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Full text of "Atomistik und Kriticismus: Ein Beitrag zur erkenntnisstheoretischen Grundlegung der Physik"

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M',. 




IHANB ■SEWTOBB^JVNIOIR-^'HIIVERSIUT 



ATOMISTIK 



UND 



KRITICISMUS 



ATOMISTIK 



UND 



KRITICISMUS. 



EIN BEITRAG 



ZUB 



ERKENNTNISSTHEORETISCHEN GRUNDLEGUNG 



DEB 



PHYSIK. 



VON 



KURD LASSWITZ, 

iTr. phil. 



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BRAUNSCHWEIG, 

DRÜCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN. 

1878. 



Alle Re(jlite vorbehalten. 



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VORWORT. 



Studien zur Geschiclite der atomistisclieii Theo- 
rien fiilirten micli zu dem Versuche, die Atomistik 
von ihrem gewohnten Boden, dem Dogmatismus, ab- 
zulösen und zunächst ihren Werth an den erkenntniss- 
theoretischen Grundlehren des Eüticismus zu prüfen. 

Das Eesultat dieser Untersuchimg liegt hier vor. 
Es ergab sich, dass die Natur unserer Sinnlichkeit, 
insofern sie als subjectiver Factor die Gestaltung un- 
serer Erfahrung mitbedingt, bei dem Streben nach 
wissenschaftlicher Orientirung in der Welt uns nöthigt, 
zur theoretischen Grundlage der Physik eine kine- 
tische Atomistik zu wählen. 

Den sehr weiten Begriff des Kriticismus habe ich 
absichtlich nicht näher bestimmt. Denn nicht meta- 
physische Untersuchimgen sind hier bezweckt, son- 
dern für die Physik soll eine möglichst breite er- 
kenntnisstheoretische Basis gefunden werden, auf wel- 
cher sich die Meinungen aller derer zu treffen ver- 
mögen, die, so weit «sie auch im Einzelnen sich tren- 
nen, doch darin übereinstimmen, dass unsere Erkennt- 
niss unablöslich ist von gewissen Einflüssen imd An - 



VI Vorwort. 

lagen des erfahrenden Subjects. Demnacli wage ich 
zu hoffen, dass die Anhänger des Kriticismus , wie 
sie auch ihrerseits die Theorie des Erkennens und 
des Wissens specialisiren mögen, und wie sehr an- 
dererseits meine Arbeit der Verbesserung und Ver- 
vollständigung im Einzelnen bedarf, doch im Wesent- 
lichen die gefundenen Resultate billigen können. 

Insbesondere wendet sich der vorliegende Ver- 
such, von den angegebenen Gesichtspunkten aus einen 
Beitrag zur kritischen Grundlegung der Physik zu 
liefern, an die empirischen Forscher. Möge es ihm 
vergönnt sein dahin zu wirken, dass Jene, welche der 
Philosophie noch immer misstrauisch den Rücken 
kehren, sich ihren versöhnenden Bemühungen geneig- 
ter zeigen. Jene aber, welche selbstständig über die 
Grenzprobleme der Naturwissenschaft philosophiren, 
auf die drohende Gefahr des Dogmatismus aufmerk- 
sam werden, die einzelne Naturforscher bereits über- 
rascht hat. 

Schliesslich habe ich noch nachzutragen, dass zwei 
mit meiner Arbeit in enger Beziehung stehende Werke, 
„Die Axiome der Geometrie etc." von B. Erdmann 
und „Die kinetische Theorie der Gase etc." von 
0. E. Meyer, weil dieselben erst während des Druckes 
erschienen sind, leider nur noch unter dem Text Be- 
rücksichtigung finden konnten. 

Gotha, im November 1877.* 

K. Lasswitz. 



INHALT. 



I. EinleituDg. 

Stellung der Atomistik zur Philosophie und Naturwissenschaft. — 
Unsere Aufgabe und der Werth ihrer Lösung für die Physik. — 
Methode der Lösung S. 1 — 9 

IL Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 

Die Natur als Wechsel unserer Empfindungen. — Das Begreifen der- 
selben besteht in der Zurückführung auf einfache und anschauliche 
Vorstellungen. — Diese Zurückführung ist möglich in Folge der 
durch unsere Organisation bedingten Gesetze unserer Erfahrung. — 
So ergiebt sich nicht nur eine Beschreibung, sondern eine Erklä- 
rung der Natur S. 10 — 20 

III. Die Entstehung des Atombegriffs. 

Die Entstehung unserer (physikalischen) Erfahrung durch die Ver- 
schmelzung der Sphären unserer Sinnlichkeit. — Gleichzeitige Er- 
zeugung der Begriffe von Baum und Körper. — Das Atom als eine 
nothwendige Folge der Synthesis unserer Sinnlichkeit, welche den 
Begriff abgeschlossener, undurchdringlicher, beweglicher Bäume er- 
zeugt. — Unterschied zwischen Atom und Körper. Irrthum von 
W. Thomson und anderen Forschem. Die Atome als Vielheit. — 
Bedeutung der phänomenalen Atomistik als Bedingung für das 
Zustandekommen einer Wissenschaft S. 21 — 38 

IV. Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 

Unterschied von Mathematik und Physik in Bezug auf die Erfah- 
rungstheorie. — Die Grösse der Atome ist von der Naturwissen- 
schaft festzusetzen. — Belativität des Grössenbegriffs und Noth- 
wendigkeit des Atombegriffs. Belativität des Unendlichkeitsbegriffs. — 
Auseinandersetzung mit Kant 's „Metaphysischen Anfangsgründen 
der Naturwissenschaft" S. 39 — 51 



VIII Inhalt. 

V. Der Zusammenhang der Atome und die Mittheilung 

der Bewegung als Andrangsempfindung. 

Die StelluDg der Physik imd der transcendenten Metaphysik zum Zu- 
sammenhange der Atome. — Die Lösung des Problems durch den 
Kriticismus. — Unzulässigkeit der fernwirkenden Kräfte. — Zöll- 
ner*8 Irrthum. — Die Unbegreif barkeit der Mittheilung von Be- 
wegung auf imkritischem Standpunkte. Ihre unmittelbare Gewiss- 
heit auf kritischem Boden als Andrangsempfindung. Axiom 
der Mittheilung der Bewegung. — Die Andrangsempfindung 
bei Galilei. — Axiom von der Gleichheit der Wirkung und 
Gegenwirkung S. 52 — 67 

VI. Die Principien der Mechanik. 

Die Andrangsempfindung als das Ursprüngliche der Mechanik 
und der Begriff der Masse. — Die Schätzung der Andrangs- 
empfindung nach der Zeit. — Die Andrangsempfindung als 
Kraft. Momentane und constante Kräfte. Bewegungsgrösse. — 
Dichtigkeit. — Gesetz der Trägheit. — Aufhebung der Bewe- 
gung durch eine gleich grosse ihr entgegengesetzte. — Beim Stosse 
bleibt die Summe der Bewegungsgrössen constant. — DieSchätzung 
der Andrangsempfindung nach der "Wegstrecke. — Unmög- 
lichkeit der Aufhebung der so geschätzten Bewegung. — Das Ge- 
setz von der Erhaltung der lebendigen Kraft. — Der stati- 
sche Druck S. 68 — 86 

VII. Das Apriori in der Physik. 

Das Bewusstwerden der mechanischen Principien^ — Das Apriori in 
der Physik. — Die Gleichberechtigung des objectiven und subjecti- 
ven Factors der Erkenntniss und der Mangel einer Grenze zwischen 
apriorischen und empirischen Sätzen. — O. Lieb mann' s Einwurf 
gegen die Apriorität des Trägheitsgesetzes. — Die ideelle Geltung 
empirischer Gesetze. — Unser Resultat S. 87 — 95 

Vin. Der Begriff der Elasticität und der Stoss der Atome. 
Der Einwurf gegen die kinetische Atomistik, dass ihre Atome elastisch 
sein müssten. — Zurückweisung desselben. — Bestätigung dieser 
Abweisung durch die Entwickelungen von O.E. Meyer und G. Lü- 
beck. — Scheinbarer Widerspruch, dass unelastische Atome wie 
elastische Körper sich bewegen sollen. — Aufhebung des Wider- 
spruchs durch Discussion des Elasticitätsbegriffs. — Abweisung 
des Einwurfs der mangelnden Anschaulichkeit. — Die kinetische Ato- 
mistik als nothwendige Grundlage aller Naturerklärung S. 96 — 106 

IX. Schluss. 

Die Welt der Atome und die Welt der Empfindung. Ihr Parallelis- 
mus und die Grenzen der Erkenntniss 107 — 111 



L 



/Einleitung. 



Die Atomistik reicht mit ihren Untersuchungen an jene 
Grenze des Erkennens, wo der forschende Geist seiner Natur 
nach auf unauflösliche Widersprüche zu stossen scheint Die 
Versuche, diese Widersprüche, welche die Frage nach dem We- 
sen des Stoffes darbietet, mit Erfolg zu beseitigen, haben eine 
ausserordentliche Anhäufung von Material hervorgerufen. Wenn 
man die Theorien der Materie zu überblicken versucht, wie sie 
sowohl die Philosophie als die empirischen Naturwissenschaf- 
ten ausgebildet oder angedeutet haben , so geräth man auf die 
Befürchtung, es handle sich hier um eine Mannichfaltigkeit von 
mehr oder minder willkürlichen Hypothesen, Vermuthungen 
und Erdichtungen, deren Durchforschung schon um des behan- 
delten Gegenstandes selbst willen zu einem befriedigenden Re- 
sultate überhaupt nicht führen könne. Doch hat sich unter all 
diesen Versuchen die atomistische Hypothese als diejenige her- 
vorgearbeitet, welche nach dem gegenwärtigen Stande der 
Wissenschaft die beste Aussicht zu einer einheitlichen und be- 
friedigenden Naturerklärung zu bieten scheint. 

Das Atom enthält nicht nur ein naturwissenschaftliches, 
sondern vor Allem ein erkenntnisstheoretisches Problem. Es 
erfreut sich daher der Aufmerksamkeit zweier Wissenschaften, 

Lasswitz, Atomistik etc. 1 



2 Einleitung. 

deren Grenzgebiete bei ihm zusammenstossen; Physik und Phi- 
losophie theilen sich in den Streit um das „Untheilbare". So 
geht es dem Atom, wie es auch politischen und geograpliischen 
Grenzgebieten zu ergehen pflegt; von beiden Seiten wird es in 
Anspruch genommen und darum aufs Sorgfältigste studirt. Aber 
auch der Kampf um sein Recht wird auf seinem Boden ausge- 
stritten und prägt ihm bedenkliche Spuren auf; von beiden Seiten 
hat es zu leiden, und endlich kann es beim Friedensschluss ge- 
schehen, dass es für neutral erklärt wird, als überhaupt ungeeig- 
net eine Streitfrage zu bilden. 

Es scheint in mancher Beziehimg, als sei das Atom bereits 
nahe an dieses Stadium herangerückt. 

Die Zeit ist noch nicht lange vergangen, in welcher Philo- 
sophie und empirische Naturwissenschaft sich in voller Feind- 
schaft gegenüber standen. Fechner's „Physikalische und phi- 
losophische Atomenlehre" kann etwa als abschliessendes und 
maassgebendes Generalstabswerk für diesen Krieg angesehen 
werden, soweit er sich auf die Atomistik bezog, die ja gerade 
den Mittelpunkt des Kampflfeldes bildete. Freilich wollte der 
Verfasser desselben der Physik den Löwenantheil retten, was 
denn nicht ohne manches scharfe Wort abging, und Braniss ^) 
rief ihm dagegen wieder zu , er möge „die Philosophie ungehu- 
delt lassen." 

Der Streit entgegengesetzter Meinungen konnte zwischen 
der „speculativen" und „empirischen" Forschung vor einigen 
Jahrzehnten auf dem Gebiete der Atomistik um so heftiger ent- 
brennen, als die Verschiedenheit der Waffen und die Leichtig- 
keit des Rückzugs in das eigene Reich, welches dem Gegner 
unzugänglich blieb , einen endgiltigen Austrag des Kampfes er- 
schwerte. Dazu kam, dass man in der Partei der Naturfor- 



*) Ueber atomistische und dynamisclie Naturauffassung. Breslau, 1858. 
Aus den Abhandlungen der hist. phil. GeseUschaft in Breslau. I. Bd., 
8. 328. Vergl. übrigens über diesen Streit die treffenden Bemerkungen 
von F. A. Lange, Geschichte des Materialismus etc. (Iserlohn, 1875). 
2. Aufl., n. Bd., S. 193. 



Einleitung. 3 

scher selbst nicht recht einig war; obgleich hier in der Beob- 
achtung und Erfahrung eine unbestechliche Schiedsrichterin 
den Uneinigen bestellt zu sein schien, kam doch der Kampf der 
Ansichten, wenn auch im Schauplatze beschränkt, zu keiner 
vollen Entscheidung. Die empirische Naturwissenschaft war 
lange Zeit hindurch selbst nicht im Stande , allgemein befriedi- 
gende Antworten zu verkünden. Den grossen Fortschritten, 
welche sie in der Bezwingung der einzelnen Theile ihres Rei- 
ches machte, fehlte das verknüpfende Band, die einheitliche Be- 
gründung, welche die Philosophie jener selbst zu geben mit 
Recht Anspruch erhob. Und als bei der allmählichen Schei- 
dung der Naturphilosophie in die beiden grossen Lager der 
dynamischen und atomistischen Auffassung die empirischen 
Forscher fast einmüthig der letzteren sich zuwandten, schmolz 
der Streit um die Sache zusammen mit dem Streite der Me- 
thoden, und die Speculation mochte der Empirie um so weni- 
ger das Richteramt zuerkennen, als letztere thatsächlich nicht 
im Stande war, in ihrer messenden und wägenden Art eine ein- 
heitliche Naturauflfassung herzustellen , wie es der speculativen 
Phantasie geistvoller Denker auf dem Wege geschmeidiger Be- 
griflfe zu gelingen schien. 

Das musste sich ändern, als die Gänge und Minen, durch 
welche die Forscher an der Hand der Erfahrung ins Innere der 
Natur zu dringen suchten, in einem Punkte sich zu treflfen be- 
gannen, seitdem es gelungen, im Gesetz von der Erhaltung 
der Kraft den modernen „Stein der Weisen" zu finden, welcher 
die Umsetzung aller Kraftformen in einander gestattete. Die 
Macht dieses Gesetzes wurde ausgedehnt auch auf das Gebiet 
des Organischen, und als gar in Darwin der „Newton des Le- 
bendigen" gekommen schien, da durfte man hoflfen, die „Theorie 
der Natur" als mechanische Erklärung der Phänomene durch 
ihre „wirkenden Ursachen" geben zu können, welche Kant 
wohl erwünscht, wenn auch bezweifelt hatte, als er uns die ganz 
unbeschränkte Befugniss und den Beruf vindicirte i), „alle Pro- 



^) Kritik d. Urtheilskraft. Herausg. v. Kirch mann. Berl. 1872. 8.296. 

1* 



4 Einleitung. 

ducte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmässigsten, 
soweit mechanisch zu erklären, als es immer in unserem Ver- 
mögen steht." 

Wir wollen nicht beurtheilen, in wieweit der Untergang 
der sogenannten „speculativen Naturphilosophie" diesen Fort- 
schritten der empirischen Naturwissenschaft zuzuschreiben ist; 
der Einfluss derselben war jedenfalls ein bedeutender. Umge- 
kehrt aber ist es klar, dass die Naturwissenschaft, die sich nun 
nahe dem Ziele sah, eine geschlossene Weltanschauung bilden 
zu können, wenigstens in den hervorragenderen Geistern, die 
mit der Einseitigkeit eines naiven Realismus und consequenten 
Materialismus sich nicht befreunden mochten, zur Besinnung 
auf sich selbst kommen musste. Es wurde klar, dass die letzten 
Fragen der Naturforschung ihrem Wesen nach erkenntniss- 
theoretische sind oder sich nicht von solchen scheiden lassen. 

So haben wir in den letzten Jahren das erfreuliche Schau- 
spiel gehabt, dass Naturwissenschaft und Philosophie wieder ge- 
meinsame Wege zu wandeln beginnen ; dass es keine Philosophie 
mehr giebt, die sich nicht anschlösse an die grossen Entdeckun- 
gen der Empirie, und keine Naturwissenschaft, die sich der 
Macht der erkenntnisstheoretischen Ueberlegungen auf die Dauer 
entziehen dürfte. Es ist bekannt, dass das Studium von Kant 
hier vor Allem maassgebend war; ebenso bekannt sind die Na- 
men der Forscher, an welche sich die moderne Bewegung knüpft; 
und so scheint es denn, als stände der Friedensschluss nahe bevor. 

Was wird nun aus dem streitigen Grenzgebiete, aus dem 
Atom? 

Wir deuteten oben an, dass es nicht am besten dabei weg- 
zukommen scheine. Die Physiker und Chemiker machen sich 
nicht viel Sorgen um dasselbe , wenn sie nur ihre Molekel ha- 
ben; die Mathematiker rechnen am liebsten mit Volumelementen; 
die Philosophen weisen ihm Widersprüche im Begrifl* nach und 
wollen es allenfalls als ein methodisches Erkenntnissmittel oder 
als „Rechnungsmarke" bestehen lassen; vom kritischen Stand- 
punkte aus ist es jedenfalls nur unsere „Vorstellung", und so 
könnte man über den Werth des viel bestrittenen Atoms sehr 



Einleitung. 5 

zweifelhaft werden, wenn nicht seine einfache Anschaulich- 
keit ihm einen unschätzbaren Werth für die einheitliche Er- 
fassung und Darstellung der Mannichfaltigkeit der Erscheinun- 
gen gäbe, durch welchen allein schon es seinen Platz unter 
den fundamentalen Hypothesen der Wissenschaft siegreich be- 
hauptet. 

Wohl aber ist es eine Aufgabe der Philosophie wie der 
Naturwissenschaft , insofern sie beide Naturphilosophie im edel- 
sten Sinne sind, den gegenwärtigen Stand unserer Ansichten 
über das Atom in Rücksicht auf ihren erkenntnisstheoretischen 
Werth zu prüfen. Es handelt sich darum, der rechnenden 
und experimentirenden Naturwissenschaft für ihre Hy- 
pothesenbildung von einer Seite zu Hülfe zu kommen, 
von der sie lange Zeit hindurch nur Misstrauen, Zwei- 
fel und Angriff gewohnt war. Es handelt sich darum, den . 
Fortschritt der Erfahrung, insofern sie auf unbekannten Gebie- 
ten vordringt, zu leiten durch die Untersuchung der Bedingun- 
gen einer möglichen Erfahrung und nachzusehen , welche Vor- 
aussetzungen für die Erklärung der Naturerscheinungen wohl 
aus der Natur des erklärenden Subjects selbst fliessen mögen. 
Zu dieser Untersuchung, welche schon von verschiedenen Seiten 
in Angriff genommen wurde, soll hier ein Beitrag geliefert wer- 
den durch eine kritische Behandlung der atomistischen 
Grundlagen der Physik. 

Es gilt nicht etwa, neue Hypothesen über die mögliche Be- 
schaffenheit der Materie aufzustellen und dieses überreich ge- 
segnete Gebiet mit speculativen Spenden zu erfreuen; dies ist 
vielmehr von einem gewissen Punkte an Sache der theoretischen 
Physik und Chemie , denen das Recht dazu dann — aber auch 
nur dann — zusteht, wenn sie an der Hand der neuen Hypo- 
these einerseits eine genügende, durch Rechnung darzulegende 
und das Experiment zu bestätigende Naturerklärung geben kön- 
nen, und wenn andererseits die in Frage kommende Hypo- 
these vereinbar ist mit den feststehenden Principien einer rich- 
tigen Erkenntnisstheorie. 

Es gilt vielmehr, diejenigen Bedingungen aufzusuchen, wel- 



6 Einleitung. 

chen sich gemäss unserer Sinnes- und Verstandesanlage jede 
physikalische Erkenntniss fügen muss, um daraus die noth wen- 
digen Principien der theoretischen Physik zu gewinnen. Dies 
kann geschehen , indem wir versuchsweise die gegenwärtig in 
der Naturwissenschaft allgemein anerkannte atomistische Hypo- 
these an Kant's unsterbliche Errungenschaft, an den kritischen 
Gedanken halten, um zu bestimmen, was dabei bestehen kann. 

Die Physik dürfte hiervon einen doppelten Nutzen ziehen, 
sowohl was die Ausdehnung ihres Bereiches als was die Sicher- 
heit ihres Besitzstandes betriflpt. Denn für beides kann sie nur 
gewinnen, wenn es sich herausstellen sollte, dass gewisse An- 
nahmen , die sie zur Befriedigung gewisser empirischer Ergeb- 
nisse machen muss, weit mehr sind als eine „nothwendige und 
zureichende Hypothese"; dass sie vielmehr nothwendige und un- 
abweisliche Grundsätze sind, welche aus der Natur der mensch- 
lichen Erkenntnissfähigkeit überhaupt fliessen, so dass durch 
sie allererst Erfahrung möglich wird. Dann aber werden sich 
auch die „Widersprüche**, welche man im Atom finden will, vor 
dem kritischen Gedanken ebenso in Dunst auflösen, wie diejeni- 
gen , welche seit Jahrtausenden im Wesen des Raumes und der 
Bewegung bemerkt wurden. 

Wenn wir uns nun die Frage stellen, welches denn die- 
jenigen atomistischen Vorstellungen der gegenwärtigen Natur- 
wissenschaft seien, an welche wir unseren kritischen Maassstab 
zu legen haben, so kann uns eine bestinmite Antwort zu geben 
einigermaassen schwer fallen. Eine einheitliche und strenge 
Atomistik existirt eben nicht; ja die Männer von Fach lieben 
es, sich in dieser Beziehung keine ganz bestimmte Vorstellung 
zu bilden und lassen die Eigenschaften der Atome möglichst 
dahingestellt; oder sie machen geradezu darauf aufmerksam, 
dass die aus ihren Prämissen gezogenen Schlüsse von den An- 
nahmen, welche sie über die Atome machten, nicht abhängen i). 

In unserer Untersuchung soll es gerade darauf ankommen. 



*) Clausius, Abliaiullungeu zur mechanischen Wärmetheorie. Braun- 
schweig, 1867. — Poggendorff 8 Annalen Bd. C. 



Einleitung. 7 

zu sehen, welche Annahmen in Bezug auf die Atouie gemacht 
werden dürfen oder müssen. Sollen wir zu diesem Zweck in 
das Meer des angehäuften Stoffes hinabtauchen und das Brauch- 
bare herauszuholen versuchen ? Eine historische Sichtung die- 
ses Wirrwarrs müssen wir einer grösseren Arbeit vorbehalten ; 
für diesmal dürfte ein Blick hinein genügen uns zu lehren, dass 
wir von diesem analytischen Wege für unseren nächsten Zweck 
nicht viel zu hoffen haben. 

Da finden wir zuerst die aus dem Alterthum stammende, 
von Sennert und Gassendi wieder aufgenommene sogenannte 
kinetische Atomistik ; hier sind die Atome die kleinsten, untheil- 
baren Theilchen der Materie, absolut hart, undurchdringlich, in 
geradliniger Bewegung begriffen, verschieden an Gestalt und 
Grösse, ohne qualitative Unterschiede. Könnten wir dabei blei- 
ben! Aber in der modernen kinetischen Theorie der Gase sind — 
wie man bisher annahm — die Atome elastisch geworden; so 
erklärt man uns freilich durch ihren Stoss Druck, Wärmelei- 
tung u. s. w. der Gase, man giebt uns bestimmte Zahlen für 
ihre Geschwindigkeit, mittlere Weglänge, Zahl der Stösse pro 
Secunde, ja sogar angenäherte Werthe für ihre Massen. Aber 
eben dabei stellt es sich heraus, dass eigentlich gar nicht die 
Atome, sondern die Molekel gemeint sind, die aus Atomen be- 
stehen. Da doch aber auch die Atome elastisch gedacht wer- 
den müssen, so bestehen sie wahrscheinlich wieder aus Atomen 
höherer Ordnung — u. s. w. in indefinitum. Das scheint ver- 
dächtig *). Oder sind etwa die Atome undurchdringlich, aber 
doch biegsam? Da wären wir bei Cartesius und dicht bei der 
Corpuscularphilosophie des siebzehnten Jahrhunderts mit ihren 
Häkchen, Hebeln und Maschinchen an den Atomen. 

Bewahre! mischt sich hier die Physik nach Newton hin- 
ein, die Atome haben anziehende und abstossende Kräfte, durch 
welche sie auf einander wirken. So scheint uns auf einmal ge- 
holfen! Aber wie? Zugleich anziehend und abstossend? Wie 
soll man sich die Kräfte arrangirt denken? Sind, nach Weber- 



^) Die Auflösung des Widerspruchs siehe in Abschnitt VIII. 



8 Einleitung. 

Zöllner, „die letzten physikalisch nicht mehr theilbaren Ele- 
mente aller Körper die beiden Elektricitätstheilchen -\- e und 
— e mit ihren trägen Massen e und s'?** Oder hat Redte n- 
bacher Recht? 

Die abstossenden Kräfte stecken im Aether? Es sind Dy- 
namiden mit Aetherhüllen ! 

Schön! Aber so wirken sie doch durch den leeren Raum? 
Wie soll man sich diese Wirkung vorstellen? Nicht Jeder kann 
das. Warum uns mit solchen Atomen nicht gedient ist, darauf 
kommen wir noch zurück i). 

„Das Atom," sagt der Chemiker, „ist der kleinste Theil 
eines Stoffes, welcher eine Verbindung eingeht." 

Aber seine Eigenschaften? Seine Werthigkeit, seine Af- 
finitäten — sollen diese Öegriffe nur Bilder für einen nicht näher 
aufklärbaren Vorgang sein? 

Doch es giebt noch mitleidige Theorien, die uns Auskunft 
versprechen. Hier, ruft die „einfache" Atomistik, ist der wahre 
und einzige Kraftpunkt! Die Atome sind materielle Punkte, 
punktuelle Intensitäten, reine Raumbestimmungen mit Masse 
(denn Masse ist nur eine Zahl)! 

Vielmehr, es sind reine Kraftcentren, nichts Materielles! 
Auch das will man nicht gelten lassen. Aber die Hypothese 
verzweifelt nicht. Von allen Seiten steigt sie auf — wer nennt 
die Namen? 

„Die Atome sind durchdringlich, es sind Kinete, die durch 
einander hindurchschwingen ! " 

„Nur der Aether bewegt sich, der macht es!" 

„Die Atome sind unendlich gross, jedes umfasst alle an- 
deren." 

„Das Atom ist das Kraftelement der Richtung, die gerad- 
linige Bewegungsenergie." 

Und so weiter! Wir hören auf. 

Die meisten dieser Hypothesen haben zwar keinen Boden 
in der Naturwissenschaft gefasst; aber auch die weit verbreitet- 



1) Vergl. weiter unten. 



Einleitung. 9 

sten enthalten noch Widersprüche genug. Wir ziehen es daher 
vor, den synthetischen Weg einzuschlagen und nachzusehen, wie 
der Atombegriff gemäss unserer eigensten psychophysischen An- 
lagen entsteht. Hierbei muss es sich ja zeigen, was an der 
physikalischen Hypothese mehr ist als Hypothese und was statt- 
hafte Zuthat der Specialwissenschaften ist. Eine polemische 
Behandlung der Theorien wird sich dabei wohl gelegentlich pas- 
send anschliessen , ist aber in eingehenderer Weise nicht beab- 
sichtigt, indem wir hoffen, dass die Zurückweisung entgegenge- 
setzter Ansichten durch die Beweiskraft der vorgetragenen ge- 
leistet werde. 

Um nun unserer Aufgabe näher zu treten, ist es zunächst 
nothwendig, einigermaassen auf das Wesen unseres Naturerken- 
nens und die Entstehung unserer physikalischen Erfahrung ein- 
zugehen. Möge uns der Physiker ohne Misstrauen auf dies ihm 
unsicher erscheinende Gebiet folgen und sich überzeugen, dass 
die Physik an ihren Grenzen nothwendig auf die Theorie der 
Erfahrung zurückgreifen muss. Denn physikalische Erfahrung 
ist unsere erste Erfahrung, und es wird sich hier zeigen, dass 
die kritische Erkenntnisstheorie nichts weiter thut, als diejeni- 
gen Vorgänge bei der Bildung unserer Erfahrung sich bewusst 
zu machen, auf welche die empirische Naturwissenschaft sich 
ohne eingehendere Reflexion stützt. 

Der Philosoph aber möge freundlichst berücksichtigen, 
dass es in diesem vorbereitenden Theile unserer Arbeit nicht 
darauf ankommt, wesentlich Neues zu bieten, sondern nur eine 
passende Form für die Principien einer kritischen Theorie der 
Erfahrung zu finden, auf welchen die Physik weiterzubauen ver- 
möchte. Je sicherer das Fundament ist , um so besser. Beson- 
ders wird es den Arbeiten von Condillac, Steinbuch, Bain, 
W. Wundt, W. Goeringzu verdanken sein, wenn wir daran 
gehen dürfen die vorhandenen Bausteine zusammenzufügen zu 
einer neuen Verbindungsstrasse zwischen Naturwissenschaft und 
Philosophie. 



II. 



Die Aufgabe der Naturwissenscliaft. 



Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist die Natui" zu be- 
greifen. Was wir dabei unter Natur zu verstehen haben, kann 
keinem Zweifel unterliegen. Natur ist die Gesammheit Alles 
dessen, was in unsere Wahrnehmung treten kann. Und da alle 
Wahrnehmung nur in der Form von Empfindungsänderung i) für 
uns existirt, so ist es klar,dass es sich darum handelt, den Wech- 
sel unserer Empfindungen zu begreifen; den Wechsel der 
Empfindungen, nicht die Empfindung selbst, welche für die Natur- 
wissenschaft das nothwendig Vorausgesetzte und unmittelbar Ge- 
gebene ist. 

Natur existirt für uns nur, insofern es einen Wechsel der 
Empfindungen giebt, d. h. insofern wir in unserem Bewusst- 
sein eine Reihe von verschiedenartigen Zuständen durchlaufen. 
Die Fähigkeit, uns verschiedenartiger Zustände bewusst zu wer- 
den, nennen wir Erinnerung, und die Reihe derselben Zeit, 
insofeni wir uns dadurch eines Empfindungsinhaltes und somit 
einer Dauer unserer Existenz bewusst werden. Die Zeit ist da- 
her diejenige Form unseres Bewusstseins, durch welche uns 
Empfindungen überhaupt erst möglich sind, und sie selbst ist 
uns nur wahrnehmbar als der Wechsel der Empfindungen, d. h. als 



^) Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass wir „Empfindung" hier 
in dem allgemeinsten Sinne nehmen und damit alle Vorgän'ge in unserem 
Bewusstsein umfassen. 



Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 11 

die Vorstellung, dass Empfindungen reproducirt werden können. 
Dies ist die Zeitanschauung. Durch den Wechsel der Empfin- 
dungen entsteht zugleich ein subjectives Zeitmaass und damit 
die Vorstellung der Zeitgrösse; indem wir von dem Inhalt 
der einzelnen Empfindungen absehen, entsteht der Zeitbegriff. 
Hätten wir nur eine einzige , an Intensität und Qualität völlig 
sich gleichbleibende Empfindung, so existirte auch die An- 
schauung der Zeit nicht. Schon hieraus ergiebt sich, dass „Na- 
tur" nur etwas Phänomenales sein kann, da sie uns nur als Em- 
pfindung (im weitesten Sinne) und diese nur als Ablauf der 
Zeit zum Bewusstsein kommen kann. Die Frage, was Natur 
noch ausser imserer Empfindung sein könne, ist vorläufig ganz 
auszuschliessen ; wohl aber ist die Frage zu stellen, welche 
Art der verschiedenen Empfindungen ihrem Wesen 
nach gestattet, alle übrigen darauf zurückzuführen. 

Die Form, in welcher Empfindung in uns entsteht, ist be- 
dingt durch unsere Sinnlichkeit. Wir unterscheiden erfahrungs- 
mässig Lichtempfindungen, Tonempfindungen, Geschmacks- und 
Geruchsempfindungen; ferner Tast- und Innervationsempfindun- 
gen. Zu den letzteren rechnen wir alle diejenigen, welche sich 
auf ein unmittelbares Bewusstwerden der in unserem Muskel- 
und Nervensystem stattfindenden Veränderungen beziehen. In 
diesen Formen bewegt sich alle unsere Empfindung bis zu 
ihren höchsten Complicationen , also auch all unser Denken, 
insofern es nur in Anschauungen und Begriffen möglich ist, 
welche ihren Ursprung in der Sinnlichkeit haben. Zur Ver- 
knüpfung derselben tritt allerdings noch ein Factor hinzu, wel- 
cher seinen Grund in anderen Eigenschaften unserer Organisa- 
tion haben mag, den Stoß* zu seinen Bildungen aber aus der 
Sinnlichkeit nehmen muss. Diese Synthesis ist ihrer Form nach 
durch die Natur unserer psychophysischen Anlagen bedingt, so 
gut wie unsere Wahrnehmungen, der Stoff jener Synthesis, durch 
unsere Sinnlichkeit bedingt sind. Es ist dadurch a priori eine 
formale Bedingung unserer Erfahrung gegeben, indem wir das 
Mannichfaltige der Empfindung nur nach diesen in uns selbst 
liegenden Gesetzen verknüpfen können, und diese Gesetze nen- 



12 Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 

nen wir die Kategorie. Ein solches unbestreitbares Gesetz, 
welches der Verknüpfung des Mannichfaltigen und damit unse- 
rer Erfahrung selbst zu Grunde liegt, ist die Kategorie der 
Causalität 1). Erst durch die Causalität wird der Inhalt der 
Erfahrung begreifbar. Wir können somit jetzt die Aufgabe der 
Naturwissenschaft etwas näher dahin bestimmen: den Wechsel 
der Licht-, Ton-, Geschmacks-, Geruchs-, Tast- und Innervations- 
empfindungen als einen causalen Zusammenhang zu begreifen. 

