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STÄDTE UND LANDSCHAFTEN
EINE MONOGRAPHIENREIHE
AUGSBURG
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STÄDTE UND LANDSCHAFTEN
EINE MONOGRAPHIENREIHE
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LIBRARY OF PRINCETON
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THEOLOGICAL SEMINARY
19 4 8
HOFFMANN UND CAMPE VERLAG • HAMBURG
ALLE RECHTE VORBEHALTEN ■ PRINTED IN GERMANY- UMSCHLAG-
ENTWURF: ADOLF WESTERDORF • K L I S C H E E H E R S T E L L U N G :
ALBERT BAUER SOHNE, HAMBURG • G E S A M T H E R S T E L L U N G :
HANSEATISCHE DRUCKANSTALT GMBH, H AMBU RG - W AN D S BEK
INHALT
Seite
KURT PFISTER: Das goldene Augsburg 4
MATTHAEUS MERIAN: Augusta Vindelicorum 10 ,
GÖTZ FREIHERR VON PÖLNITZ: Die Fugger 15
MICHEL VON MONTAIGNE: Kurioser Report 23
KURT PFISTER: Agnes Bernauer 29
ERNST FRITZ SCHMID: Mozarts Urheimat 34
JAN LICHTENBERG: Brief aus der kleinsten Stadt 41
EUGEN DIESEL: Mühlwässer und Motoren 49
ERHART KÄSTNER: Die Heimkehr 54
WALTER HENKELS: Nach der Walpurgisnacht 63
NORBERT LIEB: Die Kunst währt lang 68
ARTHUR MAXIMILIAN MILLER: Der große Christoph . . 76
PETER DÖRFLER: Stadtluft macht frei 81
BEMERKUNGEN zu den Beiträgen und Bildern 94
KURT PFI STE R
ÖÄS goLöene AugsBUßg
K. onnte Nürnberg um das Jahr 1500 als Hauptstadt
der deutschen Kunst gelten, so ist Augsburg in den
beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundert-
wende an die vorderste Stelle des wirtschaftlichen
und gesellschaftlich repräsentativen Lebens gerückt.
Hand in Hand damit entfaltete sich hier eine im-
gemein tätige und breite Initiative in allen Bezirken
der Wissenschaft und Kunst. Wenn in anderen
deutschen Städten Humanismus und Renaissance
als Bildungsgesetz wirkten, so ist es in Augsburg
eine Art von Lebensgefühl, das Geist und Form,
Gestalt und Substanz der neuen Zeit mit atmenden
Organen aufnimmt.
Der Übergang hat sich hier leichter, aber dodi nicht
ohne Kämpfe und Vorbehalte vollzogen. Wenn man
überhaupt von einer Stadt der deutschen Renaissance
sprechen will, kann — neben Basel — nur Augs-
burg diese Kennzeichnung beanspruchen; und es ist .
naturgemäß von grundlegender Bedeutung, daß
Holbein, der größte Meister der deutschen Renais-
sance, gerade in dieser Stadt — vermutlich Ende
1497, vielleicht auch erst Anfang 1498 — geboren
wurde und aufwuchs. Wie die Welt des reifend/rn
Mannes in Basel ihre geästige Prägung empfing, so die
des Knaben und Jünglings durch das Erlebnis des
weltaufgeschlossenen, großbürgerlichen Augsburg.
Seit Konradins Zeit ist Augsburg Freie Reichsstadt,
und der Übergang zu den neuen ständischen Ord-
nungen hat sich hier ohne schwere Konflikte voll-
zogen.
1368 erhielten die Zünfte Zutritt zum Stadtregiment
und erlangten in diesem bald ein maßgebendes Über-
gewicht; doch beließ man den Patriziern Vorrechte
in der Besetzung von Ämtern und bei der Durch-
führung diplomatischer Missionen. Der Gegensatz
von Bischofs- und Bürgerstadt blieb freilich bis zur
Reformation bestehen und führte zu häufigen
Kämpfen.
Im ganzen war das Regiment der Zünfte, d. i. der
Handwerker, zwar fortschrittfreundlich, aber allen
radikalen Neuerungen abgeneigt; was seinen Grund
in der starken Bindung der Stadt an die Person des
Kaisers, besonders diejenige Maximilians, dann aber
auch in dem nicht so sehr in Satzungen als in dem
Gewicht der finanziellen Macht verankerten Einfluß
der großen Handelsgeschlechter und Wirtschafts-
führer, voran der Fugger, Welser, Baumgartner,
Rem, Imhof, Gossenbrot, Herwart, Manlich, Zink,
Kraft und Herbrot hat.
Die die Fernpässe Tirols und des Engadins beherr-
schende Stadt wurde um 1500 der größte Umschlags-
platz des Handels Süddeutschl.i.-.ds niit Italien und
dem Orient, sie war eine Hauptstätte der Leinen-
und Baumwollindustrie. Das FL?us der Welser ent-
faltete seine Initiative im Ostindienhandel mit Spe-
zereien und Gewürzen, das der Fugger, voran sein
großartigster Repräsentant, Jakob der Reiche (1459
bis 1525), im Bergwerkbau und Erzhandel, beson-
ders in Silber und Kupfer.
Außerdem war hier ein Mittelpunkt des europäischen
Geld- und Kreditverkehrs. Die Fugger waren die
Bankiers der Päpste und Habsburger. Ihr Ver-
mögen stieg zwischen 1510 und 1527 von 200 000
auf zwei Millionen Goldgulden, ein Betrag, der
nach vorsichtigen Schätzungen etwa einer heutigen
Kaufkraft von 70 Millionen Mark entspricht.
Man weiß, daß ' es die Darlehen der Augsburger
Großkaufleute gewesen sind, die die Kaiserwahl
Karls V. gegenüber dem rivalisierenden Franz I.
von Frankreich ermöglicht halben. Von 850 000
Goldgulden, die der Habsburger damals aufnehmen
mußte, haben die Fugger etwa 530 000, die Welser
140 000 gegeben; und so konnte Jakob Fugger dem
Kaiser schreiben: „Es ist wissentlich und liegt am
Tage, daß Eure Kaiserliche Majestät die Römisch
Krön außer mein nicht hätte erlangen mögen."
Diesem selbstbewußten Wort muß man freilich ein
anderes, kritisches, entgegenstellen, das Ulrich von
Hütten ausgesprochen hat: „Suditen nidit bisher die
Fugger auf jede erlaubte und unerlaubte Weise alle
übrigen Kaufleute vom Handel mit indischen Er-
zeugnissen auszuschließen, um durch die Einführung
von entbehrÜchen oder die Gesundheit und die Sitten
schädigenden Waren den Deutschen ihr Geld und
Silber abzunehmen? Ist es daher nicht der Wunsch
aller redlichen Deutschen, audi der gutgesinnten
Kaufleute, daß diese Leute, je eher, je lieber, aus
unserm Vaterland vertrieben werden? Ist es nicht
Raub, wenn sie Deutschland mit einer Münze über-
schwemmen, die nicht .den inneren Gehalt hat, den
sie haben sollte? Ist es nicht auch Raub, wenn sie
sich nahezu das gleiche Monopol über die Ablässe,
Pfründen, Dispense und andere päpstliche Privi-
legien verschafft haben, wie über die indischen
Waren, wenn sie ganz Deutschland mit römischem
wie indischem Tand überschwemmen und ihren Mit-
bürgern, so dem einen wie dem andern, gutes Geld
herauslocken?"
Die Kritik Huttens, die, wie man sieht, antiklerikale
wie antikapitalistische Argumente vorbringt, war
berechtigt, soweit sie den Ablaßmißbrauch und
andere im Zusammenhang der Reformations-
geschichte wichtige Zersetzungerscheinungen der da-
maligen Kirchenpraxis angriff. Auch das soziale
Problem, das mit der Entwicklung des Großunter-
nehmertums eine gewisse Proletarisierung des Fland-
werks mit sich brachte — das Kapital für den Ein-
kauf der Rohbaumwolle wurde von den Unter-
nehmern vorgeschossen, die auch die Fertigstellung
der Ware und den Vertrieb übernahmen — , ist be-
deiutsam genug; freilidi ist es erst in einer etwas
späteren Zeit, in den zwanziger und dreißiger
Jahren des neuen Jahrhunderts, akut geworden. Die
Geldentwertung aber, die Hütten den Monopol-
tendenzen der Fugger zuschreibt, ist in Wahrheit
eine mit dem Zustrom des überseeischen Goldes zu-
sammenhängende Kaufkraftminderung des Geldes
gewesen.
Tatsächlidi bezeugen die wenigen erhaltenen stati-
stischen Angaben der Augsburger Stadtbücher, daß
die soziale Struktur der Kommune damals noch ge-
sund war, daß der Wohlstand ständig wuchs und
sich auf einer breiten Grundlage entfaltete.
So erfahren wir, daß es um 1500 etwa 2500 Weber-
meister in Augsburg gab — gegenüber 700 im Jahre
1466 — , die jährlich siebzigtausend Stück Leinwand
bleichten und fünfunddreißigtausend Slücl< Barchent
dem Sdiauamt vorlegten. Bei einer ungefähren
Schätsmng der damaligen Einwohnerzahl auf 20000
Köpfe werden im Jahre 1475 2700, 1520 etwa 3000
„Nichtshäbige" angeführt, für die in Notzeiten teils
durch Maßnahmen der Stadtverwaltung, teils durch
Spenden der Besitzenden gesorgt wurde. Daß der
Reichtum sich nicht nur In einzelnen weniiren
Händen sammelte, wird ersichtlich, wenn man erfährt,
daß die Stadt im Jahre 1522 5940 und im Jahre
1528 6440 Steuerzahler aufweisen konnte; in der
ersten Steuerklasse waren 1498 9, 1526 39 Bürger
eingereiht. Man hat berechnet, daß sich das Ver-
mögen Augsburgs im Zeitraum dieser zwanzig Jahre
verzehnfacht hat.
Auch der Umstand, daß man schon im Jahre 1473
120 Bier- und Weinschenken zählte, gestattet einige
Rückschlüsse auf einen behäbigen und breit ver-
teilten Wohlstand.
»f.
Die Söhne der Patrizier und reidien Kaufleute stu-
dierten an den itaUanischen Universitäten, in Bologna
und Padua, und brachten den neuen humanistisdien
Geist, der auch in den Klöstern der Stadt eifrige
Pflege fand, in die Heimat mit. Zahlreiche Offi-
zinen, voran diejenige Johann Schönspergers des
Jüngeren, Rynmanns, Silvan Ottmars und Sigmund
Grimms, setzten sich mit Druckwerken für die Ver-
breitung der neuen Idee ein.
Das Haus Konrad Peutingers, des Freundes Kaiser
Maximilians, war wie dasjenige Jakob Fuggers und
des Erasmus von Rotterdam ein Mittelpunkt der
hutnajnistischen Studien und Bestrebungen. Der Ge-
lehrte, dessen vornehme Denkart einen bedeutsamen
und mäßigenden Einfluß im Stadtregiment ausübte,
besaß eine berühmte Bibliotliek griechischer und
römischer Handschriften, eine wertvolle Sammlung
antiker Münzen. Er hat u. a. eine Schrift; über die
römischen Altertümer in Augsburg und seiner Um-
gebung veröffentlicht. Wir hören von zahlreichen
guten Schulen; auch wurde der Meistersang eifrig
gepflegt.
Das Augsburger Stadtbild hat in diesen Jahrzehnten
vor und nach der Jahrhundertwende eine vollkom-
men neue Gestaltung erfahren, die die behäbige
schwäbische Baugesirmung mit dem neuen Dekor des
Südens verschmolz. Wiederum ist Jakob Fugger,
den man mit Recht den Vater der deutschen Renais-
sance genannt hat, zusammen mit seinen Brüdern
der großartige Initiator, Melanchthon hat ihn ge-
meint, wenn er schreibt: „Augsburg ist ein deutsdies
Florenz, und die Fugger sind den Medicis an die
Seite zu stellen."
1509 wurde der Bau der Grabkapelle der Fugger
bei St. Anna, 1511 der des berühmten Fugger-
palastes begonnen: die beiden frühesten Denkmäler
der deutschen Renaissance sind hier entstanden, ohne
daß die Erinnerung an die spätgotische Vergangenheit
vollkommen verleugnet worden wäre. In der Kapelle
weist das Kreuzgewölbe und der Altarchristus auf
mittelalterliche Traidition hin, der Palast hatte gotisch
profilierte Portale, die in die Kreuzgewölbehallen
des Erdgeschosses führten. Der Humanist Beatus
Rhenanus, dem Holbein später in Basel begegnete,
entwirft in einem an Philipp Puchaimer gerichteten
Brief eine anschauliche Schilderung der prachtvollen
Innenraumgestaltung der Fuggerschen Palastanlage:
Hans Holbein d. Ä. j Epitaph des Bürgermeisters Ulrich Scirwarz (Ausschnitt)
Photo Stade. Kunstsammlungen
4Mi^ ':r
!'■
„Niemals werde ich Deine Freundlichkeit
vergessen, mit der Du mir in Augsburg
behilflich warst, indom Du mich durdi
Christoph Wirsungs Vemiittlung in das
Haus der Fugger anführtest. Was gibt es
Prächtiges, das hier nicht zu finden wäre?
Fast überall ist es gewölbt und von Mar-
morsäulen gestützt, deren Kapitale nach
dem Muster des Altertums gemeißelt sind.
Was soll ich sagen über die geräumigen und
wohlgeschmückten Zimmer, über die Ka-
mine, die Verbindungsgänge, über das
Schlaf gemach des Hausherrn mit seiner gold-
verzierten getäfelten Decke, mit seinem son-
stigen Schmuck und der ganz ungewöhn-
lichen Pracht des Bettes! Neben diesem Zim-
mer befindet sich eine kleine Kapelle des
Heiligen Sebastian mit einem aus kost-
barem Holz meisterlich geschnitzten Gestühl.
Alles ist innen und außen mit Malereien
gesdimückt, und obschon alles höchst wert-
voll ist, trägt es doch selten überflüssigen
Aufwand zur Schau, wohl aber einen
gefälligen Geschmack und maßvolle Pracht-
entfaltung . . .
Das Haus Raimund Fuggers, das von dem-
jenigen Antons etwas entfernt liegt, aber
ebenso fürstlich eingerichtet ist, gewährt
einen sehr anmutigen Ausblick auf die
Gärten, deren einer unmittelbar am Hause
liegt, der andere durch die Straße, die
aber nur eng ist, von ihm getrennt ist.
Alles, was Italien an Pflanzen hervorbringt,
weist der Hausgarten auf. Man sieht da
ferner Blumenbeete, Gartenhäuschen, Baum-
gruppen, Springbrunnen mit gegossenen
Götterbildern. Auch ein Bad befindet sich
dort am Hause. Die Gärten des Königs
Ludwig von Frankreich, die wir einst in Tours und
Blois sahen, haben mir nicht so gut gefallen.
Als wir in das Haus eintraten, sahen wir umfang-
reiche Kamine, weitläufige Höfe und heizbare Ge-
mächer, aufs prächtigste ausgeschmückt. Hier er-
blickten wir ausgesuchte Gemälde aus Italien, auch
viele Bilder von Lukas Cranach in höchster Voll-
endung.
Noch mehr erregten unser Erstaunen, als wir in das
obere Stockwerk hinaufgeführt wurden, die vielen
Bildwerke des Altertums, wie sie wohl auch in Ita-
lien kaum irgendwo bei einem einzelnen Mann in
größerer Zahl zu finden sind. Zunächst betrachteten
wir die ehernen und gegossenen Standbilder. Weldier
von den alten Göttern ist uns hier nicht mehrmals
begegnet! In einem anderen Gemach, das nur Stein-
Silbeme Madonna / Um 1}00 (von Seldf)
Phoio Stadt. Kunstsammlunge
plastiken enthielt, sahen wir Diana mit dem Mor^ • . .
Es wurde uns erzählt, daß diese Denkmäler des
Altertums fast aus der ganzen Welt zusammen-
getragen worden seien, meist jedoch aus Griechen-
land und Sizilien. Herrn Raimund reut bei der Vor-
liebe, die er als genauer Kenner für die Wissen-
schaften des Altertums hegt, keine Ausgabe, wenn er
solche Dinge erwerben kann. Daran erkeimt man
den wahrhaft: edlen und hochsinnigen Geist dieses
Mannnes.
Viele Neu- und Umbauten wurden damals
durchgeführt. Es entstanden oder wurden neu ge-
staltet: die Kirchen von St. Ulrich und Heilig Kreuz,
die Dominikanerkirche, das Katharinenkloster, das
städtische Gieß- und Zeughaus, das Palais des
kaiserlidien Kanzlers Matthäus Lang, das Kornhaus.
Die herrliche Fassadenreihe der Via triumphalis, der
Maximilianstraße, erhielt in diesen Jahren ihre Prä-
gung. „Nie sah ich Glänzenderes und Verehrungs-
würdigeres als Augsburg", schreibt Urbanius Rhegius;
und Enea Silvio Piccolomini: „Es möchten wohl
Fürsten die Bewohner solcher Häuser beneiden."
Betrachtet man dieses Bild des goldenen Augsburg,
das noch durch manchen wichtigen Zug zu ergänzen
sein wird, so muß allerdings Huttens Kritik hinter
der Sdiilderung eines anderen Zeitgenossen zurück-
stehen: „Wie diese Stadt in kurzen Jahren hat zu-
genommen, in Reichtum prächtigen Lebens, weiß
männiglidi wohl, der Augsburg gesehen. Denn ihres-
gleichen wird zu unseren Zeiten in Deutschland
nicht gefunden, etlicher besonderer Personen halber,
die an sich gezogen haben die höchsten Kaufmanns-
händel, die in Europa betrieben werden; ja, ich höre
sagen, in der Barbarei führen sie ihre Hantierung
und Gewerbe, so daß durch sie ein überschwenglich
großes Gut erobert ist und sie für die reichsten Kauf-
leute geschätzt werden, so nicht allein Deutschland,
sondern ganz Europa zu unsern Zeiten hat. Es ist
durch sie die Stadt dermaßen mit herrlichen Palästen
und Häusern gezieret worden, daß einer, der vor-
her nicht dagewesen, glauben kann, er ginge in ein
Paradies . . . Die Bürger bei ihrem prächtlichen
Wesen sind nicht unfreundlich gegen den Fremden
und besonders gegen den Gelehrten, wie sie auch ge-
lehrte Männer im Rat und in den Ämtern haben,
und befleißigen sich, daß ihre Kinder in guten
Künsten erzogen werden."
Ein neues festliches Lebensgefühl ist ~der Ausdruck
der weltbürgerlichen Haltung und des gesteigerten
Wohlstandes.
Liest man die Seiten der damals geschriebenen Chro-
niken, so könnte man wohl bisweilen zu der Mei-
nung gelangen, das Leben der Stadt habe sich in
diesen Jahrzehnten in einer nicht abreißenden Folge
von Festen erschöpft; bis man durch andere Auf-
zeidinungen belehrt wird, daß es auch einen Alltag
gab; bis man erfährt, daß, wie in den künstlerischen
Dokumenten der Epoche spätgotische und renais-
sancehafle Elemente sich mischen, so audi hinter der
heiter festlichen, fast antikisch-heidnischen Fassade
solchen Lebens und Treibens mächtige und er-
schütternde Äußerungen religiöser Inbrunst und
mystischen Glaubens fühlbar werden, die dann
schließlich in den großen Kämpfen des kommenden
Jahrhunderts, in den Bewegungen der Reformation
und Gegenreformation, nach außen drängten.
Bezeichnend genug für solchen geistigen Dualismus
ist ein Wort, das Hans Fugger bei der Bestellung
einer Bildtafel äußerte: „Ich 's wollte andächtig und
schön haben und nit nur dies, daß der Maler allein
sein Kunstwerk zeigt und weiter nichts hat."
Man liest immer wieder begeisterte Schilderungen
von Glanz und Prunk der Turniere, Wettspiele,
Auf züge, Prozessionen, Schauspiele und Geschlechter -
tanze, von üppigen Gastmählern, von gewaltigem
Aufwand in Mode und Tradit. „Wo ist eine Frau,
ich sage nicht vom Adel, sondern eine bürgerliche",
schreibt Enea Silvio, „die nicht von Golde glänzt?"
Ein vom Rat 1509 veranstaltetes Schützenfest
kostete — bei einem Gesamtetat der Stadt in Höhe
von 53 000 Gulden — 9000 Gulden. Von einem
Bäckermeister, der seine Tochter verheiratete, wird
berichtet, daß er 720 Gäst-e auf acht Tage eingeladen
habe. Es seien u. a. 20 Ochsen, 30 Hirsche, 95 Mast-
schweine und 1000 Gänse verzehrt worden.
Es fehlt naturgemäß nicht an Klagen über ein solches
Leben und Treiben. „Anno 1519", heißt es in einer
Chronik, „war große Hoff art hier unter denBürgern
und unter den Handwerkern. Die Kaiserlichen
haben viele bösen Sitten hierher gebracht, die früher
nicht zu beobachten waren. Es geschahen große
Spiele mit Karten und Würfeln, und man war aus-
schweifend in Essen und Trinken. . So war man
auch üppig in der Kleidung: Männer und Frauen
trugen Marderpelze, Samt und Damast, köstliche
Ringe, Perlen und goldene Ketten, wie man sie in
keiner Stadt in deutschen Landen findet."
Mit der häufigen Anwesenheit Maximilians in Augs-
burg — ein Rat des französischen Königs hat den
Kaiser scherzhaft einmal „Bürgermeister von Augs-
burg" genannt — hängt in der Tat diese im dama-
ligen Europa sprichwörtlich gewordene „Augsburger
Pracht", aber auch manche nachteilige Auswirkung
zusammen.
„Solange der Kaiser in der Stadt war", heißt es in
einer Chronik, „ging es bei vielen Handwerksleuten,
die dabei Nutzen zogen, hoch her; wenn er wegzog,
waren sie den Luxus gewohnt und verdorben."
Erstmals hatte Maximilian 1473 als Erzherzog Augs-
burg besucht, und seitdem weilte er fast jedes Jahr
als Gast und Gastgeber in seinen Mauern. Denk-
würdige Reichstage wurden Irier abgehalten, um die
der Dekor reicher Feste sich entfaltete. Der Kaiser
pflog gelehrte Gespräche mit seinen Freunden Jakob
Fugger und Konrad Peutinger, er gab hier die An-
regungen zu dem Innsbrucker Grabmal und den
großen, der Gescitichte seiner Vorfahren und seiner
eigenen Erlebnisse gewidmeten Holzschnittwerken,
bei deren Gestaltung vor allem der Augsburger
Burgkmair mitarbeitete; denn, so sdireibt Maxi-
8
milian selbst im „Weißkunig", „wer sich in seinem
Leben kein Gedächtnis madit, der hat nadi seinem
Tod kein Gedächtnis und desselbigen Menschen wird
mit dem Glockenton vergessen."
Als der Kaiser 1518 2um letztenmal im Zusammen-
hang des bekannten Reichstages in Augsburg weilte
— damals hat ihn audi Albrecht Dürer porträtiert — ,
haben ihn die großen Aktionen der Innen- und
Außenpolitik, der Türkenkrieg und das Gespräch
Luthers mit Kardinal Cajetan, nicht davon ab-
gehalten, einem Geschleditertanz beizuwohnen und
einen Reigen der Jungfrauen anzuregen, da ihm die
Kavaliere nicht zierlich genug tanzten. Dabei störten
ihn die das Gesicht verhüllenden Schleier und er
ließ „seiner Demut gemäß, gütig und freundlich,
obsdion er dodi in kraft seiner Kaiserlichen Majestät
hätte gebieten können", die Jungfrauen bitten, daß
sie „solche Sdileier abtun sollten"; was denn audi
geschah.
Als Maximilian, der wenige Monate später starb,
aus der Stadt schied, sprach er die wehmütigen
Worte: „Nun gesegne dich Gott, du liebes Augsburg,
und alle frommen Bürger darin! Wohl haben Wir
manchen frohen Mut in dir gehabt. Nun werden
Wir dich nicht mehr sehen."
Die Gestalt des „Letzten Ritters", die aus dem spät-
gotisdien Mittelalter wächst und sich dabei ohne
Zwang in den Formen des neuen Geistes und Lebens
bewegt, steht gleichnishaft für den in Augsburg —
im Gegensatz zu Nürnberg und Basel — ohne
schwere Kämpfe und radikalen Umbruch sich voll-
ziehenden Übergang von der Gebundenheit der mit-
telalterlichen Ordnung in die neue Freiheit des
Individuums.
Karte der Weiser-Kolonie in Südamerika
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■^^ Oy <^^ Tor^.'- |V.3,C-M_^
I .».il.ili.ic
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I^^^-Äs^a
K.a Ii'gf öicfe €>taü auff einem luftigen Bßl)cl, t)at
gegen (Dticnt über öen £cd) öas Bai;rifcf)c <5tättlein
Jricöberg, gegen JTTiftag öie Tllgäuifd)c Jilfen unö
das ©tätticin ianösperg, gegen ITlitfcrnacf)! öie
^I)onau unö gegen öer ©onnen Hiöergang ftö^t fit
an die !narggrafffc()opt Burgau, und endet fid) gu
Tlugspurg das ©cf)£DabenIand, dacinn fiie nocf) ligjn
t!)ut. ?)at eine freye beilfame £ufft und ift der Boden
i)crumb gor eben und frud)tbar an aUeri)and Jtüd)ten,
l'edoc^ oi)m tüeinroa(i)s. S)at umb und umb eine
tocitfc^roeifige Weyt, ein fepft lctticf)t (frdreicf), luftige
Felder, jum ©eoögel und anderem SDildpret bequem,
mit den fcf)öncftcn Jßrften umbgcbcn. <Es toird diefe
6egend ringsumb mit luftigen flicffcndcn Bä(f)en
oon lauteren und Haren Brunnenroaffern begoffen.
mit den fc^ßneften ©arten und £ußt()öufern darinnen
gegicret.
^ öiefe der £icatier öindelicicr f)aupt=<5tatf, ]o
£icatiorum öamafia oor '^dten gei)eifjen, i)aben die
Körner eingenommen und l)iet)cr ein Coloniam (oder
Kömifd) erbauende JTlenge) 12 Jat^t, gioeen ITlonate
und fiebenundjiBon^ig ^ag oor (£f)rifti 6eburt ge=
füi)ret. Und befame fie oom ßayfer Bufluft» öen
Hamen Jluguftae.
^ Wae den ITcutfc^en naJ)men anbetrifft, fo ift auß
dem Bugufta und Burg mit der 2'^it Tlugspurg tDor=
den, fo fooiel als Bugufti 6tatt i)tiffd. Und ipt
dencfroürdig, daß auß ungäljlbarcn «ctötten, toeldje
dcß ßayfcrs Bugufti Hatjmen I)in und loieder in der
IDelt betommen und für andern berüijmbt getuefen.
10
v^uj)\?iin).
faft allein öicfc cinißc <5tatt nod) übrig ift, fo ihren
Hamen in fo oicl hundert 3af)tcn nid)t pccänöert [)at.
•! (Es führet L>ic <ctatt jum Süappcn ein Pine, *[rau=
ben oöer Bpfc'/ unö ift gu ocrmuthcn, toeiln öicfc
£anö8art fpi^igc nußbäumc ala öanntn, 5'C(l)tcn/
5of)tcn unö £crcf)enböum i)at, ßcffcn ju geöcncfcn
eine öerglei(f)en $tud)t in tas 6taft=5Dappen fom=
men fe^'c.
«i 6ie ift, Don öct oben gemcUcn Colonia on ju
rechnen, ungcfchr fünffhunicrt unt fünffgig Jai^t in
öcr Römer unö 6o(hen 6eiDalt gcujcfcn, oon öencn
f^e unter 6er Jrandcn Behcrrfchung fommcn, biß öaß
008 Kc>mifd)e Reich auff öie ^eutfcf)en i?a^;fer gclan=
get, unter öenen folgcnösöiefe Statt unter öenen oon
ihnen gefegten unö bclehncfen ßer^ogen in 6ch!»a=
ben getoefcn ift, biß fic fid) oon öcm letzten <Eonraöino
mit oilem 6clt fre^; gemocht unö oon öen i^a^rfern
hernach herrliche Prioilcgien erlanget hat-
"t Bnno 1272 hat öer Bifchoff öie Jurisdiction unö
Swey 3ahr öornach noch fd onöere 6erechtigfeitcn
mehr öem Roth umb eine benonötc Summe ©eifs
unö ouff eine beftimpte d^ü ocrliehcn unö oetfctst.
Bnno 1426 hat ein Roth allbie beym ßoyfer Sigio=
munöo erlongt, öoß öie öogtcv öer Stott Bugspurg
Don feinen ^oyfcr nimmermehr ocrfaufft oöer Der=
pfänöet loeröen möcf)te. Bnno 1551 gob ßoyfer
Corolus V. öer Statt öos Prioilcgium, öojj fic
JoUfrey fepn foUtc mit allen ihren Sachen, ujos fit
öohin führcten unö wk fie es gleich herbrächten.
q JDos aber fonftcn öos Regiment öicfer wcit=
11
L. Kilian j Bildnis des Elias Holl Photo Stadt. Kunstsammlungen
bctiif)nibf(!n Keid)8 6fatt betrifft, fo ift IoI(f)C6 oor
Reiten hty öcn Patritiis o6cc 6cfcf)led)tern geojtfcn,
unö tDucöcn tit beide <5taftpflcget alle 5il)r neu
ct£Dcil)(et. 'JWitt T\nnt> 1368, als ©raf illcicf) Don
ßcl^enftein iTanöocgt allt)ier tooccn, cntftunö ein
Bufflauff Don öcr Bürgerfcfiafit iin6 iDuröc öatauff
öen 6ef(f)Iecf)tecn ibce 6ciDQlt bcfcftnittcn unö gc^
ocönet, 6aß die 6cf(f)Ie(f)ter nid)t allein deß <5faft=
Kegiments toie bißf)eco fäf)ig fcirn, fondecn l)infort
in f)unöcct '^a\:)Xtn unö einem ^ag (mit n3clcf)ct 2^xi
6ec trcutf(f)c gemeinlid) öasjcnige, fo ciuig roä'rcn
foUte/ bcftimpt) groeen Burgccmcifter, einer auß öcm
f)crren 6ef(f)le(f)t, öer andere auß öen ^önfften jäf)r=
lic^ ettDöf)Iet toüröen. JDelc^e aud) gleid)en ©ctoalt
hätten. Und folcfjes Kegiment toä'hcete biß auffs
5af}r 1548, in toeldiem l^aufer Carolus V. daffclbc
mider änderte, bccnad) die "Sm^it auffgel)oben und
die gunfftmeiftcr abgefc{)afft bot.
^ Oon tt)eltlicf)en ©eböuen ift fonderlid) das getoaU
tige Ratbbauß ju beficbtigen, fo man Bnno I6l6 3U
bauen angefangen, deffen <5cil und 3''mnier auffs
<5tattlicf)rt und übet die maffen gier» und föftlirf)
erbauet und 3ugeri(f)tcf feyn. Und fte()et bty diefem
Ratl)f)auß der fiinftlid)e Pcrlad)tbucn, fo fonderlid)C
Tlngeig getoiffer '^a^ttzitittn gibt, bey dreihundert
6taffeln t)od) ift, und man die ^taü daoon rool bc=
ficf)tigen tonn. Und oon diefem ^fjuen tüird der
Pla^, darauff das Ratbbauß ftcl)et, der Perlad) und
insgemein Perle genant, oon deffen Söorts ilrfprung
tbeils meynen, er toerde darumb der Berlac^ genant,
dicroeiln oorgeiten Bären allda aujfsogcn toordcn,
joie nod) etliche alte ©emäldc außnicifcn.
•I ©onftcn feyn nocf) gtoeen ftattlid)e Brunnen all{)ic, "
auf dem SDeinmardt und oor dem ßorn= und Jjöebec»
bauß, a)eld)es aud) tool erbauet, toeil die Jücbecgunfft
die gröffte allbie feyn foUe. Bis in ioeld)er gu ßayfers
JTIaiimiliani deß Bndern Reiten 1600 IHeifter und
darüber gcjeblet toorden, a3eld)e alle oiel Äned)t und
ein groß ©cfind gu balten pflegen, fo allerlcy des
f)üpfd)ten und beften Bard)et und Pommcfin bcreyten
und mad)en.
«{ öie JTle^ig ift ein ^ayferlid) Beneficium und loird
den Bürgern difes f^andtoerrf dur(^ die Ferren
trrud)fcffen oon lüoldpurg oerlicbcn.
■l üor dem 3acober ^bor und in fclbiger Oorftatt
ift die Juggerey, dal)cr den Habmen, iceiln illrid),
©eorg und ^acob die Jugger ©ebrüder umbs '^a\)t
1519 etlid}e oiel ©arten, f)öf und f^äufer crfaufft
und bundertundgebn ©emad) allda erbauet, darinnen
allein baußarmc £eut, fo das BJniofen nit nebmcn,
fäbriid) einer umb ein ©ülden unterboltcn toerden.
3u Bnfang des 1642. Rabies toaren jajcyundfünffäig
ßäufer, deren jedes bot jujey ©emad), das untere ein
ßofflein oder ©ärtlein, das obere aber darfür einen
Boden, ©ibt ein ©emod) deß '^a\)tt9 ein ©ülden
3inß. Und toann ein ©enoß oon dem endern \tnU,
fo bleiben JDittiber und 'OiiHib obnoerttieben. tüann
aber ein fold)e Perfon joieder oerf)ciratct, fo muß fic
alsbald l)erauß.
•} €3 bobcn fid) in diefer ^taü je und allegeit oiel
dendtoürdige ©adjen gugetragcn, deren toir allein
ßür^e balber e'tlid)e »eniger gedenrfen. Bis daß man
mill, daj3 diefe ©fatf Bnno «tbtifti 451 00m Bttila
übel oertoüftet toorden feyn follc. ^un geyten ßoyfers
€>ttonis des ©roffen ift fie oon feines ©obns £uitoU
pbi und trod)tcrmanns Cunradi rcbellifd)en Bnbcin=
gern eyngenommen und mit ©djroerdt und Jeucc
übel gugetid)tet toorden. Befagtcr ßayfer bot Bnno
955 bcy diefer ©tatt auf dem £ed)feld die Ungarn
12
gänt^lid) erlegt. Und noeiln 6ie U)ebcc3un|ft eines
Ungatifdjen (Dberften, fo in öcc (5d)Iacf)f geblieben,
6(f)ild unö IDaffcn unter anöcrn Beuten erobert, als
führet fie L^iefelbigc nocft lieutigs «Tags in ihrem
iDappen, uni> fepn i>er 'öd)Ui> unö ^eim mit rotl)
unö gelben <Ducrftricf)en abgctbcilct.
^ Bnno 1CS4 ift 6ic Statt oon iTlarggraf £eopoI6
au^ (Peftcrreid) un6 fiert^og ficrmann ou(5 <cd)u)abcn
jcrriffcn un6 3um guten »Tbcil oerbrant toor^en. ilnö
faum nad) 4 llabccn t)at £)ert;og ü)dft) auß Bayern
öas übrige 3crfd)leiITt, oerbrant, ök Waurcn eyn=
geujcrffcn uni\ öem Bol^en eben gemacht.
■] Bnno 1415 fcpn Cie «Paffen unö ©iraffen erftlivf)
gu Bugspurg gepfläftert rocröen. J\nno 1418 a^ar es
alll}ie gar tDolfeyl, öaß ein Pfunö Kin6fleifcf) 3 £)cller,
ein Pfunöt 6d)malt5 umb 4 Pfenning, ein 5wcv=
pfünöig iTJaßi Herfcrmein umb 3 Pfenning, ein
ßarren doU 6cficiötliolt^ umb 10 <ßrofcf)cn un6 3
f)cnnen=<£yer umb einen ßcUer ocrfaufft i»ur6en.
Bn. 1420 fturben aUI)ic an öer Pcft 16000 Per=
fönen, item Bn. 1642 in öie eylfftaufenö Pcrfonen,
ujeldie f^rancflieit auch i>os folgend ^ahr bcynahcnö
öen Dierl^ten iTbeil l^c^ JlTenfchcn binsceg genommen.
Bnno 1473 gab man ein Sllafj Jücin umb 3 Pfenning
unö fcyn fclbigcr 3eit 120 Jüirth oöer IDcinfchencfcn
allöa getoefen. örauff Bnno 74 öie »Schcnrfmaß
fleincr gemacht iBoröcn.
oj Don (Pftern Bnno 1559 bi^ <Dftcrn 1560 unö aJfo
in einem ^ahr muröen allhic öreysehcntaufcnö (Ochfen
gcfchlachtet. (Es mar gicichmol auch in befaßtem
59. lai)v ein Reichstag aüta. Bnno 1565 i»ar öie
erfte üeichprcöigf bcy öer Bcgcäbnuß cThomac «Stahls
aUhie gehalten. Bnno 1632 ift öiefe &att im
Bprilcn Dom ßönig Böolpho auß ©chiBeöen belagert
unö eyngenommcn, folgenös aber oon öen ßayfcri=
fchen Bnno 1634 unö 35 alfo blocquirt gehalten
tDoröen, öaß fie [ich roegcn groffer f^ungcrsnoth hat
ergeben muffen.
5lu6 6cv Topographia Gsrmaniae lVs JHattbacuS 51unan
Jonas Ostertag j PerLidj'.urm und Rathaus
Photo S. Rostra
13
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^ȀWlMMt^Sg^'
GÖTZ FREIHERR VON PÖLNITZ
DIE fUGG6R
SCHICHTUNG GINGS CGSCHLGCHTS
Augsburgs Geschichte ruht in den Zeiten der Reidis-
stadt auf den Schultern seiner großen Familien, der
Berufsfamilien der Zünfte wie jener der ihrer Mitte
entsprossenen oder im Widerstreit mit diesen auf-
gestiegenen Geschlechter. Zu beiden Gattungen, zu
den Zünften und zu den berühmten Einzelgängern,
zählen die Fugger. Sie lassen sich in keinen Typ
einfangen und erscheinen doch typisch für das
Werden und Sich-Formen großer Häuser, vor allem
haben sie das historische Profil Augsburgs in einzig-
artiger Weise geprägt.
Seit 1367, knapp vor dem Sturz des aristokratisdien
Regiments, in der Stadt ansässig, schwangen sich
die Nachkommen jenes Hans Fugger, der aus dem
Lechfelddorf Graben zuwanderte, binnen eines
Jahrhunderts in die Spitzengruppe der Großver-
mögen auf. Angeborene und ererbte, durch Gene-
rationen gezüchtete Tüchtigkeit, verbunden mit
guten, erheirateten Beziehungen zu führenden Fami-
lien der Weber, Kaufleute und Goldschmiede,
schenkten ihnen solchen Erfolg. Jedoch er reihte sie
noch nicht in jene kleinste Gruppe ein, deren Glanz
den europäischen Ruf der Lechstadt begründete und
deren Handelszeichen von Spanien bis Kleinasien,
von Skandinavien bis Nordafrika, vornehmlich aber
an den Brennpunkten großer Wirtschaft, wie zu
Venedig, Brügge oder Iwangorod, mit scheuer Be-
wunderung betrachtet wurden.
In der Geschichte der Fugger läßt sich von keiner
eigentlidien Gründergeneration sprechen. Sie besteht
in keiner der beiden nach ihren Wappenbildem
unterschiedenen Linien der „Fugger vom Reh" und
der „Fugger von der Lilie". Jene Folge früher Gene-
rationen, die vom Tage der Einwanderung an bis
zur Verleihung dieser Ehrenbriefe Kaiser Fried-
richs in. hin, also bis zur Befestigung der Firma in
der öffentlichen Finanz dauert, stellt vielmehr ein
geschlossenes Ganzes dar, so reich es durch mannig-
fache Persönlichkeiten in sich gegliedert erscheint. Es
ist das übrigens bezeichnenderweise beinahe die ein-
zige Epoche, in der die Fugger nach zünftischen oder
kommunalen Ämtern, nach Führung innerhalb der
Stadt und nicht in erster Linie über die Stadt hin-
aus, mindestens in bestimmten Vertretern, strebten.
Aber selbst diese Individualitäten vermögen darüber
nicht hinwegzutäuschen, daß sie bloß historisches
Detail, gleichsam Anekdote im Gesamtroman ihres
Hauses sind, der sich in weit umfassendere Kapitel
ordnet. Nicht aus wenigen Generationen — den
meist üblichen: der Erwerber, Ererber und Ver-
derber, sondern aus einer Anzahl von Generations-
gruppen, die ihresteils gefügte Einheiten darstellen,
ist das Geschick dieses einzigartigen Hauses genea-
logisch und soziologisch, politisch und wirtschaftlich,
geistig und kulturell aufgebaut.
Die erste dieser Schichten, vom Beginn des vier-
zehnten bis zur Neige des fünfzehnten Jahrhunderts '
reichend, vollbr; "ite die Übersiedelung aus dem
bäuerlichen Milieu schwäbischer Heimweber an die
Augsburger Reichsstraße und damit in ein Zentrum
europäischen Handels sowie internationalen Ver-
kehrs. Es blieb von wegweisender Bedeutung, wenn
folgende Generationen nicht mehr draußen auf dem
Lande, sondern zwischen städtischen Warenlagern,
Verkaufsständen und Rechenpulten heranwuchsen.
Durch ihre frühe Jugend dröhnen bereits das Poltern
und Ächzen hochbeladener Kaufmannswagen.
Der Vermögensanstieg der Frühzeit ist bereits be-
achtlich, hält sich indes noch im Rahmen des Ver-
gleichbaren. Ebenso überschreitet die kulturelle
Betätigung noch kaum den Bereich üblicher bürger-
licher Stifterfreude. Die Frauen entstammen an-
gesehenen Meisterfamilien und weisen nur vereinzelt
in den Kreis der hohen oder höfisciier Finanz. An
Bildnissen hat sich aus dieser ältesten Epoche ein
einziges bewahrt, das Porträt Jakob Fuggers des
Alten von unbekannter Hand. Es zeigt zwischen
aller Verzeichnung ein derbes, hartes Gesicht. Soviel
der goldene Hintergrund der Gestalt, Pelzhaube,
Verbrämung, Ringe und Ketten auf den ansteigenden
Reichtum deuten, so könnte man sich doch seinen
Träger auch an Pflug und Webstuhl denken.
Bezeichnend .dünken ferner die geistlichen Berufe.
Insoweit sie von Kindern der damals ausgesprochen
bürgerlichen Familie ergriffen werden, handelt es
sich um rechtschaffene Nonnen in angesehenen
Deckengemälde im Goldenen Saal
Photo Stade. Bauverwaltung
15
Klöstern ider Reichsstadt oder um vereinzeJte Söhne,
die anscheinend nicht nur aus geistlicher Sendung
den geweihten Stand wählen. Sie sollen zugleich —
zum Beispiel als Scriptoren höchster kirchlicher
Behörden — für Fam'ilie imd Firma Raum und
Bahn im Schatten von St. Peter sichern. Auch der
jüngste Soihn dieser ältesten Phase, seinesteils wirk-
lich Bahnbrecher des großen Zeitalters der Fugger
für seine Familie, für die Reichsstadt und für die
Welt, Jakob der Reiche, hat als Chorherr in einem
kleinen fränkischen Stift begonnen.
Als ihn der Tod älterer Brüder ins Geschäft ruft,
vollzieht sich ein Strukturwindel, der binnen
weniger Jahrzehnte von unerhörter Dichte einen
neuen Menschen- und Geschäftstyp formt und damit
zugleich die entscheidende Schicht in dem Geschicke
seines Hauses zur Entfaltung bringt. Freilich auch
diesmal ist es bei genialer Einmaligkeit der Be-
gabung kein gewaltsames Geschehen von heute auf
morgen, gesdiweige denn ein unversehenes Geschenk
des Lel>ens an irgendeinen seiner verwöhnten Lieb-
linge, vielmehr zäheste Arbeit bis ins kleinste, die
den Umschwung auslöst. Die Anfänge einer italieni-
schen, Tiroler und Augsburger Lehrzeit verraten
nach außen nichts Ungewöhnliches. Der dichte
Schleier des GJeheimnisses, hinter (^an sich die lang-
same Ablösung der älteren Brüder Ulrich und Georg
Fugger durch den jüngsten, Jakob, sein Aufstieg
zum „rechten Schaffierer" der Gesellsdiaft vollzieht,
läßt sich nicht zerteilen.
Sichtbarer, wenngleich auch vielfach verdeckt, ge-
schieht der unerbittlidie Kampf mit der Konkurrenz,
der sich zumeist jenseits der schwäbischen Heimat
abspielt. Schrittweise rückt die Gesellschaft „Ulrich
Fugger und Gebrüder" an die Spitze der öster-
reichischen Staatsgläubiger vor, gewinnt die unein-
geschränkte, viel befehdete Kontrolle über die Berg-
sdiätze Tirols, der Tauern, Ungarns sowie weiter
Teile von Schlesien, Böhmen und Spanien.
Andere hatten zuvor Ähnliches versucht, kaum in
wesentlich geringerem Ausmaß. Jedoch fundamental
unterschieden durch Konzeption wie Format der
Durchführung erweist sich das Fuggersche Beginnen
infolge planmäßiger Koppelung seines Vorhabens
mit -dem kühn aufgebauten System politischer
Finanzen, die zur beinahe programmatischen Identi-
fikation des österreichischen Großmachtstrebens von
Maximilian I. bis Philipp IL mit der urnfassenden
Ausbreitung der Fugger in Handel, Bergbau und
■ Finanz führt. Das fordert zeitweise empfindliche
Verlustgeschäfte, gestattet dafür aber derart ge-
wichtige Eroberungen wie die Einschaltung der
Fugger in das slowakische Montanwesen, einen Er-
folg, den die Firma durch die finanzielle Vermitte-
lung der österreichisch-ungarisch-böhmischen Erb-
heiraten sich selbst sichert und dem Erzhaus ent-
lohnt.
Fast noch mehr von Ungarn als von Augsburg aus
vollzieht sich die transkontinentale Organisation des
Fuggerschen Geschäftes, wird jenes Netz von Straßen
mit Faktoreien als Knotenpunkten geknüpft, das
sich nicht bloß über das Reich, sondern über sämtdidie
europäischen Räume erstreckt, Balkan und Adria,
Lombardei und Pyrenäenhalbinsel nicht minder er-
faßt als Polen und Baltikum, die durch Sund und
Belt nach Skandinavien vorgreift, über Antwerpen
zur Atlantischen Küste ausholt und in vereinzelten
Ausläufern bis ins innere Frankreich und an die
Themse sich vorwagt. Wer sich ihr zu widersetzen
versucht, und seien es die Hanse oder Sienesen, wird
in politisch-finanziellem Zweikampf unbarmherzig
erledigt.
