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^OTTO HARRASSOWITZ
BUCHHANDUUNG-ANTIQ,
■LEIPZIG:
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AUGUST WEISMANN
SEIN LEBEN UND SEIN WERK
VON
ERNST GAUPP f
WEIL. O. Ö. PROFESSOR DER ANATOMIE UND DIREKTOR DES KÖNIOL. ANATOMISCHEN
INSTITUTS DER UNIVERSITÄT BRESLAU
JENA
VERLAG VON GUSTAV FISCHER
1917
Z XI
Q
\wc3
Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort des Herausgebers.
Ernst Gaupps Arbeiten wurden durch seinen plötzlichen
Tod am 23. November 1916 jäh abgebrochen. Jetzt muß fremde
Hand dieses nachgelassene Werk herausgeben und legt es dem
großen Kreis derer vor, die sich für Naturwissenschaft interessie-
ren, nicht nur, wie es Gaupps Wunsch gewesen wäre, als ein
Stück jüngste Geschichte der Biologie und eine lebendige Dar-
stellung des Lebenswerkes eines ihrer genialsten Forscher und
tiefsten Denker, sondern auch als ein schönes Zeugnis für das
menschlich liebevolle, und zugleich wissenschaftlich so besonders
feinsinnige Verständnis des Morphologen Gaupp für biologische
Probleme.
Das Werk war druckfertig samt Anmerkungen, der Verfasser
hätte vielleicht eine letzte Überarbeitung vorgenommen, denn er
pflegte auch nach der stiHstischen Seite seine VeröffentUchungen
aufs Gewissenhafteste durchzuführen, der Herausgeber wollte aber
hier keinen fremden Eingriff vornehmen und hat, von der Aus-
tilgung einiger offenbarer Fehler und der Vervollständigung ein-
zelner Anmerkungen und des Literaturverzeichnisses abgesehen,
nichts verändert.
Man darf wohl sagen, gerade beim Lesen dieses Werkes
merken die jüngeren Generationen Naturforscher erst recht, wie
selbstverständlich uns viele Dinge geworden sind, für die Weis-
mann noch kämpfen mußte oder die erst er geschaffen hat.
Man sieht, wir haben von seinem Werke schon den nötigen
historischen Abstand, es verdiente geschichtliche Darstellung. So
möge dieses Kabinettstück aus der Geschichte der Naturwissen-
schaften, wie es Gaupp meisterhaft gezeichnet hat, zugleich eine
glänzende Darstellung der Weismannschen Theorie selbst und
— IV —
eine gelungene Einführung in die Gedankengänge moderner Ver-
erbungslehren, freundUche Aufnahme finden im großen Kreise
derer, die der Aufschwung der Naturwissenschaften, die Schicksale
des Materialismus, das Entstehen und Vergehen von Theorien
fesselt als Teile und Entwicklungen unserer Gesamtkultur —
Kulturwissenschaft — wie auch bei jenen, die nur die Zoologie und
Biologie als solche interessiert, und die schaffend oder aufnehmend
mithelfen, die Rätsel der lebendigen Welt zu lösen und zu deuten
— Natiurwissenschaften — beide verbindend, die doch letzten
Endes gerade hier wieder als eins gezeigt werden.
Ettlingen, JuU 1917.
Eugen Fischer
(Freiburg i. B.j
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung i — 3
Erster Abschnitt. Das Leben. Der Mensch 4—29
Zur Einleitung 4
Lebenslauf 5
Persönlichkeit i?
Zweiter Abschnitt. Die Spezialarbeiten 30 — 56
Wissenschaftliche Tätigkeit Weismanns. Übersicht 30
Chemische Arbeiten 3°
Histologische Arbeiten 3'
Embryologische Arbeiten 32
Allgemein-biologische Arbeiten , , . . . 32
Studien zur Deszendenztheorie 34
Biologie der Süßwasserfauna, Daphnoidenstudien, parthenogonische und
zyklische Fortpflanzung 43
Die Hydromedusenstudien. Bildung der Keimzellen 54
Dritter Abschnitt. Erste Stellungnahme zur Darwinschen Theo-
rie. Dauer des Lebens, Herkunft des Todes 57 — "2
Abstammungslehre von Darwin und Lamarck 57
Erste Stellungnahme Weismanns zur Darwinschen Theorie: die An-
trittsrede von 1868. Arbeitsprogramm 64
Dauer des Lebens. Herkunft des Todes 68
Vierter Abschnitt. Die Kontinuität des Keimplasmas als Grund-
lage der Weismannschen Vererbungslehre. Die Vererbung
erworbener Eigenschaften 73 — io7
1. Vererbung: Bedeutung, Begriff, stoffliche Bedingtheit. Darwins
Pangenesishypothese 73
2. Die Kontinuität des Keimplasmas 76
3. Die Vererbung erworbener Eigenschaften 82
Das Problem 82
Somatogene und blastogene Eigenschaften 84
Angebliche Vererbung von Verletzungen und Verstümmelungen . 85
Angebliche Vererbung von funktionellen Abänderungen 87
— VI —
Seite
Harmonische Anpassung (Koadaption) 88
Anpassungen der Ameisenneutra 89
Anpassungen der bloß „passiv wirksamen" Teile und Merkmale . 92
Instinkte ... 96
Geistige Fähigkeiten, spezifische Talente. Der Musiksinn ... 96
Zusammenfassung 100
Vererbung von Veränderungen, die durch das Medium bedingt sind 10 1
Ergebnisse. Übertragung derselben auf die Einzelligen . . . .104
Die Mnemetheorie von Semon; Weismanns Stellung zu derselben . 106
Fünfter Abschnitt. Befruchtung- und Keimzellenreifung- . . . 108 — 125
1. Vererbung und Zweielternzeugung . . . ._ 108
2. Befruchtung 109
Altere Auffassung. Entwicklung der Tatsachenkenntnisse . . . 109
Befruchtung und Konjugation als Amphimixis und als Quelle erb-
licher Variation 112
3. Reifung der Keimzellen 113
Bildung und Bedeutung der Richtungskörperchen, erste Deutung . 113
Das Reduktionsproblem. Frühere Auffassung Weismanns . . .115
Spätere Auffassung der Reduktionsvorgänge ; Beziehungen zu den
Mendelschen Vererbungserscheinungen 120
4. Reifung und Befruchtung als Quelle erblicher Variation . . . .124
Sechster Abschnitt. Weiterer Ausbau der Keimplasmatheorie:
die Determinantentheorie 126 — 154
„Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung" 126
Fragestellung 126
1. Der Bau des Keimplasmas 127 •
Vererbungssubstanz. Die Chromosomen als Träger der Vererbungs-
tendenzen 127
Nägelis Idioplasma, Umgestaltung des Idioplasmabegriffes durch
Weismann. Biophoren und Determinanten 129
Die Ide. Wechsel der Anschauung Weismanns hinsichtlich der
Natur der Chromosomen 132
2. Die Betätigung des Keimplasmas in der Ontogenese 139
Das Problem 139
Ontogenetische Zerlegung des Keimplasmas 140
Kampf der homologen Determinanten untereinander; Bedeutung für
die Vererbungserscheinungen; alternierende Vererbung (Mendel) 141
Beeinflussung der Entwicklung durch äußere Einwirkungen . . .144
Neben- (Reserve-, Regenerations-) Idioplasma 145
Erbgleiche und erbungleiche Teilung 146
3. Allgemeine Betrachtung der Determinantenlehre 147
Die Determinanten theorie als Theorie der Vererbung . . . . .147
Die Determinantentheorie als Theorie der Entwicklung . . . .149
Hypothetischer Charakter der Theorie 153
— VII —
Seite
Siebenter Abschnitt. Fersoualselektion : natürliche und ge-
sclileclitliclie Zuchtwahl . . , 155 — 217
I. Artenzüchtung (natürliche Zuchtwahl, Naturzüchtung) 156
Wesen und Begründung der Zuchtwahllehre. Notwendigkeit ihrer
Prüfung 156
Übersicht über Weismanns Stellung zu Darwins Zuchtwahllehre . 159
Prüfung der Zuchtwahl im einzelnen 161
1. Aufgabe 161
2. Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der Naturzüchtungsvorgänge 162
a) Einfluß der Isolierung auf die Artbildung 162
b) Selektionswert der Anfangs- und Steigerungsstufen der Ab-
änderungen. Abänderungen in kleinen Schritten . , . .164
c) Freiwillig gewählte Änderungen in den Lebensbedingungen.
Divergente Entwicklung auf demselben Gebiete . . . . i6r6
d) Die natürlichen Beschränkungen in der Wirksamkeit der
Naturzüchtungsvorgänge 169
Beschränkungen, die aus dem Wesen der Naturzücbtung
selbst folgen 170
Beschränkungen der Naturzüchtung, die in den Organismen
liegen 172
Beschränkungen der Naturzüchtung, die in den Verhält-
nissen der Umwelt liegen 174
3. Leistungsfähigkeit der Selektionstheorie für die Erklärung der
phyletischen Entwicklung der Organismen 174
a) Fragestellung 174
b) Zuchtwahl oder inneres Vervollkommnungsprinzip? . . .174
Nägelis Theorie der direkten Bewirkung 175
Die Organismen als Anpassungskomplexe 178
Regeneration als Anpassungserscheinung 185
Die Schicksale der Arten als Anpassungserscheinungen . .187
Mutationstheorie 188
c) Zuchtwahl oder direkte Bewirkung durch äußere Einflüsse
und Funktion? 190
a) Direkt umwandelnder Einfluß der äußeren Bedingungen 190
ß) Direkte Anpassung durch Gebrauch und Nichtgebrauch 193
Phyletische Vervollkommnung eines Teiles durch Per-
sonalselektion 194
Phyletische Verkümmerung nutzloser Teile als Folge
von Personalselektion 195
Beweise gegen den Lamarekismus 196
Funktionelle Anpassung (Roux). Partialauslese . . 200
4. Ergebnis der Prüfung der Zuchtwahllehre: Neo-Darwinismus . 206
IL Sexuelle Züchtung (geschlechtliche Zuchtwahl) 207
III. Ergänzungsbedürftigkeit der Darwin-Wallaceschen Zuchtwahllehre . 212
— VIII —
Seite
Achter Al)schnitt. Herkunft erblicher individueller Variationen.
Germinalselektiou 218 — 250
Variabilität der Organismen. Erbliche und nichterbliche Abiinderungen 218
Die erblichen individuellen Variationen, ihre Ursache und Art . . .219
Variabilität als Folge der Wechselwirkung der äußeren Einflüsse und
der physischen Natur der Organismen 220
Variabilität als B^olge der Vermischung der Individuen (Amphimixis) . 223
Variabilität als Folge von Germinalselektion 226
Die verschiedene Ernährung der Determinanten als Grund für ihre
Veränderung 228
Beibehaltung der eingeschlagenen Variatibnsrichtung ; Grenzen der
Schwankungen; Korrelation der Determinanten 229
Wesen der Determinantenveränderungen; Wirkungen auf das Soma
(die Determinaten) 232
Ursachen der Ernährungsschwankungen. Spontane und induzierte
Germinalselektion 234
Germinalselektion und Personalselektion 237
Bedeutung der Lehre von der Germinalselektion 242
Erweiterung der Machtsphäre des Selektionsprinzips durch die Lehre
von der Germinalselektion 248
Die verschiedenen Formen der Auslese 249
Neunter Abschnitt. Entwicklung des Org'anismenreiches. Schluß 251 — 273
Anmerkungen 274 — 289
Verzeichnis der Schriften August Weismanns 290 — 297
Die vorliegende Schrift ist eine ausführliche Bearbeitung
eines Vortrages, den ich am 17. Juni 1915 in der physikalisch-
ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg i. Pr. gehalten habe.
Ich übergebe sie hiermit in der neuen Form der Öffentlichkeit,
mit dem Wunsche, daß sie dazu beitragen möge, bei den vielen,
insbesondere auch bei den vielen Medizinern, die in Freiburg Weis-
manns Schüler gewesen sind, die Erinnerung an den großen Forscher
und Lehrer lebendig zu erhalten.
Der Vortrag in seiner ursprünglichen Form behandelte vor
allem Leben und Persönlichkeit Weismanns, seine wissenschaft-
lichen Arbeiten und Anschauungen aber naturgemäß nur kurz und
in den Hauptpunkten. Bei der Ausarbeitung sind diese Abschnitte
viel umfangreicher und schließlich zu einer zwar durchaus nicht
erschöpfenden, aber doch ziemlich eingehenden Darstellung von
Weismanns wissenschaftlichem Lebenswerk geworden. Das lag
einmal in einem persönlichen Moment: je mehr ich mich wieder in
Weismanns Schriften versenkte, um so mehr übten sie auch wieder
den alten Reiz aus, den wohl jeder empfunden hat, der sie seinerzeit
bei ihrem Erscheinen las, und zugleich wurde die Erinnerung an
Weismanns Persönlichkeit und seine Vorlesung, die ich in Freiburg
noch als Prosektor hören konnte, wieder lebendig. Und dazu ge-
sellte sich dann die Empfindung, daß dem Andenken Weismanns
nicht damit gedient wäre, gewisse allgemeine Redensarten und
Schlagworte zu wiederholen, daß es aber nützlich sein könnte,
seine Anschauungen, ihre historisch bedingte Stellung, ihre Be-
gründung und ihren mannigfachen Wechsel möglichst gewissenhaft
darzustellen. Ich hoffe, damit auch denen, die sich mit Weismanns
Ansichten zu beschäftigen haben, die Arbeit zu erleichtern und
Urteile zu verhüten, die auf ungenügender Kenntnis dieser Ansicht
beruhen. Eine gerechte Würdigung eines Forschers kann ja immer
nur erfolgen, wenn man ihn aus seiner Zeit heraus betrachtet,
Gaupp, Biographie Weismanns. 1
2
und ganz besonders muß das gelten auf dem Gebiete, auf dem sich
Weismanns bedeutungsvollste Arbeiten bewegen: dem Gebiete
der Vererbungslehre, das erst seit wenigen Dezennien der wissen-
schaftlichen Behandlung unterliegt, und auf dem die vereinte
Arbeit zahlreicher Kräfte in diesem Zeitraum erst eine Sammlung
und Sichtung eines großen Tatsachenmateriales vornehmen und
Klarheit über die Fragestellung schaffen mußte. Unter denen, die
an dieser Arbeit teilgenommen haben, steht Weismann in erster
Linie, und viele Anschauungen, rnit denen heute allgemein ge-
rechnet wird, sind von ihm zum ersten Male aufgestellt oder doch
erst von ihm in ihrer ganzen Wichtigkeit erkannt und in das all-
gemeine Bewußtsein übergeführt worden. Um das zur Geltvmg
zu bringen, habe ich gesucht, bei der Darstellung der Gedanken
Weismanns wenigstens kurz den damaligen Stand der betreffenden
Fragen zu umreißen, und im Anschluß daran die Wandlungen mit-
berücksichtigt, denen, wie schon angedeutet, aus ganz den gleichen
oben angeführten Gründen Weismanns Ideen in manchen Fragen
im Laufe der Zeit tmterworfen wurden. Daß ich hier und da diese
Anschauungen mit Weismanns eigenen Worten wiedergegeben
habe, ohne das immer besonders zu erwähnen oder kenntlich zu
machen, wird hoffentlich keinem Tadel begegnen.
Eine eingehende Kritik der Lehren Weismanns war natur-
gemäß hier nicht am Platze; ebensowenig wird erwartet werden,
daß alle die vielen Probleme, zu denen der Gelehrte Stellung ge-
nommen hat, und die fortwährend Gegenstand eifriger Bearbeitimg
von verschiedenen Seiten sind, nach allen Richtungen hin dar-
gestellt und in der Entwicklung verfolgt werden, die sie in den letzten
Jahren genommen haben. Es ist zu erwarten, daß von anderer
Seite eine mehr ins einzelne gehende kritische Darstellung der
Weismannschen Auffassungen gegeben werden wird. Im übrigen
aber finden sich alle die zahlreichen Darstellungen der Abstammungs-
und Vererbungslehre mit Weismanns Anschauungen in irgendeiner
Weise ab und unterrichten genauer auch über die anderen Forscher *) .
Bei der Zusammentragung des biographischen Materials haben
mich in freundlichster Weise unterstützt : in erster Linie die Tochter
Weismanns, Frau Regierungsrat Schepp, sowie Herr Geheimer
*) Einige Lehrbuchliteratur ist in Anm. 26 angeführt.
— 3 —
Rat Wiedersheim; ferner der derzeitige Dekan der philosophischen
Fakultät in Freiburg, Herr Geheimer Hof rat Finke, durch dessen
Vermittelung ich in den Besitz einer Abschrift der kurzen Lebens-
skizze gelangte, die Weismann selbst bei seiner Habilitierung der
Freiburger medizinischen Fakultät eingereicht hat; weiter die
Verwaltungen der Bibliotheken in Freiburg, Göttingen und Rostock;
endlich Herr Privatdozent Dr. Richard Wegner in Rostock.
Ihnen allen, insbesondere aber Frau Regierungsrat Schepp und
Herrn Geheimen Rat Wiedersheim, möchte ich dafür hiermit
nochmals meinen herzlichsten Dank aussprechen.
Erster Abschnitt.
Das Leben. Der Mensch.
Zur Einleitung. — Lebenslauf. — Persönlichkeit.
Zur Einleitung.
Am 5. November 1914 ist in Freiburg im Breisgau August
Weismann gestorben, und mit ihm ein Forscher, dessen Name zu
den am meisten genannten in der biologischen Wissenschaft der
letzten Jahrzehnte gehört, zugleich ein Lehrer, der mit der Macht
seiner Persönlichkeit auf Tausende werdender Naturwissenschafter
und Ärzte den nachhaltigsten Einfluß ausgeübt hat. Da sein Tod
in die Spannimg und Erregung der ersten Kriegsmonate fiel, so
ist das Ereignis vorübergegangen, ohne die Beachtung zu finden,
die ihm in Friedenszeiten sicherlich geschenkt worden wäre. Auch
jetzt noch regiert Mars die Stunde, imd mit blutigen Waffen wird
der Kampf um die Daseinsberechtigung der deutschen Kultur ge-
kämpft; aber trotzdem, ja gerade dartun darf die deutsche Wissen-
schaft, für die wahrlich genug auf dem Spiele steht, nicht der großen
Männer vergessen, die in friedlicher Geistesarbeit dazu beigetragen
haben, sie auf die Höhe und zu der Achtung gebietenden Stellung
zu führen, die sie unter den Völkern einnimmt, und die ihr von
diesen auch bereitwillig eingeräumt wurde, bevor blinder Neid
und Haß alle Sinne und alles Urteil verwirrten. Zu diesen bedeuten-
den Vertretern der deutschen Wissenschaft der letzten Jahrzehnte
aber gehörte Weismann , und so ist es eine Ehrenpfhcht biologischer
Kreise, nun, wo sein Leben abgeschlossen ist, seiner und seines
Werkes rückblickend zu gedenken.
Über sein Leben und besonders über die Zusammenhänge der
äußeren Umstände desselben mit seiner eigenen Entwicklung als
Forscher hat uns Weismann bei Gelegenheit seines 70. Geburts-
tages, im Jahre 1904, die wichtigsten Tatsachen selbst mitgeteilt;
ich gebe sie hier, zum Teil unter Benutzung seiner eigenen Worte,
aber ergänzt durch die von anderer Seite erhaltenen Angaben,
wieder ^) .
Lebenslauf.
August Weis mann 2) wurde geboren am 17. Januar 1834
in Frankfurt a. M., wo sein Vater Johann August Weismann,
eine ideal veranlagte Natur, als Gymnasialprofessor Vertreter der
klassischen Philologie war. Die Mutter, Elise Lübbren, künst-
lerisch hoch begabt und auch als Malerin ausübend tätig, stammte
aus Stade in Hannover. Von dem ältesten bekannten väterlichen
Vorfahr, Valentin Weismann, wird berichtet, daß er in der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Bürger in Weierburg in Ober-
österreich war und in Wien als Märtyrer gestorben ist. Sein Sohn
Johannes Weismann, aus seiner Vaterstadt Weierburg als Prote-
stant vertrieben, kam 1656 nach Northeim in Württemberg, wo
er Lehrer wurde. Dessen Sohn Erich wurde Prälat und Abt des
Klosters Maulbronn. Noch durch zwei weitere Generationen blieb
die Familie in Württemberg, dann wanderte ein Enkel des eben
genannten Abtes, Immanuel Gottlob Friedrich Weismann,
geb. 1773, als Kaufmann nach Frankfurt a. M. aus. Er ist der Groß-
vater August Weismanns. — Der Vater der Mutter Weismanns
war Bürgermeister und Landrat in Stade ; seine Gattin, eine geborene
Römhild, Pfarrerstochter aus der Nähe von Bremen, soll eine ganz
besonders bedeutende und ungewöhnliche Frau gewesen sein^). —
Das sind nur wenige Tatsachen aus der Weis mann sehen Ahnen-
tafel, und doch lassen sie recht wohl die Bedeutung erkennen,
die Vererbung und Tradition, diese beiden großen. Gaben spendenden
imd Richtung bestimmenden Kräfte im Menschenleben auch für
Weismann gehabt haben. Als mütterliches Erbteil darf man wohl
den künstlerischen Sinn und die Phantasie ansprechen, die den
Sohn die Natur lieben ließen, ihn zur Aufstellung einer umfassenden
Hypothese trieben und ihn befähigten, seinen Gedanken die klare
schöne Form in Wort und Schrift zu verleihen ; von väterlicher Seite
aber dürften der Ernst und die rastlose Hingabe stammen, die den
Forscher Weismann auszeichneten und selbst seine Gesundheit
— 6 —
im Dienste der Wissenschaft aufs Spiel setzen ließen, dazu auch die
Überzeugungstreue und der Mut, mit dem er für das als recht Er-
kannte seine ganze Persönlichkeit allezeit eingesetzt hat. ,,Der
Mensch und sein Schicksal fließen aus dem Erbteil seiner Vor-
fahren, inbegriffen die Stelle, an welche es ihn hingesetzt hat" —
mit diesen Worten hat er selbst, zugleich bewußt und bescheiden,
bei seinem 70. Geburtstag seiner wissenschaftlichen Auffassung von
dem stammesgeschichtlichen Zusammenhang der Lebewesen auch
für seine Person und für sein Leben Geltung zugesprochen.
Zu jenen beiden großen Kräften der Vererbung und Tradition
gesellte sich die dritte : die Gunst der äußeren Verhältnisse, in denen
seine Anlagen frei und ungehindert, nur sorglich beaufsichtigt, sich
entfalten konnten. Frühzeitig schon legte der Knabe Liebe zur
Natur an den Tag, sammelte Schmetterlinge, Käfer und Pflanzen,
züchtete Raupen und beobachtete alles Lebendige, so daß die
Mutter bald den künftigen Naturforscher in ihm erkannte, und
ältere befreundete Botaniker ihm die Botanik als Lebensstudium
vorschlugen. Aber auch Physik und namentlich Chemie haben ihn
lebhaft angezogen. Indessen, der Wunsch des Vaters und auch der
Rat des berühmten Chemikers Wohl er veranlaßten ihn, nach
beendeter Gymnasialzeit sich der Medizin als einem Berufe, der
zunächst einmal eine gesicherte Lebensstellung versprach, zuzu-
wenden. Von 1852 — 1856 studierte er Medizin in Göttingen, wo
Jacob Henle, Wöhler, W. Weber, v. Siebold und andere
hervorragende Männer seine Lehrer waren. Nach abgelegtem
Staatsexamen und Erwerbung des medizinischen Doktorgrades
(9. Juli 1856)*) trat er eine Stelle als akademischer Assistenzarzt
am Krankenhause in Rostock an, dessen Direktor der Leiter der
medizinisch-chirurgischen Klinik, Obermedizinalrat Professor Dr.
C. F. Strempel war. Und hier vollendete er seine erste, schon in
Göttingen begonnene selbständige Arbeit, deren Thema ,,Über den
Ursprung der Hippursäure im Harn der Pflanzenfresser" von der
Göttinger medizinischen Fakultät als Preisarbeit gestellt worden war.
Sie erhielt 1857 den Göttinger Preis 5). Seiner Liebe zur Chemie,
und dem Vorschlag seines väterlichen Freundes, des Chemikers
Franz Schulze folgend, vertauschte er aber schon am i. April
1857 seine klinische Stelle mit der eines (unbesoldeten) Assistenten
ajn Rostocker chemischen Institut bei Schulze, wo er sich nun
— 7 —
weiter mit chemisch-physikalischen Studien beschäftigte und in
Bearbeitung einer von der philosophischen Fakultät in Rostock
gestellten Preisaufgabe eine Untersuchung über den Salzgehalt der
Ostsee lieferte, der im Sommer 1858 von der genannten Fakultät
der Preis zuerkannt wurde*).
Zugleich lernte er aber in dieser Stellung auch einsehen, daß
die Chemie nicht die Wissenschaft sei, für die er geschaffen war,
daß ihm manche Anlagen fehlten, die der Chemiker zum erfolg-
reichen Arbeiten braucht, während er andere, wie den Formen-
und Orientierungssinn, besaß, die in der Chemie kaum Verwendung
finden. So gab er denn mit Schluß des Wintersemesters 1857/58
auch diese Stellung wieder auf, kehrte Rostock den Rücken und
ließ sich, nachdem er noch die größeren Universitäten Deutsch-
lands besucht und in Wien einen etwas längeren Aufenthalt ge-
nommen hatte, Ende 1858 in seiner Vaterstadt Frankfurt als prak-
tischer Arzt nieder. Hier behielt er nun bei der anfangs nur geringen
Praxis reichlich Zeit zu theoretischen, namentlich histologischen
Arbeiten, die in der Folge auch zu einigen wichtigen Entdeckungen
führten. Zunächst freilich erfahren sie bald eine Unterbrechung.
Der Krieg Italiens und Frankreichs gegen Österreich brach aus,
und da eine Beteüigung Deutschlands wahrscheinlich schien, sah
sich Weis mann, den es drängte, sein ärztliches Wissen und Können
einmal entsprechend zu verwerten und ein großes Ereignis mit-
zuerleben, veranlaßt, als Oberarzt in das badische Heer einzutreten
(Sommer 1859). Aber es kam nicht zum Eingreifen Deutschlands;
der Krieg fand durch die Schlacht von Solferino ein rasches Ende,
und Weismann bheb, wie anderen Feldärzten, nichts übrig, als
auf Urlaub zu gehen, um sich in den österreichischen Lazaretten
hilfreich zu erweisen. So kam er nach Verona, sah viel menschliches
Elend in den Lazaretten, aber auch zum ersten Male die Schönheit
Italiens und die Kunst seiner Städte, Padua, Venedig, Mailand,
Genua, Pisa, Lucca, Florenz, und knüpfte auch in Genua die Be-
ziehungen zu dem Hause Gruber an, aus dem er sich später (1866)
die Lebensgefährtin wählte.
Zunächst kehrte er nun wieder nach Frankfurt in die frühere
Beschäftigung zurück und widmete aufs neue seine ganze freie Zeit
histologischen Untersuchungen, als deren Ergebnis mehrere für die
Histologie der Muskeln bedeutungsvolle Arbeiten zu nennen sind.
so der Nachweis, daß die Herzmuskulatur bei allen Wirbeltieren
aus charakteristischen quergestreiften Elementen besteht, ferner die
Untersuchungen über das Wachstum der quergestreiften Muskel-
fasern u. a. Immer mehr drängte sich ihm dabei die Überzeugung
auf, daß ein Fortschreiten dieses Seitenzweiges der Anatomie vor
allem durch seine Verbindung mit der Zoologie und vergleichenden
Anatomie zu erreichen sein müßte; und der Wunsch, selbst in dieser
Richtung tätig zu sein und der hindernden und unbefriedigenden
Scheintätigkeit des praktischen Arztes zu entgehen, veranlaßte ihn,
die erste Gelegenheit dazu zu ergreifen und eine ihm angebotene
Stellung als Leibarzt bei dem österreichischen Erzherzog Stephan
anzunehmen, der auf dem Schlosse Schaumbtirg an der Lahn in-
mitten eines kleinen Hofhaltes in Zurückgezogenheit lebte. Bevor er
sie antrat, suchte er zunächst sich noch in der Zoologie weiter zu
vervollkommnen; er ging Ende des Jahres 1860 nach Paris, hörte
bei Geoffroy St. Hilaire, Milne Edwards, Serres und
Dumeril, und erhielt die Erlaubnis, in den Sammlungen des
Jardin des plantes zu arbeiten. Diese Studien wurden zu Anfang
des Jahres 1861 in Gießen unter Rudolph Leuckart fortgesetzt,
in dessen Gemeinschaft Weismann zwei Monate verlebte, die er
später selbst als ganz besonders fruchtbar und ergebnisreich bezeichnet
hat. Eigenes angestrengtestes Arbeiten und dazu der tägliche Ver-
kehr mit dem hoch bedeutenden und mitteilsamen Manne ließen
ihn noch im späten Alter gestehen, daß er kaum je Avieder eine
wissenschaftlich so anregende Zeit verlebt habe, wie damals in
Gießen. Dem verehrten Forscher hat er später auch zum 70. Ge-
burtstag das berühmte Hauptwerk seines Lebens ,,Das Keimplasma"
gewidmet. Der zweijährige Aufenthalt auf Schloß Schaumburg (1861
bis 1863) bot ihm, was er erhofft hatte: geringe berufliche Inan-
spruchnahme und dafür Muße, in Wald und Wiese, Berg und Tal
zoologisch zu forschen und dazu eine größere Spezialuntersuchung
in Angriff zu nehmen. Es war das bis dahin wenig behandelte Ge-
biet der Insektenentwicklung, dem er sich mit lebhaftem Interesse
zuwandte. Die erste Arbeit ,,Über die Entwicklung der Dipteren
im Ei" wurde in Schaumburg bereits vollendet.
So fühlte er sich denn im Jahre 1863 reif, seinem Lieblings-
wunsch zu folgen, die Zoologie als Lebensfach zu ergreifen und
sich der Universitätslaufbahn zuzuwenden. Im Mai 1863 habilitierte
er sich als Privatdozent für Zoologie und vergleichende Anatomie
in der medizinischen Fakultät zu Freiburg im Breisgau, wo damals
die Zoologie noch von dem Ordinarius der Physiologie ( — in jener
Zeit: Otto Funke — ) vertreten wurde, mit einer Arbeit ,,Über
die Entstehung des vollendeten Insekts in Larve und Puppe"').
Voll frohester Hoffnungen begann er seine neue Tätigkeit; die ge-
ringe Lehrtätigkeit ließ ihm reichlich Zeit zu wissenschaftlichen
Forschungen, und mit vollster Hingabe ging er an die Aufgabe,
das Arbeitsfeld, das sich ihm in Schaumburg erschlossen — die
Embryologie der Insekten — nach allen Richtungen auszubeuten.
Aber dieses reine Glücksgefühl sollte nicht lange dauern, die über-
mäßige Anstrengung der Augen durch das Mikroskopieren rächte sich,
und schon i Jahr später, Sommer 1864, traf ihn das schier schwerste
Geschick, das einen Naturforscher treffen kann: er wurde augen-
leidend. Die Erkrankung, die ihn plötzlich, beim Mikroskopieren
befiel, bestand zunächst nur in einer außerordentlich großen
Überempfindlichkeit der Retina, während objektiv nur eine geringe
Hyperämie der letzteren festzustellen war; doch an Mikroskopieren
war zunächst nicht zu denken. Leider erwies sich auch die Hoffnung,
durch Ruhe und Schonung bald eine Wiederherstellung zu erzielen,
als trügerisch. Wochen, Monate und Jahre vergingen, ohne daß
es Weismann möglich war, zu den begonnenen Forschungen zurück-
zukehren; müßig mußte er, wie er klagt, in der arbeitsfreudigsten
Zeit des Lebens zusehen, wie andere auf den Bahnen weiterschritten,
die er eröffnet hatte. — Ein Glücksstrahl in jenen traurigen Jahren
war (1866) seine Verlobung und im folgenden Jahr (20. Mai 1867)
seine Verheiratung mit Marie Gruber, aus dem alten Kaufmanns-
hause Gruber in Genua, die ihm dann 20 Jahre hindurch eine treue
Lebensgefährtin gewesen ist. Verständnisvoll nahm sie in jener
traurigen Zeit Anteil an allem, was Weismann trieb, musizierte
mit ihm, las ihm vor und half ihm bei Experimenten, die er allein
nicht hätte ausführen können. Und auch in seiner akademischen
Laufbahn machte er Fortschritte: 1865 schon war er a. o. Professor
der Zoologie und provisorischer Mitdirektor des zoologischen In-
stitutes (neben O. Funke) geworden, und am 4. April 1867 erfolgte
seine Ernennung zum etatsmäßigen a. o. Professor sowie die de-
finitive Übertragung der Lehrkanzel und des Institutes (zunächst
noch in der medizinischen Fakultät). Seine Antrittsrede, die er
am 7. Juli 1868 hielt, handelte „Über die Berechtigung der Darwin-
schen Theorie" ; es war die erste öffentliche Betätigung Weismanns
auf dem Gebiete, dem er sich in der Folge immer ausschließlicher
zuwandte. Immer mehr mußte er aber einsehen, daß der Zustand
seiner Augen die wichtigste Lebensfrage für ihn bedeute, — hatte
ihm doch Kußmaul geradezu geraten, die Zoologie wieder auf-
zugeben und zur praktischen Medizin zurückzukehren! Dieser
letzte Ausweg mußte dem begeisterten Natiuiorscher denn doch
zu verzweifelt erscheinen, und so versuchte er es zunächst erst
noch einmal mit einem völligen Entsagen auf jede Inanspruchnahme
der Augen, auch auf das Lesen, und ließ sich auf 2 Jahre von der
Universität beurlauben. Nun endlich durfte er sich eines, wenn auch
nur vorübergehenden, Erfolges erfreuen. Den Winter 1869/70
brachte er in Rom zu, und hier schon zeigte sich eine Besserung,
die dann nach seiner Heimkehr langsam zunahm. So konnte er
nach Ablauf der 2 Jahre seine Lehrtätigkeit, und 1874 — also
10 Jahre nach Beginn der Erkrankung — auch seine Arbeiten,
ja selbst das Mikroskopieren, wieder aufnehmen. Das vorhergehende
Jahr hatte ihm auch schon (4. April 1873) die Ernennung zum ordent-
lichen Professor in der philosophischen Fakultät gebracht, womit
zugleich in Freiburg der erste ordentliche Lehrstuhl für Zoologie
errichtet wurde. (Den Grad eines Dr. phil. h. c. verlieh ihm die
Freiburger Fakultät am 16. Mai 1879.)
Zehn weitere Jahre durfte er sich nun des Glückes, wieder
selbständig forschen und beobachten zu können, erfreuen, und die
Studien zur Deszendenztheorie, die Beiträge zur Natiu-geschichte der
Daphnoiden, die Untersuchungen über die Entstehung der Sexual-
zellen bei den Hydromedusen, alles umfangreiche Werke von bleiben-
der Bedeutung, legen Zeugnis ab für den rastlosen Eifer, mit dem
er diese Zeit ausnutzte. Empfand er doch, wie er selbst bekennt,
die Rückkehr zur Spezialforschung auch dariun als ein besonderes
Glück, weil er, bei aller Freude an der spekulativen Arbeit, doch
sich darüber klar war, daß ,,ein möglichst großes und ausgebreitetes,
zugleich ins einzelnste eindringendes Wissen der Untergrund alles
naturforschenden Denkens und Spekulierens bilden müsse". Leider
aber wirkte diese Tätigkeit aufs neue auf seine Augen zurück,
und ziemlich genau 10 Jahre nach Wiederaufnahme der mikro-
skopischen Arbeiten begann das linke Auge ernster, unter objektiv
1 1
sichtbaren Veränderungen, zu erkranken. Nunmehr war aufs neue
äußerste Schonung geboten, und Weismann sah sich wieder, und nun-
mehr dauernd, zu einer Beschränkung der eigenen mikroskopischen
Tätigkeit gezwungen. Zum Glück behielt das rechte Auge seine
Leistungsfähigkeit, und noch der Siebzigjährige konnte von sich
sagen, daß keiner seiner Schüler die feinsten Einzelheiten eines
mikroskopischen Bildes besser zu erkennen vermöge, als er selbst.
So blieb ihm die Möglichkeit, mit seinen Schülern weiter zu arbeiten,
und sie ist ihm geblieben bis in die letzten Jahre seines Lebens.
Zahlreiche und bedeutungsvolle Arbeiten sind in dieser Zeit aus
dem Freiburger zoologischen Institut hervorgegangen und haben
Zeugnis abgelegt von dem wissenschaftlichen Geist, der in ihm
lebte; ihre Verfasser, A. Gruber, C. Ishikawa, V. Haecker,
O. vom Rath, H. E. Ziegler, W. Schleip, K. Günther,
E. Snethlage, A. Petrunkewitsch, R. Woltereck, R. Kühn
u. a. nehmen geachtete Stellung in der zoologischen Wissenschaft
ein und erhalten die Erinnerung an ihren geistigen Führer und an
eine glänzende Zeit der Blüte, die unter ihm das Freiburger zoo-
logische Institut erlebte.
Aber freilich, in erster Linie ist es eine gewaltige Denk-
arbeit, die Weismann in diesen letzten 30 Lebensjahren geleistet
hat. Heldenhaft fand er sich mit seinem Schicksal ab, indem er,
da ihm das Sehorgan versagte, die Fülle der Tatsachen, deren Er-
kenntnis er fortwährend, indem er sich vorlesen ließ, zu vermehren
strebte, mit dem Organ des Geistes zu durchdringen, und allgemeine
Gesetze aus ihnen zu erschließen suchte. Schon in den sechziger
Jahren, bei seiner ersten Erkrankung, war er bei dem Suchen nach
Aufgaben, die er trotz der Augen bewältigen könnte, auf das durch
Darwin neu erschlossene und kaum noch in Angriff genommene
Gebiet der Deszendenztheorie gekommen. ,,Über die Berechtigimg
der Darwinschen Theorie", so hatte der Titel der Antrittsvorlesung
gelautet, die er im Jahre 1868 als etatsmäßiger Professor gehalten.
Sie bildete das erste Ergebnis der Beschäftigung mit der Deszendenz-
theorie und damit den Anfang einer Tätigkeit, die erst mit der
dritten Auflage seiner ,, Vorträge über Deszendenztheorie" im Jahre
1913, also kurz vor seinem Tode, ihren äußerlich erkennbaren Ab-
schluß gefunden hat. Durch sie vor allem ist Weismanns Name
in den weitesten Kreisen bekannt geworden als der eines der ersten
12
und erfolgreichsten Vertreters und Fortbildners der Darwinschen
'^Theorie in Deutschland. Darwins ,, Entstehung der Arten" hatte
1859 wie ein Blitzschlag in die naturwissenschaftlichen Kreise einge-
schlagen und mit unerhörter Schnelligkeit allenthalben gezündet. Noch
im Alter gedachte Weismann mit Lebhaftigkeit jenes umwälzenden
Ereignisses, das in die Zeit seiner empfänglichsten Jugend gefallen
war. Was Wunder, daß die' neue Botschaft auch sein Denken leb-
haft erregte. Die Abstammungslehre beschäftigte ihn in den Jahren
der ihm aufgezwungenen Arbeitspause und zeitigte hier (1872)
eine Abhandlung über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung,
die sich kritisch mit dem von Moritz Wagner aufgestellten
,, Migrationsgesetz" auseinandersetzt; in Beziehung zur Deszendenz-
theorie standen auch die Untersuchungen, die er nach Wiederauf-
nahme seiner mikroskopischen Tätigkeit von 1874 an vorgenommen.
So war er immer tiefer in die allgemeinen Fragen hineingekommen,
und seine erneute Erkrankung war ihm ein Fingerzeig, in dieser
Richtung nun weiterhin seine ganze Kraft einzusetzen. Schon im
Jahre 1881 hatte er auf der Naturforscherversammlung in Salzburg
den Aufsehen erregenden Vortrag über die Dauer des Lebens ge-
halten rmd damit die Reihe kleinerer Schriften eröffnet, die gewisse,
mit der Abstammungslehre in näherer oder fernerer Verbindung
stehende biologische Einzelfragen behandeln. Von den Erörte-
rungen über die Dauer des Lebens und den Ursprung des Todes
wandte er sich in ihnen den Erscheinungen der Vererbung und der
Fortpflanzung zu und gab ihnen einen vorläufigen Abschluß mit
dem Aufsatz über die Amphimixis, die das Befruchtungsproblem
zum Gegenstand hat. In den Kreisen der Biologen, aber auch
weit über dieselben hinaus wohl bekannt, haben gerade diese
Schriften, die dann auch später gesammelt erschienen, und von
denen die wichtigsten ins Englische übersetzt worden sind, durch
ihren Inhalt wie durch ihre Form berechtigtes Aufsehen erregt
und in steigendem Maße den Ruf ihres Verfassers begründet wie
das Interesse für die behandelten Fragen wach gerufen und zu ihrer
Klärung beigetragen. Weismann wendet sich mit den meisten
von ihnen an einen weiteren Leserkreis; ein Teil von ihnen ist auch
geradezu aus Vorträgen hervorgegangen, die vor einer größeren
Zuhörerschaar gehalten worden waren. Mit ihnen ist Weis-
mann in die Reihe der ersten, im besten Sinne populären Schrift-
— 13 —
steller getreten, die Namen allerbesten Klanges, wie Helmholtz,
Ferdinand Cohn, Eduard Strasburger, E. Haeckel u. a.
aufweist, und auf die die deutsche Wissenschaft mit besonderem
Stolze blicken darf. Beherrschende Kenntnis eines ausgedehnten
Tatsachenmateriales und geistige Durchdringung desselben ver-
einen sich hier mit der Gabe fheßender rednerischer Darstellung,
die in der Fähigkeit, auch schwierige Dinge klar und einfach zum
Ausdruck zu bringen, außerordentliche Sprachbeherrschung, an-
geborenes Formentalent, aber auch einen vielseitig gebildeten Geist
erkennen läßt. Väterliches und mütterliches Erbteil, der Philologe
und die Künstlerin, verbinden sich hier, wie in allen Werken Weis-
manns, zu schönster Wirkung^). Diese Periode erhielt ihren Ab-
schluß im Jahre 1892 mit dem Erscheinen des großen Werkes über
das Keimplasma, in dem Weismann eine bis ins einzelnste
durchgearbeitete Theorie der Vererbung entwickelt hat.
Sein äußeres Leben erfuhr in dieser Zeit eine tief einschneidende
schmerzliche Veränderung: seine Gattin starb am i. Oktober 1886.
Ihr Tod beraubte ihn der Lebensgefährtin, mit der ihn 20 Jahre
lang die innigste Gemeinschaft verbunden, die ihm über die schwerste
Zeit seines Lebens hinweggeholfen hatte, und die ihm, bei der
Schonungsbedürftigkeit seiner Augen, als Vorleserin eine ganz be-
sonders große Hilfe gewesen war; er nahm seinen fünf Kindern,
vier Töchtern und einem Sohn — eine fünfte Tochter war sehr jung
gestorben — die Mutter, die ihnen noch so viel hätte sein können.
Um so enger gestaltete sich in der Folge der Zusammenschluß der
Kinder mit dem Vater ^).
Wieder vergingen nun, von 1892 an, 10 Jahre rastloser Ar-
beit, in denen Weismann seine Theorie zu ergänzen und mit den
Ergebnissen neuerer Forschungen in Einklang zu bringen, sie aber
auch gegen Einwände zu verteidigen und immer besser zu festigen
suchte. Denn an Einwänden hat es ihr freilich nicht gefehlt. Sie
richteten sich gegen einzelne Punkte wie gegen ihre Grundgedanken.
Weismann prüfte jeden, erkannte auch manchen Irrtum an,
hielt aber an dem Grundsätzlichen, namentlich an seiner Über-
zeugung von der hohen Bedeutung des Selektionsgedankens, un-
erschütterlich fest und fügte 1896 in sein Ideengebäude den be-
deutungsvollen Schlußstein mit der Aufstellung der Germinal-
selektion, die das Prinzip des auslesenden Wettbewerbs auf die
— 14 —
kleinsten Teilchen innerhalb des Keimes überträgt, dabei aber
allerdings von der eine Zeit lang zu weit getriebenen Bewertung
der eigentlichen Darwinschen Zuchtwahllehre zurückkommt.
Aber nicht nur der Ausbau der eigenen Theorie nahm Weis-
manns Kraft in diesen lo Jahren in Anspruch, — diese war auch
noch auf einem anderen Gebiete tätig : in der immer vollkommeneren
Ausgestaltung seiner Vorlesung über Deszendenztheorie. Schon
seine Antrittsrede im Jahre 1868 war der letzteren gewidmet ge-
wesen, 1874 kam es versuchsweise zu einer ersten kurzen Sommer-
vorlesung über dieses Gebiet, die einfach darauf ausging, den Dar-
winschen Ansichten Verbreitung zu verschaffen, und von 1880
ab wurde die Vorlesung ziemlich regelmäßig in jedem Jahre ge-
halten. Im Laufe der Zeit änderte sich freilich ihr Aussehen recht
beträchtlich. In dem Maße, wie die Abstammungslehre den Forscher
immer mehr, immer vollkommener erfüllte, fügte sich Fremdes und
Eigenes allmählich hinzu; bald war sie nicht mehr bloß ein Mittel,
um für die Theorie eines Anderen Stimmung zu machen, sondern
sie wurde die Form, in die Weismann alles, was ihm von innen
und von außen an Tatsachen und fruchtbaren Ideen zuströmte,
hineingoß, und in der es Gestaltimg erlangte. Kein Wunder, daß
diese Vorlesung von Jahr zu Jahr an Ruf und Zulauf wuchs,
daß sie weit über die Grenzen Freiburgs, Badens, Deutschlands,
ja Europas berühmt wurde, so daß von überallher die Studierenden
und auch ältere Forscher zusammenströmten, um sie zu hören.
Auch hier waren es Stoff und Form, beherrscht von einer lebendigen
kraftvollen Persönlichkeit, die gleichmäßig anzogen und den Hörer
in ihren Bann zwangen. Nicht um ein Semester lang sich über
Deszendenzlehre vortragen zu lassen, sondern um Weismann
zu hören, ging man nach Freiburg; Vertreter aller Fakultäten
konnte man in dem Hörsaal des Freiburger zoologischen Institutes
antreffen, und in Freiburg studiert und Weismann nicht gehört
zu haben, wäre für einen Mediziner oder Naturwissenschafter kaum
denkbar gewesen. Was Wunder, daß sich in Weismann selbst
der Wunsch regte, die wirkende Kraft dieser Vorträge nicht mit
dem eigenen Ich ersterben zu lassen, sondern über seine Lebens-
grenze hinaus zu erhalten und damit zugleich, wie er selbst es aus-
drückt, die Hauptergebnisse seines arbeitsfreudigen Lebens, zu
einem abgerundeten und in sich harmonischen Bilde zusammen-
— «5 —
gefaßt, als ein Vermächtnis den Nachkommenden zu hinterlassen.
So erschienen denn 1902 die „Vorträge über Deszendenztheorie"
zum ersten Male, schon 1904 wurde die zweite, 1913 die dritte Auf-
lage notwendig, — für ein umfangreiches wissenschaftliches Werk
gewiß ein großer Erfolg. Aber diese Vorträge boten auch dem Hörer,
der sie gehört, und bieten jetzt dem Leser, der sie liest, sehr viel
mehr, als ihr Titel erwarten läßt: sie bilden eine Einführung in
das weite Gebiet der allgemeinen Biologie, wie sie anregender wohl
nicht geboten werden kann. Kaum ein Problem aus der allgemeinen
Lebenswissenschaft, das hier nicht erörtert wird, und zwar er-
örtert von einer Persönlichkeit, die die eigene Anteilnahme an den
Problemen durch die Kraft der Darstellung auf den Hörer und
Leser zu übertragen vermag.
Weis mann war 68 Jahre alt, als er 1902 seine Vorlesungen
zum ersten Male erscheinen ließ, und konnte wohl mit Befriedigung
auf sein Lebenswerk blicken, das in ihnen zusammengefaßt nun-
mehr vorlag. Aber abgeschlossen hat er dieses Lebenswerk damit
nicht. Die 12 Jahre, die ihm noch vergönnt waren, hat er immer
weiter der Arbeit gewidmet. Freilich werden die selbständigen
Veröffentlichungen spärlicher. Zu nennen wären noch die sehr ein-
gehende Besprechung des Werkes von Semon über die Mneme
und die Vererbung erworbener Eigenschaften (1906), ferner ,,Eine
hydrobiologische Einleitung", die er für die Internationale Revue
der gesamten Hydrobiologie und Hydrographie verfaßte, endlich
aus dem Jahre 1909 ein Aufsatz über die Selektionstheorie, den
er für die Festschrift der Universität Cambridge zu Darwins
100. Geburtstag verfaßte, und die Rede, die er am 12. Februar 1909
bei derselben Gelegenheit über ,, Charles Darwin und sein Lebens-
werk" in Freiburg gehalten hat. In alter gewohnter Weise frei
vorgetragen, wird sie allen, die sie gehört, unvergeßlich bleiben.
Daneben aber nahm die weitere Ausgestaltimg der ,, Vorträge"
seine Kraft in Anspruch: schon 1904 wurde, wie gesagt, die zweite,
1913 die dritte Auflage notwendig. Bei dem gewaltigen Aufschwung,
den in diesem Zeitraum die Forschung über die Vererbung genommen
hat, der Hochflut von Arbeiten auf den Gebieten, die die ,, Vorträge"
behandeln, war die Anforderung, das Buch in Fühlung mit der Wissen-
schaft zu halten, eine sehr große. Es konnte sich dabei ja auch nicht
etwa nur um eine Einschaltung und Hinzufügung neuer Tatsachen
— i6 —
handeln, sondern diese Tatsachen, namenÜich die Ergebnisse der
Mendel-Forschung verlangten eine Prüfung der persönlichsten
theoretischen Vorstellungen. Mit Genugtuung konnte Weismann
feststellen, daß die wichtigsten Grundlagen seiner Theorie sich auch
den neuen Ergebnissen gegenüber als leistungsfähig erwiesen,
während allerdings manches aus dem weiteren Aufbau entfernt
und durch anders gestaltete Teile ersetzt werden mußte. Wenn
man bedenkt, daß es ein hoher Siebziger war, der sich hier mit
den Ergebnissen einer rastlos vorschreitenden Forschung, aber auch
mit den manchmal etwas rasch fertigen Werturteilen subjektiver,
die geschichtliche Entwicklung auch der wissenschaftlichen An-
schauungen nicht immer genügend berücksichtigender Über-
zeugungen abzufinden hatte, so wird man auch diese dritte Auflage
noch als eine bedeutende geistige Leistung anerkennen müssen,
wenn auch zuzugeben ist, daß die Durcharbeitung nicht mehr ganz
gleichmäßig ist, ja, daß stellenweise auch Sätze aus den früheren
Auflagen unverändert übernommen worden sind, die mit den sonst
vorgenommenen Änderungen nicht mehr übereinstimmen.
In seinem häuslichen Leben hatten die Jahre nach dem Tode
seiner Frau (1886) manche Veränderungen gebracht. Die Töchter
verheirateten sich und verließen das Haus, und eine Zeitlang blieb
er in diesem allein mit seinem Sohne Julius, der sich immer be-
stimmter der Musik zuwandte, und mit dem ihn die Liebe zu dieser
ganz besonders verband. Im Jahre 1895 entschloß er sich zu einer
zweiten Ehe, aber sie führte nicht zu Familienglück — nach
6 Jahren trennten sich die Gatten und er lebte wieder einsam.
Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre belebten sich die
Räume des Hauses wieder mehr: seine älteste, frühzeitig des Gatten
beraubte Tochter, Frau Regierungsrat Therese Schepp, zog mit
ihren Kindern zu dem Vater und ward diesem, wie einst die Mutter,
nicht nur eine treue sorgende Hausfrau und Begleiterin, sondern
auch eine geistige Gefährtin, die ihm vorlas und seine mannig-
fachen Interessen mit ihm teilte. So erblühte ihm im Alter noch
einmal ein glückliches Familienleben, und sein Herz blieb jung im
Zusammensein mit dem jugendfrischen Leben der Enkel.
Ein Höhepunkt seines Lebens war die eindrucksvolle Feier
seines 70. Geburtstages am 17. Januar 1904. Regierung, Stadt,
Universität, wissenschaftliche Vereine, Fachgenossen, Schüler und
Freunde, zum Teil von auswärts herbeigeeilt, huldigten dem ver-
ehrten Forscher; in vielen äußeren Zeichen, einer Marmorbüste
(von dem Frankfurter Bildhauer Josef Kowarzik), einer Fest-
schrift, Adressen und in zahlreichen Ansprachen kamen Dank-
barkeit, Verehrung und Liebe zum Ausdruck. Auf alle Ansprachen
erwiderte Weismann, zum Teil mit längeren Reden, in jugendlicher
Frische, mit der Macht des ihm so glänzend zu Gebote stehenden
Wortes. Bei dem Festmahl gab er eine Übersicht über sein Leben,
zugleich ein Bekenntnis über seine Lebensauffassung. Als den
roten Faden, den leitenden Gedanken, der sich durch dasselbe hin-
zieht, bezeichnete er da den Idealismus, der in dem Streben liegt,
die eigene Kraft da einzusetzen, wo sie, der einmal gegebenen
Kombination von Anlagen entsprechend, am meisten erreichen
mußte — kurz das Streben, den richtigen Lebensweg zu finden.
Und mit einem herrlichen Wort, das sich jetzt glänzend bewahr-
heitet, und das für alle Zeiten gelten möge, schloß er: ,,Die Größe
und Bedeutung unseres Vaterlandes beruht wesentlich auf dem
Idealismus unseres Volkes. Nicht, daß wir diese Kultur schaffende
Geistesrichtung allein besäßen, aber was wir als Volk geleistet
haben, das haben wir durch sie geleistet."
Im Frühjahr 1912 sah sich der Achtundsiebzig jährige ge-
nötigt, von seinem Amte zu scheiden, die Jahre verlangten ihren
Zoll. Ein deutlicher Verfall der Kräfte und eigentlich krankhafte
Erscheinungen stellten sich aber erst im Herbst 19 14 ein und führten
dann zu einer raschen Auflösung. Wie sich später herausstellte,
war es ein Leberleiden, das sein Ende herbeiführte. Am 5. November
1914 verschied er. Über seine letzten Tage berichtet sein Schwager
Wiedersheim: ,,Eine große Freude war es für ihn noch in seinen
letzten Tagen, daß er seinen Sohn ständig um sich haben durfte.
Viele Stunden erquickte er sich noch an dessen meisterhaftem Klavier-
spiel, und während die Töne ihn umrauschten, breiteten sich über
ihn die Schatten des Todes."
Persönlichkeit.
,,Ein arbeitsfreudiges Leben", so hat Weismann in der Vor-
rede zur ersten Auflage der Vorträge von sich selbst gesagt, und
in der Tat, die Freude am rastlosen Schaffen, an der Arbeit für
die Wissenschaft und an sich selbst, beherrschte ihn bis zum Ende
Gaupp, Biographie Weismanns. 2
— i8 —
seiner Tage. Sein wissenschaftliches Lebenswerk muß schon ledig-
lich seinem Umfange nach Bewunderung erwecken, eine Bewunde-
rung, die sich ziu: Ehrfurcht steigert, wenn man das schwere Hemm-
nis berücksichtigt, das ein widriges Geschick ihm mit dem quälenden
Augenleiden aufbürdete. Wenn er trotz desselben und trotz der
Schonimg und selbst zeitweiliger völliger Arbeitsunterbrechung,
die es ihm auferlegte, so viel ausgeführt hat, so war das nur mög-
lich durch äußerste Ausnutzung der Zeit und der Kräfte, durch
konzentriertestes und zugleich planmäßiges, zielbewußtes Arbeiten.
In der Aufeinanderfolge und dem inneren Zusammenhang der
einzelnen Arbeiten läßt sich diese Planmäßigkeit leicht erkennen.
Non multa, sed multum ; seine Untersuchtmgen sind nicht angestellt,
um hier und da eine Lücke auszufüllen, sondern aus einem inneren
Drang, um zur Klarheit über bestimmte Fragen zu kommen; sie
ordnen sich großen allgemeinen Gesichtspunkten unter und werden
durch diese verbunden. Daraus ergab sich aber keineswegs be-
schränkte Einseitigkeit. Im Gegenteil, das Verzeichnis seiner
Spezialarbeiten tmd ihr Inhalt zeigen, daß er sich seine Arbeitsstoffe
aus den verschiedensten Gebieten wählte, und die ,, Vorträge über
Deszendenztheorie" legen auf jeder Seite Zeugnis ab von der Viel-
seitigkeit seiner Interessen und Kenntnisse. Freilich hatte ihm das
Geschick, das ihm den vollen Gebrauch des für ihn wichtigsten
Sinnesorganes raubte, auch viel gegeben: seiner Arbeitsfreudigkeit
gesellten sich die hohe geistige Begabung, der echte Forscherdrang,
der zum Wissen und Erkennen kommen will, und ein berechtigtes
Kraftgefühl, das, weit entfernt von eitler Überhebung, sich des
eigenen Könnens und des Wertes der eigenen Leistung bewußt
war. Dazu kam mancherlei Gunst der äußeren Verhältnisse. In
einer geistig belebten Atmosphäre war er aufgewachsen, sorgfältig
erzogen von hochstehenden, verständnisvollen Eltern, beeinflußt
von manchem bedeutenden Menschen. Ungehindert durch Existenz-
sorgen konnte er sich seinen Lehrberuf wählen, konnte er die Wissen-
schaft nur um ihrer selbst willen treiben. Das Glück leitete ihn
auch bei der Wahl seines Aufenthaltsortes. In Freiburg, wo er
sich habilitierte, lagen die Verhältnisse in seinem Fache sehr günstig,
so daß sich seinen Leistungen auch gleich die Anerkennung und der
äußere Erfolg, Arbeitsfreudigkeit und Kraftgefühl belebend und
steigernd, hinzugesellten, und der lähmende Einfluß langdauernder
— ig —
Erfolglosigkeit ihm erspart blieb. Dazu kam die wunderbare Natur
Freiburgs, der Vorzug der kleineren Stadt, wo die Kräfte nicht
in dem Betriebe großstädtischen Lebens aufgerieben, und die Stunden
schon zur Überwindung räumlicher Entfernungen zerstückelt und
gemordet werden. Und wie mußte gerade auf einen Forscher, der
die Natur so liebte, wie Weis mann, die Lage Freiburgs wirken,
Freiburgs, dem einst Lorenz Oken die begeisterten Worte zum
Abschied ziurief: ,,wer in Dir den offenen Sinn für Schönheit der
Natur, für Kunst, für Freundschaft und Frohheit des Lebens nicht
erhält, der findet ihn nimmermehr!" In vollen Zügen hat auch
Weismann die Schönheit dieser Natur genossen und aus ihr Er-
frischung und neue Arbeitskraft gewonnen, als ein wahrer Weiser
hat er die Segensquellen des Ortes sein Leben befruchten lassen.
Hier schuf er sich, abseits von dem Leben der Stadt und doch nicht
zu fern von seinem Institut, sein Haus mit dem prachtvollen großen,
Ruhe spendenden Garten, mit dem Blick auf den Schloßberg,
mit den beiden hochragenden dunklen Zypressen vor dem Eingang,
die wie ein Wahrzeichen auf das hohe ernste Streben hindeuteten,
das an dieser Stelle herrschte. Aber auch edle Geselligkeit, nament-
lich in Verbindung mit Pflege der Musik, zog hier oft ein, denn
Weismann war im Grunde eine gesellige Natur, und nur sein
Augenleiden verhinderte eine regere Betätigung in dieser Hinsicht.
Die herrliche Umgebung Freiburgs zog Weismann unwider-
stehlich hinaus. In jüngeren Jahren besonders unternahm er bei jeg-
lichem Wetter kleinere und größere Wanderungen, wo möglich
in Gesellschaft von Kollegen. Mit solchen gründete er schon in
den sechziger Jahren die ,,Philambulatoria", einen Verein wander-
lustiger Kollegen, zu denen damals Binding, de Bary, später
auch Windelband, Rümelin und viele andere bedeutende Männer
gehörten. Aber seine Wanderungen und Reisen dienten nicht nur
der Erholung, sondern auch der Belehrung. Weismann war ein
guter Botaniker und besaß vortreffliche Kenntnisse der heimischen
Flora, und daß die Landesfauna dabei mit erforscht wurde, ist
wohl selbstverständlich. Hier war es besonders das buntschillernde
Heer der Schmetterlinge, das ihn anzog und zu wissenschaftlichen
Fragestellungen anregte, aber auch das Fischnetz wurde oft in die
Tiefe des Titisees, des Boden- und Züricher Sees und in den
Lago maggiore versenkt, und manchen Tag, aber auch manche
— 20 —
klare oder stürmische Nachtstunde hat Weismann im Boote zu-
gebracht, um das Material für seine Monographie der Daphnoiden
zu sammeln.
Die Ferien verbrachte er in früheren Jahren häufig am Boden-
see auf dem Lindenhof, dem Besitztum der Gruberschen Familie,
aus der seine Frau stammte, oder auch in Genua in dem dortigen
Stammhause der Familie Gruber. Hier konnte er in gleicher Weise
sich der Erholung wie der Arbeit widmen, und hier empfing er die
Anregung zu manchen Untersuchungen: in Schachen zu der Studie
über das Tierleben des Bodensees und namentlich zu der großen
,, Naturgeschichte der Daphnoiden", an der Riviera zu den Unter-
suchungen über die Hydromedusen, die er dann in Le Croisic in
der Bretagne sowie in Neapel ergänzte.
Auch sonst hat er manches schöne und interessante Stück
Welt kennen gelernt; so hat er Italien mit seinen Hauptkunst-
stätten, femer Korsika, Sardinien, die weitere Riviera, aber auch
England, Belgien, Holland und in den neunziger Jahren auch
Griechenland und Konstantinopel aufgesucht und durchstreift.
Daß er zeitlebens, in weiser Verwendung seiner Kräfte, Ar-
beit und Erholung vereinen konnte, das dankte er außer den glück-
lichen Verhältnissen, in denen er lebte, auch dem Entgegenkommen
einer weitschauenden Regierung, die in voller Würdigung seines
Wertes und seiner Bedeutung für die Freiburger Universität nicht
nur, wo es ging, seinen Wünschen bezüglich des Institutes ent-
gegenkam, sondern auch mehrfach den erbetenen Urlaub ziu: Voll-
endung bestimmter Unternehmungen erteilte. Bei dem Zusammen-
wirken so glücklicher Verhältnisse versteht man es, daß er Freiburg
zeitlebens treu blieb und Rufe nach auswärts (Breslau, Bonn,
vor allem München 1884) ausschlug. Das kam beiden Teilen zugute :
ihm selbst blieb der Zeitverlust und die Unterbrechung der ruhigen
Arbeit erspart, die ein Wechsel des Aufenthaltsortes und ein Ein-
leben in neue Verhältnisse notwendig zur Folge gehabt hätten;
der Universität Freiburg aber blieb ein Lehrer erhalten, der ihren
Ruf weit über die Grenzen Deutschlands hinaus getragen tmd zu
ihrem glanzvollen Aufschwung in den letzten Dezennien an erster
Stelle beigetragen hat.
An äußerer dankbarer Anerkennung seines Wirkens hat es
ihm nicht gefehlt. Die badische Regierung ehrte ihn durch hohe
21
Auszeichnungen, sein Großherzog ernannte ihn zum Wirklichen
Geheimen Rat mit dem Prädikat Exzellenz, und verlieh ihm nach
anderen hohen Orden das Großkreuz des Zähringer Löwenordens,
vom König von Bayern erhielt er den Maximiliansorden für Kunst
und Wissenschaft ; die Stadt Freiburg ernannte ihn zu ihrem Ehren-
bürger. Groß war auch die Zahl der Ehrungen seitens wissenschaft-
licher Gesellschaften des In- und Auslandes. Er war Mitglied der
Akademien von Berlin, München, Heidelberg, Stockholm, der
Royal Societies von London und Edinburgh, Mitglied der Linnean
Society, Doctor of Common Law der Universität Oxford, Doktor
der Botanik von Utrecht, Ehrenmitglied der Deutschen zoologischen
Gesellschaft. Von sonstigen wissenschaftlichen Vereinigungen sei
die Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene erwähnt, die ihn
ebenfalls, in Anerkennung seiner Verdienste auf dem Gebiet der
Vererbungslehre und seines Eintretens für den Selektionsgedanken,
zu ihrem Ehrenmitglied ernannte.
Aber diese Ehrungen konnten ihn nicht zur Täuschung über
sich selbst und zur Kritiklosigkeit gegenüber seiner Arbeit ver-
leiten. Zu seinem 80. Geburtstag schrieb sein Nachfolger Doflein:
,, Weismann gehört und hat immer zu jenem Typus von akademi-
schen Lehrern gehört, den ich am höchten stellen möchte, nämlich
zu jenen Männern, welche unabhängig an der Vervollkommnung
ihrer eigenen Persönlichkeit arbeiten. Nur wenn sie selbst mit
den Resultaten ihres Denkens und Arbeitens zufrieden sein können,
glauben solche Männer, ihren Schülern Genüge zu tun." Diese
Strenge gegen sich selbst hatte denn freilich ziu: Folge, daß er auch
anderen gegenüber große Anforderungen stellte und ein scharfer
Kritiker war. Ernstes Streben und wirkliche Leistungen wurden
von ihm rückhaltlos anerkannt und gefördert; Minderwertiges
wies er zurück. Die Reizbarkeit, die durch die Empfindlichkeit
seiner Augen fortwährend gesteigert wurde, ließ dabei gelegentlich
einmal sein Urteü auch unnötigerweise schroff und selbst verletzend
werden, und den persönlichen Umgang mit ihm etwas schwierig
gestalten. Als natürliche Folge davon ergab sich, daß er mehr
Bewunderer als nahe stehende Freunde hatte und zeitweise in eine
Isoliertheit geriet, die ihm, bei voller Erkenntnis ihrer Ursache,
manche trübe Stunde bereitete. Und doch besaß er nicht nur einen
scharfen Geist und eine vornehme Gesinnung, sondern auch ein
— 22 —
reiches Gemüt und ein warm empfindendes Herz. In schlichten
Worten herzlicher Dankbarkeit erzählte er bei Gelegenheit seines
70. Geburtstages von seiner Kindheit, seinen Eltern und den Lehrern,
die auf sein Leben Einfluß gehabt, und bei derselben Gelegenheit
konnte der Dekan seiner Fakultät es aussprechen, daß noch nie
ein sorgenschwerer Kollege sich Weismann offenbart habe, ohne
die herzlichste Teilnahme und, wenn möglich, die tatkräftigste
Unterstützung gefunden zu haben.
Die Empfindlichkeit der Augen war aber auch eine unmittel-
bare Veranlassung für ihn, große Geselligkeit zu meiden, ihn in
erster Linie auf ein Leben in stüler Zurückgezogenheit und in kon-
zentrierter geistiger Arbeit zu verweisen. Doch nahm er an dem
wissenschaftlichen Leben Freiburgs regsten Anteil, insbesondere an
der Tätigkeit der Naturforschenden Gesellschaft, in der er selbst
manchen Vortrag gehalten hat. Die vielen Vorträge, die er auf
Naturforscherv'ersammlungen imd bei anderen öffentlichen Ge-
legenheiten in Deutschland und dem Ausland vor einer großen,
durchaus nicht nur aus Fachleuten bestehenden Zuhörerschaft ge-
halten, zeigen ja auch zur Genüge, daß er die Wissenschaft nicht
als ein Monopol eines eng begrenzten Kreises betrachtete, sondern
sie allen Gebildeten zugänglich machen wollte; sie offenbaren auch
die besondere Gabe, die er dafür besaß. Auch dem Leben der Uni-
versität widmete er seine Zeit und seine Kraft. ,,Seit 30 Jahren
sind Sie Mitglied unserer Fakultät, seit 30 Jahren nehmen Sie
regsten Anteil an allen unsere Fakultät interessierenden Fragen,
haben ausgeharrt in mancher nicht gerade kurzweiligen Sitzung,
bescheiden still sich zurückhaltend, wenn es um weniger wichtige
Fragen sich handelte, gern Ihren erfahrenen Rat erteilend, wenn
schwierigere Sachen zur Entscheidung standen, ohne Scheu, männ-
lich fest in die vordersten Reihen sich stellend, wenn es galt, die
Rechte der Universität, die Freiheit der Wissenschaft zu ver-
teidigen" — mit diesen Worten kennzeichnete an seinem 70, Ge-
burtstag der Fakultätsdekan diese Seite seiner Tätigkeit.
Seine Arbeit galt natürlich in erster Linie seiner Wissenschaft ;
ihr widmete er sich forschend im Institut, allein oder mit seinen
Schülern, lehrend im Hörsaal, lernend zu Hause und bei den
Referierabenden, die er eingerichtet hatte. Wie viel ihm daran lag.
durch Verfolgung der Literatur, mit den Fortschritten der Wissen-
— 23 —
Schaft Fühlung zu behalten, lehrt die Forderung, die er einmal
ausspricht^"): daß nur in wenigen Sprachen pubHziert werden
soll. Das ist ihm die unumgängUche Grundlage eines weiteren ge-
meinsamen Zusammenarbeitens der Völker an dem Bau der Wissen-
schaft. Indessen dürfe die Sache nicht etwa vom Standpunkte der
Nationalitätsfrage betrachtet werden, sondern allein von dem höheren,
der allgemeinen Menschenbildung. Nicht ein Unterdrücken der
kleineren Nationalitäten durch die größeren soll erreicht werden,
sondern ein freiwilliger Verzicht aller der Völker auf den Gebrauch der
eigenen Sprache auf wissenschaftlichem Gebiet, deren Sprache ent-
weder keine weite Verbreitung oder doch noch keine große wissenschaft-
liche Literatur hat. Dieses Opfer muß gebracht werden, im Dienste der
Wissenschaft, wie im eigenen Interesse der Arbeitenden selbst. — Es
wäre in der Tat schön, wenn diese Auffassung überall Geltung hätte!
Für die internationale Verbreitung der Ergebnisse wissen-
schaftlicher Forschung ist Weismann übrigens nicht nur mit dem
Wort, sondern auch mit der Tat eingetreten ; es dürfte wenig deutsche
Forscher geben, von denen so viele Werke, auch reine Spezial-
arbeiten, zugleich in fremder, besonders englischer, Sprache er-
schienen sind. Auch persönlich war im Vaterlande Darwins der
Nachfolger des großen Britten kein Fremder: mehrfach hat er dort,
von gelehrten Gesellschaften aufgefordert, Vorträge gehalten. Aber
auch in Frankreich, in Amerika, in Japan, — wo wäre Weismanns
Name nicht bekannt gewesen?
Daß er mit ganz besonders regem Interesse und freudiger
Genugtuung den Einfluß verfolgte, den der Entwicklungsgedanke,
die Vererbungslehre, insbesondere seine Vererbungslehre, sowie die
Selektionslehre auf allen Gebieten erlangten, nicht nur auf dem
Gebiete der Pathologie und klinischen Medizin, sondern auch auf
dem der sogenannten Geisteswissenschaften, wie für die Betrachtung
der kulturellen und sozialen Zustände und als leitende Gedanken
bei den auf die Reform der letzteren gerichteten Bestrebimgen —
ist wohl selbstverständhch. Die Ehrenmitgliedschaft der Inter-
nationalen Gesellschaft für Rassenhygiene nahm er an; für das
Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie schrieb er eine kritische
Besprechung von Semons ,,Mneme".
Aber Weismann war nicht einseitiger Fachmann und er-
schöpfte sich nicht in der Zoologie; Geschichte, Kunst, Literatur
— 24 —
bildeten nicht minder die Bereiche, aus denen er sich vorlesen
ließ, — denn darauf war er freilich angewiesen, — und auf den
verschiedensten Gebieten war er wohl bewandert. Die Natur hatte
ihm eine reiche Fülle geistiger Gaben in die Wiege gelegt, und in
ernster Arbeit und Selbstzucht strebte er, sie zu entwickeln. Neben
seiner Wissenschaft steht in erster Linie die Kunst, namentlich die
Musik, und diese vermochte es auch am häufigsten, ihn aus der
Arbeitsstube heraus und unter Menschen zu locken. Die Erfahrungs-
tatsache, die sich in Universitätsstädten oft genug beoachten läßt,
daß gerade unter den Medizinern und den Vertretern der organischen
Natiu^wissenschaften musikalische Veranlagung ganz besonders
häufig zu finden ist — man denke an berühmte Beispiele: Bill-
roth, Mikulicz, Neisser, die Chirurgen Nußbaum, Engel-
mann u. v. a. — wurde auch durch Weis mann bestätigt. Weiteren
Kreisen ist das bekannt geworden durch seinen Aufsatz über die
Musik bei Tieren und Menschen; in Freiburg wußten es alle, die
sich um Musik kümmerten; die hohe stattliche Erscheinung mit
dem großen grünen Augenschirm, der die empfindlichen Sehorgane
vor dem blendenden Lichte schützen sollte, war in Konzertsälen
wohl bekannt. Viel kleiner freilich war der Kreis derer, die ihn
selbst sein Instrument, das Klavier, haben spielen hören; sich zu
produzieren, war nicht seine Sache. Nur ein einziges Mal, in der
ersten Zeit meines Freiburger Aufenthaltes, habe ich selbst dazu
Gelegenheit gehabt: bei dem gemeinsamen Spiel der G-Dur-
(L Alexander-)Violinsonate \'on Beethoven. Er spielte gut und
besaß, wie seine Angehörigen bekunden, ein glänzendes Gedächtnis,
das ihn befähigte, ein großes musikalisches Repertoir auswendig
zu beherrschen, — eine besonders glückliche Gabe angesichts seines
Augenleidens. Sein Herz gehörte den alten großen Meistern; im
tiefsten Innern seiner Natur lag es begründet, daß er von dem folge-
richtigen Aufbau und der Geschlossenheit der Form nicht absehen
konnte. So sind seine Vorträge stets sorgfältig gegliedert und kommen
zu einem wirklichen Abschluß, einem Ergebnis, das oft die Form
einer Sentenz, einer allgemeinen Wahrheit annimmt, so strebte er
darnach, seine Keimplasmatheorie in sich als Ganzes abzuschließen,
— und so widerstrebte ihm das Ruhe- und Endlose Wagnerscher
Musik. Erst durch seinen Sohn Julius, in dem die musikalische
Veranlagung des Vaters in gesteigertem Maße weiter lebt, und der
als Komponist sich einen geachteten Namen geschaffen hat, gewann
er auch mit der modernen Musik etwas mehr Fühlung. Sein Urteil,
sowohl über Werke wie über ihre Wiedergabe, konnte recht scharf
sein; ,, keine Weihe" — das war einmal die kurze Kritik einer Auf-
führung der Matthaeus-Passion. —
Aber auch zeichnerisch war er — ein Erbteil der Mutter —
über Durchschnitt begabt; bei weitem die meisten Abbildungen
für die vielen Tafeln seiner Spezialarbeiten hat er selbst angefertigt.
So war auch sein Sinn für Werke der bildenden Kunst hoch ent-
wickelt. Davon zeugte manches schöne Gemälde in seinem Hause,
und die Gallerien von Rom, Florenz, München konnten ihn, wie
sein Schwager Wiedersheim bekundet, zu leidenschaftlicher Be-
geisterung hinreißen. In der Geschichte der bildenden Kunst war
er wie in der der Musik wohl bewandert.
Das entsprach ja aber auch nur seiner Geistesrichtung, die
ihn trieb, überall nach dem großen Zusammenhang der Erschei-
nungen zu forschen, das Seiende als Gewordenes aus dem Werde-
gang zu begreifen. Mit diesem wahrhaft historischen Sinn betrachtete
er die Natur und so auch das Leben der Menschen und die Geschicke
der Völker. Ein glühender Patriot, trat er schon in den sechziger
Jahren mit Treitschke für ein einiges Deutschland unter Preußens
Führung ein, — damals eine kühne Tat, die ihm viele Feinde zu-
zog. Den Ausbruch des Weltkrieges hat er noch erlebt, und bis
in die letzten Tage seines Lebens hat er die Ereignisse desselben
mit innerster Anteilnahme verfolgt. Wie er selbst über den Urheber
des Krieges und seine Motive dachte, brachte er zum Ausdruck,
indem er sich der verschiedenen Ehren und Würden, die ihm von
englischer Seite geworden waren, entäußerte.
Eine so bedeutende, vielseitige Persönlichkeit konnte auf
keinen geeigneteren Platz gestellt werden, als auf den des deutschen
Hochschullehrers mit seinen drei großen Aufgaben des Lernens,
Forschens und Lehrens. Wenn je einer, so hat Weismann diesen
Ehrenplatz voll ausgefüllt. Was er seinen Hörern sagte, war er-
arbeitet in intensivster Geistestätigkeit, empfunden mit dem Herzen
und gekleidet in die Form einer schön vollendeten Sprache. Sein
vortreffliches Gedächtnis und seine angeborene Gestaltungskraft
gestatteten ihm, frei zu sprechen, mit nur gelegentlicher Benutzung
kurzer Notizen. Er sprach gewöhnlich sitzend, mit dem Rücken
— 26 —
gegen das Fenster gekehrt, mit halber Wendung gegen sein Audi-
torium, den einen Arm auf die Stullehne aufgelegt, beide Hände
ineinander verschränkt. So, ein Bild völligster Sammlung, holte
er die Gedanken aus dem Innersten heraus und formte sie wie in
einem zwanglosen Gespräch. Dadurch gewann sein Vortrag etwas
ungemein Fesselndes und zwang zum Mitdenken. Ganz im Gegen-
teil zu denen, die in der Überleitung einiger Tatsachen auf den
Zuhörer die ganze Aufgabe des akademischen Lehrers sehen und
den Standpunkt nicht elementar genug wählen zu können glauben-,
suchte er vielmehr die Hörer zu seiner Höhe herauf zu ziehen,
ihnen immer den Zusammenhang der Einzeltatsachen mit größeren
allgemeinen Fragen zu zeigen, auf sie seine Begeisterung für diese
zu übertragen und sie geradezu als Mitarbeiter aufzurufen. Ihm war
die Universität etwas anderes als die Mittel- oder Fachschule, und
der deutsche Universitätsprofessor ein Lehrer und Erzieher der
akademischen Jugend, der sich allezeit bewußt war, daß unter
dieser Jugend auch die Besten des Volkes, die geistigen Führer der
Zukunft, vor ihm saßen. Der glänzende Erfolg, den er als akademi-
scher Lehrer gehabt, die Verehrung, die die Studentenschaft ihm
entgegengebracht, zeigten ihm, wie recht er mit dieser Auffassimg
hatte. Nicht die gewöhnliche ,, Beliebtheit" war es, was ihn mit
der Studentenschaft verband; weder strebte er darnach durch ge-
schickte Vermittelung von Examenskenntnissen noch durch väter-
liche Beaufsichtigung und Bevormundung studentischer Unreife ; —
das Band, das ihn mit der akademischen Jugend verknüpfte, war
ein edleres. In schöner Weise kam das zum Ausdruck in den An-
sprachen bei der Feier seines 70. Geburtstages, „Jung sind Sie
geblieben in Ihrem Berufe als Lehrer, bei dem Sie noch jetzt mit
der Frische des Eifers, mit der Wärme der Überzeugung die Herzen
aller Hörer zwingen. Jung aber in einem noch viel tieferen Sinne,
als führender Geist einer Wissenschaft, die in unserer Zeit der Aus-
blick auf neue Ziele mit einem neuen, jugendlichen Geiste erfüllt
hat, auf Ziele, denen die vorurteilsfreie Jugend überall freudig
zuströmt, während die Alten noch hier und da zögernd zur Seite
stehen. So gehen Sie heute noch mitten unter uns Jungen. Aber Sie
gehen mit uns nicht nur als Lehrer, sondern auch als Berater, Sie
begeistern uns nicht nur mit der Kraft der Jugend, sondern Sie
halten uns auch mit Besonnenheit, die das bessere Gut des reiferen
27 —
Alters ist. Und das tut not. . . " In der Erwiderung auf diese Worte
des Vertreters der Studentenschaft sagte Weismann: ,,Es ist für
einen Lehrer der Jugend wahrlich nicht gleichgültig, ob er sich
im Kontakt fühlt mit seinen Hörern, ob er glauben darf, daß sein
Wort bei ihnen zündet, daß er ihnen nicht nur neuen Wissensstoff
überliefert, sondern sie auch zugleich zur Wissenschaft selbst hin-
leitet, ihnen Begeisterung für dieselbe einflößt und sie so dazu an-
regt, ihm auf die Pfade zu folgen, welche er selbst gewandelt ist.
Verstehen Sie mich recht. Ich meine nicht, daß jeder von Ihnen
forschender Naturbeobachter werden solle oder gar jeder Zoologe
oder Biologe! Nein! Die meisten von Ihnen werden einen prak-
tischen Beruf verfolgen, werden nützliche Diener des Staates und
der menschlichen Gesellschaft werden und nur verhältnismäßig sehr
wenige werden sich der Wissenschaft selbst widmen und versuchen,
dieselbe durch eigene Forschungen weiter zu führen. Es wäre ja
auch schlimm, wenn wir auf unseren Hochschulen lauter Natur-
forscher und Philosophen erzögen oder lauter Geschichts- oder
Sprachforscher! Der größte Teil von Ihnen wird praktisch an-
wenden, was er von der Universität nach Hause mitbringt, aber
ein jeder wird, so hoffe ich und so muß es ein, auch mit einem
Tropfen idealistischen Öles gesalbt sein, und das ist das Beste,
was Ihnen die Universität geben kann — nicht das eigentliche
Spezial wissen, so notwendig und so unentbehrlich dasselbe auch
ist, sondern die Ehrfurcht vor der Wissenschaft selbst als solcher,
als des Weges zur Erkenntnis, zu dem geistigen Ziele der Mensch-
heit, dem sie sich mehr und mehr anzunähern bestrebt ist." Das
war die ideale Auffassung seines akademischen Lehrberufes. Sie
wird immer die höchste bleiben und, wenn dem Wollen das Können
und Vermögen entspricht, auch die wirkungsvollste bleiben. Das
Gefühl meilen weiter Entfernung, das der Schüler gegenüber der
Ehrfurcht gebietenden Persönlichkeit eines überragenden Ge-
lehrten und Forschers empfindet, wandelt sich in ein Gefühl der
Gemeinschaft auf edelster Grundlage, wenn dieser selbst sich als
Diener der Wissenschaft bekennt und seine Schüler aufruft zur
Mitarbeit in diesem Dienste. So erfüllt auch die Hochschule ihre
Aufgabe, mehr zu sein als eine bloße Fachschule: eine Bildungs-
und Erziehungsstätte, die nicht nur praktisch verwertbare Kennt-
nisse übermittelt, sondern vor allem die besten Kräfte, die in dem
— 28 —
Schüler selbst liegen, zur Entfaltung bringt. An diese Macht der
Wissenschaft glaubte Weismann: ,,Denn Sie werden nicht mit
so manchen Gedankenlosen glauben, daß die Wissenschaft in erster
Linie dazu da sei, nützliche Entdeckungen zu machen, vor allem
solche Kenntnisse der Naturkräfte oder der Lebewesen zu gewnnen,
die unser Leben erleichtern oder sichern: Dampfmaschinen, Tele-
graph, Telephon, antiseptische Wimdbehandlung, Kenntnis der
Fieberparasiten des Blutes usw. So ungemein wichtig alle diese
und viele andere Fortschritte auch für die Menschheit sind, man
würde nie zu ihnen gelangt sein, hätte man nur um ihrer Willen
Naturforschung getrieben. Sie sind alle nur Abfälle in der Werk-
statt der Naturforschung, deren eigentliches Arbeitsziel immer nur
die reine Erkenntnis ohne alle Nebenziele sein kann". . . . ,,Die
Wissenschaft nimmt bereitwillig solche praktische Verwertungen
ihrer Resultate an und verwendete sie fürs menschliche Leben,
aber sie arbeitet und strebt ursprünglich und in erster Linie immer
nur nach der reinen Erkenntnis, und das ist es, was ich den Idealismus
der Wissenschaft genannt habe. Das Streben nach Erkenntnis ist
dem menschlichen Geist tief eingeprägt, und dies Streben ist es,
was unser Leben und Denken mehr vertieft und unser Wesen hebt
und vervollkommnet — nach allen Richtungen, nicht nur nach
der des Verstandes, sondern auch nach der des Ethischen, nach der
des Humanismus im eigentlichen Sinne." Diese Worte enthalten
gewissermaßen das Glaubensbekenntnis Weismanns, die Richt-
linien, die sein Leben bestimmt haben.
In den Erinnerungsworten auf Romane s, der, einer der be-
deutendsten Nachfolger Darwins auf englischem Boden, zu Weis-
mann vielfach in Gegensatz getreten war, sagte dieser (1894):
,,So hat seine rastlose Tätigkeit erst mit dem Leben geendet, imd
man kann von ihm das Beste sagen, was man von einem hervor-
ragenden Mann sagen kann: er hat die Gaben, mit welchen die
Natur ihn ausrüstete, voll und ganz zur Entfaltung gebracht."
Auch auf Weis mann selbst lassen sich diese Worte anwenden.
Auch ihm ist es beschieden gewesen, in Ausbildung der reichen
Gaben, die ihm die Natur verliehen, sich zu einer vollen großen
Persönlichkeit zu entwickeln. Eiserner Fleiß und unbeugsame
Willenskraft, gefördert von einer idealen Lebensauffassung, ließen
ihn die Hemmungen überwinden, die sich aus seinem körperlichen
— 29 —
Leiden ergaben, und verhinderten ein Versinken in iintätiger Re-
signation, wie es sich gerade bei dieser körperlichen Behinderung
aus den sonstigen günstigen äußeren Verhältnissen, dem Wegfall
eines rauhen Zwanges, leicht hätte ergeben können. Er bestätigte
die Auffassung, der er selbst wiederholt Ausdruck gegeben hat:
daß für hervorragende menschliche Leistungen nicht die angeborene
intellektuelle Begabung allein maßgebend ist, sondern daß Fleiß,
Beharrlichkeit, Selbstzucht hinzukommen müssen. In Vereinigung
dieser Fähigkeiten schuf er sich lernend die breite Grundlage
des Wissens und Könnens, drang er erfolgreich forschend in die
Tiefen der Natur und wirkte er lehrend als berufener Erzieher der
akademischen Jugend.
So wird Weismanns Name fortleben in der Wissenschaft
als der eines der bedeutendsten biologischen Forscher und Denker;
in der Erinnerung aller aber, die ihn gekannt, und insbesondere
der Tausende, die zu seinen Füßen gesessen, wird seine ragende
Gestalt mit dem schönen Gelehrtenkopf unvergessen bleiben, und
wird sein Gedächtnis fortwirken als das eines großen Gelehrten,
der seinen Schülern die größte nachhaltigste Anregung zum Denken
gegeben, ihren Blick über den engen Kreis der besonderen Interessen
auf die großen allgemeinen Fragen und die höchsten Ziele der
Menschheit gelenkt, Begeisterung für wissenschaftliche Aufgaben
erweckt, aber auch das Beispiel eines rastlos arbeitenden und vor-
wärtsstrebenden Menschen gegeben, — als das eines der edelsten
Verkörperer des reinen Idealismus, dem Deutschland und ins-
besondere die deutschen Hochschulen ihre Größe verdanken.
Zweiter Abschnitt.
Die Spezialarbeiten.
"Wissenschaftliche Tätigkeit Weismanns, Übersicht. — Chemische Arbeiten. — Histo-
logische Arbeiten. — Embryologische Arbeiten. — Allgemein-biologische Arbeiten:
Studien zur Deszendenztheorie; — Biologie der Süßwasserfauna, Daphnoidenstudien, par-
thenogonische und zyklische Fortpflanzung; — Die Hydromedusenstudien, Bildung der
Keimzellen.
Wissenschaftliche Tätigkeit Weismanns, Übersicht.
Die wissenschaftliche Tätigkeit Weismanns kennzeichnet sich
als die eines Naturforschers großen Stiles, der nicht in der bloßen
Feststellung des Tatsächlichen das Endziel der Forschung sieht,
sondern aus der Beobachtung des normalen Seins und Geschehens
allgemeine Gesetze zu erschließen und diese auch durch das ziel-
bewußt angestellte Experiment zu prüfen und zu sichern sucht.
Inhaltlich lassen sich die der Spezialforschung gewidmeten Arbeiten
von denen unterscheiden, die die Deszendenztheorie und mit ihr
zusammenhängende Fragen behandeln ; chronologisch füllen die der
ersten Gruppe in der Hauptsache auch die der ersten Schaffens-
periode aus, die der zweiten Gruppe die zweite. Den Spezialarbeiten
sind die nachfolgenden Blätter gewidmet, die durchaus keine ein-
gehende Würdigung derselben versuchen, sondern mehr, im all-
gemeinen über ihre Absichten unterrichten sollen.
Chemische Arbeiten.
Seine wissenschaftlichen Sporen hat sich Weismann, wie
aus der Darstellung seines Entwicklungsganges ersichtlich, auf dem
Gebiete der Chemie erworben; von den Arbeiten über die Ent-
— 31 —
stehung der Hippursäure im Harn und über den Salzgehalt der
Ostsee sind besonders die ersteren bei den physiologischen Chemikern
bekannt und gewürdigt. Für Weismanns persönliche Entwick-
lung sind sie darum von Wert, weil sie ihn mit Bestimmtheit er-
kennen ließen, daß nicht die anorganische, sondern die organische
Natur das Feld sei, auf dem seine spezifischen Anlagen sich am
besten entfalten könnten.
Histologische Arbeiten.
Jene ersten Arbeiten wurden abgelöst von den histologischen,
unter denen die über die Muskelelemente die bedeutendsten und be-
kanntesten sind. Sie behandeln die glatten, quergestreiften und
Herzmuskelelemente, unter anderem besonders Neubildung und
Wachstum der quergestreiften Muskelfasern sowie die Verbindung
der letzteren mit den Sehnen, und haben die Kenntnis auf diesen
Gebieten wesentlich gefördert, auch einen technischen Fortschritt
gebracht: die Anwendung der Kalilauge für die Untersuchung des
Muskelgewebes. Vor allem von grundlegender Wichtigkeit aber sind
die Untersuchungen über die Muskelelemente des Herzens beim
Menschen und bei den Tieren; sie werden Weismanns Namen
auch auf histologischem Gebiete nicht vergessen lassen. Eine
kleine besondere Untersuchung ist dem Bau des Nabelstranges
gewidmet, und endlich lieferte dem jungen Arzt ein an der eigenen
Hand infolge einer Verletzung aufgetretenes und dann operiertes
Neurom das Material zu Beobachtungen über die Neubildung von
Nervenfasern. Kein Zweifel wohl, daß in diesen histologischen
Arbeiten der Einfluß nachwirkt, den der Unterricht Jacob Henles
in Göttingen auf den jungen Studenten ausgeübt. Um sie ihrem
Werte nach voll zu würdigen, muß man aber bedenken, daß Weis-
mann sie nicht in einem anatomischen Institute und nicht auf
unmittelbare Anregung und unter den Augen eines beratenden
Lehrers angestellt, sondern auf eigene Faust, als selbstgewählte
Nebenbeschäftigung in den — allerdings reichlich zugemessenen —
Mußestunden, die ihm die Tätigkeit des praktischen Arztes in
Frankfurt ließ. Und noch ein anderes verdient hervorgehoben zu
werden: die Ausdehnung der Untersuchungen auf zahlreiche ver-
schiedene Formen: Wirbeltiere, Gliedertiere, Würmer, Mollusken,
Echinodermen, Coelenteraten, ein Ausdruck der hohen Bedeutung,
die Weismann der vergleichenden Betrachtung auch für die Ent-
\vicklung der Histologie als selbständigen Zweiges der anatomischen
Wissenschaft zuerkannte.
Embryologische Arbeiten.
Über die vergleichende Histologie gelangte Weismann auf
ausschließlich zoologisches Gebiet, auf dem zunächst die Arbeiten
über die Embryologie und die Metamorphose der Insekten
zu nennen sind. Auch für sie dürfte dem jungen Forscher die In-
spiration letzten Grundes aus dem Zusammensein mit hervor-
ragenden Zoologen, namentlich aus dem Aufenthalt bei Rudolph
Leuckartin Gießen zugeflossen sein , aber die Aufgabe im besonderen
hat er sich wohl selbst gestellt, und bei ihrer Bearbeitung war er
diurchaus auf sich selbst angewiesen. Mit um so größerer Genug-
tuung konnte er sich der Anerkennung freuen, die diese Arbeiten
in Zoologenkreisen gefunden, und des Einflusses, den sie auf die
Forschung gehabt haben. Um so schwerer freilich auch mußte
er das Geschick empfinden, das ihn zwang, diese Arbeiten vor der
Zeit unvollendet wieder zu unterbrechen, einen großen Teil des
angesammelten Materiales ungenützt liegen zu lassen und, was wohl
das Schmerzlichste war, sehen zu müssen, wie andere die von ihm
angeregten Fragen weiter verfolgten und mit Hilfe der damals
aufkommenden Schnittmethode manches in einem anderen und
zweifellos richtigeren Lichte sahen als er, der die Entwicklungs-
\orgänge nur am lebenden, sich entwickelnden Ei verfolgt hatte.
So hat er nur noch einmal, 1882, einen Nachtrag zu jenen Unter-
suchungen geliefert, darin manches anders dargestellt als früher,
manche frühere Auffassung, so bezüglich der Keimblätterbildung
bei den Insekten, geändert, auch manche wichtige neue Beobachtung
hinsichtlich der ersten Entwicklungsvorgänge mitgeteilt (Bildung
der Richtungskörper, frühe Bildung der Keimzellen) — im übrigen
aber mit Resignation von diesen Arbeiten, die seinen wissenschaft-
lichen Aufstieg eingeleitet hatten, Abschied genommen.
Allgemein-biologische Arbeiten.
Als vierte Gruppe von Spezialarbeiten können die zusammen-
gefaßt werden, die nach 1868 entstanden und von 1874 an erschienen
sind; mit einer gemeinsamen Bezeichnung könnte man sie als all-
— 33 —
gemein-biologische kennzeichnen. Sie behandeln Bau und
Lebenserscheinungen größerer Gruppen von Tieren, aber auch be-
stimmte Einzelfragen, und zeigen Weis mann nicht nur als gründ-
lichen Beobachter am Mikroskop, sondern auch als planmäßig vor-
gehenden Experimentator und als den wahren Biologen, der mit
Liebe und immer neuer Bewunderung das vielgestaltige Leben der
Tiere betrachtet. Eins ist ihnen allen gemeinsam: sie alle zeigen
mehr oder weniger innige Beziehungen zu der Deszendenztheorie, zu
der Weis mann durch die Schonungsbedürftigkeit seiner Augen
geführt worden war, und zu der er 1868 in seiner Antrittsvorlesung
zum ersten Male öffentlich Stellung genommen hatte. Sie berühren
alle mit dieser zusammenhängenden Fragen: die Variabilität,
wobei die Frage nach dem direkt umgestaltenden Einfluß der
äußeren Lebensbedingungen sowie die nach dem Walten einer
etwaigen inneren Entwicklungskraft zu berücksichtigen waren; die
Vererbung, die wieder zu einer eingehenderen Behandlung der
Vorgänge führte, an die sie geknüpft ist: der Entstehung und
Reifung der Keimzellen sowie der Fortpflanzung in ihren
verschiedenen Formen; die Bedeutung der Selektion auf Grund
des Überflusses von Variationen und unter dem auslesenden
Einfluß der äußeren Verhältnisse, des Kampfes ums Dasein, zwecks
Erzielung zweckmäßiger Anpassungen, endlich die Korrelation.
Manche dieser Arbeiten sind geradezu mit der ausgesprochenen
Absicht unternommen worden, über die genannten Fragen Klarheit
zu erlangen, so die unter dem gemeinsamen Titel: ,, Studien zur
Deszendenztheorie" herausgegebenen; bei anderen ist der Ausgang
ein anderer, aber im weiteren Verlauf führen auch sie zu einer all-
gemeinen Betrachtung in einer der genannten Richtungen. So
eröffnen sie eine neue Periode in Weismanns Schaffen, die wich-
tigste in seinem Leben, und bilden die Grundlage und weiterhin die
Begleitung der theoretisch-zusammenfassenden Schriften, die von
1881 an in den Vordergrund treten. Soweit sie vor diesem Jahre
erschienen sind, leiten sie zu den theoretischen Anschauungen
Weismanns, geben ihm den Anlaß, sich über die theoretischen
Fragen, auf die es ankommt, klar zu werden, führen ihn allmählich
auf den Weg zur Beantwortung dieser Fragen und schaffen die
ersten Bausteine zu dem späteren Theoriengebäude herbei; vom
Anfang der achtziger Jahre an gewinnt die Theorie feste Gestaltung,
0 a u p p , Biographie Weismanns. 3
— 34 —
und bildet nun umgekehrt den Anstoß und Ausgang zur Vornahme
besonderer Untersuchungen, die die Theorie prüfen sollen.
Die hierher gehörigen Arbeiten können in vier Gruppen ge-
ordnet werden. Eine erste beginnt mit den Abhandlungen, die
Weismann selbst unter dem Titel: ,, Studien zur Deszendenz-
theorie" zusammengefaßt hat, und erfährt eine Ergänzung durch
eine spätere Untersuchung über den Saison-Dimorphismus der
Schmetterlinge (1895) ; eine zweite hat zum Ausgang die Forschungen,
die sich mit der Süßwasserfauna beschäftigen, und wird fortgesetzt
durch die daraus hervorwachsenden Untersuchungen über Partheno-
gonie, Reifungs- und Befruchtungsvorgänge bei tierischen Eiern;
eine dritte bilden die Studien an den Hydroidpolypen ; eine vierte
endlich umfaßt einige kleinere Untersuchungen der späteren Jahre :
über Duftschuppen der Schmetterlinge, über Regeneration, über
Umkehrversuche an Hydra. Über diese letzteren wird im Zusammen-
hang mit den allgemeinen Fragen, die sie behandeln, zu berichten
sein.
Studien zur Deszendenztheorie.
Die ,, Studien zur Deszendenztheorie" lassen schon in
ihrem Titel die Absichten erkennen, die sie verfolgen; in der Vor-
rede zu ihrem zweiten Heft hat sich Weismann genauer darüber
ausgesprochen. Das erste Heft (1875 erschienen) enthält den ersten
Bericht über die so bedeutungsvoll gewordenen Versuche, die
Weismann über den Einfluß der Temperatur auf die Puppen ge-
wisser Schmetterlinge angestellt hat, um die Frage zu prüfen, wie
weit die direkt umgestaltenden Wirkungen äußerer Einflüsse bei
der Artbildung eine Rolle gespielt haben mögen. Diese Versuche,
deren Beginn mindestens schon in das Jahr 1869 fällt 1^), gelten der
von A. R. Wallace als Saison-Dimorphismus benannten Er-
scheinung: der Verschiedenheiten im Aussehen der Frühjahrs- und
der Sommergeneration einer und derselben Schmetterlingsart, —
Verschiedenheiten, die vielfach so bedeutend sind, daß beide Formen
früher als ganz selbständige Arten beschrieben wurden. Vom
Standpunkte der Transmutationslehre aus mußten gerade diese
Fälle als günstiges Objekt erscheinen, um den Einflüssen, die bei
den Umwandlungen der Arten mitspielen, nachzugehen. Als maß-
gebender Faktor bei den genannten Verschiedenheiten ergab sich
— 35 —
bald die Temperatur, und so kam Weismann selbständig zu
der Vornahme von Versuchen, wie sie — was ihm erst nach Abschluß
derselben bekannt wurde — schon einige Jahre vor ihm (1864)
zuerst von Dorfmeister veröffentlicht worden waren. Nach
Weismann wurden sie dann von verschiedenen Forschern, H. W.
Edwards, v. Reichenau und besonders, vom Ende der achtziger
Jahre an, von Merrifield, Dixey, Standfuß, Brandes,
E. Fischer u. a. in größerem Umfang fortgeführt und haben viel
diskutierte Ergebnisse von weittragendster Bedeutung gezeitigt.
Auch Weismann selbst ist in den achtziger Jahren noch einmal
zu ihnen zurückgekehrt und hat sie an einer größeren Anzahl von
Arten wiederholt, um noch bestimmtere Antworten auf seine Frage
zu erhalten. Über diese zweite Serie von Versuchen und ihre Er-
gebnisse ist in dem ,, Keimplasma" (1892, S. 523 u. f.) sowie in einer
besonderen Abhandlung vom Jahre 1895 berichtet.
