichtskunde bildete 1 ), und in demselben Jahre gründete zu 
Naumburg a. d. S. Carl Peter Lepsius, ein Mann, dessen Verdienste 
um die Geschichtsforschung auch heute noch unvergessen sind 2 ), 
den Thüringisch-Sächsischen Verein für Erforschung des vater¬ 
ländischen Altertums, den ersten deutschen Geschichtsverein 3 ). 
Das zeitliche Zusammenfallen der beiden Gründungen ist kein 
Zufall, es zeigt so recht deutlich — und das verdient beachtet zu 
werden —, wie vom ersten Anfänge der Wiederbelebung der deut¬ 
schen Geschichtsforschung zu Beginn des 19. Jahrhunderts an 
zwei Strömungen der Forschung nebeneinander hergehen. 

Was die Monumenta und ihre Mitarbeiter wie der weitere von 


Lambert Büchlers, des ersten Sekretärs der Gesellschaft für ältere deutsche 
Geschichtskunde, gewählt; vgl. G. H. Pertz, Das Leben des Ministers Frei- 
herm vom Stein V, S. 311. 

*) Als offizieller Gründungstag gilt der 20. Januar 1819. Über die 
Vorgeschichte der Entstehung der Gesellschaft für ältere deutsche Ge¬ 
schichtskunde vgl. Max Lehmann, Freiherr vom Stein III (1905), S. 492fr. 
Im Archiv der Gesellschaft Bd. I (1820) das wesentliche Material zur 
Gründungsgeschichte an Denkschriften, Statuten usw. 

*) Sein Hauptwerk ist, auf breiter archivalischer Grundlage ruhend 
und mit einem Urkundenbuch, das größtenteils ungedruckte Stücke ent¬ 
hält, versehen: Geschichte der Bischöfe des Hochstifts Naumburg vor 
der Reformation, i.Teil (bis 1304), Naumburg 1846. Von der Vielseitig¬ 
keit seiner wissenschaftlichen Interessen zeugen seine Kleinen Schriften, 
3 Bde., hg. von seinem Schwiegersohn A. Schulz (Magdeburg 1854/55). 
Ihnen ist eine Lebensbeschreibung L.s vorausgeschickt. L. wurde ge¬ 
boren 1775 zu Naumburg, studierte in Jena und Leipzig Jura, diente 
seiner Vaterstadt und dem Staate in verschiedenen richterlichen und 
Verwaltungsstellungen und wurde schließlich der erste preußische Landrat 
des Kreises Naumburg (1815), gestorben 1853. 

s ) Einige andere noch aus dem 18. Jahrhundert stammende Körper¬ 
schaften, wie die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften zu 
Görlitz, die heute im wesentlichen auch der landesgeschichtlichen For¬ 
schung dienen, hatten ursprünglich ein weiteres Programm, sind also 
für den Anfang des 19. Jahrhunderts nicht eigentlich als Geschichts¬ 
vereine zu betrachten. Über die zeitliche Folge in der Entstehung der 
älteren Geschichtsvereine vgl. das Vorwort zum Correspondenzblatt des 
Gesamtvereins deutscher Geschichts- und Alterthumsvereine I (1853), S. if. 


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Die Entwicklung der histor.- geograph. Forschung in Deutschland usw. j 3 j 


ihnen beeinflußte Kreis der Forscher an den Universitäten für die 
Reichsgeschichte bedeuten, ist allbekannt und unbestritten. 
Oft nicht gebührend beachtet wird aber auch heute noch, was 
in den Kreisen der Geschichtsvereine gerade in den ersten Jahr¬ 
zehnten ihres Bestehens für die Territorialgeschichte geleistet 
worden ist und wieviel wertvolles Material, den weiteren Kreisen 
fast unbekannt, gerade in den älteren Jahrgängen der landesge¬ 
schichtlichen Zeitschriften ruht. Wer heute auf dem Gebiete der 
Territorialgeschichte arbeitet, die sich in den Tagen, wo bald jede 
deutsche Landschaft ihre historische Kommission besitzt, nun ja 
auch das ihr gebührende Ansehen im Bereiche der Geschichts¬ 
wissenschaft erworben hat, wird immer wieder mit Dankbarkeit 
dieser unendlich fleißigen und landeskundigen alten Herren ge¬ 
denken, ohne deren entsagungsvolle Vorarbeit er wenig würde 
leisten können 1 ). 

In den Kreisen der älteren Forscher auf dem Gebiete der Ter¬ 
ritorialgeschichte zeigt sich nun von Anfang an, und das ist gleich¬ 
mäßig in allen deutschen Landen zu beobachten, ein ausgesproche¬ 
nes. Interesse für historisch-geographische Fragen. Warum? — 
das ist vielen der Nachlebenden vielleicht von vornherein nicht ganz 
klar. Zweierlei kommt hier wohl zusammen: ist es für die Betrach¬ 
tung der Reichsgeschichte, vom deutschen Standpunkte aus, 
oft von ganz geringem Belange, ob der deutsche König von Mai¬ 
land über Florenz oder über Ravenna nach Rom zog, so führt die 
Beschäftigung mit der Geschichte einer engeren Landschaft immer 
wieder auf das Gebiet, wo historische und geographische Betrach¬ 
tungsweise einander die Hände reichen, wo geschichtliche Fragen 
sich nicht ohne genaue Landeskenntnis lösen lassen. Sei es, daß 
es sich darum handelt, die zahlreichen Lokalitätsnamen einer 
alten Grenzbeschreibung zu bestimmen oder die Stätte eines 
untergegangenen Dorfes, sei es, daß ein anderes Mal eine altbe¬ 
rühmte Dingstätte, der Schauplatz eines Gefechtes, einer denk¬ 
würdigen Verhandlung oder ähnliches gesucht werden soll. — 

*) Ich verzichte — um nicht allzu breit zu werden — darauf, hier im 
Texte Namen zu nennen; eine ganze Reihe der Forscher, die erwähnt 
zu werden verdienten, werden noch im Laufe der folgenden Darstellung 
begegnen. 

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132 Fritz Curschmann 

Etwas anderes aber kommt noch hinzu: die Jahrzehnte um die 
Wende des 18. und 19. Jahrhunderts sind ein Zeitalter ganz 
ausgesprochenen geographischen Interesses. Bändereiche Serien 
von Reisebeschreibungen entstanden damals und wurden ge* 
lesen, und mehr noch das Interesse an fremden Ländern und 
Völkern fand auch in der Literatur seinen Niederschlag: Chamissos 
Salas y Gomez ist bekannt genug, ebenso der Kanadier Seumes, 
Heinrich von Kleist schrieb als Novelle die Verlobung in St. Do¬ 
mingo, die dann Theodor Körner dramatisierte: das Negerdrama 
Toni. Neben dieser exotischen Gattung steht aber noch eine 
andere, ganz besondere, heute fast ausgestorbene Literatur von 
Länderbeschreibungen aus der Heimat, Bücher wie Friedrich Gott¬ 
lieb Leonhardis Erdbeschreibung der preußischen Monarchie 1 ), 
Bratrings Topographie der Mark Brandenburg 2 ), Ludwig Wilhelm 
Brüggemanns Ausführliche Beschreibung des gegenwärtigen Zu¬ 
standes des königlich preußischen Herzogthums Vor- und Hinter¬ 
pommern 3 ) und Werke ähnlicher Art, wie sie für jedes deutsche 
Land oder jede Provinz vorliegen. Sie enthalten alle neben der 
eigentlichen Beschreibung der Länder, die sie behandeln, nach 
Bodengestalt und politisch-administrativer Einteilung auch ein 
oft sehr umfangreiches statistisches und historisches Material. 
Bei Brüggemann z. B. findet man die Geschichte eines jeden 
pommerschen Dorfes, vorzüglich zuverlässig, unmittelbar auf 
Grund der Urkunden und Akten des Landesarchivs bearbeitet. 

Die Generation, die solche Bücher ständig zur Hand hatte, 
sie wollte, als sie systematisch über die ältere Vergangenheit der 
Heimat zu arbeiten begann, auch hier, wie sie es gewohnt war, 
Geschichte und Geographie vereinigen, und da war man sich bald 
— keinerlei Streit widerstrebender Anschauungen läßt sich beob¬ 
achten — darüber klar, daß es eigentlich nur ein würdiges Thema 


*) 5 Bände, Halle 1791—98. 

2 ) Fr. Wilh. Aug. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung 
der gesamten Mark Brandenburg, 3 Bde., Berlin 1804—09. 

8 ) 2 Bde., Stettin 1779 und 1784, dazu 1 Bd. Beiträge zu der aus¬ 
führlichen Beschreibung usw., Stettin 1800; er enthält eine große Biblio¬ 
graphie zur Geschichte und Landeskunde Pommerns, Statistisches und 
einige Ergänzungen. 


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Die Entwicklung der histof. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 13 3 


auf dem Gebiete der historischen Geographie gäbe: die Gau¬ 
geographie. 1 ) 

Verschiedenes kam zusammen, um zu bewirken, daß man sich 
• gerade auf diesen Gegenstand einigte und zäh durch Jahrzehnte 
an ihm festhielt: ein gutes Teil Stimmung der Romantik, die sich 
gern in die altdeutsche Zeit, der auch die Gaue angehörten, ver¬ 
senkte, wirkte hier in erster Linie. Dazu kam dann die alte Gewöh¬ 
nung, in der historischen Forschung von der älteren Zeit auszu¬ 
gehen und in chronologisch fortschreitender Arbeit sich allmäh¬ 
lich der Neuzeit zu nähern, eine Methode, von der man sich im 
Interesse der exakten historisch-geographischen Arbeit erst 
% Jahrhunderte später freigemacht hat. Die Zeit, von der man 
später ausging, als mit den ersten Blättern des geschichtlichen At¬ 
lasses der Rheinprovinz das erste auf streng wissenschaftlicher Basis 

*) Man wird bemerken, daß sich die Verfasser der im folgenden 
noch zu besprechenden sehr zahlreichen Arbeiten über die deutschen 
Gaue über die Frage nach der Entstehung der Gaue und ihrem Wesen 
wenig oder gar nicht den Kopf zerbrochen haben. Mit einem gewissen 
Recht, denn vom historisch-geographischen Standpunkte aus sind die 
Gaue des Mittelalters zunächst anzusehen als bekannte territoriale 
Bezirke von einem seit alters feststehenden Umfange, wie uns 
denn noch heute manche Gaue bekannt und ihre Namen als Landschafts¬ 
bezeichnungen geläufig sind (Breisgau, Sundgau, Thurgau, Pongau, Pinz¬ 
gau, Vintschgau). Der Umfang der Gaue aber ist so verschieden, daß 
man kaum gleichen Ursprung für sie alle annehmen kann (dieser An¬ 
sicht ist auch Eduard Richter, der als der bedeutendste Forscher auf dem 
Gebiete der historisch-geographischen Forschung noch oft zu nennen sein 
wird, vgl. Mitt. d. Instituts f. Österreich. Geschichtsforsch. Ergbd. I,S. 605). 
In einigen Gebieten scheinen die Gaue Niederlassungsbezirke der Tausend¬ 
schaft zu sein, viele Gaue aber sind zu groß oder zu klein, als daß man 
diese Entstehung annehmen könnte (vgl. noch G. Steinhausen, Germ. Kultur 
in der Urzeit, 2. Aufl. S. 89 t.). In fränkischer Zeit hat, wie kaum zweifelhaft 
ist, eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Gau und Grafschaft (d h. 
dem Amtsbezirk des fränkischen Grafen) bestanden, in der Zeit aber, aus 
der die Fülle unserer Nachrichten über die Gaue stammt, seit dem 10. Jahr¬ 
hundert, ist diese einfache Beziehung bereits gestört: mehrere Grafen in 
einem Gaue kommen vor, und ein Graf dehnt seinen Machtbereich über 
Teile mehrerer Gaue (schwerlich mehrere ganze Gaue) aus (vgl. Otto Curs, 
Deutschlands Gaue im 10. Jahrhundert, Göttinger Diss. 1908). Nach der ver¬ 
fassungsgeschichtlichen Seite also ist die Gauforschung noch zu keinem Ab¬ 
schluß gelangt (über den gegenwärtigen Stand der Forschung die beste 
Orientierung in R. Schröders Deutscher Rechtsgeschichte), wird ihn viel¬ 
leicht nie erreichen; rein topographisch aber läßt sich bei sorgsamer Detail¬ 
arbeit der Umfang der meisten Gaue mit ziemlicher Sicherheit feststellen. 


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Fritz Curschmann 


beruhende historische Kartenwerk zu erscheinen anfing, die Zeit 
des untergehenden alten Reiches, konnte dem beginnenden 19. Jahr¬ 
hundert unmöglich der Ausgangspunkt sein, sie stand ihm noch 
zu nahe, war Gegenwart oder jüngste Vergangenheit und eine * 
Vergangenheit, deren Schwächen man nur allzusehr empfand, 
und von der man sich mit aller Kraft loszumachen bestrebt war. 
Schließlich besaß man aus älterer Zeit, aus dem 16., 17. und 18. 
Jahrhundert, eine nicht geringe Zahl von Arbeiten über die Gaue 1 ), 
die immer noch geschätzt wurden, und eben jetzt, wo man sich mit 
den älteren Urkunden wieder zu beschäftigen begann, strömte 
neues Material in Menge zu. Immer wieder redeten, wie die alten, 
so auch die neu entdeckten oder bisher noch unbeachteten Ur¬ 
kunden von den Gauen, fast regelmäßig bezeichneten sie die vor¬ 
kommenden Ortschaften nach ihrer Zugehörigkeit zu Gau und Graf¬ 
schaft: in pago Harthago in comitia Thiadmari, in pago Lainga in 
comitatu Liudgeri 2 ) und ähnlich hieß es da. So hatte man nicht 
wenig Vorarbeiten und Material genug. Die Bearbeitung von einzel¬ 
nen Gauen, Gaugruppen oder auch der Gaugeographie ganzer Land¬ 
schaften schien unter diesen Umständen gar nicht so schwierig. 

Um die Bedeutung der älteren gaugeographischen Literatur 
und ihre Stellung innerhalb des Rahmens der geschichtswissen¬ 
schaftlichen Forschung richtig zu würdigen, ist es nötig, — wenig¬ 
stens kurz — auf ihre Anfänge und Frühzeit zurückzublicken. 3 ) 

1 ) Den ersten und einzigen mir bekannten Versuch einer Biblio¬ 
graphie der Literatur — 149 Titel insgesamt — zur Gaugeographie hat 
der noch öfter zu erwähnende hannoversche Bibliothekar Heinrich Böttger 
im Vorwort zu seinem Buche: Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutsch¬ 
lands (1875) gemacht. Die Arbeit ist aber, wie auch die folgenden 
Seiten zeigen werden, ganz unvollständig. Daß B. die unabsehbare Fülle 
der kleinen, vielfach in Zeitschriften zerstreuten Arbeiten nicht lückenlos 
bringen konnte, ist selbstverständlich, niemand wird ihm einen Vorwurf 
daraus machen. Daß aber gerade eine Anzahl der für die wissenschaft¬ 
liche Theorie, die er vertrat, wichtigsten Arbeiten, von den Mitgliedern 
der Pfälzer Akademie Kremer und Lamey wie von Lang und seinem 
Gegner Spruner, fehlt, zeigt, daß er selbst keinen Überblick über die 
Literatur, als deren Bibliograph er auftrat, besaß. 

*) Das Beispiel aus der ersten uns erhaltenen Urkunde Ottos des 
Großen, 936 Sept. 13 für das neu gestiftete Kloster Quedlinburg, es han¬ 
delt sich um Übertragung von Gut: im Harzgau, im Leinegau. 

*) Ich verstehe hierunter die Literatur des 16. Jahrhunderts, biS auf 
Marquard Frehers Origines Palatinae (1599), die ihrerseits einen neuen 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 135 


An der Spitze der ganzen Gattung steht, aus dem Anfänge des 
16. Jahrhunderts bereits, des Tübinger Humanisten Heinrich 
Bebel 1 ) immer wieder zitierte Schrift über die Gaue Schwabens. 2 ) 
Ein allgemeines Verzeichnis der deutschen Gaue versuchte zuerst 
Wolfgang Lazius, Ferdinands I. Leibarzt und Hofhistoriker 8 ), 
aufzustellen (1551) 4 ): sehr unvollkommen noch, denn es werden 
als Gaue Bezirke der verschiedensten Art, große und kleine, neben¬ 
einander gestellt 6 ), aber als der erste Versuch dieser Art doch zu 
beachten. Was sonst noch im 16. Jahrhundert über die Gaue ge* 
schrieben wurde, mehrfach in Kommentaren zur Germania des 
Tacitus 6 ), ist für den Fortgang der Forschung ohne Belang. 

Einen erheblichen Fortschritt bedeutete erst wieder das Er¬ 
scheinen von Marquard Frehers Origines Palatinae im 

Abschnitt eröffnen. Einen Überblick über diese alten Schriften zu ge¬ 
winnen, ist naturgemäß schwer, Böttger (s. oben S. 134, Anm. 1) bringt 
nichts von ihnen. Was mir bekannt geworden ist, verdanke ich der Ein¬ 
leitung von Heinrich Meiboms d. Ä. Schrift über die sächsischen Gaue 
(1612 vgl. unten S. 136). Auf Vollständigkeit brauchte ich keinen Wert 
zu legen, doch hoffe ich in der Bewertung ihrer Leistung den Gelehrten 
dieser Anfangszeit gerecht geworden zu sein. 

*) Geb. 1472, seit 1497 Professor in Tübingen, dort gestorben wahr¬ 
scheinlich 1516 (nach Geiger, Allg. deutsch. Biographie II, S. 195 ff.). 

*) Die Schrift wird von Meibom, Paullini (s. über sie weiter unten) 
und anderen immer wieder zitiert, sie soll in B.’s Miscellanea 1510 fol. 
stehen. Mir war die Arbeit nicht zugänglich; nach Lage der Dinge kann 
sie nicht viel mehr als eine Sammlung einiger Gaunamen enthalten 
haben, deren Bestand dann in die späteren Werke über Gaugeographie 
übergegangen ist. 

а ) Über sein Leben, geb. 1514 zu Wien, gest. ebenda 1565, und seine 
Werke A. Horawitz, Allg. deutsche Biographie XVIII, S. 89 ff. 

4 ) In seinem Werke: Commentariorum reipublicae Romanae illius, in 
exteris provinciis, bello acquisitis, constitutae, libri duodecim, Basileae 1551. 

б ) a. a. O. p. I076f. werden u. a. die folgenden Gaue unter Beibringung 
von Schriftstellernachrichten oder Belegen aus Kaiserurkunden (z. B. 
Karls d. Gr. für S. Emmeram bei Regensburg beim bayerischen Nordgau ; 
Heinrichs III. für St. Blasien beim Alpgau) aufgezählt: pagus Alsaticus, 
pagus Belgicus, pagus Nordgouiensis (bayerischer Nordgau), pagus Alp- 
gouiae (Alpgau am Südabhang des Schwarzwaldes bis zum Rhein hin), 
pagus Curwalcha, pagus Osterriche, pagus Charentanus, pagus Trungew 
(der österreichische Traungau), pagus Ringouiae (Rheingau). 

•) Als Beispiel: Andreas Althamer, Scholia in Cornelium Tacitum 
(1529) spricht a. a. O. p. 44f. im Anschluß an Germania c. 39 über die 
Semnonen auch von den Gauen und gibt ein kurzes Verzeichnis deut¬ 
scher Gaunamen. 


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Fritz Curschmann 


letzten Jahre des Jahrhunderts (1599) 1 ). Der gelehrte kurpfäl¬ 
zische Hofrat 2 ), der von nun an dem ganzen 17. und 18. Jahrhun¬ 
dert als der eigentliche Vater der Gauforschung galt 3 ), bot in sei¬ 
nem Werke ein umfangreiches, etwa 80 Namen umfassendes 
Verzeichnis deutscher Gaue, z. T. mit einigen Belegstellen und all¬ 
gemeinen Angaben über die Ausdehnung des Gaues 4 ). Daran 
schließen sich noch ziemlich ausführliche Monographien über zwei 
für die Geschichte der Pfalz besonders wichtige Gaue: Ladengau 
und Rheingau. Hier weiß der Verfasser, besonders dank des reich¬ 
lichen Materials, das ihm die Lorscher Überlieferung bot, schon 
besser Bescheid und macht für den Rheingau unter anderem 
die sehr interessante Bemerkung, er entspräche fast genau der 
späteren Burggrafschaft Starkenburg. Eine Fortsetzung und Er¬ 
gänzung zu Frehers Werk, das, wollte es auch allgemein sein, 
doch vorwiegend die oberdeutschen Lande berücksichtigt hatte, 
bot des älteren Heinrich Meibom 6 ) Schrift über die Gaue 
Sachsens und der angrenzenden Gebiete (1612) 6 ), eine umfassende 

*) Originum Palatinarum commentarius. De gentis et dignitatis eius 
primordiis; tum Heidelbergae et vicini tractus antiquitate. Heidelbergae 
1599, in kl. 4 0 . — 2. Auflage (innumeris locis melior et locupletior) als: 
Originvm Palatinarvm pars prima (Leipzig) 1613 und pars secunda 
(Leipzig) 1612(!). 

*) Über seine Lebensschicksale F. X. Wegele in der Allg. deutschen 
Biographie VII, S. 334L Geb. 1565 zu Augsburg, kam er nach vollendetem 
Studium früh an den Hof des Administrators Johann Casimir von der 
Pfalz, diente ihm und später Kurfürst Friedrich IV. als Rat. Nur vor¬ 
übergehend hatte er auch eine Professur für römisches Recht in Heidel¬ 
berg inne. In seinen staatsrechtlichen und historischen Schriften ist er 
der publizistische Vertreter der pfälzischen Politik, ein Zweck, dem im 
Grunde auch sein im Texte genanntes Hauptwerk dient. 

*) Meibom (s. unten) widmete ihm seine Arbeit über die Gaue Nieder* 
Sachsens, Freher und seine Werke werden von den folgenden Autoren 
immer wieder an die Spitze der Gauforschung gestellt. 

4 ) 1. Aufl. p. 37—42; 2. Aufl. pars I, p. 37—-14 mit nur ganz unbedeu¬ 
tender Vermehrung des beigebrachten Materials (kein Gau neu genannt). 

*) Zu scheiden von seinem gleichnamigen Enkel, der wie der Gro߬ 
vater Professor in Helmstädt war. Über die verschiedenen Mitglieder 
der Gelehrtenfamilie Meibom Allg. deutsche Biographie XXI, S. 187L 

®) De vtriusque Saxoniae et vicinarum regionum quarundam pagis, 
ex mediae aetatis rerum Germanicarum scriptoribus et Caess. Augg. di- 
plomat. commentariolvs. Die Schrift ist Freher gewidmet. — Mir war 
hier in Greifswald die Originalausgabe nicht zugänglich, ich benutzte die 
Arbeit in der von Meiboms gleichnamigem Enkel herausgegebenen 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 137 


Gaugeographie in alphabetischer Ordnung — gegen IIO Stich¬ 
worte — für das gesamte Gebiet vom Niederrhein bis zu den öst¬ 
lichen Marken des Reiches. Es ist ein Werk, das mit großem 
Sammelfleiß schon eine gewisse Kritik verbindet und dessen Ver¬ 
fasser den Zusammenhang zwischen den alten Gauen und späteren 
territorialen Gebilden, den Freher bereits gelegentlich angedeutet 
hatte 1 ), schon stärker betont 2 ). In der begonnenen Richtung 
wurde in den folgenden Jahrzehnten weiter gearbeitet, manches 
neue Material herbeigeschafft, bis Christian Franz Paullini 
abermals, genau 100 Jahre nach Freher (1699), den ganzen Stoff 
zusammenfaßte 8 ). Grundsätzlich Neues wußte er allerdings nicht 
zu sagen, als theoretische Einleitung setzte er vielmehr seinem Werke 
abermals die nun schon über 80 Jahre alte Praefatio Meibomiana 
voran. Da sah der Eisenacher Rektor Christian Juncker 4 ), 
der ein gutes Jahrzehnt später (1712) abermals eine allgemeine 
Gaugeographie herausgab 5 ) — die erste in deutscher Sprache —, 
doch schon klarer: „ Im übrigen sind wir der Meinung, daß, so attent 
und scharffsichtig man auch sey, dennoch die Beschreibung der 
Teutschen Pagorum nicht werde zu ihrer Vollkommenheit gelangen, 
ehe und bevor etliche gelehrte und der Sachen verständige Männer 

Sammlung der „Opvscula historica varia “ des Großvaters (Helmestadi 
1660), dort S. 82 ff. 

*) Vgl oben seine bereits erwähnte Beobachtung: Rheingau =» Burg¬ 
grafschaft Starkenburg. 

*) Vgl. die allgemeinen Ausführungen gegen Schluß der Einleitung 
und die Bemerkung beim Gau Ameri, daß er der heutigen (für den Be¬ 
ginn des 17. Jahrhunderts gesprochen) Grafschaft Oldenburg entspräche. 

3 ) Christianus Franciscus Paullini, Gaeographia curiosa seu de pagis 
antiquae praesertim Germaniae commentarius. Francofurti ad Moenum 
16Q9. — Über P.’s Leben und Persönlichkeit vgl. Wegele in der Allg. deut¬ 
schen Biographie XXV, S. 279 ff. Von Haus aus Arzt (geb. Eisenach 1643), 
gehört der größere Teil seiner wissenschaftlichen Werke doch dem Ge¬ 
biete der Geschichte an. Zeitlebens hat er sich mit immer neuen großen 
Projekten getragen, nach einem unruhigen Wanderleben fand er erst in 
den letzten 25 Jahren seines Lebens Ruhe in seiner Vaterstadt, hier ge¬ 
storben 1711. 

4 ) Über sein Leben und seine Schriften H. Kaemmel, Allg. deutsche 
Biographie XIV, S. 690 ff. Neben seinem Schulamte war J. noch Bibliothekar 
und Historiograph der sächsischen Emestiner. 

ö ) Als 5. Kapitel „Von den großen und kleinen pagis oder Gowen 
in Teutschland“ seiner „Anleitung zu der Geographie der mitlem Zeiten 
. . . Jena 1712“. 


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Fritz Curschmann 


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sich en particulier bemühet, diejenigen Pagos, so zu ieglichem 
Chur- und Fürsten- auch Hertzog- Markgraf- Landgraf- Burggraf¬ 
thum und Grafschafft, auch Geistlichem Stiffte, so Bischofthümer 
als Clöster, ehemals und noch biß itzo, obschon mit veränderten 
Nahmen, gehören, sammt ihren Villis, soviel man ihrer in den 
Scriptoribus medii aevi findet, und deren heut üblichen Benennung, 
in besonderen Schrifften zu erklären 1 ).“ Schon vor diesen allgemei¬ 
nen Ausführungen erwähnt Juncker an anderer Stelle, „daß über jed¬ 
weden Pagum ein besonderer Comes oder Grave gesetzet worden“, 
Gau und Grafschaft sind ihm also in älterer Zeit identisch. Ins¬ 
gesamt vertritt Juncker die Ansicht 2 ), daß mit dem Aufhören der 
häufigen Erwähnung der Gaue im u., 12. und 13. Jahrhundert 
die alte Gaueinteilung nicht erloschen -sei, sondern daß sie, un¬ 
beschadet vielleicht mancher Veränderungen im einzelnen, in den 
Territorien des Reiches fortlebe; durch Einzelforschung sie wieder¬ 
zufinden, das sei die Aufgabe. 

Es sind ja nun Monographien über einzelne Gaue entstanden, 
aber planvoll, wie es Juncker gewünscht hatte, ist durch sie die 
Forschung nicht gefördert worden, sie blieben Einzelarbeiten, 
und das nächste große, vielbewunderte Werk auf dem Gebiete der 
Gaugeographie, das 1732 erschien, war wieder allgemeinen Cha¬ 
rakters. In jener merkwürdigen Enzyklopädie der historischen 
Hilfswissenschaften, die als Chronicon Gotwicense 3 ) bekannt 
ist, handelt das vierte Buch „De pagis Germaniae mediae“. Auf 
über 350 Folioseiten wird ein sehr umfangreiches Material 4 ), alles 
was bisher über die deutschen Gaue bekannt geworden war, wieder 
zusammengestellt und auch eine große Gaukarte 5 ) — der erste Ver- 

x ) a. a. O. $ 16, S. 193. 2 ) Vgl. a. a. O. S. 1890. 

*) Chronicon Gotwicense seu Annales liberi et exempti monasterii 
Gotwicensis .... Tomus prodromus de codicibus manuscriptis, de 
imperatorum ac regum Germaniae diplomatibus, de eorundem palatiis, 
villis et curtibus regiis atque de Germaniae medii aevi pagis.... Tegern¬ 
see 1732. — Über den einleitenden Band ist man nicht herausgekom¬ 
men, die groß angelegte Geschichte des niederösterreichischen Stiftes 
Göttweig, die ihm folgen sollte, ist nie erschienen. 

*) p. 527—881 und Addenda p. 883—890; 537 Gaue zählt das alpha¬ 
betische Gauverzeichnis, drei bisher noch nicht erwähnte findet man noch 
in den Addenda. 

A ) Germania in priscas suas provincias, ducatus pagosque. tarn ma* 
iores quam minores curate divisa, nominibus locorum ad medij aevi dia- 


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Die Entwicklung der histor. -geograph. Forschung in Deutschland usw. 13g 


such dieser Art — ist beigegeben. Über das Sammeln aber sind die 
gelehrten Benediktiner 1 ), die das Werk bearbeiteten, nicht hinaus¬ 
gekommen, die Wege, die Juncker gewiesen hatte, sind sie nicht 
gegangen, und so ist für die Gauforschung das Chronicon Got- 
wicense nicht das grundlegende, epochemachende Werk, als das 
es für die eigentlichen historischen Hilfswissenschaften allgemein 
anerkannt wird. Einen neuen Anstoß erhielt die Forschung auf 
diesem Gebiete erst — das muß anerkannt werden, auch wenn 
sich der Weg, den sie gingen, schließlich als ein Irrweg erwies — 
durch die Gelehrten der kurpfälzischen Akademie zu Mannheim. 

Die Academia Theodoro-Palatina, die der Ehrgeiz Kur¬ 
fürst Karl Theodors von der Pfalz ihren älteren Genossinnen an 
die Seite stellte 2 ), stand wissenschaftlich durchaus unter dem 
Einflüsse Johann Daniel Schöpflins 3 ), des berühmten Verfas- 

lectum expressis ex diplomatibus, chartis et tabulis medij aevi descripta, 
1729. Der Titel bezeichnet die Art der Karte ganz treffend: eine Unzahl 
Namen sind eingetragen (wohl alle im Gauregister erwähnten), Grenzen 
einzuzeichnen, aber ist nur seiten versucht, und nur mit der größten Mühe 
kann man die Landschafts- und Gaunamen, die kreuz und quer das Blatt 
bedecken, herausbuchstabieren: Ripuariorum ducatus, Saxoniae ducatus, 
Baioariae ducatus, Wormatiensis (pagus), Spirensis (pagus), Moingow, 
Northuringa, Suevon, Serimunt usw. 

*) Verfasser sind Gottfried Bessel, der Abt von Göttweig, und Franz 
Joseph von Hahn, wobei der zweite wohl die Hauptarbeit geleistet hat, 
vgl.F. X. v. Wegele, Gesch. d. deutsch. Historiographie S. 553 fl., und Hahns 
Biographie von K. Heigel, Allg. deutsche Biographie X, S. 358 ff. 

*) Gegründet 1763, es bestanden vor ihr im Deutschen Reiche be¬ 
reits: die kaiserlich Leopoldinisch-Karolinische Akademie der Natur¬ 
forscher, gegr. 1652; die Akademien zu Berlin, gegr. 1700; zu Göttingen, 
gegr. 1751; die Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften zu Erfurt, 
gegr. 1754, und die Münchner Akademie, gegr. 1759. 

a ) Über Sch. und seine Stellung in der Wissenschaft eingehend 
W. Wiegand, Allg. deutsche Biographie XXXII, S. 359fl. Sch. wurde ge¬ 
boren 1694 zu Sulzburg in Baden, wurde 1720 Professor an der Univer¬ 
sität Straßburg, der er unter Ablehnung einer Reihe von ehrenvollen 
Rufen bis zu seinem Tode (f 1771) treu blieb. So hatte auch Kurfürst 
Karl Theodor von der Pfalz keinen Erfolg, als er Sch. aus Anlaß der 
Gründung der Mannheimer Akademie (1763) aufforderte, in seine Resi¬ 
denz überzusiedeln, um hier eine große Geschichte des pfälzischen Hauses 
zu verfassen oder zu redigieren. Sch. sandte an seiner Stelle seinen 
Lieblingsschüler Andreas Lamey nach Mannheim, der ständiger Sekretär 
der Akademie wurde, während sein Meister selbst als Ehrenpräsident in 
ein festes Verhältnis zu ihr trat. Die historische Forschung an der Aka¬ 
demie bewegte sich daher ganz in den Bahnen Schöptlinscher Methode, 


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140 Fritz Curschmann 

sers der Alsatia illustrata 1 )* Von der Lehre aber, die hier bald ent¬ 
wickelt wurde, daß die Grenzen der alten Gaue des früheren Mittel¬ 
alters sich in den späteren kirchlichen Grenzen erhalten hätten, 
wußte Schöpflin noch nichts 2 ). Wann dieser Gedanke wirklich zu 
allererst auftauchte und bei wem, wird sich schwerlich ganz sicher 
feststellen lassen, er lag — wie seine schnelle Aufnahme auch 
zeigt — um die Mitte des 18. Jahrhunderts offenbar in der Luft. 
Er war ja im Grunde ursprünglich auch nur auf der einen Seite 
eine Übertragung der bekannten Tatsache, daß sich die alte Kirche 
bei der Festsetzung ihrer Diözesaneinteilung nach den Provinzen 
des römischen Reiches gerichtet hatte, auf deutsche Verhältnisse, 
auf der anderen Seite eine Ergänzung des schon früher ausgespro¬ 
chenen Gedankens, daß sich in den Grenzen späterer Territorien 
viele Gaugrenzen erhalten hätten, eine Ergänzung, die sich leicht 
für jeden ergeben mußte, der vor Augen sah, wie beständig die 
Kirchspielgrenzen, die Elemente aller anderen kirchlichen Gren¬ 
zen, sind. So kommt es, daß Johann Nicolaus v. Hont- 


und der rege Briefwechsel, den er über alle akademischen Angelegen* 
heiten, Großes und Kleines, mit Lamey unterhielt, zeugt von dem Inter¬ 
esse, das Sch. der neuen Gründung entgegenbrachte. Auch hat er bis an 
sein Ende die Festsitzungen der Akademie besucht (nach L. Bergsträßer, 
Mannheimer Gesch.-Bll. VIII (1907), S. 207 f.). 

*) Alsatia illustrata Celtica, Romana, Francica. 2 Bde. Colmariae 1751 
u. 1761. 

*) Dies zeigt seine Beschreibung der elsässischen Gaue in der Alsatia 
illustrata I (p. 632—647), die sich noch durchaus in den alten Bahnen 
bewegt. Sch.s Schüler Lamey (vgl. über ihn und seine Beteiligung an 
der Gauforschung weiter unten S. I4if.) kommt in der Vorrede zu Bd. II 
von Sch.s nachgelassenem Werke, das er herausgab, der Alsatia diplo- 
matica (Mannhemii 1775), auf die Frage zurück und bemerkt, daß Sch. 
bereits gewußt habe, „Ad geographicam porro et politicam veterum pro- 
vinciarum rationes episcopatus olim et archiepiscopatus institutos esse 11 , 
daß er aber merkwürdigerweise von dieser Erkenntnis in seiner Beschrei¬ 
bung der elsässischen Gaue keinen Gebrauch gemacht habe. Der Vor¬ 
wurf ist unberechtigt, denn Sch. spricht an der Stelle, auf die sich Lamey 
bezieht (Alsatia illustrata I, p. 344), nur davon, daß sich die alte Kirche 
in ihrer Diözesaneinteilung nach der Einteilung des römischen Reiches 
in Provinzen gerichtet habe, zieht aber daraus — wir werden heute sagen 
mit Recht — nicht die Folgerung, daß deswegen auch die Diözesen der 
mittelalterlichen deutschen Kirche der deutschen Gaueinteilung entsprechen 
müssen. 


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Die Entwicklung der histor. -geograph. Forschung in Deutschland usw. 141 


heim 1 ) bereits annehmen konnte — ohne auf die Frage näher 
kritisch einzugehen —, daß die Erzdiözese Trier, deren Geschichte 
er schrieb, genau einer Anzahl von Gauen entspräche 2 ), ja mehr 
noch, er glaubte in ihr genau das Stammesgebiet des Kelten¬ 
stammes der Treverer vor sich zu haben 8 ). Näher verfolgt hat 
Hontheim die Frage von der Gleichheit der Gau- und Diözesan- 
grenzen nicht, nur ein Vorläufer der Schule, die diese Theorie ver¬ 
trat, war er. Sie wurde, wie schon bemerkt, erst von den Gelehrten 
der Mannheimer Akademie systematisch ausgebaut 4 ). 

Andreas Lamey, ehemals Schöpflins langjähriger Mit¬ 
arbeiter, jetzt sein Vertrauensmann bei der Akademie und stän- 

*) Über seine Bedeutung als Geschichtsschreiber und Kirchenpolitiker 
eingehend F. X. Kraus in der Allg. deutschen Biographie XIII, S. 83 ff. H. 
wurde geboren zu Trier 1701, trat nach theologischen und juristischen 
Studien in die geistliche Verwaltung des Erzstifts ein, wurde Professor an der 
Universität Trier (1732), Offizial (1738) und schließlich Weihbischof (1748). 
Er starb auf seinem Sommersitz Montquintin im Luxemburgischen 1790 

*) Vgl. Historia Trevirensis diplomatica et pragmatica I (Augustae 
Vindelicorum et Herbipoli 1750), S. 54fr., wo H. nach Freher, Paullini, 
dem Chronicon Gotwicense und unter Beibringung auch eigenen, neuen 
Materials eine ziemlich ausführliche Zusammenstellung alter Art über die 
Gaue der Erzdiözese gibt. — Bezeichnend (S. 54): Singulos hos pagos, 
in quos tum nostra archidioecesis distributa fuit, nosse et ex coaevis ta- 
bulis perspectas habere plurimas in eis sitas villas vicosque hodiedum 
superstites multum sane est historiae patriae momentum. 

8 ) Vgl. Prodromus historiae Trevirensis (Augustae Vindelicorum 1757) 
p.4: . . . si quis tarnen adhuc curatiorem horum finium determina- 
tionem (sc. gentis Trevirorum) desiderat, is ea loca omnia et sola Trevi- 
rorum sub Romanis fuisse censeat, quae sub Constantino ’M. cis Rhenum 
iurisdictioni ecclesiasticae Trevericae subdita sunt, quaeque in hunc usque 
diem in eodem sacro nexu perdurant .... Fuit enim tune in more, 
episcopatuum et dioecesium fines populorum limitibus circumscribere, 
atque ita singulis civitatibus suos dare sacros praesides; uti eruditis 
minime ignotum est. 

4 ) Auf die Bedeutung der Mannheimer Historiker für die Geschichte 
der Gauforschung wurde ich durch Theodor Menkes Besprechung von 
H. Böttger, Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands aufmerksam ge¬ 
macht, Hist. Zeitschrift XXXVIII (N. F. II), 1877, S. 103. Wenn M. dort 
unter den ältesten Verfechtern der Theorie von der Gleichheit der kirch¬ 
lichen und Gaugrenzen auch „P. Wiltheim“ nennt, so liegt hier entweder 
ein Druckfehler für „Hontheim “ (über ihn s. oben) oder ein Irrtum 
M.s vor, denn das Werk des Jesuiten Alexander v. Wiltheim (1604 bis 
1684), Luciliburgensia sive Luxemburgum Romanum (ed. A. Neyen, Luxem¬ 
burg 1846), das doch wohl nur gemeint sein könnte, enthält nichts von 
der erwähnten Theorie. 


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diger Sekretär der gelehrten Körperschaft 1 ), begann schon im ersten 
Bande der Akademieschriften eine Reihe von Abhandlungen, in 
denen er sich die Erforschung der Gaue der rheinischen Pfalzgraf¬ 
schaft zur Aufgabe setzte 2 ), und er zeigt sich in ihnen von Anfang 
an durch die schon berührte Theorie stark beeinflußt. In erster 
Linie zwar sucht Lamey den Gauen, über die er arbeitet — Laden¬ 
gau, Wormsgau, Rheingau, Speiergau, Kraichgau, Nahegau, 
Elsenzgau und Gau Wingarteiba —, natürliche Grenzen zu geben, 
wie sie der Rheinstrom, seine bedeutenderen Nebenflüsse und eine 
Anzahl von Gebirgszügen bieten 3 ). Wo aber solche Grenzen fehlen, 
da sind ihm die Diözesangrenzen maßgebend 4 ), und auch vor 
einer gewissen Gewaltsamkeit der Linienführung scheute er 


*) Vgl. oben S. 139 Anm. 3. Einige biographische Notizen über ihn 
gibt F. X. Wegele, Allg. deutsche Biographie XVII, S. 568. Er wurde ge¬ 
boren 1726 zu Münster im Elsaß und starb in Mannheim 1802 als 
Sekretär der dortigen Akademie und Oberbibliothekar. Eine Selbstbio¬ 
graphie Lameys ist neuerdings von Franz Schnabel herausgegeben wor¬ 
den, Mannheimer Geschichtsblätter XIV (1913). Über L.s Gauforschung 
bietet sie nichts von Belang. 

*) Sämtliche Abhandlungen L.s in den Acta acad. Theodoro-Pala- 
tinae, alle mit recht übersichtlichen, für ihre Zeit anerkennenswerten 
Karten: Ladengau, Acta I (1766), p. 215fr.; Wormsgau, Actal, p. 243!!.; 
Rheingau, ibid. II (1770), p. 153ff.; Speiergau, ibid. III hist (1773), 
p. 228fl.; Kraichgau, ibid. IV (1778), p. I04ff.; Nahegau, ibid. V (1783), 
p. 127ff.; Elsenzgau, ibid. VI (1789), p. 91 ff.; Wingarteiba ibid. VII (1794), 
P- 4i ff- 

*) Der Rhein ist Grenze zwischen Speier- und Wormsgau einerseits, 
Ladengau und Rheingau auf der anderen Seite; Nordgrenze des Rhein¬ 
gaus der Main (Acta acad. II, p. 177). — Das Haardtgebirge erscheint 
als Grenze des Speiergaus gegen Westen (Acta acad. III hist, p. 254), der 
Odenwald als Ostgrenze des Rheingaues. Sehr hübsch beschreibt L. hier 
dies Waldgebirge als Grenzsaum, wie es die neuere geographische Wissen¬ 
schaft bezeichnet: Orientalem denique montium ad Stratum montanam 
(= Bergstraße) surgentium cacumina constituunt, retro quae Plumgovia et 
Moingovia occurrunt, ubi non tarn facile est lineam certam ducere, quam 
in apertis atque cultis. Sunt enim in desertis, in silvis ac montibus 
limites definitu ubique difficillimi (Acta acad. II, p 177). 

4 ) Sehr bezeichnend seine Ausführungen über die Südgrenze des 
Wormsgaues (Acta acad. I, p. 287): Variant chartae veteres in pagi nomine 
Spirensis nempe et Wormatiensis (d. h. in der Erwähnung der Gauzuge¬ 
hörigkeit bei einigen Orten im Grenzgebiet von Worms- und Speiergau); 
quare consulendi omnino sunt dioecesis Wormatiensis quibus a Spirensi 
sejungitur fines. Fines autem hi sunt .... 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 143 

dann nicht zurück 1 ). In ähnlicher Weise arbeiteten gleich¬ 
zeitig mit ihm auch andere Mitglieder der Akademie, so der ge¬ 
lehrte Rektor des Zweibrücker Gymnasiums Georg Christian 
Crollius 2 ), der in den Acta der Akademie eine große Arbeit über 
die Gaue Oberlothringens veröffentlichte 3 ), und in erster Linie 
Christoph Jakob Kremer 4 ), der Verfasser der Geschichte 
des Rheinischen Franziens 6 ). Ihm schreibt Lamey, der es als 
Herausgeber dieses nachgelassenen Werkes, und Sekretär der 
Akademie ja wissen muß, das Hauptverdienst an der Ausbildung 
der Lehre von der Übereinstimmung der Kirchensprengel mit den 
Gauen zu 6 ). Und in der Tat spielt diese Theorie bei Kremer eine 

*) Vgl. z. B. die Ausführungen über die Südgrenze des Ladengaues, 
die Lamey im Gegensatz zu einem Quellenzeugnis auf Grund der Diözesan- 
grenze zwischen Worms und Speier festlegt (Acta acad. I, p. 236). 

*) Seine Biographie von Franz X. Wegele, Allg. deutsche Biographie 
IV, S. 604 f. Er wurde geboren zu Zweibrücken 1728 und starb daselbst 
1790. Er war seit 1765 außerordentliches Mitglied der Mannheimer 
Akademie, vgl. Acta acad. I, p. 18. 

*) Observationes geographicae ad illustrandum omnem tractum Mosel- 
lanum spectantes, Acta acad. V hist. (1783), p. 187 ff. 

4 ) In der Allg. deutschen Biographie fehlt seine Biographie merkwür¬ 
digerweise, einige biographische Angaben in Lameys Vorrede zu Kremers 
Gesch. d. Rhein. Franziens (s. folg. Anm.). Danach wurde K. 1722 in Worms 
geboren, studierte in Tübingen, trat 1760 als Ehegerichtsrat in rhein- 
pfälzische Dienste, war Mitglied der Mannheimer Akademie seit ihrer Be¬ 
gründung (1763) und starb zu Mannheim 1777. 

6 ) Geschichte des Rheinischen Franziens unter den Merovingischen 
und Karolingischen Königen bis in das Jahr 843, als Grundlage zur Pfäl¬ 
zischen Staats-Geschichte. Herausgegeb. von Andreas Lamey. Mannheim 
1778. — Eine Erweiterung der Gaugeographie, die K. in diesem seinem 
Hauptwerke für Rheinfranken bietet, gegen Osten ist — ebenfalls aus 
dem Nachlasse, Acta academiae IV hist. (1778), p. 147—178 —: Das östliche 
Franzien in seine Gaue eingeteilt; umfassend die Gaue im Gebiete des 
mittleren Neckar, des mittleren Main und ostwärts soweit die deutsche 
Siedelung reicht: Waldsaßgau, Taubergau, Wingarteiba, Jagstgau, Mulach- 
gau, unterer Neckargau, Kochergau, Rangau, Iffgau und Gollachgau. — 
Skizzenhaft nur ist die dritte nachgelassene Arbeit K.s aus dem Gebiete 
der historisch geographischen Forschung, mit der er seine Untersuchung 
auf das Gebiet des Niederrheins ausdehnte: Die ripuarische Provinz 
und die in derselben gelegenen fünf Grafschaften, Acta IV hist., p. 178 
bis 189, und dementsprechend die Behandlung des Problems von der 
Gleichheit der Gau- und kirchlichen Grenzen. 

e ) Vgl. Lamey in der Vorrede zu Kremers Geschichte des Rheinischen 
Franziens (unpaginiert): „Insonderheit hat Herr Kremer durch die vor¬ 
hin noch sehr dunkel gewesene Lehre von der Übereinkunft der bischöf- 


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große Rolle. Um die Führung eines strikten Beweises 1 ) bemüht 
er sich allerdings nur wenig und beruft sich lieber auf seine und 
seiner Mitarbeiter Erfahrung: ,,Die politische Eintheilung in 
Gauen ist unstreitig viel älter, als die geistliche nach den Diöcesen. 
Denn diese entstunden erst, nachdem das Christenthum in Deutsch - 
lande allgemeiner geworden. Es war also natürlich, daß man die 
letztere, so viel möglich nach der erstem eingerichtet hat. Wenn 
man die Grenzen der alten Gauen mit den von den bischöflichen 
Kirchensprengeln etwas genauer vergleicht: so wird man finden, 
daß solches eine Wahrheit ist, welche, sonderlich wo ganze Pro¬ 
vinzen und Völker wenden, selten, und nur in denen Fällen trüget, 
wo in den neueren Zeiten durch Verträge und Umtauschung, auch 
selbst durch päpstliche und andere Befreyungsbriefe eine Aenderung 
gemacht worden. Wie nun die Diöcesen sich nach den Gauen ein¬ 
gerichtet: so hat man bey diesen, wo die Gelegenheit dazu war, 
wieder auf die Schneeschmelze, das ist, auf den Abfluß der von 
den Gebirgen kommenden Wasser, als die natürlichste Grenze ge¬ 
sehen . . . .“ 2 ). Wie nach diesen grundsätzlichen Ausführungen zu 
erwarten, so gestalten sich die Gaubeschreibungen im einzelnen. 
Der Bedeutung der natürlichen Grenzen sucht Kremer gerecht 
zu werden und weist oft genug auf sie — Höhenzüge wie Wasser¬ 
grenzen — hin, zur genaueren Bestimmung, zur feineren Modellie¬ 
rung, wenn man sich so ausdrücken darf, seiner Gaugrenzen die¬ 
nen ihm aber immer wieder die kirchlichen Grenzen, wobei er aller¬ 
dings zur Stütze dessen, was sie ihm für die Feststellung der 
Grenzorte bieten, in den Anmerkungen ein nicht unbeträchtliches 
Material über die Gauzugehörigkeit der Grenzorte aus den Ur¬ 
kunden beibringt. Eine Verfeinerung der Methode in Kremers 
Sinne bedeutet es hierbei, daß er über Lamey, der die Überein¬ 
stimmung der kirchlichen Hauptgrenzen, der Diöcesangrenzen, 

liehen Kirchensprengel mit den alten Gauen und Provinzen, welche er 
durchaus richtig gefunden hat . . . .“ 

’) Wie ihn später, mit wenig Glück allerdings, der schon genannte 
H. Böttger im Vorwort zu seinen Diözesan- und Gaugrenzen zu führen 
versucht hat. 

*) Das Zitat bei Kremer a. a. O. S. 30; im folgenden noch weitere Aus¬ 
führungen : auch Zeugnisse jüngerer Zeit, historische Schlüsse usw. müßten 
beachtet werden. 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 145 


mit den Gaugrenzen festzustellen sich bemüht, hinausgeht und 
systematisch auch die Unterabteilungen der Bistumssprengel, 
Archidiakonate und Dekanate mit den Gauen in Verbindung 
bringt 1 ). Daß solches Verfahren den Quellen nicht selten Gewalt 
antut*), wird man verstehen, so doktrinär aber, wie es Spätere 
wurden 8 ), ist Kremer noch nicht, und so gibt er denn auch frei¬ 
mütig Ausnahmen von seiner Regel zu 4 ). 

Ein tüchtiges Stück monographischer Arbeit auf dem Gebiete 
der deutschen Gaugeographie ist von den Mannheimer Forschern 
geleistet worden. Hatte Lamey mit den Gauen der Pfalz angefan¬ 
gen, so umfaßten Kremers Untersuchungen ganz Rheinfranken, 
die fränkischen Gebiete am Main und Neckar und auch noch einen 
Teil niederrheinischen Landes. Gegen Westen dehnte Crollius 
die Arbeit auf Lothringen aus, und schließlich unternahm es 
Lamey noch, die Ergebnisse der Forschung seines Meisters Schöpf - 
lin für das Elsaß in einigen Punkten gemäß den neuen Anschauun¬ 
gen zu korrigieren 8 ). Mehr noch, man suchte der Gauforschung 
neue Mitarbeiter zu gewinnen, indem die Akademie Preisaufgaben 
stellte. Die eine von allgemeiner Art, über die Ursachen des Ver¬ 
falles der Gaueinteilung, fand durch einen damals noch jungen 
Gelehrten, den Assessor bei der Regierung zu Karlsruhe, Hektor 
Wilhelm von Günderode, eine, wie man auch heute noch ur* 

*) So weiß K. den Umfang des Wirmgaues (im Gebiete der mittleren 
Nagold), obwohl, wie er selbst bemerkt, nur wenig urkundliches Material 
vorliegt, doch genau zu bestimmen, indem er ihn gleichsetzt dem Speierer 
Dekanat Weil (Geschichte Franziens S. 84 fr.); der untere Lahngau ent¬ 
spricht den Trierer Landkapiteln Wetzlar, Kirberg und Dietkirchen (Ge¬ 
schichte Franziens S. 126); der Gau Weingarteiba (südl. des Mainknies 
von Miltenberg) ist gleich dem würzburgischen Dekanat Buchen (B. sso. 
Miltenberg, bei Kremer Buchheim. D. östliche Franzien, Acta IV, p. 157 fr.). 

*) So ist es z. B. ein kühner Schluß, wenn K. (Gesch. Franziens S. 89) 
annimmt, daß der Enzgau ursprünglich in zwei Gaue, einen oberen und 
einen unteren Enzgau, zerfallen sei, nur weil sich in dies Gebiet später 
zwei Dekanate, die von Pforzheim und Vaihingen, teilten, die ihrerseits 
wieder zu zwei verschiedenen Archidiakonaten gehörten. 

*) Der hannoversche Bibliothekar Heinrich Böttger bleibt hier immer 
das abschreckende Beispiel; vgl. über ihn weiter unten. 

4 ) Vgl. z. B. beim Taubergau, Gesch. des östl. Franziens, Acta acad. 
IV hist. (1778), p. 153 und beim Maingau, Gesch. d. Rhein. Franziens S. 108. 

6 ) In der Praefatio zu Bd. II von Schöpflins nachgelassenem Werke 
Alsatia diplomatica. Vgl. auch oben S. 140 Anm. 2 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 IO 


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teilen wird, vortreffliche Lösung (1776) x ). Auf die zweite bald 
danach gestellte Aufgabe, die eine Untersuchung über das Ver¬ 
hältnis der sächsischen Diözesen und Gaue zueinander forderte, 
um so die Grundsätze der auf fränkischem Boden gewonnenen 
Lehre zu prüfen und zugleich das Gebiet der Gauforschung zu 
erweitern, lief ebenfalls eine Bearbeitung ein, doch wurde sie nicht 
für preiswürdig erklärt 2 ). 