. Ehe wir in der Untersuchung weiter gehen, ob und wie 
diese Aufgabe lösbar sei , drängt sich zunächst die Frage auf, 
was man unter „begreifen" zu verstehen habe. 

Wir sind — und das ist eine unzweifelhafte Thatsache des 
Bewusstseins — im Besitze einer Anzahl mehr oder weniger ein- 
fachen Vorstellungen, hervorgegangen aus unserer Natur, über 
deren Ursprung an anderem Orte gehandelt werden mag. Hier 
setzen wir sie vorläufig als gegeben voraus , unbekümmert , ob 
es später gelingt, die Gesetze ihrer Entstehung zu entdecken; 
so gut wie die Logik das Denken als gegeben voraussetzt, wenn 
sie daran geht seine Gesetze mit Hülfe desselben abzuleiten. 
Auf einer gewissen Stufe geistiger Entwickelung fühlen wir 
nicht das Bedürfniss, solche einfache Vorstellungen weiter zu 
begründen; sie sind da, und weil wir an sie gewöhnt sind, hal- 
ten wir sie für selbstverständlich. Welches diese Vorstellungen 
sind, bleibt vorläufig unwesentlich. Da es sich nur um einen 
Anfang handelt, braucht über diese Stufe keine Bestimmung ge- 
macht zu werden; es steht uns später frei, diese einfachen Vor- 
stellungen, bei denen das Erkenntnissbedürfuiss stehen bleibt, 
nach Zahl und Art einzuschränken; und diese Einschränkung 
möglichst zu vollziehen, ist eben die Aufgabe der Wissenschaft. — 
Wenn dem abergläubischen Bauer ein Stück Vieh fällt, so ge- 



*) Eine eingebende Erörterung des Caiisalitätsgesetzes wäre nicht un- 
angemessen, doch führt sie uns zu weit von unserem Gegenstande ab. 
Es genügt für den beabsichtigten Zweck festzustellen, dass das Causal- 
gesetz — wie Niemand bestreiten wird — ein unzweifelhaftes Grund- 
gesetz ist, nach welchem wir den Erfahrungsinhalt ordnen müssen , mag 
man selbst über den Ursprung der Causalität diese oder jene Ansicht haben. 



Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 13 

nügt ihm zur Erklärung etwa die einfache Vorstellung : Es ist 
verhext; dem Thierarzt eine andere, z. B. es ist vergiftet, und 
er ist zufrieden , wenn er den Namen des Giftes angeben kann. 
Der Physiologe will die Veränderungen im Blute und in den 
Geweben aufgezeigt wissen und wird sich möglicher Weise bei 
einigen technischen Ausdrücken beruhigen müssen, die noch 
sehr complicirte Vorgänge bedeuten können. Der Chemiker 
wird wünschen, die Wanderungen der Atome in den Molecül- 
complexen zu kennen; dem Philosophen wird vielleicht „Atom" 
und „Bewegung" als eine Vorstellung erscheinen, die noch nicht 
einfach genug ist, um den Vorgang als „begriffen" ansehen zu 
lassen. Die Ansichten über das, was einfache Vorstellungen 
sind , die nicht weiter begriffen zu werden brauchen , sind also 
sehr verschiedene; aber es handelt sich, wie gesagt, hier noch 
nicht darum, festzustellen, welche als solche von Seiten der Er- 
kenntnisstheorie anerkannt werden dürfen. Sie werden im Be- 
ginn des wissenschaftlichen Denkens andere sein als im späte- 
ren Verlaufe, und welche es sind, wird sich erst aus der Be- 
trachtung der Natur unseres Denkens und Vorstellens erkennen 
lassen. Es genügt zu wissen, dass es einfache Vorstellungen 
giebt, die auf einer gewissen Stufe unserer Erkenntnissthätig- 
keit keines weiteren Begreifens bedürfen. Dass der Begriff' des 
Begreif ens hierbei ein relativer ist, hindert nicht, eventuell nach 
einem absoluten zu suchen. 

Jedesmal, wenn unser Causalitätsbedürftiiss , indem es von 
einer Erscheinung zur anderen als deren Ursache zurückgeht, 
auf eine dieser oben erwähnten einfachen Vorstellungen ge- 
stossen ist, dann ist es befriedigt. Um zu einer solchen zu kom- 
men, zerlegt es die Erscheinungen in Theile und sucht für diese 
ihre Einzelursachen i). So vermag es die Complication der Er- 
scheinungen aufzulösen in einfache Vorgänge, deren weitere 
Erklärung nicht erstrebt wird. Unser Causalitätsbedürfniss hat 
dann gewissermaassen einen Nullpunkt erreicht; wir fragen 



^) Hierzu finden sich trefifende Bemerkungen in Zöllner's bekann- 
tem Buche „Ueber die Natur der Kometen etc." Leipzig, 1872. 



14 Die Au%abe der Naturwissenschaft. 

nicht mehr: Wanun? weil die betreffende Vorstellung nacb der 
Gewohnheit und Entwickelungsstufe unseres Geistes etwas ein- 
för allemal als bekannt Gegebenes ist. Gewohnt kann uns nun 
freilich jede Vorstellung werden, und die Geschichte der Wissen- 
schaften bietet Beispiele genug, dass gewissen Zeitaltern ge- 
wisse Vorstellungen gewohnt und daher als Erklärungsgründe 
genügend waren, welche von anderen Epochen verworfen wur- 
den 1). Fragt man daher nach einer weniger relativen Bestim- 
mung, so ergiebt sich, dass als einfache Grundvorstellung im- 
mer diejenigen übrig bleiben, welche unmittelbare Producte 
unserer Anschauung sind, denn diese allein sind unmittel- 
bar verständliche „Thatsachen des Bewusstseins." 

Nicht alle solche „Thatsachen desBewusstseins" sind für den 
wissenschaftlichen Gebrauch gleichwerthig; sondern wir werden 
sehen, dass nur diejenigen dazu verwendbar sind, welche sich 
nothwendig in unseren Wahrnehmungen finden müssen um die 
Verschmelzung zum Begriffe eines Gegenstandes hervorzurufen, 
und somit auf eine starke Betheiligung unseres Selbst an ihrem 
Ursprünge hinweisen. Doch können wir auf diese Frage später 
erst zu sprechen kommen und müssen unsere gegenwärtige Be- 
trachtung auf folgende Erklärung beschränken: Eine Erschei- 
nung begreifen heisst sie nach dem uns innewohnenden Cau- 
salitätsgesetz in einfache Vorstellungen aufzulösen, welche als 
bekannt und gewohnt, daher nicht weiter erklärbar angesehen 
werden; solche Vorstellungen sind erreicht, sobald man zur un- 
mittelbaren Anschaulichkeit gelangt ist. 

Ist es nun möglich, solche einfache Vorstellungen als unse.- 
rer Natur nach nothwendige abzuleiten, so muss sich auch 
daraus die nothwendige Grundlage einer Naturerklärung erge- 
ben. Denn indem Natur für uns nur dadurch entsteht, dass wir 
sie aus den Elementen aufbauen, deren Form unsere Sinnlich- 
keit in Verbindung mit der Kategorie bestimmt, so muss auch 
der fertige Aufbau, welcher unserem wissenschaftlichen Denken 



*) Um nur an ein Beispiel zu erinnern: Man denke an die Vorstel- 
lung fem wirkender Kräfte seit Newton. 



Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 15 

gegenübertritt, durch Zurückgehen auf jene Elemente erklärbar 
sein. Die Naturerscheinungen enthalten einen fremden, von uns 
unabhängigen Factor, aber sie können auch nichts enthalten, 
was nicht der Form nach von uns bedingt ist; daher müssen sie 
begreifbar sein aus diesen formalen Bedingungen. Wir kön- 
nen daher die Aufgabe der Naturwissenschaft weiter dahin 
präcisiren : Die Mannichfaltigkeit der durch die verschiedenen 
Sphären der Sinnlichkeit gegebenen Empfindungen ist nach 
Maassgabe des Causalitätsgesetzes auf einfache und bekannte, 
d. h. anschauliche Vorstellungen zurückzuführen. 

Bei diesem Bestreben tritt eine neue Seife der begreifenden 
Thätigkeit unseres Verstandes hervor. Die einfachen und be- 
kannten Vorstellungen denken wir uns ebenfalls in einem cau- 
salen Zusammenhang. Wir haben nicht nur die gegebenen Em- 
pfindungen in einzelne Elemente aufzulösen, sondern auch deren 
Wechsel, den wir als eine Wechselwirkung auffassen, zu ver- 
stehen. Dies geschieht, indem wir dieselben nach allgemeinen 
Gesetzen ordnen, welche wir Naturgesetze nennen. Es sind dies 
also Oberbegriffe für eine grosse Anzahl einzelner Vorgänge im 
Wechsel der Erscheinungen. Mit Recht sagt Helmholtzi): 
„Naturgesetze sind nichts als Gattungsbegriffe für die Verände- 
rungen in der Natur." Man beachte nur, dass wir die Verände- 
rungen in der Natur nur kennen als Veränderungen unserer 
Empfindungen in den verschiedenen Sphären unserer Sinnlich- 
keit; und diese ordnen wir nach Maassgabe unseres Verstandes 
in Form von Gesetzen. Wir werden zwar sehen , wie durch die 
Natur unserer Sinne dieses Innen auch zu dnem Aussen wer- 
den kann; aber angenommen, es wäre nicht möglich dies zu 
zeigen, und wir müssten auf dem Standpunkte eines Ber- 
keley 'sehen Idealismus stehen bleiben, so folgt doch schon 
hieraus, dass auch auf diesem, ja selbst auf rein solipsistischem 
Standpunkte Naturwissenschaft möglich ist. Nöthig ist dazu 
nur, dass dem empfindenden Subject irgend ein apriorisches Ge- 
setz zukommt , nach welchem es den Wechsel seiner Emfindun- 



^) Physiologische Optik. Leipzig, 1867. S. 454. 



16 Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 

gen zu ordnen vermag. Und den Objecten dieser Naturwissen- 
schaft kommt ebenfalls empirische Realität, ihr selbst aber un- 
bedingte und allgemeine Giltigkeit zu, da sie alle für das Sub- 
ject überhaupt mögliche Erfahrung umfasst. 

Unsere Definition erweitert sich somit schliesslich dahin: 
Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist die Zurück- 
führung der durch die verschiedenen Sphären unserer 
Sinnlichkeit gegebenen Empfindungen auf einfache 
und bekannte, d. h. anschauliche Vorstellungen und 
ihre Verknüpfung durch allgemeine Gesetze zu einem 
causalen Zusammenhange. 

Dass diese Aufgabe nur lösbar ist vermöge der eigenarti- 
gen Natur unseres Gesammtwesens , wodurch allererst Erfah- 
rung möglich wird, ist schon gesagt. Das Princip aber, nach 
welchem unser Denken bei der Herstellung des verlangten 
Causalzusammenhanges verfährt, bildet hier nicht den Gegen- 
stand der Untersuchung. Wie es aber auch geartet sei, der 
Sinn der Aufgabe muss derselbe bleiben und ebenso die Form 
der Naturauffassung, zu welcher es führt und die wir hier zu 
studiren haben. 

R. Avenarius 1) z. B., welcher als solches Princip das 
„Princip des kleinsten Kraftmaasses" annimmt, kommt zu dem- 
selben Resultat: „Daher betrachten alle Wissenschaften, welche 
auf ein Begreifen abzielen, ihre Aufgabe als erfüllt, wenn sie 
ihre Materie einerseits in die einfachsten Bestandtheile aufge- 
löst, andererseits diejenigen Begriffe aus ihnen abgeleitet ha- 
ben, welche am völligsten die Gesammtheit der Erscheinungen 
umfassen; das sind die allgemeinsten Begriffe und die höchsten 
Gesetze." 



^) Philosophie als Denken der Welt gemäss dem Princip des klein- 
gten Kraftmaasses. Leipz. 1876. 8. 18. JSin, unserer Meinung nach, sehr 
glücklicher Versuch, dem allgemeinen Begriff „unserer Synthesis" näher zu 
treten. Vergl. hierzu den Abschnitt „Ueher den philosophischen Werth 
der matli. Naturwissenschaft" in O. Liebmann 's reichhaltigem Werke 
„Zur Analysis der Wirklichkeit.*^ Strassburg, 1876. 



Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 17 

Wenn übrigens Zöllner i), von dem Gedanken ausgehend, 
dass Verwandlung von Spannkraft in lebendige Kraft mit Lust- 
empfindung, Verwandlung von lebendiger Kraft in Spannkraft 
mit Unlustempfindung verknüpft sei, jenes psychische Regulativ 
mit dem Grundgesetz der Mechanik, dem Gauss' sehen „Princip 
des kleinsten Zwanges", in Beziehung setzt, so ist damit keines- 
wegs bewiesen, dass jenes Gesetz ein transcendentes, den Dingen 
an sich zu Grunde liegendes Princip sei, sondern vielmehr, dass 
dieselben Principien, welche unser psychisches Geschehen bedin- 
gen, damit auch die Vorstellung der in Raum und Zeit beweg- 
ten Welt in analoger Form erzeugen. Es ist daher eine interes- 
sante Bestätigung der kritischen Ansicht, dass sich ein in un- 
serer Empfindung uns unmittelbar bewusstes Gesetz auch wie- 
derfindet in gleicher Form in unserer Auflassung der Welt als 
Bewegung des Stoffes, und ebenso wiederfindet bei dem Bestre- 
ben, uns unbekannte Thatsachen vom Gesichtspunkte der Wahr- 
scheinlichkeit aus abzuschätzen, nämlich in der Methode der 
kleinsten Quadrate. Es werden eben auch in einer empirischen 
Wissenschaft, wie der Naturwissenschaft, diejenigen Gesetze 
wiederkehren müssen, welche unserer Erfahrung a priori zu 
Grunde liegen, und ihre Aufgabe ist es, diese Gesetze aufzu- 
finden und zu formuliren in Rücksicht auf den ihnen einzuord- 
nenden Erfahrungsstoff. ' 

Will man nun sagen, eine solche Naturwissenschaft gäbe 
keine Erklärung des Weltlaufes, sondern nur eine Beschreibung, 
so könnte man zunächst einwenden, dass ersteres auch gar nicht 
ihre Aufgabe sei, sondern der Philosophie zukäme. Aber wir ver- 
meiden diesen Weg. Es ist nämlich durchaus nicht einzusehen, wie 
E. V. Hartmann behaupten kann: „Wer der Naturwissenschaft 
die transcendente Causalität abschneidet, macht ihr das Erklä- 
ren der gegebenen Wirklichkeit unmöglich; wer das Erklären 
der Wirklichkeit für unmöglich erklärt, hebt damit nicht nur 
die Möglichkeit der Philosophie, sondern auch der Naturwissen- 



') Principien einer elektrodynamischen Theorie der Materie. Leipz. 
1876. S. LXV f. 

Lasswitz, Atomistik titc. O 



18 Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 

Schaft als Wissenschaft auf" i). Was wir unter Erklären der 
Wirklichkeit verstehen, ist oben angegeben; es ist das Zurück- 
führen der mannichfaltigen Eindrücke der empirischen Wirk- 
lichkeit auf gewisse einfache Empfindungen. Ein ander Ziel hat 
nun einmal Natürvrissenschaft nicht, und insofern ist sie, wie 
ebenfalls erwähnt, nicht nur auf phänomenalistischem, sondern 
selbst auf solipsistischem Standpunkte möglich. Es genügt — 
wie wir hier im Gegensatz zu Hartmann betonen und im Ver- 
laufe dieser Schrift wiederholt nachweisen — dem Naturfor- 
scher vollständig, dass seine Beobachtungen für jedes Men- 
schenkind unzweifelhafte empirische Gewissheit und seine Ge-- 
setze unbedingte Geltung haben , und es ist ihm ganz gleich- 
gültig, was hinter der Erscheinung liegt. Wenn es ihm gelun- 
gen ist, für einen Naturvorgang eine gute Interpolationsformel 
zu finden, so gewinnt es ihm keineswegs „ein Lächeln ab", wenn 
ein Anderer nachweist, dass man dieselbe Formel aus ganz an- 
deren Hypothesen herleiten könne. Er wird den Planetenlauf 
nach dem Newton 'sehen Gesetz berechnen, wenn auch die 
Gravitation einmal aus ganz anderen Gesichtspunkten erklärt 
werden sollte. Eben so wenig aber würde es ihm ein Lächeln 
abgewinnen, wenn er die Ueberzeugung erhielte, dass er sich 
nur in der Welt der Phänomene bewegt und seine Atome und 
sein Raum nur nothwendige Bildungen seiner Vorstellungs- 
operationen sind. Gerade der Phänomenahsmus hat vor allem 
ReaUsmus den grossen Vortheil voraus, dass eben nur durch ihn 
Naturwissenschaft möglich ist; denn ein transcendentes Gausa- 
litätsgesetz kann immer angefochten werden; ein uns immanen- 
tes aber ist unbestreitbar gewiss und verbürgt damit zugleich 
die Sicherheit des naturwissenschaftlichen Erkennens. Natur- 
wissenschaftliche Hypothesen gelten als besonders empfehlens- 
werth und annehmbar, wenn sie einfach sind. Läge die Ge- 
setzlichkeit der Natur ganz ausserhalb unseres Wesens und wäre 
sie von unserer Erkenntnissform völlig unabhängig (d. h. wäre 



^) Neukantianismus, Schopenliaueriauismus und Hegelianismus etc. 
2. Aufl. Berl. 1877. S. 61. 



Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 19 

die uns erscheinende GesetzUchkeit diejenige der transcenden- 
ten Dinge), so wäre es durchaus nicht zu verstehen, warum wir 
diejenigen Natiurgesetze als die wahrscheinUch der Wahrheit 
am nächsten kommenden ansehen sollen, welche uns sehr ein- 
fach erscheinen. Vielmehr wäre es in hohem Grade unwahr- 
scheinlich, dass die Natur in ihrer Gesetzmässigkeit gerade so 
verfährt, wie es einem menschlichen Verstände einfach er- 
scheint i). Somit wird Wissenschaft, d. h. Erkennen der Wahr- 
heit, eben nur auf phänomenalem Gebiete möglich, weil wir 
selbst die Gesetze geben; während einem transcendenten Ge- 
setze auf die Spur zu kommen immer nur einen sehr geringen 
Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen dürfte. 

Auf solche principielle Gegensätze näher einzugehen ist 
natürlich hier nicht der Ort. Wir beabsichtigen nur uns vor 
dem Vorwurf zu verwahren, dass unsere Definition der Natiu:- 
erklärung nur eine Naturbeschreibung sei. Uns scheint diese 
Controverse überhaupt nur auf einen Wortstreit hinauszukom- 
men, welcher verschwindet, wenn man sich über den Begriff 
der Beschreibung einigt. Bezieht man nämlich die Beschrei- 
bung auf AUes das, was nach den unserer Naturauffassung zu 
Grunde liegenden Gesetzen überhaupt möglich ist, so erhält 
man allerdings keine Naturwissenschaft, sondern nur das Schema 
zu einer solchen, wie es etwa Kirchhof! mit seiner Mechanik 2) 
beabsichtigt. Beschränkt man jedoch den Begriff der Beschrei- 
bung nur auf das wirklich empirische Material, so wird die ein- 
fachste Beschreibung des gegebenen Vorganges zugleich die 
beste Erklärung sein. Ein System von Differenzialgleichun- 
gen, welches eine grosse Gruppe von Phänomenen umfasst, 
z. B. die der Elasticität, ist zunächst eine Beschreibung der 
möglichen Bewegungen; sobald aber die Grenzbedingungen aus 
den Daten der Erfahrung hinzutreten, bildet es eine Erklä- 
rung, insofern eine Reihe höchst verschiedenartiger Erschei- 
nungen (optische, akustische, mechanische u. s. w.) auf wenige 



1) Diesem Vorwurf bat sich allerdings Hartmann zu entziehen ge- 
wusst, falls — seine Beweisführung als stichhaltig angesehen werden darf. 

2) Vorlesungen über mathematiBche Physik. Leipz. 1876. 

2* 



20 Die Aufgabe der Naturwissenschaft. 

Grundvoratellungen zurückgeführt sind. Die Erklärung ist aller- 
dings noch nicht abgeschlossen, aber bedeutend weiter geführt, 
als es ohne die mathematische Sprache möglich wäre. £s muss 
aber auch der Wissenschaft das Recht gewahrt bleiben, behufs 
ihrer auf allgemeingültiger Beschreibung beruhenden Erklärung 
sich ihre Schrift zu bilden, d. h. diejenigen Annahmen über die 
zu Grunde zu legenden Elemente zu machen, welche die allge- 
meinste und einfachste Beschreibung ermögUchen. Das aber 
werden eben diejenigen sein, welche jene empirischen Erschei- 
nungen selbst hervorrufen und bedingen, resp. ihnen ihre Form 
aufdrücken. Und darum werden diese einfachsten Elemente 
stets Anschaulichkeit einschliessen und aufgefunden werden 
können, wenn man der primitiven Entstehung der Erfahrung 
auf den Grund geht. 



III 



Die Entstellung des Atombegriffs. 



Aus der Darlegung unserer Stellung zur Aufgabe der Natur- 
wissenschaft hat sich zugleich die Beantwortung der Frage er- 
geben: Wie ist Naturwissenschaft möglich? 

Die Antwort konnte seit Kant's classischer Frage: Wie 
sind synthetische Urtheile a priori möglich? überhaupt nicht 
zweifelhaft sein. Begreifbarkeit der Welt ist nur denkbar, wenn 
man die Welt als phänomenal fasst; Naturwissenschaft ist mög- 
lich, weil wir selbst ihre Gegenstände erschaffen. Und wir kön- 
nen jetzt hinzusetzen: Wir erschaffen die Natur mit ihren Ge- 
setzen , indem wir die aus dem Wesen der verschiedenen Sphä- 
ren unserer Sinnlichkeit entspringenden Empfindungen nach 
uns immanenten Gesetzen einer Synthesis verschmelzen und 
ordnen. 

Derjenige Theil der Erkenntnisstheorie, welcher das Problem 
zu lösen hat, wie die in Raum und Stoff erscheinende Welt durch 
uns erzeugt wird, ist von Wilhelm Göring i) als „Kritik der 



*) Raum und Stoff. Ideen zu einer Kritik der Sinne. Berlin, 1676. 
Verwandte Ideen bei Condillac, Steinbuch, Bain. Vergl. hierzu 
W. Wundt, Grundzüge der physiol. Psychologie. Leipz. 1874. 12. und 



22 Die Entstehung des Atombegriffs. 

Sinne** neuerdings ausführlich behandelt worden. Indem wir 
uns auf seinen Grundgedanken von der Verschmelzung der Sphä- 
ren unserer Sinnlichkeit stützen, verweisen wir im Allgemeinen 
auf seine Darlegungen. Nur liegt es in der Natur der Sache, 
dass wir unsere Abweichungen ausführlicher erörtern, womit 
wir dem verdienstvollen Werke keineswegs zu nahe treten 
wollen. 

Wir haben oben angegeben, dass wir tmter der Zeit die 
„formale Beschaffenheit unseres Gemüths" verstehen, vermöge 
deren wir einen Wechsel der Empfindungen haben. Sie ist die 
Bedingung der Möglichkeit von Empfindungen, insofern dadurch 
eben ein Nacheinander derselben bedingt wird. Schon durch 
sie allein kann der Begriff eines Gegenstandes synthetisch ent- 
stehen, wenn nur mit der Apprehension der Vorstellung die 
Roproduction in der Einbildung gegeben ist. So haben wir im 
Bewusstsein die Empfindungen a, 6, c etc., wir erkennen sie wie- 
der, wenn sie uns wiederkehren, und unterscheiden an ihnen 
verschiedene Grade von Intensität. Wenn nun gewisse Empj&n- 
dungen empirisch stets mit einander verbunden sind, die Empj&n- 
dung a zugleich mit der Empfindung h auftritt, so wird dieser 
Empfindungscomplex für uns etwas Neues, in sich Abgeschlosse- 
nes und Zusammengehöriges. Wir denken dabei noch nicht an 
eine Synthesis des Räumlichen oder die Verknüpfung des Man- 
nichfaltigen in der Kategorie, sondern allein an die Synthesis 
der Zeit, welche schon genügt, die Verknüpfung von Empfin- 
dungen zu einem Complex hervorzubringen. Das erfahrungs- 
mässige und gewohnte „Zugleich" oder „Nacheinander** von 
Empfindungen giebt bereits vollständig die Vorstellung des Ge- 
genstalides, dessen Begriff durch die Sprache fixirt wird. Der 
Gegenstand ist „das Etwas, davon der Begriff eine Nothwen- 



19. Cap. — Zugleich sei hierbei bemerkt, dass unsere Untersuchung nicht 
auf das psychologische Entstehen des Raum- und Stoff begrifiTs und die 
einzelnen Phasen desselben Werth legt, sondern Yor AUem nach der Art 
der Begriffe fragt, welche durch die physiologischen und psychologischen 
Vorgänge als die nothwendige Grundlage unserer ErfieUirungswelt und 
ihrer Erklärung geschaffen wenlen. 



Die Entstehung des Atombegriffs. 23 

digkeit der Synthesis ausdrückt" i). Diese Nothwendigkeit tritt 
ein, so oft eine gewisse Vorstellungsgruppe als zeitlich zusam- 
mengehörig recognoscirt wird. 

Wenn z. B. nur Empfindungen des Geruchs und Gehörs 
percipirt werden, etwa ein gewisses Knistern und damit stets 
verbunden der Geruch des Ozons, so wird ganz gewiss durch 
die Synthesis dieser beiden immer in gleicher Weise wieder- 
kehrenden Vorstellungen der Begriff eines Gegenstandes er- 
zeugt, .welchem eben diese Eigenschaften des Knisterns und Rie- 
chens zugeschrieben werden. Es tritt dabei schon hervor, dass 
der Substanzbegriff nur ein Hülfsbegriff' ist, welchem keine be- 
sondere Kategorie zu entsprechen braucht. Denn es ist eben 
nur nöthig gewisse Vorstellungen so mit einander zu verbinden, 
dass sie* einen immer wieder zu erkennenden Complex bilden, 
welcher durch Hinzutreten oder Fortfallen gewisser geringerer 
Merkmale der Veränderung fähig erscheint; und dies geschieht 
schon durch die formale Einheit des Bewusstseins in der Syn- 
thesis ohne Annahme einer besonderen Substanz 2). Der Begriff 
der Substanz ist nur (wie auch der der Kraft) ein Abkürzungs- 
mittel des begriffUchen Denkens. Jenes cohärente Knistern und 
Riechen bildet für die Welt des nur hörenden und riechenden 
Subjects einen knisternden und riechbaren Gegenstand. Den- 
ken wir uns jenes Subject mit Gesichtswahrnehmung begabt, so 
tritt zu den früheren Theilvorstellungen noch die eines bestimm- 
ten Lichtblitzes, und bei vorhandener Tastempfindung unter 
Umständen auch die eines eigenthümlichen prickelnden Ge- 
fühles in der Haut — der Begriff des elektrischen Funkens ist 
fertig. 

Man sieht, wie der Complex der Einzelvorstellungen 
schwankt; nicht immer brauchen alle jene Wahrnehmungen vor- 
handen zu sein, der Begriff bleibt doch. Aber mit der Erweite- 



1) Cohen, Kant's Theorie der Erfahrung. Berl. 1871. S. 133. 

2) Hierzu vergl. die trefflichen Bemerkungen von R. Avenarius, 
Philosophie als Denken der Welt gemäss etc. S. 51 bis 56. Ferner W. 
Goering, Baum und Stoff. S. 202. 



24 Die Entstehung des Atombegriffs. 

rung des Reiches der SinnUchkeit werden nun gewisse bei der 
überwiegenden Mehrzahl der Vorstellungscomplexe 
vorhandene Wahrnehmungen sich zu besonderen, je- 
nen gemeinsamen Begriffen zusammenschliessen. Es 
wird dadurch die Form des entstehenden Weltbildes eine durch 
letztere bedingte werden, und es wird das Bestreben vorhanden 
sein, die so entstandenen Begriffe möglichst allen Gegenständen 
zu Grunde zu legen. Bei der uns eigenthümlichen Sinnescon- 
stitution sind solche allgemeine Begriffe, in denen unser Welt- 
bild aufgeht, nun die beiden: Raum und Körper. 

Der Begriff des Körpers wird gleichzeitig erzeugt mit dem 
Begriff des Raumes, indem unsere flächenhafte Raumanschauung 
des Gesichtssinnes durch unsere Tast- und Innervationsgefühle 
ergänzt wird und auf diese Weise den Begriff eines Raumes 
von drei Dimensionen zu Stande bringt. Wir sind, um mit W. 
Goeringi) zu reden, ein intellectuelles Centrum und ein mo- 
torischer Umkreis. Als ersteres bemerken wir, dass wir als letz- 
teres Veränderungen in einer uns umgebenden aber uns unbe- 
kannten Welt hervorbringen können, durch welche wir uns selbst 
afficiren; und so kommt es, „dass wir uns zugleich als ein mo- 
torisches Centrum jenem transcendenten motorischen Umkreis 
gegenüberstellen" 2)^ Dadurch „entsteht unser Raumbegriff zu- 
gleich mit dem unseres selbstbewussten Ich und demjenigen 
einer Welt von abgeschlossenen Dingen im Raum. Wir existi- 
ren in der Welt nicht bloss als denkende Wesen; denn da wäre 
Alles nur ein Theil von uns, ein Phänomen in unserem transcen- 
dentalen Raum. Weder von einer Aussenwelt noch von einem 
Ich wäre zu sprechen möglich. Erst mit der ganz allmählichen 
Entwickelung der Erkenntniss, dass wir auch selbst über einen 
kleinen Theil der Welt Macht haben, löst sich dieser aus einem 
unendlichen Zusammenhange, und alles Uebrige wird als glei- 
cherweise loslösbare Einheit vorgestellt; da wir uns durch den 
transcendenten Umkreis hindurch selbst afficiren müssen, wenn 
wir von unserer obigen Fähigkeit überhaupt eine Idee haben 



1) A. a. O. S. 202 f. — 2) A. a. O. S. 204. 



Die Entstehung des Atombegriffs. 25 

sollen, so entsteht mit immer grösserer Klarheit das Selbst- 
bewusstsein Ich, aber in demselben Grade erscheinen wir uns 
nun immer mehr als das motorische Centrum und der Raum- 
begriff nimmt seinen nothwendigen Entwickelungsgang. Nun 
nehme ich mit meinem Körper einen Raum ein, ich stelle dies 
analog für alle übrige Körperwelt, die vorher auch nur ein Phä- 
nomen für un5 war, vor, und so wie das Neben- und Zwischen- 
einander an den Gliedern und Theilen meines Körpers geord- 
net ist, so wird dasselbe auch für die Beziehungen aller Kör- 
per verständlich." — „Es entsteht der Begriff einer Welt von er- 
füllten Räumen, die neben einander geordnet sind und zwischen 
denen selbst sich Raum befindet." 

Wesentlich ist es für unsere Untersuchimg, dass der Raum- 
begriff immer gleichzeitig mit dem Begriff des Körpe'rs und nur 
an diesem entsteht i). Ja psychologisch ist offenbar der Begriff 
des Körpers • das Vorangehende. Lange bevor das Kind be- 
stimmte Bilder durch das Auge mit Bewusstsein wahrnimmt 
und sich der wahrgenommenen erinnert, hat es schon Tast- 
gefühle, also Vorstellungen von Körpern, deren es sich erinnert, 
speciell durch den Tastsinn der Händchen und der Lippen. 

Bei einem fortgeschrittenen Bewusstsein wird nun der Be- 
griff des Körpers von dem des Raumes gelöst. Stets entsteht 
der Körper als etwas Abgeschlossenes, Volles, Ganzes; dasjenige, 
in welches wir mit unserem Tastgefühl nicht dringen können, 
erscheint uns als ein Körper. Wir nehmen aber wahr, dass diese 
uns als abgeschlossene Ganze bekannten Körper getrennt sind; 
wir können einen Theil dessen, was wir als unseren eigenen 
Körper kennen gelernt haben, zwischen dieselben bringen oder 
diesen Theil von uns durch einen anderen uns als abgeschlos- 
sen bekannten Körper ersetzen. Dadurch bilden wir den Be- 
griff von Körpern , welche im Räume beweglich sind. Wir stel- 
len drei Bücher neben einander und bemerken, dass sich an 
eins und drei nichts ändert, wenn wir das mittelste herausneh- 



^) Dies betont neuerdings auch B. Erdmann in der scharfsinnigen 
Schrift: Die Axiome der Geometrie. Leipz. 1877. S. 91, 94, 96. 



26 Die Entstehung des Atombegrifis. 

raen. Durch diese Beobachtung, welche wir seit der frühesten 
Jugend an Gegenständen aller Art geübt haben, entsteht der 
Begriff des leeren Raumes. Anfänglich lernen wir den Raum 
von drei Dimensionen nur kennen, insofern derselbe eine be- 
grenzende Oberfläche darbietet, also von begrenzter Materie er- 
füllt ist. Dieser Raum ist undurchdringlich, und so heisst er 
ein Körper. Die erste Vorstellung vom Körper ist daher noth- 
wendig die einer stetigen Raumerfiillüng. Die Materie erfüllt 
dem Begriffe nach den Raum stetig, in welchen wir nicht selbst 
eindringen können. Solcher stetig erfüllten Räume kennen wir 
aber unzählige, üeber die Grösse derselben ist jedoch von 
vornherein durchaus nichts festgesetzt. Schon im gewöhnlichen 
Leben reicht die Kleinheit derselben erfahrungsmässig bis an 
die Grenzen* unserer Sinneswahrnehmung. 

, Nun ist es die Aufgabe der Physik, die Mannichfaltigkeit 
der Veränderungen in der Körperwelt auf die einfachsten Vor- 
stellungen zurückzuführen. Diese einfachsten Vorstellungen 
sind aber die von Körpern, wie sie durch unsere natürliche 
Weltauffassung unmittelbar im Begriffe erzeugt werden, d. h. 
undurchdringliche, stetig erfüllte, vollständig begrenzte Räumet). 



