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Full text of "August Weismann, sein Leben und sein Werk"

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^OTTO  HARRASSOWITZ 

BUCHHANDUUNG-ANTIQ, 
■LEIPZIG: 


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AUGUST  WEISMANN 

SEIN  LEBEN  UND  SEIN  WERK 


VON 


ERNST  GAUPP  f 


WEIL.  O.  Ö.  PROFESSOR  DER  ANATOMIE  UND  DIREKTOR  DES  KÖNIOL.  ANATOMISCHEN 
INSTITUTS  DER  UNIVERSITÄT  BRESLAU 


JENA 

VERLAG  VON  GUSTAV  FISCHER 

1917 


Z  XI 


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Alle  Rechte  vorbehalten. 


Vorwort  des  Herausgebers. 


Ernst  Gaupps  Arbeiten  wurden  durch  seinen  plötzlichen 
Tod  am  23.  November  1916  jäh  abgebrochen.  Jetzt  muß  fremde 
Hand  dieses  nachgelassene  Werk  herausgeben  und  legt  es  dem 
großen  Kreis  derer  vor,  die  sich  für  Naturwissenschaft  interessie- 
ren, nicht  nur,  wie  es  Gaupps  Wunsch  gewesen  wäre,  als  ein 
Stück  jüngste  Geschichte  der  Biologie  und  eine  lebendige  Dar- 
stellung des  Lebenswerkes  eines  ihrer  genialsten  Forscher  und 
tiefsten  Denker,  sondern  auch  als  ein  schönes  Zeugnis  für  das 
menschlich  liebevolle,  und  zugleich  wissenschaftlich  so  besonders 
feinsinnige  Verständnis  des  Morphologen  Gaupp  für  biologische 
Probleme. 

Das  Werk  war  druckfertig  samt  Anmerkungen,  der  Verfasser 
hätte  vielleicht  eine  letzte  Überarbeitung  vorgenommen,  denn  er 
pflegte  auch  nach  der  stiHstischen  Seite  seine  VeröffentUchungen 
aufs  Gewissenhafteste  durchzuführen,  der  Herausgeber  wollte  aber 
hier  keinen  fremden  Eingriff  vornehmen  und  hat,  von  der  Aus- 
tilgung einiger  offenbarer  Fehler  und  der  Vervollständigung  ein- 
zelner Anmerkungen  und  des  Literaturverzeichnisses  abgesehen, 
nichts  verändert. 

Man  darf  wohl  sagen,  gerade  beim  Lesen  dieses  Werkes 
merken  die  jüngeren  Generationen  Naturforscher  erst  recht,  wie 
selbstverständlich  uns  viele  Dinge  geworden  sind,  für  die  Weis- 
mann noch  kämpfen  mußte  oder  die  erst  er  geschaffen  hat. 
Man  sieht,  wir  haben  von  seinem  Werke  schon  den  nötigen 
historischen  Abstand,  es  verdiente  geschichtliche  Darstellung.  So 
möge  dieses  Kabinettstück  aus  der  Geschichte  der  Naturwissen- 
schaften, wie  es  Gaupp  meisterhaft  gezeichnet  hat,  zugleich  eine 
glänzende  Darstellung   der  Weismannschen  Theorie   selbst    und 


—     IV     — 

eine  gelungene  Einführung  in  die  Gedankengänge  moderner  Ver- 
erbungslehren, freundUche  Aufnahme  finden  im  großen  Kreise 
derer,  die  der  Aufschwung  der  Naturwissenschaften,  die  Schicksale 
des  Materialismus,  das  Entstehen  und  Vergehen  von  Theorien 
fesselt  als  Teile  und  Entwicklungen  unserer  Gesamtkultur  — 
Kulturwissenschaft  — wie  auch  bei  jenen,  die  nur  die  Zoologie  und 
Biologie  als  solche  interessiert,  und  die  schaffend  oder  aufnehmend 
mithelfen,  die  Rätsel  der  lebendigen  Welt  zu  lösen  und  zu  deuten 
—  Natiurwissenschaften  —  beide  verbindend,  die  doch  letzten 
Endes  gerade  hier  wieder  als  eins  gezeigt  werden. 


Ettlingen,  JuU  1917. 


Eugen  Fischer 

(Freiburg  i.   B.j 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Einleitung i — 3 

Erster  Abschnitt.     Das  Leben.    Der  Mensch 4—29 

Zur  Einleitung 4 

Lebenslauf 5 

Persönlichkeit       i? 

Zweiter  Abschnitt.     Die  Spezialarbeiten 30 — 56 

Wissenschaftliche  Tätigkeit  Weismanns.     Übersicht 30 

Chemische  Arbeiten 3° 

Histologische  Arbeiten 3' 

Embryologische  Arbeiten 32 

Allgemein-biologische  Arbeiten       ,    ,    .    .    .  32 

Studien  zur  Deszendenztheorie       34 

Biologie  der  Süßwasserfauna,  Daphnoidenstudien,  parthenogonische  und 

zyklische  Fortpflanzung 43 

Die  Hydromedusenstudien.      Bildung  der  Keimzellen 54 

Dritter  Abschnitt.     Erste  Stellungnahme  zur  Darwinschen  Theo- 
rie.    Dauer  des  Lebens,  Herkunft  des  Todes 57 — "2 

Abstammungslehre   von  Darwin  und   Lamarck 57 

Erste    Stellungnahme    Weismanns   zur   Darwinschen  Theorie:    die   An- 
trittsrede von   1868.     Arbeitsprogramm       64 

Dauer  des  Lebens.     Herkunft  des  Todes 68 

Vierter  Abschnitt.     Die  Kontinuität  des  Keimplasmas  als  Grund- 
lage   der    Weismannschen    Vererbungslehre.      Die    Vererbung 

erworbener  Eigenschaften 73  —  io7 

1.  Vererbung:    Bedeutung,    Begriff,    stoffliche    Bedingtheit.      Darwins 
Pangenesishypothese        73 

2.  Die  Kontinuität  des  Keimplasmas 76 

3.  Die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften 82 

Das  Problem 82 

Somatogene  und  blastogene  Eigenschaften      84 

Angebliche  Vererbung  von  Verletzungen  und  Verstümmelungen      .  85 

Angebliche  Vererbung  von  funktionellen  Abänderungen 87 


—     VI     — 

Seite 

Harmonische  Anpassung  (Koadaption) 88 

Anpassungen  der  Ameisenneutra 89 

Anpassungen  der  bloß  „passiv  wirksamen"  Teile  und  Merkmale     .     92 

Instinkte ...  96 

Geistige  Fähigkeiten,    spezifische  Talente.     Der  Musiksinn     ...     96 

Zusammenfassung 100 

Vererbung  von  Veränderungen,  die  durch  das  Medium  bedingt  sind  10 1 
Ergebnisse.  Übertragung  derselben  auf  die  Einzelligen  .  .  .  .104 
Die  Mnemetheorie  von  Semon;  Weismanns  Stellung  zu  derselben  .    106 

Fünfter  Abschnitt.     Befruchtung-  und  Keimzellenreifung- .     .     .         108 — 125 

1.  Vererbung  und  Zweielternzeugung       .     .     .     ._ 108 

2.  Befruchtung 109 

Altere  Auffassung.      Entwicklung  der  Tatsachenkenntnisse      .      .      .    109 
Befruchtung  und  Konjugation    als  Amphimixis    und  als   Quelle  erb- 
licher Variation 112 

3.  Reifung  der  Keimzellen 113 

Bildung  und  Bedeutung  der  Richtungskörperchen,  erste  Deutung     .    113 
Das  Reduktionsproblem.      Frühere  Auffassung   Weismanns     .      .      .115 
Spätere  Auffassung   der  Reduktionsvorgänge ;    Beziehungen    zu    den 
Mendelschen  Vererbungserscheinungen 120 

4.  Reifung  und   Befruchtung  als  Quelle  erblicher   Variation     .      .      .      .124 

Sechster    Abschnitt.      Weiterer    Ausbau    der    Keimplasmatheorie: 

die  Determinantentheorie 126 — 154 

„Das  Keimplasma.     Eine  Theorie  der  Vererbung" 126 

Fragestellung 126 

1.  Der  Bau  des  Keimplasmas 127            • 

Vererbungssubstanz.  Die  Chromosomen  als  Träger  der  Vererbungs- 
tendenzen         127 

Nägelis    Idioplasma,     Umgestaltung    des    Idioplasmabegriffes    durch 

Weismann.     Biophoren  und   Determinanten 129 

Die    Ide.     Wechsel    der    Anschauung    Weismanns    hinsichtlich    der 

Natur  der  Chromosomen 132 

2.  Die  Betätigung  des  Keimplasmas  in  der  Ontogenese 139 

Das  Problem 139 

Ontogenetische  Zerlegung  des  Keimplasmas 140 

Kampf  der  homologen  Determinanten  untereinander;   Bedeutung  für 

die  Vererbungserscheinungen;   alternierende  Vererbung  (Mendel)  141 
Beeinflussung  der  Entwicklung  durch  äußere  Einwirkungen    .     .     .144 

Neben-  (Reserve-,  Regenerations-)  Idioplasma 145 

Erbgleiche  und  erbungleiche  Teilung 146 

3.  Allgemeine  Betrachtung  der  Determinantenlehre 147 

Die  Determinanten theorie  als  Theorie  der  Vererbung  .  .  .  .  .147 
Die  Determinantentheorie  als  Theorie  der  Entwicklung      .     .     .     .149 

Hypothetischer  Charakter  der  Theorie 153 


—    VII     — 

Seite 
Siebenter     Abschnitt.       Fersoualselektion :     natürliche     und     ge- 

sclileclitliclie    Zuchtwahl  .     .     , 155 — 217 

I.  Artenzüchtung  (natürliche  Zuchtwahl,  Naturzüchtung) 156 

Wesen  und  Begründung  der  Zuchtwahllehre.     Notwendigkeit   ihrer 

Prüfung 156 

Übersicht  über  Weismanns  Stellung  zu  Darwins  Zuchtwahllehre     .    159 
Prüfung  der  Zuchtwahl  im  einzelnen 161 

1.  Aufgabe 161 

2.  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  der  Naturzüchtungsvorgänge   162 

a)  Einfluß  der  Isolierung  auf  die  Artbildung 162 

b)  Selektionswert  der  Anfangs-  und  Steigerungsstufen  der  Ab- 
änderungen.    Abänderungen  in  kleinen  Schritten     .     ,     .     .164 

c)  Freiwillig  gewählte  Änderungen    in  den  Lebensbedingungen. 
Divergente  Entwicklung  auf  demselben  Gebiete       .     .     .     .    i6r6 

d)  Die    natürlichen    Beschränkungen    in    der    Wirksamkeit    der 
Naturzüchtungsvorgänge 169 

Beschränkungen,  die  aus  dem  Wesen  der  Naturzücbtung 
selbst  folgen 170 

Beschränkungen  der  Naturzüchtung,  die  in  den  Organismen 
liegen 172 

Beschränkungen  der  Naturzüchtung,  die  in  den  Verhält- 
nissen der  Umwelt  liegen 174 

3.  Leistungsfähigkeit   der  Selektionstheorie   für    die  Erklärung    der 
phyletischen   Entwicklung  der  Organismen 174 

a)  Fragestellung 174 

b)  Zuchtwahl  oder  inneres   Vervollkommnungsprinzip?      .      .     .174 

Nägelis  Theorie  der  direkten  Bewirkung 175 

Die  Organismen  als  Anpassungskomplexe 178 

Regeneration  als  Anpassungserscheinung 185 

Die  Schicksale  der  Arten  als  Anpassungserscheinungen  .     .187 

Mutationstheorie 188 

c)  Zuchtwahl    oder    direkte  Bewirkung    durch    äußere  Einflüsse 
und  Funktion? 190 

a)  Direkt  umwandelnder  Einfluß  der  äußeren  Bedingungen   190 
ß)  Direkte  Anpassung  durch  Gebrauch  und  Nichtgebrauch   193 
Phyletische  Vervollkommnung  eines  Teiles  durch  Per- 
sonalselektion        194 

Phyletische  Verkümmerung  nutzloser  Teile  als  Folge 

von  Personalselektion 195 

Beweise  gegen  den  Lamarekismus 196 

Funktionelle  Anpassung  (Roux).     Partialauslese    .     .   200 

4.  Ergebnis  der  Prüfung  der  Zuchtwahllehre:   Neo-Darwinismus    .   206 
IL  Sexuelle  Züchtung  (geschlechtliche  Zuchtwahl) 207 

III.  Ergänzungsbedürftigkeit   der  Darwin-Wallaceschen  Zuchtwahllehre     .  212 


—     VIII     — 

Seite 
Achter  Al)schnitt.     Herkunft  erblicher  individueller  Variationen. 

Germinalselektiou 218 — 250 

Variabilität  der  Organismen.  Erbliche  und  nichterbliche  Abiinderungen  218 
Die  erblichen  individuellen  Variationen,  ihre  Ursache  und  Art  .  .  .219 
Variabilität  als  Folge  der  Wechselwirkung    der   äußeren  Einflüsse    und 

der  physischen   Natur  der  Organismen 220 

Variabilität  als  B^olge  der  Vermischung  der  Individuen  (Amphimixis)  .  223 

Variabilität  als  Folge  von  Germinalselektion 226 

Die    verschiedene    Ernährung    der    Determinanten    als    Grund    für    ihre 

Veränderung 228 

Beibehaltung    der    eingeschlagenen     Variatibnsrichtung ;     Grenzen     der 

Schwankungen;   Korrelation  der  Determinanten 229 

Wesen    der    Determinantenveränderungen;    Wirkungen    auf    das    Soma 

(die  Determinaten) 232 

Ursachen     der     Ernährungsschwankungen.       Spontane     und     induzierte 

Germinalselektion 234 

Germinalselektion  und  Personalselektion 237 

Bedeutung  der  Lehre  von  der  Germinalselektion 242 

Erweiterung   der  Machtsphäre   des   Selektionsprinzips    durch    die  Lehre 

von  der  Germinalselektion 248 

Die  verschiedenen   Formen  der  Auslese 249 

Neunter  Abschnitt.    Entwicklung  des  Org'anismenreiches.    Schluß  251  —  273 

Anmerkungen 274 — 289 

Verzeichnis  der  Schriften  August  Weismanns 290 — 297 


Die  vorliegende  Schrift  ist  eine  ausführliche  Bearbeitung 
eines  Vortrages,  den  ich  am  17.  Juni  1915  in  der  physikalisch- 
ökonomischen Gesellschaft  zu  Königsberg  i.  Pr.  gehalten  habe. 
Ich  übergebe  sie  hiermit  in  der  neuen  Form  der  Öffentlichkeit, 
mit  dem  Wunsche,  daß  sie  dazu  beitragen  möge,  bei  den  vielen, 
insbesondere  auch  bei  den  vielen  Medizinern,  die  in  Freiburg  Weis- 
manns Schüler  gewesen  sind,  die  Erinnerung  an  den  großen  Forscher 
und  Lehrer  lebendig  zu  erhalten. 

Der  Vortrag  in  seiner  ursprünglichen  Form  behandelte  vor 
allem  Leben  und  Persönlichkeit  Weismanns,  seine  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  und  Anschauungen  aber  naturgemäß  nur  kurz  und 
in  den  Hauptpunkten.  Bei  der  Ausarbeitung  sind  diese  Abschnitte 
viel  umfangreicher  und  schließlich  zu  einer  zwar  durchaus  nicht 
erschöpfenden,  aber  doch  ziemlich  eingehenden  Darstellung  von 
Weismanns  wissenschaftlichem  Lebenswerk  geworden.  Das  lag 
einmal  in  einem  persönlichen  Moment:  je  mehr  ich  mich  wieder  in 
Weismanns  Schriften  versenkte,  um  so  mehr  übten  sie  auch  wieder 
den  alten  Reiz  aus,  den  wohl  jeder  empfunden  hat,  der  sie  seinerzeit 
bei  ihrem  Erscheinen  las,  und  zugleich  wurde  die  Erinnerung  an 
Weismanns  Persönlichkeit  und  seine  Vorlesung,  die  ich  in  Freiburg 
noch  als  Prosektor  hören  konnte,  wieder  lebendig.  Und  dazu  ge- 
sellte sich  dann  die  Empfindung,  daß  dem  Andenken  Weismanns 
nicht  damit  gedient  wäre,  gewisse  allgemeine  Redensarten  und 
Schlagworte  zu  wiederholen,  daß  es  aber  nützlich  sein  könnte, 
seine  Anschauungen,  ihre  historisch  bedingte  Stellung,  ihre  Be- 
gründung und  ihren  mannigfachen  Wechsel  möglichst  gewissenhaft 
darzustellen.  Ich  hoffe,  damit  auch  denen,  die  sich  mit  Weismanns 
Ansichten  zu  beschäftigen  haben,  die  Arbeit  zu  erleichtern  und 
Urteile  zu  verhüten,  die  auf  ungenügender  Kenntnis  dieser  Ansicht 
beruhen.  Eine  gerechte  Würdigung  eines  Forschers  kann  ja  immer 
nur  erfolgen,   wenn   man   ihn   aus   seiner  Zeit   heraus   betrachtet, 

Gaupp,  Biographie  Weismanns.  1 


2 


und  ganz  besonders  muß  das  gelten  auf  dem  Gebiete,  auf  dem  sich 
Weismanns  bedeutungsvollste  Arbeiten  bewegen:  dem  Gebiete 
der  Vererbungslehre,  das  erst  seit  wenigen  Dezennien  der  wissen- 
schaftlichen Behandlung  unterliegt,  und  auf  dem  die  vereinte 
Arbeit  zahlreicher  Kräfte  in  diesem  Zeitraum  erst  eine  Sammlung 
und  Sichtung  eines  großen  Tatsachenmateriales  vornehmen  und 
Klarheit  über  die  Fragestellung  schaffen  mußte.  Unter  denen,  die 
an  dieser  Arbeit  teilgenommen  haben,  steht  Weismann  in  erster 
Linie,  und  viele  Anschauungen,  rnit  denen  heute  allgemein  ge- 
rechnet wird,  sind  von  ihm  zum  ersten  Male  aufgestellt  oder  doch 
erst  von  ihm  in  ihrer  ganzen  Wichtigkeit  erkannt  und  in  das  all- 
gemeine Bewußtsein  übergeführt  worden.  Um  das  zur  Geltvmg 
zu  bringen,  habe  ich  gesucht,  bei  der  Darstellung  der  Gedanken 
Weismanns  wenigstens  kurz  den  damaligen  Stand  der  betreffenden 
Fragen  zu  umreißen,  und  im  Anschluß  daran  die  Wandlungen  mit- 
berücksichtigt, denen,  wie  schon  angedeutet,  aus  ganz  den  gleichen 
oben  angeführten  Gründen  Weismanns  Ideen  in  manchen  Fragen 
im  Laufe  der  Zeit  tmterworfen  wurden.  Daß  ich  hier  und  da  diese 
Anschauungen  mit  Weismanns  eigenen  Worten  wiedergegeben 
habe,  ohne  das  immer  besonders  zu  erwähnen  oder  kenntlich  zu 
machen,  wird  hoffentlich  keinem  Tadel  begegnen. 

Eine  eingehende  Kritik  der  Lehren  Weismanns  war  natur- 
gemäß hier  nicht  am  Platze;  ebensowenig  wird  erwartet  werden, 
daß  alle  die  vielen  Probleme,  zu  denen  der  Gelehrte  Stellung  ge- 
nommen hat,  und  die  fortwährend  Gegenstand  eifriger  Bearbeitimg 
von  verschiedenen  Seiten  sind,  nach  allen  Richtungen  hin  dar- 
gestellt und  in  der  Entwicklung  verfolgt  werden,  die  sie  in  den  letzten 
Jahren  genommen  haben.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  von  anderer 
Seite  eine  mehr  ins  einzelne  gehende  kritische  Darstellung  der 
Weismannschen  Auffassungen  gegeben  werden  wird.  Im  übrigen 
aber  finden  sich  alle  die  zahlreichen  Darstellungen  der  Abstammungs- 
und Vererbungslehre  mit  Weismanns  Anschauungen  in  irgendeiner 
Weise  ab  und  unterrichten  genauer  auch  über  die  anderen  Forscher  *) . 

Bei  der  Zusammentragung  des  biographischen  Materials  haben 
mich  in  freundlichster  Weise  unterstützt :  in  erster  Linie  die  Tochter 
Weismanns,  Frau  Regierungsrat  Schepp,  sowie  Herr  Geheimer 


*)  Einige  Lehrbuchliteratur  ist  in  Anm.   26  angeführt. 


—      3      — 

Rat  Wiedersheim;  ferner  der  derzeitige  Dekan  der  philosophischen 
Fakultät  in  Freiburg,  Herr  Geheimer  Hof  rat  Finke,  durch  dessen 
Vermittelung  ich  in  den  Besitz  einer  Abschrift  der  kurzen  Lebens- 
skizze gelangte,  die  Weismann  selbst  bei  seiner  Habilitierung  der 
Freiburger  medizinischen  Fakultät  eingereicht  hat;  weiter  die 
Verwaltungen  der  Bibliotheken  in  Freiburg,  Göttingen  und  Rostock; 
endlich  Herr  Privatdozent  Dr.  Richard  Wegner  in  Rostock. 
Ihnen  allen,  insbesondere  aber  Frau  Regierungsrat  Schepp  und 
Herrn  Geheimen  Rat  Wiedersheim,  möchte  ich  dafür  hiermit 
nochmals  meinen  herzlichsten  Dank  aussprechen. 


Erster  Abschnitt. 

Das  Leben.     Der  Mensch. 


Zur  Einleitung.   —  Lebenslauf.  —  Persönlichkeit. 


Zur  Einleitung. 

Am  5.  November  1914  ist  in  Freiburg  im  Breisgau  August 
Weismann  gestorben,  und  mit  ihm  ein  Forscher,  dessen  Name  zu 
den  am  meisten  genannten  in  der  biologischen  Wissenschaft  der 
letzten  Jahrzehnte  gehört,  zugleich  ein  Lehrer,  der  mit  der  Macht 
seiner  Persönlichkeit  auf  Tausende  werdender  Naturwissenschafter 
und  Ärzte  den  nachhaltigsten  Einfluß  ausgeübt  hat.  Da  sein  Tod 
in  die  Spannimg  und  Erregung  der  ersten  Kriegsmonate  fiel,  so 
ist  das  Ereignis  vorübergegangen,  ohne  die  Beachtung  zu  finden, 
die  ihm  in  Friedenszeiten  sicherlich  geschenkt  worden  wäre.  Auch 
jetzt  noch  regiert  Mars  die  Stunde,  imd  mit  blutigen  Waffen  wird 
der  Kampf  um  die  Daseinsberechtigung  der  deutschen  Kultur  ge- 
kämpft; aber  trotzdem,  ja  gerade  dartun  darf  die  deutsche  Wissen- 
schaft, für  die  wahrlich  genug  auf  dem  Spiele  steht,  nicht  der  großen 
Männer  vergessen,  die  in  friedlicher  Geistesarbeit  dazu  beigetragen 
haben,  sie  auf  die  Höhe  und  zu  der  Achtung  gebietenden  Stellung 
zu  führen,  die  sie  unter  den  Völkern  einnimmt,  und  die  ihr  von 
diesen  auch  bereitwillig  eingeräumt  wurde,  bevor  blinder  Neid 
und  Haß  alle  Sinne  und  alles  Urteil  verwirrten.  Zu  diesen  bedeuten- 
den Vertretern  der  deutschen  Wissenschaft  der  letzten  Jahrzehnte 
aber  gehörte  Weismann ,  und  so  ist  es  eine  Ehrenpfhcht  biologischer 
Kreise,  nun,  wo  sein  Leben  abgeschlossen  ist,  seiner  und  seines 
Werkes   rückblickend  zu  gedenken. 

Über  sein  Leben  und  besonders  über  die  Zusammenhänge  der 
äußeren   Umstände   desselben  mit  seiner  eigenen   Entwicklung  als 


Forscher  hat  uns  Weismann  bei  Gelegenheit  seines  70.  Geburts- 
tages, im  Jahre  1904,  die  wichtigsten  Tatsachen  selbst  mitgeteilt; 
ich  gebe  sie  hier,  zum  Teil  unter  Benutzung  seiner  eigenen  Worte, 
aber  ergänzt  durch  die  von  anderer  Seite  erhaltenen  Angaben, 
wieder  ^) . 

Lebenslauf. 

August  Weis  mann  2)  wurde  geboren  am  17.  Januar  1834 
in  Frankfurt  a.  M.,  wo  sein  Vater  Johann  August  Weismann, 
eine  ideal  veranlagte  Natur,  als  Gymnasialprofessor  Vertreter  der 
klassischen  Philologie  war.  Die  Mutter,  Elise  Lübbren,  künst- 
lerisch hoch  begabt  und  auch  als  Malerin  ausübend  tätig,  stammte 
aus  Stade  in  Hannover.  Von  dem  ältesten  bekannten  väterlichen 
Vorfahr,  Valentin  Weismann,  wird  berichtet,  daß  er  in  der 
ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  Bürger  in  Weierburg  in  Ober- 
österreich war  und  in  Wien  als  Märtyrer  gestorben  ist.  Sein  Sohn 
Johannes  Weismann,  aus  seiner  Vaterstadt  Weierburg  als  Prote- 
stant vertrieben,  kam  1656  nach  Northeim  in  Württemberg,  wo 
er  Lehrer  wurde.  Dessen  Sohn  Erich  wurde  Prälat  und  Abt  des 
Klosters  Maulbronn.  Noch  durch  zwei  weitere  Generationen  blieb 
die  Familie  in  Württemberg,  dann  wanderte  ein  Enkel  des  eben 
genannten  Abtes,  Immanuel  Gottlob  Friedrich  Weismann, 
geb.  1773,  als  Kaufmann  nach  Frankfurt  a.  M.  aus.  Er  ist  der  Groß- 
vater August  Weismanns.  — Der  Vater  der  Mutter  Weismanns 
war  Bürgermeister  und  Landrat  in  Stade ;  seine  Gattin,  eine  geborene 
Römhild,  Pfarrerstochter  aus  der  Nähe  von  Bremen,  soll  eine  ganz 
besonders  bedeutende  und  ungewöhnliche  Frau  gewesen  sein^).  — 
Das  sind  nur  wenige  Tatsachen  aus  der  Weis  mann  sehen  Ahnen- 
tafel, und  doch  lassen  sie  recht  wohl  die  Bedeutung  erkennen, 
die  Vererbung  und  Tradition,  diese  beiden  großen.  Gaben  spendenden 
imd  Richtung  bestimmenden  Kräfte  im  Menschenleben  auch  für 
Weismann  gehabt  haben.  Als  mütterliches  Erbteil  darf  man  wohl 
den  künstlerischen  Sinn  und  die  Phantasie  ansprechen,  die  den 
Sohn  die  Natur  lieben  ließen,  ihn  zur  Aufstellung  einer  umfassenden 
Hypothese  trieben  und  ihn  befähigten,  seinen  Gedanken  die  klare 
schöne  Form  in  Wort  und  Schrift  zu  verleihen ;  von  väterlicher  Seite 
aber  dürften  der  Ernst  und  die  rastlose  Hingabe  stammen,  die  den 
Forscher  Weismann  auszeichneten   und  selbst  seine   Gesundheit 


—      6      — 

im  Dienste  der  Wissenschaft  aufs  Spiel  setzen  ließen,  dazu  auch  die 
Überzeugungstreue  und  der  Mut,  mit  dem  er  für  das  als  recht  Er- 
kannte seine  ganze  Persönlichkeit  allezeit  eingesetzt  hat.  ,,Der 
Mensch  und  sein  Schicksal  fließen  aus  dem  Erbteil  seiner  Vor- 
fahren, inbegriffen  die  Stelle,  an  welche  es  ihn  hingesetzt  hat"  — 
mit  diesen  Worten  hat  er  selbst,  zugleich  bewußt  und  bescheiden, 
bei  seinem  70.  Geburtstag  seiner  wissenschaftlichen  Auffassung  von 
dem  stammesgeschichtlichen  Zusammenhang  der  Lebewesen  auch 
für  seine  Person  und  für  sein  Leben  Geltung  zugesprochen. 

Zu  jenen  beiden  großen  Kräften  der  Vererbung  und  Tradition 
gesellte  sich  die  dritte :  die  Gunst  der  äußeren  Verhältnisse,  in  denen 
seine  Anlagen  frei  und  ungehindert,  nur  sorglich  beaufsichtigt,  sich 
entfalten  konnten.  Frühzeitig  schon  legte  der  Knabe  Liebe  zur 
Natur  an  den  Tag,  sammelte  Schmetterlinge,  Käfer  und  Pflanzen, 
züchtete  Raupen  und  beobachtete  alles  Lebendige,  so  daß  die 
Mutter  bald  den  künftigen  Naturforscher  in  ihm  erkannte,  und 
ältere  befreundete  Botaniker  ihm  die  Botanik  als  Lebensstudium 
vorschlugen.  Aber  auch  Physik  und  namentlich  Chemie  haben  ihn 
lebhaft  angezogen.  Indessen,  der  Wunsch  des  Vaters  und  auch  der 
Rat  des  berühmten  Chemikers  Wohl  er  veranlaßten  ihn,  nach 
beendeter  Gymnasialzeit  sich  der  Medizin  als  einem  Berufe,  der 
zunächst  einmal  eine  gesicherte  Lebensstellung  versprach,  zuzu- 
wenden. Von  1852 — 1856  studierte  er  Medizin  in  Göttingen,  wo 
Jacob  Henle,  Wöhler,  W.  Weber,  v.  Siebold  und  andere 
hervorragende  Männer  seine  Lehrer  waren.  Nach  abgelegtem 
Staatsexamen  und  Erwerbung  des  medizinischen  Doktorgrades 
(9.  Juli  1856)*)  trat  er  eine  Stelle  als  akademischer  Assistenzarzt 
am  Krankenhause  in  Rostock  an,  dessen  Direktor  der  Leiter  der 
medizinisch-chirurgischen  Klinik,  Obermedizinalrat  Professor  Dr. 
C.  F.  Strempel  war.  Und  hier  vollendete  er  seine  erste,  schon  in 
Göttingen  begonnene  selbständige  Arbeit,  deren  Thema  ,,Über  den 
Ursprung  der  Hippursäure  im  Harn  der  Pflanzenfresser"  von  der 
Göttinger  medizinischen  Fakultät  als  Preisarbeit  gestellt  worden  war. 
Sie  erhielt  1857  den  Göttinger  Preis 5).  Seiner  Liebe  zur  Chemie, 
und  dem  Vorschlag  seines  väterlichen  Freundes,  des  Chemikers 
Franz  Schulze  folgend,  vertauschte  er  aber  schon  am  i.  April 
1857  seine  klinische  Stelle  mit  der  eines  (unbesoldeten)  Assistenten 
ajn  Rostocker  chemischen  Institut  bei  Schulze,  wo  er  sich  nun 


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weiter  mit  chemisch-physikalischen  Studien  beschäftigte  und  in 
Bearbeitung  einer  von  der  philosophischen  Fakultät  in  Rostock 
gestellten  Preisaufgabe  eine  Untersuchung  über  den  Salzgehalt  der 
Ostsee  lieferte,  der  im  Sommer  1858  von  der  genannten  Fakultät 
der  Preis  zuerkannt  wurde*). 