Nun fragt sich allerdings, woher die Mittel zu
solchem Unterfangen kommen, das vor dem Eingriff
in rein kirchliche Sphären keineswegs haltmacht, das
Konklaven beeinflußt, römische Kaiser- und Königs-
wahlen entscheidet, hier Kriege finanziert und dort
Frieden stiftet, ein diplomatisches Nachrichtenwesen
sondergleichen entfaltet, Zeitungen und Post orga-
nisiert, für die Söhne des Fuggerschen Geschlechtes
die Würden von Reichsgrafen und Edlen des König-
reichs Ungarn erlangt, ausgedehnte Herrschaften an-
sammelt, in die Tiefe seiner Schatztruhen die
Juwelen des Burgunderherzogs neben jenen des
Sultans versenkt und dabei in Wesen wie Erschei-
nung bei Jakob dem Reichen letzthin bürgerlich aus-
gerichtet bleibt.
Man hat die Ausschaltung jeglichen fremden Blutes
aus dem Fuggerschen Unternehmen frühzeitig be-
obachtet, allein zu voreilig daraus geschlossen, dieses
sei somit kapitalmäßig ausschließlich von der eigenen
Familie getragen worden. Demgegenüber haben neue
Forschungen das Bündnis der Fugger mit dem Ver-
mögen der toten Hand, den verborgenen Geldern
ungarischer Prälaten und von Kurienkardinälen ge-
offenbart. Damit gewinnt auch die Verflechtung in
die kurialen Staatsfinanzen — mitunter im Gegen-
satz zu den Interessen der Kunden im Heiligen
Kolleg — ihre eigene .Beleuchtung.
Die Zeit wußte von der starken Beteiligung der
römischen Fugger-Filiale nicht bloß bei der päpst-
lichen Münzprägung. Sie kannte Jakobs Anteil bei
der Pfründenvermittelung und der Organisation der
letzten spätmittelalterlichen Großablässe. Nahm
man die offenkundige Verbindung tmit Johannes Eck
und seine in Fuggerschen Diensten gewagte Vertei-
digung der Zinswirtschaft hinzu, die einen kühnen
Vorstoß gegen die mediävale Wirtschaftsechik des
16
heiligen Thomas wagte, schien der hintergründige
Zusammenhang der Dinge einfach und mehr als
durchsichtig dargetan.
In den Augen der Luther und Hütten arbeitete
Fugger aus materieller Intercssenverknüpfung für
das römische Papsttum, und es schien darum zum
höchsten an der Zeit, ihm „einen Zaum ins Maul"
zu legen. Sogar das Wormser Edikt gegen den
Reformator dünkte einer Welt, die von der finan-
ziellen Allgewalt des Augsburgers gebannt war,
durch sein Eingreifen ausgelöst.
Ähnlichen Vorstellungen blieb selbst das neuere Bild
angepaßt, das in Jakob Fugger den Vertreter eines
deutschen Renaissancemenschentums und Vorläufer
modernen Unternehmertums in einer Person mit
dem Prototyp der abendländischen FrühkapütaListen
feiert. Irreführend wie alle zu einfache Deutung
komplexer menschlicher Vorgänge erweist sich bei
näherem Zusehen auch diese. Es ist nicht der Kampf
um die Macht allein, jenes schier dämonisch rastlose
Warkenwollen, „dieweil er könne", das Fugger be-
herrscht. Nicht das mindeste vom italienischen Über-
menschen der Renaissance, nichts von zynischem
Jenseits-von-Gut-und-Böse umwittert die Gestalt
eines Bürgers, der für sich und sein schönes, doch
verwirrendes Weib Indulgenzen erwirbt, der die
erste deutsche Renaissancekirche baut, aber bis ins
Mark gotisdi fühlt, der vermeintlich über Leichen
sdireitet und dabei mit seiner ersten abendländischen
Armensiedelung, der Augsburger „Fuggerei", dem
heidnisch fühlenden Literatentum seiner vornehmsten
Kritiker ein säkulares Zeugnis christlicher Bruder-
liebe entgegenstellt, der nur scheinbar den Pomp
italienischer Palazzi in deutschen Patrizierhäusern
einführt, in Wirklichkeit aber mit spätmittelalter-
licher Schlichtheit stirbt und über seinen Hausrat bis
zur eigenen Bettstatt und deren Kissen so gewissen-
haft verfügt wie irgendein alter Weber.
Durch seine einzigartige Gestalt, die bei mancher
Einseitigkeit an das Geniale hinreicht, hat Jakob
Fugger den klassischen Typ oberdeutschen Kauf-
herrentums, das viel gepriesene „Goldene Augsburg"
verkörf)ert. Er gestaltet dabei zugleich, und das
wahrscheinlich weit bewußter, die innere Form
dieser zweiten, eigentlich herrenhaften Schicht im
Generationsgefüge seines Hauses. Allerdings, der
Neffe und Nachfolger, Anton Fugger, ist dabei vom
Oheim nicht zu trennen, obsdion sich bei ihm die
gleiche Problematik bereits um den Winkel einer
Generation versdioben wiederholt. Während in dem
Alten die Gegensätze noch dichter beisammen-
wohnen, das Mäzenatische erst am Rande auftaucht,
die Versuchung einer sozialen Verwandelung nodi
kaum empfunden wird, weil der vielseitige Span-
Hans Holbein d. Ä. / Jakob Fugger der Reiche (U59-i525)
Photo Birzele und Przibilla
nungsgehalt der unerhörten Persönlichkeit auch die
Vereinigung des vermeintlich Widersprechenden
einmal gestattet, klaffen unter den nächsten Neffen
die Gegensätze bereits auseinander.
Dennoch kann von Epigonentum nirgends die Rede
sein. Abwegig wäre die Frage, wer von beiden —
Jakob oder Anton — der Größere gewesen sei, ab-
wegig, weil falsch gestellt. Wertlos bleibt erst redit
die andere, wer von ihnen der Reichere, da sie an
das Problematische von Persönlichkeit und Werk
überhaupt nicht rührt. Ohne Jakob ist kein Anton
Fugger denkbar. Und wenn der Jüngere sich mit
spanischen Quecksilbergeschäften bis in die Gefahr
des Ruins verflicht, Spekulationen mit niederländi-
schen Staatspapieren riskieren muß, toskanische und
neapolitanische Operationen mitunter über den
Rand des wahren Vermögens hinaus eingeht, ist er
selbst hierin ebenso Vollender des Erbes, des „Stils",
seines angeblich vorsichtigeren Oheims wie bei den
Königswahlen und in der Finanzierung der sieg-
reichen wie von Rückschlägen überschatteten Heer-
züge Karls V. und Philipps IL, — nur eben etwas
verwandelt in den Maßstäben der Zeit.
17
Hierin kündet sidi diese Wandlung an, die bei den
Brüdern und Vettern, erst redit bei Söhnen und
Neffen zur Abkehr, wenn nicht zu einer Art Verrat
am Überkommenen, richtiger gesagt zum Durch-
bruch einer neuen Schicht und ihrer Haltung zum
Leben führt. In der wohlgemeinten Absicht, Große
noch vergrößern zu sollen, haben posthume Bio-
graphen Jakob dem Reichen Sammlungen und
Bibliotheken angedichtet, die nie sein Eigen waren.
Im Gegenteil, das samm-
lerische Moment wird zu
einem der Charakteristi-
ken der nächsten Genera-
tionengruppe. Diese Men-
schen, übrigens schon An-
ton und sein Bruder Ray-
mimd Fugger, können
mit Hingebung sammeln,
sie sind Menschen ohne
jene verhaltene Bändi-
gung des Charakters, die
ihren großen Oheim aus-
zeichnet.
Auch die literarischen Be-
ziehungen, Humanisten-
korrespondenzen, die För-
derung der antiken For-
schung, der Aufbau der
Bibliotheken sind Eigen-
schaften, die für die neue Generationsschicht be-
zeichnend sind, mitunter aber zum Verhängnis
werden können. Die Faktoreien dienen ihnen bereits
fast mehr zur Befriedigung differenzierten Lebens-
genusses durch Vermittelung wertvoller Bilder,
Gläser, Teppiche, Bronzen und Stoffe denn als Um-
schlagplätze des internationalen Handels.
Diese Veränderung der Fugger haftet nicht an der
Oberfläche. Man begnügt sich nicht mit der üppi-
geren Ausschmückung des eigenen Ambiente, einer
breiten Zurschaustellung von Luxus oder Genuß.
Zugrunde liegt ein raffinierteres Lebensbedürfnis,
das sich aus der Gesamtneigung der Zeit speist, hier
freilich außerdem nodi in einer blutmäßigen Wand-
lung des Geschlechts wurzelt.
Mit den Nichten und Neffen Jakobs verschieben
sich an- und eingeheiratete Familien aus dem ur-
sprünglich kaufmännisch - bürgerlichen Bezirk in
Kreise landgesessener Ritterschaft. Man hält sich
auch räumlich nicht mehr im Schwäbischen, vermählt
sich mit Töchtern vornehmer Geschlechter, schließ-
lich des hohen und höchsten Adels aus dem gesamten
Reich. Erstmals durch die Ehe Raymund Fuggers
wie seiner Schwester knüpfen sich Verbindtmgen zu
ungarisch-polnischen Kaufmannsfamilien, die zu-
nächst einer Befestigung des gemeinsamen Handeis
mit den Thurzo als Magnaten osteuropäischer Wirt-
schaft dienen sollen. Diese Heiraten leiten bezeich-
nenderweise schon in der ersten Generation östliches
Brauchtum in die Reichsstadt, so wie die italienisdieu
Beziehungen der Fugger ihr eine Fülle kultureller
und künstlerischer Anregung beschert hatten.
Das klar Geschlossene, Bestimmte und Sichere, in
sich Feste des Lebens geht durch die fremden Ehen
unmerklich verloren. An
die Stelle des bisher bür-
gerlichen Lebensgefühls
tritt ein adoptiertes sozi-
ales Ideal gemäß der
neuen blutmäßig gemisch-
ten Substanz infolge der
unglaublich anziehenden,
zwielichthaften Situation
von Menschen, die auf
der Grenze zwischen zwei
Welten stehen.
Leidenschaftliche Samm-
ler eröffnen, wie gesagt,
den Reigen. Zu ihren
Schätzen zählen die merk-
würdigsten Raritätenka-
binette Oberdeutschlands.
Als Antrieb überwiegt da-
bei nicht das Bedürfnis zur
Stapelung von Sonderbarkeiten, vielmehr ist ihr
Trieb beherrscht von einer geistigen Bewältigung
des Daseins, die in der Pflege italienischer, deutscher
und niederländischer Bilder, antiker Gemmen oder
Plastiken, mittelalterlicher Bücher, — darunter der
Manessesdien Handschrift — eine Erfüllung des
eigenen Lebens sucht und findet.
Das Fuggerhaus zu Augsburg wird unter Johannes
Fugger zu einem echten Juwel europäischer Wohn-
kultur, seine Räume in dem schwäbischen Schlosse
Kirchheim, hauptsächlich durch den berühmten
Cedernsaal, zum vornehmsten Ausdruck dieses diffe-
renzierten, stark herrenhaften Lebensgefühls der
Schicht um 1580. Gewiß hatte der Burgenerwerb
schon in der Zeit des großen Handels begonnen,
indes er gewann erst jetzt innere Wichtigkeit. Nun
erscheinen die Schlösser nicht länger als kaufmän-
nische Vermögensanlage, selbst nicht als benötigter
Umraum des Lebens. Sie werden zur Emanation des
neuen Lebensinhaltes und fast schon zum Selbst-
zweck für ein Mischgeschlecht von Kaufherren und
Rittern, das sich hieran menschlich verschwendet.
Nicht zuletzt beginnen die Liebhabereien sich merk-
lich zu ändern. Man huldigt der Jagd bis zur Hem-
mungslosigkeit, schreibt Bücher (was für den großen
18
Jakob schon zeitmäßig unvorstellbar geblieben
wäre), oder läßt solche schreiben über das Gestüt-
wesen, über geschichtliche Themen, die Genealogie
des eigenen Hauses. Daneben entstehen geheime
Manuskripte mit den Horoskopen sämtlicher Mit-
glieder der Familie, und Jörg Fugger fahndet
schließlich in verborgenen Laboratorien höchstper-
sönlich nach dem Seein der Weisen, den seine Ahnen
im Bergbau und auf den Märkten suchten. War eine
frühere Generationsschicht unzweifelhaft persönlich
reicher gewesen als die beginnenden Verschwender,
so hat diese Gruppe dafür die Welt umher desto
reicher gemacht, da sie aus ihrer Fülle, dem Über-
angebot ihrer Persönlichkeiten, sich nach allen Rich-
tungen hin menschlich verspendete.
Manchmal, wie bei Johann Jakob Fugger, gehen
dabei bereits der innere und äußere Halt verloren.
Der Handel leidet. Der private Konkurs wird müh-
sam vertusdit. Im ganzen aber bleiben die Ernst-
haftigkeit des Lebens und das innere Gesicht des
Daseins gewahrt. Die mit steigendem Gefühl für
den Eigenwert angelegten Porträtwerke zeigen
männliche Gestalten von imponierender Statur.
Allerdings, die gemeißelten Schädel der ersten Gene-
rationen tauchen nicht wieder auf. Dafür finden sich
vornehme, mitunter müde oder träumerische Kava-
liere, häufig nach der Tracht eines Philipp IL ver-
halten sdiwarz in schwarz gekleidet. Das Dunkel
ihrer Gewandung wird nur sparsam überhöht von
feinen, feierlichen Krausen und dem Gefunkel eines
Kleinods an schmaler goldener Kette.
Fragt man nach dem Schicksal dieser Menschen, so
zeigt sich dahinter zumeist der hinreißende Kampf
um den großen geistigen und gewissensmäßigen Aus-
trag des Jahrhunderts, der Kampf um Reformation
und Gegenreformation. An jener nehmen die Fugger
mit wenigen Gestalten wie dem jüngeren Ulrich,
Schöpfer eines Teils der Heidelberger Bibliothek,
teil. Meistens stehen sie mit persönlicher Hingabe
und dem Einsatz ihrer privaten Freiheit im Lager
der Gegenreformatoren. Ihnen werden außer Geld,
Gut und Soldaten Häuser und Liegenschaften für
Kirchen, Klöster oder Schulen, vornehmlich Jesuiten-
kollegien, in und außerhalb Augsburgs zur Ver-
fügung gestellt. Diese Gruppe Fuggerscher Männer
verschreibt sich mit heißer Gläubigkeit und kind-
lichem Gehorsam der Wiedergeburt der alten Kirche.
Es geschieht aus dem erschütternden Erlebnis ihrer
Bekehrung oder Wiederbekehrung, mitunter im per-
sönlichen Austausch mit führenden Gestalten der
römisch-spanischen Bewegung und deren Heiligen,
am innigsten in geistiger Gemeinschaft: mit Petrus
Canisius.
Schon Jakob Fugger war aus seiner Zugehörigkeit
zur spätmittelalterlichen religiösen Reform zuletzt
überzeugter Gegner der Reformation geworden.
Diese Ausriciitung steigert sich in der folgenden
Generationsgruppe gemäß ihrer ritterlich kämpfe-
rischen Lebenshaltung. Mochten die Fugger des späten
sechzehnten Jahrhunderts häufig untereinander im
prozessualen Streit liegen und mit der einstigen Ge-
schlossenheit des Geschlechts die überlegene Macht
der Gesellschafi: schwinden, zeigen sie sich doch im
wesentlichen einig beim Kampf für die Katholizität
Fuggermedaillen: M.Sebel i Ruymund Fugger (l4S9-i535) und H.Kels d.J./ Jörg Fiigger (l5tS-l569) Photo Birzelc und Przibilla
19
■^
c" '-'If' **^^vji
^— Jk^,>c^
ihres persönlichen Lebens, ihrer Herrschaften, ihrer
städtischen Heimat, des Reiches und der Welt. Ohne
die Fugger gibt es keine deutsche, besonders keine
Augsburger Gegenreformation.
Allerdings die Weise, wie diese Grundriditung beim
einzelnen zur Verwirklichung gelangte, wechselt
rasch und bald ohne Unterlal?. Da erscheinen nach
den humanistischen Gelehrten und mäzenatischen
Sammlern kaiserliche Politiker, hohe Militärs, höfi-
sche Beamte, Staatsminister und Ritter des Goldenen
Flieses, oberste Richter sowie Fürstbischöfe, Dom-
herren und Äbte. Aus der Vielfalt dieser zumeist
hingebend ausgeübten Berufe spricht eine be-
glückende Fülle wahrer Persönlichkeiten, jede für
sich der Betrachtung wert und nur hier verschwin-
dend durch die Unzahl der Gestalten.
Es läßt sich nicht leugnen, daß das Menschentum
dieser Fuggerschen Generationen immer ausschließ-
licher vom adeligen Einschlag Ins traditionelle Ge-
webe beherrscht wird, ohne damit freilich das ur-
sprünglich Fuggerische preisgeben zu wollen. Zwi-
schendrin leuchten, wenngleich vereinzelt, kaufmän-
nische Naturen auf, beispielsweise im Pfefferhandel
derOctavianusfSecundus und Philipp Eduard Fugger.
Die Handelsgesellschaft als solche erhält sidi bis
etwa zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Zum
Ende freilich findet sie sich von Menschen geleitet,
die höchstens aus Herkommen, und nicht mehr aus
Überzeugung, geschweige denn aus Berufung Kauf-
herren heißen durften.
Erst die endgültige Liquidation der fast zwei-
hundertjährigen Kette Fuggerscher Handelsfirmen
kennzeichnet wahrnehmbar den unwiderruflichen
Vollzug einer dritten Wandlunfg. Endgültig scheint
jetzt das Gedächtnis des großen Handels abgestreift.
Man wird zum gräflichen Junker und Kavalier be-
nachbarter Höfe, mitunter vielfach interessiert und
weit gereist. Der große Eins.atz des Lebens aber
wird fast nirgends mehr gewagt. Durdi die ketten-
artige Folge ähnlicher Ehen überwiegt nachgerade
das adelige Element, und die Fuggersche Dominante
der einstigen Zeit gerät beinahe in Vergessenheit.
Blickt man in das Antlitz dieser Generationen des
achtzehnten Jahrhunderts, so wird eine gewisse
Durchschnittlichkeit der Gesichter nur schlecht ver-
borgen durch den Aufwand des Kostüms, von Prunk-
rüstungen, Feldherrnstäben, wallenden Mänteln,
Degen, Orden, farbigen Fracks und gepuderten
Perücken. Dazwischen scheinen erste lebensmüde, fast
dekadente, mindestens elegische Figuren aufzutauchen.
Zumeist obwaltet aber noch eine strahlende satte
Lebensfreude der Männer, bei den Frauen hingegen
das höfisch-spielenische Zeremoniell bis in das a la
Marie Antoinette hoch aufgesteckte Haar. Auch diese
Generationsgruppe kennt bedeutende Vertreter des
Fuggerschen Namens, so etwa einen Bisdiof von
20
Regensburg, der als Kunstfreund gerühmt wird.
Ebenso bleibt die religiös devote Haltung durchaus
gewahrt, wie es die Stiftung der Weldener Wall-
fahrtskirche, eines Juwels schwäbischer Barockkunst,
beweist. Ein faltig weiter Teppich bunter, religiöser
Kunst und Kultur, durchwirkt mit dem Motiv der
Fuggerschen blau-goldenen Lilien, breitet sich bis in
das Rokoko über die schwäbische Landschaft. Dabei
mag es an persönlicher Ehrlichkeit der Empfindung,
gesteigert bis zum schmachtend sich verzehrenden
Gefühl, nicht fehlen. Dennoch lassen die großen,
packenden Naturen allmählich nach. Es schwindet
die von mächtigen Impulsen des Daseins getragene
echte, leidenschaflLiche, alte Greifweise des Lebens.
Man ist vielleicht noch nicht eigentlich preziös, in-
dessen das Generelle, das doch nur Typische und
Unverbindliche verdrängt das Individuelle, trotzd>;m
die Überhöhung des persönlichen Geltungsbedürf-
nisses mit einer Verengung der realen Wirkungs-
horizonte voranschreitet. Diese Männer sind längst
nicht mehr Kaufleute, auch nicht mehr adelige
Grundherren. Ihr Stil wird absichtlidi immer fürst-
licher, selbst auf die Gefahr hin, daran wirtschaft-
lich und moralisch zu zerbrechen. Am deutlichsten
äußert sich solches in der Entfaltung der Musikliebe.
Jakob Fugger stiftete seinerzeit die erste Fugger-
sche Orgel für die eigene Grabkapelle. Jetzt werden
Hofkapellen gehalten, Theater aufgeführt, gran-
diose Musiksammlungen angelegt, und bis ins neun-
zehnte Jahrhundert hinein wird dieser seigneurile
Maßstab des Lebens noch so lebhaft: nachblühen, daß
noch um den Ausgang des letzten Jahrhunderts ein
Fugger sich seine Beamten nach ihrer musikalischen
Begabung wählt.
Mit der Erhebung in den Reichsfürstenstand, die
kurz vor dem Zusammenbruch des alten römisch-
deutschen Kaiserstaates dem romantisch „teutsch'
empfindenden Anselm Maria Fugger von Baben-
hausen 1803 zuteil wird, verdichtet sich dieses fürst-
liche Lebensgefühl für die Dauer des letzten Jahr-
hunderts. Kurz zuvor hatte man noch stolz gegen
den Citoyen Premier Consul Bonaparte protestiert,
vermag nun aber die frische Reichsfürstenherrlich-
kfdt gegen ihn und seinen Verbündeten nicht zu
behaupten und unterwirft sich daher kampflos d:m
großen bayerischen Nachbarn.
Die Familie, soweit ihre bekanntesten Gestalten
fortan nicht den Kontakt mit dem Wiener Kaiser-
hof suchen, gewinnt seither wieder stärkere Fühlung
mit der Augsburger Wiege des Geschlechts. Doch
das geschieht nidit als Rückkehr zum bürgerlichen
Dasein, vielmehr in fürstlich gnädiger Weise. Die
Fassaden der einstigen Häuser am Augsburger Wein-
markt werden im üppigen Geschmack der Zeit mit
Bildnisse aus drei Generationen der Fugger: Ott Heinrich (i592-
t644), Anton (l493-i560) und Jörg (t5iS-i569)
Photo Birzele und PrzibilU
Bildern aus der Fuggerschen Geschichte bemalt, die
nur an Format die feinen Schildereien Burgkmaiers
im Innern des Damenhöfchens übertreffen. Historien-
malerei und historischer Roman feiern mit Vorliebe
die Farraliensagen vom einwandernden, armen
Webergesellen bis zur Schuldscheinverbrennung im
sagenumsponnenen Kamin. Man weiß sich Fürst,
fühlt sich nicht anders und liebt eben darum die
Tradition solcher Mythen. Tatsächlich beherrscht
der grandseigneurile Stil, der splendor familiae, das
Bild des Hauses und den Charakter seiner vorzüg-
21
lidisten, mitunter sehr tatkräftigen und bedeutenden
Vertreter bis zum Ende des zweiten deutschen
Kaiserreiches. Hart vor dem Ausbruch des ersten
Wehkriegs erringt die Fuggersche Linie Glött aus
der Hand des bayerischen Königs einen zweiten
Fürstenhut.
Weltkriege und Folgezeiten haben das Haus Fugger,
mindestens ' seine historische Schichtung, insofern in
Frage gestellt, als ein erheblicher Teil der Stein ge-
wordenen Zeugnisse seiner Größe in der Augsburger
Sdireckensnacht von 1944 zerstört wurde. Das Ge-
burtshaus Jakobs ging zugrunde. Die Fuggerhäuser
von vier Jahrhunderten, gleich der „Goldenen Stube"
und den Handelshäusern, den Fuggerschen Grablegen
und Kirchen brannten aus. Keinem Geschlecht
Augsburgs hat jene furchtbare Prüfung so hart zu-
gesetzt wie diesem. Sogar die friedliche Fuggerei
sank zum größten Teil in Asche.
Aber noch blüht die Familie, obwohl nicht im ur-
sprünglichen zahlenmäßigen Umfang, in drei Zwei-
gen, erheben sich ihre Gotteshäuser, Paläste und
Stätten der Wohltätigkeit schon wieder aus den
Trümmern. Die einzige existenzielle Gefahr, näm-
lich jene des Abreißens der Tradition, des Verlustes
der spezifisdi Fuggerschen Note, die Möglichkeit
des Sich-Verlierens ins Unpersönliche ist dadurch
beschworen, daß neben allen anderen waltenden
Kräften schließlich Wucht und Fülle ihrer Stiftungen
die Fugger notwendig zusammenihalten und ihnen
unablässig in den überkommenen Aufgaben ihrer
Führung Sinn und Willen der Alten unverwischt
vor Augen stellen.
Trotzdem wäre es unfuggerisch, nur bewahrend,
nichts als dieses allein zu sein. Denn, wo immer
dieses Geschlecht sich zur Größe entfaltete, gesdbah
es im bewußten Fortschreiten über die eigene Zeit
und zum Teil im Widerspruch mit ihr, mitunter aus
schwäbisdiem Eigensinn, jedenfalls aber geformt
vom ungebrochenen Glauben an die eigfene Kraft
und eine sendungsähnliche Verpflichtung.
Die Nachgesänge des Barock sind endgültig verr
klungen. Wieder scheint ein Abschnitt von einschnei-
dender Bedeutung zu dämmern. Er mag den Fuggern
dereinst, soweit solches im Rahmen ihrer Möglich-
keit liegt, die Bewältigung mancher Nöte unserer
Zeit aus der Sicht einer neuen Gruppe von Genera-
tionen bescheren. Sie schon heute näher zu umreißen,
hieße nichts anderes, als Wünsche auszusprechen, wo
nicht gar zu schwärmen. Nur so viel ist gewiß: Auch
diese künftige Schicht wird, sofern sie nicht epi-
gonenhaft dem Sommer der Lilien nachwelken soll,
den Alten ähnlich nüchtern und zugleich phantasie-
begabt, herrisch, aber letzthin selbstbeherscht, ihrer
selbst bewußt und doch selbstlos heranwachsen
müssen, wenn sie als vollgültiges Stodcwerk auf den
Unterbau der früheren Generationen des Hauses
sich türmen und künftigen Schichten ihrerseits als
tragender Unterbau Fuggerscher Zukunft dienen will.
22
(^x^ ...
x^y/CeoÄeeitOfi- %.^Cet/i/(/ '<^j/e
Wir reästen nach Tisch weiter und kamen durch
eine weite Ebene mit ganz einheitlicher Vegetation,
ähnlich der Ebene von Beausse, nach Augsburg, vier
Meilen davon, das als die schönste Stadt Deutsdi-
lands gilt, wie Straßburg als die stärkste.
Die erste seltsame Zurüstung, die wir bei unserer
Ankunft sahen, die aber die Reinlichkeit dieser
Stadt beweist, war, daß die Stufen der Wendel-
treppe unseres Gasthauses ganz mit Leinenzeug be-
legt waren, über das wir schreiten mußten, um die
eben, -wie jeden Samstag, gewaschene und geputzte
Trepf>e nicht schmutzig zu machen. Wir bemerkten
niemals Spinngewebe noch Schmutzspuren in all
diesen Gasthäusern; in einigen gibt es Vorhänge, die
man nach Gefallen vor die Scheiben ziehen kann.
Tische finden sich nicht in den Zimmern, ausgenom-
men die an dem Fuß jedes Bettes angebrachten, die
sidi in Scharnieren bewegen und nacii Belieben auf-
und zugeklappt werden können.
E>ie Bettfüße ragen zwei bis drei Fuß über die Bett-
stellen hinaus, oft so hoch wie das Kopfkissen; das
Holz, das dabei verwendet wird, ist gut und zeigt
schöne Arbeit, jedoch übertrifft unser Nutzholz weit
ihr Tannenholz. Auch hier wurden in die blinken-
den Zinnteller zur Schonung hölzerne gesetzt; an
den Betten sind vor die Wand oft Tücher und Vor-
hänge gezogen, damit man die Wand nicht anspuckt
und verunreinigt. Die Deutschen sind Liebhaber
von Wappen: denn in allen Gasthäusern findet man
sie von den durchziehenden Edelleuten schockweise
an den Wänden zurückgelassen, auch alle Scheiben
sind damit versehen. Die Speisenfolge ist im Land
sehr verschieden; hier wurden zuerst Krebse auf-
getragen, die überall sonst gegen Ende kommen, sie
waren von einer außerordentlichen Größe. In ver-
schiedenen Gasthäusern, wenigstens den großen,
wird alles zugedeckt aufgetragen. Was die Gla>-
scheiben so leuchtend madit, ist das Fehlen unserer
festen Fenster; vielmehr sind hier die Rahmen be-
weglidi und die Scheiben werden oft geputzt.
Der Fierr von Montaigne besah sich am nächsten
Morgen, einem Sonntag, mehrere Kirdien, und fand
in den sehr zahlreichen katholischen überall den
Gottesdienst sehr gut eingerichtet. Sedis Kirdien
mit sechzehn Geistlichen gehören den Protestanten,
zwei davon sind den Katholiken weggenommen, die
vier übrigen für sie erbaut. Am gleichen Morgen
besuchte er eine davon, die einem großen Kollegsaal
glich und weder Bilder, noch Orgeln, noch Kreuze
hatte. An den Wänden ziehen sich viele Inschriften
in deutscher Sprache hin: es sind Bibelstellen; ferner
sind zwei Kanzeln da, die eine für den Geistlichen
bei der Predigt, die andere, die etwas tiefer liegt,
für den, der den zu singenden Psalm anstimmt: nach
jeder Strophe wartet die Gemeinde, bis dieser die
nächste beginnt; es wird durcheinander gesunge.a,
wer gerade will, und auch mit bedecktem Haupt,
wer will. Darauf schritt ein Prediger, der in der
Menge stand, zum Altar, las ein langes Gebet aus
einem Buch, und die Gemeinde erhob sidi, faltete die
Hände und erwies dem Namen Jesu Christi ihre
große Ehrfurcht.
Nachdem der Prediger, der unbededct geblieben war,
mit dem Vorlesen aufgehört hatte, kamen auf den
Altar ein weißes Tudi, eine Kanne und ein Napf
mit Wasser; eine Frau reichte ihm, in Gesellchaft
von zehn bis zwölf anderen Frauen, ein Wickelkind
mit unbedecktem Gesicht. Der Prediger tauchte
dreimal alle Finger in den Napf, berührte das Ge-
sicht des Kindes und sprach bestimmte Worte. Dar-
auf traten zwei Männer heran und legten jeder zwei
Finger der rechten Hand auf dies Kind: der Pre-
diger sprach zu ihnen, und die Handlunng war zu
Ende. Beim Hinausgehen unterhielt sich der Herr
von Montaigne mit dem Prediger. Sie rühren an
keine Einkünfte der Kirche, sondern werden öffent-
lich vom Staat besoldet. In dieser Kirche allein war
eine größere Gemeinde und mehr Arbeit als in zwei
oder drei katholischen zusammengenommen.
Wir sahen kein einziges schönes Frauenzimmer.
Deren Kleidung ist mehr verschieden; bei den Mä.a-
nern dagegen ist es schwer, die Adligen zu erkennen,
um so mehr, als jedermann seine verbremte Mütze
und einen Degen an der Seite trägt.
23
^imon Grimm / Kreuzertor
Photo Marburg
Das Gasthaus, in dem wir wohnten, hatte auf dem
Wirtssdiild einen Baum, der dort zu Land „Linde"
heißt; es war neben dem Palast der Fugger. Einer
aus dieser Familie war vor ein paar Jahren ge-
storben und hatte seinen Erben zwed Millionen guter
französischer Taler hinterlassen, und jene gaben,
um für seine Seele bitten zu lassen, den dort an-
sässigen Jesuiten bare dreißigtausend Gulden, womit
die Väter sich eine hübsche Niederlassung bauten.
Das Fuggerhaus ist mit Kupfer bedeckt. Im allge-
meinen sind hier die Häuser schöner, größer und
höher als in irgendeiner französischen Stadt, die
Straßen breiter. Der Herr von Montaigne schätzt,
daß Augsburg die Größe von Orleans besitzt.
Nach Tisch besuchten wir ein Schaufechten in einem
öffentlichen Saal. Es wohnte eine große Menge bei;
man bezahlt den Eintritt wie bei Taschenspielern
und außerdem den Platz auf der Bank. Es wurden
mit dem Dolch, dem Zweihänder, einem an beiden
Enden mit Eisen beschlagenen Stab, und dem kurzen
Breitschwert gefochten; hernach wohnten wir einem
Preisschießen mit Armbrust und Bogen bei, an einer
noch prächtigeren örtlichkeit als in Schaffhausen.
An dem Stadttor, durch das wir eingezogen waren,
bemerkten wir unter der Brücke eine große Wasser-
leitung, die von außen kommt und auf eine höl-
zerne Brücke unter der Verkehrsbrücke und über den
Fluß, der durch den Stadtgraben zieht, hinweg-
geleitet ist. Diese Leitung dient dazu, eine be-
stimmte Anzahl Räder zu treiben, die mehrere Pum-
pen in Bewegung setzen und durch zwei Bleiröhren
das Wasser eines Brunnens, der dort sehr tief liegt,
auf die Höhe eines mindestens fünfzig Fuß hohen
Turmes heben. Hier ergießt sich das Wasser in einen
steinernen Behälter, sinkt in verschiedenen Röhren
wieder hinunter und verteilt sich von da in die
Stadt, die durch dieses eine Kunstmittel mit Brunnen
reich versehen ist. Die Eigentümer, die eine Ab-
zweigung davon für eigenen Gebrauch wollen, haben
der Stadt bloß zehn Gulden Rente oder zweihundert
Gulden einmalig zu zahlen. Es sind vierzig Jahre
her, seit die Stadt mit diesem ansehnlichen Werk
verschönert worden ist.
Heiraten zwischen Katholiken und Protestanten fin-
den täglich statt und der Teil, der am meisten Ver-
langen hat, nimmt den Glauben des anderen an;
soldie Ehen bestehen zu Tausenden; unser Wirt z. B.
war Katholik, seine Frau Protestantin.
Die Gläser werden hier mit einer am Ende eines
Griffs befestigten Haarbürste gereinigt. Nach der
Aussage der Einheimischen gibt es sehr schöne Pferde
im Preis von vierzig bis fünfzig Talern.
Die Stadt ließ den Herrn von Estissac und Mon-
taigne, um sie zu ehren, für ihr Souper vierzehn
24
große Krüge mit einheimischem Wein von sieben
livrierten Stadtsoldaten und einem ehrenwerten
Offizier überbringen. Den Offizier luden wir zum
Souper ein, denn so ist es Sitte, ebenso wie wir den
Trägern etwas schenkten; wir gaben ihnen einen
Taler. Der Offizier, der so mit uns speiste, sagte
dem Herrn von Montaigne, sie wären zu dritt in
der Stadt mit dem Amt betraut, den I-remden von
Qualität dergestalt aufzuwarten, und sie wären
deshalb besorgt, unsern Stand kennenzulernen, um
danach die gebührenden Zeremonien einzuhalten; es
bekommt nicht einer gleich viel Wein wie der
andere. Bei einem Herzog kommt einer der Bürger-
meister, um ihn zu überreichen; wir wurden für Ba-
rone und Ritter angesehen. Aus bestimmten Grün-
den hatte der Herr von Montaigne gewollt, man
solle dieser Annahme entgegentreten und unseren
Stand nidit verraten, auch ging er den ganzen Tag
in Begleitung durch die Stadt, glaubte aber, daß
gerade das dazu diente, uns noch angesehener zu
machen. Die erwähnte Ehrung wurde uns in allen
deutschen Städten zuteil.
Als er durch die Kirche unserer lieben Frau ging,
hielt er, ohne daran zu denken, der Kälte wegen —
die Kälte begann nämlich seit Kempten fühlbar zu
werden, während wir bis dahin das denkbar glück-
lichste Wetter gehabt hatten — das Taschentuch an
die Nase; auch war er der Meinung, er würde so
allein und sehr schlecht angezogen niemandes Auf-
merksamkeit erregen: als die Leute später vertrauter
mit ihm standen, sagten sie ihm, die Besucher der
Kirche hätten dies Benehmen seltsam gefunden. So
entging er doch nicht dem, was er am meisten haßte,
durdi irgendein von der ortsüblidien Art ab-
weichendes Auftreten auffällig zu werden; denn
soweit es an ihm liegt, paßt er sich den Sitten der
Stadt an, in der er sich aufhält, und in Augsburg
z. B. trug er eine verbremte Mütze.
Wie die Augsburger erzählen, haben sie zwar Mäuse,
dagegen keine der großen Ratten, von denen das
übrige Deutschland heimgesucht wird; sie erzählen
darüber eine Menge Wundergeschichten und schrei-
ben ihre Bevorzugung einem ihrer dort begrabenen
Bischöfe zu; von diesem Grab wird Erde in kleinen,
nußgroßen Stückchen verkauf!, und sie soll das Ge-
zücht überall verjagen.
Am Montag wohnten wir in der Kirche unserer
Lieben Frau der pomphaften Hochzeit eines reichen
und häßlichen Bürgermädchens mir einem Geschäfts-
führer der Fugger, einem Venezianer, bei; wir sahen
dabei kein einziges hübsches Frauenzimmer.
Die verschiedenen Fugger, die alle sehr reich sind,
nehmen eine erste Stelle in der Stadt ein. Wir sahen
auch zwei Säle in ihrem Haus; der eine v.'ar groß.
hoch und mit Marmor ausgelegt; der andere ist nied-
rig, reich an alten und modernen Medaillons und
besitzt am Ende ein kleines Zimmer. Es sind die
reichsten Zimmer, die ich je gesehen habe.
Wir sahen uns auch den Tanz der Hochzeitsgesell-
schaft an: man tanzte bloß Allemanden, die jeden
Augenblick abgebrochen wurden, worauf die Herren
die Damen zu ihren Plätzen zurückführten: es
waren zwei Reihen mit rotem Tuch ausgeschlagene
Bänke an den Seiten des Saales. Nach einer kleinen
Erholungspause holten sie sie wieder ab, dabei
küßten die Herren ihre eigene Hand, während die
Damen dies nicht tun, dann legen sie ihre Hand
unter die Achsel der Damen, pressen sie an sich, und
die seitwärts gewendeten Gesichter nähern sich ein-
ander, wobei die rechte Hand der Dame auf der
Schulter des Tänzers ruht. So tanzen sie und unter-
halten sich, ganz ohne Kopfbedeckung, und nicht
besonders reich gekleidet.
Wir sahen noch andere Häuser der Fugger in an-
deren Gegenden der Stadt, die ihnen durch soviel
Aufwendungen zur Verschönerung verbunden ist: es
sind Lusthäuser für den Sommer. In einem sahen
wir eine Uhr, die durch die Bewegung von Wasser,
das als Uhrgewicht dient, in Gang gehalten wird,
ferner zwei große gedeckte Fischbehälter, zwanzig
Schritt im Geviert und voll von Fischen. An den
Ausschnitt aus dem Stadtplan von Kilian io26: Der Dom
Photo Stadt. Kunstsammlungen
25
vier Ecken jedes ^Behälters waren verschiedene kleine
Röhren angebracht, die einen gerade, die anderen
nach oben gerichtet; daraus läuft das "Wasser sehr
gefällig in die Behälter, teils in geradem Strahl, teils
bis zur Höhe einer Lanze emporspringend.
Zwischen den beiden Behältern liegt ein zehn Sdiritt
breiter, mit Dielen belegter Raum, und durch <üe
Dielen dringen zahlreiche kleine, unsichtbare Bronze-
spitzen: wenn die Damen sich damit ergötzen, dem
Hasdien der Fische zuzusehen, wird irgendeine
Hemmung frei, und all die Spritzen sprudeln dünne,
flinke Strahlen bis zu Mannshöhe und netzen die
Untenröcke -und Schenkel der Damen. Anderswo
wieder kann es beim Betrachten eines hübschen
Springbrunnens passieren, daß man vor unsichtbare
Röhrchen tritt, die einem das Wasser hundertfach in
Strahlen ins Gesicht spritzen; dabei steht die latei-
nische Inschrift: Quaesisti nugas nugis gaudeto reper-
tis (Du suchst nadi einer Spielerei: an der gefundenen
ergötze Dich).
Auch ein Vogelhaus ist da, zwanzig Schritt im Ge-
viert, zwölf bis fünfzehn Fuß hoch, überall mit gut
geknüpftem und geflochtenem Eisendraht geschlossen;
innen sieht man zehn bis zwölf Tannen und einen
Springbrunnen: das alles ist voll von Vögeln. Wir
fanden da polnische Tauben, die bei ihnen indische
heißen und die ich schon kannte: sie sind fett und
haben einen Schnabel wie ein Rebhuhn. Wir sahen
auch den Betrieb eines Gärtners, der in Voraussicht
der schädlichen Fröste in eine kleine gedeckte Hütte
eine Menge Artischocken, Kraut, Lattich, Spinat,
Zichorie und andere Pflanzen zusammengebracht
hatte; sie waren alle gepflückt, als sollten sie auf der
Stelle gebraucht werden, aber indem er sie in einen
besonderen Boden bradite, hoffte er sie zwei bis drei
Monate gut und frisch zu erhalten; und in der Tat
hatte er damals hundert gar nicht welke Arti-
schocken, die doch schon vor mehr als sechs Wochen
ausgenommen worden waren.
Wir verfehlten auch nicht, Männer aufzusuchen, die
von Venedig dem Herzog von Sachsen zwei Strauße
brachten; das Männchen ist schwärzer ^und hat einen
roten Hals, das Weibchen mehr grau; dieses legte
viel Eier. Die Überbringer führten sie zu Fuß und
sagten, die Tiere würden weniger müde als sie und
drohten ihnen jeden Augenblick zu entweichen; da-
her wurden sie durch Gurte gefesselt, von denen
der eine das Kreuz umschnürte und über die Schenkel
lief, der andere über che Schulterblätter; durch lange
Leinen wurden sie zum Halten veranlaßt und nach
Belieben der Führer hin und her gewendet.
Am Dienstag konnten wir durch eine ganz beson-
dere Gefälligkeil der Herren vom Stadtrat eine
Schlupfpforte in der Stadtmauer besichtigen, durch
Simon Grimm I Fischgraben und BarfUßerkirche
Photo Marburg
SWäBJ'rijsc-WT'' #« <«!fte:S^-=;
26
ÜIL ^^^,
Simon Grimm / Sdnand- und Weberhaus
Photo Marburg
die ZU allen Stunden der Nacht jedermann ein-
gelassen wird, sei er zu Fuß, sei er zu Pferd, vor-
ausgesetzt, daß er seinen Namen nennt und zu wem
er in der Stadt will, oder den Namen des Gast-
hauses, das er sudit. Zwei zuverlässige Leute wachen
im Sold der Stadt an diesem Tor. Berittene zahlen
zwei Batzen Einlaßgeld, Fußgänger einen. Außen ist
die Türe mit Eisen beschlagen: seitwärts hängt an
einer Kette ein Stück Eisen, an dem man zieht; die
Kette führt auf weitem Umweg und in vielen Win-
dungen in das sehr hodi gelegene Gelaß des einen
jener Türwächter und setzt hier ein Glöckchen in
Bewegung. Der Pförtner, der nur sein Hemd an hat
und im Bett liegt, öffnet dadurch, daß er eine
Winde zurückzieht und wieder vorschnellen läßt,
auf eine Entfernung von mehr als gut hundert
Schritt die erste Pforte. Der Ankömmling tritt ein
und befindet sich auf einer Brücke, die eine Länge
von ungefähr vierzig Schritt hat, ganz gedeckt ist und
über den Stadtgraben führt; längs der Brücke ist in
einem hölzernen Rohre die Winde gelegt, mit der die
Außenpforte geöffnet wird, welch letztere sich übri-
gens unmittelbar hinter den Eingetretenen schließt.
Hat man die Brüdce überschritten, so kommt man
auf einen kleinen, freien Raum und sagt dem ersten
Pförtner seinen Namen und die erwähnte Adresse.
Danadi benachriditigt dieser durch eine Klingel sei-
nen Kameraden, der ein Stockwerk unter diesem
Portal wohnt (wo viele Wohnräume sind); ver-
mittels einer Spirale öffnet dieser zweite Pförtner
von einer Galerie neben seinem Zimmer aus zu-
nächst eine kleine eiserne Schranke und ■windet dar-
auf mit Hilfe eines großen Rades die Zugbrüdie
auf, ohne daß man von allen diesen Bewegungen
etwas merkte, da sie innerhalb der dicken Mauern
und des Tores vor sich gehen, und mit einem Male
schnellt das alles mit großem Getöse dn seine Lage
zurück. Nach der Brüdce öfFnet sich eine große,
dicke Holztür, die durch mehrere Eisenplatten ver-
stärkt ist. Der Fremde findet sich in einem Saal und
sieht auf dem ganzen Weg niemand, mit dem er
sprechen könnte. Wenn hier das Tor hinter ihm zu-
gefallen ist, öffnet ihm jemand eine zweite ähnliche
Tür; er tritt in einen neuen Saal, und dieser ist be-
leuchtet. Von der Decke hängt an einer Kette ein
ehernes Becken, in das er das Einlaßgeld werfen
muß. Der Pförtner windet die Schale herauf, und
wenn er nicht zufrieden ist, läßt er den Fremden bis
zum nächsten Morgen warten; entspricht das Geld
dem herkömmlichen Betrag, so öffnet er ihm auf die
frühere Weise ein großes, den anderen ähnliches
Tor, das sidi sofort hinter dem Ankömmling
schließt, und nun ist er in der Stadt. Das ist eine
der kunstreichsten Einriditungen, die man sehen
kann; die Königin von England hat einen besonderen
Gesandten geschickt, um den Rat um Erklärung der
Maschinerie zu bitten: wie sie erzählen, wurde ihr
Ansuchen abgeschlagen. Unter diesem Portal ist ein
großer Keller, in dem fünfhundert Pferde unbemerkt
Platz finden, um eine Verstärkung erhalten oder
ohne Wissen der gewöhnlichen Büxger im Kriegs-
fall senden zu können.