^) Dass die hier gegebene Darlegung von der kritischen Entstehung 
des Begriffs der Körper oder der Materie durchaus mit den YorsteUun- 
gen übereinkommt, welche die Physik in dieser Hinsicht zu bilden pflegt, 
ergiebt sich durch eine Vergleichung mit dem Capitel (XV.) „Ueber den" 
Begriff der Materie und Substanz" auf S. 105 von Fechner's „Physika- 
lischer und philosophischer Atomenlehre*' (2. Aufl. Leipz. 1864). Dasselbe 
wird mit den Worten eingeleitet (Schluss v. XIV.): ^Ich will, weil ich 
doch vorauszusetzen habe, dass der Philosoph den Physiker endlich dahin 
treiben wird, sich über den Begriff der Materie näher zu erklären, .... 
kurz zeigen, wie es sich für den Physiker hiermit stellt; und wenn man 
die folgende Erklärung darüber nicht explicite in irgend einem physika- 
lischen Lehrbuch findet, so ist sie doch implicite in allen enthalten, in- 
dem sie nichts als die einfache Darstellung der Weise ist, wie der Physi- 
ker die Materie factisch fasst und behandelt." Dann heisst es z. B. auf 
S. 108: „Der Philosoph sagt nun etwa: Du hast die Materie auf das, 
was gefühlt werden kann, zurückgeführt, aber was ist Das, was gefühlt 
wird, selbst, das Object des Fühlens hinter dem Fühlen? — Nichts, was 
den Physiker angeht, er weiss eben nur das davon, was er fühlt und was 
sich an das Fühlen von anderen Wahrnehmungen, Erscheinungen, asso- 



Die Entstehung des AtombegrifFs. 27 

Dies ist der einfachste und der durchaus nothwendige Begriff 
des Körpers, wie er durch die Synthesis unseres Wesens erzeugt 
wird, welche immer aufs Ganze geht und aus dem Mannichfalti- 
gen der Erscheinung abgeschlossene Gegenstände der Erfah- 
rung macht. Dieser Begriff von Körpern muss also kraft der 
Natur unserer psychophysischen Anlagen nothwendig unserer 
Naturerklärung zu Grunde gelegt werden. Da aber über die 
Grösse solcher Körper nichts festgesetzt ist , so ist unser Vor- 
stellen zwar gezMTungen , den Begriff stetig erfüllter Räume als 
Grundlagen einer Körperwelt im Raum zu bilden, andererseits 
aber in den Stand gesetzt, die Grösse dieser Körper so zu wäh- 
len, als es zur Erklärung einer Erscheinung (Begreifen der Ver- 
änderung der Körper) nothwendig wird. Es existirt demnach 
für unsere Naturauffassung nothwendig eine Vielheit von be- 
liebig kleinen, stetig erfüllten, undurchdringlichen Raumthei- 



ciirt und gesetzlich möglicherweise unter anderen Umständen daran asso- 
ciiren kann, und was aus der Gesammtheit davon ahstrahirbar und nach 
der Gesammtheit davon erschliessbar ist; auf nichts weiter bezieht sich 
die Physik; in diesem Kreise ist imd bleibt ihre Aufgabe eingeschlossen; 
hierin will sie so orientii't sein und orientiren , dass jede gegebene Er- 
scheinung der Totalität wirklicher und möglicher Erscheinungen nach 
Gesichtspunkten der Verwandtschaft, des Zusammenhangs und der Aus- 
einanderfolge eingeordnet werden könne, und wenn die erscheinlichen Be- 
dingungen gegeben sind, die erscheinlichen Folgen danach vorausgesehen 
werden können." — Vorzüglich! Alles, was hier von der Physik gesagt 
ist, können wir unmittelbar für die Philosophie unterschreiben. Fe eb- 
ner steht hier völlig auf dem Standpunkte des Kriticismus, wie die Physik 
überhaupt, wovon uns ein Blick in eins der verbreitetsten Lehrbücher, 
z. B. in Wülluer's Experimentalphysik, überzeugen kann! Es ist also 
nichts nöthig, als dass die Physik dieser ihrer erfahrungstheoretischen 
Grundlage sich bewusst werde und insbesondere ihrer Beschränkung auf 
das Reich der Phänomene. Physikalische Theorie der Materie ist natur- 
gemäss kritische, und darin liegt zugleich eine Gewähr, dass dieser Kri- 
ticismus nicht Idealismus ist. Man denke nur immer daran, dass 
wir wirklich durch eine transcendente Welt hindurch auf uns selbst wir- 
ken können; aber man denke auch daran, dass diese transcendente Welt 
in der Form, in der wir etwas von ihr wissen, nur VorsteUung ist, und 
man wird die Gefahr des Realismus und Materialismus ebenfaUs von der 
Physik abgewendet haben. Ueber die Methode vergl. insbesondere Fe eb- 
ner a. a. O. S. 109. Aehnliche Bemerkungen bei W. Tobias. Grenzen 
der Philosophie etc. Berl. 1875. S. 40. 



28 Die Entstehung des Atombegriffs. 

len 1) , welche zwischen sich andere Raumtheile haben , die für 
unsere Naturauffassung nicht erfüllt sind und als das oben be- 
zeichnete Leere erscheinen. So entsteht der Begriff des Atoms. 
Das Atom ist also ein nothwendiges Erzeugniss des kritischen 
Begriffs von Raum und Stoff, und das soll im Folgenden näher 
erörtert werden. 

Es ist vielleicht nicht überflüssig noch einmal darauf auf- 
merksam zu machen , dass wir es bei unserer Darlegung nur 
mit einer phänomenalen Atomistik zu thun haben. Auch die 
Atome sind nur Erzeugnisse unserer durch eine transcendente 
Welt hindurch wirkenden Organisation und insofern phänome- 
nal; es wäre durchaus unstatthaft hier den Sprung ins Trans- 
cendente machen und die Atome als Dinge an sich ansehen zu 
wollen , aus denen die Welt der Noumena sich aufbaue. Aber 
innerhalb der Welt der Phänomena — und eine andere Welt 
giebt es für die Naturwissenschaft überhaupt nicht — , innerhalb 
dieser unserer empirischen Welt hat das Atom eben so viel 
Realität wie der Raum und die Materie überhaupt; denn der 
Begriff desselben ergiebt sich unmittelbar aus dem von Raum 
und Stoff', und der Unterschied ist einzig der, dass jeder der 
Menschen letztere Begrifi'e bilden muss , den Begriff des Atoms 
aber nur der, welcher in dem Gewirr der Körperwelt sich wissen- 
schaftHch zu orientiren sucht. 

Es finden sich zunächst ihrem Begriffe nach stetig erfüllte 
Räume vor; es finden sich dazwischen aber auch nicht erfüllte 
Räume, d. h. Etwas, z. B. ein Theil von uns, kann zwischen die- 
selben gebracht werden — wir können erfüllte Räume von ein- 
ander trennen. Das ist etwas wesentHch Anderes als eine 
Theilung. Die Theilung kann immer vollzogen gedacht wer- 
den, die Trennung erfordert ausser dem zu Trennenden noch 
ein Trennendes, das selbst Körper, nicht nur eine Fläche 



^) Bei dem Worte, „Baumtbeile" denke man nicht daran, dass diese 
„Theile" durch Theilung eines „Ganzen" entstanden sind. Viehnehr sind 
es „Ganze" für sich,, aus welchen erst der umfassende Begriif eines aU- 
gemeinen Baumes sich entwickelt hat. Vielleicht hätten wir besser „Baum- 
elemente" gesagt; doch auch dies hat einen Doppelsinn. 



Die Entstehung des AtombegrifFs. 29 

von zwei Dimensionen etwa ist; sie fordert also einen beweg- 
baren, stetig erfüllten Raum (Theil des Raumes). Hier tritt der 
Unterschied zwischen Raum und Körper, zwischen Mathematik 
und Physik hervor. Der Raum ist seinem Begriflfe nach stetig, 
homogen. In gleicher Weise wird der Begrüi* des Körpers als 
eines stetig erfüllten, widerstandleistenden, undurchdringlichen 
Raumes erzeugt. Aus der Gesammtheit der Körper setzt sich 
der BegriflF der Materie zusammen. Der Raum aber ist seinem 
Begriffe nach nur theilbar, nicht trennbar, er ist ein Conti- 
nuum; die Materie ist ihrem Begriffe nach nothwendig ge- 
trennt, kein Continuum; denn der Begriff des Körpers 
ist für uns absolut unmöglich denkbar, er kann gar nicht ent- 
stehen, ausser durch die Vorstellung eines in sich Abgeschlosse- 
nen, Begrenzten. Die Summe dieser Körper heisst Materie. 
Die so als begrenzt erkannten Körper (die nur Körper sind, 
weil wir sie als begrenzt erkennen) sind nun, wie eine weitere 
Erfahrung lehrt, noch weiter trennbar. Wie aber ist das mög- 
lich, da sie doch stetig erfüllt und undurchdringlich erscheinen? 
Offenbar nur so, wie die Materie überhaupt trennbar ist, d. h. 
dadurch, dass sie schon aus trennbaren Theilen bestehen. Wir 
können ihre Trennbarkeit nicht begreifen , wenn wir nicht die 
abgetrennten Theile vorher als in sich abgeschlossene Körper 
begriffen haben. Und hierbei gehen wir weiter bis zum Atom, 
d. h. bis zu einem Körper, welchen wir nicht weiter tren- 
nen; nicht, weil seine Trennbarkeit dem Begriffe nach un- 
möglich wäre (denn damit verhält es sich hier nicht anders 
als bei jedem Ganzen), sondern weil seine Zusammensetzung 
aus kleinerem Ganzen nicht nothwendig ist; weil wir den 
Atombegriff nur bilden als ein nothwendiges Erzeugniss unse- 
res Raum- und Stoffbegriffs, der ein geschlossenes Ganze ver- 
langt. Dabei handelt es sich nicht, wie man sieht, um ein Fort- 
gehen vom Ganzen zum Theile, sondern vom Ganzen zum 
Ganzen. Wie weit und mit welchem Rechte sich dieser Pro- 
cess fortsetzt, werden wir im Folgenden noch näher sehen. Wir 
erzeugen einen beliebigen Ort (Punkt) im Räume, indem wir in 
dem continuirlichen Räume fortgehen bis zu diesem Punkte und 



30 Die Entstehung des Atombegri&. 

dort das weitere Fortschreiten anhalten. Wir erzengen das 
Atom im Stoffe, indem wir in der discontinairUchen Materie 
fortgehen bis zn einem genügend kleinen Körper (wobei wir die 
Materie eben so wenig zerlegen, wie beim Fortgehen im Ranme 
den Ranm; sondern wir suchen nnr unter den Torhandenen 
phänomenalen Körpern die genügend kleinen heraus; wir er- 
zeugen ja erst die Körper wie den Raum). Dort halten wir an, 
um denselben als Element unserer Weltconstruction zn Grunde 
zu legen. 

Wenn man sich diese Entstehungsart des AtombegrifEs 
klar macht, so erscheint es nicht recht erklärUch, wie so W. 
Goering dazu kommt, Einwürfe gegen die Atomistik zu erhe- 
ben 1). Sie sind allerdings gegen eine transcendente Atomistik 
gerichtet, nicht gegen eine phänomenale, wie es die unsere ist 
Aber es gewinnt den Anschein, als sei'selbst eine phänomenale 
Atomistik nach Goering nicht zulässig, und wir müssen uns 
deshalb mit ihm über diesen Punkt auseinandersetzen. Man 
höre Folgendes: 

„ErlüUte Räume können nicht in einander gehen. Wir sa- 
gen, es ist dies selbstverständlich für die phänomenale Welt, 
denn wir haben ja begrifflich die erfüllten Räume selbst erst 
wieder von einander gesondert und dadurch auch sicherlich mit 
Hülfe unseres transcendenten J?« einen realen Weltfactor nach- 
construirt. Allein zwischen dieser phänomenalen relativen C!on- 
struction und dem Schritte, dass wir vom Ganzen zu den Thei- 
len abwärts gehen , ist eine ungeheure Kluft Wir haben dann 
den Gegensatz der absolut undurchdringlichen Räume 
gegen die leeren Räume." 

„Um sich vor dem dann unentrinnbar folgenden unend- 
lichen Processe und dem Nichts, zu dem er eigentlich führt, zu 
retten, statuirt man die absolute Untheilbarkeit und Festigkeit 
der Atome; der Sprung aus unserer transcendentalen Aussen- 
welt in die transcendente ist geschehen. Der Widerspruch ist 
da: das, was für unsere phänomenale Körperwelt seine gute und 



1) A. a. O. S. 231, 232, 258, 259. 



Die Entstehung des Atombegriflfe. 31 

ganz widerspruchslose Geltung bat, da es nur Veränderungen 
von Zuständen in uns, ob zwar in unserem transcendentalen 
Räume betrifft, soll nun für das Transcendente nicbt mehr gel- 
ten, obwohl dieses uns unter dem Bilde jenes, nach Analogie 
mit der phänomenalen Welt vorgestellt ist und auch nur vor- 
gestellt werden kann." 

Nun, wir haben gezeigt, dass wir die absolute Untheilbar- 
keit und Festigkeit der Atome constituiren mussten, und es ist 
damit durchaus kein Uebergrifi' ins Transcendente geschehen, 
sondern die Synthesis, welche unsere phänomenale Welt erzeugt, 
zwang uns dazu. Wir wiederholen nur denselben Process der 
„Construction", indem wir den Begriff des Atoms bildeten, wel- 
chen wir schon bei der Construction des Körpers durchgemacht 
haben. Das soll aber nur eine „phänomenale, relative" Con- 
struction sein. Und dies ist sie auch sicherlich. Den Begriff 
des Relativen fassen wir dabei in dem Sinne einer möglichen 
Ausdehnung unserer Erfahrung. Wir geben allerdings selbst 
zu, dass man dasjenige, was wir heut Atom nennen, vielleicht 
später einmal als aus noch kleineren Atomen zusammengesetzt 
betrachten wird. Damit ist aber an der absoluten Gültig- 
keit einer Atomistik durchaus nichts geändert. Denn, 
wie gesagt, die Relativität des Atombegriffs gilt nur für einen 
Fortgang in einer etwa noch möglichen Erfahrung. In einem 
bestimmten Momente unserer Erfahrung besitzt aber das Atom 
jedesmal die Eigenschaften der absoluten Untheilbarkeit und 
Solidität, und aus diesen heraus müssen die Erscheinungen 
der Körperwelt erklärt werden. Dies ist so zu verstehen: Wir 
stellen keine Grenze fest, wo diese Untheilbarkeit 
einzutreten habe; hierüber hat vielmehr das Bedürfniss der 
Specialwissenschaft zu entscheiden; wir stellen aber fest, 
dass sie an irgend einer Stelle eintreten muss — nicht 
um einen unendlichen Regress zu vermeiden, sondern als eine 
Folge unserer auf abgeschlossene Ganze gehenden Synthesis in 
der Bildung des Stoffbegrifis und als ein nothwendiges Er- 
fordemiss der Naturerklärung. Ein Regress in intinitum liegt 
hier also nicht vor, wohl aber ein Regress in indefinitum, den 



32 Die Entstehung des AtombegrifFs. 

wir aber sofort unterbrechen ^ wenn wir mit Hülfe der erlang- 
ten Kleinheit abgeschlossener, voller Körperchen im Stande 
sind, die Naturerscheinungen zu erklären. 

Hier könnte es nun freilich scheinen, als ob Goering Recht 
hätte, wenn er meint, dass die Atome doch wieder nur „kleine 
Körper mit denselben Eigenschaften der grossen seien." 

Dieser grosse Irrthum bedarf um so mehr der Berichtigung, 
als er sich merkwürdiger Weise selbst im Munde berühmter 
Physiker findet. Wenn Helmhol tz sagt^): 

„lieber die Atome in der theoretischen Physik sagt Sir W. 
Thomson sehr bezeichnend, dass ihre Annahme keine Eigen- 
schaft der Körper erklären kann, die man nicht vorher den Ato- 
men selbst beigelegt hat;" und wenn er dann diesem Ausspruch 
selbst beipflichtet, so erscheint dies bei einem so streng denken- 
den Forscher wie Helmholtz fast unbegreiflich. SicherUch kann 
man aus dem Zusammenwirken von Atomen Eigenschaften von 
Körpern erklären, die eben jenen nicht zukommen, und zwar 
gerade solche, sonst brauchte man wirkUch keine Atomistik. Es 
käme uns anmaassend vor, wollten wir einem Helmholtz gegen- 
über hier auf physikalische Beispiele verweisen. Was vielleicht 
zu jener Aeusserung Veranlassung gab, mag der Gedanke sein, 
dass man auch die 4tome wieder elastisch annehmen müsse. Es 
wird sich aber zeigen , dass dies durchaus nicht der Fall zu sein 
braucht, und unsere Arbeit wird hoffenthch den Nachweis zur 
Genüge führen , dass sich durchaus kein Grund anführen lässt, 
warum man den Atomen die Eigenschaften der Körper zuschrei- 
ben müsse. Natürlich kann man nicht „aus. rein hypothetischen 
Annahmen über die Atome eine Physik aufbauen", aber man 
kann gewisse Grundeigenschaften angeben, welche den Atomen 
der Natur unseres Erkennens nach zukommen müssen und da- 
her von der Physik ihren weiteren Hypothesen über die Eigen- 
schaften der Materie zu Grunde zu legen sind. Das Atom er- 



^) Rede zum Gedächtniss von Gustav Magnus. Berl. 1871. — F. A. 
Lange, Gesch. d. Mat. 11, S. 210. 



Die Entstehung des Atombegriflfe. 33 

giebt sich so als eine nothwendige Abstraction aus dem Be- 
griffe des Körpers. 

Um nun die Unterschiede in den Eigenschaften der Atome 
und der Körper hervortreten zu lassen , mache man sich vor 
allen Dingen den sehr weiten Begriff' der Eigenschaften klar. 
Die Eigenschaften sind diejenigen Wahrnehmungen, welche den 
Begriff des Körpers constituiren. Die Atome werden natür- 
lich nur diejenigen Eigenschaften haben, welche zur Construction 
eines phänomenalen Körpers gerade ausreichen, vorläufig nicht 
mehr und nicht weniger. Das ist aber ausser der Figur zu- 
nächst nur die absolute BÄumerfiillung, die Sohdität oder Un- 
durchdringlichkeit. Diese Eigenschaft construirt mit dem Raum- 
begriffe zugleich den des Körpers, und solche Körper müssen 
wir nothwendig erzeugen. Alle übrigen Eigenschaften aber ge- 
hören nicht nothwendig zum Begriffe des Körpers, wir nehmen 
sie nicht an allen Körpern wahr und erzeugen überhaupt den 
Begriff des Körpers nicht durch sie, sondern lediglich durch die 
Wahrnehmung des . Undurchdringlichen. Eigenschaften , wie 
Elasticität, Aggregatzustand, Trennbarkeit u. s. w. müssen 
eben aus jenen wenigen Grundeigenschaften erklärt werden 
können. Denn nur solche Eigenschaften der Körper können 
durch die Atome und ihre Bewegung (wovon später) erklärt 
werden, welche den Atomen selbst nicht zukommen. Das ist 
ja der Begriff der Erklärung, dass wir die Mannichfaltigkeit der 
Erscheinungen auf mögUchst wenig einfache, unserem Erken- 
nen nothwendig anhaftende Vorstellungen zurückführen. Und 
dies geschieht eben durch Einführung des Atombegriffs. 

Der Vorgang ist also dieser. Durcl\ die Verschmelzung der 
Sphären unserer Sinnlichkeit entsteht in uns die Erfahrung von 
einer Körperwelt mit den mannichfachsten Eigenschaften. Um 
diese uns verwirrende Mannichfaltigkeit zu erklären construi- 
ren wir eine Körperwelt in verkleinertem Maassstabe ; und zwar 
geschieht diese Construction nach denselben unserer ganzen 
Anlage nach nothwendigen Gesetzen wie die Construction der 
Sinnenwelt, denn wir haben nur eine Art und Weise den Be- 
griff von Körpern zu erzeugen. Bei dieser Construction aber 

LasBwits, Atomistik eto. Q 



34 Die Entstehung des Atombegriffs. 

beschränken wir uns auf diejenigen Elemente, welche zu der- 
selben durchaus* nöthig sind, mit Fortlassung aller Erfahrungen, 
welche sich nicht auf alle Körper in gleicher Weise beziehen. 
Und dadurch eben gehngt es, jene besonderen aus den allge- 
meinen zu erklären. 

So wird z. B. die Eigenschaft der Trennbarkeit (von der 
Elasticität können wir erst später handeln) dadurch erklärt, dass 
wir die Körper als aus bereits getrennten, an sich untrennbaren 
Theilen (richtig zu verstehen! S. 29, 31) bestehend auffassen. 
Das ist aber eine Erklärung, denn es ist eine Zurückführung 
auf eine unmittelbare Thatsache unseres Bewusstseins , welche 
dem Begriffe der Körperwelt überhaupt zu Grunde hegt. Dass 
wir nämüch die Körper als trennbar auffassen , geschieht nicht 
durch ein Fortgehen vom Ganzen zum Theile — denn unsere 
Synthesis geht, wie schon wiederholt gesagt, immer nur aufs 
Ganze — sondern dadurch, dass wir es nie mit dem Singular, 
sondern immer mit dem Plural, immer schon mit einer Mehr- 
zahl von Körpern zu thun haben. Den Begriff eines einzel- 
nen Körpers können wir überhaupt gar nicht bilden, da 
der Begriff des Körpers immer nur durch Berührung zu 
Stande kommt; hierzu gehören aber noth wendig zwei Körper, 
von denen der eine ein Theil unseres Körpers ist. Es wird also 
immer zugleich der Begriff von wenigstens zwei Körpern er- 
zeugt. Dasselbe muss nun von den Atomen gelten , deren Be- 
griff auf keine andere Weise entstehen kann als durch Nach- 
construction des Körperbegriffs, und so ergiebt sich, dass es ge- 
radezu sinnlos ist, von einem einzelnen Atome als etwas für sich 
allein Existirendem zu reden. Darauf kommen wir noch zurück 
(s. weiter unten). Schon hieraus erhellt, dass W. Goering's Vor- 
wurf, jedes Atom, welches die Physiker ersinnen, sei ein unlös- 
bares metaphysisches Problem, weil man kraft des Raumbegriffes 
immer über dasselbe hinaus müsse, für unsere Atomistik durch- 
aus hinfällig ist. Thatsächlich ersinnt ja auch kein Physiker 
ein einzelnes Atom ; mit der Gesammtheit der Atome aber steht 
es nicht anders als mit der Gesammtheit der Körper. Jedoch 
davon später. 



Die Entstehung des Atombegriffs. 35 

So unterscheiden sich denn die Atome von den Körpern 
dadurch, dass letztere in Theile zerlegbar sind, erstere ihrem 
Begriffe nach nicht mehr; dass die Theile der Körper verschieb- 
bar sind, die (mathematisch gedachten) des Atoms nicht. Das 
Atom ist der einfachste Körper, der denkbar ist; und da über 
die Grösse solcher Körper nicht unmittelbar entschieden werden 
kann, so nehmen wir sie als so klein an, als es die Gesammt- 
heit der wissenschaftlichen Erfahrung zur Erklärung der Phäno- 
mene erfordert. Und dies ist der kritische Begriff des Atoms. 

Die Undurchdringlichkeit, Untheilbarkeit, Starrheit desselben 
rührt nicht direct her von irgend welchen Eigenschaften einer 
noumenalen Welt, von der wir ja nur die Beziehung auf unsere 
Sinnlichkeit kennen, das Atom ist so wenig ein Ding an 
sich wie der Baum und die Materie; aber so gut wie wir 
denEaum nothwendig als dreifach ausgedehnt, die Ma- 
terie als in demselben beweglich und undurchdring- 
lich im Begriffe erzeugen, ebenso nothwendig erzeu- 
gen wir den Begriff von einem phänomenalen Gegen- » 
Stande, welcher in all den wandelbaren Formen und 
Qualitäten der Körperwelt untheilbar, undurchdring- 
lich und unverändert bleibt, erzeugen wir den Begriff 
des Atoms als einen Grundbegriff alles physikalischen 
Denkens. 

Die Erzeugung eines solchen Grundbegriffs könnte nun 
vielleicht Manchem überflüssige Mühe scheinen. So sagt W. 
Goering (S. 232): „Phänomenal bemerkt man das, was man 
Theilbarkeit der Körper und das Eindringen des einen in den 
anderen nennt. Damit hat es offenbar auf phänomenalem Ge- 
biete nicht die geringste Schwierigkeit" 

Wie so? Nicht die geringste Schwierigkeit — d. h. so viel, 
als für den Wilden hat es nicht die geringste Schwierigkeit, dass 
am Morgen die Sonne auf- und am Abend wieder untergeht. 
Es hat nicht die geringste Schwierigkeit einzusehen, dass über 
eine gewisse bunte Fläche sich gewisse anders gefärbte Umrisse 
bewegen , von denen wir etwa die erstere eine Landschaft und 
die letzteren einen Eisenbahnzug nennen. 

3* 



36 Die Entstehung des Atombegriffs. 

Denn es ist so, es ist ja Alles nur phänomenal. Wohl! 
Aber soll denn die phänomenale Welt nicht erklärt, nicht auf 
einfache Grundbegrifife zurückgeführt werden? Genügt es dem 
bunten Bilderwechsel im Sehraum zuzuschauen, die Reihe der 
Sinneseindrücke einfach zu erfahren? Soll nicht eben dieselbe 
geordnet werden nach bestimmten Principien und heisst das 
nicht Erkennen? Freilich, Alles phänomenal! Aber auch in 
der phänomenalen Welt müssen die Eigenschaften derselben er- 
forscht, d. h., durch Maass und Zahl auf gewisse Grundbegriffe 
zurückgeführt werden. Und dazu giebt es nur ein Mittel, die 
Atomistik. 

Hier aber wird uns nun entgegnet: 

Wenn die Mathematiker nur mit Volumelementen oder 
Kraftcentren rechnen, wenn die Physiker und Chemiker es ver- 
meiden, über die Natur des Atoms sich klar zu werden und siet 
mit der Betrachtung der aus Atomen zusammengesetzten Mole- 
keln begnügen, wenn die Philosophen beweisen, dass die Atome 
doch auch nur phänomenal sind, also doch auch nicht das 
tiefste Weltgeheimniss enthüllen — was soll uns noch die Ato- 
mistik? Warum lassen wir nicht der Mathematik, der Physik 
und der Chemie, einer jeglichen ihre Hypothesen ? Kann es sich 
ja doch in einer phänomenalen Welt immer nur um eine mög- 
lichst gute Beschreibung handeln, da uns der eigentliche Welt- 
lauf unerklärt bleibt! Wozu also die Atome? 

Und die Antwort lautet: 

Weil das Erkenntnissbedürfaiss der Menschheit auf den 
Aufbau einer Wissenschaft hindrängt; weil fast Alles, was die 
einzelnen Hülfswissenschaften der Weltwissenschaft geleistet, 
bis jetzt erst Aufbau des Gerüstes ist, das einst zum grossen 
Theil fortfallen dürfte; weil es Naturwissenschaft nur geben 
kann als eine einheitliche; weil eine einheitliche Naturwissen- 
schaft die Einheit der Grundanschauungen voraussetzt; weil die 
empirische Welt, als unsere einzige Welt, in sich ihre Erklä- 
rung fordert aus den empirisch gewonnenen Elementen durch 
jene einheitliche Naturwissenschaft innerhalb der Grenzen der 



Die Entstehung des Atombegriffs. 37 

Phänomene ; und weil wir hierzu eines einfachen Grundbegriffes 
bedürfen, der als Element dieser Erklärung dient. Dieser Grund- 
begriff aber muss fliessen aus der innersten Natur unseres We- 
sens, aus der Art und Weise, wie wir nothwendig die Welt in 
Zeit und Raum und Stoff auffassen. Dann enthält er zugleich 
die anschaulichste Vorstellung und die einzig mögliche Erklä- 
rung. Aber nur im Begriffe des Atoms finden wir denselben; 
hier haben wir den einfachen und anschaulichen Grundbegriff, 
auf welchen alle Veränderungen der Körperwelt als auf das 
Substrat der Veränderungen, auf ein Beharrendes als ein Po- 
stulat unseres Denkens zurückzuführen sind. Die Atome sind 
als nothwendige Grundsteine unserer empirischen Welt der 
Naturwissenschaft so nöthig — aber auch sicher — , wie der 
Geometrie die Elemente des Raumes, wie der Arithmetik die 
Zahl; sie sind nicht mehr Gegenstand einer „Hypothese von 
sehr grosser Wahrscheinlichkeit" , sondern ein so sicherer Be- 
sitz der Physik, wie ihn die Mathematik in ihren Axiomen 
vom Räume hat. Das Atom ist nicht nur, wie Liebmann i) 
meint, „Rechenmarke der Theorie", sondern gerade eine „all- 
gemeine philosophische Kategorie." Und so bestätigt sich 
denn die Vermuthung F. A. Lange's 2), dass die atomistische 
Vprstellungsweise aus den Principien der Kant 'sehen Erkennt- 
nisstheorie sich deduciren lasse. „Denn die Wirkungsweise der 
Kategorie in ihrer Verschmelzung mit der Anschauung geht 
stets auf Synthesis in einem abgeschlossenen, also in unse- 
rer Vorstellung von den unendlichen Fäden alles Zusammen- 
hanges abgelösten Gegenstandes. Bringt man die Atomistik 
unter diesen Gesichtspunkt, so würde die Isolirung derMassen- 
theilchen als eine nothwendige physikalische Vorstellung erschei- 
nen, deren Gültigkeit sich auf den gesammten Zusammenhang 
der Welt der Erscheinungen erstreckte, während sie eben doch 
nur der Reflex unserer Organisation wäre : das Atom wäre eine 



• 1) Zur AnalysiB der Wirklichkeit. Strassb. 1876. S. 296. — Obwohl 
wir wie Liebmann den relativen Unendlichkeitsbegriff hervorheben, kom- 
men wir gerade zu entgegengesetztem Besultat. Darüber noch mehr wei- 
ter unten, S. 44. — ^ Gesch. d. Mat. 2. Aufl. n, S. 211. 



38 Die Entstehung des Atombegriffs. 

Schöpfung des Ich , aber gerade dadurch nothwendige Grund- 
lage aller Naturwissenschaft." 

In der That, die Erklärung der phänomenalen Welt aus den 
Grundsätzen einer rationellen Atomistik muss gelingen, weil 
beide nur Producte unserer eigensten menschlichen Natur und 
aus demselben unserer Weltauffassung zu Grunde liegenden ge- 
heimen Quell entsprungen sind. Jeder Fortschritt der mathe- 
matischen Naturwissenschaft in dieser Richtung bringt eine neue 
Bestätigung unserer Ansicht und des Kriticismus überhaupt. 

Andererseits müssen sich aus dem kritischen Begriff des 
Atoms bis zu einem gewissen Grade die Eigenschaften desselben 
ergeben, wenn man jenen zusammenbringt mit den zu erklären- 
den Thatsachen der Erfahrung, und es müssen die Widersprüche 
sich lösen, welche man im Begriffe des Atoms hat finden wollen 
und auf unkritischem Boden auch hat finden müssen. 



lY. 



Vertheidigimg des phänomenalen Atoms. 



Bevor wir auf eine Untersuchung der Eigenschaften der 
Atome als nothwendige Erzeugnisse des physikalischen Denkens 
näher eingehen, wollen wir nur noch eine Bemerkung über die 
Natur dieser Untersuchung einschalten. Dieselbe hat den Zweck, 
den manchem empirischen Physiker vielleicht aufsteigenden 
Argwohn zu beseitigen, als wollten wir uns anmaassen, Physik 
aus reinen Begriffen zu construiren und in die Bahnen einer 
unseligen Naturphilosophie zu lenken. Es handelt sich nur 
darum, die empirischen Ergebnisse der Naturwissenschaft von 
einem einheitlichen Gesichtspunkt aus zu begreifen, d. h. sie 
auf einfache, der unmittelbaren Anschauung entnommene Vor- 
stellungen zurückzuführen. Diese Vorstellungen können sich 
auf Gegenstände oder auf Vorgänge beziehen; im letzteren 
Falle heissen sie Naturgesetze, und die Form dieser Vorstel- 
lungen ist bedingt durch die Natur unserer Sinnlichkeit und 
unseres Verstandes, vermöge deren vnr überhaupt erst die Vor- 
stellung einer Welt ausser und um uns erschaffen. Insofern 
wir uns solcher Vorstellungen nur in Folge einer Afficirung un- 
serer Sinnlichkeit durch Dinge ausser uns bewusst werden kön- 
nen, sind sie sicherlich empirisch; insofern sie aber ihrer 
Form nach durch die Natur unserer Sinnlichkeit bedingt sind, 
sind sie nicht rein empirisch. Kennen lernen können wir die 



40 Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 

Gesetze , welche unsere Erfahrung bedingen , nur wieder durch 
Erfahrung. Ist dies aber geschehen, so können wir bis auf 
einen gewissen Grad allgemeine Begriffe angeben, zu denen 
uns der Erfahrungstoff kraft unserer Organisation immer wie- 
der führen wird. Ein solcher Begriff ist zunächst der des Atoms, 
und wir kommen auf dies Verhältniss von empirischen und 
aprioristischen Elementen näher zurück, wenn wir von den Be- 
wegungen der Atome handeln werden. 

„Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt", sagt Kant i), 
„ist zugleich das allgemeine Gesetz der Natur, und die Grund- 
sätze der ersteren sind selbst die Gesetze der letzteren. Denn 
wir kennen Natur nicht anders als dön Inbegriff der Erschei- 
nungen, d. i. der Vorstellungen in uns, und kennen daher das 
Gesetz ihrer Verknüpfung nirgend anders als von den Grund- 
sätzen der Verknüpfung derselben in uns , d. i. den Bedingun- 
gen der nothwendigen Vereinigung in einem Bewusstsein, welche 
die Möglichkeit der Erfahrung ausmacht." 

