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’ • Original fram
UMIVERSITY ÖF CALIFOF
UNTER MITWIRKUNG VON
FR. VON BEZOLD • G. DEHIO • H. FINKE • K. HAMPE
0. LAUFFER • C. NEUMANN • A. SCHULTE • E.SCHWARTZ
E. TROELTSCH • W. WINDELBAND
HERAUSGEGEBEN VON
WALTER GOETZ und GEORG STEINHAUSEN
XII. BAND
INHALT:
I. HEFT
Dr. GEORG DEHIO, Universitätsprofessor, in Straßburg I. E.:
Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert . . 1
Dr. JOSEPH GOETZ in Heilbronn:
Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria. 1.17
Dr. SIEGFRIED SIEBER, Realschullehrer in Aue:
Nachbarschaften, Gilden, Zflnfte und ihre Feste. II..56
Prof. Dr. ALFRED MEICHE in Dresden:
Der Lobetanz ..79
Miszelle:
Der Schmuck einer fränkischen Gräfin um 1611.
Von Dr. FL. H. HAUG, Archivar ln Wertheim.97
Literaturbericht:
Geschichte der geistigen Kultur von der Mitte des 17. bis zum
Ausgange des 18. Jahrhunderts.
Eröffnungsbericht II von Prof. Dr. JUSTUS HASHAGEN, Privatdozent
an der Universität Bonn.104
Kleine Mitteilungen und Notizen.127
LEIPZIG U. BERLIN 1914
Ausgegeben am 9. April 1914
ARCHIV FÜR: KULTURGESCHICHTE
Herausgegeben von’Walter .Goetz und Georg Steinhausen
Drue&iind’j V»tlp|£ vöQ B*G:*Teubher in Leipzig, Poststraße 3/5
Jährlich 4 Hefte zu je etwa 8 Druckbogen; der Preis für den Jahrgang beträgt
12 Mark. Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an.
Das „Archiv für Kulturgeschichte“ will eine Zentralstätte für die
Arbeit auf dem Gebiete der gesamten Kulturgeschichte sein und dabei
vor allem im Zusammenhang mit neueren Richtungen der geschichtlichen For¬
schung der Arbeit auf dem Gebiet der Geschichte des höheren Geistes¬
lebens ein geeignetes Organ sichern. Als Aufgabe der kulturgeschichtlichen
Forschung muß es gelten, aus dem ganzen für die geschichtliche Erkenntnis
einer bestimmten Zeit vorhandenen Material das für deren Gesamtkultur und
Gesamtgeist Bezeichnende festzustellen, und so wird sie in erster Linie als Spezial¬
forschung wissenschaftlichen Charakter tragen. Sie wird sich jedoch in aus¬
gedehntem Maße die Ergebnisse sonstiger Spezialforschung, freilich nicht durch
einfache Übernahme, sondern durch selbständige Verarbeitung unter ihren be¬
sonderen methodischen Gesichtspunkten und für ihre besondere Aufgabe, zunutze,
machen dürfen und müssen. Dieser Aufgabe soll insbesondere die Einrichtung'
regelmäßiger Literaturberichte dienen. Sie stehen neben der I. Abteilung, die selb¬
ständige wissenschaftliche Abhandlungen enthält, als II. Abteilung und sollen je
ein Spezialgebiet in dem bezeichneten Sinne in Bearbeitung nehmen, das für die
kulturgeschichtliche Forschung Wertvolle aus der Fülle der literarischen Erschei¬
nungen des betreffenden Gebiets unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten
herausheben. Diese Berichte behandeln folgende Gebiete: Prinzipien- und
Methodenlehre (Oesterreich), allgemeine und lokale deutsche Kulturgeschichte
(Goetz), Geschichte der wirtschaftlichen Kultur (Koetzschke, Kuske), der politisch-
rechtlichen Kultur und Verfassung (Kalbfuß, von Müller), der gesellschaftlichen
Kultur und der Sitten (Steinhausen), des Erziehungswesens, der Naturwissen¬
schaften, der Medizin (Diepgen), der technischen Kultur (Matschoß), der reli¬
giösen und ethischen Kultur (Hermelink, Troeltsch), der Sprache (Kluge), der
literarischen Kultur (Legband), der Musik (Heuß), der künstlerischen Kultur (Freund,
Hamann), der geistigen Kultur und Weltanschauung (Zeller, Funk, Hashagen, Jacoby),
der Persönlichkeitsentwicklung (Misch), endlich Volkskunde (Mogk), Anthropologie
und Gesellschaftsbiologie (Eug. Fischer). Im Vordergrund soll bei den Berichten
über die einzelnen Kulturgebiete die europäische, insbesondere die deutsche
Kultur des Mittelalters und der Neuzeit stehen. Sie sollen ergänzt werden durch
zusammenfassende Berichte über altvorderasiatische und ägyptische Kulturgeschichte
(Lehmann-Haupt), antike Kulturgeschichte (Laqueur, Winter), das Fortleben der
Antike in Mitteialter und Neuzeit (Rüstow), französische (Ganzenmüller), italienische
(Andreas), spanische, englische Kulturgeschichte (Hoops), Kulturgeschichte Nord¬
amerikas und der englischen Kolonien (Daenell), skandinavische (Bugge),
slawische (Streltzow), jüdische (Buber), islamitische (Aug. Fischer), indische
(Konow) und ostasiatische Kulturgeschichte (Conrady). Die einzelnen Berichte sollen
je nach Bedeutung alle zwei Jahre oder seltener erscheinen. Mit ihnen zumal hofft
das „Archiv“ der Kulturgeschichte ein vertieftes Interesse bei den Vertretern aller
übrigen historischen Einzeldisziplinen zu sichern, zwischen denen sie ihrer Stellung
nach eine universale Verbindung zu stiften berufen ist. Eine III. Abteilung bringt
kleine Mitteilungen und Hinweise.
Aufsätze für das „Archiv für Kulturgeschichte“ werden unter der Adresse des
Herausgebers Prof. Dr. Georg Steinhausen in Kassel, Kaiserplatz 14, erbeten.
Beiträge werden mit 40 Mark für den Druckbogen von 16 Seiten honoriert.
Außerdem werden den Herren Verfassern von Aufsätzen und Berichten 20, von
Mitteilungen 10 Sonderabdrücke unentgeltlich und postfrei, eine größere Anzahl v
auf Wunsch zu den Herstellungskosten geliefert.
Bücher zur Besprechung in den Berichten werden nur an die Verlagsbuchhandlung
B.G.Teubner, Leipzig, Poststraße 3/5, erbeten.
DIE KRISIS DER DEUTSCHEN KUNST
IM SECHZEHNTEN JAHRHUNDERT.
Vortrag im Städelschen Museumsverein in Frankfurt, 1913.
VON GEORG DEHIO.
Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit, der Kunst,
verläuft in wesentlich anderen Formen als die Geschichte der
auf Verstand und Wissen beruhenden Geistestätigkeit. Diese
ist fortlaufende Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt
wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt.
Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozu¬
sagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch
nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die
Kunst muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe
ist's, das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristalli¬
sieren, wobei ihr die von früheren Zeiten errungenen Werte nur
insoweit nützen, als sie sie umbildet und sich assimiliert. Die
Fähigkeit, diese Aufgabe zu erfüllen, ist aber offenbar nicht kon¬
stant. Wir haben den Eindruck, daß in der Kunst es Zeiten
der Blüte und Zeiten des Verfalls gebe. Leicht zu erklären ist das
nicht. Wenn wir überzeugt sind, daß die Kunst zwar ein Spiel,
aber keine Spielerei, zwar ein Schein, aber doch sehr wirklich,
zwar ein Überfluß, aber doch ganz unentbehrlich ist; wenn wir
wissen, daß schon die Höhlenmenschen vor dreißigtausend Jah¬
ren Kunst geübt haben, und glauben, daß der letzte Dichter der
letzte Mensch sein wird — woher kommt dann das sehr ungleiche
Funktionieren der kunsterzeugenden Seelenkräfte? dieser Wechsel
von Blüte und Verfall?
Eine sehr einfache und radikale Erklärung gibt eine Lehre, die
vor einiger Zeit erst aufgetaucht ist und, wie es scheint, nicht wenig
Anhänger sich erworben hat: sie durchhaut den Knoten, indem sie
die Tatsache selbst leugnet. Es gebe im kunstgeschichtlichen Ver¬
lauf, so behauptet sie, gar keine Höhen und Tiefen, Blüte- und Ver¬
fallszeiten; was einer subalternen Auffassung so erscheine, erweise
sich einer höheren wissenschaftlichen Betrachtung als eine in
ununterbrochener Stetigkeit abrollende Entwicklung, in der auf
Archiv für Kulturgeschichte. XU. i I
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Georg Dehio
jedem Punkte alles gleich notwendig und immer gleich wertvoll
sei. Es dürfte dann natürlich auch von keiner Krisis gesprochen
werden, mein Vortrag wäre von vornherein auf einen falschen
Grund gestellt.
Es ist kaum zu sagen nötig, daß die neue — wenigstens für die
Kunstgeschichte neue — Evolutionstheorie zustande gekommen
ist unter Anwendung naturwissenschaftlicher Analogien. Ich
beabsichtige selbstverständlich an dieser Stelle keine eingehende
Auseinandersetzung. Solange wir daran festhalten, daß der
Begriff der Gesetzlichkeit in der Geschichte nicht das bedeuten
kann wie in der Natur, solange muß dasselbe vom Entwicklungs¬
begriff gelten. Die geschichtliche Wirklichkeit, so wie wir sie allein
kennen, ist eine unlösliche Ineinanderschiebung von Notwendig¬
keit und Freiheit, von Entwicklung und Verwicklung, von Kon¬
tinuität und Diskontinuität. Auf die Kunstgeschichte angewendet
heißt das: alles Geschehen in ihr ist ein Zusammenwirken inner¬
künstlerischer und außerkünstlerischer Komponenten. Ihre Stel¬
lung zueinander ist in jedem Augenblick eine neue, gerade so noch
nie dagewesene. Wird die Spannung zwischen beiden so groß, daß
die innere, d.i. die innerkünstlerische, Kraftlinie von ihrem logi¬
schen Ziel abgedrängt wird, so entsteht das, was wir eine Krisis
nennen.
Unter den vielen, welche die Geschichte der deutschen Kunst
durchzumachen gehabt hat, ist die Krisis des 16. Jahrhunderts
die größte und folgenschwerste; wir dürfen sagen, daß wir noch
heute unter ihrer direkten Wirkung stehen.
An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stand die deutsche
Kunst so voll im Saft, wie vorher nur einmal, im 13. Jahrhundert,
und nachher nie wieder. Wie niemals wieder war in dieser Zeit
die deutsche Kunst volkstümlich, insofern alle gesellschaftlichen
Schichten an ihr Teil hatten und in einem gleichgestimmten Gefühl
sich in ihr begegneten. Niemals hat das Bildungsprivileg für
unsere Kunst so wenig bedeutet und standen sich kirchliche und
profane Kunst in der Ausdrucksweise so nahe. Ganz überraschend
sind die Zahlen der Statistik. Um irgendein Beispiel herauszu¬
greifen: die Stadt Erfurt, nach heutigen Begriffen gerade nur eine
Mittelstadt, besaß achtzig Kirchen und Kapellen, und jede war
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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 3
mit Kunstwerken gefüllt, Kunstwerken, die keineswegs bloß der
Devotion dienten, sondern ebensosehr Denkmäler des Familien¬
sinnes und des Korporationsgeistes waren. Aus dem damaligen
Besitz einer größeren städtischen Pfarrkirche würde sich heute
ein ganzes Museum zusammenstellen lassen. Und wie sehen die
Landkirchen dieser Zeit aus? Mindestens drei Altäre waren vor¬
handen, ein Hauptaltar und zwei Nebenaltäre, ein jeder reich
mit Schnitzbildern und bemalten Flügeln ausgestattet; an der
Decke des Altarhauses Freskogemälde; in der Sakristei ein oft
sehr auserlesenes Gerät und Parament; am Fußboden und an den
Wänden Grabdenkmäler des örtlichen Adels, manchmal in den
besten Werkstätten der benachbarten Städte angefertigt; draußen
vor der Kirche regelmäßig ein ölberg und eine Kreuzigungsgruppe.
Die wenigen heute noch einigermaßen vollständig erhaltenen
Exemplare solcher Dorfkirchenausstattungen, wie etwa Pipping
bei München oder Kronberg bei Frankfurt, erfüllen uns mit Stau¬
nen; damals aber gab es dergleichen hunderte. Denken wir dann
noch an die elementar vordrängende Bilderlust, die im 15. Jahr¬
hundert zur Ausbildung des Holzschnittes und Kupferstichs
führte und in der, wenn auch oft in derber Form, unendlich viel
mehr Geist steckte als in dem mechanischen Illustrationswesen,
durch das heute die rohe stoffliche Neugier befriedigt wird, so
können wir nur sagen: wir sind heute vergleichsweise Bettler und
Barbaren. Wir wollen es nicht verkennen, die künstlerische Mas¬
senproduktion jener Zeit hatte auch ihre Gefahren; als Ganzes,
in der Leistung wie in der Wirkung, muß sie uns enorm impo¬
nieren.
Auf die volkstümliche Kunst des 15. Jahrhunderts kam in
den drei ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts die eigentlich große
Zeit, über die ich weiter nichts zu sagen nötig habe — und auf
diese folgte sofort eine ungeheure Senkung der Kurve. 1528 starb
Dürer, 1529 starben Grünewald und Peter Vischer, 1531 Riemen¬
schneider und Burckmair, 1532 verschwand zum zweitenmal
und nun auf Nimmerwiedersehen Holbein aus seinem Vaterlande,
er, der am meisten dazu berufen gewesen wäre, das Problem der
Renaissance im deutschen Sinne zu lösen; Cranach und Baidung
lebten länger, bis gegen Ende der vierziger Jahre, waren aber mit ihrer
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Altarkunst schon auf abschüssiger Bahn. Dann die Angehörigen
der jüngeren Generation, die Söhne Vischers, die Schüler Dürers
usw,, sie haben um 1530, längstens 1535 ihre Erbschaft auch
schon verbraucht. Schnell und gründlich vollzieht sich in der Male¬
rei wie in der Bildhauerkunst der Übergang zu einem geistesarmen
Epigonentum.
Die Architektur hatte sich zum Niedergang schon früher ge¬
neigt. Denn Niedergang ist es doch, daß in der Hauptgattung der
monumentalen Baukunst, in der Kirchenbaukunst, ein so gut wie
vollständiger Stillstand eintrat. Es war dies schon am Vorabend
der Reformation geschehen und dauerte fast bis zum Ende des
Jahrhunderts fort, auf katholischer Seite nicht weniger als auf
protestantischer. Die Profanarchitektur blieb rege; aber sie war
nicht monumental. Das Heidelberger Schloß, das fast die einzige
Ausnahme darstellt, ist kaum das Werk eines Deutschen. Was
wir in der Architektur des 16. Jahrhunderts frühe Renaissance
nennen, ist im Grunde nur ein erweitertes Kunsthandwerk, zwischen
den beiden großen Idealismen der mittelalterlichen Gotik und der
italienischen Neoantike eine sicher liebenswürdige, aber sicher
auch recht kleinbürgerliche Figur. Wenn wir sonst als Kennzeichen
der Renaissance eine erhöhte Geltendmachung des Individuums
ansehen, so ist diese deutsche Renaissancearchitektur mit Fug
und Recht anonym, denn sie ist auch in ihrem inneren Wesen un¬
persönlich.
Wirkliche Architekten treten erst am Schluß des Jahrhunderts
wieder auf, und einige von unleugbarer und ernster Bedeutung,
wie Hans Schoch, Jakob Wolff, Paul Franke, Elias Holl. Die
mit ihnen verheißungsvoll aufleuchtenden Anfänge versinken aber
schnell wieder in der Nacht des Dreißigjährigen Krieges.
Die Kunst des Mittelalters, auf die wir einen Augenblick zu¬
rückschauen wollen, war als vorwaltend kirchliche eine vorwaltend
öffentliche gewesen; es hatte, wie die fortschreitende Demokrati¬
sierung ihres Charakters es handgreiflich zeigt, wirklich das ganze
Volk hinter ihr gestanden. Die Kunst des 16. Jahrhunderts
verlor mit der Kirchlichkeit zugleich die Öffentlichkeit, ohne daß
ihr an anderer Stelle dafür ein Ersatz geboten wäre. Und nun
verkettete sich mit diesem Verlust ganz verhängnisvoll ein zweiter:
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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 5
der Verlust an Volkstümlichkeit. Von der Niederwerfung des
Bauernkrieges ab, nicht allein durch ihn veranlaßt, aber sicher sehr
beschleunigt, begann die Verschiebung der Gewichte in der so¬
zialen Ordnung, die wir alle kennen. Es ist merkwürdig, wie prompt
die Kunst darauf reagiert. Ich nenne als leicht zu überschauende
Belege die beiden großen populären Gattungen der Holzplastik
und des Bilddruckes in Gestalt des Holzschnittes. Wie schnell
verfallen sie! Man kann sagen, daß in dem einen Jahrzehnt von
1500 bis 1510 mehr Holzplastik und vor allem unendlich viel
bessere produziert worden ist als in dem Halbjahrhundert von
1550 bis 1600. Als Kaiser Maximilian I. auf den Gedanken kam,
die Kunst zum Herold seines Ruhmes aufzubieten, da war es ihm
das Natürlichste und Zeitgemäßeste, sich dem Holzschnitt anzu¬
vertrauen; Karl V. oder Ferdinand hätten alles eher gewählt als ihn.
Im 15. und frühen 16. Jahrhundert hatte zwischen höfischer und
bürgerlicher Kunst ein Unterschied der Gesinnung noch nicht
bestanden; mit- der Renaissance drang von den romanischen Län¬
dern her eine neue Idee von Vornehmheit ein, bei deren Assimilie-
rung aber, wie wir gestehen müssen, die Deutschen über die
äußerste Schale nicht vordrangen. Diese derben Genußmenschen,
die an den damaligen Höfen jagten, turnierten und zechten, wie viel
oder wenig sie an der höheren Gedankenwelt ihrer Zeit Anteil hatten,
ist doch genugsam bekannt. Die Kunst, die in diesen Kreisen be¬
gehrt und befördert wurde, war eine sinnlich kräftige, einigermaßen
prahlerische Repräsentationskunst ohne Mitklingen der tieferen
Gemütslagen, hierin das vollendete Gegenteil zu dem, was am An¬
fang des Jahrhunderts den Deutschen als Wertvollstes erschienen
war. Ihr bestes Teil bleibt die unverwüstliche Tüchtigkeit und
Gewissenhaftigkeit der handwerklichen Faktur. Ich will nur ein
einziges Beispiel aus einer langen Reihe ähnlicher Erscheinungen
herausheben: die Wandlung im Typus des Grabmals. Schon in
den ersten Dezennien des Jahrhunderts war die Grabkunst stark
beschäftigt gewesen, aber das einzelne Denkmal war in der Regel
noch von bescheidenem Umfang. Es herrschte der Typus des Bild¬
nisepitaphs. Die Fähigkeit, kraftvoll und geschmackvoll zu charak¬
terisieren, war verbreitet, ungezählte namenlose Handwerksmei¬
ster hatten teil an ihr. Im zweiten Drittel des Jahrhunderts,
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als sich das Renaissancegrab durchsetzte, wuchsen Verschwendung
wie Prunksucht, aber in umgekehrtem Verhältnis zur künst-
lerischen Gestaltungskraft. Der Schwerpunkt liegt bei diesem
Typus im architektonischen Aufbau und seiner Ornamentierung,
das Figürliche aber verfällt öder Banalität, die Porträtgestalten
sind selten mehr als fleißige Kostümbilder, die überreichen Reliefs
biblischen und allegorischen Inhalts Virtuosenstücke ohne Leben,
ohne Liebe.
An den wenigen Höfen, an denen die nordische Renaissance¬
bildung tiefer und feiner aufgefaßt wurde, entstand alsbald
das Verlangen nach Berufung künstlerischer Kräfte aus dem
Heimatlande der neuen Kunst. Das ist ein Neues in der deutschen
Kunstgeschichte. Zwar schon früher einmal, im 12. Jahrhundert,
waren Italiener in ziemlicher Menge in Deutschland beschäftigt
worden, aber ohne den Gang der deutschen Kunst tiefer zu beein¬
flussen. Im 13. Jahrhundert, als es darauf ankam, das in Frank¬
reich entstandene gotische Bausystem kennen zu lernen, wanderten
deutsche Bauleute in Scharen dorthin; nach Hause zurückgekehrt,
opferten sie in der Reproduktion der fremden Formen doch nicht
den eigenen Willen. Jetzt aber galt zum erstenmal der fremde
Künstler als solcher und grundsätzlich für den besseren. Dies
Vorurteil behielt von nun ab an den deutschen Höfen, wie man weiß,
mehrere Jahrhunderte hindurch Bestand. Dagegen war die Zahl
der Deutschen, die im 16. Jahrhundert die Renaissancekunst an
der Quelle studierten, verhältnismäßig klein, man begnügte sich
mit abgeleiteten Erkenntnissen zweiter Hand. Jener bairische
Herzog, der im Jahre 1537 einen großen Trupp von Bauhand¬
werkern aus Mantua nach Landshut berief, tat nur, was viele
seiner Standesgenossen gern getan hätten, aber nicht oft er¬
reichen konnten. Die meisten dieser als Ratgeber und Entwerfer
berufenen italischen Künstler waren mediokre Leute. Aber sie
besaßen die geistige Geschmeidigkeit, mit der deutschen Tradition
Kompromisse einzugehen, gerade wie ihre nach Frankreich be¬
rufenen — übrigens im künstlerischen Range durchgehend höher¬
stehenden — Landsleute es für das beste hielten. Seitdem wir wis¬
sen, daß das Schloß von Chambord, das wir immer als ein beson¬
ders bezeichnendes Abbild französischen Wesens angesehen hat-
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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 7
ten, von einem Italiener herrührt, werden wir uns leichter in
den scheinbaren Widersinn finden, daß unser Heidelberger Schloß
höchstwahrscheinlich von keinem Deutschen entworfen ist; und
falls etwa doch von einem Deutschen, so von einem ganz kosmo¬
politisch durchtränkten. Und noch wichtiger als die unmittelbar
italienischen waren die italistisch-niederländischen Künstler¬
kolonien und Importe; in München und Augsburg, in Westfalen
und Schlesien, an der ganzen Seeküste von Emden bis Königsberg
rührt vieles, was wir zum Besten in unserer späteren Renaissance
rechnen, von ihnen her.
Unleugbar ist die Kunst in Deutschland am Ende des Jahrhun¬
derts eine andere geworden, als sie im Anfang zu werden ver¬
sprach. Ihre Wurzeln reichen nicht mehr in das Grundwasser
des nationalen Lebens herab, es ist nur folgerichtig, daß sie
in so umfassender Weise Fremden zur Ausübung überlassen wird.
So wird sie ganz profan, eine Kunst neutraler Augenlust, in einer
Zeit, die sonst alles und jedes auf die Religion bezieht, die leiden¬
schaftlich und rettungslos dem langen Glaubenskrieg entgegen¬
treibt. Wie stattlich, selbst glänzend sie noch aufzutreten vermag,
sie sagt nur sehr unvollständig die Wahrheit über den inneren
Zustand unseres Volkes in jener Zeit.
Daß die Kunst der nachdürerischen Epoche in der Summe
Verfall bedeutet, ist heute allgemeines Urteil. Aber es pflegt immer
nur ästhetisch, also mit einem schwankenden Maßstab, begründet
zu werden. Ich glaube, mit meinen Ausführungen auch objektiv¬
historisch nachgewiesen zu haben, daß es so ist, daß Verfall vor¬
liegt.
Nun aber erhebt sich die Frage nach dem Warum.
Mit dieser Fragestellung komme ich zum zweiten Teil meiner
Erörterungen, mit dem erst sie problematisch werden. Für mich
besteht kein Zweifel, daß es nicht im eigenen Kern und Wesen der
Kunst gelegene Ursachen waren, keine inneren Entwicklungsnot'
Wendigkeiten, die die Krisis herbeiführten und sie so unglücklich
ablaufen ließen. Wenn die Kunst eines Dürer und Grünewald
und ihrer Zeitgenossen, wie wir überzeugt sind, im Gesamtleben
der Nation begründet und das organische Produkt der vorangehen¬
den Entwicklung war, so ist nicht einzusehen, warum sie auf er-
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reichtem Höhepunkte plötzlich abbrechen mußte. Wollte man sa¬
gen, es kam daher, daß auf einmal die Talente fehlten, so wäre das
keine Erklärung, nur eine Tautologie. Nein, die Erklärung kann
nur in der Richtung gesucht werden, daß nicht sowohl in der Kunst
selbst als in ihrer geistigen Umwelt Veränderungen vor sich ge¬
gangen sein müssen, die unheilbringend in die Welt der Kunst
eindrangen, ihren Zusammenhang mit dem allgemeinen Bewußt¬
sein lockerten; und zwar so tief lockerten, daß die bildende Kunst
im Gesamtleben unseres Volkes niemals — ja, so ist es leider, nie¬
mals — die Bedeutung wiedererlangt hat, die sie im Mittelälter
und am Beginn der Neuzeit, bis zu der Krisis, von der wir sprachen,
besessen hatte.. Die geistige Struktur des deutschen Volkes konnte
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sich nach und nach so einseitig umlagern, daß selbst ein so durch
und durch ästhetisch angelegtes Zeitalter wie das Goethes und
Schillers, Mozarts und Beethovens für die bildende Kunst ver¬
gleichsweise so gut wie unfruchtbar blieb.
Also was waren die Ursachen? Die am öftesten gehörte Ant¬
wort lautet: es war die Reformation. Die einen sprechen sie
im Tone bitterer Anklage aus, die anderen als ein verschämtes Zu¬
geständnis. Ich sehe nicht ein, warum hier nicht ein von Beschul¬
digung oder Rettung absehendes, rein historisches Urteil möglich
sein sollte, und will gleich zu Anfang meine Meinung dahin ab¬
geben, daß zwar zweifellos die Reformation mit eine Ursache war,
aber daß sie doch als einzige Erklärung nicht genügt. Daß ein in
das deutsche Leben so tief und dauernd eingreifendes Ereignis
die Kunst hätte unberührt lassen können, ist von vornherein un¬
denkbar. Und nun gar diese deutsche Kunst, sie, die in ihrer gan¬
zen bisherigen Geschichte aufs engste an das Institut der Kirche
gebunden gewesen war. Wenn die alte Kirche stürzte, so war es
notwendig auch mit der alten Kunst vorbei. Das fühlte auch das
katholische Deutschland. Auch hier war die kirchliche Kunst
wenn nicht vernichtet, so doch auf den toten Punkt gebracht,
über den sie erst hinwegkam, als sie sich ins Schlepptau der roma¬
nischen Gegenreformationskunst begab. Die deutsche Reformation
war an sich nicht kunstfeindlich — die gelegentlichen Aufwallun¬
gen der Bilderstürmer sind unter anderem Gesichtspunkte zu be- :
urteilen —, sie hat die Hinterlassenschaft des Mittelalters sogar
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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert
schonender behandelt als der Neukatholizismus, woher es z. B.
kommt, daß wir heute intakte mittelalterliche Altäre weitaus am
häufigsten in protestantischen, genauer lutherischen, Landschaften
finden, in Altwürttemberg, Sachsen, Mecklenburg und Holstein.
Aber — dies waren für den Protestantismus doch nur Antiquitäten.
In seinem eigenen Ideenkreise war nichts, das nach bildkünst¬
lerischem Ausdruck verlangt hätte. Wenn er nach Abbruch der
alten Traditionen eine neue kirchliche Kunst sich hätte aufbauen
sollen, auf welchem Boden und aus welchen Stoffen hätte das ge¬
schehen können? Daß eine Kirche, welche Mythologie und Sym¬
bolik, also die beiden Hauptquellen der mittelalterlichen Kunst,
für heidnische Greuel erklärt, welche in ihrem Gottesdienst auf
die Mitwirkung der Sinne und der Phantasie verzichtet, welche das
gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellt, welche die guten
Werke verdammt und folglich auch für fromme Stiftungen keinen:
Anreiz mehr bietet — daß eine so gewandelte Kirche die bildende
Kunst nicht nötig hat, höchstens nebenher einen schmalen Raum
ihr übrig lassen kann, ist so selbstverständlich, daß darüber kein
Wort zu verlieren ist. Die Reformation, ich wiederhole es, war
nicht der bildenden Kunst feindlich, aber sie war der Kunst un¬
bedürftig; sie glich darin, bewußt oder unbewußt, dem Urchristen¬
tum. Überhaupt war ja die große Stellung der Kunst im mittel¬
alterlichen Kirchenwesen gar keine Forderung des christlichen
Geistes, sondern eine Forderung der in das Christentum aufge¬
nommenen griechischen Bildung gewesen, wodurch die merk¬
würdige Antinomie entsteht, daß der letzte noch in unmittelbarer
Kontinuität aus der Antike herstammende Kulturbesitz unserer
Nation aufgegeben wurde in demselben Augenblick, in dem sie sich,
unter der Form des Humanismus wieder vertrauensvoll der
antiken Bildungsquelle zuwendete. Und noch eine zweite Anti¬
nomie, die uns an einer früheren Stelle unserer Betrachtung rätsel¬
haft erschien, erklärt sich auf diese Weise: jene, daß die Reforma¬
tion, die doch zweifellos den religiösen Idealismus in unserem Volks¬
leben gestärkt hat, dennoch die Kunst ihrer Zeit einseitig auf die pro¬
fane und realistische Seite hindrängte. Die Kunst des nachrefor-
matorischen 16. Jahrhunderts ist zweifellos am besten dort, wo
sie in rein ornamentaler Phantasie sich ergeht — und so könnte
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man sagen, sie sei wieder auf dem Standpunkte des deutschen Alter¬
tums angelangt.
Nun aber sind Kirche und Religion nicht dasselbe. Hatte die
Reformation das Band zwischen der Kunst und der Kirche ge¬
löst — eine religiöse Kunst, die freilich nur noch eine freie, sub-
jektivistische Kunst der einzelnen sein konnte, war auch im Pro¬
testantismus noch möglich. Das hat schon Dürer mit seinen ganz
aus persönlichen Erlebnissen heraus zu begreifenden Apostel¬
bildern für sich in Anspruch genommen. Das hat gewaltig ergreifend
Rembrandt dargetan. Aber Rembrandt steht fast allein.
Wenn wir nun doch wissen, daß von den zwei evangelischen
Bekenntnissen der Calvinismus dogmatisch, ethisch und liturgisch
weit schroffer als das Luthertum die Kunst ablehnte und wenn
trotzdem im calvinistischen Holland die große Kunstblüte ein¬
trat, während das lutherische Deutschland der Kunst abstarb,
so ist dieser Gegensatz eine Mahnung, nicht alle negativen Posten
der Rechnung dem Protestantismus als solchem aufzubürden.
Es sind auch noch andere Ursachen dagewesen, einige sehr hand¬
greifliche, wie die wirtschaftliche Verarmung im Dreißigjährigen
Kriege, andere im Psychischen zu suchen, aber so kompliziert,
daß wir ihnen hier nicht mehr liachgehen können. Es genüge das
deutliche Ergebnis hinzustellen: die norddeutschen Protestanten
waren keineswegs Menschen ohne künstlerisches Bedürfen und
Verlangen, aber dasselbe wandte sich bei ihnen mit einseitiger
Entschiedenheit vom sinnlichen Bilde weg einer anderen Kunst zu:
die protestantische Kunst wurde die Musik. Die Namen Schütz,
Bach und Händel geben die Antwort auf die Frage, warum der
deutsche Protestantismus keinen Rembrandt hervorgebracht hat.
Allein noch die Baukunst, diese „gefrorene Musik“, hätte
die gleiche Bedeutung erlangen können. Und eine Zeitlang schien
es auch so werden zu wollen. Um dieselbe Zeit, als der katholische
Kirchenbau sich aus seiner Lähmung erhob und als sein erstes
bedeutendes Werk, die Jesuitenkirche S. Michael in München, er¬
richtet wurde — allerdings nicht von einem Deutschen, sondern
von einem verwelschten Niederländer —, entstand in Norddeutsch¬
land die nach ihrem wahren und hohen Wert zu wenig erst bei
uns bekannte Wolfenbütteier Marienkirche Paul Frankes, der
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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert ri
Münchner Jesuitenkirche künstlerisch ebenbürtig und viel ori¬
gineller, besonders genetisch viel deutscher. Daß sie keinen Nach¬
wuchs fand, dafür liegen die Gründe wieder nicht in der Kunst¬
entwicklung an sich, noch auch in der Religion, sondern in den
allgemeinen Verhältnissen.
Alles in allem: es ist eine unbestreitbare Tatsache, die Refor¬
mation und ihre Folgeerscheinungen haben der bildenden Kunst
sehr wenig neue Lebenssäfte zugeführt und sehr viel alte eintröck-
nen lassen. Mag ein jeder von uns, aus seiner Grundgesinnung
heraus, sich entscheiden, worin er den durch die Reformation
unserem Volke gebrachten Gewinn erkennt: zu den Opfern, mit
denen er erkauft wurde, hat jedenfalls die Kunst eine starke Bei¬
steuer geliefert.
Hiermit ist aber über das Thema „Reformation und bildende
Kunst“ noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es kommt auf
den Begriff der Reformation an. Läßt man sie erst mit dem Jahre
1517 beginnen, dann allerdings wäre viel mehr nicht zu sagen. Ist
man aber davon überzeugt, daß es lange vor dem Auftreten Luthers
schon eine latente Vorreformation gegeben hat, dann wird man bei
einem anderen Urteil anlangen. Ich halte die bildende Kunst im
letzten Menschenalter des 15. und im ersten des 16. Jahrhunderts für
eine Hauptquelle zur Erkenntnis dieser latentenVorreformation. Es
sind noch die alten Schläuche, aber in ihnen ist ein neuer Wein.
Aus dieser Vorabendkunst spricht ein Gemütszustand, der durch¬
aus ein anderer ist als der des klassischen Katholizismus im hohen
Mittelalter, der in gerader Linie auf den religiösen Kern der Refor¬
mationsbewegung hinführt. Es wurden hier in aller Stille Blüten¬
träume geträumt, von denen freilich in den rauhen Frühlingstagen
der Reformation nur ein kleiner Teil zur Reife kam. Ich kann
dies hier nicht weiter ausführen. Wie ich es meine, wird schon
ein einziges Beispiel erläutern. So sage ich: Albrecht Dürer steht
im Grunde seines Empfindens Sebastian Bach sehr viel näher
als nach der anderen Richtung dem Mittelalter, Dürer ist mehr
als bloß ein Vorbote, schon ein Vollbürger der Reformation.
Wäre der reformatorischen Bewegung, wie es in einem kurzen
Augenblick wohl scheinen konnte, im ganzen ungeteilten Deutsch¬
land der Sieg zugefallen, so wären die Folgen für die bildende
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Georg Debio
Kunst wahrscheinlich sehr andere und glücklichere geworden.
Die Spaltung brachte aber den Kampf, und der Kampf trieb ein¬
seitig eben in die Richtungen, die von der bildenden Kunst weg¬
führten.
Würde ich meine Betrachtung schon hier schließen, so würde
ein schiefes Bild Zurückbleiben. Die Krisis der deutschen Kunst
im 16. Jahrhundert war eine Doppelkrisis. Um dieselbe Zeit,
als die Kunst durch die Kirchenreform einer der wichtigsten ihrer
alten Grundlagen verlustig ging, drang von Italien und bald auch
von den Niederlanden die große Welle der Renaissance vor, von
einem anderen Angriffspunkte aus, dem künstlerisch-formalen,
das historisch entwickelte Kunstwollen an sich selbst irre machend
und erschütternd. Die begeisterte Parteinahme für die Renaissance
in unseren Tagen ließ diese Dazwischenkunft fast nur als eine glück¬
bringende ansehen. Man vergaß dabei dasselbe, was schon das
16. Jahrhundert selbst nicht richtig erfaßt hatte, nämlich daß
die Renaissance nicht gleich Antike, sondern eine spezifisch
italienische, also national gebundene Kunst ist. So kam zu dem
einen Zwiespalt jetzt noch ein zweiter hinzu. Die Renaissance
trat in Gegensatz zu der deutschen Kunstüberlieferung und die
Reformation in Gegensatz zu beiden. Denn es ist ein Irrtum,
daß Renaissance und Reformation gleichsam Geschwister gewesen
seien. Praktisch waren sie in manchen Momenten Bundesgenossen,
aber innerlich einander durchaus fremd, aus gänzlich verschiedenen
Entwicklungsreihen hervorgegangen. So entstand eine höchst ver¬
worrene und gefährliche Komplikation. Die herkömmliche Auf¬
fassung der Kunstgeschichte hat ihre Bedeutung bei weitem noch
nicht richtig eingeschätzt.
War etwa in dem Augenblick, wo sie von diesen zwei Gegnern,
in die Mitte genommen wurde, die deutsche Kunst gealtert, de¬
generiert, innerlich unsicher und hilfebedürftig? Sie war es nicht.
Und so war es auch die Sendung und Leistung der Renaissance nicht,
die nordische Welt etwa von abgelebten Resten mittelalterlicher
Kunst zu befreien, wie man es lange sich vorgestellt hat. Diese
Auffassung wäre nur im Recht, wenn die Renaissance die einzige
und allein gültige künstlerische Ausdrucksform für den Menschen
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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 13
der Neuzeit wäre. So ist es aber nicht. Allzulange hat die be¬
queme Schematisierung der Kunstgeschichte nach konventionellen
Stilnamen den Weg zur Einsicht in die Sache versperrt. Die Wahr¬
heit ist: so wenig die italienische Kunst am Beginn der Neuzeit
bloß Wiedergeburt der Antike ist, so wenig ist die nordische der¬
selben Zeit bloßes Fortdauern einer gealterten Gotik. Heute, nach¬
dem wir gelernt haben, Namen und Sache, Formalismus und Form,
besser zu scheiden, sehen wir in der spätgotischen — wir müssen
nun schon sagen: sogenannten spätgotischen — Baukunst eine tief¬
greifende Umwertung des Überlieferten. Man denke dann in der
Bildhauerkunst an Erscheinungen wie Veit Stoß oder Hans Backofen
oder den Meister des Isenheimer Altars; in der Malerei und Graphik
an Grünewald und den jungen Dürer — hier ist in Klarheit und
Kraft ein neues Wollen auf dem Plan, das mit der klassischen Gotik
nichts mehr zu tun hat, ebensowenig aber auch der Renaissance
geistesverwandt ist. Daß dieser aus der sich auflösenden Gotik
selbstbewußt und lebenskräftig emporsteigende neue Stil ohne
Namen geblieben ist, darf uns nicht irre machen. Suchen wir nach
inneren Analogien, so finden wir sie am meisten in dem, was wir
im 17. Jahrhundert Barockstil nennen. Ob nun der Name Früh¬
barock sich einbürgern wird oder nicht, die Tatsache wird immer
deutlicher, daß nach dem Schluß des Mittelalters die Verjüngung
der Kunst kein Privilegium Italiens war, vielmehr einen doppelten
Ursprung hatte. Das Leben der europäischen Völker war zu reich
geworden, zu komplex in der Verschlingung alter Traditionen mit
neuem Ausdrucksverlangen, als daß es noch einen Einheitsstil,
wie im Mittelalter die Gotik es gewesen war, hätte hervorbringen
können. Die Größe und Fülle der neuzeitlichen Kunst Europas
beruht auf der Spannung zweier verschieden gestimmter Grund¬
kräfte, deren Entwicklungslinien zuweilen getrennt verlaufen,
öfter sich überschneiden und mischen, niemals ihren Sonderwert
ganz aufgeben. Es ist ein Spiel und Gegenspiel des Klassischen
und Barocken, des Klassischen und Romantischen, wenn man die¬
sen Namen vorziehen will; noch unsere letzte Vergangenheit im
19. Jahrhundert steht deutlich unter diesem Zeichen. Im 16. Jahr¬
hundert hat es in Deutschland wohl nur einen einzigen Künstler
gegeben, der den Konflikt in seiner ganzen Tiefe empfand und
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14. Georg Dehio
mit höchster seelischer Anstrengung für seine Person zu har¬
monischem Austrag zu bringen trachtete: Albrecht Dürer. Nichts
Ergreifenderes als sein Ringen nach der Wahrheit. Zugleich
aber werden wir uns gestehen müssen, daß diesem Mann, der
zugleich ein Künstler und ein Denker sein wollte, darüber ein
gut Teil von Unmittelbarkeit des Empfindens verloren ging.
Wir Deutschen haben eine Erbeigenschaft, die sich nur mit nega¬
tivem Ausdruck bezeichnen läßt: die Formlosigkeit. Von Zeit
zu Zeit ergreift uns die Sehnsucht, aus dem Dämmernden, Ver¬
worrenen, Unnennbaren, Überschwenglichen uns zu retten ins Helle
und fest Begrenzte, in die Form. Dann wenden wir uns zum ewigen
Schatzbehalter reiner Form, zur Antike. Sehr oft aber verwirrt uns
ihr Anblick aufs neue, und wir verwechseln Form und Formalis¬
mus. So ist es der Generation nach Dürer geschehen. Auf Grund
dessen, was Dürer am Ende seines Lebens erreicht hatte, hätte wohl
eine neue Kunst entstehen können, die zugleich Renaissance und
deutsch gewesen wäre. Was wirklich kam, war nur halb Renaissance
und zugleich nur halb deutsch. Die Epigonen Dürers begriffen nur
unvollkommen, was die Renaissance eigentlich von ihnen verlangte:
daß sie einen ganz neuen Menschen anzögen. Sie begnügten sich
mit einem oberflächlichen Kompromiß, sie verstanden an der
Renaissance nicht die Form, nur den Formalismus. Es ist über¬
haupt fraglich, ob die Renaissance, wäre sie auf das Gebiet der
Kunst beschränkt geblieben, es im damaligen Deutschland, wo
sie auf so starke innere Widerstände stieß, je zu einem großen Er¬
folg gebracht hätte. Notwendig gemacht wurde sie erst, insofern
sie eine Forderung der allgemeinen Kultur war. Der deutsche
Humanismus war von der künstlerischen Seite der neuen Bildung
kaum berührt; wenn er dennoch starke Propaganda auch für die For¬
men der Renaissance machte, so galt das wesentlich den von ihnen
umschlossenen antikischen Stoffen. Man hat sehr richtig gesagt,
daß das Größte und Beste in der italienischen Renaissancekunst
allenfalls auch ohne die Antike denkbar sei, die deutsche Kunst
aber wandte sich zur Renaissance, weil ihr Publikum aus ganz
anderen als künstlerischen Überzeugungen in ihr das Bessere
vermutete. Von dem Irrtum der Gleichsetzung von Italienisch
und Antik habe ich schon gesprochen. Niemand kann sagen,
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Die Krisis der deutschen Kunst im sechzehnten Jahrhundert 15
was entstanden wäre, wenn die deutschen Künstler die Antike
selbst kennen gelernt hätten. Tatsächlich machten sie ihre Studien
nur an der oberitalienischen Kunst, die schon etwas eine Mischkunst
mit barockem Anflug war; Florenz und Rom haben sie so gut wie
nicht gekannt, es ist, als ob sie sich davor heimlich gefürchtet
hätten.
Ich möchte mit meiner Kritik nicht mißverstanden werden.
Sie gilt nicht der Rezeption als solcher. Es ist durchaus eine Stärke
des deutschen Geistes, daß er das Wertvolle fremder Kulturen
in sich aufzunehmen fähig ist. Die früheren Rezeptionen, die
antike im 9., die gotische im 13., die niederländische im 15. Jahr¬
hundert, wenn es ganz ohne Opfer auch bei ihnen nicht abging,
waren im wesentlichen Bereicherungen gewesen. Die des sech¬
zehnten traf uns in einem Augenblick, in dem wir auf sie nicht
vorbereitet waren.
Die Deutschen der damaligen Zeit, als von Natur ganz un¬
klassische Menschen, haben von der Renaissance nur die Schale,
nicht den Kern ergriffen. Erst dann, als auch die italienische
Kunst aufhörte, klassisch zu sein, erst im Barock, verstanden die
Deutschen die Italiener wirklich und konnten die fremde
Gabe für sich fruchtbar machen. Im Friedrichsbau von Heidel¬
berg, in den Bauten Paul Frankes und Elias Holls sehen wir An¬
sätze zu einem deutschen Barock, der in seiner weiteren Entwick¬
lung doch noch etwas anderes bedeutet hätte, als was nach der
Unterbrechung durch den großen Krieg die Kunst des 18. Jahrhun¬
derts tatsächlich gebracht hat. Wie vieles wir an dieser Kunst
des 18. Jahrhunderts bewundern und wie falsch es ist, sie einfach
als Verwelschung zu charakterisieren — eine Erfüllung der in dem
Namen Dürer enthaltenen Verheißungen war sie in keinem Sinn.
Unser Schlußurteil über das Eindringen der Renaissance und
seine Folgen wird also ganz ähnlich zu lauten haben wie unter an¬
deren Gesichtspunkten das über die Reformation: beide waren histo¬
rische Notwendigkeiten, aber beide haben dem künstlerischen
Teil des deutschen Lebens schwere Verluste gebracht; wohl auch
einiges Wertvolle, aber nichts, was den Verlusten das Gleich¬
gewicht gehalten hätte. Mit der Reformation allein oder mit
der Renaissance allein hätte die deutsche Kunst vielleicht noch
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16 Georg Dehio
sich auseinandersetzen können; beides gleichzeitig war zu viel.
Ich spreche dies offen aus, meine aber damit keine Anklage weder
gegen die Reformation noch gegen die Renaissance zu erheben.
Beide hatten ihre besonderen Aufgaben zu erfüllen, der deutschen
Kunst zu helfen waren sie nicht verpflichtet. Von dem Worte
tragisch wird zu oft und leichthin Gebrauch gemacht: hierin aber
liegt wirkliche historische Tragik, daß im 16. Jahrhundert die höch-
sten Angelegenheiten im Geistes- und Gemütsleben unserer Nation
miteinander in einen Konflikt gerieten, für den die Lösung nicht
gefunden wurde. Wohl auch nicht gefunden werden konnte.
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KRITISCHE BEITRÄGE
ZUR GESCHICHTE DER PATARIA.
VON JOS. GOETZ.
Die große Bedeutung der Pataria, jener denkwürdigen Volks¬
bewegung mit ihrem teils religiös-kirchlichen, teils politisch-sozialen
Charakter, welche Mailand in der zweiten Hälfte des II. Jahrhun¬
derts über 20 Jahre lang durchtobt hat, ist schon von den zeit¬
genössischen Schriftstellern wenigstens in den Grundzügen rich¬
tig erkannt und zum Ausdruck gebracht worden. 1 ) Die Lücken,
die infolge der bald lokalpatriotischen, bald kirchenpolitischen,
bald religiösen Tendenzen, welche die einzelnen Autoren, darin die
echten Kinder ihrer leidenschaftdurchtobten Zeit, verfolgten, in
der Beurteilung der patarenischen Bewegung sich fast notwendig
einstellen mußten, hat dann die spätere Geschichtsschreibung Zug
um Zug ausgefüllt und so jene Grundlinien zu einem einigermaßen
abgeschlossenen Bilde zu vervollständigen gestrebt. 2 )
Indes lassen sich noch immer etliche Fragen namhaft machen,
die bislang ungenügend geklärt erscheinen und deren weitere
Aufhellung, die im folgenden angestrebt werden soll, doch einen
kleinen Fortschritt in der Auffassung und Beurteilung einzelner
Tatsachen und Geschehnisse verspricht und so auch für die Ge¬
samtanschauung über die Pataria von Wert sein möchte.
Die Frage nach dem Urheber der patarenischen Reformbe¬
wegung bietet z. B. immer noch ihre Schwierigkeiten, deren Lö¬
sung nun denn doch nicht so einfach liegt, wie man aus 0er neueren
') Araulfi gesta archiepiscoporum Mediolanensium. MG. S. S. VIII,
p. i8ff. — Landulfi historia Mediolanensis. MG. S. S. VIII, p. 32 ff. — An¬
dreas, Vita S. Arialdi. Migne, P. L. voL. 143, coli. 1437 fr. — Bonithonis epi-
scopi Sutrini über ad amicum VI. Ja S 6 , bibl. rer. Germ. II, p. 638 ff. — Ben-
zonis episcopi Albensis ad Heinricum IV. imp. libri VII. MG. S. S. XI,
p.591 ff-
*) Krüger, A., Die Pataria in Mailand. (Jahresbericht des Kgl. Fried-
richsgymnasiums Breslau.) 2 Teile. Breslau 1873/74. — Päch, H., Die
Pataria in Mailand 1056—1077. Sondershausen 1872. — Meyer von Knonau,
G., Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Heinrich IV. und Heinrich V.
Bd. I. Leipzig 1890. — Weitere Literatur am zugehörigen Orte.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 2
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Jos. Goetz
Literatur die Vermutung gewinnen könnte. 1 ) Darauf allerdings
wird man sich wohl ziemlich leicht einigen können, daß Ariald
die Pataria als rücksichtslose Betätigung der Reformforderungen
in der lombardischen Hauptstadt in Fluß brachte.
Allein es erhebt sich die Frage: wie konnte Ariald so plötzlich,
sozusagen beim ersten Auftreten, in Mailand ein solch gewaltiges
Echo finden, das ihn und seine Sache dermaßen populär machte,
daß sich nicht nur die zunächst betroffenen Kreise, die verhei¬
rateten Kleriker*), kaum zum schwächlichsten Widerstand auf¬
zuraffen vermochten, sondern auch bei den sofort in Aufnahme ge¬
kommenen Plünderungen und Gewalttätigkeiten des fanatisierten
Volkes die gesetzliche Obrigkeit völlig versagte? Man wird ja
nun eben auf den Fanatismus der niederen Massen hinweisen,
der blindlings und unwiderstehlich seine Bahn nehme, wohin ihn
ungezügelte Leidenschaft, zerstörungssüchtige Habgier, langver¬
haltener Haß reiße. Man wird nicht versäumen, den Gegensatz zu
betonen, in dem sich Adel und Erzbischof einerseits und ander¬
seits Adel und Bürgerschaft von Mailand seit einem vollen Jahr¬
zehnt befanden, ein politisch • sozialer Gegensatz, der in der
langen Dauer keineswegs an Schärfe verloren hatte. Und doch
bleibt dabei immer noch ein ungeklärter Rest übrig: denn auch
nachdem einträgliche Rechte von Laien in Gefahr geraten waren,
erhob sich nur geringer Widerstand. Da legt sich der Gedanke
fast von selbst nahe, daß die Reformideen in Mailand bereits
festen Fuß gefaßt hatten*), ehe denn Ariald sie mit dem frommen
Fanatismus des einseitigen Gelehrten, der keine Rücksicht auf
alteingewurzelte Zustände kannte, unter das Straßenvolk warf.
Als nun dieses, schon seit langem in sozialer Gärung, zur offenen
Gewalt überging, fehlte es in der Gegenpartei an der Kraft zu
energischem Handeln; denn durch die Einflüsse der Reformideen,
*) PächS. 19, wo Anm. i die entgegenstehende Literatur. — Meyer von
Knonaul, S. 60 u. 669 f. (Excurs V.)
*) Am. III, 10—12. Der Kampf gegen die Simonie begann erst nach
der Synode von Fontanetto, vgl. Päch S. 18, 24.
*) So lebte man z. B. in S. Ambrogio nach duniacensischer Regel,
vgl. Sackur, E., Die Guniacenser in ihrer kirchlichen u. allgemeingeschicht¬
lichen Wirksamkeit bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts (2 Bde., Halle
1892 f.) II, S. 206.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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die das Geistliche überall und grundsätzlich über das Weltliche
stellten, war auch in den konservativen Köpfen Mailands die
Reflexion über Recht oder Unrecht von Simonie und Nikolaitis-
mus stärker geworden als der Wille, den überkommenen Besitz¬
stand auf alle Weise zu wahren.
Dazu kommt ein weiterer Umstand, der das frühere Eindringen
der Reformgedanken in Mailand sehr wahrscheinlich macht.
Ariald fand mit seinen Überzeugungen zweifelsohne nicht wenige
Gesinnungsgenossen auch im Klerus: die entgegenstehenden
Schilderungen des Andreas 1 ) und die offenkundigen Übertrei¬
bungen Bonithos*) wird man füglich auf die Rechnung der pata-
renischen Parteiauffassung setzen dürfen. Erwägt man ferner¬
hin, welches Lob auch Freunde der Pataria den ambrosianischen
Geistlichen ob ihrer hohen Bildung und Tüchtigkeit ehrlicher¬
weise zu spenden nicht umhin konnten 8 ), so müssen diese anerken¬
nenden Äußerungen in den tatsächlichen Verhältnissen begründet
gewesen sein. Nun besaß Mailand freilich selber seine theologi¬
schen Schulen 4 ); aber die wissenschaftlichen Mittelpunkte der
damaligen Gottesgelehrsamkeit lagen in Frankreich. Gerade hier,
im Lande der pseudoisidorischen Dekretalen, empfingen auch die
Reformideen ihre systematische Unterbauung und Ausbildung,
die nun auch mit den wandernden Scholaren 6 ) nach Italien vor¬
drangen: wie denn Arialds Biograph ausdrücklich zu vermelden
weiß, daß sein Heiliger auf Reisen im Auslande den Schatz seiner
Kenntnisse, den sich der reichbegabte Jüngling in Mailand er¬
worben, erweitert und vertieft hätte. 6 )
Wenn sich nun bei Landulf die Bemerkung findet 7 ), daß in
der Tat bereits zu Beginn der fünfziger Jahre sich eine reformato-
‘) c. I § 7. *) Ja «6 II, S. 640.
*) Am. III, 14 berichtet das Wort Peter Damianis: „numquam se
talem vidisse clerum". Ähnlich Anselm von Lucca bei Land. III, 5.
*) Land. II, 35; vgl. Mirbt, K., Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII.
(Leipzig 1894) S. 245.
4 ) Vgl. Krüger II, S. 13, Nr. 4; Endres, J. A., Die Dialektiker (Philos.
Jahrbuch XIX, 1906) S. 24 ff.
•) Andr. c. I, §6; vgl. Päch S. 18. Krügers Einwände sind nicht
stichhaltig; vgl. Meyer von Knonau I, S. 6r, Nr. 10. — Gfrörer, A. Fr., Papst
Gregorius VII. u. sein Zeitalter (Schafihausen 1859fr.) I, S. 568 rät auf Paris,
Clugny, sogar Spanien. T ) Land. III, 5.
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Jos. Goetz
rische Strömung in der lombardischen Metropole breitgemacht
habe, und wenn er diese mit dem späteren Bischof von Lucca
und nachmaligen Papst Alexander II., Anselm von Badagio, in
Verbindung bringt, dessen cluniacensische Geistesschulung keinem
Zweifel unterliegt 1 ), so wird man sich nicht von vornherein der
Frage verschließen dürfen, ob diese Nachricht keine Beachtung
verdiene, wie in den seitherigen Darstellungen geschehen.
Auch in der Chronologie der Pataria sind noch nicht alle Schwie¬
rigkeiten gelöst: so in der Datierung der Synode von Fontanetto.
Arnulf*) erklärt nämlich aufs bestimmteste, diese Synode sei auf
Anordnung Stephans IX. berufen und von Erzbischof Wido ge¬
halten worden. Aber auf Grund von gesicherten Urkundendaten
sowie von inneren Bedenken lehnt Meyer von Knonau 3 ) diese
Angabe ab und glaubt die Berufung und Abhaltung der Synode
noch unter Viktor II. setzen zu sollen. Scheint schon um dieses
Widerspruchs willen — und Arnulf gilt als die zuverlässigste
Quelle für die Geschichte der Pataria — eine neue Untersuchung
des wirklichen Tatbestandes gerechtfertigt, so mag noch ein
anderer Gesichtspunkt auffordern, sie anzustellen: es wäre ein
interessantes Streiflicht, das auf die Entwicklung der Reform¬
ideen am päpstlichen Hofe und besonders unter Stephan IX. fiele,
wenn sich nach Beseitigung aller Schwierigkeiten Arnulfs An¬
gabe aufrechterhalten ließe! Denn es ginge dann aus ihr ganz
deutlich hervor, daß man sich in Rom zwar über die Ziele der
Reform und der künftigen Kirchenpolitik durchaus im klaren
war, daß aber die erfolgreichen Wege dazu erst aus der praktischen
Erfahrung erschlossen werden mußten.
Schließlich darf die Behauptung gewagt werden, daß in der
Benennung der Mailänder Reformbewegung als Pataria, ihrer
Anhänger und Teilnehmer als Patariner (Pateriner) die seitherigen
Deutungen des Namens bezüglich der Herkunft und Bedeutung
keine volle Befriedigung gewähren; denn trotz aller gelehrten
Gründlichkeit und allem methodischen Scharfsinn vermögen die
*) Vgl. Giesebrecht, W., Geschichte der deutschen Kaiserzeit (Braun¬
schweig 1876 fr.) 4 III, S. 30; Gfrörer I, S. 567; Davidsohn, R., Geschichte
von Florenz (Berlin i8g6ff.) I, S. 22z. *) III, 12, 13.
*) I, S. 672.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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seitherigen Auslegungen verschiedenen berechtigten Einwänden
nicht standzuhalten. Vielleicht gelingt es dem unten angestellten
Versuch, mehr Klarheit und Sicherheit in die beregte Frage zu
bringen.
I. „Pataria.“
Es entsprach durchaus der Bedeutung der Mailänder Reform¬
bewegung, wenn sie schon frühzeitig 1 ) durch einen eigenen Namen
ausgezeichnet ward: bei dreien von den Hauptquellen geschieht
desselben Erwähnung. Aber mit der bloßen Anführung des Na¬
mens durch die zeitgenössische Literatur hatte es nicht sein Be¬
wenden; vielmehr unternahmen die Schriftsteller auch den Ver¬
such, dem Namen eine Ausdeutung mit auf den Weg zu geben,
mittels der er seine Herkunft erweisen sollte. Freilich konnte
keiner dieser Versuche von bleibendem Werte sein; denn sie gingen
zumeist von mutmaßlichen Äußerlichkeiten aus, ohne nach einem
tieferen Tatsachenkern zu suchen. Nur soviel geht aus diesen
Versuchen mit Sicherheit hervor: es muß dem Namen etwas ganz
Merkwürdiges von Anfang an beigewohnt haben, daß er sich trotz
allen Dunkelheiten nach Herkunft und Bedeutung so zähe erhielt;
am bloßen Wortlaut kann das nicht ausschließlich gelegen haben;
das dürfte ohne weitere Begründung klar sein für jeden, der sich
vergegenwärtigt, daß sich im Volke nur Schlagwörter — und als
solches hat doch Pataria — Patariner zu gelten — durchsetzen
und behaupten, die sich für seine Phantasie mit einer ganz bestimm¬
ten Vorstellung verbinden.
Es mag nun, bevor in die eigentliche Untersuchung eingetreten
wird, von einigem Interesse sein, zunächst etliche Erklärungen
des Namens durch ältere und neuere Schriftsteller anzuführen.
Im 5. Bande seiner italischen Altertümer*) kommt Muratori
u. a. auf die Manichäer und ihre orientalischen Ursprünge zu
sprechen. Dabei tut er auch der Tatsache Erwähnung, daß man
in Oberitalien hauptsächlich diese Häretiker als Patariner be-
*) Nach Arn. III, 13 auf die Synode von Fontanetto hin, also etwa
seit Ende 1057; ebenso setzt Bon. lib. ad am. VI (Ja S 6 II, S. 639) das Auf¬
kommen des Namens ins selbe Jahr; und auch für Land. III, 5 steht er mit
den Anfängen der Bewegung im Zusammenhang.
*) Antt. V, p. 81 ff.
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zeichnet habe. 1 ) Der Name reizte ihn seinerseits zu einer Ety¬
mologie, die weiter unten anzuführen sein wird.*) Auffällig ist
dabei — das sei hier sofort angefügt —, daß Muratori, ohne
Bonithos Etymologie zu kennen*), doch in der Sache zum gleichen
Ergebnis kam.
Mit der bewundernswerten Umsicht, welche diesen berühm¬
ten Geschichtsforscher in alleweg auszeichnet, hat Muratori über¬
dies die Gelegenheit nicht unbenützt vorbeigelassen, die Erklä¬
rungen einiger Schriftsteller mitzuteilen, die jedoch seine ent¬
schiedene Ablehnung erfahren. Da seine klare treffliche Art
nicht kürzer und besser gegeben werden kann, habe er selber das
Wort: quare e cerebro suo uti et in aliis locis, non autem ex veri-
tate rei, Paterini nominis etymon deduxere Octavius Ferrarius
et Aegidius Menagius in libris originis linguae Italicae, quum a
‘pactis’ originem sumpsisse scripserunt. 'ita primum’ inquit Fer¬
rarius ‘in contumeliam Iudaei appellati a pactis, quum pignori-
bus capiendis et pecunia foenore locanda caverent, ut nisi intra
certam diem usura penderetur, res pignori opposita periret ac si-
milibus pactis et conditionibus transigerent.’ Und er fügt diesem
seltsamen Einfall die Kritik bei, daß man niemals die Juden Pa-
teriner genannt habe, sondern nur die Manichäer oder die mai-
länder Christen, welche die Unenthaltsamkeit der Priester mit
Eifer und Ausdauer bekämpft hätten.
Weiterhin macht Muratori noch auf eine Notiz aufmerksam,
■die sich bei dem Mönch Wilhelm von Clusinum in der Lebensbe¬
schreibung des Abtes Benedikt aus demselben Kloster findet 4 )
und die von Cuniberts Nachfolger auf dem Turiner Bischofsstuhl
sagt: 'qui prius fuerat Stoicus sive, ut aiunt, Paterinus, gaudens
’) a. a. O. V, p. 83 sagt er, die Bezeichnung der Manichäer als
Patariner sei in Mailand schon vor der Reformbewegung Mitte der fünf¬
ziger Jahre üblich gewesen (vgl. Hahn, Chr. U., Geschichte der neuma-
nichäischen Ketzer [Stuttgart 1845] 1, S. 50; Kirchl. Handlexikon II [1912],
1359) und dann von Arnulf u. Landulf auf die Reformfreunde übertragen
worden, die mit bisweilen übertriebenem Eifer die Priesterehe bekämpften.
Indes widerspricht diese Ansicht den übereinstimmenden Angaben der
Quellen. *) S. 25 f.
*) Da Bonithos Freundbuch erst später aufgefunden ward; vgl. Päch S. 5;
Jaffö n, S. 602.
4 ) Mabillon, Acta Sanct. ord. S. Ben., saec. VI, pars II, pag. 711, c. 33.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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Sorte mutata, quidquid undecumque compilare poterat, ventri
donabat avaro.’ Demnach, bemerkt Muratori dazu, habe man
jjene Pateriner geheißen, die gleich den Manichäern eine Verach¬
tung von Nahrung und Kleidung offen an den Tag gelegt hätten.
Eine nicht weniger gekünstelte Auslegung des Namens bringt
Du Cange in seinem Glossarium 1 ), indem er an die von ihm beige¬
zogene Stelle aus der Chronik des Hugo Flaviniacensis: iam vero
si quis esset qui Gregorio (sc. VII. papae) communicaret . . . hic
haereticus destructör regni ... et quodam adinventitio nomine
Paterinus dicebatur*) die Vermutung anschließt: forte quod
Papae, quemPatrem appellabant, adhaereret. 8 ) Um zunächst
bei Hugo von Flavigny kurz stehen zu bleiben, so ist bei ihm die
Beobachtung zu machen, daß er den Namen Patariner schlank¬
weg als Parteibezeichnung der Anhänger Gregors VII. kennt,
die nach seiner zutreffenden Bemerkung 4 ) gelegentlich erfunden
worden sei. Da nun Hugo um das Ende des II. Jahrhunderts
schrieb 8 ) und somit vom wahren Sachverhalt Kenntnis haben
konnte, so scheint aus seiner Notiz hervorzugehen, daß die Über¬
tragung des Namens Patariner auf Häretiker zu seiner Zeit noch
nicht oder wenigstens nicht allgemein erfolgt war.
Was aber die Auslegung von Du Cange betrifft, so war es schon
für Muratori ein leichtes, sie mit der gelehrten Anmerkung abzu¬
weisen 8 ) : nimis contorta est interpretatio, tum quod Pater Papam
nequaquam satis apte, hoc est nullo singulari titulo, designet ac
genericum nimis sit; tum etiam quod presbyteri incontinentes
ab obsequio erga Romanum pontificem revera non discessere, ita
ut dicteriis impeterent adversarios Gregorio VII. adhaerentes.
Übrigens bietet Du Cange noch eine ganze Reihe von Stellen,
die sich mit der Deutung des Namens befassen. Die einen wollen
Ihn von p a s s i 0 ableiten, weil die Träger desselben bereit und ent¬
schlossen gewesen seien, für ihre Überzeugung ihr Blut zu ver¬
gießen wie die Märtyrer der Kirche. Andere glauben seinen Ur-
*) S. v. Paterinus. *) Vgl. Antt. V, p. 84.
*) Vgl. Hurter, Fr., Geschichte Papst Innocenz III. u. seiner Zeitgenossen
(Hamburg 1842) * 11 , S. 231, Nr. 420; Füsslin, J. C., Neue und unparteiische
Kirchen- u. Ketzergeschichte der mittleren Zeit (Frankfurt 1770) I, S. 42.
4 ) Vgl. Arn. IV, 11.
*) Potthast * 1 , S. 625. Chevalier * 1 , col. 2203. ®) Antt. V, p.
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Jos. Goetz
sprung in dem Umstand zu erkennen, daß die Patariner des Glau«
bens lebten, durch das am Sonntag gesprochene Pater noster ihr
ewiges Heil sicherzustellen. Wieder andere bringen den Namen
in Verbindung mit einem gewissen Römer Pate r n u s, che ricovero
in Bosna et sparse semi della sua diabolica dottrina in quaesto
regno. — Doch genüge hier diese Zusammenstellung, aus der
offensichtlich hervorgeht, daß die Deutungen von dem rein äußer¬
lichen Wortbild bzw. Wortklang ihren Ausgang nehmen und daß
die Geschichtsschreiber des Mittelalters unter den Patarinerri
fast immer Häretiker begreifen.
Sachlicher verfährt eine andere Gruppe, hauptsächlich von
neueren Gelehrten 1 ), die ihre Auslegung auf eine Angabe in Boni-
thos Freundbuch stützen 2 ), wonach Paterini mit pannosi gleich¬
zusetzen wäre; die Übersetzung wird dann kurzweg mit 'Lumpen*
wiedergegeben. In der Tat möchte diese Auslegung vollen Beifall
heischen, wenn man beachtet, daß der Bischof von Sutri als Zeit¬
genosse der Mailänder Reformbewegung 8 ), ja noch mehr als Sohn
der ambrosianischen Erzdiözese und Leiter der Pataria in Pia-
cenza 4 ), von wo aus Mailand und die Reformführer des öfteren
zu besuchen die Möglichkeit sehr nahe lag 6 ), ganz wohl mit den
Zuständen und Ereignissen in der lombardischen Hauptstadt
bekannt und vertraut sein, also auch mit seiner Ausdeutung auf
eigenen Erkundigungen und Beobachtungen fußen konnte; wenn
man sich ferner vergegenwärtigt, was Arnulf berichtet 6 ), daß
nämlich nach der auf der Synode von Fontanetto über Ariald
und seinen Helfershelfer Landulf ausgesprochenen Exkommuni¬
kation bei Tag und Nacht ein dichter Haufen von Männern und
Weibern sich um den letzteren scharte, der am meisten bedroht
schien — er hatte keine Weihe, die ihn zum öffentlichen Predigen
*) z. B. Gfrörer, Gregor VII. I, S. 569; Baxmann, R., Die Politik
der Päpste von Gregor I. bis auf Gregor VII. (Elberfeld 1868) II, S. 265;
vgl. Will, C., Die Anfänge der Restauration der Kirche im n. Jahrhundert
(Marburg 1859/64) II, S. 123. *) Jaff<£ II, S. 639.
*) Geb. ca. 1045; gest. 14. Juli 1090; vgl. Lehmgrübner, H., Benzo
von Alba (Histor. Untersuchgn., hsg. v. J. Jastrow, Heft 6, Berlin 1887)
S. 136, 150; Saur, H., Studien über Bonizo (Forschungen zur deutschen
Geschichte VIII, 1868) S. 420 (übrigens S. 438 Todesjahr 1114 unhaltbar!).
4 ) Lehmgrübner S. 131, 138. — Saur S. 415. — Krüger I, S. 20.
*) Saur S. 421; vgl. dagegen Päch S. 6. *) III, 13.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 25
berechtigt hätte —, und daß diese Gefolgschaft zumeist nur aus
den niederen und niedersten Bevölkerungsschichten Mailands
stammte 1 ), deren politische und soziale Halb- oder Unfreiheit
auch in ihrem äußeren Gehaben und Betragen sich aufdringlich
bemerkbar machen mochte. Allein faßt man die Angabe näher
ins Auge, so droht der einnehmende Schein rasch zu verfließen.
Bereits Will*) hat darauf hingewiesen, daß Bonithos Erklärung
„gar keine etymologische Wahrscheinlichkeit hat, indem es sich
auf keine Weise dartun läßt, daß Paterini für pannosi stehen
könne“. Dieser Ansicht wird man füglich beipflichten müssen,
soweit sie die formelle Ableitung des einen Wortes vom anderen
als sprachliche Unmöglichkeit hinstellt. Trotzdem ließe sich ja
Bonithos Angabe als sachliche Umschreibung des ursprüng¬
lichen Begriffs, die durchaus auf tatsächliche Verhältnisse zurück¬
gehen konnte, wohl aufrechterhalten, wenn sich nicht eine be¬
deutende Schwierigkeit von einer anderen Seite in den Weg stellte.
Arnulf widmet nämlich der Etymologie des Namens Patarini
ein ganzes Kapitel*); dabei müht er sich mit einer Ableitung des¬
selben ab, die ihm zuletzt selber nicht geheuer war, weshalb er
jeder besseren künftigen Etymologie völlige Freiheit lassen will.
Wehn nun Bonithos Erklärung vom Aufkommen des Namens an
Kurswert besessen hätte, so stünde zu vermuten, daß der sach¬
lichste Gewährsmann der Pataria, dazu der geborene Mailänder
und scharfe Beobachter, mit Freude von ihr in seiner Darstellung
Gebrauch gemacht hätte. So aber bleiben Bonithos 'Lumpen’ wohl
ein subjektiver Erklärungsversuch und zwar jüngeren Datums 4 ),
als er selber wahr haben möchte.
Daß Muratori in seiner Abhandlung über die Manichäer den
Versuch einer selbständigen Etymologie gemacht habe, wobei er,
ohne Bonitho zu kennen, merkwürdigerweise dessen Auslegung
sachlich ziemlich nahegekommen sei, wurde bereits im Vorher¬
gehenden betont. Indem er auf Landulfs an verschiedenen Stel¬
len 5 ) zerstreute Schilderungen der Umtriebe, welche die Reform*
*) Wie Land. III, 5, 9, 11, 21 u. Bon. VI (Ja S 6 II, S. 639) überein¬
stimmend und zweifelsohne zutreffend berichten; vgl. noch Will II, S. 123,
Nr. 36. *) a. a. O. *) IV, 11.
4 ) Vgl. Krüger I, S. 21; Meyer von Knonau I, S. 672.
‘) *• B. III, 5, 9, ii, 21.
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anhänger gerade unterm niederen Volk sich zu schulden kommen
ließen, Bezug nimmt, führt er aus: patalia 1 ) sive pataria . . . si
quid video, nihil aliud significavit primo quam vilium personarum
congeriem ac deinde seditionem abiectorum artificum ac gentis
indoctae rudisque ab Arialdo scilicet contra clerum incontinen*
tem primo excitatam tum a quibusdam nobilibus magno aftimi
aestu amplificatam. Der Fortschritt nun in der Etymologie, der
Muratori verdankt wird, besteht darin, daß er Paterini ableitet
von einem im Mailändischen ganz geläufigen Wort pate, das so»
viel bedeutet wie propola, d. h. Trödler.*) Danach also "wären
es die „Lumpenhändler“ — adeo abiecta gens ac illiterata nennt
er sie — gewesen, die sich durch ihren erbitterten Kampf gegen
Simonie und Nikolaitismus diesen Namen zugezogen hätten, der
dann allmählich auf die ganze Bewegung als eine Art nom de
guerre überging. Allein so interessant Muratoris Vermutung zu¬
nächst anspricht, muß doch dem beigepflichtet werden, was be¬
reits Krüger 8 ) bemerkt hat, „daß diese Ableitung gezwungen ist
wie die früheren und im Grunde ebenso wie Bonitho der Versiche¬
rung Arnulfs widerspricht: non industria, sed casu prolatum.“ 4 )
Die seither angeführten Auslegungen des Namens Patariner
hatten also ihren Zweck nicht erschöpft: sie schoben verschiedene
Schwierigkeiten ungelöst beiseite. Um nun mit_ diesen aufzu¬
räumen, ward ein anderer Weg eingeschlagen. Man ging nämlich
von dem Abstraktum Pataria aus, einem Begriff, der sich beson-
*) So hat auch Landulf. Wenn Krüger I, S. 21, wo übrigens pathalia
steht, was den M. G. unbekannt, seiner Abneigung wider diesen Autor
so weit die Zügel schießen läßt, daß er ihm sogar aus dieser sprachlich
leicht begreiflichen Schreibweise einen Strick drehen will, so geht diese
Kritik entschieden zu weit. Vgl Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 14,
wo Landulfs patalia auf pattele = Lumpen zurückgeführt wird. ‘
*) Vgl. die ergänzenden Angaben bei Meyer von Knonau a. a. O., dazu
Perrens, F. T., St. Pierre Martyr et l’h^rdsie des patarins ä Florence (Revue
hist. 1876) II, p. 339, Nr. 1.
*) a. a. O. I, S. 21. — Vor allem enthalten gerade die Quellen keinerlei
Angabe, daß ausgesprochen die Trödler einen solchen Reformeifer an
den Tag legten, daß sie der ganzen Bewegung den Namen geben konnten.
4 ) Pataria = Volksrotte findet sich, offenbar in Anlehnung an Landulf,
bei Ne an der, A., Allgemeine Geschichte der christl. Religion u. Kirche IV
(1836), S. 173; Giesebrecht, W., Annales Altahenses (Berlin 1841) S. 147;
Realencyklopädie für prot. Theol. *XIII, S. 762 (Mirbt). Ähnlich Pataria
= Bettlervolk bei Wetzer u. Welte, Kirchenlexikon *IX, 1595.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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ders im Mailändischen nachweisen läßt und mit „Lumpen, Alt¬
eisen“ wiedergegeben wird. 1 ) Dieser Begriff, so nahm man an,
hat sich frühzeitig auf den Stadtteil von Mailand übertragen, wo
die Trödelwaren zum Verkauf standen.*) Und weil sich nun die
Hauptmasse der Reformanhänger aus diesem Stadtteil rekrutierte,
wo vielleicht auch, da man mit den beweibten oder simonistischen
Priestern keinerlei kirchliche Gemeinschaft zu pflegen ernstlich
gesonnen und entschlossen war 3 ), der Gottesdienst für die „Arial-
disten“ abgehalten wurde, so konnte es sich gar leicht ergeben,
daß man die Reformanhänger die Patariagemeinde nannte. 4 )
Eine Stütze erwuchs dieser Vermutung in der Tatsache, daß
schon im 14. Jahrhundert der Mailänder Chronist Galvaneus
Flamma 8 ) den Namen Pataria mit einem gleichnamigen Mai¬
länder Trödlerviertel in Zusammenhang brachte. Seinen Spuren
folgte späterhin Sigonius 6 ), der freilich die Verwechslung beging,
als habe man die reformfeindlichen Priester mit diesem Namen
s
bedacht. 7 ) Und noch im 18. Jahrhundert bestand nach des Mai¬
länder Grafen Giulini Bericht 8 ) ein Pataria benanntes Viertel in
der lombardischen Hauptstadt. 9 )
Indes kann man sich nicht verhehlen, daß auch dieser Erklä¬
rung noch manche Bedenken und Fragen entgegenstehen. Ein¬
mal mag betont werden, daß Arnulf nicht die abstrakte Form Pa¬
taria, sondern nur die konkrete Paterini kennt; und Bonitho,
*) Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 14. — Ja Ü 6 II, S. 639, Nr. 4.
*) Vgl. Baxmann II, S. 265, Nr. 3; Jaffd II, S. 639, Nr. 4; Krüger I,
S. 21; Will II, S. 123. *) Am. III, 13.
4 ) Krüger I, S. 22; vgl. dazu Bildungen wie Jakobiner aus der fran¬
zösischen Revolution.
6 ) Manip. flor. c. 625 (Muratori S. S.XI, p. 538); Chron. maius c 764
(Giulini, Memorie della cittä e della campagna di Milano ne’ secoli bassi
[Milano 1760] IV, p. 199); vgl. Potthast * 1 , S. 488!
6 ) Hist, de regno ltal. IX, ad annum 1058. Opp. omn. (Mailand 1732)
II, col. 535.
7 ) Vgl. Giulini a. a. O. — Muratori, Antt. V, p. 84.
8 ) a. a. O. IV, p. 199: lo sito... che oggidl pure chiamasi Pataria
o contrada de’ Patari, ciofc rivenduglioli di panni vecchi da’ Milanesi
chiamati patari, was ein alter Brauch sei (indes nicht vor dem 12. Jahrh.),
a ciascuna delle principali arte e delle principali mercanzie eine besondere
Straße zuzuweisen.
®) Nach Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 13 besteht „auch noch
zur Stunde eine via dei Pattari“ (nähere Ortsangabe daselbst).
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der zwar auch die Form: Patarea 1 ) anführt, gründet seine Er*
klärung doch auf das Konkretum Paterini. In der Tat wider¬
spräche es aller historischen und psychologischen Erfahrung,
wenn die konkrete erst von der abstrakten Form ihren Ausgang
genommen hätte; es ist vielmehr von vornherein höchstwahr¬
scheinlich, daß auch hier der umgekehrte Fall eingetreten ist.
Eine weitere Schwierigkeit, die der Stadtviertelhypothese
entsteht, liegt in der bestimmten Angabe Arnulfs, wer die Benen-:
nung der Reformanhänger als Patariner zuerst aufgebracht habe:
cetera vulgaritas. Nach Arnulfs Sprachgebrauch sind darunter
die unteren Schichten der Mailänder Bevölkerung zu verstehen.
Gegen diese deutliche Angabe kann Bonithos Bemerkung nicht
aufkommen, wenn er die Erfindung des Schimpfnamens den über
die raschen Fortschritte der Reform erbitterten simonistischen
und nikolaitistischen Priestern ins Gewissen schieben möchte;
überdies widerspricht eine solche absichtliche Erfindung auch der
anderen ausdrücklichen Bemerkung Arnulfs, der Name verdanke
durchaus dem Zufall seine Entstehung.
Wenn von vornherein die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß ist,
daß sich der Riß, der mit der Reformbewegung in die ambrosia-
nische Kirchengemeinde kam, auch durch die niederen Bevölke¬
rungskreise zog, so erhebt Arnulfs eben angeführter Ausspruch
diese Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit. Es erscheint demnach
äußerst zweifelhaft, daß ein Teil der Volks- und Standesgenossen
desselben Stadtteils den anderen mit einem Schimpfwort be¬
legt habe, das, von der gemeinsamen Wohnstätte hergenommen, gar
keine scharfe Kennzeichnung der Betroffenen in sich schloß und
darum unmöglich seinen spöttischen Zweck, den es laut Arnulfs
Notiz hatte, erfüllte. Freilich pflegt ein Schlagwort auf derlei
Bedenken nicht eben viel Rücksicht zu nehmen, wenn es nur
eine bestimmte Vorstellung der zu treffenden Sache auszulösen
*) Er hat Pataria (Jaflte II, S. 644); Patarea (ib. II, S. 651, 652, 659).
Die letztere Form hat den Ton sicher auf der vorletzten Silbe. Dement¬
sprechend ist wohl auch Patarfa mit betonter Pänultima zu sprechen; was
durch Benzo VI, 2 bestätigt wird, wo das Versmaß Patarfa zu lesen
erfordert. Vgl. Rotondi, P., La Pataria di Milano (Arch. stör. Ital. Serie III,
t. VI, parte I, 1867), der diese Betonung extra durch den Druck (Akzent)
kennzeichnet.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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vermag. Das traf aber im Falle „Pataria“ nicht zu: denn hätten
es sonst die beiden Mailänder Chronisten unterlassen, bei ihren
etymologischen Versuchen der lokalen Herkunft des Namens Er¬
wähnung zu tun, wenn sie mit ihm die Vorstellung des von den
„Trödlern“ bewohnten Stadtteils hätten verbinden können? 1 ) Zu¬
mal Arnulf hätte doch sonst gute Gelegenheit gehabt, seiner eigenen
Forderung Genüge zu tun, indem er auf Grund jener von einem
Stadtviertel hergenommenen Bezeichnung, das die verachteten,
übelbeleumundeten „Lumpenhändler“, den Grundstock der Pa¬
taria, beherbergte, das ganze große Unrecht der Reformbewegung,
wie es dieser konservative Aristokrat auffaßte, ins rechte Licht
rückte. Der richtige Sachverhalt scheint demnach so zu liegen,
daß zu Arnulfs Zeiten jenes späterhin als Pataria bezeichnete
Stadtviertel noch gar nicht diesen Namen trug. Vielmehr kam
der Name zuerst für die Anhänger Arialds und Landulfs in Auf¬
nahme; diese gehörten zu einem guten Teil den niederen Volks¬
schichten an, die teils in Lumpen einhergehen, teils mit Trödler¬
waren handeln oder in diesem Artikel irgendwelche Beschäftigung
finden mochten. Da sie in einem bestimmten Bezirk zusammen¬
wohnten, so übertrug sich — vielleicht eben mit unter Einwirkung
der Reformbewegung — auf diesen Stadtteil die Bezeichnung
ihres Tun und Treibens.
Noch einen letzten Einwand gilt es wider die Annahme ins
Feld zu führen, als habe die Bezeichnung der Mailänder Reform¬
bewegung von einem Stadtviertel ihren Ursprung genommen. Be¬
kanntlich wurde der Name Patariner in der Folgezeit besonders
auf die zumal in Oberitalien allenthalben auftauchenden Mani¬
chäer*) übertragen.
Wie kam es aber, daß ein Name, der ursprünglich mit der
Häresie (im eigentlichen Sinne) nichts zu schaffen hatte und dem
*) Übrigens hat sich bereits Muratori Antt. V, p. 83 im Hinblick aut
Arnulf gegen die Stadtviertelhypothese ausgesprochen. Auch Krüger I,
S. 22 empfand dies Bedenken, das er mit der Bemerkung zu beseitigen
vermeint: „Den tumultuarischen Charakter der Bewegung drückt diese
Benennung (nach einem Stadtbezirk) keineswegs aus, und deshalb genügt
sie dem Arnulf nicht."
*) Vgl Döllinger, J. J. v., Beiträge zur Sektengeschichte des Mittel¬
alters (München 1890) I, S. 51, 67.
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überdies ein gut Stück Mailänder Lokalfarbe anklebte, im Laufe
der Geschichte fast ausschließlich für die Brandmarkung häreti¬
scher Bestrebungen gebraucht werden konnte? Der zureichende
Grund für diese merkwürdige Erscheinung, welche die Stadt¬
viertelhypothese nicht zu erklären weiß, muß offenbar bei der
wenn auch zufälligen Schöpfung des Namens bereits wirksam ge¬
wesen sein.
Es ergibt sich demnach die Notwendigkeit, die seitherige Er¬
klärung des Namens Pataria — Patariner fallen zu lassen. Wird
sich aber eine andere Deutung finden, die womöglich alle sach¬
lichen und auch formellen Bedenken zu beheben imstande ist?
Die Frage wird sich am besten dadurch beantworten, daß alle
Quellenstellen, welche den Namen anführen, aufs neue untersucht
werden, wobei besonders der Zusammenhang, in dem er auftritt,
sorgfältig beachtet und Zweck und Art der Deutung herausge¬
hoben und verglichen werden.
Während sich bei Andreas keinerlei Andeutung des Namens
Pataria — Patariner findet 1 ), hat Bonitho, der schon mehrerwähnte
Bischof von Sutri*), eine ausführliche Erklärung desselben in
seine Darstellung eingeflochten. Im 6. Buche seines Freund¬
buches kommt er auf die Mailänder Reformbewegung zu sprechen,
die ihm geradezu ein Musterbeispiel für seinen zu Anfang des
Werks aufgestellten Satz abgeben muß, daß gerade die Zeiten
tiefster Erniedrigung der römischen Kirche zum Heile ausschlagen.
Denn durch die Pataria oder, wie es Bonitho ansieht, durch den
einheitlich organisierten Kampf der gregorianischen Orthodoxie
wider Simonie und Nicolaitismus, wurde die ambrosianische
Kirche, deren von einer ganzen Reihe tüchtiger und zielbewußter
Erzbischöfe errungene Selbständigkeit und Eigenart ihm wie
ein zweihundertjähriges Schisma erscheint, wieder unter Roms
*) Er spricht nur von fideles, z. B. c. II, § 15, III, § 24, V, § 52, VI, § 57
u. ö., von sequaces Arialdi c. VI, § 59. Der letztere Ausdruck enthält deut¬
lich den Grund für diese auffällige Tatsache: dem Biographen des hl.
Ariald, dessen Schüler u. Begleiter er war, verschwindet das Werk der
Reform völlig hinter dem Helden und Märtyrer.
*) Über sein hartumstrittenes Werk zuletzt: Bock, R., Die Glaub¬
würdigkeit der Nachrichten Bonithos von Sutri im über ad amicum und
derenVerwertung in der neueren Geschichtsschreibung (Histor. Studien hsg.
v. E. Ebering, Heft 73), Berlin 1909.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 31
unbedingte Herrschaft gebracht.*) Und wenn sich aus dem erz-
bischöflichen Palast sogar die hochmütigen und trotzigen Worte
hatten vernehmen lassen: Ambrosiana aecclesia in suo statu
permaneat 1 ), so folgte diesem frevelhaften Selbständigkeits¬
dünkel auch der tiefste Fall nach: im Schoße der Mailänder Kirche
selbst erstanden die Werkzeuge ihrer Demütigung. Vornehmlich
den beiden Klerikern Landulf und Ariald gelang es, durch ihre
von der frommsten Überzeugung getragenen Predigten vor dem
armen und niederen Volke den cluniacensisch-römischen Reform¬
idealen in Lombardiens Hauptstadt zum Durchbruch und Sieg
zu verhelfen. Dadurch aber sahen sich, bei den eigenartigen
Verhältnissen in Mailand, die simonistischen*) und nikolaitisti-
schen Priester in ihrer äußeren Existenz bedroht; und da sich
zwischen ihnen und dem hohen und niederen Adel vielfache
Bande der Familie und des Besitzes schlangen, machten sie mit
diesen zur Abwehr jener oft gewalttätigen Reformbestrebungen
gemeinsame Sache. Aber sie vermochten gegen die Begeisterung
der eifervollen Masse so wenig aufzukommen, daß sie vielmehr es
mit ansehen mußten, wie eines Tages ihr eigener Erzbischof aus
seiner Kirche gejagt ward. 3 ) Alles, was die mit dem Adel ver¬
bundene Klerisei ausrichten konnte, war die Erfindung eines
Schimpfwortes, wodurch sie, wie ihre eigene Ohnmacht und Hilf¬
losigkeit, so die innere Berechtigung und Notwendigkeit der refor-
matorischen Bestrebungen offensichtlich zugab: indem sie den
Anhängern der Reform deren Armut zum Vorwurf machte, gab
sie ihnen den Namen Pateriner, d. h. „Lumpen“. 4 )
Aus dem Zusammenhang läßt sich unschwer erkennen, daß
hier — wie auch sonst zumeist — hämische Parteileidenschaft
dem Bischof die Feder führt: es war ihm offenbar nicht um eine
sachliche Etymologie zu tun, sondern um die Brandmarkung der
Reformgegner. Diesen letzteren gibt er darum im schroffsten
l ) Jafig II, S. 638.
*) Bonitho (Jaffi i II, S. 640) läßt von 1000 Priestern kaum 5 ohne
Geldzahlung zu ihrem Amte gekommen sein.
*) Vgl. Am. III, 12, der wenigstens von einem fanatischen Angriff
des Volkes unter Landulfs Führung auf die zum Chorgebet versammelte
Geistlichkeit berichtet.
4 ) Jaffd II, S. 639. Die Abweisung dieser Erklärung s. o. S. 25.
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Gegensatz zu Arnulf an der Erfindung schuld. Allein, so klittert er
weiter, die schlimme Absicht, die sie damit verbanden, schlug voll*
ständig fehl: denn weit entfernt, daß dieses Schimpfwort der Re¬
formsache irgend Abbruch getan hätte, war es ihr im Gegenteil
nur förderlich, und zwar aus zwei Gründen: einmal hebt Bonitho
in salbungsvollem Wortschwall geflissentlich hervor, daß zu denen,
die zum Leben vorherbestimmt waren, d. h. zu den Reformfreun¬
den, hauptsächlich gehörten pauperes quos elegit Deus, ut con-
fundat fortia (i. Cor. I, 27). Wie konnte denn ihnen, die unter
Gottes besonderem Schutz und Schirm standen, ein übelwollendes
Schimpfwort schaden! Vielmehr flog der giftige Pfeil auf die
Schützen selber zurück: denn sie mußten die Strenge jenes Herrn¬
wortes erfahren: wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka, ist dem
Hohen Rat verfallen (Mt. V, 22), indes die glückselig zu preisen
sind, die würdig befunden waren, für Jesu Namen Schmach zu
leiden. Und wirklich trat dieser Gottessegen auch nach außen
für alle Welt deutlich sichtbar zutage: gewaltig nahm das glor¬
reiche Geschlecht der Pateriner täglich zu. 1 )
Was an diesem biblischen Zitat auffallen muß, ist nicht die
Beziehung seines allgemein-sittlichen Inhalts auf einen speziellen
Fall der Geschichte, den es zu bekämpfen gilt; das war und ist
eine Gepflogenheit, die sich bei allen Religionsgemeinschaften fin¬
det, welche aus kanonischen Büchern Norm und Form schöpfen,
und die von ihren streitbaren Dienern jederzeit bis zur Verkehrung
der angezogenen Stellen in ihren gegenteiligen Sinn ausgenützt
wird. Auffällig ist vielmehr der Kommentar, den Bonitho dem
Wort „racha“ in seinem Zitat gibt, indem er es mit pannus über¬
setzt.*) Er hatte dabei wohl die Absicht, mit dieser sich als ge¬
lehrt gebenden Willkür mittelalterlicher Bibelbelesenheit seiner
Etymologie: Paterini = pannosi eine unangreifbare Stütze
zu geben; denn „die Deutung, welche Bonitho dem Worte fkucd
gibt, indem er es für das griechische Wort jSdKOC, das ist Lumpen,
erklärt, ist gewiß ganz verfehlt“. 8 ) Allein wie kam Bonitho ge¬
rade auf den Einfall, diese Stütze im Griechischen zu suchen?
*) Jaffö II, S. 640.
*) Ja ff 6 II, S. 640: rachos enim Grece Latine pannus dicitur.
•) Will II, S. 123.
Original fro-m
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
33
Wenn man zudem bedenkt, daß er mit dieser exegetischen Eigen*
mächtigkeit weit über seine wahrscheinlichen Gewährsmänner
Augustinus und Chrysostomus, die ^axd für eine bloße Interjek*
tion halten 1 ), hinausging, so gewinnt diese Frage noch an Be¬
deutung. Vielleicht trägt zu ihrer Lösung die Tatsache bei, daß
auch Arnulf bei seiner Etymologie auf das Griechische zurück*
geht. Wäre es nicht möglich, daß die beiden Schriftsteller, von
einem dunklen Bewußtsein geleitet, das aus der Quelle der münd¬
lichen Tradition schöpfte, die sicherlich dem Drange nach einer
Aufklärung des Ursprungs und der Bedeutung des Namens in
immer neuen Vermutungen Luft machte, die Spur einer Herkunft
aus dem Griechischen festgehalten hätten? Doch genüge hier
vorerst, die Frage gestellt zu haben; sie wird weiter unten noch
zu besprechen sein.
Um nun zu Arnulf überzugehen, so befaßt sich dieser an zwei
Stellen seines Werkes mit dem in Frage stehenden Namen. An der
ersten erzählt er*), wie die Synode von Fontanetto in jeglicher Be¬
ziehung das gerade Gegenteil ihres über Ariald und Landulf ver¬
hängten Bannfluchs erreichte: denn Landulf, statt sich zu fügen
und Buße zu tun, eiferte nun auch gegen Wido und seine Suffra-
gane, die bislang unbehelligt geblieben waren, und schloß die
Massen der Laien, die sich der Reform zugänglich erwiesen hatten,
zu einem Eidverband zusammen, um so seine Zwecke, die Sache
der Reform durch einen Boykott aller gottesdienstlichen Verrich¬
tungen der beweibten und simonistischen Priester durchzuführen
und diese dadurch in die Reihen der Reform zu zwingen, leichter
und sicherer durchzudrücken. Durch skrupelloses Vorgehen in
der Beeinflussung der Massen erreichte er denn auch die Durch-
iührung des Boykotts mit seinen bedenklichen Wirkungen. Diese
Massen aber, sagt Arnulf, hießen bei ihren übrigen Standesgenossen
ironisch Patariner.
Der Wert dieser Nachricht liegt in der Tatsache, daß Arnulf
hier als Augen- und Ohrenzeuge spricht, weshalb der vornehme
und vernünftige Autor volles Vertrauen beanspruchen darf.
*) Will, a. a. O. — Das {xncd bedeutet soviel wie Taugenichts, vgl.
Holtzmann, Handkommentar zum N. T. i.Bd., i. Abt. (* 1901), S. 209. Dazu
Wetzer u. Welte a. a. O. *X, S. 723. *) III, 13.
Archiv für Kultur geschieht«. XII. z 3
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Es war bereits an anderer Stelle Gelegenheit gegeben 1 ), darauf
hinzuweisen, daß Arnulf ganz bestimmt den Ursprung des Na¬
mens in die Sphäre des niederen Volks verlegt. Freilich neigt er
gern dazu, alle, die nicht dem Stande, der Kapitäne angehören,
für niedriggeboren zu halten 2 ); freilich liebt er es, seiner. Gering¬
schätzung des niederen Volkes des öfteren unzweideutigen Aus¬
druck zu verleihen 8 ): aber seine sonstige Terminologie erheischt,
den Begriff vulgalitas hier im ursprünglichen Sinne zu fassen. 4 )
Auch der Zweck der neuen Bezeichnung ist klar angegeben: die
Anhänger, die Landulf für die Reform organisierte, sollten damit
in ihrem Tun und Treiben lächerlich und verächtlich gemacht
werden.
Dieser beiläufigen Bemerkung über den Namen fügt Arnulf,
nachdem er mit dem Untergang Erlembalds das Ende der Pataria
herbeigekommen meint 6 ), den längeren Versuch hinzu, eine aus¬
führliche Etymologie desselben zu geben: unde Patarinum pro-
cessit primo vocabulum, non quidem industria, set casu prolatum.
cuius idioma nominis dum in quodam etymologiarum tomo nuper
plura revolverem, ita scriptum reperio: pathos Graece Latine
dicitur perturbatio, unde iuxta meae parvitatis ingeniolum sta-
tim coniitio, quod Patarini possunt perturbatores rite nuncupari;
quod plane rerum probat effectus. 6 )
Arnulf gibt hier zweifellos zu erkennen, daß die ominöse Be¬
zeichnung zuerst in der von Ariald und Landulf, später von des
letzteren Bruder Erlembald geleiteten Reformbewegung aufge¬
treten ist. 7 ) Ferner betont er stark das zufällige Aufkommen
des Namens. Und diese Angabe stimmt vorzüglich mit der frühe¬
ren zusammen, wonach die Bezeichnung im Anschauungskreis
des niederen Volkes erwachsen sei: denn die überlegene Anschau¬
ung, nicht das überlegende Nachdenken schafft derlei Namen;
*) S. o. S. 28. *) Vgl. Krüger II, S. 13. *) z. B. III, 12, 20.
*) Vgl. III, 17: ipsa vulgalitas, symoniaca occasione divina execratur
officia, cum quid sit inter dextram et sinistram, prorsus ignoret.
*) Tatsächlich dauerte sie bis zur Aussöhnung Mailands mit Gregor VII.
auf Canossa, ja infolge nochmaliger Trübungen bis zu Anfang der 90er
Jahre; vgl. Anemüller, E, Geschichte der Verfassung Mailands in den
Jahren 1075—1117 (Halle 1881) S. 14fr.
•) IV, 11. 7 ) Vgl. oben.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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aber nur in bestimmten, jedoch nicht bestimmbaren Augenblicken
gewinnt sie eine feste Form, deren Entstehung darum vielfach
im Dunkel verharrt. So auch bei dem Schimpfwort Patariner.
Aber dem Geschichtschreiber dünkte der Namen doch zu be¬
zeichnend, als daß er nicht den Wunsch empfunden hätte, seinem
Dunkel ein Licht aufzusetzen. Wie er nun gelegentlich ein Ety¬
mologienlexikon zu Händen bekam und darin einiges nachschlug,
suchte er diesem Wunsche Genüge zu tun. Da stieß ihm das Wort
pathos auf, dessen Wiedergabe mit perturbatio seinem Urteil
über die Reformbewegung so sehr entgegenkam: all die blutigen
Wirren, die erbitterten Kämpfe mit ihren grundstürzenden Folgen
für die Kirche und die Stadt des hl. Ambrosius tauchen ihm hinter
dem Wort auf. So ergreift denn Arnulf diese Lösung, ist sich frei¬
lich dabei durchaus klar und macht in seiner offenen Weise auch
gar kein Geheimnis daraus, daß ein wissenschaftlich höher gebil¬
deter Autor mit dieser Lösung, vielleicht nicht, ganz zufrieden, sein
könne; darum versteift er sich nicht auf seine Meinung, sondern
räumt jedem künftigen Erklärungsversuch bereitwilligst das Recht
ein, sie abzulösen, wenn sich nur Namen und Inhalt decken. 1 )
Die schon bei Bonithos Etymologie angeschnittene Frage
drängt sich auch hier wieder vor: wie kam denn Arnulf gerade
auf den Gedanken einer griechischen Herkunft des Namens
Patariner? Wenn ihm auch eine lateinische Form keine hinläng¬
liche Möglichkeit der Ableitung zu bieten schien, weil bei keiner
das Umstürzlerische der Reformbewegung klipp und klar zum
Ausdruck kam, muß doch die rasche Zuflucht zu einem griechi¬
schen Stammwort bei einem Schriftsteller auffallen, der selber
das Mangelhafte seiner wissenschaftlichen Bildung unverhüllt zu¬
gibt 2 ), ein Geständnis, das keine der sonst üblichen Bescheiden-
*) A. a. O.: Verumtamen si quando quis probatiori fuerit interpretatus
sententia, concedo equidem tota mentis tranquillae convenientia, dummodo
nomen concordet operi, opus vero respondeat nomini. — Es ist unbe¬
rechtigt, mit Will II, S. 124 in diesen Worten eine böswillige Erfindung
zu sehen, die der Bezeichnung Patariner eine möglichst gehässige Be¬
deutung geben sollte.
*) I, S. i: non michimetipsi confido, quem exilis ingenii adeo pau-
pertas angustat, ut difficilis michi videatur Aristotelici laberinthi ingressus,
laboriosus valde Tuliani palacii accessus. fateor me numquam conscendisse
curules quadrivii rotas.