An den klassisch gewordenen Objekten, dem Landkärtchen
(Vanessa levana-prorsa) und dem kleinen Weißling (Pieris napi),
auf die sich die ersten Versuche bezogen, konnte zunächst deutlich
der Einfluß der Temperatur festgestellt werden: Puppen des Weiß-
lings, die unter normalen Bedingungen die Sommergeneration er-
geben hätten, ließen, in der Kälte aufgezogen, wieder die Winter-
form ausschlüpfen. Nicht ganz so vollständig gelangen die Versuche
mit Vanessa: meist entstand durch die Kältewirkung statt der
Sommerform (V. prorsa) eine Mittelform zwischen der Winter-
und der Sommerform, die sogenannte Vanessa porima, und nur
in einigen Fällen schlüpfte eine nahezu vollständige Winterform
(V. levana) aus. Der Einfluß der Temperatur auf die Färbung
war damit jedenfalls erwiesen. Der Versuch Weismanns, daraufhin
die stammesgeschichtliche Entstehung des Saison-Dimorphismus zu
erklären, nimmt an, daß die Winter- (Levana-) Form die ursprüng-
liche ist und früher, in der Zeit des Diluviums, allein vorhanden war,
daß aber dann, als das Klima wärmer und der Sommer länger wurde,
sich eine Sommergeneration, ja sogar deren zwei einschoben, die
allmählich unter dem Einfluß der Wärme die Prorsa-Form an-
nahmen, die nun allmählich durch Vererbung fixiert wurde. Die
Levana-Form ist also die ältere, die Prorsa-Form die jüngere, und
wenn jetzt durch den Einfluß abnormer Kälte die Prorsa-Form
zur Annahme der Levana-Form gezwungen wird, so bedeutet das
- 36 -
eine Rückkehr zur Stammform. Im Experiment wäre also die
Kälte nur der Reiz, der diesen Rückschlag bedingt; nach Weis-
mann könnten auch andere Reize in gleicher Weise wirken.
Die allgemeinen Ergebnisse dieser und der späteren Schmetter-
lingsexperimente sind nach verschiedenen Richtungen hin be-
deutungsvoll. Als wichtigstes allgemeines Ergebnis betrachtete
Weis mann selbst 1875 den Nachweis, daß lediglich durch den
Einfluß veränderter äußerer Lebensbedingungen eine Art zum Ab-
ändern veranlaßt werden kann, und zwar zum Abändern in be-
stimmter Richtung, die wieder abhängig ist von der physischen
Natur der variierenden Organismen, verschieden bei verschiedenen
Arten, ja selbst bei den beiden Geschlechtem einer und derselben
Art. Die Umwandlung der Art beruht nur zum Teil auf
äußeren Einflüssen, zum anderen Teil auf der spezi-
fischen Natur dieser einen Art. Diese spezifische Reaktion
beruht aber nicht auf einer verborgenen neuen Form von Lebens-
kraft, sondern darauf, daß jede Art ihre eigene besondere Ent-
stehungsgeschichte hinter sich hat. Damit hat Weis mann schon
hier in ganz bestimmter Weise zu der Lehre vom Vorhandensein einer
besonderen, den Organismen innewohnenden Umbildungskraft Stel-
lung genommen, einer Frage, auf die er später noch wiederholt zurück-
gekommen ist. In zweiter Linie ist von Bedeutung die Schluß-
folgerung, daß durch direkte Wirkung des Mediums, — hier:
des Klimas — eine Art umgewandelt werden kann. Die dazu nötige
und von Weismann damals auch ohne Bedenken gemachte An-
nahme, daß die Veränderungen, die durch jene direkte Einwirkimg
hervorgerufen werden, erblich sind, mußte ihm freilich solche
Bedenken von dem Augenblick an erregen, wo er sich eingehend
mit dem Vererbungsproblem befaßte und zu der Überzeugung kam,
daß , .erworbene" Eigenschaften nicht vererbt werden können.
Der Klärung dieser Frage galten dann ganz besonders die in den
achtziger Jahren aufs neue vorgenommenen Versuche, von denen
einige, so die mit dem kleinen Feuerfalter (Polyommatus Phlaeas)
angestellten ganz besonders bedeutungsvoll geworden sind. Sie
führten zu einer Bestätigung, aber auch zu einer Erweiterung und
Ergänzung der früheren Resultate. Bestätigt wurde die Auffassung,
daß in der Tat manche Fälle von Saison-Dimorphismus in der früher
erschlossenen Weise zu erklären seien: durch erbliche Häufung
— 37 —
von Abänderungen, die unter dem direkten Einfluß des Klimas
entstanden; erweitert wurde diese Auffassung durch eine — später
zu behandelnde — Erklärung, wie diese direkten Mediumein-
wirkungen und ihre Erblichkeit theoretisch gedacht werden müssen ;
ergänzend endlich aber kam hinzu die Schlußfolgerung, daß es
neben dem ,,direkten" Saison-Dimorphismus noch einen ,,adap-
tiven" gibt. Das heißt: gewisse Fälle von Saison-Dimorphismus
sind im Laufe der Stammesgeschichte entstanden unter dem in-
direkten Einfluß des Khmas; die Besonderheiten in Färbung,
Zeichnung usw. der Sommer- wie der Winterform stellen besondere
schützende Anpassungen an die zu den beiden Zeiten verschiedene
Umgebung dar und sind das Ergebnis von Ausleseprozessen, die
viele Generationen hindurch während der beiden Jahreszeiten
wirksam waren, die günstig gefärbten Individuen mit ihren ent-
sprechenden Vererbungstendenzen erhaltend, die ungünstigen aus-
merzend. Die verschiedene Temperatur ist in diesen Fällen nicht
die wirkliche Ursache der bestimmten Zeichnung, sondern nur der
Reiz, der ihre Anlage auslöst, zur Entwicklung veranlaßt.
Endlich hat noch ein theoretischer, von Weismann zuerst
geäußerter Gesichtspunkt in der Diskussion der später von Merri-
field, Standfuß, E. Fischer u. a. erlangten Versuchsergebnisse
eine Rolle gespielt: der Gedanke, daß die experimentell auf die
Schmetterlingspuppen angewendete Kälte als Auslösungsreiz wirkt,
der Rückschläge zur Stammform hervorruft. Insbesondere die durch
extreme Kälte oder Wärme bei verschiedenen Vanessa-Arten er-
zeugten ,, Aberrationen" sind später vielfach als Rückschläge auf
phyletisch ältere Formen gedeutet worden.
Nicht vergessen neben diesen mehr speziellen Ergebnissen
seien aber auch die Erörterungen, über das Verhältnis des ,, Saison-
Dimorphismus" zu dem ,, Generationswechsel", über die verschie-
denen Formen des letzteren und ihre Abgrenzung gegeneinander.
Die Beschäftigung gerade mit diesen Fragen war dann wieder mit eine
Veranlassung zum Studium der zyklischen Fortpflanzungserschei-
nungen bei den Daphnoiden, die uns noch beschäftigen müssen.
So sind Weismanns Schmetterlingsversuche nach ver-
schiedenen Richtungen hin bedeutungsvoll und fruchtbar geworden.
Dem ersten Heft der ,, Studien" folgte schon ein Jahr später
(1876) ein zweites, in dem unter dem Gesamttitel: ,,Über die
— 3» —
letzten Ursachen der Transmutationen" vier Abhandlungen
vereinigt sind: drei, die naturwissenschaftliche Einzelheiten be-
handeln, und eine vierte, die unter dem Titel: ,,Über die mechanische
Auffassung der Natur" die Ergebnisse derselben zusammenfaßt,
sie durch allgemeine Erwägungen noch weiter zu stützen und zu
einer philosophischen Natur- und Weltauffassung zu gestalten sucht.
Ausdrücklich gibt das Vorwort an, daß die Untersuchungen, über
die hier berichtet wird, unternommen wurden, ,,um Klarheit darüber
zu erlangen, ob die von Darwin aufgestellten Prinzipien der Um-
wandlung: Variabilität, Vererbung, Kampf ums Dasein
und Korrelation zum Verständnis der tatsächlich beobachteten
Umwandlungserscheinungen ausreichen, ob wirklich die gesamte
organische Welt nur als das Resultat des Aufeinanderwirkens von
Organismus und Außenwelt gelten darf, oder ob wir damit nicht
ausreichen, vielmehr genötigt sind, eine unbekannte, treibende
Entwicklungskraft in den Organismen anzunehmen, wie eine
solche von verschiedenen Forschern unter verschiedenem Namen
in die Wissenschaft einzuführen versucht worden ist, so von Nägeli
als .Vervollkommnungsprinzip', von Kölliker als , Schöp-
fungsgesetz', von Askenasy als .bestimmt gerichtete
Variation', von den Philosophen von Hartmann und Huber
als .organisches Entwicklungsgesetz' oder auch als , Uni-
versalprinzip der organischen Natur', ein metaphysisches
Prinzip, welches man wohl nicht unpassend als ,phyle tische
Lebenskraft' bezeichnen und so der nur für das Gebiet der in-
dividuellen Entwicklung eingeführten (ontogenetischen) Lebens-
kraft der alten ,,naturphüosophischen" Schule gegenüberstellen darf.
Die erste Abhandlung, über ,,die Entstehung der Zeich-
nung bei den Schmetterlingsraupen", unternimmt es, auf
einem kleinen Gebiet, dem der Zeichnimg der Raupen aus der
Familie der Schwärmer oder Sphingiden, die Leistungsfähigkeit der
von Darwin aufgestellten Prinzipien zu prüfen. Wie diirchaus un-
voreingenommen Weismann an die Untersuchung herantrat, geht
aus seinen eigenen Worten hervor: ,,Zwei Möglichkeiten liegen hier
vor, dieselben, welche sich ims in bezug auf die Entwicklung des
organischen Lebens im großen imd ganzen darbieten. Entweder
die so eigentümlichen, verwickelten und für uns scheinbar unver-
ständlichen Charaktere, welchen wir den Namen einer Zeichnung
— 39 —
geben, verdanken ihre Entstehung der direkten und indirekten
Einwirkung langsam sich ändernder Lebensbedingungen — oder
sie entstehen aus rein inneren, im Organismus selbst gelegenen
Ursachen, aus einer phyletischen Lebenskraft." . . . ,,Die
ganze Untersuchung wäre von mir nicht angestellt worden, wenn
ich zu denjenigen gehörte, welche sich von vornherein zur All-
macht der Naturzüchtung bekennen, wie zu einem Glaubensartikel
oder einem wissenschaftlichen Axiom. Eine Frage, die nur auf in-
duktivem Wege einer Lösimg sich nähern kann, darf unmöglich
nach den ersten Proben, die günstig für dieses Prinzip ausfielen,
nun als gelöst, und weitere Proben als überflüssig angesehen werden.
Gewiß hat die Annahme einer geheimnisvoll wirkenden phyletischen
Kraft für unsern nach Erkenntnis strebenden Geist etwas sehr Un-
befriedigendes; jedenfalls ist dieselbe aber nicht dadtuch als wider-
legt anzusehen, daß man die Entstehung hunderter von Charakteren
auf Naturzüchtung zurückführen kann, die vieler anderer auf
direkte Einwirkung äußerer Lebensbedingungen. Soll die ab-
solute Abhängigkeit der Entwicklung der organischen
Welt von den Einflüssen der Außenwelt nachgewiesen
werden, so darf man nicht bloß beliebige Charaktere hier und dort
herausgreifen, wie sie sich gerade für die Erklärung am besten zu-
gänglich zeigen, sondern man muß vor allem den Versuch machen,
sämtliche Charaktere einer bestimmten, wenn auch
kleinen Erscheinungsgruppe vollständig auf die uns be-
kannten Umwandlungsfaktoren zurückzuführen. Es wird
sich dann zeigen, ob dies möglich ist, oder ob ein aus den bekannten
Prinzipien nicht erklärbarer Rest bleibt, der dann zur Annahme
einer im Innern der Organismen liegenden Entwicklungskraft
zwingen würde. Jedenfalls läßt sich die ,phyletische Lebenskraft'
nur durch Eliminierung beseitigen, durch den Nachweis, daß
alle überhaupt vorkommenden Charaktere der betreffenden Er-
scheinungsgruppe auf andere Ursachen zurückgeführt werden
müssen, daß somit für die vorausgesetzte phonetische Lebenskraft
nichts zu tun übrig bleibt" ^2). Dies die allgemeine Fragestellung;
die besondere, auf den vorliegenden Fall bezügliche, würde lauten:
ist die Raupenzeichnung ein ,,rein morphologisches", biologisch
bedeutungsloses Merkmal und somit hervorgerufen durch innere
Ursachen, oder aber besitzt sie eine biologische Bedeutung, ist
— 40 —
sie also nützlich und somit auf Selektionsprozesse zu beziehen,
oder, allgemeiner gesprochen, lediglich die Reaktion des Organismus
auf äußere Einflüsse ? An einem in jahrelanger Beobachtung selbst
zusammengebrachten Tatsachenmaterial studiert Weis mann zur
Beantwortung dieser Frage die Entstehung und allmähliche Aus-
bildung der Färbung und Zeichnung bei einer großen Anzahl von
Formen und versucht sich über den biologischen Wert dieser Merk-
male Rechenschaft abzulegen. Dabei ergab sich das überraschende
Resultat, daß es in der Tat recht wohl möglich ist, für die vier
Hauptformen der Zeichnung (i. gänzliche Abwesenheit jeder Zeich-
nung, 2. Längsstreifen, 3. Schrägstreifen, 4. Augenflecken und
Ringflecken) einen biologischen Nutzen einzusehen. Abgesehen
von den Flecken, die als Schreckmittel oder Widrigkeitszeichen
Bedeutung haben, lassen sich alle als Anpassungen an die Umgebung,
in der die Tiere leben, erklären, — als Schutzzeichnungen, durch
die die letzteren innerhalb ihrer natürlichen Umgebung schwerer
erkennbar werden. So finden sich die Längsstreifen hauptsächlich
bei Formen, die zwischen Gräsern leben, überhaupt an Pflanzen
mit dünnen, zahlreich nebeneinander aufsprießenden Stengeln, gras-
artigen Blättern oder auch an Pflanzen mit nadelartigen Blättern,
die Schrägstreifen aber an solchen, die auf großblätterigen Sträuchern
leben. Hier erscheinen sie als Nachahmung der Seitenrippen eines
Blattes, manchmal von einem farbigen Saum begleitet, der die
Täuschung erhöht, indem er wie der Schlagschatten der betreffenden
Rippe aussieht. So führt die Untersuchung zu einem kaum er-
warteten Ergebnis: sie gestattet eine Schlußfolgerung hinsichtlich
der stammesgeschichtlichen Entstehung der Zeichnungen und recht-
fertigt weiter den Schluß, daß jede der Zeichnungen, als Anpassungen
an die ganz bestimmten Lebensverhältnisse biologisch wertvoll,
lediglich durch Naturzüchtung und Korrelation entstanden imd
ausgebildet ist. Damit beantwortet sich jene Frage auf dem hier
behandelten engen Gebiete jedenfalls dahin, daß für die Annahme
einer phyletischen Lebenskraft keine Veranlassung vorliegt.
Von Schmetterlingen und Raupen handelt auch die zweite
Studie: ,,Über den phyletischen Parallelismus bei meta-
morphischen Arten." Sie zeigt durch ausgedehnte Vergleiche
an zahlreichen Formen, daß Raupe und Schmetterling, trotzdem
sie ein und dasselbe Individuum sind, doch ihren Bau bis zu einem
— 41 —
hohen Grade unabhängig voneinander verändern, so daß, wenn
man auf Grund der Morphologie der Raupen ein System aufstellt,
dieses anders ausfällt als das auf die Morphologie der zugehörigen
Schmetterlinge gegründete. In allen Gruppen des Systems, von der
Varietät bis zu den Familiengruppen hinauf, kommen ,, Inkon-
gruenzen", Ungleichheiten der Form Verwandtschaft vor. Am häu-
figsten wohl bei den Varietäten : oft haben sich hier nur die Raupen
oder nur die Schmetterlinge in Varietäten gespalten, während das
andere Stadium monomorph geblieben ist. Im Bereich der Gat-
tungen ist die Übereinstimmung der Formverwandtschaft am
größten; Arten, FamiHen, Familiengruppen lassen aber wieder be-
trächtliche Inkongruenzen erkennen. Die phyletische Entwicklung
der beiden Stadien, Raupe und Falter, ist also nicht gleichmäßig,
nicht parallel vor sich gegangen, sondern das eine Stadium muß
sich rascher oder stärker verändert haben, als das andere. Woher
rührt das? Sind es innere oder äußere Ursachen, welche die Ab-
änderungen hervorrufen, ist es eine phyletische Lebenskraft, oder
sind es nur die äußeren Lebensbedingungen ? Eine Abwägung aller
in Betracht kommender Erscheinungen und Erklärungsmöglich-
keiten führt zu dem Schlüsse, daß die Lebensbedingungen den
Ausschlag gegeben haben. Die Formabstände entsprechen stets
genau dem Abstand der Lebensweise; Gemeinsamkeit der Form
tritt genau in demselben Umfange auf, wie Gemeinsamkeit der
Lebensbedingungen. Bei Typen gleicher Abstammung, d. h. gleicher
Blutsverwandtschaft, entspricht der Grad der Form Verwandtschaft
genau dem Grade der Differenz in den beiderseitigen Lebens-
bedingungen. Daraus ergibt sich aber ein wichtiger allgemeinster
Schluß. So lange das Zusammenstimmen von Bau und Funktion
nur für je eine Form und je eine Lebensweise betrachtet wird,
kann darin immer noch das Resultat einer inneren zwecktätigen
Kraft gesehen werden; wenn sich aber hier bei den ,,metamor-
phischen" Tierformen ein doppeltes Zusammenstimmen von Bau
und Funktion findet, und sich zeigt, daß die Umwandlung der Form
in den beiden Hauptstadien der Entwicklung in ganz ungleichen
Schritten vor sich geht, so muß die Idee einer inneren treibenden
Umwandlungskraft aufgegeben werden. Sie muß dies aber nicht
nur darum, weil sie nicht imstande ist, die Erscheinungen zu er-
klären, sondern auch, weil sie zur Erklärung derselben überflüssig
— 42 —
ist. Denn die andere Annahme, daß Umwandlungen ausschließlich
und nur als Reaktion des Organismus auf die Einwirkungen der
Außenwelt erfolgen, erklärt alle Erscheinungen, auch die jener nach-
gewiesenen Inkongruenzen durchaus befriedigend. —
Probleme der Artbildung waren es auch, die Weis mann ver-
anlaßten, die berühmten Versuche anzustellen, den mexikani-
schen Axolotl zur Umwandlung in die landlebende
Salamanderform des Amblystoma zu zwingen, — Ver-
suche, die zwar ihm selbst zunächst nicht glückten, dann aber auf
seine Veranlassung von Frl. Marie von Chauvin fortgesetzt
wurden und dank deren Geduld und Sorgfalt zu einem vollen Er-
folge führten ^^). Auch diese Arbeit, die 1875 zuerst erschien, ist
unter die aufgenommen, die unter dem Titel; ,,Die letzten Ur-
sachen der Transmutationen" als zweiter Teil der Studien zur
Deszendenztheorie (1876) vereinigt sind; eine der besonderen Fragen,
die darin behandelt wird, ist die nach dem Vorkommen plötzlicher,
sprunghafter phyletischer Weiterbildungen, — eine Frage, die
Weismann von jeher verneint hat. Uns Nachgeborenen kommt es
wunderbar vor, daß man noch im Anfang der siebziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts die Umwandlung einer Salamanderlarve
( — denn als geschlechtsreif gewordene ,,neotenische" Larvenform
ist der Axolotl jetzt allgemein anerkannt — ) als eine plötzliche
phyletische Weiterbildung zu einer höheren Stufe auffassen konnte,
mit der gewisse Axolotl-Individuen der phyletischen Entwicklung
der übrigen Artgenossen voraneilen, — aber derartige Erinnerungen
sind recht nützlich, und sie sind notwendig , wollen wir dem Wirken
der Forscher jener Zeiten gerecht werden. Näher kann auf die große
theoretische Bedeutung dieser und späterer Axolotl-Experimente
von Frl. v. Chauvin hier nicht eingegangen werden.
Das allgemeine Ergebnis der ,, Studien zur Deszendenztheorie"
faßte Weismann in der vierten Abhandlung des zweiten Heftes
zusammen. Sie führt den Titel: ,,Über die mechanische Auffassung
der Natur" und sucht zu zeigen, daß das aus den Einzelunter-
suchungen gewonnene Ergebnis: die Zurückweisung der Annahme
einer besonderen phyletischen Lebenskraft, für alle Lebewesen Gel-
tung hat. Eine innere metaphysische Entwicklungskraft ist ebenso
zu leugnen, wie eine besondere Lebenskraft für die Erklärung der
Vorgänge des individuellen Lebens zu verwerfen ist. Die Abhand-
— 43 —
hing beschäftigt sich durchaus mit den Fragen des Darwinismus,
und auch im einzehien bewegen sich ihre Gedankengänge vielfach
schon in den Bahnen der späteren theoretischen Schriften. Im
Gegensatz zu Eduard v. Hart mann, der die wichtigsten Prin-
zipien des Darwinismus, VariabiHtät, Vererbung, Korrelation als
nicht rein mechanische Prinzipien betrachtet und in ihnen ein
metaphysisches zwecktätiges Prinzip annimmt, sucht Weis mann
nachzuweisen, daß diese drei Erscheinungen sich sehr wohl rein
mechanisch auffassen lassen, und daß sie so aufgefaßt werden
müssen, so lange man keine triftigen Gründe dafür aufbringen
kann, daß noch etwas anderes in ihnen verborgen liegt, als physi-
kalisch chemische Kräfte. Den Anschauungen, die Weismann
hier über die genannten Prinzipien wie auch über die sprunghafte
Entwicklung äußert, werden wir an anderer Stelle wieder be-
gegnen. Ein zweiter Abschnitt dieses Aufsatzes handelt über
,, Mechanismus und Teleologie" und entwickelt den Gedanken, daß
es wohl möglich ist, neben dem bloßen Mechanismus ein teleo-
logisches Prinzip anzuerkennen, Mechanismus und Teleologie mit-
einander zu verbinden. Auch hierauf werden wir noch kurz zurück-
kommen.
Biologie der Süßwasserfauna, Daphnoidenstudien, partheno-
gonische und zyklische Fortpflanzung.
Etwa gleichzeitig mit den Studien zur Deszendenztheorie be-
gann Weismann Forschungen auf einem ganz anderen Gebiete;
er wandte sich eingehender dem Tierleben der Süßwasser-
seen zu und entnahm aus ihm nicht nur die Anregung zur Be-
handlung allgemeiner, die Seefauna betreffender Fragen, sondern
schöpfte aus ihm auch im eigentlichen Sinne des Wortes das Material
zu seinen berühmten Arbeiten über die Daphnoiden. Die Auf-
forderung, sich diesem Gebiete zuzuwenden, lag für ihn freilich
nahe genug: bespülen doch die Wellen des Bodensees den Garten
des ,, Lindenhofs", des Tuskulums, in dem Weismann so oft seine
Ferien zubrachte. Ein Ferienaufenthalt im Jahre 1873 gab denn
auch den Anstoß zur eingehenden Inangriffnahme dieser Forschungen,
die sich in der Folge dann auch auf andere Seen, vor allem den
Züricher und den Lago maggiore, wie den von Freiburg aus leicht
zu erreichenden Titisee im Schwarz wald ausdehnten.
— 44 —
Die allgemeinen Ergebnisse seiner Untersuchungen hat
Weismann, zusammen mit den Ergebnissen anderer Forscher,
so besonders mit den berühmten Untersuchungen Foreis über die
Fauna der Schweizer Seen, in einem außerordentlich reizvollen
populären Vortrag (Das Tierleben im Bodensee, 1876) verarbeitet.
Der Naturfreund, auch wenn er auf dem besonderen hier behandelten
Gebiete Laie ist, wird nicht so leicht etwas lesen können, was ihm
mehr Anregung bieten, seinen Anschauungs- und Gedankenkreis
mehr bereichern könnte, als diese Darstellung. Das ist keine trockene
Aufzählung von Tatsachen, sondern ein farbenreiches, anschauliches
Bild von dem tierischen Leben im Süßwasser, aber entworfen nicht
mit den nur blendenden schillernden Farben oberllächlicher Popu-
laritätssucht, sondern mit dem ganzen sachlichen Ernst des Forschers,
der die inneren Zusammenhänge der Erscheinungen aufzudecken
und darzustellen strebt. Die Darstellung des tierischen Lebens im
süßen Wasser muß ja, wie Weismann selbst hervorhebt, verzichten
auf so manches, was die Schilderung meerischen Lebens von vorn-
herein erleichtert und reizvoll macht. Das Tierleben des Meeres
ist unendlich viel reicher, vielgestaltiger als das des Süßwassers,
die Tierformen selbst sind mannigfaltiger, zahlreicher an Arten,
ja an Klassen, fesselnder in ihrer äußeren Erscheinung, prächtiger
in ihren Farben. Aber dieser Mangel des Stoffes wiegt die Dar-
stellung Weismanns reichlich auf durch die Art der Betrachtung,
die von ganz großen Gesichtspunkten ausgeht, wie sie die Natur-
betrachtung vom Standpunkt der Deszendenzlehre aus ergab. Wir
erhalten eine Erklärung dafür, warum das Leben des Süßwassers
ärmer ist als das des Meeres : wir lernen es begreifen aus dem mannig-
fachen Wechsel, dem die Süßwasserbecken im Laufe der Erd-
geschichte unterworfen waren, aus der häufigen Unterbrechung,
die das tierische Leben in ihnen dadurch erlitt, und die eine stets
neue Besiedelung nötig machte. Wir erhalten Auskunft über die
Formen, die tatsächlich im Bodensee vertreten sind, über ihre
Gliederung in die drei großen Gesellschaften: die littorale, pelagische
und Tiefseefauna, über die verschiedenen Bedingungen, unter denen
die Angehörigen dieser drei Gruppen leben, und die ihre Lebens-
gewohnheiten beherrschen. Manche interessante Einzelheiten über
diese Lebensgewohnheiten werden berichtet und in ihrer Bedeutung
erörtert; auch rätselhafte Erscheinungen, wie das nächtliche Auf-
— 45 —
steigen der kleinen Krebse aus der größeren Tiefe an die Oberfläche
des Wassers, werden als zweckmäßige Einrichtungen, als An-
passungen an die Lebensbedingungen zu deuten versucht. (Im
Gegensatz zu Forel führt Weis mann diese Erscheinung auf die
Lichtscheue der Tiere, d. h. auf ihre Organisation für schwaches
Licht zurück, diese aber wieder darauf, daß es den Tieren dadurch
ermöglicht wird, eine sehr bedeutende Wasserschicht nach Nahrung
zu durchsuchen, — am hellen Tag bis zu einer Tiefe von 50 m,
in der Nacht an der Oberfläche.)
Vor allem aber reizt den historischen Sinn Weis mannscher
Naturbetrachtung die Frage nach der Herkunft der tierischen
Bevölkerung des Sees. Sie muß verschieden sein für die littoralen
und pelagischen Formen einsereits und für die Tiefseefauna anderer-
seits. Die beiden ersten kamen aus dem Meer, wanderten die Flüsse
hinauf, oder kamen aus benachbarten Seen. Wir lernen die Hilfs-
mittel kennen, deren sie sich bei ihren Wanderungen bedienen,
vor allem die Wichtigkeit, die widerstandsfähige Keime für die
Verbreitung vieler Tierformen besitzen, wie die Wintereier der
Wasserflöhe, die durch Wasservögel auf weite Entfernungen hin
von einem Ort zum anderen getragen werden und neu entstandene
Seen bevölkern können. Ganz anders die Tief seetiere ! Da weder
sie selbst noch ihre Eier jemals an die Oberfläche gelangen, so
können sie nicht von einem See zum anderen verschleppt werden ;
sie haben sich im See selbst gebildet, durch allmähliche Umprägung
der Uferarten, die im Laufe der Generationen vom Ufer aus auf
dem Boden hin in immer größere Tiefen sich hinab verbreiteten.
So mündet die Betrachtung aus in der großen Frage der Artbildung,
— und schließlich in einer ganz allgemeinen Betrachttmg: in dem
Gesetz vom Kreislauf der organischen Substanz. Im Wasser ist
dieser Kreislauf auf engem Gebiete zu verfolgen: tote organische
Substanz dient als Nahrung tausender von niederen Organismen
und wandelt sich so in lebendige Wesen um, die ihrerseits wieder
anderen, höheren Formen, Fischen, zur Nahrung dienen. Aber auch
von diesen geht es wieder weiter, denn von ihnen leben wieder höhere
Formen, Vögel, Fischottern, ja zum Teil selbst der Mensch. Überall
Kampf, überall rücksichtslose Ausnutzung aller Bedingungen und
aller Vorteile, überall Zerstörung, Vernichtung. Aber aus ihr ent-
steht immer wieder neues Leben, — und so klingt Weismanns
— 46 -
Darstellung aus in jenem Ausspruch von Karl Ernst von Baer,
es sei doch ein versöhnlicher Gedanke, daß auch „die Nahrung selbst
eine Zeitlang lebendig ist und sich des Daseins freut".
Die Spezialuntersuchungen, zu denen Weismann durch
die Seenforschungen angeregt wurde, betreffen die Daphnoiden,
die zu den Krebsen gehörigen Wasserflöhe, die jetzt gewöhnlich als
Cladoceren bezeichnet werden ^^). Den Anstoß zu ihnen gab ein
glücklicher Zufall, der im Jahre 1873 dem Forscher eine ihm un-
bekannte kleine Krebsform in das fischende Netz führte. Erst
bei genauerer Beschäftigung mit ihr stellte es sich heraus, daß es
sich um die Leptodora hyalina handelte, die 1860 von dem schwedi-
schen Naturforscher Lilljeborg in die Wissenschaft eingeführt
und benannt, dann von dem Dänen P. E. Müller und dem Russen
N. Wagner behandelt, im ganzen aber noch sehr wenig bekannt
war, und deren genaue Untersuchung nicht nur eben aus diesem
Grunde, sondern auch noch darum verheißungsvoll erscheinen
mußte, weil das Tierchen im Verhältnis zu seinen Verwandten
ziemlich groß und zudem völlig durchsichtig, also zu einer Unter-
suchung im lebenden Zustand ganz besonders geeignet ist. Die Be-
schäftigung mit der Leptodora zeigte zugleich, daß es sich sehr wohl
lohnen würde, auch die übrigen Daphnoiden, die seit der großen
Monographie Leydigs von 1860 bereits als genügend bekannt
galten, aufs neue zu untersuchen, und so dehnte Weismann seine
Forschungen auch auf sie aus. Von den Süßwasserformen boten
die genannten Seen ebenfalls reiches Material, und Weis mann
ließ es sich nicht verdrießen, stundenlang, auch im Sturm und bei
Nacht — weil dann die Tiere aus der Tiefe an die Oberfläche
kommen — im Boote zuzubringen, um es zu sammeln. Ein Aufent-
halt in Neapel, im Frühling 1877, bot ihm Gelegenheit, auch die
marinen Formen (marine Polyphemiden) zu untersuchen. So ent-
standen die Arbeiten, die unter dem gemeinsamen Titel ,,Zur
Naturgeschichte der Daphnoiden" als zusammenhängende
Reihe von 1876 — 1878 aufeinander folgten und nach Umfang und
Bedeutung des Inhaltes eine hervorragende Stelle in der zoologischen
Literatur einnehmen. Eine Menge wertvoller Einzelbeobachtungen
und grundlegender Erörterungen über allgemeinere biologische
Fragen ist in ihnen niedergelegt. Abgesehen von einer Abhandlung
über die Färbungen der Daphnoiden, die von Weismann als
— 47 —
Schmuckfarben aufgefaßt werden und ihm Anlaß geben, das Prinzip
der geschlechtHchen Auslese zu erörtern, behandeln sie Fragen
der Fortpflanzung und Entwicklung : Bildung und Bau der Samen-
zellen, Bildung der Eier in ihren zwei Formen als Sommer- und
Wintereier, die Aufzucht der Sommereier in einem nahrungsreichen
Fruchtwasser, also unter ,, Brutpflege", und die Erscheinungen der
zyklischen Fortpflanzung bei den Daphnoiden. Insbesondere für
diese letzteren Erscheinungen, für die Weismanns Interesse durch
die Studien über den Saison-Dimorphismus d^ Schmetterlinge er-
weckt worden war, haben die Untersuchungen grundlegende Be-
deutung erlangt, nicht nur hinsichtlich der Kenntnis der Tatsachen,
sondern auch in bezug auf ihr theoretisches Verständnis. Nur auf
sie sei hier noch kurz eingegangen.
Die Daphnoiden gehören zu den Tierformen, bei denen
Jungfernzeugung oder Parthenogonie — wie man besser
statt ,, Parthenogenese" sagen sollte ^^) — vielfach vorkommt. Man
versteht bekanntlich unter Parthenogonie die Erscheinung, daß
Eier ohne vorherige Befruchtung sich entwickeln, und ist jetzt all-
gemein der Überzeugung, daß diese Fortpflanzungsart sich aus der
zweigeschlechtlichen, mit Befruchtung verbundenen, entwickelt
hat ( — also nicht etwa eine ursprünglichere Fortpflanzungsform
darstellt — ). Die enge Beziehung, die zwischen der Jungfern-
zeugimg und der Zweielternzeugung besteht, kommt vor allem
darin zum Ausdruck, daß jene nur sehr selten die alleinige Fort-
pflanzungsart bildet, viel häufiger dagegen mit der letzteren, der
Zweielternzeugung, in regelmäßigem Wechsel auftritt. So kommt
die besondere Form der ,, zyklischen" Fortpflanzung (Zyklogonie)
oder des Generationswechsels (im weitesten Sinne) zustande, die
den besonderen Namen der Heterogonie erhalten hat. Zu den
Formen, die sie ganz besonders zeigen, gehören die Daphnoiden,
und durch Weismanns Studien haben sie für die Forschungen
auf dem Gebiete der Generationszyklen klassische Bedeutung er-
langt. Weismann erbrachte den Nachweis, daß die Generations-
zyklen bei den verschiedenen Formen der Daphnoiden verschieden
sind; er fand weiter eine einleuchtende Erklärung für diese Ver-
schiedenheiten in den besonderen Lebensbedingungen der einzelnen
Arten und zeigte endlich, wie die allmähliche historische Entwick-
lung dieser zyklischen Fortpflanzungsform aus der früheren rein
— 48 —
zweigeschlechtlichen der Vorfahren zu denken ist. So stützte und
vertiefte er jene Auffassung von dem Verhältnis der Parthenogonie
zur Zweielternzeugung, die Auffassung, daß die Jungfernzeugung
nicht ungeschlechtliche, sondern eingeschlechtliche Fortpflanzung
und aus der zwei geschlechtlichen entstanden ist, und legte auch
den Grund für Forschungen, die aus den Erscheinungen der Gene-
rationszyklen Einblicke in das Problem der geschlechtsbestimmenden
Ursachen zu gewinnen hoffen. ,,A. Weismann war der erste,
der die große Bedeutung des Gegenstandes klar erkannte und durch
genaues biologisches Studium der Generationszyklen der Daphnien
wie durch Versuche, sie experimentell zu beeinflussen, die Grund-
lagen für unsere gesamten Kenntnisse des Gegenstandes legte",
sagt R. Goldschmidt, eine Autorität auf dem Gebiete der Ver-
erbungslehre. Diese Bedeutung werden die Arbeiten behalten,
auch wenn an die Stelle der von Weismann gegebenen Erklärung
der Erscheinungen eine andere treten müßte.
Man war bis Weismann der Ansicht gewesen, daß jener
Generationszyklus sich immer nach dem gleichen Schema abspiele,
das tatsächlich für manche Formen nachgewiesen war. Hier finden
sich vom Frühjahr ab den Sommer hindurch nur weibliche Indi-
viduen, die aus zahlreichen kleinen und zarten unbefruchteten
,,Sommer"-Eiern immer nur wieder Weibchen mit gleicher Fähig-
keit hervorbringen. Nur einmal im Jahre, im Herbst, wird diese
lange Reihe parthenogonischer Generationen unterbrochen. Eine
Sexualperiode tritt ein; außer Weibchen schlüpfen nun auch Männ-
chen aus den Eiern aus, und die Weibchen produzieren statt der
vielen parthenogonischen Sommereier nur wenige große befruchtungs-
bedürftige ,, Winter-" oder ,,Dauer"-Eier, die, nachdem sie von den
Männchen befruchtet worden sind, mit fester Schale umgeben
werden, um so den Winter durchzumachen. Die Kolonie selbst
erliegt der Vernichtung durch die Winterkälte. Aus jedem solchen
befruchteten Dauere! entsteht im Frühjahr, also nach längerer
Latenzperiode, ein Weibchen, das wieder die Reihe der partheno-
gonischen Generationen beginnt. So das Schema, das als allgemein-
gültig betrachtet wurde. Gelegentliche Beobachtungen von Männ-
chen und Dauereiern zu anderen Jahreszeiten wurden als Ausnahme
und als direkte Folge äußerer Einflüsse (Eintritt von Kälte,
Abnahme des Wassers) aufgefaßt. Demgegenüber zeigte Weis-
— 49 —
mann zunächst durch ausgedehnte Beobachtungen und zielbewußte
Versuche, daß die äußeren Lebensbedingungen direkt keinerlei
Einfluß auf den Modus der Fortpflanzung ausüben, daß weder die
Temperatur, noch die Quantität oder die Qualität des Wassers
imstande sind, den einen Modus in den anderen umzuwandeln,
daß sie ihn also auch direkt nicht hervorgerufen haben können.
Die Ursache dafür, daß nach einer Reihe von parthenogonischen
Generationen zweigeschlechtliche Fortpflanzung eintritt, liegt somit
nicht in momentanen äußeren Einflüssen, die das Individuum
treffen, sondern ist in den allgemeinen Lebensbedingungen zu
suchen, die seit lange alljährlich die Art getroffen haben. Der
Generationszyklus hat sich allmählich festgestellt als indirekte
Folge dieser Lebensbedingungen nach dem Selektionsprinzip: durch
Beseitigung der für die Erhaltung der Art momentan weniger ge-
eigneten Individuen. Entsprechend den Verschiedenheiten der
Lebensbedingungen der Arten ist dann auch die Form des Zyklus
verschieden: verschieden durch die Zahl der zweigeschlechtlichen
Generationen, die im Laufe eines Jahres die Reihe der partheno-
gonischen unterbrechen. Stets erfolgt die Sexualperiode zu einer
ganz bestimmten Zeit, von der Gründung einer Kolonie aus Winter-
eiern an gerechnet; diese Zeit aber ist für die verschiedenen Arten
sehr verschieden. Je nachdem Vernichtungsursachen (Kälte, Aus-
trocknen usw.) mehrmals im Jahre oder nur einmal oder gar nicht
die Kolonien einer Art heimsuchen, lassen sich drei Gruppen unter-
scheiden: polyzyklische, monozyklische, azyklische. Die Gruppe
der polyzyklischen Formen umfaßt Arten, bei denen schon nach
wenigen parthenogonischen Generationen wieder eine geschlecht-
liche folgt, somit mehrere Zyklen sich im Laufe eines Jahres ab-
lösen: es sind die Bewohner kleinerer Wassermengen, wie Pfützen,
Tümpel, Teiche, Sümpfe, die während des Sommers austrocknen
können. Als Anpassung an die dadurch mehr oder minder oft be-
dingte Gefahr der Vernichtung, die der Kolonie droht, erscheint
die häufigere Unterbrechung der parthenogonischen Generationen
durch eine Geschlechtsgeneration, deren befruchtete Dauereier jenen
Gefahren widerstehen. Die Gruppe der monozyklischen Formen
umfaßt Arten mit nur einer Sexualperiode, bei denen also nur
einmal im Jahr, und zwar gegen den Winter hin, die lange Reihe
parthenogonischer Generationen durch eine zweigeschlechtliche mit
Gaupp, Biographie Weismanns. 4
widerstandsfähigen Dauereiern unterbrochen wird: die pelagischen
Formen der Seen, wahrscheinhch auch die wenigen marinen Formen,
also Bewohner weiter, nicht austrocknender Wasserbecken, in
denen nur die Winterkälte eine allgemeine Gefahr bildet und all-
jährlich zur Vernichtung der Kolonie führt. Endlich wird eine letzte
Gruppe, die der azyklischen Formen, gebildet durch solche Arten,
die auch im Winter ausdauern und sich fortpflanzen, somit die
Bildung von Dauereiern überhaupt entbehren können und sich nur
parthenogonisch fortpflanzen, — bei denen also die Bildung von
Männchen überhaupt unterdrückt ist. Nur mit großem Genuß
kann man die ausführliche Begründung dieser grundlegenden Vor-
stellungen sowie die scharfsinnigen Ausführungen Weismanns über
die Ausbildung der \'erschiedencn Generationszyklen und die erst-
malige Entstehung der zyklischen Fortpflanzung bei den Daphnoiden
überhaupt lesen. Die zyklische Fortpflanzung der Daphnoiden ist
nicht überkommen, sondern erst in und mit dieser Ordnung er-
worben. Die Urdaphnoiden hatten durchaus zweigeschlechtliche
Fortpflanzung und produzierten befruchtungsbedürftige, ,Latenz-
eier", die nach der Befruchtung und den ersten Entwicklungsstadien
erst eine längere Latenzperiode während der für die Existenz der
Kolonie selbst ungünstigen Zeit durchmachten. Nun folgte auf der
Grundlage der individuellen Variabilität und Fixierung der günstigen
Abänderungen durch Naturzüchtung eine allmähliche Umwand-
lung der Formen selbst und ihrer Eier. Erstere wurden kleiner und
einfacher, ihre Ontogenese verkürzte sich, die früher vorhanden
gewesene Metamorphose kam in Wegfall. Die Eier differenzierten
sich in zwei Richtungen: die einen (Latenzeier) behielten die Be-
fruchtungsbedürftigkeit bei und bildeten besondere Schutzhüllen
aus, die anderen erlangten die Fähigkeit zu rascher Entwicklung
(daher ,,Subitaneier", von subitus, plötzlich) und zugleich die zur
Parthenogonie. Damit wurde die Bildung von Männchen nur noch
für bestimmte Generationen beibehalten. Eine in viel rascherem
Tempo erfolgende Vermehrung der Kolonie war die Folge all dieser
Umwandlungen, und bildete damit das Zweckmäßigkeitsmoment,
das diese Umwandlungen auf dem Wege der Selektion allmählich
sich vollziehen und steigern ließ. Zunächst schaltete sich eine
Subitangeneration ein, d. h. die Eier der ersten Generation wurden
zu Subitaneiern ; dann übertrug sich die Fähigkeit zur Bildung von
— 5' —
solchen auch auf die zweite und die folgenden Generationen, — je
nach Bedarf, d. h. unter dem .regulierenden Einfluß der für jede Art
gegebenen Lebensbedingimgen, Die azykhschen Formen bilden das
letzte Stadium: wo Vernichtung der Kolonie nicht mehr zu be-
fürchten ist, ist die Hervorbringung von Latenz- oder Dauereiern
ganz aufgegeben, und die Vermehrung erfolgt das ganze Jahr hin-
durch mit Subitaneiern.
Neben der scharfsinnigen Deutung der mannigfaltigen Er-
scheinungen von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus : als zweck-
mäßige, durch Selektion in Anpassung an die Lebensbedingungen
entstandene Einrichtungen, tritt in diesen Ausführungen noch ganz
besonders ein Punkt als bedeutungsvoll hervor: die verhältnismäßig
geringe Bewertung des Unterschiedes, der in der Befruchtungs-
bedürftigkeit einerseits und der parthenogonischen Entwicklungs-
fähigkeit der Eier andererseits gegeben ist. Für Weis mann ist
dieses Merkmal nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte,
das hauptsächlichste ; der Verzicht auf die Befruchtung ist vielmehr
nur eine von den vielen Umwandlungen, die darauf abzielen, der
Kolonie eine möglichst rasche und ausgiebige Vermehrung der
Individuenzahl zu sichern. In dieser Betrachtungsweise spricht
sich schon die Auffassung aus, der Weismann später besonderen
Ausdruck verliehen hat: daß nämlich die Befruchtung für die Ent-
wicklung nicht die hohe Bedeutung besitzt, die ihr gewöhnlich zu-
geschrieben wird.
Den größten Einfluß auf Weismanns Anschauungen mußte
es aber doch haben, daß es ihm auch hier wieder gelang, die Ver-
schiedenheiten in den Lebenserscheinungen einer ganzen Gruppe
von Organismen als zweckmäßige, durch Selektionsprozesse ge-
züchtete Anpassungen zu erklären. Die Untersuchimg und ihr
Ergebnis gibt ihm Gelegenheit zu allgemeinen Erörterungen über
das Selektionsprinzip und die einzelnen Faktoren, mit denen es
rechnet: Variabilität, Vererbung und Kampf ums Dasein; er stellt
den Generationswechsel der Daphnoiden dem gegenüber, der in
dem Saisondimorphismus der Schmetterlinge in die Erscheinung
tritt, und den er als durch die direkte Wirkung der Klimaeinflüsse
hervorgerufen erkannt hatte. Hier, bei den Schmetterlingen, er-
folgte zuerst die Abänderung der ausgebildeten Tiere unter dem
Einfluß der Umgebung und erst allmählich ergab sich daraus eine
— 52 —
Beeinflussung des Keimes und damit eine erbliche Fixierung der
Umwandlungen ; dort, bei den Daphnoiden, traten, aus Gründen, die
in den Organismen selbst liegen, zuerst Keimesabänderungen,
Varianten, auf, und durch Züchtung derselben veränderten sich
im Laufe der Generationen die Gewohnheiten aller Individuen
der Art. Diese Erörterungen bewegen sich im wesentlichen schon
ganz in den Gedankengängen der späteren rein theoretischen
Schriften.
Für die Richtigkeit seiner Auffassung, daß die Parthenogonie
sektmdär aus der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung hervor-
gegangen ist, als Anpassung an Lebensverhältnisse, die eine mög-
lichst rasche Vermehrung der Individuen wünschenswert machen
konnte Weismann wenige Jahre später (1880) eine sehr erfreu-
liche Bestätigung beibringen in dem Nachweis der Parthenogonie
bei den Ostracoden (Muschelkrebsen). Der Umstand, daß diese
Ordnung der Krebse unter ganz ähnlichen Lebensbedingungen
lebt, wie die Daphnoiden, rechtfertigen die Erwartung, daß auch
bei ihr Parthenogonie vorkomme, und die genauere Untersuchung
bestätigte die Richtigkeit dieser Erwartung und lieferte damit der
Vorstellung über die Herkunft und Bedeutung der Parthenogonie,
die sich aus den Daphnoidenstudien ergeben hatte, eine wichtige
Stütze.
Von größter Bedeutung wurde dieser Nachweis gleicher Fort-
pflanzungsart dann für Weismann in der Mitte der achtziger
Jahre, als ihn die Frage nach der Bedeutung der bei der Eireifung
auftretenden Richtungskörperchen beschäftigte. Damals entstanden
die, zum Teil in Gemeinschaft mit C. Ischikawa angestellten
wichtigen Untersuchungen über die Bildung der Richtungskörper-
chen bei parthenogonischen und befruchttmgsbedürftigen Eiern,
auf die noch zurückzukommen sein wird, sowie die über gewisse
eigentümliche Vorgänge bei der Befruchtung der Daphnoiden-
eier. Sie knüpfen an die alten Daphnoidenstudien an; es mag im
übrigen genügen, sie erwähnt zu haben.
Endlich aber hat die Parthenogonie auch Ende der netmziger
Jahre Weismann noch einmal besonders beschäftigt, als von
verschiedenen Seiten Zweifel an der Richtigkeit der Auffassungen
geäußert wurden, die seit den Beobachtungen des schlesischen
Pfarrers und Bienenwärters Joh. Dzierzon (1845) und der wissen-
— 53 —
schaftlichen Durcharbeitung derselben durch v. Siebold und
Leuckart, über die Fortpflanzungsvorgänge im Bienenstaate und
insbesondere über die fakultative Parthenogonie der Bienenkönigin
herrschten. Durch zwei seiner Schüler, Paule ke und — nach
dessen Ausscheiden — Petrunkewitsch, ließ Weismann die
Frage aufs neue prüfen, und die vortrefflichen Untersuchungen
namentlich von Petrunkewitsch brachten eine volle Bestätigung
und neue einwandfreie Begründung der alten Lehre: die Drohnen-
eier bleiben unbefruchtet, entwickeln sich parthenogonisch, während
die Eier, aus denen weibliche Bienen entstehen sollen, alle befruchtet
werden. Weismann selbst hat darüber in einem kleinen Aulsatz
von 1900 berichtet.
So verbindet bei Weis mann ein innerer Zusammenhang
immer ganze Reihen von Arbeiten zu einer Kette; eine schließt
sich an die andere an, wächst aus ihr hervor. Die Leptodora, die
ihm der günstige Zufall in das Netz spülte, veranlaßte die weiteren
Forschungen über die Süßwasserfauna und die Studien über die
Daphnoiden, und diese führten zu dem besonderen Problem der
zyklischen Fortpflanzung und der Parthenogonie überhaupt, und
damit weit weg von dem ursprünglichen Ausgang. Nur einmal
noch ist Weis mann zu jenem Ausgang zurückgekehrt: als 35 Jahre
nach dem Beginn seiner Süßwasserforschungen (1908) die ,, Inter-
nationale Revue der gesamten Hydrobiologie und Hydrographie"
ins Leben gerufen wurde, da glaubten die Herausgeber dem neuen
Unternehmen keine bessere Empfehlung mitgeben zu können, als
indem sie der Zeitschrift von einem Biologen des Süßwassers imd
einem solchen des Meeres das Geleitwort schreiben ließen. Für
die erste Aufgabe wandten sie sich an Weismann, der denn auch
bereitwillig der Bitte entsprach. Sein kleiner für den genannten
Zweck verfaßter Aufsatz weist auf die große Bedeutung hin, die
das eingehende Studium gerade des Tierlebens im Süßwasser für
das Verständnis des biologischen Zusammenhanges der ver-
schiedenen Formen besitzt, d. h. für die Aufhellung der verwickelten
Beziehungen zwischen den nebeneinander lebenden Tieren und
Pflanzen, und damit zugleich für die Kenntnis der einzelnen Arten
und ihrer Anpassungen an die ihnen zugewiesene Lebensweise.
Die Erforschung der tierischen Formen ist mit der Kenntnis ihrer
bloßen Morphologie nicht abgeschlossen; darüber hinaus ergibt
— 54 —
sich die Aufgabe, zu ermitteln, warum und wie diese Gestaltungen
geworden sind, d. h. geworden im Laufe der Generationen in An-
passung an die ganze Umwelt, die natürlichen Lebensbedingungen
und die Lebensgesellschaft, in die hinein sie gesetzt sind imd
in der sie den Konkurrenzkampf aufzunehmen haben. Weismann
erörtert hier den Gedanken, dem er auch sonst wiederholt Ausdruck
gegeben hat: daß wir in der Analyse der tierischen Formen noch
lange nicht so weit gegangen sind, als es möglich wäre, daß für eine
Menge längst bekannter Charaktere noch gar nicht einmal ver-
sucht worden ist, ihren Lebenswert, der doch ihr Vorhandensein
rechtfertigen muß, zu ergründen. Fortschritte in dieser Richtung
haben zur ersten Voraussetzung die genaueste Kenntnis der Lebens-
weise der Arten, ihrer Fortpflanzung, Ernährung usw. mit allen
Einzelheiten der dabei mitspielenden Faktoren. Dafür aber bietet
gerade das Tierleben der Süßwasserbecken die günstigsten Be-
dingungen, weil es sich auf eine übersehbare Zahl zusammenlebender
Arten beschränkt, die dennoch innerhalb ihres Kreises reich ge-
gliedert sind. Es ist also das Problem der Artbildung, für dessen
Verständnis Weismann gerade aus dem Studium der Süßwasser-
fauna wichtige Förderung erwartet, insbesondere die viel erörterte
Frage, wie weit die Merkmale der Arten ,, Anpassungen" darstellen
oder in das Gebiet der sogenannten rein ,, morphologischen" Merk-
male ohne erkennbare biologische Bedeutung fallen. Wir werden
dieser Frage wieder begegnen.
Die Hydromedusenstudien. Bildung^ der Keimzellen.
Von besonders wichtiger Bedeutung für die Ausgestaltung der
Weismann sehen theoretischen Vorstellungen wurden endlich die
L^ntersuchungen über die Bildung der Keimzellen bei den
Hydromedusen, die, schon im Jahre 1878 an der Riviera begonnen,
dann im Sommer 1880 in le Croisie in der Bretagne auf die atlan-
tischen, und im Winter 1880/82 in Neapel auf die dortigen Mittel-
meerformen ausgedehnt wurden, so daß sie sich im ganzen auf
38 verschiedene Arten stützen konnten. Der während der Unter-
suchungen sich aufdrängende Plan, den ganzen Bau der Hydro-
medusen zu bearbeiten, wurde bald wieder aufgegeben; waren
doch auch die Ergebnisse in bezug auf die Geschlechtszellen be-
deutungsvoll genug. Weismann hat über sie zum ersten Male
— 55 —
i88o berichtet, dann ergänzend und zum Teil abändernd, 1881;
ausführlich in der großen, mit prächtigen Tafeln geschmückten
Monographie von 1883, endlich noch einmal zusammenfassend, im
biologischen Zentralblatt von 1884. Das wichtigste Ergebnis der
Untersuchungen ist der Nachweis, daß die Keimzellen der Hydro-
medusen zwar stets aus Ektodermzellen entstehen, aber bei den
verschiedenen Arten an sehr verschiedenen Stellen, und daß diese
Verschiedenheiten der Ausdruck sind für eine in der Stammes-
geschichte erfolgte Verschiebung der Keimstätte, die von
ganz bestimmten Gesetzen beherrscht wird. Die Verlegung der
Keimstätte an andere Stellen hat wesentlich die Bedeutung, die
Keimzellenbildung auf frühere Stadien zu verlegen und damit
die Geschlechtsreife zu beschleunigen; sie ist in der Stammes-
geschichte Schritt für Schritt erfolgt, die Befunde bei den einzelnen
Formen zeigen ihren Weg an. Die Verschiebungsprozesse beruhen
aber, wie der Vergleich der Tatsachen zeigt, nicht darin, daß die
Fähigkeit zur Keimzellenbildung launenhaft von einer Zellgruppe
auf die andere überspringt, sondern darin, daß immer frühere
Glieder einer und derselben Abstammungslinie die Dif-
ferenzierung zu Geschlechtszellen eingehen. Von ganz besonderer
Wichtigkeit sind dabei die zahlreichen Fälle, in denen die Bildung
der Keimzellen gar nicht im Ektoderm, sondern im Entoderm er-
folgt : hier weisen die Befunde darauf hin, daß erst in der Ontogenese
eine Einwanderung jener Elemente, die den Keimzellen den Ur-
sprung geben, der Urkeimzellen, aus dem Ektoderm in das Ento-
derm erfolgt. Höchst seltsam ist daneben noch ein anderes Ergebnis :
die Rückwärts Verschiebung der Keimstätte ist nicht verbunden
mit einer Verschiebung der Reifungs statte, vielmehr wandern
in jeder Ontogenese die Keimzellen von ihrer heutigen Keimstätte
zurück nach ihrer alten Reifungsstätte, dem Ektoderm des so-
genannten ,,Manubriums". Diese Wanderungen der (männlichen
und weiblichen) Keimzellen müssen auf Vererbung eines Triebes
zum Wandern nach bestimmtem Ziele beruhen.
Theoretisch muß aus alle dem die wichtige Folgerung gezogen
werden, daß nur bestimmte Körperzellen und Zellfolgen von dem
befruchteten Ei her ,, Keimplasma" mitbekommen und somit Keim-
zellen zu bilden vermögen, — ein Ergebnis, das wesentlich dazu
beigetragen hat, den Gedanken von der Kontinuität des Keim-
- 56 -
plasmas, der in Weis mann damals Gestaltung erlangte, zu be-
gründen.
So reifen in den Arbeiten der siebziger Jahre allmählich die
Gedanken heran, die dann von den achtziger Jahren an in ihrer
vollen Tragweite erfaßt imd nach allen Seiten hin verfolgt werden.
Die Annahme einer inneren phyletischen Entwicklungskraft wird
abgelehnt, die Bedeutung der Auslese als des Vorganges, der die
Organismen in Einklang mit den Lebensbedingungen bringt, tritt
immer klarer hervor. Daneben aber zwingen die Schmetterlings-
versuche zu der Anerkennung eines direkt umgestaltenden Ein-
flusses der äußeren Bedingimgen, und dieselben Versuche weisen
auch auf die große Bedeutung hin, die der gegebenen spezifischen
Natur einer Art für die weitere Umwandlung zukommt. Endlich
aber ergibt sich aus den Hydromedusen- Studien auch die Grundlage,
auf der sich das Gebäude von Weismanns Vererbungstheorie er-
heben sollte.
Dritter Abschnitt.
Erste Stellungnahme zur Darwinschen Theorie.
Dauer des Lebens, Herkunft des Todes.
Abstammungslehre von Darwin und Lamarck. — Einfluß des Darwinismus auf die
biologische Forschung. — Erste Stellungnahme Weismanns zur Darwinschen Theorie:
die Antrittsrede von 1868. Arbeitsprogramm. — Dauer des Lebens, Herkunft des Todes.
Versuchen wir es nun, einen ÜberbHck über das zu gewinnen,
was Weismann auf dem weiten Gebiete, mit dem sein Name am
engsten verbunden ist, geleistet hat: dem der Abstammungslehre
und den mit ihr zusammenhängenden Fragen. Hier knüpft seine
Tätigkeit an die Darwins an.
Abstammungslehre von Darwin und Lamarck.
Der Darwinismus begreift in sich, wie bekannt, mehrere
Theorien, die sich zwar gegenseitig ergänzen, aber doch an sich
voneinander unabhängig sind. Die zentrale Stelle innerhalb dieser
Theorien nimmt die Deszendenzlehre selbst ein, die Lehre, daß
die Arten nicht beständig sind, daß vielmehr die lebenden Pflanzen-
und Tierformen sich aus anderen, untergegangenen entwickelt
haben, und daß die größeren oder geringeren Übereinstimmungen
des Baues, die in der Einordnung der Organismen in die Gruppen
der Systeme (Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen,
Arten) zum Ausdruck kommen, zugleich der Ausdruck engerer oder
weiterer Verwandtschaft sind. Daß diese Abstammungslehre nicht
zum ersten Male von Darwin aufgestellt worden ist, ist genügend be-
kannt; ebenso unbestritten aber ist, daß sie erst durch Darwin
zur Verbreitung und Anerkennung in den weitesten Kreisen der
— 58 —
Wissenschaft gekommen ist. Keiner der Vorgänger war selbst so
durchdrungen von ihrer Richtigkeit, war so unablässig für sie ein-
getreten, hatte sie auf so breiter und so fester Tatsachenbasis be-
gründet, und keiner hatte auch mit so überzeugender Kraft die
Frage erörtert, wodurch, unter dem Einfluß welcher Faktoren die
Umwandlungen vor sich gegangen seien. An der Beantwortung
dieser Frage aber hing sehr viel : sie mußte, wollte sie annehmbar er-
scheinen, auch einen Weg zeigen zum Verständnis für die vielen
oft so wunderbaren Zweckmäßigkeiten im Bau der Lebewesen,
für die Übereinstimmungen zwischen diesem Bau und den Lebens-
gewohnheiten sowie den Lebensbedingungen der Organismen, ohne
auf eine zielbewußt wirkende Schöpferkraft zurückzugreifen. Wohl
hatte der bedeutendste Vorgänger Darwins, Jean Lamarck,
diese Frage erörtert, aber die Antwort, die er auf sie gegeben hatte,
konnte unmöglich genügen, und besaß nicht die Kraft, den
Deszendenzgedanken gegen die übermächtigen widerstrebenden
Zeitströmungen, in die er hineingeworfen wurde, durchzusetzen.
Auch die Lehre Lamarcks setzt sich aus mehreren Elementen
zusammen; erst das Streben nach Bildung kurzer Schlagworte hat
in unserer Zeit dem ,, Lamarekismus" eine eng begrenzte Bedeutung
gegeben. Dem herkömmlichen Brauch, der die Organismenwelt in
der Richtung von oben nach unten, vom Höheren zum Niederen
betrachtete, setzte Lamarck die Lehre einer von unten nach oben
führenden Stufenfolge gegenüber, einer fortschreitenden Entwick-
lung der Organisation, die von einer unbekannten Naturkraft
angeregt, eine stufenweise und regelmäßig fortschreitende Ver-
\ollkommnung erstrebt, aber in ihrer Wirksamkeit durch die äußeren
Verhältnisse, in denen die Organismen leben, vielfach beeinträchtigt
wird, so daß zahlreiche Unregelmäßigkeiten vorkommen. Diese
äußeren Verhältnisse (Klima, Nahrung, Lebensweise, Aufenthalts-
ort usw.), die sich im Laufe der Erdgeschichte oftmals verändert
haben, wirkten umwandelnd auf die Organismen ein. Der um-
gestaltende Einfluß erfolgte aber bei Tieren nicht unmittelbar,
sondern dadurch, daß die letzteren durch die veränderten Lebens-
bedingungen zu neuen Gewohnheiten veranlaßt wurden, und
daß diese neuen gewohnheitsmäßigen Tätigkeiten, durch Gene-
rationen fortgesetzt und in ihren Wirkungen gesteigert, die tierische
Organisation in zweckentsprechender Weise veränderten. Nicht
— 59 —
die Gestalt des Körpers und seiner Teile haben die Gewohnheiten
und Lebensweise der Tiere bestimmt, sondern umgekehrt: Gewohn-
heiten, Lebensweise und alle anderen einwirkenden Verhältnisse
haben mit der Zeit die Gestalt des Körpers und der Teile der Tiere
herbeigeführt. Diese wichtigste Seite der Lamarckschen Lehre
legt, um die Entstehung der Zweckmäßigkeiten zu erklären, die
alltägliche Erfahrung zugrunde, daß der Gebrauch ein Organ
kräftigt, der Nichtgebrauch es allmählich verkümmern läßt, und
überträgt diese Erfahrung auf die Vorgänge bei der natürlichen
iLnt Wicklung des Tierreiches. Ein mystisches Prinzip spielt aber
auch hier hinein: die neuen Gewohnheiten werden von den Tieren
angenommen auf Grund eines von diesen gefühlten, durch die Ver-
änderung der Lebensbedingungen ausgelösten Bedürfnisses, das
sogar imstande ist, an dem Tier ,, unmerklich durch Anstrengungen
seines inneren Gefühls" neue Organe entstehen zu lassen. Bei
Pflanzen, wo keine Tätigkeiten, tmd folglich auch keine eigent-
lichen Gewohnheiten vorhanden sind, waren es die Veränderungen
in der Ernährung, der Menge der Wärme, des Lichtes, der Luft
und Feuchtigkeit, durch die die äußeren Verhältnisse unmittelbar
umwandelnd wirkten. —
Der wichtigste Bestandteil dieser Vorstellungen ist, daß die
zweckmäßigen Anpassungen der tierischen Organismen auf den Ge-
brauch und den Nichtgebrauch der Teile zurückzuführen sind,
— diese Lehre ist es auch, die heutzutage gewöhnlich allein gemeint
wird, wenn von ,, Lamarekismus" die Rede ist. An sich ist es be-
rechtigt, sie mit diesem Namen zu belegen. Nicht ganz so zutreffend
ist es dagegen, wenn auch die Lehre von dem direkt verändernden
Einfluß der äußeren Bedingungen ( — der ,, Um weit", des ,, Me-
diums" — ) dem Begriff des Lamarekismus untergeordnet wird.
Nur für die Pflanzen hat Lamarck einen solchen direkten Einfluß
gelten lassen, während er seine Annahme für die Tiere ausdrücklich
als Irrtum ablehnt und hier nur die mittelbare Wirkung der Lebens-
bedingungen auf dem Umwege neu erzwungener Gewohnheiten
gelten läßt. Die Auffassung, daß auch die tierischen Organismen
durch die äußeren Verhältnisse direkt umgewandelt werden, wäre
vielleicht richtiger mit dem Namen von Lamarcks Landsmann
Etienne Geoffroy-St. Hilaire zu verbinden, des einstigen
Freundes und späteren Gegners Cuviers, in Deutschland vor allem
— 6o —
bekannt durch die Anteilnahme Goethes an seinem Streit mit
Cuvier in der französischen Akademie, am 19. JuH 1830. —
Die Anschauungen Lamarcks und Geoffroys setzen die
Erbhchkeit der Wirkungen der Mediumeinflüsse wie derer des Ge-
brauches und des Nichtgebrauches voraus. Auch Darwin ver-
warf, als er die Abstammungslehre, aber unter Verzicht auf alle
metaphysischen, mystischen Prinzipien, aufs neue begründete, jene
Auffassungen nicht völlig, sondern schrieb der direkten Einwirkung
der Lebensbedingungen wie dem Gebrauch und dem Nichtgebrauch
einen Einfluß bei der Umwandlung der Formen zu. Der Notwendig-
keit, die Erblichkeit jener Veränderungen vorauszusetzen, war er
sich dabei durchaus bewußt; er prüfte die Frage und kam dazu, sie
zu bejahen. Aber viel größere Bedeutung besitzt für ihn doch das
andere Prinzip, das er selbst, gleichzeitig mit seinem Landsmann
Wallace, aufstellte: das Prinzip von der natürlichen Auslese,
dem er später noch das der geschlechtlichen Auslese ergänzend
hinzufügte. Die individuellen Abweichungen, die sich unter den
Angehörigen einer Art, auch bei den Nachkommen eines Eltern -
paares, stets bemerkbar machen, bilden den Ausgang für die
Darwin -Wallace sehe Zuchtwahllehre, deren Gedankengang im
übrigen genügend bekannt ist. Jene individuellen Abweichungen,
deren Erblichkeit seit langen Zeiten vom Menschen zu künstlichen
Züchtungsversuchen mit Pflanzen und Tieren benutzt worden ist,
werden bei dem Wettbewerb, den das Einzelindividuum mit seines-
gleichen und mit anderen Formen um die notwendigsten Lebens-
bedingungen zu bestehen hat, von sehr verschiedenem Werte sein.
Die LTnerbittlichkeit dieses Wettbewerbes, des ,, Kampf es ums
Dasein", wird die schlechter ausgerüsteten früher zugrunde gehen
lassen, die besser ausgerüsteten länger erhalten. Diese haben daher
die größere Aussicht, ihre begünstigenden Eigenschaften fortzu-
erben. So erfolgt durch die Natur selbst eine Auslese der am meisten
begünstigten Individuen, d. h. derer, die den gegebenen Lebens-
verhältnissen am meisten genügen, ihnen am besten angepaßt sind,
und wenn sich dies Generationen hindurch fortsetzt, so wird all-
mählich eine Umwandlung in der Richtung der begünstigenden
Abänderung, in der Richtung der Nützlichkeit, erfolgen. Diese
Richtung ist nicht durch innere Entwicklungstendenzen der Or-
ganismen bestimmt ; die Variationen an sich sind regel- und richtungs-
— 6i —
los, erst die Zufälligkeiten der äußeren Lebensbedingungen wählen
die zweckmäßigsten von ihnen aus, und die Umwandlung der Formen
erfolgt somit, im Laufe ungeheuer langer Zeiträume, in allmäh-
licher Anpassung an die Lebensbedingungen. So gelangen wir zu
einem Verständnis der Zweckmäßigkeiten, ohne Annahme des
Lamarckschen Anpassungsprinzipes, aber auch ohne Annahme
einer zweckbewußt wirkenden Kraft oder irgend eines unbegreif-
lichen vitalistischen Prinzipes.
Die Darwin-Wallacesche Selektionstheorie ist eine Nütz-
lichkeitstheorie. Nur das hat nach ihr Aussicht auf Dauer und
Bestand, was nützlich ist. Aufgestellt, um die Zweckmäßigkeiten der
Organismen zu erklären, führt sie somit zugleich dazu, in allen Ein-
richtungen der Organismen Zweckmäßigkeiten a priori zu
erwarten, alle Einrichtungen unter dem Gesichtswinkel der Frage
nach ihrer Nützlichkeit zu betrachten. Auch als Zufallstheorie
ist sie bezeichnet worden, da es zufällige, richtungs- und regellose
Varietäten sind, an die nach Darwin die Umbildung der Formen
anknüpft.
Es erhellt aus dem Gesagten aber auch, daß eine gegebene
Art, unter verschiedene äußere Bedingungen geratend, auch ganz
verschiedene Entwicklungswege einschlagen, und daß somit von
einer und derselben Stammform unter divergenter Entwicklung
eine ganze Anzahl sehr verschiedener anderer ausgehen muß. Daraus
aber ergibt sich weiter, daß die Entwicklung des Organismenreiches
nicht nur nicht nach einem bestimmten feststehenden Plane, sondern
auch nicht etwa in einer geradlinigen Aufwärtsbewegung statt-
gefunden hat, vielmehr in einer Weise, die viel eher eine Versöhnung
des Deszendenzgedankens mit der alten gruppenbildenden Typen-
theorie Cuviers und Baers gestattete. Denn auch Darwins Auf-
fassung ließ die Organismen in Gruppen beieinander und begründete
nur diese Gruppen durch den engeren genetischen Zusammenhang
ihrer Angehörigen, — und das schwächte die Widerstände, die dem
Abstammungsgedanken aus den herrschenden Vorstellungen er-
wachsen mußten, und begünstigte seinen Erfolg.
Endlich aber ist noch ein philosophischer Gedanke, der in
der Zuchtwahllehre liegt, hervorzuheben: das Zurücktreten der Be-
deutung des Individuums gegenüber der der Art. Tausende von
Individuen müssen erzeugt werden, um das nötige auslesefähige
— 62 —
Material von Varietäten zu schaffen, der Zuchtwahl ,, anzubieten",
Tausende von ihnen müssen bald wieder zugrunde gehen, weil sie
,, mangelhaft angepaßt" sind, — sie werden von dei' Zuchtwahl
verworfen zugunsten der besser angepaßten, deren Erhaltung von
weitaus größerer Wichtigkeit für die Art ist. —
Eine Ergänzung erfuhr, wie gesagt, das Prinzip der natür-
lichen Auslese durch das von der geschlechtlichen Auslese,
in dem statt des ,, Kampf es ums Dasein" der Wettbewerb um das
andere Geschlecht ( — meist der Männchen um die Weibchen — )
den auslesenden Faktor darstellt, und das von Darwin zur Erklärung
gewisser Merkmale, die nur dem einen Geschlecht zukommen (ins-
besondere Waffen und Schmuckbildungen), verwendet wird.
Darwins Lehre enthielt in sich ein unermeßliches Arbeits-
programm, das auch bis heute noch lange nicht erschöpft ist. Sie
betrachtete die Organismenwelt historisch, ihren geschichtlichen
Werdegang aber bedingt nicht durch einen vorausbestimmten
Plan, sondern durch immer aufs neue wirkende biologische Fak-
toren. Je nach Anlage und Schulung haben die Forscher der folgen-
den Jahrzehnte mehr die eine oder die andere Seite gepflegt. Daß
es dabei die historische Betrachtungsweise war, die zunächst
und für längere Zeit in den Vordergrund trat, ist wenigstens bis
zu einem gewissen Grade verständlich. Von dem Abstammungs-
gedanken ging nicht nur der Reiz der Neuheit aus, er eröffnete im
Augenblick auch das ergiebigste Arbeitsgebiet, indem er zu seiner
praktischen Verwertung im einzelnen aufforderte, zu der Betrach-
tung der vergleichend-anatomischen und embryologischen Tat-
sachen im Lichte der Deszendenzlehre und damit zu der Ermittelung
verwandtschaftlicher Zusammenhänge zwischen den Organismen auf
Grund ihrer Organisation. Die große Aufgabe fand die geeigneten
Kräfte bereit: in Huxley, Haeckel, vor allem Gegenbaur er-
standen die führenden Forscher, die, mit den ausgedehntesten ver-
gleichend-anatomischen und embryologischen Kenntnissen ausge-
rüstet, die neue Betrachtungsweise begeistert aufgriffen, sie mit
den Vorstellungen der alten, auf die Idee des Typus gegründeten
Morphologie verbanden und so die Wissenschaft der modernen
historischen Morphologie schufen. Demgegenüber waren die bio-
logischen Faktoren, mit denen der Darwinismus rechnete, nicht
so leicht angreifbar. Die mikroskopische Forschung war noch nicht
- 63 -
so weit, um in den Fragen der Variabilität und Vererbung erfolg-
reich mitsprechi'n zu können, und was Experimente und sonstiges
empirisches Beobachtungsmaterial anlangt, so hatte Darwin davon
eine so große Menge zusammengebracht, daß man sich vorerst
wohl einmal damit begnügen konnte. Begnügen vollends auch
in bezug auf die Lehre von der Zuchtwahl, die so wie so nicht un-
mittelbar mit Tatsachen zu beweisen, sondern nur eine Annahme
war, eine Annahme allerdings, die sich auf die Vorgänge bei der
künstlichen Züchtung berufen konnte, und die in sich selbst eine
sieghaft überzeugende Kraft barg. Immerhin kann es aber doch
auffallen, daß der Selektionsgedanke, der notwendig dazu führen
mußte, alle Einrichtungen der Organismen als zweckmäßige An-
passungen aufzufassen, nicht eine kräftigere Betätigung der physio-
logischen Betrachtungsweise auf vergleichend-anatomischem Ge-
biete entfacht hat, und daß die funktionelle Behandlung der ver-
gleichenden Anatomie so ganz hinter der historischen verschwand,
trotzdem doch in Bergmanns und Leuckarts ,, anatomisch-
physiologischer Übersicht des Tierreichs" bereits ein genialer grund-
legender Versuch vorlag, eine physiologische Analyse des tierischen
Baues konsequenter und durchgreifender als es früher geschehen
war, zu geben, — eine Grundlage, auf der schon damals hätte weiter-
gebaut werden können, deren Absicht, eine vergleichende Physio-
logie schaffen zu helfen, aber erst in der neueren Zeit eifrige und
erfolgreiche Vertreter gefunden hat. Mögen die Gründe für die
berührte Erscheinung sein, welche sie wollen, — jedenfalls trat die
biologische Seite des Darwinismus anfangs sehr zurück. Zu
denen, die gerade ihr wieder Geltung und Beachtung verschafft
haben, gehört als einer der ersten und erfolgreichsten Weismann,
der Freund Rudolf Leuckarts. Aber wenn Weismann auch
keine Stammbäume aufgestellt oder morphologische Homologie-
fragen erörtert hat, so hat er sich doch in allen seinen biologischen
Betrachtungen als historisch denkenden Naturforscher gezeigt; aus
der Deszendenztheorie nahm er nicht nur die Probleme, sondern auch
die Methode des Vorgehens: auf die biologischen Probleme, die er
in Angriff nahm, wandte er die historische Betrachtungsweise an.
Ausgehend von den ersten Stufen der biologischen Erscheinungen
bei den niedersten Formen suchte er die Verhältnisse bei den höheren
zu verstehen. So hat er die Erscheinungen des Todes, der Vererbung,
- 64 -
der Befruchtung, die Verschiedenheiten in der Entstehung der
Geschlechtszellen bei den Hydromedusen wie die Besonderheiten
der Fortpflanzungserscheinungen bei den Daphnoiden nicht nur
in ihrer biologischen Bedeutung, sondern auch in ihrer historischen
Entwicklung zu fassen und zu verstehen gesucht und hat, im Gegen-
satz zu Darwin, imnier wieder betont, daß die Umwandlung der
Formen nicht richtungs- und regellos erfolgt, sondern in bestimmten
Richtungen, die dadurch gegeben sind, daß alle Formen eine be-
stimmte Geschichte hinter sich und damit eine ganz spezifische,
nur bestimmter Abänderungen fähige Konstitution erworben haben.
Ja, auch seine oft als viel zu weit gehend verurteilte und dabei
doch durchaus Darwinistische Auffassung, daß die Organismen in
erster Linie imd zum weitaus größten Betrage Anpassungs-
komplexe sind, ist ein Ausfluß nicht nur seines biologischen, son-
dern auch seines historischen Sinnes: sie nimmt nicht nur das als
Anpassung, was uns jetzt als solche leicht erkennbar in die Augen
springt, sondern rechnet mit Anpassungen von gestern und von der
Urzeit her, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung ims nicht immer
mehr erkennbar sind. Und wie die Abstammungslehre ihn zur Be-
schäftigung mit allgemeinen Fragen geführt und ihm die Einzel-
probleme vorgezeichnet hat, so behandelte er diese alle auch im
Hinblick auf sie und kehrte immer wieder zu ihr zurück. Das letzte
große Werk, in dem er die Früchte seiner Lebensarbeit zusammen-
gefaßt hat, trägt den Titel: Vorträge zur Deszendenztheorie.
Erste Stellung-nahme Weismanns zur Darwinschen
Theorie: die Antrittsrede von 1868. Arbeitsprog-ramm.
Zum ersten Male trat Weismann für die Deszendenztheorie,
und zwar in der besonderen Form der Darwinschen Theorie, ein
in seiner Antrittsrede von 1868: ,,Über die Berechtigung der Dar-
winschen Theorie." Sie bietet dem Leser von heute naturgemäß
nichts Neues, für die damalige Zeit ist aber vieles in ihr sehr be-
achtenswert. Scharf trennt hier Weismann die Transmutations-
hypothese an sich von dem durch Darwin gegebenen Erklärungs-
versuch, zeigt die Überlegenheit der ersteren gegenüber der alten
Schöpfungsgeschichte und zugleich die Leistungsfähigkeit der von
Darwin aufgestellten Prinzipien vom Kampfe ums Dasein und
von der natürlichen Züchtung, erörtert die Vererbimg als die Mit-
- 65 -
teilung einer ganz bestimmten Entwicklungsrichtung und die
Variabilität als Folge der Einwirkung verschiedener äußerer Ein-
flüsse auf die durch Vererbung übertragene Entwicklungsrichtimg,
als Resultate aus der ererbten Entwicklungsrichtung und den
äußeren Einflüssen. Die letzten Triebfedern der Artbildung müssen
in der Erblichkeit und in den äußeren Einflüssen gesehen werden,
wobei letztere in zweifachem Sinn wirken, „einmal als eine die
Vererbung modifizierende, individuelle Eigentümlichkeiten hervor-
bringende Kraft, und dann gewissermaßen als Regulator der ent-
standenen Variationen, als natürliche Züchtung". Damit sind
schon die Hauptfragen berührt, die Weismann dann im Laufe
seines weiteren Lebens immer wieder verfolgt hat, und ebenso
findet sich schon hier eine bestimmte Stellungnahme gegen die
hauptsächlich durch Naegeli vertretene Annahme einer den Or-
ganismen innewohnenden Kraft, die von Zeit zu Zeit die Abänderung
einer Art und ihre Umwandlung in eine neue mit Notwendigkeit
bewirkte. Dem Vervollkommnungsprinzip Naegelis stellt er das
Nützlichkeitsprinzip Darwins gegenüber. Andererseits aber weist
er auch bereits darauf hin, daß in der spezifischen Natur der Or-
ganismen und in der Harmonie, die zwischen ihren Teilen herrscht,
Grenzen für die Leistungsfähigkeit des letzteren Prinzipes gegeben
sind. Jeder Organismus besitzt bestimmte nach Zahl und Qualität
feststehende Eigenschaften, nicht aber alle erdenkbaren Eigen-
schaften zu gleicher Zeit, und daraus folgt, daß auch seine Fälligkeit
abzuändern begrenzt ist: er kann nicht alle denkbaren Abände-
rungen hervorbringen, sondern nur bestimmte, wenn auch noch so
zahlreiche. Wörtlich heißt es: ,,Es beruht auf einseitiger Über-
treibung der Darwinschen Lehre, wenn oft behauptet wird, die
Organismen könnten nach allen möglichen Richtungen hin
variieren. Freilich nach allen möglichen, aber auch nur nach
den möglichen, womit zugestanden wird, daß es auch unmögliche
gibt!" Und ferner gibt Weismann schon hier eine Erklärung für
das Vorhandensein und die Konstanz rein morphologischer, physio-
logisch wertloser Charaktere, denen gegenüber das Zuchtwahl-
prinzip versagt (Blattstellung der Pflanzen, Zahl und Stellung der
Schilder auf dem Kopfe der Schlangen u. a.). Er findet sie in der
den Züchtern schon lange bekannten und auch von Darwin ge-
würdigten Korrelation der Teile. ,, Individuelle Abweichtmgen
Gaupp, Biographie Weismanns. 5
— 66 —
entstehen durch Einwirkung äußerer Verhältnisse auf die ererbte
Entwicklungsrichtung, sie sind nicht zufällig, sondern müssen so
oder so ausfallen, je nach der Qualität der äußeren Einflüsse und
der Natur des Individuums. Es können nun sehr wohl dieselben
Einflüsse zugleich nützliche, physiologisch wichtige und physio-
logisch indifferente, rein morphologische Abweichungen derart her-
vorrufen, daß die einen nicht ohne die anderen entstehen können,
daß beide zugleich die Reaktion des Organismus auf den bestimmten
äußeren Einfluß sind; beide Abänderungen werden dann erhalten
werden und beide, da sie innerlich verbunden, die gleiche Konstanz
erlangen müssen." ,,Es ist das die »Korrelation der Teile', welche
es mit sich bringt, daß kein Teil eines Organismus verändert werden
kann, ohne daß zugleich Veränderungen in anderen Teilen ein-
treten." So begreifen wir auch die Schöpfung als eine Notwendigkeit
und nicht als einen bloßen Zufall, wie sie vom Standpunkt des reinen
Nützlichkeitsprinzips erscheinen muß. Die Natur tappt nicht
richtimgslos herum nach neuen Lebensformen, sondern Zahl und
Art der möglichen Variationen sind durch die Eigentümlichkeit
einer jeden Art fest bestimmt, und die Arten sind die Restdtanten
aus der natürlichen Züchtung und der Variationsqualität ihrer
Stammeltern. Die gesamte organische Welt hätte eine sehr andere
werden müssen, wenn die äußeren Einflüsse andere gewesen wären;
die Zahl der möglichen Schöpfungen lebender Wesen ist überaus
groß, unter den einmal gegebenen Verhältnissen aber konnten nur
gerade diejenige entstehen, welche wirklich entstanden.
So zeigt schon diese erste Äußerung zur Darwinschen Theorie,
daß Weismann sich nicht damit begnügen mochte, nur für die
Lehren eines anderen Stimmung zu machen, sondern bestrebt war,
dieselben kritisch zu prüfen tmd zu vertiefen. In diesem Sinne ist
er auch weiterhin tätig gewesen, und jene Rede bildet dabei gewisser-
maßen den ersten Entwurf eines Arbeitsprogramms und zugleich
eine erste Stellungnahme zu den in Betracht kommenden Problemen.
Deren einem gegenüber ist diese Stellungnahme auch in der
Folgezeit unverändert geblieben: gegenüber der Abstammungslehre
überhaupt. Daß diese, die Vorstellung einer Entwicklung der
Organismen weit, die einzige wissenschaftlich mögliche Hypothese
über die Entstehung der organischen Welt ist, — an dieser Über-
zeugung ist Weismann keinen Augenblick wankend geworden.
- 67 -
Aber von diesem festen Boden aus, das erkannte er bald, führt die
Frage nach dem ,,Wie?" der Entwicklung in unbekanntes Gebiet,
auf dem der Widerstreit der Meinungen Berechtigung hat. Vier
Faktoren hatte Darwin auf diese Frage nach dem ,,Wie" der Art-
bildung namhaft gemacht, und mit ihnen hatte sich die Antritts-
rede des jungen Zoologie-Professors beschäftigt: die Variabilität,
die Vererbung, die Zuchtwahl — in der Form der natürlichen
und der sexuellen Auslese — , und die Korrelation. Aber diese
Kräfte, ihre Wirkungsweise und ihre Leistungsfähigkeit, bedurften
denn doch noch einer besonderen Prüfung. Die empirisch fest-
gestellte Tatsache der Variabilität erforderte die Ermittelung
der Gründe der Erscheinung und damit eine genauere Untersuchung
des unmittelbar umwandelnden Einflusses, den die äußeren Ver-
hältnisse auf die Organismen ausüben; das Problem der Vererbung
verlangte erst einmal eine Klärung darüber, was denn eigentlich
vererbt wird, und dann die Erörterung des ,,Wie", d. h. der Er-
scheinungen, an die sie geknüpft ist: der Fortpflanzung und, dazu
gehörig, der Bildimg der Keimzellen sowie der Befruchtung, in
ihrer allgemeinen Bedeutung wie in ihrem materiellen Ablauf;
das Prinzip der Zuchtwahl, in den beiden Formen, in denen
Darwin es aufgestellt, erforderte eine eingehende Beleuchtung von
allen Seiten, um so mehr, als es seiner Natur nach einer unmittel-
baren Beobachtung entrückt schien; die Tatsache der Korrelation
endlich führte naturgemäß zu einer allgemeineren Erörterung der
in den Organismen selbst gelegenen Bildungskräfte und zu der
Frage, wie weit solche Kräfte neben oder gar an Stelle der Selektion
für die Entfaltung des Organismenreiches und die Mannigfaltigkeit
seiner Formen in der Jetztzeit verantwortlich gemacht werden
müßten.
So war es eine ungeheure Aufgabe, an die Weismann heran-
ging, und die Kühnheit ist bewunderungswürdig, mit der er sie in
Angriff nahm. Bewunderungswürdig aber auch die Ausdauer und
geistige Kraft, mit der er sie verfolgte. Manche der früheren An-
schauungen mußten dabei aufgegeben, manche neu aufgestellten
im Laufe der Zeit auch wieder verlassen und verändert werden,
aber schließlich gestaltete sich ihm doch eine Theorie, die alle jene
großen und vielgestaltigen Probleme unter einheitlicher Betrachtimg
vereinigte, ihre gegenseitigen Beziehungen feststellte, in ihrem
— 68 —
Lichte eine Deutimg der feineren sichtbaren Vorgänge der Ent-
wicklung versuchte und schließlich die Möglichkeit zeigte, alle
organische Gestaltung auf ein großes Bildungsprinzip, das des
Kampfes unter allen Lebenseinheiten, zurückzuführen.
In den siebziger Jahren finden wir Weis mann mit Beob-
achtungen und Experimenten über deszendenztheoretische Fragen
beschäftigt, die im vorigen Abschnitt besprochen wurden. Sie
ließen, wie dort gezeigt wurde, allmählich neue eigene Auffassungen
in ihm entstehen und bereiten so die Epoche der rein theoretischen
Schriften vor, die mit dem, am 21. September 1881 auf der Natur-
forscherversammlung in Salzburg gehaltenen Vortrag über die
Dauer des Lebens ihren Anfang nahm.
Dauer des Lebens. Herkunft des Todes.
Das erste Einzelproblem, das von Weismann besonders
durchgearbeitet wurde, betrifft Fragen, die auch für den Menschen
von größter Bedeutung sind: die Dauer des Lebens und die
Herkunft des Todes. In Gedankengängen, die mit seinem
Namen stets eng verknüpft bleiben werden, zeigte Weismann
in einer Reihe von Schriften während der Jahre 1881 — 1885, wie
diese Erscheinungen, deren bisher allein gebräuchliche rein physio-
logische Betrachtung manches unklar ließ, im Lichte historischer
Betrachtungsweise ein neues Ansehen gewinnen und in ihrer Zweck-
mäßigkeit begreifbar werden. Die Verschiedenheiten zunächst der
Länge der Lebensdauer bei den einzelnen Tieren können nicht aus
Verhältnissen wie der Körpergröße oder dem Tempo des Stoff-
wechsels imd der Lebensprozesse, womit man sie meist in Zusammen-
hang gebracht hatte, verstanden werden. Wenn auch eine beträcht-
liche Größe eines Tieres im allgemeinen eine längere Lebensdauer
nötig macht, weil zu ihrer Herstellung mehr Zeit nötig ist, so lehren
doch viele Beispiele, daß hier keine stets gültige Gesetzmäßigkeit
vorliegt. So erreichen Hechte und Karpfen imter Umständen das-
selbe Alter (200 Jahre) wie der Elefant; Schwein und Flußkrebs
werden etwa 20 Jahre alt, die nur faustgroße Seeanemone etwa
50 Jahre. Und was das Tempo der Lebensprozesse anlangt, so
weisen gerade die schnell lebenden Vögel eine relativ sehr lange
Lebensdauer auf und übertreffen darin die trägen Amphibien gleicher
Körpergröße. Es müssen somit wohl andere Gesichtspunkte als
- 69 -
maßgebend für die Lebensdauer in Frage kommen. Worin aber
liegen dieselben ? In dem Interesse der Art. Dieses allein kommt
bei der Regulierung der Lebensdauer in Betracht, nicht das des
Individuums. Nicht darauf kommt es an, ob das Individuum
länger oder kürzer sich der süßen Gewohnheit des Daseins erfreut,
sondern darauf, daß es für die Art das zu leisten vermag, was für
deren Erhaltung das wichtigste ist: die Hervorbringung neuer In-
dividuen, die einen genügenden Ersatz darstellen für die durch
Tod abgehenden. Hat es diese Aufgabe erfüllt, so hat es bei sehr
vielen Formen überhaupt seiner Pflicht genügt und kann ,,zur
Ruhe gehen", und nur in den Fällen, wo die Eltern Brutpflege aus-
üben, die Kinder beschützen, ernähren und unterrichten, behält
ihr Leben auch für die Art noch längeren Wert. Dem entspricht
es, daß alle Vögel und Säugetiere die Fortpflanzungszeit über-
leben, während die meisten Insekten sehr bald nach derselben
zugrunde gehen. Damit ist der große allgemeine Gesichtspunkt
festgelegt, nach dem den verschiedenen Formen die Lebensdauer
zuzumessen ist. Wie groß aber dieses Maß für die einzelnen aus-
fallen wird, das hängt von mancherlei verschiedenen Dingen ab,
hauptsächlich von der Fruchtbarkeit der Art und von der Menge
der Schädigungen, denen die Brut und die erwachsenen Formen aus-
gesetzt sind. So schloß bei den Vögeln die Rücksicht auf die Leichtig-
keit des Fluges große Fruchtbarkeit aus — tatsächlich brüten die
meisten Vögel nur einmal im Jahre und viele legen jährlich nur
ein Ei — , dazu kommen die ganz besonders großen Gefahren,
denen die Eier und die Jungen ausgesetzt sind, und für beides findet
sich eine notwendige Kompensation in der durchschnittlichen
langen Lebensdauer, die die Vögel besitzen, und die sich bei manchen
Formen (Raubvögeln) auf loo und mehr Jahre steigern kann.
Im Gegensatz dazu besitzen die kleinen Säuger eine viel größere
Fruchtbarkeit, ihre Jungen sind außerdem durch die intrauterine
Entwicklung gegen Schädigungen viel besser geschützt als die Brut
der Vögel, und so konnte ihre Lebensdauer kürzer festgesetzt werden.
In gleicher Weise läßt sich auch für die Insekten die Länge der
Lebensdauer als Anpassung an die äußeren Lebensbedingungen
verstehen. Bei ihnen spielt noch eine besondere Rolle die Menge der
Schädigungen, denen die ausgebildeten Tiere ausgesetzt sind: ins-
besondere die Vernichtung durch so viele andere Tiere, die geradezu
— 70 —
auf die Insekten als Nahrung angewiesen sind. Das Interesse der
Art verlangte unter diesen Umständen eine möglichste Verkürzung
des Lebens durch möglichste Beschleunigung der Fortpflanzung,
da mit der Länge des Lebens natürlich die Gefahr einer Zerstörung
durch solche Zufälligkeiten größer werden muß. So erklärt sich
die bei den Insekten gewöhnliche Kombination: sehr große Frucht-
barkeit bei sehr kurzem Imagoleben, das gleich nach der kurzen
Fortpflanzungsperiode sein Ende erreicht. Das äußerste in dieser
Hinsicht leisten einige Arten von Eintagsfliegen, die bald nach dem
Ausschlüpfen aus der Puppenhülle sich in die Luft erheben, sich
fortpflanzen, sich dann aufs Wasser niederlassen, sämtliche Eier
auf einmal ausstoßen und nun ihr Imagoleben, das etwa 4 — 5 Stunden
gedauert hat, beschließen.
So lassen sich aus dem Gesichtspunkte des Nutzens für die
Art die Verschiedenheiten in der Länge der Lebensdauer als An-
passtmgen an die äußeren Lebensbedingungen erklären; der Me-
chanismus, durch den diese Anpassungen erfolgten, wird auch hier
in Selektionsprozessen zu suchen sein.
Warum aber müssen überhaupt die Organismen sterben, was
bedingt ihren Tod, d. h. natürlich ihren normalen physiologischen
Tod, dem früher oder später jedes Geschöpf — wie es wenigstens
nach der alltäglichen Erfahrung scheint — anheimfällt, auch wenn
es vor der so häufigen Vernichtimg durch Zufälligkeiten (Krank-
heiten, Katastrophen) bewahrt bleibt? Ist es eine im Wesen des
Lebens begründete Notwendigkeit, und war ewige Dauer mit dem-
selben unvereinbar ? Weis mann verneint diese Frage. Der natür-
liche Tod ist keine von vornherein gegebene Naturnotwendigkeit,
sondern ist in das Organismenreich erst eingeführt worden als eine
zweckmäßige nützliche Einrichtung. Daß er nicht untrennbar mit
dem Leben verbunden ist, lehren die Einzelligen: sie sind rücht
notwendig dem Tode unterworfen. Die später soviel behandelte
Frage von der ,, Unsterblichkeit der Einzelligen" wird hier von
Weismann zum ersten Male eingehend erörtert. Auch die Ein-
zelligen können vernichtet werden, gewiß; aber einen normalen,
physiologischen Tod gibt es für sie nicht. Der verbreiteten Auf-
fassung, als ob mit der Teilung eines einzelligen Organismus in
zwei Tochtergeschöpfe das Leben des Muttertieres beschlossen sei,
und als ob somit hier Fortpflanzung und Tod zusammenfielen,
— 71 —
stellt Weismann die Frage gegenüber: wo ist denn die Leiche?
Was stirbt denn ab? Nichts stirbt ab, sondern der Körper des
Tieres zerfällt in zwei nahezu gleiche Stücke, die dem Muttertiere
vollkommen ähnlich sind, wie dieses weiter leben und sich später,
wie dieses, wieder in zwei Hälften teilen. Erst mit der Entstehung
der vielzelligen Organismen aus den einzelligen wurden ganz andere
Verhältnisse geschaffen. Fortpflanzungs- und Körperzellen trennten
sich voneinander; die Körperzellen paßten sich, dem Prinzip der
Arbeitsteilung entsprechend, unter fortschreitender histologischer
Differenzierung immer vollkommener, aber auch immer einseitiger
den mannigfachen Leistungen an, und je mehr dies geschah, um
so mehr ging ihnen die Fähigkeit verloren, größere Stücke des
Organismus zu reproduzieren, und um so mehr konzentrierte sich
das Vermögen der Fortpflanzung des Gesamtindividuums in den
Keimzellen. Jene, die Körperzellen, verloren aber nicht nur die
Fähigkeit zur Hervorbringung des ganzen Organismus, sondern
auch die, sich selbst unbegrenzt zu vermehren. Ihr Vermögen,
sich selbst durch Teilung fortzupflanzen, wurde auf eine bestimmte
Anzahl von Zellgenerationen beschränkt, haben sie diese hervor-
gebracht, so erlischt ihre Reproduktionskraft. Das aber bedeutet
den ,,Tod" des Soma, des Individuums, der bei den vielzelligen
Organismen letzten Endes darauf beruht, daß der normale Ersatz
der während des Lebens fortwährend und massenhaft zugrunde
gehenden, abgenutzten, morphologischen Elemente stockt. Wariun
aber verloren die Körperzellen die Fähigkeit unbegrenzter Ver-
mehrung? Auch dies erklärt Weismann aus dem Gesichtspunkt
des Nutzens, der Zweckmäßigkeit für die Art. Von diesem Gesichts-
punkt aus ist das Soma, das Individuum wertlos, wenn es der Auf-
gabe der Fortpflanzung und gegebenenfalls der Brutpflege genügt
hat, ja, die unbegrenzte Lebensdauer aller Individuen würde sogar
schädlich für die Art sein, denn sie würde, da alle Organismen durch
die Berührung mit der Außenwelt fortgesetzt Schädigungen ihres
Körpers ausgesetzt sind, sehr bald zu dem Vorhandensein einer
Unmenge krüppelhafter Individuen führen, die den anderen nur
den Platz wegnehmen würden. So war es also nicht nur möglich,
sondern sogar nützlich und geboten, die Produktivität der Körper-
zellen auf eine bestimmte Zahl von Zellgenerationen zu normieren
und damit die Lebensdauer des Soma zu beschränken, d. h. den
physiologischen Tod einzuführen. Auch der Tod ist eine Anpassungs-
erscheinung, eine Konzession an die äußeren Lebensbedingungen.
Nur den Fortpflanzungszellen durfte die Fähigkeit unbegrenzter
Vermehrung nicht verloren gehen, wenn anders die Art erhalten
bleiben sollte. Sie besitzen wie die Einzelligen potentielle Unsterb-
lichkeit, bilden den unsterblichen Kern innerhalb des sterblichen
Soma. Die Frage endlich, wodurch jene Beschränkung der Ver-
mehrung der Körperzellen auf eine bestimmte festgesetzte Anzahl
von Generationen zu denken sei, beantwortet Weismann dahin,
daß der Grund dafür in den Zellen selbst liege, denen schon vom
Keime her nur eine beträchtliche Vermehrungsfähigkeit mitgegeben
wird. Es geht also damit, wie mit Entwicklungsvorgängen: sie
sind letzten Endes auf innere Verhältnisse der Keimzelle zurück-
zuführen. Die Entwicklungstendenzen, die von hier aus den ein-
zelnen Zellen mitgegeben werden, hören mit der äußeren Fertig-
stellung des Embryo nicht auf, sondern bleiben wirksam bis ins
späte Alter, beherrschen die Lebensvorgänge und bedingen das
Ende derselben — den Tod.
In diesen Gedankengängen, auf die Weismann später mehr-
fach zurückgekommen ist, liegt nicht nur ein abermaliges über-
zeugtes Bekenntnis zu dem wichtigsten Grundprinzip des Dar-
winismus, sondern auch der Keim zu ganz neuen eigenen Vor-
stellungen. Sie zeigen die Anwendbarkeit des Selektionsprinzipes
auf Erscheinungen, in denen man sein Wirken zunächst nicht er-
wartet hätte, — des Selektionsprinzipes, das Weismann in der
Folgezeit bis an die äußersten Grenzen seiner Leistungsfähigkeit
verfolgt hat, und dem er bis an sein Lebensende bemüht blieb,
die beherrschende Rolle bei allem organischen Geschehen und für
alle Lebenseinheiten, die größten wie die kleinsten, zuzuweisen;
sie stellen ferner bereits den scharfen Gegensatz zwischen Soma-
und Keimzellen auf, auf dem die ganze Weismann sehe Vererbungs-
hypothese beruht, und sie verlegen endlich die wichtigsten be-
stimmenden Faktoren für die Entwicklung wie für die zellulären
Vorgänge bis ans Ende des Lebens in die Keimzelle. Damit aber
errichten sie die hauptsächlichsten Fundamente für die Ver-
erbungslehre, die Weismann nunmehr als selbständiges Problem
in Angriff nahm und einige Jahre später vollendete.
Vierter Abschnitt.
Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage der
Weismann sehen Vererbungslehre. Die Vererbung
erworbener Eigenschaften.
I. Vererbung: Bedeutung, Begriff, stoffliche Bedingtheit. Darwins Pangenesis-
hypothese. — 2. Die Kontinuität des Keimplasmas. — 3. Die Vererbung
erworbener Eigenschaften. Das Problem. Somatogene und blastogene Eigen-
schaften. — Angebliche Vererbung von Verletzungen und Verstümmelungen. —
Angebliche Vererbung von funktionellen Abänderungen. ■ — Harmonische Anpassung
(Koadaptation). — Die Anpassungen der Ameisen - Neutra. — Anpassungen der bloß
„passiv wirksamen" Teile und Merkmale. — Instinkte. — Geistige Fähigkeiten, spezi-
fische Talente. Der Musiksinn. — Zusammenfassung. — Vererbung von Verände-
rungen, die durch das Medium bedingt sind. — Ergebnisse. Übertragung derselben
auf die Einzelligen. — Die Mnemetheorie von Semon; Weismanns Stellung zu
derselben.
I. Vererbung: Bedeutung, Begriff, stoffliche Bedingtheit.
Darwins Pangenesishypothese.
,,Von der Vererbung möchte ich reden, diesem Grundpfeiler
alles Beharrungsvermögens der organischen Formen, dem unbe-
fangenen Laien so selbstverständlich und keiner besonderen Er-
klärung bedürftig, der Reflexion so verwirrend durch die unendliche
Mannigfaltigkeit ihrer Äußerungen, und so rätselvoll ihrem eigent-
lichen Wesen nach" — mit diesen Worten beginnt die berühmte
Rede, die Weismann am 21. Juni 1883 bei Übernahme des Pro-
rektorates der Universität Freiburg in der Aula derselben hielt.