27
Von da gingen wir nach der sehr schönen Keilig-
kreuzkirche. Hier spielt ein Wunder, das vor nahe
hundert Jahren sidi zutrug, eine große Rolle: eine
Frau wollte den Leib des Herrn nicht schlucken, zog
ihn aus dem Munde und legte ihn, in Wachs gehüllt,
in eine Schachtel; als sie dann beichtete, fand man
ihn in Fleisch verwandelt. Diesem Zeichen wird
großer Wert beigelegt, und an mehreren Orten ist
auf lateinisch und deutsch auf das Wtinder ver-
wiesen. Unter Kristall zeigt man das Wachs und
dazu ein kleines fleischfarbeies Stückchen. Die
Kirche ist wie das Fuggerhaus mit Kupfer belegt,
was überhaupt dort nicht selten vorkommt. Dicht
daneben steht eine lutherische Kirche: auch hier
wieder haben sie sich gleichsam in den Kreuzgängen
der katholischen Kirchen einlogiert und angebaut.
An dem Portal dieser Kirche ist das Bild unserer
Lieben Frau mit dem Jesuskind und anderen Heili-
gen und Kindern angebracht, dabei der Spruch
„Sinke parvulos venire ad me" (Lasset die Kindlein
zu mir kommen . . .).
In unserem Gasthaus sahen wir eine aus Eisenstüdcen
zusammengesetzte Winde, die bis auf den Boden
eines tiefen Brunnens reichte; wenn dann oben ein
Bursche gewisse Eisenteile bis drei Fuß hob und
senkte, so verdrängten diese nacheinander das auf
dem Boden stehende Wasser, trieben es aus den
Pumpen und zwangen es dergestalt, sich in einer
Bleiröhre zu stauen, aus der es dann in die Küchen
und jeden anderen Ort nach Bedarf abgeleitet wer-
den konnte. Ein Weißer ist dazu angestellt, sofort
schmutzig gewordene Stellen an den Wänden auszu-
bessern.
Es wurden uns Pasteten, große und kleine, in irde-
nen Gefä&n von der Farbe und genau der Form
der Pastete selbst serviert. Es vergehen wenig Mahl-
zeiten, ohne daß einem Zuckerwerk und Büchsen
mit Eingemachtem angeboten würden. Das Brot
ist das denkbar ausgezeichnetste, die Weine sind
gut und wie überhaupt in Deutschland meist weiß;
um Augsburg wächst keiner, und er kommt fünf bis
sechs Tage weit her. Auf hundert Gulden, welche die
Wirte für Wein bezahlen, verlangt die Stadt sechzig,
die Hälfte weniger von einem Privatmann, der bloß
für seinen eigenen Bedarf kauft. An verschiedenen
Orten besteht schließlich die Sitte, in den Zimmern
und auf den Öfen Räucherwerk zu verbrennen.
Die Stadt war zuerst ganz Zwingli ergeben; als
später die Katholiken zurückgerufen wurden, nah-
men die Lutheraner die zweite Stelle ein; bis zur
Stunde spielen noch die Katholiken die erste Rolle,
trotzdem sie weit in der Minderzahl sind. Der Herr
von Montaigne machte auch den Jesuiten einen Be-
such und fand bei ihnen einige recht gelehrte Leute.
Mittwoch, den 19. Oktober, nahmen wir zum letz-
tenmal dort unser Frühstück ein.
Ich hinterließ ein Schild mit dem Wappen des Herrn
von Montaigne, das vorn auf der Tür unseres Zim-
mers angebracht wurde; es war sehr gut gemalt und
kostete mich zwei Taler an den Maler und zwanzig
Sous an den Schreiner. — Die Stadt liegt am Ledi-
fluß, Lycus.
28
KURT PFISTER
3gne8 3eunauEC
Aus dem Schatten der Jahrhunderte treten die
blassen und verschwimmenden Umrisse eines rühren-
den Antlitzes hervor. Das Bildnis der Augsburger
Baderstochter Agnes Bernauer, die vor fünfhundert
Jahren, am 12. Oktober 1435, in Straubing ertränKt
wurde, weil sie in unebenbürtiger Ehe dem Bayern-
herzog Albrecht verbunden war, kann dem Men-
schen unserer Tage nur in ungefährer und andeuten-
der Zeichnung vergegenwärtigt werden. Unmittel-
bare und authentische Dokumente sind in den
Archiven nicht vorhanden — man hat sie wohl schon
in alten Zeiten, da man die Geschehnisse als peinlich
und belastend empfand, vernichtet; man ist vielmehr
auf mittelbare Zeugnisse und die oft widerspruchs-
vollen und zweideutigen Berichte der bayerischsn
und schwäbischen Chronisten aus der zweiten Hälfte
des fünfzehnten Jahrhunderts angewiesen.
Legende und Volkssage, die schon früh die Gestalt
der Bernauerin umrankten, erschweren den Zugang
zu der geschichtlichen Wirklichkeit. Zudem ist keine
persönliche Äußerung, nicht einmal ein zeitgenössisches
Porträt der schönen und unglücklichen Frau vorhan-
den. Was wir an bildlichen Darstellungen besitzen,
ist, mag es audi auf authentische Überlieferung zu-
rückgehen, erst nach ihrem Tod geformt worden.
Man wird die Dürftigkeit der historischen Ausbeute
um so mehr bedauern, wenn man sich daran erin-
nert, wie ergiebig die geschichtlichen Quellen über
das Leben der Jeanne d'Arc fließen, die vier Jahre
zuvor ein ähnlich tragisches Ende gefunden hat: auch
gegen sie ist die Anklage wegen Zaubers und Hexe-
rei erhoben worden.
In einer Feststellung stimmen alle Chronisten über-
ein, in dem Lob der lieblichen Erscheinung des
Mädchens.
In einer (lateinisch geschriebenen) Quelle des fünf-
zehnten Jahrhunderts heißt es: „Agnes war unver-
gleichlich reizvoll und wohlgebildet in allen ihren
Gliedern und von zarter Gestalt." Ihr langes blondes
Haar wird von anderen gerühmt; und bei einem
Schriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts liest man:
„Man sagt, daß sie so lieblich gewesen sei; wan sie
roten Wein getrunken het, so het man jenen Wem
in der Kehl sehen hinabgeen."
Bezüglich der näheren Umstände der ersten Begeg-
nung und frühen Bekanntschafl von Agnes und
Herzog Albrecht sind wir auf Vermutungen und
Rückschlüsse angewiesen. Es wird übereinstimmend
von den Chronisten berichtet, daß Caspar, der Vater
des Mädchens, der vermutlich aus der schwäbischen
Reichsstadt Biberach stammte, Barbier und Bad-
stubenbesitzer in Augsburg gewesen ist.
Die Badstuben vertreten im späten Mittelalter die
Stelle unserer heutigen Kaffeehäuser; in Augsburg
befanden sich zu jener Zeit nach Ausweis der Steuer-
bücher mehr als vierzig solche Badstuben. Übrigens
galten die Dampfbäder auch als wirksames Gegen-
mittel gegen den häufig auftretenden Aussatz. Nach
dem eigentlichen Bad entwickelte sich hier bei Speise
und Trank ein vergnügliches Treiben, und es mag
teilweise mit den lockeren Sitten, die hier einrissen,
zusammenhängen, daß der Baderberuf damals za
den „unehrlichen Gewerben" zählte: ein Makel, der
sich sogar darin äußerte, daß kein Handwerker
einen Lehrling annahm, der mit einem Bader ver-
wandt war.
Schon aus diesem Gmind ist es nahezu ausgeschlossen,
daß Albrecht, wie einige berichten, anläßlich eines
Augsburger Turnieres oder Bürgertanzes, zu dem
die Baderstochter keinesfalls Zutritt gehabt hätte,
Agnes kennengelernt haben solle. Sehr wahrschein-
lich hat er sie zuerst gesehen, als er bei einem seiner
häufigen Ritte vom nahegelegenen Friedberg her die
Badstube des Vaters aufsuchte.
Albrecht, der einzige Sohn des regierenden Herzogs
Ernst von Bayern-München, war damals — 1432 —
einunddreißig Jahre alt. Er hatte seine Jugend
großenteils am Hofe des verwandten böhmischen
Königs Wenzel verbracht, besondere Vorliebe für
die Pflege der Musik bezeugt, die er übrigens auch
in späteren Jahren noch betätigte, aber auch im
ritterlichen Kampf und in der Schlacht sich rühmlich
hervorgetap. So nahm er an den Kämpfen gegen
die Hussiten teil und schlug sich tapfer in dem Ge-
fecht von Alling (1422) gegen den streitlustigen
Vetter Ludwig den Gebarteten von Ingolstadt.
29
In einer zeitgenössischen Chronik heißt es von ihm:
„Er war edn gar fröhlicher Herr, er het grosse Lieb
zu der Kunst Musica, er kund ihr auch selber viel;
er het auch gross Lieb und Lust zu aller Waidenhait
(Jagd) . . ., weis in allen seinen Räten und diemutig
gegen allen Menschen, ein Liebhaber der zarten
Frawen und eines mandlichen Herzens."
Er war gewiß keine bedeutende PersönLichkeit, aber
nach dem Urteil der Zeitgenossen gutmütig und
liebenswürdig, wenn auch ein wenig leichtlebig.
In späteren Jahren hat er sich für Reform und För-
derung der Klöster ein-
gesetzt und daher den
Beinamen „der From-
me" erhalten, während
ihn andere Chronisten
um seines heiteren We-
sens willen „den Fröh-
lichen" oder „den Freu-
digen" nennen.
Man kann aus mittel-
baren Zeugnissen mit
größter Wahrschein-
lichkeit schließen, daß
Albrecht das Mädchen
Agnes, das er 1431
oder 1432 in Augs-
burg kennengelernt
hatte, Ende 1432 oder
Anfang 1433 heimlich
ehelichte und auf sein
Schloß nach Straubing
führte.
Es muß gegenüber dem
immer wieder laut
werdenden Zweifel
mit Nachdruck daran
festgehalten werden,
daß es sich bei der
Verbindung zwischen
Albrecht und Agnes um eine zwar heimliche, aber
nach dem vortridentinischen kanonischen Recht
durchaus gültige Eheschließung handelte. Der Kir-
chenlehrer Bonaventura legt die damals maßgebende
Anschauung der Kirche eindeutig nieder: „Das Sa-
krament der Ehe wird im Angesicht der Kirche mehr
heilbringend empfangen; insgeheim wird es jedoch
gültig empfangen, jedoch nidit heilbringend, weil
gegen die kirchliche Verordnung." Hätte es sich
nur um ein freies Verhältnis gehandelt, so wären
die sich bald auswirkenden drakonischen Maßnah-
men des herzoglichen Vaters vollkommen unver-
ständlich. Ebenso bestätigen die Zeugnisse der Chro-
nisten, die fürstliche Tracht, die man auf demRelief-
Bildnis der Agnes Bernauer. Um iöOO
bild des Grabsteines der Bernauerin zubilligte, die
ausdrücklichen Vermerke in den Messestiftungen
von Vater und Sohn aus Anlaß ihres Todes diese
Auffassung. Agnes Bernauer residierte spätestens
seit Anfang 1433 auf dem Schloß in Straubing mit
fürstlichem Gepränge. So berichtet der Historiker
Aventin, und ein anderer zeitgenössischer Chronist
fügt dem bei: „Dann sein Sun Herzog Albrecht hett
sie lieb und hilt ir köstlich hof als einer Fürstin."
Albrecht ließ sich damals ein »Siegel schneiden, das
neben einem der damals üblichen Helmkleinode eine
heraldische Seltsam-
keit aufweist : den
Rumpf eines nackten
Weibes, das in beiden
Händen lange, am
Helmschmuck befe-
stigte Ketten trägt:
unzweifelhaft ein
Symbol der Liebe, in
deren Banden der
Träger des Wappens
gefesselt liegt. Noch
1459, vierundzwanzig
Jahre nach Agnes'
Tod, fühlte der Her-
zog, ein Zeichen seiner
fortdauernden Nei-
gung, das gleiche Sie-
gel. 1433 schenkte Al-
brecht der Gattin —
laut einer heute noch
erhaltenen Urkunde
der Pfarramtsregistra-
tur Aubing — eine
Hube und Hofstatt in
Niedermenzing, un-
weit des herzoglidien
Jagdschlosses Bluten-
burg. Beatrix, die
Schwester des Herzogs, die ihn zweimal besuchte,
äußert sich in gereizten Ausdrücken, „daß sie mit
Herzog Albert genug zornig von Frau Nesen we-
gen, der hoch- und großfeisten Bernauerin"; und
ein andermal „von ihres Bruders wegen, daß der
auch nicht eine schön (das heißt ebenbürtige Frauen
hat". Wenn man noch hinzufügt, daß Agnes laut
einer Stiftungsurkunde den Wunsch geäußert hat,
einst in der Kirche der Straubinger Karmeliten bei-
gesetzt zu werden, ist nahezu alles ei schöpft, was
man über ihr Leben bis zum Zeitpunkt der Kata-
strophe weiß.
Herzog Ernst, der Vater Albrechts, betrachtete ml:
wachsender Sorge die Entwicklung der Dinge.
30
Er ist übrigens keineswegs der düstere Unmensch
und Fanatiker gewesen, als der er in mancher dem
Schicksal der Bernauerin gewidmeten Dichtung er-
scheint, war vielmehr um seines leutseligen Wesens
willen in der Münchner Bürgerschaft äußerst beliebt.
Auch hätte er gegen eine Liebschaft des Sohnes ge-
wiß nachts einzuwenden gehabt, zumal er selbst
mehrere uneheliche Kinder zu versorgen hatte; 30
konnte der Sohn, als ihm Herzog Ernst 1433 einen
mahnenden Brief schrieb, zwar scherzhaft, aber recht
deutlich auf des Vaters man;iigfache Beziehungen
zu schönen Frauen hinweisen.
Für den regierenden Fürsten standen aber hier
höchst bedeutsame Interessen auf dem Spiel: Es
w^aren nicht so sehr, wie Hebbel in seinem Ber-
nauer-Drama es deutet. Gründe der Staatsräson, als
die Sorge um die Erhaltung der Dynastie, die
Herzog Ernst zu einem aktiven Vorgehen be-
stimmte. Blieb Albrechts unebenbürtige Ehe be-
stehen, so konnten die Vettern in Ingolstadt und
Landshut seine Erbfolge mit Erfolg anfechten; und
damit wäre, da andere Nachkommen nicht vorhan-
den waren, das Ende der herzoglichen Linie Bayern-
München Tatsache geworden.
Die Stimmung der Münchner Bürgerschaft bestärkte
den Herzog in seinem Entschluß. Eine Minderheit
der jüngeren Bürger war, wie wir aus einem Ge-
richtsakt wissen, für die Bernauerin eingenommen,
die Mehrzahl aber gegen sie; offenbar aus dem
Grund, weil man für den Fall des Ablebens des
alten Herzogs im Zusammenhang der Erbfolge-
streitigkeiten kriegerische Verwicklungen mit Lands-
hut und Ingolstadt befürchtete.
Die drohende Katastrophe kündigt sich durch eine
Aktion Herzog Ernsts an, die offensichtlich den
Sohn demütigen und zum Abbruch der Beziehungen
zu Agnes nötigen sollte: im November 1434 war ein
Turnier nach Regensburg ausgeschrieben. Der eben-
falls eingeladene Albrecht wurde auf Veranlassung
des Vaters wegen seines Verhältnisses zu Agnes, das
man als ein nicht ebenbürtiges und eines Ritters
unwürdiges brandmarken wollte, an den Turnier-
schranken zurückgewiesen. Der ihm angetane
Schimpf hat freilich Albrecht offenbar erst recht in
seinem Festhalten an Agnes bestärkt.
So entschloß sich der Vater zum äußersten Mittel.
Durch Herzog Heinrich von Landshut ließ er An-
fang Oktober 1435 Albrecht zu einer Jagd nach
Landshut einladen, um, wie es in dem Brief heißt,
„mit Euch zu jagen und fröhlich zu sein und auch
sonst Dinge zu bereden, die wir nicht schreiben
wollen".
Albrecht nahm die Einladung an, wobei er freilich
sein Befremden nicht verschwieg; di doch gerade
Herzog Heinrich jüngst zu Kehlheim, wo unter dem
Vorsitz von Herzog Ernst seine Parteigänger, dar-
unter auch der Münchner Bürgermeister Liegsalz,
Beratungen wegen der Bernauerin gepflogen hatten,
gegen Albrecht und Agnes gehetzt habe.
Dieser Brief ist am 8. Oktober geschrieben, und an
einem der nächsten Tage hat Albrecht Staubing ver-
lassen. Unmittelbar nach seiner Abreise ließ Herzog
Ernst die Bernauerin verhaften.
Es hat vermutlich ein Scheingericht stattgefunden,
das gegen Agnes Anklage wegen Zauberei und
Hexerei erhob und sie zum Tode verurteilte. Die
Akten dieses Prozesses sind nicht mehr vorhanden.
Ein Chronist berichtet: „Das Weib war so in Bosheit
verhärtet, daß sie den Herzog Ernst nit als iren
Richter und Herrn halten wollt, da sie selber Her-
zogin zu sein angab." Und der Augsburger Bene-
diktiner Clemens Sander fügt hinzu: „Da sie nun
durch den Henker gebunden war in das Wasser zu
werfen, sagt der Henker zu ihr, wan sie frei be-
kennen wollt, daß Herzog Albrecht nit ihr Ehmann
wäre, so wollt er sie nit töten, sondern frei davon
lan gan. Das wölk sie nit tun, sundern sie sagt frei,
es war ihr ehlicher Mann, darumb hat sie ertrinkt
müssen werden."
So geschah die Exekution am 12. Oktober 1435.
Von der Donaubrücke zu Straubing stieß der Hen-
ker die Unglückliche ins Wasser. Aber die Bande,
die sie fesselten, waren nicht fest genug. Es gelang
ihr, das eine Bein zu lösen, und mit Aufbietung
aller Kraft erreichte sie das Ufer. Hier hielt sie
siich einige Zeit fest, und die Umstehenden ver-
nahmen ihren Angstruf aus heiserer Kehle: „Helft!
Helft!" Da eilte der Henker hinzu, wickelte eine
Stange in ihre langen Flechten und stieß sie in die
Fluten zurück. Herzog Ernst war klugerweise, wie
wir aus neueren Forschungen wissen, bei der Voll-
streckung des Urteils nicht persönlich zugegen, weihe
vielmehr in Landsberg, wohin ihm ein Bote die
Nachricht von der Exekution brachte.
Ein in seiner gefühlsrohen Fassung bezeichnender
Vermerk in der Münchner Stadtkammerrechnung
von 1435 lautet: „Item sechszig Denarien haben
wir bezahlt nach Rathgeschäft unseres gnädigen
Herrn Herzog Ernstes Boten zur Ergötzung seiner
müden Beine, daß er schnell von Straubingen her
war geloffen und die Märe brachte, daß man die
Bernauerin gegen Himmel hat geferüget. Sonntag
nach Gallus 1435."
Die auf den Mord folgenden Vorgänge werden in
31
den zeitgenössischen Quellen viel eingehender als
die ganze Historie der Agnes Bernauer geschildert,
können aber hier nur in knappen Umrissen dar-
gestellt werden.
Herzog Albrecht, den offenbar die Nachricht tief
traf — ein Chronist berichtet, er sei wie tot ganz
regungs- und besinnungslos einige Zeit auf dem
Boden gelegen, hierauf habe er geschworen, blutige
Rache für die Verstorbene zu nehmen — , begab sich
zu dem Ingolstädter Vetter, um mit ihm einen Krieg
gegen den Vater vorzubereiten. Münchner Ratsherren
und Boten Herzog Ernsts, die eine Versöhnung vor-
bereiten wollten, wurden zunächst nicht vorgelassen.
Schließlich bat Herzog Ernst den Kaiser Sigismund
um Vermittlung. In dem Brief suchte er die Ber-
nauerin mit offensichtlich unbegründeten Anklagen
zu belasten, um sein eigenes Vorgehen zu recht-
fertigen. Albrecht, heißt es da, sei mit einem bösen
Weib beschweirt gewesen, das ihn hart und streng
behandelt habe, daß der Sohn in den letzten drei,
vier Jahren nicht fröhlich gewesen sei. Der Vater
habe sogar für das Leben seines Sohnes Besorgnis
gehabt, da Agnes auch den Prinzen Adolf, seinen
Neffen, habe mit Gift aus dem Wege räumen wollen.
Da sich die Sache also in Bosheit verlängert, Agnes
darin kein Ablassen verstand, und je länger, je
mehr Übel daraus hervorging, habe er das Weib
ertränken lassen.
Die Vermittlung des Kaisers, die Mahnungen des
Basler Konzils und einflußreicher Freunde, aber auch
eine Erkrankung Herzog Ernsts brachten nach eini-
gen Monaten eine notdürftige Versöhnung zwischen
Vater und Sohn zustande. Herzog Ernst bekräftigte
seinen Willen zur Verständigung dadurch, daß er
eine heute noch erhaltene Kapelle auf dem Friedhof
zu St. Peter bei Straubing zum Gedächtnis der Ber-
nauerin erbaute und dort einen Jahrtag für ihr
Seelenheil stiftete.
E^ geht nicht an, Albrecht um dieser schnellen Ver-
söhnung willen und wegen des Umstandes als wan-
kelmütigen und oberflächlichen Charakter zu be-
zeichnen, daß er sich ein Jahr später mit Anna, der
Tochter des Herzogs von Braunschweig, vermählte.
Diese Ehe, die sich nicht besonders harmonisch ent-
wickelte, wie man aus mancher späteren Liebes-
affäre schließen muß, wurde freilich von den Münch-
ner Bürgern mit einem erleichterten Aufatmen be-
grüßt: „Dess sollen wir alle froh sein, dass wir nicht
wieder eine Bernauerin gewonnen haben!"
Viele Umstände deuten darauf hin, daß Albrecht
das Bildnis der Frühgeliebten stets gegenwärtig und
nahe geblieben ist. In einer alten bayerischen hand-
sdiriftlichen Genealogie beißt es: „Herzog Albrecht
der Kunstreiche ist Meister der Musica, fand dadurch
sein Verstand, den er verloren hätt, da man das
Weib ertränkt."
Er führte auch, wie erwähnt, das Siegel, das an
diese Verbindung erinnerte, bis zu seinem Tod. Er
ließ den Heiratsbrief und die Urkunden über die
Morgengabe, obschon die Hochzeit schon am 6. No-
vember 1436 gefeiert wurde, bezeichnenderweise erst
am Agnestag (21. Januar) ausfertigen. Er stiftete
am 12. Dezember 1435 für das Seelenheil der „ehr-
samen und ehrbaren Frau Agnes" eine ewige Messe
und Almosen und erneuerte diese Stiftung zehn
Jahre später am Agnestag.
Eine Versöhnung mit dem Landshuter Herzog Hein-
rich, der ihn zu jenem verhängnisvollen Jagdausflug
eingeladen hatte, kam überhaupt nicht zustande;
vielmehr brachen hier öftere Feindseligkeiten aus,
die für den fortdauernden Haß gegen den Verfasser
des Uriasbriefes eindeutig sprechen.
Die Leiche der Bernauerin hat Albrecht, ihrem
Wunsch entsprechend, von St. Peter nach dem Kar-
melitenkloster überführen lassen; und zwar ist sie
vermutlich vor dem Altar beigesetzt wo'rden, den sie
in der dortigen Nikolauskapelle gestiftet hatte.
In der Bernauer-Kapelle auf dem Friedhof von
St. Peter bei Straubing befindet sidi heute noch der
Grabstein aus rotem Salzburger Marmor, der offen-
bar unmittelbar nach Agnes' Tod errichtet worden
ist und dessen Bildnisdarstellung annähernde 'X'irk-
lichkeitstreue beanspruchen kann: das Flachrelief
zeigt Frau Agnes in fürstlicher Tradit auf einem
Totenbett ruhend, in einem lang herabwallenden,
mit Hermelin ausgeschlagenen Mantel, die Haare
mit einem kostbaren Sdileier umhüllt. Die rechte
Hand trägt Verlobungs- und Trauungsring, um
beide Hände schlingt sich ein Rosenkranz; zu den
Füßen liegen ein Hündchen und eine Eidechse, die
man wohl mit Recht als Sinnbilder der ehelichen
Treue gedeutet hat.
Legende, Volkssage und Dichtungen späterer Jahr-
hunderte haben um die Gestalt der Bernauerin
einen bunten Kranz geflochten. Von Otto Ludwig,
Martin Greif tmd Hebbel gibt es Bernauer-Dramen;
Erzählung und Lyrik haben das Gedächtnis der
Frau immer wieder erneuert, auch ein später
Witteisbacher, König Ludwig I., hat ihrer in
empfindsamen Versen gedacht.
Das ergreifendste Zeugnis ist eine aus alter Zeit
überkommene vielstrophige Volksballade, die das
tragische Schicksal der Bernauerin beklagt.
32
uon bcv fd/öncn 25EcnauECin
i>EC If^erjog ift mein,
unb id; bin fein;
(Inö ujic gac tceu uerfpcocl^En, ja DEtfprodiEn.
25ErnauEcin auf bem 7^a(TEC rrf^tüamm,
l^atia (3ottz5 tjat He gerufen nn,
rollt U)c au8 btefec Hot l)Elfen, ja Ijelfen.
08 ftunö Faum nn ben bcittEn cTng,
bEtn F)Erjog Fam EinE tcnucigE ^lag:
^Ecnauecin ift eutcunfen/ ja ectcunPen.
©iE lEgEn bEin fiEu^og fiE wol)l auf öEn Odjo^,
5ec fiEC?og uiol)l üiEl taufEnb TTcänEn oecgo^,
EC tut gac l)EESlidi toEinEn, ja lUEinEn.
Unb 5iE mic l)ElfEn, rriEin feinö £.ieb begcabEn,
fd;tracsE 7#tantEln mü(TEn (Te IjabEn,
un5 fdjroacj müIfEn fiE {idf tragen, ja tcagEn.
&o toollEn ujic ftiftEn EinE EtoigE ^HeIT',
ha^ man öec 25EcnauEcin nidK üEcgEfT',
un5 ujollE füc fiz bEtEn, fa bEtEn.
21u8gEU)ai)ltE ©trophcn aiio einer alten 'DalfoliallaBe
33
ERNST FR ITZ S C H MI D
"Mozarts Urheimat
Jbs war im Jahre 1719, am Tag vor dem herbst-
lichen Fest des Heihgen Leopold, als man aus einem
hochgiebligen alten Bürgerhaus „auf Unser Frauen
Graben" in der sdiwäbischen Reichsstadt Augsburg
behutsam ein winziges Kindlein im ■ schönsten
Schmuck seines ersten Lebenstages heraustrug zur
Taufe in der nahen Stiftskirche des heihgen Ritters
Georg. Der glückliche Buchbindermeister Johann
Georg Mozart und seine jugendliche Frau, die ihm
an Jahren fast um zwei Dezennien nachstand, ließen
hier ihr erstes Söhnlein dem segnenden Quell der
christlichen Gemeinschafl: darbringen. Zum Tauf-
paten hatte der Meister, der krafl: seines Berufes
schon immer einen gewissen Hang zu den studierten
Leuten hatte, einen würdigen geistlidien Herrn aus
dem uralten Augsburger Stift St. Peter am Perladi
gebeten, der gerne seine Bücher in Meister Mozarts
"Werkstatt brachte und dabei wohl auch ein Stünd-
lein mit dem klugen Mann zu verplaudern pflegte.
Mit dem blanken Tauftaler gab er dem kleinen
Erdenbürger, der noch ein wenig benommen in die
Novembersonne einer ungewohnten Welt blinzelte,
seine Vornamen Johann Georg mit auf den Weg. Der
fromme und dankbare Vater fügte aber noch den
Namen eines kräftigen deutschen Heiligen hinzu,
der sein Kind schützend ins unbekannte Land des
Lebens geleiten sollte. Feierte man dodi heute
St. Leopolds Vorabend. Und so ist der kleine Mann
unter dem Namen des fürstlichen Patrons von
Klostemeuburg und Niederösterreich ein berühmter
Musiker seiner Zeit geworden: Leopold Mozart, der
schwäbische Vater des unsterbhdien Meisters der
Zauberflöte.
Als der greise Chorherr vom Stift St. Georg dem
kleinen Leopold nun die Taufe spendete, flogen
seine Gedanken einen Augenblidi hinüber zur reidi-
34
verzierten Kanzel, mit der das barocke Lebensgefühl
der Augustinerchorherrn die ernste gotische Halle
ihrer Kirdie geschmückt hatte. Von dort droben
hatte einst ein Augsburger Minoritenpater als feu-
riger Prediger die Seelen seiner Hörer zu erschüttern
verstanden, dieses Täuflings Großonkel, den man
erst vor wenig Jahren begraben hatte. Aber war
Pater David Mozart dem Stift nur als spradigewal-
tiger Künder des Gottesworts zur Seite gestanden?
Hatte er ihm nidit auch seinen kunstreichen Bruder
Hans Georg zugebracht, diesen eigensinnigen und
dodi so gutherzigen Augsburger Maurerwerkmeister
vom besten schwäbischen Schlag, der landauf und
landab als Baumeister stattlicher Klöster, Kirchen
und Schlösser geachtet und wegen seiner streitbaren
Grobheit nicht wenig gefürchtet war.' Wie hatte er
doch Staunen und Bewunderung seiner Baulierrn aus
dem Chorherrnstift erregt, als er, unbeirrt durch alle
kriegerischen Fährlichkeiten, dort drüben den statt-
lichen Bau der neuen Stiftspropstei in seinen edlen
Formen aufgeführt hatte, indes ihm die Kanonen-
kugeln aus den Belagerungsschanzen des bayerischen
Kurfürsten, vom Galgenhumor der Augsburger
„Pillulae Emanuelis" genannt, hin und wieder das
Konzept verdarben. Jetzt aber, als der Chorherr
die Stirn des kleinen Leopold mit dem geweihten
Wasser netzte, lag der kampfmüde Großonkel un-
weit im Schlafgemach seines Hauses am Äußeren
Pfaffengäßle und führte tapfer seinen letzten, har-
ten Streit mit Freund Hein, dem er wenige Tage
darauf unterliegen mußte. Der neue Erdenbürger
aber, dem er Platz gemacht hatte, wuchs gar munter
heran und lernte sidi wacker rühren nach seiner
Väter Art.
Ein langes, reiches Künstlerleben war verstrichen,
das sich Leopold Mozart als rüstiger Werkmeister
seines Glückes fern der schwäbischen Heimat auf-
gebaut hatte, als sich nochmals eine flüchtige Be-
rührung mit dem Wirken seiner Ahnen ergab, die
eines tieferen Sinnes nicht entbehrte. Als er im Früh-
ling 1786 von seinem großen Sohn Wolfgang Ama-
deus einer Wiener Bauhütte des Freimaurerordens
zugeführt wurde und als ihm dort auf seiner „Ge-
sellenreise" Kelle und Schurzfell als Symbole mau-
rerischer Brüderschaft gereicht wurden, schweiften
seine Gedanken weit zurück in die versunkene Welt
seiner Augsburger Ahnen aus der Zunft der Maurer.
War nicht sein Urgroßvater David Mozart der
Jüngere, dessen "gleichnamiger Vater als wohlgeach-
teter Bürger im benachbarten schwäbischen Flecken
Pfersee gelebt hatte, eines Tag^s als Maurerlehrling
in den Schutz der Stadt Augsburg gezogen, während
nächtens noch der Brand die Wolken rötete, in
dessen grimme Glut Schweden und Kaiserliche sein
Heimatdorf um die Wette stürzten? So war Augs-
burg zur Zuflucht der Mozarte auf lange Genera-
tionen hin geworden. Auf so manchem der letzten
Augsburger Bauwerke des Ellas HoU mochte der
Lehrling David Mozart noch emsig seine Kelle ge-
schwungen haben, ehe er dann, selbst Meister ge-
worden, als Zeugnis seiner rechtschaft'encn künstle-
rischen Gesinnung und handwerklichen Tüchtigkeit
im sdiwäbischen Donaustädtchen Dillingen das
schlanke Achteck jenes Turmes gebaut hatte, den
Leopold noch hundert Jahre danach mit Familien-
stolz dem kleinen Wolfgang und seinem Schwester-
lein als Werk des Ahnherrn wies, als sie dort am
Hof des Augsburger Fürstbischofs musizierten. Und
hatte sich nicht auch der Großvater ein hartes Leben
lang als Maurer mit Richtschnur und Kelle gemüht,
ehe er, krank und von des Lebens Plage gebrochen,
mit den Seinen in die Armensiedlung der Augsburger
Fuggerei eingezogen war, um seine Tage in einem
der zierlichen Schneckenhäuslein zu beschließen? So
manche seltsame Mär über Franz Mozarts Schicksale
hat noch lange bei Kindern und Enkeln die Runde
gemacht. Gespannt und ein wenig bänglich hatte
auch der kleine Leopold die Ohren gespitzt, wenn
der Vater Buchbinder in der Dämmerstunde vom
Großpapa erzählte, während Mutter Anna Maria,
die fleißige und herbe Augsburger Weberstochter,
das Spinnrad schnurren ließ. Denn es war darunter
auch manches gruselige Geschichtlein, so, wie er eines
Tages aus Barmherzigkeit mit dem beherzten Groß-
onkel Hans Georg zusammen die Leiche eines Un-
ehrlichen, eines Scharfrichterknechts, zu Grabe trug
und dafür um ein Haar aus der strengen Maurer-
zunft der Reichsstadt ausgestoßen worden wäre.
Im übrigen freilich war die Kinderwelt des kleinen
Leopold dem harten Werktag des Maurerhandwerks
schon entrückt: sie stand schon im geheimnisvollen
Vorhof der Gelehrsamkeit. Die Buchbinderwerk-
statt mit den vielerlei fremden Büchern, die sich,
groß und klein, dick und schmächtig, hier aus den
verschiedensten Bürgerstuben zusammenfanden, um
sich vom Papa ein schmucl<:es neues Kleid anmessen
zu lassen, bot ihm täglich neue Wunder, aus denen
der lebhafte Knabengeist seine Nahrung zog, erst
recht, seit er drüben in der Jesuitengasse im Gymna-
sium zu St. Salvator in der Hut gelehrter Jesuiten-
patres nicht nur das Lesen, sondern auch das Be-
greifen gelernt hatte. Am meisten lockten seine Neu-
gier freilich die dickleibigen Meßbücher mit den
krausen, schwarzen Notenköpfen, eingesperrt m
ihren roten Liniengittern, die der Papa für die hoch-
mögenden Fuggergrafen einbinden mußte, oder die
Stimmbücher in buntem türkischem Papier für Trom-
peten, Gelgen, Orgel und Gesang, die für den Mu-
35
sikdior der nahen Wallfahrtskirche Marktbiberach
bestimmt waren, zu der er als jugendlidier Wall-
fahrer so manches Mal mit den Jesuitenschülern ge-
pilgert war, das „Herrgöttle von Biberach" zu
ehren. Auch das kam ihm wieder in den Sinn, als
er nach Jahrzehnten mit seinen Kindern des Weges
kam und dem musikalischen Wettstreit lauschte, den
sein kleiner Wolfgang mit einem andern Wunder-
kind aus schwäbischem Stamm auf der Orgel dieses
Gnadenortes vor der hodignädigen Fuggerischen
Herrschaft ausfodit. Bald hatte der wißbegierige
kleine Leopold die Geheimschrifl: verstehen gelernt,
nach der die großen Leute aus den Büchern sangen
und musizierten, die der Vater so schön einzubinden
verstand. Wenn es zu St. Ulrich oder bei Heilig-
kreuz ein Fest zu feiern gab, lieh man sich den treff-
sicheren und schönstimmigen kleinen Diskantisten
gerne bei den Patres Jesuiten aus, und bald stridi
er auch auf dem Kirdienchor zu St. Salvator und
beim häuslichen Musizieren taktfest seine Geige, mit
der er sich später als Konzertmeister des Salzburger
Fürstbischofs und als Schöpfer der ersten „Gründ-
lichen Violinschule" in deutscher Sprache sein Brot
und einen weithin geachteten Namen erwerben
sollte. Der Höhepunkt für jedes seiner zehn Augs-
burger Schuljahre, in denen ihm die strengen Pro-
fessoren und Magister aus dem Jesuitenkolleg die
Summa der humanistischen Weisheit ihrer Zeit als
kostbares Gut auf seine Lebensrsise mitgaben, waren
aber die phantastischen „Sdilußkomödien" des Sdiul-
theaters. Durfte er doch hier bald als singender
Hirtenbub, bald als geduldiger Isaak oder tapferer
David auf der Bühne stehen und seine Stimme in
kunstvollen Tiraden erklingen lassen, indes im Zu-
schauerraum der lieben Verwandtschaft aus dem ehr-
samen Stand der Buchbinder- und der Weberzunfl,
die ihre Theaterfreude aus der noch immer leben-
digen Tradition der Augsburger Meistersinger
nährte, die stolze Freude über ihren kleinen Leopold
durch alle Glieder fuhr. Als der fünfzehnjährige
Absolvent der Rhetorenklasse gar in der Titelrolle
des allegorischen „Phaeton" auftreten durfte, den
der Hofkapellmeister des Augsburger Fürstbisdiofs
komponiert hatte, und als der kleine Himmelstür-
mer dabei zum Staunen seiner Zuschauer mit dem
glänzend angesdiirrten Sonnenwagen in die Höhe
fuhr, getragen von der barocken Theatermaschinerie
der Jesuiten, da kannte der Familienstolz vollends
keine Grenzen mehr.
Noch zwei Jahre pilgerte Leopold eifrig mit Schul-
tasche und Geige zum Jesuitenlyzeum, ehe er seine
Heimatstadt verließ und als Studiosus der Logik
und Jurisprudenz die Salzburger Benediktineruni-
ver&ität bezog. Stein um Stein fügte sich zum statt-
lichen Gebäude seiner wohlgegründeten humanisti-
schen Bildung, die ihm später bei einem der berühm-
testen Kollegen seiner Zeit den Najnen eines „geist-
vollen, feinen und weltgebildeten Mannes" eintrug.
Er hat sie als unschätzbares Erbteil seiner Augs-
burger Jugend seinem großen Sohn Wolfgang Ama-
deus weitergegeben, der nicht nur in den Fächern
der Musik, sondern auch in denen der allgemeinen
Bildung fast ausschließlich sein Schüler war. Ob er
ihm allerdings verraten hat, daß er nach wenigen
Semestern seines Salzburger Studiums vom grollen-
den Rector magnificus in aller Form relegiert wurde,
weil er sich, ganz im Banne der holden Frau Mu-
sica, die im barocken Salzburg Triumphe feierte,
dem beharrlichen Schwänzen der gelehrten Vor-
lesungen hingegeben hatte? Wir dürfen es bei seinen
strengen pädagogisdien Grundsätzen füglich be-
zweifeln. So kamen die reichen Früdite seiner
Augsburger Erziehung nicht etwa dem geistlichen
Stande zugute, dem seine besorgte Mutter ihn so
gern geweiht hätte, sondern der Tonkunst, der er
sich fortan ganz zuwendete, ein Sdiritt, der ihm als
Künstler reichen Segen und als Künstlervater die
Unsterblichkeit gebracht hat.
An solciier Unsterblichkeit ließ er aber audi seine
Vaterstadt Augsburg teilhaben. Leopold Mozart war
ja ein pfiffiger Schwabe, der es sich beizeiten ab-
gewöhnte, im gefährlichen Spiel des Künstlerlebens
auf eine Karte allein zu setzen. Selbst als er längst
wohlbestallter Hofmusikus in Salzburg war und mit
der lebenslustigen Jungfer Maria Anna Pertl aus
dem liederreichen Salzkammergut Hochzeit gemadit
hatte, gab er sein angestammtes Bürgerrecht in der
Stadt am Lech niciit auf. So kommt es denn, daß es
ein richtiges Augsburger Bürgerskind war, das in
einer Sternstunde der Menschheit am 27. Januar
1756 im hohen alten Haus an der Getreidegasse zu
Salzburg zur Welt kam. Reidi imd mannigfaltig ist
das augsburgisciie Geisteserbe, das Wolfgang Ama-
deus Mozart in seinen Adern führte und das ihm
die erzieherisdie Sorgfalt des Vaters noch tiefer ein-
prägte. Eine der drolligsten Gaben aus diesem an-
gestammten Schatz ist der Augsburger Humor. Ob
wir nun die lustige Orciiestersuite „Galimathias mu-
sicum" aufblättern, die der Zehnjährige schuf, oder
etwa die übermütigen Kanons, die er noch bis m
seine letzten Lebensjahre den heiteren Wiener Freim-
den widmete, auf Schritt und Tritt begegnen uns m
seinen Schöpfungen die Spuren jenes lachlustigen
Quodübetgeistes des volkstümlichen musikalischen
Humors aus dem barocken Augsburg, den einst der
Schongauer Geiger Kelz mit seiner „Oberländisch-
schwäbischen Tafelmusik" begründet hatte. Die Aus-
wirkungen dieses musikalischen Humors eigener Prä-
36
gung führen über das in Augsburg ersdiienene
„Ohrenvergnügende und gemütsergötzende Tafel-
konfekt" des lustigen Möndileins von Banz zu Leo-
pold Mozarts „Musikalischer Schlittenfahrt" und
„Bauernhochzeit", die vierzehn Tage vor Wolfgangs
Geburt im bürgerlidien Musikkollegium zu Augs-
burg mit Schellengeläut, Peitschenknallen und Juch-
zen zum erstenmal erklangen.
zerten die beiden Wunderkinder Wolfgang und
Nannerl seinen Landsleuten vorstellte, ehe er ihnen
die Tür in die große musikalische Welt des euro-
päischen Westens aufstieß. Im vornehmen Rokoko-
bau „Zu den drei Mohren", vor dem der Herr
Vizekapellmeister des Salzburger Fürsterzbisdiofs in
eigener Reisekutsche vorfuhr, nahm man Herberge.
Über all den musikalischen Verpflichtungen und Ein-
Leopold Mozart (tH9-i7&T)
Ehrlidie Verehrer ihres Landsmanns Leopold Mozart
waren die Mitglieder dieses Kollegiums, in dem der
musikbegeisterte Bauamtsaktuarius mit ebensoviel
Eifer am Violin- oder Bratschenpult saß, wie der
weitberühmte Kupferstecher, der biedere Brunnen-
meister oder der Hofmusikus des Fürstbischofs, indes
der wohlbeleibte Kattunfabrikant im Schweiße sei-
nes Angesichts die Baßgeige strich und ihm zur Seite
der große Orgel- und Klavierbauer Johann Andreas
Stein die bunte Musikantenschar mit dem Silber-
klang des Kielflügels sidier durch alle Klippen und
Strudel der musikalisdien Scylla und Charybdis hin-
durchsteuerte. Meister Stein und sein Kreis waren
denn auch Leopold Mozarts beste Bundesgenossen,
als er im Sommer des Jahres 1763 in festlichen Kon-
ladungen vergaß der kluge Papa aber auch nicht,
den Kindern die Merkwürdigkeiten der Heimatstadt
zu zeigen, den Goldenen Saal im prunkvollen Rat-
haus Elias HoUs, den Wolfgangs helle Kinderaugen
nicht minder bestaunten als den kostbaren Kirchen-
schatz von St. Ulrich mit seinen gold- und juwelen-
funkelnden Kleinodien aus einem Jahrtausend bene-
diktinischer Kunstfreudigkeit. Die Konzerte der
Kinder fanden brausenden Beifall: ein Augsburger
Rezensent beglückwünsdite Vater Mozart mit be-
geisterten Worten, wie es ihm doch gelungen sei,
„ein Mägdlein von eilf, und, was unglaublich ist,
einen Knaben von sieben Jahren als ein Wunder
unsrer und voriger Zeit auf dem Clavecin der musi-
kalischen Welt darzustellen". Drei Jahre später.
37
Dai „Auphurger Bäsle'
staubig und knarrend von der Mühsal der Wege
halb Europas, über welche sie die musikalisdien
Triumphe Klein -Wolf gangs geführt hatten, kam
die Reisekutsche der Familie wieder durch Augs-
burg gerollt, im gastlichen Bezirk der „Drei
Mohren" nochmals kurze Rast zu finden, ehe sie
ihre kostbare Last vollends nach dem heimatlichen
Salzburg trug.