Nun ist freilich zu bemerken, dass diese „Grundsätze der 
Verknüpfung" auch nur in ihrer Anwendung zu studiren sind. 
Es giebt aber Wissenschaften, für welche dieselben ein für alle- 
mal feststehen , so dass für dieselben zugleich alle Erfahrung, 
welche bei der gegenwärtigen Organisation des Menschen über- 
haupt möglich ist, für ihren Gegenstand erschöpft ist. Eine 
solche Wissenschaft ist die Mathematik; sobald der Begriff der 
Grösse und der des Raumes in seiner Eigenthümlichkeit er- 
zeugt ist , kommt für ihr Material kein Element der Erfahrung 
hinzu, das nicht schon vorhanden wäre 2), Die Combinatio- 
nen dieser Elemente sind jedoch keineswegs erschöpft, sie kön- 
nen aber jetzt ohne jede weitere Erfahrung, d. h. rein deductiv 
erzeugt werden. — Anders ist es mit einer Wissenschaft, welche 
sich mit der Welt der Körper beschäftigt. Der Begriff der 
Körperwelt wird zwar psychologisch gleichzeitig mit dem des 



1) Prolegomena z. j. künft. Metaphysüt. Riga, 1783. S. 111. 

2) Vergl. die eingehende Untersuchung von B. Erdmann a. a. O, 
S. 167 u. f. 



Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 41 

Baumes erzeugt, an ihm haftet aber die unübersehbare Man- 
nichfaltigkeit der zu combinirenden Elemente unserer Sinnes- 
empfindung. Die Abstraction von letzteren, «sowQit sie möglich 
ist, schafft uns wohl die Welt der Atome — und deswegen ist 
für diese auch in gewissem Sinne eine deductive Behandlung 
zulässig — nicht aber die Körperwelt der Physik. Diese muss 
immer aufs Neue empirisch erzeugt werden, und bei der Anzahl 
der durch sie gegebenen Sinnesempfindungen ist es gar nicht 
abzusehen, ob es hier ein Ende der mögUchen Erfahrung giebt. 
Bestimmt ist nur die allgemeine Form, in welcher wir die Be- 
griffe der Körperwelt zu combiniren haben, nämlich in der Form 
bewegter Materie; daher ist auch Mechanik deductiv; insofern 
aber jene Combinationen der Wirklichkeit der Sinne gegenüber- 
treten, lässt sich durchaus nicht von vornherein feststellen, 
welche Combinationen wir zu bilden haben und zu welchen 
neuen Begriffen etwa eine weitergehende Erfahrung uns noch 
führen könne. Naturwissenschaft ist also wesentlich in- 
ductiv. Naturwissenschaft und Mathematik haben beide ge- 
wisse Grundgesetze, die als in unserer eigenen Natur wurzelnd, 
unveränderlich sind. In^ der Mathematik ist aber mit denselben, 
wie W. Wundti) es treffend ausdrückt, zugleich eine vollstän- 
dige Tafel der Definitionen gegeben; in der Naturwissenschaft 
fehlt dieselbe. Die Definitionen der Naturwissenschaft sind nur 
empirisch zu verschaffen. Das Ziel der Wissenschaft ist aber, 
diese Tafel der Definitionen vollständig herzustellen, und sollte 
dasselbe jemals wirklich erreicht werden, so wäre damit die 
Möglichkeit gegeben, nun auch die gesanamte Naturwissenschaft 
rein deductiv zu behandeln, wie es für einzelne Theile dersel- 
ben bereits annähernd möglich geworden ist. 

Es entsteht nun die wichtige Frage, welches diejenigen 
Grundbegriffe der Physik seien, die wir nach den Bedingungen 
unserer Synthesis, d. h. der nothwendigen Vereinigung der Er- 
scheinungen in unserem Bewusstsein, bilden müssen und welche 



^) Die phygikaUschen Ajuome etc. IlrlfkDgen, 1866. 8. 3. 



42 Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 

darum als Grundlagen jeder Physik anzusehen sind. Wir ha- 
ben neben dem Raum- und Zeitbegriff bis jetzt den des Atoms 
als einen solchen kennen gelernt, und gehen nun zu einer nähe- 
ren Betrachtung desselben über. 

Es hat sich ergeben, dass wir nur ganze, solid zusammen- 
hängende Körper im Begriffe erzeugen können, und dass wir 
daher diese Körper zur Erklärung der Naturerscheinungen be- 
liebig klein annehmen dürfen. 

Andererseits aber müssen wir auch , wenn es sich um eine 
bestimmte Erklärung handelt, bei einer definitiven Kleinheit 
stehen bleiben, ohne welche wir jede Anschaulichkeit aufgeben 
würden. Wenn wir sagen „beUebig klein", so heisst das nur, 
wir müssen es der physikaUschen Forschung überlassen, ob sie 

die kleinsten Atome dem Durchmesser nach zu — — : oder 



1010 IQIOO 

Millimeter annehmen will; für jedes Atom oder Unteratom eines 
Stoffes muss aber eine bestimmte Grenze der Kleinheit fest- 
gesetzt sein, welche nicht überschritten werden darf und im 
Continuum der Naturwissenschaften constant ist. Nur komme 
man nicht mit „unendlich kleinen" Atomen; nichts ver- 
mag den Standpunkt so zu verrücken und zu verwirren als 
die Hineinziehung eines gänzUch unzulässigen UnendHchkeits- 
begrifl'es in unsere Frage. Etwa§ „Unendlichkleines" existirt 
überhaupt nicht in der Erfahrung; die Atome sind aber durch- 
aus Gegenstände der Erfahrung, wenn auch nicht unmittelbar 
durch sie gegebene , so doch auf dieselbe Weise wie alle Erfah- 
rung aus den Daten der Sinnlichkeit erzeugt. So kann aber 
immer nur der Begriff eines Körpers entstehen , eines noch in 
drei Dimensionen ausgedehnten erfüllten Baumes, niemals aber 
der Begriff eines Massenpunktes, punktuellen Atoms oder gar 
„Kraftpunktes." Nun glaube man niu* ja nicht, dass man etwa 
um Naturerklärung zu ermöglichen irgendwo die weitere Trenn- 
barkeit der Materie abbrechen müsse! Das wäre allerdings 
willkürUch, wenn wir wirkhch eine Theilung oder Trennung der 
real vorhandenen Materie vornähmen. Aber so ist es ja gar 
nicht! Vielmehr ist jeder dieser sogenannten Theile für uns ein 



Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 43 

Ganzes, und wir fassen die Materie auf als den Inbegriff lauter 
ganzer (recht kleiner) Körper, welche nach dem gewöhnUchen 
Sprachgebrauch den Namen „kleinste Theile", „Atome" führen; 
d. h., wir erzeugen sie als solche kraft der Synthesis unseres 
Bewusstseins durch den Gebrauch unserer Sinne in der An- 
schauung wie im Begriffe. Es zeigt sich also, dass es sich gar 
nicht um eine Theilung handelt, sondern um einen Vorgang, wie 
wir ihn S. 33 geschildert haben. Wir bemerken, dass wir uns 
in einer Welt von soliden Körpern befinden und haben uns klar 
gemacht, wie wir zur Erzeugung des Begriffs solcher Körper 
gekommen sind. Bei weiterem wissenschaftUchen Studium die- 
ser Welt zeigt es sich, dass dieselbe manche Eigenschaften be- 
sitzt, welche erklärt sein wollen, aber bei dem rohen Begriff 
von Körpern, wie wir ihn allein durch die alltägUche Erfahrung 
erhalten, unerklärt nebeneinander bestehen bleiben. Nun ha- 
ben wir aber keine andere Anschauung als die durch unsere 
Sinne, gar keine andere Möglichkeit, uns eine Welt zu erschaf- 
fen , als wieder auf dieselbe Weise. Wir können aber unsere 
Sinnesauffassung — so zu sagen quantitativ — verfeinem und 
beschränken, wir können eine Welt in viel kleinerem Maass- 
stabe nachbilden, deren Körper nur die zu ihrem Begriffe durch- 
aus nothwendigen Eigenschaften besitzen — und dies ist die 
Welt der Atome , welche daher zur Erklärung der Körperwelt 
dienen kann. 

Freilich müssen wir darauf bedacht sein, dass wir die Wie- 
derholung dieser Weltconstruction — welche übrigens ihrem 
Grundcharakter nach a priori bestimmt ist — so einrichten, dass 
wir aus der erhaltenen Atomwelt nun auch wirkUch eine voll- 
ständige Erklärung der uns bekannten Naturerscheinungen lie- 
fern können. Diese Erklärung ist dann eine völlig ausreichende. 
Man könnte glauben, dass dieselbe nur eine provisorische oder 
eine willkürliche sei, insofern man sich immer das Hinterpfört- 
chen der Annahme noch kleinerer Atome offen halte; aber dies 
geschieht nur insofern, als eine künftige Erfahrung vielleicht 
noch Thatsachen enthüllt, welche wir noch nicht kennen. Es 
versteht sich wohl von selbst, dass eine Erfahrungswissenschaft 



44 Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 

auch nur verpflichtet ist, das ihr Bekannte zu erklären, mid ¥rir 
haben bereits wiederholt anerkannt, dass wir die Bestinmiung 
der Atomg rosse lediglich für eine Aufgabe der Erfahrungs- 
wissenschaften halten. Spätere Jahrtausende mögen sich viel- 
leicht genöthigt sehen, noch einen Schritt weiter zu gehen, als 
wir es heute nöthig haben — aber die Frage nach der Grösse 
der Atome bleibt eine praktische, keine principielle. Principiell 
ist nur der Charakter der atomistischen Naturerklärung , und 
dieser bleibt derselbe, so lange die menschliche Organisation 
dieselbe bleibt. Gerade dies betonen wir: Die Wissenschaft 
einer bestimmten Epoche muss bei einer bestimmten Gruppe 
der Atomsysteme, welche man sich in einander geschachtelt 
denken kann, Halt machen — oder richtiger beginnen — und 
Alles, was zu erklären ist, aus dieser erklären. Dann, und nur 
dann wird das Problem nicht verschoben, dann und nur dann 
wird eine genügende und anschauliche Erklärung geliefert. Ein 
Regress ins Unendliche ist — als Regress — zwar gestattet, ja 
die Relativität unseres Grössenbegriffs führt sogar nothwendig 
auf einen solchen , wie wir anderweitig erörtert haben i). Von 



^) Ein Beitrag zum kosmologischen Problem und zur FeststeUung des 
Unendlichkeitsbegrififs. Vierteljahrsschrift für wissensch. Philos. Herausg. 
von B. Avenarius. Leipz. 1. Bd. S. 329 ff. Bei der Absendung dieses 
Aufsatzes (Nov. 1876) kannte ich die Zöllner' sehe Abhandlung (12. Febr. 
1876) „lieber die physikalischen Beziehungen zwischen hydrodynamischen 
und elektrodynamischen Erscheinungen" leider noch nicht, ich hätte dieselbe 
sonst erwähnt, als ich auf die analogen Grössenverhältnisse zwischen Mo- 
lecular- und Weltsystemen aufmerksam machte (S. 349, 357). Ich habe 
jedoch diese Betrachtung bereits früher bei Gelegenheit eines populären 
Aufsatzes angesteUt. (Schlesische Zeitung, 23. u. 24. Nov. 1875.) — In Be- 
zug auf die Bemerkung zu meiner Abhandlung von W. Wundt (Viertel- 
jahrsschrift für wissensch. Philos. 1. Bd. S. 361) habe ich an dieser SteUe 
Folgendes zu erwähnen. Die Anzahl der Atome muss als eine unend- 
liche angesehen werden im Sinne eines Postulats des unbegrenzten Port- 
ganges; endlich kann sie nur sein in dem relativen Sinne, dass wir den 
Rest — unseres gegenwärtigen Mangels an Erfahrung wegen — nicht zu 
berücksichtigen brauchen. Die Annahme einer Vertheilung ins Unend- 
liche bei endlicher Anzahl ist nicht gestattet, weil die Analogie der un- 
endlichen convergenten Beihen mit endlicher Summe in diesem Falle 
nicht gilt. Ich bestreite durchaus nicht, dass eine endliche Zahl in an- 



Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 45 

einem allgemeinen Standpunkte aus können wir jedes Welt- 
system, jedes Sonnensystem oder Fixstemsystem auflFassen wie 
eine Atomgruppe, welche als Molekel schwingt, und jede Mo- 
lekel kann uns ein Weltsystem darstellen. Es kommt lediglich 
auf 'Unseren Standpunkt an, welchen Theil der Welt wir als 
molecular, welchen wir als kosmisch ansehen; vermöge der 
Anlagen unserer Naturauffassung würde uns das Universum im- 
mer in Atome und Weltsysteme zerfallen. In diesem Sinne 
droht unserer Atomistik allerdings der Regress ins Unendliche ; 
aber eben, weil es sich um eine anschauliche Naturerklä- 
rung handelt, hebt unsere Auffassung diesen Regress selbst 
auf, wo ihn nur die Phantasie noch gestattet, die Wissenschaft 
nicht mehr verlangt. Sie hebt ihn auf, und gewinnt dadurch 
Anschauung!). Als Beispiel diene Folgendes. 



endlicherForm gegeben werden könne, z.B. 2 = 1 -f-Vg"!" Vi"!" Vs"!""" 
Achilles kann die Schildkröte einholen, weil er nicht genöthigt ist sein 
Ziel auf dem Wege durchs Unendliche zu erreichen. Aber die zu errei- 
chende Zahl kann eben nur dann als eine endliche betrachtet werden, 
wenn sie ihrem Inhalte nach schon anderweitig in endlicher Form gege- 
ben oder zwischen endliche Grenzen einschliessbar ist , wie die Summen 
der convergenten Beihen, z. B. n, Ist aber die unendliche Form die 
einzige, in welcher die betreffende Grösse uns zugänglich ist, so muss 
man auch die ganze Beihe durchlaufen, um die Summe zu erhalten, d. h. 
man erhält sie nie. Die Beihensumme bleibt also dann unendlich, wenn 
auch die einzelnen Glieder bis ins Unendliche abnehmen. Dieser Fall 
tritt nun, wie ich behaupte, bei der Materie ein, da diese ein rein 
empirischer Begriff ist, den wir in seiner ideellen Totalität nur durch 
den Versuch erlangen, die Beihe zu durchlaufen. Deswegen ist die Summe 
der Materie unendlich. Als eine endliche kann sie nur behandelt wer- 
den, indem man sich des willkürlichen — wenn auch berechtigten — Ab- 
bruchs der Beihe bewusst bleibt. 

^) Dies ist zu beachten um den scheinbaren Widerspruch zu erklä- 
ren zwischen der oben angefühi*ten Ansicht Lange's und der Darstel- 
lung Vaihinger's in seinem treffUchen Buche „Hartmann, Dühring 
und Lange^ (Iserlohn 1876), wo es von Lange S. 61 heisst: ,,Auch das 
Atom ist eine blosse hypothetische Annahme und sein Begriff, der auf 
die Unendlichkeit im Kleinen hinführt, bezeichnet eine Schranke unserer 
Erkenntniss, wie alle Begriffe, die zuletzt in die Unendlichkeitsvorstel- 
lung übergehen." £s hätte hervorgehoben werden sollen, dass das Hypo- 
thetische nur in der Annahme einer bestimmten Grösse der Atome liegt, 
die Unendlichkeitsvorstellung aber ihren Ursprung nicht in dem Atom- 



46 Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 

Man erklärt die Elasticität der Körper aus der Verschiebbar- 
keit ihrer Theile — sagen wir : ihrer Molekeln. Das ist auch un- 
zweifelhaft richtig. Nun fasst man in der kinetischen Gastheorie 
die Molekeln selbst wieder als elastisch ; das kann man sich noch 
gefallen lassen, insofern die Atome derselben verschiebbar sind. 
Auch diese könnte man, um ihre Bewegungen durch ihren Stoss 
zu erklären, aus Unteratomen bestehen lassen, und so fort. Im- 
mer aber ergiebt sich die Nothwendigkeit, die Elasticität der letz- 
ten Theile zu erklären , und es scheint also , und hat bis jetzt 
fast allen Forschem so geschienen , als ob man auf einen Re- 
gress ins UnendHche geriethe. Verhielte sich dies wirklich so, 
dann stände es freilich schlinmi um die Berechtigung der Ato- 
mistik, und Diejenigen behielten Recht, welcher ihr unauflösbare 
Widersprüche vorwürfen. Eine nothwendig aus der Natur un- 
serer Weltauffassung herstammende Theorie kann aber einen 
solchen Widerspruch nicht enthalten, und wir werden also in 
der Lage sein müssen, jenen unendlichen Regress verhindern zu 
können, wenn wir unsere Auffassung von der Sache beibehalten 
wollen* Dies wird in der That geschehen; die Möglichkeit solcher 
Auflösung unserer Frage kann aber erst später erörtert werden 
(vergl. Abschn. VIII). Hier ist nur vorläufig zu sagen : Wir be- 
ginnen bei der Erklärung unserer Sinnenwelt mit einer bestimm- 
ten Atomgruppe als letztem Element der Körper; die Atome, 
welche dieselben zusammensetzen, sind dann untrennbare, völ- 
lig solide Körperchen, die Grundlagen unserer phänomenalen 
Welt, bei denen von einer Verschiebung der Theilchen 
nicht weiter die Rede sein kann. Wenn sie trotzdem Er- 
scheinungen darbieten, welche denen des elastischen St'osses in 
ihrem Erfolge gleichen, so sind diese jedenfalls anders zu erklä- 



begriff, sondern in dem Welt begriff habe, insofern dieser auf eine Zu- 
sammensetzung aus Atomen führe. Der Atombegriff gehört zwar zu den 
»Ignoranzbegriffen", da er als Element unserer Erkenntniss eine Grenze 
derselben bezeichnet, führt aber keine neue Unendlichkeits Vorstellung ein, 
als die durch Erzeugung des Baum- und G-rössenbegriffs bedingte, und 
dient gerade dazu, hier die Naturauffassung vor dem drohenden Verlust 
der Anschaulichkeit zu retten. Vergl. a. a. O. S. 73 u. f. Die Unge- 
nauigkeit ist durch Lange selbst verschuldet. 



Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 47 

reu. Und das wird in der That an der geeigneten Stelle nach- 
gewiesen werden. Dann aber erhalten wir Anschauung und die 
Natur wird begreifbar. 

Wir haben hervorgehoben , dass die Annahme einer Theil- 
barkeit der Materie ins UnendUche, selbst in dem beschränk- 
ten Sinne eines Regresses, wie oben, schon aus dem Grunde 
für die Erklärung der Natur nicht zu gebrauchen ist , weil sie 
jede Anschaulichkeit ausschliesst. 

Hier sehen wir uns nun genöthigt, mit der dynamischen 
Theorie der Materie uns auseinander zu setzen. Dieselbe, inso- 
fern sie von jeder Atomistik absieht, hat freilich keinen Boden 
mehr in der Naturwissenschaft. Da aber kein geringerer Den- 
ker als Kant es unternommen hat, ihr eine Stelle in den meta- 
physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft anzuweisen, 
so müssen wir ihr näher treten und, da wir das Resultat seiner 
Ueberlegung verwerfen, auch den Versuch machen, die schwache 
Stelle seiner Beweise aufzudecken. 

Wenn Kant die Materie als ins Unendliche trennbar er- 
klärt, d. h. als theilbar in Theile, deren jeder wieder Materie 
ist 1), so geschieht dies dadurch, dass er jedem mathematischen 
Theile der Materie eine repulsive Kraft zuspricht, wodurch der- 
selbe auch ein physischer, also trennbar wird 2). So scheint 
allerdings die unendliche Trennbarkeit der Materie unvermeid- 
Uch , denn der Raum ist ein Continuum seinem Begriffe nach 
und offenbar ins Unendliche theilbar zu denken. Daher schreibt 
sich denn die gewaltige Gegnerschaft, welche des grössten Phi- 
losophen Urtheil der Atomistik erweckt hat. Der Fehler muss 
offenbar schon in dem ersten Lehrsatze des zweiten Haupt- 
stückes liegen, welcher lautet 3) : 

„Die Materie erfüllt einen Raum , nicht durch ihre blosse 
Existenz, sondern durch eine besondere bewegende Kraft. 



^) Metaph. Anfangsgr. d. Naturw. Riga, 1787. S. 43, 44. 
2) A. a. O. 8. 36. — ») A. a. 0. S. 33. 



48 Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 

Beweis. 

Das Eindringen in einen Raum (im Anfangsaugenblicke 
heisst solches die Bestrebung einzudringen) ist eine Bewegung. 
Der Widerstand gegen Bewegung ist die Ursache der Vermin- 
derung, oder auch Veränderung derselben in Ruhe. Nun kann 
mit keiner Bewegung etwas verbunden werden, was sie vermin- 
dert oder aufhebt, als eine andere Bewegung eben desselben 
Beweglichen in entgegengesetzter Richtung (Phoron. Lehrs.). 
Also ist der Widerstand, den eine Materie in dem Raum, den 
sie erfüllt, allem Eindringen anderer leistet, eine Ursache der 
Bewegung der letzteren in entgegengesetzter Richtung. Die Ur- 
sache einer Bewegung heisst aber bewegende Kraft. Also er- 
füllt die Materie ihren Raum durch bewegende Kraft, und nicht 
durch ihre blosse Existenz." 

Man sehe nach, wo in diesem Beweise ein Fehler liegt. 
Der erste Theil, welcher den Hauptpunkt des Beweises zu ent- 
halten scheint, lässt sich auf folgenden Syllogismus nach dem 
Modus Barbara zurückführen: 

Alles, was eine Bewegung ändert, ist Ursache einer neuen 

Bewegung ; 
der Widerstand eines mit Materie erfüllten Raumes ändert 

die Bewegung der andringenden Materie; 
also ist der Widerstand eines mit Materie erfüllten Raumes 

Ursache einer neuen Bewegung. 

Die Prämissen sind unzweifelhaft richtig, der Schluss auch. 
Nun aber weiter: „die Ursache einer Bewegung heisst aber be- 
wegende Kraft." Das ist eine neu und willkürlich eingeführte 
Wortdefinition. Von einer bewegenden Kraft ist bisher über- 
haupt noch nicht die Rede gewesen , und nun wird die Ursache 
einer Bewegung nach dem Ausdrucke des gewöhnlichen Lebens 
eine bewegende Kraft genannt. Auch wird dies in der nach- 
folgenden Erklärung 2. nochmals besonders ausgesprochen: 
„Zurückstossungskraft ist diejenige, wodurch eine Materie Ur- 
sache sein kann, andere von sich zu entfernen (oder, welches 



Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 49 

einerlei ist, wodurch sie der Annäherung anderer zu ihr wider- 
steht)." 

' In diesen Worten „andere von sich zu entfernen", welches 
einerlei sein soll mit der Verhinderung grösserer Annäherung, 
liegt der Uebergang zu der dynamischen Theorie der Materie 
mit ihrer anschauungslosen Femwirkung und ihren unhaltba- 
ren Folgerungen. Bis jetzt hatten wir es ja nur mit einem 
neuen Worte — wenn auch einem unserer Ansicht nach über- 
flüssigen — zu thun; statt „Widerstand" war „Widerstandskraft" 
gesagt. Dies geht aber unter der Hand über in Zurückstossungs- 
kraft, und damit ist mit einem Schlage und jedenfalls unwill- 
kürlich der Begrijßf der femwirkenden Kraft eingeführt, ein Be- 
griff, der ja bei Kant mit dem Worte „Kraft" nothwendig ver- 
bunden sein musste. Ist einmal gesagt, dass Widerstand eine 
Kraft ist, so ist diese natürlich auch eine Newton'sche Kraft! 
Nach seiner physikalischen Naturauffassung musste Kant con- 
sequenter Weise auf seine dynamische Theorie geführt wer- 
den. Trotzdem bleibt es ein merkwürdiger, wenn auch aus dem 
Missbrauch des Kraftbegriffes erklärlicher Irrthum, den Wider- 
stand als Kraft au&ufassen. Als wenn Bewegung nur abgeän- 
dert werden könnte durch diesen reinen Hülfsbegrifi* der Kraft, 
der doch nur ein Ausdruck ist für den nach dem Causalgesetze 
von uns gesuchten Grund einer empirischen Thatsache; als 
wenn es nicht viel natürlicher wäre, die einzelnen Fälle, in 
denen Bewegung abgeändert wird, nach den jedesmal dabei ein- 
tretenden Wahrnehmungen zu unterscheiden! Als solche Wahr- 
nehmungen, die man nunmehr als Ursachen betrachten musste, 
hätten sich erstens der Widerstand eines soliden Körpers, zwei- 
tens die Bewegimg eines anderen Körpers ergeben, so dass die 
Bildung des Kraftbegriffes sich vielleicht ganz hätte ersparen las- 
sen. Nehmen wir doch thatsächlich nirgends „Kraft" wahr, son- 
dern überall nur Bewegung oder Hemmung der Bewegung. Kant 
sagt: „Nur alsdann, wenn ich dem, was einen Raum einnimmt, 
eine Kraft beilege, alles äussere Bewegliche, welches sich an- 
nähert, zurückzutreiben, verstehe ich, wie es einen Widerspruch 
enthalte, dass in den Raum, den ein Ding einninmit, noch ein an* 

LaBswitz, AtomiBtik etc. a 



50 Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 

deres von derselben Art eindringe." Aber damit ist eben für das 
Verständniss nichts gewonnen, weil diese Kraft, welche, wie Kant 
zugiebt (a. a. Ö. S. 41), ihrer Möglichkeit nach auch nicht weiter 
erklärt werden kann, unsere Vorstellung über den eigentlichen 
Zustand der Materie durchaus unbefriedigt lässt. Wie soll man 
sich jeden (mathematischen!) Theil der Materie mit einer Kraft 
begabt denken, welche jeden benachbarten abstösst! Wo sind 
dann überhaupt die Grenzen der Theile? Denn jene Kräfte 
sollen lediglich an den Oberflächen der von der Materie einge- 
nommenen Räume wirken; diese aber werden ja durch die Wir- 
kung der Kräfte erst als erfüllte Räume erzeugt! Es ist eben 
die ganze Theorie nichts als eine Hypostasirung des leeren 
Kraftbegriflfs , etwa ähnlich, als wollte man die Niveauflächen 
der Mechanik als reelle Dinge denken. Sinnlich und empirisch 
fassbar ist doch immer nur die SoUdität, welche Kant einen 
ziemlich vieldeutigen Ausdruck nennt; auf sie, auf dieUndurch- 
dringUchkeit -^ welche keine „qualitas occulta", sondern eben 
die einzige zu Tage tretende Eigenschaft der Materie ist — muss 
er doch immer wieder zurückkommen als der einzigen Quelle 
unserer Erfahrung von einer Materie. Und hier hätte er denn 
auch seine „Construction" beginnen, nicht aber noch einen 
Schritt weiter versuchen sollen, wohin die Anschauung nicht 
mehr zu folgen vermag. 

In den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissen- 
schaft decken sich deutlich die Gebiete auf, wo Kant's unsterb- 
licher Grundgedanke eine anderweitige Ergänzung durch eine 
Kritik der Sinne verlangt. Letztere fuhrt auf den Begriff der 
Solidität und begründet ihn aus der Natur unserer Erfahrungs- 
schöpfung, nicht etwa, was Kant Lambert u. A. vorwirft, nur 
aus einem logischen Gesetze. Dass „der Satz vom Widerspruch 
keine Materie zurücktreibt, welche anrückt, um in einen Raum 
einzudringen, in welchem eine andere anzutreffen ist (a. a. O. 
S.34)", das bleibt allerdings richtig. Darum braucht das Hinder- 
niss aber nicht gerade eine „Kraft" zu sein in der allgemeinen 
Bedeutung dieses Wortes. Logische Gesetze freilich können Ma- 
terie nicht zurücktreiben, aber ist nicht vielleicht der Satz 



Vertheidigung des phänomenalen Atoms. 51 

vom Widerspruch mitbedingt von jener alltäghchen Erfahrung 
der SinnUchkeit, dass wo „wir" sind, nicht zugleich etwas An- 
deres sein kann? Oder richtiger, weisen nicht vielleicht beide 
auf eine gemeinsame Quelle hin, aus welcher sich das Be- 
wusstsein von den Gesetzen des Denkens gleichartig entwickelt 
hat mit dem Bewusstsein von den Gesetzen des Seins? Wer 
möchte diese geheimen Beziehungen heute schon lösen ? Soviel 
aber ist klar: Der Satz vom Widerspruch hat ein Analogon 
in der Sinnenwelt in dem Satze vom Widerstände. „Raumerfiil- 
lende Kraft" ist mindestens ein durchaus überflüssiger Begriff; 
„ündurchdringlichkeit" ist so zu sagen ein handgreiflicher Be- 
griff, unmittelbar erschaffen durch die Natur unserer Sinnlich- 
keit. Wir denken, es hat keine Schwierigkeit, bei der Grund- 
legung der Physik sich für letzteren zu entscheiden. 



4* 



V. 



Der Zusammenliang der Atome und die 
Mittheilung der Bewegung als Andrangs- 

empfindung. 



Im Vorangegangenen konnte bis jetzt nur nachgewiesen 
werden, dass vermöge unserer Sinnlichkeit und unserer Art zu 
erkennen es einen phänomenalen Gegenstand geben muss, wel- 
cher an sich unveränderlich, undurchdringlich und sehr klein 
ist und als solcher das Substrat aller Veränderungen in der 
Natur bildet Damit sind aber die Eigenschaften erschöpft, 
welche wir dem Atome ohne Rücksicht auf sein Verhältniss zu 
anderen Atomen nothwendig zuschreiben müssen; über die 
Form können wir a priori gar nichts sagen, über sie können 
nur die Hypothesen entscheiden, welche die empirische Natur- 
wissenschaft aufzustellen sich genöthigt sieht. 

Alle übrigen Eigenschaften des Atoms sind Eigenschaften 
der Atome, d.h. sie sind bedingt durch den Zusammenhang 
der Atome, wie es nach dem Sprachgebrauch der realen oder 
transcendenten Atomistik heisst, oder, wie wir es kritisch aus- 
drücken müssen, sie sind bedingt durch die Art und Weise, wie 
wir zu dem Begriffe von gesetzmässigen Vorgängen in der Na- 
tur, d. h. wie wir zu Naturgesetzen kommen. Hierhin gehö- 
ren die Eigenschaften der Bewegung, Trägheit, Masse (Dich- 
tigkeit), Stoss, Elasticität u. s. w. , und Alles, was mit den 



Der Zusammenhang der Atome etc. 53 

sogenannten „Molecularkräften" zusammenhängt. Wir haben 
also diese Beziehungen von unserem Gesichtspunkte aus zu be- 
trachten. 

Die Aufgabe, „den Zusammenhang der Atome herzustellen", 
ist für die nicht-kritische Auffassung viel Schwieriger zu lösen, 
als die, das einzelne Atom begrifflich streng zu construiren. 
An dieser Stelle ist auch der in der Einleitung erwähnte Kampf 
zwischen einer gewissen Art der Philosophie und der Natur- 
wissenschaft stets am heftigsten entbrannt. Die Naturwissen- 
schaft schrieb einfach dem Atom gewisse Bewegungen oder an- 
ziehende und abstossende Kräfte zu und hatte damit den Zu- 
sammenhang hergestellt ohne sich darum zu kümmern, dass so 
zugleich der Begriff des Atom§ als des aus allen Wechselbezie- 
hungen gelösten Dinges verloren ging. Die Philosophie strengte 
sich an die Atome zu verbinden ohne dabei die Ungebunden- 
heit des Atoms als eines für sich existirenden Gegenstandes zu 
schädigen. Legt man in das Atom (Notabene I das transcen- 
dent gedachte!) als ihm nothwendig zugehörend schon Be- 
wegungen und Kräfte hinein, vermöge deren es auf andere 
wirkt, so ist es nicht unabhängig von jenen construirt. Das ein- 
zelne Atom setzt dann, vermöge seiner Wirkungsfahigkeit, sei- 
ner potentiellen Bewegung oder Kraft, schon die Existenz der 
anderen Atome voraus und kann überhaupt nicht für sich ge- 
dacht werden, was zum Begriffe eines realen Atoms (als Nou- 
menon) gehört Denn in einer transcendenten Welt müssen die 
Atome für sich existiren körinen, abgelöst vom grossen Zu- 
sammenhange der Dinge; sie sind ja real! Dann aber kommt 
man auf nothwendige Widersprüche mit unserem Denken. Dann 
hat W. Goering Recht, dass jedes Atom ein unauflösbares 
metaphysisches Problem enthält, weil unser Weltbegrifi* -- wie 
wir allgemein sagen können — immer über dasselbe hinaus- 
strebt. Dann ist der Widerspruch da, welcher schon wer weiss wie 
oft von Philosophen hervorgehoben ward, welchen schon Niko- 
laus von Cusa^) gefühlt hat, als er das Bedenken aussprach. 



^) YergL Clemens: Nikolaus y. Cusa und Giordano Bruno. 



54 Der Zusammenhang der Atome und die 

dass doch die Auflösung das Einfache nicht erreiche und das 
einfache Element der Kraft entbehre, für sich wirklich zu sein. 

Wollte man nun doch die Atome als für sich existirend 
betrachten, so müsste man sich die Bewegungen und Kräfte, 
welche ihnen zukommen, ihnen von aussen zugefügt denken, als 
etwas Aeusserliches , Zufälliges oder von einer wunderthätigen 
Macht HinzugeschaflFenes. Denn sobald man sie begriJBFlich mit 
ihnen verbinden will als nothwendige Eigenschaften, so ist man 
eben wieder auf dem dargelegten Widerspruch der unter ein- 
ander nothwendig verknüpften Atome angekommen. Eineü Aus- 
weg aus diesem Dilemma giebt es für die transcendente Welt- 
auffassung nur auf die Manier von Leibnitz — die Atome dür- 
fen gar nicht mit einander verbunden sein. Dann aber muss 
man eine prästabilitirte Harmonie setzen. — Wir werden also 
auch hier wieder auf die kritische Ansicht hingedrängt. 