Sie ist zum größten Teil der Behandlung einer bestimmten Frage
aus dem Vererbungsproblem, der Frage nach der Vererbimg er-
worbener Eigenschaften gewidmet, legt aber zugleich schon in
großen Zügen die allgemeine Grundlage fest, von der aus, nach
— 74 —
Weismanns Überzeugung, alle Fragen dieses großen Problemes
behandelt werden müssen: die Lehre von der sogenannten Konti-
nuität des Keimplasmas.
Auch die früheren Veröffentlichungen Weismanns hatten
die Erscheinungen der Vererbimg berücksichtigen müssen. In
allen Betrachtungen über die Deszendenztheorie spielt sie natiu:-
gemäß eine Rolle, und insbesondere die Erörterungen über die
Bedeutung direkter Mediumeinflüsse auf die Umwandlung der
Formen, die an die Schmetterlingsexperimente anknüpfen, gehen
aus von der Annahme, daß diese Wirkungen erblich sind. Anfangs
konnte eben auch Weismann nicht anders, als sich auf den Stand-
punkt Darwins zu stellen, der die Fähigkeit, die eigenen Eigen-
schaften auf die Nachkommen weiter zu geben, geradezu als eine
gegebene Grtmdeigenschaft der Organismen annahm und daraufhin
die Übertragbarkeit der am Einzelindividuum aus irgendeinem
Gnmde neu auftretenden Besonderheiten als sicher betrachtete.
,, Nicht-erbliche Abänderungen sind für uns ohne Bedeutimg"
— so fängt ein Abschnitt in Darwins ,, Entstehimg der Arten"
an, an dessen Schlüsse es heißt: ,,Ja vielleicht wäre die richtigste
Art die Sache anzusehen die, daß man jedweden Charakter als erb-
lich und die Nichtvererbung als Anomalie betrachtete" 2®) . Damit
war zwar zugegeben, daß es auch nicht-erbliche Abänderungen
gibt, für weitaus die meisten Merkmale aber, mögen sie groß oder
klein sein, wurde ihre Vererbbarkeit von vornherein vorausgesetzt.
Eine eingehendere theoretische Erörterung des Vorganges lag
Darwin ferne, seine noch zu besprechende Theorie der Pangenesis
hat er selbst nur als eine ,, provisorische Hypothese" bezeichnet.
Dagegen erkannte Weismann allerdings bald, was er in den
oben angeführten Worten ausspricht, daß die Erscheinung der Ver-
erbung, so selbstverständlich sie für die naive Betrachtung sein
mag, der genaueren Überlegung eine Menge unbeantworteter Fragen
stellt. Auf eine derselben versuchte er auch schon in der Rede
von 1868 eine Antwort zu geben. Im Gegensatz zu der gewöhn-
lichen Definition, die unter Vererbungsfähigkeit die Fähigkeit der
Organismen versteht, ihre Eigenschaften auf die Nachkommen
zu übertragen, erklärt er diese Fähigkeit dahin, daß dem Keim
des Organismus durch die Mischung seiner Bestandteile eine ganz
bestimmte Entwicklungsrichtung mitgeteilt wird, dieselbe Ent-
— 75 —
Wicklungsrichtung, wie sie der elterliche Organismus zu Anfang
besessen hat, so daß also unter absolut gleichen äußeren Einflüssen
auch absolut gleiche Entwicklimgsstadien vom kindlichen wie
vom elterlichen Organismus durchlaufen werden müssen. Die
gleiche zunächst mehr physiologische Auffassung der Vererbimg
hat er wiederholt ausgesprochen; ihr entsprechend erblickt er als
Folge der sexuellen Fortpflanzung ,,eine Vermischung der Merk-
male (genauer: Entwicklungsrichtungen) zweier gleichzeitig
lebender Individuen in einem Keime" (1876) und definiert die
Variabilität als ,,die Resultate aus der ererbten Entwicklimgs-
richtung und den äußeren Einflüssen" (1868) imd ebenso, einige
Jahre später (1880) als ,,eine durch ungleiche äußere Einflüsse be-
dingte Ablenkung der durch die Vererbung vorgezeichneten Ent-
wicklungsrichtung" ^') . Von dieser Auffassung aus konnte dann die
Frage nach den Ursachen, der stofflichen Bedingtheit der
Gleichartigkeit in der Entwicklungsrichtimg des kindlichen und
des elterlichen Organismus in Angriff genommen werden.
Daß die Erscheinungen der Vererbung an die Fortpflanzung
geknüpft sind, und daß somit bei der weitaus häufigsten Form
der letzteren, der Zweielternzeugung oder geschlechtlichen Fort-
pflanzung, in der Befruchtung des Eies durch die Samenzelle der
Vorgang zu sehen ist, an den die Vererbung der elterlichen Eigen-
schaften auf den Nachkommen geknüpft ist, — von dieser Voraus-
setzung konnte Weismann schon bei der Inangriffnahme des
Problemes ausgehen. Daraufhin formulierte er denn auch die
zwei großen Fragen des letzteren: i. wie kommt eine einzelne Zelle
des Körpers dazu, die sämtlichen Vererbungstendenzen des gesamten
Organismus in sich zu vereinigen? und 2. durch welche Kräfte,
welchen Mechanismus kommen diese Tendenzen beim Aufbau des
neuen Organismus zur Entfaltung ? ^^) .
Nur ganz allgemein hatte Darwin versucht, beide Fragen
zu beantworten: in der schon genannten Theorie der Pangenesis,
die er aber selbst nur als eine provisorische Hypothese oder Speku-
lation bezeichnet. Der Name drückt aus, ,,daß die ganze Organi-
sation, und zwar in dem Sinne, daß hiermit jedes einzelne Atom
oder jede Einheit gemeint wird, sich reproduziert". Das sollte in
der Weise geschehen, daß von allen Zellen des Körpers während
des Lebens Keimchen abgegeben werden, im Körper kreisen und
- 76 -
schließlich in den Geschlechtszellen zur Ablagerung kommen, um
dann bei der Entstehung wieder Teile entstehen zu lassen, denen
ähnlich, von denen sie selbst stammten. Durch diese Annahme wäre
auch, wie Darwin erörtert, für die ,, Vererbung erworbener Eigen-
schaften" eine verhältnismäßig einfache Erklärung gegeben ge-
wesen: die Keimchen mußten ja auch Träger aller Verändertmgen
sein, die die betreffenden Zellen durch irgendwelche Einflüsse be-
trafen. Daß sich die Dinge in Wirklichkeit so verhielten, war frei-
lich schwer zu glauben; besondere auf den Nachweis der Keimchen
gerichtete Versuche ergaben denn auch ein negatives Resultat,
und von verschiedenen Seiten war die Pangenesistheorie bestritten
oder doch stark tungewandelt worden. Und doch ist auch Weis-
mann später, nach anfänglichen Versuchen in anderer Richtung,
wieder zu der Annahme kleinster materieller Teilchen als Träger
der Vererbung zurückgekehrt, freilich unter bestimmter Ablehnung
der Vorstellung, daß diese Teilchen etwa von den Körperzellen
abstammten und durch den Körper zu den Keimzellen transportiert
würden. Damit aber hat er einen Hauptgedanken der Darwin-
schen Pangenesishypothese zu neuem Leben erweckt.
2. Die Kontinuität des Keimplasmas.
Weismann griff auch dieses Problem historisch an, er suchte
die Vererbungserscheinungen von ihrer Wurzel aus zu verstehen,
und diese Betrachtung führte ihn zu der Aufstellung des Gedankens,
der als Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas mit
seinem Namen für alle Zeiten verbunden bleiben wird. Mit Recht,
denn wenn es auch richtig und von Weismann selbst rückhaltlos
anerkannt worden ist, daß schon vor ihm andere Forscher
(Galton, Jäger, Nußbaum u. a.) zur Aufstellung der gleichen
Anschauung gelangt waren, so ist es doch auch unbestreitbar, daß
erst Weismann seine volle Bedeutung erkannt, ihn auf seine
Leistungsfähigkeit nach allen Richtungen durchgearbeitet und ihn
in seiner Tragweite der Wissenschaft zum Bewußtsein gebracht hat.
Weismann geht, wie gesagt, bei der Betrachtung der Ver-
erbungserscheinungen aus von ihren Anfängen bei den niedersten
Lebewesen. Hier, bei den Einzelligen, liegen die Dinge noch ver-
hältnismäßig einfach und leichter verständlich. Wenn wir aus
einer Amöbe durch Teilung zwei durchaus gleiche Tochterindi-
— 77 —
viduen entstehen sehen, so begreifen wir bis zu einem gewissen
Grade, daß diese Tochterindividuen der Mutter in ihrem Aussehen,
ihren Lebensäußerungen und Fähigkeiten gleichen, — setzen sie
doch den Körper derselben nur in einer neuen Form fort. So muß
sich denn auch bei jeder von ihnen die Fähigkeit fortsetzen, Nahrung
aufzunehmen, auf Kosten derselben die eigene Lebenssubstanz zu
vermehren, um sich dann ebenfalls wieder zu teilen. Und so fort
durch ungezählte Generationen: die stoffliche Kontinuität
bildet hier die Grundlage der Vererbungserscheinungen.
(Diese Überlegung hat später (1891), wie wir sehen werden, eine
geringe Abänderung erfahren, indem Weismann sie ,,um eine
Stufe weiter gegen den Anfang des Lebens hin" zurückschiebt,
d. h. nur noch für die niedersten Organismen gelten läßt, bei denen
noch keine Differenzierung in Kern und Zellkörper eingetreten ist.)
Eine ganz gleiche stoffliche Kontinuität nimmt ntm Weis-
mann auch für das Keimplasma, d. i. die Vererbungssubstanz,
in den Keimzellen (Ei und Samenfaden) bei den Vielzelligen an.
Für die Entstehung der letzteren lagen von vornherein drei Haupt-
möglichkeiten vor: I. es könnte, wie es in der Darwinschen Pan-
genesistheorie zum Ausdruck kommt, die Keimzelle gewissermaßen
als Extrakt des ganzen Körpers immer neu gebildet werden, oder
2. die Substanz der elterlichen Keimzelle könnte die Fähigkeit be-
sitzen, einen Kreislauf von Veränderungen durchzumachen, welche
durch den Aufbau des neuen Individuums hindurch wieder zu
identischen Keimzellen führt, oder endlich 3. die Keimzellen ent-
stehen in ihrer wesentlichen und bestimmenden Substanz über-
haupt nicht aus dem Körper des Individuums, sondern unmittelbar
aus der elterlichen Keimzelle. Diese letztere Ansicht hält Weismann
für richtig. Seiner Ansicht nach wird das Material der Keimzelle
nicht erst während des Lebens gebildet und mit den Fähigkeiten
zur Erzeugung eines neuen, dem alten ähnlichen Organismus aus-
gestattet, sondern es stammt unmittelbar von dem Keimplasma
ab, aus dem der Träger der Keimzelle selbst hervorging, ist geradezu
nur ein unverbrauchter Teil desselben. Wenn die befruchtete Ei-
zelle, so folgert Weismann, sich anschickt, einen neuen Organis-
mus aus sich hervorgehen zu lassen, so wird von vornherein eine
gewisse Menge ihrer maßgebenden Substanz, ihres Keimplasmas,
reserviert, wird nicht in der Ontogenese aufgebraucht, sondern
- 7« -
als unveränderter Rest in die Keimzellen des neuen Individuums
gebracht und dort abgelagert. Ist dann an eine dieser Zellen die
Reihe gekommen, ein neues Geschöpf entstehen zu lassen — ge-
gebenenfalls nach Vereinigung mit der Keimzelle eines anderen
Individuums — so muß dieser neue Organismus notwendigerweise
seinem Eiterorganismus gleichen, da das ihn erzeugende Keim-
plasma nur ein Teil dessen ist, das jenen entstehen ließ. So geht
es fort durch ungezählte Generationen hindurch; nur Assimilations-
fähigkeit, d. h. die Fähigkeit, sich auf Kosten der Nahrung fort-
während zu ergänzen und zu vermehren, müssen wir bei dem Keim-
plasma voraussetzen, können es aber auch, da diese Fähigkeit eine
Elementareigenschaft aller lebenden Substanz ist. (Daß sie für
sich eins der schwierigsten organischen Grundprobleme darstellt,
wie Roux bemerkt, kommt dabei hier nicht in Frage.) Im übrigen
aber besitzt das Keimplasma der Vielzelligen, wie die Einzelligen,
potentielle Unsterblichkeit und steht damit den sterblichen
Somazellen gegenüber. ,,Das Keimplasma einer Art wird nie
neu erzeugt, sondern es wächst und vermehrt sich nur unaufhörlich,
es zieht sich fort von einer Generation zur anderen, wie eine lange,
m der Erde fortziehende Wurzel, von der in regelmäßigen Abständen
Sprosse emportreiben und zu Pflänzchen werden, zu den Indi-
viduen der aufeinander folgenden Generationen." Diese Annahme
einer Kontinuität des Keimplasmas war kein bloßes Denkergebnis,
sondern konnte sich auf tatsächliche Beobachtimgen stützen. Für
gewisse Insekten war nachgewiesen, daß die ersten Zellen, die sich
bei der Furchung von der übrigen Masse des Eies trennen, eben die
Geschlechtszellen sind; bei anderen Formen erfolgt diese Trennung
der Geschlechtszellen, wenn auch nicht zu allererst, so doch in sehr
frühen Stadien der Ontogenese. Zu besonders wichtigen Ergeb-
nissen in dieser Hinsicht war Weis mann selbst durch seine eigenen
Untersuchungen über die Entstehung der Sexualzellen bei den
Hydromedusen gelangt: die Geschlechtszellen entstehen hier zwar
nicht am Anfang der Ontogenese, sondern sehr viel später und bei
den verschiedenen Formen an verschiedenen Stellen, aber unter
Erscheinungen, die darauf hinweisen, daß nicht jede beliebige
Körperzelle zu einer Keimzelle werden kann, sondern daß nur be-
stimmte Zellen und Zellfolgen Träger des Keimplasmas sind und
die Kontinuität desselben durch die Generationen vermitteln. In
— 79 —
der Folgezeit ist dann bei einer ganzen Anzahl von Tieren die ge-
samte Zellenfolge, die vom befruchteten Ei bis zu den Keimzellen
führt, die sogenannte Keimbahn, verfolgt worden, wobei gewisse
histologische Merkmale, die alle diese Keimbahnzellen auszeichnen,
den Anhalt abgaben. In diesen Fällen ist also die Kontinuität des
Keimplasmas eigentlich keine Hypothese mehr, sondern eine sich
unmittelbar aufdrängende Deutung der Beobachtungen. Damit
aber ist für die Annahme, daß bei jeder Ontogenese ein Teil des
Keimplasmas imverändert in die Keimzellen des neuen Individuums
transportiert und dort abgelagert wird, ein genügend sicherer Tat-
sachenboden gegeben.
Auf Grundlage der Kontinuität des Keimplasmas verstehen
wir es, daß das Kind seinem Erzeuger ähnlich ist und daß es bei
Zweieltemzeugung, wo die Keimplasmen zweier Individuen sich
vermischen, Charaktere von beiden Eltern in sich vereinigen kann.
Wir haben also eine erste Grundlage für das Verständnis der Ver-
erbungserscheinungen. Diese Annahme von der Kontinuität des
Keimplasmas ist die wichtigste Grundlage von Weismanns Ver-
erbungslehre; sie steht im Gegensatz zu der Darwinschen Vor-
stellung, daß das Keimplasma erst im Individuum durch Teilchen,
die von den Körperzellen desselben abgegeben werden, neu gebildet
wird, imd lehnt auch die andere Auffassung ab, daß das Keimplasma
in der Ontogenese einen Kreislauf diurchmachen, d. h. daß es in
den Kernen der verschiedenen Körperzellen bestimmte gesetz-
mäßige Veränderungen erleide, um schließlich in den Keimzellen
wieder zu Keimplasma rückverwandelt zu werden.
Unter den Fragen, die sich im Anschluß hieran aufdrängen
müssen, ist wohl die nächstliegende die, in welchem Bestandteil
der Keimzellen jene wichtigste Substanz, das Keimplasma, zu
sehen ist. Auch diese Frage, die Frage nach der eigentlichen Ver-
erbimgssubstanz, lag damals gewissermaßen in der Luft, und so
kann es nicht Wunder nehmen, daß sie fast gleichzeitig von drei
Forschern beantwortet wurde: von E. Strasburger, O. Hertwig
und A. Weismann. Alle drei kamen zu dem Schluß, daß jene
Substanz in der Kernsubstanz und zwar besonders in der chro-
matischen Substanz des Kernes zu sehen sei. Die Vorgänge bei
der Zellteilung und bei der Befruchtung, sowie Experimente von
Nußbaum und A. Gruber ( — die des letzteren auf Weismanns
' — 8o —
Veranlassung im Freiburger zoologischen Institut unternommen — )
sprachen vornehmlich in jenem Sinne. Weis mann hat denn auch
an dieser Auffassung, der Lehre von dem ,, Vererbungsmonopol
des Kernes", wie sie später bezeichnet wurde, bis an sein Lebensende
festgehalten und auf ihr als Grundlage seine Vererbungstheorie
weiter ausgebaut. Bevor wir auf diese eingehen können, sind noch
einige andere mehr allgemeine Dinge zu behandeln.
Fragen mußten sich ja gegenüber der Lehre von der Keim-
plasmakontinuität in großer Menge aufdrängen; vom Standpunkt
der Deszendenzlehre aus waren die beiden wichtigsten wohl die:
I. wie ist überhaupt das Keimplasma des ersten vielzelligen Tieres
entstanden? und 2. wie konnte aus diesem Keimplasma der ersten
vielzelligen Wesen die vielen tausende Arten verschiedener Keim-
plasmen entstehen, die den jetzt lebenden Organismen zugrunde
liegen ?
Die erste Frage behandelt Weismann imter Hinweis auf die
koloniebildenden Einzelligen, die eine Mittelstellung zwischen den
isoliert lebenden Einzelligen und den echten Vielzelligen einnehmen,
gewissermaßen einen Übergang von jenen zu diesen bilden. Unter
diesen koloniebildenden Einzelligen gibt es solche, die aus ganz
gleichartigen Zellen zusammengesetzt sind, und bei denen die Dinge
noch grundsätzlich ebenso liegen, wie bei den isoliert lebenden Ein-
zelligen: jedes Mitglied der Kolonie ist imstande, sich fortzupflanzen,
d.h. sich zu teilen und durch wiederholte Teilung, wobei die Tochter-
zellen immer in enger Aneinanderlagerung verbunden bleiben,
eine neue Kolonie entstehen zu lassen. Die Glieder solcher Kolonien,
die als Homopiastiden bezeichnet werden, sind also zugleich ,, Körper-
zellen" und ,, Keimzellen" der Kolonie. Anders liegen die Dinge
bei jenen Kolonien, die als Heteroplastiden bezeichnet werden.
Hier, z. B. bei der Gattung Volvox, ist eine Arbeitsteilung ein-
getreten, eine scharfe Trennung von Körper- und Fortpflanzungs-
zellen. Kleinen, zu vielen Hunderten vorhandenen Geißelzellen,
die aber auch allen übrigen Funktionen der Lebenserhaltung (Er-
nährung, Sekretion, Exkretion usw.) dienen, stehen viel weniger
zahlreiche große Keimzellen gegenüber, die allein die Fähigkeit
bewahrt haben, die Kolonie fortzupflanzen. Jene, die kleinen
Geißelzellen, stellen das sterbliche Soma der Kolonie dar : sie können
durch Teilung nur ihresgleichen erzeugen, gehen aber dann einmal
zugrunde; die Keimzellen aber vermögen durch Teilung eine neue
Volvoxkolonie hervorzubringen, also nicht nur ihresgleichen, sondern
auch die somatischen Zellen. Wie ist dieser Zustand der hetero-
plastiden Kolonien an den der homoplastiden anzuschließen? Die
Antwort, die Weismann darauf gibt, lautet kurz etwa folgender-
maßen. Unter irgendwelchen Einflüssen muß einmal die Strukttir
des Plasmas von Zellen homoplastider Kolonien sich derart ge-
ändert haben, daß die Kolonie, die nunmehr durch Teilung aus
ihnen hervorging, nicht mehr, wie bisher, aus identischen, sondern
aus zweierlei verschiedenen Zellenarten bestand, von denen nur die
eine Art die Fähigkeit zur Neuerzeugung einer Kolonie beibehielt,
die andere aber die somatischen Funktionen übernahm und durch
Teilung nur noch ihresgleichen hervorzubringen vermochte. In
die erste Art, die Keimzellen, wurde dabei eine gewisse Menge
dieses veränderten Keimplasmas eingeschlossen, um dann auch
weiterhin von Generation zu Generation weitergegeben zu werden
und Kolonien gleicher Art zu erzeugen. Der springende Punkt dabei
ist also, daß die Besonderheit, die der ausgebildete Organismus
zeigt, — hier ztmächst die Zusammensetzung aus zweierlei ver-
schiedenen Zellenarten — die Folge ist von einer primären Ver-
änderung des Keimplasmas. Diesen Vorgang haben wir uns mm
im Laufe der Generationen fortgesetzt zu denken. Auf primäre
Variationen des Keimplasmas ist es zurückzuführen, daß die Zellen
der Kolonien im Laufe der Stammesgeschichte noch weiter un-
gleich wurden, daß eine große Menge sehr verschiedenartiger Ele-
mente, Muskel-, Nerven-, Drüsenzellen usw. entstand, die sich
in die verschiedenen Funktionen des Somas teilten. Diese Arbeits-
teilung erfolgte also in der Stammesgeschichte nicht an den ent-
wickelten Organismen und wiurde von diesen aus durch die Keim-
zellen den Nachkommen übergeben, sondern umgekehrt: sie war
zuerst im Keimplasma vorgebildet, bedingt diurch gewisse Ver-
änderimgen desselben, und wurde auf Grund der Kontinuität des
Keimplasmas weiter vererbt. So entstanden die vielzelligen Or-
ganismen, und so konnten sie sich im Laufe der Generationen auch
allmählich verändern, immer auf der Grundlage primärer Keimes-
variationen. Damit ist auf die zweite der oben gestellten Fragen
eine wenigstens vorläufige Antwort gegeben; eine genauere Er-
örterung des Zustandekommens solcher primärer Keimes-
Gaupp, Biographie WeJsmanns. 6
— 82 —
Variation brachte erst sehr viel später, 1895, die Lehre von der
Germinalselektion. Daß aber auf der Grundlage primärer Keimes-
variationen zweckmäßige Gestaltungen zustande kamen, Or-
ganismen, die in der mannigfaltigsten Weise den äußeren Bedin-
gungen angepaßt sind, das beruht auf der Zuchtwahl im Kampf
ums Dasein. Durch sie wurden die jeweiligen unzweckmäßigen
Varietäten ausgemerzt, aus dem Stammbaum der Art entfernt,
die zweckmäßigen erhalten.
Das sind wohl die wesentlichsten Grundgedanken der Weis-
mann sehen Vorstellung.
3. Die Vererbung erworbener Eigenschaften.
Das Problem.
Unter den weiteren Fragen, die sich an diese Vorstellung an-
schließen, steht im Vordergrunde die nach den Beziehungen zwischen
den Körperzellen und den Keimzellen, insbesondere die, ob Ver-
änderungen des Keimplasmas durch Einwirkung der Körperzellen
hervorgerufen werden können, und vor allem, ob Veränderungen
der Körperzellen, des Soma, sich so den Keimzellen mitteilen können,
daß an den Nachkommen entsprechende Veränderungen auf-
treten. Es ist kurz gesagt, die Frage, die gewöhnlich, wenn auch
nicht zweckmäßig, als die nach der Möglichkeit einer Vererbung
erworbener Eigenschaften bezeichnet wird. Daß Weismann
diese Möglichkeit überhaupt verneint, ist heutzutage wohl jedem
bekannt, der überhaupt Weismanns Namen kennt. Und man mag
über die Richtigkeit seines Standpunktes denken wie man wolle,
— das Verdienst zum mindesten wird ihm wohl niemand abstreiten,
daß erst durch ihn die ganze Frage dem Bereiche einer mehr laien-
haften Behandlung entzogen und wirkhch wissenschaftlicher Analyse
zugeführt worden ist.
Als Weismann an die Behandlung der Frage herantrat,
wurde dieselbe — das Lamarcksche Prinzip, wie gewöhnlich ge-
sagt zu werden pflegt — sehr allgemein bejaht. Es ist aber klar,
daß, wenn sie wirklich durch Beobachtungen einwandfrei bewiesen
wäre, das ganze Vererbungsproblem bei den Vielzelligen erheblich
schwieriger und rätselhafter würde. Denn dann müßte wohl ein
dauerndes geheimnisvolles Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem
- 83 -
Soma und den in seiner Hut befindlichen, in ihm eingeschlossenen
Keimzellen angenommen werden. Darwin, der das Prinzip des
Lamarekismus für die Umbildung der Arten nicht entbehren zu
können glaubte, hatte in seiner schon besprochenen Pangenesis-
theorie gezeigt, wie man sich rein formal jenes Abhängigkeits-
verhältnis denken könne; wenn die Keimzellen erst intra vitam
gebildet und mit Keimchen von allen Körperzellen beladen werden,
so werden die Zellen, die sie später mit Hilfe dieser Keimchen pro-
duzieren, auch die Einzelheiten der Zellen zeigen, von denen die
Keimchen stammten. Das war wenigstens, mit Hilfe sonst geläufiger
biologischer Vorstellungen, einigermaßen verständlich. Für Weis-
mann aber, für den es feststand, daß die Keimzellen der viel-
zelligen Organismen nicht erst während des Lebens des Individuums
sich bilden und mit all den Kräften ausgestattet werden, die sie
zur Hervorbringung des neuen Geschöpfes befähigen, — daß sie
vielmehr in gerader Linie von der befruchteten Eizelle, aus der
das Individuum selbst hervorgegangen war, abstammten, mußten
sich aus der Vererbung erworbener Eigenschaften, falls sie wirk-
lich vorkam, recht beträchtliche Schwierigkeiten ergeben. Denn
um sie verständlich zu machen, bedurfte es nicht nur eines dauernden
Zusammenhanges zwischen Körper- und Keimzellen, der ja schließ-
lich in Blutgefäßen, Nerven und Protoplasmabrücken zwischen den
Zellen gegeben ist, sondern, was viel wichtiger und viel schwieriger
vorstellbar ist, auf dem Wege dieser Bahnen müßte es erreicht
werden, daß irgendwelche Veränderungen des Körpers sich so dem
Keimplasma mitteilten, imd dieses so veränderten, daß später,
bei der Entwicklung, am Körper des neuen Geschöpfes genau an
der gleichen Stelle genau die gleiche Veränderung auftritt. Das
ist der springende Punkt des ganzen Problemes. Weismann hat
diurchaus nicht, wie manchmal oberflächlich behauptet wird, jede
Beeinflußbarkeit des Keimplasmas durch den Körper bestritten,
diese Möglichkeit sogar schon in dem Aufsatz über Vererbung
(1883) ausdrücklich zugegeben und erörtert; nur die Möglichkeit
einer Beeinflußbarkeit in der erwähnten ganz spezifischen Weise
hat er abgelehnt. Welche große Schwierigkeiten eine solche An-
nahme in der Tat bietet, und wie viele komplizierte Vorgänge
dabei anzunehmen waren, hat tmlängst (1911) W. Roux aufs ein-
gehendste auseinandergesetzt^'). So gelangte denn Weismann
- 84 -
zunächst theoretisch dazu, das Bestehen einer „Vererbimg er-
worbener Eigenschaften" anzuzweifeln, und eine Prüfung des Tat-
sachenbestandes führte ihn dann auch zu einer entschiedenen Ab-
lehnimg der ganzen Annahme und zu der Überzeugung, daß die
konkreten Fälle, in denen man die Vererbung einer erworbenen
Eigenschaft festgestellt zu haben glaubte, tmgenügend und kritiklos
beobachtet waren, und daß ferner die Einrichtungen der Organismen,
die man nach dem Prinzip des Lamarekismus als erblich gewordene
direkte Wirkungen der äußeren Einflüsse und der Funktion zu
erklären geneigt war, auf Grund anderer Faktoren erklärt werden
müssen. Als solchen anderen Faktor sprach er zimächst und durch
eine Reihe von Jahren ausschließlich die indirekte Wirkung der
Lebensbedingungen, vermittelt durch Ausleseprozesse, an; später,
von 1895 ab, gesellte er dieser als zweiten Faktor eine selbständige
innere Gestaltungskraft, die Germinalselektion, zur Ergänzung
und Unterstützung hinzu.
Wir wenden uns zunächst der Betrachtung der empirischen
Tatsachen und ihrer Auffassung durch Weismann zu; die rein
theoretischen Erörterungen werden im Anschluß an die Deter-
minantentheorie zu besprechen sein.
Somatogene und blastogene Eigenschaften.
Vor allem war es nötig, den Begriff ,, erworbene Eigenschaft"
genauer zu definieren. Die Diskussion, die sich im Anschluß an
Weismanns Arbeiten erhob, zeigte nämlich sehr bald, daß dieser
Begriff auch bei Fachleuten durchaus nicht klar war. Weismann
hat daher (1888) die Begriffe ,, somatogene" und ,, blastogene"
Eigenschaften geprägt und damit außerordentlich zur Klärung der
Frage beigetragen . Somatogene, im eigentlichen Sinne erworbene
Eigenschaften sind solche, die nicht als Anlagen schon im Keime
vorhanden sind, sondern erst durch besondere Einwirkungen, die
den Körper oder einzelne Teile desselben treffen, als Reaktionen
der letzteren auf die äußeren Einwirkungen entstehen; blastogene
Eigenschaften sind solche, die ihre alleinige Wurzel in den Keimes-
anlagen haben. Auch diese Eigenschaften können bei einem In-
dividuum neu auftreten; eine ,,neu auftretende" Eigenschaft ist
nicht dasselbe wie eine erworbene. Ebenso ist es keine Vererbung
erworbener Eigenschaften, wenn durch Infektion des Keimes eine
- 85 -
Krankheit von dem Elternorganismus auf den kindlichen Organismus
übertragen wird, wie die Pebrine der Seidenraupe, oder wenn auf
Grund gleicher schwächlicher Anlage, gleicher abnormer Disposition,
das Kind wie der Vater an Tuberkulose erkrankt. Hier ist es die
gleiche Disposition, die vererbt wurde, und diese beruht auf der
Keimesbeschaffenheit. Als solche aber ist sie erblich.
Von einer wirklichen ,, Vererbung einer erworbenen Eigen-
schaft" kann nach Weismanns Auffassimg nur gesprochen werden,
wenn eine Eigenschaft zunächst als somatogene bei einem In-
dividuum auftritt und dann erst sekundär, ohne daß die Ursache,
durch die sie hervorgerufen wurde, von sich aus auf den Keim
wirken konnte, rein vom Soma aus auf den Keim übertragen wird
und in diesem eine adäquate Veränderung hervorruft. Dieser
hypothetische Vorgang wird neuerdings (von Detto) als soma-
tische Induktion bezeichnet.
Angebliche Vererbung von Verletzungen und Verstümme-
lungen.
Unter den wirklich erworbenen somatogenen Eigenschaften,
für die eine Vererbbarkeit vielfach behauptet worden ist, büden eine
erste Gruppe die Verletzungen und Verstümmelungen. Die
hornlos geborenen Kälber, deren Hornlosigkeit damit erklärt wurde,
daß ihr Vater oder ihre Mutter ihr Hörn durch einen Unglücksfall
verloren hatten, — die schwanzlosen Kätzchen und Hündchen,
deren Schwanzlosigkeit daher rühren sollte, daß einem der Eiter-
tiere der Schwanz kupiert worden war, spielten seinerzeit selbst
in der wissenschaftlichen Literatur eine Rolle. Weismann hat
mit ihnen gründlich aufgeräumt und überzeugend gezeigt, wie
wenig diese und ähnliche Erzählungen Beweiskraft zugunsten einer
Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften beanspruchen können.
Viele Fälle können wegen der ganz ungenauen Angaben von vorn-
herein gar nicht weiter in Frage kommen, andere erklären sich auf
andere sehr einfache Weise. Namentlich bezüglich der schwanzlosen
oder richtiger stummelschwänzigen Kätzchen konnte Weismann
darauf hinweisen, daß angeborene Stummelschwänzigkeit bei Katzen
schon lange als gar nicht seltenes Vorkommnis beobachtet wird,
und daß z. B. auf der Insel Man, aber auch in Japan, schwanzlose
Rassen von Katzen zu Hause sind und gezüchtet werden. Sollte
— 86 —
also der Schluß, daß die Stummelschwänzigkeit eines Kätzchens
mit der künstlichen Schwanzverstümmeliing der Mutter in ur-
sächlichem Zusammenhang stehe, berechtigt sein, so müßte zu-
nächst ausgeschlossen werden, daß einer der beiden Katzeneltern
oder einer der früheren Aszendenten die Stummelschwänzigkeit als
angeborene Eigentümlichkeit besaß. Das aber war in keinem der
beschriebenen Fälle beobachtet und geprüft worden. Die Schwanz-
wirbelsäule der Katzen und Hunde ist überhaupt, wie genauere
Untersuchungen gezeigt haben, ein Körperteil, der eine große
Neigung zum Rudimentärwerden zeigt, und die spontan auftretenden
Stummelschwänze sind als verkrüppelte, nicht aber als verkürzte
Schwänze aufzufassen. Daß diese Überlegung durchaus begründet
ist, lehren die Erfahrungen an anderen Tieren. So wird bei einer
bestimmten Schaf rasse schon seit mehr als loo Jahren der Schwanz
aus bestimmten Gründen gestutzt, aber trotzdem ist noch niemals
die Geburt eines schwanzlosen oder stummelschwänzigen Schafes
in dieser Rasse beobachtet worden. Das wiegt um so schwerer,
als bei anderen Schaf rassen Fehlen des Schwanzes einen Rassen-
charakter bildet.
Ähnlich steht die Sache mit einem Beispiel aus der mensch-
lichen Anatomie: der kleinen Zehe. Die kleine Zehe des Menschen
ist in Rückbildung begriffen ; diese Rückbildung ist aber nicht etwa
als erbliche Wirkung des Schuhdruckes aufzufassen, denn sie findet
sich auch bei barfuß gehenden Völkern.
Andererseits hat sich von den mancherlei Verstümmelungen,
die von vielen Völkern schon seit langer Zeit absichtlich geübt
werden, der Beschneidung, der Durchbohrung von Lippen, Nase,
Ohren, dem Ausschlagen der Zähne usw. noch niemals eine erb-
liche Wirkung sicher feststellen lassen.
Endlich haben auch zielbewußt angestellte Versuche keine
Beweise für die Vererbbarkeit von Verstümmelungen ergeben.
Weismann selbst hat bei Mäusen, bei denen natürliche Stummel-
schwänzigkeit nicht vorkommt, durch 22 Generationen hindiurch
immer wieder die Schwänze kupiert, aber bei den 1592 Jungen,
die von entschwänzten Eltern geboren wurden, niemals einen De-
fekt des Schwanzes beobachten können. —
So darf wenigstens diese Frage als geklärt, und die Vererb-
barkeit von Verletzungen und Verstümmelungen in das Reich der
- 87 -
Fabel verwiesen werden. Wie allgemein das jetzt anerkannt ist,
geht daraus hervor, daß heutzutage gelegentlich die Meinung ge-
äußert wird, es sei unbegreiflich, wie Weismann auf eine so selbst-
verständliche Sache so viel Zeit und Kraft habe verwenden können.
Ein Blick in die Literatiu: zeigt, daß die Frage durchaus nicht so
selbstverständlich war; und wenn sie heute so bezeichnet werden
kann, ist das eben das Verdienst Weismanns.
Angebliche Vererbung von funktionellen Abänderungen.
Eine zweite Gruppe erworbener Eigenschaften, für die eine
Vererbbarkeit behauptet worden ist, bilden die funktionellen
Veränderungen, die Wirkungen des Gebrauches und des Nicht-
gebrauches. Sie sind es, die in der Entwicklungslehre Lamarcks
eine so große Rolle spielen. Das ist auch verständlich genug. Daß
die Muskeln durch Turnen gekräftigt werden, das Gedächtnis diu^ch
Übung gestärkt wird, Fähigkeiten der verschiedensten Art durch
Übung ausgebildet und gesteigert werden können, ist eine alltäg-
liche Erfahrung, ebenso wie die andere, daß manchmal durch Gene-
rationen hindiu^ch gewisse Talente und Fähigkeiten vererbt werden.
Was liegt da näher, als die Annahme, daß die innigen Anpassungen,
die die Organe an ihre Funktion, und die Organismen an ihre Lebens-
bedingungen zeigen, dadurch zu erklären seien, daß die Übungs-
resultate, die in einer Generation erreicht werden, der nachfolgenden
zugute kommen, daß eine Fertigkeit, die der Vater sich während
seines Lebens erwirbt, eine entsprechende günstige Ausstattung des
Sohnes bedingt ? Vielleicht noch zwingender erscheint es, das
Rudimentärwerden nutzloser und daher nicht mehr gebrauchter
Organe als erbliche Folge des Nichtgebrauches, als erbliche In-
aktivitätsatrophie aufzufassen. Wenn die Augen von Höhlentieren
verkümmert gefunden werden, so drängt sich gewiß der Schluß
auf, daß diese Verkümmerung bei den Individuen intra vitam als
unmittelbare Folge des Nichtgebrauches auftrat und, nachdem sie
sich durch Generationen immer wiederholt hatte, allmählich zu
einer erblichen Eigenschaft der Art wurde.
Aber so nahe auch diese Überlegungen liegen, so läßt sich,
nach Weismanns Auffassung, doch kein Fall nachweisen, in dem
sie wirklich zwingend wären. Nach Weismann bleiben alle die
Wirkungen des Gebrauches und des Nichtgebrauches auf das In-
— 88 —
dividuum beschränkt, und die Fälle, in denen sie scheinbar auf
die Nachkommen übertragen werden, müssen auf andere Weise
erklärt werden: durch Naturzüchtung (Personalselektion, in Ver-
bindung mit Germinalselektion) . Das gilt sowohl für die allmähliche
stammesgeschichtliche Steigerung der Ausbildung und Leistungs-
fähigkeit eines viel gebrauchten Organes, wie für die allmähliche
Rückbildung eines solchen, das nutzlos geworden ist und daher
nicht mehr gebraucht wird. Wir werden später, bei Besprechung
der Personalselektion und der Germinalselektion, genauer zu be-
sprechen haben, welche Vorgänge Weismann dabei als wirksam
annimmt.
Harmonische Anpassung (Koadaptation).
Die Auffassung von der Nichtvererbung funktioneller An-
passung ist unter allen Lehren Weismanns die, die den bestimm-
testen Widerspruch hervorgerufen hat, am schärfsten und nach-
haltigsten bekämpft worden ist. Namentlich war es der englische
Philosoph Herbert Spencer, mit dem Weismann deswegen in
eine lebhafte Fehde geriet. Unter den Einwürfen, durch die Spencer
die Annahme einer Vererbung funktioneller Abänderungen als
notwendig beweisen wollte, spielt wohl die Hauptrolle der Hin-
weis auf die Korrelationen, die zwischen den einzelnen Teilen des
Organismus bestehen, und die vielfach so eng und unmittelbar sind,
daß eine Abänderung an einem derselben notwendigerweise eine
solche an anderen im Gefolge haben muß. Dies ist besonders immer
da der Fall, wo mehrere an sich verschiedenartige Teile doch auf
gemeinsames Funktionieren angewiesen sind und daher immer in
einem bestimmten Verhältnis zu einander stehen müssen. Sehr
leicht ist diese harmonische Anpassung oder Koadaptation
erkennbar in dem von Spencer angeführten Beispiel des eiszeit-
lichen Riesenhirsches der irischen Torfmoore mit seinem riesigen
Geweih. Ein solches hätte sich gar nicht für sich allein ausbilden
können, sondern erforderte zugleich eine Zunahme der Dicke imd
Festigkeit der Schädeldecke, eine Verstärkung des Nackenbandes
sowie der Hals- und Rückenmuskulatur imd der Wirbeldornfort-
sätze, von denen die Muskeln entspringen, ferner der zugehörigen
Nerven imd Gefäße, der vorderen Extremitäten, ja, der ganzen
Vorderhälfte des Tieres. Ohne diese begleitenden Veränderungen
- 89 -
hätte das riesige Geweih für das Tier nicht nur keinen Wert, sondern
es könnte ihm geradezu verderbhch werden. TatsächUch waren
denn auch die genannten Veränderungen, soweit sich das aus dem
Skelett entnehmen läßt, beim Torfhirsch wirklich ausgebildet.
Vom Standpunkt des Lamarekismus aus läßt sich das alles
sehr einfach erklären: jene Veränderungen erscheinen dann als un-
mittelbare vererbte Folgen des stärkeren Gebrauches, als sekundäre
Folge der Vergrößerung des Geweihes. Dagegen ist es in der Tat,
wie H. Spencer betont, recht schwierig, sie ohne das Lamarcksche
Prinzip, etwa durch Züchtungsprozesse, zu erklären. Denn die
Grundlage für diese bilden die kleinen individuellen Abweichungen,
die die Individuen einer Art zeigen, und es müßten somit in jenen
Fällen ,, harmonischer Anpassung" gleichzeitig an allen den ge-
nannten Teilen die entsprechenden Veränderungen, unabhängig
voneinander, aufgetreten und durch Naturzüchtung erhalten und
gesteigert worden sein. So viele Züchtimgsprozesse zugleich
seien aber nicht vorstellbar, und andererseits: wenn die Verände-
rungen nicht gleichzeitig erfolgten, so nützte die Abänderung des
einzelnen Teiles nichts.
Anpassungen der Ameisenneutra.
Diesen in der Tat sehr bestechenden Gedankengängen gegen-
über konnte Weismann auf ein Beispiel hinweisen, in dem eine
solche harmonische Anpassung verschiedener Organe schlechter-
dings nicht auf dem Wege der Vererbung funktioneller Abände-
rungen entstanden sein kann, da sie sich bei Formen herausgebildet
hat, die steril sind, die also gar nichts auf Nachkommen vererben
können.
Der Fall, der von Weismann wiederholt behandelt worden
ist, betrifft die Neutra oder Arbeiterinnen der staatenbildenden
Insekten, vor allem der Ameisen und Termiten. Die Fortpflanzimgs-
organe derselben bleiben klein und sind in vielen Fällen geradezu
verkümmert zu nennen; eine Fortpflanzung kommt höchstens noch
ausnahmsweise vor, Sie sind somit außerstande, irgend eine Be-
sonderheit ihres Baues auf Nachkommen zu übertragen, und eine
Vererbung funktioneller Erwerbungen kommt bei ihnen nicht in
Betracht. Trotzdem aber weichen sie von ihren Eltern, den Männ-
chen tmd Weibchen, in einer ganzen Anzahl von Merkmalen in sehr
— QO —
charakteristischer Weise ab, und diese Abweichungen erscheinen als
Anpassungen an ihre besonderen Aufgaben, stehen untereinander
in harmonischem Zusammenhang und machen somit ganz wie die
vorhin erwähnten des Torfhirsches den Eindruck, als ob sie unter
dem Einfluß des Gebrauches und des Nichtgebrauches, unter Ver-
erbung der Wirkungen beider, entstanden seien.
Phyletisch sind die Arbeiterinnen durch Umgestaltungen
fruchtbarer Weibchen entstanden ; die Umbildungen aber sind ihrer
Art nach teils Rückbildungen, teils Vorwärtsbildungen.
Rückgebildet sind, bei den einzelnen Arten in verschiedenem Grade,
die Geschlechtsorgane, und damit hängt eben ihre Sterilität zu-
sammen, rückgebildet sind aber auch die Augen und Flügel, und
in Zusammenhang mit den letzteren die beiden Abschnitte des
Thorax, an denen sonst die Flügel sitzen, dazu die Muskeln der
Flügel. Das steht in inniger Beziehung zu den Aufgaben der Tiere
innerhalb des Ameisenstaates: der Aufzucht der Blattläuse, Herbei-
schaffung der Nahrung, Sorge für die Puppen u. a. Durch diese
Aufgabe werden die Tiere genötigt, am Boden und auch viel im
Dunkeln zu leben und zu arbeiten, — wodurch die Flügel und die
Augen überflüssig werden. Auf der anderen Seite werden durch
dieselben Aufgaben größere Intelligenz und vielseitigere Instinkte
von ihnen verlangt, und damit steht die stärkere Entwicklung des
Gehirnes in Zusammenhang. Bei gewissen Arten ist dann noch eine
besondere Kaste der Arbeiterinnen als Soldaten ausgebildet imd
mit der Verteidigung der Kolonie betraut, und diese sind aus-
gezeichnet durch ganz besonders kräftige Kiefer, mächtige Kiefer-
muskeln und einen dementsprechend riesigen Kopf. Sie zeigen
also ganz ähnliche harmonische Abänderungen, wie wir sie beim
Torfhirsch fanden, nur in geringeren absoluten Massen.
Alle diese Veränderungen müssen sich im Laufe der phyletischen
Entwicklung bis zu dem jetzigen Grade der Vollkommenheit all-
mählich ausgebildet haben, in engster Beziehung zu den Aufgaben
der Arbeiterinnen im Ameisenstaat. Und doch kann die unmittel-
bare Wirkung der Funktion als umwandelnder Faktor hier nicht
in Frage kommen, da diese Wirkungen bei der Sterilität der Tiere
gar nicht übertragbar waren. Die Arbeiterinnen pflanzen sich nicht
selbst fort, sondern werden von Männchen und Weibchen der Ameisen
immer neu erzeugt. Das Prinzip des Lamarekismus versagt also
— QI —
hier durchaus. Das ist ganz besonders von Wichtigkeit im Hin-
blick auf die harmonische Anpassung, aller zum Kieferapparat
gehörigen Teile bei den Soldaten: wir sehen, es kann eine solche
harmonische Anpassung sehr verschiedenartiger Teile auch erfolgen
ohne eine Vererbung funktioneller Abänderungen. Was aber bei
den Ameisen möglich war, mußte wohl bei dem Torfhirsch auch
möglich gewesen sein. Auf welchem Wege, — das ist dann freilich
eine neue Frage. Solange Weis mann nur mit der Alternative
,, Lamarekismus oder Selektion" rechnete, konnte auch hier nur
die letztere für ihn in Betracht kommen ; die Bedenken an der aus-
reichenden Leistungsfähigkeit dieses Prinzipes ließen ihn dann
später noch die Germinalselektion zu Hilfe nehmen. Darauf wird
später zurückzukommen sein.
Man mag wie immer über die Selektionstheorie denken, —
an einem kann wohl nicht gezweifelt werden: daß durch die weit-
gehenden Anpassungen, die die Arbeiterinnen der Ameisen trotz
ihrer Sterilität zeigen, das Prinzip des Lamarekismus einen sehr
schweren Stoß erleidet. Der daraus notwendig zu ziehende Schluß,
daß weitgehende harmonische Veränderungen einer ganzen Anzahl
von Teilen im Laufe der Stammesgeschichte erfolgen können, ohne
daß dabei die Vererbung der Gebrauchswirkungen mitspielte, also
ohne daß die Organismen selbst dabei mithalfen, indem sie durch
Annahme und Ausübung neuer Gewohnheiten die morphologischen
Veränderungen einleiteten und weiterhin steigerten, dieser Schluß
muß für alle vergleichend-anatomischen Spekulationen von der
allergrößten Bedeutung sein. Wer sich nicht damit begnügen will,
die Skeletteile oder irgend welche sonstigen anatomischen Einrich-
tungen verschiedener Formen rein morphologisch zu vergleichen,
wer sich vielmehr bewußt bleibt, daß die Umwandlungen der Formen
und die damit so vielfach verbundenen Änderungen in der Funktion
einzelner Teile sich nicht an trockenen Sammlungsskeletten oder
,, Spirituskonserven", wie Max Weber einmal sagt, abgespielt
haben, sondern an lebenden Wesen, und daß alle Einrichtungen
zu jeder Zeit gebrauchsfähig sein mußten, der wird freilich oft genug
glauben, ohne das Prinzip des Lamarekismus nicht auskommen
zu können. Um an eins der größten Probleme aus der Wirbeltier-
morphologie, vielleicht das größte, schwerste und bedeutungsvollste
zu erinnern: die Überführung von Teilen des Kieferapparates der
— 92 —
NichtSäuger in den Dienst des Gehörorganes (als Hammer und Am-
boß) und die damit verbundene Ausbildung des neuen Kiefergelenkes
bei den Säugern — welch eine Menge verschiedenartiger Verände-
rungen, die doch alle ineinander greifen, zu jeder Zeit ein harmo-
nisches leistungsfähiges Ganzes bilden müssen, wird dabei voraus-
gesetzt! Um sie sich verständlicher zu machen, kann man kaum
anders, als die lange Reihe von Generationen sich gewissermaßen
nur als ein einziges Individuum, aber mit unendlich verlängerter
Lebensdauer und stets gleichbleibender jugendlicher Anpassimgs-
fähigkeit zu denken und sich an diesem die morphologischen Um-
wandlungen in stetem Zusammenhang mit der Funktion, als Folge
der sich ändernden Gewohnheiten vorzustellen. Nach Lamarck-
scher Vorstellung wäre die Vererbung somatogener Veränderungen
das wundertätige Bindemittel, das eine lange Kette auseinander
hervorgehender Einzelindividuen zu einem großen Stammesindi-
viduum vereinigte; in dem Beispiel der sterilen Ameisenarbeiter-
innen aber fällt dieses Bindemittel fort und damit die Möglichkeit,
jenes Bild auch nur als Bild beizubehalten.
Anpassungen der bloß „passiv wirksamen" Teile
und Merkmale.
Außer den Anpassungen der Ameisenneutra gibt es, wie Weis-
mann wiederholt hervorgehoben hat, noch eine zweite Gruppe von
Erscheinungen, die den Glauben an eine Vererbung funktioneller
Abänderungen zu erschüttern geeignet sind oder doch jedenfalls
zeigen, daß eine solche Annahme nicht nötig ist, um die stammes-
geschichtliche Verbesserung oder Verschlechterung eines Teiles zu
erklären: die große Menge der Einrichtungen und Merkmale, die
nur durch ihre bloße Anwesenheit, ihr Dasein wirken, dem
stärkenden Einfluß des Gebrauches und dem schwächenden des
Nichtgebrauches aber entzogen sind. Weismann faßt sie als
passiv wirkende zusammen und rechnet zu ihnen: die Färbungen
der Tiere, die Chitinskelette der Gliedertiere, die mannigfaltigen
Schutzvorrichtungen bei Pflanzen, wie Dornen, Borsten, Haare,
Schalen der Nüsse, ferner die Flug Vorrichtungen der Samen und
vieles andere. Man sieht, es sind recht verschiedenartige Dinge,
deren Wirkimgsart demnach auch sehr verschieden sein wird. Ihre
Zusammenfassung als ,, passiv wirkende" Teile ist sondt mehr ein
— 93 —
Notbehelf und nicht ein besonders glücklicher, da die Bezeichnung
„passiv funktionierende" Gewebe und Organe von Roux bereits
für etwas ganz Bestimmtes, nämlich für die Gewebe der Stütz-
substanzgruppe und die aus ihnen gebildeten Organe gebraucht
wird. Etwas besser wäre schon „passiv wirksam". Für einige
der genannten Einrichtungen liegt die Richtigkeit der Weismann-
schen Überlegungen wohl klar zutage. So für Färbungen: eine
Schutzfärbung z. B. wird nicht besser dadurch, daß sie häufig
ihre Aufgabe, das Tier zu verbergen, erfüllt. Das gleiche würde
übrigens auch für manche Formbesonderheiten gelten, diurch die
Ähnlichkeiten irgendwelcher Art geschaffen oder verstärkt werden,
wie bei den Blattheuschrecken. Hier handelt es sich um Merkmale,
die tatsächlich nur eine ,,Daseins"-Wirkung haben, selbst aber
diurchaus vmtätig und jedem Einfluß des Gebrauches entzogen sind.
Man könnte sie vielleicht untätige oder apraktische Merkmale
nennen (selbständige ,,Teüe" sind es gar nicht) 2°). Ihre stammes-
geschichtliche Ausbildung zu hoher Vollkommenheit kann nicht
als erbliche Wirkung der Funktion erklärt werden, da eine eigent-
liche „Fimktion" gar nicht ausgeübt wird. Hier muß also eine andere
Kraft die Ursache der hohen Ausbildung gewesen sein: nach Weis-
mann die Naturzüchtung, die die zufällig aufgetretenen und als
nützlich bewährten Variationen auswählte und steigerte.
Am nächsten stehen ihnen die verschiedenen passiven Schutz-
vorrichtungen, die aus irgend einem festen Material gebildet sind,
so die Dornen und Stacheln der Pflanzen und ähnliches. Sehr
drastisch bemerkt Weismann: ,,Eine mit Dornen über und über
bewaffnete Akazie kommt selten in den Fall, ihre Waffen überhaupt
nur einmal anzuwenden, und wenn einmal irgend ein hungriger
Wiederkäuer sich an den Dornen sticht, so sind es doch immer
nur wenige der Dornen, die ,geübt' werden, die] übrigen bleiben
unberührt." Für die Flugvorrichtungen der Samen gilt gleiches.
Bei den Chitinskeletten der Arthropoden, auf die Weis mann
auch großen Wert in diesem Zusammenhange legt, würde dagegen
wohl genauer zu unterscheiden sein, zu welchem Zweck die Chitin-
teile Verwendung finden. Weismanns allgemeine Überlegtmg
geht dahin : Die Chitinteile werden als weiche Massen von der unter
ihnen gelegenen Hypodermis abgeschieden, treten aber erst in Ge-
brauch, wenn sie an der Luft vollkommen erhärtet sind. Alsdann
— 94 —
aber sind sie unveränderlich, nicht mehr plastisch; sie können weder
durch Muskelzug, noch sonstwie durch den Gebrauch weiter ver-
dickt, sondern höchstens abgerieben, verdünnt oder gar verstümmelt
werden. Soll etwas Neues an ihnen auftreten, so wird es bei der
nächsten Häutung von der unterliegenden Hypodermis produziert;
es entsteht vor dem Abwerfen der alten Chitinhaut, unter dem
Schutze derselben, und tritt erst in Gebrauch, nachdem es fertig
gebildet ist. So sei es auch in der Stammesgeschichte gewesen:
nicht durch allmähliche Umwandlung während des Gebrauches,
sondern durch plötzliche geringfügige Modifiziertmg vor dem Ge-
brauch haben sich die Teile des Chitinskelettes entwickelt. Von
dieser allgemeinen Erwägung aus erfahren dann die Besonderheiten
derselben ihre Deutung: sie sind nicht auf die Funktion, sondern
auf Selektionsprozesse zurückzuführen. Dies gilt zunächst für die
verschiedene Dicke an den einzelnen Körperteilen. Nirgends am
ganzen Körper des Gliedertieres kann die Anpassung des Skelettes
in bezug auf Dicke und Widerstandskraft durch die Funktion selbst
geregelt worden sein, sondern überall erfolgt das ,,nur durch Se-
lektionsprozesse, die jeder Stelle desselben die Dicke zusprachen,
die sie braucht, damit der Teil leistungsfähig sei, mag es sich nun
um den Widerstand gegen Muskelzug, oder um Biegsamkeit einer
Gelenkfalte, um Härte zum Zerbeißen der Nahrtmg, oder zum
Bohren in Holz oder Erde handeln, oder etwa um bloßen Schutz gegen
äußere Schädlichkeiten". Dasselbe gilt weiterhin für die mannig-
fachen, zum Teil sehr komplizierten Apparate zum Singen, Schreien,
Reinigen der Fühler u. a., bei denen zudem immer Veränderungen
an zahlreichen Teilen stattfinden mußten, die also sehr schöne
Beispiele von Koadaptation abgeben. Endlich gilt es auch für die
Verkümmerung chitinöser Teile, wenn sie überflüssig, bedeutungs-
los werden. Derartige Verkümmerungen kommen am Hinterleib
solcher Krebse und Insekten vor, die denselben dtuch ein Gehäuse
schützen (bei Einsiedlerkrebsen, die den Hinterleib in Schnecken-
schalen verbergen, bei den Larven der Köcherfliegen, die ihn in
einem aus Pflanzenteilen selbst gefertigten Gehäuse verstecken u. a.).
Nach Weismanns Auffassung kann auch diese Verkümmerung
des Chitinpanzers an den geschützten Körperabschnitten nicht
durch das Prinzip des Lamarekismus, also nicht als erbliche Folge
des Nichtgebrauches erklärt werden, da ja die geringe Inanspruch-
— 95 —
nähme der geschützten Chitinteile gerade umgekehrt, im Sinne
einer Schonung hätte wirken müssen. So bliebe auch hier nur die
Naturzüchtung als Erklärungsprinzip übrig.
Diesen Auffassungen Weismanns ist entgegengehalten
worden, daß unter der abgesonderten Chitinschicht die Hypodermis
liegt, d. h. die Zellschicht, der das Chitin seine Entstehtmg verdankt,
und daß diese Hypodermis auf Reize der verschiedensten Art
reagieren, somit auch auf stärkere funktionelle Beanspruchung mit
verstärkter Chitinproduktion antworten könne. Dieser Einwand
ist gewiß im allgemeinen berechtigt. Indessen muß doch wohl,
wenn es sich um die Frage nach der Vererbbarkeit funktioneller
Verändertmgen handelt, weniger Wert darauf gelegt werden, ob
die Chitinskeletteile oder sonstweiche Hartgebilde sich funktionell
anzupassen imstande sind, als vielmehr darauf, ob auf Grund
ihrer besonderen Verwendung dieses Vermögen auch wirklich so
ausgiebig in Anspruch genommen wird, daß sich dadurch
— die Vererbung der Anpassungen vorausgesetzt — eine stammes-
geschichtliche Verbesserung erklären ließe. Wo es sich um bloße
Schutzteile handelt, dürfte letzteres doch oft sehr schwer sein;
es werden hier vielfach ähnliche Erwägungen Geltung haben, wie
sie Weismann bezüglich der Dornen der Akazie und ihrer funk-
tionellen Beanspruchung äußert. Weismann selbst weist mit
entsprechenden Überlegungen auf die Flügeldecken der Käfer hin,
in denen gar keine Muskeln liegen, und die doch bei vielen Arten
die dicksten tmd härtesten Stellen des ganzen Hautpanzers sind.
,,Der Grund liegt nahe; sie schützen die darunter verborgenen
Flügel und die weiche Haut des Rückens, und an diese setzen
sich die Muskeln an! ein Verhalten, welches nur durch seine
Zweckmäßigkeit, nicht aber durch irgend welche direkte Wir-
kimgen zu erklären ist." Auch die Verkümmerung des Panzers
an dem geschützten Hinterleib der Einsiedlerkrebse tmd Köcher-
fliegenlarven hängt doch wohl mit dem Geschütztsein des Hinter-
leibes, nicht mit dem Fortfall funktioneller Inanspruchnahme des
Panzers zusammen. Der durch den Schutz bedingte Fortfall der
allgemeinen Außenweltsreize, die sonst die Hypodermis treffen,
würde weniger in das Kapitel des Lamarekismus im engeren Sinne,
als in das der direkten Medium Wirkungen gehören 2^).
- 96 -
Instinkte.
Eine Gruppe von Erscheinungen, für die von jeher das Prinzip
des Lamarekismus ganz besonders als durchaus notwendig zur Er-
klärung angesehen wiurde und vielfach auch jetzt noch angesehen
wird, bilden die Instinkte. Gewiß liegt es am nächsten, sie ent-
standen zu denken aus Handlungen, die anfangs zweckbewußt
ausgeführt, dann aber durch fortgesetzte Wiederholung im Laufe
der Generationen und durch Vererbung der Übungsresultate zu
fixierten Mechanismen geworden sind. Aber auch hier konnte Weis-
mann auf Fälle hinweisen, bei denen diese Überlegung versagt:
auf die zahlreichen Instinkte, die überhaupt nur einmal im Leben
zur Ausführung gelangen, bei denen also von erblicher Wirkung der
Übung nicht die Rede sein kann. Hierher gehören der Hochzeits-
flug der Bienenkönigin mit seinen vielen und komplizierten In-
stinkten und Reflexmechanismen, ferner die Eiablage, die sich bei
manchen Insekten unter Ausübung der kompliziertesten Instinkt-
handlungen vollzieht, die Anfertigung von Schutzhüllen bei der
Verpuppung zahlreicher Insekten, wie des höchst kunstvollen Ge-
spinnstes des Nachtpfauenauges u. a. Ist aber bei diesen nur einmal
im Leben ausgeführten Instinkthandlungen die Erklärung durch
Annahme einer Vererbung von Übungsresultaten immöglich, und
ein anderer Mechanismus dafür verantwortlich zu machen, so
liegt kein Grund vor, bei anderen Instinkten etwas anderes voraus-
zusetzen.
Geistige Fähigkeiten, spezifische Talente.
Der Musiksinn.
In diesem Zusammenhang sind dann endlich auch noch die
verschiedenen geistigen Fähigkeiten des Menschen und be-
sonders die spezifischen Talente, für Musik, bildende Künste,
Dichtkunst, Mathematik usw. zu nennen, deren hohe Ausbildung
beim Kulturmenschen sicherlich auch am leichtesten und bequemsten
auf eine Summierung der durch Generationen in jedem Einzel-
leben erlangten Übungsresultate erklärt würden. Wiederholt hat
sich Weismann mit diesen Erscheinungen beschäftigt; namentlich
die Frage nach der Herkunft und Ausbildung des Musiksinnes
mußte ihn, der selbst ein trefflicher Musiker war, ganz besonders
zum Nachdenken anregen. Ihr ist denn auch ein besonderer viel
— 97 —
besprochener Aufsatz vom Jahre 1889 gewidmet, in dem sich ein
feines Musikverständnis, Kenntnis der historischen Entwicklung
der Musik und anderer kultureller Gebiete mit den scharfsinnigen
Erwägungen des kenntnis- und gedankenreichen Naturforschers
vereinen .
Hier, wie in dem Vortrag über die Vererbung, von 1883, der
zum ersten Male die erwähnten Erscheinungen berührt, sieht sich
Weismann zur Erklärimg derselben lediglich auf die Alternative:
,, Lamarekismus oder Personalselektion als Naturzüchtung bzw.
sexuelle Züchtung" angewiesen; eine selbsttätige innere Steigerungs-
kraft, wie er sie später in der Germinalselektion annahm, kam für
ihn damals noch nicht in Frage. Für die allgemeinen geistigen
Fähigkeiten, hohe Intelligenz, Phantasie, Gedankenreichtum, gutes
Gedächtnis, Erfindungsgabe, dazu aber auch Fleiß, Ausdauer,
Selbstvertrauen, Willenskraft .und Tatendrang, läßt sich ja nun
eine Steigerung durch den Kampf ums Dasein im Laufe der Mensch-
heitsgeschichte recht wohl verstehen, dagegen kann das nicht
gelten für die spezifischen Talente. Natiirzüchtung kann sie
nicht gesteigert haben, da von ihrem Vorhandensein weder das
Leben abhängt, noch durch sie die Aussicht auf Fortpflanzung ver-
größert wird. Sexuelle Züchtung aber, durch die Darwin nicht
nur die musikahschen Fähigkeiten der Zikaden und der Vögel,
sondern auch den primitiven Gesang des Urmenschen und die
Steigerung der musikalischen Begabung bei der Menschheit er-
klären wollte, könnte vielleicht in einzelnen Individuen und Familien
eine Verbesserung des Talentes über den Durchschnitt bedingen,
würde aber nicht imstande sein, die ungeheure Steigerung der
Musikanlage zu erklären, die bis heute stattgefunden haben müßte,
wenn wirklich in den ältesten Tagen des Urmenschen zuerst die
Grundlage des Musiksinnes gelegt worden wäre. Praktisch hat
eine Auslese, auf Grund des musikalischen oder sonst eines Talentes,
in größerem Umfange jedenfalls nicht stattgefunden. Im Gegenteil,
gerade unsere größten Musiker haben mit den bittersten Ent-
behrungen gekämpft. So könnte es scheinen, als ob hoch entwickelte
spezifische Talente doch nur als Ergebnis einer durch Generationen
fortgesetzten Übung erklärt werden könnten. Indessen läßt sich
auch hiergegen manches einwenden, so vor allem das gar nicht
seltene scheinbar plötzliche Auftreten einer hohen spezifischen Be-
Oaupp, Biographie Weismanns. 7
gabting in einer Familie, in der die entsprechenden Anlagen zwar
vorhanden gewesen sein mögen, aber jedenfalls nicht durch besondere
Übung gesteigert wurden. Gauß, Händel, Tizian werden von
Weis mann als Beispiele hierfür genannt. So stellt er denn eine
neue Erklärung für die fraglichen Erscheinungen auf. Sie geht
davon aus, daß alle Talente, streng genommen, gar nicht etwas
eigentlich Spezifisches, überhaupt nichts einfaches sind, daß sie
nicht auf einem einheitlichen Besitz, etwa dem eines besonderen
Gehirnteiles, beruhen, sondern auf glücklicher Kombination ver-
schiedener Anlagen, die an sich in jedem Gehirn vorhanden, bei
dem Talent aber besonders und einseitig gesteigert und mit anderen
in glücklicher Weise gemischt sind. Diese Mischung aber ist ztu"ück-
zuführen auf Kreuzung elterlicher Anlagen, entsprechend dem so
oft zitierten Ausspruch, in dem Goethe seine eigene Begabung
in ihre einzelnen Komponenten auflöst und diese als Erbteile seiner
verschiedenen Aszendenten anspricht: ,,Vom Vater hab' ich die
Statur, Des Lebens ernstes Führen, Von Mütterchen die Froh-
natur, Und Lust zu fabulieren" usw. Die häufige Vereinigung
mehrerer Talente in einer Person, das Auftreten verschiedener
Talente in einer Familie (z. B. Mendelssohn, Feuerbach), sowie
das gehäufte Auftreten eines bestimmten Talentes nach der all-
gemeinen Geistesströmung der Zeit, reden dieser Auffassung das
Wort. Alle jene oben genannten geistigen Besitztümer, hohe In-
telligenz, Phantasie usw., für deren Steigerung Naturzüchtung
recht wohl verantwortlich gemacht werden kann, bilden gemeinsam
eine universelle Begabung, die auf verschiedenen Gebieten Bedeuten-
des zu leisten vermöchte. In welcher Richtung und wie weit sie zur
Betätigung kommt, wird vielfach vom Zufall, von den Einflüssen
der Umgebung abhängen; die großartigsten Schöpf imgen aber, die
von großen Talenten hervorgebracht wurden, wären nicht mög-
lich gewesen ohne Hinzukommen noch anderer Umstände: der
äußeren Anregung, Begünstigung und Lenkung durch Erziehung
und Umgebung, der Tradition und der hoch entwickelten fein
fühlenden menschlichen Seele. Für ein Talent wie das musikalische
würde noch etwas Besonderes hinzukommen müssen, was aber,
genau betrachtet, doch im Grunde auch nur ein allgemein mensch-
licher Besitz, wenn auch in hoher Ausbildung, ist: ein hoch ent-
wickeltes Gehörorgan nebst entsprechend ausgebildeten dazu ge
— 99 —
hörigen Gehirnteilen. Der Musiksinn ist nach Weismann ein
Nebenprodukt, eine unbeabsichtigte Nebenleistung des Gehör-
organs, wie es etwa eine Nebenleistung unserer Hand ist, Klavier
zu spielen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Kunstsinn über-
haupt. Den hoch entwickelten Gehörapparat aber haben schon
die Vorfahren des Menschen erworben; im Kampfe ums Dasein
ist er durch Naturzüchtung allmählich zu der Höhe gesteigert
worden, in der er seit den Tagen des Urmenschen gemeinsamer
Besitz aller Menschen ist, wofern nicht wieder ein Absinken, eine
Rückbildung, stattgefunden hat. Das wäre bei Unmusikalischen
anzunehmen. Eine Steigerung dieses schon beim Urmenschen
anzunehmenden Musiksinnes hat im Laufe der Menschheits-
geschichte gar nicht stattgefunden ; die ungeheuere Steigerung seiner
Leistungen aber, von seiner primitiven Betätigung bei den
Naturvölkern an bis zu seinen höchsten Offenbarungen etwa in
H-Moll-Messe und Matthaeuspassion, in Beethovens neuen Sym-
phonien oder Mozarts Opern, hat sich allmählich vollzogen wie der
Fortschritt in der Geschichte der Wissenschaften. Stufe um Stufe
hat sich die Menschheit erklommen, indem eine Generation an die
Errungenschaften der anderen anschloß, kraft der Tradition,
der die Steigerung aller geistigen Errungenschaften zu verdanken
ist. Der neuzeitliche Kulturmensch, der in der Lage ist, sich diese
Tradition zunutze zu machen, und auf den ihre Erzeugnisse an-
regend einwirken, wird dadurch von vornherein auf eine ganz andere
Stute gestellt und zu ganz anderen Leistungen befähigt, als der
Naturmensch oder der Mensch des Altertums. Ein Rückschluß
auf die musikalische Begabung der letzteren ist dadurch aber
nicht ermöglicht. Und auch der Besitz dieser spezifisch musikalischen
Tradition bei hoher musikalischer Veranlagung würde den Australier
oder Neger noch nicht zu den Leistungen eines Beethoven befähigen,
da ihnen die reiche, große Seele dazu fehlen würde, die allgemeine
Höhe des geistigen Lebens, die die Kulturmenschheit erreicht hat.
So wäre also auch gegenüber den hohen geistigen Gaben und
den spezifischen Talenten des Menschen recht wohl ohne die An-
nahme einer Vererbung von Fähigkeiten, die durch Übung er-
worben und gesteigert wurden, auszukommen.
Zu einer ähnlichen Auffassung der Frage nach der ,, spezi-
fischen" Natur des Musiktalentes wie der hier entwickelten hat
— lOO
sich vor nicht langer Zeit einer der bekanntesten modernen Geiger,
Bronislaw Hubermann, bekannt, dagegen ist ihr von einem
der erfolgreichsten Forscher auf dem Gebiete der Vererbimgslehre,
Paul Kammerer, fast in allen Punkten widersprochen worden 2^).
Weismann selbst hat sie, wie schon angedeutet wurde, später
(in den Vorträgen über Deszendenztheorie) nicht mehr ganz un-
verändert beibehalten, sondern nunmehr den Musiksinn doch mehr
als etwas Besonderes hingestellt, was zwar mit dem Gehörapparat
irgendwie in Verbindung steht, aber doch die Annahme besonderer
,, Musikdeterminanten" rechtfertigt, wenn auch nach wie vor daran
festzuhalten ist, daß die Begabung etwa eines Sebastian Bach
oder Beethoven nicht lediglich auf dem hoch entwickelten Musik-
sinn beruht, sondern eine Kombination desselben mit vielen anderen
hoch entwickelten geistigen Gaben zur Voraussetzung hat. Eine
besonders hohe Ausbildung des Musiksinnes führt Weismann
nunmehr auf das Wirken der im Organismus selbst tätigen Kraft
zurück, die er von 1894 an, an Stelle des aufgegebenen Lamarck-
schen Übungsprinzipes, anzunehmen genötigt war: der Germinal-
selektion.
Zusammenfassung.
So gelangt Weis mann also dazu, eine Vererbung funktioneller
Erwerbungen des Individuums auf die Nachkommen abzulehnen.
Außer den theoretischen Schwierigkeiten, die ihm die Annahme
eines solchen Vorganges bereitet, findet er, daß für keine der beob-
achteten Erscheinungen jene Annahme notwendig ist, daß es
dagegen eine ganze Anzahl von Erscheinungen gibt, in denen der
Vorgang, so nahe seine Annahme auf den ersten Blick liegt, doch
mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Die allgemeine
daraus gezogene Schlußfolgerung lautet: wenn überhaupt An-
passungen der verschiedensten und kompliziertesten Art, Vervoll-
kommnungen und Rückbildungen von Teilen im Laufe der Stammes-
geschichte erfolgen konnten, ohne daß Vererbung funktioneller Ab-
änderung dabei im Spiele war, so liegt keine Notwendigkeit vor,
mit letzterem Vorgang, der noch dazu so große theoretische Schwierig-
keiten macht, überhaupt noch zu rechnen.
Es würde hier viel zu weit führen, alle die Einwendimgen auch
nur anzudeuten, die gegen diesen Standpunkt erhoben worden
lOI
sind, oder die Anhänger der gleichen Anschauung wie ihre Gegner
auch nur mit Namen anzuführen. Die Tatsache, daß sich in beiden
Heerlagern führende Forscher finden, zeigt zur Genüge die außer-
ordentliche Schwierigkeit der Frage. An eingehenden vortreff-
lichen Darstellungen derselben ist überdies zur Zeit kein Mangel.
Eins ist sicher: der ungeheuere Einfluß, den Weismanns An-
schauung seit Jahrzehnten ausgeübt hat und noch ausübt. W. Roux
drückte nur die Empfindung vieler aus, als er schrieb: ,,Für den-
jenigen, der sich die Größe des Rätsels der angeblichen Über-
tragung von Veränderungen des Personalteiles auf den Germinal-
teil vorgestellt hat, ist die von Weismann sorgfältig begründete
und neben ihm auch von Owen, Bütschli, Galton, M. Nuß-
baum, Jul. Sachs u. a. angebahnte Theorie von der Kontinuität
des Keimplasma die Erlösung von einem auf unserem Erkenntnis-
vermögen lastenden Alp" 2^).
Vererbung von Veränderungen, die durch das Medium
bedingt sind.
An der Überzeugung, daß Verletzungen und Verstümmelungen,
sowie angebliche und wirkliche funktionelle Abänderungen nicht
vererbt werden, sondern mit dem Individuum vergehen, d. h,
passante Veränderungen darstellen, hat Weismann bis an sein
Lebensende festgehalten. Ganz anders hat er dagegen von vorn-
herein eine Reihe von Erscheinungen betrachtet, die gewöhnlich
auch, wenn auch nicht ganz mit Recht, unter den Begriff des
Lamarekismus untergeordnet werden, und die jedenfalls, im Sinne
der Weis mann sehen Bezeichnungen, den Eindruck einer Ver-
erbung erworbener somatogener Eigenschaften machen: die Erb-
lichkeit von Abänderungen, die als direkte Wirkung von veränderten
äußeren Bedingungen (Medium, Ernährung, Klima) erscheinen,
insbesondere die Vererbung klimatischer Abänderungen. Auf diesem
Gebiet hatten sichWeismanns erste experimentelle Untersuchungen
zur Deszendenztheorie, die Versuche über den Saisondimorphismus
der Schmetterlinge (1875) bewegt: sie hatten ihn zu dem Schlüsse
geführt, daß Abänderungen, die unter dem direkten Einfluß des
Klimas entstanden sind, im Laufe der Generationen erblich werden.
Auch noch 1879, in den Betrachtungen über die Entstehung
zyklischer Fortpflanzungsarten, deutet Weismann die Vererbung
I02
der durch Klimaeinflüsse bedingten Abänderungen in dem Sinne,
daß hier ein Fall vorliege, wo die Abänderung des Tieres selbst
eine sekundäre Abänderung der Keimzelle nach sich ziehe, oder,
mit anderen Worten, wo die Abänderung der Keimzelle ( — die die
Voraussetzung für die Vererbung der Abänderung auf den Nach-
kommen ist — ) durch die Abänderung des Tieres selbst bedingt ist.
Und auch in dem Vortrag über die Vererbimg, von 1883, gesteht
er, für die erblichen klimatischen Variationen der Schmetterlinge
keine andere Erklärung als durch die Annahme einer Vererbung
somatogener Abänderungen finden zu können. Aber die eingehendere
Beschäftigung mit dem Vererbungsproblem ließ ihm einen solchen
Vorgang doch als höchst unwahrscheinlich vorkommen, und neue
Untersuchungen, die er zur Lösung der Frage mit dem kleinen
Feuerfalter (Polyommatus Phlaeas) anstellte, führten ihn denn
auch zu einer anderen Auffassung des Sachverhaltes. Die Dar-
stellung und Erklärung findet sich in dem ,, Keimplasma" (1892)
und im zweiten Bande der ,, Vorträge über Deszendenztheorie",
kurz auch in der Besprechung von Semons ,,Mneme"-Theorie
(1906). Der genannte Falter kommt in zwei verschiedenen Fär-
bungen vor: im hohen Norden und in Deutschland ist er auf der
Oberseite rotgolden, im Süden Europas fast ganz schwarz. Weis-
mann zog nun aus Eiern der Neapler (dunklen) Form Puppen,
die er gleich nach der Verpuppung niederer Temperatur aussetzte,
und erhielt so Schmetterlinge, die weniger schwarz als die Neapler,
wenn auch nicht so rotgolden wie die deutschen war. Umgekehrt
ergaben deutsche Puppen, höherer Wärme ausgesetzt, Falter, die
schwärzer waren als die deutschen, aber freilich nie so dunkel, wie
die dunkelsten südUchen Exemplare. Daraus mußte geschlossen
werden, daß die dunkle Färbung der südlichen Varietät als
direkte Folge der erhöhten Temperatur entstanden ist und sich
im Laufe der Generationen crbhch fixiert hat. So scheint auch hier
in der Tat Vererbung einer erworbenen Eigenschaft vorzuliegen:
man könnte schließen, daß unter dem direkten Einflüsse des Klimas
zuerst die Abänderung am Soma entstand, und daß diese sich dann
sekimdär den Keimzellen auf irgend einem Wege mitteilte, also
durch ,, somatische Induktion", wie man jetzt sagen würde.
Indessen zeigte Weismann, daß auch noch eine andere Deutung
der Versuche denkbar ist, in dem Sinne, wie er es als allgemein
— I03 —
möglich schon früher (1883, in dem Vortrag über Vererbung; 1886
in dem über die sexuelle Fortpflanzung) ausgesprochen hatte*
durch die abnorme Temperatur konnten Körper und Keimzellen
in gleicher Weise verändert worden sein, d. h. es wurden sowohl
die Flügelanlagen beeinflußt, die in der Puppe zur Entwicklung
bereit waren, als auch die, die noch im Keimplasma der Keimzellen
sich in Ruhe befanden. Der gleiche Reiz — die abnorme Temperatur
— verändert diese wie jene in entsprechender Weise, und wenn
nun in der nächsten Generation die gleiche Abänderung wieder
auftritt, ohne daß aufs neue eine gleiche Einwirkung statt-
gefunden hat, so ist es nicht die somatische Abänderung selbst,
die sich vererbt hc t, sondern die ihr entsprechende, durch den-
selben äußeren Einfluß hervorgerufene Abänderung der Anlagen im
Keimplasma. Der gleiche Reiz hat gleichzeitig und in ähnlicher
Weise die entsprechenden Anlagen zweier folgender Generationen
verändert, oder, anders ausgedrückt: er hat gleichzeitig eine Ver-
änderung des Personalteiles und des Germinalteiles hervorgerufen.
Daß diese letztere aber vererbt wird, ist nicht weiter wunderbar.
Dieser Betrachtungsweise haben sich viele Forscher an-
geschlossen; sie ist auch angewendet worden zur Erklärung der
Ergebnisse, die Standfuß, Merifield, E. Fischer durch Ein-
wirkung abnorm niedriger Temperaturen (bis zu — 8*^ C) auf frische
Puppen verschiedener Schmetterlinge erhielten. Die so behandelten
Puppen lieferten Falter, die in bezug auf Färbung und Zeichnung
abnorm waren, und diese ,, Kälteaberrationen" traten vielfach auch
bei den Nachkommen wieder auf, ohne daß die betreffenden Puppen
aufs neue der Kälte ausgesetzt wurden. Auch hier lautet Weis-
manns Erklärung dahin, daß die Kälte gleichzeitig und in ent-
sprechender Weise das bereits in der Entwicklung begriffene Soma
des Schmetterlings wie das in ihm eingeschlossene Keimplasma
verändert habe. Dieser Vorgang der gleichzeitigen korrespondieren-
den Beeinflussung des Soma und der Keimzellen durch die-
selben Faktoren ist neuerdings (von Detto) als ,, Parallel-
induktion" oder auch als Beeinflussung von Soma und Keim-
zellen dxu-ch ,, Simultanreize" (Plate) bezeichnet worden. Die
hypothetischen Prozesse, die dabei im Keimplasma anzunehmen
sind, hat Weismann selbst später genauer behandelt und als
— I04 —
,, induzierte Germinalselektion" bezeichnet. Wir werden auf sie
zurückkommen müssen.
Ob man hier von „Vererbung erworbener Eigenschaften"
reden soll, oder nicht, würde schließlich auf einen Wortstreit heraus-
kommen. Gewiß liegt hier der Fall vor, daß eine Abänderung, die
in der ersten Generation als somatischer Erwerb sich bemerkbar
macht, in der zweiten als Keimbesitz auftritt, aber Weismanns
Deutung zufolge hat eben der Keim diesen Besitz vollständig er-
worben, während der Erwerb des Personal teils mit diesem zu-
grunde gegangen ist. Auch im sozialen Leben würde man einen
Besitz, den der Sohn selbständig erworben hat, nicht als ,, ererbt"
bezeichnen, weil der Vater gleichzeitig einen entsprechenden Er-
werb gemacht hatte. NatürHch läßt sich gegen diese Betrachtungs-
weise auch manches einwenden. Der Fortschritt der Kenntnisse
und Erfahrungen hat eben hier gezeigt, daß die alte Formel ,, Ver-
erbung erworbener Eigenschaften" nicht genügt, um allen — tat-
sächlich beobachteten oder hypothetisch angenommenen — Vor-
kommnissen gerecht zu werden, und macht es notwendig, die Dinge
schärfer und bestimmter zu bezeichnen.
Weismann hat den hier besprochenen Erscheinungen : der Ent-
stehung erblicher Veränderungen unter dem direkten Einfluß der
äußeren Bedingungen, für den Artumwandlungsprozeß keine sehr
große Bedeutung beigemessen; aus welchen Gründen, bleibt später,
bei Erörterung seiner Stellung zur Selektionstheorie, zu betrachten.
Hier ist nur die Tatsache von Wichtigkeit, daß er die MögUchkeit
ihres Vorkommens jedenfalls anerkannt hat.
Ergebnisse. Übertragung derselben auf die Einzelligen.
Somit lehnt also Weismann die Vorstellung ab, daß Eigen-
schaften irgendwelcher Art, die der Organismus an seinem Soma
erwirbt, von diesem aus auf den Keim übertragen werden können
und am Nachkommen wieder zum Vorschein kommen. Das gilt
in gleicher Weise für Verletzungen und Verstümmelungen, wie
für die Wirkungen des Gebrauches und Nichtgebrauches, die Re-
sultate der Übung, mag es sich um solche des Körpers oder des
Geistes ( — Instinkte, geistige Fähigkeiten — ) handeln. Auch die
Wirkungen direkter Einflüsse des Mediums haben für sich nur
die Bedeutung, von passanten Veränderungen, die mit ihrem
— I05 —
Träger zugrunde gehen; der Schein einer Vererbung von solchen
kann aber zustande kommen dadurch, daß ein und derselbe Einfluß
sowohl das Soma als die in ihm eingeschlossenen Keimzellen in
gleicher Weise verändert. Oder, unter Verwendung moderner
Begriffe: erblich sind nur Eigenschaften, die auf Besonderheiten
des Keimplasmas beruhen; eine spezifische Abänderung desselben
auf dem Wege somatischer Induktion ist nicht möglich, wohl
aber kann auf dem Wege von Parallelinduktion das Soma wie
das Keimplasma in gleicher Weise verändert werden.
Diese Auffassungen, in denen der Gegensatz zwischen dem
Soma und der Keimsubstanz ganz besonders scharf zum Ausdruck
kommt, waren zunächst für die vielzelligen Organismen entwickelt
worden, bei denen es sich also um einen Gegensatz von Körper-
und Keimzellen handelt. Dagegen hatte Weismann, wie wir
sahen, für die Einzelligen zunächst ganz allgemein gefolgert, daß
hier Körper und Keim identisch seien, und daß Veränderungen,
die das einzellige Wesen durch die Wirkung der äußeren Bedingungen
erfährt, auf die aus ihm durch Teilung hervorgehenden Tochter-
individuen übertragen werden müssen, da diese ja das Muttertier
geradezu fortsetzen. Diese Auffassung mußte eine Änderung er-
fahren von dem Augenblick an, wo die Kernsubstanz als alleinige
Vererbungssubstanz angesprochen wurde. Denn daraus ergab sich
der Schluß, daß auch schon bei den kernhaltigen Einzelligen ein
Unterschied zu machen sei zwischen dem Zellkörper, der dem ,,Soma"
der Vielzelligen entspricht, und der Kernsubstanz, die dem ,,Keim"
derselben zu vergleichen ist. Dementsprechend ergab sich auch eine
Änderung in der Betrachtung der Vererbungserscheinungen; die
für die Vielzelligen entwickelten Gesichtspunkte mußten mutatis
mutandis auch auf die Einzelligen übertragen werden. Das heißt:
auch für diese ist anzunehmen, daß alle Variationen, welche infolge
äußerer Einflüsse an ihnen auftreten, ,,nur dann auf die Teilspröß-
linge übertragen werden können, wenn sie von korrespondierenden
Abänderungen der Kernsubstanz begleitet sind, oder mit anderen
Worten: wir gewinnen die Überzeugung, daß auch hier eine Ver-
erbung ,,somatogener" Abänderungen im allgemeinen nicht statt-
findet, nämlich eben nur dann, wenn dieselben von entsprechenden
blastogenen Veränderungen begleitet sind" (1891, in dem Aufsatz
über Amphimixis, S. 129). Das muß Geltung haben ebenso für
— io6 —
Verstümmelungen wie für direkte Mediumwirkungen und für Ver-
änderungen, die durch Gebrauch und Nichtgebrauch etwa gesetzt
werden können, und die ja wenigstens bei den höher organisierten
,,Einzenigen" als tatsächlich vorkommend anzunehmen sind. Als
Wesen, bei denen alle Variationen, die einmal entstanden sind,
einerlei aus welcher Ursache, auch vererbt werden, würden dann
nur solche niedersten Organismen anzusprechen '^';in. welche noch
keine Differenzierung in Kern und Zellkörper besitzen.
Die Mnemetheorie von Semen; Weismanns Stellung zu
derselben.
fAn dieser Auffassung hat Weis mann bis an sein Ende fest-
gehalten allen Theorien gegenüber, die die gegenteilige Auffassung,
die Möglichkeit einer direkten Übertragung somatogener Verände-
rungen auf das Keimplasma und damit auf die Nachkommen, ver-
treten. Auch der bedeutungsvollste Versuch, der in aller] üngster
Zeit unternommen worden ist, um den Lamarekismus auf eine neue
wissenschaftliche Grundlage zu stellen, Semons Mnemetheorie, hat
ihn in dieser Stellungnahme nicht beeinflussen können, und in
einem besonderen Aufsatz hat er die Schwächen dieser Theorie
beleuchtet und seine Auffassung ihr gegenüber verteidigt. Es ist
der schon 1870 von Ewald Hering geäußerte Gedanke von dem
Gedächtnis als einer allgemeinen Funktion der organisierten Materie,
an den anknüpfend Semon die Vererbungserscheinungen ver-
ständlich zu machen sucht, — im schärfsten Gegensatz zu der Auf-
fassung Weismanns 2^). Erblickt dieser die Wurzel aller Abände-
rungen in der Keimsubstanz, so sieht Semon sie im Soma. Von
diesem aus, von allen Körperzellen her, gelangen im Laufe des
Lebens Reize — auf dem Wege der Nervenbahnen oder, bei Organismen
ohne Nervensystem, von Zelle zu Zelle fortgeleitet — , zu der Keim-
substanz, bewirken unter günstigen Umständen in diesen Verände-
rungen und füllen sie so mit Erinnerungsbildern, ,, Engrammen",
durch die dann die Reaktionsnormen der Nachkommen verändert
werden können, und zwar in der Richtimg der Veränderungen,
die bei den Eltern jenen Reiz bewirkten. Aber, so wirft Weis-
mann ein, die Nerven sind keine Schienengeleise, auf denen alle
möglichen Reize weitertransportiert und irgendwo abgeladen werden
können, sondern sie sind selbst reizbare Substanz, deren Reizimg
— I07 —
Nervenströme erzeugt, — wie sollten sie da ganz spezifische Reize
immer zu ganz bestimmten Anlagen der Keimsubstanz leiten unc^
in diesen bestimmte Engramme erzeugen? Die von Semon vor-
gebrachten Beweise dafür, daß eine Vererbung somatogener Eigen-
schaften wirklich vorkommt, sind, Weismanns Ansicht zufolge,
nicht stichhaltig, während es andererseits zahlreiche Charaktere
gibt, die in ihrer Entstehung und Ausbildung schlechterdings nur
auf primäre Keimesabänderungen zurückgeführt werden können,
wie viele Instinkte und die vielen bloß durch ihr Dasein nützlichen
Teile. Läßt sich aber eine so große Anzahl von Charakteren in ihrer
Entstehung und zweckmäßigen Ausgestaltung nur durch primäre
Veränderung der Keimsubstanz erklären, so haben wir keinen Grund,
für andere nach einem anderen Erklärungsprinzip zu suchen.
Fünfter Abschnitt.
Befruchtung und Keimzellenreifung.
I. Vererbung und Zweielternzeugung. — 2. Befruchtung. Ältere Auf-
fassung. Entwicklung der Tatsachenkenntnisse. — Befruchtung und Konjugation als
Amphimixis und als Quelle erblicher Variation. — 3. Reifung der Keimzellen. —
Bildung und Bedeutung der Richtungskörperchen, erste Deutung. — Das Reduktions-
problem. Frühere Auffassung Weismanns. — Spätere Auffassung der Reduktions-
vorgänge. — Beziehungen zu den Mend eischen Vererbungserscheinungen. — 4. Reifung
und Befruchtung als Quellen erblicher Variation.
I. Vererbung und Zweielternzeugung.
Bei der Inangriffnahme des Vererbungsproblemes war Weis-
mann ausgegangen von den Fortpflanzungserscheinungen,
— ganz naturgemäß, denn die erbhche Übertragung elterlicher
Eigenschaften auf die Nachkommen erfolgt durch die Fortpflanzung.
Und es geschah weiter auch ganz bewußt, daß er an die Betrachtung
der Verhältnisse bei den Einzelligen sofort die der Fortpflanzung
durch Keimzellen bei den Mehrzelligen anschloß, die verschie-
denen anderen Formen aber, die Vermehrung durch Knospung und
Teilung, zunächst beiseite ließ. Er folgte dabei der Auffassung,
daß diese letzteren Fortpflanzungsarten für die Vielzelligen, wo
sie vorkommen, nicht ursprüngliche, sondern spätere Einrichtungen
bedeuten, und daß das Ursprüngliche für diese Formen die Fort-
pflanzung durch Keimzellen ist. Diese Fortpflanzung durch Keim-
zellen erfolgt nun aber, wie bekannt, bei weitaus den meisten Formen
auf dem Wege der sogenannten ,, sexuellen Fortpflanzung" oder,
um den besseren Hae ekel sehen Ausdruck zu gebrauchen: der
Amphigonie (Zweielternzeugung). Die Bedeutung dieser für die
— I og —
Vererbung im besonderen zu untersuchen, war um so notwendiger
und selbstverständlicher, als gerade damals die zellulären Vorgänge
bei der Befruchtung durch glänzende Arbeiten von O, Hertwig,
van Beneden u. a. bekannt worden waren. Hatten doch auch
gerade diese Geschehnisse in erster Linie einen Rückschluß auf die
Natur der Vererbungssubstanz möglich gemacht. Den Vorgängen
der Befruchtung und, im Anschluß daran, denen der Entwicklung
der Keimzellen selbst, namentlich den letzten Stadien derselben,
den Reifungserscheinungen, hat daher Weismann schon früh be-
sondere Beachtung geschenkt, und die Auffassung beider Vorgänge
ist durch ihn wesentlich gefördert worden. Allerdings war er gerade
in diesen Fragen zu einer mehrfachen Änderung seiner Auffassung
genötigt.
2. Befruchtung.
Ältere Auffassung. Entwicklung der Tatsachenkenntnisse.
Der Vorgang der Befruchtung 2^) erschien früher innig und
untrennbar mit der Fortpflanzung verbunden, nur einen durchaus
notwendigen Teilvorgang derselben auszumachen. Der Laien-
erfahrung entsprechend, die in dem Begattungsakt die eigentliche
,, Zeugung" sieht, werden auch die wissenschaftlichen Befruchtungs-
theorien früherer Zeiten durch den Grundgedanken beherrscht,
daß bei der geschlechtlichen Fortpflanzung gerade die Befruchtung
die Hauptsache sei; durch sie sollten die in dem Ei schlummernden
Kräfte zum Leben und zur Betätigung erweckt werden, sollte eine
„Belebung" des Eies erfolgen. Daß dabei, wie aus dem Ergebnis
zu ersehen war, auch eine Vermischung der männlichen und weib-
lichen Vererbungstendenzen erfolgte, trat demgegenüber zurück imd
erschien wie eine gewissermaßen unvermeidliche Nebenwirkung der
Befruchtung, neben der dynamischen Hauptwirkung.
Erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vollzog sich,
angebahnt durch Kölliker (1842), der Fortschritt, durch den
ein Verständnis für das eigentliche Wesen des Befruchtungs-
prozesses ermöglicht wurde: die 1677 von Leeuwenhoeks Schüler
Kam entdeckten Samenfäden (Spermien), die man im 18. Jahr-
hundert und auch noch im Anfang des 19. für Parasiten des Samens
gehalten hatte, wiu-den in ihrer Bedeutung als umgewandelte
Zellen, bestehend aus einem Kern- und einem Plasmaanteil, und
I lO
somit als den weiblichen Eiern gleichwertige Gebilde erkannt.
An der Festigung dieser Erkenntnis hat Weismann durch seine
Arbeit über die Samenzellen der Daphniden (1880), die die eigen-
tümlichen zum Teil sehr großen und durchaus zellenähnHchen
Samenkörper dieser Tiergruppe und ihre Entstehung aus den
Hodenzellen kennen lehrte, tätigen Anteil genommen. Die feineren
Vorgänge bei der Befruchtung beobachtete 1875 Oskar Hartwig
an durchsichtigen Seeigeleiem: er sah als Erster das Eindringen
eines — und nur eines — Samenfadens in das Ei sowie die, wenigstens
scheinbare, Verschmelzimg von Ei- und Samenkern, und gelangte
so zu der Auffassung, daß die Befruchtung in einer Kopulation
zweier Kerne beruhe. Nach zwei Richtungen gewann diese Ent-
deckung, die bald von verschiedenen Seiten (van Beneden, Fol,
Nußbaum u. a.) bestätigt wurde, grundlegende Bedeutung: für
die Vererbungslehre, insbesondere zur Schaffung einer Vorstellung
über die Substanz, an die die Vererbungstendenzen geknüpft sind,
und für die Auffassung der eigentlichen Bedeutimg der Befruchtung.
In ersterer Hinsicht wies sie darauf hin, daß als jener Träger der
Vererbungstendenzen, als eigentliche Erbsubstanz, der Kern an-
zusprechen sei. Weismanns eigene Beobachtungen an Daphniden
(1880), daß bei der Befruchtung nicht nur der Kern der Samenzelle,
sondern auch das gesamte reichlich vorhandene Protoplasma der-
selben sich mit der Eizelle vereinigt, mußte in dieser Richtung an
'Bedeutung zurücktreten gegenüber van Benedens glänzender
Entdeckung am Pferdespulwurm, Ascaris megalocephala, daß bei
der Befruchtung der Ei- wie der Samenkern die gleiche Anzahl
von Kernschleifen oder Chromosomen bilden und zu der ersten
Teilungsspindel zusammentreten lassen (1884). Denn damit war
ein theoretisches Postulat erfüllt, das sich aus den alltäglichen
Vererbungserscheinungen ergab: da diese lehren, daß an der Her-
stellung des Kindes beide Eltern den gleichen Anteil haben, so
mußte wohl gefordert werden, daß auch von beiden Seiten die
gleichen Mengen Erbsubstanz beigetragen werden und bei der Be-
fruchtung zur Vereinigung kommen. Beobachtung und Überlegung
«sprachen so in gleicher Weise dafür, daß diese Erbsubstanz in den
chromatischen Bestandteilen des Kernes gesucht werden müsse,
und diese Schlußfolgerung wurde denn auch, wie wir schon sahen,
in den Jahren 1884 und 1885 von E. Strasburger, O. Hertwig
und Weis mann selbständig ausgesprochen. — Auch für die Auf-
fassung des Befruchtungsvorganges war damit eine neue Grund-
lage geschaffen. Die alte Auffassung der Befruchtung als eines
Lebensweckers zu erschüttern, wäre freilich, wie Weismann in
seiner historischen Übersicht (1891) ganz richtig bemerkt, schon
viel früher eine wichtige Tatsache geeignet gewesen: die durch
Siebold und Leuckart in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre
entdeckte Parthenogonie (Parthenogenese)*). ,,Als man erkannt
hatte, daß ein Ei unter Umständen sich auch ohne Befruchtung
zum neuen Organismus entwickeln kann, so hätte dies allein wohl
schon genügen können, um zu schließen, daß .Belebung des Keimes'
nicht der , Zweck' der Befruchtung, ich meine der Grund ihrer Ein-
führung in die Lebenserscheinungen sein kann." Allein teils war
die Tatsache der Parthenogonie überhaupt nur langsam und schwer
anerkannt worden, teils hatte man versucht, sie doch mit der alten
Lehre in Einklang zu bringen. In den nebenher gehenden For-
schungen über die Konjugation der Einzelligen erhielt diese
Lehre sogar noch neue Nahrung. Schon seit geraumer Zeit war
in dem genannten Vorgang, der Verschmelzung zweier einzelliger
Wesen, eine der Befruchtung bei den Vielzelligen entsprechende
Erscheinung gesehen worden, und da gewisse Beobachtungen dafür
zu sprechen schienen, daß die normale Vermehrung der Einzelligen
durch Zweiteilung nicht unbegrenzt andauern könne, wenn nicht
von Zeit zu Zeit Konjugation stattfindet, so erhielt die alte Be-
lebungstheorie eine neue Fassung: die Konjugation erschien als
ein Verjüngungsprozeß, der von Zeit zu Zeit die im Verlöschen be-
griffene Fähigkeit der Zweiteilung wieder anfachen müsse. Die
eingehenden erneuten Untersuchungen von Bütschli, denen sich in
der Folge die von Balbiani, Engelmann, A. Gruber, R. Hert-
wig, Maupas anschlössen, lehrten dann aber auch bei der Konju-
gation der Einzelligen eine Kopulation der Kerne als wichtigsten
Vorgang kennen und führten damit nicht nur zu einer vollen Be-
stätigung der Auffassung, daß die Konjugation bei den Einzelligen
und die Befruchtung bei den Vielzelligen die gleichen Vorgänge sind,
«sondern ließen auch aufs neue die Frage nach der tieferen Bedeutung
der Kern Verschmelzung auf werfen. —
*) S. Anm. 15.
I I 2
Befruchtung und Konjugation als Amphimixis und als Quelle
erblicher Variation.
Noch bevor die volle Übereinstimmung der Konjugation und
der Befruchtung voll erkannt war, hatte Weismann (1886) als
einer der ersten den Gedanken entwickelt, daß der wichtigste Vor-
gang bei der sogenannten sexuellen Fortpflanzung die Vermischung
zweier Vererbungstendenzen ist. Durch diese aber werden,
so schloß er weiter, die elterlichen individuellen Verschiedenheiten
zu immer neuen Kombinationen vereinigt und damit immer neue
individuelle Unterschiede geschaffen, die das Material, die not-
wendige Voraussetzung, für die Selektionsprozesse abgeben. Die
gleiche Auffassung wurde dann bald (1891) auch auf den Vorläufer
der Befruchtung, die Konjugation der Einzelligen, übertragen.
Die tiefere Bedeutung der Konjugation der Einzelligen wie der Be-
fruchtung bei den Vielzelligen liegt darnach also in der Amphi-
mixis, der Vermischung der Vererbungssubstanzen zweier In-
dividuen zu einem neuen. Diese aber ist die Quelle der erblichen
individuellen Variabilität, sie hat das Material zu schaffen, mittelst
dessen Selektion neue Arten hervorbringt. Dabei mußte allerdings
angenommen werden, daß überhaupt erst einmal individuelle Unter-
schiede vorhanden waren: diese allererste Wurzel der Variabilität
sucht Weismann, wie noch zu besprechen bleibt, bei den aller-
niedersten, kernlosen Lebewesen, die noch durch direkte Einwirkung
äußerer Einflüsse erblich veränderlich sind.