Hier, am glänzenden musikalischen Hof der Fürst-
erzbischöfe, den er zu Zeiten zu musikalischen Reisen
in den italienischen Süden und nach der Kaiserstadt
Wien verließ, reifte der Wunderknabe Wolfgang
Amadeus, Jahr um Jahr in der treuen Hut Vater
Leopolds, zum Meister heran, bis ihn die Enge der
Salzburger Hofluft nicht länger in der Salzachresi-
denz litt. Elf Jahre waren ins Land gegangen, seit
,er die grünhaubigen Zwiebeltürme der Heimatstadt
seines Vaters nicht mehr gesehen hatte. Nun brachte
die große Weltreise, zu der er sich mit seiner Mutter
im Herbst des Jahres 1777 anschickte, ein fröhliches
Wiedersehen. Wieder war es die väterliche Klein-
welt des reichsstädtischen Augsburg, die ihm vor
dem Flug in die Weite Rast bot. Diesmal war die
Geldkatze nicht mehr so wohlgefüllt. Der Papa
mahnte, auf Mannheim und Paris zu sparen, und
Madame Mozart stieg mit ihrem Sohn im gut bür-
gerlichen Gasthaus „Zum weißen Lamm" beim Hei-
ligkreuzertor ab, „wo schöne Zimmerl sind, auch
die ansehnlichsten Leute, Engelländer, Franzosen
etc. einkehren". Noch im Reisegewand, mit Hut
und Degen, sehen wir den jungen Meister eilfertig
um die Ecke der nächsten Gasse biegen, wo nalie
dem alten Jesuitengymnasium, in dem seines Vaters
Schulweisheit zuhause war, die Behausung seines
Onkels stand. Der Buchbindermeister Franz Alois
Mozart hatte seine Werkstatt schon zugemacht und
pflegte mit Frau und Tochter im Dämmer der Stube
des Feierabends, als die Türe unversehens auf-
gerissen wurde und der berühmte Herr Neffe aus
Salzburg strahlend vor Freude hereintrat. Mit den
Grüßen von Vater Leopold flog gleich nach alter
Familientradition der Mozarte manch übermütiges
Scherzwort hin und wieder, und bald hatte der Salz-
burger Vetter eine lustige Freundschaft mit dem
Augsburger „Bäsle" geschlossen. War doch die Jung-
fer Maria Anna Thekla Mozart mit ihren kecken
neunzehn Jahren so wenig auf Kopf und Mundwerk
gefallen, als der um weniges ältere Herr Vetter, der
fortan seine ausgelassenen Briefe ans „allerliebste
Bäsle Häsle" als „Edler von Sauschwanz" oder
„Wolfgang Amade Rosenkranz" zeidmete. In froher
Laune verlebte er die Augsburger Tage trotz man-
cherlei merkwürdigen Erfahrungen, die er mit der
gespreizten Wichtigtuerei eines in geistiger Nüchtern-
heit erstarrten Patriziats oder mit der gutwilligen
Unzulänglichkeit des Augsburger Liebhaberorchesters
machte. Seine Briefe an Vater Leopold mit den Be-
richten über die Augsburger Erlebnisse können wir
an jeder beliebigen Stelle aufschlagen: immer wer-
den sie uns ein köstliches Bild ihres Schreibers und
seiner Umwelt entwerfen. Mit Schmunzeln lesen wir,
wie der Schalk gleich am ersten Tag den alten
Freund Stein als „Herr Trazom aus München" hin-
ters Licht führte, um dann mit Meisterhand allen
Wohlklang zu entfesseln, welchen Steins berühmte
Orgelwerke bei den Barfüßern und in der Stiftskirche
Heiligkreuz in sich bargen. Oder vernehmen wir,
wie sein ererbter schwäbischer ScharfbHck und Humor
das preziöse Gehaben des Kirchenmusikdirektors
von St. Anna umreißt: „er setzt alle Wörter auf
Stelzen und macht gemeiniglich das Maul ehender
auf, als er nur weiß, was er sagen will, — manches-
mal fällt es auch zu, ohne etwas zu tun gehabt zu
haben". Vor der aufgeblasenen Eitelkeit eines Bene-
diktiners von St. Ulrich macht seine scharfe Zunge
erst recht nicht halt, wenn er dem wißbegierigen
Dümmling zuruft: „Schmecks, Kropfeter!" Aber dii
Augsburger Briefe zeigen Mozart auch zum ersten-
mal im Vollgefühl seiner künstlerischen Sendung,
wenn er dem taktlosen Standesdünkel des Stadt-
38
Das Mozart-Haus
pflegersohns die kühnen Worte zuwirft: „Ich kann
noch eher alle Orden, die Sie bekommen können,
bekommen, als Sie das werden, was ich bin, und
wenn Sie zweimal sterben und wieder geboren
werden!" Von dem „jungen Esel von Kurzen-
mantel", als den er diesen vornehmtuerischen Grün-
sdinabel bezeichnete, ist's nicht gar weit zu dem
„Löbkowitzisdien Esel", mit dem später der zornige
Beethoven seinen adeligen Mäzen betitelte, Vor-
zeidien der Befreiung der Künstlerpersönlichkeit
vom Joch des Hofbediensteten der absolutistischen
Zeit. Glänzend waren Wolfgangs Erfolge im exklu-
siven Konzert des vornehmen
Augsburg auf der Patrizierstube
und in seiner eigenen öftentlichen
Akademie im gräflidi Fuggerischen
Saal, wo es ihm gelang, „seine
Herren Landsleute etliche Sttmden
recht herrlich zu unterhalten". Am
wohlsten aber war ihm beim Musi-
zieren im Ghorherrnstift Heilig-
kreuz, wo er bei dem musikfreu-
digen Propst und seinem jovialen
Pater Organisten Stunden unbe-
fangener Fröhlichkeit bei wohl-
besetzter Tafel und festlicher Mu-
sik im Estrich des alten Prälatur-
gebäudes erlebte, Stunden, die ihm
im Gedächtnis blieben, als er schon
längst über alle Berge war. Denn
schon bald mußte tränenreicher
Abschied vom Bäsle und den an-
dern Augsburger Freunden genom-
men werden, als der Postillon wie-
der seine lustige Weise vor dem
„Weißen Lamm" ertönen ließ.
Das Bäsle aber mußte lange auf
den gefeierten Herrn Vetter war-
ten. Als ein Jahr verstrichen war
und er aus Paris heimkehrend wie-
der durdis Sdiwabenländle reiste,
mied er Augsburg. Zwei riefe Er-
lebnisse hatten indessen die Grund-
festen seines Wesens erschüttert:
der Tod der geliebten Mutter, die
in Paris auf immer von ihm ging,
und die glühende Zuneigung zu
der blutjungen Mannheimer Sän-
gerin Aloisia Weber. Dies letzte
Erlebnis ließ ihn wohl dem Bäsle,
das so treu seiner gewartet hatte,
aus dem Wege gehen. Als er sich
nadi seiner Ankunft in München
von der Angebeteten schmählich
verstoßen sah, mußte freilidi gerade das Bäsle aus
Augsburg schleunigst herüberkommen, den armen
Vetter zu trösten und vollends heim nach Salzburg
zu geleiten.
In den folgenden Jahren versank ihm mit seiner
Übersiedlung nadi Wien und dem Tod seines Vaters
die schwäbische Urheimat mehr und mehr. Und doch
ereignete sich noch eine letzte Berührung. Im Spät-
herbst des Jahres 1790, wenige Monate nach dem
berühmten Herrn Geheimerat Johann Wolfgang von
Goethe, den seine zweite italienisdie Reise her-
geführt hatte, stieg Mozart für eine kurze Reise-
Photo Stadt. Bauvcrwallung
39
nacht im wohlbekannten „Weißen Lamm" zu Augs-
burg ab. Er hatte es aber schon redit eilig, heim
nach Wien zu kommen, kränklich wie er war und
mißvergnügt über den schwachen Erfolg der Kon-
zerte, die er bei der Frankfurter Kaiserkrönung ge-
geben hatte. Nicht viel mehr als ein Jahr der Not
und Sorge im Kampf um die Existenz verstrich
noch, bis das Leben des Meisters in einer Altstadt-
gasse Wiens erlosch, das Leben jenes Augsburger
Bürgerkindes, von dem die schwäbisdien Reidis-
städter «inst in ihrer Zeitung die stolzen Worte gelesen
hatten: „Ehre für uns, lieber Patriot! Einen Tonkünst-
ler, einen Landsmann hier zu haben, um den uns ganz
England, Frankreich und Italien beneidet!"
Fern sind die Tage, die Mozart und seine Ahnen
in den Mauern Augsburgs sahen. Aber der Ehren-
name einer Mozartstadt ist der Stadt am Lech ge-
blieben und stellt sie brüderlich neben Salzburg und
Wien. Im Feuerorkan der Luftangriffe des unheil-
vollen Februar 1944 sind unzählige der Augsburger
Stätten in Asche gesunken, mit denen das Leben
Mozarts und seiner Ahnen verbunden war. Über
die rauchenden Trümmer der Barfüßerkirche und
Heiligkreuzkirdie tropfte in heißen Zähren das glü-
hende Metall der Orgelpfeifen aus den Werken
Meister Steins, die Mozarts Meisterhand geweiht
hatte. Eine öde Trümmerstätte starrt uns am Platz
des Gasthauses „Zum Weißen Lamm" an, dessen
Hut einst Wolfgang und seine Muner umfangen
hatte. Phantastische Ruinen und rauchgeschwärzte
Fensterhöhlen recken uns die einst so gastlichen
„Drei Mohren" entgegen. Nur traurige Reste zeugen
noch von dem traulichen Altstadtbild der Jesuiten-
ga&se, wo Vater Leopold studiert und das lustige
Bäsle gewohnt hatte, oder von dem massigen Bau
der alten Prälatur des Stiftes Heiligkreuz, in dessen
Räumen einst die feurigen Klänge seines Violm-
konzerts „mit dem Straßburger" unter Wolfgangs
eigenen Händen widerhallten. Aber die Stätte, an
der sich des Meisters Verbundenheit mit Augsburg
am klarsten kündet, ist vom apokalyptischen Grauen
der Bombermächte verschont geblieben. Unverrückt
hebt ein schlichtes Bürgerhaus in der Frauentorstraße
seinen Giebel in das freundliche Licht des schwäbi-
schen Himmels: das Haus, in dem einst Leopold
Mozarts Wiege stand, Verheißung und Verpflichtung
zugleich für Augsburg und alle Welt, in welche die
Werke seines Sohnes ihren Segen ausstrahlen, für
Schönheit, Wahrheit und Güte zeugend bis in
fernste Zeiten.
C^fL^i^)
^jJ^.tU^ -^f{ ^^^< -^'^<^. ^J^ -pUJi^ ^Z^y^^
//^---•/^7^ /c^SC^ ^If.^^^ -^^<^/-, ^-i^L^
Faksimile eines Briefes von W. A. Mozart an das Augsburger Bäsle
40
^,
; -. -.V'^^Hf-
Eingang zur Fuggerei mit dem Neptunsbrunnen
JAN LICHTENBERG
Photo M. Lang
Brief aus der kleinsten Stadt
Augsburg, in der Fuggerei, Friihsommer 1948.
Lieber Freund, Ihr langer Brief, das erste Lebens-
zeichen nach so vielen Jahren und die erste persön-
liche Botschaft seit Ihrer Rückkunft, war mir eine
unbeschreiblidie Freude. Ich wsiß gar nicht, wie ich
Ihnen das ausdrücken, geschweige denn danken soll.
Wahrsdieinlidi am ehesten dadurch, daß ich seine
Fragen, die so dringlich gestellt sind, gleich beantworte.
Zunächst waren mir diese freilich nicht ganz ver-
ständlich. Aber sie erscheinen mir um so angebrachter
und begreiflicher, je länger ich darüber nachdenke.
Denn obwohl hier in Augsburg, gleich unzähligen
anderen Städten, weitaus kostbarere Dinge dem un-
heimlichsten Schicksal ausgesetzt waren und von ihm
als Hekatombe an das Grauen unserer Zeit ver-
schlungen wurden, lag Ihnen doch selbst in der
äußersten Verlassenheit ferner Bergwerke die Sorge
um unsere Stadt der Armen als Inbegriff des sicht-
baren Friedens und innerer Besdiauliciikeit fast noch
mehr am Herzen als jene.
Sie sagen, daß diese kleine und heimliche Welt, Aus-
druck der Hochherzigkeit, des Bürgersinnes und der
Christenliebe, Ihnen unvergeßlidi geblieben sei, weil
hier abseits jeder aufdringlichen Programmatik ein
Mensch auf die Dauer von Jahrhunderten die Obhut
für eine Handvoll Dutzender von Familien einzig
darum auf sein Gewissen nahm, weil sie Arme waren
und deshalb seiner Pflege bedurften.
Mit der Zerstörung des größten Teiles dieser sechs
Gassen, des Gotteshauses, der vier Tore und Plätze,
mit einer Vernichtung der ältesten Armensiedlung
der abendländischen Menschheit überhaupt, wären
nadi Ihrem sicheren Gefühle deutsches Wesen in
seinen besten und unverfälschten Zügen, sein Ge-
meinschaftssinn, die werktätige Nädistenliebe und
die große geschichtliche Überlieferung unseres Volkes
an einer ihrer zarten und deshalb verletzbarsten
41
Seiten getroffen worden. Jedoch damit nicht genug,
trägt jeder von uns irgendwo, ob er es niun zugibt
oder nicht, eine heimliche Vorliebe in sich, die nicht
bloß romantische Idylle spielerisch bevorzugt, son-
dern deren echte Zuneigung ganz ernsthaft den
Stätten reiner Besinnlichkeit und wahren Friedens
gilt. "Was hier verloren ging, war aber Heimat des
eigentlichen Menschseins audi vielen von jenen ge-
wesen, die nicht in der Fuggcei wohnten, sondern
nur rein geistig in ihr sich beheimatet wußten.
Ganz leibhaftig haben Ihre Worte midi in jene
Stunden zurückversetzt, als wir den alten Menschen
dieses Städtchens zusahen. Mit der üblichen Um-
ständlichkeit trugen sie ihr beschauliches Leben aus
dämmerigen, holzgetäfelten Stuben oder gewölbten
Küchen zu einem Plausch hinaus auf die Gasse oder
pflegten gewichtig ihre Blumen, ihr Gemüse, ihren
Tabak mit zitternden Händen.
Unvergessen ist das Rauschen hoher Bäume, der
Blick in das Strahlen der Kastanienblüte, unvergessen
blieb uns vor allem der Omphalos dieser winzigen
Stadt, ihr Brunnen. Eigentlich war er ganz un-
scheinbar und, für sich allein besehen, nidits weniger
als großartig. An -diesem Platze freilich besaß er
seinen besonderen Sinn und ganz eigene Art. Von
dem niederen Aufbau fiel tags und nachts das Wasser
in die Breite seiner untersten Schale. Nicht allein
um der schier fürstlichen Rundung des an sich ein-
fachen, eisernen Beckens willen mußte man ihn gern
haben, sondern weil dieser fast unansehnliche Brun-
nen der kleinsten Stadt inmitten der weitaus größe-
ren Gemeinde so völlig unbekümmert sein eigenes
Wesen behauptete. Im Gegensatz zu seinen be-
rühmten Brüdern ward nichts an ihm Schaustück,
und sei es im besten Sinne des Wortes, nichts Deko-
ration, nichts kalte Monumentalität. Er verblieb
ohne Großtuerei das, als was er ursprünglich gemeint
war, bescheiden geschäftiger Diener bedürftiger
Menschen zu sein, Schöpfbrunnen für die Hausfrauen
und Lieblingsspielplatz der Kinder, die in seinen
gläsernen Fluten plantschten.
Ich habe auch nicht vergessen, wie uns vor ihm un-
Eine Straße in der kleinsten Stadt
Photo H. Saebens
willkürlich jene weitaus herrlicheren italienischsn
Brunnen einfielen, die über ihrem Ruhme der großen
Namen die eigentliche Natur des Brunnendaseins
nicht verloren und, gleich dem bescheidenen Bruder
in Augsburg, im kühlen Gewände Freunde der
Armen blieben und Spiegel der lichten Bläue eines
hohen Himmels.
Es mag sein, daß in uns damals audi etwas von der
unstillbaren Sehnsucht aufstieg, die immer neue Ge-
schlechter, die schließlich in diesen altertümlichen
Bürgergassen mit ihren gleichen, hohen, steil ge-
treppten Giebeln mündeten, als Söhne der rührigen
Reichsstadt und Diener stolzer Handelshäuser einst
wandernd oder redtenid nach dem Süden lockte.
Vielleicht erging es ihnen dort drunten nicht anders
als Dürer, der seinem Freunde Pirckheimer von den
Lagunen schrieb, wie er sich hier als Signore, zu
Hause als Schmarotzer fühle, und den schon im
voraus vor jenen nordischen Städten eine leise Scheu
überkam, weil ihn dort „nach der Sonne fror".
Man hat dem gleichen Albrecht Dürer einmal den
Entwurf für diese kleinste Gemeinde im „Kappen-
zipfel" der Jakober Vorstadt Augsburgs zuschreiben
wollen. Zu Unrecht, ihr Baumeister Thomas Krebs,
der das Städtchen begann, und jene Unbekannten,
die seinem Werke Kirche und Dachreiter, nicht zu
vergessen die Krankenhäuser samt der Schule, zum
Schlüsse über sechzig Gebäude, hinzufügten, besitzen
keine gefeierten Namen. Allein sie bauten licht und
freundlich und herrenhaft in ihrer Art. In breiten
Bändern flutete die Sonne durch die Gassen, und
bevor stadtväterische Umsicht die mannigfachen
kleinen Kanäle Augsburgs überwölbte, brach sich ihr
Sdiein auch hier in zierlichen Seitenarmen des Lechs,
die, nur von wenigen schmalen Stegen bezwungen,
durch verschiedene dieser paradiesischen Gassen mur-
melnd ihren Weg nahmen.
Paradiesisch muß diese Welt allerdings gewesen sein,
audi im Zusammenleben von Mensch und Tier.
Noch heute verraten die alten Straßennamen, die
neben den gotischen Hausziffern an den Wänden
stehen, uns davon genug, nur daß man mit der Zeit
das ungetrübte Verhältnis zu so schönen Worten
wie „Ochsengasse" und „Saugasse" verlor. Vor dem
Kriege sprachen wir eirmial über diese merkwürdige
Verbürgerlichung, die an solchem guten deutschen
Klang aus mißverstandener Wohlanständigkeit
Ärgernis nahm: Diese Gemeinde der Armen war
überhaupt nicht unbedingt einheitlich, sondern viel-
fach, selbst gesellschaftlich, in sich gegliedert.
Obwohl diese geheimen Ordnungen nie verlorenen
Selbstgefühles nicht immer sichtbar zutage traten,
wollte „man" eben doch lieber nicht in der Saugasse
oder der schattigen „Finsteren Ga^se" wohnen, —
eine sonderbare, doch bezeichnende Scelenhaltung,
die sich bei einer bestimmten Menschengattung, die
„etwas auf sich hielt", dahin steigern konnte, ein
Logis in der Belle Etage an der „Herrengasse", und
sei es bloß um dieses Namens wegen, als Gipfel
der Gefühle anzustreben.
Dabei wußte doch jeder, daß diese sämtlichen Be-
hausungen, gleichviel in welchem Sträßlein, auch
gleich viel oder gleich wenig kosteten, nämlidi seit
1521 nur den Gegenwert eines einzigen rheinischen
Guldens. Die im Sinne des Stifters sehr nachsichtige
Verwaltung hat den Gegenwe.-t vor Jahrzehnten
auf eine Mark und einundsiebenzig Pfennige be-
rechnet. Das ward nun mit jener edit schwäbischen
Zähigkeit, die allem Fuggerischen eignet, beibe-
halten. Die Fuggerische Handelsgesellschaft mochte
seinerzeit an Schwankungen des Marktes wie der
Währung verdient haben. Die Fuggerei kümmerte
sich nicht darum, ob das Geld draußen stieg oder
fiel. Für ihre Bürger blieb der Gulden ein Gulden
und — sogar — die Mark gleich einer Mark. Da-
mit zahlte man jährlich, ohne Rücksicht auf wech-
selnde Systeme, je zur Hälfte zweimal den Zins
seiner Wohnung nebst Gärtchen und wurde hier-
durch sein eigener Herr und ein König unter den
Armen.
Die paradiesisciie Unberührtheit des Daseins haben
wir an der Fuggerei damals immer wieder gesucht,
und es schien unvorstellbar, daß dieses kleine Reich
der Notleidenden, das sich so bewußt von dem ge-
samten Getöse des Zeitalters fernhielt, mitten in der
allgemeinen Erregung unberührte Gelassenheit be-
wahrte, zwischen dem heroischen Massenscil so be^
glückend klein, einfach und persönlich blieb, eines
Tages mit hineingezogen werden könnte in die
Katastrophe jener Dinge und Haltungen, die ihr
wesensmäßig und in allen Schichten tief fremd
waren.
Wahrscheinlich hat die bedrüdiende Frage nach deiin
Schicksal der Fuggerei Sie gerade deshalb so unab-
lässig verfolgt, weil es Gipfel des Wahnsinns dünkte,
daß dieser heimliche Garten Eden in das Inferno ent-
fesselten menschlichen Ungeistes geraten sein sollte.
Es fällt heute schwer, aus verborgenen Abgründen
des Gedankens bestimmte Tatsachen und schmerzliche
Einzelheiten zu heben, die jeder von uns, der jene
Grauensnächte deutscher Städte mitzuerleben ver-
urteilt war, lieber in ein ewiges Schweigen ver-
senkte. Sie werden bemerkt haben, wie ungerne die
Menschen davon sprechen, sei es, um der persön-
lichen Erinnerung an die Ausgesetztheit, an die Frag-
lichkeit ihres Daseins auszuweichen, sei es, weil sie
die Fülle des Scheußlichen mit trennenden Wänden
von ihrem Bewußtsein abmauerten, um neben dieser
43
Dachzimmer in einem Fuggerhäuschen
unheLmlidien, dunklen Kammer, deren Schrecknisse
hin und wieder schwere Träume belasten, den Ver-
such eines ertragbaren, neuen Lebens zu wagen.
Trotzdem sollen diese Dinge keineswegs vergessen
sein. Ich will sie Ihnen, um genau bei der Wahrheit
zu bleiben, gewissenhaft nadi dem Zeugnis von
Menschen berichten, die arn damaligen Geschehen
teilnahmen, mich auf sie berufend, da ich selbst aus-
wärts weilte und erst der furchtbaren Kunde folgend
in das Pompeji des einstigen Augsburg, aus dessen
Trümmern es noch schwelte und züngelte, zurück-
gekehrt bin.
Am Morgen des verhängnisvollen 25. Februar 1944
hatte ein größerer Verband feindlicher Flugzeuge
wichtige militärische Ziele im Bereiche der Stadt an-
gegriffen, ohne privates Eigentum, kulturelle und
kirdiliche Güter, Herz und Seele dieser ehrwürdigen
Matrone, mit verniditenden Waffen zu suchen. Da-
her kam es, daß leider fast niemand, als abends
gegen 10 Uhr das Aufheulen der Sirenen die Men-
schen abermals in die Keller jagte, den Warnruf
übermäßig ernst nahm. Auch in der Fuggerei ver-
traAJte sich mancher lieber dem anigeblidi erprobten
Schutze seiner häuslichen Küche an.
Die anderen saßen aufgeschreckt und verängstigt in
ihren Unterständen. Hier wie da erlebten dann
alle, jählings aus den süßen Täuschungen der Ver-
schonung ihrer Heimat gerissen, den schauderhaflen
Feuerregen der Brandstäbe und Kanister, das Sausen
der fallenden Sprengbomben. Wie ausgelöscht ist
plötzlich das beklemmende Dröhnen der schweren
Motore, verschluckt vom Lärme sich überstürzender
Einschläge, des platzregengleichen Klatschens der
Pholo M. Lang
Flammen, des Niederbrediens un-
gezählter Häuser, der grauenerre-
genden Entladungen.
Erst nadi rund zwei Stunden
kommt es scheinbar zum Abflauen
des Angriffes. Sogleich eilt ein
Trupp beherzter, über sechzigjäh-
riger Feuerwehrleute der Fuggerei,
begleitet von mutigen Frauen, aus
der Geborgenheit hervor, sucht un-
ter ständiger Anleitung das Unheil
zu meistern. Rauch und Phosphor,
beißender Qualm erfüllen die Luft.
Ganz Augsburg ist in ein einziges
aufloderndes Meer des Jammers
getaucht. Die tapferen Helfer hasten
im Funkenregen die Feuergassen
auf und nieder, müssen das Mar-
kuskirchlein als hoffnungslos ver-
loren preisgeben. Längs den Zeilen
springen die Flammen von Dadi-
stuhl zu Dachstuhl über, werden selten und nur
dort durch Menschenkraft bezwungen, wo der Sdia-
den noch nicht übermäditig geworden ist. Immerhin
sdieint noch schwache Aussicht vorhanden, einen
Großteil der kleinsten Stadt vor dem Untergange
zu retten.
Da fallen nach einer weiteren knappen Stunde aber-
mals die Bomben. Männer und Frauen müssen erneut
zurück unter die Erde. Ein Teil wirft sidi mit keu-
chenden Lungen in notdürftigen Unterständen flach
auf den Boden. Die meisten flüchten wie zum Tröste
in den großen Bunker, wo die übrigen, Frauen und
Kinder, lauschen und beten. Zu hunderten hocken
sie dort auf Bänken, jämmerlichen Koffern und
Bündeln, starren in das Wesenlose. Halbsterbenden
wird hier die letzte Lossprechung erteilt. Drüben
in einem anderen Winkel entbindet eine Frau,
schenkt neues Leben zwischen Tod und Vernichtung.
Der alte Meßner schleppt treppab die goldenen Ge-
fäße mit dem Allerheiligsten. Man hat sie aus dem
brennenden Gotteshäuschen noch gerettet und birgt
sie nun, so gut es geht. Ein Luftschutzarzneischrank
dient ihnen als notdürftiges Tabernakel.
Endlich vermindern sich draußen die schredilichen
Erschütterungen. Wieder springen die Kräftigen
hinaus, wehren, wo irgend sie das vermögen, der
Flammenwut, deren Toben sidi nun erst zum Gipfel
steigert, retten was an kümmerlicher Habe den
Opfern dieser Nacht wie ein Hohn des Schicksals
rein zufällig verblieb. Allerdings, viel ist nicht mehr
auszurichten. Zwar mindert vereinzelt der dichte
Schnee das allzu jähe Umsichgreifen der Brunst.
Jedoch auf die Dauer bedeutet seine Kühle keinen
44
hilfreichen Beistand gegen die Gewalt des Feuer-
sturmes.
Immer scheußlicher verpestet der Rauch das Atmen.
Die Menschen können aus den blutig entzündeten
Augen nichts mehr sehen. Als gar das Wasser zur
Neige geht, die eingefrorenen Handpumpen den
Dienst versagen, wird es aussichtslos, gegen die
Herrschaft des dämonisch entfesselten Elementes
weiter anzukämpfen. Die viele nächtliche Stunden
lang überspannten Kräfte lassen gegen Morgen nach.
Dabei bietet sich den in der Fuggered Eingeschlosse-
nen zunächst keine Aussicht, die Fühlung mit der
Umwelt zu gewirmen. Die Straßen rings umher
liegen versdiüttet. Gürtelgleich steht die weite Stadt
in Flammen, die die kleine Gemeinde in feuriger
Umarmung halten.
Aber Unentwegte geben nicht nach. Endlich schlägt
sich der erste Teil der Fuggereibürger, alte Männer
und wehrlose Frauen, zwischen den Brandsdiluchten
durch, gewinnt, fast zu Tode erschöpft, das freie
Land vor Augsburg, während die stolze Stadt selbst
in Dunst und Glost, in ihren dichten Witwenschleier
von Rauch und Flammen gehüllt bleibt.
Andere Insassen verweilen länger oder können sich
selbst von der zerstörten Heimstatt nicht losreißen.
Sie treffen einen Mann, der als Beobachter pflicht-
treu ausgeharrt hatte, friedlich an die Wand seines
Hausganges gelehnt. Das müde Herz steht still.
Vielleicht vennochte die Lunge
den Druds nicht zu ertragen. Man
breitet ihn auf sein Bett, fahndet
durch fünf Tage nach Leuten, die
bereit sind zur Bestattung. Die
Alten in der Fuggerei können das
nicht mehr. Auch einer Frau gut
das Suchen. Zwischen beiden An-
griffswellen hatte sie ihre Habe
gesdiäftig geborgen und sich an-
scheinend ganz glücklich gefühlt
über den Berg von Armut, der ihr
geblieben war. Sie wird nirgendwo
gefunden. Blinde Besitzesfreude
Heß keinen rechtzeitigen Abschied
nehmen. So verbrannte sie an-
scheinend mitsamt ihrem kläg-
lichen Gute, blieb bis heute ver-
schwunden.
Ganz allmählich scheint das Feuer
zu ersticken. Es züngelt zwar man-
cherorts nochmals auf, leckt über
Sdiuttihalden hin, klettert an phan-
tastisch abgerissenen Trümmerkan-
ten empor, frißt beinahe eine halbe
Woche später als letztes Opfer
Der Brunnen
noch ein uraltes Häuslein und fällt schließÜdi in
sich zusammen. Dann wird es still, totenstill im
einstigen „Kappenapfel" der Stadt.
Das waren die Tage und Stunden, in denen der
Herrgott das Schicksal der Fuggerei auf seiner Hand
wog. Und noch eins ward geprüft, das Herz jenes
Geschlechtes, nach dem sie ihren Namen trägt. Ist
es stark, männlich, tapfer? Wird es zugleich stolz
und hingebend genug sein, um aus dem Nichts, in
das seine gute, kleine Stadt beinahe zerfallen war
und binnen der letzten anderthalb !^iegsjahre end-
gültig zerfallen konnte, die aus tausend Wunden
blutende, zu Tode getroffene Fuggerei zu neuem
Leben, richtiger gesagt: zum alten Dasein des Frie-
dens und der Liebe zwischen aller Feindschaft und
tödlichem Haß zu erwecken?
Was stand seit dem Jahre des Heiles 1519 auf
schweren, mit Helm und Schild verzierten, steiner-
nen Tafeln über den drei Haupttoren der Fuggerei?
Daß „die Brüder Ulrich, Georg und Jakob Fugger
von Augsburg zum Heile ihrer Stadt und voll
inniger Dankbarkeit für die vom Herrgott empfan-
genen Güter aus Andacht und zum Vorbilde hoch-
herziger Freigebigkeit 106 Behausungen nebst aller
Zubehör ihren fleißigen, doch armen Mitbürgern
stifteten, widmeten und weihten".
Über den Pforten zum frischen Unheil künden die
ehrwürdigen Inschriften ewig das gleiche Ruhmes-
photo S. Rostra
45
lied der alten Fugger. Drunten im Bunker aber, am
Schauplatze des Grauens der letzten Tage, finden
sich die Heutigen zusammen. Und diese Jungen be-
schließen aus dem Geist ihrer Vorväter, nicht nach-
zulassen. Die Fuggerei soll wieder erstehen, aber
nicht nur überhaupt, irgendwie, irgendwo und
irgendwann, sondern gleich, am selben Fleck Erde,
so wie sie gewesen, ewig jung und zeillos, allze'.t
beschaulich, wie sie sich von je ihren vielen heim-
lichen und offenen Freunden dargeboten hatte. Un-
vergessen mögen daher auch die Namen jener drei
Männer sein, die, ider Ahnen eingedenk, solchen
Entschluß faßten und Ihn durdi alle Gefahren dieser
Jahre unentwegt trugen, die Fürsten und Grafen
Joseph Ernst, Clemens und Friedrich Carl Fuggcr
von Glött, Fugger von Kirchberg und Weißenhorn,
Fugger von Babenhausen.
Und es blieb nidit bei dem einmaligen Worte. Kaum
war der Krieg zu Ende — dainit aber lassen Sie
mich schließlich Ihre bangste Fraige beantworten — ,
war auch die Gefahr beschworen, daß der hoch-
herzige Vorsatz in dem Elend der folgenden Zeit
noch ersticke'n könnte. Das anfangs mühsam ver-
deckte und dürftig verbundene Siechtum der Fugge-
rei wurde glücklich überwunden. Hier darf man aus-
nahmsweise mit gutem Rechte sagen: Das neue Leben
blühte aus Ruinen. Zunächst geschah das zage und
verstohlen, hernach kräftiger und schließlidi mit
vollen Zügen.
Bevor das richtige Bauen begann, mußten zunächst
riesige Berge von Schutt aus Gassen und Häusern,
den zumeist ausgebrannten, teilweise aber auch
gänzlich zerstörten Fuggereigassen, herausgeschaufelt
werden. Erst hernach hub das eigentliche Schaffen
an. Hinter Gerüsten und drinnen im hohlen Gehäuse
wuchsen allmählich wieder Trennwände, Stiegen,
Stockwerke, Dächer, Giebel, zuletzt ragende Ka-
mine empor. Manchmal ging es wohl zäh voran, zu
langsam für die Wartenden, im ganzen aber schloß
sich der sichtbarste Teil der Kriegswunden in der
Fuggerei zum großen Staunen der Mitbürger rascher,
als vermutet. So wie voreinst an Plätzen, auf denen
wenige Häuslein zwischen Gärten träumten, die
sauberen Straßenzüge des Städtchens binnen weniger
Jahre sich erhoben, erstand nun, gleichermaßen aus
dem Verstehen für die Verpflichtung großer Über-
lieferungen 'Und aus Liebe zu den Opfern der Zeit,
halb alt und halb neu — beides kaum voneinander
• zu scheiden — die junge Fuggerei.
Daß ich es Ihnen genauer sage: sie erstand nicht
ibloß, sie begann wieder zu atmen, zu wachen und
ziu träumen. Es ist sehr schön, wenn solche Stunden
wie die Übergabe der Schlüssel zu den ersten wieder-
geschaffenen Wohnungen festlich begangen werden.
Aber das für sich allein hätte die Fuggerei zu keinem
frischen Leben erweckt. Indessen das zerstörte Nest
wurde in der Tat so glücklich neugefügt, daß nun
auch die Jahre hindurch versprengten, müden, alten
Vögel einer nach dem anderen heimkehren. Mit
jedem von ihnen kommt ein Stück unsterblicher
Fuggerei zurück.
Soll ich Ihnen Ihre guten Bekannten ins Gedächt-
nis rufen? Der Torwart mit eisgrauem Schnauzbart,
schlauen Augen und bäuerlichen Goldringen in den
Ohren schlurft an seinem Stock durch die Gassen,
schnitzt wie früher Spielhäuschen für Fremde, sitzt
nachts in der Torstube, läßt sich herausläuten und
heimst dafür die Groschen ein. Der emsige Meßner
sammelt schon Kerzen, obwohl die Kirche kaum
unter Dach ist und es noch manche Weile dauern
mag, bis ihr Glöckchen nach alter Satzung „jeden
Menschen, so er vermag, jung oder alt, zu einein
Pater Noster, Ave Maria und einem Glauben alle
Tage . . . für die Fundatores, deren Eltern, Brüder
und andere Geschwister iund Nachkommen" rufen
wird.
Vieles fehlt leider noch. Jedoch dafür ist die schöne,
alte Madonna wieder da. Milde lächelt sie über das
bescheidene Gewimmel zu ihren Füßen. Möge sie
den Mantel ausbreiten zum Schutze dieser Heimtit
der Armen. Nach ihr ziehen langsam die vertrauten
Figuren der Hausheiligen in den Andachtsnischen
und Grotten ein. Vertriebene gute Geister kehren
an den Herd zurück.
Das Haus mit der letzten offenen Esse früherer
Zeiten ist durch einen freundlichen Zufall verschont
geblieben, gleichfalls verschont mancher Trödel von
wenigen nicht abgebrannten Speichern. Für midi
verkörpert er sich in einem schrecklichen, aus-
gestopften Hund mit gelben Glasaugen, die mir
letzthin aus dem Halbdunkel eines Dadies entgegen-
starrten. Solches erhielt sich zwischen aller Ver-
nichtung, während wenige hundert Meter davon
entfernt Jakob Fuggers Goldene Stube in Asche
zerfiel.
Aber ging es eigentlich nicht überall so? Uns Gegen-
wärtigen erscheint es darum beinahe schon wichtiger,
ob dem Reste der Mut zu neuem Anfang verblieb.
Darüber kann ich Sie glücklicherweise im Falle der
Fuggerei beruhigen. Selbst Ihr bevorzugter Liebling,
das Mozarthaus der Fuggerei, in dem der kleine
Wolfgang Amadeus aus- und eingegangen sein wird,
wenn er zum Vorvater nach Augsburg auf Besuch
kam, ist wieder bewohnt. Erzähle ich Ihnen dazu
von einem jungen Mädchen, das die Musik liebt, und
wie eifrig es schräg gegenüber auf seinem bürger-
lichen Pianoforte übt, dann werden Sie spüren, daß
die alte Fuggerei wieder erwachte und durch die
46
Weisen des bürgerlichen Instrumentes die Melodien
des einstigen Cembalos geistern. In der Tat, s'ie ist
wieder da mit allen ihren Eigentümlichkeiten, dem
Verkündigungsbrett und den amtlichen Sperrstun-
den; denn Ordnung muß sein, selbst in diesem
kleinen Paradiese.
Buschiger Wein grünt an den trauten Giebeln. Die
alten Weiblein lehnen sich aus den Fenstern, damit
ihnen auf der Straße nichts entgehe. Mitunter scheint
der Spuk der furchtbaren Nacht schon so lang ver-
gessen wie die Not des Dreißigjährigen Krieges,
'nach dem das Städtchen, zuerst zeitweise besetzt
und geplündert, gleichfalls weithin verödet lag.
Die Blumen in den Gär-
ten duften nachts lauter
als am hellichten Tage.
Blutrote Malven blühen
heute dort, wo damals
ein Weib rätselhaft im
Feuer verschwand. Da-
zwischen aber tauchen
als Jüngsteüberraschung
gaiiiz neue Gesichter auf.
Zum Teile sind es Ar-
beiter samt ihren Frauen,
die sidi mit manchem
Rüstigen in die Mühe
des Wiederaufbaues tei-'
len. Letzthin traf ich eine
Bäuerin in der kleid-
samen Tracht der Batsch-
ka mitten unter ihnen.
Es überwiegen aber weitaus die bekannten Züge. Wie
schon gesagt, viele Ihrer früheren Freunde sind
wieder da. So etwa der Mann mit Rauschebart und
Jägerpfeife, der selbstzufrieden schmunzelnd unter
der Haustür wartet. Keiner züchtet so geschickt wie
er Kanarienvögel mit dunklem Schöpfe. Freilich,
sie sehen anfangs erbärmlich nackt und scheußlich
aus, und ihre vorerst blinden Augen ruhen hinter
graublauen Lidern. Oder jener andere wackere Alte,
der über seine Augsburger Heimat nicht allzu w.?;t
hinauskam, doch im Herzen unauslöschliche Sehn-
sucht nach Abenteuer und fernen Welten trägt.
Sorgsam wischt er den Staub von einem halben
Dutzend fremdsprachiger Wörterbücher und, Neid
aller Buben, einer vollkommenen Ausgabe des Karl
May. Früher wäre der Mann vermutlich Faktor der
Welser zu Venezuela geworden, oder lebt am Ende
gar eine Welle des Blutes deutscher Conquistadoren
in seinen Adern?
Endlich hat die Fuggerei auch wieder Geheimnisse,
die man behutsam verbirgt, obwohl jeder sie kennt,
weil jener Gute, der nur seinen Vertrautesten in das
Stadtplan von Kilian i626: Die Fuggerei
Photo Birzele und Przibilla
Ohr flüstern möchte, daß sein Testament hinter der
Wanduhr verborgen sei, laut krächzt, bis es alle
Nachbarinnen gleich miterfahrjn. Trotzdem wird
dieses eigentümliche Geheimnis als solches geachtet,
und der Taube wähnt es nicht umsonst in sicherer
Hut.
Im Gefolge der Alten sind die Jungen, Kinder und
Enkel erneut eingezogen. Sie dürfen genau so wenig
wie ehedem in den Gassen tollen, tun es aber, er-
freulicherweise, genau wie einst. Es ist sehr schön,
über die hoch aufgebeugten Bretterlagen zu klettern
oder entgegen allem Verbot abends in verlassenen
Baustellen über freie Balken zu tänzeln, bis man
schließlich ertappt und
vertrieben wird. Die
jüngste und günstigste
Neuheit scheint jedoch
ein Wettrennen mit
Puppen unter dem Arme
zu sein. Es muß offen-
bar für schwierig gelten.
Wenigstens wird die je-
weilige Siegerin mit lau-
tem, aufrichtigem Jubel
begrüßt.
Endlich sind vor allem
jene zahlreichen weite-
ren wieder da, die in
die Fuggerei nachzu-
rücken wünschen, so-
bald einmal die vom
Kriege Verjagten unter-
gebracht sind. Ihnen, die im Bombenschauer alles
verloren, kann begreiflicherweise der Bau nicht
schnell genug voranschreiten. Er soll ihnen nach dem
Elend eine Heimat bescheren. Aber ich gerate nun
selbst ins Schwatzen, wie wenn ich zu den guten
Weiblein gehörte. Ich will zum Ende kommen, so
gerne ich Ihnen noch die weitläufige Geschichte
unseres sechzigjährigen Don Juans erzählen würde,
der ewig nicht zur endlich nötigen Vernunft gelangt.
Eines darf ich Ihnen freilich doch noch sagen. So-
bald ich abends zur Ruhe gehe, fällt vom Fenster
her der matte Schein einer verlassenen Gaslaterne
über mein Laken. Es ist ringsum sehr still. Sobald
auch dieses Licht um halb zwölf Uhr erlischt, ver-
glimmen die letzten leuchtenden Kammerfenster-
augen. Dann schläft: die Fuggerei.
Es knackt in der Wand. Die frischen Balken sind
noch unruhig, möchten sich dehnen und strecken,
zusammenziehen oder biegen. Ich weiß es nicht
genau. Aber langsam schweigen auch die Wände.
Höre ich ihr Knistern nicht mehr, oder gewöhnt sich
das junge Holz inzwischen an die alten Mauern?
47
Geschäftig tickt meine Uhr, die Sie kennen, neben
mir. Sie scheint das Unermüdliche in dex Welt zu
verkörpern. Ist sie deshalb bereits das Immer-
währende, das Ewige oder doch bloß die zu Metall
gewordene Tochter und KronzeugLn der Zeit? Wie
ihre Mutter, so kann auch sie ablaufen. Dann muß
sie wieder aufgezogen werden. Ob es eigentlich mit
der Zeit ähnlich ist? Daß man sie aufziehen muß?
Es heißt, man könne sie nicht zurückdrehen. Wenn
es nun einer doch versuchte? Womöglich würde
dann audi die Feder dieser verrückten Zeiten sprin-
gen. Doch mein Geist beginnt zu schwärmen, spinnt
sinnlosen Nachtspuk fort.
Ewig ist nur das Zeitenlose, das aus sich allein
weitergeht — bei uns gleichsam der Brunnen. Nie
ermüdet, läuft er und rauscht, rauscht er und lauf!:.
Vielleicht will er mit seinen kleinen Wassern noch
immer die Flamme löschen oder Asche und Tränen
fortspülen. Oder wird das Zeitlose am Ende gar
von unserem Leide nicht berührt? Wer vermödire
das zu sagen! Nur eines spüre ich: Er ist sehr lin-
dernd, solch ein alter Brunnen — und so friedlich.
Kehren Sie zurück zu ihm, Sie und unsere anderen
Freunde von früher, denen Sinn und Wesen unseres
Städtchens wider alle Geschäftigkeit not tun. Wenn
Sie die Welt dieser irren Tage nicht mehr begreifen
noch ertragen können, sie womöglich zu wichtig
nehmen, so kommen Sie hierher, wie wir das früher
nicht anders taten. Sie werden zwischen unseren
bescheidenen Bedeutungslosigkeiten viel Wichtiges
wiederfinden, vielleicht auch die verlorenen Maß-
stäbe. Auf unserer Sonnenuhr lesen Sie die würdige
Mahnung: „Nutze die Zeit." Allein sie steht eben
nur auf der einen Seite der kleinsten Stadt. Auf
ihrer anderen plätschert der gute Brunnen völlig
ohne Nutzen, nur für sich dahin und durchaus jen-
seits der Zeit. Zwischen ihnen beiden aber leben die
Fuggerei und ihre Menschen.
Gott befohlen, lieber Freund, und gehaben Sie sich
wohl. Lassen Sie diese Worte aus der Heimat zu-
gleich eine innige Begrüßung sein. Ich hoffe von
Herzen auf eine baldige Begegnung.
Ahendstimmung über der kleinsten Stadt
Photo S. Rostra
EUGEN DIESEL
Mühlwässer und Motoren
JDas alte Augsburg innerhalb der Stadtmauern mit
St. Ulridi und Afra, dem Dom, den Ruinen des
Fuggerhauses und des Rathauses, auf dessen nun öd
und frei liegendem Giebel die große Zirbelnuß aus
Erz hodi den öden Raum überragt, wo einst der
goldene Saal war, der sich vom Griff unseres Geistes
immer noch nicht zu lösen vermochte, liegt mit vie-
lem anderen, das einst war und das gerettet wurde,
auf der Hochebene zwischen den frischen Alpen-
flüssen Lech und Wertach. Solcher Lage ist Augs-
burgs Reichtum an strömendem Wasser zu verdan-
ken. So plätschern hier am Perlachturm, der sich aus
den Trümmern heil wieder erhebt, an der seltsam
verschwimmenden Grenze zwischen Bayerntum und
Schwabentum die alten Zierbrunnen mit den klassi-
schen Namen des Augustus, des Merkur, des Her-
kules. Und noch heute liegen an reißenden Mühl-
wässern berühmte Textil- und Maschinenfabriken.
Seit Hunderten von Jahren ist Augsburg ja eine
gewerbereiche Stadt.
Lech und Wertach, die im Norden der Stadt spitz-
winklig ineinanderlaufen, umspannen in schwingen-
den Bögen nicht nur das alte, sondern ein gut Teil
des neuen Augsburg, nördlich bis zur Maschinen-
fabrik Augsburg, zur Buntweberei, zur Ballon-
fabrik, südlich bis zu Messerschmitt, zu den Zahn-
rad-, Parkett-, Nähfadenfabriken und zu den Eisen-
bahnbetriebswerkstätten. Und was steckt da noch
alles drin zwischen Gassen, breiten Straßen, Kloster-
gemäuer, Mühlgräben an bürgerlich-reichsstädtischem,
handwerksmäßigem und gewerblichem Wesen: Bäcke-
rei, Metzgerei, Wurstküche, Brauerei und manch alt-
deutsches Gerumpel neben der industriellen For-
sdiungsanstalt und den Fabriken für Schuhe und
Zündhölzer.
Daß solch gewerbliches Wesen sich früh schon hier
in Augsburg breitmachte, liegt zu einem guten Teil
daran, daß die Stadt umarmt ist von jenen beiden
reißenden Gebirgsflüssen, deren reichliches '^'asser
seit dem Mittelalter in einem Netz von Kanälen
durch die Stadt rinnt. Und strömendes \v'asser
war vor der Erfindung der Wärmekraftmaschinen
die mächtigste Kraftquelle der Menschheit. So durch-
floß es in rausdienden Mühlgräben kraflspendend
schon das alte Augsburg und rauscht heute noch
durch Wasserräder und moderne Francisturbinen.
1902 waren in der Stadt neben siebenundzwanzig-
tausend Pferdestärken von Dampfmaschinen zwölf-
tausendsechshundert Wasserpferdekräfle in Betrieb.
Heute sind es rund siebzehntausend Wasserpferde-
scärken. Dampf- und Dieselmaschinen zusammen
aber sind hier wohl jetzt viel mächtiger.
In den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhun-
derts begannen die Augsburger immer zahlreichere
der neuen Spinnmasdiinen und mechanischen Web-
stühle an die Wasserkräfte anzuhängen. Die Textil-
industrie, auf der Augsburgs und der Fugger alter
gewerblicher Ruhm beruhte, nahm einen neuen Auf-
schwung. Heute wird vor allem Baumwolle ge-
sponnen und gewoben.