Das planvolle Vorgehen der Mannheimer machte in der wissen¬ 
schaftlichen Welt starken Eindruck, ihre Theorie hatte auf der 
ganzen Linie gesiegt. Wohin man in der landesgeschichtlichen 
Literatur der nächsten Jahrzehnte blickt, sobald es sich um 
Gaue handelt, werden sie mit Hilfe der Bistums-, Archidia- 
konats- und Dekanatsgrenzen konstruiert 8 ), so bei Wenck in seiner 
Hessischen Landesgeschichte 4 ), so bei Johann Adolph von Schultes 

*) Das Urteil der Akademie, abgegeben in der Sitzung vom 23.0kt. 
1776, vgl. Acta acad. IV hist. (1778), p. 17. Unter fünf Bewerbern —■ 
auch ein Zeichen, wie populär damals die Gauforschung in den Kreisen 
der Gelehrten war — trug G. den Preis davon. Die Arbeit erschien 
unter dem Titel „Von den vornehmsten Ursachen, welche den verfall der 
geographischen Einteilung des Teutschen Reiches, besonders der Rheini¬ 
schen länder, in gauen, veranlasset haben“ in Acta acad. IV hist., p. 18 
bis 36. Später auch aufgenommen in des Verfassers „Sämmtliche Werke 
aus dem teutschen Staats- und Privat-Rechte, der Geschichte und Münz¬ 
wissenschaft . . . herausgegeben von Ernst Ludwig Posselt“ Bd. I 
(Leipzig 1787). — Die Ursachen für den Verfall der Gaueinteilung sieht 
G. in erster Linie im Aufkommen der Erblichkeit der Grafschaften. Die 
Grafen teilten nun ihren ehemaligen Amtssprengel, den Gau, in be¬ 
liebiger Weise, vereinigten Stücke verschiedener Gaue, nannten sich dann 
nach ihren Schlössern oder Allodialgütem, so daß die Gaunamen über¬ 
flüssig wurden. Ebenso wurden durch Schenkung an geistliche Institute die 
Gaue zerstückelt und durch Exemption von der weltlichen Gerichtsbarkeit 
der geistliche Besitz aus dem Verbände von Gau und Grafschaft gerissen. 

*) Vgl. das in der Sitzung vom 12. Okt. 1778 abgegebene Urteil 
der Akademie, Acta acad. V hist., p. 7. Eine Lösung der Aufgabe, wie 
sie von der Mannheimer Akademie gestellt und gewünscht war, brachte 
erst ein Menschenalter später (1829) die Göttinger Preisarbeit August 
v. Wersebes über die niedersächsischen Gaue, s. unten S. 153. 

8 ) Eine Reihe von Arbeiten dieser Zeit in Böttgers Bibliographie, 
Diözesan- und Gaugrenzen I, p. XIV ff. 

4 ) Helfrich Bernhard Wenck, Hessische Landesgeschichte, Bd. II (1789), 
Vierter Abschnitt: Politische und kirchliche Abtheilung der Hessischen 
Länder nach Gauen und Archidiakonaten, S. 343 ff. Vgl. besonders sein 
Urteil (S 349), man kann „aus den noch vorhandenen Archidiakonats- 
registem die vormaligen Grenzen der Gauen sehr genau beurtheilen, oder 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 147 


in verschiedenen Schriften 1 ) u. a. m. Auch der bayerische Archi* 
var Karl Heinrich Lang 2 ) schloß sich, als er die Gaugeogra¬ 
phie eines größeren Gebietes — Bayern natürlich — zu schreiben 
unternahm, der herrschenden Lehre an. Seine Arbeit erschien in 
den Schriften der Münchener Akademie unter dem Titel: Die Ver¬ 
einigung des Baierischen Staates aus den einzelnen Bestandteilen 
der ältesten Stämme, Gauen und Gebiete historisch entwickelt 8 ). 

In den gleichen Gleisen, an verschiedenen Stellen ging die 
Arbeit so fort, bis zum Erscheinen der zweiten Auflage von Längs 
Arbeit über die bayerischen Gaue (1830) 4 ). Nicht in ihm selbst liegt 
die Bedeutung des erneuerten Buches, obwohl es in umgearbeitetcr, 
verbesserter und erweiterter Form 6 ) erschien, auch nicht darin, 

die Ausnahmen sind wenigstens nur selten. Kenner haben diese Regel 
in der Ausübung noch immer bewährt befunden.“ Dann beruft sich W. 
in der Anmerkung auf die Arbeiten der Mannheimer. 

x ) In seinen Historischen Schriften und Sammlungen ungedruckter 
Urkunden zur Erläuterung der deutschen Geschichte und Geographie 
des mittleren Zeitalters, I (1798) und II (1801), Hildburghausen: Beschrei¬ 
bungen des bayerischen Nordgaues und des Radenzgaues. Sehr bezeich¬ 
nend 1,9; nachdem Sch. zuerst von der Bestimmung des Umfanges der 
Gaue auf Grund der Urkunden gesprochen hat, fahrt er fort: „Da, wo 
die urkundlichen Beweise . . . nicht hinreichend sind, nimmt man 
die Archidiaconatsregister zur Hülfe, von welchen die fürtreflichen Mit¬ 
glieder der kurfürstlichen Academie der Wissenschaften zu Mannheim, 
bei verschiedenen Gaubeschreibungen, die glücklichste Anwendung ge¬ 
macht, und, einige Fälle ausgenommen, eine genaue Übereinstimmung 
der alten Diöcesengrenzen mit den Gaubezirken entdeckt haben.“ 

*) Am bekanntesten durch seine Memoiren, die Schilderung seines 
bewegten Lebens, die nicht immer gerecht, aber immer interessant die 
Verhältnisse Süddeutschlands am Ende des alten Reiches schildern. L., 
geb. 1764, diente in seiner Jugend in verschiedenen Stellungen seinem 
Landesherm, dem Fürsten von öttingen-Wallerstein, gewann dann Be¬ 
ziehungen zu Hardenberg, als dieser die Regierung der fränkischen Be¬ 
sitzungen Preußens leitete, und trat erst 1806 bei der Abtretung von Ans¬ 
bach-Bayreuth an Bayern in bayerische Dienste, gest. 1835. Nähere Lebens¬ 
daten bei F. Muncker in der Allg. deutschen Biographie XVII, S. 606 ff. 

*) Denkschriften der Königl. Akademie der Wissenschaften zu München, 
Jahrg. 1811/12, Klasse der Geschichte S. 1—168. 

4 ) Karl Heinrich Ritter von Lang, Baiems Gauen nach den drei 
Volksstämmen der Alemannen, Franken und Bojoaren, aus den alten 
Bisthums Sprengeln nachgewiesen. Nürnberg 1830. 

6 ) Vgl. Vorwort S. 3. Erweitert war der Text übrigens nicht nur 
durch Neubearbeitung, sondern auch durch die Erweiterung des Arbeits¬ 
gebietes auf die Diözesen Würzburg, Mainz (bayerischer Anteil) und Speier 
(d. h. die Rheinpfalz). 

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148 Fritz Curschmann 

daß König Ludwig I. von Bayern, der sich natürlich auch für die 
alten deutschen Gaue interessierte, selbst die Anregung zur 
zweiten Ausgabe gegeben hatte 1 ), sondern darin, daß sie eine 
Gegenschrift hervorrief, in der sich ein Opponent gegen die lange 
herrschende Theorie zum Worte meldete. Ein junger Leutnant, 
Carl von Spruner*), der sich später als Herausgeber des ersten 
größeren deutschen historischen Handatlasses einen geachteten Na¬ 
men in der Wissenschaft machte 8 ), unternahm es, die Theorien des 
alterfahrenen Archivars und Mitgliedes der Münchner Akademie zu 
widerlegen: „Bayerns Gauen . . . aus den Urkunden nachgewie¬ 
sen“, so setzte er streitbar auf das Titelblatt seiner Schrift, „gegen 
Herrn Ritter von Längs, Bayerns Gauen etc. aus den alten Bis¬ 
thums Sprengeln nachgewiesen 4 ).“ Damit war der Kernpunkt des 
Streites sofort hervorgehoben, gegen den starren Dogmatismus 
der Lehre von der Gleichheit der kirchlichen und der Gaugrenzen 
ging es, gegen die Theorie, die von der unbewiesenen und unbeweis¬ 
baren Annahme ausging, daß die Bistumssprengel von der Zeit 
ihrer Entstehung an, wo sie eben nach den Gauen geformt worden 
wären, ihre Grenzen unverändert behauptet hätten. Spruner 
konnte solchen Lehren gegenüber darauf hinweisen, daß genug 
Zeugnisse für das Gegenteil vorlägen 5 ). Der charakteristischste 
Fall sehr weitgehender Veränderungen kirchlicher Grenzen bleibt 
immer die Entstehung des Bistums Bamberg: es war noch zu An 
fang des II. Jahrhunderts möglich, in das bestehende System der 
Bistümer hinein ein neues Bistum, Bamberg, zu gründen, wobei 

*) Vgl. Vorwort S. 3. 

*) Spruner, geb. 1803 (sein Gegner Lang 1764), war, als seine erste 
wissenschaftliche Arbeit erschien, Unterleutnant im 9. bayerischen Infan¬ 
terieregiment. Über sein weiteres Leben, seine militärische und wissen¬ 
schaftliche Laufbahn als Adjutant Maximilians II. und Mitglied der baye¬ 
rischen Akademie vgl. Heigel, Allg. deutsche Biographie XXXV, S. 325 fF. 

*) Die erste Auflage erschien 1837—1839. 

*) Bamberg 1831. 

*) Vgl. Spruner S. 16, über das dort erwähnte altbayerische Bistum 
Neuburg jetzt Hauck, Kirchengesch. Deutschlands I (3-/4. Äufl.), S. 540 und 
II (3./4. Auf!.), S. 465. Das Bistum Augsburg reichte danach in römischer 
Zeit ostwärts über den Lech; der bayerische Teil, östlich des Flusses, 
wurde dann zur Zeit Herzog Odilos (739—748) abgetrennt und ein Bis¬ 
tum Neuburg errichtet. Von Karl d. Gr. wieder aufgehoben, wurde sein 
Sprengel von neuem mit Augsburg vereinigt. 


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1 : : 



Die Entwicklung der histor.-geograph. Forschung in Deutschland usw. 14g 


zwei Bistümer, Würzburg und Eichstätt, von ihrem Gebiete her¬ 
geben mußten und schließlich eine Grenze entstand, die zwei 
Gaue, das Volkfeld und den Nordgau, durchschnitt 1 ). Noch weni¬ 
ger brauchbar für die Konstruktion der Gaue aber sind die Unter¬ 
teile der Diözese, Archidiakonate und Dekanate, über deren Um¬ 
fang uns exakte Zeugnisse, in Hebungsregistern verschiedener Art, 
erst seit dem 15. Jahrhundert vorliegen*), aus einer Zeit also, 
in der die Gaueinteilung längst jede verfassungsmäßige Bedeutung 
verloren hatte. Eine Übereinstimmung von kirchlichen und Gau¬ 
grenzen wird man unter diesen Umständen eher als Ausnahme 
denn als Regel betrachten können. So etwa Spruners grundsätz¬ 
liche Ausführungen, die er dann durch eine genaue Kritik,’Gau für 
Gau, der Abhandlung Längs im einzelnen belegt und bestätigt. 

Spruner hatte recht, aber Anerkennung haben deshalb seine 
Ansichten bei den Mitlebenden kaum gefunden, und wenn gelegent¬ 
lich, wie in Stälins Wirtembergischer Geschichte oder an einer ver¬ 
steckten Stelle in Wedekinds Noten zu einigen Geschichtsschrei¬ 
bern des Deutschen Mittelalters Bedenken gegen die von den 
Mannheimern aufgestellten Grundsätze laut wurden 8 ), so geschah 
das wohl, ohne Spruners als des Bekämpfers dieser Lehre zu ge¬ 
denken. Läßt sich trotzdem beobachten, daß alles in allem in 

’) Das Bistum entstand als Gründung König Heinrichs II. 1007. 
Näheres bei Hauck, Kirchengesch. Deutschlands III (3. u.4. Aufl.), S. 421 ff. 
Über den Umfang des Diözesangebietes, das dem neuen Bistum bestimmt 
wurde, gibt die auf einer Frankfurter Synode ausgestellte Gründungs¬ 
urkunde vom 1. Nov. 1007 (DH. II, 143) Auskunft: .quandam 

partem Vuirciburgensis dioceseos, comitatum videlicet Ratenzgouui (Ra- 
denzgau im Gebiete der Regnitz) dictum et quandam partem pagi Volc- 
felt (Volkfeld, nordwestl. an den Radenzgau angrenzend) dicti inter flu- 
vios Vraha (Aurach) et Ratenza (Regnitz) sitam.“ Hierzu kam einige 
Jahre später durch Abtretung von Eichstätt noch ein Stück des Nord¬ 
gaues bis zur Pegnitz (Hauck a. a. O. S. 427). 

*) So Spruner; der zeitliche Ansatz ist wohl etwas spät, doch kommt 
darauf nicht viel an, sicher liegen jedenfalls aus der ersten Hälfte des 
Mittelalters und der Zeit, als die Gaueinteilung noch lebendig bestand, 
Register dieser Art nicht vor. 

*) Vgl. Chr. Fr. Stälin, Wirtembergische Geschichte I (Stuttgart und 
Tübingen 1841), S. 277 f.; dort auch das Zitat aus Wedekinds Noten: es 
findet sich in einer Abhandlung über Graf Billing; als dritter Zweifler 
an der Lehre von der Übereinstimmung der kirchlichen und der Gau¬ 
grenzen wird der Tiroler Hormayr angeführt. 


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150 Fritz Curschmann 

Süddeutschland Spezialarbeiten nach der alten Methode über die 
Gaue selten werden oder ganz aufhören, so rührt das sicherlich 
mehr davon her, daß man glaubte, die Arbeit sei im wesentlichen 
getan, als daß Spruners Angriffe starken Eindruck gemacht 
hätten. 

Standen die Dinge so schon im Süden, so ist es begreiflich, 
daß Spruners Vorgehen auf die Forschung in Norddeutsch* 
land nicht den geringsten Einfluß gehabt hat, und dies um so mehr, 
als gerade kurz vor seinem Auftreten hier mehrere größere und 
kleinere Schriften erschienen waren, die nicht nur im Augenblick 
Anerkennung fanden, sondern für lange Zeit hinaus als maßgebend 
galten. Hier stand an der Spitze ein kleiner Aufsatz Leopold 
' von Ledeburs über die Grenze zwischen Engem und Westfalen 
{1826), der abgesehen von der Spezialuntersuchung über die genannte 
Grenze auch bestimmt war, als Vorläufer eines größeren Werkes 
grundsätzliche Anschauungen des Verfassers vorzutragen 1 ). Sie 
gipfelten in den Sätzen 2 ): „Ist von irgend einem Orte in einem 
Gaue die Diöcese, zu welcher er gehörte, bekannt, so wissen wir, 
daß der ganze Gau in dieser Diöcese lag. — Lagen zwei Orte in 
zwei verschiedenen Diöcesen, so müssen sie auch in verschiedenen 
Gauen gesucht werden. — Wissen wir, daß zwei in verschiedenen 
Diöcesen gelegene Gaue an einander gränzen, so muß die Gränze 
dieser beiden Gaue mit der ‘ Diöcesangränze zusammen treffen.“ 
Nur für die Außengrenzen der Bistumssprengel aber gilt nach 
Ledeburs Ansicht diese vollkommene Übereinstimmung mit den 
Grenzen der Gaue, für die weitere Abgrenzung der Gaue sind an¬ 
dere Hilfsmittel heranzuziehen, und es genügen hier insbesondere 
nicht die Archidiakonats- und Dekanatsgrenzen 8 ). Der ersten Ar¬ 
beit folgte auf dem Fuße (1827) das Buch über Land und Volk der 
Brukterer 4 ). Eine bedeutsame Aufgabe stellt sich hier der Ver- 

*) Die Gränzen zwischen Engem und Westphalen, als Einleitung zu 
einer geographischen Bestimmung der Gaue Westphalens. Archiv für Ge¬ 
schichte und Alterthumskunde Westphalens I (1826), S. 41—49. 

*) a. a. O. S. 44 f. 

*) a.a. O. S. 48L 

*) Das Land und Volk der Bructerer, als Versuch einer vergleichen¬ 
den Geographie der älteren und mittleren Zeiten. Mit zwei Karten. 
Berlin 1827. 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 151 


fasser. Von den aus den Diözesangrenzen erschlossenen Gaugrenzen 
aus will er rückwärts die Brücke bis zur altgermanischen Zeit 
schlagen und zeigen, daß uns in den dank der von ihm vertretenen 
Lehre wohlbekannten Gaugrenzen nun auch die Grenzen der 
Völkerschaftsgebiete aus der Römerzeit erhalten sind. Natürlich 
bewährt sich das in der Vorrede aufgestellte Programm: das Land 
der Brukterer 1 ) entspricht dem westfälischen Hauptteil der Diözese 
Münster*) einschließlich des Archidiakonats Wiedenbrück, einer 
Exklave des Bistums Osnabrück, die auf drei Seiten von münste- 
rischem, auf der vierten von Paderborner Gebiet umschlossen ist 8 ), 
und dem westfälischen Anteil des Kölner Sprengels zwischen Lippe 
und Ruhr 4 ). In ähnlicher Weise gelingt es dem Verfasser dann 
auch, eine Anzahl anderer germanischer Stämme in den das 
münsterisch-kölner Gebiet, d. h. das Land der Brukterer, umgeben¬ 
den Diözesen unterzubringen: in den Utrechter Sprengel gehören 
die Tubanten, im Osnabrückschen wohnen die Amsivarier, die 
Chasuarier und Marsen, im Gebiete des späteren Bistums Pader¬ 
born die Cherusker usw. 

Mit einem Schlage war Ledebur durch diese Veröffentlichung 
in die erste Reihe der Gauforscher gerückt. Er hat sich diese Stel¬ 
lung gewahrt und rüstig nach dem von ihm übernommenen System 
weitergearbeitet 5 ). In einer ganzen Reihe von Abhandlungen 
baute er zunächst die im „Lande der Bructerer“ begonnene histo¬ 
rische Geographie des mittleren Sachsenlandes weiter aus. Bald 
aber führte ihn seine Forschung weiter: die angrenzenden Teile 
Sachsens und Frieslands wurden untersucht 8 ), ein besonderer Auf* 

*) Ledebur a. a. O. S. 1 ff. 

*) Zu beachten, daß das Bistum Münster aus zwei Stücken bestand: 
der Hauptteil lag in Westfalen um den Bischofssitz herum, von ihm 
räumlich vollständig getrennt in Friesland das zweite Stück. 

*) Vgl. Ledebur a. a. O. S. 15 ff. 4 ) Vgl. Ledebur a. a. O. S. 3z ff. 

•) Ein genaues Verzeichnis von Ledeburs Arbeiten zur Gaugeographie 
— 25 Nummern insgesamt — gibt sein getreuer Schüler Heinrich Böttger, 
Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands 1 , p. VIIIff. In den folgen¬ 
den Anmerkungen werden nur einige für den Verfasser und seine Arbeit 
besonders bezeichnende Arbeiten genannt werden; abermals ein vollstän¬ 
diges Verzeichnis seiner Untersuchungen zur Gaugeographie zu geben, 
war nicht nötig. 

*) Es kommen hier besonders zwei Arbeiten in Betracht: Über die 
Archidiakonate des Halberstadtischen Sprengels, Allg. Archiv für die Ge- 


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152 Fritz Curschmann 

satz unternahm es, den Inhalt von Binterims und Moorens eben 
erschienenem Werke über die Kölner Diözese für die Gaugeogra¬ 
phie von Rheinfranken nutzbar zu machen. Am weitesten nach 
Westen griff Ledebur dann mit seinem Büchlein über das Maien¬ 
feld im Moselland 1 ). Südwärts führten den Forscher zuerst seine 
Untersuchungen über Thüringen 2 ); noch einen Schritt weiter ins 
Gebiet südlich des Mains die kleine Streitschrift über den Rangau 3 ), 
und schließlich unternahm er es, die an deutschen Gauen gewon¬ 
nenen Ergebnisse seiner Forschung auch auf das Slawenland 
und die slawischen Landschaften, die er dort fand, zu übertragen 4 ). 
So erstreckte sich am Ende der Bereich von Ledeburs Forschung 

Schichtskunde des preuß. Staates III (1830), S. 40 ff., und Die fünf Münster- 
schen Gaue und die sieben Seelande Frieslands, ein Beitrag zur Geo¬ 
graphie des Mittelalters, nebst einem urkundlichen Anhänge und einer 
Charte, Berlin 1836. — Daß der Halberstädter Sprengel im wesentlichen 
dem Gebiete einer Anzahl von Gauen entspricht, wird von L. mit Recht auf 
Grund einer Bestätigungsurkunde Papst Benedikts VIlI.(roi2—23, vgl.UB.'d. 

. Hochstifts Halberstadt I, S. 50 Nr. 68) angenommen, seine Verteilung der 
einzelnen Archidiakonate auf diese Gaue ist aber mangels eines ihm be¬ 
kannten vollständigen Kirchenverzeichnisses recht hypothetischer Natur. 

— Besseres Material stand L. für seine zweite Arbeit zur Verfügung, und 
er konstruiert dementsprechend denn auch auf Grund der Kirchspiele, 
Propsteien und Diözesen die Gaue wie die Seelande Frieslands. 

*) Der Maiengau oder das Mayenfeld nicht Maifeld. Berlin 1842. — 
Die Grenze des Gaues gegen Nordwesten wird als zusammenfallend mit 
der Grenze zwischen den Diözesen Trier und Köln bestimmt, während 
L. auf der anderen Seite ausdrücklich betont, daß die Gaugrenze im 
Innern des Trierer Sprengels nicht mit den Grenzen einer Reihe von 
Dekanaten Zusammenfalle (vgl. S. 17 ff.). 

*) Nordthüringen und die Hermunduren oder Thüringer. Berlin 1852. 

— Von einer speziellen Kombination der kirchlichen mit der Gaugeo¬ 
graphie ist hier kaum die Rede, wenn auch versucht wird nachzuweisen, 
daß bei der Teilung des alten Thüringerreiches nach dem Siege der 
Franken und Sachsen über die Thüringer (531) der nördliche Teil der 
späteren Diözese Halberstadt entspricht. 

8 ) Der Rangau. Geographische Entgegnung auf die Schrift des 
H. Haas: Der Rangau, seine Grafen, mit neuen Forschungen über die 
Abstammung der Burggrafen von Nürnberg. Berlin 1854. 

4 ) Über Umfang und Eintheilung des Naumburger Sprengels, Allg. 
Archiv f. d. Geschichtsk. d. preuß. Staates XV (1834), S. 318—356. — Der 
Umfang, insbesondere die Nordwestgrenze des Havelbergischen Sprengels, 
Allg. Archiv XI (1833), S. 27 ff*. — Die Landschaften des Havelbergischen 
Sprengels, Märk. Forschungen I (1841), S. 200—226. — Gehörte die Zauche 
zu der Provinz Plonim oder Heveldun, zum Plane-oder Havelgau? Märk. 
Forsch. II (1843), S. 97—101 (fehlt in Böttgers Verzeichnis). 


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Die Entwicklung der histor.-geograph.Forschung in Deutschland usw. 153 


von der Eifel bis zur Odermündung, von der Nordsee bis nach Fran¬ 
ken. In allen diesen unter sich sehr verschiedenartigen Abhand¬ 
lungen blieb er seinen anfangs aufgestellten Grundanschauungen 
treu, ohne sich jedoch zu kritiklos einseitigem Schematisieren wei¬ 
tertreiben zu lassen. Ausnahmen ließ er immer gelten, und insbe¬ 
sondere widerstand er der Versuchung, was ihm für die Außen¬ 
grenzen der Diözesen festzustehen schien, auch auf die Innengren¬ 
zen der Bistümer, wie sie Archidiakonate, Dekanate, Sedes schei¬ 
den, zu übertragen. Nur ein hervorragend wichtiges, nicht das allein 
heilbringende Mittel für seine gaugeographischen Arbeiten blie¬ 
ben ihm die Sprengelgrenzen, neben denen er alles gelten ließ, 
was nur irgend zur Bestimmung der alten Gaugrenzen beitragen 
konnte: natürliche Grenzen, Grenzen der Dialekte, der Verwaltungs¬ 
und Gerichtseinteilung u. a. m. 

Unmittelbar nach dem ersten Hervortreten Ledeburs erschie¬ 
nen zwei weitere, bis heute bemerkenswerte Werke zur Gaugeo¬ 
graphie, die noch unabhängig von Ledebur ausgearbeitet waren: 
Carl Christian von Leutschs umfassende Geographie Thü¬ 
ringens und der Wendenländer, die er seiner Biographie Markgraf 
Geros beigab (1828) 1 ), und August von Wersebes Beschrei¬ 
bung der Gaue zwischen Weser und Elbe (1829) 2 ), eine Preis¬ 
schrift der Göttinger Akademie, die mit der Stellung dieser 
Preisaufgabe schon eine Reihe von Jahren vorher erfolgreich 
auf ein Forschungsgebiet hingewiesen hatte 8 ), das in Angriff zu 

*) Markgraf Gero. Ein Beitrag zum Verständniß der deutschen 
Rechtsgeschichte unter den Ottonen, sowie der Geschichten von Branden¬ 
burg, Meißen, Thüringen usw. Nebst einer Gaugeographie von Thüringen 
und der Ostmark, und zwei Karten. Leipzig 1828. 

*) Beschreibung der Gaue zwischen Elbe, Saale und Unstrut, Weser 
und Werra in sofern solche zu Ostfalen mit Nord-Thüringen und zu Ost- 
Engem gehört haben, und wie sie im ioten und iiten Jahrhunderte be¬ 
funden sind. Mit einer Charte. Hannover 1829. 

*) Die Erteilung des Preises an Wersebe erfolgte in der Sitzung der 
Akademie vom 10. Nov. 1821, vgl. Gotting. Gelehrte Anzeigen 190. und 
191. Stück vom 29. Nov. 1821, S. 1895!!.; dort auch das außerordentlich an¬ 
erkennende Urteil der Akademie. Noch eine zweite, ebenfalls sehr ge¬ 
lobte Arbeit war eingelaufen, ihr Verfasser der Doctorand Julius Levin 
Ulrich Dedekind. Sie scheint nicht gedruckt worden zu sein. Beide Ar¬ 
beiten stützten sich, was in der Beurteilung betont, aber nicht bemängelt 
wird, bei der Bestimmung der Gaugrenzen auf die Bistumsgrenzen. Stifter 


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Fritz Curschmann 


nehmen die Mannheimer ein halbes Jahrhundert vorher ver¬ 
gebens empfohlen hatten 1 ). Daß die Gaue zu ihrer näheren Erfor¬ 
schung in den Rahmen der bekannten Bistumsgrenzen gespannt 
werden müssen, steht beiden Autoren fest*), doch verwenden sie 
gleichmäßig auch, was die unmittelbare Tradition der älteren Ur¬ 
kunden über die Gaue bietet. Angeregt durch solche Arbeiten 
erschienen bald neue Mitarbeiter: Georg Landau 8 ), dessen Wir¬ 
ken auf dem Gebiete der Gaugeographie noch zeitweise eine besondere 
Bedeutung gewinnen sollte 4 ), Georg Wilhelm von Raumer 
mit den höchst interessanten „Charten und Stammtafeln“ zu seinen 
Brandenburgischen Regesten 6 ) und andere mehr, deren Namen 
heute verklungen sind 6 ). 

Ohne bemerkbaren Widerspruch blühte so die auf dem Grund¬ 
sätze von der Übereinstimmung der Diözesan- und Gaugrenzen 
beruhende Literatur weiter, ohne daß das Interesse an ihr abnahm. 
Es ist bezeichnend für die Schätzung historisch-geographischer 
Forschung in dieser Zeit, daß sich der berühmte Frankfurter 
Germanistentag von 1846 in der ersten Sitzung seiner histori¬ 
schen Abteilung sofort mit umfangreichen Plänen aus diesem Ge¬ 
biete beschäftigte 7 ). Auf Antrag des Hamburger Archivars 

l. 

des Preises war der selbst als Geschichtsforscher bekannte Anton Christian 
Wedekind. 

*) Vgl. oben S. 146. 

*) Ein Blick auf die beiden Werken beigegebenen Karten zeigt dies 
sofort. Sehr bezeichnend auch Wersebe in seiner Einleitung (S. 3): „Es 
ist eine längst nicht mehr neue Bemerkung, daß die Eintheilung der 
geistlichen Diöcesen sich nach der der weltlichen Gebiete gerichtet hat, und 
demnach ursprünglich kein Gau unter mehrere Bisthümer vertheilt ge¬ 
wesen ist. Die gegenwärtige Beschreibung der Gauen wird dieses allent¬ 
halben bestätigen. . . .“ 

*) Zunächst nur mit einer kleinen Arbeit: Beitrag zur Beschreibung 
der Gaue Friesenfeld und Hassegau, Ledeburs Archiv XII (1833), S. 213fr. 

4 ) Siehe unten S. 155. 

*) Historische Charten und Stammtafeln zu den Regesta historiae 
Brandenburgensis, i.Heft. Berlin 1837. 

*) Eine Reihe von Arbeiten dieser Zeit angeführt in Böttgers Biblio¬ 
graphie, Diözesan- und Gaugrenzen I, p. XVII ff. 

*) Vgl. Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am 
24., 25. und 26. September 1846, Frankfurt a. M. 1847, S. 197 ff. Berichte 
über Lappenbergs Antrag und die sich an ihn schließende Debatte und 
S. 216 das nach Lappenbergs Antrag an die deutschen Geschichtsvereine 
abzusendende Rundschreiben. 


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Die Entwicklung der histor. • geograph. Forschung in Deutschland usw. 155 


Johann Martin Lappenberg wurde der Plan zu einem deut¬ 
schen Ortsverzeichnis durchberaten, das nicht mehr und nicht 
weniger als das gesamte Material an topographischen Namen — 
Städte, Dörfer, Burgen, Berge, Gewässer usw., auch die Gaue ware'n 
nicht vergessen — in sich aufnehmen sollte. Gegen das in seiner 
Maßlosigkeit von vornherein undurchführbare Unternehmen mel¬ 
dete sich bald ein sachverständiger Opponent, der schon erwähnte 
Georg Landau, der seinerzeit in Frankfurt nicht anwesend ge¬ 
wesen war 1 ). Nachdem er seine Bedenken zuerst in der weit ver¬ 
breiteten Augsburger Allgemeinen Zeitung der wissenschaftlichen 
Weit mitgeteilt hatte 2 ), bot ihm die zweite Tagung des Gesamt¬ 
vereins deutscher Geschichts- und Altertumsvereine zu Nürnberg 
1853 willkommene Gelegenheit, positive Vorschläge zu machen 
und zu begründen 3 ). Sein Plan ging auf eine nicht weniger umfas¬ 
sende Sammlung historisch-topographischen Materials, als wie sie 
in Frankfurt geplant war. Vom Zwange der alphabetischen An¬ 
ordnung des Ortslexikons aber sollte der Stoff befreit und in den 
Rahmen einer allgemeinen Gaugeographie Deutschlands 
eingeordnet werden, deren Herausgabe der Gesamtverein mit 
werktätiger Unterstützung der Einzelvereine in die Hand nehmen 
sollte. Um schneller vorwärts zu kommen, beantragte Landau, 
daß die Gaue zwar nach einem einheitlichen Plane und unter Lei¬ 
tung eines Redaktionsausschusses bearbeitet werden möchten, 
daß die einzelnen Gaumonographien aber in zwangloser Folge, 
je nachdem sich geeignete und willige Bearbeiter finden würden, 
erscheinen sollten. Die Vorschläge fanden lebhaften Beifall in der 
Versammlung, auch von seiten des in Nürnberg anwesenden 
Georg Waitz, der als erster in der Debatte zu ihrer Befürwortung 
das Wort nahm 4 ). Frohen Muts ging Landau an die Arbeit und 

*) Ergibt sich aus dem im Verhandlungsberichte abgedruckten Teil¬ 
nehmerverzeichnis. 

*) Beilage Nr. 193 vom 15. Juli 1847. 

*) Vgl. Correspondenzblatt des Gesamtvereins deutscher Geschichts- 
und Alterthumsvereine II (1854), dort S. 4 ein Referat über Landaus Vor¬ 
trag und die sich daran knüpfende Debatte und S. 14 ff. L.s „Gutachten 
eine historische Beschreibung von Deutschland betreffend“. 

4 ) Es wird im Protokoll (a. a. O. S. 4) ausdrücklich angegeben, daß 
Waitz „von der Rednertribüne aus mit warmen Worten“ Landaus Vor- 


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156 Fritz Curscbmann 

ließ schon zwei Jahre nach der Nürnberger Tagung den damals 
versprochenen Probeband über den Gau Wettereiba, die Wetterau, 
erscheinen (1855); eine zweite Monographie über den Hessengau 
folgte bald (1857) 1 ). In beiden Arbeiten zeigt sich Landau als An¬ 
hänger der herrschenden Lehre von der überragenden Bedeutung 
der kirchlichen Grenzen für die historisch-geographische Forschung, 
aber er formuliert sie etwas anders als seine Vorgänger, insbeson¬ 
dere auch als Ledebur. Eine besondere Beständigkeit ihrer Gren¬ 
zen ist nicht etwa nur den Gauen und Bistümern eigentümlich, 
sondern im Grunde allen territorialen Gebilden, die sich die mensch¬ 
liche Gesellschaft zu den verschiedensten Zwecken, der Wirtschaft, 
Rechtspflege, Verwaltung usw., schafft. Am größten aber ist die 
Beständigkeit der Grenzen — und hier unterscheidet sich Landau 
deutlich von Ledebur und den Seinen — bei den kleinen Bezirken; 
an die Marken denkt er in erster Linie, die die Zellen gewisser¬ 
maßen der großen territorialen Einheiten der Gaue wie der Diözesen 
sind. Durch solche Anschauungen, die sich im Grunde den Lehren, 
auf denen sich die heutige, moderne historisch-geographische For¬ 
schung aufbaut, bereits sehr nähern, kommt Landau dann zu der 
Anschauung, daß bei den zwei Gauen, die er bearbeitet, die Innen¬ 
grenzen, die der Archidiakonate, von besonderer Bedeutung seien, 
und er vertritt grundsätzlich den Satz — gelegentliche Ausnahmen 
zugegeben — Archidiakonate = Zentschaften, was praktisch also 
eine außerordentliche Zuspitzung der bisher von der Mehrzahl der 
Forscher vertretenen Lehre bedeutet. Älter, beständiger und damit 
wichtiger als die langen Linien, die als Grenzen der Bistümer das 
Land durchziehen, ist das engmaschige Netz der Archidiakonats- 
und Dekanatsgrenzen, das alle Länder überspinnt. 

Mit Mut und Arbeitsfreudigkeit hatte Landau so das große 
Werk begonnen; was aber zu seiner planmäßigen und gedeihlichen 
Fortsetzung nötig war, die Schar der Mitarbeiter, sie wollte sich 
nicht einstellen. Nur einer kam, Carl Wippermann, und bearbeitete 

schläge empfohlen habe; nach ihm sprach Leopold v. Ledebur ebenfalls 
zustimmend. 

') Beschreibung des Gaues Wettereiba. Kassel 1855. — Beschreibung 
des Hessengaues. Kassel 1857. Beide unter dem Obertitel: Beschreibung 
der deutschen Gaue, herausgegeben durch den Gesamtverein der deut¬ 
schen Geschichts- und Alterthums-Vereine, Bd. I und II. 


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Die Entwicklung der histor. -geograph.Forschung in Deutschland usw. j 57 

den niedersächsischen Bukkigau 1 ), dann geriet das mit großen Hoff¬ 
nungen begonnene Unternehmen endgültig in Stillstand. Es hatte 
sich gezeigt, daß eine nur lose verbundene Organisation, wie der 
Gesamtverein, ein so großes Unternehmen nicht durchzuführen 
imstande war. 

In solcher Lage mußte die nächste Zeit wieder der Einzelfor¬ 
schurig gehören, und so sind denn auch in den 50 er und 60 er Jahren 
eine Reihe von Arbeiten zur Gaugeographie erschienen, vornehm¬ 
lich aus dem Gebiete des Nordwestens Deutschlands: verschiedene 
Untersuchungen Wilhelm von Hodenbergs, besonders sein umfang¬ 
reiches Werk über die Gaue der Diözese Bremen 2 ), die Gaubeschrei¬ 
bung, die Johann Suibert Seibertz in seine Rechtsgeschichte 
Westfalens aufgenommen hat 3 ), des hannoverschen Ministers 
von Hammerstein-Loxten Buch über den Bardengau 4 ), die umfang¬ 
reichen gaugeographischen Abschnitte in Heinrich Böttgers Buch 
über das Dynastengeschlecht der Brunonen. Es ist nicht nötig, 
noch mehr Arbeiten der angedeuteten Art zu nennen oder auf Ein¬ 
zelheiten einzugehen, denn in den Grundzügen stimmen die For¬ 
scher dieser Zeit überein, sie vertreten die alte Lehre von der be¬ 
sonderen Bedeutung der kirchlichen Grenzen, insbesondere der 
Diözesangrenzen für die Bestimmung des Umfanges der Gaue. 

So war das Material zur Gaugeographie abermals stattlich ge¬ 
wachsen, der Zeitpunkt, die Ergebnisse der Forschung von mehr als 
einem Jahrhundert zusammenzufassen, schien endlich gekommen. 
Die Berliner Akademie war es dieses Mal, die dem früher in 
Mannheim und Göttingen gegebenen Beispiele 5 ) folgte und dem 
großen Werke durch Stellung einer Preisaufgabe (1866) die 


’) Carl Wilh. Wippermann, Beschreibung des Bukki-Gaues nebst 
Feststellung der Grenzen der übrigen Gaue Niedersachsens. Göttingen 
i»59- 

*) Seine, eines besonderen Gönners von Böttger, Arbeiten — er¬ 
schienen 1855—58 — vollständig bei Böttger angeführt, p. XXf., Anm. 24. 

*) Joh. Suibert Seibertz, Landes- und Rechtsgeschichte des Herzog¬ 
thums Westfalen I. Bd., 3. Abtheil., i.Theil (Arnsberg 1860), S. 215fr. 

W. C. C. Frhr. v. Hammerstein-Loxten, Der Bardengau, eine histo¬ 
rische Untersuchung über dessen Verhältnisse und über den Güterbesitz 
der Billunger. Mit Karte des Bardengaues. Hannover 1869. 

*) Vgl. oben S. 145 und S. 153. 


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158 Fritz Curschmann 

Wege zu ebnen suchte 1 ). Verlangt wurde eine allgemeine historische 
Geographie Deutschlands bis auf die Zeit Heinrichs V.: in erster 
Linie erwartete man dabei, wie die Fassung der Aufgabe zeigt, 
unzweifelhaft eine Gaugeographie, und auch von der Lehre der 
Übereinstimmung der kirchlichen und der Gaugrenzen scheinen 
die Spitzen der deutschen Geschichts- und Altertumswissenschaf¬ 
ten, die damals in der Berliner Akademie beisammensaßen 2 ), 
nicht unbeeinflußt gewesen zu sein 8 ). Das Ausschreiben hatte nicht 
sofort Erfolg, erst als sein Termin einmal verlängert war 4 ), lief 
ein umfangreiches Manuskript Theodor Menkes 6 ) ein (1872), 

J ) Die am 5. Juli 1866 gestellte Preisaufgabe (vgl. Monatsberichte der 
Königl. Preuß. Akademie aus dem Jahre 1866, S. 458) war in folgender 
Weise formuliert: „Seit dem Erscheinen des Chronicon Gotvicense sind 
in fast allen Theilen Deutschlands vielseitige Forschungen über die ältere 
deutsche Geographie angestellt und, begünstigt durch die erweiterte 
Kenntniß unserer Geschichtsquellen, nach und nach einem vorläufigen 
Abschlüsse angenähert worden. Es erscheint thunlich und wünschens- 
werth die bisherigen Ergebnisse dieser Forschungen zusammen zu fassen. 
Die Königliche Akademie der Wissenschaften stellt daher als Preisaufgabe: 
eine Übersicht der Ergebnisse der über die Geographie des deutschen 
Reiches bis auf die Zeit des Kaisers Heinrich des fünften angestellten 
gelehrten Untersuchungen, mit vorzüglicher Beachtung der einzelnen Be¬ 
standteile des Reiches, seiner kirchlichen und weltlichen Einteilung 
bis zu den Gauen und ihren Bezirken hinab. Ausgeschlossen bleiben 
die zum langobardischen Reiche gehörigen Länder. Als Grundlage der 
Arbeit sind die Geschichtsschreiber, die Urkunden, die sonstigen Geschichts¬ 
quellen und die darauf gestützten gelehrten Forschungen zu benutzen 
und Verzeichnisse derselben beizufügen. Erläuternde Übersichtskarten 
werden gewünscht, aber nicht als Bedingung der Preisertheilung gefordert.“ 
— Für die Einlieferung der Preisarbeiten war als Termin der 1. März 
1869 gesetzt. 

*) Von Historikern waren damals Mitglieder der Akademie: Leopold 
Ranke, Georg Heinrich Pertz, der Herausgeber der Monumenta Germa- 
niae, Adolf Friedrich Riedel, der brandenburgische Historiker und Leiter 
des Berliner Staatsarchivs, Theodor Mommsen. Die gestellte Preisaufgabe 
berührte weiter das Arbeitsgebiet des Rechtshistorikers Carl Gustav Ho- 
meyer, der Germanisten Moritz Haupt und Karl Müllenhoff, des Agrar¬ 
historikers Georg Hanßen und des Geographen Heinrich Kiepert. 

*) Das zeigt unverkennbar die Fassung der Preisaufgabe (s. oben 
Anm. 1) und die Art, wie in ihr von kirchlicher und weltlicher Eintei¬ 
lung und von den Gauen gesprochen wird. 

4 ) Nachdem zum ersten Termin (1869) keine Bewerbungsschrift ein¬ 
gelaufen war, wurde die Preisaufgabe „wegen der Bedeutung dieses Gegen¬ 
standes“ wiederholt (vgl. Monatsberichte der Akademie Jahrg. 1869, 5,525). 

Ä ) Eine kurze Biographie M.s von M. Berbig in der Allg. deutschen 
Biographie LII, S. 316 fr. Nach einer merkwürdig wechselvollen Jugend 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 15g 


aber es war noch nicht abgeschlossen, und der Verfasser hat es in 
den 20 Jahren, die ihm noch zu leben beschieden waren (f 1892), 
auch nicht zur erwünschten Vollendung bringen können 1 ). Das 
war von Bedeutung, denn als Manuskript hat Menkes Arbeit 
keinen stärkeren Einfluß auf die Forschung gewinnen können, 
und so blieb es vorerst unbemerkt, daß hier der herrschenden Theo¬ 
rie wieder ein Gegner erwachsen war, der nichts von einer eigen¬ 
tümlichen Artung oder Bedeutung der kirchlichen Grenzen und 
von besonderen Beziehungen zwischen ihnen und den Gaugrenzen 
wissen wollte. Die Ergebnisse seiner Forschung hat Menke schlie߬ 
lich in anderer Form, in der großen Gaukarte Deutschlands veröf¬ 
fentlicht, die er in der dritten Auflage des von ihm neu herausge¬ 
gebenen Sprunerschen Historischen Atlas erscheinen ließ*). Er 
konstruierte seine Gaue zunächst auf Grund dessen, was er durch 
urkundliche Belege über die Gauzugehörigkeit erfuhr, nahm dann 
hinzu, was ihm irgend zur näheren Bestimmung der Gaugrenzen 
geeignet schien 8 ): natürliche Grenzen, alte Grenzen der verschie¬ 
densten Art; so fand sich z. B., daß an gewissen Stellen die alten 


(geb. 1819) und nachdem er als Lehrer wie Jurist keine Befriedigung ge¬ 
funden hatte, trat M. 1851 in Verbindung mit Justus Perthes' geogra¬ 
phischer Anstalt und bearbeitete nacheinander Spruners Atlas antiquus 
und desselben Verfassers geschichtlichen Atlas für Mittelalter und Neu¬ 
zeit, seine Hauptwerke, Zeugnisse einer außerordentlichen Gelehrsamkeit, 
die ihm dauernd eine ehrenvolle Stätte in der Geschichte der historischen 
Wissenschaft gesichert haben. 

*) Was aus dem umfangreichen Ms. Menkes geworden ist, ist mir leider 
unbekannt geblieben. Unter seinem seinerzeit vonF. Meinecke besprochenen 
literarischen Nachlaß (Hist. Ztsch. LXXX [1898], S. 2720.), der jetzt im Ber¬ 
liner Geh. Staatsarchiv aufbewahrt wird, findet es sich nicht, er enthält 
nur Kollektaneen zur kirchlichen Geographie. 

*) Hand-Atlas für die Geschichte des Mittelalters und der neueren 
Zeit. Dritte Auflage von Dr. K. v. Spruners Hand-Atlas, neu bearbeitet 
von Dr. Th Menke. Gotha. Der Atlas erschien in Lieferungen, das 
Vorwort ist 1871 datiert, auf dem Titelblatt steht 1880. — Die Gau¬ 
karte Deutschlands 1:1000000 in 6 Sektionen ist auf 1873 und 1875 
datiert. 

*) Über die Art und Weise, wie die Gaue der Karte entworfen sind, 
geben die kurzen Vorbemerkungen Menkes (S. 17 ff.) nur unvollkommen 
Auskunft; ausführlicher über seine Grundsätze hat sich M. in einer Be¬ 
sprechung von Böttgers Diöcesan- und Gaugrenzen ausgesprochen, Hist. 
Ztschr. XXXVIII (1877), S. 103 fr. 


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x6o Fritz Curschmann 

Gaugrenzen mit heutigen Dialektgrenzen zusammenfallen 1 ). An 
anderen Stellen besteht wirklich eine Übereinstimmung zwischen 
Gau- und Diözesangrenzen, in Niedersachsen ist sie sogar ziemlich 
weitgehend, während wiederum in weiten Gebieten Deutschlands 
von einem solchen Zusammenfallen überhaupt nicht die Rede 
sein kann. Alles in allem, was man früher als die Regel auffaßte, 
ist eine mehr oder weniger häufige oder seltene Ausnahme. So 
etwa Menkes Gedanken und Ansichten, die aber in den kurzen 
Erläuterungen, die er seinem Atlas beigab, nur einen unvollkom¬ 
menen Ausdruck fanden und außerdem an einer Stelle veröffent¬ 
licht wurden, die wenig geeignet war, Propaganda für neue Ideen 
zu machen. So haben es beim Erscheinen von Menkes Atlas¬ 
blättern sicher nur verhältnismäßig wenige Eingeweihte bemerkt, 
daß die Gaue, über die man schon so viel geforscht und geschrieben 
hatte, hier nach einer neuen Methode konstruiert waren. 

Der Mann, der der Theorie, um die es sich im langen Kampfe 
gehandelt hatte, endgültig den Lebensfaden abschnitt, war 
ihr fanatischer Anhänger, Heinrich Böttger, und das Werk¬ 
zeug, mit dem er dies vollbrachte, sein vierbändiges Buch „Diö- 
cesan- und Gau-Grenzen Norddeutschlands zwischen 
Oder, Main, jenseits des Rheins, der Nord- und Ostsee von Ort zu 
Ort schreitend nebst einer Gau- und einer dieselbe begründenden 
Diöcesankarte.“ Eine zusammenfassende Arbeit also wieder, die 
nach der schon im Titel gegebenen Umschreibung ihres Arbeits¬ 
gebietes etwa die Hälfte der deutschen Gaue behandelt. Eine Le¬ 
bensarbeit auch ist es, denn 40 Jahre war ihr Verfasser den Studien, 
die er hier abgeschlossen vorlegte, bereits nachgegangen*), als er sie 
der Öffentlichkeit übergab, und dennoch kein ausgereiftes Werk 3 ), 
sondern nur die Arbeit eines altgewordenen, umständlichen Herrn, 

*) Die Grenze der thüringischen und sächsischen Gaue bestimmt 
Menke a. a. O. S. 17 nach der Grenze zwischen Hoch- und Niederdeutsch. 

*) Im Vorwort zur 1. Abteilung, p. XVI erwähnt der Verfasser, daß 
von 1834 an Ledebur sein Lehrer und Führer geworden sei; seit 1842 
wurde er Hodenbergs Mitarbeiter (a. a. O. p. XVIII) und hat als solcher 
die Karten zu H.’s. schon erwähntem Werke über die Diözese Bremen 
(s. oben S. 157) entworfen. 

*) Vgl. allein schon, was oben S. 134, Anm. 1 über die ganz merk¬ 
würdig ungenügende Literaturkenntnis B.s bemerkt wurde. 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 161 

dem die Lehre von der Übereinstimmung der Gaugrenzen mit den 
kirchlichen Grenzen, allen kirchlichen Grenzen der Diözesen so¬ 
wohl wie der Archidiakonate, zum starrsten Dogma geworden 
ist, und der — anders wie sein von ihm oft gerühmter Lehrer 
Ledebur — Ausnahmen überhaupt nicht gelten läßt. „Wenn in¬ 
nerhalb eines Archidiakonats“, so erklärt er, „nur ein einziger 
Gauort urkundlich aufgefunden ist, so giebt dennoch dieser ein¬ 
zige Gauort den unumstößlichen Beweis, daß der ganze Archi- 
diakonatzu eben dem Gaue gehört, in welchem der Ort gelegen 
ist“ 1 ). Solche und ähnliche starke Worte kehren auch an anderer 
Stelle wieder, aber sie vermögen nicht zu überzeugen, und der Be¬ 
weis, den Böttger nachher für seine Lehre antritt, stimmt auch nicht 
günstiger. 

Die Frage nach den Gründen der Übereinstimmung von 
Gaugrenzen und kirchlichen Grenzen war von der Mehrzahl 
von Böttgers Vorgängern gar nicht oder nur flüchtig behandelt 
worden: als eine durch Einzelbeobachtungen an den verschieden¬ 
sten Stellen wirklich oder angeblich gesicherte Tatsache nahm man 
sie hin, die sich daraus erklären sollte, daß man sich bei der Ein¬ 
richtung der deutschen Bistümer nach der vorhandenen Landes¬ 
einteilung, den Völkerschafts- und Gaugrenzen gerichtet habe. 
War die Reihe der Fälle, in denen die gewünschte Übereinstimmung 
vorlag, groß genug, waren die Ausnahmen von der Regel auf der 
anderen Seite verschwindend gering — beides ist sehr zu bezwei¬ 
feln —, so ließ sich gegen diese Ausführungen nichts einwenden. 
Böttger aber genügt der an die Art der Naturwissenschaften er¬ 
innernde Experimentalbeweis nicht, und er versucht daher einen 
schwer gelehrten, historischen Beweis anzutreten, bei dem er bis 
auf die Canones der Konzile des 4. und 5. Jahrhunderts zurück¬ 
greift. Wie diese Gesetze der alten Kirche zeigen, daß zu ihrer 
Zeit die Diözesaneinteilung sich an die Provinzen des römischen 
Reiches anschloß, so will Böttger aus den Kapitularen der fränki¬ 
schen Könige, die oft Bischof und Graf nebeneinander als Funk¬ 
tionäre des Staates erwähnen, herauslesen, daß sich damals „die 
äußern Grenzen der Gaue (der comites)“ — es wird vorausgesetzt: 


') Vorwort p. XXVIII, die Sperrungen wie bei Böttger. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. a II 


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162 


Fritz Curschmann 


Gau — Grafschaft — „und die Grenze der Diöcese (des episcopus) 
zusammenfielen“ 1 ). Wenn dann einmal in einem Gesetze Pippins 
der Archidiakon im Zusammenwirken mit dem Grafen erscheint 2 ), 
so folgert Böttger 8 ): „Ein solches Zusammenwirken der Grafen und 
Archidiakonen bedingt aber, daß die Archidiakonate innerhalb einer 
Diöcese mit, den Bezirken der schon zuvor bestehenden Gaue 
durchweg übereinstimmend abgetheilt werden mußten“ 4 ). Deuten 
nun noch die urkundlichen Nachrichten über die Neugründung 
von Bistümern im Slawenlande an — Böttger bezieht sich auf 
Merseburg, Zeitz und Meißen —, daß man sich bei der Abgrenzung 
an die bestehenden Markgrafschaften und die vorhandenen slawi¬ 
schen Gaue hielt, so ist für Böttger der „schlagende Beweis“ für 
die Richtigkeit seiner Theorie in ihren äußersten Konsequenzen 
gegeben 5 ), denn man sieht ja, die Einrichtungen der fränkischen 
Zeit haben auch die folgenden Jahrhunderte hindurch fortbestan¬ 
den. Mit Hilfe der zahlreich erhaltenen Hebungslisten — gleich¬ 
viel, aus welcher Zeit sie stammen — kirchlicher Steuern, die uns 
zugleich die innere Einteilung der Bistümer (Archidiakonate, 
Dekanate, Sedes) widerspiegeln, konstruiert Böttger nun die 
Bistümer und ihre Unterteile und in ihnen die alten Gaue. Alle 
Nachrichten über Grenzveränderungen der Diözesen werden bei¬ 
seite gelassen, keine noch so sonderbar gestalteten Grenzlinien 
vermögen den seiner Methode blind vertrauenden Autor irre zu 
machen. Solche selbstsichere und innerlich doch unkritische Art 

>) Einleitung p. XXXVIII. 

*) Das Capitulare Pippins, von Böttger noch nach der alten Folio¬ 
ausgabe der MG. LL. I zitiert, jetzt MG. LL. sect. II (Capitularia), tom. I, 31, 
Nr. 13, c. 3. 

*) Die zitierte Stelle in Böttgers Einleitung p. XLV. 

*) Man beachte, Böttger nimmt eine Mehrzahl von Archidiakonaten 
innerhalb einer Diözese bereits für das 8. Jahrhundert an. Das ist eine 
ganz falsche Vorstellung, zu der ihn unter anderem die auch von ihm 
zitierte unechte Urkunde Bischof Heddos von Straßburg von 774 ver¬ 
führt, durch die dieser sein Bistum in sieben Archidiakonate teilt (vgl. 
E. Baumgartner, Gesch. und Recht des Archidiakonates der oberrhein. 
Bistümer = Kirchenrechtl. Abhandlungen, herausg. von U. Stutz, Heft 39 
[Stuttgart 1907], S. 64). Erst seit dem ix. Jahrhundert etwa gibt es eine 
Mehrzahl fest abgegrenzter Archidiakonate innerhalb der einzelnen Diö¬ 
zesen (Baumgartner a. a. O. S. 10). 

») a. a. O. p. XXXVIII ff. 


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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 16 3 


mußte verstimmend wirken. Kein Wunder also, daß Theodor 
Menkes vollständig ablehnende Besprechung von Böttgers Buch 
durchschlug 1 ). Mit der alten Art der Gauforschung war es aus. 
Die Wissenschaft wandte sich anderen Problemen zu, nur verhält¬ 
nismäßig selten noch erschienen Arbeiten aus dem Gebiete der 
Gaugeographie*), und wenn gerade in der letzten Zeit wieder Unter¬ 
suchungen über diesen Gegenstand veröffentlicht worden sind, 
so haben sie deutlich gezeigt, daß es eine besondere Art der gaugeo¬ 
graphischen Forschung nicht gibt, daß für die Untersuchung der 
Gaue ebenfalls die heute allgemein gültigen Grundsätze der histo¬ 
risch-geographischen Forschung angewendet werden müssen 8 ). 