Indessen hat es die Atomistik bisher mit dieser Frage nicht 
immer so streng genommen. Sie hat sich damit geholfen, dass 
sie sich einfach in die Sache fand, d. h. mit grösserer oder ge- 
ringerer Entschiedenheit und mehr oder minder klarem Be- 
wusstsein die gleichzeitige innere Nothwendigkeit und äussere 
Zufälligkeit des Zusammenhangs der Atome als durch die ge- 
wohnten Begriffe auflöslich geleugnet und statt dessen gefor- 
dert hat, die empirisch festgestellte Natur der Atome als etwas 
unmittelbar Gegebenes aufzufassen, worüber man nicht weiter 
grübeln dürfe. Das heisst nun freilich den Knoten durchhauen 
und nicht lösen ; aber es zeigt deutlich, dass hier eine Schwierig- 
keit versteckt liegt, gegen welche in der transcendenten Natur- 
philosophie kein Kraut gewachsen ist. 

Auf dem kritischen Standpunkt löst sich die Frage von 
selbst Die Atome, als Phänomena, existiren in dieser Form 



Bonn, 1847. S. 127. Uebrigens fuhrt bemerkenswerther Weise die Chemie 
aus empirischen Thatsachen zu demselben theoretischen Ergebnisse, dass 
die kleinsten Theile der Stoffe, welche sich gegenseitig verbinden, die 
Atome, für sich im Allgemeinen gar nicht bestehen können. Die Atome 
sind immer vereinigt zur Molekel, welche „der kleinste Theil eines Stoffes, 
der für sich existiren kann", ist. 



Mittheilung d. Bewegung als Andrangsempfindung. 55 

nur in unserer Vorstellung als nothwendige Erzeugnisse der Er- 
fahrung. Sie sind nicht in einem transcendenten, realen leeren 
Räume für sich getrennt, sondern sie werden in solcher Form 
von dem empfindenden Subject erfunden, damit dasselbe in der 
Mannichfaltigkeit der Erfahrung sich zu orientiren und die Natur- 
erscheinungen nach einem einheitlichen Gesichtspunkt zu ord- 
nen vermöge. Sie sind also von vornherein verbunden durch die 
Natur des anschauenden Subjects. Freilich wird jedes 
Atom erzeugt durch unsere einheitliche Synthesis, indem sie 
dasselbe von „den unendlichen Fäden allen Zusammenhanges" 
löst und dadurch zu einem abgeschlossenen Gegenstande macht. 
Aber dieselbe Synthesis, welche so das Atom nothwendig als 
etwas abgeschlossenes erzeugt, erzeugt ebenso nothwendig alle 
anderen Atome und ist somit selbst das Gesetz ihrer Ver- 
knüpfung. Sie trägt in sich zugleich die Form des Atoms wie 
die des Zusammenhangs der Atome. Eben so nothwendig, wie auf 
unkritischem Standpunkte die durch den leeren (transcendenten) 
Raum getrennten Atome jeden Zusammenhang ihrem Begriffe 
nach ausschliessen , eben so nothwendig schliessen die phäno- 
menalen Atome diesen Zusammenhang ihrem Begriffe nach ein. 
Das kritische Atom soll gar nicht für sich gedacht werden 
(vergl. S. 34). Die Gesetze, nach denen die Atome sich zu be- 
wegen scheinen, sind nur die nothwendigen Oberbegriffe für die 
vorkommenden Veränderungen in unserer Empfindung. Sie 
entspringen aus unserer Sinnlichkeit und unserem Verstände; 
und es handelt sich nun darum, nachzusehen, welche Gesetze 
aus diesen Quellen üiessen, zu erforschen, wie wir nothwendig 
die Combination der Grundbegriffe unserer Naturauflassung 
vollziehen müssen. 

Der fortwährende Fluss, in welchem unsere Empfindungen 
sich befinden, verlangt Ordnung. Diese Ordnung wird zunächst 
versucht, indem wir einzelne einfache Vorstellungen fixiren; so 
kamen wir zu dem Grundbegriffe der Atome. Nun muss auch 
der Wechsel der Veränderungen anschaulich erklärt werden, 
und so kommen wir auf die Bewegungsgesetze der Atome. Dass 
diese Veränderungen in Form von Bewegung vor sich gehen. 



56 Der Zusammenhang der Atome und die 

von Bewegung im Baume i), das ergiebt sich natürlich aus der 
Entstehungsart jener ersten Begriffe, welche den Begriff der 
Bewegung mit umschliessen und nur mit Hülfe desselben zu 
Stande kommen. Raum, Körper, Bewegung, Selbstbewusstsein, — 
das sind Begriffe, welche sich gleichzeitig bilden und welche 
nothwendig zu einander gehören, wenn wir sie auch zum Zwecke 
der Betrachtung trennen müssen. Die Entstehung des Bewe- 
gungsbegriffes braucht also nicht weiter erörtert zu werden, 
wohl aber werden wir es nun mit den verschiedenen Neben- 
erscheinungen der Bewegung zu thun haben, mit den Begriffen 



1) Ein Eingehen auf die Controverse zwischen relativer und absolu- 
ter Bewegung liegt unserem Standpunkte fem, da dieselbe nur auf im- 
kritischen^ Boden wirkliche Schwierigkeiten bietet. Keinem Zweifel dürfte 
es unterliegen, dass Bewegung immer ein bestimmtes Axensystem im 
Baum voraussetzt, auf welches sie bezogen wird. Dieses Axensystem ist 
zunächst durch das natürliche Coordinatensystem gegeben, welches jeder 
Mensch in der symmetrischen Gestaltung seines Körpers mit sich herum- 
trägt. Dieses ist die feste Grundlage, durch welche Bewegung überhaupt 
erst möglich wird ; wir bedürfen daher zur' Untersuchung der Bewegungs- 
gesetze auch nicht der verschiebbaren relativen Bäume. Indem nun aber 
auch unser Körper mit dem Coordinatensystem desselben als unter den 
anderen Körpern im Baume beweglich aufgefasst wii-d, macht sich das 
Bedürfniss eines allgemeinen festen Coordinatensystems bemerklich. Ein 
solches festes Coordinatensystem, unabhängig von allen im Baume vor- 
kommenden Körpern und Bewegungen, gehört mit zum Begriffe des 
Baumes und constituirt den Begriff eines absoluten Baumes, 
welcher eine nothwendige und aus unserer Organisation stammende Be- 
dingung aller Erfahrung ist. Dass ein solcher absoluter Baum, ein festes 
Axensystem, angenommen werden muss, beweist vorzüglich O. Lieb- 
mann (Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 96 u. f.), desgl. C. Neumann 
(Ueber die Principien der Galilei-Newton*8chen Theorie. Leipz. 1870.), 
bei welchem der starre Körper Alpha das absolute Axensystem vertritt. 
Die Schwierigkeit für den realistischen Standpunkt besteht nun darin, 
einen solchen starren Körper oder ein festes Axensystem mit bestinunter 
*Lage vorzustellen. Diese Schwierigkeit fällt für uns fort, da diese Vor- 
stellung nichts ist, als der unserer Baumvorstellung überhaupt zu Grunde 
liegende Mechanismus unserer Erkenntnissthätigkeit oder wie man diese 
Bedingung unserer Erfahrung sonst nennen will. Wir stellen also alle 
Bewegung in einem absoluten Baume vor, der durch unsere eigenste 
Naturanlage bedingt ist, und beziehen sie als eine relative auf das mit 
uns verschiebbar gedachte Axensystem unseres speciellen Anschauungs- 
raumes. 



Mittheilung d. Bewegung als Andrangsempfindung. 57 

der Geschwindigkeit und Richtung, der Beharrung, der Mitthei- 
lung, der Aufhebung, der Masse, der Kraft, der Bewegungs- 
grösse, der Energie. Sie alle aber hängen so eng mit einander 
zusammen, dass die Darstellung schwierig wird, die sie doch 
auseinanderreissen muss. Wir müssen auch hier von der 
unmittelbaren Wirkung der Sphären unserer Sinnlich- 
keit ausgehen; von ihr kommen wir schliesslich zu den Axio- 
men der Physik. 

Hätten wir es mit einer transcendenten Bewegung zu thun, 
so würden wir freilich nichts gewinnen und gleich mit Wider- 
sprüchen beginnen; kritisch aber führen wir nur die in unserer 
Empfindung unleugbar enthaltenen Elemente auf die einfach- 
sten und anschauHch vorstellbaren zurück; wir suchen die einzig 
mögliche Zurückführung und kommen so auf eine kinetische 
Atomistik. Die kritische Theorie der Materie ist nath- 
wendig kinetische Atomistik 

Das wird sich aus dem Folgenden genauer ergeben« Frei- 
lich hat man seit Roberval und Newton mit grossem Erfolge 
den Atomen anziehende und abstossende Kräfte beigelegt, um 
Naturerscheinungen daraus zu erklären. Dass diese Vorstellung 
eine rein mathematische Abstraction ist, welche eine bequeme 
Beschreibung der Erscheinungen durch die Rechnung zidässt, 
für die Naturerklärung aber gar nichts leistet, weil sie aller 
Anschaulichkeit entbehrt — das ist schon vielfach hervorgeho- 
ben worden, am vorzüglichsten wohl von F. A. Lange in seiner 
Geschichte des Materialismus i). Wir würden auf diesen Punkt 
nicht weiter eingehen und ohne gegen die femwirkenden Kräfte 
zu polemisiren die kinetische Atomistik für sich reden lassen, 
indem vnr uns an den Satz halten , dass sich Niemand die Wir- 
kung durch den leeren Raum vorstellen kann, wenn nicht 
neuerdings der verdienstvolle Astrophysiker F. Zöllner in sei- 
nem Buche: „Principien einer elektrodynamischen Theorie der 
Materie" sich zur Vorstellung der Femwirkung fähig erklärt 



1) Zweite Aufl. I. S. 261 bis 266. Vergl. auch meine Abhandlung: 
„Der Verfall der kinetischen Atomistik im 17. Jahrhundert." Poggen- 
dorff's AnnaL Bd. 153, 8. 385. 



58 Der Zusammenhang der Atome und die 

hätte. Wenn man freflich dieser Fähigkeit anf den Grund 
geht, so zeigt sie sich eng benachbart der Fähigkeit, sich 
Klopfgeister und ähnUche Gespenster anschauhch Torzustellen 
und berührt doppelt eigenthümlich bei einem Forscher, dessen 
weiter Gesichtskreis und edele Begeisterung sonst so sym- 
pathisch wirken. Es zeigt sich nämUch, dass Zöllner gar nicht 
behauptet, dass Materie durch den leeren Raum hindurch auf 
Materie wirken könne. Er macht W. Thomson, CL Maxwell 
und E. du Bois-Beymond den Vorwurf^ dass sie in dem be- 
rühmten Briefe Newton's an Bentley^) die Stelle: 

„It is inconceiTable , that inanimate brüte matter should, 
without the mediation of something eise, whi'ch is not mate- 
rial, operate upon , and affect other matter without mutsil 
contact; as it must de, if gravitation, in the sense of Epica- 
rus, be essential and inherent in if 
missverstanden haben, insofern sie die Worte inanimate brüte 
übersehen hätten. Denn von unbeseeltem, rohem Stoffe 
könne man freilich die Femwirkung nicht begreifen, so wenig 
man sich einen kugelförmigen Würfel vorstellen könne 2). Da- 
gegen sei es begreiflich, wie beseelter, lebendiger Stoff 
ohne irgend eine sonstige Vermittelung auf einen anderen Kör- 
per ohne gegenseitige Berührung wirken könne. Das also ist 
Zöllner begreiflich! Denn, sagt er, es handelt sich hier nicht 
um ein physisches, sondern um ein metaphysisches Princip, 
um eine Willenskraft, und dass diese in angegebener Weise 
wirken könne, das haben ausser Newton auch noch andere 
Leute, wie John Herschel, Arthur Schopenhauer, Alfred 
Rüssel Wallace eingesehen. 

Nun, mit jenem Zugeständniss, dass inanimate brüte matter 
nicht femwirkend auftreten könne, dürfen wir uns für befrie- 
digt erklären. Denn wenn wir mit dem „Willen" als einem Er- 
klärungsgrunde in die Wissenschaft kommen wollen, so hört eben 
alle Wissenschaft auf und die Gespensterseherei fangt an. Die 



^) Letters to Dr. Bentley. Lett. m. Opera omnia ed. Horsley 
Lond. 1782. T. IV, p. 438. — ^) A. a. O. 8. LX. 



Mittheilung d. Bewegung als Andrangsempfindung. 59 

Willensphilosophie ist nun schon oft genug abgehandelt wor- 
den! Eine „Willenskraft" giebt es überhaupt gar nichts); Be- 
wegung kann nur wieder hervorgebracht werden durch Bewe- 
gung; das allein wissen wir, denn nur die Empfindung der Be- 
wegung ist die in uns yorhaüdene Empfindungsthatsache; ohne 
Bewegung nützt uns aller Wille nichts. Wir können uns eine 
empfindende Materie denken; obwohl wir dieser Ansicht nicht 
huldigen (s. d. Schlussabschn.), ist sie doch begreiflich. Aber die 
Annahme, dass Empfindung Bewegung hervorbringen könne, 
ist eben so unstatthaft und unbegreiflich, wie die Behauptung 
des Materialismus, dass Bewegung Empfindung erzeugen 
könne. Allerdings kann Empfindung Bewegung insofern hervor- 
bringen, als sie die Vorstellung der Bewegung enthält, nicht 
aber etwa eine transcendente Bewegung ausserhalb der Vor- 
stellung. Jenes aber ist schon Eriticismus, und auf diesem 
Standpunkte bedarf es keiner weiteren Erklärung der Wirkung 
der Körper auf einander durch eine „Willenskraft". Die Zöll- 
ner'sche (Schopenhauer'sche) Willenskraft aber ist einNou- 
menon, ein Ding an sich, während doch auch der Wille immer 
nur Phänomenen bleibt. Wir haben es eben mit einer falschen 
Hypostasirung zu thun. 

Es hilft also gar nichts zur Naturerklärung, ob man einen 
Nachdruck auf die Worte „inanimate brüte" legt oder nicht; 
vielmehr wird die Sache für eine beseelte Materie noch viel 
schlimmer. Mit Einführung solcher Ideen in die Naturwissen- 
schaft stellt sich Zöllner, wie übrigens noch aus vielen Stellen 
seines Buches hervorgeht, auf die Stufe jener Philosophen, 
welche AUes, was sie nicht erklären konnten, der unmittelbaren 
Einwirkung Gottes zuschrieben. Ein starker Gottesglaube ist 
gross und herrlich, aber er gehört in das ethische (jebiet, wo 
die Ideale fi'eie Hand haben. Bei der mechanischen Natur- 
betrachtung dürfen wir unter keinen Umständen den Factor 



*) Vergl. A. Spir: Denken und Wirklichkeit Leipzig, 1877. II. 
S. 135 u. f. -r- Fe ebner, Phys. u. phil. Atomenlehre, 2. Aafl. S. 132. — 
B. Avenarias, Phüosophie 'als Denken der Welt gemäss etc. S. 45. 



60 Der Zusammenhang der Atome und die 

eines göttlichen Willens in die Rechnung einführen. Mit sol- 
chem Versuche verlässt Zöllner die uns allein empirisch gege- 
bene Welt der Erscheinung, und auf die neueste Wendung, 
welche seine Philosophie genommen hat, möchten wir ihm den 
Wamungsruf Spinoza's entgegenhalten: „VoluntasDei — asy- 
lum ignorantiae." 

So erklärt es sich denn auch, dass nicht nur die oben ge- 
nannten Naturforscher, sondern auch die in diesem Felde grösste 
Autorität, F. A. Lange, keinen Werth auf jene Prädicate „in- 
animate brüte" gelegt haben — weil ihre Hervorhebung 
durchaus nutzlos ist 

Gemäss unserer Sinnlichkeit kennen wir nur die Wirkung 
durch unmittelbare Berührung i). Gegen die dynamische Ato- 
mistik theilen wir also mit der unkritischen Physik den Ein- 
wand, dass die unvermittelte Femwirkung anschauungslos sei 
Ebenso wenig aber können wir dem Physiker auf unkritischem 
Standpunkte das Recht einräumen, im Gegensatz zur Fem Wir- 
kung etwa die Wirkung durch den Stoss bei unmittelbarer Be- 
rührung als eine begreifliche anzusehen. Denn es ist oflFenbar 
gleich unmöglich zu begreifen, dass ein Körper oder ein Atom 
durch ein anderes von ihm getrenntes in Bewegung versetzt 
werden kann, als dass die Bewegung eines anstossenden Atoms 
auf ein anderes durch unmittelbare Berührung übergehen könne. 
Wenn man die Atome als reale Dinge in einem realen leeren 
Räume auffasst, so wird man stets vergeblich versuchen, sich 
klar zu machen, wie überhaupt Bewegung mitgetheilt werden 
kann. Uebrigens ist ja auch dann der Begriff der Bewegung 
in sich widersprechend. 

üeberlegen wir dagegen den Vorgang vom kritischen 
Standpunkte aus, so zeigt sich Bewegung nur als eine Form- 



^) Die Frage: „Wo existirt ein Körper?" mit den Worten: „da, wo 
er wirkt" beantworten zu wollen, ist Sopliistik. Denn seinem Begriffe 
nach ist der Körper lediglich das „RaumerfiiUende", er existirt also dort, 
wo er den Baum erfliUt, nicht dort, wo in Folge dieser Raomerföllung 
irgend welche, von sonstigen Umständen abhängige Veränderungen ein- 
treten können. Sonst wäre jeder Körper überall, nur nicht dort, wo er ist. 



Mittheilung d. Bewegung als Andrangsempfindung. 61 

Veränderung in unserem phänomenalen Räume. Dabei bemer- 
ken wir aber, dass wir im Stande sind, Dinge an sich zu affici- 
reni) und dadurch Veränderungen hervorzurufen, welche uns 
als Bewegung in unserem phänomenalen Räume erscheinen. 
Wir wirken durch die unzweifelhaft vorhandene Welt der Nou- 
mena hindurch in einer Welt der Phänomene, und hier wird 
uns Bewegung als Erscheinung unmittelbar empirisch ge- 
wiss und zwar in der Form einer Widerstandswirkung 
oder stossenden Kraft, einer Andrangsempfindung. So 
kommen wir, wie schon oben erwähnt, auf die Bewegung der 
Atome; jede Bewegung umfasst aber nothwendig ihrem Be- 
griffe nach Geschwindigkeit und Richtung. Erst durch 
diese beiden Eigenschaften in Verbindung mit jener Andrangs- 
empfindung wird der Begriff einer bestunmten Bewegung er- 
zeugt. Unsere Aufgabe gipfelt nun in der Beantwortung der 
Frage: Welche Gesetze der Bewegung der Atome ergeben 
sich nothwendig als Producte unserer Sinnlichkeit und unseres 
Verstandes? 

Bewegung ist die phänomenale Form, in welcher 
unser unmittelbarer Verkehr (als der eines motorischen 
Umkreises) mit den unbekannten Dingen an sich er- 
scheint Nur von diesem Punkte aus können wir eine Auf- 
klärung darüber erhoffen, wie directe Wechselwirkung der Atome 
möglich ist; denn hier nur nehmen wir Uebertragung der 
Bewegung wahr, und wir fragen daher: Was nehmen wir bei 
Uebertragung der Bewegung wahr? 

Uebertragung der Bewegung nehmen wir unzweifelhaft ge- 
wiss nur dann wahr, wenn wir selbst vermöge der Bewegungen 



>) Der Ausdruck „afficiren" von dem Grenzbegriff des , Dinges an 
sich" gebraucht, ist freilich ungenau. Aber wie soll man sonst sagen? 
Wir können unzweifelhaft in der Welt der Noumena irgend einen unbe- 
kannten Process veranlassen, welcher uns phänomenal als causale Ver- 
änderung erscheint, wobei freilich die Ausdrücke „Welt", „Process", »ver- 
anlassen" wieder nur aus der Erscheinungswelt, der unsere Sprache ange- 
hört, entliehen sind und sicherlich den „Vorgang" in den Dingen an sich 
nicht treffen. 



62 Der Zusammenhang der Atome und die 

unseres Körpers, von denen uns Tast- und Innervationsgefiihl 
unmittelbar und das Gesicht durch gewohnheitsmässig erlangte 
Uebung mittelbar Kunde geben, einen anderen Körper in Be- 
wegung setzen, d. h. die Noumena so afficiren, dass jener phä- 
nomenale Vorgang erscheint Dabei empfinden wir eine 
unmittelbare Berührung und einen Widerstand. 
Das ist wesentUchl Es ist dies der einzige Fall, in welchem 
wir üebertragung der Bewegung selbst dem Begriffe nach er- 
zeugen, und nur aus dieser Erfahrung heraus sprechen wir 
überhaupt von einer solchen. Denn in allen übrigen Fällen, in 
welchen wir den Wechsel von Formveränderungen in unserem 
Gesichtsraume wahrnehmen, bleibt jede quantitative Beziehung 
ausgeschlossen, d. h. jede Beziehung auf einen Widerstand der 
Bewegung, auf eine Arbeitsleistung. Diese hängt an jener an- 
deren Gruppe unserer Sinnlichkeit, durch welche wir immittel- 
bar an die Dinge an sich grenzen. Hätten wir nur die Baum- 
bildung und Wahrnehmung durch den Gesichtssinn, so würden 
wir wohl einePhoronomie, aber keine Mechanik besitzen — 
freiUch gäbe es dann auch nur einen Idealismus, keinen Eriti- 
cismus. Um jenen Unterschied an einem concreten Beispiel sich 
zu veranschauUchen, denke man an die Arbeit einer grossen 
Dampfmaschine. Wir stehen im Maschinenräume unmittelbar 
neben der Triebstange, die glatt und geräuschlos auf- und 
niederfährt und das gewaltige Schwungrad umdreht; wir haben 
gar keinen Begriff von der in Betracht kommenden Kraft; so 
leicht scheint uns das Spiel der Maschine, als könnten wir mit 
unserer Hand dieselbe Verschiebung vornehmen; jeder Anhalt 
fehlt uns, diese regelmässige Bewegung der Dampfmaschine von 
vielen hundert Pferdekräften zu unterscheiden von der leichten 
Bewegung eines Pendels, die der Hauch unseres Mundes hemmt. 
Erst wenn wir einen Blick werfen in den Arbeitssaal, wenn wir 
hunderte von Rädern in rasendem Wirbel gedreht, schwere 
Hämmer gehoben, dicke Eisenplatten wie Wachs durchbohrt 
sehen, dann begreifen wir, dass dort mehr geleistet wurde, als 

ein Schattenspiel an der Wand; wir begreifen es, weil wir Ar- 

__ # 

beit sehen, weil wir die Ueberwindung eines ungeheuren Wider- 



Mittheilung d. Bewegung als Andrangsempfindung. 63 

Standes bemerken, den wir selbst zu schätzen verstehen, aus 
dem einzigen Grunde, dass wir in unserer eigenen Anstrengung, 
in unseren Tast- und Muskelgefühlen , einen ähnlichen Wider- 
stand überwunden haben oder an seiner üeberwindung ge- 
scheitert sind. — Erst indem wir einen Widerstand, welcher 
sich der Bewegung unseres Körpers entgegensetzt, überwinden, 
schaffen wir die Vorstellung einer Mittheilung unserer Bewe- 
gung an die Widerstand leistende Umgebung, welche wir als 
zurückweichend bemerken. 

Da aber die Bewegung und ihre Mittheilung überhaupt nur 
darin besteht, dass wir jenen Begriff bilden, und da wir niemals 
eine andere Mittheilung der Bewegung als in unserer Andrangs- 
empfindung unmittelbar kennen lernen können — denn nur 
durch unsere Sinnlichkeit bilden wir den Begriff einer solchen — 
so kann auch keine andere Art der Mittheilung 
existiren. Wir haben damit Ads erste Axiom gewonnen: 

Bewegung wird von einem Körper an den ande- 
ren nur mitgetheilt durch unmittelbare Berührung 
(Stoss). 

Nun übertragen wir auch diesen Begriff der Mittheilung 
auf Körper, von denen wir bemerken, dass sich ihre Bewegun- 
gen beeinflussen. Wir verbinden ihre Bewegungen durch die 
Kategorie der Causalität, indem wir die des einen als Ursache 
der des anderen ansehen. Aber diese Vorstellung einer Mit- 
theilung der Bewegimg ist nur eine Folge davon, dass wir selbst 
bei unserer Bewegung durch den Baum eine solche erzeugen. 
Und hier tritt nun ein neues Moment auf, aufs engste verknüpft 
mit allem bisher Betrachteten. Der Widerstand, welchen 
dieTheile unseres Körpers bei der Bewegung empfin- 
den, ist unter verschiedenen Umständen verschieden 
oder präciser mit anderen Worten : Bewegung als Andrangs- 
empfindung lässt eine quantitative Schätzung zu. 
Wir bilden dadurch den Begriff von schwerer und leichter be- 
weglichen Körpern, wir bilden die zusammenhängenden Begriffe 
von Masse und Trägheit, richtiger gesagt: wir bilden den 



64 Der Zusammenhang der Atome und die 

Begriff der Bewegungsgrösse und abstrahiren aus diesem 
die angegebenen. 

Es handelt sich hier scheinbar um allgemein bekannte 
Dinge — aber um Dinge , die nur dem Namen nach bekannt 
sind. Jeder weiss oder glaubt zu wissen, was Bewegungsgrösse, 
Masse, Trägheit bedeutet; widerspruchslos als Grundlagen der 
Physik aber lassen sich diese Begriffe nur auf kritischem Boden 
entwickeln, wie wir es hier versuchen. Wir müssen ihrer er- 
kenntnisstheoretischen Entstehung auf den Grund gehen und 
finden denselben in dem Begriffe der Andrangsempfindung. 

So lange wir den Widerstand gegen unsere Bewegungen 
ohne Rücksicht auf quantitative Unterschiede betrachteten, ka- 
men wir zunächst nur zum Begriff der ündurchdringlichkeit, n 
den soliden Körpern. Dieser Widerstand bleibt, aber die Kör- 
per lassen im Vergleich zu anderen Körpern eine Verschie- 
bung im Räume zu, welche auf den Begriff* eines Widerstandes 
der Bewegung der Körper (Andrangsempfindung) führt i). Dies 
ist eine neue Eigenschaft der Körper, und zwar eine solche, 
welche allen Körpern gemeinsam und nothwendig zukonunt; 
denn ihr Begriff war schon betheiligt bei der Bildung des Be- 
griffs der Körper überhaupt — Körper waren ja nothwendig im 
Räume beweglich (S. 25) — und wir konnten nur an jener Stelle 
auf diese Eigenschaft nicht näher eingehen. Somit ist die 
Eigenschaft des Widerstandes bei der Bewegung eine zugleich 
den Atomen zukommende Eigenschaft, weil die Atome alle 
diejenigen Eigenschaften enthalten müssen, ohne welche die 
Bildung des Begriffs „Körper" nicht von Statten gehen kann. 

Natürlich kann auf diese Weise, durch Abschätzung des 
sinnlichen Eindrucks, nur der rohe und noch wenig geläuterte 
Begriff einer solchen Eigenschaft der Materie entstehen, ver- 
möge deren sie einem Bewegungsversuche einen grösseren oder 



^) Vergl. hierzu W. *Wundt, örundz. d. physiol. Psychol. Leipz. 
1874. S. 488 u. f. Nach Wundt setzt sich die VorsteUung der bewegen- 
den Kraft zusammen aus der intendirten Anstrengung, welche in dem 
Innervationsgefühl ihr Maass hat, und aus der Vorstellung des Wider- 
standesi welche aus dem Tastgefühl stammt (S. 490). 



Mittheilung d. Bewegung als Andrangsempfindung. 65 

geringeren Widerstand entgegensetzt. Die scharfe FormuH- 
rung der Begriffe „Bewegungsgrösse", „Masse", „Trägheit", 
„Energie" setzt, wie ein Blick auf die Geschichte der Wissen- 
schaften zeigt, eine ausgedehnte Beobachtung und ein hoch ent- 
wickeltes wissenschaftliches Denken voraus. Aber es handelte 
sich zunächst ja auch nur darum zu zeigen, wie überhaupt die 
Grundlagen solcher Begriffe entstehen und entstehen müssen. 
Auch der Begriff des Raumes und des Stoffes ist im nicht wissen- 
schaftlichen Denken des gewöhnlichen Menschen nicht derje- 
nige, welchen der kritische Philosoph entwickelt; er ist von 
demselben nur deswegen weniger verschieden, weil die psycho- 
logische Entwickelung eines jeden Menschen die Bildung des- 
selben erzwingt. Bei der Bildung jener BegpSe der Mechanik 
aber ist eine bewusste Anwendung des Causalitätsgesetzes und 
eine sorgfältige Denkoperation neben der Sammlung des empiri- 
schen Beobachtungsmaterials nothwendig, ehe es gelingt, den 
durch die Sphären der Sinnlichkeit unmittelbar gebildeten Be- 
griff in einfachere, für die wissenschaftliche Behandlung sich 
eignende Unterbegriffe zu zerlegen. 

Dass wir auf dem richtigen Wege sind, wenn wir bei Auf- 
suchung der Grundbegriffe der Mechanik vom unmittelbaren 
sinnlichen Eindruck der andringenden Materie, (welchen wir als 
das sogenannte Moment oder die Bewegungsgrösse er- 
kennen werden) ausgehen, das bezeugt auch die historische 
Entstehung dieser Begriffe. Denn der Erste, welcher diese Be- 
griffe wissenschaftlich feststellte, Galilei, kam auf die Einfüh- 
rung seines Momentes ebenfalls wahrscheinlich durch den 
Andrang (impeto) der Materie, den er als durch eine Muskel- 
empfindung geschätzt dachte i). Bei seinem ersten Entstehen 
ist also jener Begriff so aufgefunden worden, dass Galilei dem 
Gefühl nachging, welches Bewegung von Körpern bei ihrem 
Andränge in ihm hervorrief. Es ist von hohem Interesse zu 
sehen, dass die fruchtbarsten wissenschaftlichen Principien ge- 



') Vergl. Düliring, Kritische Geschichte der allgemeinen Principien 
der Mechanik. Leipz. 1877. 2. Aufl. S. 24. 

Lasswitz, Atomistik etc. 5 



66 Der Zusammenhang der Atome und die 

Wonnen werden aus der Untersuchung der Art und Weise , wie 
eine bestimmte Erfahrung bei ims zu Stande kommt. 

An diese unmittelbare Schätzung der Bewegung durch die 
Andrangsempfindung schliesst sich als eine unvermeidliche Fol- 
gerung das wichtige Axiom von der Gleichheit der Wirkung 
und Gegenwirkung. Denn indem wir einen andringenden Kör- 
per aufhalten oder einen anderen in Bewegung versetzen wol- 
len, entsteht aus unserer unmittelbaren Empfindung i) das aller 
Bewegung zu Grunde liegende Gesetz : 

Jeder Wirkung entspricht eine gleiche Gegenwir- 
kung. 

Wenn man nun mit Rücksicht auf diesen Satz an die 
Principien der Mechanik mit Hülfe der Andrangsempfindung, 
als Grundlage aller Bewegungsvorstellung, herangeht, so könnte 
es scheinen, als müsse man eine Verwirrung zwischen Statik 
und Dynamik anrichten, welche bedenklich werden könnte. 
Denn die Andrangsempfindung schätzt den Stoss eines ankom- 
menden Körpers zunächst allerdings nach dem statischen Druck, 
welcher von demselben ausgeübt wird, indem unser Körper 
einen gleichen Gegendruck ausübt. Dass bei dem Stosse noch 
ein dynamischer Bewegungseffect hervorgebracht wird , scheint 
sich bei dieser Betrachtungsart schlecht mit der Schätzung nach 
der Andrangsempfindung in Beziehung setzen zu lassen. Ga- 
lilei, der, wie schon gesagt, von dieser Schätzung ausgegan- 
gen ist, hat nun freilich, wie auch Dühring^) bemerkt, jene 
dynamische Wirkung des Stosses übersehen. Wir werden aber 
bald Gelegenheit finden zu zeigen, wie dieser Fehler auf dem 



*) Dass auch hier die empirische Physik, wie sie in den Ansichten 
der Mehrzahl der Forscher und Lehrer vertreten ist, in voller Ueber- 
einstimmung mit der kritischen Anschauung sich befindet, das beweist 
die übliche Herleitung dieses Axiomes aus der unmittelbaren sinnlichen 
Empfindung, wie sie sich z. B. bei Wuellner, Lehrb. der Experimental- 
physik, Leipz. 1870; I, S. 61 findet. So verfährt auch Newton, Princip. 
math. Lex III. . 

2) A. a. O. S. 157. 



Mittheilung d. Bewegung als Andrangsempfindung. 67 

gegenwärtigen Standpunkte unserer mechanischen Kenntnisse 
zu vermeiden ist, indem jene Andrangsempfindung aus zwei 
verschiedenen Gesichtspunkten quantitativ bestimmt werden 
kann. Daraus ergeben sich dann auch noch tiefer gehende Be- 
ziehungen zwischen statischer und dynamischer Wirkung sowie 
zwischen dem Stosse sogenannter elastischer und unelastischer 
Körper. 



5* 



VI 

Die Principien der Meclianik. 