Zugleich  lernte  er  aber  in  dieser  Stellung  auch  einsehen,  daß 
die  Chemie  nicht  die  Wissenschaft  sei,  für  die  er  geschaffen  war, 
daß  ihm  manche  Anlagen  fehlten,  die  der  Chemiker  zum  erfolg- 
reichen Arbeiten  braucht,  während  er  andere,  wie  den  Formen- 
und  Orientierungssinn,  besaß,  die  in  der  Chemie  kaum  Verwendung 
finden.  So  gab  er  denn  mit  Schluß  des  Wintersemesters  1857/58 
auch  diese  Stellung  wieder  auf,  kehrte  Rostock  den  Rücken  und 
ließ  sich,  nachdem  er  noch  die  größeren  Universitäten  Deutsch- 
lands besucht  und  in  Wien  einen  etwas  längeren  Aufenthalt  ge- 
nommen hatte,  Ende  1858  in  seiner  Vaterstadt  Frankfurt  als  prak- 
tischer Arzt  nieder.  Hier  behielt  er  nun  bei  der  anfangs  nur  geringen 
Praxis  reichlich  Zeit  zu  theoretischen,  namentlich  histologischen 
Arbeiten,  die  in  der  Folge  auch  zu  einigen  wichtigen  Entdeckungen 
führten.  Zunächst  freilich  erfahren  sie  bald  eine  Unterbrechung. 
Der  Krieg  Italiens  und  Frankreichs  gegen  Österreich  brach  aus, 
und  da  eine  Beteüigung  Deutschlands  wahrscheinlich  schien,  sah 
sich  Weis  mann,  den  es  drängte,  sein  ärztliches  Wissen  und  Können 
einmal  entsprechend  zu  verwerten  und  ein  großes  Ereignis  mit- 
zuerleben, veranlaßt,  als  Oberarzt  in  das  badische  Heer  einzutreten 
(Sommer  1859).  Aber  es  kam  nicht  zum  Eingreifen  Deutschlands; 
der  Krieg  fand  durch  die  Schlacht  von  Solferino  ein  rasches  Ende, 
und  Weismann  bheb,  wie  anderen  Feldärzten,  nichts  übrig,  als 
auf  Urlaub  zu  gehen,  um  sich  in  den  österreichischen  Lazaretten 
hilfreich  zu  erweisen.  So  kam  er  nach  Verona,  sah  viel  menschliches 
Elend  in  den  Lazaretten,  aber  auch  zum  ersten  Male  die  Schönheit 
Italiens  und  die  Kunst  seiner  Städte,  Padua,  Venedig,  Mailand, 
Genua,  Pisa,  Lucca,  Florenz,  und  knüpfte  auch  in  Genua  die  Be- 
ziehungen zu  dem  Hause  Gruber  an,  aus  dem  er  sich  später  (1866) 
die  Lebensgefährtin  wählte. 

Zunächst  kehrte  er  nun  wieder  nach  Frankfurt  in  die  frühere 
Beschäftigung  zurück  und  widmete  aufs  neue  seine  ganze  freie  Zeit 
histologischen  Untersuchungen,  als  deren  Ergebnis  mehrere  für  die 
Histologie  der  Muskeln  bedeutungsvolle  Arbeiten  zu  nennen  sind. 


so  der  Nachweis,  daß  die  Herzmuskulatur  bei  allen  Wirbeltieren 
aus  charakteristischen  quergestreiften  Elementen  besteht,  ferner  die 
Untersuchungen  über  das  Wachstum  der  quergestreiften  Muskel- 
fasern u.  a.  Immer  mehr  drängte  sich  ihm  dabei  die  Überzeugung 
auf,  daß  ein  Fortschreiten  dieses  Seitenzweiges  der  Anatomie  vor 
allem  durch  seine  Verbindung  mit  der  Zoologie  und  vergleichenden 
Anatomie  zu  erreichen  sein  müßte;  und  der  Wunsch,  selbst  in  dieser 
Richtung  tätig  zu  sein  und  der  hindernden  und  unbefriedigenden 
Scheintätigkeit  des  praktischen  Arztes  zu  entgehen,  veranlaßte  ihn, 
die  erste  Gelegenheit  dazu  zu  ergreifen  und  eine  ihm  angebotene 
Stellung  als  Leibarzt  bei  dem  österreichischen  Erzherzog  Stephan 
anzunehmen,  der  auf  dem  Schlosse  Schaumbtirg  an  der  Lahn  in- 
mitten eines  kleinen  Hofhaltes  in  Zurückgezogenheit  lebte.  Bevor  er 
sie  antrat,  suchte  er  zunächst  sich  noch  in  der  Zoologie  weiter  zu 
vervollkommnen;  er  ging  Ende  des  Jahres  1860  nach  Paris,  hörte 
bei  Geoffroy  St.  Hilaire,  Milne  Edwards,  Serres  und 
Dumeril,  und  erhielt  die  Erlaubnis,  in  den  Sammlungen  des 
Jardin  des  plantes  zu  arbeiten.  Diese  Studien  wurden  zu  Anfang 
des  Jahres  1861  in  Gießen  unter  Rudolph  Leuckart  fortgesetzt, 
in  dessen  Gemeinschaft  Weismann  zwei  Monate  verlebte,  die  er 
später  selbst  als  ganz  besonders  fruchtbar  und  ergebnisreich  bezeichnet 
hat.  Eigenes  angestrengtestes  Arbeiten  und  dazu  der  tägliche  Ver- 
kehr mit  dem  hoch  bedeutenden  und  mitteilsamen  Manne  ließen 
ihn  noch  im  späten  Alter  gestehen,  daß  er  kaum  je  Avieder  eine 
wissenschaftlich  so  anregende  Zeit  verlebt  habe,  wie  damals  in 
Gießen.  Dem  verehrten  Forscher  hat  er  später  auch  zum  70.  Ge- 
burtstag das  berühmte  Hauptwerk  seines  Lebens  ,,Das  Keimplasma" 
gewidmet.  Der  zweijährige  Aufenthalt  auf  Schloß  Schaumburg  (1861 
bis  1863)  bot  ihm,  was  er  erhofft  hatte:  geringe  berufliche  Inan- 
spruchnahme und  dafür  Muße,  in  Wald  und  Wiese,  Berg  und  Tal 
zoologisch  zu  forschen  und  dazu  eine  größere  Spezialuntersuchung 
in  Angriff  zu  nehmen.  Es  war  das  bis  dahin  wenig  behandelte  Ge- 
biet der  Insektenentwicklung,  dem  er  sich  mit  lebhaftem  Interesse 
zuwandte.  Die  erste  Arbeit  ,,Über  die  Entwicklung  der  Dipteren 
im  Ei"  wurde  in  Schaumburg  bereits  vollendet. 

So  fühlte  er  sich  denn  im  Jahre  1863  reif,  seinem  Lieblings- 
wunsch zu  folgen,  die  Zoologie  als  Lebensfach  zu  ergreifen  und 
sich  der  Universitätslaufbahn  zuzuwenden.    Im  Mai  1863  habilitierte 


er  sich  als  Privatdozent  für  Zoologie  und  vergleichende  Anatomie 
in  der  medizinischen  Fakultät  zu  Freiburg  im  Breisgau,  wo  damals 
die  Zoologie  noch  von  dem  Ordinarius  der  Physiologie  ( —  in  jener 
Zeit:  Otto  Funke  — )  vertreten  wurde,  mit  einer  Arbeit  ,,Über 
die  Entstehung  des  vollendeten  Insekts  in  Larve  und  Puppe"'). 
Voll  frohester  Hoffnungen  begann  er  seine  neue  Tätigkeit;  die  ge- 
ringe Lehrtätigkeit  ließ  ihm  reichlich  Zeit  zu  wissenschaftlichen 
Forschungen,  und  mit  vollster  Hingabe  ging  er  an  die  Aufgabe, 
das  Arbeitsfeld,  das  sich  ihm  in  Schaumburg  erschlossen  —  die 
Embryologie  der  Insekten  —  nach  allen  Richtungen  auszubeuten. 
Aber  dieses  reine  Glücksgefühl  sollte  nicht  lange  dauern,  die  über- 
mäßige Anstrengung  der  Augen  durch  das  Mikroskopieren  rächte  sich, 
und  schon  i  Jahr  später,  Sommer  1864,  traf  ihn  das  schier  schwerste 
Geschick,  das  einen  Naturforscher  treffen  kann:  er  wurde  augen- 
leidend. Die  Erkrankung,  die  ihn  plötzlich,  beim  Mikroskopieren 
befiel,  bestand  zunächst  nur  in  einer  außerordentlich  großen 
Überempfindlichkeit  der  Retina,  während  objektiv  nur  eine  geringe 
Hyperämie  der  letzteren  festzustellen  war;  doch  an  Mikroskopieren 
war  zunächst  nicht  zu  denken.  Leider  erwies  sich  auch  die  Hoffnung, 
durch  Ruhe  und  Schonung  bald  eine  Wiederherstellung  zu  erzielen, 
als  trügerisch.  Wochen,  Monate  und  Jahre  vergingen,  ohne  daß 
es  Weismann  möglich  war,  zu  den  begonnenen  Forschungen  zurück- 
zukehren; müßig  mußte  er,  wie  er  klagt,  in  der  arbeitsfreudigsten 
Zeit  des  Lebens  zusehen,  wie  andere  auf  den  Bahnen  weiterschritten, 
die  er  eröffnet  hatte.  —  Ein  Glücksstrahl  in  jenen  traurigen  Jahren 
war  (1866)  seine  Verlobung  und  im  folgenden  Jahr  (20.  Mai  1867) 
seine  Verheiratung  mit  Marie  Gruber,  aus  dem  alten  Kaufmanns- 
hause  Gruber  in  Genua,  die  ihm  dann  20  Jahre  hindurch  eine  treue 
Lebensgefährtin  gewesen  ist.  Verständnisvoll  nahm  sie  in  jener 
traurigen  Zeit  Anteil  an  allem,  was  Weismann  trieb,  musizierte 
mit  ihm,  las  ihm  vor  und  half  ihm  bei  Experimenten,  die  er  allein 
nicht  hätte  ausführen  können.  Und  auch  in  seiner  akademischen 
Laufbahn  machte  er  Fortschritte:  1865  schon  war  er  a.  o.  Professor 
der  Zoologie  und  provisorischer  Mitdirektor  des  zoologischen  In- 
stitutes (neben  O.  Funke)  geworden,  und  am  4.  April  1867  erfolgte 
seine  Ernennung  zum  etatsmäßigen  a.  o.  Professor  sowie  die  de- 
finitive Übertragung  der  Lehrkanzel  und  des  Institutes  (zunächst 
noch  in  der  medizinischen  Fakultät).      Seine  Antrittsrede,  die  er 


am  7.  Juli  1868  hielt,  handelte  „Über  die  Berechtigung  der  Darwin- 
schen Theorie" ;  es  war  die  erste  öffentliche  Betätigung  Weismanns 
auf  dem  Gebiete,  dem  er  sich  in  der  Folge  immer  ausschließlicher 
zuwandte.  Immer  mehr  mußte  er  aber  einsehen,  daß  der  Zustand 
seiner  Augen  die  wichtigste  Lebensfrage  für  ihn  bedeute,  —  hatte 
ihm  doch  Kußmaul  geradezu  geraten,  die  Zoologie  wieder  auf- 
zugeben und  zur  praktischen  Medizin  zurückzukehren!  Dieser 
letzte  Ausweg  mußte  dem  begeisterten  Natiuiorscher  denn  doch 
zu  verzweifelt  erscheinen,  und  so  versuchte  er  es  zunächst  erst 
noch  einmal  mit  einem  völligen  Entsagen  auf  jede  Inanspruchnahme 
der  Augen,  auch  auf  das  Lesen,  und  ließ  sich  auf  2  Jahre  von  der 
Universität  beurlauben.  Nun  endlich  durfte  er  sich  eines,  wenn  auch 
nur  vorübergehenden,  Erfolges  erfreuen.  Den  Winter  1869/70 
brachte  er  in  Rom  zu,  und  hier  schon  zeigte  sich  eine  Besserung, 
die  dann  nach  seiner  Heimkehr  langsam  zunahm.  So  konnte  er 
nach  Ablauf  der  2  Jahre  seine  Lehrtätigkeit,  und  1874  —  also 
10  Jahre  nach  Beginn  der  Erkrankung  —  auch  seine  Arbeiten, 
ja  selbst  das  Mikroskopieren,  wieder  aufnehmen.  Das  vorhergehende 
Jahr  hatte  ihm  auch  schon  (4.  April  1873)  die  Ernennung  zum  ordent- 
lichen Professor  in  der  philosophischen  Fakultät  gebracht,  womit 
zugleich  in  Freiburg  der  erste  ordentliche  Lehrstuhl  für  Zoologie 
errichtet  wurde.  (Den  Grad  eines  Dr.  phil.  h.  c.  verlieh  ihm  die 
Freiburger  Fakultät  am  16.  Mai  1879.) 

Zehn  weitere  Jahre  durfte  er  sich  nun  des  Glückes,  wieder 
selbständig  forschen  und  beobachten  zu  können,  erfreuen,  und  die 
Studien  zur  Deszendenztheorie,  die  Beiträge  zur  Natiu-geschichte  der 
Daphnoiden,  die  Untersuchungen  über  die  Entstehung  der  Sexual- 
zellen bei  den  Hydromedusen,  alles  umfangreiche  Werke  von  bleiben- 
der Bedeutung,  legen  Zeugnis  ab  für  den  rastlosen  Eifer,  mit  dem 
er  diese  Zeit  ausnutzte.  Empfand  er  doch,  wie  er  selbst  bekennt, 
die  Rückkehr  zur  Spezialforschung  auch  dariun  als  ein  besonderes 
Glück,  weil  er,  bei  aller  Freude  an  der  spekulativen  Arbeit,  doch 
sich  darüber  klar  war,  daß  ,,ein  möglichst  großes  und  ausgebreitetes, 
zugleich  ins  einzelnste  eindringendes  Wissen  der  Untergrund  alles 
naturforschenden  Denkens  und  Spekulierens  bilden  müsse".  Leider 
aber  wirkte  diese  Tätigkeit  aufs  neue  auf  seine  Augen  zurück, 
und  ziemlich  genau  10  Jahre  nach  Wiederaufnahme  der  mikro- 
skopischen Arbeiten  begann  das  linke  Auge  ernster,  unter  objektiv 


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sichtbaren  Veränderungen,  zu  erkranken.  Nunmehr  war  aufs  neue 
äußerste  Schonung  geboten,  und  Weismann  sah  sich  wieder,  und  nun- 
mehr dauernd,  zu  einer  Beschränkung  der  eigenen  mikroskopischen 
Tätigkeit  gezwungen.  Zum  Glück  behielt  das  rechte  Auge  seine 
Leistungsfähigkeit,  und  noch  der  Siebzigjährige  konnte  von  sich 
sagen,  daß  keiner  seiner  Schüler  die  feinsten  Einzelheiten  eines 
mikroskopischen  Bildes  besser  zu  erkennen  vermöge,  als  er  selbst. 
So  blieb  ihm  die  Möglichkeit,  mit  seinen  Schülern  weiter  zu  arbeiten, 
und  sie  ist  ihm  geblieben  bis  in  die  letzten  Jahre  seines  Lebens. 
Zahlreiche  und  bedeutungsvolle  Arbeiten  sind  in  dieser  Zeit  aus 
dem  Freiburger  zoologischen  Institut  hervorgegangen  und  haben 
Zeugnis  abgelegt  von  dem  wissenschaftlichen  Geist,  der  in  ihm 
lebte;  ihre  Verfasser,  A.  Gruber,  C.  Ishikawa,  V.  Haecker, 
O.  vom  Rath,  H.  E.  Ziegler,  W.  Schleip,  K.  Günther, 
E.  Snethlage,  A.  Petrunkewitsch,  R.  Woltereck,  R.  Kühn 
u.  a.  nehmen  geachtete  Stellung  in  der  zoologischen  Wissenschaft 
ein  und  erhalten  die  Erinnerung  an  ihren  geistigen  Führer  und  an 
eine  glänzende  Zeit  der  Blüte,  die  unter  ihm  das  Freiburger  zoo- 
logische Institut  erlebte. 

Aber  freilich,  in  erster  Linie  ist  es  eine  gewaltige  Denk- 
arbeit, die  Weismann  in  diesen  letzten  30  Lebensjahren  geleistet 
hat.  Heldenhaft  fand  er  sich  mit  seinem  Schicksal  ab,  indem  er, 
da  ihm  das  Sehorgan  versagte,  die  Fülle  der  Tatsachen,  deren  Er- 
kenntnis er  fortwährend,  indem  er  sich  vorlesen  ließ,  zu  vermehren 
strebte,  mit  dem  Organ  des  Geistes  zu  durchdringen,  und  allgemeine 
Gesetze  aus  ihnen  zu  erschließen  suchte.  Schon  in  den  sechziger 
Jahren,  bei  seiner  ersten  Erkrankung,  war  er  bei  dem  Suchen  nach 
Aufgaben,  die  er  trotz  der  Augen  bewältigen  könnte,  auf  das  durch 
Darwin  neu  erschlossene  und  kaum  noch  in  Angriff  genommene 
Gebiet  der  Deszendenztheorie  gekommen.  ,,Über  die  Berechtigimg 
der  Darwinschen  Theorie",  so  hatte  der  Titel  der  Antrittsvorlesung 
gelautet,  die  er  im  Jahre  1868  als  etatsmäßiger  Professor  gehalten. 
Sie  bildete  das  erste  Ergebnis  der  Beschäftigung  mit  der  Deszendenz- 
theorie und  damit  den  Anfang  einer  Tätigkeit,  die  erst  mit  der 
dritten  Auflage  seiner  ,, Vorträge  über  Deszendenztheorie"  im  Jahre 
1913,  also  kurz  vor  seinem  Tode,  ihren  äußerlich  erkennbaren  Ab- 
schluß gefunden  hat.  Durch  sie  vor  allem  ist  Weismanns  Name 
in  den  weitesten  Kreisen  bekannt  geworden  als  der  eines  der  ersten 


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und  erfolgreichsten  Vertreters  und  Fortbildners  der  Darwinschen 
'^Theorie  in  Deutschland.  Darwins  ,, Entstehung  der  Arten"  hatte 
1859  wie  ein  Blitzschlag  in  die  naturwissenschaftlichen  Kreise  einge- 
schlagen und  mit  unerhörter  Schnelligkeit  allenthalben  gezündet.  Noch 
im  Alter  gedachte  Weismann  mit  Lebhaftigkeit  jenes  umwälzenden 
Ereignisses,  das  in  die  Zeit  seiner  empfänglichsten  Jugend  gefallen 
war.  Was  Wunder,  daß  die'  neue  Botschaft  auch  sein  Denken  leb- 
haft erregte.  Die  Abstammungslehre  beschäftigte  ihn  in  den  Jahren 
der  ihm  aufgezwungenen  Arbeitspause  und  zeitigte  hier  (1872) 
eine  Abhandlung  über  den  Einfluß  der  Isolierung  auf  die  Artbildung, 
die  sich  kritisch  mit  dem  von  Moritz  Wagner  aufgestellten 
,, Migrationsgesetz"  auseinandersetzt;  in  Beziehung  zur  Deszendenz- 
theorie standen  auch  die  Untersuchungen,  die  er  nach  Wiederauf- 
nahme seiner  mikroskopischen  Tätigkeit  von  1874  an  vorgenommen. 
So  war  er  immer  tiefer  in  die  allgemeinen  Fragen  hineingekommen, 
und  seine  erneute  Erkrankung  war  ihm  ein  Fingerzeig,  in  dieser 
Richtung  nun  weiterhin  seine  ganze  Kraft  einzusetzen.  Schon  im 
Jahre  1881  hatte  er  auf  der  Naturforscherversammlung  in  Salzburg 
den  Aufsehen  erregenden  Vortrag  über  die  Dauer  des  Lebens  ge- 
halten rmd  damit  die  Reihe  kleinerer  Schriften  eröffnet,  die  gewisse, 
mit  der  Abstammungslehre  in  näherer  oder  fernerer  Verbindung 
stehende  biologische  Einzelfragen  behandeln.  Von  den  Erörte- 
rungen über  die  Dauer  des  Lebens  und  den  Ursprung  des  Todes 
wandte  er  sich  in  ihnen  den  Erscheinungen  der  Vererbung  und  der 
Fortpflanzung  zu  und  gab  ihnen  einen  vorläufigen  Abschluß  mit 
dem  Aufsatz  über  die  Amphimixis,  die  das  Befruchtungsproblem 
zum  Gegenstand  hat.  In  den  Kreisen  der  Biologen,  aber  auch 
weit  über  dieselben  hinaus  wohl  bekannt,  haben  gerade  diese 
Schriften,  die  dann  auch  später  gesammelt  erschienen,  und  von 
denen  die  wichtigsten  ins  Englische  übersetzt  worden  sind,  durch 
ihren  Inhalt  wie  durch  ihre  Form  berechtigtes  Aufsehen  erregt 
und  in  steigendem  Maße  den  Ruf  ihres  Verfassers  begründet  wie 
das  Interesse  für  die  behandelten  Fragen  wach  gerufen  und  zu  ihrer 
Klärung  beigetragen.  Weismann  wendet  sich  mit  den  meisten 
von  ihnen  an  einen  weiteren  Leserkreis;  ein  Teil  von  ihnen  ist  auch 
geradezu  aus  Vorträgen  hervorgegangen,  die  vor  einer  größeren 
Zuhörerschaar  gehalten  worden  waren.  Mit  ihnen  ist  Weis- 
mann in  die  Reihe  der  ersten,  im  besten  Sinne  populären  Schrift- 


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steller  getreten,  die  Namen  allerbesten  Klanges,  wie  Helmholtz, 
Ferdinand  Cohn,  Eduard  Strasburger,  E.  Haeckel  u.  a. 
aufweist,  und  auf  die  die  deutsche  Wissenschaft  mit  besonderem 
Stolze  blicken  darf.  Beherrschende  Kenntnis  eines  ausgedehnten 
Tatsachenmateriales  und  geistige  Durchdringung  desselben  ver- 
einen sich  hier  mit  der  Gabe  fheßender  rednerischer  Darstellung, 
die  in  der  Fähigkeit,  auch  schwierige  Dinge  klar  und  einfach  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  außerordentliche  Sprachbeherrschung,  an- 
geborenes Formentalent,  aber  auch  einen  vielseitig  gebildeten  Geist 
erkennen  läßt.  Väterliches  und  mütterliches  Erbteil,  der  Philologe 
und  die  Künstlerin,  verbinden  sich  hier,  wie  in  allen  Werken  Weis- 
manns, zu  schönster  Wirkung^).  Diese  Periode  erhielt  ihren  Ab- 
schluß im  Jahre  1892  mit  dem  Erscheinen  des  großen  Werkes  über 
das  Keimplasma,  in  dem  Weismann  eine  bis  ins  einzelnste 
durchgearbeitete  Theorie    der   Vererbung  entwickelt  hat. 

Sein  äußeres  Leben  erfuhr  in  dieser  Zeit  eine  tief  einschneidende 
schmerzliche  Veränderung:  seine  Gattin  starb  am  i.  Oktober  1886. 
Ihr  Tod  beraubte  ihn  der  Lebensgefährtin,  mit  der  ihn  20  Jahre 
lang  die  innigste  Gemeinschaft  verbunden,  die  ihm  über  die  schwerste 
Zeit  seines  Lebens  hinweggeholfen  hatte,  und  die  ihm,  bei  der 
Schonungsbedürftigkeit  seiner  Augen,  als  Vorleserin  eine  ganz  be- 
sonders große  Hilfe  gewesen  war;  er  nahm  seinen  fünf  Kindern, 
vier  Töchtern  und  einem  Sohn  —  eine  fünfte  Tochter  war  sehr  jung 
gestorben  —  die  Mutter,  die  ihnen  noch  so  viel  hätte  sein  können. 
Um  so  enger  gestaltete  sich  in  der  Folge  der  Zusammenschluß  der 
Kinder  mit  dem  Vater  ^). 

Wieder  vergingen  nun,  von  1892  an,  10  Jahre  rastloser  Ar- 
beit, in  denen  Weismann  seine  Theorie  zu  ergänzen  und  mit  den 
Ergebnissen  neuerer  Forschungen  in  Einklang  zu  bringen,  sie  aber 
auch  gegen  Einwände  zu  verteidigen  und  immer  besser  zu  festigen 
suchte.  Denn  an  Einwänden  hat  es  ihr  freilich  nicht  gefehlt.  Sie 
richteten  sich  gegen  einzelne  Punkte  wie  gegen  ihre  Grundgedanken. 
Weismann  prüfte  jeden,  erkannte  auch  manchen  Irrtum  an, 
hielt  aber  an  dem  Grundsätzlichen,  namentlich  an  seiner  Über- 
zeugung von  der  hohen  Bedeutung  des  Selektionsgedankens,  un- 
erschütterlich fest  und  fügte  1896  in  sein  Ideengebäude  den  be- 
deutungsvollen Schlußstein  mit  der  Aufstellung  der  Germinal- 
selektion,  die  das  Prinzip  des  auslesenden  Wettbewerbs  auf  die 


—      14     — 

kleinsten  Teilchen  innerhalb  des  Keimes  überträgt,  dabei  aber 
allerdings  von  der  eine  Zeit  lang  zu  weit  getriebenen  Bewertung 
der  eigentlichen  Darwinschen  Zuchtwahllehre  zurückkommt. 

Aber  nicht  nur  der  Ausbau  der  eigenen  Theorie  nahm  Weis- 
manns Kraft  in  diesen  lo  Jahren  in  Anspruch,  —  diese  war  auch 
noch  auf  einem  anderen  Gebiete  tätig :  in  der  immer  vollkommeneren 
Ausgestaltung  seiner  Vorlesung  über  Deszendenztheorie.  Schon 
seine  Antrittsrede  im  Jahre  1868  war  der  letzteren  gewidmet  ge- 
wesen, 1874  kam  es  versuchsweise  zu  einer  ersten  kurzen  Sommer- 
vorlesung über  dieses  Gebiet,  die  einfach  darauf  ausging,  den  Dar- 
winschen Ansichten  Verbreitung  zu  verschaffen,  und  von  1880 
ab  wurde  die  Vorlesung  ziemlich  regelmäßig  in  jedem  Jahre  ge- 
halten. Im  Laufe  der  Zeit  änderte  sich  freilich  ihr  Aussehen  recht 
beträchtlich.  In  dem  Maße,  wie  die  Abstammungslehre  den  Forscher 
immer  mehr,  immer  vollkommener  erfüllte,  fügte  sich  Fremdes  und 
Eigenes  allmählich  hinzu;  bald  war  sie  nicht  mehr  bloß  ein  Mittel, 
um  für  die  Theorie  eines  Anderen  Stimmung  zu  machen,  sondern 
sie  wurde  die  Form,  in  die  Weismann  alles,  was  ihm  von  innen 
und  von  außen  an  Tatsachen  und  fruchtbaren  Ideen  zuströmte, 
hineingoß,  und  in  der  es  Gestaltimg  erlangte.  Kein  Wunder,  daß 
diese  Vorlesung  von  Jahr  zu  Jahr  an  Ruf  und  Zulauf  wuchs, 
daß  sie  weit  über  die  Grenzen  Freiburgs,  Badens,  Deutschlands, 
ja  Europas  berühmt  wurde,  so  daß  von  überallher  die  Studierenden 
und  auch  ältere  Forscher  zusammenströmten,  um  sie  zu  hören. 
Auch  hier  waren  es  Stoff  und  Form,  beherrscht  von  einer  lebendigen 
kraftvollen  Persönlichkeit,  die  gleichmäßig  anzogen  und  den  Hörer 
in  ihren  Bann  zwangen.  Nicht  um  ein  Semester  lang  sich  über 
Deszendenzlehre  vortragen  zu  lassen,  sondern  um  Weismann 
zu  hören,  ging  man  nach  Freiburg;  Vertreter  aller  Fakultäten 
konnte  man  in  dem  Hörsaal  des  Freiburger  zoologischen  Institutes 
antreffen,  und  in  Freiburg  studiert  und  Weismann  nicht  gehört 
zu  haben,  wäre  für  einen  Mediziner  oder  Naturwissenschafter  kaum 
denkbar  gewesen.  Was  Wunder,  daß  sich  in  Weismann  selbst 
der  Wunsch  regte,  die  wirkende  Kraft  dieser  Vorträge  nicht  mit 
dem  eigenen  Ich  ersterben  zu  lassen,  sondern  über  seine  Lebens- 
grenze hinaus  zu  erhalten  und  damit  zugleich,  wie  er  selbst  es  aus- 
drückt, die  Hauptergebnisse  seines  arbeitsfreudigen  Lebens,  zu 
einem  abgerundeten  und  in  sich  harmonischen  Bilde  zusammen- 


—      «5      — 

gefaßt,  als  ein  Vermächtnis  den  Nachkommenden  zu  hinterlassen. 
So  erschienen  denn  1902  die  „Vorträge  über  Deszendenztheorie" 
zum  ersten  Male,  schon  1904  wurde  die  zweite,  1913  die  dritte  Auf- 
lage notwendig,  —  für  ein  umfangreiches  wissenschaftliches  Werk 
gewiß  ein  großer  Erfolg.  Aber  diese  Vorträge  boten  auch  dem  Hörer, 
der  sie  gehört,  und  bieten  jetzt  dem  Leser,  der  sie  liest,  sehr  viel 
mehr,  als  ihr  Titel  erwarten  läßt:  sie  bilden  eine  Einführung  in 
das  weite  Gebiet  der  allgemeinen  Biologie,  wie  sie  anregender  wohl 
nicht  geboten  werden  kann.  Kaum  ein  Problem  aus  der  allgemeinen 
Lebenswissenschaft,  das  hier  nicht  erörtert  wird,  und  zwar  er- 
örtert von  einer  Persönlichkeit,  die  die  eigene  Anteilnahme  an  den 
Problemen  durch  die  Kraft  der  Darstellung  auf  den  Hörer  und 
Leser  zu  übertragen  vermag. 