*) Hist.Ztschr. XXXVHI (N.F.II), 1877, S. 103 fr. 

*) Eine Anzahl der neueren Arbeiten findet man zitiert bei Dahl- 
mann-Waitz, Quellenkunde der Deutschen Geschichte (8.Aufl. f herausg. von 
Paul Herre) im Abschnitt Landeskunde und Topographie, bearbeitet 
von Rudolf Kötzschke. 

# ) Sie bestehen — was hier vorgreifend bereits bemerkt werden 
darf — darin, daß man chronologisch rückwärts gerichtet arbeitet, um 
von der besser bekannten jüngeren Vergangenheit ausgehend, Schritt für 
Schritt zur älteren, weniger bekannten Zeit vorzudringen. 

(Schluß folgt.) 


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KRITISCHE BEITRÄGE 
ZUR GESCHICHTE DER PATARIA. 

VON JOS. GOETZ. 

(Fortsetzung von Seite 55 und Schluß.) 

2 . Zur Urheberschaft der Pataria. 

Bereits eingangs wurde wahrscheinlich zu machen versucht, 
daß die Reformideen in Mailand schon Zutritt gefunden und im 
stillen Wirkung getan hatten, ehe sie in Ariald und Landulf ihre 
eifervollen und konsequenten Vertreter auch in der Öffentlich¬ 
keit bekamen. Von großem Interesse ist nun, zu erfahren, ob sich 
Landulfs Angabe, der übrigens auch Benzo von Alba beipflichtet, 
Anselm von Badagio habe bei dem Eindringen der Reform in 
die lombardische Hauptstadt seine einflußreiche Hand mit im 
Spiele gehabt, aufrechterhalten lasse und in welchem Umfange 
dies geschehen könne, wenn sich etwa Übertreibungen des Partei - 
manns heraussteilen sollten. 

Die Geschichtsforschung geht auch in der Beurteilung der 
vorliegenden Frage nicht einig. Während eine Richtung geneigt 
ist, Landulf (und Benzo) darin Glauben beizumessen, soweit ihre 
Berichte nicht offensichtlich anderwärts gut verbürgten Nach¬ 
richten zuwiderlaufen 1 ), spricht eine andere diesen Zeugnissen 
jegliche Glaubwürdigkeit ab. 2 ) Die letztere stützt sich dabei 
auf die allgemeinen Bedenken der Kritik gegen die Zuver¬ 
lässigkeit der beiden Schriftsteller und im besonderen noch auf 
das argumentum ex silentio, da die bevorzugten Quellen keinerlei 
diesbezügliche Notiz enthalten. Aber es fragt sich, ob der an und 
für sich geringe Wert des letzteren nicht noch an Bedeutung 
einbüße, wenn sich einerseits Gründe für dieses Schweigen anfüh- 


*) Hegel, Ital. Städteverf. II, S. 151. Baxmann, Politik II, S. 264 f. 
Will, Restauration II, S. 120. Giesebrecht, Kaiserzeit 4 III, S. 30. Watten¬ 
dorf, Stephan IX, S. 41. Vgl. noch Hauck, Kirchengeschichte */ 4 III, S. 693. 
*) Päch S. 19. Krüger II, S. 12. Meyer von Knonau I, S. 60. 670f. 


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1 - 



Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 165 

ren lassen und wenn sich andererseits für die fraglichen Berichte 
eine ziemliche innere Wahrscheinlichkeit ergibt, welche gestattet, 
die historischen Zusammenhänge deutlicher und begreiflicher zu 
machen. Denn daß eine allgemeine Ablehnung der beiden 
Schriftsteller zuweit geht, hat Lehmgrübner 1 ) für Benzo erwiesen 
und ist für Landulf im Vorausgehenden angedeutet worden. 2 ) 
Es wird sich demnach darum handeln, die einzelnen Stellen von 
neuem einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. 

Benzo, den Lehmgrübner als eine der interessantesten Per¬ 
sönlichkeiten des II. Jahrhunderts bezeichnet 3 ), behauptet im 
2. Kapitel des 7. Buches seiner von ihm selbst gesammelten und 
herausgegebenen Schriften, Alexander, der Bischof von Lucca, 
habe im Grunde die Pataria erfunden und so das Heiligtum 
seines Erzbischofs, dem er (Gehorsam) geschworen, dessen Fein¬ 
den geöffnet. 4 ) 

Lehmgrübner setzt die Abfassung dieses Teiles der Streit¬ 
schrift in die Mitte des Jahres 1085 6 ), also ein ganzes Menschen¬ 
alter nach dem Beginn der patarinischen Reformbewegung; und so 
könnte die Angabe Benzos von vornherein auf Verdacht stoßen. 
Immerhin war der Bischof von Alba als Zeitgenosse 6 ) und als Suf- 
fraganbischof der lombardischen Metropole 7 ) wohl in der Lage, 
sich bei seinem beispiellosen Interesse für alle politischen und 
kirchlichen Angelegenheiten Oberitaliens, besonders wenn ihre 
Entwicklung für die Geschicke seiner Partei von Bedeutung 
war, einen zuverlässigen Einblick in die Mailänder Pataria zu ver¬ 
schaffen. Allein wenn Benzo die Wahrheit berichten konnte, 
wollte er von ihr auch ohne Vorbehalt Zeugnis ablegen? Er, der 
rastlose literarische und persönliche Gegner der gregorianischen 
Kirchenpolitik, der selber den patarinischen Bestrebungen zum 


*) a. a. O. S. 120. *) S. o. Heft 1, S. 36 ff. 

*) a. a. O. S. in. 

*) MG. SS. XI, p. 672: iste Lucensis appellatus Alexander primitus 
Patariam invenit; archanum domni sui archiepiscopi, cui iuraverat, inimicis 
aperuit. 6 ) a. a. O. S. 89 t. 

*) Geb. um 1010 (Lehmgrübner S. 5), gest. um 1090 (ebendaS. 8). 

*) Urkundlich erwähnt 1059, doch vielleicht schon von Heinrich III. 
erhoben, vgl. Lehmgrübner a. a. O. S. 6. 


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i66 


Jos. Goetz 


Opfer gefallen war, indem er 1076 oder 1077 aus seiner Diözese 
hatte weichen müssen, um nie mehr in seinen alten Tagen einen 
festen Sitz zu erlangen? 1 ) 

Benzo verfolgt im genannten Kapitel hauptsächlich den Zweck, 
nachzuweisen, „daß Gregor unrechtmäßiger Papst gewesen“; er 
will zeigen, „daß sein Fluch daher kein Fluch war, und häuft 
infolgedessen allen Schimpf und alle Schmähungen*), die man sich 
damals wohl im kaiserlichen Lager 3 ) erzählte, auf denselben. Zu* 
gleich will er erweisen, daß der Kaiser durch Verleihung des Patri¬ 
ziats der einzig rechtmäßige Papstwähler ist.“ 4 ) 

Es sind also ausgesprochene Parteitendenzen, in deren Dienst 
hier der Bischof von Alba seine gewandte Feder stellt: seine Glaub¬ 
würdigkeit scheint demnach einen neuen Stoß zu erleiden. 

Indes darf die Frage nach der historischen Haltbarkeit der 
Notiz doch nicht so rasch übers Knie gebrochen werden. Denn 
für den politischen Polemiker waren die Tatsachen Vor¬ 
aussetzung, Anlaß und vielfach Zielscheibe seiner oft unerquick¬ 
lichen Auslassungen und Erörterungen. Die Aufgabe ist dem¬ 
nach, zuzusehen, ob sich aus der wüsten Schale polemischer 
Leidenschaft nicht ein Kern von Tatsächlichkeit wird heraus¬ 
schälen lassen. 

So geht Benzo im vorliegenden Kapitel von der Tatsache aus, 
daß bei der Erhebung Anselms von Lucca auf Petri Stuhl Hilde¬ 
brand die treibende und entscheidende Kraft war. Der Polemiker 
beginnt erst, wenn er die Unrechtmäßigkeit dieser Erhebung dartun 
will. Denn sie widersprach nicht nur allem Recht und Gesetz, aller 
geschichtlichen Überlieferung: mit welcher Hilfe geschah sie denn? 
GemieteteWaffengewalt 5 ), Mordlust, die Macht schnöden Geldes ver¬ 
einigten sich bei Nacht, um Anselm in den Lateran zu bringen. Ja, 
wenn's nur dabei sein Bewenden gehabt hätte! Aber was ist das für 
eine Persönlichkeit, dieser Alexander ? Ein unehelicher Sprosse seines 

x ) Lehmgrübner S. 7. 

*) So soll er z. B., als er Alexanders II. überdrüssig war, diesem Gift 
gegeben haben — ein beliebtes Motiv bei italienischen Autoren bis in 
die neuere Zeit. 

*) Auf Heinrichs IV. Romzug von 1084. 

4 ) Lehmgrübner S. 89. *) Richards von Capua. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 167 

Geschlechts, ein Nonnenschänder, ein Simonist, ein Häretiker, 
ja der Erfinder der Pataria. Etwas Schlimmeres als diese Umsturz¬ 
bewegung, die Staat und Kirche zu Fall zu bringen droht, kann 
es in Benzos Urteil überhaupt nicht geben. Unerbittlich, uner¬ 
müdlich bekämpft er ihre Bestrebungen, er kann nicht eindringlich 
genug seine warnende, mahnende, spornende Stimme vor Hein¬ 
rich IV., vor seinen Mitbischöfen, vor der ganzen Welt erheben. 
Wenn er demnach die Erfindung der Pataria der willenlosen 
Kreatur Hildebrands, die er in Alexander II. sieht 1 ), zuschieben 
möchte, so wird man seiner Angabe mit ziemlichem Bedenken 
begegnen müssen: es verbleibt nach sorgsamem Abzug aller po¬ 
lemischen Tendenzen höchstens die blasse Möglichkeit, daß Alex¬ 
ander II. in die Pataria eingegriffen habe; ob aber dieses Ein¬ 
greifen als ursächliches Moment wirkte, oder ob Benzo Anselms 
von Lucca Legationen nach Mailand in Sachen der Pataria*) oder 
dessen Briefe als Alexander II. an Volk und Klerus der ambro- 
sianischen Kirche 3 ) zu einer Erfindung der Bewegung aufbauschte, 
läßt sich nicht entscheiden. Überdies erfährt seine Angabe noch 
eine Einschränkung dadurch, daß er an anderer Stelle sagt 4 ), 
Ariald 8 ) habe zuerst die Pataria durch seine Reden in die Öffent¬ 
lichkeit gebracht. 6 ) Dieses Gedicht, das Benzo auf eine ihm am 
St. Andreastag gewordene himmlische Aufforderung hin gegen 
die Umtriebe der Patariner verfaßt haben will 7 ), fällt zwar etwas 
früher als die vorhin besprochene Stelle, nämlich schon Anfang 
1080 8 ); aber da seine Tendenz, Benzos Klage über die Schlechtig¬ 
keit und Bosheit der Welt, die für das Jüngste Gericht reif ist 9 ), 
durch den Hinweis auf die Pataria, diese Höllensaat 10 ), mit drasti¬ 
schen Schlaglichtern zu versehen, zu deutlich am Tage liegt, so 

*) Vgl. z. B. V, 1: Prandelli (= Hildebrand) Asinander, asinus hereticus. 

*) 1057 u. 1059. 

*) Mansi, Coli. conc. XIX, p. 941 f., 978. *) VI, 2. 

•) Päch S. 19, Nr. 4 identifiziert mit Recht den hier von Benzo ge¬ 
nannten Araldinus (3 Zeilen weiter Araldellus) mit Arialdus, vgl. Meyer 
von Knonau I, S. 670, Nr. 6 

®) Araldinus Patariam primitus edocuit. 

*) Im Prolog, MG. SS. XI, p. 659. ®) Lehmgrübner S. 78. 

®) Zum selben Gedanken vgl. Andr. c. I, § 3. 

1# ) IV, 2: ab infemo prodierunt noviter heretici; vgl. dazu IV, 6: 
infemus totum vomuit, quod habet et quod potuit. 


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Jos. Goetz 


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läßt sich auch aus ihm nicht viel mehr entnehmen, als daß Ariald 
an den Anfängen der Pataria durch Predigttätigkeit beteiligt 
war, was ja die anderen Quellen bestätigen. Benzo macht keiner¬ 
lei Anstalten, diesen Gegensatz seiner eigenen Berichte bei der 
letzten Redaktion 1 ) zu beheben, wiewohl er sonst Verbesserungen 
und Einschiebungen anzubringen nicht versäumt.*) Vielleicht 
lag für seine Auffassung überhaupt kein Widerspruch vor; denn er 
konnte des Glaubens sein, durch die Wahl der Worte den Weg 
zur richtigen Erkenntnis der Tatsachen gezeigt zu haben. 3 ) Wie 
weit freilich ursprünglich hierbei Absicht oder Reimbedürfnis 
vorlag, wird schwer zu entscheiden sein. Immerhin mag der 
Unterschied im Auge behalten werden; denn er gewinnt eine Stütze, 
wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch Landulf denselben 
Gedanken zum Ausdruck bringt, Ariald habe erst die Reformbe¬ 
wegung in die Öffentlichkeit getragen, nachdem Anselm von Lucca 
den ersten Anlaß zu derselben gegeben habe. 

Indes: billigt man auch den beiden Autoren diese gegenseitige 
Stütze zu, so bleibt doch noch die andere Frage als ungelöster 
Rest zurück, wann denn nun Anselm die Pataria „erfunden“ 
habe, ob erst um Weihnachten 1056 4 ) oder schon früher. Aus 
Benzo läßt sich für die Beantwortung dieser Frage nichts entneh¬ 
men. Die weitere Untersuchung wird sich also darum zu drehen 
haben, ob und mit welcher Sicherheit Landulf darüber Auskunft 
zu geben vermag. 

Zu Anfang des 5. Kapitels seines 3. Buches erzählt Landulf 6 ), 
Anselm von Badagio, den Wido zum Priester geweiht hätte, habe 
in Gemeinschaft mit seiner Sippe 6 ) gewisse bedenkliche Ziele 7 ) ver- 

*) Nach 1085, Lehmgrübner S. 7, 23. *) Lehmgrübner S. 9f. 

*) Alexander Patariam invenit, Araldinus — edocuit. 

4 ) Land III, 5; vgl. unten S. 179 fr. 

*) Er knüpft mit Qua tempestate an das vorhergehende Kapitel an, 
in dem er von der Aprilsynode Leos IX. von 1050 berichtet; demzufolge 
ist auch das berichtete Ereignis um dieselbe Zeit anzusetzen; vgl. zum 
Sprachgebrauch Land. III, 16, 19. 

8 ) Communis vis parentum et sui, das muß wohl unter dem ge¬ 
schraubten Ausdruck, nicht dem einzigen in diesem Kapitel, verstanden 
werden. 

7 ) Es ist nicht ganz klar, was unter dieser quaedam obedientia zu 
verstehen sei: am ehesten reformatorische Bestrebungen; das zeigt wohl 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


169 


folgt und dadurch unter allen geistlichen Ständen Mailands große 
Unruhe gestiftet. Um nun diesen Übelständen gegenüber Abhilfe zu 
schaffen, habe ihn Wido mit an den deutschen Hof genommen, wo 
der König selbst den Fall schlichten sollte. Nach vielen Unterhand¬ 
lungen habe sich Anselm schließlich zum eidlichen Verzicht auf seine 
Quertreibereien bequemt, worauf er von Heinrich III. das Bistum 
Lucca übertragen erhalten habe. Als Bischof von Lucca hörte er, 
daß Wido sieben Diakonen geweiht hätte, die nun an den Ad¬ 
ventssonntagen ihre Predigten hielten. Die Kunde davon ver¬ 
setzte ihn in eine unbeschreibliche Wut — wohl weil sie in üblicher 
Weise durch Simonie zu ihren Weihen gekommen waren. 1 ) Am 
26. Dezember machte er sich mit wenigen Klerikern seiner Kirche 
nach Mailand auf, wo er eine ausgezeichnete Predigt zu hören 
bekam, die ihn noch mehr in seiner Absicht bestärkte, die in ihren 
Leistungen so rühmenswerte ambrosianische Geistlichkeit aus den 
Klauen von Simonie und Nikolaitismus zu befreien. Er machte 
sich daher bei Nacht und Nebel hinter die beiden Kleriker Ariald 
und Landulf, die bereits und nicht eben aus uneigennützigen 
Beweggründen*) mit der Klerisei im Streite lagen, und gewann 
sie denn auch unschwer zu dem eidlichen Versprechen, von nun 
an den offenen Kampf wider die beiden alteingewurzelten Laster 
aufzunehmen, wobei er ihnen seine tatkräftige Hilfe zusicherte. 
Und so begannen in der Tat die beiden ihr Reformwerk in der 
Öffentlichkeit. 

Welche Glaubwürdigkeit kann Landulf hier beanspruchen? 

Krüger 8 ) nennt den Landulfschen Bericht „eine burleske 
Darstellung, die wohl den Glanzpunkt des ganzen Werkes bildet“. 
Freilich liegen zwischen den erzählten Ereignissen und der zu¬ 
schon der Umstand, daß sämtliche geistlichen Stände betroffen worden 
seien, und mag auch aus dem Zusammenhang hervorgehen, der offenbar 
hier schon dem Anselm jene reformatorische Rolle übertragen will, die 
er dann etliche Jahre später energischer spielte. Eine Urkunde bei Giulini 
a. a. O. III, p. 538 (er setzt sie ca. 1054), worin sich Abt Ardericus beim 
Kaiser beschwert, daß Anselm und seine Brüder dem Kloster St. Viktor 
gehörige Grundstücke zur Abrundung ihres angrenzenden Besitzes ver¬ 
wenden wollten, kann kaum hier beigezogen werden. 

*) Der Diakon mußte 18 nummos zahlen; Mansi, Coli. conc.XIX, p.977. 

*) Vgl. Giulini IV, p. 14; Päch S. 21, Nr. 1. 

*) II, S. nf. 

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sammenhängenden Niederschrift des Werkes annähernd 50 Jahre 1 ); 
und wenn Landulf auch als Zeitgenosse jene Vorgänge miterlebt 
hätte 2 ), so stimmen doch die unleidlichen Floskeln, unter denen 
der redselige Parteimann jeden klaren Tatbestand vergräbt, sehr 
bedenklich. Aber man wertet in schlechten Erntejahren das wenige 
Korn unter der vielen Spreu desto höher. Und unter all der wert¬ 
losen Spreu Landulfs scheint doch manches Körnlein geschicht¬ 
licher Wahrheit sich noch zu verbergen; es soll daher die Mühe 
nicht verdrießen, eines hier in sorgfältiger Siebung herauszuklauben. 

Mit vier Fragen hat sich die folgende Untersuchung zu be¬ 
fassen: wann wurde Anselm von Badagio zum Priester geweiht? 
wann erfolgte seine Reise mit Wido an den deutschen Hof? wann 
erhielt er das Bistum Lucca? wann ist jenes Weihnachtsfest an¬ 
zusetzen, an dem das Bündnis zwischen Anselm und Landulf- 
Ariald in Mailand geschlossen wurde? 

Aus Landulfs Bericht könnte man zunächst die Auffassung 
gewinnen, als „wäre die priesterliche Weihe Anselms erst durch 
Erzbischof Wido, also nach 1045, ja sogar nur kurze Zeit vor dem 
Ausbruch der Bewegung in Mailand geschehen“. 8 ) Nun aber finden 
sich bei Peter Damiani zwei Stellen*), aus denen unzweifelhaft 
hervorgeht, daß Anselm sich längere Zeit am Hofe Heinrichs III. 
aufgehalten habe, als Priester der königlichen Kapelle. Außer¬ 
dem nennt ihn Arnulf einen ehemaligen Kleriker der mailändischen 
Kirche 5 ); und hält man noch Anselms eigene Äußerung daneben, 
die er als Papst in einem Brief an seine Landsleute tat, daß er 
nämlich an den Brüsten der ambrosianischen Kirche gesogen habe 6 ), 
so muß dabei offenbar an eine längere Stellung innerhalb der mai¬ 
ländischen Hierarchie gedacht werden. Es drängt sich demnach 
der Schluß auf, daß Landulf mit seiner Angabe im Unrecht sein 
müsse. 

J ) Vgl. Wattenbach, Einleitung, MG. SS. VIII, p. 32 f.; Krüger I, S. 8; 
Päch S. 8. 

*) II, 34 nennt sich Landulf Zeitgenosse Widos, der 1045 Erzbischof 
wurde. Krüger I, S. 8 läßt ihn aus inneren Gründen erst mit dem Ende 
des 6. Jahrzehnts als solchen gelten. 

*) Meyer von Knonau I, S. 669. 

4 ) Disc. syn.: qui regi tamquam domesticus et familiaris erat — ex 
aula regia sacerdos, MG.Lib.de lite I, p. 92f. 

s ) III, 19. *) Mansi, Coli. conc. XIX, p. 941. 


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So versucht denn Krüger angesichts dieses Widerspruchs den 
urkundlichen Nachweis zu erbringen, daß Anselm bereits von 
Erzbischof Aribert II. (1018—1045) die Priesterweihe empfangen 
und spätestens zu Beginn der vierziger Jahre seine Vaterstadt ver¬ 
lassen habe 1 ), eine Annahme, der auch Meyer von Knonau bei¬ 
stimmt. 2 ) 

Allein, sind die Gründe für diese Annahme stichhaltig? 

Es mag kein besonderer Wert darauf gelegt werden, daß An¬ 
selm seit dem Anfang des 5. Jahrzehnts „nachweislich mit seiner 
Mutterkirche in keine nähere Beziehung getreten 3 ), also bereits 
vorher Kardinal 4 ) geworden sei; er müßte also sämtliche kirch¬ 
lichen Grade in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren erlangt 
haben“. 5 ) Denn seine Herkunft aus dem Kapitanenstande Mai¬ 
lands konnte ihm in seiner kirchlichen Laufbahn nur förderlich 
sein, und ein abgekürztes Verfahren in Erklimmung der geist¬ 
lichen Stufenleiter war unter dieser Voraussetzung sicherlich 
schon damals im Brauch. Was aber die von Krüger beigezogenen 
Urkunden betrifft, so scheint keine derselben zu dem Schlüsse 
zu zwingen, der darin Unterzeichnete Presbyter Anselm sei „höchst¬ 
wahrscheinlich dieselbe Persönlichkeit wie Anselm von Badagio“. 
Denn unter der zahlreichen Priesterschaft der ambrosianischen 
Kirche®) konnten sich doch leichtlich mehrere des Namens An¬ 
selm finden; und ein Badagio hätte seinen Stand, wie man ver¬ 
muten sollte, in einer Urkunde nicht unerwähnt gelassen. Da indes 
eine solche Herkunftserwähnung noch nicht streng üblich war. 
so könnte Krüger diesen Umstand zu seinen Gunsten geltend ma¬ 
chen, insofern aus der Tatsache, daß es sich um Urkunden des Erz¬ 
bischofs Aribert handle, mit großer Wahrscheinlichkeit geschlossen 
werden müßte, daß die Mitunterzeichner des Testaments in einem 

*) II, S. 11: in einer undatierten Schenkungsurkunde, „die aber sicher¬ 
lich in die letzten 10 Jahre von Ariberts Episcopat fällt“ (Puricelli, Mon. 
p. 361) und im 2.Testament desselben von 1045 (ebenda p. 416) unterzeichnet 
ein Presbyter Anselm. *) I, S. 669. 

*) Vgl. jedoch die Urkunde bei Giulini III, p. 538, ca. 1054. 

4 ) d. h. Priester. Der Titel bildete eines der Vorrechte der ambros. 
Kirche; vgl. Krüger I, S. 17; Hinschius, Kirchenrecht I, S. 318, besonders 
Nr. 5. *) Krüger II, S. u, Nr. 5. 

*) Vgl. Bon. VI (Jaffe II,-p. 639): multitudo clericorum, que in eadem 
aecclesia est innumerabilis ut harena maris. 


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näheren Verhältnis zum Aussteller standen; und vermutlich wird 
sich des stolzen aristokratischen Aribert Umgebung vornehmlich 
aus Klerikern der ersten Stände Mailands gebildet haben. 

Wenn demnach auch der Möglichkeit einer Weihe Anselms 
durch Aribert Raum gelassen werden muß, so stößt dagegen das 
angenommene Datum des Aufenthalts Anselms am königlichen 
Hofe in Deutschland — seit etwa Mitte der vierziger Jahre — 
auf ernste Bedenken; und damit scheint auch die ganze Kombi¬ 
nation Krügers von der frühen Priesterweihe stark in Frage gestellt. 

Die Verwicklungen, die sich an den Valvassorenaufstand in 
Oberitalien (1035—37) knüpften 1 ), zu dessen Schlichtung Kon- 
rad II. auf Bitten der ringenden Parteien eigens einen Italienzug 
unternommen hatte, waren der Anlaß gewesen, das bisher so vor¬ 
zügliche Verhältnis des Kaisers zu Erzbischof Aribert gründlich 
zu zerstören. Die Macht des lombardischen Metropoliten war 
nachgerade zu einer Gefahr für den sicheren Besitzstand 
des italienischen Reichsgebietes ausgewachsen; und die erpresse¬ 
rische Politik Ariberts den kleinen Lehensleuten gegenüber war 
nicht dazu angetan, sich den Beifall des recht- und ordnunglie¬ 
benden Kaisers zu erringen, geschweige denn zu sichern. Der 
plötzliche Aufstand der Mailänder Bevölkerung, die ihren be¬ 
wunderten Erzbischof in verbrieften Rechten bedroht meinte 2 ), 
hatte den Kaiser schweren persönlichen Beleidigungen ausgesetzt 
und das letzte Band zwischen ihm und Aribert zerrissen. Als 
nun auf einem großen Gerichtstag zu Pavia 8 ), zu dem auch der 
Mailänder Kirchenfürst, zumal als vermutlicher Mitwisser um jene 
Erhebung, geladen war, außerdem noch eine ganze Reihe triftiger 
Beschwerden wider Aribert laut wurden, entwickelte dieser, statt 
des Kaisers Aufforderung, sich zu rechtfertigen, Folge zu leisten, 
einen hartnäckigen Trotz, „der nach der geltenden und allgemein 
anerkannten Rechtsanschauung das Verbrechen des Hochverrats 
konsumierte“. 4 ) So glaubte Konrad sich befugt, zu den schärfsten 
Mitteln zu greifen: er sprach in aller Form die Acht über den 

') Pabst, De Ariberto II. — Hegel, Städteverf. II, S. 147 ff. Giesebrecht, 
Kaiserzeit II, S. 313 fr. Breßlau, Jb. II, S. 21 off. 

*) Vgl. Breßlau, Jb. II, S. 229. *) Nach Mitte März 1037. 

4 ) Breßlau, Jb. II, S. 232. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 173 

widersetzlichen Erzbischof aus und ordnete seine Gefangen¬ 
setzung an. 

Zwar entkam Aribert bald der Gefangenschaft beim Patriarchen 
Poppo von Aquileja: alle Pläne des heftig erbosten Kaisers waren 
damit zunichte gemacht. An dem ungeheuren Jubel aber, mit 
dem Aribert von ganz Mailand empfangen ward, offenbarte sich die 
ganze Tragweite dieses Schlags: in der lombardischen Metropole 
hatte sich Konrads unerhörtes Vorgehen eine Todfeindin, ge¬ 
schaffen, an deren eisernem Widerstand seine kriegerischen Ope¬ 
rationen scheitern sollten, die er alsbald, seiner kaiserlichen Pflicht 
zu genügen, in großem Umfang und mit gewohnter Energie be¬ 
trieb. Der in seinem Erzbischof beleidigte honor Ambrosianus 
schuf aus der gesamten Bevölkerung Mailands ein unbesiegliches 
Ganzes, dessen taktische Straffheit noch gesteigert ward durch 
Ariberts Erfindung des Carocciums. 1 ) 

Für den hohen Adel Mailands waren aber außer diesem kirch¬ 
lichen Gesichtspunkt noch andere Erwägungen von mehr prak¬ 
tischem Interesse maßgebend, wenn er den gefeierten Erzbischof im 
Kampfe gegen den Kaiser getreulich und nach Kräften unterstützte. 
Nicht bloß die Lehenspflicht scharte die Kapitäne um ihren Se¬ 
nior. Mit der Herrschaft, die der Erzbischof, wenn auch nicht 
formell, so doch tatsächlich über Mailand ausübte*), mußte auch 
ihre seither überwiegende Beteiligung am Stadtregiment fallen; 
denn ihre Lehen waren vielfach vom Erzbischof vergabte Ämter.*) 
Im Falle eines kaiserlichen Sieges stand ihnen die Aussicht dro¬ 
hend vor Augen, Markgraf Hugo aus dem otbertinischen Hause 4 ), 
der Graf von Mailand, der in Pavia Klage wegen der Beeinträch¬ 
tigung seiner reichsamtlichen Befugnisse durch Aribert erhoben 
hatte, möchte zu neuem Einfluß aufsteigen und ihnen all die viel¬ 
verheißenden Vorteile des aufblühenden Gemeinwesens aus der 
Hand winden. Und diese Gefahr war desto dringender, als sie von 
den Valvassoren leicht in die Tat umgesetzt werden konnte. 

*) Vgl. darüber Steindorff, Jb. I, S. 74; Breßlau, Jb. II, S. 320. 

*) Bethmann-Hollweg, Ursprung S. ii2ff. Breßlau, Jb. II, S. 197t. 

*) Bethmann-Hollweg a.a.O. S. 134 ff. Mayer, Ital. Verfassungsgesch II, 
S. 544; dazu I, S. 64 ff. 

4 ) Über die Markgrafschaft der Otbertiner in Mailand vgl. Ficker, 
Forschungen I, S. 262; Breßlau, Jb. I, S. 424: Giulini II, p. 379. 


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Denn im Lager vor Mailand hatte Konrad jenes berühmt ge¬ 
wordene Lehensgesetz vom 28. Mai 1037 erlassen 1 ), das den Val¬ 
vassoren in der Hauptsache die Sicherheit ihres Besitzes gegen jede 
willkürliche Verdrängung, die lang angestrebte Erbfolge und den 
besonderen Gerichtsstand vor den Standesgenossen verbürgte. 2 ) 
Der niedere Adel rückte so dem höheren in seiner äußeren Stellung 
ein ziemliches näher; und ein Ende dieses sozialen Vorwärtsdrängens 
war um so weniger abzusehen, als in Italien fast zu allen Zeiten 
nicht so sehr die Vorteile der Geburt und des Besitzes als weit eher 
persönliche Tüchtigkeit und skrupellose Energie zu Einfluß und 
Macht gelangen ließen. Zudem war der kleine Adel den Kapi¬ 
tänen an Zahl und kriegerischer Kraft ziemlich überlegen; und 
durch Konrads Entgegenkommen einmal an's Reichsinteresse ge¬ 
fesselt, konnte er unter kluger Leitung eines umsichtigen und 
tüchtigen Grafen für die Gestaltung der ganzen Zukunft Mai¬ 
lands und der Lombardei entscheidend werden. Und da die Reichs¬ 
regierung schon länger die Förderung der niederen Lehensleute in 
ihr politisches Programm aufgenommen und gute Erfahrungen 
damit gemacht hatte 3 ), war an einen Umschlag in dieser Politik 
so bald nicht zu denken. 

Dazu trat noch ein weiteres wichtiges Moment. Als der Kaiser 
vor Mailand nicht allzuviel ausrichtete, verschärfte er die Ma߬ 
regeln gegen Ariberts Person noch mehr dadurch, daß er diesen für 
abgesetzt erklärte und ihm einen Gegenbischof gegenüberstellte, der 
freilich nur ein klägliches Schattendasein fristen konnte. Damit 
hatte Konrad ein uraltes Recht Mailands, die freie Wahl des Erz¬ 
bischofs, der dann die kaiserliche Zustimmung nachfolgte 4 ), be¬ 
droht; und der Gegensatz zum deutschen Hofe, in dem sich die 
mailäridischen Kapitäne befanden, mußte dadurch noch eine Stei¬ 
gerung erfahren. 

Nun schloß freilich Heinrich III. nach dem raschen Tod seines 
Vaters der schon früher geäußerten Gesinnung gemäß 5 ) zu Ingel¬ 
heim seinen Frieden mit dem persönlich anwesenden Aribert, 

*) Const. de feudis, MG. Const. I, p. 90. 

*) Breßlau, Jb. II, S. 244 fr. 

*) Breßlau, Jb. II, S. 215, 368fr. 

4 ) Am. II, 1; III, 22, 25; V, 2, 5. Land. III, 3. 

6 ) Breßlau, Jb. II, S. 251. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 175 

der zuvor dem jungen König gebührende Genugtuung für allen 
Hader mit Kaiser Konrad geleistet hatte. 1 ) Aber damit waren un¬ 
möglich alle Gegensätze zwischen der deutschen Regierung und 
Mailand behoben. Ja, diese fanden offensichtlich neue Nahrung 
durch die Stellungnahme Heinrichs in dem 1042 zwischen dem 
für diesmal aus Interesse verbundenen hohen und niederen Adel 
und der nach politischer Machterweiterung ringenden Bürgerschaft 
ausgebrochenen Bruderkrieg. 2 ) Sehr wahrscheinlich wurden die 
blutigen Streitigkeiten durch das vermittelnde Eingreifen des da¬ 
mals gerade in Italien als Königsbote weilenden deutschen Kanz¬ 
lers Adalger beigelegt 8 ); und zweifelsohne muß bei diesem Friedens¬ 
schluß das Einverständnis des Kaisers vorausgesetzt werden. 
Aber wie wenig man eben in den Kreisen des hohen Adels mit 
dem tatsächlichen Ausgang des Ringens zufrieden war, läßt deren 
Sprachrohr, der treffliche Arnulf, erkennen 4 ), wenn er diesmal 
über die zuverlässige Klarheit seiner Berichterstattung den dunk¬ 
len Schleier der Andeutung breitet: er begnügt sich nämlich mit 
der allgemeinen Bemerkung, der Bürgerkrieg habe leider den gan¬ 
zen politischen und kirchlichen Zustand Mailands über den Hau¬ 
fen geworfen. 6 ) 

In dieser andauernden starken Spannung zwischen dem deut¬ 
schen Hof und dem höheren Adel Mailands sollte ein Sproß eines 
hervorragenden Kapitanengeschlechts in die königliche Kapelle 
eingetreten sein? Das ist doch wohl kaum anzunehmen. 

Schließlich darf noch auf einen anderen Gedanken hingewiesen 
werden. Wenn man auch in die ausschlaggebenden Erwägungen 
Heinrichs III. nicht völlig klar hineinzusehen vermag, die ihn nach 
Ariberts Tod gegen den Willen der gesamten Mailänder Bevölke¬ 
rung zur Erhebung Widos auf den Stuhl des heiligen Ambrosius 
bestimmten, so wäre es doch nicht außerhalb aller politischen 
Klugheit gewesen, mit Ernennung eines vornehmen Mailänders, 
den er in seiner Kapelle kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hatte, 

*) Steindorff, Jb. I, S. 84. 

*) Steindorff, Jb. I, S. 240fr. *) Steindorff, Jb. I, S. 242fr. 4 ) III, 1. 

*) Krüger II, S. 6f. sieht den politischen Erfolg der „romanischen 
Bevölkerung“ in dem Recht, aus ihrer Mitte Schöffen zum Placitum zu 
stellen; den kirchlichen in der Teilnahme derselben auch an der Wahl 
des Erzbischofs. — Steindorff I, S. 244 läßt die Frage unentschieden. 


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zugleich dem Willen der lombardischen Metropole entgegenzu¬ 
kommen wie den Interessen des Reiches zu dienen. 

Indem er eigenwillig den unbedeutenden Valvassorensohn 
einsetzte, mußte er — und seine eigenen Erfahrungen aus der 
Zeit des Mailänder Krieges legten fürwahr ein sprechendes Zeugnis 
dafür ab — sehr befürchten, die kirchliche Selbständigkeit 
Mailands vor den Kopf zu stoßen. Daß sein Vorgehen freilich so 
wenig geschlossenen Widerstand finden werde, wie die Folge 
zeigte, konnte er unmöglich wissen. War sein Ziel, den neuen 
Metropoliten nicht mehr zu Ariberts Macht und Ansehen kommen 
zu lassen, so fand er freilich keine geeignetere Persönlichkeit als 
Wido. 1 ) Allein der Erzbischof einer solchen Erhebung war nicht 
Mailand; und wachte die ambrosianische Gemeinde eifersüchtig 
über seine kirchliche Würde, so ließ sich seine politische Macht 
desto leichter aushöhlen, je schwächer ihr Träger war. Und wer 
anders als der schwierige Adel und mit unverkennbaren Anzeichen 
das aufstrebende Bürgertum, dem sich die unteren Volksschichten 
stufenweise angliederten, würden sich, sei es einzeln, sei es verbün¬ 
det, darin einnisten ? Der Zug der Zeit war sichtlich auf die De¬ 
mokratie eingestellt: wie würde das Reich bei dieser Entwicklung 
abschneiden? Überdies sprachen die geographische Lage und die 
politische Bedeutung Mailands zugunsten eines aristokratischen 
Kandidaten, der dem Kaiser durch den Dienst in dessen Kapelle per¬ 
sönlich verpflichtet, durch seinen Aufenthalt am deutschen Hofe in 
die politischen Ziele der Reichsregierung eingeweiht, auf dem ein¬ 
stimmigen Beifall der öffentlichen Meinung in Mailand fußte und 
so für ganz Lombardien eine maßgebende Rolle zu spielen imstande 
war. Das war von desto größerer Bedeutung, als in Tuszien eine 
weltliche Macht sich entfaltete, die für das Reich weit mehr Ge¬ 
fahren in sich schloß als eine aristokratische Hierarchie in Mai¬ 
land. Zudem hatte Aribert in den letzten fünf Jahren eingelenkt; 
und in der Festigung der Grafenwürde war ja eine gute Handhabe 
geboten, den politischen Machtgelüsten des neuen Erzbischofs 
Grenzen zu ziehen. 

Wenn nun Heinrich, der für die politischen Potenzen der 
Zukunft ein richtiges Empfinden hatte, sich trotz allem für die Er- 
*) Vgl. besonders Krüger II, S. 8 ff. und unten S. 194. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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nennung Widos zu entscheiden für gut hielt, so wird man zu der 
Vermutung gedrängt, es sei ihm eben kein Kandidat so vertraut 
und verläßlich erschienen als Wido, von dem Krüger nicht 
ohne Grund annimmt, daß er wahrscheinlich zu Heinrichs Ka- 
plänen gezählt habe. 1 ) 

Anselm, so darf nun gefolgert werden, war also schwerlich 
noch zu Lebzeiten Ariberts an den deutschen Hof gekommen; die 
Wahrscheinlichkeit gewinnt an Boden, daß er auch die Priester¬ 
weihe von diesem machtvollen Kirchenfürsten nicht erhalten hat.*) 
Man wird sich dabei den kleinen Vorteil nicht entgleiten lassen, 
den Benzo bietet, wenn er von einem Treuschwur Anselms in die 
Hände Widos erzählt. 8 ) 

Landulfs Angabe, Wido habe Anselm zur priesterlichen Würde 
erhoben, verdient demnach zum wenigsten Beachtung. Aber 
wird diese Erkenntnis nicht sofort wieder aufgehoben dadurch, 
daß er die Weihe erst um die Mitte der fünfziger Jahre erfolgt sein 
läßt, was den urkundlich belegten Aufenthalt Anselms als Kaplan 
am königlichen Hofe in Deutschland ausschlösse? 

Der Widerspruch scheint sich bei näherer Betrachtung zu be¬ 
heben, die zu der Annahme berechtigt, daß Landulfs Bericht offen¬ 
bar zwei scharf zu trennende Vorgänge zusammenzieht. 4 ) 

Die Tendenz des Autors ist aus dem Früheren bekannt: die 
Ursprünge und Geschichte der Pataria in ein möglichst grelles 
Licht zu rücken, indem er zu zeigen versucht, daß ihre Urheber 
von Anfang an auf Umsturz und nicht auf Reformen hinarbeiteten. 
Ein Hauptcharakterisierungsmittel für die dabei hervortretenden 
Persönlichkeiten ist ihm die Undankbarkeit. 6 ) Und gerade An¬ 
selm hat sich darin sehr bezeichnend hervorgetan: er stellte sich 
in offenen Gegensatz zu seinem Erzbischof, der ihn nicht nur zum 
Priester geweiht hatte, dem er auch mittelbar die Erhebung auf 
den Bischofsstuhl von Lucca verdankte. Um die Abscheulich¬ 
keit dieses schnöden Undanks dem Leser recht eindringlich vor 
Augen zu halten, rückt Landulf nun beide Ereignisse in Anselms 
*) a. a. O. II, S. 8. 

*) So auch Baxmann, Politik II, S. 265; Will, Restauration II, S. 120; 
Wattendorf S. 41. ») VII, 2 (MG. SS. XI, p. 672). 

4 ) Zu dieser Methode vgl. oben Heft 1, S. 38. 

6 ) Vgl. Krüger I, S. 9. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 I 2 


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geistlicher Laufbahn zusammen. Daß sie in der Tat aber getrennt 
zu betrachten sind, dazu gibt Landulf selber einen Fingerzeig, 
wenn er die Umtriebe Anselms, die zur Reise mit Wido nach 
Deutschland führten, um 1050 ansetzt. Die Übertragung des 
Bistums Lucca dagegen kann frühestens um die Mitte 1056 er¬ 
folgt sein. 

In diese Zeit nun ist der von Peter Damiani berichtete Auf¬ 
enthalt in der königlichen Kapelle Heinrichs III. zu setzen. 

Die Priesterwürde muß Anselm demnach zwischen 1045 und 
1050 erhalten haben; daß sie jedenfalls einige Zeit vor 1050 zu 
datieren ist, scheint Landulfs Sprachgebrauch nahezulegen. 
Wenn er nämlich sagt, Wido habe Anselm 'kurz zuvor’ geweiht, 
so darf diese Zeitbestimmung offenbar ebensowenig scharf genom¬ 
men werden wie jene andere 1 ), bei der er sich also verlauten läßt: 
die vier Kandidaten für den ämbrosianischen Stuhl 1045 reisen 
zur Entscheidung zu Heinrich III., qui noviter (das ist aber 1039) 
surrexerat noviterque populum ipsum a maiorum manibus libe- 
raverat (das war nach Steindorff, Jb. I, S. 244 i. J. 1043). 

Als Resultat der seitherigen Untersuchung kann festgestellt 
werden: zwischen 1045 und 1050 von Wido zum Priester geweiht, 
nimmt Anselm, vielleicht unmittelbar veranlaßt durch die Beschlüs¬ 
se der Reformsynoden Leos IX. zu Rom und Pavia 1049, als eif¬ 
riger Anhänger der cluniazensischen Kirchenreform die Gele¬ 
genheit wahr, mit seinen Ideen vor den ambrosianischen Klerus 
zu treten. Den daraus entstehenden Unruhen hofft Wido da¬ 
durch die Spitze abzubrechen, daß er Anselm um 1050 mit sich 
an den deutschen Hof nimmt, wo dieser mit seinem Eintritt in 
die königliche Kapelle für Mailands Kirche unschädlich gemacht 
werden soll. Zugleich mochte sich der tatenlahme Erzbischof 
mit dem Gedanken schmeicheln, durch diesen Schritt, der immer¬ 
hin ziemliche Aussicht auf rasche und ehrenvolle Beförderung auf 
der hierarchischen Stufenleiter bot, die unliebsame Zurückhaltung 
des Mailänder Adels geschickt zu überwinden (und bei seinem 
vertrauten Verhältnis zu Heinrich III. fiel es ihm nicht schwer, den 
Kaiser zu diesem Gnadenerweis zu bewegen): denn die aussichts¬ 
volle Hofstellung eines ihrer Mitglieder mußte die Kapitäne auch 
») Land. III, 5. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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mit Heinrichs Willkür bei der Ernennung des neuen Erzbischofs 
einigermaßen versöhnen. In der Tat wurde die angebahnte Aus¬ 
söhnung vollendet seit der Erhebung Anselms auf den erledigten 
Bischofsstuhl von Lucca 1 ): der Mailänder Adel schwenkte wieder, 
wie sich in der Folge zeigte, in eine kaiserfreundliche Politik ein, 
die im allgemeinen bis auf die Tage von Canossa anhielt. 

Es bleibt noch die letzte Frage: wann ist Anselms Eingreifen 
in Mailand anzusetzen? Denn daß ein solches mit Landulf an¬ 
genommen werden darf, ist nachher zu zeigen. 

Nach Meyer von Knonau denkt „Landulf augenscheinlich hier, 
da er gleich vorher die Reise Widos und Anselms an den deutschen 
Hof erwähnte, an das Weihnachtsfest des Jahres 1057: auf dieses 
wäre also Anselms persönliche Anstiftung in Mailand zu setzen. 
Allein zu dieser Zeit befand sich Bischof Anselm ja gar nicht 
in Italien, sondern auf sächsischem Boden am Hofe Heinrichs IV. 2 ), 
so daß demnach Landulfs gesamte Kombination dahinfällt“ a ). 
Ebenso lehnt Meyer eine Ansetzung des von Landulf erzählten Be¬ 
suchs auf 1058 ab, da ja Ariald bereits 1056 zu Varese auftrat. 
Und er möchte sich an Krügers Vermutung 4 ) anschließen, daß dem 
so konfusen Landulf etwa Anselms spätere Gesandtschaft nach 
Mailand möge vor Augen geschwebt haben. 

Nach den obigen Ausführungen ist indes die Reise Widos und 
Anselms bereits anfangs der fünfziger Jahre zu setzen. Wenn aber 
weiterhin Anselm höchst wahrscheinlich schon um die Mitte d. J. 1056 
das Bistum Lucca erhielt, so steht der Annahme nichts mehr 
im Wege, er habe an Weihnachten desselben Jahres in Mailand 
die Reformbewegung in rechten Fluß gebracht. 5 ) 

Und der Bericht Landulfs von Anselms Eingreifen in die Mai¬ 
länder Reformbewegung an Weihnachten 1056 gewinnt desto 

*) Bischof Johann war am 28. Mai 1056 gestorben. Als Bischof von . 
Lucca ist Anselm bezeugt am 24. u. 25. März u. wieder Ende April 1057 
(Päch S. 19; Meyer von Knonau I, S. 669). Indes ist es sehr wahr¬ 
scheinlich, daß er, wie Benzo II, 2 (MG. SS. XI, p. 613) berichtet, von 
Heinrich III. erhoben worden ist, der auch sonst „viele Kleriker seiner 
Umgebung auf erledigte italienische Bischofsstühle brachte“ (Lehm- 
grübner S. 6). 

*) Gundech. lib. pont. Eichst. (MG. SS. VII, p. 246): dazu Meyer 
von Knonau I, S. 52. 8 ) Meyer von Knonau I, S. 670 

4 ) II, S. 12, Nr. 2. 8 ) So übrigens schon Giulini IV, p. 23. 

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mehr an Glaubwürdigkeit, als Erzbischof Wido im Sommer 1057 
wiederum mit Anselm am deutschen Hofe weilt. 1 ) Mag man sich 
auch an Benzos Angabe erinnern, der Bischof von Lucca habe 
(damals wohl) dem jungen König den Treueid geschworen, den 
er dem Vater bereits geleistet 2 ), so muß offenbar doch in allererster 
Linie an einen Zusammenhang dieser Reise mit der Pataria ge¬ 
dacht werden; denn daß Anselm nicht ,,als Bote der Römer, 
um Agnes von der Wahl Stephans IX. in Kenntnis zu setzen und 
ihre Anerkennung zu gewinnen, am Hofe anwesend war" 8 ), hat 
Meyer von Knonau an Hand der urkundlichen Chronologie über¬ 
zeugend nachgewiesen. 4 ) 

Die Pataria hatte nämlich inzwischen große Fortschritte ge¬ 
macht. Die Führer der Reform setzten allen Vermittlungsversu¬ 
chen, von welcher Seite sie kommen mochten, hartnäckigen Wi¬ 
derstand entgegen. 8 ) Die Plünderungen an priesterlichem Hab 
und Gut hatten einen erschreckenden Umfang angenommen: 
von der Stadt aus hatten sie bereits aufs platte Land übergegriffen. 6 ) 
Am Nazariusfeste (10. Mai) hatten Landulf und Ariald sogar in 
die wallfahrende Kirchengemeinde Streit und Zank getragen. 7 ) 
Ja, eines Tages waren sie mit ihren Anhängern im Dome gegen 
die zum Chorgebet versammelten Geistlichen tätlich geworden 8 ) 
und hatten nicht einmal vor der Person des Erzbischofs Halt 
gemacht. 9 ) 

Solche Wogen warf nicht ein blindfanatischer Reförmidealis- 
mus allein: zumal hinter der unerhörten Steifnackigkeit der 
Führer mußte die Kraft einer Persönlichkeit stecken, die den 
Ungehorsam jener als Dienst an einer göttlichen Sache gleichsam 
verbürgte. Wido hatte zweifelsohne von Anselms Weihnachts¬ 
besuch Wind bekommen und glaubte nun in diesem Manne, 
dessen Gesinnung und Tatkraft er aus persönlicher Erfahrung 
kannte, das treibende Moment jener Übergriffe zu fassen. Dazu 

*) Gund. lib. pont. Eichst. (MG. SS. VII, p. 246). Vom 20. August 
bis 5. Oktober. *) Benzo II, 2 (MG. SS. XI, p. 613.) 

*) Wie Will, Restauration II, S. 107 f., Giesebrecht, Kaiserzeit II, S. 534, 
Lindner, Anno II, S. 16 annehmen. 4 ) Jb. I, S. 45, Nr. 42. 

6 ) Am. III, 12. Land. III, 6 fl. •) Land. III, 10. 

7 ) Land III, 8. ®) Am. III, 12. 

9 ) Bon. VI (Jaffd II, S. 639) ist wohl hierher zu datieren. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 181 

■waren damals schon in dem hartbedrängten Klerus Stimmen laut 
geworden, man werde sich notgedrungen, wenn der Erzbischof 
versage, nach Rom um Hilfe wenden. 1 ) Über die Folgen eines 
solchen Schrittes konnte auch ein Wido sich nicht hinwegtäu¬ 
schen. Aber seine schwächliche Unentschlossenheit wußte keinen 
anderen Ausweg, als einen erneuten Gang an den deutschen Hof 
zu tun, dem er ja seine Würde verdankte. Die kaiserliche Regie¬ 
rung sollte diesmal ein Machtwort über die Pataria und ihren hoch- 
gestellten Gönner sprechen. Aber Wido fand hier den unbedingten 
Rückhalt nicht mehr, den er nach seinen früheren Erfahrungen 
erwarten mochte: denn Heinrich III. war tot, und die vormund¬ 
schaftliche Regierung seines jungen Sohnes entbehrte der festen, 
zielbewußten Haltung. Seine Hoffnungen waren zerschlagen, 
die Kraft zu eigenem Handeln konnte er auch in dieser für seine 
Zukunft bedenklichen Krisis nicht finden. So fügte er sich denn 
dem inzwischen von Rom ergangenen Gebot: er berief zur Schlich¬ 
tung der Wirren die Synode von Fontanetto. 

Liegt diese nach Landulf versuchte Kombination auch im Be¬ 
reich der sachlichen Möglichkeit? 

„Ohne Macht und Unterstützung konnten Ariald und Landulf 
den Kampf gegen die Simonie nicht beginnen“. 2 ) Sie verletzten 
eben tausend materielle Interessen und mußten in Verfolg ihrer 
Reformarbeit notwendigerweise vielfach Widersacher altgewur- 
zelter kirchlicher Einrichtungen werden. Und nun: wie schwach 
war der Widerstand 1 Zur Erklärung dieser Tatsache wurde oben 
auf die eigentümlichen politischen und sozialen Verhältnisse und 
die höchst wahrscheinliche frühere Wirksamkeit der Reformideen 
in Mailand hingewiesen. Hier kann noch eine Ergänzung angebracht 
werden, die von nicht geringerem Einfluß spricht. Ein Eingreifen 
einer Persönlichkeit vom Range und von der Stellung eines Anselm 
in die keimende Reformbewegung glich sozusagen einer offi¬ 
ziellen Autorisierung derselben und mußte den ohnehin ge¬ 
ringen Widerstand der höheren Kreise noch mehr lähmen, während 
sich die niederen Massen angespornt fühlten, ihre gewinnsüchtige 
Teilnahme ins Maßlose zu vergröbern. Was so treffend Krüger 
von Landulf sagt 3 ), gilt in viel höherem Maße noch von Anselm: 

*) Siehe unten S. 185. *) Päch S. 25. *) II, S. 15. 


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Jos. Goetz 


„Dem Hochgeborenen, der für des Volkes Recht — hier im kirch¬ 
lichen Sinne — Partei ergreift gegen seine Standesgenossen, 
schlägt auch des Volkes Herz warm entgegen, nicht so dem Manne 
aus seiner Mitte, dem es statt Vertrauen oft Neid und Haß ent¬ 
gegenbringt.“ 

In der Tat bildete für Ariald seine Valvassorenabstammung 
ein gewisses Hemmnis seiner Reformtätigkeit: der höhere Adel 
beobachtete einen vorsätzlichen Abstand von seiner Person 1 ); 
und als er dem Volk von Varese seine ersten Reformpredigten 
hielt, wies man ihn nach Mailand. 2 ) Denn Ariald war kein Volks¬ 
mann: er war ein Gelehrter, den mehr sein Wissen als sein 
Gewissen zur Reform trieb. 8 ) Vor allem war er kein Redner: 
auch darin bedurfte er der Unterstützung durch eine Autorität, 
um fester Fuß fassen zu können; späterhin gewann er in dem 
ehrgeizigen, redegewandten Landulf einen volkstümlichen Ge¬ 
nossen, der bald den Gang der Reform in ein revolutionäres 
Bett leitete und dabei den Idealisten Ariald mit riß, der überhaupt 
keine hervorragende, großzügige Persönlichkeit war. „Dazu 
mangelt ihm zu sehr die Ursprünglichkeit in der Anschauung 
wie in der Initiative. Mit Peter Damiani repräsentiert er für dieses 
Jahrhundert am klarsten jenen Typus fanatischer Parteigänger, 
die stets des Führers bedürfen; ist aber die Parole einmal gegeben, 
dann treten sie mit jener rücksichtslosen Kühnheit und unerschüt¬ 
terlichen Konsequenz für dieselbe ein, welche nur bis zur Todes¬ 
verachtung gesteigerte Hingebung zu verleihen imstande ist.“ 4 ) 
Und schließlich darf noch ein sachliches Moment herangezogen 
werden, um Landulfs Nachricht sicher zu stellen. Man fragt sich 
billig: wie kam's, daß Anselm von Lucca zweimal das besondere 
Vertrauen Roms genoß, das erstemal 1057 mit Hildebrand, das 
anderemal mit Peter Damiani 1059 als Legat nach Mailand gesandt 
zu werden ? Gewiß war er als gebürtiger Mailänder und ehemaliger 
Kardinal der ambrosianischen Metropole vorzüglich geeignet, 
seine Personen- und Sachkenntnis in den Dienst der römischen 

*) Vgl. Am. III, 10, dazu Päch S. 18; Krüger II, S. 13. 