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heitsphrasen ist, vielmehr von richtiger Selbsteinschätzung zeugt.*)
So scheint sich also wiederum eine leise Spur darzubieten, daß
man vielleicht den Ursprung des Namens tatsächlich im Griechi¬
schen zu suchen habe. Man wird Arnulfs Fingerzeig nicht ohne
weiteres ablehnen, wenn man erwägt, daß es gar nicht im Cha¬
rakter des schlichten Mannes lag, mit einer wenn auch noch so
spärlichen Kenntnis des Griechischen zu prunken.*) Indes ist
auch jetzt nicht zu verkennen, daß diese Vermutung immer noch
auf schwachen Füßen steht, solange sie keine zuverlässigeren
Stützen in anderweitig berichteten Tatsachen erhält.
Wenn Arnulfs Etymologie nirgends einen erkennbaren Wider¬
hall fand, so lag das nicht allein an dem gelehrten Rüchlein, das
ihr merklich anhaftete und dem lebensvollen Zauber des Namens
nicht entfernt gerecht wurde: Arnulf hatte ja sein Werk nur für
begrenzte Kreise seiner Vaterstadt bestimmt; außerdem sollte
es nicht sofort, sondern erst später, den Nachfahren zu Nutz und
Frommen, ans Licht der breiten Öffentlichkeit treten. 8 ) So konnte
es kommen, daß sein Landsmann Landulf einen neuen Versuch
unternahm, der Bezeichnung der Reformbewegung als Pataria
oder, wie er sagt, Patalia, mit einer erschöpfenden Deutung bei¬
zukommen. Doch bevor die Untersuchung fortgesetzt werden
kann, ist eine Vorfrage ins Auge zu fassen, die nämlich: inwieweit
ist angesichts der ablehnenden Haltung der historischen Kritik
dem Landulfschen Werke gegenüber diesem Schriftsteller in der
vorliegenden Frage Glauben zu schenken?
Was die Kritik an den Darstellungen Landulfs vor allem aus¬
zusetzen und zu tadeln fand, war der in die Augen springende
Mangel an jeglicher Zuverlässigkeit der Chronologie, der eng¬
wütige Parteistandpunkt, der sich allenthalben in unversöhnlicher
Häßlichkeit hervordränge, die durch kein Gefühl für historische
») Vgl. Krüger I, S. 3.
*) Sporadische Kenntnisse des Griechischen waren in der Lombardei
zweifelsohne verbreitet Vgl. z. B. Land. III, S. 5: Ambrosius Biffus . . .
quasi bina colloquia Graece et Latine fando. — Auch der häufige Ge¬
brauch griechischer Wörter und Titel bei Benzo mag dafür sprechen. Wenn
auch des letzteren Kenntnisse mit seiner unteritalienischen Herkunft Zu¬
sammenhängen (vgl. Lehmgrübner S. 4), so setzt doch diese Verwendung
griech. termini bei den Lesern einiges Verständnis des Griechischen voraus.
*) I, 1.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 37
Wahrheit und Gerechtigkeit getrübte Vorliebe für Klatscherei und
Verleumdung,, schließlich die ziemlich späte Abfassungszeit 1 ),
welche die obigen Beanstandungen teilweise begreiflich mache,
doch keineswegs entschuldige; nur weil er dem Kulturhistoriker
gewisse Materialien biete, wollte man Landulf einige mildernde
Umstände zubilligen. 8 )
Man wird nun freilich dem Werke Landulfs niemals denselben
Wert einer zuverlässigen Geschichtsquelle zugestehen können,
den Arnulf für seine Darstellung in Anspruch nehmen darf. Denn
während letzterer nur und nichts als Geschichtsschreiber sein
will, dessen Werk besonders den Nachfahren sicheren Aufschluß
über eine ungemein wichtige Periode der Mailänder Geschichte
und die erforderlichen moralischen Fingerzeige geben soll, verfolgt
Dandulf durchweg apologetische und polemische Tendenzen, was
er denn auch offen zugibt, wenn er sich zu Anfang des 3. Buches
folgendermaßen vernehmen läßt 3 ): Nachdem ich die Geschichte
unserer Erzbischöfe*) im vorhergehenden so weit zur Darstellung
gebracht habe, als ich auf die verschiedensten urkundlichen oder
mündlichen, jedenfalls wahrheitsliebenden Zeugnisse, die ich mit
vieler Mühe und Ausdauer sammelte, angewiesen war, und nach¬
dem ich die Ergebnisse dieser Nachforschungen nach Vermögen
zusammenfassend wiedergegeben habe, will ich nunmehr zu der
Abfolge von geschichtlichen Ereignissen übergehen, die ich selbst
erlebt habe; und diese will ich durchaus als objektiver Bericht¬
erstatter vorlegen, aber nicht so, wie etwa die Annalisten tun,
die aiq Schema der Chronologie hängen bleiben, sondern syste¬
matisch geordnet, wie es wohl die Rechtsgelehrten in Übung
haben. 5 )
*) Kurth, O., Landulf der Ältere von Mailand S. 11: „Alles ist zu einer
Zeit geschrieben“, gegen 1100; vgl. Wattenbachs Einleitung, MG. S.S. VIII,
p. 33. *) Päch S. 21; Kurth S. 2. *) III, 2.
*) Denn eine solche lag von Anfang an in seiner Absicht; vgl. I,
1; II, 1.
6 ) III, 2: igitur praefinitis ac determinatis archiepiscoporum nostrorum
causis, quas ego multo sudore multoque labore antiquos sciscitando omnes,
veritatem tarnen amantes, curiose repperi accivitatum Italiae totius librorum
paginas rimando fere scrutatus sum et prout potui multa in brevi com-
prehendens meis cartulis subscripsi, nunc ad historiarum seriem redeam,
quam legis peritus aliquis, prout fuit ac in veritate comperi, enarrare
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Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit, den angeführten Satz
in der Anlage des Landulfschen Werkes hier weiter zu verfolgen:
es genüge der Hinweis, daß Landulf weit eher als eine Art Streit¬
schriftsteller, der mit geschichtlichen Argumenten operiert, gleich
als wären sie aus der gerichtlichen Praxis abgezogene Rechtssätze,
zu fassen ist denn als Geschichtschreiber. Unter diesem Gesichts¬
punkt wird manche Ungereimtheit, die man ihm zum Vorwurf
machte, in eine verständlichere Beleuchtung gerückt werden kön¬
nen: so z. B. wird man in dem höchst merkwürdigen Umstand,
daß Landulf bereits Gestorbene lange Reden halten läßt 1 ), nur
einen methodischen Faktor der Landulfschen Arbeit erkennen
dürfen, dazu eingeführt, den vom Schriftsteller ausgesprochenen
Gedanken mit besonderem Nachdruck zu unterstützen; oder um
in Kürze noch einen anderen Fall anzuführen, der Landulf von der
Kritik sehr stark in Wachs gedrückt wurde: nach Arnulf*), An¬
dreas 8 ) und Bonitho 4 ) tritt Erlembald erst nach dem Tode seines
Bruders Landulf aktiv in die Reihen der Pataria über; Landulf
hingegen „läßt Erlembald schon bei Lebzeiten seines Bruders die
Führung der Pataria übernehmen“. 5 ) Für Landulf sind eben,
wie die Ereignisse, so die| Personen bloß Mittel zur Erreichung
seines polemischen Zwecks: er sieht in den dreien gleichsam eine
Person nach drei Seiten verkörpert; dabei vertritt Erlembald deut¬
lich die nach außen sich betätigende Kraft; in Landulf und Ariald
kommen die Vertreter der eigentlichen Reform zum Wort, so zwar,
daß Landulf mehr als Organisator und Redner, Ariald hauptsächlich
als Lehrer und Seelsorger auf tritt. Und so müssen die Führer
der Pataria noch zu einer weiteren Illustration seines Urteils
über die Reformbewegung dienen: indem sie Landulf rasch nach¬
einander hinsterben läßt, macht er den Leser in dramatischer
Wucht auf das Strafgericht aufmerksam, das Gott über die Re¬
former verhängte.
(sc. studebo; cf. 1 , i). Die Stelle scheint verderbt; doch dürfte oben im
Text der Sinn richtig wiedergegeben sein. — Ein Hinweis auf seine
Darstellungsmethode enthält auch Ara. V, 2: praedictis igitur rebus non
plane compositis, sed involutis utcumque.
*) III, 14, 16; vgl. Päch S. 9.
*) HI, 16. *) c. IV, § 33 -
*) Jaflfd II, S. 647. 6 ) Päch S. 8.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 39
Durch diese Erkenntnis gewinnt nun freilich Landulfs Werk
nichts an historischer Glaubwürdigkeit. Aber man wird sich bei
seinen Angaben stets vorsichtig zu fragen haben, ob die Tendepz
zu systematisieren die geschichtliche Wahrheit wirklich ganz er¬
stickte, ob diese sich nicht aus der Schale der Landulfschen Me¬
thode mit Hilfe der anderen Autoren herausschälen läßt oder ob
nicht am Ende gerade die Tendenz der Forschung wertvolle An¬
haltspunkte an die Hand gibt, um gewisse Dunkelheiten zu lösen,
die über der Geschichte der Pataria noch lagern.
Man wird also auch Landulf anhören müssen, wenn er sich zur
vorliegenden Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des
Namens Pataria äußert. Denn da sie unabhängig von ihrem zeit¬
lichen Auftreten besprochen werden kann, so war Landulf von hier
aus wohl imstande, Zutreffendes zu berichten; um so mehr als
dem Parteimann die Gelegenheit sehr erwünscht sein mußte,
von einer Bezeichnung ausgiebigen Gebrauch zu machen, deren
Herkunft und Inhalt ihm reichlich Wasser auf seine Mühle zu
liefern versprach.
Bekanntlich weist Landulf dem nachmaligen Bischof von
Lucca, dem späteren Papst Alexander II., Anselm von Badagio,
eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Pataria zu. 1 ) Nach
seiner Darstellung 2 ) nun wurden die beiden Kleriker Landulf
und Ariald, die schon länger und nicht eben aus den edelsten Be¬
weggründen den Reformbestrebungen ein tätiges Interesse ent¬
gegengebracht hatten, von dem über eine Weihehandlung des
Erzbischofs Wido sehr ergrimmten Bischof von Lucca zum offenen
Kampf gegen Simonie und Nikolaitismus aufgefordert und ermun¬
tert; und sie nahmen denn auch, von seinem eidlichen Unter¬
stützungsversprechen getragen, sofort ihre Wühlarbeit auf, in¬
dem sie zunächst unter den ihrer Obhut anvertrauten Scholaren
und dann auch weiterhin im Volke einen Eidverband errichteten.
Dem Erzbischof konnte das umstürzlerische Treiben der beiden
nicht verborgen bleiben; aber zu einem energischen Eingreifen
vermochte er sich nicht aufzuraffen. Das rücksichtslose Vorgehen
der Reformer nicht weniger als das unentschuldbare Versagen
*) Mit welchem Recht, wird weiter unten zu besprechen sein.
*) HI, 5-
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Widos entlockt dem Schriftsteller bewegliche Klagen: denn bei
diesen heillosen Zuständen muß ja jede Ordnung und Autorität
zugrunde gehen. Und anklagend bricht er in die Frage aus: cur
isti obliti Dei euangelia coniurationem detestabilem terribilibus
iuramentis in populo sub obtentu placiti Dei, quod postea pata-
liam (I) vocatum est, exercebant?
Für Landulf legt sich demnach die Ausdeutung des Namens
Patalia (Pataria) folgendermaßen zurecht: die von Anselm von
Lucca aufgestachelten Reformer warben in völlig unberechtigter
Weise gegen die recht- und gesetzmäßige Obrigkeit, der sie doch
nach den Lehren der Evangelien zum Gehorsam verpflichtet
waren, in der Öffentlichkeit Anhänger zum Zweck der Durch¬
führung ihrer Ziele und schlossen sie dazu zu einem Eidverbande
zusammen, durch welchen nach ihrer Behauptung der Wille Gottes
rücksichtlich der Bekämpfung von Simonie und Priesterehe ver¬
wirklicht werden sollte. Dieser Eidverband aber mit seiner an¬
geblich göttlichen Sendung ward späterhin dann als Patalia be¬
zeichnet. 1 )
Schon aus dieser Stelle geht mit Sicherheit hervor, daß Lan¬
dulf mit dem Namen Patalia die Vorstellung einer gewissen festen
Organisation 8 ) der Reformfreunde verbindet, die ganz bestimmte
Zwecke verfolgt. Diese Zwecke werden zu einer Art Programm,
das jedoch ohne den Zwang einer gewissen äußeren Verfassung
nicht durchgeführt werden kann. Gehören nun zu dem „Pro¬
gramm“ Forderungen wie: Boykott der gottesdienstlichen Ver¬
richtungen von beweibten und simonistischen Priestern 3 ), Zwangs¬
maßregeln wider solche 4 ), engster Anschluß an Rom 5 ), Kampf
um die Investitur 6 ) und ähnliches mehr, so läßt sich eine Art
von äußerer Verfassung aus mehreren anderen Angaben erschlie-
’) Ob Landulf dabei an eine förmliche Etymologie dachte, daß Patalia
tatsächlich aus Placitum entstanden sei, läßt sich mit Sicherheit nicht ent¬
scheiden; die Möglichkeit dazu lag immerhin dem Geiste der Zeit und — des
Autors nicht gar zu fern.
*) Was schon der politisch-rechtliche Begriff placitum zeigen mag.
Vgl. auch Bon. VI (Jafite II, S. 651).
*) Am. III, 11, 13, 17. Andr. c. III, § 24 f.
4 ) Am. III, 11, 12. *) Bon. VI (Jaffd II, S. 651).
*) Am. III, 17, 21. Andr. c. IV, § 45 f. Land. III, 29. Bon. VI
(Jaffö II, S. 651 ff.).
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
ßent Krüger 1 ) gibt eine anschauliche Schilderung der in Mailands
Mauern ausgebrochenen Pöbelherrschaft, die ihn unwillkürlich
in die Zeiten der französischen Revolution versetzt. „Allmählich“,
sagt er, „kam in die Plünderungen, welche die von Landulfs Reden
fanatisierten Massen in Stadt und Land verübten, ein festeres
System. Wie in den Schreckenstagen der französischen Revo¬
lution die Sturmglocke den mordlustigen Scharen in St. Antoine
das Signal gab, so wurden auch hier, sollte eine neue Plünderung
in Szene gesetzt werden, in den Quartieren die Glocken gezogen*),
und die Töne einer seltsamen, gewaltigen, ehernen Trompete 3 )
hallten furchtbar durch die Gassen und beschieden die Massen
zur Versammlung, gewöhnlich zum alten Theater . . .“
Ebenso ergibt sich eine Art äußerer Verfassung der Pataria
aus Landulfs Angabe 4 ), Erlembald habe sich durch Konfiskation
von Gütern jener Geistlichen, die durch zwölf Zeugen und einen
Eid aufs Evangelium ihre geschlechtliche Enthaltsamkeit seit
ihrer Weihe nicht zu erweisen vermochten, die Geldmittel zur Auf¬
rechterhaltung seiner Tyrannei verschafft; wie ein Kaiser habe er,
von 30 Männern beraten 5 ), solcherlei Gesetze erlassen; der Rechts¬
titel zu diesem Vorgehen aber sei ihm aus dem Eidverband er-
flossen: novum placitum nova dedit praecepta.
Man braucht nun allerdings dabei nicht an eine festausgebaute,
womöglich schriftlich fixierte Verfassung zu denken; das lag gar
nicht im Rahmen einer Zeit, der die antiqua consuetudo — frei¬
lich fast stets mit vom Nutzen des Augenblicks geforderten Um¬
biegungen — alles galt. 6 ) Aber es stellten sich hinter die Programm¬
punkte wohl frühzeitig gewisse Ausführungsorgane, die natürlich
*) A. a. O. II, S. 18.
*) Land. III, 9, 18. Andr. c. VIII, § 75. Vgl. Peter Damianis Ge :
sandtschaftsbericht v. J. 1059 an Hildebrand (Mansi, coli. conc. XIX, p. 887).
*) Peter Damianis Bericht (Mansi a. a. O.). *) III, 21.
*) Vgl. Mayer, E., Italienische Verfassungsgeschichte von der Goten¬
zeit bis zur Zunftherrschaft (2 Bde., 1911) II, S. 539: „Unter der Herr¬
schaft der Pataria hat eine Behörde von 30 Leuten die Gesetzgebung des
Eidverbands.“ Ob sich dieser 30er Ausschuß gerade aus 10 Kapitänen,
10 Valvassoren und 10 Cives zusammensetzte, ist bei den scharfen Gegen¬
sätzen der Stände um die Mitte des n. Jahrh. immerhin fraglich. — Vgl.
Leo, H., Geschichte der italienischen Staaten (Hamburg 1829fr.) I, S. 435 f.
*) LehmgriibnerS.11 6. Dresdner, A., Kultur-und Sittengeschichte der
italienischen Geistlichkeit im 10. u. 11. Jahrhundert (Breslau 1890) S. 8f
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von der Willkür der Führer, vor allem Landulfs und später Erlern*
balds, in alleweg abhängig blieben: deren Willen galt als oberstes
Gesetz. Indem sie ihren Rückhalt hauptsächlich bei der faüati*
sierten Menge suchten und fanden, war es ihnen verhältnismäßig
ein leichtes, die alten Hüter der gesetzlichen Ordnung über
den Haufen zu rennen und sich an deren Stelle mit Erfolg
selbstherrlich einzurichten. Und gefördert ward dieses Tyrannen¬
regiment durch die Tatsache, daß sich seit knapp einem Menschen¬
alter auch im niederen Volke ein politischer Machtwillen regte.
Überhaupt war es das Gegebene, daß alle zielbewußten Äußerungen
des öffentlichen Lebens alsobald nach rechtlichen Normen streb¬
ten in einer Stadt, die seit der Ottonenzeit eine angeregte politi¬
sche Entwicklung durchlaufen hatte, in der die Rechtspflege
einer ganz besonderen Aufmerksamkeit sich erfreute 1 ), wo durch
die konkurrierende Gewalt von Graf und Erzbischof*) das Selbst¬
bewußtsein der rechtsuchenden Klienten eine merkliche Steige¬
rung und Festigung finden mußte.
Es schien notwendig, das Vorhandensein einer Art von Eid¬
verbandsverfassung stärker hervorzuheben, als es der geschicht¬
lichen Wirklichkeit entspricht, um so den Eindruck richtig zu
verstehen und zu würdigen, den die Pataria auf ihre Gegner
machte. Gerade Landulf hat ein Zeugnis überliefert, das dartun
mag, wie man eben die Geschlossenheit der Reformfreunde als
den verdammenswertesten Gegensatz im Schoße der ambrosia-
nischen Kirche empfand. Suchte nämlich Bonitho die Feinde der
Pataria wegen ihrer Worte und Werke als dem Gerichte Gottes
verfallen hinzustellen, so griff Landulf zu einem anderen Mittel,
um seinerseits die Verwerflichkeit der reformatorischen Umtriebe
unzweideutig zu kennzeichnen, indem er ihre Anhänger mit den
*) Ständige Königsboten! Vgl. Ficker, J., Forschungen zur Reichs- und
Rechtsgeschichte Italiens (Innsbruck 1868ff.) II, S. 43ff.; Dümmler, E.,
Kaiser Otto d. Gr., S. 426.
*) Bresslau, H., Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Konrad II.
(1884) II, S. 2iof. — Hegel, K., Geschichte der Städteverfassung von
Italien seit der Zeit der röm. Herrschaft bis zum Ausgang des 12. Jahrh.
(2 Bde., Leipzig 1847) II, S. i4iff. — Bethmann Hollweg, M. A. v., Ur¬
sprung der lombard. Städtefreiheit (Bonn 1846) S. ii3ff. — Handloike,
M., Die lombard. Städte unter der Herrschaft der Bischöfe und die Ent¬
stehung der Communen (Berlin 1883) II, S. 38 f.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
43
Katharern, also mit der Sekte der Manichäer, in Zusammenhang
brachte. Darin einzig und allein eine Phantasmagorie der blind¬
wütigen Verleumdungssucht eines Parteimannes zu sehen, erklärt
die Tatsache nur zur Hälfte. Es mußten offenbar — unter einem
bestimmten Gesichtswinkel gesehen — sachliche Momente vor¬
liegen, die den Anstoß zu einem solch gehässigen Urteil zu geben
imstande waren. Sie sind zu erkennen in der Tatsache und in
der Form der Sonderstellung, wie sie Patariner und Katharer
zur Kirche, dieser festen und unabänderlichen Größe in der Welt¬
anschauung des Mittelalters, einnehmen.
Doch ist hier sofort eine Einschränkung anzubringen: denn
fair Landulf ist nicht so sehr die allgemeine Kirche, die in Rom
ihre sichtbare Spitze hat, die Norm der praktischen Rechtgläu¬
bigkeit, sondern die mailändische Kirche, und zwar in der eigen¬
artigen und selbständigen Verfassung, die, in ihren Grundlagen
vom hl. Ambrosius herrührend, um die Mitte des II. Jahrhunderts
den Anlaß zum Eingreifen der Reform gegeben hatte. Aber diese
für den Mailänder Polemiker selbstverständliche Voraussetzung
zugegeben, konnte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Pataria
und Manichäismus dem oberflächlichen Beobachter und vollends
dem tendenziösen Schriftsteller sich leicht auf drängen; mehr als
äußerlich war diese Ähnlichkeit allerdings nicht.
Schon in dem seinem Werke voraufgehenden Widmungsbrief
macht Landulf die Reformer als falsche Katharer 1 ) für den Nie¬
dergang und die Zerrüttung der erhabenen Stiftung des hl. Am¬
brosius verantwortlich. Ist hier auf eine nähere Charakterisierung
dieser „Pseudokatharer“ verzichtet, so erweitert Landulf den
von ihm aufgenommenen Begriff an einer anderen Stelle 2 ) nach
einer Seite hin, die sehr bemerkenswert ist.
Es handelt sich hier darum, nach dem Tode des Erzbischofs
Wido 3 ) für den ambrosianischen Stuhl einen Nachfolger zu be¬
stimmen. Zwar hatte Wido in seiner vielfachen Bedrängnis sich
selber einen Nachfolger in der Person eines unbedeutenden, aber
*) Soviel als Pseudokatharer, die eben nur gewisse Seiten mit den
wirklichen Katharern teilen. *) III, 29.
*) 23. August 1071 (Catal. arch. Med., MG. S. S. VIII, p. 104); vgl.
Am. III, 25.
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zahlungskräftigen Klerikers mit Namen Gotfried ausgesucht, der
auch den Beifall des deutschen Hofes gefunden hatte. 1 ) Allein
Erlembald, der damals in Mailand eine unbeschränkte Tyrannei
ausübte, war fest entschlossen, in der lombardischen Hauptstadt
die Ziele Hildebrands, seines Gönners und Schützers, zur Ver¬
wirklichung zu bringen und nur einen Erzbischof auf dem Stuhle
des hl. Ambrosius zu dulden, der ohne jegliche Einmischung von
kaiserlicher Seite im vollen Einverständnis mit Rom aufgestellt
worden sei.*)
Interessant ist nun, daß Erlembald hier an der Spitze von
chateri erscheint. Es kann kein Bedenken erregen, wenn die hier
sich bietende Form mit der im Widmungsbrief vorkommenden
cathari gleichgesetzt wird. 8 ) Das Wesentliche aber im Sinne Lan-
dulfs ist der Umstand, daß die Interessen des deutschen Königs,
welche ihm auch als die Interessen Mailands gelten, in gleicher
Weise von Rom aus bedroht sind, bedroht durch eine Gemein¬
schaft, deren Organisation auch an dieser Stelle durchschimmert;
das heißt anders ausgedrückt: Erlembalds und seiner Nachläufer
angebliches Reformstreben ist nichts mehr und nichts weniger
als ein offener Kampf wider die .bestehende Ordnung in Kirche
und Staat; es ist nicht besser als die Häresie der Manichäer, einer
Sekte, diedochschonlangedieVerurteilungderKircheerfahrenhat. 4 )
Ins hellste Licht sucht Landulf diese Anklage auf Häresie,
deren sich die Patariner schuldig machen sollen, zu rücken,
wenn er diese zunächst von ihm so bezeichneten Katharer mit einem
überführten Anhänger des Manichäismus auf dieselbe Stufe stellt
und so auch ein inneres Verhältnis von Pataria und manichäischer
Häresie glaubhaft machen will.
») Vgl. Am. III, 22; Bon. VI (Jaffd II, S. 651).
*) III, 29: Herlembaldus, consilio Oldeprandi qui et Gregorius VII.
est vocatus, edoctus, qui huius placiti caput et seminarium erat, suis
cum chateris, qui omnia etiam regalia negotia multoque tempore tran-
quilla conturbabant, sine virga et anulo ac regis consensu, cui Gregorius
omnibus exercitiis insidiabatur, archiepiscopum habere statuit. — Vgl.
Am. III, 21; Bon. VI (Ja ff<£ II, S. 65 2 f.).
*) Vgl. Wattenbachs Bemerkung, Einleitung, MG. S. S. VIII, p. 88,
Anm. 18.
*) z. B. durch Leo IX. auf der Synode von Rheims 1049. (Döllinger,
a. a. O. I, S. 72.)
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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In einem sonderbaren Bericht, von dem er übrigens selber
bemerkt, daß er ihn einem Augenzeugen verdanke 1 ), bringt er
den Faden seiner Erzählung auf eine Begebenheit, die, wenn sie
wirklich einenhistorischenKern enthalten würde, was zu untersuchen
für die vorliegende Frage von keinerlei Bedeutung ist, in die erste
Zeit des Pontifikats Alexanders II. datiert werden müßte. Da»
mals begaben sich einige zwanzig Leute aus Mailand und dessen
Umgebung, darunter auch Ariald 2 ), nach Rom, um den neuen
Papst der Simonie anzuklagen. 8 ) Sie mochten sich vielleicht mit
der Hoffnung schmeicheln, aus der bedrohlichen Lage, in der
sich Alexander durch seinen Kampf mit dem königlichen Gegen¬
papst Kadalus von Parma befand, für sich und die patarinische
Sache Kapital zu schlagen, zumal ja nach Landulf Alexander II.
bei dem Aufkommen der Pataria Pate gestanden hatte. Denn
es läßt sich leicht denken, daß sie mit der schlichtenden Haltung
Peter Damianis und seines Begleiters Anselm von Lucca (Früh¬
jahr 1059) unzufrieden gewesen waren. Allein durch den Einfluß
Hildebrands, der zur Vermittlung angerufen ward, kam man über¬
ein, der Beschwerde durch ein Gottesurteil eine gerechte Entschei¬
dung zu setzen« Aber an dem dazu bestimmten Tage war der
Papst abwesend; und Hildebrand steckte wohl (nach Landulfs
Meinung) unter der Decke, wenn die Beschwerdeführer, statt die
Entscheidung des Gottesurteils anzurufen, zu einem Eid ver*
mocht wurden, der ihre Klagen zusammenfassen und erhärten
sollte. Doch was geschah? Der Eid verfehlte nicht nur völlig
diesen Zweck: er förderte im Gegenteil auf seiten der Beschwerde»
führer *tanta cathedra’ zutage, daß Alexanders Unschuld aller Welt
klar wurde, während es die so schmählich entlarvten falschen An¬
kläger am geratensten fanden, allen gefährlichen Weiterungen
durch heimliche Flucht aus dem Wege zu gehen.
Es ist in der Form cathedra 4 ) unschwer das neutr. plur. zu ca-
thedri zu erkennen, welche Form im gleichen Satz gebraucht und
wiederum mit chateri = cathari gleichzusetzen ist. Daraus ginge
>) UI, 19.
*) Also Reformfreunde, die aber für Landulf diversis ac variis dog-
xnatibus irretiti sind.
*) Vgl. dazu Benzos Vorwürfe gegen denselben Papst, II, 2; VII, 2.
*) Vgl. Benzo IV, 1: pistica = meriKd
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also hervor, daß cäthari bereits damals im Sinne von 'Ketzer’
angewendet wurde, d.h., daß man darunter kurzweg Häre¬
tiker verstand, ohne daß man dabei immer an die spezielle Sekte
der Manichäer gedacht hätte. Bei Landulf ist der Gedankeiübri-
gens noch lebendig: denn er bringt die Leute, welche in Rom diese
grundlose Beschuldigung vorgebracht haben sollen, in Verbindung
ntit einem gewissen Gerard von Monteforte, der unter Aribert II.
von Mailand (1018—1045) wegen seiner manichäischen Irrlehren,
denen sogar die Gräfin des von ihm heimgesuchten Kastells zum
Opfer gefallen war, den Feuertod erlitten hatte. 1 )
Landulf war demnach durch seine Kenntnis 2 ) des Falles Ge¬
rard von Monteforte instand gesetzt, Vergleiche zwischen der
Pataria und dem Manichäismus auch nach ihrem inneren Gehalt
anzustellen. Es erhebt sich nun die Frage: mit welchem Recht
konnte er der Pataria manichäische Tendenzen zuschreiben und
so die Anhänger derselben als Katharer bezeichnen?
Aus dem Verhör, das Aribert mit den eingefangenen Häretikern
anstellte 3 ), geht hervor, daß sie vor allem jeglichen Geschlechts¬
verkehr verwarfen, selbst die Verheirateten konnten das ewige
Heil nur erwarten, wenn „sie mit ihren Frauen wie mit Müttern
oder Schwestern lebten oder sich vom Vorsteher die Erlaubnis
erteilen ließen, zur größeren Sicherheit sich von ihren Gattinnen
zu trennen. Die Vermischung der beiden Geschlechter und den
dazu reizenden Trieb betrachteten sie vorzugsweise als das Ver¬
derben. Gleich den übrigen Gnostikern verwarfen sie alle Sakra¬
mente, verschmähten jeglichen Fleischgenuß und rühmten sich,
strenge Fasten und ein Tag und Nacht fortdauerndes Gebet zu be-
*) Land. II, 27. Rod. Glab. IV, 2. — Offenbar hat man es hier mit
einer jener manichäischen Sekten zu tun, wie sie durch slawische Kauf¬
leute auf ihren Handelsreisen allenthalben im Abendlande gegründet
wurden. Vgl. Müller, K., Kirchengeschichte *1, S. 495; Döllinger I, S. 60;
Hurter, Innocenz III. *11, S. 222. Wegen der Todesstrafe vgl. Ficker in
M.I.Ö.G.I (1880), S. 182..
*) Die er sehr wahrscheinlich nur aus mündlichen Quellen geschöpft
hatte: er bezeichnet sich als Zeitgenossen Erzbischof Widos, vgl. Päch
S. 8; Krüger I, S. 8. Daraus wäre auch erklärlich, warum Landulf in
seinem Bericht über Gerard einige Nachrichten vermissen läßt, die von
Wichtigkeit wären: so z. B. wie und wo Gerard mit dem Manichäismus
bekannt geworden war; vgl. Döllinger I, S. 67. 8 ) Land. II, 27.
Google
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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obachten, welches abwechselnd, wahrscheinlich bloß von den Voll¬
kommenen in der Sekte, verrichtet wurde. Diese waren es auch
wohl nur, welche, wie Gerard zugab, allem eigenen Besitz entsagt
hatten. Ein gewaltsamer Tod galt ihnen als der sicherste, ja als
der einzige Weg zur Seligkeit; deshalb hegten sie .... die heftigste
Begierde, für ihren Wahn das Märtyrertum zu erleiden.“ 1 ) Außer¬
dem erhoben die Katharer vielfach den Anspruch, ,,die einzig
wahren Nachfolger der Apostel zu sein“. 2 )
Wenn nun ein Streitschriftsteller vom Range eines Landulf
solcherlei Lehren mit dem verglich, was die Führer der Pataria
in ihrem Programm aufstellten und in ihren Predigten verlangten,
so mochte er sich für befugt erachten, diese Anklänge auch im
Namen festzuhalten. Denn auch Ariald und Landulf predigen
wider den geschlechtlichen Verkehr, allerdings nur gegen den der
Kleriker. Ferner berichtet Arnulf, die Patariner hätten nicht nur
jeden Gottesdienst der simonistischen und nikolaitischen Prie¬
ster gemieden 8 ), Landulf habe sogar einmal in einer seiner An¬
sprachen an das Volk deren Messe „Hundemist“ und ihre Kirchen
„Viehställe“ genannt. 4 ) Und zumal Ariald war es, der, getreu sei¬
nen cluniazensischen Idealen den Priestern das Recht eigenen Be¬
sitzes absprechen wollte: darum griff er weder mit Worten noch
mit Taten dazwischen, als die wilden Volkshaufen ihre Plünde¬
rungen an den Häusern und Gütern der Kleriker Vornahmen;
darum entäußerte er sich selbst seines Besitzes, den er in den
Dienst der Pataria stellte 6 ); darum drang er auf die Einrichtung
der vita canonica in Mailand.®) Und floß nicht aus Arialds eigenem
Munde das Gebet um den Märtyrertod 7 ), den er auch wirklich
am 27. Juni 1066 erlitt ? ®) Welche auffälligen Formen aber die Fröm¬
migkeit Arialds annehmen konnte 9 ), zeigt ein anschaulicher Be¬
richt aus der Feder seines Biographen Andreas und des Priesters
*) Döllinger I, S. 68. *) Müller, K., Theol. Lit-Zeitung 1890, S. 356.
*) Am. III, 11, 13. Andr. c. III, § 24 f. *) Am. III, 11.
*) Andr. c III, §§ 27, 31, 32.
®) Andr. c. III, § 28. Bon. VI (Jaff 6 II, S. 647). 7 ) Andr. c. I, § 11.
®) Andr. c. VIII, § 80; vgl. Acta S. S.JuiuV, S. 300.
®) Wobei er auch Neuerangen einführen wollte, was ihm aber teuer
zu stehen kam; vgl. Am. III, 17; Andr. c. III, § 29L; c. V, § 49ff.; Bon. VI
(Ja£fd II, S. 648).
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Syrus 1 ), der zuerst einen Lebensabriß des Heiligen verfaßt hatte,
auf dem dann jener z. T. fußte.
Aus den angeführten Punkten wird man erkennen, daß
sich für die leidenschaftliche Tendenz eines Parteischriftstellers
in der Tat einige entfernte Ähnlichkeiten zwischen Patarinern
und Manichäern darboten. Aber es läßt sich unschwer er¬
weisen, daß die trennenden Momente jede innere Gemeinschaft
ausschlossen. 2 )
Wenn dem Berichte Landulfs zu trauen ist, so verflüchtigte
„die häretische Genossenschaft zu Monteforte die Grundlehren
des Christentums zu Allegorien und Mythen“. 8 ) So soll Aribert,
als er Gerard nach seiner Stellung zum Trinitätsdogma fragte,
zur Antwort bekommen haben: der Vater sei Gott von Ewigkeit,
der alles im Anfang erschaffen und in dem alles bestehe; der Sohn
aber sei der von Gott geliebte Menschengeist und der Heilige Geist,
der alles trefflich lenke, das Verständnis der göttlichen Lehren.
Über seinen Glauben an Christus noch des näheren zur Rede ge¬
stellt, ließ sich Gerard folgendermaßen vernehmen: „Christus sei
durch Empfängnis vom Heiligen Geist geboren aus Maria, heiße
nichts anderes als: das höhere Leben des Geistes werde aus
der Heiligen Schrift mittels der erleuchteten Einsicht in ihren
Inhalt geboren.“ 4 ) Bezüglich der Sakramentspendung, insbeson¬
dere der Sündenvergebung, lautete Gerards Geständnis, seine
Sekte anerkenne nicht den römischen Papst, sondern einen an¬
deren, der, täglich den Erdkreis durchziehend, die zerstreuten
') Andr. c. V, §§ 47—53 ff-; c. VI, § 57, §§ 83-86. — Über die nicht
weniger überspannten Äußerungen der Frömmigkeit Erlembalds a. a. O.
c. IV, § 34.
*) Wie schon Giulini IV, p. 200 feststellte.
*) Döllinger I, S. 69.
4 ) Döllinger a. a. O., wo diese Angabe starkem Zweifel begegnet,
„daß diese Häretiker so weit gegangen sein sollten, die ganze Persönlich¬
keit und Geschichte Christi zu einer bloßen Allegorie der menschlichen
Seele und ihrer religiösen Entwicklung zu machen“, worin eine auffällige
Abweichung von den früheren und späteren Lehren des Gnostizismus läge;
es sei vielmehr sehr wahrscheinlich, daß sie Christum für ein den
menschlichen Seelen verwandtes, aus Gott gleich diesen emaniertes
Wesen hielten und in diesem Sinne sagten, Christus sei der vorzugsweise
von Gott geliebte Menschengeist, d. h. der dem menschlichen wesens¬
gleiche Geist.
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Kritische Beitrage zur Geschichte der Pataria
49
Brüder besuche und ihnen, wenn Gott denselben ihnen zuführe,
die Sündenvergebung erteile. 1 )
Läßt sich nun ein schärferer Gegensatz dieser manichäisch-
gnostischen Lehren zu denen der Patariner denken? 1 )
Diese halten am kirchlichen Primat Roms unbedingt fest:
ja sie suchen sogar die Verbindung mit dem apostolischen Stuhle
selber nach, um so den stärksten Rückhalt und die beste Rechtfer¬
tigung für ihre unentwegten Reformbestrebungen zu gewinnen.
Und wenn sie den Besuch der Kirchen und Gottesdienste von
beweibten und simonistischen Priestern vermeiden, so beteiligen
sie sich offenbar an den kultischen Veranstaltungen der reform¬
freundlichen Priester desto eifriger, je größeren Schmaus für
Ohr und Hand sie sich aus den gerade bei solchen guten
Gelegenheiten von Landulf und Ariald losgelassenen Kampfreden
versprechen durften. Vergegenwärtigt man sich vollends eine der
Landulfschen Predigten, die Arnulf aufgezeichnet hat 8 ), so drängt
sich der Gegensatz der Patariner zu den Katharern, besonders
auch in der Trinitätslehre, ganz scharf hervor. So begann Landulf
z. B. einmal mit den Worten an seine Zuhörer: Sagt mir, glaubt
ihr an den dreieinigen Gott? Worauf alle antworteten: Wir glau¬
ben! Darauf ließ er sie das Kreuzeszeichen auf die Stirne machen,
ehe er in seiner Predigt fortfuhr, die ein unzweideutiges Bekennt¬
nis an Christus, den Weltheiland, enthält. Und was schließlich
die Schriftauslegung betrifft, so kann gar kein Zweifel darüber
walten, daß sie sich auch bei den patarinischen Predigern durch¬
aus auf dem von Kirche und Überlieferung vorgezeichneten Bo¬
den bewegte. 4 )
*) Während Neander, Kirchengeschichte IV, S. 469, in diesem umher-
wandelnden Oberhaupt den Heiligen Geist erkennen wollte, der das unsicht¬
bare Band der sektirerischen Gemeinschaft gebildet habe, versteht Döl-
linger (I, S. 70) einen wirklichen menschlichen Papst darunter, wie schon
die Entgegensetzung gegen den römischen Papst und der Zusatz, daß jener
keine Tonsur trage, dartun könne.
*) Vgl. indes den Eid Arialds in Peter Damianis Gesandtschaftsbericht
(Mansi XIX, p. 893): . . anathematizo quoque generaliter omnes haereses
extollentes se adversus sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam, worauf
erst Absage an Simonie und Nikolaitismus.
*) III, 11: ein Beweis, welchen Eindruck auch die der Pataria
Fernstehenden von diesen Reden bekamen.
*) Was aus zahlreichen Stellen bei Andr. hervorgeht.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. x a
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Man wird, demnach dem Ergebnis beipflichten müssen, daß
Landulf aus sachlichen Gesichtspunkten heraus gar kein Rpcht.
hatte, seine Gegner von der Fataria als Katharer zu bezeichnen.
Das hinderte aber den eingefleischten Ambrosianer nicht, diese
Verbindung durch den Namen herzustellen : gewann er doch so: ein
ätzendes Mittel, der Pataria einen unauslöschlichen Schimpf an-
zutun.
Eis ist nun aber kaum zuviel behauptet mit der Annahme,
daß die Anwendung dieser Bezeichnung der Reformfreunde als,
Katharer sich nicht bloß auf Landulf und etwa einen engeren
Kreis Gleichgesinnter um ihn beschränkte; vielmehr wird anzu¬
nehmen sein, daß sich die Reformgegner im allgemeinen die. Ge¬
legenheit nicht entgehen ließen,, die Sache Arialds und Landulfs.
schon durch ihre Benennung in Mißkredit zu bringen. Doch ver¬
bot ihnen die Kenntnis der Tatsachen eine einfache Gleichsetzung
mit der Häresie. 1 ) So griff man wohl zu einer denselben gewollten:
Gedanken in gemäßigter Weise ausdrückenden Form, die jedoch
auch so ihren Zweck vollauf erreichte: man verspottete die Re¬
formanhänger als Catharini, als Leute, die mit ihrer Organisation
in der verwerflichen Richtung der Katharer wirken. 2 )
Einmal geschaffen, war es unausbleiblich, daß der Schimpf¬
name bald auch im Munde der breitesten Öffentlichkeit und be¬
sonders der unteren Schichten zu hören war, die um seine Her¬
kunft und eigentliche Bedeutung kaum recht wußten; jedenfalls
fühlten sich diese Kreise außerstande, mit ihm eine faßliche, eine
drastische Vorstellung zu verknüpfen. Und wie es nun die Art
des gesunden Volkes ist, wenn es eine Dunkelheit mit eigenem
Lichte aufhellen will: es suchte sozusagen gemeinschaftlich und
im stillen nach einem ihm zusagenden und schlagenden Vorstel¬
lungsinhalt für einen Namen, der zum Gemeingut des ambrosia-
nischen Konservatismus zu werden versprach, nicht nur seiner
*) Vgl. Land. III, 19, der selbst schon sagt: qui Girardi di Monte-
forti sententiis fere consentiebant; vgl. auch die pseudocathari im Wid¬
mungsbrief.
*) Daß eine solche Bildung im Geist der Zeit lag, möge man aus
den fast unerschöpflichen Schimpfworten Benzos sehen. Dieser hatübrigens
IV, 6 auch die Form Patari; aber da diese auch vom Reim gefordert
sein kann, ist daraus für die obige Anschauung nichts zu schließen.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 51
Klangfarbe wegen, auch weil ihm in jedermanns Mund ein so un¬
verkennbar spöttischer, ja wegwerfender Ton anklebte. Wenn
nun eines Tages die sich um Landulf drängende Masse auf das
Trompetenzeichen und das Glockengeläute hin sich nach dem
Theater wälzte, die Männer auf Kampf und Raub gierig, die Weiber
zeternd und Gebete heulend, alle aber insgesamt dürftig genährt
und in flatternde Lumpen gehüllt — da konnte sich im Munde;
eines witzigen, das ganze Treiben mit halb teilnehmendem, halb
überlegenem Abscheu betrachtenden Gegners das in Kurs gekom¬
mene Catharini zu Patarini verschieben 1 ),, und die Zukunft des
Namens war gemacht. Nun besaß das konservative Parteivolk
ein Schimpfwort, dessen Vorstellungsinhalt, etwa Lumpenleute,
trefflich mit jenem häretischen Beigeschmack zusammenpaßte,
den es mit unbewußter Zähigkeit mit sich fortschleppte. 8 )
Waren die Patarini aber einmal der Zunge geläufig geworden,
so war es nur noch ein kleiner Schritt von der Bezeichnung der
in Lumpen umhergehenden Leute zur zusammenfassenden Be¬
nennung ihrer organisierten Gemeinschaft als Pataria = Lumpen¬
bande. 3 ) So schob sich allmählich Pataria an Stelle des Patarini,
wohl unter dem Einfluß der immer weiter um sich greifenden
Reform, die keine namhaften Gegner mehr, nur eine gleichge¬
stimmte Gemeinde kannte, und hielt sich in dieser abstrakten
Form besonders bei den Schriftstellern, die um ihr Aufkommen
in Mailand noch etwas Bescheid wußten. Und mit der Zeit blieb
dann der Name Pataria an dem Stadtteil hängen, in dem die Haupt¬
masse der armen Reformanhänger wohnte, wohl auch ihre
Gottesdienste feierte, und wo schließlich die aus dem niederen
Volk erwachsenden Trödler bei der Entwicklung der städtischen
Zünfte ihren Wirkungskreis angewiesen erhielten..
*) Der Wechsel von k > p ist auch lautgesetzlich möglich, wenn
auch nicht häufig.
*) Vgl. ein höchst merkwürdiges Gegenstück, das Vogel, A., Ratherius
von Verona und das 10. Jahrhundert (Jena 1854) I, S. 15, Anm. anführt, wo
er von der verschiedenen Überlieferung des Namens Ratherius spricht
und beifügt: „Wie zu erklären ist, was wir z. B. in den Magdeburger Cen-
turien X, S. 578 (der 1. Ausgabe) lesen: Ratherius seu Catherius, muß
dahingestellt bleiben.“
*) Wobei jene Vermittlungsformen vorgeschwebt haben mögen, die
Meyer von Knonau I, S. 673, Nr. 14 anführt.
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Mit dieser versuchten Herkunfts- und Inhaltsdeutung des
Namens Patarini scheinen sich die Schwierigkeiten beseitigen zu
lassen, die den seitherigen Ableitungen mehr oder minder deut¬
lich angehaftet haben.
Das Schimpfwort ist, wie Arnulf will, im niederen Volke ganz
zufällig aufgekommen, und zwar bereits in den Anfängen der Re¬
formbewegung: denn nur aus den Wirren der ungeschwächten
Parteileidenschaft heraus, die noch keine Versöhnung kennt, wird
die Entstehung desselben verständlich. Auch seiner Forderung
wird Genüge getan, daß bei einer neuen Etymologie Form und
Inhalt sich entsprechen müßten: denn die Form ist aus der An¬
schauung ihres Inhalts entsprungen, der sich bei einer lärmenden,
unheilschwangeren Situation darbot. Anderseits mag auch
der Bischof von Sutri in gewissem Sinne auf seine Rechnung
kommen, wenn er den Ursprung des Namens in die übelwollenden
Kreise der verfolgten Priester verlegt: das war ja nach den obigen
Ausführungen auch der Fall; nur irrt Bonitho, wenn er es in der
absichtlichen Form Paterini geschehen läßt. Auch die schon
oben angemerkten Beobachtungen, daß auffallenderweise Arnulf wie
Bonitho bei ihren Erklärungen in mehr oder minder gezwungener
Gelehrsamkeit auf einen griechischen Ursprung Bezug nehmen,
findet durch die vorgetragene Auffassung eine interessante Be¬
leuchtung. Schließlich darf auch Landulf sich rühmen, durch die
Äußerungen seines Reformhasses die Spur gezeigt zu haben, die
zu einer immerhin möglichen Ableitung des Namens führte.
Man kann hier allerdings den Einwand erheben, warum denn
Arnulf zu dieser Ableitung nicht die mindeste Handhabe biete,
da er nicht einmal den Begriff Katharer in seine Darstellung
aufgenommen habe. Indes darf nicht übersehen werden, daß es
der vornehmen Art Arnulfs widerstrebt, eine Sache schlechter
zu machen, als sie ohnehin schon ist 1 ): und mit seinem grundsätz¬
lichen Standpunkt hat er ja nicht hinterm Berge gehalten.
Noch einen weiteren Vorteil bietet die vorgebrachte Ety¬
mologie: man hat bislang vergebens darüber ins Klare zu kommen
*) Vgl. z. B. III, 16, wo er von Landulfs Tode spricht: er verzichtet
auf ein Urteil über den ihm im tiefsten Herzen unsympathischen Patariner,
weil über den Toten nur Gott zu richten habe.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
53
versucht, wie denn die Bezeichnung der Mailänder Reformer als
Patariner späterhin eine so hartnäckige Anwendung auf die mani-
chäischen Sekten, zumal in Oberitalien, habe gewinnen können.
Schon Giulini findet diese Übertragung schwer zu begründen. 1 )
Er bemerkt zwar richtig, daß Landulf zu Unrecht die Patariner
mit den Anhängern des Gerard von Monteforte in Verbindung
bringe. Aber die von ihm vorgebrachte Erklärung für die Über¬
tragung, daß nämlich die große Anzahl der Schismatiker 2 ) die or¬
thodoxen Grundsätze der Anhänger Arialds und Landulfs mit den
falschen der Häretiker zusammengeworfen und beide mit dem ge¬
meinsamen Titel Patariner belegt habe, um diesen dann nach Be¬
endigung des Schismas der Pataria zuletzt nur noch für die letzte¬
ren beizubehalten, bleibt wirkungslos, weil sie den springenden
Punkt nicht scharf genug ins Auge faßt, wie denn der Prozeß
nun tatsächlich vor sich ging, der das merkwürdige Ergebnis
zeitigte, daß der neue Ausdruck 8 ) tatsächlich die bleibende
Bezeichnung der manichäischen Ketzer in Oberitalien werden
konnte. 4 ) Denn eine Verwechslung der patarinischen mit den ma¬
nichäischen Lehren mußte sich doch sofort in ihrer Grundlosig¬
keit im Bewußtsein der öffentlichen Meinung heraussteilen, und
ihre Böswilligkeit war außerstande, ihr einen dauernden Halt
zu geben, weil sie für das Volk keinen anschaulichen Rückhalt
bot. Freilich mag man einwenden: die Unhaltbarkeit der Ver¬
wechslung auch zugegeben, so schien doch, nachdem sie einmal
festen Fuß gefaßt hatte und besonders mit dem anderen weit
kräftigeren Vorstellungsmoment der „Lumpenhaftigkeit“ in Ver¬
bindung getreten war, der daraus entspringende Charakter eines
beißenden Schimpfwortes der neuen Bezeichnung einigermaßen
*) a. a. O. IV, p. 200: in quäl maniera si formasse una si strana meta-
morfosi, b difficile il determinarlo giustamente.
*) Im Sinne Bonithos, also: der Reformfeinde.
*) Der nach Giulinis Auffassung zudem einen rein lokalen Ur¬
sprung hatte.
*) Muratori, Antt. V, p. 83 hat eine ähnliche Ansicht wie Giulini. —
Auch beiMirbt, in der Realencyklopädie f. prot. Theol. 8 XIII, S. 762, ist
der Prozeß nur halb erkennbar: „Der Gesamtname Patareni (für Mani¬
chäer) . . . wurde in Mailand und Umgebung frühzeitig auf die neumani-
chäischen Ketzer als Vertreter einer ähnlichen antiklerikalen Opposition (wie
die der Anhängerschaft Arialds und Landulfs bzw. Erlembalds) übertragen.“
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eine lebenskräftige Zukunft sicherzustellen. Indes mag dies für
Mailand gelten, solange der Gegensatz zwischen Freunden und Fein»
den der Reform noch brennend war. Wie aber ist die Übertra¬
gung des Schimpfwortes nach der Aussöhnung der Mailänder
Parteien von den romtreuen Reformern auf häretische Bewe¬
gungen auch außerhalb der lombardischen Hauptstadt zu er¬
klären ?
Die gegebene Etymologie verspricht auch für diese Frage
eine Lösung.
Die Form Patarini, als gelegentlich aufgetauchte, witzige Pa¬
rallelbildung der Volksetymologie zu Catharini, dessen häretisches
Odium auch jene Form nie verlor, ward als Schimpfwort für die
großen Massen der Reformanhänger zunächst zum eisernen Be¬
standteil des mailändischen Lokalpatriotenspottes.
Allmählich jedoch mußte das Schimpfwort diese scharfe Be¬
schränkung auf die Hefe der Stadtbevölkerung als Haupt¬
kontingent der Reformbewegung verlieren, als immer mehr Leute
auch aus Adels- und Bürgerkreisen ins Lager der Pataria ab-
schwenkten. Indem es auch diese in den Bereich seiner An¬
schauung zog, verlegte es seinen inhaltlichen Schwerpunkt aufs
neue: es bezeichnete schließlich im Grunde nur noch die korpo¬
rative Gegensätzlichkeit der Reformer zur traditionellen Gestal¬
tung der ambrosianischen Kirche. 1 )
Nachdem dann seit Erlembalds Tod eine langsame Aussöh¬
nung der streitenden Parteien in Gang kam, war für die Anwen¬
dung des Schimpfwortes innerhalb der mailändischen Kirchen¬
gemeinde kein Platz mehr vorhanden. Aber es hatte sich doch
andererseits zu fest eingebürgert, um ganz in Vergessenheit
geraten zu können: es suchte gleichsam nach einem neuen Wir¬
kungskreis. Gerade in Oberitalien erhob damals die neumani-
chäische Häresie immer wieder und immer nachhaltiger das Haupt.
Legte sich da nicht eine Übertragung des beliebten Schimpf¬
wortes auf solche ketzerischen Richtungen von selbst nahe, wenn
man sah, wie diese den Vorstellungsmomenten desselben sozu¬
sagen entgegenkamen?
*) Worin freilich für den echten Mailänder von altem Schrot und Korn
ein kaum zu überbietender Vorwurf beschlossen lag.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
55
Das Wesen dieser Häresie war doch, um von all den anderen
Punkten zu schweigen, die bereits oben erwähnt wurden, Loslö¬
sung von der allgemeinen römischen Kirche und ihrem apostolischen
Oberhaupt. Daß sie sich nach außen nicht immer als geschlosse¬
nes Ganzes zu erkennen gab, mochte dem Volksspott bei der
ziemlichen Häufigkeit ihres Auftretens wenig verschlagen. Er¬
leichtert aber ward die Übertragung dadurch, daß die neumani-
chäischen Sektenbildungen, die alle einem weitgehenden Kom¬
munismus huldigten, vor allem aus dem niederen Volke ihren grö߬
ten Zulauf erhielten; denn im. großen und allgemeinen neigen die
in sicherem Besitz sich fühlenden Klassen aller Völker und Zeiten
zum .Konservatismus wie im politischen so im kirchlichen.Leben.
(Schloß folgt.)
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NACHBARSCHAFTEN, GILDEN, ZÜNFTE
UND IHRE FESTE.
VON SIEGFRIED SIEBER.
(Fortsetzung von XI. 4 Seite 482 und Schlaft.)
In Frankfurt a. M. 1 ) gab es Weinstuben für geschlossene Kor¬
porationen. Die älteste war die der Ratsmitglieder (1352 erwähnt)^
Dazu hatten die Zünfte, die Gesellschaften Frauenstein, Limpurg
und St. Leonhard ihre Trinkstuben. Bernhard Rorbach*), der lu¬
stige Frankfurter Junker, erzählt auch von Abendessen und Tanz,
von Maienstecken und Badgang. Auch in Augsburg 8 ) und Nürn¬
berg gab es Trinkstuben. In Ulm 4 ) sorgten die Geschlechter
durch Stiftung von Kapitalien für die Kübelesmahlzeiten ihrer
Nachfahren, und der Herzog von Württemberg schenkte Wild-
pret. Dort wurde jeder Geschlechter vom vollendeten 17. Jahre
an zugelassen, hatte Stubengeld zu entrichten, sich in ritterlichen
Künsten zu üben, durfte aber nicht in die Wirtshäuser gehen.
Auch die Geschlechterhochzeiten wurden in den Trinkstuben ab¬
gehalten. Die Zünfte bildeten Gesellschaften für sich.
In Freiburg i. B. 5 ) wurde sogar für jeden Bezirk eine Trink¬
stube bestimmt, selbst für die Vorstädte, und die Vorsteher der
Bezirke erhielten zugleich die Oberaufsicht über die Stuben.
Freilich dienten die Trinkstuben vielleicht zum größeren Teil
der jungen Mannschaft und nicht so sehr den hier zu behandelnden
verheirateten Männern, wie jene Notiz aus Augsburg beweist:
man bedürfe einer Trinkstube für der „Geschlechter Söhnlein,
wenn sie kurzweilen, lustig und guter Dinge sein wollten“. 4 ) Jetzt
*) Kriegk I, S. 338.
*) Grotefend, Quellen z. Frankfurts Geschichte I, Frankfurt 1884/85.
*) Dirr, Kaufleutezunft und - stube in Augsburg, Zeitschr. d. Hist. Ver.
f. Schwaben und Neuburg 35 (1909), S. 132—51.
*) Karl Jäger, Ulms Verfassung im MA., 1831, I. S. 526fr.
*) Ehrler, Stadtverfassung u. Zünfte Freiburgs i. B., Jahrbb. f. Natio-
nalökon. u. Statistik 3. Folge 41, S. 751.
•) Müller, Trinkstuben S. 249. Vgl. noch Mone, Zeitschr. f. Gesch. d.
Oberrheins 15, S. 49; 17, S. 39; Stieda und Mettig, Schrägen der Gilden
und Ämter der Stadt Riga bis 1621, Riga 1896, S. 94; Hoffmann-Krayer,
Neujahrsfeier im alten Basel, Schweiz. Archiv f. Volksk. VII, S. 123 ff.
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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
57
sei nur betont, daß zwischen dem festgefügten Verein, der ein
eigenes Haus oder eine besondere Trinkstube besitzt, und der
Gilde oder Nachbarschaft, wo das Gelage reihum geht, nur ein
Unterschied des Grädes, nicht des Wesens besteht, daß letztere
nur die unvollkommene Vorstufe zu jenem ist.
Die Pflichten der Gildegenossen waren höchst verschieden.
Besuch des Gelages ist aber überall ein Hauptpunkt. In Dorpat 1 )
z. B. mußten unbedingt zwei Gelage, zu Weihnachten und Fastel¬
abend, in der Großen Gilde mitgemacht werden.
An Nachbarpflichten erinnert es uns, wenn wir von den Frank¬
furter*) und Berner 3 ) Gesellschaften lesen, daß sie für Feuereimer
und Hilfe bei Feuersgefahr sorgen mußten, oder daß in Eßlingen 4 )
überhaupt jeder, der Bürger wurde oder sich verheiratete, sich
in eine Bürger- oder Zunftstube aufnehmen lassen und einen Feuer¬
eimer liefern mußte. Alte Borngemeinschaft oder mindestens alt¬
herkömmliche Heilighaltung des Brunnens scheint noch nachzu¬
wirken in dem Brunnentanz der Schwarzen Häupter zu Riga. 5 )
Je nachdem der Verein mehr eine Schutzgilde, Gewerbsgilde
oder religiöse Gilde war, traten die einzelnen Pflichten in den
Vordergrund. Es kann unmöglich Aufgabe unserer Untersuchung
über die deutsche Geselligkeit sein, das Politische oder Gewerb¬
liche an den Gilden näher zu beleuchten. Das ist von anderer
Seite ausgiebig geschehen. Hier sei hauptsächlich des religiösen
Elements gedacht, das sich aus heidnischem Totenkult bis zur
stärksten Betonung des Christentums entwickelt hat.*) Die reli¬
giösen Gilden des Mittelalters sind ungemein zahlreich. In großen
Städten bestanden bis zu ioo nebeneinander. Gab es doch selbst
Priester- und Schülergilden. Der Reiche konnte sich in viele Gil¬
den einkaufen und so vielfältig für sein Seelenheil sorgen. Denn
die Gilden veranstalteten mindestens am Jahrtage, meist am Tage
ihres Schutzpatrons, Seelenmessen für die verstorbenen Mitglieder.
Die Gildebrüder waren gehalten, zu den Vigilien und Seelenmessen
*) Mettig, Die GroBe Gilde zu Dorpat, Dorpat 1907, S. 40.
*) Müller, Trinkstuben S. 264.
*) Zesiger, Das bemische Zunftwesen, Bern 1911, S. 113.
4 ) Müller S. 251.
*) Stieda und Mettig S. 577.
*) v. Amira in Pauls Grundriß III, S. 166.
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58
Siegfried Sieber
zu erscheinen. 1 ) Im Besitz der Gilden befanden sich meist besondere
Kapellen, Altäre und Kerzen. Die Hauptsache war sicherlich die
Begräbnisfürsorge. Bei den Stralsunder Schiffern mußte an einem
Begräbnis aus jedem Haus eine Person teilneKmen. 8 ) Dafür sollten
die Mitglieder Vermächtnisse in Tonnen Bier aussetzen, das von
den am Begräbnis Beteiligten vertrunken wurde. Die Sonder¬
burger und Flensburger Schiffer*) hatten fürs Begräbnis eigene
Bahrtücher, Fahnen und Kerzen. Ihre Mitglieder waren zum
Sargtragen verpflichtet. Sehr streng ist die Bestimmung der
Bursenfraternität zu Kolberg 4 ), die dreimaliges Ausbleiben bei
Beerdigungen mit Ausstoßung bedroht.
Auch übernahmen die Gilden die Almosenverteilung und sorg¬
ten so für das Seelenheil ihrer Angehörigen. Die Anrufung der Hei¬
ligen beim Gildegelag 8 ) ist ein Rest von dem altheidnischen Minne¬
trinken. Selbstverständlich beteiligten sich die Gilden wie schon
die Nachbarschaften an den Prozessionen, am Straßen- und Altar¬
schmücken zu Fronleichnam. Die Teilnahme der Frauen an der
Gilde ist nicht als christliche Neuerung aufzufassen.
Da man in mehreren Gilden gleichzeitig Mitglied sein konnte 8 ),
mußte auch der Fall vorgesehen werden, daß einer ,,zu Pfingsten
in einer anderen Gilde trinken“ wollte. 7 ) Damit müssen wir aller¬
dings der weitverbreiteten Ansicht zweifelnd gegenübertreten, als
hätten die mittelalterlichen Genossenschaften im Gegensatz zu
den heutigen Vereinen den ganzen Menschen durchaus für sich in
Anspruch genommen.
Die Mitgliedschaft erstreckte sich in der Regel auf einen kleinen
Kreis sozial Gleichgestellter. Man wollte im Mittelalter nur mit
seinesgleichen verkehren. 8 ) v. Below nennt das ,,soziale Ab¬
schließung“. 9 ) Sommer hat festgestellt, daß verschiedentlich nur
Bauern und nicht Kötter Gildemitglieder sein konnten, und daß
letztere sich wieder zu einem Verein zusammenschlossen. Dadurch
*) Mettig, Dorpat S. 41.
*) Ebeling a. a. O. *) Döring a. a. O. 4 ) Riemann S. 105.
*) Pappenbeim S. 4. ®) Hegel I, S. 215.
*) Blümcke, Die Handwerkszünfte im mittelalterlichen Stettin, Bal¬
tische Studien 34 (1884), S. 195.
*) Kriegk I, S. 338.
®) v. Below CS. 432.
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59
Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
ist v. Below, der Anhänger der freien Einung, Zu der Frage ver¬
anlaßt worden, ob denn die übliche Erklärung der Gilde als einer
gewillkürten Genossenschaft, einer freien Einung aufrechterhalten
werden könne. 1 ) Pappenheim 2 ) verficht denselben Gedanken wie
Sommer. Vortrefflich paßt hierzu auch Philippis Erklärung der
Kölner Richerzeche 8 ) als der gildemäßig organisierten Genossen¬
schaft der altfreien Grundbesitzer in dem 1106 durch Eingemein¬
dung vergrößerten Köln.
Für die Kaufleutegilden will Doren 4 ) die gemeinsamen Reisen
der Kaufleute als Anlaß zur Entstehung ansehen. Danach hätten
zunächst reisende Händler sich zu gegenseitigem Schutz und zur
Versicherung zusammengeschlossen, wodurch allerdings ein gewill¬
kürter Verein entstanden wäre.
Der hier entrollte Widerspruch ist im allgemeinen und gesamten
nicht zu lösen. Denn die Entwicklung in verschiedenen Landschaf¬
ten und unter ganz abweichenden Verhältnissen muß sogar ver¬
schiedene Bildungen erzeugt haben. Ebensowenig dürfte die Frage
zu entscheiden sein, welche Bedeutung der Eid bei der Gilde hatte,
Pappenheims Hypothese, daß die Gilde sich aus der altgermanischen
Blutsbrüderschaft zur Schwurbrüderschaft entwickelt habe, ist
von Maurer zurückgewiesen worden. Meister nimmt eidliche An-
brüderung an. Hegel 6 ) erklärt die ältesten Gilden teils für coniura-
tiones, teils für consortia, also Genossenschaften ohne eidliche
Verpflichtung.
Eine Art der Gilden müssen wir noch besonders betrachten, die
Schützengilden. Edelmann 8 ) erklärt sie zu oberflächlich als Brü¬
derschaften, im 13. Jahrhundert von den Mönchsorden zur Ver¬
mehrung ihrer Präbenden gegründet. Doch ist z. B. im Maigrafen¬
tum die Verbindung mit älterer Überlieferung so deutlich, daß
wir die Wirksamkeit der Mönche nur gering in Anschlag bringen
dürfen. Kähler 7 ) hat für holsteinische Schützengilden die Ent¬
wicklung aus Schutzgilden gezeigt. Und in der Tat bestand für
die Gilde, die einmal für gegenseitigen Schutz sorgte, natürlich
*) v. Below D.
*) Pappenheim S. 56. *) Philippi, Köln S. 93.
4 ) Doren S.i62.Vgl.auch Walter Stein, Hans. Geschbll. 1910, S. 571—92.
*) Hegel I, S. 4. •) Edelmann S. 2. *) Kähler S. 26.
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6o Siegfried Sieber
die Notwendigkeit, sich in der Waffenführung zu üben. Noch
jetzt pflegen Brandversicherungsgilden in Holstein nebenbei
Scheibenschießen. Selten treten dort Schützengilden auf, deren
ausschließlicher Zweck das Schießen ist; sie werden als Lustgilden
bezeichnet. Für Westfalen behauptet Sommer 1 ), sie seien nicht
aus älteren Vereinigungen hervorgegangen. Denn sie bestehen dort
neben den Nachbarschaften. Verschiedentlich halten Bauern
und Kötter je ihr eigenes Fest ab. Auch besteht zuweilen ein be¬
achtliches Nebeneinander von Gilden der Verheirateten und der
Junggesellen.
Eine kaufmännische Genossenschaft, die zur Schützengilde
wird, ist die Herrenburse in Kolberg.*) Der Königsschuß muß
am Johannistage fallen. Zum Königsmahl wird ein in der Johan¬
nisnacht gefangener Lachs aufgetischt. Besonders pflegten die
Artushöfe, die vielfach aus Olav- oder Georgsgilden hervorgegan¬
gen sind 8 ), das Schützenwesen. In Dänemark übte die Knutsgilde
zu Lund das Schießen aus; sie hielt dabei an den althergebrachten
Gildeformen fest. 4 )
Die Schützenfeste überhaupt waren nach Heldmanns 6 ) Be¬
weisführung den alten Ritterspielen des Stadtadels nachgebildet,
dem Rennen, Stechen, Quintäne- und Rolandreiten. Und da diese
Patrizierfeste, wie wir bei den Zirklern gesehen haben, von einer
Gilde in Szene gesetzt wurden, so liegt die Vermutung nahe,
andere Kreise der Bürgerschaft, die bereits gildemäßig verbunden
waren, hätten sie nur nachgeahmt. Doch ist der umgekehrte Vor¬
gang in Kolberg nachweisbar. 6 ) Die Bedeutung der Nachahmung
muß überhaupt für das gesellige Leben hoch eingeschätzt werden.
Für unseren Fall ist sie schon von Edelmann 7 ) festgestellt worden,
der darauf hinweist, „die Urschützengilden seien von den Strö¬
mungen des Zunftwesens erfaßt worden“. Es ist aber nicht Nach¬
ahmung allein wirksam gewesen, vielmehr weist das gesellige
*) Sommer S. 472/73. *) Riemann S. 103 f.
*) Mettig, Olavgilden S. 19.
4 ) Hegel I, S. 222 u. 225.
*) Karl Heldmann, Mittelalterliche Volksspiele in sächsisch-thüringi¬
schen Landen, Neujahrsbl. d. Hist. Kommission f. d. Provinz Sachsen
1908, S. 28.
*) Riemann S. 103. 7 ) Edelmann S. 3.
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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 61
Leben des Mittelalters aus inneren Gründen die gleiche Struk¬
tur auf.
Betreffs der Schützengilden überhaupt verweise ich auf Edel¬
mann und die dort angeführte Literatur. Hervorheben will ich
noch, daß die Schützengilden die Pflicht der Leichenfolge kennen 1 ),
gemeinschaftliche Gottesdienste, Unterstützung armer und kran¬
ker Brüder und andere Züge mit den Gilden und Nachbarschaften
gemeinsam haben. Sie besitzen Schutzheilige, meist den Seba¬
stian. Die Mitgliedschaft kann auch von Frauen erworben werden.*)
Die Vorsteher heißen Scheffer, Gildemeister, Aldermänner usw. 8 )
Die Scheffer haben für Bier zu sorgen und das Schützenfest vor¬
zubereiten. Vielfach wird eigenes Gildebier gebraut und unter
besonderen Zeremonien aus zinnernen Humpen getrunken. Bis¬
weilen hat auch der Schützenkönig, wie bei den Zirklern der Vor¬
steher, das Gildegelage auszurichten. 4 ) Die Vorrechte, die ihm zu¬
gestanden wurden, waren oft agrarischer Art, z. B. Nutzung einer
Wiese, Schweinemast im Gemeindeland, auch steuerfreies Bier¬
brauen. 6 ) Die Geldpreise, die später ausgesetzt wurden, sind viel¬
leicht die Ablösung solcher Nachbarvorzugsrechte. Die Feste der
Schützengilden hat Edelmann®) ausführlich (wenn auch schon et¬
was veraltet) dargestellt.
Wir haben auffällig viel Gilden aus späteren Jahrhunderten
mit in die Betrachtung hereingezogen. Das liegt an dem bereits
erwähnten Versagen der älteren Quellen für unsere Zwecke. Aus
solchen Gründen muß sich ja die Volkskunde wie die Völkerkunde
so häufig der Analogie bedienen. Diese ist vorsichtig zu benutzen.
Gerade in unserem Fall kann ja nicht häufig genug betont werden,
wie stark der Nachahmungsprozeß in solchen Dingen ist. 7 ) Bei
der Nachahmung können und werden sich aber gerade die ältesten
Züge weitervererbt haben, und wir dürfen von späteren Gilden auf
frühere schließen.
Vom Untergang der Gilden kann man eigentlich nur reden, wenn
man ihre gewerblichen oder politischen Bestrebungen betrachtet.
*) Sommer S. 473.
*) Edelmann S. 7 u. 4. *) Sommer S. 473. 4 ) Kähler S. 43, 69, 31.
*) Edelmann S. 54. *) Edelmann S. 36 fl.
7 ) F. Philipp! a. a. O. S. 121. Derselbe, Die gewerblichen Gilden des
MA., PreuB. Jahrbücher 69 (1892), S. 658 .
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6 2
Siegfried Sieber
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Derlei Gilden mußten untergehen, sobald die Wirtschaftsformen
oder politischen Zustände sich änderten. Die geselligen Zwecke
blieben bestehen, machten nur unbedeutende Wandlungen durch.
Je stärker eine Gilde wirtschaftliche oder politische Zwecke be-»
tonte, desto eher ging sie unter oder bildete sich innerlich um.
III.
Hegel hatte uns schon darauf hingewiesen, daß Zunft und
Gi.lde verwandt seien. Wir haben uns an die Gepflogenheit gehal¬
ten, Gilde für Norddeutschland und die nordischen Länder in An¬
spruch zu nehmen und darunter im allgemeinen Kaufmanns¬
genossenschaften zu verstehen. Bei dem Ineinanderübergehen von
Nachbarschaft und Gilde hielten wir uns ja auch erst an die ge¬
bräuchlichen Bezeichnungen, bis wir sie vielfach gleichsetzen
konnten. Auch bei dem folgenden Abschnitt fassen wir zunächst
das ins Auge, was gemeinhin Zunft genannt wird, den Handwerker¬
verband. Und zwar kommen wir dabei vornehmlich nach Ober¬
deutschland, treffen dort aber erheblich mehr Vereine an, die sich
selbst Zunft nennen, als sonst von den zahlreichen Gesamt- und
Einzeluntersuchungen zur Zunftgeschichte berücksichtigt werden.
Denn bei der Forschung über die gewerblichen Zünfte hat man sich
einen engen Begriff 1 ) zurechtgezimmert, der eine ganze Menge Bil¬
dungen ausschließt oder höchstens als „zunftartig“ gelten läßt.
Das Recht dazu soll dem Forscher nicht bestritten werden, wenn
er glaubt, nur auf solche Weise Ordnung in das Chaos bringen zu
können. Aber für unsere ganz andersartige und aller juristi¬
schen Formelfassung abholde Untersuchung gilt dieser
Zunftbegriff nicht.
Betreffs der Verwandtschaft von Gilde und Zunft wird uns auch
von Wirtschaftshistorikern bestätigt, daß „die Grenze zwischen
Kaufmannsgilde und Handwerkerzunft ganz nach den Verhält¬
nissen der einzelnen Städte schwankt.“ 2 ) Weiter gibt es nach
Hermandung 3 ) in Aachen Zünfte ohne gewerblichen Charakter,
‘) Eberstadt, Ursprung d. Zunftwesens, Leipzig 1900, S. 19.
*) Dören S. 45.
*) A. Hermandung, Die Zünfte der Stadt Aachen bis 1681, Münst.
Diss., Aachen 1908, S. 97 ff.
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Nachbarschaften,. Gilden, Zünfte und ihre Feste 63
die durchaus die Züge der Gilden tragen, ihre „Greven“ wählen
und ihre Feste feiern. Dagegen finden sich in Oberdeutschland,
z. B.,in Schaffhausen 1 ), Kaufleutzünfte, die auch den Kaufmanns¬
gilden zuzurechnen sind.. Noch verwickelter würde die Sachlage
werden, wollten wir all die Synonyma, für Zunft berücksichtigen.*)
Kurz, wir müssen uns klarmachen, daß alle diese Namen ursprünglich
nur in dem Sinne gefaßt wurden: Verein mit Verpflichtung zur
Zusammenkunft 3 ),, ganz gleich, was der Zweck des Vereins war.
Die Leute, die einer Zunft angehörten, hatten keinesfalls die Vor¬
stellung, daß zur Zunft der Zunftzwang nötig sei, und daß eine
Zunft nur von Handwerkern gleicher Gattung gebildet werden
könne.. Ebenso muß man die Auffassung als falsch bezeichnen,
die Handwerker hätten sich den vornehmeren Namen Gilde an¬
gemaßt,, zumal v. Below 4 ) die Handwerkerzünfte im allgemeinen
für älter hält als die Kaufmannsgilden. Eine befriedigende Er¬
klärung dürfte meine für Nachbarschaft und Gilde schon durch¬
geführte Hypothese bieten, wonach alle in Frage kommenden
Benennungen zum guterf Teil identisch sind und einen Gesellig¬
keitsverein bezeichnen, der bald nach dieser oder jener Seite sich
gewerblich oder politisch betätigt.
Ehe wir uns aber der Frage nach Verwandtschaft von Nach¬
barschaft, Gilde und Zunft nähern, müssen wir kurz die wichtigsten
Ansichten über die Entstehung der Zunft betrachten. Sie basieren
auf Quellenforschungen in den ältesten uns erhaltenen Zunft¬
urkunden, die nicht im mindesten ein Bild vom Werden eines sol¬
chen Vereins geben können, da sie ja schon die vollständig fertige,
juristisch faßbare Körperschaft darstellen. Es ist darum kein
Wunder, daß gerade über die vor den Urkunden liegende Ent¬
wicklung der Genossenschaften grundverschiedene Ansichten be¬
stehen.. Während die eine Theorie in den Urzünften Organisationen
des Hofrechts sieht, die Handwerker also aus Unfreien rekrutieren
*) Schweiz. Idiotikon 3, S. 334.
*) Oskar Schade, Vom deutschen Handwerksleben, Weimar. Jahrbuch
I V, S. 248 ff.
*) In conventu, glossiert in der Benediktinerregel als zumfti. Vgl.
M. Heyne, Das altdeutsche Handwerk, 1908, S. 131.
4 ) v. Below, Die Bedeutung der Gilden f.die Entstehung d. deutschen
Stadtverfassung,Jahrbücherf. Nationalökon.u. Statist. 3. F. III (1892), S. 64.
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64
Siegfried Sieber
will, betont die andere die Freiheit der Zünftler und will den
Zunftzwang aus einer Anordnung der Stadtobrigkeit herleiten.
Nach dem Siege von Keutgens 1 ) klarem Buch über Eberstadts 2 )
etwas verschwommene Arbeiten haben die Hofrechtler neuerdings
Walther Müller 8 ) vorgeschickt, der die herrschaftliche Abhängig¬
keit der Handwerker verficht.
Eberstadt geht von dem richtigen Gedanken aus, daß der Zunft
Verbände vorausgegangen sein müssen, und glaubt kirchliche Bru¬
derschaften als Vorläufer der gewerblichen Zünfte feststellen zu
können. So heißen die Schuhmacher in Rouen gulde, die Schil-
derer in Magdeburg societas. Zweck dieser Verbände sei die Be¬
tätigung religiösen Sinnes und christlicher Nächstenliebe gewesen. 4 )
Meine Ansicht von den Vorläufern der Zünfte weicht von dieser
Aufstellung nur insoweit ab, als ich nicht rein kirchliche
Bruderschaften, sondern gesellige Verbände, Vereine, Gilden an¬
nehmen möchte.
Auch Keutgen 6 ) will „den kirchlichen wie den geselligen Be¬
strebungen eine gewisse Bedeutung für die Entstehung der Zünfte
zuerkennen“. Er nimmt als Motive zur freien Einung der Hand¬
werker gottesdienstliche, wohltätige und gesellige, außerdem ge¬
werbliche an. Die ersten drei entsprechen durchaus den von mir
aufgestellten Hauptstücken der Geselligkeit: gemeinsames Mahl
und Leichenfolge, woraus sich natürlich kirchliche und gottes¬
dienstliche Verpflichtungen bildeten. Zudem betont Keutgen,
daß „Bruderschaft“ durchaus nicht, wie von Eberstadt geschehen,
in kirchlichem Sinne gebraucht werden muß, da die Idee, den Näch¬
sten als Bruder zu betrachten, schon germanisch ist. Bei seiner
weiteren Betrachtung geschieht es freilich Keutgen, daß er nur
von religiöser Betätigung der Zünfte zu erzählen weiß und sich
sogar zu der Behauptung versteigt, die Obrigkeit hätte den Zünf-
*) F. Keutgen, Ämter u. Zünfte, 1903.
*) R. Eberstadt, Magisterium u. Fraternitas, 1897, — Ursprung des
Zunftwesens, 1900,
*) Walther Müller, Zur Frage des Ursprungs der mittelalterl. Zünfte,
Leipz. Hist. Abhandl. Heft 22, 1910. Vgl. A. Doren, Über den heutigen
Stand der Frage nach der Entstehung der Zünfte, Mitt. d. deutsch. Gesellsch.
z. Erforsch, vaterl. Sprache u. Altertümer in Leipzig Bd. X, H. 5 (1912),
S. 92 ff.
4 ) Eberstadt, Ursprung S. 22 u. 10. e ) Keutgen S.%83, 169 fr.
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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 65
ten Zwangsbefugnis verleihen müssen, ehe sie ihre Mitglieder zur
Leichenfolge verpflichten konnten. 1 ) Wer gab denn den Nach¬
barschaften und Gilden eine ähnliche Zwangsbefugnis ? — Nur das
Herkommen. Denn es mußten sich eben Leute zusammentun,
um die Toten zu begraben. Gerade dieser Grund ist bei der all¬
gemein menschlichen Totenfürsorge der zwingendste für Bildung
eines Nachbarverbandes. Damit fällt auch Keutgens Stellung¬
nahme gegen Eberstadts Meinung, daß die Bruderschaften erst
rein private Vereinigungen waren, ehe sie Zunftrechte und -briefe
erwarben. Bei Keutgen werden nämlich die Handwerker von
Obrigkeits wegen nach ihrem Gewerbe auf dem Markt zusammen¬
gestellt. So entsteht das Amt. Doch sehnen sich seine Mitglieder
nach einem „intimeren Verein, als ihn das bloße Amt bietet“,
und finden in der Brüderschaft „die Form, an der es bis dahin
noch gefehlt“. Mich will der gesellige Zusammenschluß als der
einfachere bedünken gegenüber dem gewerblichen, und darum
möchte ich ihn als den primären auf fassen.*) Erkennt doch
Keutgen*) selbst die im Mittelalter viel stärkeren „gesellschaft¬
lichen Notwendigkeiten“ als vereinsbildende Kräfte an. Bemerkens¬
wert ist ferner, daß der Bruderschaft (z. B. der Kölner Drechsler¬
bruderschaft) Personen beitreten konnten, die das „Amt" nicht
ausüben wollten. Soll man denn annehmen, daß die Handwerker,
nachdem sie einen scharf abgeschlossenen Verein gebildet hatten,
für ihre Brüderschaft nicht dies Bedürfnis sozialer Abschließung
gehabt hätten ? Oder erscheint die Erklärung besser, daß innerhalb
einer bestehenden Brüderschaft die gewerblich zusammengehörigen
Brüder einen engeren Verein gebildet haben ? 4 ) Mit der Zeit werden
ja überhaupt die zünftischen Brüderschaften immer exklusiver,
wie Keutgen 5 ) an den Mainzer Webern zeigt, die sich 1099 einen
eigenen Begräbnisplatz einräumen lassen. Gegen Eberstadt muß
ich mich allerdings einer Bemerkung Keutgens anschließen, der
nicht glaubt, daß gerade die gleichartigen Gewerbe stets von der
Religion allein zusammengeführt worden wären.
*) Keutgen S. 173, 174, 183.
*) Vgl. Thoms, Die Entstehung der Zünfte in Hildesheim, 1908, S. 69.
*) Keutgen S. 91 u. 181. *) VgU Zesiger S. 91.
6 ) Keutgen S. 174 u. 176.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 5
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Siegfried Sieber
Wir werden von diesen Betrachtungen zu der Frage hin»
geführt: wie ging das wohl vor sich, der Zusammenschluß von
Neuzugewanderten in der entstehenden Stadt? Der Neuling sie¬
delte sich von selbst dort an oder, wie Müller 1 ) will, wurde von
den Machthabern dort angesiedelt, wo bereits Genossen gleichen
Gewerbes wohnten. Die Nachbarn, zu denen er hinzukam, be¬
standen aus den „heterogensten Elementen“ 2 ), waren Freie, Un¬
freie, Stadteingesessene und Zugewanderte. Sie „hatten keine alt¬
ererbte Gemeinschaft“. Dagegen besaßen die meisten übrigen
Bewohner der Stadt von jeher ihren geselligen und auch wirtschaft¬
lichen Verband als Bauerschaft, Laischaft, Nachbarschaft, Gilde.
Sie waren schon zu zahlreich, als daß sie Neue hätten aufnehmen
können. Ein Nachbarmahl aller Mitglieder wäre z. B. sonst un¬
möglich geworden. 3 ) Zuzügler waren aufeinander angewiesen,
sie vermißten schmerzlich den Rückhalt und Beistand, den sie an
der alten Geschlechtsgenossenschaft gehabt hatten. 4 ) Um die noch
immer ehrfürchtig begangenen heiligen Tage der Heidenzeit,
Rauchnächte, Fastnacht, Mittsommer, mit gemeinsamen Mahl¬
zeiten zu feiern, sowie zum Begraben ihrer Toten schlossen sie sich
zusammen. Es bildeten sich in den Städten neben den schon vor¬
handenen Verbänden neue Nachbarschaften oder Gilden. 6 ) Das
Merkwürdige an diesen war, daß sie in der Hauptsache Angehörige
eines bestimmten Handwerks vereinigten. Daß auch Nichthand¬
werker zugelassen waren, wurde vorhin schon bei den Kölner
Drechslern erwähnt. Ähnlich wird bei den Plauenschen Fleischern
von Zechbrüdern und Zechschwestern gesprochen, so es mit dem
*) W. Müller S. 64 u. 67. *) Keutgen S. 170.
*) Darum erklärt sich auch v. Below gegen die Gildemäßigkeit der
coniuratio von Freiburg i. B. „Es wäre gar nicht so einfach, sich Ge¬
lage der gesamten Bürgerschaft vorzustellen.“ (v. Below C S. 432.) Wie
stark war aber wohl die erste Bürgerschaft, auf die sich dies bezieht ?
4 ) Hegel I, S. 244.
*) Ich verstehe nicht, wie Philippi behaupten kann: „Die gesellschaft¬
lichen Einrichtungen der Zünfte sind Analogiebildungen, haben an der
Entstehung der Zünfte keinen Anteil“ — und auf der nächsten
Seite ausführen kann, wie die Nachbarschaften in den Städten, bestehend
aus Grundbesitzern, den nicht am Grundbesitz beteiligten Handwerkern
keine Aufnahme gewährten, so daß diese „selbständig Genossen¬
schaften nach Vorbild der Ackerbürger, Gilden“ aufrichteten.
Philippi, Mitteil. d. Inst. f. Österreich. Geschichtsforsch. 25, S. 121/22.
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67
Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
Handwerk halten. 1 ) Sie sind vielleicht aus Nachbarn hervorge¬
gangen, die ursprünglich mit den Fleischern zusammenwohnten,
aber deren Übergang zum Gewerk nicht mitgemacht hatten.
Keutgen 2 ) erinnert an heutige Verhältnisse auf afrikanischen
Märkten. Dort kommt es zu einem geselligen Zusammenschluß
der Gewerbetreibenden, weil die Verkäufer ihre Sitze nebenein¬
ander haben. So sei auch bei uns, meint er, das Nebeneinander
von Buden und Verkaufsständen der einzelnen Handwerke auf
dem Markt Ausgangspunkt der Vereinigung gewesen. Das dürfte
nicht ganz zutreffen. Denn v. Loesch, der auch das Zusammen¬
wohnen der Fachgenossen also „der Vereinsbildung sehr förderlich“
ansieht 8 ), weist darauf hin, daß die Gewerbestraßen sich nicht auf
den Markt und seine Umgebung verteilen, sondern oft weitab lie¬
gen. Überdies stehen manche Gewerbe als Lohnwerke 4 ) gar nicht
im Zusammenhang mit Markt und Marktordnung, und andere
Handwerker siedelten sich ohne Eingreifen des Marktherren neben¬
einander an, so die Gerber und Fischer am Wasser. 6 ) Zusammen¬
wohnen von Schmieden weist W. Müller schon für das Ende des
8. Jahrhunderts in Centula nach. Philippi 6 ) hat für die westfäli¬
schen Bischoftstädte Fleischer- und Bäckerstraßen als die ältesten
Anlagen neben den Domburgen nachgewiesen, und Julian Weiter
glaubt 7 ) die Hebung des genossenschaftlichen Sinnes der Ham¬
burger Handwerker bedingt durch Zusammenwohnen in einer
Straße und durch nachbarlichen Verkehr auf dem Markte. Oft
hatten Glieder ein und desselben Handwerks zusammenhängende
Häuserkomplexe in Besitz. 8 ) Sehr hübsch ist das Beispiel von Hil¬
desheim. 9 ) Die Stadt war in sechs Bauerschaften eingeteilt, deren
*) Rieh. Helmrich, Z. Gesch. d. Fleischerinnung in Plauen i. V., Mit¬
teil. d. Altertumsver. Plauen 20 (1910), S. 230.
*) Keutgen S. 139.
8 ) Loesch, Rezens. v. Keutgen, Westdeutsche Zeitschr. 23 (1904), S. 74;
vgl. auch Thoms S. 75.
4 ) W. Müller S. 62/63. *) Zesiger S. 49.
®) Philippi, Z. Verfassungsgesch. d. westfäl. Bischofsstädte, 1894, S. 6 ff.
’) J. Weiter, Studien z. Gesch. d. hamburgischen Zunftwesens im MA.,
Diss. Berlin 1895, S. 25.
*) Gengier, Stadtrechtsaltertümer S. 96.
*) Moritz Hartmann, Gesch. d. Handwerkerverbände d. Stadt Hildes¬
heim im MA. (Beiträge f. d. Gesch. Niedersachsens u. Westfal. i.Jahrg.,
1. Heft, 1905) S. 13.
5 *
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eine spätestens 1404 villa sutorum hieß, es war die Umgebung der
Andreaskirche, wo die Handwerker um 1300 nachweisbar in beson¬
deren Straßen wohnten. Ihre „Bauerschaft“ wurde eben nach den
zahlreichen Schustern benannt. Ähnlich war in Halberstadt die Ge¬
meinde in Nachbarschaften und Innungen eingeteilt. 1 ) Die wei¬
tere Entwicklung wird gekennzeichnet durch Keutgens Mitteilung
aus Regensburg 2 ), wo die Korduaner, Gademer, Schreiner und
Schuhflicker ursprünglich besondere Marktstraßen innehatten, aber
um 1244 über die ganze Stadt verbreitet waren. Wenn nämlich
die Handwerkerstraßen dicht besiedelt waren, mußten Neulinge
anderswo Unterkommen. Überhaupt wurden die einfachen Ver¬
hältnisse der ersten Stadtanlagen bald verschoben und überkreuzt.
Bezeichnend*) ist auch der Sonderbestand von Gilden gleichen
Gewerbes in den fünf Weichbildern Braunschweigs um 1445, also
lange nach der Union zu einer Stadt. Sie sind eben als nachbar¬
schaftliche Bildungen zu erklären, nicht als Zusammenschluß aus
gewerblichen Rücksichten. Auch in anderen Städten, die aus Alt-
und Neustadt zusammengewachsen sind, findet sich dergleichen.
Da sich die Handwerker oft vor den Toren der Stadt niederließen,
wurden die Vorstädte geradezu Handwerkerviertel^) Die Zunft
der vorstetter und niderling in Schlettstadt 6 ) scheint auf ähnliche
Verhältnisse zu deuten. Ganz an eingepflanzte Bauerschaften er¬
innert die Zunft der Gaupörtner in Oppenheim und die Hasen-
pfühler Zunft, wohnhaft im Stadtteil Hasenpfühl bei Speier. 6 )
Und noch deutlicher sprechen die Verhältnisse im Vorstadt¬
bezirk Oldenburgs. 7 ) Dort schlossen die Handwerker der Dämme
und der Mühlenstraße eine besondere Innung, nicht für jedes Ge¬
werk, sondern eine einzige für alle Handwerker. Gewerbliche
Zwecke waren hier nicht maßgebend, da sich in diesem Falle jeder
Handwerker seiner Innung in der Stadt hätte anschließen können.
: ) Philippi, Mitteil. d. Inst. f. österr. Geschforsch. 25, S. 122.
*) Keutgen S. 240. *) Hegel II, S. 422.
4 ) W. Varges, Zur Entstehung d. deutschen Stadtverfassung, Jahrbb.
f. Nationalök. u. Statistik 3. Folge VIII, S. 814.
*) Jos. Gdny, Schlettstadter Stadtrecht, 1902, S. 1114.
®) Mone, Zunft Organisation, Zeitschr. f. Gesch. d. Oberrheins lt,
S. 54 u. 283.
*) H. Hemmen, Die Zünfte der Stadt Oldenburg im MA., Jahrb. f. d.
Gesch. d. Herzogt. Oldenb. XVIII, 1910, S. 204f. u. 273 fr.
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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
69
Bezeichnenderweise ward noch dazu eine Brüderschaft gebildet,
die für Leichenbegängnis und Seelenmesse sorgen, Eintrittsgeld
erheben und ein Abzeichen führen sollte. Zur Brüderschaft ge¬
hörte der Graf samt seinem Hause.
Mit vorstehenden Ausführungen glaube ich wahrscheinlich
gemacht zu haben, daß der Zusammenschluß der Handwerker zu¬
erst in Form einer Nachbarschaft erfolgte. Sehr leicht entwickelte
sich aus dieser eine Bruderschaft, oder, bei stärkerer Betonung des
Gewerblichen, eine Zunft. Daß eine lange Entwicklung durch¬
laufen sein muß bis zur Abfassung einer Zunfturkunde, die den
Zunftzwang vorsieht, ist wohl jedem Zunftforscher klar. Und
ebenso ist es selbstverständlich, daß eine stets im Fluß befindliche
Weiterbildung zu Bruderschaft und Zunft nicht durch Urkunden
belegt, sondern höchstens aus Analogien wahrscheinlich gemacht
werden kann. Sagt doch auch Paul Sander 1 ) sehr treffend: ,,Wo
die Gesamtheit der Angehörigen eines Gewerbes eine Bruderschaft
gründet, da ist eine Zunft vorhanden, auch wenn ihre Tätigkeit
zunächst nur darin besteht, daß sie den Altar des Heiligen mit
Wachskerzen versieht.“ Uns ist aber noch mehr glaubhaft ge¬
worden als nur die gemeinsame kirchliche Betätigung der Zunft¬
mitglieder: wir stellen uns die Handwerker als nachbarlich eng
verbundene, oft zu geselligen Festen (und sei es Kindtaufe oder
Schweinschlachten) zusammenkommende Genossen vor, die bei sol¬
chen Gelegenheiten natürlich ihre gewerblichen Sorgen und Fragen
erörterten und auf höchst einfache Weise zu gemeinsamer Vertre¬
tung dieser Interessen fortschritten. Das ging dort um so schneller,
wo die Obrigkeit aus wirtschaftlichen Gründen den Zusammen¬
schluß der Handwerker begünstigte*), z. B. auch durch den markt¬
herrlichen Gewerbebeamten jährlich dreimal ungebotenes Ding
abhalten ließ. Sobald sich einmal in einer Stadt eine Handwerker¬
genossenschaft zu einem Verein fortentwickelt hatte, der die Aus¬
übung eines bestimmten Gewerbes zur Bedingung für die Mit¬
gliedschaft machte, fielen natürlich die Schranken der Nachbar¬
schaft, und das Zusammenwohnen ward untergeordnetes Prinzip.
*) Paul Sander, Zur Verständigung über das mittelalterliche Zunft¬
problem, Schmollers Jahrbuch 28 (1904), S. 1509.
*) Keutgen S. 155.
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70
Siegfried Sieber
Ich halte diesen Gesichtspunkt für besonders wichtig zur Er¬
klärung des Umstandes, daß in den Städten so selten etwas von
der Nachbarschaft zu spüren ist: die Nachbarschaftsverfassung
zum Zweck der Geselligkeit ward gesprengt durch Ausbildung der
Zünfte. Z. B. scheiden in Riga 1 ) zuerst die Handwerker 1352 aus
der alle Berufe umfassenden Heilig-Kreuz-Gilde aus, so daß eine
Kaufmannsgilde ohne Erwerbszwecke und nur zur Pflege der
Geselligkeit, der Trinkgelage sowie der Fürsorge für Begräbnis
und Seelenheil, übrigblieb.
Beim Übergang zur Betrachtung der Geselligkeit bei den Zünf¬
ten darf ich wohl erinnern an einen früheren Aufsatz*) über Zunft¬
feste, worin ich besonders die Erhaltung agrarischer Bräuche bei
den Zünften dargestellt habe. Jedoch muß ich gleich die Ein¬
schränkung machen, daß ich diesmal nicht wie a. a. 0 . Meister
und Gesellen zusammenbetrachten will, sondern die Behandlung
der Gesellenfeste und aller Veranstaltungen, bei denen sie einen auf¬
fälligen Anteil neben den Meistern behaupten, in einer späteren
Untersuchung plane, die sich mit der Jungmannschaft, ihrer Weihe
und ihren Festen beschäftigen soll. Außer Betracht bleiben des¬
halb hier im allgemeinen die Umzüge, Tänze, Fastnachtsmumme¬
reien und andere Späße.
Es liegt nahe, bei der Geselligkeit im deutschen Zunftwesen
einen Blick auf die römischen Zünfte zu werfen. Während Schade 3 )
noch an einen Zusammenhang zwischen römischem und deutschem
Zunftwesen glaubte, findet W. Müller 4 ) gerade hier den charak¬
teristischen Unterschied, insofern die römischen Zünfte in erster
Linie gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigten, die deutschen be¬
rufliche Ziele im Auge hätten. Der zweite Teil dieser Behauptung
ist falsch, der erste ist für uns deshalb beachtlich, weil wir in
den römischen Zünften Analogien zu den deutschen Geselligkeits¬
vereinen finden. Schon Hegel 6 ) macht auf die römischen Leichen¬
kassenvereine mit gemeinsamen Mahlzeiten aufmerksam. Bei ihnen
treten uns die allgemeinen Grundzüge einfacher Geselligkeit wieder
entgegen: gemeinsames Mahl und Leichenfolge.
*) Stieda und Mettig S. 90/91.
*) Mitteil. d. Ver. f. sächs. Volksk. V (1911), Heft 11 u. 12.
*) O. Schade S. 246. 4 ) Walther Müller S. 3. 6 ) Hegel I, S. 9.
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III III III 11
Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
7i
Wir sind vielfach darüber unterrichtet, daß die Zünfte gemein¬
same Mahlzeiten und Gelage hielten, da viele Zunftordnungen auch
die Bestimmungen über das Verhalten bei Gelagen und beim
Begräbnis eines Genossen umfassen. Nach unserer Ansicht sind
diese Anordnungen ja ein besonders wichtiger Kern. Als eigen¬
artige Gegenstücke müssen die Skrane der Handwerkergilden in
Odense und Sveaborg 1 ) angeführt werden, die lediglich Gilde¬
ordnungen für die Zwecke der religiösen und geselligen Vereinigung
sind ohne gewerblichen Beigeschmack. Die großen Zunftschmäuse,
die durchaus den Gildemahlzeiten entsprechen 2 ), fanden z. B. in
Bremen vor 1322 um Pfingsten, Weihnacht und Fastnacht
statt, erinnern also an Opferschmäuse. Der Züricher Bächtelitag,
der besonders von den Zünften durch Gelage gefeiert wurde
(2. Januar), gemahnt an Berchta. 3 ) In Großstrehlitz 4 ) hielten noch
um 1860 die Webermeister zu Fastnacht ihren Malzbiertrunk,
während die Gesellen am nächsten Tage ihr Fest hatten. Auch
in Hildesheim 6 ) veranstalteten die Leineweber gesellige Zusammen¬
künfte zu Fastnacht und zur Maizeit. 1506 zogen die Knochenhauer
daselbst mit Musik vors Tor hinaus, wie es sich zu einem richtigen
Maifest geziemte.
Ein eigenartiges zünftisches Maifest scheint in den Städten
des Elstertales gefeiert worden zu sein 6 ), „der Pfingstquaas“, der
an ein Fest der Annaberger Bergleute, den Quaß, erinnert. 7 ) Die
Zünfte im Elstertale feierten ihr Fest zu Fronleichnam, in Zeitz
1560 an zwei Tagen. Dabei tranken die Pegauer Lohgerber sechs
Faß Bier oder die Zeitzer Bier und i 1 /« Eimer Wein. Offenbar ist
es ein Fest der Meister gewesen, denn in Kahla kommt die Wen¬
dung vor: „So die meistere in quassen bei einander sein werden ...“
Ferner kehrt der Ausdruck „quässereyen“ wieder in Verordnungen
*) Hegel I, S. 219; vgl. I, S. 338. *) Schade S. 251.
*) Zeitschr. f. d. deutschen Unterricht 13, S. 838/39 u. 14, S. 551.
*) E. Krawczynski, Großstrehlitzer Handwerkerinnungen, Programm
Großstrehlitz 1909 u. 1910, S. 14.
®) Hartmann S. 68
6 ) Rud. Lobe, Z. Gesch. d. deutschen Zunftwesens, Mitteil, des Ge-
schichts- und Altertumsvereins Eisenberg, S.-A., 19. Heft (1904)» S. 28.
7 ) W. Mannhardt, Wald- u. Feldkulte, 2. Aufl., 1904, I, S. 336.
Vgl. auch Grimm, Wb. unter Quaß.
