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Full text of "Augsburg"

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STÄDTE    UND    LANDSCHAFTEN 
EINE    MONOGRAPHIENREIHE 


AUGSBURG 


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MAY   1  9  2C06 

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<MERIAN> 

STÄDTE     UND     LANDSCHAFTEN 
EINE    MONOGRAPHIENREIHE 


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LIBRARY  OF  PRINCETON 


MAV     2         1 


THEOLOGICAL  SEMINARY 


19  4  8 


HOFFMANN  UND   CAMPE  VERLAG   •   HAMBURG 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN  ■  PRINTED  IN  GERMANY-  UMSCHLAG- 
ENTWURF: ADOLF  WESTERDORF  •  K  L  I  S C H E E H E R S T E L L U N G : 
ALBERT  BAUER  SOHNE,  HAMBURG  •  G  E  S  A  M  T  H  E  R  S  T  E  L  L  U  N  G  : 
HANSEATISCHE      DRUCKANSTALT      GMBH,     H  AMBU  RG  -  W  AN  D  S  BEK 


INHALT 


Seite 

KURT  PFISTER:  Das  goldene  Augsburg 4 

MATTHAEUS    MERIAN:    Augusta  Vindelicorum 10      , 

GÖTZ    FREIHERR    VON   PÖLNITZ:  Die  Fugger 15 

MICHEL    VON   MONTAIGNE:  Kurioser   Report 23 

KURT  PFISTER:  Agnes  Bernauer 29 

ERNST    FRITZ    SCHMID:    Mozarts  Urheimat 34 

JAN    LICHTENBERG:    Brief  aus  der  kleinsten  Stadt 41 

EUGEN   DIESEL:    Mühlwässer  und  Motoren 49 

ERHART  KÄSTNER:  Die  Heimkehr 54 

WALTER  HENKELS:  Nach  der  Walpurgisnacht 63 

NORBERT  LIEB:  Die  Kunst  währt  lang 68 

ARTHUR  MAXIMILIAN  MILLER:  Der  große  Christoph   .    .    76 

PETER  DÖRFLER:  Stadtluft  macht  frei 81 

BEMERKUNGEN    zu  den  Beiträgen  und  Bildern 94 


KURT     PFI  STE  R 


ÖÄS  goLöene  AugsBUßg 


K.  onnte  Nürnberg  um  das  Jahr  1500  als  Hauptstadt 
der  deutschen  Kunst  gelten,  so  ist  Augsburg  in  den 
beiden  Jahrzehnten  vor  und  nach  der  Jahrhundert- 
wende an  die  vorderste  Stelle  des  wirtschaftlichen 
und  gesellschaftlich  repräsentativen  Lebens  gerückt. 
Hand  in  Hand  damit  entfaltete  sich  hier  eine  im- 
gemein  tätige  und  breite  Initiative  in  allen  Bezirken 
der  Wissenschaft  und  Kunst.  Wenn  in  anderen 
deutschen  Städten  Humanismus  und  Renaissance 
als  Bildungsgesetz  wirkten,  so  ist  es  in  Augsburg 
eine  Art  von  Lebensgefühl,  das  Geist  und  Form, 
Gestalt  und  Substanz  der  neuen  Zeit  mit  atmenden 
Organen  aufnimmt. 


Der  Übergang  hat  sich  hier  leichter,  aber  dodi  nicht 
ohne  Kämpfe  und  Vorbehalte  vollzogen.  Wenn  man 
überhaupt  von  einer  Stadt  der  deutschen  Renaissance 
sprechen  will,  kann  —  neben  Basel  —  nur  Augs- 
burg diese  Kennzeichnung  beanspruchen;  und  es  ist . 
naturgemäß  von  grundlegender  Bedeutung,  daß 
Holbein,  der  größte  Meister  der  deutschen  Renais- 
sance, gerade  in  dieser  Stadt  —  vermutlich  Ende 
1497,  vielleicht  auch  erst  Anfang  1498  —  geboren 
wurde  und  aufwuchs.  Wie  die  Welt  des  reifend/rn 
Mannes  in  Basel  ihre  geästige  Prägung  empfing,  so  die 
des  Knaben  und  Jünglings  durch  das  Erlebnis  des 
weltaufgeschlossenen,  großbürgerlichen  Augsburg. 


Seit  Konradins  Zeit  ist  Augsburg  Freie  Reichsstadt, 
und  der  Übergang  zu  den  neuen  ständischen  Ord- 
nungen hat  sich  hier  ohne  schwere  Konflikte  voll- 
zogen. 

1368  erhielten  die  Zünfte  Zutritt  zum  Stadtregiment 
und  erlangten  in  diesem  bald  ein  maßgebendes  Über- 
gewicht; doch  beließ  man  den  Patriziern  Vorrechte 
in  der  Besetzung  von  Ämtern  und  bei  der  Durch- 
führung diplomatischer  Missionen.  Der  Gegensatz 
von  Bischofs-  und  Bürgerstadt  blieb  freilich  bis  zur 
Reformation  bestehen  und  führte  zu  häufigen 
Kämpfen. 

Im  ganzen  war  das  Regiment  der  Zünfte,  d.  i.  der 
Handwerker,  zwar  fortschrittfreundlich,  aber  allen 
radikalen  Neuerungen  abgeneigt;  was  seinen  Grund 
in  der  starken  Bindung  der  Stadt  an  die  Person  des 
Kaisers,  besonders  diejenige  Maximilians,  dann  aber 
auch  in  dem  nicht  so  sehr  in  Satzungen  als  in  dem 
Gewicht  der  finanziellen  Macht  verankerten  Einfluß 
der  großen  Handelsgeschlechter  und  Wirtschafts- 
führer, voran  der  Fugger,  Welser,  Baumgartner, 
Rem,  Imhof,  Gossenbrot,  Herwart,  Manlich,  Zink, 
Kraft  und  Herbrot  hat. 

Die  die  Fernpässe  Tirols  und  des  Engadins  beherr- 
schende Stadt  wurde  um  1500  der  größte  Umschlags- 
platz des  Handels  Süddeutschl.i.-.ds  niit  Italien  und 
dem  Orient,  sie  war  eine  Hauptstätte  der  Leinen- 
und  Baumwollindustrie.  Das  FL?us  der  Welser  ent- 
faltete seine  Initiative  im  Ostindienhandel  mit  Spe- 
zereien  und  Gewürzen,  das  der  Fugger,  voran  sein 
großartigster  Repräsentant,  Jakob  der  Reiche  (1459 
bis  1525),  im  Bergwerkbau  und  Erzhandel,  beson- 
ders in  Silber  und  Kupfer. 

Außerdem  war  hier  ein  Mittelpunkt  des  europäischen 
Geld-  und  Kreditverkehrs.  Die  Fugger  waren  die 
Bankiers  der  Päpste  und  Habsburger.  Ihr  Ver- 
mögen stieg  zwischen  1510  und  1527  von  200  000 
auf  zwei  Millionen  Goldgulden,  ein  Betrag,  der 
nach  vorsichtigen  Schätzungen  etwa  einer  heutigen 
Kaufkraft  von  70  Millionen  Mark  entspricht. 
Man  weiß,  daß '  es  die  Darlehen  der  Augsburger 
Großkaufleute  gewesen  sind,  die  die  Kaiserwahl 
Karls  V.  gegenüber  dem  rivalisierenden  Franz  I. 
von  Frankreich  ermöglicht  halben.  Von  850  000 
Goldgulden,  die  der  Habsburger  damals  aufnehmen 
mußte,  haben  die  Fugger  etwa  530  000,  die  Welser 
140  000  gegeben;  und  so  konnte  Jakob  Fugger  dem 
Kaiser  schreiben:  „Es  ist  wissentlich  und  liegt  am 
Tage,  daß  Eure  Kaiserliche  Majestät  die  Römisch 
Krön  außer  mein  nicht  hätte  erlangen  mögen." 
Diesem  selbstbewußten  Wort  muß  man  freilich  ein 
anderes,  kritisches,  entgegenstellen,  das  Ulrich  von 
Hütten  ausgesprochen  hat:  „Suditen  nidit  bisher  die 
Fugger  auf  jede  erlaubte  und  unerlaubte  Weise  alle 


übrigen  Kaufleute  vom  Handel  mit  indischen  Er- 
zeugnissen auszuschließen,  um  durch  die  Einführung 
von  entbehrÜchen  oder  die  Gesundheit  und  die  Sitten 
schädigenden  Waren  den  Deutschen  ihr  Geld  und 
Silber  abzunehmen?  Ist  es  daher  nicht  der  Wunsch 
aller  redlichen  Deutschen,  audi  der  gutgesinnten 
Kaufleute,  daß  diese  Leute,  je  eher,  je  lieber,  aus 
unserm  Vaterland  vertrieben  werden?  Ist  es  nicht 
Raub,  wenn  sie  Deutschland  mit  einer  Münze  über- 
schwemmen, die  nicht  .den  inneren  Gehalt  hat,  den 
sie  haben  sollte?  Ist  es  nicht  auch  Raub,  wenn  sie 
sich  nahezu  das  gleiche  Monopol  über  die  Ablässe, 
Pfründen,  Dispense  und  andere  päpstliche  Privi- 
legien verschafft  haben,  wie  über  die  indischen 
Waren,  wenn  sie  ganz  Deutschland  mit  römischem 
wie  indischem  Tand  überschwemmen  und  ihren  Mit- 
bürgern, so  dem  einen  wie  dem  andern,  gutes  Geld 
herauslocken?" 

Die  Kritik  Huttens,  die,  wie  man  sieht,  antiklerikale 
wie  antikapitalistische  Argumente  vorbringt,  war 
berechtigt,  soweit  sie  den  Ablaßmißbrauch  und 
andere  im  Zusammenhang  der  Reformations- 
geschichte wichtige  Zersetzungerscheinungen  der  da- 
maligen Kirchenpraxis  angriff.  Auch  das  soziale 
Problem,  das  mit  der  Entwicklung  des  Großunter- 
nehmertums eine  gewisse  Proletarisierung  des  Fland- 
werks  mit  sich  brachte  —  das  Kapital  für  den  Ein- 
kauf der  Rohbaumwolle  wurde  von  den  Unter- 
nehmern vorgeschossen,  die  auch  die  Fertigstellung 
der  Ware  und  den  Vertrieb  übernahmen  — ,  ist  be- 
deiutsam  genug;  freilidi  ist  es  erst  in  einer  etwas 
späteren  Zeit,  in  den  zwanziger  und  dreißiger 
Jahren  des  neuen  Jahrhunderts,  akut  geworden.  Die 
Geldentwertung  aber,  die  Hütten  den  Monopol- 
tendenzen der  Fugger  zuschreibt,  ist  in  Wahrheit 
eine  mit  dem  Zustrom  des  überseeischen  Goldes  zu- 
sammenhängende Kaufkraftminderung  des  Geldes 
gewesen. 

Tatsächlidi  bezeugen  die  wenigen  erhaltenen  stati- 
stischen Angaben  der  Augsburger  Stadtbücher,  daß 
die  soziale  Struktur  der  Kommune  damals  noch  ge- 
sund war,  daß  der  Wohlstand  ständig  wuchs  und 
sich  auf  einer  breiten  Grundlage  entfaltete. 
So  erfahren  wir,  daß  es  um  1500  etwa  2500  Weber- 
meister in  Augsburg  gab  —  gegenüber  700  im  Jahre 
1466  — ,  die  jährlich  siebzigtausend  Stück  Leinwand 
bleichten  und  fünfunddreißigtausend  Slücl<  Barchent 
dem  Sdiauamt  vorlegten.  Bei  einer  ungefähren 
Schätsmng  der  damaligen  Einwohnerzahl  auf  20000 
Köpfe  werden  im  Jahre  1475  2700,  1520  etwa  3000 
„Nichtshäbige"  angeführt,  für  die  in  Notzeiten  teils 
durch  Maßnahmen  der  Stadtverwaltung,  teils  durch 
Spenden  der  Besitzenden  gesorgt  wurde.  Daß  der 
Reichtum     sich     nicht     nur     In     einzelnen     weniiren 


Händen  sammelte,  wird  ersichtlich,  wenn  man  erfährt, 
daß  die  Stadt  im  Jahre  1522  5940  und  im  Jahre 
1528  6440  Steuerzahler  aufweisen  konnte;  in  der 
ersten  Steuerklasse  waren  1498  9,  1526  39  Bürger 
eingereiht.  Man  hat  berechnet,  daß  sich  das  Ver- 
mögen Augsburgs  im  Zeitraum  dieser  zwanzig  Jahre 
verzehnfacht  hat. 

Auch  der  Umstand,  daß  man  schon  im  Jahre  1473 
120  Bier-  und  Weinschenken  zählte,  gestattet  einige 
Rückschlüsse  auf  einen  behäbigen  und  breit  ver- 
teilten Wohlstand. 

»f. 

Die  Söhne  der  Patrizier  und  reidien  Kaufleute  stu- 
dierten an  den  itaUanischen  Universitäten,  in  Bologna 
und  Padua,  und  brachten  den  neuen  humanistisdien 
Geist,  der  auch  in  den  Klöstern  der  Stadt  eifrige 
Pflege  fand,  in  die  Heimat  mit.  Zahlreiche  Offi- 
zinen, voran  diejenige  Johann  Schönspergers  des 
Jüngeren,  Rynmanns,  Silvan  Ottmars  und  Sigmund 
Grimms,  setzten  sich  mit  Druckwerken  für  die  Ver- 
breitung der  neuen  Idee  ein. 

Das  Haus  Konrad  Peutingers,  des  Freundes  Kaiser 
Maximilians,  war  wie  dasjenige  Jakob  Fuggers  und 
des  Erasmus  von  Rotterdam  ein  Mittelpunkt  der 
hutnajnistischen  Studien  und  Bestrebungen.  Der  Ge- 
lehrte, dessen  vornehme  Denkart  einen  bedeutsamen 
und  mäßigenden  Einfluß  im  Stadtregiment  ausübte, 
besaß  eine  berühmte  Bibliotliek  griechischer  und 
römischer  Handschriften,  eine  wertvolle  Sammlung 
antiker  Münzen.    Er  hat  u.  a.  eine  Schrift;  über  die 


römischen  Altertümer  in  Augsburg  und  seiner  Um- 
gebung veröffentlicht.  Wir  hören  von  zahlreichen 
guten  Schulen;  auch  wurde  der  Meistersang  eifrig 
gepflegt. 

Das  Augsburger  Stadtbild  hat  in  diesen  Jahrzehnten 
vor  und  nach  der  Jahrhundertwende  eine  vollkom- 
men neue  Gestaltung  erfahren,  die  die  behäbige 
schwäbische  Baugesirmung  mit  dem  neuen  Dekor  des 
Südens  verschmolz.  Wiederum  ist  Jakob  Fugger, 
den  man  mit  Recht  den  Vater  der  deutschen  Renais- 
sance genannt  hat,  zusammen  mit  seinen  Brüdern 
der  großartige  Initiator,  Melanchthon  hat  ihn  ge- 
meint, wenn  er  schreibt:  „Augsburg  ist  ein  deutsdies 
Florenz,  und  die  Fugger  sind  den  Medicis  an  die 
Seite  zu  stellen." 

1509  wurde  der  Bau  der  Grabkapelle  der  Fugger 
bei  St.  Anna,  1511  der  des  berühmten  Fugger- 
palastes begonnen:  die  beiden  frühesten  Denkmäler 
der  deutschen  Renaissance  sind  hier  entstanden,  ohne 
daß  die  Erinnerung  an  die  spätgotische  Vergangenheit 
vollkommen  verleugnet  worden  wäre.  In  der  Kapelle 
weist  das  Kreuzgewölbe  und  der  Altarchristus  auf 
mittelalterliche  Traidition  hin,  der  Palast  hatte  gotisch 
profilierte  Portale,  die  in  die  Kreuzgewölbehallen 
des  Erdgeschosses  führten.  Der  Humanist  Beatus 
Rhenanus,  dem  Holbein  später  in  Basel  begegnete, 
entwirft  in  einem  an  Philipp  Puchaimer  gerichteten 
Brief  eine  anschauliche  Schilderung  der  prachtvollen 
Innenraumgestaltung  der  Fuggerschen  Palastanlage: 


Hans  Holbein  d.  Ä.  j  Epitaph  des  Bürgermeisters  Ulrich  Scirwarz  (Ausschnitt) 


Photo  Stade.    Kunstsammlungen 


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„Niemals  werde  ich  Deine  Freundlichkeit 
vergessen,  mit  der  Du  mir  in  Augsburg 
behilflich  warst,  indom  Du  mich  durdi 
Christoph  Wirsungs  Vemiittlung  in  das 
Haus  der  Fugger  anführtest.  Was  gibt  es 
Prächtiges,  das  hier  nicht  zu  finden  wäre? 
Fast  überall  ist  es  gewölbt  und  von  Mar- 
morsäulen gestützt,  deren  Kapitale  nach 
dem  Muster  des  Altertums  gemeißelt  sind. 
Was  soll  ich  sagen  über  die  geräumigen  und 
wohlgeschmückten  Zimmer,  über  die  Ka- 
mine, die  Verbindungsgänge,  über  das 
Schlaf  gemach  des  Hausherrn  mit  seiner  gold- 
verzierten getäfelten  Decke,  mit  seinem  son- 
stigen Schmuck  und  der  ganz  ungewöhn- 
lichen Pracht  des  Bettes!  Neben  diesem  Zim- 
mer befindet  sich  eine  kleine  Kapelle  des 
Heiligen  Sebastian  mit  einem  aus  kost- 
barem Holz  meisterlich  geschnitzten  Gestühl. 
Alles  ist  innen  und  außen  mit  Malereien 
gesdimückt,  und  obschon  alles  höchst  wert- 
voll ist,  trägt  es  doch  selten  überflüssigen 
Aufwand  zur  Schau,  wohl  aber  einen 
gefälligen  Geschmack  und  maßvolle  Pracht- 
entfaltung  .  . . 

Das  Haus  Raimund  Fuggers,  das  von  dem- 
jenigen Antons  etwas  entfernt  liegt,  aber 
ebenso  fürstlich  eingerichtet  ist,  gewährt 
einen  sehr  anmutigen  Ausblick  auf  die 
Gärten,  deren  einer  unmittelbar  am  Hause 
liegt,  der  andere  durch  die  Straße,  die 
aber  nur  eng  ist,  von  ihm  getrennt  ist. 
Alles,  was  Italien  an  Pflanzen  hervorbringt, 
weist  der  Hausgarten  auf.  Man  sieht  da 
ferner  Blumenbeete,  Gartenhäuschen,  Baum- 
gruppen, Springbrunnen  mit  gegossenen 
Götterbildern.  Auch  ein  Bad  befindet  sich 
dort  am  Hause.  Die  Gärten  des  Königs 
Ludwig  von  Frankreich,  die  wir  einst  in  Tours  und 
Blois  sahen,  haben  mir  nicht  so  gut  gefallen. 
Als  wir  in  das  Haus  eintraten,  sahen  wir  umfang- 
reiche Kamine,  weitläufige  Höfe  und  heizbare  Ge- 
mächer, aufs  prächtigste  ausgeschmückt.  Hier  er- 
blickten wir  ausgesuchte  Gemälde  aus  Italien,  auch 
viele  Bilder  von  Lukas  Cranach  in  höchster  Voll- 
endung. 

Noch  mehr  erregten  unser  Erstaunen,  als  wir  in  das 
obere  Stockwerk  hinaufgeführt  wurden,  die  vielen 
Bildwerke  des  Altertums,  wie  sie  wohl  auch  in  Ita- 
lien kaum  irgendwo  bei  einem  einzelnen  Mann  in 
größerer  Zahl  zu  finden  sind.  Zunächst  betrachteten 
wir  die  ehernen  und  gegossenen  Standbilder.  Weldier 
von  den  alten  Göttern  ist  uns  hier  nicht  mehrmals 
begegnet!  In  einem  anderen  Gemach,  das  nur  Stein- 


Silbeme  Madonna  /  Um  1}00  (von  Seldf) 


Phoio  Stadt.  Kunstsammlunge 


plastiken  enthielt,  sahen  wir  Diana  mit  dem  Mor^  • . . 
Es  wurde  uns  erzählt,  daß  diese  Denkmäler  des 
Altertums  fast  aus  der  ganzen  Welt  zusammen- 
getragen worden  seien,  meist  jedoch  aus  Griechen- 
land und  Sizilien.  Herrn  Raimund  reut  bei  der  Vor- 
liebe, die  er  als  genauer  Kenner  für  die  Wissen- 
schaften des  Altertums  hegt,  keine  Ausgabe,  wenn  er 
solche  Dinge  erwerben  kann.  Daran  erkeimt  man 
den  wahrhaft:  edlen  und  hochsinnigen  Geist  dieses 
Mannnes. 

Viele  Neu-  und  Umbauten  wurden  damals 
durchgeführt.  Es  entstanden  oder  wurden  neu  ge- 
staltet: die  Kirchen  von  St.  Ulrich  und  Heilig  Kreuz, 
die  Dominikanerkirche,  das  Katharinenkloster,  das 
städtische  Gieß-  und  Zeughaus,  das  Palais  des 
kaiserlidien  Kanzlers  Matthäus  Lang,  das  Kornhaus. 


Die  herrliche  Fassadenreihe  der  Via  triumphalis,  der 
Maximilianstraße,  erhielt  in  diesen  Jahren  ihre  Prä- 
gung. „Nie  sah  ich  Glänzenderes  und  Verehrungs- 
würdigeres als  Augsburg",  schreibt  Urbanius  Rhegius; 
und  Enea  Silvio  Piccolomini:  „Es  möchten  wohl 
Fürsten  die  Bewohner  solcher  Häuser  beneiden." 
Betrachtet  man  dieses  Bild  des  goldenen  Augsburg, 
das  noch  durch  manchen  wichtigen  Zug  zu  ergänzen 
sein  wird,  so  muß  allerdings  Huttens  Kritik  hinter 
der  Sdiilderung  eines  anderen  Zeitgenossen  zurück- 
stehen: „Wie  diese  Stadt  in  kurzen  Jahren  hat  zu- 
genommen, in  Reichtum  prächtigen  Lebens,  weiß 
männiglidi  wohl,  der  Augsburg  gesehen.  Denn  ihres- 
gleichen wird  zu  unseren  Zeiten  in  Deutschland 
nicht  gefunden,  etlicher  besonderer  Personen  halber, 
die  an  sich  gezogen  haben  die  höchsten  Kaufmanns- 
händel, die  in  Europa  betrieben  werden;  ja,  ich  höre 
sagen,  in  der  Barbarei  führen  sie  ihre  Hantierung 
und  Gewerbe,  so  daß  durch  sie  ein  überschwenglich 
großes  Gut  erobert  ist  und  sie  für  die  reichsten  Kauf- 
leute geschätzt  werden,  so  nicht  allein  Deutschland, 
sondern  ganz  Europa  zu  unsern  Zeiten  hat.  Es  ist 
durch  sie  die  Stadt  dermaßen  mit  herrlichen  Palästen 
und  Häusern  gezieret  worden,  daß  einer,  der  vor- 
her nicht  dagewesen,  glauben  kann,  er  ginge  in  ein 
Paradies  .  .  .  Die  Bürger  bei  ihrem  prächtlichen 
Wesen  sind  nicht  unfreundlich  gegen  den  Fremden 
und  besonders  gegen  den  Gelehrten,  wie  sie  auch  ge- 
lehrte Männer  im  Rat  und  in  den  Ämtern  haben, 
und  befleißigen  sich,  daß  ihre  Kinder  in  guten 
Künsten  erzogen  werden." 


Ein  neues  festliches  Lebensgefühl  ist  ~der  Ausdruck 
der  weltbürgerlichen  Haltung  und  des  gesteigerten 
Wohlstandes. 

Liest  man  die  Seiten  der  damals  geschriebenen  Chro- 
niken, so  könnte  man  wohl  bisweilen  zu  der  Mei- 
nung gelangen,  das  Leben  der  Stadt  habe  sich  in 
diesen  Jahrzehnten  in  einer  nicht  abreißenden  Folge 
von  Festen  erschöpft;  bis  man  durch  andere  Auf- 
zeidinungen  belehrt  wird,  daß  es  auch  einen  Alltag 
gab;  bis  man  erfährt,  daß,  wie  in  den  künstlerischen 
Dokumenten  der  Epoche  spätgotische  und  renais- 
sancehafle  Elemente  sich  mischen,  so  audi  hinter  der 
heiter  festlichen,  fast  antikisch-heidnischen  Fassade 
solchen  Lebens  und  Treibens  mächtige  und  er- 
schütternde Äußerungen  religiöser  Inbrunst  und 
mystischen  Glaubens  fühlbar  werden,  die  dann 
schließlich  in  den  großen  Kämpfen  des  kommenden 
Jahrhunderts,  in  den  Bewegungen  der  Reformation 
und  Gegenreformation,  nach  außen  drängten. 
Bezeichnend  genug  für  solchen  geistigen  Dualismus 
ist  ein  Wort,  das  Hans  Fugger  bei  der  Bestellung 


einer  Bildtafel  äußerte:  „Ich 's  wollte  andächtig  und 
schön  haben  und  nit  nur  dies,  daß  der  Maler  allein 
sein  Kunstwerk  zeigt  und  weiter  nichts  hat." 
Man  liest  immer  wieder  begeisterte  Schilderungen 
von  Glanz  und  Prunk  der  Turniere,  Wettspiele, 
Auf  züge,  Prozessionen,  Schauspiele  und  Geschlechter - 
tanze,  von  üppigen  Gastmählern,  von  gewaltigem 
Aufwand  in  Mode  und  Tradit.  „Wo  ist  eine  Frau, 
ich  sage  nicht  vom  Adel,  sondern  eine  bürgerliche", 
schreibt  Enea  Silvio,  „die  nicht  von  Golde  glänzt?" 
Ein  vom  Rat  1509  veranstaltetes  Schützenfest 
kostete  —  bei  einem  Gesamtetat  der  Stadt  in  Höhe 
von  53  000  Gulden  —  9000  Gulden.  Von  einem 
Bäckermeister,  der  seine  Tochter  verheiratete,  wird 
berichtet,  daß  er  720  Gäst-e  auf  acht  Tage  eingeladen 
habe.  Es  seien  u.  a.  20  Ochsen,  30  Hirsche,  95  Mast- 
schweine und  1000  Gänse  verzehrt  worden. 
Es  fehlt  naturgemäß  nicht  an  Klagen  über  ein  solches 
Leben  und  Treiben.  „Anno  1519",  heißt  es  in  einer 
Chronik,  „war  große  Hoff art  hier  unter  denBürgern 
und  unter  den  Handwerkern.  Die  Kaiserlichen 
haben  viele  bösen  Sitten  hierher  gebracht,  die  früher 
nicht  zu  beobachten  waren.  Es  geschahen  große 
Spiele  mit  Karten  und  Würfeln,  und  man  war  aus- 
schweifend in  Essen  und  Trinken.  .  So  war  man 
auch  üppig  in  der  Kleidung:  Männer  und  Frauen 
trugen  Marderpelze,  Samt  und  Damast,  köstliche 
Ringe,  Perlen  und  goldene  Ketten,  wie  man  sie  in 
keiner  Stadt  in  deutschen  Landen  findet." 


Mit  der  häufigen  Anwesenheit  Maximilians  in  Augs- 
burg —  ein  Rat  des  französischen  Königs  hat  den 
Kaiser  scherzhaft  einmal  „Bürgermeister  von  Augs- 
burg" genannt  —  hängt  in  der  Tat  diese  im  dama- 
ligen Europa  sprichwörtlich  gewordene  „Augsburger 
Pracht",  aber  auch  manche  nachteilige  Auswirkung 
zusammen. 

„Solange  der  Kaiser  in  der  Stadt  war",  heißt  es  in 
einer  Chronik,  „ging  es  bei  vielen  Handwerksleuten, 
die  dabei  Nutzen  zogen,  hoch  her;  wenn  er  wegzog, 
waren  sie  den  Luxus  gewohnt  und  verdorben." 
Erstmals  hatte  Maximilian  1473  als  Erzherzog  Augs- 
burg besucht,  und  seitdem  weilte  er  fast  jedes  Jahr 
als  Gast  und  Gastgeber  in  seinen  Mauern.  Denk- 
würdige Reichstage  wurden  Irier  abgehalten,  um  die 
der  Dekor  reicher  Feste  sich  entfaltete.  Der  Kaiser 
pflog  gelehrte  Gespräche  mit  seinen  Freunden  Jakob 
Fugger  und  Konrad  Peutinger,  er  gab  hier  die  An- 
regungen zu  dem  Innsbrucker  Grabmal  und  den 
großen,  der  Gescitichte  seiner  Vorfahren  und  seiner 
eigenen  Erlebnisse  gewidmeten  Holzschnittwerken, 
bei  deren  Gestaltung  vor  allem  der  Augsburger 
Burgkmair    mitarbeitete;    denn,    so    sdireibt  Maxi- 


8 


milian  selbst  im  „Weißkunig",  „wer  sich  in  seinem 
Leben  kein  Gedächtnis  madit,  der  hat  nadi  seinem 
Tod  kein  Gedächtnis  und  desselbigen  Menschen  wird 
mit  dem  Glockenton  vergessen." 
Als  der  Kaiser  1518  2um  letztenmal  im  Zusammen- 
hang des  bekannten  Reichstages  in  Augsburg  weilte 
—  damals  hat  ihn  audi  Albrecht  Dürer  porträtiert — , 
haben  ihn  die  großen  Aktionen  der  Innen-  und 
Außenpolitik,  der  Türkenkrieg  und  das  Gespräch 
Luthers  mit  Kardinal  Cajetan,  nicht  davon  ab- 
gehalten, einem  Geschleditertanz  beizuwohnen  und 
einen  Reigen  der  Jungfrauen  anzuregen,  da  ihm  die 
Kavaliere  nicht  zierlich  genug  tanzten.  Dabei  störten 
ihn  die  das  Gesicht  verhüllenden  Schleier  und  er 
ließ  „seiner  Demut  gemäß,  gütig  und  freundlich, 
obsdion  er  dodi  in  kraft  seiner  Kaiserlichen  Majestät 
hätte  gebieten  können",  die  Jungfrauen  bitten,  daß 


sie  „solche  Sdileier  abtun  sollten";  was  denn  audi 
geschah. 

Als  Maximilian,  der  wenige  Monate  später  starb, 
aus  der  Stadt  schied,  sprach  er  die  wehmütigen 
Worte:  „Nun  gesegne  dich  Gott,  du  liebes  Augsburg, 
und  alle  frommen  Bürger  darin!  Wohl  haben  Wir 
manchen  frohen  Mut  in  dir  gehabt.  Nun  werden 
Wir  dich  nicht  mehr  sehen." 

Die  Gestalt  des  „Letzten  Ritters",  die  aus  dem  spät- 
gotisdien  Mittelalter  wächst  und  sich  dabei  ohne 
Zwang  in  den  Formen  des  neuen  Geistes  und  Lebens 
bewegt,  steht  gleichnishaft  für  den  in  Augsburg  — 
im  Gegensatz  zu  Nürnberg  und  Basel  —  ohne 
schwere  Kämpfe  und  radikalen  Umbruch  sich  voll- 
ziehenden Übergang  von  der  Gebundenheit  der  mit- 
telalterlichen Ordnung  in  die  neue  Freiheit  des 
Individuums. 


Karte  der  Weiser-Kolonie  in  Südamerika 


r\  .'.1  Ave,  '  •"'"••• 

■^^        Oy        <^^    Tor^.'-  |V.3,C-M_^ 


I  .».il.ili.ic 

—'Ol  , 


I^^^-Äs^a 


K.a  Ii'gf  öicfe  €>taü  auff  einem  luftigen  Bßl)cl,  t)at 
gegen  (Dticnt  über  öen  £cd)  öas  Bai;rifcf)c  <5tättlein 
Jricöberg,  gegen  JTTiftag  öie  Tllgäuifd)c  Jilfen  unö 
das  ©tätticin  ianösperg,  gegen  ITlitfcrnacf)!  öie 
^I)onau  unö  gegen  öer  ©onnen  Hiöergang  ftö^t  fit 
an  die  !narggrafffc()opt  Burgau,  und  endet  fid)  gu 
Tlugspurg  das  ©cf)£DabenIand,  dacinn  fiie  nocf)  ligjn 
t!)ut.  ?)at  eine  freye  beilfame  £ufft  und  ift  der  Boden 
i)crumb  gor  eben  und  frud)tbar  an  aUeri)and  Jtüd)ten, 
l'edoc^  oi)m  tüeinroa(i)s.  S)at  umb  und  umb  eine 
tocitfc^roeifige  Weyt,  ein  fepft  lctticf)t  (frdreicf),  luftige 
Felder,  jum  ©eoögel  und  anderem  SDildpret  bequem, 
mit  den  fcf)öncftcn  Jßrften  umbgcbcn.  <Es  toird  diefe 
6egend  ringsumb  mit  luftigen  flicffcndcn  Bä(f)en 
oon  lauteren  und  Haren  Brunnenroaffern  begoffen. 


mit  den  fc^ßneften  ©arten  und  £ußt()öufern  darinnen 
gegicret. 

^  öiefe  der  £icatier  öindelicicr  f)aupt=<5tatf,  ]o 
£icatiorum  öamafia  oor  '^dten  gei)eifjen,  i)aben  die 
Körner  eingenommen  und  l)iet)cr  ein  Coloniam  (oder 
Kömifd)  erbauende  JTlenge)  12  Jat^t,  gioeen  ITlonate 
und  fiebenundjiBon^ig  ^ag  oor  (£f)rifti  6eburt  ge= 
füi)ret.  Und  befame  fie  oom  ßayfer  Bufluft»  öen 
Hamen  Jluguftae. 

^  Wae  den  ITcutfc^en  naJ)men  anbetrifft,  fo  ift  auß 
dem  Bugufta  und  Burg  mit  der  2'^it  Tlugspurg  tDor= 
den,  fo  fooiel  als  Bugufti  6tatt  i)tiffd.  Und  ipt 
dencfroürdig,  daß  auß  ungäljlbarcn  «ctötten,  toeldje 
dcß  ßayfcrs  Bugufti  Hatjmen  I)in  und  loieder  in  der 
IDelt  betommen  und  für  andern  berüijmbt  getuefen. 


10 


v^uj)\?iin). 


faft  allein  öicfc  cinißc  <5tatt  nod)  übrig  ift,  fo  ihren 
Hamen  in  fo  oicl  hundert  3af)tcn  nid)t  pccänöert  [)at. 
•!  (Es  führet  L>ic  <ctatt  jum  Süappcn  ein  Pine,  *[rau= 
ben  oöer  Bpfc'/  unö  ift  gu  ocrmuthcn,  toeiln  öicfc 
£anö8art  fpi^igc  nußbäumc  ala  öanntn,  5'C(l)tcn/ 
5of)tcn  unö  £crcf)enböum  i)at,  ßcffcn  ju  geöcncfcn 
eine  öerglei(f)en  $tud)t  in  tas  6taft=5Dappen  fom= 
men  fe^'c. 

«i  6ie  ift,  Don  öct  oben  gemcUcn  Colonia  on  ju 
rechnen,  ungcfchr  fünffhunicrt  unt  fünffgig  Jai^t  in 
öcr  Römer  unö  6o(hen  6eiDalt  gcujcfcn,  oon  öencn 
f^e  unter  6er  Jrandcn  Behcrrfchung  fommcn,  biß  öaß 
008  Kc>mifd)e  Reich  auff  öie  ^eutfcf)en  i?a^;fer  gclan= 
get,  unter  öenen  folgcnösöiefe  Statt  unter  öenen  oon 
ihnen  gefegten  unö  bclehncfen  ßer^ogen  in  6ch!»a= 


ben  getoefcn  ift,  biß  fic  fid)  oon  öcm  letzten  <Eonraöino 
mit  oilem  6clt  fre^;  gemocht  unö  oon  öen  i^a^rfern 
hernach  herrliche  Prioilcgien  erlanget  hat- 
"t  Bnno  1272  hat  öer  Bifchoff  öie  Jurisdiction  unö 
Swey  3ahr  öornach  noch  fd  onöere  6erechtigfeitcn 
mehr  öem  Roth  umb  eine  benonötc  Summe  ©eifs 
unö  ouff  eine  beftimpte  d^ü  ocrliehcn  unö  oetfctst. 
Bnno  1426  hat  ein  Roth  allbie  beym  ßoyfer  Sigio= 
munöo  erlongt,  öoß  öie  öogtcv  öer  Stott  Bugspurg 
Don  feinen  ^oyfcr  nimmermehr  ocrfaufft  oöer  Der= 
pfänöet  loeröen  möcf)te.  Bnno  1551  gob  ßoyfer 
Corolus  V.  öer  Statt  öos  Prioilcgium,  öojj  fic 
JoUfrey  fepn  foUtc  mit  allen  ihren  Sachen,  ujos  fit 
öohin  führcten  unö  wk  fie  es  gleich  herbrächten. 
q  JDos   aber   fonftcn    öos    Regiment   öicfer   wcit= 


11 


L.  Kilian  j  Bildnis  des  Elias  Holl     Photo  Stadt.  Kunstsammlungen 

bctiif)nibf(!n  Keid)8  6fatt  betrifft,  fo  ift  IoI(f)C6  oor 
Reiten  hty  öcn  Patritiis  o6cc  6cfcf)led)tern  geojtfcn, 
unö  tDucöcn  tit  beide  <5taftpflcget  alle  5il)r  neu 
ct£Dcil)(et.  'JWitt  T\nnt>  1368,  als  ©raf  illcicf)  Don 
ßcl^enftein  iTanöocgt  allt)ier  tooccn,  cntftunö  ein 
Bufflauff  Don  öcr  Bürgerfcfiafit  iin6  iDuröc  öatauff 
öen  6ef(f)Iecf)tecn  ibce  6ciDQlt  bcfcftnittcn  unö  gc^ 
ocönet,  6aß  die  6cf(f)Ie(f)ter  nid)t  allein  deß  <5faft= 
Kegiments  toie  bißf)eco  fäf)ig  fcirn,  fondecn  l)infort 
in  f)unöcct  '^a\:)Xtn  unö  einem  ^ag  (mit  n3clcf)ct  2^xi 
6ec  trcutf(f)c  gemeinlid)  öasjcnige,  fo  ciuig  roä'rcn 
foUte/  bcftimpt)  groeen  Burgccmcifter,  einer  auß  öcm 
f)crren  6ef(f)le(f)t,  öer  andere  auß  öen  ^önfften  jäf)r= 
lic^  ettDöf)Iet  toüröen.  JDelc^e  aud)  gleid)en  ©ctoalt 
hätten.  Und  folcfjes  Kegiment  toä'hcete  biß  auffs 
5af}r  1548,  in  toeldiem  l^aufer  Carolus  V.  daffclbc 
mider  änderte,  bccnad)  die  "Sm^it  auffgel)oben  und 
die  gunfftmeiftcr  abgefc{)afft  bot. 
^  Oon  tt)eltlicf)en  ©eböuen  ift  fonderlid)  das  getoaU 
tige  Ratbbauß  ju  beficbtigen,  fo  man  Bnno  I6l6  3U 
bauen  angefangen,  deffen  <5cil  und  3''mnier  auffs 
<5tattlicf)rt  und  übet  die  maffen  gier»  und  föftlirf) 
erbauet  und  3ugeri(f)tcf  feyn.    Und  fte()et  bty  diefem 


Ratl)f)auß  der  fiinftlid)e  Pcrlad)tbucn,  fo  fonderlid)C 
Tlngeig  getoiffer  '^a^ttzitittn  gibt,  bey  dreihundert 
6taffeln  t)od)  ift,  und  man  die  ^taü  daoon  rool  bc= 
ficf)tigen  tonn.  Und  oon  diefem  ^fjuen  tüird  der 
Pla^,  darauff  das  Ratbbauß  ftcl)et,  der  Perlad)  und 
insgemein  Perle  genant,  oon  deffen  Söorts  ilrfprung 
tbeils  meynen,  er  toerde  darumb  der  Berlac^  genant, 
dicroeiln  oorgeiten  Bären  allda  aujfsogcn  toordcn, 
joie  nod)  etliche  alte  ©emäldc  außnicifcn. 
•I  ©onftcn  feyn  nocf)  gtoeen  ftattlid)e  Brunnen  all{)ic, " 
auf  dem  SDeinmardt  und  oor  dem  ßorn=  und  Jjöebec» 
bauß,  a)eld)es  aud)  tool  erbauet,  toeil  die  Jücbecgunfft 
die  gröffte  allbie  feyn  foUe.  Bis  in  ioeld)er  gu  ßayfers 
JTIaiimiliani  deß  Bndern  Reiten  1600  IHeifter  und 
darüber  gcjeblet  toorden,  a3eld)e  alle  oiel  Äned)t  und 
ein  groß  ©cfind  gu  balten  pflegen,  fo  allerlcy  des 
f)üpfd)ten  und  beften  Bard)et  und  Pommcfin  bcreyten 
und  mad)en. 

«{  öie  JTle^ig  ift  ein  ^ayferlid)  Beneficium  und  loird 
den  Bürgern  difes  f^andtoerrf  dur(^  die  Ferren 
trrud)fcffen  oon  lüoldpurg  oerlicbcn. 
■l  üor  dem  3acober  ^bor  und  in  fclbiger  Oorftatt 
ift  die  Juggerey,  dal)cr  den  Habmen,  iceiln  illrid), 
©eorg  und  ^acob  die  Jugger  ©ebrüder  umbs  '^a\)t 
1519  etlid}e  oiel  ©arten,  f)öf  und  f^äufer  crfaufft 
und  bundertundgebn  ©emad)  allda  erbauet,  darinnen 
allein  baußarmc  £eut,  fo  das  BJniofen  nit  nebmcn, 
fäbriid)  einer  umb  ein  ©ülden  unterboltcn  toerden. 
3u  Bnfang  des  1642.  Rabies  toaren  jajcyundfünffäig 
ßäufer,  deren  jedes  bot  jujey  ©emad),  das  untere  ein 
ßofflein  oder  ©ärtlein,  das  obere  aber  darfür  einen 
Boden,  ©ibt  ein  ©emod)  deß  '^a\)tt9  ein  ©ülden 
3inß.  Und  toann  ein  ©enoß  oon  dem  endern  \tnU, 
fo  bleiben  JDittiber  und  'OiiHib  obnoerttieben.  tüann 
aber  ein  fold)e  Perfon  joieder  oerf)ciratct,  fo  muß  fic 
alsbald  l)erauß. 

•}  €3  bobcn  fid)  in  diefer  ^taü  je  und  allegeit  oiel 
dendtoürdige  ©adjen  gugetragcn,  deren  toir  allein 
ßür^e  balber  e'tlid)e  »eniger  gedenrfen.  Bis  daß  man 
mill,  daj3  diefe  ©fatf  Bnno  «tbtifti  451  00m  Bttila 
übel  oertoüftet  toorden  feyn  follc.  ^un  geyten  ßoyfers 
€>ttonis  des  ©roffen  ift  fie  oon  feines  ©obns  £uitoU 
pbi  und  trod)tcrmanns  Cunradi  rcbellifd)en  Bnbcin= 
gern  eyngenommen  und  mit  ©djroerdt  und  Jeucc 
übel  gugetid)tet  toorden.  Befagtcr  ßayfer  bot  Bnno 
955  bcy  diefer  ©tatt  auf  dem  £ed)feld  die  Ungarn 


12 


gänt^lid)  erlegt.  Und  noeiln  6ie  U)ebcc3un|ft  eines 
Ungatifdjen  (Dberften,  fo  in  öcc  (5d)Iacf)f  geblieben, 
6(f)ild  unö  IDaffcn  unter  anöcrn  Beuten  erobert,  als 
führet  fie  L^iefelbigc  nocft  lieutigs  «Tags  in  ihrem 
iDappen,  uni>  fepn  i>er  'öd)Ui>  unö  ^eim  mit  rotl) 
unö  gelben  <Ducrftricf)en  abgctbcilct. 
^  Bnno  1CS4  ift  6ic  Statt  oon  iTlarggraf  £eopoI6 
au^  (Peftcrreid)  un6  fiert^og  ficrmann  ou(5  <cd)u)abcn 
jcrriffcn  un6  3um  guten  »Tbcil  oerbrant  toor^en.  ilnö 
faum  nad)  4  llabccn  t)at  £)ert;og  ü)dft)  auß  Bayern 
öas  übrige  3crfd)leiITt,  oerbrant,  ök  Waurcn  eyn= 
geujcrffcn  uni\  öem  Bol^en  eben  gemacht. 
■]  Bnno  1415  fcpn  Cie  «Paffen  unö  ©iraffen  erftlivf) 
gu  Bugspurg  gepfläftert  rocröen.  J\nno  1418  a^ar  es 
alll}ie  gar  tDolfeyl,  öaß  ein  Pfunö  Kin6fleifcf)  3  £)cller, 
ein  Pfunöt  6d)malt5  umb  4  Pfenning,  ein  5wcv= 
pfünöig  iTJaßi  Herfcrmein  umb  3  Pfenning,  ein 
ßarren  doU  6cficiötliolt^  umb  10  <ßrofcf)cn  un6  3 
f)cnnen=<£yer  umb  einen   ßcUer  ocrfaufft  i»ur6en. 


Bn.  1420  fturben  aUI)ic  an  öer  Pcft  16000  Per= 
fönen,  item  Bn.  1642  in  öie  eylfftaufenö  Pcrfonen, 
ujeldie  f^rancflieit  auch  i>os  folgend  ^ahr  bcynahcnö 
öen  Dierl^ten  iTbeil  l^c^  JlTenfchcn  binsceg  genommen. 
Bnno  1473  gab  man  ein  Sllafj  Jücin  umb  3  Pfenning 
unö  fcyn  fclbigcr  3eit  120  Jüirth  oöer  IDcinfchencfcn 
allöa  getoefen.  örauff  Bnno  74  öie  »Schcnrfmaß 
fleincr  gemacht  iBoröcn. 

oj  Don  (Pftern  Bnno  1559  bi^  <Dftcrn  1560  unö  aJfo 
in  einem  ^ahr  muröen  allhic  öreysehcntaufcnö  (Ochfen 
gcfchlachtet.  (Es  mar  gicichmol  auch  in  befaßtem 
59.  lai)v  ein  Reichstag  aüta.  Bnno  1565  i»ar  öie 
erfte  üeichprcöigf  bcy  öer  Bcgcäbnuß  cThomac  «Stahls 
aUhie  gehalten.  Bnno  1632  ift  öiefe  &att  im 
Bprilcn  Dom  ßönig  Böolpho  auß  ©chiBeöen  belagert 
unö  eyngenommcn,  folgenös  aber  oon  öen  ßayfcri= 
fchen  Bnno  1634  unö  35  alfo  blocquirt  gehalten 
tDoröen,  öaß  fie  [ich  roegcn  groffer  f^ungcrsnoth  hat 
ergeben  muffen. 


5lu6  6cv  Topographia  Gsrmaniae  lVs  JHattbacuS  51unan 


Jonas  Ostertag  j  PerLidj'.urm  und  Rathaus 


Photo  S.  Rostra 


13 


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GÖTZ  FREIHERR  VON  PÖLNITZ 


DIE  fUGG6R 

SCHICHTUNG   GINGS  CGSCHLGCHTS 


Augsburgs  Geschichte  ruht  in  den  Zeiten  der  Reidis- 
stadt  auf  den  Schultern  seiner  großen  Familien,  der 
Berufsfamilien  der  Zünfte  wie  jener  der  ihrer  Mitte 
entsprossenen  oder  im  Widerstreit  mit  diesen  auf- 
gestiegenen Geschlechter.  Zu  beiden  Gattungen,  zu 
den  Zünften  und  zu  den  berühmten  Einzelgängern, 
zählen  die  Fugger.  Sie  lassen  sich  in  keinen  Typ 
einfangen  und  erscheinen  doch  typisch  für  das 
Werden  und  Sich-Formen  großer  Häuser,  vor  allem 
haben  sie  das  historische  Profil  Augsburgs  in  einzig- 
artiger Weise  geprägt. 

Seit  1367,  knapp  vor  dem  Sturz  des  aristokratisdien 
Regiments,  in  der  Stadt  ansässig,  schwangen  sich 
die  Nachkommen  jenes  Hans  Fugger,  der  aus  dem 
Lechfelddorf  Graben  zuwanderte,  binnen  eines 
Jahrhunderts  in  die  Spitzengruppe  der  Großver- 
mögen  auf.  Angeborene  und  ererbte,  durch  Gene- 
rationen gezüchtete  Tüchtigkeit,  verbunden  mit 
guten,  erheirateten  Beziehungen  zu  führenden  Fami- 
lien der  Weber,  Kaufleute  und  Goldschmiede, 
schenkten  ihnen  solchen  Erfolg.  Jedoch  er  reihte  sie 
noch  nicht  in  jene  kleinste  Gruppe  ein,  deren  Glanz 
den  europäischen  Ruf  der  Lechstadt  begründete  und 
deren  Handelszeichen  von  Spanien  bis  Kleinasien, 
von  Skandinavien  bis  Nordafrika,  vornehmlich  aber 
an  den  Brennpunkten  großer  Wirtschaft,  wie  zu 
Venedig,  Brügge  oder  Iwangorod,  mit  scheuer  Be- 
wunderung betrachtet  wurden. 

In  der  Geschichte  der  Fugger  läßt  sich  von  keiner 
eigentlidien  Gründergeneration  sprechen.  Sie  besteht 
in  keiner  der  beiden  nach  ihren  Wappenbildem 
unterschiedenen  Linien  der  „Fugger  vom  Reh"  und 
der  „Fugger  von  der  Lilie".  Jene  Folge  früher  Gene- 
rationen, die  vom  Tage  der  Einwanderung  an  bis 
zur  Verleihung  dieser  Ehrenbriefe  Kaiser  Fried- 
richs in.  hin,  also  bis  zur  Befestigung  der  Firma  in 
der  öffentlichen  Finanz  dauert,  stellt  vielmehr  ein 
geschlossenes  Ganzes  dar,  so  reich  es  durch  mannig- 
fache Persönlichkeiten  in  sich  gegliedert  erscheint.  Es 
ist  das  übrigens  bezeichnenderweise  beinahe  die  ein- 
zige Epoche,  in  der  die  Fugger  nach  zünftischen  oder 
kommunalen  Ämtern,  nach  Führung  innerhalb  der 
Stadt  und  nicht  in  erster  Linie  über  die  Stadt  hin- 


aus, mindestens  in  bestimmten  Vertretern,  strebten. 
Aber  selbst  diese  Individualitäten  vermögen  darüber 
nicht  hinwegzutäuschen,  daß  sie  bloß  historisches 
Detail,  gleichsam  Anekdote  im  Gesamtroman  ihres 
Hauses  sind,  der  sich  in  weit  umfassendere  Kapitel 
ordnet.  Nicht  aus  wenigen  Generationen  —  den 
meist  üblichen:  der  Erwerber,  Ererber  und  Ver- 
derber, sondern  aus  einer  Anzahl  von  Generations- 
gruppen, die  ihresteils  gefügte  Einheiten  darstellen, 
ist  das  Geschick  dieses  einzigartigen  Hauses  genea- 
logisch und  soziologisch,  politisch  und  wirtschaftlich, 
geistig  und  kulturell  aufgebaut. 
Die  erste  dieser  Schichten,  vom  Beginn  des  vier- 
zehnten bis  zur  Neige  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  ' 
reichend,  vollbr;  "ite  die  Übersiedelung  aus  dem 
bäuerlichen  Milieu  schwäbischer  Heimweber  an  die 
Augsburger  Reichsstraße  und  damit  in  ein  Zentrum 
europäischen  Handels  sowie  internationalen  Ver- 
kehrs. Es  blieb  von  wegweisender  Bedeutung,  wenn 
folgende  Generationen  nicht  mehr  draußen  auf  dem 
Lande,  sondern  zwischen  städtischen  Warenlagern, 
Verkaufsständen  und  Rechenpulten  heranwuchsen. 
Durch  ihre  frühe  Jugend  dröhnen  bereits  das  Poltern 
und  Ächzen  hochbeladener  Kaufmannswagen. 
Der  Vermögensanstieg  der  Frühzeit  ist  bereits  be- 
achtlich, hält  sich  indes  noch  im  Rahmen  des  Ver- 
gleichbaren. Ebenso  überschreitet  die  kulturelle 
Betätigung  noch  kaum  den  Bereich  üblicher  bürger- 
licher Stifterfreude.  Die  Frauen  entstammen  an- 
gesehenen Meisterfamilien  und  weisen  nur  vereinzelt 
in  den  Kreis  der  hohen  oder  höfisciier  Finanz.  An 
Bildnissen  hat  sich  aus  dieser  ältesten  Epoche  ein 
einziges  bewahrt,  das  Porträt  Jakob  Fuggers  des 
Alten  von  unbekannter  Hand.  Es  zeigt  zwischen 
aller  Verzeichnung  ein  derbes,  hartes  Gesicht.  Soviel 
der  goldene  Hintergrund  der  Gestalt,  Pelzhaube, 
Verbrämung,  Ringe  und  Ketten  auf  den  ansteigenden 
Reichtum  deuten,  so  könnte  man  sich  doch  seinen 
Träger  auch  an  Pflug  und  Webstuhl  denken. 
Bezeichnend  .dünken  ferner  die  geistlichen  Berufe. 
Insoweit  sie  von  Kindern  der  damals  ausgesprochen 
bürgerlichen  Familie  ergriffen  werden,  handelt  es 
sich     um     rechtschaffene     Nonnen     in     angesehenen 


Deckengemälde  im  Goldenen  Saal 
Photo  Stade.  Bauverwaltung 


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Klöstern  ider  Reichsstadt  oder  um  vereinzeJte  Söhne, 
die  anscheinend  nicht  nur  aus  geistlicher  Sendung 
den  geweihten  Stand  wählen.  Sie  sollen  zugleich  — 
zum  Beispiel  als  Scriptoren  höchster  kirchlicher 
Behörden  —  für  Fam'ilie  imd  Firma  Raum  und 
Bahn  im  Schatten  von  St.  Peter  sichern.  Auch  der 
jüngste  Soihn  dieser  ältesten  Phase,  seinesteils  wirk- 
lich Bahnbrecher  des  großen  Zeitalters  der  Fugger 
für  seine  Familie,  für  die  Reichsstadt  und  für  die 
Welt,  Jakob  der  Reiche,  hat  als  Chorherr  in  einem 
kleinen  fränkischen  Stift  begonnen. 
Als  ihn  der  Tod  älterer  Brüder  ins  Geschäft  ruft, 
vollzieht  sich  ein  Strukturwindel,  der  binnen 
weniger  Jahrzehnte  von  unerhörter  Dichte  einen 
neuen  Menschen-  und  Geschäftstyp  formt  und  damit 
zugleich  die  entscheidende  Schicht  in  dem  Geschicke 
seines  Hauses  zur  Entfaltung  bringt.  Freilich  auch 
diesmal  ist  es  bei  genialer  Einmaligkeit  der  Be- 
gabung kein  gewaltsames  Geschehen  von  heute  auf 
morgen,  gesdiweige  denn  ein  unversehenes  Geschenk 
des  Lel>ens  an  irgendeinen  seiner  verwöhnten  Lieb- 
linge, vielmehr  zäheste  Arbeit  bis  ins  kleinste,  die 
den  Umschwung  auslöst.  Die  Anfänge  einer  italieni- 
schen, Tiroler  und  Augsburger  Lehrzeit  verraten 
nach  außen  nichts  Ungewöhnliches.  Der  dichte 
Schleier  des  GJeheimnisses,  hinter  (^an  sich  die  lang- 
same Ablösung  der  älteren  Brüder  Ulrich  und  Georg 
Fugger  durch  den  jüngsten,  Jakob,  sein  Aufstieg 
zum  „rechten  Schaffierer"  der  Gesellsdiaft  vollzieht, 
läßt  sich  nicht  zerteilen. 

Sichtbarer,  wenngleich  auch  vielfach  verdeckt,  ge- 
schieht der  unerbittlidie  Kampf  mit  der  Konkurrenz, 
der  sich  zumeist  jenseits  der  schwäbischen  Heimat 
abspielt.  Schrittweise  rückt  die  Gesellschaft  „Ulrich 
Fugger  und  Gebrüder"  an  die  Spitze  der  öster- 
reichischen Staatsgläubiger  vor,  gewinnt  die  unein- 
geschränkte, viel  befehdete  Kontrolle  über  die  Berg- 
sdiätze  Tirols,  der  Tauern,  Ungarns  sowie  weiter 
Teile  von  Schlesien,  Böhmen  und  Spanien. 
Andere  hatten  zuvor  Ähnliches  versucht,  kaum  in 
wesentlich  geringerem  Ausmaß.  Jedoch  fundamental 
unterschieden  durch  Konzeption  wie  Format  der 
Durchführung  erweist  sich  das  Fuggersche  Beginnen 
infolge  planmäßiger  Koppelung  seines  Vorhabens 
mit  -dem  kühn  aufgebauten  System  politischer 
Finanzen,  die  zur  beinahe  programmatischen  Identi- 
fikation des  österreichischen  Großmachtstrebens  von 
Maximilian  I.  bis  Philipp  IL  mit  der  urnfassenden 
Ausbreitung  der  Fugger  in  Handel,  Bergbau  und 
■  Finanz  führt.  Das  fordert  zeitweise  empfindliche 
Verlustgeschäfte,  gestattet  dafür  aber  derart  ge- 
wichtige Eroberungen  wie  die  Einschaltung  der 
Fugger  in  das  slowakische  Montanwesen,  einen  Er- 
folg, den  die  Firma  durch  die  finanzielle  Vermitte- 


lung  der  österreichisch-ungarisch-böhmischen  Erb- 
heiraten sich  selbst  sichert  und  dem  Erzhaus  ent- 
lohnt. 

Fast  noch  mehr  von  Ungarn  als  von  Augsburg  aus 
vollzieht  sich  die  transkontinentale  Organisation  des 
Fuggerschen  Geschäftes,  wird  jenes  Netz  von  Straßen 
mit  Faktoreien  als  Knotenpunkten  geknüpft,  das 
sich  nicht  bloß  über  das  Reich,  sondern  über  sämtdidie 
europäischen  Räume  erstreckt,  Balkan  und  Adria, 
Lombardei  und  Pyrenäenhalbinsel  nicht  minder  er- 
faßt als  Polen  und  Baltikum,  die  durch  Sund  und 
Belt  nach  Skandinavien  vorgreift,  über  Antwerpen 
zur  Atlantischen  Küste  ausholt  und  in  vereinzelten 
Ausläufern  bis  ins  innere  Frankreich  und  an  die 
Themse  sich  vorwagt.  Wer  sich  ihr  zu  widersetzen 
versucht,  und  seien  es  die  Hanse  oder  Sienesen,  wird 
in  politisch-finanziellem  Zweikampf  unbarmherzig 
erledigt. 

Nun  fragt  sich  allerdings,  woher  die  Mittel  zu 
solchem  Unterfangen  kommen,  das  vor  dem  Eingriff 
in  rein  kirchliche  Sphären  keineswegs  haltmacht,  das 
Konklaven  beeinflußt,  römische  Kaiser-  und  Königs- 
wahlen entscheidet,  hier  Kriege  finanziert  und  dort 
Frieden  stiftet,  ein  diplomatisches  Nachrichtenwesen 
sondergleichen  entfaltet,  Zeitungen  und  Post  orga- 
nisiert, für  die  Söhne  des  Fuggerschen  Geschlechtes 
die  Würden  von  Reichsgrafen  und  Edlen  des  König- 
reichs Ungarn  erlangt,  ausgedehnte  Herrschaften  an- 
sammelt, in  die  Tiefe  seiner  Schatztruhen  die 
Juwelen  des  Burgunderherzogs  neben  jenen  des 
Sultans  versenkt  und  dabei  in  Wesen  wie  Erschei- 
nung bei  Jakob  dem  Reichen  letzthin  bürgerlich  aus- 
gerichtet bleibt. 