In der sogenannten ,, geschlechtlichen Fortpflanzung" sind
somit zwei ganz verschiedene Vorgänge miteinander verbunden:
die Amphimixis und die Fortpflanzung. Daß dieselben in der Tat
ursprünglich nichts miteinander zu tun haben, lehren die Einzelligen,
bei denen die Amphimixis (Konjugation) durchaus nicht immer eine
Fortpflanzung, d. h. Vermehrung der Individuenzahl durch Teilung,
zur Folge hat — Amphimixis ohne Fortpflanzung — ; und daß
beide Vorgänge auch bei den höheren Formen nicht immer not-
wendig aneinander gebunden sind, lehren die Erscheinungen der
Parthenogonie — : Fortpflanzung durch Keimzellen ohne Amphi-
mixis. Für viele Eier allerdings, namentlich bei den höheren Tieren
und Pflanzen, ist die Befruchtung eine unerläßliche Vorbedingung
für das Ingangkommen der Entwicklung, aber sie ist nicht eine
— 113 —
fundamentale Ursache derselben und war nicht von vornherein
mit ihr verbunden; vielmehr stellt sie einen Vorgang sui generis
dar, dessen erste und hauptsächlichste Bedeutung in seinen Be-
ziehungen zu den Vererbungserscheinungen erblickt werden muß.
3. Reifung- der Keimzellen.
Bildung und Bedeutung der Richtungskörperchen, erste Deutung.
Diese Auffassung von der Bedeutung der Befruchtung als
einer Vermischung zweier Vererbungstendenzen führte auch zu
einer neuen Betrachtung der Vorgänge, die der Befruchtung voraus-
gehen: der Reifungserscheinungen der Geschlechtszellen.
Schon bei der ersten Ausarbeitung der ,, Kontinuität des Keim-
plasmas" (1885) hatte Weismann der Eireifung sein Interesse
zugewandt und in der Ausstoßung der sogenannten Richtungs-
körperchen eine Stütze mancher seiner Ansichten zu finden ge-
glaubt. Über die morphologische Natur dieser zwei kleinen, schon
seit längerer Zeit bekannten Körperchen, die bei der Eireifung auf-
treten, war in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, zunächst
durch Bütschli und O. Hertwig, Klarheit geschaffen worden.
Es hatte sich gezeigt, daß sie als ,, erster" und ,, zweiter" von dem
Ei durch eine zweimalige Teilung, die das Plasma wie den Kern be-
trifft, abgeschnürt werden, daß zwar ihr plasmatischer Anteil sehr
gering ist im Verhältnis zu dem des Eies, weshalb sie eben als kleine
Knospen und nicht als gleichwertige Schwesterzellen desselben er-
scheinen, daß aber der Kernanteil, den ein jedes von dem Keim-
bläschen des Eies erhält, genau so groß ist wie der Schwesterkern,
der im Ei zurückbleibt. Auch eine nochmalige Teilung des ersten
Richtungskörperchens war manchmal beobachtet worden, — in
welchen Fällen dann also im ganzen drei kleine Richtungskörperchen
neben dem Ei liegen.
An einer befriedigenden physiologischen Deutung dieser
bei aller Kleinheit so konstanten Gebilde mangelte es noch, als
Weismann sich der Frage zuwandte. Er versuchte eine solche
Deutung zunächst (1885) vom Standpunkte der Vorstellung aus,
daß der Kern die ganze Zelle beherrsche, ihre Gestalt und ihr Leben
bestimme, daß also jede histologisch differenzierte Zelle auch ein
spezifisches Kernplasma enthalten müsse. Diese Vorstellung führte
Oaupp, Biographie Weismanns. 8
— 114 —
ihn zu dem Schlüsse, daß im Kern der Eizelle zwei verschiedene
Substanzen enthalten seien : das eigentliche Keimplasma und außer-
dem ein histogenes (ovogenes) Plasma, das allen den besonderen
Lebensvorgängen des sich entwickelnden Eies, seinem Wachstum,
der Anhäufung von Dottersubstanzen usw. vorstehe. Dieses histo-
gene Plasma müsse dann, wenn die genannten Vorgänge abgeschlossen
seien, ausgestoßen werden, damit das Keimplasma rein zurückbleibt
und in die Befruchtung und die Entwicklung eintreten könne.
In diesem Sinne, als Träger des ovogenen Kernplasmas, faßte
Weismann anfangs beide Richtungskörperchen auf. Er stellte
diese Ansicht der damals vielfach angenommenen gegenüber, daß
die Richtungskörperchen den , »männlichen Anteil" darstellten,
dessen sich die anfangs zweigeschlechtliche Eizelle entledige, um
nun, rein weiblich geworden, durch das männliche Spermium be-
fruchtet werden zu können. Auch glückte ihm ein Fund, der gegen
die letztere Ansicht und zugunsten seiner eigenen sprach : der Nach-
weis, daß auch bei parthenogonisch sich entwickelnden Eiern
Richtungskörperchen gebildet werden. Denn wenn die letzteren
wirklich ein ,, männliches Prinzip" waren, das zur Ermöglichung
der nachfolgenden Befruchtung aus dem Ei entfernt werden mußte,
so durften pathenogonisch sich entwickelnde Eier — bei denen
also eine Befruchtung unterbleibt — keine Richtungskörper bilden.
War dagegen die Weismannsche Auffassung richtig, so mußten
natürlich auch bei parthenogonischen Eiern Richtungskörper aus-
treten. Weis mann fand nun einen Richtungskörper (1885) bei
parthenogonischen Eiern einer Daphnide, Polyphemus oculus und
bald darauf in Verbindung mit seinem Schüler Ischikawa (1888a)
bei verschiedenen anderen Daphniden-Arten, sowie bei patheno-
gonischen Eiern von Ostracoden und Rotatorien. Diese Unter-
suchungen, die durch gleichzeitige von Blochmann eine Be-
stätigung und wertvolle Ergänzung erfuhren, lenkten aber zugleich
die Aufmerksamkeit auf eine merkwürdige Tatsache: es erschien
als Regel, daß parthenogonisch sich entwickelnde Eier nur einen
Richtungskörper bilden, nicht zwei, wie befruchtungsbedürftige
Eier. Durch ausgedehnte, mit Ischikawa unternommene Unter-
suchungen an Eiern der letzteren Art (1888c) erhielt dieses ,,Zahlen-
gesetz der Richtungskörper" eine Bestätigung. Daraus zog
dann Weismann, in Abänderung seiner ersten Hypothese, 1887
— 115 —
in einer besonderen Schrift die Folgerung, daß nur der erste
Richtungskörper das ovogene Kernplasma enthalte, der zweite
aber eine engere Beziehung zu der Befruchtung haben müsse
Der Fortfall der letzteren erkläre sein Fehlen bei parthenogonisch
sich entwickelnden Eiern. Welches diese Beziehungen sind, findet
sich ebenfalls zum ersten Male in der genannten Schrift auseinander-
gesetzt, der somit eine besondere Bedeutung zukommt, indem sie
das Problem aufrollt, das seitdem so vielfach behandelt worden ist
und, wie so manches andere, mit Weismanns Namen verknüpft
bleiben wird: das Reduktionsproblem.
Das Reduktionsproblem. Frühere Auffassung Weismanns.
Die Erwägungen, die hier maßgebend werden, sind folgende.
Wenn der Befruchtungsprozeß eine Vermischung zweier Keimplasma,
eines väterlichen und eines mütterlichen, zur Folge hat, so müssen,
vorausgesetzt, daß er von jeher ohne Störung verlaufen ist, in dem
Keimplasma eines jeden jetzt erzeugten Individuums zahlreiche
Ahnenplasmen oder Ide, wie Weismann sie nennt, vorhanden
sein. Nehmen wir zwei Keimplasmen a und b, so werden diese
durch ihre Vermischung bei der Befruchtung das Keimplasma
a 4- b bilden. Nach der Kontinuitätslehre wird nun von diesem
Keimplasma a + b ein Rest in den Keimzellen des neuen Indi-
viduums reserviert. Es wird sich dann bei der nächsten Befruchtung
verbinden mit einem Keimplasma, das, in entsprechender Weise
entstanden, vielleicht die Zusammensetzung c -f- d hat. So ent-
steht das neue Keimplasma a + b + c + d, und so wird bei jeder
neuen Befruchtung eine weitere Verdoppelung erfolgen, das Keim-
plasma wird immer zusammengesetzter werden, immer mehr Ahnen-
plasmen in sich aufspeichern müssen. Dadurch würden sich manche
Besonderheiten der Vererbungserscheinungen erklären: das oft so
zusammengesetzte Bild, das ein Kind seinen Eigenschaften nach
darbietet, die Rückschläge auf weit zurückliegende Vorfahren, aber
auch die Verschiedenheiten, die die Kinder desselben Elternpaares
zeigen. Man wird sich dabei nur vorstellen müssen, daß diese ver-
schiedenen Ahnenplasmen sich bei der Entwicklung eines jeden
Individuums in verschiedener Weise zur Geltung bringen können.
Die gleiche Überlegung führt aber auch zu dem Schluß, daß
die Zahl der in jedem Keimplasma angehäuften Ahnenplasmen
— IIÖ —
allmählich ins Ungeheure steigen müßte, wenn das nicht durch
irgend einen anderen Vorgang verhindert würde. Und als solche
Gegenmaßregel gegen die Folgen der immer wiederholten Be-
fruchtung sprach nun Weismann von 1887 an die Bildung der
Richtungskörperchen an, zunächst nur die des zweiten ( — dem
ersten ließ er noch die Bedeutung als ovogenes Kernplasma — ),
bald aber (1891) die von allen beiden. (Von dem ,,ovogenen" Kern-
plasma, oder der ovogenen ,, Determinante", wie er später sagte,
ist dann anzunehmen, daß sie im Verlaufe der Ausbildung des Eies
aufgebraucht wird.) Die Bildung der Richtungskörperchen hat
nach dieser neuen Auffassung zum Zweck: eine Reduktion des
Keimplasmas, nicht bloß an Masse, sondern vor allem an Kom-
plikation der Zusammensetzung. Es sollte dadurch die Hälfte der
Ahnenplasmen aus dem Ei entfernt, und so eine übermäßige An-
häufung verschiedenartiger Ahnenplasmen verhindert werden, die
sonst notwendig, wie oben gezeigt, durch die Befruchtung statt-
finden müßte. Somit handelte es sich um eine Vorbereitung für
die Befruchtung: aus dem Ei würde zunächst die gleiche Anzahl
von Ahnenplasmen entfernt, die nachher bei der Befruchtung selbst
durch das Spermium wieder eingeführt wird.
Diese Vorstellung führte zunächst zu zwei wichtigen theoreti-
schen Voraussagungen, die in der Folge durch die Beobachtungen
bestätigt wurden.
Zunächst ergab sich der Schluß, daß jener Reduktionsvorgang
nicht auf dem Wege der gewöhnlichen Kernteilung vor sich gehen
könne. Das Wesentliche bei dieser ist ja, daß zunächst jedes Chro-
mosom sich der Länge nach in zwei spaltet, und dann die beiden
so entstandenen Geschwisterchromosomen sich trennen, indem das
eme in den einen, das andere in den anderen Tochterkern wandert,
so daß jeder Tochterkern wieder die gleiche Anzahl Chromosomen
besitzt wie der Mutterkern. Auf Grund der eben angestellten
theoretischen Überlegung sind nun, — und diese Vorstellung ist
von Weismann lange Zeit festgehalten worden — , die Chromo-
somen aus sehr vielen einzelnen Ahnenplasmen oder Iden zu-
sammengesetzt zu denken, die innerhalb eines jeden Chromosoms
in Form linear angeordneter Chromatinkörper, der vielfach beob-
achteten Mikrosomen, liegen, und von denen jedes einzelne die
Anlage eines ganzen Individuums darstellt. Bei dieser Anordnung
— 117 —
aber müßten durch eine Längsspaltung des ganzen Chromosoms,
v/ie sie der gewöhnlichen Zellteilung vorausgeht, auch die einzelne
Ide zunächst halbiert, ihre Zahl also verdoppelt werden, und jeder
Tochterkern würde von einem jeden Id ein Teilstück, also in summa
genau so viel Ide erhalten, als der Mutterkern besaß. Auf diese
Weise wäre also die gewünschte Reduktion der Id- oder Ahnen-
plasmenzahl nicht zu erreichen. Es muß demnach, so folgerte
Weismann weiter, neben dieser gewöhnlichen Teilung, die er als
Äquationsteilung bezeichnete, noch eine zweite, eine Reduk-
tionsteilung, geben, bei der die Längsspaltung der Chromosomen
unterbleibt, und einfach die Zahl der vorhandenen Chromosomen
zu gleichen Teilen auf die beiden Tochterkerne verteilt wird. Die
Forschung der folgenden Jahre hat das Vorhandensein einer solchen
Teilung bestätigt. Die Bildung des ersten Richtungskörperchens
erfolgt nach dem gewöhnlichen Schema : die Zahl der Chromosomen
wird zuerst durch Längsspaltung der einzelnen verdoppelt und
dann durch die Teilung halbiert, so daß in dem ersten Richtungs-
körperchen wie in dem Ei, von dem es sich abschnürte, die ur-
sprüngliche Zahl von Chromosomen vorhanden ist; bei der
Bildung des zweiten Richtungskörperchens wird aber von diesen
letzteren einfach die Hälfte mit dem Richtungskörperchen heraus-
geschafft, so daß das zurückbleibende ,, Reif ei" nun tatsächlich auch
nur die Hälfte der ursprünglichen Chromosomenzahl behält.
Eine weitere Konsequenz der Anschauung von der Notwendig-
keit der Halbierung der Zahl der x\hnenplasmen vor der Befruchtung
war das Postulat einer solchen Reduktionsteilung auch für die
Samenzellen, und auch dieses wurde durch die Untersuchungen
über die Reifung der Samenzellen, zunächst von O. Hertwig,
als richtig nachgewiesen. Nur daß durch die zwei Reifeteilungen
des Eies vier ungleiche Teilungsprodukte entstehen, nämlich
drei kleine Richtungskörperchen und ein großes Reifei, während
bei der Samen reife alle vier Teilungsprodukte gleich groß sind und
funktionsfähige Samenfäden geben. Auch die Art, wie Weis mann
diesen Unterschied betrachtet, ist jetzt Gemeingut geworden: auch
für die Eizelle ist von einem früheren Zustand auszugehen, wodurch
ihre zweimalige Teilung vier funktions-, d. h. befruchtungs- und
entwicklungsfähige Eier entstanden ; erst im Laufe der phylogeneti-
schen Entwicklung hat sich der jetzige Zustand herausgebildet,
— ii8 —
wo drei der Teilungsprodukte verkümmern, und nur eins zur vollen
kräftigen Ausbildung gelangt und das zum Aufbau des Embryo
nötige Nahrungsmaterial in sich aufspeichert. Der Gedanke ist
dann noch weiter nach der physiologischen Seite hin verfolgt worden :
die Besonderheiten von Ei und Samenzelle sind der Ausdruck der
Arbeitsteilung zwischen beiden; das Ei ist der ruhende, passive
Teil der Befruchtungselemente, betraut mit der Aufspeicherung
des Materials, dessen der Embryo zu seiner Bildung bedarf, die
Samenzelle ist das aktive, aufsuchende Element. Darauf beruhen
die Unterschiede beider und auch die Unterschiede ihrer Bildung.
Ihrem wichtigsten Bestandteile, der in den Chromosomen gegebenen
Erbmasse nach aber verhalten sie sich gleich: das reife Ei wie die
reife Samenzelle enthalten gleichviel Chromosomen, und zwar der
Zahl nach halb so viel als sie im unreifen Zustand besaßen. Durch
ihre Vereinigung bei der Befruchtung wird in dem befruchteten
Ei die ursprüngliche Zahl der Chromosomen wieder hergestellt,
und von dem letzteren aus wird sie allen Körperzellen mitgegeben.
Das gleiche gilt natürlich für die in den Chromosomen enthaltenen
Ahnenplasmen: auch deren Zahl, die in den beiderlei Geschlechts-
zellen durch die Reifeteilungen halbiert worden war, wird durch
die Befruchtung wieder auf den früheren Stand gebracht. —
Mit der bloßen Halbierung der Zahl der Ahnenplasmen
und der dadurch erzielten Verhinderung einer übermäßigen An-
häufung von solchen im Keimplasma ist aber, Weismanns da-
maliger Anschauung zufolge, die Bedeutung der Reifeteilimgen
— des Eies wie der Samenzellen — nicht erschöpft. Die weitere
theoretische Analyse der Geschehnisse ließ in den Reifeteilungen
auch eine neue wichtige Quelle für individuelle Variation er-
kennen, für die Erscheinung, daß auch Kinder desselben Eltern-
paares, also Erzeugnisse der Keimzellen derselben Geschlechts-
drüsen, — wofern es sich nicht um den Sonderfall ,, identischer
Zwillinge" handelt — , niemals einander ganz ähnlich sind, ja,
unter Umständen recht große Verschiedenheiten aufweisen. Zu
dieser Auffassung führte die Überlegung, daß jene Halbierung der
Chromosomenzahl in sehr verschiedener Weise vor sich gehen kann,
und daß demnach auch aus den zahlreichen Keimzellen eines und
desselben Individuums bei den Reif e Vorgängen ganz verschiedene
Ahncnplasmen entfernt werden können. So würde z. B. bei einer
— 119 —
Form, deren Eikern vor der Bildung des zweiten Richtungskörper-
chens nur vier Chromosomen (a, b, c, d) bildet, zwar bei der Re-
duktionsteilung eine Zerlegung in zwei Gruppen von je zwei Chromo-
somen erfolgen, aber diese Gruppen könnten in den verschiedenen
Zellen schon sechserlei verschiedene Zusammensetzung haben:
(a +b), (a+c), (a+d), (b+c), (b+d), (c+d). Bei acht
Chromosomen wären schon 70, bei 16 schon 12870 Kombinationen
möglich; entsprechend der angenommenen Zusammensetzung der
Chromosomen aus einer großen Menge von Iden (Anlagekomplexen,
Ahnenplasmen) heißt das in der Sprache der Theorie: die reifen
Keimzellen auch desselben Individuums werden in bezug auf ihre
Zusammensetzung aus einzelnen Ahnenplasmen qualitativ nicht
identisch sein; in der einen werden sich andere Ahnenplasmen zu-
sammenfinden als in der anderen. Das gilt für die Keimzellen beider
Geschlechter. Da nun bei der Befruchtung stets von beiden Seiten
her die gleiche Anzahl von Chromosomen zusammentrifft, so \vird
die Zahl der Keimplasma Variationen, welche ein Eltempaar mög-
licherweise zu liefern imstande ist, eine ganz ungeheure sein müssen,
da sie sich durch Multiplikation der väterlichen mit der mütter-
lichen Kombinationszahl ergibt. Damit wäre die theoretische
Grundlage für das Verständnis der großen individuellen Verschieden-
heiten gegeben, die auch Kinder eines und desselben Elternpaares
zeigen. Bei der großen Zahl verschiedener Idkombinationen in
den reifen Keimzellen eines Individuums ist auch bei mehrmaliger
Amphimixis desselben Elternpaares nicht anzunehmen, daß sich
jemals die gleichen Kombinationen zusammenfinden werden, und
so ergibt sich die stets wechselnde Kombination elterlicher und
vorelterlicher Eigenschaften, wie sie das Charakteristische der ge-
schlechtlichen Fortpflanzung ist. Nur wo aus demselben befruchteten
Ei zwei Individuen entstehen, wird völlige Gleichheit zu erwarten
sein — identische (,, eineiige") Zwillinge.
Darnach schaffen also die Reifeteilimgen fortwährend eine
,,Neotaxis" oder Neukombinierung der Keimplasmaelemente,
und dieser Prozeß der Umkombinierung der Ide setzt sich dann
bei der Amphimixis fort. Reifeteilungen und Befruchtung be-
wirken so eine fast unendliche Zahl von Keimplasmamischungen
und vermitteln damit ein Verständnis für die Verschiedenheit der
Kinder auch desselben Elternpaares, wie überhaupt für das mosaik-
— I20
artig aus Zügen väterlicher und mütterlicher Herkunft zusammen-
gesetzte Bild, das ein Individuum darbieten kann. Ihre Bedeutung
für die Entwicklimg des Organismenreiches aber sieht Weis mann
darin, daß sie Individuen in den verschiedensten Kombinationen
individueller Unterschiede der Naturzüchtimg zur Verfügung stellen.
Spätere Auffassung der Reduktionsvorgänge; Beziehungen zu
den Mendel sehen Vererbungserscheinungen.
In Weismanns Theoriengebäude wie überhaupt in der Ver-
erbungslehre spielen die Reduktionsteilungen vom Jahre 1887 ab
eine große Rolle, um so mehr, als ganz entsprechende Vorgänge
als Vorbereitung für die Befruchtung auch bei Einzelligen und
Pflanzen nachgewiesen worden sind, und damit als sicher gelten
kann, daß ihnen eine wichtige biologische Bedeutung zukommt.
Weismanns Gedankengänge, die die Reduktionsteilungen zu den
Vererbungserscheimmgen in Beziehung brachten, haben dabei die
Richtung gewiesen, in der diese Bedeutung zu suchen ist. Im ein-
zelnen freilich haben sich die Anschauungen darüber nicht uner-
heblich geändert, und auch Weismann selbst hat in der letzten
Auflage seiner , »Vorträge" (1913) sich eine andere Betrachtung
der Vorgänge zu eigen gemacht. Sie geht von einer veränderten
Voraussetzung, einer etwas anderen Vorstellung von der Natur
der Chromosomen aus und sucht den Erscheinungen gerecht zu
werden, die am Anfang dieses Jahrhunderts einen gewaltigen Auf-
schwung der ganzen Vererbimgsforschung angebahnt und auch dem
Interesse für das Reduktionsproblem einen neuen Impiils gegeben
haben: den schon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
durch den Augustinermönch Gregor MendeP^) gefundenen,
damals aber unbeachtet gebliebenen und erst zu Beginn unseres
Jahrhunderts von Tschermak, de Vries und Correns aufs neue
entdeckten Gesetzmäßigkeiten in den Vererbungserscheinungen bei
Bastarden. Der theoretisch konstruierte Zusammenhang zwischen
ihnen und dem Reduktionsproblem wird am raschesten verständ-
lich an den durch Correns bekannt gewordenen Erscheinungen
bei der Kreuzung der rot (tiefrosa) blühenden Mirabilis Jalapa
mit der weiß blühenden. Hier zeigt die erste Nachkommengeneration
(erste Filialgeneration, F^) die Mischung des mütterlichen und des
121
väterlichen Merkmals durch die hellrosa Färbung der Blüten auch
äußerlich sichtbar an, aber schon die von diesen rosa blühenden
Pflanzen durch Selbstbefruchtung gewonnene zweite Nachkommen-
generation (Fg) zeigt die charakteristische „Spaltung der Merk-
male" der „Mendel-Bastarde": nur zwei Viertel der Nachkommen
bietet wieder die hellrosa Blütenfarbe, ein Viertel dagegen blüht
rein rot (tiefrosa), das letzte Viertel rein weiß. Und diese roten und
weißen Individuen bewahren nun auch, durch Selbstbefruchtung
weiter gezüchtet, die rote und die weiße Blütenfarbe dauernd bei:
die elterlichen Merkmale sind bei ihnen wieder rein zur Geltung ge-
kommen, rein ,, abgespalten". Der gleiche Spaltungsprozeß wieder-
holt sich bei den zwei Viertel rosa blühenden Individuen der zweiten
Nachkommengeneration: auch sie, durch Selbstbefruchtung weiter
gezüchtet, geben wieder ein Viertel rot, ein Viertel weiß, und zwei
Viertel rosa blühende Individuen. So geht es weiter; jede neue
Generation, die aus rosa blühenden Individuen gezüchtet wird,
zeigt wieder die drei Farben in dem Verhältnis 1:1:2. Für diese
Erscheinungen gab Mendel selbst schon die Erklärung: in den
Keimzellen oder Gameten (Ei- und Samenzellen), die von den rosa
blühenden Bastarden gebildet werden, werden die Merkmale ,,rot"
und ,,weiß" gespalten, d. h. die einen Keimzellen erhalten nur die
Anlage für das Merkmal ,,rot", die anderen nur die für das Merkmal
,,weiß". Werden nun diese Keimzellen zur gegenseitigen Befruchtung
gebracht, so werden sich finden können: ,,rote" männliche und
,,rote" weibliche Keimzelle; oder: ,, weiße" männliche und ,, weiße"
weibliche, oder: ,,rote" männliche und ,, weiße" weibliche oder
endlich ,, weiße" männliche und ,,rote" weibliche. In den beiden
letzten Fällen wird das Ergebnis gleich sein: rosa Blüten; in den
beiden ersten Fällen entstehen rein und dauernd rote oder rein
und dauernd weiße. So erfährt das empirisch festgestellte Ver-
hältnis 1:1:2 seine theoretische Erklärung : die zwei Viertel hellrosa
Individuen sind Heterozygoten, d. h. durch Vermischung ver-
schiedener Merkmalsanlagen (rot und weiß) entstanden; die ein
Viertel rot oder tiefrosa gefärbten sind ebenso wie die ein Viertel
weißen Homozygoten, d. h. in ihnen haben sich von beiden Seiten
her die gleichen Merkmalsanlagen gefunden, in der roten die
roten, in der weißen die weißen.
122
Es liegt nahe, die Herstellung dieser in bezug auf bestimmte
Merkmale „reinen Gameten", die aus den Beobachtungen er-
schlossen werden, in Verbindung zu bringen mit den Reifeteilungen,
durch die ja ein Teil der Chromosomen, also der Erbmasse, aus
der Keimzelle herausgeschafft wird. Für die Durchführung des
Gedankens im einzelnen ist freilich die frühere Weismannsche
Vorstellung, daß jedes Chromosom die Gesamtanlagen für eine
sehr große Anzahl von Einzelindividuen enthält, nicht besonders
geeignet; um so mehr die andere, hauptsächlich durch Boveri be-
gründete, nach der in jedem Chromosom die Anlagen nur für be-
stimmte Teile eines Individuums enthalten sind. Diese aus ge-
wissen direkten Beobachtungen und experimentellen Ergebnissen
erschlossene Auffassung von der Ungleichwertigkeit der Chromo-
somen ist denn auch in die dritte Auflage von Weismanns Vor-
trägen über Deszendenztheorie übergegangen und an die Stelle
der früheren Anschauung getreten, nach der die Chromosomen
gleichwertige und nur durch die individuelle Färbung ihrer Ahnen-
plasmen unterschiedene Gebilde seien. So lautet die jetzige Annahme
dahin, daß in jeder befruchteten Eizelle — und demnach auch in
jeder Keimzelle vor den Reifeteilungen — die Anlagen für ein ganzes
Individuum nur zweimal vorhanden sind: einmal vom Vater und
einmal von der Mutter her. Diese Anlagen sind so auf sämtliche
Chromosomen verteilt, daß die eine Hälfte die väterlichen, die
andere Hälfte die mütterlichen Anlagekomplexe darstellt. Das
Einzelchromosom enthält darnach nicht eine große Menge von
Ahnenplasmen oder Iden (,,Volliden"), ja nicht einmal ein einziges,
sondern nur eine beschränkte Anzahl von Anlagen für ganz be-
stimmte Teile des Individuums, und erst die ganze Menge der
Chromosomen repräsentiert zwei ,, Vollide", d. h. die Anlagen für
zwei ganze Individuen. Einem jeden väterlichen (vom Vater
stammenden) Chromosom entspricht ein mütterliches; diese beiden
, .homologen" Chromosomen enthalten immer den gleichen An-
lagekomplex. Auf der Grundlage dieser Anschauung erfahren
dann auch die beiden Reifeteilungen der Keimzellen eine neue
Deutung, und die Ergebnisse der auf diesem Gebiete ungemein
tätigen und erfolgreichen Forschung, namentlich die Bildung der
sogenannten ,, Vierergruppen", gibt die Handhabe zu einer Deutung,
die die Reifungsteihmgen zu den eben kurz berührten Mendelschen
— 123 —
Vererbungserscheinungen in engere Beziehung bringt. Sie kommt
in ihrem Endergebnis darauf hinaus, in jenen Vorgängen das Mittel
zu sehen, um die Gesamtzahl der Chromosomen zunächst zu ver-
doppeln — wonach also dann die Anlagenkomplexe für vier In-
dividuen in der Keimzelle liegen würden, zwei aus väterlichen,
zwei aus mütterlichen Chromosomen bestehend, — und die so
gewonnene Chromosomenzahl alsdann auf vier Zellen ( — beim
männlichen Geschlecht: auf vier Samenzellen, beim weiblichen:
auf ein Reifei und drei Richtungskörperchen — ) in der Weise zu
verteilen, daß eine jede Zelle den ganzen für ein Individuum er-
forderlichen Chromosomensatz nur einmal enthält, aber in der ver-
schiedensten, dem Zufall überlassenen Mischung väterlicher und
mütterlicher Elemente. Durch die Befruchtung werden dann zwei
solcher Chromosomensätze zusammengebracht; diese beiden setzen
die Kernsubstanz des befruchteten Eies zusammen und beherrschen
weiterhin die ganze Ontogenese, wie noch zu besprechen sein wird.
Damit wäre, auch vom Standpunkt der neuen Auffassung der
Chromosomen aus, eine Grundlage gegeben für die Verschiedenheiten
der Kinder auch eines und desselben Elternpaares, ferner für das
zusammengesetzte Bild, das ein jedes Individuum darbietet, end-
lich aber auch für die eigentümliche Merkmalsspaltung, die die
Mendel - Bastarde in der zweiten und den folgenden Bastard-
generationen zeigen. Denn durch die Reifeteilungen bekommt,
dem Gesagten zufolge, eine jede Keimzelle die Anlage für jedes
Merkmal nur einmal, entweder vom Vater oder von der Mutter
— eingeschlossen in ein Chromosom väterlicher oder mütterlicher
Herkunft — , und damit wäre die von Mendel selbst geforderte
Reinheit der Gameten oder Keimzellen in bezug auf ein bestimmtes
Merkmal erreicht. Freilich ergeben sich dabei auch manche
Schwierigkeiten, die Weis mann selbst auch anerkannt hat, so
besonders aus der bei manchen Formen sehr geringen Zahl
von Chromosomen. Denn die Bastardierungsversuche mit Formen,
die sich nicht nur durch ein, sondern durch zwei, drei und mehr
Merkmale unterscheiden (Di-, Tri-, Polyhybriden), haben ja er-
geben, daß diese Merkmale in den Bastardgenerationen sich selb-
ständig verhalten, aus dem Zusammenhang, in dem sie sich bei
den Elternformen fanden, gelöst werden, und sich in allen mög-
lichen neuen Kombinationen wieder zusammenfinden können, und
— 124 —
es wird angenommen, daß das ganz allgemein für alle Merkmale
gilt. Die Unmöglichkeit, das mit der meist nur geringen Zahl der
Chromosomen in Einklang zu bringen, liegt auf der Hand ; sie macht
es verständlich, daß man sogar an einen Austausch von Deter-
minanten (Merkmalsanlagen) zwischen den homologen Chromo-
somen väterlicher tmd mütterlicher Herkunft — die sich vorüber-
gehend eng aneinander legen — gedacht hat. Hier ist also noch sehr
vieles unklar. Indessen muß ein genaueres Eingehen auf die Be-
ziehungen der Mendel-Forschung zu den Weis mann sehen Vor-
stellungen hier unterbleiben. —
4. Reifung und Befruchtung als Quelle erblicher Variation.
Durch diese Änderung im einzelnen wird die ursprüngliche
allgemeine Auffassung von der Bedeutung der Reifungserschei-
nungen und der Amphimixis nicht berührt. Auch nach der neuen
Auffassung erscheinen diese beiden Vorgänge als eine unaufhörlich
fließende Quelle individueller Variation. Die Bedeutung derselben
ist freilich eine Zeitlang von Weis mann, wie er selbst bald er-
kannte, überschätzt worden. Was die Vermischung der Individuen
in Verbindung mit den ihr vorausgehenden Reifungserscheinungen
der Keimzellen leisten kann, ist ja immer nur eine neue Kombi-
nation der auf beiden Seiten gegebenen verschiedenen Anlagen, die
Schaffung neuer Anlagen komplexe; die Elemente dieser Kom-
plexe aber, die Anlagen selbst, bleiben dadurch unverändert. Der
Zuchtwahl gegenüber werden freilich auch diese Komplexe sehr
verschieden wertig sein: die einen brauchbar imd der Erhaltung
wert, die anderen minderwertig und zu verwerfen. Aber wenn
dadurch auch das individuelle Bild der Vertreter einer gegebenen
Art verändert werden kann, so wird das doch eben nur innerhalb der
Grenzen des Artbildes möglich sein; in bezug auf die Elemente
aber würde nichts völlig Neues dadurch zustande kommen. Hierfür
ist die Annahme einer besonderen Kraft nötig, die wirkliche Ver-
änderungen der Teile, d. h. im Sinne der Determinantentheorie:
Veränderungen der Determinanten hervorruft. Weismann
stellte als diese Kraft später die Germinalselektion auf.
Indessen ist die umordnende Bedeutung der Amphimixis
einschließlich der vorhergehenden Reifungserscheinungen nicht zu
unterschätzen und auch im Menschenleben spielt sie eine sehr
— 125 —
große Rolle. Das Individuum ist eine Kombination, ein Mosaik
aus einer sehr großen Anzahl von Anlagen verschiedener Herkunft,
über die seine Ahnentafel Auskunft gibt, und auch die hervor-
stechendsten menschlichen Erscheinungen, Talente und Genies,
sind vor allem als zufällige glückliche Kombinationen günstiger
Anlagen zu betrachten. Diese schon von Goethe in seinem bekannten
Verse ausgesprochene, von Weismann in seinem bereits oben ein-
gehend behandelten Aufsatz über die Musik und dann in den Vor-
trägen über Deszendenztheorie näher ausgeführte Auffassung wird
auch von der modernen Vererbungsforschung immer mehr als zu
Recht bestehend anerkannt.
Sechster Abschnitt.
Weiterer Ausbau der Keimplasmatheorie:
die Determinautentheorie.
„Das Keimplasma. Eine Tlieorie der Vererbung." — Fragestellung. — i. Der Bau
des Keimplasmas. — Vererbungssubstanz; die Chromosomen als Träger der Ver-
erbungstendenzen. — Nägelis Idioplasma, Umgestaltung des Idioplasmabegriffes durch
Weismann. Biophoren und Determinanten. — Die Ide. Wechsel der Anschauung
Weismanns hinsichtlich der Natur der Chromosomen. — 2. Die Betätigung des
Keimplasmas in der Ontogenese. — Das Problem, — Ontogenetische Zerlegung
des Keimplasmas. — Kampf der homologen Determinanten untereinander; Bedeutung
für die Vererbungserscheinungen; alternierende Vererbung (Mendel). — Beeinflussung
der Entwicklung durch äußere Einwirkungen. — Neben- (Reserve-, Regenerations-)
Idioplasma. — Erbgleiche und erbungleiche Teilung. — 3. Allgemeine Betrach-
tung der Determinantentheorie. Die Determinantentheorie als Theorie der Ver-
erbung. — Die Determinantentheorie als Theorie der Entwicklung. — Hypothetischer
Charakter der Theorie.
„Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung."
Die Bausteine, die Weismann von verschiedenen Seiten her
zur Vererbungslehre herbeigeschafft hatte, fügte er 1892 zum ersten
Male zu dem Gebäude einer Theorie zusammen. ,,Das Keimplasma.
Eine Theorie der Vererbung" ist der Titel des Werkes, das Rudolf
Leuckart gewidmet ist. Die Theorie erscheint hier in ihrer ersten
Form, an der Weismann später mancherlei geändert hat.
Fragestellung,
Zu der schon oben kurz berührten ersten Hauptfrage des
Vererbungsproblemes : wie kommt eine einzelne Zelle des Körpers
dazu, die sämtlichen Vererbungstendenzen des gesamten Organismus
in sich zu vereinigen ? — gesellt sich hier die zweite : durch welche
Kräfte, durch welchen Mechanismus kommen diese Tendenzen beim
12'
Aufbau des neuen Organismus zur Entfaltung ? Die Beantwortung
beider wird gegeben auf Grund einer im einzelnen durchgearbeiteten
Vorstellung vom Bau der Vererbungssubstanz: ihrer Zusammen
Setzung aus einzelnen Bestimmungsstücken oder Determinanten.
I. Der Bau des Keimplasmas.
Vererbungssubstanz. Die Chromosomen als Träger der Ver-
erbungstendenzen.
Schon in seiner ersten Schrift über die Vererbung, von 1883,
hatte Weismann eine ganz bestimmte Vererbungssubstanz,
einen materiellen Träger der Vererbungstendenzen, angenommen
und, wie auch schon 1882 in der Schrift über die Dauer des Lebens,
die Überzeugung vertreten, daß in der befruchteten Eizelle selbst
die Faktoren liegen, die über die Art ihrer Entwicklung entscheiden.
Diese Annahme konnte durch Versuche von Pflüger (1883), nach
denen die äußeren Bedingungen einen ausschlaggebenden Einfluß
bei der Entwicklung zu haben schienen, als gefährdet erscheinen,
erhielt aber durch Experimente von Roux (1844), die das Pflüger-
sche Ergebnis als unrichtig nachwiesen, eine sehr wichtige Be-
stätigung.
Zunächst galt es nun, diese Vererbungssubstanz, für die Weis-
mann die kurze Bezeichnung Keimplasma eingeführt hat, ihrem
Sitze und ihrem Wesen nach genauer zu bestimmen.
Den Sitz des Keimplasmas verlegt Weismann in den Kern
der Keimzellen, und insbesondere nimmt er die chromatische Sub-
stanz desselben als Träger der Vererbungstendenzen in Anspruch,
d. h. die Substanz, die zur Zeit der Zellteilung in Form der stäbchen-
oder schleifenartigen Chromosomen erscheint. Die hohe Bedeutung
des Kernes für das Leben der Zelle, und im besonderen seine Be-
deutung als Vererbungssubstanz war von der Mitte der siebziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts an immer deutlicher und klarer
hervorgetreten. Die eigentümlichen Erscheinungen, die sich bei
der indirekten Zellteilung am Kerne abspielen (,,Karyokinese"),
und die zuerst von A. Schneider und Auerbach beobachtet,
dann von Bütschli, Flemming u. a. aufs genaueste studiert
worden waren, hatten schon die große wichtige Rolle, die die chro-
matische Substanz des Kernes bei der Zellteilung spielt, erkennen
— 128 —
lassen; die gleichzeitig daneben herlaufenden Untersuchungen über
die Befruchtungserscheinungen (O. Hertwig, Fol, van Beneden,
E. Strasburger u. a.) hatten noch bestimmter darauf hingewiesen,
daß die chromatischen Substanzen des Kernes die Träger der Ver-
erbimgstendenzen seien. Endlich zeigten Versuche über künstliche
Teilbarkeit der Infusorien (M. Nußbaum, A. Gruber; — die
Experimente des letzteren sind auf Veranlassvmg von Weis mann
im Freiburger zoolpgischen Institut ausgeführt worden — ), daß
der Kern die Wiederherstellung des verstümmelten Tieres leitet,
daß in ihm also etwas enthalten sein muß, was den Organismus
mit seinen Einzelheiten bestimmt. Die Schlußfolgerung aus alle
dem, die Lehre vom ,, Vererbungsmonopol des Kernes", wie man sie
später genannt hat, wurde denn auch ziemlich gleichzeitig, in den
Jahren 1884 und 1885, von E. Strasburger, O. Hertwig und
A. Weismann, von letzterem in der ,, Kontinuität des Keim-
plasmas", 1885, ausgesprochen^'). Unter den Beobachtungen,
auf die sie sich stützte, waren von der allergrößten Bedeutung
die von E. van Beneden (1884; an Ascaris megalocephala an-
gestellt), daß bei der Befruchtung der Ei- wie der Samenkern die
gleiche Anzahl von Kernschleifen oder Chromosomen bilden,
daß die Kernschleifen väterlicher und mütterlicher Herkunft ge-
trennt bleiben, eine jede sich spaltet, und bei der Teilung des Eies
eine jede Furchungszelle gleich viele väterliche und mütterliche
Spalthälften erhält. Daraus mußte geschlossen werden, daß auch
jede Zelle des Körpers zur Hälfte väterliche und zur Hälfte mütter-
liche Kernschleifen bekommt — ein Schluß, der für das Verständnis
der Vererbungserscheinungen von größter Bedeutung sein mußte.
Zugleich aber forderten diese Beobachtungen dazu auf, die Formel,
daß der Kern der Träger der Vererbungstendenzen sei, bestimmter
dahin zu fassen, daß die Chromosomen die Vererbungssubstanz
repräsentieren. Eine wesentliche Stütze fand diese Auffassung in
der zuerst (1884) von Rabl aufgestellten, darauf besonders von
Boveri begründeten und vielfach, wenn auch nicht allgemein,
angenommenen Hypothese, daß die Chromosomen oder Kern-
schleifen nicht vergängliche, sondern konstante Gebilde sind, die
während des sogenannten Ruhestadiums des Kernes zwar äußerlich
nicht gegen einander abgegrenzt werden können, aber doch ihre
Individualität bewahren. In Einklang mit dieser Vorstellung steht.
— i2g —
daß die Zahl der Chromosomen, die sich bei der Kernteilung bilden,
für jede Organismenform konstant, d. h. in allen Zellen derselben
gleich ist (Boveri 1890).
Alle die hier kurz berührten Vorstellungen und Tatsachen
hat Weismann in seiner Vererbungstheorie verwertet, die sich
somit ganz auf der Lehre aufbaut, daß die Vererbungssubstanz
lediglich in den Chromosomen des Kernes enthalten ist. Daß diese
Grundannahme heute vielfach angezweifelt, und von vielen For-
schern auch dem Plasma der Keimzellen — namentlich des Eies —
eine wichtige Rolle bei der erblichen Übertragung und bei der Be-
stimmung der Ontogenese zugewiesen wird, sei nur kurz erwähnt.
Nägelis Idioplasma, Umgestaltung des Idioplasmabegriffes durch
Weis mann. Biophoren und Determinanten.
Für den weiteren Ausbau der Weismannschen Keimplasma-
theorie wurden von größter Bedeutung die theoretischen Erörte-
rungen, die der Münchener Botaniker Carl von Nägeli in seinem
1884 erschienenen Werk : ,, Mechanisch-physiologische Theorie der Ab-
stammungslehre" aufstellte. Mit den hier niedergelegten Anschau-
ungen berühren sich die von Weis mann in manchen Punkten, in an-
deren aber weichen sie sehr bestimmt ab. Für den Ausbau der Ver-
erbungslehre von besonderer Wichtigkeit ist der Begriff des Idio-
plasmas geworden, den Nägeli eingeführt hat. Das Idioplasma
oder Anlagenplasma Nägelis {elöog Gestalt) ist die zu imgefähr
gleichen Teilen vom Vater und von der Mutter stammende Ver-
erbungssubstanz, die den ganzen Organismus des Nachkommen
durchsetzt und, obschon in sehr viel geringerer Menge als die übrige
lebende Substanz des Körpers, das Ernährungsplasma, vor-
handen, dennoch diesen in seiner Gestaltung bestimmt. Weis-
mann übernahm den Nägelischen Begriff des Idioplasmas, ver-
wendete ihn aber etwas anders als Nägeli selbst, indem er ihn
— wie das auch von O. Hertwig geschehen war — auf die Chro-
matinsubstanz des Kernes übertrug, entsprechend eben der Auf-
fassung, daß in der Tat diese Kernsubstanz bestimmend für den
morphologischen und physiologischen Charakter der Zelle ist. Jede
Zelle enthält nach Weis mann in dem Chromatin ihres Kernes
ein spezifisches Idioplasma, das der Zelle, in der es liegt, den
Stempel aufdrückt, sie beherrscht. Diese Beherrschung der Zelle
Gaupp, Biographie Weismanns. 9
— I30 —
durch den Kern dachte sich Weismann anfangs (1885), im An-
schluß an E. Strasburger, in der Weise, daß von dem Kem-
(Idio-)plasma, das in jeder Zelle eine ganz spezifische Molekular-
struktur habe, sich molekulare Erregungen in das umgebende Zell-
piasma fortpflanzen und hier in spezifischer Weise beim Stoffwechsel
und Wachstum wirksam werden. Unter Zugrundelegung dieser An-
schauung versuchte Weismann anfangs auch eine Keimplasma-
theorie aufzustellen (1885, in der ,, Kontinuität des Keimplasmas").
An ihre Stelle trat aber dann später eine andere, die den Schwer-
punkt von der Struktur auf die Substanz verlegte: die Lehre von
den Determinanten. Darnach denkt sich Weismann nun-
mehr, wie auch andere Forscher, alle lebende Substanz, also auch
das Kern- und das Zellplasma, aus kleinsten lebendigen Einheiten,
zusammengesetzt, denen er den Namen Biophoren gibt. Es sind
die kleinsten Molekülgruppen, die noch assimilieren, wachsen und
sich vermehren können, also die niedersten Lebenseinheiten über-
haupt. Es muß unzählige Biophoren-Arten in all den verschiedenen
Teilen der Millionen von Lebensformen geben, die heute auf der
Erde leben; die Biophoren der Muskelzellen sind anderer Art als
die der Nerven-, Drüsenzellen usw. ; nur ein Grundschema des
Baues, an das ihre Lebensfähigkeit geknüpft ist, dürfte ihnen ge-
meinsam sein. Im Anschluß an eine Vorstellung von de Vries be-
trachtet dann Weismann den Kern (das Idioplasma) einer diffe-
renzierten Zelle als ein Magazin der Biophoren-Arten, die den spezi-
fischen Zellcharakter, aber auch Größe, Lebenskraft, Vermehrungs-
dauer usw. der Zelle bestimmen sollen ; in diesem Magazin liegen sie
aber nicht lose durcheinander, sondern in festem Verbände, ver-
einigt zu lebendigen Einheiten höherer Ordnung, den sogenannten
,, Determinanten" (Bestimmungsstücken der Zelle), in passivem
Zustand; sie werden aktiv und erfüllen ihre Aufgabe, indem sie
nach Auflösung der Determinanten, durch die Kernmembran hin-
durch in den Zellkörper austreten und denselben — das genauere
,,Wie" entzieht sich bisher unserer Vorstellung — in ihrem Sinne
umgestalten. Da nun letzten Endes jede Zelle des Organismus aus
der befruchteten Eizelle, jeder Zellkern aus dem Keimkern hervor-
gegangen ist, so müssen auch die Determinanten aller Kerne ur-
sprünghch aus dem Kern der befruchteten Eizelle, d. h. aus dem
Keimplasma, stammen: das Keimplasma muß alle die verschieden-
— 131 —
artigen Determinantensorten für den ganzen Organismus ent-
halten. Dabei ist freilich nicht anzunehmen, daß jede einzelne Körper
zelle im Keimplasma durch eine besondere Determinante vertreten
ist; das würde bei den Milliarden von Zellen, die den vielzelligen
Organismus aufbauen, eine ungeheuerliche Annahme sein. Sie ist
aber auch gar nicht nötig, denn da die Determinanten lebendige
Einheiten sind, so muß ihnen die Fähigkeit der Assimilierung und
Vermehrung zugesprochen werden, und so können wohl die Deter-
minanten von tausenden von Blut- oder Muskelzellen von einer
einzigen Determinante oder doch von deren wenigen im Keimplasma
abstammen. Daß indessen andererseits auch nicht etwa alle gleich-
artigen Gewebszellen nur von einer einzigen Keimplasmadeter-
minante abstammen können, lehren die Vererbungserscheinungen.
Von deren Standpunkt aus betrachtet, müssen die einzelnen Deter-
minanten im Keimplasma nicht bloß ganz allgemein Muskel-, Nerven-
usw. Determinanten sein, sondern eine nach Spezies, ja nach In-
dividuen eigenartige Natur besitzen. Von den elterlichen Keim-
plasmen stammend, sollen sie die Eigenheiten der elterlichen Or-
ganismen auch im kindlichen Organismus wieder zum Ausdruck
bringen. Dazu aber ist nötig, daß jeder selbständig und erblich
veränderliche Teil des Körpers durch ein besonderes Teilchen, eine
besondere Determinante, im Keimplasma vertreten ist. Wenn eine
kleine individuelle Besonderheit beim Menschen, die sich nur auf
eine beschränkte Stelle eines Körperteiles bezieht ( — ein Grübchen
der Haut, eine besonders gefärbte Haarlocke u. a. — ) durch mehrere
Generationen hindurch in einer Familie vererbt wird, so erfordert
das die Annahme, daß für diesen Teil schon im Keim ein besonderes
Bestimmungsstück vorhanden ist, dessen Variieren eben jene
Variation des Individuums nach sich zog. Die Milliarden von Blut-
zellen dürften möglicherweise von einer einzigen Determinante
des Keimplasmas bestimmt werden; die Muskel-, Haut-, Drüsen-
und manche anderen Zellen werden vermutlich gruppenweise durch
eine Determinante bestimmt.
Dadurch wird die Zahl der im Keimplasma anzimehmenden
Determinanten wesentlich verkleinert. Auf der anderen Seite aber
gibt es eine Anzahl von Erscheinungen, die dafür sprechen, daß
vielfach für denselben Teil mehrere etwas verschiedene Deter-
minanten vorhanden sind — wodurch die Zahl der anzunehmenden
Determinanten wieder vergrößert wird. Hierauf ist unten, bei
Betrachtung der ,,Ide", zurückzukommen.
Die Determinanten des Keimplasmas sind also lebendige
Teilchen, Anlagestücke für bestimmte Teile des Organismus, die
durch sie in ihrer Existenz wie in allen ihren Besonderheiten (also
nicht bloß in der histologischen Zelldifferenzierung, sondern auch
in ihrer Größe usw.) bestimmt werden. Die durch sie bestimmten
Teile des fertigen Organismus nennt Weismann Determinaten,
Vererbungsstücke. Es müssen im Keimplasma mindestens so
viel Determinanten enthalten sein, als es selbständig und erblich
variable Bezirke am fertigen Organismus gibt, seine sämtlichen
Entwicklungsstadien mit eingeschlossen.
In der gleichen Weise wie es eben für die Keimzellen der Viel-
zelligen besprochen worden ist, ist auch schon bei den mit einem
Kern versehenen Einzelligen die gesamte Individualität des
Tieres in dieser Kernsubstanz als Anlage- oder Vererbungssubstanz
enthalten. Daher leitet bei Verstümmelung von Infusorien der Kern
die Wiederherstellung des verstümmelten Tieres. Der Kern der
Einzelligen kann der Keimsubstanz, der Zellkörper dem Soma der
Vielzelligen verglichen werden. (Von dieser Grundlage aus sind
ja auch, wie im vorigen Abschnitt besprochen wturde, die Ver-
erbungserscheinungen bei den Einzelligen in gleicher Weise zu be-
trachten wie die bei den Vielzelhgen.)
Die Ide. \Vechsel der Anschauung Weismanns hinsichtlich
der Natur der Chromosonien.
Ein Begriff, der in Weismanns Theorie eine große Rolle
spielt und daher wiederholt in seinen Schriften angewendet wird, ist :
,,das Id". Die Bedeutung dieses Begriffes hat aber gewechselt;
in der letzten Auflage der ,, Vorträge" ist er in anderem Sinne ge-
braucht als früher, woraus sich eine Schwierigkeit bei dem Ver-
gleich dieser letzten Darstellung der Theorie mit den früheren er-
gibt. Anfangs bedeutete ein ,,Id": den gesamten Determi-
nantenkomplex, der die Anlagen für ein ganzes Indi-
viduum in bestimmter gesetzmäßiger Anordnung ent-
hält. Die anfängliche Fassung der Theorie nimmt nun an, daß
in jedem Keimplasma, d. h. in dem Kern einer jeden Keimzelle,
eine sehr große Anzahl solcher Ide (,, Vollide") enthalten sei, die
— 133 —
alle, von verschiedenen Aszendenten stammend und somit Ahnen-
plasmen darstellend, eine etwas verschiedene individuelle Färbung
besäßen. Als diese Ide wurden die Mikrosomen angesprochen,
d. h. die kleinen Körnchen, die bei den höheren Formen eine jede
Kernschleife (jedes Chromosom) in linearer Aneinanderreihung zu-
sammensetzen. Letztere, die Chromosomen, erhielten daraufhin
den Namen Idanten. Das Keimplasma erschien so zusammen-
gesetzt aus drei Stufen von Lebenseinheiten: die erste, niederste,
bilden die Biophoren, die zweite die Determinanten, die dritte
die Ide.
Diese Vorstellung, daß das Keimplasma einer jeden Keimzelle
die Anlagenkomplexe für eine sehr große Anzahl von Individuen
enthält, aus einer großen Menge von Ahnenplasmen zusammen-
gesetzt ist, gründete sich auf die Überlegung, daß bei jeder Be-
fruchtung zwei Keimplasmen miteinander vereinigt werden. Das
wurde schon oben bei Besprechung der Befruchtung genauer aus-
einandergesetzt, und zugleich w^urden die Konsequenzen erörtert,
die sich daran knüpften. Aus der Überlegung, daß nach jener Auf-
fassung durch die Befruchtung schon nach wenigen Generationen
eine ganz ungeheure Anhäufung von Anlagekomplexen im Keim-
plasma entstehen müßte, ergab sich die Notwendigkeit eines Vor-
ganges, durch den die Zahl der Anlagenkomplexe oder Ide vor der
Befruchtung auf die Hälfte verkleinert, und dadurch die Keimzellen
für die nachfolgende Befruchtung vorbereitet würde. Hierfür konnte
aber vom Standpunkt der Weis mann sehen Vorstellung aus eine
gewöhnliche Kernteilung nicht in Betracht kommen. Denn wenn die
Ahnenplasmen oder Ide sich in den Chromosomen in linearer An-
ordnung (in Form der Mikrosomen) befinden, so müßte eine Längs-
spaltung der Chromosomen, wie sie bei jeder gewöhnlichen Zell-
teilung erfolgt, auch eine Halbierung eines jeden Ids bewirken, und
jedes der beiden Tochterchromosomen würde je eines der zusammen-
gehörigen Tochteride, der Zahl nach also genau so viel Ide erhalten
wie das Mutterchromosomen. So ergab sich zunächst theoretisch
die Forderung, daß neben dieser Äquationsteilung noch ein
anderer Teilungsmodus, eine Reduktionsteilung, vorkommt,
und die zweite Reifeteilung der Keimzellen gestattete tatsächlich
eine Auffassung in diesem Sinne: denn hier unterbleibt die vor-
herige Längsspaltung der Chromosomen, und es wird einfach die
— 134 —
Zahl derselben auf zwei Zellen verteilt. Damit würde also auch die
Zahl der Ide oder Ahnenplasmen halbiert werden, und erst durch
die nachfolgende Befruchtung, d. h. die Vereinigung je eines in
dieser Weise präparierten Eies und Spermiums würde in dem be-
fruchteten Ei die ursprüngliche Idzahl wiederhergestellt. Die
Schlüsse, die Weismann auf der Grundlage dieser Auffassung hin-
sichtlich der Bedeutung der Reifeteilungen und der Befruchtung
zog, wurden schon besprochen.
Diese lange Zeit festgehaltene Vorstellung von der Zusammen-
setzung des Keimplasmas aus einer sehr großen Anzahl von Ahnen-
plasmen oder Volliden hat Weismann, wie ebenfalls schon berührt
wurde, in der dritten Auflage seiner Vorträge (1913) fallen gelassen.
Veranlassung dazu boten mehrere Umstände. Zunächst mag wohl
auch Weis mann selbst den vielfach erhobenen Einwand, daß jene
Annahme dem Vorstellungsvermögen etwas zu viel zumutet, als
nicht unberechtigt empfunden haben. Schon die einzelnen Kern-
stäbchen oder Kernschleifen sind mikroskopisch kleine Gebilde,
die Mikrosomen sind noch viel kleiner. Und ein jedes von diesen
sollte nun noch die vielen Tausende von Determinanten enthalten, die
für einen ganzen Organismus bestimmt waren! Dabei mußte sich
die einzelne Determinante allerdings völlig ins Wesenlose ver-
flüchtigen. Aber zu dieser Erwägung kamen auch verschiedene
Beobachtungstatsachen. Einmal gewisse von verschiedenen Seiten
erhobene Befunde, die bei manchen Formen eine Verschiedenheit
der einzelnen Chromosomen eines Kernes, nach Form und Größe,
kennen lehrten, dann gewisse Versuche von Boveri, endlich, und
wohl nicht zum mindesten, die Mendel sehen Vererbungserschei-
nungen, die zwar schon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts erkannt worden waren, aber erst zu Beginn dieses Jahr-
hunderts aufs neue entdeckt wurden und die Vererbungsforschung
auf eine ganz neue wissenschaftHche Grundlage stellten. Für den
wichtigsten Grundgedanken seiner Theorie, die Vorstellung, daß
das Keimplasma aus zahlreichen verschiedenen materiellen Teilchen
— Bestimmungsstücken oder Determinanten — bestehe, durfte
Weismann allerdings gerade in den Mendel sehen Vererbungs-
rcgeln eine willkommene Bestätigung sehen: die Selbständigkeit,
die in den Mendel sehen Bastardierungsversuchen die einzelnen
Merkmale der Bastardeltern zeigten, konnte wohl als Hinweis
— 135 —
daraut aufgefaßt werden, daß diesen Merkmalen auch selbständige
materielle Vererbungsstücke entsprechen, die zugleich die sub-
stantielle Grundlage für die auch von der modernen Vererbungs-
lehre angenommenen ,, Faktoren" bilden, von denen die Ausbildung
eines Merkmals abhängig gedacht wird; aber jene Anschauung von
der Vielheit von Volliden im Keimplasma war mit den Mendel-
schen Vererbungserscheinungen schwer in Einklang zu bringen,
und die anderen oben angeführten Gründe sprachen ebenfalls für
eine andere Auffassung der Chromosomen. So bekennt sich denn
Weis mann in der letzten Auflage der ,, Vorträge" zu der von
Boveri begründeten Anschauung von der qualitativen Ungleich-
wert ig keit der einzelnen, in einem Keimzellenkern enthaltenen
Chromosomen und schreibt einem jeden derselben nur die Bedeutung
eines Teil- ödes Partialides zu, d. h. eines Komplexes einer
großen Anzahl ganz bestimmter Determinanten. Die ,, Teilide"
sind qualitativ untereinander ungleich und enthalten nur die Deter-
minanten für bestimmte Teile des Körpers. Noch ein weiteres Er-
gebnis der modernen Zellforschung, zu dem ebenfalls Boveri,
nebst anderen Forschern (Montgomery, Sutton) gelangt war,
ist von Weismann nunmehr anerkannt und verwertet worden:
der für verschiedene Formen geführte Nachweis, daß immer je
zwei Chromosomen sich in ihrer Form und Größe entsprechen,
was dahin gedeutet werden konnte, daß immer je zwei gleich große
und gleich beschaffene Chromosomen die entsprechenden homologen
Gebilde von väterlicher und mütterlicher Seite her seien ^s).
So lautet nun die neue Deutung dahin, daß, wenigstens bei
den höheren Tieren und Pflanzen, die Gesamtsumme aller Chromo-
somen der unreifen Keimzelle nur zweimal die Anlage eines vollen
Individuums ausmacht. Nur zweimal sind der Regel nach die Ge-
samtanlagen für den ganzen Organismus im Kern der unreifen
Keimzelle enthalten, einmal vom Vater und einmal von der Mutter
her; diese Gesamtanlagen sind auf die ganze Menge der Chromosomen
so verteilt, daß immer je zwei Chromosomen die entsprechenden
(homologe, korrespondierende) Determinantenkomplexe enthalten:
je einem väterlichen Komplex entspricht ein mütterlicher. Somit
wäre auch die für jedes Merkmal notwendige Determinante stets
zweimal vorhanden, einmal vom Vater, einmal von der Mutter.
Dies würde wenigstens als Regel bei den höheren Organismen zu
— 136 —
gelten haben. Öoch dürften auch bei diesen manchmal Ausnahmen
vorkommen: so weisen die Erscheinungen des Polymorphismus bei
den sozialen Hymenopteren darauf hin, daß hier neben den Teil-
iden noch Vollide in den Kernen der Geschlechtszellen vorkommen.
Bei niederen Organismen liegen die Dinge wahrscheinlich vielfach
anders: so scheinen bei den Radiolarien die, nach Haecker in
der Zahl von Hundert bis Tausend vorhandenen Chromosomen
die Bedeutung von Volliden zu besitzen, d. h. ein jedes dürfte den
ganzen Determinantenkomplex enthalten, der für ein ganzes In-
dividuum notwendig ist. Man darf annehmen, daß die Chromosomen
sich in der Stammesgeschichte erst allmählich differenziert haben,
aus Volliden zu Partialiden geworden sind ^^) .
Bei dieser gänzlich veränderten Sachlage wäre es vielleicht
das beste gewesen, den Ausdruck ,,Id" ganz fallen zu lassen. Weis-
mann hat das nicht getan; er hat den Begriff beibehalten und
ihm nur eine ganz allgemeine Bedeutung gegeben: die einer selb-
ständigen, in sich geschlossenen Determinantengruppe, mag diese
die ganze Erbmasse der Art einschließen, oder nur einen Teil davon.
Die uns sichtbare Form dieser Determinantengruppen sind die
Chromosomen; ,,Id" und ,, Chromosom" sind darnach jetzt identische
Begriffe. Für die höheren Organismen gilt allgemein, daß die als
geschlossene Einheiten auftretenden Determinantengruppen, die
Chromosomen, Partialide, also Komplexe einer beschränkten
Anzahl von Anlagen darstellen, und somit untereinander ganz
ungleichwertig sind, da ein jedes nur bestimmte Determi-
nanten enthält.
Der mancherlei Schwierigkeiten, die sich aus dieser neuen
Betrachtungsweise ergeben, und der vielen Unklarheiten, die hier
noch bestehen, ist sich Weismann durchaus bewußt gewesen.
Es gibt zahlreiche Tatsachen, die, wenn man überhaupt Determi-
nanten gelten läßt, zu der Annahme nötigen, daß vielfach für den-
selben Teil nicht nur zwei, sondern mehrfache, etwas verschiedene
Determinanten vorhanden sind. So die Erscheinungen des so-
genannten Rückschlags, das Wiederauftreten alter längst ver-
schwundener Ahnencharaktere. Vom Standpunkt der Determi-
nantentheorie erklärt Weismann sie ganz allgemein durch die
Annahme, daß vielfach durch Generationen hindurch latente Vor-
fahrendeterminanten im Keimplasma mitgeführt werden, die von
— 137 —
der allgemeinen Veränderung, die die Determinanten ihresgleichen
im Laufe der Phylogenese erlitten, nicht betroffen wurden und ge-
legentlich wieder einmal zur Geltung gelangen. Unter Zugrunde-
legung der ursprünglichen Vorstellung, daß jedes Keimplasma
sich aus einer sehr großen Menge von Volliden aufbaut, war
das leicht verständlich: in jedem dieser Vollide mußten ja dieselben
homologen Determinanten vertreten sein, und man konnte sie sich
in jedem Id etwas verschieden denken. Für die neuere Fassung der
Theorie ergibt sich eine größere Schwierigkeit, da nach derselben
die Gesamtsumme aller vorhandenen Determinanten nur die An-
lagen für zwei Individuen bilden soll. Einen Ausweg ergibt die
schon erwähnte Annahme, daß gelegentlich, bei den sozialen Hy-
menopteren, außer Teiliden noch Vollide vorhanden sind ; ein anderer
liegt in der Vorstellung, daß wir uns die Determinanten für einen
Teil oder ein Merkmal ,,wohl meist im Plural zu denken haben".
Darnach brauchen Veränderungen, die im Laufe der Phylogenese
an den Determinanten eines Merkmals erfolgen, nicht gleich alle
homologen Determinanten dieses Merkmals treffen, sondern können
eine mehr oder minder große Anzahl derselben unberührt lassen.
Diese können durch Generationen hindurch in latentem Zustand
mitgeführt werden, dann aber gelegentlich sich wieder einmal zur
Geltung bringen. In weiterer Verfolgung dieses Gedankens von der
Mehrheit der Determinanten auch für ein und dasselbe Merkmal
hält Weismann es auch für sehr wohl möglich, daß die Zahl der
Determinanten, die in zwei homologen Chromosomen für dasselbe
Merkmal bestimmt sind, gelegentlich ungleich ist. In dieser
Ungleichheit der Zahl könnte der Grund für die Ungleichheit
ihrer Stärke liegen, und damit der Grund für die erwähnte Er-
scheinung : daß die von dem einen Elter stammenden Determinanten
eines Merkmals die des anderen Elters unterdrücken. —
Hier bleiben noch manche Fragen ungeklärt. Mit der einfachen
Annahme, daß in jeder befruchteten Eizelle die Anlage für jeden
Teil zweimal vertreten sei, einmal vom Vater, und einmal von der
Mutter her, kommt man nicht aus. Und auch über die Verteilung
der Determinanten auf die einzelnen Chromosomen ist höchstens
etwas Negatives auszusagen: die Vererbungserscheinungen sprechen
dafür, daß zusammengehörige Determinanten, z. B. die der Haare
oder Federn, durchaus nicht immer zusammenliegen. Ist doch,
- 1^8 -
um gewissen Schwierigkeiten zu begegnen, selbst an einen Aus-
tausch von Determinanten zwischen zwei homologen Chromosomen
gedacht worden.
Die Änderung in der Auffassung von der Natur und Zusammen-
setzung der Chromosomen, wie sie in der 3. Auflage der Vorträge
durchgeführt ist, erforderte dann auch eine andere Betrachtung der
Vorgänge, die sich bei der Reifung der Geschlechtszellen abspielen.
Sie kommt, wie schon im fünften Abschnitt erörtert wurde, darauf
hinaus, daß durch die Reifeteilungen zunächst die Zahl der Chromo-
somen oder Determinantenkomplexe verdoppelt wird, und die
Komplexe dann auf die vier reifen Keimzellen, die aus der einen
unreifen Zelle hervorgehen, verteilt werden, und zwar in der Art.
daß jede der vier Zellen einen ganzen Satz von Determinanten-
komplexen, wie er zur Erzeugung eines ganzen Individuums nötig
ist, erhält. Wobei es dann ganz vom Zufall abhängig ist, wie sich
im einzelnen väterliche und mütterliche Chromosomen mischen.
Jede reife Keimzelle wird so mit allen für ein ganzes Individuum
nötigen Determinanten ausgestattet, die aber zum Teil der Mutter,
zum Teil dem Vater des Individuums entstammen, an dem die
fragliche Keimzelle zur Reife kommt. Die theoretischen Schluß-
folgerungen, die sich daran knüpfen lassen, insbesondere auch die
Beziehungen zu den Erscheinungen der alternierenden oder Mend ei-
schen Vererbungsweise wurden schon oben besprochen. In Ergänzung
des dort Gesagten mag hier nur noch besonders betont werden,
daß die Bezeichnungen: ,, väterliche" und , .mütterliche Chromo-
somen" cum grano salis zu verstehen sind, und nur bedeuten:
Chromosomen, d. h. Determinantenkomplexe (Partialide) aus der
väterlichen und aus der mütterlichen Aszendentenreihe. Die De-
terminantenkomplexe stellen ,, Ahnenplasma" dar, das letzten Endes
zurückverfolgbar ist durch die Reihe der Vorfahren hindurch bis
auf die ersten Anfänge bestimmender Keimplasmen überhaupt.
Nur sind sie im Laufe dieser ungeheuer langen Zeit nicht unver-
ändert geblieben, sondern vielfachen Veränderungen unterworfen
gewesen. Auf diese wird noch besonders einzugehen sein.
Hat nun auch so die Weis mann sehe Theorie eine Anpassung
an neu bekannt gewordene Tatsachen erfahren, so ist doch ihr
wichtigster Hauptgedanke: die Lehre von der Zusammensetzung
des Kcimplasmas aus materiellen Bestimmungsstücken, derselbe
— 139 —
geblieben. Die Keimsubstanz verdankt ihre wunderbare Ent-
wicklungskraft nicht bloß ihrer chemisch-physikalischen Beschaffen-
heit im ganzen, sondern dem Umstand, daß sie aus zahlreichen und
verschiedenartigen ,, Anlagen" besteht, d. h. aus Gruppen lebendiger
Einheiten, die mit allen Kräften des Lebens ausgerüstet sind. Sie
ist nicht ein einfacher Organismus, sondern ein Bau von sehr ver-
schiedenen Organismen oder Einheiten, ein Mikrokosmus. Von
dieser Grundlage aus entwickelt denn auch Weis mann seine
Theorie der Ontogenese sowie die von der Germinalselektion, d. h.
den Vorgängen, durch welche im Laufe der Stammesgeschichte
erbliche Abänderungen des Keimplasmas und damit der Formen
zustande gekommen sind.
2. Die Betätigung des Keimplasmas in der Ontogenese.
Das Problem.
Eine bestimmte Antwort auf die zweite Frage des Vererbungs-
problemes: wie kommen bei der Entwicklung die Vererbungs-
tendenzen zur Entfaltung ? ergibt sich aus der Auffassung vom
Wesen und Bau des Keimplasmas. Solange Weis mann noch der
Ansicht war, daß die Wirksamkeit des Idioplasmas, d. h. des Kern-
plasmas in jeder Zelle, auf seiner molekularen Struktur beruhe,
und daß somit auch alle erblichen Merkmale in Besonderheiten der
molekularen Struktur des Keimplasmas ihren Grund haben müßten,
mußte er auch annehmen, daß während der Ontogenese schritt-
weise eine Umwandlung dieser Struktur im Sinne einer Verein-
fachung erfolge. Nachdem aber diese Strukturhypothese durch
die Determinantenhypothese ersetzt worden war, mußte auch die
Auffassung vom Wesen der Ontogenese eine andere werden. Aber
auch jetzt waren noch zwei Möghchkeiten gegeben: die Annahme
einer gesetzmäßig fortschreitenden Zerlegung der in dem Keim-
plasma enthaltenen Anlagenmasse in immer kleinere Gruppen
(Zerlegungstheorie), und die Annahme, daß sämtliche Anlagen
zusammenbleiben in allen Zellen des Bion, daß aber jede von ihnen
auf einen spezifischen Reiz abgestimmt ist, der sie allein auslöst
(Auslösungstheorie). Weis mann entschied sich in der Haupt-
sache für die Zerlegungstheorie, doch mit der Einschränkung,
daß für manche Zwecke gewisse Mengen von Keimplasma zunächst
— 140 —
unzerlegt bleiben (zur Ausstattung der Keimzellen sowie gewisser
somatischer Zellen zwecks Erzeugung von Knospen oder zwecks
Regeneration), sowie daß auch den auslösenden Reizen eine Be-
deutung tür das Aktivwerden bestimmter Determinanten in der
Ontogenese zukommt.
Ontogenetische Zerlegung des Keimplasmas.
In der Hauptsache lautet darnach seine Auffassung von der
Ontogenese dahin: es muß während derselben eine Zerlegung der
Determinantenkomplexe (Chromosomen, Teilide) des Keimplasmas
erfolgen; diese Komplexe müssen gesetzmäßig in der Weise auf-
geteilt werden, daß die Tausende von Determinanten, die in ihnen
vereinigt waren, sich im Laufe der Entwicklung voneinander trennen
und schließlich einzeln in die Zellen gelangen, die sie zu bestimmen
haben. Vorbedingung für diesen gesetzmäßigen Ablauf der Zer-
legung der Chromosomen ist, daß diese selbst eine ganz bestimmte
Architektur besitzen, in der den einzelnen Determinanten ganz
bestimmte Stellen angewiesen sind; das Mittel, durch das die Zer-
legung erreicht wird, sind die Kernteilungen, die den ontogenetischen
Zellteilungen vorausgehen. Diese Kernteilungen müssen ,, erb-
ungleich" sein, d. h. die beiden Spalthälften, in die sich ein jedes
Chromosom teiJt, und die dann auseinander rücken, müssen, so
sehr sie äußerlich auch gleich erscheinen mögen, doch innerlich
ungleich, aus sehr verschiedenen Determinantengruppen zu-
sammengesetzt sein. Es findet also eine Aufteilung der Determi-
nanten im Laufe der Ontogenese statt ; die Zahl der Determinanten-
arten m den Chromosomen vermindert sich mit jeder Zellteilung,
so daß schließlich die Kerne hoch differenzierter Zellen nur noch
eine Art von Determinanten enthalten. Wenn dabei nicht auch
eine entsprechende Abnahme der Masse der Kernsubstanz erfolgt,
so ist das so zu erklären, daß die Determinanten, als lebende Ein-
heiten, die Fähigkeit besitzen, zu assimilieren und sich durch Teilung
zu vermehren, so daß schließlich im Kern einer hoch differenzierten
Zelle zwar lediglich Determinanten einer Art, diese aber in sehr
großer Menge, vorhanden sein müssen. Den Vorgang der Entwick-
lung hat man sich so zu denken, daß ,,bei jedem Zellenschritt der
Ontogenese" gewisse Determinanten aktiv werden und die Zelle
bestimmen, in der sie sich gerade befinden, während die anderen.
— 141 —
die ( — infolge ihrer besonderen Lage innerhalb des Ids! — ) noch
nicht an der Reihe sind, einstweilen noch latent bleiben, während
ihres ganzen Transportes von der Keimzelle bis zu ihrer Endstätte
sich gegenüber den beherbergenden Zellen passiv, einflußlos ver-
halten und erst, wenn sie an ihrem Ziele angelangt sind, heran-
reifen, sich in ihre Biophoren auflösen, diese in den Zellkörper
austreten lassen und so die spezifische Natur desselben bestimmen.
Kampf der homologen Deternninanten untereinander; Bedeutung
für die Vererbungserscheinungen; alternierende Vererbung
(Mendel).
Für das Verständnis der Vererbungserscheinungen von Be-
deutung ist dann besonders der Umstand, daß in dem befruchteten
Ei die für den Gesamtorganismus nötigen Determinantenkomplexe
zweimal — einmal vom Vater und einmal von der Mutter her —
vorhanden sind. An beiden Komplexgruppen müssen sich die gleichen
Vorgänge der Auseinanderlegung der Anlagen abspielen: das aus
einer befruchteten Eizelle hervorgehende Individuum ist das Er-
gebnis der Entfaltung nicht eines einzigen Anlagenkomplexes,
sondern zweier. Für jedes Organ, jede selbständig variierende Zell-
gruppe sind also die notwendigen Determinanten in der Zweizahl
vorhanden; jede einzelne Zelle erhält zu gleichen Teilen väterliche
und mütterliche Chromosomen, und in diesen auch väterliche und
mütterliche homologe (korrespondierende) Determinanten oder rich-
tiger wohl: Determinantengruppen. Denn es wurde ja schon
gesagt, daß die Determinanten die Fähigkeit haben, sich zu ver-
mehren, und daß somit der Begriff ,,eine" Determinante nicht
immer buchstäblich zu nehmen ist, sondern oft, auch wenn es sich
um die Bestimmung nur eines Merkmals handelt, eine Gruppe
von Einzeldeterminanten bezeichnen wird. Ein Kampf um
die Geltendmachung, wie er zwischen den Individuen in der Natur
herrscht, wird sich nun auch hier, während der Ontogenese, im kleinen
abspielen. Dabei kann die eine der beiden homologen Determinanten
oder Determinantengruppen die andere vollständig unterdrücken
und somit bei der Ausbildung der betreffenden Zelle oder Zell-
gruppe allein maßgebend werden, oder es kann zwischen den beiden
gewissermaßen ein Kompromiß zustande kommen. Das wird ab-
hängen von dem Stärke Verhältnis der beiden Gruppen, das wieder,
— 142 —
nach der schon oben erörterten Hypothese Weismanns, auf der
verschiedenen Anzahl gleicher Determinanten in ihnen beruhen
dürfte. Im ersteren Fall (völlige Unterdrückung einer Determi-
nantengruppe durch die andere) erscheint in dem Individuum an
der betreffenden Stelle nur das eine der beiden Merkmale, die der
väterliche und der mütterliche Organismus darboten, im zweiten
Falle (Kompromiß zwischen beiden Gruppen) kommt ein Mittel-
ding zwischen dem väterlichen und dem mütterlichen Merkmal
zustande. Da dieser Kampf der Determinanten sich aber erst in
den somatischen Zellen abspielt, die von den Determinanten be-
herrscht werden, und nur in diesen, nicht aber auch zugleich in
dem Anteil des Keimplasmas, der in den Keimzellen reserviert ist,
so ist es durchaus möglich, daß ein Merkmal, das in einer Generation
unterdrückt erscheint, in einer späteren wieder auftaucht: eine
Determinantenart, die in einer Ontogenese der ihr entgegenstehenden
unterliegt, kann in einer folgenden Generation zur Geltung ge-
langen, wenn sie durch die Befruchtung mit einer anders gearteten,
aber schwächeren, oder gar mit einer gleich gearteten zusammen-
kommt.
Von diesen Überlegungen aus würden, nach der letzten Fassung
der Weis mann sehen Theorie, viele Erscheinungen der Vererbung
zu erklären sein. Zunächst insbesondere die sogenannten Rück-
schläge. Erste Vorbedingung für dieselben wäre, wie oben ge-
sagt, das Vorhandensein alter Ahnendeterminanten, die von der
phyletischen Umwandlvmg der übrigen homologen Determinanten
unberührt blieben und durch die Generationen hindurch fortgeführt
wurden, ohne sich gegenüber den übrigen, umgewandelten, zur
Geltung bringen zu können; die Bedingung für ihr Wiederhervor-
treten wäre gegeben, wenn sie durch die Amphimixis mit gleich-
artigen, ebenfalls unverändert gebliebenen zusammengebracht
würden und so das Übergewicht über die modernen, veränderten,
erhielten.
Die gleiche Vorstellung von dem Kampfe der homologen
Determinanten um die Geltendmachung vermittelt dann auch ein
Verständnis für das verschiedene Aussehen der Bastarde bei Kreu-
zung verschiedener Rassen, wie es Mendel und seine Nachfolger
kennen gelehrt haben. Kreuzung der ungebänderten vmd der ge-
bänderten Gartenschnecke ergab, in den berühmten Versuchen von
— 143 —
A. Lang, in der ersten Generation stets nur bänderlose, einfach
gelbe Nachkommen; das eine Merkmal, die Bänderung, war also
hier unterdrückt oder, wie Mendel selbst es nennt, ,, rezessiv"
das andere, die Bänderlosigkeit, war herrschend, ,, dominant".
Dagegen ergab die Kreuzung der tiefrosa blühenden Wunderblume
(Mirabilis Jalapa) mit der weiß blühenden, nach Correns, in der
ersten Generation nur hellrosa gefärbte Nachkommen, ,,inter-
mediäre" Bastarde in der Mendel-Terminologie. Diese Termino-
logie nennt bekanntlich das Vereinigungsprodukt zweier Keimzellen
ganz allgemein eine Zygote, und spricht von Homozygoten, wenn
dabei gleiche Anlagen (in bezug auf ein oder mehrere Merkmale)
zusammenkommen, und von Heterozygoten bei Ungleichheit der
Anlagen. Das verschiedene Aussehen der Heterozygoten, wie es
sich in den beiden erwähnten Beispielen zeigt, erklärt die Weis-
mann sehe Theorie in der angedeuteten Weise durch den Kampf
der homologen Determinantengruppen, der in beiden Fällen ver-
schieden ausgeht. In dem Beispiel der Gartenschnecke siegen die
Determinanten für Bänderlosigkeit über die für Bänderung, die
somit nicht zur Geltung kommen; in dem Beispiel der Mirabilis
dagegen würden sich die Determinanten für tiefrosa und die für
weiß die Wage halten, und als Ergebnis die hellrosa Färbung der
Bastarde herauskommen. Daß, wie Weismann es annimmt,
diese Determinantenkämpfe sich nur in den somatischen Zellen
abspielen, während in dem Keimplasma die beiderlei Gruppen
friedlich nebeneinander bleiben und den Nachkommen übergeben
werden, geht aus dem Verhalten der zweiten Bastardgeneration
hervor, die durch Inzucht aus den Individuen der ersten erzielt
wird: hier treten die Stammerkmale bei einer bestimmten Anzahl
der Individuen hervor. In dem Beispiel der Gartenschnecke er-
scheint also wieder eine Anzahl gebänderter Exemplare: die
Determinanten für ,, Bänderung" waren also nur in den somatischen
Zellen unterdrückt, aber nicht in den Keimzellen.
Diese Auffassung ist im allgemeinen gewiß einleuchtend; für
die weitere, daß das Überwiegen einer Determinantengruppe über
die ihr entgegenstehende homologe auf einer größeren Zahl der
Einzeldeterminanten beruht, ergibt sich allerdings eine Schwierig-
keit aus der Gesetzmäßigkeit der oben erörterten Erscheinungen.
Die Bastardierungsexperimente haben gelehrt, daß die zwei zu
— 144 —
einem Merkmalspaar gehörigen Merkmale, die in den Bastard-
Generationen wieder auseinandergehen, ,, gespalten werden", sich
unter allen Umständen in gleicher Weise zueinander verhalten.
Ein bestimmtes Merkmal ist gegenüber einem bestimmten anderen
stets (obligatorisch) dominant oder rezessiv oder gleichwertig.
Darnach könnten Zufälligkeiten, wie stärkere Vermehrung der
einen Determinante, hier keine Rolle spielen.
Die frühere Auffassung Weismanns, die das Keimplasma
aus einer sehr großen Anzahl von Ahnenplasmen (Volliden) zu-
sammengesetzt sein ließ, mußte sich natürlich auch den Ablauf der
Ontogenese etwas anders denken. Das neu entstehende Individuum
erschien dabei als die Resultante aus dem Zusammenwirken aller
dieser Ide, die das Keimplasma ausmachen, der Kampf um die
Geltendmachung war nicht zwischen nur zwei Gruppen homologer
Determinanten auszufechten, sondern zwischen sehr vielen. Und
je nach dem Ergebnis dieses Kampfes mußte sich dann auch das
individuelle Bild des neuen Individuums gestalten, bald als Mischung
väterlicher, mütterlicher und der verschiedensten Ahnencharaktere,
bald mehr einseitig dem einen oder dem anderen Aszendenten
nachschlagend. Auch damit war ein Verständnis für die große
Mannigfaltigkeit in der Mischung des kindlichen Körpers aus väter-
lichen und mütterlichen Vererbungsstücken, wie auch für die Rück-
schläge auf frühere Aszendenten gegeben; aber die Gesetzmäßig-
keiten in den Vererbungserscheinungen, die die moderne Erblich-
keitsforschung namentlich im Anschluß an Mendels grundlegende
Versuche, kennen gelehrt hat, waren dadurch nicht zu erklären.
Daher ist Weismann von jener älteren Auffassung zurückge-
kommen.
Beeinflussung der Entwicklung durch äußere Einwirkungen.
Der gesetzmäßige Ablauf der Ontogenese in der eben an-
gedeuteten Weise setzt freilich eins voraus: normale Entwicklungs-
bedingungen. So sehr die Weis mann sehe Theorie den Schwer-
punkt auf das Vorhandensein substantieller Anlagestücke und auf
ihre ganze bestimmte Anordnimg legt, so leugnet sie doch nicht den
Einfluß der äußeren Einwirkungen auf den Ablauf der Entwick-
lung, und angesichts der Ergebnisse der experimentellen entwick-
lungsmechanischen Forschung hat auch Weis mann das Zugestand-
— 145 —
nis gemacht, daß Determinanten nicht unter allen Umständen
immer nur ein und dasselbe Gebilde hervorbringen müssen, sondern
als lebendige Einheiten auch die Fähigkeit haben, auf verschiedene
Reize verschieden zu antworten, verschiedenen Einflüssen nach-
zugeben.
Neben- (Reserve-, Regenerations-) Idioplasma,
Aber auch unter normalen Bedingungen können sich die Dinge
nicht immer in der geschilderten Weise abspielen; nicht jede Kern-
teilung in der Ontogenese kann eine Abspaltung nur bestimmter
Determinantengruppen aus den verschiedenen Iden bedeuten.
Innerhalb der Zellenfolge, die vom befruchteten Ei zu den Keim-
zellen des neuen Individuums führt, muß, der Lehre von der Keim-
plasmakontinuität entsprechend, ein unveränderter Teil des
Keimplasmas in inaktivem, gebundenem Zustand erhalten bleiben,
der den Anlagenkomplex des ganzen Individuums ( — und zwar
zweimal, zur Hälfte aus den väterlichen, zur Hälfte aus den mütter-
lichen Chromosomen stammend — ) enthält. Dieser Rest gelangt
in die Urkeimzellen und bildet in denselben den Bestand an Keim-
plasma, der bei der Vermehrung dieser Zellen sich ebenfalls durch
Assimilation vermehren muß, um für die Menge der Keimzellen
auszureichen. Ein ähnlicher Vorgang muß nach Weismanns
Auffassung auch angenommen werden zur Erklärung der Knospimgs-
und Regenerationserscheinungen. Wo, wie bei der Knospung der
Pflanzen und niederer Tiere, ein neues Individuum von irgend
welchen Körperzellen eines Mutterorganismus aus entsteht, da ist
anzunehmen, daß diese somatischen Zellen außer den sie selbst
bestimmenden Determinanten auch noch ein ,,Nebenidioplasma"
in gebundenem inaktivem Zustand enthalten, das unter gewissen
äußeren oder inneren Einflüssen aktiv wird und die Bildung der
Knospe veranlaßt. Ähnlich wie bei der Regeneration : auch in den
Körperzellen, von denen aus nach einer Verletzung eine Regeneration
eines ganzes Körperteiles erfolgt, müssen außer den spezifischen
Determinanten auch noch größere für eben diesen ganzen Körper-
teil bestimmte Gruppen von Regenerations- oder Nebendetermi-
nanten in aktivem Zustand vorhanden gewesen sein, bereit, unter
gewissen Umständen aktiv zu werden und den Teil, den sie be-
stimmen, aufs neue hervorzubringen. Sie bilden ein Nebenidioplasma,
Gaupp, Biographie Weismanns. 10
— 146 —
das sich schon von dem Keimplasma der befruchteten Eizelle her
erhält. Diese Erklärung, zu der Weismann wohl ganz selb-
ständig gelangt ist, und die sich ihm aus seiner Keimplasmalehre
ergab, war gleichwohl nicht ganz neu: in grundsätzlich gleichem
Sinne hatte schon 1881 Roux die Regenerationsfähigkeit darauf
zurückgeführt, daß die fraglichen Zellen ,, nicht dmrch und durch
an ihre spezifische Funktion angepaßt sind, sondern daß jede,
sei es im Kern oder im Protoplasma, noch einen Rest wirklichen
embryonalen Stoffes enthält, welcher in Tätigkeit tritt, sobald
imd soweit er nicht mehr durch den Widerstand der physiolo-
gischen Umgebung daran verhindert wird"^). Den fraglichen
Stoff nannte Roux später Reserveidioplasma und ließ ihn im
Zellkern lokalisiert sein. —
Erbgleiche und erbungleiche Teilung.
In den hier erörterten Gedankengängen spielt die wichtigste
Rolle die Annahme einer erbungleichen oder differentiellen
Teilung, die Weismann als Gegensatz zu der gewöhnlichen erb-
gleichen oder integrellen Kernteilung aufgestellt hat. Die Not-
wendigkeit, eine solche anzunehmen, hat Weismann schon 1885
in der Schrift über die Kontinuität des Keimplasma erörtert: wenn
der Kern das Wesen der Zelle bestimmt, so müssen verschieden
differenzierte Zellen auch spezifisch verschiedene Kerne enthalten;
da es mm aber im Laufe der Entwicklung so und so oft zu beob-
achten ist, daß aus einer Mutterzelle sehr verschiedenartige Tochter-
gebilde hervorgehen, so muß angenommen werden, daß in solchen
Fällen der Kern der Mutterzelle in zwei qualitativ ungleiche Hälften
sich geteilt hat, — so völlig identisch die beiden Tochterkerne und
die sie zusammensetzenden Kernschleifen auch äußerlich aussehen.
Dieser äußerlichen Gleichheit wird oft genug auch eine innere
Wesensgleichheit entsprechen, in vielen anderen Fällen aber wird
sie eben nur eine scheinbare sein. Es ist dies gerade ein Punkt der
Weis mann sehen Anschauungen, der besonders oft und bestimmt
bestritten worden ist. Auf der Annahme einer ,, erbungleichen"
Teilung beruhte auch schon die erste Auffassung Weismanns
von den Richtungskörperchen, die in diesen das ,,ovogene Kern-
plasma" sah, das sich von dem eigentlichen Keimplasma abge-
spalten habe. —
— 147 —
3- Allgemeine Betrachtung der Determinantentheorie.
Weis man ns Keimplasmatheorie ist eine Theorie der Ver-
erbung und der Ontogenese.
Die Determinantentheorie als Theorie der Vererbung.
Als Vererbungstheorie schließt sie sich, mit der Annahme
wirklicher materieller Teilchen als Träger der Vererbung, an Dar-
wins Pangenesistheorie an, zu der sie aber in scharfen Gegensatz
tritt bezüglich der Auffassung des Verhältnisses dieser Keimchen
zu den Körperzellen. Während bei Darwin die Keimchen von
den Körperzellen stammen, von diesen abgegeben werden, so daß
sie vom Zustand der letzteren in ihrer Natur bestimmt werden,
sind bei Weis mann umgekehrt die Teilchen das Bestimmende
(Determinierende) ; die Eigenschaften der Körperzellen aber sind
das Sekundäre, Bestimmte, Abhängige.
Auf Grund der Determinantenlehre ergeben sich nun auch
bestimmtere Vorstellungen in bezug auf das viel umstrittene Problem
der Vererbbarkeit somatogener Veränderungen. Schon auf Grund
der Prüfung des vorliegenden Beobachtungsmateriales und der
Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas war Weismann,
wde ja ausführlich in Abschnitt IV besprochen wiurde, zu den Schluß-
folgerungen gekommen: i. daß nur Besonderheiten, die im Keim-
plasma bedingt sind, ,,blastogene" Veränderungen, vererbt werden
können; 2. daß somatogene Veränderungen, mögen sie durch Ge-
brauch und Nichtgebrauch, oder durch direkte Wirkungen äußerer
Einflüsse bedingt sein, nicht auf die Nachkommen übertragbar sind,
da sie nicht vermögen, das Keimplasma, ganz allgemein gesprochen,
in einem entsprechenden Sinne zu beeinflussen; 3. daß direkte Me-
dituneinflüsse sowohl das Soma wie den Keim in gleichem Sinne
zu verändern vermögen, so daß am Soma passante, und am Keim
entsprechende vererbbare Veränderungen entstehen, — wodurch
der Schein einer Vererbung somatogener Abänderungen zustande
kommt. Durch die Annahme, daß das Keimplasma, das früher nur
ganz allgemein als eine höchst komplizierte Substanz genommen
wurde, aus einer sehr großen Anzahl einzelner Bestimmungsstücke
besteht, gewannen alle diese Vorstellungen eine viel bestimmtere
Fassung. Der Vorgang einer wirklichen Vererbung einer somatogenen
10*
— 148 —
Abänderung hätte bei dieser Struktur des Keimplasmas zur Voraus-
setzung, daß Veränderungen somatischer Zellen, die unter dem Ein-
fluß des Gebrauches und Nichtgebrauches oder direkter Medium-
wirkungen entstanden, von sich aus die entsprechenden noch in-
aktiven Determinanten des Keimplasmas derartig umzuändern
vermögen, daß sie bei ihrer Aktivierung auch wieder entsprechend
veränderte Determinaten bei dem Nachkommen hervorbringen.
Weismann hat die Möglichkeit eines solchen Vorganges , .soma-
tischer Induktion" durchaus abgelehnt. Andere Forscher sind in
dieser Hinsicht anderer Ansicht, ja es ist sogar gesagt worden,
daß gerade die Determinantentheorie die Möglichkeit bietet, sich
eine Vererbung somatischer, insbesondere funtioneller Abänderungen
theoretisch vorzustellen^^). Aber die Schwierigkeit, das muß doch
immer wieder hervorgehoben werden, wie es auch von Weismann
geschehen ist, liegt nicht darin, sich überhaupt eine Beeinflussung
des Keimplasmas durch das Soma zu denken, sondern darin, sich
die ganz bestimmte, der peripheren entsprechende Veränderung
der Determinanten vorzustellen. Auch der Hinweis auf Blutgefäße,
Nerven, Protoplasmabrücken als die tatsächlich vorhandenen Wege,
auf denen jene Beeinflussung des Keimplasmas durch das Soma
erfolgen kann, gestaltet das Problem nicht leichter. Eine besondere
Erörterung der theoretischen Vorgänge, die dabei anzunehmen
wären, hat, gerade unter Zugrundelegung eines Determinanten-
aufbaues des Keimplasmas, Roux vor einiger Zeit gegeben ^2).
Dagegen ist es leichter denkbar, daß durch denselben äußeren
Mediumeinfluß eine gleichsinnige Veränderung sowohl der Determi-
nanten erfolgt, die bereits in den Körperzellen aktiv sind, wie derer,
die noch im Keimplasma in inaktivem Zustand verharren. Die
Denkbarkeit einer gleichsinnigen Veränderung des Soma und des
Keimes durch denselben Einfluß, wie sie Weis mann auf Grund
seiner Schmetterlingsversuche gefolgert hatte — des Vorganges
der ,, Parallelinduktion" des Soma und des Keimes — wurde jeden-
falls durch die Determinantentheorie nicht beeinträchtigt, im Gegen-
teil, eher vergrößert. Daß Weismann in der Folge dazu gelangte,
sich diese Veränderung der Determinanten nicht als direkte Wirkung
der äußeren Einflüsse, sondern als auf dem Umweg über eine Ver-
änderung der Ernährungsbedingungen der Determi-
— 149 —
nanten zu denken, ist später bei der Lehre von der Germinal-
selektion genauer zu behandeln.
Überhaupt schloß sich ja an die Determinantenlehre auch
gleich die neue Frage an, auf welchem Wege eine Veränderung
der Determinanten überhaupt zustande kommen kann, und unter
welchen Einflüssen dies am häufigsten erfolgt : die ganze Frage nach
der Herkunft und Entstehung erblicher Abänderungen der Keim-
substanz verlangte vom Standpunkt der Determinantentheorie eine
besondere Erwägung. Sie folgte in der im Jahre 1895 zuerst ent-
wickelten Theorie der Germinalselektion, mit der die Deter-
minantentheorie erst ihren vollen Abschluß erhielt.
Hinsichtlich der allgemeinen Auffassung der Vererbungs-
erscheinungen kam Weis mann durch die Annahme von Deter-
minanten von der ursprünglichen mehr physiologischen Betrach-
tungsweise zu einer immer mehr morphologischen Behandlung des
Problemes, zu der sich die neueste Vererbungsforschung in einen
Gegensatz stellt, indem sie, von einer ähnlichen Grundlage wie
seinerzeit auch Weis mann ausgehend, die morphologischen Merk-
male der Organismen als Reaktionen der im Keimplasma gegebenen
inneren Konstitution auf die verschiedentlich wechselnden Faktoren
des äußeren Milieus, der Lebenslage, auffaßt, von dieser Grund-
lage aus aber mehr in physiologischer Richtung weiterschreitet
und das Vererbungsproblem ,, chemisch-physikalisch-physiologisch"
(Johannsen) behandelt. Indessen scheidet auch bei Weis mann
die physiologische Betrachtungsweise nicht ganz aus, denn auch
seine Determinanten sind nicht schlechtweg Träger der Merkmale
und nicht bloße chemische Molekülgruppen, sondern vielmehr
lebende Wesen, deren Mitwirkung beim Zustandekommen eines
bestimmten Teiles des Organismus nicht entbehrlich ist, und die
auch in Wechselwirkung mit den äußeren Entwicklungsbedingungen
arbeiten und sich sogar einer abnormen Gestaltung derselben in
ihrer Reaktionsart anzupassen vermögen. So ist es wohl nicht be-
rechtigt, Weismanns Behandlung des Vererbungsproblemes als
,, ultramorphologisch" zu bezeichnen, wie es geschehen ist.
Die Determinantentheorie als Theorie der Entwicklung.
Als Theorie der Entwicklung betrachtet, steht Weismanns
Determinantenlehre auf dem Boden der Präformations- oder Evo-
lutionslehre. Sie ist eine rein evolutionistische Theorie. Freilich
sieht sie, genau betrachtet, denn doch recht anders aus als die alte
Präformationslehre, die im 17. und 18. Jahrhundert herrschte
imd sich vor allem an die Namen Malpighi, Swammerdam,
Leeuwenhoek im 17., A. v. Haller und Ch. Bonnet im 18. Jahr-
hundert knüpft. Denn die genannten Forscher nahmen an, daß
eine der Keimzellen — nach den einen das Ei, nach den anderen
der Samenfaden — bereits den ganzen fertigen Organismus, nur
in minimalster Ausführung, als Miniaturmodell, enthielte — wollten
doch phantasiebegabte Mikroskopiker im menschlichen Samen-
faden den ganzen kleinen Menschen erkannt haben — , und für sie
bestand somit die ,, Entwicklung" in der Hauptsache auf einem
Wachstum, der bloßen Vergrößerung der bereits gegebenen Teile.
Ganz anders Weismann. Nur in dem Grundgedanken, daß im
Keim der ganze Embryo präformiert, und zwar substantiell prä-
formiert ist, schließt er sich an jene Vorstellungen an, aber der
Keim ist ihm nicht etwa lediglich ein minimales Modell des fertigen
Organismus, und die Substanzteile, aus denen er besteht, sind den
fertigen Teilen des späteren Organismus nicht im geringsten ähn-
lich, sie sind auch nicht so zu verstehen, daß aus ihnen etwa durch
rein formale Umbildung die definitiven Teile hervorgehen, sondern
sie sind ,, Determinanten", Bestimmungsstückc, arbeitende Lebens-
teilchen, die in der Ontogenese innerhalb der Zellkerne durch zahl-
lose Zellgenerationen hindurchgeführt werden, um dann erst, am
richtigen Orte angelangt — die einen früher, die anderen später —
zur Reife zu gelangen und, von den Kernen aus, den Zellen, in
denen sie eingeschlossen sind, einen bestimmten Charakter auf-
zudrücken. So kann, wenn man die Weismannsche Keimplasma-
theorie als Präformationstheorie bezeichnet, dies nur dahin ver-
standen werden, daß auch nach Weismann schon die befruchtete
Eizelle ein substantiell außerordentlich zusammengesetztes Gebilde
ist, ein Mikrokosmus, bestehend aus einer Unmenge kleinster körper-
licher Teilchen, die unter sich durchaus verschieden sind und be-
fähigt, alle die mannigfaltigen Teile des späteren Geschöpfes unter
Verwendung der Zellkörper entstehen zu lassen. Roux, der den
Unterschied der modernen Entwicklungstheorien gegenüber den
älteren zuerst scharf analysiert und in erklärenden Begriffen aus-
gedrückt hat, bezeichnet Weismanns Theorie als eine neo-
— 151 —
evolutionistische, womit gesagt ist, daß die ganze Menge der
später bei der Entwicklung sichtbar werdenden verschiedenen
Teile schon im Keim vorhanden war, aber unsichtbar und in ganz
anderer Form, so daß zwar bei der Ontogenese nicht ganz neue
Teile gebildet werden, wohl aber die von vornherein vorhandenen
eine Umbildung erfahren und nunmehr in neuer Form sicht-
bar werden. Weismanns Keimplasmatheorie ist eine
streng neoevolutionistische Theorie^^).
Das war sie nicht von vornherein. Auch Weismanns Ge-
dankengänge bewegten sich anfangs in Vorstellungen, wie sie von
Caspar Friedrich Wolff zuerst schon 1753 vertreten, freilich
erst sehr viel später zu allgemeiner Anerkennung gelangt waren.
Der alten grobsinnlichen und doch, an den zu beobachtenden Tat-
sachen gemessen, rein phantastischen Evolutionslehre konnte Wolff
die Lehre von der Epigenese entgegenstellen, die in gewissenhaftem
Anschluß an die tatsächlich zu beobachtenden Entwicklungsvorgänge
das Ei als ein außerordentlich einfaches Gebilde auffaßte, aus dem
erst auf dem lange Wege zahlreicher Um- und Neubildungen der
verwickelte Bau des fertigen Geschöpfes hergestellt wird. War
mit dieser Hervorhebung des tatsächlich Wahrnehmbaren das un-
A^eräußerliche Recht der Beobachtung auf Anerkennung zur Geltung
gekommen, so war doch andererseits außer acht gelassen — und
mußte von Wolff, bei dem damaligen Stande der Dinge auch
außer acht gelassen werden — daß das, was unseren Hilfsmitteln
einfach erscheint, innerlich doch eine uns unerkennbare Kompli-
kation besitzen kann. Die fortschreitende Forschung mußte dann
auch notwendig zu der Erkenntnis kommen, daß es immöglich ist,
eine tatsächlich ,, einfache" Substanz als Ausgang für die Entwick-
lung irgend eines Lebewesens anzunehmen. Enthält auch die be-
fruchtete Eizelle noch nicht das fertige in minimalsten Maßen aus-
geführte Modell des späteren Geschöpfes, so muß sie doch die Anlage
zu demselben enthalten und damit die Art des Endproduktes be-
stimmen, ,, determinieren". Aus dem Hühnerei kann schlechter-
dings nur ein Hiihn, aber kein anderes Tier werden. So ist die
Epigenese im alten Wolff sehen Sinne ganz ebenso abzulehnen
wie die Evolution im alten Sinne. Die „Epigenesis" im Sinne
M'^olffs ist nur ein Ausdruck des Beobachteten, sie bezeichnet,
wie Roux es ausdrückt, bloß das von Wolff erwiesene Geschehen,
— '52 —
„die sichtbare formale Produktion von Mannigfaltigkeit
von sichtbar einfachem Ausgange aus". Aber es war eine andere,
an die alte epigenetische Vorstellung anschließende Auffassung von
den Entwicklungs Vorgängen denkbar, und Weismann hat sich
lange bemüht, eine Keimplasmatheorie in diesem Sinne auszudenken.