*) Vgl. Meyer von Knonau I, S. 67 if. 

*) Am. III, 10: dum litterarum vacaret Studio, severissimus est 
divinae legis factus interpres. Ähnlich Bon. VI (Ja.ff6 II, S. 639). 

*) Krüger II, S. 12. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


183 


Kirche zu stellen. Um wieviel eher mußte man in Rom auf diesen 
Mann zurückkommen, wenn man seine Bemühungen in Sachen 
der Reform in Betracht zog! 1 ) 

Allein, so mag hier eingewendet werden, gerade die zuverlässige¬ 
ren Quellen, Arnulf und Andreas, reden ganz deutlich von der Ur¬ 
heberschaft Arialds. Indes ist auch deren Berichterstattung nicht 
so lückenlos, daß man für Ergänzungen, die sich ihrer Darstellung 
gut einfügen, nicht dankbar sein müßte. Vielleicht löst sich 
der Einwand durch folgende Erwägung. 

Der rein erbauliche Endzweck, dem das Buch des frommen 
Vallumbrosanermönchs dienen will 2 ), bringt es mit sich, daß 
Ariald durchaus im Vordergrund der Darstellung steht: der un¬ 
ermüdliche Prediger, der vorbildliche Asket, der heldenhafte 
Märtyrer, der wunderbegabte Gottesmann. Und so wenig Andreas 
ein eingehendes Interesse für Landulf und dessen Bruder Erlem- 
bald bekundet 3 ), so wenig paßte es in seinen Plan, das Auftreten 
seines Heiligen in Mailand durch anderen Einfluß erfolgt sein zu 
lassen als durch Gottes unmittelbare Sendung. 4 ) 

Nicht ganz so einfach liegt der Fall bei Arnulf, doch scheint 
er sich am leichtesten zu klären, wenn man zweierlei Momente 
in Erwägung zieht: ein persönliches und ein sachliches. 

Man weiß, daß Arnulf zu den Gegnern der Pataria gehört: 
Geburt, Amt und Charakter brachten ihn in Gegensatz zu der 
Reformbewegung und ihren Führern 6 ); es fiel ihm z. B. schwer, 
Arialds Stand klipp und klar anzugeben. 8 ) Die Pataria war ihm 
eben die Bewegung des niederen Volkes, das er verachtete. Dar¬ 
um galt es ihm fast für eine ausgemachte Sache, daß sich die hö¬ 
heren Kreise Mailands von diesem unseligen Treiben fernhiel¬ 
ten, das nur mit dem Verlust der kirchlichen Selbständigkeit 

') Fast unmittelbar nach seiner Erhebung zum Bischof von Lucca 
trat Anselm mit Gotfried und den beiden Gräfinnen Beatrix und Mathilde 
von Tuszien in Verbindung, die ihn dann auch in engste Fühlung mit 
Hildebrand brachte. *) Vgl. seine Äußerung c. IV, § 34. 

*) Andr. praef. vitae S. Ar.; vgl. Päch S. 10; Krüger I, S. nf. 

4 ) Andr. c. I, § 8: a Deo procul dubio praefatus missus est Arialdus; 
ähnlich c. II, § 12. — Ariald erscheint stets als vir Dei, Christi famulus. 

*) Am.III, 10,16,18. GiuliniIII,p.363. Giesebrecht,Kaiserzeit 4 II, S. 575. 

*) Er gibt III, 10 nur an: humiliter utpote natus; vgl. Päch S. 18; 
Krüger II, S. 13. 


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und der erzbischöflichen, d. h. adligen Vorherrschaft enden konn¬ 
te; darum fällte er das härteste Urteil über jene Standesgenossen, 
die sich der patarinischen Reform in die Arme geworfen hatten. 1 ) 
Und so durfte er es auch nie offen zugeben, daß ein Kapitanensohn 2 ), 
ein anerkannt frommer und sittenstrenger Mann wie Anselm von 
Badagio die ganze folgenschwere Bewegung hätte anzetteln 
sollen; zudem verbot ihm seine tiefe Ehrfurcht vor dem späteren 
Papst, diesen mit Wirren in ursächlichen Zusammenhang zu 
bringen, die einer blutigen Revolution erschreckend gleichkamen. 

Und eben im letzteren Punkt liegt auch das sachliche Mo¬ 
ment, das Arnulf berechtigte, Ariald als den Urheber der Pataria 
zu bezeichnen. Denn hatte auch Anselm Anlaß genommen, von der 
Kanzel aus im Sinne der cluniazensischen Reform zu wirken, so hatte 
er doch den Gebrauch gewaltsamer Mittel verschmäht. Darin aber 
gerade lag doch für Arnulfs Auffassung das Wesen der Pataria, daß 
sie den kirchlichen und seit Landulfs Eintritt in die Bewegung auch 
den politischen Umsturz, der schließlich den religiösen Gedanken 
überhaupt verdrängte 8 ), auf ihr Programm geschrieben hatte. 

Es läßt sich demnach zusammenfassend sagen: Landulfs Be¬ 
richt verdient Glauben, daß Anselm als Bischof von Lucca neuer¬ 
dings an Weihnachten 1056 in die Mailänder Reformbewegung 
eingegriffen habe, nachdem er bereits zu Beginn der fünfziger 
Jahre als Reformprediger aufgetreten war. 4 ) Insofern kann er 
als (geistiger) Begründer der Pataria betrachtet werden. Faßt 

*) Vgl. Krüger I, S. 4. 

*) Landulf u. Erlembald gehörten ja wohl auch zum hohen Adel; 
aber man spürt es der Darstellung Arnulfs förmlich an, wie peinlich ihm 
deren Teilnahme ist. III, 10 sagt er von Landulf; quasi generosiorem 
et ad hoc ydoneum. Vgl. seine Bemerkung über dessen Tod III, 16. — 
Beide erscheinen durchaus im Schlepptau Arialds, gleichsam als dessen 
Opfer: III, 10: (Arialdus) praevidit aplicare sibi Landulfum ... familiaris 
eius factus assecla. III, 16: Arialdus... instigat Arlembaldum assidue... 
qui . . . quasi fratemae gratia pietatis opus sibi praesumpsit indebitum, 
Arialdi verbis adeo credulus, ut quos frater flagellis ceciderat, ipse per- 
cutiat scorpionibus .... 

*) Vgl. Wattendorf S. 43. 

4 ) An diese Predigten knüpfte vielleicht Ariald an (vgl. Giesebrecht, 
Kaiserzeit 4 III, S. 30), als er im Spätherbst 1056 seine Reformtätigkeit in 
Varese, einem Dorfe in Mailands Nähe, begann. Als er hier scheiterte, 
ging er nach Mailand und fand an Weihnachten Anselms von Lucca er¬ 
wünschte Unterstützung. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 185 

man jedoch die Pataria als die kirchliche und politische Umsturz¬ 
bewegung ins Auge, die Mailand unter Rom beugte und des Erz¬ 
bischofs Macht beseitigte, wodurch der Demokratie der Weg in 
die Zukunft geebnet wurde, so bleibt ihr Auftreten in der Öffent¬ 
lichkeit mit dem Namen Arialds aus Cuziago verbunden. 

3. Zur Chronologie der Synode von Fontanetto. 

Es handelt sich hier zunächst um die Frage: an welchen Papst 
sind die ersten Hilferufe der von der Pataria bedrängten ambro- 
sianischen Geistlichkeit gerichtet? Von der Beantwortung dieser 
Frage hängt die Datierung der Synode von Fontanetto ab, die 
von eben jenem Papst zur Schlichtung der Wirren in Mailand 
dem Erzbischof Wido abzuhalten anbefohlen ward. 

Arnulf läßt jenes Hilfegesuch an Stephan IX. ergangen 
sein. 1 ) Nun aber macht Meyer von Knonau im Anschluß an Lind- 
ner 2 ) und Wattendorf 8 ) nachdrücklich darauf aufmerksam, daß 
diese Angabe des Mailänder Chronisten sich mit anderweitigen 
urkundlichen Daten nicht wohl vereinbaren lasse. 4 ) Denn am 
2. August 1057 war die Wahl Friedrichs von Lothringen, des 
Kardinals und Kanzlers Leos IX., zum Nachfolger Viktors II. 
auf dem Stuhl Petri erfolgt. Am 20. August aber weilt Wido, 
wie schon im vorigen Abschnitt erwähnt, bereits in Deutschland 
am Hofe Heinrichs IV., den er vor Mitte Oktober nicht verlassen 
zu haben scheint. 5 ) Könnte nun auch in jene knappe Frist 
von 18 Tagen das Hilfegesuch des mailändischen Klerus fallen, 
so kann doch die anberaumte Synode nicht in dieser Zeit abge¬ 
halten worden sein. Zudem erkennt diese Auffassung in der päpst¬ 
lichen Antwort nicht den Charakter Stephans IX., der „nach 
seiner Parteistellung, seinen engen Verbindungen mit den Män¬ 
nern der kirchlichen Reform durch eine solche Abwieglung sich 
selbst verleugnet hätte“. 6 ) Vielmehr entspreche „dieser Bescheid 
in seiner sachlichen und ruhigen Haltung“ 7 ) den Anschauungen 

J ) Arn. III, 12. *) Anno der Heilige, S. 17, Nr. 3. 

•) a. a. O. S. 44f. 4 ) Jb. I, S. 69,672. 

*)' Daß er sich auch noch Ende November am Hofe aufgehalten habe 
(Meyer von Knonau I, S. 73; Wattendorf S. 46), kann durch Bonithos 
zweifelhafte Bemerkung (Ja ff6 II, S. 640) nicht belegt werden. 

•) Meyer von Knonau I, S. 69. *) Wattendorf S. 44. 


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Viktors II. — und die zeitlichen Bedenken machen diese letztere 
Annahme höchst wahrscheinlich; demzufolge müßte auch die 
Synode von Fontanetto noch in den Pontifikat Viktors II. fallen: 
Meyer von Knonau nimmt den Juli an. 1 ) 

Freilich legen sich bei dieser Ansetzung die Dinge zunächst 
viel passender zurecht als bei jener, welche die Synode erst durch 
Stephan IX. berufen werden läßt. 2 ) Aber die eine Schwierigkeit 
bleibt vor allem in ihrer ganzen Bedeutsamkeit bestehen, daß 
Arnulf so ganz ohne Schwanken das erste verhängnisvolle Ein¬ 
greifen Roms in die ambrosianischen Kirchenverhältnisse an den 
Namen Stephans IX. knüpft. 8 ) Ob sich der Wert dieser Tatsache 
mit der Bemerkung Meyers von Knonau ganz beiseite schieben 
läßt, „daß Arnulf Viktor II. nie, Stephan IX. nur dieses einzige 
Mal nennt; eine Verwechslung der Namen ist bei dem wohlerfah¬ 
renen, doch immerhin nach den Ereignissen schreibenden Autor 
nicht ausgeschlossen“ 4 ), darf füglich bezweifelt werden. Sicher¬ 
lich ist auch bei dem gewissenhaften Arnulf ein Irrtum immer noch 
möglich. Allein im vorliegenden Falle scheint doch alles weit 
eher dafür zu sprechen, daß Arnulfs Angabe durchaus auf Richtig¬ 
keit beruhe. 

Es war nicht Parteileidenschaft, die ihn verleitet hätte, in der 
Anordnung Stephans IX. ein an sich unberechtigtes oder gar un¬ 
bedingt verwerfliches Streben zu brandmarken 5 ), die ambro- 
sianische Kirche um ihre gerühmte Selbständigkeit zu brin¬ 
gen. Er tritt zwar durchaus für die Ehre und die Autonomie 
der Kirche des hl. Ambrosius ein; aber den geschichtlichen Not- 

x ) a. a. O. I, S. 672, Nr. 11. — Lindner S. 17, Nr. 3 nimmt eine ver¬ 
mittelnde Stellung ein (wie übrigens bereits Migne, PL. 143, col. 1447, Nr. 9), 
wenn er meint: „Die Anordnung der Synode muß schon Viktor getan 
haben; wahrscheinlich trat sie aber erst in den ersten Tagen seines 
Nachfolgers zusammen.“ 

*) So Krüger II, S. 21, Nr. 2 (setzt September an); Will, Restauration II, 
S. 123L; Höfler, Die deutschen Päpste II, S. 276; Giulini, IV, p. 19f 

*) Vgl. Hauck, Kirchengeschichte ,/4 III, S. 694, Nr. 6: „Die Nach¬ 
richt (Am III, 12) wird von den meisten Forschem verworfen und viel¬ 
mehr auf Viktor II. bezogen. Die Gründe scheinen mir jedoch nicht 
ausreichend “ 4 ) a. a. O. I, S. 67, Nr. 29. 

*) Wie Land. III, 16 tut, wenn er die Anordnung der Synode, die 
er überdies nach Novara (Fontanetto liegt allerdings bei Novara) verlegt, 
dem ihm besonders mißliebigen Alexander II. zuschreibt. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 


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Wendigkeiten steht er nicht blind und ablehnend gegenüber: 
nach Erlembalds Tod z. B. stellt er sich seiner Vaterstadt als 
Gesandter an Gregor VII. zur Verfügung, um dessen Aussöhnung 
mit Mailand zu erwirken. Und wenn er auch am päpstlichen 
Primat selbstredend festhält 1 ), so tritt er doch mit freier Stirne 
der römischen Politik entgegen, wenn sie ihm übers rechte Ziel 
zu schießen scheint 2 ); und zumal in Sachen der Mailänder Kirchen¬ 
disziplin glaubt er Roms Eingreifen überflüssig, da hier der Erz¬ 
bischof zuständig sei. 8 ) 

Nun knüpften sich aber gerade an die Synode von Fonta- 
netto alle jene Weiterungen, die zu den häufigen römischen Ge* 
sandtschaften 4 ) führten, welche die Pataria mit Rat und Tat nach- 
drücklichst unterstützten und so zur Untergrabung der ambro- 
sianischen Selbständigkeit geflissentlich ihr Teil beitrugen. Der 
Name des Mannes, der zu dieser folgenschweren Entwicklung die 
ersten Schritte tat, mußte sich dem Gedächtnis eines eben so klar 
wie billig denkenden Autors, wie es Arnulf war, unauslöschlich 
einprägen. 5 ) Daß er ihn nur dies eine Mal nennt, mag teils in der 

l ) Am. V, 7: ... Romana certe numquam errasse perhibetur ec- 
clesia . . ., a Romana ergo ecclesia, quicumque dissentit, non est revera 
catholicus, quemadmodum ait beatus Ambrosius. — Das sagt er nun 
freilich nach seiner Gesinnungsänderung 1077. Aber schon vorher hatte 
er dieselbe Überzeugung geäußert; z. B. III, 17 wendet er sich gegen 
die Verleihung des vexillum S. Petri an Erlembald, setzt jedoch sofort 
hinzu: haec . . . dicentes non adversamur vobis, o seniores Romani, cum 
magister noster dicat Ambrosius: cupio in Omnibus sequi Romanam 
ecclesiam. vobiscum enim credimus, vobiscum cunctas haereses abdicamus. 

*) III, 13: Arialdus . . . celeriter adeptus est Romanorum gratiam. 
qui cum principari appetant iure apostolico, videntur veile dominari 
omnium et cuncta suae subdere ditioni (im Widerspruch zu Luc. 22, 25) 
— Vgl. III, 14: Peter Damiani beansprucht 1059 als römischer Legat 
den Vorsitz in der Kirchenversammlung, quia Romanus erat. 

*) III, 15 z. B. bemerkt er zum Wirken der Legaten: nonne satius 
vester hoc procuraret episcopus? forte dicetis: veneranda est Roma in 
apostolo. est utique; set nec spemendum Mediolanum in Ambrosio. 
certe non absque re scripta sunt haec in Romanis annalibus. dicetur enim 
in posterum subiectum Romae Mediolanum. 

4 ) HI, 14. 

Ä ) Wenn Land. III, 14 wieder einmal sein Herz auf die Zunge 
nimmt, indem er Stephan IX. eine „Gottesgeißel“ (flagellum divinum) 
nennt, so darf darin doch wohl eine Spur für die Tatsache gefunden 
werden, daß Stephan in besonderer Weise einen Einfluß auf die Mailänder 
Wirren ausgeübt hatte. 


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Ökonomie seines Werkes liegen, das eben hier mehr einen die wich¬ 
tigsten Tatsachen referierenden Ton aufzeigt, als daß es den ein¬ 
zelnen Ereignissen Zug um Zug folgte, teils an dem kurzen Pon¬ 
tifikat, der Stephan IX. zu weiter ausgreifenden, dem Chronisten 
denkwürdigen Maßnahmen gerade auch der lombardischen Me¬ 
tropole gegenüber nicht kommen ließ. Abschließend finde noch 
die Bemerkung Platz, daß es im Gegenteil sehr stark auffallen 
müßte, wenn der mit ruhiger Überlegung schreibende Arnulf 
Stephan IX. namentlich anführte, der bei der Annahme, Vik¬ 
tor II. habe die Anordnung der Synode von Fontanetto getroffen, 
nur durch eine verhältnismäßig unbedeutende, weil gelegentliche 
Legatensendung 1 ) die aussichtsreiche Mailänder Reformbewegung 
unterstützt hätte — wiewohl er einer der eifervollsten Reform¬ 
freunde seiner Zeit war. 

Indes gerade in diesem Reformeifer sieht ja Meyer von Knonau 
eine weitere gewichtige Instanz wider Arnulfs Notiz: die beschwich¬ 
tigende Antwort des Papstes stimme trefflicher zu Viktors II. An¬ 
schauungen. In dieser Unbedingtheit ist der Satz zweifelsohne richtig; 
allein Meyer übersieht dieSchwierigkeiten, die auch einenStephanIX. 
zu einem vorerst gemäßigten Bescheid veranlassen konnten. 

Man wußte in Rom um die zähe Liebe der Mailänder zur Selb¬ 
ständigkeit ihrer Kirche, die als ein köstliches Vermächtnis des 
großen Ambrosius festgehalten wurde. Die ambrosianische 
Kirche rühmte sich eines eigenen, vom römischen vielfach abwei¬ 
chenden Ritus 2 ); sie hatte eine eigene Verfassung und war sich 
ihrer Stellung und Würde als lombardische Metropole durchaus 
bewußt. 8 ) Und der Bedeutung des ausgedehnten Erzsprengels 4 ) 

*) Hildebrand u. Anselm von Lucca auf ihrer Reise an den deutschen 
Hof; vgl. unten S. 192 f. 

*) Vgl. Päch S. 17: Krüger I, S. 17. 

*) Vgl. Arn. I, 18: Erzbischof Arnulf bannt 1008 den von Kaiser 
Heinrich II. investierten und von Papst Johann geweihten Bischof Olderich 
von Asti, weil beides mit Ausschluß seiner Kompetenz geschehen, und zwingt 
ihn mit Waffengewalt zu schimpflicher Buße (vgl. Krüger I, S. 17). — Die 
angeblich geplante Aberkennung des von Konrad II. an Aribert verliehenen 
Investiturrechts auf das Bistum Lodi führt zum Aufstand der Mailänder; 
vgl. oben S. 172 u. Pabst S. 18 ff. 

*) Über ao Bistümer; vgl. Wattendorf S. 39; Krüger I, S. 17; Wicher- 
kiewicz, Die kirchl. Stellung der Erzbischöfe von Mailand z. Z. der Pataria 
(Breslau 1875) S. 35. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 18g 

hatte man noch von Rom aus vor einem Menschenalter, in den 
Glanztagen des gewaltigen Aribert II., Rechnung tragen müssen, 
indem Mailands Vorrang vor dem Ravennaten auf der römischen 
Synode von 1027 festgesetzt wurde. 1 ) 

Wenn man ferner in Rom auch von der Eindringlich¬ 
keit und Wucht der aus dem vollen Kirchenschatz schöpfenden 
Reformpredigten einen sicheren Erfolg erwarten durfte, so waren 
doch die Zeiten noch in ziemlicher Nähe, in denen das Papsttum 
einen unerhörten Tiefstand gezeigt hatte, aus dem es erst durch 
die Energie des deutschen Kaisers gerissen worden war. Gerade 
die maßgebenden Kreise Mailands aber neigten im Wesen doch 
überwiegend nach Deutschland — bei allen Trübungen unter 
Konrad II. —, und so mußte hier bei der scharfen Gefahr der 
Reformtendenzen für Mailands politische, soziale und kirchliche 
Interessen mit einer bedeutenden Gegnerschaft gerechnet werden. 
Die Gemeinsamkeit der bedrohten Interessen vermochte aber 
weiterhin wohl auch das kühle Verhältnis des Erzbischofs zu sei¬ 
nen Lehensleuten zu bessern. Und bei Widos Stellung zum deut- 
schen Hofe lag eine Verbindung Mailands mit der kaiserlichen 
Regierung zur Wahrung der kirchlichen und politischen Rechte 
der lombardischen Hauptstadt sehr nahe. 2 ) Denn der Schützling 
Heinrichs III. genoß vermutlich auch die Sympathien der Re¬ 
gentschaft; und lag diese auch in den Händen einer Frau, so mußte 
immerhin mit dem entscheidenden Rat energischer Vertrauter, 
die noch aus des verstorbenen Kaisers Schule stammten, gerechnet 
werden: dann lief die Reform Gefahr, zum wenigsten ihr straffes 
Wirken im Dienste der römischen Hierarchie in Frage gestellt 
zu sehen. Daß von hier aus freilich nichts zu besorgen stand, 
lehrte die allernächste Zukunft. 

*) Vgl. Pabst S. 17. Mansi XIX, p. 627 führt allerdings eine päpstl. 
Urkunde von 1047 an, die dem Ravennaten den Vorrang vor Mailand 
zuerkennt Wicherkiewicz, a. a. O. S. 19, sieht darin eine Fälschung und 
stellt sich somit auf die Seite von Pabst. — Land. III, 4 läßt auf der 
röm. Synode vom April 1050 Wido ebenfalls den Vorrang vor Ravenna 
behaupten (Bedenken gegen diese Notiz bei Krüger II, S. 10, Nr. 2; 
Wicherkiewicz S. 19). 

*) Vgl. (von einer anderen Seite aus) Heinrichs Eintreten für die 
Interessen der Bürger von Mantua und Ferrara; Steindorff, Jb. II, S. 314 f.; 
Handloike S. 115. 


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igo Jos. Goetz 

Ein diplomatisches Vorgehen in Sachen des klagenden Klerus 
von Mailand war aber um so notwendiger, als Stephan IX. ohne 
jedes Zutun der deutschen Regierung den Stuhl Petri bestiegen 
hatte, nach den Tagen eines Heinrich III. eine grundstürzende 
Neuerung. Wie würde man sie in Deutschland aufnehmen? 
Und nicht genug damit: daß Stephan IX. der Bruder des alten 
und zähen Gegners Heinrichs III., Gotfrieds von Lothringen, 
war, mußte unter allen Umständen schwer in die Wagschale 
fallen. 1 ) Denn nachdem sich Gotfried mit dem deutschen Hofe 
verglichen hatte und nach Italien zurückgekehrt war, aus dem 
er vor Heinrich hatte weichen müssen, lag in den Händen des 
lothringischen Brüderpaares nunmehr die Leitung der italieni¬ 
schen Dinge.*) Und wo wollte der brennende Ehrgeiz eines Got¬ 
fried seine Schranken finden?*) 

Und wenn sich schließlich Stephan mit dem ernstlichen Plane 
trug, die Normannenfrage, die für Rom allmählich eine bedroh¬ 
liche Gestalt angenommen hatte 4 ), endgültig zur Lösung zu brin¬ 
gen, indem er — nicht im Sinne Hildebrands, wie es dann unter 
Nikolaus II. geschah 6 ) — nichts geringeres als die. gänzliche 
Vertreibung der unermüdlichen Eroberer aus Unteritalien als das 
Ziel seiner Politik anstrebte, so brauchte er, wenn er aus gewissen 
Rücksichten auf seinen Bruder die militärische Unterstützung 
des Reichs nicht in Anspruch nehmen wollte, doch Rückenfreiheit 
gegen dasselbe.®) Aus all diesen Erwägungen heraus gewann 
wohl Stephans Weitblick die Überzeugung, die Reformbewegung 
in Mailand auf Wegen zum Ziele führen zu müssen, die einen ver¬ 
hängnisvollen Konflikt mit der deutschen Regierung umgingen. 

Somit dürfte auch aus der ganzen politischen und kirchlichen 


*) Martens, Heinrich IV. u. Gregor VII. S. n. 

*) Meyer von Knonau I, S. 32: vgl. Lindner a. a. O. S. 14. 

*) Vgl. seine Charakteristik bei Hauck, Kirchengesch. */ 4 III, S. 670. — 
Über seinen gewaltigen Besitz vgl. ebenda S. 671: Meyer von Knonau I, 
S. 32; Wattendorf S. 5if. 

4 ) Heinemann, L. v., Geschichte der Normannen I, S. 160 ff. Hauck 
a. a. O. S. 688 ff. 

6 ) Heinemann I, S. 171fr. Meyer von Knonau I, S. 77 f. 

•) Zumal er ja auch mit dieser Politik in einen gewissen Gegensatz zu 
der des verstorbenen Kaisers trat, der mit den Normannen freundliche Be¬ 
ziehungen angeknüpft hatte, vgl. Heinemann I, S. 107f.; Hauck */ 4 III, S.688. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria igi 

Lage auf Arnulfs Angabe ein bestätigender Schluß gezogen 
werden. 1 ) 

Wann ist nun die Synode von Fontanetto anzusetzen? Da 
Wido erst Ende Oktober wiederum in seiner Metropole anwesend 
zu denken-ist, kann sie vor dieser Zeit nicht stattgefunden haben. 
Sie muß aber Ende November bereits gehalten gewesen sein, 
wie aus dem Folgenden sich ergeben wird. 

Wie Arnulf berichtet 2 ), ging Ariald sofort nach Beendigung 
der Synode von Fontanetto nach Rom. Zweck dieser Reise war, 
sein und seines Genossen Landulf widerspenstiges Verhalten der 
Synode gegenüber, die sie für ihr hohnvolles Wegbleiben und 
ihr rechtswidriges Reformtreiben mit Exkommunikation belegt 
hatte, persönlich zu rechtfertigen, für die Pataria den notwendi¬ 
gen Anschluß an die römische Kirchenpolitik zu erwirken und 
womöglich eine Kassation des Synodalurteils herbeizuführen, 
was ihm denn auch wider Erwarten gut gelang. 8 ) 

Der Schwerpunkt dieses Erfolgs, der die ambrosianische 
Kirche einfach ignorierte, lag indes auf einer anderen Seite: Rom 
hatte nun erkannt, wie und wo es den Hebel einzusetzen hatte, 
um sich mit Hilfe der Reform in der annoch kirchlich ziemlich 
selbständigen Lombardei unbestritten durchzusetzen. Denn ei¬ 
nerseits hatte sich Wido nicht als der Mann erwiesen, der das Erbe 
eines Aribert II. zu wahren imstande war; man konnte mit 
Grund darauf bauen, daß auch seine Stellung innerhalb Mai¬ 
lands stark untergraben sei; und schließlich war durch den Be¬ 
schluß der Synode deutlich an den Tag getreten, daß Wido mit der 
Reform zu gehen auch jetzt wenig Neigung bezeigte; denn sonst 
hätten neben die Exkommunikation auch positive Maßnahmen 
treten müssen. 

Anderseits bot das durch nichts zu entmutigende Verhalten 
Arialds und seiner Anhänger der römischen Realpolitik den 
denkbar günstigsten Anhaltspunkt für ein ferneres wirksames 
Eingreifen in Mailand: die ganze Wucht der niederen autoritäts- 

*) Zur Ergänzung mag noch angeführt werden, daß auch Bonitho 
(Jaff<6 II, S. 640) Stephan IX. als den ersten Papst nennt, der in die 
patarenische Bewegung eingriff. Auch Andr. c. II, § 15 scheint mit dem 
Hinweis auf die häufigen Synoden Stephan IX. im Auge zu haben. 

*) III, 13. ») Vgl. Päch S. 23 f.; Krüger II, S. 22. 


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Jos. Goetz 


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süchtigen Volksmassen mußte im Dienste der Reform für Roms 
auf keimende Weltherrschaftspläne ausgenützt werden: Stephan IX. 
griff zu dem für die römische Politik so charakteristisch geworde¬ 
nen Mittel der Legatensendung. 1 ) 

Hildebrand war bereits mit der schwierigen Mission an den 
deutschen Hof betraut, vor allem die nachträgliche Zustimmung 
der Regentschaft zur Erhebung Stephans IX. zu erwirken. 2 ) 
Ganz geschickt ließ sich nun diese Reise über Mailand einrichten, 
wo die Gelegenheit, die ganze Sachlage aus eigener Anschauung 
kennen und beurteilen zu lernen, auch für etwaige Besprechungen 
am königlichen Hoflager von nicht zu unterschätzender Bedeutung 
war. 8 ) Und daß auch diese Frage angeschnitten würde, stand 
mit Sicherheit zu erwarten, da ja Wido sich im verflossenen Spät¬ 
sommer bis in den Herbst hinein am deutschen Hofe aufgehalten 
hatte, um eine Entscheidung desselben über die Pataria und deren 
vermeintliche Seele, Anselm von Lucca, den er ja mit sich ge¬ 
nommen hatte, herbeizuführen. Nun aber war derselbe Anselm 
in der Zwischenzeit bereits in Rom gewesen 4 ): er hatte somit, 
die Kurie von der Stimmung am deutschen Hofe zuverlässig 
unterrichten können. Und wußte er „vielleicht von dem Auf¬ 
sehen zu erzählen, welches die Kühnheit der Kurie verursacht 
hätte, wie man höchst erbittert sei über diese Verletzung eines 
guten Rechts und die Wahl nicht anerkennen wolle“ 6 ), so mußte 
es ein ausgleichender Ersatz sein, daß Wido beim Hofe in seinen 
Bemühungen keine Unterstützung gefunden hatte. 

Und derselbe Mann hatte bereits eine wertvolle Tätigkeit 
in der Reformbewegung entwickelt: wie überaus glücklich fügten 
sich alle Umstände zusammen, um die römische Politik siegreich 
vorwärts zu treiben; und nun lag sie noch zudem in den kundi¬ 
gen, kraftvollen Händen eines Stephan, Hildebrand, Peter Da- 
miani! Mailands Schicksal war endgültig besiegelt. 

Zusammen machten sich Hildebrand und Anselm von Lucca 
auf den Weg, um in Mailand eine kurze, aber instruktive Tätigkeit 

') Vgl. K. Müller, Kirchengesch. I, S. 426. 

*) Meyer von Knonau I, S. 53. *) Lindner a. a. O. S. 17. 

4 ) Am 18. Oktober, wie aus einer Urkunde für das Domkapitel von 
Lucca hervorgeht: Jaflfe Nr. 4373: Mansi XIX, p. 865. 

®) Wattendorf a. a. O. S. 31. 


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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria ig^ 


zu eröffnen 1 ) und dann am königlichen Hoflager ohne besondere 
Mühewaltung die Anerkennung Stephans IX. zu erreichen. 1 ) 
Am 27. Dezember waren sie in Pöhlde am Harz. 3 ) Es ist somit 
anzunehmen, daß sie Anfangs Dezember Rom verließen. Bringt 
man noch die Zeit in Abzug, die Ariald zu seiner Reise nach Rom 
benötigte, so wird die Synode von Fontanetto in die zweite 
Hälfte des November 1057 zu setzen sein. 4 ) 

Ein letzter Punkt bedarf noch kurz der Erörterung: in welchem 
Verhältnis stand Wido zur Berufung der Synode von Fonta¬ 
netto ? 

Man könnte zunächst versucht sein, aus Arnulfs Worten*) 
eine ziemliche Bereitwilligkeit des Erzbischofs herauszulesen, der 
römischen Anordnung Folge zu leisten. Indes ist dies doch nur 
mit einer gewissen Einschränkung anzunehmen. Denn offenbar 
war der verfolgte Klerus von Mailand in Rom vorstellig geworden, 
ohne im Einverständnis mit Wido zu stehen. 6 ) Und das ist nicht 
verwunderlich. Denn die Bedeutung der Persönlichkeit Widos 
mag noch so gering angeschlagen werden: Rom zu dem längst 
ersehnten Eingreifen in eine zunächst örtliche und. innerkirchliche 
Angelegenheit Mailands zu veranlassen, dazu konnte sich auch 
ein so ungleicher Nachfolger eines Aribert unmöglich verstehen. 
Freilich kam seine beschämende Untätigkeit, die bereits von den 
Zeitgenossen bitter beklagt wurde 7 ), der sachlichen Notwendig¬ 
keit einer römischen Einmischung gleich. 

Wo liegen die Gründe für diese verhängnisvolle Säumnis? 


*) Bon. VI (Jaffd II, S. 640). Land. III, 13 ist in seiner Polemik 
abzulehnen; vgl. Päch S. 24; Meyer von Knonau I, S. 72f. 

*) Meyer von Knonau I, S. 53. 

*) Gundechar, lib. pont. Eichst. (MG. SS. VII, p. 246). 

4 ) Wenn Meyer von Knonau I, S. 672, Nr. 11 die Synode glaubt in 
den Juli 1057, noch unter Viktor II., setzen zu sollen, so dürfte er auch 
mit Am. III, 12 in Zwiespalt kommen, der offenbar die Beschwerden 
des ambrosianischen Klerus in Rom vorgebracht denkt. Viktor II. weilte 
aber seit Ende Mai bis zu seinem am 28. Juli erfolgten Tode gar nicht 
in Rom (JafhS Nr. 4367—4370). ®) III, 12: qua fretus auctoritate. 

®) ib.: clerus . . . conquestus est legatione humili primo compro- 
vincialibus episcopis, deinde Romano pontifici. — Auch das Versagen der 
ambrosianischen Suflragane ließe sich am ehesten durch Widos Gleich¬ 
gültigkeit gegen seinen bedrängten Klerus erklären. 

T ) z. B. Land. III, 5, 7, 16; vgl. Meyer von Knonau I, S. 67. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 I ? 


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ig 4 Jos. Goetz — Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 

Sie sind in der Zwielichtspersönlichkeit des Erzbischofs zu su¬ 
chen. 

Ein offensichtlich schwacher und schwankender Charakter 1 ), 
der vollends infolge des durch nichts verdienten hohen Aüfsteigens 
zur Wörde des lombardischen Metropoliten die Sicherheit des 
selbstbestimmenden Willens verloren hatte; von ziemlicher Un¬ 
bildung 2 ), der jeder politische Scharfblick und jedes natürliche 
Geschick zu diplomatischer Folgerichtigkeit des Handelns abging; 
von der unfruchtbaren Saturiertheit eines Emporkömmlings, der, 
aus kleinen Verhältnissen durch Fürstengunst emporgehoben, nach 
Befriedigung seines persönlichen Ehrgeizes jeglichen Sinn für 
soziale Tugenden und Pflichten eingebüßt hat und der desto weniger 
ein fürsorgendes Herz für seine Untergebenen hat, je mehr er von 
der äußeren Würde seiner hohen Stellung im tiefsten eingenommen 
ist: so stand Wido an der Spitze der Mailänder Erzkirche. 

Den Gegensatz, in dem der Emporkömmling zum Adel stand, 
hatte er in zehn Jahren kaum zu mindern verstanden, und für den 
Ausgleich der politisch-sozialen Forderungen der niederen Stände 
hatte er so gut wie nichts getan: er wiegte sich in einer blinden 
Sicherheit, aus der er sich nicht einmal durch die rasch anschwel¬ 
lende Reformbewegung ernstlich herausreißen ließ. Wohl kam 
es zu Auseinandersetzungen mit den Führern der Pataria 8 ), 
aber alle Maßnahmen gipfelten schließlich in billigen Ermahnungen, 
die natürlich nichts fruchteten. 4 ) 

Als dann im Sommer 1057 die Dinge in Mailand auf Spitz 
und Knopf standen, da tat Wido einen Schritt, der ihn von neuem 
so recht scharf zeichnet: er ging nach Deutschland, wo er diesmal 
freilich keinerlei Verständnis und Unterstützung fand. Bei seiner 
zögernden Heimkehr in seine Metropole fand er nun wohl die 
Anordnung einer Synode vor, die er wohl oder übel in Fontanetto 
abhielt. Aber auch das Ergebnis dieser Synode war nur ein 
Ausfluß seiner anmaßlichen Schwäche: die Pataria hatte zu 
tiefe Wurzeln gefaßt, um von der Exkommunikation ihrer Führer 
mehr als obenhin getroffen zu werden. 

*) Vgl. den Gesandtschaftsbericht Peter Damianis (Mansi XIX, p. 888), 
dazu Am. III, 14. *) Bon. VI (Jaff 6 II, S. 638): vir illiteratus. 

*) Am. III, 12. Land. III, 6. 7. Vgl. Hauck, Kirchengesch. 8 / 4 III, S. 694. 

4 ) Vgl. Krüger II, S. 20. 


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DIE EMPFINDSAME NATURBETRACHTUNG 
IM MITTELALTER. 

VON W. GANZENMÜLLER. 

Überall, wo durch wachsende Kompliziertheit der kulturellen 
Verhältnisse eine Spannung zwischen Natur und Kultur hervor¬ 
gerufen wird, entsteht eine eigenartige Betrachtung der Natur, 
die man empfindsam nennen kann. Sie besteht darin, daß der 
einzelne namentlich unter der Wucht einer alles beherrschenden 
Leidenschaft oder eines alles übertönenden Schmerzes sein per¬ 
sönliches Empfinden für so wichtig hält, daß er die ganze Natur 
nur als einen darauf abgestimmten oder davon abstechenden 
Rahmen betrachtet, sie in parallele oder antithetische Beziehung 
zu seinen Gefühlen setzt. Die antithetische Empfindungsweise 
ist aber nur die Vorstufe zu der Erkenntnis des Gegensatzes zwi¬ 
schen der leidenschaftlichen Unruhe und Unvollkommenheit des 
eigenen Inneren und der Ruhe und Geschlossenheit der Natur. 
Daraus entsteht eine sentimentale Sehnsucht nach der Natur, 
deren klassische Formulierung Schiller in seiner Abhandlung 
„Über naive und sentimentalische Dichtung“ gegeben hat: „Unser 
Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die 
Gesundheit.“ 

Und diese empfindsame Naturbetrachtung, wie sie in der Kul¬ 
tur des Hellenismus und dann wieder unter ähnlichen Bedingungen 
im 18. Jahrhundert sich findet, soll auch im Mittelalter vorhanden 
gewesen sein? Für die Troubadours und Minnesänger wird man 
allenfalls geneigt sein eine solche zuzugeben. Die folgende Abhand¬ 
lung soll versuchen, zu zeigen, daß die empfindsame Naturbetrach¬ 
tung auch der ersten Hälfte des Mittelalters nicht fremd war, 
daß sich vom ausgehenden Altertum bis zu den Troubadours ein 
Zusammenhang der Ausdrucksformen nachweisen läßt. 

Wenn die Stellung des Menschen zur Natur vom ausgehenden 
Altertum zur Neuzeit eine sinnvolle Entwicklung überhaupt durch¬ 
gemacht hat, so läßt sich diese bloß durch Vergleichen der Aus¬ 
drucksformen feststellen. Das Studium des Stofflichen führt hier 

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nur zu der Erkenntnis, daß gewisse Dinge, wie Vogelsang im Früh¬ 
ling und fallendes Laub im Herbst, von allen Völkern bemerkt 
werden; die etwaige Verschiedenheit ist hier nur eine klimatisch 
bedingte, nicht eine durch den Volkscharakter veranlaßte. Erst 
die Art, wie die natürlich gegebenen Elemente in bestimmte An- 
schauungs- und Ausdrucksformen eingehen, kann Gegenstand einer 
zweckvollen wissenschaftlichen Untersuchung sein. Der Grund, 
warum an Stelle dieses Problems der Form die Sammlung und 
Betrachtung des Stofflichen bis jetzt im Vordergrund gestanden 
hat, ist darin zu suchen, daß zunächst einmal die Ansicht widerlegt 
werden mußte, es habe das Mittelalter keine oder wenigstens keine 
selbständige Art des Naturgefühls gekannt. Meist ist es bei der 
Konstatierung der Tatsache geblieben. Man fand — was von vorn¬ 
herein nicht anders zu erwarten war — zahlreiche Spuren eines mit¬ 
telalterlichen Naturgefühls, begnügte sich aber damit, sie als Aus¬ 
klang des klassischen oder als Vorstufe des modernen Naturgefühls 
auf zwei große Haufen zu verteilen. 1 ) So bleibt schließlich in der 
Mitte überhaupt nichts mehr übrig. Die Eigenart des mittelalter¬ 
lichen Naturgefühls läßt sich so natürlich nicht fassen 2 ); der 
spezifische Eigenwert des mittelalterlichen Naturgefühls wird 
gerade dadurch am deutlichsten werden, daß man zeigt, wie in 
derselben Form sich ein anderer Inhalt findet; je ähnlicher die Aus¬ 
drucksform, um so auffallender der Unterschied des Inhalts. 

Es sind also zunächst die Ausdrucksformen des empfind¬ 
samen Naturgefühls festzustellen, wie sie das ausgehende Altertum 
der beginnenden christlichen Literatur zur Verfügung stellte. Be¬ 
reits innerhalb der klassischen Literatur selbst hat die parallele 

*) Das ist der Hauptfehler des älteren Werks von Biese. Das eigent¬ 
liche Mittelalter kommt hier sehr schlecht weg, nicht bloß weil B. ihm 
in seiner Darstellung zu wenig Raum gönnt, sondern vor allem, weil er 
die Quellen auch nicht annähernd ausgeschöpft hat. Demgegenüber ist 
es das Verdienst einer Arbeit von G. Stockmayer (Über Naturgefühl in 
Deutschland im 10. u. 11. Jahrhundert, Beiträge zur Kulturgesch. d. MA. 
und der Renaissance, hrsg. von Goetz, Heft 4), ein zeitlich und räumlich 
begrenztes Gebiet erschöpfend behandelt zu haben. Zuzugeben ist aller¬ 
dings, daß die räumliche Begrenzung nur aus äußeren Gründen, nicht 
aus dem Gegenstand heraus gewählt worden ist. 

*) Darüber mein demnächst bei B. G. Teubner erscheinendes Buch 
über diesen Gegenstand. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter iqj 

und antithetische Naturbetrachtung eine Entwicklung durch¬ 
gemacht. Aus einem Ausdruck echten Gefühls ist immer mehr 
eine schematisch verwendete leere Form geworden. 1 ) In der 
5. Ecloge Vergils trauert das Vieh um den Tod des Hirten Daphnis*), 
und der Acker trägt Unkraut statt der Feldfrüchte, Dornen und 
Disteln statt der Veilchen und Narzissen. 3 ) Da sich unter Daphnis 
bekanntlich Cäsar verbirgt, so haben wir hier schon ein Beispiel 
dafür, wie die nur aus einer großen Leidenschaft heraus verständ¬ 
liche empfindsame Naturbetrachtung ihres sie rechtfertigenden 
Gefühlsinhalts entleert und zur höfischen Schmeichelei für die 
Person des gefeierten Herrschers verwendet wird. Diese erst 
durch den Kaiserkultus mögliche Form 4 ) wird im ausgehenden 
Altertum ungemein häufig angewandt und auch in der eigentlichen 
Liebesdichtung wird das echte Gefühl immer mehr verdrängt durch 
verliebte Hyperbeln oder schmeichelhafte Übertreibungen der 
schlimmsten Art. Am wahrsten klingen solche Versicherungen 
noch in dem von echter Freundesliebe eingegebenen Brief des 
Ausonius an Paulinus: 5 ) 

Te sine set nullus grata vice provenit annus. 

Ver pluvium sine flore fugit, canis aestifer ardet, 

Nulla autumnales variat Pomona sapores 
Effusaque hiemem contristat Aquarius unda. 

Auch daß der Liebende der Geliebten schreibt 6 ): 

Ipsa tuos cum ferre velis per lilia gressus, 

Nullos interimes leviori pondere flores, 

mag noch hingehen. Wenn aber Claudian zur Verherrlichung 
Serenas sagt 7 ): 

Te nascente ferunt per pinguia culta humentem 
Divitiis undasse Tagum, Callaecia risit, 

Floribus et roseis formosus Duria ripis 
Vellere purpureo passim mutavit ovile — 


*) Im einzelnen s. dazu Biese, Die Entwicklung des Naturgefühls im 
Altertum; hier genügt der Hinweis auf folgende Stellen: VergilEcl. I, 38; 
VII, 53 u. 60; Ovid Am. II, 16; Her. V, 33; Art. am. III, 55. 

*) Ecl. s, 25. *)ebd. 35fr. 

4 ) Inwieweit auf die römischen Dichter hier die hellenistischen, die 
ähnliche Verhältnisse vorfanden, eingewirkt haben, mag hier ununtersucht 
bleiben. 

’ 6 ) MG. Auct. ant. V, 2, 190. *) Riese, Anthologie I, 217. 

’) MG. Auct. ant. X, 70 u. 89. 


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und Quacunque per herbam 

Reptares, fluxere rosae: candentia nasci 
Lilia. Cum placido cessissent lumina somno, 

Purpura surgebat violae factura cubile 
Gramineum vernatque tori regalis imago — 

so erscheint das durchaus gesucht und erkünstelt. Vollends 
schablonenhaft wirkt es, wenn das Nahen eines Gottes oder Herr¬ 
schers eine plötzliche Wetteränderung bewirkt. Am kürzesten ist 
das ausgesprochen in dem bekannten Distichon der Anthologie: 

Nöcte pluit tota, redeunt at mane serena, 

Commune imperium cum Iove, Caesar, agis. 

Besonders die hohle Rhetorik Claudians kann sich in diesen 
Dingen nicht leicht genug tun. 1 ) 

Die leere Form hat nun das Christentum mit religiösem In¬ 
halt erfüllt. Für den Christen gibt es nur einen Herrn der Welt, 
und auf ihn wurde alles bezogen. Vor allem freut sich die ganze 
Natur über Christi Auferstehung; das ist ein beliebter Gedanke, 
den besonders Ambrosius von Mailand gern ausgeführt hat: 2 ) 
In resurrectione Christi elementa omnia gloriantur. Nam et solem 
ipsum arbitror esse in hoc die solito clariorem. Necesse est enim, 
ut sol in eius resurrectione gaudeat, in cuius passione condoluit 
et cuius mortem lugubri quadam caligine prosecutus est, eiusdem 
vitam nitidioris lucis splendore suscipiat. 

Die Beziehung zwischen dem Neuerwachen der Blumen und 
der Auferstehung Jesu enthält eine andere Predigt des Ambro¬ 
sius: 8 ) Ergo in hortulo salvator redivivum corpus assumit et inter 
florentes arbores et candentia lilia carne iam mortua reflorescit 
et ita germinat de sepulcro, ut germinantia et nitentia cuncta 
reperiat. Sic enim post hiemalis rigoris frigidam quoddammodo 
sepulturam pullulare elementa omnia festinarunt, ut resurgente 
domino et ipsa consurgerent. Nam utique ex resurrectione Christi 
aer salubrior est, sol candidior, terra fecundior, ex eo surculus in 
fruticem, herba crescit in segetem, vinea pubescit in palmitem. 
Si igitur cum reflorescit Christi caro, omnia floribus vestiuntur, 
necesse est, ut cum idem fructum affert, etiam universafructificent. 

*) Vgl. Claud. carm. VIII, 79, Auct. ant. X; ferner Fescenninae XII ; 
CX, 184fr. 

*) Ambrosii sermo 52. ®) Sermo 62. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter jgg 

Denselben Gedanken finden wir in einem Brief des Ruricius 
(I, 5, Auct. ant. VIII, 302). So tritt an Stelle der schablonenhaften 
Wiederholung ein neues Erlebnis, an Stelle der subjektiven Auf¬ 
fassung eine objektive. Nicht Freuden und Leiden eines einzelnen 
Menschen lebt die Natur mit, sondern die großen Ereignisse der 
göttlichen Heilsgeschichte, Geburt, Tod und Auferstehung des 
Heilands. Eine Auffassung, die in dem Bericht der Evangelien 
von dem Eintritt der Sonnenfinsternis und dem Erdbeben bei 
Jesu Kreuzestod 1 ) in gewisser Hinsicht schon vorgebildet war. 
Gesucht mutet in diesem Zusammenhang eigentlich nur Pru- 
dentius an, dessen Weihnachtsgedicht sich aufs engste an Claudian 
anschließt.*) 

Quid est quod artum circulum 
Sol iam recurrens deserit? 

Christusne terris nascitur 
Qui lucis augit tramitem? 

Heu quam fugacem gratiam Sparsisse tellurem reor 

Festina volvebat dies! Rus omne densis floribus 

Quam paene subductam facem Ipsasque arenas Syrtium 
Sensim recisa exstinxerat. Fragrasse nardo etnectare. 

Te cuncta nascentem puer 
Sensere dura et barbara 
Victusque saxorum rigor 
Obduxit herbam cotibus. 

Ohne antikes Vorbild ist aber der Gedanke der ersten Strophe, 
der das Längerwerden der Tage in Parallele setzt mit der Erschei¬ 
nung dessen, der das Licht der Welt ist. Ganz ähnlich drückt sich 
auch Ambrosius in einer Weihnachtspredigt aus 8 ): Ecce in nativi- 
tate Christi dies crescit et Joannis nativitate decrescit. Profec- 
tum plane facit dies, cum mundi salvator oritur, defectum patitur, 
cum ultimus propheta generatur. Ein ähnlicher Gedanke findet 
sich in Sermo XXVI. 

Mit der Zunahme der Verehrung der Heiligen konnte es nicht 
ausbleiben, daß Ähnliches auch von ihnen erzählt wurde. Ein 
Beispiel dafür gibt Hieronymus in der Vita des h. Hilarion : 4 ) Porro 

*) Matth. 27,45 u. 52. *) Cathemerinon hymn. XI. 

*) Sermo 7 de natali Domini. 

4 ) Vita S. Hilarionis 32. 


Caelum nitescat laetius, 
Gratetur et gaudens humus: 
Scandit gradatim denuo 
Iubar priores lineas. 


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200 W. Ganzenmüller 

iam triennium erat, quod clausum caelum illas terras arefaceret, 
ut vulgo dicerent, Antonii mortem etiam elementa lugere. 

Aber die antike Form zu einem Gefäß christlicher Gedanken 
einzuschmelzen, gelang nur den Geistern, die die Flammen der 
neuen Weltanschauung stark und rein in ihrem Inneren trugen. 
Nicht bei allen war das Neue so gewaltig und allbeherrschend. 
Viele benutzten den überkommenen Schmuck der spätklassischen 
Rhetorik genau so wie die Heiden. Der christliche Bischof Apolli- 
naris Sidonius unterscheidet sich vielfach in keiner Weise von dem 
heidnischen Dichter Claudian. Noch weniger würde man nach 
dem Inhalt seiner Gedichte den Ennodius für einen Christen halten. 
Es fehlte diesen schwächeren Geistern ebensosehr die Kraft zu 
konsequenter Einseitigkeit als die zu einer organischen Verbindung 
des Alten und des Neuen. Das ist bekanntlich erst dem Venantius 
Fortunatus geglückt. 1 ) Die innigen Verse, die er beim Tod ihrer 
Söhne an Chilperich und Fredegunde richtet, enthalten beide Ele¬ 
mente: den empfindsamen Naturparallelismus und den religiösen. 
Auf Sturm und trüben Nebel, auf harten Winter und traurige Kälte 
folgt wieder die Frühlingszeit. Die Flur schmückt sich aufs neue 
mit duftenden Blumen, und jeder Hain grünt mit blattreichen 
Zweigen. So soll auch das Königspaar nach dem Schmerz über 

seinen Verlust sich wieder freuen: 

Sic quoque vos domini post tristia damna dolentes 
Vos meliore animo laetificate, precor. 

Ecce dies placidi revocant paschalia Christi, 

Orbs quoque totus item per nova vota fremit. *) 

Noch ausführlichere Beschreibung und seinem besonderen Zweck 
entsprechend noch stärkeren Hinweis auf die Teilnahme der Natur 

an der Auferstehung des Heilands gibt das Gedicht an Bischof Felix*): 
Ecce renascentis testatur gratia mundi 
Omnia cum domino dona redisse suo. 

Namque triumphanti post tristia Tartara Christo 
Undique fronde nemus, gramina flore favent. 

Salve, festa dies, toto venerabilis aevo, 

*) Siehe über ihn Leo in der Deutsch. Rundschau 1882 und beson¬ 
ders den wertvollen Aufsatz von W. Meyer aus Speyer, Abhdlg. d. Gött. 
Ak. d. W., Phil.-hist. Kl., N. F. 4,1901, S. 37 ff. *) Carm. IX, 3. 

*) Carm. III, 9. Auf die Parallele Osterfest «* Freude der Natur hat 
zu diesem Gedicht schon Ebert hingewiesen. Gesch. d. christl. Lit. I, S. 529. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 201 

Hinc tibi silva comis plaudit, hinc campus aristis, 

Hinc grates tacito palmite vitis agit. 

Si tibi nunc avium resonet virgulta susurro, 

Hos inter minimus passer amore cano. 

Der hübsche Schlußgedanke, daß der Dichter unter den Vögeln 
selbst mitsingt, als der geringste, der Sperling, ist ebenfalls spezi¬ 
fisch christlich. Im Anschluß an die Worte des Psalmisten (101,8 
der Vulgata) galt der Sperling als der Typus des Niedrigen und 
Bescheidenen. Auch Alcuin nennt sich so in dem auch sonst be¬ 
merkenswerten Briefe an Adalhard von Corbie. 1 ) Daß die Blumen 
sich an Christi Auferstehung mitfreuen, spricht Venantius auch in 
einem Gedicht an Radegunde aus.*) 

Aber auch die antike Art des Naturempfindens hat Fortunatus 
übernommen und weitergebildet. So schreibt er an Bischof Felix 
über die Gegend von Nantes: 3 ) 

Hinc ubi Humen aquis recreat, hinc pampinus umbris 

Et crepitans boreas pineta comata flagellat: 

Uber nempe solum, piscoso litore pulchrum, 

Sed Fortunato fades tua reddit amoenum. 