Weis  mann  war  68  Jahre  alt,  als  er  1902  seine  Vorlesungen 
zum  ersten  Male  erscheinen  ließ,  und  konnte  wohl  mit  Befriedigung 
auf  sein  Lebenswerk  blicken,  das  in  ihnen  zusammengefaßt  nun- 
mehr vorlag.  Aber  abgeschlossen  hat  er  dieses  Lebenswerk  damit 
nicht.  Die  12  Jahre,  die  ihm  noch  vergönnt  waren,  hat  er  immer 
weiter  der  Arbeit  gewidmet.  Freilich  werden  die  selbständigen 
Veröffentlichungen  spärlicher.  Zu  nennen  wären  noch  die  sehr  ein- 
gehende Besprechung  des  Werkes  von  Semon  über  die  Mneme 
und  die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  (1906),  ferner  ,,Eine 
hydrobiologische  Einleitung",  die  er  für  die  Internationale  Revue 
der  gesamten  Hydrobiologie  und  Hydrographie  verfaßte,  endlich 
aus  dem  Jahre  1909  ein  Aufsatz  über  die  Selektionstheorie,  den 
er  für  die  Festschrift  der  Universität  Cambridge  zu  Darwins 
100.  Geburtstag  verfaßte,  und  die  Rede,  die  er  am  12.  Februar  1909 
bei  derselben  Gelegenheit  über  ,, Charles  Darwin  und  sein  Lebens- 
werk" in  Freiburg  gehalten  hat.  In  alter  gewohnter  Weise  frei 
vorgetragen,  wird  sie  allen,  die  sie  gehört,  unvergeßlich  bleiben. 
Daneben  aber  nahm  die  weitere  Ausgestaltimg  der  ,, Vorträge" 
seine  Kraft  in  Anspruch:  schon  1904  wurde,  wie  gesagt,  die  zweite, 
1913  die  dritte  Auflage  notwendig.  Bei  dem  gewaltigen  Aufschwung, 
den  in  diesem  Zeitraum  die  Forschung  über  die  Vererbung  genommen 
hat,  der  Hochflut  von  Arbeiten  auf  den  Gebieten,  die  die  ,, Vorträge" 
behandeln,  war  die  Anforderung,  das  Buch  in  Fühlung  mit  der  Wissen- 
schaft zu  halten,  eine  sehr  große.  Es  konnte  sich  dabei  ja  auch  nicht 
etwa  nur  um  eine  Einschaltung  und  Hinzufügung  neuer  Tatsachen 


—      i6      — 

handeln,  sondern  diese  Tatsachen,  namenÜich  die  Ergebnisse  der 
Mendel-Forschung  verlangten  eine  Prüfung  der  persönlichsten 
theoretischen  Vorstellungen.  Mit  Genugtuung  konnte  Weismann 
feststellen,  daß  die  wichtigsten  Grundlagen  seiner  Theorie  sich  auch 
den  neuen  Ergebnissen  gegenüber  als  leistungsfähig  erwiesen, 
während  allerdings  manches  aus  dem  weiteren  Aufbau  entfernt 
und  durch  anders  gestaltete  Teile  ersetzt  werden  mußte.  Wenn 
man  bedenkt,  daß  es  ein  hoher  Siebziger  war,  der  sich  hier  mit 
den  Ergebnissen  einer  rastlos  vorschreitenden  Forschung,  aber  auch 
mit  den  manchmal  etwas  rasch  fertigen  Werturteilen  subjektiver, 
die  geschichtliche  Entwicklung  auch  der  wissenschaftlichen  An- 
schauungen nicht  immer  genügend  berücksichtigender  Über- 
zeugungen abzufinden  hatte,  so  wird  man  auch  diese  dritte  Auflage 
noch  als  eine  bedeutende  geistige  Leistung  anerkennen  müssen, 
wenn  auch  zuzugeben  ist,  daß  die  Durcharbeitung  nicht  mehr  ganz 
gleichmäßig  ist,  ja,  daß  stellenweise  auch  Sätze  aus  den  früheren 
Auflagen  unverändert  übernommen  worden  sind,  die  mit  den  sonst 
vorgenommenen  Änderungen  nicht  mehr  übereinstimmen. 

In  seinem  häuslichen  Leben  hatten  die  Jahre  nach  dem  Tode 
seiner  Frau  (1886)  manche  Veränderungen  gebracht.  Die  Töchter 
verheirateten  sich  und  verließen  das  Haus,  und  eine  Zeitlang  blieb 
er  in  diesem  allein  mit  seinem  Sohne  Julius,  der  sich  immer  be- 
stimmter der  Musik  zuwandte,  und  mit  dem  ihn  die  Liebe  zu  dieser 
ganz  besonders  verband.  Im  Jahre  1895  entschloß  er  sich  zu  einer 
zweiten  Ehe,  aber  sie  führte  nicht  zu  Familienglück  —  nach 
6  Jahren  trennten  sich  die  Gatten  und  er  lebte  wieder  einsam. 
Erst  in  der  zweiten  Hälfte  der  neunziger  Jahre  belebten  sich  die 
Räume  des  Hauses  wieder  mehr:  seine  älteste,  frühzeitig  des  Gatten 
beraubte  Tochter,  Frau  Regierungsrat  Therese  Schepp,  zog  mit 
ihren  Kindern  zu  dem  Vater  und  ward  diesem,  wie  einst  die  Mutter, 
nicht  nur  eine  treue  sorgende  Hausfrau  und  Begleiterin,  sondern 
auch  eine  geistige  Gefährtin,  die  ihm  vorlas  und  seine  mannig- 
fachen Interessen  mit  ihm  teilte.  So  erblühte  ihm  im  Alter  noch 
einmal  ein  glückliches  Familienleben,  und  sein  Herz  blieb  jung  im 
Zusammensein  mit  dem  jugendfrischen  Leben  der  Enkel. 

Ein  Höhepunkt  seines  Lebens  war  die  eindrucksvolle  Feier 
seines  70.  Geburtstages  am  17.  Januar  1904.  Regierung,  Stadt, 
Universität,  wissenschaftliche  Vereine,  Fachgenossen,   Schüler  und 


Freunde,  zum  Teil  von  auswärts  herbeigeeilt,  huldigten  dem  ver- 
ehrten Forscher;  in  vielen  äußeren  Zeichen,  einer  Marmorbüste 
(von  dem  Frankfurter  Bildhauer  Josef  Kowarzik),  einer  Fest- 
schrift, Adressen  und  in  zahlreichen  Ansprachen  kamen  Dank- 
barkeit, Verehrung  und  Liebe  zum  Ausdruck.  Auf  alle  Ansprachen 
erwiderte  Weismann,  zum  Teil  mit  längeren  Reden,  in  jugendlicher 
Frische,  mit  der  Macht  des  ihm  so  glänzend  zu  Gebote  stehenden 
Wortes.  Bei  dem  Festmahl  gab  er  eine  Übersicht  über  sein  Leben, 
zugleich  ein  Bekenntnis  über  seine  Lebensauffassung.  Als  den 
roten  Faden,  den  leitenden  Gedanken,  der  sich  durch  dasselbe  hin- 
zieht, bezeichnete  er  da  den  Idealismus,  der  in  dem  Streben  liegt, 
die  eigene  Kraft  da  einzusetzen,  wo  sie,  der  einmal  gegebenen 
Kombination  von  Anlagen  entsprechend,  am  meisten  erreichen 
mußte  —  kurz  das  Streben,  den  richtigen  Lebensweg  zu  finden. 
Und  mit  einem  herrlichen  Wort,  das  sich  jetzt  glänzend  bewahr- 
heitet, und  das  für  alle  Zeiten  gelten  möge,  schloß  er:  ,,Die  Größe 
und  Bedeutung  unseres  Vaterlandes  beruht  wesentlich  auf  dem 
Idealismus  unseres  Volkes.  Nicht,  daß  wir  diese  Kultur  schaffende 
Geistesrichtung  allein  besäßen,  aber  was  wir  als  Volk  geleistet 
haben,  das  haben  wir  durch  sie  geleistet." 

Im  Frühjahr  1912  sah  sich  der  Achtundsiebzig  jährige  ge- 
nötigt, von  seinem  Amte  zu  scheiden,  die  Jahre  verlangten  ihren 
Zoll.  Ein  deutlicher  Verfall  der  Kräfte  und  eigentlich  krankhafte 
Erscheinungen  stellten  sich  aber  erst  im  Herbst  19 14  ein  und  führten 
dann  zu  einer  raschen  Auflösung.  Wie  sich  später  herausstellte, 
war  es  ein  Leberleiden,  das  sein  Ende  herbeiführte.  Am  5.  November 
1914  verschied  er.  Über  seine  letzten  Tage  berichtet  sein  Schwager 
Wiedersheim:  ,,Eine  große  Freude  war  es  für  ihn  noch  in  seinen 
letzten  Tagen,  daß  er  seinen  Sohn  ständig  um  sich  haben  durfte. 
Viele  Stunden  erquickte  er  sich  noch  an  dessen  meisterhaftem  Klavier- 
spiel, und  während  die  Töne  ihn  umrauschten,  breiteten  sich  über 
ihn  die  Schatten  des  Todes." 

Persönlichkeit. 

,,Ein  arbeitsfreudiges  Leben",  so  hat  Weismann  in  der  Vor- 
rede zur  ersten  Auflage  der  Vorträge  von  sich  selbst  gesagt,  und 
in  der  Tat,  die  Freude  am  rastlosen  Schaffen,  an  der  Arbeit  für 
die  Wissenschaft  und  an  sich  selbst,  beherrschte  ihn  bis  zum  Ende 

Gaupp,  Biographie  Weismanns.  2 


—      i8     — 

seiner  Tage.  Sein  wissenschaftliches  Lebenswerk  muß  schon  ledig- 
lich seinem  Umfange  nach  Bewunderung  erwecken,  eine  Bewunde- 
rung, die  sich  ziu:  Ehrfurcht  steigert,  wenn  man  das  schwere  Hemm- 
nis berücksichtigt,  das  ein  widriges  Geschick  ihm  mit  dem  quälenden 
Augenleiden  aufbürdete.  Wenn  er  trotz  desselben  und  trotz  der 
Schonimg  und  selbst  zeitweiliger  völliger  Arbeitsunterbrechung, 
die  es  ihm  auferlegte,  so  viel  ausgeführt  hat,  so  war  das  nur  mög- 
lich durch  äußerste  Ausnutzung  der  Zeit  und  der  Kräfte,  durch 
konzentriertestes  und  zugleich  planmäßiges,  zielbewußtes  Arbeiten. 
In  der  Aufeinanderfolge  und  dem  inneren  Zusammenhang  der 
einzelnen  Arbeiten  läßt  sich  diese  Planmäßigkeit  leicht  erkennen. 
Non  multa,  sed  multum ;  seine  Untersuchtmgen  sind  nicht  angestellt, 
um  hier  und  da  eine  Lücke  auszufüllen,  sondern  aus  einem  inneren 
Drang,  um  zur  Klarheit  über  bestimmte  Fragen  zu  kommen;  sie 
ordnen  sich  großen  allgemeinen  Gesichtspunkten  unter  und  werden 
durch  diese  verbunden.  Daraus  ergab  sich  aber  keineswegs  be- 
schränkte Einseitigkeit.  Im  Gegenteil,  das  Verzeichnis  seiner 
Spezialarbeiten  tmd  ihr  Inhalt  zeigen,  daß  er  sich  seine  Arbeitsstoffe 
aus  den  verschiedensten  Gebieten  wählte,  und  die  ,, Vorträge  über 
Deszendenztheorie"  legen  auf  jeder  Seite  Zeugnis  ab  von  der  Viel- 
seitigkeit seiner  Interessen  und  Kenntnisse.  Freilich  hatte  ihm  das 
Geschick,  das  ihm  den  vollen  Gebrauch  des  für  ihn  wichtigsten 
Sinnesorganes  raubte,  auch  viel  gegeben:  seiner  Arbeitsfreudigkeit 
gesellten  sich  die  hohe  geistige  Begabung,  der  echte  Forscherdrang, 
der  zum  Wissen  und  Erkennen  kommen  will,  und  ein  berechtigtes 
Kraftgefühl,  das,  weit  entfernt  von  eitler  Überhebung,  sich  des 
eigenen  Könnens  und  des  Wertes  der  eigenen  Leistung  bewußt 
war.  Dazu  kam  mancherlei  Gunst  der  äußeren  Verhältnisse.  In 
einer  geistig  belebten  Atmosphäre  war  er  aufgewachsen,  sorgfältig 
erzogen  von  hochstehenden,  verständnisvollen  Eltern,  beeinflußt 
von  manchem  bedeutenden  Menschen.  Ungehindert  durch  Existenz- 
sorgen konnte  er  sich  seinen  Lehrberuf  wählen,  konnte  er  die  Wissen- 
schaft nur  um  ihrer  selbst  willen  treiben.  Das  Glück  leitete  ihn 
auch  bei  der  Wahl  seines  Aufenthaltsortes.  In  Freiburg,  wo  er 
sich  habilitierte,  lagen  die  Verhältnisse  in  seinem  Fache  sehr  günstig, 
so  daß  sich  seinen  Leistungen  auch  gleich  die  Anerkennung  und  der 
äußere  Erfolg,  Arbeitsfreudigkeit  und  Kraftgefühl  belebend  und 
steigernd,  hinzugesellten,  und  der  lähmende  Einfluß  langdauernder 


—      ig     — 

Erfolglosigkeit  ihm  erspart  blieb.  Dazu  kam  die  wunderbare  Natur 
Freiburgs,  der  Vorzug  der  kleineren  Stadt,  wo  die  Kräfte  nicht 
in  dem  Betriebe  großstädtischen  Lebens  aufgerieben,  und  die  Stunden 
schon  zur  Überwindung  räumlicher  Entfernungen  zerstückelt  und 
gemordet  werden.  Und  wie  mußte  gerade  auf  einen  Forscher,  der 
die  Natur  so  liebte,  wie  Weis  mann,  die  Lage  Freiburgs  wirken, 
Freiburgs,  dem  einst  Lorenz  Oken  die  begeisterten  Worte  zum 
Abschied  ziurief:  ,,wer  in  Dir  den  offenen  Sinn  für  Schönheit  der 
Natur,  für  Kunst,  für  Freundschaft  und  Frohheit  des  Lebens  nicht 
erhält,  der  findet  ihn  nimmermehr!"  In  vollen  Zügen  hat  auch 
Weismann  die  Schönheit  dieser  Natur  genossen  und  aus  ihr  Er- 
frischung und  neue  Arbeitskraft  gewonnen,  als  ein  wahrer  Weiser 
hat  er  die  Segensquellen  des  Ortes  sein  Leben  befruchten  lassen. 
Hier  schuf  er  sich,  abseits  von  dem  Leben  der  Stadt  und  doch  nicht 
zu  fern  von  seinem  Institut,  sein  Haus  mit  dem  prachtvollen  großen, 
Ruhe  spendenden  Garten,  mit  dem  Blick  auf  den  Schloßberg, 
mit  den  beiden  hochragenden  dunklen  Zypressen  vor  dem  Eingang, 
die  wie  ein  Wahrzeichen  auf  das  hohe  ernste  Streben  hindeuteten, 
das  an  dieser  Stelle  herrschte.  Aber  auch  edle  Geselligkeit,  nament- 
lich in  Verbindung  mit  Pflege  der  Musik,  zog  hier  oft  ein,  denn 
Weismann  war  im  Grunde  eine  gesellige  Natur,  und  nur  sein 
Augenleiden  verhinderte  eine  regere  Betätigung  in  dieser  Hinsicht. 
Die  herrliche  Umgebung  Freiburgs  zog  Weismann  unwider- 
stehlich hinaus.  In  jüngeren  Jahren  besonders  unternahm  er  bei  jeg- 
lichem Wetter  kleinere  und  größere  Wanderungen,  wo  möglich 
in  Gesellschaft  von  Kollegen.  Mit  solchen  gründete  er  schon  in 
den  sechziger  Jahren  die  ,,Philambulatoria",  einen  Verein  wander- 
lustiger Kollegen,  zu  denen  damals  Binding,  de  Bary,  später 
auch  Windelband,  Rümelin  und  viele  andere  bedeutende  Männer 
gehörten.  Aber  seine  Wanderungen  und  Reisen  dienten  nicht  nur 
der  Erholung,  sondern  auch  der  Belehrung.  Weismann  war  ein 
guter  Botaniker  und  besaß  vortreffliche  Kenntnisse  der  heimischen 
Flora,  und  daß  die  Landesfauna  dabei  mit  erforscht  wurde,  ist 
wohl  selbstverständlich.  Hier  war  es  besonders  das  buntschillernde 
Heer  der  Schmetterlinge,  das  ihn  anzog  und  zu  wissenschaftlichen 
Fragestellungen  anregte,  aber  auch  das  Fischnetz  wurde  oft  in  die 
Tiefe  des  Titisees,  des  Boden-  und  Züricher  Sees  und  in  den 
Lago  maggiore   versenkt,   und   manchen  Tag,   aber  auch  manche 


—       20       — 

klare  oder  stürmische  Nachtstunde  hat  Weismann  im  Boote  zu- 
gebracht, um  das  Material  für  seine  Monographie  der  Daphnoiden 
zu  sammeln. 

Die  Ferien  verbrachte  er  in  früheren  Jahren  häufig  am  Boden- 
see auf  dem  Lindenhof,  dem  Besitztum  der  Gruberschen  Familie, 
aus  der  seine  Frau  stammte,  oder  auch  in  Genua  in  dem  dortigen 
Stammhause  der  Familie  Gruber.  Hier  konnte  er  in  gleicher  Weise 
sich  der  Erholung  wie  der  Arbeit  widmen,  und  hier  empfing  er  die 
Anregung  zu  manchen  Untersuchungen:  in  Schachen  zu  der  Studie 
über  das  Tierleben  des  Bodensees  und  namentlich  zu  der  großen 
,, Naturgeschichte  der  Daphnoiden",  an  der  Riviera  zu  den  Unter- 
suchungen über  die  Hydromedusen,  die  er  dann  in  Le  Croisic  in 
der  Bretagne  sowie  in  Neapel  ergänzte. 

Auch  sonst  hat  er  manches  schöne  und  interessante  Stück 
Welt  kennen  gelernt;  so  hat  er  Italien  mit  seinen  Hauptkunst- 
stätten, femer  Korsika,  Sardinien,  die  weitere  Riviera,  aber  auch 
England,  Belgien,  Holland  und  in  den  neunziger  Jahren  auch 
Griechenland  und  Konstantinopel  aufgesucht  und  durchstreift. 

Daß  er  zeitlebens,  in  weiser  Verwendung  seiner  Kräfte,  Ar- 
beit und  Erholung  vereinen  konnte,  das  dankte  er  außer  den  glück- 
lichen Verhältnissen,  in  denen  er  lebte,  auch  dem  Entgegenkommen 
einer  weitschauenden  Regierung,  die  in  voller  Würdigung  seines 
Wertes  und  seiner  Bedeutung  für  die  Freiburger  Universität  nicht 
nur,  wo  es  ging,  seinen  Wünschen  bezüglich  des  Institutes  ent- 
gegenkam, sondern  auch  mehrfach  den  erbetenen  Urlaub  ziu:  Voll- 
endung bestimmter  Unternehmungen  erteilte.  Bei  dem  Zusammen- 
wirken so  glücklicher  Verhältnisse  versteht  man  es,  daß  er  Freiburg 
zeitlebens  treu  blieb  und  Rufe  nach  auswärts  (Breslau,  Bonn, 
vor  allem  München  1884)  ausschlug.  Das  kam  beiden  Teilen  zugute : 
ihm  selbst  blieb  der  Zeitverlust  und  die  Unterbrechung  der  ruhigen 
Arbeit  erspart,  die  ein  Wechsel  des  Aufenthaltsortes  und  ein  Ein- 
leben in  neue  Verhältnisse  notwendig  zur  Folge  gehabt  hätten; 
der  Universität  Freiburg  aber  blieb  ein  Lehrer  erhalten,  der  ihren 
Ruf  weit  über  die  Grenzen  Deutschlands  hinaus  getragen  tmd  zu 
ihrem  glanzvollen  Aufschwung  in  den  letzten  Dezennien  an  erster 
Stelle  beigetragen  hat. 

An  äußerer  dankbarer  Anerkennung  seines  Wirkens  hat  es 
ihm  nicht  gefehlt.     Die  badische  Regierung  ehrte  ihn  durch  hohe 


21 


Auszeichnungen,  sein  Großherzog  ernannte  ihn  zum  Wirklichen 
Geheimen  Rat  mit  dem  Prädikat  Exzellenz,  und  verlieh  ihm  nach 
anderen  hohen  Orden  das  Großkreuz  des  Zähringer  Löwenordens, 
vom  König  von  Bayern  erhielt  er  den  Maximiliansorden  für  Kunst 
und  Wissenschaft ;  die  Stadt  Freiburg  ernannte  ihn  zu  ihrem  Ehren- 
bürger. Groß  war  auch  die  Zahl  der  Ehrungen  seitens  wissenschaft- 
licher Gesellschaften  des  In-  und  Auslandes.  Er  war  Mitglied  der 
Akademien  von  Berlin,  München,  Heidelberg,  Stockholm,  der 
Royal  Societies  von  London  und  Edinburgh,  Mitglied  der  Linnean 
Society,  Doctor  of  Common  Law  der  Universität  Oxford,  Doktor 
der  Botanik  von  Utrecht,  Ehrenmitglied  der  Deutschen  zoologischen 
Gesellschaft.  Von  sonstigen  wissenschaftlichen  Vereinigungen  sei 
die  Internationale  Gesellschaft  für  Rassenhygiene  erwähnt,  die  ihn 
ebenfalls,  in  Anerkennung  seiner  Verdienste  auf  dem  Gebiet  der 
Vererbungslehre  und  seines  Eintretens  für  den  Selektionsgedanken, 
zu  ihrem  Ehrenmitglied  ernannte. 

Aber  diese  Ehrungen  konnten  ihn  nicht  zur  Täuschung  über 
sich  selbst  und  zur  Kritiklosigkeit  gegenüber  seiner  Arbeit  ver- 
leiten. Zu  seinem  80.  Geburtstag  schrieb  sein  Nachfolger  Doflein: 
,, Weismann  gehört  und  hat  immer  zu  jenem  Typus  von  akademi- 
schen Lehrern  gehört,  den  ich  am  höchten  stellen  möchte,  nämlich 
zu  jenen  Männern,  welche  unabhängig  an  der  Vervollkommnung 
ihrer  eigenen  Persönlichkeit  arbeiten.  Nur  wenn  sie  selbst  mit 
den  Resultaten  ihres  Denkens  und  Arbeitens  zufrieden  sein  können, 
glauben  solche  Männer,  ihren  Schülern  Genüge  zu  tun."  Diese 
Strenge  gegen  sich  selbst  hatte  denn  freilich  ziu:  Folge,  daß  er  auch 
anderen  gegenüber  große  Anforderungen  stellte  und  ein  scharfer 
Kritiker  war.  Ernstes  Streben  und  wirkliche  Leistungen  wurden 
von  ihm  rückhaltlos  anerkannt  und  gefördert;  Minderwertiges 
wies  er  zurück.  Die  Reizbarkeit,  die  durch  die  Empfindlichkeit 
seiner  Augen  fortwährend  gesteigert  wurde,  ließ  dabei  gelegentlich 
einmal  sein  Urteü  auch  unnötigerweise  schroff  und  selbst  verletzend 
werden,  und  den  persönlichen  Umgang  mit  ihm  etwas  schwierig 
gestalten.  Als  natürliche  Folge  davon  ergab  sich,  daß  er  mehr 
Bewunderer  als  nahe  stehende  Freunde  hatte  und  zeitweise  in  eine 
Isoliertheit  geriet,  die  ihm,  bei  voller  Erkenntnis  ihrer  Ursache, 
manche  trübe  Stunde  bereitete.  Und  doch  besaß  er  nicht  nur  einen 
scharfen   Geist  und  eine  vornehme   Gesinnung,   sondern  auch  ein 


—        22        — 


reiches  Gemüt  und  ein  warm  empfindendes  Herz.  In  schlichten 
Worten  herzlicher  Dankbarkeit  erzählte  er  bei  Gelegenheit  seines 
70.  Geburtstages  von  seiner  Kindheit,  seinen  Eltern  und  den  Lehrern, 
die  auf  sein  Leben  Einfluß  gehabt,  und  bei  derselben  Gelegenheit 
konnte  der  Dekan  seiner  Fakultät  es  aussprechen,  daß  noch  nie 
ein  sorgenschwerer  Kollege  sich  Weismann  offenbart  habe,  ohne 
die  herzlichste  Teilnahme  und,  wenn  möglich,  die  tatkräftigste 
Unterstützung  gefunden  zu  haben. 

Die  Empfindlichkeit  der  Augen  war  aber  auch  eine  unmittel- 
bare Veranlassung  für  ihn,  große  Geselligkeit  zu  meiden,  ihn  in 
erster  Linie  auf  ein  Leben  in  stüler  Zurückgezogenheit  und  in  kon- 
zentrierter geistiger  Arbeit  zu  verweisen.  Doch  nahm  er  an  dem 
wissenschaftlichen  Leben  Freiburgs  regsten  Anteil,  insbesondere  an 
der  Tätigkeit  der  Naturforschenden  Gesellschaft,  in  der  er  selbst 
manchen  Vortrag  gehalten  hat.  Die  vielen  Vorträge,  die  er  auf 
Naturforscherv'ersammlungen  imd  bei  anderen  öffentlichen  Ge- 
legenheiten in  Deutschland  und  dem  Ausland  vor  einer  großen, 
durchaus  nicht  nur  aus  Fachleuten  bestehenden  Zuhörerschaft  ge- 
halten, zeigen  ja  auch  zur  Genüge,  daß  er  die  Wissenschaft  nicht 
als  ein  Monopol  eines  eng  begrenzten  Kreises  betrachtete,  sondern 
sie  allen  Gebildeten  zugänglich  machen  wollte;  sie  offenbaren  auch 
die  besondere  Gabe,  die  er  dafür  besaß.  Auch  dem  Leben  der  Uni- 
versität widmete  er  seine  Zeit  und  seine  Kraft.  ,,Seit  30  Jahren 
sind  Sie  Mitglied  unserer  Fakultät,  seit  30  Jahren  nehmen  Sie 
regsten  Anteil  an  allen  unsere  Fakultät  interessierenden  Fragen, 
haben  ausgeharrt  in  mancher  nicht  gerade  kurzweiligen  Sitzung, 
bescheiden  still  sich  zurückhaltend,  wenn  es  um  weniger  wichtige 
Fragen  sich  handelte,  gern  Ihren  erfahrenen  Rat  erteilend,  wenn 
schwierigere  Sachen  zur  Entscheidung  standen,  ohne  Scheu,  männ- 
lich fest  in  die  vordersten  Reihen  sich  stellend,  wenn  es  galt,  die 
Rechte  der  Universität,  die  Freiheit  der  Wissenschaft  zu  ver- 
teidigen" —  mit  diesen  Worten  kennzeichnete  an  seinem  70,  Ge- 
burtstag der  Fakultätsdekan  diese  Seite  seiner  Tätigkeit. 

Seine  Arbeit  galt  natürlich  in  erster  Linie  seiner  Wissenschaft ; 
ihr  widmete  er  sich  forschend  im  Institut,  allein  oder  mit  seinen 
Schülern,  lehrend  im  Hörsaal,  lernend  zu  Hause  und  bei  den 
Referierabenden,  die  er  eingerichtet  hatte.  Wie  viel  ihm  daran  lag. 
durch  Verfolgung  der  Literatur,  mit  den  Fortschritten  der  Wissen- 


—     23     — 


Schaft  Fühlung  zu  behalten,  lehrt  die  Forderung,  die  er  einmal 
ausspricht^"):  daß  nur  in  wenigen  Sprachen  pubHziert  werden 
soll.  Das  ist  ihm  die  unumgängUche  Grundlage  eines  weiteren  ge- 
meinsamen Zusammenarbeitens  der  Völker  an  dem  Bau  der  Wissen- 
schaft. Indessen  dürfe  die  Sache  nicht  etwa  vom  Standpunkte  der 
Nationalitätsfrage  betrachtet  werden,  sondern  allein  von  dem  höheren, 
der  allgemeinen  Menschenbildung.  Nicht  ein  Unterdrücken  der 
kleineren  Nationalitäten  durch  die  größeren  soll  erreicht  werden, 
sondern  ein  freiwilliger  Verzicht  aller  der  Völker  auf  den  Gebrauch  der 
eigenen  Sprache  auf  wissenschaftlichem  Gebiet,  deren  Sprache  ent- 
weder keine  weite  Verbreitung  oder  doch  noch  keine  große  wissenschaft- 
liche Literatur  hat.  Dieses  Opfer  muß  gebracht  werden,  im  Dienste  der 
Wissenschaft,  wie  im  eigenen  Interesse  der  Arbeitenden  selbst.  —  Es 
wäre  in  der  Tat  schön,  wenn  diese  Auffassung  überall  Geltung  hätte! 

Für  die  internationale  Verbreitung  der  Ergebnisse  wissen- 
schaftlicher Forschung  ist  Weismann  übrigens  nicht  nur  mit  dem 
Wort,  sondern  auch  mit  der  Tat  eingetreten ;  es  dürfte  wenig  deutsche 
Forscher  geben,  von  denen  so  viele  Werke,  auch  reine  Spezial- 
arbeiten,  zugleich  in  fremder,  besonders  englischer,  Sprache  er- 
schienen sind.  Auch  persönlich  war  im  Vaterlande  Darwins  der 
Nachfolger  des  großen  Britten  kein  Fremder:  mehrfach  hat  er  dort, 
von  gelehrten  Gesellschaften  aufgefordert,  Vorträge  gehalten.  Aber 
auch  in  Frankreich,  in  Amerika,  in  Japan,  —  wo  wäre  Weismanns 
Name  nicht  bekannt  gewesen? 