Sie ging aus von der Überzeugung, daß in der befruchteten Eizelle
der ganze gesetzmäßige Ablauf der Entwicklung und damit das End-
produkt derselben präformiert sein muß, suchte aber diese Präfor-
mation nicht in der Zusammensetzung des Keimplasmas aus un-
zähligen substantiell verschiedenen und potentiell verschieden-
wertigen Teilchen, sondern in seiner besonderen Konstruktion
unter Verwendung nur weniger verschiedenartiger Stoffe; sie faßte
das Keimplasma also mehr auf als eine ktmstvoU gebaute Maschine,
einen Präzisionsapparat, bei dem es weniger auf den verwendeten
Stoff, als auf die Konstruktion, die Zusammenfügung der Teile
ankommt. In diesem Sinne ist noch die ,, Kontinuität dis Keim-
plasmas" geschrieben, in der Weismann versucht, die Entwicklung
der Anlagen nicht aus vorgebildeten Keimchen, sondern aus dem
molekularen Bau des Keimplasmas herzuleiten. Hier heißt
es noch (S. 371), daß nicht nur die sämtlichen quantitativen imd
quahtativen Charaktere der Art, sondern auch alle individuellen
Variationen, soweit dieselben erblich sind, in der winzigen Quantität
von Keimplasma, welches der Kern einer Keimzelle birgt, ent-
halten sein müssen, ,, nicht als vorgebildete Anlagen (Keimchen der
Pangenesis) wohl aber als Abweichungen in der Molekularstruktur".
Diese Molekulatstruktur tritt bei der Ontogenese in Aktivität und
bildet mit Hilfe der plasmatischen Zellbestandteile alle die ver-
schiedenen mannigfaltigen Teile des neuen Geschöpfes, sie schafft
also tatsächlich neues, vorher nicht dagewesenes. Im Sinne der
Roux sehen Terminologie war diese ältere Weismannsche Vor-
stellung eine Theorie der Neoepigenesis, womit gesagt ist, ,,daß
von wirklich, nicht bloß von sichtbar Einfacherem aus die ganze
Mannigfaltigkeit der Formen, Strukturen und chemischen Quali-
täten des entwickelten Lebewesens hervorgebracht werde".
Weitere Beschäftigung mit dem Problem führte Weismann
indessen zu dem Schlüsse, daß es doch nötig sei, auf die Darwinsche
Annahme kleinster Teilchen im Keime zurückzukommen, trotz des
Mißverhältnisses zwischen der überaus großen Zahl solcher Teilchen,
— '53 —
die anzunehmen war, und der geringen Menge von Keimplasma,
in dem sie enthalten sein mußten. Was ihn von jenen früheren Ver-
suchen wieder abgebracht, und in der Richtung der Darwinschen
Keimchenlehre zu der Determinantentheorie geführt hat, waren
die Erscheinungen des Auftretens erblicher Varietäten. Wenn in
menschlichen Familien durch Generationen hindurch gewisse körper-
liche Besonderheiten, — eine eigentümlich gefärbte Haarlocke an
bestimmter Stelle, ein Grübchen an einer bestimmten Stelle des
Körpers oder dergleichen — vorkommen, so weist das mit Bestimmt-
heit auf eine Besonderheit des Keimes hin, die eben zu jener
Körperstelle in fester Beziehung steht, ihre Ausbildung beherrscht.
Es muß irgend ein materielles Substrat in dem Keimplasma vor-
handen sein, das mit diesem vererbbar ist, und dessen von der Norm
abweichende Beschaffenheit sich in einer Abnormität des End-
produktes äußert. Diese materiellen Teilchen sind eben Weismanns
Determinanten. In den Erscheinimgen der alternierenden Ver-
erbung, die Mendel kennen gelehrt hat, erfuhr ihre Annahme eine
neue Stütze. So sind sie denn auch unter diesem oder jenem Namen
in andere Vererbungs- und Entwicklungstheorien übernommen
worden.
Hypothetischer Charakter der Theorie.
An scharfer Gegnerschaft hat es der Determinantentheorie
nicht gefehlt. Dieselbe richtet sich gegen die Grundvorstellung,
daß die winzige Menge von Keimplasma eine so unfaßbar große
Menge von Einzelanlagen in sich enthalten soll, wie auch gegen
ihre Durchführung im einzelnen, ja gegen das ganze Unterfangen,
sich von der Architektur des Keimplasmas überhaupt eine Vor-
stellung machen zu wollen. Gewiß ist der Einwand nicht unberech-
tigt, daß jeder Versuch dieser Art sich von dem Boden der Tatsachen
fort und durchaus in das Gebiet der Spektdation begibt, — wenig-
stens im Augenblick noch, bei unseren jetzigen Kenntnissen. Aber
auch Weismann ist sich dessen bewußt gewesen, daß seine Theorie
nur einen Versuch bedeutete, rein theoretisch eine Möglichkeit
zu erörtern, wie man sich überhaupt die Dinge zurechtlegen könne.
Das Bedürfnis nach einer geschlossenen Vorstellung in dieser Hin-
sicht entsprach seiner Natur, seinem künstlerischen Bedürfnis nach
greifbaren anschaulichen Vorstellungen. Daß er im Gegensatz zu
— 154 —
dem vorsichtigen Darwin, der seine Pangenesistheorie nur eine
„provisorische Hypothese" nannte, oft allzu dogmatisch auftritt,
mag dabei zugegeben werden. Seine Lebensarbeit hat die Wissen-
schaft so vielfach bereichert und ihr — auch durch die Keimplasma-
theorie — so mannigfache Anregungen gegeben und zur Klärung
der Anschauungen beigetragen, daß man es ihm zugute halten kann,
wenn der scharfsinnige und kühl abwägende Denker in ihm den
temperamentvollen, lebhaft empfindenden Menschen einmal zu
sehr zu Worte kommen läßt. Darin aber, daß die Grundlagen der
Theorie sich auch gegenüber den Erscheinungen der alternierenden
(Mendelschen) Vererbung als leistungsfähig erwiesen, ja durch diese
geradezu gestützt wurden, liegt doch auch ein Beweis für ihren
Wert.
Siebenter Abschnitt.
Persoiialselektioii :
natürliche und gesell leclitliche Zuchtwahl.
Natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl, die zwei Formen der Personalselektion. —
1. Artenzüchtung (Naturzüchtung). Wesen und Begründung der Zuchtwahllehre.
— Notwendigkeit ihrer Prüfung. — Übersicht über "Weismanns Stellungnahme zu
Darwins Zuchtwahllehre. — Prüfung der Zuchtwahllehre im einzelnen, i. Aufgabe
2. Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der Na turzüchtungs Vorgänge, a) Einfluß der
Isolierung auf die Artbildung, b) Selektionswert der Anfangs- und Steigerungsstufen
der Abänderungen. Abänderung in kleinen Schritten. Variationen „unter der Grenze
von Gut und Schlecht", c) Freiwillig gewählte Änderungen in den Lebensbedingungen,
Divergente Entwicklung auf demselben Gebiete, d) Die natürlichen Beschränkungen in
der Wirksamkeit der Naturzüchtungsvorgänge. Beschränkungen, die aus dem Wesen
der Naturzüchtung selbst folgern: Naturzüchtung arbeitet mit gegebenen Abänderungen,
arbeitet langsam, schafft nur relativ Vollkommenes. — Beschränkungen der Naturzüch-
tung, die in den Organismen liegen. — Beschränkungen der Naturzüchtung, die in den
Verhältnissen der Umwelt liegen. — 3. Leistungsfähigkeit der Selektionstheorie für die
Erklärung der phyletischen Entwicklung der Organismen, a) Fragestellung, b) Zucht-
wahl oder inneres Vervollkommnungsprinzip? Nägel is Theorie der direkten Bewirkung.
Die Organismen als Anpassungskomplexe. Regeneration als Anpassungserscheinung. Die
Schicksale der Arten als Anpassungserscheinungen. Mutationstheorie, c) Zuchtwahl oder
direkte Bewirkung durch äußere Einflüsse und Funktion? a) Direkt umwandelnder
Einfluß der äußeren Bedingungen, ß) Direkte Anpassung durch Gebrauch und Nicht-
gebrauch. — Phyletische Vervollkommnung eines Teiles durch Personalselektion. —
Phyletische Verkümmerung nutzloser Teile als Folge von Personalselektion; Panmixie.
— Beweise gegen den Lamarekismus (phyletische Vervollkommnung und Verkümmerung
von Teilen bei sterilen Formen, phyletische Anpassungen apraktischer Merkmale, einmal
ausgeübte Instinkte). — Funktionelle Anpassung (Roux). Partialauslese. — 4. Ergebnis
der Prüfung der Zuchtwahllehre: Neo - Darwinismus. — II. Sexuelle Züchtung
(geschlechtliche Zuchtwahl). — III. Ergänzungsbedürftigkeit derDarwin-
Wallaceschen Zuchtwahllehre.
- 156 -
Natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl, die zwei Formen
der Personalselektion.
Das Neue, was der Darwinismus gebracht, zugleich das, was
ihm seinen ungeheueren Erfolg verschafft und der Abstammungs-
lehre zu ihrem Siegeslaufe verholfen hatte, war die Lehre von der
Naturzüchtung oder natürlichen Zuchtwahl. Mit ihr war
durch Darwin und seinen großen Landsmann Wallace das Se-
lektionsprinzip in die Naturbetrachtung eingeführt worden, das
Selektionsprinzip, das dann ganz besonders von Weismann und
Roux in seiner Leistungsfähigkeit verfolgt und von dem engeren
Gebiet, für das es aufgestellt worden war, dem der Personen,
auf alle Lebenseinheiten, die größten wie die kleinsten, übertragen
worden ist. Neben die ,, natürliche" Zuchtwahl oder ,, Arten-
züchtung", wie Weismann zu sagen vorschlägt, hat dann
Darwin noch die ,, geschlechtliche" Zuchtwahl gestellt; auch
sie betrifft die Individuen, die Personen. Artenzüchtung
und sexuelle Züchtung sind somit zwei besondere Formen der
Personalselektion. Beide Formen verlangen eine besondere
Betrachtung.
I. Artenzüchtung (natürliche Zuchtwahl, Naturzüchtung).
Wesen und Begründung der Zuchtwahllehre.
Notwendigkeit ihrer Prüfung.
Die Artenzüchtung (natürliche Zuchtwahl, Naturzüchtung
kurzweg) arbeitet, wie früher gewöhnlich gesagt zu werden pflegte,
und wie es auch Weismann meist ausdrückt, mit drei Erschei-
nungen: dem Auftreten individueller Varietäten, der Erb-
lichkeit derselben und der Auslese der passendsten von ihnen
durch den Kampf ums Dasein. Besser ist es wohl, nur von zwei
Faktoren zu sprechen: dem Auftreten erblicher Varietäten
und der Auslese. Es wird damit von vornherein dem Umstand
Rechnung getragen, daß es auch nichterbliche Varietäten gibt
(siehe Abschnitt VIII). Durch das Zusammenwirken der ge-
nannten Formen soH im Laufe der Generationen eine Umänderung
der Formen erfolgen, die verbunden ist mit einer Anpassung an
die Lebensbedingungen, also nicht eine Umänderung schlechtweg,
sondern eine solche, die, um mit Roux zu reden, die Dauerfähigkeit
— 157 —
der Organismen erhöht. Die Lebensbedingungen selbst sind es,
die die Auslese treffen, und die die zunächst nur kleinen günstigen
oder wie Roux sagt, dauerfähigen, ,,in den äußeren Verhältnissen
sich bewährenden" Varietäten sich häufen lassen. Die Anpassung
auf diesem Wege betrifft die Art und erfolgt im Laufe vieler Ge-
nerationen, im Gegensatz zu der direkten Anpassung, wie
Lamarck und Geoffroy-St.-Hilaire sie lehrten: der zweck-
mäßigen Veränderung der Individuen durch die Funktion und
durch direkte Einwirkung der äußeren Bedingungen, unter erb-
licher Übertragung der so bedingten Veränderungen auf die Nach-
kommen. Nach der Zuchtwahllehre hat also die Umbildung der
Formen in engster Fühlung mit den Lebensbedingungen, in inniger
fortgesetzter Wechselwirkung mit derselben stattgefunden, aber
auf dem Umwege der Konkurrenz und des ,, Überlebens des
Passendsten". Sie setzt von vornherein überall Anpassungen,
überall Nützliches voraus und gibt eine Erklärung für diese Zweck-
mäßigkeiten der Organismen, ohne die außernatürlich wirkende
Kraft eines Schöpfers oder irgend ein in den Organismen selbst
wirksames teleologisches Prinzip annehmen zu müssen.
Was Darwin seinerzeit zur Aufstellung der Lehre von der
natürlichen Züchtung veranlaßt hat, waren, wie bekannt, wesent-
lich zwei Dinge: einmal die Tatsache, daß bei allen Arten fort-
während sehr viel mehr Individuen geboren werden, als am Leben
bleiben und zur Nachzucht kommen, und zweitens die Erfolge der
künstlichen Tier- und Pflanzenzucht. Diese beiden Haupttat-
sachen boten wohl genügende Berechtigung, um den Gedanken
von der natürlichen Züchtung zu erwägen und von ihm aus eine
Theorie von der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Or-
ganismen zu versuchen. Daß diese Theorie auf Grund allgemeiner
und bekannter Tatsachen logisch richtig entwickelt war, ist wohl
kaum angezweifelt worden, aber doch konnten ihr manche Ein-
wände gemacht werden, und unter ihnen der wichtigste: daß sich
nämlich die Haupt Voraussetzung, von der sie ausgeht, nicht be-
weisen lasse. Man konnte, so drückt es Weismann (1909a) aus,
in keinem Falle der unzähligen Anpassungen, die wir an den Or-
ganismen beobachten, nachweisen, daß schon ihre ersten und klein-
sten Anfänge von Vorteil für ihren Träger waren, von solchem Vor-
teil nämlich, wie wir ihn mit dem Wort ,,se]ektionswertig" be-
— 15« —
zeichnen, daß sie somit Vorteile darstellten, deren Besitz oder
Nichtbesitz unter Umständen über Leben und Tod ihres Trägers
entscheiden, jedenfalls sein Überleben in Nachkommen vereiteln
können. Die höchste Prüfungsinstanz nattirwissenschaftlicher
Theorien, die Beobachtung, versagte gegenüber dem wichtigsten
Faktor, mit dem die Zuchtwahllehre operiert, der Auslese im Kampfe
ums Dasein. Diese, das ,, Überleben des Passendsten", wie Darwin
es, nicht gerade glücklich, nennt, ist unmittelbarer Beobachtung
nicht zugänglich, und so konnte die Richtigkeit der Selektionstheorie
nicht unmittelbar bewiesen, sondern nur immer wieder auf dem
Wege logischen Denkens und an den Tatsachen auf ihre Wahr-
scheinlichkeit und auf die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ge-
prüft werden. Das hat keiner der nächsten Nachfolger Darwins
so eingehend getan wie Weis mann. Nicht blinder vorgefaßter
Glaube an ein Dogma, sondern Fragen und Zweifel bilden den Aus-
gang für seine Betrachtungen. ,, Niemand wird glauben" — so
heißt es in dem Vorwort zu der Abhandlung über den Einfluß der
räumlichen Isolierung auf die Artbildung (1872) — ,,daß mit der
Darwin-Wal lace sehen Lehre von der natürlichen Züchtung die
Forschung in dieser Richtung abgeschlossen sei, ich meine im Gegen-
teil, daß sie damit erst begonnen hat. So unzweifelhaft richtig mir
auch das Prinzip scheint, welches durch diese Lehre zur Geltung
gebracht wird, so sind wir doch noch sehr weit davon entfernt,
die Grenze auch nur einigermaßen bestimmt ziehen zu können,
bis zu welcher es wirkt. Daß aber eine solche Grenze besteht,
daß nicht alle Charaktere organischer Wesen ihre Erklärung in
diesem Prinzip finden, daß somit natürliche Züchtung nicht der
einzige Faktor der Artbildung, das scheint mir ebenso unzweifelhaft
als daß natürliche Züchtung einer und zwar einer der wichtigsten
dieser Faktoren ist, und dies ist ja auch von Darwin selbst an-
erkannt worden. Ganz abgesehen von den Momenten, welch? in
der physischen Konstitution der Organismen selbst liegen und
welche die dunkelsten von allen sind, können die äußeren Lebens-
bedingungen noch in mancherlei anderer Richtung und Weise auf
den Prozeß der Artentwicklung einwirken, als durch jenes Über-
leben des Passendsten, welches Darwin mit dem Namen der natür-
lichen Züchtung belegt hat." Und in der Untersuchung über die
Zeichnungen der Sphingidenraupen ist mit aller Bestimmtheit aus-
— 159 —
gesprochen, daß der Verfasser nicht zu denjenigen gezählt werden
will, ,, welche sich von vornherein zur Allmacht der Naturzüchtung
bekennen, wie zu einem Glaubensartikel oder einem wissenschaft-
lichen Axiom". Der Begriff der ,, Allmacht der Naturzüchtung"
erscheint hier wohl zum ersten Male in Weismanns Schriften;
der Zusammenhang, in dem es geschieht, verdient alle Beachtung.
Übersicht über Weismanns Stellung zu Darwins
Zuchtwahllehre.
Eine vorläufige Ükersicht über Weismanns Stellungnahme
zu Darwins Zuchtwahllehre läßt drei Perioden unterscheiden.
Als den im Anfange der Dreißiger Stehenden die Rücksicht
auf seine Augen auf eine mehr theoretische Gedankenarbeit ver-
wies, und sich ihm für eine solche die Darwinsche Theorie als
dankbares Gebiet darbot, da konnte er gar nicht anders, als sich
auf den Darwinschen Standpunkt stellen, d. h. neben der Se-
lektion noch den Lamarekismus gelten lassen. Diese Voraussetzung
beherrscht somit die erste Periode, von ihr ging Weismanns
kritische Prüfung der Zuchtwahllehre aus. Ihre erste Frucht war
die Abhandlung über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung,
die 1872 erschien. Ihr folgten, von der gleichen Absicht eingegeben,
die schon besprochenen Studien über Deszendenztheorie, insbesondere
die Versuche über den Einfluß der Temperatur auf die Schmetter-
lingspuppen, sowie die Untersuchungen über die Zeichnungen der
Sphingidenraupen, die zu dem überraschenden Ergebnis führten,
daß diese Zeichnungen recht wohl als zweckmäßige Anpassungen
aufgefaßt und durch Naturzüchtung erklärt werden können. Eine
neue Unterstützung erhielt dieses Ergebnis dturch die Arbeiten
über die Generationszyklen der Daphnoiden, deren Besonderheiten
sich ebenfalls in überraschender Weise als Anpassungen an die
Lebensbedingungen verstehen und damit auf Zuchtwahlprozesse
zurückführen ließen. Angesichts dieser Ergebnisse mußten wohl
die Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Zuchtwahlprinzips immer
mehr verstummen, und es konnte sich die Frage aufdrängen, ob
es überhaupt nötig und berechtigt sei, neben demselben noch das
der direkten Anpassung gelten zu lassen. Die Beantwortung der
Frage ergab sich aus den Schlußfolgerungen, zu denen Weis mann
inbetreff der ,, Vererbung erv^'orbener Eigenschaften" gelangte. Mit
— i6o —
der Ablehnung der Vorstellung, daß funktionelle Abänderungen,
die Wirkungen des Gebrauches und des Nichtgebrauches, vererbt
werden können, fiel auch die Annahme, daß die im Einzelleben
erworbenen funktionellen Anpassungen irgend welche Bedeutung für
die phyletische Umbildung der Formen gehabt haben. So gelangte
Weismann dazu, in der Bewertung der Naturzüchtungslehre als
Erklärungsprinzip noch über Darwin hinauszugehen, indem er
ihr auch Erscheinungen unterordnete, für deren Erklärung dieser
noch das Lamarcksche Prinzip der Vererbung funktioneller Ab-
änderungen hatte gelten lassen. Das gänzliche Fallenlassen dieses
Prinzipes kennzeichnet die von Weis mann seitdem vertretene
Richtung, den Neo-Darwinisrnus, -wie man sie genannt hat; es
ist auch das, was ihm ganz besonders als einseitige Übertreibung
angerechnet worden ist.
Diese entschiedene Absage an den Lamarekismus im engeren
Sinne — die Bedeutung direkter Mediumwirkungen hat
Weis mann, wenn auch in engen Grenzen, stets zugegeben — er-
folgte mit der Rede über die Vererbung im Jahre 1883 ; sie schließt
die erste Periode ab und eröffnet eine zweite, die die nächsten
12 Jahre umfaßt imd unter dem Zeichen des begeistertsten rück-
haltlosen Eintretens für die Darwin-Wallacesche Lehre steht.
,,Ich halte", so lautet nunmehr Weismanns Bekenntnis im Jahre
1893, ,,die Entdeckung der Naturzüchtung für eine der funda-
mentalsten, die auf dem Gebiete des Lebens jemals gemacht worden
ist, eme Entdeckimg, die allein genügt, den Namen Charles
Darwin und Alfred Wallace die Unsterblichkeit zu sichern,
und wenn meine Gegner mich als , Ultra-Darwinisten' hinstellen,
der das Prinzip des großen Forschers ins Einseitige übertreibt,
so macht das vielleicht auf manche ängstliche Gemüter Eindruck,
welche das ,juste-milieu' überall schon im voraus für das Richtige
halten, allein mir scheint, daß man niemals schon a priori sagen
kann, wie weit ein Erklärungsprinzip reicht, es muß erst ver-
sucht werden, und diesen Versuch gemacht zu haben, das ist
mein Verbrechen oder mein Verdienst" (1893, S. 63). Indessen,
auch in dieser Periode, in der sogar das Wort von der ,, Allmacht
der Naturzüchtung" als Titel einer besonderen Streitschrift er-
scheint — das Wort, das später so oft und gern gegen seinen Ur-
heber ausgespielt worden ist — , hat Weis mann mit der ruhigen
— i6i —
sachlichen Prüfung der Naturzüchtungslehre nicht aufgehört. Das
Ergebnis war denn auch die Erkenntnis der mancherlei Beschrän-
kungen, dessen die Zuchtwahl als umbildender Faktor unterworfen
ist, eine Erkenntnis, die schließlich in der Anerkennung einer
selbständigen, den Organismen innewohnenden Um-
bildungskraft ihren Ausdruck findet. In der dritten Periode,
die die letzten 20 Jahre, von 1895 an, umfaßt, steht somit in Weis-
manns theoretischen Vorstellungen neben dem Prinzip der natür-
lichen Zuchtwahl der Personen ein anderes: das Prinzip der Ger-
minalselektion, durch das zwar dem Selektionsprinzip an sich
ein größerer Geltungsbereich zugesprochen wird, die Darwin-
Wallacesche Zuchtwahllehre aber eine sehr erhebliche Einschrän-
kung erfährt. —
Prüfung der Zuchtwahl im einzelnen.
Im nachfolgenden soll nun versucht werden, Weismanns
Stellung zu den Fragen der Zuchtwahllehre im einzelnen etwas
genauer klarzulegen.
I. Aufgabe.
Wenn von ,, Zuchtwahl", „Naturzüchtung", ,, Selektion" und
dergleichen schlechtweg gesprochen wird, so geschieht das, wie
schon manchmal gerügt worden ist, bald in dem einen, bald in dem
anderen Sinne: entweder werden darunter die natürlichen, von der
Theorie vorausgesetzten Vorgänge verstanden, oder aber die
Theorie als solche^*). Beides ist auseinanderzuhalten, nach beiden
Richtungen hin hat sich eine Prüfung zu erstrecken, und nach beiden
Richtungen hat denn Weismann auch tatsächlich eine solche
vorgenommen. Es galt also: einmal die als ,, Naturzüchtung" zu-
sammengefaßten angenommenen Vorgänge selbst auf ihre Mög-
lichkeit und Wahrscheinlichkeit nach allen Richtungen, zu-
gleich unter Berücksichtigung der verschiedentlich gemachten Ein-
wände, zu durchdenken und im Anschluß daran zu erörtern, was
denn füglich von ihnen erwartet werden dürfe, und worin ihre natür-
lichen Hemmnisse liegen; zweitens aber: die Frage nach der
Leistungsfähigkeit der auf jenen Vorgängen aufgebauten Zuchtwahl-
lehre als Erklärungsprinzip zu prüfen, der Frage also, wie weit
die gegebenen Erscheinimgen der Lebewesen, ihr Bau, ihre Lebens-
Qaupp, Biographie Weismanns. 11
— 102 —
erscheinungen und ihre Geschichte, durch die Zucht wahllehre er-
klärbar sind, ob nicht andere Erklärungsprinzipien an ihre Stelle
gesetzt oder neben ihr als wirksam anerkannt werden müssen.
2. Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der Natur-
züchtungsvorgänge.
a) Einfluß der Isolierung auf die Artbildung.
Einen wichtigen Beitrag in der ersten der beiden genannten
Richtimgen, ztu* Prüfung der Richtigkeit der Darwinschen Ge-
dankengänge, gibt gleich die erste, 1872 erschienene theoretische
Schrift, über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung; sie
hat für die Klärung einer wichtigen, mit der Lehre von der Art-
umbildung in Verbindung stehenden Frage grundlegende Bedeutung
gehabt. Es handelt sich in ihr, wie der Titel sagt, um den Einfluß,
den die räumlich geographische Isolierung bei der Entstehung einer
neuen Art, auf Grund individueller Varietäten einer bereits vor-
handenen, besitzt. Diese letzteren werden als gegeben voraus-
gesetzt. Moritz Wagner war durch vieljährige, auf Reisen ge-
wonnene Beobachtungen über die geographischen Besonderheiten
der Tierformen zu der Auffassung gelangt, daß räumliche Isolierung
einen unerläßlichen Faktor bei der Artbildung darstellt, nicht
nur, weil durch Versetzung in ein anderes Gebiet neue Lebens-
bedingungen gegeben werden, durch die die individuelle Veränder-
lichkeit der Organismen eine gesteigerte Anregung erhalten müsse,
sondern vor allem, weil durch sie eine Rückkreuzung der abgeänderten
Individuen mit der Stammform verhindert werde. Ohne eine solche
Verhinderung aber sei eine Fixation und Steigerung der Abände-
rungen, kurzum die Bildung einer neuen Art, nicht möglich. Durch
das ,, Migrationsgesetz der Organismen", das die freiwilligen und
die passiven Wanderungen der Organismen in den Vordergrund
rückt, glaubte Wagner zunächst eine wesentliche Lücke in
Darwins Transmutationstheorie ausfüllen und das Prinzip der
natürlichen Zuchtwahl durch ein weiteres ergänzen zu können,
um dann später in der ,, Separationstheorie" noch entschiedener
den Faktor der räumlichen Isoliertmg an die Stelle der natür-
lichen Zuchtwahl zu setzen, — wenigstens für die höheren Formen
mit getrennten Geschlechtern. Gegen eine solche übertriebene Be-
wertung der räumlichen Isolation wandte sich Weismann, indem
- i63 —
er einerseits den Wagnerschen Satz, daß Umbildung der Organismen
ohne räumliche Isolierung nicht möglich sei, durch einwandfreie
Beispiele und Überlegungen als irrig nachwies, andererseits die
zweifellos vorhandene Bedeutung der letzteren für die Entstehimg
neuer Arten genauer untersuchte. Diese Bedeutung erkannte er,
in verschiedentlicher Berührung mit Wagners Gedankengängen,
einmal darin, daß die räumliche Isolierung die Kreuzung der iso-
lierten Individuen mit denen des Stammgebietes verhindert
(,,Amixie", oder Kreuzungsverhinderung), — dies betrifft aber nur
,,rein morphologische" Charaktere ohne nachweisbaren biologischen
Nutzen — , andererseits darin, daß die Versetzung in beinahe immer
veränderte Lebensbedingungen die Tätigkeit der natürlichen Züch-
tung anregen muß. So begünstigt die Isolierung in mehrfacher
Weise die Entstehung neuer Arten, aber sie ist nicht eine notwendige
Vorbedingung für eine solche. Vielmehr ist zweifellos, daß auch auf
einem und demselben Wohngebiet, ohne alle Beihilfe räumlicher
Isolierung, eine Art sich in zwei Formen spalten kann, unter Be-
dingungen, wo eine Kreuzung mit der unveränderten Form not-
wendigerweise fortgesetzt stattfinden muß. Einen Beweis dafür
liefert der sexuelle Dimorphismus 3^) , d. h. die verschiedene Ge-
staltung der Männchen und Weibchen einer und derselben Art,
der sich ja doch trotz der fortwährenden Kreuzung der beiderlei
Formen herausgebildet hat und erhält. So ist anzunehmen, daß
auch die natürliche Zuchtwahl durchaus imstande ist, auf dem-
selben Wohngebiet eine Art umzuwandeln, und aus der Palä-
ontologie konnte Weis mann ein schönes Beispiel anführen, das
als Beleg für diese Auffassung gelten kann: die mannigfaltige Um-
wandlung der Tellerschnecke in dem beschränkten Gebiete des
kleinen Steinheimer Seegrundes auf der Rauhen Alb.
An dieser Auffassung, die für die ganze Frage nach der Be-
deutung der räumlichen Isolierung für die Artbildung grundlegend
geworden ist, hat Weismann festgehalten; auch der 33. Vortrag
im zweiten Bande der , .Vorträge über Deszendenztheorie", der sich
mit dem Problem befaßt, geht von ihr aus. Welche Wichtigkeit
der ganzen Frage und den sich anschließenden über sonstige Arten
der Isolation für die Beurteilung der Darwinschen Selektions-
theorie zukommt, dafür mag auf das betreffende Kapitel in Plates
11*
— 164 —
vortrefflichem Handbuch des Darwinismus (Selektionsprinzip und
Probleme der Artbildung) verwiesen werden.
b) Selektionswert der Anfangs- und Steigerungsstufen der Abände-
rungen. Abänderung in kleinen Schritten.
Neben dem Einwand, daß ohne räumliche Isolierung eine
Weiterzüchtung einmal aufgetretener Varietäten nicht möglich sei,
ist einer der wichtigsten von denen, die der Zuchtwahllehre ge-
macht worden sind, der, daß es schwer denkbar sei, wie die ge-
ringen individuellen Abweichungen, die nach Darwin das Material
für die natürliche Züchtung abgeben sollen, ausschlaggebend im
Kampfe ums Dasein werden sollen. Auch diese Frage nach dem
,, Selektionswert der Anfangs- und Steigerungsstufen" ist nicht durch
direkte Beobachtung zu beantworten, volle Klarheit über sie wäre
nur durch den genauesten Einblick in die verwickelten Lebens-
bedingungen der Formen, in ihre Abhängigkeit von Klima, un-
belebter und belebter Umgebung zu erlangen. Dieser Einblick
aber ist zur Zeit noch recht lückenhaft. Bei der gewiß vorhandenen
Schwierigkeit, geringen individuellen Abänderungen eine aus-
schlaggebende Bedeutung im Wettbewerb der Individuen zuzu-
schreiben, kann es nicht Wunder nehmen, daß wiederholt die An-
sicht geäußert worden ist, nicht an die geringen individuellen
Variationen, sondern an die hin und wieder plötzlich auftretenden
Abänderungen stärkeren Grades sei die Umbildung der Formen
geknüpft. Diese Abänderimgen stärkeren Grades waren auch
Darwin bekannt gewesen, und einige Fälle, in denen solche ,,single
variations" oder ,,sports", wie er sie nannte, den Ausgang für die
künstliche Züchtung neuer Rassen abgegeben haben, sind auch
von ihm behandelt worden; doch schrieb er diesen ,, sprungartigen"
Abänderungen oder ,, diskontinuierlichen Variationen", wie sie auch
bezeichnet worden sind, schon wegen der Seltenheit ihres Vor-
kommens eine nennenswerte Bedeutung für die Umbildung der
Formen nicht zu und hielt daran fest, daß es die kleinen erblichen
Variationen sind, die für die Zuchtwahl das nötige Auslesematerial
liefern. Viel wichtiger indessen als diese Meinungsverschiedenheit
ist eine andere daran anknüpfende: die Anschauung, daß die Um-
wandlung der Formen nicht allmählich in kleinen Schritten, sondern
mehr ,, sprungartig" vor sich gegangen sei, ist verschiedentlich
- i65 -
verbunden worden mit einer völligen Ablehnung der Selektions-
theorie und Ersatz derselben durch Annahme einer gesetzmäßigen
Entwicklung aus inneren Ursachen. So geschah es von Kölliker
in der „Theorie der heterogenen Zeugung", deren Gnmdgedanke
der war, daß unter dem Einflüsse eines allgemeinen Entwicklungs-
gesetzes die Geschöpfe aus von ihnen gezeugten Keimen andere,
abweichende hervorbringen'®); auch Eduard von Hartmann
trat für ähnliche Vorstellungen ein.
Weis mann hat auch zu dieser Frage sich vielfach geäußert,
zuerst wohl 1872 in dem eben besprochenen Aufsatz über den Ein-
fluß der Isolierung auf die Artbildung, dann 1876 in dem über die
mechanische Auffassung der Natur, im zweiten Bande der Studien
zur Deszendenztheorie, und später noch wiederholt, besonders in
den Vorträgen über Deszendenztheorie sowie (1909) in der Schrift
über die Selektionstheorie, die in der Festschrift der Universität
Cambridge zum Gedächtnis Darwins erschienen ist. Gegen die
Annahme einer gesetzmäßigen inneren Entwicklungskraft hat er,
wie noch zu besprechen sein wird, immer geltend gemacht, daß
dadurch die Anpassungen der Organismen an die Lebensbedingungen
nicht erklärt werden; aber auch die ganze Grundvorstellung einer
diskontinuierlichen, in größeren Sprüngen erfolgten Entwicklung
der Formen — bei gleichzeitiger Wirksamkeit der Naturzüchtung
— hat er abgelehnt. Es ist ja auch von anderen Seiten vieles da-
gegen vorgebracht worden: vor allem die Erfahrung, daß Abweich-
ungen größeren Betrages, die plötzlich und sprungweise auftreten,
im ganzen recht selten sind und somit für die Artbildung schon
aus diesem Grunde kaum eine große Bedeutung besitzen können;
— und die weitere, daß sie — z. B. bei Pflanzen — sich in freier
Natur nicht zu halten und zu ausdauernden Lebensformen zu werden
pflegen. Überall vielmehr, wo ausdauernde Lebensformen ent-
standen sind, finden sich auch Spuren einer allmählichen, schritt-
weise erfolgten Entstehung, auch da, wo man anfänglich eine sprung-
hafte vor sich zu sehen glaubte^'). Eine solche allmähliche Ent-
stehung unter Auslese der kleinen nützlichen Abänderungen ist
auch allein imstande, die Anpassungen zu erklären. Allerdings
gibt Weismann unumwunden zu, daß auch ein entschiedener
Anhänger der Selektionstheorie den Selektionswert der Anfangs-
und Steigerungsstufen nur annehmen, aber in keinem einzigen
— i66 —
bestimmten Falle beweisen kann. Aber wenn sich auch nicht nach-
weisen läßt, daß die unbedeutenden Abweichungen, die wir als
individuelle Variationen kennen, wirklich darüber zu entscheiden
imstande sind, wer untergehen und wer überleben soll, so läßt sich
doch in genug Fällen der Selektionswert auch kleiner Abweichungen
sehr wahrscheinlich machen; es konnte ferner auf Versuche von
Cesnola und Poulton hingewiesen werden, die den Selektionswert
der fertigen Anpassungen deutlich zeigten, und endlich ließ sich
auf einem ganz verwandten Gebiete, dem der sexuellen Züchtung,
der Nutzen auch kleiner individueller Unterschiede sehr einleuchtend
zeigen.
So hat Weismann durchaus an der Darwinschen Auf-
fassung festgehalten: in kleinen Schritten, auf dem Wege der
individuellen erblichen Variation, durch Häufung kleiner Ab-
weichungen, hat die Umwandlung der Formen stattgefunden.
Dagegen räumt er auf dem Gebiete der sexuellen Zuchtwahl
allerdings den Spielvariationen eine größere Bedeutung ein, wie
sich noch zeigen wird.
Variationen unter der Grenze von Gut und Schlecht.
Bestimmter und eingehender als Darwin hat aber Weismann
einen Gedanken verfolgt, der bei seinem großen Vorgänger mehr
im Vorübergehen geäußert wird: daß nämlich Abänderungen, die
selektionswertig sein sollen, nicht ganz ,, minimal" sein dürfen,
sondern einen gewissen Betrag besitzen müssen, und daß es auch
Abänderungen gibt, die ihrer Quantität nach ,,unter der Grenze
von Gut und Schlecht" liegen, denen gegenüber somit die Zuchtwahl
noch nicht Anlaß hat, einzuschreiten. Die weitere Verfolgung
dieses Gedankens führte ihn dann dazu, nach einer Kraft zu suchen,
die auch solche minimale Abänderungen bis zum Selektionswert
zu steigern vermöchte. Es war das eine der Überlegtmgen, die ihn
zur Aufstellung der Lehre von der ,,Germinalselektion" führten.
Bei dieser werden wir jenen ,, jenseits von Gut und Schlecht" ge-
legenen Merkmalen wieder begegnen ^^).
c) FreiwiUig gewählte Änderungen in den Lebensbedingungen.
Divergente Entwicklung auf demselben Gebiete.
Aus den vielen Einzelerörterungen zu der Frage der Natur-
züchtung, die sich in Weismanns Schriften finden, mag noch
- t67 -
eine besonders herausgegriffen werden, weil sie einen Punkt be-
handelt, der recht oft nicht genügend beachtet wird. Sie findet
sich in dem Aufsatz ,,über den Rückschritt in der Natur" ^^).
Die Formel, daß die Umbildung der Formen im Anschluß
an die Veränderungen der Lebensbedingungen vor sich gegangen
sei, wird gewöhnlich dahin ausgelegt, daß die Veränderung der
Lebensbedingungen als das Primäre, die Anpassung der Organismen
an die Veränderungen aber als das Sekundäre hingestellt wird:
die veränderten Lebensbedingungen ,, zwingen" die Organismen,
sich ihnen anzupassen, indem die Varietäten, die ihnen genügen,
erhalten bleiben, die unbrauchbaren zugrunde gehen. Dabei er-
scheinen die Organismen rein passiv. So liegen die Dinge aber doch
wohl nicht immer, wenigstens nicht für die tierischen Organismen.
Weis mann hat wiederholt darauf hingewiesen, daß die Natur-
züchtung sehr langsam arbeitet und daß rasch und plötzlich ein-
setzende Veränderungen der Lebensbedingungen zum Aussterben
vieler Arten führen, weil diese den Veränderungen nicht so rasch
in ihren Anpassungen zu folgen vermögen. Er hat aber auch (in
dem erwähnten Aufsatz) sehr einleuchtend auseinandergesetzt, daß
die Veränderungen der ,, Lebensbedingungen" von einer Art auch
gewissermaßen freiwillig gesucht werden können, ohne daß die
natürliche Umgebung sich irgendwie zu verändern braucht. ,,Wenn
ein Vogel, der bisher seine Nahrung auf Büschen und Bäumen suchte,
am Boden des Waldes so reichlich Nahrung entdeckt, daß er davon
allein besser als früher leben kann, so wird er sich jetzt mehr und mehr
an das Leben auf dem Boden gewöhnen und immer weniger mehr auf
Büsche und Bäume fliegen. Dadurch allein schon wird er unter
ganz andere Lebensbedingungen versetzt sein, als die waren, unter
denen er früher lebte; er wird nun das Fliegen nicht mehr nötig
haben, wird deshalb zuerst weniger als früher und in späteren
Generationen gar nicht mehr fliegen. Dabei braucht sich der Wald,
in dem er lebt, das KHma, die Tierwelt, die ihn umgibt, nicht ge-
ändert zu haben, es genügt, daß er selbst eine neue Gewohnheit
angenommen hat." Ähnlich klar liegen die Dinge bei der Ent-
stehung der Höhlen- oder Tiefseefauna. Die Einwanderung in diese
Gebiete hat langsam und allmählich von den Gebietsgrenzen aus
stattgefunden, und allmählich haben sich die Organismen den neuen
Bedingungen angepaßt. Wir können hinzufügen: und auch hier
— i68 —
wird die Einwanderung nicht unter einem besonderen Zwange,
sondern mehr freiwilUg, höchstens unter den allgemeineren Be-
dürfnissen nach Nahrungserwerb, Schutz vor Feinden usw. erfolgt
sein. Das Gebiet stand offen für alle Formen, die in seiner Nähe
lebten, auf die Dauer benutzbar war es aber nur für die, deren
Organisation dafür irgendwie günstige Einrichtungen bot. Die,
bei denen das nicht der Fall war, gingen entweder wieder hinaus
oder, wenn das aus einem unglücklichen Grunde nicht möglich war,
zugrunde. Dies Prinzip der freiwillig, selbst gewählten Änderung
der Lebensbedingungen unter Ausnutzung der eigenen Fähigkeiten
und aller vorhandenen natürlichen Möglichkeiten sollte meines Er-
achtens viel mehr betont werden, als es geschieht. Wo Bäume
waren, war auch immer die Bedingung zur Entstehung von Kletter-
und Flugtieren gegeben, und einer besonderen Aufforderung,
davon Gebrauch zu machen, bedurfte es nicht; wo Wasser war,
lag fortgesetzt für die Bewohner der angrenzenden Ufer die Mög-
lichkeit zur Einwanderung und allmählichen Anpassung vor; eine
Verschiebung der Land- und Wassergrenze durch langsames Vor-
dringen des Meeres veränderte im Laufe langer Zeiten die Lebens-
bedingungen in einem gegebenen Gebiet, konnte aber für die Einzel-
individuen der einzelnen Generationen nicht eine besondere Auf-
forderung zum Einwandern abgeben. Man braucht sich die Or-
ganismen durchaus nicht als rein passiv, als bloß ,, geschoben"
vorzustellen, — wie das der Zuchtwahllehre zum Vorwurf gemacht
worden ist — sondern kann, ja muß ihrer eigenen Betätigung
(wenigstens bei den Tieren) eine größere Bedeutung für die Umbildung
zuerkennen, auch ohne dabei die Vererbimg funktioneller Abände-
rungen annehmen zu müssen^). Denn wenn eine Form mit einer
selbstgewählten neuen Gewohnheit oder an einem selbstgewählten
neuen Aufenthaltsort Erfolg hat, so setzt das eine gewisse günstige
Veranlagung in bestimmter Richtung voraus, und diese wird sich
weiter vererben und steigern können, lediglich nach dem Zucht-
wahlprinzip. An dem Tisch der Natur ist kein Platz unbesetzt,
sind alle Existenzbedingungen ausgenutzt ; innerhalb der Organismen
andererseits sehen wir denselben funktionellen Zweck auf die ver-
schiedenste Weise, durch morphologisch ganz verschiedene Ein-
richtungen erreicht, und sehen alle morphologischen Charaktere
in verschiedensten Graden der Entwicklung. — kaum einen, der
— i6o —
nicht irgendeine Form in ganz exzessiver Weise ausgebildet besäße,
der nicht in all seiner Verwendungsmöglichkeit ausgenutzt wäre.
Diese unendliche Mannigfaltigkeit, diese Ausnutzung aller ge-
gebenen äußeren und inneren, in der Umwelt wie in der Bildsamkeit
der Organismen gegebenen Bedingungen wird viel verständlicher,
wenn man die Organismen sich eben nicht als bloß ,, geschoben"
vorstellt, sondern davon ausgeht, daß auch sie das ihrige zu dieser
Ausnutzung aller Bedingungen getan haben, unbewußt, unter dem
allgemeinen Zwange von Hunger und Liebe, und zwar schon ,,bei
Zeiten", nicht erst dann, wenn eine durchgreifende Veränderung
der Umwelt die Bedingungen ganz wesentlich umgestaltete. Denn
dann dürfte es gewöhnlich schon zu spät gewesen sein^^).
Abgesehen von dem Vorhandensein eines gewissen Selbst-
bestimmungsrechtes, wenigstens bei den tierischen Organismen,
lehrt diese Betrachtung auch noch ein anderes: die Möglichkeit
zur Züchtung neuer Charaktere und damit zur Abänderung einer
Art, auch ohne daß die natürlichen Verhältnisse des Gebietes tief-
greifende Veränderungen erfahren. Es ergibt sich daraus, daß die
auf Darwin zurückzuführende und auch von Weis mann oft
gebrauchte Formel vom Überleben des ,, Passendsten" nicht sehr
glücklich ist; der Superlativ erweckt die Vorstellung, als ob unter
irgendwo gegebenen Bedingungen stets nur eine ganz bestimmte
Organisation dauerfähig sei, während doch auch unter gleichen oder
ähnlichen Bedingungen divergente Entwicklung auf Grund und
unter Ausnutzung ganz verschiedener Vorzüge denkbar ist und wohl
auch vielfach stattgefunden hat. Gute Beispiele bieten die Sinnes-
organe, die unter erschwerten Funktionsverhältnissen entweder auf-
gegeben oder bis zur höchsten Leistungsfähigkeit vervollkommnet
werden (Verkümmern der Augen in Hchtlosen Grotten, — Aus-
bildung von Leuchtorganen an den Augen bei Tief Seefischen).
d) Die natürlichen Beschränkungen in der Wirksamkeit der Natur-
Zuchtungsvorgänge.
Kehren wir zu Weismann zurück. Immer mehr befestigte
sich diesem im Verlaufe seiner Beschäftigung mit der Selektions-
theorie die Überzeugung, daß die von Darwin angenommenen
Vorgänge der natürlichen Zuchtwahl nicht nur in den Erfahrungen
der künstlichen Züchter eine feste Stütze finden und aus richtigen
— lyo —
Voraussetzungen logisch gefolgert, sondern auch tatsächlich imstande
sind, Umänderungen der Formen mit gleichzeitiger Anpassung an
die Lebensbedingungen zu bewirken und damit eine große Anzahl
sonst im verständlicher Tatsachen zu erklären. Trat so die Richtig-
keit des Prinzipes immer mehr hervor, so ergab sich auch unmittel-
bar die Frage: was können wir von diesen Vorgängen der Natur-
züchtung, wenn wir sie als tatsächlich wirksam annehmen, füg-
lich erwarten? Und oft genug, vom ersten Augenblick seiner Be-
schäftigung mit dem Darwinismus an, hat er darauf geantwortet:
gewiß nicht alles und jedes, nicht unbegrenzte Möglichkeiten; es
gibt für sie auch Beschränkungen und Unmöglichkeiten. Sie sind
begründet in dem Wesen der Naturzüchtung selbst, in den
Organismen und in den Bedingungen der Umwelt.
Beschränkungen, die aus dem Wesen der Naturzüchtung selbst
folgen.
Aus dem Wesen der Naturzüchtung selbst, wie wir
es mit Darwin annehmen, müssen sich mehrere Beschränkungen
ergeben. Diesem ihrem Wesen nach ist die Naturzüchtung nicht
imstande, selbst lebende Substanz oder die Variationen derselben
zu schaffen; sie kann nur an das Gegebene anknüpfen, d. h. an
die Variationen, die ihr von den Organismen dargeboten werden,
und kann nur wirken, indem sie die ungünstigsten dieser Variationen
verwirft, ebenso wie der Züchter die Träger nichtgewollter Merk-
male von der Nachzucht ausschließt. Aber indem sie das eine ver-
wirft, erhält sie das andere, die nützlichen Varietäten, und macht
sie allmählich zum Gemeinbesitz der Art. Fußend auf den Er-
fahrungen der künstlichen Züchtung nimmt die Zuchtwahllehre
aber auch an, daß durch die natürliche Züchtung im Laufe der
Generationen eine Steigerung eines Merkmals möglich sei. Fast
alle Teile der Hühner und Tauben sind durch die künstliche Züch-
tung nachweislich bis zum Exzeß verändert worden, unzählige
Charaktere künstlich gezüchteter Rassen zeigen die Steigerungs-
fähigkeit eines Merkmals durch zielbewußt fortgesetzte Auslese,
und wenn wir all die zahllosen, weitgehenden, im einzelnen durch-
gearbeiteten Anpassungen, die wir an den Organismen sehen, im
Darwinschen Sinne erklären, nehmen wir auch eine Summation
und Steigerung von anfangs geringfügigen Variationen an. Auf
— I/I
diese Weise schafft die Naturzüchtung Neues. Aber frei-
lich: bei dem einzigen Mittel, das ihr zu Gebote steht, dem Ausmerzen
des Nichtgewollten, ist sie darauf angewiesen, daß eine andere Kraft
ihr in die Hände arbeitet, ihr das Rohmaterial liefert, und nicht
nur immer wieder neues, sondern auch das bereits als brauchbar
Gefundene in weiterer Steigerung. Also auch die Steigerung eines
Merkmals durch Naturzüchtung setzt das Walten noch einer anderen
Kraft voraus; Personalselektion ist nur die große Baumeisterin,
die die brauchbaren Steine auswählt und in neuen Kombinationen
zusammenfügt. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Formen lehrt,
wieviel ,, Neues" sie trotzdem zu schaffen vermag.
Dieses ihr Schaffen aber braucht Zeit, und darin liegt eine
zweite Beschränkung, die unter Umständen einmal den Organismen
verhängnisvoll werden kann. Naturzüchtung arbeitet langsam,
und so kann es geschehen, daß sie einmal bei einem rasch vor sich
gehenden Wechsel in den Lebensbedingungen einer Form, wozu
auch das Auftreten eines neuen mächtigen Feindes, wie des Menschen,
gehört, nicht zu folgen vermag und damit diese Form dem Unter-
gang ausliefert. Nicht Starrheit der Form, nicht Unfähigkeit zur
Hervorbringung und Fixierung nützlicher Abänderungen war in
diesen Fällen der Grund des Aussterbens, sondern die Langsam-
keit des Zuchtwahlprozesses, der die Umformung nur in
kleinen Schritten vornimmt.
Und nun endlich eine letzte Beschränkung, die nicht wie die
eben genannten nur in Ausnahmefällen in Kraft treten wird, sondern
die Überali, bei allen Zucht wahlprozessen Geltung hat, und die sich
die Naturzüchtung selbst setzt, da sie ganz besonders zu ihrem
innersten Wesen gehört: die Relativität der Anpassungen.
Das innerste Wesen der Naturzüchtung ist ja, daß sie die Einrich-
tungen der Organismen in Einklang mit den Lebensbedingungen
zu bringen strebt. Ihr Ziel ist also ein durchaus relatives, bestimmt
durch die Lebensbedingungen. Ist die Harmonie mit diesen erreicht,
so hat die Naturzüchtung ihre Arbeit getan, ganz gleichgültig,
ob das erlangte Ergebnis, vom menschlichen Standpunkt aus be-
trachtet, nun wirklich als die höchste Steigerung der betreffenden
Entwicklungsrichtung anzusehen ist. Am deutlichsten wird das
aus der Betrachtung der verschiedenen Fälle von ,, Nachahmung",
auf die Weis mann wiederholt in diesem Zusammenhang hin-
— 172 —
gewiesen hat. Die Blattähnlichkeit auch der blattähnlichsten
Schmetterlinge ist nur so groß als nötig ist, um die Vögel zu täuschen ;
darüber hinaus kann Naturzüchtung nicht wirken, da die Bevor-
zugung besserer Variationen von dem Augenblick an aufhört, wo
diese Verbesserungen nicht mehr nötig sind, weil die Existenz der
Art von dieser Seite her nicht mehr stärker zu sichern ist,
d. h. weil weitere Variationen in der bisher befolgten Richtung
keine Verbesserungen mehr sind, auch wenn sie uns als solche er-
scheinen mögen. Das Wesen der Naturzüchtung steckt also der
Vervollkommnung der Organismen gewisse Grenzen, macht die
,, Vollkommenheit" zu einem ganz relativen Begriffe. Sehr schön
kommt diese Auffassung zur Geltung in dem wie ein Glaubens-
bekenntnis anmutenden Ausspruch, mit dem Weismann einen
Aufsatz über das Sehen der Insekten (1895) schließt: ,,So finden
wir auf diesem Gebiete des Sehens wie auf allen anderen Gebieten
tierischer Tätigkeit immer wieder von Neuem die Wahrheit bestätigt,
daß die Höhe der Leistungsfähigkeit eines Organs niemals größer
ist, als durchaus notwendig für die Existenzfähigkeit der betreffen-
den Art, daß sie aber auch nie geringer ist, daß also das Organ immer
genau so vortrefflich ist, als es sein muß, damit alle Lebenstätig-
keiten der Art erfüllt und ausgeübt werden können. Der Bau einer
Art ist genau so fein und so hoch ausgebildet, als es sein muß, damit
sie bestehen kann. Und so ist es in dem ganzen Gebiete des Lebens,
ja der ganzen Natur: die Welt ist genau so vortrefflich, als sie sein
muß, damit sie Bestand habe."
Beschränkungen der Naturzuchtung, die in den Organismen liegen.
Eine zweite Quelle für Beschränkung der Naturzüchtung
liegt in den Organismen selbst; — die Objekte, mit denen
und für die sie arbeitet, bilden zugleich eine Instanz, von der sie
bis zu einem gewissen Grade abhängig ist. Schon in seiner Antritts-
vorlesung von 1868 hat Weismann, wie wir bereits wissen, ganz
bestimmt ausgesprochen, daß die Variabilität der Organismen nicht
regel- und ziellos, sondern durch die physische Konstitution des
letzteren gewissen Beschränkungen unterworfen ist, so daß das
Varietätenmaterial, an dem die Ausleseprozesse wirksam werden
sollen, nicht unbeschränkt, sondern für jede Form begrenzt ist.
Schon einmal wurden seine Worte angeführt: ,,Es beruht auf ein-
— 173 —
seitiger Übertreibung der Darwinschen Lehre, wenn oft behauptet
wird, die Organismen könnten nach allen möglichen Richtungen
hin variieren. Freilich nach allen möglichen, aber auch nur nach
den möglichen, womit zugestanden wird, daß es auch unmögliche
gibt." Aus einem Käfer kann, wie es später einmal heißt, nicht ein
neues Wirbeltier werden, nicht einmal ein beliebiges anderes Insekt,
sondern zunächst nur immer wieder ein Käfer, und zwar der gleichen
Familie und Gattung. Das Neue kann nur an das schon Gegebene
anknüpfen. Diese , .physische Konstitution" ist aber nicht Ausfluß
einer selbständigen inneren Bildungskraft, sondern das Ergebnis
des historischen Entwicklungsganges, den eine jede Form durch-
gemacht hat; in der Lehre von der Germinalselektion fand sie und
die durch sie bedingte Beschränkung der Variationsmöglichkeit
eine genauere Analyse vom Standpunkt der Determinantentheorie
aus. Diese Beschränkung der Variationsmöglichkeit bedingt einer-
seits die Beibehaltung bestimmter Entwicklungsrichtungen bei der
phyletischen Entwicklung und kann andererseits unter Umständen
auch einmal zum Untergang einer Art führen, indem die gegebenen
Variationsmöglichkeiten nicht genügen, um eine Art veränderten
Lebensbedingungen anzupassen.
Noch nach einer anderen Richtung macht sich die Natur
der Organismen selbst bei der Umwandlung der Formen geltend.
Alle Teile stehen in einem bestimmten Zusammenhang, und keiner
kann für sich abändern, ohne die Abänderung eines anderen nach
sich zu ziehen. Das ist das Gesetz der Korrelation, dessen Be-
deutung schon von Darwin scharf hervorgehoben worden ist.
Auch Weismann ist hier und da darauf zu sprechen gekommen
und hat seine Wichtigkeit behandelt. Für die natürliche Auslese
kann sich aus ihm eine gewisse Beschränkung ergeben. Gesetzt,
dieselbe richtet ihr Augenmerk auf die Steigerung eines bestimmten
nützlichen Charakters, so wird ja, dem Gesetz der Korrelation ent-
sprechend, auch irgend ein anderer Charakter eine Abänderung er-
fahren. Solange diese zweite, begleitende Abänderung ihrer Art
oder ihrem Grade nach gleichgültig ist, wird sie ungestört vor sich
gehen können, sowie sie aber nach irgend einer Richtung schädlich
wird, werden die betreffenden Individuen gegenüber den anderen
benachteiligt und ausgemerzt werden, und damit würde denn auch
die Steigerung jener primären, nützlichen Abänderung zum Ende
— 174 —
gekommen sein. Bildlich ausgedrückt: die Naturzüchtung wird
zwar ihr Hauptaugenmerk gewöhnlich auf ein bestimmtes Merkmal
richten, muß dabei aber auch auf den ganzen übrigen Organismus
ein wachsames Auge haben, um sich im gegebenen Augenblicke
selbst ein Halt zuzurufen, eine Beschränkung aufzuerlegen.
Beschränkungen der Naturzüchtung, die in den Verhältnissen der
Umwelt liegen.
Endlich kann aber auch, Weismanns Auffassung zufolge,
in den Verhältnissen der Umwelt gelegentlich einmal das
Walten der Naturzüchtung eine Grenze finden. Wenigstens ist der
Fall denkbar, daß unter dem direkten Einflüsse der äußeren
Verhältnisse eine Art in allen Individuen so ungünstig verändert
wird, daß der Naturzüchtung, mangels günstiger Variationen, keine
Möglichkeit geboten ist, ihr aufzuhelfen. Wir werden hierauf noch
einmal zurückkommen müssen (in dem Abschnitt über die Germinal-
selektion).
Somit ist auch Weismann durchaus der Ansicht, daß die
Vorgänge der Naturzüchtung ihrer Natm: nach nicht imstande sein
können, jede beliebige Form in jeder beliebigen Weise umzubilden,
jedes beliebige Merkmal bis zu jedem beliebig hohen Grade zu steigern
oder jede Art unter allen Umständen zu erhalten und vor dem Ver-
derben zu schützen. Die Naturzüchtung, als personifizierte Kraft
genommen, ist nach vielen Richtungen hin beschränkt. Das be-
deutet aber nicht, daß die Naturzüchtungslehre als Erklärungs-
prinzip versage. Auch der Arten t od bedeutet nicht etwa, wie gesagt
worden ist, einen Bankerott der Selektionstheorie ; im Gegenteil,
er findet gerade in ihr, in den von ihr angenommenen Kräften,
seine zureichende Erklärung. Die Selektionstheorie darf nicht ver-
wechselt werden mit den Kräften, mit denen sie rechnet.
3. Leistungfähigkeit der Selektionstheorie für die Er-
klärung der phyletischen Entwicklung der Organismen.
a) Fragestellung.
Wie weit die Zuchtwahllchre als Erklärungsprinzip
im Reiche des Organischen Geltung hat, wie weit also durch die Vor-
gänge der Naturzüchtung die tatsächlich zu beobachtenden Er-
scheinungen der Lebewesen, ihr Bau, ihre Lebensäußerungen
- 175 —
und auch ihre Geschichte — ihr Aufkommen, ihre Entfaltung und
ihr Wiederverschwinden von der Erdoberfläche — ihre Erklärung
finden, das ist die zweite große Frage, die sich erhebt, und die auch
Weis mann immer wieder behandelt hat. Reicht für das Verständnis
jener Erscheinungen Naturzüchtung in der Form der Personalauslese
als Erklärimgsprinzip aus, oder müssen statt ihrer oder wenigstens
neben ihr andere Umwandlungsprinzipien anerkannt werden, und
welche? Auch Darwin hatte sich diese Frage vorgelegt, hatte zur
Erklärung einer ganzen Anzahl von Merkmalen das Prinzip der
sexuellen Auslese neben das der natürlichen Zuchtwahl gestellt,
daneben die Vererbung von direkten Mediumwirkungen und von
funktionellen Abänderungen angenommen und damit diesen beiden
Faktoren eine gewisse Rolle bei der Umwandlung der Formen zu-
gewiesen, endlich auch die korrelative Abänderung bei der letzteren
in Rechnung gestellt. Unter den von anderer Seite vertretenen
Anschauungen waren die wichtigsten die Annahme einer inneren
zielstrebig arbeitenden Entwicklungskraft, eines großen Gestaltungs-
gesetzes, demzufolge sich die ganze Organismenreihe unter einem
inneren Zwange entwickelt habe und ebenso entwickelt haben würde,
auch wenn die äußeren Bedingungen ganz andere gewesen wären,
sowie Rouxs Lehre von dem züchtenden Kampf der Teile im Or-
ganismus, die neben die Personalauslese die Partialauslese inner-
halb des Organismus stellte und auf diese die inneren Zweckmäßig-
keiten der Organismen zurückführte. Mit diesen und anderen An-
schauungen galt es sich abzufinden, und auch hierbei konnte, da
der Vorgang der Naturzüchtung nicht unmittelbar zu beobachten
ist, die Behandlung immer nur darauf ausgehen, zu zeigen, einmal
wie weit die gegebenen Tatsachen sich jenem Erklärungsprinzip
fügen, und ferner, daß die von anderer Seite vertretenen Prinzipien
unzulänglich oder zum mindesten überflüssig sind.
b) Zuchtwahl oder inneres Vervollkommnungsprinzip?
Nägelis Theorie der direkten Bewirkung.
Die Auffassung, daß nicht Nützlichkeit und Zufall, wie es die
Darwinsche Theorie annimmt, den Werdegang der Organismen
beherrschten, sondern eine innere bestimmt gerichtete Entwicklungs-
kraft, ist vielfach vertreten worden. Sie spielt eine besondere Rolle
inderTheorie der direktenBewirkung von Carl vonNägeli,
— 176 —
dem genialsten, bedeutendsten Forscher, zu dem Weismann
Stellung zu nehmen hatte, und dessen gedankenreichem und in
klassischer Einfachheit und Klarheit geschriebenen Werke über die
Abstammungslehre (1884) er selbst vielfache Anregung verdankte.
Schon 1865 war der berühmte Münchener Botaniker in grundsätz-
lich wichtigen Punkten der Darwinschen Theorie gegenüber-
getreten und hatte sich für die Annahme eines besonderen inneren
Vervollkommnungsprinzipes ausgesprochen; in seinem großen
Werke über die mechanische-physiologische Theorie der Abstam-
mungslehre von 1884 hatte er den gleichen Gedanken im Zusammen-
hang mit seiner Idioplasmatheorie, der ersten im einzelnen durch-
gearbeiteten Vererbungstheorie, ausführlicher behandelt. Ein scharf
ausgesprochener Dualismus beherrscht die Auffassung Nägelis,
soweit sie sich auf die Entwicklung der Organismen bezieht. In
zwei Gruppen werden zunächst die Merkmale derselben eingeteilt:
in Organisationsmerkmale und in Anpassungsmerkmale.
Die Organisationsmerkmale, auch als ,,rein morphologische", das
soll heißen: biologisch bedeutungslose, bezeichnet, bedingen das
Wesentliche der Organisation, auf ihnen beruht die ganze Gliede-
rung der Organismen, in Arten, Gattungen, Familien, Ord-
nungen usw.; die nützlichen Anpassungen bedeuten an dem Ge-
bäude nur die Ausführung im einzelnen, die ,, Verzierung". Alle
Merkmale sind der Ausdruck einer bestimmten Beschaffenheit des
Idioplasmas, das den ganzen Organismus durchsetzt; auf Verände-
rungen des Idioplasmas beruhen somit die erblichen Veränderungen
der Organismen, beruht die Entwicklung der organischen Reiche.
Die Ursachen für diese erblichen Veränderungen des Idioplasmas
sind, entsprechend jenen beiden Gruppen von Merkmalen, ebenfalls
zweierlei Art: innere und äußere. Die inneren, in der molekularen
Zusammensetzung des Idioplasmas beruhend, sind die wichtigeren.
Sie bedingen eine fortschreitende gesetzmäßige Veränderung des
Idioplasmas im Sinne einer mannigfaltigeren Gliederung desselben
und dementsprechend eine stete Veränderung der Organismen im
Sinne einer zusammengesetzteren Organisation und Funktion. Mit
innerer Notwendigkeit entstehen periodisch neue ,,Organisations-"
oder ,, Vervollkommnungsanlagen" und dadurch auch eine stetige
in bestimmter Bahn fortschreitende Entwicklung der Formen,
eine stetige Vervollkommnung der Organisation. Den äußeren Ein-
— 177 —
flüssen bleibt es dann nur vorbehalten, die „Verzierung", d. h. die
nützlichen Anpassungen an die Außenwelt und damit die Mannig-
faltigkeit und spezielle Beschaffenheit der Gestaltung zu bilden.
Die Wirkung der Außenwelt ist aber nicht im Darwinschen Sinne
auf dem Umwege der Konkurrenz und Verdrängung zu denken,
sondern als ,, unmittelbares Bewirken", in der Weise, daß unter
lange dauernder — durch Generationen sich wiederholender — Be-
einflussung durch äußere Reize das Idioplasma, das den ganzen
Körper durchsetzt, zweckentsprechend verändert wird, und diese
primären Idioplasmaveränderungen dann als nützliche Anpassungs-
merkmale an den entwickelten Organismen bemerkbar werden.
Wie mit innerer Notwendigkeit aus inneren Ursachen in dem Idio-
plasma periodisch neue Organisations- oder Vervollkomm-
nungsanlagen entfaltungsfähig werden, so schaffen die äußeren
Einflüsse, ebenfalls zwingend, neue Anpassungsanlagen, und
auf dem Zusammenwirken beider Kräfte, des inneren Vervollkomm-
nungsprinzipes und der direkten Wirkung der äußeren Einflüsse,
beruht die Umwandlung der Formen. Diese Umwandlung ist
also von beiden Seiten her eine ganz bestimmt gerichtete
(,, Theorie der direkten Bewirkung") ; die Selektion erscheint
dabei zwar nicht ganz ausgeschaltet, aber sie übt keinen richten-
den, ordnenden Einfluß aus, sondern kann höchstens das weniger
Existenzfähige beseitigen; auch ohne Konkurrenz würden
sich alle Organismen, die wir jetzt kennen, gebildet
haben.
Das sind grundsätzliche Unterschiede gegenüber der Anschau-
ung von Darwin. Dieser hatte, wie Plate es einmal ausdrückt,
,,die ganze Evolution unter dem Gesichtswinkel der Anpassungen"
betrachtet *2) ; für Nägeli dagegen erschienen die Anpassungen nur
als Verzierungen, während die viel bedeutungsvolleren Organisations-
merkmale, ihrem inneren Ursprung entsprechend, sich gegenüber
den äußeren Verhältnissen gleichgültig verhalten sollten. Für Dar-
win waren ferner die ersten Abänderungsstufen der Organismen
richtungs- und regellos, und erst die äußeren Einflüsse trafen aus
ihnen die Auswahl und bestimmten damit die Richtung der Ent-
wicklung; für Nägeli war die Entwicklung von vornherein bestimmt
gerichtet. In bezug auf die Ursachen der Umbildung besteht eine
gewisse Fühlung zwischen Nägeli und Lamarck, der auch ein
Oaupp. Biograpliie Weisiuaiins. 12
- 178 -
inneres Umwandlungsprinzip und die äußeren Einflüsse in diesem
Sinne in Anspruch genommen hat, doch tritt bei Nägeli jenes
innere von Darwin ganz abgelehnte Prinzip, der innere Vervoll-
kommnungstrieb, viel beherrschender in den Vordergrund.
In den Bahnen Nägelis wandelten viele Forscher, teils be-
wußt, teils unbewußt. Mit Bestimmtheit vertrat Kölliker die
Auflassung, daß der Entstehung der gesamten organischen Natur
ein großer Entwicklungsplan, mit anderen Worten, allgemeine
Naturgesetze zugrunde liegen, daß bei der Umbildung der Formen
nicht der Gesichtspimkt der Nützlichkeit, gewissermaßen von Fall
zu Fall, die Entscheidung über die Art und Richtung getroffen,
sondern daß sich diese Umbildung mit derselben Gesetzmäßigkeit
vollzogen habe, wie die Entwicklimg des Eies. Askenasy und der
Phüosoph Eduard von Hartmann äußerten ähnliche Auf-
fassungen, deren weite Verbreitung im übrigen auch aus der Fassimg,
in der die ,, Darwinsche" Theorie oft dargestellt wird, erhellt.
Paßt die oft gehörte Formel, daß bei der Umbildung der Organismen
zwei Prinzipien wirksam gewesen seien, ein konservatives, die Ver-
erbung, und ein fortschrittliches, die Anpassung, nicht eigentlich
viel besser auf die Nägelische Vorstellung, als auf die Darwinsche ?
Von dieser aus müßten als Umwandlungsprinzipien genannt werden :
Anpassung — vor allem auf Grund erblicher zunächst richtungsloser
Variationen, zum kleineren Teil auf Grund direkter Medium-
wirkungen und funktioneller Veränderungen — , Vererbung dieser
Anpassimgen imd Hinzukommen neuer. Die ganze Organisation
ist nach Darwin Anpassung.
Die Organismen als Anpassungskomplexe.
Der Frage, wie weit ein innerer Vervollkommnungstrieb — eine
phyletische Lebenskraft, wie Weismann zu sagen vorschlägt — die
Umbildung der Organismen bestimmt habe, sind die ersten de-
szendenztheoretischen Arbeiten des jungen Freibiuger Forschers
gewidmet. Schon die Antrittsrede von 1868 steht das Problem scharf
und bestimmt hin: „Es wäre denkbar, daß den Organismen eine
Kraft innewohne, mittelst welcher sie im Laufe zahlreicher Gene-
rationen ihre Gestalt änderten und sich zu einer neuen Art tun-
wandelten. Es müßte dann mit Notwendigkeit aus einer bestimmten
Art nach Ablauf einer gewissen Zeit eine oder mehrere neue, eben-
— 179 —
falls ganz fest bestimmte Arten hervorgehen, und das gesamte
Tier- und Pflanzenreich müßte mit Notwendigkeit sich gerade zu
der Gestalt aus den niedersten Organismen entwickelt haben, in
welcher es uns faktisch entgegentritt; die Organismenwelt hätte
so wenig anders ausfallen können, als aus dem Ei einer Taube etwas
anderes kommen kann als eine Taube!" Aber sofort folgt auch die
Antwort: ,,Eine solche Vorstellung ist unstatthaft, da sie im Wider-
spruch mit Tatsachen steht. Der Mensch vermag nach seiner Will-
kür diurch künstliche Züchtung neue Rassen hervorzubringen, mit
anderen Worten: er vermag die Organismenwelt umzu-
gestalten, wenn auch nur innerhalb enger Grenzen; dies könnte
aber nicht der Fall sein, wenn nur diese organische Welt möglich
gewesen wäre, die wir tatsächlich beobachten! Ohnehin ist es nicht
erlaubt, eine unbekannte Kraft anzunehmen, wo wir mit den be-
kannten Kräften zur Erklärung der Erscheinimgen ausreichen
oder doch hoffen dürfen, nach weiteren Forschimgen einst auszu-
reichen."
Daß tmter diesen ,, bekannten Kräften" vor allem die Faktoren
der Selektionsvorgänge zu verstehen sind, lehren die Arbeiten der
nächsten Jahre, die immer wieder daraiif hinzielen, die allerver-
schiedensten Einrichtungen und Lebenserscheinungen der Organismen
als nützliche ,, Anpassungen" verständlich zu machen. Denn diese
Vorfrage war allerdings zuerst zu erledigen: sind in der Tat, wie
Nägeli meinte, die wichtigsten Merkmale der Organismen, die die
Höhe der Organisation bestimmen, biologisch bedeutungslos, rein
morphologisch, oder sind sie nützliche Einrichtungen? Niu" in
letzterem Falle konnte die Erklärung durch das Selektionsprinzip
für sie in Anwendung kommen.
Die hier vorliegende Aufgabe entsprach der angeborenen Be-
gabung Weismanns zur denkenden Naturbeobachtung, seiner
Freude an den Organismen und ihren Lebensäußerungen, die ihn
von Jugend auf beseelt hatte. Aber an die Stelle der naiven Freude
des Knaben, der Pflanzen, Käfer, Schmetterlinge gesammelt und
Raupen gezüchtet hatte, trat nun die überlegende Betrachtung des
gereiften Mannes, der nach Sinn und Zweck der Einrichtungen der
Lebewesen fragte. Ihm erschloß sich die Erkenntnis, die bestimmend
wurde für seine Stellimgnahme gegenüber dem Darwinismus: die
Überzeugung von der tatsächlich vorhandenen, bis ins kleinste
12*
— i8o —
gehenden Zweckmäßigkeit der Organismen, ihrer genauesten An-
passung an die Lebensbedingungen. Er hat selbst oft hervorgehoben,
daß gerade dem die Natur beobachtenden Zoologen diese Anpassungen
viel richtiger und bedeutungsvoller erscheinen müssen, als dem
Botaniker, da die Anpassungen der Pflanzen nicht so leicht erkenn-
bar sind, und hat darauf vor allem es zurückgeführt, daß er in dieser
Frage zu einer ganz anderen Auffassung gelangte als Nägeli*^).
Die vier Abhandlungen des zweiten Bandes der ,, Studien zur De-
szendenztheorie" vom Jahre 1876 sind der Erörterung der Frage
nach dem Vorhandensein einer phyletischen Lebenskraft gewidmet;
wir sahen schon, daß das Ergebnis dieser Prüfung durchaus negativ
war. Die Zeichnungen der Sphingidenraupen ließen sich als An-
passungen nach dem Selektionsprinzip erklären; ebenso führte die
Betrachtung der selbständigen Abänderungen von Raupen und
Schmetterlingen sowie die der Verwandlung des mexikanischen
Axolotl zu der Ablehnung einer solchen inneren Entwicklungskraft.
Weitere bedeutungsvolle Prüfungen der Leistungsfähigkeit des
Selektionsprinzipes an zwei ganz verschiedenartigen Gruppen von
Erscheinungen folgten wenige Jahre später: 1880 konnte Weis-
mann zeigen, daß die eigentümlichen Verschiedenheiten in den Fort-
pflanzungserscheinungen der Daphnoiden sich als Anpassimgen an
die Lebensbedingungen verstehen lassen, und die Untersuchungen
über die Dauer des Lebens und über Leben und Tod lehrten ebenso
die Lebensdauer der Arten wie den natürlichen Tod unter dem gleichen
Gesichtspunkt betrachten. So kam auch Weis mann dazu, als
konsequenter Jünger Darwins ,,die ganze Evolution unter dem
Gesichtswinkel der Anpassungen" zu betrachten und — ebenfalls
in Übereinstimmung mit Darwin — als rein morphologisch, bio-
logisch bedeutimgslos nur wenige Merkmale gelten zu lassen. Ab-
gelehnt hat er das Vorhandensein solcher durchaus nicht — schon
der Vortrag von 1868 rechnet mit ihnen und sucht sie zu erklären,
in den ,, Studien zur Deszendenztheorie" spielen sie eine große Rolle,
tmd in der „Germinalselektion" gab er später eine Erklärung für
sie vom Boden der Determinantentheorie aus — aber er hat doch
wie Darwin zur Vorsicht gemahnt und davor gewarnt, eine bio-
logische Bedeutung, eine Zweckmäßigkeit überall da zu leugnen,
wo sie bisher nicht bekannt ist. Mit Recht konnte er darauf hin-
weisen, wie durch die fortschreitende Forschimg immer wieder
— löl —
nicht nur auf tierischem, sondern auch auf dem in dieser Hinsicht
schwierigeren pflanzHchen Gebiete Merkmale, die man früher als
bedeutungslos betrachtete, als wichtig erkannt und aus der Reihe
der ,,rein morphologischen" Merkmale in die der ,, Anpassungen"
versetzt wurden. Alle Formen, das ist seine oft ausgesprochene
Überzeugung, sind in erster Linie Komplexe von Anpassungen,
und auch die meisten sogenannten Organisationsmerkmale
müssen als Anpassungen entstanden gedacht werden. Freilich darf
man — eine gewiß sehr beherzigenswerte Warnung — nicht nur
das als Anpassung gelten lassen, was bei der Art, die man gerade
ins Auge faßt, neu erworben wurde. Denn wir setzen doch eine
Entwicklung voraus; die Anpassungen von heute vollziehen sich
unter Beibehaltung einer gegebenen Grundlage, die aber ihrerseits
einmal als Anpassung sich ausbildete: sie schließen sich an die An-
passungen von gestern und von der Urzeit her an. Die Bedeutung
dieser alten Anpassungen würde bei den Formen zu prüfen sein,
bei denen sie zum ersten Male auftraten. Hier harrt noch ein
großes Arbeitsgebiet der systematischen Inangriffnahme. Von
vielen, an sich längst bekannten und in allen Lehrbüchern auf-
geführten Merkmalen wissen wir noch nicht, welche biologische
Bedeutung ihnen zukommt, aber es hat sich auch noch niemand
die Mühe genommen, ernstlich darnach zu fragen und unter Berück-
sichtigung des von Weismann so klar hervorgehobenen historischen
Gesichtspunktes darnach zu forschen. Daß ein Fortschritt auf diesem
Gebiete vor allem von der liebevollen Versenkung in die Lebens-
erscheinungen kleinerer Gruppen von Organismen und ihre Be-
ziehungen zur belebten und unbelebten Umwelt zu erwarten sein
wird, ist ein Gedanke, dem Weismann besonders in dem Vorwort
zu der ,, Internationalen Revue der gesamten Hydrobiologie und
Hydrographie" Ausdruck gegeben hat, und aus dem er eine wichtige
Aufgabe der hydrobiologischen Forschung herleitet.
Diesen Standpunkt immer wieder zu begründen, ist Weis-
mann nicht müde geworden, und seine ungewöhnlich ausgedehnte
Erfahrung und Kenntnis von Einzeltatsachen setzten ihn in den
Stand, immer neue Beispiele zu seinen Gunsten anzuführen. Welche
Fülle von Stoff ist in dieser Hinsicht in den Vorträgen über De-
szendenztheorie zusammengetragen, nicht nur aus dem Gebiete der
Zoologie, sondern auch aus dem der Botanik, dem ja Weismann
— l82 —
ebenfalls von Jugend auf seine Neigung zugewandt hatte. Die
mannigfachen mechanischen und chemischen Schutzvorrichtungen
der Pflanzen gegen große und kleine Tiere, die wunderbaren An-
passungen der fleischfressenden Pflanzen, — die Einrichtungen
zur Bestäubung der Blumen, die gegenseitigen Anpassungen
zwischen diesen und den Insekten, Einrichtungen so zweckmäßiger
Natur, daß sich der Ausspruch rechtfertigt, die Pflanzen seien aus
lauter Anpassungen entstanden und zusammengesetzt, — dann
weiter die Instinkte der Tiere, die mancherlei Färbungen und Zeich-
nungen derselben, die als ,, sympathische" Färbungen das Tier mit
seiner Umgebung in Einklang bringen, oder als Schreckmittel
wirken, und unter ihnen wieder besonders die schützenden nach-
ahmenden Färbungen: die Blattschmetterlinge und Blattheu-
schrecken, die Spannerraupen, die wie kleine Zweigchen aussehen,
und vor allem die echten Mimikrifälle: die Beispiele von Nach-
ahmung einer durch ihren widrigen Geschmack geschützten Tier-
form durch eine andere — es ist ein reiches Gebiet von Tatsachen,
bei denen der Charakter der zweckmäßigen Anpassungen teils ohne
weiteres in die Augen springt, teils der genaueren Forschung sich
erschlossen hat. Sie konnten wohl zu der Auffassung führen, daß
auch die sogenannten ,, Organisationsmerkmale" der Arten, Gat-
tungen, Familien, Ordnimgen, Klassen ursprünglich adaptive
Bedeutung hatten, wenn sich dieselbe auch jetzt nicht mehr immer
erkennen läßt. Und doch gibt es unter den Tieren Gruppen, bei
denen auch das ganz gut möglich ist. Ein Lieblingsbeispiel dieser
Art, auf das Weismann oft zurückgekommen ist, bilden die Wale:
in ihrem Organismus ist alles, was als charakteristisch für die Ord-
nung gilt, als Anpassung an das Wasserleben aufzufassen, und nach
Wegnahme dieser Anpassungen bleibt überhaupt nur das allgemeine
Schema des Säugetieres übrig. Aber auch die Vögel, die Fleder-
mäuse und die verschiedenen Familien der parasitischen Krebse
sind solche Gruppen, deren Hauptcharaktere als Anpassungen er-
kennbar sind.
Wenn aber die Organismen in erster Linie Anpassungskomplexe
sind, — kann dann noch der Glaube an ein inneres Vervollkomm-
nungsprinzip, an eine phyletische Lebenskraft, die ganz gesetz-
mäßig die einzelnen Formen auseinander hervorbrachte, aufrecht
erhalten werden? Wohl kaum. Auch Nägeli hatte die Schaffung
- 183 -
von Anpassungen seinem „Vervollkommnungsprinzip" nicht zu-
geschrieben, und in der Tat wäre es schwer, sie auf ein solches
zurückzuführen. Denn Anpassungen, so folgert Weismann, sind
Veränderungen, die den Organismus in Übereinstimmung mit den
Lebensbedingungen setzen; es handelt sich also nicht darum, zu
erklären, wie es kommt, daß überhaupt die Arten sich von Zeit
zu Zeit umwandeln, sondern es ist zu erklären, daß sie sich gerade
in der Weise umwandeln, wie es für die Bedingungen, unter denen
sie zu existieren haben, zweckmäßig ist. Unter Hinweis auf die
Wale, deren eben gedacht wurde, wird die Frage gestellt: gesetzt
auch, man ließe die Annahme gelten, daß die charakteristischen
Eigenschaften eines Organismus alle durch eine innere Entwick-
lungskraft ins Dasein gerufen seien, wie solle man es verstehen,
daß ein nur für ganz bestimmte Lebensbedingungen berechneter
und unter anderen Bedingungen gar nicht existenzfähiger Organis-
mus gerade an der Stelle der Erde auftrat und zu der Zeit der
Erdentwicklung, welche die geeigneten Existenzbedingungen dar-
bot? Die Anhänger einer inneren Entwicklungskraft sind, nach
Weismanns Ansicht, genötigt, eine Hilfspypothese anzunehmen:
eine Art von prästabilierter Harmonie im Sinne von Leibniz, die
es mit sich bringt, daß die Veränderungen in der Organismenwelt
Schritt für Schritt parallel gehen mit den Veränderungen der Erd-
rinde und der Lebensbedingungen auf ihr. Und selbst das würde
noch nicht genügen, weil nicht bloß die Zeit, sondern auch der Ort
in Betracht kommt, und weil es einem Wal nichts nützt, wenn er
auf dem Trocknen entsteht. Es gibt sogar unzählige Fälle, wo ein
Organismus ausschließlich einem ganz bestimmten Fleckchen der
Erde genau angepaßt ist und nirgends anders gedeihen könnte,
so besonders die zahlreichen Fälle von Nachäffung, in denen ein
Insekt ein anderes, das durch einen schlechten Geschmack geschützt
ist, kopiert, oder ein Blatt, eine bestimmte Baumrinde nachahmt.
Das läßt sich nicht durch eine innere zielstrebige Umwandlungskraft
erklären. Und wie passen zu der Annahme eines nach aufwärts
drängenden Entwicklungsprinzipes die Fälle von Rückbildung von
Organen, wie sie im größten Umfang bei schmarotzenden Formen
zu beobachten sind! Dem Darwinschen Erklärungsprinzip fügen
sich dagegen auch diese Erscheinungen ohne jeden Zwang. Sie
zeigen, wie Weismann es einmal in einem besonderen Aufsatz
— 184 —
über den Rückschritt in der Natur (1886) ausdrückt, die Kehr-
seite der Naturzüchtung, zeigen, daß im Interesse des ganzen
Tieres und seiner Anpassung an gegebene Lebensbedingungen
einzelne Organe unter Umständen sich rückbilden müssen, weil
ihnen unter diesen Bedingungen keine Aufgabe zu erfüllen bleibt.
Durch Beseitigung des entbehrlichen Organes wird das volle Gleich-
gewicht zwischen dem Bau des Körpers und seinen Leistungen wieder
hergestellt, — der Rückschritt ist ein Teil des Fortschrittes.
Auch noch eine andere Erscheinung wird gerade vom Stand-
punkt des Selektionsprinzipes aus erst recht verständlich : die schein-
bare Unvollkommenheit mancher Einrichtungen und Merkmale,
die schon oben unter den Beschränkungen der Naturzüchtungs-
vorgänge erwähnt wurde. Die Zeichnungen der Sphingidenraupen,
die Weismann genauer untersuchte, zeigen ja, genau betrachtet,
außerordentlich unvollkommene Ähnlichkeit mit Blattzeich-
nungen, aber sie genügen, um die Tiere inmitten der Blätter leichter
zu verstecken, für spähende Feindesaugen schwer erkennbar zu
machen; ebenso fehlt auch den schönsten Blattschmetterlingen,
wie der Kailima, zur wirklichen Kopie eines Blattes noch sehr viel,
aber gerade darin liegt eben ein Beweis für den Ursprung dieser
Zeichnungen aus Selektionsprozessen, ,,denn nicht ein botanisch
genaues Bild des Blattes konnte auf diese Weise entstehen, sondern
nur eine Fixiertmg solcher Einzelheiten, welche die Täuschung er-
höhten" **) . Der auslesende Faktor war eben nicht der Naturforscher,
der Blatt und Schmetterling nebeneinander vor sich legt und ver-
gleicht, sondern das Auge des Vogels, der im Fluge sich schwerlich
jedes ihm als Blatt erscheinende Gebilde ganz genau darauf ansehen
wird, ob es auch wirklich ganz genau geformt und gezeichnet ist.
Und so ist es auch mit den echten mimetischen Anpassungen: sie
genügen gerade zur Täuschung des Feindes. Aber auch sonst lehrt
eine genaue Betrachtung der Organismen und ihrer Einrichtungen
immer wieder eine nur ,, relative Vollkommenheit" derselben. Das
ist ohne weiteres verständlich, wenn man sie auf Selektionsprozesse
bezieht: der Natur der sie bewirkenden Ursachen nach können
sie nur relativ vollkommen sein, weil die Naturzüchtimg, wie wir
schon sahen, nur so lange wirkt, als eine weitere Verbesserung des
betreffenden Charakters noch von Vorteil für die Existenz der
Art ist. Gerade diese Unvollkommenheiten der Anpassungen
- i85 -
sprechen dafür, daß die letzteren durch Selektionsprozesse ent-
standen sind.
Regeneration als Anpassungserscheinung.
Als Anpassungen, die durch Naturzüchtung ausgebildet
worden sind, nimmt Weismann auch die Erscheinungen der Re-
generation in Anspruch. Schon 1892 in dem Werke über das
Keimplasma findet sich diese Auffassung entwickelt, die dann 1899
noch in einem besonderen Aufsatz verteidigt und in den ,, Vorträgen"
behandelt ist. Die theoretischen Erörterungen erfahren eine Er-
gänzung durch Versuche, die sich auf die Regeneration innerer
Organe bei Tritonen beziehen und außer an den genannten Stellen
noch in einer kurzen selbständigen Mitteilung von 1903 besprochen
worden sind. Nach Weismanns Auffassung ist das Regenerations-
vermögen nicht eine primäre Eigenschaft der lebenden Substanz,
sondern eine erst nachträglich geschaffene ,, Einrichtung", eine An-
passung des Organismus an bestimmte Forderungen der Lebens-
bedingungen. Das wird gefolgert aus den Verschiedenheiten des
Regenerationsvermögens bei den einzelnen Tierformen und den
einzelnen Organen. Die beiden Bedingungen, die den züchtenden
Einfluß ausgeübt haben, sind die Verlusthäufigkeit und die Höhe
des Verlustschadens, der sich aus der biologischen Bedeutung der
Organe ergibt. Das heißt: Regenerationsfähigkeit ist bei solchen
Teilen eingerichtet oder beibehalten, die von häufigerem Verluste
bedroht und für das Tier von wichtiger biologischer Bedeutung sind.
Eine ganze Anzahl von Beispielen, die Weismann gesammelt
hat, konnte im Sinne dieser Betrachtungsweise gedeutet werden.
So regenerieren sich die Beine der Tritonen sehr rasch und sogar
zu wiederholten Malen, wenn sie abgeschnitten werden, während
die Beine des 01m erst nach ii/4 Jahren wiedergebildet werden.
Aber diese sind auch normalerweise schwach, rudimentär, und zu-
dem lebt der 01m geschützt vor Gefahren in dunklen Höhlen, während
die Tritonen viel mehr auf ihre kräftigen Beine angewiesen und dazu
viel mehr Gefahren ausgesetzt sind. Bei Vögeln, deren Regene-
rationsvermögen sehr gering ist, regeneriert sich doch die Schnabel-
spitze, die bei den Kämpfen, namentlich der Männchen, häufig
abgebrochen wird. Eigene und von Schülern Weismanns an-
gestellte Versuche zeigten ferner, daß innere Teile (Lungen, Ei-
— i86 —
und Samenleiter) bei Tritonen nicht regeneriert werden, — auch
das konnte in dem Sinne gedeutet werden, daß dieselben in der Natur
keinen häufigeren Verletzungen ausgesetzt sind und daß somit
bei ihnen das Regenerationsvermögen nicht angezüchtet wurde.
Die substantielle Grundlage der Regenerationserscheinungen sieht
Weismann, wie schon erwähnt wurde, in einem Nebenidioplasma
mit Ersatz- oder Regenerationsdeterminanten, das vom Keimplasma
stammend, bestimmten Zellen beigegeben ist, in den Kernen der-
selben in inaktivem Zustand verharrt, um unter gewissen Umständen
aktiv zu werden und den Teil, den es bestimmt, von neuem hervor-
zubringen. —
Die Auffassung, daß die Größe des Regenerationsvermögens
in einem direkten Verhältnis zu der Verletzlichkeit der Teile stehe,
war nicht neu, sondern ist schon früher, bereits im i8. Jahrhundert
(von R6aumur, Bonnet), ausgesprochen worden, doch erst Weis-
mann hat den Gedanken konsequent durchgeführt und im weiteren
Verfolg die Regenerationserscheinungen der Selektionstheorie unter-
geordnet. Von vielen Seiten hat er darin Zustimmung erfahren;
groß aber freilich ist auch die Zahl derer, die sich dagegen ausge-
sprochen haben, und in der Tat fügen sich viele Tatsachen der
Weismann sehen Betrachtungsweise nicht. So ist sie gerade von
den Forschern, die auf dem Gebiete der Regenerationserscheinungen
speziell gearbeitet haben, als unbefriedigend abgelehnt worden,
wenigstens soweit es sich um die Auffassung handelt, daß das Re-
generationsvermögen überhaupt erst sekundär angezüchtet worden
sei. Doch läßt sich ein vermittelnder Standpunkt verteidigen,
nach dem die Regeneration an sich eine Fundamentalerscheinung
der Organismen darstellt, aber durch Zuchtwahlprozesse vielfach
beeinflußt worden ist, teils im Sinne einer Steigerung, teils in dem
einer Rückbildung. Auch Weismann selbst hat einer derartigen
vermittelnden Auffassung vorgearbeitet, indem er 1892 seine An-
sicht in der ,, Vermutung" zusammenfaßt: ,,es möchte die allgemeine
Regenerationsfähigkeit sämtlicher Teile eine durch Selektion herbei-
geführte Errungenschaft niederer und einfacherer Tierformen sein,
die im Laufe der Phylogenese und der steigenden Kompliziertheit
des Baues zwar allmählich mehr und mehr von ihrer ursprünglichen
Höhe herabsinkt, die aber auf jeder Stufe ihrer Rückbildung in
bezug auf bestimmte, biologisch wichtige und zugleich häufigem
- i87 -
Verlust ausgesetzte Teile durch speziell auf diese Teile gerichtete
Selektionsprozesse wieder gesteigert werden konnte.
Die Schicksale der Arten als Anpassungserscheinungen.
Die Unterordnung der Regenerationserscheinungen unter das
Selektionsprinzip bedeutet ein weiteres Fortschreiten auf dem Wege,
den Weismann seinerzeit in den Erörterungen über den Tod und
die Dauer des Lebens beschritten hatte, einen weiteren Versuch,
nicht nur die morphologischen Merkmale der Formen, sondern auch
physiologische Erscheinungen als Anpassungen, entstanden durch
Personalselektion, zu erklären. Daß Weismann dieselbe Betrach-
tungsweise auch auf die wechselvollen Geschicke anwandte,
die die Arten im Laufe der Stammesgeschichte durch-
machen, und daß er auch hier das Walten einer ,,phyle tischen
Lebenskraft" ableugnete, bedarf kaum noch einer besonderen Er-
wähnung. Es ist, seiner Ansicht nach, nur ein ,, Spielen mit Be-
griffen", wenn man den Arten Geburt, Aufblühen, Stillstand,
Niedergang und Tod zuspricht, anders als in figürlichem Sinne.
Gäbe es eine innere Entwicklungskraft, so könnte die Möglichkeit in
der Lebensdauer der Arten keine so ganz maßlose sein; gäbe es
ein ,, Greisenalter" und einen ,, natürlichen Tod" der Arten, so
könnten beispielsweise nicht die meisten Nautiliden auf die Silur-
zeit beschränkt sein, einige aber bis heute leben, und gäbe es eine
,, Tendenz", immer weiter zu variieren, so könnten solche uralte
und primitive Cephalopodenformen wie die Nautilus-Arten sich
überhaupt nicht bis auf unsere Tage erhalten haben, sondern müßten
längst in höhere Formen umgewandelt sein. Dem Selektionsprinzipe
fügen sich dagegen alle diese Erscheinungen ohne Mühe. Solange
die Formen ihren Lebensbedingungen voll angepaßt waren, blieben
sie erhalten und hatten auch keine Veranlassung, sich umzuwandeln ;
bei einem merklichen Wechsel dieser Bedingungen aber konnten
nur die Arten erhalten bleiben, die unter den veränderten Lebens-
bedingungen dauerfähig waren, die anderen gingen zugrunde. Die
mancherlei Gründe für die Unfähigkeit, sich anzupassen, wurden
schon erörtert: sie können im Wesen der Naturzüchtungsvorgänge
selbst, in den Organismen und in der Umwelt liegen.
So ist die phyletische Entwicklung der Organismen nicht
nach einem von vornherein feststehenden Naturgesetz, auf Grund
einer ihnen innewohnenden Entwicklungskraft, erfolgt, sondern auf
Grund der erblichen individuellen Variationen, unter Auswahl der
für die jeweiligen Existenzbedingungen nützlichen. Nicht aus inneren
Gründen ist die Art geschaffen, sondern sie ist „in erster Linie ein
Komplex von Anpassungen, von modernen, eben erst erworbenen,
und von ererbten altüberkommenen, ein Komplex, der sehr wohl
auch anders hätte sein können, und der anders hätte sein müssen,
falls er unter dem Einfluß anderer Lebensbedingungen entstanden
wäre' ' . Nur in geringem Umfang ist die Art zugleich einVariations-
komplex, d. h. nur gering an Zahl sind die Merkmale, für die der
Charakter als ,, Anpassungen" nicht nachweisbar ist. Sie können
nicht durch Personalselektion herausgebildet worden sein, sondern
erfordern eine andere Erklärung. Sie ist später zu geben.
Mutationstheorie.
Bei dieser scharfen Betonung der Abhängigkeit der Arten-
entwicklung von den Lebensbedingungen, mußte Weismann sich
auch gegenüber der Mutationstheorie, der neuen Form, die der
holländische Botaniker de Vries, auf Grund langjähriger aus-
gedehnter Versuche an Pflanzen, der Selektionstheorie gegeben
hatte, ablehnend verhalten. Auch die Mutationstheorie läßt die
natürliche Zuchtwahl bis zu einem gewissen Grade gelten, legt
aber besonderen Wert darauf, daß nicht, wie Darwin und Weis-
mann annehmen, die fortwährend an den Organismen auftretenden
individuellen, ,, fluktuierenden" Variationen das Material liefern,
das erst von den Ausleseprozessen zur bleibenden Umbildung der
Formen verwertet wird, sondern daß die neuen Formen bereits
fix und fertig aus den alten auf Grund innerer Entwicklungskräfte
entstehen und sich so gewissermaßen der Naturzüchtung zur Be-
gutachtung darbieten. Die fluktuierenden Variationen sind nach
de Vries nicht erblich-konstant, Züchtungen auf Grund derselben
Irönnten somit niemals einen dauernden Erfolg haben, vielmehr
würae nach Aufhören der Züchtung sehr bald wieder ein Rück-
schlag zur Ausgangsform erfolgen. Ihnen stellt er die erbbeständigen
Variationen als ,, Mutationen" gegenüber. Es sind Abänderungen
kleineren, manchmal aber auch größeren Betrages, die aus inneren
Ursachen nur ab und zu, plötzlich, auftreten und, was eben für ihn
das wichtigste ist, von vornherein erbbeständig sind. Die Muta-
— i8q —
tionen größeren Betrages entsprechen den ,,single variations" oder
„Sports" Darwins, den ,, sprungartigen" oder „diskontinuier-
lichen" Variationen vieler Autoren (s. oben, S. 164). Im Leben der
Art wechseln Perioden der Konstanz mit ,, Mutationsperioden"
ab; in den letzteren erfolgt das Auftreten neuer ,, elementarer Arten",
d. h. eine plötzliche Spaltung der Art in mehrere neue, die von vorn-
herein erbbeständig, ihrer Natur nach aber teils nützlich, teils
schädlich, teils indifferent sind. Die Aufgabe der Selektion ist es
nur, die schädlichen bald wieder zu vernichten. So hat sich nach
dieser Auffassung die phyletische Entwicklung der Formen nicht
ganz allmählich, schrittweise, in Übergängen und im Laufe sehr
langer Zeiträume vollzogen, sondern sprung- oder stoßweise durch
plötzliche Umänderungen, periodisch.
Von verschiedenen Seiten, so besonders von L. Plate, ist
hervorgehoben worden, daß der Gegensatz der Mutationstheorie
zu der alten Darwinschen Selektionstheorie im Grunde gar nicht
so groß ist, wie es vielfach angenommen wird, und daß insbesondere
die ,, Mutationen" von de Vries unter den Begriff der ,, fluktu-
ierenden Variationen" Darwins fallen. Es sind eben die , .erblichen"
Variationen, auf denen natürlich allein die Umbildung der Formen
beruhen kann. Auch Weis mann hat, bei rückhaltloser Bewunde-
rung des an Tatsachen und Gedanken reichen de Vries sehen
Werkes doch die Schlußfolgerungen desselben nicht als bindend
erachtet und manche Bedenken dagegen erhoben. Den Haupt-
wert legt seine Kritik darauf, daß auch die Mutationstheorie für die
Erklärung der die ganze Organismenwelt beherrschenden An-
passung nicht ausreicht. Die Anpassungen können nicht entstanden
gedacht werden im Anschluß an Abänderungen, die aus rein inneren
Gründen, nur selten und in einem kleinen Prozentsatz der Indi-
viduen, dazu völlig richtungslos auftreten, sondern nur auf Grund
der fortwährend auftretenden kleinen individuellen Variationen.
Diese sind auch ihrem Wesen nach gar nicht verschieden von den
,, Mutationen"; vor allem sind auch sie erblich, und wenn auch
eine auf sie begründete künstliche Züchtung nicht gleich eine ,,rein
züchtende", konstant bleibende neue Rasse ergibt, so muß doch
damit gerechnet werden, daß dies im Laufe länger fortgesetzter
Züchtung endlich erfolgt.
— igo —
c) Zuchtwahl oder direkte Bewirkung durch äußere Einflüsse und
Funktion?
Schärfer und hartnäckiger als der Kampf gegen alle Vor-
stellungen, die mit einer inneren, zwangsmäßig schaffenden Bildungs-
kraft rechneten, war aber doch der, den Weismann gegen den
Lamarekismus und alle Theorien, die an ihn anknüpfen, zu führen
hatte. Die von ihm vertretene Auffassung, daß die Organismen
in erster Linie und zum größten Betrage Anpassungskomplexe sind,
sagt ja an sich noch nichts über das Wie der Entstehung dieser
Anpasstmgen. Daß er sich darüber ganz klar war, ist selbstverständ-
lich, wenn er es auch nicht in jedem Einzelfalle wieder ausdrück-
lich hervorhebt. Für ihn selbst war die Frage entschieden : eine andere
Möglichkeit für die Entstehung zweckmäßiger Anpassungen als auf
dem Wege von Personalausleseprozessen sah er nicht. Das spricht
sich deutlich in seiner Ausdrucksweise aus. Die Kennzeichnung
einer Einrichtung als einer „Anpassimg" bedeutet bei ihm nicht nur
das fertige Ergebnis eines Vorganges, sondern auch den in ganz be-
stimmter Weise gedachten Vorgang selbst: bedeutet nicht nur,
daß es sich hier um eine Einrichtung handelt, die, um mit Roux
zu reden, die Dauerfähigkeit des Besitzers erhöht, sondern auch,
daß diese Einrichtung durch Naturzüchtung auf dem Wege der
Personalauslese zustande gekommen ist, d. h. als indirekte An-
passung. Der Doppelsinn, der in dem Worte ,, Anpassung" wie
in manchen ähnlichen Wortbildungen liegt, erleichterte diese kurze
Ausdrucks weise .