Man  hat  die  Ausschaltung  jeglichen  fremden  Blutes 
aus  dem  Fuggerschen  Unternehmen  frühzeitig  be- 
obachtet, allein  zu  voreilig  daraus  geschlossen,  dieses 
sei  somit  kapitalmäßig  ausschließlich  von  der  eigenen 
Familie  getragen  worden.  Demgegenüber  haben  neue 
Forschungen  das  Bündnis  der  Fugger  mit  dem  Ver- 
mögen der  toten  Hand,  den  verborgenen  Geldern 
ungarischer  Prälaten  und  von  Kurienkardinälen  ge- 
offenbart. Damit  gewinnt  auch  die  Verflechtung  in 
die  kurialen  Staatsfinanzen  —  mitunter  im  Gegen- 
satz zu  den  Interessen  der  Kunden  im  Heiligen 
Kolleg  — ihre  eigene  .Beleuchtung. 
Die  Zeit  wußte  von  der  starken  Beteiligung  der 
römischen  Fugger-Filiale  nicht  bloß  bei  der  päpst- 
lichen Münzprägung.  Sie  kannte  Jakobs  Anteil  bei 
der  Pfründenvermittelung  und  der  Organisation  der 
letzten  spätmittelalterlichen  Großablässe.  Nahm 
man  die  offenkundige  Verbindung  tmit  Johannes  Eck 
und  seine  in  Fuggerschen  Diensten  gewagte  Vertei- 
digung der  Zinswirtschaft  hinzu,  die  einen  kühnen 
Vorstoß  gegen   die  mediävale  Wirtschaftsechik   des 


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heiligen  Thomas  wagte,  schien  der  hintergründige 
Zusammenhang  der  Dinge  einfach  und  mehr  als 
durchsichtig  dargetan. 

In  den  Augen  der  Luther  und  Hütten  arbeitete 
Fugger  aus  materieller  Intercssenverknüpfung  für 
das  römische  Papsttum,  und  es  schien  darum  zum 
höchsten  an  der  Zeit,  ihm  „einen  Zaum  ins  Maul" 
zu  legen.  Sogar  das  Wormser  Edikt  gegen  den 
Reformator  dünkte  einer  Welt,  die  von  der  finan- 
ziellen Allgewalt  des  Augsburgers  gebannt  war, 
durch  sein  Eingreifen  ausgelöst. 
Ähnlichen  Vorstellungen  blieb  selbst  das  neuere  Bild 
angepaßt,  das  in  Jakob  Fugger  den  Vertreter  eines 
deutschen  Renaissancemenschentums  und  Vorläufer 
modernen  Unternehmertums  in  einer  Person  mit 
dem  Prototyp  der  abendländischen  FrühkapütaListen 
feiert.  Irreführend  wie  alle  zu  einfache  Deutung 
komplexer  menschlicher  Vorgänge  erweist  sich  bei 
näherem  Zusehen  auch  diese.  Es  ist  nicht  der  Kampf 
um  die  Macht  allein,  jenes  schier  dämonisch  rastlose 
Warkenwollen,  „dieweil  er  könne",  das  Fugger  be- 
herrscht. Nicht  das  mindeste  vom  italienischen  Über- 
menschen der  Renaissance,  nichts  von  zynischem 
Jenseits-von-Gut-und-Böse  umwittert  die  Gestalt 
eines  Bürgers,  der  für  sich  und  sein  schönes,  doch 
verwirrendes  Weib  Indulgenzen  erwirbt,  der  die 
erste  deutsche  Renaissancekirche  baut,  aber  bis  ins 
Mark  gotisdi  fühlt,  der  vermeintlich  über  Leichen 
sdireitet  und  dabei  mit  seiner  ersten  abendländischen 
Armensiedelung,  der  Augsburger  „Fuggerei",  dem 
heidnisch  fühlenden  Literatentum  seiner  vornehmsten 
Kritiker  ein  säkulares  Zeugnis  christlicher  Bruder- 
liebe entgegenstellt,  der  nur  scheinbar  den  Pomp 
italienischer  Palazzi  in  deutschen  Patrizierhäusern 
einführt,  in  Wirklichkeit  aber  mit  spätmittelalter- 
licher Schlichtheit  stirbt  und  über  seinen  Hausrat  bis 
zur  eigenen  Bettstatt  und  deren  Kissen  so  gewissen- 
haft verfügt  wie  irgendein  alter  Weber. 
Durch  seine  einzigartige  Gestalt,  die  bei  mancher 
Einseitigkeit  an  das  Geniale  hinreicht,  hat  Jakob 
Fugger  den  klassischen  Typ  oberdeutschen  Kauf- 
herrentums, das  viel  gepriesene  „Goldene  Augsburg" 
verkörf)ert.  Er  gestaltet  dabei  zugleich,  und  das 
wahrscheinlich  weit  bewußter,  die  innere  Form 
dieser  zweiten,  eigentlich  herrenhaften  Schicht  im 
Generationsgefüge  seines  Hauses.  Allerdings,  der 
Neffe  und  Nachfolger,  Anton  Fugger,  ist  dabei  vom 
Oheim  nicht  zu  trennen,  obsdion  sich  bei  ihm  die 
gleiche  Problematik  bereits  um  den  Winkel  einer 
Generation  versdioben  wiederholt.  Während  in  dem 
Alten  die  Gegensätze  noch  dichter  beisammen- 
wohnen, das  Mäzenatische  erst  am  Rande  auftaucht, 
die  Versuchung  einer  sozialen  Verwandelung  nodi 
kaum   empfunden   wird,   weil   der  vielseitige   Span- 


Hans  Holbein  d.  Ä.  /  Jakob  Fugger  der  Reiche  (U59-i525) 

Photo  Birzele  und  Przibilla 

nungsgehalt  der  unerhörten  Persönlichkeit  auch  die 
Vereinigung  des  vermeintlich  Widersprechenden 
einmal  gestattet,  klaffen  unter  den  nächsten  Neffen 
die  Gegensätze  bereits  auseinander. 
Dennoch  kann  von  Epigonentum  nirgends  die  Rede 
sein.  Abwegig  wäre  die  Frage,  wer  von  beiden  — 
Jakob  oder  Anton  —  der  Größere  gewesen  sei,  ab- 
wegig, weil  falsch  gestellt.  Wertlos  bleibt  erst  redit 
die  andere,  wer  von  ihnen  der  Reichere,  da  sie  an 
das  Problematische  von  Persönlichkeit  und  Werk 
überhaupt  nicht  rührt.  Ohne  Jakob  ist  kein  Anton 
Fugger  denkbar.  Und  wenn  der  Jüngere  sich  mit 
spanischen  Quecksilbergeschäften  bis  in  die  Gefahr 
des  Ruins  verflicht,  Spekulationen  mit  niederländi- 
schen Staatspapieren  riskieren  muß,  toskanische  und 
neapolitanische  Operationen  mitunter  über  den 
Rand  des  wahren  Vermögens  hinaus  eingeht,  ist  er 
selbst  hierin  ebenso  Vollender  des  Erbes,  des  „Stils", 
seines  angeblich  vorsichtigeren  Oheims  wie  bei  den 
Königswahlen  und  in  der  Finanzierung  der  sieg- 
reichen wie  von  Rückschlägen  überschatteten  Heer- 
züge Karls  V.  und  Philipps  IL,  —  nur  eben  etwas 
verwandelt  in  den  Maßstäben  der  Zeit. 


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Hierin  kündet  sidi  diese  Wandlung  an,  die  bei  den 
Brüdern  und  Vettern,  erst  redit  bei  Söhnen  und 
Neffen  zur  Abkehr,  wenn  nicht  zu  einer  Art  Verrat 
am  Überkommenen,  richtiger  gesagt  zum  Durch- 
bruch einer  neuen  Schicht  und  ihrer  Haltung  zum 
Leben  führt.  In  der  wohlgemeinten  Absicht,  Große 
noch  vergrößern  zu  sollen,  haben  posthume  Bio- 
graphen Jakob  dem  Reichen  Sammlungen  und 
Bibliotheken  angedichtet,  die  nie  sein  Eigen  waren. 
Im  Gegenteil,  das  samm- 
lerische Moment  wird  zu 
einem  der  Charakteristi- 
ken der  nächsten  Genera- 
tionengruppe. Diese  Men- 
schen, übrigens  schon  An- 
ton und  sein  Bruder  Ray- 
mimd  Fugger,  können 
mit  Hingebung  sammeln, 
sie  sind  Menschen  ohne 
jene  verhaltene  Bändi- 
gung des  Charakters,  die 
ihren  großen  Oheim  aus- 
zeichnet. 

Auch  die  literarischen  Be- 
ziehungen, Humanisten- 
korrespondenzen, die  För- 
derung der  antiken  For- 
schung, der  Aufbau  der 
Bibliotheken  sind  Eigen- 
schaften, die  für  die  neue  Generationsschicht  be- 
zeichnend sind,  mitunter  aber  zum  Verhängnis 
werden  können.  Die  Faktoreien  dienen  ihnen  bereits 
fast  mehr  zur  Befriedigung  differenzierten  Lebens- 
genusses durch  Vermittelung  wertvoller  Bilder, 
Gläser,  Teppiche,  Bronzen  und  Stoffe  denn  als  Um- 
schlagplätze des  internationalen  Handels. 
Diese  Veränderung  der  Fugger  haftet  nicht  an  der 
Oberfläche.  Man  begnügt  sich  nicht  mit  der  üppi- 
geren Ausschmückung  des  eigenen  Ambiente,  einer 
breiten  Zurschaustellung  von  Luxus  oder  Genuß. 
Zugrunde  liegt  ein  raffinierteres  Lebensbedürfnis, 
das  sich  aus  der  Gesamtneigung  der  Zeit  speist,  hier 
freilich  außerdem  nodi  in  einer  blutmäßigen  Wand- 
lung des  Geschlechts  wurzelt. 

Mit  den  Nichten  und  Neffen  Jakobs  verschieben 
sich  an-  und  eingeheiratete  Familien  aus  dem  ur- 
sprünglich kaufmännisch  -  bürgerlichen  Bezirk  in 
Kreise  landgesessener  Ritterschaft.  Man  hält  sich 
auch  räumlich  nicht  mehr  im  Schwäbischen,  vermählt 
sich  mit  Töchtern  vornehmer  Geschlechter,  schließ- 
lich des  hohen  und  höchsten  Adels  aus  dem  gesamten 
Reich.  Erstmals  durch  die  Ehe  Raymund  Fuggers 
wie  seiner  Schwester  knüpfen  sich  Verbindtmgen  zu 
ungarisch-polnischen    Kaufmannsfamilien,    die    zu- 


nächst einer  Befestigung  des  gemeinsamen  Handeis 
mit  den  Thurzo  als  Magnaten  osteuropäischer  Wirt- 
schaft dienen  sollen.  Diese  Heiraten  leiten  bezeich- 
nenderweise schon  in  der  ersten  Generation  östliches 
Brauchtum  in  die  Reichsstadt,  so  wie  die  italienisdieu 
Beziehungen  der  Fugger  ihr  eine  Fülle  kultureller 
und  künstlerischer  Anregung  beschert  hatten. 
Das  klar  Geschlossene,  Bestimmte  und  Sichere,  in 
sich  Feste  des  Lebens  geht  durch  die  fremden  Ehen 

unmerklich  verloren.  An 
die  Stelle  des  bisher  bür- 
gerlichen Lebensgefühls 
tritt  ein  adoptiertes  sozi- 
ales Ideal  gemäß  der 
neuen  blutmäßig  gemisch- 
ten Substanz  infolge  der 
unglaublich  anziehenden, 
zwielichthaften  Situation 
von  Menschen,  die  auf 
der  Grenze  zwischen  zwei 
Welten  stehen. 
Leidenschaftliche  Samm- 
ler eröffnen,  wie  gesagt, 
den  Reigen.  Zu  ihren 
Schätzen  zählen  die  merk- 
würdigsten Raritätenka- 
binette Oberdeutschlands. 
Als  Antrieb  überwiegt  da- 
bei nicht  das  Bedürfnis  zur 
Stapelung  von  Sonderbarkeiten,  vielmehr  ist  ihr 
Trieb  beherrscht  von  einer  geistigen  Bewältigung 
des  Daseins,  die  in  der  Pflege  italienischer,  deutscher 
und  niederländischer  Bilder,  antiker  Gemmen  oder 
Plastiken,  mittelalterlicher  Bücher,  —  darunter  der 
Manessesdien  Handschrift  —  eine  Erfüllung  des 
eigenen  Lebens  sucht  und  findet. 
Das  Fuggerhaus  zu  Augsburg  wird  unter  Johannes 
Fugger  zu  einem  echten  Juwel  europäischer  Wohn- 
kultur, seine  Räume  in  dem  schwäbischen  Schlosse 
Kirchheim,  hauptsächlich  durch  den  berühmten 
Cedernsaal,  zum  vornehmsten  Ausdruck  dieses  diffe- 
renzierten, stark  herrenhaften  Lebensgefühls  der 
Schicht  um  1580.  Gewiß  hatte  der  Burgenerwerb 
schon  in  der  Zeit  des  großen  Handels  begonnen, 
indes  er  gewann  erst  jetzt  innere  Wichtigkeit.  Nun 
erscheinen  die  Schlösser  nicht  länger  als  kaufmän- 
nische Vermögensanlage,  selbst  nicht  als  benötigter 
Umraum  des  Lebens.  Sie  werden  zur  Emanation  des 
neuen  Lebensinhaltes  und  fast  schon  zum  Selbst- 
zweck für  ein  Mischgeschlecht  von  Kaufherren  und 
Rittern,  das  sich  hieran  menschlich  verschwendet. 
Nicht  zuletzt  beginnen  die  Liebhabereien  sich  merk- 
lich zu  ändern.  Man  huldigt  der  Jagd  bis  zur  Hem- 
mungslosigkeit, schreibt  Bücher  (was  für  den  großen 


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Jakob  schon  zeitmäßig  unvorstellbar  geblieben 
wäre),  oder  läßt  solche  schreiben  über  das  Gestüt- 
wesen, über  geschichtliche  Themen,  die  Genealogie 
des  eigenen  Hauses.  Daneben  entstehen  geheime 
Manuskripte  mit  den  Horoskopen  sämtlicher  Mit- 
glieder der  Familie,  und  Jörg  Fugger  fahndet 
schließlich  in  verborgenen  Laboratorien  höchstper- 
sönlich nach  dem  Seein  der  Weisen,  den  seine  Ahnen 
im  Bergbau  und  auf  den  Märkten  suchten.  War  eine 
frühere  Generationsschicht  unzweifelhaft  persönlich 
reicher  gewesen  als  die  beginnenden  Verschwender, 
so  hat  diese  Gruppe  dafür  die  Welt  umher  desto 
reicher  gemacht,  da  sie  aus  ihrer  Fülle,  dem  Über- 
angebot ihrer  Persönlichkeiten,  sich  nach  allen  Rich- 
tungen hin  menschlich  verspendete. 
Manchmal,  wie  bei  Johann  Jakob  Fugger,  gehen 
dabei  bereits  der  innere  und  äußere  Halt  verloren. 
Der  Handel  leidet.  Der  private  Konkurs  wird  müh- 
sam vertusdit.  Im  ganzen  aber  bleiben  die  Ernst- 
haftigkeit des  Lebens  und  das  innere  Gesicht  des 
Daseins  gewahrt.  Die  mit  steigendem  Gefühl  für 
den  Eigenwert  angelegten  Porträtwerke  zeigen 
männliche  Gestalten  von  imponierender  Statur. 
Allerdings,  die  gemeißelten  Schädel  der  ersten  Gene- 
rationen tauchen  nicht  wieder  auf.  Dafür  finden  sich 
vornehme,  mitunter  müde  oder  träumerische  Kava- 
liere, häufig  nach  der  Tracht  eines  Philipp  IL  ver- 
halten sdiwarz  in  schwarz  gekleidet.  Das  Dunkel 
ihrer  Gewandung  wird  nur  sparsam  überhöht  von 
feinen,  feierlichen  Krausen  und  dem  Gefunkel  eines 
Kleinods  an  schmaler  goldener  Kette. 
Fragt  man  nach  dem  Schicksal  dieser  Menschen,  so 


zeigt  sich  dahinter  zumeist  der  hinreißende  Kampf 
um  den  großen  geistigen  und  gewissensmäßigen  Aus- 
trag des  Jahrhunderts,  der  Kampf  um  Reformation 
und  Gegenreformation.  An  jener  nehmen  die  Fugger 
mit  wenigen  Gestalten  wie  dem  jüngeren  Ulrich, 
Schöpfer  eines  Teils  der  Heidelberger  Bibliothek, 
teil.  Meistens  stehen  sie  mit  persönlicher  Hingabe 
und  dem  Einsatz  ihrer  privaten  Freiheit  im  Lager 
der  Gegenreformatoren.  Ihnen  werden  außer  Geld, 
Gut  und  Soldaten  Häuser  und  Liegenschaften  für 
Kirchen,  Klöster  oder  Schulen,  vornehmlich  Jesuiten- 
kollegien,  in  und  außerhalb  Augsburgs  zur  Ver- 
fügung gestellt.  Diese  Gruppe  Fuggerscher  Männer 
verschreibt  sich  mit  heißer  Gläubigkeit  und  kind- 
lichem Gehorsam  der  Wiedergeburt  der  alten  Kirche. 
Es  geschieht  aus  dem  erschütternden  Erlebnis  ihrer 
Bekehrung  oder  Wiederbekehrung,  mitunter  im  per- 
sönlichen Austausch  mit  führenden  Gestalten  der 
römisch-spanischen  Bewegung  und  deren  Heiligen, 
am  innigsten  in  geistiger  Gemeinschaft:  mit  Petrus 
Canisius. 

Schon  Jakob  Fugger  war  aus  seiner  Zugehörigkeit 
zur  spätmittelalterlichen  religiösen  Reform  zuletzt 
überzeugter  Gegner  der  Reformation  geworden. 
Diese  Ausriciitung  steigert  sich  in  der  folgenden 
Generationsgruppe  gemäß  ihrer  ritterlich  kämpfe- 
rischen Lebenshaltung.  Mochten  die  Fugger  des  späten 
sechzehnten  Jahrhunderts  häufig  untereinander  im 
prozessualen  Streit  liegen  und  mit  der  einstigen  Ge- 
schlossenheit des  Geschlechts  die  überlegene  Macht 
der  Gesellschafi:  schwinden,  zeigen  sie  sich  doch  im 
wesentlichen  einig  beim  Kampf  für  die  Katholizität 


Fuggermedaillen:  M.Sebel  i  Ruymund  Fugger  (l4S9-i535)  und  H.Kels  d.J./  Jörg  Fiigger  (l5tS-l569)    Photo  Birzelc  und  Przibilla 

19 


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ihres  persönlichen  Lebens,  ihrer  Herrschaften,  ihrer 
städtischen  Heimat,  des  Reiches  und  der  Welt.  Ohne 
die  Fugger  gibt  es  keine  deutsche,  besonders  keine 
Augsburger  Gegenreformation. 

Allerdings  die  Weise,  wie  diese  Grundriditung  beim 
einzelnen  zur  Verwirklichung  gelangte,  wechselt 
rasch  und  bald  ohne  Unterlal?.  Da  erscheinen  nach 
den  humanistischen  Gelehrten  und  mäzenatischen 
Sammlern  kaiserliche  Politiker,  hohe  Militärs,  höfi- 
sche Beamte,  Staatsminister  und  Ritter  des  Goldenen 
Flieses,  oberste  Richter  sowie  Fürstbischöfe,  Dom- 
herren und  Äbte.  Aus  der  Vielfalt  dieser  zumeist 
hingebend  ausgeübten  Berufe  spricht  eine  be- 
glückende Fülle  wahrer  Persönlichkeiten,  jede  für 
sich  der  Betrachtung  wert  und  nur  hier  verschwin- 
dend durch  die  Unzahl  der  Gestalten. 
Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  das  Menschentum 
dieser  Fuggerschen  Generationen  immer  ausschließ- 
licher vom  adeligen  Einschlag  Ins  traditionelle  Ge- 
webe beherrscht  wird,  ohne  damit  freilich  das  ur- 
sprünglich Fuggerische  preisgeben  zu  wollen.  Zwi- 
schendrin leuchten,  wenngleich  vereinzelt,  kaufmän- 
nische Naturen  auf,  beispielsweise  im  Pfefferhandel 
derOctavianusfSecundus  und  Philipp  Eduard  Fugger. 
Die  Handelsgesellschaft  als  solche  erhält  sidi  bis 
etwa  zur  Mitte  des  siebzehnten  Jahrhunderts.  Zum 
Ende  freilich  findet  sie  sich  von  Menschen  geleitet, 
die  höchstens  aus  Herkommen,  und  nicht  mehr  aus 


Überzeugung,  geschweige  denn  aus  Berufung  Kauf- 
herren heißen  durften. 

Erst  die  endgültige  Liquidation  der  fast  zwei- 
hundertjährigen Kette  Fuggerscher  Handelsfirmen 
kennzeichnet  wahrnehmbar  den  unwiderruflichen 
Vollzug  einer  dritten  Wandlunfg.  Endgültig  scheint 
jetzt  das  Gedächtnis  des  großen  Handels  abgestreift. 
Man  wird  zum  gräflichen  Junker  und  Kavalier  be- 
nachbarter Höfe,  mitunter  vielfach  interessiert  und 
weit  gereist.  Der  große  Eins.atz  des  Lebens  aber 
wird  fast  nirgends  mehr  gewagt.  Durdi  die  ketten- 
artige Folge  ähnlicher  Ehen  überwiegt  nachgerade 
das  adelige  Element,  und  die  Fuggersche  Dominante 
der  einstigen  Zeit  gerät  beinahe  in  Vergessenheit. 
Blickt  man  in  das  Antlitz  dieser  Generationen  des 
achtzehnten  Jahrhunderts,  so  wird  eine  gewisse 
Durchschnittlichkeit  der  Gesichter  nur  schlecht  ver- 
borgen durch  den  Aufwand  des  Kostüms,  von  Prunk- 
rüstungen, Feldherrnstäben,  wallenden  Mänteln, 
Degen,  Orden,  farbigen  Fracks  und  gepuderten 
Perücken.  Dazwischen  scheinen  erste  lebensmüde,  fast 
dekadente,  mindestens  elegische  Figuren  aufzutauchen. 
Zumeist  obwaltet  aber  noch  eine  strahlende  satte 
Lebensfreude  der  Männer,  bei  den  Frauen  hingegen 
das  höfisch-spielenische  Zeremoniell  bis  in  das  a  la 
Marie  Antoinette  hoch  aufgesteckte  Haar.  Auch  diese 
Generationsgruppe  kennt  bedeutende  Vertreter  des 
Fuggerschen   Namens,  so    etwa   einen  Bisdiof    von 


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Regensburg,  der  als  Kunstfreund  gerühmt  wird. 
Ebenso  bleibt  die  religiös  devote  Haltung  durchaus 
gewahrt,  wie  es  die  Stiftung  der  Weldener  Wall- 
fahrtskirche, eines  Juwels  schwäbischer  Barockkunst, 
beweist.  Ein  faltig  weiter  Teppich  bunter,  religiöser 
Kunst  und  Kultur,  durchwirkt  mit  dem  Motiv  der 
Fuggerschen  blau-goldenen  Lilien,  breitet  sich  bis  in 
das  Rokoko  über  die  schwäbische  Landschaft.  Dabei 
mag  es  an  persönlicher  Ehrlichkeit  der  Empfindung, 
gesteigert  bis  zum  schmachtend  sich  verzehrenden 
Gefühl,  nicht  fehlen.  Dennoch  lassen  die  großen, 
packenden  Naturen  allmählich  nach.  Es  schwindet 
die  von  mächtigen  Impulsen  des  Daseins  getragene 
echte,  leidenschaflLiche,  alte  Greifweise  des  Lebens. 
Man  ist  vielleicht  noch  nicht  eigentlich  preziös,  in- 
dessen das  Generelle,  das  doch  nur  Typische  und 
Unverbindliche  verdrängt  das  Individuelle,  trotzd>;m 
die  Überhöhung  des  persönlichen  Geltungsbedürf- 
nisses mit  einer  Verengung  der  realen  Wirkungs- 
horizonte voranschreitet.  Diese  Männer  sind  längst 
nicht  mehr  Kaufleute,  auch  nicht  mehr  adelige 
Grundherren.  Ihr  Stil  wird  absichtlidi  immer  fürst- 
licher, selbst  auf  die  Gefahr  hin,  daran  wirtschaft- 
lich und  moralisch  zu  zerbrechen.  Am  deutlichsten 
äußert  sich  solches  in  der  Entfaltung  der  Musikliebe. 
Jakob  Fugger  stiftete  seinerzeit  die  erste  Fugger- 
sche  Orgel  für  die  eigene  Grabkapelle.  Jetzt  werden 
Hofkapellen  gehalten,  Theater  aufgeführt,  gran- 
diose Musiksammlungen  angelegt,  und  bis  ins  neun- 
zehnte Jahrhundert  hinein  wird  dieser  seigneurile 
Maßstab  des  Lebens  noch  so  lebhaft:  nachblühen,  daß 
noch  um  den  Ausgang  des  letzten  Jahrhunderts  ein 
Fugger  sich  seine  Beamten  nach  ihrer  musikalischen 
Begabung  wählt. 

Mit  der  Erhebung  in  den  Reichsfürstenstand,  die 
kurz  vor  dem  Zusammenbruch  des  alten  römisch- 
deutschen Kaiserstaates  dem  romantisch  „teutsch' 
empfindenden  Anselm  Maria  Fugger  von  Baben- 
hausen  1803  zuteil  wird,  verdichtet  sich  dieses  fürst- 
liche Lebensgefühl  für  die  Dauer  des  letzten  Jahr- 
hunderts. Kurz  zuvor  hatte  man  noch  stolz  gegen 
den  Citoyen  Premier  Consul  Bonaparte  protestiert, 
vermag  nun  aber  die  frische  Reichsfürstenherrlich- 
kfdt  gegen  ihn  und  seinen  Verbündeten  nicht  zu 
behaupten  und  unterwirft  sich  daher  kampflos  d:m 
großen  bayerischen  Nachbarn. 

Die  Familie,  soweit  ihre  bekanntesten  Gestalten 
fortan  nicht  den  Kontakt  mit  dem  Wiener  Kaiser- 
hof suchen,  gewinnt  seither  wieder  stärkere  Fühlung 
mit  der  Augsburger  Wiege  des  Geschlechts.  Doch 
das  geschieht  nidit  als  Rückkehr  zum  bürgerlichen 
Dasein,  vielmehr  in  fürstlich  gnädiger  Weise.  Die 
Fassaden  der  einstigen  Häuser  am  Augsburger  Wein- 
markt werden  im  üppigen  Geschmack  der  Zeit  mit 


Bildnisse  aus  drei  Generationen  der  Fugger:  Ott  Heinrich  (i592- 
t644),  Anton  (l493-i560)  und  Jörg  (t5iS-i569) 

Photo    Birzele   und  PrzibilU 

Bildern  aus  der  Fuggerschen  Geschichte  bemalt,  die 
nur  an  Format  die  feinen  Schildereien  Burgkmaiers 
im  Innern  des  Damenhöfchens  übertreffen.  Historien- 
malerei und  historischer  Roman  feiern  mit  Vorliebe 
die  Farraliensagen  vom  einwandernden,  armen 
Webergesellen  bis  zur  Schuldscheinverbrennung  im 
sagenumsponnenen  Kamin.  Man  weiß  sich  Fürst, 
fühlt  sich  nicht  anders  und  liebt  eben  darum  die 
Tradition  solcher  Mythen.  Tatsächlich  beherrscht 
der  grandseigneurile  Stil,  der  splendor  familiae,  das 
Bild  des  Hauses  und  den  Charakter  seiner  vorzüg- 


21 


lidisten,  mitunter  sehr  tatkräftigen  und  bedeutenden 
Vertreter  bis  zum  Ende  des  zweiten  deutschen 
Kaiserreiches.  Hart  vor  dem  Ausbruch  des  ersten 
Wehkriegs  erringt  die  Fuggersche  Linie  Glött  aus 
der  Hand  des  bayerischen  Königs  einen  zweiten 
Fürstenhut. 

Weltkriege  und  Folgezeiten  haben  das  Haus  Fugger, 
mindestens '  seine  historische  Schichtung,  insofern  in 
Frage  gestellt,  als  ein  erheblicher  Teil  der  Stein  ge- 
wordenen Zeugnisse  seiner  Größe  in  der  Augsburger 
Sdireckensnacht  von  1944  zerstört  wurde.  Das  Ge- 
burtshaus Jakobs  ging  zugrunde.  Die  Fuggerhäuser 
von  vier  Jahrhunderten,  gleich  der  „Goldenen  Stube" 
und  den  Handelshäusern,  den  Fuggerschen  Grablegen 
und  Kirchen  brannten  aus.  Keinem  Geschlecht 
Augsburgs  hat  jene  furchtbare  Prüfung  so  hart  zu- 
gesetzt wie  diesem.  Sogar  die  friedliche  Fuggerei 
sank  zum  größten  Teil  in  Asche. 
Aber  noch  blüht  die  Familie,  obwohl  nicht  im  ur- 
sprünglichen zahlenmäßigen  Umfang,  in  drei  Zwei- 
gen, erheben  sich  ihre  Gotteshäuser,  Paläste  und 
Stätten  der  Wohltätigkeit  schon  wieder  aus  den 
Trümmern.  Die  einzige  existenzielle  Gefahr,  näm- 
lich jene  des  Abreißens  der  Tradition,  des  Verlustes 
der  spezifisdi  Fuggerschen  Note,  die  Möglichkeit 
des  Sich-Verlierens  ins  Unpersönliche  ist  dadurch 
beschworen,  daß  neben  allen  anderen  waltenden 
Kräften  schließlich  Wucht  und  Fülle  ihrer  Stiftungen 
die  Fugger  notwendig  zusammenihalten  und  ihnen 


unablässig  in  den  überkommenen  Aufgaben  ihrer 
Führung  Sinn  und  Willen  der  Alten  unverwischt 
vor  Augen  stellen. 

Trotzdem  wäre  es  unfuggerisch,  nur  bewahrend, 
nichts  als  dieses  allein  zu  sein.  Denn,  wo  immer 
dieses  Geschlecht  sich  zur  Größe  entfaltete,  gesdbah 
es  im  bewußten  Fortschreiten  über  die  eigene  Zeit 
und  zum  Teil  im  Widerspruch  mit  ihr,  mitunter  aus 
schwäbisdiem  Eigensinn,  jedenfalls  aber  geformt 
vom  ungebrochenen  Glauben  an  die  eigfene  Kraft 
und  eine  sendungsähnliche  Verpflichtung. 
Die  Nachgesänge  des  Barock  sind  endgültig  verr 
klungen.  Wieder  scheint  ein  Abschnitt  von  einschnei- 
dender Bedeutung  zu  dämmern.  Er  mag  den  Fuggern 
dereinst,  soweit  solches  im  Rahmen  ihrer  Möglich- 
keit liegt,  die  Bewältigung  mancher  Nöte  unserer 
Zeit  aus  der  Sicht  einer  neuen  Gruppe  von  Genera- 
tionen bescheren.  Sie  schon  heute  näher  zu  umreißen, 
hieße  nichts  anderes,  als  Wünsche  auszusprechen,  wo 
nicht  gar  zu  schwärmen.  Nur  so  viel  ist  gewiß:  Auch 
diese  künftige  Schicht  wird,  sofern  sie  nicht  epi- 
gonenhaft dem  Sommer  der  Lilien  nachwelken  soll, 
den  Alten  ähnlich  nüchtern  und  zugleich  phantasie- 
begabt, herrisch,  aber  letzthin  selbstbeherscht,  ihrer 
selbst  bewußt  und  doch  selbstlos  heranwachsen 
müssen,  wenn  sie  als  vollgültiges  Stodcwerk  auf  den 
Unterbau  der  früheren  Generationen  des  Hauses 
sich  türmen  und  künftigen  Schichten  ihrerseits  als 
tragender  Unterbau  Fuggerscher  Zukunft  dienen  will. 


22 


(^x^ ... 


x^y/CeoÄeeitOfi-  %.^Cet/i/(/  '<^j/e 


Wir  reästen  nach  Tisch  weiter  und  kamen  durch 
eine  weite  Ebene  mit  ganz  einheitlicher  Vegetation, 
ähnlich  der  Ebene  von  Beausse,  nach  Augsburg,  vier 
Meilen  davon,  das  als  die  schönste  Stadt  Deutsdi- 
lands  gilt,  wie  Straßburg  als  die  stärkste. 
Die  erste  seltsame  Zurüstung,  die  wir  bei  unserer 
Ankunft  sahen,  die  aber  die  Reinlichkeit  dieser 
Stadt  beweist,  war,  daß  die  Stufen  der  Wendel- 
treppe unseres  Gasthauses  ganz  mit  Leinenzeug  be- 
legt waren,  über  das  wir  schreiten  mußten,  um  die 
eben,  -wie  jeden  Samstag,  gewaschene  und  geputzte 
Trepf>e  nicht  schmutzig  zu  machen.  Wir  bemerkten 
niemals  Spinngewebe  noch  Schmutzspuren  in  all 
diesen  Gasthäusern;  in  einigen  gibt  es  Vorhänge,  die 
man  nach  Gefallen  vor  die  Scheiben  ziehen  kann. 
Tische  finden  sich  nicht  in  den  Zimmern,  ausgenom- 
men die  an  dem  Fuß  jedes  Bettes  angebrachten,  die 
sidi  in  Scharnieren  bewegen  und  nacii  Belieben  auf- 
und  zugeklappt  werden  können. 
E>ie  Bettfüße  ragen  zwei  bis  drei  Fuß  über  die  Bett- 
stellen hinaus,  oft  so  hoch  wie  das  Kopfkissen;  das 
Holz,  das  dabei  verwendet  wird,  ist  gut  und  zeigt 
schöne  Arbeit,  jedoch  übertrifft  unser  Nutzholz  weit 
ihr  Tannenholz.  Auch  hier  wurden  in  die  blinken- 
den Zinnteller  zur  Schonung  hölzerne  gesetzt;  an 
den  Betten  sind  vor  die  Wand  oft  Tücher  und  Vor- 
hänge gezogen,  damit  man  die  Wand  nicht  anspuckt 
und  verunreinigt.  Die  Deutschen  sind  Liebhaber 
von  Wappen:  denn  in  allen  Gasthäusern  findet  man 
sie  von  den  durchziehenden  Edelleuten  schockweise 
an  den  Wänden  zurückgelassen,  auch  alle  Scheiben 
sind  damit  versehen.  Die  Speisenfolge  ist  im  Land 
sehr  verschieden;  hier  wurden  zuerst  Krebse  auf- 
getragen, die  überall  sonst  gegen  Ende  kommen,  sie 
waren  von  einer  außerordentlichen  Größe.  In  ver- 
schiedenen Gasthäusern,  wenigstens  den  großen, 
wird  alles  zugedeckt  aufgetragen.  Was  die  Gla>- 
scheiben  so  leuchtend  madit,  ist  das  Fehlen  unserer 
festen  Fenster;  vielmehr  sind  hier  die  Rahmen  be- 
weglidi  und  die  Scheiben  werden  oft  geputzt. 
Der  Fierr  von  Montaigne  besah  sich  am  nächsten 
Morgen,  einem  Sonntag,  mehrere  Kirdien,  und  fand 


in  den  sehr  zahlreichen  katholischen  überall  den 
Gottesdienst  sehr  gut  eingerichtet.  Sedis  Kirdien 
mit  sechzehn  Geistlichen  gehören  den  Protestanten, 
zwei  davon  sind  den  Katholiken  weggenommen,  die 
vier  übrigen  für  sie  erbaut.  Am  gleichen  Morgen 
besuchte  er  eine  davon,  die  einem  großen  Kollegsaal 
glich  und  weder  Bilder,  noch  Orgeln,  noch  Kreuze 
hatte.  An  den  Wänden  ziehen  sich  viele  Inschriften 
in  deutscher  Sprache  hin:  es  sind  Bibelstellen;  ferner 
sind  zwei  Kanzeln  da,  die  eine  für  den  Geistlichen 
bei  der  Predigt,  die  andere,  die  etwas  tiefer  liegt, 
für  den,  der  den  zu  singenden  Psalm  anstimmt:  nach 
jeder  Strophe  wartet  die  Gemeinde,  bis  dieser  die 
nächste  beginnt;  es  wird  durcheinander  gesunge.a, 
wer  gerade  will,  und  auch  mit  bedecktem  Haupt, 
wer  will.  Darauf  schritt  ein  Prediger,  der  in  der 
Menge  stand,  zum  Altar,  las  ein  langes  Gebet  aus 
einem  Buch,  und  die  Gemeinde  erhob  sidi,  faltete  die 
Hände  und  erwies  dem  Namen  Jesu  Christi  ihre 
große  Ehrfurcht. 

Nachdem  der  Prediger,  der  unbededct  geblieben  war, 
mit  dem  Vorlesen  aufgehört  hatte,  kamen  auf  den 
Altar  ein  weißes  Tudi,  eine  Kanne  und  ein  Napf 
mit  Wasser;  eine  Frau  reichte  ihm,  in  Gesellchaft 
von  zehn  bis  zwölf  anderen  Frauen,  ein  Wickelkind 
mit  unbedecktem  Gesicht.  Der  Prediger  tauchte 
dreimal  alle  Finger  in  den  Napf,  berührte  das  Ge- 
sicht des  Kindes  und  sprach  bestimmte  Worte.  Dar- 
auf traten  zwei  Männer  heran  und  legten  jeder  zwei 
Finger  der  rechten  Hand  auf  dies  Kind:  der  Pre- 
diger sprach  zu  ihnen,  und  die  Handlunng  war  zu 
Ende.  Beim  Hinausgehen  unterhielt  sich  der  Herr 
von  Montaigne  mit  dem  Prediger.  Sie  rühren  an 
keine  Einkünfte  der  Kirche,  sondern  werden  öffent- 
lich vom  Staat  besoldet.  In  dieser  Kirche  allein  war 
eine  größere  Gemeinde  und  mehr  Arbeit  als  in  zwei 
oder  drei  katholischen  zusammengenommen. 
Wir  sahen  kein  einziges  schönes  Frauenzimmer. 
Deren  Kleidung  ist  mehr  verschieden;  bei  den  Mä.a- 
nern  dagegen  ist  es  schwer,  die  Adligen  zu  erkennen, 
um  so  mehr,  als  jedermann  seine  verbremte  Mütze 
und  einen  Degen  an  der  Seite  trägt. 


23 


^imon  Grimm  /  Kreuzertor 


Photo  Marburg 


Das  Gasthaus,  in  dem  wir  wohnten,  hatte  auf  dem 
Wirtssdiild  einen  Baum,  der  dort  zu  Land  „Linde" 
heißt;  es  war  neben  dem  Palast  der  Fugger.  Einer 
aus  dieser  Familie  war  vor  ein  paar  Jahren  ge- 
storben und  hatte  seinen  Erben  zwed  Millionen  guter 
französischer  Taler  hinterlassen,  und  jene  gaben, 
um  für  seine  Seele  bitten  zu  lassen,  den  dort  an- 
sässigen Jesuiten  bare  dreißigtausend  Gulden,  womit 
die  Väter  sich  eine  hübsche  Niederlassung  bauten. 
Das  Fuggerhaus  ist  mit  Kupfer  bedeckt.  Im  allge- 
meinen sind  hier  die  Häuser  schöner,  größer  und 
höher  als  in  irgendeiner  französischen  Stadt,  die 
Straßen  breiter.  Der  Herr  von  Montaigne  schätzt, 
daß  Augsburg  die  Größe  von  Orleans  besitzt. 
Nach  Tisch  besuchten  wir  ein  Schaufechten  in  einem 
öffentlichen  Saal.  Es  wohnte  eine  große  Menge  bei; 
man  bezahlt  den  Eintritt  wie  bei  Taschenspielern 
und  außerdem  den  Platz  auf  der  Bank.  Es  wurden 
mit  dem  Dolch,  dem  Zweihänder,  einem  an  beiden 
Enden  mit  Eisen  beschlagenen  Stab,  und  dem  kurzen 
Breitschwert  gefochten;  hernach  wohnten  wir  einem 
Preisschießen  mit  Armbrust  und  Bogen  bei,  an  einer 
noch  prächtigeren  örtlichkeit  als  in  Schaffhausen. 
An  dem  Stadttor,  durch  das  wir  eingezogen  waren, 
bemerkten  wir  unter  der  Brücke  eine  große  Wasser- 
leitung, die  von  außen  kommt  und  auf  eine  höl- 
zerne Brücke  unter  der  Verkehrsbrücke  und  über  den 


Fluß,  der  durch  den  Stadtgraben  zieht,  hinweg- 
geleitet ist.  Diese  Leitung  dient  dazu,  eine  be- 
stimmte Anzahl  Räder  zu  treiben,  die  mehrere  Pum- 
pen in  Bewegung  setzen  und  durch  zwei  Bleiröhren 
das  Wasser  eines  Brunnens,  der  dort  sehr  tief  liegt, 
auf  die  Höhe  eines  mindestens  fünfzig  Fuß  hohen 
Turmes  heben.  Hier  ergießt  sich  das  Wasser  in  einen 
steinernen  Behälter,  sinkt  in  verschiedenen  Röhren 
wieder  hinunter  und  verteilt  sich  von  da  in  die 
Stadt,  die  durch  dieses  eine  Kunstmittel  mit  Brunnen 
reich  versehen  ist.  Die  Eigentümer,  die  eine  Ab- 
zweigung davon  für  eigenen  Gebrauch  wollen,  haben 
der  Stadt  bloß  zehn  Gulden  Rente  oder  zweihundert 
Gulden  einmalig  zu  zahlen.  Es  sind  vierzig  Jahre 
her,  seit  die  Stadt  mit  diesem  ansehnlichen  Werk 
verschönert  worden  ist. 

Heiraten  zwischen  Katholiken  und  Protestanten  fin- 
den täglich  statt  und  der  Teil,  der  am  meisten  Ver- 
langen hat,  nimmt  den  Glauben  des  anderen  an; 
soldie  Ehen  bestehen  zu  Tausenden;  unser  Wirt  z.  B. 
war  Katholik,  seine  Frau  Protestantin. 
Die  Gläser  werden  hier  mit  einer  am  Ende  eines 
Griffs  befestigten  Haarbürste  gereinigt.  Nach  der 
Aussage  der  Einheimischen  gibt  es  sehr  schöne  Pferde 
im  Preis  von  vierzig  bis  fünfzig  Talern. 
Die  Stadt  ließ  den  Herrn  von  Estissac  und  Mon- 
taigne,  um   sie   zu   ehren,  für   ihr   Souper   vierzehn 


24 


große  Krüge  mit  einheimischem  Wein  von  sieben 
livrierten  Stadtsoldaten  und  einem  ehrenwerten 
Offizier  überbringen.  Den  Offizier  luden  wir  zum 
Souper  ein,  denn  so  ist  es  Sitte,  ebenso  wie  wir  den 
Trägern  etwas  schenkten;  wir  gaben  ihnen  einen 
Taler.  Der  Offizier,  der  so  mit  uns  speiste,  sagte 
dem  Herrn  von  Montaigne,  sie  wären  zu  dritt  in 
der  Stadt  mit  dem  Amt  betraut,  den  I-remden  von 
Qualität  dergestalt  aufzuwarten,  und  sie  wären 
deshalb  besorgt,  unsern  Stand  kennenzulernen,  um 
danach  die  gebührenden  Zeremonien  einzuhalten;  es 
bekommt  nicht  einer  gleich  viel  Wein  wie  der 
andere.  Bei  einem  Herzog  kommt  einer  der  Bürger- 
meister, um  ihn  zu  überreichen;  wir  wurden  für  Ba- 
rone und  Ritter  angesehen.  Aus  bestimmten  Grün- 
den hatte  der  Herr  von  Montaigne  gewollt,  man 
solle  dieser  Annahme  entgegentreten  und  unseren 
Stand  nidit  verraten,  auch  ging  er  den  ganzen  Tag 
in  Begleitung  durch  die  Stadt,  glaubte  aber,  daß 
gerade  das  dazu  diente,  uns  noch  angesehener  zu 
machen.  Die  erwähnte  Ehrung  wurde  uns  in  allen 
deutschen  Städten  zuteil. 

Als  er  durch  die  Kirche  unserer  lieben  Frau  ging, 
hielt  er,  ohne  daran  zu  denken,  der  Kälte  wegen  — 
die  Kälte  begann  nämlich  seit  Kempten  fühlbar  zu 
werden,  während  wir  bis  dahin  das  denkbar  glück- 
lichste Wetter  gehabt  hatten  —  das  Taschentuch  an 
die  Nase;  auch  war  er  der  Meinung,  er  würde  so 
allein  und  sehr  schlecht  angezogen  niemandes  Auf- 
merksamkeit erregen:  als  die  Leute  später  vertrauter 
mit  ihm  standen,  sagten  sie  ihm,  die  Besucher  der 
Kirche  hätten  dies  Benehmen  seltsam  gefunden.  So 
entging  er  doch  nicht  dem,  was  er  am  meisten  haßte, 
durdi  irgendein  von  der  ortsüblidien  Art  ab- 
weichendes Auftreten  auffällig  zu  werden;  denn 
soweit  es  an  ihm  liegt,  paßt  er  sich  den  Sitten  der 
Stadt  an,  in  der  er  sich  aufhält,  und  in  Augsburg 
z.  B.  trug  er  eine  verbremte  Mütze. 
Wie  die  Augsburger  erzählen,  haben  sie  zwar  Mäuse, 
dagegen  keine  der  großen  Ratten,  von  denen  das 
übrige  Deutschland  heimgesucht  wird;  sie  erzählen 
darüber  eine  Menge  Wundergeschichten  und  schrei- 
ben ihre  Bevorzugung  einem  ihrer  dort  begrabenen 
Bischöfe  zu;  von  diesem  Grab  wird  Erde  in  kleinen, 
nußgroßen  Stückchen  verkauf!,  und  sie  soll  das  Ge- 
zücht überall  verjagen. 

Am  Montag  wohnten  wir  in  der  Kirche  unserer 
Lieben  Frau  der  pomphaften  Hochzeit  eines  reichen 
und  häßlichen  Bürgermädchens  mir  einem  Geschäfts- 
führer der  Fugger,  einem  Venezianer,  bei;  wir  sahen 
dabei  kein  einziges  hübsches  Frauenzimmer. 
Die  verschiedenen  Fugger,  die  alle  sehr  reich  sind, 
nehmen  eine  erste  Stelle  in  der  Stadt  ein.  Wir  sahen 
auch  zwei  Säle  in  ihrem  Haus;  der  eine  v.'ar  groß. 


hoch  und  mit  Marmor  ausgelegt;  der  andere  ist  nied- 
rig, reich  an  alten  und  modernen  Medaillons  und 
besitzt  am  Ende  ein  kleines  Zimmer.  Es  sind  die 
reichsten  Zimmer,  die  ich  je  gesehen  habe. 
Wir  sahen  uns  auch  den  Tanz  der  Hochzeitsgesell- 
schaft an:  man  tanzte  bloß  Allemanden,  die  jeden 
Augenblick  abgebrochen  wurden,  worauf  die  Herren 
die  Damen  zu  ihren  Plätzen  zurückführten:  es 
waren  zwei  Reihen  mit  rotem  Tuch  ausgeschlagene 
Bänke  an  den  Seiten  des  Saales.  Nach  einer  kleinen 
Erholungspause  holten  sie  sie  wieder  ab,  dabei 
küßten  die  Herren  ihre  eigene  Hand,  während  die 
Damen  dies  nicht  tun,  dann  legen  sie  ihre  Hand 
unter  die  Achsel  der  Damen,  pressen  sie  an  sich,  und 
die  seitwärts  gewendeten  Gesichter  nähern  sich  ein- 
ander, wobei  die  rechte  Hand  der  Dame  auf  der 
Schulter  des  Tänzers  ruht.  So  tanzen  sie  und  unter- 
halten sich,  ganz  ohne  Kopfbedeckung,  und  nicht 
besonders  reich  gekleidet. 

Wir  sahen  noch  andere  Häuser  der  Fugger  in  an- 
deren Gegenden  der  Stadt,  die  ihnen  durch  soviel 
Aufwendungen  zur  Verschönerung  verbunden  ist:  es 
sind  Lusthäuser  für  den  Sommer.  In  einem  sahen 
wir  eine  Uhr,  die  durch  die  Bewegung  von  Wasser, 
das  als  Uhrgewicht  dient,  in  Gang  gehalten  wird, 
ferner  zwei  große  gedeckte  Fischbehälter,  zwanzig 
Schritt  im   Geviert   und   voll   von  Fischen.   An   den 


Ausschnitt  aus  dem  Stadtplan  von  Kilian  io26:  Der  Dom 

Photo  Stadt.  Kunstsammlungen 


25 


vier  Ecken  jedes  ^Behälters  waren  verschiedene  kleine 
Röhren  angebracht,  die  einen  gerade,  die  anderen 
nach  oben  gerichtet;  daraus  läuft  das  "Wasser  sehr 
gefällig  in  die  Behälter,  teils  in  geradem  Strahl,  teils 
bis  zur  Höhe  einer  Lanze  emporspringend. 
Zwischen  den  beiden  Behältern  liegt  ein  zehn  Sdiritt 
breiter,  mit  Dielen  belegter  Raum,  und  durch  <üe 
Dielen  dringen  zahlreiche  kleine,  unsichtbare  Bronze- 
spitzen: wenn  die  Damen  sich  damit  ergötzen,  dem 
Hasdien  der  Fische  zuzusehen,  wird  irgendeine 
Hemmung  frei,  und  all  die  Spritzen  sprudeln  dünne, 
flinke  Strahlen  bis  zu  Mannshöhe  und  netzen  die 
Untenröcke  -und  Schenkel  der  Damen.  Anderswo 
wieder  kann  es  beim  Betrachten  eines  hübschen 
Springbrunnens  passieren,  daß  man  vor  unsichtbare 
Röhrchen  tritt,  die  einem  das  Wasser  hundertfach  in 
Strahlen  ins  Gesicht  spritzen;  dabei  steht  die  latei- 
nische Inschrift:  Quaesisti  nugas  nugis  gaudeto  reper- 
tis  (Du  suchst  nadi  einer  Spielerei:  an  der  gefundenen 
ergötze  Dich). 

Auch  ein  Vogelhaus  ist  da,  zwanzig  Schritt  im  Ge- 
viert, zwölf  bis  fünfzehn  Fuß  hoch,  überall  mit  gut 
geknüpftem  und  geflochtenem  Eisendraht  geschlossen; 
innen  sieht  man  zehn  bis  zwölf  Tannen  und  einen 
Springbrunnen:  das  alles  ist  voll  von  Vögeln.  Wir 
fanden  da  polnische  Tauben,  die  bei  ihnen  indische 
heißen  und  die  ich  schon  kannte:  sie  sind  fett  und 


haben  einen  Schnabel  wie  ein  Rebhuhn.  Wir  sahen 
auch  den  Betrieb  eines  Gärtners,  der  in  Voraussicht 
der  schädlichen  Fröste  in  eine  kleine  gedeckte  Hütte 
eine  Menge  Artischocken,  Kraut,  Lattich,  Spinat, 
Zichorie  und  andere  Pflanzen  zusammengebracht 
hatte;  sie  waren  alle  gepflückt,  als  sollten  sie  auf  der 
Stelle  gebraucht  werden,  aber  indem  er  sie  in  einen 
besonderen  Boden  bradite,  hoffte  er  sie  zwei  bis  drei 
Monate  gut  und  frisch  zu  erhalten;  und  in  der  Tat 
hatte  er  damals  hundert  gar  nicht  welke  Arti- 
schocken, die  doch  schon  vor  mehr  als  sechs  Wochen 
ausgenommen  worden  waren. 

Wir  verfehlten  auch  nicht,  Männer  aufzusuchen,  die 
von  Venedig  dem  Herzog  von  Sachsen  zwei  Strauße 
brachten;  das  Männchen  ist  schwärzer  ^und  hat  einen 
roten  Hals,  das  Weibchen  mehr  grau;  dieses  legte 
viel  Eier.  Die  Überbringer  führten  sie  zu  Fuß  und 
sagten,  die  Tiere  würden  weniger  müde  als  sie  und 
drohten  ihnen  jeden  Augenblick  zu  entweichen;  da- 
her wurden  sie  durch  Gurte  gefesselt,  von  denen 
der  eine  das  Kreuz  umschnürte  und  über  die  Schenkel 
lief,  der  andere  über  che  Schulterblätter;  durch  lange 
Leinen  wurden  sie  zum  Halten  veranlaßt  und  nach 
Belieben  der  Führer  hin  und  her  gewendet. 
Am  Dienstag  konnten  wir  durch  eine  ganz  beson- 
dere Gefälligkeil  der  Herren  vom  Stadtrat  eine 
Schlupfpforte  in  der  Stadtmauer  besichtigen,  durch 


Simon  Grimm  I  Fischgraben  und  BarfUßerkirche 


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ÜIL  ^^^, 


Simon  Grimm  /  Sdnand-  und  Weberhaus 


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die  ZU  allen  Stunden  der  Nacht  jedermann  ein- 
gelassen wird,  sei  er  zu  Fuß,  sei  er  zu  Pferd,  vor- 
ausgesetzt, daß  er  seinen  Namen  nennt  und  zu  wem 
er  in  der  Stadt  will,  oder  den  Namen  des  Gast- 
hauses, das  er  sudit.  Zwei  zuverlässige  Leute  wachen 
im  Sold  der  Stadt  an  diesem  Tor.  Berittene  zahlen 
zwei  Batzen  Einlaßgeld,  Fußgänger  einen.  Außen  ist 
die  Türe  mit  Eisen  beschlagen:  seitwärts  hängt  an 
einer  Kette  ein  Stück  Eisen,  an  dem  man  zieht;  die 
Kette  führt  auf  weitem  Umweg  und  in  vielen  Win- 
dungen in  das  sehr  hodi  gelegene  Gelaß  des  einen 
jener  Türwächter  und  setzt  hier  ein  Glöckchen  in 
Bewegung.  Der  Pförtner,  der  nur  sein  Hemd  an  hat 
und  im  Bett  liegt,  öffnet  dadurch,  daß  er  eine 
Winde  zurückzieht  und  wieder  vorschnellen  läßt, 
auf  eine  Entfernung  von  mehr  als  gut  hundert 
Schritt  die  erste  Pforte.  Der  Ankömmling  tritt  ein 
und  befindet  sich  auf  einer  Brücke,  die  eine  Länge 
von  ungefähr  vierzig  Schritt  hat,  ganz  gedeckt  ist  und 
über  den  Stadtgraben  führt;  längs  der  Brücke  ist  in 
einem  hölzernen  Rohre  die  Winde  gelegt,  mit  der  die 
Außenpforte  geöffnet  wird,  welch  letztere  sich  übri- 
gens unmittelbar  hinter  den  Eingetretenen  schließt. 
Hat  man  die  Brüdce  überschritten,  so  kommt  man 
auf  einen  kleinen,  freien  Raum  und  sagt  dem  ersten 
Pförtner  seinen  Namen  und  die  erwähnte  Adresse. 
Danadi  benachriditigt  dieser  durch  eine  Klingel  sei- 
nen Kameraden,  der  ein  Stockwerk  unter  diesem 
Portal  wohnt  (wo  viele  Wohnräume  sind);  ver- 
mittels einer  Spirale  öffnet  dieser  zweite  Pförtner 
von   einer  Galerie  neben   seinem   Zimmer   aus   zu- 


nächst eine  kleine  eiserne  Schranke  und  ■windet  dar- 
auf mit  Hilfe  eines  großen  Rades  die  Zugbrüdie 
auf,  ohne  daß  man  von  allen  diesen  Bewegungen 
etwas  merkte,  da  sie  innerhalb  der  dicken  Mauern 
und  des  Tores  vor  sich  gehen,  und  mit  einem  Male 
schnellt  das  alles  mit  großem  Getöse  dn  seine  Lage 
zurück.  Nach  der  Brüdce  öfFnet  sich  eine  große, 
dicke  Holztür,  die  durch  mehrere  Eisenplatten  ver- 
stärkt ist.  Der  Fremde  findet  sich  in  einem  Saal  und 
sieht  auf  dem  ganzen  Weg  niemand,  mit  dem  er 
sprechen  könnte.  Wenn  hier  das  Tor  hinter  ihm  zu- 
gefallen ist,  öffnet  ihm  jemand  eine  zweite  ähnliche 
Tür;  er  tritt  in  einen  neuen  Saal,  und  dieser  ist  be- 
leuchtet. Von  der  Decke  hängt  an  einer  Kette  ein 
ehernes  Becken,  in  das  er  das  Einlaßgeld  werfen 
muß.  Der  Pförtner  windet  die  Schale  herauf,  und 
wenn  er  nicht  zufrieden  ist,  läßt  er  den  Fremden  bis 
zum  nächsten  Morgen  warten;  entspricht  das  Geld 
dem  herkömmlichen  Betrag,  so  öffnet  er  ihm  auf  die 
frühere  Weise  ein  großes,  den  anderen  ähnliches 
Tor,  das  sidi  sofort  hinter  dem  Ankömmling 
schließt,  und  nun  ist  er  in  der  Stadt.  Das  ist  eine 
der  kunstreichsten  Einriditungen,  die  man  sehen 
kann;  die  Königin  von  England  hat  einen  besonderen 
Gesandten  geschickt,  um  den  Rat  um  Erklärung  der 
Maschinerie  zu  bitten:  wie  sie  erzählen,  wurde  ihr 
Ansuchen  abgeschlagen.  Unter  diesem  Portal  ist  ein 
großer  Keller,  in  dem  fünfhundert  Pferde  unbemerkt 
Platz  finden,  um  eine  Verstärkung  erhalten  oder 
ohne  Wissen  der  gewöhnlichen  Büxger  im  Kriegs- 
fall senden  zu  können. 


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Von  da  gingen  wir  nach  der  sehr  schönen  Keilig- 
kreuzkirche.  Hier  spielt  ein  Wunder,  das  vor  nahe 
hundert  Jahren  sidi  zutrug,  eine  große  Rolle:  eine 
Frau  wollte  den  Leib  des  Herrn  nicht  schlucken,  zog 
ihn  aus  dem  Munde  und  legte  ihn,  in  Wachs  gehüllt, 
in  eine  Schachtel;  als  sie  dann  beichtete,  fand  man 
ihn  in  Fleisch  verwandelt.  Diesem  Zeichen  wird 
großer  Wert  beigelegt,  und  an  mehreren  Orten  ist 
auf  lateinisch  und  deutsch  auf  das  Wtinder  ver- 
wiesen. Unter  Kristall  zeigt  man  das  Wachs  und 
dazu  ein  kleines  fleischfarbeies  Stückchen.  Die 
Kirche  ist  wie  das  Fuggerhaus  mit  Kupfer  belegt, 
was  überhaupt  dort  nicht  selten  vorkommt.  Dicht 
daneben  steht  eine  lutherische  Kirche:  auch  hier 
wieder  haben  sie  sich  gleichsam  in  den  Kreuzgängen 
der  katholischen  Kirchen  einlogiert  und  angebaut. 
An  dem  Portal  dieser  Kirche  ist  das  Bild  unserer 
Lieben  Frau  mit  dem  Jesuskind  und  anderen  Heili- 
gen und  Kindern  angebracht,  dabei  der  Spruch 
„Sinke  parvulos  venire  ad  me"  (Lasset  die  Kindlein 
zu  mir  kommen  .  .  .). 