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7 2 Siegfried Sieber
Georgs des Bärtigen 1524 für die Rochlitzer Handwerker 1 ): sie
sollten nicht Geld auf Vorrat sammeln und „in Quässereyen ver-
tzeren.“
Unter den Zünften in Zofingen (Aargau)*), die 1484 einen
großen Maiumzug veranstalteten, war eine Schützenzunft, zu der
Müller, Pfister, Schreiner, Glaser und verwandte Gewerbe gehörten.
Diese Zunft hielt Schützenfeste ab, wobei der Preis aus einem Paar
Hosen bestand. In Kolberg 8 ) hielten die Zünfte festliche Umzüge
und stellten zum Schützenfest Meisterfrauen als Schaffnerinnen.
Bei den Stettiner Zünften 4 ) galt das Maigrafenfest als wichtigstes
ihrer „Hoygen“. Man erkor bei den Tischlern einen Maigrafen
und eine Maigräfin, die jedes „dem samenden wercke vier gro-
schen“ spenden mußten. Die Schneider daselbst hatten im Gegen¬
satz zum Pfingstbier der Tischler ihren „Mertenswein“, ähnlich
wie die Schneider zu Warburg 6 ) im Herbst am „Roten Montag“
nach Michaelis ein Fest hatten. Vielfach wurden die Zunftfeste
am Tage des jeweiligen Schutzpatrons begangen, eine Erscheinung,
die natürlich den starken kirchlichen Einfluß beweist und eine
Vernachlässigung der altheidnischen Festzeiten zugunsten der
neuen Jahrtage bedeutet. So rüsteten die Barbiere in Lübeck
(Statuten von 1480)*) nicht nur zu Weihnacht, sondern auch am
Tage Kosmas und Damian für Männer und Frauen ihrer Bruder¬
schaft Mahlzeiten. In Fulda 7 ) fiel das Zunftfest der Schuster auf
St.Michael, das der Leineweber auf Petri Stuhlfeier, das der Schreiner
auf Kreuzerfindung, doch das derWollweber auf den uralten Festtag
Dreikönig. Die Schneider gar zechten zweimal, zu Michaelis und
Corpus Christi, was der Rat 1631 verbot. Die Hamburger Wand-
*) Paul Lorenz, Die Gesch. d. Rochlitzer Tuchmacherhandwerks, Leip¬
ziger Diss. 1906, S. 35.
*) Franz Zimmerlin, Die Zünfte der Stadt Zofingen, Argovia33 (1909),
S. 21 u. 34 fr.
*) H. Riemann, Gesch. d. Stadt Kolberg, 1873, S. 105 u. 107.
4 ) Blümcke S. 195 u. 239.
*) A. Mönks, Die gewerblichen Verbände der Stadt Warburg, Mün-
stersche Diss. 1908.
*) Wehrmann, Die älteren Lübeck. Zunftrollen (1864), S. 164.
7 ) Jos. Hohmann, Das Zunftwesen d. Stadt Fulda, Münstersche Diss.
1909, S. 118 u. 122.
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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
73
Schneider 1 ) feierten ihre Höge alljährlich Sonntag nach Johannis.
Alle Mitglieder nebst Frauen mußten bei Strafe einer Tonne Bier
erscheinen. Die Leipziger Kürschner 2 ) schmausten Montag und
Dienstag nach Dreikönig im Hause eines Meisters. In Bern 8 ) gab
es Zunftschmäuse zu Weihnachten, Neujahr, Aschermittwoch,
Ostern und Johannis, dazu besondere Fastnachtsvergnügungen. Je¬
dem Mahl ging eine Weinprobe voraus, und ein Pudris (Nachfeier
mit aufgewärmten Resten) folgte. In Eger 4 ) waren überall Zunft¬
mahlzeiten gebräuchlich, ganz besonders feierten aber die Schmiede
und Wagner den „Gloytag“, den Tag ihres Zunftheiligen Eligius.
Durchaus modernen Verhältnissen nähert sich die Gepflogenheit
der Iglauer Zünfte 6 ) (18. Jahrh.), aus Anlaß des Geburtstages des
Kaisers ein Fest zu feiern.
Ein höchst ergötzliches Kulturbildchen von deutscher Zunft¬
geselligkeit hat Crull 6 ) aus den Rechnungsbüchern der Rostocker
Fischer von 1496—1560 mosaikartig zusammengefügt. Diese
nicht eben reiche Innung besaß einen Krug oder Schütting, in
dem sie ihre Feste abhielt und auch sonst die Geselligkeit pflegte,
z.B. Kegel- und Brettspiele zur Verfügung stellte, später auch Spiel¬
karten. Zwei Schaffer wurden alljährlich Mittwoch nach Pfingsten
gewählt. Sie und später die „Bauherren“ hatten die Aufsicht über
den Schütting und die Sorge für die Feste. Das erste derselben fand
am Tag vor Johannis statt und hieß bis 1560 „bei dem Nothfeuer“.
Das ist höchst beachtlich, denn es kennzeichnet die Stellung der
Zünfte als Erhalter heidnischer Sitten. Notfeuer und Johannisfeuer
sind übrigens hier eins geworden. 7 ) Aufgetischt wurden Fische,
*) Otto Rüdiger, Die ältesten Hamburgischen Zunftrollen u. Bruder¬
schaftsstatuten, Hamburg 1874, S. 297.
*) G. Berlit, Leipziger Innungsordnungen a. d. 15. Jahrh., Programm d.
Nikolaigymn., Leipzig 1886, S. 27.
*) Zesiger S. 149 u. 154.
4 ) Karl Siegl, Die Egerer Zunftordnungen, Prag 1909, S. 19.
®) Franz Ruby, Das Iglauer Handwerk, 1887, S. 55. Vgl. Paul Piger,
Handwerksbrauch in der Iglauer Sprachinsel, Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 2
(1892), S. 272ff., 382fr.
') Friedrich Crull, Der Schütting und die Festlichkeiten des Amtes
der Bruchfischer, Beiträge z. Gesch. d. Stadt Rostock I (1890), Heft 3,
S. 93—108.
*) Vgl. Mogk, Altgermanische Kultfeuer, Mitteil. d.Ver. f. sächs. Volksk. V,
S. 107—ro.
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74
Siegfried Sieber
(Hering, Lachs) oder Lammbraten. Dazu gab es Bier. Das zweite
Fest fand statt zu Peter und Paul. Da erfolgte Rechnungslegung;
Wahl und geselliges Beisammensein schlossen sich an. Haupt¬
festtag war der in Niederdeutschland vielfach gefeierte Pantaleons¬
tag (28. Juli); auch an diesem gab es verschiedene Braten, als
Hauptgericht einen am Spieß gebratenen Schwan, dazu Brot,
Butter, Käse sowie drei bis vier Tonnen Bier. Im Herbst kamen
bisweilen die „Weddeherren“ in den Schütting und wurden in
einer „Herrenköste“ bewirtet. Gelage fanden weiter statt zu Neu¬
jahr und Fastnacht. Einmal wurde zu Fastnacht sogar ein Spruch¬
dichter (rymer) bestellt, und mehrfach sind Spielleute bezahlt wor¬
den. Zu Pfingsten wurden auch die Frauen eingeladen, der Schüt¬
ting ward mit Maien geschmückt und im Garten eine Ruhebank
errichtet. Vier bis sechs Tonnen Bier mußten in wenig Tagen ver¬
tilgt werden.
Neben dieser Schilderung Crulls zeigen sich unsere sonstigen
Aufzeichnungen wortkarg. Die Leipziger Handwerker 1 ) begnügten
sich auf ihren Innungsfesten im Sommer oder Winter mit einem
„gemeinen Bier“, wogegen in Schlettstadt 2 ) die Zünfte von
der Stadt Gänse und Wein für ihre Feste bekamen und in Bern 3 )
häufig vom Rat Weinschenkungen an die Zünfte erfolgten. In
Soest 4 ) erhielten die Gewerksgenossenschaften zu ihren Gelagen
Wenigstens das Bier akzisefrei.
Die Hamburger Wollenweber 5 ) brachten sich Birnen, Äpfel,
Nüsse mit auf die Morgensprache, warfen wohl gar damit, bis
ihnen dieser Unfug ebenso wie Würfeln, Kartenspielen und „Toback-
trinken“ verboten ward. Die Bäcker in Warburg 6 ) ließen schon
14 Tage vor ihrem Schmaus Bier und Kost durch ihre „Dechen“
einkaufen, die auch noch, ähnlich wie Nachbar- und Gildemeister,
ihre Wohnung zur Verfügung stellen mußten. Übrigens feierten
bei ihnen auch die Meisterinnen die Aufnahme einer neuen Schwe¬
ster, wobei es Kuchen gab.
Der Eintritt eines neuen Meisters gab erst recht den Männern
Gelegenheit zum Zechen. So mußte jeder Neuling in Olden-
*) Wustmann, Aus Leipzigs Vergangenheit III (1909), S. 34.
*) Geny S. 1114. *) Zesiger S. 68. *) Hegel II, S. 387.
6 ) Rüdiger S. 312. 6 ) Mönks S. 36 u. 37.
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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
75
bürg 1 ) sowohl beim Ansuchen um Aufnahme in die Zunft eine
„escheltonne“ spendieren, als auch später Bier und Eßwaren an¬
statt der Aufnahmegebühren, Ähnlich hatte bei den Hökern
in Hameln 2 ) der Neuling die Gildschaft, d. h. die Verpflichtung,
das jährliche Fest = Gilde auszurüsten. War keiner eingetreten,
so ging die Gildschaft reihum ebenso wie das Brauen des Amts¬
bieres zu den Oldenburger Morgensprachen. 3 ) An den Pflichttagen
der Gilden zu Lünen 4 ) fanden Feste mit Freibier statt; letzteres
ward von den Neulingen gespendet. Das Meisteressen beim Berlin-
Kölnischen Schustergewerk 6 ) dauerte einen Tag. Der Jungmeister
hatte an diesem sämtliche Meister nebst Weibern und Kindern
mit Hühnerfleisch und anderen Leckerbissen zu bewirten, zwei
Tonnen Bier, zwei Pfund Wachs sowie Geld zu geben. Die Auf¬
nahmegebühren, oder mindestens ein Teil davon, wurden wohl
meist zu Gelagen verwendet. 6 ) Denn oft werden sie ja, ebenso
wie die Bußen, in Bier oder Wein angesetzt, z. B. in Basel im
13. Jahrhundert. 7 ) Später waren die Meister so begehrlich, sogar
von den Lehrlingen fürs Lossprechen ein Gelage oder Essen zu
verlangen, so die Dippoldiswaldaer Schneider 8 ) eine Tonne Bier
und einen Taler zur Mahlzeit und ähnlich die Öderaner Tuchscherer
und Freiberger Kandelgießer.
Durchaus an nachbarliche Verhältnisse gemahnt die Bewirtung
der Zunftgenossen 9 ) bei Kindtaufen, Hochzeiten, Begräbnissen,
wogegen 1612 ein Luxusverbot des Kurfürsten Johann Georg von
Sachsen nötig ward, ferner die Brautsuppe und das Brömelbier,
das einer spenden muß, wenn er innerhalb eines Jahres nach seiner
Meisterwerdung nicht geheiratet hat.
Die Zechordnungen lassen sich auch weiter verfolgen bis in die
*) Hemmen S. 234.
*) Keutgen S. 214. *) Hemmen S. 250.
4 ) F. Nigge, Die alten Gilden der Stadt Lünen, Münster 1912, S. 36.
*) Ferdinand Meyer, Das Berliner Schuhmachergewerk, 1884, S. 53.
*) Hans Stromeyer, Die Gesch. der badischen Fischerzünfte, Heidel¬
berg. Volkswirtsch. Abhandl. I, 3 (1910), S. 21.
7 ) G. Croon, Zur Entstehung d. Zunftwesens, Marburger Diss. 1901,
S. 49.
*) K. Knebel, Handwerksbräuche, Mitteil. d. Freiberger Altertumsver.
22, S. 28.
•) H. A. Berlepsch, Chronik d. Gewerbe, St. Gallen o. J., I, S. 85 u. 93.
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Siegfried Sieber
Meistersingerschulen 1 ), die hin und wieder vielleicht sich eng an
eine Zunft anschlossen 2 ), vielfach aber Handwerker aller Gattun¬
gen umfaßten und damit wieder einen Beweis liefern, daß mittel¬
alterliche Vereine ihre Angehörigen durchaus nicht in ihrem ganzen
Menschen ergriffen.
Neben der Mahlgeselligkeit tritt die Leichenfolge aufs stärkste bei
den Zünften hervor. Fast überall wird sie ausdrücklich zur Pflicht ge¬
macht. Die Leiche des Genossen wurde von den „vier nechsten Zunft-
briudern“, die bei ihm gesessen, hinausgetragen (Zürich, Zimmer¬
leute) 3 ) oder auch von den vier jüngsten Meistern, bei den Stra߬
burger Fischern sogar von acht Männern. 4 ) Die Zünfte besaßen
zum Begräbnis eigene Leichentücher 6 ), stifteten wohl auch Zitro¬
nen, die entweder gegen Ansteckung schützen oder den Leichen¬
geruch abwehren sollten.*) Nach der Bestattung wurden Toten-
mähler abgehalten, in Riga 7 ) die „Drünke“. In Bern bewahrte
man sogar eine uralte Sitte: man ging (tanzte?) am Begräbnistage
nach dem Imbiß über die Gräber (1370 verboten). 8 ) Dann fanden
noch Seelenmessen für den Zunftgenossen statt, und Totenlichter
wurden von der Zunft gestiftet. Am Jahrestag teilte man schlie߬
lich noch „Seelensemmeln“ aus, z. B. bei den Flößern in München
und Gärtnern in Straßburg. 9 ) Auf diese Weise kamen die Zünfte von
der einfachsten Totenfürsorge unter dem Einfluß der Geistlichen
und Mönche zur Erweiterung ihrer kirchlichen Pflichten, denen
sie sich oft als besonders organisierte Bruderschaften unterzogen.
Die Baseler Zünfte 10 ) sorgten für Lichter im Münster, sie schafften
*) F. W. E. Roth, Z. Gesch. d. Meistersinger zu Mainz und Nürnberg,
Zeitschr. f. Kulturgesch. N. F. III (1896), S. 271.
*) Heinrich Schreiber, Gesch. d. Stadt Freiburg i. B., 1857, III,
S. 170.
*) Ottmar Fecht, Die Gewerbe d. Stadt Zürich im MA., Freiburger
Diss. 1909, S. 84.
*) Stromeyer S.31.
8 ) Zesiger S. 155. Herrn. Schloemer, Z. Gesch. d. Gilden in Einbeck,
Hannoversche Geschbll. 4 (1901), S. 499.
•) A. F. Lingke, Die Schuhmacherinnung zu Dresden, 1901, S. 51.
’) Stieda und Mettig S. 110. *) Zesiger S. 149.
*) M. Höfler, Allerseelengebäcke, Zeitschr. f.österr.Volksk. XIII (1907),
S.79.
1# ) Croon S. 44 u. 46.
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Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste 77
sich besondere Kirchenfahnen 1 * * ) an mit dem Bilde ihres Schutz¬
heiligen, trugen diese sowie Kerzenstangen bei den Passionen mit,
wohl auch, wie in Wien 4 ), „schöne geschnitzte Bilder“, offenbar
Heiligenstatuen, bildeten überhaupt nächst den Mönchsorden den
Kern einer jeden Fronleichnamsprozession sowie der Feldprozes¬
sionen der Stadtgemeinde. 8 ) In der Schweiz 4 ) zogen sie auch den
hölzernen Palmesel durch die Straßen; ebenso taten in Fulda die
Wollenweber. 6 ) In einzelnen Städten sind die Prozessionen zu
ganzen Passionsspielen ausgebildet worden, und überall haben die
Zünfte, besonders aber die Gesellen den Löwenanteil.
Die Untersuchung hat ergeben, daß Nachbarschaften, Gilden
und Zünfte aus der gleichen Wurzel erwachsen sind. Nicht, daß
ich behaupten möchte, sie seien auf dieser Stufenleiter emporge¬
kommen, oder auch nur, sie seien überall so erwachsen; denn ge¬
rade bei später Ausbildung einer Zunft hat das Vorbild schon vor¬
handener Gilden und Zünfte ganz bedeutenden Einfluß geübt.
Es soll nur daran festgehalten werden, daß die allgemeine Grund¬
lage aller drei Gebilde die Geselligkeit ist, wie sie in Leichenfolge
und Schmaus ihre primitivsten Kennzeichen hat. Mit meiner Hypo¬
these fallen die Bedenken der Wirtschaftshistoriker, daß zwischen
den fränkischen Gilden und den späteren Gilden sowie Zünften ein
zu großer Abstand sei. Ihre Ansicht, das Gesellschaftliche sei nur se¬
kundär zur gewerblichen Zweckgemeinschaft hinzugekommen, ist
zurückgewiesen worden. Wenn sie glauben, in der stärkeren Hervor¬
hebung des Geselligen in Urkunden einen Maßstab für das Anwach¬
sen der Geselligkeit zu finden, so sind sie völlig im Irrtum. Denn wie
aus Volkskunde und Völkerkunde klar hervorgeht, ist das gesellige
Bedürfnis und die gesellige Betätigung gerade bei einfachen Kultur¬
zuständen außerordentlich stark, zumal dann meist noch reli¬
giöse Vorstellungen und Gebräuche damit verknüpft sind.
1 ) G6ny S. 1117. P. Dittrich, Einiges über Handwerksgebräuche, Mit¬
teil. d. Schles. Ges. f. Volksk. 20, S. 115.
*) Vulpius, Kuriositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen
Vor- und Mitwelt, 1811—1823, I, S. 35.
*) Scharold, Beiträge zur Chronik von Würzburg, 1821, I, S. 160/61.
Schulte, Die Andemacher Schmiedezunft, Annalen d. hist. Ver. f. d. Nieder¬
rhein 88, S. 103.
4 ) Schweiz. Idiotikon I, S. 520. 6 ) Hohmann S. 118.
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78 Siegfried Sieber — Nachbarschaften, Gilden, Zünfte und ihre Feste
Nachbarschaft, Gilde und Zunft sind in der Hauptsache Ver¬
eine der verheirateten Männer. Nur an wenigen Stellen, z. B. in
Patriziergesellschaften und Trinkstuben, sind wir den jungen Män¬
nern begegnet, was auf Verwischung der einst strengen Scheide¬
grenze zwischen Ehemännern und Junggesellen zurückzuführen
ist. Das rechte Licht in diese Verhältnisse kann vielleicht die von
mir geplante Untersuchung über die Junggesellenvereine bringen.
Nachschrift: Nach Erscheinen des ersten Teiles macht mich Herr
Dr. Wolfart (Lindau) aufmerksam auf: Blesch, Die Überlinger Nachbar¬
schaften, Schriften d. Ver. f. Gesch. d. Bodensees 1909. — Leider kam
mir erst jetzt zu Gesicht: G. v. Below, Die Motive der Zunftbildung im
deutschen Mittelalter, Hist. Zeitschr. 109, S. 23—48.
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DER LOBETANZ.
VON ALFRED MEICHE.
„Mein Vater hieß, ich weiß nicht wie.
Meine Mutter verlor den Myrtenkranz,
Meine Mutter, die herzliebe Frau, die
Nannte mich Lobetanz.“
O. J. Bierbaum.
Als Otto Julius Bierbaum 1895 sein Märchen „Lobetanz“
erscheinen ließ 1 ), da mag der Titel wohl manchem Ohre fremd
geklungen haben. Denn zum Lobetanze schreitet man heute nur
noch an wenigen Orten Deutschlands, und auch Volkskunde
und Sprachwissenschaft haben sich nicht gerade viel mit ihm
beschäftigt. Zahlreiche Belege des Wortes bot bisher nur M.
Heyne im D. Wb., Bd. VI (1885), Sp. 1084L Dann brachten
mein „Sagenbuch der sächsischen Schweiz“, Leipzig 1894, S. 118,
137, und ein Aufsatz von Markgraf in den „Mitteilungen des Ver¬
eins für Sächs. Volkskunde“, 1908, Heft 9, S. 309—311, einige
Ergänzungen. Endlich hat M. Klinkenborg in den Geschichts¬
blättern f. Stadt und Land Magdeburg, 1908, S.403—409, einige
Aktenstücke veröffentlicht, die über die Form des Lobetanzes
im Anfang des 18. Jahrhunderts manches Interessante bieten. So¬
weit an den genannten Stellen Deutungsversuche unternommen
worden sind, können sie nicht als abschließend gelten.
Wahrscheinlich ist der Lobetanz ein uralter Brauch. Geiler
von Kaisersberg (geb. 1445) sagt in einer seiner Predigten gegen das
unzüchtige Tanzen: „Deßgleichen bringt man so vil täntze auff
die ban, die vor nie in brauch sein gewesen,, das sich nicht genug
darob zu verwundern ist. Als da ist: der schäffer tantz, der bawren
tantz, der welsch tantz, der edelleuten tantz, der Studenten tantz,
keßler tantz, bettler tantz und in summa, wenn ich sie all wolt
erzeilen, hett ich woll ein gantze Wochen genug zu schaffen.“
(Vgl. Schultz, Deutsches Leben, Wien 1892, II, S. 491.) Daß
der Lobetanz unter den summarisch erwähnten neuen Tänzen
stecke, ist darum nicht anzunehmen, weil er gerade zu jener Zeit
*) Die prächtige Musik zu dem gleichnamigen Bühnenspiel stammt
von Ludwig Thuille.
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80 Alfred Meiche
weit verbreitet ist und ob der mit ihm verbundenen Unziemlichkeit
hart angefeindet wird. Er scheint also damals nicht erst aufgekom¬
men zu sein. Aber auch in anderen Aufzählungen mittelalterlicher
Bauerntänze wird seiner nicht gedacht. Uns begegnen die Namen:
Firlei, Firlefei, Folafranz, Firgamdrey, Govenanz, Ridewanz,
Sulawranz, Adelswank, Schwingewurz, Mürmum, Ahsel, Hou-
betschoten, Heierlei, Hoppeidei, Troialdei, Wänaldei, Treiros,
Bözult, Drauraran, Trümmekentanz, Springei- oder Langetanz,
Gimpelgampel u. a. m. (Vgl. Bartels, Der Bauer in der deutschen
Vergangenheit, Leipzig 1900, S. 70, und Schultz, Höfisches
Leben, I, S, 548.) Der „Lobetanz“ ist nicht unter ihnen.
Man kann wohl auf den Gedanken kommen, das Wort be¬
zeichne nicht eine Art, sondern eine Gattung von Tänzen.
Die älteste Erwähnung hat sich bislang in dem mhd. Gedicht
von der „Erlösung“ gefunden (ed. K. Bartsch, Quedlinburg u.
Leipzig 1858). Es heißt dort (v. 4164—4170), wo von der Hoch¬
zeit des Herodes mit dem Weibe seines Bruders die Rede ist:
,, dö häte Herödes Wirtschaft
mit löten vil in ganzer craft
unz daz die höchzit wurde ganz,
sa höp sich ein lobedanz.
Herödes dohter drat dä hin,
sie danzte unde wiherte in,
daz es die geste dühte güt."
Das Gedicht ist nur in einer Hdschr. des 14. Jahrhunderts er¬
halten, muß aber nach Ansicht des Herausgebers (Einleitung,
S. VII) spätestens in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden
sein. Als Heimat des Dichters wird Hessen angenommen.
Schon ins 14. Jahrhundert gehört dann die Belegstelle bei Hein¬
rich von Mugelin (gedr. in Pfeiffers Germania, V, S. 288). Sie lautet:
„ich pin ein herre groz ob allen tieren (sagt der Ochse),
und het ich einen grözen, witen lobetanz,
daran nem ich ein ungefügen umbeswanz.
wan min gestalt, die mus sich grözlich zieren.“
Daraus ersieht man, daß der Lobetanz (wofür auch noch andere
Nachrichten sprechen) ein Tanzreigen mit Umzug war. Heinrich
von Mügeln entstammte einem meißnischen Geschlechte und
dichtete längere Zeit am Hofe Karls IV. (1346—1378) in Prag.
(Siehe Vogt in Pauls Grundriß der germ. Philol. 2 , II, 1, S. 313.)
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Der Lobetanz
81
Also haben wir hier zugleich einen Beleg für die Kenntnis des
Brauches in Böhmen und Meißen.
Und in Meißen und seinen Nachbarländern ist denn auch der
Lobetanz vorzugsweise gepflegt worden, wie schon das D. Wb.
andeutet und fast alle weiteren Belege dartun. Auf rein ober*
deutschem oder niederdeutschem Sprachboden ist das Wort bisher
kaum bezeugt. Nur die Stelle:
„ein ameiz hät sich schone bereit
wol in der eren kranz;
si wil sich zieren an dem lobetanz“
aus den Meisterliedern der Kolmarer Hdschr. (ed. Bartsch, Stutt*
gart 1862, Bd. 68 der Bibliothek d. Liter. Vereins), Nr. 90, V. 61 ff.
ist ihrem Ursprünge nach zweifelhaft. Wenn man (was Bartsch
a. a. O., S. 186, freilich bestreitet) Heinrich Frauenlob, der um
1250 zu Meißen geboren wurde (f 1318), einen Anteil an dem Ent¬
stehen der Liedersammlung, die nur in einer Abschrift aus dem
15. Jahrhundert vorliegt, zuschreiben dürfte, so würde vielleicht
auch dieser Beleg für Lobetanz auf obersächsische Heimat
weisen.
Für das Alter des Lobetanzes in Meißen spricht wohl auch
der Umstand, daß er hier schon frühzeitig als Familienname be¬
gegnet. Schon 1362 und 1368 erscheint Henel Lobetanz als Ge¬
schworener (Ratsherr) zu Freiberg (Cod. dipl. Sax. reg., II, 12,
S. 83, 334); seine Nachkommen hausen dort noch im 16. Jahr¬
hundert (a. a. O. S. 392). Der Brauch selbst ist aus dem 14. und
15. Jahrhundert mehrfach bezeugt. In einer Urkunde des Mark¬
grafen Wilhelm von Meißen (dat. 3. Juli 1400) heißt es: ,,alz
bisher eine gewonheit gewest ist, daz man undir den lynden bie
dem dorffe czu Russin (Rüsseina) in der pflege zcu Missin an
der mittewochin nach pfingistin czu lobetenczin wyn, bir adir
mete geschangkit hat ane loube vnd gunst der lehenherren des-
selbin dorffis Russin.“ Nur bis dahin wird der Urkundentext
in den Wörterbüchern meist wiedergegeben. Aber er ist auch in
seinem zweiten Teile interessant. Der Markgraf bestätigt nämlich
mit dieser Gewohnheit zugleich das alte Herkommen, „daz ein
itzlichir, der da so schengken wolde, welchirleye trang er schengkte,
den geburen daselbis vor ire Unlust vnd schaden, das man ire
Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 6
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Alfred Meiche
82
zcune czurist (Zäune zerreißt), iren anger czugrebt (zerwühlt)
vnd ir getrehede trettet (Getreide zertritt), eynn trage Eimer,
alz uff den dorffern gewonlichin ist, bir, wyns adir mete gegebin
hat vnde gebin solde“. (Hauptstaatsarchiv Dresden, Orig.-Urk.
Dep. Cap. Misn. Nr. 548.) — Zum Jahre 1458 wird der Lobetanz
in Lobstädt (Amtshauptmannschaft Borna) erwähnt. Er fand am
Himmelfahrtstage statt und hatte Zulauf aus der ganzen Umgebung.
Ein Blitz schlug damals in einen Haufen Heimkehrender, ver¬
letzte mehrere Personen und tötete einen Mann aus der nahen
Stadt Borna. (Neue Sächs. Kirchengalerie, Die Ephorie Borna,
Leipzig, Sp. 667.) — Aus dem Geständnis eines Straßenplackers
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erfahren wir, daß
der Lobetanz auch zu Moritz (Amtshauptmannschaft Großenhain)
üblich war. Die Aussage lautet: ,,Item vf sonntag noch Marga¬
rethe (d. i. Juli 13.) so wird kermeß adder lobetantz zcu Merticz
an der Elbe, do die fer (Fähre) vbere geet, do werden sy (d. h.
seine Spießgesellen) alle zcusamen komen.“ (H.-St.-A. Dresden,
W. A. Fehde- vnnde gefangenn-buche, Bl. 53 b.)
Auch in den meißnischen Städten wurde der „Lobetanz“ ge¬
übt. So enthalten die Dresdner Stadtrechnungen zum Jahre 1412
folgenden Eintrag: „feria sexta post Penthecost den fedelern
viij gr., die zcu dem labetancze fediltin.“ (Ratsarchiv Dresden,
Kämmerei- und Geschoßrechnungen, 1410—1420, A. XVb, 2,
Bl. 112b.) 1 ) Ebenso gab man in Pirna noch zu Ausgang des 15.
Jahrhunderts im Juni alljährlich den Edelleuten Wein und Bier
„zum Lobetanz“ auf dem Rathause. (R. Hofmann im N. Archiv
f. Sächs. Gesch., Bd. IX, S. 200, und bei Dibelius-Brieger, Bei¬
träge zur Sächsischen Kirchengesch., Heft 8, Leipzig 1893,
S. 32.)
Fränkischen Ursprunges sind wohl die Fastnachtsspiele aus
dem 15. Jahrhundert, in denen der Lobetanz vor kommt. Im
sog. „Neithartspiel“ spricht ein Bauer zu den Jungfrauen der
Herzogin von Österreich, denen er beim Tanze gegenübersteht:
„Mir haben wol vor dreizehen
Disen lobtanz her genomen“
l ) Nach gütiger Mitteilung von Oberlehrer Dr. Pilk, Dresden.
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Der Lobetanz
83
(Fastnachtsspiele aus dem 15. Jahrhundert, Stuttgart 1853, Teil I,
S. 459, 24), und in dem ,,spil von Fraw Jütten“ heißt es:
„Nu kompt her aus holze und aus felden.
Eher, denn ich euch begin zu scheiden,
Alle meine liebe hellekint
Die mit mir in der helle sint,
Krenzelin und Fedderwisch,
Darzu Nottis, ein teufel frisch,
Astrott und Spiegelglanz,
Und machet mir ein lobetanz!“
(Ebda. Teil II, S. 910, iof.)
Auch die drei Vokabularien des 15, bzw. 16. Jahrhunderts,
aus denen Diefenbach, Glossarium latino-germanicum, Francof.
ad. M. 1857, die Formen lob-, lobentantz (-danz) = coraula? „Tanz¬
lied“ beibringt, scheinen auf Franken (Frankfurt, Nürnberg) zu
weisen. (Siehe Diefenbach, a. a. O., Quellenverzeichnis.)
Um die Wende des 15. Jahrhunderts beginnt der Kampf gegen
den Lobetanz. Wenn Cyriakus Spangenberg in seinem „Ehe¬
spiegel“, Straßburg 1578, (in Scheibles Kloster, 6) noch sagt:
„unsere Vorfahren haben solche öffentliche täntze auch darumb
gehalten, damit ihre kinder von den nachbauern mochten gesehen
werden, ehestiftungen fürzunehmen, daher in Meiszen und anders¬
wo jährlich zu gewissen tagen jetzt auf diesem, dann auf dem an¬
dern dorf, durch der oberkeit Verordnung die lobetänze gehalten
werden“, so schildert der Verfasser beinahe vergangene Zeiten.
Denn mindestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts förderte
gerade in Sachsen die Behörde jene Tänze durchaus nicht mehr,
sondern schritt wiederholt gegen sie ein; und vor allen sind es
die berufenen Hüter der neuen Lutherlehre, die bei ihren Kirchen¬
visitationen allerorten dagegen eifern. Freilich, wie gleich gesagt
werden muß, oft ohne oder nur mit vorübergehendem Erfolg.
Schon 1541 ward „der öffentliche Lobetanz (zu Döbeln)
durch hohe Verordnung allhier untersaget; doch anno 1548 wieder
erlaubet“. (Moerbitz, Chronica Doebelensia, Leißnig 1727, S. 176.)
Im Jahre 1555 verfügen die Visitatoren: „Die Lobentenze zu
Klotzschaw (Klotzsche bei Dresden) sollen of den pfungstdinstag
gantz apgeschaft werden“ (H.-St.-A. Dresden, Loc. 1987, Visitat.-
Buch d. Meißn. Kreises, 1555—56, Bl. 214b), und wohl auch
6*
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gegen die Lobetänze, obwohl sie nicht ausdrücklich genannt wer*
den, richten sich 1556 Ermahnungen derselben Visitatoren an die
Bewohner von Mügeln bei Oschatz (Stammort der Familie Hein¬
richs v. Mügeln, der schon vom Lobetanze wußte), wo „alle Son-
tage Im Sommer vor den birheusern vff den gassen unziemliche
Tentze gehalten werden, daraus viel vntzucht vnnd Ergernusse
herfliessen“, weshalb dem Rate und dem Amtmann befohlen
wird, „solche ergerliche Tentze, welche auch vff den dorffern
nicht sollen gestadtet werden,... gentzlich ernstlich abtzuschaffen“.
(Ebda., Bl. 835.)
Offenbar unter kirchlichem Einfluß erfolgte dann ein allge¬
meines Verbot.
In der Generalverordnung vom 8. Mai 1557, Kapitel XVIII,
Von denen Täntzen (Cod. Augusteus I, Sp. 693) heißt es: „Weil
auch in denen Kretzschmarn hin und wieder auf denen Dörffern
auf die Sonntage Lobe- und andere Täntze geleget worden, so
aus denen umliegenden Dörffern durch Jungfrauen, junge Ge¬
sellen, Knechte und Mägde besuchet, und hierdurch besonders
die allernothwendigsten und nützlichsten Predigten des Cate-
chismi versäumt werden . . ., desgleichen [sie dabei] auch viel
andere Unzucht und Leichtfertigkeit üben und mehrmals solche
Täntze biß in die tiefste Nacht treiben, nachmals im Finstern
heimgehen und auf dem Wege beyderseits wohl bezecht, unbe¬
dacht einiger Sünde oder Schande sich beysammen finden, schwä¬
chen oder schwängern oder auch härtiglich verwunden oder
tödten . . ., [so werden] die ärgerlichen Lobe-Täntze, Bettler-
Täntze, und was dergleichen an etzlichen Orten bißhero mehr
ärgerliches gestattet worden seyn mag, . . . gäntzlich bey nam-
haffter Pön verboten etc.“
Unter dem Eindruck dieses Mandats sagt Zedlers Universal-
Lexicon, 18. Bd., Halle u. Leipzig 1738, (wo es ausführlich wieder¬
gegeben ist) in ungeschickter Definition: „Lobe-Tantz ist, wenn
Knechte und Mägde einen weiten Weg miteinander bey nächt¬
licher Weile nicht ohne Verdacht der Unzucht vom Täntze heim¬
gehen.“ (Sp. 64.)
Doch das Volk hing fest an seiner alten Gepflogenheit. Die
Pfarrhöfe aber wurden von dem tanzlustigen Volke gemieden,
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Der Lobetanz
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wie man aus Peter Glaser, Gesindt-Teuffel, 1564, (hier zitiert
nach der Ausgabe von 1598, Frankfurt a. M., S. 26, die mir allein
zugänglich war) erfährt: „Darvmb pflegen die Mägde auff den
Dörffern zu sagen, Ich mag nicht auff der Pfarre dienen, denn
(da) darff einer weder zu Plane, das ist vber Felde zun Lobetän¬
zen, noch in die Spinnstuben zum Rocken gehen.“ Dafür eifert
denn auch unser Autor fast mit den Worten des kurfürstlichen
Mandats gegen „Lobetänze“ und „Rockenstuben“ (S. 36). Da
sich Peter Glaser als „Prediger zu Dresden“ bezeichnet, so hat er
offenbar sächsische Verhältnisse im Auge.
Zwischen 1578 und 1582 lesen wir besonders in den Visitations¬
berichten des Leipziger Kreises 1 ) von zahlreichen Ermahnungen,
die „Lobtänze“ abzuschaffen; so von solchen in Altenhain bei
Brandis, Burkhartshain und Fremdiswalde bei Wurzen, Köhra bei
Grimma, Leulitz bei Wurzen, Mahlis bei Mügeln, Seelingstädt bei
Trebsen, Seifertshain, Threna und Zweenfurth bei Grimma.
Auch zu Eilenburg (Kreis Bitterfeld, Provinz Sachsen) wurden sie
verboten. (H.-St.-A. Dresden, Locate 1989, 2000, 2002.) Zuweilen
richtet sich der Tadel ganz allgemein gegen „unordentliche Täntze“,
z. B. 1578 in Mägdeborn, Gern. Tanzberg, (Loc. 2002, Visit. Leipz.
Kr. 1578, Bl. 24) oder gegen „Nachttentze“, z. B. 1579 in Hartha-
Lauenhain b. Crimmitschau (Loc. 1998, Visit. d. Leipz. Kr., 1579,
Bl. 156). Letztere lassen nach Ansicht der Leute „den Flachs
gut geraten“.
Unmittelbar auf den „Lobetanz“ weisen wieder die Verbote
1575 in der Kirchfahrt Brockwitz bei Meißen, 1585 und 1595
im Rittergutsbezirk Niederpolenz bei Meißen. Für Brockwitz
lautet das Verbot: „Sonntagsdentz vnnd Lobedentz, so des
Orts auch vleissig gehalten werden, sollen ganz und gar verbotten
seyn etc.“ (Markgraf, a. a. O.) Wie unwirksam aber alle Ermah¬
nungen und Strafandrohungen von Kirche und Obrigkeit waren,
zeigt der Umstand, daß im selben Polenz bei Meißen schon 1592
der dortige Schankwirt vor dem Gemeindegericht rügen konnte,
beim „Lobetanz“ habe eine Rauferei stattgefunden. (Ebenda.)
Ganz allgemein ist 1578 wieder die Rede von „Nachttenzen
*) Auszüge daraus wurden mir von Herrn cand. Paul Köhler aus
Rochlitz freundlichst zur Verfügung gestellt.
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86 Alfred Meiche
mit großer Unzucht“ in Visitationsakten von Serkowitz, Otten-
dorf und Okrilla (Amtshauptmannschaft Dresden-N.); ähnlich
in denen von Glaubitz bei Riesa. (Pilk, Geschichtl. Nachrichten
über Glaubitz, S. 82.)
Auch in der sächsischen Oberlausitz wurde durch ein strenges
Mandat gegen die Auswüchse der Tanzlust vorgegangen. In der
„Landes - Ordnung gemeiner Stände des Marggrafthums Ober-
Lausitz aufgerichtet .... d. 20. Nov. 1551“ (Cod. Augusteus III,
Sp. 84) wird angeordnet: „Alle hochzeitliche und andere ehrliche
und erlaubte Täntze, so aufm Rathhause oder sonsten in Häusern
und anderswo geschehen, sollen sich um den Abend um 9 Uhr
enden, und darbey das scheußliche Verdrehen und andere Unzucht
gäntzlich verboten seyn etc. Aber die Lob- und Spinne-Täntze,
desgleichen die 6 Wöcher-, Spinner- und Rocken-Gänge u. s. w.
sollen hiermit allenthalben bei Vermeidung vermeldter Strafe
eines Schock Geldes abgestallt sein.“
Doch auch hier blieb das Verbot ohne dauernde Wirkung. 1578
rügen die Visitatoren: „Der Richter zu Bitzschwitz (Pietzsch¬
witz, Amtshauptmannschaft Bautzen) hatt diß Jhar etzliche
Lobetenze gehaltenn“ (H.-St.-A. Dresden, Loc. 2004, Visitations¬
akten d. Consistorii Meißen, 1578, Bl. 228); ebenso wird 1579 in
Göda (Amtshauptmannschaft Bautzen) über sie geklagt. (Loc.
1999, Visit.-Akten Bischoffswerda, Bl. 23.)
Unser Lobetanz ist auch der schlesischen Dichterschule nicht
unbekannt. So singt ihr Oberhaupt Martin Opitz (1, S. 71):
„Ihr Nymfen, windet Kränze,
Hegt schöne Lobe-Tänze,
Kompt kühnlich in den Wald:
Singt, daß die Heid erschallt,“
und sein Dichtergenosse Paul Fleming, von Geburt allerdings
ein Sachse (aus Hartenstein), in dem „Hochzeitsgedicht“ (ed.
Lappenberg, I, S. 300):
„Heute sind der Götter Scharen
Ausspazieret allzumal,
Haben sich verfügt bei Paaren
In dem weiten Stemensaal.
Pflocken Blumen,
Winden Kränze.
Führen liebe Lobetänze.“
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Der Lobetanz
8 7
Wiederum aus Sachsen stammt wohl jenes Lied, das zuerst L. Uh*
land mit der Überschrift „Blumenhaus“ in seinen „Alten hoch*
und niederdeutschen Volksliedern“, I. Abt., Stuttgart und Tübin¬
gen 1844, S. 70, veröffentlichte und dessen dritte Strophe (hier
nach einer Ausgabe des „Sächsischen Bergliederbüchleins“ von
A. Kopp, Leipzig 1906, S. 23, wiedergegeben) lautet:
„Ich brach mir die Rößlein abe
Zu einem Krantze;
Ich schickt sie mein fein Lieb
Zum Lobetanze."
Die Quelle, jenes Bergliederbüchlein, scheint 1700/10 in Sachsen
gedruckt worden zu sein. (Siehe Kopp, a. a. O., S. 4 u. 5.)
Der „Lobetanz“ ist ferner aus dem deutschböhmischen Eger-
gau belegt. Derselbe, „so jehrlich weynachten zu Treunitz (bei
Eger) vor der Kirchen gehalten worden“, wird 1620 und 1628
vom Rate zu Eger verboten. Auffällig ist hier vor allem die
Zeit seiner Aufführung (A. John in den Mitt. d. Vereins f. Sächs.
Volkskunde, 1908, Heft 10). Aus Hof in Franken berichtet uns
Wilwolt von Schaumburg (Geschichten und Taten W.s v. Sch.,
herausg. v. A. v. Keller, Stuttgart 1859, Bibliothek d. Literar.
Vereins in Stuttgart, S. 68) vom Lobetanze: „Man wais, wie
jarlich uf sant Lorenzen (10. August) ein sonderlich tanz zum
Hoff in der Voitland gehalten, zu wölichem vill hübscher frauen,
junkfrauen und gueter gesellen kumen. Wilwolt füget sich auch
dahin, den lobtanz zu schauen. Im wart ein tanz gegeben, und
fingen die hofierer den zeiner an zu machen (d. h. wohl die Tanz¬
figuren zu flechten; vgl. auch Schmeller, Bayer. Wb., II, Sp. 1132).
Wilwolt aber, der sich sein tag mer reuterei den tanzens geflißen,
was der krumen denz nit ganz wol bericht.“ Der Verfasser ist
anscheinend ein Franke. Er schloß sein Werk kurz nach Georgen¬
tag 1507. (A. a. O., S. 204.)
Auch später noch kennt man den Lobetanz in Oberfranken.
Ein bayreuthisches Mandat von 1712 nennt ihn in Verbindung
mit anderen Lustbarkeiten: „Hochzeiten, Kindtaufen, Kirchmes-
sen, Lobetänze und dergleichen Konvivien.“ (Schmeller, Bayer.
Wb., I, Sp. 1417.)
Hatte der Lobetanz dem ersten Ansturm sittlich empörter
Kreise in der Reformationszeit widerstanden, so erhielt er sich trotz
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mehrfacher Wiederholung der behördlichen Verbote (das letzte
soll in Sachsen 1839 erfolgt sein) vereinzelt selbst bis in die Gegen*
wart, da er in der Zwischenzeit oft stillschweigend geduldet oder nur
unter Aufsicht gestellt wurde. So fand ein solcher 1601 in Gott*
scheina bei Taucha (Amtshauptmannschaft Leipzig) statt, wobei
allerdings „Hader und Schlegerei vorgegangen“ (D. Wb., Bd.VI,
Sp. 1085), und 1706 noch untersagten die Generalartikel des Amtes
Torgau zwar nicht die Lobetänze, forderten aber, daß sie „nicht
ohne des Amtes Vorwissen“ abgehalten würden (Markgraf,
a. a. O.). Zwischen 1716 und 1724 wurde der Lobetanz (von
einem erzürnten Seelsorger „des Teufels Tobetanz“ geheißen) zum
„Johannisfest“ wieder zu tanzen versucht in Langenlippsdorf,
Bocha, Borgisdorf und Neumarkt im Amte Jüterbog, also eben*
falls auf obersächsischem Sprachboden (Dessau - Herzbergischer
Dialekt). Wir erfahren dabei, daß -um jene Zeit Lobetänze noch
in Oehna, Gölsdorf, Nauendorf und Seehausen im kursächsischen
Amte Seyda und zu Melmsdorf im Amte Wittenberg abgehalten
wurden (Magdeburg. Geschichtsblätter, 1908, S. 407).
Ein kursächsisches Mandat vom IO. Juli 1650 (Cod. Aug. I,
Sp. 429) führt aus, der Oberhof- und Feldtrompeter Hans Arnold
habe sich beklagt, daß „dieThürmer und Haus-Leute, auch Gauck-
ler und Comödianten, nicht nur die Trompeten, wie ihnen etwan
dißfalls vergönnet, auf Thürmen sowohl bey Comödien und Gauckel-
Spielen, sondern aller und ieder Orte, do es ihnen beliebet, fümem*
lieh in Gelacken, Bürger- und Bauer-Hochzeiten, Kind-Tauffen,
Jahrmärckten, Kirchmessen, Lobe-Täntzen u. dergleichen Con-
vivien.mit allerhand Üppig- und Leichtfertigkeit ge¬
brauchen“. Es wird 1661 und 1711 wiederholt (H.-St.-A. Dresden,
Loc, 11964, Mandate 171.1) und hat anscheinend dem schon an¬
geführten bayreuthischen Mandate von 1712 als Vorbild gedient.
Erst nach den großen Umwälzungen an der Wende des 18. Jahr¬
hunderts scheint der Lobetanz an den meisten Orten Sachsens ab¬
gestorben zu sein. Ob es noch ein solcher war, den zu Anfang
des 19. Jahrhunderts während der Kirmeszeit die jungen Leute
„unter der Linde bei der Pfarrwohnung“ zu Grumbach (Amts¬
hauptmannschaft Meißen) abhielten (Schumann, Lexikon v. Sach¬
sen, 1816, Bd. III, S. 622), muß hier dahingestellt bleiben.
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Der Lobetanz
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Für unsere Tage verzeichnet ihn das Deutsche Wörterbuch
1885 (Bd. VI, Sp. 1085) noch aus der Gegend von Roßwein (Amts¬
hauptmahnschaft Döbeln) als einen Rundtanz mit Solo bei Hoch¬
zeiten und Kindtaufen, und in Köhra bei Grimma findet er noch
heute am zweiten Sonntag nach Pfingsten statt (Markgraf a. a. 0 .).
Vor einem Menschenalter und früher soll er sich dadurch aus¬
gezeichnet haben, daß die Bauern aus der ganzen Umgegend
zusammenströmten. Eine Frau von etwa 65 Jahren erzählte
mir, daß sie in ihrer Jugendzeit von ihrem Geburtsorte Belgers¬
hain aus oft nach Köhra zum Lobetanz gegangen sei; dabei hätten
die Mädchen, im Gegensatz zu anderen Tanzgelegenheiten, mit
Vorliebe weiße Kleider getragen.
Auch mir selbst ist der Lobetanz aus meiner Heimat, der sog.
Sächsischen Schweiz, noch wohlbekannt. Dort, wo die einheimische
Bevölkerung trotz der schon mehr als ein Jahrhundert dauernden
Überflutung durch einen breiten Touristenstrom zäh an mancher
alten Sitte, z. B. auch dem Johannisfeuer, festhält, nehmen die
Lobetänze alljährlich 14 Tage nach Pfingsten ihren Anfang. Sie
werden abwechselnd allerdings nur noch in einigen Dörfern auf
dem linken Elbufer abgehalten, vornehmlich in Krippen, Klein¬
gießhübel, Kleinhennersdorf, Reinhardsdorf und Schöna (sämtlich
in der Amtshauptmannschaft Pirna). Man bäckt Kuchen wie
anderwärts zur Kirmes, hängt Wimpel und Fahnen aus und
vergnügt sich am Abend bei freier Tanzmusik; früher aber wurde
der „Lobetanz" den drei kirchlichen Hauptfesten gleichgestellt,
wo nicht gar höher geachtet als diese. Bald danach findet der
„Blumentanz“ statt, wozu die erwachsene Jugend den Saal des
Erbgerichts oder Gasthofs mit Blumen und Girlanden schmückt,
und etwa vier Wochen später, wenn „bluomen unde gras“ ver¬
trocknet sind, folgt der „Rascheltanz“ in dem herabgewelkten
Laube. Die beiden letztgenannten Tänze pflegt man übrigens in
fast allen Dörfern des Meißner Hochlandes, auch auf dem rechten
Elbufer. (Vgl. mein Sagenbuch der Sächs. Schweiz, 1894, S. 118.)
Und alljährlich läuft durch die Provinzpresse die Nachricht,
daß der „Lobetanz“ ursprünglich ein „Lob- und Dank“-Fest
zum Gedächtnis der Errettung aus schwerer Pestnot sei und darum
richtiger „Lobedanz“ geschrieben werden müsse. (Vgl. auch
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Über Berg und Tal, Dresden 1893, S. 341; 1896, S. 279 und die
Leipziger Zeitung vom 4. Juli 1889.) Da haben wir ein Muster¬
beispiel der Volksetymologie. Läge dem Lobetanze wirklich ein
ähnliches Ereignis zugrunde, dann würde die Überlieferung über
den Lobetanz aus dem 15. und 16. Jahrhundert gewiß einmal da¬
von sprechen, und vor allem würde stark und klar eine Be¬
teiligung der Kirche an dem Lobetanze hervortreten. Aber da
schweigen alle Nachrichten. — —
Blickt man auf das hier beigebrachte Belegmaterial zurück,
so sieht man zunächst, daß der Lobetanz in der Hauptsache
ein Frühlings-, speziell ein Pfingsttanz ist; soweit er zu anderer
Zeit geübt wird, etwa gar zu Weihnachten, dürfte eine spätere
Verschiebung vorliegen. F. M. Böhme in seiner „Geschichte des
Tanzes in Deutschland“, Leipzig 1886, I, S. 155, erwähnt gewisse
Pfingst- und Kirmestänze in der Oberlausitz und Provinz Sach¬
sen, die „Laubtänze“ heißen sollen, weil sie zur Sommerszeit in
besonders dazu erbauten Tanzlauben von grünem Reisig und
mit einem Maibaume in der Mitte des Tanzplatzes abgehalten
wurden. Auf sie weist auch das Zitat aus Kaisersbergs
Postille, Straßburg 1522 (bei Brinckmeier, Glossarium diplomati-
cum, II, 83): „ein bilger, wann er durch ein dorf gat, da er die
bauren unter den lauben sieht tanzen“. Böhme trennt sie von
den Lobetänzen. Wenn man aber daran denkt, daß sie zur selben
Zeit wie diese abgehalten werden, und daß auch die Lobetänze
vielfach im Freien (1400 undir den lynden zeu Russin) statt¬
fanden und Blumenschmuck dabei eine Rolle spielt (vgl. die Stel¬
len bei Opitz, Fleming, Uhland und die Blumentänze der Sächsi¬
schen Schweiz), so scheint es doch, als ob ein Zusammenhang
zwischen beiden bestehe.
Fast möchte ich glauben, daß der Name „Laubtanz“ nichts
anderes sei als eine volkstümliche Umdeutung des nicht mehr
verstandenen „Lobetanzes“. Denn umgekehrt etwa den „Lobe¬
tanz“ als Tanz „im Laub, unter dem Laubdach, in der Laube“
zu erklären, ist sprachlich unmöglich. Das „Laub“, frons, folia,
heißt zwar in den ostmitteldeutschen Dialekten 16 b (loup), ostfrän¬
kisch jedoch lab, und die etymologisch damit zusammenhängende
„Laube“, Vorbau, Lusthaus u. dergl., bleibt sogar im Obersächsi-
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Der Lobetanz
9i
sehen ,,laube, lauwe“, während sie oberlausitzisch-schlesisch
auch zur „leube“ oder „lobe“ wird. Niemals aber begegnen die
mhd. Formen von Laub (mhd. loup) und Laube (mhd. loube)
in den zahlreichen Belegen für den „Lobetanz“ aus älterer Zeit.
Er heißt stets nur „Lob-, Lobe-, Lobentanz“, einmal (Dresden
1412) „labetanz“.
So könnte man wohl an mhd. lop, md. lob, lab = lat. laus
denken, also Preis- oder Ehren tanz (Lexer, Mhd. Handwörter¬
buch, I., Sp. 1948), und die im D. Wb. (a. a. O.) zitierte Stelle:
„lobtanz, coraula, estcorea laudabiliset specialis“ (vgl. Diefenbach,
Glossarium, 1857, S. I50 b ) scheint stark dafür zu sprechen. Allein
auch das klingt beinahe wie ein etymologischer Versuch. Denn
es ist uns trotz reicher Überlieferung nur ein sicherer
Hinweis bekannt geworden, daß der „Lobetanz“ (wenn auch
spöttisch gemeint) zu Ehren einer bestimmten Person veranstaltet
wurde. Das geschieht im Alsfelder Passional (ed. Grein, Kassel
1874). Die Handschrift stammt aus dem Ende des 15. Jahr¬
hunderts und wurde bis 1841 im Ratsarchiv zu Alsfeld im
Großherzogtum Hessen aufbewahrt. Die einschlägige Stelle
schließt sich an das Gespräch Christi am Kreuz mit den beiden
Schächern an. Die Juden frohlocken; die Engel singen zum
Lobe des Heilands, und ein Engel klagt.
Hoc facto Sinagoga cantat
cum Judeis et dicit Sinagoga:
Z. 5790. Ir herren, mer machen ein loibedancz
Dem, der uff hoit den königlichen krancz!
Nu hirumb gebet em ein ende
Und singet mer nach dijt gesengel
Et sic Judei corizando per crucem
cantant. Hoc completo dicit Sinagoga:
Z. 5796. Ihesus, der wemde Heilant,
Wie behaget dir, meinster, disser gesangk?
Laiß dir den woil gefallen,
Zu loibe singen mer dir alle.
Daher erklärt auch Grein im anhängenden Wörterbuch (S. 353)
den „lobe-dancz“ als Tanz, der einem zu Lob und Ehren auf¬
geführt wird. — Vielleicht kann man danach auch den Lobetanz
der Tochter des Herodes (vgl. oben das Gedicht von der Erlösung)
als einen Tanz derselben zu Ehren ihres Vaters auffassen. Auch
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Alfred Meicbe
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diese Quelle führt übrigens nach Hessen. Ähnlich scheint der
Tanz der Teufel im Spiel von Frau Jütten (s. 0.) gemeint zu sein.
Wenn schließlich R. Hofmann (bei Dibelius-Brieger, Beiträge
zur sächs. Kirchengesch., Heft 8, Leipzig 1893, S. 32, Anm. 1)
meint, die Lobetänze sollen „Gott ein Lob für den gnädigen Stand
der Saaten ausdrücken“, so ist er doch den Beweis dafür schuldig
geblieben. 1 ) Schon die Zeiten, zu denen Lobetänze gehalten
wurden, sprechen eigentlich dagegen; ebenso die Verwüstung der
Fluren bei dem Lobetanze in Rüsseina. Und vor allem wider«
strebt dieser Deutung (wie auch der Anknüpfung an „Laub“ und
„Laube“) eine Form „Gelobtänze, die da geschehen auf der
Gassen“, die Schmeller (Bayer. Wb., I, Sp. 1417) aus einem Cod.
germ. der Hof- und Staatsbibliothek zu München beibringt.
Damit werden wir zu „geloben“, vovere (md. auch gelauben,
gelaben) geführt, und das D. Wb. (a. a. O.) schließt, daß „man
zwar nicht an ein Gelübde, wohl aber an ein Verbündnis von
Leuten gleichen Standes (von Gesellen) zu einer gemeinschaft¬
lichen Lustbarkeit zu denken habe“. Mir will es nun scheinen,
als ob man die Bestimmung noch etwas enger fassen müßte. Mhd.
loben (auf das Simplex weist ja zunächst auch die vorherrschende
Form: Lobetanz) bedeutet an und für sich „etwas geloben, feier¬
lich versprechen“, dann aber auch „sich verloben mit jem.“.
(Siehe Lexer, Mhd. Handwörterbuch, I, 1872, Sp. 1947, und Grimm,
D. Wb., IV, I, 2, Sp. 3043, Abs. c.) So heißt es z. B. im Nibe¬
lungenliede (ed. Zarncke®, Leipzig 1897, S. 93):
„ich sol in loben gerne, den ir mir, herre, gebt ze man“
und
„ouch lobte si ze wlbe der edel künec von Niderlant“
und in der Kudrun (ed. Symons, Halle 1883), S. 156 (Strophe 770):
„Dem bin ich bevestent: ich lobete in zeinem man.“
Auf niederdeutschem Sprachgebiete (Bremen und Hamburg)
wurde lovte, lövte von den Bauern ebenfalls in der Bedeutung
„Verlöbnis“ gebraucht; daher auch Lövelbeer (Lavelbeer), „Ver-
') Zu bedauern ist es auch, daß weder hier noch in den „Dresdner
Nachrichten“ vom 5. Juli 1891, Nr. 186, S. 2 eine Quelle für die Behaup¬
tung angegeben wird, daß bei den Lobetänzen zugleich die Brautpaare
bekränzt wurden. Wahrscheinlich hat man das nur aus Flemings schon
erwähntem Gedicht geschlossen.
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Der Lobetanz
lobungsmahlzeit“. (Versuch eines bremisch-niederd. Wörterbuchs,
III. Theil, L—R, Bremen 1768.)
Unsere Deutung des „Lobetanzes“ als „Verlobungsreigen“ ist
aber eigentlich gar nichts Neues, denn schon 1579 gibt Spangenberg
in seinem Ehespiegel (s. 0.) dieselbe Erklärung. Die oben schon
abgedruckte Stelle sei hier nochmals hervorgehoben: „Unsere Vor*
fahren haben öffentliche Täntze auch darumb gehalten, damit ihre
Kinder von den Nachbauern mochten gesehen werden, Ehe*
Stiftungen furzunehmen, dahero in Meißen usw. . . . die Lobe¬
tänze gehalten werden.“ Und es mutet fast wie ein Nachhall besserer
Kunde (und nicht nur wie eine bloße Volksetymologie) an, wenn
der Volksmund den Lobetanz zu Köhra bei, Grimma (s. 0.) als
Erinnerung an ein Fest anspricht, das vor alters der Herr auf dem
nahen Rittergute Belgershain seinen Untertanen aus Anlaß der Ver¬
lobung seiner Tochter gegeben habe, ein Volksfest mit Schmaus und
Tanz (Markgraf, a. a. O., S. 389). Wer sich mit Sagenforschung
beschäftigt hat, weiß es, daß in der Volksüberlieferung oft alte,
unverstandene Sitten auf einen besonderen Fall zurückgeführt
werden. (Allerdings wußte jene Frau aus Belgershain, von der
ich oben schon erwähnte, daß sie den Lobetanz zu Köhra öfter
besucht habe, davon nichts. Dagegen hatte man ihr erzählt, es sei
ein Lob- und Dankfest zum Gedächtnis einer schweren Seuche, aus
der doch einige Bewohner der Gegend gerettet worden seien, es istalso
dieselbe naive Erklärung versucht wie in der Sächsischen Schweiz.)
Als ein Verlobungstanz erscheint endlich unser Reigen auch nach
der Erklärung, die ein Kenner 1723 im Amte Jüterbog abgibt.
Nach ihm wurde der „rechte Lobetantz“ l) auf den Gassen
getanzt, 2) war er mit einem Freiskegeln um ein Hemd verbunden,
3) mußte eine Magd dem Gewinner das Hemd über den Kopf
stülpen und jener dann so mit ihr tanzen (Magdeb. Geschichts*
blätt., 1908, S. 409). Hier handelt es sich doch offenbar mehr
um die Braut als um das Hemd. Letzteres aber ist im Grunde
wohl das Brauthemd, das ja noch heute vielfach der Bräutigam
von seiner Verlobten empfängt.
Aus der Deutung des „Lobetanzes“ als „Verlobungs- oder
Angelobungsreigen“ erklärt sich nun sofort die reichliche Ver¬
wendung von Blumen und Laubgewinden bei diesem Feste, aus
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ihr erklärt sich der feierliche Umzug paarweise (der gröze, wite
lobetanz; die krumen denz), der der Lobetanz ursprünglich war;
darum wird er so häufig gerade bei Hochzeiten und in Hoch*
zeitsgedichten erwähnt; darum fand er gern an den Stätten
öffentlichen Rechtes statt (unter der Dorflinde, auf dem Rat¬
hause, vor der Kirchtür); nun verstehen wir es, warum gerade zu
den ,,Lobetänzen“ so viele Leute oft aus weitem Umkreise zu¬
sammenkamen. Es war eben die große Brautschau der Landschaft.
Und wie die Bauern unter ihren Tanzlauben und auf den Dorf¬
gassen, so fand sich der Adel und das Bürgertum auf dem Rat¬
hause (Tanzhause) der Städte zu gleichem Zwecke zusammen.
Wahrscheinlich hat .sich der Brauch übrigens nicht auf Mittel¬
deutschland beschränkt, sondern unter anderem Namen einst¬
mals in allen deutschen Gauen bestanden. Letzten Endes ist er
wohl ein altgermanisches Frühlingsfest, bei dem sich ursprüng¬
lich der Pfingstkönig seiner Maikönigin angelobte, ein Spiel, aus
dem wahrscheinlich meist ein dauerndes Verhältnis ward. Noch
heute finden im deutschböhmischen Niederlande (Bezirkshaupt¬
mannschaft Schluckenau) zwei solcher Volksfeste, verbunden mit
kirchlichen Prozessionen, statt: das eine, Heilbornfest genannt,
im Hochsommer zu Wölmsdorf, das andere, Dreifaltigkeitsfest,
am Trinitatissonntage (also in der Zeit, wo meist die Lobe¬
tänze begannen) am Spitzberge bei Lobendau. Letzteres ist das
ältere, die Wallfahrt dahin ist seit 1757 nachweisbar. (Vgl. Mit¬
teilungen des Nordböhm. Excursions-Clubs, 1894, S. 299.) Das
Volk aus den umliegenden Ortschaften, besonders die erwach¬
sene Jugend, zieht unter Musikbegleitung und Böllerschüssen
von der Neudörfeler Kapelle aus auf die Höhe; schon während der
Predigt halten die jungen Burschen in der malerisch gruppierten
Berggemeinde Umschau nach solchen Mädchen, die ihnen gefallen
könnten. Sie begleiten dann die Erwählten (von denen ein herzens¬
kundiger Landsmann zu sagen pflegt: ,,sie beten — um einen
Mann“) nach Neudörfel zurück, wo früher bei den Klängen einer
Ziehharmonika in der Gaststube des „ Gerichtes“, jetzt bei voller
Instrumentalmusik im Tanzsaale, die Paare den Reigen schlin¬
gen. Nebenbei gibt es Kaffee und Kuchen. Im Volksmunde
aber heißt dieses Fest (wie jenes zu Wölmsdprf) der „Mädel-
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Der Lobetanz
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markt“, und wirklich ist gar manches Band fürs Leben dort an¬
geknüpft worden.
Schon von anderer Seite (Dresdner Nachrichten, 1891, Nr. 186)
ist bei den Lobetänzen vielleicht nicht ganz unpassend auf die
römischen Floralien hingewiesen worden, die vom 28. April bis
zum 3. Mai gefeiert wurden, wobei man Häuser und Menschen
mit Blumen bekränzte, die Frauen bunte, ihnen sonst verbotene
Kleider trugen und alles sich einem ausgelassenen Lebensgenüsse
hingab. Noch deutlicher weist auf unsere Lobetänze = Verlobungs¬
tänze ein in Norddalmatien geübter Brauch. Dort führen Mütter
ihre reifen Töchter auf Jahrmärkte, Volks- und Kirchenfeste
zur Beschau für die Burschen. Das Mädchen trägt dabei den
sog. gjendar, ein Fürtuch, das mit Silberstücken mehr oder min¬
der reich besetzt ist, die als Aussteuer bei der beabsichtigten
„Zeitehe“ anzusehen sind. Das so herausgeputzte Frauenzimmer
unterhält sich mit anderen ihresgleichen. Tritt ein Bursche auf
sie zu, dem sie zu Gesicht steht, so führt er sie ab und tanzt mit
ihr allein einen sogenannten kolo (Reigen). Dabei wird die Ehe
unter ihnen vereinbart. Einigt sich das Paar, so führt der Bursche
das Mädchen noch in derselben Nacht zu sich heim. Mit der
Trauung aber hat es noch lange Zeit, und oft wird das Weib von
ihm zu ihren Eltern zurückgeschickt. (A. Mitrovic bei Krauss,
Anthropophyteia, Bd. IV, S. 37 ff.) 1 )
Nach alledem versteht man gar wohl, warum gerade die „Lobe¬
tänze“ so oft mit einer Schlägerei der (eifersüchtigen) Burschen
endeten, begreift aber auch, warum gerade sie so vielfach mora¬
lische Entrüstung weckten. Die jungen Leute, denen im Früh¬
ling das Blut rascher durch die Adern kreiste, schlossen auch bei
uns jedenfalls nicht selten an den Brauttanz die Brautnacht an.
Durch die Verlobung entstanden nach altem Rechte dem Bräuti¬
gam bereits allerhand Ansprüche an die Braut, deren Verletzung
durch Dritte in bestimmten Fällen gesetzliche Ahndung findet.
Daher wird auch der Satz aufgestellt, daß die Verlobung die Ehe-
*) Ob die Sperlingskirmes (wrobliaca kermusa) der sächsischen
Wenden, die sie auch Liostanz genannt haben sollen (?), etwas Ver¬
wandtes gewesen ist, kann ich nicht sagen. Daß unser Lobetanz von
dorther seinen Ursprung habe (Boehme, a.a.O., S. 59), ist aber ganz aus¬
geschlossen.
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Alfred Meiche — Der Lobetanz
Schließung, die Trauung aber nur den Vollzug der Ehe darstelle.
Wenn derselbe auch von anderer Seite bestritten wird, so muß
doch allgemein anerkannt werden, daß die Trauung nur unter der
Voraussetzung der vorhergegangenen Verlobung rechtlich wirk-
sam war. Allerdings war der Geschlechtsverkehr zwischen Ver¬
lobten eigentlich verpönt, und die Geistlichkeit verlangte schon
vom 8. Jahrhundert ab die kirchliche Einsegnung, wenn sie auch
bis ins 13. Jahrhundert hinein sich schließlich damit begnügte,
daß die Laientrauung vor der Kirchtüre stattfand, was uns den
Lobetanz vor der Kirche zu Treunitz bei Eger erklären kann.
Aber die breiten Schichten des Volkes gaben diesem Anspruch nur
ungern nach und beschränkten sich auf die einfache bürgerliche
Eheschließung „an (ohne) schuoler und an pfaffen“, die Bauern
sogar bis ins 15. Jahrhundert. (Bauer, Das deutsche Geschlechts¬
leben in der Vergangenheit, Leipzig 1902, S. 92, IOO; Schröder,
Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte 8 , Leipzig 1894, S. 291 ff.
u. S. 700; Götzinger, Reallexikon der deutschen Altertümer,
Leipzig 1885, S. 392.)
So begreift man wohl auch das Eifern der Kirche, besonders
in der Reformationszeit, die manches schroff verurteilte, was
man vordem nachsichtig geduldet hatte, gegen den Lobetanz.
Uns aber erscheint er nach dieser Betrachtung als eine uralte
Sitte unseres Volkes, die erst zur Unsitte ward, nachdem eine neue
Zeit andere Formen des Verlöbnisses geboren hatte und weiten
Kreisen der ursprüngliche Sinn des Brauches verloren gegangen war.
In einzelnen Landschaften (z. B. Hessen) mag der ursprüngliche
Zweck des Lobetanzes schon sehr früh in Vergessenheit geraten
sein, weshalb sich dort schon im Mittelalter die Bedeutung
„Preis- und Ehrentanz“ entwickelte. Vielleicht darf man es als
einen Übergangsbegriff ansehen, daß der Lobetanz zu Ehren
der Braut (der Verlobten) geschritten wurde. Aus der Mischung
der Vorstellungen erklärt sich wohl die Schwierigkeit einer
exakten sprachlichen Deutung.
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MISZELLE.
DER SCHMUCK EINER FRÄNKISCHEN GRÄFIN
UM 1611.
VON FL. H. HAUG.
Gräfin Walburga von Löwenstein-Wertheim hat eine eigenhändige
Aufzeichnung ihrer sämtlichen Schmucksachen und Kleinodien aus der
Zeit nach der ersten löwensteinischen Teilung, also bald nach i6ii, hinter¬
lassen. 1 ) Die Gräfin war die Zweitälteste Tochter Ludwigs II. zu Löwenstein,
eine Schwester Christoph Ludwigs und Johann Dietrichs.
Wohl der kleinste Teil des verzeichneten Schmuckes wird in Wertheim
selbst entstanden sein. Er war ja fast ausnahmslos Familiengut, das von
der Mutter, der Gräfin Anna von Stolberg, auf die Tochter gekommen ist.
Und gar manches Stück dürfte wohl die Großmutter schon mit liebender
Sorgfalt als Kleinod gehütet haben. Daraus ergibt sich für die Ent¬
stehungszeit des Schmuckes der Zeitraum von 1530 bis 1611 oder, enger
begrenzt, bis 1599, dem Todesjahr der Gräfin Anna von Stolberg. Der
mütterliche Schmuck wurde den beiden Schwestern, Gräfin Walburga
und Gräfin Katharina Elisabeth, von ihren Brüdern am 31. Oktober 1611
in einer kleinen, schwarzen Truhe mit 8 Schubladen, versiegelt mit dem
Petschaft des Bruders Wolfgang Ernst, übergeben. Interessant ist für uns,
daß wir bei dieser Gelegenheit die beiden damals lebenden Wertheimer
Goldschmiede, die der Notar als Sachverständige zu Zeugen nahm, mit
Namen aufgeführt finden; es sind das Elias Pfeil und Michael Böhm.
Wenn also gräflicher Schmuck in Wertheim selbst erworben war, so
stammte er wohl von diesen beiden Meistern. Das Verzeichnis selbst
weist uns aber in vielen Fällen auf andere Entstehungsorte hin. Wir hören
von Pariser und von spanischer Arbeit. In der Behandlung des Metalles
waren die Goldschmiede Frankreichs und Spaniens um diese Zeit den
fränkischen offenbar überlegen. Bei französischem und spanischem Schmuck
bemerkt die Gräfin immer, daß er „geschmelzt“ sei. Der Schmelz bestand
in der Färbung der Metalle: grün, blau, rot, weiß, meist aber schwarz
sind die Farben. Das Metall ist überwiegend Gold, in ganz geringem
Maße ist Silber vertreten. Wir hören aber auch von einer Kette, deren
Teile eben der Juwelier in Nürnberg hat. Die reichen Handelsstädte
Nürnberg und Frankfurt und die durch die kirchlichen Aufträge gerade
in der Goldschmiedekunst gehobenen Bischofsstädte Würzburg und Mainz
dürften den fränkischen Schmuck geliefert haben. Die Gräfin bezeichnet
ja einzelne Stücke wiederholt als altfränkischen*) Schmuck, öffnen wir
nun die Truhe, so sehen wir auf den ersten Blick, daß hier die Renais-
*) Wertheim, Fürstl. Gemeinsch. Archiv.
*) Doch wohl ca altmodisch. D. Red.
Archiv fiir Kulturgeschichte. XII. i 7
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sance die .duftigsten Blüten von Kleinkunst getrieben hat. Schwer und
wuchtig wirken die rechteckigen Stücke, aus denen die goldnen Ketten
bestehen; Füllhörner, Blumenvasen, die Gräfin nennt sie Maienkrüge,
Obstgirlanden verzieren in reicher Fülle die massigen Formen der einzelnen
Schmuckstücke. Große Perlenbandelotten hängen Weintrauben gleich
herab. Die Steine sind zu quadratischen oder rechteckigen Tafeln geschliffen
oder als Körner eingesetzt, schöne Renaissanceköpfchen sind in Karneol
und Achat geschnitten. Geschmelzte Goldrosen, mit bunten Steinen besetzt,
leuchten uns aus der Truhe entgegen.
Kleinodien in Rosenform trug die fränkische Gräfin der damaligen Zeit
vor allem im Haar. So finden wir im Schmuckverzeichnis 7 schwarze
Diamantenrosen in geschmelztem Metall gefaßt, spanische Arbeit, jede
Rose bestehend aus 7 Diamanten und verziert mit kleinen grünen Blättern.
Die Gräfin bemerkt, daß sie im Haar getragen werden. Reine Renais¬
sancestücke sind die 9 großen goldnen Haarsträuße, Pariser Arbeit, in
allen Farben geschmelzt. Sie sind mit Obstwerk verziert, 5 tragen je
eine rechteckige Diamanttafel und 3 kleine Rubine, 4 je eine Rubintafel
und 3 kleine Diamanttafeln, an jedem Strauß sind 4 Perlen. Ein weiterer
Haarschmuck stellt ein Maienkrüglein dar, wie es die Gräfin nennt. Mai
wurde damals für Blume gebraucht. Es ist also ein Blumenkrüglein, es
war geschmelzt und trug 4 kleine Rubintafeln. Neben der Rose spielte
das Vergißmeinnicht im damaligen Schmuck eine bedeutende Rolle.
Ein Vergißmeinnicht, ebenfalls Haarschmuck, ist in verschiedenen Farben
geschmelzt und trägt in der Mitte einen böhmischen Diamanten, ein
anderes 1 Diamanttafel, hier ist das Vergißmeinnicht gesponnen. Die
Gräfin nennt es Gedenkblümlein im Verzeichnis. Neben Obst und Blumen
dienten auch Vögel und Schlangen als Ornamente im Haarschmuck. So
finden wir eine goldne Haarnadel, Pariser Arbeit, in der Mitte mit
1 Vögelein, daneben 4 Rubintafeln und 7 Perlen. Diese Nadel ver¬
schenkte die Gräfin an ihr Patenkind Josina Walburga, die Tochter Johann
Dietrichs, ihres Bruders. Daß Gräfin Walburga die Taufpatin dieser
Komtesse, ihrer „Gote 11 , wie sie schreibt, war, das verrät uns auch der
Name des Patenkindes: Walburga nach der Taufpatin, Josina nach der
Mutter, der Gräfin Josina von der Mark. Dem Patenkind muß Gräfin
Walburga offenbar sehr zugetan gewesen sein; denn es erhält noch eine
Reihe wertvoller Schmuckgegenstände. Es scheint, daß zwischen der
Familie Johann Dietrichs und Gräfin Walburga eine besonders innige
Freundschaft bestand. So verzeichnet Gräfin Walburga auch eine Haar¬
nadel, die ihr Gräfin Josina verehrte. Die Haarnadel war aus Gold, daran
hing 1 Anker, besetzt mit 19 Diamanten, darunter 3 Bandelotten. Eine
Haarnadel trägt ein geschmelztes Schlänglein, an dem unten 1 Perle
hängt. Diese Nadel ist ausnahmsweise aus Silber, aber vergoldet. Eine
andere Haarnadel stellt eine Feder dar, sie trägt in der Mitte
1 Diamanttafel, daneben 3 Perlen. Diese wie das oben angeführte Maien¬
krüglein und die Nadel mit dem Vogel erhielt das Patenkind Josina
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Miszelle
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Walburga. Eine goldne Lanze mit 20 kleinen Rubintafeln, daran hangend
1 Rose mit 13 Diamanttafeln urid 3 hangenden Bandelotten, diente
ebenfalls als Haarnadel. Greifen wir aus dem Schmuckschatze noch
2 Nadeln heraus; jede trägt eine weißgeschmelzte Hand, daran hangend
ein mit 32 Diamanten besetztes W, die Namensinitiale der Gräfin, den
Abschluß bildet eine Diamantbandelotte. Neben den Nadeln dienten
auch Haarschnüre als Kopfputz: so ein kleines vergoldetes Kettlein, an
beiden Seiten an eine fleischfarbige Haarschnur gebunden, 12 Schnüre
mit einem Zöpflein in der Mitte, auf beiden Seiten Perlen und Blättchen,
die beiden Enden an fleischfarbige Seidenbänder gebunden, eine Haar¬
schnur, durchwoben mit geschlagenem Gold. Dies einige Proben des
Haarschmucks. Alle Gegenstände des Schmuckverzeichnisses hier zu
besprechen, würde zu weit führen.
Noch mehr als in den Haarnadeln konnte die Renaissance in den
Ohrgehängen ihre schönen Kunstformen zur Geltung bringen. Die Ohr¬
gehänge entsprachen dieser Kunstrichtung mehr als die Ohrringe, daher
kommt es auch, daß die Gräfin nur 1 Paar Ohrringe besitzt gegen¬
über einer großen Anzahl von Gehängen. Als Ohrgehänge trug sie
2 schöne Diamantenrosen alten Musters, wie sie schreibt, die eine
mit 18, die andere mit 16 geschnittenen Diamanten, eine jede 3 große,
herabhängende Perlen tragend; weiter 1 Paar Ohrgehänge, spanische
Arbeit, schwarz geschmelzt, jedes Stück mit 32 Diamanten, 1 Paar
Ohrgehänge aus Goldstein, in Gold gefaßt; 1 Paar stellt Schlangen
dar, sie tragen 1 Rubintafel auf dem Köpfchen und 1 große Perle im
Maul. Die meisten Gehänge sind besetzt mit Diamanten und Rubinen
und tragen Perlenbandelotten als Abschluß. Den Renaissancecharakter
sehen wir besonders an einem Paar, es stellt Goldkörbchen dar mit allerlei
Obst, 5 Perlen hängen unten an jedem Stück; ein anderes zeigt uns schwarze
Trauben, wieder ein anderes 2 Fläschchen, bestehend aus großen, halbierten
Perlen, weiß gefaßt, an goldnen Kettchen hängend und mit 7 Diamanten
verziert. Die Gräfin muß ab und zu auch englische Tracht getragen haben;
denn sie verzeichnet 1 Kettchen an ein Ohr, „wie man es zur englischen
Tracht trägt“; es besteht aus 12 Teilen mit je 1 Diamanten und 12 schwarz
geschmelzten Teilen dazwischen, unten 1 Diamantenbandelotte. 6 ge¬
schmelzte Röschen, Pariser Arbeit, verschenkte sie: 1 Paar an die Hof¬
meisterin, die Geider, 1 Paar an ihre Jungfer, die Heid, 1 Paar an die
von Thüngen. Mit den Thüngen war die Gräfin durch ihres Bruders
Ludwig Frau verwandt; diese war nämlich eine Tochter der Freiin
Dorothea von Thüngen.
Je nach dem Kostüm mit oder ohne Dekolletierung trug die Gräfin
große Halsbänder oder enge am Hals anliegende. Wir finden beide
Arten in reicher Fülle in ihrem Schmuckverzeichnis. Auch sehen wir
wieder die feine Arbeit der Spanier und Pariser, die Diamanten, Perlen
und Rubine zu großen Halsketten faßten. So besteht ein Halsband aus
20 Stücken: das Hauptstück mit einer großen Smaragdtafel und 4 runden
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Perlen auf 4 geschmelzten Röslein, dann 5 Stücke, jedes mit 1 Diamant¬
tafel, 4 Stücke, jedes mit 1 Rubintafel, und 10 Stücke, jedes mit 2 großen
Perlen. Welche Farbenfreude spricht aus diesem Schmuck! Ein anderes
Halsband, ebenfalls Pariser Arbeit, besteht aus 24 Stücken: 10 mit Rubin¬
tafeln, 2 mit Rubinkörnern und 12 mit je 4 Perlen. Ein kleines Halsband,
das eng um den Hals zu tragen war, war spanische Arbeit, es bestand
aus 5 Röschen, jede Rose mit 7 Diamantentafeln, unten an jeder Rose
hingen 3 Diamantenbandelotten, zwischen den Rosen waren 6 Verbindungs¬
stücke, jedes mit 1 Diamanttafel und 1 Bandelotte daran. Ein kleines
Halsbändchen, Pariser Arbeit, war schwarz und rot geschmelzt und be¬
stand aus 9 Stücken, das Mittelstück hatte 1 Diamanttafel in der Mitte
und 4 Diamanten auf den Ecken, dabei 4 Rubintafeln, unten 3 Perlen
daran hangend, von den anderen 8 Stücken hatte jedes 4 Rubintafeln und
unten 1 Perle. Zwischen diesen 9 Stücken waren 10 flammende Herzen,
unten Perlen daran; es scheint, daß man damals nicht nur Blumensprache,
sondern auch Halsbandsprache gesprochen hat. Natürlich finden sich im
Schmuck auch reine Perlenhalsbänder, so eines mit 133 runden Perlen
und 17 großen runden Perlen, in Gold gefaßt, daran hangend, ein anderes
mit 137 großen und ebensoviel kleinen Perlen dazwischen. Ein kleines Hals¬
band besteht aus 4 Lapis lazuli und 3 geschnittenen Karneolen, in Gold
gefaßt, dazwischen 8 Vergißmeinnicht, an diesen und an den Steinen je
1 Perle herabhangend. Dieses schenkt die Gräfin ihrer Schelmin zum Christ¬
kind. Also 1611 schon in Wertheim die Sitte, an Weihnachten Geschenke
zu geben. Unter der Schelmin müssen wir eine adelige Hofdame an¬
nehmen; denn eine gewöhnliche Dienerin hätte wohl kein Halsband mit
geschnittenen Karneolen und 15 Perlen erhalten. Die Schelmin erhielt
auch noch anderen Schmuck. An den Halsbändern wurden auch Me¬
daillons getragen, so hat die Gräfin eins aus purem Gold, bunt geschmelzt,
innen mit dem Bildnis ihres Vaters
An Armbändern hat die Gräfin ebenfalls zwei verschiedene Arten,
solche für den Oberarm bei einem Kostüm mit Dekolletierung und solche für
die Handgelenke. An diesen trug sie immer zwei gleiche. So verzeichnet
sie 1 Paar Armbänder, jedes mit 4 Gliedern, jedes Glied mit 4 Rubin¬
tafeln und 4 großen runden Perlen, 1 Paar aus lauter Gold, bunt ge¬
schmelzt, ein anderes Paar trägt in Goldfassung gefundene Steine ver¬
schiedenster Gattung. Weiter finden wir Paare aus schwarzen Achaten,
in Gold gefaßt, aus Perlen, aus „orientalischen“ Granaten. Ein einzelnes
Armband stellt eine goldene Panzerkette dar, auf das Schloß ist ein Papa¬
gei geschmelzt. Der Papagei wird hier offenbar wegen seines bunten
Gefieders benützt, das in den verschiedenen Schmelzfarben prächtig zur
Darstellung kommen konnte. 1 Paar Armbänder ist schwarz geschmelzt,
sehr schmal mit je 14 Diamanten und 15 halben Perlen besetzt; die Gräfin
schreibt, man kann sie auch über das Haar tragen. 1 Brasselett, das
am Oberarm zu tragen war, enthielt in Goldschmelzfassung Bisamkörner,
und 1 Sanduhr war daran. Wie modern war man damals schon! Die
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Bisamkömer wurden wegen ihres Duftes in den Schmuck gesetzt. Sie
verbreiteten beim Warm werden am Körper Moschusgeruch. Bisammehl
streute man ja im Mittelalter auf den frisierten Kopf, Wir werden später
auch sehen, daß man, um den Schmuck duftend zu machen, auch Orangen¬
holz einlegte. Die Armbänder um die Handgelenke hatten meist Pater -
noster-Form, d. h. es waren Kettchen ohne Anfang und ohne Ende, also
ohne Schloß. So ist ein Paternoster verzeichnet mit 66 Bisaml^örnern
und Perlen dazwischen, ein anderes bestehend aus 32 weißen, geschnittenen
Jaspisen und 32 Zwischenstücken aus Gold, blau geschmelzt, ein weiteres —
es ging 3mal um die Hand — mit 20 Karneolen, 18 durchbrochenen Gold-
kömem und 40 großen Perlen, ferner 3 Korallenpatemoster, mit Perlen
durchsetzt, 2 Paternoster mit 335 großen eckigen und ebensoviel runden
Perlen dazwischen usw.
Am verschiedenartigsten waren die Ringe gestaltet. Wir finden da
einen Ring, schwarz geschmelzt, in neuer Fagon, schreibt die Gräfin, oben
rund mit 7 schönen Diamanten, ferner einen Ring mit 1 Türkis, schwarz ge¬
schmelzt; diesen verehrte sie ihrem Bruder Ludwig. Bei der Teilung des
Schmuckes unter die Geschwister war Ludwig für die Schwestern bei
den anderen Brüdern eingetreten; vielleicht hängt dieses Geschenk damit
zusammen. Ein kleines Ringlein hatte die Gräfin, es trug den Namen
Jesus, ein blau geschmelzter Ring den Namen derer von Solms. Natür¬
lich befindet sich im Schmuck eine große Anzahl von Diamantringen,
auch solche mit Rubinen und Smaragden. Die quadratische und recht¬
eckige Diamanttafel steht hier im Vordergrund, neben ihr erscheint der
spitzige Diamant. Ein weiterer Ring trägt eine „altfränkische Diamant¬
rose“ mit 5 Diamanten, ein neuer 1 Rose mit 7 Diamanten, ein Ring
hat ein Herz, gehalten von 2 Händen, im Herz 1 Diamanttafel, ein Ring
trägt ein dreifaches Herz mit 8 Diamanten. Diesen gab die Gräfin der
Gräfin Barbara Elisabet von Limpurg. Walburgas Bruder Ludwig war
mit Gräfin Anna von Limpurg vermählt. Bei verschiedenen Ringen be¬
merkt die Gräfin ausdrücklich, daß sie von ihrer „Frau Mutter“ seien.
Einen Ring mit 1 Diamanttafel und 4 Rubintafeln und einen mit 1 Rubintafel
verehrt sie wieder ihrer Schelmin, einen mit 5 Rubintafeln der jungen Gräfin
Josina Walburga, ebenso ein kleines, bunt geschmelztes Ringlein mit 1 Rubin;
einen Ring mit 1 Türkis schenkt sie Dr. Berger aus Rottenberg, einen
gleichen dem „gewesenen Chorverwalter“. Von der Mutter hat sie einen
großen goldenen Ring mit 1 großen Diamanttafel und einen ähnlichen mit
1 großen Rubintafel.
Je nach dem Kostüm trug die Gräfin auch Gürtel aus Metall, so
1 goldnen Gürtel mit 12 langen, geschmelzten Knöpfen, jeder Knopf mit
4 Granaten, dazwischen 83 goldne Ringe; 1 goldnen Gürtel, schwarz
und weiß geschmelzt; 1 Silbergürtel mit vergoldeten Gliedern dazwischen;
1 dreifach geflochtenen Silbergürtel mit 8 geschnittenen Granaten.
Wie man aus den Bildern jener Zeit erkennt, waren große, schwere
Ketten sehr in Mode; massig und gedrungen paßten sie vor allem zu den
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schweren, reichen Kostümen der Renaissancezeit. Aber wie überall beim
Schmuck finden wir auch bei den Ketten das Streben nach rechteckiger
Gliederung, dasselbe Streben, das die Renaissancefassaden streng und
scharf in die einzelnen Stockwerke teilt. Namentlich bei der grofien Kette
konnte der Renaissancekünstler durch die Wucht des Eindruckes wirken.
Die Gräfin verzeichnet i Kette aus goldnen Ringen von Dukatengold,
i Ket(e bestehend aus 123 schwarzen Bisamkömern, dazwischen 123 gol¬
dene Sterne und 123 große und 246 kleine Perlen, weiter 1 ähnliche,
aber ohne Bisamkömer und eine mit Bisamkömern, aber ohne Perlen;
1 Kette aus Orangenholz, mit kleinen Perlen überfaßt: sie hat 170 mit
Perlen überfaßte Orangenköraer, 56 große und 224 kleine durchbrochene
Goldköraer und 340 Perlen dazwischen, außerdem ein goldenes Schloß mit
2 Diamanttafeln und 4 Rubintafeln. 1 Kette hat nicht weniger als
1500 Perlen, sie sind in 5 Reihen gefaßt. Auch 1 feine Kette hatte die
Gräfin, sie war so dünn wie Goldfaden und ging 12mal um die Tailie.
Wie uns die Gemälde aus jener Zeit zeigen, wurden die Ketten vom Hals,
herabhängend oder um die Taille getragen. 1 Kette von lauter kleinen
gefaßten Perlen mit 96 Ringen schenkte die Gräfin ihrer Schwägerin, als
diese in’s Bad reiste. 1 Kette bestand aus Achaten, in Gold gefaßt, so daß sie
Blumenkrüge darstellten. Von dieser Kette befand sich ein Teil beim Ju¬
welier in Nürnberg (s. oben), als die Gräfin das Schmuckverzeichnis anlegte.
I Kette bestand aus 28 Bisamkömern, mit Perlen überfaßt, mit Gold¬
körnern und Goldblättchen unterlegt, dazwischen 28 große, durchbrochene
Goldkömer, 28 Paar goldne Sterne und 56 große Perlen. Ketten mit
Perlen und Goldkömem in den verschiedensten Fassungen befinden sich
sonst noch im Schmuck.
Natürlich wurden auch die Kostüme mit Schmuck verziert. So fin¬
den wir 1 Hutschnur mit 11 länglichen Knöpfen von Kronengold, dar¬
unter 1 mit 6 Rubinen, ringsum kleine eingelegte Perlen, zwischen den
II Knöpfen solche mit je 32 und solche mit je 18 Perlen. Die Kleider
wurden mit Goldrosen übersät. Die Gräfin hat 5 Dutzend weiß geschmelzte
Rosen, jede oben mit einer Rubintafel, weiter 18 goldene, bunt geschmelzte
Rosen von spanischer Arbeit, 9 davon enthalten je 1 große und 4 kleine
Diamanttafeln, die andern 9 je 5 Diamanttafeln und 4 Perlen. Die Gräfin
bemerkt ausdrücklich, daß man diese Rosen auf den Röcken trägt. Ab
und zu wurden auch Knöpfe am Kostüm zu Schmuckgegenständen aus¬
gestaltet. Wir lesen von einem großen, goldgefaßten Bisamknopf, spanische
Arbeit, in Farben geschmelzt, mit 12 Granaten besetzt, weiter von 1 Knopf,
aus 2 Achaten zusammengesetzt; sie stellen Maienkrüglein dar.
Außer dem Schmuck kommen noch die eigentlichen Kleinodien in
Betracht. Es waren Gegenstände in den verschiedensten Formen, die
sehr gern als Geschenke gegeben wurden und durch ihre Formen oft Ge¬
fühle und Empfindungen Wiedergaben, die man nicht in Worte kleiden
wollte. So hatte die Gräfin ein großes Kleinod, einen Amor darstellend;
es bestand aus 18 Diamanttafeln, 75 Rubintafeln, 4 hängenden und
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2 z kleineren Perlen. 1 Kleinod stellte ein brennend Herz dar, es trug
1 Rubinkorn, 5 Rubintafeln, 1 Saphirtafel, in der Mitte 2 Sandührlein,
bestehend aus 4 großen Perlen, außerdem waren noch 2 Perlen daran,
3 hingen herab. 1 Kleinod war ein Männchen, es trug 1 große, schön
geschnittene Saphirtafel, 3 große Rubinkömer, 3 große runde Perlen und
auf dem Hütlein 1 kleinen Smaragd. Dieses Männchen schenkte Wal¬
burga ihrer unverheirateten Schwester Katharina Elisabeth, mit der sie
zusammen im damals sogenannten neuen Bau, dem heutigen Schubert¬
haus vis-ä-vis der Pfarrkirche, wohnte. Weiter lesen wir von einem aus
Diamanten und Perlen bestehenden Kleinod, 1 Lilie darstellend, von
1 burgundischen Kreuz aus Diamanten, Rubinen und Perlen, von 2 Peli¬
kanen aus Diamanten, mit Rubinen auf der Brust, Saphiren und Perlen.
Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß diese Kleinodien
der Gräfin bei besonderen Abschnitten ihres religiösen Lebens von Eltern,
Geschwistern und Paten verehrt wurden. 1 Kreuz mit einem Cruzifixus
daran, besetzt mit Rubinen und Perlen, schenkte die Gräfin ihrem Paten¬
kind Josina Walburga zum neuen Jahr. Dieses Geschenk dürfte aber
auch nichts anderes als eine Weihnachtsgabe gewesen sein. Denn nach
einer Urkunde im Schloßarchiv läßt sich mit Evidenz beweisen, daß in
der Grafschaft Wertheim, wie in der ganzen Erzdiözese Mainz mit ihren
sämtlichen Suffraganbezirken, der Weihnachtstag, der 25. Dezember, der
Jahresanfang war.
Ein anderes Kleinod der Gräfin stellte einen Schlitten dar, er trug
12 Diamanttafeln, 37 Rubintafeln, 7 große und 10 kleine Perlen; ein
anderes Kleinod war 1 weißer Hirsch, bestehend aus Metall, Diamanten,
Rubinen und Perlen. Daneben hatte die Gräfin verschiedene Pfaue, am
Pfau konnte ja am besten die Farbenglut der verschiedenen Edelsteine
ihr Feuer entfalten. Einen solchen Pfau schenkte die Gräfin auch ihrem
Patenkind, Josina Walburga. Natürlich finden sich bei den Kleinodien
auch Namensinitialen und allerlei geometrische Figuren, auch Maienkrüge,
Pferdchen usw. Ein „altes Kleinod“, in der Mitte mit 1 Männchen,
unten und oben mit 2 länglichen Smaragden, auf beiden Seiten mit
4 Rubintafeln und 4 Perlen, unten 1 Perlentraube daran hängend, schenkte
die Gräfin ihrer Schelmin.
So erscheint nun dieser fränkische Renaissanceschmuck vor uns in seinen
ernsten Formen, vermischt mit den daran haftenden Gedanken zartesten
Familiensinnes. 1300 Diamanten, 5200 Perlen, eine Unzahl von Rubinen,
Smaragden, Saphiren, Granaten und Jaspisen, welchen Wert würden
sie heute repräsentieren! Ein Hochstand von Goldschmiedekunst hatte
hier Kunstwerke ersten Ranges geschaffen. Familiensinn hat sie vererbt
von Geschlecht zu Geschlecht, bis sie den Schweden in die Hände fielen.
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LITERATURBERICHT.
GESCHICHTE DER GEISTIGEN KULTUR
VON DER MITTE DES 17. BIS ZUM AUSGANGE
DES 18. JAHRHUNDERTS.
ERÖFFNUNGSBERICHT
(Schluß zu Band 11, 1913, S. 241—262).
6. Geschichte der Philosophie und Pädagogik, Wissenschaftsgeschichte.
— 7. Literaturgeschichte. — 8. Geschichte der Staats-, Gesellschafts- und
Wirtschaftsanschauungen. — 9. Geheime Gesellschaften.
VI.
Die klassische Bedeutung unserer Periode für die Weiterbil¬
dung der Philosophie hat umgekehrt auch den außerordentlichen
Anteil der Philosophie am allgemeinen Geistesleben zur Folge. Die
wissenschaftliche Ideengeschichte ist deshalb auf die Geschichte
der Philosophie besonders angewiesen und für das ständig große
Angebot allgemeinerer historischer Darstellungen dankbar. Neben
Neuauflagen bewährter Einführungsbücher 1 ), unter denen die
von WilhelmWindelband 2 ) von unserem Standpunkte über die
andern hervorragen, treten der neue praktische Versuch Karl
Vorländers 3 ) und Moritz Kronenbergs Geschichte des
deutschen Idealismus (2 Bde., 1909—1912). Kronenbergs Verdienst
liegt vor allem darin, daß er in derGeschichteder neueren Philosophie
und der Philosophie überhaupt den Gegensatz zwischen „Natur¬
philosophie“ (I, 348; II, 9) und Idealismus als den grundlegenden
herausarbeitet und darüber den Gegensatz zwischen Rationalis¬
mus und Empirismus als sekundär zurückdrängt. Dieser grund¬
sätzliche Gesichtspunkt verhilft ihm schon zu einer besonders
klaren u^d neuen Würdigung der drei großen Anfänger Descartes
(„Cartesius-Faust“), Spinoza und Leibniz. Sie werden als Über-
*) R.Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, 7. Aufl.,
1913. Überweg-Heinze III 1, 10. Aufl., 1907. R. Eucken, Geistige
Strömungen der Gegenwart, 4. Aufl., 1913. Lebensanschauungen der großen
Denker, 9. Auf!., 1911. Harald Höffding, Lehrbuch der Geschichte
der neueren Philosophie, 1907, u. d. ältere Hauptwerk.
Die Verleger der in diesem Bericht besprochenen Bücher werden nur
dann genannt, wenn sie Rezensionsexemplare geliefert haben.
*) Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 6. Aufl., 1912. Geschichte
der neueren Philosophie, 2 Bde., 4. Aufl, 1907.
*) Geschichte der Philosophie, 3. Auf!., 2. Bd. (= Philosophische Biblio¬
thek 106, 1911). Leipzig, Meiner.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 j 05
gangserscheinungen zwischen „Naturphilosophie“ und Idealis¬
mus aufgefaßt; sie eilen ihrer Zeit voraus; daher sind die idealisti¬
schen Kernstücke ihrer Gedankenarbeit bei allen dreien posthum.