An einer Begründung und Verteidigtmg dieser Ansicht hat
er es freilich nicht fehlen lassen: die Fragen nach dem direkt um-
ändernden Einfluß der äußeren Bedingungen wie nach der Umwand-
lung durch die Funktion, sind von ihm oft genug behandelt worden.
Seine Stellungnahme zu ihnen war vor allem bestimmt durch die
ablehnende Antwort, zu der er hinsichtlich der wichtigsten Vor-
bedingung für die Anerkennung jener Einflüsse kam: ihrer Erb-
lichkeit.
a) Direkt umwandelnder Einfluß der äußeren Bedingungen.
In der Frage nach dem direkt umwandelnden Einfluß
der äußeren Bedingungen ist Weismann von einer hohen
Bewertung dieses Einflusses ausgegangen. Die Rede von 1868
— IQI —
führt das Auftreten erblicher Varietäten auf die Wechselwirkung
zwischen den äußeren Bedingungen und der physischen Natur der
Organismen zurück. Damit war den äußeren Bedingungen schon
eine ziemlich große Bedeutung zugewiesen, immerhin verblieb doch
noch dem Kampfe der Individuen die Auslese und damit die Fixierung
der besten jener Varietäten. Die Schrift über den Saisondimor-
phismus der Schmetterlinge, von 1875, geht erheblich weiter: sie
versucht den Nachweis, ,,daß allein schon durch äußere Einflüsse,
wenn sie viele Generationen hindurch in gleicher Weise auf eine
Art einwirken, mehr oder weniger bedeutende Umwandlungen der
Form entstehen können". (So ist das Ergebnis in dem Vorwort
zum zweiten Heft der Studien zur Deszendenztheorie, 1876, aus-
gedrückt.) Mit der Vorstellung von der Kontinuität des Keimplasmas
und der Nichterblichkeit somatogener Abänderungen wurde dies
später, wie schon erörtert, in Einklang gebracht durch die Annahme,
daß durch direkte ümweltwirkungen eine korrespondierende Be-
einflussung sowohl des Soma wie des Keimplasmas erfolgen kann.
Indessen kam Weismann in der Folge dazu, diesen an sich mög-
lichen Vorgang als ein nur seltenes Vorkommnis und als wenig
bedeutungsvoll für die Artumwandlung gelten zu lassen. In ersterer
Hinsicht konnte er auf gewisse von anderer Seite angestellte Versuche
hinweisen, aus denen hervorging, daß bei Pflanzen unter veränderten
Lebensbedingungen sehr starke Veränderungen des Körpers erfolgen
können, die aber bei Rückversetzung der Nachkommen in die alten
Verhältnisse bald wieder rückgängig werden, also keine bemerkbare
dauernde Abänderimg des Keimplasmas hervorrufen; für eine
nur geringe Bedeutung der direkten Medium Wirkungen aber
in bezug auf die Artenimiwandlimg sprachen theoretische Er-
wägungen. In erster Linie die, daß Abänderungen an sich noch keine
Anpassungen darstellen, daß es also schwer ist einzusehen, wie
durch direkte Wirkungen zweckmäßige Abänderungen zustande
kommen sollen. Wo wir zweckmäßige Abänderungen als Wirkung
veränderter Lebensbedingungen sich ausbilden sehen, da ist viel
mehr daran zu denken, daß hier indirekte Wirkung vorliegt,
d. h. Auslese, natürliche oder künstliche Züchtung. So fehlt es an
Beweisen dafür, daß die Veränderung der Behaarung bei Ziegen,
Schafen, Rindern, Katzen, Schäferhunden durch das Klima mancher
Hochländer, wie Tibet imd Angora, direkt erzeugt sei imd nicht
— IQ2 —
vielmehr durch natürliche oder künstliche Züchtung. Gleiches gilt
für die Beurteilung des Pelzes der Polartiere, der als direkte Wirkung
der Kälte angesprochen worden ist, oder für die starke Entwicklung
des Unterhautfettgewebes bei Wassersäugern. Es ist wenig wahr-
scheinlich, daß die zahllosen zweckmäßigen Einrichtungen der Or-
ganismen durch direkte Einwirkung von Umweltfaktoren, Klima,
Nahrung usw. entstanden seien. Andererseits ist zu beachten, — was
sich schon aus den Versuchen über den Saisondimorphismus der
Schmetterlinge 1875 ergeben hatte — , daß durch direkte Medium-
einflüsse, wenn sie überhaupt erbliche Abänderungen hervorbringen
und Generationen hindurch anhalten, alle Individuen einer Art
in gleicher Weise verändert werden müßten. Das aber könnte
für die Art leicht verhängnisvoll werden. Nur solange jene Abände-
rungen qualitativ oder quantitativ indifferent wären, würden sie
ohne Schaden in den Merkmalsbestand der Art aufgenommen
werden können; sobald sie aber irgendwie schädlich würden, würde
Selektion zwar einsetzen und wenigstens versuchen, durch Aus-
merzung der am empfindlichsten auf den Mediumreiz reagierenden
Individuen die Abänderung einzudämmen, aber es könnte sich dabei
leicht der Fall ergeben, daß die Gewalt der äußeren Einflüsse zu
stark ist und der Art durch weitere Steigerung der schädlichen
Abänderungen den Untergang bereitet. Auf diese Weise sind viel-
leicht manche Tierformen, als Opfer der äußeren Einwirkungen,
ausgestorben.
Aus diesen Erwägungen kann gefolgert werden, daß ganz be-
sonders sogenannte rein morphologische, biologisch bedeutungs-
lose Merkmale auf die direkte Einwirkung der äußeren Verhält-
nisse zu beziehen sein werden, daß aber im allgemeinen solchen
direkten Einwirkungen kein großer Spielraum bei der Umwandlung
der Arten eingeräumt ist. Es wäre das auch nicht im Interesse
der Arten gewesen.
Hat somit Weismann dem direkt umwandelnden Einfluß
der äußeren Bedingungen keine sehr große Bedeutung bei der
Herausbildung der Formen zuerkannt, so muß doch gegenüber
unrichtigen Darstellungen betont werden, daß er einen solchen Ein-
fluß durchaus zugegeben hat. Sogar so weit, daß er das Aussterben
von Tierformen unter dem direkt umändernden Einfluß von Medium-
wirkimgen für möglich hält — somit dem Prinzip der direkten Be-
— 193 —
Wirkung als Erklärungsprinzip für gewisse Fälle den Vorrang läßt
gegenüber dem Selektionsprinzip. Bei der Lehre von der Germinal-
selektion wird auf diese Frage zurückzukommen sein (s. Ab-
schnitt VIII).
Die angeführten Erwägungen begründen den Gegensatz gegen-
über Nägelis oben schon kurz angedeuteter Auffassung dieser
Frage. In einem Punkte besteht zwischen beiden Forschern Über-
einstimmung: in der geringen Bewertung der klimatischen und Er-
nährungseinflüsse. Auch Nägeli betrachtet die unmittelbaren
und ersichtlichen Wirkungen dieser Einflüsse nur als vorüber-
gehend, nicht als erblich und bleibend. Aber er erkennt an, daß
durch äußere Einwirkungen, die durch Generationen anhalten,
Reize hervorgerufen werden, die als Reaktionen in dem Idioplasma
erbliche Veränderungen erzeugen. Diese erblichen Veränderungen
haben den Charakter von ,, Anpassungsanlagen"; die auf ihnen
beruhenden Merkmale, die an den Organismen sichtbar hervortreten,
,, befriedigen ein Bedürfnis", sind nützlich. ,,Den Schutz, den die
Tiere kalter Klimate in ihrer dicken Behaarung, und diejenigen
weniger kalter Gegenden in ihrem Winterpelz finden, hat ihnen
die Einwirkung der Kälte auf das Hautorgan gegeben. Die ver-
schiedenen Waffen zur Abwehr und zum Angriff, die die Tiere in
den Hörnern, Krallen, Stoßzähnen usw. besitzen, sind durch den
Reiz, der beim Angriff oder bei der Verteidigung auf bestimmte
Stellen der Körperoberfläche ausgeübt wurde, nach und nach ent-
standen und größer geworden." Weismann lehnt diese Vorstellung
ab: Abänderungen sind noch keine Anpassungen, und es ist nicht
ersichtlich, wie durch direkte Wirkungen äußerer Einflüsse mit
Regelmäßigkeit nützliche Abänderungen im Keimplasma hervor-
gebracht werden sollen. Zufällig könnte das natürlich einmal
der Fall sein; die Verwertung einer solchen nützlichen Einrichtung
und ihre Erhebung zum Gemeinbesitz der Art würde aber immer
der Selektion zufallen.
ß) Direkte Anpassung durch Gebrauch und Nichtgebrauch.
Eine ganz andere, durchaus ablehnende, Haltung nahm
er dagegen von 1883 an gegenüber der Vorstellung ein, daß auch die
Wirkungen des Gebrauches und des Nichtgebrauches erbliche Ver-
änderungen herbeiführen könnten, und daß Zweckmäßigkeiten,
ü a u p p , Biograpliie Weisinaiiiis. 13
— 194 —
die an einer Form ererbt auftreten, auf funktionelle Abänderungen
der Vorfahren zurückzuführen seien. Diese funktionellen Ab-
änderungen hat er von jenem Jahre ab stets nur als ,,passant",
als auf das Individuum beschränkt betrachtet; alle für das Gegen-
teil ins Feld geführten Beweisgründe beruhen nach ihm entweder
auf mangelhafter Beobachtung oder sind auf andere Weise, und
zwar eben durch Personalselektion, zu erklären. Letzteres würde
in gleicher Weise betreffen die allmähliche Steigerung eines viel
gebrauchten Organes im Laufe der Stammesgeschichte, wie die
allmähliche stammesgeschichtliche Rückbildung eines nutzlos
gewordenen, nicht mehr gebrauchten Organes. Die Anwendbarkeit
des Selektionsprinzipes gegenüber diesen Erscheinungen, die schein-
bar auf der Vererbung der Wirkungen des Gebrauches und Nicht-
gebrauches beruhen, ergibt sich aus folgender Überlegung.
Phyletische Vervollkommnung eines Teiles durch Personalselektion.
Ein Organ, das von besonderer Wichtigkeit im Kampfe ums
Dasein ist, wird naturgemäß von seinem Besitzer durch Übung
in seiner Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Diese Steigerung
der Leistungsfähigkeit besitzt aber Grenzen, die für jedes Indi-
viduum in der natürlichen Veranlagung festgesetzt sind. Die Fähig-
keiten eines nach irgend einer Richtung mangelhaft veranlagten
Individuums können auch durch die größte Anstrengung in dieser
Richtung nicht ins Riesenhafte gesteigert werden. So wird der Grad
der Leistungsfähigkeit auf irgend einem Gebiete, der schließlich
von den einzelnen Individuen erreicht wird, letzten Endes von der
natürlichen Anlage, also von einer gegebenen Keimesbeschaffenheit
abhängen. Und wenn dann im Kampfe ums Dasein immer oder
doch hauptsächlich die leisttmgsfähigsten Individuen erhalten
bleiben und zur Fortpflanzung gelangen, die minder leisttmgsfähigen
aber ausgemerzt werden, so wird schließlich ein höherer Gesamt-
durchschnitt der Leistungsfähigkeit der Individuen erreicht
werden, — scheinbar als Folge des Gebrauches, tatsächlich
als Folge der Auslese der besseren Anlagen. Der Ausleseprozeß
betrifft also letzten Endes nicht das Plus oder Minus stattgehabter
Übung, sondern die verschiedenen Anlagen, d. h. die verschiedenen
Keimesvarietäten, die als solche natürlich erblich sind. Das enghsche
Vollblutpferd, das in seinem ganzen Körperbau sich weit von den
— 195 —
Begründern der Rasse — drei orientalische Hengste — unter-
scheidet, hat seine Besonderheiten nicht durch fortdauernde Übung
auf der Rennbahn erworben, sondern dadurch, daß 200 Jahre lang
die für das Rennen vorteilhaftesten Variationen von den Züchtern
zielbewußt ausgewählt und durch Züchtung gesteigert worden sind.
Und so beruht überall die Steigerung, die ein Organ im Laufe der
Generationen erkennen läßt, nicht auf einer Summierung der Übungs-
resultate des Einzellebens, sondern auf der Summierung günstiger
Keimesanlagen. —
Daß diese Wirkungen der Naturzüchtung nicht unmittelbar
beobachtet werden können, hat auch Weismann immer wieder
ausgesprochen, aber wie sein großer Vorgänger Darwin konnte
auch er immer wieder zur Begründung seiner Überzeugung die Er-
folge der Pflanzen- und Tierzüchter heranziehen, über die er sich
durch das Studium darauf bezüglicher Werke und durch den persön-
lichen Umgang mit praktischen Züchtern auf dem Laufenden zu
halten suchte. Freilich kam er dabei gelegentlich in die eigentümliche
Lage, die Erfolge der Züchter gewissermaßen gegen diese selbst ver-
teidigen, und als Ergebnis zielbewußter Auslese in Anspruch nehmen
zu müssen, was von züchterischer Seite als Ergebnis fortdauernder
Übimg in bestimmter Richtung, also im Sinne des Lamarekismus,
gedeutet wurde (1893).
Phyletische Verkümmerung nutzloser Teile als Folge von Personal-
seiektion.
Aber auch die phyletische Verkümmerung eines nutz-
los gewordenen, außer Gebrauch gesetzten Organes läßt
sich auf der Grundlage der Selektionstheorie verstehen.
Zunächst kann, wie das schon von Darwin geschehen, in
einer Anzahl von Fällen gezeigt werden, daß die Verkümmerung
gewisser Organe unter Umständen sogar einen Nutzen gewährt:
die Verkümmerung der Flügel bei vielen Käfern ozeanischer Inseln
erscheint als nützlich, da sie für die Tiere die Gefahr, durch die Winde
ins Meer geweht zu werden, vermindert ; das Verschwinden der Beine
bei den Schlangen kann als eine Erleichterung des Kriechens durch
enge Löcher und Spalten angesehen werden, u. dgl.
In anderen Fällen ist ein ausgesprochener Vorteil aus der
Verkümmerung eines Organes nicht zu ersehen. Hier kommt aber
13*
— igö —
dann ein anderes Moment in Frage, das vor Weismann schon von
Romane s hervorgehoben worden, dann aber in Vergessenheit
geraten war, imd auf das erst Weismann wieder mit Nachdruck
hingewiesen hat: der Fortfall der erhaltenden Kraft der Natur-
züchtung und die sogenannte Panmixie. Wenn ein Organ aus
irgend einem Grunde an Bedeutung für die Art verliert, — wie etwa
das Auge bei Tieren, die in Höhlen einwandern — , so werden auch
die Ausleseprozesse, die es bisher auf seiner Höhe gehalten haben,
in Wegfall kommen. Da seine gute oder weniger gute Leistungs-
fähigkeit jetzt für die Existenz des Individuums und somit auch
für die Erhaltung der Art gleichgültig ist, so werden nunmehr auch
die Individuen, die es in mangelhafter Ausbildung besitzen, zur
Fortpflanzung kommen, und die fortgesetzte Kreuzung guter und
schlechter Anlagen muß schließlich eine Verschlechterung des Or-
ganes zur Folge haben. Dieses Nachlassen der konservierenden
Wirkung der Naturzüchtung hat Weismann eben als Panmixie
bezeichnet, insofern dabei alle Individuen zur Fortpflanzung ge-
langen, sich miteinander vermischen, und nicht bloß die im ganzen
oder in bezug auf ein Organ Bestausgestatteten. Auf Grund dieses
Prinzipes, des Mangels einer Kontrolle durch Naturzüchtung, wäre
auch z. B. die Kurzsichtigkeit des zivilisierten Menschen zu erklären.
Allerdings hat die Leistungsfähigkeit des Prinzipes ihre Grenzen:
es macht zwar die Verschlechterung eines Organes im Laufe der
Generationen verständlich, kann aber nicht den völligen Schwund
desselben erklären, wie er tatsächlich in vielen Fällen als erfolgt
anzunehmen ist. So ergab sich auch von hier aus bei näherem Zu-
sehen die Notwendigkeit, neben der Personalselektion noch ein
anderes Umbildungsprinzip als wirksam anzuerkennen, wie es denn
auch später als Germinalselektion von Weismann aufgestellt
worden ist.
Beweise gegen den Lamarckismus.
Aus dem Gesagten erhellt die Möglichkeit, die phyletische
Steigerung oder Verkümmerung eines Organes durch Personal-
auslese zu erklären. Von größerer Bedeutung für die Stellungnahme
gegenüber der Frage: Selektion oder direkte Anpassung? ist es,
daß Weismann auf eine Anzahl von Tatsachen hinweisen konnte,
die zwar auf den ersten Blick den Eindruck machen, als lägen in
— 197 —
ihnen vererbte Wirkungen des Gebrauches und des Nichtgebrauches
vor, für die aber, bei genauerem Zusehen, das Lamarcksche Prinzip
schlechterdings nicht in Frage kommen kann. Da diese Beispiele
schon im vierten Abschnitt, bei Besprechung des Problemes der
Vererbung funktioneller Abänderungen eingehender behandelt
wurden, so genügt hier ein kurzer Hinweis, Es sind wesentlich
dreierlei Erscheinungen: die phyletische Steigerung und Verküm-
merung von Organen bei sterilen Formen, ferner die gleichen Vor-
gänge bei funktionslosen Merkmalen, und endlich die nur einmal
im Leben ausgeübten Instinkte. —
Geradezu als Musterbeispiele für weitgehende Anpassung aller
Teile an die Funktion erscheinen die ,, Arbeiter" der Ameisen. Einige
Teile — die Geschlechtsorgane, die Augen, die Flügel, die Abschnitte
des Thorax, an denen die letzteren sitzen sollten, nebst den Flügel-
muskeln — sind rückgebildet, andere — vor allem das Gehirn und
bei der Kaste der Soldaten auch die Kiefer, die Kiefermuskeln und
in Zusammenhang damit der ganze Kopf — haben eine außerordent-
lich hohe Entwicklung erfahren. Alles das steht in innigster Be-
ziehung zu der Funktion, die Ausbildung des Kieferapparates bietet
noch besonders ein vortreffliches Beispiel für harmonische An-
passung mehrerer aufeinander angewiesener Teile, kurz, alles ent-
spricht so unseren Erfahrungen und Vorstellungen von den Wir-
kungen des Gebrauches, daß es schwer ist, diese Wirkungen und ihre
Erblichkeit hier ganz auszuschließen. Und doch müssen sie aus-
geschlossen werden, denn die Arbeiter der Ameisen, an denen sich
alle jene Einrichtungen finden, sind steril und somit gar nicht im-
stande, irgend etwas auf Nachkommen zu übertragen! Damit
entscheidet sich die Alternative Selektion oder Lamarekismus?
zugunsten der ersteren , — wenigstens soweit es die erblichen Grund-
lagen jener Veränderungen anlangt: für die hohe Ausbildung im
EinzeHndividuum dürften Gebrauch und Nichtgebrauch immerhin
noch von wichtiger Bedeutung sein. Sind aber so weit gehende
ineinander greifende Anpassungen durch Naturzüchtung überhaupt
möglich, so sind wir — so folgert Weismann — zum mindesten
berechtigt, sie in allen Fällen nach diesem Prinzip zu erklären.
Zugleich zeigt das Beispiel sehr deutlich, daß die Naturzüchtung
nur scheinbar mit den Merkmalen der fertigen Organismen, in Wahr-
heit aber mit den in den Keimzellen verborgenen Anlagen dieser
— ig8 —
Merkmale operiert. Denn in jenem Falle sind nicht die best an-
gepaßten Arbeiter selbst ausgewählt worden, sondern die Männchen
und Weibchen, die das beste Arbeiterkeimplasma produzierten,
und das auslesende Prinzip war der Nutzen, den die Kolonie von
der Erzeugung besonders gut organisierter Arbeiter hatte. Alle
Zuchtwahl beruht auf der Auswahl von Keimesvariationen, oder,
in der Sprache der Determinantenlehre ausgedrückt, auf der Aus-
wahl günstiger Variationsrichtungen der Determinanten.
In gleicher Weise sprechen zugunsten des Selektionsprinzipes
und gegen den Lamarekismus die allmähliche stammesgeschicht-
liche Steigerung oder Rückbildung ,, apraktischer", untätiger Teile,
die nur durch ihr Dasein bedeutungsvoll, einer Beeinflussiing durch
Übung aber gar nicht unterworfen sind. Welcher Art sollte die
Übung gewesen sein, die es bewirkte, daß gewisse Schmetterlinge
im Sitzen aufs täuschendste trocknen Blättern gleichen ? Hier bleibt
nur Naturzüchtung, Personalselektion zur Erklärung übrig: die
Individuen, die die größere Blattähnlichkeit zeigten, hatten auch
die größere Aussicht, ihren Feinden zu entgehen und sich fortzu-
pflanzen, und so konnte sich jene nützliche Eigenschaft vererben
und immer mehr steigern. Umgekehrt: die Verkümmerung des
Chitinskelettes bei den Einsiedlerkrebsen und den Larven der Köcher-
fliegen, die ihren Hinterleib durch ein Gehäuse schützen, kann nicht
im Sinne einer vererbten ,, Atrophie infolge von Nichtgebrauch"
erklärt werden, da der Chitinpanzer zu den Teilen gehört, bei denen
funktionelle Anpassung gar nicht mehr wirksam ist, die also durch
den Gebrauch nur abgenutzt, durch Nichtgebrauch aber im Gegen-
teil vielmehr geschont, also erhalten werden. So ist auch hier zu-
nächst Personalselektion zur Erklärung heranzuziehen: der Panzer
wurde überflüssig, als sich bei den Einsiedlerkrebsen der Instinkt
ausbildete, den Hinterleib in einem schützenden Schneckengehäuse
zu verbergen, und nunmehr konnte durch Panmixie seine Rück-
bildung verfolgen, die dann durch die noch zu besprechenden Vor-
gänge der ,,Germinalselektion" bis zum völligen Schwund gesteigert
wurde.
Was aber für die funktionslosen Teile gilt, warum sollte
das für die aktiv oder passiv funktionierenden nicht auch gelten?
Kommt bei jenen das Lamarcksche Prinzip nicht in Frage, so
liegt zum mindesten keine Notwendigkeit vor, es für diese gelten
— 199 —
zu lassen, und wenn durch Selektion die Schwanzfedern der Hähne
außerordentlich verlängert werden konnten, bei denen doch eine
,, Übung" und dadurch bedingte Steigerung ganz fortfällt, so dürfte
wohl auch in dem englischen Rennpferd mit seinen mancherlei ge-
schätzten Eigenschaften lediglich das Ergebnis der tatsächlich durch
Generationen hindurch stattgehabten Auslese, und nur scheinbar
ein Erfolg der wiederholten Übung auf der Rennbahn zu sehen sein.
Und so ist denn endlich, nach Weismanns Überzeugung,
auch für die Ausbildung der Instinkte Personalselektion verant-
wortlich zu machen. Das klingt freilich unglaubwürdig genug und
ist denn auch bis in die neueste Zeit mit manchen guten Beobach-
tungen bekämpft worden. Aber so nahe es liegt, gerade in den oft
so komplizierten Instinkthandlungen die erblich fixierten Resultate
einer durch Generationen fortgesetzten Wiederholung von Hand-
lungen zu sehen, die ursprünglich einmal zweckbewußt ausgeführt
wurden, so sprechen die von Weismann hervorgehobenen Fälle
der nur einmal im Leben ausgeführten Instinkte wieder entschieden
gegen das Lamarcksche Prinzip und zugunsten des Selektions-
prinzipes. Als solche wurden schon genannt der Hochzeitsflug der
Bienenkönigin, mit seinen vielen Reflexmechanismen, die Eiablage,
die oft von höchst komplizierten Instinkthandlungen begleitet ist,
die Herstellung von Schutzhüllen bei der Verpuppung. Hier ist
von einer Übung überhaupt nicht die Rede, und es bleibt, wenn man
nicht auf eine Erklärung überhaupt verzichten will, von allen zur
Verfügung stehenden Erklärungsprinzipien nur das der Natur-
züchtung übrig. Auf Naturzüchtung müssen dann auch die von
Weismann in einem besonderen kleinen Aufsatz behandelten
Fälle zurückgeführt werden, in denen sich bestimmte Instinkt-
handlungen zu bestimmten Färbungen hinzugesellen und mit diesen
zu besonders wirkungsvollen Schutzmitteln vereinen. So die ,, Trutz-
stellung" des Abendpfauenauges, die das bedrohte Tier dadurch
zustande bringt, daß es statt wegzufliegen plötzlich die Augenflecke
zeigt und wippende Bewegungen des Rumpfes ausführt, die, dem
Stoßen eines Bockes ähnlich, einen bevorstehenden Angriff auf
den Gegner vortäuschen. Für die schützende Bedeutung dieser
Trutzstellung gegenüber angreifenden Vögeln haben Versuche von
Standfuß den vollen Beweis erbracht. Das Interessante in diesem
und ähnlichen Fällen ist die Häufung einer ganzen Anzahl nütz-
200
lieber Besonderheiten, teils rein somatischer, wie der Augenflecke,
teils funktioneller, wie der komplizierten Bewegungen, und der
Unterdrückung des Fluchttriebes, die sich dem Nervensystem des
Tieres so fest eingeprägt haben, daß sie auf einen Reiz stets in der-
selben gesetzmäßigen Reihenfolge ablaufen. Sie alle sind als durch
Naturzüchtung entstanden zu denken.
Auf diese wären dann auch die hoch entwickelten geistigen
Eigenschaften allgemeiner Natur bei dem Kulturmenschen — hohe
Intelligenz, Phantasie, gutes Gedächtnis, Willenskraft, Fleiß usw. —
zurückzuführen, während sie für die Erklärung der spezifischen
Talente, wie im vierten Abschnitte gezeigt wurde, nicht aus-
reicht. Diese erfordern vielmehr außer der auf die Steigerung der
allgemeinen Geisteskräfte gerichteten Tätigkeit der Personal-
selektion noch die selbständig steigernde Wirkung der Germinal-
selektion und die Amphimixis, die die an sich guten Anlagen zu
glücklicher Mischung vereinigt.
Funktionelle Anpassung (Roux). Partialauslese.
In der ablehnenden Haltung gegen den Lamarekismus ist
Weismann auch nicht wankend geworden durch die ganz neue
vertiefte Behandlung, die die Lehre von den Wirkungen des Ge-
brauches und des Nichtgebrauches als Lehre von der ,, funktio-
nellen Anpassung" durch Wilhelm Roux erfahren hat, eine
Behandlung, die allerdings geeignet erscheinen konnte, für den
Lamarekismus eine wertvolle Stütze zu bilden, und die anfangs
wenigstens auch von ihrem Urheber selbst in diesem Sinne gedacht
war. Eingehend erörtert wurde sie von Roux zuerst 1881 in dem
,, Kampf der Teile im Organismus", dem Epoche machenden Werke,
das Darwin selbst als eine der bedeutungsvollsten Erscheinungen
auf dem Gebiete der Entwicklung bezeichnet hat; in zahlreichen
Schriften hat Roux ihre maßgebenden Gedanken auch späterhin
verfolgt und an Tatsachen auf ihre Leistungsfähigkeit geprüft ^^).
Gleich die erste Erwägung, von der Roux ausgeht, richtet
sich gegen die Darwin-Wallacesche Zuchtwahllehre: sie legt
als unbestreitbare Tatsache fest, daß diese Lehre, die mit einer
Auslese der Personen rechnet, zwar imstande ist, die gröberen An-
passungen der Organismen an die äußeren Bedingungen verständ-
lich zu machen, nicht aber die feineren und feinsten zweckmäßigen
20I
Einrichtungen im Innern, die zweckmäßigen Strukturen der Organe,
Gewebe und Zellen. Die aufs genaueste der Funktion, d. h. der
Beanspruchung angepaßte Anordnung der Knochenblättchen in
der Spongiosa der Knochen oder der Bindegewebsfasern des Trommel-
felles und so viele andere Bildungen im Knochen-, Binde-, Muskel-
gewebe usw. können nicht durch Personalauslese auf Grund zu-
fälliger Einzelvariationen entstanden sein, da ja schon Tausende
derartig zweckmäßig angeordneter Bälkchen oder Fasern nötig
gewesen wären, um für das Individuum einen Vorteil im Kampfe
ums Dasein zu bedeuten, der durch Personenauslese hätte gezüchtet
werden können. Hier findet also die Dar win-Wallace sehe Lehre
eine Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und verlangt eine Ergänzung
durch ein anderes Prinzip, das imstande ist, in direkterer Weise
das Zweckmäßige hervorzubringen. Roux sieht dasselbe
eben in der direkten Wirkung des Gebrauches und des Nicht-
gebrauches, oder, wie er dafür kürzer zu sagen vorschlägt: in der
funktionellen Anpassung, d. h. der Anpassung an die Funktion
durch Ausübung der Funktion (und an das Ausbleiben der
Funktion). Dem neuen Namen, — der übrigens, wie das Wort
, .Anpassung" überhaupt, nicht nur für den Vorgang, sondern auch
für das Ergebnis desselben verwendbar ist — gesellt sich sofort
die neue Betrachtungsweise des Problemes hinzu, eine in die Tiefe
dringende Analyse der Geschehnisse, die bis dahin, als aus der all-
täglichen Erfahrung ganz geläufig, einfach als gegeben hingenommen
und einer solchen genaueren Untersuchung nicht unterworfen worden
waren.
Von den Ergebnissen, soweit sie hier in Betracht kommen,
ist zunächst das wichtigste, grundlegende die Lehre von der trophi-
schen Wirksamkeit der funktionellen Reize. Die aus der täglichen
Erfahrung geläufige Erscheinung, daß der Gebrauch ein Organ
kräftigt, der Nichtgebrauch es schwächt, hat darnach ihren Grund
nicht, wie man früher meinte, darin, daß zu dem arbeitenden Organ
mehr Blut strömt, während das untätige schlechter durchblutet
wird, sondern darin, daß die Funktion selbst die in Anspruch ge-
nommenen Gewebselemente zur vermehrten Nahrungsaufnahme
anregt, ihre Lebensprozesse steigert. Der funktionelle Reiz — oder
richtiger: die Vollziehung der Funktion selbst, was aber wenigstens
bei den Stützorganen auf eins herauskommt — wirkt als trophischer
202 —
Reiz: die Aktivitätshypertrophie ist eine Folge der Stärkung der
Assimilationskraft durch jenen, die zur Überkompensation des
Verbrauches führt, wie die Inaktivitätsatrophie eine Folge der
Schwächung der Assimilationsfähigkeit, bei Ausbleiben des funktio-
nellen Reizes, darstellt. Damit ist also die erste Gruppe der Er-
scheinungen, die unter den Begriff der funktionellen Anpassungen
fallen: die Veränderung der Größe der Organe unter dem Einfluß
gesteigerter oder verringerter Inanspruchnahme — Aktivitäts-
hypertrophie und Inaktivitätsatrophie — als unmittelbare Folge
der Wirksamkeit jenes Prinzipes erkannt.
Das gleiche Prinzip erweist sich aber auch als leistungsfähig
zur Erklärung der zweiten Gruppe funktioneller Anpassungen: der
zweckmäßigen, ,, funktionellen", inneren Strukturen der Or-
gane. Hier schiebt sich aber vermittelnd ein Vorgang des Kampfes,
der Konkurrenz, ein. Kennzeichnend für die durch das Maß des
Gebrauches regulierte Vergrößerung oder Verkleinerung eines Or-
ganes ist es, daß diese nicht in allen Dimensionen erfolgen, sondern
nur in den stärker in Anspruch genommenen : es besteht dimensional
beschränkte Aktivitätshypertrophie und ebenso dimensional be-
schränkte Inaktivitätsatrophie. Und so werden auch innerhalb
eines Organes, z. B. eines Knochens, die stärker gebrauchten Stellen
in den bestimmten stärker beanspruchten Dimensionen stärker
vergrößert; die hier gelagerten Elemente nehmen den anderen
weniger stark in Anspruch genommenen den funktionellen Reiz
mit seiner trophischen Wirkung fort. So besteht in den Organen
eine Konkurrenz der sie zusammensetzenden Elemente um
den funktionellen Reiz", die zur Herstellung einer zweckmäßigen
,, funktionellen" inneren Struktur des Organes führt. Größe wie
funktionelle Struktur eines Organes sind damit in letzter Instanz
Wirkungen desselben Prinzipes: der Abhängigkeit der Gewebe von
ihren funktionellen Reizen.
Diese Abhängigkeit der Gewebe von ihren funktionellen Reizen
ist somit die Voraussetzung für die Vorgänge der funktionellen An-
passung, die im Individuum das Zweckmäßige durch Selbst-
gestaltung, also auf kürzestem Wege, hervorbringen. Sie ist, Rouxs
Auffassung zufolge, in der Phylogenese gezüchtet worden, auf Grund
von zufällig — d. h. aus unbekannten Ursachen — aufgetretenen
Variationen unter den Zellen desselben Gewebes, aber auch unter
— 203 —
den lebenstätigen Zelltcilen, also jedenfalls unter gleichartigen
Lebenscinheiten, die, mit jener glücklichen Qualität ausgestattet,
sich zunächst im Kampf der Teile um Nahrung und Raum innerhalb
der Einzelindividuen die Alleinherrschaft errangen, alsdann aber
eine solche Begünstigung der betreffenden Individuen bedeuteten,
daß sie weiterhin im Kampfe der Individuen zum Gemeinbesitz
aller Organismen herausgezüchtet wurden. Neben dieser Form des
Kampfes der Teile innerhalb des Organismus gibt es noch eine
andere, so insbesondere die zwischen ungleichartigen Teilen (z. B.
verschiedenen Organen), auf deren Bedeutung aber hier nicht ein-
zugehen ist.
Unter der von Roux begründeten Betrachtungsweise er-
scheint somit das Prinzip der funktionellen Anpassung zwar dem
Dar win-Wallace sehen Prinzip der Personalauslese entgegen-
gesetzt, indem es auf einem viel direkteren Wege, durch funk-
tionelle Selbstgestaltung, das Zweckmäßige hervorbringt, aber
doch dem großen Prinzip der Auslese überhaupt subsummiert.
Auch bei ihm handelt es sich um eine Auslese, doch nicht um eine
solche der Personen oder Individuen, sondern um eine solche der
feineren und feinsten Teile, um Partial- oder Teilauslese. Durch
den züchtenden Kampf um Nahrung und Raum und um den funk-
tionellen Reiz sind innerhalb des Organismus die Teile zur Herr-
schaft gelangt, die die Fähigkeit besitzen, durch den funktionellen
Reiz trophisch erregt zu werden ; auf dem Wege der Konkurrenz um
den funktionellen Reiz bilden sie dann die einzelnen zweckmäßigen
funktionellen Anpassungen. So bringt der Kampf der Teile die
Zweckmäßigkeit im Innern der Organismen hervor, der gleichzeitige
Kampf der Individuen die Zweckmäßigkeit nach außen, das in den
äußeren Existenzbedingungen Dauerfähige. Damit gelangt das
Selektionsprinzip, von dessen kritischer Betrachtung die ganze
Erörterung ausgegangen war, wieder zu Ehren ; nur wird es aus dem
Bereiche der Personen, auf dem sich die Grenzen seiner Leistungs-
fähigkeit herausgestellt hatten, auf die Lebenseinheiten aller In-
stanzen innerhalb des Organismus übertragen und in dieser neuen
Verwendung mit Erfolg zur Erklärung der Erscheinungen in An-
spruch genommen, die es bei seiner ursprünglichen Anwendung
unerklärt lassen mußte.
Für das Individuum bedeutet die Fähigkeit zur funktionellen
— 204 —
Anpassung einen Besitz von unschätzbarem Werte: sie ermöglicht
es ihm, gleichzeitig in vielen, ja in allen Organsystemen beliebig
viele zweckmäßige Einrichtungen in kurzer Zeit hervorzubringen
und zwar auch Anpassungen an solche Verhältnisse, die erst während
des Individuallebens neu an das Individuum herantreten. Darin
aber ist die Partialauslese dem Darwinschen Prinzip der Personen-
auslese weit überlegen. Ihre Bedeutung für die stammesgeschicht-
liche Entwicklung der Organismen müßte eine ungeheure sein,
wenn ihre Ergebnisse erblich wären. Die Überzeugung, daß sie
das sind, ist denn auch von vielen Seiten immer wieder vertreten,
ja geradezu als notwendige zwingende Folgerung aus Rouxs Kritik
an der Leistungsfähigkeit des Prinzips der Personenauslese, — für
die Erklärung der inneren Zweckmäßigkeiten, der funktionellen
Strukturen, — ausgesprochen worden.
Auch Weis mann hat die große Bedeutung der von Roux
angestellten und durch ein reiches Beobachtungsmaterial begründeten
Erörterungen rückhaltlos anerkannt ; für die phyletische Umbildung
der Formen vermochte er indessen den Vorgängen der Partialauslese
oder, wie er selbst, nicht gerade sehr glücklich, zu sagen vorschlägt:
der Histonalselektion (Gewebsauslese), keinen Einfluß zuzu-
erkennen, aus dem uns bereits bekannten Grunde, weil er die Er-
gebnisse dieser Auslese, die funktionellen Anpassungen, nicht für
erblich hielt. In letzterer Hinsicht hat auch Roux selbst seine an-
fängliche, im ,, Kampf der Teile" vertretene Auffassung geändert:
während er damals die Wirkungen der funktionellen Anpasstmg
durch die vorliegenden Beobachtimgen für gesichert annahm, ist
er später, nachdem die Kritik Weismanns in dieser Hinsicht ein-
gesetzt hatte, zu einer sehr vorsichtigen Stellungnahme gekommen
und hat immer wieder die ,, Größe des Rätsels der angeblichen Über-
tragung von Veränderungen des Personalteiles auf den Germinal-
teil" hervorgehoben, ohne auf der anderen Seite doch die Nicht-
vererbbarkeit erworbener Eigenschaften bereits als ganz sicher er-
wiesen zu halten. Für Weis mann aber war diese Nichtvererb-
barkeit eine sichere Tatsache, tmd so besitzen auch seiner Ansicht
nach die Vorgänge der Partialauslese zwar eine sehr große Bedeutung
für das Individuum, für die zweckmäßigen Ausgestaltungen im
Inneren desselben, ihre Wirkungen bleiben aber auf dasselbe be-
schränkt und gehen mit ihm zugrunde. Soweit die zweckmäßigen
— 205 —
Einrichtungen erblich sind, beruhen sie auf Keimesvariationen und
Personalauslese. Und ebenso ist das Substrat, an das die Vorgänge
der funktionellen Anpassung geknüpft sind, die Verschiedenheit
der histologischen Elemente, ihre Differenzierung nach dem Prinzip
der Arbeitsteilung in Muskel-, Nerven-, Drüsenzellen usw. ihre
Fähigkeit, auf den adäquaten Reiz mit vermehrter Nahrungsauf-
nahme und Überkompensation des Verbrauchten zu reagieren
durch Personalselektion gezüchtet. Histonalselektion tritt auf Grund
dieses Substrates nur in Wirksamkeit im konkreten Falle, an einer
gegebenen Stelle, unter gegebenen Bedingungen.
Daß Personalauslese überhaupt imstande ist, selbst kleinste
histologische Elemente in ihrer Ausgestaltung, Zahl und Form zu
beeinflussen, wofern damit niu: ein wirklicher Nutzen für die Art
verbunden ist, dafür konnte Weis mann auf ein besonderes schönes
und einleuchtendes Beispiel hinweisen: die von ihm festgestellten
und in ihrer Bedeutung zum ersten Male eingehender behandelten
Samenzellen der Daphnoiden. Nach Form, Größe und Zahl zeigen
diese Elemente bei den einzelnen Arten außerordentlich bedeutende
Verschiedenheiten, wobei besonders auffallen muß, daß manchmal
Arten, die ganz verschiedenen Familien angehören, sehr ähnliche,
und andererseits nahe verwandte Arten sehr verschiedenartige
Samenzellen besitzen. Das hängt, wie sich zeigen ließ, damit zu-
sammen, daß die Besonderheiten der Samenzellen aufs zweckmäßigste
den Besonderheiten der Begattungsbedingungen entsprechen, diesen
angepaßt sind. So sind sie bei manchen Arten sehr klein, aber in
ungeheuerer Zahl vorhanden, bei anderen sehr groß und viel weniger
zahlreich. Jenes findet sich bei Formen, deren Weibchen einen
geräimngen, aber schlecht verschlossenen Brutraiun besitzen, bei
denen also mit einem bedeutenden Verlust von Samenelementen
bei der Begattung gerechnet werden muß; dieses, der Besitz spär-
licher großer Samenzellen, zeichnet die Formen mit geschlossenem
Brutraum aus. Am größten und am wenigsten zahlreich sind die
Samenzellen der Formen, deren Männchen ein Begattungsorgan
besitzen, bei denen somit jeder Verlust von Samenzellen aus-
geschlossen ist. Die Annahme einer inneren Bildungskraft versagt
hier, wenn man nicht hinter ihr geradezu eine bewußt schaffende
Intelligenz gelten läßt, aber auch direkte, funktionelle Anpassung
der Samenzellen kann nicht in Frage kommen. Es bleibt von den
— 2o6
bisher aufgestellten Bildungsprinzipien nur das der Selektion, und
zwar das der Personenauslese, zur Erklärung brauchbar: nur die
Individuen, deren Samenzellen infolge ihrer günstigen Beschaffen-
heit zur Befruchtung gelangten, hatten Nachkommen und konnten
die Art fortführen, die anderen starben ohne Nachkommen ab.
Hat aber Weis mann auch so eine Bedeutung der Partial-
auslese unter den somatischen Elementen für die phyletische Um-
bildung der Formen abgelehnt, so hat doch gerade er den all-
gemeinen von Roux zuerst ausgesprochenen und begründeten Ge-
danken, daß nicht nur zwischen den Personen, sondern zwischen
den Lebenseinheiten aller Instanzen ein Kampf besteht, mit be-
sonderer Zustimmung ergriffen und denselben später in der Lehre
von der Germinalselektion auf die letzten hypothetischen Elemente
des Keimplasmas, die Determinanten, ausgedehnt, — bei denen,
eben weil es sich um Keimesbestandteile handelt, auch mit einer
Vererbbarkeit der Kampfesergebnisse gerechnet werden konnte.
4. Ergebnis der Prüfung der Zuchtwahllehre:
Neo-Darwinismus.
So sind nach Weis mann aUe zweckmäßigen Einrichtungen
der Organismen, alle Anpassungen, alle irgendwie wertvollen Besitz-
tümer der Organisation auf Selektionsprozesse zurückzuführen;
das Prinzip der direkten Anpassung im Sinne Lamarcks ist fallen
gelassen. Damit ist der ,, Neo-Darwinismus" gekennzeichnet,
als dessen Hauptvertreter Weis mann genannt werden muß.
Der Einfluß, den diese scharfe Hervorhebung der Bedeutung
der Personalauslese auf das biologische Denken der letzten De-
zennien und darüber hinaus auf die Behandlung der verschiedensten
Probleme gehabt hat, insbesondere auch auf die Bestrebungen,
die auf eine Verbesserung des Menschengeschlechtes hinzielen,
kann kaum überschätzt werden. Daß Weismanns Schriften
daran einen besonderen Anteil gehabt haben, ist zweifellos; aber
es wäre eine Beleidigung zahlreicher ernst und gründlich denkender
Männer, anzunehmen, daß dabei die Art der Darstellung, ,, gewandte
Dialektik", den Ausschlag gegeben hätte. Es war die Kraft der
von Weismann vorgebrachten Tatsachen, die diesen Erfolg be-
dingte. Eine wie große Bedeutung der Ausbaugedanke auf dem
Gebiete der zuletzt genannten Bestrebungen der Eugenik oder
207 —
Rassehygiene nachgerade gewonnen, darüber gibt die Literatur
über dies Gebiet Aufschluß; das bekannte verdienstvolle Werk
von Schallmayer zeigt es auf jeder Seite. Mit lebhafter Anteil-
nahme hat Weismann auch diese Bestrebungen verfolgt; wenn er
selbst nicht besonders agitatorisch dafür eingetreten ist, so lag der
Grund dieser Zurückhaltung wohl in seiner ganzen Geistesrichtung,
der es mehr auf das Erkennen als auf das praktische Verwerten
ankam. Aber es war gewiß voll berechtigt, daß die Gesellschaft
für Rassehygiene ihn zu ihrem Ehrenmitgliede ernannte.
II. Sexuelle Züchtung (geschlechtliche Zuchtwahl).
Hat sich W e i s m a n n mit seiner Ablehnung des L a m a r c k sehen
Prinzips von dem erblich verändernden Einfluß des Gebrauches
und Nichtgebrauches von Darwin getrennt, so hat er sich diesem
dagegen in der Frage der sexuellen Züchtung oder geschlecht-
lichen Zuchtwahl in allen wesentlichen Punkten angeschlossen.
Natürliche Züchtung und sexuelle, geschlechtliche Züchtung bringen
beide das Selektionsprinzip zur Geltung; ihre Annahme beruht auf
ähnlichen Überlegungen, nur der auslesende Faktor, der an-
genommene „Züchter" ist in beiden Fällen verschieden. Bekanntlich
hat Darwin in einem besonderen Werke 1871 das Prinzip der ge-
schlechtlichen Zuchtwahl neben das der natürlichen gestellt und mit
seiner Hilfe zahlreiche Merkmale erklärt, die durch das letztere
nicht verstanden werden können, da sie für die Erhaltung der Art
bedeutungslos sind: so insbesondere einen Teil der sogenannten
sekundären Geschlechtscharaktere, die bei manchen Formen der-
artig in die Augen springend sind, daß man von einem Geschlechts-
dimorphismus sprechen kann. Die hierher gehörigen Merkmale
lassen sich in drei Gruppen bringen. Es sind erstens wirkliche An-
griffs- oder Verteidigungswaffen für die Kämpfe der Männchen um
die Weibchen (Geweihe, Mähnen, Sporn der Hähne), dann Organe
zum Aufspüren, Fangen und Festhalten des Weibchens, endlich
Schmuckbildimgen und sonstige Auszeichnungen verschiedenster
Art (prächtige Färbungen, musikalische Fähigkeiten, Düfte und dgl.).
Die Merkmale der beiden ersten Gruppen sind, nach dem Darwin-
schen Prinzip, von unmittelbarem Nutzen für das Männchen zwecks
Erreichung der Fortpflanzung; ihre besondere Ausbildung wird
dem betreffenden Männchen ein Übergewicht in der Konkurrenz
208 —
mit Rivalen verleihen, während die Weibchen selbst dabei sich passiv
verhalten. Anders bei der dritten Gruppe ; den Schmuckbildungen,
im weitesten Sinne. Diese sollen, nach Darwins Vorstellimg,
auf das Unterscheidungsvermögen und den Geschmack des be-
gehrten Weibchens wirken und die Wahl desselben auf den Träger
der hervorstechendsten Auszeichnung lenken; — bei ihnen wird
also ein aktives Eingreifen des Weibchens vorausgesetzt. Alle aber
bilden für die Männchen Mittel, um zur Fortpflanzung zu gelangen;
je besser sie ausgeführt sind, um so leichter wird ihr Besitzer zum
Ziele kommen und damit zugleich seine auszeichnenden Vorzüge
auf Nachkommen übertragen. Im Laiife der Generationen muß
sich dadurch, wie bei der natürlichen Zuchtwahl, eine Steigerung
der Güte der Merkmale ergeben.
So allgemein angenommen die Darwinsche Auffassung von
der Bedeutung der wirklichen Kampfwaffen sowie der Spür- und
Fangeinrichtungen, so bestritten ist seine Vorstellung von der Gatten-
wahl durch die Weibchen und der Entstehung von Schmuckfedern,
musikalischen Fähigkeiten und ähnlichen auszeichnenden Merk-
malen durch geschlechtliche Auslese, und vielfach wird dieselbe
durchaus abgelehnt, auch von solchen, die die Naturzüchtung
gelten lassen. Weismann hat sich mehrfach zu dieser Frage ge-
äußert, so schon kurze Zeit nach dem Erscheinen des Darwinschen
Buches, in seiner Schrift über die Bedeutung der Isolierung für die
Artbildung (1872, — in der er, wie es scheint, den Begriff ,, sexueller
Dimorphismus" eingeführt hat — ), in der Arbeit über die Schmuck-
farben der Daphnoiden, zusammenfassend endlich in der Gedächtnis-
schrift für Darwin (1909a) sowie in einem besonderen Kapitel
seiner Vorträge über Deszendenztheorie. Von Anfang an imd bis
zum Ende ist er für die allgemeine Richtigkeit der Darwinschen
Auffassung eingetreten, doch hat er hier und da Abänderungen
an ihr angebracht, sie teils erweitert, teils eingeschränkt, besonders
auch das Verhältnis der sexuellen Selektion zu der Artselektion,
das mannigfache Ineinandergreifen beider erörtert. Es gibt, wie
Weis mann ausführt, sekundäre Geschlechtsmerkmale, die ledig-
lich durch natürliche Zuchtwahl (Artselektion) erklärt werden
müssen, wie die zwerghafte Kleinheit der Männchen mancher
schmarotzender Krebse, einiger Würmer und Rädertierchen, andere,
bei deren Ausbildung Artselektion und sexuelle Selektion inein-
— 2oq —
andergreifend zu denken sind, wie die wirklichen Waffen, die ja doch
auch eine Verbesserung der Art im Kampfe ums Dasein (nicht
nur in dem der Männchen untereinander) bedeuten, oder Einrich-
tungen zum Festhalten der Weibchen bei manchen Formen, — Ein-
richtungen, ohne deren Vorhandensein die Fortpflanzung der Art
überhaupt in Frage gestellt wäre, deren bessere Ausbildung aber
doch auch dem einzelnen Männchen einen Vorteil gegenüber seinem
Rivalen verleiht — , endlich aber auch musikalische Betätigungen,
die vielfach nicht nur Werbemittel der Männchen sind, sondern
auch dazu dienen, daß die Artgenossen sich zusammenfinden.
Damit schränkt sich die Zahl der Einrichtungen, die rein auf ge-
schlechtliche Auslese zurückgeführt werden müssen, erheblich ein.
Unter diesen ist auch wieder eine Anzahl solcher, deren Besitzwert
in bezug auf die Fortpflanzung ohne weiteres in die Augen springt,
und denen gegenüber die Weibchen sich lediglich passiv verhalten:
die besonders gut ausgebildeten Geruchsorgane bei den Männchen
vieler Schmetterlinge, Käfer und niederer Krebse, deren Vervoll-
kommnung leicht darauf zurückgeführt werden kann, daß immer
die besseren Riecher und Spürer am leichtesten und raschesten
das Weibchen zu wittern imstande waren; ferner gewisse Fang-
organe, mit denen die Männchen mancher niederen Krebse die
Weibchen einfangen und festhalten. Der Umstand, daß gegenüber
diesen Einrichtungen den Weibchen eine selbständige Wahl nicht
zufällt, erleichtert es, hier ähnliche Züchtungsprozesse anzunehmen,
wie bei der natürlichen Zuchtwahl — wenigstens für den, der über-
haupt an der Wirksamkeit von Selektionsprozessen glaubt. So
bleibt denn endlich die Gruppe der reinen Auszeichnungen, ,, Orna-
mente", die nach Darwins Auffassung zunächst anziehend auf
die Weibchen wirken und daraufhin bei ihnen die Auswahl eines
Gatten anregen sollen: die prächtigen Farben mancher Vogel-
und Schmetterlingsmännchen, der Gesang der Vogelmännchen
und andere musikalische Fähigkeiten, die merkwürdigen Düfte,
die manche Schmetterlingsmännchen von ihren Flügeln ausströmen
lassen. Weismann hat auch für diese die Darwinsche Erklärung
angenommen, freilich mit einer kleinen Abänderung: während
Darwin jene Vorzüge auf das ästhetische Empfinden der Weibchen
wirken läßt, hält Weismann dafür, daß sie mehr unmittelbar
als sexuelle Erregungsmittel in Betracht kommen, manche schon
O a u p p , Biographie Weismaniis. 14
— 2IO —
an und für sich, wie etwa die Farben und Düfte mancher Schmetter-
lingsmännchen, andere, indem sie als Äußerungen des erregten
männlichen Geschlechtstriebes die gleiche Empfindung beim Weib-
chen auslösen, wie Locktöne oder die Liebestänze, die das Pfauen-
männchen, unter Entfaltung aller seiner Reize, um das Weibchen
ausführt. Aus Locktönen, die ursprünglich nur dem Weibchen
die Anwesenheit eines Männchens ankündigten, ist durch weitere
Steigerung der Vogelgesang entstanden zu denken, der nun die
Bedeutung eines Werbe- und Erregungsmittels hat. Ähnlich mag
es mit den Düften sein, die manche männliche Tiere zur Brunst-
zeit ausströmen. Auch sie mögen zuerst nur die Nähe des anderen
Geschlechtes angezeigt, dann aber durch Ausleseprozesse eine Steige-
rung zu einem Erregungsmittel erfahren haben. Unter ihnen haben
die an Blimien erinnernden Wohlgerüche, die von manchen männ-
lichen Schmetterlingen ausgehen und nach der Entdeckung von
Fritz Müller auf eigentümlichen Duftschuppen beruhen. Weis-
mann ganz besonders beschäftigt und zu Untersuchungen angeregt,
die zu dem Nachweis führten, daß der Duftstoff, ein ätherisches
Öl, wahrscheinlich von Hautzellen der Flügel (die nach früherer
Anschauung zugrunde gehen sollten) erzeugt wird. Nicht ver-
gessen seien auch die Ausführungen Weismanns über die Häu-
fung sekundärer Geschlechtsmerkmale bei manchen Formen, über
die Unterschiede der auf sexuelle Zuchtwahl ziuückführbaren
Färbungen und Zeichnungen gegenüber denen, für die die natür-
liche Auslese verantwortlich zu machen ist, über die Entstehung
komplizierter Farbenmuster auf den Flügeln der Schmetterlinge.
Von diesen nimmt er an, daß sie einer wie derholtenFarbengebung
ihre Entstehung verdanken*®). Denn der Wettbewerb innerhalb
eines Geschlechtes hört nie auf, und wenn eine Farbenkombination
sich völlig fixiert hat und allen Individuen in fast gleicher Weise
zukommt, so wird nur noch eine ganz neue Variation ihrem Träger
Vorteil gewähren. Es wird dann gewissermaßen eine ,,neue Mode"
aufkommen. Der ersten Farbengebung folgte so eine zweite, dritte
usw., und durch diesen vielfachen Wechsel der Farben konnten die
ungemein feinen und komplizierten Zeichnungen der Schmetter-
linge entstehen.
Noch nach manchen anderen Richtungen hat Weismann
die Darwinsche Vorstellung von der Wirksamkeit der sexuellen
21 I
Auslese weiter geführt und zur Erklärung auffallender Erschei-
nungen verwertet. Die sexuelle Züchtung ist ihm eine wichtige Er-
gänzung, zugleich aber auch eine Bestätigung der Natturzüchtung,
da es in einfachen Fällen möglich ist, den Selektionswert kleiner
Verbesserungen eines Merkmals zu verstehen; sie hat aber auch,
wie er (in der Arbeit über die Schmuckfarben der Daphnoiden)
besonders erörtert und übrigens für manche Fälle auch schon von
Darwin selbst angenommen worden ist, vielfach nicht nur zu einer
Umgestaltung des einen, und zwar gewöhnlich des männlichen
Geschlechtes geführt, sondern auch eine solche der ganzen Art
eingeleitet, indem die zunächst bei den Männchen herangezüchteten
Charaktere sich mehr oder weniger vollständig auf die Weibchen
übertragen. So erfolgte ein ,, Aufrücken sekundärer Geschlechts-
charaktere zu Artcharakteren". In dem Umstand, daß sie die Art
nicht widerstandsfähiger machen im Kampfe ums Dasein, unter-
scheiden sich diese Merkmale von denen, die auf Naturzüchtung
zurückzuführen sind. —
Von allgemeiner Wichtigkeit ist endlich noch der Gedanke,
daß sexuelle Abzeichen gelegentlich in sprungweise aufge-
tretenen Variationen ihre erste Wurzel gehabt haben können.
Ein wichtiger Einwand gegen die sexuelle Selektion wird beseitigt,
wenn man annimmt, daß die Sexualabzeichen von vornherein als
auffällige Variationen größeren Betrages auftraten.
So hat Weis mann die Lehre von der geschlechtlichen Zucht-
wahl verschiedentlich weiter geführt und hat auch hier gezeigt,
wie es ihm stets darum zu tun war, die Einzeltatsachen unter großen
allgemeinen Gesichtspunkten zu verstehen, zugleich aber auch die
Theorie immer wieder an den Tatsachen zu prüfen. Diese Prüfung
führte ihn dazu, auch die Lehre von der Gattenwahl der Weibchen
auf Grund auszeichnender Ornamente für richtig zu halten, — die
Lehre, die zur Zeit von vielen Seiten als unmöglich, von anderen
als ein Notbehelf hingestellt wird, der lediglich mangels besserer
Erklärungen einstweilen beizubehalten ist. Weis mann hat sich
rückhaltlos zu ihr bekannt und von der weiteren Ausbreitung der
Tatsachenkenntnis ihre allgemeinere Anerkennung erwartet. Wie
weit er mit diesem Optimismus Recht gehabt, kann erst die Zu-
kunft lehren ^<^''').
14*
2 12
III. Ergänzungsbedürftigkeit der Darwin- Wall ac eschen
Zuchtwahllehre.
Indem Weismann so bestrebt war, die Darwin-Wallacesche
Zuchtwahllehre in ihren beiden Formen, als Art- und sexuelle
Selektion, von allen Seiten zu beleuchten, sie zu vertiefen und
auszubauen, kam er doch auch zu der Erkenntnis, daß nicht
alle Erscheinungen, die wir an den Organismen wahrnehmen, durch
Naturzüchtung erklärt werden können, und daß der so bezeich-
nete Vorgang nicht allein in der ,, Auslese" (im engeren Sinne) be-
steht, sondern zunächst das Vorhandensein eines auslesefähigen
Materiales zur Voraussetzung hat, das durch irgendeine andere
Kraft geschaffen und beeinflußt wird. An die Stelle der Frage
nach der Causa summandi(Roux), nach der Ursache der Auslese
und Häufung der Variationen, einer Frage, die allein von der Se-
lektionstheorie behandelt worden war, trat nun die nach der wirk-
lichen Bildungsursache, der Causa efficiens. Die Annahme noch
eines neben der eigentlichen Auslese wirksamen Entwicklungs-
prinzipes erwies sich als notwendig. Darwin und nach ihm viele
andere Forscher hatten die gleiche Notwendigkeit empfimden und
eine Umwandlung der Formen unter dem direkten Einfluß der
äußeren Bedingungen sowie durch den Gebrauch und Nichtgebrauch
der Organe gelten lassen. Die letztere lehnte Weismann für die
phyletische Entwicklung ab, die erstere gab er nur innerhalb enger
Grenzen zu. Damit aber fiel für eine ganze Anzahl von Erschei-
nungen die Erklärungsmöglichkeit fort, und es war notwendig,
irgendein anderes wirkliches Bildungsprinzip an die Stelle des auf-
gegebenen zu setzen. Es blieb noch die Möglichkeit, dasselbe in
inneren Vorgängen zu suchen, und in dieser Richtung fand denn
auch Weis mann eine Lösung der Frage — freilich anderer Art,
als die von Nägeli, KöUiker u. a. gegebene es war.
Die wichtigsten jener von Weismann anerkannten, ein
selbständiges inneres Entwicklungsprinzip verratenden Erschei-
nungen, — auf die zum Teil schon hingedeutet wurde — dürften
die folgenden sein.
Wenn Abänderungen, auch nützlicher Art, nur bei vereinzelten
Individuen auftreten, so wird, wofern nicht besondere Umstände,
wie Isolierung oder sexuelle Züchtung, unterstützend hinzukommen,
— 213 —
indem sie die Rückkreuzung mit der Stammform erschweren, wenig
Aussicht auf ihre Erhaltung sein. So sind wir zu der Annahme ge-
nötigt, daß vielfach von Anfang an zahlreiche Individuen die
Anfangsstufen der nützlichen Abänderung hervorgebracht haben.
Das aber weist darauf hin, daß die Variationen schon bei ihrem
ersten Auftreten nicht, wie Darwin meinte, regel- und richtungslos,
sondern entweder durch die äußeren Verhältnisse oder durch innere,
d. h. in den Organismen selbst gelegene Kräfte bedingt sind*').
Eine solche Abhängigkeit der Variationen von bestimmten
Gesetzen, insbesondere das Walten einer Kraft, die ein variierendes
Merkmal in der einmal eingeschlagenen auf- oder absteigenden
Variationsrichtung festzuhalten vermag, ein besonderes ,,Stär-
kungs"- und ,,Schwächungs"-Prinzip, muß dann aber auch,
wie schon angedeutet, bei jedem Zuchtwahlprozeß angenommen
werden. Das ist ja der Sinn der Zuchtwahllehre, daß ein Merkmal,
das zuerst in kleinem Betrage auftritt, allmählich gesteigert, daß
also das Mittel, um das herum die individuellen Schwankungen
stattfinden, alimählich nach aufwärts verschoben wird. Das kann
durch ,, Auslese" allein nicht erreicht werden, sondern setzt eine
Kraft voraus, die von sich aus eine solche Verschiebung des Mittels
bewirkt und der Auslese das betreffende Merkmal in immer höherer
Ausbildung anbietet. Diese Steigerungsfähigkeit eines Merk-
mals, mit der die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl rechnet,
wird durch die Erfolge der künstlichen Züchtung bewiesen. Durch
die im individuellen Leben erfolgende Übung der betreffenden
Einrichtung würde eine solche Steigerung leicht zu erklären sein
— wofern man die Wirkungen derselben als erblich ansehen könnte,
was Weismann aber ablehnte. Zudem könnte auch dieses Prinzip
nicht überall in Frage kommen; es scheidet von vornherein aus bei
den ,, apraktischen", nur durch ihr Dasein bedeutungsvollen Merk-
malen, die nicht eigentlich ,, funktionieren", und bei denen somit
auch eine ,, funktionelle Anpassung", deren Wirkungen etwa ver-
erbt werden könnten, gar nicht in Frage kommt. Wenn der japanische
Züchter Hähne mit sechs Fuß langen Schwanzfedern züchten konnte,
so weist das darauf hin, daß durch irgendeine Kraft die Schwanz-
federn sich überhaupt in einer anhaltenden aufwärts gerichteten
Variationsbewegung befanden, die vom Züchter ausgenutzt wurde,
indem er immer die Tiere mit den am stärksten verlängerten Federn
— 214 —
zur Nachzucht auswählte. Und doch kann Personalselektion offen-
bar das Voranschreiten einer Variationsrichtung nicht direkt be-
wirken, sondern ihr nur freien Lauf lassen, indem sie die Träger
entgegenstehender Variationen von der Nachzucht ausschließt.
Was war aber dann die eigentliche Ursache dieser Steigerung,
dieses Fortschreitens in einer bestimmten Variationsrichtung?
Es bleibt auch hier kaum etwas anderes übrig, als die Annahme einer
inneren Kraft, die den Variationen bestimmte Richtungen vor-
schreibt.
Ist das schon zur Ergänzung der Ausleseprozesse notwendig,
so wird es in noch höherem Maße gefordert durch die Erscheinungen,
bei denen solche Prozesse überhaupt nicht in Frage kommen, also
zur Erklärung der notwendig anzunehmenden Steigerungsfähigkeit
von Merkmalen, die der Zuchtwahl nicht unterworfen
sind, und zwar nach der positiven wie nach der negativen Seite
hin. — Abänderungen, die Selektionswert haben sollen, müssen
eine gewisse Größe besitzen; bevor sie diese erreicht haben, d. h.
solange sie ,, unter der Schwelle von Gut und Schlecht" bleiben,
haben sie keine Bedeutung für die Zuchtwahl und können somit
von dieser auch nicht gesteigert werden. So ergibt sich die Not-
wendigkeit, nach einer anderen Ursache zu forschen, die imstande
ist, solche noch indifferenten Abänderungen in der gleichen Richtung
weiter zu steigern und bis zum Selektionswert emporzuheben.
Diese mehr theoretische Erwägung erfährt eine sehr kräftige
Unterstützung durch eine Gruppe von Erscheinungen, die man
ganz besonders gern dem Selektionsprinzip entgegengehalten, und
denen auch Weismann immer ganz besondere Beachtimg geschenkt
hat: die biologisch wertlosen, rein morphologischen Merkmale.
Wir sahen ja schon (S. i76ff.), daß Nägeli und mit und nach ihm
viele andere Forscher alle ,, Organisationsmerkmale", also alle für
die großen Gruppen des Systems (Klassen, Ordnungen, Familien,
Gattungen) maßgebenden Erkennungsmerkmale als solche rein
morphologische Merkmale betrachteten und den ,, Anpassungen"
nur den Wert von ,, Verzierungen" zugestanden. Hiergegen hat
Weismann freilich immer sehr bestimmt Stellung genommen
und die Ansicht vertreten, daß auch die größte Menge der ,, Or-
ganisationsmerkmale" als Anpassungen entstanden sind, aber daß
,rein morphologische" Merkmale ohne nachweisbare biologische
— 215 —
Bedeutung tatsächlich vorkommen, hat er stets zugegeben. Schon
seine Antrittsrede von 1865 behandelt sie und sucht sie zu erklären,
und oft genug ist er später auf sie zurückgekommen. Der im Eifer
des Kampfes ihm öfter entschlüpfte Ausruf ,, alles ist Anpassung"
erfährt doch, namentlich in den letzten 20 Jahren seines Lebens,
auch immer wieder eine Einschränkung, und in den ,, Vorträgen
zur Deszendenztheorie" ist es ganz offen ausgesprochen: ,,Aber
freilich sind die Arten nicht lediglich Anpassungskomplexe,
sondern zugleich auch bloße Variationskomplexe, deren ein-
zelne Bestandteile nicht alle Anpassungen sind, nicht alle also die
Grenze von Gut und Schlecht erreichen"**). Freilich ist ihre Zahl
nicht sehr groß anzunehmen; das meiste, was die Organismen dar-
bieten, hat Anpassungswert, wenn auch seine jetzige Bedeutung
eine andere ist, als die war, auf Grund deren es durch Selektion
in den Merkmalbestand der Art aufgenommen wurde. Immerhin
gibt es biologisch bedeutimgslose Merkmale, die teils mehr indi-
vidueller Art sind und nur für einige Generationsfolgen beibehalten
werden, teils konstante Artmerkmale bilden (z. B. Zahl und Stellung
der Blütenblätter bei Pflanzen). Die Formel, daß sie durch die
,, Korrelation der Teile" zu erklären seien, wie Weismann anfangs
meinte, konnte auf die Dauer nicht befriedigen; abgesehen davon,
daß solche Korrelationen durchaus nicht immer erkennbar waren,
blieb die Formel selbst ja noch erklärungsbedürftig. So verlangten
also auch die rein morphologischen Merkmale und die Steigerung
in der Ausbildung, die sie in manchen Fällen zeigen, die Annahme
eines Entwicklungsprinzipes, das in den Organismen selbst in be-
stimmter Richtung tätig ist.
Die Notwendigkeit, nach einer solchen inneren Entwicklungs-
kraft zu suchen, ergab sich endlich aus der Unmöglichkeit, das völlige
Schwinden funktionslos gewordener Organe durch das Selektions-
prinzip zu erklären. Daß ein nutzlos gewordenes Organ von der Höhe
seiner Leistungsfähigkeit herabsinkt, war wohl vom Boden der
Zuchtwahllehre aus verständlich (durch den Fortfall der kon-
servierenden Kraft der Naturzüchtung, s. S. 196), aber was bewirkte,
nachdem es einmal funktionslos geworden war, seinen völligen
Schwund ? Konnte die dadurch bewirkte Ersparnis an Material
und Raum irgendwie nützlich und sogar ausschlaggebend im Kampf
ums Dasein sein? Konnte es, wie Herbert Spencer schon gefragt
— 2 I 6 —
hatte, bei den vielen Zentnern, die das Gewicht eines Wales aus-
machen, noch von einem Nutzen sein, daß die hinteren Extremitäten
vollständig verschwanden, statt etwa auf der Stufe rudimentärer
Anhängsel stehen zu bleiben ? Auch hier versagt das Prinzip der
Personalselektion, und es war nötig, nach einer anderen Erklärung
zu suchen.
Alle diese Erwägungen verlangten somit die Annahme noch
einer besonderen, neben der natürlichen Zuchtwahl tätigen inneren
Bildungskraft. Weismann erkannte sie in der Germinalselek-
tion, in Vorgängen des Kampfes, die er zwischen den Determinanten
des Keimplasmas annimmt. Diese im Keimplasma sich abspielenden
Vorgänge, die wir in ihrem Wesen noch genauer kennen lernen
werden, können — wenn auch vielleicht nicht gerade häufig — an-
geregt werden durch Mediumeinflüsse und vermitteln so das Auf-
treten erblicher Abänderungen unter der direkten Einwirkung von
Klima, Ernährung usw. Vor allem aber sind sie die Folge von noch
nicht genauer anzugebenden Vorgängen innerhalb des Organismus
und schaffen, durch diese angefacht, die kleinen individuellen
Varietäten, mit denen die Personalselektion arbeitet, und die die
ersten Stufen der Umwandlungen darstellen. Ihrer Natur nach
haben sie das Bestreben, in der einmal eingeleiteten Richtung weiter
zu gehen, somit eine angebahnte Veränderung in gleicher Richtung
fortschreiten zu lassen, so lange, bis ihnen durch eine höhere In-
stanz ein Halt zugerufen wird. Diese höhere Instanz ist aber nach
wie vor: Personalselektion. Sie läßt die Germinalselektion gewähren,
solange die durch sie beschaffenen Veränderungen für das Wohl
des Individuums gleichgültig, ,, jenseits von Gut und Schlecht"
sind, läßt so die ,,rein morphologischen", biologisch bedeutungslosen
Merkmale sich ausbilden, oder Organe zugrunde gehen, wenn die-
selben für die Art infolge der augenblicklichen Bedingungen, unter
denen dieselbe lebt, wertlos sind; sie greift aber ein, wenn die Ab-
änderungen, die die Germinalselektion schafft, nach der guten
oder der schlechten Seite bedeutungsvoll werden, Selektionswert
erlangen. Dann merzt sie die ungünstigen Variationen aus, be-
fördert die günstigen, und modelt so die Organismen im Sinne der
Anpassung um. So schafft, wie Weismann es einmal ausdrückt,
die Germinalselektion die Bausteine, aus denen die Personalselektion
ihre Tempel und Paläste aufbaut: die Anpassungen.
— 2 17 —
Mit der Aufstellung der Lehre von der Germinalselektion
im Jahre 1895 schließt für Weismann eine Epoche ab, die Epoche
des allzu weit gehenden Glaubens an die Leistungsfähigkeit der
Zuchtwahllehre von Darwin und Wallace. Sie war eingeleitet
gewesen durch die Absage an den Lamarekismus und gipfelte in
dem oft, namentlich oft vonWeismanns Gegnern mit überlegener
Geste wiederholten Wort von der ,, Allmacht der Naturzüchtung".
Es war keine glückliche Stunde, als Weismann dieses Wort zum
Titel einer besonderen Streitschrift machte (1893). Schlagworte
sind in der Wissenschaft immer mißlich; die schlagende Wirkung,
die von ihnen verlangt wird, kann oft genug nur durch Einseitigkeit
und Übertreibung erreicht werden. So ist es hier. Daß Weismann
sich dessen durchaus bewußt gewesen ist, geht daraus hervor, daß
er selbst jenes Wort später (1909) als ein ,, starkes" bezeichnet und
gewissermaßen damit entschuldigt hat, daß er es einem Gegner
gegenüber gebrauchte, der von der Unzulänglichkeit (inadequacity)
der Naturzüchtung gesprochen hatte. Vor allen Dingen aber hat
er durch die Aufstellung der Germinalselektion anerkannt,
daß von einer ,, All macht der Naturzüchtung", wenn man das Wort
wirklich genau nimmt, nicht gesprochen werden kann. Unumwunden
und klarer kann das nicht ausgedrückt werden, als es von Weis mann
selbst geschehen ist in dem Vorwort zu der ersten Auflage der Vor-
träge über Deszendenztheorie: ,,An der Determinantenlehre aber
hängt dann weiterhin auch die Germinalselektion, und ohne diese
bleibt der große Gedanke der Leitung des Umwandlungs-
ganges der Lebensformen durch Auslese unter Ver-
werfung des Unzweckmäßigen und Bevorzugung des
Besseren nach meiner Überzeugung ein Torso, ein Baum
ohne Wurzel." Das bedeutet eine freimütige Absage an die ,, All-
macht" der Naturzüchtung im Sinne von Darwin und Wallace,
von der auch die Gegner Weis manns Kenntnis nehmen sollten '''') .
Achter Abschnitt.
Herkunft erblicher individueller Variationen.
Germinalselektion.
Variabilität der Organismen. Erbliche und nichterbliche Abänderiingen. — Die erb-
lichen individuellen Variationen, ihre Ursache und Art. — Variabilität als Folge der
Wechselwirkung der äußeren Einflüsse und der physischen Natur der Organismen. —
Variabilität als Folge der Vermischung der Individuen (Amphimixis). — Variabilität als
Folge von Germinalselektion. — Die verschiedene Ernährung der Determinanten als
Grund für ihre Veränderung. — Beibehaltung der eingeschlagenen Variationsrichtung;
Grenzen der Schwankungen ; Korrelation der Determinanten. — Wesen der Deter-
minantenveränderungen; Wirkungen auf das Soma (die Determinaten). — Ursachen der
Ernährungsschwankungen. Spontane und induzierte Germinalselektion. — Germinalselek-
tion und Personalselektion. — Bedeutung der Lehre von der Germinalselektion. — Er-
weiterung der Machtsphäre des Selektionsprinzipes durch die Lehre von der Germinal-
selektion. — Die verschiedenen Formen der Auslese.
Variabilität der Organismen. Erbliche und nichterbliche Ab-
änderungen.
Der wichtigste Grundpfeiler der Darwinschen Lehre ist die
Variabilität der Organismen. Nicht zwei Individuen einer
Art gleichen einander völlig, sie alle zeigen gewisse Unterschiede,
deren Erblichkeit Darwin als Regel ansah. Nichterbliche Abände-
rungen ließ er zwar gelten, aber: ,,sie sind für uns ohne Bedeutung".
Neuerdings wird der Unterschied zwischen erblichen Varietäten
und nichterblichen oder ,,passanten", wie Weismann sie nennt,
schärfer betont, und die erbhchen haben durch die Benennung als
,, Mutationen" eine besondere Kennzeichnung erhalten. Niu: sie
kommen hier in Frage ^).
2 \g
Die erblichen individuellen Variationen, ihre Ursache und Art.
Die Tätigkeit der Selektionsprozesse setzt das Vorhandensein
solcher erblicher individueller Variationen voraus, diese sind somit
die ersten Stufen der Abänderung; sie werden von der Zuchtwahl
ausgelesen, kombiniert, gesteigert, aber nicht geschaffen. Ohne sie
würde, nach Darwinscher Auffassung, eine Umwandlung der
Formen nicht stattgefunden haben und überhaupt nicht stattfinden
können. So spitzt sich die Frage nach den Ursachen der Formen-
umwandlung zu einer solchen nach den Ursachen der indi-
viduellen erblichen Variationen zu. Und neben ihr stehen
andere: die nach der für die Zuchtwahl notwendigen Größe der
Abänderungen, die schon im vorigen Abschnitt besprochen wurde,
und vor allem die nach der Art der Variationen. Darwin nahm
ihre Richtungs- und Regellosigkeit an; andere Autoren, wie E. v.
Hartmann und Askenasy dagegen rechneten mit einer ,, bestimmt
gerichteten Variation", die der Ausfluß einer unbekannten inneren
Entwicklungskraft sein sollte. Damit war aber ein metaphysisches
Prinzip zugegeben, das in die mechanistische Naturauffassung des
Darwinismus nicht hineinpaßte. So gewinnt die Frage nach der
Herkunft und der Art der Variationen noch eine allgemeinere Wichtig-
keit, die Weismann einmal ausdrückt in den W^ orten: ,,Eine
theoretische Definition der Variabilität ist es, ohne welche die
Selektionslehre allerdings noch immer dem Einschmuggeln einer
zwecktätigen Kraft die Türe offen läßt. Eine mechanische Erklärung
der Variabilität muß die Grundlage dieser Seite der Selektions-
theorie bilden" ^^).
In klarer Erkenntnis dieser Sachlage hat Weismann die
Frage nach der Variabilität in ihren verschiedenen Beziehungen
vom ersten Augenblick seiner Beschäftigung mit dem Darwinismus
an ins Auge gefaßt, und vielleicht spiegelt nichts so deutlich das
allmähliche Werden seiner theoretischen Anschauimgen wieder, als
die drei Phasen, die seine Stellungnahme zu der Variabilitätslehre
durchlaufen hat, und denen man mit kurzen Kennworten etwa die
Überschriften geben könnte: Variabilität als Folge der Wechsel-
wirkung der äußeren Einflüsse und der physischen Natur der Or-
ganismen, Variabilität als Folge der Vermischung der Individuen
(Amphimixis) , Variabilität als Folge von Germinalselektion. —
220
Variabilität als Folge der Wechselwirkung der äußeren Einflüsse
und der physischen Natur der Organismen.
Schon die Rede von 1865 erörtert auch die Variabilitätsfrage
und bringt wichtige Gesichtspunkte zu ihr herbei. Die Vererbung,
so wird hier geschlossen, bedeutet Übertragung einer bestimmten
Entwicklungsrichtung, die für den elterlichen Organismus
gegolten hat, auf den Keim, der sich zum kindlichen Organismus
entfalten soll; die Variabilität kommt dadurch zustande, daß
diese Entwicklungsrichtung durch die verschiedenen äußeren Ein-
flüsse bald hierhin, bald dorthin abgelenkt wird ; sie ist die Resultante
aus der ererbten Entwicklungsrichtung und den äußeren Einflüssen.
Dagegen lehnte Weismann damals schon die Vorstellung ab,
daß eine innere Ursache — Nägelis ,, Vervollkommnungsprinzip" —
die Organismen zwinge, im Laufe der Zeit ihre Gestalt gesetzmäßig
zu ändern und sich in eine neue Art umzuwandeln. Eingehender,
aber in gleichem Sinne, spricht er darüber in dem Aufsatz über die
mechanische Auffassung der Natur (1876), der für die allmähliche
Entwicklung seiner theoretischen Vorstellungen ein so besonders
wertvolles Zeugnis darstellt. Alle Ungleichheit der Organismen,
so heißt es hier, muß darauf beruhen, daß im Laufe der Entwick-
lung der organischen Natur ungleiche äußere Einflüsse die
einzelnen Individuen getroffen haben, sie ist der Ausdruck ungleicher
Beeinflussung an und für sich gleicher Entwicklungsrichtungen.
Dabei ist aber zweierlei auseinanderzuhalten, nämlich einm.al die
ungleichen Einflüsse, denen die Keime vom ersten Augenblick
ihrer Entwicklung an ausgesetzt sind, und zweitens eine schon
vorher gegebene Ungleichheit der Keime selbst, die darauf zurück-
zuführen ist, daß schon die Muttertiere und deren Vorfahren un-
gleichen äußeren Einflüssen ausgesetzt waren. Ja, es muß sogar
als wahrscheinlich gelten, daß das organische Leben einmal nicht mit
einem Urorganismus begann, sondern daß von vornherein deren
mehrere durch Urzeugung entstanden, die dann ebenfalls nicht ab-
solut gleich gedacht werden können, da die Umstände, unter denen
sie ins Leben traten, nicht absolut identisch gewesen sein können.
Weismann steht bei dieser ganzen Betrachtung noch durchaus
auf dem Boden der Annahme einer Vererbung erworbener Eigen-
schaften, er geht von der Voraussetzung aus, daß die individuellen
22 I
Verschiedenheiten der Vorfahrenreihe, die auf der ungleichen Be-
einf hissung durch die äußeren Einflüsse beruhen, auch bei un-
geschlechtlicher Fortpflanzung Minimalverschiedenheiten der auf
das Ei übertragenen Entwicklungsrichtung bedingen müssen. Somit
ist die Variabilität nicht etwas dem Begriff des Organismus Im-
manentes, sondern: ,,die Verschiedenheit der Individuen gleicher
Abstammung beruht in letzter Instanz lediglich auf der Ungleich-
heit der äußeren Einflüsse, und zwar einerseits derjenigen, welche
die Entwicklung der Vorfahren, andererseits derjenigen, welche
das betreffende Individuum selbst von dem eingeschlagenen Wege,
d. h. von der durch Vererbung übertragenen Entwicklungsrichtung,
um ein Geringes ablenken. Dabei ist weiter damit zu rechnen,
daß die individuellen Verschiedenheiten einer und derselben Vor-
fahrenreihe die erzeugten Keime in verschiedener Weise beeinflussen
werden, so daß auch bei gleicher Vorfahrenreihe eine Ungleichheit
der Keime zustande kommt, die nicht erst etwa durch ungleiche
Ernährung dieser selbst bedingt ist, sondern auf ungleicher Ver-
erbung der individuellen Verschiedenheiten der Vorfahrenreihe be-
ruht, eine Quelle der Ungleichheit, die bei der geschlechtlichen Fort-
pflanzung noch ungleich stärker fließen muß, als bei der ungeschlecht-
lichen. Wie aber hier eine Vermischung der Merkmale (genauer:
Entwicklungsrichtungen) zweier gleichzeitig lebender Individuen
in einem Keime stattfindet, so wird bei jeder Art der Fortpflanzung
eine Mischung der Merkmale einer ganzen Sukzession von Individuen
(der Ahnenreihe) in demselben Keim zusammentreffen, von denen
sich freilich die entferntesten nur selten in merklicher Weise geltend
machen." Damit taucht ein Gedanke auf, der dann später be-
stimmtere Form erhalten sollte : die Anschauung von der Bedeutung
der sexuellen Fortpflanzung für die Entstehung von individuellen
Varianten.
Durch seine Versuche über den Saisondimorphismus der
Schmetterlinge hatte Weis mann den direkten abändernden Ein-
fluß der äußeren Bedingungen experimentell nachgewiesen; die Er-
örterungen über die verschiedenen Formen des Generationswechsels,
in seiner Daphnoidenmonographie, gaben ihm Anlaß, diese Tatsache
nochmals scharf zu betonen und allgemein zu erklären, daß auch
die Keimesänderungen, mit denen die Naturzüchtung operiert,
und die die Ursache angeborener erblicher Abänderungen der In-
222 —
dividuen sind, in letzter Instanz auf direkter Wirkung äußerer
Einflüsse beruhen ^^).
In der Frage nach der Qualität der durch diese Einflüsse
bedingten Abänderungen nahm Weismann von vornherein einen
von Darwin abweichenden Standpunkt ein. In der Antrittsrede
von 1865 ist vielleicht der wichtigste eigene Gedanke der, daß ein
gegebener Organismus nicht regellos nach allen beliebigen Rich-
tungen hin variieren kann, sondern daß seine spezifische Natur,
die eigentümliche chemische und physikalische Zusammensetzung
seines Körpers, seiner Variationsfähigkeit Grenzen steckt und be-
stimmte Richtungen vorschreibt. Zahl und Art der möglichen
Variationen sind durch die eigentümliche Natur einer jeden Art
fest bestimmt; die Abänderung der Formen ist eng verknüpft auch
mit einer Abänderung ihrer Variationsfähigkeit, und je weitläufiger
die Verwandtschaft zweier Arten ist, um so verschiedener muß
ihre Variationsfähigkeit sein, da ihre gemeinsamen Stammeltern
um viele Generationsreihen hinter ihnen zurückliegen, und die
Variationsfähigkeit, die jenen eigen war, von den folgenden Gene-
rationen in verschiedener Weise abgeändert wurde. Eine Katze
variiert anders als ein Hund oder gar als ein Infusorium. So sind
denn auch die Bahnen, in denen sich die Entwicklung des Organismen-
reiches vollzogen hat, nicht regel- und richtungslos, nicht reine
Sache des Zufalls gewesen, sondern haben sich mit Notwendigkeit
ergeben aus dem Zusammenwirken der äußeren Einflüsse und der
physischen Natur der Organismen. Der gleiche Standpunkt wird
in dem mehrfach genannten Aufsatz über die mechanische Auf-
fassung der Natur vertreten : letzten Endes sind es immer die äußeren
Einflüsse, die die Abänderungen der Organismen hervorrufen,
aber die Art, wie die letzteren auf die Abänderungsreize reagieren,
ist abhängig von der physischen, historisch gewordenen Konstitution
des Organismus, und Organismen verschiedener Art reagieren ver-
schiedenartig, wenn sie von den gleichen Abänderungsreizen ge-
troffen werden. So besteht allerdings eine ,, bestimmt gerichtete
Variation", aber nicht im Sinne Askenasys und Hartmanns
als Ausfluß eines unbekannten inneren Entwicklungsprinzips,
sondern als notwendige Folge der ungleichen physischen Natur
der Arten: die Annahme eines Variierens in bestimmter Richtung
schließt keineswegs die Anerkennung eines metaphysischen Ent-
— 223 —
wicklungsprinzipes ein, sondern läßt sich als Restdtat der physischen
historisch bedingten Zusammensetzung der Organismen sehr wohl
begreifen.
Von diesen Überlegungen aus läßt sich auch die Entstehung
einer neuen Form, lediglich unter dem direkten Einflüsse der
äußeren Bedingungen (ohne das Eingreifen von Ausleseprozessen),
verstehen. Eine größere Individuengruppe derselben Art, von den
gleichen Einflüssen getroffen, wird in nahezu gleicher Weise variieren
müssen, und wenn diese Einflüsse Generationen hindurch wirksam
sind, so werden sich ihre Wirkungen durch Vererbung häufen und
aus jener Individuengruppe eine neue Form schaffen. So könnten
klimatische Varietäten ihre Erklärung finden. Freilich, ungleich
wirksamer wird die Häufung individueller Abweichungen durch
Hinzutreten von Selektionsprozessen zustande kommen, wenn sich
also zu der direkten Wirkung der äußeren Einflüsse noch die
indirekte hinzugesellt.
Dies der ursprüngliche Standpunkt Weismanns, gekenn-
zeichnet durch eine starke Bewertung der äußeren Einflüsse und
Rückführung aller Variabilität auf diese, bei Annahme der
Vererbungsmöglichkeit der durch sie bedingten Varia-
tionen.
Variabilität als Folge der Vermischung der Individuen
(Amphimixis).
Nun aber folgte die eingehende Inangriffnahme der Vererbungs-
frage, wobei die anfangs mehr physiologische Betrachtungsweise
der Vererbungsvorgänge — ,, Vererbung ist Übertragung gleicher
Entwicklungsrichtungen" — einer morphologischen weichen mußte;
es folgte die Aufstellung der Lehre von der Kontinuität des Keim-
plasmas und seiner Zusammensetzung aus Determinanten oder
,, Bestimmungsstücken" der einzelnen Merkmale, und damit ergab
sich eine bestimmtere Fassung auch der Frage nach dem Wesen
der Variation, allerdings auch eine größere Schwierigkeit ihrer
Beantwortung. Insbesondere die Voraussetzung einer ,, Konti-
nuität" des Keimplasmas erschwerte die Betrachtung. War das
Keimplasma ausschlaggebend und bestimmend für das neue In-
dividuum in allen seinen Einzelheiten, so mußten individuelle
Varietäten, wenigstens soweit sie sich als erblich erwiesen, ihren
— 224 —
Grund in einer gewissen Verschiedenheit der erzeugenden Keim-
plasmen haben, das Keimplasma einer Art mußte trotz seiner
,, Kontinuität" veränderlich sein. Und ebenso: wenn sich die Formen
auseinander entwickelt und doch dabei im Laufe der Generationen
umgewandelt haben, so mußte das Keimplasma im Laufe der Zeit
erbliche Veränderungen erfahren haben. Die Quelle dieser Ver-
änderungen aufzudecken, war und ist für die Kontinuitätshypothese
eine der wichtigsten Aufgaben, vielleicht die allerwichtigste. In
den Erörterungen über die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften
(1883) kam die Frage aufs neue zur Behandlung, nun aber mit
größerem Skeptizismus gegenüber der Bedeutung direkter Ein-
flüsse. Das Ergebnis war eine bestimmte Ablehnung der Vorstellung,
daß Verletzungen, Verstümmelungen, funktionelle Veränderungen
des ausgebildeten Somas eine adäquate erbliche Veränderung des
Keimplasmas bewirken könnten — ein Ergebnis, das durch die
spätere Ausführung der Determinantentheorie auch vom rein
theoretischen Standpunkte aus nur eine Bekräftigung erfahren
konnte. Denn da die Determinanten etwas ganz anderes sind als
die Teile selbst, so müßten sie sich auch, falls jener Vorgang mög-
lich wäre, in ganz anderer Weise verändern, als diese sich verändert
hatten, etwa wie wenn ein deutsches Telegramm nach China dort
gleich in chinesischer Sprache ankäme ^^). Auch gegenüber den
direkten Einflüssen der äußeren Bedingungen ergab sich nun eine
andere Stellungnahme, eine vorsichtigere und zurückhaltendere
Beurteilung. Die Ergebnisse der eigenen Schmetterlingsversuche
Weismanns blieben freilich zu Recht bestehen: sie zwangen nach
wie vor dazu, in direkten Mediumeinflüssen eine Quelle erblicher
Abänderungen zu sehen, und dies Ergebnis ließ sich ja auch mit
der Kontinuitäts- und Determinantentheorie in Einklang bringen
durch die Annahme, daß verschiedenartige äußere Einflüsse nicht
nur das fertige oder in Entwicklung begriffene Individuum selbst,
sondern auch die in demselben eingeschlossenen Keimzellen treffen
und den Determinantenkomplex ihres Keimplasmas verändern
können. Indessen konnte diese Quelle erblicher Abänderungen
jetzt nicht mehr als sehr wichtig, geschweige denn als ausschließ-
lich erscheinen. Prüfung der Tatsachen, insbesondere auch der
auf pflanzlichem Gebiete gemachten Beobachtungen, führten zu
dem Schlüsse, daß die äußeren Einflüsse viel häufiger und in erster
— 225 —
Linie nur passante Veränderungen hervorrufen, die auf das In-
dividuum beschränkt bleiben, aber nicht auf die Nachkommen über-
gehen, und die immerhin zuzugebenden, auf direkte Mediumeinflüsse
zurückzuführenden erblichen Abänderungen mußten bei genauerer
Betrachtung viel von ihrer früher angenommenen Bedeutung für
die Transmutationsvorgänge einbüßen, auch abgesehen davon,
daß sie nur als Ausnahmen in Frage kamen. Denn einerseits könnten
sie, so folgerte Weismann jetzt^*), bei dem großen Beharrungs-
vermögen des Keimplasmas nur sehr langsam und in sehr kleinen
Schritten vor sich gehen, und andererseits müßten sie sich bei allen
von den Einwirkungen betroffenen Individuen stets in gleichem
Sinne äußern. Daraus aber würde folgen, daß sie wohl die Quelle
zu allmählicher Abänderung aller Individuen einer Art werden
können, wenn dieselben lange Generationsfolgen hindurch von den
gleichen verändernden Einflüssen getroffen würden, nicht aber die
Quelle der stets hin- und herschwankenden, in tausend und aber-
tausend von Kombinationen wechselnden individuellen Ab-
weichungen, die für die Darwin-Weismannsche Auffassung die
unentbehrliche Voraussetzung aller Selektionsprozesse sind. In
dieser aber und in dem durch sie vermittelten indirekten Ein-
fluß der äußeren Bedingungen hatten Darwin und Wallace den
wichtigsten Faktor für die Umwandlung der Formen kennen ge-
lehrt, dem gegenüber der direkt umwandelnde Einfluß der Um-
gebung nur eine untergeordnete Rolle beanspruchen konnte, — eine
Anschauung, der sich Weismann wenigstens hinsichtlich der
höheren Formen von vornherein mit Überzeugung angeschlossen
hatte, und die ihm selbst nur immer klarer wurde. So mußte er
denn nach einer besonderen Quelle gerade für diese individuelle
Variabilität suchen, und er glaubte dieselbe eine Zeitlang in der
Amphimixis, der Vermischung der Individuen bei der sexuellen
Fortpflanzung (der Befruchtung in Verbindung mit den vorher-
gehenden Reduktionsteilungen der Keimzelle) gefunden zu haben.
Durch diese sollte eine fortgesetzte Vermischung und Umkombi-
nierung der individuellen Vererbungstendenzen und damit jene
,,proteusartige" individuelle Variabilität der Formen zustande
kommen, die die Voraussetzung aller Selektionsprozesse ist (1891).
Eins war dabei freilich vorausgesetzt: es mußten überhaupt erst
einmal individuelle Unterschiede vorhanden, es mußte ein erster
Gaupp, Biügrapliie Weisniaiiiib. li>
226
Anfang für die Variabilität gegeben sein. Diesen „Urquell" der
individuellen Ungleichheit sucht Weismann bei den niedersten
Organismen, anfangs (1886) bei den Einzelligen, dann (von 1891 an)
noch tiefer, bei den kernlosen Lebewesen, deren Körper noch,
wie das an anderer Stelle ausgeführt wurde, durch direkte Wirkung
äußerer Einflüsse veränderlich ist und diese Änderungen auf seine
Teilsprößlinge unmittelbar zu übertragen vermag, weil Elter und
Kind in gewissem Sinne noch ein und dasselbe Wesen sind. Der
letzte Urgrund aller erblichen individuellen Unterschiede würde
somit allerdings in den äußeren Einflüssen, die den Organismus
direkt verändern, zu sehen sein; aber nicht auf jeder Organisations-
höhe kann auf diese Weise erbliche Variabilität entstehen, sondern
nur auf der allernicdersten. Nachdem aber hier einmal die Ungleich-
heit der Individuen gegeben war, vererbte sie sich auf die ,, höheren"
Organismen — worunter schon die kernhaltigen Einzelligen sowie
die Vielzelligen zu verstehen wären — und wurde bei diesen durch
die amphigone Fortpflanzung, der die Konjugation bei den Ein-
zelligen entspricht, erhalten und immer weiter vervielfacht.
Die Jahre von 1886 — 1894 stehen unter dem Zeichen dieser
Auffassung, die an anderer Stelle, bei Betrachtung der Befruchtung
und ihrer Bedeutung, schon etwas eingehender besprochen wurde.
Variabilität als Folge von Germinalselektion.
Indessen ließ sich die hohe Meinung, die Weismann in dieser
Hinsicht von der Amphimixis hegte, auf die Dauer nicht aufrecht
erhalten. Gewiß ist in der Halbierung der Chromosomenzahl und
der dadurch bedingten Neukombinierung der Chromosomen (Ide,
Determinantenkomplexe) bei den Reifeteilungen der Geschlechts-
zellen, sowie in der folgenden Vereinigung zweier solcher halbierten
Keimplasmen, die zwei verschiedenen Individuen entstammen
(bei der Befruchtung), eine Quelle individueller Verschiedenheit
gegeben, aber doch eben nur so weit, als es sich dabei um eine stets
sich wiederholende Umkombinierung der individuell gefärbten
homologen Determinanten handelt; eine wirkliche Veränderung der
Determinanten kann dadurch niemals erreicht werden. Und doch
muß schlechterdings eine solche im Laufe der Zeit stattgefunden
haben. Die Determinanten eines Wurmes der Vorwelt könnten
nicht unverändert heute das Keimplasma eines Elefanten zusammen-
227
setzen, auch wenn es ganz sicher wäre, daß die Säugetiere von
Würmern abstammen. Die Ide müssen sich seither unzählige Male
umgestaltet haben, die Determinanten, aus denen die Ide des
Elefantenkeimplasma bestehen, müssen durchaus andere sein, als
die des Wurmkeimplasma. Diese Veränderungen könnten niemals
durch den Befruchtungsvorgang erklärt werden, der nur einen
Austausch der Ide bewirkt, diese nur zu immer neuen Kombinationen
zusammenstellt. Die auf diesem Wege zustande kommenden
Varianten werden sich durchaus innerhalb der Grenzen des Art-
bildes halten müssen, aber nie etwas wirklich Neues zeigen können.
Hierfür ist eine wirkliche Veränderung der Ide anzunehmen.
Es ist bei diesen Überlegungen ganz gleich, ob unter ,,Id" ein
,,Vollid", im Sinne der älteren Weis mann sehen Vorstellung ver-
standen wird, oder ein ,,Partialid", entsprechend der späteren
Änderung der Auffassung.
Die beiden wichtigsten Fragen, die sich aus diesen Überlegungen
ergeben mußten, sind: unter welchen Einflüssen können wir uns
diese Veränderungen der Ide entstanden denken, und in welcher
Weise haben wir uns dieselben vorzustellen ? Die Antwort auf diese
Fragen mußte zugleich rechnen mit den im vorigen Abschnitt
besprochenen Erscheinungen, die eine Ergänzung der Lehre von der
Personalselektion durch die Annahme von innerhalb der Organismen
selbst sich abspielenden Vorgängen forderten. Diese inneren Vor-
gänge mußten die Ursache der Variabilität sein, diese letztere aber
zugleich bestimmten Gesetzen unterwerfen.
Alle diese Fragen beantwortet Weismann mit der Aufstellung
der Lehre von der Germinalselektion, die die Keimplasma-
theorie erst vollständig zum Abschluß brachte und eine bis dahin
fühlbar gewesene Lücke derselben ausfüllte. Denn die Frage der
Variabilität steht nun einmal am Anfang der ganzen Artumwand-
lungslehre Darwins. Ihrem Wesen nach steht diese letzte Be-
antwortung der Variationsfrage in fast diametralem Gegensatz zu
der ersten. Diese hatte (1876) gelautet: ,,Der lebende Organismus
enthält in sich selbst kein Prinzip der Veränderlichkeit, er ist das
statische Moment in dem Entwicklungsprozesse der organischen
Welt und würde stets nur wieder genaue Kopien seiner selbst liefern,
wenn nicht die Ungleichheit der äußeren Einflüsse ein jedes neu-
entstehende Individuum in seiner Entwicklungsrichtung ablenkte;
15*
— 22!
diese Einflüsse sind also das dynamische Element des Pro-
zesses." Dabei war dem Organismus selbst und seiner physischen
Natur nur ein Richtung gebender und beschränkender Einfluß
auf die Variationen zugesprochen. Nunmehr wird der Grund
für alle Variationen in Vorgängen gesucht, die sich nicht nur fort-
während in den Organismen — und zwar in den Keimzellen der-
selben — abspielen, sondern auch zum weitaus größten Teil inner-
halb des Einzelorganismus selbst ihre Ursache haben, und nur
zu einem kleinen Teil von den äußeren Verhältnissen angeregt
werden. Die direkte Bedeutung der letzteren tritt damit ganz
zurück, und es wird nun ausdrücklich betont ^^) : ,, Darin gerade liegt
die hohe Bedeutung dieses Kräftespiels im Keimplasma, daß er
ganz unabhängig von den Beziehungen des Organismus
zur Außenwelt Variationen schafft." Es wird sich indessen
zeigen, daß vom rein abstrakten theoretischen Standpunkt aus der
Widerspruch nicht ganz so scharf ist, als er auf den ersten Blick
erscheint. Denn gleich geblieben ist die Grundanschauung, daß
die Keimsubstanz sich nicht infolge einer immanenten inneren
Kraft umwandelt, sondern durch äußere Einflüsse dazu veranlaßt
wird. In einem anderen Punkte aber bringt auch diese letzte Be-
handlung der Variationsfrage Weismanns früheren Standpunkt
zur Geltung: die Auffassung, daß die Variationen nicht richtungs-
und regellos sind, kommt nunmehr zum Abschluß, die Schrift
„Über Germinalselektion" führt den Untertitel: ,,Eine Quelle be-
stimmt gerichteter Variation".
Die verschiedene Ernährung der Determinanten als Grund für
ihre Veränderung.