In  unserem  Gasthaus  sahen  wir  eine  aus  Eisenstüdcen 
zusammengesetzte  Winde,  die  bis  auf  den  Boden 
eines  tiefen  Brunnens  reichte;  wenn  dann  oben  ein 
Bursche  gewisse  Eisenteile  bis  drei  Fuß  hob  und 
senkte,  so  verdrängten  diese  nacheinander  das  auf 
dem  Boden  stehende  Wasser,  trieben  es  aus  den 
Pumpen  und  zwangen  es  dergestalt,  sich  in  einer 
Bleiröhre  zu  stauen,  aus  der  es  dann  in  die  Küchen 
und  jeden  anderen  Ort  nach  Bedarf  abgeleitet  wer- 
den konnte.  Ein  Weißer  ist  dazu  angestellt,  sofort 


schmutzig  gewordene  Stellen  an  den  Wänden  auszu- 
bessern. 

Es  wurden  uns  Pasteten,  große  und  kleine,  in  irde- 
nen Gefä&n  von  der  Farbe  und  genau  der  Form 
der  Pastete  selbst  serviert.  Es  vergehen  wenig  Mahl- 
zeiten, ohne  daß  einem  Zuckerwerk  und  Büchsen 
mit  Eingemachtem  angeboten  würden.  Das  Brot 
ist  das  denkbar  ausgezeichnetste,  die  Weine  sind 
gut  und  wie  überhaupt  in  Deutschland  meist  weiß; 
um  Augsburg  wächst  keiner,  und  er  kommt  fünf  bis 
sechs  Tage  weit  her.  Auf  hundert  Gulden,  welche  die 
Wirte  für  Wein  bezahlen,  verlangt  die  Stadt  sechzig, 
die  Hälfte  weniger  von  einem  Privatmann,  der  bloß 
für  seinen  eigenen  Bedarf  kauft.  An  verschiedenen 
Orten  besteht  schließlich  die  Sitte,  in  den  Zimmern 
und  auf  den  Öfen  Räucherwerk  zu  verbrennen. 
Die  Stadt  war  zuerst  ganz  Zwingli  ergeben;  als 
später  die  Katholiken  zurückgerufen  wurden,  nah- 
men die  Lutheraner  die  zweite  Stelle  ein;  bis  zur 
Stunde  spielen  noch  die  Katholiken  die  erste  Rolle, 
trotzdem  sie  weit  in  der  Minderzahl  sind.  Der  Herr 
von  Montaigne  machte  auch  den  Jesuiten  einen  Be- 
such und  fand  bei  ihnen  einige  recht  gelehrte  Leute. 
Mittwoch,  den  19.  Oktober,  nahmen  wir  zum  letz- 
tenmal dort  unser  Frühstück  ein. 
Ich  hinterließ  ein  Schild  mit  dem  Wappen  des  Herrn 
von  Montaigne,  das  vorn  auf  der  Tür  unseres  Zim- 
mers angebracht  wurde;  es  war  sehr  gut  gemalt  und 
kostete  mich  zwei  Taler  an  den  Maler  und  zwanzig 
Sous  an  den  Schreiner.  —  Die  Stadt  liegt  am  Ledi- 
fluß,  Lycus. 


28 


KURT    PFISTER 


3gne8  3eunauEC 


Aus  dem  Schatten  der  Jahrhunderte  treten  die 
blassen  und  verschwimmenden  Umrisse  eines  rühren- 
den Antlitzes  hervor.  Das  Bildnis  der  Augsburger 
Baderstochter  Agnes  Bernauer,  die  vor  fünfhundert 
Jahren,  am  12.  Oktober  1435,  in  Straubing  ertränKt 
wurde,  weil  sie  in  unebenbürtiger  Ehe  dem  Bayern- 
herzog Albrecht  verbunden  war,  kann  dem  Men- 
schen unserer  Tage  nur  in  ungefährer  und  andeuten- 
der Zeichnung  vergegenwärtigt  werden.  Unmittel- 
bare und  authentische  Dokumente  sind  in  den 
Archiven  nicht  vorhanden  —  man  hat  sie  wohl  schon 
in  alten  Zeiten,  da  man  die  Geschehnisse  als  peinlich 
und  belastend  empfand,  vernichtet;  man  ist  vielmehr 
auf  mittelbare  Zeugnisse  und  die  oft  widerspruchs- 
vollen und  zweideutigen  Berichte  der  bayerischsn 
und  schwäbischen  Chronisten  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  fünfzehnten  Jahrhunderts  angewiesen. 
Legende  und  Volkssage,  die  schon  früh  die  Gestalt 
der  Bernauerin  umrankten,  erschweren  den  Zugang 
zu  der  geschichtlichen  Wirklichkeit.  Zudem  ist  keine 
persönliche  Äußerung,  nicht  einmal  ein  zeitgenössisches 
Porträt  der  schönen  und  unglücklichen  Frau  vorhan- 
den. Was  wir  an  bildlichen  Darstellungen  besitzen, 
ist,  mag  es  audi  auf  authentische  Überlieferung  zu- 
rückgehen, erst  nach  ihrem  Tod  geformt  worden. 
Man  wird  die  Dürftigkeit  der  historischen  Ausbeute 
um  so  mehr  bedauern,  wenn  man  sich  daran  erin- 
nert, wie  ergiebig  die  geschichtlichen  Quellen  über 
das  Leben  der  Jeanne  d'Arc  fließen,  die  vier  Jahre 
zuvor  ein  ähnlich  tragisches  Ende  gefunden  hat:  auch 
gegen  sie  ist  die  Anklage  wegen  Zaubers  und  Hexe- 
rei erhoben  worden. 

In  einer  Feststellung  stimmen  alle  Chronisten  über- 
ein, in  dem  Lob  der  lieblichen  Erscheinung  des 
Mädchens. 

In  einer  (lateinisch  geschriebenen)  Quelle  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts  heißt  es:  „Agnes  war  unver- 
gleichlich reizvoll  und  wohlgebildet  in  allen  ihren 
Gliedern  und  von  zarter  Gestalt."  Ihr  langes  blondes 
Haar  wird  von  anderen  gerühmt;  und  bei  einem 
Schriftsteller  des  sechzehnten  Jahrhunderts  liest  man: 
„Man  sagt,  daß  sie  so  lieblich  gewesen  sei;  wan  sie 
roten  Wein  getrunken  het,  so  het  man  jenen  Wem 
in  der  Kehl  sehen  hinabgeen." 


Bezüglich  der  näheren  Umstände  der  ersten  Begeg- 
nung und  frühen  Bekanntschafl  von  Agnes  und 
Herzog  Albrecht  sind  wir  auf  Vermutungen  und 
Rückschlüsse  angewiesen.  Es  wird  übereinstimmend 
von  den  Chronisten  berichtet,  daß  Caspar,  der  Vater 
des  Mädchens,  der  vermutlich  aus  der  schwäbischen 
Reichsstadt  Biberach  stammte,  Barbier  und  Bad- 
stubenbesitzer in  Augsburg  gewesen  ist. 
Die  Badstuben  vertreten  im  späten  Mittelalter  die 
Stelle  unserer  heutigen  Kaffeehäuser;  in  Augsburg 
befanden  sich  zu  jener  Zeit  nach  Ausweis  der  Steuer- 
bücher mehr  als  vierzig  solche  Badstuben.  Übrigens 
galten  die  Dampfbäder  auch  als  wirksames  Gegen- 
mittel gegen  den  häufig  auftretenden  Aussatz.  Nach 
dem  eigentlichen  Bad  entwickelte  sich  hier  bei  Speise 
und  Trank  ein  vergnügliches  Treiben,  und  es  mag 
teilweise  mit  den  lockeren  Sitten,  die  hier  einrissen, 
zusammenhängen,  daß  der  Baderberuf  damals  za 
den  „unehrlichen  Gewerben"  zählte:  ein  Makel,  der 
sich  sogar  darin  äußerte,  daß  kein  Handwerker 
einen  Lehrling  annahm,  der  mit  einem  Bader  ver- 
wandt war. 

Schon  aus  diesem  Gmind  ist  es  nahezu  ausgeschlossen, 
daß  Albrecht,  wie  einige  berichten,  anläßlich  eines 
Augsburger  Turnieres  oder  Bürgertanzes,  zu  dem 
die  Baderstochter  keinesfalls  Zutritt  gehabt  hätte, 
Agnes  kennengelernt  haben  solle.  Sehr  wahrschein- 
lich hat  er  sie  zuerst  gesehen,  als  er  bei  einem  seiner 
häufigen  Ritte  vom  nahegelegenen  Friedberg  her  die 
Badstube  des  Vaters  aufsuchte. 


Albrecht,  der  einzige  Sohn  des  regierenden  Herzogs 
Ernst  von  Bayern-München,  war  damals  —  1432  — 
einunddreißig  Jahre  alt.  Er  hatte  seine  Jugend 
großenteils  am  Hofe  des  verwandten  böhmischen 
Königs  Wenzel  verbracht,  besondere  Vorliebe  für 
die  Pflege  der  Musik  bezeugt,  die  er  übrigens  auch 
in  späteren  Jahren  noch  betätigte,  aber  auch  im 
ritterlichen  Kampf  und  in  der  Schlacht  sich  rühmlich 
hervorgetap.  So  nahm  er  an  den  Kämpfen  gegen 
die  Hussiten  teil  und  schlug  sich  tapfer  in  dem  Ge- 
fecht von  Alling  (1422)  gegen  den  streitlustigen 
Vetter  Ludwig  den  Gebarteten  von  Ingolstadt. 


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In  einer  zeitgenössischen  Chronik  heißt  es  von  ihm: 
„Er  war  edn  gar  fröhlicher  Herr,  er  het  grosse  Lieb 
zu  der  Kunst  Musica,  er  kund  ihr  auch  selber  viel; 
er  het  auch  gross  Lieb  und  Lust  zu  aller  Waidenhait 
(Jagd)  . . .,  weis  in  allen  seinen  Räten  und  diemutig 
gegen   allen    Menschen,    ein    Liebhaber    der   zarten 
Frawen  und  eines  mandlichen  Herzens." 
Er  war  gewiß  keine  bedeutende  PersönLichkeit,  aber 
nach    dem   Urteil    der    Zeitgenossen   gutmütig    und 
liebenswürdig,  wenn  auch  ein  wenig  leichtlebig. 
In  späteren  Jahren  hat  er  sich  für  Reform  und  För- 
derung der  Klöster  ein- 
gesetzt und  daher  den 
Beinamen  „der  From- 
me" erhalten,  während 
ihn  andere  Chronisten 
um  seines  heiteren  We- 
sens willen  „den  Fröh- 
lichen" oder  „den  Freu- 
digen" nennen. 
Man  kann  aus  mittel- 
baren Zeugnissen   mit 
größter     Wahrschein- 
lichkeit schließen,  daß 
Albrecht  das  Mädchen 
Agnes,    das    er    1431 
oder    1432    in    Augs- 
burg       kennengelernt 
hatte,  Ende  1432  oder 
Anfang  1433  heimlich 
ehelichte  und  auf  sein 
Schloß  nach  Straubing 
führte. 

Es  muß  gegenüber  dem 
immer  wieder  laut 
werdenden  Zweifel 
mit  Nachdruck  daran 
festgehalten  werden, 
daß  es  sich  bei  der 
Verbindung    zwischen 

Albrecht  und  Agnes  um  eine  zwar  heimliche,  aber 
nach  dem  vortridentinischen  kanonischen  Recht 
durchaus  gültige  Eheschließung  handelte.  Der  Kir- 
chenlehrer Bonaventura  legt  die  damals  maßgebende 
Anschauung  der  Kirche  eindeutig  nieder:  „Das  Sa- 
krament der  Ehe  wird  im  Angesicht  der  Kirche  mehr 
heilbringend  empfangen;  insgeheim  wird  es  jedoch 
gültig  empfangen,  jedoch  nidit  heilbringend,  weil 
gegen  die  kirchliche  Verordnung."  Hätte  es  sich 
nur  um  ein  freies  Verhältnis  gehandelt,  so  wären 
die  sich  bald  auswirkenden  drakonischen  Maßnah- 
men des  herzoglichen  Vaters  vollkommen  unver- 
ständlich. Ebenso  bestätigen  die  Zeugnisse  der  Chro- 
nisten, die  fürstliche  Tracht,  die  man  auf  demRelief- 


Bildnis  der  Agnes  Bernauer.  Um  iöOO 


bild  des  Grabsteines  der  Bernauerin  zubilligte,  die 
ausdrücklichen  Vermerke  in  den  Messestiftungen 
von  Vater  und  Sohn  aus  Anlaß  ihres  Todes  diese 
Auffassung.  Agnes  Bernauer  residierte  spätestens 
seit  Anfang  1433  auf  dem  Schloß  in  Straubing  mit 
fürstlichem  Gepränge.  So  berichtet  der  Historiker 
Aventin,  und  ein  anderer  zeitgenössischer  Chronist 
fügt  dem  bei:  „Dann  sein  Sun  Herzog  Albrecht  hett 
sie  lieb  und  hilt  ir  köstlich  hof  als  einer  Fürstin." 
Albrecht  ließ  sich  damals  ein  »Siegel  schneiden,  das 
neben  einem  der  damals  üblichen  Helmkleinode  eine 

heraldische  Seltsam- 
keit aufweist :  den 
Rumpf  eines  nackten 
Weibes,  das  in  beiden 
Händen  lange,  am 
Helmschmuck  befe- 
stigte Ketten  trägt: 
unzweifelhaft  ein 

Symbol  der  Liebe,  in 
deren  Banden  der 
Träger  des  Wappens 
gefesselt  liegt.  Noch 
1459,  vierundzwanzig 
Jahre  nach  Agnes' 
Tod,  fühlte  der  Her- 
zog, ein  Zeichen  seiner 
fortdauernden  Nei- 
gung, das  gleiche  Sie- 
gel. 1433  schenkte  Al- 
brecht der  Gattin  — 
laut  einer  heute  noch 
erhaltenen  Urkunde 
der  Pfarramtsregistra- 
tur Aubing  —  eine 
Hube  und  Hofstatt  in 
Niedermenzing,  un- 
weit des  herzoglidien 
Jagdschlosses  Bluten- 
burg.  Beatrix,  die 
Schwester  des  Herzogs,  die  ihn  zweimal  besuchte, 
äußert  sich  in  gereizten  Ausdrücken,  „daß  sie  mit 
Herzog  Albert  genug  zornig  von  Frau  Nesen  we- 
gen, der  hoch-  und  großfeisten  Bernauerin";  und 
ein  andermal  „von  ihres  Bruders  wegen,  daß  der 
auch  nicht  eine  schön  (das  heißt  ebenbürtige  Frauen 
hat".  Wenn  man  noch  hinzufügt,  daß  Agnes  laut 
einer  Stiftungsurkunde  den  Wunsch  geäußert  hat, 
einst  in  der  Kirche  der  Straubinger  Karmeliten  bei- 
gesetzt zu  werden,  ist  nahezu  alles  ei  schöpft,  was 
man  über  ihr  Leben  bis  zum  Zeitpunkt  der  Kata- 
strophe weiß. 

Herzog  Ernst,  der  Vater  Albrechts,  betrachtete  ml: 
wachsender  Sorge  die  Entwicklung  der  Dinge. 


30 


Er  ist  übrigens  keineswegs  der  düstere  Unmensch 
und  Fanatiker  gewesen,  als  der  er  in  mancher  dem 
Schicksal  der  Bernauerin  gewidmeten  Dichtung  er- 
scheint, war  vielmehr  um  seines  leutseligen  Wesens 
willen  in  der  Münchner  Bürgerschaft  äußerst  beliebt. 
Auch  hätte  er  gegen  eine  Liebschaft  des  Sohnes  ge- 
wiß nachts  einzuwenden  gehabt,  zumal  er  selbst 
mehrere  uneheliche  Kinder  zu  versorgen  hatte;  30 
konnte  der  Sohn,  als  ihm  Herzog  Ernst  1433  einen 
mahnenden  Brief  schrieb,  zwar  scherzhaft,  aber  recht 
deutlich  auf  des  Vaters  man;iigfache  Beziehungen 
zu  schönen  Frauen  hinweisen. 

Für  den  regierenden  Fürsten  standen  aber  hier 
höchst  bedeutsame  Interessen  auf  dem  Spiel:  Es 
w^aren  nicht  so  sehr,  wie  Hebbel  in  seinem  Ber- 
nauer-Drama es  deutet.  Gründe  der  Staatsräson,  als 
die  Sorge  um  die  Erhaltung  der  Dynastie,  die 
Herzog  Ernst  zu  einem  aktiven  Vorgehen  be- 
stimmte. Blieb  Albrechts  unebenbürtige  Ehe  be- 
stehen, so  konnten  die  Vettern  in  Ingolstadt  und 
Landshut  seine  Erbfolge  mit  Erfolg  anfechten;  und 
damit  wäre,  da  andere  Nachkommen  nicht  vorhan- 
den waren,  das  Ende  der  herzoglichen  Linie  Bayern- 
München  Tatsache  geworden. 

Die  Stimmung  der  Münchner  Bürgerschaft  bestärkte 
den  Herzog  in  seinem  Entschluß.  Eine  Minderheit 
der  jüngeren  Bürger  war,  wie  wir  aus  einem  Ge- 
richtsakt wissen,  für  die  Bernauerin  eingenommen, 
die  Mehrzahl  aber  gegen  sie;  offenbar  aus  dem 
Grund,  weil  man  für  den  Fall  des  Ablebens  des 
alten  Herzogs  im  Zusammenhang  der  Erbfolge- 
streitigkeiten kriegerische  Verwicklungen  mit  Lands- 
hut und  Ingolstadt  befürchtete. 


Die  drohende  Katastrophe  kündigt  sich  durch  eine 
Aktion  Herzog  Ernsts  an,  die  offensichtlich  den 
Sohn  demütigen  und  zum  Abbruch  der  Beziehungen 
zu  Agnes  nötigen  sollte:  im  November  1434  war  ein 
Turnier  nach  Regensburg  ausgeschrieben.  Der  eben- 
falls eingeladene  Albrecht  wurde  auf  Veranlassung 
des  Vaters  wegen  seines  Verhältnisses  zu  Agnes,  das 
man  als  ein  nicht  ebenbürtiges  und  eines  Ritters 
unwürdiges  brandmarken  wollte,  an  den  Turnier- 
schranken zurückgewiesen.  Der  ihm  angetane 
Schimpf  hat  freilich  Albrecht  offenbar  erst  recht  in 
seinem  Festhalten  an  Agnes  bestärkt. 
So  entschloß  sich  der  Vater  zum  äußersten  Mittel. 
Durch  Herzog  Heinrich  von  Landshut  ließ  er  An- 
fang Oktober  1435  Albrecht  zu  einer  Jagd  nach 
Landshut  einladen,  um,  wie  es  in  dem  Brief  heißt, 
„mit  Euch  zu  jagen  und  fröhlich  zu  sein  und  auch 
sonst  Dinge  zu  bereden,  die  wir  nicht  schreiben 
wollen". 


Albrecht  nahm  die  Einladung  an,  wobei  er  freilich 
sein  Befremden  nicht  verschwieg;  di  doch  gerade 
Herzog  Heinrich  jüngst  zu  Kehlheim,  wo  unter  dem 
Vorsitz  von  Herzog  Ernst  seine  Parteigänger,  dar- 
unter auch  der  Münchner  Bürgermeister  Liegsalz, 
Beratungen  wegen  der  Bernauerin  gepflogen  hatten, 
gegen  Albrecht  und  Agnes  gehetzt  habe. 
Dieser  Brief  ist  am  8.  Oktober  geschrieben,  und  an 
einem  der  nächsten  Tage  hat  Albrecht  Staubing  ver- 
lassen. Unmittelbar  nach  seiner  Abreise  ließ  Herzog 
Ernst  die  Bernauerin  verhaften. 

Es  hat  vermutlich  ein  Scheingericht  stattgefunden, 
das  gegen  Agnes  Anklage  wegen  Zauberei  und 
Hexerei  erhob  und  sie  zum  Tode  verurteilte.  Die 
Akten  dieses  Prozesses  sind  nicht  mehr  vorhanden. 
Ein  Chronist  berichtet:  „Das  Weib  war  so  in  Bosheit 
verhärtet,  daß  sie  den  Herzog  Ernst  nit  als  iren 
Richter  und  Herrn  halten  wollt,  da  sie  selber  Her- 
zogin zu  sein  angab."  Und  der  Augsburger  Bene- 
diktiner Clemens  Sander  fügt  hinzu:  „Da  sie  nun 
durch  den  Henker  gebunden  war  in  das  Wasser  zu 
werfen,  sagt  der  Henker  zu  ihr,  wan  sie  frei  be- 
kennen wollt,  daß  Herzog  Albrecht  nit  ihr  Ehmann 
wäre,  so  wollt  er  sie  nit  töten,  sondern  frei  davon 
lan  gan.  Das  wölk  sie  nit  tun,  sundern  sie  sagt  frei, 
es  war  ihr  ehlicher  Mann,  darumb  hat  sie  ertrinkt 
müssen  werden." 

So  geschah  die  Exekution  am  12.  Oktober  1435. 
Von  der  Donaubrücke  zu  Straubing  stieß  der  Hen- 
ker die  Unglückliche  ins  Wasser.  Aber  die  Bande, 
die  sie  fesselten,  waren  nicht  fest  genug.  Es  gelang 
ihr,  das  eine  Bein  zu  lösen,  und  mit  Aufbietung 
aller  Kraft  erreichte  sie  das  Ufer.  Hier  hielt  sie 
siich  einige  Zeit  fest,  und  die  Umstehenden  ver- 
nahmen ihren  Angstruf  aus  heiserer  Kehle:  „Helft! 
Helft!"  Da  eilte  der  Henker  hinzu,  wickelte  eine 
Stange  in  ihre  langen  Flechten  und  stieß  sie  in  die 
Fluten  zurück.  Herzog  Ernst  war  klugerweise,  wie 
wir  aus  neueren  Forschungen  wissen,  bei  der  Voll- 
streckung des  Urteils  nicht  persönlich  zugegen,  weihe 
vielmehr  in  Landsberg,  wohin  ihm  ein  Bote  die 
Nachricht  von  der  Exekution  brachte. 
Ein  in  seiner  gefühlsrohen  Fassung  bezeichnender 
Vermerk  in  der  Münchner  Stadtkammerrechnung 
von  1435  lautet:  „Item  sechszig  Denarien  haben 
wir  bezahlt  nach  Rathgeschäft  unseres  gnädigen 
Herrn  Herzog  Ernstes  Boten  zur  Ergötzung  seiner 
müden  Beine,  daß  er  schnell  von  Straubingen  her 
war  geloffen  und  die  Märe  brachte,  daß  man  die 
Bernauerin  gegen  Himmel  hat  geferüget.  Sonntag 
nach  Gallus  1435." 

Die  auf  den  Mord  folgenden  Vorgänge  werden  in 

31 


den  zeitgenössischen  Quellen  viel  eingehender  als 
die  ganze  Historie  der  Agnes  Bernauer  geschildert, 
können  aber  hier  nur  in  knappen  Umrissen  dar- 
gestellt werden. 

Herzog  Albrecht,  den  offenbar  die  Nachricht  tief 
traf  —  ein  Chronist  berichtet,  er  sei  wie  tot  ganz 
regungs-  und  besinnungslos  einige  Zeit  auf  dem 
Boden  gelegen,  hierauf  habe  er  geschworen,  blutige 
Rache  für  die  Verstorbene  zu  nehmen  — ,  begab  sich 
zu  dem  Ingolstädter  Vetter,  um  mit  ihm  einen  Krieg 
gegen  den  Vater  vorzubereiten.  Münchner  Ratsherren 
und  Boten  Herzog  Ernsts,  die  eine  Versöhnung  vor- 
bereiten wollten,  wurden  zunächst  nicht  vorgelassen. 
Schließlich  bat  Herzog  Ernst  den  Kaiser  Sigismund 
um  Vermittlung.  In  dem  Brief  suchte  er  die  Ber- 
nauerin  mit  offensichtlich  unbegründeten  Anklagen 
zu  belasten,  um  sein  eigenes  Vorgehen  zu  recht- 
fertigen. Albrecht,  heißt  es  da,  sei  mit  einem  bösen 
Weib  beschweirt  gewesen,  das  ihn  hart  und  streng 
behandelt  habe,  daß  der  Sohn  in  den  letzten  drei, 
vier  Jahren  nicht  fröhlich  gewesen  sei.  Der  Vater 
habe  sogar  für  das  Leben  seines  Sohnes  Besorgnis 
gehabt,  da  Agnes  auch  den  Prinzen  Adolf,  seinen 
Neffen,  habe  mit  Gift  aus  dem  Wege  räumen  wollen. 
Da  sich  die  Sache  also  in  Bosheit  verlängert,  Agnes 
darin  kein  Ablassen  verstand,  und  je  länger,  je 
mehr  Übel  daraus  hervorging,  habe  er  das  Weib 
ertränken  lassen. 

Die  Vermittlung  des  Kaisers,  die  Mahnungen  des 
Basler  Konzils  und  einflußreicher  Freunde,  aber  auch 
eine  Erkrankung  Herzog  Ernsts  brachten  nach  eini- 
gen Monaten  eine  notdürftige  Versöhnung  zwischen 
Vater  und  Sohn  zustande.  Herzog  Ernst  bekräftigte 
seinen  Willen  zur  Verständigung  dadurch,  daß  er 
eine  heute  noch  erhaltene  Kapelle  auf  dem  Friedhof 
zu  St.  Peter  bei  Straubing  zum  Gedächtnis  der  Ber- 
nauerin  erbaute  und  dort  einen  Jahrtag  für  ihr 
Seelenheil  stiftete. 

E^  geht  nicht  an,  Albrecht  um  dieser  schnellen  Ver- 
söhnung willen  und  wegen  des  Umstandes  als  wan- 
kelmütigen und  oberflächlichen  Charakter  zu  be- 
zeichnen, daß  er  sich  ein  Jahr  später  mit  Anna,  der 
Tochter  des  Herzogs  von  Braunschweig,  vermählte. 
Diese  Ehe,  die  sich  nicht  besonders  harmonisch  ent- 
wickelte, wie  man  aus  mancher  späteren  Liebes- 
affäre schließen  muß,  wurde  freilich  von  den  Münch- 
ner Bürgern  mit  einem  erleichterten  Aufatmen  be- 
grüßt: „Dess  sollen  wir  alle  froh  sein,  dass  wir  nicht 
wieder  eine  Bernauerin  gewonnen  haben!" 
Viele  Umstände  deuten  darauf  hin,  daß  Albrecht 
das  Bildnis  der  Frühgeliebten  stets  gegenwärtig  und 
nahe  geblieben  ist.  In  einer  alten  bayerischen  hand- 
sdiriftlichen  Genealogie  beißt  es:  „Herzog  Albrecht 


der  Kunstreiche  ist  Meister  der  Musica,  fand  dadurch 
sein  Verstand,  den  er  verloren  hätt,  da  man  das 
Weib  ertränkt." 

Er  führte  auch,  wie  erwähnt,  das  Siegel,  das  an 
diese  Verbindung  erinnerte,  bis  zu  seinem  Tod.  Er 
ließ  den  Heiratsbrief  und  die  Urkunden  über  die 
Morgengabe,  obschon  die  Hochzeit  schon  am  6.  No- 
vember 1436  gefeiert  wurde,  bezeichnenderweise  erst 
am  Agnestag  (21.  Januar)  ausfertigen.  Er  stiftete 
am  12.  Dezember  1435  für  das  Seelenheil  der  „ehr- 
samen und  ehrbaren  Frau  Agnes"  eine  ewige  Messe 
und  Almosen  und  erneuerte  diese  Stiftung  zehn 
Jahre  später  am  Agnestag. 

Eine  Versöhnung  mit  dem  Landshuter  Herzog  Hein- 
rich, der  ihn  zu  jenem  verhängnisvollen  Jagdausflug 
eingeladen  hatte,  kam  überhaupt  nicht  zustande; 
vielmehr  brachen  hier  öftere  Feindseligkeiten  aus, 
die  für  den  fortdauernden  Haß  gegen  den  Verfasser 
des  Uriasbriefes  eindeutig  sprechen. 


Die  Leiche  der  Bernauerin  hat  Albrecht,  ihrem 
Wunsch  entsprechend,  von  St.  Peter  nach  dem  Kar- 
melitenkloster  überführen  lassen;  und  zwar  ist  sie 
vermutlich  vor  dem  Altar  beigesetzt  wo'rden,  den  sie 
in  der  dortigen  Nikolauskapelle  gestiftet  hatte. 
In  der  Bernauer-Kapelle  auf  dem  Friedhof  von 
St.  Peter  bei  Straubing  befindet  sidi  heute  noch  der 
Grabstein  aus  rotem  Salzburger  Marmor,  der  offen- 
bar unmittelbar  nach  Agnes'  Tod  errichtet  worden 
ist  und  dessen  Bildnisdarstellung  annähernde  'X'irk- 
lichkeitstreue  beanspruchen  kann:  das  Flachrelief 
zeigt  Frau  Agnes  in  fürstlicher  Tradit  auf  einem 
Totenbett  ruhend,  in  einem  lang  herabwallenden, 
mit  Hermelin  ausgeschlagenen  Mantel,  die  Haare 
mit  einem  kostbaren  Sdileier  umhüllt.  Die  rechte 
Hand  trägt  Verlobungs-  und  Trauungsring,  um 
beide  Hände  schlingt  sich  ein  Rosenkranz;  zu  den 
Füßen  liegen  ein  Hündchen  und  eine  Eidechse,  die 
man  wohl  mit  Recht  als  Sinnbilder  der  ehelichen 
Treue  gedeutet  hat. 


Legende,  Volkssage  und  Dichtungen  späterer  Jahr- 
hunderte haben  um  die  Gestalt  der  Bernauerin 
einen  bunten  Kranz  geflochten.  Von  Otto  Ludwig, 
Martin  Greif  tmd  Hebbel  gibt  es  Bernauer-Dramen; 
Erzählung  und  Lyrik  haben  das  Gedächtnis  der 
Frau  immer  wieder  erneuert,  auch  ein  später 
Witteisbacher,  König  Ludwig  I.,  hat  ihrer  in 
empfindsamen  Versen  gedacht. 

Das  ergreifendste  Zeugnis  ist  eine  aus  alter  Zeit 
überkommene  vielstrophige  Volksballade,  die  das 
tragische    Schicksal    der   Bernauerin    beklagt. 


32 


uon  bcv  fd/öncn  25EcnauECin 

i>EC  If^erjog  ift  mein, 

unb  id;  bin  fein; 

(Inö  ujic  gac  tceu  uerfpcocl^En,  ja  DEtfprodiEn. 

25ErnauEcin  auf  bem  7^a(TEC  rrf^tüamm, 

l^atia  (3ottz5  tjat  He  gerufen  nn, 
rollt  U)c  au8  btefec  Hot  l)Elfen,  ja  Ijelfen. 

08  ftunö  Faum  nn  ben  bcittEn  cTng, 

bEtn  F)Erjog  Fam  EinE  tcnucigE  ^lag: 

^Ecnauecin  ift  eutcunfen/  ja  ectcunPen. 

©iE  lEgEn  bEin  fiEu^og  fiE  wol)l  auf  öEn  Odjo^, 

5ec  fiEC?og  uiol)l  üiEl  taufEnb  TTcänEn  oecgo^, 

EC  tut  gac  l)EESlidi  toEinEn,  ja  lUEinEn. 

Unb  5iE  mic  l)ElfEn,  rriEin  feinö  £.ieb  begcabEn, 

fd;tracsE  7#tantEln  mü(TEn  (Te  IjabEn, 
un5  fdjroacj  müIfEn  fiE  {idf  tragen,  ja  tcagEn. 

&o  toollEn  ujic  ftiftEn  EinE  EtoigE  ^HeIT', 

ha^  man  öec  25EcnauEcin  nidK  üEcgEfT', 

un5  ujollE  füc  fiz  bEtEn,  fa  bEtEn. 

21u8gEU)ai)ltE  ©trophcn   aiio  einer   alten   'DalfoliallaBe 


33 


ERNST    FR  ITZ    S  C  H  MI  D 


"Mozarts  Urheimat 


Jbs  war  im  Jahre  1719,  am  Tag  vor  dem  herbst- 
lichen Fest  des  Heihgen  Leopold,  als  man  aus  einem 
hochgiebligen  alten  Bürgerhaus  „auf  Unser  Frauen 
Graben"  in  der  sdiwäbischen  Reichsstadt  Augsburg 
behutsam  ein  winziges  Kindlein  im  ■  schönsten 
Schmuck  seines  ersten  Lebenstages  heraustrug  zur 
Taufe  in  der  nahen  Stiftskirche  des  heihgen  Ritters 
Georg.  Der  glückliche  Buchbindermeister  Johann 
Georg  Mozart  und  seine  jugendliche  Frau,  die  ihm 
an  Jahren  fast  um  zwei  Dezennien  nachstand,  ließen 
hier  ihr  erstes  Söhnlein  dem  segnenden  Quell  der 
christlichen  Gemeinschafl:  darbringen.  Zum  Tauf- 
paten hatte  der  Meister,  der  krafl:  seines  Berufes 
schon  immer  einen  gewissen  Hang  zu  den  studierten 
Leuten  hatte,  einen  würdigen  geistlidien  Herrn  aus 
dem  uralten  Augsburger  Stift  St.  Peter  am  Perladi 
gebeten,  der  gerne  seine  Bücher  in  Meister  Mozarts 
"Werkstatt  brachte  und  dabei  wohl  auch  ein  Stünd- 


lein mit  dem  klugen  Mann  zu  verplaudern  pflegte. 
Mit  dem  blanken  Tauftaler  gab  er  dem  kleinen 
Erdenbürger,  der  noch  ein  wenig  benommen  in  die 
Novembersonne  einer  ungewohnten  Welt  blinzelte, 
seine  Vornamen  Johann  Georg  mit  auf  den  Weg.  Der 
fromme  und  dankbare  Vater  fügte  aber  noch  den 
Namen  eines  kräftigen  deutschen  Heiligen  hinzu, 
der  sein  Kind  schützend  ins  unbekannte  Land  des 
Lebens  geleiten  sollte.  Feierte  man  dodi  heute 
St.  Leopolds  Vorabend.  Und  so  ist  der  kleine  Mann 
unter  dem  Namen  des  fürstlichen  Patrons  von 
Klostemeuburg  und  Niederösterreich  ein  berühmter 
Musiker  seiner  Zeit  geworden:  Leopold  Mozart,  der 
schwäbische  Vater  des  unsterbhdien  Meisters  der 
Zauberflöte. 

Als  der  greise  Chorherr  vom  Stift  St.  Georg  dem 
kleinen  Leopold  nun  die  Taufe  spendete,  flogen 
seine  Gedanken  einen  Augenblidi  hinüber  zur  reidi- 


34 


verzierten  Kanzel,  mit  der  das  barocke  Lebensgefühl 
der  Augustinerchorherrn   die   ernste   gotische  Halle 
ihrer   Kirdie   geschmückt   hatte.    Von   dort   droben 
hatte  einst  ein  Augsburger  Minoritenpater  als  feu- 
riger Prediger  die  Seelen  seiner  Hörer  zu  erschüttern 
verstanden,   dieses  Täuflings  Großonkel,  den   man 
erst  vor  wenig  Jahren  begraben  hatte.    Aber   war 
Pater  David  Mozart  dem  Stift  nur  als  spradigewal- 
tiger  Künder  des  Gottesworts  zur  Seite  gestanden? 
Hatte  er  ihm  nidit  auch  seinen  kunstreichen  Bruder 
Hans   Georg  zugebracht,   diesen   eigensinnigen   und 
dodi  so  gutherzigen  Augsburger  Maurerwerkmeister 
vom  besten  schwäbischen  Schlag,   der  landauf  und 
landab  als  Baumeister  stattlicher  Klöster,   Kirchen 
und  Schlösser  geachtet  und  wegen  seiner  streitbaren 
Grobheit  nicht  wenig  gefürchtet  war.'   Wie  hatte  er 
doch  Staunen  und  Bewunderung  seiner  Baulierrn  aus 
dem  Chorherrnstift  erregt,  als  er,  unbeirrt  durch  alle 
kriegerischen  Fährlichkeiten,  dort  drüben  den  statt- 
lichen Bau  der  neuen  Stiftspropstei  in  seinen  edlen 
Formen  aufgeführt  hatte,  indes  ihm  die  Kanonen- 
kugeln aus  den  Belagerungsschanzen  des  bayerischen 
Kurfürsten,     vom     Galgenhumor     der    Augsburger 
„Pillulae  Emanuelis"  genannt,  hin  und  wieder  das 
Konzept  verdarben.    Jetzt   aber,  als  der   Chorherr 
die  Stirn  des  kleinen  Leopold  mit  dem  geweihten 
Wasser  netzte,  lag  der  kampfmüde  Großonkel  un- 
weit im   Schlafgemach  seines   Hauses   am   Äußeren 
Pfaffengäßle  und  führte  tapfer  seinen  letzten,  har- 
ten Streit  mit  Freund  Hein,  dem  er  wenige  Tage 
darauf  unterliegen  mußte.    Der  neue   Erdenbürger 
aber,  dem  er  Platz  gemacht  hatte,  wuchs  gar  munter 
heran    und    lernte    sidi   wacker    rühren    nach    seiner 
Väter  Art. 

Ein    langes,    reiches  Künstlerleben    war  verstrichen, 
das  sich  Leopold  Mozart  als  rüstiger  Werkmeister 
seines  Glückes  fern  der  schwäbischen  Heimat  auf- 
gebaut  hatte,   als   sich   nochmals   eine    flüchtige  Be- 
rührung mit  dem  Wirken   seiner  Ahnen  ergab,  die 
eines  tieferen  Sinnes  nicht  entbehrte.  Als  er  im  Früh- 
ling 1786  von  seinem  großen  Sohn  Wolfgang  Ama- 
deus  einer  Wiener  Bauhütte  des  Freimaurerordens 
zugeführt  wurde  und  als  ihm  dort  auf  seiner  „Ge- 
sellenreise" Kelle  und  Schurzfell  als  Symbole  mau- 
rerischer   Brüderschaft    gereicht    wurden,    schweiften 
seine  Gedanken  weit  zurück  in  die  versunkene  Welt 
seiner  Augsburger  Ahnen  aus  der  Zunft  der  Maurer. 
War    nicht    sein    Urgroßvater    David    Mozart    der 
Jüngere,  dessen  "gleichnamiger  Vater  als  wohlgeach- 
teter Bürger  im  benachbarten  schwäbischen  Flecken 
Pfersee  gelebt  hatte,  eines  Tag^s  als  Maurerlehrling 
in  den  Schutz  der  Stadt  Augsburg  gezogen,  während 
nächtens    noch    der    Brand    die   Wolken    rötete,    in 
dessen  grimme  Glut  Schweden  und  Kaiserliche  sein 


Heimatdorf  um  die  Wette  stürzten?    So  war  Augs- 
burg zur  Zuflucht  der  Mozarte  auf  lange  Genera- 
tionen hin  geworden.    Auf  so  manchem  der  letzten 
Augsburger   Bauwerke   des  Ellas   HoU   mochte   der 
Lehrling  David  Mozart  noch  emsig  seine  Kelle  ge- 
schwungen haben,  ehe  er  dann,  selbst  Meister  ge- 
worden, als  Zeugnis  seiner  rechtschaft'encn  künstle- 
rischen Gesinnung  und  handwerklichen  Tüchtigkeit 
im     sdiwäbischen     Donaustädtchen    Dillingen     das 
schlanke  Achteck    jenes    Turmes    gebaut    hatte,    den 
Leopold  noch  hundert  Jahre  danach  mit  Familien- 
stolz dem  kleinen  Wolfgang  und  seinem  Schwester- 
lein  als  Werk  des  Ahnherrn  wies,  als  sie  dort  am 
Hof  des  Augsburger  Fürstbischofs  musizierten.  Und 
hatte  sich  nicht  auch  der  Großvater  ein  hartes  Leben 
lang  als  Maurer  mit  Richtschnur  und  Kelle  gemüht, 
ehe  er,  krank  und  von  des  Lebens  Plage  gebrochen, 
mit  den  Seinen  in  die  Armensiedlung  der  Augsburger 
Fuggerei  eingezogen  war,  um  seine  Tage  in  einem 
der  zierlichen  Schneckenhäuslein  zu  beschließen?    So 
manche  seltsame  Mär  über  Franz  Mozarts  Schicksale 
hat  noch  lange  bei  Kindern  und  Enkeln  die  Runde 
gemacht.    Gespannt  und   ein  wenig  bänglich  hatte 
auch  der  kleine  Leopold  die  Ohren  gespitzt,  wenn 
der  Vater  Buchbinder  in   der  Dämmerstunde  vom 
Großpapa  erzählte,   während  Mutter  Anna  Maria, 
die   fleißige   und  herbe   Augsburger   Weberstochter, 
das  Spinnrad  schnurren  ließ.   Denn  es  war  darunter 
auch  manches  gruselige  Geschichtlein,  so,  wie  er  eines 
Tages  aus  Barmherzigkeit  mit  dem  beherzten  Groß- 
onkel Hans  Georg  zusammen  die  Leiche  eines  Un- 
ehrlichen, eines  Scharfrichterknechts,  zu  Grabe  trug 
und  dafür  um  ein  Haar  aus  der  strengen  Maurer- 
zunft der  Reichsstadt  ausgestoßen  worden  wäre. 
Im  übrigen  freilich  war  die  Kinderwelt  des  kleinen 
Leopold  dem  harten  Werktag  des  Maurerhandwerks 
schon  entrückt:  sie  stand  schon  im  geheimnisvollen 
Vorhof    der    Gelehrsamkeit.     Die   Buchbinderwerk- 
statt  mit   den    vielerlei   fremden   Büchern,   die   sich, 
groß  und  klein,  dick  und  schmächtig,  hier  aus  den 
verschiedensten  Bürgerstuben  zusammenfanden,  um 
sich  vom  Papa  ein  schmucl<:es  neues  Kleid  anmessen 
zu  lassen,  bot  ihm  täglich  neue  Wunder,  aus  denen 
der  lebhafte  Knabengeist   seine  Nahrung  zog,  erst 
recht,  seit  er  drüben  in  der  Jesuitengasse  im  Gymna- 
sium zu  St.  Salvator  in  der  Hut  gelehrter  Jesuiten- 
patres nicht  nur  das  Lesen,  sondern  auch  das  Be- 
greifen gelernt  hatte.  Am  meisten  lockten  seine  Neu- 
gier   freilich    die    dickleibigen   Meßbücher    mit   den 
krausen,    schwarzen    Notenköpfen,    eingesperrt    m 
ihren  roten  Liniengittern,  die  der  Papa  für  die  hoch- 
mögenden Fuggergrafen  einbinden  mußte,  oder  die 
Stimmbücher  in  buntem  türkischem  Papier  für  Trom- 
peten, Gelgen,  Orgel  und  Gesang,  die  für  den  Mu- 


35 


sikdior  der  nahen  Wallfahrtskirche  Marktbiberach 
bestimmt  waren,  zu  der  er  als  jugendlidier  Wall- 
fahrer so  manches  Mal  mit  den  Jesuitenschülern  ge- 
pilgert war,  das  „Herrgöttle  von  Biberach"  zu 
ehren.  Auch  das  kam  ihm  wieder  in  den  Sinn,  als 
er  nach  Jahrzehnten  mit  seinen  Kindern  des  Weges 
kam  und  dem  musikalischen  Wettstreit  lauschte,  den 
sein  kleiner  Wolfgang  mit  einem  andern  Wunder- 
kind aus  schwäbischem  Stamm  auf  der  Orgel  dieses 
Gnadenortes  vor  der  hodignädigen  Fuggerischen 
Herrschaft  ausfodit.  Bald  hatte  der  wißbegierige 
kleine  Leopold  die  Geheimschrifl:  verstehen  gelernt, 
nach  der  die  großen  Leute  aus  den  Büchern  sangen 
und  musizierten,  die  der  Vater  so  schön  einzubinden 
verstand.  Wenn  es  zu  St.  Ulrich  oder  bei  Heilig- 
kreuz ein  Fest  zu  feiern  gab,  lieh  man  sich  den  treff- 
sicheren und  schönstimmigen  kleinen  Diskantisten 
gerne  bei  den  Patres  Jesuiten  aus,  und  bald  stridi 
er  auch  auf  dem  Kirdienchor  zu  St.  Salvator  und 
beim  häuslichen  Musizieren  taktfest  seine  Geige,  mit 
der  er  sich  später  als  Konzertmeister  des  Salzburger 
Fürstbischofs  und  als  Schöpfer  der  ersten  „Gründ- 
lichen Violinschule"  in  deutscher  Sprache  sein  Brot 
und  einen  weithin  geachteten  Namen  erwerben 
sollte.  Der  Höhepunkt  für  jedes  seiner  zehn  Augs- 
burger Schuljahre,  in  denen  ihm  die  strengen  Pro- 
fessoren und  Magister  aus  dem  Jesuitenkolleg  die 
Summa  der  humanistischen  Weisheit  ihrer  Zeit  als 
kostbares  Gut  auf  seine  Lebensrsise  mitgaben,  waren 
aber  die  phantastischen  „Sdilußkomödien"  des  Sdiul- 
theaters.  Durfte  er  doch  hier  bald  als  singender 
Hirtenbub,  bald  als  geduldiger  Isaak  oder  tapferer 
David  auf  der  Bühne  stehen  und  seine  Stimme  in 
kunstvollen  Tiraden  erklingen  lassen,  indes  im  Zu- 
schauerraum der  lieben  Verwandtschaft  aus  dem  ehr- 
samen Stand  der  Buchbinder-  und  der  Weberzunfl, 
die  ihre  Theaterfreude  aus  der  noch  immer  leben- 
digen Tradition  der  Augsburger  Meistersinger 
nährte,  die  stolze  Freude  über  ihren  kleinen  Leopold 
durch  alle  Glieder  fuhr.  Als  der  fünfzehnjährige 
Absolvent  der  Rhetorenklasse  gar  in  der  Titelrolle 
des  allegorischen  „Phaeton"  auftreten  durfte,  den 
der  Hofkapellmeister  des  Augsburger  Fürstbisdiofs 
komponiert  hatte,  und  als  der  kleine  Himmelstür- 
mer dabei  zum  Staunen  seiner  Zuschauer  mit  dem 
glänzend  angesdiirrten  Sonnenwagen  in  die  Höhe 
fuhr,  getragen  von  der  barocken  Theatermaschinerie 
der  Jesuiten,  da  kannte  der  Familienstolz  vollends 
keine  Grenzen  mehr. 

Noch  zwei  Jahre  pilgerte  Leopold  eifrig  mit  Schul- 
tasche und  Geige  zum  Jesuitenlyzeum,  ehe  er  seine 
Heimatstadt  verließ  und  als  Studiosus  der  Logik 
und  Jurisprudenz  die  Salzburger  Benediktineruni- 
ver&ität  bezog.   Stein  um  Stein  fügte  sich  zum  statt- 


lichen Gebäude  seiner  wohlgegründeten  humanisti- 
schen Bildung,  die  ihm  später  bei  einem  der  berühm- 
testen Kollegen  seiner  Zeit  den  Najnen  eines  „geist- 
vollen, feinen  und  weltgebildeten  Mannes"  eintrug. 
Er  hat  sie  als  unschätzbares  Erbteil  seiner  Augs- 
burger Jugend  seinem  großen  Sohn  Wolfgang  Ama- 
deus  weitergegeben,  der  nicht  nur  in  den  Fächern 
der  Musik,  sondern  auch  in  denen  der  allgemeinen 
Bildung  fast  ausschließlich  sein  Schüler  war.  Ob  er 
ihm  allerdings  verraten  hat,  daß  er  nach  wenigen 
Semestern  seines  Salzburger  Studiums  vom  grollen- 
den Rector  magnificus  in  aller  Form  relegiert  wurde, 
weil  er  sich,  ganz  im  Banne  der  holden  Frau  Mu- 
sica,  die  im  barocken  Salzburg  Triumphe  feierte, 
dem  beharrlichen  Schwänzen  der  gelehrten  Vor- 
lesungen hingegeben  hatte?  Wir  dürfen  es  bei  seinen 
strengen  pädagogisdien  Grundsätzen  füglich  be- 
zweifeln. So  kamen  die  reichen  Früdite  seiner 
Augsburger  Erziehung  nicht  etwa  dem  geistlichen 
Stande  zugute,  dem  seine  besorgte  Mutter  ihn  so 
gern  geweiht  hätte,  sondern  der  Tonkunst,  der  er 
sich  fortan  ganz  zuwendete,  ein  Sdiritt,  der  ihm  als 
Künstler  reichen  Segen  und  als  Künstlervater  die 
Unsterblichkeit  gebracht  hat. 

An  solciier  Unsterblichkeit  ließ  er  aber  audi  seine 
Vaterstadt  Augsburg  teilhaben.  Leopold  Mozart  war 
ja  ein  pfiffiger  Schwabe,  der  es  sich  beizeiten  ab- 
gewöhnte, im  gefährlichen  Spiel  des  Künstlerlebens 
auf  eine  Karte  allein  zu  setzen.  Selbst  als  er  längst 
wohlbestallter  Hofmusikus  in  Salzburg  war  und  mit 
der  lebenslustigen  Jungfer  Maria  Anna  Pertl  aus 
dem  liederreichen  Salzkammergut  Hochzeit  gemadit 
hatte,  gab  er  sein  angestammtes  Bürgerrecht  in  der 
Stadt  am  Lech  niciit  auf.  So  kommt  es  denn,  daß  es 
ein  richtiges  Augsburger  Bürgerskind  war,  das  in 
einer  Sternstunde  der  Menschheit  am  27.  Januar 
1756  im  hohen  alten  Haus  an  der  Getreidegasse  zu 
Salzburg  zur  Welt  kam.  Reidi  imd  mannigfaltig  ist 
das  augsburgisciie  Geisteserbe,  das  Wolfgang  Ama- 
deus  Mozart  in  seinen  Adern  führte  und  das  ihm 
die  erzieherisdie  Sorgfalt  des  Vaters  noch  tiefer  ein- 
prägte. Eine  der  drolligsten  Gaben  aus  diesem  an- 
gestammten Schatz  ist  der  Augsburger  Humor.  Ob 
wir  nun  die  lustige  Orciiestersuite  „Galimathias  mu- 
sicum"  aufblättern,  die  der  Zehnjährige  schuf,  oder 
etwa  die  übermütigen  Kanons,  die  er  noch  bis  m 
seine  letzten  Lebensjahre  den  heiteren  Wiener  Freim- 
den  widmete,  auf  Schritt  und  Tritt  begegnen  uns  m 
seinen  Schöpfungen  die  Spuren  jenes  lachlustigen 
Quodübetgeistes  des  volkstümlichen  musikalischen 
Humors  aus  dem  barocken  Augsburg,  den  einst  der 
Schongauer  Geiger  Kelz  mit  seiner  „Oberländisch- 
schwäbischen  Tafelmusik"  begründet  hatte.  Die  Aus- 
wirkungen dieses  musikalischen  Humors  eigener  Prä- 


36 


gung  führen  über  das  in  Augsburg  ersdiienene 
„Ohrenvergnügende  und  gemütsergötzende  Tafel- 
konfekt" des  lustigen  Möndileins  von  Banz  zu  Leo- 
pold Mozarts  „Musikalischer  Schlittenfahrt"  und 
„Bauernhochzeit",  die  vierzehn  Tage  vor  Wolfgangs 
Geburt  im  bürgerlidien  Musikkollegium  zu  Augs- 
burg mit  Schellengeläut,  Peitschenknallen  und  Juch- 
zen zum  erstenmal  erklangen. 


zerten  die  beiden  Wunderkinder  Wolfgang  und 
Nannerl  seinen  Landsleuten  vorstellte,  ehe  er  ihnen 
die  Tür  in  die  große  musikalische  Welt  des  euro- 
päischen Westens  aufstieß.  Im  vornehmen  Rokoko- 
bau „Zu  den  drei  Mohren",  vor  dem  der  Herr 
Vizekapellmeister  des  Salzburger  Fürsterzbisdiofs  in 
eigener  Reisekutsche  vorfuhr,  nahm  man  Herberge. 
Über  all  den  musikalischen  Verpflichtungen  und  Ein- 


Leopold  Mozart  (tH9-i7&T) 


Ehrlidie  Verehrer  ihres  Landsmanns  Leopold  Mozart 
waren  die  Mitglieder  dieses  Kollegiums,  in  dem  der 
musikbegeisterte    Bauamtsaktuarius    mit    ebensoviel 
Eifer  am  Violin-  oder  Bratschenpult  saß,  wie  der 
weitberühmte  Kupferstecher,  der  biedere  Brunnen- 
meister oder  der  Hofmusikus  des  Fürstbischofs,  indes 
der  wohlbeleibte  Kattunfabrikant  im  Schweiße  sei- 
nes Angesichts  die  Baßgeige  strich  und  ihm  zur  Seite 
der  große  Orgel-  und  Klavierbauer  Johann  Andreas 
Stein   die  bunte  Musikantenschar  mit   dem   Silber- 
klang  des  Kielflügels  sidier  durch  alle  Klippen  und 
Strudel  der  musikalisdien  Scylla  und  Charybdis  hin- 
durchsteuerte. Meister  Stein  und  sein  Kreis  waren 
denn  auch  Leopold  Mozarts  beste  Bundesgenossen, 
als  er  im  Sommer  des  Jahres  1763  in  festlichen  Kon- 


ladungen vergaß  der  kluge  Papa  aber  auch  nicht, 
den  Kindern  die  Merkwürdigkeiten  der  Heimatstadt 
zu  zeigen,  den  Goldenen  Saal  im  prunkvollen  Rat- 
haus Elias  HoUs,  den  Wolfgangs  helle  Kinderaugen 
nicht  minder  bestaunten  als  den  kostbaren  Kirchen- 
schatz von  St.  Ulrich  mit  seinen  gold-  und  juwelen- 
funkelnden Kleinodien  aus  einem  Jahrtausend  bene- 
diktinischer  Kunstfreudigkeit.  Die  Konzerte  der 
Kinder  fanden  brausenden  Beifall:  ein  Augsburger 
Rezensent  beglückwünsdite  Vater  Mozart  mit  be- 
geisterten Worten,  wie  es  ihm  doch  gelungen  sei, 
„ein  Mägdlein  von  eilf,  und,  was  unglaublich  ist, 
einen  Knaben  von  sieben  Jahren  als  ein  Wunder 
unsrer  und  voriger  Zeit  auf  dem  Clavecin  der  musi- 
kalischen   Welt    darzustellen".    Drei    Jahre    später. 


37 


Dai  „Auphurger  Bäsle' 

staubig  und  knarrend  von  der  Mühsal  der  Wege 
halb  Europas,  über  welche  sie  die  musikalisdien 
Triumphe  Klein -Wolf  gangs  geführt  hatten,  kam 
die  Reisekutsche  der  Familie  wieder  durch  Augs- 
burg gerollt,  im  gastlichen  Bezirk  der  „Drei 
Mohren"  nochmals  kurze  Rast  zu  finden,  ehe  sie 
ihre  kostbare  Last  vollends  nach  dem  heimatlichen 
Salzburg  trug. 

Hier,  am  glänzenden  musikalischen  Hof  der  Fürst- 
erzbischöfe, den  er  zu  Zeiten  zu  musikalischen  Reisen 
in  den  italienischen  Süden  und  nach  der  Kaiserstadt 
Wien  verließ,  reifte  der  Wunderknabe  Wolfgang 
Amadeus,  Jahr  um  Jahr  in  der  treuen  Hut  Vater 
Leopolds,  zum  Meister  heran,  bis  ihn  die  Enge  der 
Salzburger  Hofluft  nicht  länger  in  der  Salzachresi- 
denz litt.  Elf  Jahre  waren  ins  Land  gegangen,  seit 
,er  die  grünhaubigen  Zwiebeltürme  der  Heimatstadt 
seines  Vaters  nicht  mehr  gesehen  hatte.  Nun  brachte 
die  große  Weltreise,  zu  der  er  sich  mit  seiner  Mutter 
im  Herbst  des  Jahres  1777  anschickte,  ein  fröhliches 
Wiedersehen.  Wieder  war  es  die  väterliche  Klein- 
welt des  reichsstädtischen  Augsburg,  die  ihm  vor 
dem  Flug  in  die  Weite  Rast  bot.  Diesmal  war  die 
Geldkatze  nicht  mehr  so  wohlgefüllt.  Der  Papa 
mahnte,  auf  Mannheim  und  Paris  zu  sparen,  und 
Madame  Mozart  stieg  mit  ihrem  Sohn  im  gut  bür- 


gerlichen Gasthaus  „Zum  weißen  Lamm"  beim  Hei- 
ligkreuzertor ab,  „wo  schöne  Zimmerl  sind,  auch 
die  ansehnlichsten  Leute,  Engelländer,  Franzosen 
etc.  einkehren".  Noch  im  Reisegewand,  mit  Hut 
und  Degen,  sehen  wir  den  jungen  Meister  eilfertig 
um  die  Ecke  der  nächsten  Gasse  biegen,  wo  nalie 
dem  alten  Jesuitengymnasium,  in  dem  seines  Vaters 
Schulweisheit  zuhause  war,  die  Behausung  seines 
Onkels  stand.  Der  Buchbindermeister  Franz  Alois 
Mozart  hatte  seine  Werkstatt  schon  zugemacht  und 
pflegte  mit  Frau  und  Tochter  im  Dämmer  der  Stube 
des  Feierabends,  als  die  Türe  unversehens  auf- 
gerissen wurde  und  der  berühmte  Herr  Neffe  aus 
Salzburg  strahlend  vor  Freude  hereintrat.  Mit  den 
Grüßen  von  Vater  Leopold  flog  gleich  nach  alter 
Familientradition  der  Mozarte  manch  übermütiges 
Scherzwort  hin  und  wieder,  und  bald  hatte  der  Salz- 
burger Vetter  eine  lustige  Freundschaft  mit  dem 
Augsburger  „Bäsle"  geschlossen.  War  doch  die  Jung- 
fer Maria  Anna  Thekla  Mozart  mit  ihren  kecken 
neunzehn  Jahren  so  wenig  auf  Kopf  und  Mundwerk 
gefallen,  als  der  um  weniges  ältere  Herr  Vetter,  der 
fortan  seine  ausgelassenen  Briefe  ans  „allerliebste 
Bäsle  Häsle"  als  „Edler  von  Sauschwanz"  oder 
„Wolfgang  Amade  Rosenkranz"  zeidmete.  In  froher 
Laune  verlebte  er  die  Augsburger  Tage  trotz  man- 
cherlei merkwürdigen  Erfahrungen,  die  er  mit  der 
gespreizten  Wichtigtuerei  eines  in  geistiger  Nüchtern- 
heit erstarrten  Patriziats  oder  mit  der  gutwilligen 
Unzulänglichkeit  des  Augsburger  Liebhaberorchesters 
machte.  Seine  Briefe  an  Vater  Leopold  mit  den  Be- 
richten über  die  Augsburger  Erlebnisse  können  wir 
an  jeder  beliebigen  Stelle  aufschlagen:  immer  wer- 
den sie  uns  ein  köstliches  Bild  ihres  Schreibers  und 
seiner  Umwelt  entwerfen.  Mit  Schmunzeln  lesen  wir, 
wie  der  Schalk  gleich  am  ersten  Tag  den  alten 
Freund  Stein  als  „Herr  Trazom  aus  München"  hin- 
ters Licht  führte,  um  dann  mit  Meisterhand  allen 
Wohlklang  zu  entfesseln,  welchen  Steins  berühmte 
Orgelwerke  bei  den  Barfüßern  und  in  der  Stiftskirche 
Heiligkreuz  in  sich  bargen.  Oder  vernehmen  wir, 
wie  sein  ererbter  schwäbischer  ScharfbHck  und  Humor 
das  preziöse  Gehaben  des  Kirchenmusikdirektors 
von  St.  Anna  umreißt:  „er  setzt  alle  Wörter  auf 
Stelzen  und  macht  gemeiniglich  das  Maul  ehender 
auf,  als  er  nur  weiß,  was  er  sagen  will,  —  manches- 
mal fällt  es  auch  zu,  ohne  etwas  zu  tun  gehabt  zu 
haben".  Vor  der  aufgeblasenen  Eitelkeit  eines  Bene- 
diktiners von  St.  Ulrich  macht  seine  scharfe  Zunge 
erst  recht  nicht  halt,  wenn  er  dem  wißbegierigen 
Dümmling  zuruft:  „Schmecks,  Kropfeter!"  Aber  dii 
Augsburger  Briefe  zeigen  Mozart  auch  zum  ersten- 
mal im  Vollgefühl  seiner  künstlerischen  Sendung, 
wenn   er   dem   taktlosen  Standesdünkel   des   Stadt- 


38 


Das  Mozart-Haus 


pflegersohns  die  kühnen  Worte  zuwirft:  „Ich  kann 
noch  eher  alle  Orden,   die  Sie  bekommen  können, 
bekommen,  als  Sie  das   werden,   was  ich  bin,  und 
wenn    Sie    zweimal    sterben    und    wieder    geboren 
werden!"    Von    dem    „jungen    Esel    von    Kurzen- 
mantel", als  den  er  diesen  vornehmtuerischen  Grün- 
sdinabel  bezeichnete,   ist's   nicht   gar   weit    zu    dem 
„Löbkowitzisdien  Esel",  mit  dem  später  der  zornige 
Beethoven    seinen   adeligen    Mäzen   betitelte,    Vor- 
zeidien    der    Befreiung    der    Künstlerpersönlichkeit 
vom    Joch  des  Hofbediensteten  der  absolutistischen 
Zeit.  Glänzend  waren  Wolfgangs  Erfolge  im  exklu- 
siven    Konzert     des     vornehmen 
Augsburg    auf    der    Patrizierstube 
und  in  seiner  eigenen  öftentlichen 
Akademie  im  gräflidi  Fuggerischen 
Saal,    wo    es    ihm    gelang,    „seine 
Herren  Landsleute  etliche  Sttmden 
recht  herrlich  zu  unterhalten".  Am 
wohlsten  aber  war  ihm  beim  Musi- 
zieren   im    Ghorherrnstift    Heilig- 
kreuz, wo  er  bei  dem  musikfreu- 
digen Propst  und  seinem  jovialen 
Pater    Organisten    Stunden    unbe- 
fangener   Fröhlichkeit    bei    wohl- 
besetzter Tafel  und  festlicher  Mu- 
sik im  Estrich  des  alten  Prälatur- 
gebäudes  erlebte,  Stunden,  die  ihm 
im  Gedächtnis  blieben,  als  er  schon 
längst  über  alle  Berge  war.  Denn 
schon    bald    mußte    tränenreicher 
Abschied  vom  Bäsle  und  den  an- 
dern Augsburger  Freunden  genom- 
men werden,  als  der  Postillon  wie- 
der  seine  lustige  Weise   vor   dem 
„Weißen  Lamm"  ertönen  ließ. 
Das   Bäsle  aber   mußte  lange   auf 
den  gefeierten  Herrn  Vetter  war- 
ten. Als  ein  Jahr  verstrichen  war 
und  er  aus  Paris  heimkehrend  wie- 
der  durdis   Sdiwabenländle  reiste, 
mied  er  Augsburg.  Zwei  riefe  Er- 
lebnisse hatten  indessen  die  Grund- 
festen   seines    Wesens    erschüttert: 
der  Tod  der  geliebten  Mutter,  die 
in  Paris  auf  immer  von  ihm  ging, 
und    die    glühende    Zuneigung    zu 
der  blutjungen  Mannheimer   Sän- 
gerin   Aloisia   Weber.    Dies   letzte 
Erlebnis  ließ  ihn  wohl  dem  Bäsle, 
das  so  treu  seiner  gewartet  hatte, 
aus  dem  Wege  gehen.  Als  er  sich 
nadi   seiner   Ankunft   in   München 
von    der    Angebeteten    schmählich 


verstoßen  sah,  mußte  freilidi  gerade  das  Bäsle  aus 
Augsburg  schleunigst  herüberkommen,  den  armen 
Vetter  zu  trösten  und  vollends  heim  nach  Salzburg 
zu  geleiten. 