Daß  er  mit  ganz  besonders  regem  Interesse  und  freudiger 
Genugtuung  den  Einfluß  verfolgte,  den  der  Entwicklungsgedanke, 
die  Vererbungslehre,  insbesondere  seine  Vererbungslehre,  sowie  die 
Selektionslehre  auf  allen  Gebieten  erlangten,  nicht  nur  auf  dem 
Gebiete  der  Pathologie  und  klinischen  Medizin,  sondern  auch  auf 
dem  der  sogenannten  Geisteswissenschaften,  wie  für  die  Betrachtung 
der  kulturellen  und  sozialen  Zustände  und  als  leitende  Gedanken 
bei  den  auf  die  Reform  der  letzteren  gerichteten  Bestrebimgen  — 
ist  wohl  selbstverständhch.  Die  Ehrenmitgliedschaft  der  Inter- 
nationalen Gesellschaft  für  Rassenhygiene  nahm  er  an;  für  das 
Archiv  für  Rassen-  und  Gesellschaftsbiologie  schrieb  er  eine  kritische 
Besprechung  von  Semons  ,,Mneme". 

Aber  Weismann  war  nicht  einseitiger  Fachmann  und  er- 
schöpfte sich  nicht  in  der  Zoologie;  Geschichte,  Kunst,  Literatur 


—       24       — 

bildeten  nicht  minder  die  Bereiche,  aus  denen  er  sich  vorlesen 
ließ,  —  denn  darauf  war  er  freilich  angewiesen,  —  und  auf  den 
verschiedensten  Gebieten  war  er  wohl  bewandert.  Die  Natur  hatte 
ihm  eine  reiche  Fülle  geistiger  Gaben  in  die  Wiege  gelegt,  und  in 
ernster  Arbeit  und  Selbstzucht  strebte  er,  sie  zu  entwickeln.  Neben 
seiner  Wissenschaft  steht  in  erster  Linie  die  Kunst,  namentlich  die 
Musik,  und  diese  vermochte  es  auch  am  häufigsten,  ihn  aus  der 
Arbeitsstube  heraus  und  unter  Menschen  zu  locken.  Die  Erfahrungs- 
tatsache, die  sich  in  Universitätsstädten  oft  genug  beoachten  läßt, 
daß  gerade  unter  den  Medizinern  und  den  Vertretern  der  organischen 
Natiu^wissenschaften  musikalische  Veranlagung  ganz  besonders 
häufig  zu  finden  ist  —  man  denke  an  berühmte  Beispiele:  Bill- 
roth,  Mikulicz,  Neisser,  die  Chirurgen  Nußbaum,  Engel- 
mann u.  v.  a.  —  wurde  auch  durch  Weis  mann  bestätigt.  Weiteren 
Kreisen  ist  das  bekannt  geworden  durch  seinen  Aufsatz  über  die 
Musik  bei  Tieren  und  Menschen;  in  Freiburg  wußten  es  alle,  die 
sich  um  Musik  kümmerten;  die  hohe  stattliche  Erscheinung  mit 
dem  großen  grünen  Augenschirm,  der  die  empfindlichen  Sehorgane 
vor  dem  blendenden  Lichte  schützen  sollte,  war  in  Konzertsälen 
wohl  bekannt.  Viel  kleiner  freilich  war  der  Kreis  derer,  die  ihn 
selbst  sein  Instrument,  das  Klavier,  haben  spielen  hören;  sich  zu 
produzieren,  war  nicht  seine  Sache.  Nur  ein  einziges  Mal,  in  der 
ersten  Zeit  meines  Freiburger  Aufenthaltes,  habe  ich  selbst  dazu 
Gelegenheit  gehabt:  bei  dem  gemeinsamen  Spiel  der  G-Dur- 
(L  Alexander-)Violinsonate  \'on  Beethoven.  Er  spielte  gut  und 
besaß,  wie  seine  Angehörigen  bekunden,  ein  glänzendes  Gedächtnis, 
das  ihn  befähigte,  ein  großes  musikalisches  Repertoir  auswendig 
zu  beherrschen,  —  eine  besonders  glückliche  Gabe  angesichts  seines 
Augenleidens.  Sein  Herz  gehörte  den  alten  großen  Meistern;  im 
tiefsten  Innern  seiner  Natur  lag  es  begründet,  daß  er  von  dem  folge- 
richtigen Aufbau  und  der  Geschlossenheit  der  Form  nicht  absehen 
konnte.  So  sind  seine  Vorträge  stets  sorgfältig  gegliedert  und  kommen 
zu  einem  wirklichen  Abschluß,  einem  Ergebnis,  das  oft  die  Form 
einer  Sentenz,  einer  allgemeinen  Wahrheit  annimmt,  so  strebte  er 
darnach,  seine  Keimplasmatheorie  in  sich  als  Ganzes  abzuschließen, 
—  und  so  widerstrebte  ihm  das  Ruhe-  und  Endlose  Wagnerscher 
Musik.  Erst  durch  seinen  Sohn  Julius,  in  dem  die  musikalische 
Veranlagung  des  Vaters  in  gesteigertem  Maße  weiter  lebt,  und  der 


als  Komponist  sich  einen  geachteten  Namen  geschaffen  hat,  gewann 
er  auch  mit  der  modernen  Musik  etwas  mehr  Fühlung.  Sein  Urteil, 
sowohl  über  Werke  wie  über  ihre  Wiedergabe,  konnte  recht  scharf 
sein;  ,, keine  Weihe"  —  das  war  einmal  die  kurze  Kritik  einer  Auf- 
führung der  Matthaeus-Passion.  — 

Aber  auch  zeichnerisch  war  er  —  ein  Erbteil  der  Mutter  — 
über  Durchschnitt  begabt;  bei  weitem  die  meisten  Abbildungen 
für  die  vielen  Tafeln  seiner  Spezialarbeiten  hat  er  selbst  angefertigt. 
So  war  auch  sein  Sinn  für  Werke  der  bildenden  Kunst  hoch  ent- 
wickelt. Davon  zeugte  manches  schöne  Gemälde  in  seinem  Hause, 
und  die  Gallerien  von  Rom,  Florenz,  München  konnten  ihn,  wie 
sein  Schwager  Wiedersheim  bekundet,  zu  leidenschaftlicher  Be- 
geisterung hinreißen.  In  der  Geschichte  der  bildenden  Kunst  war 
er  wie  in  der  der  Musik  wohl  bewandert. 

Das  entsprach  ja  aber  auch  nur  seiner  Geistesrichtung,  die 
ihn  trieb,  überall  nach  dem  großen  Zusammenhang  der  Erschei- 
nungen zu  forschen,  das  Seiende  als  Gewordenes  aus  dem  Werde- 
gang zu  begreifen.  Mit  diesem  wahrhaft  historischen  Sinn  betrachtete 
er  die  Natur  und  so  auch  das  Leben  der  Menschen  und  die  Geschicke 
der  Völker.  Ein  glühender  Patriot,  trat  er  schon  in  den  sechziger 
Jahren  mit  Treitschke  für  ein  einiges  Deutschland  unter  Preußens 
Führung  ein,  —  damals  eine  kühne  Tat,  die  ihm  viele  Feinde  zu- 
zog. Den  Ausbruch  des  Weltkrieges  hat  er  noch  erlebt,  und  bis 
in  die  letzten  Tage  seines  Lebens  hat  er  die  Ereignisse  desselben 
mit  innerster  Anteilnahme  verfolgt.  Wie  er  selbst  über  den  Urheber 
des  Krieges  und  seine  Motive  dachte,  brachte  er  zum  Ausdruck, 
indem  er  sich  der  verschiedenen  Ehren  und  Würden,  die  ihm  von 
englischer  Seite  geworden  waren,  entäußerte. 

Eine  so  bedeutende,  vielseitige  Persönlichkeit  konnte  auf 
keinen  geeigneteren  Platz  gestellt  werden,  als  auf  den  des  deutschen 
Hochschullehrers  mit  seinen  drei  großen  Aufgaben  des  Lernens, 
Forschens  und  Lehrens.  Wenn  je  einer,  so  hat  Weismann  diesen 
Ehrenplatz  voll  ausgefüllt.  Was  er  seinen  Hörern  sagte,  war  er- 
arbeitet in  intensivster  Geistestätigkeit,  empfunden  mit  dem  Herzen 
und  gekleidet  in  die  Form  einer  schön  vollendeten  Sprache.  Sein 
vortreffliches  Gedächtnis  und  seine  angeborene  Gestaltungskraft 
gestatteten  ihm,  frei  zu  sprechen,  mit  nur  gelegentlicher  Benutzung 
kurzer  Notizen.     Er  sprach  gewöhnlich  sitzend,  mit  dem  Rücken 


—        26       — 

gegen  das  Fenster  gekehrt,  mit  halber  Wendung  gegen  sein  Audi- 
torium, den  einen  Arm  auf  die  Stullehne  aufgelegt,  beide  Hände 
ineinander  verschränkt.  So,  ein  Bild  völligster  Sammlung,  holte 
er  die  Gedanken  aus  dem  Innersten  heraus  und  formte  sie  wie  in 
einem  zwanglosen  Gespräch.  Dadurch  gewann  sein  Vortrag  etwas 
ungemein  Fesselndes  und  zwang  zum  Mitdenken.  Ganz  im  Gegen- 
teil zu  denen,  die  in  der  Überleitung  einiger  Tatsachen  auf  den 
Zuhörer  die  ganze  Aufgabe  des  akademischen  Lehrers  sehen  und 
den  Standpunkt  nicht  elementar  genug  wählen  zu  können  glauben-, 
suchte  er  vielmehr  die  Hörer  zu  seiner  Höhe  herauf  zu  ziehen, 
ihnen  immer  den  Zusammenhang  der  Einzeltatsachen  mit  größeren 
allgemeinen  Fragen  zu  zeigen,  auf  sie  seine  Begeisterung  für  diese 
zu  übertragen  und  sie  geradezu  als  Mitarbeiter  aufzurufen.  Ihm  war 
die  Universität  etwas  anderes  als  die  Mittel-  oder  Fachschule,  und 
der  deutsche  Universitätsprofessor  ein  Lehrer  und  Erzieher  der 
akademischen  Jugend,  der  sich  allezeit  bewußt  war,  daß  unter 
dieser  Jugend  auch  die  Besten  des  Volkes,  die  geistigen  Führer  der 
Zukunft,  vor  ihm  saßen.  Der  glänzende  Erfolg,  den  er  als  akademi- 
scher Lehrer  gehabt,  die  Verehrung,  die  die  Studentenschaft  ihm 
entgegengebracht,  zeigten  ihm,  wie  recht  er  mit  dieser  Auffassimg 
hatte.  Nicht  die  gewöhnliche  ,, Beliebtheit"  war  es,  was  ihn  mit 
der  Studentenschaft  verband;  weder  strebte  er  darnach  durch  ge- 
schickte Vermittelung  von  Examenskenntnissen  noch  durch  väter- 
liche Beaufsichtigung  und  Bevormundung  studentischer  Unreife ;  — 
das  Band,  das  ihn  mit  der  akademischen  Jugend  verknüpfte,  war 
ein  edleres.  In  schöner  Weise  kam  das  zum  Ausdruck  in  den  An- 
sprachen bei  der  Feier  seines  70.  Geburtstages,  „Jung  sind  Sie 
geblieben  in  Ihrem  Berufe  als  Lehrer,  bei  dem  Sie  noch  jetzt  mit 
der  Frische  des  Eifers,  mit  der  Wärme  der  Überzeugung  die  Herzen 
aller  Hörer  zwingen.  Jung  aber  in  einem  noch  viel  tieferen  Sinne, 
als  führender  Geist  einer  Wissenschaft,  die  in  unserer  Zeit  der  Aus- 
blick auf  neue  Ziele  mit  einem  neuen,  jugendlichen  Geiste  erfüllt 
hat,  auf  Ziele,  denen  die  vorurteilsfreie  Jugend  überall  freudig 
zuströmt,  während  die  Alten  noch  hier  und  da  zögernd  zur  Seite 
stehen.  So  gehen  Sie  heute  noch  mitten  unter  uns  Jungen.  Aber  Sie 
gehen  mit  uns  nicht  nur  als  Lehrer,  sondern  auch  als  Berater,  Sie 
begeistern  uns  nicht  nur  mit  der  Kraft  der  Jugend,  sondern  Sie 
halten  uns  auch  mit  Besonnenheit,  die  das  bessere  Gut  des  reiferen 


27         — 


Alters  ist.  Und  das  tut  not.  .  .  "  In  der  Erwiderung  auf  diese  Worte 
des  Vertreters  der  Studentenschaft  sagte  Weismann:  ,,Es  ist  für 
einen  Lehrer  der  Jugend  wahrlich  nicht  gleichgültig,  ob  er  sich 
im  Kontakt  fühlt  mit  seinen  Hörern,  ob  er  glauben  darf,  daß  sein 
Wort  bei  ihnen  zündet,  daß  er  ihnen  nicht  nur  neuen  Wissensstoff 
überliefert,  sondern  sie  auch  zugleich  zur  Wissenschaft  selbst  hin- 
leitet, ihnen  Begeisterung  für  dieselbe  einflößt  und  sie  so  dazu  an- 
regt, ihm  auf  die  Pfade  zu  folgen,  welche  er  selbst  gewandelt  ist. 
Verstehen  Sie  mich  recht.  Ich  meine  nicht,  daß  jeder  von  Ihnen 
forschender  Naturbeobachter  werden  solle  oder  gar  jeder  Zoologe 
oder  Biologe!  Nein!  Die  meisten  von  Ihnen  werden  einen  prak- 
tischen Beruf  verfolgen,  werden  nützliche  Diener  des  Staates  und 
der  menschlichen  Gesellschaft  werden  und  nur  verhältnismäßig  sehr 
wenige  werden  sich  der  Wissenschaft  selbst  widmen  und  versuchen, 
dieselbe  durch  eigene  Forschungen  weiter  zu  führen.  Es  wäre  ja 
auch  schlimm,  wenn  wir  auf  unseren  Hochschulen  lauter  Natur- 
forscher und  Philosophen  erzögen  oder  lauter  Geschichts-  oder 
Sprachforscher!  Der  größte  Teil  von  Ihnen  wird  praktisch  an- 
wenden, was  er  von  der  Universität  nach  Hause  mitbringt,  aber 
ein  jeder  wird,  so  hoffe  ich  und  so  muß  es  ein,  auch  mit  einem 
Tropfen  idealistischen  Öles  gesalbt  sein,  und  das  ist  das  Beste, 
was  Ihnen  die  Universität  geben  kann  —  nicht  das  eigentliche 
Spezial wissen,  so  notwendig  und  so  unentbehrlich  dasselbe  auch 
ist,  sondern  die  Ehrfurcht  vor  der  Wissenschaft  selbst  als  solcher, 
als  des  Weges  zur  Erkenntnis,  zu  dem  geistigen  Ziele  der  Mensch- 
heit, dem  sie  sich  mehr  und  mehr  anzunähern  bestrebt  ist."  Das 
war  die  ideale  Auffassung  seines  akademischen  Lehrberufes.  Sie 
wird  immer  die  höchste  bleiben  und,  wenn  dem  Wollen  das  Können 
und  Vermögen  entspricht,  auch  die  wirkungsvollste  bleiben.  Das 
Gefühl  meilen weiter  Entfernung,  das  der  Schüler  gegenüber  der 
Ehrfurcht  gebietenden  Persönlichkeit  eines  überragenden  Ge- 
lehrten und  Forschers  empfindet,  wandelt  sich  in  ein  Gefühl  der 
Gemeinschaft  auf  edelster  Grundlage,  wenn  dieser  selbst  sich  als 
Diener  der  Wissenschaft  bekennt  und  seine  Schüler  aufruft  zur 
Mitarbeit  in  diesem  Dienste.  So  erfüllt  auch  die  Hochschule  ihre 
Aufgabe,  mehr  zu  sein  als  eine  bloße  Fachschule:  eine  Bildungs- 
und Erziehungsstätte,  die  nicht  nur  praktisch  verwertbare  Kennt- 
nisse übermittelt,  sondern  vor  allem  die  besten  Kräfte,  die  in  dem 


—        28        — 

Schüler  selbst  liegen,  zur  Entfaltung  bringt.  An  diese  Macht  der 
Wissenschaft  glaubte  Weismann:  ,,Denn  Sie  werden  nicht  mit 
so  manchen  Gedankenlosen  glauben,  daß  die  Wissenschaft  in  erster 
Linie  dazu  da  sei,  nützliche  Entdeckungen  zu  machen,  vor  allem 
solche  Kenntnisse  der  Naturkräfte  oder  der  Lebewesen  zu  gewnnen, 
die  unser  Leben  erleichtern  oder  sichern:  Dampfmaschinen,  Tele- 
graph, Telephon,  antiseptische  Wimdbehandlung,  Kenntnis  der 
Fieberparasiten  des  Blutes  usw.  So  ungemein  wichtig  alle  diese 
und  viele  andere  Fortschritte  auch  für  die  Menschheit  sind,  man 
würde  nie  zu  ihnen  gelangt  sein,  hätte  man  nur  um  ihrer  Willen 
Naturforschung  getrieben.  Sie  sind  alle  nur  Abfälle  in  der  Werk- 
statt der  Naturforschung,  deren  eigentliches  Arbeitsziel  immer  nur 
die  reine  Erkenntnis  ohne  alle  Nebenziele  sein  kann".  .  .  .  ,,Die 
Wissenschaft  nimmt  bereitwillig  solche  praktische  Verwertungen 
ihrer  Resultate  an  und  verwendete  sie  fürs  menschliche  Leben, 
aber  sie  arbeitet  und  strebt  ursprünglich  und  in  erster  Linie  immer 
nur  nach  der  reinen  Erkenntnis,  und  das  ist  es,  was  ich  den  Idealismus 
der  Wissenschaft  genannt  habe.  Das  Streben  nach  Erkenntnis  ist 
dem  menschlichen  Geist  tief  eingeprägt,  und  dies  Streben  ist  es, 
was  unser  Leben  und  Denken  mehr  vertieft  und  unser  Wesen  hebt 
und  vervollkommnet  —  nach  allen  Richtungen,  nicht  nur  nach 
der  des  Verstandes,  sondern  auch  nach  der  des  Ethischen,  nach  der 
des  Humanismus  im  eigentlichen  Sinne."  Diese  Worte  enthalten 
gewissermaßen  das  Glaubensbekenntnis  Weismanns,  die  Richt- 
linien, die  sein  Leben  bestimmt  haben. 

In  den  Erinnerungsworten  auf  Romane s,  der,  einer  der  be- 
deutendsten Nachfolger  Darwins  auf  englischem  Boden,  zu  Weis- 
mann  vielfach  in  Gegensatz  getreten  war,  sagte  dieser  (1894): 
,,So  hat  seine  rastlose  Tätigkeit  erst  mit  dem  Leben  geendet,  imd 
man  kann  von  ihm  das  Beste  sagen,  was  man  von  einem  hervor- 
ragenden Mann  sagen  kann:  er  hat  die  Gaben,  mit  welchen  die 
Natur  ihn  ausrüstete,  voll  und  ganz  zur  Entfaltung  gebracht." 
Auch  auf  Weis  mann  selbst  lassen  sich  diese  Worte  anwenden. 
Auch  ihm  ist  es  beschieden  gewesen,  in  Ausbildung  der  reichen 
Gaben,  die  ihm  die  Natur  verliehen,  sich  zu  einer  vollen  großen 
Persönlichkeit  zu  entwickeln.  Eiserner  Fleiß  und  unbeugsame 
Willenskraft,  gefördert  von  einer  idealen  Lebensauffassung,  ließen 
ihn  die  Hemmungen  überwinden,  die  sich  aus  seinem  körperlichen 


—      29      — 

Leiden  ergaben,  und  verhinderten  ein  Versinken  in  iintätiger  Re- 
signation, wie  es  sich  gerade  bei  dieser  körperlichen  Behinderung 
aus  den  sonstigen  günstigen  äußeren  Verhältnissen,  dem  Wegfall 
eines  rauhen  Zwanges,  leicht  hätte  ergeben  können.  Er  bestätigte 
die  Auffassung,  der  er  selbst  wiederholt  Ausdruck  gegeben  hat: 
daß  für  hervorragende  menschliche  Leistungen  nicht  die  angeborene 
intellektuelle  Begabung  allein  maßgebend  ist,  sondern  daß  Fleiß, 
Beharrlichkeit,  Selbstzucht  hinzukommen  müssen.  In  Vereinigung 
dieser  Fähigkeiten  schuf  er  sich  lernend  die  breite  Grundlage 
des  Wissens  und  Könnens,  drang  er  erfolgreich  forschend  in  die 
Tiefen  der  Natur  und  wirkte  er  lehrend  als  berufener  Erzieher  der 
akademischen  Jugend. 

So  wird  Weismanns  Name  fortleben  in  der  Wissenschaft 
als  der  eines  der  bedeutendsten  biologischen  Forscher  und  Denker; 
in  der  Erinnerung  aller  aber,  die  ihn  gekannt,  und  insbesondere 
der  Tausende,  die  zu  seinen  Füßen  gesessen,  wird  seine  ragende 
Gestalt  mit  dem  schönen  Gelehrtenkopf  unvergessen  bleiben,  und 
wird  sein  Gedächtnis  fortwirken  als  das  eines  großen  Gelehrten, 
der  seinen  Schülern  die  größte  nachhaltigste  Anregung  zum  Denken 
gegeben,  ihren  Blick  über  den  engen  Kreis  der  besonderen  Interessen 
auf  die  großen  allgemeinen  Fragen  und  die  höchsten  Ziele  der 
Menschheit  gelenkt,  Begeisterung  für  wissenschaftliche  Aufgaben 
erweckt,  aber  auch  das  Beispiel  eines  rastlos  arbeitenden  und  vor- 
wärtsstrebenden Menschen  gegeben,  —  als  das  eines  der  edelsten 
Verkörperer  des  reinen  Idealismus,  dem  Deutschland  und  ins- 
besondere die  deutschen  Hochschulen  ihre  Größe  verdanken. 


Zweiter  Abschnitt. 

Die  Spezialarbeiten. 


"Wissenschaftliche  Tätigkeit  Weismanns,  Übersicht.  —  Chemische  Arbeiten.  —  Histo- 
logische Arbeiten.  —  Embryologische  Arbeiten.  —  Allgemein-biologische  Arbeiten: 
Studien  zur  Deszendenztheorie;  —  Biologie  der  Süßwasserfauna,  Daphnoidenstudien,  par- 
thenogonische  und  zyklische  Fortpflanzung;    —    Die  Hydromedusenstudien,    Bildung   der 

Keimzellen. 


Wissenschaftliche  Tätigkeit  Weismanns,  Übersicht. 

Die  wissenschaftliche  Tätigkeit  Weismanns  kennzeichnet  sich 
als  die  eines  Naturforschers  großen  Stiles,  der  nicht  in  der  bloßen 
Feststellung  des  Tatsächlichen  das  Endziel  der  Forschung  sieht, 
sondern  aus  der  Beobachtung  des  normalen  Seins  und  Geschehens 
allgemeine  Gesetze  zu  erschließen  und  diese  auch  durch  das  ziel- 
bewußt angestellte  Experiment  zu  prüfen  und  zu  sichern  sucht. 
Inhaltlich  lassen  sich  die  der  Spezialforschung  gewidmeten  Arbeiten 
von  denen  unterscheiden,  die  die  Deszendenztheorie  und  mit  ihr 
zusammenhängende  Fragen  behandeln ;  chronologisch  füllen  die  der 
ersten  Gruppe  in  der  Hauptsache  auch  die  der  ersten  Schaffens- 
periode aus,  die  der  zweiten  Gruppe  die  zweite.  Den  Spezialarbeiten 
sind  die  nachfolgenden  Blätter  gewidmet,  die  durchaus  keine  ein- 
gehende Würdigung  derselben  versuchen,  sondern  mehr,  im  all- 
gemeinen über  ihre  Absichten  unterrichten  sollen. 

Chemische  Arbeiten. 

Seine  wissenschaftlichen  Sporen  hat  sich  Weismann,  wie 
aus  der  Darstellung  seines  Entwicklungsganges  ersichtlich,  auf  dem 
Gebiete  der  Chemie  erworben;  von  den  Arbeiten  über  die  Ent- 


—     31      — 

stehung  der  Hippursäure  im  Harn  und  über  den  Salzgehalt  der 
Ostsee  sind  besonders  die  ersteren  bei  den  physiologischen  Chemikern 
bekannt  und  gewürdigt.  Für  Weismanns  persönliche  Entwick- 
lung sind  sie  darum  von  Wert,  weil  sie  ihn  mit  Bestimmtheit  er- 
kennen ließen,  daß  nicht  die  anorganische,  sondern  die  organische 
Natur  das  Feld  sei,  auf  dem  seine  spezifischen  Anlagen  sich  am 
besten  entfalten  könnten. 

Histologische  Arbeiten. 

Jene  ersten  Arbeiten  wurden  abgelöst  von  den  histologischen, 
unter  denen  die  über  die  Muskelelemente  die  bedeutendsten  und  be- 
kanntesten sind.  Sie  behandeln  die  glatten,  quergestreiften  und 
Herzmuskelelemente,  unter  anderem  besonders  Neubildung  und 
Wachstum  der  quergestreiften  Muskelfasern  sowie  die  Verbindung 
der  letzteren  mit  den  Sehnen,  und  haben  die  Kenntnis  auf  diesen 
Gebieten  wesentlich  gefördert,  auch  einen  technischen  Fortschritt 
gebracht:  die  Anwendung  der  Kalilauge  für  die  Untersuchung  des 
Muskelgewebes.  Vor  allem  von  grundlegender  Wichtigkeit  aber  sind 
die  Untersuchungen  über  die  Muskelelemente  des  Herzens  beim 
Menschen  und  bei  den  Tieren;  sie  werden  Weismanns  Namen 
auch  auf  histologischem  Gebiete  nicht  vergessen  lassen.  Eine 
kleine  besondere  Untersuchung  ist  dem  Bau  des  Nabelstranges 
gewidmet,  und  endlich  lieferte  dem  jungen  Arzt  ein  an  der  eigenen 
Hand  infolge  einer  Verletzung  aufgetretenes  und  dann  operiertes 
Neurom  das  Material  zu  Beobachtungen  über  die  Neubildung  von 
Nervenfasern.  Kein  Zweifel  wohl,  daß  in  diesen  histologischen 
Arbeiten  der  Einfluß  nachwirkt,  den  der  Unterricht  Jacob  Henles 
in  Göttingen  auf  den  jungen  Studenten  ausgeübt.  Um  sie  ihrem 
Werte  nach  voll  zu  würdigen,  muß  man  aber  bedenken,  daß  Weis- 
mann  sie  nicht  in  einem  anatomischen  Institute  und  nicht  auf 
unmittelbare  Anregung  und  unter  den  Augen  eines  beratenden 
Lehrers  angestellt,  sondern  auf  eigene  Faust,  als  selbstgewählte 
Nebenbeschäftigung  in  den  —  allerdings  reichlich  zugemessenen  — 
Mußestunden,  die  ihm  die  Tätigkeit  des  praktischen  Arztes  in 
Frankfurt  ließ.  Und  noch  ein  anderes  verdient  hervorgehoben  zu 
werden:  die  Ausdehnung  der  Untersuchungen  auf  zahlreiche  ver- 
schiedene Formen:  Wirbeltiere,  Gliedertiere,  Würmer,  Mollusken, 
Echinodermen,  Coelenteraten,  ein  Ausdruck  der  hohen  Bedeutung, 


die  Weismann  der  vergleichenden  Betrachtung  auch  für  die  Ent- 
\vicklung  der  Histologie  als  selbständigen  Zweiges  der  anatomischen 
Wissenschaft  zuerkannte. 

Embryologische  Arbeiten. 

Über  die  vergleichende  Histologie  gelangte  Weismann  auf 
ausschließlich  zoologisches  Gebiet,  auf  dem  zunächst  die  Arbeiten 
über  die  Embryologie  und  die  Metamorphose  der  Insekten 
zu  nennen  sind.  Auch  für  sie  dürfte  dem  jungen  Forscher  die  In- 
spiration letzten  Grundes  aus  dem  Zusammensein  mit  hervor- 
ragenden Zoologen,  namentlich  aus  dem  Aufenthalt  bei  Rudolph 
Leuckartin  Gießen  zugeflossen  sein ,  aber  die  Aufgabe  im  besonderen 
hat  er  sich  wohl  selbst  gestellt,  und  bei  ihrer  Bearbeitung  war  er 
diurchaus  auf  sich  selbst  angewiesen.  Mit  um  so  größerer  Genug- 
tuung konnte  er  sich  der  Anerkennung  freuen,  die  diese  Arbeiten 
in  Zoologenkreisen  gefunden,  und  des  Einflusses,  den  sie  auf  die 
Forschung  gehabt  haben.  Um  so  schwerer  freilich  auch  mußte 
er  das  Geschick  empfinden,  das  ihn  zwang,  diese  Arbeiten  vor  der 
Zeit  unvollendet  wieder  zu  unterbrechen,  einen  großen  Teil  des 
angesammelten  Materiales  ungenützt  liegen  zu  lassen  und,  was  wohl 
das  Schmerzlichste  war,  sehen  zu  müssen,  wie  andere  die  von  ihm 
angeregten  Fragen  weiter  verfolgten  und  mit  Hilfe  der  damals 
aufkommenden  Schnittmethode  manches  in  einem  anderen  und 
zweifellos  richtigeren  Lichte  sahen  als  er,  der  die  Entwicklungs- 
\orgänge  nur  am  lebenden,  sich  entwickelnden  Ei  verfolgt  hatte. 
So  hat  er  nur  noch  einmal,  1882,  einen  Nachtrag  zu  jenen  Unter- 
suchungen geliefert,  darin  manches  anders  dargestellt  als  früher, 
manche  frühere  Auffassung,  so  bezüglich  der  Keimblätterbildung 
bei  den  Insekten,  geändert,  auch  manche  wichtige  neue  Beobachtung 
hinsichtlich  der  ersten  Entwicklungsvorgänge  mitgeteilt  (Bildung 
der  Richtungskörper,  frühe  Bildung  der  Keimzellen)  —  im  übrigen 
aber  mit  Resignation  von  diesen  Arbeiten,  die  seinen  wissenschaft- 
lichen Aufstieg  eingeleitet  hatten,  Abschied  genommen. 

Allgemein-biologische  Arbeiten. 