1824 endete die Alleinherrschaft der Wasserräder
in der Augsburger Krafterzeugung, denn es wurde
die erste englische Dampfmaschine zum Antrieb einer
Schnellpresse in der Freiherrlich von Cottaschen
Druckerei aufgestellt. Der berühmte Erfinder der
Schnellpresse, Friedrich König, hatte die Druck-
maschine geliefert. Er berichtete über den Betriebs-
beginn der Dampfmaschine: „Wir haben nur wenig
Unterhaltung hier gehabt, ausgenommen etwa den
Schrecken, den die neue zweipferdige Maschine hin-
eingetragen hat nach Augsburg. Das Redaktions-
zimmer wird sich künftighin gerade über der Ma-
schine befinden. Herr Stegmann, ein vorsichtiger
Mann, weiß seine wahren Gefühle zu verbergen,
aber Herr Wiedemann, der zweite Redakteur, ha:
feierlich erklärt, daß er fortan lieber unter freiem
Himmel schreiben will als in diesem Zimmer. Der
Hausknecht, obwohl schon seit zehn Jahren dem
Geschäft angehörend, hat am vorigen Sonnabend ge-
kündigt und ließ sich nicht bepjhigen oder davon
abbringen; sein Leben sei ihm lieber und ej habe
für Frau und Kinder zu sorgen! Ein alter Kauf-
mann hat beteuert, daß er nie mehr durch diese
Straße gehen werde, und seitens der Nonnen, die
sich in einem Kloster hinter dam neuen Druckerei-
gebäude befinden, gehört ein Sturm gegen uns nicht
zu den Unmöglichkeiten."
Der alte Unternehmungsgeist der Augsburger hatte
unter der Asche fortgeglommen. Das Aufkommen
der Dampfmaschine, der allgemeine Fortschritt der
Technik, der Geist des neunzehnten Jahrhunderts
ließen das Feuer des Gewerbegeistes wieder auf-
49
lodern. Ein Königlicher Realienlehrer in Augsburg
fand bald nach 1870 im Jahresbericht seiner Sdiule
folgende Worte für den bürgerlichen Fortschritts-
geist: „Heutzutage ist das Bürgertum kein abge-
schlossener Stand mehr, sondern es durchdringt und
trägt das ganze Leben des Staats. Neue Aufgaben
bieten sich ihm. Aber auch unter andern politischen
Formen kann und soll als Vermächtnis aus der Zeit
seiner frischen Jugend in ihm wieder erwachen und
erstarken der Geist der alten Städtebürger, jener
mannhafte selbständige Sinn, jenes frische mächtige
Streben, das sich nicht genügen läßt in dem einmal
ausgetretenen Geleise, jenes Einstehen für die Ge-
meinde, wodurch dieselbe gedeiht." Glänzende Na-
men der Augsburger Industriegesdiichte wie Schaez-
1er, Riedinger, Hassler, Reichenbach, Buz zeugen für
das „frische mächtige Streben" jener Zeit.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann man
dem Begriff der Industrie vor dem des Gewerbes
den Vorzug zu geben. Augsburg begann „Industri';-
stadt" zu werden. 1925 gab es hier 144 Betriebe der
Textilindustrie mit 16 350 Arbeitern und 152 Ma-
stiiinenfabriken mit 1 3 640 Arbeitern, von denen
die Mechanische Baumwollspinnerei und -weberei
und die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg die
bekanntesten sind.
Durch das Beispiel der Maschinenfabrik Augsburg
sei die Entstehung der Maschineaindustrie in Augs-
burg beleuchtet. Ludwig Sander, der sich mit Bank-
geschäften, Schnupftabakfabrikation und Textil-
industrie befaßt hatte, begründete 1840 auch eine
Maschinenfabrik, um einem seiner Söhne eine Exi-
stenz zu schaffen. Aber schon 1844 übernahm ein
Neffe jenes Erfinders König, Carl August Reichen-
bach, der Maschinenmeister des Freiherrn von Cotta,
zusammen mit seinem Schwager Carl Buz die Fa-
brik unter dem Namen C. Reichenbachsche Maschi-
nenfabrik. Im Gesuch um die Konzession war be-
sonders hervorgehoben worden, daß eine Wasser-
kraft von zehn Pferden Bürgschaft gebe, daß das
Geschäft mit Nutzen betrieben und beträchtlich er-
weitert werden könne. In der Fabrik wurden
Dampfmaschinen, Wasserräder, Getriebe und alle
möglichen anderen Maschinen hergestellt. 1852
zählte das Werk rund zweihundert Arbeiter und
hatte schon hundert Buchdruckschnellpressen her-
gestellt, welche Fabrikation durch die verwandt-
schaftlichen Beziehungen Reichenbachs zu König an-
geregt worden war. 1858 sollte durch Ausgaben von
Aktien der Betrieb kapitalkräftig gemacht werden,
und der Magistrat erstattete der Regierung über die
Masdiinenfabrik Bericht. Es wird darin auf die all-
gemeinen enormen Fortschritte der Industrie und die
Prosperität des industriellen Etablissements hinge-
wiesen und unter anderem der Hoffnung Ausdruck
gegeben, „daß der fernere Aufschwung dieses schon
sehr bedeutend gewordenen Etablissements durch
den mächtigen Hebel der Assoziation gefördert
werde" . . . „Es kann somit der Aufschwung dieses
höchst lebensfähigen Etablissements zu einer Zierde
Augsburgs nicht nur, sondern Bayerns und ganz
Deutschlands, nicht wohl anders als von einer mit
bedeutenden und nachhaltigen Geldmitteln verse-
henen Aktiengesellschaft vermittelt werden."
Die Aktiengesellschaft „Maschinenfabrik Augsburg
A. G." kam zustande. Seit 1864 stand Heinrich
Buz, der Sohn von Carl Buz, an der Spitze des
Werkes. Nach 1870 betrug die Belegschaft der Ma-
schinenfabrik bereits sechshundertdreißig Mann. Das
Werk war zu einem Begriff in der deutsdien und
internationalen Industrie geworden.
Am 12. April 1820 früh morgens verließ der acht-
zehnjährige Buchbindergeselle Johann Christoph
Diesel seine Heimatstadt Memmingen und wanderte
hinkend, denn ein Sturz in früher Kindheit hatte
ihm einen kurzen Fuß beschert, nach Augsburg, wo
er sich niederlassen wollte.. Am 13. April abends
sah er vom Süden aus die Mauern Augsburgs mit
ihren Bastionen und den Turmumrissen des Perlach,
des Doms, von St. Anna und St. Ulrich vor sich
liegen. Irgendwo zwischen diesen Mauern lag das
alte Katharinenkloster, aus dem später die Indu-
strieschule wurde, in der sein Enkel Rudolf Diesel
das Kompressionsfeuerzeug, auch Feuerpumpe ge-
nannt, vorgeführt erhielt. 25 Jahre danach erklärte
Rudolf Diesel seinen Kindern den Dieselmotor
durch Vorführung eben dieses Kompressionsfeuer-
zeuges. Er drücicte die Luft im gläsernen Zylinder
des Feuerzeuges durch Hineinstoßen des Kolbens zu-
sammen, und die durch die Kompression stark er-
hitzte Luft entzündete ein Stückchen Zunder innen
am Pumpendectel: es leuciitete rot durch die Glas-
wände des Pumpenzylinders. Diesel sagte: „Stellt
Euch nun vor, dadrin wäre nun etwas Benzin oder
Petroleum oder Kohlenstaub gewesen, so hätte sich
solcher Brennstoff entzündet, und der durch diese
Verbrennung gestiegene Gasdruck — Hitze dehnt
Gegenstände und natürlich auch die Luft aus —
müßte den Kolben hinaustreiben. Der Dieselmotor
ist nichts anderes als solch ein pneumatisches Feuer-
zeug, mit dem Unterschiede, daß der Brennstoff fein
zerstäubt in die zusammengepreßte glühende Luft
eingeblasen wird. Flierin entzündet er sich von selbst
und leistet dann Arbeit, indem das heiße und hoch-
gespannte Gas den Kolben vor sich herschiebt, der
mit Hilfe der Kurbel das Schwungrad dreht."
50
Am SdimiedUdj
Es ist merkwürdig, daß Rudolf Diesel, der 1S58
in Paris geboren war und durdi die Sdilacht von
Sedan nach London vertrieben wurde, gerade nach
Augsburg zurückgeriet, an die Stätte, an der durch
die Maschinenfabrik unter Heinrich Buz, dem Bis-
marck der süddeutschen Maschinenindustrie, alle
Vorbedingungen für die sehr schwierige Durchfüh-
rung des erfinderischen Gedankens gegeben waren.
Buzens gediegenes, auto-
ritatives und doch ruhiges
Wesen kommt in einem
wuchtigen Steindenkmal
am Haupteingang des
Werkes präditig zum
Ausdruck. Von dem Stein-
bild geht eine so sichere
Ruhe aus, daß man aber-
gläubisch meinen könnte,
es sei dadurch vor den
Bomben geschützt wor-
den, welciie die benachbar-
ten Gebäude zerstörten.
Diesel, der als Siebzeh:i-
jähriger Augsburg wie-
der verließ, suchte sidi
nicht, wie man anneh-
men könnte, das Werk
Augsburg und seinen Di-
rektor Buz deswegen aus,
weil er von Augsburgern
abstammte und einen Teil
seiner späteren Kindheii
hier verbradite, ihm die
Maschinenfabrik Augs-
burg somit sehr früh zu
einem Begriff wurde. Viel-
mehr ergibt sich aus den
Dokumenten, daß er diese
Fabrik für eines der ganz
wenigen Werke hielt,
welche die überaus sdiwie-
rige Aufgabe meistern
konnten, den ersten Die-
selmotor zu bauen. Natüt -
licii spielen auch Kind-
heitseindrücke Diesels eine
Rolle. Es ist ja klar, daß
die bedeutendste Fabrik
der Heimatstadt, von der
man immer reden hört
und die überhaupt die
erste Maschinenfabrik ist,
die man als Jüngling be-
sichtigt hat, für einen
besondere Qualitäten annimmt, aber diese Qualitäten
waren auch objektiv vorhanden. Alle Instinkte und
Überzeugungen Diesels führten ihn immer wieder
zur Maschinenfabrik Augsburg, und umgekehrt be-
urteilte Buz die Persönlichkeit Diesels, den er schon
als ganz jungen Ingenieur kennengelernt hatte, sehr
günstig. Zudem war er von der Richtigkeit von
Diesels erfinderischen Ideen überzeugt. Darum unter-
Photo S. Rostra
stützte er ihn mit allen ihm zur Verfügung stehen-
den Mitteln. So kam es also, daß 1893 der Motor
unter Diesels Leitung hier gebaut und jahrelang mit
ihm experimentiert wurde, bis man 1897 einen
großen Triumph errang. In Augsburg auch wurde
nach schweren Rückschlägen in den Jahren 1898 und
1899 die marktreife Maschine und eine riesige Diesel-
motoreniindustrie entwickelt. Darum heißt Augsburg
nidit nur die Stadt der Weberei, der Fugger, der
Confessio Augustana, sondern auch und heute zu-
meist die Stadt des Dieselmotors. Im Baedeker
endigt die geographische Einleitung zu Augsbur;^:
„In der Maschinenfabnik Augsburg-Nürnberg (MAN)
wurde 1893 — 97 der erste Dieselmotor konstruiert",
und die sich anschließende geschichtliche Einleitung
beginnt mit den Worten: „Augsburg entstand um
das Jahr 15 v.Chr. als römische Siedlung Augusta
VindeLicorum."
Die Maschinenfabrik gab späterhin den Bau von
Dampfmaschinen auf und baut jetzt vor allein
Dieselmotoren und Buchdruckmaschinen. Mit ihnen
gelangten Augsburger Ingenieare und Monteure in
die ganze Welt. Die sehr geistige Entstehungs-
geschichte des Dieselmotors harmonisiert hübsch mit
der Geistigkeit der Druckmaschine, und beide wur-
zeln auf mannigfache Weise in dem bürgerlichen und
gewerblichen Humus der alten schwäbischen Reichs-
stadt, die zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
Königlidi-Bayerisch wurde und bayerisch geblieben
ist. Die industriellen Lorbeeren Bayerns teilt sie vor
allem mit der anderen alten Reichsstadt Nürnberg,
deren Maschinenbaugesellschaft Nürnberg sidi 1898
mit der Maschinenfabrik Augsburg vereinigte, was
im N der Buchstaben MAN zum Ausdruck kommt.
Jedenfalls ist Augsburg seit der letzten Jahrhundert-
wende immer mehr auch eine Stadt des Dieselmotors
geworden. Kraft aus heißestem Feuer in hochver-
dichteter reiner Luft hat stolz die Führung vor dem
Wasser angetreten, und Zustand und Geschidice
Augsburgs sind seitdem in Krieg und Frieden, Zer-
störung und Wiederaufbau von dieser Verbrennungs-
kraftmaschine mitgeprägt. Tausende von wackeren
Arbeitern, die mit eigentümlichem, alt-augsburgi-
schem Einschlag ihr Schwäbisch sprechen, haben sich
an der Entwicklung des Motors beteiligt, und zahl-
lose Augsburger Motoren arbeiten in aller Welt :n
ortsfesten Anlagen, Seeschiffen, Fahrzeugen aller
Art. Oft lag während der beiden Weltkriege ein
eigentümlich vibrierendes Gedröhne über der Stadt,
weil in großer Zahl riesige Motoren mit hohen Dreh-
zahlen ausprobiert wurden. In die altgewerblichen
Gerüche der Lohgerbereien, Mühlwässer, Webereien,
Metzgereien, Bäckereien mischt sich für den Augj-
burger der Maschinenindustrie der Geruch der man-
nigfachen Arten von Dieselöl. Zwar die schweren
Lastwagenmotoren puffen ihre Gase allerorts in die
Straßen Deutschlands, aber für Augsburg bedeutet
dieser Geruch doch das gleiche wie für den Münche-
ner die Schwaden des Brauhauses, den Hamburger
der Schiffsteer, den Bochumer das Hochofengas.
Der von Augsburg ausgehende Motor hat auf die
erstaunlichste Weise das technische, wirtschaftliche
und auch politische Leben der ganzen Welt beein-
flußt, und die ganze Welt hat vor dieser Augsburger
Leistung auch heute noch eine sonst selten gewordene
einmütige Achtung.
Der Dieselmotor, so könnte man sagen, gehört heute
zum Wesen, zur geistigen Struktur der Stadt Augs-
burg. Nicht nur hat sie ihn vor über einem halben
Jahrhundert hervorgebracht, sie hat ihn in tausen-
derlei Gestalt zu hoher Vollendung führen helfen,
und sie hat in Schicksalsgemeinschaft mit ihm die
beiden größten Kriege der Weltgeschichte überstan-
den. Überstanden — wie steht es damit? Nun, nach
dem großen Angriff sagten die Augsburger, ihr
Städtle sei untergegangen. Aber danach sind viele
andere deutsche Städte so zerstört worden, daß
Augsburg unserem an Ruinen gewöhnten Auge
Trostreiches bietet, und so glauben wir .es rascher
wieder auferstehen zu sehen als ein Köln, ein Dres-
den, ein Würzburg. Was heißt überhaupt Unter-
gang? Unsere Generation hat eine ganz neue, höchst
erstaunliche Erfahrung gewonnen. Hätte man die
fast vöHige Zerstörung einiger unserer Städte vor-
ausgesehen, so würde man wohl prophezeit haben,
daß ihre Auferstehung unmöglich sei. Aber siehe
da, wir haben entdedit, daß es in der Tat so etwas
gibt wie eine geistige Struktur der Städte, einen
realen Städtegeist, der ebenso vom genius loci wie
von den Bewohnern getragen wird. Sie haben ihre
Stadt in ihrer Seele, und so gewinnt die Stadt auch
wieder ihren Leib.
52
Die Türme von St. Ulrich
Photo S. Rostra
ERHART KÄSTNER
DIE HEIMKEHR
NX' enn wir nur erst gewußt hätten, wie es wirkLidi
aussah daheim! Aber wir waren noch ein Jahr nadi
dem Ende des Krieges ohne Post, in Afrika, mitten
in der grauweißen Wüste, und als dann endlich die
ersten Nachrichten kamen, waren es nur die kleinen,
rotbedrudcten Formulare des Roten Kreuzes, auf die
nur fünfundzwanzig abgezählte Wörter geschrieben
werden durften; daraus war natürlich kein Bild zu
gewinnen. Dann, in den ersten Briefen, gab es an-
dere Sorgen.
So lag mir vor allem eine Briefzeile im Sinn, die
nach der Unglücksnacht vom Februar 1944 neben
vielen schreckliciien Einzelheiten über die Heimat-
stadt das Urteil spradi: „Augsburgs Innenstadt ist
verloren und wird nie wieder aum Leben erweckt
werden können." Das war nicht mit dem Willen zur
Übertreibung gesagt. Es war damals die herrschende
Meinung.
Nun also kam ich, zweieinhalb Jahre nach dem
Ende des Krieges, wieder nach Hause. Fünf Jahre
hatte ich die Heimat, sieben Jahre die Vaterstadt
nicht mehr gesehen. Ich kannte überhaupt noch keine
zerstörte Stadt. Im Jahre 1942, als ich zum letzten-
mal in Deutschland gewesen war, war in Berlin
noch kaum irgend etwas zerstört; München, Dresden,
Wien und der ganze kostbare Schatz der kleineren
Städte war noch völlig erhalten, und von den da-
mals angegriffenen Städten des Westens hatte ich
nichts zu sehen bekommen.
Es ist sehr merkwürdig, ein wie hinfälliges Mittel
die Einbildungskraft ist. Wohl hatten wir viele Ab-
bildungen aus dem zerstörten Deutschland in illu-
strierten Zeitschriften gesehen; amerikanische und
englische Blätter, die uns erreichten, gaben sich Mühe,
der neugierigen Welt eine Vorstellung zu geben,
wie es in dem verfluchten, sphinxhaften Lande nun
aussehen mußte. Es waren meistens Aufnahmen aus
der Luft und man konnte mit diesen Bildern gar
nichts anfangen. Danadi war völlig rätselhaft, wieso
in Berlin noch immer drei Millionen Menschen leben
sollten — .wo nur, um Himmels willen, da doch
die Doppelseiten dieser Luftbilder nichts zeigten als
zehntausend wimmelnde, winzige Häuserruinen?
Und beinahe noch unzulänglicher war es mit den
Zeitungsberichten. Sie waren meist von ausländi-
schen Berichterstattern für ausländische Blätter ver-
faßt und gaben Einzelheiten, aber kein Bild. Es
erwies sich: die es selber erlebt hatten, denen waren
die Zungen gelähmt. Die es aber nicht miterlebt
hatten, deren Worte waren zu anders und schwadi,
um das Unglück zu schildern. Es ist nicht auszu-
denken, welche Weltmacht die Phantasielosigkeit ist.
Sie ist eine der unabsehbar unheilstiftenden Mächte
im schrecklichen Ablauf der Menschheitsgeschichte.
So fuhr ich denn also in einer Märznacht nadi Augs-
burg, nach Haus. Ich hatte so gut wie noch nichts
von Deutschland wiedergesehen. Nachts hatten wir
in Cuxhaven den Boden des unglücklichen Vater-
landes betreten, nachts waren wir durch Hamburg
gefahren. Weder Hannover noch Kassel hatten wir
zu Gesicht bekommen. Der Blick über Würzburg
vom fahrenden Zug und vom Bahnhof aus war der
erste Anblick einer deutschen Stadt nach diesem
Krieg. Es war furchtbar. So hatten wir uns die deut-
schen Städte in unseren schlimmsten Angstträumen
gedacht. Und so war es also.
Das lag nun alles schon ein paar Tage zurück. Das
neue Leben begann für jeden von uns, als wir, zum
erstenmal seit wie unausdenkbar endloser Zeit, nicht
auf befohlenen, sondern eigenen, freigewählten
Wegen gingen. Für mich hieß das, von Dachau über
München nach Augsburg zu fahren.
Es war tief in der Nacht, als der Zug in Augsburg
einfuhr. Der Bahnhof war zu meiner Überraschung
leidlich im Stande. Der Mann an der Sperre, dem
ich statt einer Fahrkarte meine "Preiheitspapiere vor-
wies, nickte, klopfte mit dem Griff seiner Zange
aufs Holz, sah mich an und sagte: „So, nachher
simmer also drhoim." Es war der Gruß meiner
Vaterstadt. Immerhin, er fiel mir ins Herz.
Die nächsten Minuten konnten alles Mögliche brin-
gen; den Anblick eines verwüsteten Viertels, eine
trostlose Anhäufung von Trümmern, jedenfalls den
ersten Anblick der Stadt. Ich trat auf den Platz vor
dem Bahnhof hinaus. Viele Malehatte ich diesen Platz
bedachtsam wiedergesehen, viele Male war ich hier-
hin, in langen Abständen nach vieljährigen Pausen,
wiedergekommen. Und immer hatte er ein anderes
Aussehen gehabt. Wenn ich von den größeren
Städten zurückkam, schien er lächerlich klein ge-
worden und war fühlbar entzaubert, wenn ich
aus dem Auslande kam, strahlte er Heimat und
54
Trümmer im Herzen der Stadt
Geborgenheit aus und schien mir zu sagen: Heimat
ist's doch. Diesmal war es das demütigste Mal. Idi
war bereit, für alles auf den Knien zu danken, was
sidi noch einigermaßen aufrechterhielt und sich
Mühe gab, den Zeiten zu trotzen.
Nun also, immerhin: der Platz war noch da. Er lag
in der märzlich kühlen, nebligen, pflastertroc!\enen
Nacht und war vom bläulich elektrischen Licht der
Bogenlampen erhellt. Das also gab es schon wieder
in Deutschland: erleuchtete Plärze. Meine letzte Er-
innerung war stockfinsteres Dunkel. Es waren nur
wenige Mensdien zu sehen. Oder doch: da saßen sie
ja auf den Bänken, Schlafende, und da, auf den
Asphalten des Bahnhofs-
vorplatzes saßen und
lagen sie schlafend, ein
Bild des maßlos über-
füllten Landes, des Lan-
des der Obdachlosen, die
voll Unrast von Ort zu
Ort zogen.
Der Bahnhof, dessen
Stadtseite ich rückblickend
sah, war offenbar heil.
Nur das Postgebäude drü-
ben war verschwunden.
Idi ging hin und sah es
mir an. Ich hatte keinerlei
Eile. Hatte es sieben
Jahre Zeit gehabt, so
hatte es wohl auch noch
eine Stunde.
So ging ich die Straße
nadi dem Stadtinnern
entlang, an dem lang-
gestreckten Getreidespei-
cher vorbei, der die
Sdirarme heißt. Dann
aber vermied ich den
geradlinigen Weg, der
durch die neuere und
breite Hallstraße führt,
und wählte den anderen,
durch die engen, altstädti-
schen Gassen am Katha-
rinenkloster vorbei. Nun
freilich reihten sich Trüm-
mer an Trümmer. Das
also waren sie, von denen
wir so viel gehört und
gelesen hatten und die
wir uns im ganzen nicht
hatten vorstellen können.
Ja natürlich, so war es,
so mußten sie aussehen, wieso eigentlich hatte man
sich vergeblich um diese Vorstellung gemüht? Da
war eben ein Schuttberg und nebendran eine aus-
gebrannte Ruine und dann wieder ein gerettetes
Haus. Es war nicht so schlimm wie die schlimmsten
Befürchtungen und nicht so gnädig, wie man es ins-
geheim hoffte. Es war eben, wie das Eintreffende
meistens ist: so halben Weges zwischen drin. Alles
war dunkel, menschenöde und leer. Nur mein eigener
hallender Schritt. Durch riesige Häuserwände, Fassa-
den, hinter denen einst Handwerkerstolz, Kauf-
mannsreichtum und Lebenssicherheit war, war nun
nichts mehr. Da schien nur der sich wiegende Mond.
Photo S. Rostra
r<i?mm^^:mmxj-?f-^,^sy.
Es verbot sich gründlich, solchen Anblicken, Mond
und ziehenden Wolken über Ruinen, ein Schönheits-
moment abzugewinnen. Ruinen findet nur schön,
wer gut wohnt, in einem warmen, sicheren, wohl-
eingerichteten Haus.
Merkwürdig oft hatte es in Briefen von daher und
dorther geheißen: „An die Trümmer, an die Ruinen
gewöhnt man sich." Das war trostreich gemeint,
aber es hatte mich eher erschreckt. Was mußte aus
St. Ulricli vom Südosten
den Menschen geworden sein, wenn sie sich an den
Anblick des Schönen in Trümmern gewöhnten? Ich
war entschlossen, mich nicht daran zu gewöhnen.
War es nicht eine List der Unmenschlichkeit, daß
sich die Menschen an sie gewöhnten? Im Krieg ge-
wöhnten sie sich ja sogar an den Mord.
Ich hatte nun die Gasse erreicht, die auf die be-
rühmte Hauptstraße der mittelalterlichen Stadt, die
Maximilianstraße, hinausführt und kam da an dem
Hause vorbei, in dem
Photo H. Engelmann
einst der Buchdrucker des
Kaisers Maximilian, der
Meister des prächtigen
Theuerdank wohnte. Das
alte Haus stand nodi.
Aber dann kamen Trüm-
mer. Im Halbdunkel er-
kannte ich, daß ofFenbar
ein ganzer Häuserblock
fehlte, so daß man ohne
weiteres zu dem berühm-
ten Gasthof „Drei Moh-
ren" durchsah, der schon
an der Maximilianstraße
lag. Aber auch der schien
verbrannt zu sdn, idi sah
ein unübersichtliches Ge-
wirr von hochragenden
Mauern, zusammengesun-
kenen Eisenträgern und
Schutt. Die andere Seite
der Ga.sse aber war er-
halten; ich ging an der
großartig langen Seiten-
front des barocken Pa-
lastes entlang, den sich
einst der Bankier Liebert
erbaute und der jetzt nach
der Familie Schäzler be-
nannt wird, eines Bürger-
hauses von unerhörter
innerer Pracht. Er schien
erhalten zu sein, und das
war mir wie ein Geschenk,
dessen bereichernden Zu-
wachs man spürt.
Nie, niemals zuvor hatte
ich das Römische so stark
an Augsburg empfunden
wie bei diesem nächt-
lichen Gang. Es war das-
selbe Hallen in den Gassen,
dasseJbe milde Überdau-
ern des Steins, dieselbe
Wärme der Wände, über
deren Pracht viel Ver-
^ngenheit floß. Wie in
Rom waren selbst noch
die Trümmer erhaben.
Aber ich wußte nicht:
welchen Anblick würden
mir die nächsten Minuten,
die nächsten Schritte ge-
währen, wenn idi jetzr
auf die fürstliche Brei
te der Maximilianstraße,
Augsburgs Inbegriff, trat?
Waren die alten Häuser,
die geschwungenen Gie-
bel, die hohen Dächer
dahin und an ihrer Stelle
nur Trümmer? Und dro-
ben, das Münster St.
Ulrich, von dessen Höhe
die Straße der Kaiser
herabfloß, würde ich e';
in den nächsten Augen-
blicken im Mondlicht er-
blicken? In der anderen
Richtung des Straßen -
Zuges: die grüngekuppel-
Cen Türme des Rathauses
von Elias Holl, das wußt-
ich, würde ich nicht mehr
sehen, denn die Nach-
richt, daß dieses großartige
Bauwerk der Renaissance
verbrannt war, war durch
die ausländischen Blätter
gegangen. Und was war
mit dem sdilanken Stadt-
turm, dem Perlach, dem
ersten Angruß Italiens
nördlich der Alpen? In
irgend einem Briefe la?
man, es werde demnächst
gesprengt. Und die grünen
Spitzen des Doms? Zwei
Schritte, und ich würde es
wissen. So trat ich denn
in Gottes Namen hinaus.
So ist es manchmal in Träumen. Wie man in diesen
bei aller Klarsicht in irgendeinem tiefen Grund
weiß, daß man nur träuant, so war jetzt eine Art
Mißtrauen in mir: ob es echt war, was ich da sah?
Sankt Ulrich zu Häupten: noch da. Die alte, ehr-
würdige Straße, sie war immerhin da, dies Heimat-
bald. Sie hatte es überdauert, standgehalten dem
Oie Maximilianstraße
Plioto Stadt. Bauverwahung
Sturm, und ihre Kraft triumphierte über die Wun-
den, che hier und dort waren.
Der alte Herkulesbrunnen stand vor mir In der
Straßenmitte, wie immer im Winter in ein Bretter-
gehäuse verschalt. Also waren die schönen Bronze-
figuren wahrscheinlich gerettet und warteten irgend-
wo, bis man sie wieder aufstellen konnte. Zwischen
57
dem Brunnen und Sankt Ulrich lag unser Haus. Ich
tastete mich mit den Augen die Straßenseite ent-
lang, bis ich es hatte. Links und redits alle Nach-
barschaft, lauter vierhundert Jahre alte Häuser,
schienen noch heil. In den dunklen Fenstern mit den
nach außen gebuckelten Scheiben spiegelte sidi der
Mond.
Freilich, wie ich nun genauer hinsah, waren es
manchmal da und dort nur noch Fassaden und an
einzelnen Stellen war gar nichts mehr, nur eine
Lücke und Sdiutt. Aber es war wie in Rom: teil-
weises Versänken, Zerstörung war überspielt von
einer innewohnenden Kraft, die stärker war und
von der man hoffen konnte, daß sie das Fehlende
überwuchs. Wahrscheinlich waren an anderen un-
glücklichen Orten die Wunden zu stark und hatten
die Lebenskraft selber getroffen. Hier aber war es
offenbar gnädig gewesen.
Immer noch ließ ich nrür Zeit. In der Mitte der still-
wartenden Straße setzte ich midi auf meinen Koffer
aus Holz. Hier begann mein Zuhausesein. Nie
war ich so sehr zu Hause in dieser Stadt, wie in die-
seim Moment. Ich war wie besdienkt.
Im Lauf der nächsten Tage sah idi genauer, was
verloren war und was vermocht hatte, sich durchzu-
retten. Es waren freilich gewaltige Schäden, gewal-
tig nicht nur der Menge und der Zahl der Wohn-
häuser nach, auch viel kostbare und berühmte Bau-
werke. Die Barfüßerkirche war eingestürzt, nur das
hohe gotische Chor war noch stehengeblieben und
ragte nun wie der phantastische Kiel eines Schiffs,
das gestrandet und umgestürzt ist, über das Trüm-
mermeer der unteren Stadt zur oberen hinauf.
St. Moritz in der Mitte der Stadt war ausgebrannt
und auch die schöne gotische, barock ausgeschmückte
Kirche vom Heiligen Kreuz. Berühmte Zunfthäuser
und Bürgerhäuser, gefüllt mit Handwerksgut, mit
schönen Treppenaufgängen und Türen, waren dahin,
unersetzbar verlorene Würde der Stadt. Und so
vieles, vieles. Ein ganzes altes Viertel, nicht im
inneren, oberen Teile der Stadt, sondern die Vor-
stadt St. Jakob, die drunten liegt, wo die Kanäle
vom Lech her fließen, lag so in Trümmern, wie wir
das uns in der Feme als allgemeines Bild schaudernd
ausgemalt hatten: so daß man die Straßenzüge
nicht mehr erkannte, durch die man einst so oft
gegangen war.
Lang war also die Liste des Verlorenen. Aber, gott-
lob, auch die Liste des Erhaltenen war lang. Oft-
mals, wenn ich durch die Straßen der alten Stadt
ging und nicht wußte, was die nächste Biegung, die
nächste sich öffnende Lücke mir darbieten werde.
hatte ich Grund, aufzuatmen und zu sagen: Gott
sei Dank, dies war verschont. Und es waren die
bedeutendsten Dinge, die noch da waren. Augsburg
hatte Glück im Unglück gehabt, während so viele
andere Städte auch noch besonderes Unglück im all-
gemeinen Unglück gehabt hatten und gerade ihr
Schönstes und Kostbarstes verloren; oft stand dann
daneben das Bedeutungslose oder Häßliche unver-
sehrt da. In Augsburg war immerhin das Schönste,
das, was nicht nur Besitz des Vaterlandes, sondern
des Abendlandes ist, das, woran jeder denkt, wenn
er den Namen Augsburg ausspricht: das war und ist
glücklich erhalten. Wenn ich meiner Freude darüber
Ausdruck gab, stieß ich seltsamerweise fast immer
auf ein Befremden: man hatte sich an den Besitz des
Erhaltenen schon wieder völlig gewöhnt, nahm es
für selbstverständlich und richtete den Blick allein
aufs Verlorene. Mir, der ich aus solcher Ferne und
Öde kam, war alles von neuem geschenkt.
Mit Bangen ging ich die Maximilianstraße hinab
zum Rathaus Elia.s HoUs. Was würde ich sehen?
War es zusammengestürzt? War nichts mehr übrig
davon als nur ein Schutthaufen, wie von der
Frauenkirche in Dresden, von der man mir ein
Bild gesandt hatte, das mich bis in die Träume
verfolgte? Oder war es nur ausgebrannt? Und was
hieß das wiederum? Ließ sich das Stehengebliebene
retten?
Ich kam und ich sah: die Fassade, deren Bild jeder-
mann kennt und im Herzen trägt: sie bestand. Sie
erhob sich immerhin noch, im alten Stolz, wenn
auch geschändet. Bis zur Giebelbekrönung, bis zu
dem Pinienapfel, der als Wahrzeichen da oben steht,
hatte der Stein sich gehalten. Die grüne Kupfer-
bedachung der beiden Türme war natürlich ver-
brannt, und die aus den Fenstern schlagenden Flam-
men hatten der Haut des Gebäudes eine seltsame,
rostig-terrakottene Farbe gegeben. Dies und die
Leere der Fensterhöhlen gaben dem Bauwerk das
Tragische eines geöffneten, klagenden Mundes. Aber
von seiner Größe hatte das Unglück dem Bauwerk
nichts genommen.
Freilich, der berühmte Goldene Saal, das kostbare
Denkmal der alten Augsburger Pracht, war dahin:
wo er gewesen war, sah man durch die leeren Fen-
ster Ins Blaue des Himmels hinauf. Aber wie ich
das große Bauwerk umging, sah ich, daß auch die
rückwärtige Ansicht nach dem zwei Stockwerke
tiefer liegenden Platz, die noch überraschender und
fast noch großartiger als die vordere ist, unver-
sehrt war. Und als ich ins Innere blickte, sah ich,
daß die kreuzgewölbte Erdgeschoßhalle dem Zu-
sammenbruch der Herrlichkeit über ihr tapfer er-
tragen hatte und stand.
58
So vermischte sidi Schmerz und Erleiditerung, Ver-
lieren und Finden. Ich hatte Sdilimmeres gefürchter
und Besseres erhofft. Im ganzen aber war das Gül-
tige, Wesentliche des Bauwerks erhalten geblieben.
Und was mich darüber liinaus erleichterte und be-
glückte: es waren Gerüste zu sehen. Man begann
das mächtige Dadi wieder über das große Gehäuse
zu legen. Man war also nicht untätig erstarrt. Es
waren also Heilkräfte am Werk, die Wunden zu
schließen. Das war eigentlich das Beste von allem.
Und so war St. Ulrich heil und der Dom, das herr-
liche Zeughaus mit dem großen bronzenen Michael,
die Stadtmetzg, das alte Gymnasium St. Anna und
alle alten Tore und Brunnen. Hundert Meter bis
vor den Dom ging eine Zcrstörungswelle, der
die größten Häuser zum Opfer fielen; der
Rathaus und Perlach
Photo Stadt. Bauverwaltung
Dom selber aber mit all seinen Schätzen blieb heil.
Ja, es gab Stellen, an denen hatte ganz ohne Zweifel
bei allem Unglück das Stadtbild gewonnen. Das
großartige Westchor von St. Ulrich mir der schönen
gotischen Jahreszahl hatte fast niemand vorher ge-
kannt; jetzt war in der engen Gasse eine Baulücke
entstanden, in die fast bestürzend steil die Münster-
wand trat. Der Dom war aus der Stadtmitte heraus
jetzt auf einmal von den verschiedensten Stellen zu
sehen, auf einmal war sein Name, „der Hohe Dom",
mit neuem Inhalt erfüllt. Aus seiner eigentlichen Zu-
gangsstraße henaus hatte man ihn bisher fast gar nicht
erblickt, nicht etwa, weil sie zu eng war, aber sie
war im vorigen Jahrhundert der Maßlosigkeit mit
besonders häßlichen, vielstöckig hohen Stadthäusern
bebaut. Jetzt war eine Chance, auf den Hohen Dom
mit bescheideneren Häusern, die er überragen würde
wie einst, vorzubereiten.
Es wäre unsinnig, die Verluste der Stadt verkleinern
zu wollen, die herrliche Stadt ist gewaltig ge-
schwächt, der alte Bürgerbesitz, der seit langem nur
noch um seine notdürftige Erhaltung kämpft:, ist um
ein weiteres Mal verringert. Aber Leben heißt nun
einmal verlieren, und lang leben heißt vieles verlie-
ren. Die Gefahr, zu verzweifeln, ist größer als d'e
Gefahr, durch Beraubung unglücklich zu werden.
Man hat nie lebendig besessen, was man nicht zu
verlieren vermag. Denn das Lebendige verläßt uns,
wir müssen es wissen. Man kann nicht damit rech-
nen, daß Gebautes ewig besteht, aber man muß
damit rechnen, daß es, solang es besteht und den
Anspruch erhebt, lebendig besessen zu werden, von
dem Geist erfüllt ist, der es erzeugt hat, so daß er es
auch wieder zu erzeugen vermag. In dem Moment,
wo man in alten Bauten nichts als die alten Denk-
mäler sieht, sind sie, auch wenn sie noch aufredit
stehen, schon zur Hälfte verloren. Man sehe in ihnen
die einstige Modernität, das große Denken, das ein-
stige Wagen, das Neue! Man sehe Wagemut, Be-
wußtsein eigener Würde und Heimatliebe vereint
mit Weltbürgertum, mit dem Blick über die engen
Mauern hinaus! Hieraus entsprang das Bedürfnis,
sich große Bauten als Denltmäler zu setzen. Wäre
der Geist wirklich entflohen, so würde es freilich
nichts nützen, um die alten Denkmäler zu trauern,
oder sich um ihre Rettung zu mühen. Dann aber
wäre mit dem eigenen Stolz die eigene Zukunft
verloren.
Später, als ich mehrere deutsche Städte in Trüm-
mern wiedersah, machte ich eine seltsame Erfahrung,
die ich mir nie hätte einfallen lassen: die Trümmer
jeder einzelnen Stadt sagten anderes aus. Die
Der Goldene S^al
Photo Stadt. Kunstsanimluneen
'• ^/'A
'r^^Sr
II II n 11 n
1^81:
Trümmer Berlins waren
häßlich, wie es die StaJt
vor der Zerstörung auch
war, aber sie hatten den
Charakter der Millionen-
stadt am wenigstens zu
verändern vermocht. Ber-
lin war faszinierend und
lebendig wie je. München
hingegen schien es visl
schwerer getroffen zu ha-
ben, nicht in der Menge,
aber in der Substanz.
Die breiten, phäakisdicn
Straßen mit den Gebäu-
den, die so s.ehr auf ihr
Ansehen bedacht waren:
den halben Zerfall ertru-
gen sie nicht. Nürnberg,
viel zusammengedrängter
und schon deshalb viel
stärker als München zer-
stört, hatte sich gleich-
wohl in all seiner Ver-
wüstung viel von seiner
Größe bewahrt. Das Ver-
spielte war fort. Noch
anders war es mit Dres-
den. Die ganz aus lieb-
licher Schönheit, aus Gra-
zie geborene Stadt war
am furchtbarsten von
allen zerstört. Aber selbst
durch die Trostlosigkeit
dieser Trümmer drang
noch die frühere Lieb-
lichkeit durch. Ziegel-
mauern ragten rosa em-
por, barocke Bauteile
schwangen sich klagend
dahin. Die Stadt war wie
ihr eigenes Grab. Aber es
war überblüht.
Im Vergleich zu all diesen
Städten war Augsburg
viel weniger unglücklich
daran. Sein Vorrat an
alten kraftvollen Bauten war groß und Vieles, We-
sentliches erhalten. War etwas zu einem Teile zer-
stört, so hatte es meistens in seiner Ausdruckskraft
wenig gelitten; dieses Uralte hatte schon viele Male
der Zerstörung, dem Untergang ins Auge gesehen.
War nicht ohnehin alles mit Vergangenheit und Ge-
schichte beladen? War nicht der Dom das achte oder
Riickscile dei Holischen Rathauses
Photo Stadt. Bauverwaltung
neunte Bauwerk über immer derselben Stelle? Im-
mer hatte man über Untergängen gebaut, hier war
das nichts Neues. Und sah man nicht überall schon
Gerüste, war nicht der regsame schwäbische Geist noch
am Werk? Immer war vom Alten noch genug da,
sich das Maß des alten, tapferen, großzügigen Geistes
der Stadt, wenn man wollte, von neuem zu nehmen.
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3f. •
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WA LTE R HENKELS
NACH DER WALPURGISNACHT
„Der Teufel bläst seinen Dudelwck und die Welt
tanzt dazu, darum gebären die Zeiten nidits Gutes.
Das Licht wandelt nadi Amerika, und ich fürchte,
nach etwa hundert Jahren wird man von dort nach
Europa reisen, um die Trümmer der ehemaligen
Herrlidikeit zu sehen, wie wir jetzt nach Griechen-
land und dem Orient reisen." Wer eine Schwäche für
solche Worte hat, kann es nachlesen bei dem Schwaben
Justinus Kerner, geschrieben im Jahre 1847.
Ist es so weit? Es ist so weit!
Durch die obere Maximilianstraße in Augsburg
kommt in mäßigem Tempo der schimmernde, dunkel-
blaue Stromlinien-Studebaker, zwölf Zylinder, ver-
hält hier eine Weile und dort eine Weile, ein Men-
schenpaar sitzt darinnen mit dunklen Sonnenbrillen,
und es sind, wie man ohne große Phantasie sehen
kann, die „von drüben", vielleicht aus Oklahoma
oder Arkansas, Virginia oder Texas. Sie wollen die
Trümmer der ehemaligen Herrlichkeit sehen. Und
wenn man noch ein wenig durch die Stadt geht,
dann sieht man — was auch zur „Optik" dieses
Nachkriegs gehört — ihre Clubs, CADET für die
Offiziere, RED GROSS, SNAGK-BAR UND
SODA FONTAIN für die anderen.
Dieses Augsburg, einst „die goldene Stadt" schlecht-
hin — golden durch den unheimlichen Reichtum
seiner Kauf leute, golden durch die Schreibstube seines
größten Handelsherrn und golden durch die Pracht
seiner Kunstschätze — hat genau am Tage der heili-
gen Walpurgis, am 25. Februar 1944 nämlich, seinen
Bombentag gehabt. Der Oberbürgermeister, der
gerne die Großen beschwört, zitierte vier Jahre später,
als der Stadtrat einstimmig beschloß, „diesen Tag
zum alljährlichen Gedenktag zu erheben", sehr
treffend Faustens und Mephistos Dialog in der Wal-
purgisnacht:
Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken. —
Wie rast die Windsbraut durch die Luft !
sagt Faust. Und Mephisto:
Und durch die übertrümmerten Klüfte
Zischen und heulen die Lüfte,
Hörst du die Stimmen in der Höhe?
In der Ferne, in der Nähe?
Ja, die ganze Stadt entlang
Strömt ein wütender Zaubergesang.
Es war, für die goldene Stadt, eine exemplarische
Walpurgisnacht, und der Stadtchronist hat in Zahlen
festgehalten, was bei zwei Angriffen an einem Tage
auf sie niedersauste: 2450 Sprengbomben, 45 000
Phosphorbomben, 1200 Flüssigkeitsbomben, 250 000
Stabbrandbomben, 10 Blitzlichtbomben, 20 Leucht-
bomben, 4 Zielmarkierungsbomben, die letzteren,
wenn wir uns erinnern wollen, schön und bildhaft
„Ghristbäume" genannt. Am schwersten wurde das
Krankenhausviertel, dann das Jakoberviertel und
die Innenstadt bis zum Dom getroffen.
In einer nahezu zweitausendjährigen Geschichte
hatte die Stadt eine solche Zerstörung noch nicht er-
lebt, obwohl sie besser davonkam als zum Beispiel
Würzburg und Nürnberg. In Schutt und Asche
sanken das Weiserhaus, das Höchstetterhaus, das
Weidenbachhaus, das Fuggerschlößchen (Konserva-
torium), das Schaurhaus, das Kröll- und Hillhaus,
das Kutscher- und Gehrhaus und die Jakobskirche.
Vollkommen ausgebrannt waren Elias Holls be-
rühmtes Rathaus, der Perlachturm und das Hotel
„Drei Mohren"; ausgebrannt die Moritz-, die Bar-
füßer-, die Heilige-Kreuz-, die St. -Stephan- und die
Maxkirche, das Stadttheater, das Jakobertor und
zum Teil die Fuggerei, ungezählte herrliche Bürger-
häuser dazu. Es war wohl wie ein böser Aphoris-
mus, wie ein höhnischer, schauriger, .absurder Nekro-
log, als am Tage danach an einem Lichtspieltheater
der Film angepries^ wurde: „Zum Leben verur-
teilt". Oder war es das große Komische, was hier
waltete? Es war schon eine echte und rechte Wal-
purgisnacht gewesen, die da herniedergekommen
war.
Ja, auch des Elias Holl Rathaus war ausgebrannt,
jenes faszinierende Bauwerk, das man erblickt, wenn
man die Bürgermeister-Fischer-Straße bis zu der
Stelle geht, wo untere und obere Maximilianstraße
sich scheiden. Auch jener Studebaker-Zwölfzylinder
stoppte. Auch seine beiden Insassen, wer weiß es,
fühlten womöglich die mächtige, raumverdrängende
Masse, die zwar mit Baugerüsten umkleidet war,
aber die Wucht des Gebäudes doch ahnen läßt. Trotz
der Gerüste sieht man die vom Schatten dreier Ge-
simse gefurchte, von Rustika-Ecken, Lisenen und
Fensterbrauen beschattete Stirnseite, darüber den
schmalen, aber doch beträchtlichen Oberbau. Der
63
Die Peter-Kötzer-Gasse
Photo S. Roscra
Goldene Saal, Ausdruck von Augsburgs stolzester
und selbstbewußtester Zeit, ist ausgebrannt und nur
noch das Revier der Bauinjeuiieure und Maurer-
poliere. Im Erdgesdioß hat die städtisdie Bauvsr-
■waltung mit einigen Büros Quartier genommen. \\';c
eine zweite Fermate in diesem Straßenbild steht der
Perlachturm daneben, dessen ausgebrannter Glocken-
stuhl auch von HoU gebaut wurde. Beruhigend, daß
seit Ende 1947 die uralte Wetterfahne, die Cisa, die
Turmkuppel wieder krönt, daß man dabei ist, das
Uhrwerk wieder einzubauen; und auch die „Sieben
Lädle" am Fuße des Turmes werden bald wieder
komplett sein. Auch der Erzengel Michael, hierorts
das Turamidiele genannt, wird dem Drachen bald
wieder die vorgeschriebenen Stöße versetzen. Glie-
der und Zunge bewegt dann die Satansdrachen wie-
der, wenn das Turamichele und der Stundenschlag
es wollen.