In der That kann man es nicht anders erwarten, als dass 
wir die Gesetze der Bewegung dort auffinden werden, wo sie 
durch die Afficirung unserer Sinnlichkeit ihren Ursprung haben. 
Man vergesse nur niemals den grossen Spalt", welcher durch 
unsere Sinnlichkeit geht; jenen Spalt, von welchem W. G Ge- 
ring nachgewiesen hat, dass seine Vernachlässigung, wie sie 
bei Kant stattfand, den Kriticismus zum Idealismus treiben 
muss. Wir müssen das eigentlich empirisch Reale der Bewe- 
gung aufsuchen; nicht nur jene Formveränderungen in unse- 
rem Sehraum, durch welche allein wir, wie schon gesagt, wohl 
zu einer Kinematik oder Phoronomie, niemals aber zu einer 
Mechanik kommen würden. Dies empirisch Reale der Bewe- 
gung aber finden wir in dem „Andrang" der Materie, in jener 
Sphäre der Sinnlichkeit, durch welche allein wir „als ein mo- 
torischer Umkreis" wirklich mit Dingen an sich in Verbindung 
stehen. Freilich ist uns auch die Form dieser Empfindung nur 
Phänomen, aber mit derselben ist uns hier zugleich die Gewiss- 
heit einer Welt der Noumena ausser uns gegeben. Das „empi- 
risch Reale" der Bewegung, was Galilei unter „impeto" ver- 
stand und wir als Andrangsempfindung bezeichneten, was man 



Die Principien der Mechanik. 69 

gewöhnlich schlechthin „Kraft" nennt, ist also nicht nur empi- 
risch real im gewöhnlichen Sinne, sondern es ist kraft der Na- 
tur unserer Sinnlichkeit unmittelbar gewiss und eine noth- 
w endige Erfahrung, die gar nicht anders gemacht werden 
kann; es ist, obwohl im Zusammenhang mit dem transcenden- 
ten Etwas, doch ein Product unseres Selbst, insofern es eben 
eine ganz bestimmte Vorstellung enthält und in einem unver- 
änderlichen Begriffe erzeugt wird. Darum sind nun auch die 
Gesetze, welche der Bewegung zu Grunde liegen, a priori ge- 
wiss, wenn sie auch nicht a priori aufgefunden worden sind; 
Erfahrung kann uijs aber immer nur das Gesetz annähernd 
wahr zeigen; seine mathematische GeWisdheit fliesst uns aus 
derselben Quelle wie das Gesetz selbst. 

Jene Andrangsempfindung der Bewegung, der Widerstand, 
welchen ein Körper jseiner Bewegung, d. h. der Ertheilung einer 
bestimmten Geschwindigkeit entgegensetzt, resp. die Wucht, 
mit welcher er gegen unseren Körper andringt, ist also das 
Ursprüngliche in d'Sr Mechanik, von welchem wir bei der 
Herleitung der Principien ausgehen müssen. Wir können diese 
Empfindungsthatsache „Kraft** nennen, wenn wir uns nur 
nicht verleiten lassen, sogleich mit diesem Worte allerlei fem- 
liegende aber gewohnte Vorstellungen zu verbinden, nament- 
lich Kraft als eine von Bewegtmg verschiedene Ursache zu sub- 
stantiiren* Diese Kraft findet einen anderen mathematischen 
Ausdruck, je nach dem Maasse, mit welchem wir sie messen; je 
nach dem erhalten wir verschiedene Principien , auf welche wir 
gleich näher eingehen werden. Ausserdein ergiebt sich aus dem' 
Begriff dieser unmittelbar empfundenen „Kraft" mit Hülfe des 
Geschwindigkeitsbegriffs der Begriff der Masse. 

Denn indem wir verschiedene Körper zu bewegen, d. h. 
ihnen eine bestimmte Geschwindigkeit zu ertheilen versuchen, 
bemerken wir — ganz abgesehen vom wissenschaftlichen Expe- 
riment — dass die Anstrengung oder die von uns aufgewandte 
Kraft zur Erreichung desselben Effects für verschiedene Körper 
eine verschiedene ist. Dasselbe zeigt sich bei dem Versuche, 
einen andringenden Körper aufzuhalten. Diesen von der Ge- 



70 Die Principien der Mechanik. 

schwindigkeit des Körpers nnabhängigen Thefl der durch den 
bewegten Körper erzeugten Andrangsempfindong oder der zu 
seiner Bewegung aufzuwendenden Kraft nennen wir Masse. 
Wir bedienen uns absichtlich einer Reihe wechsehider und 
unbestimmter Ausdrücke für jene Empfindungsthatsache, die 
wir das empirisch Reale der Bewegung oder die Andrangs- 
empfindung genannt haben, um Torläufig keine bestimmte Vor- 
stellung über das Verhaltniss, in welchem Masse und Creschwin- 
digkeit hier stehen, aufkonmien zu lassen. Denn dies ist offen- 
bar der Vorgang im gewöhnlichen Leben, dass wir wohl mer- 
ken, in der Wucht der Bewegung spielt ausser der Geschwin- 
digkeit noch eine andere Grösse eine Rolle, welche man die 
Masse nennt. Ueber die Art der Function , welche die Abhän- 
gigkeit der Bewegungskraft oder des Andrangs von diesen bei- 
den Grössen ausdrückt, wird man sich aber erst durch eine 
strenge Untersuchung klar, wie sie sich in der Geschichte der 
Wissenschaften vollzogen hat. Es giebt dabei zwei Gesichts- 
punkte der Messung, durch welche man zu verschiedenen Ge- 
setzen kommt, und die Vernachlässigung dieses Unterschiedes 
hat den berühmten Streit zwischen Descartes und Leibnitz 
über die Schätzung der Kräfte hervorgerufen. Wir gehen nun 
von dem rohen Begriff der Masse , wie ihn schon die alltägliche 
Erfahrung bildet, zur wissenschaftlichen Feststellung des Be- 
griffes über. 

Jene Kraft der Bewegung muss nach bestimmten Grund- 
sätzen geschätzt und nebst der zugehörigen Geschwindigkeit 
mit fest bestimmten Maasseinheiten verglichen werden. Da- 
durch erhält man gewisse Beziehungen zwischen jenen Begrif- 
fen, und zwar quantitative Beziehungen, durch welche sie 
selbst an Klarheit gewinnen; es ergiebt sich die Form jener 
vorläufig als unbekannt angenommenen Function von Geschwin- 
digkeit und Masse. 

Die natürliche Schätzung jener Kraft, jenes unmittelbar 
Gewissen der Bewegung, geschieht nach dem momentanen 
Anstosse. Es handelt sich um einen einmaligen Andrang oder 
einen zu ertheilenden Stoss, und es wird dabei stillschweigend 



Die Principien der Mechanik. 71 

vorausgesetzt, dass jene Kraft jedesmal denselben Zeitabschnitt 
hindurch thätig gewesen ist. Denn jene momentane Wirksam- 
keit kann bei den verschiedenen Fällen der Dauer nach als 
nicht verschieden angesehen werden, und so enthält die Auf- 
fassung jener Kraft als Bewegungsgrösse implicite die Voraus- 
setzung, dass die Kraft der Bewegung gleiche Zeiten hindurch 
gewirkt hat. Die vollständige Vernachlässigung jeder Zeit- 
bestimmung ist bei dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck des 
Andranges einer Abschätzung nach gleichen Zeitabschnitten 
äquivalent. Denn sie hat eben ihren Grund darin, dass der Ein- 
fluss der Dauer der Andrangsempfindung der Gleichheit dieser 
Dauer wegen nicht zum Bewusstsein kommt. Sobald wir be- 
merken, dass die Zeit hierbei eine Rolle spielt, heben wir 
auch diese Beziehung deutlich hervor. Dies geschieht beim Auf- 
suchen eines mathematischen Ausdrucks für den Zusammen- 
hang jener Grössen. Wir sagen dann ausdrücklich, dass wir 
jene unmittelbare Wirkung („Kraft") des bewegten Körpers 
(Atoms) während der Zeiteinheit betrachten, und in diesem 
Sinne, bezogen auf die Einheit der Zeit, wollen wir sie jetzt 
kurzweg mit K bezeichnen. K ist also das, was wir die An- 
drangsempfindung der Bewegung genannt haben, betrachtet 
während der Einheit der Zeit. Da wir dieses K selbst als ein 
Quantum behandeln, so müssen wir natürlich auch für dieses 
eine Maasseinheit zu Grunde legen, welche im übrigen willkür- 
Uch gewählt ist, z. B. dasjenige K^ welches durch ein bestimm- 
tes Volumen irgend eines bestimmten Stoffes bei der Geschwin- 
digkeit 1 (d. i. die Geschwindigkeit, vermöge deren die Weg- 
einheit in der Zeiteinheit zurückgelegt wird) ausgeübt wird. 
Die Messung geschieht in der Physik bekanntlich durch Ge- 
• wichte, indem die Wirkung der Schwerkraft einen natürlichen 
Vergleichungspunkt abgiebt. 

Vergleichen wir jene K genannte Grösse mit den usuellen 
Grössen der Mechanik, so können wir nunmehr den Namen 
„Kraft" für dieselbe gebrauchen. Denn jenes K^ die in der 
Zeiteinheit als Andrang zum Bewusstsein kommende Wirkung 
der Bewegung, ist ja dasjenige, vermöge dessen der Körper 



72 Die Principien der Mechanik. 

selbst wieder Bewegung hervorruft, also das, was man nach 
dem gewöhnUchen Sprachgebrauch Kraft nennt. Ebenso kann 
diese Wirkungsfähigkeit aufgefasst werden als dem betreflfen- 
den Körper durch einen anderen bewegten Körper mitgetheilt; 
wenn man also auf die Art der Mijbtheilung nicht reflectirt, son- 
dern nur darauf, dass jene Bewegung eine Ursache gehabt hat, 
so kann man ebenfalls sagen: Eine Kraft hat auf den Körper 
gewirkt und ihm jene Bewegung mitgetheilt Da nun der Be- 
griflF „Kraft" wirklich in vielen Fällen eine grosse Vereinfachung 
des Ausdrucks ermöglicht und sicherlich aus der Mechanik und 
Physik nicht sobald verbannt werden wird, so wollen wir uns 
diesem Gebrauche ebenfalls anschliessen , aber noch einmal auf 
die kritische Entstehung des Kraftbegriffes aufinerksam macha 
Danach ist Kraft nur ein Name für den unmittelbaren sinn- 
lichen Eindruck, für den Impuls der Bewegung eines andrin- 
genden Körpers; insofern dadurch Bewegung unseres eigenen 
oder eines anderen Körpers hervorgerufen wird, ist Kraft auch 
Ursache einer Bewegung; nur hüte man sich, hierbei die 
Kraft als etwas in oder hinter der Materie Steckendes zu sub- 
stantüren, sondern man bedenke immer, dass Kraft nur ein 
Ausdruck ist für das empirisch Reale der Bewegung , für das 
eigenthümliche Wesen eines bewegten Körpers, insofern er 
selbst Bewegung zu ertheilen vermag i). 



^) Man bemerkt, dass der Begriff des Stoffes gleichzeitig mit und 
darch diesen aKraftbegriff" enstanden ist, indem wir eben das Undorch- 
dringUcbe Stoff nannten. Da wir ans hier genöthigt sehen, diesen Kraft- 
begriff einzuführen, kann es scheinen, als müsste sich der durch dieselbe 
Empfindung entstandene Stoffbegriff in ihn auflösen lassen. Aber man 
vergesse nicht, dass wir gezwungen waren den Stoff begriff bei der Ver- 
schmelzung unserer Sinnlichkeitssphären zu bilden , wodurch überhaupt 
erst eine Anschauung entstand und damit auch eine Anschaulichkeit die- 
ses Kraftbegriffs. Wir würden niemals zu einer Anschauung kommen, 
woUten wir mit der Auflösung in Kräfte immer weiter gehen; die Katur 
unserer „Organisation* zwingt uns, bei einer bestinmiten SteUe stehen zu 
bleiben und den Begriff des Stoffes zu bilden, wie oben ausgeführt wurde. 
Also hat F. A. Lange Becht, wenn er den Stoff für das erklärt, „was 
wir nicht weiter in Kräfte auflösen können oder woUen." (A a. O. 8. 205.) 
Nur legen wir den Kachdruck auf das .können.* Wir können eben 
nicht anders, als die Welt in Baum und Stoff auffiusen. 



Die Principien der Mechanik. 73 

Die Physik unterscheidet nun zwischen momentan oder 
einmalig und zwischen constant oder dauernd wirkenden Kräf- 
ten. Mit diesen Begriffen haben wir uns auseinanderzusetzen; 
denn der weitere Unterschied zwischen constant imd veränder- 
lich wirkenden Kräften ist ein unwesentlicher. 

Kraft ist der Impuls, welchen ein Körper erhält oder ertheilt, 
und dieser Impuls ist selbst eine Empfindungsthatsache. Eine 
solche kann nur in der Zeit zu Stande kommen; auch der Impuls 
kann nur im Verlaufe der Zeit wirken, oder jede Kraft bedarf 
zu ihrer Mittheilung einer gewissen Zeit. In diesem Sinne fasst 
auch die Physik die momentan wirkenden Kräfte auf, nur wird 
die Zeit ihrer Wirkung als unendlich klein angenommen. Für 
uns ist es ganz gleichgültig, wie lange jener Impuls gewirkt 
hat; in dem Augenblicke, in welchem der Impuls zu wirken 
aufhört, besitzt der Körper nicht nur eine Geschwindigkeit von 
gewisser Grösse, sondern eben denjenigen Impuls, welcher wäh- 
rend der verflossenen Zeit mitgetheilt werden konnt^ und ver- 
möge dessen er fähig ist, einen quantitativ bestimmbaren Em- 
pfindungsandrang auszuüben. Dieser Impuls ist jetzt eine ganz 
bestimmte, die Bewegung , des Körpers charakterisirende und 
von nun an durchaus unveränderliche Grösse. Die Grösse des- 
selben hängt sowohl von der Särke des mitgetheilten Impulses als 
von der Dauer der Zeit, während welcher derselbe wirksam war, 
ab; das Endresultat aber ist an sich nicht mehr veränderlich, und 
der so bewegte Körper besitzt eine bestimmte und unveränder- 
liche Bewegungswucht, K,ti, vermöge deren er eine bestimmte 
Geschwindigkeit erreicht hat. 

Betrachten wir den Körper, nachdem der Impids zu wir- 
ken aufgehört hat, so ist, wie gesagt, seine Bewegung charak- 
terisirt durch die constante Grösse K. ti ; betrachten wir ihn da- 
gegen während der Dauer des Impulses, ohne diese selbst zu 
kennen, so nimmt der Impuls fortwährend zu; die Zeit ist keine 
definitiv gegebene, sondern eine variabele Grösse, in einem be- 
stimmten Zeitmoment ist der ertheilte Impuls ausgedrückt durch 
K,t Im ersten Falle pflegt man zu sagen: Eine momentane 
Kraft hat auf den Körper gewirkt und er ist jetzt sich selbst 



74 Die Principien der Mechanik. 

überlassen; im anderen Falle: Eüne constante Kraft wirkt auf 
den Körper. 

Hier ist nun der Ort darauf aufmerksam zu machen , dass 
der BegriflF einer constant wirkenden Kraft nur eine Folge jenes 
unzulässigen Kraftbegriffs ist, durch welchen man sich eine 
Kraft „mit Polypenarmen" einen Körper aus der Feme zie- 
hen denkt. In der kinetischen Atomistik lösen sich vielmehr 
die für unsere sinnUche Anschauung constant wirkenden Kräfte 
in eine Summe von intermittirenden Impulsen auf. So hätte 
man sich die Schwerkraft als eine Summe von Stössen zu den- 
ken, welche durch die Atome des Weltäthers ausgeübt werden 
und undurchdringliche Körper gegeneinander treiben. Eine 
momentane Kraft würde also durch einen einmaligen Stoss, 
eine constante durch eine Reihe so rasch folgender Stösse re- 
präsentirt werden, dass für unsere Sinnlichkeit der Charaktei 
des Unstetigen verloren ginge. — 

In beiden Fällen wird der Körper in jedem Zeitmoment 
eine bestimmte Geschwindigkeit besitzen. Hört die Wirkung 
des Impulses nach einer gewissen Zeit auf, so ist durch jene 
Grössen ein natürliches Maass der Bewegungsintensität gege- 
ben; wirkt der Impuls constant, so muss man denjenigen in Be- 
tracht ziehen, welcher nach einer bestimmten Zeit erreicht ist; 
es sei dies .die Zeiteinheit oder ein beliebiger Zeitabschnitt ^. 
Immer erhalten wir eine dem bewegten Körper eigenthümliche, 
uns als Empfindungsthatsache unmittelbar gegebene und quan- 
titativ zu schätzende Eigenschaft. 

Die erlangte Geschwindigkeit v ist eine Function jener 
Grösse K. ti ; aber wir bemerken bald, dass bei gleichem K und 
ti doch nicht alle Körper dieselbe v erhalten ; dass also die er- 
langte Geschwindigkeit nicht nur von dem ertheilten Impuls, 
sondern noch von etwas Anderem und zwar einer Eigenschaft 
des bewegten Körpers abhängig sein muss. 

Von der uns unmittelbar gewiss gegebenen Grösse Kti son- 
dern wir nun den immer wiederkehrenden Factor der Geschwin- 
digkeit (v) ab. Wir setzen K.ti = v.M^ wobei M etwas dem 
Wesen nach uns gänzlich Unbekanntes bezeichnet. Dieses Unbe- 



Die Principien der Mechanik. 75 

kannte nennen wir die Masse des Körpers oder Atoms, und 
die wissenschaftliche Definition der Masse ist also : 

M = ^• 

V 

Hier stehen auf der rechten Seite lauter Grössen , welche durch 
die Natur unserer Sinnlichkeit nothwendig gebildet werden. 
Die besondere Art ihrer Verknüpfung ist in gewissem Sinne 
willkürlich, aber eine natürliche Folge der Art, wie uns Bewe- 
gung erfahr ungsmässig gewöhnlich entgegentritt; wir werden 

nämhch sehen , dass sich jenes Verhältniss — '— für jeden ein- 
zelnen Körper bei veränderter K und v unverändert erhält. 
Zeit und Geschwindigkeit sind ganz ursprüngHche Begriffe, 
und dasselbe gilt von der Grösse K, Diese {K) ist uns dem 
Begriffe nach unmittelbar gegeben , und nur von ihr aus kom- 
men wir zum Begriffe der Masse, nicht etwa umgekehrt, wie es 
z. B. A. Spiri) will. Alle Versuche, den Begriff der Masse als 
einen ursprüngUchen herzuleiten, etwa aus dem Substanzbegriff, 
sind^ im Grunde verfehlt und mit der Kritik der Sinne nicht 
vereinbar. Der Begriff der Masse tritt überhaupt erst auf, so- 
bald von einer Bewegung, und zwar jenem Bewegungsandrange 
{K.iri) der Körper die Rede ist; er ergiebt sich als die im übri- 
gen ihrer Natur nach unbekannte Ursache der Erscheinungs- 
thatsache, dass Körper von gleicher Geschwindigkeit (und sogar 
von gleichem Rauminhalt) doch verschiedene Wirkungen her- 
vorzubringen im Stande sind und das Verhältniss des Empfin- 
dungsandranges zur Geschwindigkeit für ein und denselben 
Körper constant bleibt 2). Demnach ergiebt sich aber die Masse 
der Körper nun auch als ein Quantum, ausdrückbar durch 
bestimmte, schon festgesetzte Quanta des Raumes, der Zeit und 
jenes K^ das wir jetzt in dem Producte KAi = M.v als „Be- 
wegungsgrösse", „Quantität" oder „Moment" der Bewegung 
bezeichnen. Unter der Masseneinheit eines Körpers (Atoms) 



1) Denken und Wirklichkeit. Leipz. 1877. II. S. 125 u. f. 
^) So wird auch die Masse in den tiefer eingehenden Lehrbüchern 
der Physik definirt. 



76 Die Principien der Mechanik, 

verstehen wir demnach diejenige Eigenschaft, vermöge deren er 
bei der Geschwindigkeit 1 in der Zeiteinheit 1 die (wie oben) fest- 
gesetzte Einheit des unmittelbaren Andranges (K) ausübt. Ver- 
gleichen wir Bewegungen verschiedener Körper für gleiche Zei- 
ten, so erhält man aus Kt=Mv \mAK't=MW die Proportion 
K:K' = Mv:M'v\ d.h. die für gleiche Zeiten betrachteten 
Wirkungen einer Bewegung verhalten sich wie die Bewegungs- 
grössen. Ist G die nach der Zeiteinheit erlangte Geschwindig- 

keit, so ergiebt sich K = G.M oder Jf = ^^ • 

Indem wir den Begriff der Masse in Beziehung setzen zu 
dem Baum, welchen die betreffenden Körper einnehmen, son- 
dern wir aus demselben noch den Begriff der Dichtigkeit ata. 
Wir finden nämlich, dass Körper von gleichem Rauminhalt dodi 
verschiedene Masse, d. h. ein verschiedenes Verhältniss der bei 
gleichem Antriebe erhaltenen Geschwindigkeiten zeigen, und 
das Verhältniss der Masse zum Volumen (E) nennen wir ihre 

JH 

Dichtigkeit (q% So entstehen die Beziehungen ^ = -_ und 

K.t = Q.R.v, Die Dichtigkeit ist somit eigentlich die ein- 
zige neu gewonnene Eigenschaft der Materie, welche wir durch 
Zergliederung des Begriffes der Mittheilung der Bewegung auf- 
gefunden und erzeugt haben. Damach scheint es, dass die 
Atome (wie die Körper) verschiedene Dichtigkeiten besitzen 
können und also qualitativ von einander verschieden sind. ' Doch 
deutet die ganze Entstehung des Begriffs aus quantitativen Un- 
terschieden darauf hin, dass wir es auch hier nur mit einem 
Quantum zu thun haben , und in der That lässt sich die Ver- 
schiedenheit in der Dichtigkeit der Stofftheilchen zurückführen 
auf eine verchiedene Anzahl von Atomen gleicher Dich- 
tigkeit, welche in denselben vereinigt sind; so lässt sich das 
Verhältniss des eingenommenen zu dem wirklich erfüllten Räume 
immer so regeln, dass die verlangte Masse herauskommt. Es 
ist also die Masse der Materie auf eiae Menge der Atome zu- 
rückgeführt und es bleibt als unveränderlicher und unauflös- 
licher Rest nur die Dichtigkeit dieser letzten Atome bestehen, 



Die Principien der Mechanik. 77 

nämlich das Verhältniss o = -tt—i der nach der Zeit gemesse- 

nen Andrangsempfindung zum Volumen und der Geschwindig- 
keit der bewegten Stofl&nenge; dies kann, wenn wir die Atome 
nur klein genug wählen, immer constaiit gemacht werden. 
Diese Dichtigkeit ist dasjenige, was den erfüllten Raum vom 
leeren unterscheidet; die erfüllten Räume der Atome sind nun 
in nichts von einander unterschieden, als durch ihre Grösse (und 
Form); die Unterschiede, welche bewegter StoflF zeigt, beruhen 
lediglich auf dem wechselnden Verhältniss der erfüllten zu den 
leeren Räumen, der Anzahl und Grösse der Atome zu dem von 
ihrer Gesammtheit eingenommenen Volumen. Dadurch sind alle 
Unterschiede der Materie auf quantitative Unterschiede zurück- 
geführt; auch der Begriff der Masse ist auf den des Raumes 
zurückgeführt und stellt sich als eine Beziehung zwischen Räu- 
men verschiedener Grösse dar. Und hierauf beruht der uner- 
setzbare Werth der kinetischen Atomistik für eine Erklärung 
der Natur auf einheitlichen Principien. 

Beobachtet man nun, dass das einzige, was sich unserer 
unmittelbaren Erfahrung darbietet, die Andrangsempfindung, 
bei einer bestimmten Stoffmenge dieselbe bleibt, so 
kann eine Veränderung der Geschwindigkeit nur in dem Falle 
eingetreten sein, dass gleichzeitig die Masse im umgekehrten 
Verhältniss sich geändert hat. Hat sich die Masse nicht geän- 
dert, so kann auch die Geschwindigkeit — bei gleichbleibendem 
K — nicht variiren. Nun ist ja aber die Masse nur ein Ver- 
hältniss von erfüllten zu leeren Räumen, aus den eben entwickel- 
ten Gründen nur Stoff menge; diese Stofi&nenge bleibt aber 
für ein und denselben Körper seinem Begriffe nach constant, 
also die Masse ein und desselben Körpers kann sich (von selbst) 
nicht ändern. Wirklich war sie ja auch ihrem Begriffe nach 
der für einen bestimmten Körper aus dem Veränderlichen her- 
ausgesonderte constante Factor. Eine Veränderung der Masse 
würde nach den vorangehenden Ueberlegungen einer Neuerzeu- 
gung von Stoff, einem Hinzutreten von Atomen gleich kommen. 

Wir untersuchen zunächst die Bewegung eines ein- 



78 • Die Principien der Mechanik. 

zigen isolirt gedachten Atoms. Da wir Dichtigkeit auf 
eine unveränderliche Einheit (die des Atoms) *) zurückge- 
führt haben, so kann sie sich bei der Bewegung dieses Atoms 
oflFenbar nicht ändern, sie ist ja überhaupt der Veränderung 
nicht fähig. Ebenso aber ist es klar, dass die einmal im Be- 
griff erzeugte Bewegung eines einzelnen Atoms keineswegs 
willkürlich von uns aufgehoben werden kann; sie existirt für 
uns fort, so gut wie der Körper, dessen Begriff* durch die Sinn- 
lichkeit gezwungen wir erzeugen müssten, für uns als Körper 
fortexistirt. Die Bewegung beharrt. Dies ist auf unserem kri- 
tischen Standpunkte a priori klar, nicht nach dem „Satze vom 
zureichenden Grunde", weil man etwa keinen Grund einsehe, 
weshalb sie nicht beharren sollte, — sondern gemäss der phä- 
nomenalen Schöpferkraft unseres Ich, welche den ihr aufge- 
drungenen Begriff nicht wieder vernichten kann, bis ihr ein an- 
derer Begriff aufgedrungen wird, der dazu im Stande ist. 

Man bemerke wohl den durch den PhänomenaUsmus ver- 
änderten Standpunkt, der in dem veränderten Verhältniss von 
Sein und Denken seinen Grund hat. Es ist ähnUch, wie bei 
Besprechung des Begriffes vom Widerstand des undurchdring- 
lichen Körpers und dem Satze vom Widerspruch. Auch hier 
handelt es sich nicht um ein logisches Gesetz, das physikalische 
Wirkungen hervorbringen soll. Aber es handelt sich um ein 
Gesetz, das der Bildung unserer Erfahrung zu Grunde liegt und 
darum mit den logischen Gesetzen allerdings in einer gehei- 
men Beziehung stehen mag. Die Bewegung als eine Erschei- 
nung in unserem phänomenalen Räume verharrt nothwendig in 
demselben; sie kann nur verändert werden wieder durch eine 
gleichartige Erscheinung in demselben Räume, welche erst 
durch eine nothwendig uns aufgedrungene Vorstellung erzeugt 
werden kann. 

Was heisst das aber: die Bewegung eines Atoms verharrt? 



1) Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, dass hierbei nicht an 
ein Atom irgend eines uns bekannten Stoffes gedacht ist, sondern an ein 
Elementaratom, welches zur Erklärung der Erscheinungswelt nach er- 
kenntnisstheoretischen Principien von uns erschaffen wird. 



Die Principien der Mechanik. 79 

Die Bewegung eines Atoms besteht für uns nicht etwa in dem 
Bilde eines bewegten Punktes (das wäre nur eine kinematische, 
wie wir sie willkürlich in der Phantasie erzeugen können; für 
sie gelten keine mechanischen Gesetze) , sondern sie besteht 
kraft jener zweiten Sphäre unserer Sinnlichkeit, welche eben 
erst einer vorgestellten Bewegung Nothwendigkeit der Existenz 
verleiht i), in alle dem, was zur Bildung des Begriffs der Bewe- 
gung eines Körpers (Atoms) gehört; also nicht nur aus Ge- 
schwindigkeit und Richtung, sondern aus der Bewegungsgrösse. 
Diese Bewegungsgrösse, als das Wesen der Bewegung, ver- 
harrt, von dem Augenblicke an, in welchem die weitere Wir- 
kung des Impulses unterbrochen wird. Wir betrachten den be- 
wegten Körper erst vom Ablauf einer bestimmten Zeit ^i an, nach 
welcher er die definitive Bewegungsgrösse Kti = Mv besitzt. 
Was alsdann unverändert beharren muss, ist die Bewegungs- 
grösse (nach der Zeit geschätzte Andrangsempfindung) und die 
Sichtung; denn diese charakterisiren die Bewegung als die mit 
sich selbst identische. Es wäre also möglich, dass sich Ge- 
schwindigkeit und Masse änderten, wenn nur ihr Product das- 
selbe bleibt. Nun kann sich aber, wie schon gezeigt (S. 76), die 
Masse nicht ändern. Es muss also auch die Geschwindig- 
keit eines sich selbst überlassenen Atoms (Körpers) 
unverändert dieselbe bleiben. Desgleichen muss die Rich- 
tung der Bewegung verharren, denn eine Bewegung hat immer 
ihrem Begriffe nach eine bestimmte Richtung; sobald an dem 
Begriffe derselben mit der Zeit nichts mehr geändert wird, kann 
auch dem Begriffe des Beharrens nach sich die Richtung nicht 
mehr ändern. Die Richtung verharrt also; verharrende Rich- 
tung giebt es aber dem Begriffe nach nur in der geraden Linie. 
Demnach erhalten wir das Axiom von der Beharrung der Bewe- 
gung oder der Trägheit der Körper in der gebräuchlichen Form: 
Ein in Bewegung begriffener sich selbst überlas- 
sener Körper (Atom) bewegt sich mit constanter Ge- 
schwindigkeit in gerader Linie. 



1) Siehe W. Goering, Raum und Stoff. S. 290. 



80 Die Principien der Mechanik. 

In Bezug auf die letzte Darlegung machen wir darauf auf- 
merksam, dass wir nicht etwa in folgendem circulus vitiosus 
geschlossen haben : Die Richtung muss beharren , weil die Be- 
wegung beharrt; folglich beharrt die Bewegung, weil die Bich- 
tung beharrt. Denn die Beharrung der Bewegung oder die 
Trägheit der Körper soll durchaus nicht mehr bewiesen wer- 
den; sie ist vielmehr vorausgesetzt als ein unmittelbar gewisses 
Ergebniss unserer Naturauffassung, welche den Begriff des be- 
harrenden Momentes oder Antriebes der Bewegung nothwendig 
bildet. Die daran geschlossene ^Entwickelung sollte nur dazti 
dienen, aus diesem bereits gefundenen Grundbegriffe das Axiom 
in seiner gewöhnlichen Form herzuleiten. 

Aus dem so gefundenen Axiom ergiebt sich als ein speciel- 
1er Fall der noch einfachere, in welchem die Geschwindigkeit 
gleich Null ist, d. h. der Satz: Ein in Ruhe befindlicher Körper 
bleibt in Ruhe, bis ihm eine Bewegung ertheilt wird. 

In dem eben abgeleiteten Trägheitsgesetze ist nun schon 
das dritte wichtige Axiom der Bewegung als eine unmittelbare 
Folgerung mit enthalten. Dieses lautet : 

Eine Bewegung kann nur aufgehoben werden 
durch eine gleich grosse ihr entgegengesetzte. 

Es ist nur zu bemerken, dass bei der Schätzung der Be- 
wegung wie bisher immer der „Andrang", d. h. die Bewegungs- 
grösse, das Product aus Geschwindigkeit und Masse, in Betracht 
kommt. Denn wieder nach der aus unserer Sinnlichkeit direct 
fliessenden Schätzung müssen wir immer der einen oder der 
anderen Bewegung einen Ueberschuss und ein Beharren zuge- 
stehen, sobald sie nicht beide an Grösse einander gleich sind. 
Nur dann fühlen wir nicht den einen der Körper zurückge- 
drängt, sondern ihre Bewegung geht in Ruhe über. Die dyna- 
mische Beziehung verwandelt sich in eine statische und das 
Axiom von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung tritt 
in Kraft. 

Schon aus den hier dargelegten Principien lassen sich die 
Gesetze des (sogenannten unelastischen) Stosses herleiten. Un- 
ter der Voraussetzung, dass für die Mittheilung der Bewegung 



Die Principien der Mechanik. 81 

ein Maass nothwendig existiren muss, hat unter Anderen neuer- 
dings A. Spiri) die Gesetze dieser Mittheilung entwickelt, nur 
dass bei ihm fälschlich die Masse statt der Bewegungsgrösse 
als Grundmaass angenommen ist. Nun haben wir aber gezeigt, 
dass die Voraussetzung der Beharrung der Bewegung und ihrer 
Aufhebung durch eine gleich grosse und entgegengesetzte noth- 
wendig besteht, wobei das Maass der Bewegung das Product 
aus Geschwindigkeit und Masse ist; und daraus ergiebt sich 
schon unmittelbar der Satz: 

Beim Stosse bleibt die Summe der Bewegungs- 
grössen constant. 

Es kann eben unter den angegebenen umständen die 
Summe der Bewegungsgrössen auf keine Weise geändert wer- 
den, wie das u. A. H. Klein nachgewiesen hat 2). 

Hierbei ist jedoch zu beachten, dass eine Aufhebung 
der Bewegung nur dann eine Folge des Stosses sein 
könnte, wenn wir die Intensität desselben nur in der bis jetzt 
untersuchten Weise zu schätzen hätten, nämlich nach der Zeit- 
dauer der Andrangsempfindung und mit Berücksichtigung 
der Richtung des Stosses. Denn die Summe der Bewegungs- 
grössen bleibt nur insofern constant, als man jeder Geschwin- 
digkeit das auf ihre Richtung bezügliche Vorzeichen giebt, letz- 
tere alle in einem bestimmten Sinne genommen. Die Schätzung 
durch die Andrangsempfindung aber geschah nur in Hinsicht 
auf die gleiche Zeitdauer , d. h. , die beiden entgegengesetzt be- 
wegten Körper halten sich das Gleichgewicht beim Stosse (ver- 
nichten ihre Bewegung), wenn sie gleiche Zeiten gebraucht hät- 
ten, ihre Bewegung gegenüber unserem Körper zu vernichten, 
wodurch eine bestimmte Dauer und Intensität der Andrangs- 
empfindung entstanden wäre. Nun lässt aber die Intensität des 
Stosses oder der Bewegung noch eine zweite Abschätzung zu 
nach der Wegstrecke, auf welcher der bewegte Körper 
jene Andrangsempfindung hervorzurufen vermöchte. 



1) Denken und Wirklichkeit Leipz. 1877. 2. Bd., S. 129^. 