In  den  folgenden  Jahren  versank  ihm  mit  seiner 
Übersiedlung  nadi  Wien  und  dem  Tod  seines  Vaters 
die  schwäbische  Urheimat  mehr  und  mehr.  Und  doch 
ereignete  sich  noch  eine  letzte  Berührung.  Im  Spät- 
herbst des  Jahres  1790,  wenige  Monate  nach  dem 
berühmten  Herrn  Geheimerat  Johann  Wolfgang  von 
Goethe,  den  seine  zweite  italienisdie  Reise  her- 
geführt hatte,  stieg  Mozart  für  eine  kurze  Reise- 
Photo  Stadt.  Bauvcrwallung 


39 


nacht  im  wohlbekannten  „Weißen  Lamm"  zu  Augs- 
burg ab.  Er  hatte  es  aber  schon  redit  eilig,  heim 
nach  Wien  zu  kommen,  kränklich  wie  er  war  und 
mißvergnügt  über  den  schwachen  Erfolg  der  Kon- 
zerte, die  er  bei  der  Frankfurter  Kaiserkrönung  ge- 
geben hatte.  Nicht  viel  mehr  als  ein  Jahr  der  Not 
und  Sorge  im  Kampf  um  die  Existenz  verstrich 
noch,  bis  das  Leben  des  Meisters  in  einer  Altstadt- 
gasse Wiens  erlosch,  das  Leben  jenes  Augsburger 
Bürgerkindes,  von  dem  die  schwäbisdien  Reidis- 
städter  «inst  in  ihrer  Zeitung  die  stolzen  Worte  gelesen 
hatten:  „Ehre  für  uns,  lieber  Patriot!  Einen  Tonkünst- 
ler, einen  Landsmann  hier  zu  haben,  um  den  uns  ganz 
England,  Frankreich  und  Italien  beneidet!" 
Fern  sind  die  Tage,  die  Mozart  und  seine  Ahnen 
in  den  Mauern  Augsburgs  sahen.  Aber  der  Ehren- 
name einer  Mozartstadt  ist  der  Stadt  am  Lech  ge- 
blieben und  stellt  sie  brüderlich  neben  Salzburg  und 
Wien.  Im  Feuerorkan  der  Luftangriffe  des  unheil- 
vollen Februar  1944  sind  unzählige  der  Augsburger 
Stätten  in  Asche  gesunken,  mit  denen  das  Leben 
Mozarts  und  seiner  Ahnen  verbunden  war.  Über 
die  rauchenden  Trümmer  der  Barfüßerkirche  und 
Heiligkreuzkirdie  tropfte  in  heißen  Zähren  das  glü- 
hende  Metall    der    Orgelpfeifen    aus   den    Werken 


Meister  Steins,  die  Mozarts  Meisterhand  geweiht 
hatte.  Eine  öde  Trümmerstätte  starrt  uns  am  Platz 
des  Gasthauses  „Zum  Weißen  Lamm"  an,  dessen 
Hut  einst  Wolfgang  und  seine  Muner  umfangen 
hatte.  Phantastische  Ruinen  und  rauchgeschwärzte 
Fensterhöhlen  recken  uns  die  einst  so  gastlichen 
„Drei  Mohren"  entgegen.  Nur  traurige  Reste  zeugen 
noch  von  dem  traulichen  Altstadtbild  der  Jesuiten- 
ga&se,  wo  Vater  Leopold  studiert  und  das  lustige 
Bäsle  gewohnt  hatte,  oder  von  dem  massigen  Bau 
der  alten  Prälatur  des  Stiftes  Heiligkreuz,  in  dessen 
Räumen  einst  die  feurigen  Klänge  seines  Violm- 
konzerts  „mit  dem  Straßburger"  unter  Wolfgangs 
eigenen  Händen  widerhallten.  Aber  die  Stätte,  an 
der  sich  des  Meisters  Verbundenheit  mit  Augsburg 
am  klarsten  kündet,  ist  vom  apokalyptischen  Grauen 
der  Bombermächte  verschont  geblieben.  Unverrückt 
hebt  ein  schlichtes  Bürgerhaus  in  der  Frauentorstraße 
seinen  Giebel  in  das  freundliche  Licht  des  schwäbi- 
schen Himmels:  das  Haus,  in  dem  einst  Leopold 
Mozarts  Wiege  stand,  Verheißung  und  Verpflichtung 
zugleich  für  Augsburg  und  alle  Welt,  in  welche  die 
Werke  seines  Sohnes  ihren  Segen  ausstrahlen,  für 
Schönheit,  Wahrheit  und  Güte  zeugend  bis  in 
fernste  Zeiten. 


C^fL^i^) 


^jJ^.tU^  -^f{  ^^^<  -^'^<^.  ^J^  -pUJi^  ^Z^y^^ 

//^---•/^7^  /c^SC^  ^If.^^^  -^^<^/-,  ^-i^L^ 


Faksimile  eines  Briefes  von  W.  A.  Mozart  an  das  Augsburger  Bäsle 


40 


^, 


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Eingang  zur  Fuggerei  mit  dem  Neptunsbrunnen 

JAN    LICHTENBERG 


Photo   M.    Lang 


Brief  aus  der  kleinsten  Stadt 


Augsburg,  in  der  Fuggerei,  Friihsommer  1948. 

Lieber  Freund,  Ihr  langer  Brief,  das  erste  Lebens- 
zeichen nach  so  vielen  Jahren  und  die  erste  persön- 
liche Botschaft  seit  Ihrer  Rückkunft,  war  mir  eine 
unbeschreiblidie  Freude.  Ich  wsiß  gar  nicht,  wie  ich 
Ihnen  das  ausdrücken,  geschweige  denn  danken  soll. 
Wahrsdieinlidi  am  ehesten  dadurch,  daß  ich  seine 
Fragen,  die  so  dringlich  gestellt  sind,  gleich  beantworte. 
Zunächst  waren  mir  diese  freilich  nicht  ganz  ver- 
ständlich. Aber  sie  erscheinen  mir  um  so  angebrachter 
und  begreiflicher,  je  länger  ich  darüber  nachdenke. 
Denn  obwohl  hier  in  Augsburg,  gleich  unzähligen 
anderen  Städten,  weitaus  kostbarere  Dinge  dem  un- 
heimlichsten Schicksal  ausgesetzt  waren  und  von  ihm 
als  Hekatombe  an  das  Grauen  unserer  Zeit  ver- 
schlungen wurden,  lag  Ihnen  doch  selbst  in  der 
äußersten  Verlassenheit  ferner  Bergwerke  die  Sorge 
um  unsere  Stadt  der  Armen  als  Inbegriff  des  sicht- 


baren Friedens  und  innerer  Besdiauliciikeit  fast  noch 
mehr  am  Herzen  als  jene. 

Sie  sagen,  daß  diese  kleine  und  heimliche  Welt,  Aus- 
druck der  Hochherzigkeit,  des  Bürgersinnes  und  der 
Christenliebe,  Ihnen  unvergeßlidi  geblieben  sei,  weil 
hier  abseits  jeder  aufdringlichen  Programmatik  ein 
Mensch  auf  die  Dauer  von  Jahrhunderten  die  Obhut 
für  eine  Handvoll  Dutzender  von  Familien  einzig 
darum  auf  sein  Gewissen  nahm,  weil  sie  Arme  waren 
und  deshalb  seiner  Pflege  bedurften. 
Mit  der  Zerstörung  des  größten  Teiles  dieser  sechs 
Gassen,  des  Gotteshauses,  der  vier  Tore  und  Plätze, 
mit  einer  Vernichtung  der  ältesten  Armensiedlung 
der  abendländischen  Menschheit  überhaupt,  wären 
nadi  Ihrem  sicheren  Gefühle  deutsches  Wesen  in 
seinen  besten  und  unverfälschten  Zügen,  sein  Ge- 
meinschaftssinn, die  werktätige  Nädistenliebe  und 
die  große  geschichtliche  Überlieferung  unseres  Volkes 
an    einer   ihrer   zarten   und   deshalb    verletzbarsten 


41 


Seiten  getroffen  worden.  Jedoch  damit  nicht  genug, 
trägt  jeder  von  uns  irgendwo,  ob  er  es  niun  zugibt 
oder  nicht,  eine  heimliche  Vorliebe  in  sich,  die  nicht 
bloß  romantische  Idylle  spielerisch  bevorzugt,  son- 
dern deren  echte  Zuneigung  ganz  ernsthaft  den 
Stätten  reiner  Besinnlichkeit  und  wahren  Friedens 
gilt.  "Was  hier  verloren  ging,  war  aber  Heimat  des 
eigentlichen  Menschseins  audi  vielen  von  jenen  ge- 
wesen, die  nicht  in  der  Fuggcei  wohnten,  sondern 
nur  rein  geistig  in  ihr  sich  beheimatet  wußten. 
Ganz  leibhaftig  haben  Ihre  Worte  midi  in  jene 
Stunden  zurückversetzt,  als  wir  den  alten  Menschen 
dieses  Städtchens  zusahen.  Mit  der  üblichen  Um- 
ständlichkeit trugen  sie  ihr  beschauliches  Leben  aus 
dämmerigen,  holzgetäfelten  Stuben  oder  gewölbten 
Küchen  zu  einem  Plausch  hinaus  auf  die  Gasse  oder 
pflegten  gewichtig  ihre  Blumen,  ihr  Gemüse,  ihren 
Tabak  mit  zitternden  Händen. 

Unvergessen  ist  das  Rauschen  hoher  Bäume,  der 
Blick  in  das  Strahlen  der  Kastanienblüte,  unvergessen 
blieb  uns  vor  allem  der  Omphalos  dieser  winzigen 


Stadt,  ihr  Brunnen.  Eigentlich  war  er  ganz  un- 
scheinbar und,  für  sich  allein  besehen,  nidits  weniger 
als  großartig.  An  -diesem  Platze  freilich  besaß  er 
seinen  besonderen  Sinn  und  ganz  eigene  Art.  Von 
dem  niederen  Aufbau  fiel  tags  und  nachts  das  Wasser 
in  die  Breite  seiner  untersten  Schale.  Nicht  allein 
um  der  schier  fürstlichen  Rundung  des  an  sich  ein- 
fachen, eisernen  Beckens  willen  mußte  man  ihn  gern 
haben,  sondern  weil  dieser  fast  unansehnliche  Brun- 
nen der  kleinsten  Stadt  inmitten  der  weitaus  größe- 
ren Gemeinde  so  völlig  unbekümmert  sein  eigenes 
Wesen  behauptete.  Im  Gegensatz  zu  seinen  be- 
rühmten Brüdern  ward  nichts  an  ihm  Schaustück, 
und  sei  es  im  besten  Sinne  des  Wortes,  nichts  Deko- 
ration, nichts  kalte  Monumentalität.  Er  verblieb 
ohne  Großtuerei  das,  als  was  er  ursprünglich  gemeint 
war,  bescheiden  geschäftiger  Diener  bedürftiger 
Menschen  zu  sein,  Schöpfbrunnen  für  die  Hausfrauen 
und  Lieblingsspielplatz  der  Kinder,  die  in  seinen 
gläsernen  Fluten  plantschten. 
Ich  habe  auch  nicht  vergessen,  wie  uns  vor  ihm  un- 


Eine  Straße  in  der  kleinsten  Stadt 


Photo  H.  Saebens 


willkürlich  jene  weitaus  herrlicheren  italienischsn 
Brunnen  einfielen,  die  über  ihrem  Ruhme  der  großen 
Namen  die  eigentliche  Natur  des  Brunnendaseins 
nicht  verloren  und,  gleich  dem  bescheidenen  Bruder 
in  Augsburg,  im  kühlen  Gewände  Freunde  der 
Armen  blieben  und  Spiegel  der  lichten  Bläue  eines 
hohen  Himmels. 

Es  mag  sein,  daß  in  uns  damals  audi  etwas  von  der 
unstillbaren  Sehnsucht  aufstieg,  die  immer  neue  Ge- 
schlechter, die  schließlich  in  diesen  altertümlichen 
Bürgergassen  mit  ihren  gleichen,  hohen,  steil  ge- 
treppten Giebeln  mündeten,  als  Söhne  der  rührigen 
Reichsstadt  und  Diener  stolzer  Handelshäuser  einst 
wandernd  oder  redtenid  nach  dem  Süden  lockte. 
Vielleicht  erging  es  ihnen  dort  drunten  nicht  anders 
als  Dürer,  der  seinem  Freunde  Pirckheimer  von  den 
Lagunen  schrieb,  wie  er  sich  hier  als  Signore,  zu 
Hause  als  Schmarotzer  fühle,  und  den  schon  im 
voraus  vor  jenen  nordischen  Städten  eine  leise  Scheu 
überkam,  weil  ihn  dort  „nach  der  Sonne  fror". 
Man  hat  dem  gleichen  Albrecht  Dürer  einmal  den 
Entwurf  für  diese  kleinste  Gemeinde  im  „Kappen- 
zipfel" der  Jakober  Vorstadt  Augsburgs  zuschreiben 
wollen.  Zu  Unrecht,  ihr  Baumeister  Thomas  Krebs, 
der  das  Städtchen  begann,  und  jene  Unbekannten, 
die  seinem  Werke  Kirche  und  Dachreiter,  nicht  zu 
vergessen  die  Krankenhäuser  samt  der  Schule,  zum 
Schlüsse  über  sechzig  Gebäude,  hinzufügten,  besitzen 
keine  gefeierten  Namen.  Allein  sie  bauten  licht  und 
freundlich  und  herrenhaft  in  ihrer  Art.  In  breiten 
Bändern  flutete  die  Sonne  durch  die  Gassen,  und 
bevor  stadtväterische  Umsicht  die  mannigfachen 
kleinen  Kanäle  Augsburgs  überwölbte,  brach  sich  ihr 
Sdiein  auch  hier  in  zierlichen  Seitenarmen  des  Lechs, 
die,  nur  von  wenigen  schmalen  Stegen  bezwungen, 
durch  verschiedene  dieser  paradiesischen  Gassen  mur- 
melnd ihren  Weg  nahmen. 

Paradiesisch  muß  diese  Welt  allerdings  gewesen  sein, 
audi  im  Zusammenleben  von  Mensch  und  Tier. 
Noch  heute  verraten  die  alten  Straßennamen,  die 
neben  den  gotischen  Hausziffern  an  den  Wänden 
stehen,  uns  davon  genug,  nur  daß  man  mit  der  Zeit 
das  ungetrübte  Verhältnis  zu  so  schönen  Worten 
wie  „Ochsengasse"  und  „Saugasse"  verlor.  Vor  dem 
Kriege  sprachen  wir  eirmial  über  diese  merkwürdige 
Verbürgerlichung,  die  an  solchem  guten  deutschen 
Klang  aus  mißverstandener  Wohlanständigkeit 
Ärgernis  nahm:  Diese  Gemeinde  der  Armen  war 
überhaupt  nicht  unbedingt  einheitlich,  sondern  viel- 
fach, selbst  gesellschaftlich,  in  sich  gegliedert. 
Obwohl  diese  geheimen  Ordnungen  nie  verlorenen 
Selbstgefühles  nicht  immer  sichtbar  zutage  traten, 
wollte  „man"  eben  doch  lieber  nicht  in  der  Saugasse 
oder  der  schattigen   „Finsteren  Ga^se"    wohnen,  — 


eine  sonderbare,  doch  bezeichnende  Scelenhaltung, 
die  sich  bei  einer  bestimmten  Menschengattung,  die 
„etwas  auf  sich  hielt",  dahin  steigern  konnte,  ein 
Logis  in  der  Belle  Etage  an  der  „Herrengasse",  und 
sei  es  bloß  um  dieses  Namens  wegen,  als  Gipfel 
der  Gefühle  anzustreben. 

Dabei  wußte  doch  jeder,  daß  diese  sämtlichen  Be- 
hausungen, gleichviel  in  welchem  Sträßlein,  auch 
gleich  viel  oder  gleich  wenig  kosteten,  nämlidi  seit 
1521  nur  den  Gegenwert  eines  einzigen  rheinischen 
Guldens.  Die  im  Sinne  des  Stifters  sehr  nachsichtige 
Verwaltung  hat  den  Gegenwe.-t  vor  Jahrzehnten 
auf  eine  Mark  und  einundsiebenzig  Pfennige  be- 
rechnet. Das  ward  nun  mit  jener  edit  schwäbischen 
Zähigkeit,  die  allem  Fuggerischen  eignet,  beibe- 
halten. Die  Fuggerische  Handelsgesellschaft  mochte 
seinerzeit  an  Schwankungen  des  Marktes  wie  der 
Währung  verdient  haben.  Die  Fuggerei  kümmerte 
sich  nicht  darum,  ob  das  Geld  draußen  stieg  oder 
fiel.  Für  ihre  Bürger  blieb  der  Gulden  ein  Gulden 
und  —  sogar  —  die  Mark  gleich  einer  Mark.  Da- 
mit zahlte  man  jährlich,  ohne  Rücksicht  auf  wech- 
selnde Systeme,  je  zur  Hälfte  zweimal  den  Zins 
seiner  Wohnung  nebst  Gärtchen  und  wurde  hier- 
durch sein  eigener  Herr  und  ein  König  unter  den 
Armen. 

Die  paradiesisciie  Unberührtheit  des  Daseins  haben 
wir  an  der  Fuggerei  damals  immer  wieder  gesucht, 
und  es  schien  unvorstellbar,  daß  dieses  kleine  Reich 
der  Notleidenden,  das  sich  so  bewußt  von  dem  ge- 
samten Getöse  des  Zeitalters  fernhielt,  mitten  in  der 
allgemeinen  Erregung  unberührte  Gelassenheit  be- 
wahrte, zwischen  dem  heroischen  Massenscil  so  be^ 
glückend  klein,  einfach  und  persönlich  blieb,  eines 
Tages  mit  hineingezogen  werden  könnte  in  die 
Katastrophe  jener  Dinge  und  Haltungen,  die  ihr 
wesensmäßig  und  in  allen  Schichten  tief  fremd 
waren. 

Wahrscheinlich  hat  die  bedrüdiende  Frage  nach  deiin 
Schicksal  der  Fuggerei  Sie  gerade  deshalb  so  unab- 
lässig verfolgt,  weil  es  Gipfel  des  Wahnsinns  dünkte, 
daß  dieser  heimliche  Garten  Eden  in  das  Inferno  ent- 
fesselten menschlichen  Ungeistes  geraten  sein  sollte. 
Es  fällt  heute  schwer,  aus  verborgenen  Abgründen 
des  Gedankens  bestimmte  Tatsachen  und  schmerzliche 
Einzelheiten  zu  heben,  die  jeder  von  uns,  der  jene 
Grauensnächte  deutscher  Städte  mitzuerleben  ver- 
urteilt war,  lieber  in  ein  ewiges  Schweigen  ver- 
senkte. Sie  werden  bemerkt  haben,  wie  ungerne  die 
Menschen  davon  sprechen,  sei  es,  um  der  persön- 
lichen Erinnerung  an  die  Ausgesetztheit,  an  die  Frag- 
lichkeit ihres  Daseins  auszuweichen,  sei  es,  weil  sie 
die  Fülle  des  Scheußlichen  mit  trennenden  Wänden 
von  ihrem  Bewußtsein  abmauerten,  um  neben  dieser 


43 


Dachzimmer  in  einem  Fuggerhäuschen 

unheLmlidien,  dunklen  Kammer,  deren  Schrecknisse 
hin  und  wieder  schwere  Träume  belasten,  den  Ver- 
such eines  ertragbaren,  neuen  Lebens  zu  wagen. 
Trotzdem  sollen  diese  Dinge  keineswegs  vergessen 
sein.  Ich  will  sie  Ihnen,  um  genau  bei  der  Wahrheit 
zu  bleiben,  gewissenhaft  nadi  dem  Zeugnis  von 
Menschen  berichten,  die  arn  damaligen  Geschehen 
teilnahmen,  mich  auf  sie  berufend,  da  ich  selbst  aus- 
wärts weilte  und  erst  der  furchtbaren  Kunde  folgend 
in  das  Pompeji  des  einstigen  Augsburg,  aus  dessen 
Trümmern  es  noch  schwelte  und  züngelte,  zurück- 
gekehrt bin. 

Am  Morgen  des  verhängnisvollen  25.  Februar  1944 
hatte  ein  größerer  Verband  feindlicher  Flugzeuge 
wichtige  militärische  Ziele  im  Bereiche  der  Stadt  an- 
gegriffen, ohne  privates  Eigentum,  kulturelle  und 
kirdiliche  Güter,  Herz  und  Seele  dieser  ehrwürdigen 
Matrone,  mit  verniditenden  Waffen  zu  suchen.  Da- 
her kam  es,  daß  leider  fast  niemand,  als  abends 
gegen  10  Uhr  das  Aufheulen  der  Sirenen  die  Men- 
schen abermals  in  die  Keller  jagte,  den  Warnruf 
übermäßig  ernst  nahm.  Auch  in  der  Fuggerei  ver- 
traAJte  sich  mancher  lieber  dem  anigeblidi  erprobten 
Schutze  seiner  häuslichen  Küche  an. 
Die  anderen  saßen  aufgeschreckt  und  verängstigt  in 
ihren  Unterständen.  Hier  wie  da  erlebten  dann 
alle,  jählings  aus  den  süßen  Täuschungen  der  Ver- 
schonung  ihrer  Heimat  gerissen,  den  schauderhaflen 
Feuerregen  der  Brandstäbe  und  Kanister,  das  Sausen 
der  fallenden  Sprengbomben.  Wie  ausgelöscht  ist 
plötzlich  das  beklemmende  Dröhnen  der  schweren 
Motore,  verschluckt  vom  Lärme  sich  überstürzender 
Einschläge,    des    platzregengleichen    Klatschens    der 


Pholo  M.  Lang 


Flammen,  des  Niederbrediens  un- 
gezählter Häuser,  der  grauenerre- 
genden Entladungen. 
Erst  nadi  rund  zwei  Stunden 
kommt  es  scheinbar  zum  Abflauen 
des  Angriffes.  Sogleich  eilt  ein 
Trupp  beherzter,  über  sechzigjäh- 
riger Feuerwehrleute  der  Fuggerei, 
begleitet  von  mutigen  Frauen,  aus 
der  Geborgenheit  hervor,  sucht  un- 
ter ständiger  Anleitung  das  Unheil 
zu  meistern.  Rauch  und  Phosphor, 
beißender  Qualm  erfüllen  die  Luft. 
Ganz  Augsburg  ist  in  ein  einziges 
aufloderndes  Meer  des  Jammers 
getaucht.  Die  tapferen  Helfer  hasten 
im  Funkenregen  die  Feuergassen 
auf  und  nieder,  müssen  das  Mar- 
kuskirchlein  als  hoffnungslos  ver- 
loren preisgeben.  Längs  den  Zeilen 
springen  die  Flammen  von  Dadi- 
stuhl  zu  Dachstuhl  über,  werden  selten  und  nur 
dort  durch  Menschenkraft  bezwungen,  wo  der  Sdia- 
den  noch  nicht  übermäditig  geworden  ist.  Immerhin 
sdieint  noch  schwache  Aussicht  vorhanden,  einen 
Großteil  der  kleinsten  Stadt  vor  dem  Untergange 
zu  retten. 

Da  fallen  nach  einer  weiteren  knappen  Stunde  aber- 
mals die  Bomben.  Männer  und  Frauen  müssen  erneut 
zurück  unter  die  Erde.  Ein  Teil  wirft  sidi  mit  keu- 
chenden Lungen  in  notdürftigen  Unterständen  flach 
auf  den  Boden.  Die  meisten  flüchten  wie  zum  Tröste 
in  den  großen  Bunker,  wo  die  übrigen,  Frauen  und 
Kinder,  lauschen  und  beten.  Zu  hunderten  hocken 
sie  dort  auf  Bänken,  jämmerlichen  Koffern  und 
Bündeln,  starren  in  das  Wesenlose.  Halbsterbenden 
wird  hier  die  letzte  Lossprechung  erteilt.  Drüben 
in  einem  anderen  Winkel  entbindet  eine  Frau, 
schenkt  neues  Leben  zwischen  Tod  und  Vernichtung. 
Der  alte  Meßner  schleppt  treppab  die  goldenen  Ge- 
fäße mit  dem  Allerheiligsten.  Man  hat  sie  aus  dem 
brennenden  Gotteshäuschen  noch  gerettet  und  birgt 
sie  nun,  so  gut  es  geht.  Ein  Luftschutzarzneischrank 
dient  ihnen  als  notdürftiges  Tabernakel. 
Endlich  vermindern  sich  draußen  die  schredilichen 
Erschütterungen.  Wieder  springen  die  Kräftigen 
hinaus,  wehren,  wo  irgend  sie  das  vermögen,  der 
Flammenwut,  deren  Toben  sidi  nun  erst  zum  Gipfel 
steigert,  retten  was  an  kümmerlicher  Habe  den 
Opfern  dieser  Nacht  wie  ein  Hohn  des  Schicksals 
rein  zufällig  verblieb.  Allerdings,  viel  ist  nicht  mehr 
auszurichten.  Zwar  mindert  vereinzelt  der  dichte 
Schnee  das  allzu  jähe  Umsichgreifen  der  Brunst. 
Jedoch  auf  die  Dauer  bedeutet  seine  Kühle  keinen 


44 


hilfreichen  Beistand  gegen  die  Gewalt  des  Feuer- 
sturmes. 

Immer  scheußlicher  verpestet  der  Rauch  das  Atmen. 
Die  Menschen  können  aus  den  blutig  entzündeten 
Augen  nichts  mehr  sehen.  Als  gar  das  Wasser  zur 
Neige  geht,  die  eingefrorenen  Handpumpen  den 
Dienst  versagen,  wird  es  aussichtslos,  gegen  die 
Herrschaft  des  dämonisch  entfesselten  Elementes 
weiter  anzukämpfen.  Die  viele  nächtliche  Stunden 
lang  überspannten  Kräfte  lassen  gegen  Morgen  nach. 
Dabei  bietet  sich  den  in  der  Fuggered  Eingeschlosse- 
nen zunächst  keine  Aussicht,  die  Fühlung  mit  der 
Umwelt  zu  gewirmen.  Die  Straßen  rings  umher 
liegen  versdiüttet.  Gürtelgleich  steht  die  weite  Stadt 
in  Flammen,  die  die  kleine  Gemeinde  in  feuriger 
Umarmung  halten. 

Aber  Unentwegte  geben  nicht  nach.  Endlich  schlägt 
sich  der  erste  Teil  der  Fuggereibürger,  alte  Männer 
und  wehrlose  Frauen,  zwischen  den  Brandsdiluchten 
durch,  gewinnt,  fast  zu  Tode  erschöpft,  das  freie 
Land  vor  Augsburg,  während  die  stolze  Stadt  selbst 
in  Dunst  und  Glost,  in  ihren  dichten  Witwenschleier 
von  Rauch  und  Flammen  gehüllt  bleibt. 
Andere  Insassen  verweilen  länger  oder  können  sich 
selbst  von  der  zerstörten  Heimstatt  nicht  losreißen. 
Sie  treffen  einen  Mann,  der  als  Beobachter  pflicht- 
treu ausgeharrt  hatte,  friedlich  an  die  Wand  seines 
Hausganges  gelehnt.  Das  müde  Herz  steht  still. 
Vielleicht  vennochte  die  Lunge 
den  Druds  nicht  zu  ertragen.  Man 
breitet  ihn  auf  sein  Bett,  fahndet 
durch  fünf  Tage  nach  Leuten,  die 
bereit  sind  zur  Bestattung.  Die 
Alten  in  der  Fuggerei  können  das 
nicht  mehr.  Auch  einer  Frau  gut 
das  Suchen.  Zwischen  beiden  An- 
griffswellen hatte  sie  ihre  Habe 
gesdiäftig  geborgen  und  sich  an- 
scheinend ganz  glücklich  gefühlt 
über  den  Berg  von  Armut,  der  ihr 
geblieben  war.  Sie  wird  nirgendwo 
gefunden.  Blinde  Besitzesfreude 
Heß  keinen  rechtzeitigen  Abschied 
nehmen.  So  verbrannte  sie  an- 
scheinend mitsamt  ihrem  kläg- 
lichen Gute,  blieb  bis  heute  ver- 
schwunden. 

Ganz  allmählich  scheint  das  Feuer 
zu  ersticken.  Es  züngelt  zwar  man- 
cherorts nochmals  auf,  leckt  über 
Sdiuttihalden  hin,  klettert  an  phan- 
tastisch abgerissenen  Trümmerkan- 
ten empor,  frißt  beinahe  eine  halbe 
Woche    später    als    letztes    Opfer 


Der  Brunnen 


noch  ein  uraltes  Häuslein  und  fällt  schließÜdi  in 
sich  zusammen.  Dann  wird  es  still,  totenstill  im 
einstigen  „Kappenapfel"  der  Stadt. 
Das  waren  die  Tage  und  Stunden,  in  denen  der 
Herrgott  das  Schicksal  der  Fuggerei  auf  seiner  Hand 
wog.  Und  noch  eins  ward  geprüft,  das  Herz  jenes 
Geschlechtes,  nach  dem  sie  ihren  Namen  trägt.  Ist 
es  stark,  männlich,  tapfer?  Wird  es  zugleich  stolz 
und  hingebend  genug  sein,  um  aus  dem  Nichts,  in 
das  seine  gute,  kleine  Stadt  beinahe  zerfallen  war 
und  binnen  der  letzten  anderthalb  !^iegsjahre  end- 
gültig zerfallen  konnte,  die  aus  tausend  Wunden 
blutende,  zu  Tode  getroffene  Fuggerei  zu  neuem 
Leben,  richtiger  gesagt:  zum  alten  Dasein  des  Frie- 
dens und  der  Liebe  zwischen  aller  Feindschaft  und 
tödlichem  Haß  zu  erwecken? 

Was  stand  seit  dem  Jahre  des  Heiles  1519  auf 
schweren,  mit  Helm  und  Schild  verzierten,  steiner- 
nen Tafeln  über  den  drei  Haupttoren  der  Fuggerei? 
Daß  „die  Brüder  Ulrich,  Georg  und  Jakob  Fugger 
von  Augsburg  zum  Heile  ihrer  Stadt  und  voll 
inniger  Dankbarkeit  für  die  vom  Herrgott  empfan- 
genen Güter  aus  Andacht  und  zum  Vorbilde  hoch- 
herziger Freigebigkeit  106  Behausungen  nebst  aller 
Zubehör  ihren  fleißigen,  doch  armen  Mitbürgern 
stifteten,  widmeten  und  weihten". 
Über  den  Pforten  zum  frischen  Unheil  künden  die 
ehrwürdigen  Inschriften  ewig  das  gleiche  Ruhmes- 
photo S.  Rostra 


45 


lied  der  alten  Fugger.  Drunten  im  Bunker  aber,  am 
Schauplatze  des  Grauens  der  letzten  Tage,  finden 
sich  die  Heutigen  zusammen.  Und  diese  Jungen  be- 
schließen aus  dem  Geist  ihrer  Vorväter,  nicht  nach- 
zulassen. Die  Fuggerei  soll  wieder  erstehen,  aber 
nicht  nur  überhaupt,  irgendwie,  irgendwo  und 
irgendwann,  sondern  gleich,  am  selben  Fleck  Erde, 
so  wie  sie  gewesen,  ewig  jung  und  zeillos,  allze'.t 
beschaulich,  wie  sie  sich  von  je  ihren  vielen  heim- 
lichen und  offenen  Freunden  dargeboten  hatte.  Un- 
vergessen mögen  daher  auch  die  Namen  jener  drei 
Männer  sein,  die,  ider  Ahnen  eingedenk,  solchen 
Entschluß  faßten  und  Ihn  durdi  alle  Gefahren  dieser 
Jahre  unentwegt  trugen,  die  Fürsten  und  Grafen 
Joseph  Ernst,  Clemens  und  Friedrich  Carl  Fuggcr 
von  Glött,  Fugger  von  Kirchberg  und  Weißenhorn, 
Fugger  von  Babenhausen. 

Und  es  blieb  nidit  bei  dem  einmaligen  Worte.  Kaum 
war  der  Krieg  zu  Ende  —  dainit  aber  lassen  Sie 
mich  schließlich  Ihre  bangste  Fraige  beantworten  — , 
war  auch  die  Gefahr  beschworen,  daß  der  hoch- 
herzige Vorsatz  in  dem  Elend  der  folgenden  Zeit 
noch  ersticke'n  könnte.  Das  anfangs  mühsam  ver- 
deckte und  dürftig  verbundene  Siechtum  der  Fugge- 
rei wurde  glücklich  überwunden.  Hier  darf  man  aus- 
nahmsweise mit  gutem  Rechte  sagen:  Das  neue  Leben 
blühte  aus  Ruinen.  Zunächst  geschah  das  zage  und 
verstohlen,  hernach  kräftiger  und  schließlidi  mit 
vollen  Zügen. 

Bevor  das  richtige  Bauen  begann,  mußten  zunächst 
riesige  Berge  von  Schutt  aus  Gassen  und  Häusern, 
den  zumeist  ausgebrannten,  teilweise  aber  auch 
gänzlich  zerstörten  Fuggereigassen,  herausgeschaufelt 
werden.  Erst  hernach  hub  das  eigentliche  Schaffen 
an.  Hinter  Gerüsten  und  drinnen  im  hohlen  Gehäuse 
wuchsen  allmählich  wieder  Trennwände,  Stiegen, 
Stockwerke,  Dächer,  Giebel,  zuletzt  ragende  Ka- 
mine empor.  Manchmal  ging  es  wohl  zäh  voran,  zu 
langsam  für  die  Wartenden,  im  ganzen  aber  schloß 
sich  der  sichtbarste  Teil  der  Kriegswunden  in  der 
Fuggerei  zum  großen  Staunen  der  Mitbürger  rascher, 
als  vermutet.  So  wie  voreinst  an  Plätzen,  auf  denen 
wenige  Häuslein  zwischen  Gärten  träumten,  die 
sauberen  Straßenzüge  des  Städtchens  binnen  weniger 
Jahre  sich  erhoben,  erstand  nun,  gleichermaßen  aus 
dem  Verstehen  für  die  Verpflichtung  großer  Über- 
lieferungen 'Und  aus  Liebe  zu  den  Opfern  der  Zeit, 
halb  alt  und  halb  neu  —  beides  kaum  voneinander 
•  zu  scheiden  —  die  junge  Fuggerei. 
Daß  ich  es  Ihnen  genauer  sage:  sie  erstand  nicht 
ibloß,  sie  begann  wieder  zu  atmen,  zu  wachen  und 
ziu  träumen.  Es  ist  sehr  schön,  wenn  solche  Stunden 
wie  die  Übergabe  der  Schlüssel  zu  den  ersten  wieder- 
geschaffenen Wohnungen  festlich  begangen  werden. 


Aber  das  für  sich  allein  hätte  die  Fuggerei  zu  keinem 
frischen  Leben  erweckt.  Indessen  das  zerstörte  Nest 
wurde  in  der  Tat  so  glücklich  neugefügt,  daß  nun 
auch  die  Jahre  hindurch  versprengten,  müden,  alten 
Vögel  einer  nach  dem  anderen  heimkehren.  Mit 
jedem  von  ihnen  kommt  ein  Stück  unsterblicher 
Fuggerei  zurück. 

Soll  ich  Ihnen  Ihre  guten  Bekannten  ins  Gedächt- 
nis rufen?  Der  Torwart  mit  eisgrauem  Schnauzbart, 
schlauen  Augen  und  bäuerlichen  Goldringen  in  den 
Ohren  schlurft  an  seinem  Stock  durch  die  Gassen, 
schnitzt  wie  früher  Spielhäuschen  für  Fremde,  sitzt 
nachts  in  der  Torstube,  läßt  sich  herausläuten  und 
heimst  dafür  die  Groschen  ein.  Der  emsige  Meßner 
sammelt  schon  Kerzen,  obwohl  die  Kirche  kaum 
unter  Dach  ist  und  es  noch  manche  Weile  dauern 
mag,  bis  ihr  Glöckchen  nach  alter  Satzung  „jeden 
Menschen,  so  er  vermag,  jung  oder  alt,  zu  einein 
Pater  Noster,  Ave  Maria  und  einem  Glauben  alle 
Tage  . . .  für  die  Fundatores,  deren  Eltern,  Brüder 
und  andere  Geschwister  iund  Nachkommen"  rufen 
wird. 

Vieles  fehlt  leider  noch.  Jedoch  dafür  ist  die  schöne, 
alte  Madonna  wieder  da.  Milde  lächelt  sie  über  das 
bescheidene  Gewimmel  zu  ihren  Füßen.  Möge  sie 
den  Mantel  ausbreiten  zum  Schutze  dieser  Heimtit 
der  Armen.  Nach  ihr  ziehen  langsam  die  vertrauten 
Figuren  der  Hausheiligen  in  den  Andachtsnischen 
und  Grotten  ein.  Vertriebene  gute  Geister  kehren 
an  den  Herd  zurück. 

Das  Haus  mit  der  letzten  offenen  Esse  früherer 
Zeiten  ist  durch  einen  freundlichen  Zufall  verschont 
geblieben,  gleichfalls  verschont  mancher  Trödel  von 
wenigen  nicht  abgebrannten  Speichern.  Für  midi 
verkörpert  er  sich  in  einem  schrecklichen,  aus- 
gestopften Hund  mit  gelben  Glasaugen,  die  mir 
letzthin  aus  dem  Halbdunkel  eines  Dadies  entgegen- 
starrten. Solches  erhielt  sich  zwischen  aller  Ver- 
nichtung, während  wenige  hundert  Meter  davon 
entfernt  Jakob  Fuggers  Goldene  Stube  in  Asche 
zerfiel. 

Aber  ging  es  eigentlich  nicht  überall  so?  Uns  Gegen- 
wärtigen erscheint  es  darum  beinahe  schon  wichtiger, 
ob  dem  Reste  der  Mut  zu  neuem  Anfang  verblieb. 
Darüber  kann  ich  Sie  glücklicherweise  im  Falle  der 
Fuggerei  beruhigen.  Selbst  Ihr  bevorzugter  Liebling, 
das  Mozarthaus  der  Fuggerei,  in  dem  der  kleine 
Wolfgang  Amadeus  aus-  und  eingegangen  sein  wird, 
wenn  er  zum  Vorvater  nach  Augsburg  auf  Besuch 
kam,  ist  wieder  bewohnt.  Erzähle  ich  Ihnen  dazu 
von  einem  jungen  Mädchen,  das  die  Musik  liebt,  und 
wie  eifrig  es  schräg  gegenüber  auf  seinem  bürger- 
lichen Pianoforte  übt,  dann  werden  Sie  spüren,  daß 
die   alte  Fuggerei   wieder   erwachte  und   durch   die 


46 


Weisen  des  bürgerlichen  Instrumentes  die  Melodien 
des  einstigen  Cembalos  geistern.  In  der  Tat,  s'ie  ist 
wieder  da  mit  allen  ihren  Eigentümlichkeiten,  dem 
Verkündigungsbrett  und  den  amtlichen  Sperrstun- 
den; denn  Ordnung  muß  sein,  selbst  in  diesem 
kleinen  Paradiese. 

Buschiger  Wein  grünt  an  den  trauten  Giebeln.  Die 
alten  Weiblein  lehnen  sich  aus  den  Fenstern,  damit 
ihnen  auf  der  Straße  nichts  entgehe.  Mitunter  scheint 
der  Spuk  der  furchtbaren  Nacht  schon  so  lang  ver- 
gessen wie  die  Not  des  Dreißigjährigen  Krieges, 
'nach  dem  das  Städtchen,  zuerst  zeitweise  besetzt 
und  geplündert,  gleichfalls  weithin  verödet  lag. 
Die  Blumen  in  den  Gär- 
ten duften  nachts  lauter 
als  am  hellichten  Tage. 
Blutrote  Malven  blühen 
heute  dort,  wo  damals 
ein  Weib  rätselhaft  im 
Feuer  verschwand.  Da- 
zwischen aber  tauchen 
als  Jüngsteüberraschung 
gaiiiz  neue  Gesichter  auf. 
Zum  Teile  sind  es  Ar- 
beiter samt  ihren  Frauen, 
die  sidi  mit  manchem 
Rüstigen  in  die  Mühe 
des  Wiederaufbaues  tei-' 
len.  Letzthin  traf  ich  eine 
Bäuerin  in  der  kleid- 
samen Tracht  der  Batsch- 
ka  mitten  unter  ihnen. 
Es  überwiegen  aber  weitaus  die  bekannten  Züge.  Wie 
schon  gesagt,  viele  Ihrer  früheren  Freunde  sind 
wieder  da.  So  etwa  der  Mann  mit  Rauschebart  und 
Jägerpfeife,  der  selbstzufrieden  schmunzelnd  unter 
der  Haustür  wartet.  Keiner  züchtet  so  geschickt  wie 
er  Kanarienvögel  mit  dunklem  Schöpfe.  Freilich, 
sie  sehen  anfangs  erbärmlich  nackt  und  scheußlich 
aus,  und  ihre  vorerst  blinden  Augen  ruhen  hinter 
graublauen  Lidern.  Oder  jener  andere  wackere  Alte, 
der  über  seine  Augsburger  Heimat  nicht  allzu  w.?;t 
hinauskam,  doch  im  Herzen  unauslöschliche  Sehn- 
sucht nach  Abenteuer  und  fernen  Welten  trägt. 
Sorgsam  wischt  er  den  Staub  von  einem  halben 
Dutzend  fremdsprachiger  Wörterbücher  und,  Neid 
aller  Buben,  einer  vollkommenen  Ausgabe  des  Karl 
May.  Früher  wäre  der  Mann  vermutlich  Faktor  der 
Welser  zu  Venezuela  geworden,  oder  lebt  am  Ende 
gar  eine  Welle  des  Blutes  deutscher  Conquistadoren 
in  seinen  Adern? 

Endlich  hat  die  Fuggerei  auch  wieder  Geheimnisse, 
die  man  behutsam  verbirgt,  obwohl  jeder  sie  kennt, 
weil  jener  Gute,  der  nur  seinen  Vertrautesten  in  das 


Stadtplan  von  Kilian  i626:  Die  Fuggerei 

Photo   Birzele    und   Przibilla 


Ohr  flüstern  möchte,  daß  sein  Testament  hinter  der 
Wanduhr  verborgen  sei,  laut  krächzt,  bis  es  alle 
Nachbarinnen  gleich  miterfahrjn.  Trotzdem  wird 
dieses  eigentümliche  Geheimnis  als  solches  geachtet, 
und  der  Taube  wähnt  es  nicht  umsonst  in  sicherer 
Hut. 

Im  Gefolge  der  Alten  sind  die  Jungen,  Kinder  und 
Enkel  erneut  eingezogen.  Sie  dürfen  genau  so  wenig 
wie  ehedem  in  den  Gassen  tollen,  tun  es  aber,  er- 
freulicherweise, genau  wie  einst.  Es  ist  sehr  schön, 
über  die  hoch  aufgebeugten  Bretterlagen  zu  klettern 
oder  entgegen  allem  Verbot  abends  in  verlassenen 
Baustellen   über  freie  Balken   zu  tänzeln,  bis  man 

schließlich  ertappt  und 
vertrieben  wird.  Die 
jüngste  und  günstigste 
Neuheit  scheint  jedoch 
ein  Wettrennen  mit 
Puppen  unter  dem  Arme 
zu  sein.  Es  muß  offen- 
bar für  schwierig  gelten. 
Wenigstens  wird  die  je- 
weilige Siegerin  mit  lau- 
tem, aufrichtigem  Jubel 
begrüßt. 

Endlich  sind  vor  allem 
jene  zahlreichen  weite- 
ren wieder  da,  die  in 
die  Fuggerei  nachzu- 
rücken wünschen,  so- 
bald einmal  die  vom 
Kriege  Verjagten  unter- 
gebracht sind.  Ihnen,  die  im  Bombenschauer  alles 
verloren,  kann  begreiflicherweise  der  Bau  nicht 
schnell  genug  voranschreiten.  Er  soll  ihnen  nach  dem 
Elend  eine  Heimat  bescheren.  Aber  ich  gerate  nun 
selbst  ins  Schwatzen,  wie  wenn  ich  zu  den  guten 
Weiblein  gehörte.  Ich  will  zum  Ende  kommen,  so 
gerne  ich  Ihnen  noch  die  weitläufige  Geschichte 
unseres  sechzigjährigen  Don  Juans  erzählen  würde, 
der  ewig  nicht  zur  endlich  nötigen  Vernunft  gelangt. 
Eines  darf  ich  Ihnen  freilich  doch  noch  sagen.  So- 
bald ich  abends  zur  Ruhe  gehe,  fällt  vom  Fenster 
her  der  matte  Schein  einer  verlassenen  Gaslaterne 
über  mein  Laken.  Es  ist  ringsum  sehr  still.  Sobald 
auch  dieses  Licht  um  halb  zwölf  Uhr  erlischt,  ver- 
glimmen die  letzten  leuchtenden  Kammerfenster- 
augen. Dann  schläft:  die  Fuggerei. 
Es  knackt  in  der  Wand.  Die  frischen  Balken  sind 
noch  unruhig,  möchten  sich  dehnen  und  strecken, 
zusammenziehen  oder  biegen.  Ich  weiß  es  nicht 
genau.  Aber  langsam  schweigen  auch  die  Wände. 
Höre  ich  ihr  Knistern  nicht  mehr,  oder  gewöhnt  sich 
das  junge  Holz  inzwischen  an  die  alten  Mauern? 


47 


Geschäftig  tickt  meine  Uhr,  die  Sie  kennen,  neben 
mir.  Sie  scheint  das  Unermüdliche  in  dex  Welt  zu 
verkörpern.  Ist  sie  deshalb  bereits  das  Immer- 
währende, das  Ewige  oder  doch  bloß  die  zu  Metall 
gewordene  Tochter  und  KronzeugLn  der  Zeit?  Wie 
ihre  Mutter,  so  kann  auch  sie  ablaufen.  Dann  muß 
sie  wieder  aufgezogen  werden.  Ob  es  eigentlich  mit 
der  Zeit  ähnlich  ist?  Daß  man  sie  aufziehen  muß? 
Es  heißt,  man  könne  sie  nicht  zurückdrehen.  Wenn 
es  nun  einer  doch  versuchte?  Womöglich  würde 
dann  audi  die  Feder  dieser  verrückten  Zeiten  sprin- 
gen. Doch  mein  Geist  beginnt  zu  schwärmen,  spinnt 
sinnlosen  Nachtspuk  fort. 

Ewig  ist  nur  das  Zeitenlose,  das  aus  sich  allein 
weitergeht  —  bei  uns  gleichsam  der  Brunnen.  Nie 
ermüdet,  läuft  er  und  rauscht,  rauscht  er  und  lauf!:. 
Vielleicht  will  er  mit  seinen  kleinen  Wassern  noch 
immer  die  Flamme  löschen  oder  Asche  und  Tränen 
fortspülen.  Oder  wird  das  Zeitlose  am  Ende  gar 
von  unserem  Leide  nicht  berührt?  Wer  vermödire 
das  zu  sagen!    Nur  eines  spüre  ich:  Er  ist  sehr  lin- 


dernd, solch  ein  alter  Brunnen  —  und  so  friedlich. 
Kehren  Sie  zurück  zu  ihm,  Sie  und  unsere  anderen 
Freunde  von  früher,  denen  Sinn  und  Wesen  unseres 
Städtchens  wider  alle  Geschäftigkeit  not  tun.  Wenn 
Sie  die  Welt  dieser  irren  Tage  nicht  mehr  begreifen 
noch  ertragen  können,  sie  womöglich  zu  wichtig 
nehmen,  so  kommen  Sie  hierher,  wie  wir  das  früher 
nicht  anders  taten.  Sie  werden  zwischen  unseren 
bescheidenen  Bedeutungslosigkeiten  viel  Wichtiges 
wiederfinden,  vielleicht  auch  die  verlorenen  Maß- 
stäbe. Auf  unserer  Sonnenuhr  lesen  Sie  die  würdige 
Mahnung:  „Nutze  die  Zeit."  Allein  sie  steht  eben 
nur  auf  der  einen  Seite  der  kleinsten  Stadt.  Auf 
ihrer  anderen  plätschert  der  gute  Brunnen  völlig 
ohne  Nutzen,  nur  für  sich  dahin  und  durchaus  jen- 
seits der  Zeit.  Zwischen  ihnen  beiden  aber  leben  die 
Fuggerei  und  ihre  Menschen. 

Gott  befohlen,  lieber  Freund,  und  gehaben  Sie  sich 
wohl.  Lassen  Sie  diese  Worte  aus  der  Heimat  zu- 
gleich eine  innige  Begrüßung  sein.  Ich  hoffe  von 
Herzen  auf  eine  baldige  Begegnung. 


Ahendstimmung  über  der  kleinsten  Stadt 


Photo  S.  Rostra 


EUGEN    DIESEL 


Mühlwässer  und  Motoren 


JDas  alte  Augsburg  innerhalb  der  Stadtmauern  mit 
St.  Ulridi  und  Afra,  dem  Dom,  den  Ruinen  des 
Fuggerhauses  und  des  Rathauses,  auf  dessen  nun  öd 
und  frei  liegendem  Giebel  die  große  Zirbelnuß  aus 
Erz  hodi  den  öden  Raum  überragt,  wo  einst  der 
goldene  Saal  war,  der  sich  vom  Griff  unseres  Geistes 
immer  noch  nicht  zu  lösen  vermochte,  liegt  mit  vie- 
lem anderen,  das  einst  war  und  das  gerettet  wurde, 
auf  der  Hochebene  zwischen  den  frischen  Alpen- 
flüssen Lech  und  Wertach.  Solcher  Lage  ist  Augs- 
burgs Reichtum  an  strömendem  Wasser  zu  verdan- 
ken. So  plätschern  hier  am  Perlachturm,  der  sich  aus 
den  Trümmern  heil  wieder  erhebt,  an  der  seltsam 
verschwimmenden  Grenze  zwischen  Bayerntum  und 
Schwabentum  die  alten  Zierbrunnen  mit  den  klassi- 
schen Namen  des  Augustus,  des  Merkur,  des  Her- 
kules. Und  noch  heute  liegen  an  reißenden  Mühl- 
wässern berühmte  Textil-  und  Maschinenfabriken. 
Seit  Hunderten  von  Jahren  ist  Augsburg  ja  eine 
gewerbereiche  Stadt. 

Lech  und  Wertach,  die  im  Norden  der  Stadt  spitz- 
winklig ineinanderlaufen,  umspannen  in  schwingen- 
den Bögen  nicht  nur  das  alte,  sondern  ein  gut  Teil 
des  neuen  Augsburg,  nördlich  bis  zur  Maschinen- 
fabrik Augsburg,  zur  Buntweberei,  zur  Ballon- 
fabrik, südlich  bis  zu  Messerschmitt,  zu  den  Zahn- 
rad-, Parkett-,  Nähfadenfabriken  und  zu  den  Eisen- 
bahnbetriebswerkstätten. Und  was  steckt  da  noch 
alles  drin  zwischen  Gassen,  breiten  Straßen,  Kloster- 
gemäuer, Mühlgräben  an  bürgerlich-reichsstädtischem, 
handwerksmäßigem  und  gewerblichem  Wesen:  Bäcke- 
rei, Metzgerei,  Wurstküche,  Brauerei  und  manch  alt- 
deutsches Gerumpel  neben  der  industriellen  For- 
sdiungsanstalt  und  den  Fabriken  für  Schuhe  und 
Zündhölzer. 

Daß  solch  gewerbliches  Wesen  sich  früh  schon  hier 
in  Augsburg  breitmachte,  liegt  zu  einem  guten  Teil 
daran,  daß  die  Stadt  umarmt  ist  von  jenen  beiden 
reißenden  Gebirgsflüssen,  deren  reichliches  '^'asser 
seit  dem  Mittelalter  in  einem  Netz  von  Kanälen 
durch  die  Stadt  rinnt.  Und  strömendes  \v'asser 
war  vor  der  Erfindung  der  Wärmekraftmaschinen 
die  mächtigste  Kraftquelle  der  Menschheit.  So  durch- 
floß es  in  rausdienden  Mühlgräben  kraflspendend 
schon  das  alte  Augsburg  und  rauscht  heute  noch 
durch   Wasserräder   und   moderne    Francisturbinen. 


1902  waren  in  der  Stadt  neben  siebenundzwanzig- 
tausend  Pferdestärken  von  Dampfmaschinen  zwölf- 
tausendsechshundert  Wasserpferdekräfle  in  Betrieb. 
Heute  sind  es  rund  siebzehntausend  Wasserpferde- 
scärken.  Dampf-  und  Dieselmaschinen  zusammen 
aber  sind  hier  wohl  jetzt  viel  mächtiger. 
In  den  dreißiger  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhun- 
derts begannen  die  Augsburger  immer  zahlreichere 
der  neuen  Spinnmasdiinen  und  mechanischen  Web- 
stühle an  die  Wasserkräfte  anzuhängen.  Die  Textil- 
industrie, auf  der  Augsburgs  und  der  Fugger  alter 
gewerblicher  Ruhm  beruhte,  nahm  einen  neuen  Auf- 
schwung. Heute  wird  vor  allem  Baumwolle  ge- 
sponnen und  gewoben. 

1824  endete  die  Alleinherrschaft  der  Wasserräder 
in  der  Augsburger  Krafterzeugung,  denn  es  wurde 
die  erste  englische  Dampfmaschine  zum  Antrieb  einer 
Schnellpresse  in  der  Freiherrlich  von  Cottaschen 
Druckerei  aufgestellt.  Der  berühmte  Erfinder  der 
Schnellpresse,  Friedrich  König,  hatte  die  Druck- 
maschine geliefert.  Er  berichtete  über  den  Betriebs- 
beginn der  Dampfmaschine:  „Wir  haben  nur  wenig 
Unterhaltung  hier  gehabt,  ausgenommen  etwa  den 
Schrecken,  den  die  neue  zweipferdige  Maschine  hin- 
eingetragen hat  nach  Augsburg.  Das  Redaktions- 
zimmer wird  sich  künftighin  gerade  über  der  Ma- 
schine befinden.  Herr  Stegmann,  ein  vorsichtiger 
Mann,  weiß  seine  wahren  Gefühle  zu  verbergen, 
aber  Herr  Wiedemann,  der  zweite  Redakteur,  ha: 
feierlich  erklärt,  daß  er  fortan  lieber  unter  freiem 
Himmel  schreiben  will  als  in  diesem  Zimmer.  Der 
Hausknecht,  obwohl  schon  seit  zehn  Jahren  dem 
Geschäft  angehörend,  hat  am  vorigen  Sonnabend  ge- 
kündigt und  ließ  sich  nicht  bepjhigen  oder  davon 
abbringen;  sein  Leben  sei  ihm  lieber  und  ej  habe 
für  Frau  und  Kinder  zu  sorgen!  Ein  alter  Kauf- 
mann hat  beteuert,  daß  er  nie  mehr  durch  diese 
Straße  gehen  werde,  und  seitens  der  Nonnen,  die 
sich  in  einem  Kloster  hinter  dam  neuen  Druckerei- 
gebäude befinden,  gehört  ein  Sturm  gegen  uns  nicht 
zu  den  Unmöglichkeiten." 