Unversehens sind wir, scheinbar mit Gesdiichre
beschäftigt, ins Schaezler-Palais geraten, wo gerade
Augsburgs Stadtrat tagt. Und hier nun wieder ist
prallste Gegenwart. Hier, in diesem bedeutendsten
Saal der außerhöfischen Profanarchitektur des ganzen
süddeutschen Rokoko, hat der Stadtrat vorläufig
sein Refugium gefunden. Wer sich hierhinein, in
diesen Spiegelsaal mit seinen exotischen Bildern,
seinem venezianischen Lüster und dem Stuck-Zierat
ein paar Bilder aus Augsburgs Geschichte kompo-
nieren will, dem bleibt es unbenommen. Wir wollen
die Bombensplitter und -kratzer an Wänden und
Decken gerne übersehen. In diesem Festsaal werden
wohl manche rauschenden Bälle über die Szene ge-
gangen sein. Als delikates historisches Aperju regi-
striert der Oberbürgermeister noch einmal in seiner
Stadtratsbegrüßung den Ball zu Ehren der Erz-
herzogin Maria Antoinette, Posthuma der Kaiserin
Maria Theresia, die auf ihrer Brautfahrt zum franzö-
sischen Königshof in Augsburg Station machte. Aber
das arme Kind, die Braut, man bedenke, die Maria
Antoinette, war erst vierzehneinhalb Jahre alt.
Nun wohl, niemand wird behaupten wollen, Augs-
burgs Stadträte wüßten sich nicht zu geben. Dort
saßen als Ehrengäste die Herren „von drüben", aus
Amerika, der Colonel Hector, Direktor der ameri-
kanischen Militärregienung von Schwaben, mit
seinem Stab; er saß dort wie sein Namensvetter,
der Trojanerheld bei Homer. Und es ist wahr: Die
Amerikaner haben schon einen eigenen Kolonialstil
entwickelt. Sie hörten sich die Reden des Ober-
bürgermeisters, des Stadtbaurates und der übrigen
Stadträte an, sie sahen sich die junge Demokratie
an, die vorwiegend von alten Köpfen repräsentiert
wurde. Und man weiß nicht, was hinter den Schläfen
des jungen Colonel gedadit wurde.
Wie es sich mit der Beziehung der Stadtgeschichte i
zur Gegenwart verhält, das besagt ein Gang durch }
die Stadt, ein Gang durch das alte Augsburg zumal.
Es ist eine Welt, die uns da entgegentritt — vieles
freilich wurde in jener Walpurgisnacht nieder-
gewalzt — , die Trauer in die Herzen bringt.
Schon die Namen der Straßen und Gassen machen
eine originelle und reiche Seite augsburgischer Ge-
schichte aus. Es erhellt schon aus diesen herrlichen
Namen, daß die Biographie der Stadt nicht zum ge-
ringen Teil von ihnen getragen wird, daß sie viel
vom Wesen und Charakter der AUGUSTA VIN-
DELICUM ausmachen. Sie heißen also: Baumgärt-
leinsgäßchen, Findelgäßchen, Bauemtanzgäßchen,
Geist-, Streit-, Kaffee-, Waisen- und Kustosgäßchen,
Schleifer-, Doktor- und Paradiesgäßchen, es gibt
Kapuziner-, Karmeliter-, Dominikaner- und HeiHge-
Grab-Gasse. Man kann sich verlaufen in den Sauren-
greinswinkel, zur Schwibbogenmauer, zum Pfaflen-
keller, zum Predigerberg, ins Pfärrle, ins ölhöfle,
zum Gallusbergle und ins Rößlebad, an den Katzen-
stadel und zu den sieben Kindein.
Lehrreich sind die Namen der Bürger nicht minder.
Sie heißen noch heute Guggemos und Häberle,
Schimpfle, Lämmle und Lieblein, Baumgartner,
Schneeweiß, Sdiwinghammer und Schusterzucker, die
Hebammen Maria Wohlwend und Euphemie Seitz,
die Ärzte Bub, Ey, Sax, Utz und Sixt, die Advo-
katen Drexel, Hämmerle und Roßteuscher, die Bäcker
Gsell, Bürzle und Zengerle, der Kürschner- und
Säcklermeister Olof Mauritzson, der Schreinermeister
Ludwig Thoma, der Drechslermeister Hilarius Sirsch,
der Spenglermeister Vitus Steinhard, der Tapezier-
meister Matthäus Sternegger und der Schlosser-
meister Valentin Ingeduld. Kann ein Zigarrenhändler
schöner heißen als Georg Tuffentsammer oder gar
Carl Mozart, ein Glasermeister treffender als Josef
Wohnlich oder ein Blumenhändler poetischer als
Michael Wunderl?
Im wesentlichen besteht auch diese Stadt aus einer
Mehrheit von Häusern, Straßen, Zeilen, Blocks und
Vierteln. Aber darinnen lebt, hockt, sitzt, wandert,
denkt, lenkt, arbeitet, schläft und liebt der Mensch.
Darinnen reiben oder ergänzen, beKämpfen oder
tolerieren sich die Interessen, die Geister, die Be-
schäftigungen, die Pflichten und Talente. Kraft eines
stillschweigenden Paktes unterhalten die Augsburger
zwölf Brauereien. Und was die Gaststätten angeht,
so müssen auch hier ein paar Namen genannt werden,
die großartig zum Bild der alten Reichsstadt passen.
Die „Drei Mohren", die berühmtesten, nannten wir
schon. Aber was ist von diesen zu halten: „Post-
hörndl", „Prügelbräustüberl", „Sieben Brunnen" und
„Blaues Krügle", „Bärenwirt" und „Friedenstaube",
64
„Hinterer Wirt" und „Grauer Wolf"? Es ist viel
davon zu halten, wie jeder zugeben wird.
Und wir wollen hier in Parenthese eine „Speis-
karte" hinzufügten, älteren Datums, selbstverständ-
lich, aber Spezial-Augsburg, und mit zukunftsfreu-
digen und hoffnungsvollen Gedanken: Ripperl mit
Kraut, Kalbsschäuferl mit Kartoffeln, Wammerl ntit
Linsen, Kalbsbraten mit Spatzerln, Knöcherlsulz.
In dieses Bild der Idylle, der Rückwärtsschau, der
augsburgisdien Gastronomie und Gastromanie nun
plötzlich einen Vers solch lapidarer, aber auch eisig
brennender Art zu zitieren:
Die Welt ist arm. Der Mensdi ist schlecht.
Wer möcht auf Erden nidit ein Paradies?
Doch die Verhältnisse — gestatten sie's?
Nein, sie gestatten's eben nicht! —
das dürfte wohl manchen in dieser Stadt erschrecken.
Aber der den Vers schrieb, ist ein echter, aufrütteln-
der Dramatiker unserer Zeit. Was denn seine Vater-
stadt von ihm halte? fragten wir einen achtbaren,
reputierlichen Bürger. Von dem? „Ja med", sagte
der Mann, „seinen Vater hab' ich gekannt und
seinen Bruder hab' ich gekannt. Aber der? Wissen
Sie, der hat schon als Junge so verrückte Tier-
köpfe gesammelt." Es bleibt fraglich, ob das Augs-
burger Theater die „Dreigroschenoper" (aus der
der Vers stammt), „Galilei", „Mutter Courage"
oder „Die Gewehre der Frau Karrar" aufgeführt
hat oder sich zu seiner Komödie „Herr Puntila und
sein Knecht" — jüngst in Zürich uraufgeführt —
entschlösse. Dieser Mann, der über Rußland, Japan,
Hollywood nun am Züricher See gelandet ist, in
dessen Gesamtwerk keine Naturschilderung zu finden
ist, wie er selber einmal äußerte, heißt Bert Brecht.
Ob er, wenn es noch stünde, eine Plakette ans Ge-
burtshaus bekäme, einen Ehrenbürgerbrief oder ein
Postament mit der Sockelinschrift „Dem großen
Soihne" und den Versen aus seiner „Hauspostille":
Und dort im Lichte steht Bert Brecht
An einem Hundestein,
Der kriegt kein Wasser, weil man glaubt,
Der müßt im Himmel sein.
Saal im Scbaezler-PaLis
Photo Brud^mann
^ .:-»^^0
Kennzeichen des Lxuligen Augsburg — die vielen Gerüste
Photo H. Engclmann
Jetzt brennt er in der Höllen.
Oh, weint ihr Brüder mein!
Sonst steht er am Sonntag nachmittag
Immer wieder dort an seinem Hundestein.
Es wird der Wahrheit nahekommen, wenn man
sagt, es war Zufall, daß er hier (am 10. Februar 1898)
geboren wurde, und die Absicht, ihn, Bert Brecht,
den Vaganten, für die Stadt zu reklamieren, würde
er vermutlich als falschen Enthusiasmus, wenn nicht
als Bauernfängerei ansehen. Jetzt brennt er in der
Höllen, oh, weint ihr Brüder mein!
Die Schwaben waren stets Leute, die den Pfennig
in Ehren hielten und dem Geld ihre Reverenz er-
wiesen. Sie sind Realisten, sehen das Nächstgelegene,
Greifbare, das Nützliche, und sind kühle, technisch
und praktisch urteilende Köpfe. Das war wohl nidit
zuletzt der Grund dafür, daß das beginnende Indu-
striezeitalter hier wagemutige und ünternehmungs-
freudige Männer fand. So ist dieses Augsburg auch
— und heute vornehmlich — eine Industriestadt.
Obwohl auch die Industrie vom Krieg schwer an-
geschlagen wurde, obwohl auch hier die Bomben
das ihre taten — drei Jahre nach Beendigung des
Krieges hatte sie bereits 70 Prozent ihrer Kapazität
wieder erreicht. Wie das goldene Augsburg einst ei»ie
schöne, edle Perle im Römischen Reich Deutscher
Nation gewesen war, so war die Industriestadt Augs-
burg der beste Steuerzahler der schwäbischen Breiten.
MAN („Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg") war
das Petschaft für Maschinen, die man in aller Welt
fand. Aber auch diese Namen haben Klang landauf,
landab: „Mechanische Baumwollspinnerei und -Webe-
rei", „Augsburger Kammgarnspinnerei", „Nähfaden-
fabrik Schürer", „Riedinger-Bronce", „Haindlsche
Papierfabrik", „Martini & Co., Bleicherei und Appre-
tur", „Zahnräderfabrik Renk". In den Kontoren
sieht man noch die Bilder der Ahnen hängen, mit
rechnenden Augen und kühlen Zügen um die Mund-
partien. Aber auch die hohen plastischen Stirnen,
die wohl von der Weite des geistigen Horizontes
zeugen, lassen erkennen, daß das Multiplizieren und
Addieren nicht nur so nebenher betrieben wurde,
und daß die Augsburger Herren genau wußten, wo-
für sie ihr Geld ausgaben.
Spricht man mit den Augsburgern, dann hört man
wohl mancherlei Meinung. „Meine Herren", sagte
der Oberbürgermeister, „wir Schwaben lassen uns
nit unterkriegen. Schauen Sie sich unsere Trümmer-
beseitigung an; bitte, sagen Sie, wo ischt mehr auf-
geräumt als in Augsburg? Augsburg hat seinen be-
wahrenden Geischt." Der Oberbürgermeister, das
müssen wir gestehen, hat recht mit der Trümmer-
beseitigung, er hat sehr recht.
Der eingerüstete Perlachturm
Photo Stadt. Bauverwaltung
,,Das Augsburger Theater", sagte der Mann von
den Brettern, „muß auf Kassenerfolg spielen, da
wir vom Staat, wollte sagen von den Herren in
München, keinerlei Unterstützung kriegen. Die Kunst
ist in München etabliert. \i'ir sind isoliert. Wir sind
Provinz und sollen es ewig bleiben. Unter uns ge-
sagt: Die Münchner mögen die Schwaben nicht.
Augsburg liegt nur eine Stunde von München ent-
fernt. Und das ist sein Malheur."
67
NORBERT LIEB
I>iz ^unft tüäl)ut lang
Seit hundert Jahren erarbeitet sidi Augsburg das
tägliche Brot aus seiner Industrie. Der innere, der
alte Kern der Stadt aber zeugt von anderer Kraft:
von Kunst. Soll man die altdeutschen Kunststätten
nennen, so meldet sich neben Nürnberg und Köln so-
gleich Augsburg an. Die beiden ersten Orte liegen
in romantischem Schimmer, und Nürnberg hat dazu
den KLing der „Meistersinger". Augsburgs Kunst-
ruhm dagegen ist kühler, sachlicher.
Wie in der modernen Industriestadt Unternehmer-
sinn und Arbeiterfleiß zusammenwirken, so entstand
dm einstigen Augsburg die große, jahrhundertelang
bewährte Kunsttätigkeit aus der Begegnung von
Geist und Fleiß der Künstler mit lebendigem Kunst-
sinn der Menschen und ihrer Gemeinsdiaften. Die
einst sprichwörtliche „Augsburger Pracht" hat ihren
schönsten, gültigsten Beweis im Kunstgebild, das
allein den irdischen Reichtum der vergangenen „gol-
denen Stadt" noch sichtbar werden läßt und ihn
über Luxus und Repräsentation hinauf zu mensch-
lichem Lebenswert hebt, so daß es allem Zweifel und
Widerspruch zum Trotz doch so sein mag, daß die
Kunst lang, ja von allen Mensdiendingen am läng-
sten währt.
Vom späten Mittelalter bis zum Ausgang des acht-
zehnten Jahrhunderts war Augsburg wie eine ein-
zige große Künstlerwerkstatt. Zu manchen Gezeiten
beobachten wir eine geradezu unglaubliche Rührig-
keit. Und diese Künstlerstadt hielt im Aufnehmen
wie im Ausstrahlen offene und wache Beziehung
zur Welt.
Der Boden des dienstbar vor die Bisciiofskirche ge-
' breiteten „Fronhofs" birgt inmitten römisdier
Mauerzüge einen ältesten christlichen Taufbrunnen;
um ihn liegt eine frühe Taufkirche, die weiter zur
Dompfarrkirche wuchs — im Schoß der Erde dieser
Stadt, die ihren Namen nach dem Römerkaiscr
Augustus führt, ein leibhaftiges Geschichte funda-
mentaler Quaderwerke, über das aus den herben,
weit gepaarten Domtüren alte Glodcen ihren urzeit-
lichen oder zeitlosen Schall entsenden.
Dann geht im Aufstieg des Mittelalters, im elften
Jahrhundert, der mit Namen unbekannte Meister
ans Werk jener ehernen Türflügel, die im Schatten
der Domtürme ihren Platz finden. Aus leeren, aber
allgültigen Gründen heben sich Figuren und Sirm-
zeidien, Glieder eines im Geheimnis von Vorbild
und Erfüllung ausgebreiteten Gesamtbilds mittel-
alterlicher Weltanschauung. In puppenhafter Gelen-
kigkeit richtet sidi der erste Mensch an Gottes Hand
empor. Zu selten des Paradiesbaums züngeln die
Schlangen. Eine langgewandete Frau schreitet in
tänzerisdier Bewegung dahin, indem sie zwei Hüh-
nern Futter streut — Vertreterin der Gottes Wort
über die Erde spendenden Kirdie oder Verkörperung
der Nächstenliebe, im Formleben vielleicht ent-
sprossen oder genährt aus dem römisch-antiken
Mutterboden dieser Stadt.
Ein J?Jirhundert später, um 1150, setzt ein andrer,
namenloser Meister in die schmalen Hochfenster des
Dommittelschiffs die Glasbilder einer Propheten-
reihe. Ein Wunder heute, wie lang Kunst währen
kann! Denn die Kunstgeschichte verbucht diese ge-
brechlichen Fenster bei den ältesten erhaltenen figür-
lichen Glasmalereien der Welt. Fünf Propheten
stehen einzeln in unbewegter Ganzfigur, doch mit
erregten Händen und ziehenden Schriftbändern, ge-
kleidet in edelsteinhaftes Rot und Grün und Gold,
die glühend gestrengen Vorausverkünder des Welt-
erlösers.
Zwei Jahrhunderte später, um 1350, ruft man zur
Fortgestaltung dieses Doms Mitglieder der berühm-
ten schwäbischen Baumeister- und Bildnersippe der
Parier, die im Prager Dom ihren Gipfel erreichte.
Zwischen 1340 und 1430 erhält das alte, in Begledt-
hallen und Wölbung gemeindebergend ausgeformte
Langhaus ein hohes, helles Ostchor mit Umgang
und Kapellenkranz. Mächtig fährt seitdem der Dom
als wahres Schiff der Kirche durch das Meer der
Menschenhäuser, drängt die seit der Römerzeit ge-
bahnte Straße in einem Bogen von sich und die Ka-
pellen wie Wellen um seinen Bug. Diese Mutter-
kirche umgeben bald mehr und mehr große und
kleine Kirchen, die in ihrer West-Ost-Richtung das
innere Stadtgefüge räumlich und die äußere Stadt-
erscheinung fernbildhaft gliedern. Das steile östliche
Domchor aber ist ein in System und Technik des
hochgotischen Stils vergeistigtes Himmelsgehäuse,
sakrales Sammelziel des Innenraums, seliges Märchen-
bild auch, wenn durch die Fenster Lichter und Musik
der Christmette hinausch-ingen in die weihnachtliche
Stadt. Die Kunst währt lang, am schönsten dann,
68
wenn der ursprüngliche Sinn sie immer noch am
Leben hält.
Als im mittleren fünfzehnten Jahrhundert dann
die Bildkünste die Entdeckung der Welt und des
Menschen erfuhren, da konnte dieser europäische
Vorgang gerade in dem mit Handel und Wandel
unternehmerischen schwäbischen Augsburg besonders
bereiten Boden finden. Im Münster von St. Ulrich
hängen noch zwei ehemalige Altartafoln mit Bilde.-n
aus der Legende des heiligen Augsburger Bischofs
und Stadtpatrons Ulrich, gemalt um 1455, wohl
zum Halbjahrtausendgedächtnis des auf dem heißen
Ledifeld über die Ungarn errungenen Siegs. Zum
erstenmal gewahren wir das tiefe Zeätniaß, in dem
das Dasein dieser Stadt sich vollzieht, und wie die
Perspektiven einer bewußt erlebten Geschichte sich
in Kunstwerken wie in Brennpunkten sammeln.
Zweimal heben von links her die Tafeln mit Traum-
szenen an, in hellem Tageslicht. Wohl immer bleibt
es, wenn Schwaben träumen, klarer Tag. Hier aber
ist erstes, echtes und unverbrauchtes Erleben einer
Zeit, für die der Traum Wirklichkeit wird und
Wirklichkeit doch ein Traum bleibt, den nur der
Glaube wagt. St. Afra, ein königliches Mädchen,
ergreift den schlummernden Bischof an der Hand,
ihn auf das Lechfeld hinauszuführen, dessen Land-
schaftsbild der Meister ungesäumt, mit ungebrochener
Entdeckerfreude faßt. Die anderen Szenen sind ge-
staltet mit Figurenkompositionen von starkem Um-
riß, fülliger Farbigkeit und mit dramatisdien Bin-
dungen und Distanzen. In einem Wunderbegebnis
tritt uns als Gefolgsmann ein Jüngling in blauem
Gewand entgegen. Weit tut sein Blick sich auf in
Raum und Fülle dieser Welt, staunend heben sich
die Hände, betroffen von neuer Erfahrung. Dieser
Jüngling ist zudem auch eine wirklich bestimmte
Persönlichkeit: der etwa zwanzigjährige Martin
Sdiongauer, der Kolmarer Goldschmiedssohn. Damit
verrät diese Bildurkunde von St. Ulrich nichts ande-
res, als daß der spätere große Meister und Lehrer
und international geehrte Repräsentant deutsdier
Spätgotik auf seiner Gesellenwanderschaft auch in
Augsburg, der Stadt seines Vaters, eingekehrt und
den Sinn eines (mit Namen uns unbekannten) Werk-
stattherrn dort so sehr beeindruckt haben muß, daß
dieser seinen gewiß besten Gehilfen als Bildnis in
sein Malwerk nahm. Heimat und Welt der Augs-
burger Kunst begegnen uns ein erstes Mal — im
Werk der Kunst, die lange währt.
Das Mittelalter neigt sich. 1491 malt ein Augsburger
Meister (vielleidit der ältere Ulrich Apt) an die von
farbigem Glasbildlicht geheimnisvoll überrieselte
Innenmauer des südlichen Domquerarms das riesige
Wandbild eines Christophorus. Als es bei der Er-
neuerung des Domraums 1934 unter vielen späteren
Tünciiscliiditen unerwartet, erst mit dem Haupte
auftauchend, zum Vorschein kam, rührte uns ein
Wunder geschichtlichen Lebens: „Die Kunst wäJirt
lang." So steht er seitdem wieder und heute noch
vor uns, der heilige Gottesträger, dem alten Glau-
ben Nothelfer gegen jähen Tod, gemalt zur Zeit der
Entdeckung Amerikas, vorausbcladen (wie anders
als die Fenster-Propheten!) von Gewissenslast und
Glaubensschicksal der nahenden deutschen Refor-
mation.
In dieser Abendzeit des Mittelalters gewinnt Augs-
burg auch eine wahre Baumeisterpersönlichkeit. Es
ist Burkhard Engelberg, ein Sohn des alemannischen
Schwarzwaldlands, ausgebildet wohl in der Straß-
burger Münsterhütte. In ihm zahlt der Oberrhein
an Augsburg zurück, was eben ihm der Augsburger
Bürgerssohn Martin Schongauer zugebracht. Seit
1477 errichtet Burkhard Engelberg das Langhaus
von St. Ulrich und Afra. Noch einmal wird, in
hochgemutem, fast hochmütigem Rückgriff, das er-
habene System basilikaler Kathedralgotik aufgerich-
tet. Zugleich entwidielt sich dieser Bau zu einer
praktischen Lehrstätte. Aus seiner Hütte von St.
Ulrich konnte Burkhard Engelberg eines Tags im
Herbst 1493 nicht weniger als 117 Steinmetzgesellen
mit sich an den Ulmer Münsterbau nehmen! Auch
sonst ward der Augsburger „Werkmeister" Engel-
berg weithin berufen. Als er 1512 stirbt, setzt man
ihm neben dem Stadtportal von St. Ulrich einen
Gedenkstein, dessen Inschrift ihn als „vielkunst-
reichen Architectoren" und „schadhafter Gezarke
(Bauwerke) großen Wiederbringer" rühmt.
Um das Jahr 1500, da das Mittelalter in einem kirch-
hdien „Gnadenjahr" zu Ende geht, bestellen ein-
zelne Nonnen von St. Katharina, Töchter namhafter
Augsburger Patrizierfamilien, in offenkundigem
Wetteifer bei den besten Malern der Stadt für ihr
Kloster die sechs berühmten „Basilikatafeln". Hans
Holbein d. Ä., der Sohn eines Augsburger Gerbers,
aus Ulm und von einer niederländischen Reise nach
Augsburg zurückgekehrt, malt die lyrische Kompo-
sition der Marienbasilika, das verschlungene Epos
der Geschichte und Legende des Hl. Paulus. Hans
Burgkmair, der jungmännliche Augsburger Malers-
sohn, gestaltet die zuständlich prunkende Feierlidi-
keit der Petersbasilika und die Bilderzählungen der
Basiliken von Hl. Kreuz und vom Lateran. Da brin-
gen Augsburger Malwerke in die Klausur eines
Frauenklosters die frühchristliche Kirchenwelt Ita-
Eens.
69
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Das Holbein-Haus lag im gedrängten, kleinbürger-
lichen Viertel „Am vorderen Lech". Dort war des
Malers Nachbar und Werkstattfreund, seit den
Ulmer Tagen in Zusammenarbeit erprobt, der Bild-
hauer Gregor Erhard, der aus Ulm, vom Werk des
Blaubeurer Hochaltars kommend, ins aussichts-
reichere Augsburg gezogen war. Gregor Erhards
Muttergottesfiguren tragen im Antlitz den milden
Adel schwäbischen Menschentums, im Faltenfall jene
schwingende Großzügigkeit schwäbischen Formsinns,
die im Großen, unbewußt, auch die Führung der
einzigartigen Hauptstraße Altaugsburgs bestimmt
und beseelt.
Ein anderer Ulmer Landsmann und Familien-
gefährte Gregor Erhards war Adolf Daucher, der
erste Bildhauer der Augsburger Renaissance. Der
herrlichen Grabkapelle, die Jakob Fugger „der
Reiche" zwischen 1509 und 1518 seinen Brüdern
und siich als eigenen Westchor an St. Anna bauen
und kunstvoll ausstatten ließ, gab Adolf Daucher
in der „Fronlcichnams"-Gruppe des Altares jenen
Inhalt, der den erlauchten Raum zu einer Herz-
kammer Augsburger Kunstwesens madit.
Noch ein Augsburger Meister jener Zeit hat einen
Namen von gutem Klang: der Goldschmied Jörg
Seid. Altehrwürdigen Heiligtümern seiner Vater-
stadt, dem „Wunderbaren Gut" von Hl. Kreuz und
dem Ulrichskreuz, gestaltete er kostbare Gehäuse,
aus deren Pracht die Tiefen gesdiichtlidier Weihe
glühen. Auf seine alten Tage aber zeichnete dieser
Goldschmied eine breite Plangesamtansicht Augs-
burgs, die 1521 in Holzschnitt veröffentlicht das
treue und kunstverklärte Bilddenkmal dieser Stadt
darstellt, die auf ihre Vergangenheit stolz, ihrer
Gegenwart froh und ihrer Zukunft sicher ist. Ver-
wandtes Wesen wie dieses Stadtplanbild verkörpe^-t
die gleichzeitig vollendete Fuggerei.
Im Sommer 151S weilt zum letztenmal ein hoher,
alter Gönner und guter Freund der Stadt in Augs-
burgs Mauern: Kaiser Maximilian. Damals zeichnet
ein Nürnberger Künstler hier den Kopf des Impe-
rators und „letzten Ritters" und schreibt an den
Rand des Blattes: „Das ist Kaiser Maximilian, den
hab ich Albrecht Dürer zu Augsburg hoch oben auf
der Pfalz in seinem kleinen Stühle kunterfeit, da
man zählt 1518 am Montag nach Johannis Täu-
fers." Was Dürers Hand im „kleinen Stühle" fest-
hielt, war große Welt!
Hinter der breiten Schauseite von Jakob Fuggers
Wohnpalast liegt ein versteckter Hof. Noch haftet
an den Wänden ein letzter Glanz der Maximilians-
zeit, an den schlanken Säulenarkaden ein Nachklang
leisen Lautenspiels, auf den Altanen der Wider-
schein venezianischer Sonne. Nicht Butzenscheiben-
romantik ist die Stimmung A'taugsburger Kunst,
ihr Dasein und Wert ist „von Welt".
Nach 1520 freilich vergehen die guten Zeiten der
Kunst. Die Holbein sind abgewandert. Schaffcnslecr
dämmert im Nachbarhaus hinter dem Lechkanal die
Bildnerwerkstatt Gregor Erhards. Ein anderes
Haus, das im engen Gassenabfall des „Mauerbergs"
den Ausblick zum Perlachturm genießt, bewohnt der
Maler Hans Burgkmair. Seine Bilder erscheinen uns
als echte Kunstspiegelung der „goldenen Stadt'.
Venedig war das Glück seines Lebens gewesen. Nach-
dem Holbein und Ulrich Apt d. Ä. eben die Außen-
seiten geschlossener Bildaltäre mit ausgewogenen
Kompositionen der Verkündigimg bemalt hatten —
Parallelen zur gleichgewichtigen Architektonik der
gleichzeitigen Dominikanerkirche, zeigte Burgkmair
1518 auf dem Johannesaltar den Seher der Geheimen
Offenbarung in einer tropischen Landschaft, die uns
die zeitgenössischen Kolonialunternehmungen der
Welser ins Gedächtnis bringt. — Ein Jahr später
ließ Burgkmair auf dem von den Peutinger besteil-
ten Kreuzigungsaltar außen die ritterlichen Heiligen
Sigismund und Georg erscheinen. Das Innere des
Altars zeigt eine Kreuzigung, ohne Greuel und ohne
Gedräng, nur die Hauptfiguren repräsentativ ver-
gegenwärtigt, isoliert in ihrer Bedeutsamkeit und
chorisch verbunden wie die gleichzeitige Fronleidi-
namsgruppe der Fuggerkapelle. — Zehn Jahre
später malt Hans Burgkmair für die bayerische
Herzogsresidenz in München die „Schlacht bei Can-
nae", als Bestandteil eines Serienauftrags, der das
Gegenbeispiel profan-humanistischer Renaissance zu
den drei Jahrzehnte älteren „Basilikatafeln" von St.
Katharina ist. Dies Bild verrät die Krisis seiner Zeit
und das Verhängnis des alternden Künstlers. Wir
sehen es auch im Konterfei, das im gleichen Jahr ein
getreuer Schüler von seinem Meister und dessen Ehe-
frau malte. Aufrecht, wiewohl nicht ohne Mühe,
hält sich der 56jährige Hans Burgkmair, sprechend
und stok wendet er die mit dem Wappenring ge-
schmückte Hand uns zu. Vor der Brust des Malers,
wo einst die Holbeinknaben beim Vater ihren Platz
gehabt hatten, erscheint, wohlgekleidet, Hans Burgk-
mairs Hausfrau, die den märchenartigen Namen
Anna Allerlayin führt. Aus einem keineswegs schö-
nen, von offenem Haar umkräuselten reifen Frauen-
antlitz suchen uns ihre Blicke, schärfer und un-
ruhiger als die klaren Maleraugen des Eheherrn. Die
kaum verhohlene, zuckende Erregung hat ihre Ur-
sache: Der von der Rechten der Frau emporgehaltene
zeremoniöse Handspiegel zeigt im kalten Glas zwai
Totenschädel. Am Griff des Spiegels steht: „Hoff-
Hans Holbein d. A. / Kreuzabnahme
71
nung der Welt", am Spiegelrand: „Erkenn dich
selbst!" Über dem Kopf des Malers lesen wir:
„Solche Gestalt unser Beider was, im Spiegel aber
nichts denn das", und oben am Rahmen stöhnt es
auf: „O mors", o Tod! So setzt dem denkmalhaflcn
Selbstbewußtsein des Renaissancemenschen sich die
Angst der Vergänglichkeit und das Gefühl der Eitel-
keit alles Irdischen entgegen.
Der alte hohe, menschen- und gemeinschaflbildende
Bereich der kirchlichen Kunst aber zerfiel zur glei-
chen Zeit in Glaiubenskampf und vielfacher politi-
scher Wirrnis und in wütendem Bildersturm. Mit
Karls V. Reichstagen von 1530 und 1548 trin Augs-
burg in die Mitte der deutschen und europäischen
Politik. Zweimal setzten die politisch-diplomatischen
Geschehnisse Augsburg in Beziehung zur Weltkunst-
geschichte: 1548 und 1550/51 weilt Tizian in der
Stadt am Lech. Hier malt der große Venezianer
jenes in den Ernst der Herrscherwürde und Schick-
salsbürde gefaßte Bildnis Kaiser Karls V., auf dem
die Bekrönimg des Lehnstuhls mit der Zirbelnuß,
dem Wappenzeichen Augsburgs, uns wieder einmal
die Rolle dieser Stadt in der Welt, das Herein-
spielen der Welt in diese Stadt bezeugt. 1559 sah
der Augsburger Dom die offizielle Reichstotenfeier
Kaiser Karls V., in dessen Reich die Sonne nicht
unterging. Nodi sind der gestickte Adlerschild, dar
Kronenhelm und das Schwert erhalten, mit denen
des toten Herrschers Bruder und Nachfolger das
Trauergerüst schmücken ließ, Im Glasschrein eines
deutschen Stadtmuseums verharrt der letzte, düstre
Abglanz einer Weltvergangenheit.
Mit verstärktem Eifer aber wandte Augsburg nach
den Zeiten der Krise seine Kunstbegabung an reiche
Dekoration und Kunsthandwerklidikeit. Schon 1554
hatte Christoph Amberger wieder dem Dom ein
neues Hochaltarbild malen dürfen. Um die himm-
lisdie Schutzfrau scharen sich die alten Augsburger
Stadtheiligen und nochmals trägt ein Antlitz die
Züge Kaiser Maximilians: hohe, geschichtsgesättigte,
heilige Heimatkunst. 1574 erhält das hinter dem
Rathaiis verborgene Normenkirchlein von Maria-
Stern seinen zierlichen Turm. Zwanzig Jahre später
steht endlich auch ider Turm des Ulrichsmünsters
vollendet. Seine schwellend-gemessene, grün pati-
nierte Kuppel wirkt seitdem als Urbild zahlloser
barocker Turmbekrönungen Süddeut^chlands in die
Ferne. Im Mai des nächsten Jahres, 1595, springen,
erstmals auf dem Mittelplatz der Stadt die Wasser
des Augustusbrunnens, dessen Erzfiguren der in Ita-
lien ausgebildete Niederländer Hubert Gerhard mo-
dellierte. Beschlossen im Gedächtnis der löOOjährl-
gen Gründung Augsburgs durch den römischen Kai-
ser Augustus, ward dieser Brunnen zum Kunstdenk-
mal einer lebendig gefühlten Geschichtlichkeit. Zu
Füßen des kaiserlichen Stifters verkörpern die Ge-
stalten der vier Flüsse auch die Landschaflskräfle
der Siedlung.
Und ungesäumt gibt auch die erneuerte alte Kirche
kunstschaffend ihr Daseinszeugnis. Was hat doch
diese lebendige Stadt für tiefe Zeitperspektiven! Um
1604, das dreizehnte Jahrhundert Jubiläum des Todes
St. Afras, der frühchristlichen Blutzeugin Augsburgs,
wird das Chor des Ulriciismünsters im sakralen Bild
des gotischen Stils ausgebaut. Die alte Heilige und
St. Ulrich, nach Kaiser Augustus der zweite Vater
des Vaterlands, erhalten zwei Altäre, und ein riesiger
Hochaltar vollendet den Akkord zum Dreiklang, in
dem man seit den Tagen der Spätgotik zimi ersten-
mal wieder die Ehre der Altäre und in ihr den
Triumph verjüngter Kirchlichkeit erleben darf, die
über alten Heiligengrüften sich aufwärts hebt. Vor
dieses Altärechor stellt man, eine Insel In der spät-
gotischen Vierung, die von Gleichgewicht und Span-
nung durchflossene eherne Freifigurengrupi>e der
Kreuzigung, Hans Reichles frühbarocke Antwort
auf Burgkmairs Peutingersche Kreuzigung. In das
Langhaus von St. Ulnich baut man gleichzeitig die
Kanzel und eine Orgel mit großen Bilderflügeln,
und alle diese Werke währen im alten Raum auch
heute noch.
Solche Zeit ist reif zu wahrer Kunstkultur. Ihr An-
liegen heißt öffentliche Architektonik, die baukünst-
lerische Verkörperung und Repräsentation der
Reichsstadt selbst, ihrer Macht, Ihres Reichtums und
Stolzes, der Vielfalt und Ordnung ihres Seins und
Wirkens. Und der Gestalter dieser Aufgabe wird
Elias Holl. Er entstammte dem Schwabenboden
Augsburgs selbst. Nach praktischer und solider
Grundausbildung unter den Augen des Vaters er-
fährt der Jüngling das Erlebnis einer kurzen Reise
nach Venedig. Dem Heimgekehrten überträgt ein
verständiges Stadtregiment 1602 das Stadtwerk-
meisteramt. Das gesamte Bauwesen der Reichsstadt
bleibt fast drei Jahrzehnte lang In den Händen
eines wahren Meisters, der die bescheidenste wie die
ansehnlichste Obliegenheit in gleicher Gewissenhaf-
tigkeit betreut. Bei Kunstfassaden und anderen ge-
hobenen Aufgaben legen Ihm die gebildeten Herrn
des Bauamts Entwurfzeichnungen berühmter Maler
zur Ausführung vor. Das aber tut der persönlichen
Bedeutung Elias 'Holls keinen .Abbruch, seine Tat
ist die Verwirklichung, er bringt die vielerlei Nutz-
setzungen in gehörige und bedeutsame Form: Zunfl-
haus, Befestigung, Gießhaus, Siegelhaus, Metzg,
Schule, Wassertürme, Mühlen, Spital. Mit dem
zuchtvollen Bau des Gymnasiums macht Elias Holl
das Gelände zwischen St. Anna und der alten Stadt-
72
^^^T
.^ f^
*. "'•2
Lucai Furtenagel / Bildnis des Hans Burgkmair und seiner Frau
bibliothek zur stillen Hofhaltung eines reichsstadt-
bürgerlichen Humanismus protestantischen Gepräges.
In der späten Anlage des Heiligen-Geist-Spitals
vollbringt er eine Bauschöpfung bürgerlichen Wohl-
fahrtssinns. Das Zeugnis errichtet er als Rüstkam-
mer der Reichsstadt; die wehrhafte Stirn des Baues
verlebendigt sich geradezu dramatisch in Hans
Reichles eherner Michaelsgruppe.
Auf .dem Gipfel seines Lebens, in der Mitte seines
Sdiaffens und seiner Stadt aber steht Elias Holls
selbständigste Tat: Rathaus und Perlachturm. Eben
hatte Augsburg mit 45 000 Einwohnern seine höchste
Volkszahl in alter Zeit vor 1800 erreicht. Die um-
fängliche, 1626 von Wolfgang Kilian im Kupfer-
stich berauisgegebene Planansicht zeigt die ganze
Stadt, die in diesem Rathaus ihren Schwerpunkt hat.
Dais Fernbild der neu in Mauern und Tortürmen
gefestigten Stadt hat seitdem in der Dreiergipfelung
des Doms im Norden, des Ulrichsmünsters im Süden
und der istädcischen Dominante von Rathaus und
Perlachturm in der Mitte jene — Gleichgewicht und
Spannung wieder in eigener Art vereinende —
Rhythmik, die Hans Burgkmairs und Hans Reichles
Kreuzigungskomposirionen entspricht. Im Außenbau
wie im Innern, vom Portal bis zum „Goldenen
Saal" hinauf und bis zu der über diesem noch ein-
gebauten Modellkammer ist dieses Rathaus ver-
geistigtes Körperbild eines einzigartigen Stadtstaats.
Der „Goldene Saal" und die „Fürstenzimmer"
wollten sidi vom Prunk der Staatsräume des Dogen-
palastes zu Venedig nicht überbieten lassen.
Schon um die Michaelsgruppe des Zeughauses woll-
ten sidi die Wolken des Verhängnisses ballen. Ober
das kaum vollendete Rathaus und seine „heroischen"
Türme brach die Katastrophe des Dreißigjährigen
Kriegs. In Krieg und Pest und Hungersnot stürzte
jene Kunsttätigkeit zusammen, die eben in Malerei
und Plastik, in Bau- und Raumschmuck am Halt
der großen Architektur volltönend sich entwickelt
hatte, nicht minder audi jene vielfache, virtuose
Kunstgewerblichkeit, die gleichzeitig mit Elias Holls
stadtrepräsentativer Architektur in der Kleinwelt
der „Kunstschränke" die spielerische Aufmerksam-
keit verwöhnter Liebhaber zu befriedigen wußte.
Auch Elias Holl selbst geriet mit persönlicher Tragik
in die religionspolitischen Wschselfälle der Zeit.
Nach leeren Altersjahrzehnten, gleich jener Krise,
die einjahrhundert vorher die Kunst im Bildersturm
erfaßte, ist der einst rastlose und schaflensstarke
Stadt Werkmeister 1646 einsam gestorben.
Ist Holls Aufstieg und Werk, sein Glück und Un-
glück eng dem Schicksal seiner Stadt verflochten, so
führt Leben und Schaffen eines anderen zeitgenössi-
sdien Künstlers uns wieder in „die Welt". Georg
Petel, der Sohn eines Bildliauers und Kunstschrei-
ners der meisterreichen oberbayerischen Landstadt
Weilheim, ist während langjähriger Aufenthalte in
ItaUen und den Niederlanden zur Höhe seiner
Kunst gereift. In Antwerpen und Genua hat er sich
Rubens und van Dyck zu Freunden gewonnen.
1625 ließ Petel sich in Augsburg nieder. Hier haben
wir von ihm noch das Christkind der Barfüßer-
kanzel, den Christophorus und Salvator von St.
Moritz, den Schmerzensmann im Dom: Werke, die
mittelalterliche Inhalte mit neuer, barocker Leben-
digkeit gefühlt und gestaltet zeigen. Das grausige
Augsburger Pestjahr 1633/34 hat mit vielen anderen
Meistern auch Georg Petel hinweggerafft. In warmer
Nähe aber blieb uns noch sein Bildnis, das kein
Geringerer als van Dyck zu Genua malte: das echte
Porträt eines plastisch-bildphantastischen Künstlers,
eines vom Dasein geneigten, vcxm Jenseits erregten
Barockmenschen.
Bald nach dem Friedensschluß von 1648 gewann
Augsburg, vor allem durch Zuzug aus den umliegen-
den kleineren schwäbischen Reichsstädten, eine Reihe
tüchtiger Maler, die als originelle Künstler, selbst-
bewußte Bürger und glaubensfeste Protestanten ihre
Bildkunst mit echten Kräften nährten, zu denen
auch ein neuer Natursinn gehört. Der bedeutsamste
Maler dieser Gruppe war Johann Heinrich Schönfeld,
der aus Biberach gebürtig, während des Krieges
seine Kunst in der Fülle des italienischen Barock
entwickelt hatte. In Augsburg verschloß sich selbst
der katholische Dom ihm nicht. Umgekehrt ergaben
sich hier in der Folgezeit auch die evangelischen
Kirchen willig der neuen Bild- und Zierkunst des
Barock und Rokoko. Die „Parität", die Altaugs-
burg nach endlosem Streit schließlich klugerweise
zur Grundlage seiner ganzen städtischen Verfassung
machte, hat in dieser Liberalität des Kunstsinns ihr
Begleitspiel; ihr stadtbauliches Denkmal aber in den
verbrüderten Kirdienpaaren von Hl. Kreuz und
St. Ulrich.
Aus einziger Freudigkeit und unvergleichlichem
Wetteifer aller fördernden und schaflFenden Kräfte
entsteht dann die letzte, schönste Kunstepoche dieser
Stadt: das achtzehnte Jahrhundert, das im Zeitraum
von 1730 bis 1760 gipfelt. Neu leuchtet die Schau-
seite des Gasthauses zu den „Drei Mohren". Han-
delsherren, vom Glück für Scharfsinn und Tatkraft:
ihres Unternehmens belohnt, errichten sidi ihre
Häuser: mit geschnitzten Portalen, bunten und
stuckumschnörkelten Fassaden, geschweiften Dächern,
kühlen Treppenhäusern, über denen wieder sidi
Fresken breiten, imit Darstellungen vom erdteilver-
74
knüpfenden Segen des Handels, vom Bündnis
zwischen Handelschaft und Künsten.
Technik und schöne Kunst sind seit den Tagen
Burkhard Engelbergs und Elias Holls und seit der
Einrichtung der Modellkammer über dem „goldenen"
Rathaussaal einander verschwistert. Im Barock und
Rokoko verbinden sich beide Partner in der einzig-
artigen Gruppe der Wassertürme zwischen Spital
und Rotem Tor, wo in der Bucht der Wallhöhe
auch der Stadtbrunnmeister seine idyllische Dienst-
hausung erhält. Als enger Bund von Kunst, Technik
und Handel kann die ganze Kunsttätigkeit des da-
maligen Augsburg am ehesten erklärt werden. Maler
in Fresko und Ölbild, Stukkaturen, Bildhauer, Gra-
phiker, Goldschmiede und weiter Kunsthandwerker
aller Fächer — eine kaum auszählbare Schar, der
man bis in weiteste Ferne begegnet. Diese Über-
schwenglichen waren zugleich nüchterne Kalkulierer.
Zumal Augsburgs Graphiker rechnen mit dem euro-
päischen Markt und nutzen ihn, fast merkantilistisch.
Eine reichsstädtische Kunstakademie lockt aufstre-
bende Kräfte aller deutschen Stämme und auch
mandi fremder Nation, bildet sie, entläßt sie in
andere Metropole oder behält die Tüchtigen in
Augsburgs Mauern. Auch namhafte Wanderkünstler
madien gern hier halt.
In die Mitte dieses Künstlervolks tritt auch das
Genie der deutschen Rokokomalerei: Johann Evan-
gelist Holzer. 1730 kam der einundzwanzigjährige
Tiroler hierher. Bergmüller nahm ihn in' seine Ob-
hut. Schon ein Jahr später darf Holzer für die
Kirche der Dominikaner ein Altarbild der Verkündi-
gung an Joachim malen, das vergeistigte spätbarocke
Gegenstück zum spröden altdeutschen Werk Hans
Holbeins des Älteren auf dem Altarflügel im Augs-
burger Dom. Für einen Altar der Stiftskirche zu
Dießen am Ammersee malt Holzer St. Michael, in
Frische und Schwermut das jugendliche Gegenstück
des feuerstürmischen Erzengels der Zeughausfront.
Augsburger Bürger lassen ihre Hausfassaden be-
malen, in jener allgemeinen Kunstfreude, die damals
ganze Straßenzüge und Platzfolgen mit öffentlichen
Bilderfluchten begleitet. So setzt Holzer an Haus-
wände alttestamentliche Szenen, fromme Andachts-
bilder und kirchliche Apotheosen. Dem Gasthaus zu
den „Drei Kronen" gibt er das Bild eines Gelages
der sieben olympischen Götter. Ein anderes Wirts-
haus dekoriert er mit dem Schaubild eines „Bauern-
tanzes". — Mit besonderem Eifer nimmt Holzer die
Aufträge seines besten Augsburger Gönners, des
Graphikers und Kunstverlegers Johann Andreas
Pfeffel an. Sein Haus erhält von Holzer eine male-
rische Schauseite. Das eine Haaptbild zeigt die
brüderliche Liebe in der antiken Sage von Kastor
und Pollux. So hat die Verklärung diristlichcr Mär-
tyrer ein weltmythisches Gegenstück. Das zweite Bild
der Pfeffelschen Hausfassade 'st eine Allegorie, wie
die wahre Kunst mit Hilfe der Zeit über Haß und
Unverstand ihrer Umwelt den Sieg erringt, in
sinnenseliger und unendlichkeitstrunkener Himmel-
fahrt. Dabei steht das Motto: daß schließlich jeder
Dornstrauch Rosen trage, mit Hilfe der Zeit.