2) Die Principien der Mechanik. Leipz. 1872. 8. 110. 
Lasswitz, Atomistik etc. Q 



82 Die Principien der Mechanik. 

Beurtheilen ¥dr also die Bewegung nicht nach der Zeitdauer, 
während welcher sie eine Andrangsempfindung von bestimmter 
Grösse hervorrufen kann, sondern nach der Länge des Weges, 
auf welchem dies geschieht, so haben wir ein anderes Kraft- 
maass, und es ist fraglich, ob eine Aufhebung dieser Bewegungs- 
intensitäten möglich ist Wir werden sehen, dass sie nicht 
möglich ist. Denn bei dieser Betrachtung spielt die Richtung 
des Stosses keine Rolle mehr. Statt der Andrangsempfindung, 
welche für uns das unmittelbar ThatsächUche ist, können wir 
nun nach jenem schon früher benutzten Gesetze der Uebertra- 
gung auch den Ausdruck „Ueberwindung eines Widerstandes" 
setzen. Denken wir uns zwei bewegte Atome aus entgegenge- 
setzten Richtungen begegnen mit der Fähigkeit, eine bestimmte 
Zeit hindurch denselben Widerstand zu überwinden, so ist es 
anschaulich, dass bei ihrer Begegnung jedes gleiche Zeit hin- 
durch denselben Widerstand zu überwinden hat, dass also keine 
Bewegung vor sich gehen kann. Haben diese Atome aber die 
Fähigkeit, gleiche Strecken hindurch gleichen Widerstand 
zu überwinden, so fragt man, wie sich diese Fähigkeit bei ihrem 
Stosse documentiren soll, da die Undurchdringlichkeit der 
Atome die weitere Fortbewegung in derselben Richtung henunt. 
Jene Wirkungsfähigkeit wird also auf irgend einer anderen 
Strecke zum Ausdruck kommen und die Bewegung wird in 
irgend einer anderen Art fortgesetzt werden. 

Um nun hierüber bestimmte Vorstellungen bilden zu kön- 
nen, ist es nothwendig, auf das zu Grunde gelegte Maass näher 
einzugehen. Wir hatten gefunden, dass die unmittelbare Be- 
wusstseinsthatsache, die Andrangsempfindung eines bewegten 
Körpers, quantitativ ausgedrückt wird durch die Beziehung 
K .t = M ,v. Dabei war K der in der Zeiteinheit ertheilte 
Bewegungsimpuls, und wenn man jenen Gesammtimpuls nach 
gleichen Zeiten für verschiedene Körper verglich, fand man als 
Maass das Product Mv. Wir wollen nun nachsehen, welche 
^ Bewegungsimpulse sich angesammelt haben, wenn wir die Ver- 
gleichung nicht anstellen nach gleichen Zeiten sondern nach 
gleichen Wegstrecken s. Wir erhalten dadurch das Maass für 



Die Principien der Mechanik. 83 

die Wegstrecken , welche von verschiedenen Körpern kraft der 
ihnen innewohnenden K zurückgelegt werden können , und ¥dr 
nennen dasProduct K,s die Arbeit des bewegten Körpers. Ver- ' 
gleichen wir jene Beziehung K.t = M,v mit jener, welche sich 
hieraus für die Zeiteinheit ergiebt, nämhch Ä" = Jf . 6r, so 
findet man i; = 6r.f, d. h die Geschwindigkeit wächst pro- 
portional der Zeit, wenn derselbe Körper constant wirkenden 
Impulsen unterworfen ist. Hieraus findet man auf bekann- 
tem Wege die während der Zeit t zurückgelegte Wegstrecke 
s =^2 Gt^, Bildet man nun das Product K, s, so ergiebt sich 
aus den voranstehenden Formeln K.s = V2 Mv^, Dies ist das 
Kräftemaass des Leibnitz, welches man die lebendige Kraft 
oder Energie der Bewegung nennt; ein Vergleich liir zwei 
verschiedene Körper bei gleicher Wegstrecke ergiebt 

In dem Ausdrucke K,s ^= y^ -3/t;^ haben JT, M und v dieselbe 
Bedeutung wie in K.t = M.v. 

Betrachtet man nur ein einzelnes, sich selbst überlassenes 
Atom, so muss wegen der Beharrhchkeit von Jk? und v auch die 
Energie der Bewegung dieselbe bleiben; es ist dies eine Folge- 
rung aus der Erhaltung der Bewegungsgrösse eines sich selbst 
überlassenen Atoms. 

Bedeutungsvoller aber wird die Erhaltung der Energie, 
wenn wir ein ganzes System von einander stossenden Atomen 
in Betracht ziehen. Der einmal erzeugte Begriflf der Arbeit 

oder der Energie der Bewegung kann eben so wenig verloren 

* 

gehen wie der des Körpers. Zwar auch die Bewegungsgrösse 
müsste sich erhalten; aber diese konnte aufgehoben werden 
durch eine gleiche in entgegengesetzter Richtung. Dies ist, wie 
schon bemerkt, bei der Energie der Bewegung nicht möglich, 
weil dieselbe nach der Wegstrecke geschätzt wird, auf welcher 
ein simultanes Entgegenwirken zweier Atome nicht denkbar ist. 
Die Energie kann hier nur dadurch von einem Atome verloren 
werden, dass sie im Laufe einer Strecke durch wiederholte Im- 
pulse an andere Atome abgegeben wird. Dann ist sie aber in 
diesen vorhanden. Während also im ganzen Systeme die Be- 

6* 



84 Die Principien der Mechanik. 

wegungsgrössen in ihrer Summe nnr constant bleiben« insofern 
man ihre Vorzeichen berücksichtigt , bleibt die Summe der le- 
bendigen Kraft des Systems (2I^\mr^} constant ohne jede 
Rücksicht auf die Richtung der Bewegung, wie dies der ana- 
lytische Ausdruck, welcher v im Quadrat erhalt, auch an- 
zeigt. 

Obwohl die lebendige Kraft im ganzen System unver- 
ändert bleibt, so kann sie doch in einzelnen Theilen dessel- 
ben vermehrt oder vermindert erscheinen, je nachdem Rich- 
tung und Gewalt der Stösse zusammenwirken zu einer ande- 
ren Vertheilung der Geschwindigkeiten. Wenn so die Energie 
in einem Theile des Systems zu verschwinden scheint, so 
sagt man, sie sei potentiell geworden, und wenn sie in jenen 
Theile ¥deder auftritt, so spricht man von einer Umsetzung 
der potentiellen Energie in kinetische. Das sind nun freilich 
bloss Worte, die für die Bequemlichkeit des Ausdrucks ganz 
gut sein mögen. Der Unterschied zwischen potentieller und 
kinetischer Energie (so lange man nicht an einen Unterschied 
von Massen-, Molecular- und Atombewegung denkt) verliert 
seine Bedeutung, wenn man auf die kinetische Atomistik zu- 
rückgeht und von dem unzulässigen Begriff der femwirkenden 
Kräfte absieht. Diese fernwirkenden Kräfte werden nämlich 
gewissermaassen im Räume localisirt vorgestellt, so dass jeder 
Ilaumtheil seine Portion Kraft enthält, mit welcher sich ein 
hindurchgehender Körper herumzuschlagen hat; wird nun seine 
Bewegung langsamer, so verzehrt er kinetische Energie, und 
wird sie rascher, so giebt er sie wieder von sich. Nun, dieser 
Kraftbegriff muss nothwendig beseitigt werden! Die strengere 
und anschauliche Vorstellung ist die , dass die an einer Stelle 
des Raumes verloren gegangene Energie an irgend welchen an- 
deren Stellen vertheilt ist, im Laufe der Zeit aber wieder ein- 
mal an jenem ersten Orte hervortreten kann. Die fortwähren- 
den Stösse der Atome bewirken diese Vertheilung der Energie. 
Vor allen Dingen vermeide man aber die Vorstellung, dass der 
Stoss zweier Atome eine vollständige Vernichtung ihrer Bewe- 
gung hörvorbringen könne. Ihre Bewegungsgrössen können sich 



Die Principien der Mechanik. 85 

unter Umständen in die entgegengesetzten verwandeln, sie kön- 
nen Null zur Summe haben — die Summe der Energie bleibt 
jedoch unverändert. Dies ist das Gesetz von der Erhaltung 
der lebendigen Kraft. Auf die Folgerungen hieraus für den 
Stoss der Atome kommen wir noch einmal zurück. Näher auf 
dies so. vielfach behandelte Gesetz einzugehen, glauben wir un- 
terlassen zu dürfen. Obwohl es empirisch immer nur ange- 
nähert beweisbar ist, zweifelt doch Niemand an seiner unver- 
letzlichen Geltung. 

Schliesslich bleibt uns noch eine Bemerkung übrig über 
die Bedeutung des statischen Drucks. Auch die Vorstellung 
dieses statischen Drucks hängt eng zusammen mit der Vorstel- 
lung der femwirkenden Kräfte. Man wird nämlich sagen : Wenn 
wir die Kraft nur schätzen nach dem Bewegungsandrange, wel- 
cher durch das Product aus Geschwindigkeit und Masse ge- 
schätzt wird, wie kann ein ruhender Körper, welcher doch 
die Geschwindigkeit Null hat, eine Kraft, nämlich einen Druck, 
ausüben ? 

Wir antworten einfach: Das kann er auch gar nicht. Ein 
ruhender Körper an sich kann keinen Druck ausüben; dazu 
gehört, wie man weiss, eine Kraft, welche denselben gegen seine 
Unterlage drückt. Diese Kraft ist nun nach der gewöhnlichen 
Vorstellung überall zu haben, z. B. als Schwerkraft. Man hat 
dann die eigenthümliche Vorstellung von einer Kraft (also einer 
Ursache der Bewegung) welche wirkt, und doch keine Wirkung 
hervorbringt. Vom Standpunkte der kinetischen Atomistik klärt 
sich die Sache auf. Jener Druck wird ebenfalls hervor- 
gerufen durch Bewegung, nämlich durch das Anprallen 
der die scheinbar anziehende Kraft hervorbringenden Atome. 
Der statische Druck also (vom Luftdruck ist dies ja allge- 
mein anerkannt) wird ebenfalls durch bewegte Atome her- 
vorgebracht. Zwei Körper drücken nur deswegen gegen einan- 
der, weil sie von entgegengesetzten Seiten gestossen werden, 
und sie halten sich das Gleichgewicht, wenn die Summe 
der Impulse auf beiden Seiten in gleichen Zeiten gleich 
gross ist. Daraus ergiebt sich auch das Maass für die stati- 



86 Die Principien der Mechanik. 

sehen Kräfte, die Gleichheit der Gewichte. Denn diese sind 
nichts anderes, als ein Maass für die Andrangsempfindung, letz- 
tere nach der Zeit geschätzt. Damit wäre denn auch die 
scheinbare Verwirrung von Statik und Dynamik beseitigt; in 
der kinetischen Atomistik giebt es keine Statik. Ruhe der Kör- 
per, ja der Molekel, ist nur scheinbar; unablässig arbeiten die 
Atome. 

Bevor wir nun dazu übergehen, die entwickelten mechani- 
schen Principien speciell auf die letzten Anschauungen der 
Atomistik anzuwenden, haben wir zunächst noch einige allge- 
meine Bemerkungen und Erläuterungen hinzuzufügen. 



YIL 



Das Apriori in der Physik* 



Zu einer befriedigenden Einsicht gelangt der menschliche 
Geist vorzugsweise in solchen Problemen, bei denen das Quantita- 
tive eine Rolle spielt; aber gerade solche Probleme setzen zu ihrer 
Erkenntniss eine entwickelte Wissenschaft voraus und werden 
darum erst spät mit Erfolg behandelt i). So ist es den im vori- 
gen Abschnitt besprochenen Principien der Mechanik ergangen, 
insoweit sie quantitative Messung erfordern, und es drängt sich 
die Frage auf: Wie können jene Principien als nothwendige 
aus der Natur unserer Organisation fliessende Gesetze Ge¥dss- 
heit a priori haben, wenn sie doch erst in einem späten Ver- 
laufe der Wissenschaft, zum Theil erst in neuester Zeit erkannt 
worden sind? 

Insofern hier darnach gefragt ist, wie so die empirisch er- 
kannten Gesetze Gewissheit a priori haben können, bedarf es 
einer näheren Betrachtung. Wer jedoch geneigt ist, die ganze 
Natur der vorliegenden Entwickelung misszuverstehen , der 
könnte auch auf die Idee kommen die Frage so zu stellen: 
Müssten nicht, wie der Raum- und StoflFbegriflf mit der ersten 
menschenartigen Bewusstseinsthätigkeit, so auch die Princi- . 
pien der Mechanik uns unmittelbar aus unserer Natur bewusst 



1) Vergl. W. Wundt. Die Axiome der Physik. Erlangeo, 1866. S. 59. 



88 Das Apriori in der Physik. 

werden, wenn sie in derselben wirklich nothwendig begrün- 
det sind? 

Dieser Einwurf, welcher, wie man sofort sieht, eine völlige 
Verkennung des Standpunktes enthält, erledigt sich durch fol- 
gende mit demselben Rechte gestellte Gegenfrage: Müssten 
nicht mit der ersten menschenartigen Bewusstseinsthätigkeit 
nicht nur die Axiome des Euklid, sondern auch der binomische 
Lehrsatz, die Theorie der Raumcurven etc. sofort vorhanden 
sein, da sie doch nothwendige Ergebnisse der Art unserer 
Grössen- und Raumanschauung sind? 

• In diesem Beispiel leuchtet das Widersinnige ein. Wir müs- 
sen überlegen, wie das Bewusstsein überhaupt zur Bildung von 
Begriffen geführt wurde. Immer geschah dies durch einen Fort- 
schritt der Erfahrung, d. h. durch die Nothwendigkeit, die Man- 
nichfaltigkeit des empirischen Materials nach den Gesetzen des 
Bewusstseins zu ordnen. Erst als dieses Material nicht mehr 
mit den bereits gebildeten Begriffen bewältigt werden konnte, 
berücksichtigte man das quantitative Element, und nun ent- 
standen allmählich die bekannten Grundlagen der Mechanik, und 
damit eine Wissenschaft, welche berufen ist Grundschema aller 
Wissenschaften zu werden. Es handelte sich nicht mehr darum, 
die einzelnen, unmittelbaren Sinneseindrücke und die dadurch 
entstandenen Begriffe einfach als mehr oder weniger .zusammen- 
hängende Thatsachen aufzunehmen, sondern den ganzen Com- 
plex derselben aus einheitlichen Gesichtspunkten zu verstehen. 
Die Messungen aber hatten hier neue Gesetze dargethan , d. h. 
die genaue Verfolgung der Wahrnehmungen hatte darauf ge- 
führt, dass in denselben eine Gesetzmässigkeit besteht, welche — 
wie wir jetzt wissen — wesentlich herrührt von der Art, wie 
wir immer in gleicher Weise den Begriff einer Aussenwelt bil- 
den müssen. Da wir nun durchaus nicht wissen können, wie 
diese gesetzmässige Auffassung an sich in uns (als Noumenon) 
zu Stande kommt, vorläufig auch noch nicht wissen, wie sie 
physiopsychologisch zu Stande kommt, d. h. wie sie in dem- 
jenigen, was uns phänomenal als unsere Organe erscheint, ver- 
mittelt ist, — so bleibt uns, um einen Ausdruck für jene Ge- 



Das Apriori in der Physik. 89 

setze zu finden, nichts übrig als so sie auszusprechen, wie es 
die realistische Naturwissenschaft thut. Dadurch ergiebt sich 
der Schein, als ob jene Vorgänge an den Atomen selbst statt- 
fänden und diese ausserhalb unseres Bewusstseins in der Form 
von im Räume bewegten Dingen existirten, während wir doch 
nur von der Existenz des Begriffes von Dingen an sich, nicht 
aber von der Natur der letzteren etwas wissen. Die vorliegende 
Schwierigkeit trifft natürlich die ganze Betrachtung, weil nur 
zu sehr die Verwechselung mit einer transcendenten Welt 
nahe liegt. 

Wenn empirisch nachgewiesen ist, in welcher Art wir die 
quantitativen Beziehungen der Bewegung zu denken haben, dann 
kann auch die Philosophie fragen, warum wir dieselben in 
dieser Weise denken. Aber man muss erst wissen, dass solche 
Gesetze bestehen, ehe man sie mit bleibendem Erfolge dedu- 
ciren kann i). Denn die Feststellung des quantitativen Elemen- 
tes in ihnen erfordert eine sorgfältige experimentale Beob- 
achtung. Andererseits aber erhalten die empirischen Gesetze 
ihre Gewissheit erst durch ihre Beziehungen auf den sub- 
jectiven Factor, welcher stets in unsere Erkenntniss eingeht, und 
den wir wiederholt als das „Ap^ori" bezeichnet haben. Aller- 
dings müssen wir diesen Begriff nicht ganz in dem Sinne fas- 
sen, wie er vom Rationalismus gebraucht wird. Wir meinen 
nicht, dass das a priori Seiende ein „Früheres" der Erfahrung 
gegenüber sei, sondern wir stimmen insofern ganz mit C. Ge- 
ring *) überein, dass der objective und subjective Factor gleich- 
zeitig in der Erkenntniss verbunden sind. Wir können ohne 
Empirie die Gesetze nicht finden, aber wir können 
sie ohne das Apriori nicht endgültig beweisen. 



1) So hat zwar Leibnitz das Gesetz von der Erhaltung der leben- 
digen Kraft deducirt; Johann Bernoulli war der Ansicht, dass man 
das Gesetz verdunkele, wenn man es beweisen woUe; aber seine Bedeu- 
tung hat es erst erhalten, als man im 19. Jahrhundert seine allgemeine 
Gültigkeit experimental nachwies ; seine unbezweifelte Sicherheit verdankt 
es trotzdem nicht der empirischen Physik. 

2) System der kritischen Philosophie. Leipz. 1875. II, S. 247 u. 248. 



90 Das Apriori in der Physik. 

Ueberhaupt ist es nicht gerechtfertigt, hierbei an einem Gegen- 
satze von empirischen und apriorischen Erkennen in so stren- 
ger Weise festzuhalten, ¥de es gewöhnlich geschieht; ja es 
ist geradezu unmöglich, diese beiden Elemente zu trennen. 
Wir haben darauf oben schon hingedeutet. Wir lernen eben 
die Art, wie wir aus unserer Natur heraus nothwendig Erfah- 
rung bilden müssen, erst durch Erfahrung kennen; insofern ist 
alle Erkenntniss empirisch ; wir können aber Erfahrung nur bil- 
den vermöge der in uns liegenden Art zu erkennen , und inso- 
fern ist alles Erkennen a priori, — beide Erkenntnissthätigkeiten 
sind völUg reciprok, keine ohne die andere möglich, und das um 
so mehr, als thatsächlich die formale Erzeugung unserer Aussen- 
welt und das Erkennen derselben aus derselben einheitlichen 
Wurzel stammen. Was die Zurechtlegung dieser Verhältnisse, 
insbesondere auch die Abgrenzung zwischen empirischer Natur- 
wissenschaft und deductiver Naturphilosophie erschwert, ist 
eben das vergebliche Bemühen, eine solche Grenze zu finden, 
wo unsere „Selbstbesinnung" aufhört und die „Erfahrung** an- 
fängt. Nirgends existirt eine solche Grenze — nur die 
Stärke, mit welcher die eine oder andere Art des Erkennens 
uns bewusst wird, bildet hier ejne Scheidung. In diesem Sinne 
ist es auch nur mit Vorbehalt gestattet, von Axiomen der Phy- 
sik zu sprechen. Wir machen somit hier eine entschiedene 
Schwenkung nach der empiristischen Seite, obgleich wir in den 
vorhergehenden Abschnitten gerade den rationalistischen Stand- 
punkt betont haben. Dies hatte dort seinen guten Grund, weiT 
es hauptsächlich darauf ankam, den realistischen Neigungen 
der Physik entgegenzutreten und hervorzuheben, dass wir es 
bei dem physikalischen Erkennen mit Erscheinungen und Ge- 
setzen zu thun haben, welche zum guten Theile von unserem 
Selbst abhängig sind. Ohne uns zu widersprechen können wir 
nunmehr auch dem objectiven Factor der Erkenntniss sein 
Kecht werden lassen und den Einfluss der Erfahrung auf die 
Gestaltung der Formen unserer Naturauffassung zugeben. Un- 
sere Organisation ist eine gewordene, also von jener Wechsel- 
wirkung bedingt; wir aber betrachten die Erfahrung, wie sie 



Das Apriori in der Physik. 91 

der Physiker unserer Zeit machen muss. Hier haben wir das 
vorläufig abgeschlossene Resultat eines Processes, welchen selbst 
wir nicht untersuchen, und in diesem Resultate finden wir jenen 
Rest ganz bestimmter Normen, welche unser Weltbild bedin- 
gen und den wir in diesem Sinne wohl als „Apriori" bezeich- 
nen dürfen. Wie auch derselbe entstanden sei, er ist das Erb- 
theil, mit welchem wir rechnen müssen und die vorläufig un- 
vermeidliche Grundlage und Bedingung aller Erfahrung. 

Die Axiome wie die Lehrsätze der Physik fliessen aus der- 
selben Quelle, in welcher apriorische und empirische Elemente 
in gleicher Weise vermischt sind. Nur sind wir uns bei den 
Axiomen nicht mehr des Beitrages der Erfahrung zu ihrer Ent- 
stehung bewusst, während bei den Lehrsätzen das durch Beob- 
achtung gewonnene Resultat Jedem in die Augen springt. Jeder 
sieht, dass sie ohne letztere nicht hätten gewonnen werden kön- 
nen, aber er vergisst, dass sie auch nicht gewonnen werden 
konnten ohne die der menschlichen Gattung eigenthümlichen 
Anlagen der Sinnlichkeit, durch die allererst Erfahrung möglich 
wird. Bei den Axiomen aber, als bei den einfachsten Sätzen, 
finden wir uns vielfach innerhalb" einer Erfahrung, welche nicht 
mit Bßwusstsein gewonnen wurde , sondern sich auf die in der 
ersten Kindheit erworbenen Begriffe bezieht; gerade diese Be- 
griffe aber sind es, welche das Bewusstsein unseres Ich und 
das einer Körperwelt um uns erzeugen und so eine nothwen- 
dige Erfahrung ausmachen, durch die erst der Mensch zum 
Menschen und die Welt zur Welt wird. Wir können also, wenn 
wir solche Begriffe, wie den des Raumes, der Undurchdringlich- 
keit, der Bewegung etc. unmittelbar aus unserem Bewusstsein 
entnehmen, einige Sätze wirklich a priori deduciren. Nur ver- 
gessen wir dann, wie jene Begriffe in unser Bewusstsein ge- 
kommen sind , nämlich offenbar doch auch nur durch die Ver- 
schmelzung der Sphären unserer Sinnlichkeit bei ihrer Affici- 
rung durch ein Etwas, das in Folge dessen als Welt vorgestellt 
wurde, also doch auch mit Hülfe der Erfahrung, die sich in 
gleicher Weise auf das Erfahrene wie auf den Erfahren- 
den bezieht. 



92 Das Apriori in der Physik. 

Da die so gefundenen Begriffe und Gesetze nothwendige 
Folge unserer Organisation sind, so dürfen wir uns auf sie 
als Grundlagen aller Naturerkenntniss berufen, und wo Erfah- 
rung ihnen zu widersprechen scheint, flieht der Verstand zu 
ihnen als einem Normativ unseres Erkennens, indem er ihnen 
eine viel sicherere Begründung zuspricht, als spätere Erfah- 
rung zu geben vermag. Und wenn man näher zusieht, stellt 
es sich dann heraus, dass die beobachtete Ausnahme nur eine 
scheinbare war. 

Liebmanni) ^iH zwar die Gesetze der Phoronomie als 
apodiktische gelten lassen (S. 236), bestreitet aber die Apriori- 
tät der mechanischen Principien, insbesondere des Trägheits- 
gesetzes (S. 277). Er hält dasselbe für eine Hypothese von 
höchster Wahrscheinlichkeit, die weder als evidentes Axiom 
noch als demonstrables Theorem apodiktische Geltung besitzt 
Der Herleitung von Kant und Anderen wirft er eine petitio 
principü vor, welche darin liegen soll, dass man bereits wissen 
müsse „dass es in der Natur des sich selbst überlassenen Kör- 
pers hege, nicht krummlinig und nicht mit ab- oder zuneh- 
mender Geschwindigkeit zu laufen." Dabei übersieht aber Lieb- 
mann, dass man dies in der That wissen könne; freilich nicht, 
insofern es in der Natur des Körpers liegt — denn darin 
liegt es gar nicht — sondern insofern es in der Natur un- 
seres Begriffs von der Bewegung liegt, d.h. in der Art und 
Weise wie wir den Begriff der Bewegung überhaupt erzeugen. 
Hierbei muss man eben auf jene unmittelbare Thätigkeit unse- 
rer Sinnlichkeit Rücksicht nehmen , wie wir es im vorhergehen- 
den Abschnitt erörtert haben. Will man diese Herleitung des 
Satzes als auf Empirie gegründet bezeichnen , so erklären wir 
den Streit mit Rücksicht auf das vorhin Dargelegte — inner- 
halb dieser Untersuchung — für einen Wortstreit, über dessen 
Entscheidung sich nicht weiter debattiren lässt. 

Wenn man aber solche Fundamentalgesetze aller Natur- 
erklärung wirklich in keiner Weise nachweisen kann, und sie 



1) Zur Analysis der Wirklichkeit. Strassburg 1876. 



Das Apriori in der Physik. 93 

doch nicht als falsch annehmen darf, ohne alle Wissenschaft 
umzustossen, so liegt der Gedanke nahe, dass sie ihren Ursprung 
an einer Stelle haben, welche uns zwar unzugänglich, dennoch 
aber Grundlage aller Wissenschaft ist, nämlich in uns selbst. 
Denn in der Erfahrung treten sie niemals rein auf, sondern im- 
mer gestört durch tausend andere Bedingungen. Wir bilden 
also offenbar Gesetze mit Hülfe der Erfahrung, denen wir eine 
ideelle Geltung beilegen i). Wir fühlen uns gezwungen, eine 
Welt mit solchen Gesetzen zu erschaffen, um eine Naturerklä- 
rung zu ermöglichen, und darum nennen wir diese Gesetze 
mit Recht „Naturgesetze." 



^) Die hier gegebenen Ausführungen sind inzwischen durch die wäh- 
rend des Druckes erschienenen gründlichen Untersuchungen von B. Erd- 
mann , Axiome der Geometrie etc.*' in gewisser Hinsicht überholt wor- 
den. Obwohl unser Standpunkt ein streng subjectivistischer ist, halten 
wir denselben doch im Grunde mit dem Erdmann 'sehen vereinbar, mit 
welchem wir vielfach übereinstimmen. Wenn auch Festigkeit und Bewe- 
gung nach Erdmann empirische, nicht apriorische Begriffe sind, so 
schliesst dies nach dem oben Gesagten doch nicht aus , dass wir jene Be- 
gi'iffe als fundamentale betrachten, ohne welche unser Weltbild und un- 
sere Welterklärung gar nicht zu Stande kommen können. Sie sind in der 
gegenwärtigen Epoche menschlicher Entwickelung zu subjectiven, für die 
Menschheit generischen Grundlagen der Naturauffassung geworden. Wir 
haben das Becht, unseren subjecti vis tischen Standpunkt festzuhalten, weil 
sich in keiner Weise entscheiden lässt, was und wie viel bei der Bildung 
jener Begriffe das stets unbekannte Transcendente beiträgt. Unsere Sinn- 
lichkeit reagirt auf die verschiedensten Beize in vielen Fällen gleichartig ; 
einer ungebildeten Wahrnehmung verschwinden feinere Unterschiede und 
veränderte Empfindungen werden als identische bemerkt. In dieser Weise 
ist es leicht denkbar, dass durch die Natur unserer Erkenntnissthätigkeit 
aus unserem Verkehr mit dem Transcendenten ein Weltbild ausgeschie- 
den wird, in welchem der Einfluss des Subjects durchaus überwiegt. Wir 
haben daher keinen Grund an der Geltung der gefundenen Grundbegriffe 
der Physik zu rütteln, vielmehr können wir ohne Widerspruch für die- 
selben den Erdmann 'sehen Ausdruck „empirische Ideen" adoptiren. In 
dem Worte „Ideen" ist der subjecti ve Factor angedeutet, mehr verlangen 
wir nicht. Diese empirischen Ideen, welche sich in der empirischen Welt 
nicht verwirklicht finden, sie sind realisirt in der Welt der Atome, in un- 
serer kinetischen Atomistik. Diese ist selbst eine empirische Idee, als 
solche mit Noth wendigkeit erschaffen zur Erklärung der Welt. Dies nach- 
zuweisen war unsere Aufgabe. 



94 Drs Apriori in der Physik. 

Wer garantirt uns das Gesetz von der Erhaltung der Ma- 
terie und von der Erhaltung der Kraft, während doch in den 
entferntesten St^rnenräumen stündUch ganze Welten von Stoff 
und Kraft ins Kichts verschwinden könnten , ohne dass unsere 
leiüsten Instrumente es anzuzeigen vermöchten? Alle Erfah- 
rung versagt an den Grenzen unserer Sinne, und nur 
die welterschaffende Kraft unseres Selbst verbürgt 
der Natur unerschütterliche Gesetze. 

Vortrefilich sind die Bemerkungen, welche W. Wundt 
(a. a. 0.) über die Deduction der physikalischen Axiome macht, 
obwohl wir uns mit seiner Deduction nicht einverstanden er- 
klären können. Dies beruht auf der Vorstellung, Vielehe wir 
von der Entstehung des Begriffs der Körperwelt haben. Wäh- 
rend W. Wundt keine Schwierigkeit dabei findet, von einer 
Wirkung durch die Feme zu sprechen und dieselbe seiner Ab- 
leitung zu Grunde zu legen, müssen wir diese Vorstellung von 
vornherein verwerfen. Wir müssen die Gesetze der Atombewe- 
gung herleiten aus unserer Sinnlichkeit in Verbindung mit dem 
Causalgesetze , und wurden dadurch auf eine Reihe von Sätzen 
geführt, die wir hiermit nochmals zusammenstellen. So weit 
dieselben die Bewegung anbetreffen, stimmen sie natürlich 
mit den allgemein als geltend angenommenen Grundsätzen 
überein. 

Folgenden Begriff* der phänomenalen Welt erhalten wir 
als nothwendige Grundlage einer Naturerklärung: 
Die Welt besteht aus bewegten Atomen. 
Die Atome sind räumlich (körperUch) ausgedehnt, un- 

durchdringUch, unveränderlich, untheilbar, starr. 
Sie sind verknüpft durch folgende (aus oben angegebener 

Quelle fliessende) Gesetze: 
Bewegung kann nur mitgetheilt werden durch unmittel- 
bare Berührung (Stoss). 
Jeder W^irkung entspricht eine gleiche Gegenwirkung. 
Ein in Bewegung begriffenes, sich selbst überlassenes Atom 
bewegt sich mit constanter Geschwindigkeit in gerader 
Linie. 



Das Apriori in der Physik. 95 

Eine Bewegung kann nur aufgehoben werden durch eine 
gleich grosse ihr entgegengesetzte. 

(Die Grösse der Bewegung [K(ti) = M.v] ist nebst der 
Richtung als Empfindungsthatsache im Begriff der Be- 
wegung unmittelbar gegeben.) 

Beim Stosse der Atome bleibt die Summe der Bewegungs- 
grössen constant. 

Die Energie der Bewegung ist constant. 



YIIL 

Der Begriff der Elasticität und der 

Stoss der Atome. 



Das Resultat unserer Untersuchung ist eine kinetische 
Atomistik. Wir erzeugen nothwendig den Begriff von beweg- 
ten Atomen, welche sich ihre Bewegungen nach den Gesetzen 
des Stosses mittheilen. 

Enthält denn aber eine solche Atomistik nicht im Grunde 
noch einen Widerspruch oder wenigstens einen Regress in in- 
tinitum? Die kinetische Atomistik, wie sie z. B. neuerdings der 
Theorie der Gase zu Grunde gelegt wurde, setzt doch den elasti- 
schen Stoss der Atome voraus, welche sich wie kleine elastische 
Bälle verhalten müssen; also müssen doch die Theile der Atome 
verschiebbar sein! Ist das nicht ein Widerspruch? 

Diese Einwürfe i), welche, wenn berechtigt, unsere Ato- 
mistik allerdings aufs tiefste verletzen würden, müssen abzu- 



1) Wir geben hier die klare Fassung von F. A. Lange wieder (Gresch. 
d. Mat. II, S. 202): „Gegenwärtig wissen wir, dass keine Elasticität denk, 
bar ist ohne Verschiebung der relativen Lage der Theilchen des 
elastischen Körpers. Daraus folgt aber unweigerlich, dass jeder "elasti- 
sche Körper nicht nur veränderlich ist, sondern auch aus discreten 
Theilchen besteht. Man könnte letzteres höchstens mit den gleichen 
Gründen bestreiten, mit denen man die Atomistik überhaupt bestreitet. 



Der Begriff der Elasticität etc. 97 

wenden sein. Wir bemerken zunächst noch einmal: unsere 
Atome besitzen dem Begriffe nach keine verschiebba- 
ren Theile. Wie finden wir uns nun mit der Elasticität ab? 

Was wir auf Seite 46 nur andeuten konnten, bedarf hier 
einer näheren Betrachtung. 

Dass es aus der vorliegenden Schwierigkeit einen Ausweg 
geben müsse, so dass die Atome, trotz der Un verschiebbarkeit 
ihrer Theile, doch die Erscheinungen des sogenannten elasti- 
schen Stosses zeigen, davon waren wir von dem Augenblicke an 
überzeugt, als wir die Gewissheit erlangt hatten , dass die star- 
ren Atome eine nothwendige Folge der Art unserer Weltauffas- 
sung sind, ein nothwendiges Erzeugniss des Subjects. Denn aus 
einem solchen, durch nothwendige Erfahrung erzeugten Begriffe 
muss die Welt zu erklären sein, da sie ja nur unter Gesetzen 
erscheinen kann, welche auch das subjective Erkennen bedingen. 