Der  alte  Unternehmungsgeist  der  Augsburger  hatte 
unter  der  Asche  fortgeglommen.  Das  Aufkommen 
der  Dampfmaschine,  der  allgemeine  Fortschritt  der 
Technik,  der  Geist  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
ließen   das   Feuer   des    Gewerbegeistes   wieder   auf- 


49 


lodern.  Ein  Königlicher  Realienlehrer  in  Augsburg 
fand  bald  nach  1870  im  Jahresbericht  seiner  Sdiule 
folgende  Worte  für  den  bürgerlichen  Fortschritts- 
geist: „Heutzutage  ist  das  Bürgertum  kein  abge- 
schlossener Stand  mehr,  sondern  es  durchdringt  und 
trägt  das  ganze  Leben  des  Staats.  Neue  Aufgaben 
bieten  sich  ihm.  Aber  auch  unter  andern  politischen 
Formen  kann  und  soll  als  Vermächtnis  aus  der  Zeit 
seiner  frischen  Jugend  in  ihm  wieder  erwachen  und 
erstarken  der  Geist  der  alten  Städtebürger,  jener 
mannhafte  selbständige  Sinn,  jenes  frische  mächtige 
Streben,  das  sich  nicht  genügen  läßt  in  dem  einmal 
ausgetretenen  Geleise,  jenes  Einstehen  für  die  Ge- 
meinde, wodurch  dieselbe  gedeiht."  Glänzende  Na- 
men der  Augsburger  Industriegesdiichte  wie  Schaez- 
1er,  Riedinger,  Hassler,  Reichenbach,  Buz  zeugen  für 
das  „frische  mächtige  Streben"  jener  Zeit. 
Um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  begann  man 
dem  Begriff  der  Industrie  vor  dem  des  Gewerbes 
den  Vorzug  zu  geben.  Augsburg  begann  „Industri';- 
stadt"  zu  werden.  1925  gab  es  hier  144  Betriebe  der 
Textilindustrie  mit  16  350  Arbeitern  und  152  Ma- 
stiiinenfabriken  mit  1 3  640  Arbeitern,  von  denen 
die  Mechanische  Baumwollspinnerei  und  -weberei 
und  die  Maschinenfabrik  Augsburg-Nürnberg  die 
bekanntesten  sind. 

Durch  das  Beispiel  der  Maschinenfabrik  Augsburg 
sei  die  Entstehung  der  Maschineaindustrie  in  Augs- 
burg beleuchtet.  Ludwig  Sander,  der  sich  mit  Bank- 
geschäften, Schnupftabakfabrikation  und  Textil- 
industrie befaßt  hatte,  begründete  1840  auch  eine 
Maschinenfabrik,  um  einem  seiner  Söhne  eine  Exi- 
stenz zu  schaffen.  Aber  schon  1844  übernahm  ein 
Neffe  jenes  Erfinders  König,  Carl  August  Reichen- 
bach, der  Maschinenmeister  des  Freiherrn  von  Cotta, 
zusammen  mit  seinem  Schwager  Carl  Buz  die  Fa- 
brik unter  dem  Namen  C.  Reichenbachsche  Maschi- 
nenfabrik. Im  Gesuch  um  die  Konzession  war  be- 
sonders hervorgehoben  worden,  daß  eine  Wasser- 
kraft von  zehn  Pferden  Bürgschaft  gebe,  daß  das 
Geschäft  mit  Nutzen  betrieben  und  beträchtlich  er- 
weitert werden  könne.  In  der  Fabrik  wurden 
Dampfmaschinen,  Wasserräder,  Getriebe  und  alle 
möglichen  anderen  Maschinen  hergestellt.  1852 
zählte  das  Werk  rund  zweihundert  Arbeiter  und 
hatte  schon  hundert  Buchdruckschnellpressen  her- 
gestellt, welche  Fabrikation  durch  die  verwandt- 
schaftlichen Beziehungen  Reichenbachs  zu  König  an- 
geregt worden  war.  1858  sollte  durch  Ausgaben  von 
Aktien  der  Betrieb  kapitalkräftig  gemacht  werden, 
und  der  Magistrat  erstattete  der  Regierung  über  die 
Masdiinenfabrik  Bericht.  Es  wird  darin  auf  die  all- 
gemeinen enormen  Fortschritte  der  Industrie  und  die 
Prosperität  des  industriellen   Etablissements   hinge- 


wiesen und  unter  anderem  der  Hoffnung  Ausdruck 
gegeben,  „daß  der  fernere  Aufschwung  dieses  schon 
sehr  bedeutend  gewordenen  Etablissements  durch 
den  mächtigen  Hebel  der  Assoziation  gefördert 
werde"  . . .  „Es  kann  somit  der  Aufschwung  dieses 
höchst  lebensfähigen  Etablissements  zu  einer  Zierde 
Augsburgs  nicht  nur,  sondern  Bayerns  und  ganz 
Deutschlands,  nicht  wohl  anders  als  von  einer  mit 
bedeutenden  und  nachhaltigen  Geldmitteln  verse- 
henen Aktiengesellschaft  vermittelt  werden." 
Die  Aktiengesellschaft  „Maschinenfabrik  Augsburg 
A.  G."  kam  zustande.  Seit  1864  stand  Heinrich 
Buz,  der  Sohn  von  Carl  Buz,  an  der  Spitze  des 
Werkes.  Nach  1870  betrug  die  Belegschaft  der  Ma- 
schinenfabrik bereits  sechshundertdreißig  Mann.  Das 
Werk  war  zu  einem  Begriff  in  der  deutsdien  und 
internationalen  Industrie  geworden. 


Am  12.  April  1820  früh  morgens  verließ  der  acht- 
zehnjährige Buchbindergeselle  Johann  Christoph 
Diesel  seine  Heimatstadt  Memmingen  und  wanderte 
hinkend,  denn  ein  Sturz  in  früher  Kindheit  hatte 
ihm  einen  kurzen  Fuß  beschert,  nach  Augsburg,  wo 
er  sich  niederlassen  wollte..  Am  13.  April  abends 
sah  er  vom  Süden  aus  die  Mauern  Augsburgs  mit 
ihren  Bastionen  und  den  Turmumrissen  des  Perlach, 
des  Doms,  von  St.  Anna  und  St.  Ulrich  vor  sich 
liegen.  Irgendwo  zwischen  diesen  Mauern  lag  das 
alte  Katharinenkloster,  aus  dem  später  die  Indu- 
strieschule wurde,  in  der  sein  Enkel  Rudolf  Diesel 
das  Kompressionsfeuerzeug,  auch  Feuerpumpe  ge- 
nannt, vorgeführt  erhielt.  25  Jahre  danach  erklärte 
Rudolf  Diesel  seinen  Kindern  den  Dieselmotor 
durch  Vorführung  eben  dieses  Kompressionsfeuer- 
zeuges. Er  drücicte  die  Luft  im  gläsernen  Zylinder 
des  Feuerzeuges  durch  Hineinstoßen  des  Kolbens  zu- 
sammen, und  die  durch  die  Kompression  stark  er- 
hitzte Luft  entzündete  ein  Stückchen  Zunder  innen 
am  Pumpendectel:  es  leuciitete  rot  durch  die  Glas- 
wände des  Pumpenzylinders.  Diesel  sagte:  „Stellt 
Euch  nun  vor,  dadrin  wäre  nun  etwas  Benzin  oder 
Petroleum  oder  Kohlenstaub  gewesen,  so  hätte  sich 
solcher  Brennstoff  entzündet,  und  der  durch  diese 
Verbrennung  gestiegene  Gasdruck  —  Hitze  dehnt 
Gegenstände  und  natürlich  auch  die  Luft  aus  — 
müßte  den  Kolben  hinaustreiben.  Der  Dieselmotor 
ist  nichts  anderes  als  solch  ein  pneumatisches  Feuer- 
zeug, mit  dem  Unterschiede,  daß  der  Brennstoff  fein 
zerstäubt  in  die  zusammengepreßte  glühende  Luft 
eingeblasen  wird.  Flierin  entzündet  er  sich  von  selbst 
und  leistet  dann  Arbeit,  indem  das  heiße  und  hoch- 
gespannte Gas  den  Kolben  vor  sich  herschiebt,  der 
mit  Hilfe  der  Kurbel  das  Schwungrad  dreht." 


50 


Am  SdimiedUdj 


Es  ist   merkwürdig,   daß  Rudolf  Diesel,   der    1S58 
in  Paris   geboren  war  und   durdi  die  Sdilacht  von 
Sedan  nach  London  vertrieben  wurde,  gerade  nach 
Augsburg  zurückgeriet,  an  die  Stätte,  an  der  durch 
die  Maschinenfabrik  unter  Heinrich  Buz,  dem  Bis- 
marck    der    süddeutschen    Maschinenindustrie,    alle 
Vorbedingungen  für  die  sehr  schwierige  Durchfüh- 
rung des  erfinderischen  Gedankens  gegeben  waren. 
Buzens  gediegenes,  auto- 
ritatives und  doch  ruhiges 
Wesen  kommt   in  einem 
wuchtigen     Steindenkmal 
am     Haupteingang     des 
Werkes      präditig      zum 
Ausdruck.  Von  dem  Stein- 
bild  geht   eine  so  sichere 
Ruhe  aus,  daß  man  aber- 
gläubisch meinen  könnte, 
es    sei    dadurch    vor    den 
Bomben    geschützt    wor- 
den, welciie  die  benachbar- 
ten   Gebäude    zerstörten. 
Diesel,  der  als  Siebzeh:i- 
jähriger     Augsburg    wie- 
der   verließ,    suchte    sidi 
nicht,    wie    man    anneh- 
men   könnte,    das    Werk 
Augsburg  und  seinen  Di- 
rektor Buz  deswegen  aus, 
weil  er  von  Augsburgern 
abstammte  und  einen  Teil 
seiner   späteren  Kindheii 
hier  verbradite,  ihm  die 
Maschinenfabrik       Augs- 
burg somit  sehr  früh  zu 
einem  Begriff  wurde.  Viel- 
mehr ergibt  sich  aus  den 
Dokumenten,  daß  er  diese 
Fabrik  für  eines  der  ganz 
wenigen      Werke     hielt, 
welche  die  überaus  sdiwie- 
rige     Aufgabe     meistern 
konnten,  den  ersten  Die- 
selmotor zu  bauen.  Natüt  - 
licii    spielen    auch    Kind- 
heitseindrücke Diesels  eine 
Rolle.  Es  ist  ja  klar,  daß 
die   bedeutendste   Fabrik 
der  Heimatstadt,  von  der 
man    immer    reden    hört 
und    die    überhaupt    die 
erste  Maschinenfabrik  ist, 
die  man  als  Jüngling  be- 
sichtigt   hat,     für     einen 


besondere  Qualitäten  annimmt,  aber  diese  Qualitäten 
waren  auch  objektiv  vorhanden.  Alle  Instinkte  und 
Überzeugungen  Diesels  führten  ihn  immer  wieder 
zur  Maschinenfabrik  Augsburg,  und  umgekehrt  be- 
urteilte Buz  die  Persönlichkeit  Diesels,  den  er  schon 
als  ganz  jungen  Ingenieur  kennengelernt  hatte,  sehr 
günstig.  Zudem  war  er  von  der  Richtigkeit  von 
Diesels  erfinderischen  Ideen  überzeugt.  Darum  unter- 
Photo S.  Rostra 


stützte  er  ihn  mit  allen  ihm  zur  Verfügung  stehen- 
den Mitteln.  So  kam  es  also,  daß  1893  der  Motor 
unter  Diesels  Leitung  hier  gebaut  und  jahrelang  mit 
ihm  experimentiert  wurde,  bis  man  1897  einen 
großen  Triumph  errang.  In  Augsburg  auch  wurde 
nach  schweren  Rückschlägen  in  den  Jahren  1898  und 
1899  die  marktreife  Maschine  und  eine  riesige Diesel- 
motoreniindustrie  entwickelt.  Darum  heißt  Augsburg 
nidit  nur  die  Stadt  der  Weberei,  der  Fugger,  der 
Confessio  Augustana,  sondern  auch  und  heute  zu- 
meist die  Stadt  des  Dieselmotors.  Im  Baedeker 
endigt  die  geographische  Einleitung  zu  Augsbur;^: 
„In  der Maschinenfabnik  Augsburg-Nürnberg  (MAN) 
wurde  1893 — 97  der  erste  Dieselmotor  konstruiert", 
und  die  sich  anschließende  geschichtliche  Einleitung 
beginnt  mit  den  Worten:  „Augsburg  entstand  um 
das  Jahr  15  v.Chr.  als  römische  Siedlung  Augusta 
VindeLicorum." 

Die  Maschinenfabrik  gab  späterhin  den  Bau  von 
Dampfmaschinen  auf  und  baut  jetzt  vor  allein 
Dieselmotoren  und  Buchdruckmaschinen.  Mit  ihnen 
gelangten  Augsburger  Ingenieare  und  Monteure  in 
die  ganze  Welt.  Die  sehr  geistige  Entstehungs- 
geschichte des  Dieselmotors  harmonisiert  hübsch  mit 
der  Geistigkeit  der  Druckmaschine,  und  beide  wur- 
zeln auf  mannigfache  Weise  in  dem  bürgerlichen  und 
gewerblichen  Humus  der  alten  schwäbischen  Reichs- 
stadt, die  zu  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
Königlidi-Bayerisch  wurde  und  bayerisch  geblieben 
ist.  Die  industriellen  Lorbeeren  Bayerns  teilt  sie  vor 
allem  mit  der  anderen  alten  Reichsstadt  Nürnberg, 
deren  Maschinenbaugesellschaft  Nürnberg  sidi  1898 
mit  der  Maschinenfabrik  Augsburg  vereinigte,  was 
im  N  der  Buchstaben  MAN  zum  Ausdruck  kommt. 
Jedenfalls  ist  Augsburg  seit  der  letzten  Jahrhundert- 
wende immer  mehr  auch  eine  Stadt  des  Dieselmotors 
geworden.  Kraft  aus  heißestem  Feuer  in  hochver- 
dichteter reiner  Luft  hat  stolz  die  Führung  vor  dem 
Wasser  angetreten,  und  Zustand  und  Geschidice 
Augsburgs  sind  seitdem  in  Krieg  und  Frieden,  Zer- 
störung und  Wiederaufbau  von  dieser  Verbrennungs- 
kraftmaschine mitgeprägt.  Tausende  von  wackeren 
Arbeitern,  die  mit  eigentümlichem,  alt-augsburgi- 
schem Einschlag  ihr  Schwäbisch  sprechen,  haben  sich 
an  der  Entwicklung  des  Motors  beteiligt,  und  zahl- 
lose Augsburger  Motoren  arbeiten  in  aller  Welt  :n 


ortsfesten  Anlagen,  Seeschiffen,  Fahrzeugen  aller 
Art.  Oft  lag  während  der  beiden  Weltkriege  ein 
eigentümlich  vibrierendes  Gedröhne  über  der  Stadt, 
weil  in  großer  Zahl  riesige  Motoren  mit  hohen  Dreh- 
zahlen ausprobiert  wurden.  In  die  altgewerblichen 
Gerüche  der  Lohgerbereien,  Mühlwässer,  Webereien, 
Metzgereien,  Bäckereien  mischt  sich  für  den  Augj- 
burger  der  Maschinenindustrie  der  Geruch  der  man- 
nigfachen Arten  von  Dieselöl.  Zwar  die  schweren 
Lastwagenmotoren  puffen  ihre  Gase  allerorts  in  die 
Straßen  Deutschlands,  aber  für  Augsburg  bedeutet 
dieser  Geruch  doch  das  gleiche  wie  für  den  Münche- 
ner die  Schwaden  des  Brauhauses,  den  Hamburger 
der  Schiffsteer,  den  Bochumer  das  Hochofengas. 
Der  von  Augsburg  ausgehende  Motor  hat  auf  die 
erstaunlichste  Weise  das  technische,  wirtschaftliche 
und  auch  politische  Leben  der  ganzen  Welt  beein- 
flußt, und  die  ganze  Welt  hat  vor  dieser  Augsburger 
Leistung  auch  heute  noch  eine  sonst  selten  gewordene 
einmütige  Achtung. 

Der  Dieselmotor,  so  könnte  man  sagen,  gehört  heute 
zum  Wesen,  zur  geistigen  Struktur  der  Stadt  Augs- 
burg. Nicht  nur  hat  sie  ihn  vor  über  einem  halben 
Jahrhundert  hervorgebracht,  sie  hat  ihn  in  tausen- 
derlei Gestalt  zu  hoher  Vollendung  führen  helfen, 
und  sie  hat  in  Schicksalsgemeinschaft  mit  ihm  die 
beiden  größten  Kriege  der  Weltgeschichte  überstan- 
den. Überstanden  —  wie  steht  es  damit?  Nun,  nach 
dem  großen  Angriff  sagten  die  Augsburger,  ihr 
Städtle  sei  untergegangen.  Aber  danach  sind  viele 
andere  deutsche  Städte  so  zerstört  worden,  daß 
Augsburg  unserem  an  Ruinen  gewöhnten  Auge 
Trostreiches  bietet,  und  so  glauben  wir  .es  rascher 
wieder  auferstehen  zu  sehen  als  ein  Köln,  ein  Dres- 
den, ein  Würzburg.  Was  heißt  überhaupt  Unter- 
gang? Unsere  Generation  hat  eine  ganz  neue,  höchst 
erstaunliche  Erfahrung  gewonnen.  Hätte  man  die 
fast  vöHige  Zerstörung  einiger  unserer  Städte  vor- 
ausgesehen, so  würde  man  wohl  prophezeit  haben, 
daß  ihre  Auferstehung  unmöglich  sei.  Aber  siehe 
da,  wir  haben  entdedit,  daß  es  in  der  Tat  so  etwas 
gibt  wie  eine  geistige  Struktur  der  Städte,  einen 
realen  Städtegeist,  der  ebenso  vom  genius  loci  wie 
von  den  Bewohnern  getragen  wird.  Sie  haben  ihre 
Stadt  in  ihrer  Seele,  und  so  gewinnt  die  Stadt  auch 
wieder  ihren  Leib. 


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Die  Türme  von  St.  Ulrich 

Photo  S.   Rostra 


ERHART    KÄSTNER 


DIE  HEIMKEHR 


NX' enn  wir  nur  erst  gewußt  hätten,  wie  es  wirkLidi 
aussah  daheim!  Aber  wir  waren  noch  ein  Jahr  nadi 
dem  Ende  des  Krieges  ohne  Post,  in  Afrika,  mitten 
in  der  grauweißen  Wüste,  und  als  dann  endlich  die 
ersten  Nachrichten  kamen,  waren  es  nur  die  kleinen, 
rotbedrudcten  Formulare  des  Roten  Kreuzes,  auf  die 
nur  fünfundzwanzig  abgezählte  Wörter  geschrieben 
werden  durften;  daraus  war  natürlich  kein  Bild  zu 
gewinnen.  Dann,  in  den  ersten  Briefen,  gab  es  an- 
dere Sorgen. 

So  lag  mir  vor  allem  eine  Briefzeile  im  Sinn,  die 
nach  der  Unglücksnacht  vom  Februar  1944  neben 
vielen  schreckliciien  Einzelheiten  über  die  Heimat- 
stadt das  Urteil  spradi:  „Augsburgs  Innenstadt  ist 
verloren  und  wird  nie  wieder  aum  Leben  erweckt 
werden  können."  Das  war  nicht  mit  dem  Willen  zur 
Übertreibung  gesagt.  Es  war  damals  die  herrschende 
Meinung. 

Nun  also  kam  ich,  zweieinhalb  Jahre  nach  dem 
Ende  des  Krieges,  wieder  nach  Hause.  Fünf  Jahre 
hatte  ich  die  Heimat,  sieben  Jahre  die  Vaterstadt 
nicht  mehr  gesehen.  Ich  kannte  überhaupt  noch  keine 
zerstörte  Stadt.  Im  Jahre  1942,  als  ich  zum  letzten- 
mal in  Deutschland  gewesen  war,  war  in  Berlin 
noch  kaum  irgend  etwas  zerstört;  München,  Dresden, 
Wien  und  der  ganze  kostbare  Schatz  der  kleineren 
Städte  war  noch  völlig  erhalten,  und  von  den  da- 
mals angegriffenen  Städten  des  Westens  hatte  ich 
nichts  zu  sehen  bekommen. 

Es  ist  sehr  merkwürdig,  ein  wie  hinfälliges  Mittel 
die  Einbildungskraft  ist.  Wohl  hatten  wir  viele  Ab- 
bildungen aus  dem  zerstörten  Deutschland  in  illu- 
strierten Zeitschriften  gesehen;  amerikanische  und 
englische  Blätter,  die  uns  erreichten,  gaben  sich  Mühe, 
der  neugierigen  Welt  eine  Vorstellung  zu  geben, 
wie  es  in  dem  verfluchten,  sphinxhaften  Lande  nun 
aussehen  mußte.  Es  waren  meistens  Aufnahmen  aus 
der  Luft  und  man  konnte  mit  diesen  Bildern  gar 
nichts  anfangen.  Danadi  war  völlig  rätselhaft,  wieso 
in  Berlin  noch  immer  drei  Millionen  Menschen  leben 
sollten  —  .wo  nur,  um  Himmels  willen,  da  doch 
die  Doppelseiten  dieser  Luftbilder  nichts  zeigten  als 
zehntausend  wimmelnde,  winzige  Häuserruinen? 
Und  beinahe  noch  unzulänglicher  war  es  mit  den 
Zeitungsberichten.  Sie  waren  meist  von  ausländi- 
schen Berichterstattern  für  ausländische  Blätter  ver- 


faßt und  gaben  Einzelheiten,  aber  kein  Bild.  Es 
erwies  sich:  die  es  selber  erlebt  hatten,  denen  waren 
die  Zungen  gelähmt.  Die  es  aber  nicht  miterlebt 
hatten,  deren  Worte  waren  zu  anders  und  schwadi, 
um  das  Unglück  zu  schildern.  Es  ist  nicht  auszu- 
denken, welche  Weltmacht  die  Phantasielosigkeit  ist. 
Sie  ist  eine  der  unabsehbar  unheilstiftenden  Mächte 
im  schrecklichen  Ablauf  der  Menschheitsgeschichte. 
So  fuhr  ich  denn  also  in  einer  Märznacht  nadi  Augs- 
burg, nach  Haus.  Ich  hatte  so  gut  wie  noch  nichts 
von  Deutschland  wiedergesehen.  Nachts  hatten  wir 
in  Cuxhaven  den  Boden  des  unglücklichen  Vater- 
landes betreten,  nachts  waren  wir  durch  Hamburg 
gefahren.  Weder  Hannover  noch  Kassel  hatten  wir 
zu  Gesicht  bekommen.  Der  Blick  über  Würzburg 
vom  fahrenden  Zug  und  vom  Bahnhof  aus  war  der 
erste  Anblick  einer  deutschen  Stadt  nach  diesem 
Krieg.  Es  war  furchtbar.  So  hatten  wir  uns  die  deut- 
schen Städte  in  unseren  schlimmsten  Angstträumen 
gedacht.  Und  so  war  es  also. 

Das  lag  nun  alles  schon  ein  paar  Tage  zurück.  Das 
neue  Leben  begann  für  jeden  von  uns,  als  wir,  zum 
erstenmal  seit  wie  unausdenkbar  endloser  Zeit,  nicht 
auf  befohlenen,  sondern  eigenen,  freigewählten 
Wegen  gingen.  Für  mich  hieß  das,  von  Dachau  über 
München  nach  Augsburg  zu  fahren. 
Es  war  tief  in  der  Nacht,  als  der  Zug  in  Augsburg 
einfuhr.  Der  Bahnhof  war  zu  meiner  Überraschung 
leidlich  im  Stande.  Der  Mann  an  der  Sperre,  dem 
ich  statt  einer  Fahrkarte  meine  "Preiheitspapiere  vor- 
wies, nickte,  klopfte  mit  dem  Griff  seiner  Zange 
aufs  Holz,  sah  mich  an  und  sagte:  „So,  nachher 
simmer  also  drhoim."  Es  war  der  Gruß  meiner 
Vaterstadt.  Immerhin,  er  fiel  mir  ins  Herz. 
Die  nächsten  Minuten  konnten  alles  Mögliche  brin- 
gen; den  Anblick  eines  verwüsteten  Viertels,  eine 
trostlose  Anhäufung  von  Trümmern,  jedenfalls  den 
ersten  Anblick  der  Stadt.  Ich  trat  auf  den  Platz  vor 
dem  Bahnhof  hinaus.  Viele  Malehatte  ich  diesen  Platz 
bedachtsam  wiedergesehen,  viele  Male  war  ich  hier- 
hin, in  langen  Abständen  nach  vieljährigen  Pausen, 
wiedergekommen.  Und  immer  hatte  er  ein  anderes 
Aussehen  gehabt.  Wenn  ich  von  den  größeren 
Städten  zurückkam,  schien  er  lächerlich  klein  ge- 
worden und  war  fühlbar  entzaubert,  wenn  ich 
aus   dem   Auslande   kam,   strahlte  er   Heimat   und 


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Trümmer  im  Herzen  der  Stadt 


Geborgenheit  aus  und  schien  mir  zu  sagen:  Heimat 
ist's  doch.  Diesmal  war  es  das  demütigste  Mal.  Idi 
war  bereit,  für  alles  auf  den  Knien  zu  danken,  was 
sidi  noch  einigermaßen  aufrechterhielt  und  sich 
Mühe  gab,  den  Zeiten  zu  trotzen. 
Nun  also,  immerhin:  der  Platz  war  noch  da.  Er  lag 
in  der  märzlich  kühlen,  nebligen,  pflastertroc!\enen 
Nacht  und  war  vom  bläulich  elektrischen  Licht  der 
Bogenlampen  erhellt.  Das  also  gab  es  schon  wieder 
in  Deutschland:  erleuchtete  Plärze.  Meine  letzte  Er- 
innerung war  stockfinsteres  Dunkel.  Es  waren  nur 
wenige  Mensdien  zu  sehen.  Oder  doch:  da  saßen  sie 
ja  auf  den  Bänken,  Schlafende,  und  da,  auf  den 
Asphalten  des  Bahnhofs- 
vorplatzes saßen  und 
lagen  sie  schlafend,  ein 
Bild  des  maßlos  über- 
füllten Landes,  des  Lan- 
des der  Obdachlosen,  die 
voll  Unrast  von  Ort  zu 
Ort  zogen. 

Der  Bahnhof,  dessen 
Stadtseite  ich  rückblickend 
sah,  war  offenbar  heil. 
Nur  das  Postgebäude  drü- 
ben war  verschwunden. 
Idi  ging  hin  und  sah  es 
mir  an.  Ich  hatte  keinerlei 
Eile.  Hatte  es  sieben 
Jahre  Zeit  gehabt,  so 
hatte  es  wohl  auch  noch 
eine  Stunde. 

So  ging  ich  die  Straße 
nadi  dem  Stadtinnern 
entlang,  an  dem  lang- 
gestreckten Getreidespei- 
cher vorbei,  der  die 
Sdirarme  heißt.  Dann 
aber  vermied  ich  den 
geradlinigen  Weg,  der 
durch  die  neuere  und 
breite  Hallstraße  führt, 
und  wählte  den  anderen, 
durch  die  engen, altstädti- 
schen Gassen  am  Katha- 
rinenkloster  vorbei.  Nun 
freilich  reihten  sich  Trüm- 
mer an  Trümmer.  Das 
also  waren  sie,  von  denen 
wir  so  viel  gehört  und 
gelesen  hatten  und  die 
wir  uns  im  ganzen  nicht 
hatten  vorstellen  können. 
Ja  natürlich,   so  war  es, 


so  mußten  sie  aussehen,  wieso  eigentlich  hatte  man 
sich  vergeblich  um  diese  Vorstellung  gemüht?  Da 
war  eben  ein  Schuttberg  und  nebendran  eine  aus- 
gebrannte Ruine  und  dann  wieder  ein  gerettetes 
Haus.  Es  war  nicht  so  schlimm  wie  die  schlimmsten 
Befürchtungen  und  nicht  so  gnädig,  wie  man  es  ins- 
geheim hoffte.  Es  war  eben,  wie  das  Eintreffende 
meistens  ist:  so  halben  Weges  zwischen  drin.  Alles 
war  dunkel,  menschenöde  und  leer.  Nur  mein  eigener 
hallender  Schritt.  Durch  riesige  Häuserwände,  Fassa- 
den, hinter  denen  einst  Handwerkerstolz,  Kauf- 
mannsreichtum und  Lebenssicherheit  war,  war  nun 
nichts  mehr.  Da  schien  nur  der  sich  wiegende  Mond. 


Photo  S.  Rostra 


r<i?mm^^:mmxj-?f-^,^sy. 


Es  verbot  sich  gründlich,  solchen  Anblicken,  Mond 
und  ziehenden  Wolken  über  Ruinen,  ein  Schönheits- 
moment abzugewinnen.  Ruinen  findet  nur  schön, 
wer  gut  wohnt,  in  einem  warmen,  sicheren,  wohl- 
eingerichteten Haus. 

Merkwürdig  oft  hatte  es  in  Briefen  von  daher  und 
dorther  geheißen:  „An  die  Trümmer,  an  die  Ruinen 
gewöhnt  man  sich."  Das  war  trostreich  gemeint, 
aber  es  hatte  mich  eher  erschreckt.  Was  mußte  aus 


St.  Ulricli  vom  Südosten 


den  Menschen  geworden  sein,  wenn  sie  sich  an  den 
Anblick  des  Schönen  in  Trümmern  gewöhnten?  Ich 
war  entschlossen,  mich  nicht  daran  zu  gewöhnen. 
War  es  nicht  eine  List  der  Unmenschlichkeit,  daß 
sich  die  Menschen  an  sie  gewöhnten?  Im  Krieg  ge- 
wöhnten sie  sich  ja  sogar  an  den  Mord. 
Ich  hatte  nun  die  Gasse  erreicht,  die  auf  die  be- 
rühmte Hauptstraße  der  mittelalterlichen  Stadt,  die 
Maximilianstraße,  hinausführt  und  kam  da  an  dem 

Hause     vorbei,     in     dem 


Photo  H.  Engelmann 


einst  der  Buchdrucker  des 
Kaisers   Maximilian,   der 
Meister     des     prächtigen 
Theuerdank  wohnte.  Das 
alte    Haus    stand    nodi. 
Aber  dann  kamen  Trüm- 
mer. Im  Halbdunkel  er- 
kannte ich,  daß  ofFenbar 
ein    ganzer    Häuserblock 
fehlte,  so  daß  man  ohne 
weiteres  zu  dem  berühm- 
ten Gasthof  „Drei  Moh- 
ren" durchsah,  der  schon 
an  der  Maximilianstraße 
lag.  Aber  auch  der  schien 
verbrannt  zu  sdn,  idi  sah 
ein   unübersichtliches   Ge- 
wirr   von    hochragenden 
Mauern,  zusammengesun- 
kenen   Eisenträgern    und 
Schutt.  Die  andere  Seite 
der  Ga.sse   aber  war  er- 
halten;   ich   ging  an   der 
großartig  langen   Seiten- 
front   des    barocken    Pa- 
lastes   entlang,    den    sich 
einst  der  Bankier  Liebert 
erbaute  und  der  jetzt  nach 
der  Familie  Schäzler  be- 
nannt wird,  eines  Bürger- 
hauses    von     unerhörter 
innerer  Pracht.    Er  schien 
erhalten  zu  sein,  und  das 
war  mir  wie  ein  Geschenk, 
dessen  bereichernden  Zu- 
wachs man  spürt. 
Nie,  niemals  zuvor  hatte 
ich  das  Römische  so  stark 
an  Augsburg  empfunden 
wie     bei     diesem     nächt- 
lichen Gang.  Es  war  das- 
selbe Hallen  in  den  Gassen, 
dasseJbe  milde   Überdau- 
ern   des    Steins,    dieselbe 


Wärme  der  Wände,  über 
deren  Pracht  viel  Ver- 
^ngenheit  floß.  Wie  in 
Rom  waren  selbst  noch 
die  Trümmer  erhaben. 
Aber  ich  wußte  nicht: 
welchen  Anblick  würden 
mir  die  nächsten  Minuten, 
die  nächsten  Schritte  ge- 
währen, wenn  idi  jetzr 
auf  die  fürstliche  Brei 
te  der  Maximilianstraße, 
Augsburgs  Inbegriff,  trat? 
Waren  die  alten  Häuser, 
die  geschwungenen  Gie- 
bel, die  hohen  Dächer 
dahin  und  an  ihrer  Stelle 
nur  Trümmer?  Und  dro- 
ben, das  Münster  St. 
Ulrich,  von  dessen  Höhe 
die  Straße  der  Kaiser 
herabfloß,  würde  ich  e'; 
in  den  nächsten  Augen- 
blicken im  Mondlicht  er- 
blicken? In  der  anderen 
Richtung  des  Straßen - 
Zuges:  die  grüngekuppel- 
Cen  Türme  des  Rathauses 
von  Elias  Holl,  das  wußt- 
ich,  würde  ich  nicht  mehr 
sehen,  denn  die  Nach- 
richt, daß  dieses  großartige 
Bauwerk  der  Renaissance 
verbrannt  war,  war  durch 
die  ausländischen  Blätter 
gegangen.  Und  was  war 
mit  dem  sdilanken  Stadt- 
turm, dem  Perlach,  dem 
ersten  Angruß  Italiens 
nördlich  der  Alpen?  In 
irgend  einem  Briefe  la? 
man,  es  werde  demnächst 
gesprengt.  Und  die  grünen 
Spitzen  des  Doms?  Zwei 
Schritte,  und  ich  würde  es 
wissen.  So  trat  ich  denn 
in  Gottes  Namen  hinaus. 

So  ist  es  manchmal  in  Träumen.  Wie  man  in  diesen 
bei  aller  Klarsicht  in  irgendeinem  tiefen  Grund 
weiß,  daß  man  nur  träuant,  so  war  jetzt  eine  Art 
Mißtrauen  in  mir:  ob  es  echt  war,  was  ich  da  sah? 
Sankt  Ulrich  zu  Häupten:  noch  da.  Die  alte,  ehr- 
würdige Straße,  sie  war  immerhin  da,  dies  Heimat- 
bald.    Sie   hatte   es   überdauert,   standgehalten   dem 


Oie  Maximilianstraße 


Plioto  Stadt.  Bauverwahung 

Sturm,  und  ihre  Kraft  triumphierte  über  die  Wun- 
den, che  hier  und  dort  waren. 

Der  alte  Herkulesbrunnen  stand  vor  mir  In  der 
Straßenmitte,  wie  immer  im  Winter  in  ein  Bretter- 
gehäuse verschalt.  Also  waren  die  schönen  Bronze- 
figuren  wahrscheinlich  gerettet  und  warteten  irgend- 
wo, bis  man  sie  wieder  aufstellen  konnte.    Zwischen 


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dem  Brunnen  und  Sankt  Ulrich  lag  unser  Haus.  Ich 
tastete  mich  mit  den  Augen  die  Straßenseite  ent- 
lang, bis  ich  es  hatte.  Links  und  redits  alle  Nach- 
barschaft, lauter  vierhundert  Jahre  alte  Häuser, 
schienen  noch  heil.  In  den  dunklen  Fenstern  mit  den 
nach  außen  gebuckelten  Scheiben  spiegelte  sidi  der 
Mond. 

Freilich,  wie  ich  nun  genauer  hinsah,  waren  es 
manchmal  da  und  dort  nur  noch  Fassaden  und  an 
einzelnen  Stellen  war  gar  nichts  mehr,  nur  eine 
Lücke  und  Sdiutt.  Aber  es  war  wie  in  Rom:  teil- 
weises Versänken,  Zerstörung  war  überspielt  von 
einer  innewohnenden  Kraft,  die  stärker  war  und 
von  der  man  hoffen  konnte,  daß  sie  das  Fehlende 
überwuchs.  Wahrscheinlich  waren  an  anderen  un- 
glücklichen Orten  die  Wunden  zu  stark  und  hatten 
die  Lebenskraft  selber  getroffen.  Hier  aber  war  es 
offenbar  gnädig  gewesen. 

Immer  noch  ließ  ich  nrür  Zeit.  In  der  Mitte  der  still- 
wartenden Straße  setzte  ich  midi  auf  meinen  Koffer 
aus  Holz.  Hier  begann  mein  Zuhausesein.  Nie 
war  ich  so  sehr  zu  Hause  in  dieser  Stadt,  wie  in  die- 
seim  Moment.   Ich  war  wie  besdienkt. 


Im  Lauf  der  nächsten  Tage  sah  idi  genauer,  was 
verloren  war  und  was  vermocht  hatte,  sich  durchzu- 
retten.  Es  waren  freilich  gewaltige  Schäden,  gewal- 
tig nicht  nur  der  Menge  und  der  Zahl  der  Wohn- 
häuser nach,  auch  viel  kostbare  und  berühmte  Bau- 
werke. Die  Barfüßerkirche  war  eingestürzt,  nur  das 
hohe  gotische  Chor  war  noch  stehengeblieben  und 
ragte  nun  wie  der  phantastische  Kiel  eines  Schiffs, 
das  gestrandet  und  umgestürzt  ist,  über  das  Trüm- 
mermeer der  unteren  Stadt  zur  oberen  hinauf. 
St.  Moritz  in  der  Mitte  der  Stadt  war  ausgebrannt 
und  auch  die  schöne  gotische,  barock  ausgeschmückte 
Kirche  vom  Heiligen  Kreuz.  Berühmte  Zunfthäuser 
und  Bürgerhäuser,  gefüllt  mit  Handwerksgut,  mit 
schönen  Treppenaufgängen  und  Türen,  waren  dahin, 
unersetzbar  verlorene  Würde  der  Stadt.  Und  so 
vieles,  vieles.  Ein  ganzes  altes  Viertel,  nicht  im 
inneren,  oberen  Teile  der  Stadt,  sondern  die  Vor- 
stadt St.  Jakob,  die  drunten  liegt,  wo  die  Kanäle 
vom  Lech  her  fließen,  lag  so  in  Trümmern,  wie  wir 
das  uns  in  der  Feme  als  allgemeines  Bild  schaudernd 
ausgemalt  hatten:  so  daß  man  die  Straßenzüge 
nicht  mehr  erkannte,  durch  die  man  einst  so  oft 
gegangen  war. 

Lang  war  also  die  Liste  des  Verlorenen.  Aber,  gott- 
lob, auch  die  Liste  des  Erhaltenen  war  lang.  Oft- 
mals, wenn  ich  durch  die  Straßen  der  alten  Stadt 
ging  und  nicht  wußte,  was  die  nächste  Biegung,  die 
nächste  sich  öffnende  Lücke  mir   darbieten   werde. 


hatte  ich  Grund,  aufzuatmen  und  zu  sagen:  Gott 
sei  Dank,  dies  war  verschont.  Und  es  waren  die 
bedeutendsten  Dinge,  die  noch  da  waren.  Augsburg 
hatte  Glück  im  Unglück  gehabt,  während  so  viele 
andere  Städte  auch  noch  besonderes  Unglück  im  all- 
gemeinen Unglück  gehabt  hatten  und  gerade  ihr 
Schönstes  und  Kostbarstes  verloren;  oft  stand  dann 
daneben  das  Bedeutungslose  oder  Häßliche  unver- 
sehrt da.  In  Augsburg  war  immerhin  das  Schönste, 
das,  was  nicht  nur  Besitz  des  Vaterlandes,  sondern 
des  Abendlandes  ist,  das,  woran  jeder  denkt,  wenn 
er  den  Namen  Augsburg  ausspricht:  das  war  und  ist 
glücklich  erhalten.  Wenn  ich  meiner  Freude  darüber 
Ausdruck  gab,  stieß  ich  seltsamerweise  fast  immer 
auf  ein  Befremden:  man  hatte  sich  an  den  Besitz  des 
Erhaltenen  schon  wieder  völlig  gewöhnt,  nahm  es 
für  selbstverständlich  und  richtete  den  Blick  allein 
aufs  Verlorene.  Mir,  der  ich  aus  solcher  Ferne  und 
Öde  kam,  war  alles  von  neuem  geschenkt. 
Mit  Bangen  ging  ich  die  Maximilianstraße  hinab 
zum  Rathaus  Elia.s  HoUs.  Was  würde  ich  sehen? 
War  es  zusammengestürzt?  War  nichts  mehr  übrig 
davon  als  nur  ein  Schutthaufen,  wie  von  der 
Frauenkirche  in  Dresden,  von  der  man  mir  ein 
Bild  gesandt  hatte,  das  mich  bis  in  die  Träume 
verfolgte?  Oder  war  es  nur  ausgebrannt?  Und  was 
hieß  das  wiederum?  Ließ  sich  das  Stehengebliebene 
retten? 

Ich  kam  und  ich  sah:  die  Fassade,  deren  Bild  jeder- 
mann kennt  und  im  Herzen  trägt:  sie  bestand.  Sie 
erhob  sich  immerhin  noch,  im  alten  Stolz,  wenn 
auch  geschändet.  Bis  zur  Giebelbekrönung,  bis  zu 
dem  Pinienapfel,  der  als  Wahrzeichen  da  oben  steht, 
hatte  der  Stein  sich  gehalten.  Die  grüne  Kupfer- 
bedachung der  beiden  Türme  war  natürlich  ver- 
brannt, und  die  aus  den  Fenstern  schlagenden  Flam- 
men hatten  der  Haut  des  Gebäudes  eine  seltsame, 
rostig-terrakottene  Farbe  gegeben.  Dies  und  die 
Leere  der  Fensterhöhlen  gaben  dem  Bauwerk  das 
Tragische  eines  geöffneten,  klagenden  Mundes.  Aber 
von  seiner  Größe  hatte  das  Unglück  dem  Bauwerk 
nichts  genommen. 

Freilich,  der  berühmte  Goldene  Saal,  das  kostbare 
Denkmal  der  alten  Augsburger  Pracht,  war  dahin: 
wo  er  gewesen  war,  sah  man  durch  die  leeren  Fen- 
ster Ins  Blaue  des  Himmels  hinauf.  Aber  wie  ich 
das  große  Bauwerk  umging,  sah  ich,  daß  auch  die 
rückwärtige  Ansicht  nach  dem  zwei  Stockwerke 
tiefer  liegenden  Platz,  die  noch  überraschender  und 
fast  noch  großartiger  als  die  vordere  ist,  unver- 
sehrt war.  Und  als  ich  ins  Innere  blickte,  sah  ich, 
daß  die  kreuzgewölbte  Erdgeschoßhalle  dem  Zu- 
sammenbruch der  Herrlichkeit  über  ihr  tapfer  er- 
tragen hatte  und  stand. 


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So  vermischte  sidi  Schmerz  und  Erleiditerung,  Ver- 
lieren und  Finden.  Ich  hatte  Sdilimmeres  gefürchter 
und  Besseres  erhofft.  Im  ganzen  aber  war  das  Gül- 
tige, Wesentliche  des  Bauwerks  erhalten  geblieben. 
Und  was  mich  darüber  liinaus  erleichterte  und  be- 
glückte: es  waren  Gerüste  zu  sehen.  Man  begann 
das  mächtige  Dadi  wieder  über  das  große  Gehäuse 
zu  legen.    Man  war  also  nicht  untätig  erstarrt.    Es 


waren  also  Heilkräfte  am  Werk,  die  Wunden  zu 
schließen.  Das  war  eigentlich  das  Beste  von  allem. 
Und  so  war  St.  Ulrich  heil  und  der  Dom,  das  herr- 
liche Zeughaus  mit  dem  großen  bronzenen  Michael, 
die  Stadtmetzg,  das  alte  Gymnasium  St.  Anna  und 
alle  alten  Tore  und  Brunnen.  Hundert  Meter  bis 
vor  den  Dom  ging  eine  Zcrstörungswelle,  der 
die     größten     Häuser     zum     Opfer     fielen;      der 


Rathaus  und  Perlach 


Photo  Stadt.  Bauverwaltung 


Dom  selber  aber  mit  all  seinen  Schätzen  blieb  heil. 
Ja,  es  gab  Stellen,  an  denen  hatte  ganz  ohne  Zweifel 
bei  allem  Unglück  das  Stadtbild  gewonnen.  Das 
großartige  Westchor  von  St.  Ulrich  mir  der  schönen 
gotischen  Jahreszahl  hatte  fast  niemand  vorher  ge- 
kannt; jetzt  war  in  der  engen  Gasse  eine  Baulücke 
entstanden,  in  die  fast  bestürzend  steil  die  Münster- 
wand trat.  Der  Dom  war  aus  der  Stadtmitte  heraus 
jetzt  auf  einmal  von  den  verschiedensten  Stellen  zu 
sehen,  auf  einmal  war  sein  Name,  „der  Hohe  Dom", 
mit  neuem  Inhalt  erfüllt.  Aus  seiner  eigentlichen  Zu- 
gangsstraße henaus  hatte  man  ihn  bisher  fast  gar  nicht 
erblickt,  nicht  etwa,  weil  sie  zu  eng  war,  aber  sie 
war  im  vorigen  Jahrhundert  der  Maßlosigkeit  mit 
besonders  häßlichen,  vielstöckig  hohen  Stadthäusern 
bebaut.  Jetzt  war  eine  Chance,  auf  den  Hohen  Dom 
mit  bescheideneren  Häusern,  die  er  überragen  würde 
wie  einst,  vorzubereiten. 

Es  wäre  unsinnig,  die  Verluste  der  Stadt  verkleinern 
zu  wollen,  die  herrliche  Stadt  ist  gewaltig  ge- 
schwächt, der  alte  Bürgerbesitz,  der  seit  langem  nur 
noch  um  seine  notdürftige  Erhaltung  kämpft:,  ist  um 
ein  weiteres  Mal  verringert.  Aber  Leben  heißt  nun 
einmal  verlieren,  und  lang  leben  heißt  vieles  verlie- 
ren. Die  Gefahr,  zu  verzweifeln,  ist  größer  als  d'e 
Gefahr,    durch    Beraubung    unglücklich    zu    werden. 


Man  hat  nie  lebendig  besessen,  was  man  nicht  zu 
verlieren  vermag.  Denn  das  Lebendige  verläßt  uns, 
wir  müssen  es  wissen.  Man  kann  nicht  damit  rech- 
nen, daß  Gebautes  ewig  besteht,  aber  man  muß 
damit  rechnen,  daß  es,  solang  es  besteht  und  den 
Anspruch  erhebt,  lebendig  besessen  zu  werden,  von 
dem  Geist  erfüllt  ist,  der  es  erzeugt  hat,  so  daß  er  es 
auch  wieder  zu  erzeugen  vermag.  In  dem  Moment, 
wo  man  in  alten  Bauten  nichts  als  die  alten  Denk- 
mäler sieht,  sind  sie,  auch  wenn  sie  noch  aufredit 
stehen,  schon  zur  Hälfte  verloren.  Man  sehe  in  ihnen 
die  einstige  Modernität,  das  große  Denken,  das  ein- 
stige Wagen,  das  Neue!  Man  sehe  Wagemut,  Be- 
wußtsein eigener  Würde  und  Heimatliebe  vereint 
mit  Weltbürgertum,  mit  dem  Blick  über  die  engen 
Mauern  hinaus!  Hieraus  entsprang  das  Bedürfnis, 
sich  große  Bauten  als  Denltmäler  zu  setzen.  Wäre 
der  Geist  wirklich  entflohen,  so  würde  es  freilich 
nichts  nützen,  um  die  alten  Denkmäler  zu  trauern, 
oder  sich  um  ihre  Rettung  zu  mühen.  Dann  aber 
wäre  mit  dem  eigenen  Stolz  die  eigene  Zukunft 
verloren. 

Später,  als  ich  mehrere  deutsche  Städte  in  Trüm- 
mern wiedersah,  machte  ich  eine  seltsame  Erfahrung, 
die  ich  mir  nie  hätte  einfallen  lassen:  die  Trümmer 
jeder    einzelnen    Stadt    sagten    anderes    aus.    Die 


Der  Goldene  S^al 


Photo  Stadt.  Kunstsanimluneen 


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1^81: 


Trümmer  Berlins  waren 
häßlich,  wie  es  die  StaJt 
vor  der  Zerstörung  auch 
war,  aber  sie  hatten  den 
Charakter  der  Millionen- 
stadt am  wenigstens  zu 
verändern  vermocht.  Ber- 
lin war  faszinierend  und 
lebendig  wie  je.  München 
hingegen  schien  es  visl 
schwerer  getroffen  zu  ha- 
ben, nicht  in  der  Menge, 
aber  in  der  Substanz. 
Die  breiten,  phäakisdicn 
Straßen  mit  den  Gebäu- 
den, die  so  s.ehr  auf  ihr 
Ansehen  bedacht  waren: 
den  halben  Zerfall  ertru- 
gen sie  nicht.  Nürnberg, 
viel  zusammengedrängter 
und  schon  deshalb  viel 
stärker  als  München  zer- 
stört, hatte  sich  gleich- 
wohl in  all  seiner  Ver- 
wüstung viel  von  seiner 
Größe  bewahrt.  Das  Ver- 
spielte war  fort.  Noch 
anders  war  es  mit  Dres- 
den. Die  ganz  aus  lieb- 
licher Schönheit,  aus  Gra- 
zie geborene  Stadt  war 
am  furchtbarsten  von 
allen  zerstört.  Aber  selbst 
durch  die  Trostlosigkeit 
dieser  Trümmer  drang 
noch  die  frühere  Lieb- 
lichkeit durch.  Ziegel- 
mauern ragten  rosa  em- 
por, barocke  Bauteile 
schwangen  sich  klagend 
dahin.  Die  Stadt  war  wie 
ihr  eigenes  Grab.  Aber  es 
war  überblüht. 
Im  Vergleich  zu  all  diesen 
Städten  war  Augsburg 
viel  weniger  unglücklich 
daran.    Sein    Vorrat    an 

alten  kraftvollen  Bauten  war  groß  und  Vieles,  We- 
sentliches erhalten.  War  etwas  zu  einem  Teile  zer- 
stört, so  hatte  es  meistens  in  seiner  Ausdruckskraft 
wenig  gelitten;  dieses  Uralte  hatte  schon  viele  Male 
der  Zerstörung,  dem  Untergang  ins  Auge  gesehen. 
War  nicht  ohnehin  alles  mit  Vergangenheit  und  Ge- 
schichte beladen?   War  nicht  der  Dom  das  achte  oder 


Riickscile  dei  Holischen  Rathauses 


Photo  Stadt.  Bauverwaltung 


neunte  Bauwerk  über  immer  derselben  Stelle?  Im- 
mer hatte  man  über  Untergängen  gebaut,  hier  war 
das  nichts  Neues.  Und  sah  man  nicht  überall  schon 
Gerüste,  war  nicht  der  regsame  schwäbische  Geist  noch 
am  Werk?  Immer  war  vom  Alten  noch  genug  da, 
sich  das  Maß  des  alten,  tapferen,  großzügigen  Geistes 
der  Stadt,  wenn  man  wollte,  von  neuem  zu  nehmen. 


61 


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NACH  DER  WALPURGISNACHT 


„Der  Teufel  bläst  seinen  Dudelwck  und  die  Welt 
tanzt  dazu,  darum  gebären  die  Zeiten  nidits  Gutes. 
Das  Licht  wandelt  nadi  Amerika,  und  ich  fürchte, 
nach  etwa  hundert  Jahren  wird  man  von  dort  nach 
Europa  reisen,  um  die  Trümmer  der  ehemaligen 
Herrlidikeit  zu  sehen,  wie  wir  jetzt  nach  Griechen- 
land und  dem  Orient  reisen."  Wer  eine  Schwäche  für 
solche  Worte  hat,  kann  es  nachlesen  bei  dem  Schwaben 
Justinus  Kerner,  geschrieben  im  Jahre  1847. 
Ist  es  so  weit?  Es  ist  so  weit! 

Durch  die  obere  Maximilianstraße  in  Augsburg 
kommt  in  mäßigem  Tempo  der  schimmernde,  dunkel- 
blaue Stromlinien-Studebaker,  zwölf  Zylinder,  ver- 
hält hier  eine  Weile  und  dort  eine  Weile,  ein  Men- 
schenpaar sitzt  darinnen  mit  dunklen  Sonnenbrillen, 
und  es  sind,  wie  man  ohne  große  Phantasie  sehen 
kann,  die  „von  drüben",  vielleicht  aus  Oklahoma 
oder  Arkansas,  Virginia  oder  Texas.  Sie  wollen  die 
Trümmer  der  ehemaligen  Herrlichkeit  sehen.  Und 
wenn  man  noch  ein  wenig  durch  die  Stadt  geht, 
dann  sieht  man  —  was  auch  zur  „Optik"  dieses 
Nachkriegs  gehört  —  ihre  Clubs,  CADET  für  die 
Offiziere,  RED  GROSS,  SNAGK-BAR  UND 
SODA  FONTAIN  für  die  anderen. 
Dieses  Augsburg,  einst  „die  goldene  Stadt"  schlecht- 
hin —  golden  durch  den  unheimlichen  Reichtum 
seiner  Kauf  leute,  golden  durch  die  Schreibstube  seines 
größten  Handelsherrn  und  golden  durch  die  Pracht 
seiner  Kunstschätze  —  hat  genau  am  Tage  der  heili- 
gen Walpurgis,  am  25.  Februar  1944  nämlich,  seinen 
Bombentag  gehabt.  Der  Oberbürgermeister,  der 
gerne  die  Großen  beschwört,  zitierte  vier  Jahre  später, 
als  der  Stadtrat  einstimmig  beschloß,  „diesen  Tag 
zum  alljährlichen  Gedenktag  zu  erheben",  sehr 
treffend  Faustens  und  Mephistos  Dialog  in  der  Wal- 
purgisnacht: 

Mit  welchen  Schlägen  trifft  sie  meinen  Nacken.  — 
Wie  rast  die  Windsbraut  durch  die  Luft  ! 

sagt  Faust.  Und  Mephisto: 

Und  durch  die  übertrümmerten  Klüfte 

Zischen  und  heulen  die  Lüfte, 

Hörst  du  die  Stimmen  in  der  Höhe? 

In  der  Ferne,  in  der  Nähe? 

Ja,  die  ganze  Stadt  entlang 

Strömt  ein  wütender  Zaubergesang. 


Es  war,  für  die  goldene  Stadt,  eine  exemplarische 
Walpurgisnacht,  und  der  Stadtchronist  hat  in  Zahlen 
festgehalten,  was  bei  zwei  Angriffen  an  einem  Tage 
auf  sie  niedersauste:  2450  Sprengbomben,  45  000 
Phosphorbomben,  1200  Flüssigkeitsbomben,  250  000 
Stabbrandbomben,  10  Blitzlichtbomben,  20  Leucht- 
bomben, 4  Zielmarkierungsbomben,  die  letzteren, 
wenn  wir  uns  erinnern  wollen,  schön  und  bildhaft 
„Ghristbäume"  genannt.  Am  schwersten  wurde  das 
Krankenhausviertel,  dann  das  Jakoberviertel  und 
die  Innenstadt  bis  zum  Dom  getroffen. 
In  einer  nahezu  zweitausendjährigen  Geschichte 
hatte  die  Stadt  eine  solche  Zerstörung  noch  nicht  er- 
lebt, obwohl  sie  besser  davonkam  als  zum  Beispiel 
Würzburg  und  Nürnberg.  In  Schutt  und  Asche 
sanken  das  Weiserhaus,  das  Höchstetterhaus,  das 
Weidenbachhaus,  das  Fuggerschlößchen  (Konserva- 
torium), das  Schaurhaus,  das  Kröll-  und  Hillhaus, 
das  Kutscher-  und  Gehrhaus  und  die  Jakobskirche. 
Vollkommen  ausgebrannt  waren  Elias  Holls  be- 
rühmtes Rathaus,  der  Perlachturm  und  das  Hotel 
„Drei  Mohren";  ausgebrannt  die  Moritz-,  die  Bar- 
füßer-, die  Heilige-Kreuz-,  die  St. -Stephan-  und  die 
Maxkirche,  das  Stadttheater,  das  Jakobertor  und 
zum  Teil  die  Fuggerei,  ungezählte  herrliche  Bürger- 
häuser dazu.  Es  war  wohl  wie  ein  böser  Aphoris- 
mus, wie  ein  höhnischer,  schauriger,  .absurder  Nekro- 
log, als  am  Tage  danach  an  einem  Lichtspieltheater 
der  Film  angepries^  wurde:  „Zum  Leben  verur- 
teilt". Oder  war  es  das  große  Komische,  was  hier 
waltete?  Es  war  schon  eine  echte  und  rechte  Wal- 
purgisnacht gewesen,  die  da  herniedergekommen 
war. 

Ja,  auch  des  Elias  Holl  Rathaus  war  ausgebrannt, 
jenes  faszinierende  Bauwerk,  das  man  erblickt,  wenn 
man  die  Bürgermeister-Fischer-Straße  bis  zu  der 
Stelle  geht,  wo  untere  und  obere  Maximilianstraße 
sich  scheiden.  Auch  jener  Studebaker-Zwölfzylinder 
stoppte.  Auch  seine  beiden  Insassen,  wer  weiß  es, 
fühlten  womöglich  die  mächtige,  raumverdrängende 
Masse,  die  zwar  mit  Baugerüsten  umkleidet  war, 
aber  die  Wucht  des  Gebäudes  doch  ahnen  läßt.  Trotz 
der  Gerüste  sieht  man  die  vom  Schatten  dreier  Ge- 
simse gefurchte,  von  Rustika-Ecken,  Lisenen  und 
Fensterbrauen  beschattete  Stirnseite,  darüber  den 
schmalen,    aber  doch    beträchtlichen    Oberbau.    Der 


63 


Die  Peter-Kötzer-Gasse 

Photo  S.  Roscra 


Goldene  Saal,  Ausdruck  von  Augsburgs  stolzester 
und  selbstbewußtester  Zeit,  ist  ausgebrannt  und  nur 
noch  das  Revier  der  Bauinjeuiieure  und  Maurer- 
poliere. Im  Erdgesdioß  hat  die  städtisdie  Bauvsr- 
■waltung  mit  einigen  Büros  Quartier  genommen.  \\';c 
eine  zweite  Fermate  in  diesem  Straßenbild  steht  der 
Perlachturm  daneben,  dessen  ausgebrannter  Glocken- 
stuhl auch  von  HoU  gebaut  wurde.  Beruhigend,  daß 
seit  Ende  1947  die  uralte  Wetterfahne,  die  Cisa,  die 
Turmkuppel  wieder  krönt,  daß  man  dabei  ist,  das 
Uhrwerk  wieder  einzubauen;  und  auch  die  „Sieben 
Lädle"  am  Fuße  des  Turmes  werden  bald  wieder 
komplett  sein.  Auch  der  Erzengel  Michael,  hierorts 
das  Turamidiele  genannt,  wird  dem  Drachen  bald 
wieder  die  vorgeschriebenen  Stöße  versetzen.  Glie- 
der und  Zunge  bewegt  dann  die  Satansdrachen  wie- 
der, wenn  das  Turamichele  und  der  Stundenschlag 
es  wollen. 