Ob aus diesen Zeilen echtes Gefühl spricht oder ob sie bloß eine 
hergebrachte Floskel wiederholen, läßt sich natürlich nicht ent¬ 
scheiden. Echtes persönliches Erlebnis spricht dagegen aus den 
Gedichten an Radegunde und Agnes. Nichts ist bezeichnender 
nicht allein für das Verhältnis dieser drei Menschen, sondern 
für die ganze Zeitrichtung. In eigenartiger Weise mischen sich 
hier Galanterie und Religion. Wohl finden sich kleine Grüße, 
die nur bestimmt sind, einen Veilchenstrauß mit ein paar hübschen 
Worten zu begleiten 4 ), oder solche, die den Dank enthalten für 
die Übersendung einer hübsch hergerichteten Leckerei, aber häufig 
enthalten diese Xenien doch irgendeine religiöse Anspielung. 
So sagt er im Hinblick auf eine überreich mit Lilien und Rosen ge¬ 
schmückte Tafel: 

Ubertas florum tanta est, ut flore sereno 
Mollea sub tectis prata virere putes. 

Si fugitiva placent, quae tarn cito lapsa recedunt, 

Invitent epulae nos, paradise, tuae.®) 

*) MG. Epist. IV, 299. 

*) Carm. VIII, 7. Das Gedicht ist auch sonst bemerkenswert als Be¬ 
weis der Vorliebe des Dichters für die Blumen. 

*) Carm. V, 7. *) Carm. VIII, 6. ®) Carm. XI, 11. 


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Ganz besonders aber liebt er die Antithese: ohne die geliebte 
und verehrte Frau wird der Tag zur Nacht, ihre Wiederkehr 
bringt das strahlende Licht wieder. So schreibt er an Radegunde, 
als sie sich zur Erfüllung eines Gelübdes kurz vor Ostern zurück¬ 
zieht: 

Annua vota colens hodie claudenda recurris: 

Errabunt animi te repetendo mei, 

Lumina quam citius nostris abscondis ocellis! 

Nam sine te nimium nube premente gravor 

Hoc precor, incolumem referant te gaudia Paschae, 

Et nobis pariter lux geminata redit 1 ) 

Den letzten Gedanken, daß die Freude über das Osterfest für ihn 
noch eine besondere Note erhält durch das Wiedersehen mit Rade¬ 
gunde, führt er dann bei ihrer Rückkehr in einem anderen Gedicht 
aus, dessen jubelnde Töne noch heute unmittelbar zum Herzen 
sprechen und keinen Zweifel darüber lassen, daß die herkömmlichen 
Antithesen für ihn viel mehr als ein konventionelles Spiel sind. 

Unde mihi rediit radianti lumine vultus, 

Quae nimis absentem te tenuere morae? 

Abstuleras mecum, revocas mea gaudia tecum 
Paschalemque facis bis celebrare diem ... . f ) 

Fortunatus kann sich nicht genug tun in der Wiederholung dieser 
Parallelen; ohne Freundin kennt er keine Freude an der Natur. 3 ) 

Quo sine me mea lux oculis errantibus abdit 
Nec patitur visu se reserare meo? 

Omnia conspicuo simul: aethera, flumina, terram; 

Cum te non video, sunt mihi cuncta parum. 

Quamvis sit caelum nebula fugiente serenum, 

Te celante mihi stat sine sole dies. 

Ein andermal schreibt er an Agnes: 4 ) 

Cui non sufficiant haec tempora longa quietis, 

Cum prope nox teneat quot duplicata dies? 

Nubila cuncta tegunt, nec luna nec astra videntur; 

Si sis laeta animo, me nebulae fugiunt. 

So ist es Fortunatus gelungen, die bereits zur nichtssagenden 
Formel gewordene Naturparallele wieder mit Leben zu erfüllen. 
Daß er das konnte, verdankt er neben seiner eigenen empfindsamen 

*) VIII, 9. •) VIII, io. 

8 ) Carm. XI, 2. 

4 ) Carm. XI, 5, und derselbe Gedanke XI, 21. 


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II 




Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


203 


Geistesrichtung vor allem dem Einfluß einer für ihre Zeit selten 
feinsinnigen Frauenseele. Der Verkehr mit Agnes und Rade¬ 
gunde hat ihm das Verständnis eröffnet für weibliches Empfinden. 
Es unterliegt deshalb auch keinem Bedenken, ihm das Gedicht 
De virginitate zuzusprechen, in dem er die Seelenbraut Christi 
klagen läßt: 1 ) 

Nunc sine te fuscis graviter nox occupat alis 
Ipsaque sole micans est mihi caeca dies. 

Lilia narcissus violae rosa nardus amomum 
Oblectant animos germina nulla meos. 

Ut te conspiciam, per singula nubila pendo 
Et vaga per nebulas lumina ducit amor. 

Ecce procellosos suspecta interrogo ventos, 

Quid mihi de domino nuntiet aura meo. 

Man möchte geradezu vermuten, daß die überaus starke Ausbil¬ 
dung empfindsamer Naturbetrachtung auf den weiblichen Ein¬ 
fluß zurückzuführen ist. Mindestens aber muß man zugeben, 
daß sein Verhältnis zu Radegunde es war, das die auch von anderen 
gebrauchte Form bei ihm mit lebendigem Inhalt erfüllte. 

Mit Venantius Fortunatus bricht die Entwicklung auf dem 
Festland ab, um erst in der Karolingerzeit sich fortzusetzen. 
In den mir allein (und auch nur unvollständig) zugänglichen latei¬ 
nischen Schriften der Iren findet sich der besondere christliche 
Naturparallelismus nirgends. Dagegen ist ihre Literatur in der 
Vulgärsprache voll innigen Naturempfindens.*) Wieweit diese auf 
andere Literaturen eingewirkt hat, wäre eine interessante Frage für 
Kenner der keltischen Sprachen. 

Die wiederauflebende karolingische Literatur knüpft sowohl 
an die Alten als auch an Venantius Fortunatus an.. Bei Paulinus 
von Aquileia finden wir zwei Gedichte, die die christliche Auffas¬ 
sung zeigen, eines auf Ostern und eines auf Weihnachten. 8 ) Na¬ 
mentlich bei Sedulius nimmt der Naturparallelismus einen breiten 
Raum ein. 4 ) 

Haec est alma dies, sanctarum sancta dierum, 

Veris pulcher honos signiferique decus. 

Hic est namque dies dominus quem fecit lesus, 

In quo laetatur cosmicus orbis ovans. 

*) Carm. VIII, 3, 335 ff- 

*) Vgl. Kuno Meyer, Ancient Irish Poetry. 

*) MGP. 1 ,137 u. 144, 4 ) De Paschali festivitate. MGP. III, 218- 


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204 W. Ganzenmüller 

Nun folgt eine Aufzählung der Gestirne, die sich mit freuen, dann 
heißt es weiter: 

Tellus florigeris turgescit germine bulbis 
Floribus et pictum gaudet habere peplum. 

Nunc variae volucres permulcent aethera cantu, 

Produnt organulis celsa trophea novis, 

Exultant caeli, laetatur terreus orbis 
Nunc alleluia centuplicatque tonos. 

Ein Landsmann und Zeitgenosse des Sedulius hat denselben 
Gedanken in einer sapphischen Ode ausgesprochen. 1 ) Ein drittes, 
an den Erzbischof Tado von Mailand gerichtetes Gedicht lehnt sich 
teils an das Ostergedicht des Sedulius, teils an das desVenantius 
Fortunatus an. 2 ) Auch die Vita Willibaldi enthält einen Hinweis 
auf Frühlingskeime und Osterzeit. 3 ) Ein Weihnachtslied des 
Sedulius beginnt mit den Worten: 

Tempus adest niveum sincera luce coruscum 
Quo dominus natus: tempus adest niveum. 

Nos igitur nivei sincera mente micemus, 

O fratres, simus nos igitur nivei. 4 ) 

In der Karolingerzeit finden wir auch zum erstenmal den Herbst 
in diese christlich-empfindsame Naturauffassung hineingezogen. 
Hrabanus Maurus fühlt sich durch die Melancholie des Herbstes 
an die Vergänglichkeit des Irdischen gemahnt; nur die Liebe 
Christi bleibt immer und überall. 6 ) Und allgemeiner gefaßt findet 
sich diese Auffassung schon bei Alcuin 6 ) und dem Verfasser der 
Vita b. Leudegarii : 7 ) die Natur bietet uns im Wechsel der Jahres¬ 
zeiten und des Wetters ein Bild der Vergänglichkeit. 

Daneben lebt aber auch die Tradition der höfischen Gelegen¬ 
heitsdichtung, weiter, wie sie ebenfalls bei Venantius vertreten ist. 
Eine besonders wichtige Gelegenheit*war natürlich der Besuch des 
Herrschers in einem Kloster. Ein beliebter Gedanke in diesen 
Begrüßungshymnen war der, die Ankunft des Gefeierten bringe 
den Frühling mit, die Gestirne erstrahlen jetzt in besonderer Hel- 

*) ebd. S. 232. *) ebd. S. 233. 

*) Interea dum illa frigida frugalisque hiems transiendo praeteriit ver- 
naleque iam incumbendo instaret germen et paschale per totum mun- 
dum fulgendo irradiaret tempus, ibi vitam ducebant. Mab. III, 2, 33 6. 

4 ) ad Hartgarium XI, MGP. III, 179. 

*) MGP. II, 168 u. 193. •) MGP. 1,229. 

7 ) MGP. III, 6. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


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ligkeit. 1 ) Ähnlich setzt Sedulius Scottus die Trauer zur Winters¬ 
zeit mit der Abwesenheit, die Frühlingsfreude mit der Wiederkehr 
seines Gönners Hartgar in Beziehung. 2 ) Gerade bei Sedulius 
findet sich solches häufig; seine beschränkten Verhältnisse veran- 
laßten ihn, wie später so manchen der sog. Schulpoeten des 12. 
und 13. Jahrhunderts oder wie manchen Humanisten, in mehr 
oder weniger eleganten Versen seinen verschiedenen Gönnern 
mehr oder weniger geschmackvolle Schmeicheleien zu sagen. 
Da es sich also, schroff ausgedrückt, um Bettelbriefe handelt, 
so können wir nicht erwarten, in solchen Arbeiten, die das Bedürf¬ 
nis gezeugt und die Routine zur Welt gebracht hat, einen echten 
Herzenston zu finden. Übrigens findet sich auch die antithetische 
Ausdrucksweise. Trotz der Ankunft des Frühlings herrscht Trauer, 
da Hartgar abwesend ist. 8 ) Ja, es gibt ein Gedicht an Hartgar, 
das man geradezu als eine Parodie dieses vielgebrauchten Natur¬ 
eingangs ansehen möchte: 4 ) 

Nunc viridant segetes, nunc florent germine campi, 

Nunc turgent vites, nunc est pulcherrimus annus, 

Nunc pictae volucres permulcent aethera cantu, 

Nunc mare, nunc tellus, nunc caeli sidera rident. 

Ast nos tristifices perturbat potio sucis . . . 

(denn es fehle Met und Wein). 

Wenn schon einem gewöhnlichen Sterblichen die Schmeichelei 
nachzurühmen wußte, daß seine Ankunft eine günstige Änderung 
des Wetters herbeiführe, wieviel mehr mußte man das von einem 
Heiligen erwarten. So wird in der Vita Haimrhamni erzählt, 
wie die Überführung des heiligen Leichnams nach der Stadt einem 
verderblichen Regenwetter Einhalt tut. 8 ) Noch deutlicher äußert 
sich die Vita Aridii: 6 ) 

Quodam tempore cum ad maturitatem se segetes aristis ar- 
massent et iam se adgravatae meti poscerent a cultore, inormitas 
erupit pluviae, ne quisquam fruges colligeret, ut in suis spicis 
grana lactantia germinarent. Interea suggeritur ipsi a populo; 

*) Walahfridi carmen in adventum Hlotharii, MGP. II, 405; Sedulius 
an denselben, MGP. III, 216, LXVIII — LX; ferner Sed. carm. II, LXV, 
LXVI, LXX; ferner Notker und Radpert, MGP IV, 324. 

*) MGP. III, 172, ad Hartg. VII ») ad Hartg. VI, 17. 

4 ) ebd. 211. 6 ) SS. rer. Mer. IV, 505. 

•) SS. rer. Mer. III, 587. 


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facit vigilias intercessor. (Am folgenden Tag werden in feierlicher 
Prozession die Reliquien umhergetragen.) Subito nubes escissae 
sunt, sol in claritate reducitur, serenitas caeli mundo redditur, 
ad opera cultor trahitur et ad manipulos colligendos messor fru- 
gibus invitatur. Wohl mag ein zufälliges Zusammentreffen in 
dem einen oder anderen Falle zu dem Wunderglauben Veranlassung 
gegeben haben; im allgemeinen haben wir in diesem besonders bei 
Translationen massenweise angeführten Parallelismus das geist¬ 
liche Gegenstück zu der oben angeführten konventionellen Höflich¬ 
keit gegen hochgestellte Personen zu erblicken. 

Aber auch hier finden wir echten Ausdruck persönlichen Emp¬ 
findens überall da, wo ein Ereignis den Menschen wirklich in seinen 
Tiefen aufwühlt. Die Liebe ist es allerdings nicht gewesen, die 
wie bei Venantius Fortunatus das Empfinden warm und echt er¬ 
hielt. Wohl hat sie am Hof Karls des Großen keine kleine Rolle 
gespielt; aber begreiflicherweise haben Angilbert und andere 
diesen Empfindungen nicht öffentlich Ausdruck gegeben. War 
den Dichtern dieses Gebiet verschlossen, so zeigten sie doch, 
daß sie dem Schmerz ergreifenden Ausdruck zu verleihen wußten. 
So läßt Sedulius alle Gestirne sich verdunkeln und die Luft Regen¬ 
güsse herabweinen im Schmerz um den Tod des Bischofs Hartgar. 1 ) 
So fordert Florus von Lyon Berge und Hügel, Wälder, Flüsse und 
Quellen auf, zu trauern über das Volk der Franken, das jetzt so 
tief im Staub liegt. 2 ) Am tiefsten empfunden ist das Klagelied 
des Paulin von Aquileia auf den Tod des Markgrafen Erich von 
Friaul. Die Anklänge an Vergil 8 ) und die Bibel 4 ) tun der Echtheit 
dieses Gefühls keinen Eintrag. 6 ) 

So zeigt die karolingische Literatur einen eigentümlichen 
Mischcharakter, christliche und antike Elemente gehen eine innige 
Vereinigung ein, so jedoch, daß der christliche Grundcharakter 
das Beherrschende bleibt. Würde man die Untersuchung über das 
Naturgefühl in seinem ganzen Umfang führen, so käme man keines¬ 
wegs zu der Ansicht, daß den Menschen jener Tage der Zauber eines 
schönen Sonnenauf- und -Untergangs nicht zu Bewußtsein gekommen 

') MGP. III, 184. 

*) MGP. II, 559. *) Aen. VII, 759. *) 2. Sam. I, 21 ff. 

5 ) MGP. 1 ,132. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


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zu sein scheine, oder daß man nicht versucht habe, „die gegebene 
Landschaft mit den ihr gehörigen Eigentümlichkeiten zu beschreiben, 
offenbar weil man nicht imstande war, sie von der bildmäßigen 
Seite aufzufassen, daß man vielmehr auch das Besondere mit 
viel allgemeiner Schönheit ausstattete und sich begnügte, es zur 
Ideallandschaft zu erheben.“ 1 ) Vielmehr würde man ein Natur* 
gefühl entdecken, dessen Eigenart durchaus christlich ist. Es wäre 
nicht schwierig, nachzuweisen, daß die gesamte Natur in all ihren 
Einzelvorgängen einer symbolischen Betrachtungsweise unter¬ 
worfen wurde. Tag und Nacht sind Sinnbilder der guten und 
bösen Macht, genau wie bei den frühchristlichen Dichtern, etwa 
Prudentius und Ambrosius. Der Frühling mahnt an die Aufer¬ 
stehung des Herrn, der Wechsel der Jahreszeiten weist auf die Ver¬ 
gänglichkeit alles Irdischen. Auch Tiere (man denke nur an den 
Physiologus) und Pflanzen unterliegen dieser Betrachtung, kurz, 
die ganze Natur ist Ausdrucksmittel der Gottheit. 

Diesem durch und durch christlichen Inhalt gegenüber will 
es wenig besagen, daß die Ausdrucksform mit Vorliebe dem klas¬ 
sischen Altertum entlehnt wird. Man hat oft und viel von der karo¬ 
lingischen „Renaissance“ gesprochen. Wenn der Ausdruck über¬ 
haupt berechtigt ist, so ist er es nur in formalem Sinne. In der 
Übernahme der formalen Elemente ging man allerdings sehr weit, 
und sonderbar genug nimmt es sich aus, daß man nicht nur Boreas 
und Zephyr, sondern auch Phoebus und Aurora, ja sogar Juppiter 
oder Tonans sagt. Aber das alles war doch nur ein modischer 
Schmuck der Rede, weiter nichts. Vom Geist des Altertums blieb 
man gänzlich unberührt. 

Diese Mischung von Heidnischem und Christlichem zeigt sich 
im besonderen auch in der empfindsamen Naturbetrachtung, 
die gerade in der Karolingerzeit einen breiten Raum einnimmt. 
Neben unmittelbarer Übernahme der dem Altertum geläufigen 
parallelen oder antithetischen Auffassung der Natur in ihrem Ver¬ 
hältnis zum Menschen steht die nur mittelbar auf die Antike, un¬ 
mittelbar auf die Kirchenväter zurückgehende Wendung dieses 
Gefühls ins Religiöse. An die Stelle des gefeierten weltlichen 

x ) Siehe Lauffer, Das Landschaftsbild Deutschlands zur Zeit der 
Karolinger S. 101. 


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Herrschers treten Christus und die Heiligen. Aus der höfischen 
oder galanten Hyperbel wird ein Wunder. 

Auch im io. Jahrhundert bleibt die Art des Naturgefühls 
noch dieselbe. Aber es macht sich doch die neu auftretende Reli¬ 
giosität bemerkbar, die zu einem stärkeren Betonen der Askese 
und einer energischeren Abkehr von der Welt führt. Ganz unter¬ 
drücken ließ sich die antik-rhetorische Auffassung freilich nicht. 
Wir finden sie an der Grenze dieser und der vorigen Periode in 
St. Gallen und auch sonst, z. B. in einem Gedicht auf Heinrich IV. 1 ), 
aber im ganzen tritt sie doch auffällig zurück hinter der christlichen 
Auffassung. In zahlreichen Viten und Translationen wird die 
Anteilnahme der Natur an der Person des Heiligen bezeugt.*) 
Auch daß mitten im Winter Blumen hervorsprießen, wird nicht 
nur wie bei Prudentius anläßlich der Geburt des Heilands, sondern 
selbst bei der Translation von Heiligen erzählt 8 ), ein auffälliges 
Zeichen für das Überhandnehmen des Heiligenkults. 

Die herkömmliche Beziehung des Frühlings auf die Auferste¬ 
hung findet sich häufig, so bei Eckehards IV. Liber benedictio- 
num. 4 ) Hier findet sich auch der Gedanke wieder, daß der irdische 
Frühling den himmlischen andeutet. Ganz besonders aus der Stim¬ 
mung des Augenblicks heraus scheint eine Stelle der V. S. Augu- 
stini Cantuariensis episcopi geschrieben. Der Verfasser derselben, 
der Mönch Goscelin, sagt nämlich: Sed dum ista scribimus, 
hoc maritimum Elysium (gemeint ist natürlich England) revires- 
cente mundo floruit et inter Paschalia floreta splendidi Augu- 
stini sidereo natalitio instante, omni decore arisit. 6 ) Hier scheint 
wirklich der Verfasser während des Schreibens unter dem Ein¬ 
druck des allgemeinen Blühens gestanden zu haben; zugleich weiß 
er die österlichen Blütengärten mit dem himmlischen Geburtstag 

*) Sitzgsber. d. Münch. Ak. d. W., Phil.-hist. Kl., 1882, II, 3. 

*) Vgl. z. B. Transl. Sanctae Kunegundis, Migne 137, 164 oder V. S. 
Bertulfi, Mabillon III, 1,154. 

*) So Illatio S. Benedicti auct. Diederico Amorbac., Mab. IV, 2, 366; 
ähnlich, aber kürzer in der Transl. S. Martini, die Odo von Clugny zuge¬ 
schrieben wird. 

4 ) Siehe Egli, Der über benedictionum Ekkehards IV. 142 u. 1C0. 

*) Mab. 1,491, cap. 3. Der „himmlische Geburtstag", der Tag der 
Translation des Heiligen, fällt auf den 26. Mai. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


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des Heiligen fein in Beziehung zu setzen, so daß sich eine Huldigung 
zugleich für Christus und den Heiligen ergibt. 

Neben diese herkömmliche Art tritt aber nun im II. Jahrhun¬ 
dert zum erstenmal etwas ganz Neues, der Ausdruck persönlicher 
Empfindung im weltlichen Liebeslied. Die reiche Vagantenlitera¬ 
tur des 12. und 13. Jahrhunderts hat ihre Vorläufer schon im 11. 
Hierher gehören vor allem die Lieder der Cambridger Handschrift. 
Der Gegensatz zu allen früheren mittelalterlichen Erzeugnissen 
ist ein doppelter: weltliche sinnliche Liebe tritt an Stelle des reli¬ 
giösen Gefühls, und der Ausdruck dieses Gefühls ist ganz persönlich. 
In allen früheren Gedichten wird die Natur in Parallele mit dem 
allgemeinen Empfinden gesetzt: etwa bei Florus von Lyon trauert 
die Natur über den Fall der Franken, worüber alle trauern, nicht 
bloß der Dichter. Hier aber haben wir zum erstenmal die Beziehung 
auf das eigene Gefühl: „exaudi et considera frondes, flores et 
gramina, nam mea languet anima“, schließt eines der Cambiidger 
Lieder. 1 ) 

Auch das von Kögel ergänzte Gespräch zwischen Kleriker und 
Nonne enthält diese Beziehung*): 

Suavissima nunna, coro miner minna 

Tempus adest floridum, gruonet gras in erthun etc. 

Finden wir hier überall die Parallelität, so ist die Antithese aus¬ 
gesprochen in einem anderen dieser Gedichte, in dem der Dichter 
erklärt, wer sich der Umarmung der Geliebten erfreut, für den sei 
es Frühling mitten im Winter: 

Ambrosie flores violeque crocique recentes . 

Vemaque cum teneris lilia mixta rosis 

Non tantum forma nec odore placere videntur, 

Quantum, Flora, michi suavia dando places. 

Quamvis bruma gelu labentia flumina sistat, 

Affluit hic vemis undique deliciis.*) 

Nicht nur der Name Flora, auch die ganze Art, wie in Worten, 
in denen der Liebesgenuß noch nachzittert, die sinnliche Seite 
der Liebe ausgemalt ist, läßt dieses Gedicht des II. Jahrhunderts 
als ein echtes Erzeugnis der Vagantenlyrik erscheinen. 

‘) ZfdA. XIV, S.491. 

*) Kögel, Gesch. d. deutsch. Lit. bis z. Ausgang des MA. I, 2, S. 137. 

*) NA. XVII, S. 374. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 14 


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2X0 W. Ganzenmüller 

So beginnt denn bereits im il. Jahrhundert der Kreis sich zu 
schließen, in dem die Entwicklung der empfindsamen Naturbetrach¬ 
tung sich bewegt: was bei Claudian und anderen Schriftstellern 
des späteren Altertums zur leeren Form geworden war, das wurde 
von den ersten christlichen Dichtern wie Prudentius übernommen 
und mit christlichem Geist erfüllt. Dieser verchristlichte Natur¬ 
parallelismus durchfließt als ein starker Strom die gesamte christ¬ 
liche Literatur; daneben rieselt, zum schmalen Bach eingetrocknet, 
die rhetorische antike Auffassung. Bei Venantius Fortunatus 
erhält sie einen Zufluß, der aus seinem Freundschaftsverhältnis 
zu einer edlen Frau quillt. Auch manchem karolingischen Dichter 
sprudelt der lebendige Quell eigenen Erlebens. Doch tritt die nicht 
religiös durchtränkte Auffassung immer mehr zurück, je mehr im 
IO. Jahrhundert die große Reformbewegung die antiken Vorbilder 
verdächtig macht. Aber auch diesmal war der Sieg des Mönch¬ 
tums über die Welt nur ein Scheinsieg: vom Kloster war im io. Jahr¬ 
hundert die Erneuerung des religiösen Lebens ausgegangen; im 
Kloster erklangen im II. Jahrhundert die ersten Liebeslieder der 
mittelalterlichen Literatur. 

Aus ihnen spricht zum erstenmal ein subjektives, aus der 
augenblicklichen Stimmung heraus geborenes Verhältnis zur 
Natur. Der Einzelne kommt mit seinen Freuden und Schmerzen 
zum Wort, während bisher ein objektives, auf der religiösen An¬ 
schauung beruhendes Gefühl zum Ausdruck kam. Das neue sub¬ 
jektive Naturgefühl benutzt vielfach die Formen des Altertums; 
aber was dort nicht viel mehr als eine herkömmliche Phrase war, 
das wird nun wieder zurückverpflanzt auf den Mutterboden 
echten Gefühls, und sofort zeigt sich frisch grünendes Leben. 

Die meisten Vagantenlieder zeigen im Eingang die Natur¬ 
parallele oder Antithese in bezug auf den Frühling 1 ): das Gefühl 
des Dichters steht im Einklang oder Gegensatz zu der Frühlings¬ 
freude in der Natur. Seltener findet sich das Gegenstück dazu, 
parallele oder antithetische Beziehung auf den Winter. 2 ) 

>) Vgl. Carm. bur. 33, 41, 44, 46, 47, 53 — 55 . “4. “6, n8, 

121, 123, ferner in der von Meyer aus Speyer hrsg. Arundelsammlung 
Nr. r, 2, 5, 7, 9,12,15,16, Abhdlg. d. Gott. Ges. d. W., Phil.-hist. Kl., N. F. XI. 

*) Carm. bur. 42 u. 56, bzw. 95 und Arundel Nr. 6. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


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Wie die Lieder im ganzen durchaus nicht gleichwertig sind, so 
zeigen auch die Natureingänge alle Abstufungen, die zwischen 
konventioneller Mache und eigenem Empfinden möglich sind; 
der eine bietet den ganzen Olymp auf und bevölkert die Landschaft 
mit Najaden und Dryaden, der andere sagt schlicht und ergreifend, 
was er empfindet. Bei einigen hat das Ich des Dichters sich noch 
nicht von seiner Umgebung losgelöst, nur in allgemeinen Ausdrücken 
ist von Scharen der Jünglinge und Jungfrauen die Rede 1 ), in 
anderen spricht sich aber Hoffnung und Schmerz in ganz persön¬ 
lichen Worten aus. Manche huldigen einer oft allzu breiten Be¬ 
schreibung mit Anführung vieler Einzelzüge, andere geben über¬ 
haupt keine Beschreibung mehr, sondern lassen Landschaft und 
Stimmung ineinanderspielen.*) Und gerade einige der Feinsten 
geben überhaupt keinen Natureingang. 8 ) 

Neben dem Kreis der Vaganten steht aber noch ein zweiter, 
der sich manchmal mit ihm schneidet. Es sind das die Dichter, 
die K. Francke mit einem glücklichen Ausdruck als Schulpoeten 
bezeichnet hat. 4 ) Ihre Stellung zur Natur zeigt ebenfalls ausge¬ 
sprochen subjektive Züge. Zunächst fällt allerdings die herkömm¬ 
liche Naturparallele besonders auf. Ihre Stellung veranlaßt sie 
häufig, sich der uns nun längst bekannten Form des Naturparallelis¬ 
mus zu Schmeicheleien zu bedienen; am weitesten geht wohl Petrus 
de Ebulo: die Herrschaft des Kaisers, den er geradezu als Gott 
feiert, leitet das goldene Zeitalter ein und macht die Erde zum Pa¬ 
radies. 5 ) Aber auch bei Gaufrid Vinesauf 8 ), im Ligurinus 7 ) und 
besonders bei Alanus 8 ) ließen sich eine Menge Beispiele finden. 
Wichtiger aber als diese herkömmliche Form ist es, wenn Johann 
von Salisbury schreibt: ex quo partes attigi cismarinas, visus 
sum mihi sensisse lenioris aurae temperiem, et detumescentibus 


*) Carm.bur. 53, i; 98,4; 114,3 

*) Am besten Carm. bur. 37 u. 162; vgl. dazu W. Meyer in der Fest¬ 
schrift z. Jub. d. Königl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen S. 24. 

*) Besonders Arundel Nr. 3 u. 14. 

4 ) Zur Geschichte der lat Schulpoesie im XII. und XIII. Jahrhundert. 
e ) Liber in honorem Augusti 111 , 1467. 

6 ) Iter Hierosol. III, 2. 

’) Guntheri Ligurinus IV, 1; II, 211—218; IV, 221 usw. 

8 ) Alani de Planctu Naturae ed C de Visch. 

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proceilis tempestatum cum gaudio miratus sum rerum ubique 
copiam quietemque et laetitiam populorum. 1 ) 

Hier sieht man deutlich, wie die trübe Stimmung, die den 
Schreiber infolge der widrigen Verhältnisse in England noch be¬ 
herrscht hat, von ihm abfällt und er in Frankreich nun alles in 
sonnigem Licht erblickt, wie er also unbewußt seine innere Stim¬ 
mung in die Natur hinausprojiziert. 

Und schließlich findet sich im 12. Jahrhundert auch zum ersten¬ 
mal ein anderer Zug der empfindsamen Naturbetrachtung: im 
Gegensatz zur Unruhe der städtischen Kultur sucht man in der 
-Natur in echt sentimentaler Weise Friede und Erholung, Samm¬ 
lung, um zum Genuß des eigenen Ich zu kommen. Am deutlichsten 
spricht das aus dem Marbod von Rennes zugeschriebenen Ge¬ 
dichte*): 

Rus habet in silva patruus meus, hic mihi saepe 
Mos est abjectis curarum sordibus et quae 
Excruciant hominem, secedere ruris amoena. 

Herba virens et silva silens et Spiritus aurae 
Lenis et festivus et fons in gramine vivus 
Defessam mentem recreant et me mihi reddunt, 

Et faciunt in me consistere: nam quis in urbe 
Sollicita et variis fervente tumultibus exstat, 

Qui non extra se rapiatur? 

Man setze dieses Naturgefühl nicht dem religiösen der früheren 
Jahrhunderte gleich. Gewiß wird uns oft genug erzählt, daß der 
oder jener Einsiedler durch die Einsamkeit — und manchmal auch 
durch die Schönheit eines Ortes bestimmt worden sei, sich dort 
anzusiedeln. 3 ) Aber auch da, wo nicht bloß die Einsamkeit ohne 
Rücksicht auf die Schönheit aufgesucht wurde, als Mittel der 
Askese, auch da, wo die Schönheit für die Wahl des Ortes wirklich 
maßgebend war, handelt es sich immer um religiöse Werte: „um 
Gott zu dienen“, oder so ähnlich heißt es stets in den Quellen. 

Hier aber — me mihi reddunt. Welcher Abstand von dem Natur¬ 
erlebnis etwa eines Bernhard von Clairvaux. Freilich meint er auch, 

*) Ad Thomam episc. Cant. ep. 134 ed. Wright. 

*) Migne 171,1665. Vgl. zu seiner Autorschaft auch H. Böhmer, Der 
sog. Serlo von Bayeux und die ihm zugeschriebenen Gedichte, N A. XXII, 
S. 710. 

*; So Petrus Damiani von Romuald. Migne 144, 955. Beispiele für 
Deutschland aus dem 10. und 11. Jahrhundert s. Stockmayer S. 63 ff. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 2 13 

daß Wald und Stein etwas lehren, was man von seinen Lehrern 
nicht hören kann. Aber die Waldeinsamkeit soll zu Gott führen. 
Gott in der Natur zu erkennen: das war das Bestreben Bernhards 
und der Mystiker von St. Viktor. Nun aber ist es nicht mehr Gott, 
sondern das eigene Selbst, was man in der Natur sucht. 

Sucht — oder vergessen will. Mit dem Rückgang der tieferen 
Religiosität in gewissen geistlichen Kreisen hängt es zusammen, daß 
man Trost und Vergessenheit nicht mehr in der Religion, sondern im 
Naturgenuß sucht. So findet sich ein aus dem Ende des 13. Jahr¬ 
hunderts stammendes Gedicht an Abt Robert von Ebersberg, 
das diesen durch eine (stark mythologisch aufgeputzte) Frühlings¬ 
schilderung in Krankheit und Sorgen trösten soll. 1 ) Noch wichtiger 
ist die Controversia hominis et Fortunae*) des Heinrich von Mai¬ 
land, auf die in diesem Zusammenhang Francke bereits hingewiesen 
hat. Wenn Fortuna dem unzufriedenen Menschen die Natur in ihrer 
allumfassenden Größe vor Augen stellt, so kann das nur bedeuten, 
daß der Mensch sein eigenes kleines Ich mit seinen Schmerzen 
und Widerwärtigkeiten vergessen soll im Hinblick auf das große 
Ganze der Natur. 

So gelangt auch in dieser Beziehung das Naturgefühl zu seinem 
Ausgangspunkt im Altertum zurück. Wie im Altertum entsteht 
wieder eine empfindsame, man könnte auch sagen pessimistisch¬ 
subjektive Betrachtungsweise der Natur. Nur darf man nicht 
meinen, daß sie schon im 12. und 13. Jahrhundert die allgemein 
herrschende geworden wäre. Selbstverständlich blieb die spezifisch 
christliche, objektive und optimistische Anschauung herrschend 
sowohl für die wenigen, die in ihrer religiösen Auffassung durch 
eigenes Denken gefestigt waren, als für die vielen, die mangels eige¬ 
nen Denkens die herkömmliche kirchliche Überlieferung beibehiel¬ 
ten. Es fällt auf, daß gerade die bedeutendsten Vertreter der reli¬ 
giösen Auffassung die empfindsame Naturbetrachtung vermissen 
lassen. So spricht Bernhard von Clairvaux in keiner einzigen Pre¬ 
digt von der Mitfreude der Natur am Osterfest, während Abälard 
den Gedanken in einem Hymnus ausspinnt. 8 ) So ist insbesondere 


*) NA. II, S. 391. *) Lib. II ed. Cyprianus de Popuna. 

s ) Migne 178, 1495. 


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214 

Franz von Assisi ganz frei von dieser Anschauung. Die Innigkeit 
seines Naturgefühls hat immer wieder dazu verleitet, in ihm einen 
Vorläufer, wenn nicht gar den Vorläufer der Renaissance und da¬ 
mit der Moderne zu sehen. Tatsächlich ist er der höchste Gipfel 
der mittelalterlichen Frömmigkeit. An keiner einzigen Stelle 
tritt sein Ich hervor, vielmehr liebt er die Natur eben als Schöp¬ 
fung und Offenbarung Gottes. 1 ) Auch für den Ausschnitt, den 
wir hier betrachten, gilt, daß die Renaissance nicht auf die großen 
Heiligen, sondern auf die Vaganten und die Troubadours zurück¬ 
geht. Letztere hätten wir noch zu betrachten. 

Wer über Troubadours oder deutsche Minnesänger handelt, 
der pflegt sich ihnen meistens von den Tiefen der gleichzeitigen 
Literatur in der Vulgärsprache zu nähern; und da steht man denn 
staunend vor der plötzlich aufragenden Höhe dieser Poesie. Nähert 
man sich ihnen aber nach einer langen Wanderung, die die Gipfel 
der mittelalterlichen Literatur berührt hat, so verlieren sie viel 
von ihrer überraschenden Höhe. Das Neue und Bedeutende dieser 
Poesie ist die Vergeistigung der Minne. Die Art aber, wie die 
Natur von diesen Dichtern empfunden wird, ist wie aus der bis¬ 
herigen Darstellung sich ergibt, nichts absolut Neues mehr. 

Das ist auch gar nicht zu verwundern. Die handwerksmäßige 
Seite ihrer Poesie — und die reicht nach mittelalterlicher An¬ 
schauung recht weit — mußten die Troubadours irgendwo lernen. 
Die Späteren konnten sie natürlich auch von Troubadours lernen; 
die ersten aber nur da, wo allein Wissen zu holen war, in der 
Kirche. In den Kreisen der Kleriker betonte man oft die Überlegen¬ 
heit über die Ritter und begründete sie u. a. auch mit der Priorität 
auf dem Gebiet der Liebesdichtung: factus est per clericum miles 
Cythereus, heißt es in dem Gedicht von Phyllis und Flora. Nicht 
nur der berühmte Mönch von Montaudon gehörte der Geistlichkeit 
an; von einer ganzen Reihe anderer wird dasselbe überliefert. 2 ) 


x ) Besonders sein Gefühl für die Bienen und Pflanzen ist wohl der 
Intensität, aber nicht der Qualität nach verschieden von dem eines An¬ 
selm v. Ganterbury u. a.; s darüber Kap. IX meines bereits erwähnten 
Werkes. 

*) Eine interessante Zusammenstellung bei Wechßler, Das Kultur¬ 
problem des Minnesangs I, S. 98 f. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


21 5 


Die Abhängigkeit der Musik der Troubadours von der kirchlichen 
hat Beck nachgewiesen. 1 ) 

So darf man denn erwarten, daß sie zum Ausdruck ihres Natur¬ 
gefühls die Elemente gewählt haben, die die gelehrte, kirchliche 
Bildung der Zeit ihnen bot. Dabei handelt es sich um ein Doppeltes: 
unmittelbare Übernahme der Elemente der Antike und der von 
der Kirche emanzipierten lateinischen Liebesdichtung und Umbil¬ 
dung der spezifisch christlichen Motive in ihre subjektive, minnig- 
liche Auffassung. 

Die communis opinio sieht allerdings gerade in den Naturein¬ 
gängen der Minnepoesie die Einwirkung einer volkstümlichen 
Lyrik. 2 ) Der Glaube an eine volkstümliche Liebeslyrik vor dem 
Minnesang und als Grundlage des Minnesangs ist der letzte Rest der 
zum Dogma der Literaturgeschichte gewordenen Anschauung Her¬ 
ders und der Romantiker über das Volkstümliche. Unmittelbar nach¬ 
gewiesen ist eine solche Lyrik mit Natureingang nirgends. Was man 
dafür anführen wollte, wie die bekannte Grußformel im Ruodlieb, 
das hat sich als gelehrte Überlieferung herausgestellt. 3 ) Auch der 
Versuch von R. Meyer 4 ), aus den formelhaften Wendungen der 
Minnesänger alte deutsche Volksliedchen zu rekonstruieren, hat 
wenig Anklang gefunden, schon deshalb, weil er methodisch sehr 
schlecht fundiert war. 

Alle diese Versuche gehen von der Voraussetzung aus, daß eine 
Volkslyrik existiert hat, und bewegen sich somit in einem circulus 
vitiosus: erst erklärt man den Minnesang aus einer volkstümlichen 
Vorstufe, und dann zieht man aus dem Minnesang Schlüsse auf die 
Form dieser vorausgesetzten Volksdichtung. Mit Recht hat schon 
Wilmanns darauf hingewiesen, daß eine allenfalls vorhandene Lie¬ 
beslyrik in einfachster Form sich kaum als Ausdruck persönlicher 
Empfindung gegeben hat, sondern in der Art der deutschen 
Strophe CB. 129a zu denken ist. 

l ) La musique des troubadours. 

*) Wilmanns freilich hat hier widersprochen; vgl. z. B. Walter von der 
Vogelweide S. 16, 17, 28 und besonders 173. Burdach dagegen geht über 
diese Äußerungen hinweg und vertritt überall die alte Anschauung; vgl. 
S. 16 1. 

*) Vgl. dazu Liersch, ZfdA. 36, S. 154. 

4 ) ZfdA. 29, S. 207. 


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216 W. Ganzenmüller 

So kommt man — ohne sich mit seiner Begründung zu identi¬ 
fizieren — doch wieder auf die alte Ansicht von Martin zurück. Die 
Carmina burana (oder richtiger ausgedrückt: die lateinische Liebes¬ 
lyrik des II. und 12. Jahrhunderts) haben das Vorbild für den 
deutschen und den romanischen Minnesang abgegeben. Auch W. 
Meyer hat in der bereits erwähnten Festschrift zum 150. Jubiläum 
der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1901 diesen Ge¬ 
danken wieder aufgegriffen, besonders unter Betonung der musi¬ 
kalischen Seite. Natürlich kann die Frage nur auf breitester Basis 
entschieden werden. Form und Inhalt der Minnepoesie sind nach 
allen Seiten zu betrachten, eine Arbeit, die den Rahmen der vor¬ 
liegenden Auseinandersetzung sprengen müßte. Hier handelt es sich 
nur um den Nachweis, daß die empfindsame Naturbetrachtung 
der Troubadours auf lateinische Vorbilder zurückgeht. 

Was zunächst die Frühlingsschilderung als Eingang betrifft, 
so lassen sich bekanntlich auch bei den Troubadours parallele 
und antithetische Behandlung unterscheiden. Erstere ist weitaus 
die häufigere. Sie erscheint z. B. bei Bernhard von Ventadorn 
fünfmal 1 ), bei Marcabrun ebenso oft*), bei Peire d’Alvernhe vier¬ 
mal*), ebenso oft bei Peire Raimon von Toulouse. 4 ) Noch auffälliger 
tritt dieses Verhältnis bei Arnaut Daniel hervor. Von 17 überliefer¬ 
ten Liedern beginnen fünf mit diesem Eingang 5 ). 

Manche dieser Natureingänge sind allerdings nur einem her¬ 
kömmlichen Brauch entsprungen. Im einzelnen Fall läßt sich das 
natürlich nicht immer entscheiden; man darf das aber überall 
da annehmen, wo die Frühlingsschilderung nur den Anfang eines 
Sirventes bildet, so bei Peire d'Alvernhe 6 ), Bertran de Born 7 ), 
so der Anfang des bekannten Descort in fünf Sprachen von 
Raimbaut de Vaqueiras 8 ). Aber selbst in diesen Gedichten stellt 
der Verfasser immer sein persönliches Empfinden in den Vorder¬ 
grund; nie ist, wie noch in manchen Vagantenliedern, bloß im 

5 ) Raynouard («= R.) III, 60, 53, 65, 77; Mahn, Gedichte (= G.) 123. 

*) Mahn,Werke (=W.) 1 ,51,59: Appel, Chrestom.S.54; Mahn,G.i99,803. 

*) Mahn, W. 1 ,96; R. IV, 121; III, 327: Mahn, G. 280. 

4 ) Mahn, G. 942; R. III, 122; V, 326; Mahn, G. 611. 

*) R. V,35, 37, 39; Mahn, G. 46, 425. 

*) Mahn, W. 1,96 und R. IV, 121. *) R. IV, 162 und II, 210. 

8 ) R. II, 226: Appel Nr. 37. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


2x7 


allgemeinen von der Frühlingsfreude die Rede. Die meisten 
suchen den Eindruck des Frühlings zu geben durch Anführung 
von mehr oder weniger zahlreichen Einzelheiten. Nachzuprüfen, 
wieweit diese Einzelheiten in der lateinischen Literatur sich vor¬ 
finden, wäre ein zweckloses Unternehmen, da ja Vogelsang und 
klare Bäche, linde Luft und heller Sonnenschein, sprossendes 
Laub und purpurne Wiesen, duftende Blumen und tauige Morgen¬ 
frische sich jedem Betrachter immer wieder von neuem aufdrängen 
mußten. Viel wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, daß bei den Trou¬ 
badours und Minnesängern sich noch Spuren davon finden, daß sie 
die Naturparallele der christlichen Festgedichte in ihrem Sinn 
umgearbeitet haben. So sagt Bernhard von Ventadorn 1 ): 

Qu’aissel jom mi sembla Nadaus 
Qu'ab sos bels uels espiritaus 
M’esgarda — mas so fa tan len 
C’uns sols dias me dura cen — 

ebenso Heinrich von Morungen: 

Si ist des liehten meien schtn 
Unt min österlicher tac.*) 

Seltener gehen die Dichter vom Winter aus, so Marcabrun 8 ), 
Arnaut Daniel 4 ) und Guiraut de Borneilh. 5 ) Wie sehr man schon 
in verhältnismäßig früher Zeit den Preis des Sommers als konven¬ 
tionell und deshalb langweilig empfand, das zeigt am besten ein 
Gedicht Marcabruns. Dieser Sonderling unter den Troubadours 
suchte um jeden Preis originell zu erscheinen; so schilt er auf die 
Frauen im Gegensatz zu ihrer herkömmlichen Verherrlichung; 
so preist er den Winter. Die Kälte ist ihm lieber als die Schwüle 
des Sommers, die nur Ungeziefer hervorbringt. 6 ) 

Auch die antithetische Form des Natureingangs findet sich, 
wenn auch nicht ganz so häufig; so schon bei dem ersten bekannten 
Troubadour, dem Grafen Wilhelm von Poitou 6 ), dann bei Bernhard 
von Ventadorn 7 ). Jaufre Rudel erklärt in zwei verschiedenen Ge- 

J ) Mahn, W. 1 ,34. 

*) Minnesangs Frühling (MF.) 140, 15. Wechßler erwähnt diese Stellen, 
um zu zeigen, wie in einigen Fällen die Marienliteratur nachgeabmt wurde. 
Nach unseren Ausführungen handelt es sich nicht bloß um diese, sondern 
um die lat. Festdichtung überhaupt. *) Mahn, W. I, 57 u. 59. 

4 ) Mahn, G. 425. 6 ) Appel Nr. 22; Mahn, W. I, 59. 

®) Appel Nr. 10; Mahn, G. 297. 7 ) R. III, 49, 51. 


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218 W. Ganzenmüller 

dichten, daß er den Frühling liebt, aber entsprechend seiner in¬ 
neren Verfassung den Winter vorzieht. 1 ) AuchGuirautdeBorneilh 2 ) 
und Pons de Capdoil®) verwenden dasselbe Motiv. 

Ganz in derselben Art findet sich parallele und antithetische 
Behandlung bei Herbst und Winter. Die herbstliche Trauer der 
Natur wird in Parallele gesetzt mit dem eigenen Liebesschmerz, 
so bei Bernhard von Ventadorn 4 ), Cercamon. 6 ) Marcabrun leitet 
seine Strafpredigt auf den Verfall der Liebe mit einem Lied des 
Winters ein: wie in der Natur, so stirbt auch im Menschenleben alles 
Schöne und Frohe dahin 6 ). Ähnlich beginnt Gauceran von St. 
Didier ein Kreuzzugslied. 7 ) 

Stärker vertreten ist die Antithese. Einmal versichern die 
Sänger: gerade jetzt im Winter, da die Vögel verstummen, gehört 
es sich, daß sie ihre Lieder hören lassen 8 ); eine Antithese, die 
deutlich auf die gesellschaftliche Grundlage dieser Lyrik hinweist: 
der Sänger hat im Winter erst recht die Pflicht, zur Unterhaltung 
der Gesellschaft beizutragen. Dieses eigenartige Hineinziehen 
des Natureindrucks findet sich natürlich nur bei den Troubadours. 
Dagegen teilen sie mit der lateinischen Lyrik die stärker subjektiv 
gehaltene Antithese: der Dichter empfindet freudig trotz des 
Winters, da er glücklich liebt. 9 ) 

Geht man noch einen Schritt weiter, so erhält man den Gedan¬ 
ken : der Winter wird nur zum Frühling in der Nähe der Geliebten, 
eine Ausdrucksform, die wir nun bereits durch das ganze Mittel- 
alter verfolgt haben und die wir mit religiösem Inhalt in den Weih¬ 
nachtsgedichten und dem Blumenwunder bei Translationen, mit 
weltlichem Inhalt in dem Gedicht eines Klerikers aus dem 11. Jahr¬ 
hundert gefunden hat (s. oben). Bernhard von Ventadorn ver¬ 
wendet den Gedanken zweimal: 


‘) R. 111,95 u - I0I> *) Mahn, G. 859. 

*) Mahn, W. I, 351. 4 ) R. HI, 62. 

6 ) Appel Nr. 13. •) Mahn, G. 808. 

7 ) R. IV, 133; s. dazu Diez, Leben u. Werke d. Troub. S. 330. 

8 ) So Peire d’Alvemhe Mahn, G. 1; Peire Raimon R. V, 326; Amaut 
Daniel Appel Nr. 25. 

9 ) Amaut Daniel R. V, 37; Raimbaut de Vaqueiras Mahn, G. 217; 
Peire Vidal Mahn, G. 379. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 2IQ 

Tant ai mon cor plen de joia Per que mos chant mont e poia 

Tot me desnatura E mos pretz melhura. 

Florsbianca,vermeilhetbloia Tant ai al cor d'amor 
Me par la freidura, De joi e de doussor 

Qu'ab lo vent et ab la ploia Que lo gels me sembla flor 

Me creis l'aventura E la neus verdura. 1 ) 

Ähnlich sagt Peire Vidal: 

E quar am domna novela 
Sobravinem e plus bela 
Paro . m rosas entre gel 
E dar temps ab trebol cel. 8 ) 

Arnaut Daniel gibt in einer Canzone erst der Freude Ausdruck, 
die er trotz des fallenden Laubes empfindet, und dann steigert er 
den Gedanken in der zweiten Strophe: 

Tot es gelatz Non dei fremir, 

Mas ieu non puesc frezir C’amors mi cuebr’e. m cela, 
L’amors novela E . m fai tenir 

Mi fa.l cor reverdir Ma valor et.m cabdeia.*) 

So fühlt auch Peire Rogier keine Winterkälte: 

Freidura dolenta 

No m tolh chantar ni rire 

Qu’amors me capdelh e m te 
Mon cor e fin joi natural 

E. m pais em guid’e m soste etc. 4 ) 

Weniger häufig findet sich bei den Troubadours der Gedanke, 
daß die Nacht zum Tag wird in Anwesenheit der Geliebten. 
So sagt z. B. Cercamon: 

Quan totz lo segles brunezis 
Lay on ylh es, aqui resplan, 6 ) 

ferner Bernhard von Ventadorn: 6 ) 

Tant es fresca e belha e clara . . . 

Quar de beutat alugora 

Bel jom, e clarzis nuech negra — 

und ganz ähnlich Peire Rogier: 7 ) 

x ) Bartsch 65; ferner: m’es ha flors blanc e vermeil e Tiverns calenda 
maia, Mahn, G. 37. 

*) Mahn, W. I, 219; vielleicht liegt derselbe Gedanke zugrunde in der 
Canzone, die wohl zu der Legende Veranlassung gegeben hat, er habe 
sich in eine Wolfshaut einnähen lassen. Et ab joi li er mostrieus entre. 1 
vent e gel e nieus. 

8 ) Mahn G. 427; Diez, Leben u. Werke S. 358. 4 ) Mahn, W. I, 120. 

6 ) Appel Nr. 13. Ä ) Mahn, G. 208. 

T ) Appel, Peire Rogier 60; Wechßler, der die Beispiele ebenfalls an¬ 
führt, will hier ein Lichtwunder nach Art der Heiligenlegenden sehen. Es 
ergibt sich aber hier zwanglos als Fortsetzung eines alten Motivs. 


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Sa beutatz resplan tan fort 
Nuegz n’esdeve jorns clarS e gens 
A celh que l’esgard'ab dreit uelh. 

Schließlich gehen die Troubadours noch weiter und befreien sich 
überhaupt von der Naturparallele, die höchstens noch in 
der Form der praeteritio angewendet wird. Mit Recht weist 
Wechßler darauf hin, daß dieses Zurücktreten der Natur mit der 
beginnenden Spiritualisierung der Minne zusammenhängt; so 
bildet sich ein ,, Stil der inneren Welt aus, der eine bewußte Ab¬ 
wendung von den Erlebnissen und Erscheinungen der Innenwelt“ 
verlangte. 1 ) 

So erklärte Peire Raimon: 

Vergiers ni flors ni pratz Mas per vos cui azor, 

No m* an fait chantador Domna, sui alegratz.*) 

Am wirkungsvollsten Raimbaut de Vaqueiras: er ist seinem 
Herrn nach Thessalonich gefolgt, und alle Güter und Ehren, mit 
denen dieser ihn überhäuft, vermögen ihn nicht zu trösten in seinem 
Schmerz über die Trennung von der Geliebten: 3 ) 

No m’agrad’ivems ni pascors 
Ni dar temps ni fuelhs de guarricx 
Quar mas enans me par destricx 
Etez mos magers gaugz dolors. 4 ) 

Wird hier der Gedanke ausgesprochen, daß in Abwesenheit der 
Herrin die Natur keinen Eindruck macht, so erklären andere, 
daß die Herrin ihnen erst das Land, ja die ganze Natur und alle 
Menschen lieb macht: 

Per lieis aim fontainas e rius De la franca regio 
Pratz e vergiers e böses e plais, Don ilh es, e de viro: 

Las domnas eis pros eis savais Car tant e lai assis mos pessamens, 
Eis fols eis savis eis badius Que mais no eug sia terra ni gens — 

singt Raimon de Miraval. 5 ) Auch Peire Vidal gibt derselben Emp¬ 
findung Ausdruck in seinem Lied Ab Talen tir vas me Taire. 8 ) 

*) Wechßler S. 20, S. 133. 

*) R. V, 328, ebenso Peire Vidal Mahn, G. 74, 115 u. Pons de Capdoil 
ebd. 1034; Raimon de Miraval ebd. 735 

*) Diez S. 293. 4 ) R. IV, 275. 8 ) Mahn, W. II, 126. 

®) Der Grundgedanke ist auch hier: meine Heimat gefällt mir, weil 
sie die ihre ist. Es ist ja nicht ausgeschlossen, hier, wie Wechßler 
S. 172 meint, eine feudale Huldigung vor der Landesherrin zu finden; 
näher liegt es doch, hier den schon bei Venantius Fortunatus vorgebil¬ 
deten Gedanken zu finden, der auf die empfindsame Naturbetrachtung 
des ausgehenden Altertums zurückgeht. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 221 


Und noch ein anderes, bei den Troubadours beliebtes Motiv 
läßt sich aus der lateinischen Literatur ableiten: der Vergleich 
zwischen dem Frühling oder den Blumen und der Frau fällt zu¬ 
gunsten der letzteren aus. Geistlich aufgefaßt, findet sich der 
Vergleich z. B. schon in einem Gedicht auf Maria, das von welt¬ 
lichen Einflüssen sicher unberührt ist, in der Oratio ad matrem 
Domini von Marbod von Rennes: 1 ) 

Omnimodos tuus ahnus odos praecellit odores, 

Exsuperat, quos ver reserat, tua gratia fiores; 

sodann in dem weltlichen Liebeslied eines Klerikers aus dem 
II. Jahrhundert: ambrosische Blumen, Veilchen und frische 
Krokus, Frühlingslilien mit zarten Rosen gemischt gefallen nicht 
so wie die Geliebte. 2 ) 

So sagt auch Arnaut de Maroil in einem Zusammenhang, der 
deutlich genug auf den gelehrten Ursprung des Gedankens hinweist: 
Plus blanca es que Elena 
Belazor que flor que nais 5 ) —, 

und noch stärker versammelt er in seinem Liebesbrief alle Schön¬ 
heit der Natur, um die Geliebte noch darüber zu erheben: 

Plus bela que bels jorns de mai, 

Solelhs de mars, ombra d’estiu. 