Als  vierte  Gruppe  von  Spezialarbeiten  können  die  zusammen- 
gefaßt werden,  die  nach  1868  entstanden  und  von  1874  an  erschienen 
sind;  mit  einer  gemeinsamen  Bezeichnung  könnte  man  sie  als  all- 


—     33      — 

gemein-biologische  kennzeichnen.  Sie  behandeln  Bau  und 
Lebenserscheinungen  größerer  Gruppen  von  Tieren,  aber  auch  be- 
stimmte Einzelfragen,  und  zeigen  Weis  mann  nicht  nur  als  gründ- 
lichen Beobachter  am  Mikroskop,  sondern  auch  als  planmäßig  vor- 
gehenden Experimentator  und  als  den  wahren  Biologen,  der  mit 
Liebe  und  immer  neuer  Bewunderung  das  vielgestaltige  Leben  der 
Tiere  betrachtet.  Eins  ist  ihnen  allen  gemeinsam:  sie  alle  zeigen 
mehr  oder  weniger  innige  Beziehungen  zu  der  Deszendenztheorie,  zu 
der  Weis  mann  durch  die  Schonungsbedürftigkeit  seiner  Augen 
geführt  worden  war,  und  zu  der  er  1868  in  seiner  Antrittsvorlesung 
zum  ersten  Male  öffentlich  Stellung  genommen  hatte.  Sie  berühren 
alle  mit  dieser  zusammenhängenden  Fragen:  die  Variabilität, 
wobei  die  Frage  nach  dem  direkt  umgestaltenden  Einfluß  der 
äußeren  Lebensbedingungen  sowie  die  nach  dem  Walten  einer 
etwaigen  inneren  Entwicklungskraft  zu  berücksichtigen  waren;  die 
Vererbung,  die  wieder  zu  einer  eingehenderen  Behandlung  der 
Vorgänge  führte,  an  die  sie  geknüpft  ist:  der  Entstehung  und 
Reifung  der  Keimzellen  sowie  der  Fortpflanzung  in  ihren 
verschiedenen  Formen;  die  Bedeutung  der  Selektion  auf  Grund 
des  Überflusses  von  Variationen  und  unter  dem  auslesenden 
Einfluß  der  äußeren  Verhältnisse,  des  Kampfes  ums  Dasein,  zwecks 
Erzielung  zweckmäßiger  Anpassungen,  endlich  die  Korrelation. 
Manche  dieser  Arbeiten  sind  geradezu  mit  der  ausgesprochenen 
Absicht  unternommen  worden,  über  die  genannten  Fragen  Klarheit 
zu  erlangen,  so  die  unter  dem  gemeinsamen  Titel:  ,, Studien  zur 
Deszendenztheorie"  herausgegebenen;  bei  anderen  ist  der  Ausgang 
ein  anderer,  aber  im  weiteren  Verlauf  führen  auch  sie  zu  einer  all- 
gemeinen Betrachtung  in  einer  der  genannten  Richtungen.  So 
eröffnen  sie  eine  neue  Periode  in  Weismanns  Schaffen,  die  wich- 
tigste in  seinem  Leben,  und  bilden  die  Grundlage  und  weiterhin  die 
Begleitung  der  theoretisch-zusammenfassenden  Schriften,  die  von 
1881  an  in  den  Vordergrund  treten.  Soweit  sie  vor  diesem  Jahre 
erschienen  sind,  leiten  sie  zu  den  theoretischen  Anschauungen 
Weismanns,  geben  ihm  den  Anlaß,  sich  über  die  theoretischen 
Fragen,  auf  die  es  ankommt,  klar  zu  werden,  führen  ihn  allmählich 
auf  den  Weg  zur  Beantwortung  dieser  Fragen  und  schaffen  die 
ersten  Bausteine  zu  dem  späteren  Theoriengebäude  herbei;  vom 
Anfang  der  achtziger  Jahre  an  gewinnt  die  Theorie  feste  Gestaltung, 

0  a  u  p  p  ,  Biographie  Weismanns.  3 


—     34     — 

und  bildet  nun  umgekehrt  den  Anstoß  und  Ausgang  zur  Vornahme 
besonderer  Untersuchungen,  die  die  Theorie  prüfen  sollen. 

Die  hierher  gehörigen  Arbeiten  können  in  vier  Gruppen  ge- 
ordnet werden.  Eine  erste  beginnt  mit  den  Abhandlungen,  die 
Weismann  selbst  unter  dem  Titel:  ,, Studien  zur  Deszendenz- 
theorie" zusammengefaßt  hat,  und  erfährt  eine  Ergänzung  durch 
eine  spätere  Untersuchung  über  den  Saison-Dimorphismus  der 
Schmetterlinge  (1895) ;  eine  zweite  hat  zum  Ausgang  die  Forschungen, 
die  sich  mit  der  Süßwasserfauna  beschäftigen,  und  wird  fortgesetzt 
durch  die  daraus  hervorwachsenden  Untersuchungen  über  Partheno- 
gonie,  Reifungs-  und  Befruchtungsvorgänge  bei  tierischen  Eiern; 
eine  dritte  bilden  die  Studien  an  den  Hydroidpolypen ;  eine  vierte 
endlich  umfaßt  einige  kleinere  Untersuchungen  der  späteren  Jahre : 
über  Duftschuppen  der  Schmetterlinge,  über  Regeneration,  über 
Umkehrversuche  an  Hydra.  Über  diese  letzteren  wird  im  Zusammen- 
hang mit  den  allgemeinen  Fragen,  die  sie  behandeln,  zu  berichten 
sein. 

Studien  zur  Deszendenztheorie. 

Die  ,, Studien  zur  Deszendenztheorie"  lassen  schon  in 
ihrem  Titel  die  Absichten  erkennen,  die  sie  verfolgen;  in  der  Vor- 
rede zu  ihrem  zweiten  Heft  hat  sich  Weismann  genauer  darüber 
ausgesprochen.  Das  erste  Heft  (1875  erschienen)  enthält  den  ersten 
Bericht  über  die  so  bedeutungsvoll  gewordenen  Versuche,  die 
Weismann  über  den  Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Puppen  ge- 
wisser Schmetterlinge  angestellt  hat,  um  die  Frage  zu  prüfen,  wie 
weit  die  direkt  umgestaltenden  Wirkungen  äußerer  Einflüsse  bei 
der  Artbildung  eine  Rolle  gespielt  haben  mögen.  Diese  Versuche, 
deren  Beginn  mindestens  schon  in  das  Jahr  1869  fällt  1^),  gelten  der 
von  A.  R.  Wallace  als  Saison-Dimorphismus  benannten  Er- 
scheinung: der  Verschiedenheiten  im  Aussehen  der  Frühjahrs-  und 
der  Sommergeneration  einer  und  derselben  Schmetterlingsart,  — 
Verschiedenheiten,  die  vielfach  so  bedeutend  sind,  daß  beide  Formen 
früher  als  ganz  selbständige  Arten  beschrieben  wurden.  Vom 
Standpunkte  der  Transmutationslehre  aus  mußten  gerade  diese 
Fälle  als  günstiges  Objekt  erscheinen,  um  den  Einflüssen,  die  bei 
den  Umwandlungen  der  Arten  mitspielen,  nachzugehen.  Als  maß- 
gebender Faktor  bei  den  genannten  Verschiedenheiten  ergab  sich 


—     35      — 

bald  die  Temperatur,  und  so  kam  Weismann  selbständig  zu 
der  Vornahme  von  Versuchen,  wie  sie  —  was  ihm  erst  nach  Abschluß 
derselben  bekannt  wurde  —  schon  einige  Jahre  vor  ihm  (1864) 
zuerst  von  Dorfmeister  veröffentlicht  worden  waren.  Nach 
Weismann  wurden  sie  dann  von  verschiedenen  Forschern,  H.  W. 
Edwards,  v.  Reichenau  und  besonders,  vom  Ende  der  achtziger 
Jahre  an,  von  Merrifield,  Dixey,  Standfuß,  Brandes, 
E.  Fischer  u.  a.  in  größerem  Umfang  fortgeführt  und  haben  viel 
diskutierte  Ergebnisse  von  weittragendster  Bedeutung  gezeitigt. 
Auch  Weismann  selbst  ist  in  den  achtziger  Jahren  noch  einmal 
zu  ihnen  zurückgekehrt  und  hat  sie  an  einer  größeren  Anzahl  von 
Arten  wiederholt,  um  noch  bestimmtere  Antworten  auf  seine  Frage 
zu  erhalten.  Über  diese  zweite  Serie  von  Versuchen  und  ihre  Er- 
gebnisse ist  in  dem  ,, Keimplasma"  (1892,  S.  523  u.  f.)  sowie  in  einer 
besonderen  Abhandlung  vom  Jahre  1895  berichtet. 

An  den  klassisch  gewordenen  Objekten,  dem  Landkärtchen 
(Vanessa  levana-prorsa)  und  dem  kleinen  Weißling  (Pieris  napi), 
auf  die  sich  die  ersten  Versuche  bezogen,  konnte  zunächst  deutlich 
der  Einfluß  der  Temperatur  festgestellt  werden:  Puppen  des  Weiß- 
lings, die  unter  normalen  Bedingungen  die  Sommergeneration  er- 
geben hätten,  ließen,  in  der  Kälte  aufgezogen,  wieder  die  Winter- 
form ausschlüpfen.  Nicht  ganz  so  vollständig  gelangen  die  Versuche 
mit  Vanessa:  meist  entstand  durch  die  Kältewirkung  statt  der 
Sommerform  (V.  prorsa)  eine  Mittelform  zwischen  der  Winter- 
und  der  Sommerform,  die  sogenannte  Vanessa  porima,  und  nur 
in  einigen  Fällen  schlüpfte  eine  nahezu  vollständige  Winterform 
(V.  levana)  aus.  Der  Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Färbung 
war  damit  jedenfalls  erwiesen.  Der  Versuch  Weismanns,  daraufhin 
die  stammesgeschichtliche  Entstehung  des  Saison-Dimorphismus  zu 
erklären,  nimmt  an,  daß  die  Winter- (Levana-) Form  die  ursprüng- 
liche ist  und  früher,  in  der  Zeit  des  Diluviums,  allein  vorhanden  war, 
daß  aber  dann,  als  das  Klima  wärmer  und  der  Sommer  länger  wurde, 
sich  eine  Sommergeneration,  ja  sogar  deren  zwei  einschoben,  die 
allmählich  unter  dem  Einfluß  der  Wärme  die  Prorsa-Form  an- 
nahmen, die  nun  allmählich  durch  Vererbung  fixiert  wurde.  Die 
Levana-Form  ist  also  die  ältere,  die  Prorsa-Form  die  jüngere,  und 
wenn  jetzt  durch  den  Einfluß  abnormer  Kälte  die  Prorsa-Form 
zur  Annahme  der  Levana-Form  gezwungen  wird,  so  bedeutet  das 


-     36     - 

eine  Rückkehr  zur  Stammform.  Im  Experiment  wäre  also  die 
Kälte  nur  der  Reiz,  der  diesen  Rückschlag  bedingt;  nach  Weis- 
mann könnten  auch  andere  Reize  in  gleicher  Weise  wirken. 

Die  allgemeinen  Ergebnisse  dieser  und  der  späteren  Schmetter- 
lingsexperimente sind  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  be- 
deutungsvoll. Als  wichtigstes  allgemeines  Ergebnis  betrachtete 
Weis  mann  selbst  1875  den  Nachweis,  daß  lediglich  durch  den 
Einfluß  veränderter  äußerer  Lebensbedingungen  eine  Art  zum  Ab- 
ändern veranlaßt  werden  kann,  und  zwar  zum  Abändern  in  be- 
stimmter Richtung,  die  wieder  abhängig  ist  von  der  physischen 
Natur  der  variierenden  Organismen,  verschieden  bei  verschiedenen 
Arten,  ja  selbst  bei  den  beiden  Geschlechtem  einer  und  derselben 
Art.  Die  Umwandlung  der  Art  beruht  nur  zum  Teil  auf 
äußeren  Einflüssen,  zum  anderen  Teil  auf  der  spezi- 
fischen Natur  dieser  einen  Art.  Diese  spezifische  Reaktion 
beruht  aber  nicht  auf  einer  verborgenen  neuen  Form  von  Lebens- 
kraft, sondern  darauf,  daß  jede  Art  ihre  eigene  besondere  Ent- 
stehungsgeschichte hinter  sich  hat.  Damit  hat  Weis  mann  schon 
hier  in  ganz  bestimmter  Weise  zu  der  Lehre  vom  Vorhandensein  einer 
besonderen,  den  Organismen  innewohnenden  Umbildungskraft  Stel- 
lung genommen,  einer  Frage,  auf  die  er  später  noch  wiederholt  zurück- 
gekommen ist.  In  zweiter  Linie  ist  von  Bedeutung  die  Schluß- 
folgerung, daß  durch  direkte  Wirkung  des  Mediums,  —  hier: 
des  Klimas  —  eine  Art  umgewandelt  werden  kann.  Die  dazu  nötige 
und  von  Weismann  damals  auch  ohne  Bedenken  gemachte  An- 
nahme, daß  die  Veränderungen,  die  durch  jene  direkte  Einwirkimg 
hervorgerufen  werden,  erblich  sind,  mußte  ihm  freilich  solche 
Bedenken  von  dem  Augenblick  an  erregen,  wo  er  sich  eingehend 
mit  dem  Vererbungsproblem  befaßte  und  zu  der  Überzeugung  kam, 
daß  , .erworbene"  Eigenschaften  nicht  vererbt  werden  können. 
Der  Klärung  dieser  Frage  galten  dann  ganz  besonders  die  in  den 
achtziger  Jahren  aufs  neue  vorgenommenen  Versuche,  von  denen 
einige,  so  die  mit  dem  kleinen  Feuerfalter  (Polyommatus  Phlaeas) 
angestellten  ganz  besonders  bedeutungsvoll  geworden  sind.  Sie 
führten  zu  einer  Bestätigung,  aber  auch  zu  einer  Erweiterung  und 
Ergänzung  der  früheren  Resultate.  Bestätigt  wurde  die  Auffassung, 
daß  in  der  Tat  manche  Fälle  von  Saison-Dimorphismus  in  der  früher 
erschlossenen   Weise   zu   erklären   seien:    durch   erbliche    Häufung 


—     37     — 

von  Abänderungen,  die  unter  dem  direkten  Einfluß  des  Klimas 
entstanden;  erweitert  wurde  diese  Auffassung  durch  eine  —  später 
zu  behandelnde  —  Erklärung,  wie  diese  direkten  Mediumein- 
wirkungen und  ihre  Erblichkeit  theoretisch  gedacht  werden  müssen ; 
ergänzend  endlich  aber  kam  hinzu  die  Schlußfolgerung,  daß  es 
neben  dem  ,,direkten"  Saison-Dimorphismus  noch  einen  ,,adap- 
tiven"  gibt.  Das  heißt:  gewisse  Fälle  von  Saison-Dimorphismus 
sind  im  Laufe  der  Stammesgeschichte  entstanden  unter  dem  in- 
direkten Einfluß  des  Khmas;  die  Besonderheiten  in  Färbung, 
Zeichnung  usw.  der  Sommer-  wie  der  Winterform  stellen  besondere 
schützende  Anpassungen  an  die  zu  den  beiden  Zeiten  verschiedene 
Umgebung  dar  und  sind  das  Ergebnis  von  Ausleseprozessen,  die 
viele  Generationen  hindurch  während  der  beiden  Jahreszeiten 
wirksam  waren,  die  günstig  gefärbten  Individuen  mit  ihren  ent- 
sprechenden Vererbungstendenzen  erhaltend,  die  ungünstigen  aus- 
merzend. Die  verschiedene  Temperatur  ist  in  diesen  Fällen  nicht 
die  wirkliche  Ursache  der  bestimmten  Zeichnung,  sondern  nur  der 
Reiz,  der  ihre  Anlage  auslöst,  zur  Entwicklung  veranlaßt. 

Endlich  hat  noch  ein  theoretischer,  von  Weismann  zuerst 
geäußerter  Gesichtspunkt  in  der  Diskussion  der  später  von  Merri- 
field,  Standfuß,  E.  Fischer  u.  a.  erlangten  Versuchsergebnisse 
eine  Rolle  gespielt:  der  Gedanke,  daß  die  experimentell  auf  die 
Schmetterlingspuppen  angewendete  Kälte  als  Auslösungsreiz  wirkt, 
der  Rückschläge  zur  Stammform  hervorruft.  Insbesondere  die  durch 
extreme  Kälte  oder  Wärme  bei  verschiedenen  Vanessa-Arten  er- 
zeugten ,, Aberrationen"  sind  später  vielfach  als  Rückschläge  auf 
phyletisch  ältere  Formen  gedeutet  worden. 

Nicht  vergessen  neben  diesen  mehr  speziellen  Ergebnissen 
seien  aber  auch  die  Erörterungen,  über  das  Verhältnis  des  ,, Saison- 
Dimorphismus"  zu  dem  ,, Generationswechsel",  über  die  verschie- 
denen Formen  des  letzteren  und  ihre  Abgrenzung  gegeneinander. 
Die  Beschäftigung  gerade  mit  diesen  Fragen  war  dann  wieder  mit  eine 
Veranlassung  zum  Studium  der  zyklischen  Fortpflanzungserschei- 
nungen bei    den    Daphnoiden,  die    uns    noch  beschäftigen  müssen. 

So  sind  Weismanns  Schmetterlingsversuche  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  hin  bedeutungsvoll  und  fruchtbar  geworden. 

Dem  ersten  Heft  der  ,, Studien"  folgte  schon  ein  Jahr  später 
(1876)   ein  zweites,   in  dem  unter  dem   Gesamttitel:    ,,Über    die 


—      3»     — 

letzten  Ursachen  der  Transmutationen"  vier  Abhandlungen 
vereinigt  sind:  drei,  die  naturwissenschaftliche  Einzelheiten  be- 
handeln, und  eine  vierte,  die  unter  dem  Titel:  ,,Über  die  mechanische 
Auffassung  der  Natur"  die  Ergebnisse  derselben  zusammenfaßt, 
sie  durch  allgemeine  Erwägungen  noch  weiter  zu  stützen  und  zu 
einer  philosophischen  Natur-  und  Weltauffassung  zu  gestalten  sucht. 
Ausdrücklich  gibt  das  Vorwort  an,  daß  die  Untersuchungen,  über 
die  hier  berichtet  wird,  unternommen  wurden,  ,,um  Klarheit  darüber 
zu  erlangen,  ob  die  von  Darwin  aufgestellten  Prinzipien  der  Um- 
wandlung: Variabilität,  Vererbung,  Kampf  ums  Dasein 
und  Korrelation  zum  Verständnis  der  tatsächlich  beobachteten 
Umwandlungserscheinungen  ausreichen,  ob  wirklich  die  gesamte 
organische  Welt  nur  als  das  Resultat  des  Aufeinanderwirkens  von 
Organismus  und  Außenwelt  gelten  darf,  oder  ob  wir  damit  nicht 
ausreichen,  vielmehr  genötigt  sind,  eine  unbekannte,  treibende 
Entwicklungskraft  in  den  Organismen  anzunehmen,  wie  eine 
solche  von  verschiedenen  Forschern  unter  verschiedenem  Namen 
in  die  Wissenschaft  einzuführen  versucht  worden  ist,  so  von  Nägeli 
als  .Vervollkommnungsprinzip',  von  Kölliker  als  , Schöp- 
fungsgesetz', von  Askenasy  als  .bestimmt  gerichtete 
Variation',  von  den  Philosophen  von  Hartmann  und  Huber 
als  .organisches  Entwicklungsgesetz'  oder  auch  als  , Uni- 
versalprinzip der  organischen  Natur',  ein  metaphysisches 
Prinzip,  welches  man  wohl  nicht  unpassend  als  ,phyle tische 
Lebenskraft'  bezeichnen  und  so  der  nur  für  das  Gebiet  der  in- 
dividuellen Entwicklung  eingeführten  (ontogenetischen)  Lebens- 
kraft der  alten  ,,naturphüosophischen"  Schule  gegenüberstellen  darf. 
Die  erste  Abhandlung,  über  ,,die  Entstehung  der  Zeich- 
nung bei  den  Schmetterlingsraupen",  unternimmt  es,  auf 
einem  kleinen  Gebiet,  dem  der  Zeichnimg  der  Raupen  aus  der 
Familie  der  Schwärmer  oder  Sphingiden,  die  Leistungsfähigkeit  der 
von  Darwin  aufgestellten  Prinzipien  zu  prüfen.  Wie  diirchaus  un- 
voreingenommen Weismann  an  die  Untersuchung  herantrat,  geht 
aus  seinen  eigenen  Worten  hervor:  ,,Zwei  Möglichkeiten  liegen  hier 
vor,  dieselben,  welche  sich  ims  in  bezug  auf  die  Entwicklung  des 
organischen  Lebens  im  großen  imd  ganzen  darbieten.  Entweder 
die  so  eigentümlichen,  verwickelten  und  für  uns  scheinbar  unver- 
ständlichen Charaktere,  welchen  wir  den  Namen  einer  Zeichnung 


—      39      — 

geben,  verdanken  ihre  Entstehung  der  direkten  und  indirekten 
Einwirkung  langsam  sich  ändernder  Lebensbedingungen  —  oder 
sie  entstehen  aus  rein  inneren,  im  Organismus  selbst  gelegenen 
Ursachen,  aus  einer  phyletischen  Lebenskraft."  .  .  .  ,,Die 
ganze  Untersuchung  wäre  von  mir  nicht  angestellt  worden,  wenn 
ich  zu  denjenigen  gehörte,  welche  sich  von  vornherein  zur  All- 
macht der  Naturzüchtung  bekennen,  wie  zu  einem  Glaubensartikel 
oder  einem  wissenschaftlichen  Axiom.  Eine  Frage,  die  nur  auf  in- 
duktivem Wege  einer  Lösimg  sich  nähern  kann,  darf  unmöglich 
nach  den  ersten  Proben,  die  günstig  für  dieses  Prinzip  ausfielen, 
nun  als  gelöst,  und  weitere  Proben  als  überflüssig  angesehen  werden. 
Gewiß  hat  die  Annahme  einer  geheimnisvoll  wirkenden  phyletischen 
Kraft  für  unsern  nach  Erkenntnis  strebenden  Geist  etwas  sehr  Un- 
befriedigendes; jedenfalls  ist  dieselbe  aber  nicht  dadtuch  als  wider- 
legt anzusehen,  daß  man  die  Entstehung  hunderter  von  Charakteren 
auf  Naturzüchtung  zurückführen  kann,  die  vieler  anderer  auf 
direkte  Einwirkung  äußerer  Lebensbedingungen.  Soll  die  ab- 
solute Abhängigkeit  der  Entwicklung  der  organischen 
Welt  von  den  Einflüssen  der  Außenwelt  nachgewiesen 
werden,  so  darf  man  nicht  bloß  beliebige  Charaktere  hier  und  dort 
herausgreifen,  wie  sie  sich  gerade  für  die  Erklärung  am  besten  zu- 
gänglich zeigen,  sondern  man  muß  vor  allem  den  Versuch  machen, 
sämtliche  Charaktere  einer  bestimmten,  wenn  auch 
kleinen  Erscheinungsgruppe  vollständig  auf  die  uns  be- 
kannten Umwandlungsfaktoren  zurückzuführen.  Es  wird 
sich  dann  zeigen,  ob  dies  möglich  ist,  oder  ob  ein  aus  den  bekannten 
Prinzipien  nicht  erklärbarer  Rest  bleibt,  der  dann  zur  Annahme 
einer  im  Innern  der  Organismen  liegenden  Entwicklungskraft 
zwingen  würde.  Jedenfalls  läßt  sich  die  ,phyletische  Lebenskraft' 
nur  durch  Eliminierung  beseitigen,  durch  den  Nachweis,  daß 
alle  überhaupt  vorkommenden  Charaktere  der  betreffenden  Er- 
scheinungsgruppe auf  andere  Ursachen  zurückgeführt  werden 
müssen,  daß  somit  für  die  vorausgesetzte  phonetische  Lebenskraft 
nichts  zu  tun  übrig  bleibt" ^2).  Dies  die  allgemeine  Fragestellung; 
die  besondere,  auf  den  vorliegenden  Fall  bezügliche,  würde  lauten: 
ist  die  Raupenzeichnung  ein  ,,rein  morphologisches",  biologisch 
bedeutungsloses  Merkmal  und  somit  hervorgerufen  durch  innere 
Ursachen,    oder  aber   besitzt   sie   eine   biologische   Bedeutung,   ist 


—      40     — 

sie  also  nützlich  und  somit  auf  Selektionsprozesse  zu  beziehen, 
oder,  allgemeiner  gesprochen,  lediglich  die  Reaktion  des  Organismus 
auf  äußere  Einflüsse  ?  An  einem  in  jahrelanger  Beobachtung  selbst 
zusammengebrachten  Tatsachenmaterial  studiert  Weis  mann  zur 
Beantwortung  dieser  Frage  die  Entstehung  und  allmähliche  Aus- 
bildung der  Färbung  und  Zeichnung  bei  einer  großen  Anzahl  von 
Formen  und  versucht  sich  über  den  biologischen  Wert  dieser  Merk- 
male Rechenschaft  abzulegen.  Dabei  ergab  sich  das  überraschende 
Resultat,  daß  es  in  der  Tat  recht  wohl  möglich  ist,  für  die  vier 
Hauptformen  der  Zeichnung  (i.  gänzliche  Abwesenheit  jeder  Zeich- 
nung, 2.  Längsstreifen,  3.  Schrägstreifen,  4.  Augenflecken  und 
Ringflecken)  einen  biologischen  Nutzen  einzusehen.  Abgesehen 
von  den  Flecken,  die  als  Schreckmittel  oder  Widrigkeitszeichen 
Bedeutung  haben,  lassen  sich  alle  als  Anpassungen  an  die  Umgebung, 
in  der  die  Tiere  leben,  erklären,  —  als  Schutzzeichnungen,  durch 
die  die  letzteren  innerhalb  ihrer  natürlichen  Umgebung  schwerer 
erkennbar  werden.  So  finden  sich  die  Längsstreifen  hauptsächlich 
bei  Formen,  die  zwischen  Gräsern  leben,  überhaupt  an  Pflanzen 
mit  dünnen,  zahlreich  nebeneinander  aufsprießenden  Stengeln,  gras- 
artigen Blättern  oder  auch  an  Pflanzen  mit  nadelartigen  Blättern, 
die  Schrägstreifen  aber  an  solchen,  die  auf  großblätterigen  Sträuchern 
leben.  Hier  erscheinen  sie  als  Nachahmung  der  Seitenrippen  eines 
Blattes,  manchmal  von  einem  farbigen  Saum  begleitet,  der  die 
Täuschung  erhöht,  indem  er  wie  der  Schlagschatten  der  betreffenden 
Rippe  aussieht.  So  führt  die  Untersuchung  zu  einem  kaum  er- 
warteten Ergebnis:  sie  gestattet  eine  Schlußfolgerung  hinsichtlich 
der  stammesgeschichtlichen  Entstehung  der  Zeichnungen  und  recht- 
fertigt weiter  den  Schluß,  daß  jede  der  Zeichnungen,  als  Anpassungen 
an  die  ganz  bestimmten  Lebensverhältnisse  biologisch  wertvoll, 
lediglich  durch  Naturzüchtung  und  Korrelation  entstanden  imd 
ausgebildet  ist.  Damit  beantwortet  sich  jene  Frage  auf  dem  hier 
behandelten  engen  Gebiete  jedenfalls  dahin,  daß  für  die  Annahme 
einer  phyletischen  Lebenskraft  keine  Veranlassung  vorliegt. 