Unversehens  sind  wir,  scheinbar  mit  Gesdiichre 
beschäftigt,  ins  Schaezler-Palais  geraten,  wo  gerade 
Augsburgs  Stadtrat  tagt.  Und  hier  nun  wieder  ist 
prallste  Gegenwart.  Hier,  in  diesem  bedeutendsten 
Saal  der  außerhöfischen  Profanarchitektur  des  ganzen 
süddeutschen  Rokoko,  hat  der  Stadtrat  vorläufig 
sein  Refugium  gefunden.  Wer  sich  hierhinein,  in 
diesen  Spiegelsaal  mit  seinen  exotischen  Bildern, 
seinem  venezianischen  Lüster  und  dem  Stuck-Zierat 
ein  paar  Bilder  aus  Augsburgs  Geschichte  kompo- 
nieren will,  dem  bleibt  es  unbenommen.  Wir  wollen 
die  Bombensplitter  und  -kratzer  an  Wänden  und 
Decken  gerne  übersehen.  In  diesem  Festsaal  werden 
wohl  manche  rauschenden  Bälle  über  die  Szene  ge- 
gangen sein.  Als  delikates  historisches  Aperju  regi- 
striert der  Oberbürgermeister  noch  einmal  in  seiner 
Stadtratsbegrüßung  den  Ball  zu  Ehren  der  Erz- 
herzogin Maria  Antoinette,  Posthuma  der  Kaiserin 
Maria  Theresia,  die  auf  ihrer  Brautfahrt  zum  franzö- 
sischen Königshof  in  Augsburg  Station  machte.  Aber 
das  arme  Kind,  die  Braut,  man  bedenke,  die  Maria 
Antoinette,  war  erst  vierzehneinhalb  Jahre  alt. 
Nun  wohl,  niemand  wird  behaupten  wollen,  Augs- 
burgs Stadträte  wüßten  sich  nicht  zu  geben.  Dort 
saßen  als  Ehrengäste  die  Herren  „von  drüben",  aus 
Amerika,  der  Colonel  Hector,  Direktor  der  ameri- 
kanischen Militärregienung  von  Schwaben,  mit 
seinem  Stab;  er  saß  dort  wie  sein  Namensvetter, 
der  Trojanerheld  bei  Homer.  Und  es  ist  wahr:  Die 
Amerikaner  haben  schon  einen  eigenen  Kolonialstil 
entwickelt.  Sie  hörten  sich  die  Reden  des  Ober- 
bürgermeisters, des  Stadtbaurates  und  der  übrigen 
Stadträte  an,  sie  sahen  sich  die  junge  Demokratie 
an,  die  vorwiegend  von  alten  Köpfen  repräsentiert 
wurde.  Und  man  weiß  nicht,  was  hinter  den  Schläfen 
des  jungen  Colonel  gedadit  wurde. 


Wie  es  sich  mit  der  Beziehung  der  Stadtgeschichte  i 
zur  Gegenwart  verhält,  das  besagt  ein  Gang  durch  } 
die  Stadt,  ein  Gang  durch  das  alte  Augsburg  zumal. 
Es  ist  eine  Welt,  die  uns  da  entgegentritt  —  vieles 
freilich  wurde  in  jener  Walpurgisnacht  nieder- 
gewalzt — ,  die  Trauer  in  die  Herzen  bringt. 
Schon  die  Namen  der  Straßen  und  Gassen  machen 
eine  originelle  und  reiche  Seite  augsburgischer  Ge- 
schichte aus.  Es  erhellt  schon  aus  diesen  herrlichen 
Namen,  daß  die  Biographie  der  Stadt  nicht  zum  ge- 
ringen Teil  von  ihnen  getragen  wird,  daß  sie  viel 
vom  Wesen  und  Charakter  der  AUGUSTA  VIN- 
DELICUM  ausmachen.  Sie  heißen  also:  Baumgärt- 
leinsgäßchen,  Findelgäßchen,  Bauemtanzgäßchen, 
Geist-,  Streit-,  Kaffee-,  Waisen-  und  Kustosgäßchen, 
Schleifer-,  Doktor-  und  Paradiesgäßchen,  es  gibt 
Kapuziner-,  Karmeliter-,  Dominikaner-  und  HeiHge- 
Grab-Gasse.  Man  kann  sich  verlaufen  in  den  Sauren- 
greinswinkel,  zur  Schwibbogenmauer,  zum  Pfaflen- 
keller,  zum  Predigerberg,  ins  Pfärrle,  ins  ölhöfle, 
zum  Gallusbergle  und  ins  Rößlebad,  an  den  Katzen- 
stadel und  zu  den  sieben  Kindein. 
Lehrreich  sind  die  Namen  der  Bürger  nicht  minder. 
Sie  heißen  noch  heute  Guggemos  und  Häberle, 
Schimpfle,  Lämmle  und  Lieblein,  Baumgartner, 
Schneeweiß,  Sdiwinghammer  und  Schusterzucker,  die 
Hebammen  Maria  Wohlwend  und  Euphemie  Seitz, 
die  Ärzte  Bub,  Ey,  Sax,  Utz  und  Sixt,  die  Advo- 
katen Drexel,  Hämmerle  und  Roßteuscher,  die  Bäcker 
Gsell,  Bürzle  und  Zengerle,  der  Kürschner-  und 
Säcklermeister  Olof  Mauritzson,  der  Schreinermeister 
Ludwig  Thoma,  der  Drechslermeister  Hilarius  Sirsch, 
der  Spenglermeister  Vitus  Steinhard,  der  Tapezier- 
meister Matthäus  Sternegger  und  der  Schlosser- 
meister  Valentin  Ingeduld.  Kann  ein  Zigarrenhändler 
schöner  heißen  als  Georg  Tuffentsammer  oder  gar 
Carl  Mozart,  ein  Glasermeister  treffender  als  Josef 
Wohnlich  oder  ein  Blumenhändler  poetischer  als 
Michael  Wunderl? 

Im  wesentlichen  besteht  auch  diese  Stadt  aus  einer 
Mehrheit  von  Häusern,  Straßen,  Zeilen,  Blocks  und 
Vierteln.  Aber  darinnen  lebt,  hockt,  sitzt,  wandert, 
denkt,  lenkt,  arbeitet,  schläft  und  liebt  der  Mensch. 
Darinnen  reiben  oder  ergänzen,  beKämpfen  oder 
tolerieren  sich  die  Interessen,  die  Geister,  die  Be- 
schäftigungen, die  Pflichten  und  Talente.  Kraft  eines 
stillschweigenden  Paktes  unterhalten  die  Augsburger 
zwölf  Brauereien.  Und  was  die  Gaststätten  angeht, 
so  müssen  auch  hier  ein  paar  Namen  genannt  werden, 
die  großartig  zum  Bild  der  alten  Reichsstadt  passen. 
Die  „Drei  Mohren",  die  berühmtesten,  nannten  wir 
schon.  Aber  was  ist  von  diesen  zu  halten:  „Post- 
hörndl",  „Prügelbräustüberl",  „Sieben  Brunnen"  und 
„Blaues  Krügle",  „Bärenwirt"  und  „Friedenstaube", 


64 


„Hinterer  Wirt"  und  „Grauer  Wolf"?  Es  ist  viel 
davon  zu  halten,  wie  jeder  zugeben  wird. 
Und  wir  wollen  hier  in  Parenthese  eine  „Speis- 
karte" hinzufügten,  älteren  Datums,  selbstverständ- 
lich, aber  Spezial-Augsburg,  und  mit  zukunftsfreu- 
digen und  hoffnungsvollen  Gedanken:  Ripperl  mit 
Kraut,  Kalbsschäuferl  mit  Kartoffeln,  Wammerl  ntit 
Linsen,  Kalbsbraten  mit  Spatzerln,  Knöcherlsulz. 
In  dieses  Bild  der  Idylle,  der  Rückwärtsschau,  der 
augsburgisdien  Gastronomie  und  Gastromanie  nun 
plötzlich  einen  Vers  solch  lapidarer,  aber  auch  eisig 
brennender  Art  zu  zitieren: 

Die  Welt  ist  arm.  Der  Mensdi  ist  schlecht. 
Wer  möcht  auf  Erden  nidit  ein  Paradies? 
Doch  die  Verhältnisse  —  gestatten  sie's? 
Nein,  sie  gestatten's  eben  nicht!  — 

das  dürfte  wohl  manchen  in  dieser  Stadt  erschrecken. 
Aber  der  den  Vers  schrieb,  ist  ein  echter,  aufrütteln- 
der Dramatiker  unserer  Zeit.  Was  denn  seine  Vater- 
stadt von  ihm  halte?  fragten  wir  einen  achtbaren, 
reputierlichen  Bürger.    Von  dem?    „Ja  med",  sagte 


der  Mann,  „seinen  Vater  hab'  ich  gekannt  und 
seinen  Bruder  hab'  ich  gekannt.  Aber  der?  Wissen 
Sie,  der  hat  schon  als  Junge  so  verrückte  Tier- 
köpfe gesammelt."  Es  bleibt  fraglich,  ob  das  Augs- 
burger Theater  die  „Dreigroschenoper"  (aus  der 
der  Vers  stammt),  „Galilei",  „Mutter  Courage" 
oder  „Die  Gewehre  der  Frau  Karrar"  aufgeführt 
hat  oder  sich  zu  seiner  Komödie  „Herr  Puntila  und 
sein  Knecht"  —  jüngst  in  Zürich  uraufgeführt  — 
entschlösse.  Dieser  Mann,  der  über  Rußland,  Japan, 
Hollywood  nun  am  Züricher  See  gelandet  ist,  in 
dessen  Gesamtwerk  keine  Naturschilderung  zu  finden 
ist,  wie  er  selber  einmal  äußerte,  heißt  Bert  Brecht. 
Ob  er,  wenn  es  noch  stünde,  eine  Plakette  ans  Ge- 
burtshaus bekäme,  einen  Ehrenbürgerbrief  oder  ein 
Postament  mit  der  Sockelinschrift  „Dem  großen 
Soihne"  und  den  Versen  aus  seiner  „Hauspostille": 

Und  dort  im  Lichte  steht  Bert  Brecht 
An  einem  Hundestein, 
Der  kriegt  kein  Wasser,  weil  man  glaubt, 
Der  müßt  im  Himmel  sein. 


Saal  im  Scbaezler-PaLis 


Photo   Brud^mann 


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Kennzeichen  des  Lxuligen  Augsburg  —  die  vielen  Gerüste 


Photo  H.  Engclmann 


Jetzt  brennt  er  in  der  Höllen. 

Oh,  weint  ihr  Brüder  mein! 

Sonst  steht  er  am  Sonntag  nachmittag 

Immer  wieder  dort  an  seinem  Hundestein. 

Es  wird  der  Wahrheit  nahekommen,  wenn  man 
sagt,  es  war  Zufall,  daß  er  hier  (am  10.  Februar  1898) 
geboren  wurde,  und  die  Absicht,  ihn,  Bert  Brecht, 
den  Vaganten,  für  die  Stadt  zu  reklamieren,  würde 
er  vermutlich  als  falschen  Enthusiasmus,  wenn  nicht 
als  Bauernfängerei  ansehen.  Jetzt  brennt  er  in  der 
Höllen,  oh,  weint  ihr  Brüder  mein! 
Die  Schwaben  waren  stets  Leute,  die  den  Pfennig 
in  Ehren  hielten  und  dem  Geld  ihre  Reverenz  er- 
wiesen. Sie  sind  Realisten,  sehen  das  Nächstgelegene, 
Greifbare,  das  Nützliche,  und  sind  kühle,  technisch 
und  praktisch  urteilende  Köpfe.  Das  war  wohl  nidit 
zuletzt  der  Grund  dafür,  daß  das  beginnende  Indu- 
striezeitalter hier  wagemutige  und  ünternehmungs- 
freudige  Männer  fand.  So  ist  dieses  Augsburg  auch 
—  und  heute  vornehmlich  —  eine  Industriestadt. 
Obwohl  auch  die  Industrie  vom  Krieg  schwer  an- 
geschlagen wurde,  obwohl  auch  hier  die  Bomben 
das  ihre  taten  —  drei  Jahre  nach  Beendigung  des 
Krieges  hatte  sie  bereits  70  Prozent  ihrer  Kapazität 
wieder  erreicht.  Wie  das  goldene  Augsburg  einst  ei»ie 
schöne,  edle  Perle  im  Römischen  Reich  Deutscher 
Nation  gewesen  war,  so  war  die  Industriestadt  Augs- 
burg der  beste  Steuerzahler  der  schwäbischen  Breiten. 
MAN  („Maschinenfabrik  Augsburg-Nürnberg")  war 
das  Petschaft  für  Maschinen,  die  man  in  aller  Welt 
fand.  Aber  auch  diese  Namen  haben  Klang  landauf, 
landab:  „Mechanische  Baumwollspinnerei  und  -Webe- 
rei", „Augsburger  Kammgarnspinnerei",  „Nähfaden- 
fabrik Schürer",  „Riedinger-Bronce",  „Haindlsche 
Papierfabrik",  „Martini  &  Co.,  Bleicherei  und  Appre- 
tur", „Zahnräderfabrik  Renk".  In  den  Kontoren 
sieht  man  noch  die  Bilder  der  Ahnen  hängen,  mit 
rechnenden  Augen  und  kühlen  Zügen  um  die  Mund- 
partien. Aber  auch  die  hohen  plastischen  Stirnen, 
die  wohl  von  der  Weite  des  geistigen  Horizontes 
zeugen,  lassen  erkennen,  daß  das  Multiplizieren  und 
Addieren  nicht  nur  so  nebenher  betrieben  wurde, 
und  daß  die  Augsburger  Herren  genau  wußten,  wo- 
für sie  ihr  Geld  ausgaben. 

Spricht  man  mit  den  Augsburgern,  dann  hört  man 
wohl  mancherlei  Meinung.  „Meine  Herren",  sagte 
der  Oberbürgermeister,  „wir  Schwaben  lassen  uns 
nit  unterkriegen.  Schauen  Sie  sich  unsere  Trümmer- 
beseitigung an;  bitte,  sagen  Sie,  wo  ischt  mehr  auf- 
geräumt als  in  Augsburg?  Augsburg  hat  seinen  be- 
wahrenden Geischt."  Der  Oberbürgermeister,  das 
müssen  wir  gestehen,  hat  recht  mit  der  Trümmer- 
beseitigung, er  hat  sehr  recht. 


Der  eingerüstete  Perlachturm 


Photo  Stadt.  Bauverwaltung 


,,Das  Augsburger  Theater",  sagte  der  Mann  von 
den  Brettern,  „muß  auf  Kassenerfolg  spielen,  da 
wir  vom  Staat,  wollte  sagen  von  den  Herren  in 
München,  keinerlei  Unterstützung  kriegen.  Die  Kunst 
ist  in  München  etabliert.  \i'ir  sind  isoliert.  Wir  sind 
Provinz  und  sollen  es  ewig  bleiben.  Unter  uns  ge- 
sagt: Die  Münchner  mögen  die  Schwaben  nicht. 
Augsburg  liegt  nur  eine  Stunde  von  München  ent- 
fernt.   Und  das  ist  sein  Malheur." 


67 


NORBERT    LIEB 


I>iz  ^unft  tüäl)ut  lang 


Seit  hundert  Jahren  erarbeitet  sidi  Augsburg  das 
tägliche  Brot  aus  seiner  Industrie.  Der  innere,  der 
alte  Kern  der  Stadt  aber  zeugt  von  anderer  Kraft: 
von  Kunst.  Soll  man  die  altdeutschen  Kunststätten 
nennen,  so  meldet  sich  neben  Nürnberg  und  Köln  so- 
gleich Augsburg  an.  Die  beiden  ersten  Orte  liegen 
in  romantischem  Schimmer,  und  Nürnberg  hat  dazu 
den  KLing  der  „Meistersinger".  Augsburgs  Kunst- 
ruhm dagegen  ist  kühler,  sachlicher. 
Wie  in  der  modernen  Industriestadt  Unternehmer- 
sinn und  Arbeiterfleiß  zusammenwirken,  so  entstand 
dm  einstigen  Augsburg  die  große,  jahrhundertelang 
bewährte  Kunsttätigkeit  aus  der  Begegnung  von 
Geist  und  Fleiß  der  Künstler  mit  lebendigem  Kunst- 
sinn der  Menschen  und  ihrer  Gemeinsdiaften.  Die 
einst  sprichwörtliche  „Augsburger  Pracht"  hat  ihren 
schönsten,  gültigsten  Beweis  im  Kunstgebild,  das 
allein  den  irdischen  Reichtum  der  vergangenen  „gol- 
denen Stadt"  noch  sichtbar  werden  läßt  und  ihn 
über  Luxus  und  Repräsentation  hinauf  zu  mensch- 
lichem Lebenswert  hebt,  so  daß  es  allem  Zweifel  und 
Widerspruch  zum  Trotz  doch  so  sein  mag,  daß  die 
Kunst  lang,  ja  von  allen  Mensdiendingen  am  läng- 
sten währt. 

Vom  späten  Mittelalter  bis  zum  Ausgang  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  war  Augsburg  wie  eine  ein- 
zige große  Künstlerwerkstatt.  Zu  manchen  Gezeiten 
beobachten  wir  eine  geradezu  unglaubliche  Rührig- 
keit. Und  diese  Künstlerstadt  hielt  im  Aufnehmen 
wie  im  Ausstrahlen  offene  und  wache  Beziehung 
zur  Welt. 

Der  Boden  des  dienstbar  vor  die  Bisciiofskirche  ge- 
'  breiteten  „Fronhofs"  birgt  inmitten  römisdier 
Mauerzüge  einen  ältesten  christlichen  Taufbrunnen; 
um  ihn  liegt  eine  frühe  Taufkirche,  die  weiter  zur 
Dompfarrkirche  wuchs  —  im  Schoß  der  Erde  dieser 
Stadt,  die  ihren  Namen  nach  dem  Römerkaiscr 
Augustus  führt,  ein  leibhaftiges  Geschichte  funda- 
mentaler Quaderwerke,  über  das  aus  den  herben, 
weit  gepaarten  Domtüren  alte  Glodcen  ihren  urzeit- 
lichen oder  zeitlosen  Schall  entsenden. 
Dann  geht  im  Aufstieg  des  Mittelalters,  im  elften 
Jahrhundert,  der  mit  Namen  unbekannte  Meister 
ans  Werk  jener  ehernen  Türflügel,  die  im  Schatten 
der  Domtürme  ihren  Platz  finden.  Aus  leeren,  aber 
allgültigen  Gründen  heben   sich   Figuren  und   Sirm- 


zeidien,  Glieder  eines  im  Geheimnis  von  Vorbild 
und  Erfüllung  ausgebreiteten  Gesamtbilds  mittel- 
alterlicher Weltanschauung.  In  puppenhafter  Gelen- 
kigkeit richtet  sidi  der  erste  Mensch  an  Gottes  Hand 
empor.  Zu  selten  des  Paradiesbaums  züngeln  die 
Schlangen.  Eine  langgewandete  Frau  schreitet  in 
tänzerisdier  Bewegung  dahin,  indem  sie  zwei  Hüh- 
nern Futter  streut  —  Vertreterin  der  Gottes  Wort 
über  die  Erde  spendenden  Kirdie  oder  Verkörperung 
der  Nächstenliebe,  im  Formleben  vielleicht  ent- 
sprossen oder  genährt  aus  dem  römisch-antiken 
Mutterboden  dieser  Stadt. 

Ein  J?Jirhundert  später,  um  1150,  setzt  ein  andrer, 
namenloser  Meister  in  die  schmalen  Hochfenster  des 
Dommittelschiffs  die  Glasbilder  einer  Propheten- 
reihe. Ein  Wunder  heute,  wie  lang  Kunst  währen 
kann!  Denn  die  Kunstgeschichte  verbucht  diese  ge- 
brechlichen Fenster  bei  den  ältesten  erhaltenen  figür- 
lichen Glasmalereien  der  Welt.  Fünf  Propheten 
stehen  einzeln  in  unbewegter  Ganzfigur,  doch  mit 
erregten  Händen  und  ziehenden  Schriftbändern,  ge- 
kleidet in  edelsteinhaftes  Rot  und  Grün  und  Gold, 
die  glühend  gestrengen  Vorausverkünder  des  Welt- 
erlösers. 

Zwei  Jahrhunderte  später,  um  1350,  ruft  man  zur 
Fortgestaltung  dieses  Doms  Mitglieder  der  berühm- 
ten schwäbischen  Baumeister-  und  Bildnersippe  der 
Parier,  die  im  Prager  Dom  ihren  Gipfel  erreichte. 
Zwischen  1340  und  1430  erhält  das  alte,  in  Begledt- 
hallen  und  Wölbung  gemeindebergend  ausgeformte 
Langhaus  ein  hohes,  helles  Ostchor  mit  Umgang 
und  Kapellenkranz.  Mächtig  fährt  seitdem  der  Dom 
als  wahres  Schiff  der  Kirche  durch  das  Meer  der 
Menschenhäuser,  drängt  die  seit  der  Römerzeit  ge- 
bahnte Straße  in  einem  Bogen  von  sich  und  die  Ka- 
pellen wie  Wellen  um  seinen  Bug.  Diese  Mutter- 
kirche umgeben  bald  mehr  und  mehr  große  und 
kleine  Kirchen,  die  in  ihrer  West-Ost-Richtung  das 
innere  Stadtgefüge  räumlich  und  die  äußere  Stadt- 
erscheinung fernbildhaft  gliedern.  Das  steile  östliche 
Domchor  aber  ist  ein  in  System  und  Technik  des 
hochgotischen  Stils  vergeistigtes  Himmelsgehäuse, 
sakrales  Sammelziel  des  Innenraums,  seliges  Märchen- 
bild auch,  wenn  durch  die  Fenster  Lichter  und  Musik 
der  Christmette  hinausch-ingen  in  die  weihnachtliche 
Stadt.    Die  Kunst  währt  lang,  am  schönsten  dann, 


68 


wenn  der  ursprüngliche  Sinn  sie  immer  noch  am 
Leben  hält. 

Als  im  mittleren  fünfzehnten  Jahrhundert  dann 
die  Bildkünste  die  Entdeckung  der  Welt  und  des 
Menschen  erfuhren,  da  konnte  dieser  europäische 
Vorgang  gerade  in  dem  mit  Handel  und  Wandel 
unternehmerischen  schwäbischen  Augsburg  besonders 
bereiten  Boden  finden.  Im  Münster  von  St.  Ulrich 
hängen  noch  zwei  ehemalige  Altartafoln  mit  Bilde.-n 
aus  der  Legende  des  heiligen  Augsburger  Bischofs 
und  Stadtpatrons  Ulrich,  gemalt  um  1455,  wohl 
zum  Halbjahrtausendgedächtnis  des  auf  dem  heißen 
Ledifeld  über  die  Ungarn  errungenen  Siegs.  Zum 
erstenmal  gewahren  wir  das  tiefe  Zeätniaß,  in  dem 
das  Dasein  dieser  Stadt  sich  vollzieht,  und  wie  die 
Perspektiven  einer  bewußt  erlebten  Geschichte  sich 
in  Kunstwerken  wie  in  Brennpunkten  sammeln. 
Zweimal  heben  von  links  her  die  Tafeln  mit  Traum- 
szenen an,  in  hellem  Tageslicht.  Wohl  immer  bleibt 
es,  wenn  Schwaben  träumen,  klarer  Tag.  Hier  aber 
ist  erstes,  echtes  und  unverbrauchtes  Erleben  einer 
Zeit,  für  die  der  Traum  Wirklichkeit  wird  und 
Wirklichkeit  doch  ein  Traum  bleibt,  den  nur  der 
Glaube  wagt.  St.  Afra,  ein  königliches  Mädchen, 
ergreift  den  schlummernden  Bischof  an  der  Hand, 
ihn  auf  das  Lechfeld  hinauszuführen,  dessen  Land- 
schaftsbild der  Meister  ungesäumt,  mit  ungebrochener 
Entdeckerfreude  faßt.  Die  anderen  Szenen  sind  ge- 
staltet mit  Figurenkompositionen  von  starkem  Um- 
riß, fülliger  Farbigkeit  und  mit  dramatisdien  Bin- 
dungen und  Distanzen.  In  einem  Wunderbegebnis 
tritt  uns  als  Gefolgsmann  ein  Jüngling  in  blauem 
Gewand  entgegen.  Weit  tut  sein  Blick  sich  auf  in 
Raum  und  Fülle  dieser  Welt,  staunend  heben  sich 
die  Hände,  betroffen  von  neuer  Erfahrung.  Dieser 
Jüngling  ist  zudem  auch  eine  wirklich  bestimmte 
Persönlichkeit:  der  etwa  zwanzigjährige  Martin 
Sdiongauer,  der  Kolmarer  Goldschmiedssohn.  Damit 
verrät  diese  Bildurkunde  von  St.  Ulrich  nichts  ande- 
res, als  daß  der  spätere  große  Meister  und  Lehrer 
und  international  geehrte  Repräsentant  deutsdier 
Spätgotik  auf  seiner  Gesellenwanderschaft  auch  in 
Augsburg,  der  Stadt  seines  Vaters,  eingekehrt  und 
den  Sinn  eines  (mit  Namen  uns  unbekannten)  Werk- 
stattherrn dort  so  sehr  beeindruckt  haben  muß,  daß 
dieser  seinen  gewiß  besten  Gehilfen  als  Bildnis  in 
sein  Malwerk  nahm.  Heimat  und  Welt  der  Augs- 
burger Kunst  begegnen  uns  ein  erstes  Mal  —  im 
Werk  der  Kunst,  die  lange  währt. 


Das  Mittelalter  neigt  sich.  1491  malt  ein  Augsburger 
Meister  (vielleidit  der  ältere  Ulrich  Apt)  an  die  von 


farbigem  Glasbildlicht  geheimnisvoll  überrieselte 
Innenmauer  des  südlichen  Domquerarms  das  riesige 
Wandbild  eines  Christophorus.  Als  es  bei  der  Er- 
neuerung des  Domraums  1934  unter  vielen  späteren 
Tünciiscliiditen  unerwartet,  erst  mit  dem  Haupte 
auftauchend,  zum  Vorschein  kam,  rührte  uns  ein 
Wunder  geschichtlichen  Lebens:  „Die  Kunst  wäJirt 
lang."  So  steht  er  seitdem  wieder  und  heute  noch 
vor  uns,  der  heilige  Gottesträger,  dem  alten  Glau- 
ben Nothelfer  gegen  jähen  Tod,  gemalt  zur  Zeit  der 
Entdeckung  Amerikas,  vorausbcladen  (wie  anders 
als  die  Fenster-Propheten!)  von  Gewissenslast  und 
Glaubensschicksal  der  nahenden  deutschen  Refor- 
mation. 

In  dieser  Abendzeit  des  Mittelalters  gewinnt  Augs- 
burg auch  eine  wahre  Baumeisterpersönlichkeit.  Es 
ist  Burkhard  Engelberg,  ein  Sohn  des  alemannischen 
Schwarzwaldlands,  ausgebildet  wohl  in  der  Straß- 
burger Münsterhütte.  In  ihm  zahlt  der  Oberrhein 
an  Augsburg  zurück,  was  eben  ihm  der  Augsburger 
Bürgerssohn  Martin  Schongauer  zugebracht.  Seit 
1477  errichtet  Burkhard  Engelberg  das  Langhaus 
von  St.  Ulrich  und  Afra.  Noch  einmal  wird,  in 
hochgemutem,  fast  hochmütigem  Rückgriff,  das  er- 
habene System  basilikaler  Kathedralgotik  aufgerich- 
tet. Zugleich  entwidielt  sich  dieser  Bau  zu  einer 
praktischen  Lehrstätte.  Aus  seiner  Hütte  von  St. 
Ulrich  konnte  Burkhard  Engelberg  eines  Tags  im 
Herbst  1493  nicht  weniger  als  117  Steinmetzgesellen 
mit  sich  an  den  Ulmer  Münsterbau  nehmen!  Auch 
sonst  ward  der  Augsburger  „Werkmeister"  Engel- 
berg weithin  berufen.  Als  er  1512  stirbt,  setzt  man 
ihm  neben  dem  Stadtportal  von  St.  Ulrich  einen 
Gedenkstein,  dessen  Inschrift  ihn  als  „vielkunst- 
reichen Architectoren"  und  „schadhafter  Gezarke 
(Bauwerke)  großen  Wiederbringer"  rühmt. 
Um  das  Jahr  1500,  da  das  Mittelalter  in  einem  kirch- 
hdien  „Gnadenjahr"  zu  Ende  geht,  bestellen  ein- 
zelne Nonnen  von  St.  Katharina,  Töchter  namhafter 
Augsburger  Patrizierfamilien,  in  offenkundigem 
Wetteifer  bei  den  besten  Malern  der  Stadt  für  ihr 
Kloster  die  sechs  berühmten  „Basilikatafeln".  Hans 
Holbein  d.  Ä.,  der  Sohn  eines  Augsburger  Gerbers, 
aus  Ulm  und  von  einer  niederländischen  Reise  nach 
Augsburg  zurückgekehrt,  malt  die  lyrische  Kompo- 
sition der  Marienbasilika,  das  verschlungene  Epos 
der  Geschichte  und  Legende  des  Hl.  Paulus.  Hans 
Burgkmair,  der  jungmännliche  Augsburger  Malers- 
sohn, gestaltet  die  zuständlich  prunkende  Feierlidi- 
keit  der  Petersbasilika  und  die  Bilderzählungen  der 
Basiliken  von  Hl.  Kreuz  und  vom  Lateran.  Da  brin- 
gen Augsburger  Malwerke  in  die  Klausur  eines 
Frauenklosters  die  frühchristliche  Kirchenwelt  Ita- 
Eens. 


69 


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Das  Holbein-Haus  lag  im  gedrängten,  kleinbürger- 
lichen Viertel  „Am  vorderen  Lech".  Dort  war  des 
Malers  Nachbar  und  Werkstattfreund,  seit  den 
Ulmer  Tagen  in  Zusammenarbeit  erprobt,  der  Bild- 
hauer Gregor  Erhard,  der  aus  Ulm,  vom  Werk  des 
Blaubeurer  Hochaltars  kommend,  ins  aussichts- 
reichere Augsburg  gezogen  war.  Gregor  Erhards 
Muttergottesfiguren  tragen  im  Antlitz  den  milden 
Adel  schwäbischen  Menschentums,  im  Faltenfall  jene 
schwingende  Großzügigkeit  schwäbischen  Formsinns, 
die  im  Großen,  unbewußt,  auch  die  Führung  der 
einzigartigen  Hauptstraße  Altaugsburgs  bestimmt 
und  beseelt. 

Ein  anderer  Ulmer  Landsmann  und  Familien- 
gefährte Gregor  Erhards  war  Adolf  Daucher,  der 
erste  Bildhauer  der  Augsburger  Renaissance.  Der 
herrlichen  Grabkapelle,  die  Jakob  Fugger  „der 
Reiche"  zwischen  1509  und  1518  seinen  Brüdern 
und  siich  als  eigenen  Westchor  an  St.  Anna  bauen 
und  kunstvoll  ausstatten  ließ,  gab  Adolf  Daucher 
in  der  „Fronlcichnams"-Gruppe  des  Altares  jenen 
Inhalt,  der  den  erlauchten  Raum  zu  einer  Herz- 
kammer Augsburger  Kunstwesens  madit. 
Noch  ein  Augsburger  Meister  jener  Zeit  hat  einen 
Namen  von  gutem  Klang:  der  Goldschmied  Jörg 
Seid.  Altehrwürdigen  Heiligtümern  seiner  Vater- 
stadt, dem  „Wunderbaren  Gut"  von  Hl.  Kreuz  und 
dem  Ulrichskreuz,  gestaltete  er  kostbare  Gehäuse, 
aus  deren  Pracht  die  Tiefen  gesdiichtlidier  Weihe 
glühen.  Auf  seine  alten  Tage  aber  zeichnete  dieser 
Goldschmied  eine  breite  Plangesamtansicht  Augs- 
burgs, die  1521  in  Holzschnitt  veröffentlicht  das 
treue  und  kunstverklärte  Bilddenkmal  dieser  Stadt 
darstellt,  die  auf  ihre  Vergangenheit  stolz,  ihrer 
Gegenwart  froh  und  ihrer  Zukunft  sicher  ist.  Ver- 
wandtes Wesen  wie  dieses  Stadtplanbild  verkörpe^-t 
die  gleichzeitig  vollendete  Fuggerei. 
Im  Sommer  151S  weilt  zum  letztenmal  ein  hoher, 
alter  Gönner  und  guter  Freund  der  Stadt  in  Augs- 
burgs Mauern:  Kaiser  Maximilian.  Damals  zeichnet 
ein  Nürnberger  Künstler  hier  den  Kopf  des  Impe- 
rators und  „letzten  Ritters"  und  schreibt  an  den 
Rand  des  Blattes:  „Das  ist  Kaiser  Maximilian,  den 
hab  ich  Albrecht  Dürer  zu  Augsburg  hoch  oben  auf 
der  Pfalz  in  seinem  kleinen  Stühle  kunterfeit,  da 
man  zählt  1518  am  Montag  nach  Johannis  Täu- 
fers." Was  Dürers  Hand  im  „kleinen  Stühle"  fest- 
hielt, war  große  Welt! 

Hinter  der  breiten  Schauseite  von  Jakob  Fuggers 
Wohnpalast  liegt  ein  versteckter  Hof.  Noch  haftet 
an  den  Wänden  ein  letzter  Glanz  der  Maximilians- 
zeit, an  den  schlanken  Säulenarkaden  ein  Nachklang 
leisen  Lautenspiels,  auf  den  Altanen  der  Wider- 
schein venezianischer  Sonne.    Nicht  Butzenscheiben- 


romantik  ist   die   Stimmung   A'taugsburger   Kunst, 
ihr  Dasein  und  Wert  ist  „von  Welt". 


Nach   1520  freilich   vergehen  die  guten  Zeiten  der 
Kunst.  Die  Holbein  sind  abgewandert.  Schaffcnslecr 

dämmert  im  Nachbarhaus  hinter  dem  Lechkanal  die 
Bildnerwerkstatt  Gregor  Erhards.  Ein  anderes 
Haus,  das  im  engen  Gassenabfall  des  „Mauerbergs" 
den  Ausblick  zum  Perlachturm  genießt,  bewohnt  der 
Maler  Hans  Burgkmair.  Seine  Bilder  erscheinen  uns 
als  echte  Kunstspiegelung  der  „goldenen  Stadt'. 
Venedig  war  das  Glück  seines  Lebens  gewesen.  Nach- 
dem Holbein  und  Ulrich  Apt  d.  Ä.  eben  die  Außen- 
seiten geschlossener  Bildaltäre  mit  ausgewogenen 
Kompositionen  der  Verkündigimg  bemalt  hatten  — 
Parallelen  zur  gleichgewichtigen  Architektonik  der 
gleichzeitigen  Dominikanerkirche,  zeigte  Burgkmair 
1518  auf  dem  Johannesaltar  den  Seher  der  Geheimen 
Offenbarung  in  einer  tropischen  Landschaft,  die  uns 
die  zeitgenössischen  Kolonialunternehmungen  der 
Welser  ins  Gedächtnis  bringt.  —  Ein  Jahr  später 
ließ  Burgkmair  auf  dem  von  den  Peutinger  besteil- 
ten Kreuzigungsaltar  außen  die  ritterlichen  Heiligen 
Sigismund  und  Georg  erscheinen.  Das  Innere  des 
Altars  zeigt  eine  Kreuzigung,  ohne  Greuel  und  ohne 
Gedräng,  nur  die  Hauptfiguren  repräsentativ  ver- 
gegenwärtigt, isoliert  in  ihrer  Bedeutsamkeit  und 
chorisch  verbunden  wie  die  gleichzeitige  Fronleidi- 
namsgruppe  der  Fuggerkapelle.  —  Zehn  Jahre 
später  malt  Hans  Burgkmair  für  die  bayerische 
Herzogsresidenz  in  München  die  „Schlacht  bei  Can- 
nae",  als  Bestandteil  eines  Serienauftrags,  der  das 
Gegenbeispiel  profan-humanistischer  Renaissance  zu 
den  drei  Jahrzehnte  älteren  „Basilikatafeln"  von  St. 
Katharina  ist.  Dies  Bild  verrät  die  Krisis  seiner  Zeit 
und  das  Verhängnis  des  alternden  Künstlers.  Wir 
sehen  es  auch  im  Konterfei,  das  im  gleichen  Jahr  ein 
getreuer  Schüler  von  seinem  Meister  und  dessen  Ehe- 
frau malte.  Aufrecht,  wiewohl  nicht  ohne  Mühe, 
hält  sich  der  56jährige  Hans  Burgkmair,  sprechend 
und  stok  wendet  er  die  mit  dem  Wappenring  ge- 
schmückte Hand  uns  zu.  Vor  der  Brust  des  Malers, 
wo  einst  die  Holbeinknaben  beim  Vater  ihren  Platz 
gehabt  hatten,  erscheint,  wohlgekleidet,  Hans  Burgk- 
mairs  Hausfrau,  die  den  märchenartigen  Namen 
Anna  Allerlayin  führt.  Aus  einem  keineswegs  schö- 
nen, von  offenem  Haar  umkräuselten  reifen  Frauen- 
antlitz suchen  uns  ihre  Blicke,  schärfer  und  un- 
ruhiger als  die  klaren  Maleraugen  des  Eheherrn.  Die 
kaum  verhohlene,  zuckende  Erregung  hat  ihre  Ur- 
sache: Der  von  der  Rechten  der  Frau  emporgehaltene 
zeremoniöse  Handspiegel  zeigt  im  kalten  Glas  zwai 
Totenschädel.    Am  Griff  des  Spiegels  steht:  „Hoff- 


Hans  Holbein  d.  A.  /  Kreuzabnahme 


71 


nung  der  Welt",  am  Spiegelrand:  „Erkenn  dich 
selbst!"  Über  dem  Kopf  des  Malers  lesen  wir: 
„Solche  Gestalt  unser  Beider  was,  im  Spiegel  aber 
nichts  denn  das",  und  oben  am  Rahmen  stöhnt  es 
auf:  „O  mors",  o  Tod!  So  setzt  dem  denkmalhaflcn 
Selbstbewußtsein  des  Renaissancemenschen  sich  die 
Angst  der  Vergänglichkeit  und  das  Gefühl  der  Eitel- 
keit alles  Irdischen  entgegen. 

Der  alte  hohe,  menschen-  und  gemeinschaflbildende 
Bereich  der  kirchlichen  Kunst  aber  zerfiel  zur  glei- 
chen Zeit  in  Glaiubenskampf  und  vielfacher  politi- 
scher Wirrnis  und  in  wütendem  Bildersturm.  Mit 
Karls  V.  Reichstagen  von  1530  und  1548  trin  Augs- 
burg in  die  Mitte  der  deutschen  und  europäischen 
Politik.  Zweimal  setzten  die  politisch-diplomatischen 
Geschehnisse  Augsburg  in  Beziehung  zur  Weltkunst- 
geschichte: 1548  und  1550/51  weilt  Tizian  in  der 
Stadt  am  Lech.  Hier  malt  der  große  Venezianer 
jenes  in  den  Ernst  der  Herrscherwürde  und  Schick- 
salsbürde gefaßte  Bildnis  Kaiser  Karls  V.,  auf  dem 
die  Bekrönimg  des  Lehnstuhls  mit  der  Zirbelnuß, 
dem  Wappenzeichen  Augsburgs,  uns  wieder  einmal 
die  Rolle  dieser  Stadt  in  der  Welt,  das  Herein- 
spielen der  Welt  in  diese  Stadt  bezeugt.  1559  sah 
der  Augsburger  Dom  die  offizielle  Reichstotenfeier 
Kaiser  Karls  V.,  in  dessen  Reich  die  Sonne  nicht 
unterging.  Nodi  sind  der  gestickte  Adlerschild,  dar 
Kronenhelm  und  das  Schwert  erhalten,  mit  denen 
des  toten  Herrschers  Bruder  und  Nachfolger  das 
Trauergerüst  schmücken  ließ,  Im  Glasschrein  eines 
deutschen  Stadtmuseums  verharrt  der  letzte,  düstre 
Abglanz  einer  Weltvergangenheit. 
Mit  verstärktem  Eifer  aber  wandte  Augsburg  nach 
den  Zeiten  der  Krise  seine  Kunstbegabung  an  reiche 
Dekoration  und  Kunsthandwerklidikeit.  Schon  1554 
hatte  Christoph  Amberger  wieder  dem  Dom  ein 
neues  Hochaltarbild  malen  dürfen.  Um  die  himm- 
lisdie  Schutzfrau  scharen  sich  die  alten  Augsburger 
Stadtheiligen  und  nochmals  trägt  ein  Antlitz  die 
Züge  Kaiser  Maximilians:  hohe,  geschichtsgesättigte, 
heilige  Heimatkunst.  1574  erhält  das  hinter  dem 
Rathaiis  verborgene  Normenkirchlein  von  Maria- 
Stern  seinen  zierlichen  Turm.  Zwanzig  Jahre  später 
steht  endlich  auch  ider  Turm  des  Ulrichsmünsters 
vollendet.  Seine  schwellend-gemessene,  grün  pati- 
nierte  Kuppel  wirkt  seitdem  als  Urbild  zahlloser 
barocker  Turmbekrönungen  Süddeut^chlands  in  die 
Ferne.  Im  Mai  des  nächsten  Jahres,  1595,  springen, 
erstmals  auf  dem  Mittelplatz  der  Stadt  die  Wasser 
des  Augustusbrunnens,  dessen  Erzfiguren  der  in  Ita- 
lien ausgebildete  Niederländer  Hubert  Gerhard  mo- 
dellierte. Beschlossen  im  Gedächtnis  der  löOOjährl- 
gen  Gründung  Augsburgs  durch  den  römischen  Kai- 
ser Augustus,  ward  dieser  Brunnen  zum  Kunstdenk- 


mal einer  lebendig  gefühlten  Geschichtlichkeit.  Zu 
Füßen  des  kaiserlichen  Stifters  verkörpern  die  Ge- 
stalten der  vier  Flüsse  auch  die  Landschaflskräfle 
der  Siedlung. 

Und  ungesäumt  gibt  auch  die  erneuerte  alte  Kirche 
kunstschaffend  ihr  Daseinszeugnis.  Was  hat  doch 
diese  lebendige  Stadt  für  tiefe  Zeitperspektiven!  Um 
1604,  das  dreizehnte  Jahrhundert  Jubiläum  des  Todes 
St.  Afras,  der  frühchristlichen  Blutzeugin  Augsburgs, 
wird  das  Chor  des  Ulriciismünsters  im  sakralen  Bild 
des  gotischen  Stils  ausgebaut.  Die  alte  Heilige  und 
St.  Ulrich,  nach  Kaiser  Augustus  der  zweite  Vater 
des  Vaterlands,  erhalten  zwei  Altäre,  und  ein  riesiger 
Hochaltar  vollendet  den  Akkord  zum  Dreiklang,  in 
dem  man  seit  den  Tagen  der  Spätgotik  zimi  ersten- 
mal wieder  die  Ehre  der  Altäre  und  in  ihr  den 
Triumph  verjüngter  Kirchlichkeit  erleben  darf,  die 
über  alten  Heiligengrüften  sich  aufwärts  hebt.  Vor 
dieses  Altärechor  stellt  man,  eine  Insel  In  der  spät- 
gotischen Vierung,  die  von  Gleichgewicht  und  Span- 
nung durchflossene  eherne  Freifigurengrupi>e  der 
Kreuzigung,  Hans  Reichles  frühbarocke  Antwort 
auf  Burgkmairs  Peutingersche  Kreuzigung.  In  das 
Langhaus  von  St.  Ulnich  baut  man  gleichzeitig  die 
Kanzel  und  eine  Orgel  mit  großen  Bilderflügeln, 
und  alle  diese  Werke  währen  im  alten  Raum  auch 
heute  noch. 

Solche  Zeit  ist  reif  zu  wahrer  Kunstkultur.  Ihr  An- 
liegen heißt  öffentliche  Architektonik,  die  baukünst- 
lerische Verkörperung  und  Repräsentation  der 
Reichsstadt  selbst,  ihrer  Macht,  Ihres  Reichtums  und 
Stolzes,  der  Vielfalt  und  Ordnung  ihres  Seins  und 
Wirkens.  Und  der  Gestalter  dieser  Aufgabe  wird 
Elias  Holl.  Er  entstammte  dem  Schwabenboden 
Augsburgs  selbst.  Nach  praktischer  und  solider 
Grundausbildung  unter  den  Augen  des  Vaters  er- 
fährt der  Jüngling  das  Erlebnis  einer  kurzen  Reise 
nach  Venedig.  Dem  Heimgekehrten  überträgt  ein 
verständiges  Stadtregiment  1602  das  Stadtwerk- 
meisteramt. Das  gesamte  Bauwesen  der  Reichsstadt 
bleibt  fast  drei  Jahrzehnte  lang  In  den  Händen 
eines  wahren  Meisters,  der  die  bescheidenste  wie  die 
ansehnlichste  Obliegenheit  in  gleicher  Gewissenhaf- 
tigkeit betreut.  Bei  Kunstfassaden  und  anderen  ge- 
hobenen Aufgaben  legen  Ihm  die  gebildeten  Herrn 
des  Bauamts  Entwurfzeichnungen  berühmter  Maler 
zur  Ausführung  vor.  Das  aber  tut  der  persönlichen 
Bedeutung  Elias 'Holls  keinen  .Abbruch,  seine  Tat 
ist  die  Verwirklichung,  er  bringt  die  vielerlei  Nutz- 
setzungen in  gehörige  und  bedeutsame  Form:  Zunfl- 
haus,  Befestigung,  Gießhaus,  Siegelhaus,  Metzg, 
Schule,  Wassertürme,  Mühlen,  Spital.  Mit  dem 
zuchtvollen  Bau  des  Gymnasiums  macht  Elias  Holl 
das  Gelände  zwischen  St.  Anna  und  der  alten  Stadt- 


72 


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*.     "'•2 


Lucai  Furtenagel  /  Bildnis  des  Hans  Burgkmair  und  seiner  Frau 


bibliothek  zur  stillen  Hofhaltung  eines  reichsstadt- 
bürgerlichen Humanismus  protestantischen  Gepräges. 
In  der  späten  Anlage  des  Heiligen-Geist-Spitals 
vollbringt  er  eine  Bauschöpfung  bürgerlichen  Wohl- 
fahrtssinns.  Das  Zeugnis  errichtet  er  als  Rüstkam- 
mer der  Reichsstadt;  die  wehrhafte  Stirn  des  Baues 
verlebendigt  sich  geradezu  dramatisch  in  Hans 
Reichles  eherner  Michaelsgruppe. 
Auf  .dem  Gipfel  seines  Lebens,  in  der  Mitte  seines 
Sdiaffens  und  seiner  Stadt  aber  steht  Elias  Holls 
selbständigste  Tat:  Rathaus  und  Perlachturm.  Eben 
hatte  Augsburg  mit  45  000  Einwohnern  seine  höchste 
Volkszahl  in  alter  Zeit  vor  1800  erreicht.  Die  um- 
fängliche, 1626  von  Wolfgang  Kilian  im  Kupfer- 
stich berauisgegebene  Planansicht  zeigt  die  ganze 
Stadt,  die  in  diesem  Rathaus  ihren  Schwerpunkt  hat. 
Dais  Fernbild  der  neu  in  Mauern  und  Tortürmen 
gefestigten  Stadt  hat  seitdem  in  der  Dreiergipfelung 
des  Doms  im  Norden,  des  Ulrichsmünsters  im  Süden 
und  der  istädcischen  Dominante  von  Rathaus  und 
Perlachturm  in  der  Mitte  jene  —  Gleichgewicht  und 
Spannung  wieder  in  eigener  Art  vereinende  — 
Rhythmik,  die  Hans  Burgkmairs  und  Hans  Reichles 
Kreuzigungskomposirionen  entspricht.  Im  Außenbau 
wie  im  Innern,  vom  Portal  bis  zum  „Goldenen 
Saal"  hinauf  und  bis  zu  der  über  diesem  noch  ein- 
gebauten Modellkammer  ist  dieses  Rathaus  ver- 
geistigtes Körperbild  eines  einzigartigen  Stadtstaats. 
Der  „Goldene  Saal"  und  die  „Fürstenzimmer" 
wollten  sidi  vom  Prunk  der  Staatsräume  des  Dogen- 
palastes zu  Venedig  nicht  überbieten  lassen. 
Schon  um  die  Michaelsgruppe  des  Zeughauses  woll- 
ten sidi  die  Wolken  des  Verhängnisses  ballen.  Ober 
das  kaum  vollendete  Rathaus  und  seine  „heroischen" 
Türme  brach  die  Katastrophe  des  Dreißigjährigen 
Kriegs.  In  Krieg  und  Pest  und  Hungersnot  stürzte 
jene  Kunsttätigkeit  zusammen,  die  eben  in  Malerei 
und  Plastik,  in  Bau-  und  Raumschmuck  am  Halt 
der  großen  Architektur  volltönend  sich  entwickelt 
hatte,  nicht  minder  audi  jene  vielfache,  virtuose 
Kunstgewerblichkeit,  die  gleichzeitig  mit  Elias  Holls 
stadtrepräsentativer  Architektur  in  der  Kleinwelt 
der  „Kunstschränke"  die  spielerische  Aufmerksam- 
keit verwöhnter  Liebhaber  zu  befriedigen  wußte. 
Auch  Elias  Holl  selbst  geriet  mit  persönlicher  Tragik 
in  die  religionspolitischen  Wschselfälle  der  Zeit. 
Nach  leeren  Altersjahrzehnten,  gleich  jener  Krise, 
die  einjahrhundert  vorher  die  Kunst  im  Bildersturm 
erfaßte,  ist  der  einst  rastlose  und  schaflensstarke 
Stadt  Werkmeister  1646  einsam  gestorben. 
Ist  Holls  Aufstieg  und  Werk,  sein  Glück  und  Un- 
glück eng  dem  Schicksal  seiner  Stadt  verflochten,  so 
führt  Leben  und  Schaffen  eines  anderen  zeitgenössi- 
sdien  Künstlers  uns  wieder  in  „die  Welt".  Georg 


Petel,  der  Sohn  eines  Bildliauers  und  Kunstschrei- 
ners der  meisterreichen  oberbayerischen  Landstadt 
Weilheim,  ist  während  langjähriger  Aufenthalte  in 
ItaUen  und  den  Niederlanden  zur  Höhe  seiner 
Kunst  gereift.  In  Antwerpen  und  Genua  hat  er  sich 
Rubens  und  van  Dyck  zu  Freunden  gewonnen. 
1625  ließ  Petel  sich  in  Augsburg  nieder.  Hier  haben 
wir  von  ihm  noch  das  Christkind  der  Barfüßer- 
kanzel, den  Christophorus  und  Salvator  von  St. 
Moritz,  den  Schmerzensmann  im  Dom:  Werke,  die 
mittelalterliche  Inhalte  mit  neuer,  barocker  Leben- 
digkeit gefühlt  und  gestaltet  zeigen.  Das  grausige 
Augsburger  Pestjahr  1633/34  hat  mit  vielen  anderen 
Meistern  auch  Georg  Petel  hinweggerafft.  In  warmer 
Nähe  aber  blieb  uns  noch  sein  Bildnis,  das  kein 
Geringerer  als  van  Dyck  zu  Genua  malte:  das  echte 
Porträt  eines  plastisch-bildphantastischen  Künstlers, 
eines  vom  Dasein  geneigten,  vcxm  Jenseits  erregten 
Barockmenschen. 


Bald  nach  dem  Friedensschluß  von  1648  gewann 
Augsburg,  vor  allem  durch  Zuzug  aus  den  umliegen- 
den kleineren  schwäbischen  Reichsstädten,  eine  Reihe 
tüchtiger  Maler,  die  als  originelle  Künstler,  selbst- 
bewußte Bürger  und  glaubensfeste  Protestanten  ihre 
Bildkunst  mit  echten  Kräften  nährten,  zu  denen 
auch  ein  neuer  Natursinn  gehört.  Der  bedeutsamste 
Maler  dieser  Gruppe  war  Johann  Heinrich  Schönfeld, 
der  aus  Biberach  gebürtig,  während  des  Krieges 
seine  Kunst  in  der  Fülle  des  italienischen  Barock 
entwickelt  hatte.  In  Augsburg  verschloß  sich  selbst 
der  katholische  Dom  ihm  nicht.  Umgekehrt  ergaben 
sich  hier  in  der  Folgezeit  auch  die  evangelischen 
Kirchen  willig  der  neuen  Bild-  und  Zierkunst  des 
Barock  und  Rokoko.  Die  „Parität",  die  Altaugs- 
burg nach  endlosem  Streit  schließlich  klugerweise 
zur  Grundlage  seiner  ganzen  städtischen  Verfassung 
machte,  hat  in  dieser  Liberalität  des  Kunstsinns  ihr 
Begleitspiel;  ihr  stadtbauliches  Denkmal  aber  in  den 
verbrüderten  Kirdienpaaren  von  Hl.  Kreuz  und 
St.  Ulrich. 

Aus  einziger  Freudigkeit  und  unvergleichlichem 
Wetteifer  aller  fördernden  und  schaflFenden  Kräfte 
entsteht  dann  die  letzte,  schönste  Kunstepoche  dieser 
Stadt:  das  achtzehnte  Jahrhundert,  das  im  Zeitraum 
von  1730  bis  1760  gipfelt.  Neu  leuchtet  die  Schau- 
seite des  Gasthauses  zu  den  „Drei  Mohren".  Han- 
delsherren, vom  Glück  für  Scharfsinn  und  Tatkraft: 
ihres  Unternehmens  belohnt,  errichten  sidi  ihre 
Häuser:  mit  geschnitzten  Portalen,  bunten  und 
stuckumschnörkelten  Fassaden,  geschweiften  Dächern, 
kühlen  Treppenhäusern,  über  denen  wieder  sidi 
Fresken  breiten,  imit  Darstellungen  vom  erdteilver- 


74 


knüpfenden  Segen  des  Handels,  vom  Bündnis 
zwischen  Handelschaft  und  Künsten. 
Technik  und  schöne  Kunst  sind  seit  den  Tagen 
Burkhard  Engelbergs  und  Elias  Holls  und  seit  der 
Einrichtung  der  Modellkammer  über  dem  „goldenen" 
Rathaussaal  einander  verschwistert.  Im  Barock  und 
Rokoko  verbinden  sich  beide  Partner  in  der  einzig- 
artigen Gruppe  der  Wassertürme  zwischen  Spital 
und  Rotem  Tor,  wo  in  der  Bucht  der  Wallhöhe 
auch  der  Stadtbrunnmeister  seine  idyllische  Dienst- 
hausung  erhält.  Als  enger  Bund  von  Kunst,  Technik 
und  Handel  kann  die  ganze  Kunsttätigkeit  des  da- 
maligen Augsburg  am  ehesten  erklärt  werden.  Maler 
in  Fresko  und  Ölbild,  Stukkaturen,  Bildhauer,  Gra- 
phiker, Goldschmiede  und  weiter  Kunsthandwerker 
aller  Fächer  —  eine  kaum  auszählbare  Schar,  der 
man  bis  in  weiteste  Ferne  begegnet.  Diese  Über- 
schwenglichen waren  zugleich  nüchterne  Kalkulierer. 
Zumal  Augsburgs  Graphiker  rechnen  mit  dem  euro- 
päischen Markt  und  nutzen  ihn,  fast  merkantilistisch. 
Eine  reichsstädtische  Kunstakademie  lockt  aufstre- 
bende Kräfte  aller  deutschen  Stämme  und  auch 
mandi  fremder  Nation,  bildet  sie,  entläßt  sie  in 
andere  Metropole  oder  behält  die  Tüchtigen  in 
Augsburgs  Mauern.  Auch  namhafte  Wanderkünstler 
madien  gern  hier  halt. 

In  die  Mitte  dieses  Künstlervolks  tritt  auch  das 
Genie  der  deutschen  Rokokomalerei:  Johann  Evan- 
gelist Holzer.  1730  kam  der  einundzwanzigjährige 
Tiroler  hierher.  Bergmüller  nahm  ihn  in'  seine  Ob- 
hut. Schon  ein  Jahr  später  darf  Holzer  für  die 
Kirche  der  Dominikaner  ein  Altarbild  der  Verkündi- 
gung an  Joachim  malen,  das  vergeistigte  spätbarocke 
Gegenstück  zum  spröden  altdeutschen  Werk  Hans 
Holbeins  des  Älteren  auf  dem  Altarflügel  im  Augs- 
burger Dom.  Für  einen  Altar  der  Stiftskirche  zu 
Dießen  am  Ammersee  malt  Holzer  St.  Michael,  in 
Frische  und  Schwermut  das  jugendliche  Gegenstück 
des  feuerstürmischen  Erzengels  der  Zeughausfront. 
Augsburger  Bürger  lassen  ihre  Hausfassaden  be- 
malen, in  jener  allgemeinen  Kunstfreude,  die  damals 
ganze  Straßenzüge  und  Platzfolgen  mit  öffentlichen 
Bilderfluchten  begleitet.  So  setzt  Holzer  an  Haus- 
wände alttestamentliche  Szenen,  fromme  Andachts- 
bilder und  kirchliche  Apotheosen.  Dem  Gasthaus  zu 
den  „Drei  Kronen"  gibt  er  das  Bild  eines  Gelages 
der  sieben  olympischen  Götter.  Ein  anderes  Wirts- 
haus dekoriert  er  mit  dem  Schaubild  eines  „Bauern- 
tanzes".  —  Mit  besonderem  Eifer  nimmt  Holzer  die 
Aufträge  seines  besten  Augsburger  Gönners,  des 
Graphikers  und  Kunstverlegers  Johann  Andreas 
Pfeffel  an.  Sein  Haus  erhält  von  Holzer  eine  male- 
rische Schauseite.  Das  eine  Haaptbild  zeigt  die 
brüderliche  Liebe  in  der  antiken  Sage  von  Kastor 


und  Pollux.  So  hat  die  Verklärung  diristlichcr  Mär- 
tyrer ein  weltmythisches  Gegenstück.  Das  zweite  Bild 
der  Pfeffelschen  Hausfassade  'st  eine  Allegorie,  wie 
die  wahre  Kunst  mit  Hilfe  der  Zeit  über  Haß  und 
Unverstand  ihrer  Umwelt  den  Sieg  erringt,  in 
sinnenseliger  und  unendlichkeitstrunkener  Himmel- 
fahrt. Dabei  steht  das  Motto:  daß  schließlich  jeder 
Dornstrauch  Rosen  trage,  mit  Hilfe  der  Zeit. 
Doch  dieser  Optimismus,  so  sehr  er  genau  ein  Jahr- 
hundert nach  dem  Abgrund  des  Dreißigjährigen 
Krieges  echter  Zeitzug  damaligen  Lebensgefühls  sein 
mag,  ist  von  Melancholie  nicht  frei.  Bald  nachher 
nialt  Holzer  im  Gartengut  Pfeffels  an  die  Decke 
eines  lieblich  ovalen  Pavillons  den  Wechselreigen 
der  zwölf  Monate,  die  ihre  Vergänglichkeit  im  Tanz 
vergessend  den  Kreis  des  Jahres  und  des  Lebens 
runden,  im  Pfeifentone  einer  Melodie,  die  das  Thema 
umspielt:  „Alles  hat  seine  Zeit."  Als  Holzer  in 
der  mainfränkischen  Klosterkirche  von  Münster- 
schwarzach sein  größtes  Werk  gemalt,  in  der  kosmi- 
schen Glorie  des  Kuppelbildes  dort  das  Höchstziel 
alles  kirchlichen  Spätbarock  auf  Erden  erreicht  hat, 
stirbt  er,  kaum  einunddreißig  Jahre  alt.  Das  Genie 
scheint  den  Menschenleib  verbrannt,  ein  einzelner 
Künstler  sich  dem  Phönixwunder  des  deutsdien 
Rokoko  geopfert  zu  haben.  Zum  fünfundzwanzig- 
jährigen Todesgedächtnis  hat  ein  Augsburger  Künst- 
ler, Johann  Esaias  Nilson,  in  schönster  Liberalität 
und  Kunstgenossenschaft  die  Werke  Holzers  in 
Kupferstichen  veröffentlicht  und  dem  Titelblatt  das 
Motto  gegeben,  daß  das  Leben  kurz  sei,  die  Kunst 
aber  lange  währe. 