Von hier aus wird auch eine recht beachtenswerte und scharf-
umrissene Charakteristik der Aufklärung (I 191 ff.) möglich,
die Kronenberg als „Naturphilosophie mit überwiegender Rich¬
tung auf das Problem des Menschen“ definiert. Die zersetzende
Wirkung des anthropozentrischen Eudämonismus auf die ver¬
schiedenen Betätigungen der Aufklärung wird mit eingehender
Kritik geschildert, hie und da wohl zu dunkel, wie denn die Auf¬
klärung in der Vorgeschichte des Idealismus überhaupt zu sehr
nur als retardierendes Moment behandelt wird und auch ihre
Befruchtung durch Leibniz vielleicht nicht ganz zu ihrem Rechte
kommt. Troeltschs parallele Ausführungen, wie er sie in dem
Aufsatze „Renaissance und Reformation“ (Historische Zeitschrift
HO, 1913, S. 552 ff.) von neuem zu einer lichtvollen Charakteristik
der Aufklärung zusammengefaßt hat, kommen der Wirklichkeit
oft näher. Dagegen ist Kronenberg ganz in seinem Elemente, wo
er bei den direkten Anfängern des neuen Idealismus, bei Ha¬
mann, F. H. Jacobi und Winckelmann die „Auflösung des Geistes
der [protestantischen] Mystik in Erkenntnis“ verfolgt und für
die Einreihung dieser drei Größen wesentliches leistet. Auch bei
der Behandlung Kants und der Späteren erweist sich der leitende
Grundgedanke als fruchtbar. Durch eine weitgespannte Ein¬
leitung über griechischen und christlichen Idealismus wird sein
Verständnis entscheidend vorbereitet. Wer so viel bietet, kann
nicht überall gleichmäßig alles berücksichtigen. Die Schilderung
des Sturmes und Dranges ist weniger gelungen als die der Auf¬
klärung. Aus dem Lamprechtschen Begriffe des Subjektivismus
hat Kronenberg auch hier keinen Nutzen gezogen. Eine Reihe
von Lücken hätte man gern ausgefüllt gesehen. Berühmte Grund¬
gedanken bei Leibniz, wie Prästabilierte Harmonie, Theodizee,
überhaupt Leibniz’ ganzer theistisch gefärbter Optimismus
treten stark zurück. Shaftesbury und Montesquieu werden über¬
gangen. Nach der ganzen Anlage seines Werkes bevorzugt der
Verfasser durchweg die retrospektive vor der zeitgeschichtlichen
Motivierung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge. Es ist be¬
zeichnend, daß Kronenberg Descartes und Spinoza für das spezi¬
fisch deutsche Geistesleben in Anspruch nimmt, wie er denn sei¬
nen Idealismus und besonders den ersten „Durchbruch“ dieses
Idealismus außer bei den Griechen nur bei den Deutschen wirklich
ausgebildet zu sehen glaubt. Durch diese und andere Einseitig¬
keiten und Übertreibungen kommt etwas Starres und Konstruk¬
tives in den ganzen Aufbau, wenn auch biographische Ableitungen
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J. Hasbagen
keineswegs fehlen. Aber oft werden statt des Nachweises tatsäch¬
licher Zusammenhänge nur geistreiche Parallelen geboten. .Dies
und anderes sollte aber von einem eingehenden Studium des
Werkes nicht abschrecken. Zu Kronenbergs erstem Bande nimmt
Johann Plenge im Archiv für Sozialwissenschaft 32 (1911)
vom Standpunkt seiner speziellen Hegel-Marx-Forschungen aus
in interessanter Weise Stellung. Lamprechts Begriff des Sub¬
jektivismus scheint ihm durch Kronenberg widerlegt zu sein,
wenn er S. 4, Anm. 3 sagt: „Gegenüber der durch Lamprecht
vertretenen Auffassung, daß der Subjektivismus ein spätes Ge¬
bilde unserer Kultur ist, wird . . . mit Recht die Tatsache ans
Licht gerückt, daß durch die übernommene subjektivistische
Religion unsere Geistesgeschichte von Anbeginn ein Abringen (!)
mit subjektivistischen Problemen ist“ .... Durch solche All¬
gemeinheiten, die kein Mensch leugnet, wird aber der Begriff
des Subjektivismus in seinem heuristischen Werte kaum beein¬
trächtigt. Dagegen wird S. 18 sehr richtig auf eine innere
Verwandtschaft zwischen Aufklärung und Idealismus hinge¬
wiesen, und Plenges glücklich formulierter Einspruch gegen Kro¬
nenbergs Überschätzung des spezifisch Deutschen („Der deutsche
Idealismus bleibt deutsch genug, auch wenn man seine allge¬
meinen Voraussetzungen in ökumenischen Kulturbedingungen
findet“) ist für das 18. Jahrhundert ganz an seinem Platze. Frei¬
lich muß noch manche unter neuen Gesichtspunkten vollzogene
Einzelforschung einsetzen, ehe die auch bei der Lektüre Kronen¬
bergs sich überall aufdrängenden Fragen nach den „Zusammen¬
hängen“ der Lösung nähergeführt werden können. Einen er¬
folgreichen Schritt in dieser Richtung bedeutet die Untersuchung
von H. Heimsoeth über die Methode der Erkenntnis bei Des-
cartes undLeibniz(I: Descartes=Philosophische Arbeiten, herausg.
von Cohen und Natorp, 6, 1911), weil sie der Entstehungs¬
geschichte des Cartesianismus und damit auch der Aufklärung
nachgeht.
Für die Geschichte der Psychologie, Ethik und Erkenntnistheorie
leisten die neuaufgelegten Werke von Max Dessoir *), Friedrich
Jo dl (t)*) und Alois Riehl®) die besten Dienste. Dazu kommt die
wertvolle Arbeit über den Hauptgedanken der Geschichtsphilosophie
des 18. Jahrhunderts, den Fortschrittsgedanken, von J. Delvaille:
Essai sur l'histoire de l’id6e de progrfcs jusqu'ä la fin du 18® si£cle
(1910). Für diese philosophischenEinzeldisziplinen nicht nur, sondern
auch für die Hauptrichtungen der allgemeinen Geistesgeschichte
*) Geschichte der neueren Psychologie, 2 . Aufl., 1902.
*) Geschichte der Ethik, 2. Aufl., 1906—1907.
*) Geschichte des philosophischen Kritizismus, 2 Aufl., 1908.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 107
enthält die später zu besprechende reichhaltige Literatur über das
Theodizeeproblem eine ungewöhnlich große Ausbeute.
Dagegen werden die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen und
Begleiterscheinungen der philosophiegeschichtlichen und allgemei¬
nen ideengeschichtlichen Entwicklung, wie auch Plenge S. 14 ff.
mit vollem Rechte gegen Kronenberg geltend macht, noch nicht
genügend beachtet. Um so erwünschter kommt das Buch von M.
Roustan 1 ), das wenigstens in einem ersten Anlaufe das Verhältnis
der französischen Philosophen zum Königtum, den verschiedenen
Ständen und Salons untersucht. Nachahmung verdiente auch das
allgemeinere und gründlichere Werk von L. Charlanne 2 ), das den
französischen Einflüssen im englischen Geistesleben auf den Ge¬
bieten der Mode, Wissenschaft, Kunst, Sprache, Literatur für das
17. Jahrhundert nachgeht.
In weit höherem Maße als bei der Theologie ist aber bei der
Philosophie wie (vgl. später) bei der Kunst die Aufmerksamkeit der
Forscher auf einzelne hervorragende Persönlichkeiten gerichtet, für
Deutschland auf Leibniz, Tschirnhaus, Wolff, Tetens, Hermann Sa¬
muel Reimarus, F. H. Jacobi, Lichtenberg und besonders auf Kant,
für die Niederlande auf Spinoza und auf Hemsterhuis, für Eng¬
land auf Hobbes, Locke und Hume, für Frankreich auf Pascal,
Montaigne, Malebranche, d’Alembert und besonders auf Rousseau.
Aus dieser unübersehbaren Gruppe der philosophiegeschichtlichen
Literatur werden hier vorerst nur einige Neuerscheinungen aus¬
gewählt, die entweder das Leben oder das System eines Philosophen
zusammenfassend, wenn auch kritisch, würdigen, oder solche Spe¬
zialarbeiten, die sich mit philosophischen Einzelwissenschaften wie
Erkenntnislehre, Ethik, Geschichtsphilosophie beschäftigen, die
dem Ideenhistoriker besonders naheliegen.
Zu der ersten Gruppe gehört bei Leibniz Ernst Cassirers 8 )
neues zusammenfassendes Werk, das das System Leibnizens zwar
von Grund aus neu darstellt und in breiterem Rahmen und tiefer als
die meisten Vorgänger (vor allem mathematisch) deutet, das aber
der bei Leibniz so besonders wichtigen Entwicklungsgeschichte der
philosophischen Gedankenwelt nur für einen Teil gerecht wird, zur
zweiten etwa Rintelens 4 ) Aufsatz über Leibnizens Beziehungen
*) Les philpsophes et la socidt£ frangaise, 1911. Vgl. H. Pieron,
De l’influence sociale des principes Cartösiens: Revue de Synthese Hi-
storique 5 (1902).
*) L’influence fran£aise en Angleterre au 17« sikcle, 2 Bände, 1906.
®) Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, 1902.
W. Kabitz, Die Philosophie des jungen Leibniz, Untersuchungen zur
Entwicklungsgeschichte seines Systems, 1909.
4 ) Archiv für Geschichte der Philosophie 16 (1903).
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J. Hashagen
zur Scholastik und Heinrich Hoffmanns 1 ) religionsphilosophie¬
geschichtlicher Beitrag. Was Cassirer für Leibniz geleistet hat, ist
für Kant wohl erst nach Erscheinen der auf 25 Bände berechneten
Akademieausgabe möglich. Immerhin zeigt sich auch bei der Be¬
schäftigung mit Kant neuerdings mehr das erfolgreiche Streben nach
ideengeschichtlicher Zusammenfassung. Neben R. A. Wenley 2 )
wäre Vorländers Aufsatzreihe „Kant — Schiller — Goethe“ 8 )
und A.Wernickes Darstellungder,, Begründung des deutschenldea -
lismus durch Imm. Kant“ *) zu nennen. Vorländ er hat den Kant¬
forschungen auch mit einer kurzen Kantbiographie 6 ) genützt, der
zwei weitere zusammenfassende, für einen weiteren Kreis bestimmte
Überblicke von M. Kronenberg 6 ) und Oswald Külpe 7 ) an die
Seite treten. Seitdem der Neukantianer H. Cohen 8 ) Kants Sitten¬
lehre als eine seiner Hauptlehren mit allen ihren Auswirkungen
umfassend gewürdigt hat, istP. Menzer, der sich neben F. Medi-
cus 9 ) auch um die Erforschung der Kantischen Geschichtsphilo¬
sophie 10 ) verdient gemacht hat, mit einer weniger dogmatischen
und mehr entwicklungsgeschichtlichen Darstellung hervorge¬
treten. 11 ) Da Kants Verhältnis zum Christentum das Urteil der Zeit
stark beeinflußt hat, so hat man ihm mit Recht mehr Beachtung
geschenkt. 1 *)
Während bei Kant das systematisch-sachliche Interesse immer
vorwiegt und auch in den „Kantstudien“ und der 1904 gegrün-
*) Die Leibnizsche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Stel¬
lung, 1903. Vgl. A. Görland, Der Gottesbegriff bei Leibniz: Philosophi¬
sche Arbeiten 1 (1907).
*) Kant and his philosophical revolution, 1910.
*) 1907; rec. H. Nohl, D. L. Z. 29 (1908).
4 ) Ein Beitrag zum Verständnis des gemeinsamen Wirkens von Goethe
und Schiller. Braunschweig, J. H. Meyer, 1910.
*) 1911; rec. G. Jacoby, Archiv für Kulturgeschichte 9 (1911), S.49if.
*) 4. Aufl, 1910.
7 ) Aus Natur und Geisteswelt 146, 2. Auf!., 1908.
, ) Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht,
Religion und Geschichte, 2. Aufl., 1910. W. Koppelmann, Die Ethik
Kants, 1907; rec. F. Staudinger D. L. Z. 29 (1908). Fittbogen, Kants
Lehre vom radikalen Bösen: Kantstudien 12 (1907). M. Weißfeld, Kants
Gesellschaftslehre: Bemer Studien 52 (1907).
*) Kants Philosophie der Geschichte: Kantstudien 7 (1902).
l0 ) Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte, 19n.
,l ) Kantstudien 2f. (1898 f.).
**) Lülmann, Kants Anschauung vom Christentum: Kantstudien 3
(1899). H. Staeps, Das Christusbild bei Kant: Kantstudien 12 (1907).
O. Friedrich, Kants Auffassung vom Wesen des Christentums. Erlanger
Dissertation 1909.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 109
deten „Kantgesellschaft“ an erster Stelle steht, hat die besonders
reizvolle Aufgabe einer Lebensbeschreibung Spinozas auf breitester
zeitgeschichtlicher Grundlage von jeher die Forschung besonders
gefesselt. Ein älteres holländisches Werk von K. 0 . Meinsma 1 ) ist
1909 ins Deutsche übertragen worden. 2 ) Meinsmas Werk ist zwar
teilweise tendenziös antikalvinistisch, auch begrifflich recht ver¬
schwommen. Von einer geistigen Durchdringung des Stoffes kann
man kaum sprechen. Aber dieser wird in reicher Fülle, unter Her¬
anziehung vieler ungedruckter Materialien geboten, so daß die
Übersetzung durchaus berechtigt ist. Nochvordem Erscheinen dieser
Übersetzung hatte L. Freudenthal (t), der Führer der deut¬
schen Spinozaforscher, 1904 seine allgemein anerkannte Lebensbe¬
schreibung beendet, die kürzlich auch von jesuitischer 8 ) Seite,
übrigens umstrittene, Ergänzungen erfahren hat. Auch die Würdi¬
gungen des Spinozismus haben von neuem lebhaft eingesetzt. 4 )
Nicht in demselben Umfange ist die englische und französische 5 )
Philosophie bearbeitet worden. Der Deismus 6 ) als Gesamterschei¬
nung wird immer noch über Gebühr vernachlässigt. Hier vor allem
hätten auch sozialgeschichtliche Studien zur Philosophiegeschichte
einzusetzen. Nicht minder erwünscht wäre eine einigermaßen ab¬
schließende Würdigung Lockes, wie sie für Hobbes 7 ) und neuer¬
dings für Hume 8 ) schon versucht worden ist. Die scholastische
Vorgeschichte der Lockeschen Begriffe „tabula rasa“ und „quali-
tates primae et secundae“ behandelt Clemens Bäumker im Archiv
für Geschichte der Philosophie 21 f. (1908 f.) —
*) Spinoza en zijn Kring, 1896.
*) Spinoza und sein Kreis .... Deutsch von Lina Schneider. Ber¬
lin, Karl Schnabel, 1909.
*) St. von Dunin-Borkowski, Der junge De Spinoza, 1910, und
Aufsätze im Archiv für Geschichte der Philosophie.
4 ) A. Wenzel, Weltanschauung Spinozas I, 1907. Franz Erhardt,
Die Philosophie des Spinoza im Lichte der Kritik, 1908. Vortrefflich ist
Carl Gebhardts Einleitung zum Theologisch-Politischen Traktat (3. Aufl.)
(= Philosophische Bibliothek 93, 1908), Leipzig, Meiner. Vgl.R. Ä. Duff,
Spinoza’s ethical and political theories, 1903.
•) Siehe die späteren Berichte und dieses Archiv Bd. 11, S. 255 fr. über
Voltaire.
*) E. Crous, Die religionsphilosophischen Lehren Lockes und ihre
Stellungzum Deismus...: Benno Erdmanns Abhandlungen z.Philos. 34 (1910).
T ) Leslie Stephen, 1904. Von demselben: TheEnglishUtilitarians,
3 Bde., 1900.
*) A. Thomsen, 1912. Die Vorgeschichte und Geschichte des eng¬
lischen Empirismus behandelt teilweise auch R. Herbertz, Studien zum
Methodenproblem und seiner Geschichte, Köln, DuMont-Schauberg, 1910.
Über Shaftesbury s. die Bibliographie im Archiv für Geschichte der
Philosophie 17 (1904).
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I IO
J. Hashagen
Eine der LiebKngswissenschaften und Lieblingsbeschäftigungen
des 18. Jahrhunderts ist die Pädagogik. Alle großen geistigen Be¬
wegungen dieser Zeit haben ihren ideengeschichtlich stets beson¬
ders lehrreichen theoretischen und praktischen pädagogischen Nie¬
derschlag gefunden. Wenn auch die ungemein umfangreiche Lite¬
ratur der letzten Jahre über diesen beliebten Gegenstand vielfach
mehr von praktischen Gesichtspunkten und zufälligen Veranlas¬
sungen ausgeht, wie besonders die unübersehbar große Zahl von
Geschichten einzelner Schulanstalten erkennen läßt, nicht immer
zur Förderung wissenschaftlicher Gesamterkenntnis: so bietet
doch diese Literatur im Verein mit mancher dankenswerten neuen
Edition stets ideengeschichtliche Anregung genug. Die Ge¬
fühlsreaktionen lassen zwar ihrem Wesen entsprechend einen äu¬
ßerlich geringeren pädagogischen Niederschlag zurück als die Auf¬
klärung. Aber auch sie geben sich fast stets der Hoffnung hin,
für ihre neue Lebensanschauung die Jugend zu gewinnen, und
setzen diese Hoffnung auch vielfach in die Praxis um. Gleich der
Pietismus hat hier so umgestaltend eingegriffen, daß eine Darstel¬
lung eines Teiles seiner Bestrebungen auf diesemGebiete für sich eine
lohnende Aufgabe ist. Sie hat in O. Ut t e n d ö r f e r einen tüchtigen Be¬
arbeiter gefunden. x ) —Geistesgeschichtlich werden derartige Arbeiten
am meisten befriedigen, wenn sie die Gedankenwelt der führenden Pä¬
dagogen auch über das engere pädagogische Gebiet hinaus unter¬
suchen. Besonders die neuerdings wieder stark belebte Pestalozzi¬
forschung kann dadurch gewinnen. Neben einer sehr förderlichen
Gesamtwürdigung von A. Heubaum 2 ) sind auch speziellere Arbei¬
ten über Pestalozzis „Menschenbildung“ 3 ), seine „sozialethischen
Anschauungen“ 4 ) und seine „religionsphilosophischen Hauptpro¬
bleme“ 6 ) heranzuziehen. — Für die Erforschung der Erziehungslehre
der Aufklärung 6 ) bieten ein trefflicher, mit Chodowieckischen
Kupfern geschmückter und fleißig kommentierter Neudruck des
Basedowschen Elementarwerks, herausgegeben von Th. Fritzsch 7 ),
sowie die von F. Jonas und F. Wienecke 8 ) besorgte Edition der
sämtlichen pädagogischen Schriften F. E. v. Rochows willkom¬
mene Hilfsmittel. Neben der letzteren steht eine brauchbare Auswahl
*) Das Erziehungswesen Zinzendorfs und der Brüdergemeinde, Mo-
numenta Germaniae Paedagogica 51, 191z; ree. Ph. Meyer, Gött. Gelehrte
Anzeigen 175 (1913).
*) Die großen Erzieher 3, 1909: ree. P. Natorp, D. L. Z. 31 (1910).
*) W. Frey tag, Leipziger Dissertation 1907.
4 ) P. Graudlitz, desgl. 1911.
6 ) L. Cadier, Haller Dissertation 1910. P. Natorp, Pestalozzi und
Rousseau: Ges. Abh. 1, 1907. K. Muthesius, Goethe und Pestalozzi, 1908.
®) A. Römer, Gottscheds pädagogische Ideen, 191z. (Leipz. Diss. 1911).
7 ) 3 Bde., 1909. 8 ) 4 Bde., 1907—1910.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 j t x
von J. Gänsen. 1 ) Von besonderem geistesgeschichtlichen Interesse
sind die mehr oder minder starken Reflexe, die die aufklärerische
Pädagogik auch in katholischen Gebieten aufzuweisen hat. Beson¬
ders fruchtbar erweisen sich dabei Vergleiche zwischen dem 17. 2 )
und dem 18. Jahrhundert. 3 ) Auch Forschungen über die äußere
Lage des Lehrerstandes, wie Max Moser 4 ) sie in einer fleißig
ausgeführten Spezialstudie für den Breisgau darbietet, sind bei
einer Würdigung des Ideengehaltes der Pädagogik unserer Periode
nicht zu entbehren. Außerordentlich zersplittert sind die Unter¬
suchungen über das Mittelschulwesen. Auf sie sowie besonders auf
die Arbeiten über die preußische Mittelschulreform sei nur im all¬
gemeinen verwiesen. 8 )
Die Jubiläen der Universitäten Gießen und Leipzig haben in
dan Jahren 1907 und I909ff. zu besonders hochstehenden histori¬
schen Würdigungen Anlaß gegeben, die auch auf das Geistes¬
leben unserer Periode viel neues Licht werfen. P. Drews 8 )
schildert im besonderen das Eindringen der Aufklärung in die Uni¬
versität Gießen, Bruchmüller den Leipziger Studenten des 18.
Jahrhunderts. 7 ) Die neue Ausgabe von „Magister Laukhards
Leben und Schicksalen“ von Petersen-Holzhausen 8 ) enthält viel
Interessantes zur allgemeinen Universitätsgeschichte. —
Dagegen wird der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte viel¬
leicht noch nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Wie
sie geistesgeschichtlich fruchtbar zu behandeln ist, zeigt Ernst
Landsberg in vorbildlicher Weise in seiner Geschichte der deut¬
schen Rechtswissenschaft. Auch Adolf Harnacks grundlegen¬
des und abschließendes Werk über die Berliner Akademie 9 ) for¬
dert zu geistesgeschichtlicher Verwertung heraus. Insbesondere
die Geschichte der Geschichtswissenschaft ist neuerdings auch für
*) 2. Aufl., 1908. Paderborn, Schöningh.
*) A. L. Veit, Das Volksschulwesen in Kurmainz unter Erzbischof
Johann Philipp von Schönbora. Gießener Dissertation 1909.
*) J. Niedieck, Das Erziehungs- und Bildungswesen unter dem letzt¬
regierenden Kurfürsten vonCöln, Max Franz. Münsterer Dissertation 1911.
Vgl. W. O. Nicolay, J. J. Felbiger, Bonner Dissertation 1908.
4 ) Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 3 (1908). Vgl.
die wichtige Arbeit von F. Vollmer, Friedrich Wilhelm I. und die Volks¬
schule, 1909; ree. W. Stolze, Hist. Zschr. 107 (1911).
*) Vgl. F. Straßburger, Die Mädchenerziehung in der Geschichte
der Pädagogik des 17. und 18. Jahrhunderts, Erlanger Dissertation 1911.
*) Preußische Jahrbücher 130 (1907).
*) Neues Archiv für sächsische Geschichte 29 (1908).
®) 2ßde., 1908—9. Memoirenbibliothek II. Serie, Bd. 14, 15. Stuttgart,
Robert Lutz; rec. Edward Schröder, G. G. A. 172 (1910).
*) Vgl. F. Masson, L’acaddmie frangaise, 3. Aufl., Paris [1913].
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I I 2
J. Hashagen
unsere Periode durch das in mancher Hinsicht treffliche Werk
Eduard Fueters 1 ) weit unbefangener als früher gewürdigt und
auch stofflich bereichert 2 ) worden. W. Sulzbach zeigt in seiner
belehrenden Schrift über die Anfänge der materialistischen Ge¬
schichtsauffassung (1911) sehr deutlich, wieviel das 19. auch auf
diesem Gebiete dem 18. Jahrhundert verdankt. Die späteren Be¬
richte werden auf das ideengeschichtlich ertragreiche Gebiet der
Wissenschaftsgeschichte noch besonders zu achten haben. Zum
ersten Male hat Karl Lamprecht in seiner Deutschen Geschichte
größere Abschnitte daraus zur Aufhellung der allgemeinen Zu¬
sammenhänge herangezogen. Aus der Fülle der Spezialliteratur sei
die Untersuchung über ,,die Hellenisierung des Christentums in
der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart“
von Walter Glawe 3 ) genannt, weil sie über die behandelte Einzel¬
wissenschaft hinaus und zur allgemeinen Geistesgeschichte häufiger
hinüberführt. Noch bedeutender ist der Beitrag, den Th. Zielinsky
in seinem schönen Buche über „Cicero imWandel der Jahrhunderte“ 4 )
zur Charakteristik der englischen und französischen Aufklärung
liefert. Auch hier sind Diltheys Arbeiten, dessen Gesammelte
Schriften jetzt zu erscheinen beginnen, unschätzbar.
VII.
Die Literaturgeschichte ist sich neuerdings, besonders unter dem
Einflüsse Hayms und Diltheys, immer mehr ihrer ideengeschicht¬
lichen Verpflichtungen bewußt geworden. Neue Fachzeitschriften
wie die Annales de la sociötö Jean-Jacques Rousseau seit 1904,
die Revue Germanique seit 1905 und die Germanisch-Romanische
Monatsschriftseit 1908 geben solchen Arbeiten mehr Raum. Auch die
mehr systematisch gerichteten Zeitschriften, wie Dessoirs Zeitschrift
für Ästhetik seit 1905, der Logos seit 1910 und die Imago seit
1912 wirken in dieser Richtung. Dasselbe gilt von der ausgezeich¬
neten Revue de Synthese Historique, die in Deutschland noch nicht
genügend bekannt ist, obwohl sie schon seit 1900 erscheint und über
das Gebiet der Literaturgeschichte weit hinausgreift. Aber nicht
') Geschichte der neueren Historiographie, 1911; rec. Westdeutsche Zeit-
schrift31(1912). Hier weiteres über die Literatur zur Geschichte der Geschichts¬
schreibung unserer Periode. Nachzutragen ist u. a ein Hinweis auf M.
Ritters Studien in der Historischen Zeitschrift 112 (1913).
*) Vgl.noch L.D a v i 11 6 , Leibniz historien, Essai sur l’activitö et la möthode
historique de Leibniz, 1909, und Revue de synthfcse historique 23L (1912);
M. Schurig, Die Geschichtsschreibung des Grafen Heinrich von Bünau,
Leipziger Dissertation 1911, und besonders O. Klemm, Vico als Ge¬
schichtsphilosoph und Völkerpsycholog, 1906.
*) Neue Studien zur Geschichte der Theologie und Kirche 15 (1912).
4 ) 3. Auf!., 1912.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 113
nur die organisierte wissenschaftliche Arbeit läßt hier Fortschritte
erkennen, die dem Kulturhistoriker besonders lieb sind, sondern
auch einzelne literarhistorische Forscher wie Oskar F. Walzel 1 )
stellen sich mit Bewußtsein in den Dienst der neuen zukunftsreichen
,,Richtung“, ohne die nötige philologische Kleinarbeit darüber
zu vernachlässigen. Die Grenze nach der Geschichte der Philo¬
sophie hinüber wird dann leicht flüssig, aber das ist nur ein Vor¬
teil, wie man auch an den verschiedenen Arbeiten Eugen Kühne¬
manns über unsere Periode feststellen kann. Aus Lamprechts
Schule ist jüngst eine interessante „Geschichte des Übersetzens
im 18. Jahrhundert“, verfaßt von W. Fränzel (Lamprechts Bei¬
träge 25, 1914) hervorgegangen* —
Die Einzelforschung geht unbeschadet dessen ihren Weg,
freilich oft mit so schwerem philologischen Gepäck belastet, daß
der für die Ideengeschichte dabei herausspringende Ertrag zu der
aufgewendeten Arbeit in keinem Verhältnisse mehr steht. Die
Literaturgeschichte hat den ganzen Zeitraum von der Mitte des
17. bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts mit einer Fülle von
Einzeluntersuchungen übersponnen. Schon für das 17.Jahrhun¬
dert (s. die späteren Berichte) ist die Ernte überreich. Eine
Zeitlang ist dann die Periode des 18.Jahrhunderts vor dem
Auftreten Klopstocks vielleicht etwas vernachlässigt worden.
Aber auch darin ist neuerdings ein Wandel eingetreten, vor allem
durch den lauten Vorstoß, den Eugen Reichel 2 ) zugunsten
Gottscheds unternommen hat. Seine Gottschedbiographie um¬
faßt zwar über 1700 Seiten und ist, wie uns der Verfasser mitteilt,
ursprünglich auf fünf Bände berechnet gewesen. Sie ist aber kein
würdiges Gegenstück zu den erlesenen klassischen biographischen
Werken, die wir über das 18. Jahrhundert bereits besitzen. Daran
ist einmal schuld die alles Maß und Ziel überschreitende apologe¬
tische Tendenz. Man wird gewiß die etwas einseitigen Verdam¬
mungsurteile früherer Gottschedforscher nicht gutheißen. Wer
aber so wie Reichel alle Entgleisungen seines Helden beschönigt,
wer vor allem beim Vergleich mit anderen so völlig jeden Maßstab
verliert, der kann trotz allen Fleißes und aller Entsagung wissen¬
schaftlich kaum noch ernst genommen werden. Alle Gegner
Gottscheds werden systematisch verkleinert, nicht nur die Klas¬
siker, besonders natürlich Lessing, sondern auch „Vorläufer“ wie
Leibniz, Pufendorf, Thomasius, denen Gottsched doch nicht das
*) Analytische und synthetische Literaturforschung: Germanisch-roma¬
nische Monatsschrift 2 (1910). R. Unger, Walzels Aufsätze zur deutschen
Geistesgeschichte, D. L. Z. 33 (191z).
*) Gottsched. 2 Bde. Berlin, Gottschedverlag, 1908—1912; ree. Leg¬
band, Archiv für Kulturgesch. 10 (1913), S. 498f.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. i 8
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114 J. Hashagen
Wasser reicht, und Georg Friedrich Meier, der durchaus ach¬
tungswerte Kritiker der ,,Critischen Dichtkunst“. Reichel be¬
handelt Gottscheds Gegner schlechter, als Gottsched je von
seinen literarhistorischen Gegnern behandelt worden ist. Es wäre
aber weiter ein großer Irrtum, wenn man Reichels Fehler nur in
seiner Tendenz erblicken wollte. Denn trotz des ungeheuren Um¬
fangs dieser Biographie läßt sie Grundfragen der Gottschedfor¬
schung ohne befriedigende Lösung. Die Antwort auf die Frage
nach dem Verhältnis Gottscheds zu den Schweizern wird I, S. 292,
Anm. 7 geradezu beiseite geschoben. Und Gottscheds inneres Ver¬
hältnis zu Wolff wird ebensowenig genauer untersucht wie sein
Verhältnis zur Aufklärung überhaupt. In seinem Zorne sieht der
Verfasser den Wald vor Bäumen nicht mehr und unterläßt das
Nächstliegende: eine Schilderung Gottscheds als typischen Lite¬
raten und Kritikers der Aufklärung. Aber auch bescheidenere
Wünsche wie z. B. der nach einer wirklichen Analyse des Sterben¬
den Cato werden nicht erfüllt. Das Beste an Reichels mühevoller
Arbeit ist die Feststellung der äußeren Lebensverhältnisse und der
dramaturgischen Reformbestrebungen. Zu einem tieferen Ein¬
dringen in Gottsched und seine. Zeit ist der Verfasser nicht fähig.
Die literarhistorische Schulung, auf die doch auch die erwähnte
ideengeschichtliche Richtung der Literaturforschung das größte Ge¬
wicht legt, ist bei ihm nur mangelhaft entwickelt. Das muß man
bedauern; denn es gibt gewiß wenige Bücher über die Literatur¬
geschichte des 18. Jahrhunderts, die so gut gemeint sind wie diese
monumentale „Rettung“. Auch K. Aners Buch über Gottscheds
Nachfahren Nicolai 1 ) ist etwas apologetisch gehalten, steht aber
durchweg in wohltuendem Gegensätze zu Reichels Unternehmen,
besonders auch deshalb, weil Aner Nicolai als Theologen gründ¬
lich würdigt und sich damit auf festem fachwissenschaftlichen
Boden bewegt. Auch sonst werden die vorklassischen bzw. anti¬
klassischen Schulen von der gelehrten Arbeit nicht vernachlässigt,
und der herkömmlichen Motivenforschung wird man nur dankbar
sein, wenn sie so wesentliche Bereicherungen des Bildes bringt wie
bei F. Ausfeld in seiner Arbeit über die deutsche anakreontische
Dichtung des 18. Jahrhunderts. 2 )
Vor der Überschätzung der älteren Richtungen, wie sie bei
*) Der Aufklärer F. Nicolai: Studien zur Geschichte des neueren
Protestantismus, herausg. von Hoffmann undZschamack6(i9i2). Vgl. von
demselben: G. Ploucquets [+ 1790] Leben und Lehren: Erdmanns Ab¬
handlungen 23 (1909). Halle, Niemeyer.
*) Ihre Beziehungen zur französischen und zur antiken Lyrik: Quellen
und Forschungen usw. 101 (1907). E. Stemplinger, Das Fortleben der
Horazischen Lyrik seit der Renaissance, 1906.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 115
Reichel hervortritt, bleibt man am besten bewahrt, wenn man
sich der Entstehungsgeschichte der neuen deutschen Ästhetik
erinnert, die ohne den Gegensatz gegen die Gottschedischen An¬
schauungen nicht zu denken ist. E. Bergmann 1 ) hat dieses wich¬
tige Stück der deutschen Geistesentwicklung u. a. durch seine
gründliche Arbeit über die beiden Anfänger Baumgarten und
Meier neu erschlossen. Von hier aus wird sich das Bedürfnis
einer genaueren Untersuchung der Anregungen des Auslandes,
besonders Englands, als Notwendigkeit ergeben. Den englischen
Einflüssen wird neben den französischen auch sonst mit Recht
besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 2 )
Internationale Weite des Blicks ist auch einer der vielen Vorzüge
desbedeutendenWerkes von R. Unger über,, Hamann und die Auf¬
klärung" (2ßde., 1911), das besonders auch als Beitrag zur Geschichte
der Ästhetik zu gelten hat. Deshalb schildert schon die aufschlu߬
reiche Einleitung einmal die alte Ästhetik, namentlich die auf der
zugleich rationalistischen und einseitig attisierenden aristotelischen •
Poetik beruhende Renaissancepoetik und ihr „letztes Bollwerk":
Gottsched, der hier im Gegensätze zu den Verschwommenheiten
Reichels wirklich historisch begriffen wird, und sodann im Kampfe
mit der alten die neue Ästhetik, wie sie sich aus der neuen Psycho¬
logie in England 8 ), Frankreich und schließlich auch in Deutsch¬
land entwickelt. Ihr Vorkämpfer ist auch Hamann, der aber
mit der Vorstellung vom Ästhetischen als einer „anderen Seite
des Religiösen“ alle äußeren Anregungen, z. B. die Youngs, ganz
individuell verarbeitet. Deshalb wird auch die Analyse der
Aesthetica in Nuce als einer der Höhepunkte des Werkes gestaltet.
Von hier aus ergibt sich dem Verfasser als die schöpferische Haupt¬
tat Hamanns die Verschmelzung des Religiösen mit dem Ästheti¬
schen, des Sinnlichen mit dem Übersinnlichen, die Verbindung
von Moses und Bacon (I, S. 244). Schon die Einleitung verfolgt im
Hinblick darauf die Einwirkung des Pietismus und des wieder
z. T. englisch bedingten Sensualismus — auch Hume fehlt nicht —
auf die Literatur: der Pietismus, aber auch „der paulinische Glau¬
benstrotz des älteren Luthertums“ (I, S. 126), und ferner der Sen¬
sualismus sind die beiden entscheidenden zeitgeschichtlich gegebe¬
nen Gedankenrichtungen, in deren Dienste Hamann den „For¬
malismus und Intellektualismus der Renaissanceästhetik von innen
*) Die Begründung der deutschen Ästhetik durch A. G. Baumgarten
und G. F. Meier. Leipzig, Schunke, 1911; rec. E. Spranger, Historische
Zeitschrift 108 (1912).
*) Über das Ausland s. die späteren Berichte.
*) M. Joseph, Die Psychologie Homes. Haller Dissertation 1911.
8 *
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ix6 J. Hashagen
heraus“ (I, S. 205) überwindet. Von innen heraus; denn Unger
ist weit davon entfernt, über all den zeitgeschichtlichen „Ab¬
leitungen“ die große Persönlichkeit des Magus aus den Augen
zu verlieren. Sie wird mit tiefem psychologischen Verständ¬
nisse und entschiedener Gestaltungskraft geschildert. Eine
•der unverständlichsten Geistesgrößen des i 8. Jahrhunderts wird erst
jetzt für das allgemeine wissenschaftliche Bewußtsein zurückge¬
wonnen. Und dabei gibt der Verfasser keineswegs einen Panegyri-
cus. Er bezeichnet vielmehr die Grenzen des Hamannschen
„Genies“ überall deutlich, wenn er auch bisweilen zu sehr mit
Hamannschem Auge sieht und der merkwürdigen, ganz individuell
gearteten Interferenz zwischen Religion und Schönheitsdurst bei
Hamann vielleicht eine zu große allgemeine Bedeutung beimißt.
So sehr Unger bemüht ist, seinen Helden mit der Vergangenheit
und der eigenen Zeit zu verknüpfen, so aufmerksam spürt er
doch auch dem Prophetischen in Hamanns Wesen und Geistes¬
arbeit überall nach. Sturm und Drang und Romantik, aber auch
die Identitätslehre des „objektiven Idealismus“ (I, S. 188) sind
bei Hamann vorbereitet. Erst durch Ungers Werk gewinnt man
einen erschütternd tiefen Einblick in die gewaltige Kraft der hef¬
tigsten Gefühlsreaktion, wie sie zuerst einen einzelnen Men¬
schen läutert und dann von da aus die neue literarische Kultur
der produktiven Geister hervorruft. Es ist deshalb auch kein Zu¬
fall, daß der Verfasser die beiden älteren Gefühlsreaktionen,
Pietismus und Empfindsamkeit, zugleich mitbeleuchtet. Wenn
Plenge (s. oben) S. 11, Anm. 5 an dem Hamannbilde Kronenbergs eine
„ungesunde Idealisierung“ bemängelt, so müßte Plenge das auch
gegenüber demUngerschenBilde tun, wenn dieser auch dieBedeutung
der Mystik im engeren Sinne für Hamann vorsichtiger bewertet
als Kronenberg. Aber der Reichtum dessen, was Ungers wissen¬
schaftliche Rekonstruktion bietet, wird leicht davon überzeugen,
daß ein solcher Vorwurf kein Recht hätte. Eine andere Frage ist,
ob Unger seine Aufgabe nicht weniger umständlich und unüber¬
sichtlich hätte lösen können. Trotzdem ist das Werk auch durch
gute zusammenfassende Rückblicke und zusammenfassende
Sätze ausgezeichnet: „Wo Lessing höchsten Kunstverstand sah,
erschaute der Magus die Naturkraft des Genies“ (I, S. 228). Die
Literaturgeschichte in ihrer Stellung als fruchtbare Hilfswissen¬
schaft der Ideengeschichte ist von Unger an einem glänzenden
Beispiele vorgeführt worden. Ein anderes bleibendes Verdienst,
das sich Unger um die Deutung der dunklen Schriften Hamanns
erworben hat, kann hier nur noch andeutungsweise erwähnt wer¬
den. Daß Hamann jetzt auch als religiöser Reformator in hellem
Lichte erscheint, ist ebenfalls ein schöner Ertrag der Arbeit Ungers,
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. i8co 1x7
der durch zeitgeschichtliche, z. B. von F. Strich 1 ) aufgedeckte
Parallelen nicht beeinträchtigt wird.
Der Sturm und Drang, zu dessen Anfängern Hamann beson¬
ders als Lehrer Herders gehört, ist schon seit der Literaturrevo¬
lution der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts auch von
der wissenschaftlichen Forschung mehr beachtet worden. Neuer¬
dings haben eine Anzahl kritischer und sonstiger Ausgaben hier erst
die sichere Grundlage geschaffen, so bei Bürger und Lenz und be¬
sonders bei dem zum Klassizismus hinüberführenden Heinse. In¬
gleichen ist die Literatur über den Sturm und Drang stark ange¬
schwollen. Außer Klinger, Maler Müller, Moritz, Sprickmann u. a. ist
namentlich das vielumstrittene Bild Schubarts sorgfältig, wenn auch
keineswegs abschließend nachgezeichnet worden. Wegen der vielen
aufklärerischen Überbleibsel, die sich bei Schubart noch finden,
bietet seine Gestalt ein besonderes entwicklungsgeschichtliches
Interesse. Außerdem beobachtet man bei fast allen Vertretern
dieser lebensvollen Richtung eine innige Wechselwirkung zwischen
Ideen und gesellschaftlich-politischer Umwelt, welche auch an
dieser Stelle die Literaturforschung über die Fachgrenzen mit
Notwendigkeit hinausführt und für die allgemeine Kulturgeschichte
fruchtbar macht. Wenn auch beim Sturm und Drang das moderne
Interesse vor allem auf die Ästhetik, z. B. bei Bürger und Heinse 2 ),
oder auch auf die Dramaturgie im besonderen gerichtet ist, so
darf man das als neues Zeichen für die wachsenden ideengeschicht¬
lichen Interessen der Literaturgeschichte, die dann mit der Philo¬
sophiegeschichte nahe zusammengeht, ansehen. Erst so wird
auch diese ganze Literatur für die noch vielfach unerforschte
Geschichte der Vorromantik zu greifbaren Ergebnissen führen.
Für die Aufdeckung solcher Zusammenhänge hat unter den
Klassikern von jeher Herder die Forschung besonders angezogen. In
Kühnemanns 1912 in zweiter Auflage erschienenem feinsinnigen
Herderbuche kommt das ebenso zum Ausdruck wie in zahlreichen
Spezialarbeiten, die freilich den Mann mehr vom Standpunkte
seiner Bedeutung für einzelne Fachwissenschaften, wie namentlich
für die Philosophie 8 ) und für die Theologie 4 ), behandeln, als daß
l ) Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis
Wagner, 2 Bde., 1910; ree. Richard M. Meyer, Euphorion 19 (1912).
*) E. Utitz, Heinse und die Ästhetik zur Zeit der deutschen Auf¬
klärung, 1907. W.Brecht, Heinse und der ästhetische Immoralismus, 1911.
*) C. Siegel, H. als Philosoph, 1907. G. Jacoby, H.s und Kants
Ästhetik, J907. H. in der Geschichte der Philosophie: D. L.Z, 29 (1908).
*) R. Wielandt, H.s Theorie von der Religion und den religiösen
Vorstellungen, 1903. G. E. Burckhardt, Die Anfänge einer geschicht¬
lichen Fundamentierung der Religionsphilosophie. Berlin, Reuther &
Reichard, 1908.
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118
J. Hashagen
sie einzelne Phasen seiner geistigen Entwicklung allseitig genauer
untersuchten. 1 ) Die Geschichts- und Kulturphilosophie, Herders
größte Leistung, ist kürzlich nach dem Vorgänge von Kühne¬
mann 2 ) in zwei Aufsätzen von O. Braun 8 ) in ihrer Entwicklung
geschildert worden. Zu der Größe des Gegenstandes stehen aber
diese Aufsätze in keinem ganz angemessenen Verhältnisse; denn
ihr Verfasser begnügt sich mit einer zu kurzen Analyse der fast
von Anfang an geschichtsphilosophisch gerichteten Gedankenarbeit
Herders. Weder werden hier die merkwürdigen Gegensätze z. B.
zwischen der Bückeburger Programmschrift und den Ideen scharf
genug herausgearbeitet, noch wird den zeitgeschichtlichen Zu¬
sammenhängen größere Aufmerksamkeit geschenkt. So können
die Aufsätze mehr nur als auf Herder beschränkte fleißige Vorar¬
beit aufgefaßt werden, und eine tiefere Entwicklungsgeschichte
der Herderschen Geschichtsphilosophie, zu der Suphans ausge¬
zeichnete Ausgabe, soweit Herder selbst in Betracht kommt,
alles Nötige bietet, wäre erst von der Zukunft zu erwarten. 4 )
Bei Lessing überschattet Erich Schmidts 1909 in dritter Auf¬
lage erschienene Biographie ähnlich wie Kosers Werk bei Friedrich
dem Großen so sehr alles andere, daß die Lessingforschung mehr
nur auf die Spezialarbeit 6 ) beschränkt zu sein scheint. Außer
kleineren zusammenfassenden Arbeiten verdient aber neben Erich
Schmidt Karl Borinskis schon seit längerer Zeit vorliegende,
für einen weiteren Kreis bestimmte Biographie 6 ) wegen der
Selbständigkeit ihres Urteils alle Beachtung. Außerdem hat aber
Erich Schmidts doch immer mehr artistisch gerichtetes Werk
Lessings Stellung in der allgemeinen Geistesgeschichte natürlich
nicht abschließend behandeln wollen. So haben sich neuere Ar¬
beiten besonders der Philosophie und Theologie Lessings zu¬
gewandt. P. Lorentz gibt im 119. Bande der Philosophischen
Bibliothek (1909) durch Zusammenstellung der philosophischen
Schriften einen überraschenden Einblick in die Interessen und
Leistungen des Mannes auf diesem Gebiete. Auch die von neuem
wieder einsetzende Beschäftigung mit Lessing im Alter und beson¬
ders mit seiner dem Verständnis und der historischen Einordnung
x ) H. Stephan, H. in Bückeburg, 1905. Von demselben: H.s Philo¬
sophie (=» Philos. Bibliothek 112, 1900).
*) Deutsche Monatsschrift 5 (1904).
^Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 144-145
(1911—1912) und Historische Zeitschrift 110 (1913).
4 ) Vgl. R Unger, Zur neueren Herderforschung: Germanisch-roma¬
nische Monatsschrift 1 (1908).
*) Z. B. F. Rosiger, Lessings Heldenideal und der Stoizismus: Neue
Jahrbücher etc. 19 (1906).
*) Lessing, 2 Bde., Geisteshelden 34/35, 1900.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 11 g
in jeder Hinsicht große Schwierigkeiten entgegenstellenden „Er¬
ziehung des Menschengeschlechtes“ findet hier, abgesehen von der
kritischen 1 ) Frage, ihre Erklärung.
Manche Leistung der vielgeschmähten Goethephilologie ist
gewiß den ideengeschichtlichen Interessen wenig entgegengekom¬
men. Aber der Tiefpunkt ist doch auch hier längst überschritten.
Der kostbare Fund eines Goethischen Jugendwerkes, des Ur-
meisters 2 ), der G. Billeter in Zürich 1910 gelungen ist, fordert
gewiß zunächst zu sorgfältigster philologischer Vergleichung mit
den Lehrjahren heraus. Er wird aber auch für eine geistesgeschicht¬
liche Charakteristik des jungen Goethe bald unschätzbar werden.
Goethe ist zu reich, als daß ihm eine nur artistische Betrachtung
je gerecht werden könnte. Die Neuschöpfung des Geisteslebens,
die er in sich vollzieht, bleibt darüber hinaus immer der vornehmste
Gegenstand der Forschung. Zu dieser Erkenntnis gelangt man
schon auf Grund der wertvollen Studie von E. A. Boucke 8 ) und
manches anderen später zu würdigenden allgemeinen Goethe¬
buches. Größere Zusammenhänge unparteiisch darzustellen, er¬
schwert Goethe selbst besonders. Otto Harnack*) schildert
von Goethe als Gipfel aus skizzenhaft die Entwicklung des Klassi¬
zismus als „Stilprinzipes“, wobei auch Vorbereiter wie J. H. Voß,
J. H. Merck u. a. sowie die Epigonen zu ihrem Rechte kommen.
Da sich aber Harnack schon in seinen früheren wichtigen einschlä¬
gigen Arbeiten selbst als Klassizisten ausweist, so hat er auch dies¬
mal nicht die nötige Distanz.
Die im letzten Jahrzehnt ganz wesentlich bereicherte und ver¬
tiefte Literatur über Schiller und die Brüder Humboldt soll später
behandelt werden. Auch Wieland findet schon wegen seiner Be¬
ziehungen zur Romantik und im Anschluß an die seit 1909 er¬
scheinende Akademieausgabe steigende Beachtung. E. Erma-
tingers Untersuchung über die Weltanschauung des jungen
Wieland 5 ) begründet vermittels einer eingehenden Betrachtung
der Jugendschriften der fünfziger Jahre, besonders des Lehrge¬
dichtes von der Natur der Dinge, zwei auch innerlich berechtigte
') H. Scholz: Preußische Jahrbücher 155 (1914).
*) Wilhelm Meisters theatralische Sendung, herausg. von Harry
Maync, 1911.
*) Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage, 1907; rec.
M. Morris, Euphorion 16 (1909). Vgl. E. Menke-Glückert, Goethe als
Geschichtsphilosoph: Lamprechts Beiträge 1 (1907).
4 ) Der deutsche Klassizismus im Zeitalter Goethes. Eine literarhisto¬
rische Skizze. 1906; rec. R.Weißenfels, Gött. Gelehrte Anzeigen 171 (1909).
®) Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, 1907; rec. Seuffert,
Euphorion 17 (1910). — Ermatinger, Das Romantische bei Wieland:
Neue Jahrbb. etc. 11 (1908).
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120 J. Hashagen
Thesen: die relative geistige Selbständigkeit des jungen Wieland
und im Zusammenhang damit die relative Kontinuität in seiner
inneren Entwicklung. Manches hätte vor einen breiteren Hinter¬
grund gestellt werden können. Auch ist der Untertitel ,,ein Bei¬
trag zur Geschichte der Aufklärung“ nicht ganz gerechtfertigt.
Denn Ermatingers Studie ist mehr ein Beitrag zur Vorgeschichte
des Neuhumanismus, die man über der Vorgeschichte der Romantik
nicht vergessen sollte, zumal da auch Hemsterhuis in ihr so erfolg¬
reich arbeitet, weshalb auch Shaftesburys Einfluß auf Wieland von
Ermatinger mit Recht näher geprüft wird.
Es liegt nicht mehr in der Absicht dieses skizzenhaften Eröff¬
nungsberichtes, auf die Literatur zur Romantik einzugehen, ob¬
schon die gesamte Frühromantik noch dem 18. Jahrhundert an¬
gehört und der geistesgeschichtliche Ausgang des Jahrhunderts
ohne tieferes Studium auch der Blüte und des Verfalls der Romantik
nicht zu verstehen ist, wie besonders F. Meineckes „Weltbürger¬
tum und Nationalstaat“ (2. Aufl. 1911) und schon A. Poetzschs
„Studien zur frühromantischen Politik und Geschichtsauffassung“
(Lamprechts Beiträge 3, 1907) trefflich erkennen lassen. Der
ideengeschichtliche Aufschwung, den speziell die Literaturgeschichte
in der letzten Zeit genommen hat, ist nirgends so deutlich zu spüren
wie bei einer Reihe von ausgezeichneten Arbeiten über die Roman¬
tik. — Der energische Übergang von äußerlicher Motivenforschung
und „Parallelenjagd“zur Ideengeschichte führt aber auch zu neuen
ungeahnten Schwierigkeiten. Die höheren Ziele, die sich diese
Forschung jetzt steckt, sind nur mit außergewöhnlichen Mühen zu
erreichen. Aus solchen neuen und neu geschaffenen Verwicklungen
erklärt es sich auch, daß geistige Charakterbilder, die in den Haupt¬
zügen schon festzustehen schienen, von neuem einer Flut vonKontro-
versen verfallen sind. Das beste Beispiel dafür ist Heinrich von
Kleist. Sein Schaffen gehört zwar fast ganz erst dem ersten Jahrzehnt
des 19. Jahrhunderts an. Aber was von der Romantik gilt, ist
auch für ihn richtig: von der Kleistforschung wird auch die
Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts nachhaltig befruchtet. Von
der einen Seite wird Kleist, wenigstens der Dramatiker Kleist, auf¬
gefaßt als einer der Vollender des Klassizismus 1 ); auch die bei ihm
deutlichen Gegensätze gegen die Romantik werden nicht über¬
sehen. 8 ) Von hier aus wäre auch das sonst so ergebnisreiche
Buch Steigs zu berichtigen, das Kleists Einigkeit mit .den Roman¬
tikern zu überschätzen scheint. Bei aller Begeisterung für Kleist
') H.Meyer-Benfey, Das Drama Heinrich von Kleists, 2Bde„ 1911.
*) E. Kayka, Kleist und die Romantik: Munckers Forschungen 31
(1906).
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 121
verwendet die zünftige Kleistforschung aber oft noch recht ratio¬
nalistische Maßstäbe. Gegen diese richtet Julius Hart in seinem
„Kleistbuch“ [1912] einen heftigen, aber nicht unbegründeten
Angriff. Der Kampf der Natur und des Gefühles, der Naturethik
und der Naturästhetik bei Kleist erscheint Hart als das Wesent¬
liche in Kleists Entwicklung. Eben damit behandelt das Buch
ein dem 18.Jahrhundert geläufiges Problem. Kleist wäre dann,
wie auch Hart meint, der Vollender des Sturmes und Dranges
und damit einer der mächtigsten Gefühlsreaktionen des 18. Jahr¬
hunderts. Man braucht dafür neuerdings gern den Ausdruck
Irrationalismus. Er würde dann auch auf Kleist in vollem Um¬
fange anwendbar sein. Übrigens sollten sich auch die Historiker
der deutschen Erhebungszeit, denen Kleist noch recht fremd zu sein
scheint, nicht entgehen lassen, was Kleist z. B. im Kohlhaas
und besonders im Prinzen von Homburg nach Hart wirklich ver¬
ficht. Das viele Neue, was außer Erich Schmidt besonders Rahmer
und auch Wilhelm Herzog über Kleist gebracht haben, scheint
für Leben und Werke Kleists der Hartschen Auffassung manche
Stütze zu bieten.
VIII.
In der Geschichte der Staatsanschauungen im Zeitalter des
Absolutismus sind gerade für Deutschland entscheidende Fragen
noch immer unbeantwortet. Solange die Stellung von Pufendorf,
Thomasius 1 ) und Christian Wolff in der Entwicklung der euro¬
päischen Staatslehren (denn auch hier handelt es sich um eine
internationale Bewegung) noch nicht durch Spezialarbeiten be¬
stimmt und die außerordentlichen Verdienste des Hugo Grotius
noch nicht fachmännisch nach allen Seiten beleuchtet worden sind,
bleibt vieles an der Entwicklung der Theorien im Dunkeln. Die
ganze Materie, besonders die Geschichte des Naturrechts, ist
seinerzeit von Gierke zwar vorbildlich behandelt worden; aber das
Vorbild ist vielleicht zu glänzend, als daß es zu häufigerer Nach¬
folge gereizt hätte. Zudem ist gerade die Staatslehre unserer
Periode mehr als andere geistige Betätigungen der Vergangenheit 2 )
verpflichtet. Ein Haupterfordernis wissenschaftlicher Arbeiten
auf diesem Gebiete ist deshalb die Aufdeckung der literarischen
und, wie man gegen konstruktive Juristen betonen muß, der bio-
*) Joseph, Die Ethik des Naturrechtslehrers Christian Thomasius mit
Berücksichtigung seiner Rechtsphilosophie: Archiv für Geschichte der
Philosophie 26 (1912).
*) J. N.Figgis, Studies of political thought from Gerson to Grotius,
1907.
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122 }• Hashagen
graphischen Quellen. Daran läßt es z. B. R. Oster lohs Studie über
Fenelon und die Anfänge der literarischen Opposition gegen das
politische System Ludwigs XIV. (1913) noch fehlen, der aber sonst
F&ielons widerspruchsvolle Anschauungen genauer beschreibt.
In Deutschland wäre solchen Oppositionsstimmungen größere Be¬
achtung zu schenken. 1 ) Den Einfluß des Naturrechts auf Fried¬
rich den Großen und besonders auf Josef II. und ihre Staaten
behandelt Hans von Voltelini 2 ) mit sicherer Hand. Sein in¬
haltreicher Aufsatz hat auch für die Geschichte der Staatslehren
an und für sich, der Souveränitäts- und allgemeinen Fürstenlehre,
der Menschenrechte als eines integrierenden Bestandteiles des
Naturrechtes des 18. Jahrhunderts, der Toleranz, der Adelstheo¬
rien u. ä. D. große Bedeutung. Zur Staatsanschauung gehört auch
die Theorie der auswärtigen Politik, die früher vor allem bei
Leibniz 8 ) untersucht worden ist, später aber auch in allgemeine¬
rem Rahmen 4 ) eine eingehende Behandlung erfahren hat. Auch
die Literatur über Montesquieu und Rousseau, Fontenelle und
St. Pierre ist in Frankreich und Deutschland noch jüngst erfreu¬
lich erweitert worden. Dagegen ist G. Falters 6 ) Schrift über
die Staatsideale unserer Klassiker nur eine kurze, im Hinblick
auf manche noch fehlende Spezialuntersuchung verfrühte und
■dabei konstruktive Skizze. Daß die politische und Verwaltungs¬
geschichte im weitesten Sinne mit der Geschichte der Staats¬
anschauungen in dauernde Beziehungen zu setzen ist, versteht
sich. Arbeiten wie die von M. Lehmann, M. Lenz, Hintze, Zie-
kursch, Glagau, Wahl, W. Andreas, Gothein, G. Jellinek, Aulard,
Mathiez, E. Hubert und viele andere knüpfen diese Beziehungen
fester.
Die Geschichte der französischen Revolution und ihres Ein¬
druckes in Deutschland ist ein weiteres bevorzugtes Thema der
Geschichte der Staatsanschauungen in unserer Periode. Einen
wesentlichen Fortschritt in der Charakteristik der theoretischen
*) Vgl. J. Hashagen, Der „Menschenfreund“ des Freiherm F. von
der Trenck, ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Aachen: Zeit¬
schrift des Aachener Geschichtsvereins 29 (1907). Zur Geschichte der
Presse in der Reichsstadt Cöln: Annalen des historischen Vereins für
den Niederrhein 86 (1908). *) Historische Zeitschrift 105 (1910).
*) S. jetzt F. X. Kiefl, Leibniz (Weltgeschichte in Charakterbildern),
1913, der allerdings zu Übertreibungen neigt. Vgl. E. Ruck, Die Leib¬
niz’sehe Staatsidee, 1909.
4 ) E. Kaeber, Die Idee des europäischen Gleichgewichts . . vom
16. bis zur Mitte des 18 Jahrhunderts, 1907. — G. B. Hertz, British
Imperialism in the i8th Century. London, Constable, 1908.
6 ) Die Staatsideale unserer Klassiker, 1911.
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 123
Arbeit der Assembtee Constituante bringt R. Redslob 1 ) in einer
wohldurchdachten Studie. Die deutschen Revolutionsfreunde sind
von jeher ein Lieblingsgegenstand der mit der besonderen Gabe
der Einfühlung ausgestatteten Forschung A. Chuquets. 2 ) Die
Untersuchungen über die Stellung einzelner deutscher Persönlich¬
keiten zur Revolution werden natürlich auch in Deutschland
fortgeführt, so für Gleim, Rebmann, Rehberg u. a. Sie haben
durchweg allgemeinen Wert, da sie der Vergangenheit der Auf¬
klärung und der Zukunft des 19. Jahrhunderts in gleicher Weise
angehören. Die in der deutschen Revolutionstheorie hervortreten¬
den aufklärerischen Bestandteile sind selbst bei Görres noch mit
Händen zu greifen. 8 ) Nach langer Vernachlässigung erinnert
man sich heute endlich wieder der wissenschaftlichen Verpflich¬
tungen gegenüber diesem Universalgeiste und wird dann freilich
nach Ausweis der nach allen Seiten wachsenden Görresliteratur
über die Staatslehre bald hinausgeführt. Ähnlich sind für Gentz
durch die Bemühungen der Brüder F. K. und P. Wittichen (f) u. a.
bessere Grundlagen geschaffen worden.
Der bedeutendste Gegner der Revolution in England und zu¬
gleich Gentzens bedeutendster Lehrer ist Edmund Burke. ' Seine
menschliche, allgemein geistige, schriftstellerische und politische
Charakteristik wird durch die fleißige und sorgfältige Arbeit
F. Meusels 4 ) überall vertieft. Das Hauptinteresse des Verfassers
ist auf die Deutung der seelischen Eigentümlichkeiten Burkes ge¬
richtet. Besonders gelungen ist der Abschnitt über die Charak¬
terisierungskunst des vielseitigen Engländers, der ja auch in der
Geschichte der Ästhetik 6 ) nicht zu übersehen ist. Das Politische
ist freilich darüber bei Meusel etwas zu kurz gekommen. Eine sy¬
stematische Auslegung der Revolutionsanschauung Burkes wird
leider nicht geboten.
Für die Geschichte der Staatsanschauungen und für die Gei¬
stesgeschichte des 18. Jahrhunderts überhaupt ist eine der wich¬
tigsten Quellen die periodische Presse. Auch hier ist die Zahl
') Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789,
1912; rec. Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germ. Abt., 1913, und Wahl,
Hist. Vierteljahrschrift 1913. Sehr umfassend ist die neueste Literatur
über Condorcet.
*) F. Stolberg et la Evolution fran$aise: Revue Germanique 6(1910).
*) J. Hashagen, Das Rheinland und die französische Herrschaft,
Beiträge zur Charakteristik ihres Gegensatzes, 1908.
4 ) Edmund Burke und die französische Revolution. Berlin, Weid¬
mann, 1913. Vgl.John Mac Cunn, ThepoliticalphilosophyofBurke, 1913.
6 ) W. G. Howard, Burke among the forerunners of Lessing: Publi-
cations of the modern language association of America 22 (1906).
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124 J. Hashagen
der Spezialarbeiten in steigendem Wachsen. Freilich fehlt ihnen
noch häufig die nötige Klarheit über Elementarsätze der preß-
geschichtlichen Methodik. Diese lauten für die mehr politisch¬
aufklärerische und für die mehr literarische Presse im wesentlichen
gleich, sind aber noch weit entfernt von energischer Anwendung.
Ohne zielbewußte Arbeitsvereinigung läßt sich besonders in der
Preßgeschichte nichts Dauerndes leisten. Doch finden sich gute
Ansätze in den Arbeiten von K. Beckmann, P. Bensel, E. Consentius,
K. d'Ester, Hartung, F. Ulbrich und besonders bei W. Hof-
staetter. 1 )
Die Schwierigkeiten einer brauchbaren Rekonstruktion des
staatstheoretischen Entwicklungsganges unserer Periode erklären
sich nicht zuletzt aus der ständigen Verflechtung der Staats- mit
der Gesellschafts- 2 ) und Wirtschaftslehre. Für das England des
17.Jahrhunderts ist das u. a. von Max Weber und Troeltsch
überzeugend nachgewiesen worden. Ihren Forschungen sind trotz
Bedenken im einzelnen die Geschichte der Staats-, Gesellschafts¬
und Wirtschaftslehre in gleicherweise verpflichtet. Auch Eduard
B e r n s t e i n 8 ) hat sich auf dies schwierige Gebiet gewagt und zunächst
die englische Revolution mit deutlicher Bevorzugung der Theorie,
dann auch ihre Ausläufer bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts an¬
schaulich, wenn auch in sozialdemokratischen Vorurteilen befangen,
und ausführlich dargestellt. Von Interesse ist besonders die Schil¬
derung Harringtons.—Adam Smith und seine Vorläufer in England,
die Physiokraten in Frankreich und Deutschland, kürzlich auch
die ältere deutsche Kameralistik und ähnliche Gegenstände
brauchen nur erwähnt zu werden, um die geistesgeschichtliche
Bedeutung der .modernen Spezialliteratur über sie (s. die späteren
Berichte) abzuschätzen. Aus der Geschichte der Wirtschaftspraxis
ragt von diesem Standpunkte hervor J. Goldfriedrichs sehr
willkommene „Geschichte des deutschen Buchhandels“. 4 )
*) Das Deutsche Museum (1776—1788) und das Neue Deutsche Mu¬
seum (1789—1791): Probefahrten, herausg. von A. Köster, 12 (1908).
*) Vgl. A. Voigt, Die sozialen Utopieen, 1906. Wichtige neue, zu¬
nächst literarhistorische, dann aber auch sozialgeschichtliche Aufschlüsse
findet man bei Fritz Brüggemann, Utopie und Robinsonade, Unter¬
suchungen zu Schnabels Insel Felsenburg: MunckersForschungen 46(1914).
*) Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution.
2. Ausg. Stuttgart, Dietz, 1908.
4 ) II (1648—1740). III (1740—1804). Leipzig, Verlag des Börsenver¬
eins, 1908—9. Von demselben: Grundzüge der Entwicklung des deutschen
Buchhandels in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts: Studium
Lipsiense, Ehrengabe, K. Lamprecht dargebracht, 1909. Vgl R.Jentzsch,
Der deutsch-lateinische Büchermarkt nach den Leipziger Ostermeßkatalogen
von 1740, 1770 und 1800 . . .: Lamprechts Beiträge 22 (1912).
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Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur ca. 1650 bis ca. 1800 125
IX.
Es bestand die Absicht* in diesem Eröffnungsberichte auch
zur neueren Literatur über bildende Kunst, Musik und geheime
Gesellschaften vom Standpunkte der Ideengeschichte unserer
Periode Stellung zu nehmen sowie zu einer großen Fülle von
lokal- 1 ) und sozialgeschichtlichen 2 ) Arbeiten über die Zeit von
1650—1800. Da aber dieser Bericht ohnehin schon zu ausführ¬
lich geraten ist, können hier nur noch einige kurze Bemerkungen
über die geheimen Gesellschaften Platz finden. Alles weitere
muß für die späteren Berichte zurückgestellt werden.
Die Geschichte der Freimaurerei wird seit Jahren von maure¬
rischer Seite unter der Führung von L. Keller, A. Wolfstieg,
W. Begemannu.a. in internationalem Rahmen nach allen Seiten
so eifrig durchforscht, daß sich das geheimnisvolle Dunkel nach¬
gerade allmählich zu lichten beginnt. Kellers neue zusammen¬
fassende Arbeit 3 ) könnte nach ihrem Titel auf einen stark histo¬
risch gerichteten Inhalt schließen lassen. Sie bereitet aber in dieser
Hinsicht für unsere Periode doch eine Enttäuschung, da die
systematischen Interessen in ihr weit überwiegen und sie als Pro¬
grammschrift, wenn nicht gar als Werbeschrift auftritt. Außerdem
neigt die maurerische historische Literatur leicht zu Überschät¬
zungen, indem sie alle möglichen geistigen Strömungen wie die
Humanität aller Zeiten für die Freimaurerei sozusagen in An¬
spruch nimmt, oft zweifellos mit Unrecht, wie an dem Beispiele
der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts gegen Keller 4 )
nachgewiesen worden ist. Ähnlich hat man beispielsweise den
Einfluß von Freimaurerliedern auf Schillers Lied an die Freude
übertrieben. Oft verlieren sich die maurerischen historischen
Untersuchungen auch in die stark kontroversen Kleinigkeiten
der Filiationen einzelner Logen, die die Ideengeschichte nicht im-
*) Gute Beispiele sind F. X. Münch, Die philosophischen Studien an
der kurkölnischen Universität zu Bonn: Annalen des historischen Vereins
für den Niederrhein 87(1908), R. M. Ritscher, Versuch einer Geschichte
der Aufklärung in Schlesien, Göttinger Dissertation 1912, und S. Merkle,
Würzburg im Zeitalter der Aufklärung [mit besonderer Berücksichtigung
der Pädagogik und Theologie]: Archiv für Kulturgeschichte 11 (1913).
*) Auch die Literatur über Sittengeschichte und Geschichte der
äußeren Lebenshaltung liefert natürlich geistesgeschichtlichen Ertrag.
8 ) Die geistigen Grundlagen der Freimaurerei und das öffentliche
Leben. Jena, Diederichs, 1911. Vgl. F. Kreisner, Geschichte der deut¬
schen Freimaurerei, 1912.
4 ) Die Große Loge vom Palmbaum und die sog. Sprachgesellschaften
des 17 Jahrhunderts: Monatshefte derComeniusgesellschaft 16 (1906); rec.
C. Borchling, Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte
17/18 (1910), S. 522.
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11 ■■■
126 J- Hashagen — Literaturbericht. Geschichte der geistigen Kultur
mer interessieren. Für die historische Orientierung hält man sich
vielleicht noch immer am besten an H. Boos' Geschichte der Frei¬
maurerei (2. Aufl., 1906). Denn das kann allerdings nicht geleug¬
net werden, daß solide maurerische Studien überall die merkwür¬
digsten ideengeschichtlichen Entdeckungen vermitteln, ebenso wie
die Vertiefung in die Geschichte der Rosenkreuzer und des ganzen
Okkultismus, dessen mit besonderen Schwierigkeiten verbundeneEr-
forschung doch schon mit Rücksicht auf den erwähnten Irratio¬
nalismus und die immer höher gewerteten mystischen Einflüsse
innerhalb des aufgeklärten Jahrhunderts alle Förderung ver¬
diente. Auch für diese Gebiete ist die Grenze zwischen 18. und
19. Jahrhundert natürlich flüssig. Noch die spätere Romantik und
das Schicksalsdrama haben hier merkwürdige ältere Einflüsse er¬
fahren. Der bedeutende Anteil der Freimaurerei an der Geistes¬
bewegung der deutschen Erhebungszeit, der kürzlich von J. R.
Haar haus 1 ) treffend aufgezeigt worden ist, schafft einen bedeu¬
tungsvollen Epilog zur maurerischen Geschichte des 18. Jahr¬
hunderts.
J. Hashagen.
’) Deutsche Freimaurer zur Zeit der Befreiungskriege. Jena,Diederichs,
1913-
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KLEINE MITTEILUNGEN UND NOTIZEN.
Die Königl. Sächsische Kommission für Geschichte hielt
am 20. Dezember 1913 im Augusteum in Leipzig ihre 18. Jahres¬
versammlung ab.
Über den Stand der wissenschaftlichen Unternehmungen der Kom¬
mission ist das Folgende zu berichten. Im vergangenen Jahre sind zwei
Kommissionsschriften erschienen. Eine von Landgerichtsrat M. Stübel-
Dresden bearbeitete Veröffentlichung ist dem Landschaftsmaler J. A. Thiele
und seinen sächsischen Prospekten gewidmet und damit nicht nur das
Verständnis für eine bisher wenig bekannte Künstlerpersönlichkeit er¬
schlossen, sondern auch zugleich ein wertvoller Beitrag zur Kulturgeschichte
Sachsens im 18. Jahrhundert geboten worden. In der Reihe der kleinen
Schriften der Kommission „Aus Sachsens Vergangenheit“ hat Studienrat
Prof. E. Schwabe-Leipzig das Gelehrtenschulwesen Kursachsens von seinen
Anfängen bis zur Schulordnung von 1580 in einem Überblick dargestellt.
Im Druck nahezu abgeschlossen ist Band II der Akten und Briefe Herzog
Georgs, herausgegeben von Geheimrat Geß-Dresden, sowie die Ausgabe
der Schriften Melchiors von Ossa, die Privatdozent Dr. Hecker-Dresden
bearbeitet. Ebenso wird die für die Geschichte Deutschlands im Zeitalter
der Reformation wichtige Veröffentlichung der Akten des Bauernkriegs in
Mitteldeutschland, bearbeitet von Archivrat Dr. Merx-Münster i. W., im näch¬
sten Jahre zu erscheinen beginnen; Band I ist schon im Druck weit fort¬
geschritten. Die von Dr. Rudolf Wustmann in Bühlau bei Dresden mit
anerkanntem Erfolg begonnene Musikgeschichte Leipzigs wird im Jahre
1914 eine Fortsetzung erfahren, indem ein erster Teil des II. Bandes, der
Leipziger Musikverhältnisse im 18. Jahrhundert behandeln wird, ausgegeben
werden soll. Auch eine 4. Lieferung der von Professor Eduard Flechsig-
Braunschweig herausgegebenen Publikation: Sächsische Bildnerei und
Malerei vom 14. Jahrhundert bis zur Reformationszeit ist der Fertigstellung
nahe. Bei einer Anzahl schon von früher in Bearbeitung befindlicher
Unternehmungen ist der Abschluß des Manuskriptes im Laufe des näch¬
sten Jahres zu erwarten: so für die Geschichte des Heilbronner Bundes,
welche Archivrat Kretzschmar-Lübeck bearbeitet hat; ferner für die Aus¬
gabe der eigenhändigen Briefe und Aufzeichnungen Augusts des Starken,
deren Veröffentlichung Privatdozent Dr. Haake-Berlin vorbereitet, sowie
für die Ausgabe des Briefwechsels zwischen dem Grafen Brühl und von
Heinecken, welcher von Professor O. E. Schmidt-Freiberg bearbeitet
worden ist. Auch wird Oberschulrat Prof. G. Müller-Leipzig einen I. Band
der Kirchenvisitationsakten der Kommission druckreif vorlegen können.
Die schon lange sorgfältig vorbereitete Bibliographie der sächsischen Ge¬
schichte, deren Bearbeitung zurzeit Herrn Dr. Bemmann-Dresden obliegt,
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128 Kleine Mitteilungen und Notizen.
ist so weit gefördert, daß der Druck wohl s*hon im Jahre 1914 wird be¬
ginnen können. Dem Abschluß nahegerückt ist auch Band I des von
Professor Meiche-Dresden bearbeiteten Historischen Ortsverzeichnisses
für das Königreich Sachsen sowie das Register der Einkünfte und Gerecht¬
same der Markgrafen von Meißen vom Jahre 1378 (Archivrat Beschomer-
Dresden). Guten Fortgang genommen hat die unter Leitung von Geheim¬
rat Seeliger in Leipzig stehende große Ausgabe der sächsischen Stände¬
akten. Außer Dr. Görlitz-Niesky, der schon längere Zeit mit der Bear¬
beitung der ältesten Ständeakten bis 1539 beschäftigt ist, sind Dr. Oßwald-
Leipzig und Dr. Kaphahn-Dresden als ständige Mitarbeiter des groß an¬
gelegten Unternehmens eingetreten und haben die Arbeit für die Zeit
nach 1539 und weiter von 1680 ab nach Errichtung des stehenden Heeres
begonnen. Weitere Förderung erfahren haben die übrigen von der Kom¬
mission unternommenen größeren Publikationen: Politische Korrespondenz
des Kurfürsten Moritz, Band III (Professor Brandenburg-Leipzig und
Privatdozent Dr. Hecker-Dresden), Briefe und Denkschriften des Grafen
Manteuffel (Realgymnasiallehrer Dr. Philipp-Borna), Denkschriften der
Restaurationskommission 1762/63 (Dr. Schmidt-Breitung-Leipzig), Be¬
schreibung des Bistums Meißen (Professor Becker-Dresden), Briefe des
Humanisten Stephan Roth (Professor Clemen - Zwickau), Geschichte des
kirchlichen Lebens in Leipzig (Pfarrer Professor Hermelink-Thekla), Ge¬
schichte der bildenden Kunst in Leipzig (Direktor des stadtgeschichtlichen
Museums Professor Kurzwelly-Leipzig), Flurkartenatlas (Professor Kötzschke-
Leipzig). Die von Archivrat Beschorner-Dresden geleitete Flur- und Forst-
ortsnamensammlung hat im Berichtsjahre eine weitere Ausdehnung erfahren.
In der Reihe der kleinen Schriften ist das von Realgymnasiallehrer
Dr. Philipp-Borna vorbereitete Heft über Brühl und Sulkowski, die Ent¬
stehung des Premierministeramts in Sachsen, dem Abschluß nahe. Neu
beschlossen ist die Aufnahme einer Veröffentlichung von Pfarrer D. Buch¬
wald-Leipzig, betreffend die für die Reformationsgeschichte und auch
die Geschichte der Leipziger Universität wichtige Matricula Ordinatorum
des Bistums Merseburg von 1469 bis 1543, sowie eines Heftes von Rektor
O. E. Schmidt-Freiberg: Aus der Zeit der Freiheitskriege und des Wiener
Kongresses 1813—1815 mit Briefen und anderen unmittelbaren Zeug¬
nissen der damaligen Stimmungen in Sachsens Bevölkerung.
Preisaufgabe. Für den zweiten Preis der v. Frege-Weltzien-
stiftung hat die Königlich Sächsische Kommission für Geschichte die
folgende Aufgabe gestellt: „Die Sequestration der Leipziger Ratsver¬
waltung im 17. Jahrhundert“. Bearbeitungen sind unter Beigabe des
Namens des Verfassers in einem verschlossenen Briefumschläge, der ein
Kennwort und eine Adresse für die Rücksendung des Manuskriptes tragen
muß, bis zum 31. Dezember 1914 an die Königlich Sächsische Kommission
für Geschichte, Leipzig, Universitätsstraße um, einzusenden. Preis 1000 M.
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DIE ENTWICKLUNG DER HISTORISCH - GEO¬
GRAPHISCHEN FORSCHUNG IN DEUTSCHLAND
DURCH ZWEI JAHRHUNDERTE.
VON FRITZ CURSCHMANN.
I.
Inhalt: Reichsgeschichte — Landesgeschichte, gepflegt durch die Ge¬
schichtsvereine S. 129. — Landesgeschichte und historisch-geographische
Forschung S. 131. — Gaugeographie S. 132. — Die Anfänge der
Gauforschung im 16. Jahrh. S. 134. — Die Gauforschung von Freher bis
zum Chronicon Gotwicense S. 135. — Die Mannheimer Akademie und
die Theorie von der Übereinstimmung der Gaugrenzen mit kirchlichen
Grenzen S. 139. — Die Gauforschung Ende des 18. und Anfang des
19. Jahrh. S. 146. — Lang und Spruner S. 147. — Die Gauforschung in
Norddeutschland, Ledebur und seine Nachfolger S. 150. — Versuche, die
Ergebnisse der Gauforschung zusammenzufassen S. 154. — Die Gau¬
forschung in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrh. S. 157.
— Die Preisaufgabe der Berliner Akademie und ihre Lösung durch
Theodor Menke S. 157. — Heinrich Böttgers Diöcesan- und Gaugrenzen
und das Ende der alten Gauforschung S. 160.
,, Sanctus amor patriae dat animum“, so lesen wir die Worte
von einem Eichenkranz umgeben seit bald IOO Jahren an der
Spitze eines jeden Bandes der Monumenta Germaniae historica 1 ),
Vorbemerkung. In der folgenden Abhandlung wird der Kundige
mancherlei vermissen. Es sei daher dem Verfasser gestattet, einige er¬
klärende Bemerkungen vorauszuschicken über das, was dieser Aufsatz
will. Er will zunächst nicht eine vollständige Geschichte der historisch-
geographischen Forschung bieten, sie würde bei der Natur des Stoffes,
der immer wieder zum Eingehen auf Einzelheiten auffordert, schon heute
ein Buch von nicht ganz geringem Umfange erfordern. Auf das Wort
Entwicklung im Titel möchte ich Gewicht legen. Nur eine Ent¬
wicklungslinie in der historisch-geographischen Forschung
wollte ich verfolgen, aber die, die mir als die wichtigste erscheint, weil
sie zur Entwicklung einer festen Methode der Forschung geführt
hat, die in Zukunft mehr und mehr in allen Teilgebieten der historisch¬
geographischen Arbeit zur Anwendung kommen wird. Diese Beschrän¬
kung bringt es mit sich, daß ich über die schon fast unübersehbare
siedlungsgeschichtliche Forschung stillschweigend hinweggegarigen bin,
daß die vielverheißenden Anfänge der historisch-topographischen Erfor¬
schung unserer Städte nicht berücksichtigt worden sind und ebenso nicht
die verfrühten Versuche, zusammenfassende historische Geographien
Deutschlands zu schreiben.
*) Die beschriebene Vignette steht über jeder Vorrede; das in ihr
enthaltene Motto hatte der Freiherr vom Stein selbst auf Vorschlag
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 g
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130
Fritz Curschmann
und sie erinnern unsere nüchtern gewordene Zeit daran, in wel¬
chem Frühling nationaler Hoffnungen das größte Werk der deut>
sehen Geschichtsforschung einst begonnen wurde. Es war im
Jahre 1819, als sich in Frankfurt a. M. auf ganz persönliches Be¬
treiben des Freiherrn vom Stein die Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde bildete 1 ), und in demselben Jahre gründete zu
Naumburg a. d. S. Carl Peter Lepsius, ein Mann, dessen Verdienste
um die Geschichtsforschung auch heute noch unvergessen sind 2 ),
den Thüringisch-Sächsischen Verein für Erforschung des vater¬
ländischen Altertums, den ersten deutschen Geschichtsverein 3 ).
Das zeitliche Zusammenfallen der beiden Gründungen ist kein
Zufall, es zeigt so recht deutlich — und das verdient beachtet zu
werden —, wie vom ersten Anfänge der Wiederbelebung der deut¬
schen Geschichtsforschung zu Beginn des 19. Jahrhunderts an
zwei Strömungen der Forschung nebeneinander hergehen.
Was die Monumenta und ihre Mitarbeiter wie der weitere von
Lambert Büchlers, des ersten Sekretärs der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde, gewählt; vgl. G. H. Pertz, Das Leben des Ministers Frei-
herm vom Stein V, S. 311.
*) Als offizieller Gründungstag gilt der 20. Januar 1819. Über die
Vorgeschichte der Entstehung der Gesellschaft für ältere deutsche Ge¬
schichtskunde vgl. Max Lehmann, Freiherr vom Stein III (1905), S. 492fr.
Im Archiv der Gesellschaft Bd. I (1820) das wesentliche Material zur
Gründungsgeschichte an Denkschriften, Statuten usw.
*) Sein Hauptwerk ist, auf breiter archivalischer Grundlage ruhend
und mit einem Urkundenbuch, das größtenteils ungedruckte Stücke ent¬
hält, versehen: Geschichte der Bischöfe des Hochstifts Naumburg vor
der Reformation, i.Teil (bis 1304), Naumburg 1846. Von der Vielseitig¬
keit seiner wissenschaftlichen Interessen zeugen seine Kleinen Schriften,
3 Bde., hg. von seinem Schwiegersohn A. Schulz (Magdeburg 1854/55).
Ihnen ist eine Lebensbeschreibung L.s vorausgeschickt. L. wurde ge¬
boren 1775 zu Naumburg, studierte in Jena und Leipzig Jura, diente
seiner Vaterstadt und dem Staate in verschiedenen richterlichen und
Verwaltungsstellungen und wurde schließlich der erste preußische Landrat
des Kreises Naumburg (1815), gestorben 1853.
s ) Einige andere noch aus dem 18. Jahrhundert stammende Körper¬
schaften, wie die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften zu
Görlitz, die heute im wesentlichen auch der landesgeschichtlichen For¬
schung dienen, hatten ursprünglich ein weiteres Programm, sind also
für den Anfang des 19. Jahrhunderts nicht eigentlich als Geschichts¬
vereine zu betrachten. Über die zeitliche Folge in der Entstehung der
älteren Geschichtsvereine vgl. das Vorwort zum Correspondenzblatt des
Gesamtvereins deutscher Geschichts- und Alterthumsvereine I (1853), S. if.
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Die Entwicklung der histor.- geograph. Forschung in Deutschland usw. j 3 j
ihnen beeinflußte Kreis der Forscher an den Universitäten für die
Reichsgeschichte bedeuten, ist allbekannt und unbestritten.
Oft nicht gebührend beachtet wird aber auch heute noch, was
in den Kreisen der Geschichtsvereine gerade in den ersten Jahr¬
zehnten ihres Bestehens für die Territorialgeschichte geleistet
worden ist und wieviel wertvolles Material, den weiteren Kreisen
fast unbekannt, gerade in den älteren Jahrgängen der landesge¬
schichtlichen Zeitschriften ruht. Wer heute auf dem Gebiete der
Territorialgeschichte arbeitet, die sich in den Tagen, wo bald jede
deutsche Landschaft ihre historische Kommission besitzt, nun ja
auch das ihr gebührende Ansehen im Bereiche der Geschichts¬
wissenschaft erworben hat, wird immer wieder mit Dankbarkeit
dieser unendlich fleißigen und landeskundigen alten Herren ge¬
denken, ohne deren entsagungsvolle Vorarbeit er wenig würde
leisten können 1 ).
In den Kreisen der älteren Forscher auf dem Gebiete der Ter¬
ritorialgeschichte zeigt sich nun von Anfang an, und das ist gleich¬
mäßig in allen deutschen Landen zu beobachten, ein ausgesproche¬
nes. Interesse für historisch-geographische Fragen. Warum? —
das ist vielen der Nachlebenden vielleicht von vornherein nicht ganz
klar. Zweierlei kommt hier wohl zusammen: ist es für die Betrach¬
tung der Reichsgeschichte, vom deutschen Standpunkte aus,
oft von ganz geringem Belange, ob der deutsche König von Mai¬
land über Florenz oder über Ravenna nach Rom zog, so führt die
Beschäftigung mit der Geschichte einer engeren Landschaft immer
wieder auf das Gebiet, wo historische und geographische Betrach¬
tungsweise einander die Hände reichen, wo geschichtliche Fragen
sich nicht ohne genaue Landeskenntnis lösen lassen. Sei es, daß
es sich darum handelt, die zahlreichen Lokalitätsnamen einer
alten Grenzbeschreibung zu bestimmen oder die Stätte eines
untergegangenen Dorfes, sei es, daß ein anderes Mal eine altbe¬
rühmte Dingstätte, der Schauplatz eines Gefechtes, einer denk¬
würdigen Verhandlung oder ähnliches gesucht werden soll. —
*) Ich verzichte — um nicht allzu breit zu werden — darauf, hier im
Texte Namen zu nennen; eine ganze Reihe der Forscher, die erwähnt
zu werden verdienten, werden noch im Laufe der folgenden Darstellung
begegnen.
9 *
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132 Fritz Curschmann
Etwas anderes aber kommt noch hinzu: die Jahrzehnte um die
Wende des 18. und 19. Jahrhunderts sind ein Zeitalter ganz
ausgesprochenen geographischen Interesses. Bändereiche Serien
von Reisebeschreibungen entstanden damals und wurden ge*
lesen, und mehr noch das Interesse an fremden Ländern und
Völkern fand auch in der Literatur seinen Niederschlag: Chamissos
Salas y Gomez ist bekannt genug, ebenso der Kanadier Seumes,
Heinrich von Kleist schrieb als Novelle die Verlobung in St. Do¬
mingo, die dann Theodor Körner dramatisierte: das Negerdrama
Toni. Neben dieser exotischen Gattung steht aber noch eine
andere, ganz besondere, heute fast ausgestorbene Literatur von
Länderbeschreibungen aus der Heimat, Bücher wie Friedrich Gott¬
lieb Leonhardis Erdbeschreibung der preußischen Monarchie 1 ),
Bratrings Topographie der Mark Brandenburg 2 ), Ludwig Wilhelm
Brüggemanns Ausführliche Beschreibung des gegenwärtigen Zu¬
standes des königlich preußischen Herzogthums Vor- und Hinter¬
pommern 3 ) und Werke ähnlicher Art, wie sie für jedes deutsche
Land oder jede Provinz vorliegen. Sie enthalten alle neben der
eigentlichen Beschreibung der Länder, die sie behandeln, nach
Bodengestalt und politisch-administrativer Einteilung auch ein
oft sehr umfangreiches statistisches und historisches Material.
Bei Brüggemann z. B. findet man die Geschichte eines jeden
pommerschen Dorfes, vorzüglich zuverlässig, unmittelbar auf
Grund der Urkunden und Akten des Landesarchivs bearbeitet.
Die Generation, die solche Bücher ständig zur Hand hatte,
sie wollte, als sie systematisch über die ältere Vergangenheit der
Heimat zu arbeiten begann, auch hier, wie sie es gewohnt war,
Geschichte und Geographie vereinigen, und da war man sich bald
— keinerlei Streit widerstrebender Anschauungen läßt sich beob¬
achten — darüber klar, daß es eigentlich nur ein würdiges Thema
*) 5 Bände, Halle 1791—98.
2 ) Fr. Wilh. Aug. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung
der gesamten Mark Brandenburg, 3 Bde., Berlin 1804—09.
8 ) 2 Bde., Stettin 1779 und 1784, dazu 1 Bd. Beiträge zu der aus¬
führlichen Beschreibung usw., Stettin 1800; er enthält eine große Biblio¬
graphie zur Geschichte und Landeskunde Pommerns, Statistisches und
einige Ergänzungen.
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Die Entwicklung der histof. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 13 3
auf dem Gebiete der historischen Geographie gäbe: die Gau¬
geographie. 1 )
Verschiedenes kam zusammen, um zu bewirken, daß man sich
• gerade auf diesen Gegenstand einigte und zäh durch Jahrzehnte
an ihm festhielt: ein gutes Teil Stimmung der Romantik, die sich
gern in die altdeutsche Zeit, der auch die Gaue angehörten, ver¬
senkte, wirkte hier in erster Linie. Dazu kam dann die alte Gewöh¬
nung, in der historischen Forschung von der älteren Zeit auszu¬
gehen und in chronologisch fortschreitender Arbeit sich allmäh¬
lich der Neuzeit zu nähern, eine Methode, von der man sich im
Interesse der exakten historisch-geographischen Arbeit erst
% Jahrhunderte später freigemacht hat. Die Zeit, von der man
später ausging, als mit den ersten Blättern des geschichtlichen At¬
lasses der Rheinprovinz das erste auf streng wissenschaftlicher Basis
*) Man wird bemerken, daß sich die Verfasser der im folgenden
noch zu besprechenden sehr zahlreichen Arbeiten über die deutschen
Gaue über die Frage nach der Entstehung der Gaue und ihrem Wesen
wenig oder gar nicht den Kopf zerbrochen haben. Mit einem gewissen
Recht, denn vom historisch-geographischen Standpunkte aus sind die
Gaue des Mittelalters zunächst anzusehen als bekannte territoriale
Bezirke von einem seit alters feststehenden Umfange, wie uns
denn noch heute manche Gaue bekannt und ihre Namen als Landschafts¬
bezeichnungen geläufig sind (Breisgau, Sundgau, Thurgau, Pongau, Pinz¬
gau, Vintschgau). Der Umfang der Gaue aber ist so verschieden, daß
man kaum gleichen Ursprung für sie alle annehmen kann (dieser An¬
sicht ist auch Eduard Richter, der als der bedeutendste Forscher auf dem
Gebiete der historisch-geographischen Forschung noch oft zu nennen sein
wird, vgl. Mitt. d. Instituts f. Österreich. Geschichtsforsch. Ergbd. I,S. 605).
In einigen Gebieten scheinen die Gaue Niederlassungsbezirke der Tausend¬
schaft zu sein, viele Gaue aber sind zu groß oder zu klein, als daß man
diese Entstehung annehmen könnte (vgl. noch G. Steinhausen, Germ. Kultur
in der Urzeit, 2. Aufl. S. 89 t.). In fränkischer Zeit hat, wie kaum zweifelhaft
ist, eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Gau und Grafschaft (d h.
dem Amtsbezirk des fränkischen Grafen) bestanden, in der Zeit aber, aus
der die Fülle unserer Nachrichten über die Gaue stammt, seit dem 10. Jahr¬
hundert, ist diese einfache Beziehung bereits gestört: mehrere Grafen in
einem Gaue kommen vor, und ein Graf dehnt seinen Machtbereich über
Teile mehrerer Gaue (schwerlich mehrere ganze Gaue) aus (vgl. Otto Curs,
Deutschlands Gaue im 10. Jahrhundert, Göttinger Diss. 1908). Nach der ver¬
fassungsgeschichtlichen Seite also ist die Gauforschung noch zu keinem Ab¬
schluß gelangt (über den gegenwärtigen Stand der Forschung die beste
Orientierung in R. Schröders Deutscher Rechtsgeschichte), wird ihn viel¬
leicht nie erreichen; rein topographisch aber läßt sich bei sorgsamer Detail¬
arbeit der Umfang der meisten Gaue mit ziemlicher Sicherheit feststellen.
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134
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beruhende historische Kartenwerk zu erscheinen anfing, die Zeit
des untergehenden alten Reiches, konnte dem beginnenden 19. Jahr¬
hundert unmöglich der Ausgangspunkt sein, sie stand ihm noch
zu nahe, war Gegenwart oder jüngste Vergangenheit und eine *
Vergangenheit, deren Schwächen man nur allzusehr empfand,
und von der man sich mit aller Kraft loszumachen bestrebt war.
Schließlich besaß man aus älterer Zeit, aus dem 16., 17. und 18.
Jahrhundert, eine nicht geringe Zahl von Arbeiten über die Gaue 1 ),
die immer noch geschätzt wurden, und eben jetzt, wo man sich mit
den älteren Urkunden wieder zu beschäftigen begann, strömte
neues Material in Menge zu. Immer wieder redeten, wie die alten,
so auch die neu entdeckten oder bisher noch unbeachteten Ur¬
kunden von den Gauen, fast regelmäßig bezeichneten sie die vor¬
kommenden Ortschaften nach ihrer Zugehörigkeit zu Gau und Graf¬
schaft: in pago Harthago in comitia Thiadmari, in pago Lainga in
comitatu Liudgeri 2 ) und ähnlich hieß es da. So hatte man nicht
wenig Vorarbeiten und Material genug. Die Bearbeitung von einzel¬
nen Gauen, Gaugruppen oder auch der Gaugeographie ganzer Land¬
schaften schien unter diesen Umständen gar nicht so schwierig.
Um die Bedeutung der älteren gaugeographischen Literatur
und ihre Stellung innerhalb des Rahmens der geschichtswissen¬
schaftlichen Forschung richtig zu würdigen, ist es nötig, — wenig¬
stens kurz — auf ihre Anfänge und Frühzeit zurückzublicken. 3 )
1 ) Den ersten und einzigen mir bekannten Versuch einer Biblio¬
graphie der Literatur — 149 Titel insgesamt — zur Gaugeographie hat
der noch öfter zu erwähnende hannoversche Bibliothekar Heinrich Böttger
im Vorwort zu seinem Buche: Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutsch¬
lands (1875) gemacht. Die Arbeit ist aber, wie auch die folgenden
Seiten zeigen werden, ganz unvollständig. Daß B. die unabsehbare Fülle
der kleinen, vielfach in Zeitschriften zerstreuten Arbeiten nicht lückenlos
bringen konnte, ist selbstverständlich, niemand wird ihm einen Vorwurf
daraus machen. Daß aber gerade eine Anzahl der für die wissenschaft¬
liche Theorie, die er vertrat, wichtigsten Arbeiten, von den Mitgliedern
der Pfälzer Akademie Kremer und Lamey wie von Lang und seinem
Gegner Spruner, fehlt, zeigt, daß er selbst keinen Überblick über die
Literatur, als deren Bibliograph er auftrat, besaß.
*) Das Beispiel aus der ersten uns erhaltenen Urkunde Ottos des
Großen, 936 Sept. 13 für das neu gestiftete Kloster Quedlinburg, es han¬
delt sich um Übertragung von Gut: im Harzgau, im Leinegau.
*) Ich verstehe hierunter die Literatur des 16. Jahrhunderts, biS auf
Marquard Frehers Origines Palatinae (1599), die ihrerseits einen neuen
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 135
An der Spitze der ganzen Gattung steht, aus dem Anfänge des
16. Jahrhunderts bereits, des Tübinger Humanisten Heinrich
Bebel 1 ) immer wieder zitierte Schrift über die Gaue Schwabens. 2 )
Ein allgemeines Verzeichnis der deutschen Gaue versuchte zuerst
Wolfgang Lazius, Ferdinands I. Leibarzt und Hofhistoriker 8 ),
aufzustellen (1551) 4 ): sehr unvollkommen noch, denn es werden
als Gaue Bezirke der verschiedensten Art, große und kleine, neben¬
einander gestellt 6 ), aber als der erste Versuch dieser Art doch zu
beachten. Was sonst noch im 16. Jahrhundert über die Gaue ge*
schrieben wurde, mehrfach in Kommentaren zur Germania des
Tacitus 6 ), ist für den Fortgang der Forschung ohne Belang.
Einen erheblichen Fortschritt bedeutete erst wieder das Er¬
scheinen von Marquard Frehers Origines Palatinae im
Abschnitt eröffnen. Einen Überblick über diese alten Schriften zu ge¬
winnen, ist naturgemäß schwer, Böttger (s. oben S. 134, Anm. 1) bringt
nichts von ihnen. Was mir bekannt geworden ist, verdanke ich der Ein¬
leitung von Heinrich Meiboms d. Ä. Schrift über die sächsischen Gaue
(1612 vgl. unten S. 136). Auf Vollständigkeit brauchte ich keinen Wert
zu legen, doch hoffe ich in der Bewertung ihrer Leistung den Gelehrten
dieser Anfangszeit gerecht geworden zu sein.
*) Geb. 1472, seit 1497 Professor in Tübingen, dort gestorben wahr¬
scheinlich 1516 (nach Geiger, Allg. deutsch. Biographie II, S. 195 ff.).
*) Die Schrift wird von Meibom, Paullini (s. über sie weiter unten)
und anderen immer wieder zitiert, sie soll in B.’s Miscellanea 1510 fol.
stehen. Mir war die Arbeit nicht zugänglich; nach Lage der Dinge kann
sie nicht viel mehr als eine Sammlung einiger Gaunamen enthalten
haben, deren Bestand dann in die späteren Werke über Gaugeographie
übergegangen ist.
а ) Über sein Leben, geb. 1514 zu Wien, gest. ebenda 1565, und seine
Werke A. Horawitz, Allg. deutsche Biographie XVIII, S. 89 ff.
4 ) In seinem Werke: Commentariorum reipublicae Romanae illius, in
exteris provinciis, bello acquisitis, constitutae, libri duodecim, Basileae 1551.
б ) a. a. O. p. I076f. werden u. a. die folgenden Gaue unter Beibringung
von Schriftstellernachrichten oder Belegen aus Kaiserurkunden (z. B.
Karls d. Gr. für S. Emmeram bei Regensburg beim bayerischen Nordgau ;
Heinrichs III. für St. Blasien beim Alpgau) aufgezählt: pagus Alsaticus,
pagus Belgicus, pagus Nordgouiensis (bayerischer Nordgau), pagus Alp-
gouiae (Alpgau am Südabhang des Schwarzwaldes bis zum Rhein hin),
pagus Curwalcha, pagus Osterriche, pagus Charentanus, pagus Trungew
(der österreichische Traungau), pagus Ringouiae (Rheingau).
•) Als Beispiel: Andreas Althamer, Scholia in Cornelium Tacitum
(1529) spricht a. a. O. p. 44f. im Anschluß an Germania c. 39 über die
Semnonen auch von den Gauen und gibt ein kurzes Verzeichnis deut¬
scher Gaunamen.
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letzten Jahre des Jahrhunderts (1599) 1 ). Der gelehrte kurpfäl¬
zische Hofrat 2 ), der von nun an dem ganzen 17. und 18. Jahrhun¬
dert als der eigentliche Vater der Gauforschung galt 3 ), bot in sei¬
nem Werke ein umfangreiches, etwa 80 Namen umfassendes
Verzeichnis deutscher Gaue, z. T. mit einigen Belegstellen und all¬
gemeinen Angaben über die Ausdehnung des Gaues 4 ). Daran
schließen sich noch ziemlich ausführliche Monographien über zwei
für die Geschichte der Pfalz besonders wichtige Gaue: Ladengau
und Rheingau. Hier weiß der Verfasser, besonders dank des reich¬
lichen Materials, das ihm die Lorscher Überlieferung bot, schon
besser Bescheid und macht für den Rheingau unter anderem
die sehr interessante Bemerkung, er entspräche fast genau der
späteren Burggrafschaft Starkenburg. Eine Fortsetzung und Er¬
gänzung zu Frehers Werk, das, wollte es auch allgemein sein,
doch vorwiegend die oberdeutschen Lande berücksichtigt hatte,
bot des älteren Heinrich Meibom 6 ) Schrift über die Gaue
Sachsens und der angrenzenden Gebiete (1612) 6 ), eine umfassende
*) Originum Palatinarum commentarius. De gentis et dignitatis eius
primordiis; tum Heidelbergae et vicini tractus antiquitate. Heidelbergae
1599, in kl. 4 0 . — 2. Auflage (innumeris locis melior et locupletior) als:
Originvm Palatinarvm pars prima (Leipzig) 1613 und pars secunda
(Leipzig) 1612(!).
*) Über seine Lebensschicksale F. X. Wegele in der Allg. deutschen
Biographie VII, S. 334L Geb. 1565 zu Augsburg, kam er nach vollendetem
Studium früh an den Hof des Administrators Johann Casimir von der
Pfalz, diente ihm und später Kurfürst Friedrich IV. als Rat. Nur vor¬
übergehend hatte er auch eine Professur für römisches Recht in Heidel¬
berg inne. In seinen staatsrechtlichen und historischen Schriften ist er
der publizistische Vertreter der pfälzischen Politik, ein Zweck, dem im
Grunde auch sein im Texte genanntes Hauptwerk dient.
*) Meibom (s. unten) widmete ihm seine Arbeit über die Gaue Nieder*
Sachsens, Freher und seine Werke werden von den folgenden Autoren
immer wieder an die Spitze der Gauforschung gestellt.
4 ) 1. Aufl. p. 37—42; 2. Aufl. pars I, p. 37—-14 mit nur ganz unbedeu¬
tender Vermehrung des beigebrachten Materials (kein Gau neu genannt).