Von  Schmetterlingen  und  Raupen  handelt  auch  die  zweite 
Studie:  ,,Über  den  phyletischen  Parallelismus  bei  meta- 
morphischen  Arten."  Sie  zeigt  durch  ausgedehnte  Vergleiche 
an  zahlreichen  Formen,  daß  Raupe  und  Schmetterling,  trotzdem 
sie  ein  und  dasselbe  Individuum  sind,  doch  ihren  Bau  bis  zu  einem 


—     41      — 

hohen  Grade  unabhängig  voneinander  verändern,  so  daß,  wenn 
man  auf  Grund  der  Morphologie  der  Raupen  ein  System  aufstellt, 
dieses  anders  ausfällt  als  das  auf  die  Morphologie  der  zugehörigen 
Schmetterlinge  gegründete.  In  allen  Gruppen  des  Systems,  von  der 
Varietät  bis  zu  den  Familiengruppen  hinauf,  kommen  ,, Inkon- 
gruenzen", Ungleichheiten  der  Form  Verwandtschaft  vor.  Am  häu- 
figsten wohl  bei  den  Varietäten :  oft  haben  sich  hier  nur  die  Raupen 
oder  nur  die  Schmetterlinge  in  Varietäten  gespalten,  während  das 
andere  Stadium  monomorph  geblieben  ist.  Im  Bereich  der  Gat- 
tungen ist  die  Übereinstimmung  der  Formverwandtschaft  am 
größten;  Arten,  FamiHen,  Familiengruppen  lassen  aber  wieder  be- 
trächtliche Inkongruenzen  erkennen.  Die  phyletische  Entwicklung 
der  beiden  Stadien,  Raupe  und  Falter,  ist  also  nicht  gleichmäßig, 
nicht  parallel  vor  sich  gegangen,  sondern  das  eine  Stadium  muß 
sich  rascher  oder  stärker  verändert  haben,  als  das  andere.  Woher 
rührt  das?  Sind  es  innere  oder  äußere  Ursachen,  welche  die  Ab- 
änderungen hervorrufen,  ist  es  eine  phyletische  Lebenskraft,  oder 
sind  es  nur  die  äußeren  Lebensbedingungen  ?  Eine  Abwägung  aller 
in  Betracht  kommender  Erscheinungen  und  Erklärungsmöglich- 
keiten führt  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Lebensbedingungen  den 
Ausschlag  gegeben  haben.  Die  Formabstände  entsprechen  stets 
genau  dem  Abstand  der  Lebensweise;  Gemeinsamkeit  der  Form 
tritt  genau  in  demselben  Umfange  auf,  wie  Gemeinsamkeit  der 
Lebensbedingungen.  Bei  Typen  gleicher  Abstammung,  d.  h.  gleicher 
Blutsverwandtschaft,  entspricht  der  Grad  der  Form  Verwandtschaft 
genau  dem  Grade  der  Differenz  in  den  beiderseitigen  Lebens- 
bedingungen. Daraus  ergibt  sich  aber  ein  wichtiger  allgemeinster 
Schluß.  So  lange  das  Zusammenstimmen  von  Bau  und  Funktion 
nur  für  je  eine  Form  und  je  eine  Lebensweise  betrachtet  wird, 
kann  darin  immer  noch  das  Resultat  einer  inneren  zwecktätigen 
Kraft  gesehen  werden;  wenn  sich  aber  hier  bei  den  ,,metamor- 
phischen"  Tierformen  ein  doppeltes  Zusammenstimmen  von  Bau 
und  Funktion  findet,  und  sich  zeigt,  daß  die  Umwandlung  der  Form 
in  den  beiden  Hauptstadien  der  Entwicklung  in  ganz  ungleichen 
Schritten  vor  sich  geht,  so  muß  die  Idee  einer  inneren  treibenden 
Umwandlungskraft  aufgegeben  werden.  Sie  muß  dies  aber  nicht 
nur  darum,  weil  sie  nicht  imstande  ist,  die  Erscheinungen  zu  er- 
klären, sondern  auch,  weil  sie  zur  Erklärung  derselben  überflüssig 


—      42      — 

ist.  Denn  die  andere  Annahme,  daß  Umwandlungen  ausschließlich 
und  nur  als  Reaktion  des  Organismus  auf  die  Einwirkungen  der 
Außenwelt  erfolgen,  erklärt  alle  Erscheinungen,  auch  die  jener  nach- 
gewiesenen Inkongruenzen  durchaus  befriedigend.  — 

Probleme  der  Artbildung  waren  es  auch,  die  Weis  mann  ver- 
anlaßten,  die  berühmten  Versuche  anzustellen,  den  mexikani- 
schen Axolotl  zur  Umwandlung  in  die  landlebende 
Salamanderform  des  Amblystoma  zu  zwingen,  —  Ver- 
suche, die  zwar  ihm  selbst  zunächst  nicht  glückten,  dann  aber  auf 
seine  Veranlassung  von  Frl.  Marie  von  Chauvin  fortgesetzt 
wurden  und  dank  deren  Geduld  und  Sorgfalt  zu  einem  vollen  Er- 
folge führten  ^^).  Auch  diese  Arbeit,  die  1875  zuerst  erschien,  ist 
unter  die  aufgenommen,  die  unter  dem  Titel;  ,,Die  letzten  Ur- 
sachen der  Transmutationen"  als  zweiter  Teil  der  Studien  zur 
Deszendenztheorie  (1876)  vereinigt  sind;  eine  der  besonderen  Fragen, 
die  darin  behandelt  wird,  ist  die  nach  dem  Vorkommen  plötzlicher, 
sprunghafter  phyletischer  Weiterbildungen,  —  eine  Frage,  die 
Weismann  von  jeher  verneint  hat.  Uns  Nachgeborenen  kommt  es 
wunderbar  vor,  daß  man  noch  im  Anfang  der  siebziger  Jahre  des 
vorigen  Jahrhunderts  die  Umwandlung  einer  Salamanderlarve 
( —  denn  als  geschlechtsreif  gewordene  ,,neotenische"  Larvenform 
ist  der  Axolotl  jetzt  allgemein  anerkannt  — )  als  eine  plötzliche 
phyletische  Weiterbildung  zu  einer  höheren  Stufe  auffassen  konnte, 
mit  der  gewisse  Axolotl-Individuen  der  phyletischen  Entwicklung 
der  übrigen  Artgenossen  voraneilen,  —  aber  derartige  Erinnerungen 
sind  recht  nützlich,  und  sie  sind  notwendig ,  wollen  wir  dem  Wirken 
der  Forscher  jener  Zeiten  gerecht  werden.  Näher  kann  auf  die  große 
theoretische  Bedeutung  dieser  und  späterer  Axolotl-Experimente 
von  Frl.  v.  Chauvin  hier  nicht  eingegangen  werden. 

Das  allgemeine  Ergebnis  der  ,, Studien  zur  Deszendenztheorie" 
faßte  Weismann  in  der  vierten  Abhandlung  des  zweiten  Heftes 
zusammen.  Sie  führt  den  Titel:  ,,Über  die  mechanische  Auffassung 
der  Natur"  und  sucht  zu  zeigen,  daß  das  aus  den  Einzelunter- 
suchungen gewonnene  Ergebnis:  die  Zurückweisung  der  Annahme 
einer  besonderen  phyletischen  Lebenskraft,  für  alle  Lebewesen  Gel- 
tung hat.  Eine  innere  metaphysische  Entwicklungskraft  ist  ebenso 
zu  leugnen,  wie  eine  besondere  Lebenskraft  für  die  Erklärung  der 
Vorgänge  des  individuellen  Lebens  zu  verwerfen  ist.    Die  Abhand- 


—     43     — 

hing  beschäftigt  sich  durchaus  mit  den  Fragen  des  Darwinismus, 
und  auch  im  einzehien  bewegen  sich  ihre  Gedankengänge  vielfach 
schon  in  den  Bahnen  der  späteren  theoretischen  Schriften.  Im 
Gegensatz  zu  Eduard  v.  Hart  mann,  der  die  wichtigsten  Prin- 
zipien des  Darwinismus,  VariabiHtät,  Vererbung,  Korrelation  als 
nicht  rein  mechanische  Prinzipien  betrachtet  und  in  ihnen  ein 
metaphysisches  zwecktätiges  Prinzip  annimmt,  sucht  Weis  mann 
nachzuweisen,  daß  diese  drei  Erscheinungen  sich  sehr  wohl  rein 
mechanisch  auffassen  lassen,  und  daß  sie  so  aufgefaßt  werden 
müssen,  so  lange  man  keine  triftigen  Gründe  dafür  aufbringen 
kann,  daß  noch  etwas  anderes  in  ihnen  verborgen  liegt,  als  physi- 
kalisch chemische  Kräfte.  Den  Anschauungen,  die  Weismann 
hier  über  die  genannten  Prinzipien  wie  auch  über  die  sprunghafte 
Entwicklung  äußert,  werden  wir  an  anderer  Stelle  wieder  be- 
gegnen. Ein  zweiter  Abschnitt  dieses  Aufsatzes  handelt  über 
,, Mechanismus  und  Teleologie"  und  entwickelt  den  Gedanken,  daß 
es  wohl  möglich  ist,  neben  dem  bloßen  Mechanismus  ein  teleo- 
logisches Prinzip  anzuerkennen,  Mechanismus  und  Teleologie  mit- 
einander zu  verbinden.  Auch  hierauf  werden  wir  noch  kurz  zurück- 
kommen. 

Biologie  der  Süßwasserfauna,  Daphnoidenstudien,  partheno- 
gonische  und  zyklische  Fortpflanzung. 

Etwa  gleichzeitig  mit  den  Studien  zur  Deszendenztheorie  be- 
gann Weismann  Forschungen  auf  einem  ganz  anderen  Gebiete; 
er  wandte  sich  eingehender  dem  Tierleben  der  Süßwasser- 
seen zu  und  entnahm  aus  ihm  nicht  nur  die  Anregung  zur  Be- 
handlung allgemeiner,  die  Seefauna  betreffender  Fragen,  sondern 
schöpfte  aus  ihm  auch  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  das  Material 
zu  seinen  berühmten  Arbeiten  über  die  Daphnoiden.  Die  Auf- 
forderung, sich  diesem  Gebiete  zuzuwenden,  lag  für  ihn  freilich 
nahe  genug:  bespülen  doch  die  Wellen  des  Bodensees  den  Garten 
des  ,, Lindenhofs",  des  Tuskulums,  in  dem  Weismann  so  oft  seine 
Ferien  zubrachte.  Ein  Ferienaufenthalt  im  Jahre  1873  gab  denn 
auch  den  Anstoß  zur  eingehenden  Inangriffnahme  dieser  Forschungen, 
die  sich  in  der  Folge  dann  auch  auf  andere  Seen,  vor  allem  den 
Züricher  und  den  Lago  maggiore,  wie  den  von  Freiburg  aus  leicht 
zu  erreichenden  Titisee  im  Schwarz wald  ausdehnten. 


—     44     — 

Die  allgemeinen  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  hat 
Weismann,  zusammen  mit  den  Ergebnissen  anderer  Forscher, 
so  besonders  mit  den  berühmten  Untersuchungen  Foreis  über  die 
Fauna  der  Schweizer  Seen,  in  einem  außerordentlich  reizvollen 
populären  Vortrag  (Das  Tierleben  im  Bodensee,  1876)  verarbeitet. 
Der  Naturfreund,  auch  wenn  er  auf  dem  besonderen  hier  behandelten 
Gebiete  Laie  ist,  wird  nicht  so  leicht  etwas  lesen  können,  was  ihm 
mehr  Anregung  bieten,  seinen  Anschauungs-  und  Gedankenkreis 
mehr  bereichern  könnte,  als  diese  Darstellung.  Das  ist  keine  trockene 
Aufzählung  von  Tatsachen,  sondern  ein  farbenreiches,  anschauliches 
Bild  von  dem  tierischen  Leben  im  Süßwasser,  aber  entworfen  nicht 
mit  den  nur  blendenden  schillernden  Farben  oberllächlicher  Popu- 
laritätssucht, sondern  mit  dem  ganzen  sachlichen  Ernst  des  Forschers, 
der  die  inneren  Zusammenhänge  der  Erscheinungen  aufzudecken 
und  darzustellen  strebt.  Die  Darstellung  des  tierischen  Lebens  im 
süßen  Wasser  muß  ja,  wie  Weismann  selbst  hervorhebt,  verzichten 
auf  so  manches,  was  die  Schilderung  meerischen  Lebens  von  vorn- 
herein erleichtert  und  reizvoll  macht.  Das  Tierleben  des  Meeres 
ist  unendlich  viel  reicher,  vielgestaltiger  als  das  des  Süßwassers, 
die  Tierformen  selbst  sind  mannigfaltiger,  zahlreicher  an  Arten, 
ja  an  Klassen,  fesselnder  in  ihrer  äußeren  Erscheinung,  prächtiger 
in  ihren  Farben.  Aber  dieser  Mangel  des  Stoffes  wiegt  die  Dar- 
stellung Weismanns  reichlich  auf  durch  die  Art  der  Betrachtung, 
die  von  ganz  großen  Gesichtspunkten  ausgeht,  wie  sie  die  Natur- 
betrachtung vom  Standpunkt  der  Deszendenzlehre  aus  ergab.  Wir 
erhalten  eine  Erklärung  dafür,  warum  das  Leben  des  Süßwassers 
ärmer  ist  als  das  des  Meeres :  wir  lernen  es  begreifen  aus  dem  mannig- 
fachen Wechsel,  dem  die  Süßwasserbecken  im  Laufe  der  Erd- 
geschichte unterworfen  waren,  aus  der  häufigen  Unterbrechung, 
die  das  tierische  Leben  in  ihnen  dadurch  erlitt,  und  die  eine  stets 
neue  Besiedelung  nötig  machte.  Wir  erhalten  Auskunft  über  die 
Formen,  die  tatsächlich  im  Bodensee  vertreten  sind,  über  ihre 
Gliederung  in  die  drei  großen  Gesellschaften:  die  littorale,  pelagische 
und  Tiefseefauna,  über  die  verschiedenen  Bedingungen,  unter  denen 
die  Angehörigen  dieser  drei  Gruppen  leben,  und  die  ihre  Lebens- 
gewohnheiten beherrschen.  Manche  interessante  Einzelheiten  über 
diese  Lebensgewohnheiten  werden  berichtet  und  in  ihrer  Bedeutung 
erörtert;  auch  rätselhafte  Erscheinungen,  wie  das  nächtliche  Auf- 


—     45      — 

steigen  der  kleinen  Krebse  aus  der  größeren  Tiefe  an  die  Oberfläche 
des  Wassers,  werden  als  zweckmäßige  Einrichtungen,  als  An- 
passungen an  die  Lebensbedingungen  zu  deuten  versucht.  (Im 
Gegensatz  zu  Forel  führt  Weis  mann  diese  Erscheinung  auf  die 
Lichtscheue  der  Tiere,  d.  h.  auf  ihre  Organisation  für  schwaches 
Licht  zurück,  diese  aber  wieder  darauf,  daß  es  den  Tieren  dadurch 
ermöglicht  wird,  eine  sehr  bedeutende  Wasserschicht  nach  Nahrung 
zu  durchsuchen,  —  am  hellen  Tag  bis  zu  einer  Tiefe  von  50  m, 
in  der  Nacht  an  der  Oberfläche.) 

Vor  allem  aber  reizt  den  historischen  Sinn  Weis  mannscher 
Naturbetrachtung  die  Frage  nach  der  Herkunft  der  tierischen 
Bevölkerung  des  Sees.  Sie  muß  verschieden  sein  für  die  littoralen 
und  pelagischen  Formen  einsereits  und  für  die  Tiefseefauna  anderer- 
seits. Die  beiden  ersten  kamen  aus  dem  Meer,  wanderten  die  Flüsse 
hinauf,  oder  kamen  aus  benachbarten  Seen.  Wir  lernen  die  Hilfs- 
mittel kennen,  deren  sie  sich  bei  ihren  Wanderungen  bedienen, 
vor  allem  die  Wichtigkeit,  die  widerstandsfähige  Keime  für  die 
Verbreitung  vieler  Tierformen  besitzen,  wie  die  Wintereier  der 
Wasserflöhe,  die  durch  Wasservögel  auf  weite  Entfernungen  hin 
von  einem  Ort  zum  anderen  getragen  werden  und  neu  entstandene 
Seen  bevölkern  können.  Ganz  anders  die  Tief seetiere !  Da  weder 
sie  selbst  noch  ihre  Eier  jemals  an  die  Oberfläche  gelangen,  so 
können  sie  nicht  von  einem  See  zum  anderen  verschleppt  werden ; 
sie  haben  sich  im  See  selbst  gebildet,  durch  allmähliche  Umprägung 
der  Uferarten,  die  im  Laufe  der  Generationen  vom  Ufer  aus  auf 
dem  Boden  hin  in  immer  größere  Tiefen  sich  hinab  verbreiteten. 
So  mündet  die  Betrachtung  aus  in  der  großen  Frage  der  Artbildung, 
—  und  schließlich  in  einer  ganz  allgemeinen  Betrachttmg:  in  dem 
Gesetz  vom  Kreislauf  der  organischen  Substanz.  Im  Wasser  ist 
dieser  Kreislauf  auf  engem  Gebiete  zu  verfolgen:  tote  organische 
Substanz  dient  als  Nahrung  tausender  von  niederen  Organismen 
und  wandelt  sich  so  in  lebendige  Wesen  um,  die  ihrerseits  wieder 
anderen,  höheren  Formen,  Fischen,  zur  Nahrung  dienen.  Aber  auch 
von  diesen  geht  es  wieder  weiter,  denn  von  ihnen  leben  wieder  höhere 
Formen,  Vögel,  Fischottern,  ja  zum  Teil  selbst  der  Mensch.  Überall 
Kampf,  überall  rücksichtslose  Ausnutzung  aller  Bedingungen  und 
aller  Vorteile,  überall  Zerstörung,  Vernichtung.  Aber  aus  ihr  ent- 
steht immer  wieder  neues  Leben,  —  und  so  klingt  Weismanns 


—     46     - 

Darstellung  aus  in  jenem  Ausspruch  von  Karl  Ernst  von  Baer, 
es  sei  doch  ein  versöhnlicher  Gedanke,  daß  auch  „die  Nahrung  selbst 
eine  Zeitlang  lebendig  ist  und  sich  des  Daseins  freut". 

Die  Spezialuntersuchungen,  zu  denen  Weismann  durch 
die  Seenforschungen  angeregt  wurde,  betreffen  die  Daphnoiden, 
die  zu  den  Krebsen  gehörigen  Wasserflöhe,  die  jetzt  gewöhnlich  als 
Cladoceren  bezeichnet  werden  ^^).  Den  Anstoß  zu  ihnen  gab  ein 
glücklicher  Zufall,  der  im  Jahre  1873  dem  Forscher  eine  ihm  un- 
bekannte kleine  Krebsform  in  das  fischende  Netz  führte.  Erst 
bei  genauerer  Beschäftigung  mit  ihr  stellte  es  sich  heraus,  daß  es 
sich  um  die  Leptodora  hyalina  handelte,  die  1860  von  dem  schwedi- 
schen Naturforscher  Lilljeborg  in  die  Wissenschaft  eingeführt 
und  benannt,  dann  von  dem  Dänen  P.  E.  Müller  und  dem  Russen 
N.  Wagner  behandelt,  im  ganzen  aber  noch  sehr  wenig  bekannt 
war,  und  deren  genaue  Untersuchung  nicht  nur  eben  aus  diesem 
Grunde,  sondern  auch  noch  darum  verheißungsvoll  erscheinen 
mußte,  weil  das  Tierchen  im  Verhältnis  zu  seinen  Verwandten 
ziemlich  groß  und  zudem  völlig  durchsichtig,  also  zu  einer  Unter- 
suchung im  lebenden  Zustand  ganz  besonders  geeignet  ist.  Die  Be- 
schäftigung mit  der  Leptodora  zeigte  zugleich,  daß  es  sich  sehr  wohl 
lohnen  würde,  auch  die  übrigen  Daphnoiden,  die  seit  der  großen 
Monographie  Leydigs  von  1860  bereits  als  genügend  bekannt 
galten,  aufs  neue  zu  untersuchen,  und  so  dehnte  Weismann  seine 
Forschungen  auch  auf  sie  aus.  Von  den  Süßwasserformen  boten 
die  genannten  Seen  ebenfalls  reiches  Material,  und  Weis  mann 
ließ  es  sich  nicht  verdrießen,  stundenlang,  auch  im  Sturm  und  bei 
Nacht  —  weil  dann  die  Tiere  aus  der  Tiefe  an  die  Oberfläche 
kommen  —  im  Boote  zuzubringen,  um  es  zu  sammeln.  Ein  Aufent- 
halt in  Neapel,  im  Frühling  1877,  bot  ihm  Gelegenheit,  auch  die 
marinen  Formen  (marine  Polyphemiden)  zu  untersuchen.  So  ent- 
standen die  Arbeiten,  die  unter  dem  gemeinsamen  Titel  ,,Zur 
Naturgeschichte  der  Daphnoiden"  als  zusammenhängende 
Reihe  von  1876 — 1878  aufeinander  folgten  und  nach  Umfang  und 
Bedeutung  des  Inhaltes  eine  hervorragende  Stelle  in  der  zoologischen 
Literatur  einnehmen.  Eine  Menge  wertvoller  Einzelbeobachtungen 
und  grundlegender  Erörterungen  über  allgemeinere  biologische 
Fragen  ist  in  ihnen  niedergelegt.  Abgesehen  von  einer  Abhandlung 
über   die    Färbungen    der    Daphnoiden,    die    von    Weismann    als 


—      47      — 

Schmuckfarben  aufgefaßt  werden  und  ihm  Anlaß  geben,  das  Prinzip 
der  geschlechtHchen  Auslese  zu  erörtern,  behandeln  sie  Fragen 
der  Fortpflanzung  und  Entwicklung :  Bildung  und  Bau  der  Samen- 
zellen, Bildung  der  Eier  in  ihren  zwei  Formen  als  Sommer-  und 
Wintereier,  die  Aufzucht  der  Sommereier  in  einem  nahrungsreichen 
Fruchtwasser,  also  unter  ,, Brutpflege",  und  die  Erscheinungen  der 
zyklischen  Fortpflanzung  bei  den  Daphnoiden.  Insbesondere  für 
diese  letzteren  Erscheinungen,  für  die  Weismanns  Interesse  durch 
die  Studien  über  den  Saison-Dimorphismus  d^  Schmetterlinge  er- 
weckt worden  war,  haben  die  Untersuchungen  grundlegende  Be- 
deutung erlangt,  nicht  nur  hinsichtlich  der  Kenntnis  der  Tatsachen, 
sondern  auch  in  bezug  auf  ihr  theoretisches  Verständnis.  Nur  auf 
sie  sei  hier  noch  kurz  eingegangen. 

Die  Daphnoiden  gehören  zu  den  Tierformen,  bei  denen 
Jungfernzeugung  oder  Parthenogonie  —  wie  man  besser 
statt  ,, Parthenogenese"  sagen  sollte ^^)  —  vielfach  vorkommt.  Man 
versteht  bekanntlich  unter  Parthenogonie  die  Erscheinung,  daß 
Eier  ohne  vorherige  Befruchtung  sich  entwickeln,  und  ist  jetzt  all- 
gemein der  Überzeugung,  daß  diese  Fortpflanzungsart  sich  aus  der 
zweigeschlechtlichen,  mit  Befruchtung  verbundenen,  entwickelt 
hat  ( —  also  nicht  etwa  eine  ursprünglichere  Fortpflanzungsform 
darstellt  — ).  Die  enge  Beziehung,  die  zwischen  der  Jungfern- 
zeugimg  und  der  Zweielternzeugung  besteht,  kommt  vor  allem 
darin  zum  Ausdruck,  daß  jene  nur  sehr  selten  die  alleinige  Fort- 
pflanzungsart bildet,  viel  häufiger  dagegen  mit  der  letzteren,  der 
Zweielternzeugung,  in  regelmäßigem  Wechsel  auftritt.  So  kommt 
die  besondere  Form  der  ,, zyklischen"  Fortpflanzung  (Zyklogonie) 
oder  des  Generationswechsels  (im  weitesten  Sinne)  zustande,  die 
den  besonderen  Namen  der  Heterogonie  erhalten  hat.  Zu  den 
Formen,  die  sie  ganz  besonders  zeigen,  gehören  die  Daphnoiden, 
und  durch  Weismanns  Studien  haben  sie  für  die  Forschungen 
auf  dem  Gebiete  der  Generationszyklen  klassische  Bedeutung  er- 
langt. Weismann  erbrachte  den  Nachweis,  daß  die  Generations- 
zyklen bei  den  verschiedenen  Formen  der  Daphnoiden  verschieden 
sind;  er  fand  weiter  eine  einleuchtende  Erklärung  für  diese  Ver- 
schiedenheiten in  den  besonderen  Lebensbedingungen  der  einzelnen 
Arten  und  zeigte  endlich,  wie  die  allmähliche  historische  Entwick- 
lung dieser  zyklischen  Fortpflanzungsform  aus  der  früheren  rein 


—     48      — 

zweigeschlechtlichen  der  Vorfahren  zu  denken  ist.  So  stützte  und 
vertiefte  er  jene  Auffassung  von  dem  Verhältnis  der  Parthenogonie 
zur  Zweielternzeugung,  die  Auffassung,  daß  die  Jungfernzeugung 
nicht  ungeschlechtliche,  sondern  eingeschlechtliche  Fortpflanzung 
und  aus  der  zwei  geschlechtlichen  entstanden  ist,  und  legte  auch 
den  Grund  für  Forschungen,  die  aus  den  Erscheinungen  der  Gene- 
rationszyklen Einblicke  in  das  Problem  der  geschlechtsbestimmenden 
Ursachen  zu  gewinnen  hoffen.  ,,A.  Weismann  war  der  erste, 
der  die  große  Bedeutung  des  Gegenstandes  klar  erkannte  und  durch 
genaues  biologisches  Studium  der  Generationszyklen  der  Daphnien 
wie  durch  Versuche,  sie  experimentell  zu  beeinflussen,  die  Grund- 
lagen für  unsere  gesamten  Kenntnisse  des  Gegenstandes  legte", 
sagt  R.  Goldschmidt,  eine  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  Ver- 
erbungslehre. Diese  Bedeutung  werden  die  Arbeiten  behalten, 
auch  wenn  an  die  Stelle  der  von  Weismann  gegebenen  Erklärung 
der  Erscheinungen  eine  andere  treten  müßte. 

Man  war  bis  Weismann  der  Ansicht  gewesen,  daß  jener 
Generationszyklus  sich  immer  nach  dem  gleichen  Schema  abspiele, 
das  tatsächlich  für  manche  Formen  nachgewiesen  war.  Hier  finden 
sich  vom  Frühjahr  ab  den  Sommer  hindurch  nur  weibliche  Indi- 
viduen, die  aus  zahlreichen  kleinen  und  zarten  unbefruchteten 
,,Sommer"-Eiern  immer  nur  wieder  Weibchen  mit  gleicher  Fähig- 
keit hervorbringen.  Nur  einmal  im  Jahre,  im  Herbst,  wird  diese 
lange  Reihe  parthenogonischer  Generationen  unterbrochen.  Eine 
Sexualperiode  tritt  ein;  außer  Weibchen  schlüpfen  nun  auch  Männ- 
chen aus  den  Eiern  aus,  und  die  Weibchen  produzieren  statt  der 
vielen  parthenogonischen  Sommereier  nur  wenige  große  befruchtungs- 
bedürftige ,, Winter-"  oder  ,,Dauer"-Eier,  die,  nachdem  sie  von  den 
Männchen  befruchtet  worden  sind,  mit  fester  Schale  umgeben 
werden,  um  so  den  Winter  durchzumachen.  Die  Kolonie  selbst 
erliegt  der  Vernichtung  durch  die  Winterkälte.  Aus  jedem  solchen 
befruchteten  Dauere!  entsteht  im  Frühjahr,  also  nach  längerer 
Latenzperiode,  ein  Weibchen,  das  wieder  die  Reihe  der  partheno- 
gonischen Generationen  beginnt.  So  das  Schema,  das  als  allgemein- 
gültig betrachtet  wurde.  Gelegentliche  Beobachtungen  von  Männ- 
chen und  Dauereiern  zu  anderen  Jahreszeiten  wurden  als  Ausnahme 
und  als  direkte  Folge  äußerer  Einflüsse  (Eintritt  von  Kälte, 
Abnahme  des  Wassers)   aufgefaßt.      Demgegenüber  zeigte  Weis- 


—      49      — 

mann  zunächst  durch  ausgedehnte  Beobachtungen  und  zielbewußte 
Versuche,   daß   die   äußeren   Lebensbedingungen   direkt   keinerlei 
Einfluß  auf  den  Modus  der  Fortpflanzung  ausüben,  daß  weder  die 
Temperatur,    noch  die    Quantität   oder  die    Qualität  des  Wassers 
imstande   sind,   den   einen   Modus  in   den   anderen   umzuwandeln, 
daß  sie  ihn  also  auch  direkt  nicht  hervorgerufen  haben  können. 
Die  Ursache  dafür,  daß  nach  einer  Reihe  von  parthenogonischen 
Generationen  zweigeschlechtliche  Fortpflanzung  eintritt,  liegt  somit 
nicht    in    momentanen    äußeren    Einflüssen,    die    das    Individuum 
treffen,    sondern    ist    in    den    allgemeinen    Lebensbedingungen    zu 
suchen,   die   seit  lange  alljährlich  die  Art  getroffen  haben.      Der 
Generationszyklus  hat   sich  allmählich  festgestellt  als  indirekte 
Folge  dieser  Lebensbedingungen  nach  dem  Selektionsprinzip:  durch 
Beseitigung  der  für  die  Erhaltung  der  Art  momentan  weniger  ge- 
eigneten   Individuen.       Entsprechend    den    Verschiedenheiten    der 
Lebensbedingungen  der  Arten  ist  dann  auch  die  Form  des  Zyklus 
verschieden:  verschieden  durch  die  Zahl  der  zweigeschlechtlichen 
Generationen,  die  im  Laufe  eines  Jahres  die  Reihe  der  partheno- 
gonischen unterbrechen.     Stets  erfolgt  die  Sexualperiode  zu  einer 
ganz  bestimmten  Zeit,  von  der  Gründung  einer  Kolonie  aus  Winter- 
eiern an  gerechnet;  diese  Zeit  aber  ist  für  die  verschiedenen  Arten 
sehr  verschieden.     Je  nachdem  Vernichtungsursachen  (Kälte,  Aus- 
trocknen usw.)  mehrmals  im  Jahre  oder  nur  einmal  oder  gar  nicht 
die  Kolonien  einer  Art  heimsuchen,  lassen  sich  drei  Gruppen  unter- 
scheiden:  polyzyklische,   monozyklische,  azyklische.      Die   Gruppe 
der  polyzyklischen  Formen  umfaßt  Arten,  bei  denen  schon  nach 
wenigen   parthenogonischen   Generationen  wieder  eine  geschlecht- 
liche folgt,  somit  mehrere  Zyklen  sich  im  Laufe  eines  Jahres  ab- 
lösen: es  sind  die  Bewohner  kleinerer  Wassermengen,  wie  Pfützen, 
Tümpel,  Teiche,   Sümpfe,  die  während  des  Sommers  austrocknen 
können.    Als  Anpassung  an  die  dadurch  mehr  oder  minder  oft  be- 
dingte Gefahr  der  Vernichtung,  die  der  Kolonie  droht,  erscheint 
die  häufigere  Unterbrechung  der  parthenogonischen  Generationen 
durch  eine  Geschlechtsgeneration,  deren  befruchtete  Dauereier  jenen 
Gefahren  widerstehen.    Die  Gruppe  der  monozyklischen  Formen 
umfaßt  Arten  mit  nur  einer  Sexualperiode,  bei  denen  also  nur 
einmal  im  Jahr,  und  zwar  gegen  den  Winter  hin,  die  lange  Reihe 
parthenogonischer  Generationen  durch  eine  zweigeschlechtliche  mit 

Gaupp,  Biographie  Weismanns.  4 


widerstandsfähigen  Dauereiern  unterbrochen  wird:  die  pelagischen 
Formen  der  Seen,  wahrscheinhch  auch  die  wenigen  marinen  Formen, 
also  Bewohner  weiter,  nicht  austrocknender  Wasserbecken,  in 
denen  nur  die  Winterkälte  eine  allgemeine  Gefahr  bildet  und  all- 
jährlich zur  Vernichtung  der  Kolonie  führt.  Endlich  wird  eine  letzte 
Gruppe,  die  der  azyklischen  Formen,  gebildet  durch  solche  Arten, 
die  auch  im  Winter  ausdauern  und  sich  fortpflanzen,  somit  die 
Bildung  von  Dauereiern  überhaupt  entbehren  können  und  sich  nur 
parthenogonisch  fortpflanzen,  —  bei  denen  also  die  Bildung  von 
Männchen  überhaupt  unterdrückt  ist.  Nur  mit  großem  Genuß 
kann  man  die  ausführliche  Begründung  dieser  grundlegenden  Vor- 
stellungen sowie  die  scharfsinnigen  Ausführungen  Weismanns  über 
die  Ausbildung  der  \'erschiedencn  Generationszyklen  und  die  erst- 
malige Entstehung  der  zyklischen  Fortpflanzung  bei  den  Daphnoiden 
überhaupt  lesen.  Die  zyklische  Fortpflanzung  der  Daphnoiden  ist 
nicht  überkommen,  sondern  erst  in  und  mit  dieser  Ordnung  er- 
worben. Die  Urdaphnoiden  hatten  durchaus  zweigeschlechtliche 
Fortpflanzung  und  produzierten  befruchtungsbedürftige, ,Latenz- 
eier",  die  nach  der  Befruchtung  und  den  ersten  Entwicklungsstadien 
erst  eine  längere  Latenzperiode  während  der  für  die  Existenz  der 
Kolonie  selbst  ungünstigen  Zeit  durchmachten.  Nun  folgte  auf  der 
Grundlage  der  individuellen  Variabilität  und  Fixierung  der  günstigen 
Abänderungen  durch  Naturzüchtung  eine  allmähliche  Umwand- 
lung der  Formen  selbst  und  ihrer  Eier.  Erstere  wurden  kleiner  und 
einfacher,  ihre  Ontogenese  verkürzte  sich,  die  früher  vorhanden 
gewesene  Metamorphose  kam  in  Wegfall.  Die  Eier  differenzierten 
sich  in  zwei  Richtungen:  die  einen  (Latenzeier)  behielten  die  Be- 
fruchtungsbedürftigkeit bei  und  bildeten  besondere  Schutzhüllen 
aus,  die  anderen  erlangten  die  Fähigkeit  zu  rascher  Entwicklung 
(daher  ,,Subitaneier",  von  subitus,  plötzlich)  und  zugleich  die  zur 
Parthenogonie.  Damit  wurde  die  Bildung  von  Männchen  nur  noch 
für  bestimmte  Generationen  beibehalten.  Eine  in  viel  rascherem 
Tempo  erfolgende  Vermehrung  der  Kolonie  war  die  Folge  all  dieser 
Umwandlungen,  und  bildete  damit  das  Zweckmäßigkeitsmoment, 
das  diese  Umwandlungen  auf  dem  Wege  der  Selektion  allmählich 
sich  vollziehen  und  steigern  ließ.  Zunächst  schaltete  sich  eine 
Subitangeneration  ein,  d.  h.  die  Eier  der  ersten  Generation  wurden 
zu  Subitaneiern ;  dann  übertrug  sich  die  Fähigkeit  zur  Bildung  von 


—     5'      — 

solchen  auch  auf  die  zweite  und  die  folgenden  Generationen,  —  je 
nach  Bedarf,  d.  h.  unter  dem  .regulierenden  Einfluß  der  für  jede  Art 
gegebenen  Lebensbedingimgen,  Die  azykhschen  Formen  bilden  das 
letzte  Stadium:  wo  Vernichtung  der  Kolonie  nicht  mehr  zu  be- 
fürchten ist,  ist  die  Hervorbringung  von  Latenz-  oder  Dauereiern 
ganz  aufgegeben,  und  die  Vermehrung  erfolgt  das  ganze  Jahr  hin- 
durch mit  Subitaneiern. 