Auch  diesen  Künstleroptimismus  des  letzten  Roko- 
ko sollte  „die  Zeit"  mit  bitterer  Ironie  strafen. 
Längst  erleben  wir  Holzers  Kunst  am  alten  Platz 
nur  noch  in  einigen  Altarbildern,  in  den  Fresken 
der  Eichstätter  Sommerresidenz  und  der  Wallfahrt 
St.  Anton  über  Partenkirchen.  Die  anderen  Werke 
sind  verschollen,  zerstreut,  in  Galerien,  Museen  und 
in  den  Kästen  graphischer  Sammlungen  verborgen. 
Die  Freiluft-Bildwelt  der  Augsburger  Hausfassaden 
hat  längst  das  Wetter  zerstört,  und  Balthasar  Neu- 
manns Kirche  von  Münsterschwarzach  hat  gar  samt 
Holzers  Malereien  die  Barbarei  des  aufgeklärten 
vorigen  Jahrhunderts  weggerissen. 
Uns  vollends  hat  die  Zeit  keine  Rosen  gebrach:. 
Zerstörung  ist  auch  über  diese  Kunst-  und  Künstler- 
stadt gefallen,  und  wenn  wir  heute  vom  Perlach- 
turm  oder  aus  dem  leergebrannten  Geviert  des  einst- 
mals „goldenen"  Saals  über  das  alte  Augsburg 
schauen,  erblicken  wir  in  Frau  Burgkmairs  Spiegel 
nichts  denn  Trümmer,  und  in  den  Sinn  kommt  uns 
das  Bibelwort:  „Du  Menschenkind,  meinst  du,  daß 
diese  Gebeine  wieder  lebendig  werden?" 


75 


ARTHUR    MAXIMILIAN    MILLER 


Dec  gco^e  Cbtiftoph 


Augsburg,  den  23.  August  1939. 

Mein  lieber  Max!  Ich  glaube  jerzt  wie  Du,  daß  der- 
Krieg  sich  nicht  mehr  abwenden  läßt  —  er  wird 
hervorbrechen  wie  ein  Raubtier,  das  auf  seine  Stunde 
gewartet  hat,  und  man  hat  das  Raubtier  lange  genug 
gelockt.  Aber  gerade  deshalb  hätten  wir  uns  in 
Ulm  nicht  trennen  sollen.  Du  hätttst  mit  mir  die 
Fahrt  nach  Augsburg  machen  sollen,  um  noch  einmal 
alles  au  sehen,  Augsburg  ist  doch  unser  Herz,  und 
auf  dieses  Herz  wird  früher  oder  später  der  Angriff 
erfolgen,  der  Angriff  aus  der  Luft,  und  dann  wird 
es  nicht  zu  retten  sein.    Ich  fürchte  es,  ich  fürchte  es 

—  und  wie  könnte  man  anders,  als  es  fürchten? 
Dieser  schöne,  geliebte  Leib  wird  einmal  zerrissen 
vor  uns  liegen,  vielleicht  schon  in  wenigen  Wochen. 
Es  ist  Abend,  ich  sitze  im  Bayerischen  Hof,  ganz 
trunken,  ganz  schwer  und  müde  von  Glück  und 
Kummer.  Ein  zauberhafter  Abend  verlischt  über 
der  zauberhaften  Stadt,  die  so  voll  Süden  ist  und 
so  voll  Schwaben:  Idi  bin  glücklich,  daß  das  so  ist, 
daß  CS  dieses  Augsburg  gibt  —  und  hat  es  einm.il 
Augsburg  gegeben,  wahrhaft  gegeben,  dann  für  im- 
mer. Dieser  Gedanke  durchglüht  mich  heute.  Aber 
es  ist  auch  ein  großer  Schmerz  und  Kummer,  zu 
wissen,  daß  dies  alles  dahin  geht.  Im  Grunde  ist  es 
nicht  zu  fassen.  Was  kann  denn  außer  dem  Perlach 
noch  an  dieser  Stelle  sein,  außer  dem  Dom,  außer 
der  Maximilianstraße,  außer  St.  Ulrich!  Können  die 
köstlichen  Brunnen  je  aufhören  zu  springen?  Hier 
hat  eine  Götterhand  die  schwäbische  Erde  berührt 
und  ihr  ein  einzigartiges  Gebilde  entsprießen  lassen 

—  kann  jemand  Vollmacht  haben,  dies  zu  zerstören? 
Ich  will  es  nicht  länger  denken  . 

Ich  bin  wieder  den  alten  Wagenweg  gegangen  vom 
Fischertor  herauf  zum  Dom  mit  dem  unvergleich- 
lichen Blick  auf  den  Hochchor,  der  wie  ein  Gebet 
aiufsteigt  in  seiner  Schlankheit,  seiner  Abgewandt- 
heit,  seiner  Geistlidikeit,  dann  die  schmale  Schlucht 
der  Karolinenstraße,  endigend  mit  dem  berückenden 
Bild  des  Perlach:  der  südlich  lächelnde  Turm,  die 
heitere,  feierliche  Schönheit  der  Rathausfassade,  dies 
alles  verklärt  vom  reinsten  Abendlicht,  dann  St. 
Moritz,  wie  es  sich  in  die  Straßenöffnung  schiebt, 
und  endlich  die  saalweite  Flucht  der  Maximilian- 
straße mit  dem  Münster  von  Sankt  Ulrich!  Dir  sind 


diese  Bilder  alle  vertraut,  ich  brauche  sie  Dir  nicht 
zu  beschreiben;  aber  sie  sind  noch  niemals  von 
einem  solchen  schmelzenden  Licht,  von  einem  solchen 
himmlischen  Äther  umflossen  gewesen  wie  heute,  so, 
als  müßten  sie  jetzt  ihre  Vollendung  finden  und 
dann  mit  dem  niedersinkenden  Dunkel  für  immer 
vergehen,  weil  es  über  dies  hinaus  nichts  mehr  geben 
kann.  Und  dies  alles  fiel  in  meine  glück-  und 
schmerzdurchtränkte  Seele,  die  von  dem  nahenden 
Schicksal  ganz  erschüttert  ist. 

Dann  bin  ich  noch  im  Dom  gewesen.  Und  da  war 
es  vor  allem  der  große  Christoph,  der  mich  lange 
Zeit  gebannt  gehalten  hat.  Ein  rätselhaftes  Bild! 
Weißt  Du  noch,  wie  wir  1928  bei  der  Tante  in 
Augsburg  waren  und  kreuz  und  quer  durch  die 
Stadt  streiften,  um  ihre  Verborgenheiten  zu  ent- 
decken? Und  wie  wir  in  die  Gassen  an  den  Lech- 
kanälen  kamen,  wo  die  mittelalterlichen  Hand- 
werkerquartiere gewesen  sind,  und  dann  die  Szene 
mit  dem  Kind  erlebten?  Es  mußte  ein  Pfännlein  aus 
einer  der  finsteren  Küchen  entwendet  haben  und 
war  damit  auf  die  Gasse  gelaufen,  die  Mutter  hinter 
ihm  drein,  um  es  ihm  wieder  abzunehmen.  Aber  sie 
konnte  den  blondzöpfigen  Wildfang  nicht  erhaschen, 
hob  drohend  den  Finger  auf  und  rief  ihm  zu:  Wart, 
wart,  der  große  Christoph  kommt  und  holt  dich! 
Ich  fragte  das  Weib,  wer  der  große  Christoph  sei; 
aber  sie  wußte  es  nicht.  Man  sagt  halt  zu  den  Kin- 
dern so,  wenn  sie  nicht  folgen,  erwiderte  sie  lächelnd. 
Und  was  tut  er  dann  den  Kindern?  fragte  ich.  Er 
trägt  sie  auf  den  Schultern  fort  und  wirft  sie  in  den 
Lech. 

Wir  rätselten  damals,  wer  der  große  Christoph  sei, 
etwa  eine  Abwandlung  des  Klausen  oder  des  Klaub- 
auf, vermummt  in  die  Gestalt  des  starken  Bayern- 
herzogs Christoph?  Bayern  war  ja  immer  Augsburgs 
Feind  gewesen. 

Als  ich  dann  nach  der  großen  Restaurierung  des 
Domes  1925  in  den  „neuen  Dom"  kam,  der  eigent- 
lich der  wiederhergestellte  alte  war  —  als  ich,  durch 
die  Pforte  des  südlichen  Querschiffarmes  eintretend, 
plötzlich  über  mir  den  riesigen,  geisterhaften  Mann 
sah,  der  bis  ins  Gewölbe  hinaufreichte,  da  wußte 
ich,  wer  der  große  Christoph  sei,  und  erstaunte  zu- 
gleich darüber,  daß  sich  im  Volke  eine  Erinnerung 
an  ihn  erhalten  hatte,  der  doch  Jahrhunderte  unter 


76 


Der  Dom 


Photo  U.  Fuchs 


dem  gelben  Bartucli  der  Übertündiung  geruht  hatte. 
Und,  ganz  seltsam  ergriffen  von  dem  plötzlichen 
Wiedererscheinen  des  ungeheuerlichen  Riesen,  fragte 
ich  mich,  welchen  Sinn  dies  habe,  daß  er  gerade  jetzt 
sich  wieder  zeigte.  Ich  wußte  damals  schon,  welche 
Stunde  geschlagen  hatte  und  daß  einer  kommen 
mußte,  um  zu  sprechen  und  zu  rufen:  Wo  geht  ihr 
hin?  Wißt  ihr,  wohin  ihr  geht? 
Heute  nachmittag  bin  ich  wieder  beim  großen  Chri- 
stoph gewesen.  Und  heute  war  mir  seine  Gestalt 
noch  riesiger  und  ungeheuerlicher.  Zunächst,  wenn 
man  eintritt,  vermag  man  ihn  ja  gar  nicht  mit  dem 
Blick  zu  fassen,  man  muß  durch  das  Querhausgitter 
ins  Langhaus  hinaustreten,  um  Abstand  von  ihm  zu 
gewinnen,  und  wie  man  nun  so  steht  und  steht  und 
sich  ihm  hingibt,  so  wird  er  einem  immer  geister- 
hafter, wie  aus  der  Wand  getreten  kommt  er  einem 
vor,  und  man  möchte  ihm  ins  Innere  des  Gottes- 
hauses hinein  entweichen.  Dann  aber,  wenn  man  bis 
zur  Kanzelhöhe  vorwärtsgegangen  ist,  taucht  das 
riesige  Haupt  von  seitwärts  wieder  hinter  dem  Rah- 
men der  Gewölbegürtung  hervor,  als  spähte  es 
einem  nach  und  ließe  einen  nicht  los.  Und  so  mußte 
ich  wieder  zu  ihm  zurückkehren. 
Ich  denke.  Du  hast  ihn  noch  vor  Dir:  in  der  Däm- 
merung des  Querschiffes  ragt  er  auf  wie  ein  unge- 
heurer, aber  zarter,  mit  schwadien  Farben  getönter 
Schatten,  und  dies  ist  etwas  von  dem  Unbegreif- 
lichen, an  dem  ich  rätsele,  wie  man  mit  solchen  zarten 
Mitteln  etwas  so  Monumentales  schaffen,  eine  so  un- 
geheure Wandfläche  wirksam  bedecken  konnte.  Aber 
gerade  dadurch  wird  seine  Größe  geisterhaft  und 
unbestimmbar. 

Gesicht,  Gewand  und  Glieder  sind  ganz  flächig  emp- 
funden; aber  er  bleibt  nicht  in  der  Fläche,  er  scheint 
sich  von  ihr  loszulösen  und  vor  ihr  her  zu  schweben. 
Du  kennst  sein  stummes,  graues  Haupt,  die  mäch- 
tige Gestalt,  bekleidet  mit  dem  zart  graublauen 
Untergewand  und  umhüllt  vom  Rot  des  faltigen 
Mantels  —  die  beiden  mystischen  Farben  der  Seele! 
In  beiden  Händen  hält  er  einen  Baum  als  Stab,  aus 
dessen  Zweigen  grüne  Blätter  brechen.  (,,Und  ich 
war   tot,   und   siehe,   ich   lebe  .  .  .").    Mit   seltsamer 


Eindringlichkeit  durchschneidet  der  gerade  Schaft:  die 
Figur  und  das  hohe  Feld  der  Querwand  und  teilt  sie 
in  zwei  Teile. 

Das  eigentlich  Bannende  aber  ist  das  Antlitz.  Hoch, 
hager,  verlassen  vom  Strome  des  Lebens,  einem 
grauen  Felsen  ähnlich,  die  Nase  schmal,  die  Züge 
streng  und  fahl,  die  Wangen  eingebrochen  und  um- 
rahmt vom  weichen  Dämmergrau  des  Bartes.  Unter 
den  Brauen  aber  stehen  Geisteraugen,  deren  stiller 
unausweichlicher  Blick,  bar  allen  Wahnes,  durch  den 
Schleier  der  Sinnendinge  dringt.  Dieser  Mann  weiß 
alles.  Für  ihn  ist  keine  Täuschung  mehr.  Was  wir 
Hoffnung  nennen,  Hoffnung  auf  bessere  Zeiten,  auf 
glückliche  Wendungen,  auf  Ziele  und  Erreichnisse 
des  Menschen,  die  das  Unheil  bannen,  die  Not  wen- 
den könnten,  ist  in  ihm  erloschen.  Er  weiß,  daß 
hinter  solchen  Hoffnungen  keine  Wahrheit  steht.  Er 
weiß,  daß  über  die  Erde,  über  Kultur  und  Zivili- 
sation das  Zeichen  des  Unterganges  geschrieben  ist. 
Gradaus  in  eine  ferne  Leere  geht  dief^er  Blick  —  die 
Menschheit  in  ihrem  Greisenzustand,  in  sich  selbst 
versteinend,  aus  erstarrter  Höhle  mit  dem  Lichte 
ihrer  Augen  scheinend,  die  da  sagen,  daß  das  Ende 
nahe  ist.  Das  ganze  Weltgericht  ersdieint  in  diesem 
Antlitz. 

Mich  hat  es  nie  so  wie  heute  erschüttert.  Was  war 
es  nun  mit  meinem  Satze:  Augsburg  ist,  und  weil  es 
wahrhaft  ist,  darum  wird  es  auch  bleiben?  Dieser 
Christoph  ist  am  Ausgang  des  Mittelalters  gemalt 
worden,  hingehaucht  an  diese  Wand  mit  den  letzten 
sterbenden  Atemzügen  der  Gotik,  die  sich  in  diesem 
Greisengesicht  einen  ergreifenden  Ausdruck  geschaf- 
fen hat,  einen  Ausdruck  des  Wissens,  daß  ihr  Ende 
gekommen  ist.  Wurde  nicht  um  dieselbe  Zeit  das 
Bildnis  Burgkmairs  und  seiner  Frau  gemalt,  wo  ihnen, 
da  sie  in  den  Spiegel  blicken,  zwei  Totenköpfe  ent- 
gegengrinsen? Und  hat  nicht  eben  in  dieser  Zeit 
Albrecht  Dürer  seine  Apokalypse  gezeichnet? 
Aber  der  dürre  Baum  schlägt  doch  mit  grünen  Blät- 
tern aus!  Und  der  Riese  trägt  auf  seinem  Rücken 
ein  Kind.  Zuhöchst  im  Bogen  des  Gewölbes  oben 
erscheint  das  liebliche  Köpfchen  eines  Knaben,  der 
diesen  zwölf  Ellen  hohen  Mann  unter  das  Wasser 


Frühchristlicher  Taiifbrunnen  und  frühmittelalterliche  Taufkirche 


Photo  Stadt.  Kunstsammlungen 


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Der  Hl.  Christophoms  aus  dem  Dom 


Photo  Stadt.  Kunstsammlungen 


drücken,  in  den  Tod  hinabdrücken  und  in  dieser 
Taufe  neu  beleben  wird.  Der  den  ganzen  Kosmos 
durch  den  Tod  ins  Nichts  hinunterbeugen  und  dann 
im  Innern  neu  erwecken  wird.  Dieses  Kinderhaupt 
ist,  seltsam  und  wunderbar  genug,  mit  schwarzen 
Strahlen  umgeben,  gerade  als  wäre  die  Finsternis 
sein  Licht  und  als  strahle  er  vom  Glanz  des  Todes. 
Idi  sah  dies  alles  an.  Es  war  nur  hingehaucht,  es 
war  das  letzte,  verhallende  Wort  einer  Zeit,  die  sidi 
zum  Sterben  niederlegt.  Aber  dieses  hingehauchte, 
verhallende  Wort,  das  bald  nicht  mehr  gehört 
wurde,  über  das  sich  dann  die  Tündie  wie  ein  gelbes 
Bartuch  breitete,  ist  nicht  erloschen.  Es  ist  im  Tode 
gegenwärtig  geblieben.  Es  schien  untilgbar,  man 
mochte  Schicht  um  Schicht  darüberlegen,  es  durch- 
setzte alle  Schichten  und  schwebte  plötzlich  wieder 
im  Lichte  vor  unsern  Augen  her. 


Nun  glaubte  ich  den  Sinn  dieses  Vorgangs  zu  ver- 
stehen. Wie  die  Augen  dieses  Riesen  sind  mir  heute 
weit  und  geisterhaft  die  Augen  aufgetan.  Ihr  Blick 
durchschneidet  allen  Wahn.  Wir  können  uns  nidit 
beschwichtigen  und  sagen:  Die  Vernichtung  wird 
nicht  kommen.  O  nein!  Der  Baum  wird  abgehauen, 
er  ist  schon  abgehauen  und  verdorrt.  Aber,  so  sagt 
der  große  Christoph:  auch  aus  einem  dürren  Baume 
können  Blätter  sprießen.  Auf  den  Schultern  eines 
todgeweihten  Greises  kann  ein  Kind  erscheinen,  ein 
ewiges,  göttliches,  himmlisches  Kind.  Und  um  sein 
Haupt  wird  dann  selbst  die  Nacht  des  Unterganges 
in  Strahlen  leuchten. 

Ganz  leise,  nur  wie  hingehaucht,  werden  uns  diese 
ungeheuren  Worte  gesagt.  Was  sollen  wir  mit  ihnen 
anfangen?  Es  gibt  nur  zwei  Wege:  Entweder  ver- 
zweifeln oder  an  das  Unglaubbire  glauben. 


79 


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P  ETE  R    DÖRFLER 


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Die  nachstehende  Crzählimg  fiilli  ein  Kapitel  in  dem  noch  unveröffentlichten  Rom.in  .Der  Urmeier",  mit  dem  der  am  dem  Allgäu 
stammende  und  Augsburg  eng  -verbundene  Dichter  abermals  seine  hohe  Aleistersdiafl  auf  dem  Gebiete  des  historischen  Romans  beweist. 
Das  CesAehen  spielt  im  achten  Jahrhundert  unter  Karl  Martelt,  Karlmann  und  Pippin.  Es  geht  dabei  um  die  Gestalt-werdung  des 
Abendlandes,  -wie  sie  sich  um  diese  Zeit  in  vielsdiidnigen  Prozessen  religiöser,  politischer  und  sozialer  Natur  vorbereitet. 
Der  Dorf-  oder  Urmeier  entwächst  einer  Familiendynastie  der  Dorfsdiafl.  Seine  Würde  -vererbt  sich  vom  Vater  auf  den  Sohn.  Für 
das  Verständnis  der  Handlung  ist  vorauszusetzen,  daß  die  Todner  des  Meiers  Ccrmar  von  Bidingen  im  Allgäu  den  jungen  Adaini, 
einen  Unfreien,  hebt.  Kletus,  ein  reid)er  Kaufmannssohn  aus  Augsburg,  hat  um  sie  geworben.  Er  wurde,  obwohl  der  Händler  damals 
noch  als  „unehrlid)"  galt,  nicht  ohne  weiteres  abgewiesen,  da  Germar  mit  seiner  Mutter  Sulvana,  einer  Wa  chin,  früher  sehr  befreundet 
-war.  Nun  wird  auch  Bidingen  von  der  furditbaren  europäischen  Hungersnot  des  Jahres  764  heimgesudu,  und  aus  Verant-wortung  für 
seine  Mark  fiihlt  sidi  der  Meier  Germar  verpflichtet,  die  Werbung  des  jungen  Kletus  anzunehmen,  um  durch  die  Aug.'burger  Kaufherren 
das  rettende  Korn  zu  erhalten. 


JC/S  wurde  März,  die  Kälte  ließ  nach,  die  Sonne 
stand  tagelang  als  freundliche  aber  leere  Trösterin 
am  Himmel.  Sie  brachte  die  Hasel  zum  Stäuben. 
Aber  die  Schneedecke  rührte  siich  nicht.  Ein  un- 
barmherziger Ost  —  der  Baiuwarwind  —  blies  sie 
Tag  und  Nadit  an.  Aber  man  konnte  jetzt  wenij^- 
stens  die  Wölfe  verjagen,  so  daß  sie  die  Gehöfte 
mieden.  Diese  hatten  nun  freilich  am  Rotwild  und 
an  den  Sauen  Nahrung  genug,  die  fast  alle,  ge- 
schwächt und  krank,  den  in  Rudeln  jagenden  Räu- 
bern zum  Opfer  fielen.  Die  Männer  gingen  nun, 
wenn  einer  nicht  siech  und  in  W.unden  und  Ge- 
schwüren daheim  lag,  aus,  um  Fallen  zu  stellen  und 
noch  Pelze  zu  erbeuten,  ehe  sie  wieder  wertlos  wür- 
den. Wie  ein  gemästetes  Untier  blieb  der  Winter  in 
den  April  hinein  liegen,  wie  ein  ungeheurer  weißer 
Drache  gleißte  das  Gebirge  fern  im  Süden  hinge- 
streckt unter  dem  blauen,  stahlharten  Himmel  und 
ließ  sich  die  silberne  Haut  sonnen.  Erst  ganz  all- 
mählidi,  als  schon  die  Osterglocken  klangen,  zeigte 
sich  jener  bläuliche  Dunst  über  den  Euchenwipfeln, 
der  das  Schwellen  der  Säfte  in  den  Knospen  an- 
kündigt. Es  polterte  endlich  ein  Ungetüm  von  Föhn 
über  die  Berge  herab  und  brüllte:  Leben,  neues 
Leben!,  schmolz  den  Schnee  und  machte  die  Eisdecke 
fahl.  Aber  dann  flockte  wieder  tagelang  Neuschnee. 
Der  Winter  hatte  sich  nur  wie  ein  verschlafener 
Faulpelz  auf  die  andere  Seite  gelegt  und  schnarchte 
wieder  grausam  lange  Nächte  und  verklebte  die 
Knospen.  Dann  zogen  sie  aus  überall  dahin,  wo 
eine  Quelle  den  gesegneten  Mund  aus  der  Tiefe 
öffnete,  und  suchten  Kresse  und  brachten  sie  den 
Kranken,  zogen  weit  und  breit  umher  an  den  Süd- 
rändern der  Waldhänge,  und  wo  sich  an  geschützten 
Stellen  Laub  aufzurollen  begann,  streiften  sie  es  ab 
und  brachten  es  dem  Vieh  und  hackten  es  zu  Brei, 


sich  zur  Speise.  Alte  Mütter  wußten  das  Geheimnis 
der  Zehrwurz,  die  ganz  früh  in  geilen  Stengeln 
kommt;  sie  brieten  sie  und  wandelten  so  das  Gift- 
kraut zu  guter  Nahrung.  Dann  kamen  zarte  Nes- 
seln, der  Gute  Heinrich  und  der  Rote  Heinrich,  und 
heilten  den  Ekel  vor  allem  Fleisch  und  den  kranken 
Quell  des  Blutes.  Die  Stare  waren  zurückgekehrt. 
Die  Lerchen  kamen  und  sangen  das  Lied  des  Lebens 
über  der  kahlen  todtraurigen  Flur.  Wie  alte  zittrige 
Mütterlein  geleitete  man  das  Vieh  in  den  Buint,  wo 
ein  grüner  Hauch  hinter  den  Hecken  sich  zeigte.  Sie 
schnoben  gierig  und  bissen  in  Gras  und  Erde.  Ein 
kümmerlicher  Rest  kümmerlidien  Viehs  war  gerettet. 
Die  Wintersaat  sproßte.  Das  Feld  lag  geöffnet  da, 
aber  weithin  war  die  Flur  erstickt  wie  ein  Versdiüt- 
teter,  ausgewintert  und  verkommen.  Die  kahlen 
Flächen,  die  Brachen  lagen  kläglich  da  und  ver- 
langten nach  neuem  Saatgut.  Aber  woher  Samen 
nehmen? 

Schon  in  der  Heriberga  zu  Füssen  war  Germar  mit 
Hramuth  und  Liauthari  in  Zwist  geraten.  Als  diese 
hörten,  das  Kloster  habe  das  lombardische  Getreide 
seinen  eigenen  und  Lehensleuten  weitergegeben, 
wollten  beide  auf  der  Stelle  ihre  Höfe  dem  Kloster 
hingeben:  das  sei  ohnehin  schon  auf  jedem  Feldzug 
ihr  Vorhaben  gewesen.  Was  habe  man  von  seiner 
Freiheit?  Die  Last  des  Kriegsdienstes  und  die  vielen 
Dinggänge.  Wenn  man  wieder  daheim  hodie,  lasse 
man  sich  freiwillig  von  einem  dummen  Stolz  ver- 
leiten, den  Vorsatz  der  vernünftigen  Stunde  aufzu- 
geben. 

Darüber  stritten  sie  nun,  so  oft  sie  zusammenkamen, 
um  einen  Ausweg  aus  diesem  Elend  zu  beraten;  Hra- 
muth sagte:  „Die  Großen  haben  immer  Mittel  und 
Macht,  einer  Not  zu  begegnen.  Sie  haben  Besitz  in 
allen  Himmelsgegenden;   irgendwo  können  sie  also 


Erztür  vom  Dom     Photo  Marburg 


81 


wohl  schöpfen,  und  sie  werden  sorgen,  daß  keiner, 
der  zu  ihnen  gehört,  verderben  muß.  Wer  eine  Kuh 
melken  wull,  wird  sie  nicht  hungern  lassen.  Wer  zu 
einem  Starken  gehört,  hat  selber  Anteil  an  seiner 
Stärke." 

Aber  Germar  erwiderte  ihm,  was  er  jedem  entgegen- 
hielt, der  ihn  in  dieser  Sache  anging:  „Wer  die 
Macht  hat,  schafft  das  Recht.  Verliert  der  Bauer  das 
Ding,  dann  wächst  das  Gesetz  gegen  ihn.  Braucht 
dich  der  König  nicht  mehr  für  seine  Kriege,  dann 
belohnt  er  seine  Krieger  mit  dir.  Ohne  Schwert  — 
ohne  Mund.  Schon  macht  nicht  mehr  allein  die  Ge- 
burt den   freien  Mann,   nicht  mehr  ererbter  Grund 


\ 
entgegen:  „Also  du,  eben  jetzt  hast  du  Gelegenheit 
zu  zeigen,  wie  stark  der  Bauer  aus  sich  selber  ist. 
Wir  Bauern  sollen  zusammenstehen.  Gut!  Wir 
stehen  zusammen.  Wir  warten  nur  auf  dich." 
Sie  konnten  nacht  wissen,  wie  tief  ihn  ihr  Hohn 
verwundete.  Denn  wohl  konnte  er  zu  Saatkorn 
kommen,  aber  dann  mußte  er  seine  Tochter  opfern. 
Sooft  er  auf  diesen  Entschluß  zuging,  schauderte  er 
zaarück  und  ließ  sich  wieder  von  der  inneren  Stimme 
geißeln:  Du  bist  ein  schlechter  Meier.  Du  machst 
von  deinen  Rechten  einen  starken  Gebrauch,  aber 
nicht  von  deinen  Pflichten.  Am  Sonntag  im  ßetbur 
hatte  er  von  einem  biblischen  Kämpen  gehört,   der 


und  Boden  den  freien  Adel,  sondern  der  mit  der 
Waffe  geleistete  Dienst.  Das  muß  so  enden,  daß  die 
Mächtigen  die  fürten  sind,  der  Bauer  das  Vieh.  Ihr 
habt  doch  gesehen,  daß  es  drüben  in  Franken  und 
Burgund  schon  weithin  so  ist.  Seht,  das  ist  die 
Schlange  im  Garten  des  Bauern,  die  sagt:  Vertraue 
mir  dein  Schwert,  und  ich  werde  es  für  dich  führen! 
Was  willst  du  tun,  wenn  er  es  nimmt  und  auf  dich 
einsdilägt,  wie  dein  letztes  Recht  wahren,  wenn  du 
machtlos  bist?" 
Schließlich  hielten  die  Magen  dem  Meier  mit  Grimm 


für  den  Sieg  seines  Volkes  das  Erste,  was  ihm  bei 
der  Heimkehr  begegnen  würde,  zu  opfern  versprach, 
und  es  war  dann  seine  Tochter.  Er  mußte  sie  auf 
den  Brandopferaltar  legen  wie  ein  Lamm.  Wer  so 
gesinnt  ist,  verdient,  Führer  und  Hauptmann  zu 
sein. 

Kuna  aber  soll  keineswegs  auf  den  Opferaltar,  son- 
dern Frau  eines  schönen  reichen  Mannes  werden, 
der  nur  den  einen  Fehler  hat,  daß  er  fremden  Blutes 
ist.  Freilich,  er  ist  Händler,  und  auch  das  ist  ein 
Makel,  für  Unehren  gilt  dies  Gewerbe,  das  er  treibt, 


82 


wenigstens  immer  noch  bei  uns.  Bido  wird  aus 
seinem  Hügel  auffahren,  wenn  der  Nachfahre  so 
etwas  tut;  aber  wird  er  nicht  auch  auffahren  und 
den  Nachkommen  verachten,  wenn  tlieser  den  Krieg 
gegen  die  Not  der  Mark  verliert? 
Er  wußte,  daß  Lucius  in  Augsburg  großen  Besitz 
hatte,  und  daß  die  Familie  viele  Schätze  an  Waren 
nach  dem  festen  Augsburg  geflüchtet  hatte.  Auch  das 
konnte  er  in  Escongau  erfahren,  daß  der  Kaufmann 
das  Kommende  nicht  weniger  klug  vorausgesehen 
hatte  wie  das  Kloster.  Er  hatte  bis  zum  letzten 
Augenblidi,  solange  die  Pässe  offen  lagen,  Korn  über 
die  Berge  geschafft,  obwohl  doch  die  Stadt  selbst 
mitten  im  Kornland  lag. 

Als  die  Pferde  auf  der  Weide  aus  taumelnden  Ge- 
spenstern wieder  zu  Tieren  wurden,  die  einen  guten 
Schritt  gehen,  ja  laufen  konnten,  wurde  Germ.ir 
der  Anblick  der  vielen  Brachfelder  unerträglich. 
Wofür  hatte  man  gerodet?  Soll  man  alles  wieder 
der  Wildnis  und  den  Trollen  überlassen? 
öfter  als  je  in  den  vergangenen  Jahren  dachte  er  an 
Sulvana,  und  wie  sie  ihn  köstlicher  gedünkt  hatte 
als  alle  Mädchen  seines  Stammes.  Wie  quick  und 
klug  und  völlig  Anmut!  Und  sie  kann  doch  diese 
Täler  hier  oben  seit  uralten  Zeiten  Heimat  ihrer 
Sippe  nennen.  Kein  Sklavenblut  ist  in  ihr. 
Er  sah  Kuna  mit  der  Mutter  zusammen  bei  der  Ar- 
beit, immer  ernsthaft,  ihr  Gang  vergleichbar  dem 
eines  edlen  Jünglings,  der  auf  der  spröden  Weide 
das  wunderschöne  Spiel  sehniger  Glieder  gelernt 
hat.  Sie  ist  nun  eine  Jungfrau,  die  man  wohl  in 
die  Ehe  geben  könnte.  Es  hat  der  Strenge  dieser 
Mutter  nicht  bedurft,  um  sie  tüchtig  in  allen  Quena- 
pflichten  zu  machen,  nie  des  Antriebes,  sie  hat  alles 
mit  Begier  ergriffen  wie  die  Burschen  das  Waffen- 
werk. Herilo  sagt:  Wäre  sie  am  Hoflager,  so  könnte 
sie  Karol  und  Karlmann,  den  Königssöhnen,  gefähr- 
lich sein,  die  so  gute  Augen  für  Frauenschönheit 
haben.  Er  ist  der  Meinung,  keiner  der  Söhne  könne 
mir  so  viel  Hoffnung  geben,  in  eine  edle  Sippe  hin- 
einzukommen, wie  sie.  Was  wird  er  sagen,  wenn 
ich  tue,  was  ich  vorhabe?  Aber  wie  kann  man  jetzt, 
wo  der  Hunger  umgeht  und  ?lles  Volk  in  diesen 
einen  Krieg  zwingt,  an  solche  Hoffart  denken?  He- 
rnlo  —  was  für  ein  Glück  hat  ihm  seine  Großmanns- 
sucht gebracht?  Er  war  ihnen  doch  nur  der  nach- 
geborene Bauernsohn,  der  Abenteurer,  und  sie  haben 
ihn  betrogen.  An  was  denkt  Kuna?  Sie  scheint  viel 
zu  denken,  aber  sicher  nur  an  Macht  und  Glanz. 
Denn  sie  ist  Reginalds  Liebling,  und  Reginald  ist 
schon  jetzt  ganz  anders,  ehrgeiziger,  als  er  selber 
es  je  gewesen  ist. 

„Was  sollen  wir  denn  mit  unserem  Feld  machen?" 
fragten  ihn  die  Magen,  sooft  er  sie  traf.    Als  ob  er 


einen  Samen  vom  blauen  Himmel  kratzen  könnte. 
Kuna  war  nicht  zärtlidi  zu  ihm.  Aber  sie  fand 
hundert  Gelegenheiten,  ihm  unvermerkt  einen  klei- 
nen Dienst  zu  erweisen,  einen  geheimen  Wunsch 
zu  erraten.  Sie  fragte  nidit  nach  seinem  Kummer, 
aber  sie  suchte  ihn  zu  trösten.  Scliier  bösartig  schien 
es  ihm,  ihr  nun  so  zu  danken.  Aber  die  Zeit 
drängte.  Schon  erwachte  altes  Gelüste  in  der  Jugend, 
das  Gold  von  Byzanz  kam  wie  ein  lod^ender  Schatz 
aus  der  Tiefe,  Gesänge,  die  vergessen  schienen, 
wachten  wieder  auf.  Verwünscht  wurden  die  Ro- 
dungen. Gerächt  hätten  sich  die  vertriebenen  Eiben. 
Keiner  der  byzantinischen  Söldner  war  je  zurück- 
gekehrt, um  so  glänzender  ließ  sich  ihr  Los  um- 
träumen. 

„Kuna,  nun  setze  dich  zu  mir.  Das  Gewaffen  ist 
fertig  geputzt  und  gefettet.  Ich  habe  dir  etwas  zu 
sagen." 

Sie  befanden  sich  in  dem  Waffenspeicher,  dessen 
offene  Tür  Licht  spendete. 

Gehorsam  setzte  sich  Kuna  und  schaute  ihn  mit  ver- 
trauensvollen Augen  an. 

„Ich  will  dich  in  diesen  Tagen  versprechen.  Es  ist 
Zeit,  daß  du  einen  Mann  bekommst.  Wer  weiß,  ob 
ich  im  kommenden  Jahr  noch  für  dich  sorgen  kann. 
Ich  habe  mich  darum  entschlossen,  dich  einem  mäch- 
tigen und  reichen  Mann  zu  geben,  bei  dem  du  nie- 
mals Not  leiden  mußt.  Er  hat  um  dich  geworben. 
Kletus,  des  Lucius  und  der  Sulvana  Sohn.  Du  ahnst 
wohl  nicht,  wie  reich  ihre  Häuser  sind.  Er  könnte 
dich  in  Seide  und  Gold  kleiden." 
Er  sah,  wie  sie  erblaßte,  ihre  Augen  bekamen  einen 
dunklen,  feuchten  Glanz,  die  Nasenflügel  bebten. 
Zugleich  aber  kam  ein  Zug  von  Härte  und  Ent- 
schlossenheit in  ihr  Gesicht,  der  sie  ihrer  Mutter 
ähnlicher  machte  als  sonst. 

Sie  schwieg,  schüttelte  aber  ganz  leise,  aus  unbeug- 
samer Entschlossenheit  den  Kopf.  Nun  oft'enbarte 
er  ihr  seine  Not  und  Hoffnung:  in  Augsburg,  der 
Stadt,  die  wie  eine  weitläufige  Burg  sei  und  darauf 
vorbereitet,  von  den  avarischen  Hunnen  eingeschlos- 
sen zu  werden,  liege  in  weiten  Speichern  Korn  für 
den  Fall  der  Belagerung.  Der  Familie  des  Lucius 
sei  die  Lieferung  anvertraut.  „Und  nun,  denke, 
durch  seine  Freundschaft  könnten  wir  Saatkorn  be- 
kommen. Hungern  doch  sogar  unsere  Felder,  und 
wie  werden  wir  hungern  müssen,  wenn  wir  nicht 
auswandern  wollen!" 

Nun  sagte  sie  hart,  empört:  „Also,  ich  ;oll  geopfert 
werden!"  Er  hielt  ihrem  zornigen  Blick  stand  und 
sagte  endlich  weich  und  leis:  „Geopfert,  Kuna,  für 
uns  alle,  dann,  wenn  es  wirklich  so  ist,  daß  Kletus 
dir  nicht  gefallen  kann  und  daß  es  dir  widerwärtig 
ist,   in  ein   Stadthaus   zu  kommen,   obwohl    ...    sie 


83 


haben  auch  Landhäuser,  und  dein  Leben  wäre  um 
vieles  ajigenehmer,  als  wenn  du  selbst  einen  Grafen 
heiraten  könntest.  Auch  ist  Kletus  ein  sdiöner  und 
guter  Mann,  wie  du  weißt,  seine  Mutter  würde  dich 
lieben  wohl  wie  deine  eigene  Mutter." 
Nun  sah  er,  wie  sie  mit  sich  rang,  rot  und  blaß 
wurde  und  auf  ihrer  Oberlippe  Perlen  erschienen. 
Ihr  ganzer  Leib  bebte,  ihre  Augen  starrten.  Er  sah, 
daß  sie  hart  um  einen  Entschluß  rang,  konnte  aber 
nicht  wissen,  daß  sie  bis  zur  Ohnmadit  mit  einem 
Satz  rang:  „Ich  habe  mich  schon  versprochen!"  — 
sollte   sie  ihn   hinausschreien   und   damit  ihren  un- 


weigerlichen Entschluß,  willens,  ihm  in  den  Tod 
treu  zu  bleiben?  Aber  der  Vater  hatte  aus  wunder, 
aus  einer  wahrhaft  liebenden  Seele  dies  furchtbare 
Wort  gesagt:  Geopfert.  Sie  begriff,  daß  der  Meier 
den  Vater  überrarmt  hatte,  daß  ihr  Opfer  auch  das 
seine  war,  das  er  sich  schwer  abgerungen  hatte,  ob- 
wohl er  die  Vorteile  dieser  Heirat  so  beredt  auf- 
zählte. Sollte  es  denn  wirklich  so  sein,  daß  sie  die 
Retterin  der  Magenschaft  werden  konnte?  Sie  sollte 
wie  Frau  Holla  den  Samen  bringen,  wenn  alle  ver- 
zweifelt Himmel  und  Erde  absuchten:  Muß  nidn 
der   Krieger   sein    Leben    gegen    den    Drachen    ein- 


84 


Sie  stieß  hervor:  „Ich  mag  ihn  nicht,  den  Händler." 
Sie  sagte  nicht,  den  Walchen,  denn  auch  Adalnis 
Mutter  war  eine  Walchin. 

„Ich  hätte  mich  lieber  in  den  Lachssee  geworfen  als 
ihn  geheiratet.  Aber  wenn  ich  mit  meiner  Heirat 
Korn  kaufen  kann,  mag  er  midi  haben  . . .  wenn  er 
mich  will.  Wenn  idi  ihn  auch  lieber  erwürgen  als 
ihm  die  Brautnacht  schenken  möchte." 
Dieses  Wort  hatte  Germar  nicht  erwartet.  Wohl 
Tränen  und  einen  stillen  Kummer.  Aber  nun  dies"S 
ingrimmige  Auftrotzen!  Diese  ingrimmige  Bereit- 
schaft wie  zu  einem  Kampf  auf  Leben  und  Tod! 
Er  erwiderte  mit  Unwillen:  „Du  verstehst  mich 
falsch,  Kuna,  so  ist  es  nicht,  daß  Kletus  dich  kaufen, 
dich  wider  Willen  zwingen  möchte.  Nein,  er  hat 
nach  Recht  und  Sitte  vor  dieser  Not  um  dich  gewor- 
ben, sich  bereit  erklärt,  auf  dich  zu  warten,  bis  du 
dem  Vaterwillen  den  eigenen  beugtest.  Und  es  ist 
auch  nicht  so,  daß  wir  dich  wiie  ein  willenloses 
Schlachtopfer  nötigen  möchten.  Nein,  lieber  gehen 
wir  zugrunde,  als  daß  wir  didi  mit  Gewalt  in  ein 
widerwärtiges  Ehebett  zwingen  wollten.  Obzwar  .  .  . 
du  wirst  wohl  wissen,  daß  der  Vater  das  Recht  und 
die  Gewalt  hat,  dir  den  Gemahl  auszuwählen.  Ich 
möchte  auch  dem  Kletus  nicht  eine  Braut  am  Strick 
z.uführen.  Denn  er  verlangt  nach  dir  aus  Liebe. 
Einen  großen  Brautschatz  kann  er  ja  von  einem 
Bauern  nicht  erwarten,  zumal  in  solchen  Zeiten." 
Kuna  senkte  den  Kopf  wie  ein  gesdioltenes  Kind.  Leise, 
aber  sehr  bestimmt  sagte  sie:  „Mein  Vater  soll  meinet- 
wegen nicht  traurig  sein.  Ich  will  versuchen,  seinen 
Willen  als  Gottes  Willen  hinzunehmen." 
Die  Mutter  wünsdite  diese  Heirat  schon  darum 
nicht,  weil  sie  einen  Verkehr  mit  Sulvana  erneuern 
mußte,  aber  da  sie  sich  mit  eisernem  Willen  vor- 
genommen harte,  nie  mehr  auch  nur  den  Anschein 
von  Eifersucht  oder  Abneigung  zu  erwecken,  so 
fügte  sie  sich  mit  erzwungener  Gelassenheit. 
Es  wurde  beschlossen,  daß  Kuna  nach  Augsburg  mit- 
fahren sollte,  damit  sie  nicht  nur  den  Mann,  sondern 
auch  seinen  Besitz  kennen  lerne,  ehe  sie  dem  Willen 
des  Vaters  das  letzte  und  entscheidende  Ja  sagte. 
In  diesen  Zeiten  verließen  viele  arme  Menschen  die 
Hütten,  in  denen  sogar  die  Mäuse  hungerten,  und 
begaben  sich  auf  die  großen  Straßen.  Sie  schlössen 
sich  zu  Banden  zusammen  und  überfielen  Gehöfte 
und  Wanderer.  Es  war  dai-oim  notwendig,  sich  vor- 
zusehen und  in  guter  Bedeckung  zu  reisen.  Der 
Meier  nahm  den  Kriegswagen  mit,  Hramuth  und 
Liauthari,  dazu  Adalni  und  zwei  starke  Knechte. 
Die  Männer  ritten  auf  den  noch  brauchbaren  Pfe.'- 
den.  Einer  der  Knechte  lenkte  den  Wagen,  in  dem 
Kuna  saß,  still  und  verschleiert,  in  einen  Schaffell- 
mantel gehüllt.    Ihre  guten  Kleider  lagen  in  einer 


Truhe  des  Wagens  geborgen.  Die  Magen  hatten 
allen  Gold-  und  Silberschmudi,  den  sie  ererbt  oder 
erworben  hatten,  zum  Getreidekauf  zusammen- 
geschossen. Die  Hodistraße  lief  unweit  von  der 
Lechschlucht  hin,  in  einem  einförmigen,  kaum  be- 
wohnten Tal,  das  sich  schließHdi  zu  einer  öden 
Steppe  ausweitete.  Streckenweise  wurden  sie  von 
Wölfen  verfolgt,  dann  wieder  wollten  sich  Begleiter 
aufdrängen,  denen  man  mißtrauen  mußte.  Sie  bet- 
telten und  suchten  schließlich  zu  stehlen.  Als  man 
sie  vertrieb,  zogen  sie  mit  wilden  Drohungen  ab. 
Bisweilen  rauschte  ein  Regen-  oder  Graupenschauer 
auf  sie  nieder.  Dann  wieder  stiegen  Lerchen  jubelnd 
zum  blauen  Himmel  und  den  flockig  weißen  Wolken. 
Meist  aber  hörten  sie  keinen  anderen  Laut  als  das 
Gekrächze  von  Rabenschwärmcn  und  den  Schrei 
jagender  Fischreiher. 

Als  sie  unfern  der  Stadt  ajn  Gehöfte  und  Dörfer  her- 
ankamen, sahen  sie  Weiber,  die  aus  hochgebauschten 
Tüchern  säten.  Aber  immer  standen  Männer  be- 
waffnet bei  ihnen,  während  andere  ein  nahes  Ge- 
büsch bewachten. 

Germar,  der  vorausritt,  war  eigentlich  ein  wenig 
verläßlicher  Späher.  Immer  wieder  überdachte  er, 
wie  er  sich  verhalten  sollte.  In  Escongau  hatte  er 
erfahren,  wie  er  in  Augsburg  nach  Lucius  fragen 
müsse.  Er  hielt  es  für  unehrenhaft,  die  Kaufleute 
um  Korn  anzugehen,  wenn  er  sie  durch  Verweige- 
rung der  gewünschten  Braut  kränkte.  Kletus  würde 
sich  begreiflicherweise  verschließen  und  Ihn  vielleicht 
gar  mit  Hohn  wegschicken.  Gleichwohl  suchte  er 
immerzu  nach  einem  Weg,  wie  er  Kuna  ganz  aus 
diesem  Handel  lösen  könne.  Schließlich  kam  er  ja 
nicht,  Korn  zu  betteln,  sondern  konnte  bezahlen. 
Auch  gab  es  wohl  noch  andere  Kaufleute,  an  die  er 
sich  wenden  konnte. 

Für  Kuna  war  es  die  größte  Qual,  daß  Adaini 
ahnungslos  mit  auf  dieser  Fahrt  war.  Er  durfte 
reiten  und  war  darum  frohen  Mutes.  Zur  Zeit  der 
Rast  führte  er  die  Pferde  gegen  den  Ledi  hinab, 
weil  das  steinige  Feld  um  die  Hochstraße  noch  Lm 
grauen  Winterwasen  dalag.  Er  zeigte  dabei  wieder 
seine  verläßliche  Art;  geistesgegenwärtig,  rasch  von 
Entschluß,  war  er  einer  Gefahr  schon  begegnet,  ehe 
andere  sie  entdeckt  hatten.  Unbefangen  lachte  er 
Kuna  an,  immer  im  Glauben,  sie  sei  aus  Furdit  und 
schon  aus  Heimweh  so  starr  und  versiegelt.  Gleich- 
wohl versank  auch  er  bisweilen  in  die  Schwermut 
dieser  öden  Gegend,  denn  er  rang  mit  dem  Ent- 
schluß, von  Bidingen  loszukommen.  Er  besaß  wohl 
die  freie  Hube.  Aber  sollte  er  nun  zum  Danke  für 
die  Freilassung  nach  der  Tochter  seines  Wohltäters 
greifen?  Nie  würde  dieses  heimlidie  Verlöbnis  gut 
enden.    Wie   wäre  es,   wenn   er  in   Augsburg   sein 


35 


Gütchen  verkaufen  würde  und  sich  in  den  Dienst 
des  Lucius  stellte,  der  auch  um  ihn  schon  geworben 
hatte?  Denn  er  brauchte  unersdirodcene,  wendige 
Burschen,  denen  er  seine  "Warenzüge  anvertrauen 
konnte.  Kuna  ist  jung.  Wenn  sie  einmal  so  reif 
ist,  daß  sie  weiß,  wer  sie  und  wer  er  ist,  wird  sie 
sich  nach  ihrem  Stande  und  ihrer  Sippe  entscheiden. 
Er  selber  genießt  beim  Meier  und  bei  der  Quena 
alle  Ehren,  aber  nur  so  lange  —  das  ist  gewiß  —  als 
er  innerhalb  seiner  Grenzen  bleibt.  Wer  Schalk  ge- 
wesen ist,  bleibt  als  Schalk  gezeichnet;  kein  Wohl- 
wollen wischt  es  ab.  Dazu  kommt,  daß  Kuna  die 
Schönste,  man  sagt,  im  ganzen  Geltengau  ist.  Und 
Reginald  steht  vor  ihr  mit  seinjem  harten  Stolz. 
Wenn  nun  gar  ein  Freigelassener  die  Frechheit 
haben  sollte  .  . .  sie  würden  über  ihn  herfallen,  die 
Jungen  der  ganzen  Mark. 

Freilich,  wäre  er  freigeboren,  so  getraute  er  sich 
wohl  zu,  auf  andere  Weise  über  seine  Armut  hin- 
auszuwachsen. Er  hatte  auf  den  Kriegszügen  die 
Augen  aufgehabt  und  gesehen,  wie  die  Reiter  der 
Bischöfe,  großer  Äbte  und  des  großen  Adels  durch 
ihre  Dienste  zu  reichen  Lehen  kamen,  wenn  sie 
ihren  Mann  stellen  und  auch  den  Kopf  als  Faust  zu 
gebrauchen  wissen.  So  aber  bliebe  ihm  nichts  übrig, 
wollte  er  zu  Kuna  kommen,  als  mit  ihr  heimlich  ins 
Weite  zu  gehen,  also  sie  und  sich  zu  ächten.  Sie 
wäre  vielleicht  bereit,  dieses  alles  auf  sidi  zu  neh- 
men. Aber  wohin  fliehen?  Ins  Abenteuer,  ins  Elend 
vielleicht,  und  wie  sollte  er  sich  eine  solche  Lum- 
perei verzeihen? 

Es  durfte  nur  ein  Mann  mit  einem  Knedit  in  die 
vorsichtig  bewachte  Stadt  hineingehen,  und  auch 
diese  mußten  die  Waffen  bis  auf  das  Schwert  ab- 
legen. Innerhalb  der  Mauern  gab  es  wieder  einen 
bischöflichen,  einen  klösterlichen  und  einen  gräf- 
lichen Bezirk,  von  denen  jeder  durch  eigene  Dienst- 
leute gesichert  wurde.  Germar  schritt  neben  Kuna, 
Adaini  hinter  sich,  mit  Kriegerschritt,  stolz  und  frei, 
wie  sie  es  in  den  Städten  des  westlichen  Franken 
recht  mit  Nachdruck  getan  hatten,  zwischen  dem 
huschelnden  städtischen  Volk  und  den  vielen  Bauern 
dahin,  die  ein  Markt  hergelockt  hatte.  Ein  gemie- 
teter Bursche  zeigte  ihnen  den  Weg  zu  Lucius,  den 
sie  im  Kaufgewölbe  antrafen.  Germar  sah  sofort, 
daß  er  verlegen  war.  Er  schützte  Eile  vor  und  ent- 
schuldigte sich;  er  müsse  zu  seinen  Brennöfen  vor 
die  Stadt.  Getreide  —  da  müsse  er  sich  an  seinen 
Bruder  Cambos  wenden,  aber  er  glaube  nicht,  daß 
noch  etwas  zu  machen  sei.  Die  Stadt  habe  die  Aus- 
fuhr untersagt,  da  ja  vor  der  neuen  Ernte  keine  Lie- 
ferungen zu  erwarten  seien.  Im  getreidereichen 
Donaugebiet  seien  die  avarischen  Hunnen  einge- 
fallen.  Aber  vielleicht  könne  Cambos  etwas  zusam- 


menkratzen aus  alter  Freundschaft.  Kletus  sei  übri- 
gens nach  Baiiuwarien  hinüber,  wo  Herzog  Thasälo 
gegen  den  Hunger  statt  gegen  idgendwelche  Feinde 
rechtzeitig  angetreten  sei.  Dort  könne  man  vielleicht 
noch  etwas  holen,  wenn  man  die  Kosten  nicht  scheue. 
Im  übrigen  verwies  er  sie  an  Sulvana;  sie  sei  draus- 
sen  beim  Santuario  der  heiligen  Afra,  wo  sie  einen 
Kaufstand  beaufsichtige.  „Einstweilen  laßt  euch  in 
der  Gaststube  bedienen,  ich  werde  Auftrag  geben, 
daß  alles  nach  euren  Wünschen  geschieht." 
Germar  merkte,  daß  etwas  nicht  in  Ordnung  sei. 
Lucius  benahm  sich  anders  wie  sonst,  so  als  ob  er 
sich  schäme  und  nur  vorhabe,  sie  zu  beschwichtigen. 
Sollte  er  sie  wirklich  mit  leeren  Händen  heim- 
schicken? Sie  wurden  aber  in  der  weiten  und  gut 
ausgestatteten  Stube  mit  Auszeichnung  bewirtet. 
Nicht  lange,  nachdem  sie  sich  umgezogen  und  ihren 
Hunger  gesättigt  hatten  und  nun  den  Umtrieb  mit 
Kisten  und  Fässern  aller  Art  im  Hofraum  zu  be- 
obachten begannen,  kam  Sulvana  dahergeschnauft. 
Und  nun  war  es,  als  seien  sie  ihr  wie  lang  ersehnte 
Gäste  gekommen.  Sulvana  war  ganz  Bewegung  und 
Freude.  Sie  schaute  zu  Germar  auf  und  kam  mit 
ihren  Blicken  nicht  von  ihm  los,  indem  sie  in  Aus- 
rufe des  Bedauerns  und  der  Klage  über  seine  Ver- 
unstaltung und  Hagerkeit  ausbrach. 
Endlich  wandte  sie  sich  Kuna  zu  und  küßte  sie  auf 
beide  Wangen,  wobei  sie  sich  auf  die  Zehenspitzen 
stellen  mußte. 

„Du  bist  also  die  Tochter!  Eine  solch  stattliche 
Tochter  hast  du,  Germar!  Ich  habe  es  mir  ja  denken 
können.  Aber  gleichwohl,  eine  solche  Wohlgestalt 
habe  ich  mir  nicht  vorgestellt.  Laß  dich  nochmals 
umfangen.  Tochter!  Mein  Herz  liebt  dich  schon 
lange,  und  wir  werden  jetzt  ganz  große  Freunde 
sein.  Du  fremdest  noch,  wie  könnte  es  anders  sein, 
und  traurig  bist  du?  Hat  euch  mein  Lucius  nicht 
gut  aufgenommen?  Hat  er  schon  mit  euch  ge- 
sprochen? Ihr  habt  einen  bösen  Winter  hinter  euch. 
Wir  leben  in  einer  Zeit  wie  vor  dem  Ende  der 
Zeiten,  und  es  steht  so,  daß  nicht  alle  sich  auf  das 
Gericht  vorbereiten.  Aber  ich  rede  und  rede  —  ver- 
zeiht meinen  Überschwang!  Ihr  müßt  mit  mär  nach 
oben  kommen.  Euer  Begleiter  kann  in  ciie  Gesinde- 
stube gehen;  ich  ordne  alles  an,  und  dann  mag  er 
sich  den  Tag  in  der  Stadt  vertreiben.  Ich  muß  euch 
allein  haben." 

Germar  sagte,  er  möge  nicht  an  weitere  Gastfreund- 
schaft denken,  bevor  er  wisse,  ob  er  Saatgut  be- 
komme, denn  dazu  sei  er  hier,  und  davon  hänge 
Gedeih  oder  Verderb  seiner  Markgenossen  ab. 
Lucius  habe  ihnen  schlechte  Aussichten  gemacht. 
„Hat  er?  Oh,  das  tut  er  immer!"  rief  sie  aus.  „Er 
gehört  auch   zu  den  Kaufleuten,  die  nicht  an   das 


86 


Ende  denken,  sondern  die  Not  zum  großen  Gesdiäfte 
machen.  Aber  ich  weiß,  daß  sie  Vorräte  bergen,  sie 
sind  es  ja  gewohnt,  kommende  Zeiten  zu  wittern 
und  sich  einzurichten.  Sie  haben  sich  eingerichtet,  er 
wie  Cambos." 

Als  sie  oben  waren,  in  einer  Stube,  die  mit  Estridi- 
und  Wandteppichen  geschmückt  war  und  mit  wun- 
derbar bemalten  Prunkkrügen,  umarmte  sie  noch- 
mals Kuna  unter  Tränen  und  sagte:  „Ach  jetzt,  da 
ich  didi  von  Angesicht  zu  Angesicht  sehe,  zerreißt 
es  mir  erst  das  Herz,  daß  mein  Sohn  dich  nicht 
haben  darf.  Er  hat  sich  dem  Vater  beugen  müssen, 
der  ihm  schon  seit  langem  eine  Braut  ausgewählt 
hat,  eine  aus  unserem  Stamme  und  eine  Erbtochter 
mit  reicher  Verwandtschaft.  Wenn  Lucius  einmal 
etwas  will  und  er  sieht  ein  Geschäft,  dann  ist  er 
Wolf  und  das  andere  Lamm.  Er  würde  midi  jetzt 
auch  nicht  mehr  nehmen.  Damals  war  er  selber  noch 
ein  kleiner  Mann." 

Sie  merkte  in  ihrem  Überschwang  gar  nicht,  wie  di'.' 
Gesichter  der  Gäste  sich  entspannten  und  auf- 
heiterten, und  fuhr  fort  zu  ermuntern:  „Nein,  du 
mußt  nicht  traurig  sein,  du  stolze  Waldblume,  du 
würdest  dach  schwer  in  die  Stadt,  in  das  Getriebe 
des  Geschäftes  und  in  die  fremde  Sippe  einfügen. 
Wir  sprechen  unter  uns  immer  noch  romanisch,  sieli, 
und  unsere  Verwandten  fühlen  sich  in  aller  Heim- 
lichkeit noch  über  uns  erhaben.  Du  hättest  sehr  ge- 
litten, du  müßtest  mehr  als  nur  unsere  Sprache 
lernen." 

Wenn  ein  schweres  Gewitter  den  ganzen  Himmel 
wie  mit  einer  ehernen  Mauer  eingedeckt  hat  und 
nun  brechen  plötzlich  diese  düsteren  Wände  und 
der  blaue  Himmel  lacht  wieder  und  die  Sonne,  als 
hätte  sie  unterdessen  ihr  Feuer  aufgestaut,  gießt  eine 
wonnevolle  Fülle  von  Licht  und  leuchtenden  Farben 
auf  alle  Kreatur:  so  strahlte  Kuna,  so  jubelte  ihr 
Herz,  so  wich  alle  Schwere  von  ihr,  und  nicht  viel 
anders  sah  Germar  aus. 

Sulvana  hatte  bereits  Cambos  herbestellt.  Er  kam 
und  sah  noch  härter  aus  als  der  Bruder,  hager,  ab- 
getrieben, klein,  aber  breitschultrig  und  stachel- 
haarig. Er  kam  lachend  herein.  Sulvana  begrüßte 
ihn  mit  den  Worten:  „Dies  hier  sind  meine  Freunde, 
der  Meier  Germar,  du  weißt  also,  mein  Lebensretter; 
und  du  hast  ihnen  Saatkorn  zu  liefern." 
Er  hörte  auf  zu  lächeln  und  blickte  sie  mit  seinen 
listigen,  dunklen  Augen  wie  entsetzt  an.  „Schwä- 
gerin, deine  Freunde  in  Ehren,  aber  du  weißt  von 
dem  Verbot,  du  weißt  außerdem  . . ." 
„Ich  weiß,  daß  ihr  noch  über  freies  Getreide  ver- 
fügt, ihr  wollt  nur  auf  höhere  Preise  warten.  Also, 
Sdiwager,  dies  eine  Mal  mußt  du  mir  einen  Gefallen 
erweisen,   Lucius    und   ich   haben   diesen    Freunden 


noch  manche  Schuld  abzutragen.  Sie  sind  dodi  auch 
Kunden  seit  Jahren,  verstehst  du!  Sic  müssen  be- 
kommen, was  sie  verlangen,  Gerste,  Haber,  Bohnen, 
l!rbsen,  Roggen,  Feesen.  Sie  wollen  es  ja  nicht 
betteln  . .  .  jedoch  auch  keine  Wucherpreise  zahlen 
.  .  .  vergiß  nie  —  Freunde.  Freunde  per  carita  de 
Dei!" 