Rosa de mai, ploia d’abriu . . . . 4 ) 

Besonders eindringlich sagt Raimon de Miraval: 

Be m’agrada . 1 dous temps d’estiu 
E dels auzels m’agrada . 1 chans 
El vert fuelh m’agrad’e . 1 verjans 
Eis pratz vertz me son agradiu 
E vos domna m’agradatz cent aitans 
Et agrada . m qu’on fauc vostre comans 
E vos no platz que denhetz res grazir 
Et agrada . m qu’eu me muer de dezir.*) 

Und zum Schluß heißt es zweimal bei Raimbaut de Vaqueiras: 

einmal in der Estampida: 

Kalenda maya Non es que. m playa 

Ni fiielhs de faya Pros domna gaya 8 ) 

Ni chanz d’auzelhs ni flors de glaya, 
und nochmals im Descort: 

Chu fresca qe flor de glaio.’) 

‘) Migne 171,1652. *) Siehe S. 209, Anm. 3 *) R. III, 208. 

4 ) R. III, 205. •) R. V, 392. 

*) Appel Nr. 52. 

*) ebd. Nr. 37,15. 


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So wird in der Troubadourpoesie der mittelalterliche Mensch 
sich des Gegensatzes zur Natur bewußt. Gerade den größten Dich¬ 
tern ist die Natur nicht mehr wie den kirchlich Frommen Offen¬ 
barung göttlicher Wahrheit, Hinweis auf das allein wertvolle 
jenseitige Geschehen, auch nicht mehr die harmonische Begleitung 
zum Lied ihrer persönlichen Leidenschaft; nein, bei ihnen findet 
sich das, was Schiller sentimentalisches Empfinden genannt hat: 
ein schmerzlich-süßes Bewußtsein des Gegensatzes zwischen der 
eigenen Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit und der sich selbst 
genügenden Geschlossenheit der Naturwesen. Das Bewußtsein 
dieses Gegensatzes kommt nirgends trefflicher zum Ausdrück 
als in Bernhard von Ventadorns berühmtem Liede: 

Quan vey la lauzeta mover Ail tan grans enveia m’ en ve 

De ioi sas alas contral ray, De cui qu’eu veya iauzionl 

Que s’oblida e.s layssa cazer Meravilhas ai, quar desse 

Per la doussor qu’al cor li vai, Lo cor de dezirier no’m fon! 1 ) 

Wohl finden sich in der mittellateinischen Literatur mehrere 
Gedichte, die hervorgegangen sind aus der Liebe zu den gefiederten 
Sängern; es sei hier nur erinnert an Alkuins Klage um die Nachti¬ 
gall 2 ), an Ratbods Gedicht auf die Schwalbe 3 ) und Fulbert von 
Chartres Loblied der Nachtigall. 4 ) Alkuin beginnt allerdings mit 
einem persönlich gehaltenen Ausbruch des Schmerzes über den 
Verlust der Nachtigall, die mit süßem Gesang den Betrübten er¬ 
heitert. Dann aber biegt er zu erbaulicher Betrachtung ab: wenn 
schon die Stimme der Nachtigall den Schöpfer so loben kann, 
wie muß erst der Gesang der Cherubim und Seraphim erklingen! 6 ) 
Noch weniger subjektive Empfindung enthalten die beiden anderen 
Gedichte. Beide zeigen liebevolle Betrachtung, besonders das Ge¬ 
dicht Ratbods, nirgends aber tritt ein besonderes persönliches 
Empfindendes Dichters hervor. Ratbod hat sich das von vornherein 
dadurch unmöglich gemacht, daß er die Schwalbe selbst reden läßt, 
und auch Fulbert gibt nur seiner naiven unreflektierten Freude 

') Appel Nr. 17. *) MGP. I, 274. 

®) MGP. IV, 172. 4 ) Migne 141,348. 

8 ) Das Gedicht zerfällt so auffällig in zwei Teile, daß man vermuten 
möchte, es habe Alkuin für den ersten, persönlich gehaltenen Teil eine 
Vorlage benutzt, vielleicht ein irisches' Gedicht. Kenner des Keltischen 
fänden eine interessante Aufgabe darin, die Beziehungen der irischen 
Poesie zur lateinischen der Karolingerzeit nachzuweisen. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 


223 


am Gesang der Nachtigall Ausdruck; beide gipfeln natürlich im 
Hinweis auf den gütigen Schöpfer. So liegt eine Welt zwischen 
diesen geistlichen Dichtern und Bernhard von Ventadorn; ja ich 
wüßte kein Gedicht anzugeben, das nach Form und Inhalt ihm 
näher stünde als Shelleys Ode to a Skylark. Man sieht, auch hier 
steht der Troubadour den Modernen näher als dem Mittelalter. 

Der deutsche Minnesang kann aus zwei Gründen kurz be 
handelt werden: einmal gilt, was für die Provenzalen ausgeführt 
wurde, auch für die Deutschen; sodann ist ja dieses Gebiet 
von Germanisten reichlich angebaut worden. Nur ist hier die 
Neigung, die Quelle alles Naturempfindens in der Volksdichtung 
zu suchen 1 ), noch stärker als bei der provenzalischen Dichtung. 
Im übrigen aber ist längst gezeigt worden, daß wir auch hier eine 
parallele und eine antithetische Form der Naturbetrachtung zu 
unterscheiden haben, und zwar sowohl für Sommer (Frühling) 
wie für Winter (Herbst). Wo der Winter als angenehm? gepriesen 
wird, taucht öfters der Gedanke auf an die zur Liebe geschaffene 
lange Winternacht, So sagt der Burggraf von Regensburg: 

Ich lac den winter eine, 

Wol getröste mich ein wlp,*) 

Dietmar von Aist: 

Urlop Mt des somers brehen ... Di ergetzent uns der besten zlt 
Der winter und stn langiu naht Swä man bt liebe lange 11 t,*) 

und nochmals: 

Sowol mich danne langer naht! 

Gelage ich als ich willen hin, 4 ) 

ferner: .... . A 

Wir Mn die winterlangen naht 

Mit froiden wol enpfangen. 6 ) 

Wie überall, so gibt auch hier Walter von der Vogelweide den alten 
Gedanken in der reizendsten Form: 

Hat der winter kurzen tac, 

So Mt er die langen naht, 

Daz sih liep bl liebe mac 
Wol erholn, daz 6 da vaht. 

Waz hän ich gesprochen? Owe ja hete ich baz geswigen, 

Sol ich iemer so geligen! (Lachmann 118,12.) 

*) Wertvolle Hinweise auf die geistliche Dichtung enthalten Schön¬ 
bachs Beiträge. *) MF. 16, 15. *) MF. 39, 30 ff. 

4 ) MF. 35, 20, danach das unter Reinmars Namen überlieferte Lied, 
MF. 156, 25. *) MF. 40, 3. 


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Dieser Hinweis, natürlich ohne den sinnlichen Gedanken, findet 
sich ja schon bei Venantius Fortunatus: 

Cui non sufficiant haec tempora longa quietis, 
und so wird man annehmen dürfen, daß er aus der lateinischen 
Literatur stammt. Auch die sicher aus dieser Quelle stammende 
Hyperbel findet sich. schon unter den frühesten Gedichten aus 
Minnesangs Frühling (6, 5): 

Mich dunket winter unde sng 
Schoene bluomen unde kle, 

Swenn ich in umbevangen hin, 

und genau so sagt Walter (118, 24): 

Der kalte winter was mir gar unmaere, 

Ander liute düchte er swaere: 

Mir was die wtle als ich enmitten in dem meien waere. 

Die Strophe aus Minnesangs Frühling ist eine der sog. Frauen¬ 
strophen. Auch insofern ergibt sich eine Parallele mit Fortunatus: 
wie bei ihm, so hat auch bei den dichtenden Rittern der Frühzeit 
der Umgang mit Frauen die Empfindung für weibliches Gefühls¬ 
leben geschärft; ja man möchte annehmen, daß die empfindsame 
Naturbetrachtung zu allen Zeiten auf starken weiblichen Einfluß hin¬ 
weist, namentlich wenn man bedenkt, daß auch im klassischen Zeit¬ 
alter der Empfindsamkeit sich beides in hohem Maße vereinigt findet, 
während ausgesprochen männliche Epochen wie die Reformations¬ 
zeit der empfindsamen Betrachtungsweise weniger unterliegen. 

Insbesondere findet sich im deutschen Minnesang auch der 
Ausdruck der Gleichgültigkeit gegen Natureindrücke, wie wir ihn 
oben bei den Troubadours gefunden haben. So sagt Rudolf von 
Fenis (M F 83, 25): 

Daz ich den sumer alsö mäz liehen klage 
(Walt unde bluomen die sint gar betwungen) 

Daz ist davon daz sin zit 

Mir noch her hat gefrumt harte kleine umb ein wip. 

Vil Ithte gefröuwent si die liehten tage, 

Den da vor ist nach ir willen gelungen. 

Mac mir der winter den strit 

Noch gescheiden hin zir der ie gerte min ltp, 

So ist daz min reht, daz ich in iemer ere. 

Also richtet sich für ihn die Freude an der Jahreszeit nur nach 
seinem Liebesglück; an und für sich sind ihm Sommer und Winter 
gleichgültig. Noch stärker tritt bei Reinmar die Gleichgültigkeit 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 225 

gegen den Sommer hervor in der bekannten Totenklage um Leopold 
von Österreich (MF. 167f.): 

Si jehent der sumer der st hie 

Waz bedarf ich wunneclicher ztt, 

Sit aller frouden herre Liutpolt in der erde ltt. 

Auch das ist übrigens einer Frau in den Mund gelegt. Auch für 
Morungen tritt die Trauer über das Verschwinden des Sommers 
zurück hinter der eigenen Liebesempfindung: 

Uns ist zergangen der liepltche summer, 

Do man brach bluomen, dä ltt nu der sne. 

Mich muoz belangen, wenne si minen kummer 
Welle vollenden, der tuot mir so we. 

Ja klage ich niht den kle, 

Swenne ich gedenke an ir wtplichen wangen 
Diu man ze fröide so gerne ane se. 

Und am Schluß desselben Liedes sagt er nochmals ausdrücklich: 

Mich fröit ir werdekeit 

Baz dan der meie und ai stne doene 

Die diu vögele singent . . . , J ) 

Derselbe Gedanke findet sich dann mehrfach bei Walter von der 
Vogelweide. 2 ) 

Die Entwicklung von der gleichgerichteten Naturempfindung 
zum Bewußtsein des Gegensatzes zur Natur, eines Gegensatzes, 
der nicht bloß äußerlicher, sozusagen räumlicher Art ist: dort 
Freude (in der Natur), hier Trauer (im Herzen des Dichters), 
sondern der innerlich begründet ist, ist eben eine Folge der 
Vergeistigung des Minnesangs. Natur- und Liebesieben sind ein¬ 
ander nicht mehr gleichgestellt, sondern das letztere ist das 
unendlich Wertvollere geworden. Diese Umwertung kommt (das 
hat schon Burdach gezeigt) außer bei den eben erwähnten Dich¬ 
tern am stärksten wiederum bei Morungen zum Ausdruck: 

Swaz ich wünnecliches schouwe 
Daz spil gegen der wunne die ich hän. 

Luft und erde, walt und ouwe, 

Suln die zit de froide min enpfän. 

*) MF. 140, 32 u. 141,12. 

*) „So die bluomen üz dem grase dringent.“ (Lachmann 45, 37.) 
Ebenso 92, 9; 99, 6 und besonders 27, 14. 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 15 


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226 W. Ganzenmüller 


Nicht zu Ehren des Frühlings, sondern ihm selbst zu Ehren sollen 
sie sich freuen. An Stelle der Frühlingszeit, die die ganze Natur 
begrüßen soll, setzt er die Zeit seines Liebesglücks, das ist der Poesie 
des größten Dichters würdig 1 ): die eigene Persönlichkeit wird zum 
Mittelpunkt der ganzen belebten und unbelebten Welt gemacht. 

Auch bei den deutschen Minnesängern finden wir nun die Er¬ 
scheinung, daß die eben erwähnte Spiritualisierung der Minne 
von der Außenwelt abzieht. Bei Friedrich von Hausen und teil¬ 
weise auch bei Reinmar fällt die „gänzliche Enthaltung von 
Naturschilderungen“ auf 2 ). Wie dann diese und andere Beschrän¬ 
kungen der Gattung von dem Genie Walters durchbrochen werden — 
das gezeigt zu haben, ist das große Verdienst Burdachs. Walter 
knüpft an die ältere Überlieferung an (freilich nicht an die volks¬ 
tümliche, wie Burdach meint), aber bei ihm „ist die Natur Stim¬ 
mung weckender Hintergrund der Poesie ... er erhebt sich 
hoch über den bloßen typischen Parallelismus oder Kontrast 
zwischen Naturbild und menschlicher Empfindung (wie bei Neid¬ 
hart und dem volksmäßigen Tanzlied(I). Er führt die Natur nir¬ 
gends als Zustand, sondern als Bewegung vor“. 3 ) Mit Recht hat 
man als höchste Stufe der gegenseitigen Durchdringung von 
Liebesglück und Naturfreude stets Walters wundervollstes Lied 
angeführt: Unter der linden an der heide. 

Die Entwicklung des Minnesangs nach Walter bietet nichts 
Neues zu dieser Betrachtung der Ausdrucksformen und mag des¬ 
halb übergangen werden. 

So läßt sich denn nachweisen, daß es vom ausgehenden Alter¬ 
tum an stets dieselben Ausdrucksformen sind, deren sich die Men¬ 
schen bedienen, um ihr Verhältnis zur Natur darzustellen. Es han¬ 
delt sich nicht um „allgemein-menschliche“, stets von neuem wieder 
so gefundene Ausdrücke, sondern es sind wirklich dieselben Formen 
von einem Zeitalter dem anderen überliefert worden. Das geht am 
deutlichsten daraus hervor, daß z. B. das Motiv:. Rosen im Winter 
immer wieder auftaucht. Wer mit der halb handwerksmäßigen 
Art der mittelalterlichen Dichtung nur einigermaßen vertraut 
ist, der ist sich darüber klar, daß dies so verschiedentlich ver- 

l ) Burdach, Reinmar und Walter S. 50. 

*) Burdach S. 36. *) Burdach, Walter v. d. Vogelweide I,S. 106 ff. 


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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 227 

wendete Motiv nicht von jedem der oft mittelmäßigen Dichter 
neu gefunden, sondern als eine fertige Schablone an passender 
Stelle verwendet wurde. Dieser Identität der Formen steht aber 
die größte Verschiedenheit des Inhalts gegenüber: schroff scheiden 
sich hier die objektive, jenseitige Anschauung des Christentums 
von der subjektiven, diesseitigen der Antike. Die Anteilnahme der 
Natur bezieht sich nicht auf persönliche, sondern auf überpersön¬ 
liche Ereignisse. Ja man kann die Anwendung der Naturparallele 
geradezu zum Gradmesser des religiösen Gefühls machen. Je tiefer 
dasselbe ist, um so mehr wird die persönliche Auffassung zurück¬ 
gedrängt durch die überpersönliche, religiöse. Nur wenigen, wie 
Venantius Fortunatus, gelingt eine harmonische Vereinigung 
beider Richtungen. Die stärkere Berührung mit der klassischen 
Literatur zur Zeit der Karolinger erhöht die Beliebtheit der emp¬ 
findsamen Naturbetrachtung, die cluniacensische Reform bringt 
wieder eine Reaktion mit sich. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts 
dringt ein Strom weltlichen Empfindens ein, und damit gewinnt 
das empfindsame Naturgefühl wieder den ihm zusagenden Boden 
und breitet sich in der lateinischen wie der vulgärsprachlichen 
Literatur mächtig aus. Demgegenüber ist es gewiß kein Zufall, 
daß gerade die größten religiösen Geister der Zeit, Bernhard von 
Clairvaux und Franz von Assisi, keine Spur dieses Subjektivis¬ 
mus zeigen und so deutlich ihre Stellung auf der Seite der Alten 
erkennen lassen. 

Die Geschichte der empfindsamen Naturbetrachtung und ihrer 
Ausdrucksformen ist also eine Geschichte der „Renaissance“ in 
nuce, oder richtiger ausgedrückt, sie gibt einen Beitrag zur Frage 
nach dem Verhältnis von Antike und Mittelalter. Was schon auf 
anderen Gebieten immer klarer geworden ist, das ergibt sich auch 
hier: daß das vom Mittelalter übernommene Erbe des Altertums 
reicher gewesen ist, als man ursprünglich glauben wollte, und 
sodann, daß überall da, wo neues und eigenartiges Empfinden nach 
Ausdruck ringt, es sich der antiken Formen bedienen muß. Das 
gilt nicht bloß für die Kirchenväter und die karolingischen Hof¬ 
dichter, es gilt ebenso für die Vaganten und die Troubadours. 
Nur soll, um allen Mißverständnissen aus dem Wege zu gehen, 
zum Schluß noch ausdrücklich betont werden: eine Erklärung 

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2 28 W. Ganzenmüller — Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 

irgendeiner geistigen Bewegung ist damit noch nicht gegeben, 
daß man ihre Abhängigkeit von Ausdrucksformen einer bestimm¬ 
ten anderen Zeit nachweist. Das wäre eine naive Verwechslung 
von Ursache und Folge, deren wir uns nicht wollen schuldig ge¬ 
macht haben. Ja, eine solche Erklärung läßt sich überhaupt nicht 
geben. Wie der Naturforscher kann auch der Historiker die Äuße¬ 
rungen des Lebens wohl unter sich vergleichen, das Leben selbst 
ist eine irrationale Größe, die in die Wissenschaft nicht restlos 
eingeht. 


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MISZELLE. 

EIN DROHBRIEF AUS DEM 14. JAHRHUNDERT. 

MITGETEILT VON ERNST VOGT. 

Auf seltsame Weise hat ein Mainzer Beamter in Thüringen in der 
Mitte des 14. Jahrhunderts versucht, sich Recht zu verschaffen. Er hatte 
noch von seinem Vater her Forderungen gegen das Erzstift. Sein Vater 
hatte Einkünfte am Erfurter Forst, an dem Wawet, gekauft und bar 
bezahlt; es lag darüber auch eine erzbischöfliche Urkunde vor, die das 
Domkapitel mitbesiegelt hatte. Aber nun konnte der Vitztum nicht zu 
seinem Recht gelangen, das Erzstift kam seinen Verpflichtungen nicht 
nach. Es waren damals die bösen Zeiten eines großen Streites um das 
Erzstift. Heinrich III. von Virneburg, der Erzbischof, der aus dem Kur¬ 
verein von Rense bekannt ist und von dem die Limburger Chronik 
sagt: „er hisz darumb Buseman, daz he gern drank“, trug das Pallium, 
doch hatte er sich von dem Domkapitel Vormünder setzen lassen müssen, 
die die eigentlichen Regenten des Erzstiftes waren. Der Papst aber 
hatte ihm, weil er zu Ludwig dem Bayern hielt, den Prozeß gemacht 
und dem jungen Gerlach von Nassau an seiner Stelle das Erzstift über¬ 
tragen. In diesen unruhigen Zeiten schwankender Rechtsbeziehungen 
mag mancher Gläubiger es schwer gehabt haben, Befriedigung seiner 
Forderungen zu erzwingen. Dem Thüringer Vitztum aber war nicht 
bang, er wußte sich zu helfen. Als seine Mahnungen unerhört blieben, 
drohte er, er werde das Siegelwachs an seiner Mainzer Urkunde auf 
eine so respektwidrige Weise verwenden, daß das Erzstift schweren Schimpf 
dadurch erleide, und von seinen Forderungen werde er darum doch nicht 
abstehen. — Der Erfolg des Schreibens ist leider nicht bekannt. 

(Adresse auf der Rückseite des Briefes:) Honorabilibus viris ac domi- 
nis suis . . domino preposito . . decano, scolastico . . cantori 1 ) 
ecclesie sancte Maguntine sedis detur. 

Ir liebin hem . . Wizzit, daz ich vor gebetin und gescribin habe 
vil und gnug forstin, graffen, rittere und knechte, stete . . und andir 
gutir lute vil, also bete ich uch ouch umme anwisunge den stipht und 
daz capitil zu Mencze, daz sii mir haldin, desz ich ir groze anehangende 
insigel und uffene brive (habe) vor sulchin ierlichin czinsz und gulde, 
als en myn vatir her Henrich vicztum, dem Got gnade, abegekouft hat 
an dem halcze desz Wanweitz zu Erford und en das geilt des koufis 
nuczlich und gütlich bezalt hat, als mang gut man wal weiz, und mich 
daz niht hilft noch geholfin hat, Nu clage ich uch und allin guten luten 
clegelich, daz der stipht und capitil zu Mencse myme vatere und mir 

*) Hiernach durchstrichen: totique c. 


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Ernst Vogt — Miszelle 


unsin czinsz und geilt mit im bosin insigeln und briven unsz also seine- 
lieh sentlich und hitlich abegelogen und getrogen habin. Nu bete ich 
uwer erberkeit mit flize, daz ir noch den stipht und daz capitil 1 ) undir- 
wisit unde anericht, daz mir noch yolczogen und gehaldin werde, des 
ich ir grosze insigel und uffene brive habe. Geschet des nicht, und wel 
ir insigel und ir wachz vort me nicht baz noch vestir halde, wan iz 
biz her getan hat, so habe ich eyne hachczit irfam, daz der henger zu 
Northusen sine tochtir sal gebin des hengers sane zu Molhusen, da 
endarf nicht me zu wan licht und kotzeen.*) Nu sint die selbin. also 
böse, die di hochczit habe sullin, daz man en nicht wel vorkaufen wachz 
zu lichtin. Nu habe ich uf eyns gedacht. Mögen adir kunnen mir ir 
egenante insigel und wachz nicht nutzeer werde, so wel ich sii gebin 
den selbin hengem und kotezen zu kerczen und lichtin zu lästere und 
sanden dem stipht und capitil zu Mencze und wil sii dar zu also lange 
mane, daz mir doch gehaldin wirt, desz ich ir uffene brive habe. Ge¬ 
geben zu dem Suarzcenwalde undir myme insigel. 

Von mir Hartman vieztum. 

Original auf Papier: München, Reichsarchiv (Mainz, S. Alban fase. 4). 
Verschluß-Siegel verletzt. Schrift: Mitte des XIV. Jahrh. 

*) Darnach getilgt: zu. *) Dirnen. 


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LITERATURBERICHT. 

VOLKSKUNDE. 

ERÖFFNUNGSBERICHT I. 

DIE GESCHICHTLICHE UND TERRITORIALE ENTWICKLUNG 
DER DEUTSCHEN VOLKSKUNDE. 

Es war im Jahre 1891, als Weinhold in Berlin den Verein 
für Volkskunde ins Leben rief und die von ihm geleitete ,,Zeit¬ 
schrift des Vereins für Volkskunde“ die Zeitschrift für Völker¬ 
psychologie und Sprachwissenschaft ablöste. Seitdem können wir 
erst von einer Volkskunde als Wissenschaft sprechen, obgleich be¬ 
reits 1858 W. H. Riehl einen Vortrag über die Volkskunde als 
Wissenschaft gehalten hatte. 1 ) Weinholds 2 ) Verdienst ist es, 
die verschiedenen Strömungen nationalen und sozialen Lebens 
und neuerwachte Wissenschaften, die zur Erforschung des Volks¬ 
tums hinführten, erkannt und beobachtet und diese Erforschung 
des Volkstums, zunächst des heimischen, in den Mittelpunkt 
einer neuen philologischen und geschichtlichen Wissenschaft ge¬ 
stellt zu haben. Zugleich umreißt er zum ersten Male das Gebiet, 
stellt für dieses ein festes Schema auf und teilt die Arbeiter in flei¬ 
ßige Sammler und geschulte Forscher, die sich gegenseitig in die 
Hände arbeiten müssen. So entstand die deutsche Volkskunde 
als Wissenschaft; in ihrem Dienste stehen vor allem die Sammler. 
Aber die vergleichende neuerwachte Religions-, Sitten- und Sagen¬ 
forschung, die wesentlich zur Erforschung der Unterschicht hei¬ 
mischer Kultur herausgefordert hatte, verlangte, daß man seine 
Blicke über die Grenzen des Heimatlandes schweifen ließ, weil 
nur dadurch historische Zusammenhänge und die psychologischen 
Gründe der Tatsachen klargelegt werden konnten. So gesellte 
sich zur stammheitlichen die allgemeine oder vergleichende Volks¬ 
kunde, die schon durch die Voraussetzung philologischer und histo¬ 
rischer Schulung das Gebiet der Forscher wurde. Aber nicht nur 
als Wissenschaft sollte die Volkskunde getrieben werden. Da sie 
durch Erforschung des Volkstums den Charakter eines Volkes 
bloßlegt und auf Tatsachen hinweist, die sich jahrhundertelang 
erhalten haben und immer wieder in Erscheinung treten, soll sie 
dem Volke auch das zu erhalten suchen, was seinen eigentlichen Le- 

*) Culturstudien aus drei Jahrhunderten (Stuttgart 1862) S. 205 ff. 
Hauffen macht Z. d. V. f. VK. XXIII, S. 414 darauf aufmerksam, daß F. 
Ziska bereits 1822 das Wort „Volkskunde“ gebraucht hat. 

*) Z. d. V. f. VK. I, S. 1 ff. 


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232 


E. Mogk 


bensnerv ausmacht, wobei sich ein Volk gesund und arbeitskräftig 
gefühlt hat. So ist aus der theoretischen die praktische Volkskunde 
erwachsen, wie sie sich namentlich in der Pflege alter Überlieferung 
und im Heimatschutz und in der Heimatfreude zeigt. 1 ) So ist das 
Gebiet der Volkskunde ungemein groß und vielseitig, und dies 
erklärt, daß die literarische Tätigkeit in den letzten Jahren wohl 
nirgends so bedeutend gewesen ist wie hier. Ich kann daher nur 
in Umrissen zeigen, wo man geschürft und was man zutage gefördert 
hat. 

Mit der deutschen Volkskunde soll sich vor allem dieser Bericht 
beschäftigen.®) Durch Weinholds Zeitschrift war die Werbetrom¬ 
mel für die Beschäftigung mit der Volkskunde geschlagen, und was 
schon länger in den Köpfen einzelner sich geregt oder in lokalen 
Vereinen geschlummert hatte, erwachte zum Leben und zur Ar- 
. beit. In fast allen Ländern deutscher Zunge entstanden Verbände, 
die sich das Sammeln und Verarbeiten volkskundlichen Stoffes 
zur Aufgabe machten. 3 ) Mitteilungen oder Zeitschriften hielten 
ihre Mitglieder zusammen und regten sie zu gegenseitiger Arbeit 
an. In anderen nahmen einzelne Gelehrte sich der Volkskunde 
an, oder man knüpfte sie an bereits bestehende Vereine. So 
hatte schon Anfang der 90er Jahre in Mecklenburg Wossidlo 
seine eifrige Sammelarbeit begonnen, unterstützt von dem Schwe¬ 
riner Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde. 
Die ersten Früchte seiner Tätigkeit sind vorbildlich für wissenschaft¬ 
liche volkskundliche Arbeiten geworden. 4 ) Durch das Heranziehen 
von Parallelbeispielen aus allen Ländern haben sie Bedeutung 
weit über die Grenzen Mecklenburgs, ja Deutschlands. Ein be¬ 
sonderes Geschick hat Wossidlo beim Einsammeln des Stoffes im 
Verkehr mit seinen Landsleuten entwickelt und hat so auch 
nach dieser Richtung hin Wege gewiesen. Auf dem Verbandstage 
deutscher Vereine für Volkskunde in Hamburg (1905) hat er 
seine Erfahrungen vorgetragen 5 ) und weiteres über seine Sammel- 

’) Vgl. E. Mogk, Die Volkskunde im Rahmen der Kulturentwick¬ 
lung der Gegenwart, Hess. Blätter f. VK. III, S. 1 ff. (1904). 

*) Er schließt mit dem Jahre 191z und greift nur hier und da auf 
1913 hinüber. 

*) Vgl. zur Geschichte volkskundlicher Tätigkeit: E. Mogk in Pauls 
Grundriß der germ.Philol.*III, 8.493!?.; KReuschel, Deutsche Geschichtsbll 
IX, S.63ff.; Ders, Kritischer Jahresber. über die Fortschritte der roman. 
Philologie X; A. Hauffen, Z. d. V. f. VK. XX (die neuere Forschung 
fehlt noch). 

4 ) Mecklenburgische Volksüberlieferungen, 1. Bd. Rätsel (Wismar 
1897); 2. Bd. Die Tiere im Munde des Volkes. Erster Teil. (ebd. 1899); 
3. Bd. Kinderwartung und Kinderzucht (ebd. 1906). 

4 ) In erweiterter Form gedruckt in der Z. d. V. f. VK. XVI, S. 1 ff. 


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Literaturbericht. Volkskunde 


233 


tätigkeit geplaudert in einem Werke, worin er zahlreiche Zeug¬ 
nisse über die Sprache und den Humor der Mecklenburger verarbei¬ 
tet hat (bei Vergnügungen, Arbeit und Spiel, Schwänke und 
Märchen u. dergl.), die einen trefflichen Einblick in die Seele 
von F. Reuters Landsleuten geben. 1 ) — 1893 hatten auch Knoop 
und A. Haas die „Blätter für pommersche Volkskunde“ ins Leben 
gerufen, die namentlich viele Sagen brachten, aber mit dem 
IO. Bande (1902) ihr Dasein endeten. Gleichwohl haben beide 
Herausgeber ihre Sammelarbeit fortgesetzt, Knoop besonders auf 
Posens Gebiet 2 ), Haas auf Rügener. 3 ) —Wo einst Weinhold gewirkt, 
in Breslau, entstand 1894 die Schlesische Gesellschaft für Volks¬ 
kunde, in deren Auftrag Vogt und Jiriczek die „Mitteilungen 
des Schles. Ges. f. Volksk.“ herausgaben, deren Leitung 1903 
Siebs übernahm. Anfangs beschränkten sich diese meist auf Ver¬ 
öffentlichung volkskundlichen Stoffes; mit dem 6. Band aber (1904) 
traten die Untersuchungen in den Vordergrund; sie gewannen an 
Umfang und Bedeutung. Der Bevölkerung Schlesiens entsprechend 
bringen sie neben deutschem auch slawisches Material und gehen 
in den Abhandlungen vielfach über die Grenzen Schlesiens hinaus. 
Aus den älteren Bänden hervorgehoben zu werden verdient die 
Arbeit von Zacher über „Rübezahl und seine Verwandtschaft“ 
(Bd. XI, S. 2 i6ff.), worin er Rübezahl als'ein Erzeugnis des schlesi¬ 
schen Volksgeistes erweist, das eine Mischung von Berggeist, wil¬ 
dem Jäger und Kobold ist, also von mythischen Gestalten, die 
sich in fast allen Ländern Deutschlands finden. Eine besondere 
Leistung ist der XIII. und XIV. Band (1911—12), der als Festschrift 
zur Jahrhundertfeier der Universität zu Breslau herausgegeben 
wurde. Hierin finden sich auch mehrere Arbeiten zur vergleichen¬ 
den Volkskunde. So birgt Wünsches Artikel über Geisterbannung 
im Altertum (S. 9ff.) treffliche Hinweise auf das Dämonenbannen 
in die Unterwelt, das Meer, die Berge; über die Verbreitung des 
Bildzaubers stellt Skutsch die Zeugnisse aus den verschiedensten 
Zeiten und Gegenden zusammen (S. 525ff.), den Einfluß des Volks¬ 
tümlichen auf das Gepräge der Münze verfolgt Friedensburg 
(S. 264ff.), die Sage vom toten Gaste bis ins Mittelalter und in 

J ) R. Wossidlo, Aus dem Lande Fritz Reuters. S.unten S.268, Anm.3. 

*) So im „Rogasener Familienblatt 1 * (der Beilage des Rogasener 
Wochenblattes), das seit 1897 f ast nur Beiträge zur Volkskunde der 
Prov. Posen bringt. Volkskundliches aus der Tierwelt, 1. Bd. (Ro- 
gasen 1905); Posener Gold- und Schatzsagen (Lissa 1908). — Die Ver¬ 
leger werden nur genannt, wenn sie Rezensionsexemplare ge¬ 
sandt haben. 

s ) Rügensche Sagen und Märchen (3. Aufl. 1903); A. Haas und F. 
Worms, Die Halbinsel Mönchgut und ihre Bewohner (Stettin, J. Bur¬ 
meister, 1908). 


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E. Mogk 


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2 34 


ihren Verzweigungen Klapper (S. 202ff.), die Entwicklung der 
Schutzbriefe unserer Soldaten Vogt (S. 586ff.). Andere Mitarbei¬ 
ter liefern Material, namentlich zur deutschen Volkskunde. So 
Olbrich Volkssagen über Freimaurer (S. 232ff.), die derselbe Ver¬ 
fasser schon in früheren Jahrgängen verfolgt hat, Koch holt volks¬ 
kundlichen Stoff aus den Werken von A. Gryphius (S. 337ff.), 
Jantzen bringt aus Handschriften Beiträge zur Geschichte der 
Bruderschaften (S. 242ff.). Auch Dialekt- (v. Unwerth S. 155ff.) 
und Wortforschung (Drescher S. 453: Ölgötze; Sarazin S. 552ff.: 
engl, „henbane“, „Bilsenkraut“) findet sich in dem Bande. 
Auf der anderen Seite enthält er auch Themata, die nicht in das 
volkskundliche Gebiet gehören, wie die rein historische Arbeit von 
Preuß über Philipp II., die Niederländer und ihre erste Indienfahrt 
(S. 279ff.) oder die literarhistorisch-philosophische von v. Wenck- 
stern über Tolstoi und Marx (S. 313 ff.). Man sollte auch bei sol¬ 
chen Festschriften die Grenzen der jungen Wissenschaft scharf 
umreißen. — Außer den Mitteilungen veröffentlicht die Schle¬ 
sische Gesellschaft in freier Reihenfolge auch „Schlesiens volks¬ 
tümliche Überlieferungen“ 1 ) und volkskundliche Arbeiten unter 
dem Titel „Wort und Brauch“, die sich nicht auf das Gebiet der 
schlesischen Volkskunde beschränken. Von diesen verdienen be¬ 
sonders zwei hervorgehoben zu werden. Eine bestimmt den Wert 
von Joh. Praetorius’ Rübezahlbüchern für die Rübezahlsagen. 
Schon K. Zacher*) trennte die volkstümlichen Erzählungen von 
Rübezahl und die literarisch ausgebildeten Rübezahlmärchen, 
die er dem Einflüsse J. Prätorius' zuschrieb. Mit vollem Rechte 
unterband er die Skepsis Coghos 3 ) und Regells 4 ), die Rübezahl 
als volkstümliche Sagenfigur überhaupt leugneten. Diese Auf¬ 
fassung hat nun durch die Arbeit von K. d e Wy 1 ihre volle Bestäti¬ 
gung, aber auch, was Prätorius betrifft, mehrfache Ergänzung 
gefunden. 6 ) In gründlichster Weise stellt hierin ihr Verfasser fest, 

*) Bisher erschienen I.: F. Vogt, Die Schlesischen Weihnachtsspiele 
(Leipzig, B. G. Teubner, 1901): II.: P. Drechsler, Sitte, Brauch undVolks- 
glauben in Schlesien, 2 Bde.(ebd. 1903—05); III—IV: R.K ü h n a u, Schlesische 
Sagen, 3 Bde. und Registerband (ebd. 1910—13), eine der inhaltreichsten 
und umfänglichsten Sammlungen deutscher Sagen, in der alles vereint 
ist, was an schlesischen Sagen jemals gedruckt worden ist und was im 
Volksmunde noch fortlebt. Ausgeschlossen sind nur die Rübezahlsagen, 
mit denen die Berggeistsagen aber große Ähnlichkeit haben (vgl. Hist. 
Vierteljahrschr. 1911, S. 293 f.; 1913 S. 537f.). 

*) Mitt. der Schles. Ges. f. Volksk. Heft X, S. 39 fr. 

*) Wanderer im Riesengebirge 1893, S. 153. 

4 ) Schles. Zeitung 1894, Nr. 684. 

®) Wort und Brauch, 5. Heft: Rübezahl-Forschungen. Die Schriften 
des M. Johannes Prätorius (Breslau, M. u. H. Marcus, 1909). Besonders von Be- 


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Literaturbericht. Volkskunde 


235 


daß Prätorius weit glaubwürdiger ist, als Zacher annahm, daß viele 
seiner Erzählungen tatsächlich auf die Berichte von Schlesiern, 
namentlich des Hirschberger Apothekers Sartorius, den Boten aus 
Liebethal und Wurzelkrämer zurückgehen. Auf der anderen Seite hat 
aber auch Prätorius viele literarische und volkstümliche Erzäh¬ 
lungen von Geistern und besonders Berggeistern, wie dem voigt¬ 
ländischen Katzenveit, oder landläufige Märchen- und Sagen¬ 
motive auf Rübezahl übertragen und mehrfach alte volkstümliche 
Rübezahlsagen umgemodelt. Weniger kritisch und ergebnisreich 
ist die Arbeit von F. Kondziella, der die volkstümlichen 
Sitten bei Geburt und Taufe, Brautwerbung, Verlobung und Hoch¬ 
zeit, Tod und Begräbnis, der Gastfreundschaft und Freundschaft, 
im Kampfe, im Rechtsleben und endlich bei der Traumdeutung 
aus dem mittelhochdeutschen Volksepos zusammenstellt. 1 ) 
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt nicht in diesen Zusammenstel¬ 
lungen, die wenig Neues bieten, sondern im zweiten Teile, in den 
Anmerkungen und Parallelen (S. 83—188), wo der Verf. zu den 
im ersten Teile aufgestellten Tatsachen aus der deutsch-volkskund¬ 
lichen Literatur der späteren Jahrhunderte, der Gegenwart und 
anderer, namentlich auch primitiver Völker zahlreiche Parallelen 
beibringt. Daß er sich nur selten auf Erklärung der Tatsachen 
einläßt, ist nur zu billigen. So dankenswert nun an und für sich 
eine solche Sammelarbeit ist, so läßt sich doch im mittelhochdeut¬ 
schen Volksepos schwer eine Grenze zwischen volkstümlicher und 
höfischer Sitte ziehen, zumal im Nibelungenlied und der Kudrun. 
Ganz besonders aber muß man sich hüten, eine einmal vorkommende 
Handlung (wie z. B. wenn im Ortnit der getaufte Heide das Was¬ 
ser dreimal in den Mund nimmt) sofort als volkstümliche Sitte 
zu erklären. Nur bei häufiger vorkommenden Bräuchen, die auch 
in anderer volkskundlicher Literatur Parallelen haben, dürfen wir 
volkstümliche Sitte annehmen. 

In demselben Jahre, da auf Vogts Betreiben in Breslau die 
Schlesische Gesellschaft für Vk. ins Leben getreten war (1894), 
gründete O. Brenner in Würzburg den Verein für bayerische Volks¬ 
kunde und Mundartenforschung, der seit 1895 „Mitteilungen und 
Umfragen zur bayerischen Volkskunde“ herausgibt. Hierin wird 
vor allem durch kurze Aufsätze darauf hingewiesen, was und wie 
gesammelt werden soll; worauf es bei der Volkskunde ankommt, 
wird an treffenden Beispielen gezeigt. So anspruchslos auch die 
Blätter sind, so erkennt man doch überall den wissenschaftlichen 


deutung ist der hist. Nachweis des Hirschberger Apothekers Sartorius und 
seiner Identität mit dem Greiffenberger Bürger S. 34 ff. 

') Wort und Brauch, 8.Heft: Volkstümliche Sitten und Bräuche im 
mittelhochdeutschen Volksepos. (Breslau, ebd., 1910.) 


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236 


E. Mogk 


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Geist, der sie leitet. Brenner kommt es in erster Linie darauf an, 
von altem V.olkstum zu retten, was noch zu retten ist. Daher 
spornt er immer und immer wieder zum Sammeln und Einsenden 
des Stoffes an und hat so in Würzburg wohlgeordnet im Archiv 
eine Fülle von Stoff eingesammelt, der späteren Geschlechtern 
unbezahlbar sein wird. Ganz besondere Verdienste hat sich der 
Würzburger Verein, und zwar vor allem Brenner, um die Hausbau¬ 
forschung erworben, die er seit 1900 betreibt und die sich von 
Bayern aus durch die 5. Abteilung des Geschichts- und Altertums¬ 
vereins über ganz Deutschland verbreitet hat: ihr Ziel ist eine 
systematische Darstellung der Formen deutscher Bauernhäuser 
in allen Ländern und Provinzen. — In den letzten Jahren hat der 
Würzburger Verein auch ,,Blätter zur bayrischen Volkskunde 44 
herausgegeben, die größere zusammenhängende Arbeiten enthalten. 
Vereinspublikationen liegen nur zwei vor. C. Kleeberger be¬ 
handelt in einem selbständigen Buche fast alles, was er über und 
aus dem Orte Fischbach in der Pfalz hat auf treiben können. 1 ) 
Das Buch ist mehr eine Heimat- als eine Volkskunde. Denn das 
Geographische und Geschichtliche des Ortes gehört nicht in diese. 
Die Gründlichkeit aber, mit der der Verf. den Hausbau, Sitten und 
Bräuche, Sagen, Kinderreime und Kinderspiele, Volkswitz und 
Volkssprache behandelt, verdient Anerkennung und Nachahmung. 
Eine ganz hervorragende Leistung des Vereins ist die Sammlung 
rheinpfälzischer Volkslieder von G. Heeger und W. Wüst. 2 ) 
Sie ist eine der besten Sammlungen, die wir in den letzten Jahr¬ 
zehnten erhalten haben. Text und Melodie sind in gleicher Weise 
berücksichtigt. Oft werden von demselben Liede fünf, sechs und 
mehr Varianten gegeben. Nirgends fehlt der Hinweis auf die Par¬ 
allelliteratur in anderen deutschen Volksliedersammlungen. Auch 
Hinweise auf Verschmelzung von Liedern finden sich. In einer 
Beziehung geht die Sammlung über ihre Vorgänger hinaus: in ge¬ 
nauer Angabe des Verbreitungsgebietes der einzelnen Lieder, so 
daß sich leicht feststellen läßt, welche Volkslieder in der Pfalz 
heimisch und welche eingeführt sind. 

In Bayern ist 1903 noch ein zweiter volkskundlicher Verein 
ins Leben getreten, der von Architekten und Künstlern ausgeht 
und sich hauptsächlich um Erforschung und Erhaltung der Volks¬ 
kunst bemüht. Er hat seinen Sitz in München; seine Seele ist 
Prof. Thiersch. Die von ihm herausgegebene Monatsschrift 

’) Volkskundliches aus Fischbach in der Pfalz nach den Samm¬ 
lungen von C. Kleeberger. (Kaiserslautern 1902.) 

2 ) Volkslieder aus der Rheinpfalz. Mit Singweisen aus dem Volks¬ 
munde gesammelt. Im Aufträge des Ver. f. bayer. Volkskunde herausg. 
2 Bde. (Kaiserslautern, H. Kayser, 1909.) 


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Literaturbericht. Volkskunde 


237 


„Volkskunst und Volkskunde“ bringt in ihren ersten Bänden 
hauptsächlich Beiträge zum bayerischen Hausbau und über die 
Ausschmückung des Hauses, daneben aber auch solche über das 
geistige Leben, über Sitten und Gebräuche u. dergl., denen seit 
1910 eine besondere Abteilung gewidmet ist. Gleich der erste 
Jahrgang birgt das inhaltreiche Volkskalendarium von M. Hof¬ 
ier, worin die volkstümlichen Namen der Monate, der Festzeiten, 
der einzelnen Tage mit ihren Sitten und Gebräuchen zusammen¬ 
gestellt werden. Leider erfährt man auch aus diesem reichhaltigen 
Verzeichnis nicht, was noch gegenwärtig im Volksmunde lebt und 
was schon abgestorben ist. Das ist überhaupt ein allgemeiner 
Fehler solcher umfassenden Sammlungen, der auf den meisten 
Gebieten der Volkskunde begegnet. — War ursprünglich das Ziel 
dieses Vereins, alte Volksüberlieferungen, die noch erhalten sind, 
zu sammeln und dadurch zukünftigen Geschlechtern ein allmäh¬ 
lich verblassendes Kulturbild zu hinterlegen, so will er neuerdings 
auch praktisch für die Erhaltung des guten Alten wirken und 
der Zerstörung oder ungeeigneten Restaurierung alter Denkmäler 
entgegentreten und die Ergebnisse volkskundlicher Forschung 
und Arbeit für das heutige Geschlecht ausbeuten und dadurch die 
Liebe zur Heimat und zum Vaterlande nähren. Daher führt die 
Zeitschrift seit 1912 den Titel: „Bayerischer Heimatschutz“ und 
läßt nun auch rein geschichtliche Denkmäler in ihren Spalten zu 
Worte kommen. So ist sie gegenwärtig mehr eine heimatkund- 
. liehe als volkskundliche Zeitschrift. 

Dasselbe gilt von einem dritten Unternehmen in bayerischen 
Landen, von dem Verein „Heimat“, den der Kurat Frank in 
Kaufbeuren 1899 ins Leben gerufen hat. Sinn für die Heimat und 
das deutsche Volkstum zu stärken ist das Hauptziel seines Grün¬ 
ders und dessen Genossen. Zu diesem Zwecke gibt er die „Deut¬ 
schen Gaue“ heraus, eine Zeitschrift für Heimat- und Volkskunde, 
die Anleitungen zu Beobachtungen und Forschungen in der Hei¬ 
mat birgt, zwanglose Berichte, Skizzen, Erzählungen. Die Zeit¬ 
schrift enthält ja recht mannigfaltigen Stoff, prähistorischen, 
geschichtlichen, heimatkundlichen, sozialen. So bringt sie auch 
zahlreiche Beiträge zur Volkskunde. Aber es geht hier alles bunt 
durcheinander, so daß man den Eindruck hat, man befinde sich 
in einem Ortsmuseum, dessen Leiter alles aufstapelt, was er 
auftreiben kann, ohne die Gegenstände nach ihrem Werte zu 
beurteilen. Die gleiche Mannigfaltigkeit wie die „Deutschen Gaue“ 
selbst zeigen auch die Sonderhefte zu ihnen, die sie begleiten und 
in sich abgeschlossene Darstellungen bringen. Unter ihnen sei der 
Praktische Wegweiser durch die Pfarrbücher hervorgehoben, in 
dem das Material aus einer sehr wichtigen kulturgeschichtlichen 


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]?. Mogk 


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und volkskundlichen Quelle, den alten Pfarrbüchern, veröffent¬ 
licht wird. 

Dem schlesischen und bayerischen schloß sich 1897 der säch¬ 
sische und bald darauf auch der hessische Verein für Volkskunde 
an. Der sächsische Verein legte von allem Anfang an das Haupt¬ 
gewicht auf die Realien der Volkskunde und besonders auf die 
Volkskunst. Sein Ziel war daher die Errichtung eines Museums, 
das die Erzeugnisse der Volkskunst sammeln, zur Beschäftigung 
mit dieser anregen und zu ihrer Pflege in weitesten Kreisen an¬ 
spornen sollte. Durch die zielbewußte Arbeit Prof. Seyfferts 
ist dann auch in Dresden ein Museum sächsischer Volkskunst 
entstanden, das in vieler Beziehung vorbildlich genannt werden 
muß. Ein besonderes Verdienst um die Volkskunde hat sich der 
Verein auch dadurch erworben, daß er durch Preisarbeiten an den 
Mittelschulen das Interesse um die Volkskunst zu fördern strebt, 
wobei ihn die Regierung tatkräftig unterstützt. Die wissenschaft¬ 
liche Seite der Vereinstätigkeit liegt in Händen des Referenten, der 
in Leipzig eine Sammelstätte volkskundlichen Stoffes errichtete 
und im Aufträge des Vereins Mitteilungen herausgibt. 1 ) Diese 
haben keinen wissenschaftlichen Charakter; sie sollen vor allem 
anregen und hinweisen, worauf es bei volkskundlicher Arbeit 
ankommt, sie veröffentlichen das eingesandte Material und bringen 
nur hin und wieder zusammenhängende Darstellungen. — Um 
einen Mittelpunkt für umfangreichere Arbeiten auf dem Gebiete 
der Volkskunde aller Länder zu schaffen, gab im Aufträge des 
Vereins Ref. die „Beiträge zur Volkskunde“ heraus, die aber 
schon mit dem 4. Bande ihr Erscheinen einstellten.*) Mitglieder 
des Vereins waren es auch, die unter Wuttkes Leitung das Sammel¬ 
werk „Sächsische Volkskunde“ herausgaben. 3 ) Dieses Werk ver- 


*) Mitteilungen des Vereins f. sächs. Volkskunde, herausg. von 
£. Mogk. (Dresden 1897 fl.) 

*) BeiträgezurVolkskunde herausg. von E.Mogk. i.Bd. G.Schlauch, 
Sachsen im Sprichwort. (Leipzig 1905.) 2. u. 3. Bd. B. Jlg, Maltesische 
Märchen und Schwänke. Aus dem Volksmunde gesammelt. (Ebd. 1906.) 
4. Bd. A. Kopp, Ältere Liedersammlungen. (Sächs. Bergliederbüchleins 
Der Frau von Holleben Liederhandschrift.) (Ebd. 1906.) 

*) Sächsische Volkskunde. Unter Mitwirkung von J. Deichmüller, 
H. Dünger, H. Ermisch, K. Franke, O. Grüner, C. Gurlitt, A. Kurzwelly, 
E. Mogk, M. Rentsch, S. Rüge, O. Schulze, O. Seyffert, J. Walther herausg. 
von R. Wuttke. (Dresden 1900; 2. Aufl. ebd. 1901.) — Außerdem gab 
der sächs. Verein heraus: A.Meiche, Sagenbuch des Königreichs Sachsen 
(Leipzig 1903): O. Grüner, Die Dorfkirche im Königreich Sachsen 
(Leipzig 1904); O. Seyffert, Von der Wiege bis zum Grabe; ein Bei¬ 
trag zur sächs. Volkskunst (Wien 1905); A. Hennig, Die Dorfformen 
Sachsens. (Dresden 1912.) 


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Literaturbericht. Volkskunde 


239 


dient deshalb besondere Erwähnung, weil es Veranlassung zu einer 
erregten Debatte über die Begrenzung des Begriffes „Volkskunde“ 
gab. Der Herausgeber hat den Begriff ungemein weit gefaßt. 
Er vereinigte in dem Buche: Die geographische Darstellung des 
sächsischen Landes, die Vorgeschichte, die geschichtliche Ent¬ 
wicklung vor der Slawenzeit, den Verlauf und die Formen der 
Besiedlung, statistische Tabellen über Stand und Wachstum, 
Gliederung, Verbrechen und Selbstmord der Bevölkerung, dann 
folgten erst Volksdichtung, Mundarten, Sitten, Brauch und Volks¬ 
glaube, Anlage von Kirche, Haus und Hof, Bauernwohnung und 
Bauernkunst und endlich die Volkstrachten. Es unterliegt 
keinem Zweifel, daß wir es hier mit einer falschen Ausdehnung 
des Begriffes zu tun haben. Es ist interessant, zu beobachten, 
wie die einzelnen Forscher den Begriff „Volkskunde“ je nach dem 
Spezialgebiet ihrer Tätigkeit ausgedehnt oder verengt und sie mehr 
oder weniger für dieses in Anspruch genommen haben. Ich knüpfe 
eine kurze Darstellung darüber gleich an dieser Stelle an. 

Die Volkskunde ist eine deutsche Wissenschaft. Denn während 
andere Völker sich mit dem von W. Thoms 1846 geprägten „Folk¬ 
lore“ (d. h. der Volksüberlieferung) begnügt und demnach das 
Gewicht fast ausschließlich auf die Sammlung des Stoffes gelegt 
haben, hat in Deutschland das psychologische Moment, d. h. die 
Erforschung der Volksseele aus dem überlieferten Material, von 
allem Anfang an in der Volkskunde eine wichtige Rolle gespielt. Das 
Wort selbst begegnet relativ spät. Wohl wurde es (siehe S. 231, Anm. 1) 
schon 1822 von Fr. Ziska in der Vorrede zu seinen Österreichischen 
Volksmärchen 1 ) und von W.H.Riehl l858inseinem Vortrag„DieV. 
als Wissenschaft“*) gebraucht, aber zum allgemeinen Gebrauch ge¬ 
langt es erst in den 70er Jahrendes vergangenen Jahrhunderts. 8 ) Ohne 
feste Umgrenzung war es in den deutschen Wortschatz aufgenom¬ 
men. Da suchte ihm K. Weinhold im letzten Bande der Zeitschrift 
für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (S. 2) einen festen 
Inhalt zu geben. „Die Volkskunde hat die Aufgabe, das Volk, 
das ist eine bestimmte, geschichtlich und geographisch abgegrenzte 
Menschenverbindung von Tausenden oder Millionen, in allen 
Lebensäußerungen zu erforschen.“ Und in der Zeitschrift des 
Vereins für Volkskunde, die nun die Zeitschr. f. Völkerpsychologie 
ablöste, stellte er das Programm der neuen Wissenschaft auf 
(I, S. 3ff.). Danach sollte ihr Arbeitsgebiet sein: außer den physi- 


*) Vgl. v. Geramb, Deutsch-Österreich I. Bd., Heft 37. A. Hauffen, 
Z. d. V. f. Vk. XXIII, S. 414 f. 

*) Culturstudien aus drei Jahrhunderten S. 203 ff. 

*) Schon 1879 £ a b F. Liebrecht seinen kleinen Aufsätzen den Titel 
„Zur Volkskunde“. 