*) Zu scheiden von seinem gleichnamigen Enkel, der wie der Gro߬
vater Professor in Helmstädt war. Über die verschiedenen Mitglieder
der Gelehrtenfamilie Meibom Allg. deutsche Biographie XXI, S. 187L
®) De vtriusque Saxoniae et vicinarum regionum quarundam pagis,
ex mediae aetatis rerum Germanicarum scriptoribus et Caess. Augg. di-
plomat. commentariolvs. Die Schrift ist Freher gewidmet. — Mir war
hier in Greifswald die Originalausgabe nicht zugänglich, ich benutzte die
Arbeit in der von Meiboms gleichnamigem Enkel herausgegebenen
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 137
Gaugeographie in alphabetischer Ordnung — gegen IIO Stich¬
worte — für das gesamte Gebiet vom Niederrhein bis zu den öst¬
lichen Marken des Reiches. Es ist ein Werk, das mit großem
Sammelfleiß schon eine gewisse Kritik verbindet und dessen Ver¬
fasser den Zusammenhang zwischen den alten Gauen und späteren
territorialen Gebilden, den Freher bereits gelegentlich angedeutet
hatte 1 ), schon stärker betont 2 ). In der begonnenen Richtung
wurde in den folgenden Jahrzehnten weiter gearbeitet, manches
neue Material herbeigeschafft, bis Christian Franz Paullini
abermals, genau 100 Jahre nach Freher (1699), den ganzen Stoff
zusammenfaßte 8 ). Grundsätzlich Neues wußte er allerdings nicht
zu sagen, als theoretische Einleitung setzte er vielmehr seinem Werke
abermals die nun schon über 80 Jahre alte Praefatio Meibomiana
voran. Da sah der Eisenacher Rektor Christian Juncker 4 ),
der ein gutes Jahrzehnt später (1712) abermals eine allgemeine
Gaugeographie herausgab 5 ) — die erste in deutscher Sprache —,
doch schon klarer: „ Im übrigen sind wir der Meinung, daß, so attent
und scharffsichtig man auch sey, dennoch die Beschreibung der
Teutschen Pagorum nicht werde zu ihrer Vollkommenheit gelangen,
ehe und bevor etliche gelehrte und der Sachen verständige Männer
Sammlung der „Opvscula historica varia “ des Großvaters (Helmestadi
1660), dort S. 82 ff.
*) Vgl oben seine bereits erwähnte Beobachtung: Rheingau =» Burg¬
grafschaft Starkenburg.
*) Vgl. die allgemeinen Ausführungen gegen Schluß der Einleitung
und die Bemerkung beim Gau Ameri, daß er der heutigen (für den Be¬
ginn des 17. Jahrhunderts gesprochen) Grafschaft Oldenburg entspräche.
3 ) Christianus Franciscus Paullini, Gaeographia curiosa seu de pagis
antiquae praesertim Germaniae commentarius. Francofurti ad Moenum
16Q9. — Über P.’s Leben und Persönlichkeit vgl. Wegele in der Allg. deut¬
schen Biographie XXV, S. 279 ff. Von Haus aus Arzt (geb. Eisenach 1643),
gehört der größere Teil seiner wissenschaftlichen Werke doch dem Ge¬
biete der Geschichte an. Zeitlebens hat er sich mit immer neuen großen
Projekten getragen, nach einem unruhigen Wanderleben fand er erst in
den letzten 25 Jahren seines Lebens Ruhe in seiner Vaterstadt, hier ge¬
storben 1711.
4 ) Über sein Leben und seine Schriften H. Kaemmel, Allg. deutsche
Biographie XIV, S. 690 ff. Neben seinem Schulamte war J. noch Bibliothekar
und Historiograph der sächsischen Emestiner.
ö ) Als 5. Kapitel „Von den großen und kleinen pagis oder Gowen
in Teutschland“ seiner „Anleitung zu der Geographie der mitlem Zeiten
. . . Jena 1712“.
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sich en particulier bemühet, diejenigen Pagos, so zu ieglichem
Chur- und Fürsten- auch Hertzog- Markgraf- Landgraf- Burggraf¬
thum und Grafschafft, auch Geistlichem Stiffte, so Bischofthümer
als Clöster, ehemals und noch biß itzo, obschon mit veränderten
Nahmen, gehören, sammt ihren Villis, soviel man ihrer in den
Scriptoribus medii aevi findet, und deren heut üblichen Benennung,
in besonderen Schrifften zu erklären 1 ).“ Schon vor diesen allgemei¬
nen Ausführungen erwähnt Juncker an anderer Stelle, „daß über jed¬
weden Pagum ein besonderer Comes oder Grave gesetzet worden“,
Gau und Grafschaft sind ihm also in älterer Zeit identisch. Ins¬
gesamt vertritt Juncker die Ansicht 2 ), daß mit dem Aufhören der
häufigen Erwähnung der Gaue im u., 12. und 13. Jahrhundert
die alte Gaueinteilung nicht erloschen -sei, sondern daß sie, un¬
beschadet vielleicht mancher Veränderungen im einzelnen, in den
Territorien des Reiches fortlebe; durch Einzelforschung sie wieder¬
zufinden, das sei die Aufgabe.
Es sind ja nun Monographien über einzelne Gaue entstanden,
aber planvoll, wie es Juncker gewünscht hatte, ist durch sie die
Forschung nicht gefördert worden, sie blieben Einzelarbeiten,
und das nächste große, vielbewunderte Werk auf dem Gebiete der
Gaugeographie, das 1732 erschien, war wieder allgemeinen Cha¬
rakters. In jener merkwürdigen Enzyklopädie der historischen
Hilfswissenschaften, die als Chronicon Gotwicense 3 ) bekannt
ist, handelt das vierte Buch „De pagis Germaniae mediae“. Auf
über 350 Folioseiten wird ein sehr umfangreiches Material 4 ), alles
was bisher über die deutschen Gaue bekannt geworden war, wieder
zusammengestellt und auch eine große Gaukarte 5 ) — der erste Ver-
x ) a. a. O. $ 16, S. 193. 2 ) Vgl. a. a. O. S. 1890.
*) Chronicon Gotwicense seu Annales liberi et exempti monasterii
Gotwicensis .... Tomus prodromus de codicibus manuscriptis, de
imperatorum ac regum Germaniae diplomatibus, de eorundem palatiis,
villis et curtibus regiis atque de Germaniae medii aevi pagis.... Tegern¬
see 1732. — Über den einleitenden Band ist man nicht herausgekom¬
men, die groß angelegte Geschichte des niederösterreichischen Stiftes
Göttweig, die ihm folgen sollte, ist nie erschienen.
*) p. 527—881 und Addenda p. 883—890; 537 Gaue zählt das alpha¬
betische Gauverzeichnis, drei bisher noch nicht erwähnte findet man noch
in den Addenda.
A ) Germania in priscas suas provincias, ducatus pagosque. tarn ma*
iores quam minores curate divisa, nominibus locorum ad medij aevi dia-
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Die Entwicklung der histor. -geograph. Forschung in Deutschland usw. 13g
such dieser Art — ist beigegeben. Über das Sammeln aber sind die
gelehrten Benediktiner 1 ), die das Werk bearbeiteten, nicht hinaus¬
gekommen, die Wege, die Juncker gewiesen hatte, sind sie nicht
gegangen, und so ist für die Gauforschung das Chronicon Got-
wicense nicht das grundlegende, epochemachende Werk, als das
es für die eigentlichen historischen Hilfswissenschaften allgemein
anerkannt wird. Einen neuen Anstoß erhielt die Forschung auf
diesem Gebiete erst — das muß anerkannt werden, auch wenn
sich der Weg, den sie gingen, schließlich als ein Irrweg erwies —
durch die Gelehrten der kurpfälzischen Akademie zu Mannheim.
Die Academia Theodoro-Palatina, die der Ehrgeiz Kur¬
fürst Karl Theodors von der Pfalz ihren älteren Genossinnen an
die Seite stellte 2 ), stand wissenschaftlich durchaus unter dem
Einflüsse Johann Daniel Schöpflins 3 ), des berühmten Verfas-
lectum expressis ex diplomatibus, chartis et tabulis medij aevi descripta,
1729. Der Titel bezeichnet die Art der Karte ganz treffend: eine Unzahl
Namen sind eingetragen (wohl alle im Gauregister erwähnten), Grenzen
einzuzeichnen, aber ist nur seiten versucht, und nur mit der größten Mühe
kann man die Landschafts- und Gaunamen, die kreuz und quer das Blatt
bedecken, herausbuchstabieren: Ripuariorum ducatus, Saxoniae ducatus,
Baioariae ducatus, Wormatiensis (pagus), Spirensis (pagus), Moingow,
Northuringa, Suevon, Serimunt usw.
*) Verfasser sind Gottfried Bessel, der Abt von Göttweig, und Franz
Joseph von Hahn, wobei der zweite wohl die Hauptarbeit geleistet hat,
vgl.F. X. v. Wegele, Gesch. d. deutsch. Historiographie S. 553 fl., und Hahns
Biographie von K. Heigel, Allg. deutsche Biographie X, S. 358 ff.
*) Gegründet 1763, es bestanden vor ihr im Deutschen Reiche be¬
reits: die kaiserlich Leopoldinisch-Karolinische Akademie der Natur¬
forscher, gegr. 1652; die Akademien zu Berlin, gegr. 1700; zu Göttingen,
gegr. 1751; die Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften zu Erfurt,
gegr. 1754, und die Münchner Akademie, gegr. 1759.
a ) Über Sch. und seine Stellung in der Wissenschaft eingehend
W. Wiegand, Allg. deutsche Biographie XXXII, S. 359fl. Sch. wurde ge¬
boren 1694 zu Sulzburg in Baden, wurde 1720 Professor an der Univer¬
sität Straßburg, der er unter Ablehnung einer Reihe von ehrenvollen
Rufen bis zu seinem Tode (f 1771) treu blieb. So hatte auch Kurfürst
Karl Theodor von der Pfalz keinen Erfolg, als er Sch. aus Anlaß der
Gründung der Mannheimer Akademie (1763) aufforderte, in seine Resi¬
denz überzusiedeln, um hier eine große Geschichte des pfälzischen Hauses
zu verfassen oder zu redigieren. Sch. sandte an seiner Stelle seinen
Lieblingsschüler Andreas Lamey nach Mannheim, der ständiger Sekretär
der Akademie wurde, während sein Meister selbst als Ehrenpräsident in
ein festes Verhältnis zu ihr trat. Die historische Forschung an der Aka¬
demie bewegte sich daher ganz in den Bahnen Schöptlinscher Methode,
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140 Fritz Curschmann
sers der Alsatia illustrata 1 )* Von der Lehre aber, die hier bald ent¬
wickelt wurde, daß die Grenzen der alten Gaue des früheren Mittel¬
alters sich in den späteren kirchlichen Grenzen erhalten hätten,
wußte Schöpflin noch nichts 2 ). Wann dieser Gedanke wirklich zu
allererst auftauchte und bei wem, wird sich schwerlich ganz sicher
feststellen lassen, er lag — wie seine schnelle Aufnahme auch
zeigt — um die Mitte des 18. Jahrhunderts offenbar in der Luft.
Er war ja im Grunde ursprünglich auch nur auf der einen Seite
eine Übertragung der bekannten Tatsache, daß sich die alte Kirche
bei der Festsetzung ihrer Diözesaneinteilung nach den Provinzen
des römischen Reiches gerichtet hatte, auf deutsche Verhältnisse,
auf der anderen Seite eine Ergänzung des schon früher ausgespro¬
chenen Gedankens, daß sich in den Grenzen späterer Territorien
viele Gaugrenzen erhalten hätten, eine Ergänzung, die sich leicht
für jeden ergeben mußte, der vor Augen sah, wie beständig die
Kirchspielgrenzen, die Elemente aller anderen kirchlichen Gren¬
zen, sind. So kommt es, daß Johann Nicolaus v. Hont-
und der rege Briefwechsel, den er über alle akademischen Angelegen*
heiten, Großes und Kleines, mit Lamey unterhielt, zeugt von dem Inter¬
esse, das Sch. der neuen Gründung entgegenbrachte. Auch hat er bis an
sein Ende die Festsitzungen der Akademie besucht (nach L. Bergsträßer,
Mannheimer Gesch.-Bll. VIII (1907), S. 207 f.).
*) Alsatia illustrata Celtica, Romana, Francica. 2 Bde. Colmariae 1751
u. 1761.
*) Dies zeigt seine Beschreibung der elsässischen Gaue in der Alsatia
illustrata I (p. 632—647), die sich noch durchaus in den alten Bahnen
bewegt. Sch.s Schüler Lamey (vgl. über ihn und seine Beteiligung an
der Gauforschung weiter unten S. I4if.) kommt in der Vorrede zu Bd. II
von Sch.s nachgelassenem Werke, das er herausgab, der Alsatia diplo-
matica (Mannhemii 1775), auf die Frage zurück und bemerkt, daß Sch.
bereits gewußt habe, „Ad geographicam porro et politicam veterum pro-
vinciarum rationes episcopatus olim et archiepiscopatus institutos esse 11 ,
daß er aber merkwürdigerweise von dieser Erkenntnis in seiner Beschrei¬
bung der elsässischen Gaue keinen Gebrauch gemacht habe. Der Vor¬
wurf ist unberechtigt, denn Sch. spricht an der Stelle, auf die sich Lamey
bezieht (Alsatia illustrata I, p. 344), nur davon, daß sich die alte Kirche
in ihrer Diözesaneinteilung nach der Einteilung des römischen Reiches
in Provinzen gerichtet habe, zieht aber daraus — wir werden heute sagen
mit Recht — nicht die Folgerung, daß deswegen auch die Diözesen der
mittelalterlichen deutschen Kirche der deutschen Gaueinteilung entsprechen
müssen.
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Die Entwicklung der histor. -geograph. Forschung in Deutschland usw. 141
heim 1 ) bereits annehmen konnte — ohne auf die Frage näher
kritisch einzugehen —, daß die Erzdiözese Trier, deren Geschichte
er schrieb, genau einer Anzahl von Gauen entspräche 2 ), ja mehr
noch, er glaubte in ihr genau das Stammesgebiet des Kelten¬
stammes der Treverer vor sich zu haben 8 ). Näher verfolgt hat
Hontheim die Frage von der Gleichheit der Gau- und Diözesan-
grenzen nicht, nur ein Vorläufer der Schule, die diese Theorie ver¬
trat, war er. Sie wurde, wie schon bemerkt, erst von den Gelehrten
der Mannheimer Akademie systematisch ausgebaut 4 ).
Andreas Lamey, ehemals Schöpflins langjähriger Mit¬
arbeiter, jetzt sein Vertrauensmann bei der Akademie und stän-
*) Über seine Bedeutung als Geschichtsschreiber und Kirchenpolitiker
eingehend F. X. Kraus in der Allg. deutschen Biographie XIII, S. 83 ff. H.
wurde geboren zu Trier 1701, trat nach theologischen und juristischen
Studien in die geistliche Verwaltung des Erzstifts ein, wurde Professor an der
Universität Trier (1732), Offizial (1738) und schließlich Weihbischof (1748).
Er starb auf seinem Sommersitz Montquintin im Luxemburgischen 1790
*) Vgl. Historia Trevirensis diplomatica et pragmatica I (Augustae
Vindelicorum et Herbipoli 1750), S. 54fr., wo H. nach Freher, Paullini,
dem Chronicon Gotwicense und unter Beibringung auch eigenen, neuen
Materials eine ziemlich ausführliche Zusammenstellung alter Art über die
Gaue der Erzdiözese gibt. — Bezeichnend (S. 54): Singulos hos pagos,
in quos tum nostra archidioecesis distributa fuit, nosse et ex coaevis ta-
bulis perspectas habere plurimas in eis sitas villas vicosque hodiedum
superstites multum sane est historiae patriae momentum.
8 ) Vgl. Prodromus historiae Trevirensis (Augustae Vindelicorum 1757)
p.4: . . . si quis tarnen adhuc curatiorem horum finium determina-
tionem (sc. gentis Trevirorum) desiderat, is ea loca omnia et sola Trevi-
rorum sub Romanis fuisse censeat, quae sub Constantino ’M. cis Rhenum
iurisdictioni ecclesiasticae Trevericae subdita sunt, quaeque in hunc usque
diem in eodem sacro nexu perdurant .... Fuit enim tune in more,
episcopatuum et dioecesium fines populorum limitibus circumscribere,
atque ita singulis civitatibus suos dare sacros praesides; uti eruditis
minime ignotum est.
4 ) Auf die Bedeutung der Mannheimer Historiker für die Geschichte
der Gauforschung wurde ich durch Theodor Menkes Besprechung von
H. Böttger, Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands aufmerksam ge¬
macht, Hist. Zeitschrift XXXVIII (N. F. II), 1877, S. 103. Wenn M. dort
unter den ältesten Verfechtern der Theorie von der Gleichheit der kirch¬
lichen und Gaugrenzen auch „P. Wiltheim“ nennt, so liegt hier entweder
ein Druckfehler für „Hontheim “ (über ihn s. oben) oder ein Irrtum
M.s vor, denn das Werk des Jesuiten Alexander v. Wiltheim (1604 bis
1684), Luciliburgensia sive Luxemburgum Romanum (ed. A. Neyen, Luxem¬
burg 1846), das doch wohl nur gemeint sein könnte, enthält nichts von
der erwähnten Theorie.
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diger Sekretär der gelehrten Körperschaft 1 ), begann schon im ersten
Bande der Akademieschriften eine Reihe von Abhandlungen, in
denen er sich die Erforschung der Gaue der rheinischen Pfalzgraf¬
schaft zur Aufgabe setzte 2 ), und er zeigt sich in ihnen von Anfang
an durch die schon berührte Theorie stark beeinflußt. In erster
Linie zwar sucht Lamey den Gauen, über die er arbeitet — Laden¬
gau, Wormsgau, Rheingau, Speiergau, Kraichgau, Nahegau,
Elsenzgau und Gau Wingarteiba —, natürliche Grenzen zu geben,
wie sie der Rheinstrom, seine bedeutenderen Nebenflüsse und eine
Anzahl von Gebirgszügen bieten 3 ). Wo aber solche Grenzen fehlen,
da sind ihm die Diözesangrenzen maßgebend 4 ), und auch vor
einer gewissen Gewaltsamkeit der Linienführung scheute er
*) Vgl. oben S. 139 Anm. 3. Einige biographische Notizen über ihn
gibt F. X. Wegele, Allg. deutsche Biographie XVII, S. 568. Er wurde ge¬
boren 1726 zu Münster im Elsaß und starb in Mannheim 1802 als
Sekretär der dortigen Akademie und Oberbibliothekar. Eine Selbstbio¬
graphie Lameys ist neuerdings von Franz Schnabel herausgegeben wor¬
den, Mannheimer Geschichtsblätter XIV (1913). Über L.s Gauforschung
bietet sie nichts von Belang.
*) Sämtliche Abhandlungen L.s in den Acta acad. Theodoro-Pala-
tinae, alle mit recht übersichtlichen, für ihre Zeit anerkennenswerten
Karten: Ladengau, Acta I (1766), p. 215fr.; Wormsgau, Actal, p. 243!!.;
Rheingau, ibid. II (1770), p. 153ff.; Speiergau, ibid. III hist (1773),
p. 228fl.; Kraichgau, ibid. IV (1778), p. I04ff.; Nahegau, ibid. V (1783),
p. 127ff.; Elsenzgau, ibid. VI (1789), p. 91 ff.; Wingarteiba ibid. VII (1794),
P- 4i ff-
*) Der Rhein ist Grenze zwischen Speier- und Wormsgau einerseits,
Ladengau und Rheingau auf der anderen Seite; Nordgrenze des Rhein¬
gaus der Main (Acta acad. II, p. 177). — Das Haardtgebirge erscheint
als Grenze des Speiergaus gegen Westen (Acta acad. III hist, p. 254), der
Odenwald als Ostgrenze des Rheingaues. Sehr hübsch beschreibt L. hier
dies Waldgebirge als Grenzsaum, wie es die neuere geographische Wissen¬
schaft bezeichnet: Orientalem denique montium ad Stratum montanam
(= Bergstraße) surgentium cacumina constituunt, retro quae Plumgovia et
Moingovia occurrunt, ubi non tarn facile est lineam certam ducere, quam
in apertis atque cultis. Sunt enim in desertis, in silvis ac montibus
limites definitu ubique difficillimi (Acta acad. II, p 177).
4 ) Sehr bezeichnend seine Ausführungen über die Südgrenze des
Wormsgaues (Acta acad. I, p. 287): Variant chartae veteres in pagi nomine
Spirensis nempe et Wormatiensis (d. h. in der Erwähnung der Gauzuge¬
hörigkeit bei einigen Orten im Grenzgebiet von Worms- und Speiergau);
quare consulendi omnino sunt dioecesis Wormatiensis quibus a Spirensi
sejungitur fines. Fines autem hi sunt ....
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 143
dann nicht zurück 1 ). In ähnlicher Weise arbeiteten gleich¬
zeitig mit ihm auch andere Mitglieder der Akademie, so der ge¬
lehrte Rektor des Zweibrücker Gymnasiums Georg Christian
Crollius 2 ), der in den Acta der Akademie eine große Arbeit über
die Gaue Oberlothringens veröffentlichte 3 ), und in erster Linie
Christoph Jakob Kremer 4 ), der Verfasser der Geschichte
des Rheinischen Franziens 6 ). Ihm schreibt Lamey, der es als
Herausgeber dieses nachgelassenen Werkes, und Sekretär der
Akademie ja wissen muß, das Hauptverdienst an der Ausbildung
der Lehre von der Übereinstimmung der Kirchensprengel mit den
Gauen zu 6 ). Und in der Tat spielt diese Theorie bei Kremer eine
*) Vgl. z. B. die Ausführungen über die Südgrenze des Ladengaues,
die Lamey im Gegensatz zu einem Quellenzeugnis auf Grund der Diözesan-
grenze zwischen Worms und Speier festlegt (Acta acad. I, p. 236).
*) Seine Biographie von Franz X. Wegele, Allg. deutsche Biographie
IV, S. 604 f. Er wurde geboren zu Zweibrücken 1728 und starb daselbst
1790. Er war seit 1765 außerordentliches Mitglied der Mannheimer
Akademie, vgl. Acta acad. I, p. 18.
*) Observationes geographicae ad illustrandum omnem tractum Mosel-
lanum spectantes, Acta acad. V hist. (1783), p. 187 ff.
4 ) In der Allg. deutschen Biographie fehlt seine Biographie merkwür¬
digerweise, einige biographische Angaben in Lameys Vorrede zu Kremers
Gesch. d. Rhein. Franziens (s. folg. Anm.). Danach wurde K. 1722 in Worms
geboren, studierte in Tübingen, trat 1760 als Ehegerichtsrat in rhein-
pfälzische Dienste, war Mitglied der Mannheimer Akademie seit ihrer Be¬
gründung (1763) und starb zu Mannheim 1777.
6 ) Geschichte des Rheinischen Franziens unter den Merovingischen
und Karolingischen Königen bis in das Jahr 843, als Grundlage zur Pfäl¬
zischen Staats-Geschichte. Herausgegeb. von Andreas Lamey. Mannheim
1778. — Eine Erweiterung der Gaugeographie, die K. in diesem seinem
Hauptwerke für Rheinfranken bietet, gegen Osten ist — ebenfalls aus
dem Nachlasse, Acta academiae IV hist. (1778), p. 147—178 —: Das östliche
Franzien in seine Gaue eingeteilt; umfassend die Gaue im Gebiete des
mittleren Neckar, des mittleren Main und ostwärts soweit die deutsche
Siedelung reicht: Waldsaßgau, Taubergau, Wingarteiba, Jagstgau, Mulach-
gau, unterer Neckargau, Kochergau, Rangau, Iffgau und Gollachgau. —
Skizzenhaft nur ist die dritte nachgelassene Arbeit K.s aus dem Gebiete
der historisch geographischen Forschung, mit der er seine Untersuchung
auf das Gebiet des Niederrheins ausdehnte: Die ripuarische Provinz
und die in derselben gelegenen fünf Grafschaften, Acta IV hist., p. 178
bis 189, und dementsprechend die Behandlung des Problems von der
Gleichheit der Gau- und kirchlichen Grenzen.
e ) Vgl. Lamey in der Vorrede zu Kremers Geschichte des Rheinischen
Franziens (unpaginiert): „Insonderheit hat Herr Kremer durch die vor¬
hin noch sehr dunkel gewesene Lehre von der Übereinkunft der bischöf-
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große Rolle. Um die Führung eines strikten Beweises 1 ) bemüht
er sich allerdings nur wenig und beruft sich lieber auf seine und
seiner Mitarbeiter Erfahrung: ,,Die politische Eintheilung in
Gauen ist unstreitig viel älter, als die geistliche nach den Diöcesen.
Denn diese entstunden erst, nachdem das Christenthum in Deutsch -
lande allgemeiner geworden. Es war also natürlich, daß man die
letztere, so viel möglich nach der erstem eingerichtet hat. Wenn
man die Grenzen der alten Gauen mit den von den bischöflichen
Kirchensprengeln etwas genauer vergleicht: so wird man finden,
daß solches eine Wahrheit ist, welche, sonderlich wo ganze Pro¬
vinzen und Völker wenden, selten, und nur in denen Fällen trüget,
wo in den neueren Zeiten durch Verträge und Umtauschung, auch
selbst durch päpstliche und andere Befreyungsbriefe eine Aenderung
gemacht worden. Wie nun die Diöcesen sich nach den Gauen ein¬
gerichtet: so hat man bey diesen, wo die Gelegenheit dazu war,
wieder auf die Schneeschmelze, das ist, auf den Abfluß der von
den Gebirgen kommenden Wasser, als die natürlichste Grenze ge¬
sehen . . . .“ 2 ). Wie nach diesen grundsätzlichen Ausführungen zu
erwarten, so gestalten sich die Gaubeschreibungen im einzelnen.
Der Bedeutung der natürlichen Grenzen sucht Kremer gerecht
zu werden und weist oft genug auf sie — Höhenzüge wie Wasser¬
grenzen — hin, zur genaueren Bestimmung, zur feineren Modellie¬
rung, wenn man sich so ausdrücken darf, seiner Gaugrenzen die¬
nen ihm aber immer wieder die kirchlichen Grenzen, wobei er aller¬
dings zur Stütze dessen, was sie ihm für die Feststellung der
Grenzorte bieten, in den Anmerkungen ein nicht unbeträchtliches
Material über die Gauzugehörigkeit der Grenzorte aus den Ur¬
kunden beibringt. Eine Verfeinerung der Methode in Kremers
Sinne bedeutet es hierbei, daß er über Lamey, der die Überein¬
stimmung der kirchlichen Hauptgrenzen, der Diöcesangrenzen,
liehen Kirchensprengel mit den alten Gauen und Provinzen, welche er
durchaus richtig gefunden hat . . . .“
’) Wie ihn später, mit wenig Glück allerdings, der schon genannte
H. Böttger im Vorwort zu seinen Diözesan- und Gaugrenzen zu führen
versucht hat.
*) Das Zitat bei Kremer a. a. O. S. 30; im folgenden noch weitere Aus¬
führungen : auch Zeugnisse jüngerer Zeit, historische Schlüsse usw. müßten
beachtet werden.
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 145
mit den Gaugrenzen festzustellen sich bemüht, hinausgeht und
systematisch auch die Unterabteilungen der Bistumssprengel,
Archidiakonate und Dekanate mit den Gauen in Verbindung
bringt 1 ). Daß solches Verfahren den Quellen nicht selten Gewalt
antut*), wird man verstehen, so doktrinär aber, wie es Spätere
wurden 8 ), ist Kremer noch nicht, und so gibt er denn auch frei¬
mütig Ausnahmen von seiner Regel zu 4 ).
Ein tüchtiges Stück monographischer Arbeit auf dem Gebiete
der deutschen Gaugeographie ist von den Mannheimer Forschern
geleistet worden. Hatte Lamey mit den Gauen der Pfalz angefan¬
gen, so umfaßten Kremers Untersuchungen ganz Rheinfranken,
die fränkischen Gebiete am Main und Neckar und auch noch einen
Teil niederrheinischen Landes. Gegen Westen dehnte Crollius
die Arbeit auf Lothringen aus, und schließlich unternahm es
Lamey noch, die Ergebnisse der Forschung seines Meisters Schöpf -
lin für das Elsaß in einigen Punkten gemäß den neuen Anschauun¬
gen zu korrigieren 8 ). Mehr noch, man suchte der Gauforschung
neue Mitarbeiter zu gewinnen, indem die Akademie Preisaufgaben
stellte. Die eine von allgemeiner Art, über die Ursachen des Ver¬
falles der Gaueinteilung, fand durch einen damals noch jungen
Gelehrten, den Assessor bei der Regierung zu Karlsruhe, Hektor
Wilhelm von Günderode, eine, wie man auch heute noch ur*
*) So weiß K. den Umfang des Wirmgaues (im Gebiete der mittleren
Nagold), obwohl, wie er selbst bemerkt, nur wenig urkundliches Material
vorliegt, doch genau zu bestimmen, indem er ihn gleichsetzt dem Speierer
Dekanat Weil (Geschichte Franziens S. 84 fr.); der untere Lahngau ent¬
spricht den Trierer Landkapiteln Wetzlar, Kirberg und Dietkirchen (Ge¬
schichte Franziens S. 126); der Gau Weingarteiba (südl. des Mainknies
von Miltenberg) ist gleich dem würzburgischen Dekanat Buchen (B. sso.
Miltenberg, bei Kremer Buchheim. D. östliche Franzien, Acta IV, p. 157 fr.).
*) So ist es z. B. ein kühner Schluß, wenn K. (Gesch. Franziens S. 89)
annimmt, daß der Enzgau ursprünglich in zwei Gaue, einen oberen und
einen unteren Enzgau, zerfallen sei, nur weil sich in dies Gebiet später
zwei Dekanate, die von Pforzheim und Vaihingen, teilten, die ihrerseits
wieder zu zwei verschiedenen Archidiakonaten gehörten.
*) Der hannoversche Bibliothekar Heinrich Böttger bleibt hier immer
das abschreckende Beispiel; vgl. über ihn weiter unten.
4 ) Vgl. z. B. beim Taubergau, Gesch. des östl. Franziens, Acta acad.
IV hist. (1778), p. 153 und beim Maingau, Gesch. d. Rhein. Franziens S. 108.
6 ) In der Praefatio zu Bd. II von Schöpflins nachgelassenem Werke
Alsatia diplomatica. Vgl. auch oben S. 140 Anm. 2
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 IO
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Fritz Curschmann
teilen wird, vortreffliche Lösung (1776) x ). Auf die zweite bald
danach gestellte Aufgabe, die eine Untersuchung über das Ver¬
hältnis der sächsischen Diözesen und Gaue zueinander forderte,
um so die Grundsätze der auf fränkischem Boden gewonnenen
Lehre zu prüfen und zugleich das Gebiet der Gauforschung zu
erweitern, lief ebenfalls eine Bearbeitung ein, doch wurde sie nicht
für preiswürdig erklärt 2 ).
Das planvolle Vorgehen der Mannheimer machte in der wissen¬
schaftlichen Welt starken Eindruck, ihre Theorie hatte auf der
ganzen Linie gesiegt. Wohin man in der landesgeschichtlichen
Literatur der nächsten Jahrzehnte blickt, sobald es sich um
Gaue handelt, werden sie mit Hilfe der Bistums-, Archidia-
konats- und Dekanatsgrenzen konstruiert 8 ), so bei Wenck in seiner
Hessischen Landesgeschichte 4 ), so bei Johann Adolph von Schultes
*) Das Urteil der Akademie, abgegeben in der Sitzung vom 23.0kt.
1776, vgl. Acta acad. IV hist. (1778), p. 17. Unter fünf Bewerbern —■
auch ein Zeichen, wie populär damals die Gauforschung in den Kreisen
der Gelehrten war — trug G. den Preis davon. Die Arbeit erschien
unter dem Titel „Von den vornehmsten Ursachen, welche den verfall der
geographischen Einteilung des Teutschen Reiches, besonders der Rheini¬
schen länder, in gauen, veranlasset haben“ in Acta acad. IV hist., p. 18
bis 36. Später auch aufgenommen in des Verfassers „Sämmtliche Werke
aus dem teutschen Staats- und Privat-Rechte, der Geschichte und Münz¬
wissenschaft . . . herausgegeben von Ernst Ludwig Posselt“ Bd. I
(Leipzig 1787). — Die Ursachen für den Verfall der Gaueinteilung sieht
G. in erster Linie im Aufkommen der Erblichkeit der Grafschaften. Die
Grafen teilten nun ihren ehemaligen Amtssprengel, den Gau, in be¬
liebiger Weise, vereinigten Stücke verschiedener Gaue, nannten sich dann
nach ihren Schlössern oder Allodialgütem, so daß die Gaunamen über¬
flüssig wurden. Ebenso wurden durch Schenkung an geistliche Institute die
Gaue zerstückelt und durch Exemption von der weltlichen Gerichtsbarkeit
der geistliche Besitz aus dem Verbände von Gau und Grafschaft gerissen.
*) Vgl. das in der Sitzung vom 12. Okt. 1778 abgegebene Urteil
der Akademie, Acta acad. V hist., p. 7. Eine Lösung der Aufgabe, wie
sie von der Mannheimer Akademie gestellt und gewünscht war, brachte
erst ein Menschenalter später (1829) die Göttinger Preisarbeit August
v. Wersebes über die niedersächsischen Gaue, s. unten S. 153.
8 ) Eine Reihe von Arbeiten dieser Zeit in Böttgers Bibliographie,
Diözesan- und Gaugrenzen I, p. XIV ff.
4 ) Helfrich Bernhard Wenck, Hessische Landesgeschichte, Bd. II (1789),
Vierter Abschnitt: Politische und kirchliche Abtheilung der Hessischen
Länder nach Gauen und Archidiakonaten, S. 343 ff. Vgl. besonders sein
Urteil (S 349), man kann „aus den noch vorhandenen Archidiakonats-
registem die vormaligen Grenzen der Gauen sehr genau beurtheilen, oder
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 147
in verschiedenen Schriften 1 ) u. a. m. Auch der bayerische Archi*
var Karl Heinrich Lang 2 ) schloß sich, als er die Gaugeogra¬
phie eines größeren Gebietes — Bayern natürlich — zu schreiben
unternahm, der herrschenden Lehre an. Seine Arbeit erschien in
den Schriften der Münchener Akademie unter dem Titel: Die Ver¬
einigung des Baierischen Staates aus den einzelnen Bestandteilen
der ältesten Stämme, Gauen und Gebiete historisch entwickelt 8 ).
In den gleichen Gleisen, an verschiedenen Stellen ging die
Arbeit so fort, bis zum Erscheinen der zweiten Auflage von Längs
Arbeit über die bayerischen Gaue (1830) 4 ). Nicht in ihm selbst liegt
die Bedeutung des erneuerten Buches, obwohl es in umgearbeitetcr,
verbesserter und erweiterter Form 6 ) erschien, auch nicht darin,
die Ausnahmen sind wenigstens nur selten. Kenner haben diese Regel
in der Ausübung noch immer bewährt befunden.“ Dann beruft sich W.
in der Anmerkung auf die Arbeiten der Mannheimer.
x ) In seinen Historischen Schriften und Sammlungen ungedruckter
Urkunden zur Erläuterung der deutschen Geschichte und Geographie
des mittleren Zeitalters, I (1798) und II (1801), Hildburghausen: Beschrei¬
bungen des bayerischen Nordgaues und des Radenzgaues. Sehr bezeich¬
nend 1,9; nachdem Sch. zuerst von der Bestimmung des Umfanges der
Gaue auf Grund der Urkunden gesprochen hat, fahrt er fort: „Da, wo
die urkundlichen Beweise . . . nicht hinreichend sind, nimmt man
die Archidiaconatsregister zur Hülfe, von welchen die fürtreflichen Mit¬
glieder der kurfürstlichen Academie der Wissenschaften zu Mannheim,
bei verschiedenen Gaubeschreibungen, die glücklichste Anwendung ge¬
macht, und, einige Fälle ausgenommen, eine genaue Übereinstimmung
der alten Diöcesengrenzen mit den Gaubezirken entdeckt haben.“
*) Am bekanntesten durch seine Memoiren, die Schilderung seines
bewegten Lebens, die nicht immer gerecht, aber immer interessant die
Verhältnisse Süddeutschlands am Ende des alten Reiches schildern. L.,
geb. 1764, diente in seiner Jugend in verschiedenen Stellungen seinem
Landesherm, dem Fürsten von öttingen-Wallerstein, gewann dann Be¬
ziehungen zu Hardenberg, als dieser die Regierung der fränkischen Be¬
sitzungen Preußens leitete, und trat erst 1806 bei der Abtretung von Ans¬
bach-Bayreuth an Bayern in bayerische Dienste, gest. 1835. Nähere Lebens¬
daten bei F. Muncker in der Allg. deutschen Biographie XVII, S. 606 ff.
*) Denkschriften der Königl. Akademie der Wissenschaften zu München,
Jahrg. 1811/12, Klasse der Geschichte S. 1—168.
4 ) Karl Heinrich Ritter von Lang, Baiems Gauen nach den drei
Volksstämmen der Alemannen, Franken und Bojoaren, aus den alten
Bisthums Sprengeln nachgewiesen. Nürnberg 1830.
6 ) Vgl. Vorwort S. 3. Erweitert war der Text übrigens nicht nur
durch Neubearbeitung, sondern auch durch die Erweiterung des Arbeits¬
gebietes auf die Diözesen Würzburg, Mainz (bayerischer Anteil) und Speier
(d. h. die Rheinpfalz).
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148 Fritz Curschmann
daß König Ludwig I. von Bayern, der sich natürlich auch für die
alten deutschen Gaue interessierte, selbst die Anregung zur
zweiten Ausgabe gegeben hatte 1 ), sondern darin, daß sie eine
Gegenschrift hervorrief, in der sich ein Opponent gegen die lange
herrschende Theorie zum Worte meldete. Ein junger Leutnant,
Carl von Spruner*), der sich später als Herausgeber des ersten
größeren deutschen historischen Handatlasses einen geachteten Na¬
men in der Wissenschaft machte 8 ), unternahm es, die Theorien des
alterfahrenen Archivars und Mitgliedes der Münchner Akademie zu
widerlegen: „Bayerns Gauen . . . aus den Urkunden nachgewie¬
sen“, so setzte er streitbar auf das Titelblatt seiner Schrift, „gegen
Herrn Ritter von Längs, Bayerns Gauen etc. aus den alten Bis¬
thums Sprengeln nachgewiesen 4 ).“ Damit war der Kernpunkt des
Streites sofort hervorgehoben, gegen den starren Dogmatismus
der Lehre von der Gleichheit der kirchlichen und der Gaugrenzen
ging es, gegen die Theorie, die von der unbewiesenen und unbeweis¬
baren Annahme ausging, daß die Bistumssprengel von der Zeit
ihrer Entstehung an, wo sie eben nach den Gauen geformt worden
wären, ihre Grenzen unverändert behauptet hätten. Spruner
konnte solchen Lehren gegenüber darauf hinweisen, daß genug
Zeugnisse für das Gegenteil vorlägen 5 ). Der charakteristischste
Fall sehr weitgehender Veränderungen kirchlicher Grenzen bleibt
immer die Entstehung des Bistums Bamberg: es war noch zu An
fang des II. Jahrhunderts möglich, in das bestehende System der
Bistümer hinein ein neues Bistum, Bamberg, zu gründen, wobei
*) Vgl. Vorwort S. 3.
*) Spruner, geb. 1803 (sein Gegner Lang 1764), war, als seine erste
wissenschaftliche Arbeit erschien, Unterleutnant im 9. bayerischen Infan¬
terieregiment. Über sein weiteres Leben, seine militärische und wissen¬
schaftliche Laufbahn als Adjutant Maximilians II. und Mitglied der baye¬
rischen Akademie vgl. Heigel, Allg. deutsche Biographie XXXV, S. 325 fF.
*) Die erste Auflage erschien 1837—1839.
*) Bamberg 1831.
*) Vgl. Spruner S. 16, über das dort erwähnte altbayerische Bistum
Neuburg jetzt Hauck, Kirchengesch. Deutschlands I (3-/4. Äufl.), S. 540 und
II (3./4. Auf!.), S. 465. Das Bistum Augsburg reichte danach in römischer
Zeit ostwärts über den Lech; der bayerische Teil, östlich des Flusses,
wurde dann zur Zeit Herzog Odilos (739—748) abgetrennt und ein Bis¬
tum Neuburg errichtet. Von Karl d. Gr. wieder aufgehoben, wurde sein
Sprengel von neuem mit Augsburg vereinigt.
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1 : :
Die Entwicklung der histor.-geograph. Forschung in Deutschland usw. 14g
zwei Bistümer, Würzburg und Eichstätt, von ihrem Gebiete her¬
geben mußten und schließlich eine Grenze entstand, die zwei
Gaue, das Volkfeld und den Nordgau, durchschnitt 1 ). Noch weni¬
ger brauchbar für die Konstruktion der Gaue aber sind die Unter¬
teile der Diözese, Archidiakonate und Dekanate, über deren Um¬
fang uns exakte Zeugnisse, in Hebungsregistern verschiedener Art,
erst seit dem 15. Jahrhundert vorliegen*), aus einer Zeit also,
in der die Gaueinteilung längst jede verfassungsmäßige Bedeutung
verloren hatte. Eine Übereinstimmung von kirchlichen und Gau¬
grenzen wird man unter diesen Umständen eher als Ausnahme
denn als Regel betrachten können. So etwa Spruners grundsätz¬
liche Ausführungen, die er dann durch eine genaue Kritik,’Gau für
Gau, der Abhandlung Längs im einzelnen belegt und bestätigt.
Spruner hatte recht, aber Anerkennung haben deshalb seine
Ansichten bei den Mitlebenden kaum gefunden, und wenn gelegent¬
lich, wie in Stälins Wirtembergischer Geschichte oder an einer ver¬
steckten Stelle in Wedekinds Noten zu einigen Geschichtsschrei¬
bern des Deutschen Mittelalters Bedenken gegen die von den
Mannheimern aufgestellten Grundsätze laut wurden 8 ), so geschah
das wohl, ohne Spruners als des Bekämpfers dieser Lehre zu ge¬
denken. Läßt sich trotzdem beobachten, daß alles in allem in
’) Das Bistum entstand als Gründung König Heinrichs II. 1007.
Näheres bei Hauck, Kirchengesch. Deutschlands III (3. u.4. Aufl.), S. 421 ff.
Über den Umfang des Diözesangebietes, das dem neuen Bistum bestimmt
wurde, gibt die auf einer Frankfurter Synode ausgestellte Gründungs¬
urkunde vom 1. Nov. 1007 (DH. II, 143) Auskunft: .quandam
partem Vuirciburgensis dioceseos, comitatum videlicet Ratenzgouui (Ra-
denzgau im Gebiete der Regnitz) dictum et quandam partem pagi Volc-
felt (Volkfeld, nordwestl. an den Radenzgau angrenzend) dicti inter flu-
vios Vraha (Aurach) et Ratenza (Regnitz) sitam.“ Hierzu kam einige
Jahre später durch Abtretung von Eichstätt noch ein Stück des Nord¬
gaues bis zur Pegnitz (Hauck a. a. O. S. 427).
*) So Spruner; der zeitliche Ansatz ist wohl etwas spät, doch kommt
darauf nicht viel an, sicher liegen jedenfalls aus der ersten Hälfte des
Mittelalters und der Zeit, als die Gaueinteilung noch lebendig bestand,
Register dieser Art nicht vor.
*) Vgl. Chr. Fr. Stälin, Wirtembergische Geschichte I (Stuttgart und
Tübingen 1841), S. 277 f.; dort auch das Zitat aus Wedekinds Noten: es
findet sich in einer Abhandlung über Graf Billing; als dritter Zweifler
an der Lehre von der Übereinstimmung der kirchlichen und der Gau¬
grenzen wird der Tiroler Hormayr angeführt.
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150 Fritz Curschmann
Süddeutschland Spezialarbeiten nach der alten Methode über die
Gaue selten werden oder ganz aufhören, so rührt das sicherlich
mehr davon her, daß man glaubte, die Arbeit sei im wesentlichen
getan, als daß Spruners Angriffe starken Eindruck gemacht
hätten.
Standen die Dinge so schon im Süden, so ist es begreiflich,
daß Spruners Vorgehen auf die Forschung in Norddeutsch*
land nicht den geringsten Einfluß gehabt hat, und dies um so mehr,
als gerade kurz vor seinem Auftreten hier mehrere größere und
kleinere Schriften erschienen waren, die nicht nur im Augenblick
Anerkennung fanden, sondern für lange Zeit hinaus als maßgebend
galten. Hier stand an der Spitze ein kleiner Aufsatz Leopold
' von Ledeburs über die Grenze zwischen Engem und Westfalen
{1826), der abgesehen von der Spezialuntersuchung über die genannte
Grenze auch bestimmt war, als Vorläufer eines größeren Werkes
grundsätzliche Anschauungen des Verfassers vorzutragen 1 ). Sie
gipfelten in den Sätzen 2 ): „Ist von irgend einem Orte in einem
Gaue die Diöcese, zu welcher er gehörte, bekannt, so wissen wir,
daß der ganze Gau in dieser Diöcese lag. — Lagen zwei Orte in
zwei verschiedenen Diöcesen, so müssen sie auch in verschiedenen
Gauen gesucht werden. — Wissen wir, daß zwei in verschiedenen
Diöcesen gelegene Gaue an einander gränzen, so muß die Gränze
dieser beiden Gaue mit der ‘ Diöcesangränze zusammen treffen.“
Nur für die Außengrenzen der Bistumssprengel aber gilt nach
Ledeburs Ansicht diese vollkommene Übereinstimmung mit den
Grenzen der Gaue, für die weitere Abgrenzung der Gaue sind an¬
dere Hilfsmittel heranzuziehen, und es genügen hier insbesondere
nicht die Archidiakonats- und Dekanatsgrenzen 8 ). Der ersten Ar¬
beit folgte auf dem Fuße (1827) das Buch über Land und Volk der
Brukterer 4 ). Eine bedeutsame Aufgabe stellt sich hier der Ver-
*) Die Gränzen zwischen Engem und Westphalen, als Einleitung zu
einer geographischen Bestimmung der Gaue Westphalens. Archiv für Ge¬
schichte und Alterthumskunde Westphalens I (1826), S. 41—49.
*) a. a. O. S. 44 f.
*) a.a. O. S. 48L
*) Das Land und Volk der Bructerer, als Versuch einer vergleichen¬
den Geographie der älteren und mittleren Zeiten. Mit zwei Karten.
Berlin 1827.
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I I ■
Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 151
fasser. Von den aus den Diözesangrenzen erschlossenen Gaugrenzen
aus will er rückwärts die Brücke bis zur altgermanischen Zeit
schlagen und zeigen, daß uns in den dank der von ihm vertretenen
Lehre wohlbekannten Gaugrenzen nun auch die Grenzen der
Völkerschaftsgebiete aus der Römerzeit erhalten sind. Natürlich
bewährt sich das in der Vorrede aufgestellte Programm: das Land
der Brukterer 1 ) entspricht dem westfälischen Hauptteil der Diözese
Münster*) einschließlich des Archidiakonats Wiedenbrück, einer
Exklave des Bistums Osnabrück, die auf drei Seiten von münste-
rischem, auf der vierten von Paderborner Gebiet umschlossen ist 8 ),
und dem westfälischen Anteil des Kölner Sprengels zwischen Lippe
und Ruhr 4 ). In ähnlicher Weise gelingt es dem Verfasser dann
auch, eine Anzahl anderer germanischer Stämme in den das
münsterisch-kölner Gebiet, d. h. das Land der Brukterer, umgeben¬
den Diözesen unterzubringen: in den Utrechter Sprengel gehören
die Tubanten, im Osnabrückschen wohnen die Amsivarier, die
Chasuarier und Marsen, im Gebiete des späteren Bistums Pader¬
born die Cherusker usw.
Mit einem Schlage war Ledebur durch diese Veröffentlichung
in die erste Reihe der Gauforscher gerückt. Er hat sich diese Stel¬
lung gewahrt und rüstig nach dem von ihm übernommenen System
weitergearbeitet 5 ). In einer ganzen Reihe von Abhandlungen
baute er zunächst die im „Lande der Bructerer“ begonnene histo¬
rische Geographie des mittleren Sachsenlandes weiter aus. Bald
aber führte ihn seine Forschung weiter: die angrenzenden Teile
Sachsens und Frieslands wurden untersucht 8 ), ein besonderer Auf*
*) Ledebur a. a. O. S. 1 ff.
*) Zu beachten, daß das Bistum Münster aus zwei Stücken bestand:
der Hauptteil lag in Westfalen um den Bischofssitz herum, von ihm
räumlich vollständig getrennt in Friesland das zweite Stück.
*) Vgl. Ledebur a. a. O. S. 15 ff. 4 ) Vgl. Ledebur a. a. O. S. 3z ff.
•) Ein genaues Verzeichnis von Ledeburs Arbeiten zur Gaugeographie
— 25 Nummern insgesamt — gibt sein getreuer Schüler Heinrich Böttger,
Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands 1 , p. VIIIff. In den folgen¬
den Anmerkungen werden nur einige für den Verfasser und seine Arbeit
besonders bezeichnende Arbeiten genannt werden; abermals ein vollstän¬
diges Verzeichnis seiner Untersuchungen zur Gaugeographie zu geben,
war nicht nötig.
*) Es kommen hier besonders zwei Arbeiten in Betracht: Über die
Archidiakonate des Halberstadtischen Sprengels, Allg. Archiv für die Ge-
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152 Fritz Curschmann
satz unternahm es, den Inhalt von Binterims und Moorens eben
erschienenem Werke über die Kölner Diözese für die Gaugeogra¬
phie von Rheinfranken nutzbar zu machen. Am weitesten nach
Westen griff Ledebur dann mit seinem Büchlein über das Maien¬
feld im Moselland 1 ). Südwärts führten den Forscher zuerst seine
Untersuchungen über Thüringen 2 ); noch einen Schritt weiter ins
Gebiet südlich des Mains die kleine Streitschrift über den Rangau 3 ),
und schließlich unternahm er es, die an deutschen Gauen gewon¬
nenen Ergebnisse seiner Forschung auch auf das Slawenland
und die slawischen Landschaften, die er dort fand, zu übertragen 4 ).
So erstreckte sich am Ende der Bereich von Ledeburs Forschung
Schichtskunde des preuß. Staates III (1830), S. 40 ff., und Die fünf Münster-
schen Gaue und die sieben Seelande Frieslands, ein Beitrag zur Geo¬
graphie des Mittelalters, nebst einem urkundlichen Anhänge und einer
Charte, Berlin 1836. — Daß der Halberstädter Sprengel im wesentlichen
dem Gebiete einer Anzahl von Gauen entspricht, wird von L. mit Recht auf
Grund einer Bestätigungsurkunde Papst Benedikts VIlI.(roi2—23, vgl.UB.'d.
. Hochstifts Halberstadt I, S. 50 Nr. 68) angenommen, seine Verteilung der
einzelnen Archidiakonate auf diese Gaue ist aber mangels eines ihm be¬
kannten vollständigen Kirchenverzeichnisses recht hypothetischer Natur.
— Besseres Material stand L. für seine zweite Arbeit zur Verfügung, und
er konstruiert dementsprechend denn auch auf Grund der Kirchspiele,
Propsteien und Diözesen die Gaue wie die Seelande Frieslands.
*) Der Maiengau oder das Mayenfeld nicht Maifeld. Berlin 1842. —
Die Grenze des Gaues gegen Nordwesten wird als zusammenfallend mit
der Grenze zwischen den Diözesen Trier und Köln bestimmt, während
L. auf der anderen Seite ausdrücklich betont, daß die Gaugrenze im
Innern des Trierer Sprengels nicht mit den Grenzen einer Reihe von
Dekanaten Zusammenfalle (vgl. S. 17 ff.).
*) Nordthüringen und die Hermunduren oder Thüringer. Berlin 1852.
— Von einer speziellen Kombination der kirchlichen mit der Gaugeo¬
graphie ist hier kaum die Rede, wenn auch versucht wird nachzuweisen,
daß bei der Teilung des alten Thüringerreiches nach dem Siege der
Franken und Sachsen über die Thüringer (531) der nördliche Teil der
späteren Diözese Halberstadt entspricht.
8 ) Der Rangau. Geographische Entgegnung auf die Schrift des
H. Haas: Der Rangau, seine Grafen, mit neuen Forschungen über die
Abstammung der Burggrafen von Nürnberg. Berlin 1854.
4 ) Über Umfang und Eintheilung des Naumburger Sprengels, Allg.
Archiv f. d. Geschichtsk. d. preuß. Staates XV (1834), S. 318—356. — Der
Umfang, insbesondere die Nordwestgrenze des Havelbergischen Sprengels,
Allg. Archiv XI (1833), S. 27 ff*. — Die Landschaften des Havelbergischen
Sprengels, Märk. Forschungen I (1841), S. 200—226. — Gehörte die Zauche
zu der Provinz Plonim oder Heveldun, zum Plane-oder Havelgau? Märk.
Forsch. II (1843), S. 97—101 (fehlt in Böttgers Verzeichnis).
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- - — 4»
Die Entwicklung der histor.-geograph.Forschung in Deutschland usw. 153
von der Eifel bis zur Odermündung, von der Nordsee bis nach Fran¬
ken. In allen diesen unter sich sehr verschiedenartigen Abhand¬
lungen blieb er seinen anfangs aufgestellten Grundanschauungen
treu, ohne sich jedoch zu kritiklos einseitigem Schematisieren wei¬
tertreiben zu lassen. Ausnahmen ließ er immer gelten, und insbe¬
sondere widerstand er der Versuchung, was ihm für die Außen¬
grenzen der Diözesen festzustehen schien, auch auf die Innengren¬
zen der Bistümer, wie sie Archidiakonate, Dekanate, Sedes schei¬
den, zu übertragen. Nur ein hervorragend wichtiges, nicht das allein
heilbringende Mittel für seine gaugeographischen Arbeiten blie¬
ben ihm die Sprengelgrenzen, neben denen er alles gelten ließ,
was nur irgend zur Bestimmung der alten Gaugrenzen beitragen
konnte: natürliche Grenzen, Grenzen der Dialekte, der Verwaltungs¬
und Gerichtseinteilung u. a. m.
Unmittelbar nach dem ersten Hervortreten Ledeburs erschie¬
nen zwei weitere, bis heute bemerkenswerte Werke zur Gaugeo¬
graphie, die noch unabhängig von Ledebur ausgearbeitet waren:
Carl Christian von Leutschs umfassende Geographie Thü¬
ringens und der Wendenländer, die er seiner Biographie Markgraf
Geros beigab (1828) 1 ), und August von Wersebes Beschrei¬
bung der Gaue zwischen Weser und Elbe (1829) 2 ), eine Preis¬
schrift der Göttinger Akademie, die mit der Stellung dieser
Preisaufgabe schon eine Reihe von Jahren vorher erfolgreich
auf ein Forschungsgebiet hingewiesen hatte 8 ), das in Angriff zu
*) Markgraf Gero. Ein Beitrag zum Verständniß der deutschen
Rechtsgeschichte unter den Ottonen, sowie der Geschichten von Branden¬
burg, Meißen, Thüringen usw. Nebst einer Gaugeographie von Thüringen
und der Ostmark, und zwei Karten. Leipzig 1828.
*) Beschreibung der Gaue zwischen Elbe, Saale und Unstrut, Weser
und Werra in sofern solche zu Ostfalen mit Nord-Thüringen und zu Ost-
Engem gehört haben, und wie sie im ioten und iiten Jahrhunderte be¬
funden sind. Mit einer Charte. Hannover 1829.
*) Die Erteilung des Preises an Wersebe erfolgte in der Sitzung der
Akademie vom 10. Nov. 1821, vgl. Gotting. Gelehrte Anzeigen 190. und
191. Stück vom 29. Nov. 1821, S. 1895!!.; dort auch das außerordentlich an¬
erkennende Urteil der Akademie. Noch eine zweite, ebenfalls sehr ge¬
lobte Arbeit war eingelaufen, ihr Verfasser der Doctorand Julius Levin
Ulrich Dedekind. Sie scheint nicht gedruckt worden zu sein. Beide Ar¬
beiten stützten sich, was in der Beurteilung betont, aber nicht bemängelt
wird, bei der Bestimmung der Gaugrenzen auf die Bistumsgrenzen. Stifter
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nehmen die Mannheimer ein halbes Jahrhundert vorher ver¬
gebens empfohlen hatten 1 ). Daß die Gaue zu ihrer näheren Erfor¬
schung in den Rahmen der bekannten Bistumsgrenzen gespannt
werden müssen, steht beiden Autoren fest*), doch verwenden sie
gleichmäßig auch, was die unmittelbare Tradition der älteren Ur¬
kunden über die Gaue bietet. Angeregt durch solche Arbeiten
erschienen bald neue Mitarbeiter: Georg Landau 8 ), dessen Wir¬
ken auf dem Gebiete der Gaugeographie noch zeitweise eine besondere
Bedeutung gewinnen sollte 4 ), Georg Wilhelm von Raumer
mit den höchst interessanten „Charten und Stammtafeln“ zu seinen
Brandenburgischen Regesten 6 ) und andere mehr, deren Namen
heute verklungen sind 6 ).
Ohne bemerkbaren Widerspruch blühte so die auf dem Grund¬
sätze von der Übereinstimmung der Diözesan- und Gaugrenzen
beruhende Literatur weiter, ohne daß das Interesse an ihr abnahm.
Es ist bezeichnend für die Schätzung historisch-geographischer
Forschung in dieser Zeit, daß sich der berühmte Frankfurter
Germanistentag von 1846 in der ersten Sitzung seiner histori¬
schen Abteilung sofort mit umfangreichen Plänen aus diesem Ge¬
biete beschäftigte 7 ). Auf Antrag des Hamburger Archivars
l.
des Preises war der selbst als Geschichtsforscher bekannte Anton Christian
Wedekind.
*) Vgl. oben S. 146.
*) Ein Blick auf die beiden Werken beigegebenen Karten zeigt dies
sofort. Sehr bezeichnend auch Wersebe in seiner Einleitung (S. 3): „Es
ist eine längst nicht mehr neue Bemerkung, daß die Eintheilung der
geistlichen Diöcesen sich nach der der weltlichen Gebiete gerichtet hat, und
demnach ursprünglich kein Gau unter mehrere Bisthümer vertheilt ge¬
wesen ist. Die gegenwärtige Beschreibung der Gauen wird dieses allent¬
halben bestätigen. . . .“
*) Zunächst nur mit einer kleinen Arbeit: Beitrag zur Beschreibung
der Gaue Friesenfeld und Hassegau, Ledeburs Archiv XII (1833), S. 213fr.
4 ) Siehe unten S. 155.
*) Historische Charten und Stammtafeln zu den Regesta historiae
Brandenburgensis, i.Heft. Berlin 1837.
*) Eine Reihe von Arbeiten dieser Zeit angeführt in Böttgers Biblio¬
graphie, Diözesan- und Gaugrenzen I, p. XVII ff.
*) Vgl. Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am
24., 25. und 26. September 1846, Frankfurt a. M. 1847, S. 197 ff. Berichte
über Lappenbergs Antrag und die sich an ihn schließende Debatte und
S. 216 das nach Lappenbergs Antrag an die deutschen Geschichtsvereine
abzusendende Rundschreiben.
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Die Entwicklung der histor. • geograph. Forschung in Deutschland usw. 155
Johann Martin Lappenberg wurde der Plan zu einem deut¬
schen Ortsverzeichnis durchberaten, das nicht mehr und nicht
weniger als das gesamte Material an topographischen Namen —
Städte, Dörfer, Burgen, Berge, Gewässer usw., auch die Gaue ware'n
nicht vergessen — in sich aufnehmen sollte. Gegen das in seiner
Maßlosigkeit von vornherein undurchführbare Unternehmen mel¬
dete sich bald ein sachverständiger Opponent, der schon erwähnte
Georg Landau, der seinerzeit in Frankfurt nicht anwesend ge¬
wesen war 1 ). Nachdem er seine Bedenken zuerst in der weit ver¬
breiteten Augsburger Allgemeinen Zeitung der wissenschaftlichen
Weit mitgeteilt hatte 2 ), bot ihm die zweite Tagung des Gesamt¬
vereins deutscher Geschichts- und Altertumsvereine zu Nürnberg
1853 willkommene Gelegenheit, positive Vorschläge zu machen
und zu begründen 3 ). Sein Plan ging auf eine nicht weniger umfas¬
sende Sammlung historisch-topographischen Materials, als wie sie
in Frankfurt geplant war. Vom Zwange der alphabetischen An¬
ordnung des Ortslexikons aber sollte der Stoff befreit und in den
Rahmen einer allgemeinen Gaugeographie Deutschlands
eingeordnet werden, deren Herausgabe der Gesamtverein mit
werktätiger Unterstützung der Einzelvereine in die Hand nehmen
sollte. Um schneller vorwärts zu kommen, beantragte Landau,
daß die Gaue zwar nach einem einheitlichen Plane und unter Lei¬
tung eines Redaktionsausschusses bearbeitet werden möchten,
daß die einzelnen Gaumonographien aber in zwangloser Folge,
je nachdem sich geeignete und willige Bearbeiter finden würden,
erscheinen sollten. Die Vorschläge fanden lebhaften Beifall in der
Versammlung, auch von seiten des in Nürnberg anwesenden
Georg Waitz, der als erster in der Debatte zu ihrer Befürwortung
das Wort nahm 4 ). Frohen Muts ging Landau an die Arbeit und
*) Ergibt sich aus dem im Verhandlungsberichte abgedruckten Teil¬
nehmerverzeichnis.
*) Beilage Nr. 193 vom 15. Juli 1847.
*) Vgl. Correspondenzblatt des Gesamtvereins deutscher Geschichts-
und Alterthumsvereine II (1854), dort S. 4 ein Referat über Landaus Vor¬
trag und die sich daran knüpfende Debatte und S. 14 ff. L.s „Gutachten
eine historische Beschreibung von Deutschland betreffend“.
4 ) Es wird im Protokoll (a. a. O. S. 4) ausdrücklich angegeben, daß
Waitz „von der Rednertribüne aus mit warmen Worten“ Landaus Vor-
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156 Fritz Curscbmann
ließ schon zwei Jahre nach der Nürnberger Tagung den damals
versprochenen Probeband über den Gau Wettereiba, die Wetterau,
erscheinen (1855); eine zweite Monographie über den Hessengau
folgte bald (1857) 1 ). In beiden Arbeiten zeigt sich Landau als An¬
hänger der herrschenden Lehre von der überragenden Bedeutung
der kirchlichen Grenzen für die historisch-geographische Forschung,
aber er formuliert sie etwas anders als seine Vorgänger, insbeson¬
dere auch als Ledebur. Eine besondere Beständigkeit ihrer Gren¬
zen ist nicht etwa nur den Gauen und Bistümern eigentümlich,
sondern im Grunde allen territorialen Gebilden, die sich die mensch¬
liche Gesellschaft zu den verschiedensten Zwecken, der Wirtschaft,
Rechtspflege, Verwaltung usw., schafft. Am größten aber ist die
Beständigkeit der Grenzen — und hier unterscheidet sich Landau
deutlich von Ledebur und den Seinen — bei den kleinen Bezirken;
an die Marken denkt er in erster Linie, die die Zellen gewisser¬
maßen der großen territorialen Einheiten der Gaue wie der Diözesen
sind. Durch solche Anschauungen, die sich im Grunde den Lehren,
auf denen sich die heutige, moderne historisch-geographische For¬
schung aufbaut, bereits sehr nähern, kommt Landau dann zu der
Anschauung, daß bei den zwei Gauen, die er bearbeitet, die Innen¬
grenzen, die der Archidiakonate, von besonderer Bedeutung seien,
und er vertritt grundsätzlich den Satz — gelegentliche Ausnahmen
zugegeben — Archidiakonate = Zentschaften, was praktisch also
eine außerordentliche Zuspitzung der bisher von der Mehrzahl der
Forscher vertretenen Lehre bedeutet. Älter, beständiger und damit
wichtiger als die langen Linien, die als Grenzen der Bistümer das
Land durchziehen, ist das engmaschige Netz der Archidiakonats-
und Dekanatsgrenzen, das alle Länder überspinnt.
Mit Mut und Arbeitsfreudigkeit hatte Landau so das große
Werk begonnen; was aber zu seiner planmäßigen und gedeihlichen
Fortsetzung nötig war, die Schar der Mitarbeiter, sie wollte sich
nicht einstellen. Nur einer kam, Carl Wippermann, und bearbeitete
schläge empfohlen habe; nach ihm sprach Leopold v. Ledebur ebenfalls
zustimmend.
') Beschreibung des Gaues Wettereiba. Kassel 1855. — Beschreibung
des Hessengaues. Kassel 1857. Beide unter dem Obertitel: Beschreibung
der deutschen Gaue, herausgegeben durch den Gesamtverein der deut¬
schen Geschichts- und Alterthums-Vereine, Bd. I und II.
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Die Entwicklung der histor. -geograph.Forschung in Deutschland usw. j 57
den niedersächsischen Bukkigau 1 ), dann geriet das mit großen Hoff¬
nungen begonnene Unternehmen endgültig in Stillstand. Es hatte
sich gezeigt, daß eine nur lose verbundene Organisation, wie der
Gesamtverein, ein so großes Unternehmen nicht durchzuführen
imstande war.
In solcher Lage mußte die nächste Zeit wieder der Einzelfor¬
schurig gehören, und so sind denn auch in den 50 er und 60 er Jahren
eine Reihe von Arbeiten zur Gaugeographie erschienen, vornehm¬
lich aus dem Gebiete des Nordwestens Deutschlands: verschiedene
Untersuchungen Wilhelm von Hodenbergs, besonders sein umfang¬
reiches Werk über die Gaue der Diözese Bremen 2 ), die Gaubeschrei¬
bung, die Johann Suibert Seibertz in seine Rechtsgeschichte
Westfalens aufgenommen hat 3 ), des hannoverschen Ministers
von Hammerstein-Loxten Buch über den Bardengau 4 ), die umfang¬
reichen gaugeographischen Abschnitte in Heinrich Böttgers Buch
über das Dynastengeschlecht der Brunonen. Es ist nicht nötig,
noch mehr Arbeiten der angedeuteten Art zu nennen oder auf Ein¬
zelheiten einzugehen, denn in den Grundzügen stimmen die For¬
scher dieser Zeit überein, sie vertreten die alte Lehre von der be¬
sonderen Bedeutung der kirchlichen Grenzen, insbesondere der
Diözesangrenzen für die Bestimmung des Umfanges der Gaue.
So war das Material zur Gaugeographie abermals stattlich ge¬
wachsen, der Zeitpunkt, die Ergebnisse der Forschung von mehr als
einem Jahrhundert zusammenzufassen, schien endlich gekommen.
Die Berliner Akademie war es dieses Mal, die dem früher in
Mannheim und Göttingen gegebenen Beispiele 5 ) folgte und dem
großen Werke durch Stellung einer Preisaufgabe (1866) die
’) Carl Wilh. Wippermann, Beschreibung des Bukki-Gaues nebst
Feststellung der Grenzen der übrigen Gaue Niedersachsens. Göttingen
i»59-
*) Seine, eines besonderen Gönners von Böttger, Arbeiten — er¬
schienen 1855—58 — vollständig bei Böttger angeführt, p. XXf., Anm. 24.
*) Joh. Suibert Seibertz, Landes- und Rechtsgeschichte des Herzog¬
thums Westfalen I. Bd., 3. Abtheil., i.Theil (Arnsberg 1860), S. 215fr.
W. C. C. Frhr. v. Hammerstein-Loxten, Der Bardengau, eine histo¬
rische Untersuchung über dessen Verhältnisse und über den Güterbesitz
der Billunger. Mit Karte des Bardengaues. Hannover 1869.
*) Vgl. oben S. 145 und S. 153.
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158 Fritz Curschmann
Wege zu ebnen suchte 1 ). Verlangt wurde eine allgemeine historische
Geographie Deutschlands bis auf die Zeit Heinrichs V.: in erster
Linie erwartete man dabei, wie die Fassung der Aufgabe zeigt,
unzweifelhaft eine Gaugeographie, und auch von der Lehre der
Übereinstimmung der kirchlichen und der Gaugrenzen scheinen
die Spitzen der deutschen Geschichts- und Altertumswissenschaf¬
ten, die damals in der Berliner Akademie beisammensaßen 2 ),
nicht unbeeinflußt gewesen zu sein 8 ). Das Ausschreiben hatte nicht
sofort Erfolg, erst als sein Termin einmal verlängert war 4 ), lief
ein umfangreiches Manuskript Theodor Menkes 6 ) ein (1872),
J ) Die am 5. Juli 1866 gestellte Preisaufgabe (vgl. Monatsberichte der
Königl. Preuß. Akademie aus dem Jahre 1866, S. 458) war in folgender
Weise formuliert: „Seit dem Erscheinen des Chronicon Gotvicense sind
in fast allen Theilen Deutschlands vielseitige Forschungen über die ältere
deutsche Geographie angestellt und, begünstigt durch die erweiterte
Kenntniß unserer Geschichtsquellen, nach und nach einem vorläufigen
Abschlüsse angenähert worden. Es erscheint thunlich und wünschens-
werth die bisherigen Ergebnisse dieser Forschungen zusammen zu fassen.
Die Königliche Akademie der Wissenschaften stellt daher als Preisaufgabe:
eine Übersicht der Ergebnisse der über die Geographie des deutschen
Reiches bis auf die Zeit des Kaisers Heinrich des fünften angestellten
gelehrten Untersuchungen, mit vorzüglicher Beachtung der einzelnen Be¬
standteile des Reiches, seiner kirchlichen und weltlichen Einteilung
bis zu den Gauen und ihren Bezirken hinab. Ausgeschlossen bleiben
die zum langobardischen Reiche gehörigen Länder. Als Grundlage der
Arbeit sind die Geschichtsschreiber, die Urkunden, die sonstigen Geschichts¬
quellen und die darauf gestützten gelehrten Forschungen zu benutzen
und Verzeichnisse derselben beizufügen. Erläuternde Übersichtskarten
werden gewünscht, aber nicht als Bedingung der Preisertheilung gefordert.“
— Für die Einlieferung der Preisarbeiten war als Termin der 1. März
1869 gesetzt.
*) Von Historikern waren damals Mitglieder der Akademie: Leopold
Ranke, Georg Heinrich Pertz, der Herausgeber der Monumenta Germa-
niae, Adolf Friedrich Riedel, der brandenburgische Historiker und Leiter
des Berliner Staatsarchivs, Theodor Mommsen. Die gestellte Preisaufgabe
berührte weiter das Arbeitsgebiet des Rechtshistorikers Carl Gustav Ho-
meyer, der Germanisten Moritz Haupt und Karl Müllenhoff, des Agrar¬
historikers Georg Hanßen und des Geographen Heinrich Kiepert.
*) Das zeigt unverkennbar die Fassung der Preisaufgabe (s. oben
Anm. 1) und die Art, wie in ihr von kirchlicher und weltlicher Eintei¬
lung und von den Gauen gesprochen wird.
4 ) Nachdem zum ersten Termin (1869) keine Bewerbungsschrift ein¬
gelaufen war, wurde die Preisaufgabe „wegen der Bedeutung dieses Gegen¬
standes“ wiederholt (vgl. Monatsberichte der Akademie Jahrg. 1869, 5,525).
Ä ) Eine kurze Biographie M.s von M. Berbig in der Allg. deutschen
Biographie LII, S. 316 fr. Nach einer merkwürdig wechselvollen Jugend
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 15g
aber es war noch nicht abgeschlossen, und der Verfasser hat es in
den 20 Jahren, die ihm noch zu leben beschieden waren (f 1892),
auch nicht zur erwünschten Vollendung bringen können 1 ). Das
war von Bedeutung, denn als Manuskript hat Menkes Arbeit
keinen stärkeren Einfluß auf die Forschung gewinnen können,
und so blieb es vorerst unbemerkt, daß hier der herrschenden Theo¬
rie wieder ein Gegner erwachsen war, der nichts von einer eigen¬
tümlichen Artung oder Bedeutung der kirchlichen Grenzen und
von besonderen Beziehungen zwischen ihnen und den Gaugrenzen
wissen wollte. Die Ergebnisse seiner Forschung hat Menke schlie߬
lich in anderer Form, in der großen Gaukarte Deutschlands veröf¬
fentlicht, die er in der dritten Auflage des von ihm neu herausge¬
gebenen Sprunerschen Historischen Atlas erscheinen ließ*). Er
konstruierte seine Gaue zunächst auf Grund dessen, was er durch
urkundliche Belege über die Gauzugehörigkeit erfuhr, nahm dann
hinzu, was ihm irgend zur näheren Bestimmung der Gaugrenzen
geeignet schien 8 ): natürliche Grenzen, alte Grenzen der verschie¬
densten Art; so fand sich z. B., daß an gewissen Stellen die alten
(geb. 1819) und nachdem er als Lehrer wie Jurist keine Befriedigung ge¬
funden hatte, trat M. 1851 in Verbindung mit Justus Perthes' geogra¬
phischer Anstalt und bearbeitete nacheinander Spruners Atlas antiquus
und desselben Verfassers geschichtlichen Atlas für Mittelalter und Neu¬
zeit, seine Hauptwerke, Zeugnisse einer außerordentlichen Gelehrsamkeit,
die ihm dauernd eine ehrenvolle Stätte in der Geschichte der historischen
Wissenschaft gesichert haben.
*) Was aus dem umfangreichen Ms. Menkes geworden ist, ist mir leider
unbekannt geblieben. Unter seinem seinerzeit vonF. Meinecke besprochenen
literarischen Nachlaß (Hist. Ztsch. LXXX [1898], S. 2720.), der jetzt im Ber¬
liner Geh. Staatsarchiv aufbewahrt wird, findet es sich nicht, er enthält
nur Kollektaneen zur kirchlichen Geographie.
*) Hand-Atlas für die Geschichte des Mittelalters und der neueren
Zeit. Dritte Auflage von Dr. K. v. Spruners Hand-Atlas, neu bearbeitet
von Dr. Th Menke. Gotha. Der Atlas erschien in Lieferungen, das
Vorwort ist 1871 datiert, auf dem Titelblatt steht 1880. — Die Gau¬
karte Deutschlands 1:1000000 in 6 Sektionen ist auf 1873 und 1875
datiert.
*) Über die Art und Weise, wie die Gaue der Karte entworfen sind,
geben die kurzen Vorbemerkungen Menkes (S. 17 ff.) nur unvollkommen
Auskunft; ausführlicher über seine Grundsätze hat sich M. in einer Be¬
sprechung von Böttgers Diöcesan- und Gaugrenzen ausgesprochen, Hist.
Ztschr. XXXVIII (1877), S. 103 fr.
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x6o Fritz Curschmann
Gaugrenzen mit heutigen Dialektgrenzen zusammenfallen 1 ). An
anderen Stellen besteht wirklich eine Übereinstimmung zwischen
Gau- und Diözesangrenzen, in Niedersachsen ist sie sogar ziemlich
weitgehend, während wiederum in weiten Gebieten Deutschlands
von einem solchen Zusammenfallen überhaupt nicht die Rede
sein kann. Alles in allem, was man früher als die Regel auffaßte,
ist eine mehr oder weniger häufige oder seltene Ausnahme. So
etwa Menkes Gedanken und Ansichten, die aber in den kurzen
Erläuterungen, die er seinem Atlas beigab, nur einen unvollkom¬
menen Ausdruck fanden und außerdem an einer Stelle veröffent¬
licht wurden, die wenig geeignet war, Propaganda für neue Ideen
zu machen. So haben es beim Erscheinen von Menkes Atlas¬
blättern sicher nur verhältnismäßig wenige Eingeweihte bemerkt,
daß die Gaue, über die man schon so viel geforscht und geschrieben
hatte, hier nach einer neuen Methode konstruiert waren.
Der Mann, der der Theorie, um die es sich im langen Kampfe
gehandelt hatte, endgültig den Lebensfaden abschnitt, war
ihr fanatischer Anhänger, Heinrich Böttger, und das Werk¬
zeug, mit dem er dies vollbrachte, sein vierbändiges Buch „Diö-
cesan- und Gau-Grenzen Norddeutschlands zwischen
Oder, Main, jenseits des Rheins, der Nord- und Ostsee von Ort zu
Ort schreitend nebst einer Gau- und einer dieselbe begründenden
Diöcesankarte.“ Eine zusammenfassende Arbeit also wieder, die
nach der schon im Titel gegebenen Umschreibung ihres Arbeits¬
gebietes etwa die Hälfte der deutschen Gaue behandelt. Eine Le¬
bensarbeit auch ist es, denn 40 Jahre war ihr Verfasser den Studien,
die er hier abgeschlossen vorlegte, bereits nachgegangen*), als er sie
der Öffentlichkeit übergab, und dennoch kein ausgereiftes Werk 3 ),
sondern nur die Arbeit eines altgewordenen, umständlichen Herrn,
*) Die Grenze der thüringischen und sächsischen Gaue bestimmt
Menke a. a. O. S. 17 nach der Grenze zwischen Hoch- und Niederdeutsch.
*) Im Vorwort zur 1. Abteilung, p. XVI erwähnt der Verfasser, daß
von 1834 an Ledebur sein Lehrer und Führer geworden sei; seit 1842
wurde er Hodenbergs Mitarbeiter (a. a. O. p. XVIII) und hat als solcher
die Karten zu H.’s. schon erwähntem Werke über die Diözese Bremen
(s. oben S. 157) entworfen.
*) Vgl. allein schon, was oben S. 134, Anm. 1 über die ganz merk¬
würdig ungenügende Literaturkenntnis B.s bemerkt wurde.
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 161
dem die Lehre von der Übereinstimmung der Gaugrenzen mit den
kirchlichen Grenzen, allen kirchlichen Grenzen der Diözesen so¬
wohl wie der Archidiakonate, zum starrsten Dogma geworden
ist, und der — anders wie sein von ihm oft gerühmter Lehrer
Ledebur — Ausnahmen überhaupt nicht gelten läßt. „Wenn in¬
nerhalb eines Archidiakonats“, so erklärt er, „nur ein einziger
Gauort urkundlich aufgefunden ist, so giebt dennoch dieser ein¬
zige Gauort den unumstößlichen Beweis, daß der ganze Archi-
diakonatzu eben dem Gaue gehört, in welchem der Ort gelegen
ist“ 1 ). Solche und ähnliche starke Worte kehren auch an anderer
Stelle wieder, aber sie vermögen nicht zu überzeugen, und der Be¬
weis, den Böttger nachher für seine Lehre antritt, stimmt auch nicht
günstiger.
Die Frage nach den Gründen der Übereinstimmung von
Gaugrenzen und kirchlichen Grenzen war von der Mehrzahl
von Böttgers Vorgängern gar nicht oder nur flüchtig behandelt
worden: als eine durch Einzelbeobachtungen an den verschieden¬
sten Stellen wirklich oder angeblich gesicherte Tatsache nahm man
sie hin, die sich daraus erklären sollte, daß man sich bei der Ein¬
richtung der deutschen Bistümer nach der vorhandenen Landes¬
einteilung, den Völkerschafts- und Gaugrenzen gerichtet habe.
War die Reihe der Fälle, in denen die gewünschte Übereinstimmung
vorlag, groß genug, waren die Ausnahmen von der Regel auf der
anderen Seite verschwindend gering — beides ist sehr zu bezwei¬
feln —, so ließ sich gegen diese Ausführungen nichts einwenden.
Böttger aber genügt der an die Art der Naturwissenschaften er¬
innernde Experimentalbeweis nicht, und er versucht daher einen
schwer gelehrten, historischen Beweis anzutreten, bei dem er bis
auf die Canones der Konzile des 4. und 5. Jahrhunderts zurück¬
greift. Wie diese Gesetze der alten Kirche zeigen, daß zu ihrer
Zeit die Diözesaneinteilung sich an die Provinzen des römischen
Reiches anschloß, so will Böttger aus den Kapitularen der fränki¬
schen Könige, die oft Bischof und Graf nebeneinander als Funk¬
tionäre des Staates erwähnen, herauslesen, daß sich damals „die
äußern Grenzen der Gaue (der comites)“ — es wird vorausgesetzt:
') Vorwort p. XXVIII, die Sperrungen wie bei Böttger.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. a II
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Gau — Grafschaft — „und die Grenze der Diöcese (des episcopus)
zusammenfielen“ 1 ). Wenn dann einmal in einem Gesetze Pippins
der Archidiakon im Zusammenwirken mit dem Grafen erscheint 2 ),
so folgert Böttger 8 ): „Ein solches Zusammenwirken der Grafen und
Archidiakonen bedingt aber, daß die Archidiakonate innerhalb einer
Diöcese mit, den Bezirken der schon zuvor bestehenden Gaue
durchweg übereinstimmend abgetheilt werden mußten“ 4 ). Deuten
nun noch die urkundlichen Nachrichten über die Neugründung
von Bistümern im Slawenlande an — Böttger bezieht sich auf
Merseburg, Zeitz und Meißen —, daß man sich bei der Abgrenzung
an die bestehenden Markgrafschaften und die vorhandenen slawi¬
schen Gaue hielt, so ist für Böttger der „schlagende Beweis“ für
die Richtigkeit seiner Theorie in ihren äußersten Konsequenzen
gegeben 5 ), denn man sieht ja, die Einrichtungen der fränkischen
Zeit haben auch die folgenden Jahrhunderte hindurch fortbestan¬
den. Mit Hilfe der zahlreich erhaltenen Hebungslisten — gleich¬
viel, aus welcher Zeit sie stammen — kirchlicher Steuern, die uns
zugleich die innere Einteilung der Bistümer (Archidiakonate,
Dekanate, Sedes) widerspiegeln, konstruiert Böttger nun die
Bistümer und ihre Unterteile und in ihnen die alten Gaue. Alle
Nachrichten über Grenzveränderungen der Diözesen werden bei¬
seite gelassen, keine noch so sonderbar gestalteten Grenzlinien
vermögen den seiner Methode blind vertrauenden Autor irre zu
machen. Solche selbstsichere und innerlich doch unkritische Art
>) Einleitung p. XXXVIII.
*) Das Capitulare Pippins, von Böttger noch nach der alten Folio¬
ausgabe der MG. LL. I zitiert, jetzt MG. LL. sect. II (Capitularia), tom. I, 31,
Nr. 13, c. 3.
*) Die zitierte Stelle in Böttgers Einleitung p. XLV.
*) Man beachte, Böttger nimmt eine Mehrzahl von Archidiakonaten
innerhalb einer Diözese bereits für das 8. Jahrhundert an. Das ist eine
ganz falsche Vorstellung, zu der ihn unter anderem die auch von ihm
zitierte unechte Urkunde Bischof Heddos von Straßburg von 774 ver¬
führt, durch die dieser sein Bistum in sieben Archidiakonate teilt (vgl.
E. Baumgartner, Gesch. und Recht des Archidiakonates der oberrhein.
Bistümer = Kirchenrechtl. Abhandlungen, herausg. von U. Stutz, Heft 39
[Stuttgart 1907], S. 64). Erst seit dem ix. Jahrhundert etwa gibt es eine
Mehrzahl fest abgegrenzter Archidiakonate innerhalb der einzelnen Diö¬
zesen (Baumgartner a. a. O. S. 10).
») a. a. O. p. XXXVIII ff.
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Die Entwicklung der histor. - geograph. Forschung in Deutschland usw. 16 3
mußte verstimmend wirken. Kein Wunder also, daß Theodor
Menkes vollständig ablehnende Besprechung von Böttgers Buch
durchschlug 1 ). Mit der alten Art der Gauforschung war es aus.
Die Wissenschaft wandte sich anderen Problemen zu, nur verhält¬
nismäßig selten noch erschienen Arbeiten aus dem Gebiete der
Gaugeographie*), und wenn gerade in der letzten Zeit wieder Unter¬
suchungen über diesen Gegenstand veröffentlicht worden sind,
so haben sie deutlich gezeigt, daß es eine besondere Art der gaugeo¬
graphischen Forschung nicht gibt, daß für die Untersuchung der
Gaue ebenfalls die heute allgemein gültigen Grundsätze der histo¬
risch-geographischen Forschung angewendet werden müssen 8 ).
*) Hist.Ztschr. XXXVHI (N.F.II), 1877, S. 103 fr.
*) Eine Anzahl der neueren Arbeiten findet man zitiert bei Dahl-
mann-Waitz, Quellenkunde der Deutschen Geschichte (8.Aufl. f herausg. von
Paul Herre) im Abschnitt Landeskunde und Topographie, bearbeitet
von Rudolf Kötzschke.
# ) Sie bestehen — was hier vorgreifend bereits bemerkt werden
darf — darin, daß man chronologisch rückwärts gerichtet arbeitet, um
von der besser bekannten jüngeren Vergangenheit ausgehend, Schritt für
Schritt zur älteren, weniger bekannten Zeit vorzudringen.
(Schluß folgt.)
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KRITISCHE BEITRÄGE
ZUR GESCHICHTE DER PATARIA.
VON JOS. GOETZ.
(Fortsetzung von Seite 55 und Schluß.)
2 . Zur Urheberschaft der Pataria.
Bereits eingangs wurde wahrscheinlich zu machen versucht,
daß die Reformideen in Mailand schon Zutritt gefunden und im
stillen Wirkung getan hatten, ehe sie in Ariald und Landulf ihre
eifervollen und konsequenten Vertreter auch in der Öffentlich¬
keit bekamen. Von großem Interesse ist nun, zu erfahren, ob sich
Landulfs Angabe, der übrigens auch Benzo von Alba beipflichtet,
Anselm von Badagio habe bei dem Eindringen der Reform in
die lombardische Hauptstadt seine einflußreiche Hand mit im
Spiele gehabt, aufrechterhalten lasse und in welchem Umfange
dies geschehen könne, wenn sich etwa Übertreibungen des Partei -
manns heraussteilen sollten.
Die Geschichtsforschung geht auch in der Beurteilung der
vorliegenden Frage nicht einig. Während eine Richtung geneigt
ist, Landulf (und Benzo) darin Glauben beizumessen, soweit ihre
Berichte nicht offensichtlich anderwärts gut verbürgten Nach¬
richten zuwiderlaufen 1 ), spricht eine andere diesen Zeugnissen
jegliche Glaubwürdigkeit ab. 2 ) Die letztere stützt sich dabei
auf die allgemeinen Bedenken der Kritik gegen die Zuver¬
lässigkeit der beiden Schriftsteller und im besonderen noch auf
das argumentum ex silentio, da die bevorzugten Quellen keinerlei
diesbezügliche Notiz enthalten. Aber es fragt sich, ob der an und
für sich geringe Wert des letzteren nicht noch an Bedeutung
einbüße, wenn sich einerseits Gründe für dieses Schweigen anfüh-
*) Hegel, Ital. Städteverf. II, S. 151. Baxmann, Politik II, S. 264 f.
Will, Restauration II, S. 120. Giesebrecht, Kaiserzeit 4 III, S. 30. Watten¬
dorf, Stephan IX, S. 41. Vgl. noch Hauck, Kirchengeschichte */ 4 III, S. 693.
*) Päch S. 19. Krüger II, S. 12. Meyer von Knonau I, S. 60. 670f.
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1 -
Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 165
ren lassen und wenn sich andererseits für die fraglichen Berichte
eine ziemliche innere Wahrscheinlichkeit ergibt, welche gestattet,
die historischen Zusammenhänge deutlicher und begreiflicher zu
machen. Denn daß eine allgemeine Ablehnung der beiden
Schriftsteller zuweit geht, hat Lehmgrübner 1 ) für Benzo erwiesen
und ist für Landulf im Vorausgehenden angedeutet worden. 2 )
Es wird sich demnach darum handeln, die einzelnen Stellen von
neuem einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.
Benzo, den Lehmgrübner als eine der interessantesten Per¬
sönlichkeiten des II. Jahrhunderts bezeichnet 3 ), behauptet im
2. Kapitel des 7. Buches seiner von ihm selbst gesammelten und
herausgegebenen Schriften, Alexander, der Bischof von Lucca,
habe im Grunde die Pataria erfunden und so das Heiligtum
seines Erzbischofs, dem er (Gehorsam) geschworen, dessen Fein¬
den geöffnet. 4 )
Lehmgrübner setzt die Abfassung dieses Teiles der Streit¬
schrift in die Mitte des Jahres 1085 6 ), also ein ganzes Menschen¬
alter nach dem Beginn der patarinischen Reformbewegung; und so
könnte die Angabe Benzos von vornherein auf Verdacht stoßen.
Immerhin war der Bischof von Alba als Zeitgenosse 6 ) und als Suf-
fraganbischof der lombardischen Metropole 7 ) wohl in der Lage,
sich bei seinem beispiellosen Interesse für alle politischen und
kirchlichen Angelegenheiten Oberitaliens, besonders wenn ihre
Entwicklung für die Geschicke seiner Partei von Bedeutung
war, einen zuverlässigen Einblick in die Mailänder Pataria zu ver¬
schaffen. Allein wenn Benzo die Wahrheit berichten konnte,
wollte er von ihr auch ohne Vorbehalt Zeugnis ablegen? Er, der
rastlose literarische und persönliche Gegner der gregorianischen
Kirchenpolitik, der selber den patarinischen Bestrebungen zum
*) a. a. O. S. 120. *) S. o. Heft 1, S. 36 ff.
*) a. a. O. S. in.
*) MG. SS. XI, p. 672: iste Lucensis appellatus Alexander primitus
Patariam invenit; archanum domni sui archiepiscopi, cui iuraverat, inimicis
aperuit. 6 ) a. a. O. S. 89 t.
*) Geb. um 1010 (Lehmgrübner S. 5), gest. um 1090 (ebendaS. 8).
*) Urkundlich erwähnt 1059, doch vielleicht schon von Heinrich III.
erhoben, vgl. Lehmgrübner a. a. O. S. 6.
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i66
Jos. Goetz
Opfer gefallen war, indem er 1076 oder 1077 aus seiner Diözese
hatte weichen müssen, um nie mehr in seinen alten Tagen einen
festen Sitz zu erlangen? 1 )
Benzo verfolgt im genannten Kapitel hauptsächlich den Zweck,
nachzuweisen, „daß Gregor unrechtmäßiger Papst gewesen“; er
will zeigen, „daß sein Fluch daher kein Fluch war, und häuft
infolgedessen allen Schimpf und alle Schmähungen*), die man sich
damals wohl im kaiserlichen Lager 3 ) erzählte, auf denselben. Zu*
gleich will er erweisen, daß der Kaiser durch Verleihung des Patri¬
ziats der einzig rechtmäßige Papstwähler ist.“ 4 )
Es sind also ausgesprochene Parteitendenzen, in deren Dienst
hier der Bischof von Alba seine gewandte Feder stellt: seine Glaub¬
würdigkeit scheint demnach einen neuen Stoß zu erleiden.
Indes darf die Frage nach der historischen Haltbarkeit der
Notiz doch nicht so rasch übers Knie gebrochen werden. Denn
für den politischen Polemiker waren die Tatsachen Vor¬
aussetzung, Anlaß und vielfach Zielscheibe seiner oft unerquick¬
lichen Auslassungen und Erörterungen. Die Aufgabe ist dem¬
nach, zuzusehen, ob sich aus der wüsten Schale polemischer
Leidenschaft nicht ein Kern von Tatsächlichkeit wird heraus¬
schälen lassen.
So geht Benzo im vorliegenden Kapitel von der Tatsache aus,
daß bei der Erhebung Anselms von Lucca auf Petri Stuhl Hilde¬
brand die treibende und entscheidende Kraft war. Der Polemiker
beginnt erst, wenn er die Unrechtmäßigkeit dieser Erhebung dartun
will. Denn sie widersprach nicht nur allem Recht und Gesetz, aller
geschichtlichen Überlieferung: mit welcher Hilfe geschah sie denn?
GemieteteWaffengewalt 5 ), Mordlust, die Macht schnöden Geldes ver¬
einigten sich bei Nacht, um Anselm in den Lateran zu bringen. Ja,
wenn's nur dabei sein Bewenden gehabt hätte! Aber was ist das für
eine Persönlichkeit, dieser Alexander ? Ein unehelicher Sprosse seines
x ) Lehmgrübner S. 7.
*) So soll er z. B., als er Alexanders II. überdrüssig war, diesem Gift
gegeben haben — ein beliebtes Motiv bei italienischen Autoren bis in
die neuere Zeit.
*) Auf Heinrichs IV. Romzug von 1084.
4 ) Lehmgrübner S. 89. *) Richards von Capua.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 167
Geschlechts, ein Nonnenschänder, ein Simonist, ein Häretiker,
ja der Erfinder der Pataria. Etwas Schlimmeres als diese Umsturz¬
bewegung, die Staat und Kirche zu Fall zu bringen droht, kann
es in Benzos Urteil überhaupt nicht geben. Unerbittlich, uner¬
müdlich bekämpft er ihre Bestrebungen, er kann nicht eindringlich
genug seine warnende, mahnende, spornende Stimme vor Hein¬
rich IV., vor seinen Mitbischöfen, vor der ganzen Welt erheben.
Wenn er demnach die Erfindung der Pataria der willenlosen
Kreatur Hildebrands, die er in Alexander II. sieht 1 ), zuschieben
möchte, so wird man seiner Angabe mit ziemlichem Bedenken
begegnen müssen: es verbleibt nach sorgsamem Abzug aller po¬
lemischen Tendenzen höchstens die blasse Möglichkeit, daß Alex¬
ander II. in die Pataria eingegriffen habe; ob aber dieses Ein¬
greifen als ursächliches Moment wirkte, oder ob Benzo Anselms
von Lucca Legationen nach Mailand in Sachen der Pataria*) oder
dessen Briefe als Alexander II. an Volk und Klerus der ambro-
sianischen Kirche 3 ) zu einer Erfindung der Bewegung aufbauschte,
läßt sich nicht entscheiden. Überdies erfährt seine Angabe noch
eine Einschränkung dadurch, daß er an anderer Stelle sagt 4 ),
Ariald 8 ) habe zuerst die Pataria durch seine Reden in die Öffent¬
lichkeit gebracht. 6 ) Dieses Gedicht, das Benzo auf eine ihm am
St. Andreastag gewordene himmlische Aufforderung hin gegen
die Umtriebe der Patariner verfaßt haben will 7 ), fällt zwar etwas
früher als die vorhin besprochene Stelle, nämlich schon Anfang
1080 8 ); aber da seine Tendenz, Benzos Klage über die Schlechtig¬
keit und Bosheit der Welt, die für das Jüngste Gericht reif ist 9 ),
durch den Hinweis auf die Pataria, diese Höllensaat 10 ), mit drasti¬
schen Schlaglichtern zu versehen, zu deutlich am Tage liegt, so
*) Vgl. z. B. V, 1: Prandelli (= Hildebrand) Asinander, asinus hereticus.
*) 1057 u. 1059.
*) Mansi, Coli. conc. XIX, p. 941 f., 978. *) VI, 2.
•) Päch S. 19, Nr. 4 identifiziert mit Recht den hier von Benzo ge¬
nannten Araldinus (3 Zeilen weiter Araldellus) mit Arialdus, vgl. Meyer
von Knonau I, S. 670, Nr. 6
®) Araldinus Patariam primitus edocuit.
*) Im Prolog, MG. SS. XI, p. 659. ®) Lehmgrübner S. 78.
®) Zum selben Gedanken vgl. Andr. c. I, § 3.
1# ) IV, 2: ab infemo prodierunt noviter heretici; vgl. dazu IV, 6:
infemus totum vomuit, quod habet et quod potuit.
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läßt sich auch aus ihm nicht viel mehr entnehmen, als daß Ariald
an den Anfängen der Pataria durch Predigttätigkeit beteiligt
war, was ja die anderen Quellen bestätigen. Benzo macht keiner¬
lei Anstalten, diesen Gegensatz seiner eigenen Berichte bei der
letzten Redaktion 1 ) zu beheben, wiewohl er sonst Verbesserungen
und Einschiebungen anzubringen nicht versäumt.*) Vielleicht
lag für seine Auffassung überhaupt kein Widerspruch vor; denn er
konnte des Glaubens sein, durch die Wahl der Worte den Weg
zur richtigen Erkenntnis der Tatsachen gezeigt zu haben. 3 ) Wie
weit freilich ursprünglich hierbei Absicht oder Reimbedürfnis
vorlag, wird schwer zu entscheiden sein. Immerhin mag der
Unterschied im Auge behalten werden; denn er gewinnt eine Stütze,
wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch Landulf denselben
Gedanken zum Ausdruck bringt, Ariald habe erst die Reformbe¬
wegung in die Öffentlichkeit getragen, nachdem Anselm von Lucca
den ersten Anlaß zu derselben gegeben habe.
Indes: billigt man auch den beiden Autoren diese gegenseitige
Stütze zu, so bleibt doch noch die andere Frage als ungelöster
Rest zurück, wann denn nun Anselm die Pataria „erfunden“
habe, ob erst um Weihnachten 1056 4 ) oder schon früher. Aus
Benzo läßt sich für die Beantwortung dieser Frage nichts entneh¬
men. Die weitere Untersuchung wird sich also darum zu drehen
haben, ob und mit welcher Sicherheit Landulf darüber Auskunft
zu geben vermag.
Zu Anfang des 5. Kapitels seines 3. Buches erzählt Landulf 6 ),
Anselm von Badagio, den Wido zum Priester geweiht hätte, habe
in Gemeinschaft mit seiner Sippe 6 ) gewisse bedenkliche Ziele 7 ) ver-
*) Nach 1085, Lehmgrübner S. 7, 23. *) Lehmgrübner S. 9f.
*) Alexander Patariam invenit, Araldinus — edocuit.
4 ) Land III, 5; vgl. unten S. 179 fr.
*) Er knüpft mit Qua tempestate an das vorhergehende Kapitel an,
in dem er von der Aprilsynode Leos IX. von 1050 berichtet; demzufolge
ist auch das berichtete Ereignis um dieselbe Zeit anzusetzen; vgl. zum
Sprachgebrauch Land. III, 16, 19.
8 ) Communis vis parentum et sui, das muß wohl unter dem ge¬
schraubten Ausdruck, nicht dem einzigen in diesem Kapitel, verstanden
werden.
7 ) Es ist nicht ganz klar, was unter dieser quaedam obedientia zu
verstehen sei: am ehesten reformatorische Bestrebungen; das zeigt wohl
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
169
folgt und dadurch unter allen geistlichen Ständen Mailands große
Unruhe gestiftet. Um nun diesen Übelständen gegenüber Abhilfe zu
schaffen, habe ihn Wido mit an den deutschen Hof genommen, wo
der König selbst den Fall schlichten sollte. Nach vielen Unterhand¬
lungen habe sich Anselm schließlich zum eidlichen Verzicht auf seine
Quertreibereien bequemt, worauf er von Heinrich III. das Bistum
Lucca übertragen erhalten habe. Als Bischof von Lucca hörte er,
daß Wido sieben Diakonen geweiht hätte, die nun an den Ad¬
ventssonntagen ihre Predigten hielten. Die Kunde davon ver¬
setzte ihn in eine unbeschreibliche Wut — wohl weil sie in üblicher
Weise durch Simonie zu ihren Weihen gekommen waren. 1 ) Am
26. Dezember machte er sich mit wenigen Klerikern seiner Kirche
nach Mailand auf, wo er eine ausgezeichnete Predigt zu hören
bekam, die ihn noch mehr in seiner Absicht bestärkte, die in ihren
Leistungen so rühmenswerte ambrosianische Geistlichkeit aus den
Klauen von Simonie und Nikolaitismus zu befreien. Er machte
sich daher bei Nacht und Nebel hinter die beiden Kleriker Ariald
und Landulf, die bereits und nicht eben aus uneigennützigen
Beweggründen*) mit der Klerisei im Streite lagen, und gewann
sie denn auch unschwer zu dem eidlichen Versprechen, von nun
an den offenen Kampf wider die beiden alteingewurzelten Laster
aufzunehmen, wobei er ihnen seine tatkräftige Hilfe zusicherte.
Und so begannen in der Tat die beiden ihr Reformwerk in der
Öffentlichkeit.
Welche Glaubwürdigkeit kann Landulf hier beanspruchen?
Krüger 8 ) nennt den Landulfschen Bericht „eine burleske
Darstellung, die wohl den Glanzpunkt des ganzen Werkes bildet“.