Der  Kaufmann  hob  bedenklich  die  Schultern  und 
schien  abzulehnen.  Aber  da  schrie  ihn  Sulvana  an: 
„Schwager,  sollen  wir  weiter  verwandt  sein  .  .  . 
diesen  Leuten  wird  anständig,  wird  wie  unter  Brü- 
dern geholfen,  capito?" 

Jetzt  erst  sah  Kuna,  wie  schön  Sulvana  immer  noch 
war,  wie  wunderschön  sie  einmal  gewesen  sein 
mußte,  als  ihr  reiches,  schweres  Haar  nodi  ganz 
dunkel,  ihr  zart  ovales  Gesicht  noch  ganz  glatt  und 
samten  gewesen  war;  noch  hatte  sie  die  zierlichen 
Zähne  makellos,  und  unter  den  weitgeschwungenen 
Brauen  diese  großen,  dunklen  Nornenaugen,  die 
jetzt  sprühten. 

„Buene,  buene",  beschwichtigte  Cambos,  aber  er 
schien  den  Anblick  ihres  Zornes  wie  ein  geliebtes 
Spiel  zu  genießen. 

Auf  einmal  wandte  er  sich  lachend  an  Germar: 
„Sage,  Meier,  wer  könnte  wagen,  einer  solchen  Ge- 
bieterin zu  widerstehen?  Unsere  Sulvana  ist  die 
Sanfteste,  Frömmste  und  Gütigöte  in  unserer  ganzen 
Verw^andtschaft,  aber  man  muß  ihr  den  Willen 
lassen.  Und  was  sie  sich  in  den  Kopf  gesetzt  hat .  . . 
mag  die  Stadt  hungern,  der  arme  Cambos  straffällig 
werden,  ihr  Freund  muß  sein  Sa.ttgut  haben." 
„Ja",  rief  sie  aus,  „er  muß  es  haben!"  und  sie  um- 
armte und  küßte  ihn  auf  die  beiden  borstigen 
Wangen.  „Und  das  sage  ich  dir",  fügte  sie  noch 
hinzu,  „ohne  Wucher!  Beim  Feilschen  um  den  Preis 
werde  ich  zugegen  sein!" 

Danadi  wurden  Hramuth  und  Liauthari  in  die  Stadt 
geholt,  Pferde  und  Wagen  in  einen  Schuppen  des 
Lucius  gebracht  und  auf  der  Stelle  mit  Auslesen 
und  Abwägen  der  Ware  begonnen,  in  aller  Heim- 
lichkeit, obwohl  noch  viele  Vorräte  vorhanden 
waren.  Was  die  Krieger  im  Langobardenland  und 
bei  den  Aquitaniern  an  Schmuck  und  Gold  erbeutet 
hatten,  ging  in  die  Hände  des  K.iufmanns  über, 
auch  aller  Schmuck  der  Frauen,  dazu  Pelze.  Es  war 
ein  hartes  Feilschen,  mochte  Sulvana  auch  fauchen 
oder  ihre  anmutigsten  Scherzreden  sprühen. 
Inzwischen  hatten  Hramuth  und  Liauthari  vor  der 
Stadt  allerlei  Wichtiges  aufgefangen.  Da  waren 
Bauern  von  weither  gekommen,  um  dem  Bischof  ihre 
Höfe  anzubieten  und  sich  von  Kriegs-  und  Dinglast 
zu  lösen.  Andere  wollten  lieber  dem  Afrakloster 
das  Geschenk  ihrer  Freiheit  anvertrauen;  wieder  an- 
dere waren  gesonnen,  das  Heil  ihrer  Seelen  durch 


87 


eine  völlige  Hingabe  ihres  Besatzes  zu  sidiern,  denn 
das  Ende  der  Welt  stehe  ohnehin  nahe  bevor  — 
was  nütze  da  aller  Welt  Zier!  Eine  Seherin  habe 
verkündet,  statt  der  Ostersonne  werde  das  nächste 
Mal  Christus  mit  seinen  Engeln  zum  Gerichte  er- 
scheinen. Hramuth  und  besonders  Liauthard  fürch- 
teten, gegen  die  Baiuwaren  marschieren  zu  müssen, 
denn  Herislis  hat  Herzog  Thassilo  begangen,  und 
dei  König  wird  ihn  dafür  mit  Krieg  überziehen, 
sobald  er  in  Aquitanien  frei  ist.  Wie  sie  nun  so 
dahinschritten,  besprachen  sie  ihre  Absichten,  sich 
dem  Bischof  hinzugeben,  mit  Germar.  Der  Meier 
schwieg.  Auf  einmal  sagte  er:  „Schaut  euch  doch 
um!"  Sie  gingen  an  Herbergen  vorbei,  an  Waren- 
gewölben und  kamen  auf  den  Markt.  Die  Magen 
sagten:  „Wohl  haben  wir  die  Augen  offen."  „Seht 
ihr  denn  nichts?  Seht  ihr  diese  Bauern  hier  nicht?" 
„Wir  sehen  sie,  was  meinst  du,  Germar?"  Er  schüt- 
telte nur  den  Kopf.  Sie  gingen  weiter,  schweigsam, 
ja  schließlich  ganz  in  sich  versunken.  Germar  düster, 
ganz  Neugier  und  lautes  Staunen  die  Magen.  Es 
kamen  Reiter  daher,  denen  das  Volk  wie  großen 
Herren  auswich,  und  doch  waren  sie  nur  Dienstleiute 
des  Grafen  oder  des  Bischofs.  Germar  und  seine  Be- 
gleiter schritten  stolz  und  wuchtig  dahin,  wichen 
auis  oder  ließen  sich  ausweichen,  wie  es  Recht  und 
Brauch  unter  Kriegern  war.  Wollte  einer  der  jungen 
Burschen  keck  werden,  dann  spreizte  Germar  die 
Beine  und  schrie  ihn  an,  die  Hand  am  Schwertgriff. 
Aber  sie  wurden  wenig  belästigt. 
„Hast  du  einen  Kummer?"  fragten  die  Magen.  „Ja! 
Und  ihr  nicht?" 

Da  traf  es  sich,  daß  gräfliche  Reiter  daherkamen, 
und  ein  Bauer,  ein  Mann  von  riesigem  Körperbau, 
aber  statt  mit  der  Waife  nur  mit  einem  Stock  be- 
wehrt, in  seinem  Staunen  auszuweichen  vergaß. 
Schon  hatte  er  einen  Hieb  mit  der  Reitpeitsche  im 
Gesicht  und  duckte  sich,  zwar  Grirrmi  in  den  Augen, 
aber  stumm  und  verdemütigt  zur  Seite.  Da  wandte 
sich  Germar  an  die  Begleiter:  „Habt  ihr  es  gesehen? 
Das  ist  mein  Kummer.  Wie  hündisch  sie  sind,  die 
Waffenlosen,  wie  scheu  und  schalkhaft,  die  nie  mehr 
aus  ihrem  Winkel  in  die  weite  Welt  kommen.  So  wird 
euch  geschehen,  wenn  ihr  die  Freiheit  verkauft." 
Sie  hatten  vor,  am  anderen  Morgen  so  schnell  wie 
möglich  zu  ihren  lechzenden  Saatfeldern  zurückzu- 
kehren. Aber  Lucius  bat  sie,  noch  einen  Tag  zu 
warten,  da  er  sich  ihnen  mit  einem  Warenzug  ins 
Oberland  anschließen  wollte  —  sie  wären  dann 
einer  durch  den  andern  gesichert,  —  und  Sulvana 
redete  ihnen  zu,  das  Fest  zu  Ehren  der  Martyrin 
Afra  nicht  zu  versäumen.  Es  wäre  doch  Sünde,  die 
Stadt  zu  verlassen,  ohne  ihr  Grab  und  Heiligtum 
verehrt  zu  haben,  zu  der  Wallfahrer  aus  der  halben 


christlichen  Welt  pilgerten.  Sie  sei  eine  große 
Patronin  aller  Bedrängten.  „Ihr  werdet  Augen 
machen!  Das  Sanctuarium  ist  wie  eine  Schatzkam- 
mer des  Himmels.  Der  Bischof  wird  morgen  eine 
hohe  Messe  am  Altar  der  Heiligen  feiern." 
So  blieben  denn  die  Bidinger  in  dem  Stadthaus, 
das  ihnen  allerdings  wie  ein  schöner  Käfig  vorkam. 
Kuna  ging,  Müdigkeit  vorschützend,  bald  zu  Bette, 
aber  die  drei  Männer  blieben  noch  lange  in  der 
schönen  Stmbe  bei  einem  reichlichen  Mahl  und  treff- 
lichem Lombardenwein  sitzen.  Lucius  hatte  sich  end- 
lich auch  eingefunden.  Er  war  durch  seine  Frau  da- 
von verständigt,  daß  die  Bidinger  in  keiner  Weise 
auf  die  Werbung  des  Kletus  zurückkommen  wollten, 
und  hatte  darum  eine  gute  Laune  mitgebracht. 
Buchenklötze  glimmten  im  Kainin,  so  daß  den 
Baaiern,  die  solches  oim  diese  Jahreszeit  nicht  ge- 
wöhnt waren,  bald  warm  wurde.  Sie  bestaunten  am 
meisten  die  ÖUämpchen,  die  an  ästigen  Bronzestän- 
dern hingen  und  wie  flammende  Blumen  aussahen. 
Lucius  war  offenbar  sehr  ungehalten  auf  den  Baiu- 
warenherzog,  der  durch  seine  Herislis  einen  neuen 
Krieg  heraufbeschworen  habe.  „Wieder  einmal  wird 
das  Südland  diesseits  und  jenseits  der  Alpen  in 
Brand  gesetzt  werden.  Die  Herzöge  —  es  ist  über- 
all gleich  — "  schalt  er,  „sie  möchten  alle  selber 
König  spielen.  Der  Baiuware  wird  gar  von  seinen 
Bischöfen  gestützt,  weil  auch  sie  mit  einer  baiuwa- 
rischen  Kirchenhoheit  zu  steigen  meinen.  Aber  sie 
werden  es  noch  erleben,  daß  kleine  Herren  strenger 
regieren  als  große.  Ich  habe  ja  all  diese  Dinge  m 
Italien  verfolgen  können.  Immer,  wenn  Ordnung 
war,  wenn  ein  König  daran  war,  ganz  Italien  zu 
einen,  dann  sind  die  Herzöge  aufgestanden  und 
haben  das  gute  Gewebe  wieder  verstückelt,  alles 
unter  dem  schönen  Namen  Freiheit.  Aber  der  Frei- 
heitswahn ist  es,  der  den  Untergang  der  Freiheit 
bringt.  Das  scheint  Schicksal  zu  sein.  Wieviel  Blut 
fließt  doch,  um  die  einigende  Macht  machtlos  zu 
machen!" 

Auch  Sulvana  hatte  ihrem  Mann  aufmerksam  zu- 
gehört. Nun  lächelte  sie  und  sagte  mit  ÜTrer  sanften, 
klingenden  Stimme:  „Wärest  du  Krieger,  Lucius,  so 
hättest  du  zu  dieser  Weisheit  nicht  gefunden.  Du 
bist  Kaufmann  und  kannst  nur  im  Frieden  gedeihen. 
Aber  bedenke,  was  haben  die  Dichter  und  Sänger 
aller  Völker  besungen,  den  Krieger  oder  den  Kauf- 
mann? Obwohl  doch  auch  der  Kaufmann  viele  Ge- 
fahren bestehen  muß  und  sein  ganzes  Handeln  von 
Wagnis  begleitet  ist.  Die  Tapferkeit  im  Kriege  wird 
besungen." 

„Möge  sie  besungen  werden!"  fuhr  ihr  Lucius  un- 
wirsch in  die  Rede,  „ich  mißgönne  es  ihr  nicht,  und 
möge  sie  im  Dienste  des  Friedens  und  der  Ordnung 


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sich  mit  Ruhm  bedecken.  Aber  Tapferkcjt  als 
Händelstifterin,  die  nidits  kann  und  will  und  achtet 
als  Kampf  und  Fehde  —  sage,  was  du  willst,  ist 
Tugend,  die  der  Teufel  besingen  möge,  denn  sie  ist 
seine  Tugend." 

In  Augsburg,  noch  mehr  als  in  Eptatikus,  ging  ;s 
Germar  auf,  was  für  ein  ansehnlicher  Mann  der 
kleine,  wendige  Lucius  war,  imd  wie  scliarf  er 
dachte  und  urteilt«.  Wenn  seine  dunkelbraunen 
Augen  in  dem  rundlichen  Gesicht  zu  leuchten  be- 
gannen und  die  gebogene  Nase  unter  der  vor- 
gewölbten Stirn  wie  ein  Schnabel  hin  und  her 
zuckte,  während  der  dünnlippige  Mund  wie  aditlos 
reiche  Erfahrung  kundtat,  dann  konnte  man  die 
schlecht  gewachsene  Figur  vergessen. 
Das  geräumige  Haus  mit  Lagerschuppen,  Speiche.'n 
und  Kellern  war  mit  Waren  gefüllt,  die  Wohn- 
räume —  so  dünkte  es  den  Bauern  —  fürstlich. 
Gold-  und  Silbersdimuck  —  kostbare  langobardischc 
Arbeil  —  lagen  in  schweren  Truhen  geborgen.  Sul- 
vana  wies  noch  am  Abend  und  dann  am  folgenden 
Morgen  das  alles  vor,  wie  es  schien  keineswegs,  weil 
sie  stolz  darauf  war  oder  Freude  an  ihren  Reich- 
tümern hatte,  sondern  weil  sie  es  für  eine  Pflicht 
der  Gastfreundschaft  hielt.  Wenn  Germar  eine  Fibel 
oder  Spange  besonders  bewunderte,  dann  sagte  sie 
sofort:  „Oh,  wenn  es  dir  gefällt,  dann  nimm  es 
mit  —  ich  danke  dir  ja  alles",  so  daß  er  sich  hütete, 
ihr  sein  Wohlgefallen  wie  ein  Begehren  zu  äußern. 
Sulvana  selbst  trug  sich  ganz  einfach,  ja  fast  nach- 
lässig, und  sie  gestand,  daß  Lucius  sie  deswegen  oft 
tadelte.  Um  das  Geschäft  selbst  kümmerte  sie  sich 
offenbar  wenig,  das  war  ganz  Sache  des  Mannes. 
Sie  lebte  erst  auf,  wenn  von  Hirschgley  die  Rede 
war.  In  der  Heimat,  am  Fuße  der  Berge,  bei  den 
Bienen,  Ziegen,  beim  Würz-  und  Obstgarten  hatte 
sie  ihr  Herz  zurückgelassen.  So  muß  Eva  von  Eden 
geredet  haben,  wie  sie  vom  väterlichen  Höfchen 
sprach  —  selbst  jener  Blitz  wurde  ein  Erlebnis,  von 
lieblichster  Erinnerung  geweiht  —  aus  seinem  Flam- 
menmantel war  Germar  getreten.  Daß  Lucius  ein  so 
fleißiger,  ja  großartiger  Kaufmann  war  und  sie  m 
Reichtümer  gesetzt  hatte,  rechnete  sie  ihm  nicht 
sonderlich  hoch  an;  jedenfalls,  all  diesen  behäbigen 
Überfluß  in  dem  ansehnlichen  Stadthaus  zählte  sie 
nicht  zu  den  Glüdisgütern,  die  eines  Aufliebens  wer* 
waren. 

„Hast  du  ihnen  die  Vasen  gezeigt?"  fragte  Lucius, 
als  er  zu  den  Lagerräumen  abberufen  wurde. 
„Die  Vasen,  adi  ja . .  .  daran  habe  idi  nicht  ge- 
dacht", antwortete  Sulvana  obenhin. 
„Und  doch  sind  sie  unser  wertvollster  Besitz,  Selten- 
heiten hier  im  Norden",  gab  er,  ohne  gekränkt  zu 
ersdreinen,    zurück    und    wies    ihnen    auf    Borden 


stehende  Vasen  —  Krüge  sagten  sie  selber  —  von 
sehr  sdiöner  Form,  solche,  die  auf  glänzend  schwar- 
zem Grund  rote  Götterszenen  boten,  und  solche,  die 
auf  rotem  Grund  schwarzes  Zierwerk  und  schwarze 
Figuren  zeigten.  Das  seien  Kunstwerke,  viele  hun- 
dert Jahre  alt,  in  einer  Technik,  die  heute  verloren- 
gegangen sei,  auch  in  Farbe,  die  man  heute  nicht 
mehr  gewinnen  könne.  Lucius  verhielt  sich  so  lange 
bei  ihnen  und  belobte  sie  so  umständlich,  daß  Sul- 
vana Germar  zuflüsterte:  „Wie  du  wohl  die  Pferde 
zeigst!"  Der  Händler  hatte  es  gehört  und  lächelte 
dem  Meier  zu:  „Jawohl,  wir  Handelsleute  müssen 
so  erw'as  haben.  Ich  wenigstens,  weil  es  draußen  auf 
Handelsfahrten  wochenlang  oft  nichts  gibt  als  Un- 
bilden, ödnis.  Feilschen  und  Gefahren  jeder  Art. 
Das  hier  gehört  zu  den  Liebkosungen  meiner  Seele. 
Icfi  wollte,  ich  könnte  sie  wie  Zuchttiere  verwenden. 
Aber  wo  wären  auch  die  Leute,  die  dafür  Sinn  und 
Mittel  hätten?  Was  heute  wirklich  in  Blüte  steht, 
ist  das  Kriegshandwerk,  und  hochgezüchtet  ist  nur 
der  Krieger." 

Von  Augsburg  bewunderte  Germar  am  meisten  die 
hohen  Flechtwerke  und  Mauern,  die  es  umgaben: 
sie  umfaßten  alle  Häuser  zu  einem  einzigen  Haus, 
zu  einer  unentrinnbaren  Burg. 

„Wohl  uns,  daß  die  Römer  uns  wenigstens  diese 
steinerne  Ordnung  hinterlassen  haben",  sagte  Lucius, 
„sonst  wären  unsere  Häuser  und  Geschäfte  nichts 
anderes  als  Honigwaben  für  die  Bären  —  bald  für 
den  Franken,  bald  für  den  Baiuwaren  und,  was 
jetzt  am  meisten  droht,  für  die  avarischen  Hunnen. 
Diese  wilden  Teufel  kommen  und  gehen  wie  der 
Blitz  übers  offene  Land,  und  gib  adit,  sie  werden 
unserer  Ecke  zum  Verhängnis." 

Vor  den  Toren  lag  die  Kirche  der  heiligen  Afra, 
die  in  diesen  Zeiten  Augsburg  allein  noch  berühmt 
machte  und  Pilger  bis  aus  dem  südlichsten  Gallien 
anzog.  Das  Heiligtum  war  von  einem  weiten  Etter 
umgeben,  man  hätte  glauben  können,  man  nähere 
sich  einem  großen  Gutshof.  Denn  hinter  dem  Zaun 
lagen  viele  Gebäude,  Priester-  und  Knechtshäuser. 
Sie  alle  überragte  das  altersgeschwärzte  Kirchenhaus, 
aus  runden,  leicht  behauenen  Eichenstämmen  ge- 
zinunert,  einem  hohen  Mittelschiff  lehnten  sich  zur 
Rechten  und  zur  Linken  mit  abgeschrägten  Dächern 
Seitenschiffe  an.  Aber  nur  ein  Tor  öffnete  sich  dem 
Besucher,  wenn  man  durch  einen  Arkadenhof  ge- 
gangen war,  in  dessen  Mitte  ein  Brunnen  fließendes 
Wasser  sprudelte.  Vor  diesem  Hofe  waren  Buden 
aufgestellt,  in  denen  die  Pilger  Kerzen,  Ol  und 
allerlei  wächserne  und  eiserne  Weihegeschenke,  als 
Pferde,  Kühe,  Schweine  und  auch  einzelne  Glied- 
maßen kaufen  konnten,  öl  war  der  Teuerung  wegen 
nur  in  ganz  kleinen  Fläschchen  und  für  hohe  Preise 


89 


'^7^^ 


zu  haben.  Germar  trat  an  den  Kaufladen  heran 
und  kaufte  die  dickste  Kerze,  die  zu  haben  war. 
„Als  unsere  Sache  wider  alles  Erwarten  einen  solch 
glücklichen  Verlauf  nahm,  da  gelobte  ich,  der  Santa 
Afra  ein  Weihegeschenk  darzubringen." 
„Willst  du  mir  nicht  auch  ein  Weihegesdienk 
kaufen",  bat  Kuna. 

Er  wählte  eine  sdiön  gezierte,  einschnäbelige  Ton- 
lampe und  einen  zierlidien  Kerzenstengel.  „Die 
Lampe  kannst  du  nach  Hause  nehmen." 


Danach  betraten  sie  das  heilige  Blockhaus.  Es  lag 
fast  ganz  im  Dunkel  überall  dort,  wo  nicht  Lampen 
und  Kerzen  brannten,  denn  die  Fenster  aus  dem 
zarten  Kalbsfell  waren  wie  blind.  Ganz  hell  war 
eine  Art  Säulengehäuse,  das  vorne  in  die  Kirche  hin- 
eingestellt war.  Das  von  vier  Säulen  getragene  Däch- 
lein hatte  goldene  Ziegel.  Unten  zogen  sich  ringsum 
Schranken  von  farbigem  Marmelstedn.  „Dieses  Tem.- 
pelchen  im  Tempel  birgt  die  aus  dem  Feuer  ge- 
retteten Gebeine   der  Martyria  Afra",  raunte  Sul- 


90 


vana.  Zu  ihm  drängte  sich  vie!  Volk.  Von  dem 
Dachgebälk  nieder  hingen  Lampen,  um  die  Kristall- 
scheibdien  schimmerten.  Auf  vielen  Leuchtern  und 
Leuchtertischlein  brannten  hier  audi  ganze  Beete 
von  Kerzen,  die  im  Zugwind  wehten  und  qualmten. 
Germar  drängte  sidi  heran,  entzündete  seine  Weihe- 
gäbe  und  steckte  sie  auf.  RüAwärts  an  der  sehr 
sdimalen  Ostwand,  hinter  einen  steinernen  Hoch- 
sätz,  sah  Kuna  im  Wogen  von  Licht  und  Schatten 
ein  strenges  Frauenbild  —  die  heilige  Martyria  auf 
einem  Throne  sitzend;  eine  Hand  kam  über  ihr  aus 
goldener  Wolke  und  reichte  ihr  einen  Kranz.  Das 
also  ist  Santa  Afra,  so  sitzt  sie  jetzt  auf  dem 
Throne.  Zu  beiden  Seiten  dieses  Bildes  brannten 
vielzüngige  Lampen,  von  oben  niederhängend. 
Wenn  die  Lichtlein  vom  Winde  niedergezwungen 
wurden,  dann  schien  die  Heilige  zu  verschwinden 
oder  sich  zu  bewegen,  und  dann  wieder  stand  sie 
wie  greifbar,  wie  ganz  lebendig  vor  ihr.  Kuna 
beugte  ein  Knie,  tief  aufgewühlt.  Sie  selber  hatte 
Bido,  den  Urvater,  nie  bei  seinem  Hleo  mit  Augen 
gesehen,  aber  Adala,  die  Großmutter,  wollte  ihn 
gesehen  haben  und  viele  andere.  Nun  glaubte  iie 
das  mit  zweifelndem  Sinn  Vernommene.  Sie  ging 
seitwärts,  da  traten  ihr  noch  andere  Gestalten  ent- 
gegen: ein  ganz  seltsames  Bildnis  sah  sie,  als  sie 
vom  Volk  weitergeschoben  wurde.  Es  war  ein 
Christuskopf  im  Schnittpunkt  eines  Kreuzes.  In  den 
vier  Ecken  der  Balken  schwebten  geflügelt  ein  Engel, 
ein  Löwe,  ein  Rind  und  ein  Adler. 
Im  Gedränge  merkte  Germar  anfangs  nicht,  daß 
jemand  sich  an  seinen  Pelz  gedrängt  und  förmlich 
in  seine  Falten  geborgen  hatte.  Nun  schaute  er  doch 
nieder  und  sah,  daß  Kuna  an  ihn  geschmiegt  ihr 
Gesicht  in  seinem  Mantel  barg.  „Kuna,  was  ist  dir?" 
Sie  zitterte,  hob  das  bleiche  Antlitz  mit  angstgroßsn 
Augen  zu  ihm  auf  und  versteckte  sich  aufs  neue, 
noch  krampfhafter.  „Kuna,  was  ist  über  dich  ge- 
kommen, sollen  wir  hinausgehen?"  Sie  nickte  leb- 
haft ja,  ja! 
«  Er  drängte  dem  Ausgang  zu,  aber  es  war  unmög- 
lich, hinauszukommen.  Kuna  sah  von  Zeit  zu  Zeit 
auf,  starrte  die  Bilder  an,  und  sogleich  hüllte  sie 
sich  wieder  ein.  „Was  ist  dir?"  —  „Oh,  sie  sind  so 
sdirecklich  nah  .  .  .  schrecklich  sind  sie.  Ich  fürchte 
sie!"  Wohl  verstand  er  die  Schauder  des  Kindes, 
denn  ihm  selber  war,  als  würde  er  von  Augen  aas 
dem  Jenseits  angeblickt.  Er  beugte  sich  zu  Kuna 
hinab:  „Grüße  sie,  es  sind  Huldinnen!" 
Doch  jetzt  erschien  der  Diakon  mit  Ordnern.  Sie 
machten  im  Mittelschiffe  Platz.  Der  Bischof  wird 
mit  seinen  Klerikern  zum  Gotteschenste  einziehen. 
Und  schon  erklangen  die  Glocken  —  unheimlich 
dünkte  es  Kuna,  und  darm  umzauberte  sie  das  hold- 


seligste Flötengetöse,  als  ob  alle  Hirten  zusammen- 
spielten. Germar  kannte  das  seit  langem;  sie  hießen 
Orgel.  Er  umfaßte  seine  Tochter  und  streichelte  sie 
leise,  wie  man  niit  Kosen  Kinder  besckwichtigt.  Die 
Kanoniker  sangen  ein/ieliend  Psalmen.  Der  Bischof 
schritt  an  einem  schön  geschnitzten  Hornstab.  Nun 
blickten  auch  die  Gestalten  an  den  Wänden  ff<^und- 
lichcr,  wurden  klar  und  deutlich  "and  verloren  ihre 
gespenstische  Kraft.  Obwohl  es  sehr  kalt  war,  ver- 
gaßen sie  gleich  den  anderen  Pilgern  ihre  körper- 
lichen Beschwerden  im  Anbeten,  im  Schauen  und 
Schaudern  und  in  der  Freude  über  das  festliche 
Gastmahl  des  Göttlichen. 

Als  sie  ins  Freie  traten,  sah  Germar,  daß  Kuna  ihre 
Kerze  eben  in  ihrem  Täschchen  bergen  wollte.  „Hast 
du  sie  nicht  aufgesteckt?"  fragte  er  betroffen. 
Sie  schüttelte  mit  dem  Kopf. 
„Du  hast  wohl  vergessen?" 

Aber  sie  verneinte  wieder  mit  stummem  Deuten.  D.i 
wußte  er,  daß  sie  ein  Geheimnis  hütete  und  wollte 
sie  nicht  drängen,  aber  da  gestand  sie  auf  einmal 
von  selbst:  „Zürne  nicht,  aber  die  Santa  Afra  hat 
so  viele  Lichter  und  Opfergaben,  und  der  Hleo  un- 
seres Ahnen  ist  seit  den  strengen  Verboten  ohne 
Spenden.  Und  so  ist  es  mir  gekommen,  es  könne 
nicht  Sünde  sein,  ihm  ein  Weihelicht  anzuzünden." 
Germar  ging  einige  Schritt  schweigend  neben  ihr. 
Dann  legte  er  die  Hand  auf  ihre  Schulter  und  ent- 
schied „Licht  —  das  mag  wohl  erlaubt  sein,  das  ist 
wohl  ein  tröstliches  Opfer,  wenn  sie  im  Dunkel 
sind,  wenn  sie  frieren.  Ich  weiß  ja  nicht  . .  .  wer  kann 
das  wissen?" 

Kuna  zeigte  nun  aber  keineswegs  eine  beglückte 
Miene,  denn  sie  hatte  dem  Vater  dennoch  nicht  die 
volle  Wahrheit  gesagt:  Den  Ahnen  wollte  sie  durch 
das  Opfer  gewinnen.  Denn  strenger  noch  als  die 
Lebenden  sind  die  Toten,  wenn  es  gilt,  die  Gesetze 
zu  wahren.  Bido  ist  Adalnis  bitterster  Feind. 
Auf  der  Rückfahrt  holperte  der  Bichnger  Wagen 
inmitten  eines  Zuges  von  Saumtieren  des  Lucius. 
Vorn  unter  dem  Bogen  der  Blähe  saß  Kuna  mit 
starren  Augen,  bleich,  todtraurig  und  so,  als  sähe 
sie  keinen  Sonnenschein  und  hörte  keines  der  mun- 
teren Lieder,  die  die  Knechte  des  Kaufmanns  sangen. 
Adaini  war  nicht  unter  den  begleitenden  Reitern. 
Er  hatte  sich  Lucius  und  Cambos  angeboten,  war 
von  ihnen  angenommen  worden  und  blieb  in  Augs- 
burg. Man  brauchte  seine  Dienste  auf  der  Heimfahrt 
nicht  mehr,  da  die  Leute  des  Kaufmanns  das  Ge- 
leite verstärkt  hatten. 

Nicht  ganz  unerwartet  war  diese  Wende  über  sie 
gekommen.  Erst  hatte  sie  glücklich  darauf  geachtet, 
wenn  Lucius  den  anstelligen  Burschen  Adalni  vor 
dem  Vater  pries  und  wenn  der  Vater  mit  warm.en 


91 


und  ausgiebigen  Worten  in  das  gespendete  Lob  ein- 
stimmte. Dann  aber  hörte  sie  den  Handelsmann 
sagen:  „Solche  Leute  könnte  ich  brauchen.  Unser 
Geschäft  verlangt  einen  guten  Kopf  und  eine  hurtige 
Entschlossenheit,  und  an  Burschen  dieser  Art  fehlt 
es  immer.  Aber  sie  haben  große  Aussicht  bei  uns. 
Was  sagtest  du,  Meier  Germar,  wenn  er  in  meine 
Dienste  träte?"  Der  Vater  runzelte  die  Stirn.  „Solche 
Burschen  kann  auch  ich  gut  brauchen .  . .  Hätte 
Adalni  denn  Lust,  in  die  Stadt  zu  gehen?"  Er  habe 
seit  langem  keinen  anderen  Gedanken.  „Seit 
langem?"  —  „Ja,  deine  Quena  habe  ihn  darauf  ge- 
bracht. Stadt  macht  frei,  habe  sie  ihm  gesagt.  Er  ist 
freigelassen,  aber  was  bedeutet  das."  • —  „Also,  Liut- 
hild  wäre  einverstanden?  Dann  -r-  ich  bin  dir  sehr 
zu  Dank  verpflichtet,  audi  dem  Adalni,  ich  will 
auch  ihn  zum  Kaufpreis  für  das  Saatgut  legen.  Aber 
warum  hat  er  mit  mir  nicht  gesprochen?"  Lucius 
lächelte:  „Er  hat  mich  in  seiner  Angst  voraus- 
geschickt, wie  man  den  Brautvater  sdiickt.  Natürlich 
will  er  alles  von  dir  allein  abhängig  machen." 
Kuna  war,  als  sähe  sie  ihr  Haus  in  Flammen.  Sie 
wollte  zu  Adalni,  ohne  Rücksicht,  wie  in  ein  bren- 
nendes Haus.  Aber  dann  stürzte  .«üe  in  ihre  Kammer, 
niedergeschmettert  von  dem  einen  Gedanken:  Mit 
der  Mutter  hat  er  gesprochen,  mit  dem  Kaufmann, 
und  alles  macht  er  vom  Vater  abhängig  ...  sie  aber 
—  hätte  sie  nicht  das  erste  Wort  verdient?  Noch  er- 
wartete sie  und  gab  ihm  sogar  die  Gelegenheit,  zu 
ihr  zu  kommen.  Da  zertrat  sie  das  eine  Wort  in 
sich,  das  sie  für  ihn  noch  aufgehoben  hatte  und 
sparte  ihm  den  eisigen  Blick  auf,  den  ihr  die  Ver- 
achtung geschmiedet  hatte.  Diesen  bekam  er  dann 
beim  Absdiied  und  sonst  keinen  Finger  —  nichts. 
Und  nun:  wie  ein  ewig  gleichlautender  Krähenruf 
wiederholte  sich  ihr  immerzu  das  eine:  Adalni  ist 
kloig!  Wie  klug  doch  diese  Männer  sind,  auch  Kletu?! 
Ihre  Sache  ist  es  also,  nach  ihrem  Vorteil  zu 
schauen.  Sie  aber  hätte  alles  zurückgelassen  —  Hab 
und  Gut  und  Heimat  und  Sippe  . . .  alles . .  .  wie 
klug  ist  doch  dieser  Adalni!  Sie  stieß  immer  heftiger 
in  einen  brausenden  Zorn  hinein.  Eine  schmähliche 
Klugheit!  Hat  sie  ihm  denn  etwas  gekostet?  Mit 
Verrat  im  Herzen  ist  er  bereits  auf  diese  Fahrt  ge- 
gangen und  darum  also  munter  und  in  guter  Laun^-. 
Und  ihr,  die  wie  ein  gebundenes  Opfertier  auf  dem 
Wagen  saß,  hat  gerade  seine  Munterkeit  ins  Herz 
geschnitten,  und  sie  hat  .mit  sich  gerungen,  ob  sie  es 
dem  Ahnungslosen  kundtun  soll.  Aus  Erbarmen  hat 
sie  es  unterlassen,  in  der  kleinen  Hoffnung  auf 
einen  möglichen  guten  Ausgang.  Ihm  wäre  auch  die 
schmähliche  Ehe  mit  Kletus  einerlei  gewesen.  Und 
ich  habe  ihn  Reginald  an  die  Seite  gestellt! 
Das  einzige  Wort,  das  ihr  Bruder  nachher  Adalnis 


wegen  zu  ihr  sagte,  war:  „Siehst  du,  ein  schlauer 
Bursche,  der  weiß,  wo  er  sich  einpflanzen  muß,  um 
wachsen  zu  können.  Das  ist  das  einzige,  was  wir 
von  ihm  lernen  können."  Aber  Reginald  benahm 
sich  dabei  so  übermütig  und  fröhlich,  wie  man  es 
bei  ihm  gar  nicht  gewohnt  war.  Er  griff  sie,  hob  sie 
auf  die  Schulter  und  sprang  mit  ihr  über  den 
Brunnentrog  und  einen  Zaun  wie  ein  tolles  Fohlen. 
Ein  ähnlicher  Überschwang  war  über  den  Vater 
und  die  Mutter  gekommen,  ja  über  die  ganze  Mark. 
Späher  hatten  die  heimkehrenden  Kornwagen  schon 
auf  der  Hochstraße  erlauert.  Und  dann  sprengte  die 
ganze  Jugend  zu  Pferde  den  Heimkehrenden  ent- 
gegen; die  alten  Männer  und  Frauen  folgten  in  ge- 
messenem Trab.  Die  Mädchen  hatten  schon  Kränze 
aus  Schlehdomblüten  gewunden,  die  Burschen  Zweige 
von  den  Eiben  geschnitten  und  stark  duftenden 
Seidelbast  aus  dem  Walde.  Damit  schmückten  sie  die 
Zugpferde  und  Wagen,  den  Meier  und  Hramuth  und 
Liauthari.  Kuna  bekam  ein  Kränzchen  .von  Schnee- 
glöcklein.  So  holten  sie  die  Heimkehrer  heim.  Sie 
wurden  gefeiert  wie  die  ersten  Garben  der  neuen 
Ernte,  wie  Sieger  in  einem  schweren  Kampf.  Liuthild 
schenkte  daheim  der  Toditer  einen  schönen  Armreif, 
Sie  und  der  Vater  benahmen  sich  zu  ihr,  als  sei  sie 
aus  einer  tapfer  bestandenen  Gefahr  zurückgekehrt. 
Beide  gingen  mit  ihr  noch  am  ersten  Abend  zum 
Totengarten  hinaus,  wo  sie  auf  Waltrams  Grab- 
stätte die  Kerze  anzündeten.  Kuna  blieb  nodi  eine 
Weile,  als  die  Eltern  bereits  weggegangen  waren. 
Sie  neigte  sich  nieder:  „Santa  Afra  und  ihr,  selige 
Ahnen,  ihr  habt  es  besser  gewußt,  ihr  habt  geschenkt, 
indem  ihr  verweigert  habt." 

Schon  auf  der  letzten  Wegstrecke  hatte  sich  das  trübe 
Wetter  gebessert,  der  Neuschnee  war  vor  der  Sonne 
geschmolzen,  milde  Lüfte  wehten.  Endlich  sah  es  so 
aus,  als  habe  sich  der  Himmel  wie  die  Erde  wieder 
darauf  besonnen,  daß  sie  geschaffen  seien,  Wachs- 
tum und  Gedeihen  zu  bringen.  Ein  Frühlingswetter 
donnerte  aus  lauen  Regensträhnen,  und  alsbald  löste 
die  heiterste  Sonne  den  befruchtenden  Regen  ab. 
Kann  es  denn  sein,  daß  das  unholde,  feindselige 
Wesen  der  Lüfte  sich  gewandelt  hat?  Die  Welt 
lächelt  wieder,  liegt  in  Urbehagen  da,  friedlich, 
lockend,  eine  Mutter,  die  ihre  Kinder  kost  und 
nährt. 

Der  Meier  verteilte  das  Korn  sorgfältig  und  streng. 
Wer  Geld  oder  andere  Werte  gegeben  hatte,  erhielt 
den  angemessenen  Teil,  die  anderen  bekamen  gegen 
Pfänder  und  gegen  Stäbe,  in  die  Frondienste  ein- 
gekerbt waren.  Nicht  alle  brachen  Äcker  konnten 
angebaut  werden.  Aber  nicht  ein  einziger  Höriger 
oder  Kleinhuber  war,  der  nicht  ein  wenig  Hafer 
und  Gerste  hatte  ansäen  können.    Der  Roggen  und 


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die  Feesen  wurden  sorgfältig  für  die  Herbstsaat  auf- 
gehoben. Bald  sangen  die  Lerdien  über  grünendem 
Feld.  Die  erkrankte  Erde  jauchzte  ihre  Genesung  und 
ihren  Frieden  in  die  wachsenden  Tage  hinein.  Die 
Sdiwerter  schUefen  an  ihren  Haken.  Thassilos  He- 
rislis  mußte  der  Notzeit  wegen  ungestraft:  bleiben 
und  schien  mit  der  Zeit  über  den  aquitanischen 
Kämpfen  König  Pippins  vergessen  zu  sein.  Dieses 
große  Hungerjahr  aber  war  ein  großer  Sieg  der 
Trolle  und  Drachen.  Über  viele  Äcker  wuchs  ander- 
wärts wieder  der  Wald,  viele  Firste,  auf  denen 
Störche  genistet   und   unter  denen  wadiere  Bauern 


mit  ihrem  Nachwuchs  gehaust  hatten,  vei  faulten  und 
sanken  in  sich  zusammen.  So  sehr  hatte  der  Tod 
unter  den  Leuten  aufgeräumt.  Die  in  ödungen 
vorgestoßenen  Siedlungen  verfielen  aufs  neue  dem 
wuchernden  Gestrüpp  und  wurden  zu  Sdilupf- 
winkeln  des  Raubwildes.  Die  Mensdien  wichen  zu- 
rück in  die  fruchtbaren  Täler,  geminden  an  Zahl,  ge- 
sdiwächi  und  gelähmt.  Aber  wie  dieses  wunderbare 
Geschlecht  nun  einmal  ist:  wenn  es  seinem  Leben  in 
endlosem  Unwetter  geflucht  hat,  so  genügen  ein  paar 
wonnevolle  Maitage,  um  es  aufs  neue  mit  himmel- 
stürmenden Plänen  zu  füllen. 


93 


BEMERKUNGEN 


Am  29.  April  d.  J.  beging  Peter  Dörfler  seinen  70.  Geburtstag.  Aus 
diesem  Anlaß  wurde  er  zum  päpstlüen  Hauspiälaten  ernannt. 
Viele  wurden  erst  dadurch  darauf  aufmerksam,  daß  der  Diditer 
neben  seiner  künstlerischen  Berufung  auch  noch  als  Priester  einen 
Beruf  ausübt,  der  nicht  minder  Berufung  ist.  So  wird  die  Kraft 
seines  Wortes  in  zwiefadier  Hinsicht  gerühmt:  es  rühmt  sie  an 
seinen  Diditungen  der  feine  Kenner  der  Spradie,  aber  es  rühmt  sie 
ebenso  unter  dem  Eindruck  seiner  Predigten  der  einfädle  Mann  des 
Volkes.  Den  Kindern  des  von  ihm  geleiteten  Waisenhauses  in 
München  ist  er  ein  gütiger  Vater.  Kraft,  aus  tiefen  Wjrzcln 
quellende  Kraft,  und  eine 
aus  lebendigem  Gottesbewußt- 
sein leuchtende  Güte  sind 
wohl  überhaupt  die  bestim- 
menden Züge  dieser  sdiwcr- 
blütigen,  wuchtigen  Sdiwa- 
bengestalt,  in  der  sidi  wie  in 
einer  Rebe  irdischer  Stoti 
siditbar  in  Geist  zu  verwan- 
deln   scheint. 

Die  Apollonia-Trilogie  vor 
allem  sowie  das  weitverbrei- 
tete Insel-Bändchen  „Jaco- 
bäas  Sühne"  haben  Peter 
Dörfler  den  Ruhm  einge- 
tragen, der  Heinrich  Federer 
des  Allgäus  zu  sein.  Und  in 
der  Tat  liegt  in  dem  Ver- 
gleicii  mit  diesem  anderen 
Priester  diditer,  der  ahnlidi 
frei  von  enger  Kirchlichkeit 
und  ebenso  sprachmächtig  die 
Heimatkunst  seiner  Sdiwei- 
zer  Romane  und  Erzählun- 
gen zu  europäischem  Rang 
erhob,  vieles  ausgedrückt, 
was  das  Wesen  des  Dörfler- 
schen  Werkes  ausmacht.  Aber 
nur  eines  Teiles  seines  Wer- 
kes; denn  der  andere  um- 
spannt die  Geschichte  des 
Abendlandes.  Man  denke 
sich  in  den  Allgauer  Bergen 
einen  Hütejungen,  in  dem 
unbewußt  die  schöpferisdic 
Gestaltungskraft  gart  und 
den  die  Inbrunst  seines  un- 
vedbrauchten  Blutes  zum 
Lernen  .  in  die  Stadt  treibt: 
wie  er  die  Botschaft  des 
Geistes  aufnimmt,  wie  er 
wadi  auf  alles  merke,  was 
ihm  begegnet,  wie  er,  der 
mit  der  Reinheit  einer  ur- 
sprünglidien  Natur  nodi  zu 
erstaunen  vermag,  Kennt- 
nisse empfängt,  die  anderen 
geläufig,  allzu  geläufig 
sind,  die  er  aber  sich  be- 
dächtig Stück  für  Stüdc  einverleiben  muß,  weil  leere  Formeln  ihm 
unverständlicJi  bleiben.  Da  wird  alles  zur  Ansdiauung,  rund  und 
farbengesättigt,  nichts  bleibt  blaß  oder  veischwommen.  Und  man 
bedenke  auch,  daß  dieser  junge  MensJi  nidit  unberaten  wertvolle 
Zeit  zu  vergeuden  braucht,  sondern  daß  er  sogleich  aufgefangen 
.  und  geleitet  wird  von  einer  erfahrenen  Institution,  deren  erziehe- 
rische Weisheit  schon  immer  besonderen  Wert  gelegt  hat  auf  den 
Nachwuchs  aus  frischem  bäuerlichen  Blut.  Dörfler  studiert  katho- 
lisdie  Theologie.  In  diesen  Bahnen  drängt  sein  Lerneifer,  seine 
Kultursehnsucht  zuditvoll  und  sinnbewußt  weiter.  Das  Studium  der 
christlichen  Arciiäologie '  sdiHeßt  sidi  an  das  theologische.  Dann 
kommt  er  nacii  Rom,  und  er  darf  abermals  sciiaucnd  erleben  und 
umsetzen  in  lebendige  Anschauung,  was  er  bereits  aus  Büdiern 
weiß:  die  Welt  des  Mittelmeers,  den  antiken  und  diristlichen  orbis 
terrarum. 

Die  Zeugnisse  dieser  lebendigen  Gesdiichiserfahrung  sind  seltsamer- 
weise weniger  ins  deutsciie  Publikum  gedrungen  als  die  Allgäu- 
Romane.  Und  dodi  steht  der  Diditer  Peter  Dörfler  ebenso  sicher 
in  der  Welt  der  Geschidite  wie  im  Bezirk  seiner  Heimat.  Daß  er 
beide  Bereiche  brudilos  in  sich  zu  vereinigen  \ermag,  ist  die  be- 
sondere    Gunst    seiner    in    organisdien    Ringen    gewachsenen,     viei- 


schichtigen  Persönlichkeit;  es  ist  die  Gnade  des  Ursprungs.  So  sei 
an  dieser  Stelle  nadidrüdclidi  verwiesen  auf  jenes  Werk,  das  Peter 
Dörfler  am  besten  als  den  Diditer  des  historischen  Romans  aus- 
weist, der  er  in  unübertroffener  Meistersdiaft  ist:  auf  den  Roman 
.,Die  Schmadi  des  Kreuzes";  es  sei  zugleich  eine  Lanze  für  das  zu 
Unrecht  halbvergessene  Buch,  das  im  Byzanz  des  7.  Jahrhunderts 
spielend,  das  Sdiicksal  des  Christentums  und  des  Abendlandes  unter 
dem  Ansturm  der  Perser  und  Avaren  darstellt  und  eine  Weltwende 
verdeutlicht,  da  die  germanischen  Reiche  Nordafrikas  noch  ihre 
letzten   Ausläufer   hereinschidten,   während   in   der   arabischen   Wüste 

schon  ein  neuer  Stern  auf- 
geht: der  feurige  Komet 
Mohammeds.  In  der  Art,  wie 
dieser  leuchtend  bunte  und 
figurenreiche  Teppidi  ge- 
wirkt ist,  gelang  ein  neuer 
Typus  des  historischen  Ro- 
mans, dessen  Eigenständig- 
keit sich  auch  neben  deü 
modernsten  Leistungen  auf 
diesem  Gebiet  behaupten 
wird.   — 

Der  Roman  ,,Der  Urmeier", 
aus  dem  das  abgedruckte  Ka- 
pitel mit  freundlicher  Er-' 
laubnis  des  Verfassers  ent- 
nommen ist,  wird  voraus- 
sichtlich noch  in  diesem 
Herbst  beim  Verlag  Karl 
Alber,  München,  erscheinen. 
Einige  altertümliche  Aus- 
drüdte,  die  darin  vorkojn- 
men,  seien  zum  besseren 
Verständnis  hier  kurz  in 
ihrer  neuhodideutsdien  Be- 
deutung wiedergegeben;  Buint 

—  Obstgarten  beim  Haus; 
Ding  —  Gerichtsversammlung 
bei  den  germanischen  Stäiu-  - 
men;  Mage  bezeidinet  in  der 
germanischen  Rechtsspradie 
Seiten  verwand  tschaft;   Betbur 

—  Bethaus,  Kirdie;  Quena  — 
Eheweib;  Walche  —  Welsche, 
Römer;  Sdialk  —  Knecht; 
Herislis  —  eigenmächtiger 
Ausbrudi  aus  der  Heeresfolge 
(Desertion) ;  Hleo  —  Grab- 
hügel; Etter  —  Zaun. 


Das  Schlußbild  unter  Mon- 
taignes  Tagebuchnotizen  auf 
Seite  28  zeigt  ein  Gitter  aus 
dem  Ulridimünster  (Photo 
S.  Rostra).  —  Die  Plastik 
auf  Seite  22  ist  eine  Figur 
A.  Dauchers  d.  Ä,  aus  der 
Fuggerkapelle    (Photo    Stadt. 


Kunstsammlungen).  —  Die  Photovorlagen  zu  dem  Miniaturporträt 
Wolfgang  Amadcus  Morarts  auf  Seite  34  und  dem  Bildnis  Leopold 
Mozarts  auf  Seite  37  stellte  in  liebenswürdiger  Weise  der  Alfons 
Bürger- Verlag,  Lorch/Württ. — Stuttgart,  zur  Verfügung.  Sie  sind 
dem  Bilderteil  des  dort  demnädist  erscheinenden  Bandes  ..Ein 
schwäbisches  Mozartbudi"  von  Ernst  Fritz  Sdimid,  dem  Verfasser 
des  Beitrages  ,, Mozarts  Urheimat'*,  entnommen. 

* 
Das  Gemälde,  das  den  Maler  Hans  Burgkmair  und  seine  Ehefrau  dar- 
stellt, wurde  lange  für  ein  Selbstbildnis  gehalten.  1936  stellte  sich 
indessen  bei  einer  Reinigung  der  Tafel  heraus,  daß  sie  die  Signatur 
Lucas  Furtenagel  trägt.  Dieser  wurde  1505  in  Augsburg  geboren 
und  war  ein  Sdiüler  Burgkmairs.  Nach  dessen  Tod  verließ  Lucas 
Furtenagel  Augsburg  und  ging  zunächst  wahrscheinlich  zu  Luxas 
Cranach  nach  Wittenberg,  wo  er  Luther  kennenlernte.  1538  ist  er  in 
Halle  nadizuweisen.  1546  malte  er  ein  Bildnis  Luthers  auf  dem 
Totenbett. 

* 

Die  Illustrationen  zu  der  Erzählung  von  Peter  Dörfler  zeichnete 
Mirka  Szewczuk. 


94 


MERIAN> 


\ 


STÄDTE        UND        L.ANDSCHAFTEN 
EINE        MONOGRAPHIEN     REIHE 

Bisher   erschienen: 


WÜRZ  B  UR  G 

Inhalt:  Anton  Dörfler,  An  den  Main  Friedrich  Sdinack,  Mainfränkisdier  Seelen- 
spiegel /  Georg  Britting,  Gang  durch  das  Weindorf  /  Matthaeus  Merian,  Historische 
und  wahrhafftige  Beschreibung  Lina  Staab,  Alte  Brücke  Heinrich  von  Kleist,  Dra- 
matische Landschaft  Ina  Seidel,  Der  traurige  Jahrmarkt  Hermann  Hesse,  Wasser- 
marm  und  Madonna  /  Rudolf  G.  Binding,  Würzburger  Marien  '  Max  Dauthendey, 
Der  Hahnenschrei  Anton  Sdinack,  Liebesbrief  aus  Würzburg  /  Max  Meister, 
Würzburg  1945  Leo  Weismantel,  Totenk'age  über  eine  Stadt  ;'  Max  H.  v.  Freeden, 
Vergänglichkeit  der  Kunst  /  Max  Meister,  Trümmer  /  Michael  Meisner,  Dionysisches 
Memento  ,  Hans  Löffler,  Ein  Zukunftsbild. 

LÜBECK 

Inhalt:  Martin  Coyken,  Lübeii,  Gestalt  und  Geschichte  '  A.  von  Brandt,  Geist  des 
Mittelalters  /  Wolf  gang  J.  Müller,  Sankt  Marien,  Thomas  Mann,  Anno  U48  Kurt 
Klugkist,  Musikalische  Tradition  /  Otto  Anthes,  Der  Turm  Hans  Ewers,  Die  große 
Ida  /  Thomas  Mann,  Lübeck  als  geistige  Lebensform  /  Gustav  Hillard,  Bilder  der 
Kindheit ,  Heinrich  Leippe,  Das  Gehäuse  des  Lebens  ,'  Abraham  Enns,  Gemeinschaft 
der  Heiligen  Isa  Vermehren,  Verwandlungen  einer  Stadt  Jan  Molitor,  Hinter  dem 
Holstentor  ,  Axel  Use,  An  der  Zonengrenze  ,'  Otto  Anthes,   Lübische  Geschiditen. 

KÖLN 

Inhalt:  Ricarda  Huch,  Köln  im  alten  Reich  Sulpiz  Boisseree,  Der  Dombau  ,  Die 
Sage  vom  Dombaumeister  /  Alfons  Paquet,  Leben  am  großen  Strom  Georg  Forster, 
Der  Tempel  '  Bettina  Brentano,  Capriccio  Jacob  Burckhardt,  Das  Wagnis  der 
Vollendung  ,  Josef  Leitgeb,  Der  geometrische  Berg  ,  Lis  Bohle,  Köln  —  München  — 
Paris  ,' Hans  Schmitt,  Carneval  triste  /  K.  Zimmermann -Jatho,  Sdiutzgeister  eines 
kölnischen  Kindes  /  Stefan  Andres,  In  der  heiligen  Stadt  ,  Paul  Gurk,  Meister  Ecke- 
hart  /  Alfons  Paquet,  Die  Metropole  /  Hans  Jakob  Hässlin,  Agrippinische  Phantasie  / 
Carl  O.  Jatho,  Gespräch  am  Abgrund  der  Zeit  Heddy  Neumeister,  Gesang  aus  der 
Krypta   Walter  Henkels,  Ende  und  Anfang    Rudolf  Schwarz,  Die  Stadt  der  Zukunft. 


Vorbereitet  oder  geplant  sind  lueiterhin  Hefte  über  :  Mannheim, 
Stuttgart,  Hamburg,  Mainz,  Worpsii-ede,  Trier,  Essen,  Frankfurt. 


HOFF    MANN        UNDCAMPE        VERLAG     -HAMBURG 


Princeton  Theoloqical   Seminary  Libraries 


illl  II. II III 
012 


01357  0744 


WIE  WEILAND  MATTHAEUS  MERIAN  AM  AUSGANG  DES  DREISSIGJÄHRIGEN  KRIEGES 
mit  seinen  berühmten  Städtebildern  und  Landsdiaftssdiilderungen  den  Lebensbereich  umschrieb,  der  dem  deutsch  en  Volke 
nach  den  furchtbaren  Verheerungen  verblieben  war,  so  gilt  aucJi  für  uns  wieder,  sich  eine  Anschauung  zu  verschaffen  von 
der  verwandelten  Landschaft,  in  der  unser  Leben  heute  spielt.  Auch  Merian  widerfuhr  das  Sdiicksal  unserer  Generation: 
vieles,  was  er  geliebt  und  dargestellt  hatte,  sank  durch  den  Dreißigjährigen  Krieg  in  Schutt  und  Asdie.  Sein  Wirklichkeitssinn, 
der  ihn  die  Städte  so  scharf  und  getreu  zeichnen  ließ  wie  keiner  vor  ihm,  erwuchs  einem  Daseinsgefühl,  das  zutiefst  den 
Schauder  der  Vergänglichkeit  erfahren  hatte.  Als  Merian  das  weitgespannte  Werk  seiner  Topographia  Germaniae  schuf,  das 
seine  Erben  dann  vervollständigt  haben,  folgte  er  seinem  künstlerischen  Trieb  und  gehorchte  damit  zugleich  einem  AruTif 
der  Zeit.  So  gelang  ihm,  die  Frucht  der  eigenen  zahlreichen  Wanderfahrten  einbringend,  aber  auch  fremde  Arbeit  verwertend, 
den  Bestand  aufzunehmen,  d.  h.  jenen  Besitz,  dessen  sich  zu  vergewissern  und  auf  den  sich  zu  besinnen  not  tut,  denkt  man 
überhaupt  an  ein  Weiterleben  im  Bewußtsein  geistiger  Herkunfl. 

MERIAN  griff  dabei  mit  einer  Selbstverständlichkeit  auf  die  Städte  zurück,  die  uns  zu  denken  geben  muß.  In  der  Tat  sind 
sie  die  eigentlichen  Elemente  der  europäischen  Kultur,  und  ganz  besonders  sind  sie  es  in  Deutschland.  Mögen  sie  auch  heute 
zerstört  daliegen,  so  verkörpern  doch  selbst  ihre  Trümmer  noch  einen  Ordnungsgedanken,  eine  Lebensform,  eine  Kulturidee, 
und  in  dieser  geistigen  Gestalt  sind  sie  unauslöschbar. 

MERIAN  leistete  damit  für  seine  Nachfahren  das  gleiche,  was  das  dokumentarische  Bild  jüngst  vernichteter  Schätze  der- 
einst unseren  Kindern  bedeuten  wird.  Und  doch  gab  auch  er  schon  mehr  als  nur  einen  Bericht  von  Gewesenem.  Er  zeigte, 
daß  neben  Haß  und  Neid,  Maciitpolitik  und  entfesselter  Gewalt  es  auch  noch  anderes  gibt,  das  in  den  Herzen  der  Menschen 
wohnt  und  sogar  auch  außer  ihnen  Gestalt  gewinnt.  Es  ist  der  friedliche  Bürgerfleiß,  der  sich  ein  Haus  erbaut,  eine  Stadt, 
einen  Dom.  Es  ist  der  Schönheitssinn,  der  Blick  für  Maß  und  Form,  der  eine  äußere  Welt  sich  anverwandelt.  Geduckte  Dächer, 
Brücken  und  ragende  Türme:  die  Werke  des  engen  Alltags  wie  der  Sehnsucht  nach  dem  Hohen  und  Ewigen,  sie  zeigte 
Merian  eingebettet  in  die  Landschaft  der  Heimat!  So  wurde  er  zum  Schilderer  der  wahren  Kultur-Landschaft,  in  der  Natur 
und  menschliche  Siedlung  zur  Einheit  verschmolzen  sind  und  die  der  klarste  Spiegel  ist  der  Seele  eines  Volkes  und  einer  Zeit. 

MERIAN,  der  unermüdliche  Wanderer  und  Städteschilderer,  ist  mehr  als  nur  ein  Künstlername.  Schon  seine  eigenen  Söhne 
und  Schüler  gebrauchten  ihn  als  Signum  und  Symbol,  unter  dem  sie  das  von  ihm  begormene  Werk  fortsetzten.  Und  diese 
Arbeit  ist  keineswegs  beendet,  sie  ist  vielmehr  heute  aktueller  als  je.  Denn  wiederum  gilt  es  mit  wachem  und  zugleidi 
ordnendem  Geiste  auszufahren  und  das  Bild  des  uns  verbliebenen  Lebensbereiches  einzubringen,  damit  wir  uns  in  der  neuen 
Wirklichkeit  beheimaten  können.  Diese  Wirklichkeit  umgreift  freilich  mehr  als  das  Trümmerfeld,  das  sich  da  und  dort  dem 
ersten  Blick  darbietet.  Sie  umspannt  die  geistige  Gestalt  einer  Stadt  und  einer  Landschaft,  wie  sie  historisch  geworden  und  wie 
sie  in  alle  künftige  Gestaltung  hinein  fortwirkt.  Und  sie  schließt  endlich  auch  die  jeweilige  Atmosphäre  in  sidi  ein,  die 
Besonderheit  des  Lebens  an  einem  bestimmten  Ort.  Auf  den  Spuren  Merians  und  in  seinem  Geiste  wird  die  Monographienreihe 


<MERIAN> 


mit  modernen  Mitteln,  doch  in  jener  engen  Verbindung  von  Won  und  Bild,  für  die  Merian  das  große  Beispiel  gab,  die  Lande 

durchstreifen  mit  dem  Ziel:  die  wirkliche  Gestalt  unseres  Lebens  zu  erkennen  in  den  materiellen  und  geistigen  Zügen  unserer 

Städte  und  Landschaften  wie  im  seelischen  Gepräge  ihrer  Bewohner. 


HOFF  MANN   UND   CAMPE   VERLAG 


HAMBURG