Die Gedankengänge der Lehre von der Germinalselektion sind
von Weismann zum ersten Male in einer schon Ende 1894 ge-
schriebenen, aber erst 1895 veröffentlichten Abhandlung: ,,Neue
Gedanken zur Vererbungsfrage" in der Hauptsache festgelegt,
später dann in einer besonderen Schrift (1890) und in den Vorträgen
über Deszendenztheorie ausführlicher entwickelt worden. Sie be-
ruhen auf der von W. Roux in die Wissenschaft eingeführten Über-
tragung des Selektionsprinzipes auf die Teile innerhalb des Or-
ganismus imd nehmen den ,, Kampf der Teile" (Roux) auch inner-
halb des Keimplasmas an, das eben nach Weismann nicht eine
— 22g —
homogene Masse, sondern aus zahlreichen Lebenseinheiten ver-
schiedener Grade zusammengesetzt ist. Hier im Keimplasma,
und zwar in jedem einzelnen Id, muß nach Weismanns Auffassung
während der Vermehrung der Keimzellen, die ja mit einer Vermehrung
der Masse des Keimplasmas verbunden ist, ein Heranwachsen und
eine Vermehrung der Determinanten stattfinden, auf Kosten des
Nahrungsstromes, der zwischen sie eindringt. Dabei wird es nun
durch Zufälligkeiten oder unter der Einwirkung erkennbarer und
dauernd wirksamer äußerer Einflüsse zu Ungleichheiten und Un-
regelmäßigkeiten in diesem Säftestrom kommen können, der den
bisher bestehenden Gleichgewichtszustand zwischen den Determi-
nanten eines Chromosoms stören muß. Die einen werden mehr
Nahrung erhalten, infolge dessen stärker wachsen und sich stärker
vermehren, während die anderen, die unter ungünstige Ernährungs-
verhältnisse geraten sind, schwächer bleiben und sich langsamer
vermehren. Ist eine solche Schwankung erst einmal eingeleitet,
so wird sie sich mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit bei den weiteren
Teilungen der Keimzellen leicht in der gleichen Richtung fortsetzen,
da durch die bessere oder schlechtere Ernährung die Determinanten
selbst in ihrer Assimilationskraft gestärkt oder geschwächt werden
müssen, so daß nun auch die Verschiedenheit der aktiven Er-
nährung in dem gleichen Sinne weiter wirkt. So wird sich also hier
im Keimplasma ein ähnlicher Selektionsprozeß im Kleinsten ab-
spielen, wie er zwischen den Individuen besteht; die ,, Personal-
selektion" findet ihr Analogon in der ,,Germinalselektion". (Germina
d.h. Keime, bedeutet dabei die Determinanten) ^^) . Die Veränderung
der Determinanten muß sich dann bei der Entwicklung in Ver-
änderungen der groben Teile, der Determinaten, bemerkbar machen.
Auf diesem Kräftespiel im Keimplasma während der Teilung und
Entwicklung der Keimzellen beruhen letzten Endes alle erblichen
individuellen Variationen.
Betrachten wir zunächst dieses Kräftespiel und seine Wir-
kungen noch etwas genauer.
Beibehaltung der eingeschlagenen Variationsrichtung; Grenzen
der Schwankungen; Korrelation der Determinanten.
Ein Umstand, auf den Weis mann besonderen Wert legt,
und der in der Tat das prinzipiell Wichtigste darstellt, ist, daß durch
— 230 —
den Prozeß der Germinalselektion die Beibehaltung einer einmal
eingeschlagenen Variationsrichtung seitens des Keimplasmas, auch
ohne Eingreifen von Personalselektion, verständlicher wird. Es
geht das aus dem bereits Gesagten schon hervor. Wird durch eine
zufällige auch nur vorübergehende Steigerung der Nahrungszufuhr
eine Determinante besser ernährt, so steigert sich zugleich ihre
Assimilationskraft, und daraus wird sich wieder eine weitere Ver-
besserung der Ernährungsbedingungen ergeben, d. h. die aufwärts
gehende Variation wird sich im Laufe der weiteren Teilungen der
Geschlechtszellen fortsetzen, ja auch in den Geschlechtszellen der
nächsten Generation, die ja einen Teil des so veränderten Keim-
plasmas, der Kontinuitätslehre entsprechend, überliefert bekommen.
So kann also während der Entwicklung der Geschlechtszellen eines
Individuums eine Veränderung des Keimplasmas erfolgen, die an
sich, wofern sie nicht durch das Eingreifen von Personalselektion
gestört wird, die Tendenz hat, sich in den Abkömmlingen dieses
Keimplasmas in den folgenden Generationen in gleichem Sinne fort-
zusetzen. Freilich ist nicht anzunehmen, daß eine jede Schwankung
einer Determinante nach aufwärts oder abwärts sich unbegrenzt
fortsetzen muß: es müßten ja dann alle Teile des Organismus sich
in fortwährender Unruhe befinden.
Bei den meisten nur geringen Schwankungen wird man
an eine Selbstkorrektion des Keimplasmas denken können, die den
ursprünglichen Gleichgewichtszustand bald wiederherstellt. Daher
wohl die Konstanz der Arten unter normalen Bedingungen, und
das Wiederverschwinden vieler kleiner individueller Besonderheiten,
z. B. beim Menschen. Einigermaßen größere Schwankungen aber
werden sich zunächst fortsetzen. Handelt es sich dabei um eine
Abänderung einer Determinante in aufsteigender Richtung, so wird
dieselbe, wenn auch nach längerer Zeit (im Laufe zahlreicher Keim-
zellengenerationen), doch schließlich einmal schon aus inneren
Verhältnissen zu einem Ende kommen: teils infolge der begrenzten
Nahrungsmenge, die innerhalb eines Chromosoms zirktdiert, teils
infolge des Widerstandes der Nachbardeterminanten ; dagegen wird
es für die Veränderung in absteigender Richtung keine innerlich
bedingte Grenze geben, d. h. die fortschreitende Schwächung der
Determinante muß schließlich zu ihrem vollständigen Schwund,
ihrer Ausmerzung aus dem Keimplasma führen. Beide Vorgänge,
— 231 —
die aufsteigende wie die absteigende Veränderung einer Determinante
oder Determinantengruppe, werden aber endlich auch von Einfluß
auf Nachbardeterminanten sein ; zwischen den Elementen des Keim-
plasmas ist ,,ein ganzes Heer von Beziehungen und Beeinflussungen"
anzunehmen, im Keimplasma liegt auch die Quelle aller korre-
lativen Abänderungen.
In der Germinalselektion ist also ein orthogenetisches
Prinzip anerkannt, d. h. ganz im allgemeinen Sinne ein Prinzip,
das damit rechnet, daß eine einmal eingeschlagene Entwicklimgs-
richtung geradlinig [ooßoc:) gerade) beibehalten wird. Indessen
geht Weis mann nicht so weit, zu behaupten, daß die Entwicklung
in der einen Richtung schlechterdings unaufhaltsam weitergehen
müsse; er nimmt vielmehr an, daß immer noch Schwankungen
der Determinanten vorkommen, und daß es somit an sich möglich
wäre, auf dem Wege der Auslese durch ,, Sammlung" der relativ
schwächeren Determinanten das Fortschreiten in der eingeschlagenen
Richtung aufzuhalten und sogar die Richtung wieder mnzukehren.
Nur würde dazu sehr lange Zeit gehören. Praktisch wird es somit
nicht oft in Frage kommen. Denn die einzige Kraft, die jene
,, Sammlung" der schwächeren Determinanten vornehmen könnte,
ist Personalselektion; diese arbeitet aber sehr langsam und wird
nicht immer die nötige Zeit zur Verfügung haben, um eine bedroh-
lich werdende Entwicklungsrichtung aufzuhalten oder umzukehren.
So können denn auch einseitig hoch gesteigerte, exzessive Bil-
dungen gelegentlich einmal zum Aussterben einer Art führen. Die
Entwicklung in der einen Richtung wird hierbei zunächst so lange
weitergehen , als das Restdtat nützlich ist — die Germinalselektion
wird dabei durch Personals elektion unterstützt werden — und
kann so zu einer exzessiven Bildung führen; bei einem rasch ein-
tretenden Wechsel der Lebensbedingungen könnte dieselbe aber
auf einmal ihren Wert verlieren, ja sogar geradezu verhängnisvoll
werden, und dann würde die langsam arbeitende Personalselektion
nicht imstande sein, die Art von ihr zu befreien: die Art würde aus-
sterben. Fälle dieser Art, in denen exzessive Bildungen den offen-
baren Anlaß zum Aussterben einer Art abgegeben haben, sind von
Paläontologen vielfach namhaft gemacht und zur Aufstellung
orthogenetischer Theorien verwertet worden. Nach Weismann-
scher Auffassung sind sie in der Tat auf ein orthogenetisches Prinzip,
— -^32 —
die Germinalselektion, zurückzuführen, indessen wäre, nach eben
dieser Auffassung, es doch wohl nicht die Germinalselektion selbst,
die in solchen Fällen einer Art den Untergang bereitet, ,, sondern das
Unvermögen der Personalselektion, rascheren Wendungen der
Lebensbedingungen zu folgen und exzessive Bildungen in kurzer
Zeit um ein Beträchtliches herabzusetzen". Die Germinalselektion
erscheint so als ein Prinzip der Orthogenese mit beschränkter Wirk-
samkeit.
Wesen der Determinantenveränderungen; Wirkungen auf das
Soma (die Determinaten).
Das Wesen der angenommenen Veränderungen der Determi-
nanten und ihre Wirkungen auf das Soma (die Determinaten)
denkt sich Weis mann folgendermaßen. Zwei Möglichkeiten der
Determinantenvariation liegen nach seiner Auffassung überhaupt
nur vor: gewisse Determinanten oder Gruppen von solchen werden
durch die angenommenen Ernährungsschwankungen innerhalb des
Einzelchromosoms entweder besser oder schlechter ernährt
werden. Die dadurch bedingten Variationen werden in letzter
Instanz alle quantitativer Art sein, d. h. sich in einer Zu- oder Ab-
nahme der lebenden Teilchen (Biophoren) oder ihrer Konstituenten,
der Moleküle, äußern.
So gibt es also letzten Endes nur zwei Variationsrichtungen:
eine nach Plus und eine nach Minus vom Durchschnitt gerichtete.
Diese Plus- und Minusvariation der kleinsten Teilchen, aus denen
die Determinanten bestehen, wird dann, wenn sie gleichmäßig alle
Teilchen betrifft, für die Determinanten selbst einfach eine Ver-
größerung oder eine Verkleinerung bedeuten, wofern sie aber die
Konstituenten ungleich betrifft, eine qualitative Veränderung der
Determinanten bedingen. Es darf angenommen werden, daß sich
auch an den durch die Determinanten bestimmten Organen, den
Determinaten, entsprechende Veränderungen zeigen werden.
Indem so der Ausgang für alle Veränderungen in die kleinsten
lebenden Teilchen, ja in ihre zusammensetzenden Moleküle, ver-
legt wird, ergibt sich eine Möglichkeit, nicht nur Größenschwankungen
der Teile, sondern auch qualitative Änderungen derselben, auf Ver-
änderungen rein quantitativer Natur zurückzuführen. Was uns
im großen als Qualitätsänderimg erscheint, beruht eben letzten
— 233 —
Endes auf quantitativen Änderungen in den kleinsten Teilchen,
die das große Ganze aufbauen.
Indessen braucht nicht jede Veränderung einer Determinante
oder Determinantengruppe sich auch wirklich in einer entsprechenden
Veränderung der Determinate, also am Soma, bemerkbar zu
machen. Denn der Weis man nschen Auffassung zufolge ist ja
bei allen Formen mit „geschlechtlicher" Fortpflanzung in dem Kern
der heranwachsenden Keimzelle die gleiche Determinantenart
mindestens zweimal vorhanden, einmal in dem väterlichen und ein-
mal in dem homologen mütterlichen Chromosom, wie das im sechsten
Abschnitt auseinandergesetzt wurde. Ob eine bestimmte Abänderung
einer Determinante später — bei der Ontogenese — Geltung er-
langen wird, wird somit noch von einigen Zufälligkeiten abhängen:
von dem Ergebnis der Reduktionsteilung ( — die ja das betreffende
Chromosom herausbefördern kann — ) und von der folgenden Am-
phimixis, die in dem homologen Chromosom der kopulierenden Zelle
eine gleich- oder entgegengesetztgerichtete Variante derselben
Determinante zuführt. Die Möglichkeit, daß zwei entsprechend ge-
artete Varianten einer Determinante sich wiederholt (zur Bildung
einer ,, Homozygote") zusammenfinden, und damit eine bestimmte
Richtung der Variation wirklich beschritten wird, wird ohne weiteres
dann gegeben sein, wenn die Ursache der Ernährungsschwankungen
und damit der Veränderungen der Determinanten in allgemeinen
äußeren, z. B. klimatischen Veränderungen liegt (s. unten), sie wird
aber auch bei spontanen, auf reinen Zufälligkeiten beruhenden Ab-
änderungen oft genug vorliegen, da es, wie erörtert, überhaupt nur
zwei Variationsrichtimgen der Determinanten gibt : eine aufsteigende
und eine absteigende. Kommen aber durch die Amphimixis zwei
etwas verschieden geartete homologe Determinanten ( — in einer
,, Heterozygote" — ) zusammen, etwa die unveränderte und die
nach Plus oder Minus abgeänderte, oder die Plus- und die Minus-
variante, so wird zwischen beiden bei der Ontogenese jener Wett-
bewerb um die Geltendmachung einsetzen, den wir im sechsten Ab-
schnitt bei Besprechung der Determinantentheorie kennen lernten.
Der Ausgang desselben wird dann davon abhängen, welche der beiden
Determinanten die kräftigere ist. Diese wird sich in der Ontogenese
zur Geltung bringen und der Determinate, dem fertigen ,, Merk-
mal", ihren Stempel aufdrücken; die andere wird latent bleiben.
— 234 —
Doch wird auch diese, der Lehre von der Kontinuität des Keim-
plasmas zufolge, von der Keimzelle aus den folgenden Generationen
mitgegeben und kann sich, wenn sie bei den Reduktionsteilungen
dem Schicksal des Entferntwerdens entgeht, aber immer wieder
mit kräftigeren andersgearteten homologen Determinanten zu-
sammenkommt, viele Generationen hindurch forterhalten, ohne am
Soma in die Erscheinung zu treten — bis der Zufall sie mit einer
gleichgearteten zusammenführt und ihr dadurch wieder einmal
zur Geltung verhilft. So können unveränderte Ahnendetermi-
nanten Generationen hindurch in den Abkömmlingen eines Keim-
plasmas latent mitgeführt werden, um dann gelegentlich wieder
einmal manifest zu werden. Die Erscheinungen des sogenannten
Rückschlags würden auf diese Weise, vom Standpunkt der Determi-
nantentheorie aus, ihre Erklärung finden (s, oben, S. 142). — Die
frühere Vorstellung Weismanns, die in jedem Keimplasma eine
sehr große Menge von Volliden, somit auch eine sehr große Menge
homologer Determinanten annahm, machte an Stelle der hier er-
örterten Gedankengänge einige andere notwendig. Damit eine
Determinantenabänderung Geltung erlangte, war es nötig, daß sie
in gleichem Sinne in einer Majorität von Iden auftrat, aber
nicht etwa nur auf ein Id oder auf deren wenige beschränkt blieb.
Darin aber lag entschieden eine größere Schwierigkeit der Theorie.
Dagegen war die alte Fassung derselben zur Erklärung der Rück-
schlagserscheinungen bequemer: wenn in jedem Keimplasma eine
sehr große Menge homologer Determinanten angenommen wird,
so ist leicht damit zu rechnen, daß, während einige derselben sich
verändern, andere unverändert bleiben und in unverändertem
Zustand lange Zeit weitergegeben werden, bis sie einmal auf dem
Wege der Amphimixis durch andere unveränderte verstärkt werden
und dadurch Geltung erlangen. —
Ursachen der Ernährungsschwankungen. Spontane und indu-
zierte Germinalselektion.
Was endlich die Ursachen der angenommenen Ernährungs-
schwankimgen anlangt, so kommen dafür, wie schon angedeutet
wurde, in Betracht: i. ,, Zufälligkeiten" der Nahrungszufuhr zu
den Determinanten, und 2. Veränderungen in den äußeren Lebens-
bedingungen, namentlich klimatischer Art. Die auf Zufälligkeiten
— 23,5 —
beruhende Form der Germinalselektion nennt Weismann die
spontane, die durch äußere Einflüsse angeregte die induzierte;
zwischen beiden müssen mehrere Unterschiede bestehen. Schwan-
kungen der Ernährung, die ledigHch auf ZufälHgkeiten beruhen,
werden demzufolge auch lediglich lokaler Natur sein, auf ein be-
stimmtes Chromosom beschränkt bleiben, nicht leicht aber in den
beiden homologen Chromosomen zugleich in gleicher Weise auf-
treten, und somit auch nicht leicht die homologen Determinanten
beider gleichsinnig treffen und verändern, noch weniger in allen
Individuen einer Art eintreten. Dagegen werden Veränderungen
der äußeren Lebensbedingungen in allen davon betroffenen In-
dividuen ähnliche Veränderungen der keimplasmatischen Er-
nährung bedingen, d. h. alle homologen Determinanten — in den
verschiedenen Individuen — , sofern sie überhaupt für die betreffende
Ernährungsänderung empfindlich sind, in ähnlicher Weise verändern.
Ferner besteht zwischen den beiden Formen der Germinalselektion
ein Unterschied hinsichtlich ihres Verhaltens zur Pcrsonalselektion
und damit hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Artbildung. Spon-
tane Variationen werden, als durch Zufallsschwankungen bedingt,
sich durch Germinalselektion allein nur so lange steigern, bis sie
dem Leben des Individuums nützlich oder schädlich werden, als-
dann wird die Personalselektion über ihr weiteres Schicksal ent-
scheiden; sie geben also die Grundlage und den Ausgang für die
Selektionsprozesse höherer Ordnung ab; induzierte Variationen
dagegen werden, solange der äußere Einfluß zu wirken anhält,
sich steigern, bis das Maximum der Veränderung erreicht ist, das
der Natur dieses Einflusses und der der betreffenden Determinanten
entspricht, auch ohne Eingreifen der Naturzüchtung. Dem Wirken
der letzteren wären gegenüber der ,, induzierten" Germinalselektion
überhaupt Grenzen gezogen. Sie würde bei nützlichen Abänderungen
mithelfen können, die höchste Steigerungsstufe der letzteren rascher
zu erreichen; bei schädlichen Abänderungen aber nur versuchen
können, durch Bevorzugung der auf den wirksamen Reiz weniger
stark reagierenden Individuen die allgemeine Abänderung der Art
in der schädlichen Richtung aufzuhalten. Wäre die Reaktions-
fähigkeit bei allen Individuen gleich groß, so würde die Naturzüchtung
keine Handhabe zum Eingreifen finden, und die Art müßte aus-
sterben.
— 236 —
Für die Umbildung der Formen besitzt somit die spon-
tane Germinalselektion die weitaus größere Bedeutung. Auf sie
ist das ganze Heer individueller Variationen zurückzuführen, die
das Material für die Personalselektion abgeben, und an die sich
unter der Mitwirkung dieser die Umbildung der Arten knüpft.
Wie sie mit der Personalselektion zusammenwirkt, aber auch neben
derselben als selbständige Kraft in orthogcnetischem Sinne tätig
ist, wird noch besonders zu besprechen sein.
In der induzierten Germinalselektion andererseits ist zu-
nächst der Grund zu sehen für die seit Darwin bekannte er-
höhte allgemeine Variabilität domestizierter Tiere und
Pflanzen: dieselbe ist ein Ausdruck der Strömung, in die das alt-
ererbte Gleichgewicht des Keimplasmas unter dem Einfluß ver-
änderter Existenzbedingungen gerät; weiterhin ist in ihr der Me-
chanismus gegeben für die Entstehung erblicher Abänderungen
unter dem direkten Einflüsse der äußeren Bedingungen, wie Klima,
Nahrung usw. Es wurde an anderer Stelle schon (Abschnitt IV
und V) besprochen, daß Weismann ihnen für die Umwandlung
der Arten keine sehr große Bedeutung beimißt. Die direkten Medium-
einflüsse auf das Keimplasma, die erbliche Abänderungen er-
zeugen, stehen denen auf das Soma, die nur passante Abände-
rungen bewirken, bedeutend nach. Auf induzierte Germinalselektion
werden viele biologisch gleichgültige, rein morphologische,
Merkmale zu beziehen sein, ganz besonders aber wohl auch die
sogenannten Spielvariationen oder sprunghaften Abände-
rungen, d. h. Abänderungen größeren Betrages, die namentlich
bei in Kultur befindlichen Pflanzen beobachtet werden und sich
von vornherein als erbbeständig erweisen. Sie deuten auf stärkere
Störungen des Gleichgewichtes innerhalb des Determinantensystems
hin, auf eine länger dauernde, intensive gleichartige Beeinflussung,
die eben am leichtesten auf die Einwirkung der äußeren Bedingungen
zu beziehen ist. Ihre plötzliche Entstehung ist nach Weismann
nur scheinbar: sie besitzen ein ,, unsichtbares Vorspiel" im Keim-
plasma, d. h. sie sind von langer Hand her durch Selektionsprozesse
im Keimplasma vorbereitet, treten aber, scheinbar unvermittelt
und sprungweise, erst dann in die Erscheinung, wenn die germinalen
Abänderungen unter dem fortgesetzten Einfluß der äußeren Be-
dingungen und infolge von Amphimixis gleichsinnig veränderter
— 237 —
homologer Determinanten eine gewisse Höhe erreicht haben. Weis-
mann greift dabei auf die im sechsten Abschnitt besprochene An-
nahme zurück, daß die Determinanten vermehrungsfähig, und daß
daher vielfach eine ganze Anzahl homologer (für ein Merkmal
bestimmter) Determinanten in ein und demselben Id (Chromosom)
vorhanden ist. Werden diese alle oder doch in einer größeren Ma-
jorität gleichsinnig verändert, so würde daraus eine Varietät
hervorgehen, die von vornherein mehr Aussicht auf Erbbeständig-
keit hätte. Das wäre bei den Spielvariationen anzunehmen, bei
denen im übrigen wohl gleich an mehreren Determinantenarten
Veränderungen vorauszusetzen sind. Die Bedeutung der Spiel-
varietäten wird, wie wir schon im siebenten Abschnitt sahen, für
die Umbildung der Arten von Weis mann nicht sehr hoch ein-
geschätzt und nur für die Erklärimg der sekundären Geschlechts-
merkmale etwas höher bewertet ^^).
Germinalselektion und Personalselektion.
In den erörterten entoplasmatischen Vorgängen ist nun eine
Kraft gegeben, die selbständig, für sich, Abänderungen der Formen
anbahnt und sie in gleicher Richtung zu steigern vermag, eine im
Organismus wirksame orthogenetische Entwicklungskraft, die sich
neben die Personalselektion stellt, mit dieser die Umwandlung der
Formen leitet und die Mannigfaltigkeit derselben schafft. Das Ver-
hältnis der beiden Kräfte zueinander kann sich dabei etwas ver-
schieden gestalten. Stets zwar vollzieht sich die Arbeit der Germinal-
selektion unter der fortwährenden Aufsicht der Personalselektion,
aber es sind dabei doch noch zwei Möglichkeiten gegeben. In der
Mehrzahl der Fälle arbeitet die Germinalselektion geradezu für
die Personalselektion, bietet dieser nützliche und schädliche Ab-
änderungen zur Verwendung an; innerhalb enger Grenzen aber
darf sie auch, gewissermaßen für sich selbst, bleibende Abänderungen
schaffen, freilich nur so weit, als ihre Erzeugnisse die Schwelle von
Gut und Schlecht nicht überschreiten. Nur so weit läßt die Personal-
selektion sie gewähren; ist aber diese Schwelle überschritten, so
greift jene imterstützend oder hemmend ein.
Das ist leicht verständlich. Ist die Variationsrichtung einer
Determinante oder Determinantengruppe nützlich, so wird das
Keimplasma, in dem sie auftrat, bei dem Wettbewerb der Individuen
— 238 —
untereinander gegenüber anderen Keimplasmen der gleichen Art
im Vorteil sein, die Auslese der Personen wird den Keimplasmen
mit den günstig variierenden Determinanten zur größeren Geltung
verhelfen und damit die Umwandlung im Sinne der letzteren be-
schleunigen. Dagegen werden die Träger tmgünstig variierender
Determmanten durch Personalselektion aus dem Stammbaum der
Art entfernt, und es wird damit dieser Variationsrichtung ein Ziel
gesetzt werden. So werden die entoplasmatischen Vorgänge durch
Kombination mit den Prozessen der Personalselektion in verschieden-
ster Weise reguliert, zum Besten der Art ausgenutzt und gesteigert,
oder in ihren etwaigen schädlichen Folgen eingeschränkt und auf-
gehoben werden. Solange aber die durch die Germinalselektion
bewirkten Abänderungen indifferent sind, hat die Personalselektion
keine Veranlassung einzugreifen, und die entoplasmatischen Vor-
gänge werden gemäß dem ihnen innewohnenden Beharrtmgsvermögen
ihren Fortgang nehmen, bis die inneren Verhältnisse, die Bezieh-
ungen der Determinanten untereinander, ihnen ein Halt zurufen.
Durch die inneren umwandelnden Vorgänge, die in der Ger-
minalselektion gegeben sind, erklären sich dann auch alle die Er-
scheinungen, die durch die Faktoren der Darwinschen Zuchtwahl-
lehre allein nicht erklärbar sind, und die wir oben (Abschnitt VII)
kennen lernten.
1. Da das Kräftespiel im Keimplasma fortwährend vor sich
geht, imd da für jede Determinante nur zwei Schwankungsrichtungen
bestehen, so liegt zunächst die Möglichkeit vor, daß die Anfangs-
stufen einer nützlichen Abänderung von Anfang an bei zahlreichen
Individuen auftreten, was für ihre erfolgreiche Verwertvmg durch
die Personalselektion wünschenswert, ja bei Fehlen einer Unter-
stützung durch besondere Umstände, wie Isolierung, geradezu
notwendig ist.
2. Das Beharrungsvermögen in den Vorgängen der Germinal-
selektion eröffnet dann weiterhin ein Verständnis für die Steige-
rung eines bestimmten Merkmals, wie sie im Verlaufe künst-
licher Züchtungsprozesse beobachtet und für die natürlichen dem-
nach auch vorausgesetzt wird. Die Schwanzfedern der lang-
schwänzigen Haushähne, die langen und die kiuzen, die geraden
und die krummen Schnäbel der Tauben, die Vermehrung der Schwanz-
federn bei der Pfauentaube und unzählige andere solche künstlich
— 239 —
gezüchtete Merkmale — bei denen ,, Übung" und , .Vererbung von
Übungsresultaten" ganz ausscheiden — zeigen, daß einmal vor-
handene, durch Germinalselektion entstandene Richtungen der Ab-
änderung beliebiger Teile scheinbar unbegrenzt weiter gehen, wenn
man ihnen freien Lauf läßt, indem man die Träger entgegengesetzter
Variationen von der Nachzucht ausschließt. Erst wenn die weitere
Steigerung die Harmonie der Teile dauernd und unwiderbringlich
zerstören würde, würde Naturzüchtung Halt gebietend eingreifen; —
daß aber auch dann der innere Umbildungsprozeß noch nicht be-
endet zu sein braucht, lehren jene künstlich gezüchteten Tauben-
rassen, deren Schnäbel so klein und so weich sind, daß sie die Ei-
schale nicht mehr zu sprengen vermögen und der Nachhilfe des
Züchters bedürfen. Im Naturzustand hätte eine solche Rasse sich
nicht herausbilden können; Personalselektion hätte früher oder
später den Prozeß der Germinalselektion imterbrochen und sein
Fortschreiten bis zu einem so exzessiven Grade verhindert.
3. Ganz dieselben Überlegungen lassen in der Germinalselektion
auch die Kraft erkennen, die imstande ist, ein Merkmal, das zu-
nächst zu unbedeutend ist, um Selektionswert zu haben, auch ohne
Hinzutreten von Personalselektion — und ohne daß Steigerung
diu^ch die Funktion in Betracht kommen kann — bis zum Se-
lektionswert zu steigern. Und damit ist dann
4. auch ein Verständnis der sogenannten rein morphologi-
schen Charaktere angebahnt, bei denen ein besonderer Nutzen
nicht einzusehen ist, und deren Konstanz somit durch Naturzüchttmg
nicht erklärt werden kann. Mag ihre Zahl auch gering sein, und mag
vieles als bedeutungslos gelten, was tatsächlich einen ganz bestimmten
Nutzen hat, so ist doch damit zu rechnen und auch von Weis mann
zugegeben worden, daß es Merkmale, auch konstante Artmerkmale
gibt, die ,, unter der Schwelle von Gut und Schlecht" stehen, wie
die Zahl der Blütenblätter bei Pflanzen, manche Färbimgen und
anderes. Für die Herausbildung solcher Merkmale vermittelt die
Germinalselektion ebenfalls ein Verständnis: kraft der entoplasma-
tischen Vorgänge geht die Entwicklung in einer bestimmten Richtung
weiter, auch wenn Naturzüchtung gleichgültig und teünahmslos
dabeisteht. Ganz besonders wird für die Herausbüdung von rein
morphologischen Merkmalen, wie schon erwähnt, induzierte
Germinalselektion in Frage kommen.
— 240 —
In diesen Zusammenhang gehören auch manche Merkmale
domestizierter Rassen, die den Formen selbst weder nützlich noch
schädlich sind (z. B. die gespaltene Nase bei Doggen und Möpsen).
Die Darwinsche Erklärung, daß sie auf Korrelation zu beziehen
seien, mag zutreffen, wäre aber dahin zu erläutern, daß es sich um
korrelative Abänderung von Teilchen im Keimplasma handelt, um
eine Verschiebung im ganzen Determinantengebäude, die durch
die künstliche Züchtung einzelner Charaktere angeregt war.
Vor allem aber würde ein orthogenetisches Prinzip, wie es
die Germinalselektion darstellt, ein besseres Verständnis für zahl-
reiche Erscheinungen vermitteln, die beim Menschen als Erzeug-
nisse der Kiiltiu: erscheinen: die spezifischen Talente, für Musik,
Malerei, Mathematik usw., sowie die moralischen Tugenden des
zivilisierten Menschen, vor allem die Selbstlosigkeit. Sie wären
unbeabsichtigte Nebenwirkungen der germinalen Umwandlungs-
vorgänge, die unter dem Einfluß der Kultur vor sich gehen. Daß
bei den ,, spezifischen Talenten" auch Amphimixis durch Kombi-
nation verschiedener Geistesgaben eine Rolle spielt, wurde an ariderer
Stelle besprochen (Abschnitt IV).
5. Endlich aber sieht Weismann in der Germinalselektion
auch einen Weg, der zu einem Verständnis für die Rückbildung von
Merkmalen imd für das schließliche völlige Schwinden fimktionslos
gewordener Organe führt. Das Rudimentärwerden von Organen,
die aus irgendeinem Grimde funktionslos geworden, hatte Weis-
mann, wie wir sahen, imter Ablehnung des Lamarckschen Prin-
zipes erklärt aus dem Fortfall der konservierenden Tätigkeit der
Naturzüchtung, aus der ,,Panmixie", der Erhaltung und Vermischung
aller Individuen, auch der Träger von Minusvarietäten des betreffen-
den ürganes. Indessen würde dieser Nachlaß der Personalselektion
wohl die Verschlechterung eines Organes verständlich machen,
aber nicht seine stetige Verkleinerung bis zum völligen Schwund.
Hier tritt nun die Lehre von der Germinalselektion ergänzend ein,
indem sie zeigt, daß ein Mechanismus denkbar ist, der eine der Rück-
bildung anheimgefallene Determinante in dieser Richtung festhält
bis zu ihrem völligen Schwunde, wenn nicht Natiurzüchtimg ein-
greift. Das aber ist eben bei funktionslos, wertlos gewordenen
Teilen der Fall; der Verschlechterung z. B. der Augen bei Tieren
in lichtlosen Höhlen steht die Naturzüchtung gleichgültig gegen-
— 241 —
über, und so werden auch die Minusvarietäten aller für das Auge
bestimmten Determinantengruppen fortgepflanzt, und gemäß jenem
Beharrungsvermögen werden sich die germinalcn Rückbildungs-
vorgänge an diesen Determinanten fortsetzen bis zum völligen
Schwund derselben. Und dieser Mechanismus, eine Kombination
von Germinalselektion und Panmixie, muß in gleicher Weise für
die Determinanten von aktiv und passiv funktionierenden Teilen
Geltung haben, wie für solche von Charakteren, die lediglich eine
Daseinswirkung haben (z. B. von Schutzfärbungen) ; er bietet
weiterhin auch eine Erklärung für das allmähliche Rudimentär-
werden von funktionslosen Organen bei sterilen Formen — also
in den Fällen, bei denen das Lamarcksche Prinzip der Vererbung
funktioneller Abänderungen von vornherein nicht in Frage kommen
kann. Kombination von Germinalselektion mit Panmixie wäre
somit auch für die mannigfachen Mängel des heutigen Kultur-
menschen, schlechte Zähne, Kurzsichtigkeit, Muskelschwäche, Ver-
schlechterung der Milchdrüsen u. a. verantwortlich zu machen,
und nicht minder für gewisse negative Merkmale unserer Haustiere,
wie die Zahmheit. Weismann führt diese auf Verkümmerung
von Instinkten, hier des ,, Instinktes der Wildheit", zurück.
So wäre also die letzte Wurzel aller erblichen Variation in
Schwankungen des Gleichgewichts des Determinantensystems zu
sehen, Schwankungen, deren Richtung zunächst in den meisten
Fällen durch den Zufall bestimmt ist, die aber dann, einmal ein-
geleitet, die Tendenz haben, diese Richtung fortzusetzen. Durch
sie erfolgt eine wirkliche Veränderung der Determinanten selbst,
eine Veränderung des Keimplasmas, wie sie der Umwandlung der
Formen zugrunde gelegen haben muß. In der hinzutretenden zwei-
elterlichen Fortpflanzung ist dann ein Mittel gegeben, durch das
die so veränderten Determinantengruppen zu immer neuen Kom-
binationen zusammengebracht werden. Diese wechselnden Kom-
binationen werden der Personalselektion angeboten, die als höhere
Instanz das Wirken der Germinalselektion kontrolliert. Sie wacht
darüber, begünstigt die nützlichen Varietäten, merzt die schädlichen
aus — mögen sie in exzessiven, die Harmonie des Ganzen störenden,
oder in minderwertigen Bildungen eines Teiles beruhen — und ver-
wertet so das von der Germinalselektion gelieferte Varietäten-
material im Interesse der Art. Damit aber wirkt sie auch wieder
Gaupp, Biographie Weismanns. 16
— 24- —
auf die Germinalselektion zurück und zwingt dieselbe gewissermaßen,
die günstigen Varietäten in immer höherer Steigerung hervor-
zubringen. Wo aber die Personalselektion nicht eingreift, wie gegen-
über den Minusvariationen bei funktionslosen Teilen oder gegenüber
an sich gleichgültigen Abänderungen irgendwelcher Teile, da setzen
sich die entoplasmatischen Vorgänge ungehemmt in der einmal
eingeschlagenen Richtung fort und führen dort zum völligen Schwund
ganzer Teile, hier zur Schaffung konstanter Artmerkmale, die an
sich biologisch gleichgültig sind und die somit durch Personal-
selektion nicht erklärt werden könnten. — So leistet die Germinal-
selektion einerseits eine Vorarbeit für die Personalselektion und
andererseits auch eine selbständige ergänzende Arbeit neben der-
selben .
Bedeutung der Lehre von der Germinalselektion.
Die Bedeutung, die der Aufstellung der Lehre von der
Germinalselektion zukommt, kann gar nicht hoch genug angeschlagen
werden. Schon oben (Abschnitt VI) wurde gesagt, daß mit dieser
Aufstellung im Jahre 1895 für Weismann die Epoche des allzu-
weit gehenden Glaubens an die Leistungsfähigkeit der Zuchtwahl-
lehre von Wallace und Darwin abschließt. In der Tat tritt ja
nun neben dieselbe ein ganz anderes Prinzip, welches versucht,
die Umwandlung der Formen in ihrer letzten Wurzel zu begreifen.
Von der Zuchtwahl, die mit gegebenen individuellen Abänderungen
arbeitet und sie summiert, richtet sich jetzt der Blick auf die Kraft,
die diese Abänderungen zuerst schafft, in klarer Erkenntnis, daß
sie die wichtigere ist, und daß ohne sie eine Zuchtwahl überhaupt
unmöglich ist. ,,Alle Abänderungen müssen innere Ursachen haben,
und ihr Verlauf muß von gesetzmäßig wirkenden Kräften geleitet
werden ^^) . Diese Tatsache an sich : die Verlegung des Schwerpunktes
der ganzen Betrachtung von der causa summandi, wie Roux
sagt, auf die wirkliche causa efficiens, auf die eigentliche Bildungs-
kraft, die die Abänderungen schafft, und deren Erzeugnisse sich
innerhalb gewisser Grenzen sogar unbeeinflußt von Selektions-
prozessen halten können, muß unterschieden werden von der be-
sonderen Vorstellung, die sich Weis mann über das Zustande-
kommen dieser Kraft gebildet hat. Letztere ist vielfach angegriffen,
als zu roh, zu grob bezeichnet worden. Sei dem, wie ihm wolle;
— 243 —
jedenfalls wird eins zugegeben werden müssen: daß nämlich die
Lehre von der Germinalselektion sich folgerichtig an die Determi-
nantentheorie anschließt und nicht bloß äußerhch deren Schluß-
stein bildet. Sie ist durchaus aus derselben hervorgewachsen, ge-
hört ihrem ganzen Gedankengange nach so mit ihr zusammen,
daß man fast die Behauptung wagen möchte: wenn Weis mann
sie nicht selbst aufgestellt hätte, so hätte das von anderer Seite
geschehen müssen. Wenn überhaupt Determinanten vorhanden
sind und das Wesen aller Teile bestimmen, so müssen auch Verände-
rungen dieser Determinanten die letzte Quelle aller erblichen Va-
riation sein, — und die Vorstellung über das Zustandekommen
dieser Determinantenabänderungen ist ja nur eine Übertragung
der für die großen Lebenseinheiten gültigen Gesetze auf die kleinsten.
Die Lehre von der Germinalselektion bedeutet aber auch
ihrer Tendenz nach nur zu einem Teil etwas ganz Neues, zu einem
anderen lediglich einen Versuch, Erscheinungen, die Weismann
schon von Anfang an als zu Recht bestehend anerkannt hatte,
theoretisch, und zwar vom Standpunkt der Determinantentheorie
aus, zu fassen und zu verstehen. Denn damals schon, 1868 und in
den siebziger Jahren, hat ja Weismann sich von der Zufallstheorie
Darwins entfernt, indem er immer wieder betont, daß die Va-
riationen nicht richtungs- und regellos, sondern beschränkt, an
bestimmte Richtungen gebunden sind, daß aber diese bestimmt
gerichtete Variabilität nicht der Ausdruck einer der lebenden Sub-
stanz innewohnenden Entwicklungskraft ist, sondern in der ,, phy-
sischen Natur" der Organismen, d. h. in ihrer gegebenen Konsti-
tution und der davon abhängigen besonderen Variations-
fähigkeit, ihren Grund hat. Diese ,, physische Natur" wird jetzt
schärfer gefaßt als ,, Determinantenkomplex des Keimplasmas",
dessen einzelne Determinanten eine bestimmte historisch gewordene
Zusammensetzung besitzen und eben dadurch in ihren Variations-
möglichkeiten beschränkt sind. Auch in bezug auf die Frage nach
den Faktoren, die den Anstoß zu der Veränderung der ,, physischen
Natur", d. h. des Determinantenkomplexes geben, weicht die neue
Vorstellung weniger rein theoretisch, als sozusagen mehr praktisch
von der früheren ab. Von jeher (s. oben, S. 190) sah Weismann
diesen Anstoß nicht in einer der lebenden Substanz immanenten,
vorwärts drängenden Entwicklungskraft, sondern in ,, äußeren Ein-
16*
— 244 —
Aussen", wobei dieser Begriff allerdings ganz bestimmt gefaßt war
und die natürliche Umgebung des Gesamtorganismus
bedeutete. In der Lehre von der Germinalselektion erhält er eine
andere Fassung: die „äußeren Einflüsse" sind jetzt zunächst die,
die die kleinsten Teilchen, die Determinanten treffen, ausgelöst
durch die Ernährungsverhältnisse innerhalb des Keimplasmas.
Sie sind in ihrer Bedingtheit einstweilen nicht weiter zu bestimmen,
höchstens nach der negativen Seite: traumatische und funktionelle
Veränderungen des Soma kommen dafür nicht, und die direkten
Einflüsse der äußeren Umgebung des Gesamtorganismus nur in
beschränktem Umfangein Betracht . Darin liegt also ein Unter-
schied gegenüber der früheren Auffassung, die gerade die direkte
Wirkung der äußeren Einflüsse auf den Gesamtorganismus als
wichtigsten umwandelnden Faktor annahm. Der Anstoß zur Um-
wandlung wird jetzt vor allem in den Organismus, ja in das Keim-
plasma verlegt, ohne daß aber damit der lebenden Substanz selbst
— die hier durch die Determinanten und Biophoren repräsentiert
wird — der innere Trieb zur gesetzmäßigen Weiterveränderung
zuerkannt würde. Nur die Möglichkeit zur Umwandlung wird
ihr nach wie vor zugesprochen, die Fähigkeit, auf Veränderungen
der äußeren Bedingungen zu reagieren.
Neu hinzugekommen ist aber die Vorstellung, daß einmal
eingeleitete Variationen sich in gleichem Sinne fortzusetzen
streben, daß also auch bei gleich bleibenden Bedingungen der Um-
welt die im Organismus sich abspielenden Vorgänge wirksam sind
imd eine einmal begonnene Umwandlung weiter zu führen und
zu steigern vermögen. Theorien, die in dieser Richtung sich bewegen,
d. h. die Entwicklung in bestimmten vorgezeichneten Bahnen aus
inneren Kräften heraus sich vollziehen lassen, werden, wie schon
gesagt, als ,,orthogenetische" bezeichnet und vielfach in ver-
schiedenen Formen vertreten (besonders von Eimer, aber auch von
paläontologischer Seite); Weis mann hat sich früher ablehnend
gegen sie verhalten, mit der Aufstellung der Germinalselektion
aber doch auch ein orthogenetisches Element bei der Umbildung
der Formen anerkannt, freilich in engster Verbindung und Wechsel-
wirkung mit der natürlichen Zuchtwahl im Sinne von Darwin
und Wallace. Die Entfernung von Dar wins reiner „Zufallstheorie"
aber hat damit nur noch zugenommen.
— 245 —
Indessen auch darin liegt noch nicht die Anerkennung einer
gesetzmäßig vorwärts drängenden phyletischen Entwicklungskraft,
wie Nägeli sie annahm, vielmehr erfährt jenes Fortschreiten der
Variation eine Erklärung und Begründung durch Grundeigenschaften
der lebenden Substanz: Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung,
die auch für die kleinsten Lebenseinheiten, die Biophoren und
Determinanten, vorausgesetzt werden. Und so basiert letzten Endes
die Lehre von der Germinalselektion auf physiologischen Vor-
stellungen, auf der Überzeugung, daß auch die kleinsten Bestand-
teile des Keimplasmas, die Träger der Vererbungstendenzen, lebende
Wesen sind. Indem sie dabei bis auf die molekulare Zusammen-
setzung der Determinanten zurückgeht, deutet sie zugleich, wenn
auch nur in blassen Strichen, den Versuch an, die unendliche Fülle
qualitativer Verschiedenheit in der organischen Welt letzten Endes
auf quantitative Veränderungen zurückzuführen.
Auf der konsequenten Durchführung dieses physiologischen
Gedankens beruht denn auch ein Gegensatz der neuen Auffassung
gegenüber der älteren, auf den auch noch kurz hingewiesen sei.
Wenn in den früheren Schriften Weismanns von einem direkt
verändernden Einfluß der äußeren Bedingungen, z. B. des Klimas,
auf das Soma oder auf dieses und zugleich auf die Keimzellen
(,, Parallelinduktion", s. S. 103) die Rede ist, so ist das wohl
so gemeint, daß durch die fraglichen Einwirkungen die lebende
Substanz direkt in bestimmter Weise — in ihrer molekularen Zu-
sammensetzung — verändert wird. Die Ergebnisse der Schmetter-
lingsexperimente, die zunächst für eine Vererbung von direkten
Mediumeinwirkungen zu sprechen schienen, wurden, wie wir sahen,
später von Weismann dahin gedeutet, daß der abändernde Ein-
fluß, hier die Temperatur, in jedem Individuum zugleich die Flügel-
anlage, also einen Teil des Somas, und das Keimplasma der in dem
Tier enthaltenen Keimzellen trifft. ,,In der Flügelanlage verändert
er dieselben Determinanten, wie in den Keimzellen, nämlich
diejenigen der betreffenden Flügelschuppen." Die Lehre von der
Germinalselektion deutet das nun dahin, daß die abnorme Tempe-
ratur nicht etwa direkt eine Veränderung in der Konstitution der
Determinanten oder ihrer Biophoren zur Folge hat, sondern zunächst
nur eine solche der Ernährungsverhältnisse (der Qualität der die
Determinanten ernährenden Säfte), die dann ihrerseits erst wieder
— 246 —
den Wettbewerb unter den kleinsten Einheiten der lebenden Sub-
stanz anfachen und damit deren Veränderung einleiten. So wäre
jetzt, streng genommen, von einem ,, direkt verändernden Einfluß"
der äußeren Bedingungen auf die lebende Substanz überhaupt nicht
mehr zu reden; dieser Einfluß würde stets erst vermittelt durch
die entstandenen Veränderungen der Ernährungs Verhältnisse. Auch
die Biophoren unterliegen nicht passiv, wie anorganische, chemische
Körper dem umwandelnden Einfluß der äußeren Bedingungen,
sondern reagieren nur als Lebewesen auf die Veränderungen, die
durch die letzteren geschaffen werden. Mit dieser feineren Analyse
der Mediumwirkungen ist Weismann in merkwürdiger Weise
wenigstens in diesem einen Punkte zu engerer Annäherung an den
von ihm am meisten befehdeten Deszendenztheoretiker, Lamarck,
gelangt: auch dieser lehnte den Gedanken an eine direkte Ab-
änderung der tierischen Organisation durch die äußeren Verhält-
nisse ab und ließ dieselbe nur durch Vermittlung eines anderen
Faktors vor sich gehen. Freilich ist dieser Faktor ein anderer als
bei Weis mann: Annahme neuer Gewohnheiten bei Lamarck,
Entfachung des Determinantenkampfes bei Weis mann.
So ergänzt die Lehre von der Germinalselektion die Determi-
nantentheorie. Diese gab anfangs nur eine ,, Morphologie des
Keimplasmas", eine Vorstellung von seiner Zusammensetzung;
die Germinalselektion versucht über die Lebenserscheinungen der
Determinanten Vorstellungen zu gewinnen, sie gibt gewissermaßen
eine ,, Physiologie des Keimplasmas" und sieht in den elemen-
taren Lebenserscheinungen der Determinanten die Ursache der
Veränderungen der Organismen. Wichtiger als diese Vorstellung
ist die von den Faktoren, die jene Lebenserscheinungen beeinflussen
und stören. Hier liegt wohl der Hauptangriffspunkt der Theorie.
Denn bei weitem die größte Bedeutimg für die Störung des Gleich-
gewichtes innerhalb des Determinantenkomplexes wird ja den
,, zufälligen Ernährungsschwankungen" innerhalb des Keimplasmas
zugeschrieben, und es ist schwer, dem Zufall bei der Umbildung
der Organismen so viel Macht einzruäumen und seine Regulierung,
seine zweckmäßige Verwertung ganz der nachfolgenden Fersonal-
selektion zu überlassen. Aber Zufall ist ein ganz relativer Begriff;
die Ernährungsschwankungen im Id mögen für dieses einen Zu-
fall bedeuten, an sich werden sie in jedem Einzelfalle mit unerbitt-
— 247 —
lieber Logik aus bestimmten bedingenden Ursachen folgen. Und
damit ist auch dem Gedanken Raum gelassen, daß jene „zufälligen"
Ernährungsschwankungen letzten Endes doch in den Einwirkungen
der Umwelt oder in funktionellen Veränderungen des Organismus
ihren Grund haben könnten 5^). So bietet nicht nur die Determi-
nantenlehre an sich eine Möghchkeit, ja eine Voraussetzung für die
erbliche Übertragung „erworbener" Eigenschaften, wie das schon
Plate betont, sondern auch die Auffassung von den Lebenserschei-
nungen der Determinanten, wie Weismann sie in der ,,Germinal-
selektion" entwickelt, würden für jene Annahme eine brauchbare
theoretische Grundlage abgehen.
Bei der Leitung endlich der phyletischen Entwicklung
stellt sich die Germinalselektion als mindestens gleichwertige Kraft
neben die Personalselektion, die Zuchtwahl im Sinne von Darwin
und Wallace. Die inneren Kämpfe um die Nahrung, die sich im
Keimplasma abspielen, stellen eine innere Triebkraft dar, frei-
lich nicht in dem Sinne, daß darin eine die Entwicklung der gesamten
Organismenwelt in bestimmte Bahnen lenkende Kraft zum Aus-
druck käme, aber doch eine Triebkraft, die für die einzelnen Determi-
nanten die Richtung bestimmt. Dadurch aber, und da sie immer
in einem bestimmten, gegebenen Keimplasma wirksam ist, gewinnt
sie allerdings auch einen gewissen Einfluß auf die Gesamtentwicklung.
Nicht jedes Keimplasma kann jede beliebige Variation liefern;
sein Determinantengehalt bedingt es, welche möglich und welche
unmöglich ist. Darin aber liegt eine Beschränkung für die Tätig-
keit der Naturzüchtung, und bis zu einem geringen Betrag auch
eine steuernde, richtungsbestimmende Kraft der inneren Trieb-
feder, der Germinalselektion. Die Variationen sind nicht, wie
Darwin meinte, von Hause aus zufällig und richtungslos und durch
Naturzüchtung nur steigerungsfähig, sondern die Naturzüchtung
findet schon Variationsrichtungen vor, die auch aus inneren
Gründen sich zu steigern streben und von der Naturzüchtung dabei
nur unterstützt oder gehemmt werden können. Ja, gegenüber den
Determinantenvariationen, die unter dem direkten zwingenden
Einfluß veränderter äußerer Bedingungen auftreten, kann die
Naturzüchtung unter Umständen sogar machtlos sein, d. h. außer-
stande, jene Wirkungen zu neutralisieren. Damit ist die Wirkungs-
sphäre der ,, Naturzüchtung" — im alten eigentlichen Sinne — ein-
— 248 —
geschränkt. Die Lehre von der Germinalselektion trägt den vielen
Erscheinungen Rechnung, die darauf hinweisen, daß bei den Ver-
änderungen der Organismen einmal eingeschlagene Richtungen
auch ohne Zutun der Personalselektion, aus inneren Kräften heraus,
beibehalten werden.
Erweiterung der Machtsphäre des Selektionsprinzips durch die
Lehre von der Germinalselektion.
So ist mit der Aufstellung der Lehre von der Germinalselektion
anerkannt, daß die Vorgänge der Naturzüchtung, im Sinne von
Darwin und Wallace, in mancher Hinsicht in ihrer Wirkung be-
schränkt sind. Dem allgemeinen Prinzip aber, das in der alten
Zuchtwahllehre zur Geltung kam, dem Selektionsprinzip an
sich, ist dadurch eine bedeutend erweiterte Machtsphäre zugewiesen
worden. Freilich ist zu beachten, daß, wenn auch der von Weis-
mann selbst gewählte Name ,, Germinalselektion" den Schwer-
punkt auf die Ähnlichkeit der so bezeichneten Vorgänge mit denen
der Personalselektion legt, diese Ähnlichkeit nicht ganz vollständig
ist. Denn es wird ja, nach der Theorie, der erste Anstoß zur
Störung des Gleichgewichtszustandes innerhalb des Keimplasmas
durch äußere Beeinflussung (ungleiche Ernährung) der Determinanten
gegeben und es werden dadurch überhaupt erst die Ungleichheiten
in der aktiven Assimilationsfähigkeit der Determinanten geschaffen,
auf Grund deren sich Selektionsprozesse anbahnen können. Außer-
dem mag noch besonders darauf hingewiesen werden, daß es sich
bei den Vorgängen der Germinalselektion um Kämpfe zwischen
den verschiedenen Determinanten, also ganz ungleichartigen Ge-
bilden handelt, während bei dem Begriff ,, Personalselektion" ge-
wöhnlich zuerst an die Vorgänge gedacht wird, die sich zwischen
den Variationen der Individuen einer Art, also gleichartigen Lebe-
wesen abspielen und dadurch die dauerfähigsten dieser Variationen
züchten. Freilich ist gleich hinzuzufügen, daß Darwin selbst den
Begriff des ,, Kampf es ums Dasein" in ganz weitem Sinne genommen
hat, nicht nur als Konkurrenz gleichartiger Individuen, und daß
auch der Kampf verschiedenartiger Individuen Selektionsprozesse
einleiten kann.
Mit der Aufstellung der Lehre von der Germinalselektion
hat Weis mann das Selektionsprinzip auf einem neuen weiteren
— 24Q —
Gebiet zur Anwendung gebracht. Ein anderer Forscher, Wilhelm
Roux, war ihm darin vorangegangen, hatte die Lehre vom Daseins-
kampfe auf alle Teile des Organismus übertragen, hatte insbesondere
aus dem Kampf gleichartiger Teile (der Zellen desselben Gewebes,
der Teilchen innerhalb der Zelle) um Nahrung, Raum und den funk-
tionellen Reiz die Züchtung der Gewebsqualitäten abgeleitet,
auf deren Grundlage dann im Individuum die einzelnen funktionellen
Anpassungen zustande kommen. Weis mann ergriff diesen Ge-
danken der Histonal- oder Gewebeauslese, wie er selbst
die berührten Vorgänge nannte, mit freudiger Zustimmung, frei-
hch, wie wir sahen, mit dem Vorbehalt, daß er den Resultaten
dieser Ausleseprozesse, den Wirkungen des Gebrauches und Nicht-
gebrauches, nur für das Individuum selbst eine Bedeutung zuer-
kannte, ihre Vererbbarkeit und damit eine Bedeutung für die Um-
bildung der Formen aber leugnete. Dagegen erweiterte er selbst die
Machtsphäre des Selektionsprinzipes aufs neue, indem er ihm auch
die Vorgänge innerhalb des Keimplasmas unterordnete, es als Ger-
minalselektion das Schicksal der kleinsten hypothetischen Lebens-
einheiten beherrschen läßt. Und gerade diesen Ausleseprozessen
auf dem kleinsten Gebiete, unter den kleinsten Lebenseinheiten,
schreibt er die allergrößten Wirkungen zu: auf ihnen beruht alle
Variation, beruht letzten Endes die ganze Entwicklungsfähigkeit
der organischen Welt.
Die verschiedenen Formen der Auslese.
So wird das Selektionsprinzip zu dem großen allgemeinen
Bildungsprinzip, das überall im Reiche des Organischen Geltung
hat. Unter den Lebenseinheiten aller Stufen, den größten wie den
kleinsten, herrschen dieselben Gesetze des Kampfes ums Dasein,
des Kampfes um Nahrung und Vermehrung; auf ihnen beruht aller
Fortschritt. Man müßte, streng genommen, so viel Arten von Se-
lektionsprozessen unterscheiden, als es Kategorien von Lebens-
einheiten gibt ; entsprechend den Hauptstufen und Hauptbedingungen
der Lebenseinheiten schlägt Weis mann vor, deren vier auseinander
zuhalten: Germinalselektion, Histonalselektion, Personal-
selektion und Kormalselektion. Letztere bedeutet den Aus-
leseprozeß, der die Anpassung der Tier- und Pflanzenstöcke (Kormen)
bewirkt und der auf dem Kampf der Stöcke untereinander beruht.
— -250 —
Unter solcher Erweiterung der Selektionslehre bekennt sich
Weis mann auch noch in der letzten Auflage seiner „Vorträge"
zu dem Ausspruch, — der allerdings früher eine andere Bedeutung
hatte — : es beruht alles auf Anpassung, und alles wird geregelt
durch Selektionsprozesse. Und nur wenn das Wort ,, Naturzüchtung"
in ganz allgemeinem Sinne genommen, und darunter überhaupt
nur das Wirken natürlicher Ausleseprozesse unter den Lebensein-
heiten aller Stufen verstanden wird, würde es auch jetzt noch
berechtigt sein. Weis mann als Vertreter der ,, Allmacht der Natur-
züchtung" zu bezeichnen — eine Bezeichnung, mit der auch heute
noch vielfach die alte Bedeutung verbunden wird, die ihr seit Auf-
stellung der Germinalselektion, also seit mehr als 20 Jahren, nicht
mehr zukommt.
Neunter Abschnitt.
Entwicklung des Organismenreiches. Schluß.
Variabilität, Vererbung, Auslese — das sind die drei großen
Fragen, die von Weismann besonders behandelt worden sind;
wir wissen, es sind die drei Fundamente, auf denen die Darwinsche
Abstammungslehre beruht, die drei Faktoren, die Darwin ganz
besonders für die Umbildung der Formen und ihre Anpassung an
die Lebensbedingungen in Anspruch genommen hatte. Von der
Überzeugung, daß eine historische Entwicklung der Formen aus-
einander unter gleichzeitiger Umbildung stattgefunden hat, war
Weis mann ausgegangen, an sie knüpfte er seine Fragestellungen
an, zu ihr kehrte er nach allen Streifzügen wieder zurück. Für den
Deszendenzgedanken einzutreten ist er nicht müde geworden;
auch seine Theorie der Vererbung und Ontogenese, die ,, Keimplasma-
theorie", entwickelte er in stetem Hinblick auf die großen Gesichts-
punkte der Phylogenese, als eine Teilfrage der Deszendenzlehre.
Nach seiner Stellungnahme zu diesen Fragen lassen sich un-
schwer drei Perioden unterscheiden. Die erste reicht bis zum
Anfang der achtziger Jahre und ist gekennzeichnet dadurch, daß
Weismann hier noch im wesentlichen auf altem Darwinistischen
Standpunkt steht, also neben der Naturzüchtung auch die Ver-
erbung erworbener Eigenschaften gelten läßt. Personalselektion
und Lamarekismus ist ihr Leitsatz. Eine Abweichung von der
Darwinschen Auffassung bahnt sich aber bereits an: die Erkenntnis,
daß die Variationen, auf denen die Umbildung der Arten beruht,
nicht richtungs- und regellos sind, sondern durch die ,, physische
Natur" der Organismen eine Beschränkung und eine Lenkung
— 252 —
in bestimmter Richtung erfahren. Die genauere Beschäftigung
mit dem Vererbungsproblem führt dann im Anfang der achtziger
Jahre zu der bestimmten Überzeugung, daß Verletzungen, Ver-
stümmelungen und funktionelle Veränderungen nicht vererbt
werden, und damit zu einer bestimmten Ablehnung des Lamarckis-
mus. Die berühmte Rede über die Vererbung, von 1883, stellte
weithin sichtbar diesen Grundsatz auf und eröffnet damit die
zweite Periode, die bis zur Mitte der neunziger Jahre reicht.
Es ist die arbeitsfreudigste: die Ausarbeitung der Lehre von der
Kontinuität des Keimplasmas und von der Zusammensetzung
desselben aus Determinanten, die theoretische Verknüpfung der
Vererbungs-, Befruchtungs-, Fortpflanzungserscheinungen mit den
Ergebnissen der zu gewaltigem Aufschwung gelangenden zyto-
logischen Forschung vollzieht sich in ihr, vor allem aber ist sie ge-
kennzeichnet durch den Kampf für die Zuchtwahllehre von Wallace
und Darwin, durch den stets erneuten Versuch, die stammes-
geschichtliche Entwicklung des Organismenreiches nunmehr, nach
Verabschiedung des Lamarckschen Prinzipes, allein mit Hilfe der
Faktoren der Zuchtwahllehre: Variabihtät, Vererbung der blasto-
genen Abänderungen, Personalauslese im Kampfe ums Dasein,
zu erklären. An die Stelle der alten Annahme: ,, Personalauslese
und Lamarekismus" ist nun die Frage getreten: ,, Personalauslese
oder Lamarekismus?" — mit der Antwort: nur Personalauslese.
Das starke Wort von der ,, Allmacht der Naturzüchtung" drückt
den Überschwang persönlicher Hingabe aus, mit der Weis mann
in dieser Zeit für die Zuchtwahllehre und gegen ihre Angreifer ein-
trat. Aber dieser Kampf führte ihn auch selbst dahin, der Erschei-
nung, auf der alle Zuchtwahl beruht, dem Auftreten individueller
Varietäten, größere Beachtung zu schenken und in ihm das Wirken
eines Prinzips zu erkennen, das bis zu einem gewissen Grade auch
unabhängig von dem Eingreifen der Auslese bleibende Umgestal-
tungen schafft. Wo Auslese stattfinden soll, muß Auslese material
in Form individueller Verschiedenheiten vorhanden sein; der Per-
sonalauslese muß eine andere Kraft vorarbeiten, die eigentliche
Umbildungskraft, die j ene Verschiedenheiten schafft , und manche
Tatsachen zwangen dazu, ihr eine gewisse Selbständigkeit, oder
richtiger : eigene Arbeitsregeln zuzusprechen. So trat, gewissermaßen
an die Stelle des aufgegebenen Lamarckschen Umwandlungs-
— 253 —
prinzipes, ein anderes, orthogenetisches, die Germinalselektion;
ihre Aufstellung im Jahre 1895 beginnt eine dritte Periode in
Weismanns deszendenztheoretischen Anschauungen, mit der De-
vise: Germinalselektion und Personalselektion. Mit der
Aufstellung dieses neuen Prinzipes ist die Lücke ausgefüllt, die
bisher in jenen Anschauungen bestanden hatte, ist die elementare
gestaltende Urkraft, die als notwendig vorauszusetzen ist, genauer
festgelegt und analysiert. Diese Kraft wird in den Organismus ver-
legt und hergeleitet aus dem Kräftespiel der kleinsten lebenden
Teilchen innerhalb des Keimplasmas, einem Kräftespiel, das in
seinen Ursachen zurückgeführt wird zum kleineren Teil auf die
Einwirkungen der Umwelt, die den Organismus umgibt, zum
größeren Teil auf Einflüsse, die innerhalb des Organismus selbst
entstehen und die vom Zufall bedingt werden. Nicht ein besonderes
vitalistisches Prinzip wird damit aufgestellt, sondern es werden
nur Erscheinungen, die an den großen Lebensprozessen unmittel-
bar zu beobachten sind, auf die kleinsten, unsichtbaren übertragen :
es ist der allgemeine Kampf um die Nahrung, um das Recht auf
Wachstum und Vermehrung, der jene umbildende Kraft zustande
bringt. Das Selektionsprinzip ist aus dem Gebiet, auf dem es auf-
gestellt worden war, dem der Personen, herausgeführt und auf die
kleinsten Lebenseinheiten übertragen. Nach der in dieser letzten
Periode vertretenen Anschauung Weismanns wirken somit zur
Umbildung der Lebewesen vor allem drei Faktoren zusammen:
I. eine innere Bildungskraft, ausgelöst durch im Innern des Keim-
plasmas sich abspielende Vorgänge: die Germinalselektion,
das eigentliche Gestaltungsprinzip, von dem auch die Erscheinungen
der Korrelation beherrscht werden; 2. die Amphimixis mit den
vorbereitenden Reifungsvorgängen, die fortwährende Kreuzung,
Umkombinierung der Anlagen; 3. die Personalselektion in den
beiden Formen der natürlichen und der sexuellen Zuchtwahl. Nach
wie vor wird ihr eine hohe Bedeutung zugesprochen; von einer
,, Allmacht der Naturzüchtimg" kann aber nicht mehr geredet
werden, wofern wenigstens der Begriff ,, Naturzüchtung" in seiner
ursprünghchen Bedeutung genommen wird. Statt ihrer tritt das
innere Bildungsprinzip der Germinalselektion in den Vordergrund.
Die Entwicklung des Organismenreiches gestaltet sich für
Weismann nun etwa in folgender Weise. Als logische Notwendig-
- 254 —
keit fordert er die Annahme einer Urzeugung; wie alles Lebendige
als Organisches völlig vernichtet und in anorganische Körper ver-
wandelt werden kann, so muß es auch einmal aus anorganischer
Substanz entstanden sein. Weismann bekennt sich damit, und
hat sich stets bekannt, zu einer ,, materialistischen" Naturauffassung,
die auch zwischen der organischen und der anorganischen Welt
keine wirkliche unüberbrückbare Kluft gelten läßt und die Lebens-
erscheinungen letzten Endes auf chemisch-physikalische Prozesse
zurückführt. Vitalistische Bestrebungen, die Annahme einer be-
sonderen ,, Lebenskraft", hat er stets abgelehnt^"). — Weit unter
der Grenze des Sichtbaren, uns unerkannt und ewig unerkennbar,
müssen die ersten einfachsten Lebenseinheiten gedacht werden,
die irgendwo und zu irgendeiner Zeit einmal durch den Zusammen-
tritt bestimmter chemischer Moleküle sich gebildet haben.
,,Die" ersten Lebenseinheiten, — denn es ist anzunehmen,
daß nicht ein Urorganismus, sondern deren zahlreiche durch
Urzeugung entstanden, die auch schon von vornherein nicht als
absolut gleich gedacht werden können, da die Umstände, unter
welchen sie ins Leben treten, nicht absolut identisch gewesen sein
können. Mit den ersten Lebewesen war zugleich der erste Grund
für die Verschiedenheiten der Organismen gegeben; unter den
Verschiedenartigkeiten der äußeren Bedingungen, unter die die
Nachkommen jener Urorganismen gerieten, mußten sich jene ersten
Verschiedenheiten nur immer weiter steigern. Die Vielgestaltigkeit
der Organismen begann schon mit der Entstehung der ersten Or-
ganismen selbst, die als Biophoriden ein selbständiges Dasein
führten. Und diese waren nicht nur von vornherein schon ver-
schieden, sondern sie erhielten auch schon bei ihrer Entstehung
die Fähigkeit mit, veränderten äußeren Einflüssen nachgeben zu
können, auch weiterhin variabel zu sein. Anhäufung von Biophoriden
führte nunmehr zur Bildung von Biophoriden kolonien, in denen
dann nach dem Prinzip der Arbeitsteilung eine Differenzierung
eintrat, wodurch die einzelne Biophoride ihre Bedeutung als selb-
ständiges Wesen aufgab, als Biophore zu einem bestimmt diffe-
renzierten Teil einer höheren Einheit wurde. Die hypothetische
kernlose Monere Haeckels repräsentiert diesen Zustand einer
Biophorenkolonie. Ihrem gleichförmigen Körper müssen wir noch
die Fähigkeit zusprechen, durch direkte Wirkung äußerer
— 255 —
Einflüsse verändert zu werden und diese Veränderungen auf die
durch Teilung entstehenden Nachkommen zu übertragen.
Mit der Differenzierung verschiedener Arten von Biophoren
innerhalb des Komplexes geht die ursprüngliche Gleichförmigkeit
desselben verloren, und nun erhebt sich auch das Lebewesen auf
die nächste Stufe der Vervollkommnung durch Bildung eines Kernes,
er charakterisiert die Zelle. In dem Kern aber ist ein Reserve-
depot von Biophoren all der verschiedenen Differenzierungen zu
sehen, dazu bestimmt, daß aus ihm bei der Teilung des einzelligen
Wesens den beiden Teilungshälften die Biophorenkomplexe zur
Erzeugung der Teile mitgegeben werden, die auf dem Wege der
einfachen mechanischen Teilung des Körpers, wegen zu bedeutender
Differenzierung desselben, ihnen nicht überliefert werden können.
Jene Reservebiophoren stellen also Anlagen gewisser Teile dar;
sie sind gruppenweise zu besonderen Anlagestücken oder Deter-
minanten vereinigt, die ihrerseits wieder die Chromosomen des
Kernes zusammensetzen. Die Chromosomen stellen die Anlagen-
träger dar.
Die Bildung des Kernes bedeutet die erste Sonderung einer
Körper- und einer Keim- oder Anlagensubstanz, und damit einen
sehr wichtigen Schritt auf dem Wege der Vervollkommnung der
Organisation. An die im Kern zusammengedrängte Keimsubstanz
(das Keimplasma) sind von jetzt ab die Vererbungserscheinungen
geknüpft.
An die Einzelligen schließen sich die Kolonien von solchen
an, und zwar zunächst solche, in denen die einzelnen ZelHndividuen
noch gleichartig sind, und ein jedes durch mehrfache Teilung wieder
eine ganze Kolonie erzeugen kann (homoplastide Kolonien), und
dann — der nächste bedeutungsvolle Schritt — solche, in denen eine
Differenzierung der Individuen stattgefunden hat in Körper- und
Geschlechtszellen (heteroplastide Kolonien). Nunmehr besitzen
nur noch die Geschlechtszellen die Fähigkeit, die ganze Kolonie
neu zu erzeugen, nur sie enthalten in ihren Kernen das dazu nötige,
aus sämtlichen Determinanten zusammengesetzte Keimplasma
und geben dies auf die folgenden Generationen weiter, so eine
Kontinuität des Keimplasmas herstellend und selbst eine
potentielle Unsterblichkeit bewahrend, wie sie die Einzelligen be-
saßen. Die Körperzellen dagegen übernahmen mannigfache andere
— 256 —
Funktionen, sie werden dementsprechend auch morphologisch
differenziert und bewahren auch in ihren Kernen nur noch ein
spezifisches Idioplasma, das ledighch noch für ihre, der Körper-
zellen, charakteristischen Merkmale die nötigen Reservedetermi-
nanten enthält und zugleich in seiner Reproduktionskraft beschränkt
ist, d. h. nur für eine beschränkte Anzahl von Zellfolgen ausreicht.
Damit ist für die Körperzellen eine neue Eigenschaft eingeführt,
die den Lebewesen von vornherein nicht zukam: sie unterliegen
dem Tode, werden sterblich.
Das Prinzip der Arbeitsteilung waltet auch bei der Erreichung
der nächsten Stufe: der Herausbildung der vielzelligen Or-
ganismen aus den Kolonien, und bei der Entfaltung derselben
zu immer höheren, komplizierter gebauten, in unendlicher Form-
mannigfaltigkeit auseinandergehenden Organismen.
Frühzeitig wohl wurde aber noch eine andere Einrichtung
eingeführt, die den Nachteil der weitgehenden Differenzierung in
etwas milderte: die Regenerationsfähigkeit, geknüpft an ge-
ringe Mengen von Reservekeimplasma, das gewissen Körperzellen
je nach Bedarf noch neben ihrem spezifischen Idioplasma mitgegeben
wurde und sie in den Stand setzte, nötigenfalls nicht nur ihresgleichen,
sondern ganze Körperteile, ja den ganzen Organismus zu regenerieren.
Die Voraussetzungen, unter denen sich alle diese Umwand-
lungen vollziehen, ändern sich nach Weis mann scher Auffassung
von dem Augenblick an, wo ein Kern und damit die erste Sonderung
einer Keim- und einer Körpersubstanz auftritt. Während vorher,
bei den kernlosen Lebensformen, damit gerechnet werden konnte,
daß alle Veränderungen des ganzen Lebewesens sich auch unmittel-
bar auf die Nachkommen übertragen, also erblich sind, ist von diesem
Augenblick an jede erbliche Übertragung durchaus an die Keim-
substanz geknüpft. Diese allein bestimmt durch ihre Zusammen-
setzung das Wesen des Nachkommen; eine Veränderung des
Keimplasmas bedingt, daß das unter seiner Herrschaft und Leitung
entstehende Soma ebenfalls eine Veränderung gegenüber der früheren
Generation aufweist. Somit setzt nunmehr auch jede erbliche
Variation und damit alle dauernde Umbildung der Formen eine
primäre Veränderung des Keimplasmas voraus. Solche primären
Veränderungen des Keimplasmas waren die Ursache für die mannig-
fachen Differenzierungen der Einzelligen, sie bedingten, daß aus
— 257 —
Einzelligen die homoplastiden, und aus diesen die heteroplastiden
Zellkolonien entstanden, sie waren endlich die Ursache für die
Weiterbildung der heteroplastiden Kolonien zu vielzelligen Or-
ganismen und für die Ausbildung der letzteren in unendlicher
Mannigfaltigkeit ,
Mit den Voraussetzungen für die Umbildungen ändern sich
von dem Auftreten eines Kernes an, aber auch Art und Weise
ihres Zustandekommens sowie ihre Ursachen. Jene Um-
wandlungen vollziehen sich nicht nach einem bestimmten, von vorn-
herein festgelegten Schöpfungsplan, auch nicht auf Grund eines
der lebenden Substanz innewohnenden Entwicklungstriebes, sondern,
ganz allgemein gesprochen, im engsten Anschluß an die äußeren
Bedingungen, unter denen sich die einer erblichen Veränderung
fähigen elementaren Lebenseinheiten befinden. Bei den niedersten
kernlosen Lebensformen fallen diese Bedingungen zusammen mit
denen, unter denen sich das Lebewesen selbst befindet. Der Einfluß
der äußeren Bedingungen vermag auf sie unmittelbar umgestaltend
zu wirken, und die so bewirkten Veränderungen übertragen sich
unmittelbar auf die Nachkommen, so kommt er zugleich als die
Wurzel dauernder Umgestaltung der Formen in Betracht. Das
ändert sich aber mit dem Augenblick, wo die für die Anbahnung
erblicher Veränderungen maßgebende Substanz sich als Keim-
plasma konzentriert und sich in das Innere eines Soma zurück-
zieht. Wie konnte nun überhaupt eine Veränderung dieser Keim-
substanz erfolgen ? Auf diese Frage antwortet die Lehre von der
Germinalselektion. Sie lehnt auch für das Keimplasma eine zwangs-
mäßig in bestimmter Richtung ablaufende, durchaus schon durch
die Struktur bedingte Umbildung desselben, eine phyletische Prä-
formation, ab und greift auf die allgemeinen Erscheinungen des
Stoffwechsels zurück. Tief im Innern des Organismus, in der engen
Werkstätte des Keimplasmas, kämpfen ihr zufolge die kleinsten
hypothetischen Lebenseinheiten, die Biophoren und die aus ihnen
zusammengesetzten Determinanten und Determinantengruppen um
die Nahrung, deren Zufuhr mannigfachen Veränderungen unter-
worfen ist, und verändern sich dadurch selbst quantitativ und
qualitativ. Die einen werden kräftiger, die anderen schwächer;
ihre chemische Zusammensetzung erleidet Abänderungen. Und
was hier im Keim an den Anlagen, den Determinanten, sich an-
Gaupp, Biographie Weismanns 17
- 258 -
bahnt, tritt dann an dem entwickelten Organismus in den Merk-
malen, den Determinaten, in die Erscheinung. So spielen sich
im Keime, am Keimplasma, die Vorgänge ab, die die Umwandlungen
der Formen anbahnen ; sie bilden den Mechanismus, durch den diese
Umwandlungen zustande kommen.
Ihre unmittelbare Ursache sind Ernährungsschwankungen,
also auch wieder Bedingungen, die außerhalb der Lebensteilchen
sich finden. Als Ursache dieser Schwankungen kommen aber nun
nur noch in sehr geringem Maße die äußeren Bedingungen, die den
ganzen Organismus umgeben, in Betracht, in weit höherem Maße
die innerhalb des Organismus sich abspielenden Vorgänge, die
nur für die Determinanten des Keimplasmas als ,, äußere" zu gelten
haben, und die, da sie sich unserer Einsicht entziehen, als ,, Zufällig-
keiten" zu bezeichnen sind. Sie vor allem bedingen jene Ernährungs-
schwankungen und regen damit jenes Kräftespiel im Keimplasma
an, das die eigentliche causa efficiens der Umbildung der Formen
abgibt. Ihnen gegenüber spielen die äußeren Verhältnisse, die den
ganzen Organismus umgeben und auf ihn wirken, wie Klima, Er-
nährung u. dgl. eine untergeordnete Rolle für die Umwandlung
der Formen. Sie wirken zunächst und vor allem auf die Körper-
substanz, und die durch sie bedingten Veränderungen des Soma
sind ebensowenig erblich wie die, die an dem letzteren durch Übung
oder Nichtgebrauch eines Organes zustande kommen. Es sind nur
passante Veränderungen, die nicht zu dauerndem Besitz der Art
werden. Immerhin kann, wenn auch in seltenen Fällen, doch ge-
legentlich einmal auch durch die äußeren Einflüsse der Umgebung
jenes Kräftespiel im Keimplasma angeregt, und damit zugleich
mit dem Soma auch das in ihm eingeschlossene Keimplasma gleich-
sinnig verändert werden, so daß dann bei dem Nachkommen wieder
die gleiche Veränderung des Soma hervortritt, die der Elternorganis-
mus zeigte, und so der Schein einer Vererbung direkter Medium-
einflüsse auch bei höheren Formen zustande kommt. Diese Über-
legungen gelten sowohl für die Einzelligen, bei denen das Soma
nur durch den Zellkörper, und die Keimsubstanz durch den Kern
dargestellt wird, wie für die Vielzelligen, bei denen das Soma aus
einer sehr großen Menge von Zellen besteht, und die Keimsubstanz
in Form der Keimzellenkerne in ihm eingeschlossen ist.
Die Abänderung der Formen, die auf die eben geschilderte
— 259 —
Weise eingeleitet wird, erfährt eine weitere Steigerung durch eine
Einrichtung, die ebenfalls schon auf einer tiefen Stufe des Organismen-
reiches, jedenfalls schon bei den Einzelligen, in Wirksamkeit trat:
die Amphimixis, die Vermischung zweier Individuen. Ihre Be-
deutung liegt in einer Vermischung der Keimplasmen und damit
der Anlagekomplexe zweier Individuen. Anfangs, d. h. auf der
niederen Stufe der Organisation, nachdem sich eine Keim- und eine
Körpersubstanz eben erst gesondert hatten, war jene, das Keim-
plasma, nur einwertig, d. h. es enthielt den Anlagekomplex für nur
ein Individuum; durch den Vorgang der Amphimixis wurden zwei
solcher Komplexe zu dauernder gemeinsamerWirksamkeit zusammen-
geführt, und damit die Möglichkeit geschaffen, daß das aus dem
neu zustande gekommenen zweiwertigen Keimplasma hervorgehende
Geschöpf Merkmale zweier Organismen, — seiner beiden Eltern —
in sich vereinigt. Freilich schiebt sich hier zunächst wieder ein
Kampf ein: ein Kampf eben dieser beiden Anlagekomplexe — d. h.
ihrer einzelnen Determinanten mit den entsprechenden der anderen
Herkunft — die nach ihrer Vereinigung darnach streben, sich bei
der Entfaltung des neuen Individuums zur Geltung zu bringen.
Erst auf dem Wege dieses Wettbewerbes entsteht aus dem zwei-
wertigen Keimplasma ein Geschöpf, das Merkmale beider Eltern-
organismen in sich vereinigt. So wird diese Einrichtung zu einer
neuen Quelle für Verschiedenheiten der Organismen, zwar nicht
hinsichtlich der einzelnen Merkmale selbst, wohl aber hinsichtlich
der Kombination derselben zu einem Ganzen, zu einem Merkmals-
komplex. Sie führte in der Folge zu einer weiteren Differenzierung
im Sinne einer Arbeitsteilung: zu der Ausbildung männlicher und
weiblicher Geschlechtszellen, ja, männlicher und weiblicher In-
dividuen, die nun bei der Vereinigung als väterliche und mütterliche
in Betracht kommen.
Eine weitere Einrichtung, die ebenfalls im Sinne der Ver-
mehrung individueller Verschiedenheiten wirksam werden mußte,
gesellte sich als Folge der erstmaligen Amphimixis hinzu: die einer
jeden folgenden Amphimixis vorausgehende Reduktion der An-
lagen im Keimplasma auf die Hälfte. Durch sie wurde erreicht,
daß auch neue Vermischungen im Laufe der Generationen die Zahl
der Anlagekomplexe innerhalb eines Keimplasmas doch nie größer
als zwei werden ließen, und eine Anhäufung von ,, Ahnenplasmen"
17*
20O —
im Keimplasma verhindert wurde. Die beiden vereinigten Anlage-
komplexe — der väterliche und der mütterliche — aus denen, nachdem
einmal die Amphimixis eingeführt war, jedes Individuum hervorgeht,
und von denen unverbrauchte Reste auch in jeder seiner Keimzellen
deponiert werden, werden zur Vorbereitung für eine Amphimixis
wieder zerlegt, und ihre einzelnen Anlagen atjf zwei Zellen verteilt,
und erst eine so wieder einwertig gewordene Keimzelle vermag
mit einer anderen in gleicher Weise präparierten sich zu vereinigen.
Dabei bleibt es aber dem Zufall überlassen, in welcher Weise jene
Verteilung erfolgt; die Anlagenträger väterlicher und mütterlicher
Herkunft werden in neuer Weise zusammengestellt. So war denn
auch die Möglichkeit eröffnet, daß auch bei wiederholter Amphimixis
eines und desselben Elternpaares von beiden Seiten doch immer
wieder verschieden zusammengesetzte Anlagenkomplexe zusammen-
kamen: der geschilderte Reduktionsvorgang wurde zu einer neuen
Quelle individueller Variabilität.
Alle die aus der gemeinsamen Quelle der Amphimixis und
der sie vorbereitenden Prozesse fließenden Verschiedenheiten be-
treffen aber, um es noch einmal zu betonen, nur die Kombination
der Merkmale zu neuen Komplexen; die Veränderung der elemen-
tarsten Komponenten derselben bleibt den Vorgängen innerhalb
des Keimplasmas überlassen.
Alle die genannten Faktoren wären aber noch nicht imstande
gewesen, das Organismenreich in der Gliederung, die wir kennen,
und vor allem mit der innigen Anpassung an die äußeren Verhält-
nisse, die wir bewundern, hervorzubringen, wenn nicht diese äußeren
Verhältnisse selbst regulierend eingegriffen hätten. Die erblichen
Abänderungen der Formen erfolgen in kleinen Schritten, sie treten
als individuelle Variationen in die Erscheinung. Sie sind zwar nicht
ganz ziel- und richtungslos, sondern streben zufolge ihrer Entstehung
darnach, die einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten, aber
doch sind sie recht mannigfaltiger Art und für die Individuen, an
denen sie auftreten, von sehr verschiedenem Werte. Sie bedeuten
für diese, wenigstens in ihrer großen Mehrheit, Vorteile oder Nach-
teile, machen sie mehr oder weniger leistungsfähig in den Wett-
bewerben, die sie mit ihresgleichen und mit ganz anderen Formen
um die notwendigsten Lebensbedingungen zu führen haben, er-
höhen oder schwächen ihre Widerstandskraft gegen die Einflüsse
— 201 —
der unbelebten und belebten Umgebung, vermehren oder vermindern
ihre Fähigkeit, die von ihrer Umgebung ihnen gebotenen Existenz-
bedingungen auszunutzen, — kurzum, machen sie mehr oder weniger
,,dauerlahig" (Roux) in all den vielen Beziehungen, die seit Darwin
unter der Bezeichnung ,, Kampf ums Dasein" zusammengefaßt
werden. Diese neue Instanz des Kampfes, der Kampf zwischen
den Individuen oder Personen, führt automatisch zu einer Aus-
lese, einem Erhaltenbleiben und einer Häufung der sich am meisten
,, bewährenden" Qualitäten und züchtet dieselben im Laufe der
Generationen zu festen dauernden Merkmalen der Arten, durch
Ausmerzung der weniger günstig veranlagten Individuen. So ent-
stehen die Merkmale der Organismen in Anpassung an die Lebens-
bedingungen: die Organismen sind in erster Linie Anpassungs-
komplexe. Dazu gesellen sich, aber in geringerem Umfang, Merk-
male, die in gleicher Weise entstanden, aber biologisch bedeutungs-
los sind und somit in den Merkmalsbestand der Art eingefügt werden,
ohne deren Dauerfähigkeit zu erhöhen: ,,rein morphologische"
Merkmale. —
Die Instanzen des Kampfes und der dadurch bedingten Aus-
lese, die im Leben und Werdegang der Organismen bestimmend
wirken, sind aber damit noch nicht erschöpft. Auch während seiner
eigenen individuellen Lebensdauer ist der Organismus der Schau-
platz solcher Kämpfe, d. h. solcher Vorgänge des Wettbewerbes,
die sich zwischen seinen einzelnen Teilen, insbesondere innerhalb
der Gewebe zwischen den Elementen derselben abspielen. Diese
Kämpfe führen innerhalb des Individuums zum alleinigen Er-
haltenbleiben der zweckmäßigen dauerfähigen Qualitäten ; sie haben
insbesondere Anteil gehabt an der stammesgeschichtlichen Heraus-
bildung einer der allerwert vollsten Eigenschaften, die daher auch
zum Allgemeingut aller Organismen wurde: der Fähigkeit zur
funktionellen Anpassung (Roux), d. h. zu all den zweckmäßigen
Veränderungen, die die Organismen in ihren einzelnen Teilen durch
Gebrauch oder Nichtgebrauch erleiden. Aber die Bedeutung dieser
Kämpfe und auch die Bedeutung der funktionellen Anpassungs-
fähigkeit ist beschränkt: sie führen zwar die zweckmäßige Aus-
gestaltung des Individuums bis in die letzten Feinheiten seines
Baues durch, aber ihre Wirkungen bleiben auf das Individuum be-
schränkt, sie vermögen nicht eine korrespondierende Veränderung
2b2 —
auch des Keimplasmas zu erzeugen, die ihnen die ErbUchkeit
sicherte. Die Wurzel aller erblichen Abänderungen und damit
aller Umbildungen der Formen liegt in jenen primären Verände-
rungen des Keimplasmas; über Bestand und Erhaltung der Ab-
änderungen entscheidet ihre Brauchbarkeit, begutachtet durch die
äußeren Lebensbedingungen.
Eine ganze Reihe von Kämpfen, sowie von Ausleseprozessen,
die auf ihnen beruhen, leitet so die Entwicklung des Einzelindivi-
duums und der gesamten Lebe weit. Sie spielen sich ab zwischen
den Lebenseinheiten aller Kategorien. Im Keimplasma, bei der
Entwicklung jeder Geschlechtszelle, kämpfen die verschiedenen
Determinanten miteinander um die Nahrung, — auf diesen Kämpfen
und ihrem Ergebnis, der Germinalselektion, beruht letzten
Endes die Umwandlung der Formen. Zweimal greift dann der ,, Zu-
fall" ein: bei der endgültigen Reifung der Geschlechtszelle und bei
ihrer Vereinigung mit einer anderen. Mannigfaltige Kombinationen
der gegebenen elementaren Anlagen sind die Folge. Nunmehr
tritt wieder der Kampf in seine Rechte: bei der Entwicklung des
Individuums wetteifern die beiden vereinigten Determinanten-
komplexe um die Geltendmachung, unter den durch die äußeren
Verhältnisse gegebenen Bedingungen. Die überlegenen Determi-
nanten setzen sich durch ; sie bestimmen in Wechselwirkung mit den
äußeren Verhältnissen die Merkmale der Individuen. Diese, die
Individuen oder Personen, kämpfen dann in all den verwickelten
Beziehungen des Kampfes ums Dasein um ihre Geltendmachung,
um Durchsetzung : Personal- oder Individualauslese ist das Ergebnis.
Es kommt nicht nur den für erhaltenswert befundenen Individuen
selbst zugute, sondern auch dem Keimplasma, das in ihnen ein-
geschlossen ist, als Rest dessen, dem sie selbst ihre Entstehung ver-
danken. So reicht die Bedeutung der Personalauslese weit über die
Grenze des individuellen Lebens hinaus: das Dauerfähige, was
sich in den äußeren Verhältnissen bewährt hat, stirbt nicht not-
wendig mit seinem Träger, sondern hat Aussicht, in Nachkommen
fortzuleben. Aber auch das Individuum selbst ist der Schauplatz
noch weiterer Kämpfe : der Kämpfe seiner Teile. Seine Ausgestaltung
im einzelnen nach der Seite der Zweckmäßigkeit hin ist hier das
Ergebnis. Aber dies Ergebnis kommt den Nachkommen nur un-
mittelbar zugute, niu dadurch, daß es seinem Besitzer die Waffen
— 263 —
in den äußeren Kämpfen schärft; diese Waffen selbst weiter zu
vererben, ist diesem versagt.
So vollzieht sich die Entwicklung des Organismenreiches
von der ersten Entstehung des Lebens an zwar nicht nach einem
von vornherein festgelegten Plan, aber nach einem festen Mechanis-
mus, d. h. ohne daß fortwährend irgendeine außerhalb stehende
Kraft ordnend und richtend eingriffe. Bestimmend und Richtung
gebend sind nur die äußeren Bedingungen. Darin liegt der große
grundsätzliche Unterschied zwischen der Entwicklung eines Einzel-
wesens aus dem Ei und der Entwicklung des Organismenreiches.
Jene läuft mit absoluter Zielstrebigkeit ab: aus dem Ei des Huhnes
wird unter allen Umständen wieder ein Huhn, vielleicht ein un-
vollkommenes, verkrüppeltes, aber doch nicht etwas ganz anderes;
aus den ersten einfachsten Lebewesen aber hätte ganz gut auch
eine ganz andere Kette von Organismen werden können, wenn die
Bedingungen andere gewesen wären. Diese bestimmten, was er-
halten bleiben sollte, und so kam die Harmonie zwischen den Or-
ganismen und ihren Lebensbedingungen zustande, die wir bewundern.
— Aber diese mechanistische Natur auf fassung führt nicht not-
wendig zu einer materialistischen Welt auf fassung, sondern
gestattet, ja fordert durchaus die Annahme einer teleologischen
zwecksetzenden Kraft hinter diesem Mechanismus, an dem Anfang
der Dinge. Diesen Gedanken, daß das Prinzip der Teleologie mit
dem der mechanistischen Auffassung verbunden werden könne
und müsse, entwickelt Weismann schon 1876 in einem besonderen
Aufsatz. Ein teleologisches Prinzip, wie es Carl Ernst von Baer
und Eduard von Hartmann fordern, ist anzuerkennen, nur
darf man sich die zwecktätige Kraft nicht fortwährend in den Me-
chanismus der Welt direkt mit eingreifend vorstellen, sondern viel-
mehr hinter demselben als letzte Ursache dieses Mechanismus,
wie der Uhrmacher den IMechanismus der Uhr herstellt, aber den
einmal in Gang gebrachten sich selbst überläßt. Kausale und teleo-
logische Kräfte wirken nicht gleichzeitig zusammen, aber doch
schließen Mechanismus und Teleologien einander nicht aus, sondern
bedingen sich gegenseitig : ohne Teleologie wäre kein Mechanismus,
sondern ein wirres Durcheinander roher Kräfte, und ohne Mechanis-
mus keine Teleologie, denn wie sollte dieselbe ihre Zwecke aus-
führen? So ist denn nach Weismanns Überzeugung auch die
— 264 —
Befürchtung unberechtigt, daß durch die neueren Naturanschau-
ungen den Menschen das Beste abhanden kommen könne, was sie
besitzen: Sitthchkeit und echt humane Geisteskultur. ,,Wer mit
Baer die Naturgesetze als die , permanenten Willensäußerungen
eines schaffenden Prinzips' ansieht, für den ist es klar, daß ein
weiterer Fortschritt in der Erkenntnis dieser Gesetze den Menschen
nicht von der Bahn fortschreitender Vervollkommnung ablenken,
sondern ihn fördern muß, daß die Erkenntnis der Wahrheit un-
möglich einen Rückschritt bedeuten könne, möge dieselbe nun
lauten wie sie wolle. Man stelle sich kühn auf den Boden der neuen
Erkenntnis und ziehe die richtigen Konsequenzen aus ihr, und wir
werden weder Sittlichkeit, noch das beruhigende Gefühl, einem
harmonischen Weltganzen als notwendiges, entwicklungs-
fähiges und einem Ziele zustrebendes Glied eingefügt
zu sein, aufgeben müssen." Die mechanische Natur auf fassung
kann nicht nur, sondern muß mit einer teleologischen Welt-
auffassung verbunden werden. In dieser bestimmten Weise hat sich
Weismann hierüber später nicht wieder ausgesprochen ; die Schluß-
worte der „Vorträge" enthalten aber doch ähnliche Gedanken:
die ausdrückliche Feststellung, daß nur die eine Hälfte der Welt,
die uns zugängliche, Gegenstand der Erforschung für uns ist, der
Erforschung ihres wundersamen Mechanismus mit seinem harmo-
nischen Ineinandergreifen der zahllosen Räder, daß wir aber trotz
aller Fortschritte dieser Erkenntnis vor der Welt als Ganzem immer
noch wie vor einem großen Rätsel stehen. Hier fängt das Gebiet
des Glaubens an. Auch die Lehre von der Entwicklung kann den
Glauben nicht enttronen, das Bedürfnis einer ethischen Welt-
anschauung, einer Religion, nicht zerstören; nur wird diese Religion
ihre Formen wechseln müssen, entsprechend dem Voranschreiten
unseres Wissens von der Welt. Die Erkenntnis von den diesem
Wissen gesteckten Grenzen braucht uns aber nicht zur Resignation
zu führen, denn die uns zugängliche Welt bietet uns einen so un-
erschöpflichen Reichtum an Erscheinungen und einen so hohen,
nie versagenden Genuß, daß ihre Erforschung wohl wert ist, unser
Leben auszufüllen. ,,Auch brauchen wir nicht zu fürchten, daß es
uns jemals an neuen, noch zu lösenden Fragen und Problemen fehlen
könnte. Wäre es selbst der Menschheit vergönnt, noch jahrhunderte-
lang in Ruhe und in der vielseitigen und rastlosen Weise weiter zu
— 265 —
forschen, wie es in dem verflossenen Jahrhundert zum ersten Male
seit Menschengedenken der Fall gewesen ist, so würde doch jede
neue Lösung wieder neue Fragen bringen, und nach oben wie nach
unten, in den unendlichen Räumen des Sternhimmels wie in der
Welt mikroskopischer und ultramikroskopischer Kleinheit wird
uns immer wieder neue Einsicht aufgehen, wird uns neue Befriedi-
gung bringen, und unsere Begeisterung über die Wunder dieses so
unbegreiflich verwickelten und doch in so herrlicher Klarheit sich
abwickelnden Weltmechanismus wird nie erlöschen, sondern immer
wieder von neuem emporflammen und unser Leben erwärmen und
erleuchten."
Mit diesen tiefempfundenen Worten wollen wir Abschied
nehmen von Weismanns Lebenswerk, von der gewaltigen,
fruchtbaren und bewundernswert schönen Arbeit eines großen
Forschers, der zugleich ein großer Mensch gewesen.
Schluß.
Alles in allem dürfen wir in Weismann einen der bedeutend-
sten Biologen der letzten Jahrzehnte sehen. Das tragische Schick-
sal, das ihn zwang, seine trotz aller Kürze ungemein erfolgreiche
Arbeit auf dem Gebiete der Spezialforschung vor der Zeit zu unter-
brechen, wurde dank seiner außerordentlichen Energie zu einem
Teil jener Kraft, die das Böse will und das Gute schafft. Unter dem
Zwange dieses Schicksals kam neben der Begabung Weismanns
zur Naturbetrachtung auch seine besondere Veranlagung für
theoretisches Durchdenken der Einzeltatsachen zur vollen
Entfaltung und zeitigte Früchte von bleibender Bedeutung. Denn
in Weis mann vereinigten sich, was ja durchaus nicht immer der
Fall ist, eben diese beiden Fähigkeiten zur Beobachtung und zur
zusammenfassenden geistigen Verarbeitung der Einzelbeobachtungen,
die in der Naturforschung Hand in Hand gehen sollen, in glücklichster
Weise. Die Bedingung, daß der Naturforscher in erster Linie Natur-
beobachter sein soll, hat Weis mann in vollstem Maße erfüllt.
Seine zahlreichen und zum Teil sehr umfangreichen Arbeiten legen
davon ein unanfechtbares Zeugnis ab; er selbst hat auch ganz be-
stimmt ausgesprochen, wie hoch er die empirische Spezialforschung
bewertete. Er hatte sich auf botanischem, physikalischem, chemi-
— 266 -
schem Gebiet eingehend betätigt und chemische Arbeiten veröffent-
Hcht, ehe er sich der zoologisch-anatomischen Forschung zuwandte.
Hier kam ihm zunächst seine Vorbildung und Schulung als Mediziner
zugute. Er gehörte zu den nicht wenigen bedeutenden Zoologen,
die ursprünglich Mediziner waren, und bezeugte so mit vielen anderen
die außerordentlich große Bedeutung, die es für jeden Biologen
haben muß, einen Organismus ganz gründlich zu kennen, nicht nur
in seinem groben, feinen und feinsten Bau, sondern auch in seinen
normalen Lebensäußerungen und unter pathologischen Verhältnissen.
So ist denn auch seine Betätigung auf dem Gebiete der biologischen
Forschung außerordentlich vielseitig, hinsichtlich der Probleme
wie der Methodik. Ihm verdanken wir eingehende Beschreibungen
ganzer Tierformen und ihrer Baueigentümlichkeiten mit Rücksicht
auf deren funktionelle Bedeutung ; in großem Umfang hat er histo-
logische und embryologische Untersuchungen angestellt. Schon
die Vermehrung der Kenntnis des empirischen Tatsachenmateriales,
die ihm zu danken ist, würde vollauf berechtigen, ihm einen ge-
achteten Platz unter den Naturforschern seiner Zeit anzuweisen.
Trotz seiner empfindlichen Augen verfügte er über eine ausgedehnte
Anschauung und Kenntnis von Tatsachen, und in seinen Arbeiten
wie in seinem umfangreichen Werke über die Deszendenztheorie
spricht er nicht leicht über Dinge, die ihm nicht aus eigener Er-,
fahrung bekannt waren.
Aber freilich, das bloße Sammeln zusammenhangloser Tat-
sachen, das planlose Beobachten aufs Geratewohl war nicht seine
Sache. Denn ,,der Wert und die Bedeutung, welche wir einer Tat-
sache beilegen", ist ja ,, immer nur ein relativer und kann einzig
und allein gemessen werden nach dem Maße von Einsicht, von neuer
Erkenntnis, welches sie uns gewährt". So hielt er wenig von den
Beobachtungen, die ohne leitende Gesichtspunkte angestellt werden:
,, vieles daran kann gut und richtig sein, aber es fehlt oft gerade das,
worauf es bei der wissenschaftlichen Untersuchung vor allem an-
kam",— das wurde ihm selbst fühlbar, als er seine Arbeit über die
Zeichnung der Sphingidenraupen unternahm und auch hier ge-
nötigt war, sich das nötige Tatsachenmaterial durch eigene Be-
obachtung selbst zu verschaffen. So sind denn auch seine ,, de-
skriptiven" Arbeiten durchaus nicht rein deskriptiv, sondern be-
handeln alle Einzelbeobachtungen von einem großen allgemeinen
— 267 —
Gesichtspunkte aus und ordnen sie diesem unter. Den Grundsatz,
daß die Einzelarbeit die großen allgemeinen Gesichtspunkte nicht
außer acht lassen darf und erst im Zusammenhang mit diesen ihre
volle Bedeutung erlangt, hat Weismann auch seinen Schülern
stets zu eigen zu machen gesucht.
Noch schärfer spricht sich diese Orientierung der Arbeit auf
die großen Gesichtspunkte in den experimentellen Arbeiten
aus. Sie gehen ja von einer ganz bestimmten Fragestellung aus
und fordern von der Natur die Antwort auf diese. Es berührt
wunderbar, wenn in einer modernen Geschichte der biologischen
Theorien Weismann ausdrücklich unter den ,, klassischen Dar-
winisten" genannt wird, die keine Experimentatoren waren *^).
Im Gegenteil: Weismann war einer der ersten Experi-
mentatoren auf dem Gebiete der Abstammungs- und
Vererbungslehre. Nach Dorfmeister war er der erste, der
Versuche über den Einfluß der Temperatur auf Schmetterlings-
puppen anstellte und so Abänderungen der Formen durch künst-
liche Eingriffe erstrebte; ihm verdanken wir ausgedehnte Experi-
mente über den Generationswechsel der Daphnoiden, die berühmten
Versuche über die Umwandlung des Axolotl in das Amblystoma,
die von Frl. v. Chauvin erfolgreich zu Ende geführt wurden, die
an 30 Generationen von Mäusen vorgenommenen Versuche, die
über die Vererbung von Verstümmelungen Aufschluß geben sollten,
die Versuche über Regenerationsfähigkeit innerer Organe bei
Tritonen. Etwa vom Jahre 1869 an bis in seine letzte Lebenszeit
hat er immer wieder experimentiert, hat damit Ergebnisse von
bleibendem Werte erzielt und zu weiteren Versuchen angeregt.