Freilich liegen zwischen den erzählten Ereignissen und der zu¬
schon der Umstand, daß sämtliche geistlichen Stände betroffen worden
seien, und mag auch aus dem Zusammenhang hervorgehen, der offenbar
hier schon dem Anselm jene reformatorische Rolle übertragen will, die
er dann etliche Jahre später energischer spielte. Eine Urkunde bei Giulini
a. a. O. III, p. 538 (er setzt sie ca. 1054), worin sich Abt Ardericus beim
Kaiser beschwert, daß Anselm und seine Brüder dem Kloster St. Viktor
gehörige Grundstücke zur Abrundung ihres angrenzenden Besitzes ver¬
wenden wollten, kann kaum hier beigezogen werden.
*) Der Diakon mußte 18 nummos zahlen; Mansi, Coli. conc.XIX, p.977.
*) Vgl. Giulini IV, p. 14; Päch S. 21, Nr. 1.
*) II, S. nf.
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( UNIVERSfTY )
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sammenhängenden Niederschrift des Werkes annähernd 50 Jahre 1 );
und wenn Landulf auch als Zeitgenosse jene Vorgänge miterlebt
hätte 2 ), so stimmen doch die unleidlichen Floskeln, unter denen
der redselige Parteimann jeden klaren Tatbestand vergräbt, sehr
bedenklich. Aber man wertet in schlechten Erntejahren das wenige
Korn unter der vielen Spreu desto höher. Und unter all der wert¬
losen Spreu Landulfs scheint doch manches Körnlein geschicht¬
licher Wahrheit sich noch zu verbergen; es soll daher die Mühe
nicht verdrießen, eines hier in sorgfältiger Siebung herauszuklauben.
Mit vier Fragen hat sich die folgende Untersuchung zu be¬
fassen: wann wurde Anselm von Badagio zum Priester geweiht?
wann erfolgte seine Reise mit Wido an den deutschen Hof? wann
erhielt er das Bistum Lucca? wann ist jenes Weihnachtsfest an¬
zusetzen, an dem das Bündnis zwischen Anselm und Landulf-
Ariald in Mailand geschlossen wurde?
Aus Landulfs Bericht könnte man zunächst die Auffassung
gewinnen, als „wäre die priesterliche Weihe Anselms erst durch
Erzbischof Wido, also nach 1045, ja sogar nur kurze Zeit vor dem
Ausbruch der Bewegung in Mailand geschehen“. 8 ) Nun aber finden
sich bei Peter Damiani zwei Stellen*), aus denen unzweifelhaft
hervorgeht, daß Anselm sich längere Zeit am Hofe Heinrichs III.
aufgehalten habe, als Priester der königlichen Kapelle. Außer¬
dem nennt ihn Arnulf einen ehemaligen Kleriker der mailändischen
Kirche 5 ); und hält man noch Anselms eigene Äußerung daneben,
die er als Papst in einem Brief an seine Landsleute tat, daß er
nämlich an den Brüsten der ambrosianischen Kirche gesogen habe 6 ),
so muß dabei offenbar an eine längere Stellung innerhalb der mai¬
ländischen Hierarchie gedacht werden. Es drängt sich demnach
der Schluß auf, daß Landulf mit seiner Angabe im Unrecht sein
müsse.
J ) Vgl. Wattenbach, Einleitung, MG. SS. VIII, p. 32 f.; Krüger I, S. 8;
Päch S. 8.
*) II, 34 nennt sich Landulf Zeitgenosse Widos, der 1045 Erzbischof
wurde. Krüger I, S. 8 läßt ihn aus inneren Gründen erst mit dem Ende
des 6. Jahrzehnts als solchen gelten.
*) Meyer von Knonau I, S. 669.
4 ) Disc. syn.: qui regi tamquam domesticus et familiaris erat — ex
aula regia sacerdos, MG.Lib.de lite I, p. 92f.
s ) III, 19. *) Mansi, Coli. conc. XIX, p. 941.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria j 7 j
So versucht denn Krüger angesichts dieses Widerspruchs den
urkundlichen Nachweis zu erbringen, daß Anselm bereits von
Erzbischof Aribert II. (1018—1045) die Priesterweihe empfangen
und spätestens zu Beginn der vierziger Jahre seine Vaterstadt ver¬
lassen habe 1 ), eine Annahme, der auch Meyer von Knonau bei¬
stimmt. 2 )
Allein, sind die Gründe für diese Annahme stichhaltig?
Es mag kein besonderer Wert darauf gelegt werden, daß An¬
selm seit dem Anfang des 5. Jahrzehnts „nachweislich mit seiner
Mutterkirche in keine nähere Beziehung getreten 3 ), also bereits
vorher Kardinal 4 ) geworden sei; er müßte also sämtliche kirch¬
lichen Grade in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren erlangt
haben“. 5 ) Denn seine Herkunft aus dem Kapitanenstande Mai¬
lands konnte ihm in seiner kirchlichen Laufbahn nur förderlich
sein, und ein abgekürztes Verfahren in Erklimmung der geist¬
lichen Stufenleiter war unter dieser Voraussetzung sicherlich
schon damals im Brauch. Was aber die von Krüger beigezogenen
Urkunden betrifft, so scheint keine derselben zu dem Schlüsse
zu zwingen, der darin Unterzeichnete Presbyter Anselm sei „höchst¬
wahrscheinlich dieselbe Persönlichkeit wie Anselm von Badagio“.
Denn unter der zahlreichen Priesterschaft der ambrosianischen
Kirche®) konnten sich doch leichtlich mehrere des Namens An¬
selm finden; und ein Badagio hätte seinen Stand, wie man ver¬
muten sollte, in einer Urkunde nicht unerwähnt gelassen. Da indes
eine solche Herkunftserwähnung noch nicht streng üblich war.
so könnte Krüger diesen Umstand zu seinen Gunsten geltend ma¬
chen, insofern aus der Tatsache, daß es sich um Urkunden des Erz¬
bischofs Aribert handle, mit großer Wahrscheinlichkeit geschlossen
werden müßte, daß die Mitunterzeichner des Testaments in einem
*) II, S. 11: in einer undatierten Schenkungsurkunde, „die aber sicher¬
lich in die letzten 10 Jahre von Ariberts Episcopat fällt“ (Puricelli, Mon.
p. 361) und im 2.Testament desselben von 1045 (ebenda p. 416) unterzeichnet
ein Presbyter Anselm. *) I, S. 669.
*) Vgl. jedoch die Urkunde bei Giulini III, p. 538, ca. 1054.
4 ) d. h. Priester. Der Titel bildete eines der Vorrechte der ambros.
Kirche; vgl. Krüger I, S. 17; Hinschius, Kirchenrecht I, S. 318, besonders
Nr. 5. *) Krüger II, S. u, Nr. 5.
*) Vgl. Bon. VI (Jaffe II,-p. 639): multitudo clericorum, que in eadem
aecclesia est innumerabilis ut harena maris.
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näheren Verhältnis zum Aussteller standen; und vermutlich wird
sich des stolzen aristokratischen Aribert Umgebung vornehmlich
aus Klerikern der ersten Stände Mailands gebildet haben.
Wenn demnach auch der Möglichkeit einer Weihe Anselms
durch Aribert Raum gelassen werden muß, so stößt dagegen das
angenommene Datum des Aufenthalts Anselms am königlichen
Hofe in Deutschland — seit etwa Mitte der vierziger Jahre —
auf ernste Bedenken; und damit scheint auch die ganze Kombi¬
nation Krügers von der frühen Priesterweihe stark in Frage gestellt.
Die Verwicklungen, die sich an den Valvassorenaufstand in
Oberitalien (1035—37) knüpften 1 ), zu dessen Schlichtung Kon-
rad II. auf Bitten der ringenden Parteien eigens einen Italienzug
unternommen hatte, waren der Anlaß gewesen, das bisher so vor¬
zügliche Verhältnis des Kaisers zu Erzbischof Aribert gründlich
zu zerstören. Die Macht des lombardischen Metropoliten war
nachgerade zu einer Gefahr für den sicheren Besitzstand
des italienischen Reichsgebietes ausgewachsen; und die erpresse¬
rische Politik Ariberts den kleinen Lehensleuten gegenüber war
nicht dazu angetan, sich den Beifall des recht- und ordnunglie¬
benden Kaisers zu erringen, geschweige denn zu sichern. Der
plötzliche Aufstand der Mailänder Bevölkerung, die ihren be¬
wunderten Erzbischof in verbrieften Rechten bedroht meinte 2 ),
hatte den Kaiser schweren persönlichen Beleidigungen ausgesetzt
und das letzte Band zwischen ihm und Aribert zerrissen. Als
nun auf einem großen Gerichtstag zu Pavia 8 ), zu dem auch der
Mailänder Kirchenfürst, zumal als vermutlicher Mitwisser um jene
Erhebung, geladen war, außerdem noch eine ganze Reihe triftiger
Beschwerden wider Aribert laut wurden, entwickelte dieser, statt
des Kaisers Aufforderung, sich zu rechtfertigen, Folge zu leisten,
einen hartnäckigen Trotz, „der nach der geltenden und allgemein
anerkannten Rechtsanschauung das Verbrechen des Hochverrats
konsumierte“. 4 ) So glaubte Konrad sich befugt, zu den schärfsten
Mitteln zu greifen: er sprach in aller Form die Acht über den
') Pabst, De Ariberto II. — Hegel, Städteverf. II, S. 147 ff. Giesebrecht,
Kaiserzeit II, S. 313 fr. Breßlau, Jb. II, S. 21 off.
*) Vgl. Breßlau, Jb. II, S. 229. *) Nach Mitte März 1037.
4 ) Breßlau, Jb. II, S. 232.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 173
widersetzlichen Erzbischof aus und ordnete seine Gefangen¬
setzung an.
Zwar entkam Aribert bald der Gefangenschaft beim Patriarchen
Poppo von Aquileja: alle Pläne des heftig erbosten Kaisers waren
damit zunichte gemacht. An dem ungeheuren Jubel aber, mit
dem Aribert von ganz Mailand empfangen ward, offenbarte sich die
ganze Tragweite dieses Schlags: in der lombardischen Metropole
hatte sich Konrads unerhörtes Vorgehen eine Todfeindin, ge¬
schaffen, an deren eisernem Widerstand seine kriegerischen Ope¬
rationen scheitern sollten, die er alsbald, seiner kaiserlichen Pflicht
zu genügen, in großem Umfang und mit gewohnter Energie be¬
trieb. Der in seinem Erzbischof beleidigte honor Ambrosianus
schuf aus der gesamten Bevölkerung Mailands ein unbesiegliches
Ganzes, dessen taktische Straffheit noch gesteigert ward durch
Ariberts Erfindung des Carocciums. 1 )
Für den hohen Adel Mailands waren aber außer diesem kirch¬
lichen Gesichtspunkt noch andere Erwägungen von mehr prak¬
tischem Interesse maßgebend, wenn er den gefeierten Erzbischof im
Kampfe gegen den Kaiser getreulich und nach Kräften unterstützte.
Nicht bloß die Lehenspflicht scharte die Kapitäne um ihren Se¬
nior. Mit der Herrschaft, die der Erzbischof, wenn auch nicht
formell, so doch tatsächlich über Mailand ausübte*), mußte auch
ihre seither überwiegende Beteiligung am Stadtregiment fallen;
denn ihre Lehen waren vielfach vom Erzbischof vergabte Ämter.*)
Im Falle eines kaiserlichen Sieges stand ihnen die Aussicht dro¬
hend vor Augen, Markgraf Hugo aus dem otbertinischen Hause 4 ),
der Graf von Mailand, der in Pavia Klage wegen der Beeinträch¬
tigung seiner reichsamtlichen Befugnisse durch Aribert erhoben
hatte, möchte zu neuem Einfluß aufsteigen und ihnen all die viel¬
verheißenden Vorteile des aufblühenden Gemeinwesens aus der
Hand winden. Und diese Gefahr war desto dringender, als sie von
den Valvassoren leicht in die Tat umgesetzt werden konnte.
*) Vgl. darüber Steindorff, Jb. I, S. 74; Breßlau, Jb. II, S. 320.
*) Bethmann-Hollweg, Ursprung S. ii2ff. Breßlau, Jb. II, S. 197t.
*) Bethmann-Hollweg a.a.O. S. 134 ff. Mayer, Ital. Verfassungsgesch II,
S. 544; dazu I, S. 64 ff.
4 ) Über die Markgrafschaft der Otbertiner in Mailand vgl. Ficker,
Forschungen I, S. 262; Breßlau, Jb. I, S. 424: Giulini II, p. 379.
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Denn im Lager vor Mailand hatte Konrad jenes berühmt ge¬
wordene Lehensgesetz vom 28. Mai 1037 erlassen 1 ), das den Val¬
vassoren in der Hauptsache die Sicherheit ihres Besitzes gegen jede
willkürliche Verdrängung, die lang angestrebte Erbfolge und den
besonderen Gerichtsstand vor den Standesgenossen verbürgte. 2 )
Der niedere Adel rückte so dem höheren in seiner äußeren Stellung
ein ziemliches näher; und ein Ende dieses sozialen Vorwärtsdrängens
war um so weniger abzusehen, als in Italien fast zu allen Zeiten
nicht so sehr die Vorteile der Geburt und des Besitzes als weit eher
persönliche Tüchtigkeit und skrupellose Energie zu Einfluß und
Macht gelangen ließen. Zudem war der kleine Adel den Kapi¬
tänen an Zahl und kriegerischer Kraft ziemlich überlegen; und
durch Konrads Entgegenkommen einmal an's Reichsinteresse ge¬
fesselt, konnte er unter kluger Leitung eines umsichtigen und
tüchtigen Grafen für die Gestaltung der ganzen Zukunft Mai¬
lands und der Lombardei entscheidend werden. Und da die Reichs¬
regierung schon länger die Förderung der niederen Lehensleute in
ihr politisches Programm aufgenommen und gute Erfahrungen
damit gemacht hatte 3 ), war an einen Umschlag in dieser Politik
so bald nicht zu denken.
Dazu trat noch ein weiteres wichtiges Moment. Als der Kaiser
vor Mailand nicht allzuviel ausrichtete, verschärfte er die Ma߬
regeln gegen Ariberts Person noch mehr dadurch, daß er diesen für
abgesetzt erklärte und ihm einen Gegenbischof gegenüberstellte, der
freilich nur ein klägliches Schattendasein fristen konnte. Damit
hatte Konrad ein uraltes Recht Mailands, die freie Wahl des Erz¬
bischofs, der dann die kaiserliche Zustimmung nachfolgte 4 ), be¬
droht; und der Gegensatz zum deutschen Hofe, in dem sich die
mailäridischen Kapitäne befanden, mußte dadurch noch eine Stei¬
gerung erfahren.
Nun schloß freilich Heinrich III. nach dem raschen Tod seines
Vaters der schon früher geäußerten Gesinnung gemäß 5 ) zu Ingel¬
heim seinen Frieden mit dem persönlich anwesenden Aribert,
*) Const. de feudis, MG. Const. I, p. 90.
*) Breßlau, Jb. II, S. 244 fr.
*) Breßlau, Jb. II, S. 215, 368fr.
4 ) Am. II, 1; III, 22, 25; V, 2, 5. Land. III, 3.
6 ) Breßlau, Jb. II, S. 251.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 175
der zuvor dem jungen König gebührende Genugtuung für allen
Hader mit Kaiser Konrad geleistet hatte. 1 ) Aber damit waren un¬
möglich alle Gegensätze zwischen der deutschen Regierung und
Mailand behoben. Ja, diese fanden offensichtlich neue Nahrung
durch die Stellungnahme Heinrichs in dem 1042 zwischen dem
für diesmal aus Interesse verbundenen hohen und niederen Adel
und der nach politischer Machterweiterung ringenden Bürgerschaft
ausgebrochenen Bruderkrieg. 2 ) Sehr wahrscheinlich wurden die
blutigen Streitigkeiten durch das vermittelnde Eingreifen des da¬
mals gerade in Italien als Königsbote weilenden deutschen Kanz¬
lers Adalger beigelegt 8 ); und zweifelsohne muß bei diesem Friedens¬
schluß das Einverständnis des Kaisers vorausgesetzt werden.
Aber wie wenig man eben in den Kreisen des hohen Adels mit
dem tatsächlichen Ausgang des Ringens zufrieden war, läßt deren
Sprachrohr, der treffliche Arnulf, erkennen 4 ), wenn er diesmal
über die zuverlässige Klarheit seiner Berichterstattung den dunk¬
len Schleier der Andeutung breitet: er begnügt sich nämlich mit
der allgemeinen Bemerkung, der Bürgerkrieg habe leider den gan¬
zen politischen und kirchlichen Zustand Mailands über den Hau¬
fen geworfen. 6 )
In dieser andauernden starken Spannung zwischen dem deut¬
schen Hof und dem höheren Adel Mailands sollte ein Sproß eines
hervorragenden Kapitanengeschlechts in die königliche Kapelle
eingetreten sein? Das ist doch wohl kaum anzunehmen.
Schließlich darf noch auf einen anderen Gedanken hingewiesen
werden. Wenn man auch in die ausschlaggebenden Erwägungen
Heinrichs III. nicht völlig klar hineinzusehen vermag, die ihn nach
Ariberts Tod gegen den Willen der gesamten Mailänder Bevölke¬
rung zur Erhebung Widos auf den Stuhl des heiligen Ambrosius
bestimmten, so wäre es doch nicht außerhalb aller politischen
Klugheit gewesen, mit Ernennung eines vornehmen Mailänders,
den er in seiner Kapelle kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hatte,
*) Steindorff, Jb. I, S. 84.
*) Steindorff, Jb. I, S. 240fr. *) Steindorff, Jb. I, S. 242fr. 4 ) III, 1.
*) Krüger II, S. 6f. sieht den politischen Erfolg der „romanischen
Bevölkerung“ in dem Recht, aus ihrer Mitte Schöffen zum Placitum zu
stellen; den kirchlichen in der Teilnahme derselben auch an der Wahl
des Erzbischofs. — Steindorff I, S. 244 läßt die Frage unentschieden.
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zugleich dem Willen der lombardischen Metropole entgegenzu¬
kommen wie den Interessen des Reiches zu dienen.
Indem er eigenwillig den unbedeutenden Valvassorensohn
einsetzte, mußte er — und seine eigenen Erfahrungen aus der
Zeit des Mailänder Krieges legten fürwahr ein sprechendes Zeugnis
dafür ab — sehr befürchten, die kirchliche Selbständigkeit
Mailands vor den Kopf zu stoßen. Daß sein Vorgehen freilich so
wenig geschlossenen Widerstand finden werde, wie die Folge
zeigte, konnte er unmöglich wissen. War sein Ziel, den neuen
Metropoliten nicht mehr zu Ariberts Macht und Ansehen kommen
zu lassen, so fand er freilich keine geeignetere Persönlichkeit als
Wido. 1 ) Allein der Erzbischof einer solchen Erhebung war nicht
Mailand; und wachte die ambrosianische Gemeinde eifersüchtig
über seine kirchliche Würde, so ließ sich seine politische Macht
desto leichter aushöhlen, je schwächer ihr Träger war. Und wer
anders als der schwierige Adel und mit unverkennbaren Anzeichen
das aufstrebende Bürgertum, dem sich die unteren Volksschichten
stufenweise angliederten, würden sich, sei es einzeln, sei es verbün¬
det, darin einnisten ? Der Zug der Zeit war sichtlich auf die De¬
mokratie eingestellt: wie würde das Reich bei dieser Entwicklung
abschneiden? Überdies sprachen die geographische Lage und die
politische Bedeutung Mailands zugunsten eines aristokratischen
Kandidaten, der dem Kaiser durch den Dienst in dessen Kapelle per¬
sönlich verpflichtet, durch seinen Aufenthalt am deutschen Hofe in
die politischen Ziele der Reichsregierung eingeweiht, auf dem ein¬
stimmigen Beifall der öffentlichen Meinung in Mailand fußte und
so für ganz Lombardien eine maßgebende Rolle zu spielen imstande
war. Das war von desto größerer Bedeutung, als in Tuszien eine
weltliche Macht sich entfaltete, die für das Reich weit mehr Ge¬
fahren in sich schloß als eine aristokratische Hierarchie in Mai¬
land. Zudem hatte Aribert in den letzten fünf Jahren eingelenkt;
und in der Festigung der Grafenwürde war ja eine gute Handhabe
geboten, den politischen Machtgelüsten des neuen Erzbischofs
Grenzen zu ziehen.
Wenn nun Heinrich, der für die politischen Potenzen der
Zukunft ein richtiges Empfinden hatte, sich trotz allem für die Er-
*) Vgl. besonders Krüger II, S. 8 ff. und unten S. 194.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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nennung Widos zu entscheiden für gut hielt, so wird man zu der
Vermutung gedrängt, es sei ihm eben kein Kandidat so vertraut
und verläßlich erschienen als Wido, von dem Krüger nicht
ohne Grund annimmt, daß er wahrscheinlich zu Heinrichs Ka-
plänen gezählt habe. 1 )
Anselm, so darf nun gefolgert werden, war also schwerlich
noch zu Lebzeiten Ariberts an den deutschen Hof gekommen; die
Wahrscheinlichkeit gewinnt an Boden, daß er auch die Priester¬
weihe von diesem machtvollen Kirchenfürsten nicht erhalten hat.*)
Man wird sich dabei den kleinen Vorteil nicht entgleiten lassen,
den Benzo bietet, wenn er von einem Treuschwur Anselms in die
Hände Widos erzählt. 8 )
Landulfs Angabe, Wido habe Anselm zur priesterlichen Würde
erhoben, verdient demnach zum wenigsten Beachtung. Aber
wird diese Erkenntnis nicht sofort wieder aufgehoben dadurch,
daß er die Weihe erst um die Mitte der fünfziger Jahre erfolgt sein
läßt, was den urkundlich belegten Aufenthalt Anselms als Kaplan
am königlichen Hofe in Deutschland ausschlösse?
Der Widerspruch scheint sich bei näherer Betrachtung zu be¬
heben, die zu der Annahme berechtigt, daß Landulfs Bericht offen¬
bar zwei scharf zu trennende Vorgänge zusammenzieht. 4 )
Die Tendenz des Autors ist aus dem Früheren bekannt: die
Ursprünge und Geschichte der Pataria in ein möglichst grelles
Licht zu rücken, indem er zu zeigen versucht, daß ihre Urheber
von Anfang an auf Umsturz und nicht auf Reformen hinarbeiteten.
Ein Hauptcharakterisierungsmittel für die dabei hervortretenden
Persönlichkeiten ist ihm die Undankbarkeit. 6 ) Und gerade An¬
selm hat sich darin sehr bezeichnend hervorgetan: er stellte sich
in offenen Gegensatz zu seinem Erzbischof, der ihn nicht nur zum
Priester geweiht hatte, dem er auch mittelbar die Erhebung auf
den Bischofsstuhl von Lucca verdankte. Um die Abscheulich¬
keit dieses schnöden Undanks dem Leser recht eindringlich vor
Augen zu halten, rückt Landulf nun beide Ereignisse in Anselms
*) a. a. O. II, S. 8.
*) So auch Baxmann, Politik II, S. 265; Will, Restauration II, S. 120;
Wattendorf S. 41. ») VII, 2 (MG. SS. XI, p. 672).
4 ) Zu dieser Methode vgl. oben Heft 1, S. 38.
6 ) Vgl. Krüger I, S. 9.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 I 2
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geistlicher Laufbahn zusammen. Daß sie in der Tat aber getrennt
zu betrachten sind, dazu gibt Landulf selber einen Fingerzeig,
wenn er die Umtriebe Anselms, die zur Reise mit Wido nach
Deutschland führten, um 1050 ansetzt. Die Übertragung des
Bistums Lucca dagegen kann frühestens um die Mitte 1056 er¬
folgt sein.
In diese Zeit nun ist der von Peter Damiani berichtete Auf¬
enthalt in der königlichen Kapelle Heinrichs III. zu setzen.
Die Priesterwürde muß Anselm demnach zwischen 1045 und
1050 erhalten haben; daß sie jedenfalls einige Zeit vor 1050 zu
datieren ist, scheint Landulfs Sprachgebrauch nahezulegen.
Wenn er nämlich sagt, Wido habe Anselm 'kurz zuvor’ geweiht,
so darf diese Zeitbestimmung offenbar ebensowenig scharf genom¬
men werden wie jene andere 1 ), bei der er sich also verlauten läßt:
die vier Kandidaten für den ämbrosianischen Stuhl 1045 reisen
zur Entscheidung zu Heinrich III., qui noviter (das ist aber 1039)
surrexerat noviterque populum ipsum a maiorum manibus libe-
raverat (das war nach Steindorff, Jb. I, S. 244 i. J. 1043).
Als Resultat der seitherigen Untersuchung kann festgestellt
werden: zwischen 1045 und 1050 von Wido zum Priester geweiht,
nimmt Anselm, vielleicht unmittelbar veranlaßt durch die Beschlüs¬
se der Reformsynoden Leos IX. zu Rom und Pavia 1049, als eif¬
riger Anhänger der cluniazensischen Kirchenreform die Gele¬
genheit wahr, mit seinen Ideen vor den ambrosianischen Klerus
zu treten. Den daraus entstehenden Unruhen hofft Wido da¬
durch die Spitze abzubrechen, daß er Anselm um 1050 mit sich
an den deutschen Hof nimmt, wo dieser mit seinem Eintritt in
die königliche Kapelle für Mailands Kirche unschädlich gemacht
werden soll. Zugleich mochte sich der tatenlahme Erzbischof
mit dem Gedanken schmeicheln, durch diesen Schritt, der immer¬
hin ziemliche Aussicht auf rasche und ehrenvolle Beförderung auf
der hierarchischen Stufenleiter bot, die unliebsame Zurückhaltung
des Mailänder Adels geschickt zu überwinden (und bei seinem
vertrauten Verhältnis zu Heinrich III. fiel es ihm nicht schwer, den
Kaiser zu diesem Gnadenerweis zu bewegen): denn die aussichts¬
volle Hofstellung eines ihrer Mitglieder mußte die Kapitäne auch
») Land. III, 5.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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mit Heinrichs Willkür bei der Ernennung des neuen Erzbischofs
einigermaßen versöhnen. In der Tat wurde die angebahnte Aus¬
söhnung vollendet seit der Erhebung Anselms auf den erledigten
Bischofsstuhl von Lucca 1 ): der Mailänder Adel schwenkte wieder,
wie sich in der Folge zeigte, in eine kaiserfreundliche Politik ein,
die im allgemeinen bis auf die Tage von Canossa anhielt.
Es bleibt noch die letzte Frage: wann ist Anselms Eingreifen
in Mailand anzusetzen? Denn daß ein solches mit Landulf an¬
genommen werden darf, ist nachher zu zeigen.
Nach Meyer von Knonau denkt „Landulf augenscheinlich hier,
da er gleich vorher die Reise Widos und Anselms an den deutschen
Hof erwähnte, an das Weihnachtsfest des Jahres 1057: auf dieses
wäre also Anselms persönliche Anstiftung in Mailand zu setzen.
Allein zu dieser Zeit befand sich Bischof Anselm ja gar nicht
in Italien, sondern auf sächsischem Boden am Hofe Heinrichs IV. 2 ),
so daß demnach Landulfs gesamte Kombination dahinfällt“ a ).
Ebenso lehnt Meyer eine Ansetzung des von Landulf erzählten Be¬
suchs auf 1058 ab, da ja Ariald bereits 1056 zu Varese auftrat.
Und er möchte sich an Krügers Vermutung 4 ) anschließen, daß dem
so konfusen Landulf etwa Anselms spätere Gesandtschaft nach
Mailand möge vor Augen geschwebt haben.
Nach den obigen Ausführungen ist indes die Reise Widos und
Anselms bereits anfangs der fünfziger Jahre zu setzen. Wenn aber
weiterhin Anselm höchst wahrscheinlich schon um die Mitte d. J. 1056
das Bistum Lucca erhielt, so steht der Annahme nichts mehr
im Wege, er habe an Weihnachten desselben Jahres in Mailand
die Reformbewegung in rechten Fluß gebracht. 5 )
Und der Bericht Landulfs von Anselms Eingreifen in die Mai¬
länder Reformbewegung an Weihnachten 1056 gewinnt desto
*) Bischof Johann war am 28. Mai 1056 gestorben. Als Bischof von .
Lucca ist Anselm bezeugt am 24. u. 25. März u. wieder Ende April 1057
(Päch S. 19; Meyer von Knonau I, S. 669). Indes ist es sehr wahr¬
scheinlich, daß er, wie Benzo II, 2 (MG. SS. XI, p. 613) berichtet, von
Heinrich III. erhoben worden ist, der auch sonst „viele Kleriker seiner
Umgebung auf erledigte italienische Bischofsstühle brachte“ (Lehm-
grübner S. 6).
*) Gundech. lib. pont. Eichst. (MG. SS. VII, p. 246): dazu Meyer
von Knonau I, S. 52. 8 ) Meyer von Knonau I, S. 670
4 ) II, S. 12, Nr. 2. 8 ) So übrigens schon Giulini IV, p. 23.
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mehr an Glaubwürdigkeit, als Erzbischof Wido im Sommer 1057
wiederum mit Anselm am deutschen Hofe weilt. 1 ) Mag man sich
auch an Benzos Angabe erinnern, der Bischof von Lucca habe
(damals wohl) dem jungen König den Treueid geschworen, den
er dem Vater bereits geleistet 2 ), so muß offenbar doch in allererster
Linie an einen Zusammenhang dieser Reise mit der Pataria ge¬
dacht werden; denn daß Anselm nicht ,,als Bote der Römer,
um Agnes von der Wahl Stephans IX. in Kenntnis zu setzen und
ihre Anerkennung zu gewinnen, am Hofe anwesend war" 8 ), hat
Meyer von Knonau an Hand der urkundlichen Chronologie über¬
zeugend nachgewiesen. 4 )
Die Pataria hatte nämlich inzwischen große Fortschritte ge¬
macht. Die Führer der Reform setzten allen Vermittlungsversu¬
chen, von welcher Seite sie kommen mochten, hartnäckigen Wi¬
derstand entgegen. 8 ) Die Plünderungen an priesterlichem Hab
und Gut hatten einen erschreckenden Umfang angenommen:
von der Stadt aus hatten sie bereits aufs platte Land übergegriffen. 6 )
Am Nazariusfeste (10. Mai) hatten Landulf und Ariald sogar in
die wallfahrende Kirchengemeinde Streit und Zank getragen. 7 )
Ja, eines Tages waren sie mit ihren Anhängern im Dome gegen
die zum Chorgebet versammelten Geistlichen tätlich geworden 8 )
und hatten nicht einmal vor der Person des Erzbischofs Halt
gemacht. 9 )
Solche Wogen warf nicht ein blindfanatischer Reförmidealis-
mus allein: zumal hinter der unerhörten Steifnackigkeit der
Führer mußte die Kraft einer Persönlichkeit stecken, die den
Ungehorsam jener als Dienst an einer göttlichen Sache gleichsam
verbürgte. Wido hatte zweifelsohne von Anselms Weihnachts¬
besuch Wind bekommen und glaubte nun in diesem Manne,
dessen Gesinnung und Tatkraft er aus persönlicher Erfahrung
kannte, das treibende Moment jener Übergriffe zu fassen. Dazu
*) Gund. lib. pont. Eichst. (MG. SS. VII, p. 246). Vom 20. August
bis 5. Oktober. *) Benzo II, 2 (MG. SS. XI, p. 613.)
*) Wie Will, Restauration II, S. 107 f., Giesebrecht, Kaiserzeit II, S. 534,
Lindner, Anno II, S. 16 annehmen. 4 ) Jb. I, S. 45, Nr. 42.
6 ) Am. III, 12. Land. III, 6 fl. •) Land. III, 10.
7 ) Land III, 8. ®) Am. III, 12.
9 ) Bon. VI (Jaffd II, S. 639) ist wohl hierher zu datieren.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 181
■waren damals schon in dem hartbedrängten Klerus Stimmen laut
geworden, man werde sich notgedrungen, wenn der Erzbischof
versage, nach Rom um Hilfe wenden. 1 ) Über die Folgen eines
solchen Schrittes konnte auch ein Wido sich nicht hinwegtäu¬
schen. Aber seine schwächliche Unentschlossenheit wußte keinen
anderen Ausweg, als einen erneuten Gang an den deutschen Hof
zu tun, dem er ja seine Würde verdankte. Die kaiserliche Regie¬
rung sollte diesmal ein Machtwort über die Pataria und ihren hoch-
gestellten Gönner sprechen. Aber Wido fand hier den unbedingten
Rückhalt nicht mehr, den er nach seinen früheren Erfahrungen
erwarten mochte: denn Heinrich III. war tot, und die vormund¬
schaftliche Regierung seines jungen Sohnes entbehrte der festen,
zielbewußten Haltung. Seine Hoffnungen waren zerschlagen,
die Kraft zu eigenem Handeln konnte er auch in dieser für seine
Zukunft bedenklichen Krisis nicht finden. So fügte er sich denn
dem inzwischen von Rom ergangenen Gebot: er berief zur Schlich¬
tung der Wirren die Synode von Fontanetto.
Liegt diese nach Landulf versuchte Kombination auch im Be¬
reich der sachlichen Möglichkeit?
„Ohne Macht und Unterstützung konnten Ariald und Landulf
den Kampf gegen die Simonie nicht beginnen“. 2 ) Sie verletzten
eben tausend materielle Interessen und mußten in Verfolg ihrer
Reformarbeit notwendigerweise vielfach Widersacher altgewur-
zelter kirchlicher Einrichtungen werden. Und nun: wie schwach
war der Widerstand 1 Zur Erklärung dieser Tatsache wurde oben
auf die eigentümlichen politischen und sozialen Verhältnisse und
die höchst wahrscheinliche frühere Wirksamkeit der Reformideen
in Mailand hingewiesen. Hier kann noch eine Ergänzung angebracht
werden, die von nicht geringerem Einfluß spricht. Ein Eingreifen
einer Persönlichkeit vom Range und von der Stellung eines Anselm
in die keimende Reformbewegung glich sozusagen einer offi¬
ziellen Autorisierung derselben und mußte den ohnehin ge¬
ringen Widerstand der höheren Kreise noch mehr lähmen, während
sich die niederen Massen angespornt fühlten, ihre gewinnsüchtige
Teilnahme ins Maßlose zu vergröbern. Was so treffend Krüger
von Landulf sagt 3 ), gilt in viel höherem Maße noch von Anselm:
*) Siehe unten S. 185. *) Päch S. 25. *) II, S. 15.
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„Dem Hochgeborenen, der für des Volkes Recht — hier im kirch¬
lichen Sinne — Partei ergreift gegen seine Standesgenossen,
schlägt auch des Volkes Herz warm entgegen, nicht so dem Manne
aus seiner Mitte, dem es statt Vertrauen oft Neid und Haß ent¬
gegenbringt.“
In der Tat bildete für Ariald seine Valvassorenabstammung
ein gewisses Hemmnis seiner Reformtätigkeit: der höhere Adel
beobachtete einen vorsätzlichen Abstand von seiner Person 1 );
und als er dem Volk von Varese seine ersten Reformpredigten
hielt, wies man ihn nach Mailand. 2 ) Denn Ariald war kein Volks¬
mann: er war ein Gelehrter, den mehr sein Wissen als sein
Gewissen zur Reform trieb. 8 ) Vor allem war er kein Redner:
auch darin bedurfte er der Unterstützung durch eine Autorität,
um fester Fuß fassen zu können; späterhin gewann er in dem
ehrgeizigen, redegewandten Landulf einen volkstümlichen Ge¬
nossen, der bald den Gang der Reform in ein revolutionäres
Bett leitete und dabei den Idealisten Ariald mit riß, der überhaupt
keine hervorragende, großzügige Persönlichkeit war. „Dazu
mangelt ihm zu sehr die Ursprünglichkeit in der Anschauung
wie in der Initiative. Mit Peter Damiani repräsentiert er für dieses
Jahrhundert am klarsten jenen Typus fanatischer Parteigänger,
die stets des Führers bedürfen; ist aber die Parole einmal gegeben,
dann treten sie mit jener rücksichtslosen Kühnheit und unerschüt¬
terlichen Konsequenz für dieselbe ein, welche nur bis zur Todes¬
verachtung gesteigerte Hingebung zu verleihen imstande ist.“ 4 )
Und schließlich darf noch ein sachliches Moment herangezogen
werden, um Landulfs Nachricht sicher zu stellen. Man fragt sich
billig: wie kam's, daß Anselm von Lucca zweimal das besondere
Vertrauen Roms genoß, das erstemal 1057 mit Hildebrand, das
anderemal mit Peter Damiani 1059 als Legat nach Mailand gesandt
zu werden ? Gewiß war er als gebürtiger Mailänder und ehemaliger
Kardinal der ambrosianischen Metropole vorzüglich geeignet,
seine Personen- und Sachkenntnis in den Dienst der römischen
*) Vgl. Am. III, 10, dazu Päch S. 18; Krüger II, S. 13.
*) Vgl. Meyer von Knonau I, S. 67 if.
*) Am. III, 10: dum litterarum vacaret Studio, severissimus est
divinae legis factus interpres. Ähnlich Bon. VI (Ja.ff6 II, S. 639).
*) Krüger II, S. 12.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
183
Kirche zu stellen. Um wieviel eher mußte man in Rom auf diesen
Mann zurückkommen, wenn man seine Bemühungen in Sachen
der Reform in Betracht zog! 1 )
Allein, so mag hier eingewendet werden, gerade die zuverlässige¬
ren Quellen, Arnulf und Andreas, reden ganz deutlich von der Ur¬
heberschaft Arialds. Indes ist auch deren Berichterstattung nicht
so lückenlos, daß man für Ergänzungen, die sich ihrer Darstellung
gut einfügen, nicht dankbar sein müßte. Vielleicht löst sich
der Einwand durch folgende Erwägung.
Der rein erbauliche Endzweck, dem das Buch des frommen
Vallumbrosanermönchs dienen will 2 ), bringt es mit sich, daß
Ariald durchaus im Vordergrund der Darstellung steht: der un¬
ermüdliche Prediger, der vorbildliche Asket, der heldenhafte
Märtyrer, der wunderbegabte Gottesmann. Und so wenig Andreas
ein eingehendes Interesse für Landulf und dessen Bruder Erlem-
bald bekundet 3 ), so wenig paßte es in seinen Plan, das Auftreten
seines Heiligen in Mailand durch anderen Einfluß erfolgt sein zu
lassen als durch Gottes unmittelbare Sendung. 4 )
Nicht ganz so einfach liegt der Fall bei Arnulf, doch scheint
er sich am leichtesten zu klären, wenn man zweierlei Momente
in Erwägung zieht: ein persönliches und ein sachliches.
Man weiß, daß Arnulf zu den Gegnern der Pataria gehört:
Geburt, Amt und Charakter brachten ihn in Gegensatz zu der
Reformbewegung und ihren Führern 6 ); es fiel ihm z. B. schwer,
Arialds Stand klipp und klar anzugeben. 8 ) Die Pataria war ihm
eben die Bewegung des niederen Volkes, das er verachtete. Dar¬
um galt es ihm fast für eine ausgemachte Sache, daß sich die hö¬
heren Kreise Mailands von diesem unseligen Treiben fernhiel¬
ten, das nur mit dem Verlust der kirchlichen Selbständigkeit
') Fast unmittelbar nach seiner Erhebung zum Bischof von Lucca
trat Anselm mit Gotfried und den beiden Gräfinnen Beatrix und Mathilde
von Tuszien in Verbindung, die ihn dann auch in engste Fühlung mit
Hildebrand brachte. *) Vgl. seine Äußerung c. IV, § 34.
*) Andr. praef. vitae S. Ar.; vgl. Päch S. 10; Krüger I, S. nf.
4 ) Andr. c. I, § 8: a Deo procul dubio praefatus missus est Arialdus;
ähnlich c. II, § 12. — Ariald erscheint stets als vir Dei, Christi famulus.
*) Am.III, 10,16,18. GiuliniIII,p.363. Giesebrecht,Kaiserzeit 4 II, S. 575.
*) Er gibt III, 10 nur an: humiliter utpote natus; vgl. Päch S. 18;
Krüger II, S. 13.
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und der erzbischöflichen, d. h. adligen Vorherrschaft enden konn¬
te; darum fällte er das härteste Urteil über jene Standesgenossen,
die sich der patarinischen Reform in die Arme geworfen hatten. 1 )
Und so durfte er es auch nie offen zugeben, daß ein Kapitanensohn 2 ),
ein anerkannt frommer und sittenstrenger Mann wie Anselm von
Badagio die ganze folgenschwere Bewegung hätte anzetteln
sollen; zudem verbot ihm seine tiefe Ehrfurcht vor dem späteren
Papst, diesen mit Wirren in ursächlichen Zusammenhang zu
bringen, die einer blutigen Revolution erschreckend gleichkamen.
Und eben im letzteren Punkt liegt auch das sachliche Mo¬
ment, das Arnulf berechtigte, Ariald als den Urheber der Pataria
zu bezeichnen. Denn hatte auch Anselm Anlaß genommen, von der
Kanzel aus im Sinne der cluniazensischen Reform zu wirken, so hatte
er doch den Gebrauch gewaltsamer Mittel verschmäht. Darin aber
gerade lag doch für Arnulfs Auffassung das Wesen der Pataria, daß
sie den kirchlichen und seit Landulfs Eintritt in die Bewegung auch
den politischen Umsturz, der schließlich den religiösen Gedanken
überhaupt verdrängte 8 ), auf ihr Programm geschrieben hatte.
Es läßt sich demnach zusammenfassend sagen: Landulfs Be¬
richt verdient Glauben, daß Anselm als Bischof von Lucca neuer¬
dings an Weihnachten 1056 in die Mailänder Reformbewegung
eingegriffen habe, nachdem er bereits zu Beginn der fünfziger
Jahre als Reformprediger aufgetreten war. 4 ) Insofern kann er
als (geistiger) Begründer der Pataria betrachtet werden. Faßt
*) Vgl. Krüger I, S. 4.
*) Landulf u. Erlembald gehörten ja wohl auch zum hohen Adel;
aber man spürt es der Darstellung Arnulfs förmlich an, wie peinlich ihm
deren Teilnahme ist. III, 10 sagt er von Landulf; quasi generosiorem
et ad hoc ydoneum. Vgl. seine Bemerkung über dessen Tod III, 16. —
Beide erscheinen durchaus im Schlepptau Arialds, gleichsam als dessen
Opfer: III, 10: (Arialdus) praevidit aplicare sibi Landulfum ... familiaris
eius factus assecla. III, 16: Arialdus... instigat Arlembaldum assidue...
qui . . . quasi fratemae gratia pietatis opus sibi praesumpsit indebitum,
Arialdi verbis adeo credulus, ut quos frater flagellis ceciderat, ipse per-
cutiat scorpionibus ....
*) Vgl. Wattendorf S. 43.
4 ) An diese Predigten knüpfte vielleicht Ariald an (vgl. Giesebrecht,
Kaiserzeit 4 III, S. 30), als er im Spätherbst 1056 seine Reformtätigkeit in
Varese, einem Dorfe in Mailands Nähe, begann. Als er hier scheiterte,
ging er nach Mailand und fand an Weihnachten Anselms von Lucca er¬
wünschte Unterstützung.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 185
man jedoch die Pataria als die kirchliche und politische Umsturz¬
bewegung ins Auge, die Mailand unter Rom beugte und des Erz¬
bischofs Macht beseitigte, wodurch der Demokratie der Weg in
die Zukunft geebnet wurde, so bleibt ihr Auftreten in der Öffent¬
lichkeit mit dem Namen Arialds aus Cuziago verbunden.
3. Zur Chronologie der Synode von Fontanetto.
Es handelt sich hier zunächst um die Frage: an welchen Papst
sind die ersten Hilferufe der von der Pataria bedrängten ambro-
sianischen Geistlichkeit gerichtet? Von der Beantwortung dieser
Frage hängt die Datierung der Synode von Fontanetto ab, die
von eben jenem Papst zur Schlichtung der Wirren in Mailand
dem Erzbischof Wido abzuhalten anbefohlen ward.
Arnulf läßt jenes Hilfegesuch an Stephan IX. ergangen
sein. 1 ) Nun aber macht Meyer von Knonau im Anschluß an Lind-
ner 2 ) und Wattendorf 8 ) nachdrücklich darauf aufmerksam, daß
diese Angabe des Mailänder Chronisten sich mit anderweitigen
urkundlichen Daten nicht wohl vereinbaren lasse. 4 ) Denn am
2. August 1057 war die Wahl Friedrichs von Lothringen, des
Kardinals und Kanzlers Leos IX., zum Nachfolger Viktors II.
auf dem Stuhl Petri erfolgt. Am 20. August aber weilt Wido,
wie schon im vorigen Abschnitt erwähnt, bereits in Deutschland
am Hofe Heinrichs IV., den er vor Mitte Oktober nicht verlassen
zu haben scheint. 5 ) Könnte nun auch in jene knappe Frist
von 18 Tagen das Hilfegesuch des mailändischen Klerus fallen,
so kann doch die anberaumte Synode nicht in dieser Zeit abge¬
halten worden sein. Zudem erkennt diese Auffassung in der päpst¬
lichen Antwort nicht den Charakter Stephans IX., der „nach
seiner Parteistellung, seinen engen Verbindungen mit den Män¬
nern der kirchlichen Reform durch eine solche Abwieglung sich
selbst verleugnet hätte“. 6 ) Vielmehr entspreche „dieser Bescheid
in seiner sachlichen und ruhigen Haltung“ 7 ) den Anschauungen
J ) Arn. III, 12. *) Anno der Heilige, S. 17, Nr. 3.
•) a. a. O. S. 44f. 4 ) Jb. I, S. 69,672.
*)' Daß er sich auch noch Ende November am Hofe aufgehalten habe
(Meyer von Knonau I, S. 73; Wattendorf S. 46), kann durch Bonithos
zweifelhafte Bemerkung (Ja ff6 II, S. 640) nicht belegt werden.
•) Meyer von Knonau I, S. 69. *) Wattendorf S. 44.
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Viktors II. — und die zeitlichen Bedenken machen diese letztere
Annahme höchst wahrscheinlich; demzufolge müßte auch die
Synode von Fontanetto noch in den Pontifikat Viktors II. fallen:
Meyer von Knonau nimmt den Juli an. 1 )
Freilich legen sich bei dieser Ansetzung die Dinge zunächst
viel passender zurecht als bei jener, welche die Synode erst durch
Stephan IX. berufen werden läßt. 2 ) Aber die eine Schwierigkeit
bleibt vor allem in ihrer ganzen Bedeutsamkeit bestehen, daß
Arnulf so ganz ohne Schwanken das erste verhängnisvolle Ein¬
greifen Roms in die ambrosianischen Kirchenverhältnisse an den
Namen Stephans IX. knüpft. 8 ) Ob sich der Wert dieser Tatsache
mit der Bemerkung Meyers von Knonau ganz beiseite schieben
läßt, „daß Arnulf Viktor II. nie, Stephan IX. nur dieses einzige
Mal nennt; eine Verwechslung der Namen ist bei dem wohlerfah¬
renen, doch immerhin nach den Ereignissen schreibenden Autor
nicht ausgeschlossen“ 4 ), darf füglich bezweifelt werden. Sicher¬
lich ist auch bei dem gewissenhaften Arnulf ein Irrtum immer noch
möglich. Allein im vorliegenden Falle scheint doch alles weit
eher dafür zu sprechen, daß Arnulfs Angabe durchaus auf Richtig¬
keit beruhe.
Es war nicht Parteileidenschaft, die ihn verleitet hätte, in der
Anordnung Stephans IX. ein an sich unberechtigtes oder gar un¬
bedingt verwerfliches Streben zu brandmarken 5 ), die ambro-
sianische Kirche um ihre gerühmte Selbständigkeit zu brin¬
gen. Er tritt zwar durchaus für die Ehre und die Autonomie
der Kirche des hl. Ambrosius ein; aber den geschichtlichen Not-
x ) a. a. O. I, S. 672, Nr. 11. — Lindner S. 17, Nr. 3 nimmt eine ver¬
mittelnde Stellung ein (wie übrigens bereits Migne, PL. 143, col. 1447, Nr. 9),
wenn er meint: „Die Anordnung der Synode muß schon Viktor getan
haben; wahrscheinlich trat sie aber erst in den ersten Tagen seines
Nachfolgers zusammen.“
*) So Krüger II, S. 21, Nr. 2 (setzt September an); Will, Restauration II,
S. 123L; Höfler, Die deutschen Päpste II, S. 276; Giulini, IV, p. 19f
*) Vgl. Hauck, Kirchengeschichte ,/4 III, S. 694, Nr. 6: „Die Nach¬
richt (Am III, 12) wird von den meisten Forschem verworfen und viel¬
mehr auf Viktor II. bezogen. Die Gründe scheinen mir jedoch nicht
ausreichend “ 4 ) a. a. O. I, S. 67, Nr. 29.
*) Wie Land. III, 16 tut, wenn er die Anordnung der Synode, die
er überdies nach Novara (Fontanetto liegt allerdings bei Novara) verlegt,
dem ihm besonders mißliebigen Alexander II. zuschreibt.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
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Wendigkeiten steht er nicht blind und ablehnend gegenüber:
nach Erlembalds Tod z. B. stellt er sich seiner Vaterstadt als
Gesandter an Gregor VII. zur Verfügung, um dessen Aussöhnung
mit Mailand zu erwirken. Und wenn er auch am päpstlichen
Primat selbstredend festhält 1 ), so tritt er doch mit freier Stirne
der römischen Politik entgegen, wenn sie ihm übers rechte Ziel
zu schießen scheint 2 ); und zumal in Sachen der Mailänder Kirchen¬
disziplin glaubt er Roms Eingreifen überflüssig, da hier der Erz¬
bischof zuständig sei. 8 )
Nun knüpften sich aber gerade an die Synode von Fonta-
netto alle jene Weiterungen, die zu den häufigen römischen Ge*
sandtschaften 4 ) führten, welche die Pataria mit Rat und Tat nach-
drücklichst unterstützten und so zur Untergrabung der ambro-
sianischen Selbständigkeit geflissentlich ihr Teil beitrugen. Der
Name des Mannes, der zu dieser folgenschweren Entwicklung die
ersten Schritte tat, mußte sich dem Gedächtnis eines eben so klar
wie billig denkenden Autors, wie es Arnulf war, unauslöschlich
einprägen. 5 ) Daß er ihn nur dies eine Mal nennt, mag teils in der
l ) Am. V, 7: ... Romana certe numquam errasse perhibetur ec-
clesia . . ., a Romana ergo ecclesia, quicumque dissentit, non est revera
catholicus, quemadmodum ait beatus Ambrosius. — Das sagt er nun
freilich nach seiner Gesinnungsänderung 1077. Aber schon vorher hatte
er dieselbe Überzeugung geäußert; z. B. III, 17 wendet er sich gegen
die Verleihung des vexillum S. Petri an Erlembald, setzt jedoch sofort
hinzu: haec . . . dicentes non adversamur vobis, o seniores Romani, cum
magister noster dicat Ambrosius: cupio in Omnibus sequi Romanam
ecclesiam. vobiscum enim credimus, vobiscum cunctas haereses abdicamus.
*) III, 13: Arialdus . . . celeriter adeptus est Romanorum gratiam.
qui cum principari appetant iure apostolico, videntur veile dominari
omnium et cuncta suae subdere ditioni (im Widerspruch zu Luc. 22, 25)
— Vgl. III, 14: Peter Damiani beansprucht 1059 als römischer Legat
den Vorsitz in der Kirchenversammlung, quia Romanus erat.
*) III, 15 z. B. bemerkt er zum Wirken der Legaten: nonne satius
vester hoc procuraret episcopus? forte dicetis: veneranda est Roma in
apostolo. est utique; set nec spemendum Mediolanum in Ambrosio.
certe non absque re scripta sunt haec in Romanis annalibus. dicetur enim
in posterum subiectum Romae Mediolanum.
4 ) HI, 14.
Ä ) Wenn Land. III, 14 wieder einmal sein Herz auf die Zunge
nimmt, indem er Stephan IX. eine „Gottesgeißel“ (flagellum divinum)
nennt, so darf darin doch wohl eine Spur für die Tatsache gefunden
werden, daß Stephan in besonderer Weise einen Einfluß auf die Mailänder
Wirren ausgeübt hatte.
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Ökonomie seines Werkes liegen, das eben hier mehr einen die wich¬
tigsten Tatsachen referierenden Ton aufzeigt, als daß es den ein¬
zelnen Ereignissen Zug um Zug folgte, teils an dem kurzen Pon¬
tifikat, der Stephan IX. zu weiter ausgreifenden, dem Chronisten
denkwürdigen Maßnahmen gerade auch der lombardischen Me¬
tropole gegenüber nicht kommen ließ. Abschließend finde noch
die Bemerkung Platz, daß es im Gegenteil sehr stark auffallen
müßte, wenn der mit ruhiger Überlegung schreibende Arnulf
Stephan IX. namentlich anführte, der bei der Annahme, Vik¬
tor II. habe die Anordnung der Synode von Fontanetto getroffen,
nur durch eine verhältnismäßig unbedeutende, weil gelegentliche
Legatensendung 1 ) die aussichtsreiche Mailänder Reformbewegung
unterstützt hätte — wiewohl er einer der eifervollsten Reform¬
freunde seiner Zeit war.
Indes gerade in diesem Reformeifer sieht ja Meyer von Knonau
eine weitere gewichtige Instanz wider Arnulfs Notiz: die beschwich¬
tigende Antwort des Papstes stimme trefflicher zu Viktors II. An¬
schauungen. In dieser Unbedingtheit ist der Satz zweifelsohne richtig;
allein Meyer übersieht dieSchwierigkeiten, die auch einenStephanIX.
zu einem vorerst gemäßigten Bescheid veranlassen konnten.
Man wußte in Rom um die zähe Liebe der Mailänder zur Selb¬
ständigkeit ihrer Kirche, die als ein köstliches Vermächtnis des
großen Ambrosius festgehalten wurde. Die ambrosianische
Kirche rühmte sich eines eigenen, vom römischen vielfach abwei¬
chenden Ritus 2 ); sie hatte eine eigene Verfassung und war sich
ihrer Stellung und Würde als lombardische Metropole durchaus
bewußt. 8 ) Und der Bedeutung des ausgedehnten Erzsprengels 4 )
*) Hildebrand u. Anselm von Lucca auf ihrer Reise an den deutschen
Hof; vgl. unten S. 192 f.
*) Vgl. Päch S. 17: Krüger I, S. 17.
*) Vgl. Arn. I, 18: Erzbischof Arnulf bannt 1008 den von Kaiser
Heinrich II. investierten und von Papst Johann geweihten Bischof Olderich
von Asti, weil beides mit Ausschluß seiner Kompetenz geschehen, und zwingt
ihn mit Waffengewalt zu schimpflicher Buße (vgl. Krüger I, S. 17). — Die
angeblich geplante Aberkennung des von Konrad II. an Aribert verliehenen
Investiturrechts auf das Bistum Lodi führt zum Aufstand der Mailänder;
vgl. oben S. 172 u. Pabst S. 18 ff.
*) Über ao Bistümer; vgl. Wattendorf S. 39; Krüger I, S. 17; Wicher-
kiewicz, Die kirchl. Stellung der Erzbischöfe von Mailand z. Z. der Pataria
(Breslau 1875) S. 35.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria 18g
hatte man noch von Rom aus vor einem Menschenalter, in den
Glanztagen des gewaltigen Aribert II., Rechnung tragen müssen,
indem Mailands Vorrang vor dem Ravennaten auf der römischen
Synode von 1027 festgesetzt wurde. 1 )
Wenn man ferner in Rom auch von der Eindringlich¬
keit und Wucht der aus dem vollen Kirchenschatz schöpfenden
Reformpredigten einen sicheren Erfolg erwarten durfte, so waren
doch die Zeiten noch in ziemlicher Nähe, in denen das Papsttum
einen unerhörten Tiefstand gezeigt hatte, aus dem es erst durch
die Energie des deutschen Kaisers gerissen worden war. Gerade
die maßgebenden Kreise Mailands aber neigten im Wesen doch
überwiegend nach Deutschland — bei allen Trübungen unter
Konrad II. —, und so mußte hier bei der scharfen Gefahr der
Reformtendenzen für Mailands politische, soziale und kirchliche
Interessen mit einer bedeutenden Gegnerschaft gerechnet werden.
Die Gemeinsamkeit der bedrohten Interessen vermochte aber
weiterhin wohl auch das kühle Verhältnis des Erzbischofs zu sei¬
nen Lehensleuten zu bessern. Und bei Widos Stellung zum deut-
schen Hofe lag eine Verbindung Mailands mit der kaiserlichen
Regierung zur Wahrung der kirchlichen und politischen Rechte
der lombardischen Hauptstadt sehr nahe. 2 ) Denn der Schützling
Heinrichs III. genoß vermutlich auch die Sympathien der Re¬
gentschaft; und lag diese auch in den Händen einer Frau, so mußte
immerhin mit dem entscheidenden Rat energischer Vertrauter,
die noch aus des verstorbenen Kaisers Schule stammten, gerechnet
werden: dann lief die Reform Gefahr, zum wenigsten ihr straffes
Wirken im Dienste der römischen Hierarchie in Frage gestellt
zu sehen. Daß von hier aus freilich nichts zu besorgen stand,
lehrte die allernächste Zukunft.
*) Vgl. Pabst S. 17. Mansi XIX, p. 627 führt allerdings eine päpstl.
Urkunde von 1047 an, die dem Ravennaten den Vorrang vor Mailand
zuerkennt Wicherkiewicz, a. a. O. S. 19, sieht darin eine Fälschung und
stellt sich somit auf die Seite von Pabst. — Land. III, 4 läßt auf der
röm. Synode vom April 1050 Wido ebenfalls den Vorrang vor Ravenna
behaupten (Bedenken gegen diese Notiz bei Krüger II, S. 10, Nr. 2;
Wicherkiewicz S. 19).
*) Vgl. (von einer anderen Seite aus) Heinrichs Eintreten für die
Interessen der Bürger von Mantua und Ferrara; Steindorff, Jb. II, S. 314 f.;
Handloike S. 115.
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Ein diplomatisches Vorgehen in Sachen des klagenden Klerus
von Mailand war aber um so notwendiger, als Stephan IX. ohne
jedes Zutun der deutschen Regierung den Stuhl Petri bestiegen
hatte, nach den Tagen eines Heinrich III. eine grundstürzende
Neuerung. Wie würde man sie in Deutschland aufnehmen?
Und nicht genug damit: daß Stephan IX. der Bruder des alten
und zähen Gegners Heinrichs III., Gotfrieds von Lothringen,
war, mußte unter allen Umständen schwer in die Wagschale
fallen. 1 ) Denn nachdem sich Gotfried mit dem deutschen Hofe
verglichen hatte und nach Italien zurückgekehrt war, aus dem
er vor Heinrich hatte weichen müssen, lag in den Händen des
lothringischen Brüderpaares nunmehr die Leitung der italieni¬
schen Dinge.*) Und wo wollte der brennende Ehrgeiz eines Got¬
fried seine Schranken finden?*)
Und wenn sich schließlich Stephan mit dem ernstlichen Plane
trug, die Normannenfrage, die für Rom allmählich eine bedroh¬
liche Gestalt angenommen hatte 4 ), endgültig zur Lösung zu brin¬
gen, indem er — nicht im Sinne Hildebrands, wie es dann unter
Nikolaus II. geschah 6 ) — nichts geringeres als die. gänzliche
Vertreibung der unermüdlichen Eroberer aus Unteritalien als das
Ziel seiner Politik anstrebte, so brauchte er, wenn er aus gewissen
Rücksichten auf seinen Bruder die militärische Unterstützung
des Reichs nicht in Anspruch nehmen wollte, doch Rückenfreiheit
gegen dasselbe.®) Aus all diesen Erwägungen heraus gewann
wohl Stephans Weitblick die Überzeugung, die Reformbewegung
in Mailand auf Wegen zum Ziele führen zu müssen, die einen ver¬
hängnisvollen Konflikt mit der deutschen Regierung umgingen.
Somit dürfte auch aus der ganzen politischen und kirchlichen
*) Martens, Heinrich IV. u. Gregor VII. S. n.
*) Meyer von Knonau I, S. 32: vgl. Lindner a. a. O. S. 14.
*) Vgl. seine Charakteristik bei Hauck, Kirchengesch. */ 4 III, S. 670. —
Über seinen gewaltigen Besitz vgl. ebenda S. 671: Meyer von Knonau I,
S. 32; Wattendorf S. 5if.
4 ) Heinemann, L. v., Geschichte der Normannen I, S. 160 ff. Hauck
a. a. O. S. 688 ff.
6 ) Heinemann I, S. 171fr. Meyer von Knonau I, S. 77 f.
•) Zumal er ja auch mit dieser Politik in einen gewissen Gegensatz zu
der des verstorbenen Kaisers trat, der mit den Normannen freundliche Be¬
ziehungen angeknüpft hatte, vgl. Heinemann I, S. 107f.; Hauck */ 4 III, S.688.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria igi
Lage auf Arnulfs Angabe ein bestätigender Schluß gezogen
werden. 1 )
Wann ist nun die Synode von Fontanetto anzusetzen? Da
Wido erst Ende Oktober wiederum in seiner Metropole anwesend
zu denken-ist, kann sie vor dieser Zeit nicht stattgefunden haben.
Sie muß aber Ende November bereits gehalten gewesen sein,
wie aus dem Folgenden sich ergeben wird.
Wie Arnulf berichtet 2 ), ging Ariald sofort nach Beendigung
der Synode von Fontanetto nach Rom. Zweck dieser Reise war,
sein und seines Genossen Landulf widerspenstiges Verhalten der
Synode gegenüber, die sie für ihr hohnvolles Wegbleiben und
ihr rechtswidriges Reformtreiben mit Exkommunikation belegt
hatte, persönlich zu rechtfertigen, für die Pataria den notwendi¬
gen Anschluß an die römische Kirchenpolitik zu erwirken und
womöglich eine Kassation des Synodalurteils herbeizuführen,
was ihm denn auch wider Erwarten gut gelang. 8 )
Der Schwerpunkt dieses Erfolgs, der die ambrosianische
Kirche einfach ignorierte, lag indes auf einer anderen Seite: Rom
hatte nun erkannt, wie und wo es den Hebel einzusetzen hatte,
um sich mit Hilfe der Reform in der annoch kirchlich ziemlich
selbständigen Lombardei unbestritten durchzusetzen. Denn ei¬
nerseits hatte sich Wido nicht als der Mann erwiesen, der das Erbe
eines Aribert II. zu wahren imstande war; man konnte mit
Grund darauf bauen, daß auch seine Stellung innerhalb Mai¬
lands stark untergraben sei; und schließlich war durch den Be¬
schluß der Synode deutlich an den Tag getreten, daß Wido mit der
Reform zu gehen auch jetzt wenig Neigung bezeigte; denn sonst
hätten neben die Exkommunikation auch positive Maßnahmen
treten müssen.
Anderseits bot das durch nichts zu entmutigende Verhalten
Arialds und seiner Anhänger der römischen Realpolitik den
denkbar günstigsten Anhaltspunkt für ein ferneres wirksames
Eingreifen in Mailand: die ganze Wucht der niederen autoritäts-
*) Zur Ergänzung mag noch angeführt werden, daß auch Bonitho
(Jaff<6 II, S. 640) Stephan IX. als den ersten Papst nennt, der in die
patarenische Bewegung eingriff. Auch Andr. c. II, § 15 scheint mit dem
Hinweis auf die häufigen Synoden Stephan IX. im Auge zu haben.
*) III, 13. ») Vgl. Päch S. 23 f.; Krüger II, S. 22.
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süchtigen Volksmassen mußte im Dienste der Reform für Roms
auf keimende Weltherrschaftspläne ausgenützt werden: Stephan IX.
griff zu dem für die römische Politik so charakteristisch geworde¬
nen Mittel der Legatensendung. 1 )
Hildebrand war bereits mit der schwierigen Mission an den
deutschen Hof betraut, vor allem die nachträgliche Zustimmung
der Regentschaft zur Erhebung Stephans IX. zu erwirken. 2 )
Ganz geschickt ließ sich nun diese Reise über Mailand einrichten,
wo die Gelegenheit, die ganze Sachlage aus eigener Anschauung
kennen und beurteilen zu lernen, auch für etwaige Besprechungen
am königlichen Hoflager von nicht zu unterschätzender Bedeutung
war. 8 ) Und daß auch diese Frage angeschnitten würde, stand
mit Sicherheit zu erwarten, da ja Wido sich im verflossenen Spät¬
sommer bis in den Herbst hinein am deutschen Hofe aufgehalten
hatte, um eine Entscheidung desselben über die Pataria und deren
vermeintliche Seele, Anselm von Lucca, den er ja mit sich ge¬
nommen hatte, herbeizuführen. Nun aber war derselbe Anselm
in der Zwischenzeit bereits in Rom gewesen 4 ): er hatte somit,
die Kurie von der Stimmung am deutschen Hofe zuverlässig
unterrichten können. Und wußte er „vielleicht von dem Auf¬
sehen zu erzählen, welches die Kühnheit der Kurie verursacht
hätte, wie man höchst erbittert sei über diese Verletzung eines
guten Rechts und die Wahl nicht anerkennen wolle“ 6 ), so mußte
es ein ausgleichender Ersatz sein, daß Wido beim Hofe in seinen
Bemühungen keine Unterstützung gefunden hatte.
Und derselbe Mann hatte bereits eine wertvolle Tätigkeit
in der Reformbewegung entwickelt: wie überaus glücklich fügten
sich alle Umstände zusammen, um die römische Politik siegreich
vorwärts zu treiben; und nun lag sie noch zudem in den kundi¬
gen, kraftvollen Händen eines Stephan, Hildebrand, Peter Da-
miani! Mailands Schicksal war endgültig besiegelt.
Zusammen machten sich Hildebrand und Anselm von Lucca
auf den Weg, um in Mailand eine kurze, aber instruktive Tätigkeit
') Vgl. K. Müller, Kirchengesch. I, S. 426.
*) Meyer von Knonau I, S. 53. *) Lindner a. a. O. S. 17.
4 ) Am 18. Oktober, wie aus einer Urkunde für das Domkapitel von
Lucca hervorgeht: Jaflfe Nr. 4373: Mansi XIX, p. 865.
®) Wattendorf a. a. O. S. 31.
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Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria ig^
zu eröffnen 1 ) und dann am königlichen Hoflager ohne besondere
Mühewaltung die Anerkennung Stephans IX. zu erreichen. 1 )
Am 27. Dezember waren sie in Pöhlde am Harz. 3 ) Es ist somit
anzunehmen, daß sie Anfangs Dezember Rom verließen. Bringt
man noch die Zeit in Abzug, die Ariald zu seiner Reise nach Rom
benötigte, so wird die Synode von Fontanetto in die zweite
Hälfte des November 1057 zu setzen sein. 4 )
Ein letzter Punkt bedarf noch kurz der Erörterung: in welchem
Verhältnis stand Wido zur Berufung der Synode von Fonta¬
netto ?
Man könnte zunächst versucht sein, aus Arnulfs Worten*)
eine ziemliche Bereitwilligkeit des Erzbischofs herauszulesen, der
römischen Anordnung Folge zu leisten. Indes ist dies doch nur
mit einer gewissen Einschränkung anzunehmen. Denn offenbar
war der verfolgte Klerus von Mailand in Rom vorstellig geworden,
ohne im Einverständnis mit Wido zu stehen. 6 ) Und das ist nicht
verwunderlich. Denn die Bedeutung der Persönlichkeit Widos
mag noch so gering angeschlagen werden: Rom zu dem längst
ersehnten Eingreifen in eine zunächst örtliche und. innerkirchliche
Angelegenheit Mailands zu veranlassen, dazu konnte sich auch
ein so ungleicher Nachfolger eines Aribert unmöglich verstehen.
Freilich kam seine beschämende Untätigkeit, die bereits von den
Zeitgenossen bitter beklagt wurde 7 ), der sachlichen Notwendig¬
keit einer römischen Einmischung gleich.
Wo liegen die Gründe für diese verhängnisvolle Säumnis?
*) Bon. VI (Jaffd II, S. 640). Land. III, 13 ist in seiner Polemik
abzulehnen; vgl. Päch S. 24; Meyer von Knonau I, S. 72f.
*) Meyer von Knonau I, S. 53.
*) Gundechar, lib. pont. Eichst. (MG. SS. VII, p. 246).
4 ) Wenn Meyer von Knonau I, S. 672, Nr. 11 die Synode glaubt in
den Juli 1057, noch unter Viktor II., setzen zu sollen, so dürfte er auch
mit Am. III, 12 in Zwiespalt kommen, der offenbar die Beschwerden
des ambrosianischen Klerus in Rom vorgebracht denkt. Viktor II. weilte
aber seit Ende Mai bis zu seinem am 28. Juli erfolgten Tode gar nicht
in Rom (JafhS Nr. 4367—4370). ®) III, 12: qua fretus auctoritate.
®) ib.: clerus . . . conquestus est legatione humili primo compro-
vincialibus episcopis, deinde Romano pontifici. — Auch das Versagen der
ambrosianischen Suflragane ließe sich am ehesten durch Widos Gleich¬
gültigkeit gegen seinen bedrängten Klerus erklären.
T ) z. B. Land. III, 5, 7, 16; vgl. Meyer von Knonau I, S. 67.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 I ?
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ig 4 Jos. Goetz — Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria
Sie sind in der Zwielichtspersönlichkeit des Erzbischofs zu su¬
chen.
Ein offensichtlich schwacher und schwankender Charakter 1 ),
der vollends infolge des durch nichts verdienten hohen Aüfsteigens
zur Wörde des lombardischen Metropoliten die Sicherheit des
selbstbestimmenden Willens verloren hatte; von ziemlicher Un¬
bildung 2 ), der jeder politische Scharfblick und jedes natürliche
Geschick zu diplomatischer Folgerichtigkeit des Handelns abging;
von der unfruchtbaren Saturiertheit eines Emporkömmlings, der,
aus kleinen Verhältnissen durch Fürstengunst emporgehoben, nach
Befriedigung seines persönlichen Ehrgeizes jeglichen Sinn für
soziale Tugenden und Pflichten eingebüßt hat und der desto weniger
ein fürsorgendes Herz für seine Untergebenen hat, je mehr er von
der äußeren Würde seiner hohen Stellung im tiefsten eingenommen
ist: so stand Wido an der Spitze der Mailänder Erzkirche.
Den Gegensatz, in dem der Emporkömmling zum Adel stand,
hatte er in zehn Jahren kaum zu mindern verstanden, und für den
Ausgleich der politisch-sozialen Forderungen der niederen Stände
hatte er so gut wie nichts getan: er wiegte sich in einer blinden
Sicherheit, aus der er sich nicht einmal durch die rasch anschwel¬
lende Reformbewegung ernstlich herausreißen ließ. Wohl kam
es zu Auseinandersetzungen mit den Führern der Pataria 8 ),
aber alle Maßnahmen gipfelten schließlich in billigen Ermahnungen,
die natürlich nichts fruchteten. 4 )
Als dann im Sommer 1057 die Dinge in Mailand auf Spitz
und Knopf standen, da tat Wido einen Schritt, der ihn von neuem
so recht scharf zeichnet: er ging nach Deutschland, wo er diesmal
freilich keinerlei Verständnis und Unterstützung fand. Bei seiner
zögernden Heimkehr in seine Metropole fand er nun wohl die
Anordnung einer Synode vor, die er wohl oder übel in Fontanetto
abhielt. Aber auch das Ergebnis dieser Synode war nur ein
Ausfluß seiner anmaßlichen Schwäche: die Pataria hatte zu
tiefe Wurzeln gefaßt, um von der Exkommunikation ihrer Führer
mehr als obenhin getroffen zu werden.
*) Vgl. den Gesandtschaftsbericht Peter Damianis (Mansi XIX, p. 888),
dazu Am. III, 14. *) Bon. VI (Jaff 6 II, S. 638): vir illiteratus.
*) Am. III, 12. Land. III, 6. 7. Vgl. Hauck, Kirchengesch. 8 / 4 III, S. 694.
4 ) Vgl. Krüger II, S. 20.
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DIE EMPFINDSAME NATURBETRACHTUNG
IM MITTELALTER.
VON W. GANZENMÜLLER.
Überall, wo durch wachsende Kompliziertheit der kulturellen
Verhältnisse eine Spannung zwischen Natur und Kultur hervor¬
gerufen wird, entsteht eine eigenartige Betrachtung der Natur,
die man empfindsam nennen kann. Sie besteht darin, daß der
einzelne namentlich unter der Wucht einer alles beherrschenden
Leidenschaft oder eines alles übertönenden Schmerzes sein per¬
sönliches Empfinden für so wichtig hält, daß er die ganze Natur
nur als einen darauf abgestimmten oder davon abstechenden
Rahmen betrachtet, sie in parallele oder antithetische Beziehung
zu seinen Gefühlen setzt. Die antithetische Empfindungsweise
ist aber nur die Vorstufe zu der Erkenntnis des Gegensatzes zwi¬
schen der leidenschaftlichen Unruhe und Unvollkommenheit des
eigenen Inneren und der Ruhe und Geschlossenheit der Natur.
Daraus entsteht eine sentimentale Sehnsucht nach der Natur,
deren klassische Formulierung Schiller in seiner Abhandlung
„Über naive und sentimentalische Dichtung“ gegeben hat: „Unser
Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die
Gesundheit.“
Und diese empfindsame Naturbetrachtung, wie sie in der Kul¬
tur des Hellenismus und dann wieder unter ähnlichen Bedingungen
im 18. Jahrhundert sich findet, soll auch im Mittelalter vorhanden
gewesen sein? Für die Troubadours und Minnesänger wird man
allenfalls geneigt sein eine solche zuzugeben. Die folgende Abhand¬
lung soll versuchen, zu zeigen, daß die empfindsame Naturbetrach¬
tung auch der ersten Hälfte des Mittelalters nicht fremd war,
daß sich vom ausgehenden Altertum bis zu den Troubadours ein
Zusammenhang der Ausdrucksformen nachweisen läßt.
Wenn die Stellung des Menschen zur Natur vom ausgehenden
Altertum zur Neuzeit eine sinnvolle Entwicklung überhaupt durch¬
gemacht hat, so läßt sich diese bloß durch Vergleichen der Aus¬
drucksformen feststellen. Das Studium des Stofflichen führt hier
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nur zu der Erkenntnis, daß gewisse Dinge, wie Vogelsang im Früh¬
ling und fallendes Laub im Herbst, von allen Völkern bemerkt
werden; die etwaige Verschiedenheit ist hier nur eine klimatisch
bedingte, nicht eine durch den Volkscharakter veranlaßte. Erst
die Art, wie die natürlich gegebenen Elemente in bestimmte An-
schauungs- und Ausdrucksformen eingehen, kann Gegenstand einer
zweckvollen wissenschaftlichen Untersuchung sein. Der Grund,
warum an Stelle dieses Problems der Form die Sammlung und
Betrachtung des Stofflichen bis jetzt im Vordergrund gestanden
hat, ist darin zu suchen, daß zunächst einmal die Ansicht widerlegt
werden mußte, es habe das Mittelalter keine oder wenigstens keine
selbständige Art des Naturgefühls gekannt. Meist ist es bei der
Konstatierung der Tatsache geblieben. Man fand — was von vorn¬
herein nicht anders zu erwarten war — zahlreiche Spuren eines mit¬
telalterlichen Naturgefühls, begnügte sich aber damit, sie als Aus¬
klang des klassischen oder als Vorstufe des modernen Naturgefühls
auf zwei große Haufen zu verteilen. 1 ) So bleibt schließlich in der
Mitte überhaupt nichts mehr übrig. Die Eigenart des mittelalter¬
lichen Naturgefühls läßt sich so natürlich nicht fassen 2 ); der
spezifische Eigenwert des mittelalterlichen Naturgefühls wird
gerade dadurch am deutlichsten werden, daß man zeigt, wie in
derselben Form sich ein anderer Inhalt findet; je ähnlicher die Aus¬
drucksform, um so auffallender der Unterschied des Inhalts.
Es sind also zunächst die Ausdrucksformen des empfind¬
samen Naturgefühls festzustellen, wie sie das ausgehende Altertum
der beginnenden christlichen Literatur zur Verfügung stellte. Be¬
reits innerhalb der klassischen Literatur selbst hat die parallele
*) Das ist der Hauptfehler des älteren Werks von Biese. Das eigent¬
liche Mittelalter kommt hier sehr schlecht weg, nicht bloß weil B. ihm
in seiner Darstellung zu wenig Raum gönnt, sondern vor allem, weil er
die Quellen auch nicht annähernd ausgeschöpft hat. Demgegenüber ist
es das Verdienst einer Arbeit von G. Stockmayer (Über Naturgefühl in
Deutschland im 10. u. 11. Jahrhundert, Beiträge zur Kulturgesch. d. MA.
und der Renaissance, hrsg. von Goetz, Heft 4), ein zeitlich und räumlich
begrenztes Gebiet erschöpfend behandelt zu haben. Zuzugeben ist aller¬
dings, daß die räumliche Begrenzung nur aus äußeren Gründen, nicht
aus dem Gegenstand heraus gewählt worden ist.
*) Darüber mein demnächst bei B. G. Teubner erscheinendes Buch
über diesen Gegenstand.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter iqj
und antithetische Naturbetrachtung eine Entwicklung durch¬
gemacht. Aus einem Ausdruck echten Gefühls ist immer mehr
eine schematisch verwendete leere Form geworden. 1 ) In der
5. Ecloge Vergils trauert das Vieh um den Tod des Hirten Daphnis*),
und der Acker trägt Unkraut statt der Feldfrüchte, Dornen und
Disteln statt der Veilchen und Narzissen. 3 ) Da sich unter Daphnis
bekanntlich Cäsar verbirgt, so haben wir hier schon ein Beispiel
dafür, wie die nur aus einer großen Leidenschaft heraus verständ¬
liche empfindsame Naturbetrachtung ihres sie rechtfertigenden
Gefühlsinhalts entleert und zur höfischen Schmeichelei für die
Person des gefeierten Herrschers verwendet wird. Diese erst
durch den Kaiserkultus mögliche Form 4 ) wird im ausgehenden
Altertum ungemein häufig angewandt und auch in der eigentlichen
Liebesdichtung wird das echte Gefühl immer mehr verdrängt durch
verliebte Hyperbeln oder schmeichelhafte Übertreibungen der
schlimmsten Art. Am wahrsten klingen solche Versicherungen
noch in dem von echter Freundesliebe eingegebenen Brief des
Ausonius an Paulinus: 5 )
Te sine set nullus grata vice provenit annus.
Ver pluvium sine flore fugit, canis aestifer ardet,
Nulla autumnales variat Pomona sapores
Effusaque hiemem contristat Aquarius unda.
Auch daß der Liebende der Geliebten schreibt 6 ):
Ipsa tuos cum ferre velis per lilia gressus,
Nullos interimes leviori pondere flores,
mag noch hingehen. Wenn aber Claudian zur Verherrlichung
Serenas sagt 7 ):
Te nascente ferunt per pinguia culta humentem
Divitiis undasse Tagum, Callaecia risit,
Floribus et roseis formosus Duria ripis
Vellere purpureo passim mutavit ovile —
*) Im einzelnen s. dazu Biese, Die Entwicklung des Naturgefühls im
Altertum; hier genügt der Hinweis auf folgende Stellen: VergilEcl. I, 38;
VII, 53 u. 60; Ovid Am. II, 16; Her. V, 33; Art. am. III, 55.
*) Ecl. s, 25. *)ebd. 35fr.
4 ) Inwieweit auf die römischen Dichter hier die hellenistischen, die
ähnliche Verhältnisse vorfanden, eingewirkt haben, mag hier ununtersucht
bleiben.
’ 6 ) MG. Auct. ant. V, 2, 190. *) Riese, Anthologie I, 217.
’) MG. Auct. ant. X, 70 u. 89.
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und Quacunque per herbam
Reptares, fluxere rosae: candentia nasci
Lilia. Cum placido cessissent lumina somno,
Purpura surgebat violae factura cubile
Gramineum vernatque tori regalis imago —
so erscheint das durchaus gesucht und erkünstelt. Vollends
schablonenhaft wirkt es, wenn das Nahen eines Gottes oder Herr¬
schers eine plötzliche Wetteränderung bewirkt. Am kürzesten ist
das ausgesprochen in dem bekannten Distichon der Anthologie:
Nöcte pluit tota, redeunt at mane serena,
Commune imperium cum Iove, Caesar, agis.
Besonders die hohle Rhetorik Claudians kann sich in diesen
Dingen nicht leicht genug tun. 1 )
Die leere Form hat nun das Christentum mit religiösem In¬
halt erfüllt. Für den Christen gibt es nur einen Herrn der Welt,
und auf ihn wurde alles bezogen. Vor allem freut sich die ganze
Natur über Christi Auferstehung; das ist ein beliebter Gedanke,
den besonders Ambrosius von Mailand gern ausgeführt hat: 2 )
In resurrectione Christi elementa omnia gloriantur. Nam et solem
ipsum arbitror esse in hoc die solito clariorem. Necesse est enim,
ut sol in eius resurrectione gaudeat, in cuius passione condoluit
et cuius mortem lugubri quadam caligine prosecutus est, eiusdem
vitam nitidioris lucis splendore suscipiat.
Die Beziehung zwischen dem Neuerwachen der Blumen und
der Auferstehung Jesu enthält eine andere Predigt des Ambro¬
sius: 8 ) Ergo in hortulo salvator redivivum corpus assumit et inter
florentes arbores et candentia lilia carne iam mortua reflorescit
et ita germinat de sepulcro, ut germinantia et nitentia cuncta
reperiat. Sic enim post hiemalis rigoris frigidam quoddammodo
sepulturam pullulare elementa omnia festinarunt, ut resurgente
domino et ipsa consurgerent. Nam utique ex resurrectione Christi
aer salubrior est, sol candidior, terra fecundior, ex eo surculus in
fruticem, herba crescit in segetem, vinea pubescit in palmitem.
Si igitur cum reflorescit Christi caro, omnia floribus vestiuntur,
necesse est, ut cum idem fructum affert, etiam universafructificent.
*) Vgl. Claud. carm. VIII, 79, Auct. ant. X; ferner Fescenninae XII ;
CX, 184fr.
*) Ambrosii sermo 52. ®) Sermo 62.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter jgg
Denselben Gedanken finden wir in einem Brief des Ruricius
(I, 5, Auct. ant. VIII, 302). So tritt an Stelle der schablonenhaften
Wiederholung ein neues Erlebnis, an Stelle der subjektiven Auf¬
fassung eine objektive. Nicht Freuden und Leiden eines einzelnen
Menschen lebt die Natur mit, sondern die großen Ereignisse der
göttlichen Heilsgeschichte, Geburt, Tod und Auferstehung des
Heilands. Eine Auffassung, die in dem Bericht der Evangelien
von dem Eintritt der Sonnenfinsternis und dem Erdbeben bei
Jesu Kreuzestod 1 ) in gewisser Hinsicht schon vorgebildet war.
Gesucht mutet in diesem Zusammenhang eigentlich nur Pru-
dentius an, dessen Weihnachtsgedicht sich aufs engste an Claudian
anschließt.*)
Quid est quod artum circulum
Sol iam recurrens deserit?
Christusne terris nascitur
Qui lucis augit tramitem?
Heu quam fugacem gratiam Sparsisse tellurem reor
Festina volvebat dies! Rus omne densis floribus
Quam paene subductam facem Ipsasque arenas Syrtium
Sensim recisa exstinxerat. Fragrasse nardo etnectare.
Te cuncta nascentem puer
Sensere dura et barbara
Victusque saxorum rigor
Obduxit herbam cotibus.
Ohne antikes Vorbild ist aber der Gedanke der ersten Strophe,
der das Längerwerden der Tage in Parallele setzt mit der Erschei¬
nung dessen, der das Licht der Welt ist. Ganz ähnlich drückt sich
auch Ambrosius in einer Weihnachtspredigt aus 8 ): Ecce in nativi-
tate Christi dies crescit et Joannis nativitate decrescit. Profec-
tum plane facit dies, cum mundi salvator oritur, defectum patitur,
cum ultimus propheta generatur. Ein ähnlicher Gedanke findet
sich in Sermo XXVI.
Mit der Zunahme der Verehrung der Heiligen konnte es nicht
ausbleiben, daß Ähnliches auch von ihnen erzählt wurde. Ein
Beispiel dafür gibt Hieronymus in der Vita des h. Hilarion : 4 ) Porro
*) Matth. 27,45 u. 52. *) Cathemerinon hymn. XI.
*) Sermo 7 de natali Domini.
4 ) Vita S. Hilarionis 32.
Caelum nitescat laetius,
Gratetur et gaudens humus:
Scandit gradatim denuo
Iubar priores lineas.
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iam triennium erat, quod clausum caelum illas terras arefaceret,
ut vulgo dicerent, Antonii mortem etiam elementa lugere.
Aber die antike Form zu einem Gefäß christlicher Gedanken
einzuschmelzen, gelang nur den Geistern, die die Flammen der
neuen Weltanschauung stark und rein in ihrem Inneren trugen.
Nicht bei allen war das Neue so gewaltig und allbeherrschend.
Viele benutzten den überkommenen Schmuck der spätklassischen
Rhetorik genau so wie die Heiden. Der christliche Bischof Apolli-
naris Sidonius unterscheidet sich vielfach in keiner Weise von dem
heidnischen Dichter Claudian. Noch weniger würde man nach
dem Inhalt seiner Gedichte den Ennodius für einen Christen halten.
Es fehlte diesen schwächeren Geistern ebensosehr die Kraft zu
konsequenter Einseitigkeit als die zu einer organischen Verbindung
des Alten und des Neuen. Das ist bekanntlich erst dem Venantius
Fortunatus geglückt. 1 ) Die innigen Verse, die er beim Tod ihrer
Söhne an Chilperich und Fredegunde richtet, enthalten beide Ele¬
mente: den empfindsamen Naturparallelismus und den religiösen.
Auf Sturm und trüben Nebel, auf harten Winter und traurige Kälte
folgt wieder die Frühlingszeit. Die Flur schmückt sich aufs neue
mit duftenden Blumen, und jeder Hain grünt mit blattreichen
Zweigen. So soll auch das Königspaar nach dem Schmerz über
seinen Verlust sich wieder freuen:
Sic quoque vos domini post tristia damna dolentes
Vos meliore animo laetificate, precor.
Ecce dies placidi revocant paschalia Christi,
Orbs quoque totus item per nova vota fremit. *)
Noch ausführlichere Beschreibung und seinem besonderen Zweck
entsprechend noch stärkeren Hinweis auf die Teilnahme der Natur
an der Auferstehung des Heilands gibt das Gedicht an Bischof Felix*):
Ecce renascentis testatur gratia mundi
Omnia cum domino dona redisse suo.
Namque triumphanti post tristia Tartara Christo
Undique fronde nemus, gramina flore favent.
Salve, festa dies, toto venerabilis aevo,
*) Siehe über ihn Leo in der Deutsch. Rundschau 1882 und beson¬
ders den wertvollen Aufsatz von W. Meyer aus Speyer, Abhdlg. d. Gött.
Ak. d. W., Phil.-hist. Kl., N. F. 4,1901, S. 37 ff. *) Carm. IX, 3.
*) Carm. III, 9. Auf die Parallele Osterfest «* Freude der Natur hat
zu diesem Gedicht schon Ebert hingewiesen. Gesch. d. christl. Lit. I, S. 529.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 201
Hinc tibi silva comis plaudit, hinc campus aristis,
Hinc grates tacito palmite vitis agit.
Si tibi nunc avium resonet virgulta susurro,
Hos inter minimus passer amore cano.
Der hübsche Schlußgedanke, daß der Dichter unter den Vögeln
selbst mitsingt, als der geringste, der Sperling, ist ebenfalls spezi¬
fisch christlich. Im Anschluß an die Worte des Psalmisten (101,8
der Vulgata) galt der Sperling als der Typus des Niedrigen und
Bescheidenen. Auch Alcuin nennt sich so in dem auch sonst be¬
merkenswerten Briefe an Adalhard von Corbie. 1 ) Daß die Blumen
sich an Christi Auferstehung mitfreuen, spricht Venantius auch in
einem Gedicht an Radegunde aus.*)
Aber auch die antike Art des Naturempfindens hat Fortunatus
übernommen und weitergebildet. So schreibt er an Bischof Felix
über die Gegend von Nantes: 3 )
Hinc ubi Humen aquis recreat, hinc pampinus umbris
Et crepitans boreas pineta comata flagellat:
Uber nempe solum, piscoso litore pulchrum,
Sed Fortunato fades tua reddit amoenum.
Ob aus diesen Zeilen echtes Gefühl spricht oder ob sie bloß eine
hergebrachte Floskel wiederholen, läßt sich natürlich nicht ent¬
scheiden. Echtes persönliches Erlebnis spricht dagegen aus den
Gedichten an Radegunde und Agnes. Nichts ist bezeichnender
nicht allein für das Verhältnis dieser drei Menschen, sondern
für die ganze Zeitrichtung. In eigenartiger Weise mischen sich
hier Galanterie und Religion. Wohl finden sich kleine Grüße,
die nur bestimmt sind, einen Veilchenstrauß mit ein paar hübschen
Worten zu begleiten 4 ), oder solche, die den Dank enthalten für
die Übersendung einer hübsch hergerichteten Leckerei, aber häufig
enthalten diese Xenien doch irgendeine religiöse Anspielung.
So sagt er im Hinblick auf eine überreich mit Lilien und Rosen ge¬
schmückte Tafel:
Ubertas florum tanta est, ut flore sereno
Mollea sub tectis prata virere putes.
Si fugitiva placent, quae tarn cito lapsa recedunt,
Invitent epulae nos, paradise, tuae.®)
*) MG. Epist. IV, 299.
*) Carm. VIII, 7. Das Gedicht ist auch sonst bemerkenswert als Be¬
weis der Vorliebe des Dichters für die Blumen.
*) Carm. V, 7. *) Carm. VIII, 6. ®) Carm. XI, 11.
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Ganz besonders aber liebt er die Antithese: ohne die geliebte
und verehrte Frau wird der Tag zur Nacht, ihre Wiederkehr
bringt das strahlende Licht wieder. So schreibt er an Radegunde,
als sie sich zur Erfüllung eines Gelübdes kurz vor Ostern zurück¬
zieht:
Annua vota colens hodie claudenda recurris:
Errabunt animi te repetendo mei,
Lumina quam citius nostris abscondis ocellis!
Nam sine te nimium nube premente gravor
Hoc precor, incolumem referant te gaudia Paschae,
Et nobis pariter lux geminata redit 1 )
Den letzten Gedanken, daß die Freude über das Osterfest für ihn
noch eine besondere Note erhält durch das Wiedersehen mit Rade¬
gunde, führt er dann bei ihrer Rückkehr in einem anderen Gedicht
aus, dessen jubelnde Töne noch heute unmittelbar zum Herzen
sprechen und keinen Zweifel darüber lassen, daß die herkömmlichen
Antithesen für ihn viel mehr als ein konventionelles Spiel sind.
Unde mihi rediit radianti lumine vultus,
Quae nimis absentem te tenuere morae?
Abstuleras mecum, revocas mea gaudia tecum
Paschalemque facis bis celebrare diem ... . f )
Fortunatus kann sich nicht genug tun in der Wiederholung dieser
Parallelen; ohne Freundin kennt er keine Freude an der Natur. 3 )
Quo sine me mea lux oculis errantibus abdit
Nec patitur visu se reserare meo?
Omnia conspicuo simul: aethera, flumina, terram;
Cum te non video, sunt mihi cuncta parum.
Quamvis sit caelum nebula fugiente serenum,
Te celante mihi stat sine sole dies.
Ein andermal schreibt er an Agnes: 4 )
Cui non sufficiant haec tempora longa quietis,
Cum prope nox teneat quot duplicata dies?
Nubila cuncta tegunt, nec luna nec astra videntur;
Si sis laeta animo, me nebulae fugiunt.
So ist es Fortunatus gelungen, die bereits zur nichtssagenden
Formel gewordene Naturparallele wieder mit Leben zu erfüllen.
Daß er das konnte, verdankt er neben seiner eigenen empfindsamen
*) VIII, 9. •) VIII, io.
8 ) Carm. XI, 2.
4 ) Carm. XI, 5, und derselbe Gedanke XI, 21.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter
203
Geistesrichtung vor allem dem Einfluß einer für ihre Zeit selten
feinsinnigen Frauenseele. Der Verkehr mit Agnes und Rade¬
gunde hat ihm das Verständnis eröffnet für weibliches Empfinden.
Es unterliegt deshalb auch keinem Bedenken, ihm das Gedicht
De virginitate zuzusprechen, in dem er die Seelenbraut Christi
klagen läßt: 1 )
Nunc sine te fuscis graviter nox occupat alis
Ipsaque sole micans est mihi caeca dies.
Lilia narcissus violae rosa nardus amomum
Oblectant animos germina nulla meos.
Ut te conspiciam, per singula nubila pendo
Et vaga per nebulas lumina ducit amor.
Ecce procellosos suspecta interrogo ventos,
Quid mihi de domino nuntiet aura meo.
Man möchte geradezu vermuten, daß die überaus starke Ausbil¬
dung empfindsamer Naturbetrachtung auf den weiblichen Ein¬
fluß zurückzuführen ist. Mindestens aber muß man zugeben,
daß sein Verhältnis zu Radegunde es war, das die auch von anderen
gebrauchte Form bei ihm mit lebendigem Inhalt erfüllte.
Mit Venantius Fortunatus bricht die Entwicklung auf dem
Festland ab, um erst in der Karolingerzeit sich fortzusetzen.
In den mir allein (und auch nur unvollständig) zugänglichen latei¬
nischen Schriften der Iren findet sich der besondere christliche
Naturparallelismus nirgends. Dagegen ist ihre Literatur in der
Vulgärsprache voll innigen Naturempfindens.*) Wieweit diese auf
andere Literaturen eingewirkt hat, wäre eine interessante Frage für
Kenner der keltischen Sprachen.
Die wiederauflebende karolingische Literatur knüpft sowohl
an die Alten als auch an Venantius Fortunatus an.. Bei Paulinus
von Aquileia finden wir zwei Gedichte, die die christliche Auffas¬
sung zeigen, eines auf Ostern und eines auf Weihnachten. 8 ) Na¬
mentlich bei Sedulius nimmt der Naturparallelismus einen breiten
Raum ein. 4 )
Haec est alma dies, sanctarum sancta dierum,
Veris pulcher honos signiferique decus.
Hic est namque dies dominus quem fecit lesus,
In quo laetatur cosmicus orbis ovans.
*) Carm. VIII, 3, 335 ff-
*) Vgl. Kuno Meyer, Ancient Irish Poetry.
*) MGP. 1 ,137 u. 144, 4 ) De Paschali festivitate. MGP. III, 218-
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Nun folgt eine Aufzählung der Gestirne, die sich mit freuen, dann
heißt es weiter:
Tellus florigeris turgescit germine bulbis
Floribus et pictum gaudet habere peplum.
Nunc variae volucres permulcent aethera cantu,
Produnt organulis celsa trophea novis,
Exultant caeli, laetatur terreus orbis
Nunc alleluia centuplicatque tonos.
Ein Landsmann und Zeitgenosse des Sedulius hat denselben
Gedanken in einer sapphischen Ode ausgesprochen. 1 ) Ein drittes,
an den Erzbischof Tado von Mailand gerichtetes Gedicht lehnt sich
teils an das Ostergedicht des Sedulius, teils an das desVenantius
Fortunatus an. 2 ) Auch die Vita Willibaldi enthält einen Hinweis
auf Frühlingskeime und Osterzeit. 3 ) Ein Weihnachtslied des
Sedulius beginnt mit den Worten:
Tempus adest niveum sincera luce coruscum
Quo dominus natus: tempus adest niveum.
Nos igitur nivei sincera mente micemus,
O fratres, simus nos igitur nivei. 4 )
In der Karolingerzeit finden wir auch zum erstenmal den Herbst
in diese christlich-empfindsame Naturauffassung hineingezogen.
Hrabanus Maurus fühlt sich durch die Melancholie des Herbstes
an die Vergänglichkeit des Irdischen gemahnt; nur die Liebe
Christi bleibt immer und überall. 6 ) Und allgemeiner gefaßt findet
sich diese Auffassung schon bei Alcuin 6 ) und dem Verfasser der
Vita b. Leudegarii : 7 ) die Natur bietet uns im Wechsel der Jahres¬
zeiten und des Wetters ein Bild der Vergänglichkeit.
Daneben lebt aber auch die Tradition der höfischen Gelegen¬
heitsdichtung, weiter, wie sie ebenfalls bei Venantius vertreten ist.
Eine besonders wichtige Gelegenheit*war natürlich der Besuch des
Herrschers in einem Kloster. Ein beliebter Gedanke in diesen
Begrüßungshymnen war der, die Ankunft des Gefeierten bringe
den Frühling mit, die Gestirne erstrahlen jetzt in besonderer Hel-
*) ebd. S. 232. *) ebd. S. 233.
*) Interea dum illa frigida frugalisque hiems transiendo praeteriit ver-
naleque iam incumbendo instaret germen et paschale per totum mun-
dum fulgendo irradiaret tempus, ibi vitam ducebant. Mab. III, 2, 33 6.
4 ) ad Hartgarium XI, MGP. III, 179.
*) MGP. II, 168 u. 193. •) MGP. 1,229.
7 ) MGP. III, 6.
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205
ligkeit. 1 ) Ähnlich setzt Sedulius Scottus die Trauer zur Winters¬
zeit mit der Abwesenheit, die Frühlingsfreude mit der Wiederkehr
seines Gönners Hartgar in Beziehung. 2 ) Gerade bei Sedulius
findet sich solches häufig; seine beschränkten Verhältnisse veran-
laßten ihn, wie später so manchen der sog. Schulpoeten des 12.
und 13. Jahrhunderts oder wie manchen Humanisten, in mehr
oder weniger eleganten Versen seinen verschiedenen Gönnern
mehr oder weniger geschmackvolle Schmeicheleien zu sagen.
Da es sich also, schroff ausgedrückt, um Bettelbriefe handelt,
so können wir nicht erwarten, in solchen Arbeiten, die das Bedürf¬
nis gezeugt und die Routine zur Welt gebracht hat, einen echten
Herzenston zu finden. Übrigens findet sich auch die antithetische
Ausdrucksweise. Trotz der Ankunft des Frühlings herrscht Trauer,
da Hartgar abwesend ist. 8 ) Ja, es gibt ein Gedicht an Hartgar,
das man geradezu als eine Parodie dieses vielgebrauchten Natur¬
eingangs ansehen möchte: 4 )
Nunc viridant segetes, nunc florent germine campi,
Nunc turgent vites, nunc est pulcherrimus annus,
Nunc pictae volucres permulcent aethera cantu,
Nunc mare, nunc tellus, nunc caeli sidera rident.
Ast nos tristifices perturbat potio sucis . . .
(denn es fehle Met und Wein).
Wenn schon einem gewöhnlichen Sterblichen die Schmeichelei
nachzurühmen wußte, daß seine Ankunft eine günstige Änderung
des Wetters herbeiführe, wieviel mehr mußte man das von einem
Heiligen erwarten. So wird in der Vita Haimrhamni erzählt,
wie die Überführung des heiligen Leichnams nach der Stadt einem
verderblichen Regenwetter Einhalt tut. 8 ) Noch deutlicher äußert
sich die Vita Aridii: 6 )
Quodam tempore cum ad maturitatem se segetes aristis ar-
massent et iam se adgravatae meti poscerent a cultore, inormitas
erupit pluviae, ne quisquam fruges colligeret, ut in suis spicis
grana lactantia germinarent. Interea suggeritur ipsi a populo;
*) Walahfridi carmen in adventum Hlotharii, MGP. II, 405; Sedulius
an denselben, MGP. III, 216, LXVIII — LX; ferner Sed. carm. II, LXV,
LXVI, LXX; ferner Notker und Radpert, MGP IV, 324.