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E. Mogk 


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sehen Erscheinungen des Volkes die äußeren Zustände, Volksnah¬ 
rung, Tracht, Wohnung, und die inneren, die Lebenssitte im 
Haus und in der Sippe, außer dem Hause (im Jäger- und Fischer-, 
Hirten-, Bauern-, Handwerkerleben), das volkstümliche Recht, 
die Religion, die Sprache, die volkstümliche Poesie in all ihren Ver¬ 
ästelungen, Musik und Tanz, die Ästhetik. Dieses Programm 
übernahmen fast alle Landes- und Provinzialvereine und entwarfen 
auf Grund desselben ihre Fragebogen. Es kam auch in der kleinen 
Schrift von O. Jiriczek zum Ausdruck, die als seine Erweiterung 
anzusehen ist. 1 ) Doch nicht alle Forscher waren mit der Umgren¬ 
zung des Gebietes einverstanden, wie schon das Wuttkesche Werk 
zeigt. Vor allem wollte man die Volkskunde nicht als selbstän¬ 
diges Wissensgebiet anerkennen. Der Kulturhistoriker nahm sie 
für die Kulturgeschichte in Anspruch, der Ethnologe faßte sie als 
Teil der Völkerkunde auf 2 ), und Historiker wie Kaindl schlossen 
sich ihm an. ,,Die Volkskunde“, sagt letzterer, ,,ist jener Zweig 
der Völkerwissenschaft, welche für deren induktive komparative 
Methode einen bedeutenden Teil des Materials herbeizuschaffen 
hat. Sie hat alle Mythen und alle Äußerungen der lebenden Volks¬ 
religion, alle Sagen, Märchen, Lieder, Sprüche, den sog. Aberglau¬ 
ben, Sitten u. dergl. zu sammeln, sie hat alle Überbleibsel (sur- 
vivals) der früheren älteren Anschauungen aufzudecken, die zur 
Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhanges der menschlichen 
Geistesentwicklung unumgänglich notwendig sind.“ 3 ) Auch der 
Philologe kämpfte um sie. Während aber der Kulturhistoriker 
und der Ethnologe ihr Gebiet möglichst ausdehnten und über den 
Weinholdschen Rahmen hinausgingen, wurde von philologischer 
Seite dasselbe möglichst eingeengt. Für diese Begrenzung der 
Volkskunde und zugleich gegen den Entwurf Wuttkes trat nament¬ 
lich A. Dieterich in die Schranken. 4 ) Nach ihm ist ,,die Kunde 


*) Anleitung zur Mitarbeit an volkskundlichen Sammlungen. Brünn 
1894. Ebenso bei A. Hauffen, Einführung in die deutsch - böhmische 
Volkskunde. (Prag 1896.) 

*) Vgl. M. Winternitz, Völkerkunde, Volkskunde und Philologie. 
Globus 78 (1900), Nr. 22. u. 23.; S. Günther, Ziele, Richtpunkte und 
Methode der modernen Völkerkunde. (Stuttg. 1904.) Wenn G. behauptet, 
die Volkskunde hätte sich erst in den letzten Jahren als Ausläufer von 
der Völkerkunde abgezweigt, so ist das unrichtig. Denn ihrem Wesen 
nach bestand bereits die Volkskunde zu einer Zeit, wo von einer Völker¬ 
kunde als Wissenschaft noch keine Rede war. 

R. F. Kaindl, Die Volkskunde, ihre Bedeutung, ihre Ziele und 
ihre Methode mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den 
historischen Wissenschaften (Leipzig und Wien 1903) S. I9f. 

4 ) Über Wesen und Ziele der Volkskunde. Hess. Blätter f. Vk. I. 
(1902), S. 169 fr. 


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Literaturbericht. Volkskunde 241 


von einem Volke im umfassenden Sinne wissenschaftlich genom¬ 
men Philologie“, d. h. Philologie in der umfassendsten Bedeutung 
des Wortes als Geschichtswissenschaft. Es gilt, die organisch zu¬ 
sammengehörige Unterschicht zu erforschen, aus deren Mutter¬ 
boden alle individuelle Gestaltung und persönliche Schöpfung 
herausgewachsen ist, die „Unterwelt der Kultur“. Alle physischen 
Erscheinungen bei einem Volke scheidet er daher von dem Begriff 
der Volkskunde aus, und die materiellen Dinge (Hausbau, Tracht, 
Kunstgegenstände) kommen. nach ihm nur in Betracht, soweit 
sie das Volksdenken erklären. Zweifellos hat Dieterich darin 
recht, daß er die geistige — oder richtiger die innerliche — Tätig¬ 
keit in den Mittelpunkt des Begriffs stellt. Aber er konzentriert alles 
zu sehr auf das rein geistige Leben und rechnet zu wenig mit dem 
Gemütsleben der Menschen, der Völker, — Ganz ähnlich wie der 
klassischePhilologeDieterich nimmtauchderRomanistVoretzsch 1 ) 
die Volkskunde nur als philologische Disziplin in Anspruch und 
bekämpft daher die weite Ausdehnung, die Weinhold und ganz be¬ 
sonders Wuttke dem Worte gegeben hatten. 

In demselben Bande der Hessischen Blätter für Volkskunde, 
in dem Dieterich das Gebiet zu umreißen versuchte, hatte auch 
Strack*) eine Definition des Wortes gegeben. Unter dem Einflüsse 
von Wundts Völkerpsychologie und Posts naturwissenschaft¬ 
licher Erklärung rechnet er mit der Massenassoziation und dem 
Völkergedanken und erklärt als Aufgabe der wissenschaftlichen 
Volkskunde, neben der er auch die praktische zu ihrem Rechte 
kommen läßt, „die Erforschung, Darstellung und Erklärung aller 
Lebensformen und geistigen Äußerungen, die aus dem natürlichen 
Zusammenhang eines Volkes unbewußt hervorgehen und durch 
ihn bedingt sind.“ Ganz richtig fühlte Strack, daß in fast jedem 
Menschen, mag er Bauer oder Städter, gebildet oder ungebildet, 
reich oder arm sein, ein Stück Volkstum steckt, das unter gewissen 
Voraussetzungen zum Durchbruch kommt. Nur legte er die Vor¬ 
aussetzungen nicht klar. Das geschah auch nicht in der Fehde, 
die sich zwischen ihm und Hoffmann-Krayer entwickelte, 
der sich kurz zuvor 3 ) über das Wesen und die Aufgaben der Volks¬ 
kunde ausgesprochen und „Volk“ in Volkskunde fast nur für 


*) Philologie und Volkskunde. Versamml. deutscher Philologen und 
Schulmänner in Halle (Leipzig 1903) S. 129 fr. 

*) Ebd. I, S. 149 ff- 

*) Volkskunde als Wissenschaft (Zürich 1902); dazu Strack, Hess. 
Blätter f. Vk. I, S. 160ff.; Hoffmann-Krayer, Naturgesetz im Volksleben?, 
ebd. II, S. 57 ff.; Strack, Der Einzelne und das Volk, ebd. S. 64 ff, wo 
Hoffmann-Krayer die Erzeugnisse des Volkes als individuelle, Strack da¬ 
gegen als Massenerzeugnisse erklärt. 

Archiv für Kulturgeschichte. XIL 2 16 


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24 2 


E. Mogk 


das vulgus in populo in Anspruch genommen hatte. In dieser 
Schrift versuchte auch Hoff mann-Kray er die Volkskunde gegen 
die Ethnographie und Kulturgeschichte abzugrenzen und verlangte 
neben der Beschäftigung mit der stammheitlichen Volkskunde 
(d. h. der Volkskunde eines Volkes) das Studium der allgemeinen 
(d. h. der vergleichenden Volkskunde), die sich mit den Prinzipien 
und Grundgesetzen der volkstümlichen Anschauungen zu beschäf¬ 
tigen habe. Was den Unterschied zwischen Kulturgeschichte und 
Volkskunde betrifft, so steht nach H.-Kr. bei der Kulturgeschichte 
das „individuell-zivilisatorische Moment“ im Vordergrund, bei 
der Volkskunde das „generell-stagnierende“. Volle Klarheit 
über Begriff und Ausdehnung der Volkskunde war durch die Strack- 
Hoffmannsche Fehde nicht geschaffen worden. Das zeigt auch das 
in vieler Beziehung recht treffliche Werk von K. Reuschel 1 ), 
der auch noch das vulgus und zwar besonders die ländliche Be¬ 
völkerung als die Hauptquelle unseres volkskundlichen Materials 
ansieht. Der Hauptfehler ist darin gemacht worden, daß man zu 
sehr mit den sozialen Vereinigungen im Volke rechnete, zu wenig 
mit den psychologischen Ursachen der Erscheinungen, man sprach 
viel von geistiger Tätigkeit und berücksichtigte nicht, daß der 
Mensch in erster Linie unter dem Einflüsse von Gemütserregungen 
steht, die sein ganzes Denken und Handeln leiten. Solche Erwägun¬ 
gen bewogen Ref., eine bestimmtere Erklärung des Wesens der 
„Volkskunde“ zu geben und damit das Tätigkeitsgebiet ihrer 
Forscher fester zu umgrenzen. 2 ) Der Artikel ging von der Er¬ 
wägung aus, daß der Mensch — und zwar jeder — in erster Linie 
Gemütsmensch ist, und daß auf diesen die Umwelt, Ereignisse 
sowohl wie Naturerscheinungen, auf gleiche oder wenigstens 
ähnliche Weise einwirken. Der Reflex dieser Einwirkungen ist 
die assoziative Denkform, die die Dinge nicht mit dem abwägen¬ 
den Verstände, sondern nach den Gefühlserregungen auffaßt. Mit 
der Wiedergabe solcher Auffassungen hat es die Volkskunde zu 
tun. Wir können volkskundlichen Stoff bei allen Menschen beob¬ 
achten. Nur tritt er bei den höher gebildeten, vor allem den lo¬ 
gisch geschulten, mehr zurück als bei den ungebildeten, zumal 
wenn diese ihre Beschäftigung in der freien Natur haben. Hieraus 
erklärt sich, daß besonders die ländliche Bevölkerung viel volks¬ 
kundlichen Stoff liefert. Auch ist der Mensch nicht immer in 
gleicher Weise den Einflüssen der Umwelt zugänglich und so zur 
assoziativen Denkform geneigt; es geschieht nur, wenn der Gemüts¬ 
mensch unbewußt den Verstandsmenschen überwiegt. Es lassen 

*) Volkskundliche Streifzüge (Dresden u. Leipzig 1903). 

*) E. Mogk, Wesen und Aufgaben der Volkskunde. Mitt. des Ver¬ 
bandes deutscher Vereine f. Volksk. (November 1907). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


243 


sich ferner die einen Menschen mehr von äußeren Einflüssen 
leiten, andere weniger. Zu ersteren gehören vor allem die Kinder, 
die Alten, die Frauen. Sie liefern daher mehr volkskundliches 
Material als die Männer. Hierdurch scheidet das vulgus in populo 
ein für allemal aus. Bei dieser Auffassung spielt nun die Über¬ 
lieferung eine wesentliche Rolle. Überlieferung ist, was sich 
dem Menschen in seiner Kindheit unbewußt eingeprägt hat und 
das bei dem Gemütsmenschen fester haften bleibt als bei dem 
Verstandesmenschen, an dem manche Menschen ihr ganzes Leben 
hindurch festhalten, das andere dagegen, öfter nur teilweise, durch 
die Erziehung zum logischen Denken im Laufe der Zeit abstreifen. 
Durch diese Erklärung läßt sich wenigstens annähernd auch die 
Grenze zwischen Kulturgeschichte und Volkskunde ziehen: diese 
hat sich mit den Erzeugnissen zu beschäftigen, die die assoziative 
Denkweise hervorgerufen hat oder festhält, jene mit den individu¬ 
ellen Erzeugnissen denkender Geister. Da aber für diese vielfach 
das Volkstum der Wurzelboden ist und die höhere individuelle 
Kultur öfter zur assoziativen Denkform anregt, so besteht zwischen 
beiden ein fortwährender Wechselverkehr, und die Beschäftigung 
mit dem einen ohne das andere ist undenkbar und müßte zu 
argen Fehlschlüssen führen. Hierdurch wird auch eine geschicht¬ 
liche Verfolgung volkskundlichen Materials unbedingtes Erforder¬ 
nis. Zugleich treten die geistigen Erzeugnisse, wie es Dieterich 
gefordert hat, in den Mittelpunkt der Forschung, und die physi¬ 
schen Erscheinungen des Menschen, die Weinhold an die Spitze 
seines Programms gestellt hat, scheiden aus. Dagegen nicht die 
materiellen Erzeugnisse, die Realien der Volkskunde. Denn diese 
fußen entweder in der Überlieferung oder haben ihren Ursprung 
in Erzeugnissen einer höheren Kultur, an denen der natürliche 
Mensch seine Freude gefunden und die er deshalb als Ausdruck die¬ 
ser Gemütsstimmung nachgeahmt (nicht nachgebildet 1) hat. 
Diese Erklärung des Begriffs „Volkskunde“ hat mehrfach Anklang 
gefunden 1 ); eine Widerlegung ist zurzeit nicht erfolgt. 

Ein frischer Zug auf dem Gebiete volkskundlicher Tätigkeit 
ging noch im Ausgang vorigen Jahrhunderts von Hessen aus. 
Hier wirkten vor allem Adolf Strack und Albre'cht Dieterich,, 
von denen jener 1899 die Hessische Vereinigung für Volkskunde ins 
Leben rief, die sich anfangs dem Oberhessischen Geschichtsvereitt 
angliederte, 1901 aber sich selbständig machte und unter Stracks 
Leitung die Hessischen Blätter für Volkskunde herausgab, eine 
volkskundliche Zeitschrift, die zu den besten in Deutschland ge- 

*) Vgl. Böckel, Die deutsche Volkssage S. 2f.; K. Reuschel, All¬ 
gemeine u. franz. Volkskunde 1897—1909, S. ioff; J. Sahr, Zeitschr. f 
d. deutschen Unterricht XXV, S. 2270. 

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E. Mogk 


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hört. Da sie nicht nur Aufsätze und Beiträge zur hessischen Volks¬ 
kunde bringt, ist sie, namentlich für Mitteldeutschland, neben der 
Berliner Zeitschrift ein zweiter Mittelpunkt volkskundlicher For¬ 
schung. Außer z. T. recht wertvollem Stoff aus hessischen Landen, 
der teils aus dem Volke, teils aus alten Schriften geschöpft ist, 
und inhaltreichen Besprechungen volkskundlicher Arbeiten ent¬ 
halten namentlich die ersten Bände Artikel, die gewisse Forschungs¬ 
gebiete wesentlich gefördert haben. So weist A. Dieterich die Exi¬ 
stenz von Himmelsbriefen, die bis in unsere Zeit eine so wichtige 
Rolle spielen, schon in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit¬ 
rechnung in jüdischen und griechisch-römischen Quellen nach 
(I, S. I9ff.) ; J. R. Dieterich sieht in der mittelalterlichen Sitte des 
Eselrittes und Dachabdeckens illegitime Nachfolger der alten, 
in Abgang gekommenen Volksgerichte (I, S. 87ff.); Usener bringt 
in einem lehrreichen Aufsatze „Über vergleichende Sitten- und 
Rechtsgeschichte“ (I, S. 195 ff.) die Ephebien des Altertums mit 
den Jünglingsweihen der deutschen Bauern zusammen und gibt 
so eine wertvolle Ergänzung zu Schurtz, „Alterklassen und 
Männerbünde“ (Berl. 1902), einem Werke, das die Bruderschaften 
und Männerbünde bei allen Völkern der Erde verfolgt und nicht 
nur durch sein Material, sondern auch durch seine Ergebnisse für 
jeden Volkskundenforscher unentbehrlich ist. Nach diesem Werke 
steht es fest, daß diese Bünde einen sozialen, ja öfter politischen, 
nicht aber, wie Usener annimmt, einen sakralen Hintergrund haben. 
— Aus dem 2. Bande sei vor allem die Abhandlung von R. Petsch 
hervorgehoben: Volksdichtung und volkstümliches Denken (S. 
192ff.). In ihm erkennt sein Verf. die volkstümliche Denkweise 
als Willensakte, die triebartig-unwillkürlich erfolgen und auf As¬ 
soziationsvorgängen beruhen.') Hierdurch wird die Phantasietätig¬ 
keit eine passive, ein Denken in Bildern, und nur das regt zur 
Phantasie an, was einen starken, sinnlichen Eindruck hinterläßt. 
Und unter dem Einflüsse dieses Eindrucks entsteht die Volksdich¬ 
tung. Petsch sieht also hier die Quelle der Volkspoesie in ähnlichen 
seelischen Vorgängen wie Ref. alle Erzeugnisse der Volkskunde. 
Hierzu stimmt auch, was O. Schulte über die Psychologie der 
Bauern des nördlichen Vogelberges sagt (II, S. 1 ff.), und was a. O. 
L'Houet auf breiter Grundlage ausgeführt hat*): nur das sinnlich 
Greifbare, das stark Wirkende erregt bei dem natürlichen Menschen 
Reflexbewegungen, die in seinen Worten, Werken und Hand¬ 
lungen zum Ausdruck kommen. — In einem Aufsatze über die An¬ 
fänge der Kunst (III, S. 98ff.) widerlegt K. Groos die Hypothese 

*) Vgl. auch das treffliche Werk von Vierkandt, Naturvölker und 
Kulturvölker (Leipzig 1896), auf dem Petsch seine Gedanken aufbaut 

*) Zur Psychologie des Bauerntums (Tübingen 1905). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


245 


Darwins, wonach der Ursprung der Kunst im Sexualleben der 
Urmenschen zu suchen wäre. Durch die Tatsachen wenigstens 
wird sie nicht gestützt. Vielmehr ist er in dem sozial-religiösen 
Leben zu suchen, das auch für die Höherentwicklung der Kunst 
viel wichtiger ist als die Bewerbung. — Ein Artikel, der sich mit 
der Erklärung volkskundlicher Ausdrücke beschäftigt und demnach 
weitergehende Bedeutung hat, ist E. Bethes Vortrag „Mythus, 
Sage, Märchen“ (IV, S. 97 ff.). Er zeichnet sich vor allem durch große 
Klarheit aus. Alle drei Worte sind gelehrte Begriffe, die oft ganz 
verschieden gedeutet worden sind. Nach Bethes Auffassung sind 
die Märchen dem Unterhaltungsbedürfnis natürlicher Menschen 
entsprungen. „Sie sind die von einem bestimmten Volkskreise 
nach seinem Geschmack ausgewählte und seinem Wesen ange¬ 
paßte Auswahl aus dem großen internationalen Schatze hübscher 
Geschichten, die zum Allgemeinbesitz des Volkes geworden sind, 
aber auch wieder aus ihm ausgewählt wurden, weil sie in typischer 
Reinheit allgemein menschliche Eigenschaften und Leidenschaften, 
Schwäche und Stärke, Erfahrungen und Weltweisheit zu anschau¬ 
licher Darstellung bringen oder auch gar nichts weiter geben als 
Unterhaltung, und nichts anderes erzählen, als was ergötzt und 
gefällt, und der Phantasie des empfänglichen Erwachsenen wie 
des Kindes ein Spiel bieten, das Welt und Leben von der engen Ge¬ 
bundenheit eckiger Wirklichkeit befreit und, nur dem unbehinderten 
Wunsche dienstbar, heiter zu genießen erlaubt.“ So ist das 
Märchen die Quintessenz aller Phantasiearbeit der Menschheit, 
und hieraus erklärt sich seine Bedeutung für Sage und Mythus, 
indem sich diesem wie jener zahlreiche Märchenmotive angliedern, 
wie andererseits aber auch Mythus und Sage in das Märchen ein- 
dringen können. In dem Nachweis der gegenseitigen Wechselwir¬ 
kung jener drei Begriffe liegt der Wert der Betheschen Arbeit. 
In dem Abschnitt über die Sage — in der Deutung dieses Wortes 
schließt sich B. ganz an J. Grimm an — wird vor allem die Helden¬ 
sage behandelt. Mit Recht wird die so lange herrschende und viel¬ 
fach heute noch nicht überwundene Ansicht, daß die Heldensage 
alter Göttermythus, Helden wie Siegfried also depotenzierte 
Götter seien, zurückgewiesen. Alle Heldensage wurzelt vielmehr 
in historischen Ereignissen, knüpft an historische Gestalten an, 
an die sich, namentlich im Zeitalter der historischen Novelle, 
alle möglichen Märchenmotive, Ta,ten anderer Personen, selbst 
mythische Züge ankristallisiert haben, die die Phantasie des Volkes 
und der Dichter immer mehr zur Idealgestalt ausgebildet hat. 
Mythus endlich ist primitive Philosophie, die einfachste anschau¬ 
liche Denkform, eine Reihe von Versuchen, die Welt zu ver¬ 
stehen, Leben und Tod, Schicksal und Natur, Götter und Kulte 
zu erklären. So sind Mythus, Sage und Märchen nur ihrem Ur- 


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Sprunge und ihrem Zwecke nach verschieden, in der uns überliefer¬ 
ten Form aber haben fortwährend gegenseitige Austauschungen 
stattgefunden, und es ist die Aufgabe der Forschung, das überlieferte 
Material zu zergliedern und Märchenmotive, Sagenzüge und mythi¬ 
sche Bestandteile zu sondern. Dabei stellt sich heraus, daß man 
nicht, wie in letzter Zeit mehrfach geschehen ist 1 ), ganze Sagen auf 
bestimmte Märcheneinheiten zurückführen darf, sondern daß es 
Motive von ganz verschiedenen Märchen sind, die die Dichtung 
und Volksphantasie mit der Sage verflochten hat. 

Ähnliche Probleme, wie sie Bethe hier erörtert, sind zu derselben 
Zeit auch von anderen Forschern behandelt worden. Zunächst von 
F. Panzer in seiner akademischen Vorlesung über Märchen, Sage 
und Dichtung. 2 ) Ähnlich wie bei Bethe konzentrieren sich auch 
Panzers Erörterungen um die Heldensage. Märchen und Sage 
charakterisiert er hauptsächlich ihrer Form nach und sucht sie 
durch diese scharf voneinander zu trennen. Die Sage führt ihn 
zur Dichtung, die ihm durch die äußere Form zur Poesie gewordene 
Geschichte ist. Dabei wirft Panzer die umstrittene Frage auf, 
ob die uns aus dem 13. Jahrhundert erhaltene Heldendichtung 
auf ältere Dichtung oder mündliche Sage, wie namentlich mehrere 
Romanisten annehmen, zurückgehe, und entscheidet sich für das 
erstere, da die geschichtlichen Ereignisse früherer Zeiten große 
Treue zeigen und der innere Charakter der Dichtung ganz dem 
Geist der Zeiten entspricht, in denen sie gespielt haben. Wird ihm 
die Kritik hierin recht geben müssen, so schwerlich in der Behaup¬ 
tung, auf der Panzers eben genannten Werke aufgebaut sind, 
daß die Heldensage im Märchen wurzle, daß also historische und 
sagenhafte Gestalten auf bestimmte Märchen durch den Dichter 
übertragen worden seien. Offenbar hat über den Ursprung der 
Sage die Bethesche Auffassung die größere Wahrscheinlichkeit für 
sich. — Über Märchen, Sage und Mythus hat auch W. Wundt 
seine Gedanken geäußert, aber weniger vom philologischen als 
vielmehr vom psychologischen Standpunkte aus. 8 ) Er hält die 
Frage nach der Begrenzung von Märchen, Sage und Legende 
zugleich für eine psychologisch-ästhetische. Danach wandelt das. 


*) Fr. Panzer, Studien zur germanischen Sagendichtung I. Beowulf 
(München 1910), wo P. in der Beowulfdichtung das Märchen vom Bären¬ 
sohn wiederzufinden glaubt; II. Sigfrid (ebd. 1912), worin mehrere Märchen 
nachzuweisen versucht werden. Schon in Hilde-Gudrun (Halle 1901) 
hatte P. das Märchen vom Eisenhaus als Quelle der Hilde-Gudrun- 
dichtung angenommen. 

*) Märchen, Sage und Dichtung (München 1905). 

*) Märchen, Sage und Legende als Entwicklungsformen des Mythus. 
Archiv f. Religionswiss. XI, S. 200 fl. 


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Literaturbericht. Volkskunde 


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Märchen die Eindrücke der täglichen Umgebung unter der Wir¬ 
kung der Affekte des Wunsches und der Furcht, von denen sie 
begleitet sind, mit phantastischer Willkür in eine erträumte Wirk¬ 
lichkeit um. Was Wundt über den Begriff „Sage“ bemerkt, ist 
nichts Neues. Ob in die weiter entwickelte Volkssage die sog. 
niedere Mythologie, in die durch das Epos ausgebildete Helden¬ 
sage die höhere verwoben ist, wie hier angenommen wird, bedarf 
doch noch gründlicher Untersuchung. Jedenfalls spielt auch in 
der Heldensage der Dämonen-, Seelen- und Zauberglaube eine nicht 
zu unterschätzende Rolle. Das Hauptgewicht hat Wundt auf die 
Erklärung des Göttermythus gelegt, d. h. auf die Erzählungen, 
die sich an die Götter knüpfen. Einen Göttermythus als besondere 
Gattung poetischer Gestaltung leugnet W. Der Mythus, meint 
er, ist entweder mythologisches Märcheo oder mythologische 
Sage, je nachdem in ihm die frei schaffende Phantasie tätig ge¬ 
wesen oder die Erzählung an Ort oder Zeit gebunden ist. Als 
Unterart der mythologischen Sage begegnet dann die Legende, 
deren Hauptmerkmal ist, daß ihr Held entweder als Stammvater 
oder als der einstige Wohltäter des lebenden Geschlechtes betrach¬ 
tet und daher teils in den allgemeinen Kultus aufgenommen ist, 
teils in besonderen Kultfesten gefeiert wird. 

Gegenüber diesen auf geschichtlichen Forschungen und psycho¬ 
logischen Beobachtungen beruhenden Arbeiten hebt sich eine 
vierte, die von E. Siecke, wie ein Satirstück ab. 1 ) Mythen, 
Sagen und Märchen sind ihm drei Spielarten, zwischen denen kein 
Unterschied besteht. Alles wurzelt in der Beobachtung der Vor¬ 
gänge am Himmel, namentlich des Mondes, die bei primitiven 
Menschen die Phantasie erregt und zur Bildung von Märchen, 
Mythen und Sagen angespornt haben, aus denen sich noch heute 
diese Beobachtungen herauslesen lassen. Ein Unterschied zwischen 
Mythus, Märchen und Sage hat sich erst im Laufe der Zeit heraus¬ 
gebildet. Die kosmologischen Erzählungen — die also vor aller 
Religion liegen! —, bei denen der Gedanke an überirdische Mächte 
sich erhielt, wurden zu Mythen oder Göttersagen, die wesentlich 
zur Entstehung der Religion beigetragen haben, diejenigen, in 
denen die handelnden Personen als Helden der Vorzeit erschienen 
und an die sich geschichtliche Erinnerungen anlehnten, wurden 
zu Sagen, diejenigen aber, welche die Beziehung auf historische 
Vorgänge ganz fallen ließen und in niedere menschliche Sphäre hinab- 
stiegen, wurden zu Märchen. Alles aber wurzelt in den verschie¬ 
denen Mondphasen. Der Standpunkt, daß Märchen und Sage 
gesunkener Mythus sei, wird trotz des Gegenbeweises von fast allen 

*) Mythen, Sage, Märchen in ihren Beziehungen zur Gegenwart 
(Leipzig 1906). 


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Seiten festgehalten, und so überall phantasiert, nirgends auf¬ 
gebaut. Leider hat die Sieckesche Phantasterei geradezu hypno¬ 
tisch gewirkt und wuchert weiter. Abgesehen von der „Mytho¬ 
logischen Bibliothek“ (Lpz. 1907 ff.), die Siecke mit den Drachen¬ 
kämpfen, d. s. zur Sage gewordene Mondmythen, eröffnet und 
die sich ganz in dieser nebelhaften Sphäre bewegt, sind verschie¬ 
dene Monographien ähnlichen Inhalts erschienen. So suchte 
W. Schultz 1 ) in Zahlen und Bildern, von denen die einzig ein¬ 
leuchtenden (S. 23) von ihm selbst konstruiert sind, den Ursprung 
der Mondmythen, hervorgerufen durch Hell- und Schwarzmond 
(Tarnkappe, Drachenkämpfe), für die Arier in Anspruch zu nehmen 
und läßt sie von dort aus zunächst zu den Ägyptern und dann 
über die ganze Erde bis zu den Indianern Nordamerikas sich ver¬ 
breiten. Ihren Höhepunkt aber erreicht diese Richtung und wird 
geradezu zur Astromanie in einem Werke von G. Friedrichs*), 
worin sämtliche germanische Märchen, Mythen und Sagen als 
poetische Reflexe von Eindrücken der Sonne, des Mondes und 
des Morgensternes gedeutet werden. Daß dabei die Kritik der 
Quellen nicht beachtet werden darf und diese vielfach gefälscht 
werden müssen, liegt in der Natur der Sache. Aber auch ernstere 
Forscher haben sich dem Banne der Hypnose nicht entziehen 
können; so P. Ehrenreich in seiner in vieler Beziehung vor¬ 
trefflichen Allgemeinen Mythologie 8 ); und selbst Leopold von 
Schroeder kann sich in seiner Deutung der Brünhildendichtung 
ihr nicht ganz entziehen. Das letztere Werk 4 ) ist ein eigentümliches 
Buch, das an dieser Stelle Erwähnung verdient, da es sich mit 
den Problemen berührt, die hier behandelt worden sind. v. Schroe¬ 
der läßt die Götter- und Heldensagen, namentlich die Drachen¬ 
kämpfe, noch unter dem direkten Einflüsse der Naturerscheinungen 
entstehen. Die Sonnenjungfrau, d. i. die Sonne, die von einem Hel¬ 
den, dem Sonnengotte, aus der Gewalt dämonischer Mächte be¬ 
freit wird, spielt bei seinen Deutungen eine wichtige Rolle; die 
Mythen von ihr, die in vielen Götter- und Heldensagen sowie Mär¬ 
chen fortleben, gehören der arischen Urzeit an. Sie wurzeln in 


*) Die Anschauung vom Monde und seinen Gestalten in Mythus und 
Kunst der Völker (Berlin-Treptow, Sternwarte, 1012). — Etwas vorsichtiger, 
aber auch durchaus Astralmytholog ist Gäza Röheim, Drachen und 
Drachenkämpfe (Berlin 1912). 

*) Grundlage, Entstehung und genaue Einzeldeutung der bekanntesten 
germanischen Märchen, Mythen und Sagen (Leipzig 1909). 

*) Die allgemeine Mythologie und ihre ethnologischen Grundlagen 
(Leipzig 1910). 

4 ) Vollendung des arischen Mysteriums in Bayreuth (München, J. F. 
Lehmann, 19 n). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


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der Naturverehrung der ungetrennten Arier oder Indogermanen- 
Außer der Naturverehrung hatten diese den Seelenkult und den 
Glauben an ein höchstes gutes Wesen, das im Himmel thronte 
und über die Moral wachte. Letzteres dürfte mit Recht bezweifelt 
werden. In dieser Religion tritt, wie bei allen primitiven Völkern, 
der Zauber (Sonnen-, Regen- und Fruchtbarkeitszauber) hervor. 
Zu seiner Verstärkung dienen Tanz und Umzüge mit mimischen 
Darstellungen und Handlungen, die Schallwirkungen (Musik) be¬ 
gleiten, und hierin wurzelt das Mysterium und der Mimus, aus dem 
sich das Drama entwickelt hat. Die Mysterien sind religiöse, 
kultische, mythische oder doch im Mythus beruhende Hand¬ 
lungen, die in Tänzen bestehen, wobei die Teilnehmer verkleidet 
und maskiert abgeschiedene Seelen, Dämonen oder Götter dar¬ 
stellen. Aus Sitte und Brauch, Kult und Mythus der verschiedenen 
indogermanischen Völker erschließt v. Schroeder die urarischen 
Mysterien; diese waren: Tod und Wiederbelebung des Vege¬ 
tationsdämons, Befreiung der Sonnenjungfrau aus der Gewalt 
dämonischer Mächte durch den Drachenstich, Hochzeit des Vege¬ 
tationsdämons und Wiedergewinnung der gerauhten Sonne. In allen 
diesen Mysterien zeigte sich eine, rücksichtslose Lebensbejahung, 
die den Urariern eigen war. In diese Lebensauffassung kam bei 
den Ostariern durch den Buddhismus, bei den Westariern durch 
das Christentum ein fremder Zug, eine weibliche Moral im Gegen¬ 
satz zur urarisch-männlichen. Beide Gegensätze zeigen sich ganz 
besonders bei der germanischen Rasse, die neben der hingebenden 
Liebe, die das Christentum brachte, die alte arische Kraft und 
Frische am reinsten erhalten hat. Alle diese Erscheinungen kom¬ 
men im Wagnerschen Musikdrama zum Ausdruck. Der geniale 
Geist Wagners hat aber auch die Urzelle des arischen Dramas, 
in der Tanz, Musik und Dichtung in organischer Einheit verbunden 
sind, richtig gefühlt und ist so zur Einfachheit des alten arischen 
Mysteriums gekommen, das nur wenige Szenen, ja oft nur eine 
hat. Infolgedessen bilden seine Dramen nur einige wenige große, 
entscheidende Szenen, die alles enthalten, was gesagt werden soll. 
In dieser Auffassung vom Drama und in der Vereinigung von 
Tanz-, Ton- und Dichtkunst ist Wagner zu dem altarischen Myste¬ 
rium zurückgekehrt, er hat es in einziger Art zur Vollendung ge¬ 
führt und so in Bayreuth den idealen Mittelpunkt aller arischen 
Völker geschaffen. 

Der Wert von v. Schroeders Buch für die Volkskunde liegt 
darin, daß in ihm die Volksüberlieferung der Gegenwart in reichem 
Maße zur Rekonstruktion altarischer Religion verwertet wird. 
An der Notwendigkeit der Verwertung dieser Quelle zweifelt heute 
niemand mehr. Dagegen vermißt man die nötige Kritik bei der 
Götter- und Heldensage, und von der Ankristallisierungstheorie, 


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250 E. Mogk 


der namentlich Bethe zu ihrem Rechte verholfen hat, scheint 
v. Schroeder nicht viel wissen zu wollen. Unzählige Märchen, 
zahlreiche mythische Motive durchschwirren die Luft; sie setzen 
sich in Sage, Mythus und Dichtung bald an eine Gottheit, bald 
an Menschen und Heroen an. Aber diese Märchenzüge, wie sie 
kurz bezeichnet werden mögen, sind nicht primär, sind nicht von 
Haus aus mit dem Gott oder Sagenhelden verknüpft. Das hat u. a. 
Otto Berthold klar erwiesen 1 ), indem er durch eine genaue 
Kritik der Quellen nachweist, daß bei den Griechen die Heroen, 
an die sich die Unverwundbarkeit knüpft, diese erst im Laufe der 
Zeiten erhalten haben, geradeso wie Siegfried in unserem Nibe- 
lungenliede. Auf germanischem Gebiete hat durch den Nachweis 
zahlreicher Märchenmotive in den nordischen Göttersagen von 
der Leyen dieser Auffassung zum Siege verholfen 8 ) und hat sie 
dann im ersten Bande seines Deutschen Sagenbuches 3 ) in geschick¬ 
ter Weise verwertet. Auch in der kleinen Germanischen Mytho¬ 
logie von J. v. Negelein 4 ) ist sie gelegentlich mit herangezogen, 
wenn auch in ihr der Mythus wesentlich zurücktritt und Kult 
und Ritus den Inhalt des Buches beherrschen. Wie spätere Volks¬ 
überlieferung erst vielfach den Schlüssel zur Geschichte einer Gott¬ 
heit gibt, zeigt die Arbeit W. von Unwerths 6 ), worin nachge¬ 
wiesen wird, daß der nordische Odinn von Haus aus, wie die Volks¬ 
sage beweist, Totengott gewesen, als solcher bei Lappen Auf¬ 
nahme gefunden und' hier lange als Rota fortgelebt hat. So zeigt 
sich in dieser und zahlreichen anderen neueren Arbeiten, die in 
das Gebiet der Religionsgeschichte gehören, daß diese ohne Volks¬ 
kunde gar nicht getrieben werden kann. Zu welch erfreulichen 
Ergebnissen die Erklärung antiker Quellenzeugnisse durch lebende 
Volkssitte der Kulturvölker oder den Ritus primitiver Stämme 
führen muß, sieht man aus der trefflichen Arbeit von A. Diete¬ 
rich 6 ), nach der der Glaube an die Erde als allwaltende Mutter 
und Spenderin alles Lebens fast allen Völkern gemeinsam ist und 
sie als solche überall verehrt wurde, was aus den Schriftstellern und 
bildlichen Darstellungen der alten Kulturvölker ebenso klar her¬ 
vorgeht wie aus vielen volkstümlichen Sitten und Bräuchen der 
Gegenwart und primitiver Völker. Und so die Volksreligion mit 

*) Die Unverwundbarkeit in Sage und Aberglauben der Griechen 
(Gießen, A. Töpelmann, 1911). 

*) Das Märchen in den Göttersagen der Edda (Berlin 1699). 

*) DieGötter und Göttersagen der Germanen (München, C.H.Beck,i909). 

4 ) Germanische Mythologie, 2. Aufl. (Leipzig, B. G. Teubner, 1912). 

•) Untersuchungen über Totenkult und Odinverehrung bei den 
Nordgermanen und Lappen (Breslau, M. u. H. Marcus, 1911). 

•) Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion (Leipzig, B. G. 
Teubner, 1905; 2. Aufl. 1913). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


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Hilfe der Volksüberlieferung späterer Jahrhunderte und der 
Gegenwart bei den einzelnen Kultur- und Naturvölkern bloßzu¬ 
legen, das war die Aufgabe, die sich H. Usener und A. Dieterich 
gestellt hatten. Dieses Ziel ist durch ihre Arbeiten in die Hessische 
Zeitschrift für Volkskunde getragen worden. 

War die Bedeutung der Volkskunde, namentlich für die ver¬ 
gleichende Religions- und Kulturgeschichte, richtig erkannt, so 
mußten Mittel und Wege geschaffen werden, wodurch der Forscher 
auf das überall zerstreute Material aufmerksam, ja womöglich 
dieses ihm zugänglich gemacht wurde. Auch diese Notwendigkeit 
hatte die Hessische Vereinigung klar erkannt. Daher erschien 
gleich mit dem I. Bande der Zeitschrift eine Zeitschriftenschau 
(1902), die eine Inhaltsangabe aller volkskundlichen Artikel aus 
den Zeitschriften der verschiedensten Länder und Disziplinen 
brachte. Sie schwoll mit der Zeit immer mehr an und wurde schon 
für den Forscher ein unentbehrliches Mittel, ging aber leider mit 
dem 5. Bande (1905) ein und hat seitdem bis 1912 keinen gleich¬ 
wertigen Ersatz gefunden, wenn auch der „Jahresbericht über die 
Erscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie“ 
volkskundliche Werke und Aufsätze, soweit sie in deutschen Zeit¬ 
schriften erschienen sind, mit berücksichtigt. 

Um die Wende des Jahrhunderts schlug auch in Württemberg 
Bohnenberger in Tübingen die Werbetrommel für die Volkskunde 
und schuf zunächst nur eine Sammelstelle volkskundlichen Mate¬ 
rials. Veröffentlichungen erfolgten in den Württembergischen 
Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde, die seit 1904 als 
„Mitteilungen über volkskundliche Überlieferungen in Württem¬ 
berg“ in besonderen Heften herausgegeben werden. Die bisher 
erschienenen 6 Hefte bringen fast durchweg Arbeiten über Sitte 
und Brauch. Erst seit 1910 gibt Bohnenberger auch die „Volks¬ 
kunde-Blätter aus Württemberg und Hohenzollern“ heraus, die 
kurze Nachrichten und Umfragen des unterdessen gebildeten 
württembergisch-hohenzollerischen Vereins für Volkskunde ent¬ 
halten und ähnlich wie die sächsischen und bayerischen mehr zum 
Sammeln anregen als wissenschaftliche Erörterungen bringen 
sollen. 1 ) 

Im benachbarten Baden hatte die Volkskunde schon seit Jahr¬ 
zehnten durch Birlingers Tätigkeit in der Alemannia ihren Mittel¬ 
punkt. Nach Birlinger wirkte hier vor allem E. H. Meyer. Er 

x ) Beiträge zur württembergischen Volkskunde finden sich auch in 
den Veröffentlichungen der Lokalvereine. So gab Gerlach die Nieder¬ 
schrift des Pfarrers Schöttle „Volkskundliches aus Hülen“ aus dem Jahre 
1850 heraus in den Heften des Lauchheimer Geschichts- u. Altertums¬ 
vereins (EUwangen 1911). 


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versandte gemeinsam mit F. Kluge und F. Pfaff Fragebogen zur 
Sammlung der badischen Volksüberlieferungen, skizzierte im 
22. Bande der Alemannia (1894) die Bedeutung der Volkskunde für 
die Mythologie, verfaßte die erste und zurzeit noch einzige Dar¬ 
stellung deutscher Volkskunde 1 ) und gab außer verschiedenen 
kleineren Monographien einBuch,,Badisches Volksleben im 19. Jahr¬ 
hundert“ (Straßburg 1900) heraus, das vor allem durch die 
historische Verfolgung der Erscheinungen im Volksleben vorbild¬ 
lich für ähnliche Darstellungen ist. Zu einem Badischen Verein 
für Volkskunde kam es erst 1904, der ebenfalls kurze Mitteilungen 
herausgab 2 ), 1909 mit dem Verein für Heimatschutz verschmolz 
und seitdem unter Pfaffs Leitung die kleine Vierteljahrsschrift 
„Dorf und Hof“ veröffentlicht. Als besondere Schrift des Ver¬ 
eins erschien die „Volkskunde im Breisgau“ 3 ), worin neben einer 
Anzahl von Volksliedern und kleineren Beiträgen Fr. Pfaff in 
der Sage vom Ursprung der Herzoge von Zähringen die alte Diet¬ 
richsage nachwies. . 

Der jüngste Verband in Deutschland ist der Verein für rhei¬ 
nische und westfälische Volkskunde, zu dem sich Volkstumforscher 
in Dortmund und Elberfeld 1903 zusammentaten. Sie geben eine 
Zeitschrift heraus, die zwar überwiegend rheinländisch - west¬ 
fälisches Material zur Volkskunde bringt, zuweilen aber auch, 
zumal in Abhandlungen, über dies Gebiet hinausgreift. So bringt 
gleich das erste Heft die bedeutende Abhandlung Jostes' über die 
norddeutschen Rolande, worin der Verf. die Rolandbilder und 
die Rolandsäulen auf das mittelalterliche Stechen nach Dreh¬ 
figuren (Roland volksetymologisch aus rollans) zurückführt, was 
in Frankreich als Quintaine lange fortgelebt hat und von hier 
nach Deutschland gekommen ist. 4 ) Der Name,,Roland“ für die Dreh¬ 
figur ist in Belgien aufgekommen, woher ihn niederdeutsche Kauf¬ 
leute in die Heimat mitgebracht haben. So kam er nach Bremen. 
Hier begegnet 1404 die erste Rolandsäule als Symbol der städti¬ 
schen Freiheit; sie entstammt einer Fälschung des Bürgermeisters 
Joh. Hemeling, der die Kolossalfigur des Roland mit dem Kaiser¬ 
schilde vor dem Rathaus anbringen ließ, um wie durch andere Fäl¬ 
schungen (Bremer Chronik) hierdurch Bremen den Vorrang vor 


*) Deutsche Volkskunde (Straßburg 1898). 

*) Blätter des Badischen Vereins für Volkskunde (Freiburg 1905 ff). 
Der Verein zerfiel in die Freiburger Abteilung (unter Pfaff) und die 
Heidelberger (unter Kahle). 

*) Herausg. vom Badischen Verein für Volkskunde durch Fr. Pfaff 
(Freiburg i. B., J. Bielefeld, 1906). 

4 ) Die Abhandlung ist auch besonders erschienen: F. Jostes, Roland 
in Schimpf und Emst. Die Lösung des Rolandrätsels (Dortmund 1906). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


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den übrigen Hansastädten zu sichern. Von Bremen aus hat dann 
die Rolandsäule ihren Siegeseinzug in zahlreiche Städte Nieder¬ 
deutschlands als Symbol städtischer Freiheit gehalten. — Beson¬ 
ders zahlreich sind in der westfälischen Zeitschrift die Beiträge zu 
den Dialekten und den Flurnamen. 

Gleiche Regsamkeit wie in Deutschland zeigt sich auf volkskund¬ 
lichem Gebiete auch in Österreich und der Schweiz. Bei den Sieben¬ 
bürger Sachsen hatte sich die Leitung des Korrespondenzblattes des 
Vereins für siebenbürgische Landeskunde (seit 1877) schon zeitig der 
Volkskunde angenommen, undfürdiegarfzen österreichischenLänder 
war 1894 in Wien der Verein für österreichische Volkskunde unter 
Haberlandts Leitung ins Leben getreten. Die Länder der gesamten 
Monarchie sollten in ihm in gleicher Weise vertreten sein, und die 
Zeitschrift (seit 1896) bringt auch Material aus allen Kronländern, 
von allen Völkern. Gleichwohl überwiegt auch in ihr der Stoff 
zur deutschen Volkskunde. Auch vertritt die Zeitschrift Ge¬ 
biete, die in anderen sehr in den Hintergrund gedrängt sind. 
So finden sich in ihr namentlich viele Abhandlungen und Beiträge 
zu den Realien der Volkskunde (Hausbau, Volkskunst,Tracht, Kreuz¬ 
steine und Marterln u. dergl.). Neben der Zeitschrift erscheinen auch 
Supplementhefte, die Abhandlungen in größerem Umfang bringen. 
Unter ihnen sind besonders hervorzuheben M. Höflers Darstel¬ 
lungen der Gebildbrote 1 ), unter denen die Spalt- und Zopf- 
gebäcke hervorzuheben sind, die auf alten Fruchtbarkeitszauber 
und Seelenkult zurückgehen, wie Höfler in zahlreichen Arbeiten 
nachgewiesen hat. 

Zu dem österreichischen Gesamtverein gesellten sich noch in 
Böhmen die mehr deutschnationalen Vereine, von denen der eine 
das Egerland umfaßte, der andere das östliche Böhmen. Dort grün¬ 
dete A. John 1897 den Verein für Egerländer Volkskunde, für 
den er „Unser Egerland“ herausgab, hier sammelte E.Langer 
die deutschnational Gesinnten um die Zeitschrift „Deutsche Volks¬ 
kunde aus dem östlichen Böhmen“ (Braunau 1901). Allein beide 
Zeitschriften sind mehr heimat- als volkskundlicher Natur und 
berücksichtigen wie die Volkskunde auch die Natur, die Geschichte, 
selbst die Dichtung des heimatlichen Gaues. Solche Zeitschriften, 
die alle ungemein viel volkskundlichen Stoff enthalten, hat gerade 
Böhmen in großer Anzahl. So die „Mitteilungen des Nordböhmi¬ 
schen Exkursions - Klubs“ (seit 1877), die in jeder Nummer 

*) Weihnachtsgebäcke (1905); Ostergebäcke (1906); Gebildbrote der 
Faschings-, Fastnacht- und Fastenzeit (1908); Gebildbrote der Hochzeit (1911)- 
Auch in der Zeitschrift selbst finden sich mehrere Beiträge von Höfler 
über Gebildbrote, wie wir ja diesem Forscher überhaupt die wichtigsten 
Aufschlüsse über die Gebäckformen bei unseren Volksfesten verdanken. 


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E. Mogk 


volkskundliche Themen behandeln, oder die „Mitteilungen des 
Vereins für Heimatkunde des Jeschken-Isergaues“ (Reichen¬ 
berg 1907 ff.) u. a. Ganz besonders aber hat es sich die Prager Ge¬ 
sellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Lite¬ 
ratur in Böhmen angelegen sein lassen, die Volkskunde zu pflegen, 
und so ist denn hier ein Ausschuß deutschböhmischer Volkskunde 
ins Leben getreten, der seit 1896 unter A. Hauffens Leitung die 
„Beiträge zur deutschböhmischen Volkskunde“ herausgibt, um¬ 
fangreichere Arbeiten, die in sich abgeschlossen sind und sich alle 
durch Trefflichkeit auszeichnen. So gibt A. Hauffen gleich im 
ersten Hefte eine erschöpfende Bibliographie der volkskundlichen 
Literatur in Böhmen 1 ), J. Ammann veröffentlicht die interessan¬ 
ten Volksschauspiele geistlichen wie weltlichen Inhalts aus dem 
Böhmerwalde 2 ), von denen besonders die vom bairischen Hiesel 
und vom Schinderhannes einen Einblick in das Volksleben geben; 
A. John gibt zum ersten Male die Aufzeichnungen über die Sitten 
und Gebräuche der Egerländer heraus, die der Magistratsrat Se¬ 
bastian Grüner 1825 für Goethe niedergeschrieben hat 3 ); der¬ 
selbe gibt auch die beste Darstellung der Sitten, Bräuche und des 
Volksglaubens im deutschen Westböhmen. 4 ) Weiter sind der Volks¬ 
kunde des Böhmerwaldes gewidmet J. Schrameks Darstellung 
des Hochgebirgs- und des Wallinger Hauses im Böhmerwalde 6 ), 
die beide viel Ähnlichkeit mit dem Typus des Alpenhauses haben, 
und G. Jungbauers stattliche Sammlung Volksdichtung aus 
dem Böhmerwalde 6 ), worin sich eine Anzahl Bänkelsängerlieder 
befinden, Volksdichter wie der Koasahansl, die Johanna Raschko, 
Ludwig Baier zu Worte kommen, Fensterlsprüche, Ortsneckereien, 
Hochzeitssprüche u. a. gesammelt sind. Auch Quellenschriften wer¬ 
den in der Sammlung herausgegeben, so das Kräuter- undArzneien- 
buch der Familie Reißer aus dem 18. Jahrhundert 1 ), die Schwänke 


*) Einführung in die deutsch-böhmische Volkskunde. (Prag, J. G. 
Calve, 1896.) 

*) Volksschauspiele aus dem Böhmerwalde. 3 Teile (ebd. 1898 — 1900.) 

*) Sebastian Grüner, Über die ältesten Sitten und Gebräuche der 
Egerländer, herausg. v. A. John (ebd. 1901). 

4 ) Sitte, Brauch und Volksglaube im deutschen Westböhmen (ebd. 1905). 

*) Das Böhmerwaldhaus (ebd. 1908). 

*) Volksdichtung aus dem Böhmerwald (ebd 1908). Hierin befindet 
sich die gehaltreiche Einleitung, worin sich J. über Natur-, Volks- und 
Kunstdichtung ausspricht. Den Unterschied zwischen Volkslied und 
Kunstlied findet J. vor allem in den verschiedenen Bildungsgraden, denen 
beider Dichter angehören, und darin, dafi das Volkslied ganz von der 
Melodie beherrscht wird. 

*) Mieser Kräuter- und Arzneibuch herausg. von G. Schmidt 
(Prag ebd. 1905). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


255 


über P. Hahn, den Faust des Erzgebirges (18. Jahrhundert), und 
J. Baptista Rölz, Böhmens Doktor Eisenbart (Anfang des 19. Jahr¬ 
hunderts) 1 ), die Schrift des Egerer Scharfrichters Karl Huss 
vom Jahre 1823 2 ), die u. a. auch interessante Trachtenbilder jener 
Zeit bietet." Über das Gebiet der eigentlichen Volkskunde hinaus 
gehen die Untersuchungen von Fr. Jesser über die Beziehungen 
zwischen Heimarbeit und Boden 3 ), worin an der Hand statistischer 
Quellen für Böhmen nachgewiesen wird, daß das Gebiet intensiv¬ 
ster Hausindustrie vorwiegend Waldland und das Land der min¬ 
derwertigen Böden ist, das hausindustriearme dagegen vorwiegend 
Feldland mit gutem Boden, ebenso daß Einfachheit und allmäh¬ 
liche Übergänge der Bodenformen eine größere Gleichmäßigkeit 
der hausindustriellen Siedelung und ein allmähliches Abnehmen 
derselben auf größerem Raume als Mannigfaltigkeit der Formen 
mit schnellen Übergängen von einem orographischen Typus zum 
anderen begünstigen. Auch wird gezeigt gegenüber den herrschen¬ 
den Anschauungen, daß die Hausindustrie keineswegs unter allen 
Umständen dort besonders heimisch ist, wo alle anderen Arten 
des Erwerbs nur spärlich vertreten sind, vielmehr wirken Heim¬ 
arbeiten, die durch ihre Eigenart hervorstechen und dann einen 
Gegenstand des Großhandels bilden, verdichtend oder doch 
wenigstens auswanderungshemmend. Es entstehen dann hier 
bedeutende fabrikindustrielle Siedelungen, und die Orte werden 
nicht selten der Mittelpunkt einer Ausstrahlung, die auch die Heim¬ 
arbeiter angrenzender dünn besiedelter Bezirke existenzfähig erhält. 

In der Schweiz, wo der Boden für die Erhaltung alten Volks¬ 
tums ebenso günstig ist wie in dem Alpengebiet Österreichs und 
den Ländern der deutschen Mittelgebirge, ist schon das von der 
Antiquarischen Gesellschaft in Zürich herausgegebene Schweize¬ 
rische Idiotikon 4 ) eine der reichsten Quellen volkskundlichen 
Materials. Auch hier wurde 1897 eine Gesellschaft für Volks¬ 
kunde gegründet, die das Schweizerische Archiv für Volkskunde 
herausgibt, in dem die drei bez. vier verschiedenen Völker der 
Schweiz in gleicher Weise zu Worte kommen sollen. 8 ) Die Zeit- 

*) Joh. En dt, Sagen und Schwänke aus dem Erzgebirge. Der 
Zauberer P. Hahn, der Wunderdoktor Rölz und anderes (ebd. 1909). 

*) Die Schrift „Vom Aberglauben“ von Karl Huss. Nach dem 
Manuskripte herausg. von A. John (ebd. 1910). 

*) Die Beziehungen zwischen Heimarbeit und Boden (ebd. 1907). 

4 ) Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerischen Sprache. 
Gesammelt auf Veranstaltung der Anüquar. Ges. in Zürich unter Beihülfe 
aus allen Kreisen des Schweizervolkes (Frauenfeld 1881 ff.). Bis 1912 
lagen 73 Hefte (bis Satz) vor. 

*) Zur Geschichte der Schweiz. Volksk. vgl. den inhaltreichen Vortrag 
von E. Hoffmann-Krayer im Archiv XII, S. 24t ff. 