Doch dieser Optimismus, so sehr er genau ein Jahr-
hundert nach dem Abgrund des Dreißigjährigen
Krieges echter Zeitzug damaligen Lebensgefühls sein
mag, ist von Melancholie nicht frei. Bald nachher
nialt Holzer im Gartengut Pfeffels an die Decke
eines lieblich ovalen Pavillons den Wechselreigen
der zwölf Monate, die ihre Vergänglichkeit im Tanz
vergessend den Kreis des Jahres und des Lebens
runden, im Pfeifentone einer Melodie, die das Thema
umspielt: „Alles hat seine Zeit." Als Holzer in
der mainfränkischen Klosterkirche von Münster-
schwarzach sein größtes Werk gemalt, in der kosmi-
schen Glorie des Kuppelbildes dort das Höchstziel
alles kirchlichen Spätbarock auf Erden erreicht hat,
stirbt er, kaum einunddreißig Jahre alt. Das Genie
scheint den Menschenleib verbrannt, ein einzelner
Künstler sich dem Phönixwunder des deutsdien
Rokoko geopfert zu haben. Zum fünfundzwanzig-
jährigen Todesgedächtnis hat ein Augsburger Künst-
ler, Johann Esaias Nilson, in schönster Liberalität
und Kunstgenossenschaft die Werke Holzers in
Kupferstichen veröffentlicht und dem Titelblatt das
Motto gegeben, daß das Leben kurz sei, die Kunst
aber lange währe.
Auch diesen Künstleroptimismus des letzten Roko-
ko sollte „die Zeit" mit bitterer Ironie strafen.
Längst erleben wir Holzers Kunst am alten Platz
nur noch in einigen Altarbildern, in den Fresken
der Eichstätter Sommerresidenz und der Wallfahrt
St. Anton über Partenkirchen. Die anderen Werke
sind verschollen, zerstreut, in Galerien, Museen und
in den Kästen graphischer Sammlungen verborgen.
Die Freiluft-Bildwelt der Augsburger Hausfassaden
hat längst das Wetter zerstört, und Balthasar Neu-
manns Kirche von Münsterschwarzach hat gar samt
Holzers Malereien die Barbarei des aufgeklärten
vorigen Jahrhunderts weggerissen.
Uns vollends hat die Zeit keine Rosen gebrach:.
Zerstörung ist auch über diese Kunst- und Künstler-
stadt gefallen, und wenn wir heute vom Perlach-
turm oder aus dem leergebrannten Geviert des einst-
mals „goldenen" Saals über das alte Augsburg
schauen, erblicken wir in Frau Burgkmairs Spiegel
nichts denn Trümmer, und in den Sinn kommt uns
das Bibelwort: „Du Menschenkind, meinst du, daß
diese Gebeine wieder lebendig werden?"
75
ARTHUR MAXIMILIAN MILLER
Dec gco^e Cbtiftoph
Augsburg, den 23. August 1939.
Mein lieber Max! Ich glaube jerzt wie Du, daß der-
Krieg sich nicht mehr abwenden läßt — er wird
hervorbrechen wie ein Raubtier, das auf seine Stunde
gewartet hat, und man hat das Raubtier lange genug
gelockt. Aber gerade deshalb hätten wir uns in
Ulm nicht trennen sollen. Du hätttst mit mir die
Fahrt nach Augsburg machen sollen, um noch einmal
alles au sehen, Augsburg ist doch unser Herz, und
auf dieses Herz wird früher oder später der Angriff
erfolgen, der Angriff aus der Luft, und dann wird
es nicht zu retten sein. Ich fürchte es, ich fürchte es
— und wie könnte man anders, als es fürchten?
Dieser schöne, geliebte Leib wird einmal zerrissen
vor uns liegen, vielleicht schon in wenigen Wochen.
Es ist Abend, ich sitze im Bayerischen Hof, ganz
trunken, ganz schwer und müde von Glück und
Kummer. Ein zauberhafter Abend verlischt über
der zauberhaften Stadt, die so voll Süden ist und
so voll Schwaben: Idi bin glücklich, daß das so ist,
daß CS dieses Augsburg gibt — und hat es einm.il
Augsburg gegeben, wahrhaft gegeben, dann für im-
mer. Dieser Gedanke durchglüht mich heute. Aber
es ist auch ein großer Schmerz und Kummer, zu
wissen, daß dies alles dahin geht. Im Grunde ist es
nicht zu fassen. Was kann denn außer dem Perlach
noch an dieser Stelle sein, außer dem Dom, außer
der Maximilianstraße, außer St. Ulrich! Können die
köstlichen Brunnen je aufhören zu springen? Hier
hat eine Götterhand die schwäbische Erde berührt
und ihr ein einzigartiges Gebilde entsprießen lassen
— kann jemand Vollmacht haben, dies zu zerstören?
Ich will es nicht länger denken .
Ich bin wieder den alten Wagenweg gegangen vom
Fischertor herauf zum Dom mit dem unvergleich-
lichen Blick auf den Hochchor, der wie ein Gebet
aiufsteigt in seiner Schlankheit, seiner Abgewandt-
heit, seiner Geistlidikeit, dann die schmale Schlucht
der Karolinenstraße, endigend mit dem berückenden
Bild des Perlach: der südlich lächelnde Turm, die
heitere, feierliche Schönheit der Rathausfassade, dies
alles verklärt vom reinsten Abendlicht, dann St.
Moritz, wie es sich in die Straßenöffnung schiebt,
und endlich die saalweite Flucht der Maximilian-
straße mit dem Münster von Sankt Ulrich! Dir sind
diese Bilder alle vertraut, ich brauche sie Dir nicht
zu beschreiben; aber sie sind noch niemals von
einem solchen schmelzenden Licht, von einem solchen
himmlischen Äther umflossen gewesen wie heute, so,
als müßten sie jetzt ihre Vollendung finden und
dann mit dem niedersinkenden Dunkel für immer
vergehen, weil es über dies hinaus nichts mehr geben
kann. Und dies alles fiel in meine glück- und
schmerzdurchtränkte Seele, die von dem nahenden
Schicksal ganz erschüttert ist.
Dann bin ich noch im Dom gewesen. Und da war
es vor allem der große Christoph, der mich lange
Zeit gebannt gehalten hat. Ein rätselhaftes Bild!
Weißt Du noch, wie wir 1928 bei der Tante in
Augsburg waren und kreuz und quer durch die
Stadt streiften, um ihre Verborgenheiten zu ent-
decken? Und wie wir in die Gassen an den Lech-
kanälen kamen, wo die mittelalterlichen Hand-
werkerquartiere gewesen sind, und dann die Szene
mit dem Kind erlebten? Es mußte ein Pfännlein aus
einer der finsteren Küchen entwendet haben und
war damit auf die Gasse gelaufen, die Mutter hinter
ihm drein, um es ihm wieder abzunehmen. Aber sie
konnte den blondzöpfigen Wildfang nicht erhaschen,
hob drohend den Finger auf und rief ihm zu: Wart,
wart, der große Christoph kommt und holt dich!
Ich fragte das Weib, wer der große Christoph sei;
aber sie wußte es nicht. Man sagt halt zu den Kin-
dern so, wenn sie nicht folgen, erwiderte sie lächelnd.
Und was tut er dann den Kindern? fragte ich. Er
trägt sie auf den Schultern fort und wirft sie in den
Lech.
Wir rätselten damals, wer der große Christoph sei,
etwa eine Abwandlung des Klausen oder des Klaub-
auf, vermummt in die Gestalt des starken Bayern-
herzogs Christoph? Bayern war ja immer Augsburgs
Feind gewesen.
Als ich dann nach der großen Restaurierung des
Domes 1925 in den „neuen Dom" kam, der eigent-
lich der wiederhergestellte alte war — als ich, durch
die Pforte des südlichen Querschiffarmes eintretend,
plötzlich über mir den riesigen, geisterhaften Mann
sah, der bis ins Gewölbe hinaufreichte, da wußte
ich, wer der große Christoph sei, und erstaunte zu-
gleich darüber, daß sich im Volke eine Erinnerung
an ihn erhalten hatte, der doch Jahrhunderte unter
76
Der Dom
Photo U. Fuchs
dem gelben Bartucli der Übertündiung geruht hatte.
Und, ganz seltsam ergriffen von dem plötzlichen
Wiedererscheinen des ungeheuerlichen Riesen, fragte
ich mich, welchen Sinn dies habe, daß er gerade jetzt
sich wieder zeigte. Ich wußte damals schon, welche
Stunde geschlagen hatte und daß einer kommen
mußte, um zu sprechen und zu rufen: Wo geht ihr
hin? Wißt ihr, wohin ihr geht?
Heute nachmittag bin ich wieder beim großen Chri-
stoph gewesen. Und heute war mir seine Gestalt
noch riesiger und ungeheuerlicher. Zunächst, wenn
man eintritt, vermag man ihn ja gar nicht mit dem
Blick zu fassen, man muß durch das Querhausgitter
ins Langhaus hinaustreten, um Abstand von ihm zu
gewinnen, und wie man nun so steht und steht und
sich ihm hingibt, so wird er einem immer geister-
hafter, wie aus der Wand getreten kommt er einem
vor, und man möchte ihm ins Innere des Gottes-
hauses hinein entweichen. Dann aber, wenn man bis
zur Kanzelhöhe vorwärtsgegangen ist, taucht das
riesige Haupt von seitwärts wieder hinter dem Rah-
men der Gewölbegürtung hervor, als spähte es
einem nach und ließe einen nicht los. Und so mußte
ich wieder zu ihm zurückkehren.
Ich denke. Du hast ihn noch vor Dir: in der Däm-
merung des Querschiffes ragt er auf wie ein unge-
heurer, aber zarter, mit schwadien Farben getönter
Schatten, und dies ist etwas von dem Unbegreif-
lichen, an dem ich rätsele, wie man mit solchen zarten
Mitteln etwas so Monumentales schaffen, eine so un-
geheure Wandfläche wirksam bedecken konnte. Aber
gerade dadurch wird seine Größe geisterhaft und
unbestimmbar.
Gesicht, Gewand und Glieder sind ganz flächig emp-
funden; aber er bleibt nicht in der Fläche, er scheint
sich von ihr loszulösen und vor ihr her zu schweben.
Du kennst sein stummes, graues Haupt, die mäch-
tige Gestalt, bekleidet mit dem zart graublauen
Untergewand und umhüllt vom Rot des faltigen
Mantels — die beiden mystischen Farben der Seele!
In beiden Händen hält er einen Baum als Stab, aus
dessen Zweigen grüne Blätter brechen. (,,Und ich
war tot, und siehe, ich lebe . . ."). Mit seltsamer
Eindringlichkeit durchschneidet der gerade Schaft: die
Figur und das hohe Feld der Querwand und teilt sie
in zwei Teile.
Das eigentlich Bannende aber ist das Antlitz. Hoch,
hager, verlassen vom Strome des Lebens, einem
grauen Felsen ähnlich, die Nase schmal, die Züge
streng und fahl, die Wangen eingebrochen und um-
rahmt vom weichen Dämmergrau des Bartes. Unter
den Brauen aber stehen Geisteraugen, deren stiller
unausweichlicher Blick, bar allen Wahnes, durch den
Schleier der Sinnendinge dringt. Dieser Mann weiß
alles. Für ihn ist keine Täuschung mehr. Was wir
Hoffnung nennen, Hoffnung auf bessere Zeiten, auf
glückliche Wendungen, auf Ziele und Erreichnisse
des Menschen, die das Unheil bannen, die Not wen-
den könnten, ist in ihm erloschen. Er weiß, daß
hinter solchen Hoffnungen keine Wahrheit steht. Er
weiß, daß über die Erde, über Kultur und Zivili-
sation das Zeichen des Unterganges geschrieben ist.
Gradaus in eine ferne Leere geht dief^er Blick — die
Menschheit in ihrem Greisenzustand, in sich selbst
versteinend, aus erstarrter Höhle mit dem Lichte
ihrer Augen scheinend, die da sagen, daß das Ende
nahe ist. Das ganze Weltgericht ersdieint in diesem
Antlitz.
Mich hat es nie so wie heute erschüttert. Was war
es nun mit meinem Satze: Augsburg ist, und weil es
wahrhaft ist, darum wird es auch bleiben? Dieser
Christoph ist am Ausgang des Mittelalters gemalt
worden, hingehaucht an diese Wand mit den letzten
sterbenden Atemzügen der Gotik, die sich in diesem
Greisengesicht einen ergreifenden Ausdruck geschaf-
fen hat, einen Ausdruck des Wissens, daß ihr Ende
gekommen ist. Wurde nicht um dieselbe Zeit das
Bildnis Burgkmairs und seiner Frau gemalt, wo ihnen,
da sie in den Spiegel blicken, zwei Totenköpfe ent-
gegengrinsen? Und hat nicht eben in dieser Zeit
Albrecht Dürer seine Apokalypse gezeichnet?
Aber der dürre Baum schlägt doch mit grünen Blät-
tern aus! Und der Riese trägt auf seinem Rücken
ein Kind. Zuhöchst im Bogen des Gewölbes oben
erscheint das liebliche Köpfchen eines Knaben, der
diesen zwölf Ellen hohen Mann unter das Wasser
Frühchristlicher Taiifbrunnen und frühmittelalterliche Taufkirche
Photo Stadt. Kunstsammlungen
m»mi0^'
Der Hl. Christophoms aus dem Dom
Photo Stadt. Kunstsammlungen
drücken, in den Tod hinabdrücken und in dieser
Taufe neu beleben wird. Der den ganzen Kosmos
durch den Tod ins Nichts hinunterbeugen und dann
im Innern neu erwecken wird. Dieses Kinderhaupt
ist, seltsam und wunderbar genug, mit schwarzen
Strahlen umgeben, gerade als wäre die Finsternis
sein Licht und als strahle er vom Glanz des Todes.
Idi sah dies alles an. Es war nur hingehaucht, es
war das letzte, verhallende Wort einer Zeit, die sidi
zum Sterben niederlegt. Aber dieses hingehauchte,
verhallende Wort, das bald nicht mehr gehört
wurde, über das sich dann die Tündie wie ein gelbes
Bartuch breitete, ist nicht erloschen. Es ist im Tode
gegenwärtig geblieben. Es schien untilgbar, man
mochte Schicht um Schicht darüberlegen, es durch-
setzte alle Schichten und schwebte plötzlich wieder
im Lichte vor unsern Augen her.
Nun glaubte ich den Sinn dieses Vorgangs zu ver-
stehen. Wie die Augen dieses Riesen sind mir heute
weit und geisterhaft die Augen aufgetan. Ihr Blick
durchschneidet allen Wahn. Wir können uns nidit
beschwichtigen und sagen: Die Vernichtung wird
nicht kommen. O nein! Der Baum wird abgehauen,
er ist schon abgehauen und verdorrt. Aber, so sagt
der große Christoph: auch aus einem dürren Baume
können Blätter sprießen. Auf den Schultern eines
todgeweihten Greises kann ein Kind erscheinen, ein
ewiges, göttliches, himmlisches Kind. Und um sein
Haupt wird dann selbst die Nacht des Unterganges
in Strahlen leuchten.
Ganz leise, nur wie hingehaucht, werden uns diese
ungeheuren Worte gesagt. Was sollen wir mit ihnen
anfangen? Es gibt nur zwei Wege: Entweder ver-
zweifeln oder an das Unglaubbire glauben.
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P ETE R DÖRFLER
Otabtluft mad)t fuei
Die nachstehende Crzählimg fiilli ein Kapitel in dem noch unveröffentlichten Rom.in .Der Urmeier", mit dem der am dem Allgäu
stammende und Augsburg eng -verbundene Dichter abermals seine hohe Aleistersdiafl auf dem Gebiete des historischen Romans beweist.
Das CesAehen spielt im achten Jahrhundert unter Karl Martelt, Karlmann und Pippin. Es geht dabei um die Gestalt-werdung des
Abendlandes, -wie sie sich um diese Zeit in vielsdiidnigen Prozessen religiöser, politischer und sozialer Natur vorbereitet.
Der Dorf- oder Urmeier entwächst einer Familiendynastie der Dorfsdiafl. Seine Würde -vererbt sich vom Vater auf den Sohn. Für
das Verständnis der Handlung ist vorauszusetzen, daß die Todner des Meiers Ccrmar von Bidingen im Allgäu den jungen Adaini,
einen Unfreien, hebt. Kletus, ein reid)er Kaufmannssohn aus Augsburg, hat um sie geworben. Er wurde, obwohl der Händler damals
noch als „unehrlid)" galt, nicht ohne weiteres abgewiesen, da Germar mit seiner Mutter Sulvana, einer Wa chin, früher sehr befreundet
-war. Nun wird auch Bidingen von der furditbaren europäischen Hungersnot des Jahres 764 heimgesudu, und aus Verant-wortung für
seine Mark fiihlt sidi der Meier Germar verpflichtet, die Werbung des jungen Kletus anzunehmen, um durch die Aug.'burger Kaufherren
das rettende Korn zu erhalten.
JC/S wurde März, die Kälte ließ nach, die Sonne
stand tagelang als freundliche aber leere Trösterin
am Himmel. Sie brachte die Hasel zum Stäuben.
Aber die Schneedecke rührte siich nicht. Ein un-
barmherziger Ost — der Baiuwarwind — blies sie
Tag und Nadit an. Aber man konnte jetzt wenij^-
stens die Wölfe verjagen, so daß sie die Gehöfte
mieden. Diese hatten nun freilich am Rotwild und
an den Sauen Nahrung genug, die fast alle, ge-
schwächt und krank, den in Rudeln jagenden Räu-
bern zum Opfer fielen. Die Männer gingen nun,
wenn einer nicht siech und in W.unden und Ge-
schwüren daheim lag, aus, um Fallen zu stellen und
noch Pelze zu erbeuten, ehe sie wieder wertlos wür-
den. Wie ein gemästetes Untier blieb der Winter in
den April hinein liegen, wie ein ungeheurer weißer
Drache gleißte das Gebirge fern im Süden hinge-
streckt unter dem blauen, stahlharten Himmel und
ließ sich die silberne Haut sonnen. Erst ganz all-
mählidi, als schon die Osterglocken klangen, zeigte
sich jener bläuliche Dunst über den Euchenwipfeln,
der das Schwellen der Säfte in den Knospen an-
kündigt. Es polterte endlich ein Ungetüm von Föhn
über die Berge herab und brüllte: Leben, neues
Leben!, schmolz den Schnee und machte die Eisdecke
fahl. Aber dann flockte wieder tagelang Neuschnee.
Der Winter hatte sich nur wie ein verschlafener
Faulpelz auf die andere Seite gelegt und schnarchte
wieder grausam lange Nächte und verklebte die
Knospen. Dann zogen sie aus überall dahin, wo
eine Quelle den gesegneten Mund aus der Tiefe
öffnete, und suchten Kresse und brachten sie den
Kranken, zogen weit und breit umher an den Süd-
rändern der Waldhänge, und wo sich an geschützten
Stellen Laub aufzurollen begann, streiften sie es ab
und brachten es dem Vieh und hackten es zu Brei,
sich zur Speise. Alte Mütter wußten das Geheimnis
der Zehrwurz, die ganz früh in geilen Stengeln
kommt; sie brieten sie und wandelten so das Gift-
kraut zu guter Nahrung. Dann kamen zarte Nes-
seln, der Gute Heinrich und der Rote Heinrich, und
heilten den Ekel vor allem Fleisch und den kranken
Quell des Blutes. Die Stare waren zurückgekehrt.
Die Lerchen kamen und sangen das Lied des Lebens
über der kahlen todtraurigen Flur. Wie alte zittrige
Mütterlein geleitete man das Vieh in den Buint, wo
ein grüner Hauch hinter den Hecken sich zeigte. Sie
schnoben gierig und bissen in Gras und Erde. Ein
kümmerlicher Rest kümmerlidien Viehs war gerettet.
Die Wintersaat sproßte. Das Feld lag geöffnet da,
aber weithin war die Flur erstickt wie ein Versdiüt-
teter, ausgewintert und verkommen. Die kahlen
Flächen, die Brachen lagen kläglich da und ver-
langten nach neuem Saatgut. Aber woher Samen
nehmen?
Schon in der Heriberga zu Füssen war Germar mit
Hramuth und Liauthari in Zwist geraten. Als diese
hörten, das Kloster habe das lombardische Getreide
seinen eigenen und Lehensleuten weitergegeben,
wollten beide auf der Stelle ihre Höfe dem Kloster
hingeben: das sei ohnehin schon auf jedem Feldzug
ihr Vorhaben gewesen. Was habe man von seiner
Freiheit? Die Last des Kriegsdienstes und die vielen
Dinggänge. Wenn man wieder daheim hodie, lasse
man sich freiwillig von einem dummen Stolz ver-
leiten, den Vorsatz der vernünftigen Stunde aufzu-
geben.
Darüber stritten sie nun, so oft sie zusammenkamen,
um einen Ausweg aus diesem Elend zu beraten; Hra-
muth sagte: „Die Großen haben immer Mittel und
Macht, einer Not zu begegnen. Sie haben Besitz in
allen Himmelsgegenden; irgendwo können sie also
Erztür vom Dom Photo Marburg
81
wohl schöpfen, und sie werden sorgen, daß keiner,
der zu ihnen gehört, verderben muß. Wer eine Kuh
melken wull, wird sie nicht hungern lassen. Wer zu
einem Starken gehört, hat selber Anteil an seiner
Stärke."
Aber Germar erwiderte ihm, was er jedem entgegen-
hielt, der ihn in dieser Sache anging: „Wer die
Macht hat, schafft das Recht. Verliert der Bauer das
Ding, dann wächst das Gesetz gegen ihn. Braucht
dich der König nicht mehr für seine Kriege, dann
belohnt er seine Krieger mit dir. Ohne Schwert —
ohne Mund. Schon macht nicht mehr allein die Ge-
burt den freien Mann, nicht mehr ererbter Grund
\
entgegen: „Also du, eben jetzt hast du Gelegenheit
zu zeigen, wie stark der Bauer aus sich selber ist.
Wir Bauern sollen zusammenstehen. Gut! Wir
stehen zusammen. Wir warten nur auf dich."
Sie konnten nacht wissen, wie tief ihn ihr Hohn
verwundete. Denn wohl konnte er zu Saatkorn
kommen, aber dann mußte er seine Tochter opfern.
Sooft er auf diesen Entschluß zuging, schauderte er
zaarück und ließ sich wieder von der inneren Stimme
geißeln: Du bist ein schlechter Meier. Du machst
von deinen Rechten einen starken Gebrauch, aber
nicht von deinen Pflichten. Am Sonntag im ßetbur
hatte er von einem biblischen Kämpen gehört, der
und Boden den freien Adel, sondern der mit der
Waffe geleistete Dienst. Das muß so enden, daß die
Mächtigen die fürten sind, der Bauer das Vieh. Ihr
habt doch gesehen, daß es drüben in Franken und
Burgund schon weithin so ist. Seht, das ist die
Schlange im Garten des Bauern, die sagt: Vertraue
mir dein Schwert, und ich werde es für dich führen!
Was willst du tun, wenn er es nimmt und auf dich
einsdilägt, wie dein letztes Recht wahren, wenn du
machtlos bist?"
Schließlich hielten die Magen dem Meier mit Grimm
für den Sieg seines Volkes das Erste, was ihm bei
der Heimkehr begegnen würde, zu opfern versprach,
und es war dann seine Tochter. Er mußte sie auf
den Brandopferaltar legen wie ein Lamm. Wer so
gesinnt ist, verdient, Führer und Hauptmann zu
sein.
Kuna aber soll keineswegs auf den Opferaltar, son-
dern Frau eines schönen reichen Mannes werden,
der nur den einen Fehler hat, daß er fremden Blutes
ist. Freilich, er ist Händler, und auch das ist ein
Makel, für Unehren gilt dies Gewerbe, das er treibt,
82
wenigstens immer noch bei uns. Bido wird aus
seinem Hügel auffahren, wenn der Nachfahre so
etwas tut; aber wird er nicht auch auffahren und
den Nachkommen verachten, wenn tlieser den Krieg
gegen die Not der Mark verliert?
Er wußte, daß Lucius in Augsburg großen Besitz
hatte, und daß die Familie viele Schätze an Waren
nach dem festen Augsburg geflüchtet hatte. Auch das
konnte er in Escongau erfahren, daß der Kaufmann
das Kommende nicht weniger klug vorausgesehen
hatte wie das Kloster. Er hatte bis zum letzten
Augenblidi, solange die Pässe offen lagen, Korn über
die Berge geschafft, obwohl doch die Stadt selbst
mitten im Kornland lag.
Als die Pferde auf der Weide aus taumelnden Ge-
spenstern wieder zu Tieren wurden, die einen guten
Schritt gehen, ja laufen konnten, wurde Germ.ir
der Anblick der vielen Brachfelder unerträglich.
Wofür hatte man gerodet? Soll man alles wieder
der Wildnis und den Trollen überlassen?
öfter als je in den vergangenen Jahren dachte er an
Sulvana, und wie sie ihn köstlicher gedünkt hatte
als alle Mädchen seines Stammes. Wie quick und
klug und völlig Anmut! Und sie kann doch diese
Täler hier oben seit uralten Zeiten Heimat ihrer
Sippe nennen. Kein Sklavenblut ist in ihr.
Er sah Kuna mit der Mutter zusammen bei der Ar-
beit, immer ernsthaft, ihr Gang vergleichbar dem
eines edlen Jünglings, der auf der spröden Weide
das wunderschöne Spiel sehniger Glieder gelernt
hat. Sie ist nun eine Jungfrau, die man wohl in
die Ehe geben könnte. Es hat der Strenge dieser
Mutter nicht bedurft, um sie tüchtig in allen Quena-
pflichten zu machen, nie des Antriebes, sie hat alles
mit Begier ergriffen wie die Burschen das Waffen-
werk. Herilo sagt: Wäre sie am Hoflager, so könnte
sie Karol und Karlmann, den Königssöhnen, gefähr-
lich sein, die so gute Augen für Frauenschönheit
haben. Er ist der Meinung, keiner der Söhne könne
mir so viel Hoffnung geben, in eine edle Sippe hin-
einzukommen, wie sie. Was wird er sagen, wenn
ich tue, was ich vorhabe? Aber wie kann man jetzt,
wo der Hunger umgeht und ?lles Volk in diesen
einen Krieg zwingt, an solche Hoffart denken? He-
rnlo — was für ein Glück hat ihm seine Großmanns-
sucht gebracht? Er war ihnen doch nur der nach-
geborene Bauernsohn, der Abenteurer, und sie haben
ihn betrogen. An was denkt Kuna? Sie scheint viel
zu denken, aber sicher nur an Macht und Glanz.
Denn sie ist Reginalds Liebling, und Reginald ist
schon jetzt ganz anders, ehrgeiziger, als er selber
es je gewesen ist.
„Was sollen wir denn mit unserem Feld machen?"
fragten ihn die Magen, sooft er sie traf. Als ob er
einen Samen vom blauen Himmel kratzen könnte.
Kuna war nicht zärtlidi zu ihm. Aber sie fand
hundert Gelegenheiten, ihm unvermerkt einen klei-
nen Dienst zu erweisen, einen geheimen Wunsch
zu erraten. Sie fragte nidit nach seinem Kummer,
aber sie suchte ihn zu trösten. Scliier bösartig schien
es ihm, ihr nun so zu danken. Aber die Zeit
drängte. Schon erwachte altes Gelüste in der Jugend,
das Gold von Byzanz kam wie ein lod^ender Schatz
aus der Tiefe, Gesänge, die vergessen schienen,
wachten wieder auf. Verwünscht wurden die Ro-
dungen. Gerächt hätten sich die vertriebenen Eiben.
Keiner der byzantinischen Söldner war je zurück-
gekehrt, um so glänzender ließ sich ihr Los um-
träumen.
„Kuna, nun setze dich zu mir. Das Gewaffen ist
fertig geputzt und gefettet. Ich habe dir etwas zu
sagen."
Sie befanden sich in dem Waffenspeicher, dessen
offene Tür Licht spendete.
Gehorsam setzte sich Kuna und schaute ihn mit ver-
trauensvollen Augen an.
„Ich will dich in diesen Tagen versprechen. Es ist
Zeit, daß du einen Mann bekommst. Wer weiß, ob
ich im kommenden Jahr noch für dich sorgen kann.
Ich habe mich darum entschlossen, dich einem mäch-
tigen und reichen Mann zu geben, bei dem du nie-
mals Not leiden mußt. Er hat um dich geworben.
Kletus, des Lucius und der Sulvana Sohn. Du ahnst
wohl nicht, wie reich ihre Häuser sind. Er könnte
dich in Seide und Gold kleiden."
Er sah, wie sie erblaßte, ihre Augen bekamen einen
dunklen, feuchten Glanz, die Nasenflügel bebten.
Zugleich aber kam ein Zug von Härte und Ent-
schlossenheit in ihr Gesicht, der sie ihrer Mutter
ähnlicher machte als sonst.
Sie schwieg, schüttelte aber ganz leise, aus unbeug-
samer Entschlossenheit den Kopf. Nun oft'enbarte
er ihr seine Not und Hoffnung: in Augsburg, der
Stadt, die wie eine weitläufige Burg sei und darauf
vorbereitet, von den avarischen Hunnen eingeschlos-
sen zu werden, liege in weiten Speichern Korn für
den Fall der Belagerung. Der Familie des Lucius
sei die Lieferung anvertraut. „Und nun, denke,
durch seine Freundschaft könnten wir Saatkorn be-
kommen. Hungern doch sogar unsere Felder, und
wie werden wir hungern müssen, wenn wir nicht
auswandern wollen!"
Nun sagte sie hart, empört: „Also, ich ;oll geopfert
werden!" Er hielt ihrem zornigen Blick stand und
sagte endlich weich und leis: „Geopfert, Kuna, für
uns alle, dann, wenn es wirklich so ist, daß Kletus
dir nicht gefallen kann und daß es dir widerwärtig
ist, in ein Stadthaus zu kommen, obwohl ... sie
83
haben auch Landhäuser, und dein Leben wäre um
vieles ajigenehmer, als wenn du selbst einen Grafen
heiraten könntest. Auch ist Kletus ein sdiöner und
guter Mann, wie du weißt, seine Mutter würde dich
lieben wohl wie deine eigene Mutter."
Nun sah er, wie sie mit sich rang, rot und blaß
wurde und auf ihrer Oberlippe Perlen erschienen.
Ihr ganzer Leib bebte, ihre Augen starrten. Er sah,
daß sie hart um einen Entschluß rang, konnte aber
nicht wissen, daß sie bis zur Ohnmadit mit einem
Satz rang: „Ich habe mich schon versprochen!" —
sollte sie ihn hinausschreien und damit ihren un-
weigerlichen Entschluß, willens, ihm in den Tod
treu zu bleiben? Aber der Vater hatte aus wunder,
aus einer wahrhaft liebenden Seele dies furchtbare
Wort gesagt: Geopfert. Sie begriff, daß der Meier
den Vater überrarmt hatte, daß ihr Opfer auch das
seine war, das er sich schwer abgerungen hatte, ob-
wohl er die Vorteile dieser Heirat so beredt auf-
zählte. Sollte es denn wirklich so sein, daß sie die
Retterin der Magenschaft werden konnte? Sie sollte
wie Frau Holla den Samen bringen, wenn alle ver-
zweifelt Himmel und Erde absuchten: Muß nidn
der Krieger sein Leben gegen den Drachen ein-
84
Sie stieß hervor: „Ich mag ihn nicht, den Händler."
Sie sagte nicht, den Walchen, denn auch Adalnis
Mutter war eine Walchin.
„Ich hätte mich lieber in den Lachssee geworfen als
ihn geheiratet. Aber wenn ich mit meiner Heirat
Korn kaufen kann, mag er midi haben . . . wenn er
mich will. Wenn idi ihn auch lieber erwürgen als
ihm die Brautnacht schenken möchte."
Dieses Wort hatte Germar nicht erwartet. Wohl
Tränen und einen stillen Kummer. Aber nun dies"S
ingrimmige Auftrotzen! Diese ingrimmige Bereit-
schaft wie zu einem Kampf auf Leben und Tod!
Er erwiderte mit Unwillen: „Du verstehst mich
falsch, Kuna, so ist es nicht, daß Kletus dich kaufen,
dich wider Willen zwingen möchte. Nein, er hat
nach Recht und Sitte vor dieser Not um dich gewor-
ben, sich bereit erklärt, auf dich zu warten, bis du
dem Vaterwillen den eigenen beugtest. Und es ist
auch nicht so, daß wir dich wiie ein willenloses
Schlachtopfer nötigen möchten. Nein, lieber gehen
wir zugrunde, als daß wir didi mit Gewalt in ein
widerwärtiges Ehebett zwingen wollten. Obzwar . . .
du wirst wohl wissen, daß der Vater das Recht und
die Gewalt hat, dir den Gemahl auszuwählen. Ich
möchte auch dem Kletus nicht eine Braut am Strick
z.uführen. Denn er verlangt nach dir aus Liebe.
Einen großen Brautschatz kann er ja von einem
Bauern nicht erwarten, zumal in solchen Zeiten."
Kuna senkte den Kopf wie ein gesdioltenes Kind. Leise,
aber sehr bestimmt sagte sie: „Mein Vater soll meinet-
wegen nicht traurig sein. Ich will versuchen, seinen
Willen als Gottes Willen hinzunehmen."
Die Mutter wünsdite diese Heirat schon darum
nicht, weil sie einen Verkehr mit Sulvana erneuern
mußte, aber da sie sich mit eisernem Willen vor-
genommen harte, nie mehr auch nur den Anschein
von Eifersucht oder Abneigung zu erwecken, so
fügte sie sich mit erzwungener Gelassenheit.
Es wurde beschlossen, daß Kuna nach Augsburg mit-
fahren sollte, damit sie nicht nur den Mann, sondern
auch seinen Besitz kennen lerne, ehe sie dem Willen
des Vaters das letzte und entscheidende Ja sagte.
In diesen Zeiten verließen viele arme Menschen die
Hütten, in denen sogar die Mäuse hungerten, und
begaben sich auf die großen Straßen. Sie schlössen
sich zu Banden zusammen und überfielen Gehöfte
und Wanderer. Es war dai-oim notwendig, sich vor-
zusehen und in guter Bedeckung zu reisen. Der
Meier nahm den Kriegswagen mit, Hramuth und
Liauthari, dazu Adalni und zwei starke Knechte.
Die Männer ritten auf den noch brauchbaren Pfe.'-
den. Einer der Knechte lenkte den Wagen, in dem
Kuna saß, still und verschleiert, in einen Schaffell-
mantel gehüllt. Ihre guten Kleider lagen in einer
Truhe des Wagens geborgen. Die Magen hatten
allen Gold- und Silberschmudi, den sie ererbt oder
erworben hatten, zum Getreidekauf zusammen-
geschossen. Die Hodistraße lief unweit von der
Lechschlucht hin, in einem einförmigen, kaum be-
wohnten Tal, das sich schließHdi zu einer öden
Steppe ausweitete. Streckenweise wurden sie von
Wölfen verfolgt, dann wieder wollten sich Begleiter
aufdrängen, denen man mißtrauen mußte. Sie bet-
telten und suchten schließlich zu stehlen. Als man
sie vertrieb, zogen sie mit wilden Drohungen ab.
Bisweilen rauschte ein Regen- oder Graupenschauer
auf sie nieder. Dann wieder stiegen Lerchen jubelnd
zum blauen Himmel und den flockig weißen Wolken.
Meist aber hörten sie keinen anderen Laut als das
Gekrächze von Rabenschwärmcn und den Schrei
jagender Fischreiher.
Als sie unfern der Stadt ajn Gehöfte und Dörfer her-
ankamen, sahen sie Weiber, die aus hochgebauschten
Tüchern säten. Aber immer standen Männer be-
waffnet bei ihnen, während andere ein nahes Ge-
büsch bewachten.
Germar, der vorausritt, war eigentlich ein wenig
verläßlicher Späher. Immer wieder überdachte er,
wie er sich verhalten sollte. In Escongau hatte er
erfahren, wie er in Augsburg nach Lucius fragen
müsse. Er hielt es für unehrenhaft, die Kaufleute
um Korn anzugehen, wenn er sie durch Verweige-
rung der gewünschten Braut kränkte. Kletus würde
sich begreiflicherweise verschließen und Ihn vielleicht
gar mit Hohn wegschicken. Gleichwohl suchte er
immerzu nach einem Weg, wie er Kuna ganz aus
diesem Handel lösen könne. Schließlich kam er ja
nicht, Korn zu betteln, sondern konnte bezahlen.
Auch gab es wohl noch andere Kaufleute, an die er
sich wenden konnte.
Für Kuna war es die größte Qual, daß Adaini
ahnungslos mit auf dieser Fahrt war. Er durfte
reiten und war darum frohen Mutes. Zur Zeit der
Rast führte er die Pferde gegen den Ledi hinab,
weil das steinige Feld um die Hochstraße noch Lm
grauen Winterwasen dalag. Er zeigte dabei wieder
seine verläßliche Art; geistesgegenwärtig, rasch von
Entschluß, war er einer Gefahr schon begegnet, ehe
andere sie entdeckt hatten. Unbefangen lachte er
Kuna an, immer im Glauben, sie sei aus Furdit und
schon aus Heimweh so starr und versiegelt. Gleich-
wohl versank auch er bisweilen in die Schwermut
dieser öden Gegend, denn er rang mit dem Ent-
schluß, von Bidingen loszukommen. Er besaß wohl
die freie Hube. Aber sollte er nun zum Danke für
die Freilassung nach der Tochter seines Wohltäters
greifen? Nie würde dieses heimlidie Verlöbnis gut
enden. Wie wäre es, wenn er in Augsburg sein
35
Gütchen verkaufen würde und sich in den Dienst
des Lucius stellte, der auch um ihn schon geworben
hatte? Denn er brauchte unersdirodcene, wendige
Burschen, denen er seine "Warenzüge anvertrauen
konnte. Kuna ist jung. Wenn sie einmal so reif
ist, daß sie weiß, wer sie und wer er ist, wird sie
sich nach ihrem Stande und ihrer Sippe entscheiden.
Er selber genießt beim Meier und bei der Quena
alle Ehren, aber nur so lange — das ist gewiß — als
er innerhalb seiner Grenzen bleibt. Wer Schalk ge-
wesen ist, bleibt als Schalk gezeichnet; kein Wohl-
wollen wischt es ab. Dazu kommt, daß Kuna die
Schönste, man sagt, im ganzen Geltengau ist. Und
Reginald steht vor ihr mit seinjem harten Stolz.
Wenn nun gar ein Freigelassener die Frechheit
haben sollte . . . sie würden über ihn herfallen, die
Jungen der ganzen Mark.
Freilich, wäre er freigeboren, so getraute er sich
wohl zu, auf andere Weise über seine Armut hin-
auszuwachsen. Er hatte auf den Kriegszügen die
Augen aufgehabt und gesehen, wie die Reiter der
Bischöfe, großer Äbte und des großen Adels durch
ihre Dienste zu reichen Lehen kamen, wenn sie
ihren Mann stellen und auch den Kopf als Faust zu
gebrauchen wissen. So aber bliebe ihm nichts übrig,
wollte er zu Kuna kommen, als mit ihr heimlich ins
Weite zu gehen, also sie und sich zu ächten. Sie
wäre vielleicht bereit, dieses alles auf sidi zu neh-
men. Aber wohin fliehen? Ins Abenteuer, ins Elend
vielleicht, und wie sollte er sich eine solche Lum-
perei verzeihen?
Es durfte nur ein Mann mit einem Knedit in die
vorsichtig bewachte Stadt hineingehen, und auch
diese mußten die Waffen bis auf das Schwert ab-
legen. Innerhalb der Mauern gab es wieder einen
bischöflichen, einen klösterlichen und einen gräf-
lichen Bezirk, von denen jeder durch eigene Dienst-
leute gesichert wurde. Germar schritt neben Kuna,
Adaini hinter sich, mit Kriegerschritt, stolz und frei,
wie sie es in den Städten des westlichen Franken
recht mit Nachdruck getan hatten, zwischen dem
huschelnden städtischen Volk und den vielen Bauern
dahin, die ein Markt hergelockt hatte. Ein gemie-
teter Bursche zeigte ihnen den Weg zu Lucius, den
sie im Kaufgewölbe antrafen. Germar sah sofort,
daß er verlegen war. Er schützte Eile vor und ent-
schuldigte sich; er müsse zu seinen Brennöfen vor
die Stadt. Getreide — da müsse er sich an seinen
Bruder Cambos wenden, aber er glaube nicht, daß
noch etwas zu machen sei. Die Stadt habe die Aus-
fuhr untersagt, da ja vor der neuen Ernte keine Lie-
ferungen zu erwarten seien. Im getreidereichen
Donaugebiet seien die avarischen Hunnen einge-
fallen. Aber vielleicht könne Cambos etwas zusam-
menkratzen aus alter Freundschaft. Kletus sei übri-
gens nach Baiiuwarien hinüber, wo Herzog Thasälo
gegen den Hunger statt gegen idgendwelche Feinde
rechtzeitig angetreten sei. Dort könne man vielleicht
noch etwas holen, wenn man die Kosten nicht scheue.
Im übrigen verwies er sie an Sulvana; sie sei draus-
sen beim Santuario der heiligen Afra, wo sie einen
Kaufstand beaufsichtige. „Einstweilen laßt euch in
der Gaststube bedienen, ich werde Auftrag geben,
daß alles nach euren Wünschen geschieht."
Germar merkte, daß etwas nicht in Ordnung sei.
Lucius benahm sich anders wie sonst, so als ob er
sich schäme und nur vorhabe, sie zu beschwichtigen.
Sollte er sie wirklich mit leeren Händen heim-
schicken? Sie wurden aber in der weiten und gut
ausgestatteten Stube mit Auszeichnung bewirtet.
Nicht lange, nachdem sie sich umgezogen und ihren
Hunger gesättigt hatten und nun den Umtrieb mit
Kisten und Fässern aller Art im Hofraum zu be-
obachten begannen, kam Sulvana dahergeschnauft.
Und nun war es, als seien sie ihr wie lang ersehnte
Gäste gekommen. Sulvana war ganz Bewegung und
Freude. Sie schaute zu Germar auf und kam mit
ihren Blicken nicht von ihm los, indem sie in Aus-
rufe des Bedauerns und der Klage über seine Ver-
unstaltung und Hagerkeit ausbrach.
Endlich wandte sie sich Kuna zu und küßte sie auf
beide Wangen, wobei sie sich auf die Zehenspitzen
stellen mußte.
„Du bist also die Tochter! Eine solch stattliche
Tochter hast du, Germar! Ich habe es mir ja denken
können. Aber gleichwohl, eine solche Wohlgestalt
habe ich mir nicht vorgestellt. Laß dich nochmals
umfangen. Tochter! Mein Herz liebt dich schon
lange, und wir werden jetzt ganz große Freunde
sein. Du fremdest noch, wie könnte es anders sein,
und traurig bist du? Hat euch mein Lucius nicht
gut aufgenommen? Hat er schon mit euch ge-
sprochen? Ihr habt einen bösen Winter hinter euch.
Wir leben in einer Zeit wie vor dem Ende der
Zeiten, und es steht so, daß nicht alle sich auf das
Gericht vorbereiten. Aber ich rede und rede — ver-
zeiht meinen Überschwang! Ihr müßt mit mär nach
oben kommen. Euer Begleiter kann in ciie Gesinde-
stube gehen; ich ordne alles an, und dann mag er
sich den Tag in der Stadt vertreiben. Ich muß euch
allein haben."
Germar sagte, er möge nicht an weitere Gastfreund-
schaft denken, bevor er wisse, ob er Saatgut be-
komme, denn dazu sei er hier, und davon hänge
Gedeih oder Verderb seiner Markgenossen ab.
Lucius habe ihnen schlechte Aussichten gemacht.
„Hat er? Oh, das tut er immer!" rief sie aus. „Er
gehört auch zu den Kaufleuten, die nicht an das
86
Ende denken, sondern die Not zum großen Gesdiäfte
machen. Aber ich weiß, daß sie Vorräte bergen, sie
sind es ja gewohnt, kommende Zeiten zu wittern
und sich einzurichten. Sie haben sich eingerichtet, er
wie Cambos."
Als sie oben waren, in einer Stube, die mit Estridi-
und Wandteppichen geschmückt war und mit wun-
derbar bemalten Prunkkrügen, umarmte sie noch-
mals Kuna unter Tränen und sagte: „Ach jetzt, da
ich didi von Angesicht zu Angesicht sehe, zerreißt
es mir erst das Herz, daß mein Sohn dich nicht
haben darf. Er hat sich dem Vater beugen müssen,
der ihm schon seit langem eine Braut ausgewählt
hat, eine aus unserem Stamme und eine Erbtochter
mit reicher Verwandtschaft. Wenn Lucius einmal
etwas will und er sieht ein Geschäft, dann ist er
Wolf und das andere Lamm. Er würde midi jetzt
auch nicht mehr nehmen. Damals war er selber noch
ein kleiner Mann."
Sie merkte in ihrem Überschwang gar nicht, wie di'.'
Gesichter der Gäste sich entspannten und auf-
heiterten, und fuhr fort zu ermuntern: „Nein, du
mußt nicht traurig sein, du stolze Waldblume, du
würdest dach schwer in die Stadt, in das Getriebe
des Geschäftes und in die fremde Sippe einfügen.
Wir sprechen unter uns immer noch romanisch, sieli,
und unsere Verwandten fühlen sich in aller Heim-
lichkeit noch über uns erhaben. Du hättest sehr ge-
litten, du müßtest mehr als nur unsere Sprache
lernen."
Wenn ein schweres Gewitter den ganzen Himmel
wie mit einer ehernen Mauer eingedeckt hat und
nun brechen plötzlich diese düsteren Wände und
der blaue Himmel lacht wieder und die Sonne, als
hätte sie unterdessen ihr Feuer aufgestaut, gießt eine
wonnevolle Fülle von Licht und leuchtenden Farben
auf alle Kreatur: so strahlte Kuna, so jubelte ihr
Herz, so wich alle Schwere von ihr, und nicht viel
anders sah Germar aus.
Sulvana hatte bereits Cambos herbestellt. Er kam
und sah noch härter aus als der Bruder, hager, ab-
getrieben, klein, aber breitschultrig und stachel-
haarig. Er kam lachend herein. Sulvana begrüßte
ihn mit den Worten: „Dies hier sind meine Freunde,
der Meier Germar, du weißt also, mein Lebensretter;
und du hast ihnen Saatkorn zu liefern."