*) MGP. III, 172, ad Hartg. VII ») ad Hartg. VI, 17.
4 ) ebd. 211. 6 ) SS. rer. Mer. IV, 505.
•) SS. rer. Mer. III, 587.
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facit vigilias intercessor. (Am folgenden Tag werden in feierlicher
Prozession die Reliquien umhergetragen.) Subito nubes escissae
sunt, sol in claritate reducitur, serenitas caeli mundo redditur,
ad opera cultor trahitur et ad manipulos colligendos messor fru-
gibus invitatur. Wohl mag ein zufälliges Zusammentreffen in
dem einen oder anderen Falle zu dem Wunderglauben Veranlassung
gegeben haben; im allgemeinen haben wir in diesem besonders bei
Translationen massenweise angeführten Parallelismus das geist¬
liche Gegenstück zu der oben angeführten konventionellen Höflich¬
keit gegen hochgestellte Personen zu erblicken.
Aber auch hier finden wir echten Ausdruck persönlichen Emp¬
findens überall da, wo ein Ereignis den Menschen wirklich in seinen
Tiefen aufwühlt. Die Liebe ist es allerdings nicht gewesen, die
wie bei Venantius Fortunatus das Empfinden warm und echt er¬
hielt. Wohl hat sie am Hof Karls des Großen keine kleine Rolle
gespielt; aber begreiflicherweise haben Angilbert und andere
diesen Empfindungen nicht öffentlich Ausdruck gegeben. War
den Dichtern dieses Gebiet verschlossen, so zeigten sie doch,
daß sie dem Schmerz ergreifenden Ausdruck zu verleihen wußten.
So läßt Sedulius alle Gestirne sich verdunkeln und die Luft Regen¬
güsse herabweinen im Schmerz um den Tod des Bischofs Hartgar. 1 )
So fordert Florus von Lyon Berge und Hügel, Wälder, Flüsse und
Quellen auf, zu trauern über das Volk der Franken, das jetzt so
tief im Staub liegt. 2 ) Am tiefsten empfunden ist das Klagelied
des Paulin von Aquileia auf den Tod des Markgrafen Erich von
Friaul. Die Anklänge an Vergil 8 ) und die Bibel 4 ) tun der Echtheit
dieses Gefühls keinen Eintrag. 6 )
So zeigt die karolingische Literatur einen eigentümlichen
Mischcharakter, christliche und antike Elemente gehen eine innige
Vereinigung ein, so jedoch, daß der christliche Grundcharakter
das Beherrschende bleibt. Würde man die Untersuchung über das
Naturgefühl in seinem ganzen Umfang führen, so käme man keines¬
wegs zu der Ansicht, daß den Menschen jener Tage der Zauber eines
schönen Sonnenauf- und -Untergangs nicht zu Bewußtsein gekommen
') MGP. III, 184.
*) MGP. II, 559. *) Aen. VII, 759. *) 2. Sam. I, 21 ff.
5 ) MGP. 1 ,132.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter
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zu sein scheine, oder daß man nicht versucht habe, „die gegebene
Landschaft mit den ihr gehörigen Eigentümlichkeiten zu beschreiben,
offenbar weil man nicht imstande war, sie von der bildmäßigen
Seite aufzufassen, daß man vielmehr auch das Besondere mit
viel allgemeiner Schönheit ausstattete und sich begnügte, es zur
Ideallandschaft zu erheben.“ 1 ) Vielmehr würde man ein Natur*
gefühl entdecken, dessen Eigenart durchaus christlich ist. Es wäre
nicht schwierig, nachzuweisen, daß die gesamte Natur in all ihren
Einzelvorgängen einer symbolischen Betrachtungsweise unter¬
worfen wurde. Tag und Nacht sind Sinnbilder der guten und
bösen Macht, genau wie bei den frühchristlichen Dichtern, etwa
Prudentius und Ambrosius. Der Frühling mahnt an die Aufer¬
stehung des Herrn, der Wechsel der Jahreszeiten weist auf die Ver¬
gänglichkeit alles Irdischen. Auch Tiere (man denke nur an den
Physiologus) und Pflanzen unterliegen dieser Betrachtung, kurz,
die ganze Natur ist Ausdrucksmittel der Gottheit.
Diesem durch und durch christlichen Inhalt gegenüber will
es wenig besagen, daß die Ausdrucksform mit Vorliebe dem klas¬
sischen Altertum entlehnt wird. Man hat oft und viel von der karo¬
lingischen „Renaissance“ gesprochen. Wenn der Ausdruck über¬
haupt berechtigt ist, so ist er es nur in formalem Sinne. In der
Übernahme der formalen Elemente ging man allerdings sehr weit,
und sonderbar genug nimmt es sich aus, daß man nicht nur Boreas
und Zephyr, sondern auch Phoebus und Aurora, ja sogar Juppiter
oder Tonans sagt. Aber das alles war doch nur ein modischer
Schmuck der Rede, weiter nichts. Vom Geist des Altertums blieb
man gänzlich unberührt.
Diese Mischung von Heidnischem und Christlichem zeigt sich
im besonderen auch in der empfindsamen Naturbetrachtung,
die gerade in der Karolingerzeit einen breiten Raum einnimmt.
Neben unmittelbarer Übernahme der dem Altertum geläufigen
parallelen oder antithetischen Auffassung der Natur in ihrem Ver¬
hältnis zum Menschen steht die nur mittelbar auf die Antike, un¬
mittelbar auf die Kirchenväter zurückgehende Wendung dieses
Gefühls ins Religiöse. An die Stelle des gefeierten weltlichen
x ) Siehe Lauffer, Das Landschaftsbild Deutschlands zur Zeit der
Karolinger S. 101.
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Herrschers treten Christus und die Heiligen. Aus der höfischen
oder galanten Hyperbel wird ein Wunder.
Auch im io. Jahrhundert bleibt die Art des Naturgefühls
noch dieselbe. Aber es macht sich doch die neu auftretende Reli¬
giosität bemerkbar, die zu einem stärkeren Betonen der Askese
und einer energischeren Abkehr von der Welt führt. Ganz unter¬
drücken ließ sich die antik-rhetorische Auffassung freilich nicht.
Wir finden sie an der Grenze dieser und der vorigen Periode in
St. Gallen und auch sonst, z. B. in einem Gedicht auf Heinrich IV. 1 ),
aber im ganzen tritt sie doch auffällig zurück hinter der christlichen
Auffassung. In zahlreichen Viten und Translationen wird die
Anteilnahme der Natur an der Person des Heiligen bezeugt.*)
Auch daß mitten im Winter Blumen hervorsprießen, wird nicht
nur wie bei Prudentius anläßlich der Geburt des Heilands, sondern
selbst bei der Translation von Heiligen erzählt 8 ), ein auffälliges
Zeichen für das Überhandnehmen des Heiligenkults.
Die herkömmliche Beziehung des Frühlings auf die Auferste¬
hung findet sich häufig, so bei Eckehards IV. Liber benedictio-
num. 4 ) Hier findet sich auch der Gedanke wieder, daß der irdische
Frühling den himmlischen andeutet. Ganz besonders aus der Stim¬
mung des Augenblicks heraus scheint eine Stelle der V. S. Augu-
stini Cantuariensis episcopi geschrieben. Der Verfasser derselben,
der Mönch Goscelin, sagt nämlich: Sed dum ista scribimus,
hoc maritimum Elysium (gemeint ist natürlich England) revires-
cente mundo floruit et inter Paschalia floreta splendidi Augu-
stini sidereo natalitio instante, omni decore arisit. 6 ) Hier scheint
wirklich der Verfasser während des Schreibens unter dem Ein¬
druck des allgemeinen Blühens gestanden zu haben; zugleich weiß
er die österlichen Blütengärten mit dem himmlischen Geburtstag
*) Sitzgsber. d. Münch. Ak. d. W., Phil.-hist. Kl., 1882, II, 3.
*) Vgl. z. B. Transl. Sanctae Kunegundis, Migne 137, 164 oder V. S.
Bertulfi, Mabillon III, 1,154.
*) So Illatio S. Benedicti auct. Diederico Amorbac., Mab. IV, 2, 366;
ähnlich, aber kürzer in der Transl. S. Martini, die Odo von Clugny zuge¬
schrieben wird.
4 ) Siehe Egli, Der über benedictionum Ekkehards IV. 142 u. 1C0.
*) Mab. 1,491, cap. 3. Der „himmlische Geburtstag", der Tag der
Translation des Heiligen, fällt auf den 26. Mai.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter
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des Heiligen fein in Beziehung zu setzen, so daß sich eine Huldigung
zugleich für Christus und den Heiligen ergibt.
Neben diese herkömmliche Art tritt aber nun im II. Jahrhun¬
dert zum erstenmal etwas ganz Neues, der Ausdruck persönlicher
Empfindung im weltlichen Liebeslied. Die reiche Vagantenlitera¬
tur des 12. und 13. Jahrhunderts hat ihre Vorläufer schon im 11.
Hierher gehören vor allem die Lieder der Cambridger Handschrift.
Der Gegensatz zu allen früheren mittelalterlichen Erzeugnissen
ist ein doppelter: weltliche sinnliche Liebe tritt an Stelle des reli¬
giösen Gefühls, und der Ausdruck dieses Gefühls ist ganz persönlich.
In allen früheren Gedichten wird die Natur in Parallele mit dem
allgemeinen Empfinden gesetzt: etwa bei Florus von Lyon trauert
die Natur über den Fall der Franken, worüber alle trauern, nicht
bloß der Dichter. Hier aber haben wir zum erstenmal die Beziehung
auf das eigene Gefühl: „exaudi et considera frondes, flores et
gramina, nam mea languet anima“, schließt eines der Cambiidger
Lieder. 1 )
Auch das von Kögel ergänzte Gespräch zwischen Kleriker und
Nonne enthält diese Beziehung*):
Suavissima nunna, coro miner minna
Tempus adest floridum, gruonet gras in erthun etc.
Finden wir hier überall die Parallelität, so ist die Antithese aus¬
gesprochen in einem anderen dieser Gedichte, in dem der Dichter
erklärt, wer sich der Umarmung der Geliebten erfreut, für den sei
es Frühling mitten im Winter:
Ambrosie flores violeque crocique recentes .
Vemaque cum teneris lilia mixta rosis
Non tantum forma nec odore placere videntur,
Quantum, Flora, michi suavia dando places.
Quamvis bruma gelu labentia flumina sistat,
Affluit hic vemis undique deliciis.*)
Nicht nur der Name Flora, auch die ganze Art, wie in Worten,
in denen der Liebesgenuß noch nachzittert, die sinnliche Seite
der Liebe ausgemalt ist, läßt dieses Gedicht des II. Jahrhunderts
als ein echtes Erzeugnis der Vagantenlyrik erscheinen.
‘) ZfdA. XIV, S.491.
*) Kögel, Gesch. d. deutsch. Lit. bis z. Ausgang des MA. I, 2, S. 137.
*) NA. XVII, S. 374.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 14
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So beginnt denn bereits im il. Jahrhundert der Kreis sich zu
schließen, in dem die Entwicklung der empfindsamen Naturbetrach¬
tung sich bewegt: was bei Claudian und anderen Schriftstellern
des späteren Altertums zur leeren Form geworden war, das wurde
von den ersten christlichen Dichtern wie Prudentius übernommen
und mit christlichem Geist erfüllt. Dieser verchristlichte Natur¬
parallelismus durchfließt als ein starker Strom die gesamte christ¬
liche Literatur; daneben rieselt, zum schmalen Bach eingetrocknet,
die rhetorische antike Auffassung. Bei Venantius Fortunatus
erhält sie einen Zufluß, der aus seinem Freundschaftsverhältnis
zu einer edlen Frau quillt. Auch manchem karolingischen Dichter
sprudelt der lebendige Quell eigenen Erlebens. Doch tritt die nicht
religiös durchtränkte Auffassung immer mehr zurück, je mehr im
IO. Jahrhundert die große Reformbewegung die antiken Vorbilder
verdächtig macht. Aber auch diesmal war der Sieg des Mönch¬
tums über die Welt nur ein Scheinsieg: vom Kloster war im io. Jahr¬
hundert die Erneuerung des religiösen Lebens ausgegangen; im
Kloster erklangen im II. Jahrhundert die ersten Liebeslieder der
mittelalterlichen Literatur.
Aus ihnen spricht zum erstenmal ein subjektives, aus der
augenblicklichen Stimmung heraus geborenes Verhältnis zur
Natur. Der Einzelne kommt mit seinen Freuden und Schmerzen
zum Wort, während bisher ein objektives, auf der religiösen An¬
schauung beruhendes Gefühl zum Ausdruck kam. Das neue sub¬
jektive Naturgefühl benutzt vielfach die Formen des Altertums;
aber was dort nicht viel mehr als eine herkömmliche Phrase war,
das wird nun wieder zurückverpflanzt auf den Mutterboden
echten Gefühls, und sofort zeigt sich frisch grünendes Leben.
Die meisten Vagantenlieder zeigen im Eingang die Natur¬
parallele oder Antithese in bezug auf den Frühling 1 ): das Gefühl
des Dichters steht im Einklang oder Gegensatz zu der Frühlings¬
freude in der Natur. Seltener findet sich das Gegenstück dazu,
parallele oder antithetische Beziehung auf den Winter. 2 )
>) Vgl. Carm. bur. 33, 41, 44, 46, 47, 53 — 55 . “4. “6, n8,
121, 123, ferner in der von Meyer aus Speyer hrsg. Arundelsammlung
Nr. r, 2, 5, 7, 9,12,15,16, Abhdlg. d. Gott. Ges. d. W., Phil.-hist. Kl., N. F. XI.
*) Carm. bur. 42 u. 56, bzw. 95 und Arundel Nr. 6.
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Wie die Lieder im ganzen durchaus nicht gleichwertig sind, so
zeigen auch die Natureingänge alle Abstufungen, die zwischen
konventioneller Mache und eigenem Empfinden möglich sind;
der eine bietet den ganzen Olymp auf und bevölkert die Landschaft
mit Najaden und Dryaden, der andere sagt schlicht und ergreifend,
was er empfindet. Bei einigen hat das Ich des Dichters sich noch
nicht von seiner Umgebung losgelöst, nur in allgemeinen Ausdrücken
ist von Scharen der Jünglinge und Jungfrauen die Rede 1 ), in
anderen spricht sich aber Hoffnung und Schmerz in ganz persön¬
lichen Worten aus. Manche huldigen einer oft allzu breiten Be¬
schreibung mit Anführung vieler Einzelzüge, andere geben über¬
haupt keine Beschreibung mehr, sondern lassen Landschaft und
Stimmung ineinanderspielen.*) Und gerade einige der Feinsten
geben überhaupt keinen Natureingang. 8 )
Neben dem Kreis der Vaganten steht aber noch ein zweiter,
der sich manchmal mit ihm schneidet. Es sind das die Dichter,
die K. Francke mit einem glücklichen Ausdruck als Schulpoeten
bezeichnet hat. 4 ) Ihre Stellung zur Natur zeigt ebenfalls ausge¬
sprochen subjektive Züge. Zunächst fällt allerdings die herkömm¬
liche Naturparallele besonders auf. Ihre Stellung veranlaßt sie
häufig, sich der uns nun längst bekannten Form des Naturparallelis¬
mus zu Schmeicheleien zu bedienen; am weitesten geht wohl Petrus
de Ebulo: die Herrschaft des Kaisers, den er geradezu als Gott
feiert, leitet das goldene Zeitalter ein und macht die Erde zum Pa¬
radies. 5 ) Aber auch bei Gaufrid Vinesauf 8 ), im Ligurinus 7 ) und
besonders bei Alanus 8 ) ließen sich eine Menge Beispiele finden.
Wichtiger aber als diese herkömmliche Form ist es, wenn Johann
von Salisbury schreibt: ex quo partes attigi cismarinas, visus
sum mihi sensisse lenioris aurae temperiem, et detumescentibus
*) Carm.bur. 53, i; 98,4; 114,3
*) Am besten Carm. bur. 37 u. 162; vgl. dazu W. Meyer in der Fest¬
schrift z. Jub. d. Königl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen S. 24.
*) Besonders Arundel Nr. 3 u. 14.
4 ) Zur Geschichte der lat Schulpoesie im XII. und XIII. Jahrhundert.
e ) Liber in honorem Augusti 111 , 1467.
6 ) Iter Hierosol. III, 2.
’) Guntheri Ligurinus IV, 1; II, 211—218; IV, 221 usw.
8 ) Alani de Planctu Naturae ed C de Visch.
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proceilis tempestatum cum gaudio miratus sum rerum ubique
copiam quietemque et laetitiam populorum. 1 )
Hier sieht man deutlich, wie die trübe Stimmung, die den
Schreiber infolge der widrigen Verhältnisse in England noch be¬
herrscht hat, von ihm abfällt und er in Frankreich nun alles in
sonnigem Licht erblickt, wie er also unbewußt seine innere Stim¬
mung in die Natur hinausprojiziert.
Und schließlich findet sich im 12. Jahrhundert auch zum ersten¬
mal ein anderer Zug der empfindsamen Naturbetrachtung: im
Gegensatz zur Unruhe der städtischen Kultur sucht man in der
-Natur in echt sentimentaler Weise Friede und Erholung, Samm¬
lung, um zum Genuß des eigenen Ich zu kommen. Am deutlichsten
spricht das aus dem Marbod von Rennes zugeschriebenen Ge¬
dichte*):
Rus habet in silva patruus meus, hic mihi saepe
Mos est abjectis curarum sordibus et quae
Excruciant hominem, secedere ruris amoena.
Herba virens et silva silens et Spiritus aurae
Lenis et festivus et fons in gramine vivus
Defessam mentem recreant et me mihi reddunt,
Et faciunt in me consistere: nam quis in urbe
Sollicita et variis fervente tumultibus exstat,
Qui non extra se rapiatur?
Man setze dieses Naturgefühl nicht dem religiösen der früheren
Jahrhunderte gleich. Gewiß wird uns oft genug erzählt, daß der
oder jener Einsiedler durch die Einsamkeit — und manchmal auch
durch die Schönheit eines Ortes bestimmt worden sei, sich dort
anzusiedeln. 3 ) Aber auch da, wo nicht bloß die Einsamkeit ohne
Rücksicht auf die Schönheit aufgesucht wurde, als Mittel der
Askese, auch da, wo die Schönheit für die Wahl des Ortes wirklich
maßgebend war, handelt es sich immer um religiöse Werte: „um
Gott zu dienen“, oder so ähnlich heißt es stets in den Quellen.
Hier aber — me mihi reddunt. Welcher Abstand von dem Natur¬
erlebnis etwa eines Bernhard von Clairvaux. Freilich meint er auch,
*) Ad Thomam episc. Cant. ep. 134 ed. Wright.
*) Migne 171,1665. Vgl. zu seiner Autorschaft auch H. Böhmer, Der
sog. Serlo von Bayeux und die ihm zugeschriebenen Gedichte, N A. XXII,
S. 710.
*; So Petrus Damiani von Romuald. Migne 144, 955. Beispiele für
Deutschland aus dem 10. und 11. Jahrhundert s. Stockmayer S. 63 ff.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 2 13
daß Wald und Stein etwas lehren, was man von seinen Lehrern
nicht hören kann. Aber die Waldeinsamkeit soll zu Gott führen.
Gott in der Natur zu erkennen: das war das Bestreben Bernhards
und der Mystiker von St. Viktor. Nun aber ist es nicht mehr Gott,
sondern das eigene Selbst, was man in der Natur sucht.
Sucht — oder vergessen will. Mit dem Rückgang der tieferen
Religiosität in gewissen geistlichen Kreisen hängt es zusammen, daß
man Trost und Vergessenheit nicht mehr in der Religion, sondern im
Naturgenuß sucht. So findet sich ein aus dem Ende des 13. Jahr¬
hunderts stammendes Gedicht an Abt Robert von Ebersberg,
das diesen durch eine (stark mythologisch aufgeputzte) Frühlings¬
schilderung in Krankheit und Sorgen trösten soll. 1 ) Noch wichtiger
ist die Controversia hominis et Fortunae*) des Heinrich von Mai¬
land, auf die in diesem Zusammenhang Francke bereits hingewiesen
hat. Wenn Fortuna dem unzufriedenen Menschen die Natur in ihrer
allumfassenden Größe vor Augen stellt, so kann das nur bedeuten,
daß der Mensch sein eigenes kleines Ich mit seinen Schmerzen
und Widerwärtigkeiten vergessen soll im Hinblick auf das große
Ganze der Natur.
So gelangt auch in dieser Beziehung das Naturgefühl zu seinem
Ausgangspunkt im Altertum zurück. Wie im Altertum entsteht
wieder eine empfindsame, man könnte auch sagen pessimistisch¬
subjektive Betrachtungsweise der Natur. Nur darf man nicht
meinen, daß sie schon im 12. und 13. Jahrhundert die allgemein
herrschende geworden wäre. Selbstverständlich blieb die spezifisch
christliche, objektive und optimistische Anschauung herrschend
sowohl für die wenigen, die in ihrer religiösen Auffassung durch
eigenes Denken gefestigt waren, als für die vielen, die mangels eige¬
nen Denkens die herkömmliche kirchliche Überlieferung beibehiel¬
ten. Es fällt auf, daß gerade die bedeutendsten Vertreter der reli¬
giösen Auffassung die empfindsame Naturbetrachtung vermissen
lassen. So spricht Bernhard von Clairvaux in keiner einzigen Pre¬
digt von der Mitfreude der Natur am Osterfest, während Abälard
den Gedanken in einem Hymnus ausspinnt. 8 ) So ist insbesondere
*) NA. II, S. 391. *) Lib. II ed. Cyprianus de Popuna.
s ) Migne 178, 1495.
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Franz von Assisi ganz frei von dieser Anschauung. Die Innigkeit
seines Naturgefühls hat immer wieder dazu verleitet, in ihm einen
Vorläufer, wenn nicht gar den Vorläufer der Renaissance und da¬
mit der Moderne zu sehen. Tatsächlich ist er der höchste Gipfel
der mittelalterlichen Frömmigkeit. An keiner einzigen Stelle
tritt sein Ich hervor, vielmehr liebt er die Natur eben als Schöp¬
fung und Offenbarung Gottes. 1 ) Auch für den Ausschnitt, den
wir hier betrachten, gilt, daß die Renaissance nicht auf die großen
Heiligen, sondern auf die Vaganten und die Troubadours zurück¬
geht. Letztere hätten wir noch zu betrachten.
Wer über Troubadours oder deutsche Minnesänger handelt,
der pflegt sich ihnen meistens von den Tiefen der gleichzeitigen
Literatur in der Vulgärsprache zu nähern; und da steht man denn
staunend vor der plötzlich aufragenden Höhe dieser Poesie. Nähert
man sich ihnen aber nach einer langen Wanderung, die die Gipfel
der mittelalterlichen Literatur berührt hat, so verlieren sie viel
von ihrer überraschenden Höhe. Das Neue und Bedeutende dieser
Poesie ist die Vergeistigung der Minne. Die Art aber, wie die
Natur von diesen Dichtern empfunden wird, ist wie aus der bis¬
herigen Darstellung sich ergibt, nichts absolut Neues mehr.
Das ist auch gar nicht zu verwundern. Die handwerksmäßige
Seite ihrer Poesie — und die reicht nach mittelalterlicher An¬
schauung recht weit — mußten die Troubadours irgendwo lernen.
Die Späteren konnten sie natürlich auch von Troubadours lernen;
die ersten aber nur da, wo allein Wissen zu holen war, in der
Kirche. In den Kreisen der Kleriker betonte man oft die Überlegen¬
heit über die Ritter und begründete sie u. a. auch mit der Priorität
auf dem Gebiet der Liebesdichtung: factus est per clericum miles
Cythereus, heißt es in dem Gedicht von Phyllis und Flora. Nicht
nur der berühmte Mönch von Montaudon gehörte der Geistlichkeit
an; von einer ganzen Reihe anderer wird dasselbe überliefert. 2 )
x ) Besonders sein Gefühl für die Bienen und Pflanzen ist wohl der
Intensität, aber nicht der Qualität nach verschieden von dem eines An¬
selm v. Ganterbury u. a.; s darüber Kap. IX meines bereits erwähnten
Werkes.
*) Eine interessante Zusammenstellung bei Wechßler, Das Kultur¬
problem des Minnesangs I, S. 98 f.
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Die Abhängigkeit der Musik der Troubadours von der kirchlichen
hat Beck nachgewiesen. 1 )
So darf man denn erwarten, daß sie zum Ausdruck ihres Natur¬
gefühls die Elemente gewählt haben, die die gelehrte, kirchliche
Bildung der Zeit ihnen bot. Dabei handelt es sich um ein Doppeltes:
unmittelbare Übernahme der Elemente der Antike und der von
der Kirche emanzipierten lateinischen Liebesdichtung und Umbil¬
dung der spezifisch christlichen Motive in ihre subjektive, minnig-
liche Auffassung.
Die communis opinio sieht allerdings gerade in den Naturein¬
gängen der Minnepoesie die Einwirkung einer volkstümlichen
Lyrik. 2 ) Der Glaube an eine volkstümliche Liebeslyrik vor dem
Minnesang und als Grundlage des Minnesangs ist der letzte Rest der
zum Dogma der Literaturgeschichte gewordenen Anschauung Her¬
ders und der Romantiker über das Volkstümliche. Unmittelbar nach¬
gewiesen ist eine solche Lyrik mit Natureingang nirgends. Was man
dafür anführen wollte, wie die bekannte Grußformel im Ruodlieb,
das hat sich als gelehrte Überlieferung herausgestellt. 3 ) Auch der
Versuch von R. Meyer 4 ), aus den formelhaften Wendungen der
Minnesänger alte deutsche Volksliedchen zu rekonstruieren, hat
wenig Anklang gefunden, schon deshalb, weil er methodisch sehr
schlecht fundiert war.
Alle diese Versuche gehen von der Voraussetzung aus, daß eine
Volkslyrik existiert hat, und bewegen sich somit in einem circulus
vitiosus: erst erklärt man den Minnesang aus einer volkstümlichen
Vorstufe, und dann zieht man aus dem Minnesang Schlüsse auf die
Form dieser vorausgesetzten Volksdichtung. Mit Recht hat schon
Wilmanns darauf hingewiesen, daß eine allenfalls vorhandene Lie¬
beslyrik in einfachster Form sich kaum als Ausdruck persönlicher
Empfindung gegeben hat, sondern in der Art der deutschen
Strophe CB. 129a zu denken ist.
l ) La musique des troubadours.
*) Wilmanns freilich hat hier widersprochen; vgl. z. B. Walter von der
Vogelweide S. 16, 17, 28 und besonders 173. Burdach dagegen geht über
diese Äußerungen hinweg und vertritt überall die alte Anschauung; vgl.
S. 16 1.
*) Vgl. dazu Liersch, ZfdA. 36, S. 154.
4 ) ZfdA. 29, S. 207.
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216 W. Ganzenmüller
So kommt man — ohne sich mit seiner Begründung zu identi¬
fizieren — doch wieder auf die alte Ansicht von Martin zurück. Die
Carmina burana (oder richtiger ausgedrückt: die lateinische Liebes¬
lyrik des II. und 12. Jahrhunderts) haben das Vorbild für den
deutschen und den romanischen Minnesang abgegeben. Auch W.
Meyer hat in der bereits erwähnten Festschrift zum 150. Jubiläum
der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1901 diesen Ge¬
danken wieder aufgegriffen, besonders unter Betonung der musi¬
kalischen Seite. Natürlich kann die Frage nur auf breitester Basis
entschieden werden. Form und Inhalt der Minnepoesie sind nach
allen Seiten zu betrachten, eine Arbeit, die den Rahmen der vor¬
liegenden Auseinandersetzung sprengen müßte. Hier handelt es sich
nur um den Nachweis, daß die empfindsame Naturbetrachtung
der Troubadours auf lateinische Vorbilder zurückgeht.
Was zunächst die Frühlingsschilderung als Eingang betrifft,
so lassen sich bekanntlich auch bei den Troubadours parallele
und antithetische Behandlung unterscheiden. Erstere ist weitaus
die häufigere. Sie erscheint z. B. bei Bernhard von Ventadorn
fünfmal 1 ), bei Marcabrun ebenso oft*), bei Peire d’Alvernhe vier¬
mal*), ebenso oft bei Peire Raimon von Toulouse. 4 ) Noch auffälliger
tritt dieses Verhältnis bei Arnaut Daniel hervor. Von 17 überliefer¬
ten Liedern beginnen fünf mit diesem Eingang 5 ).
Manche dieser Natureingänge sind allerdings nur einem her¬
kömmlichen Brauch entsprungen. Im einzelnen Fall läßt sich das
natürlich nicht immer entscheiden; man darf das aber überall
da annehmen, wo die Frühlingsschilderung nur den Anfang eines
Sirventes bildet, so bei Peire d'Alvernhe 6 ), Bertran de Born 7 ),
so der Anfang des bekannten Descort in fünf Sprachen von
Raimbaut de Vaqueiras 8 ). Aber selbst in diesen Gedichten stellt
der Verfasser immer sein persönliches Empfinden in den Vorder¬
grund; nie ist, wie noch in manchen Vagantenliedern, bloß im
5 ) Raynouard («= R.) III, 60, 53, 65, 77; Mahn, Gedichte (= G.) 123.
*) Mahn,Werke (=W.) 1 ,51,59: Appel, Chrestom.S.54; Mahn,G.i99,803.
*) Mahn, W. 1 ,96; R. IV, 121; III, 327: Mahn, G. 280.
4 ) Mahn, G. 942; R. III, 122; V, 326; Mahn, G. 611.
*) R. V,35, 37, 39; Mahn, G. 46, 425.
*) Mahn, W. 1,96 und R. IV, 121. *) R. IV, 162 und II, 210.
8 ) R. II, 226: Appel Nr. 37.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter
2x7
allgemeinen von der Frühlingsfreude die Rede. Die meisten
suchen den Eindruck des Frühlings zu geben durch Anführung
von mehr oder weniger zahlreichen Einzelheiten. Nachzuprüfen,
wieweit diese Einzelheiten in der lateinischen Literatur sich vor¬
finden, wäre ein zweckloses Unternehmen, da ja Vogelsang und
klare Bäche, linde Luft und heller Sonnenschein, sprossendes
Laub und purpurne Wiesen, duftende Blumen und tauige Morgen¬
frische sich jedem Betrachter immer wieder von neuem aufdrängen
mußten. Viel wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, daß bei den Trou¬
badours und Minnesängern sich noch Spuren davon finden, daß sie
die Naturparallele der christlichen Festgedichte in ihrem Sinn
umgearbeitet haben. So sagt Bernhard von Ventadorn 1 ):
Qu’aissel jom mi sembla Nadaus
Qu'ab sos bels uels espiritaus
M’esgarda — mas so fa tan len
C’uns sols dias me dura cen —
ebenso Heinrich von Morungen:
Si ist des liehten meien schtn
Unt min österlicher tac.*)
Seltener gehen die Dichter vom Winter aus, so Marcabrun 8 ),
Arnaut Daniel 4 ) und Guiraut de Borneilh. 5 ) Wie sehr man schon
in verhältnismäßig früher Zeit den Preis des Sommers als konven¬
tionell und deshalb langweilig empfand, das zeigt am besten ein
Gedicht Marcabruns. Dieser Sonderling unter den Troubadours
suchte um jeden Preis originell zu erscheinen; so schilt er auf die
Frauen im Gegensatz zu ihrer herkömmlichen Verherrlichung;
so preist er den Winter. Die Kälte ist ihm lieber als die Schwüle
des Sommers, die nur Ungeziefer hervorbringt. 6 )
Auch die antithetische Form des Natureingangs findet sich,
wenn auch nicht ganz so häufig; so schon bei dem ersten bekannten
Troubadour, dem Grafen Wilhelm von Poitou 6 ), dann bei Bernhard
von Ventadorn 7 ). Jaufre Rudel erklärt in zwei verschiedenen Ge-
J ) Mahn, W. 1 ,34.
*) Minnesangs Frühling (MF.) 140, 15. Wechßler erwähnt diese Stellen,
um zu zeigen, wie in einigen Fällen die Marienliteratur nachgeabmt wurde.
Nach unseren Ausführungen handelt es sich nicht bloß um diese, sondern
um die lat. Festdichtung überhaupt. *) Mahn, W. I, 57 u. 59.
4 ) Mahn, G. 425. 6 ) Appel Nr. 22; Mahn, W. I, 59.
®) Appel Nr. 10; Mahn, G. 297. 7 ) R. III, 49, 51.
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dichten, daß er den Frühling liebt, aber entsprechend seiner in¬
neren Verfassung den Winter vorzieht. 1 ) AuchGuirautdeBorneilh 2 )
und Pons de Capdoil®) verwenden dasselbe Motiv.
Ganz in derselben Art findet sich parallele und antithetische
Behandlung bei Herbst und Winter. Die herbstliche Trauer der
Natur wird in Parallele gesetzt mit dem eigenen Liebesschmerz,
so bei Bernhard von Ventadorn 4 ), Cercamon. 6 ) Marcabrun leitet
seine Strafpredigt auf den Verfall der Liebe mit einem Lied des
Winters ein: wie in der Natur, so stirbt auch im Menschenleben alles
Schöne und Frohe dahin 6 ). Ähnlich beginnt Gauceran von St.
Didier ein Kreuzzugslied. 7 )
Stärker vertreten ist die Antithese. Einmal versichern die
Sänger: gerade jetzt im Winter, da die Vögel verstummen, gehört
es sich, daß sie ihre Lieder hören lassen 8 ); eine Antithese, die
deutlich auf die gesellschaftliche Grundlage dieser Lyrik hinweist:
der Sänger hat im Winter erst recht die Pflicht, zur Unterhaltung
der Gesellschaft beizutragen. Dieses eigenartige Hineinziehen
des Natureindrucks findet sich natürlich nur bei den Troubadours.
Dagegen teilen sie mit der lateinischen Lyrik die stärker subjektiv
gehaltene Antithese: der Dichter empfindet freudig trotz des
Winters, da er glücklich liebt. 9 )
Geht man noch einen Schritt weiter, so erhält man den Gedan¬
ken : der Winter wird nur zum Frühling in der Nähe der Geliebten,
eine Ausdrucksform, die wir nun bereits durch das ganze Mittel-
alter verfolgt haben und die wir mit religiösem Inhalt in den Weih¬
nachtsgedichten und dem Blumenwunder bei Translationen, mit
weltlichem Inhalt in dem Gedicht eines Klerikers aus dem 11. Jahr¬
hundert gefunden hat (s. oben). Bernhard von Ventadorn ver¬
wendet den Gedanken zweimal:
‘) R. 111,95 u - I0I> *) Mahn, G. 859.
*) Mahn, W. I, 351. 4 ) R. HI, 62.
6 ) Appel Nr. 13. •) Mahn, G. 808.
7 ) R. IV, 133; s. dazu Diez, Leben u. Werke d. Troub. S. 330.
8 ) So Peire d’Alvemhe Mahn, G. 1; Peire Raimon R. V, 326; Amaut
Daniel Appel Nr. 25.
9 ) Amaut Daniel R. V, 37; Raimbaut de Vaqueiras Mahn, G. 217;
Peire Vidal Mahn, G. 379.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 2IQ
Tant ai mon cor plen de joia Per que mos chant mont e poia
Tot me desnatura E mos pretz melhura.
Florsbianca,vermeilhetbloia Tant ai al cor d'amor
Me par la freidura, De joi e de doussor
Qu'ab lo vent et ab la ploia Que lo gels me sembla flor
Me creis l'aventura E la neus verdura. 1 )
Ähnlich sagt Peire Vidal:
E quar am domna novela
Sobravinem e plus bela
Paro . m rosas entre gel
E dar temps ab trebol cel. 8 )
Arnaut Daniel gibt in einer Canzone erst der Freude Ausdruck,
die er trotz des fallenden Laubes empfindet, und dann steigert er
den Gedanken in der zweiten Strophe:
Tot es gelatz Non dei fremir,
Mas ieu non puesc frezir C’amors mi cuebr’e. m cela,
L’amors novela E . m fai tenir
Mi fa.l cor reverdir Ma valor et.m cabdeia.*)
So fühlt auch Peire Rogier keine Winterkälte:
Freidura dolenta
No m tolh chantar ni rire
Qu’amors me capdelh e m te
Mon cor e fin joi natural
E. m pais em guid’e m soste etc. 4 )
Weniger häufig findet sich bei den Troubadours der Gedanke,
daß die Nacht zum Tag wird in Anwesenheit der Geliebten.
So sagt z. B. Cercamon:
Quan totz lo segles brunezis
Lay on ylh es, aqui resplan, 6 )
ferner Bernhard von Ventadorn: 6 )
Tant es fresca e belha e clara . . .
Quar de beutat alugora
Bel jom, e clarzis nuech negra —
und ganz ähnlich Peire Rogier: 7 )
x ) Bartsch 65; ferner: m’es ha flors blanc e vermeil e Tiverns calenda
maia, Mahn, G. 37.
*) Mahn, W. I, 219; vielleicht liegt derselbe Gedanke zugrunde in der
Canzone, die wohl zu der Legende Veranlassung gegeben hat, er habe
sich in eine Wolfshaut einnähen lassen. Et ab joi li er mostrieus entre. 1
vent e gel e nieus.
8 ) Mahn G. 427; Diez, Leben u. Werke S. 358. 4 ) Mahn, W. I, 120.
6 ) Appel Nr. 13. Ä ) Mahn, G. 208.
T ) Appel, Peire Rogier 60; Wechßler, der die Beispiele ebenfalls an¬
führt, will hier ein Lichtwunder nach Art der Heiligenlegenden sehen. Es
ergibt sich aber hier zwanglos als Fortsetzung eines alten Motivs.
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W. Ganzenmüller
Sa beutatz resplan tan fort
Nuegz n’esdeve jorns clarS e gens
A celh que l’esgard'ab dreit uelh.
Schließlich gehen die Troubadours noch weiter und befreien sich
überhaupt von der Naturparallele, die höchstens noch in
der Form der praeteritio angewendet wird. Mit Recht weist
Wechßler darauf hin, daß dieses Zurücktreten der Natur mit der
beginnenden Spiritualisierung der Minne zusammenhängt; so
bildet sich ein ,, Stil der inneren Welt aus, der eine bewußte Ab¬
wendung von den Erlebnissen und Erscheinungen der Innenwelt“
verlangte. 1 )
So erklärte Peire Raimon:
Vergiers ni flors ni pratz Mas per vos cui azor,
No m* an fait chantador Domna, sui alegratz.*)
Am wirkungsvollsten Raimbaut de Vaqueiras: er ist seinem
Herrn nach Thessalonich gefolgt, und alle Güter und Ehren, mit
denen dieser ihn überhäuft, vermögen ihn nicht zu trösten in seinem
Schmerz über die Trennung von der Geliebten: 3 )
No m’agrad’ivems ni pascors
Ni dar temps ni fuelhs de guarricx
Quar mas enans me par destricx
Etez mos magers gaugz dolors. 4 )
Wird hier der Gedanke ausgesprochen, daß in Abwesenheit der
Herrin die Natur keinen Eindruck macht, so erklären andere,
daß die Herrin ihnen erst das Land, ja die ganze Natur und alle
Menschen lieb macht:
Per lieis aim fontainas e rius De la franca regio
Pratz e vergiers e böses e plais, Don ilh es, e de viro:
Las domnas eis pros eis savais Car tant e lai assis mos pessamens,
Eis fols eis savis eis badius Que mais no eug sia terra ni gens —
singt Raimon de Miraval. 5 ) Auch Peire Vidal gibt derselben Emp¬
findung Ausdruck in seinem Lied Ab Talen tir vas me Taire. 8 )
*) Wechßler S. 20, S. 133.
*) R. V, 328, ebenso Peire Vidal Mahn, G. 74, 115 u. Pons de Capdoil
ebd. 1034; Raimon de Miraval ebd. 735
*) Diez S. 293. 4 ) R. IV, 275. 8 ) Mahn, W. II, 126.
®) Der Grundgedanke ist auch hier: meine Heimat gefällt mir, weil
sie die ihre ist. Es ist ja nicht ausgeschlossen, hier, wie Wechßler
S. 172 meint, eine feudale Huldigung vor der Landesherrin zu finden;
näher liegt es doch, hier den schon bei Venantius Fortunatus vorgebil¬
deten Gedanken zu finden, der auf die empfindsame Naturbetrachtung
des ausgehenden Altertums zurückgeht.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 221
Und noch ein anderes, bei den Troubadours beliebtes Motiv
läßt sich aus der lateinischen Literatur ableiten: der Vergleich
zwischen dem Frühling oder den Blumen und der Frau fällt zu¬
gunsten der letzteren aus. Geistlich aufgefaßt, findet sich der
Vergleich z. B. schon in einem Gedicht auf Maria, das von welt¬
lichen Einflüssen sicher unberührt ist, in der Oratio ad matrem
Domini von Marbod von Rennes: 1 )
Omnimodos tuus ahnus odos praecellit odores,
Exsuperat, quos ver reserat, tua gratia fiores;
sodann in dem weltlichen Liebeslied eines Klerikers aus dem
II. Jahrhundert: ambrosische Blumen, Veilchen und frische
Krokus, Frühlingslilien mit zarten Rosen gemischt gefallen nicht
so wie die Geliebte. 2 )
So sagt auch Arnaut de Maroil in einem Zusammenhang, der
deutlich genug auf den gelehrten Ursprung des Gedankens hinweist:
Plus blanca es que Elena
Belazor que flor que nais 5 ) —,
und noch stärker versammelt er in seinem Liebesbrief alle Schön¬
heit der Natur, um die Geliebte noch darüber zu erheben:
Plus bela que bels jorns de mai,
Solelhs de mars, ombra d’estiu.
Rosa de mai, ploia d’abriu . . . . 4 )
Besonders eindringlich sagt Raimon de Miraval:
Be m’agrada . 1 dous temps d’estiu
E dels auzels m’agrada . 1 chans
El vert fuelh m’agrad’e . 1 verjans
Eis pratz vertz me son agradiu
E vos domna m’agradatz cent aitans
Et agrada . m qu’on fauc vostre comans
E vos no platz que denhetz res grazir
Et agrada . m qu’eu me muer de dezir.*)
Und zum Schluß heißt es zweimal bei Raimbaut de Vaqueiras:
einmal in der Estampida:
Kalenda maya Non es que. m playa
Ni fiielhs de faya Pros domna gaya 8 )
Ni chanz d’auzelhs ni flors de glaya,
und nochmals im Descort:
Chu fresca qe flor de glaio.’)
‘) Migne 171,1652. *) Siehe S. 209, Anm. 3 *) R. III, 208.
4 ) R. III, 205. •) R. V, 392.
*) Appel Nr. 52.
*) ebd. Nr. 37,15.
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So wird in der Troubadourpoesie der mittelalterliche Mensch
sich des Gegensatzes zur Natur bewußt. Gerade den größten Dich¬
tern ist die Natur nicht mehr wie den kirchlich Frommen Offen¬
barung göttlicher Wahrheit, Hinweis auf das allein wertvolle
jenseitige Geschehen, auch nicht mehr die harmonische Begleitung
zum Lied ihrer persönlichen Leidenschaft; nein, bei ihnen findet
sich das, was Schiller sentimentalisches Empfinden genannt hat:
ein schmerzlich-süßes Bewußtsein des Gegensatzes zwischen der
eigenen Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit und der sich selbst
genügenden Geschlossenheit der Naturwesen. Das Bewußtsein
dieses Gegensatzes kommt nirgends trefflicher zum Ausdrück
als in Bernhard von Ventadorns berühmtem Liede:
Quan vey la lauzeta mover Ail tan grans enveia m’ en ve
De ioi sas alas contral ray, De cui qu’eu veya iauzionl
Que s’oblida e.s layssa cazer Meravilhas ai, quar desse
Per la doussor qu’al cor li vai, Lo cor de dezirier no’m fon! 1 )
Wohl finden sich in der mittellateinischen Literatur mehrere
Gedichte, die hervorgegangen sind aus der Liebe zu den gefiederten
Sängern; es sei hier nur erinnert an Alkuins Klage um die Nachti¬
gall 2 ), an Ratbods Gedicht auf die Schwalbe 3 ) und Fulbert von
Chartres Loblied der Nachtigall. 4 ) Alkuin beginnt allerdings mit
einem persönlich gehaltenen Ausbruch des Schmerzes über den
Verlust der Nachtigall, die mit süßem Gesang den Betrübten er¬
heitert. Dann aber biegt er zu erbaulicher Betrachtung ab: wenn
schon die Stimme der Nachtigall den Schöpfer so loben kann,
wie muß erst der Gesang der Cherubim und Seraphim erklingen! 6 )
Noch weniger subjektive Empfindung enthalten die beiden anderen
Gedichte. Beide zeigen liebevolle Betrachtung, besonders das Ge¬
dicht Ratbods, nirgends aber tritt ein besonderes persönliches
Empfindendes Dichters hervor. Ratbod hat sich das von vornherein
dadurch unmöglich gemacht, daß er die Schwalbe selbst reden läßt,
und auch Fulbert gibt nur seiner naiven unreflektierten Freude
') Appel Nr. 17. *) MGP. I, 274.
®) MGP. IV, 172. 4 ) Migne 141,348.
8 ) Das Gedicht zerfällt so auffällig in zwei Teile, daß man vermuten
möchte, es habe Alkuin für den ersten, persönlich gehaltenen Teil eine
Vorlage benutzt, vielleicht ein irisches' Gedicht. Kenner des Keltischen
fänden eine interessante Aufgabe darin, die Beziehungen der irischen
Poesie zur lateinischen der Karolingerzeit nachzuweisen.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter
223
am Gesang der Nachtigall Ausdruck; beide gipfeln natürlich im
Hinweis auf den gütigen Schöpfer. So liegt eine Welt zwischen
diesen geistlichen Dichtern und Bernhard von Ventadorn; ja ich
wüßte kein Gedicht anzugeben, das nach Form und Inhalt ihm
näher stünde als Shelleys Ode to a Skylark. Man sieht, auch hier
steht der Troubadour den Modernen näher als dem Mittelalter.
Der deutsche Minnesang kann aus zwei Gründen kurz be
handelt werden: einmal gilt, was für die Provenzalen ausgeführt
wurde, auch für die Deutschen; sodann ist ja dieses Gebiet
von Germanisten reichlich angebaut worden. Nur ist hier die
Neigung, die Quelle alles Naturempfindens in der Volksdichtung
zu suchen 1 ), noch stärker als bei der provenzalischen Dichtung.
Im übrigen aber ist längst gezeigt worden, daß wir auch hier eine
parallele und eine antithetische Form der Naturbetrachtung zu
unterscheiden haben, und zwar sowohl für Sommer (Frühling)
wie für Winter (Herbst). Wo der Winter als angenehm? gepriesen
wird, taucht öfters der Gedanke auf an die zur Liebe geschaffene
lange Winternacht, So sagt der Burggraf von Regensburg:
Ich lac den winter eine,
Wol getröste mich ein wlp,*)
Dietmar von Aist:
Urlop Mt des somers brehen ... Di ergetzent uns der besten zlt
Der winter und stn langiu naht Swä man bt liebe lange 11 t,*)
und nochmals:
Sowol mich danne langer naht!
Gelage ich als ich willen hin, 4 )
ferner: .... . A
Wir Mn die winterlangen naht
Mit froiden wol enpfangen. 6 )
Wie überall, so gibt auch hier Walter von der Vogelweide den alten
Gedanken in der reizendsten Form:
Hat der winter kurzen tac,
So Mt er die langen naht,
Daz sih liep bl liebe mac
Wol erholn, daz 6 da vaht.
Waz hän ich gesprochen? Owe ja hete ich baz geswigen,
Sol ich iemer so geligen! (Lachmann 118,12.)
*) Wertvolle Hinweise auf die geistliche Dichtung enthalten Schön¬
bachs Beiträge. *) MF. 16, 15. *) MF. 39, 30 ff.
4 ) MF. 35, 20, danach das unter Reinmars Namen überlieferte Lied,
MF. 156, 25. *) MF. 40, 3.
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Dieser Hinweis, natürlich ohne den sinnlichen Gedanken, findet
sich ja schon bei Venantius Fortunatus:
Cui non sufficiant haec tempora longa quietis,
und so wird man annehmen dürfen, daß er aus der lateinischen
Literatur stammt. Auch die sicher aus dieser Quelle stammende
Hyperbel findet sich. schon unter den frühesten Gedichten aus
Minnesangs Frühling (6, 5):
Mich dunket winter unde sng
Schoene bluomen unde kle,
Swenn ich in umbevangen hin,
und genau so sagt Walter (118, 24):
Der kalte winter was mir gar unmaere,
Ander liute düchte er swaere:
Mir was die wtle als ich enmitten in dem meien waere.
Die Strophe aus Minnesangs Frühling ist eine der sog. Frauen¬
strophen. Auch insofern ergibt sich eine Parallele mit Fortunatus:
wie bei ihm, so hat auch bei den dichtenden Rittern der Frühzeit
der Umgang mit Frauen die Empfindung für weibliches Gefühls¬
leben geschärft; ja man möchte annehmen, daß die empfindsame
Naturbetrachtung zu allen Zeiten auf starken weiblichen Einfluß hin¬
weist, namentlich wenn man bedenkt, daß auch im klassischen Zeit¬
alter der Empfindsamkeit sich beides in hohem Maße vereinigt findet,
während ausgesprochen männliche Epochen wie die Reformations¬
zeit der empfindsamen Betrachtungsweise weniger unterliegen.
Insbesondere findet sich im deutschen Minnesang auch der
Ausdruck der Gleichgültigkeit gegen Natureindrücke, wie wir ihn
oben bei den Troubadours gefunden haben. So sagt Rudolf von
Fenis (M F 83, 25):
Daz ich den sumer alsö mäz liehen klage
(Walt unde bluomen die sint gar betwungen)
Daz ist davon daz sin zit
Mir noch her hat gefrumt harte kleine umb ein wip.
Vil Ithte gefröuwent si die liehten tage,
Den da vor ist nach ir willen gelungen.
Mac mir der winter den strit
Noch gescheiden hin zir der ie gerte min ltp,
So ist daz min reht, daz ich in iemer ere.
Also richtet sich für ihn die Freude an der Jahreszeit nur nach
seinem Liebesglück; an und für sich sind ihm Sommer und Winter
gleichgültig. Noch stärker tritt bei Reinmar die Gleichgültigkeit
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 225
gegen den Sommer hervor in der bekannten Totenklage um Leopold
von Österreich (MF. 167f.):
Si jehent der sumer der st hie
Waz bedarf ich wunneclicher ztt,
Sit aller frouden herre Liutpolt in der erde ltt.
Auch das ist übrigens einer Frau in den Mund gelegt. Auch für
Morungen tritt die Trauer über das Verschwinden des Sommers
zurück hinter der eigenen Liebesempfindung:
Uns ist zergangen der liepltche summer,
Do man brach bluomen, dä ltt nu der sne.
Mich muoz belangen, wenne si minen kummer
Welle vollenden, der tuot mir so we.
Ja klage ich niht den kle,
Swenne ich gedenke an ir wtplichen wangen
Diu man ze fröide so gerne ane se.
Und am Schluß desselben Liedes sagt er nochmals ausdrücklich:
Mich fröit ir werdekeit
Baz dan der meie und ai stne doene
Die diu vögele singent . . . , J )
Derselbe Gedanke findet sich dann mehrfach bei Walter von der
Vogelweide. 2 )
Die Entwicklung von der gleichgerichteten Naturempfindung
zum Bewußtsein des Gegensatzes zur Natur, eines Gegensatzes,
der nicht bloß äußerlicher, sozusagen räumlicher Art ist: dort
Freude (in der Natur), hier Trauer (im Herzen des Dichters),
sondern der innerlich begründet ist, ist eben eine Folge der
Vergeistigung des Minnesangs. Natur- und Liebesieben sind ein¬
ander nicht mehr gleichgestellt, sondern das letztere ist das
unendlich Wertvollere geworden. Diese Umwertung kommt (das
hat schon Burdach gezeigt) außer bei den eben erwähnten Dich¬
tern am stärksten wiederum bei Morungen zum Ausdruck:
Swaz ich wünnecliches schouwe
Daz spil gegen der wunne die ich hän.
Luft und erde, walt und ouwe,
Suln die zit de froide min enpfän.
*) MF. 140, 32 u. 141,12.
*) „So die bluomen üz dem grase dringent.“ (Lachmann 45, 37.)
Ebenso 92, 9; 99, 6 und besonders 27, 14.
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 15
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226 W. Ganzenmüller
Nicht zu Ehren des Frühlings, sondern ihm selbst zu Ehren sollen
sie sich freuen. An Stelle der Frühlingszeit, die die ganze Natur
begrüßen soll, setzt er die Zeit seines Liebesglücks, das ist der Poesie
des größten Dichters würdig 1 ): die eigene Persönlichkeit wird zum
Mittelpunkt der ganzen belebten und unbelebten Welt gemacht.
Auch bei den deutschen Minnesängern finden wir nun die Er¬
scheinung, daß die eben erwähnte Spiritualisierung der Minne
von der Außenwelt abzieht. Bei Friedrich von Hausen und teil¬
weise auch bei Reinmar fällt die „gänzliche Enthaltung von
Naturschilderungen“ auf 2 ). Wie dann diese und andere Beschrän¬
kungen der Gattung von dem Genie Walters durchbrochen werden —
das gezeigt zu haben, ist das große Verdienst Burdachs. Walter
knüpft an die ältere Überlieferung an (freilich nicht an die volks¬
tümliche, wie Burdach meint), aber bei ihm „ist die Natur Stim¬
mung weckender Hintergrund der Poesie ... er erhebt sich
hoch über den bloßen typischen Parallelismus oder Kontrast
zwischen Naturbild und menschlicher Empfindung (wie bei Neid¬
hart und dem volksmäßigen Tanzlied(I). Er führt die Natur nir¬
gends als Zustand, sondern als Bewegung vor“. 3 ) Mit Recht hat
man als höchste Stufe der gegenseitigen Durchdringung von
Liebesglück und Naturfreude stets Walters wundervollstes Lied
angeführt: Unter der linden an der heide.
Die Entwicklung des Minnesangs nach Walter bietet nichts
Neues zu dieser Betrachtung der Ausdrucksformen und mag des¬
halb übergangen werden.
So läßt sich denn nachweisen, daß es vom ausgehenden Alter¬
tum an stets dieselben Ausdrucksformen sind, deren sich die Men¬
schen bedienen, um ihr Verhältnis zur Natur darzustellen. Es han¬
delt sich nicht um „allgemein-menschliche“, stets von neuem wieder
so gefundene Ausdrücke, sondern es sind wirklich dieselben Formen
von einem Zeitalter dem anderen überliefert worden. Das geht am
deutlichsten daraus hervor, daß z. B. das Motiv:. Rosen im Winter
immer wieder auftaucht. Wer mit der halb handwerksmäßigen
Art der mittelalterlichen Dichtung nur einigermaßen vertraut
ist, der ist sich darüber klar, daß dies so verschiedentlich ver-
l ) Burdach, Reinmar und Walter S. 50.
*) Burdach S. 36. *) Burdach, Walter v. d. Vogelweide I,S. 106 ff.
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Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter 227
wendete Motiv nicht von jedem der oft mittelmäßigen Dichter
neu gefunden, sondern als eine fertige Schablone an passender
Stelle verwendet wurde. Dieser Identität der Formen steht aber
die größte Verschiedenheit des Inhalts gegenüber: schroff scheiden
sich hier die objektive, jenseitige Anschauung des Christentums
von der subjektiven, diesseitigen der Antike. Die Anteilnahme der
Natur bezieht sich nicht auf persönliche, sondern auf überpersön¬
liche Ereignisse. Ja man kann die Anwendung der Naturparallele
geradezu zum Gradmesser des religiösen Gefühls machen. Je tiefer
dasselbe ist, um so mehr wird die persönliche Auffassung zurück¬
gedrängt durch die überpersönliche, religiöse. Nur wenigen, wie
Venantius Fortunatus, gelingt eine harmonische Vereinigung
beider Richtungen. Die stärkere Berührung mit der klassischen
Literatur zur Zeit der Karolinger erhöht die Beliebtheit der emp¬
findsamen Naturbetrachtung, die cluniacensische Reform bringt
wieder eine Reaktion mit sich. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts
dringt ein Strom weltlichen Empfindens ein, und damit gewinnt
das empfindsame Naturgefühl wieder den ihm zusagenden Boden
und breitet sich in der lateinischen wie der vulgärsprachlichen
Literatur mächtig aus. Demgegenüber ist es gewiß kein Zufall,
daß gerade die größten religiösen Geister der Zeit, Bernhard von
Clairvaux und Franz von Assisi, keine Spur dieses Subjektivis¬
mus zeigen und so deutlich ihre Stellung auf der Seite der Alten
erkennen lassen.
Die Geschichte der empfindsamen Naturbetrachtung und ihrer
Ausdrucksformen ist also eine Geschichte der „Renaissance“ in
nuce, oder richtiger ausgedrückt, sie gibt einen Beitrag zur Frage
nach dem Verhältnis von Antike und Mittelalter. Was schon auf
anderen Gebieten immer klarer geworden ist, das ergibt sich auch
hier: daß das vom Mittelalter übernommene Erbe des Altertums
reicher gewesen ist, als man ursprünglich glauben wollte, und
sodann, daß überall da, wo neues und eigenartiges Empfinden nach
Ausdruck ringt, es sich der antiken Formen bedienen muß. Das
gilt nicht bloß für die Kirchenväter und die karolingischen Hof¬
dichter, es gilt ebenso für die Vaganten und die Troubadours.
Nur soll, um allen Mißverständnissen aus dem Wege zu gehen,
zum Schluß noch ausdrücklich betont werden: eine Erklärung
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2 28 W. Ganzenmüller — Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter
irgendeiner geistigen Bewegung ist damit noch nicht gegeben,
daß man ihre Abhängigkeit von Ausdrucksformen einer bestimm¬
ten anderen Zeit nachweist. Das wäre eine naive Verwechslung
von Ursache und Folge, deren wir uns nicht wollen schuldig ge¬
macht haben. Ja, eine solche Erklärung läßt sich überhaupt nicht
geben. Wie der Naturforscher kann auch der Historiker die Äuße¬
rungen des Lebens wohl unter sich vergleichen, das Leben selbst
ist eine irrationale Größe, die in die Wissenschaft nicht restlos
eingeht.
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MISZELLE.
EIN DROHBRIEF AUS DEM 14. JAHRHUNDERT.
MITGETEILT VON ERNST VOGT.
Auf seltsame Weise hat ein Mainzer Beamter in Thüringen in der
Mitte des 14. Jahrhunderts versucht, sich Recht zu verschaffen. Er hatte
noch von seinem Vater her Forderungen gegen das Erzstift. Sein Vater
hatte Einkünfte am Erfurter Forst, an dem Wawet, gekauft und bar
bezahlt; es lag darüber auch eine erzbischöfliche Urkunde vor, die das
Domkapitel mitbesiegelt hatte. Aber nun konnte der Vitztum nicht zu
seinem Recht gelangen, das Erzstift kam seinen Verpflichtungen nicht
nach. Es waren damals die bösen Zeiten eines großen Streites um das
Erzstift. Heinrich III. von Virneburg, der Erzbischof, der aus dem Kur¬
verein von Rense bekannt ist und von dem die Limburger Chronik
sagt: „er hisz darumb Buseman, daz he gern drank“, trug das Pallium,
doch hatte er sich von dem Domkapitel Vormünder setzen lassen müssen,
die die eigentlichen Regenten des Erzstiftes waren. Der Papst aber
hatte ihm, weil er zu Ludwig dem Bayern hielt, den Prozeß gemacht
und dem jungen Gerlach von Nassau an seiner Stelle das Erzstift über¬
tragen. In diesen unruhigen Zeiten schwankender Rechtsbeziehungen
mag mancher Gläubiger es schwer gehabt haben, Befriedigung seiner
Forderungen zu erzwingen. Dem Thüringer Vitztum aber war nicht
bang, er wußte sich zu helfen. Als seine Mahnungen unerhört blieben,
drohte er, er werde das Siegelwachs an seiner Mainzer Urkunde auf
eine so respektwidrige Weise verwenden, daß das Erzstift schweren Schimpf
dadurch erleide, und von seinen Forderungen werde er darum doch nicht
abstehen. — Der Erfolg des Schreibens ist leider nicht bekannt.
(Adresse auf der Rückseite des Briefes:) Honorabilibus viris ac domi-
nis suis . . domino preposito . . decano, scolastico . . cantori 1 )
ecclesie sancte Maguntine sedis detur.
Ir liebin hem . . Wizzit, daz ich vor gebetin und gescribin habe
vil und gnug forstin, graffen, rittere und knechte, stete . . und andir
gutir lute vil, also bete ich uch ouch umme anwisunge den stipht und
daz capitil zu Mencze, daz sii mir haldin, desz ich ir groze anehangende
insigel und uffene brive (habe) vor sulchin ierlichin czinsz und gulde,
als en myn vatir her Henrich vicztum, dem Got gnade, abegekouft hat
an dem halcze desz Wanweitz zu Erford und en das geilt des koufis
nuczlich und gütlich bezalt hat, als mang gut man wal weiz, und mich
daz niht hilft noch geholfin hat, Nu clage ich uch und allin guten luten
clegelich, daz der stipht und capitil zu Mencse myme vatere und mir
*) Hiernach durchstrichen: totique c.
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230
Ernst Vogt — Miszelle
unsin czinsz und geilt mit im bosin insigeln und briven unsz also seine-
lieh sentlich und hitlich abegelogen und getrogen habin. Nu bete ich
uwer erberkeit mit flize, daz ir noch den stipht und daz capitil 1 ) undir-
wisit unde anericht, daz mir noch yolczogen und gehaldin werde, des
ich ir grosze insigel und uffene brive habe. Geschet des nicht, und wel
ir insigel und ir wachz vort me nicht baz noch vestir halde, wan iz
biz her getan hat, so habe ich eyne hachczit irfam, daz der henger zu
Northusen sine tochtir sal gebin des hengers sane zu Molhusen, da
endarf nicht me zu wan licht und kotzeen.*) Nu sint die selbin. also
böse, die di hochczit habe sullin, daz man en nicht wel vorkaufen wachz
zu lichtin. Nu habe ich uf eyns gedacht. Mögen adir kunnen mir ir
egenante insigel und wachz nicht nutzeer werde, so wel ich sii gebin
den selbin hengem und kotezen zu kerczen und lichtin zu lästere und
sanden dem stipht und capitil zu Mencze und wil sii dar zu also lange
mane, daz mir doch gehaldin wirt, desz ich ir uffene brive habe. Ge¬
geben zu dem Suarzcenwalde undir myme insigel.
Von mir Hartman vieztum.
Original auf Papier: München, Reichsarchiv (Mainz, S. Alban fase. 4).
Verschluß-Siegel verletzt. Schrift: Mitte des XIV. Jahrh.
*) Darnach getilgt: zu. *) Dirnen.
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LITERATURBERICHT.
VOLKSKUNDE.
ERÖFFNUNGSBERICHT I.
DIE GESCHICHTLICHE UND TERRITORIALE ENTWICKLUNG
DER DEUTSCHEN VOLKSKUNDE.
Es war im Jahre 1891, als Weinhold in Berlin den Verein
für Volkskunde ins Leben rief und die von ihm geleitete ,,Zeit¬
schrift des Vereins für Volkskunde“ die Zeitschrift für Völker¬
psychologie und Sprachwissenschaft ablöste. Seitdem können wir
erst von einer Volkskunde als Wissenschaft sprechen, obgleich be¬
reits 1858 W. H. Riehl einen Vortrag über die Volkskunde als
Wissenschaft gehalten hatte. 1 ) Weinholds 2 ) Verdienst ist es,
die verschiedenen Strömungen nationalen und sozialen Lebens
und neuerwachte Wissenschaften, die zur Erforschung des Volks¬
tums hinführten, erkannt und beobachtet und diese Erforschung
des Volkstums, zunächst des heimischen, in den Mittelpunkt
einer neuen philologischen und geschichtlichen Wissenschaft ge¬
stellt zu haben. Zugleich umreißt er zum ersten Male das Gebiet,
stellt für dieses ein festes Schema auf und teilt die Arbeiter in flei¬
ßige Sammler und geschulte Forscher, die sich gegenseitig in die
Hände arbeiten müssen. So entstand die deutsche Volkskunde
als Wissenschaft; in ihrem Dienste stehen vor allem die Sammler.
Aber die vergleichende neuerwachte Religions-, Sitten- und Sagen¬
forschung, die wesentlich zur Erforschung der Unterschicht hei¬
mischer Kultur herausgefordert hatte, verlangte, daß man seine
Blicke über die Grenzen des Heimatlandes schweifen ließ, weil
nur dadurch historische Zusammenhänge und die psychologischen
Gründe der Tatsachen klargelegt werden konnten. So gesellte
sich zur stammheitlichen die allgemeine oder vergleichende Volks¬
kunde, die schon durch die Voraussetzung philologischer und histo¬
rischer Schulung das Gebiet der Forscher wurde. Aber nicht nur
als Wissenschaft sollte die Volkskunde getrieben werden. Da sie
durch Erforschung des Volkstums den Charakter eines Volkes
bloßlegt und auf Tatsachen hinweist, die sich jahrhundertelang
erhalten haben und immer wieder in Erscheinung treten, soll sie
dem Volke auch das zu erhalten suchen, was seinen eigentlichen Le-
*) Culturstudien aus drei Jahrhunderten (Stuttgart 1862) S. 205 ff.
Hauffen macht Z. d. V. f. VK. XXIII, S. 414 darauf aufmerksam, daß F.
Ziska bereits 1822 das Wort „Volkskunde“ gebraucht hat.
*) Z. d. V. f. VK. I, S. 1 ff.
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232
E. Mogk
bensnerv ausmacht, wobei sich ein Volk gesund und arbeitskräftig
gefühlt hat. So ist aus der theoretischen die praktische Volkskunde
erwachsen, wie sie sich namentlich in der Pflege alter Überlieferung
und im Heimatschutz und in der Heimatfreude zeigt. 1 ) So ist das
Gebiet der Volkskunde ungemein groß und vielseitig, und dies
erklärt, daß die literarische Tätigkeit in den letzten Jahren wohl
nirgends so bedeutend gewesen ist wie hier. Ich kann daher nur
in Umrissen zeigen, wo man geschürft und was man zutage gefördert
hat.
Mit der deutschen Volkskunde soll sich vor allem dieser Bericht
beschäftigen.®) Durch Weinholds Zeitschrift war die Werbetrom¬
mel für die Beschäftigung mit der Volkskunde geschlagen, und was
schon länger in den Köpfen einzelner sich geregt oder in lokalen
Vereinen geschlummert hatte, erwachte zum Leben und zur Ar-
. beit. In fast allen Ländern deutscher Zunge entstanden Verbände,
die sich das Sammeln und Verarbeiten volkskundlichen Stoffes
zur Aufgabe machten. 3 ) Mitteilungen oder Zeitschriften hielten
ihre Mitglieder zusammen und regten sie zu gegenseitiger Arbeit
an. In anderen nahmen einzelne Gelehrte sich der Volkskunde
an, oder man knüpfte sie an bereits bestehende Vereine. So
hatte schon Anfang der 90er Jahre in Mecklenburg Wossidlo
seine eifrige Sammelarbeit begonnen, unterstützt von dem Schwe¬
riner Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde.
Die ersten Früchte seiner Tätigkeit sind vorbildlich für wissenschaft¬
liche volkskundliche Arbeiten geworden. 4 ) Durch das Heranziehen
von Parallelbeispielen aus allen Ländern haben sie Bedeutung
weit über die Grenzen Mecklenburgs, ja Deutschlands. Ein be¬
sonderes Geschick hat Wossidlo beim Einsammeln des Stoffes im
Verkehr mit seinen Landsleuten entwickelt und hat so auch
nach dieser Richtung hin Wege gewiesen. Auf dem Verbandstage
deutscher Vereine für Volkskunde in Hamburg (1905) hat er
seine Erfahrungen vorgetragen 5 ) und weiteres über seine Sammel-
’) Vgl. E. Mogk, Die Volkskunde im Rahmen der Kulturentwick¬
lung der Gegenwart, Hess. Blätter f. VK. III, S. 1 ff. (1904).
*) Er schließt mit dem Jahre 191z und greift nur hier und da auf
1913 hinüber.
*) Vgl. zur Geschichte volkskundlicher Tätigkeit: E. Mogk in Pauls
Grundriß der germ.Philol.*III, 8.493!?.; KReuschel, Deutsche Geschichtsbll
IX, S.63ff.; Ders, Kritischer Jahresber. über die Fortschritte der roman.
Philologie X; A. Hauffen, Z. d. V. f. VK. XX (die neuere Forschung
fehlt noch).
4 ) Mecklenburgische Volksüberlieferungen, 1. Bd. Rätsel (Wismar
1897); 2. Bd. Die Tiere im Munde des Volkes. Erster Teil. (ebd. 1899);
3. Bd. Kinderwartung und Kinderzucht (ebd. 1906).
4 ) In erweiterter Form gedruckt in der Z. d. V. f. VK. XVI, S. 1 ff.
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Literaturbericht. Volkskunde
233
tätigkeit geplaudert in einem Werke, worin er zahlreiche Zeug¬
nisse über die Sprache und den Humor der Mecklenburger verarbei¬
tet hat (bei Vergnügungen, Arbeit und Spiel, Schwänke und
Märchen u. dergl.), die einen trefflichen Einblick in die Seele
von F. Reuters Landsleuten geben. 1 ) — 1893 hatten auch Knoop
und A. Haas die „Blätter für pommersche Volkskunde“ ins Leben
gerufen, die namentlich viele Sagen brachten, aber mit dem
IO. Bande (1902) ihr Dasein endeten. Gleichwohl haben beide
Herausgeber ihre Sammelarbeit fortgesetzt, Knoop besonders auf
Posens Gebiet 2 ), Haas auf Rügener. 3 ) —Wo einst Weinhold gewirkt,
in Breslau, entstand 1894 die Schlesische Gesellschaft für Volks¬
kunde, in deren Auftrag Vogt und Jiriczek die „Mitteilungen
des Schles. Ges. f. Volksk.“ herausgaben, deren Leitung 1903
Siebs übernahm. Anfangs beschränkten sich diese meist auf Ver¬
öffentlichung volkskundlichen Stoffes; mit dem 6. Band aber (1904)
traten die Untersuchungen in den Vordergrund; sie gewannen an
Umfang und Bedeutung. Der Bevölkerung Schlesiens entsprechend
bringen sie neben deutschem auch slawisches Material und gehen
in den Abhandlungen vielfach über die Grenzen Schlesiens hinaus.
Aus den älteren Bänden hervorgehoben zu werden verdient die
Arbeit von Zacher über „Rübezahl und seine Verwandtschaft“
(Bd. XI, S. 2 i6ff.), worin er Rübezahl als'ein Erzeugnis des schlesi¬
schen Volksgeistes erweist, das eine Mischung von Berggeist, wil¬
dem Jäger und Kobold ist, also von mythischen Gestalten, die
sich in fast allen Ländern Deutschlands finden. Eine besondere
Leistung ist der XIII. und XIV. Band (1911—12), der als Festschrift
zur Jahrhundertfeier der Universität zu Breslau herausgegeben
wurde. Hierin finden sich auch mehrere Arbeiten zur vergleichen¬
den Volkskunde. So birgt Wünsches Artikel über Geisterbannung
im Altertum (S. 9ff.) treffliche Hinweise auf das Dämonenbannen
in die Unterwelt, das Meer, die Berge; über die Verbreitung des
Bildzaubers stellt Skutsch die Zeugnisse aus den verschiedensten
Zeiten und Gegenden zusammen (S. 525ff.), den Einfluß des Volks¬
tümlichen auf das Gepräge der Münze verfolgt Friedensburg
(S. 264ff.), die Sage vom toten Gaste bis ins Mittelalter und in
J ) R. Wossidlo, Aus dem Lande Fritz Reuters. S.unten S.268, Anm.3.
*) So im „Rogasener Familienblatt 1 * (der Beilage des Rogasener
Wochenblattes), das seit 1897 f ast nur Beiträge zur Volkskunde der
Prov. Posen bringt. Volkskundliches aus der Tierwelt, 1. Bd. (Ro-
gasen 1905); Posener Gold- und Schatzsagen (Lissa 1908). — Die Ver¬
leger werden nur genannt, wenn sie Rezensionsexemplare ge¬
sandt haben.
s ) Rügensche Sagen und Märchen (3. Aufl. 1903); A. Haas und F.
Worms, Die Halbinsel Mönchgut und ihre Bewohner (Stettin, J. Bur¬
meister, 1908).
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E. Mogk
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2 34
ihren Verzweigungen Klapper (S. 202ff.), die Entwicklung der
Schutzbriefe unserer Soldaten Vogt (S. 586ff.). Andere Mitarbei¬
ter liefern Material, namentlich zur deutschen Volkskunde. So
Olbrich Volkssagen über Freimaurer (S. 232ff.), die derselbe Ver¬
fasser schon in früheren Jahrgängen verfolgt hat, Koch holt volks¬
kundlichen Stoff aus den Werken von A. Gryphius (S. 337ff.),
Jantzen bringt aus Handschriften Beiträge zur Geschichte der
Bruderschaften (S. 242ff.). Auch Dialekt- (v. Unwerth S. 155ff.)
und Wortforschung (Drescher S. 453: Ölgötze; Sarazin S. 552ff.:
engl, „henbane“, „Bilsenkraut“) findet sich in dem Bande.
Auf der anderen Seite enthält er auch Themata, die nicht in das
volkskundliche Gebiet gehören, wie die rein historische Arbeit von
Preuß über Philipp II., die Niederländer und ihre erste Indienfahrt
(S. 279ff.) oder die literarhistorisch-philosophische von v. Wenck-
stern über Tolstoi und Marx (S. 313 ff.). Man sollte auch bei sol¬
chen Festschriften die Grenzen der jungen Wissenschaft scharf
umreißen. — Außer den Mitteilungen veröffentlicht die Schle¬
sische Gesellschaft in freier Reihenfolge auch „Schlesiens volks¬
tümliche Überlieferungen“ 1 ) und volkskundliche Arbeiten unter
dem Titel „Wort und Brauch“, die sich nicht auf das Gebiet der
schlesischen Volkskunde beschränken. Von diesen verdienen be¬
sonders zwei hervorgehoben zu werden. Eine bestimmt den Wert
von Joh. Praetorius’ Rübezahlbüchern für die Rübezahlsagen.
Schon K. Zacher*) trennte die volkstümlichen Erzählungen von
Rübezahl und die literarisch ausgebildeten Rübezahlmärchen,
die er dem Einflüsse J. Prätorius' zuschrieb. Mit vollem Rechte
unterband er die Skepsis Coghos 3 ) und Regells 4 ), die Rübezahl
als volkstümliche Sagenfigur überhaupt leugneten. Diese Auf¬
fassung hat nun durch die Arbeit von K. d e Wy 1 ihre volle Bestäti¬
gung, aber auch, was Prätorius betrifft, mehrfache Ergänzung
gefunden. 6 ) In gründlichster Weise stellt hierin ihr Verfasser fest,
*) Bisher erschienen I.: F. Vogt, Die Schlesischen Weihnachtsspiele
(Leipzig, B. G. Teubner, 1901): II.: P. Drechsler, Sitte, Brauch undVolks-
glauben in Schlesien, 2 Bde.(ebd. 1903—05); III—IV: R.K ü h n a u, Schlesische
Sagen, 3 Bde. und Registerband (ebd. 1910—13), eine der inhaltreichsten
und umfänglichsten Sammlungen deutscher Sagen, in der alles vereint
ist, was an schlesischen Sagen jemals gedruckt worden ist und was im
Volksmunde noch fortlebt. Ausgeschlossen sind nur die Rübezahlsagen,
mit denen die Berggeistsagen aber große Ähnlichkeit haben (vgl. Hist.
Vierteljahrschr. 1911, S. 293 f.; 1913 S. 537f.).
*) Mitt. der Schles. Ges. f. Volksk. Heft X, S. 39 fr.
*) Wanderer im Riesengebirge 1893, S. 153.
4 ) Schles. Zeitung 1894, Nr. 684.
®) Wort und Brauch, 5. Heft: Rübezahl-Forschungen. Die Schriften
des M. Johannes Prätorius (Breslau, M. u. H. Marcus, 1909). Besonders von Be-
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Literaturbericht. Volkskunde
235
daß Prätorius weit glaubwürdiger ist, als Zacher annahm, daß viele
seiner Erzählungen tatsächlich auf die Berichte von Schlesiern,
namentlich des Hirschberger Apothekers Sartorius, den Boten aus
Liebethal und Wurzelkrämer zurückgehen. Auf der anderen Seite hat
aber auch Prätorius viele literarische und volkstümliche Erzäh¬
lungen von Geistern und besonders Berggeistern, wie dem voigt¬
ländischen Katzenveit, oder landläufige Märchen- und Sagen¬
motive auf Rübezahl übertragen und mehrfach alte volkstümliche
Rübezahlsagen umgemodelt. Weniger kritisch und ergebnisreich
ist die Arbeit von F. Kondziella, der die volkstümlichen
Sitten bei Geburt und Taufe, Brautwerbung, Verlobung und Hoch¬
zeit, Tod und Begräbnis, der Gastfreundschaft und Freundschaft,
im Kampfe, im Rechtsleben und endlich bei der Traumdeutung
aus dem mittelhochdeutschen Volksepos zusammenstellt. 1 )
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt nicht in diesen Zusammenstel¬
lungen, die wenig Neues bieten, sondern im zweiten Teile, in den
Anmerkungen und Parallelen (S. 83—188), wo der Verf. zu den
im ersten Teile aufgestellten Tatsachen aus der deutsch-volkskund¬
lichen Literatur der späteren Jahrhunderte, der Gegenwart und
anderer, namentlich auch primitiver Völker zahlreiche Parallelen
beibringt. Daß er sich nur selten auf Erklärung der Tatsachen
einläßt, ist nur zu billigen. So dankenswert nun an und für sich
eine solche Sammelarbeit ist, so läßt sich doch im mittelhochdeut¬
schen Volksepos schwer eine Grenze zwischen volkstümlicher und
höfischer Sitte ziehen, zumal im Nibelungenlied und der Kudrun.
Ganz besonders aber muß man sich hüten, eine einmal vorkommende
Handlung (wie z. B. wenn im Ortnit der getaufte Heide das Was¬
ser dreimal in den Mund nimmt) sofort als volkstümliche Sitte
zu erklären. Nur bei häufiger vorkommenden Bräuchen, die auch
in anderer volkskundlicher Literatur Parallelen haben, dürfen wir
volkstümliche Sitte annehmen.
In demselben Jahre, da auf Vogts Betreiben in Breslau die
Schlesische Gesellschaft für Vk. ins Leben getreten war (1894),
gründete O. Brenner in Würzburg den Verein für bayerische Volks¬
kunde und Mundartenforschung, der seit 1895 „Mitteilungen und
Umfragen zur bayerischen Volkskunde“ herausgibt. Hierin wird
vor allem durch kurze Aufsätze darauf hingewiesen, was und wie
gesammelt werden soll; worauf es bei der Volkskunde ankommt,
wird an treffenden Beispielen gezeigt. So anspruchslos auch die
Blätter sind, so erkennt man doch überall den wissenschaftlichen
deutung ist der hist. Nachweis des Hirschberger Apothekers Sartorius und
seiner Identität mit dem Greiffenberger Bürger S. 34 ff.
') Wort und Brauch, 8.Heft: Volkstümliche Sitten und Bräuche im
mittelhochdeutschen Volksepos. (Breslau, ebd., 1910.)
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Geist, der sie leitet. Brenner kommt es in erster Linie darauf an,
von altem V.olkstum zu retten, was noch zu retten ist. Daher
spornt er immer und immer wieder zum Sammeln und Einsenden
des Stoffes an und hat so in Würzburg wohlgeordnet im Archiv
eine Fülle von Stoff eingesammelt, der späteren Geschlechtern
unbezahlbar sein wird. Ganz besondere Verdienste hat sich der
Würzburger Verein, und zwar vor allem Brenner, um die Hausbau¬
forschung erworben, die er seit 1900 betreibt und die sich von
Bayern aus durch die 5. Abteilung des Geschichts- und Altertums¬
vereins über ganz Deutschland verbreitet hat: ihr Ziel ist eine
systematische Darstellung der Formen deutscher Bauernhäuser
in allen Ländern und Provinzen. — In den letzten Jahren hat der
Würzburger Verein auch ,,Blätter zur bayrischen Volkskunde 44
herausgegeben, die größere zusammenhängende Arbeiten enthalten.
Vereinspublikationen liegen nur zwei vor. C. Kleeberger be¬
handelt in einem selbständigen Buche fast alles, was er über und
aus dem Orte Fischbach in der Pfalz hat auf treiben können. 1 )
Das Buch ist mehr eine Heimat- als eine Volkskunde. Denn das
Geographische und Geschichtliche des Ortes gehört nicht in diese.
Die Gründlichkeit aber, mit der der Verf. den Hausbau, Sitten und
Bräuche, Sagen, Kinderreime und Kinderspiele, Volkswitz und
Volkssprache behandelt, verdient Anerkennung und Nachahmung.
Eine ganz hervorragende Leistung des Vereins ist die Sammlung
rheinpfälzischer Volkslieder von G. Heeger und W. Wüst. 2 )
Sie ist eine der besten Sammlungen, die wir in den letzten Jahr¬
zehnten erhalten haben. Text und Melodie sind in gleicher Weise
berücksichtigt. Oft werden von demselben Liede fünf, sechs und
mehr Varianten gegeben. Nirgends fehlt der Hinweis auf die Par¬
allelliteratur in anderen deutschen Volksliedersammlungen. Auch
Hinweise auf Verschmelzung von Liedern finden sich. In einer
Beziehung geht die Sammlung über ihre Vorgänger hinaus: in ge¬
nauer Angabe des Verbreitungsgebietes der einzelnen Lieder, so
daß sich leicht feststellen läßt, welche Volkslieder in der Pfalz
heimisch und welche eingeführt sind.
In Bayern ist 1903 noch ein zweiter volkskundlicher Verein
ins Leben getreten, der von Architekten und Künstlern ausgeht
und sich hauptsächlich um Erforschung und Erhaltung der Volks¬
kunst bemüht. Er hat seinen Sitz in München; seine Seele ist
Prof. Thiersch. Die von ihm herausgegebene Monatsschrift
’) Volkskundliches aus Fischbach in der Pfalz nach den Samm¬
lungen von C. Kleeberger. (Kaiserslautern 1902.)
2 ) Volkslieder aus der Rheinpfalz. Mit Singweisen aus dem Volks¬
munde gesammelt. Im Aufträge des Ver. f. bayer. Volkskunde herausg.
2 Bde. (Kaiserslautern, H. Kayser, 1909.)
Gck igle
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Literaturbericht. Volkskunde
237
„Volkskunst und Volkskunde“ bringt in ihren ersten Bänden
hauptsächlich Beiträge zum bayerischen Hausbau und über die
Ausschmückung des Hauses, daneben aber auch solche über das
geistige Leben, über Sitten und Gebräuche u. dergl., denen seit
1910 eine besondere Abteilung gewidmet ist. Gleich der erste
Jahrgang birgt das inhaltreiche Volkskalendarium von M. Hof¬
ier, worin die volkstümlichen Namen der Monate, der Festzeiten,
der einzelnen Tage mit ihren Sitten und Gebräuchen zusammen¬
gestellt werden. Leider erfährt man auch aus diesem reichhaltigen
Verzeichnis nicht, was noch gegenwärtig im Volksmunde lebt und
was schon abgestorben ist. Das ist überhaupt ein allgemeiner
Fehler solcher umfassenden Sammlungen, der auf den meisten
Gebieten der Volkskunde begegnet. — War ursprünglich das Ziel
dieses Vereins, alte Volksüberlieferungen, die noch erhalten sind,
zu sammeln und dadurch zukünftigen Geschlechtern ein allmäh¬
lich verblassendes Kulturbild zu hinterlegen, so will er neuerdings
auch praktisch für die Erhaltung des guten Alten wirken und
der Zerstörung oder ungeeigneten Restaurierung alter Denkmäler
entgegentreten und die Ergebnisse volkskundlicher Forschung
und Arbeit für das heutige Geschlecht ausbeuten und dadurch die
Liebe zur Heimat und zum Vaterlande nähren. Daher führt die
Zeitschrift seit 1912 den Titel: „Bayerischer Heimatschutz“ und
läßt nun auch rein geschichtliche Denkmäler in ihren Spalten zu
Worte kommen. So ist sie gegenwärtig mehr eine heimatkund-
. liehe als volkskundliche Zeitschrift.
Dasselbe gilt von einem dritten Unternehmen in bayerischen
Landen, von dem Verein „Heimat“, den der Kurat Frank in
Kaufbeuren 1899 ins Leben gerufen hat. Sinn für die Heimat und
das deutsche Volkstum zu stärken ist das Hauptziel seines Grün¬
ders und dessen Genossen. Zu diesem Zwecke gibt er die „Deut¬
schen Gaue“ heraus, eine Zeitschrift für Heimat- und Volkskunde,
die Anleitungen zu Beobachtungen und Forschungen in der Hei¬
mat birgt, zwanglose Berichte, Skizzen, Erzählungen. Die Zeit¬
schrift enthält ja recht mannigfaltigen Stoff, prähistorischen,
geschichtlichen, heimatkundlichen, sozialen. So bringt sie auch
zahlreiche Beiträge zur Volkskunde. Aber es geht hier alles bunt
durcheinander, so daß man den Eindruck hat, man befinde sich
in einem Ortsmuseum, dessen Leiter alles aufstapelt, was er
auftreiben kann, ohne die Gegenstände nach ihrem Werte zu
beurteilen. Die gleiche Mannigfaltigkeit wie die „Deutschen Gaue“
selbst zeigen auch die Sonderhefte zu ihnen, die sie begleiten und
in sich abgeschlossene Darstellungen bringen. Unter ihnen sei der
Praktische Wegweiser durch die Pfarrbücher hervorgehoben, in
dem das Material aus einer sehr wichtigen kulturgeschichtlichen
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]?. Mogk
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und volkskundlichen Quelle, den alten Pfarrbüchern, veröffent¬
licht wird.
Dem schlesischen und bayerischen schloß sich 1897 der säch¬
sische und bald darauf auch der hessische Verein für Volkskunde
an. Der sächsische Verein legte von allem Anfang an das Haupt¬
gewicht auf die Realien der Volkskunde und besonders auf die
Volkskunst. Sein Ziel war daher die Errichtung eines Museums,
das die Erzeugnisse der Volkskunst sammeln, zur Beschäftigung
mit dieser anregen und zu ihrer Pflege in weitesten Kreisen an¬
spornen sollte. Durch die zielbewußte Arbeit Prof. Seyfferts
ist dann auch in Dresden ein Museum sächsischer Volkskunst
entstanden, das in vieler Beziehung vorbildlich genannt werden
muß. Ein besonderes Verdienst um die Volkskunde hat sich der
Verein auch dadurch erworben, daß er durch Preisarbeiten an den
Mittelschulen das Interesse um die Volkskunst zu fördern strebt,
wobei ihn die Regierung tatkräftig unterstützt. Die wissenschaft¬
liche Seite der Vereinstätigkeit liegt in Händen des Referenten, der
in Leipzig eine Sammelstätte volkskundlichen Stoffes errichtete
und im Aufträge des Vereins Mitteilungen herausgibt. 1 ) Diese
haben keinen wissenschaftlichen Charakter; sie sollen vor allem
anregen und hinweisen, worauf es bei volkskundlicher Arbeit
ankommt, sie veröffentlichen das eingesandte Material und bringen
nur hin und wieder zusammenhängende Darstellungen. — Um
einen Mittelpunkt für umfangreichere Arbeiten auf dem Gebiete
der Volkskunde aller Länder zu schaffen, gab im Aufträge des
Vereins Ref. die „Beiträge zur Volkskunde“ heraus, die aber
schon mit dem 4. Bande ihr Erscheinen einstellten.*) Mitglieder
des Vereins waren es auch, die unter Wuttkes Leitung das Sammel¬
werk „Sächsische Volkskunde“ herausgaben. 3 ) Dieses Werk ver-
*) Mitteilungen des Vereins f. sächs. Volkskunde, herausg. von
£. Mogk. (Dresden 1897 fl.)
*) BeiträgezurVolkskunde herausg. von E.Mogk. i.Bd. G.Schlauch,
Sachsen im Sprichwort. (Leipzig 1905.) 2. u. 3. Bd. B. Jlg, Maltesische
Märchen und Schwänke. Aus dem Volksmunde gesammelt. (Ebd. 1906.)
4. Bd. A. Kopp, Ältere Liedersammlungen. (Sächs. Bergliederbüchleins
Der Frau von Holleben Liederhandschrift.) (Ebd. 1906.)
*) Sächsische Volkskunde. Unter Mitwirkung von J. Deichmüller,
H. Dünger, H. Ermisch, K. Franke, O. Grüner, C. Gurlitt, A. Kurzwelly,
E. Mogk, M. Rentsch, S. Rüge, O. Schulze, O. Seyffert, J. Walther herausg.
von R. Wuttke. (Dresden 1900; 2. Aufl. ebd. 1901.) — Außerdem gab
der sächs. Verein heraus: A.Meiche, Sagenbuch des Königreichs Sachsen
(Leipzig 1903): O. Grüner, Die Dorfkirche im Königreich Sachsen
(Leipzig 1904); O. Seyffert, Von der Wiege bis zum Grabe; ein Bei¬
trag zur sächs. Volkskunst (Wien 1905); A. Hennig, Die Dorfformen
Sachsens. (Dresden 1912.)
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Literaturbericht. Volkskunde
239
dient deshalb besondere Erwähnung, weil es Veranlassung zu einer
erregten Debatte über die Begrenzung des Begriffes „Volkskunde“
gab. Der Herausgeber hat den Begriff ungemein weit gefaßt.
Er vereinigte in dem Buche: Die geographische Darstellung des
sächsischen Landes, die Vorgeschichte, die geschichtliche Ent¬
wicklung vor der Slawenzeit, den Verlauf und die Formen der
Besiedlung, statistische Tabellen über Stand und Wachstum,
Gliederung, Verbrechen und Selbstmord der Bevölkerung, dann
folgten erst Volksdichtung, Mundarten, Sitten, Brauch und Volks¬
glaube, Anlage von Kirche, Haus und Hof, Bauernwohnung und
Bauernkunst und endlich die Volkstrachten. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß wir es hier mit einer falschen Ausdehnung
des Begriffes zu tun haben. Es ist interessant, zu beobachten,
wie die einzelnen Forscher den Begriff „Volkskunde“ je nach dem
Spezialgebiet ihrer Tätigkeit ausgedehnt oder verengt und sie mehr
oder weniger für dieses in Anspruch genommen haben. Ich knüpfe
eine kurze Darstellung darüber gleich an dieser Stelle an.
Die Volkskunde ist eine deutsche Wissenschaft. Denn während
andere Völker sich mit dem von W. Thoms 1846 geprägten „Folk¬
lore“ (d. h. der Volksüberlieferung) begnügt und demnach das
Gewicht fast ausschließlich auf die Sammlung des Stoffes gelegt
haben, hat in Deutschland das psychologische Moment, d. h. die
Erforschung der Volksseele aus dem überlieferten Material, von
allem Anfang an in der Volkskunde eine wichtige Rolle gespielt. Das
Wort selbst begegnet relativ spät. Wohl wurde es (siehe S. 231, Anm. 1)
schon 1822 von Fr. Ziska in der Vorrede zu seinen Österreichischen
Volksmärchen 1 ) und von W.H.Riehl l858inseinem Vortrag„DieV.
als Wissenschaft“*) gebraucht, aber zum allgemeinen Gebrauch ge¬
langt es erst in den 70er Jahrendes vergangenen Jahrhunderts. 8 ) Ohne
feste Umgrenzung war es in den deutschen Wortschatz aufgenom¬
men. Da suchte ihm K. Weinhold im letzten Bande der Zeitschrift
für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (S. 2) einen festen
Inhalt zu geben. „Die Volkskunde hat die Aufgabe, das Volk,
das ist eine bestimmte, geschichtlich und geographisch abgegrenzte
Menschenverbindung von Tausenden oder Millionen, in allen
Lebensäußerungen zu erforschen.“ Und in der Zeitschrift des
Vereins für Volkskunde, die nun die Zeitschr. f. Völkerpsychologie
ablöste, stellte er das Programm der neuen Wissenschaft auf
(I, S. 3ff.). Danach sollte ihr Arbeitsgebiet sein: außer den physi-
*) Vgl. v. Geramb, Deutsch-Österreich I. Bd., Heft 37. A. Hauffen,
Z. d. V. f. Vk. XXIII, S. 414 f.
*) Culturstudien aus drei Jahrhunderten S. 203 ff.
*) Schon 1879 £ a b F. Liebrecht seinen kleinen Aufsätzen den Titel
„Zur Volkskunde“.
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sehen Erscheinungen des Volkes die äußeren Zustände, Volksnah¬
rung, Tracht, Wohnung, und die inneren, die Lebenssitte im
Haus und in der Sippe, außer dem Hause (im Jäger- und Fischer-,
Hirten-, Bauern-, Handwerkerleben), das volkstümliche Recht,
die Religion, die Sprache, die volkstümliche Poesie in all ihren Ver¬
ästelungen, Musik und Tanz, die Ästhetik. Dieses Programm
übernahmen fast alle Landes- und Provinzialvereine und entwarfen
auf Grund desselben ihre Fragebogen. Es kam auch in der kleinen
Schrift von O. Jiriczek zum Ausdruck, die als seine Erweiterung
anzusehen ist. 1 ) Doch nicht alle Forscher waren mit der Umgren¬
zung des Gebietes einverstanden, wie schon das Wuttkesche Werk
zeigt. Vor allem wollte man die Volkskunde nicht als selbstän¬
diges Wissensgebiet anerkennen. Der Kulturhistoriker nahm sie
für die Kulturgeschichte in Anspruch, der Ethnologe faßte sie als
Teil der Völkerkunde auf 2 ), und Historiker wie Kaindl schlossen
sich ihm an. ,,Die Volkskunde“, sagt letzterer, ,,ist jener Zweig
der Völkerwissenschaft, welche für deren induktive komparative
Methode einen bedeutenden Teil des Materials herbeizuschaffen
hat. Sie hat alle Mythen und alle Äußerungen der lebenden Volks¬
religion, alle Sagen, Märchen, Lieder, Sprüche, den sog. Aberglau¬
ben, Sitten u. dergl. zu sammeln, sie hat alle Überbleibsel (sur-
vivals) der früheren älteren Anschauungen aufzudecken, die zur
Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhanges der menschlichen
Geistesentwicklung unumgänglich notwendig sind.“ 3 ) Auch der
Philologe kämpfte um sie. Während aber der Kulturhistoriker
und der Ethnologe ihr Gebiet möglichst ausdehnten und über den
Weinholdschen Rahmen hinausgingen, wurde von philologischer
Seite dasselbe möglichst eingeengt. Für diese Begrenzung der
Volkskunde und zugleich gegen den Entwurf Wuttkes trat nament¬
lich A. Dieterich in die Schranken. 4 ) Nach ihm ist ,,die Kunde
*) Anleitung zur Mitarbeit an volkskundlichen Sammlungen. Brünn
1894. Ebenso bei A. Hauffen, Einführung in die deutsch - böhmische
Volkskunde. (Prag 1896.)
*) Vgl. M. Winternitz, Völkerkunde, Volkskunde und Philologie.
Globus 78 (1900), Nr. 22. u. 23.; S. Günther, Ziele, Richtpunkte und
Methode der modernen Völkerkunde. (Stuttg. 1904.) Wenn G. behauptet,
die Volkskunde hätte sich erst in den letzten Jahren als Ausläufer von
der Völkerkunde abgezweigt, so ist das unrichtig. Denn ihrem Wesen
nach bestand bereits die Volkskunde zu einer Zeit, wo von einer Völker¬
kunde als Wissenschaft noch keine Rede war.
R. F. Kaindl, Die Volkskunde, ihre Bedeutung, ihre Ziele und
ihre Methode mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den
historischen Wissenschaften (Leipzig und Wien 1903) S. I9f.
4 ) Über Wesen und Ziele der Volkskunde. Hess. Blätter f. Vk. I.
(1902), S. 169 fr.
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Literaturbericht. Volkskunde 241
von einem Volke im umfassenden Sinne wissenschaftlich genom¬
men Philologie“, d. h. Philologie in der umfassendsten Bedeutung
des Wortes als Geschichtswissenschaft. Es gilt, die organisch zu¬
sammengehörige Unterschicht zu erforschen, aus deren Mutter¬
boden alle individuelle Gestaltung und persönliche Schöpfung
herausgewachsen ist, die „Unterwelt der Kultur“. Alle physischen
Erscheinungen bei einem Volke scheidet er daher von dem Begriff
der Volkskunde aus, und die materiellen Dinge (Hausbau, Tracht,
Kunstgegenstände) kommen. nach ihm nur in Betracht, soweit
sie das Volksdenken erklären. Zweifellos hat Dieterich darin
recht, daß er die geistige — oder richtiger die innerliche — Tätig¬
keit in den Mittelpunkt des Begriffs stellt. Aber er konzentriert alles
zu sehr auf das rein geistige Leben und rechnet zu wenig mit dem
Gemütsleben der Menschen, der Völker, — Ganz ähnlich wie der
klassischePhilologeDieterich nimmtauchderRomanistVoretzsch 1 )
die Volkskunde nur als philologische Disziplin in Anspruch und
bekämpft daher die weite Ausdehnung, die Weinhold und ganz be¬
sonders Wuttke dem Worte gegeben hatten.
In demselben Bande der Hessischen Blätter für Volkskunde,
in dem Dieterich das Gebiet zu umreißen versuchte, hatte auch
Strack*) eine Definition des Wortes gegeben. Unter dem Einflüsse
von Wundts Völkerpsychologie und Posts naturwissenschaft¬
licher Erklärung rechnet er mit der Massenassoziation und dem
Völkergedanken und erklärt als Aufgabe der wissenschaftlichen
Volkskunde, neben der er auch die praktische zu ihrem Rechte
kommen läßt, „die Erforschung, Darstellung und Erklärung aller
Lebensformen und geistigen Äußerungen, die aus dem natürlichen
Zusammenhang eines Volkes unbewußt hervorgehen und durch
ihn bedingt sind.“ Ganz richtig fühlte Strack, daß in fast jedem
Menschen, mag er Bauer oder Städter, gebildet oder ungebildet,
reich oder arm sein, ein Stück Volkstum steckt, das unter gewissen
Voraussetzungen zum Durchbruch kommt. Nur legte er die Vor¬
aussetzungen nicht klar. Das geschah auch nicht in der Fehde,
die sich zwischen ihm und Hoffmann-Krayer entwickelte,
der sich kurz zuvor 3 ) über das Wesen und die Aufgaben der Volks¬
kunde ausgesprochen und „Volk“ in Volkskunde fast nur für
*) Philologie und Volkskunde. Versamml. deutscher Philologen und
Schulmänner in Halle (Leipzig 1903) S. 129 fr.
*) Ebd. I, S. 149 ff-
*) Volkskunde als Wissenschaft (Zürich 1902); dazu Strack, Hess.