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E. Mogk 


schrift schließt sich der Berliner und Wiener ebenbürtig an; die 
Leitung lag anfangs in den Händen von Hoffmann-Krayer allein, 
mit dem 6. Jahrgang übernahm erst J.Jeanjaquet, später M. Rey- 
mond die Redaktion des romanischen Teiles. Nur selten werden 
in den inhaltreichen Heften Themen aus der vergleichenden Volks¬ 
kunde behandelt, die Schweiz mit ihren Bergen und abgeschlos¬ 
senen Dörfern bietet soviel Stoff, daß sich die Redaktion auf das 
heimatkundliche Gebiet beschränken kann. Selbst bei so weit¬ 
greifenden Themen wie Hoffmann - Krayers Darstellung der 
Fruchtbarkeitsriten (XI, S. 238ff.) ist der Stoff fast ausschließlich 
aus schweizerischen Quellen geholt. Nur in dem guten bibliogra¬ 
phischen Teile werden auch die volkskundlichen Arbeiten aus an¬ 
deren Ländern besprochen. Eine besondere Pflege, wie sonst 
in keiner volkskundlichen Zeitschrift, hat im Schweizerischen Ar¬ 
chiv die Geschichte des Heiligenkults gefunden. — Um die volks¬ 
kundlichen Bestrebungen auf breitere Basis zu stellen und mög¬ 
lichst alle Schichten der Bevölkerung zur Mitarbeit heranzuziehen, 
gibt die Schweizerische Gesellschaft seit 1911 noch ein Korrespon¬ 
denzblatt „Schweizer Volkskunde“ heraus, in dem kleinere Ar¬ 
tikel und Mitteilungen, Umfragen und Antworten, die Vereinschronik 
den breiteren Schichten des Volkes zugeführt und diese dadurch - 
zur Mitarbeit herangezogen werden sollen. Auch hat die Gesell¬ 
schaft bereits eine Reihe trefflicher Einzelpublikationen heraus¬ 
gegeben, so die von E. H. Stückelberg, „Geschichte der Reliquien 
in der Schweiz“ (2 Bde., Basel 1902—1908), Gertrud Zürich, „Kin¬ 
derspiel und Kinderlied im Kanton Bern“ (Zürich 1902), J. Jeger- 
lehner, „Sagen aus dem Unterwallis“ (Basel 1909), A. Tobler, 
„Das Volkslied im Appenzellerlande“ (Zürich 1903), A. L. Gaßmann, 
„Das Volkslied im Luzerner Wiggertal und Hinterland“ (Basel 
1906), S. Grolimund, „Volkslieder aus dem Kanton Solothurn“ 
(ebd. 1910) und „Volkslieder aus dem Kanton Aargau “(ebd. 1911). 
J. Meier ist es zu verdanken, daß hier die Beschäftigung mit dem 
Volksliede eine so rege geworden ist. Für dieses ist aber schon 
seit Bodmer ein lebhaftes Interesse in der Schweiz vorhanden ge¬ 
wesen, wie die klare und erschöpfende geschichtliche Darstellung 
von P. Geiger zeigt. 1 ) • 

Die Bestrebungen volkskundlicher Vereine in allen Ländern 
deutscher Zunge zeigen das große Interesse, das in den letzten 
Jahrzehnten für diese junge Wissenschaft vorhanden ist. All¬ 
gemein sieht man als erste und wichtigste Aufgabe an, den noch 
im Volke fortlebenden Stoff alten Volkstums zu sammeln und zu 
veröffentlichen. Dadurch häuft sich aber das Material, daß es schon 

*) Volksliedinteresse und Volksliedforschung in der Schweiz vom 
Anfang des 18. Jahrhunderts bis zum Jahre 1830 (Bern, A. Francke, 1912). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


257 


heute kaum übersehbar ist. Es wird auch vieles immer wieder ge¬ 
druckt, manches, das sich bei genauerer Prüfung als Fälschung und 
ganz wertlos herausstellt. Um dieser Zersplitterung der Kräfte ent¬ 
gegenzuarbeiten und bestimmte höhere Ziele ins Auge fassen zu 
können, wurde auf Veranlassung A. Stracks und des Ref. 1904 der 
Verband deutscher Vereine für Volkskunde gegründet, nachdem 
bereits 1901 in der 5. Abteilung der Geschichts- und Altertums¬ 
vereine mehrere Landesvereine (namentlich der sächsische und baye¬ 
rische) sich zur volkskundlichen Sektion und zu gemeinsamer Arbeit 
zusammengetan hatten. In dem Verbände sollten die Fäden aller 
volkskundlichen Arbeit zusammenlaufen, was um so leichter möglich 
wurde, da fast alle Landes- und Provinzialvereine sich ihm an¬ 
schlossen. Durch kurze Mitteilungen — die ersten erschienen 
1905 — werden die Mitglieder auf dem laufenden erhalten, 
durch die Hessische Zeitschriftenschau mit den neueren Veröf¬ 
fentlichungen bekannt gemacht. Gegenwärtig arbeitet der Ver¬ 
band an einer zwiefachen Aufgabe: an einer großen kritischen Aus¬ 
gabe der deutschen Volkslieder, wie sie in Österreich und der 
Schweiz schon seit Jahren vorbereitet ist und die von Preußen 
und anderen deutschen Bundesstaaten mit hohen Beiträgen unter¬ 
stützt wird, und an einer Sammlung der Zauber- und Segensprüche. 
Zugleich ist 1910 in Hamburg eine Zentralstelle zur Sammlung 
volkskundlicher Veröffentlichungen geschaffen worden. Gemein¬ 
sam mit der 5. Sektion der Geschichts- und Altertumsvereine ist 
eine Statistik der Bauernhaustypen für ganz Deutschland in An¬ 
griff genommen worden. Auch nahm der Verband 1912 Füh¬ 
lung mit dem Folkloristischen Forscherbund (F. F.), der von 
Skandinavien und Finland ausgeht und die volkskundlich tätigen 
Forscher aller Kulturstaaten zu gemeinsamer Arbeit und gegen¬ 
seitiger Unterstützung vereinigen will. Die von dem F. F. bisher 
veröffentlichten Communications (Helsinki I9iiff.) haben durch 
Antti Aarnes Verzeichnis der Märchentypen (1910) internationale 
Bedeutung erlangt. Sie zeigen zugleich, wie auch in den nichtger¬ 
manischen Ländern, besonders den slawischen und romanischen, 
die Volkskunde nach Selbständigkeit ringt und daß sie ihre Fittiche 
allmählich über die ganze Erde ausbreitet. Ist doch 1911 auch 
in Argentinien eine Zeitschrift für Argentinische Volkskunde ins 
Leben gerufen worden. 1 ) Wenn freilich hier der Herausgeber das 
Arbeitsgebiet auf den gegenwärtigen Zustand eines Volkes be¬ 
schränken und seine Entwicklung und die in vergangenen Epochen 
wirksam gewesenen Einflüsse ausschließen will, so ist er nicht auf 
dem rechten Wege und drückt den Begriff Volkskunde auf den 

*) Zeitschrift für argentinische Volkskunde, berausg. vom Deutschen 
Lehrerverein Buenos Aires durch E. L. Schmidt (Buenos Aires 1911 ff.). 

Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 yn 


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258 

des englischen Folklore herab. Denn alles Bestehende ist geschicht¬ 
lich geworden und kann nur durch geschichtliche Verfolgung 
verstanden werden. 

Schon die Tätigkeit der einzelnen Vereine für Volkskunde zeigt, 
welche Rührigkeit auf diesem Gebiete herrscht. Das Bild erweitert 
sich aber noch wesentlich, wenn wir die Leistungen einzelner 
Personen mit heranziehen, die ohne Vereinsanregung selbständig 
gesammelt und veröffentlicht haben. Alle diese Publikationen 
aufzuzählen, würde zu weit führen und wäre ein Ding der Unmög¬ 
lichkeit. Sie sind ja meist auch nur Materialsammlungen, die wohl 
hier und da die eine oder andere volkskundliche Erscheinung in 
helleres Licht treten lassen, aber nur selten wissenschaftliche Pro¬ 
bleme erschließen oder zu ihrer Erklärung wesentlich beitragen. 
Von den Veröffentlichungen früherer Zeiten unterscheiden sie 
sich meist zu ihrem Vorteil durch größere Gewissenhaftigkeit, 
die z. T. dadurch veranlaßt worden ist, daß man den Gedanken, 
in der Volksüberlieferung der Gegenwart leben die eddischen 
Mythen fort, endlich aufgegeben und den Stoff nur um seiner selbst 
willen gesammelt hat. Vielfach hat man den volkskundlichen Stoff 
mit heimat- oder landeskundlichem verquickt. Auch die Dar¬ 
stellung zeigt die mannigfachsten Abstufungen. Die einen lassen 
die Leute sprechen und handeln und zeigen durch ihre Worte und 
Werke ihre Gedanken und Anschauungen, andere schildern ihr 
Fest- und Alltagsleben oder ihre Liebe zur Dichtkunst und zu bild¬ 
lichen Redensarten, die Anlage und Einrichtung ihrer Wohnungen, 
ihre Kleidung, nur wenige geben eine vollständige Volkskunde 
eines kleinen oder größeren Bezirks in systematischer Form oder 
auch nur Fragmente einer solchen. 

Ein ungemein reichhaltiges Material zur deutschen Volkskunde 
bieten viele Dichter der Gegenwart. Das Interesse, das man all¬ 
gemein dem Volkstum in letzter Zeit zugewandt hat, erfaßte auch 
die Literatur, und nicht selten hat ein Dichter in seinen poetischen 
Gestalten Vertreter reinen Volkstums zum Vorbild genommen. 
Bringt doch jeder Dichter ein Stück Volkstum aus seiner Jugend¬ 
zeit mit, und deshalb fordert A. Sauer von jedem Literaturhisto¬ 
riker volkskundliche Ausbildung, die nach seiner Auffassung nur 
zum richtigen Verständnis der Dichter führen könne. 1 ) Volkstüm¬ 
liche Gestalten füllen ja schon die Schriften Jeremias Gotthelfs 
und Berthold Auerbachs; in neuerer Zeit sind viele Dichter in ihre 
Fußstapfen getreten. Es sei nur erinnert an Fr. Reuter, J. Lent- 
ner, Anzengruber, Rosegger, Hansjakob, Sohnrey, Ganghofer, 
Renatus u. a. Eine hübsche, wenn auch nicht vollständige, 

*) Literaturgeschichte und Volkskunde. Rektoratsrede, gehalten an 
der K. K. Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag (Prag 1907}. 


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Literaturbericht. Volkskunde 


259 


Übersicht über diese volkskundliche Dichtung gibt L. Lässer. 1 ) 
Auch Chrestomathien aus den Werken solcher Dichter liegen 
bereits vor. So lieferte Th. Krausbauer eine Auswahl, in der sich 
die Urwüchsigkeit deutschen Volkstums in voller Klarheit zeigt.*) 
Diesen poetischen Gebilden, aus denen nur die Seele des Volkes 
spricht, gesellen sich zahlreiche Schriften hinzu, worin bestimmte Ge¬ 
stalten des Volkes und Ereignisse aus dem Volksleben dargestellt wer¬ 
den. Sie beschränken sich in der Regel auf einen territorial enger 
oder weiter begrenzten Kreis. Hierher gehören z. B. die Bilder 
aus dem Thüringer Volksleben von Ernst Heinecke 8 ), die an¬ 
ziehenden Schilderungen aus Schefflenz in Baden von Augusta 
Bender 4 ), die zugleich ein Stück Zeit- und Familiengeschichte 
sind, vor allem aber die Bilder aus einem abgelegenen Dorf in 
Oberhessen zwischen Thüringerwald und Westerwald, die L. F. 
Werner unter dem Titel „Aus einer vergessenen Ecke“ veröffent¬ 
licht hat. 6 ) Da dorthin die Kultur der Neuzeit noch nicht ge¬ 
drungen ist, spricht hier aus jeder Seite, wie der Mensch mit der 
Natur verwachsen ist. Hier weht z. T. noch echtes Germanentum, 
so z. B. in der Erzählung von der Macht der Blutsverwandtschaft, 
worin die Fortpflanzung des Geschlechts, der Name gleichsam 
der Kern des Lebens ist und der alte Hartmann Bodesheim von 
Eilertshausen dahinsiecht, als mit dem Tode seines Sohnes zugleich 
sein Familienname ausgestorben war (II, S. 44). Solche Bilder aus 
dem Volksleben besitzen wir fast aus allen Gegenden Deutschlands, 
besonders aus den Hoch- und Mittelgebirgsländern. Ihnen zur 
Seite stellen sich dann örtlich begrenzte Darstellungen des Volks¬ 
lebens in systematischer Form, selten das Volkstum in seinem 
vollen Umfange erschöpfend. Sitte und Volksdichtung treten 
dabei in den Vordergrund. Zuweilen ist die Volkskunde aber 
auch nur ein eingeflochtenes Kapitel in der Landes- oder Heimat¬ 
kunde. Auch einzelne Kapitel der Volkskunde werden heraus¬ 
genommen und über weitere Strecken Landes verfolgt. Hierher ge¬ 
hört die ausgezeichnete Sammlung von Frau M. Andree-Eysn. 6 ) 

*) Die Deutsche Dorfdichtung von ihren Anfängen bis zur Gegenwart 
(Satzungen 1907). 

*) Deutsches Bauerntum. 1. Bd. Aus dem Urborn unserer Volkskraft 
(Wreschen, W. Schenke, 1910). 

*) Derheeme in Thüringen. Heiteres und Ernstes aus dem Leben 
des Thüringers (Eisenberg, P. Bauer, 1912). 

4 ) Kulturbilder aus einem badischen Bauerndorf (von 1650—1850) 
(Frankfurt a. M., Bäßgen u. Grenzmann, 1910). 

•) Aus einer vergessenen Ecke (Langensalza, H. Beyer u. Söhne, 1909; 
2 . Aufl. 1910); Zweite Reihe (ebd. 1912). 

*) Volkskundliches. Aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet. 
(Braunschweig 1910.) 

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Das Buch enthält 16 Aufsätze, die z. T. neues volkskundliches 
Material aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet bringen, 
z. T. schon bekanntes vervollständigen. Die ersten drei beschäf¬ 
tigen sich mit dem Heiligenkult, wobei zugleich die Geschichte 
der betreffenden Heiligen dargestellt wird. Auf St. Wolfgang 
sind zahlreiche Volksanschauungen (Quellenerweckung, Beil¬ 
wurf, Durchkriechen, um Krankheiten zu heilen u. a.) übertragen 
worden. In der Verehrung der Schutzpatrone gegen die Pest 
(Sebastian, Rochus, Christoph, St. Anna) und zahlreichen Kapel¬ 
len, Votivbildern, Pestsäulen, Kreuzen u. dgl. lebt noch bis zur 
Gegenwart die Erinnerung an jene vernichtende Krankheit fort. 
In dem Kultus der heiligen drei Jungfrauen, der sich im Rhein¬ 
land und in Luxemburg, dann ganz besonders wieder in Tirol (nicht 
in Salzburg, nur schwach in Bayern) nachweisen läßt, findet die 
Verf. eine Mischung germanischen Nornenglaubens und keltisch¬ 
romanischer Matronenverehrung. Die folgenden 8 Aufsätze be¬ 
schäftigen sich hauptsächlich mit den Abwehrmitteln gegen schä¬ 
digende Dämonen und mit Fruchtbarkeitsriten. Zur Geschichte 
der Amulette findet sich hier reiches Material: über die Tau 
(T)- und andere Pestamulette (S. 63 ff.), über die Feige (fica), 
Schutzbriefe, Nepomukzunge, Trudenmesser u. a. (S. ilöff.), über 
die Schutzmittel an Gebäuden (K + M + B +, das Johannis¬ 
krautkränzlein, die drei Ähren, den Palmbusch, Antiassei, Tier¬ 
schädel) (S. 99ff.), über die Heilige-Geisttaube und die sog. 
Unruh, die über ganz Mittel-, Nord- und Osteuropa verfolgt und 
als häusliches Schutzmittel gegen Dämonen gedeutet wird 
(S. 78ff.). Zum Schutze des Feldes werden im Salzburgischen 
die schöngeschmückten Pranger- oder Reifstangen errichtet (S. 
9Öff.). Um Fruchtbarkeit des Feldes zu erzielen und schädigende 
Dämonen fernzuhalten, findet in einem großen Teil des Alpen¬ 
gebiets das Perchtenlaufen statt (S. I5öff. — wohl die beste Dar¬ 
stellung des Perchtenlaufens), wird im Herzogtum Salzburg nächt¬ 
licherweile und unter Absingen von Liedern das Madonnenbild 
durch die Gaue getragen, eine Sitte, die an den Nerthusumzug 
der alten Germanen erinnert (S. 73 ff.). Die altgermanische Sitte, 
den Schädel vom Körper zu trennen und ihn zur Weissagung zu 
benutzen, hat sich ebenfalls in dem Alpengebiet erhalten (S. I47ff.). 
Was dann noch folgt, die Maibaumbilder (S. 185 ff.), der Vieh¬ 
schmuck beim Heimtrieb des Viehes, wenn sich kein Stück ver¬ 
fallen hat und im Hause kein Todesfall während des Sommers 
eingetreten ist (S. I92ff.), die Verstüchel und Versbriefe, die die 
Mädchen zu Ostern, zur Kirchweih und zuWeihnachten mitdenEiern, 
Krapfen und dem Anschnitt des Kletzenbrotes ihrem Liebsten 
verehren (S. I99ff.), die Sagen aus Rauris, die vielfach an die 


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Literaturbericht. Volkskunde 


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Rübezahlsagen erinnern (S. 205), das sind Beiträge zu Sitte und 
Brauch, zur Volksdichtung. Die Geschichte des Hags und Zaunes, 
der in seiner technischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Be¬ 
deutung über fast ganz Europa verfolgt und auch in volkskundlicher 
Beziehung (im Sprichwort, Rätsel, Kinderspiel, Aberglauben, in 
der Sage) gewürdigt wird, schließt das ebenso reichhaltige wie 
durch zahlreiche Illustrationen wertvolle Werk. 

Während bei Frau Andree-Eysn die Sache im Mittelpunkt der 
Forschung steht, gehen andere Forscher vom Boden der Er¬ 
scheinungen aus. Am tiefsten schürft nach dieser Richtung der 
Schweizer Emanuel Friedli in seinem ,,Bärndütsch als Spiegel 
bernischen Volkstums“. 1 ) Er hat sich im Bernischen Lande auf 
Jahre bald in diesem, bald in jenem Gau heimisch gemacht, dort 
Land und Leute gründlichst studiert und schildert nun beides 
in der Sprache des Volkes, wodurch das Gedachte mit all seinen 
gedanklichen Beziehungen und Gefühlswerten annähernd getreu 
zum Ausdruck kommen soll. Der Gedanke, einmal kleinere Be¬ 
zirke in dieser Art erschöpfend darzustellen, ist entschieden gut. 
Freilich eine Volkskunde in der oben dargelegten Auffassung des 
Wortes sind die stattlichen Bände nicht, sondern eine Heimatkunde 
mit kulturgeschichtlichem und volkskundlichem Gewebe. Die 
Beschreibung von Grund und Boden, von Wald und Wiese, von 
Schule und Kirche nehmen einen zu breiten Raum ein, während 
das Althergebrachte im Volksleben, besonders auch die Volks¬ 
dichtung, nicht genügend zu ihrem Rechte gelangt. — Ebenfalls 
mehr heimatkundlich und kulturgeschichtlich, aber doch mit 
interessantem volkskundlichen Einschlag sind die Beiträge zur 
Geschichte des rhätischen Seewis von F. Pieth 2 ), die u. a. ein 
Zeugnis vom Notfeuer aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts 
bieten. — Ungleich mehr volkskundliches Material aus dem 
Züricher Oberlande enthalten die zwei Bändchen von H. Messi- 
kommer: Aus alter Zeit. 3 ) Der Verfasser schildert eine Reihe 
Sitten und Gebräuche, die teils bereits abgestorben, teils auf den Aus¬ 
sterbeetat gesetzt sind. Die Umwandlung in neue Verhältnisse 
setzt M. in die Mitte des 19. Jahrhunderts, wo die Einführung der 

*) Bisher sind drei Bände dieses großen Werkes erschienen: Bämdütsch 
als Spiegel bernischen Volkstums, herausg. mit Unterstützung der 
Regierung des Kantons Bern. i.Bd.: Lützelflüh (Bern, A. Francke, 1905); 
2. Bd.: Grindelwald (ebd. 1907); 3. Bd: Guggisberg (ebd. 1911). Alle 
mit zahlreichen Abbildungen. Weitere Bände folgen. 

Ä ) Das alte Seewis (Chur, J. Rieh, 1910). 

*) Aus alter Zeit. Sitten und Gebräuche im Züricherischen Ober¬ 
land. Ein Beitrag zur Volkskunde. (Zürich, Orell Füßli, 1909). Zweiter 
Teil: Volksleben (im Dialekt), Gesang und Humor im Züricherischen 
Oberlande (ebd. 1910). 


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E. Mogk 


allgemeinen Schulbildung, die Eisenbahnen, der Aufschwung der 
Industrie u. a. begannen, das Bestehende in rascher Entwicklung 
umzuändern. Was er an Bildern noch aus der alten Zeit hat auf¬ 
treiben können, sucht er durch das Wort der Nachwelt zu über¬ 
liefern. So schildert er Haus und Hof, gibt zahlreiche Beispiele von 
der Volkspoesie und von Volks- namentlich Kinderbelustigungen, 
von der Volksmedizin und medizinischem Aberglauben. Im 
zweiten Bande bringt er eine Reihe Erzählungen im Dialekt, die 
einen weiteren Einblick in das Volksleben und die Volksseele 
geben, verzeichnet eine Anzahl Lieder, die einst zur Guitarre 
und beim Tanze gesungen worden sind, Füürsteisprüchli, in die 
Zuckerbonbons gehüllt waren, alte Spruchbriefleins, Gratulations¬ 
karten und Buchzeichen aus alter Zeit und endlich dialektische 
Pflanzen- und Tiernamen. 

Aus dem Gebiet der Allgäuer Alpen bietet das Werk von K. 
Reiser das umfangreichste Material, das um so größeren Wert 
hat, als es zum größten Teil aus dem Volke selbst geschöpft ist. 1 ) 
Das Werk zerfällt in drei Teile, von denen der erste, der den gan¬ 
zen ersten Band füllt, ein überaus reiches Sagenmaterial enthält, 
der zweite die Sitten und Gebräuche im Laufe des Jahres, in der 
Familie und im sozialen wie wirtschaftlichen Leben nebst dem 
Aberglauben und Volksmeinungen schildert, der dritte die Gram¬ 
matik der Allgäuer Mundart sowie Sprichwörter, sprichwörtliche 
Redensarten und Volksreime behandelt, denen sich ein Idiotikon 
anschließt. Von besonderer Bedeutung ist der zweite Teil, der vieles 
bringt, was wir in gleicher Ausführlichkeit sonst nicht besitzen, 
so z. B. die Geschichte und Schilderung des Wildmännles-Tanzes 
in Oberstdorf (II, S. 401 ff.). Auch der Übergang agrarischer Riten 
in städtische Gebräuche läßt sich an der Hand dieses Teiles klar 
verfolgen. Die Volkslieder und Realien der Volkskunde, die bei 
Friedli in den Vordergrund treten, sind hier allerdings ausge¬ 
schlossen. 

Das Tiroler Volksleben hat in seiner schlichten, aber gründ¬ 
lichen Weise in den letzten Jahren am besten L. von Hörmann*) 
behandelt, dem wir ja so viele treffliche Beiträge zum Tiroler 
Volkstum, namentlich über die Kleindichtung, verdanken. Auf 
seinen Wanderungen hat der Verf. das Volk in allen Schichten 
und Altersstufen kennen gelernt und schildert es nun an den Fest- 
und Arbeitstagen des Jahres und in der Familie. Im dritten Teil 
entwirft er noch einige Bilder von Gestalten und Gebräuchen, 

l ) Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus. Aus dem 
Munde des Volkes gesammelt. 2 Bde. (Kempten o. J.) Das Werk ent¬ 
hält auch mehrere interessante Abbildungen. 

*) Tiroler Volksleben (Stuttgart 1909). 


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Literaturbericht. Volkskunde 


263 


aus denen besonders charakteristische Züge des Tiroler Volkes 
sprechen. Unter ihnen bietet namentlich das Kapitel über die 
bäuerlichen Kampfspiele (S. 445 ff.) manches Neue. 

Am festesten an altem Volkstum halten meist die in fremde Na¬ 
tionen eingekeilten Sprachinseln. Der Gottschee in Krain hatte schon 
1895 A. Hauffen sein Augenmerk zugewandt und Geschichte, 
Mundart, Lebensverhältnisse, Hausbau und Tracht, Sitten, Bräu¬ 
che, Aberglauben, vor allem aber die Volksdichtung, namentlich 
das Volkslied, eingehend geschildert. 1 ) Neuerdings hat in der¬ 
selben Sammlung (Quellen und Forschungen zur Geschichte, 
Literatur und Sprache Österreichs) Jos. Bacher ein Bild von 
dem in Südtirol von Italienern eingeschlossenen Lusern gegeben.*) 
Während aber Hauffen das Hauptgewicht auf die Volksdichtung 
und vor allem das Volkslied gelegt hat, legt es Bacher besonders 
auf die Sprache. Zwei Drittel des Buches füllen die Behandlung 
der Mundart, die als bayerischer Dialekt erwiesen wird, und das um¬ 
fangreiche Dialektwörterbuch (S. 211—432), das einen wesentlichen 
Fortschritt im Vergleich mit J. Zingerles Lusernischem Wörter- * 
buch bedeutet. Volksglaube und Sagen bieten nicht viel Neues. — 
Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in Ungarn bringen Kaindls 
Arbeiten, nur wenig freilich seine „Geschichte der Deutschen 
in den Karpathenländern“ (3 Bde., Gotha 1907—11), manches 
enthält die Zeitschrift „Deutsche Erde“. 

Begeben wir uns auf reichsdeutschen Boden, so sei in erster 
Linie das Buch von A. Keller erwähnt, worin dieser zusammen¬ 
stellt, was im Laufe der Zeit von den verschiedensten Seiten über 
die Schwaben gesagt und gefabelt worden ist. 8 ) Den Humor des 
Volkes im badischen Unterlande, wie er sich im Dialekt und in 
allerlei Neckereien und Verspottungen zeigt, schildert in anschau¬ 
licher Weise B. Kahle. 4 ) An der Hand ihrer Sprichwörter, 
Schwänke, vor allem aber ihrer Lieder, entwirft J. Ph. Glock 
ein Bild von den Bewohnern des Breisgaus, das durch die Schil¬ 
derung des Scheibenschlagens am Funkensonntag und des Pfingst- 
rcitens am Pfingstmontag vervollständigt wird. 6 ) Auch in L. Neu- 
manns Schilderung des Schwarzwaldes sind zahlreiche volks- 


l ) Die Sprachinsel Gottschee (Graz 1895). 

*) Die deutsche Sprachinsel Lusern. Geschichte, Lebensverhältnisse, 
Gebräuche, Volksglaube, Sagen, Märchen, Volkserzählungen und Schwänke, 
Mundart und Wortbestand. (Innsbruck 1905.) 

*) Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors (Freiburg i. B. 

1907). 

4 ) Ortsneckereien und allerlei Volkshumor aus dem badischen Unter¬ 
land (ebd. 1908). 

Breisgauer Volksspiegel (Lahr i. B. 1909). 


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264 E. Mogk 


kundliche Bemerkungen verflochten. 1 ) Die Hauptquelle für das 
badische Volkstum ist und bleibt aber das bereits oben angeführte 
Werk (S. 252) von E. H. Meyer, „Badisches Volksleben im 
19. Jahrhundert“, worin das Leben des badischen Bauern von der 
Geburt bis zum Tode, an den volkstümlichen Festtagen im Jahre, 
sein Verhältnis zu Kirche und Staat, sein Verhalten bei Krank¬ 
heiten und Tod nicht nur durch Parallelerscheinungen und Auf¬ 
fassungen aus der vergleichenden Volkskunde beleuchtet, sondern 
auch im Laufe der Zeiten verfolgt und versucht wird, die psycho¬ 
logische Ursache aufzudecken. Von besonderer Bedeutung würd 
das Werk auch dadurch, daß M. an zahlreichen Beispielen zeigt, 
wie eine höhere Kultur oder individuelle Erzeugnisse des logischen 
Verstandes auf das Volk eingewirkt haben und in den niederen 
Schichten allmählich volkstümlich umgestaltet worden sind. Auch 
wird von E. H. Meyer schärfer, als man in anderen ähnlichen Dar¬ 
stellungen beobachten kann, geschieden zwischen dem, was noch 
im Volke lebendig, was im Absterben begriffen, was überall oder 
in einzelnen Gegenden bereits geschwunden ist und sich nur aus 
älteren Schriften oder mündlicher Überlieferung feststellen läßt. 
Für eine wissenschaftliche Darstellung des Volkslebens muß 
Meyers Werk vorbildlich wirken. Auch die Zusammenhänge 
der Bräuche mit Riten, die zum großen Teil im Heidentum wurzeln, 
werden in ihm verfolgt und festgestellt. 

Material zur Volkskunde und Kulturgeschichte früherer Zeiten 
aus Westfalen liefert K. Prümer.*) Es sind eine Reihe Abdrücke 
aus westfälischen Zeitungen aus dem Ende des 18. und dem An¬ 
fang des 19. Jahrhunderts, aus Gerichtsakten und Ratsproto¬ 
kollen und anderen älteren Quellen. Über Handel und Wandel 
des Städters und des Bauern, über den Aberglauben der alten Zeit, 
aber auch über das Gerichts-, Kirchen- und Schulwesen, das In¬ 
nungsleben geben sie manchen interessanten Aufschluß. Nur ver¬ 
mißt man in dem Buche Ordnung des Stoffes und, wo sich der 
Verf. auf Erklärungen einläßt, was sehr selten ist, die nötigen Kennt¬ 
nisse. 

Die einzelnen Gaue des ehemaligen Kurfürstentums Hessen 
sind volkskundlich bearbeitet worden in der Hessischen Landes¬ 
und Volkskunde von Carl Heßler®). Hier ist ein etwas anderer 


*) Der Schwarzwald (Land und Leute Bd. XIII; Bielefeld u. Leipzig 
1902). 

*) Aus Altwestfalen. Volkskundliche und kulturgeschichliche Bei¬ 
träge. (Leipzig 1908.) 

*) Hessische Landes- und Volkskunde. Das ehemalige Kurfürstentum 
Hessen und das Hinterland im Ausgange des 19. Jahrhunderts. In Ver¬ 
bindung mit dem Verein für Erdkunde zu Cassel und zahlreichen Mit- 


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Literaturbericht. Volkskunde 


265 


Weg eingeschlagen, als er sonst bei ähnlichen Sammelwerken ge¬ 
bräuchlich ist.. Gewöhnlich pflegen in einem Lande die einzelnen 
Gebiete der Forschung einzelnen Bearbeitern anvertraut zu 
werden; hier ist den Mitarbeitern ein Gau, in dem sie heimisch 
sind, zugewiesen und von ihnen nach ziemlich gemeinsamem 
Schema behandelt worden. Trotz mehrfacher Wiederholung, 
die sich bei derartiger Arbeitsteilung einstellen muß, verdient 
dieser Weg Beachtung. Die Mitarbeiter haben fast alles aus eigener 
Beobachtung geschöpft, und weitere Ausblicke und Erklärungs¬ 
versuche, die zu leicht in die Irre führen, werden vermieden. In 
der ungleichmäßigen Wiedergabe des Beobachteten liegt die Schat¬ 
tenseite des Verfahrens. Gleichwohl erhält man von allen Gauen 
des Hessenlandes lebensvolle Bilder des Volkstums. Das geistige 
wie das materielle Leben des Volkes wird in gleicher Weise behan¬ 
delt: Anlage von Haus und Hof, die Tracht, das Leben in der 
Familie und der Gemeinde, die Feste im Laufe des Jahres und 
bei besonderen Gelegenheiten, Aberglaube und Volksmedizin, der 
Volkshumor in den Redensarten, die Volksfeste, die sich nur an 
einzelnen Orten finden. Von letzteren sei auf das Grenzgangfest 
in Biedenkopf verwiesen (S. 224ff.), das in seltener Weise zeigt, 
wie sich alter Rechtsbrauch im Laufe der Zeit in ein fröhliches 
Volksfest gewandelt hat. Von den zahlreichen Abbildungen seien 
die Trachtenbilder hervorgehoben, die freilich, wie das in den 
meisten ähnlichen Werken der Fall ist, der bunten Farben ent¬ 
behren. Das in den einzelnen Abteilungen nicht beachtete Volkslied 
hat am Schlüsse eine kleine Monographie erhalten, der einVerzeichnis 
der in den einzelnen Landschaften Hessens am meisten gesungenen 
Volkslieder beigegeben ist. Zu bedauern ist, daß man der Schilde¬ 
rung der Sitten und Gebräuche einen Erklärungsversuch angefügt 
hat (S. 601 ff.): hier hat sich derVerf. auf das unglückselige Gebiet 
mythologischer Deutung begeben und lebt in längst überwundenen 
Anschauungen. 

In Sachsen hat der Erzgebirger in E. John seinen Darsteller 
gefunden. In demselben Jahre veröffentlichte dieser die Schilderung 
des erzgebirgischen Volkslebens 1 ) und eine Sammlung erzgebirgi- 
scher Volkslieder und volkstümlicher Lieder*), die er auf seinen 
Wanderungen erlauscht hat. In dem ersten Werke schildert 
er das ganze Leben des Erzgebirgers von der Geburt bis zum 


arbeitern herausg. von C. Heßler. Bd. 1: Landeskunde, 2. T. (Marburg 
1906/07); Bd. 2: Volkskunde (ebd. 1904). 

*) Aberglaube, Sitte und Brauch im sächsischen Erzgebirge. Ein 
Beitrag zur deutschen Volkskunde. (Annaberg 1909.) 

*) Volkslieder und volkstümliche Lieder aus dem sächs. Erzgebirge. 
Anhang: Tschumperliedchen und Spottreime. (Ebd. 1909). 


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266 E. Mogk 


Tode, seine Wohnung und Kleidung, seinen Aberglauben und die 
eng damit verbundene Volksmedizin. Besonderen Wert verleiht 
dem Buche die genaue Angabe des Ortes, wo sich die Tatsachen 
belegen lassen. Nur dem Erzgebirger eigen sind die Klöppellieder 
(S. 77ff.), die teils Arbeits-, teils Unterhaltungslieder sind. 

Reicher als Mitteldeutschland ist Norddeutschland an zusam¬ 
menfassenden volkskundlichen Arbeiten. Hier ist in erster Linie 
die klassische Braunschweiger Volkskunde von R. And ree 1 ) zu 
erwähnen, die sich E. H. Meyers Badischem Volksleben würdig 
zur Seite stellt und durch ihre trefflichen Bilder sich über diese 
erhebt. Allerdings geht A. mehrfach über das hinaus, was man sonst 
unter Volkskunde zu verstehen pflegt. So gibt er einen Überblick 
über die Geographie der Braunschweiger Lande, über die prä¬ 
historischen Funde, die Geschichte des Gebiets, eine anthropolo¬ 
gische Schilderung seiner Bewohner und die Geschichte ihrer 
Sprache. Auf der anderen Seite bietet er auch Abschnitte, 
die man in ähnlichen Werken selten findet, aber vom volks¬ 
kundlichen Standpunkte aus öfters vermißt, so die Behandlung 
der Ortsnamen, die Aufzählung der Flurnamen und Forstorte, 
die Wetterregeln u. a. Mit philologischer Akribie, historischer 
Schulung, klarem Blicke für alle Erscheinungen im Volksleben 
gibt Andree ein Bild von seinen Braunschweigern, das ähnliche 
Versuche in den Schatten stellt. Das ganze Leben in und außer 
dem Hause, die Dorfanlagen und Hausformen, alle Geräte, die 
Feste, der Aberglaube, die Kinderspiele, die Volksheilkunst, 
alles ergänzt unser volkskundliches Material. Einzelne Abschnitte* 
wie z. B. die Schilderung des Hirtenlebens oder des Treibens in den 
Spinnstuben, bringen neuen Stoff. Schlecht weggekommen ist 
nur das Volkslied, da gegenwärtig nur hochdeutsche Lieder ge¬ 
sungen werden und diese nach der Meinung des Verf. eingewandert 
sind. 

Nicht in derselben Mannigfaltigkeit wie Andree schildert 
E. Kück das Bauernleben der Lüneburger Heide. 2 ) Spricht aus 
jenem Werke der Mann der Wissenschaft, so aus diesem der warme 
Freund des Volksstammes, dem es entsprossen ist. Auch hier ist 
das meiste aus eigener Beobachtung, aus Erlebnissen der Jugend 


l ) Braunschweiger Volkskunde. Die 1. Aufl. erschien (Braunschweig) 
1896, die 2. wesentlich vermehrt 1901. Hier haben wir einige bunte 
Trachtenbilder. Auch Bilder von Volksszenen, wie die Bauernhochzeit 
in Lehrte oder die Gevattern in Riddagshausen (um 1840), geben einen 
Einblick in die Geschichte der Trachten. 

*) Das alte Bauernleben der Lüneburger Heide. Studien zur nieder¬ 
sächsischen Volkskunde. Mit 41 Abbildungen, 24 Singweisen und einer 
Karte. (Leipzig 1906.) 


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Literaturbericht. Volkskunde 


267 


geflossen. Alles, Kinderspiel, Jugendbeschäftigung, Sitte und 
Brauch, selbst die Einrichtung von Haus und Herd, ist geknüpft 
an den Lebenslauf des Menschen von der Wiege bis zur Bahre. 

Vier Bearbeiter haben sich in die Darstellung der Volkskunde 
der Provinz Brandenburg geteilt 1 ) und so ein reichhaltiges Werk 
geschaffen, das aber in seinem letzten Teile über den Rahmen 
der eigentlichen Volkskunde hinausgeht. Denn die Vorgeschichte, 
die Kiekebusch hier gibt, gehört in diesem Umfange ihr nicht an. 
In der äußeren Volkskunde, wie Mielke den von ihm bearbeiteten 
Abschnitt nennt (gemeint sind die Realien der Volkskunde: Siede- 
lung, Hausbau, Tracht, Gerätschaften, Verkehr, Speise und 
Trank), stellt der Verf. eine neue Hypothese über die Pferdeköpfe 
des niedersächsischen Hauses auf. Er setzt ihren Ursprung als 
Giebelzeichen ins 16. Jahrhundert und hält sie für Nachbildungen 
des welfischen Wappentieres, eine Annahme, die zweifellos mehr 
für sich hat als die Ableitung von Wodans Roß. W. v. Schulen- 
burgs Anteil, die innere Volkskunde, wie er wenig richtig genannt 
wird (prosaische Volksdichtung, Sitte und Brauch im Laufe des 
Jahres und in der Familie), bringt eine Neuerung, die Nachahmung 
verdient: die kartographische Darstellung der Verteilung der 
sog. Zwölften Gottheiten. Lohre behandelt endlich die poetische 
Volksdichtung, namentlich das Volkslied, wozu er u. a. auch den 
handschriftlichen Nachlaß L. Erks benutzt hat. 

Die Volkskunde von Ostfriesland hat ihren Bearbeiter in W. 
Lüpkes gefunden 8 ), der Leben und Haus und Kleidung seiner 
Ostfriesen auf Grund älterer Quellen, zeitgenössischer Berichte 
und eigener Beobachtung, öfter in feuilletonistischer Weise, darstellt. 
Sein Ziel ist, den im Volksgemüt und Volksleben ruhenden Schatz 
zu heben und ihn dem Volke zu erhalten. Weil Ostfriesland noch 
relativ am wenigsten vom Weltbürgertum angesteckt ist, ist hier 
noch viel altes Volkstum zu finden. Erschöpfend behandelt ist dies 
auch durch das vorliegende Werk durchaus nicht. 

Das Volkstum des benachbarten Oldenburg war seinerzeit 
(1867) von L. Strackerjan in einer Weise dargestellt worden, die 
geradezu als außergewöhnlich bezeichnet werden muß. Stracker- 
jans Hauptwerk hat nun in Willoh einen Bearbeiter gefunden, 
durch den das Material zur oldenburgischen Volkskunde ganz 


*) Landeskunde der Provinz Brandenburg herausg. von E. Friedei 
und R. Mielke. 3. Bd.: Die Volkskunde, von R. Mielke, W. v. Schulen¬ 
burg, H. Lohre u. A. Kiekebusch. Mit 272 Abbild, im Text, 19 Tafeln 
u. einer Karte. (Berlin 1912.) 

*) Ostfriesische Volkskunde. Mit über 100 Originalbildem. (Emden 
1907.) Von den Abbildungen verdienen namentlich die der Möbel und 
Hausgeräte Beachtung. 


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wesentlich vermehrt worden ist. 1 ) Der Titel des Werkes kann irre¬ 
führen. Denn wird in ihm auch vom Aberglauben ausgegangen, 
so bieten die beiden Bände, namentlich der zweite, zahlreiche 
Zeugnisse für das ganze Seelenleben der Oldenburger, und auch 
Sitten und Bräuche im Leben des Menschen und im Laufe des 
Jahres, bei ihren Arbeiten in Geest, Moor und Marsch werden ein¬ 
gehend behandelt. — Beiträge zur Volkskunde der Helgoländer 
enthält die Schilderung Helgolands von Th. Siebs. 2 ) Aus der 
Geschichte der Insel, die die Volkskunde nicht berührt, sei die 
Deutung des Namens Helgoland hervorgehoben. S. bekämpft die 
landläufige Deutung ,,Heiliges Land“ und erklärt den Namen aus 
fries. thet hälik lönd ,,das hohe Land“, das Adam von Bremen mi߬ 
verstanden hat. Der volkskundliche Teil ist ein eigentümliches 
Gemisch von Sprachführer, den eine Reihe Gespräche in Dialekt 
und hochdeutscher Schriftsprache ausmachen, und Erzählungen 
über Beschäftigung und Erlebnisse der Helgoländer, unter Be¬ 
rücksichtigung ihrer Sitten und Gebräuche, ihrer Sprichwörter, 
Redensarten, Lieder, der Namen der Personen, Orte, Tiere und 
Pflanzen, alles doppelsprachig, obgleich man bei Sitte und Brauch 
nicht recht den Zweck einsehen kann. 

In Mecklenburg hat sich niemand mehr als R. Wossidlo 
der Volkskunde angenommen. 3 ) Seiner wissenschaftlichen Werke 
ist bereits oben gedacht (S. 232). Um den Boden zu zeigen, auf 
dem Fritz Reuters humorvolle Dichtungen entstanden sind, ver¬ 
öffentlichte er ein Heft Beiträge zur Volkskunde, Skizzen aus dem 
Volksleben, die z. T. zerstreut schon in Mecklenburgischen Zeit¬ 
schriften gedruckt waren. Hierin erschien auch der Aufsatz über 
die Sammeltätigkeit des Verf., den er in ausführlicher und kürzerer 
Form schon 1906 in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 
veröffentlicht hatte. Er ist zumal in seiner hier erweiterten Gestalt 
der beste Wegweiser für alle, die sich der Sammelarbeit widmen 
wollen. Des weiteren plaudert er über Tanzen, die Erlebnisse der 
Jugend, gibt eine stattliche Anzahl meist humoristischer Redens¬ 
arten, erzählt allerlei Schwänke, schildert das Landvolk bei der 
Arbeit, beim Kartenspiel, den ländlichen Hofhalt und verzeich¬ 
net einige Tiermärchen, in die der Mecklenburger ebenfalls seine 
Lebensauffassung gelegt hat. Fast alles ist im Dialekt geschrieben, 
wodurch der oft derbe Humor erst zur rechten Geltung kommt. 

*) Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. 2. ver¬ 
mehrte Auf!, herausg. von K. Willoh. 2 Bde. (Oldenburg 1909.) 

*) Helgoland und seine Sprache. Beiträge zur Volks- und Sprach- 
künde. (Cuxhaven-Helgoland 1909.) 

Ä ) Aus dem Lande Fritz Reuters. Humor in Sprache und Volkstum 
Mecklenburgs. Mit einer Einleitung über das Sammeln volkstümlicher 
Überlieferungen. (Leipzig, O. Wigand, 1910.) 


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Literaturbericht. Volkskunde 269 


Aufklärungen über das Volkstum der Insel Rügen verdanken 
wir A. Haas. Nachdem dieser bereits 1905 in einem Programm des 
Stettiner Schiller-Realgymnasiums ein Bild von den Wohnhäusern, 
der Tracht, dem Aberglauben der Mönchguter entworfen hatte 1 ), 
behandelte er diese Dinge, ebenso Sitte, Brauch und Volksdich¬ 
tung, eingehender gemeinsam mit Fr. Worm in einer besonderen 
Schrift. 2 ) Wendet also Haas in neuerer Zeit seine Blicke mehr nord¬ 
wärts, so richtet O. Knoop, mit dem er einst die Blätter für Pom- 
mersche Volkskunde herausgab, sie auf die Provinz Posen und 
damit zugleich auf die nichtdeutsche Bevölkerung dieser Gegenden. 
Gemeinsam mit A. Szulczewski gab er die Beiträge zur Volks¬ 
kunde der Provinz Posen heraus, in denen letzterer eine Anzahl 
Erzählungen von fahrenden Leuten im polnischen Kujawien ver¬ 
öffentlicht. 3 ) — Ebenfalls in slawische Gegend, nach der alten 
Kaschubei in Westpreußen, führt E. Seefried-Gulgowski, 
um uns hier mit einem wenig bekannten Volke bekannt zu machen 
und für dieses Interesse zu erwecken. 4 ) Das Buch verfolgt neben 
dem kulturgeschichtlichen auch einen praktischen, politischen 
Zweck. Die Kaschuben, ein klein-slawischer Volksstamm zwischen 
Deutschen und Polen, sollen sich ihrer Selbständigkeit bewußt 
und dadurch der großpolnischen Agitation entrissen und durch 
Pflege und Hebung ihrer Kultur dem Deutschtum immer mehr zu¬ 
geführt werden. Diese Absicht spricht Sohnrey im Geleitwort 
offen aus. Zu diesem Zwecke hat der Verfasser des Buches, ein Lehrer 
aus Sanddorf bei Berent, gemeinsam mit Lorentz den Verein für 
kaschubische Volkskunde gegründet, und beide geben seit 1908 
die deutsch geschriebenen Mitteilungen des Vereins für kaschu¬ 
bische Volkskunde heraus. Auch soll das schiefe Urteil, das G. 
Frey tag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit über die 
Kaschuben gegeben hat, berichtigt werden. Nach einer kurzen 
Beschreibung der Landschaft folgt eine Darstellung des kaschubi- 
sehen Hauses, das die durch den Landschaftscharakter bedingte 
Abart des im alten Ordenslande allgemein verbreiteten ober¬ 
deutschen Hauses ist. Ihr schließen sich an die Kapitel über 
den Hausrat, die Landwirtschaft, das Erntefest, dessen Feier 
sich ganz den Mannhardtschen Erntegebräuchen einreiht, den 
Fischfang und die dabei gebräuchlichen Geräte, die Hochzeits- 

*) Volkskundliches von der Halbinsel Mönchgut (Stettin 1905). 

*) Ä. Haas und Fr. Worm, Die Halbinsel Mönchgut und ihre Be¬ 
wohner. Mit 16 Bildern (Stettin, J. Burmeister, 1909.) 

*) Allerhand fahrendes Volk in Kujawien. (Beiträge zur Volkskunde 
der Provinz Posen. 2. Bändchen.) (Lissa 1906.) 

4 ) Von einem unbekannten Volke in Deutschland. Ein Beitrag zur 
Volks- und Landeskunde der Kaschubei. Mit einem Geleitwort von 
H. Sohnrey. (Berlin, Deutsche Landbuchhandlung, 1911.) 


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270 E. Mogk — Literaturbericht. Volkskunde 


gebrauche mit dem Aberglauben, der mit ihnen verbunden ist, 
die Tage der Kindheit mit den Kinderspielen, die Beschäftigung 
im Hause und die Volkskunst, die Volkstracht, die in der ganzen 
Kaschubei ziemlich gleichmäßig ist, den Volksglauben über die Er¬ 
scheinungen in der Natur, die Pflanzen, die Tiere, Geister und Dä¬ 
monen, die Volksmedizin, über das Leben in der Gemeinde, den 
Volkscharakter, wie er sich namentlich im Sprichwort zeigt, 
über Kirchen und Wegkreuze, die Gebräuche bei Tod und Begräb¬ 
nis, die Vorstellung vom Leben im Jenseits. Alles lehrt die gemein¬ 
same Basis, auf der deutsches und slawisches Volkstum erwachsen 
ist, und den Einfluß, den die Deutschen auch auf diesen kleinen 
slawischen Volksstamm jederzeit gehabt haben, so daß sich der 
gemeine Mann mehr zu diesen hingezogen fühlt als zu den stamm¬ 
verwandten Polen. 

Ich habe versucht, ein Bild von den volkskundlichen Bestrebun¬ 
gen der letzten Jahre in den Ländern deutscher Zunge zu geben, 
und einige Fragen angeschnitten, die diese geschichtliche Darstel¬ 
lung veranlaßte. Ein zweiter Artikel soll die Arbeiten innerhalb der 
einzelnen Teilgebiete würdigen und einige Bemerkungen über die 
der Volkskunde benachbarten Wissenschaften bringen. 

E. Mogk. 


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KLEINE MITTEILUNGEN UND NOTIZEN. 


Als neue volkskundliche Zeitschrift sind die „Bayerischen Hefte 
für Volkskunde“ auf den Plan getreten. Sie werden vom bayerischen 
Verein für Volkskunst und Volkskunde in München herausgegeben und 
von Friedrich von der Leyen und Adolf Spanier geleitet (Kommissions¬ 
verlag von Carl Aug. Seyfried u. Comp.). Sie wollen einmal Sammlungen 
volkskundlichen Stoffes aus Bayern bringen, weiter in fortlaufenden 
Berichten alle Arbeiten zur bayerischen Volkskunde verzeichnen, vor 
allem aber größere selbständige Untersuchungen veröffentlichen, „die sich 
nicht auf bayerische Volkskunde beschränken, sondern sich auch der 
allgemeinen Volkskunde zuwenden, damit die Bedeutung der bayerischen 
Volkskunde in ihren weiten und tiefgreifenden Zusammenhängen sicht¬ 
bar wird“. Älteren ähnlichen Bestrebungen in Bayern wollen sie nicht in 
den Weg treten, sondern sie ergänzen. Das erste Heft bringt folgende Bei¬ 
träge : Prinz Luitpold, Bayerns erster Kanonier (Lied) von Georg Heeger; 
Die bayerischen Ortsnamen von Julius Miedel; Vom Steinkreuz zum 
Marterl von Hans Schnetzer; Sage und Erlebnis von Friedrich Ranke; 
Neuere Arbeiten zur Märchenforschung von Friedrich v. d. Leyen sowie 
Kleinere Mitteilungen. 

In Bukarest ist vor kurzem ein Institut für südosteuropäische 
Studien begründet worden, an dem als Mitgründer und Mitdirektor vor 
allem N. Jorga beteiligt ist. Das Institut will Mittelpunkt für historische, 
kunstgeschichtliche, geographische und sprachliche Forschungen sein; das 
erste Heft einer besonderen Zeitschrift (Bulletin de l’Institut pour l’&ude 
de l’Europe sud-orientale) ist im Januar erschienen. 

In Bd. VIII unseres Archivs (S. 502) zeigten wir den r. Band 
des von Emil Reicke bearbeiteten Katalogs der Nürnberger 
Stadtbibliothek (Nürnberg, U. E. Sebald) an und hoben die gerade 
für die kulturgeschichtliche Forschung interessanten Bestände an Werken 
des 16., 17. und 18. Jahrhunderts hervor, die der Band für gewisse Gebiete 
verzeichnete. Der jetzt vorliegende 2. Band (Geschichte, II. Teil: Alte Ge¬ 
schichte; Mittlere und neuere Geschichte im allgemeinen) bietet in dieser 
Beziehung nicht so reichhaltiges bibliographisches Material. Doch sei 
z. B. die S. 275 ff. und 364fr. verzeichnete ältere Literatur zur Geschichte 
der Juden und ihrer Kultur hervorgehoben. Sehr umfangreich ist die 
S. 3 26 ff. verzeichnete zeitgenössische Literatur zur Geschichte der Türken¬ 
kriege. 

Meyers Bibliographisches Institut in Leipzig hat 1911 einen 
historischen Handatlas herausgegeben, der in Großoktavformat 
62 Hauptkarten und zahlreiche Nebenkarten bringt. Der Atlas führt vom 


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Kleine Mitteilungen und Notizen 


orientalischen Altertum bis zur neuesten Zeit, der Burenkrieg sowie der 
Russisch-Japanische Krieg von 1904/05 sind mit Karten des gesamten 
Kriegsschauplatzes sowie mit Spezialkarten der Hauptschlachten vertreten. 
Für den wissenschaftlich arbeitenden Historiker, der für die einzelnen 
Perioden größerer Karten, als sie dieser Atlas bietet, nicht wird ent¬ 
behren können, sind solche Spezialkarten von besonderem Werte, sind doch 
auch sonst überall Stadtpläne, Schlachtpläne für das 19. Jahrhundert, Lage¬ 
pläne (z. B. das Pyramidenfeld von Sakkära, die Saalburg, der Limes usw.) 
beigegeben. Auch finden sich einzelne Karten darin, die bisher wohl 
kein historischer Atlas enthält: z. B. Kelten und Germanen in Nordeuropa, 
oder die Karten zur Geschichte Asiens oder zum Zeitalter der Entdeckungen 
und der Entwicklung des Kolonialbesitzes. Die Brauchbarkeit des Atlas 
wird nicht nur durch beigegebene Zeittabellen (z. B. zur gesamten Geschichte 
der Normannen) erhöht, sondern auch noch durch Ortsregister, die allen 
wichtigeren Karten direkt angefügt sind und die rasche Feststellung jedes 
topographischen Begriffes ermöglichen. So wird diese? Handatlas mit 
seinem mäßigen Preise (geb. 6 Mk.) für die häusliche Arbeit des 
Historikers oft von großem Vorteil sein. 

Von J. Geffcken und E. Ziebarth herausgegeben, ist das bekannte und 
bewährte Reallexikon des klassischen Altertums von Friedrich 
Lübker in 8. vollständig umgearbeiteter Auflage erschienen. (Verlag 
von B G. Teubner in Leipzig.) 

Band V der neuen (7.) Auflage der von v. Holtzendorff begründeten, 
jetzt von J. Köhler herausgegebenen Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in 
systematischer Bearbeitung enthält u. a. den in 2. Auflage bearbeiteten 
Beitrag von Ulrich Stutz: Kirchenrecht, Geschichte und System. Wir 
weisen hier auf den historischen Teil dieses Beitrages hin und heben 
die reichhaltigen Literaturangaben gerade aus neuester Zeit hervor. 
Stutz selbst bemerkt mit Recht, daß man für den neuesten Stand (sowohl 
der Gesetzgebung wie) der Literatur auf seinen Abriß angewiesen sei, 
da die beiden gangbarsten Lehrbücher des Kirchenrechtes, dasjenige von 
Friedberg und das von Sägmüller, zuletzt im Jahre 1909 aufgelegt 
worden sind. 

Georg Steinhausens Geschichte der deutschen Kultur 
liegt in vollständig neubearbeiteter und stark vermehrter 2. Auflage seit 
Ende 1913 in zwei Bänden vor: auf die neue Auflage wird in den 
Literaturberichten zurückzukommen sein. 


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