Er hörte auf zu lächeln und blickte sie mit seinen
listigen, dunklen Augen wie entsetzt an. „Schwä-
gerin, deine Freunde in Ehren, aber du weißt von
dem Verbot, du weißt außerdem . . ."
„Ich weiß, daß ihr noch über freies Getreide ver-
fügt, ihr wollt nur auf höhere Preise warten. Also,
Sdiwager, dies eine Mal mußt du mir einen Gefallen
erweisen, Lucius und ich haben diesen Freunden
noch manche Schuld abzutragen. Sie sind dodi auch
Kunden seit Jahren, verstehst du! Sic müssen be-
kommen, was sie verlangen, Gerste, Haber, Bohnen,
l!rbsen, Roggen, Feesen. Sie wollen es ja nicht
betteln . . . jedoch auch keine Wucherpreise zahlen
. . . vergiß nie — Freunde. Freunde per carita de
Dei!"
Der Kaufmann hob bedenklich die Schultern und
schien abzulehnen. Aber da schrie ihn Sulvana an:
„Schwager, sollen wir weiter verwandt sein . . .
diesen Leuten wird anständig, wird wie unter Brü-
dern geholfen, capito?"
Jetzt erst sah Kuna, wie schön Sulvana immer noch
war, wie wunderschön sie einmal gewesen sein
mußte, als ihr reiches, schweres Haar nodi ganz
dunkel, ihr zart ovales Gesicht noch ganz glatt und
samten gewesen war; noch hatte sie die zierlichen
Zähne makellos, und unter den weitgeschwungenen
Brauen diese großen, dunklen Nornenaugen, die
jetzt sprühten.
„Buene, buene", beschwichtigte Cambos, aber er
schien den Anblick ihres Zornes wie ein geliebtes
Spiel zu genießen.
Auf einmal wandte er sich lachend an Germar:
„Sage, Meier, wer könnte wagen, einer solchen Ge-
bieterin zu widerstehen? Unsere Sulvana ist die
Sanfteste, Frömmste und Gütigöte in unserer ganzen
Verw^andtschaft, aber man muß ihr den Willen
lassen. Und was sie sich in den Kopf gesetzt hat . . .
mag die Stadt hungern, der arme Cambos straffällig
werden, ihr Freund muß sein Sa.ttgut haben."
„Ja", rief sie aus, „er muß es haben!" und sie um-
armte und küßte ihn auf die beiden borstigen
Wangen. „Und das sage ich dir", fügte sie noch
hinzu, „ohne Wucher! Beim Feilschen um den Preis
werde ich zugegen sein!"
Danadi wurden Hramuth und Liauthari in die Stadt
geholt, Pferde und Wagen in einen Schuppen des
Lucius gebracht und auf der Stelle mit Auslesen
und Abwägen der Ware begonnen, in aller Heim-
lichkeit, obwohl noch viele Vorräte vorhanden
waren. Was die Krieger im Langobardenland und
bei den Aquitaniern an Schmuck und Gold erbeutet
hatten, ging in die Hände des K.iufmanns über,
auch aller Schmuck der Frauen, dazu Pelze. Es war
ein hartes Feilschen, mochte Sulvana auch fauchen
oder ihre anmutigsten Scherzreden sprühen.
Inzwischen hatten Hramuth und Liauthari vor der
Stadt allerlei Wichtiges aufgefangen. Da waren
Bauern von weither gekommen, um dem Bischof ihre
Höfe anzubieten und sich von Kriegs- und Dinglast
zu lösen. Andere wollten lieber dem Afrakloster
das Geschenk ihrer Freiheit anvertrauen; wieder an-
dere waren gesonnen, das Heil ihrer Seelen durch
87
eine völlige Hingabe ihres Besatzes zu sidiern, denn
das Ende der Welt stehe ohnehin nahe bevor —
was nütze da aller Welt Zier! Eine Seherin habe
verkündet, statt der Ostersonne werde das nächste
Mal Christus mit seinen Engeln zum Gerichte er-
scheinen. Hramuth und besonders Liauthard fürch-
teten, gegen die Baiuwaren marschieren zu müssen,
denn Herislis hat Herzog Thassilo begangen, und
dei König wird ihn dafür mit Krieg überziehen,
sobald er in Aquitanien frei ist. Wie sie nun so
dahinschritten, besprachen sie ihre Absichten, sich
dem Bischof hinzugeben, mit Germar. Der Meier
schwieg. Auf einmal sagte er: „Schaut euch doch
um!" Sie gingen an Herbergen vorbei, an Waren-
gewölben und kamen auf den Markt. Die Magen
sagten: „Wohl haben wir die Augen offen." „Seht
ihr denn nichts? Seht ihr diese Bauern hier nicht?"
„Wir sehen sie, was meinst du, Germar?" Er schüt-
telte nur den Kopf. Sie gingen weiter, schweigsam,
ja schließlich ganz in sich versunken. Germar düster,
ganz Neugier und lautes Staunen die Magen. Es
kamen Reiter daher, denen das Volk wie großen
Herren auswich, und doch waren sie nur Dienstleiute
des Grafen oder des Bischofs. Germar und seine Be-
gleiter schritten stolz und wuchtig dahin, wichen
auis oder ließen sich ausweichen, wie es Recht und
Brauch unter Kriegern war. Wollte einer der jungen
Burschen keck werden, dann spreizte Germar die
Beine und schrie ihn an, die Hand am Schwertgriff.
Aber sie wurden wenig belästigt.
„Hast du einen Kummer?" fragten die Magen. „Ja!
Und ihr nicht?"
Da traf es sich, daß gräfliche Reiter daherkamen,
und ein Bauer, ein Mann von riesigem Körperbau,
aber statt mit der Waife nur mit einem Stock be-
wehrt, in seinem Staunen auszuweichen vergaß.
Schon hatte er einen Hieb mit der Reitpeitsche im
Gesicht und duckte sich, zwar Grirrmi in den Augen,
aber stumm und verdemütigt zur Seite. Da wandte
sich Germar an die Begleiter: „Habt ihr es gesehen?
Das ist mein Kummer. Wie hündisch sie sind, die
Waffenlosen, wie scheu und schalkhaft, die nie mehr
aus ihrem Winkel in die weite Welt kommen. So wird
euch geschehen, wenn ihr die Freiheit verkauft."
Sie hatten vor, am anderen Morgen so schnell wie
möglich zu ihren lechzenden Saatfeldern zurückzu-
kehren. Aber Lucius bat sie, noch einen Tag zu
warten, da er sich ihnen mit einem Warenzug ins
Oberland anschließen wollte — sie wären dann
einer durch den andern gesichert, — und Sulvana
redete ihnen zu, das Fest zu Ehren der Martyrin
Afra nicht zu versäumen. Es wäre doch Sünde, die
Stadt zu verlassen, ohne ihr Grab und Heiligtum
verehrt zu haben, zu der Wallfahrer aus der halben
christlichen Welt pilgerten. Sie sei eine große
Patronin aller Bedrängten. „Ihr werdet Augen
machen! Das Sanctuarium ist wie eine Schatzkam-
mer des Himmels. Der Bischof wird morgen eine
hohe Messe am Altar der Heiligen feiern."
So blieben denn die Bidinger in dem Stadthaus,
das ihnen allerdings wie ein schöner Käfig vorkam.
Kuna ging, Müdigkeit vorschützend, bald zu Bette,
aber die drei Männer blieben noch lange in der
schönen Stmbe bei einem reichlichen Mahl und treff-
lichem Lombardenwein sitzen. Lucius hatte sich end-
lich auch eingefunden. Er war durch seine Frau da-
von verständigt, daß die Bidinger in keiner Weise
auf die Werbung des Kletus zurückkommen wollten,
und hatte darum eine gute Laune mitgebracht.
Buchenklötze glimmten im Kainin, so daß den
Baaiern, die solches oim diese Jahreszeit nicht ge-
wöhnt waren, bald warm wurde. Sie bestaunten am
meisten die ÖUämpchen, die an ästigen Bronzestän-
dern hingen und wie flammende Blumen aussahen.
Lucius war offenbar sehr ungehalten auf den Baiu-
warenherzog, der durch seine Herislis einen neuen
Krieg heraufbeschworen habe. „Wieder einmal wird
das Südland diesseits und jenseits der Alpen in
Brand gesetzt werden. Die Herzöge — es ist über-
all gleich — " schalt er, „sie möchten alle selber
König spielen. Der Baiuware wird gar von seinen
Bischöfen gestützt, weil auch sie mit einer baiuwa-
rischen Kirchenhoheit zu steigen meinen. Aber sie
werden es noch erleben, daß kleine Herren strenger
regieren als große. Ich habe ja all diese Dinge m
Italien verfolgen können. Immer, wenn Ordnung
war, wenn ein König daran war, ganz Italien zu
einen, dann sind die Herzöge aufgestanden und
haben das gute Gewebe wieder verstückelt, alles
unter dem schönen Namen Freiheit. Aber der Frei-
heitswahn ist es, der den Untergang der Freiheit
bringt. Das scheint Schicksal zu sein. Wieviel Blut
fließt doch, um die einigende Macht machtlos zu
machen!"
Auch Sulvana hatte ihrem Mann aufmerksam zu-
gehört. Nun lächelte sie und sagte mit ÜTrer sanften,
klingenden Stimme: „Wärest du Krieger, Lucius, so
hättest du zu dieser Weisheit nicht gefunden. Du
bist Kaufmann und kannst nur im Frieden gedeihen.
Aber bedenke, was haben die Dichter und Sänger
aller Völker besungen, den Krieger oder den Kauf-
mann? Obwohl doch auch der Kaufmann viele Ge-
fahren bestehen muß und sein ganzes Handeln von
Wagnis begleitet ist. Die Tapferkeit im Kriege wird
besungen."
„Möge sie besungen werden!" fuhr ihr Lucius un-
wirsch in die Rede, „ich mißgönne es ihr nicht, und
möge sie im Dienste des Friedens und der Ordnung
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sich mit Ruhm bedecken. Aber Tapferkcjt als
Händelstifterin, die nidits kann und will und achtet
als Kampf und Fehde — sage, was du willst, ist
Tugend, die der Teufel besingen möge, denn sie ist
seine Tugend."
In Augsburg, noch mehr als in Eptatikus, ging ;s
Germar auf, was für ein ansehnlicher Mann der
kleine, wendige Lucius war, imd wie scliarf er
dachte und urteilt«. Wenn seine dunkelbraunen
Augen in dem rundlichen Gesicht zu leuchten be-
gannen und die gebogene Nase unter der vor-
gewölbten Stirn wie ein Schnabel hin und her
zuckte, während der dünnlippige Mund wie aditlos
reiche Erfahrung kundtat, dann konnte man die
schlecht gewachsene Figur vergessen.
Das geräumige Haus mit Lagerschuppen, Speiche.'n
und Kellern war mit Waren gefüllt, die Wohn-
räume — so dünkte es den Bauern — fürstlich.
Gold- und Silbersdimuck — kostbare langobardischc
Arbeil — lagen in schweren Truhen geborgen. Sul-
vana wies noch am Abend und dann am folgenden
Morgen das alles vor, wie es schien keineswegs, weil
sie stolz darauf war oder Freude an ihren Reich-
tümern hatte, sondern weil sie es für eine Pflicht
der Gastfreundschaft hielt. Wenn Germar eine Fibel
oder Spange besonders bewunderte, dann sagte sie
sofort: „Oh, wenn es dir gefällt, dann nimm es
mit — ich danke dir ja alles", so daß er sich hütete,
ihr sein Wohlgefallen wie ein Begehren zu äußern.
Sulvana selbst trug sich ganz einfach, ja fast nach-
lässig, und sie gestand, daß Lucius sie deswegen oft
tadelte. Um das Geschäft selbst kümmerte sie sich
offenbar wenig, das war ganz Sache des Mannes.
Sie lebte erst auf, wenn von Hirschgley die Rede
war. In der Heimat, am Fuße der Berge, bei den
Bienen, Ziegen, beim Würz- und Obstgarten hatte
sie ihr Herz zurückgelassen. So muß Eva von Eden
geredet haben, wie sie vom väterlichen Höfchen
sprach — selbst jener Blitz wurde ein Erlebnis, von
lieblichster Erinnerung geweiht — aus seinem Flam-
menmantel war Germar getreten. Daß Lucius ein so
fleißiger, ja großartiger Kaufmann war und sie m
Reichtümer gesetzt hatte, rechnete sie ihm nicht
sonderlich hoch an; jedenfalls, all diesen behäbigen
Überfluß in dem ansehnlichen Stadthaus zählte sie
nicht zu den Glüdisgütern, die eines Aufliebens wer*
waren.
„Hast du ihnen die Vasen gezeigt?" fragte Lucius,
als er zu den Lagerräumen abberufen wurde.
„Die Vasen, adi ja . . . daran habe idi nicht ge-
dacht", antwortete Sulvana obenhin.
„Und doch sind sie unser wertvollster Besitz, Selten-
heiten hier im Norden", gab er, ohne gekränkt zu
ersdreinen, zurück und wies ihnen auf Borden
stehende Vasen — Krüge sagten sie selber — von
sehr sdiöner Form, solche, die auf glänzend schwar-
zem Grund rote Götterszenen boten, und solche, die
auf rotem Grund schwarzes Zierwerk und schwarze
Figuren zeigten. Das seien Kunstwerke, viele hun-
dert Jahre alt, in einer Technik, die heute verloren-
gegangen sei, auch in Farbe, die man heute nicht
mehr gewinnen könne. Lucius verhielt sich so lange
bei ihnen und belobte sie so umständlich, daß Sul-
vana Germar zuflüsterte: „Wie du wohl die Pferde
zeigst!" Der Händler hatte es gehört und lächelte
dem Meier zu: „Jawohl, wir Handelsleute müssen
so erw'as haben. Ich wenigstens, weil es draußen auf
Handelsfahrten wochenlang oft nichts gibt als Un-
bilden, ödnis. Feilschen und Gefahren jeder Art.
Das hier gehört zu den Liebkosungen meiner Seele.
Icfi wollte, ich könnte sie wie Zuchttiere verwenden.
Aber wo wären auch die Leute, die dafür Sinn und
Mittel hätten? Was heute wirklich in Blüte steht,
ist das Kriegshandwerk, und hochgezüchtet ist nur
der Krieger."
Von Augsburg bewunderte Germar am meisten die
hohen Flechtwerke und Mauern, die es umgaben:
sie umfaßten alle Häuser zu einem einzigen Haus,
zu einer unentrinnbaren Burg.
„Wohl uns, daß die Römer uns wenigstens diese
steinerne Ordnung hinterlassen haben", sagte Lucius,
„sonst wären unsere Häuser und Geschäfte nichts
anderes als Honigwaben für die Bären — bald für
den Franken, bald für den Baiuwaren und, was
jetzt am meisten droht, für die avarischen Hunnen.
Diese wilden Teufel kommen und gehen wie der
Blitz übers offene Land, und gib adit, sie werden
unserer Ecke zum Verhängnis."
Vor den Toren lag die Kirche der heiligen Afra,
die in diesen Zeiten Augsburg allein noch berühmt
machte und Pilger bis aus dem südlichsten Gallien
anzog. Das Heiligtum war von einem weiten Etter
umgeben, man hätte glauben können, man nähere
sich einem großen Gutshof. Denn hinter dem Zaun
lagen viele Gebäude, Priester- und Knechtshäuser.
Sie alle überragte das altersgeschwärzte Kirchenhaus,
aus runden, leicht behauenen Eichenstämmen ge-
zinunert, einem hohen Mittelschiff lehnten sich zur
Rechten und zur Linken mit abgeschrägten Dächern
Seitenschiffe an. Aber nur ein Tor öffnete sich dem
Besucher, wenn man durch einen Arkadenhof ge-
gangen war, in dessen Mitte ein Brunnen fließendes
Wasser sprudelte. Vor diesem Hofe waren Buden
aufgestellt, in denen die Pilger Kerzen, Ol und
allerlei wächserne und eiserne Weihegeschenke, als
Pferde, Kühe, Schweine und auch einzelne Glied-
maßen kaufen konnten, öl war der Teuerung wegen
nur in ganz kleinen Fläschchen und für hohe Preise
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'^7^^
zu haben. Germar trat an den Kaufladen heran
und kaufte die dickste Kerze, die zu haben war.
„Als unsere Sache wider alles Erwarten einen solch
glücklichen Verlauf nahm, da gelobte ich, der Santa
Afra ein Weihegeschenk darzubringen."
„Willst du mir nicht auch ein Weihegesdienk
kaufen", bat Kuna.
Er wählte eine sdiön gezierte, einschnäbelige Ton-
lampe und einen zierlidien Kerzenstengel. „Die
Lampe kannst du nach Hause nehmen."
Danach betraten sie das heilige Blockhaus. Es lag
fast ganz im Dunkel überall dort, wo nicht Lampen
und Kerzen brannten, denn die Fenster aus dem
zarten Kalbsfell waren wie blind. Ganz hell war
eine Art Säulengehäuse, das vorne in die Kirche hin-
eingestellt war. Das von vier Säulen getragene Däch-
lein hatte goldene Ziegel. Unten zogen sich ringsum
Schranken von farbigem Marmelstedn. „Dieses Tem.-
pelchen im Tempel birgt die aus dem Feuer ge-
retteten Gebeine der Martyria Afra", raunte Sul-
90
vana. Zu ihm drängte sich vie! Volk. Von dem
Dachgebälk nieder hingen Lampen, um die Kristall-
scheibdien schimmerten. Auf vielen Leuchtern und
Leuchtertischlein brannten hier audi ganze Beete
von Kerzen, die im Zugwind wehten und qualmten.
Germar drängte sidi heran, entzündete seine Weihe-
gäbe und steckte sie auf. RüAwärts an der sehr
sdimalen Ostwand, hinter einen steinernen Hoch-
sätz, sah Kuna im Wogen von Licht und Schatten
ein strenges Frauenbild — die heilige Martyria auf
einem Throne sitzend; eine Hand kam über ihr aus
goldener Wolke und reichte ihr einen Kranz. Das
also ist Santa Afra, so sitzt sie jetzt auf dem
Throne. Zu beiden Seiten dieses Bildes brannten
vielzüngige Lampen, von oben niederhängend.
Wenn die Lichtlein vom Winde niedergezwungen
wurden, dann schien die Heilige zu verschwinden
oder sich zu bewegen, und dann wieder stand sie
wie greifbar, wie ganz lebendig vor ihr. Kuna
beugte ein Knie, tief aufgewühlt. Sie selber hatte
Bido, den Urvater, nie bei seinem Hleo mit Augen
gesehen, aber Adala, die Großmutter, wollte ihn
gesehen haben und viele andere. Nun glaubte iie
das mit zweifelndem Sinn Vernommene. Sie ging
seitwärts, da traten ihr noch andere Gestalten ent-
gegen: ein ganz seltsames Bildnis sah sie, als sie
vom Volk weitergeschoben wurde. Es war ein
Christuskopf im Schnittpunkt eines Kreuzes. In den
vier Ecken der Balken schwebten geflügelt ein Engel,
ein Löwe, ein Rind und ein Adler.
Im Gedränge merkte Germar anfangs nicht, daß
jemand sich an seinen Pelz gedrängt und förmlich
in seine Falten geborgen hatte. Nun schaute er doch
nieder und sah, daß Kuna an ihn geschmiegt ihr
Gesicht in seinem Mantel barg. „Kuna, was ist dir?"
Sie zitterte, hob das bleiche Antlitz mit angstgroßsn
Augen zu ihm auf und versteckte sich aufs neue,
noch krampfhafter. „Kuna, was ist über dich ge-
kommen, sollen wir hinausgehen?" Sie nickte leb-
haft ja, ja!
« Er drängte dem Ausgang zu, aber es war unmög-
lich, hinauszukommen. Kuna sah von Zeit zu Zeit
auf, starrte die Bilder an, und sogleich hüllte sie
sich wieder ein. „Was ist dir?" — „Oh, sie sind so
sdirecklich nah . . . schrecklich sind sie. Ich fürchte
sie!" Wohl verstand er die Schauder des Kindes,
denn ihm selber war, als würde er von Augen aas
dem Jenseits angeblickt. Er beugte sich zu Kuna
hinab: „Grüße sie, es sind Huldinnen!"
Doch jetzt erschien der Diakon mit Ordnern. Sie
machten im Mittelschiffe Platz. Der Bischof wird
mit seinen Klerikern zum Gotteschenste einziehen.
Und schon erklangen die Glocken — unheimlich
dünkte es Kuna, und darm umzauberte sie das hold-
seligste Flötengetöse, als ob alle Hirten zusammen-
spielten. Germar kannte das seit langem; sie hießen
Orgel. Er umfaßte seine Tochter und streichelte sie
leise, wie man niit Kosen Kinder besckwichtigt. Die
Kanoniker sangen ein/ieliend Psalmen. Der Bischof
schritt an einem schön geschnitzten Hornstab. Nun
blickten auch die Gestalten an den Wänden ff<^und-
lichcr, wurden klar und deutlich "and verloren ihre
gespenstische Kraft. Obwohl es sehr kalt war, ver-
gaßen sie gleich den anderen Pilgern ihre körper-
lichen Beschwerden im Anbeten, im Schauen und
Schaudern und in der Freude über das festliche
Gastmahl des Göttlichen.
Als sie ins Freie traten, sah Germar, daß Kuna ihre
Kerze eben in ihrem Täschchen bergen wollte. „Hast
du sie nicht aufgesteckt?" fragte er betroffen.
Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Du hast wohl vergessen?"
Aber sie verneinte wieder mit stummem Deuten. D.i
wußte er, daß sie ein Geheimnis hütete und wollte
sie nicht drängen, aber da gestand sie auf einmal
von selbst: „Zürne nicht, aber die Santa Afra hat
so viele Lichter und Opfergaben, und der Hleo un-
seres Ahnen ist seit den strengen Verboten ohne
Spenden. Und so ist es mir gekommen, es könne
nicht Sünde sein, ihm ein Weihelicht anzuzünden."
Germar ging einige Schritt schweigend neben ihr.
Dann legte er die Hand auf ihre Schulter und ent-
schied „Licht — das mag wohl erlaubt sein, das ist
wohl ein tröstliches Opfer, wenn sie im Dunkel
sind, wenn sie frieren. Ich weiß ja nicht . . . wer kann
das wissen?"
Kuna zeigte nun aber keineswegs eine beglückte
Miene, denn sie hatte dem Vater dennoch nicht die
volle Wahrheit gesagt: Den Ahnen wollte sie durch
das Opfer gewinnen. Denn strenger noch als die
Lebenden sind die Toten, wenn es gilt, die Gesetze
zu wahren. Bido ist Adalnis bitterster Feind.
Auf der Rückfahrt holperte der Bichnger Wagen
inmitten eines Zuges von Saumtieren des Lucius.
Vorn unter dem Bogen der Blähe saß Kuna mit
starren Augen, bleich, todtraurig und so, als sähe
sie keinen Sonnenschein und hörte keines der mun-
teren Lieder, die die Knechte des Kaufmanns sangen.
Adaini war nicht unter den begleitenden Reitern.
Er hatte sich Lucius und Cambos angeboten, war
von ihnen angenommen worden und blieb in Augs-
burg. Man brauchte seine Dienste auf der Heimfahrt
nicht mehr, da die Leute des Kaufmanns das Ge-
leite verstärkt hatten.
Nicht ganz unerwartet war diese Wende über sie
gekommen. Erst hatte sie glücklich darauf geachtet,
wenn Lucius den anstelligen Burschen Adalni vor
dem Vater pries und wenn der Vater mit warm.en
91
und ausgiebigen Worten in das gespendete Lob ein-
stimmte. Dann aber hörte sie den Handelsmann
sagen: „Solche Leute könnte ich brauchen. Unser
Geschäft verlangt einen guten Kopf und eine hurtige
Entschlossenheit, und an Burschen dieser Art fehlt
es immer. Aber sie haben große Aussicht bei uns.
Was sagtest du, Meier Germar, wenn er in meine
Dienste träte?" Der Vater runzelte die Stirn. „Solche
Burschen kann auch ich gut brauchen . . . Hätte
Adalni denn Lust, in die Stadt zu gehen?" Er habe
seit langem keinen anderen Gedanken. „Seit
langem?" — „Ja, deine Quena habe ihn darauf ge-
bracht. Stadt macht frei, habe sie ihm gesagt. Er ist
freigelassen, aber was bedeutet das." • — „Also, Liut-
hild wäre einverstanden? Dann -r- ich bin dir sehr
zu Dank verpflichtet, audi dem Adalni, ich will
auch ihn zum Kaufpreis für das Saatgut legen. Aber
warum hat er mit mir nicht gesprochen?" Lucius
lächelte: „Er hat mich in seiner Angst voraus-
geschickt, wie man den Brautvater sdiickt. Natürlich
will er alles von dir allein abhängig machen."
Kuna war, als sähe sie ihr Haus in Flammen. Sie
wollte zu Adalni, ohne Rücksicht, wie in ein bren-
nendes Haus. Aber dann stürzte .«üe in ihre Kammer,
niedergeschmettert von dem einen Gedanken: Mit
der Mutter hat er gesprochen, mit dem Kaufmann,
und alles macht er vom Vater abhängig ... sie aber
— hätte sie nicht das erste Wort verdient? Noch er-
wartete sie und gab ihm sogar die Gelegenheit, zu
ihr zu kommen. Da zertrat sie das eine Wort in
sich, das sie für ihn noch aufgehoben hatte und
sparte ihm den eisigen Blick auf, den ihr die Ver-
achtung geschmiedet hatte. Diesen bekam er dann
beim Absdiied und sonst keinen Finger — nichts.
Und nun: wie ein ewig gleichlautender Krähenruf
wiederholte sich ihr immerzu das eine: Adalni ist
kloig! Wie klug doch diese Männer sind, auch Kletu?!
Ihre Sache ist es also, nach ihrem Vorteil zu
schauen. Sie aber hätte alles zurückgelassen — Hab
und Gut und Heimat und Sippe . . . alles . . . wie
klug ist doch dieser Adalni! Sie stieß immer heftiger
in einen brausenden Zorn hinein. Eine schmähliche
Klugheit! Hat sie ihm denn etwas gekostet? Mit
Verrat im Herzen ist er bereits auf diese Fahrt ge-
gangen und darum also munter und in guter Laun^-.
Und ihr, die wie ein gebundenes Opfertier auf dem
Wagen saß, hat gerade seine Munterkeit ins Herz
geschnitten, und sie hat .mit sich gerungen, ob sie es
dem Ahnungslosen kundtun soll. Aus Erbarmen hat
sie es unterlassen, in der kleinen Hoffnung auf
einen möglichen guten Ausgang. Ihm wäre auch die
schmähliche Ehe mit Kletus einerlei gewesen. Und
ich habe ihn Reginald an die Seite gestellt!
Das einzige Wort, das ihr Bruder nachher Adalnis
wegen zu ihr sagte, war: „Siehst du, ein schlauer
Bursche, der weiß, wo er sich einpflanzen muß, um
wachsen zu können. Das ist das einzige, was wir
von ihm lernen können." Aber Reginald benahm
sich dabei so übermütig und fröhlich, wie man es
bei ihm gar nicht gewohnt war. Er griff sie, hob sie
auf die Schulter und sprang mit ihr über den
Brunnentrog und einen Zaun wie ein tolles Fohlen.
Ein ähnlicher Überschwang war über den Vater
und die Mutter gekommen, ja über die ganze Mark.
Späher hatten die heimkehrenden Kornwagen schon
auf der Hochstraße erlauert. Und dann sprengte die
ganze Jugend zu Pferde den Heimkehrenden ent-
gegen; die alten Männer und Frauen folgten in ge-
messenem Trab. Die Mädchen hatten schon Kränze
aus Schlehdomblüten gewunden, die Burschen Zweige
von den Eiben geschnitten und stark duftenden
Seidelbast aus dem Walde. Damit schmückten sie die
Zugpferde und Wagen, den Meier und Hramuth und
Liauthari. Kuna bekam ein Kränzchen .von Schnee-
glöcklein. So holten sie die Heimkehrer heim. Sie
wurden gefeiert wie die ersten Garben der neuen
Ernte, wie Sieger in einem schweren Kampf. Liuthild
schenkte daheim der Toditer einen schönen Armreif,
Sie und der Vater benahmen sich zu ihr, als sei sie
aus einer tapfer bestandenen Gefahr zurückgekehrt.
Beide gingen mit ihr noch am ersten Abend zum
Totengarten hinaus, wo sie auf Waltrams Grab-
stätte die Kerze anzündeten. Kuna blieb nodi eine
Weile, als die Eltern bereits weggegangen waren.
Sie neigte sich nieder: „Santa Afra und ihr, selige
Ahnen, ihr habt es besser gewußt, ihr habt geschenkt,
indem ihr verweigert habt."
Schon auf der letzten Wegstrecke hatte sich das trübe
Wetter gebessert, der Neuschnee war vor der Sonne
geschmolzen, milde Lüfte wehten. Endlich sah es so
aus, als habe sich der Himmel wie die Erde wieder
darauf besonnen, daß sie geschaffen seien, Wachs-
tum und Gedeihen zu bringen. Ein Frühlingswetter
donnerte aus lauen Regensträhnen, und alsbald löste
die heiterste Sonne den befruchtenden Regen ab.
Kann es denn sein, daß das unholde, feindselige
Wesen der Lüfte sich gewandelt hat? Die Welt
lächelt wieder, liegt in Urbehagen da, friedlich,
lockend, eine Mutter, die ihre Kinder kost und
nährt.
Der Meier verteilte das Korn sorgfältig und streng.
Wer Geld oder andere Werte gegeben hatte, erhielt
den angemessenen Teil, die anderen bekamen gegen
Pfänder und gegen Stäbe, in die Frondienste ein-
gekerbt waren. Nicht alle brachen Äcker konnten
angebaut werden. Aber nicht ein einziger Höriger
oder Kleinhuber war, der nicht ein wenig Hafer
und Gerste hatte ansäen können. Der Roggen und
92
die Feesen wurden sorgfältig für die Herbstsaat auf-
gehoben. Bald sangen die Lerdien über grünendem
Feld. Die erkrankte Erde jauchzte ihre Genesung und
ihren Frieden in die wachsenden Tage hinein. Die
Sdiwerter schUefen an ihren Haken. Thassilos He-
rislis mußte der Notzeit wegen ungestraft: bleiben
und schien mit der Zeit über den aquitanischen
Kämpfen König Pippins vergessen zu sein. Dieses
große Hungerjahr aber war ein großer Sieg der
Trolle und Drachen. Über viele Äcker wuchs ander-
wärts wieder der Wald, viele Firste, auf denen
Störche genistet und unter denen wadiere Bauern
mit ihrem Nachwuchs gehaust hatten, vei faulten und
sanken in sich zusammen. So sehr hatte der Tod
unter den Leuten aufgeräumt. Die in ödungen
vorgestoßenen Siedlungen verfielen aufs neue dem
wuchernden Gestrüpp und wurden zu Sdilupf-
winkeln des Raubwildes. Die Mensdien wichen zu-
rück in die fruchtbaren Täler, geminden an Zahl, ge-
sdiwächi und gelähmt. Aber wie dieses wunderbare
Geschlecht nun einmal ist: wenn es seinem Leben in
endlosem Unwetter geflucht hat, so genügen ein paar
wonnevolle Maitage, um es aufs neue mit himmel-
stürmenden Plänen zu füllen.
93
BEMERKUNGEN
Am 29. April d. J. beging Peter Dörfler seinen 70. Geburtstag. Aus
diesem Anlaß wurde er zum päpstlüen Hauspiälaten ernannt.
Viele wurden erst dadurch darauf aufmerksam, daß der Diditer
neben seiner künstlerischen Berufung auch noch als Priester einen
Beruf ausübt, der nicht minder Berufung ist. So wird die Kraft
seines Wortes in zwiefadier Hinsicht gerühmt: es rühmt sie an
seinen Diditungen der feine Kenner der Spradie, aber es rühmt sie
ebenso unter dem Eindruck seiner Predigten der einfädle Mann des
Volkes. Den Kindern des von ihm geleiteten Waisenhauses in
München ist er ein gütiger Vater. Kraft, aus tiefen Wjrzcln
quellende Kraft, und eine
aus lebendigem Gottesbewußt-
sein leuchtende Güte sind
wohl überhaupt die bestim-
menden Züge dieser sdiwcr-
blütigen, wuchtigen Sdiwa-
bengestalt, in der sidi wie in
einer Rebe irdischer Stoti
siditbar in Geist zu verwan-
deln scheint.
Die Apollonia-Trilogie vor
allem sowie das weitverbrei-
tete Insel-Bändchen „Jaco-
bäas Sühne" haben Peter
Dörfler den Ruhm einge-
tragen, der Heinrich Federer
des Allgäus zu sein. Und in
der Tat liegt in dem Ver-
gleicii mit diesem anderen
Priester diditer, der ahnlidi
frei von enger Kirchlichkeit
und ebenso sprachmächtig die
Heimatkunst seiner Sdiwei-
zer Romane und Erzählun-
gen zu europäischem Rang
erhob, vieles ausgedrückt,
was das Wesen des Dörfler-
schen Werkes ausmacht. Aber
nur eines Teiles seines Wer-
kes; denn der andere um-
spannt die Geschichte des
Abendlandes. Man denke
sich in den Allgauer Bergen
einen Hütejungen, in dem
unbewußt die schöpferisdic
Gestaltungskraft gart und
den die Inbrunst seines un-
vedbrauchten Blutes zum
Lernen . in die Stadt treibt:
wie er die Botschaft des
Geistes aufnimmt, wie er
wadi auf alles merke, was
ihm begegnet, wie er, der
mit der Reinheit einer ur-
sprünglidien Natur nodi zu
erstaunen vermag, Kennt-
nisse empfängt, die anderen
geläufig, allzu geläufig
sind, die er aber sich be-
dächtig Stück für Stüdc einverleiben muß, weil leere Formeln ihm
unverständlicJi bleiben. Da wird alles zur Ansdiauung, rund und
farbengesättigt, nichts bleibt blaß oder veischwommen. Und man
bedenke auch, daß dieser junge MensJi nidit unberaten wertvolle
Zeit zu vergeuden braucht, sondern daß er sogleich aufgefangen
. und geleitet wird von einer erfahrenen Institution, deren erziehe-
rische Weisheit schon immer besonderen Wert gelegt hat auf den
Nachwuchs aus frischem bäuerlichen Blut. Dörfler studiert katho-
lisdie Theologie. In diesen Bahnen drängt sein Lerneifer, seine
Kultursehnsucht zuditvoll und sinnbewußt weiter. Das Studium der
christlichen Arciiäologie ' sdiHeßt sidi an das theologische. Dann
kommt er nacii Rom, und er darf abermals sciiaucnd erleben und
umsetzen in lebendige Anschauung, was er bereits aus Büdiern
weiß: die Welt des Mittelmeers, den antiken und diristlichen orbis
terrarum.
Die Zeugnisse dieser lebendigen Gesdiichiserfahrung sind seltsamer-
weise weniger ins deutsciie Publikum gedrungen als die Allgäu-
Romane. Und dodi steht der Diditer Peter Dörfler ebenso sicher
in der Welt der Geschidite wie im Bezirk seiner Heimat. Daß er
beide Bereiche brudilos in sich zu vereinigen \ermag, ist die be-
sondere Gunst seiner in organisdien Ringen gewachsenen, viei-
schichtigen Persönlichkeit; es ist die Gnade des Ursprungs. So sei
an dieser Stelle nadidrüdclidi verwiesen auf jenes Werk, das Peter
Dörfler am besten als den Diditer des historischen Romans aus-
weist, der er in unübertroffener Meistersdiaft ist: auf den Roman
.,Die Schmadi des Kreuzes"; es sei zugleich eine Lanze für das zu
Unrecht halbvergessene Buch, das im Byzanz des 7. Jahrhunderts
spielend, das Sdiicksal des Christentums und des Abendlandes unter
dem Ansturm der Perser und Avaren darstellt und eine Weltwende
verdeutlicht, da die germanischen Reiche Nordafrikas noch ihre
letzten Ausläufer hereinschidten, während in der arabischen Wüste
schon ein neuer Stern auf-
geht: der feurige Komet
Mohammeds. In der Art, wie
dieser leuchtend bunte und
figurenreiche Teppidi ge-
wirkt ist, gelang ein neuer
Typus des historischen Ro-
mans, dessen Eigenständig-
keit sich auch neben deü
modernsten Leistungen auf
diesem Gebiet behaupten
wird. —
Der Roman ,,Der Urmeier",
aus dem das abgedruckte Ka-
pitel mit freundlicher Er-'
laubnis des Verfassers ent-
nommen ist, wird voraus-
sichtlich noch in diesem
Herbst beim Verlag Karl
Alber, München, erscheinen.
Einige altertümliche Aus-
drüdte, die darin vorkojn-
men, seien zum besseren
Verständnis hier kurz in
ihrer neuhodideutsdien Be-
deutung wiedergegeben; Buint
— Obstgarten beim Haus;
Ding — Gerichtsversammlung
bei den germanischen Stäiu- -
men; Mage bezeidinet in der
germanischen Rechtsspradie
Seiten verwand tschaft; Betbur
— Bethaus, Kirdie; Quena —
Eheweib; Walche — Welsche,
Römer; Sdialk — Knecht;
Herislis — eigenmächtiger
Ausbrudi aus der Heeresfolge
(Desertion) ; Hleo — Grab-
hügel; Etter — Zaun.
Das Schlußbild unter Mon-
taignes Tagebuchnotizen auf
Seite 28 zeigt ein Gitter aus
dem Ulridimünster (Photo
S. Rostra). — Die Plastik
auf Seite 22 ist eine Figur
A. Dauchers d. Ä, aus der
Fuggerkapelle (Photo Stadt.
Kunstsammlungen). — Die Photovorlagen zu dem Miniaturporträt
Wolfgang Amadcus Morarts auf Seite 34 und dem Bildnis Leopold
Mozarts auf Seite 37 stellte in liebenswürdiger Weise der Alfons
Bürger- Verlag, Lorch/Württ. — Stuttgart, zur Verfügung. Sie sind
dem Bilderteil des dort demnädist erscheinenden Bandes ..Ein
schwäbisches Mozartbudi" von Ernst Fritz Sdimid, dem Verfasser
des Beitrages ,, Mozarts Urheimat'*, entnommen.
*
Das Gemälde, das den Maler Hans Burgkmair und seine Ehefrau dar-
stellt, wurde lange für ein Selbstbildnis gehalten. 1936 stellte sich
indessen bei einer Reinigung der Tafel heraus, daß sie die Signatur
Lucas Furtenagel trägt. Dieser wurde 1505 in Augsburg geboren
und war ein Sdiüler Burgkmairs. Nach dessen Tod verließ Lucas
Furtenagel Augsburg und ging zunächst wahrscheinlich zu Luxas
Cranach nach Wittenberg, wo er Luther kennenlernte. 1538 ist er in
Halle nadizuweisen. 1546 malte er ein Bildnis Luthers auf dem
Totenbett.
*
Die Illustrationen zu der Erzählung von Peter Dörfler zeichnete
Mirka Szewczuk.
94
MERIAN>
\
STÄDTE UND L.ANDSCHAFTEN
EINE MONOGRAPHIEN REIHE
Bisher erschienen:
WÜRZ B UR G
Inhalt: Anton Dörfler, An den Main Friedrich Sdinack, Mainfränkisdier Seelen-
spiegel / Georg Britting, Gang durch das Weindorf / Matthaeus Merian, Historische
und wahrhafftige Beschreibung Lina Staab, Alte Brücke Heinrich von Kleist, Dra-
matische Landschaft Ina Seidel, Der traurige Jahrmarkt Hermann Hesse, Wasser-
marm und Madonna / Rudolf G. Binding, Würzburger Marien ' Max Dauthendey,
Der Hahnenschrei Anton Sdinack, Liebesbrief aus Würzburg / Max Meister,
Würzburg 1945 Leo Weismantel, Totenk'age über eine Stadt ;' Max H. v. Freeden,
Vergänglichkeit der Kunst / Max Meister, Trümmer / Michael Meisner, Dionysisches
Memento , Hans Löffler, Ein Zukunftsbild.
LÜBECK
Inhalt: Martin Coyken, Lübeii, Gestalt und Geschichte ' A. von Brandt, Geist des
Mittelalters / Wolf gang J. Müller, Sankt Marien, Thomas Mann, Anno U48 Kurt
Klugkist, Musikalische Tradition / Otto Anthes, Der Turm Hans Ewers, Die große
Ida / Thomas Mann, Lübeck als geistige Lebensform / Gustav Hillard, Bilder der
Kindheit , Heinrich Leippe, Das Gehäuse des Lebens ,' Abraham Enns, Gemeinschaft
der Heiligen Isa Vermehren, Verwandlungen einer Stadt Jan Molitor, Hinter dem
Holstentor , Axel Use, An der Zonengrenze ,' Otto Anthes, Lübische Geschiditen.
KÖLN
Inhalt: Ricarda Huch, Köln im alten Reich Sulpiz Boisseree, Der Dombau , Die
Sage vom Dombaumeister / Alfons Paquet, Leben am großen Strom Georg Forster,
Der Tempel ' Bettina Brentano, Capriccio Jacob Burckhardt, Das Wagnis der
Vollendung , Josef Leitgeb, Der geometrische Berg , Lis Bohle, Köln — München —
Paris ,' Hans Schmitt, Carneval triste / K. Zimmermann -Jatho, Sdiutzgeister eines
kölnischen Kindes / Stefan Andres, In der heiligen Stadt , Paul Gurk, Meister Ecke-
hart / Alfons Paquet, Die Metropole / Hans Jakob Hässlin, Agrippinische Phantasie /
Carl O. Jatho, Gespräch am Abgrund der Zeit Heddy Neumeister, Gesang aus der
Krypta Walter Henkels, Ende und Anfang Rudolf Schwarz, Die Stadt der Zukunft.
Vorbereitet oder geplant sind lueiterhin Hefte über : Mannheim,
Stuttgart, Hamburg, Mainz, Worpsii-ede, Trier, Essen, Frankfurt.
HOFF MANN UNDCAMPE VERLAG -HAMBURG
Princeton Theoloqical Seminary Libraries
illl II. II III
012
01357 0744
WIE WEILAND MATTHAEUS MERIAN AM AUSGANG DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES
mit seinen berühmten Städtebildern und Landsdiaftssdiilderungen den Lebensbereich umschrieb, der dem deutsch en Volke
nach den furchtbaren Verheerungen verblieben war, so gilt aucJi für uns wieder, sich eine Anschauung zu verschaffen von
der verwandelten Landschaft, in der unser Leben heute spielt. Auch Merian widerfuhr das Sdiicksal unserer Generation:
vieles, was er geliebt und dargestellt hatte, sank durch den Dreißigjährigen Krieg in Schutt und Asdie. Sein Wirklichkeitssinn,
der ihn die Städte so scharf und getreu zeichnen ließ wie keiner vor ihm, erwuchs einem Daseinsgefühl, das zutiefst den
Schauder der Vergänglichkeit erfahren hatte. Als Merian das weitgespannte Werk seiner Topographia Germaniae schuf, das
seine Erben dann vervollständigt haben, folgte er seinem künstlerischen Trieb und gehorchte damit zugleich einem AruTif
der Zeit. So gelang ihm, die Frucht der eigenen zahlreichen Wanderfahrten einbringend, aber auch fremde Arbeit verwertend,
den Bestand aufzunehmen, d. h. jenen Besitz, dessen sich zu vergewissern und auf den sich zu besinnen not tut, denkt man
überhaupt an ein Weiterleben im Bewußtsein geistiger Herkunfl.
MERIAN griff dabei mit einer Selbstverständlichkeit auf die Städte zurück, die uns zu denken geben muß. In der Tat sind
sie die eigentlichen Elemente der europäischen Kultur, und ganz besonders sind sie es in Deutschland. Mögen sie auch heute
zerstört daliegen, so verkörpern doch selbst ihre Trümmer noch einen Ordnungsgedanken, eine Lebensform, eine Kulturidee,
und in dieser geistigen Gestalt sind sie unauslöschbar.
MERIAN leistete damit für seine Nachfahren das gleiche, was das dokumentarische Bild jüngst vernichteter Schätze der-
einst unseren Kindern bedeuten wird. Und doch gab auch er schon mehr als nur einen Bericht von Gewesenem. Er zeigte,
daß neben Haß und Neid, Maciitpolitik und entfesselter Gewalt es auch noch anderes gibt, das in den Herzen der Menschen
wohnt und sogar auch außer ihnen Gestalt gewinnt. Es ist der friedliche Bürgerfleiß, der sich ein Haus erbaut, eine Stadt,
einen Dom. Es ist der Schönheitssinn, der Blick für Maß und Form, der eine äußere Welt sich anverwandelt. Geduckte Dächer,
Brücken und ragende Türme: die Werke des engen Alltags wie der Sehnsucht nach dem Hohen und Ewigen, sie zeigte
Merian eingebettet in die Landschaft der Heimat! So wurde er zum Schilderer der wahren Kultur-Landschaft, in der Natur
und menschliche Siedlung zur Einheit verschmolzen sind und die der klarste Spiegel ist der Seele eines Volkes und einer Zeit.
MERIAN, der unermüdliche Wanderer und Städteschilderer, ist mehr als nur ein Künstlername. Schon seine eigenen Söhne
und Schüler gebrauchten ihn als Signum und Symbol, unter dem sie das von ihm begormene Werk fortsetzten. Und diese
Arbeit ist keineswegs beendet, sie ist vielmehr heute aktueller als je. Denn wiederum gilt es mit wachem und zugleidi
ordnendem Geiste auszufahren und das Bild des uns verbliebenen Lebensbereiches einzubringen, damit wir uns in der neuen
Wirklichkeit beheimaten können. Diese Wirklichkeit umgreift freilich mehr als das Trümmerfeld, das sich da und dort dem
ersten Blick darbietet. Sie umspannt die geistige Gestalt einer Stadt und einer Landschaft, wie sie historisch geworden und wie
sie in alle künftige Gestaltung hinein fortwirkt. Und sie schließt endlich auch die jeweilige Atmosphäre in sidi ein, die
Besonderheit des Lebens an einem bestimmten Ort. Auf den Spuren Merians und in seinem Geiste wird die Monographienreihe
<MERIAN>
mit modernen Mitteln, doch in jener engen Verbindung von Won und Bild, für die Merian das große Beispiel gab, die Lande
durchstreifen mit dem Ziel: die wirkliche Gestalt unseres Lebens zu erkennen in den materiellen und geistigen Zügen unserer
Städte und Landschaften wie im seelischen Gepräge ihrer Bewohner.
HOFF MANN UND CAMPE VERLAG
HAMBURG