Neben  der  scharfsinnigen  Deutung  der  mannigfaltigen  Er- 
scheinungen von  einem  einheitlichen  Gesichtspunkte  aus :  als  zweck- 
mäßige, durch  Selektion  in  Anpassung  an  die  Lebensbedingungen 
entstandene  Einrichtungen,  tritt  in  diesen  Ausführungen  noch  ganz 
besonders  ein  Punkt  als  bedeutungsvoll  hervor:  die  verhältnismäßig 
geringe  Bewertung  des  Unterschiedes,  der  in  der  Befruchtungs- 
bedürftigkeit einerseits  und  der  parthenogonischen  Entwicklungs- 
fähigkeit der  Eier  andererseits  gegeben  ist.  Für  Weis  mann  ist 
dieses  Merkmal  nicht,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  könnte, 
das  hauptsächlichste ;  der  Verzicht  auf  die  Befruchtung  ist  vielmehr 
nur  eine  von  den  vielen  Umwandlungen,  die  darauf  abzielen,  der 
Kolonie  eine  möglichst  rasche  und  ausgiebige  Vermehrung  der 
Individuenzahl  zu  sichern.  In  dieser  Betrachtungsweise  spricht 
sich  schon  die  Auffassung  aus,  der  Weismann  später  besonderen 
Ausdruck  verliehen  hat:  daß  nämlich  die  Befruchtung  für  die  Ent- 
wicklung nicht  die  hohe  Bedeutung  besitzt,  die  ihr  gewöhnlich  zu- 
geschrieben wird. 

Den  größten  Einfluß  auf  Weismanns  Anschauungen  mußte 
es  aber  doch  haben,  daß  es  ihm  auch  hier  wieder  gelang,  die  Ver- 
schiedenheiten in  den  Lebenserscheinungen  einer  ganzen  Gruppe 
von  Organismen  als  zweckmäßige,  durch  Selektionsprozesse  ge- 
züchtete Anpassungen  zu  erklären.  Die  Untersuchimg  und  ihr 
Ergebnis  gibt  ihm  Gelegenheit  zu  allgemeinen  Erörterungen  über 
das  Selektionsprinzip  und  die  einzelnen  Faktoren,  mit  denen  es 
rechnet:  Variabilität,  Vererbung  und  Kampf  ums  Dasein;  er  stellt 
den  Generationswechsel  der  Daphnoiden  dem  gegenüber,  der  in 
dem  Saisondimorphismus  der  Schmetterlinge  in  die  Erscheinung 
tritt,  und  den  er  als  durch  die  direkte  Wirkung  der  Klimaeinflüsse 
hervorgerufen  erkannt  hatte.  Hier,  bei  den  Schmetterlingen,  er- 
folgte zuerst  die  Abänderung  der  ausgebildeten  Tiere  unter  dem 
Einfluß  der  Umgebung  und  erst  allmählich  ergab  sich  daraus  eine 


—     52     — 

Beeinflussung  des  Keimes  und  damit  eine  erbliche  Fixierung  der 
Umwandlungen ;  dort,  bei  den  Daphnoiden,  traten,  aus  Gründen,  die 
in  den  Organismen  selbst  liegen,  zuerst  Keimesabänderungen, 
Varianten,  auf,  und  durch  Züchtung  derselben  veränderten  sich 
im  Laufe  der  Generationen  die  Gewohnheiten  aller  Individuen 
der  Art.  Diese  Erörterungen  bewegen  sich  im  wesentlichen  schon 
ganz  in  den  Gedankengängen  der  späteren  rein  theoretischen 
Schriften. 

Für  die  Richtigkeit  seiner  Auffassung,  daß  die  Parthenogonie 
sektmdär  aus  der  zweigeschlechtlichen  Fortpflanzung  hervor- 
gegangen ist,  als  Anpassung  an  Lebensverhältnisse,  die  eine  mög- 
lichst rasche  Vermehrung  der  Individuen  wünschenswert  machen 
konnte  Weismann  wenige  Jahre  später  (1880)  eine  sehr  erfreu- 
liche Bestätigung  beibringen  in  dem  Nachweis  der  Parthenogonie 
bei  den  Ostracoden  (Muschelkrebsen).  Der  Umstand,  daß  diese 
Ordnung  der  Krebse  unter  ganz  ähnlichen  Lebensbedingungen 
lebt,  wie  die  Daphnoiden,  rechtfertigen  die  Erwartung,  daß  auch 
bei  ihr  Parthenogonie  vorkomme,  und  die  genauere  Untersuchung 
bestätigte  die  Richtigkeit  dieser  Erwartung  und  lieferte  damit  der 
Vorstellung  über  die  Herkunft  und  Bedeutung  der  Parthenogonie, 
die  sich  aus  den  Daphnoidenstudien  ergeben  hatte,  eine  wichtige 
Stütze. 

Von  größter  Bedeutung  wurde  dieser  Nachweis  gleicher  Fort- 
pflanzungsart dann  für  Weismann  in  der  Mitte  der  achtziger 
Jahre,  als  ihn  die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  bei  der  Eireifung 
auftretenden  Richtungskörperchen  beschäftigte.  Damals  entstanden 
die,  zum  Teil  in  Gemeinschaft  mit  C.  Ischikawa  angestellten 
wichtigen  Untersuchungen  über  die  Bildung  der  Richtungskörper- 
chen bei  parthenogonischen  und  befruchttmgsbedürftigen  Eiern, 
auf  die  noch  zurückzukommen  sein  wird,  sowie  die  über  gewisse 
eigentümliche  Vorgänge  bei  der  Befruchtung  der  Daphnoiden- 
eier.  Sie  knüpfen  an  die  alten  Daphnoidenstudien  an;  es  mag  im 
übrigen  genügen,  sie  erwähnt  zu  haben. 

Endlich  aber  hat  die  Parthenogonie  auch  Ende  der  netmziger 
Jahre  Weismann  noch  einmal  besonders  beschäftigt,  als  von 
verschiedenen  Seiten  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  Auffassungen 
geäußert  wurden,  die  seit  den  Beobachtungen  des  schlesischen 
Pfarrers  und  Bienenwärters  Joh.  Dzierzon  (1845)  und  der  wissen- 


—     53     — 

schaftlichen  Durcharbeitung  derselben  durch  v.  Siebold  und 
Leuckart,  über  die  Fortpflanzungsvorgänge  im  Bienenstaate  und 
insbesondere  über  die  fakultative  Parthenogonie  der  Bienenkönigin 
herrschten.  Durch  zwei  seiner  Schüler,  Paule ke  und  —  nach 
dessen  Ausscheiden  —  Petrunkewitsch,  ließ  Weismann  die 
Frage  aufs  neue  prüfen,  und  die  vortrefflichen  Untersuchungen 
namentlich  von  Petrunkewitsch  brachten  eine  volle  Bestätigung 
und  neue  einwandfreie  Begründung  der  alten  Lehre:  die  Drohnen- 
eier bleiben  unbefruchtet,  entwickeln  sich  parthenogonisch,  während 
die  Eier,  aus  denen  weibliche  Bienen  entstehen  sollen,  alle  befruchtet 
werden.  Weismann  selbst  hat  darüber  in  einem  kleinen  Aulsatz 
von  1900  berichtet. 

So  verbindet  bei  Weis  mann  ein  innerer  Zusammenhang 
immer  ganze  Reihen  von  Arbeiten  zu  einer  Kette;  eine  schließt 
sich  an  die  andere  an,  wächst  aus  ihr  hervor.  Die  Leptodora,  die 
ihm  der  günstige  Zufall  in  das  Netz  spülte,  veranlaßte  die  weiteren 
Forschungen  über  die  Süßwasserfauna  und  die  Studien  über  die 
Daphnoiden,  und  diese  führten  zu  dem  besonderen  Problem  der 
zyklischen  Fortpflanzung  und  der  Parthenogonie  überhaupt,  und 
damit  weit  weg  von  dem  ursprünglichen  Ausgang.  Nur  einmal 
noch  ist  Weis  mann  zu  jenem  Ausgang  zurückgekehrt:  als  35  Jahre 
nach  dem  Beginn  seiner  Süßwasserforschungen  (1908)  die  ,, Inter- 
nationale Revue  der  gesamten  Hydrobiologie  und  Hydrographie" 
ins  Leben  gerufen  wurde,  da  glaubten  die  Herausgeber  dem  neuen 
Unternehmen  keine  bessere  Empfehlung  mitgeben  zu  können,  als 
indem  sie  der  Zeitschrift  von  einem  Biologen  des  Süßwassers  imd 
einem  solchen  des  Meeres  das  Geleitwort  schreiben  ließen.  Für 
die  erste  Aufgabe  wandten  sie  sich  an  Weismann,  der  denn  auch 
bereitwillig  der  Bitte  entsprach.  Sein  kleiner  für  den  genannten 
Zweck  verfaßter  Aufsatz  weist  auf  die  große  Bedeutung  hin,  die 
das  eingehende  Studium  gerade  des  Tierlebens  im  Süßwasser  für 
das  Verständnis  des  biologischen  Zusammenhanges  der  ver- 
schiedenen Formen  besitzt,  d.  h.  für  die  Aufhellung  der  verwickelten 
Beziehungen  zwischen  den  nebeneinander  lebenden  Tieren  und 
Pflanzen,  und  damit  zugleich  für  die  Kenntnis  der  einzelnen  Arten 
und  ihrer  Anpassungen  an  die  ihnen  zugewiesene  Lebensweise. 
Die  Erforschung  der  tierischen  Formen  ist  mit  der  Kenntnis  ihrer 
bloßen    Morphologie    nicht    abgeschlossen;    darüber   hinaus    ergibt 


—     54     — 

sich  die  Aufgabe,  zu  ermitteln,  warum  und  wie  diese  Gestaltungen 
geworden  sind,  d.  h.  geworden  im  Laufe  der  Generationen  in  An- 
passung an  die  ganze  Umwelt,  die  natürlichen  Lebensbedingungen 
und  die  Lebensgesellschaft,  in  die  hinein  sie  gesetzt  sind  imd 
in  der  sie  den  Konkurrenzkampf  aufzunehmen  haben.  Weismann 
erörtert  hier  den  Gedanken,  dem  er  auch  sonst  wiederholt  Ausdruck 
gegeben  hat:  daß  wir  in  der  Analyse  der  tierischen  Formen  noch 
lange  nicht  so  weit  gegangen  sind,  als  es  möglich  wäre,  daß  für  eine 
Menge  längst  bekannter  Charaktere  noch  gar  nicht  einmal  ver- 
sucht worden  ist,  ihren  Lebenswert,  der  doch  ihr  Vorhandensein 
rechtfertigen  muß,  zu  ergründen.  Fortschritte  in  dieser  Richtung 
haben  zur  ersten  Voraussetzung  die  genaueste  Kenntnis  der  Lebens- 
weise der  Arten,  ihrer  Fortpflanzung,  Ernährung  usw.  mit  allen 
Einzelheiten  der  dabei  mitspielenden  Faktoren.  Dafür  aber  bietet 
gerade  das  Tierleben  der  Süßwasserbecken  die  günstigsten  Be- 
dingungen, weil  es  sich  auf  eine  übersehbare  Zahl  zusammenlebender 
Arten  beschränkt,  die  dennoch  innerhalb  ihres  Kreises  reich  ge- 
gliedert sind.  Es  ist  also  das  Problem  der  Artbildung,  für  dessen 
Verständnis  Weismann  gerade  aus  dem  Studium  der  Süßwasser- 
fauna wichtige  Förderung  erwartet,  insbesondere  die  viel  erörterte 
Frage,  wie  weit  die  Merkmale  der  Arten  ,, Anpassungen"  darstellen 
oder  in  das  Gebiet  der  sogenannten  rein  ,, morphologischen"  Merk- 
male ohne  erkennbare  biologische  Bedeutung  fallen.  Wir  werden 
dieser  Frage  wieder  begegnen. 

Die    Hydromedusenstudien.     Bildung^  der  Keimzellen. 

Von  besonders  wichtiger  Bedeutung  für  die  Ausgestaltung  der 
Weismann  sehen  theoretischen  Vorstellungen  wurden  endlich  die 
L^ntersuchungen  über  die  Bildung  der  Keimzellen  bei  den 
Hydromedusen,  die,  schon  im  Jahre  1878  an  der  Riviera  begonnen, 
dann  im  Sommer  1880  in  le  Croisie  in  der  Bretagne  auf  die  atlan- 
tischen, und  im  Winter  1880/82  in  Neapel  auf  die  dortigen  Mittel- 
meerformen ausgedehnt  wurden,  so  daß  sie  sich  im  ganzen  auf 
38  verschiedene  Arten  stützen  konnten.  Der  während  der  Unter- 
suchungen sich  aufdrängende  Plan,  den  ganzen  Bau  der  Hydro- 
medusen zu  bearbeiten,  wurde  bald  wieder  aufgegeben;  waren 
doch  auch  die  Ergebnisse  in  bezug  auf  die  Geschlechtszellen  be- 
deutungsvoll genug.     Weismann   hat   über  sie   zum  ersten  Male 


—     55     — 

i88o  berichtet,  dann  ergänzend  und  zum  Teil  abändernd,  1881; 
ausführlich  in  der  großen,  mit  prächtigen  Tafeln  geschmückten 
Monographie  von  1883,  endlich  noch  einmal  zusammenfassend,  im 
biologischen  Zentralblatt  von  1884.  Das  wichtigste  Ergebnis  der 
Untersuchungen  ist  der  Nachweis,  daß  die  Keimzellen  der  Hydro- 
medusen  zwar  stets  aus  Ektodermzellen  entstehen,  aber  bei  den 
verschiedenen  Arten  an  sehr  verschiedenen  Stellen,  und  daß  diese 
Verschiedenheiten  der  Ausdruck  sind  für  eine  in  der  Stammes- 
geschichte erfolgte  Verschiebung  der  Keimstätte,  die  von 
ganz  bestimmten  Gesetzen  beherrscht  wird.  Die  Verlegung  der 
Keimstätte  an  andere  Stellen  hat  wesentlich  die  Bedeutung,  die 
Keimzellenbildung  auf  frühere  Stadien  zu  verlegen  und  damit 
die  Geschlechtsreife  zu  beschleunigen;  sie  ist  in  der  Stammes- 
geschichte Schritt  für  Schritt  erfolgt,  die  Befunde  bei  den  einzelnen 
Formen  zeigen  ihren  Weg  an.  Die  Verschiebungsprozesse  beruhen 
aber,  wie  der  Vergleich  der  Tatsachen  zeigt,  nicht  darin,  daß  die 
Fähigkeit  zur  Keimzellenbildung  launenhaft  von  einer  Zellgruppe 
auf  die  andere  überspringt,  sondern  darin,  daß  immer  frühere 
Glieder  einer  und  derselben  Abstammungslinie  die  Dif- 
ferenzierung zu  Geschlechtszellen  eingehen.  Von  ganz  besonderer 
Wichtigkeit  sind  dabei  die  zahlreichen  Fälle,  in  denen  die  Bildung 
der  Keimzellen  gar  nicht  im  Ektoderm,  sondern  im  Entoderm  er- 
folgt :  hier  weisen  die  Befunde  darauf  hin,  daß  erst  in  der  Ontogenese 
eine  Einwanderung  jener  Elemente,  die  den  Keimzellen  den  Ur- 
sprung geben,  der  Urkeimzellen,  aus  dem  Ektoderm  in  das  Ento- 
derm erfolgt.  Höchst  seltsam  ist  daneben  noch  ein  anderes  Ergebnis : 
die  Rückwärts  Verschiebung  der  Keimstätte  ist  nicht  verbunden 
mit  einer  Verschiebung  der  Reifungs statte,  vielmehr  wandern 
in  jeder  Ontogenese  die  Keimzellen  von  ihrer  heutigen  Keimstätte 
zurück  nach  ihrer  alten  Reifungsstätte,  dem  Ektoderm  des  so- 
genannten ,,Manubriums".  Diese  Wanderungen  der  (männlichen 
und  weiblichen)  Keimzellen  müssen  auf  Vererbung  eines  Triebes 
zum  Wandern  nach    bestimmtem    Ziele  beruhen. 

Theoretisch  muß  aus  alle  dem  die  wichtige  Folgerung  gezogen 
werden,  daß  nur  bestimmte  Körperzellen  und  Zellfolgen  von  dem 
befruchteten  Ei  her  ,, Keimplasma"  mitbekommen  und  somit  Keim- 
zellen zu  bilden  vermögen,  —  ein  Ergebnis,  das  wesentlich  dazu 
beigetragen   hat,   den   Gedanken   von  der  Kontinuität  des  Keim- 


-     56     - 

plasmas,  der  in  Weis  mann  damals  Gestaltung  erlangte,   zu  be- 
gründen. 

So  reifen  in  den  Arbeiten  der  siebziger  Jahre  allmählich  die 
Gedanken  heran,  die  dann  von  den  achtziger  Jahren  an  in  ihrer 
vollen  Tragweite  erfaßt  imd  nach  allen  Seiten  hin  verfolgt  werden. 
Die  Annahme  einer  inneren  phyletischen  Entwicklungskraft  wird 
abgelehnt,  die  Bedeutung  der  Auslese  als  des  Vorganges,  der  die 
Organismen  in  Einklang  mit  den  Lebensbedingungen  bringt,  tritt 
immer  klarer  hervor.  Daneben  aber  zwingen  die  Schmetterlings- 
versuche zu  der  Anerkennung  eines  direkt  umgestaltenden  Ein- 
flusses der  äußeren  Bedingimgen,  und  dieselben  Versuche  weisen 
auch  auf  die  große  Bedeutung  hin,  die  der  gegebenen  spezifischen 
Natur  einer  Art  für  die  weitere  Umwandlung  zukommt.  Endlich 
aber  ergibt  sich  aus  den  Hydromedusen- Studien  auch  die  Grundlage, 
auf  der  sich  das  Gebäude  von  Weismanns  Vererbungstheorie  er- 
heben sollte. 


Dritter  Abschnitt. 

Erste  Stellungnahme  zur  Darwinschen  Theorie. 
Dauer  des  Lebens,  Herkunft  des  Todes. 


Abstammungslehre  von  Darwin  und  Lamarck.  —  Einfluß  des  Darwinismus  auf  die 
biologische  Forschung.  —  Erste  Stellungnahme  Weismanns  zur  Darwinschen  Theorie: 
die  Antrittsrede  von  1868.    Arbeitsprogramm.  —  Dauer  des  Lebens,  Herkunft  des  Todes. 


Versuchen  wir  es  nun,  einen  ÜberbHck  über  das  zu  gewinnen, 
was  Weismann  auf  dem  weiten  Gebiete,  mit  dem  sein  Name  am 
engsten  verbunden  ist,  geleistet  hat:  dem  der  Abstammungslehre 
und  den  mit  ihr  zusammenhängenden  Fragen.  Hier  knüpft  seine 
Tätigkeit  an  die  Darwins  an. 

Abstammungslehre  von  Darwin  und  Lamarck. 

Der  Darwinismus  begreift  in  sich,  wie  bekannt,  mehrere 
Theorien,  die  sich  zwar  gegenseitig  ergänzen,  aber  doch  an  sich 
voneinander  unabhängig  sind.  Die  zentrale  Stelle  innerhalb  dieser 
Theorien  nimmt  die  Deszendenzlehre  selbst  ein,  die  Lehre,  daß 
die  Arten  nicht  beständig  sind,  daß  vielmehr  die  lebenden  Pflanzen- 
und  Tierformen  sich  aus  anderen,  untergegangenen  entwickelt 
haben,  und  daß  die  größeren  oder  geringeren  Übereinstimmungen 
des  Baues,  die  in  der  Einordnung  der  Organismen  in  die  Gruppen 
der  Systeme  (Stämme,  Klassen,  Ordnungen,  Familien,  Gattungen, 
Arten)  zum  Ausdruck  kommen,  zugleich  der  Ausdruck  engerer  oder 
weiterer  Verwandtschaft  sind.  Daß  diese  Abstammungslehre  nicht 
zum  ersten  Male  von  Darwin  aufgestellt  worden  ist,  ist  genügend  be- 
kannt; ebenso  unbestritten  aber  ist,  daß  sie  erst  durch  Darwin 
zur  Verbreitung  und  Anerkennung  in  den  weitesten  Kreisen  der 


—     58     — 

Wissenschaft  gekommen  ist.  Keiner  der  Vorgänger  war  selbst  so 
durchdrungen  von  ihrer  Richtigkeit,  war  so  unablässig  für  sie  ein- 
getreten, hatte  sie  auf  so  breiter  und  so  fester  Tatsachenbasis  be- 
gründet, und  keiner  hatte  auch  mit  so  überzeugender  Kraft  die 
Frage  erörtert,  wodurch,  unter  dem  Einfluß  welcher  Faktoren  die 
Umwandlungen  vor  sich  gegangen  seien.  An  der  Beantwortung 
dieser  Frage  aber  hing  sehr  viel :  sie  mußte,  wollte  sie  annehmbar  er- 
scheinen, auch  einen  Weg  zeigen  zum  Verständnis  für  die  vielen 
oft  so  wunderbaren  Zweckmäßigkeiten  im  Bau  der  Lebewesen, 
für  die  Übereinstimmungen  zwischen  diesem  Bau  und  den  Lebens- 
gewohnheiten sowie  den  Lebensbedingungen  der  Organismen,  ohne 
auf  eine  zielbewußt  wirkende  Schöpferkraft  zurückzugreifen.  Wohl 
hatte  der  bedeutendste  Vorgänger  Darwins,  Jean  Lamarck, 
diese  Frage  erörtert,  aber  die  Antwort,  die  er  auf  sie  gegeben  hatte, 
konnte  unmöglich  genügen,  und  besaß  nicht  die  Kraft,  den 
Deszendenzgedanken  gegen  die  übermächtigen  widerstrebenden 
Zeitströmungen,  in  die  er  hineingeworfen  wurde,  durchzusetzen. 

Auch  die  Lehre  Lamarcks  setzt  sich  aus  mehreren  Elementen 
zusammen;  erst  das  Streben  nach  Bildung  kurzer  Schlagworte  hat 
in  unserer  Zeit  dem  ,, Lamarekismus"  eine  eng  begrenzte  Bedeutung 
gegeben.  Dem  herkömmlichen  Brauch,  der  die  Organismenwelt  in 
der  Richtung  von  oben  nach  unten,  vom  Höheren  zum  Niederen 
betrachtete,  setzte  Lamarck  die  Lehre  einer  von  unten  nach  oben 
führenden  Stufenfolge  gegenüber,  einer  fortschreitenden  Entwick- 
lung der  Organisation,  die  von  einer  unbekannten  Naturkraft 
angeregt,  eine  stufenweise  und  regelmäßig  fortschreitende  Ver- 
\ollkommnung  erstrebt,  aber  in  ihrer  Wirksamkeit  durch  die  äußeren 
Verhältnisse,  in  denen  die  Organismen  leben,  vielfach  beeinträchtigt 
wird,  so  daß  zahlreiche  Unregelmäßigkeiten  vorkommen.  Diese 
äußeren  Verhältnisse  (Klima,  Nahrung,  Lebensweise,  Aufenthalts- 
ort usw.),  die  sich  im  Laufe  der  Erdgeschichte  oftmals  verändert 
haben,  wirkten  umwandelnd  auf  die  Organismen  ein.  Der  um- 
gestaltende Einfluß  erfolgte  aber  bei  Tieren  nicht  unmittelbar, 
sondern  dadurch,  daß  die  letzteren  durch  die  veränderten  Lebens- 
bedingungen zu  neuen  Gewohnheiten  veranlaßt  wurden,  und 
daß  diese  neuen  gewohnheitsmäßigen  Tätigkeiten,  durch  Gene- 
rationen fortgesetzt  und  in  ihren  Wirkungen  gesteigert,  die  tierische 
Organisation   in  zweckentsprechender   Weise   veränderten.      Nicht 


—     59     — 

die  Gestalt  des  Körpers  und  seiner  Teile  haben  die  Gewohnheiten 
und  Lebensweise  der  Tiere  bestimmt,  sondern  umgekehrt:  Gewohn- 
heiten, Lebensweise  und  alle  anderen  einwirkenden  Verhältnisse 
haben  mit  der  Zeit  die  Gestalt  des  Körpers  und  der  Teile  der  Tiere 
herbeigeführt.  Diese  wichtigste  Seite  der  Lamarckschen  Lehre 
legt,  um  die  Entstehung  der  Zweckmäßigkeiten  zu  erklären,  die 
alltägliche  Erfahrung  zugrunde,  daß  der  Gebrauch  ein  Organ 
kräftigt,  der  Nichtgebrauch  es  allmählich  verkümmern  läßt,  und 
überträgt  diese  Erfahrung  auf  die  Vorgänge  bei  der  natürlichen 
iLnt Wicklung  des  Tierreiches.  Ein  mystisches  Prinzip  spielt  aber 
auch  hier  hinein:  die  neuen  Gewohnheiten  werden  von  den  Tieren 
angenommen  auf  Grund  eines  von  diesen  gefühlten,  durch  die  Ver- 
änderung der  Lebensbedingungen  ausgelösten  Bedürfnisses,  das 
sogar  imstande  ist,  an  dem  Tier  ,, unmerklich  durch  Anstrengungen 
seines  inneren  Gefühls"  neue  Organe  entstehen  zu  lassen.  Bei 
Pflanzen,  wo  keine  Tätigkeiten,  tmd  folglich  auch  keine  eigent- 
lichen Gewohnheiten  vorhanden  sind,  waren  es  die  Veränderungen 
in  der  Ernährung,  der  Menge  der  Wärme,  des  Lichtes,  der  Luft 
und  Feuchtigkeit,  durch  die  die  äußeren  Verhältnisse  unmittelbar 
umwandelnd  wirkten.  — 

Der  wichtigste  Bestandteil  dieser  Vorstellungen  ist,  daß  die 
zweckmäßigen  Anpassungen  der  tierischen  Organismen  auf  den  Ge- 
brauch und  den  Nichtgebrauch  der  Teile  zurückzuführen  sind, 
—  diese  Lehre  ist  es  auch,  die  heutzutage  gewöhnlich  allein  gemeint 
wird,  wenn  von  ,, Lamarekismus"  die  Rede  ist.  An  sich  ist  es  be- 
rechtigt, sie  mit  diesem  Namen  zu  belegen.  Nicht  ganz  so  zutreffend 
ist  es  dagegen,  wenn  auch  die  Lehre  von  dem  direkt  verändernden 
Einfluß  der  äußeren  Bedingungen  ( —  der  ,,  Um  weit",  des  ,,  Me- 
diums" — )  dem  Begriff  des  Lamarekismus  untergeordnet  wird. 
Nur  für  die  Pflanzen  hat  Lamarck  einen  solchen  direkten  Einfluß 
gelten  lassen,  während  er  seine  Annahme  für  die  Tiere  ausdrücklich 
als  Irrtum  ablehnt  und  hier  nur  die  mittelbare  Wirkung  der  Lebens- 
bedingungen auf  dem  Umwege  neu  erzwungener  Gewohnheiten 
gelten  läßt.  Die  Auffassung,  daß  auch  die  tierischen  Organismen 
durch  die  äußeren  Verhältnisse  direkt  umgewandelt  werden,  wäre 
vielleicht  richtiger  mit  dem  Namen  von  Lamarcks  Landsmann 
Etienne  Geoffroy-St.  Hilaire  zu  verbinden,  des  einstigen 
Freundes  und  späteren  Gegners  Cuviers,  in  Deutschland  vor  allem 


—     6o     — 

bekannt   durch   die   Anteilnahme    Goethes   an   seinem    Streit   mit 
Cuvier  in  der  französischen  Akademie,  am  19.  JuH  1830.  — 

Die  Anschauungen  Lamarcks  und  Geoffroys  setzen  die 
Erbhchkeit  der  Wirkungen  der  Mediumeinflüsse  wie  derer  des  Ge- 
brauches und  des  Nichtgebrauches  voraus.  Auch  Darwin  ver- 
warf, als  er  die  Abstammungslehre,  aber  unter  Verzicht  auf  alle 
metaphysischen,  mystischen  Prinzipien,  aufs  neue  begründete,  jene 
Auffassungen  nicht  völlig,  sondern  schrieb  der  direkten  Einwirkung 
der  Lebensbedingungen  wie  dem  Gebrauch  und  dem  Nichtgebrauch 
einen  Einfluß  bei  der  Umwandlung  der  Formen  zu.  Der  Notwendig- 
keit, die  Erblichkeit  jener  Veränderungen  vorauszusetzen,  war  er 
sich  dabei  durchaus  bewußt;  er  prüfte  die  Frage  und  kam  dazu,  sie 
zu  bejahen.  Aber  viel  größere  Bedeutung  besitzt  für  ihn  doch  das 
andere  Prinzip,  das  er  selbst,  gleichzeitig  mit  seinem  Landsmann 
Wallace,  aufstellte:  das  Prinzip  von  der  natürlichen  Auslese, 
dem  er  später  noch  das  der  geschlechtlichen  Auslese  ergänzend 
hinzufügte.  Die  individuellen  Abweichungen,  die  sich  unter  den 
Angehörigen  einer  Art,  auch  bei  den  Nachkommen  eines  Eltern - 
paares,  stets  bemerkbar  machen,  bilden  den  Ausgang  für  die 
Darwin -Wallace  sehe  Zuchtwahllehre,  deren  Gedankengang  im 
übrigen  genügend  bekannt  ist.  Jene  individuellen  Abweichungen, 
deren  Erblichkeit  seit  langen  Zeiten  vom  Menschen  zu  künstlichen 
Züchtungsversuchen  mit  Pflanzen  und  Tieren  benutzt  worden  ist, 
werden  bei  dem  Wettbewerb,  den  das  Einzelindividuum  mit  seines- 
gleichen und  mit  anderen  Formen  um  die  notwendigsten  Lebens- 
bedingungen zu  bestehen  hat,  von  sehr  verschiedenem  Werte  sein. 
Die  LTnerbittlichkeit  dieses  Wettbewerbes,  des  ,,  Kampf  es  ums 
Dasein",  wird  die  schlechter  ausgerüsteten  früher  zugrunde  gehen 
lassen,  die  besser  ausgerüsteten  länger  erhalten.  Diese  haben  daher 
die  größere  Aussicht,  ihre  begünstigenden  Eigenschaften  fortzu- 
erben. So  erfolgt  durch  die  Natur  selbst  eine  Auslese  der  am  meisten 
begünstigten  Individuen,  d.  h.  derer,  die  den  gegebenen  Lebens- 
verhältnissen am  meisten  genügen,  ihnen  am  besten  angepaßt  sind, 
und  wenn  sich  dies  Generationen  hindurch  fortsetzt,  so  wird  all- 
mählich eine  Umwandlung  in  der  Richtung  der  begünstigenden 
Abänderung,  in  der  Richtung  der  Nützlichkeit,  erfolgen.  Diese 
Richtung  ist  nicht  durch  innere  Entwicklungstendenzen  der  Or- 
ganismen bestimmt ;  die  Variationen  an  sich  sind  regel-  und  richtungs- 


—     6i      — 

los,  erst  die  Zufälligkeiten  der  äußeren  Lebensbedingungen  wählen 
die  zweckmäßigsten  von  ihnen  aus,  und  die  Umwandlung  der  Formen 
erfolgt  somit,  im  Laufe  ungeheuer  langer  Zeiträume,  in  allmäh- 
licher Anpassung  an  die  Lebensbedingungen.  So  gelangen  wir  zu 
einem  Verständnis  der  Zweckmäßigkeiten,  ohne  Annahme  des 
Lamarckschen  Anpassungsprinzipes,  aber  auch  ohne  Annahme 
einer  zweckbewußt  wirkenden  Kraft  oder  irgend  eines  unbegreif- 
lichen vitalistischen  Prinzipes. 