Von so breiter und fester Grundlage aus konnte er sich an
die höchste Aufgabe wagen : die spekulative Zusammenfassung
der Einzeltatsachen und die Ermittelung der ihnen zu-
grunde liegenden allgemeinen gesetzmäßigen Vorgänge.
Er wurde der bedeutendste Theoretiker der Abstammungs-
lehre. Die reiche Anlage, die er auch für diese Aufgabe mitbrachte,
entfaltete sich unter den besonderen Umständen seines Lebens zu
höchster Leistungsfähigkeit. Ihm war es vergönnt, die ausgedehnte
Fülle der Tatsachen, über deren Kenntnis er verfügte, mit einem
vortrefflichen Gedächtnis zusammenzuhalten, mit genialem Blick
zu überschauen, aus ihnen das Gemeinsame herauszulesen und in
— 268 — .
anschaulicher Darstellung zu gestalten. Goethes ,, Naturgeheimnis
werde nachgestammelt" steht als Motto vor dem Werke über das
Keimplasma. Die großen Probleme der Abstammungslehre, die
in der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts eine Erre-
gung der Geister hervorriefen, wie sie die Menschheitsgeschichte
kaum wieder gesehen hat, und, in engem Zusammenhang damit,
die Vererbungslehre, wurden die Gebiete, auf denen er der Natur
ihre Geheimnisse abztdauschen suchte. Auf beiden hat er bahn-
brechend, aufstörend, antreibend gewirkt und Bleibendes geschaffen,
und die Spuren seines Wirkens werden für lange Zeiten nicht ver-
wischt werden. Darwin war kein Embryolog oder Histolog gewesen,
die Medizin hatte ihn kühl gelassen, die Anatomie abgestoßen.
So mußten ihm später, trotz aller Arbeit an sich selbst, manche
Lücken in der biologischen Durchbildung bleiben, und seine Betrach-
tung bei dem mehr unmittelbar Sinnfälligen, Groben der Erschei-
nungen Halt machen. Weis mann konnte vermöge seiner viel-
seitigen Schulung weiter gehen, die Frage nach den zellulären Vor-
gängen bei der Vererbung, der Entstehung der Variabilität, auf-
werfen und in Anknüpfung an die glänzenden Entdeckungen seiner
Zeit auf dem Gebiete der Zellen-, Befruchtungs-, Eireifungslehre
( — von Flemming, O. Hertwig, v. Beneden, Bütschli,
Boveri u. a. — ) eine Theorie ausarbeiten, die die verschiedensten
Probleme unter einheitlichen Gesichtspunkten und unter der An-
nahme weniger, wirksamer Faktoren vereinigt. Die Erörterung
über die verschiedenen Probleme der Abstammungslehre erweitert
zu haben, indem er sie auf das Gebiet der feineren Vorgänge über-
trug, für diese neue Betrachtung klar und bestimmt die wichtigsten
Fragen festgelegt und im Anschluß an die vorliegenden Beobach-
tungen ihre Beantwortung versucht zu haben, das ist wohl sein
größtes, besonderstes Verdienst. Und wie auch der Einzelne über
den Wert dieser Antworten denken, und wie viel oder wie wenig
auch sich als dauernd von seinen theoretischen Vorstellungen er-
halten möge — die große Bedeutung, die sie für die Klärung in den
verschiedensten Fragen gehabt haben, wird wohl niemand leugnen
wollen. Gar manches von dem, was erst Weismann in stets er-
neuter Gedankenarbeit behandelt hat, ist uns heute ganz geläufig
geworden und beherrscht letzten Endes auch Vorstellungen, die sich
äußerlich in einen Gegensatz zu ihm stellen möchten. Die Lehre
— 269 —
von der Kontinuität des Keimplasmas, der Begriff der Determinanten,
die scharfe Betonung des Gegensatzes zwischen Soma und Keim-
zellen — das sind Weismann sehe Vorstellungen, die sich als un-
gemein fruchtbar erwiesen haben, und deren Wirksamkeit allent-
halben in den Vererbungstheorien zu spüren ist. Ja, noch mehr:
gerade die neuere experimentelle Forschung ist in manchen Punkten,
in der Annahme von Vererbungseinheiten, in der Auffassung des
Befruchtungsvorganges und anderen, in überraschender Weise zu
ähnlichen Vorstellungen gekommen wie Weis mann auf dem Wege
der theoretischen Spekulation. Und für viele empirische und ex-
perimentelle Forschungen hat er die Fragestellung vorbereitet,
die Gedankengänge vorgedacht. Auf dem Gebiete der Abstammungs-
lehre begegnet sein Versuch, die ganze Umbildung der Formen
unter Ausschaltung des Lamarekismus, d. h. unter Ausschaltung
einer Vererbung funktioneller Abänderungen zu verstehen, auch jetzt
noch starkem Widerspruch, ja dieser Widerspruch wird gerade in
neuerer Zeit immer stärker und allgemeiner, — immerhin kann wohl
nicht behauptet werden, daß die Frage schon für Lamarck end-
gültig entschieden wäre, und selbst, wenn das einmal der Fall wäre,
würde es immer eine bewundernswerte Tat bleiben, daß Weismann,
unbeirrt von der Tagesmeinung, mit scharfer Kritik auf diesem Ge-
biete einsetzte, mit einer Menge leichtgläubig überlieferter Er-
zählungen aufräumte und den Mut hatte, das, was er nach gewissen-
hafter Prüfung als nichtvorhanden ablehnen mußte, nun auch wirk-
lich aus der Rechnung auszuschalten. Wie er selbst dabei dann
zu dem Schlüsse kam, daß durch ,, Naturzüchtung" allein die Um-
wandlung der Formen nicht erklärt werden kann, und wie er an
Stelle des entthronten Lamarekismus sein selbsttätiges in den Or-
ganismen wirksames Umbildungsprinzip aufstellte, wurde ausführ-
lich besprochen.
Alle diese Ergebnisse flogen ihm nicht zu und waren nicht
aus der Luft gegriffen, sondern in ernster Gedankenarbeit erlangt.
In der erzwungenen Beschränkung des Verkehres mit der sichtbaren
Außenwelt entfaltete sich die ganze ihm als Deutschen innewohnende
Kraft zum grüblerischen Sichversenken in die Erscheinungen, zum
geistigen Durchdenken und Verarbeiten der Tatsachen. Ebensowenig
wie die zusammenhanglose Einzeltatsache vermochte er den nur flüch-
tig gefaßten und ausgesprochenen Gedanken schon an sich als be-
— 270 —
sonders wertvoll für den Fortschritt der Wissenschaft zu achten;
das kann er erst werden, wenn er „soweit irgend möghch durchgedacht
und auf seine Durchführbarkeit geprüft" worden ist. Darnach hat
er mit deutscher Gründhchkeit gehandelt, und er hat sich nicht
gescheut, es einzugestehen, wenn beim wiederholten Durchdenken
eines Gedankens — wie das nicht zu verwundern war — ihm eine
frühere Schlußfolgerung als unrichtig und unhaltbar erschien,
oder wenn neue Tatsachen sich mit einer Vorstellung nicht in Ein-
klang bringen ließen. Freilich, so ohne weiteres war er nicht um-
zustimmen, das Recht der Kritik wahrte er sich, und für rasch fertige,
einem beschränkten Kreis von Kenntnissen entspringende Urteile
hatte er, der von hoher Warte ein weites, großes Tatsachengebiet
überschaute, nur scharfe Zurückweisung.
Die Kenntnis eines ausgedehnten Tatsachenmateriales be-
rechtigte ihn dazu, aus den Tatsachen allgemeine Gesetze abzu-
leiten, sie ließ ihn auch seine theoretischen Vorstelltmgen im steten
Anschluß an dieselben entwickeln. Seine Vorträge zur Deszendenz-
theorie zeigen diese innige Verbindung von Theorie und praktischer
Nutzanwendung, oder richtiger von tatsächhcher Grundlage und
theoretischer Abstraktion auf jeder Seite. Sein Denken blieb so-
weit als irgend möglich, ,, gegenständlich", um den bezeichnenden
Ausdruck, den Goethe so schätzte, zu gebrauchen. Und wo er über
das Bereich der sichtbaren Erscheinungen hinausgehen mußte,
da blieb doch die künstlerische Begabung, die ihm von der Mutter
her geworden, seine Führerin, trieb ihn seine Phantasie immer wieder,
nach greifbaren anschaulichen Vorstellungen zu suchen, sich die
Gebilde, zu deren Annahme er gelangte, möglichst konkret zu denken.
Aus dem mehr unbestimmten Idioplasmabegriff Nägelis
wurde in seiner Hand das Keimplasma, als Keimsubstanz der
Keimzellen ohne weiteres sichtbar und in seinem Verhalten in der
Form der Chromosomen bei der Befruchtung und bei den Zellteilungen
zu verfolgen, eine Substanz von ganz bestimmter gesetzmäßiger
Architektur, zusammengesetzt aus Determinanten und Biophoren,
die zwar jenseits der Grenze des Sichtbaren liegen, aber doch nicht
als wesenlose Begriffe, sondern als real vorhandene Teilchen zu
denken sind. W^enn durchaus nach Schwächen seiner Theorie ge-
sucht werden soll — bei welcher Theorie wären die nicht zu finden ! —
so wäre es höchstens die, daß sie nach zu großer Anschaulich-
— 271 —
keit strebt. Ihn aber unter die „phantasielosen Beweismänner"
zu rechnen, wie es ein moderner Historiker der Biologie tut, dürfte
wohl nicht berechtigt sein. Gerade die Vereinigung scharfen Denkens
mit künstlerischer Phantasie befähigte ihn zur Aufstellung seiner
Theorie, wie sie ihn befähigte, seine Gedanken nicht nur logisch
und überzeugend zu entwickeln, sondern auch in klarer Form zum
Ausdruck zu bringen. Darauf beruht ja auch der starke Erfolg,
der seinen Schriften zuteil geworden ist.
Daß Weismann sich für seine Ideen immer mit voller Energie
eingesetzt hat, ist selbstverständlich; nur dadurch war es ja möglich,
ihre Leistungs- und Dauerfähigkeit zu erproben. Daß ihre wo
immer vorhandenen Schwächen von anderen mit der genügenden
Schärfe hervorgehoben werden würden, darum brauchte er nicht
zu sorgen. Seine theoretischen Vorstellungen aber etwa als der Weis-
heit letzten Schluß hinstellen zu wollen, das ist ihm nicht entfernt
eingefallen. Auf den gegen ihn gerichteten Ausspruch eines Kri-
tikers, es scheine, die Naturphilosophie sei noch nicht tot, erwiderte
er (1899): ,, Hoffentlich nicht! Und hoffentlich wird sie
es auch niemals sein, denn zu allen Zeiten wird der Fortschritt
in unserer Erkenntnis von der philosophischen Verarbeitung der
uns bekannten Tatsachen abhängen, da wir dadurch uns neue Ziele
der Beobachtung zu stecken, neue Tatsachen zu finden vermögen,
die tiefere Einsicht geben. Wenn aber unter ,, Naturphilosophie"
nur die Ausartungen einer philosophischen Naturbetrachtung ge-
meint sind, wie sie Oken, Schelling u. a. am Anfang dieses Jahr-
hunderts übten, so sollte doch der unterschied nicht verkannt
werden, der zwischen diesen Begriffsspielereien und Konstruktionen
der Natur aus freier Hand und meinen Versuchen besteht, die Tat-
sachen unter gemeinsamen Gesichtspunkten zusammenzufassen.
Das eine sind Phantasien, aus denen niemals etwas Festes hervor-
gehen konnte, das andere sind gewissermaßen Zentralstellen für
wissenschaftliche Aufgaben, welche dem Forscher vorläufige An-
nahmen zur Bestätigung oder Widerlegung überliefern, oder auch
ihm biologische Formeln oder Symbole in die Hand geben, die zwar
für jetzt nicht weiter aufzulösen sind, die aber mit Vorteil in die
Rechnung gewisser Probleme eingesetzt werden." Als solche ,, Sym-
bole" hat er selbst die Biophoren und Determinanten bezeichnet.
Die Überzeugung, daß auf einem so verwickelten schwierigen
— 272 —
Gebiet, wie es das der Vererbung ist, eine von brauchbarer Grund-
lage ausgehende, konsequent durchgearbeitete Theorie unter allen
Umständen von großem Werte für den Fortschritt der Erkenntnis
sein müsse, schon weil sie bestimmte Fragestellungen anregen muß,
ließ ihn auch leichter über die vielen Angriffe hinwegkommen,
denen nicht nur seine theoretischen Vorstellungen, sondern auch
seine Person ausgesetzt waren, und die in den mancherlei Änderungen,
die er im Laufe der Zeit an seinen Auffassungen vornehmen mußte,
Nahrung fanden. Daß er selbst sich nicht gescheut hat, diese Ände-
rungen vorzunehmen, wo es ihm nötig schien, wurde schon betont,
es ist im übrigen selbstverständlich bei einer so durchaus ehrlichen
und aufrichtigen, nach Wahrheit strebenden, kraftvollen Persön-
lichkeit. Der Vervollkommnungstrieb, den er als allgemeines Ent-
wicklungsprinzip in der organischen Natur ablehnte, wirkte um
so mehr in ihm selbst und veranlaßte ihn zur Arbeit an sich und an
seiner Theorie. Darüber aber, daß seine beiden Hauptannahmen,
die Annahme einer Kontinuität des Keimplasmas und die von der
Zusammensetzung des letzteren aus substantiellen lebendigen Be-
stimmungsstücken, brauchbar seien, um auf ihnen als Grundlagen
den Aufbau einer Theorie der Vererbung zu versuchen, kann wohl
nach den Ergebnissen der neueren Vererbungsforschung kein Zweifel
herrschen. Jedenfalls mußte die Frage einmal von diesen Grund-
lagen aus durchgearbeitet werden; dadurch allein war ihre Trag-
fähigkeit zu erproben. Daß Weismann diese Durcharbeitung offen
und ehrlich und mit Selbstverleugnung vorgenommen hat, sollten
auch seine sachlichen Gegner anerkennen.
Als Weis mann sich im Jahre 1863 für Zoologie habilitierte,
da geschah es in der medizinischen Fakultät, in der die Zoologie
von dem Physiologen als Nebenfach vertreten wurde. Seitdem
haben sich die Zeiten gewaltig verändert. Die Zoologie ist selbständig
geworden, und in Freiburg war es Weismann selbst, für den das
erste zoologische Ordinariat gegründet wurde. Von der medizinischen
Fakultät wurde sie dabei herausgenommen und der philosophischen
eingefügt. Hier und da, so in Freiburg selbst, ist sie seitdem auch
von der philosophischen Gesamtfakultät entfernt und mit den
übrigen Naturwissenschaften zusammen in einer naturwissenschaft-
lichen Fakultät vereinigt worden. Deutlich spricht sich darin der
ungeheuere Aufschwung aus, den sie selbst und mit ihr die gesamten
— 273 —
Naturwissenschaften in dem letzten halben Jahrhundert genommen.
Mit Recht konnte bei Weismanns 70. Geburtstag der Dekan der
philosophischen Fakultät, der Physiker Heimstedt, dem Jubilar
aussprechen: ,,An diesem gewaltigen Aufschwünge, den die Zoologie
in den letzten Dezennien genommen hat, nicht nur mitgearbeitet
zu haben, sondern als einer der ersten, als einer der vornehmsten
Führer die Ziele gesteckt und die Wege zu sieghaftem Vordringen
gewiesen zu haben, das wird von Ihren Fachgenossen neidlos, als
unvergängliches Verdienst Ihnen zugesprochen." Insbesondere die
gewaltige Bedeutung, die die Gedanken der Entwicklung und der
Auslese im Wettbewerbe um die Daseinsbedingungen in dieser
Zeit auf allen Gebieten des Lebens gewonnen haben, ist zu einem
sehr großen Teile dem Wirken Weismanns zuzuschreiben. Und
wenn sie je, wie manche meinen, sich als völlig falsch und unbe-
gründet erweisen sollten — wozu aber wohl noch ein weiter Weg
ist — würde der Historiker einer späteren Zeit an der Anerkennung
der Tatsache nicht vorbeikommen, einen wie ungeheueren belebenden
und befruchtenden Einfluß diese Gedanken auf allen Gebieten
und auf dem der organischen Naturwissenschaften insbesondere
gehabt haben. Und in Zusammenhang damit wird auch Weismanns
Name als der eines der rastlosesten Vorkämpfer und folgerichtigsten,
unerschrockensten Vertreter jener Gedanken genannt werden.
Die Überzeugung, daß zwischen allen Lebenseinheiten ein Kampf
besteht und bestehen muß, wenn das Leistungsfähigste zur dauern-
den Geltung kommen soll, ist der Hauptgedanke, für den er sich
eingesetzt hat, mit Gedanken und Worten, aber auch mit der persön-
lichen Tat: im Kampfe gegen ein schweres persönliches Geschick,
im Kampfe für seine Wissenschaft und seine Überzeugung. Mit
ganz besonderem Rechte gilt für Weis mann das Wort seines großen
Frankfurter Landsmannes, daß er ein Mensch gewesen, ,,und das
heißt, ein Kämpfer sein".
Oaupp, Biographie Weismanns. 18
Anmerkungen.
i) zu S. 5. Außer den im Vorwort erwähnten Mitteilungen habe ich für die
Darstellung des Lebens und der Persönlichkeit Weismanns vor allem noch benutzt :
1. Bericht über die Feier des 70. Geburtstages von August Weismann
am 17. Januar 1904 in Freiburg i. Br. Herausgegeben von dem
Komitee zur Stiftung der Weismann-Büste. Jena 1904.
2. Das Curriculum vitae, das Weismann selbst seinem Gesuch um Zu-
lassung zur Habilitation für das Fach der Zoologie in der medizinischen
Fakultät zu Freiburg i. Br. beigefügt hat. Das Gesuch ist datiert: Frank-
furt a. M., II. Januar 1863.
3. Doflein, F., August Weismann zum 80. Geburtstag. Akademische Mit-
teilungen. Organ f. d. gesamten Interessen der Studentenschaft an der
Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br., N. F., XV. Sem., Nr. 7,
7. Januar 1914, S. 47 — 48 (Freiburg i. Br., herausg. v. Hans Speyer,
Universitätsbuchhändler) .
4. Ders., Weismann als Forscher. Ebenda, N. F., XVH. Sem., Nr. 6,
15. Dezember 1914, S. 27.
5. Himstedt, F., August Weismann (Nachruf am Grabe). Ebenda, N. F.,
XVII. Sem., Nr. 6, 15. Dezember 1914, S. 25 — 26.
2) zu S. 5. Der Name ist Weismann (mit einem s) zu schreiben. Gegen die
Schreibweise mit ss hat Weismann selbst, wenn er sie in den Testierbüchern der
Studierenden antraf, wiederholt sehr bestimmten Einspruch erhoben. Auffallend
ist die falsche Schreibweise in der Überschrift zu der Arbe't über den Salzgehalt
der Ostsee, im Mecklenburgischen Archiv für Landeskunde ; man kann nur annehmen,
daß die Überschrift dem Verfasser der Arbeit nicht zur Korrektur vorgelegen hat.
3) zu S. 5. Folgende genealogische Angaben sind mir von Frau Regierungsrat
Schepp freundlichst zur Verfügung gestellt worden.
Männliche Aszendenz.
I. Valentin W., Bürger in Weierburg, Oberösterreich, in der ersten Hälfte
des 17. Jahrhunderts, starb als Märtyrer in Wien. In einer Schrift, die
zur Leichenfeier seines Enkels, des Prälaten und Abtes in Maulbronn,
Ehrenreich W., herausgegeben ist, wird berichtet, daß Valentin W. unter
Kaiser Ferdinand III. bei Nacht unvermutet gefangen und nach Wien
geschleppt wurde, wo er im Stadtgraben bei grausamer Zwangsarbeit
sein Leben ließ. Dies muß in den letzten Jahren des Dreißigjährigen
Krieges gewesen sein.
— 275 —
2. Johannes W., Pfleger bei Baron von Teuffei in Weierburg, Oberöster-
reich. Als Protestant vertrieben, kam 1856 nach Northeim i. Württem-
berg, wo er Lehrer wurde. OO mit Christine Berger.
3. Ehrenreich (Erichs) W., • Weierburg 1641, j" 1717. OO mit Maria
Elisabeth Canstetter. Prälat und Abt in Maulbronn. Warerstii Jahre
in Preßburg, kam 1656 nach Heilbronn.
4. Johann Ehrenreich W., Kirchenratssekretär in Stuttgart. OO mit
Christine Juliane Maria Steinmark, fürstl. Hoftrompeterstochter.
(Sein Bruder Eberhard W. war Professor der Theologie in Tübingen.
•f kinderlos.)
5. Christoph Tobias Friedrich W., Amtspfleger und Bürgermeister
in Alpirsbach, 00 mit Friederike Margarete Zahn.
6. Immanuel Gottlob Friedrich W., * Alpirsbach 1773, f 1852. OO mit
Juliane Deimling aus Karlsruhe. Kam als Kaufmann nach Frank-
furt a. M.
7. Johann Konrad W., * Frankfurt a. M., 31. Oktober 1804, j 1880.
Gymnasialprofessor in Frankfurt a. M.
8. August W.
Mütterliche Aszendenz.
1. Chr. Leopold Lübbren, * 1766, f 1851. OO mit Römhild,
Pfarrerstochter aus der Nähe von Bremen. War Bürgermeister und Land-
rat in Stade.
2. Elise Lübbren, Tochter der vor., * Stade, 1803. OO mit Johann Kon-
rad Weismann, dem Vater August Weismanns.
4) zu S. 6. Der Titel der Doktordissertation lautet nach Weismanns eigener
Angabe: De acidi hippurici in corpore humano generatione. Diss. inaug. Franco-
furti 1857. I^iß Dissertation selbst zu erlangen, ist mir nicht möglich gewesen; auch
die Kgl. Universitätsbibliothek in Göttingen, in der sie, wenn irgendwo, doch wohl
am ersten zu erwarten war, besitzt sie nicht und konnte sie auch bibliographisch
nicht ermitteln. In dem mir von dort gewordenen Bescheid ist die Vermutung aus-
gesprochen, daß sie wie viele Dissertationen jener Zeit gar nicht im Druck erschienen
ist. Das ,,Francofurti 1857" spricht allerdings gegen diese Vermutung. Inhalthch
steht sie mit der in dem gleichen Jahre vollendeten Preisarbeit offenbar in engstem
Zusammenhang, auch dürfte sie im wesentlichen in der Arbeit „Über die Bildung
der Hippursäure beim Menschen", die 1858 in der Zeitschrift für rationelle Medizin
erschienen ist, enthalten sein. Vorhanden sind in der Göttinger Bibliothek das
Doktordiplom Weismanns, ausgefertigt am 9. Juli 1856 ,,post adprobatam examine
egregiam scientiam et disputationem publice habitam", sowie die von Weismann
eingereichten: ,,Theses quas gratiosi medicorum ordinis auctoritate atque consensu
in Academia Georgia Augusta pro summis in medicina, chirurgia arteque obstetricia
honoribus rite obtinendis die IX. M. Julii A. MDCCCLVI publice defendet Augustus
Weismann Moeno - Francofurtensis, opponentibus : Ottone Heusinger, Med. Dd.
Alexandro Spiess, Med. Dd. Die Thesen lauten: I. Nulla hodie sine chemia patho-
logia. II. In necrosi phosphore causata secretio acidi phosphorici per renes non
18*
— 276 —
aucta est. III. Glutinum praeformatum in corpore humano est, non solum coctione
telae cellulosae ovitur. IV. Lupus aptissime Kali caustico sanatur. V. Chloroformum
in partibus normalibus aptum esse nego.
5) zu S. 6. Das Titelblatt der Preisschrift enthält auf der Rückseite folgenden
Vermerk :
Die medizinische Fakultät hatte am 4. Juni 1856 zum zweiten Male die Auf-
gabe gestellt:
Accurata investigatione chemica respondeatur ad quaestionem, num
eae plantae, quibus animalia herbivora, imprimis equi et boves, plerumque ves-
cuntur, prae ceteris igitur gramina pratorum, acidum benzoicum vel con-
junctionem benzoylicam contineant, unde derivari possit acidum hippuricum,
quod in illorum animalium urina constanter apparere solet.
Urteil der Fakultät.
Der Hauptaufgabe, diese Frage durch Versuche und Beobachtungen zu be-
antworten, ist von dem Verfasser auf befriedigende Weise entsprochen worden.
Er hat eine große Reihe von eigenen mühsamen Versuchen und chemischen Opera-
tionen vorgenommen, aus denen mit Sicherheit das wissenschaftlich wertvolle
Resultat hervorgegangen ist, daß die Futterkräuter der Pflanzenfresser keine eigent-
liche Benzoylverbindung, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, enthalten, aus der
die Entstehung der Hippursäure auf die Weise abgeleitet werden könnte, wie sie
erfahrungsgemäß nach dem Genüsse von Benzoesäure und deren Durchgang durch
das Blut stattfindet. Der Verf. sucht zu zeigen, daß dennoch die Erzeugung der
Säure in bedeutendem Maße von der Pflanzennahrung abhängig sei, und nimmt,
freilich nur vermutungsweise und nicht hinreichend auf Beobachtungen gestützt
an, daß sie vorzugsweise aus der inkrustierenden Zellensubstanz, dem soge-
nannten Lignin, entstehe.
Wenn auch für die Entstehungsweise der Hippursäure durch diese Arbeit
keine entscheidende positive Erklärung gegeben worden ist, - — ■ eine Frage, die über-
haupt mit der noch ungelösten, so schwierigen Aufgabe der exakten Erklärung
der chemischen Vorgänge bei der Reproduktion und dem Stoffwechsel im lebenden
Organismus zusammenfällt, — so ist dadurch doch die eigentliche Frage genügend
beantwortet worden, und es verdienen der Fleiß und die Beharrlichkeit, mit denen
diese zum Teil recht schwierige und selbst kostspielige Arbeit durchgeführt wurde,
die große Mühe, die mit der Ausführung der sehr zahlreichen Versuche verbunden
war, die gründlichen chemischen und physiologischen Kenntnisse und die Bekannt-
schaft mit der richtigen Methode der Forschung in den Naturw^issenschaften und
mit der Literatur über diesen Gegenstand, welche der Verfasser an den Tag gelegt
hat, die vollste Anerkennung.
6) zu S. 7. Die genaueren Angaben über Weismanns Rostocker Tätigkeit
verdanke ich den Nachforschungen des Herrn Privatdozenten Dr. R. Wegner
in Rostock. Derselbe fand nach sehr mühseligem Suchen unter den Quittungsbelegen
für das Stadtkrankenhaus die Angabe (Kassenbelege, Band 1856 — ad 99c und
99 d), daß Dr. Weismann ab Johannis (24. Juni 1856) als akademischer Assistenz-
arzt am Krankenhause angestellt wurde (Reskript des Vizekanzlers Dr. v. Both
— 277 —
vom 21. Juli 1856). Er verließ diese Stellung mit dem i. April 1857. Direktor dieses
Krankenhauses war Obermedizinalrat Prof. C. F. Strempel, der die medizinisch-
chirurgische Klinik 1830 — 1872 leitete. Neben ihm wirkte gleichfalls als Ordinarius
Obermedizinalrat Prof. Spitta (1825 — 1860). Aus dem Universitätsarchiv ließ sich
weiter feststellen, daß Weismann von Ostern 1857 bis Ostern 1858 als Studiosus
chemiae immatrikuliert war; das Personalverzeichnis führt für das S.-S. 1857 und
das W.-S. 1857/58 den Dr. A. Weismann aus Frankfurt an (Mitt. der Bibliothek in
Rostock). Er wohnte im chemischen Institut am Blücherplatz, dessen Direktor
Franz Schulze war. In den Kollegiengeldbüchern desselben findet sich Weismann
nicht verzeichnet, er hat also keine Gebühren für dessen Vorlesungen bezahlt und
ist somit wohl eine Art Volontärassistent bei Schulze gewesen. Ein offizielles Ge-
halt hat er, wie sich aus den Belegen der Universitätskasse nachweisen läßt, nicht
bezogen, da ein anderer Assistent genannt wird, und nur für diesen eine Remuneration
überhaupt vorgesehen war. — Die Arbeit über den Salzgehalt der Ostsee ist ver-
öffentlicht im Mecklenburgischen Archiv für Landeskunde; als selbständige Schrift
ist sie in der Universitätsbibliothek in Rostock, — nach Mitteilung derselben, —
nicht vorhanden, und die Anmerkung, die sich im Archiv für Landeskunde findet,
läßt darauf schließen, daß sie selbständig nicht erschienen ist.
7) zu S. 9. Sein Gesuch um Zulassung zur Habilitation ist datiert: Frank-
furt a. M., II. Januar 1863; am 17. Januar 1863, also an seinem Geburtstag, be-
schloß die medizinische Fakultät nach dem Bericht des damaligen Dekans, des be-
rühmten Botanikers Anton de Bary, den Dr. med. Weismann zur Habilitation für
das Fach der Zoologie zuzulassen. Am 27. Januar 1863 gab das Großh. Ministerium
seine Genehmigung dazu, und im Mai 1863 erfolgte die Habilitation. Schon am
4. September 1865 wurde er a. o. Professor der Zoologie und provisorischer Mit-
direktor des zoologischen Institutes (mit Otto Funke, dem physiologischen Or-
dinarius, der die Zoologie nebenbei vertrat). Am 4. April 1867 erfolgte die Ernennung
zum etatsmäßigen a. o. Professor der Zoologie, mit definitiver Übertragung der Lehr-
kanzel, als welcher er am 7. Juli 1868 seine Antrittsrede über die Berechtigung
der Darwinschen Theorie hielt. Zum ordentlichen Professor in der philosophischen
Fakultät wurde er am 4. April 1873 ernannt, womit überhaupt der erste ordentliche
zoologische Lehrstuhl in Freiburg errichtet wurde. Die philosophische Fakultät
Freiburg verlieh ihm am 16. Mai 1879 die Würde eines Dr. phil. h. c.
8) zu S. 13. E. Rddl in seiner gewiß sehr verdienstvollen ,, Geschichte der
biologischen Theorien" (II. Teil, Leipzig 1909, S. 410 u. ff.) hat es fertig gebracht,
über Weismann in einem Tone zu reden, daß der, der Weismann nicht kennt, not-
wendig zu dem Schluß kommen muß, es hier mit einem Charlatan zu tun zu haben,
der von vornherein gar nicht ernst zu nehmen ist. Noch niemals dürfte über
einen anerkannten Forscher mit so viel giftiger Bosheit gesprochen worden sein,
wie es hier geschieht. ,,Ein bekanntes Gesellschaftsspiel besteht darin, daß einem
Mitglied der Gesellschaft ein Thema aufgegeben wird, über welches er angenehm
und geistreich eine Rede halten muß." Dieses Mitglied der Gesellschaft ist Weismann,
ein ,, geistvoller Causeur" ; das Thema, das die Gesellschaft für ihn bestimmte,
lautet: ,,Das Keimplasma". ,,Eine wirklich schwierige Aufgabe, aus diesem leeren
Worte, das überdies nicht dem eigenen Geiste entstammt, eine Rede zu entwickeln,
— 278 —
die die Welt befriedigen soll." Aber Weismann wagt es und redet; — „schließlich
scheint er sich in seine Ideen zu heftig hineingeredet zu haben, und sich nicht mehr
von ihnen losreißen zu können; die Gesellschaft beginnt zu murren — die Sache
ernst zu nehmen, war ja nicht abgemacht". — ,, Glücklicher Causeur! Glückliche
Gesellschaft! Was gehen sie Menschen an, welche in trüber Einsamkeit alle Kräfte
anspannen müssen, um ihrem Geiste eine lebendige Idee abzuringen, welche den
Leser nötigen, einen ebenso harten Kampf mit ihrem Werk zu bestehen; was gehen
sie Menschen an, welche ihr feuriger Glaube an eine neue Wahrheit in den schmutzigen
Kampf des wirklichen Lebens treibt, um der Idee die ganze Welt zu unterjochen ?"
Sollte man das für möglich halten gegenüber einem Manne, der wie wenige sein
ganzes Leben hindurch seine Kräfte bis zum Äußersten, bis zur schweren Schädigung
seiner Gesundheit, im Dienste der Forschung, im Ringen um lebendige Ideen und
im Kampfe für dieselben, angespannt hat ? Im übrigen hat Weismann stets auch
in der Form die Würde der Wissenschaft hoch gehalten; und auch Gegnern gegen-
über ist er niemals in den Ton journalistischer Effekthascherei verfallen, wie er
hier ihm gegenüber angewendet wird. Wenn Rädl die Anschauungen Weismanns
nicht teilt, so ist das sein gutes Recht; die Arbeiten über Insektenentwicklung,
über die Daphnoiden, die Hydromedusen und so viele andere hätten aber ihren
Urheber wohl davor schützen können, daß man ihm den wissenschaftlichen Ernst
abspricht und ihn lächerlich zu machen sucht. Freilich scheint Rädl von Weismanns
Arbeiten nicht allzuviele zu kennen; so sind ihm, wie aus einer Bemerkung auf
S. 548 seines Werkes hervorgeht, die vielen experimentellen Arbeiten desselben
unbekannt geblieben. Es lohnt wirklich nicht, im Einzelnen auf Rädl einzugehen.
9) zu S. 13. Weismanns Kinder sind: i. Therese, * 1868, verh. mit (j")
Regierungsrat Schepp; 2. Hedwig, * 1870, verh. mit Prof. W. N. Parker in Cardiff;
3. Elise, * 1871, verh. mit Prof. Dr. Heinrich Riese, Direktor des Kreiskranken-
hauses Lichterfelde; 4. Bertha, * 1873, verh. mit Oberbürgermeister Dr. Hans Riese
in Eisleben (Bruder des vorigen) ; 5. Meta, * 1875, "f 1876; 6. Julius, ♦ 1879, Kom-
ponist in Schachen am Bodensee.
10) zu S. 23. Im zweiten Beitrag zur Naturgeschichte der Daphnoiden (Über
die Eibildung bei den Daphnoiden). 1877.
11) zu S. 34. Das geht hervor aus einer Bemerkung auf S. 669 der Arbeit
von 1895 (Neue Versuche zum Saisondimorphismus der Schmetterlinge).
12) zu S. 39. In den hier angeführten Worten (1876, S. 75) erscheint zum
ersten Male der Begriff ,, Allmacht der Naturzüchtung", aber nicht als Kennwort
eines Bekenntnisses, sondern als Bezeichnung eines Problemes.
13) zu S. 42. Die Arbeit von Weismann selbst ist 1875 erschienen und ent-
hält einen kurzen Bericht über die Versuche, von Frl. v. Chauvin, sowie Erörte-
rungen wesentlich theoretischer Art, von Weis mann; die ausführUche Darstellung
der Versuche hat Frl. von Chauvin selbst 1876 gegeben (in der Zeitschrift f. wiss.
Zoologie, Bd. XXVII). In diesem letzteren Jahr erschien dann auch der zweite
Abdruck der Weismannschen Arbeit im zweiten Heft der ,, Studien zur Deszendenz-
theorie".
14) zu S. 46. Weismann schreibt: Daphnoiden und braucht diese Bezeichnung,
im alten Sinne, als gleichbedeutend mit dem jetzt gebräuchlicheren Ausdruck:
— 279 —
Cladocera. Gemeint ist also damit die ganze Unterordnung der Phj'llopoden,
die die Familien der Daphnidae, Polyphemidae, Sididae, Lynceidae umfaßt. Das
ist zu beachten angesichts der Tatsachen, daß jetzt gewöhnlich von der „Natur-
geschichte der Daphniden" gesprochen und damit der Eindruck erweckt wird,
als ob es sich nur um die Familie handelt, die jetzt als Daphnidae bezeichnet wird
(vgl. den zweiten Beitrag, in der Zeitschrift f. wiss. Zoologie, Bd. XXVIII, 1877,
S. 93, Anm.) Weismann teilt dort die Ordnung der Daphnoidea oder Cladocera
nur in zwei Familien, ,,Daphnida" und ,,Polyphemida" ein; daß er diesen aber auch
die Sididae und Lynceidae einordnet, geht aus den Arbeiten selbst hervor.)
15) zu S. 47. Der historisch begründete und überall eingebürgerte Name ist
,, Parthenogenese" ; im Interesse einer einheitlichen Nomenklatur wäre aber
,,Parthenogonie" vorzuziehen. Denn in allen neueren Zusammensetzungen mit
yivEotg (Ontogenese, Phylogenese, Histo-, Chondro-, Osteo-, Spermio-, Oogenese usw.)
bedeutet dieses: ,, Entwicklung", ,, Bildung", und der jeweilige Zusatzbegriff ist
im Sinne des Genetivs, = des sich Entwickelnden, aufgefaßt (Chondrogenese =
Bildung des Knorpels usw.), während in den Zusammensetzungen mit yovia dieses
die Bedeutung ,, Zeugung" hat, und durch den Zusatz, der meist ein Substantiv-
stamm, aber auch manchmal ein Adverbium ist, der Erzeuger oder die Art der
Erzeugung bezeichnet wird (Tokogonie, Amphigonie, Monogonie, Antagonie, Gamo-,
Sporo-, Schizogonie usw.). Wenn ,, Elternzeugung" ,, Tokogonie" genannt wird,
so ist ,, Jungfernzeugung" ,,Parthenogonie" zu nennen. Tokogenese, Parthenogenese
usw. würden nach dem oben festgestellten Sprachgebrauch etwas ganz anderes be-
deuten. Ganz entsprechend sollte man aber auch Metagonie und Paedogonie (nicht,
wie gebräuchlich, Metagenese und Paedogenese) sagen. Die verschiedenen Formen
kombinierter Fortpflanzung (Metagonie, Heterogonie und den primitiven Ge-
nerationswechsel bei Sporozoen) könnte mann unter dem Namen Cyclogonie
zusammenfassen.
16) zu S. 74. Darwin, Entstehung der Arten. Deutsche Übersetzung von
J. V. Carus. 7. Aufl.. Stuttgart, 1884, S. 33.
17) zu S. 75. Die drei angeführten Stellen finden sich in: Studien zur De-
szendeztheorie, IL, 1876, S. 306; Über die Berechtigung der Darwinschen Theorie.
1868, S. 25; Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden, VII, 1879 (1880), S. 251.
18) zu S. 75. Kontinuität des Keimplasmas, 1885, S. 4.
19) zu S. 83. Roux, Wilhelm, Über die bei der Vererbung blastogener
und somatogener Eigenschaften anzunehmenden Vorgänge. Verhandlungen des
naturforschenden Vereins in Brunn, Bd. XLIX, 191 1, S. 269 — 323.
20) zu S. 93. ,, Nützliche Teile" und ,, Nutzlose Teile".
1. Eupraktisch.
a) aktiv funktionierend,
b) passiv funktionierend,
2. Apraktisch.
Zwischen nützlichen und nutzlosen stehen solche, die unter erschwerten
Bedingungen wirksam sind, z. B. : oberflächlicher Hohlhandbogen des Fußes.
Rudimentärwerden ist auch an Funktionsbehinderung geknüpft.
— 28o —
In dem ,, Kampf der Teile" unterscheidet Roux:
S. 145 passiv fungierende Organe (Stützsubstanzen: Bindegewebe, Knorpel,
Knochen) und aktiv tätige Organe oder Arbeitsorgane (Muskeln, Drüsen,
Nerven, Ganglienzellen und Sinneszellen),
S. 162 zwei Hauptgruppen von Organen,
S. 204 Organe, die keine aktive oder passive Funktion haben, sondern blof3 durch
ihre Anwesenheit, ihr Sichtbarsein nach außen nützen.
21) zu S. 95. Übrigens ließen sich ähnliche Erwägungen wie für die chitinigen
Skeletteile der Arthropoden auch für die knöchernen der Wirbeltiere anstellen,
die doch gewiß eine hohe funktionelle Anpassungsfähigkeit besitzen. Für die Aus-
gestaltung der Teile des Innenskeletts mit ihren vielfachen statisch-mechanischen
Beanspruchungen würde das Lamarcksche Prinzip, wenn es Geltung hätte, gewiß
auf Schritt und Tritt Verwendung finden können, wie aber steht es mit den Teilen
des Exo Skelettes, den oberflächlich in der Haut sich bildenden Knochenpanzern,
den kleinen und großen Schuppen der Fische, den breiteren Knochenplatten, den
Deckknochen, die etwa auf dem Primordialkranium der Ganoiden als Verstärkungen
des weicheren Knorpels sich bilden, und von denen die Schädeldeckenknochen
der übrigen Formen abgeleitet werden ? Durch ihr bloßes Vorhandensein bilden
sie sicherlich einen für das Tier sehr nützlichen Schutz, aber welches ist neben dieser
bloßen ,, Daseinswirkung" noch die besondere Inanspruchnahme, die ihre weitere
Ausbildung auf Grund funktioneller Anpassung verständlich machen könnte ?
Auch hier kann das Prinzip des Lamarckismus wohl nicht für die stammesgeschicht-
liche Entwicklung in Anspruch genommen werden. Der Hinweis läßt übrigens auch
deutlich erkennen, daß mit den „passiv wirkenden Teilen" Weismanns etwas ganz
anderes gesagt sein soll, als mit den ,, passiv funktionierenden Organen" von Roux.
22) zu S. 100. Der Vortrag von Hubermann, der mir nicht zugänglich
war, hat nach Kammerer den Titel: ,, Meine Kunst" und ist im Neuen Wiener
Tageblatt, So., 22. Januar 1911, Nr. 22, S. 7 erschienen. Kammerers Schrift
betitelt sich: ,,Über Erwerbung und Vererbung des musikalischen Talentes" und
ist erschienen bei Theod. Thomas in Leipzig, 1912. Kammerer knüpft an den Vor-
trag von Hubermann an, in dem die Ansicht vertreten wird, daß es eine spezielle
Begabung nicht gibt, also auch keine musikalische. ,,Es gebe nur verschiedene
Grade einer allgemeinen Begabung, und das Gebiet, auf welchem sie ihre be-
sonderen Leistungen entfaltet, sei völlig abhängig von dem, was wir Zufall nennen,
zumeist also von der äußeren Lebenslage, die den Beruf entscheidet." Gegenüber
dieser Ansicht, die durch ihren Gewährsmann von Interesse ist und sich mit der
anfänglichen von Weismann nahe berührt, vertritt Kammerer die Auffassung,
daß allerdings eine solche allgemeine Begabung, die nur durch sekundäre Umstände
in eine bestimmte Bahn gelenkt wird, existiert, und daß vielleicht gerade Huber-
mann sie besitzt, daß aber außerdem auch eine spezifisch musikalische Be-
gabung besteht, die durch Übung im Laufe der Generationen gesteigert werden
kann. Kammerer, einer der energischsten modernen Verfechter des Lamarckschen
Prinzipes, betont, daß ,, musikalisches" und im allgemeinen gutes, scharfes Gehör
durchaus nicht identische Dinge sind, er weist auf den Wandel und die Anpassungs-
fähigkeit hin, die das musikalische Empfinden im Laufe der Musikgeschichte zeigt.
— 28l —
auf die so oft hervorgehobene Tatsache, daß das Beethovcnsche Orchester von den
Zeitgenossen lärmend genannt wurde, während dem modernen Publikum gegenüber
erst eine doppelte Besetzung, namentlich in den Bläsern, die ergreifendste Wirkung
hervorzurufen vermag; ja er sagt geradezu: ,,Die heute auf die Welt kommenden
Generationen bedürfen keiner besonderen Gewöhnung mehr, um in einer Beet-
hovenschen Symphonie, ja in sämtlichen Bühnenwerken R. Wagners sofort
die gewaltigste, ergreifendste Melodik und durchsichtigste Klarheit aller Stimmen
zu erkennen, vorausgesetzt, daß die betreffenden Individuen halbwegs musikalisch
eindrucksfähig sind." So glaubt er denn auch, daß Musikausübung seitens des
Vaters dem Sohne durch Vererbung zugute kommen könne: wenn der junge Wolf-
gang Amandus Mozart als dreijähriges Kind ganz ohne vorausgegangene Übung
Melodien spielen konnte und mit wunderbar wenig Übung das Pianoforte vollends
meistern lernte, so hieße es, Kammerers Ansicht zufolge, ,, wahrlich den Tatsachen
Gewalt antun, wollte man auch hier annehmen, daß diese phänomenale Fähigkeit
ohne erblichen Einfluß seitens des ebenfalls pianistisch tätigen Vaters Leopold
Mozart zustandegekommen sei"; ja, er hält es sogar für möglich, daß der Müller-
beruf des ältesten Stammvaters der Familie Bach ,,für Erweckung des rhythmischen
Sinnes von höchster Bedeutung gewesen" sei, und setzt hinzu: ,,ich wäre versucht,
den Einfluß hiervon noch in Werken von Joh. Seb. Bach ausfindig zu machen,
müßte ich nicht fürchten, daß hier die Phantasie mit nüchternen Wahrnehmungen,
wie sie dem Naturforscher ziemen, ihr Spiel treiben könnte." Schärfer kann die
Überzeugung von dem Fortwirken persönlicher Eindrücke auch auf die Nachkommen
kaum ausgesprochen werden. Ein näheres Eingehen darauf ist hier nicht am Platze;
doch mag bezüglich des Stammvaters der Bache die Angabe von Weismann erwähnt
sein: ,,Auch der obengenannte Ahnherr der Familie Bach spielte viel auf einem
Cythringen, einem guitarreartigen Instrument, das er von seinen Wanderjahren
mit in seine Mühle gebracht hatte, und ,das ist gleichsam der Anfang zur Musik
bei seinen Nachkommen gewesen', sagt Sebastian Bach von ihm." Jedenfalls ist
darnach eins sicher: daß nämlich schon jener Stammvater Bach musikalisch war,
woraus wir, entsprechend dem bekannten Musikerworte ,,Am Anfang war der
Rhythmus", wohl auch schließen dürfen, daß ihm der Sinn für Rhythmus nicht erst
durch das Klappern seiner Mühle erweckt zu werden brauchte. Mit seiner Auf-
fassung hinsichtlich der Unterscheidung einer ,, universellen" und einer ,, spezifisch
musikalischen" Begabung dürfte Kammerer ebenso im Rechte sein, wie mit der
Betonung, daß ausgezeichnete Hörschärfe und musikalisches Gehör noch etwas
verschiedenes sind. Hinsichtlich des ersten Punktes wäre es von Interesse, nach
dem Urteil von Hubermann einmal das von anderen Geigern zu hören, die, man
möchte sagen, besonders ,, violinistisch" veranlagt sind.
23) zu S. loi. Rouxin: Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte,
Bd. II, 1892, Artikel: Entwicklungsmechanik, S. 419.
24) zu S. 106. Semon, R. Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel
des organischen Geschehens, II. Aufl. Leipzig 1908.
25) zu S. 109. Die für das Folgende in Betracht kommenden Darstellungen
sind hauptsächhch der Vortrag über die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung
für die Selektionstheorie (1886) und der Aufsatz über die Amphimixis (1891).
— 282 —
20) ZU S. I20. Gregor Mendel, Versuche über Pflanzenhybriden. Zwei
Abhandlungen (1865 und 1869). Herausg. v. Erich Tschermak. Ostwalds Klassiker
der exakten Naturwissenschaften, Nr. 121. Leipzig 1901.
Es sei hingewiesen auf: Bateson, W., Mendels Principles of Heredity.
Cambridge 1913 (auch Deutsch).
Baur, E., Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. 2. Aufl.
Berlin igoo.
Goldschmidt, R., Einführung in Vererbungswissenschaft. Leipzig 1911.
Haecker, V., Allgemeine Vererbungslehre. 2. Aufl. Braunschweig 1912.
Johannsen, W., Elemente der exakten Erblichkeitslehre. Mit Grund-
zügen der biologischen Variationsstatistik. Zweite deutsche, neubearbeitete und
sehr erweiterte Ausgabe in 30 Vorlesungen. Jena 1913.
Plate, L., Vererbungslehre. (Handbücher der Abstammungslehre, Bd. IL)
Leipzig 191 3.
27) zu S. 128. Die Ansicht, daß die Vererbungssubstanz im Chromatin des
Kernes zu suchen ist, hat Weismann zuerst in der Kontinuität des Keim-
plasmas (1885) mit Bestimmtheit ausgesprochen, erst nach Strasburger und
Hertwig. Es ist aber sicherlich berechtigt, wenn er darauf hinweist (Vorträge über
Deszendenztheorie, IIL Aufl.. 1913, Bd. I, S. 285, Anm.), daß seine früheren Schriften
ihm die Selbständigkeit des Gedankens bezeugen.
28) zu S. 135. Die Änderung, die Weismann an seinen Vorstellungen bezüg-
lich der Zusammensetzung des Keimplasmas aus einer Mehrzahl von Volliden vor-
genommen hat, läßt die Frage aufwerfen, ob denn in den früheren (oben, auf S. 132)
angeführten) Gedankengängen, die doch zur Annahme einer sehr großen Zahl
von Volliden im Keimplasma führten, etwa ein Fehler steckte. Die Frage liegt
folgendermaßen. Nach Weismanns Auffassung erfolgt bei der Reifung der Geschlechts-
zellen durch die Reduktionsteilungen eine Halbierung der Zahl der Ide, durch die
darauf folgende Befruchtung wird die ursprüngliche Zahl der Ide wiederhergestellt.
So wäre also in der Tat, vorausgesetzt, daß die Reduktion von jeher der Befruchtung
vorausging, eine Vermehrung der Idzahl im Laufe der Stammesgeschichte aus-
geschlossen gewesen. (Natürlich kann es sich hier nur handeln um eine Häufung
von Iden, die nach Herkunft und individueller Färbung verschieden sind; — eine
bloße Zahlvermehrung, etwa durch Selbstteilung von Iden, kommt hier nicht in
Frage.) Die Annahme einer Vielheit der Ide im Keimplasma enthielt somit zugleich
die stillschweigend gemachte Voraussetzung, daß die Reduktionsteilung erst ein-
geführt wurde, nachdem die Amphimixis schon eine Zeitlang ohne eine solche im
Gange war und so die Zahl der Ide auf eine beträchtliche Höhe gesteigert hatte.
Weismann deutet dies selbst in dem Aufsatz über Amphimixis an (S. 18 der Sonder-
ausgabe). Eine Schlußfolgerung — die Weismann selbst allerdings nicht gezogen
hat — mußte dann die sein, daß von diesem Augenblick der Einführung der Re-
duktionsteilung an die Zahl der Ide bei allen Formen konstant blieb: es müßte,
wofern dieser Vorgang nur einmal, an einer ganz bestimmten Stelle der phyletischen
Entwicklung erfolgte, bei allen Formen, bei denen heutzutage Amphimixis und
Reduktionsteilung bestehen, — und das sind ja sogar schon Einzellige! — die ganz
gleiche Zahl von Iden im Keimplasma vorhanden sein. Eine Schlußfolgerung, die
- 283 -
bei der sehr verschiedenen Anzahl von Chromosomen bei den cinzehien Arten recht
unwahrscheinlich erscheinen muß, die allerdings vermieden werden könnte, durch
die Annahme, daß die Reduktionsteilung zu verschiedenen Malen, bei verschiedenen
Formen selbständig eingeführt worden ist. Diesen mancherlei Bedenken geht die
neue Auffassung, daß die Anlagen zu einem Individuum nur zweimal im Keimplasma
enthalten seien, aus dem Wege ; sie gestattet die Annahme, die wohl die natürlichste
und nächstliegende ist: daß die Reduktionsteilung schon im Anschluß an die erst-
malige Amphimixis eingeführt wurde. Somit ist die Frage nach dem Zeitpunkt der
phyletischen Entwicklung, zu dem die Reduktionsteilung eingeführt wurde, der
Punkt, der von dem Wechsel der Anschauungen Weismanns ganz besonders be-
troffen wird. Die neue Auffassung erlaubt es auch leichter, sich mit der Tatsache der
ungleichen Chromosomenzahl bei verschiedenen Formen abzufinden, einem Art-
merkmal, das als solches ebenso wie andere Artmerkmale der Veränderlichkeit
unterworfen scheint. In manchen Beziehungen bietet sie freilich größere Schwierig-
keiten als die alte Vorstellung.
29) zu S. 136. Die Begründung für die Notwendigkeit, die frühere Auffassung
zu ändern, und zugleich die Begründung für die neue Auffassung findet sich im
zweiundzwanzigsten der ,, Vorträge zur Deszendenztheorie", der in der 3. Auflage
neu hinzugekommen ist. Hier sind die Chromosomen — wenigstens für die höheren
Organismen — als ,, Teilide" definiert und die Mendelschen Vererbungserschei-
nungen unter Zugrundelegung dieser neuen Auffassung behandelt. Dort ist auch die
Möglichkeit erörtert, daß in gewissen Fällen (z. B. bei den sozialen Hymenopteren)
neben den Teiliden auch noch Vollide im Kern weiter bestehen. Die Auffassung,
daß für jedes Merkmal die Determinante doppelt vorhanden ist, wird mehrfach
ausdrücklich ausgesprochen und der Betrachtung zugrunde gelegt (Vorträge, 3. Aufl.,
Bd. II, S. 56, 115, 117, 122, 127 und an anderen Orten). Die Hilfsvorstellung, daß
vielfach für dasselbe Merkmal eine Vielheit von Determinanten in demselben Id
vorhanden ist, wird vor allem begründet im 24. Vortrag (Vorträge, Bd. II, S. 58):
,,Ob nun freilich die Zahl der in zwei Iden liegenden homologen Determinanten
stets die gleiche ist, so etwa, wie die Zahl der Ide in homologen Zellen derselben
Art stets die gleiche ist, das läßt sich nicht sehen und ich möchte es auch für wahr-
scheinlich halten. Es kann recht gut sein, daß die Determinanten in dem einen
der homologen Ide zahlreicher als im anderen sind und wenn wir das annehmen,
•SO ließe sich daraus eine Ursache der ungleichen Stärke homologer De-
terminanten ableiten; es könnte die größere Stärke einfach der Ausdruck einer
größeren Anzahl gleicher Determinanten auf der einen Seite sein. Das
liegt um SO näher, als wir uns die Determinanten wohl meist im Plural zu denken
haben. Bestimmt doch ,eine Determinante' meist nicht eine Einheit, sondern eine
Vielheit gleicher Teile, seien es Blumenblätter, Finger oder Haare; das Bestimmende
muß sich also nach Bedarf vermehren können; diese Vermehrung wird aber um so
rascher und intensiver geschehen, je größer die Determinantenzahl schon von An-
fang war. Da hätten wir also eine Erklärung für die Tatsache der Dominanz oder
Rezessivität, die sich noch durch mancherlei bestätigen läßt; vor allem durch die
Erscheinungen des Rückschlages, zu dem wir uns jetzt wenden wollen."
In den nun folgenden Auseinandersetzungen über Rückschlag bezieht sich Weismann
— 284 —
aufs neue auf die Hypothese, nach der die Dominanz nicht nur auf der An- oder Ab-
wesenheit einer Determinante, sondern auch auf der Quantität, in welcher sie
vorhanden ist, beruht. Die gleiche Vorstellung von der Vielheit der Determinanten
für ein Merkmal findet sich auch an anderen Stellen verwertet, so bei der Erklärung
der Spielvarietäten. Vortage, II, S. 130: ,,denn solche sprungweise auftretenden
Spielvariationen sind bei Pflanzen, die aus dem Samen gezogen wurden, meist samen-
beständig, und pflanzen sich, mit eigenem Pollen befruchtet, rein fort, ein Beweis,
daß die gleichen Veränderungen an einer ganzen Gruppe homologer Determinanten
im Id eingetreten sein müssen. Denn wir haben schon frü hergesehen, daß wir uns
die Determinanten meist als ein Mehrfaches vorzustellen haben." Hier ist also aus-
drücklich von einer ganzen Gruppe homologer Determinanten innerhalb eines Ides
(Chromosoms) gesprochen, und damit jedes Mißverständnis ausgeschlossen. Ebenso
S. 131: die Fortpflanzung der Knospenvariationen durch Samen ist ein Beweis
dafür, ,,daß auch hier eine gewisse Zahl von Determinanten der gleichen Art sich
verändert haben müssen, vielleicht nicht immer alle homologen Determinanten
des Ids, aber doch eine Überzahl von ihnen". Die Annahme einer Vielheit von De-
terminanten für dasselbe Merkmal wird eben von manchen Erscheinungen gefordert,
und nachdem die alte Vorstellung von der Vielheit der Vollide im Keimplasma
fallen gelassen worden war, blieb nichts anderes übrig, als die Vielheit der Deter-
minanten innerhalb des Einzelides zu suchen. — Übrigens finden sich, wie schon
in der biographischen Skizze gesagt wurde, in der 3. Auflage der ,, Vorträge" mehrere
Stellen, die aus den früheren Auflagen unverändert übernommen worden sind,
trotzdem sie inhaltlich nicht mehr berechtigt sind, da in ihnen noch die frühere An-
schauung herrscht, daß das Keimplasma in jeder Keimzelle aus einer sehr großen
Anzahl von ,,Volliden" zusammengesetzt ist. Solche Stellen sind: Teil I, S. 319,
von Abschnitt 2 an bis zum Schlüsse der Vorlesung; Teil II, S. 142, die beiden letzten
Abschnitte; S. 284 und S. 285 (Unterschied zwischen fluktuierender Variabilität
und Mutation) u. a.
30) zu S. 146. Roux, W., Der Kampf der Teile im Organismus, 1881, S. 178.
31) zu S. 148. Plate, L., Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung.
Ein Handbuch des Darwinismus, 4. Aufl., Leipzig 191 3, S. 450 u. ff.
32) zu S. 148. Roux, s. Anm. 19 zu S. 43.
33) zu S. 151. S. die vorige Anm.
34) zu S. 161. Rä.dl, E., Geschichte der biologischen Theorien. Teil II,
Leipzig 1909. S. 371: ,, Innerhalb des ganzen Darwinismus wiederholt sich diese
logische Eigentümlichkeit, daß die Begriffe sowohl logische Abstraktionen, als auch
Namen für ein Geschehen oder für eine Erscheinung bedeuten. Die Bedeutung der
Worte , Zoologie' und .Tierreich', die Wissenschaft und ihr Objekt zu verwechseln,
ist nicht möglich; im Darwinismus aber bedeuten die Worte ,Phylogenie', ,Ontogenie'
eine Wissenschaft und zugleich auch ihr Objekt; ebenfalls bedeuten die Worte
, natürliche Zuchtwahl' sowohl einen Begriff als auch ein Geschehen." Das ist in
der Tat ganz richtig, und dieser Doppelgebrauch^der Worte hat manche Irrtümer
verschuldet. Auch^Weismann braucht^das^Wort ,, Naturzüchtung" bald für das
Erklärungsprinzip, bald für die hypothetisch angenommene Kraft; in dem' jedes
maligen Zusammenhang kann es aber wohl nie zweifelhaft sein, was gemeint ist.
- 285 -
35) zu S. 163. Der Begriff sexueller Dimorphismus ist von Weismann
gebildet worden. Einfluß der Isolierung usw., 1873, S. 17.
36) zu S. 165. Kölliker 1864 (Über die Darwinsche Schöpfungstheorie.
Zeitschrift f. wissensch. Zoologie, Bd. XIV, 1864) und 1872 (Anatomisch-systematische
Beschreibung der Alcyonarien. Erste Abteilung: Die Pennatuliden, Schluß; in den
Schlußbemerkungen von S. 206 an).
37) zu S. 165. Hierüber und über das Folgende s. besonders den Aufsatz
über die Selektionstheorie von 1909.
38) zu S. 166. Darwin spricht über diese biologisch gleichgültigen Abände-
rungen nur beiläufig, z. B. in der ,, Entstehung der Arten" (7. Aufl. der deutschen
Übersetzung von J. V. Carus, 1884, S. 100): ,, Abänderungen, welche weder vorteil-
haft noch nachteilig sind, werden von der natürlichen Zuchtwahl nicht berührt
und bleiben entweder ein schwankendes Element, wie wir es vielleicht in den so-
genannten polymorphen Arten sehen, oder werden endlich fixiert infolge der Natur
des Organismus oder der Natur der Bedingungen."
39) zu S. 167. Über den Rückschritt in der Natur, 1886, S. 5.
40) zu S. 168. Dieser Einwurf wird sehr scharf ausgesprochen von E. Rädl
(Geschichte der biologischen Theorie, Bd. II, Leipzig 1909, S. 373): ,,Eine andere
Eigentümlichkeit der Zuchtwahllehre ist der Gedanke, daß der Fortschritt für sie
ein bloßes Passivum bedeutet. Seit je verstand man unter .Leben' eine Tätigkeit,
eine Entwicklung zur Macht, eine Wirkung auf die Umgebung; von dem Fortschritte
in der Welt glaubte man und ist man noch immer überzeugt, daß es durch ein
Streben, durch einen Kampf für Ideale, durch eigene Kraft vor sich geht. Diese
Auffassung wird von Darwin indirekt bekämpft; das Leben vermag nach ihm nichts,
sondern ist nur ein Spielzeug in den Händen der verschiedensten äußeren Faktoren;
es gibt bei Darwin keinen Fortschritt, sondern nur einen Fortschub (,du
glaubst zu schieben und du wirst geschoben'), denn wenn ein Organismus irgend
einen Vorzug vor anderen hat, so verschafft er ihm die gehörige Geltung und Ver-
tiefung kemeswegs durch eigenes Bemühen: mit seinem Tode werden alle seine
Ideale hinfällig; nur derjenige hat Hoffnung auf Sieg, der viel Kinder erzeugt — das
ist der Sinn der Zuchtwahltheorie." Wie jemand das als ,,Sinn" aus der Zuchtwahl-
theorie herauslesen kann, einer Theorie, die gerade von der verschiedenen Qualität
auch der kleinsten individuellen Abweichungen ausgeht, und für die die Quantität der
Nachkommen sehr wenig, die Qualität alles ist, ist mir unverständlich. Was aber
die Geltendmachung der Vorzüge anlangt, so meine ich, daß wenigstens die tierischen
Organismen dazu durch eigenes Bemühen recht wohl beitragen können, und wenn
sie das tun, so brauchen ihre ,, Ideale" durchaus nicht mit dem Tode hinfällig zu
werden, sondern haben Aussicht, in Nachkommen weiter zu leben. Das ist wohl
mit größerem Recht als ,,Sinn der Zuchtwahltheorie" zu bezeichnen.
41) zu S. 169. Ich habe diesen Punkt hier herausgegriffen, nicht als ob er
zuerst oder ausschließlich von Weismann hervorgehoben worden wäre, sondern
lediglich, weil die angeführte Stelle bei Weismann guten Anlaß gibt, ihn einmal
schärfer zu betonen, als das gewöhnlich geschieht. Die landläufigen Darstellungen
des Darwinismus erwähnen ihn meist gar nicht. Sehr klar spricht sich Plate dar-
über aus (Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung, 4. Aufl., 1913, S. 227):
— 286 —
,, — denn hierin liegt nur das Divergenzprinzip der natürlichen Zuchtwahl, daß
nämlich diejenigen Individuen, welche von ihren Genossen und Eltern möglichst
verschieden sind, die meiste Aussicht haben, unbenutzte Plätze im Haushalt der
Natur anzutreffen, es fehlt aber darin der wichtigere Hinweis auf die Anpassungen,
und außerdem genügt zur Anwartschaft auf das Überleben nicht jede Veränderung,
sondern nur eine solche, die entweder eine Verbesserung einer schon vorhandenen
Bildung darstellt oder neue unbesetzte Plätze durch eine Neubildung ausnützt."
S. auch Weismann, Vorträge, 3. Aufl., Teil II, S. 326.
42) zu S. 177. Plate, Selektionsprinzip usw., 4. Aufl., 1913, S. 175.
43) zu S. 180. Z. B. in dem Aufsatz über die Bedeutung der sexuellen Fort-
pflanzung (S. 8 u. ff.), der von den späteren Schriften wohl am ausführlichsten auf
die Nägelische Theorie eingeht.
44) zu S. 184. Die Selektionstheorie, 1909, S. 151.
45) zu S. 200. Roux, W., Der Kampf der Teile im Organismus. Ein Bei-
trag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre. Leipzig 1881.
Neu abgedruckt und mit Anmerkungen und Zusätzen versehen unter dem Titel:
,,Der züchtende Kampf der Teile" oder die ,, Teilauslese" im Organismus. Zugleich
eine Theorie der ,, funktionellen Anpassung"; in: ,, Gesammelte Abhandlungen
über Entwicklungsmechanik der Organismen", Bd. I, Leipzig 1895 (Nr. 4). Außer-
dem seien von den späteren Schriften genannt: ,, Beiträge zur Morphologie der funk-
tionellen Anpassung". I. Struktur eines hoch differenzierten bindegewebigen Or-
ganes (der Schwanzflosse des Delphin). Arcliiv f. Anatomie u. Physiologie, Anatom.
Abteil., 1883, I Taf. u. 4 Textfig. — • sowie: Anpassungslehre, Histomechanik und
Histochemie. Mit Bemerkungen über die Entwicklung und Formgestaltung der
Gelenke. Berichtigungen zu R. Thomas gleichnamigem Aufsatz. Virchows Archiv
f. pathologische Anatomie u. Physiologie u. f. klinische Medizin 1912, Bd. CCIX.
46) zu S. 210. 1878, in der Arbeit über die Schmuckfarben der Daphnoiden.
46a) zu S. 211. Einen neuen, wie es scheint, sehr fruchtbaren Gedanken
zu ihrer Weiterbildung hat Weismanns Schüler K. Günther ausgesprochen. (,,Zur
geschlechtlichen Zuchtwahl", Arch. f. Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. II,
S. 321.) Er erklärt die Steigerung vieler männlichen Sexualcharaktere, wie Barte,
Kämme, Schweife, Stimme usw. mit der ,, Auslese des stärker Scheinenden"
Männchens.
47) zu S. 213. Die Selektionstheorie, 1909, S. 14.
48) zu S. 215. Vorträge, II, S. 267.
49) zu S. 217. Das Wort von der Allmacht der Naturzüchtung, das, wie schon
S. 160 bemerkt worden ist, bereits 1876 im zweiten Teil der Studien zur Deszendenz-
theorie auftaucht, ist gelegentlich auch falsch verstanden worden. Es ist ihm der
Untergang so vieler Tierformen im Laufe der Erdgeschichte entgegengehalten
worden, als Beweis, daß es mit dieser ,, Allmacht" vielfach sehr schlecht bestellt
war, da sie jenen Untergang nicht zu verhindern vermochte. Darin liegt aber wohl
ein Mißverständnis, beruhend auf dem Doppelsinn des Wortes ,, Naturzüchtung",
auf den schon oben (S. 161) aufmerksam gemacht wurde. ,, Allmacht der Natur-
züchtung' ' soll doch wohl nicht bedeuten, daß die Naturzüchtung, als personifizierte
Krait genommen, alles zu leisten, insbesondere jede Art über alle Schwierigkeiten
- 287 -
hinwegzuführen imstande sei, sondern: daß das Erklärungsprinzip der Natur-
züchtung alle Erscheinungen im Organismenreich zu erklären vermag. Auch in
diesem Sinne aufgefaßt, ist das Wort nicht richtig, ist es zu vielsagend, aber das
Aussterben ganzer Arten gehört nicht zu den Erscheinungen, denen gegenüber es
versagt. Weismann hat sich auch darüber oft genug ausgesprochen und in den
,, Vorträgen" dem ,, Artentod" mehrere Seiten gewidmet. Er hat hier ganz ausdrück-
lich die Ansicht bekämpft, als gebe es ein ,, Greisenalter" und einen ,, physiologischen
Tod der Art" aus inneren Ursachen, wie es ein Altern und einen natürlichen Tod
des Individuums gibt, und hat demgegenüber das Aussterben der Arten darauf zurück-
geführt, daß die Lebensbedingungen, denen sie angepaßt waren, sich änderten,
und daß es ihnen aus irgend einem Grunde nicht möglich war, sich den neuen Be-
dingungen anzupassen. Das ist also eine Erklärung durchaus nach dem Natur-
züchtungsprinzip.
50) zu S. 218. Über vererbbare und passante Veränderungen findet sich
eine beachtenswerte Äußerung in dem Aufsatz Weismanns über die Bedeutung
der sexuellen Fortpflanzung (1886, S. 30): ,, Denken wir uns eine Art, deren Indi-
viduen völlig gleich sind, so werden auch ihre Nachkommen durch beUebig viele
Generationen gleich bleiben müssen, wenn wir absehen von jenen passanten
Unterschieden, wie sie durch verschiedene Ernährung usw. hervorgerufen werden,
ohne aber vererbbar zu sein. Die Individuen dieser Art würden also tatsächlich
zwar verschieden sein können, virtuell aber dennoch identisch sein; die Keime
aller müßten genau dieselben Vererbungstendenzen enthalten, und wenn es mög-
lich wäre, sie unter genau denselben Einflüssen sich entwickeln zu lassen, so müßten
sie auch völlig identische Individuen aus sich hervorgehen lassen." Diese letzten
Sätze enthalten einen Gedanken, der in der neuesten Erblichkeitslehre, von Jo-
hannsen (Elemente der exakten [s. Anm. 26]), grundlegende Bedeutung erlangt
hat: die scharfe Unterscheidung des ,,Phaenotypus" und des ,,Genotypus" (Jo-
hannsen), von denen der erste die sichtbare, feststellbare Beschaffenheit eines ge-
gebenen Organismus, seine ,, persönlich realisierten Eigenschaften", d. h. die Re-
aktionen seiner inneren Konstitution auf die wechselnden Faktoren der Lebenslage
bedeutet, während der zweite (Genotypus) die Summe der Elemente dieser seiner
inneren Konstitution ausdrückt.
51) zu S. 219. In dem Aufsatz über die mechanische Auffassung der Natur
(1876, S. 304).
52) zu S. 222. 1880, S. 250/251.
53) zu S. 224. Vorträge (3. Aufl., II, S. 68 und 103).
54) zu S. 225. Die hier erörterten Gedanken finden sich vornehmlich in den
Aufsätzen über die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung (1886) und die Am-
phimixis (1891).
55) zu S. 228. In den Vorträgen zur Deszendenztheorie (3. Aufl., Bd. II,
S. 113)-
56) zu S. 229. Germina ist der Plural von germen, Keim, und bezeichnet
somit die Determinanten; Germinalselektion bedeutet die zwischen den Germina
stattfindende Auslese, wie Personalselektion die Auslese zwischen den Personen
bedeutet. Es ist somit nicht ganz richtig, wenn Weismann von einem ,,intra"-
germinalen Nahrungsstrom oder von ,,intra"-germinalen Schwankungen der Er-
nährung usw. spricht; es müßte ,,inter"-germinal heißen. Ich habe dafür ento-
plasmatisch gebraucht. Im übrigen wäre für die Determinantenauslese ein anderer
Ausdruck statt Germinalselektion, vielleicht Gemmalselektion, wohl besser
gewesen. Die Bezeichnung Germinalselektion hätte dann für die Auslese unter
den verschiedenen Keimplasmen zweckmäßig Verwendung finden können.
Denn wenn auch nach Weismanns Auffassung die „Person" (das Soma) nur der
Wirt ist, der das Keimplasma beherbergt, ohne von sich aus einen unmittelbaren
umwandelnden Einfluß auf dasselbe ausüben zu können, und wenn auch Weismann
selbst wiederholt betont, daß die Personalauslese nur dadurch eine Bedeutung für
die Fortbildung der Art besitzt, daß sie in den Personen bestimmte Keimplasmen
auswählt, so sind doch ,, Personalauslese" und ,, Keimplasmenauslese" nicht ohne
weiteres identisch. Denn die Personen, unter denen die Auslese erfolgt, sind schon
Phaenotypen im Sinne Johannsens, Produkte aus den Keimplasmen und den
besonderen Bedingungen, unter denen sich diese entfalten konnten, sie geben
also von den eigentlichen Anlagen nicht immer ein deutliches und zutreffendes
Bild. Daß durch Personalauslese, die doch nun einmal nur mit den Phaenotypen
rechnen kann, auch einmal eine unrichtige unerwünschte Keimauslese getroffen
werden kann, ist eine Überlegung, die z. B. Fanatiker der Rassenhygiene bedenken
sollten. So wäre es also ganz erwünscht, einen besonderen Ausdruck für Keim-
plasmaauslese zu haben, und als solcher wäre Germinalselektion (von germen.
Keim, ßXaarog) sehr brauchbar gewesen. Personal-, Germinal-, Gemmalselektion
wären dann die drei für die Umbildung der Formen wichtigen Ausleseprozesse.
Durch die Bedeutung, die Weismann dem Begriff Germinalselektion untergelegt
hat, ist die Verwendung in dem genannten Sinne nun nicht möglich, und die Schaffung
eines Begriffes für die ,,KeimplasiTienauslese" bleibt Desiderat.
57) zu S. 237. Auf Grund der älteren Auffassung, daß in dem Keimplasma
jeder Zelle die Anlagenkomplexe (,, Vollide") für eine sehr große Anzahl von
Individuen vorhanden seien, erklärte Weismann früher das Auftreten von ,, Spiel-
varietäten", d. h. von Varietäten größeren Betrages, die von vornherein erbbeständig
sind, durch die Annahme der gleichen intensiven Veränderung homologer De-
terminanten in den meisten jener Vollide. Nach der neueren Form der Theorie
muß dafür die Fassung eintreten, daß es sich um gleichsinnige Veränderung homo-
loger Determinanten innerhalb desselben Ids (Chromosoms) handelt. Daß in der
3. Auflage der Vorträge bei Besprechung der Mutationstheorie (Teil II, S. 284 und
285) noch die alte Erklärung beibehalten und von einer ,, Majorität von Iden" die
Rede ist, kann nur auf einem Irrtum beruhen.
58) zu S. 242. Vorträge, II, S. 259.
59) zu S. 247. In den Vorträgen zur Deszendenztheorie (3. Aufl., II, S. 239)
heißt es: ,,Die Möglichkeit einer Abänderung auch des Keimplasmas durch solche
direkte Wirkung äußerer Einflüsse soll aber damit keineswegs in Abrede gestellt
werden. A priori schon muß man eine solche annehmen, wenn man, wie wir es ge-
tan haben, die individuelle erbliche Variation auf die Schwankungen in der Er-
nährung der einzelnen Determinanten des Keimplasmas bezieht. Es ist von vorn-
herein wahrscheinlich, daß manche allgemeine Ernährungsabänderungen oder
— 28q —
klimatische Faktoren auch das Keimplasma treffen, und es ist durchaus nicht un-
denkbar, daß sie hier zuweilen nicht alle, sondern nur ganz bestimmte Deter-
minanten allein verändern". Damit ist theoretisch die Möglichkeit zugegeben,
daß auch die ,, spontane" Germinalselektion Folge der das Individuum treffenden
äußeren Einflüsse ist, und der Gegensatz zwischen ,, spontaner" und ,, induzierter"
Germinalselektion würde nur darin zu sehen sein, daß die Einflüsse, die die ,, spon-
tane" Germinalselektion anregen, nicht so grober Natur sind, feiner, unmerklicher
und daher einstweilen unserer Kenntnis und genaueren Analyse entzogen.
60) zu S. 254. Schon 1876 erschien als vierter Aufsatz des zweiten Heftes
der Studien zur Deszendenztheorie die Abhandlung ,,Über die mechanische Auf-
fassung der Natur", die durchaus für eine solche Auffassung eintritt und die Annahme
einer besonderen Lebenskraft auch auf dem Gebiete der Stammesgeschichte für
ebenso grundlos erklärt wie für die Erklärung des individuellen Lebens.
61) zu S. 267. Diese Behauptung findet sich bei Rädl (Geschichte der bio-
logischen Theorien) auf S. 548: ,,Der Darwinismus war dem auf Experimente sich
stützenden Konstruieren der Natur abhold und wollte die Natur, wie sie ist, erkennen.
Zwar experimentierte auch Darwin (obwohl seine Versuche sehr elementar zu sein
pflegten) ; aber die klassischen Darwinisten, Haeckel, Huxley , Wallace, Galton,
Weismann, waren keine Experimentatoren; nur hier und da wurde ein schüchternes
Experiment angestellt (von Romanes, Preyer, Pflüger), aber kaum beachtet;
erst als der Darwinismus den Höhepunkt überschritten hat, nahm man das Experi-
mentieren energischer in Angriff." Das ist im großen ganzen richtig; die Nennung
von Weismanns Namen in diesem Zusammenhang ist aber falsch.
Gaupp, Biographie Weismanns. 19
Verzeichnis der Schriften Weismanns.
1857. Weismann, August, De acidi hippurici in corpore humano generatione.
(Göttingen.) Disertatio inauguralis. Francofurti 1857.
— — Über den Ursprung der Hippursäure im Harn der Pflanzenfresser. Eine
von der medizinischen Fakultät der Georgia Augusta am 13. Juni 1857 ge-
krönte Preisschrift. Göttingen 1857.
1858. — Über die Bildung der Hippursäure beim Menschen. Zeitschrift für rationelle
Medizin, 3. Reihe, Bd. II, S. 331—344. 1858.
— — Untersuchungen über den Salzgehalt der Ostsee. Archiv für Landeskunde
in den Großherzogthümern Mecklenburg. 8. Jahrg., S. 289 — 304. 1858. (Der
Name ist fälschlich ,, Weissmann" geschrieben. Die Arbeit trägt folgende
Bemerkung: Die nachstehende Abhandlung ist der philosophischen Fakul-
tät der Universität Rostock als Konkurrenzschrift zu dem im rorigen Jahre
gestellten Preise überreicht und ist dem Verfasser solcher unter der Ver-
pflichtung zuerkannt worden, dieselbe im ,, Archiv für Landeskunde" zu ver-
öffentlichen. D. Red.)
— Analysen des Ostseewassers. Archiv für Landeskunde in den Großherzog-
thümern Mecklenburg, 8. Jahrg., S. 437 — 444. 1858. (Ohne Angabe des Ver-
fassers.) Die Einleitung lautet: ,,Die nachfolgenden Analysen des Ostsee-
wassers sind zum Zweck der im vorigen Hefte des Archiv mitgeteilten Arbeit
über den Salzgehalt der Ostsee von Dr. Weis mann unter spezieller Leitung
des Herrn Prof. Dr. Schulze zu Rostock ausgeführt. Wir teilen sie als Nach-
trag zu jener Abhandlung mit, weil wenige derartige mit Genauigkeit an-
gestellte Analysen vorhanden sind und die nachstehenden daher ein um so
größeres wissenschaftliches Interesse haben."
1859. — Über Nervenneubildung in einem Neurom. Zeitschrift für rationelle Me-
dizin, 3. Reihe, Bd. VII, 1859, S. 209—218. i Taf.
1861. — Über das Wachsen der quergestreiften Muskeln nach Beobachtungen
am Frosch. Zeitschrift für rationelle Medizin, 3. Reihe, Bd. X, 1861, S. 263
bis 284. 2 Taf.
— — Über den feineren Bau des menschlichen Nabelstranges. Zeitschrift für
rationelle Medizin, 3. Reihe, Bd. XI, 1861, S. 140 — 166. 3 Taf.
— — Über die Verbindung der Muskelfasern mit ihren Ansatzpunkten. Zeit-
schrift für rationelle Medizin, 3. Reihe, Bd. XII, 1861, S. 126 — 144. 3 Taf.
— — Über die Neubildung quergestreifter Muskelfasern. Eine Erwiderung an
Herrn Prof. Budge. Zeitschrift für rationelle Medizin, 3. Reihe, Bd. XII,
1861, S. 354—359-
— 291 —
i86i. — Über die Muskulatur des Herzens beim Menschen und in der Tierreihe.
Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftüche Medizin, Jahrg.
1861, S. 41 — 63. 3 Taf.
1862. — Über die zwei Typen kontraktilen Gewebes und ihre Verteilung in die
großen Gruppen des Tierreichs, sowie über die histologische Bedeutung ihrer
Formelemente. Zeitschrift für rationelle Medizin, 3. Reihe, Bd. XV, 1862,
S. 60 — 103. 5 Taf.
— — - Nachtrag zu der Abhandlung: ,,Über die zwei Typen kontraktilen Gewebes
und ihre Verteilung in die großen Gruppen des Tierreichs, sowie über die
histologische Bedeutung ihrer Formelemente." Die Bildung der Muskeln
im Ei der Insekten. Zeitschrift für rationelle Medizin, 3. Reihe, Bd. XV,
1862, S. 279 — 282. 5 Fig.
1863. — Über die Entstehung des vollendeten Insekts in der Larve und Puppe.
Ein Beitrag zur Metamorphose der Insekten. Abhandlungen, herausg. v. d.
Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, Bd. IV, 1862 — 63. 3 Taf.
Habilitationsschrift der medizinischen Fakultät Freiburg i. B. 1863.
— — Die Entwicklung der Dipteren im Ei, nach Beobachtungen an Chironomus
spec, Musca vomitoria und Pulex Canis. Zeitschrift für wissenschaftliche
Zoologie, Bd. XIII, 1863, S. 107—220. 7 Taf.
1864. — Die nachembryonale Entwicklung der Museiden nach Beobachtungen
an Musca vomitoria und Sarcophaga carnaria. Zeitschrift für wissenschaft-
liche Zoologie, Bd. XIV, 1864, S. 187 — 336. 7 Taf.
— Zur Embryologie der Insekten. Archiv für Anatomie, Physiologie und
wissenschaftliche Medizin, Jahrg. 1864, S. 265 — 277. i Taf.
1865. — Zur Histologie der Muskeln. Zeitschrift für rationelle Medizin, 3. Reihe,
Bd. XXIII, 1865, S. 26 — 45. (Abgedr. in Jenaische Zeitschrift, Bd. II.)
— Die Metamorphose der Corethra plumicornis. Zeitschrift für wissen-
schaftliche Zoologie, Bd. XVI, 1866, S. 45—127. 5 Taf.
1868. — Über die Berechtigung der Darwinschen Theorie. Ein akademischer
Vortrag gehalten am 8. Juli 1868 in der Aula der Universität zu Freiburg
im Breisgau. Leipzig 1868, W. Engelmann. (Mit einem Anhang: Über den
Einfluß der Wanderung und räumlichen Isolierung auf die Artbildung.)
1872. — Über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung. Leipzig 1872, W. Engel-
mann.
1874. — Über Bau und Lebenserscheinungen von Leptodora hyalina Lillgeborg.
Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Bd. XXIV, 1874, S. 348 — 418.
6 Taf.
1875. — Studien zur Deszendenztheorie. I. Über den Saisondimorphismus der
Schmetterlinge. 2 Taf. Leipzig 1875. (Sonderabdruck aus den Annali del
Museo Civico di Storia Naturale di Genova, Bd. VI, 1874.)
— — Über die Umwandlung des mexikanischen Axolotl in ein Amblystoma.
Zeitschrift für wissenschafthche Zoologie, Bd. XXV, Supplementband, 1875,
S. 297—334-
1876. — Studien zur Deszendenztheorie. IL Über die letzten Ursachen der Trans-
mutationen. (I. Die Entstehung der Zeichnung bei den Schmetterlingsraupen.
19*
292 —
II. Über den phyletischen Parallelismus bei metamorphischen Arten. III. Über
die Umwandlung des mexikanischen Axolotl in ein Amblystoma. IV. Über
die mechanische Auffassung der Natur.) 5 Taf. Leipzig 1876.
1876. — Das Tierleben im Bodensee. Schriften des Vereins für Geschichte
des Bodensees und seiner Umgebung, Heft 7, 1876, S. 132 — 161. 5. Abb.
(Einige Bemerkeungen zu der Frage nach dem Auf- und Absteigen der pe-
lagischen Crustaceen finden sich in der Diskussion zu einem Vortrag von
Forel in: „Amtlicher Bericht der 50. Versammlung Deutscher Naturforscher
und Ärzte in München, 1877, S. 172.)
— — Zur Naturgeschichte der Daphnoiden. I. Über die Bildung von Winter-
eiern bei Leptodora hyalina. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie,
Bd. XXVII, 1876, S. 51 — 112. 3 Taf. (Die gesamten Abhandlungen sind als
,, Bei träge zur Naturgeschichte der Daphnoiden" als selbständige Monographie
bei W. Engelmann in Leipzig erschienen. Leipzig 1876 — 1879.) Weismann
faßt unter Daphnoidea die beiden Familien der Daphnida und Polyphemida
zusammen. Daphnoidea = Ordnung der Wasserflöhe, der gebräuchlichere
Name an Stelle des neueren ..Cladocera" (Zeitschrift für wissenschaftliche
Zoologie, Bd. XXVIII, 1877.)
1877. — Über die Fortpflanzung der Daphnoiden. Amtücher Bericht über die
50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in München vom
17. — 22. September 1877, S. 178.
— — Diskussionsbemerkung zu dem Vortrag von A. Forel: Über den Ursprung
der verschiedenen Faunen unserer Süßwasserseen. Amtlicher Bericht über
die 50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in München vom
17. — 22. September 1877, S. 172.
— — und Gruber, August, Über einige neue oder unvollkommen gekannte
Daphniden. Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft zu Frei-
burg i. B., 1877.
— Weismann, August, Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden.
II. Die Eibildung bei den Daphnoiden. III. Die Abhängigkeit der Embryonal-
entwicklung vom Fruchtwasser der Mutter. IV. Über den Einfluß der Be-
gattung auf die Erzeugung von Wintereiern. Zeitschrift für wissenschaft-
liche Zoologie, Bd. XXVIII, 1877, S. 93—254. 5 Taf.
1878. — Rechtfertigung. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Bd. XXX,
1878, S. 194 — 202.
— — Über die Schmuckfarben der Daphnoiden. Zeitschrift für wissenschaft-
liche Zoologie, Bd. XXX, Suppl., 1878, S. 123—165. i Taf.
— — Über Duftschuppen. Zoologischer Anzeiger, Jahrg. i, 1878, S. 98 — 99.
— — und Wiedersheim, R., Aus dem zoologischen und anatomischen Institut
der Universität Freiburg i. Br. Zoologischer Anzeiger, Jahrg. i, 1878, S. 6 — 7.
1879 (1880). Weismann, Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden. Ab-
handlung VI und VII. (VI. Samen und Begattung der Daphnoiden.
VII. Die Entstehung der zyklischen Fortpflanzung bei den Daphnoiden.)
Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Bd. XXXIII, Heft i und 2, 1879
(Jahreszahl des Bandes: 1880), S. 55 — 270. 6 Taf.
— 293 —
i88o. — Zur Frage nach dem Ursprung der Geschlechtszellen bei den Hydroiden.
Zoologischer Anzeiger, Jahrg. 3, 1880, S. 226 — 233.
— — Über den Ursprung der Geschlechtszellen bei den Hydroiden. Zoologischer
Anzeiger, Jahrg. 3, 1880, S. 367 — 370.
— — Parthenogenese bei den Ostracoden. Zoologischer Anzeiger, Jahrg. 3,
1880, S. 82 — 84.
1880/81. — Observations sur l'origine des cellules sexuelles des Hydroides. Annales
des Sciences naturelles, Tome XI.
1881. — Beobachtungen an Hydroid-Polypen. I. Pulsieren des Körperschlauchs.
II. Selbständige Bewegungen des Ektoderms. III. Die Entstehung der Eizellen
in der Gattung Endendrium. Zoologischer Anzeiger, Jahrg. 4, 1881, S. 61
bis 64; S. III — 114.
— — Über die Dauer des Lebens. Tageblatt der 54. Versammlung Deutscher
Naturforscher und Arzte in Salzburg vom 18. — 24. September 1881, S. 98
bis 114. (Vortrag, gehalten in der II. allgemeinen Sitzung am 21. September
1881.)
— (1882). — Über eigentümliche Organe bei Endendrium racemosum Cav.
Mitteilungen aus der zoologischen Station zu Neapel, Bd. III, Heft i und 2,
1881, S. I — 14. I Taf. (Jahreszahl des Bandes: 1882.)
1882. — Über die Dauer des Lebens. Jena 1882. (Erweiterte Form des in Salz-
burg gehaltenen Vortrages.)
— — Beiträge zur Kenntnis der ersten Entwicklungsvorgänge im Insektenei.
Beiträge zur Anatomie und Embryologie, als Festgabe Jacob Henle zum
4. April 1882 dargebracht von seinen Schülern. Bonn 1882. S. 80 — m.
3 Taf.
1883. — Die Entstehung der Sexualzellen bei den Hydromedusen. Zugleich ein
Beitrag zur Kenntnis des Baues und der Lebenserscheinungen dieser Gruppe.
Mit Atlas von 24 Tafeln. Jena 1883.
— — Über die Vererbung. Jena, G. Fischer. (Vortrag, gehalten bei der Feier
der Übergabe des Prorektorates in Freiburg i. Br., 21. Juni 1883.)
— — Über die Ewigkeit des Lebens. Akademisches Programm der Albert-
Ludwigs-Universität zur Feier des Geburtstages S. Kgl. H. des Großherzogs
Friedrich. Freiburg i. Br. 1883.
1884. — Über Leben und Tod. Eine biologische Untersuchung. Mit 2 Holzschnitten.
Jena 1884. (Erweiterte Form der Programmschrift ,,Über die Ewigkeit des
Lebens.)
1884. (1885). — Die Entstehung der Sexualzellen bei den Hydromedusen. (Auto-
referat.) Biologisches Zentralblatt, Bd. IV, Nr. i, 1884, S. 12 — 31. (Jahres-
zahl des Bandes: 1885.)
1885. — Zur Frage nach der Unsterblichkeit der Einzelligen. Biologisches Zentral-
blatt, Bd. IV, 1885, S. 651—665; S. 677—691.
— — Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Ver-
erbung. Jena 1885.
— — Über die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung für die Selektions-
theorie. Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Arzte
— 294 —
in Straßburg, i8. — 23. September 1885. Straßburg 1885. S. 42 — 56. (Vor-
trag, gehalten in der i. allgemeinen Sitzung der Versammlung, ig. September
1885.)
1885. — Diskussionsbemerkung zu dem Vortrag von Virchow: Über Akklimati-
sation. Tageblatt der 58. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte
in Straßburg, 18. — 23. September 1885. S. 550 — 551. (Behandelt die Ver-
erbung erworbener Eigenschaften und die Frage, was unter ,, erworbener
Eigenschaft" zu verstehen sei. Direkte Klimaeinwirkungen sind nicht
erblich, doch kann Akklimatisation unter dem Einfluß des Klimas durch
Selektion erfolgen.)
1886. — Zur Annahme einer Kontinuität des Keimplasmas. Berichte der Natur-
forschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br., Bd. I, 1886, S. 89 — 99.
— — Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung für die Selektionstheorie.
Jena 1886.
1886 (1887). — Über den Rückschritt in der Natur. Berichte der Naturforschenden
Gesellschaft zu Freiburg i. Br., Bd. II, Heft i. 1886, S. 1—30. (Jahreszahl
des Bandes: 1887.)
1886. — Zur Geschichte der Vererbungstheorien. Zoologischer Anzeiger, Jahrg. 9,
1886, s. 344—350-
— — Richtungskörper bei parthenogenetischen Eiern. Zoologischer Anzeiger,
Jahrg. 9, 1886, S. 570—573-
— — Zur Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. Biologisches
Zentralblatt, Bd. VI, Nr. 2(15. März 1886), S. 33 — 48. (Jahreszahl des Bandes:
1887.)
1887. — Über die Zahl der Richtungskörper und über ihre Bedeutung für die Ver-
erbung. Jena 1887.
— — On the signification of the polar globules. Nature. Vol. XXXVI, 1887.
(Paper read by Prof. August Weismann before the Brit. Assoc. at Man-
chester.)
1888. (a) — und Ischikawa, C, Über die Bildung der Richtungskörper bei
tierischen Eiern. Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br.,
Bd. III, 1888, S. I — 44. 4 Taf. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Auto-
referat, da es mit Weismann unterzeichnet ist.
— (b) Über die Befruchtungserscheinungen bei den Dauereiern von
Daphniden. Biologisches Zentralblatt, Bd. VIII, 1888, S. 430 — 436.
— Weismann, August, Botanische Beweise für eine Vererbung erworbener
Eigenschaften. Biologisches Zentralblatt, Bd. VIII (1888 — 1889), S. 65—79,
S. 97 — 109.
— — Das Zahlengesetz der Richtungskörper und seine Entdeckung. Morpho-
logisches Jahrbuch, Bd. XIV, i888, S. 490 — 506.
— (1889). — und Ischikawa. Weitere Untersuchungen zum Zahlengesetz
der Richtungskörper. Zoologische Jahrbücher, Abteilung für Anatomie
und Ontogenie der Tiere. Bd. III, Heft 3, 1888, S. 575—610. 4 Taf. (Jahres-
zahl des Bandes: 1889.)
— ^95 —
i889- Über partielle Befruchtung. Berichte der Naturforschenden Gesell-
schaft zu Freiburg i. Br., Bd. IV, 1889, S. 51 — 53. (Das Manuskript ist schon
am 12. Dezember 1887 eingereicht; eine „Nachschrift" trägt das Datum
21. Mai 1888.)
— Nachtrag zu der Notiz über „partielle Befruchtung". Berichte der
Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br., Bd. IV, 1889, S. 55 — 58.
— Weismann, August, Über die Hypothese einer Vererbung von Verletzungen.
Vortrag, gehalten am 20. September 1888 auf der Naturforscherversammlung
zu Köln. Jena 1889.
— — und Ischikawa, C, Über die Parakopulation im Daphnidenei, sowie
über Reifung und Befruchtung desselben. Zoologische Jahrbücher, Abteilung
für Anatomie und Ontogenie der Tiere, Bd. IV, Heft i, 1889, S. 155 — 196.
7 Taf. (Jahreszahl des Bandes: 1891.)
— Weismann, August, Gedanken über Musik bei Tieren und beim Menschen.
Deutsche Rundschau, Oktober 1889, Bd. LXI, S. 50 — 79. (Vortrag, gehalten
im März 1889 in der Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft zu Hamburg.)
1890. — Bemerkungen zu einigen Tagesproblemen. Biologisches Zentralblatt,
Bd. X, 1890, S. I — 12; S. 33 — 44.
1981. — Amphimixis oder: Die Vermischung der Individuen. Jena 1891.
1890. — Bemerkungen zu Ischikawas Umkehrungsversuchen an Hydra. Archiv
für mikroskopische Anatomie, Bd. XXXVI, 1890, S. 627 — 638. 8 Fig.
1892. — Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen. Mit 19 Abb.
im Text. Jena, G. Fischer. (Enthält 11 der von 1882 — 1891 erschienenen
Aufsätze.) (Englische Ausgabe, übersetzt von Poulton und Shipley,
Oxford 1892. Französische Ausgabe, übersetzt von de Varigny. Paris 1892.)
— — Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. (Englische Ausgabe,
übersersetzt von W. N. Parker und Harriet Roennefeldt. London 1893.)
1893. — Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer.
Jena 1893. (Englische Ausgabe. London 1893.)
1894. — Äußere Einflüsse als Entwicklungsreize. Jena, G. Fischer, 1894. (Ver-
dankt seine Entstehung der Aufforderung der Universität Oxford, die ,,Ro-
manes-Lecture" zu halten. Enthält im Vorwort Erinnerungsworte auf
Romanes.) (Englische Ausgabe. London und Oxford 1894.)
1895. — Neue Gedanken zur Vererbungsfrage. Eine Antwort an Herbert Spencer.
Jena 1895.
— — Neue Versuche zum Saisondimorphismus der Schmetterlinge. Zoologische
Jahrbücher, Abteilung für Systematik, Bd. VIII, 1895, S. 611 — 684. (Englische
Ausgabe, übersetzt von W. E. Nicholson. London 1895.)
— — Wie sehen die Insekten? Deutsche Rundschau, Bd. LXXXIII, 1895,
S- 434—452-
1896. — Über Germinalselektion, eine Quelle bestimmt gerichteter Variation.
Jena 1896. (Nach einem Vortrag auf dem internationalen Zoologischen
Kongreß in Leyden, 16. Sept. 1895.)
1899. — Tatsachen und Auslegungen in bezug auf Regeneration. Anatomischer
Anzeiger, Bd. XV, 1899, S. 445 — 474. (Englische Übersetzung. London 1899.)
— 2g6 —
1900. — Über die Parthenogenese der Bienen. Anatomischer Anzeiger, Bd. XVIII,
1900, p. 492 — 499.
1902. 1904. — Vorträge über Deszendenztheorie, 2 Bände. Jena 1902. — II. Aufl.
1904. {III. Aufl. 1913.)
1903. — Versuche über Regeneration bei Tritonen. Anatomischer Anzeiger,
Bd. XXII, 1903, S. 425 — 431. 3 Abb.
1906. — Richard Semons ,,Mneme" und die , .Vererbung erworbener Eigen-
schaften". Archiv f. Rassen- u. Gesellschaftsbiologie, Jahrg. 3, 1906, S. i — 27.
1908. — Eine hydrobiologische Einleitung. Internationale Revue der gesamten
Hydrobiologie und Hydrographie, Bd. I, 1908, S. i — 9.
1909 (a). — Die Selektionstheorie. Eine Untersuchung, i Taf. und 3 Textfig.
Jena 1909. (Ist eine weitere Ausführung eines Aufsatzes, den Weismann
für die Festschrift der Universität Cambridge zum 100. Geburtstag von Darwin
verfaßt hat, und der in dieser [Darwin and modern science. Cambridge,
at the University Press. 1909] erschienen ist.)
— (b). — Carles Darwin und sein Lebenswerk. Festrede, gehalten zu Frei-
burg i. Br. am 12. Februar 1909. Jena, G. Fischer, 1909.
— — Über die Trutzstellung des Abendpfauenauges. Naturwissenschaftliche
Wochenschrift, N. F., Bd. VIII (der ganzen Reihe 24. Band), 1909, Nr. 46,
S. 721 — 726. 4 Fig.
191 3. — Vorträge über Deszendenztheorie. Gehalten an der Universität Frei-
burg i. Br. III. verb. Aufl. Jena 1913.
Biographisches über Weismann.
Folgende biographische Notizen und Nekrologe sind dem Herausgeber be-
kannt geworden — der Krieg hat es verhindert, daß, wie es sonst wohl der Fall
gewesen wäre, deren Zahl ein Vielfaches der hier verzeichneten geworden ist. Aus
dem feindlichen Ausland sind, falls Nachrufe erschienen sind, hier keine bekannt
geworden außer dem von E. P. P., dessen Aufführung hier der Herausgeber aus
Schonung für den Autor, den Oxforder Professor E. P. Poulton, sich lange über-
legte. Er möge aber ruhig genannt sein als Zeuge des augenblicklichen geistigen
Zustandes auch hochstehender Engländer, bringt er es doch fertig. Weismann
»U Bek&mpfer des preußischen Militarismus hinzustellen. — E. F.
1904. , Bericht über die Feier des 70. Geburtstages von August Weis-
m&nn am 17. Januar 1904 in Freiburg i. Br. Herausgegeben von dem
Comit6 zur Stiftung der Weismann-Büste. Jena 1904.
1909. Kühn, A., August Weismann (mit einer Kunstbeilage), ,,Neue Welt-
anschauung" (Red. Dr. Breitenbach), Heft 6, Stuttgart 1909.
1914. Doflein, F., August Weismann zum 80. Geburtstag. Akademische Mit-
teilungen, N. F., 15. Sem., Nr. 7. Freiburg, Januar 1914.
— Himstedt, F., August Weismann (Nachruf am Grabe). Akademische
Mitteilungen, N. F., 17. Sem., Nr. 6. Freiburg 1914.
— Doflein, F., Weismann als Forscher, Akademische Mitteilungen, N. F.,
17. Sem., Nr. 6. Freiburg 1914.
— 297 -
igi4 Geheimrat A. Weismann. Frciburger Zeitung, Nr. 304, 6. No-
vember 1914.
— Teich mann, E. Zu August Weis man ns Tod. Frankfurter Zeitung,
Nr. 309 (Abendbl.), 7. November 1914.
— 0 (= Otto Amnion), August Weismann -f. Schwäbisclie Clvronik,
des Schwab. Merkurs, 2. Abt., Nr. 521, 1914.
— J. K., August Weismann. Berhner Tageblatt (Morgenausgabe), 7. No-
vember 19 14.
— Strohl, J., August Weismann. Neue Züricher Zeitung, Nr. 1528 und
1532 (13., 14. November), 1914.
— Mauthner, Fritz, Kleine Erinnerungen an A. Weismann. Berliner
Tageblatt (2. Beiblatt), 6. Dezember 1914.
1915. Ziegler, H. E., August Weismann. Neue Rundschau, Januar-Heft 1915.
— V. Hanstein, R., August Weismann. Naturwissenschafthche Wochen-
schrift, N. F., Bd. XIV (Bd. XXX), Nr. 8, 1915.
igi6. E. P. P., August Friedrich Leopold Weismann. Obituary Notice
from the Proceed. of the Royal Soc. B. Vol. LXXXIX. 1916.
Berichtigung.
Seite 74, Zeile 21 muß es ^^) statt '^®) heißen.
Druck von Ant. Kämpfe in Jena.
l Gaupp, Ernst
1^43 August V/eisraann
V/4.G3
^AScL
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