Wir stellen nun folgende Ueberlegung an. 

Was wird geschehen müssen, wenn zwei undurchdringliche, 
starre Atome zusammenstossen , falls für dieselben nur jene 
oben entwickelten Sätze gelten? Welche Vorstellung einer Be- 
wegung müssen wir bilden, wenn unser Denken jene Begriffe 
sich einander treffender Atome zusammenbringt? Wenn zwei 
Massen, die aus einzelnen Atomen bestehen, zusammenstossen, 
so kann ihre Bewegung oder ein Theil derselben an die Atome 
übergehen. Diese werden in Bewegung gerathen und die Massen- 
bewegung wird ganz oder zum Theil in der Energie der Atom- 
bewegung enthalten sein. Soll ein solcher Verlust nicht statt- 
finden, so ist man gezwungen, den Begriff der Elasticität zu 
bilden, wie er für Körper, deren Theile elastisch verschiebbar 



Genau dieselben Gründe, welche von Anfang an dazu geführt haben, die 
Körper in Atome aufzulösen, müssen auch bewirken, dass die Atome, wenn 
sie elastisch sind, selbst wieder aus discreten Theilchen, also aus Unter- 
atomen bestehen. Und diese Unteratome? Entweder lösen sie sich in 
blosse Kraftcentren auf, oder ^ wenn bei ihnen abermals der elastische 
Stoss irgend eine Bolle spielen sollte" [das wäre unser Fall!], „so müs- 
sen sie abermals aus Unteratomen bestehen und wir hätten wieder jenen 
ins Unendliche verlaufenden Process, bei dem sich der Verstand so wenig 
beruhigen kann, als er ihm auszuweichen vermag." 

Lasswitz, Atomistik etc. n 



98 Der BegrifiF der Elasticität 

sind, unangefochten besteht. Die Atome gehen dann in ihre 
ursprüngliche Lage zurück und die gesammte Energie des 
Systems bleibt in der Massenbewegung enthalten. Ganz falsch 
aber wäre es, diesen BegrüBF der Elasticität auf Atome zu über- 
tragen, welche verschiebbare Theile gar nicht besitzen. Man 
hat es gethan um zu erklären, dass ein Verlust an lebendiger 
Kraft nicht eintrete. Man konnte sich nicht denken, wie die 
Bewegung der Atome erhalten werden könne, wenn sie nicht 
elastisch sind. Nun ist es aber klar, dass ein solcher Verlust 
bei Körpern eben nur dadurch hervorgerufen wurde, dass 
Energie der Massenbewegung umgesetzt wurde in Energie der 
Molecularbewegung, z. B. in Wärme. Bei den Atomen kann das 
ja aber niemals stattfinden; hier giebt es keine Theile, welche 
für sich bewegt dem ganzen System Energie zu entziehen ver- 
möchten. Die Energie muss also aus diesem Grunde im gan- 
zen Systöm erhalten bleiben, ohne dass man über die Natur der 
Atome eine neue Hypothese zu machen braucht. Die Hinein- 
tragung des Begriffs der Elasticität ist eine willkürliche und 
überflüssige, welche aus der Verwechselung des Atombegriffl 
mit dem gerade dadurch zu erklärenden Körperbegriffe her- 
stammt. 

Diese Erwägung schien uns auszureichen, um den Einwand 
der Existenz elastischer Atome zurückweisen zu dürfen. 

Zu unserer grossen Freude und Genugthuung ist diese 
Ansicht von zwei Seiten bestätigt worden. 

Auf der „47. Versammlung deutscher Naturforscher und 
Aerzte" zu Breslau trug 0. E. Meyer über die Gnmdlagen der 
kinetischen Atomistik vor und wies nach i) , dass die Gleichun- 
gen für die Bewegungen der Atome, wie sie die kinetische Gas- 
theorie verlangt, herzuleiten sind ohne andere Annahmen als 
die folgenden: 

1) Beim Zusammenstosse zweier Gasmolekel geht keine 
lebendige Kraft verloren. 



^) Tageblatt der 47. VersammluBg deutscher Naturforscher und Aerzte. 
Breslau, 1874. S. 173. 



und der Stoss der Atome. 99 

2) Die Bewegung des gemeinschaftlichen Schwerpunktes 
wird durch den Stoss nicht verändert. 

Dazu kommt neuerdings eine kleine aber wichtige Arbeit 
von Gustav Lübeck 1), in welcher der Verfasser, an die oben 
citirte Bemerkung von F. A. Lange anknüpfend, zeigt, dass 
beim Stosse von starren Atomen eine Bewegung eintreten muss, 
wie sie bei Annahme eines elastischen Stosses erfolgt, wenn 
man nur folgende beide Sätze voraussetzt: 

1) Eine Bewegung kann nur aufgehoben werden durch 
eine gleich grosse ihr entgegengesetzte. 

2) Das Princip von der Erhaltung der lebendigen Kraft. 

Wenn sich diese Voraussetzungen vom kritischen Stand- 
punkte aus als nothwendige Folgerungen aus der Art, wie Er- 
fahrung zu Stande kommt , ergeben , dann ist auch der letzte 
Einwand zerstört und die kinetische Atomistik als unvermeid- 
liche Grundlage unseres Naturerkennens bestätigt. 

Nun sind aber die Lübeck' sehen Voraussetzungen schon 
wörtlich von uns als kritisch sich nothwendig ergebende und 
übrigens allgemein anerkannte Principien der Mechanik nach- 
gewiesen worden. Es lässt sich aber auch leicht erkennen, dass 
die von 0. E. Meyer zu Grunde gelegten Principien ^) auf die- 
selben Sätze herauskommen. Der erste Satz von Lübeck zer- 
fällt nämlich (wie er auch selbst anfuhrt) bei der Anwendung 
auf die Bewegung zweier Atome in die beiden Theile : 

1) Li jedem Augenblick kann von einem Atom auf das 
andere nur eine Bewegung übergehen, welche die Richtung 
ihrer Verbindungslinie hat; 

2) die Summen der gleichgerichteten Componenten der 
Bewegungsgrössen bleiben constant 



1) (Schlömilch»s) Zeitschrift für Mathematik u. Physik. 22. Jahrg. 
S. 126. (1877.) 

^) Mit vorzüglicher Klarheit sind die Grundlagen der kinetischen 
Atomistik von O. E. Meyer behandelt in dem während des Druckes er- 
schienenen ausgezeichneten Werke „Die kinetische Theorie der Gase. In 
elementarer Darstellung mit mathematischen Zusätzen. Breslau 1877." 
Die hier in Betracht kommenden Stellen finden sich S. 38, S. 260 und 
insbesondere S. 239 und 240. 

7* 



100 Der Begriff der Elastioität 

Dieser letztere Satz triffl nun mit dem Princip von der Er- 
haltung des Schwerpunktes völlig überein. Beide lassen sich 
aus dem Gesetz der Trägheit, resp. dem Princip der Gleichheit 
und entgegengesetzten Richtung von Wirkung und Gegenwir- 
kung ableiten, wie schon Newton i) es dargelegt hat. Das 
Princip von der Erhaltung des Schwerpunktes führt nur noch 
eine neue , rein mathematische Definition ein, nämlich die des 
Massenmittelpunktes (Schwerpunktes) , welche für unsere Be- 
trachtungsart überflüssig ist. 

Es kann somit kein Zweifel darüber bestehen, dass auf 
Grundlage der durch den Kriticismus sich ergebenden Princi- 
pien die Bewegung der Atome mathematisch als diejenige sich 
deduciren lässt, welche die kinetische Theorie der Gase und eine 
Naturerklärung aus kinetisch - atomistischen Grundsätzen über- 
haupt verlangt 2). 

Trotzdem bleibt zunächst das Paradoxon bestehen, dass 
die unelastischen Atome sich gerade so bewegen sollen^ wie 
elastische Körper. Es erscheint dies immerhin wie ein Wider- 
spruch gegen unsere Anschauung, welcher der erläuternden 
Aufhellung bedarf. 

Der Unterschied zwischen den Gesetzen des unelastischen 
und des elastischen Stosses besteht darin, dass man beim erste- 
ren das Gesetz von der Erhaltung der lebendigen Kraft nicht 
als geltend annimmt und eine dauernde Formveränderung 
der Körper nach dem Stosse voraussetzt, welche beim absolut 
unelastischen Stosse die Gleichheit der Geschwindigkeit für die 
einander treffenden Körper zur Folge hat. Hieraus ergiebt sich 



1) Philos. nat. principia mathematica. CoroU. HI. u. IV. zu den Le- 
ges motus. 

^) Ein Unterschied der angeführten Arbeiten besteht in Folgendem: 
Bei O. E. Meyer handelt es sich um eine Herleitong der kinetischen 
Gastheorie, also um Molekel, nicht um wirkliche Atome, während sich 
Lübeck direct auf die starren Atome bezieht. Das principieU Wichtige 
ist aber in beiden Fällen der Nachweis, dass man auf die letzten Atome 
zurückgehen kann, falls es nöthig erscheint, ohne ihre Theile verschieb- 
bar anzunehmen, um doch dieselben factischen BewegungsgeRetze zn er- 
halten. 



und der Stoss der Atome. 101 

ein Verlust an lebendiger Kraft der Massenbewegung nach dem 
Stosse (ausgedrückt durch den Carnot'schen Satz). Dieser hat 
aber seinen Grund nur in der eingetretenen Formveränderung 
der Körper, also in der Verschiebbarkeit ihrer Theile. 
Folglich setzt sowohl der elastische als der unelastische Stoss 
eine Verschiebbarkeit der Theile voraus, und von die- 
sem Gesichtspunkte aus hätte man also eben so wenig 
Recht den Stoss der Atome als einen unelastischen wie 
als einen elastischen zu betrachten. 

Dürfte also vielleicht überhaupt keine Mittheilung der Be- 
wegung durch den Stoss von Atomen erfolgen, weil dieselben 
keine verschiebbaren Theile besitzen? Das wird Niemand be- 
haupten wollen. Dass Körper bei ihrem Zusammentreffen einen 
Druck, d. h. einen Stoss auf einander ausüben, ob nun ihre 
Theile verschiebbar sind oder nicht, das ist eine durch die Art 
und Weise, wie wir den Begriff bewegter undurchdringlicher 
Körper bilden, zu tief begründete Einsicht, als dass man je 
daran zweifeln könnte. Freilich würde es vergeblich sein aus 
der Natur der Körper die Folgen ihres Zusammenstosses 
herleiten zu wollen. Denn diese sind gar nicht bedingt durch 
die Natur der Körper, sondern durch die Natur der Bewe- 
gung, d. h. durch jene Empfindungsthatsache, jenes JE, was uns 
das empirisch Reale der Bewegung ist und wodurch überhaupt 
erst das Bewusstsein von einer bewegten Körperwelt in uns 
entsteht. Die hieraus sich ergebenden allgemeinen Principien 
der Bewegung müssen nothwendig bestehen bleiben. Aus die- 
sen aber folgt für die Atome eine solche Bewegung, wie wir 
sie an sogenannten elastischen Körpern wahrnehmen. Daher 
stammt unsere Neigung, die Atome als elastisch anzusehen, 
weil wir Körper elastisch nennen, welche dieselben Gesetze des 
Stosses zeigen. Die Sache verhält sich also so, dass wir aus der 
Bewegung der Atome auf die Möglichkeit elastischer Körper 
und nicht umgekehrt aus der Elasticität der Körper auf eine 
entsprechende Bewegung der Atome zu schliessen haben. Die 
vorliegende Entwickelung zeigt deutlich, dass es auf die Eigen- 
schaft der Elasticität gar nicht ankommt, sondern nur darauf, 



102 Der Begriff der Elasticität 

dass ausser dem Stosse selbst keine Arbeit geleistet, dass die 
Energie der Massenbewegung erbalten wird. Diese ist das prius, 
und nur um diese Erscheinung bei Körpern zu erklären, welche 
eine Verschiebung von Theilen zeigen, fuhren wir den Begriff 
der Elasticität ein, wohl nach dem Vorgange von Lagrange, 
welcher den Grund fiir die Anwendbarkeit des Satzes von der 
Erhaltung der lebendigen Kraft nur darin findet, dass die durch 
den Stoss erregten Federkräfte, nachdem sie ihren Maximal- 
werth erreicht haben, wieder abnehmen und gleich Null 
werden i). 

Die Analogie der Gesetze des Stosses bei den Atomen und 
bei den elastischen Körpern liegt also nur darin , dass in bei- 
den Fällen keine Arbeit (ausser der Massenbewegung) geleistet 
wird, nicht aber darin, dass auch die Atome elastische Kör- 
per sind. 

Nun könnte man vielleicht noch besorgen, dass an Stelle 
eines anschaulichen Stosses elastischer Bällchen die Geltung 
abstracter Principien der Bewegung getreten seien. Aber man 
betrachte nur, wie es mit der Anschaulichkeit des Stosses ela- 
stischer Körper steht! 

Der Anprall zweier elastischer Körper, etwa zweier Billard- 
kugeln, giebt für die Anschauung nichts, als — dass beide 
Kugeln nach dem Stosse wieder auseinandergehen, also das- 
selbe, was man sich bei zwei einander treffenden Atomen vor- 
zustellen hat 2), Von einer Bewegung der Theilchen, einer Ge- 



1) Dühring, a. a. O. S. 258. 

^) Hierbei sei auf Folgendes aufmerksam gemacht. Zwei Atome von 
gleicher Masse müssen bei ihrem Zusammenstosse einfach ihre Geschwin- 
digkeiten anstauschen. Nun muss man zwei Atome desselben Stoffes 
nothwendig als völlig gleich und nur durch ihre Lage und Bewegung in 
unserem Anschäuungsraum verschieden ansehen. Bei ihrem Zusammen- 
stoss tritt aber ein Moment ein, in welchem dieses Unterscheidungszeichen 
verschwindet und wir haben dann wirklich zwei Leibnitz'sche indis- 
cemibilia. Es ist offenbar ganz gleichgültig, ob wir annehmen, dass die 
Atome von einander mit vertauschten Geschwindigkeiten abpraUen oder 
(wenn es sonst mit der Anschauung verträglich wäre) durch einander 
hindurchschwingen. Der Effect ist in beiden Fällen derselbe. Auch die 



und der Stoss der Atome. 103 

staltveränderung, einer durch den Stoss erzeugten „Federkraft" 
nimmt man nichts wahr. Die Formveränderung muss erst durch 
ein passendes Experiment bewiesen werden; und die „Feder- 
kraft** — ja, da liegt eben wieder in einem Worte die Quelle 
aller Irrthümer! Ist denn die Vorstellung dieser Federkraft an- 
schaulich? Wenn man auf die Gestaltveränderung und die 
Wiederherstellung der ersten Form zurückgeht, hat man es 
doch immer nur mit der thatsächlichen Bewegung zu thun! 
Wer zwingt uns denn, hier eine geheimnissvolle Kraft einzu- 
führen? Das ist ja wieder eine femwirkende, die Atome in 
ihre „Ruhelage" zurückziehende Kraft, welche nichts weniger 
als anschaulich ist, vielmehr alle Anschauung aufhebt! Durch 
Begriffe wie die „einer elastischen Kraft, welche der Spannung 
proportional ist" wird der Stoss der elastischen Körper nie 
und nimmer anschaulich verständlich; aber wohl liegt 
der Gedanke nahe, dass der Begriff der Elasticität 
anschaulich wird durch jene primitivere Vorstel- 
lung der einander stossenden starren Atome. Denn 
jene Principien der Bewegung sind nicht abstracto mathema- 
tische Sätze, sondern anschaulich im höchsten Grade, weil sie 
hergeleitet sind aus der Art, wie physikalische Erfahrung über- 
haupt und unmittelbar zu Stande kommt. Die Elasticität 
der Gase ist jetzt anschaulich durch die kinetische Atom- 
theorie — die Elasticität der festen Körper wird es auch einst 
werden. Nicht der Stoss der Atome wird erklärt aus 



mathematische Analyse drückt dies durch die Zweideutigkeit des Vor- 
zeichens der Grösse pz= ±l (g. Lübeck a. a. 0.) aus. Das Principium 
identitatis indiscemibilium findet hier factisch statt; denn die An- 
schauung in Baum und Zeit verlässt uns, und andere Merkmale der Unter- 
scheidung der Atome sind nicht da. Nur die Ueberzeugung von ihrer 
Undurchdringlichkeit giebt uns Veranlassung, die vom Treffpunkte zu- 
rückgehenden Atome auf jeder Seite ^s die von derselben Seite gekom- 
menen anzusehen. In solchen Fällen fühlt man die Gewalt des formalen 
Zwanges unserer Erkenntnissthätigkeit , welche thatsächlich zu demsel- 
ben Besultate führt, obgleich sie selbst schon im phänomenalen Gebiete, 
wie hier, den Vorgang an sich unau%eklärt lässt. Es scheint mir dies 
ein physikaUsches Analogon zu der relativen Bewegung in der reinen 
Kinematik. 



104 Der Begriff der Elasticität 

ihrer Elasticität, sondern die Elasticität der Körper 
aus dem Stosse ihrer Atome. So wird eine nach der an- 
deren von jenen hypothetischen Eigenschaften der Körper hin- 
weggeräumt durch die unmittelbare Anschaulichkeit der kineti- 
schen Atomistik. Auch der letzte und einzige Widerspruch, 
welcher gegen dieselbe noch erhoben werden konnte, ist jetzt 
beseitigt; und gerade aus ihm ist mit Hülfe der Entdeckungen 
von 0. E. Meyer und Gr. Lübeck ein neuer Gesichtspunkt für 
eine anschauliche und einheitliche Naturerklärung erwachsen, 
indem der gänzlich unanschauliche und dunkele Begriff der 
Elasticität ebenfalls auf die aus unserer eigensten Natur fliessen- 
den kinetisch-atomistischen Grundsätze mit Ausschluss aller 
unvorstellbaren Kräfte zurückgeführt ist Die kinetische Ato- 
' mistik steht nicht mehr da als eine höchst plausible Hypothese 
der Physik , sondern als die nothwendige und einzig mögliche 
Grundlage unseres Naturerkennens i). 

Die Atome können wir der freien Hypothesenbildung der 
Naturwissenschaft überantworten, was Grösse und Gestalt be- 
trifft. Mag immer fortschreitende Erfahrung neue Hypothesen 
nöthig machen, der Kern wird unverwüstlich bestehen bleiben 
und vermöge seiner erkenntnisstheoretischen Begründung immer 
ein Correctiv physikalischer und mathematischer Bequemlich- 
keit bleiben. Denn dass in den verschiedenen Entwickelungs- 
phasen der Physik gewisse Gesetze mathematisch einfacher aus- 
gedrückt werden können , als durch die kinetisch-atomistischen 
Grundbeziehungen, das versteht sich von selbst. Wenn z. B. es 
Zöllner gelingen sollte, seine elektrodynamische Theorie der 
Materie widerspruchslos durchzuführen, so wäre damit ein 
grosser Schritt für eine einheitliche Naturerklärung gethan. 



^) Es ist von Helmhol tz der Natorwissensohaft die Aufgabe ge- 
stellt worden, nicht nur die Erscheinungen auf unveränderliche Ursachen 
zurückzufuhren, sondern diese Zurückführung zugleich als die einzig mög- 
liche aufzuweisen. Yergl. Frey er, Die Aufgabe der Naturwissenschaft 
Jena 1876. S. 11. Wir haben bereits wiederholt darauf hingedeutet, dass 
wir die kinetische Atomistik auf dem gegenwärtigen Standpunkte der Er- 
fahrung für die nothwendige Begriffsform der Naturwissenschaft halten. 



und der Stoss der Atome. 105 

WirkKch erklärt, d. h. auf die Grundlagen unseres phänomena- 
len Erkennens zurückgeführt, wäre die Natur erst, wenn die 
anziehenden Kräfte aus dem Stosse der Atome abgeleitet wären. 
Es ist daher kein Hindemiss für den Fortschritt der Wissen- 
schaft, wenn man sich zur Aushülfe der fern wirkenden Kräfte 
bedient; vielleicht lässt sich diese Femwirkung später in ein- 
rfacher Weise durch den Stoss der Atome ersetzen, und alle dy- 
namischen Theorieen sind dadurch mit einem Schlage in kine- 
tische umgewandelt i). Die Atome der Chemie sind sicherlich 
nicht die letzten , kleinsten Atome , mit denen wir es zu thun 
haben, und wahrscheinlich ist dem Stosse der Weltätheratome 
noch eine grosse Rolle vorbehalten. 

Anfänge in solcher Beziehung sind ja seit Huyghens^) 
und Lesage^) vielfach gemacht, wenn auch wenig 'beachtet 

') So wird es z. B. nach unserer Ueberzeugung nicht mehr lange 
dauern, bis auch die Bewegung der Flüssigkeiten auf kinetisch -atomisti- 
sche Principien zurückgeführt sein wird, wie es bisher bei den Gasen ge- 
lungen ist. Es ist offenbar nur nöthig nachzuweisen, dass die Gleichun- 
gen für die Hydrodynamik, Capillaroberflächen etc. dieselben bleiben, 
wenn man die Bewegung von Atomen in Betracht zieht, deren Durch- 
messer gegen ihre Entfernungen nicht verschwinden. Es handelt sich 
hierbei wesentlich um einen Kunstgriff der Analyse, der über kurz oder 
lang gefanden werden wird. Was sich verändern würde, wäre die Form 
der Constanten, denn in diese ziehen sich schliesslich immer die Hypothe- 
sen zusanmien , welche . die mathematische Physik über die Molecular- 
kräfte macht. — Auch auf die Constitution der chemischen Verbindungen 
ein helles Licht zu werfen wird die kinetische Atomistik geeignet, sobald 
man die Atome der Körper sich in einem Gase (dem Weltäther) denkt, 
. dessen Atome gegen die erstereu sehr klein und rasch bewegt sind. Da- 
gegen müssen wir uns durchaus gegen die Thomson' sehen Wirbelatome 
erklären, welche alle der Vorzüge entbehren, die das starre Atom als Er- 
zeugniss unserer Sinnlichkeit besitzt. Die Anschaulichkeit wird durch die 
Wirbeltheorie voUständig aufgehoben, und wir können derselben daher 
nur das Becht zugestehen, der mathematischen Analyse bequeme 
Handhaben zu bieten oder als eine interimistische Aushilfe zu dienen, 
niemals aber als selbstständige Theorie der Materie aufzutreten, welche 
unser Erkenntnissbedürfoiss befriedigen könnte. Eine ausführliche Be- 
gründung dieser Ansicht, soweit sie nicht schon durch die vorliegende 
Schrift gegeben ist, muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. 

^) Huyghens, De causa gravitotis. In Op. rel. Amstel. 1728. T. I. 

^ Lesage: Lucr^ce Newtonien. Nouv. M4m. de TAcad. de Berlin 
1782. Fr^vost, Deux trait^s de phys. mech. Gen. et Far. 1818. 



106 Der Begriff der Elasticität etc. 

worden. Wir wollen hier nur auf den tüchtigen Versuch von 
Schramm 1) aufmerksam machen. Diese kinetische Atomistik 
durchzubilden, bis vor ims ein vollständiges, durch imsere Or- 
ganisation bedingtes Bild der in Raum und Stoff sich bewegen- 
den Welt liegt, das ist die grosse Aufgabe der Naturwissen- 
schaft. Nur auf dem Boden des Kriticismus wird sie die Auf- 
lösung aller Widersprüche an den Grenzen des Naturerkennens« 
finden ; denn hier liegen die Gesetze dieses Naturerkennens in 
der Menschennatur selbst aufgedeckt. 



3) Die aUgexneine .Bewegung der Materie. Wien 1872. Anziehungs- 
kraft als Wirkung der Bewegung. Graz 1873. 



IX. 



S c h 1 u s s. 



Da wir nur beabsichtigten, die kinetische Atomistik als 
eine nothwendige Folge der Erfahrungstheorie des Kriticismus 
nachzuweisen, so kann es an dieser Stelle unsere Aufgabe nicht 
sein, auf die metaphysische Bedeutung einer solchen Atomistik 
des Weiteren einzugehen. 

Um eine Erklärung für die unmittelbaren Vorgänge "des 
Bewusstseins zu finden, hat man vorgeschlagen, den Atomen 
Empfindung zuzuschreiben. Dies wäre ein vortrefflicher Aus- 
weg, wenn Empfindung wirklich das transcendente Ding an sich 
wäre r- womit dann freilich der Kriticismus in Psychismus um- 
schlagen würde. Nun ist aber Empfindung selbst nur Erschei- 
nung, immer mitbedingt durch die Natur unseres psychischen 
Mechanismus, gewissermaassen die Projection jenes unbekann- 
ten X, das sich der Intellect als imvermeidlichen i) Grenz- 
begriff erschaffen muss, durch die Form unseres Bewusst- 



^) Wenn die Versuche, denselben zu eliminiren (vergl. z.B. Oaspari, 
Die Grundprobleme der Erkenntnissthätigkeit etc. Berl. 1876), gelingen 
soUten, was wir für möglich halten, so würde das Besultat unserer Unter- 
suchung dadurch nicht leiden, wenn auch die Form des Ausdrucks modi- 
fieirt würde. Vorläufig halten wir den Gebrauch des Grenzbegrififes „Bing 
an sieh" noch für unentbehrlich. 



108 Schluss. 

seins. Da also die Atomwelt wie die Empfindung beide nur 
Erscheinung sind, so wäre es ganz überflüssig und nutzlos 
und könnte das Problem nur compliciren, wollte man den Ato- 
men Empfindung zuschreiben und etwa die Verwandlung von 
potentieller in kinetische Energie als die äussere, durch unsere 
Sinnlichkeit bedingte Form einer Lustempfijidung auffassen. Es 
ist vielmehr durchaus nothwendig, jenen Vorgang als einen sei- 
ner transcendenten Natur nach uns völlig unbekannten anzu- 
sehen, der nun von uns unmittelbar unter der Form der Empfin- 
dung und mittelbar unter der Form bewegter Atome aufgefasst 
wird. Eine transcendente Welt können wir nicht entbehren; 
das Bedürfhiss unseres Verstandes sowie die doppelte Sphäre 
unserer Sinnlichkeit, vermöge deren wir durch Dinge an sich 
hindurch uns selbst afficiren können, giebt uns darüber volle 
Gewissheit; damit ist auch der Kriticismus vor allen Vorwürfen, 
er sei Idealismus oder Psychismus u. s. w., gesichert, Aber er 
ist auch gesichert vor dem Vorwurf, dass durch ihn willkür- 
liche Grenzen der Erkenntniss gezogen sind; es sind vielmehr 
nur jene Grenzen, welche durch die Natur des Erkennens noth- 
wendig bedingt sind, welche irgend wo vorhanden sein müs- 
sen; es ist, nur auf die ganze Gattung übertragen, eine der- 
jenigen ähnliche Grenze, welche dem Individuum dadurch ge- 
zogen ist, dass es nicht die Empfindungen eines anderen Indi- 
viduums unmittelbar wahrnehmen kann, wie sie im Bewusst- 
sein desselben vor sich gehen, sondern immer nur mittelbar aus 
den Aeusserungen, welche damit verknüpft sind. Wer, gleich 
Gorgias von Leontini, auch diese Grenze als einHindemiss 
der Erkenntniss ansieht, dem dürfte nicht zu helfen sein. 

Jenes X also erscheint in der Einheit der Empfindung 
einerseits , andererseits bedingt durch den in dieser Abhand- 
lung dargelegten Process als bewegte Atomwelt; in letzterer 
Form ist sie der Darstellung durch Zahl und Maass und damit 
der wissenschaftlichen Behandlung zugänglich. „Wegen des 
strengen Zusammenhanges, der die Annahme der Materie und 
ihrer Bewegung in unseren Vorstellungen schafft, verdient sie 
„objectiv" genannt zu werden; denn durch sie wird erst die 



Schluss. 109 

Mannichfaltigkeit der Objecto zu einem einheitlichen, grossen 
und umfassenden „Object", das wir als den beharrlichen „Ge- 
genstand" unseres Denkens dem wechselnden Inhalt unseres 
Ich gegenüberstellen" ^). 

Wäre Empfindung das an sich Existirende, so würde noch 
die Aufgabe zu lösen sein, aus den mit Empfindung begabten 
Atomen die Einheit des Bewusstseins herzuleiten; und ob die 
Lösung dieser Aufgabe der Vernunft nicht wieder einen Kopf- 
sprung zumuthet, das lassen wir dahingestellt. Glücklicher 
Weise bedürfen wir auf unserem Standpunkte keiner solchen 
Lösung, weil das Problem für uns überhaupt nicht existirt. Wir 
kennen nur die Welt der Empfindung , welche uns unmittelbar 
in der Einheit des Bewusstseins gegeben ist als die Erschei- 
nungsform eines uns gänzlich Unbekannten; diese Welt der 
Empfindung suchen wir zu ordnen und werden dabei durch die 
Gesetze, welche eben die Erscheinungsform jenes Unbekannten 
bedingen, zu der Vorstellung der Atomwelt geführt. Atomwelt 
und Empfindung sind beide Vorstellung, nur ist die Atom- 
welt, die nach ganz bestimmten Gesetzen unserer Er- 
kenntnissthätigkeit (als Folge unserer Sinnlichkeit) 
geordnete Empfindungswelt. Wir sprechen daher nicht 
von einem unbekannten Dritten, sondern nur von einem Un- 
bekannten, weil Empfindung und Sein gar nicht zwei dem 
Wesen nach verschiedene Erscheinungsformen sind, sondern ge- 
wissermaassen nur zwei verschiedene Ausdrucksweisen für die 
Mannichfaltigkeit unseres Erfahrungsinhaltes. In der Empfin- 
dung haben wir die unmittelbare Einheit, in der Atomwelt 
haben wir die zu unserer Orientirung auseinandergezogene Viel- 
heit 2). Nur in der letzteren ist Naturerkenntniss möglich, und 



^) F. A. Lange, Gesch. d. Materialismus. 2. Aufl. II, S. 165. 

^) Hierdurch dürfte sich vielleicht erklären, was O. Liebmann (a. a. 0. 
8. 496) so unbegreiflich erscheint: dass die Natur sich im menschlichen 
Gehirn ein „automaton materiale logicum'' erzeugt hat. Der physiolo- 
gische Process ist nur das auf gewissen Umwegen gewonnene Bild des 
schon als mentaler (logischer) Process Gegebenen und muss ihm somit 
Punkt für Punkt entsprechen. 



110 Schluss. 

diese gipfelt in ihrer höchsten Aufgabe darin, die erforschten 
Bewegungen der Atome zu deuten in der Sprache der 
unmittelbaren Empfindung. 

Die Bewegung eines bestimmten Atoms ist nicht innerlich 
Empfindung; auch könnte Niemand aus der Atombewegung auf 
einen bestimmten Empfindungsinhalt schliessen, weil an und für 
sich beide gar nichts mit einander zu thun haben. Wenn man 
eine Figur einmal auf eine Kugelfläche, das andere Mal auf 
eine Ebene projicirt, so wird zwischen den einzelnen Theilen 
der. einen und der. anderen Prqjection Niemand eine Beziehung 
angeben können, der nicht das Gesetz der Projection kennt; 
die einzelnen Theile stehen mit einander in Verbindung nur 
durch das Gesetz der Abbildung; dadurch entspricht jedem 
Theile der einen Figur ein ganz bestimmter der anderen. Nun 
kann es der Fall sein, dass das Bild auf der Kugelfläche sich 
mit einem Blick überschauen lässt und uns als eine Einheit 
entgegen tritt, dagegen keine Ausmessung und Erforschung im 
Einzelnen , namentlich keine Beschreibimg eines beliebigen be- 
stimmten Theiles zulässt; während jenes Bild auf der Ebene 
zwar nach allen Theilen ins Unendliche sich erstreckt und kei- 
nen einheitlichen üeberblick gestattet, dafür aber eine Recti- 
fication nach Zahl und Maass und eine Beschreibung bis ins 
kleinste Detail erlaubt. Dann werden wir an dem letzteren 
unsere Studien machen, und wenn wir Beziehimgen zwischen 
den Theilen des ersteren kennen lernen wollen, werden wir 
nachsehen, wie wir sie uns an dem letzteren vorstellen. Und 
kennen mr mm die Punkte in dem Einen, welche ganz be- 
stimmten Punkten in dem anderen entsprechen , so werden wir 
auch von dem einen auf das andere schliessen können. 

Das ist ein Gleichniss, welches hinkt, wie alle Gleichnisse. 
Doch kann es in gewissem Grade zur Verdeutlichimg der Be- 
ziehung dienen, wie wir sie uns zwischen der Welt der Empfin- 
dung und der der Atome denken. Die erstere ist Eins, un- 
mittelbar ergriffen, aber unbeschreibbar; die letztere ist zer- 
splittert, auf Umwegen erdacht, aber mathematisch darstell- 
bar. Unter einander haben sie keine Aehnlichkeit, keinen Zu- 



Schluss. 111 

sammenhang; und doch sind sie verknüpft durch unsere Erfah- 
rung. Erfahrungsmässig können wir die Zusammengehörigkeit 
der einzelnen Stellen deuten ; wir können angeben , welche be- 
stimmte Bewegung einer bestimmten Empfindung entspiicfat 
Und so geben wir denn die Hoffiiung nicht auf, dass es einst 
gelingen werde, gleichsam ein Wörterbuch der geheimnissvollen 
Sprache zwischen Sein und Denken zu entwerfen, welches auf 
der einen Seite die erfahrene Empfindung, auf der anderen die 
berechnete Bewegung enthält. Dann erst ist die Weltformel des 
Laplace gefunden, denn dann erst kann der Mechanismus der 
Atome nach seiner Bedeutung für unser Bewusstsein erkannt 
werden. Und wenn auch die dunkele Grenze des Transcenden- 
ten bestehen bleibt, so ist sie doch umgangen; Alles, was 
Menschenwitz überhaupt interessiren kann, ist in einen grossen 
Zusammenhang gebracht. Naturwissenschaft und Philosophie, 
wenn sie noch getrennt bestehen, mögen dann aufs Neue ihre 
Gebiete abgrenzen. 



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