Blätter f. Vk. I, S. 160ff.; Hoffmann-Krayer, Naturgesetz im Volksleben?,
ebd. II, S. 57 ff.; Strack, Der Einzelne und das Volk, ebd. S. 64 ff, wo
Hoffmann-Krayer die Erzeugnisse des Volkes als individuelle, Strack da¬
gegen als Massenerzeugnisse erklärt.
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24 2
E. Mogk
das vulgus in populo in Anspruch genommen hatte. In dieser
Schrift versuchte auch Hoff mann-Kray er die Volkskunde gegen
die Ethnographie und Kulturgeschichte abzugrenzen und verlangte
neben der Beschäftigung mit der stammheitlichen Volkskunde
(d. h. der Volkskunde eines Volkes) das Studium der allgemeinen
(d. h. der vergleichenden Volkskunde), die sich mit den Prinzipien
und Grundgesetzen der volkstümlichen Anschauungen zu beschäf¬
tigen habe. Was den Unterschied zwischen Kulturgeschichte und
Volkskunde betrifft, so steht nach H.-Kr. bei der Kulturgeschichte
das „individuell-zivilisatorische Moment“ im Vordergrund, bei
der Volkskunde das „generell-stagnierende“. Volle Klarheit
über Begriff und Ausdehnung der Volkskunde war durch die Strack-
Hoffmannsche Fehde nicht geschaffen worden. Das zeigt auch das
in vieler Beziehung recht treffliche Werk von K. Reuschel 1 ),
der auch noch das vulgus und zwar besonders die ländliche Be¬
völkerung als die Hauptquelle unseres volkskundlichen Materials
ansieht. Der Hauptfehler ist darin gemacht worden, daß man zu
sehr mit den sozialen Vereinigungen im Volke rechnete, zu wenig
mit den psychologischen Ursachen der Erscheinungen, man sprach
viel von geistiger Tätigkeit und berücksichtigte nicht, daß der
Mensch in erster Linie unter dem Einflüsse von Gemütserregungen
steht, die sein ganzes Denken und Handeln leiten. Solche Erwägun¬
gen bewogen Ref., eine bestimmtere Erklärung des Wesens der
„Volkskunde“ zu geben und damit das Tätigkeitsgebiet ihrer
Forscher fester zu umgrenzen. 2 ) Der Artikel ging von der Er¬
wägung aus, daß der Mensch — und zwar jeder — in erster Linie
Gemütsmensch ist, und daß auf diesen die Umwelt, Ereignisse
sowohl wie Naturerscheinungen, auf gleiche oder wenigstens
ähnliche Weise einwirken. Der Reflex dieser Einwirkungen ist
die assoziative Denkform, die die Dinge nicht mit dem abwägen¬
den Verstände, sondern nach den Gefühlserregungen auffaßt. Mit
der Wiedergabe solcher Auffassungen hat es die Volkskunde zu
tun. Wir können volkskundlichen Stoff bei allen Menschen beob¬
achten. Nur tritt er bei den höher gebildeten, vor allem den lo¬
gisch geschulten, mehr zurück als bei den ungebildeten, zumal
wenn diese ihre Beschäftigung in der freien Natur haben. Hieraus
erklärt sich, daß besonders die ländliche Bevölkerung viel volks¬
kundlichen Stoff liefert. Auch ist der Mensch nicht immer in
gleicher Weise den Einflüssen der Umwelt zugänglich und so zur
assoziativen Denkform geneigt; es geschieht nur, wenn der Gemüts¬
mensch unbewußt den Verstandsmenschen überwiegt. Es lassen
*) Volkskundliche Streifzüge (Dresden u. Leipzig 1903).
*) E. Mogk, Wesen und Aufgaben der Volkskunde. Mitt. des Ver¬
bandes deutscher Vereine f. Volksk. (November 1907).
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Literaturbericht. Volkskunde
243
sich ferner die einen Menschen mehr von äußeren Einflüssen
leiten, andere weniger. Zu ersteren gehören vor allem die Kinder,
die Alten, die Frauen. Sie liefern daher mehr volkskundliches
Material als die Männer. Hierdurch scheidet das vulgus in populo
ein für allemal aus. Bei dieser Auffassung spielt nun die Über¬
lieferung eine wesentliche Rolle. Überlieferung ist, was sich
dem Menschen in seiner Kindheit unbewußt eingeprägt hat und
das bei dem Gemütsmenschen fester haften bleibt als bei dem
Verstandesmenschen, an dem manche Menschen ihr ganzes Leben
hindurch festhalten, das andere dagegen, öfter nur teilweise, durch
die Erziehung zum logischen Denken im Laufe der Zeit abstreifen.
Durch diese Erklärung läßt sich wenigstens annähernd auch die
Grenze zwischen Kulturgeschichte und Volkskunde ziehen: diese
hat sich mit den Erzeugnissen zu beschäftigen, die die assoziative
Denkweise hervorgerufen hat oder festhält, jene mit den individu¬
ellen Erzeugnissen denkender Geister. Da aber für diese vielfach
das Volkstum der Wurzelboden ist und die höhere individuelle
Kultur öfter zur assoziativen Denkform anregt, so besteht zwischen
beiden ein fortwährender Wechselverkehr, und die Beschäftigung
mit dem einen ohne das andere ist undenkbar und müßte zu
argen Fehlschlüssen führen. Hierdurch wird auch eine geschicht¬
liche Verfolgung volkskundlichen Materials unbedingtes Erforder¬
nis. Zugleich treten die geistigen Erzeugnisse, wie es Dieterich
gefordert hat, in den Mittelpunkt der Forschung, und die physi¬
schen Erscheinungen des Menschen, die Weinhold an die Spitze
seines Programms gestellt hat, scheiden aus. Dagegen nicht die
materiellen Erzeugnisse, die Realien der Volkskunde. Denn diese
fußen entweder in der Überlieferung oder haben ihren Ursprung
in Erzeugnissen einer höheren Kultur, an denen der natürliche
Mensch seine Freude gefunden und die er deshalb als Ausdruck die¬
ser Gemütsstimmung nachgeahmt (nicht nachgebildet 1) hat.
Diese Erklärung des Begriffs „Volkskunde“ hat mehrfach Anklang
gefunden 1 ); eine Widerlegung ist zurzeit nicht erfolgt.
Ein frischer Zug auf dem Gebiete volkskundlicher Tätigkeit
ging noch im Ausgang vorigen Jahrhunderts von Hessen aus.
Hier wirkten vor allem Adolf Strack und Albre'cht Dieterich,,
von denen jener 1899 die Hessische Vereinigung für Volkskunde ins
Leben rief, die sich anfangs dem Oberhessischen Geschichtsvereitt
angliederte, 1901 aber sich selbständig machte und unter Stracks
Leitung die Hessischen Blätter für Volkskunde herausgab, eine
volkskundliche Zeitschrift, die zu den besten in Deutschland ge-
*) Vgl. Böckel, Die deutsche Volkssage S. 2f.; K. Reuschel, All¬
gemeine u. franz. Volkskunde 1897—1909, S. ioff; J. Sahr, Zeitschr. f
d. deutschen Unterricht XXV, S. 2270.
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hört. Da sie nicht nur Aufsätze und Beiträge zur hessischen Volks¬
kunde bringt, ist sie, namentlich für Mitteldeutschland, neben der
Berliner Zeitschrift ein zweiter Mittelpunkt volkskundlicher For¬
schung. Außer z. T. recht wertvollem Stoff aus hessischen Landen,
der teils aus dem Volke, teils aus alten Schriften geschöpft ist,
und inhaltreichen Besprechungen volkskundlicher Arbeiten ent¬
halten namentlich die ersten Bände Artikel, die gewisse Forschungs¬
gebiete wesentlich gefördert haben. So weist A. Dieterich die Exi¬
stenz von Himmelsbriefen, die bis in unsere Zeit eine so wichtige
Rolle spielen, schon in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit¬
rechnung in jüdischen und griechisch-römischen Quellen nach
(I, S. I9ff.) ; J. R. Dieterich sieht in der mittelalterlichen Sitte des
Eselrittes und Dachabdeckens illegitime Nachfolger der alten,
in Abgang gekommenen Volksgerichte (I, S. 87ff.); Usener bringt
in einem lehrreichen Aufsatze „Über vergleichende Sitten- und
Rechtsgeschichte“ (I, S. 195 ff.) die Ephebien des Altertums mit
den Jünglingsweihen der deutschen Bauern zusammen und gibt
so eine wertvolle Ergänzung zu Schurtz, „Alterklassen und
Männerbünde“ (Berl. 1902), einem Werke, das die Bruderschaften
und Männerbünde bei allen Völkern der Erde verfolgt und nicht
nur durch sein Material, sondern auch durch seine Ergebnisse für
jeden Volkskundenforscher unentbehrlich ist. Nach diesem Werke
steht es fest, daß diese Bünde einen sozialen, ja öfter politischen,
nicht aber, wie Usener annimmt, einen sakralen Hintergrund haben.
— Aus dem 2. Bande sei vor allem die Abhandlung von R. Petsch
hervorgehoben: Volksdichtung und volkstümliches Denken (S.
192ff.). In ihm erkennt sein Verf. die volkstümliche Denkweise
als Willensakte, die triebartig-unwillkürlich erfolgen und auf As¬
soziationsvorgängen beruhen.') Hierdurch wird die Phantasietätig¬
keit eine passive, ein Denken in Bildern, und nur das regt zur
Phantasie an, was einen starken, sinnlichen Eindruck hinterläßt.
Und unter dem Einflüsse dieses Eindrucks entsteht die Volksdich¬
tung. Petsch sieht also hier die Quelle der Volkspoesie in ähnlichen
seelischen Vorgängen wie Ref. alle Erzeugnisse der Volkskunde.
Hierzu stimmt auch, was O. Schulte über die Psychologie der
Bauern des nördlichen Vogelberges sagt (II, S. 1 ff.), und was a. O.
L'Houet auf breiter Grundlage ausgeführt hat*): nur das sinnlich
Greifbare, das stark Wirkende erregt bei dem natürlichen Menschen
Reflexbewegungen, die in seinen Worten, Werken und Hand¬
lungen zum Ausdruck kommen. — In einem Aufsatze über die An¬
fänge der Kunst (III, S. 98ff.) widerlegt K. Groos die Hypothese
*) Vgl. auch das treffliche Werk von Vierkandt, Naturvölker und
Kulturvölker (Leipzig 1896), auf dem Petsch seine Gedanken aufbaut
*) Zur Psychologie des Bauerntums (Tübingen 1905).
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Literaturbericht. Volkskunde
245
Darwins, wonach der Ursprung der Kunst im Sexualleben der
Urmenschen zu suchen wäre. Durch die Tatsachen wenigstens
wird sie nicht gestützt. Vielmehr ist er in dem sozial-religiösen
Leben zu suchen, das auch für die Höherentwicklung der Kunst
viel wichtiger ist als die Bewerbung. — Ein Artikel, der sich mit
der Erklärung volkskundlicher Ausdrücke beschäftigt und demnach
weitergehende Bedeutung hat, ist E. Bethes Vortrag „Mythus,
Sage, Märchen“ (IV, S. 97 ff.). Er zeichnet sich vor allem durch große
Klarheit aus. Alle drei Worte sind gelehrte Begriffe, die oft ganz
verschieden gedeutet worden sind. Nach Bethes Auffassung sind
die Märchen dem Unterhaltungsbedürfnis natürlicher Menschen
entsprungen. „Sie sind die von einem bestimmten Volkskreise
nach seinem Geschmack ausgewählte und seinem Wesen ange¬
paßte Auswahl aus dem großen internationalen Schatze hübscher
Geschichten, die zum Allgemeinbesitz des Volkes geworden sind,
aber auch wieder aus ihm ausgewählt wurden, weil sie in typischer
Reinheit allgemein menschliche Eigenschaften und Leidenschaften,
Schwäche und Stärke, Erfahrungen und Weltweisheit zu anschau¬
licher Darstellung bringen oder auch gar nichts weiter geben als
Unterhaltung, und nichts anderes erzählen, als was ergötzt und
gefällt, und der Phantasie des empfänglichen Erwachsenen wie
des Kindes ein Spiel bieten, das Welt und Leben von der engen Ge¬
bundenheit eckiger Wirklichkeit befreit und, nur dem unbehinderten
Wunsche dienstbar, heiter zu genießen erlaubt.“ So ist das
Märchen die Quintessenz aller Phantasiearbeit der Menschheit,
und hieraus erklärt sich seine Bedeutung für Sage und Mythus,
indem sich diesem wie jener zahlreiche Märchenmotive angliedern,
wie andererseits aber auch Mythus und Sage in das Märchen ein-
dringen können. In dem Nachweis der gegenseitigen Wechselwir¬
kung jener drei Begriffe liegt der Wert der Betheschen Arbeit.
In dem Abschnitt über die Sage — in der Deutung dieses Wortes
schließt sich B. ganz an J. Grimm an — wird vor allem die Helden¬
sage behandelt. Mit Recht wird die so lange herrschende und viel¬
fach heute noch nicht überwundene Ansicht, daß die Heldensage
alter Göttermythus, Helden wie Siegfried also depotenzierte
Götter seien, zurückgewiesen. Alle Heldensage wurzelt vielmehr
in historischen Ereignissen, knüpft an historische Gestalten an,
an die sich, namentlich im Zeitalter der historischen Novelle,
alle möglichen Märchenmotive, Ta,ten anderer Personen, selbst
mythische Züge ankristallisiert haben, die die Phantasie des Volkes
und der Dichter immer mehr zur Idealgestalt ausgebildet hat.
Mythus endlich ist primitive Philosophie, die einfachste anschau¬
liche Denkform, eine Reihe von Versuchen, die Welt zu ver¬
stehen, Leben und Tod, Schicksal und Natur, Götter und Kulte
zu erklären. So sind Mythus, Sage und Märchen nur ihrem Ur-
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246 E - Mogk
Sprunge und ihrem Zwecke nach verschieden, in der uns überliefer¬
ten Form aber haben fortwährend gegenseitige Austauschungen
stattgefunden, und es ist die Aufgabe der Forschung, das überlieferte
Material zu zergliedern und Märchenmotive, Sagenzüge und mythi¬
sche Bestandteile zu sondern. Dabei stellt sich heraus, daß man
nicht, wie in letzter Zeit mehrfach geschehen ist 1 ), ganze Sagen auf
bestimmte Märcheneinheiten zurückführen darf, sondern daß es
Motive von ganz verschiedenen Märchen sind, die die Dichtung
und Volksphantasie mit der Sage verflochten hat.
Ähnliche Probleme, wie sie Bethe hier erörtert, sind zu derselben
Zeit auch von anderen Forschern behandelt worden. Zunächst von
F. Panzer in seiner akademischen Vorlesung über Märchen, Sage
und Dichtung. 2 ) Ähnlich wie bei Bethe konzentrieren sich auch
Panzers Erörterungen um die Heldensage. Märchen und Sage
charakterisiert er hauptsächlich ihrer Form nach und sucht sie
durch diese scharf voneinander zu trennen. Die Sage führt ihn
zur Dichtung, die ihm durch die äußere Form zur Poesie gewordene
Geschichte ist. Dabei wirft Panzer die umstrittene Frage auf,
ob die uns aus dem 13. Jahrhundert erhaltene Heldendichtung
auf ältere Dichtung oder mündliche Sage, wie namentlich mehrere
Romanisten annehmen, zurückgehe, und entscheidet sich für das
erstere, da die geschichtlichen Ereignisse früherer Zeiten große
Treue zeigen und der innere Charakter der Dichtung ganz dem
Geist der Zeiten entspricht, in denen sie gespielt haben. Wird ihm
die Kritik hierin recht geben müssen, so schwerlich in der Behaup¬
tung, auf der Panzers eben genannten Werke aufgebaut sind,
daß die Heldensage im Märchen wurzle, daß also historische und
sagenhafte Gestalten auf bestimmte Märchen durch den Dichter
übertragen worden seien. Offenbar hat über den Ursprung der
Sage die Bethesche Auffassung die größere Wahrscheinlichkeit für
sich. — Über Märchen, Sage und Mythus hat auch W. Wundt
seine Gedanken geäußert, aber weniger vom philologischen als
vielmehr vom psychologischen Standpunkte aus. 8 ) Er hält die
Frage nach der Begrenzung von Märchen, Sage und Legende
zugleich für eine psychologisch-ästhetische. Danach wandelt das.
*) Fr. Panzer, Studien zur germanischen Sagendichtung I. Beowulf
(München 1910), wo P. in der Beowulfdichtung das Märchen vom Bären¬
sohn wiederzufinden glaubt; II. Sigfrid (ebd. 1912), worin mehrere Märchen
nachzuweisen versucht werden. Schon in Hilde-Gudrun (Halle 1901)
hatte P. das Märchen vom Eisenhaus als Quelle der Hilde-Gudrun-
dichtung angenommen.
*) Märchen, Sage und Dichtung (München 1905).
*) Märchen, Sage und Legende als Entwicklungsformen des Mythus.
Archiv f. Religionswiss. XI, S. 200 fl.
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Literaturbericht. Volkskunde
247
Märchen die Eindrücke der täglichen Umgebung unter der Wir¬
kung der Affekte des Wunsches und der Furcht, von denen sie
begleitet sind, mit phantastischer Willkür in eine erträumte Wirk¬
lichkeit um. Was Wundt über den Begriff „Sage“ bemerkt, ist
nichts Neues. Ob in die weiter entwickelte Volkssage die sog.
niedere Mythologie, in die durch das Epos ausgebildete Helden¬
sage die höhere verwoben ist, wie hier angenommen wird, bedarf
doch noch gründlicher Untersuchung. Jedenfalls spielt auch in
der Heldensage der Dämonen-, Seelen- und Zauberglaube eine nicht
zu unterschätzende Rolle. Das Hauptgewicht hat Wundt auf die
Erklärung des Göttermythus gelegt, d. h. auf die Erzählungen,
die sich an die Götter knüpfen. Einen Göttermythus als besondere
Gattung poetischer Gestaltung leugnet W. Der Mythus, meint
er, ist entweder mythologisches Märcheo oder mythologische
Sage, je nachdem in ihm die frei schaffende Phantasie tätig ge¬
wesen oder die Erzählung an Ort oder Zeit gebunden ist. Als
Unterart der mythologischen Sage begegnet dann die Legende,
deren Hauptmerkmal ist, daß ihr Held entweder als Stammvater
oder als der einstige Wohltäter des lebenden Geschlechtes betrach¬
tet und daher teils in den allgemeinen Kultus aufgenommen ist,
teils in besonderen Kultfesten gefeiert wird.
Gegenüber diesen auf geschichtlichen Forschungen und psycho¬
logischen Beobachtungen beruhenden Arbeiten hebt sich eine
vierte, die von E. Siecke, wie ein Satirstück ab. 1 ) Mythen,
Sagen und Märchen sind ihm drei Spielarten, zwischen denen kein
Unterschied besteht. Alles wurzelt in der Beobachtung der Vor¬
gänge am Himmel, namentlich des Mondes, die bei primitiven
Menschen die Phantasie erregt und zur Bildung von Märchen,
Mythen und Sagen angespornt haben, aus denen sich noch heute
diese Beobachtungen herauslesen lassen. Ein Unterschied zwischen
Mythus, Märchen und Sage hat sich erst im Laufe der Zeit heraus¬
gebildet. Die kosmologischen Erzählungen — die also vor aller
Religion liegen! —, bei denen der Gedanke an überirdische Mächte
sich erhielt, wurden zu Mythen oder Göttersagen, die wesentlich
zur Entstehung der Religion beigetragen haben, diejenigen, in
denen die handelnden Personen als Helden der Vorzeit erschienen
und an die sich geschichtliche Erinnerungen anlehnten, wurden
zu Sagen, diejenigen aber, welche die Beziehung auf historische
Vorgänge ganz fallen ließen und in niedere menschliche Sphäre hinab-
stiegen, wurden zu Märchen. Alles aber wurzelt in den verschie¬
denen Mondphasen. Der Standpunkt, daß Märchen und Sage
gesunkener Mythus sei, wird trotz des Gegenbeweises von fast allen
*) Mythen, Sage, Märchen in ihren Beziehungen zur Gegenwart
(Leipzig 1906).
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248 E Mogk
Seiten festgehalten, und so überall phantasiert, nirgends auf¬
gebaut. Leider hat die Sieckesche Phantasterei geradezu hypno¬
tisch gewirkt und wuchert weiter. Abgesehen von der „Mytho¬
logischen Bibliothek“ (Lpz. 1907 ff.), die Siecke mit den Drachen¬
kämpfen, d. s. zur Sage gewordene Mondmythen, eröffnet und
die sich ganz in dieser nebelhaften Sphäre bewegt, sind verschie¬
dene Monographien ähnlichen Inhalts erschienen. So suchte
W. Schultz 1 ) in Zahlen und Bildern, von denen die einzig ein¬
leuchtenden (S. 23) von ihm selbst konstruiert sind, den Ursprung
der Mondmythen, hervorgerufen durch Hell- und Schwarzmond
(Tarnkappe, Drachenkämpfe), für die Arier in Anspruch zu nehmen
und läßt sie von dort aus zunächst zu den Ägyptern und dann
über die ganze Erde bis zu den Indianern Nordamerikas sich ver¬
breiten. Ihren Höhepunkt aber erreicht diese Richtung und wird
geradezu zur Astromanie in einem Werke von G. Friedrichs*),
worin sämtliche germanische Märchen, Mythen und Sagen als
poetische Reflexe von Eindrücken der Sonne, des Mondes und
des Morgensternes gedeutet werden. Daß dabei die Kritik der
Quellen nicht beachtet werden darf und diese vielfach gefälscht
werden müssen, liegt in der Natur der Sache. Aber auch ernstere
Forscher haben sich dem Banne der Hypnose nicht entziehen
können; so P. Ehrenreich in seiner in vieler Beziehung vor¬
trefflichen Allgemeinen Mythologie 8 ); und selbst Leopold von
Schroeder kann sich in seiner Deutung der Brünhildendichtung
ihr nicht ganz entziehen. Das letztere Werk 4 ) ist ein eigentümliches
Buch, das an dieser Stelle Erwähnung verdient, da es sich mit
den Problemen berührt, die hier behandelt worden sind. v. Schroe¬
der läßt die Götter- und Heldensagen, namentlich die Drachen¬
kämpfe, noch unter dem direkten Einflüsse der Naturerscheinungen
entstehen. Die Sonnenjungfrau, d. i. die Sonne, die von einem Hel¬
den, dem Sonnengotte, aus der Gewalt dämonischer Mächte be¬
freit wird, spielt bei seinen Deutungen eine wichtige Rolle; die
Mythen von ihr, die in vielen Götter- und Heldensagen sowie Mär¬
chen fortleben, gehören der arischen Urzeit an. Sie wurzeln in
*) Die Anschauung vom Monde und seinen Gestalten in Mythus und
Kunst der Völker (Berlin-Treptow, Sternwarte, 1012). — Etwas vorsichtiger,
aber auch durchaus Astralmytholog ist Gäza Röheim, Drachen und
Drachenkämpfe (Berlin 1912).
*) Grundlage, Entstehung und genaue Einzeldeutung der bekanntesten
germanischen Märchen, Mythen und Sagen (Leipzig 1909).
*) Die allgemeine Mythologie und ihre ethnologischen Grundlagen
(Leipzig 1910).
4 ) Vollendung des arischen Mysteriums in Bayreuth (München, J. F.
Lehmann, 19 n).
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Literaturbericht. Volkskunde
249
der Naturverehrung der ungetrennten Arier oder Indogermanen-
Außer der Naturverehrung hatten diese den Seelenkult und den
Glauben an ein höchstes gutes Wesen, das im Himmel thronte
und über die Moral wachte. Letzteres dürfte mit Recht bezweifelt
werden. In dieser Religion tritt, wie bei allen primitiven Völkern,
der Zauber (Sonnen-, Regen- und Fruchtbarkeitszauber) hervor.
Zu seiner Verstärkung dienen Tanz und Umzüge mit mimischen
Darstellungen und Handlungen, die Schallwirkungen (Musik) be¬
gleiten, und hierin wurzelt das Mysterium und der Mimus, aus dem
sich das Drama entwickelt hat. Die Mysterien sind religiöse,
kultische, mythische oder doch im Mythus beruhende Hand¬
lungen, die in Tänzen bestehen, wobei die Teilnehmer verkleidet
und maskiert abgeschiedene Seelen, Dämonen oder Götter dar¬
stellen. Aus Sitte und Brauch, Kult und Mythus der verschiedenen
indogermanischen Völker erschließt v. Schroeder die urarischen
Mysterien; diese waren: Tod und Wiederbelebung des Vege¬
tationsdämons, Befreiung der Sonnenjungfrau aus der Gewalt
dämonischer Mächte durch den Drachenstich, Hochzeit des Vege¬
tationsdämons und Wiedergewinnung der gerauhten Sonne. In allen
diesen Mysterien zeigte sich eine, rücksichtslose Lebensbejahung,
die den Urariern eigen war. In diese Lebensauffassung kam bei
den Ostariern durch den Buddhismus, bei den Westariern durch
das Christentum ein fremder Zug, eine weibliche Moral im Gegen¬
satz zur urarisch-männlichen. Beide Gegensätze zeigen sich ganz
besonders bei der germanischen Rasse, die neben der hingebenden
Liebe, die das Christentum brachte, die alte arische Kraft und
Frische am reinsten erhalten hat. Alle diese Erscheinungen kom¬
men im Wagnerschen Musikdrama zum Ausdruck. Der geniale
Geist Wagners hat aber auch die Urzelle des arischen Dramas,
in der Tanz, Musik und Dichtung in organischer Einheit verbunden
sind, richtig gefühlt und ist so zur Einfachheit des alten arischen
Mysteriums gekommen, das nur wenige Szenen, ja oft nur eine
hat. Infolgedessen bilden seine Dramen nur einige wenige große,
entscheidende Szenen, die alles enthalten, was gesagt werden soll.
In dieser Auffassung vom Drama und in der Vereinigung von
Tanz-, Ton- und Dichtkunst ist Wagner zu dem altarischen Myste¬
rium zurückgekehrt, er hat es in einziger Art zur Vollendung ge¬
führt und so in Bayreuth den idealen Mittelpunkt aller arischen
Völker geschaffen.
Der Wert von v. Schroeders Buch für die Volkskunde liegt
darin, daß in ihm die Volksüberlieferung der Gegenwart in reichem
Maße zur Rekonstruktion altarischer Religion verwertet wird.
An der Notwendigkeit der Verwertung dieser Quelle zweifelt heute
niemand mehr. Dagegen vermißt man die nötige Kritik bei der
Götter- und Heldensage, und von der Ankristallisierungstheorie,
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der namentlich Bethe zu ihrem Rechte verholfen hat, scheint
v. Schroeder nicht viel wissen zu wollen. Unzählige Märchen,
zahlreiche mythische Motive durchschwirren die Luft; sie setzen
sich in Sage, Mythus und Dichtung bald an eine Gottheit, bald
an Menschen und Heroen an. Aber diese Märchenzüge, wie sie
kurz bezeichnet werden mögen, sind nicht primär, sind nicht von
Haus aus mit dem Gott oder Sagenhelden verknüpft. Das hat u. a.
Otto Berthold klar erwiesen 1 ), indem er durch eine genaue
Kritik der Quellen nachweist, daß bei den Griechen die Heroen,
an die sich die Unverwundbarkeit knüpft, diese erst im Laufe der
Zeiten erhalten haben, geradeso wie Siegfried in unserem Nibe-
lungenliede. Auf germanischem Gebiete hat durch den Nachweis
zahlreicher Märchenmotive in den nordischen Göttersagen von
der Leyen dieser Auffassung zum Siege verholfen 8 ) und hat sie
dann im ersten Bande seines Deutschen Sagenbuches 3 ) in geschick¬
ter Weise verwertet. Auch in der kleinen Germanischen Mytho¬
logie von J. v. Negelein 4 ) ist sie gelegentlich mit herangezogen,
wenn auch in ihr der Mythus wesentlich zurücktritt und Kult
und Ritus den Inhalt des Buches beherrschen. Wie spätere Volks¬
überlieferung erst vielfach den Schlüssel zur Geschichte einer Gott¬
heit gibt, zeigt die Arbeit W. von Unwerths 6 ), worin nachge¬
wiesen wird, daß der nordische Odinn von Haus aus, wie die Volks¬
sage beweist, Totengott gewesen, als solcher bei Lappen Auf¬
nahme gefunden und' hier lange als Rota fortgelebt hat. So zeigt
sich in dieser und zahlreichen anderen neueren Arbeiten, die in
das Gebiet der Religionsgeschichte gehören, daß diese ohne Volks¬
kunde gar nicht getrieben werden kann. Zu welch erfreulichen
Ergebnissen die Erklärung antiker Quellenzeugnisse durch lebende
Volkssitte der Kulturvölker oder den Ritus primitiver Stämme
führen muß, sieht man aus der trefflichen Arbeit von A. Diete¬
rich 6 ), nach der der Glaube an die Erde als allwaltende Mutter
und Spenderin alles Lebens fast allen Völkern gemeinsam ist und
sie als solche überall verehrt wurde, was aus den Schriftstellern und
bildlichen Darstellungen der alten Kulturvölker ebenso klar her¬
vorgeht wie aus vielen volkstümlichen Sitten und Bräuchen der
Gegenwart und primitiver Völker. Und so die Volksreligion mit
*) Die Unverwundbarkeit in Sage und Aberglauben der Griechen
(Gießen, A. Töpelmann, 1911).
*) Das Märchen in den Göttersagen der Edda (Berlin 1699).
*) DieGötter und Göttersagen der Germanen (München, C.H.Beck,i909).
4 ) Germanische Mythologie, 2. Aufl. (Leipzig, B. G. Teubner, 1912).
•) Untersuchungen über Totenkult und Odinverehrung bei den
Nordgermanen und Lappen (Breslau, M. u. H. Marcus, 1911).
•) Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion (Leipzig, B. G.
Teubner, 1905; 2. Aufl. 1913).
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Literaturbericht. Volkskunde
251
Hilfe der Volksüberlieferung späterer Jahrhunderte und der
Gegenwart bei den einzelnen Kultur- und Naturvölkern bloßzu¬
legen, das war die Aufgabe, die sich H. Usener und A. Dieterich
gestellt hatten. Dieses Ziel ist durch ihre Arbeiten in die Hessische
Zeitschrift für Volkskunde getragen worden.
War die Bedeutung der Volkskunde, namentlich für die ver¬
gleichende Religions- und Kulturgeschichte, richtig erkannt, so
mußten Mittel und Wege geschaffen werden, wodurch der Forscher
auf das überall zerstreute Material aufmerksam, ja womöglich
dieses ihm zugänglich gemacht wurde. Auch diese Notwendigkeit
hatte die Hessische Vereinigung klar erkannt. Daher erschien
gleich mit dem I. Bande der Zeitschrift eine Zeitschriftenschau
(1902), die eine Inhaltsangabe aller volkskundlichen Artikel aus
den Zeitschriften der verschiedensten Länder und Disziplinen
brachte. Sie schwoll mit der Zeit immer mehr an und wurde schon
für den Forscher ein unentbehrliches Mittel, ging aber leider mit
dem 5. Bande (1905) ein und hat seitdem bis 1912 keinen gleich¬
wertigen Ersatz gefunden, wenn auch der „Jahresbericht über die
Erscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie“
volkskundliche Werke und Aufsätze, soweit sie in deutschen Zeit¬
schriften erschienen sind, mit berücksichtigt.
Um die Wende des Jahrhunderts schlug auch in Württemberg
Bohnenberger in Tübingen die Werbetrommel für die Volkskunde
und schuf zunächst nur eine Sammelstelle volkskundlichen Mate¬
rials. Veröffentlichungen erfolgten in den Württembergischen
Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde, die seit 1904 als
„Mitteilungen über volkskundliche Überlieferungen in Württem¬
berg“ in besonderen Heften herausgegeben werden. Die bisher
erschienenen 6 Hefte bringen fast durchweg Arbeiten über Sitte
und Brauch. Erst seit 1910 gibt Bohnenberger auch die „Volks¬
kunde-Blätter aus Württemberg und Hohenzollern“ heraus, die
kurze Nachrichten und Umfragen des unterdessen gebildeten
württembergisch-hohenzollerischen Vereins für Volkskunde ent¬
halten und ähnlich wie die sächsischen und bayerischen mehr zum
Sammeln anregen als wissenschaftliche Erörterungen bringen
sollen. 1 )
Im benachbarten Baden hatte die Volkskunde schon seit Jahr¬
zehnten durch Birlingers Tätigkeit in der Alemannia ihren Mittel¬
punkt. Nach Birlinger wirkte hier vor allem E. H. Meyer. Er
x ) Beiträge zur württembergischen Volkskunde finden sich auch in
den Veröffentlichungen der Lokalvereine. So gab Gerlach die Nieder¬
schrift des Pfarrers Schöttle „Volkskundliches aus Hülen“ aus dem Jahre
1850 heraus in den Heften des Lauchheimer Geschichts- u. Altertums¬
vereins (EUwangen 1911).
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252 E. Mogk
versandte gemeinsam mit F. Kluge und F. Pfaff Fragebogen zur
Sammlung der badischen Volksüberlieferungen, skizzierte im
22. Bande der Alemannia (1894) die Bedeutung der Volkskunde für
die Mythologie, verfaßte die erste und zurzeit noch einzige Dar¬
stellung deutscher Volkskunde 1 ) und gab außer verschiedenen
kleineren Monographien einBuch,,Badisches Volksleben im 19. Jahr¬
hundert“ (Straßburg 1900) heraus, das vor allem durch die
historische Verfolgung der Erscheinungen im Volksleben vorbild¬
lich für ähnliche Darstellungen ist. Zu einem Badischen Verein
für Volkskunde kam es erst 1904, der ebenfalls kurze Mitteilungen
herausgab 2 ), 1909 mit dem Verein für Heimatschutz verschmolz
und seitdem unter Pfaffs Leitung die kleine Vierteljahrsschrift
„Dorf und Hof“ veröffentlicht. Als besondere Schrift des Ver¬
eins erschien die „Volkskunde im Breisgau“ 3 ), worin neben einer
Anzahl von Volksliedern und kleineren Beiträgen Fr. Pfaff in
der Sage vom Ursprung der Herzoge von Zähringen die alte Diet¬
richsage nachwies. .
Der jüngste Verband in Deutschland ist der Verein für rhei¬
nische und westfälische Volkskunde, zu dem sich Volkstumforscher
in Dortmund und Elberfeld 1903 zusammentaten. Sie geben eine
Zeitschrift heraus, die zwar überwiegend rheinländisch - west¬
fälisches Material zur Volkskunde bringt, zuweilen aber auch,
zumal in Abhandlungen, über dies Gebiet hinausgreift. So bringt
gleich das erste Heft die bedeutende Abhandlung Jostes' über die
norddeutschen Rolande, worin der Verf. die Rolandbilder und
die Rolandsäulen auf das mittelalterliche Stechen nach Dreh¬
figuren (Roland volksetymologisch aus rollans) zurückführt, was
in Frankreich als Quintaine lange fortgelebt hat und von hier
nach Deutschland gekommen ist. 4 ) Der Name,,Roland“ für die Dreh¬
figur ist in Belgien aufgekommen, woher ihn niederdeutsche Kauf¬
leute in die Heimat mitgebracht haben. So kam er nach Bremen.
Hier begegnet 1404 die erste Rolandsäule als Symbol der städti¬
schen Freiheit; sie entstammt einer Fälschung des Bürgermeisters
Joh. Hemeling, der die Kolossalfigur des Roland mit dem Kaiser¬
schilde vor dem Rathaus anbringen ließ, um wie durch andere Fäl¬
schungen (Bremer Chronik) hierdurch Bremen den Vorrang vor
*) Deutsche Volkskunde (Straßburg 1898).
*) Blätter des Badischen Vereins für Volkskunde (Freiburg 1905 ff).
Der Verein zerfiel in die Freiburger Abteilung (unter Pfaff) und die
Heidelberger (unter Kahle).
*) Herausg. vom Badischen Verein für Volkskunde durch Fr. Pfaff
(Freiburg i. B., J. Bielefeld, 1906).
4 ) Die Abhandlung ist auch besonders erschienen: F. Jostes, Roland
in Schimpf und Emst. Die Lösung des Rolandrätsels (Dortmund 1906).
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Literaturbericht. Volkskunde
253
den übrigen Hansastädten zu sichern. Von Bremen aus hat dann
die Rolandsäule ihren Siegeseinzug in zahlreiche Städte Nieder¬
deutschlands als Symbol städtischer Freiheit gehalten. — Beson¬
ders zahlreich sind in der westfälischen Zeitschrift die Beiträge zu
den Dialekten und den Flurnamen.
Gleiche Regsamkeit wie in Deutschland zeigt sich auf volkskund¬
lichem Gebiete auch in Österreich und der Schweiz. Bei den Sieben¬
bürger Sachsen hatte sich die Leitung des Korrespondenzblattes des
Vereins für siebenbürgische Landeskunde (seit 1877) schon zeitig der
Volkskunde angenommen, undfürdiegarfzen österreichischenLänder
war 1894 in Wien der Verein für österreichische Volkskunde unter
Haberlandts Leitung ins Leben getreten. Die Länder der gesamten
Monarchie sollten in ihm in gleicher Weise vertreten sein, und die
Zeitschrift (seit 1896) bringt auch Material aus allen Kronländern,
von allen Völkern. Gleichwohl überwiegt auch in ihr der Stoff
zur deutschen Volkskunde. Auch vertritt die Zeitschrift Ge¬
biete, die in anderen sehr in den Hintergrund gedrängt sind.
So finden sich in ihr namentlich viele Abhandlungen und Beiträge
zu den Realien der Volkskunde (Hausbau, Volkskunst,Tracht, Kreuz¬
steine und Marterln u. dergl.). Neben der Zeitschrift erscheinen auch
Supplementhefte, die Abhandlungen in größerem Umfang bringen.
Unter ihnen sind besonders hervorzuheben M. Höflers Darstel¬
lungen der Gebildbrote 1 ), unter denen die Spalt- und Zopf-
gebäcke hervorzuheben sind, die auf alten Fruchtbarkeitszauber
und Seelenkult zurückgehen, wie Höfler in zahlreichen Arbeiten
nachgewiesen hat.
Zu dem österreichischen Gesamtverein gesellten sich noch in
Böhmen die mehr deutschnationalen Vereine, von denen der eine
das Egerland umfaßte, der andere das östliche Böhmen. Dort grün¬
dete A. John 1897 den Verein für Egerländer Volkskunde, für
den er „Unser Egerland“ herausgab, hier sammelte E.Langer
die deutschnational Gesinnten um die Zeitschrift „Deutsche Volks¬
kunde aus dem östlichen Böhmen“ (Braunau 1901). Allein beide
Zeitschriften sind mehr heimat- als volkskundlicher Natur und
berücksichtigen wie die Volkskunde auch die Natur, die Geschichte,
selbst die Dichtung des heimatlichen Gaues. Solche Zeitschriften,
die alle ungemein viel volkskundlichen Stoff enthalten, hat gerade
Böhmen in großer Anzahl. So die „Mitteilungen des Nordböhmi¬
schen Exkursions - Klubs“ (seit 1877), die in jeder Nummer
*) Weihnachtsgebäcke (1905); Ostergebäcke (1906); Gebildbrote der
Faschings-, Fastnacht- und Fastenzeit (1908); Gebildbrote der Hochzeit (1911)-
Auch in der Zeitschrift selbst finden sich mehrere Beiträge von Höfler
über Gebildbrote, wie wir ja diesem Forscher überhaupt die wichtigsten
Aufschlüsse über die Gebäckformen bei unseren Volksfesten verdanken.
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E. Mogk
volkskundliche Themen behandeln, oder die „Mitteilungen des
Vereins für Heimatkunde des Jeschken-Isergaues“ (Reichen¬
berg 1907 ff.) u. a. Ganz besonders aber hat es sich die Prager Ge¬
sellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Lite¬
ratur in Böhmen angelegen sein lassen, die Volkskunde zu pflegen,
und so ist denn hier ein Ausschuß deutschböhmischer Volkskunde
ins Leben getreten, der seit 1896 unter A. Hauffens Leitung die
„Beiträge zur deutschböhmischen Volkskunde“ herausgibt, um¬
fangreichere Arbeiten, die in sich abgeschlossen sind und sich alle
durch Trefflichkeit auszeichnen. So gibt A. Hauffen gleich im
ersten Hefte eine erschöpfende Bibliographie der volkskundlichen
Literatur in Böhmen 1 ), J. Ammann veröffentlicht die interessan¬
ten Volksschauspiele geistlichen wie weltlichen Inhalts aus dem
Böhmerwalde 2 ), von denen besonders die vom bairischen Hiesel
und vom Schinderhannes einen Einblick in das Volksleben geben;
A. John gibt zum ersten Male die Aufzeichnungen über die Sitten
und Gebräuche der Egerländer heraus, die der Magistratsrat Se¬
bastian Grüner 1825 für Goethe niedergeschrieben hat 3 ); der¬
selbe gibt auch die beste Darstellung der Sitten, Bräuche und des
Volksglaubens im deutschen Westböhmen. 4 ) Weiter sind der Volks¬
kunde des Böhmerwaldes gewidmet J. Schrameks Darstellung
des Hochgebirgs- und des Wallinger Hauses im Böhmerwalde 6 ),
die beide viel Ähnlichkeit mit dem Typus des Alpenhauses haben,
und G. Jungbauers stattliche Sammlung Volksdichtung aus
dem Böhmerwalde 6 ), worin sich eine Anzahl Bänkelsängerlieder
befinden, Volksdichter wie der Koasahansl, die Johanna Raschko,
Ludwig Baier zu Worte kommen, Fensterlsprüche, Ortsneckereien,
Hochzeitssprüche u. a. gesammelt sind. Auch Quellenschriften wer¬
den in der Sammlung herausgegeben, so das Kräuter- undArzneien-
buch der Familie Reißer aus dem 18. Jahrhundert 1 ), die Schwänke
*) Einführung in die deutsch-böhmische Volkskunde. (Prag, J. G.
Calve, 1896.)
*) Volksschauspiele aus dem Böhmerwalde. 3 Teile (ebd. 1898 — 1900.)
*) Sebastian Grüner, Über die ältesten Sitten und Gebräuche der
Egerländer, herausg. v. A. John (ebd. 1901).
4 ) Sitte, Brauch und Volksglaube im deutschen Westböhmen (ebd. 1905).
*) Das Böhmerwaldhaus (ebd. 1908).
*) Volksdichtung aus dem Böhmerwald (ebd 1908). Hierin befindet
sich die gehaltreiche Einleitung, worin sich J. über Natur-, Volks- und
Kunstdichtung ausspricht. Den Unterschied zwischen Volkslied und
Kunstlied findet J. vor allem in den verschiedenen Bildungsgraden, denen
beider Dichter angehören, und darin, dafi das Volkslied ganz von der
Melodie beherrscht wird.
*) Mieser Kräuter- und Arzneibuch herausg. von G. Schmidt
(Prag ebd. 1905).
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Literaturbericht. Volkskunde
255
über P. Hahn, den Faust des Erzgebirges (18. Jahrhundert), und
J. Baptista Rölz, Böhmens Doktor Eisenbart (Anfang des 19. Jahr¬
hunderts) 1 ), die Schrift des Egerer Scharfrichters Karl Huss
vom Jahre 1823 2 ), die u. a. auch interessante Trachtenbilder jener
Zeit bietet." Über das Gebiet der eigentlichen Volkskunde hinaus
gehen die Untersuchungen von Fr. Jesser über die Beziehungen
zwischen Heimarbeit und Boden 3 ), worin an der Hand statistischer
Quellen für Böhmen nachgewiesen wird, daß das Gebiet intensiv¬
ster Hausindustrie vorwiegend Waldland und das Land der min¬
derwertigen Böden ist, das hausindustriearme dagegen vorwiegend
Feldland mit gutem Boden, ebenso daß Einfachheit und allmäh¬
liche Übergänge der Bodenformen eine größere Gleichmäßigkeit
der hausindustriellen Siedelung und ein allmähliches Abnehmen
derselben auf größerem Raume als Mannigfaltigkeit der Formen
mit schnellen Übergängen von einem orographischen Typus zum
anderen begünstigen. Auch wird gezeigt gegenüber den herrschen¬
den Anschauungen, daß die Hausindustrie keineswegs unter allen
Umständen dort besonders heimisch ist, wo alle anderen Arten
des Erwerbs nur spärlich vertreten sind, vielmehr wirken Heim¬
arbeiten, die durch ihre Eigenart hervorstechen und dann einen
Gegenstand des Großhandels bilden, verdichtend oder doch
wenigstens auswanderungshemmend. Es entstehen dann hier
bedeutende fabrikindustrielle Siedelungen, und die Orte werden
nicht selten der Mittelpunkt einer Ausstrahlung, die auch die Heim¬
arbeiter angrenzender dünn besiedelter Bezirke existenzfähig erhält.
In der Schweiz, wo der Boden für die Erhaltung alten Volks¬
tums ebenso günstig ist wie in dem Alpengebiet Österreichs und
den Ländern der deutschen Mittelgebirge, ist schon das von der
Antiquarischen Gesellschaft in Zürich herausgegebene Schweize¬
rische Idiotikon 4 ) eine der reichsten Quellen volkskundlichen
Materials. Auch hier wurde 1897 eine Gesellschaft für Volks¬
kunde gegründet, die das Schweizerische Archiv für Volkskunde
herausgibt, in dem die drei bez. vier verschiedenen Völker der
Schweiz in gleicher Weise zu Worte kommen sollen. 8 ) Die Zeit-
*) Joh. En dt, Sagen und Schwänke aus dem Erzgebirge. Der
Zauberer P. Hahn, der Wunderdoktor Rölz und anderes (ebd. 1909).
*) Die Schrift „Vom Aberglauben“ von Karl Huss. Nach dem
Manuskripte herausg. von A. John (ebd. 1910).
*) Die Beziehungen zwischen Heimarbeit und Boden (ebd. 1907).
4 ) Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerischen Sprache.
Gesammelt auf Veranstaltung der Anüquar. Ges. in Zürich unter Beihülfe
aus allen Kreisen des Schweizervolkes (Frauenfeld 1881 ff.). Bis 1912
lagen 73 Hefte (bis Satz) vor.
*) Zur Geschichte der Schweiz. Volksk. vgl. den inhaltreichen Vortrag
von E. Hoffmann-Krayer im Archiv XII, S. 24t ff.
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E. Mogk
schrift schließt sich der Berliner und Wiener ebenbürtig an; die
Leitung lag anfangs in den Händen von Hoffmann-Krayer allein,
mit dem 6. Jahrgang übernahm erst J.Jeanjaquet, später M. Rey-
mond die Redaktion des romanischen Teiles. Nur selten werden
in den inhaltreichen Heften Themen aus der vergleichenden Volks¬
kunde behandelt, die Schweiz mit ihren Bergen und abgeschlos¬
senen Dörfern bietet soviel Stoff, daß sich die Redaktion auf das
heimatkundliche Gebiet beschränken kann. Selbst bei so weit¬
greifenden Themen wie Hoffmann - Krayers Darstellung der
Fruchtbarkeitsriten (XI, S. 238ff.) ist der Stoff fast ausschließlich
aus schweizerischen Quellen geholt. Nur in dem guten bibliogra¬
phischen Teile werden auch die volkskundlichen Arbeiten aus an¬
deren Ländern besprochen. Eine besondere Pflege, wie sonst
in keiner volkskundlichen Zeitschrift, hat im Schweizerischen Ar¬
chiv die Geschichte des Heiligenkults gefunden. — Um die volks¬
kundlichen Bestrebungen auf breitere Basis zu stellen und mög¬
lichst alle Schichten der Bevölkerung zur Mitarbeit heranzuziehen,
gibt die Schweizerische Gesellschaft seit 1911 noch ein Korrespon¬
denzblatt „Schweizer Volkskunde“ heraus, in dem kleinere Ar¬
tikel und Mitteilungen, Umfragen und Antworten, die Vereinschronik
den breiteren Schichten des Volkes zugeführt und diese dadurch -
zur Mitarbeit herangezogen werden sollen. Auch hat die Gesell¬
schaft bereits eine Reihe trefflicher Einzelpublikationen heraus¬
gegeben, so die von E. H. Stückelberg, „Geschichte der Reliquien
in der Schweiz“ (2 Bde., Basel 1902—1908), Gertrud Zürich, „Kin¬
derspiel und Kinderlied im Kanton Bern“ (Zürich 1902), J. Jeger-
lehner, „Sagen aus dem Unterwallis“ (Basel 1909), A. Tobler,
„Das Volkslied im Appenzellerlande“ (Zürich 1903), A. L. Gaßmann,
„Das Volkslied im Luzerner Wiggertal und Hinterland“ (Basel
1906), S. Grolimund, „Volkslieder aus dem Kanton Solothurn“
(ebd. 1910) und „Volkslieder aus dem Kanton Aargau “(ebd. 1911).
J. Meier ist es zu verdanken, daß hier die Beschäftigung mit dem
Volksliede eine so rege geworden ist. Für dieses ist aber schon
seit Bodmer ein lebhaftes Interesse in der Schweiz vorhanden ge¬
wesen, wie die klare und erschöpfende geschichtliche Darstellung
von P. Geiger zeigt. 1 ) •
Die Bestrebungen volkskundlicher Vereine in allen Ländern
deutscher Zunge zeigen das große Interesse, das in den letzten
Jahrzehnten für diese junge Wissenschaft vorhanden ist. All¬
gemein sieht man als erste und wichtigste Aufgabe an, den noch
im Volke fortlebenden Stoff alten Volkstums zu sammeln und zu
veröffentlichen. Dadurch häuft sich aber das Material, daß es schon
*) Volksliedinteresse und Volksliedforschung in der Schweiz vom
Anfang des 18. Jahrhunderts bis zum Jahre 1830 (Bern, A. Francke, 1912).
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Literaturbericht. Volkskunde
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heute kaum übersehbar ist. Es wird auch vieles immer wieder ge¬
druckt, manches, das sich bei genauerer Prüfung als Fälschung und
ganz wertlos herausstellt. Um dieser Zersplitterung der Kräfte ent¬
gegenzuarbeiten und bestimmte höhere Ziele ins Auge fassen zu
können, wurde auf Veranlassung A. Stracks und des Ref. 1904 der
Verband deutscher Vereine für Volkskunde gegründet, nachdem
bereits 1901 in der 5. Abteilung der Geschichts- und Altertums¬
vereine mehrere Landesvereine (namentlich der sächsische und baye¬
rische) sich zur volkskundlichen Sektion und zu gemeinsamer Arbeit
zusammengetan hatten. In dem Verbände sollten die Fäden aller
volkskundlichen Arbeit zusammenlaufen, was um so leichter möglich
wurde, da fast alle Landes- und Provinzialvereine sich ihm an¬
schlossen. Durch kurze Mitteilungen — die ersten erschienen
1905 — werden die Mitglieder auf dem laufenden erhalten,
durch die Hessische Zeitschriftenschau mit den neueren Veröf¬
fentlichungen bekannt gemacht. Gegenwärtig arbeitet der Ver¬
band an einer zwiefachen Aufgabe: an einer großen kritischen Aus¬
gabe der deutschen Volkslieder, wie sie in Österreich und der
Schweiz schon seit Jahren vorbereitet ist und die von Preußen
und anderen deutschen Bundesstaaten mit hohen Beiträgen unter¬
stützt wird, und an einer Sammlung der Zauber- und Segensprüche.
Zugleich ist 1910 in Hamburg eine Zentralstelle zur Sammlung
volkskundlicher Veröffentlichungen geschaffen worden. Gemein¬
sam mit der 5. Sektion der Geschichts- und Altertumsvereine ist
eine Statistik der Bauernhaustypen für ganz Deutschland in An¬
griff genommen worden. Auch nahm der Verband 1912 Füh¬
lung mit dem Folkloristischen Forscherbund (F. F.), der von
Skandinavien und Finland ausgeht und die volkskundlich tätigen
Forscher aller Kulturstaaten zu gemeinsamer Arbeit und gegen¬
seitiger Unterstützung vereinigen will. Die von dem F. F. bisher
veröffentlichten Communications (Helsinki I9iiff.) haben durch
Antti Aarnes Verzeichnis der Märchentypen (1910) internationale
Bedeutung erlangt. Sie zeigen zugleich, wie auch in den nichtger¬
manischen Ländern, besonders den slawischen und romanischen,
die Volkskunde nach Selbständigkeit ringt und daß sie ihre Fittiche
allmählich über die ganze Erde ausbreitet. Ist doch 1911 auch
in Argentinien eine Zeitschrift für Argentinische Volkskunde ins
Leben gerufen worden. 1 ) Wenn freilich hier der Herausgeber das
Arbeitsgebiet auf den gegenwärtigen Zustand eines Volkes be¬
schränken und seine Entwicklung und die in vergangenen Epochen
wirksam gewesenen Einflüsse ausschließen will, so ist er nicht auf
dem rechten Wege und drückt den Begriff Volkskunde auf den
*) Zeitschrift für argentinische Volkskunde, berausg. vom Deutschen
Lehrerverein Buenos Aires durch E. L. Schmidt (Buenos Aires 1911 ff.).
Archiv für Kulturgeschichte. XII. 2 yn
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des englischen Folklore herab. Denn alles Bestehende ist geschicht¬
lich geworden und kann nur durch geschichtliche Verfolgung
verstanden werden.
Schon die Tätigkeit der einzelnen Vereine für Volkskunde zeigt,
welche Rührigkeit auf diesem Gebiete herrscht. Das Bild erweitert
sich aber noch wesentlich, wenn wir die Leistungen einzelner
Personen mit heranziehen, die ohne Vereinsanregung selbständig
gesammelt und veröffentlicht haben. Alle diese Publikationen
aufzuzählen, würde zu weit führen und wäre ein Ding der Unmög¬
lichkeit. Sie sind ja meist auch nur Materialsammlungen, die wohl
hier und da die eine oder andere volkskundliche Erscheinung in
helleres Licht treten lassen, aber nur selten wissenschaftliche Pro¬
bleme erschließen oder zu ihrer Erklärung wesentlich beitragen.
Von den Veröffentlichungen früherer Zeiten unterscheiden sie
sich meist zu ihrem Vorteil durch größere Gewissenhaftigkeit,
die z. T. dadurch veranlaßt worden ist, daß man den Gedanken,
in der Volksüberlieferung der Gegenwart leben die eddischen
Mythen fort, endlich aufgegeben und den Stoff nur um seiner selbst
willen gesammelt hat. Vielfach hat man den volkskundlichen Stoff
mit heimat- oder landeskundlichem verquickt. Auch die Dar¬
stellung zeigt die mannigfachsten Abstufungen. Die einen lassen
die Leute sprechen und handeln und zeigen durch ihre Worte und
Werke ihre Gedanken und Anschauungen, andere schildern ihr
Fest- und Alltagsleben oder ihre Liebe zur Dichtkunst und zu bild¬
lichen Redensarten, die Anlage und Einrichtung ihrer Wohnungen,
ihre Kleidung, nur wenige geben eine vollständige Volkskunde
eines kleinen oder größeren Bezirks in systematischer Form oder
auch nur Fragmente einer solchen.
Ein ungemein reichhaltiges Material zur deutschen Volkskunde
bieten viele Dichter der Gegenwart. Das Interesse, das man all¬
gemein dem Volkstum in letzter Zeit zugewandt hat, erfaßte auch
die Literatur, und nicht selten hat ein Dichter in seinen poetischen
Gestalten Vertreter reinen Volkstums zum Vorbild genommen.
Bringt doch jeder Dichter ein Stück Volkstum aus seiner Jugend¬
zeit mit, und deshalb fordert A. Sauer von jedem Literaturhisto¬
riker volkskundliche Ausbildung, die nach seiner Auffassung nur
zum richtigen Verständnis der Dichter führen könne. 1 ) Volkstüm¬
liche Gestalten füllen ja schon die Schriften Jeremias Gotthelfs
und Berthold Auerbachs; in neuerer Zeit sind viele Dichter in ihre
Fußstapfen getreten. Es sei nur erinnert an Fr. Reuter, J. Lent-
ner, Anzengruber, Rosegger, Hansjakob, Sohnrey, Ganghofer,
Renatus u. a. Eine hübsche, wenn auch nicht vollständige,
*) Literaturgeschichte und Volkskunde. Rektoratsrede, gehalten an
der K. K. Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag (Prag 1907}.
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Literaturbericht. Volkskunde
259
Übersicht über diese volkskundliche Dichtung gibt L. Lässer. 1 )
Auch Chrestomathien aus den Werken solcher Dichter liegen
bereits vor. So lieferte Th. Krausbauer eine Auswahl, in der sich
die Urwüchsigkeit deutschen Volkstums in voller Klarheit zeigt.*)
Diesen poetischen Gebilden, aus denen nur die Seele des Volkes
spricht, gesellen sich zahlreiche Schriften hinzu, worin bestimmte Ge¬
stalten des Volkes und Ereignisse aus dem Volksleben dargestellt wer¬
den. Sie beschränken sich in der Regel auf einen territorial enger
oder weiter begrenzten Kreis. Hierher gehören z. B. die Bilder
aus dem Thüringer Volksleben von Ernst Heinecke 8 ), die an¬
ziehenden Schilderungen aus Schefflenz in Baden von Augusta
Bender 4 ), die zugleich ein Stück Zeit- und Familiengeschichte
sind, vor allem aber die Bilder aus einem abgelegenen Dorf in
Oberhessen zwischen Thüringerwald und Westerwald, die L. F.
Werner unter dem Titel „Aus einer vergessenen Ecke“ veröffent¬
licht hat. 6 ) Da dorthin die Kultur der Neuzeit noch nicht ge¬
drungen ist, spricht hier aus jeder Seite, wie der Mensch mit der
Natur verwachsen ist. Hier weht z. T. noch echtes Germanentum,
so z. B. in der Erzählung von der Macht der Blutsverwandtschaft,
worin die Fortpflanzung des Geschlechts, der Name gleichsam
der Kern des Lebens ist und der alte Hartmann Bodesheim von
Eilertshausen dahinsiecht, als mit dem Tode seines Sohnes zugleich
sein Familienname ausgestorben war (II, S. 44). Solche Bilder aus
dem Volksleben besitzen wir fast aus allen Gegenden Deutschlands,
besonders aus den Hoch- und Mittelgebirgsländern. Ihnen zur
Seite stellen sich dann örtlich begrenzte Darstellungen des Volks¬
lebens in systematischer Form, selten das Volkstum in seinem
vollen Umfange erschöpfend. Sitte und Volksdichtung treten
dabei in den Vordergrund. Zuweilen ist die Volkskunde aber
auch nur ein eingeflochtenes Kapitel in der Landes- oder Heimat¬
kunde. Auch einzelne Kapitel der Volkskunde werden heraus¬
genommen und über weitere Strecken Landes verfolgt. Hierher ge¬
hört die ausgezeichnete Sammlung von Frau M. Andree-Eysn. 6 )
*) Die Deutsche Dorfdichtung von ihren Anfängen bis zur Gegenwart
(Satzungen 1907).
*) Deutsches Bauerntum. 1. Bd. Aus dem Urborn unserer Volkskraft
(Wreschen, W. Schenke, 1910).
*) Derheeme in Thüringen. Heiteres und Ernstes aus dem Leben
des Thüringers (Eisenberg, P. Bauer, 1912).
4 ) Kulturbilder aus einem badischen Bauerndorf (von 1650—1850)
(Frankfurt a. M., Bäßgen u. Grenzmann, 1910).
•) Aus einer vergessenen Ecke (Langensalza, H. Beyer u. Söhne, 1909;
2 . Aufl. 1910); Zweite Reihe (ebd. 1912).
*) Volkskundliches. Aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet.
(Braunschweig 1910.)
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Das Buch enthält 16 Aufsätze, die z. T. neues volkskundliches
Material aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet bringen,
z. T. schon bekanntes vervollständigen. Die ersten drei beschäf¬
tigen sich mit dem Heiligenkult, wobei zugleich die Geschichte
der betreffenden Heiligen dargestellt wird. Auf St. Wolfgang
sind zahlreiche Volksanschauungen (Quellenerweckung, Beil¬
wurf, Durchkriechen, um Krankheiten zu heilen u. a.) übertragen
worden. In der Verehrung der Schutzpatrone gegen die Pest
(Sebastian, Rochus, Christoph, St. Anna) und zahlreichen Kapel¬
len, Votivbildern, Pestsäulen, Kreuzen u. dgl. lebt noch bis zur
Gegenwart die Erinnerung an jene vernichtende Krankheit fort.
In dem Kultus der heiligen drei Jungfrauen, der sich im Rhein¬
land und in Luxemburg, dann ganz besonders wieder in Tirol (nicht
in Salzburg, nur schwach in Bayern) nachweisen läßt, findet die
Verf. eine Mischung germanischen Nornenglaubens und keltisch¬
romanischer Matronenverehrung. Die folgenden 8 Aufsätze be¬
schäftigen sich hauptsächlich mit den Abwehrmitteln gegen schä¬
digende Dämonen und mit Fruchtbarkeitsriten. Zur Geschichte
der Amulette findet sich hier reiches Material: über die Tau
(T)- und andere Pestamulette (S. 63 ff.), über die Feige (fica),
Schutzbriefe, Nepomukzunge, Trudenmesser u. a. (S. ilöff.), über
die Schutzmittel an Gebäuden (K + M + B +, das Johannis¬
krautkränzlein, die drei Ähren, den Palmbusch, Antiassei, Tier¬
schädel) (S. 99ff.), über die Heilige-Geisttaube und die sog.
Unruh, die über ganz Mittel-, Nord- und Osteuropa verfolgt und
als häusliches Schutzmittel gegen Dämonen gedeutet wird
(S. 78ff.). Zum Schutze des Feldes werden im Salzburgischen
die schöngeschmückten Pranger- oder Reifstangen errichtet (S.
9Öff.). Um Fruchtbarkeit des Feldes zu erzielen und schädigende
Dämonen fernzuhalten, findet in einem großen Teil des Alpen¬
gebiets das Perchtenlaufen statt (S. I5öff. — wohl die beste Dar¬
stellung des Perchtenlaufens), wird im Herzogtum Salzburg nächt¬
licherweile und unter Absingen von Liedern das Madonnenbild
durch die Gaue getragen, eine Sitte, die an den Nerthusumzug
der alten Germanen erinnert (S. 73 ff.). Die altgermanische Sitte,
den Schädel vom Körper zu trennen und ihn zur Weissagung zu
benutzen, hat sich ebenfalls in dem Alpengebiet erhalten (S. I47ff.).
Was dann noch folgt, die Maibaumbilder (S. 185 ff.), der Vieh¬
schmuck beim Heimtrieb des Viehes, wenn sich kein Stück ver¬
fallen hat und im Hause kein Todesfall während des Sommers
eingetreten ist (S. I92ff.), die Verstüchel und Versbriefe, die die
Mädchen zu Ostern, zur Kirchweih und zuWeihnachten mitdenEiern,
Krapfen und dem Anschnitt des Kletzenbrotes ihrem Liebsten
verehren (S. I99ff.), die Sagen aus Rauris, die vielfach an die
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Rübezahlsagen erinnern (S. 205), das sind Beiträge zu Sitte und
Brauch, zur Volksdichtung. Die Geschichte des Hags und Zaunes,
der in seiner technischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Be¬
deutung über fast ganz Europa verfolgt und auch in volkskundlicher
Beziehung (im Sprichwort, Rätsel, Kinderspiel, Aberglauben, in
der Sage) gewürdigt wird, schließt das ebenso reichhaltige wie
durch zahlreiche Illustrationen wertvolle Werk.
Während bei Frau Andree-Eysn die Sache im Mittelpunkt der
Forschung steht, gehen andere Forscher vom Boden der Er¬
scheinungen aus. Am tiefsten schürft nach dieser Richtung der
Schweizer Emanuel Friedli in seinem ,,Bärndütsch als Spiegel
bernischen Volkstums“. 1 ) Er hat sich im Bernischen Lande auf
Jahre bald in diesem, bald in jenem Gau heimisch gemacht, dort
Land und Leute gründlichst studiert und schildert nun beides
in der Sprache des Volkes, wodurch das Gedachte mit all seinen
gedanklichen Beziehungen und Gefühlswerten annähernd getreu
zum Ausdruck kommen soll. Der Gedanke, einmal kleinere Be¬
zirke in dieser Art erschöpfend darzustellen, ist entschieden gut.
Freilich eine Volkskunde in der oben dargelegten Auffassung des
Wortes sind die stattlichen Bände nicht, sondern eine Heimatkunde
mit kulturgeschichtlichem und volkskundlichem Gewebe. Die
Beschreibung von Grund und Boden, von Wald und Wiese, von
Schule und Kirche nehmen einen zu breiten Raum ein, während
das Althergebrachte im Volksleben, besonders auch die Volks¬
dichtung, nicht genügend zu ihrem Rechte gelangt. — Ebenfalls
mehr heimatkundlich und kulturgeschichtlich, aber doch mit
interessantem volkskundlichen Einschlag sind die Beiträge zur
Geschichte des rhätischen Seewis von F. Pieth 2 ), die u. a. ein
Zeugnis vom Notfeuer aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts
bieten. — Ungleich mehr volkskundliches Material aus dem
Züricher Oberlande enthalten die zwei Bändchen von H. Messi-
kommer: Aus alter Zeit. 3 ) Der Verfasser schildert eine Reihe
Sitten und Gebräuche, die teils bereits abgestorben, teils auf den Aus¬
sterbeetat gesetzt sind. Die Umwandlung in neue Verhältnisse
setzt M. in die Mitte des 19. Jahrhunderts, wo die Einführung der
*) Bisher sind drei Bände dieses großen Werkes erschienen: Bämdütsch
als Spiegel bernischen Volkstums, herausg. mit Unterstützung der
Regierung des Kantons Bern. i.Bd.: Lützelflüh (Bern, A. Francke, 1905);
2. Bd.: Grindelwald (ebd. 1907); 3. Bd: Guggisberg (ebd. 1911). Alle
mit zahlreichen Abbildungen. Weitere Bände folgen.
Ä ) Das alte Seewis (Chur, J. Rieh, 1910).
*) Aus alter Zeit. Sitten und Gebräuche im Züricherischen Ober¬
land. Ein Beitrag zur Volkskunde. (Zürich, Orell Füßli, 1909). Zweiter
Teil: Volksleben (im Dialekt), Gesang und Humor im Züricherischen
Oberlande (ebd. 1910).
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allgemeinen Schulbildung, die Eisenbahnen, der Aufschwung der
Industrie u. a. begannen, das Bestehende in rascher Entwicklung
umzuändern. Was er an Bildern noch aus der alten Zeit hat auf¬
treiben können, sucht er durch das Wort der Nachwelt zu über¬
liefern. So schildert er Haus und Hof, gibt zahlreiche Beispiele von
der Volkspoesie und von Volks- namentlich Kinderbelustigungen,
von der Volksmedizin und medizinischem Aberglauben. Im
zweiten Bande bringt er eine Reihe Erzählungen im Dialekt, die
einen weiteren Einblick in das Volksleben und die Volksseele
geben, verzeichnet eine Anzahl Lieder, die einst zur Guitarre
und beim Tanze gesungen worden sind, Füürsteisprüchli, in die
Zuckerbonbons gehüllt waren, alte Spruchbriefleins, Gratulations¬
karten und Buchzeichen aus alter Zeit und endlich dialektische
Pflanzen- und Tiernamen.
Aus dem Gebiet der Allgäuer Alpen bietet das Werk von K.
Reiser das umfangreichste Material, das um so größeren Wert
hat, als es zum größten Teil aus dem Volke selbst geschöpft ist. 1 )
Das Werk zerfällt in drei Teile, von denen der erste, der den gan¬
zen ersten Band füllt, ein überaus reiches Sagenmaterial enthält,
der zweite die Sitten und Gebräuche im Laufe des Jahres, in der
Familie und im sozialen wie wirtschaftlichen Leben nebst dem
Aberglauben und Volksmeinungen schildert, der dritte die Gram¬
matik der Allgäuer Mundart sowie Sprichwörter, sprichwörtliche
Redensarten und Volksreime behandelt, denen sich ein Idiotikon
anschließt. Von besonderer Bedeutung ist der zweite Teil, der vieles
bringt, was wir in gleicher Ausführlichkeit sonst nicht besitzen,
so z. B. die Geschichte und Schilderung des Wildmännles-Tanzes
in Oberstdorf (II, S. 401 ff.). Auch der Übergang agrarischer Riten
in städtische Gebräuche läßt sich an der Hand dieses Teiles klar
verfolgen. Die Volkslieder und Realien der Volkskunde, die bei
Friedli in den Vordergrund treten, sind hier allerdings ausge¬
schlossen.
Das Tiroler Volksleben hat in seiner schlichten, aber gründ¬
lichen Weise in den letzten Jahren am besten L. von Hörmann*)
behandelt, dem wir ja so viele treffliche Beiträge zum Tiroler
Volkstum, namentlich über die Kleindichtung, verdanken. Auf
seinen Wanderungen hat der Verf. das Volk in allen Schichten
und Altersstufen kennen gelernt und schildert es nun an den Fest-
und Arbeitstagen des Jahres und in der Familie. Im dritten Teil
entwirft er noch einige Bilder von Gestalten und Gebräuchen,
l ) Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus. Aus dem
Munde des Volkes gesammelt. 2 Bde. (Kempten o. J.) Das Werk ent¬
hält auch mehrere interessante Abbildungen.
*) Tiroler Volksleben (Stuttgart 1909).
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Literaturbericht. Volkskunde
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aus denen besonders charakteristische Züge des Tiroler Volkes
sprechen. Unter ihnen bietet namentlich das Kapitel über die
bäuerlichen Kampfspiele (S. 445 ff.) manches Neue.
Am festesten an altem Volkstum halten meist die in fremde Na¬
tionen eingekeilten Sprachinseln. Der Gottschee in Krain hatte schon
1895 A. Hauffen sein Augenmerk zugewandt und Geschichte,
Mundart, Lebensverhältnisse, Hausbau und Tracht, Sitten, Bräu¬
che, Aberglauben, vor allem aber die Volksdichtung, namentlich
das Volkslied, eingehend geschildert. 1 ) Neuerdings hat in der¬
selben Sammlung (Quellen und Forschungen zur Geschichte,
Literatur und Sprache Österreichs) Jos. Bacher ein Bild von
dem in Südtirol von Italienern eingeschlossenen Lusern gegeben.*)
Während aber Hauffen das Hauptgewicht auf die Volksdichtung
und vor allem das Volkslied gelegt hat, legt es Bacher besonders
auf die Sprache. Zwei Drittel des Buches füllen die Behandlung
der Mundart, die als bayerischer Dialekt erwiesen wird, und das um¬
fangreiche Dialektwörterbuch (S. 211—432), das einen wesentlichen
Fortschritt im Vergleich mit J. Zingerles Lusernischem Wörter- *
buch bedeutet. Volksglaube und Sagen bieten nicht viel Neues. —
Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in Ungarn bringen Kaindls
Arbeiten, nur wenig freilich seine „Geschichte der Deutschen
in den Karpathenländern“ (3 Bde., Gotha 1907—11), manches
enthält die Zeitschrift „Deutsche Erde“.
Begeben wir uns auf reichsdeutschen Boden, so sei in erster
Linie das Buch von A. Keller erwähnt, worin dieser zusammen¬
stellt, was im Laufe der Zeit von den verschiedensten Seiten über
die Schwaben gesagt und gefabelt worden ist. 8 ) Den Humor des
Volkes im badischen Unterlande, wie er sich im Dialekt und in
allerlei Neckereien und Verspottungen zeigt, schildert in anschau¬
licher Weise B. Kahle. 4 ) An der Hand ihrer Sprichwörter,
Schwänke, vor allem aber ihrer Lieder, entwirft J. Ph. Glock
ein Bild von den Bewohnern des Breisgaus, das durch die Schil¬
derung des Scheibenschlagens am Funkensonntag und des Pfingst-
rcitens am Pfingstmontag vervollständigt wird. 6 ) Auch in L. Neu-
manns Schilderung des Schwarzwaldes sind zahlreiche volks-
l ) Die Sprachinsel Gottschee (Graz 1895).
*) Die deutsche Sprachinsel Lusern. Geschichte, Lebensverhältnisse,
Gebräuche, Volksglaube, Sagen, Märchen, Volkserzählungen und Schwänke,
Mundart und Wortbestand. (Innsbruck 1905.)
*) Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors (Freiburg i. B.
1907).
4 ) Ortsneckereien und allerlei Volkshumor aus dem badischen Unter¬
land (ebd. 1908).
Breisgauer Volksspiegel (Lahr i. B. 1909).
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kundliche Bemerkungen verflochten. 1 ) Die Hauptquelle für das
badische Volkstum ist und bleibt aber das bereits oben angeführte
Werk (S. 252) von E. H. Meyer, „Badisches Volksleben im
19. Jahrhundert“, worin das Leben des badischen Bauern von der
Geburt bis zum Tode, an den volkstümlichen Festtagen im Jahre,
sein Verhältnis zu Kirche und Staat, sein Verhalten bei Krank¬
heiten und Tod nicht nur durch Parallelerscheinungen und Auf¬
fassungen aus der vergleichenden Volkskunde beleuchtet, sondern
auch im Laufe der Zeiten verfolgt und versucht wird, die psycho¬
logische Ursache aufzudecken. Von besonderer Bedeutung würd
das Werk auch dadurch, daß M. an zahlreichen Beispielen zeigt,
wie eine höhere Kultur oder individuelle Erzeugnisse des logischen
Verstandes auf das Volk eingewirkt haben und in den niederen
Schichten allmählich volkstümlich umgestaltet worden sind. Auch
wird von E. H. Meyer schärfer, als man in anderen ähnlichen Dar¬
stellungen beobachten kann, geschieden zwischen dem, was noch
im Volke lebendig, was im Absterben begriffen, was überall oder
in einzelnen Gegenden bereits geschwunden ist und sich nur aus
älteren Schriften oder mündlicher Überlieferung feststellen läßt.
Für eine wissenschaftliche Darstellung des Volkslebens muß
Meyers Werk vorbildlich wirken. Auch die Zusammenhänge
der Bräuche mit Riten, die zum großen Teil im Heidentum wurzeln,
werden in ihm verfolgt und festgestellt.
Material zur Volkskunde und Kulturgeschichte früherer Zeiten
aus Westfalen liefert K. Prümer.*) Es sind eine Reihe Abdrücke
aus westfälischen Zeitungen aus dem Ende des 18. und dem An¬
fang des 19. Jahrhunderts, aus Gerichtsakten und Ratsproto¬
kollen und anderen älteren Quellen. Über Handel und Wandel
des Städters und des Bauern, über den Aberglauben der alten Zeit,
aber auch über das Gerichts-, Kirchen- und Schulwesen, das In¬
nungsleben geben sie manchen interessanten Aufschluß. Nur ver¬
mißt man in dem Buche Ordnung des Stoffes und, wo sich der
Verf. auf Erklärungen einläßt, was sehr selten ist, die nötigen Kennt¬
nisse.
Die einzelnen Gaue des ehemaligen Kurfürstentums Hessen
sind volkskundlich bearbeitet worden in der Hessischen Landes¬
und Volkskunde von Carl Heßler®). Hier ist ein etwas anderer
*) Der Schwarzwald (Land und Leute Bd. XIII; Bielefeld u. Leipzig
1902).
*) Aus Altwestfalen. Volkskundliche und kulturgeschichliche Bei¬
träge. (Leipzig 1908.)
*) Hessische Landes- und Volkskunde. Das ehemalige Kurfürstentum
Hessen und das Hinterland im Ausgange des 19. Jahrhunderts. In Ver¬
bindung mit dem Verein für Erdkunde zu Cassel und zahlreichen Mit-
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Literaturbericht. Volkskunde
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Weg eingeschlagen, als er sonst bei ähnlichen Sammelwerken ge¬
bräuchlich ist.. Gewöhnlich pflegen in einem Lande die einzelnen
Gebiete der Forschung einzelnen Bearbeitern anvertraut zu
werden; hier ist den Mitarbeitern ein Gau, in dem sie heimisch
sind, zugewiesen und von ihnen nach ziemlich gemeinsamem
Schema behandelt worden. Trotz mehrfacher Wiederholung,
die sich bei derartiger Arbeitsteilung einstellen muß, verdient
dieser Weg Beachtung. Die Mitarbeiter haben fast alles aus eigener
Beobachtung geschöpft, und weitere Ausblicke und Erklärungs¬
versuche, die zu leicht in die Irre führen, werden vermieden. In
der ungleichmäßigen Wiedergabe des Beobachteten liegt die Schat¬
tenseite des Verfahrens. Gleichwohl erhält man von allen Gauen
des Hessenlandes lebensvolle Bilder des Volkstums. Das geistige
wie das materielle Leben des Volkes wird in gleicher Weise behan¬
delt: Anlage von Haus und Hof, die Tracht, das Leben in der
Familie und der Gemeinde, die Feste im Laufe des Jahres und
bei besonderen Gelegenheiten, Aberglaube und Volksmedizin, der
Volkshumor in den Redensarten, die Volksfeste, die sich nur an
einzelnen Orten finden. Von letzteren sei auf das Grenzgangfest
in Biedenkopf verwiesen (S. 224ff.), das in seltener Weise zeigt,
wie sich alter Rechtsbrauch im Laufe der Zeit in ein fröhliches
Volksfest gewandelt hat. Von den zahlreichen Abbildungen seien
die Trachtenbilder hervorgehoben, die freilich, wie das in den
meisten ähnlichen Werken der Fall ist, der bunten Farben ent¬
behren. Das in den einzelnen Abteilungen nicht beachtete Volkslied
hat am Schlüsse eine kleine Monographie erhalten, der einVerzeichnis
der in den einzelnen Landschaften Hessens am meisten gesungenen
Volkslieder beigegeben ist. Zu bedauern ist, daß man der Schilde¬
rung der Sitten und Gebräuche einen Erklärungsversuch angefügt
hat (S. 601 ff.): hier hat sich derVerf. auf das unglückselige Gebiet
mythologischer Deutung begeben und lebt in längst überwundenen
Anschauungen.
In Sachsen hat der Erzgebirger in E. John seinen Darsteller
gefunden. In demselben Jahre veröffentlichte dieser die Schilderung
des erzgebirgischen Volkslebens 1 ) und eine Sammlung erzgebirgi-
scher Volkslieder und volkstümlicher Lieder*), die er auf seinen
Wanderungen erlauscht hat. In dem ersten Werke schildert
er das ganze Leben des Erzgebirgers von der Geburt bis zum
arbeitern herausg. von C. Heßler. Bd. 1: Landeskunde, 2. T. (Marburg
1906/07); Bd. 2: Volkskunde (ebd. 1904).
*) Aberglaube, Sitte und Brauch im sächsischen Erzgebirge. Ein
Beitrag zur deutschen Volkskunde. (Annaberg 1909.)
*) Volkslieder und volkstümliche Lieder aus dem sächs. Erzgebirge.
Anhang: Tschumperliedchen und Spottreime. (Ebd. 1909).
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Tode, seine Wohnung und Kleidung, seinen Aberglauben und die
eng damit verbundene Volksmedizin. Besonderen Wert verleiht
dem Buche die genaue Angabe des Ortes, wo sich die Tatsachen
belegen lassen. Nur dem Erzgebirger eigen sind die Klöppellieder
(S. 77ff.), die teils Arbeits-, teils Unterhaltungslieder sind.
Reicher als Mitteldeutschland ist Norddeutschland an zusam¬
menfassenden volkskundlichen Arbeiten. Hier ist in erster Linie
die klassische Braunschweiger Volkskunde von R. And ree 1 ) zu
erwähnen, die sich E. H. Meyers Badischem Volksleben würdig
zur Seite stellt und durch ihre trefflichen Bilder sich über diese
erhebt. Allerdings geht A. mehrfach über das hinaus, was man sonst
unter Volkskunde zu verstehen pflegt. So gibt er einen Überblick
über die Geographie der Braunschweiger Lande, über die prä¬
historischen Funde, die Geschichte des Gebiets, eine anthropolo¬
gische Schilderung seiner Bewohner und die Geschichte ihrer
Sprache. Auf der anderen Seite bietet er auch Abschnitte,
die man in ähnlichen Werken selten findet, aber vom volks¬
kundlichen Standpunkte aus öfters vermißt, so die Behandlung
der Ortsnamen, die Aufzählung der Flurnamen und Forstorte,
die Wetterregeln u. a. Mit philologischer Akribie, historischer
Schulung, klarem Blicke für alle Erscheinungen im Volksleben
gibt Andree ein Bild von seinen Braunschweigern, das ähnliche
Versuche in den Schatten stellt. Das ganze Leben in und außer
dem Hause, die Dorfanlagen und Hausformen, alle Geräte, die
Feste, der Aberglaube, die Kinderspiele, die Volksheilkunst,
alles ergänzt unser volkskundliches Material. Einzelne Abschnitte*
wie z. B. die Schilderung des Hirtenlebens oder des Treibens in den
Spinnstuben, bringen neuen Stoff. Schlecht weggekommen ist
nur das Volkslied, da gegenwärtig nur hochdeutsche Lieder ge¬
sungen werden und diese nach der Meinung des Verf. eingewandert
sind.
Nicht in derselben Mannigfaltigkeit wie Andree schildert
E. Kück das Bauernleben der Lüneburger Heide. 2 ) Spricht aus
jenem Werke der Mann der Wissenschaft, so aus diesem der warme
Freund des Volksstammes, dem es entsprossen ist. Auch hier ist
das meiste aus eigener Beobachtung, aus Erlebnissen der Jugend
l ) Braunschweiger Volkskunde. Die 1. Aufl. erschien (Braunschweig)
1896, die 2. wesentlich vermehrt 1901. Hier haben wir einige bunte
Trachtenbilder. Auch Bilder von Volksszenen, wie die Bauernhochzeit
in Lehrte oder die Gevattern in Riddagshausen (um 1840), geben einen
Einblick in die Geschichte der Trachten.
*) Das alte Bauernleben der Lüneburger Heide. Studien zur nieder¬
sächsischen Volkskunde. Mit 41 Abbildungen, 24 Singweisen und einer
Karte. (Leipzig 1906.)
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Literaturbericht. Volkskunde
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geflossen. Alles, Kinderspiel, Jugendbeschäftigung, Sitte und
Brauch, selbst die Einrichtung von Haus und Herd, ist geknüpft
an den Lebenslauf des Menschen von der Wiege bis zur Bahre.
Vier Bearbeiter haben sich in die Darstellung der Volkskunde
der Provinz Brandenburg geteilt 1 ) und so ein reichhaltiges Werk
geschaffen, das aber in seinem letzten Teile über den Rahmen
der eigentlichen Volkskunde hinausgeht. Denn die Vorgeschichte,
die Kiekebusch hier gibt, gehört in diesem Umfange ihr nicht an.
In der äußeren Volkskunde, wie Mielke den von ihm bearbeiteten
Abschnitt nennt (gemeint sind die Realien der Volkskunde: Siede-
lung, Hausbau, Tracht, Gerätschaften, Verkehr, Speise und
Trank), stellt der Verf. eine neue Hypothese über die Pferdeköpfe
des niedersächsischen Hauses auf. Er setzt ihren Ursprung als
Giebelzeichen ins 16. Jahrhundert und hält sie für Nachbildungen
des welfischen Wappentieres, eine Annahme, die zweifellos mehr
für sich hat als die Ableitung von Wodans Roß. W. v. Schulen-
burgs Anteil, die innere Volkskunde, wie er wenig richtig genannt
wird (prosaische Volksdichtung, Sitte und Brauch im Laufe des
Jahres und in der Familie), bringt eine Neuerung, die Nachahmung
verdient: die kartographische Darstellung der Verteilung der
sog. Zwölften Gottheiten. Lohre behandelt endlich die poetische
Volksdichtung, namentlich das Volkslied, wozu er u. a. auch den
handschriftlichen Nachlaß L. Erks benutzt hat.
Die Volkskunde von Ostfriesland hat ihren Bearbeiter in W.
Lüpkes gefunden 8 ), der Leben und Haus und Kleidung seiner
Ostfriesen auf Grund älterer Quellen, zeitgenössischer Berichte
und eigener Beobachtung, öfter in feuilletonistischer Weise, darstellt.
Sein Ziel ist, den im Volksgemüt und Volksleben ruhenden Schatz
zu heben und ihn dem Volke zu erhalten. Weil Ostfriesland noch
relativ am wenigsten vom Weltbürgertum angesteckt ist, ist hier
noch viel altes Volkstum zu finden. Erschöpfend behandelt ist dies
auch durch das vorliegende Werk durchaus nicht.
Das Volkstum des benachbarten Oldenburg war seinerzeit
(1867) von L. Strackerjan in einer Weise dargestellt worden, die
geradezu als außergewöhnlich bezeichnet werden muß. Stracker-
jans Hauptwerk hat nun in Willoh einen Bearbeiter gefunden,
durch den das Material zur oldenburgischen Volkskunde ganz
*) Landeskunde der Provinz Brandenburg herausg. von E. Friedei
und R. Mielke. 3. Bd.: Die Volkskunde, von R. Mielke, W. v. Schulen¬
burg, H. Lohre u. A. Kiekebusch. Mit 272 Abbild, im Text, 19 Tafeln
u. einer Karte. (Berlin 1912.)
*) Ostfriesische Volkskunde. Mit über 100 Originalbildem. (Emden
1907.) Von den Abbildungen verdienen namentlich die der Möbel und
Hausgeräte Beachtung.
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wesentlich vermehrt worden ist. 1 ) Der Titel des Werkes kann irre¬
führen. Denn wird in ihm auch vom Aberglauben ausgegangen,
so bieten die beiden Bände, namentlich der zweite, zahlreiche
Zeugnisse für das ganze Seelenleben der Oldenburger, und auch
Sitten und Bräuche im Leben des Menschen und im Laufe des
Jahres, bei ihren Arbeiten in Geest, Moor und Marsch werden ein¬
gehend behandelt. — Beiträge zur Volkskunde der Helgoländer
enthält die Schilderung Helgolands von Th. Siebs. 2 ) Aus der
Geschichte der Insel, die die Volkskunde nicht berührt, sei die
Deutung des Namens Helgoland hervorgehoben. S. bekämpft die
landläufige Deutung ,,Heiliges Land“ und erklärt den Namen aus
fries. thet hälik lönd ,,das hohe Land“, das Adam von Bremen mi߬
verstanden hat. Der volkskundliche Teil ist ein eigentümliches
Gemisch von Sprachführer, den eine Reihe Gespräche in Dialekt
und hochdeutscher Schriftsprache ausmachen, und Erzählungen
über Beschäftigung und Erlebnisse der Helgoländer, unter Be¬
rücksichtigung ihrer Sitten und Gebräuche, ihrer Sprichwörter,
Redensarten, Lieder, der Namen der Personen, Orte, Tiere und
Pflanzen, alles doppelsprachig, obgleich man bei Sitte und Brauch
nicht recht den Zweck einsehen kann.
In Mecklenburg hat sich niemand mehr als R. Wossidlo
der Volkskunde angenommen. 3 ) Seiner wissenschaftlichen Werke
ist bereits oben gedacht (S. 232). Um den Boden zu zeigen, auf
dem Fritz Reuters humorvolle Dichtungen entstanden sind, ver¬
öffentlichte er ein Heft Beiträge zur Volkskunde, Skizzen aus dem
Volksleben, die z. T. zerstreut schon in Mecklenburgischen Zeit¬
schriften gedruckt waren. Hierin erschien auch der Aufsatz über
die Sammeltätigkeit des Verf., den er in ausführlicher und kürzerer
Form schon 1906 in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde
veröffentlicht hatte. Er ist zumal in seiner hier erweiterten Gestalt
der beste Wegweiser für alle, die sich der Sammelarbeit widmen
wollen. Des weiteren plaudert er über Tanzen, die Erlebnisse der
Jugend, gibt eine stattliche Anzahl meist humoristischer Redens¬
arten, erzählt allerlei Schwänke, schildert das Landvolk bei der
Arbeit, beim Kartenspiel, den ländlichen Hofhalt und verzeich¬
net einige Tiermärchen, in die der Mecklenburger ebenfalls seine
Lebensauffassung gelegt hat. Fast alles ist im Dialekt geschrieben,
wodurch der oft derbe Humor erst zur rechten Geltung kommt.
*) Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. 2. ver¬
mehrte Auf!, herausg. von K. Willoh. 2 Bde. (Oldenburg 1909.)
*) Helgoland und seine Sprache. Beiträge zur Volks- und Sprach-
künde. (Cuxhaven-Helgoland 1909.)
Ä ) Aus dem Lande Fritz Reuters. Humor in Sprache und Volkstum
Mecklenburgs. Mit einer Einleitung über das Sammeln volkstümlicher
Überlieferungen. (Leipzig, O. Wigand, 1910.)
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Literaturbericht. Volkskunde 269
Aufklärungen über das Volkstum der Insel Rügen verdanken
wir A. Haas. Nachdem dieser bereits 1905 in einem Programm des
Stettiner Schiller-Realgymnasiums ein Bild von den Wohnhäusern,
der Tracht, dem Aberglauben der Mönchguter entworfen hatte 1 ),
behandelte er diese Dinge, ebenso Sitte, Brauch und Volksdich¬
tung, eingehender gemeinsam mit Fr. Worm in einer besonderen
Schrift. 2 ) Wendet also Haas in neuerer Zeit seine Blicke mehr nord¬
wärts, so richtet O. Knoop, mit dem er einst die Blätter für Pom-
mersche Volkskunde herausgab, sie auf die Provinz Posen und
damit zugleich auf die nichtdeutsche Bevölkerung dieser Gegenden.
Gemeinsam mit A. Szulczewski gab er die Beiträge zur Volks¬
kunde der Provinz Posen heraus, in denen letzterer eine Anzahl
Erzählungen von fahrenden Leuten im polnischen Kujawien ver¬
öffentlicht. 3 ) — Ebenfalls in slawische Gegend, nach der alten
Kaschubei in Westpreußen, führt E. Seefried-Gulgowski,
um uns hier mit einem wenig bekannten Volke bekannt zu machen
und für dieses Interesse zu erwecken. 4 ) Das Buch verfolgt neben
dem kulturgeschichtlichen auch einen praktischen, politischen
Zweck. Die Kaschuben, ein klein-slawischer Volksstamm zwischen
Deutschen und Polen, sollen sich ihrer Selbständigkeit bewußt
und dadurch der großpolnischen Agitation entrissen und durch
Pflege und Hebung ihrer Kultur dem Deutschtum immer mehr zu¬
geführt werden. Diese Absicht spricht Sohnrey im Geleitwort
offen aus. Zu diesem Zwecke hat der Verfasser des Buches, ein Lehrer
aus Sanddorf bei Berent, gemeinsam mit Lorentz den Verein für
kaschubische Volkskunde gegründet, und beide geben seit 1908
die deutsch geschriebenen Mitteilungen des Vereins für kaschu¬
bische Volkskunde heraus. Auch soll das schiefe Urteil, das G.
Frey tag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit über die
Kaschuben gegeben hat, berichtigt werden. Nach einer kurzen
Beschreibung der Landschaft folgt eine Darstellung des kaschubi-
sehen Hauses, das die durch den Landschaftscharakter bedingte
Abart des im alten Ordenslande allgemein verbreiteten ober¬
deutschen Hauses ist. Ihr schließen sich an die Kapitel über
den Hausrat, die Landwirtschaft, das Erntefest, dessen Feier
sich ganz den Mannhardtschen Erntegebräuchen einreiht, den
Fischfang und die dabei gebräuchlichen Geräte, die Hochzeits-
*) Volkskundliches von der Halbinsel Mönchgut (Stettin 1905).
*) Ä. Haas und Fr. Worm, Die Halbinsel Mönchgut und ihre Be¬
wohner. Mit 16 Bildern (Stettin, J. Burmeister, 1909.)
*) Allerhand fahrendes Volk in Kujawien. (Beiträge zur Volkskunde
der Provinz Posen. 2. Bändchen.) (Lissa 1906.)
4 ) Von einem unbekannten Volke in Deutschland. Ein Beitrag zur
Volks- und Landeskunde der Kaschubei. Mit einem Geleitwort von
H. Sohnrey. (Berlin, Deutsche Landbuchhandlung, 1911.)
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270 E. Mogk — Literaturbericht. Volkskunde
gebrauche mit dem Aberglauben, der mit ihnen verbunden ist,
die Tage der Kindheit mit den Kinderspielen, die Beschäftigung
im Hause und die Volkskunst, die Volkstracht, die in der ganzen
Kaschubei ziemlich gleichmäßig ist, den Volksglauben über die Er¬
scheinungen in der Natur, die Pflanzen, die Tiere, Geister und Dä¬
monen, die Volksmedizin, über das Leben in der Gemeinde, den
Volkscharakter, wie er sich namentlich im Sprichwort zeigt,
über Kirchen und Wegkreuze, die Gebräuche bei Tod und Begräb¬
nis, die Vorstellung vom Leben im Jenseits. Alles lehrt die gemein¬
same Basis, auf der deutsches und slawisches Volkstum erwachsen
ist, und den Einfluß, den die Deutschen auch auf diesen kleinen
slawischen Volksstamm jederzeit gehabt haben, so daß sich der
gemeine Mann mehr zu diesen hingezogen fühlt als zu den stamm¬
verwandten Polen.
Ich habe versucht, ein Bild von den volkskundlichen Bestrebun¬
gen der letzten Jahre in den Ländern deutscher Zunge zu geben,
und einige Fragen angeschnitten, die diese geschichtliche Darstel¬
lung veranlaßte. Ein zweiter Artikel soll die Arbeiten innerhalb der
einzelnen Teilgebiete würdigen und einige Bemerkungen über die
der Volkskunde benachbarten Wissenschaften bringen.
E. Mogk.
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KLEINE MITTEILUNGEN UND NOTIZEN.
Als neue volkskundliche Zeitschrift sind die „Bayerischen Hefte
für Volkskunde“ auf den Plan getreten. Sie werden vom bayerischen
Verein für Volkskunst und Volkskunde in München herausgegeben und
von Friedrich von der Leyen und Adolf Spanier geleitet (Kommissions¬
verlag von Carl Aug. Seyfried u. Comp.). Sie wollen einmal Sammlungen
volkskundlichen Stoffes aus Bayern bringen, weiter in fortlaufenden
Berichten alle Arbeiten zur bayerischen Volkskunde verzeichnen, vor
allem aber größere selbständige Untersuchungen veröffentlichen, „die sich
nicht auf bayerische Volkskunde beschränken, sondern sich auch der
allgemeinen Volkskunde zuwenden, damit die Bedeutung der bayerischen
Volkskunde in ihren weiten und tiefgreifenden Zusammenhängen sicht¬
bar wird“. Älteren ähnlichen Bestrebungen in Bayern wollen sie nicht in
den Weg treten, sondern sie ergänzen. Das erste Heft bringt folgende Bei¬
träge : Prinz Luitpold, Bayerns erster Kanonier (Lied) von Georg Heeger;
Die bayerischen Ortsnamen von Julius Miedel; Vom Steinkreuz zum
Marterl von Hans Schnetzer; Sage und Erlebnis von Friedrich Ranke;
Neuere Arbeiten zur Märchenforschung von Friedrich v. d. Leyen sowie
Kleinere Mitteilungen.
In Bukarest ist vor kurzem ein Institut für südosteuropäische
Studien begründet worden, an dem als Mitgründer und Mitdirektor vor
allem N. Jorga beteiligt ist. Das Institut will Mittelpunkt für historische,
kunstgeschichtliche, geographische und sprachliche Forschungen sein; das
erste Heft einer besonderen Zeitschrift (Bulletin de l’Institut pour l’&ude
de l’Europe sud-orientale) ist im Januar erschienen.
In Bd. VIII unseres Archivs (S. 502) zeigten wir den r. Band
des von Emil Reicke bearbeiteten Katalogs der Nürnberger
Stadtbibliothek (Nürnberg, U. E. Sebald) an und hoben die gerade
für die kulturgeschichtliche Forschung interessanten Bestände an Werken
des 16., 17. und 18. Jahrhunderts hervor, die der Band für gewisse Gebiete
verzeichnete. Der jetzt vorliegende 2. Band (Geschichte, II. Teil: Alte Ge¬
schichte; Mittlere und neuere Geschichte im allgemeinen) bietet in dieser
Beziehung nicht so reichhaltiges bibliographisches Material. Doch sei
z. B. die S. 275 ff. und 364fr. verzeichnete ältere Literatur zur Geschichte
der Juden und ihrer Kultur hervorgehoben. Sehr umfangreich ist die
S. 3 26 ff. verzeichnete zeitgenössische Literatur zur Geschichte der Türken¬
kriege.
Meyers Bibliographisches Institut in Leipzig hat 1911 einen
historischen Handatlas herausgegeben, der in Großoktavformat
62 Hauptkarten und zahlreiche Nebenkarten bringt. Der Atlas führt vom
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Kleine Mitteilungen und Notizen
orientalischen Altertum bis zur neuesten Zeit, der Burenkrieg sowie der
Russisch-Japanische Krieg von 1904/05 sind mit Karten des gesamten
Kriegsschauplatzes sowie mit Spezialkarten der Hauptschlachten vertreten.
Für den wissenschaftlich arbeitenden Historiker, der für die einzelnen
Perioden größerer Karten, als sie dieser Atlas bietet, nicht wird ent¬
behren können, sind solche Spezialkarten von besonderem Werte, sind doch
auch sonst überall Stadtpläne, Schlachtpläne für das 19. Jahrhundert, Lage¬
pläne (z. B. das Pyramidenfeld von Sakkära, die Saalburg, der Limes usw.)
beigegeben. Auch finden sich einzelne Karten darin, die bisher wohl
kein historischer Atlas enthält: z. B. Kelten und Germanen in Nordeuropa,
oder die Karten zur Geschichte Asiens oder zum Zeitalter der Entdeckungen
und der Entwicklung des Kolonialbesitzes. Die Brauchbarkeit des Atlas
wird nicht nur durch beigegebene Zeittabellen (z. B. zur gesamten Geschichte
der Normannen) erhöht, sondern auch noch durch Ortsregister, die allen
wichtigeren Karten direkt angefügt sind und die rasche Feststellung jedes
topographischen Begriffes ermöglichen. So wird diese? Handatlas mit
seinem mäßigen Preise (geb. 6 Mk.) für die häusliche Arbeit des
Historikers oft von großem Vorteil sein.
Von J. Geffcken und E. Ziebarth herausgegeben, ist das bekannte und
bewährte Reallexikon des klassischen Altertums von Friedrich
Lübker in 8. vollständig umgearbeiteter Auflage erschienen. (Verlag
von B G. Teubner in Leipzig.)
Band V der neuen (7.) Auflage der von v. Holtzendorff begründeten,
jetzt von J. Köhler herausgegebenen Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in
systematischer Bearbeitung enthält u. a. den in 2. Auflage bearbeiteten
Beitrag von Ulrich Stutz: Kirchenrecht, Geschichte und System. Wir
weisen hier auf den historischen Teil dieses Beitrages hin und heben
die reichhaltigen Literaturangaben gerade aus neuester Zeit hervor.
Stutz selbst bemerkt mit Recht, daß man für den neuesten Stand (sowohl
der Gesetzgebung wie) der Literatur auf seinen Abriß angewiesen sei,
da die beiden gangbarsten Lehrbücher des Kirchenrechtes, dasjenige von
Friedberg und das von Sägmüller, zuletzt im Jahre 1909 aufgelegt
worden sind.
Georg Steinhausens Geschichte der deutschen Kultur
liegt in vollständig neubearbeiteter und stark vermehrter 2. Auflage seit
Ende 1913 in zwei Bänden vor: auf die neue Auflage wird in den
Literaturberichten zurückzukommen sein.
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