Die  Darwin-Wallacesche  Selektionstheorie  ist  eine  Nütz- 
lichkeitstheorie. Nur  das  hat  nach  ihr  Aussicht  auf  Dauer  und 
Bestand,  was  nützlich  ist.  Aufgestellt,  um  die  Zweckmäßigkeiten  der 
Organismen  zu  erklären,  führt  sie  somit  zugleich  dazu,  in  allen  Ein- 
richtungen der  Organismen  Zweckmäßigkeiten  a  priori  zu 
erwarten,  alle  Einrichtungen  unter  dem  Gesichtswinkel  der  Frage 
nach  ihrer  Nützlichkeit  zu  betrachten.  Auch  als  Zufallstheorie 
ist  sie  bezeichnet  worden,  da  es  zufällige,  richtungs-  und  regellose 
Varietäten  sind,  an  die  nach  Darwin  die  Umbildung  der  Formen 
anknüpft. 

Es  erhellt  aus  dem  Gesagten  aber  auch,  daß  eine  gegebene 
Art,  unter  verschiedene  äußere  Bedingungen  geratend,  auch  ganz 
verschiedene  Entwicklungswege  einschlagen,  und  daß  somit  von 
einer  und  derselben  Stammform  unter  divergenter  Entwicklung 
eine  ganze  Anzahl  sehr  verschiedener  anderer  ausgehen  muß.  Daraus 
aber  ergibt  sich  weiter,  daß  die  Entwicklung  des  Organismenreiches 
nicht  nur  nicht  nach  einem  bestimmten  feststehenden  Plane,  sondern 
auch  nicht  etwa  in  einer  geradlinigen  Aufwärtsbewegung  statt- 
gefunden hat,  vielmehr  in  einer  Weise,  die  viel  eher  eine  Versöhnung 
des  Deszendenzgedankens  mit  der  alten  gruppenbildenden  Typen- 
theorie Cuviers  und  Baers  gestattete.  Denn  auch  Darwins  Auf- 
fassung ließ  die  Organismen  in  Gruppen  beieinander  und  begründete 
nur  diese  Gruppen  durch  den  engeren  genetischen  Zusammenhang 
ihrer  Angehörigen,  —  und  das  schwächte  die  Widerstände,  die  dem 
Abstammungsgedanken  aus  den  herrschenden  Vorstellungen  er- 
wachsen mußten,  und  begünstigte  seinen  Erfolg. 

Endlich  aber  ist  noch  ein  philosophischer  Gedanke,  der  in 
der  Zuchtwahllehre  liegt,  hervorzuheben:  das  Zurücktreten  der  Be- 
deutung des  Individuums  gegenüber  der  der  Art.  Tausende  von 
Individuen  müssen  erzeugt  werden,   um  das  nötige  auslesefähige 


—        62        — 

Material  von  Varietäten  zu  schaffen,  der  Zuchtwahl  ,, anzubieten", 
Tausende  von  ihnen  müssen  bald  wieder  zugrunde  gehen,  weil  sie 
,, mangelhaft  angepaßt"  sind,  —  sie  werden  von  dei'  Zuchtwahl 
verworfen  zugunsten  der  besser  angepaßten,  deren  Erhaltung  von 
weitaus  größerer  Wichtigkeit  für  die  Art  ist.  — 

Eine  Ergänzung  erfuhr,  wie  gesagt,  das  Prinzip  der  natür- 
lichen Auslese  durch  das  von  der  geschlechtlichen  Auslese, 
in  dem  statt  des  ,,  Kampf  es  ums  Dasein"  der  Wettbewerb  um  das 
andere  Geschlecht  ( —  meist  der  Männchen  um  die  Weibchen  — ) 
den  auslesenden  Faktor  darstellt,  und  das  von  Darwin  zur  Erklärung 
gewisser  Merkmale,  die  nur  dem  einen  Geschlecht  zukommen  (ins- 
besondere Waffen  und  Schmuckbildungen),  verwendet  wird. 

Darwins  Lehre  enthielt  in  sich  ein  unermeßliches  Arbeits- 
programm, das  auch  bis  heute  noch  lange  nicht  erschöpft  ist.  Sie 
betrachtete  die  Organismenwelt  historisch,  ihren  geschichtlichen 
Werdegang  aber  bedingt  nicht  durch  einen  vorausbestimmten 
Plan,  sondern  durch  immer  aufs  neue  wirkende  biologische  Fak- 
toren. Je  nach  Anlage  und  Schulung  haben  die  Forscher  der  folgen- 
den Jahrzehnte  mehr  die  eine  oder  die  andere  Seite  gepflegt.  Daß 
es  dabei  die  historische  Betrachtungsweise  war,  die  zunächst 
und  für  längere  Zeit  in  den  Vordergrund  trat,  ist  wenigstens  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  verständlich.  Von  dem  Abstammungs- 
gedanken ging  nicht  nur  der  Reiz  der  Neuheit  aus,  er  eröffnete  im 
Augenblick  auch  das  ergiebigste  Arbeitsgebiet,  indem  er  zu  seiner 
praktischen  Verwertung  im  einzelnen  aufforderte,  zu  der  Betrach- 
tung der  vergleichend-anatomischen  und  embryologischen  Tat- 
sachen im  Lichte  der  Deszendenzlehre  und  damit  zu  der  Ermittelung 
verwandtschaftlicher  Zusammenhänge  zwischen  den  Organismen  auf 
Grund  ihrer  Organisation.  Die  große  Aufgabe  fand  die  geeigneten 
Kräfte  bereit:  in  Huxley,  Haeckel,  vor  allem  Gegenbaur  er- 
standen die  führenden  Forscher,  die,  mit  den  ausgedehntesten  ver- 
gleichend-anatomischen und  embryologischen  Kenntnissen  ausge- 
rüstet, die  neue  Betrachtungsweise  begeistert  aufgriffen,  sie  mit 
den  Vorstellungen  der  alten,  auf  die  Idee  des  Typus  gegründeten 
Morphologie  verbanden  und  so  die  Wissenschaft  der  modernen 
historischen  Morphologie  schufen.  Demgegenüber  waren  die  bio- 
logischen Faktoren,  mit  denen  der  Darwinismus  rechnete,  nicht 
so  leicht  angreifbar.    Die  mikroskopische  Forschung  war  noch  nicht 


-     63     - 

so  weit,  um  in  den  Fragen  der  Variabilität  und  Vererbung  erfolg- 
reich mitsprechi'n  zu  können,  und  was  Experimente  und  sonstiges 
empirisches  Beobachtungsmaterial  anlangt,  so  hatte  Darwin  davon 
eine  so  große  Menge  zusammengebracht,  daß  man  sich  vorerst 
wohl  einmal  damit  begnügen  konnte.  Begnügen  vollends  auch 
in  bezug  auf  die  Lehre  von  der  Zuchtwahl,  die  so  wie  so  nicht  un- 
mittelbar mit  Tatsachen  zu  beweisen,  sondern  nur  eine  Annahme 
war,  eine  Annahme  allerdings,  die  sich  auf  die  Vorgänge  bei  der 
künstlichen  Züchtung  berufen  konnte,  und  die  in  sich  selbst  eine 
sieghaft  überzeugende  Kraft  barg.  Immerhin  kann  es  aber  doch 
auffallen,  daß  der  Selektionsgedanke,  der  notwendig  dazu  führen 
mußte,  alle  Einrichtungen  der  Organismen  als  zweckmäßige  An- 
passungen aufzufassen,  nicht  eine  kräftigere  Betätigung  der  physio- 
logischen Betrachtungsweise  auf  vergleichend-anatomischem  Ge- 
biete entfacht  hat,  und  daß  die  funktionelle  Behandlung  der  ver- 
gleichenden Anatomie  so  ganz  hinter  der  historischen  verschwand, 
trotzdem  doch  in  Bergmanns  und  Leuckarts  ,, anatomisch- 
physiologischer Übersicht  des  Tierreichs"  bereits  ein  genialer  grund- 
legender Versuch  vorlag,  eine  physiologische  Analyse  des  tierischen 
Baues  konsequenter  und  durchgreifender  als  es  früher  geschehen 
war,  zu  geben,  —  eine  Grundlage,  auf  der  schon  damals  hätte  weiter- 
gebaut werden  können,  deren  Absicht,  eine  vergleichende  Physio- 
logie schaffen  zu  helfen,  aber  erst  in  der  neueren  Zeit  eifrige  und 
erfolgreiche  Vertreter  gefunden  hat.  Mögen  die  Gründe  für  die 
berührte  Erscheinung  sein,  welche  sie  wollen,  —  jedenfalls  trat  die 
biologische  Seite  des  Darwinismus  anfangs  sehr  zurück.  Zu 
denen,  die  gerade  ihr  wieder  Geltung  und  Beachtung  verschafft 
haben,  gehört  als  einer  der  ersten  und  erfolgreichsten  Weismann, 
der  Freund  Rudolf  Leuckarts.  Aber  wenn  Weismann  auch 
keine  Stammbäume  aufgestellt  oder  morphologische  Homologie- 
fragen erörtert  hat,  so  hat  er  sich  doch  in  allen  seinen  biologischen 
Betrachtungen  als  historisch  denkenden  Naturforscher  gezeigt;  aus 
der  Deszendenztheorie  nahm  er  nicht  nur  die  Probleme,  sondern  auch 
die  Methode  des  Vorgehens:  auf  die  biologischen  Probleme,  die  er 
in  Angriff  nahm,  wandte  er  die  historische  Betrachtungsweise  an. 
Ausgehend  von  den  ersten  Stufen  der  biologischen  Erscheinungen 
bei  den  niedersten  Formen  suchte  er  die  Verhältnisse  bei  den  höheren 
zu  verstehen.  So  hat  er  die  Erscheinungen  des  Todes,  der  Vererbung, 


-      64     - 

der  Befruchtung,  die  Verschiedenheiten  in  der  Entstehung  der 
Geschlechtszellen  bei  den  Hydromedusen  wie  die  Besonderheiten 
der  Fortpflanzungserscheinungen  bei  den  Daphnoiden  nicht  nur 
in  ihrer  biologischen  Bedeutung,  sondern  auch  in  ihrer  historischen 
Entwicklung  zu  fassen  und  zu  verstehen  gesucht  und  hat,  im  Gegen- 
satz zu  Darwin,  imnier  wieder  betont,  daß  die  Umwandlung  der 
Formen  nicht  richtungs-  und  regellos  erfolgt,  sondern  in  bestimmten 
Richtungen,  die  dadurch  gegeben  sind,  daß  alle  Formen  eine  be- 
stimmte Geschichte  hinter  sich  und  damit  eine  ganz  spezifische, 
nur  bestimmter  Abänderungen  fähige  Konstitution  erworben  haben. 
Ja,  auch  seine  oft  als  viel  zu  weit  gehend  verurteilte  und  dabei 
doch  durchaus  Darwinistische  Auffassung,  daß  die  Organismen  in 
erster  Linie  imd  zum  weitaus  größten  Betrage  Anpassungs- 
komplexe sind,  ist  ein  Ausfluß  nicht  nur  seines  biologischen,  son- 
dern auch  seines  historischen  Sinnes:  sie  nimmt  nicht  nur  das  als 
Anpassung,  was  uns  jetzt  als  solche  leicht  erkennbar  in  die  Augen 
springt,  sondern  rechnet  mit  Anpassungen  von  gestern  und  von  der 
Urzeit  her,  die  in  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  ims  nicht  immer 
mehr  erkennbar  sind.  Und  wie  die  Abstammungslehre  ihn  zur  Be- 
schäftigung mit  allgemeinen  Fragen  geführt  und  ihm  die  Einzel- 
probleme vorgezeichnet  hat,  so  behandelte  er  diese  alle  auch  im 
Hinblick  auf  sie  und  kehrte  immer  wieder  zu  ihr  zurück.  Das  letzte 
große  Werk,  in  dem  er  die  Früchte  seiner  Lebensarbeit  zusammen- 
gefaßt hat,  trägt  den  Titel:  Vorträge  zur  Deszendenztheorie. 

Erste    Stellung-nahme   Weismanns   zur   Darwinschen 
Theorie:  die  Antrittsrede  von  1868.     Arbeitsprog-ramm. 

Zum  ersten  Male  trat  Weismann  für  die  Deszendenztheorie, 
und  zwar  in  der  besonderen  Form  der  Darwinschen  Theorie,  ein 
in  seiner  Antrittsrede  von  1868:  ,,Über  die  Berechtigung  der  Dar- 
winschen Theorie."  Sie  bietet  dem  Leser  von  heute  naturgemäß 
nichts  Neues,  für  die  damalige  Zeit  ist  aber  vieles  in  ihr  sehr  be- 
achtenswert. Scharf  trennt  hier  Weismann  die  Transmutations- 
hypothese an  sich  von  dem  durch  Darwin  gegebenen  Erklärungs- 
versuch, zeigt  die  Überlegenheit  der  ersteren  gegenüber  der  alten 
Schöpfungsgeschichte  und  zugleich  die  Leistungsfähigkeit  der  von 
Darwin  aufgestellten  Prinzipien  vom  Kampfe  ums  Dasein  und 
von  der  natürlichen  Züchtung,  erörtert  die  Vererbimg  als  die  Mit- 


-     65      - 

teilung  einer  ganz  bestimmten  Entwicklungsrichtung  und  die 
Variabilität  als  Folge  der  Einwirkung  verschiedener  äußerer  Ein- 
flüsse auf  die  durch  Vererbung  übertragene  Entwicklungsrichtimg, 
als  Resultate  aus  der  ererbten  Entwicklungsrichtung  und  den 
äußeren  Einflüssen.  Die  letzten  Triebfedern  der  Artbildung  müssen 
in  der  Erblichkeit  und  in  den  äußeren  Einflüssen  gesehen  werden, 
wobei  letztere  in  zweifachem  Sinn  wirken,  „einmal  als  eine  die 
Vererbung  modifizierende,  individuelle  Eigentümlichkeiten  hervor- 
bringende Kraft,  und  dann  gewissermaßen  als  Regulator  der  ent- 
standenen Variationen,  als  natürliche  Züchtung".  Damit  sind 
schon  die  Hauptfragen  berührt,  die  Weismann  dann  im  Laufe 
seines  weiteren  Lebens  immer  wieder  verfolgt  hat,  und  ebenso 
findet  sich  schon  hier  eine  bestimmte  Stellungnahme  gegen  die 
hauptsächlich  durch  Naegeli  vertretene  Annahme  einer  den  Or- 
ganismen innewohnenden  Kraft,  die  von  Zeit  zu  Zeit  die  Abänderung 
einer  Art  und  ihre  Umwandlung  in  eine  neue  mit  Notwendigkeit 
bewirkte.  Dem  Vervollkommnungsprinzip  Naegelis  stellt  er  das 
Nützlichkeitsprinzip  Darwins  gegenüber.  Andererseits  aber  weist 
er  auch  bereits  darauf  hin,  daß  in  der  spezifischen  Natur  der  Or- 
ganismen und  in  der  Harmonie,  die  zwischen  ihren  Teilen  herrscht, 
Grenzen  für  die  Leistungsfähigkeit  des  letzteren  Prinzipes  gegeben 
sind.  Jeder  Organismus  besitzt  bestimmte  nach  Zahl  und  Qualität 
feststehende  Eigenschaften,  nicht  aber  alle  erdenkbaren  Eigen- 
schaften zu  gleicher  Zeit,  und  daraus  folgt,  daß  auch  seine  Fälligkeit 
abzuändern  begrenzt  ist:  er  kann  nicht  alle  denkbaren  Abände- 
rungen hervorbringen,  sondern  nur  bestimmte,  wenn  auch  noch  so 
zahlreiche.  Wörtlich  heißt  es:  ,,Es  beruht  auf  einseitiger  Über- 
treibung der  Darwinschen  Lehre,  wenn  oft  behauptet  wird,  die 
Organismen  könnten  nach  allen  möglichen  Richtungen  hin 
variieren.  Freilich  nach  allen  möglichen,  aber  auch  nur  nach 
den  möglichen,  womit  zugestanden  wird,  daß  es  auch  unmögliche 
gibt!"  Und  ferner  gibt  Weismann  schon  hier  eine  Erklärung  für 
das  Vorhandensein  und  die  Konstanz  rein  morphologischer,  physio- 
logisch wertloser  Charaktere,  denen  gegenüber  das  Zuchtwahl- 
prinzip versagt  (Blattstellung  der  Pflanzen,  Zahl  und  Stellung  der 
Schilder  auf  dem  Kopfe  der  Schlangen  u.  a.).  Er  findet  sie  in  der 
den  Züchtern  schon  lange  bekannten  und  auch  von  Darwin  ge- 
würdigten Korrelation  der  Teile.      ,, Individuelle  Abweichtmgen 

Gaupp,  Biographie  Weismanns.  5 


—     66     — 

entstehen  durch  Einwirkung  äußerer  Verhältnisse  auf  die  ererbte 
Entwicklungsrichtung,  sie  sind  nicht  zufällig,  sondern  müssen  so 
oder  so  ausfallen,  je  nach  der  Qualität  der  äußeren  Einflüsse  und 
der  Natur  des  Individuums.  Es  können  nun  sehr  wohl  dieselben 
Einflüsse  zugleich  nützliche,  physiologisch  wichtige  und  physio- 
logisch indifferente,  rein  morphologische  Abweichungen  derart  her- 
vorrufen, daß  die  einen  nicht  ohne  die  anderen  entstehen  können, 
daß  beide  zugleich  die  Reaktion  des  Organismus  auf  den  bestimmten 
äußeren  Einfluß  sind;  beide  Abänderungen  werden  dann  erhalten 
werden  und  beide,  da  sie  innerlich  verbunden,  die  gleiche  Konstanz 
erlangen  müssen."  ,,Es  ist  das  die  »Korrelation  der  Teile',  welche 
es  mit  sich  bringt,  daß  kein  Teil  eines  Organismus  verändert  werden 
kann,  ohne  daß  zugleich  Veränderungen  in  anderen  Teilen  ein- 
treten." So  begreifen  wir  auch  die  Schöpfung  als  eine  Notwendigkeit 
und  nicht  als  einen  bloßen  Zufall,  wie  sie  vom  Standpunkt  des  reinen 
Nützlichkeitsprinzips  erscheinen  muß.  Die  Natur  tappt  nicht 
richtimgslos  herum  nach  neuen  Lebensformen,  sondern  Zahl  und 
Art  der  möglichen  Variationen  sind  durch  die  Eigentümlichkeit 
einer  jeden  Art  fest  bestimmt,  und  die  Arten  sind  die  Restdtanten 
aus  der  natürlichen  Züchtung  und  der  Variationsqualität  ihrer 
Stammeltern.  Die  gesamte  organische  Welt  hätte  eine  sehr  andere 
werden  müssen,  wenn  die  äußeren  Einflüsse  andere  gewesen  wären; 
die  Zahl  der  möglichen  Schöpfungen  lebender  Wesen  ist  überaus 
groß,  unter  den  einmal  gegebenen  Verhältnissen  aber  konnten  nur 
gerade  diejenige  entstehen,  welche  wirklich  entstanden. 

So  zeigt  schon  diese  erste  Äußerung  zur  Darwinschen  Theorie, 
daß  Weismann  sich  nicht  damit  begnügen  mochte,  nur  für  die 
Lehren  eines  anderen  Stimmung  zu  machen,  sondern  bestrebt  war, 
dieselben  kritisch  zu  prüfen  tmd  zu  vertiefen.  In  diesem  Sinne  ist 
er  auch  weiterhin  tätig  gewesen,  und  jene  Rede  bildet  dabei  gewisser- 
maßen den  ersten  Entwurf  eines  Arbeitsprogramms  und  zugleich 
eine  erste  Stellungnahme  zu  den  in  Betracht  kommenden  Problemen. 
Deren  einem  gegenüber  ist  diese  Stellungnahme  auch  in  der 
Folgezeit  unverändert  geblieben:  gegenüber  der  Abstammungslehre 
überhaupt.  Daß  diese,  die  Vorstellung  einer  Entwicklung  der 
Organismen  weit,  die  einzige  wissenschaftlich  mögliche  Hypothese 
über  die  Entstehung  der  organischen  Welt  ist,  —  an  dieser  Über- 
zeugung  ist   Weismann   keinen   Augenblick   wankend   geworden. 


-     67     - 

Aber  von  diesem  festen  Boden  aus,  das  erkannte  er  bald,  führt  die 
Frage  nach  dem  ,,Wie?"  der  Entwicklung  in  unbekanntes  Gebiet, 
auf  dem  der  Widerstreit  der  Meinungen  Berechtigung  hat.  Vier 
Faktoren  hatte  Darwin  auf  diese  Frage  nach  dem  ,,Wie"  der  Art- 
bildung namhaft  gemacht,  und  mit  ihnen  hatte  sich  die  Antritts- 
rede des  jungen  Zoologie-Professors  beschäftigt:  die  Variabilität, 
die  Vererbung,  die  Zuchtwahl  —  in  der  Form  der  natürlichen 
und  der  sexuellen  Auslese  — ,  und  die  Korrelation.  Aber  diese 
Kräfte,  ihre  Wirkungsweise  und  ihre  Leistungsfähigkeit,  bedurften 
denn  doch  noch  einer  besonderen  Prüfung.  Die  empirisch  fest- 
gestellte Tatsache  der  Variabilität  erforderte  die  Ermittelung 
der  Gründe  der  Erscheinung  und  damit  eine  genauere  Untersuchung 
des  unmittelbar  umwandelnden  Einflusses,  den  die  äußeren  Ver- 
hältnisse auf  die  Organismen  ausüben;  das  Problem  der  Vererbung 
verlangte  erst  einmal  eine  Klärung  darüber,  was  denn  eigentlich 
vererbt  wird,  und  dann  die  Erörterung  des  ,,Wie",  d.  h.  der  Er- 
scheinungen, an  die  sie  geknüpft  ist:  der  Fortpflanzung  und,  dazu 
gehörig,  der  Bildimg  der  Keimzellen  sowie  der  Befruchtung,  in 
ihrer  allgemeinen  Bedeutung  wie  in  ihrem  materiellen  Ablauf; 
das  Prinzip  der  Zuchtwahl,  in  den  beiden  Formen,  in  denen 
Darwin  es  aufgestellt,  erforderte  eine  eingehende  Beleuchtung  von 
allen  Seiten,  um  so  mehr,  als  es  seiner  Natur  nach  einer  unmittel- 
baren Beobachtung  entrückt  schien;  die  Tatsache  der  Korrelation 
endlich  führte  naturgemäß  zu  einer  allgemeineren  Erörterung  der 
in  den  Organismen  selbst  gelegenen  Bildungskräfte  und  zu  der 
Frage,  wie  weit  solche  Kräfte  neben  oder  gar  an  Stelle  der  Selektion 
für  die  Entfaltung  des  Organismenreiches  und  die  Mannigfaltigkeit 
seiner  Formen  in  der  Jetztzeit  verantwortlich  gemacht  werden 
müßten. 

So  war  es  eine  ungeheure  Aufgabe,  an  die  Weismann  heran- 
ging, und  die  Kühnheit  ist  bewunderungswürdig,  mit  der  er  sie  in 
Angriff  nahm.  Bewunderungswürdig  aber  auch  die  Ausdauer  und 
geistige  Kraft,  mit  der  er  sie  verfolgte.  Manche  der  früheren  An- 
schauungen mußten  dabei  aufgegeben,  manche  neu  aufgestellten 
im  Laufe  der  Zeit  auch  wieder  verlassen  und  verändert  werden, 
aber  schließlich  gestaltete  sich  ihm  doch  eine  Theorie,  die  alle  jene 
großen  und  vielgestaltigen  Probleme  unter  einheitlicher  Betrachtimg 
vereinigte,    ihre    gegenseitigen    Beziehungen    feststellte,    in    ihrem 


—      68     — 

Lichte  eine  Deutimg  der  feineren  sichtbaren  Vorgänge  der  Ent- 
wicklung versuchte  und  schließlich  die  Möglichkeit  zeigte,  alle 
organische  Gestaltung  auf  ein  großes  Bildungsprinzip,  das  des 
Kampfes  unter  allen  Lebenseinheiten,  zurückzuführen. 

In  den  siebziger  Jahren  finden  wir  Weis  mann  mit  Beob- 
achtungen und  Experimenten  über  deszendenztheoretische  Fragen 
beschäftigt,  die  im  vorigen  Abschnitt  besprochen  wurden.  Sie 
ließen,  wie  dort  gezeigt  wurde,  allmählich  neue  eigene  Auffassungen 
in  ihm  entstehen  und  bereiten  so  die  Epoche  der  rein  theoretischen 
Schriften  vor,  die  mit  dem,  am  21.  September  1881  auf  der  Natur- 
forscherversammlung in  Salzburg  gehaltenen  Vortrag  über  die 
Dauer  des  Lebens  ihren  Anfang  nahm. 

Dauer  des  Lebens.     Herkunft  des  Todes. 

Das  erste  Einzelproblem,  das  von  Weismann  besonders 
durchgearbeitet  wurde,  betrifft  Fragen,  die  auch  für  den  Menschen 
von  größter  Bedeutung  sind:  die  Dauer  des  Lebens  und  die 
Herkunft  des  Todes.  In  Gedankengängen,  die  mit  seinem 
Namen  stets  eng  verknüpft  bleiben  werden,  zeigte  Weismann 
in  einer  Reihe  von  Schriften  während  der  Jahre  1881 — 1885,  wie 
diese  Erscheinungen,  deren  bisher  allein  gebräuchliche  rein  physio- 
logische Betrachtung  manches  unklar  ließ,  im  Lichte  historischer 
Betrachtungsweise  ein  neues  Ansehen  gewinnen  und  in  ihrer  Zweck- 
mäßigkeit begreifbar  werden.  Die  Verschiedenheiten  zunächst  der 
Länge  der  Lebensdauer  bei  den  einzelnen  Tieren  können  nicht  aus 
Verhältnissen  wie  der  Körpergröße  oder  dem  Tempo  des  Stoff- 
wechsels imd  der  Lebensprozesse,  womit  man  sie  meist  in  Zusammen- 
hang gebracht  hatte,  verstanden  werden.  Wenn  auch  eine  beträcht- 
liche Größe  eines  Tieres  im  allgemeinen  eine  längere  Lebensdauer 
nötig  macht,  weil  zu  ihrer  Herstellung  mehr  Zeit  nötig  ist,  so  lehren 
doch  viele  Beispiele,  daß  hier  keine  stets  gültige  Gesetzmäßigkeit 
vorliegt.  So  erreichen  Hechte  und  Karpfen  imter  Umständen  das- 
selbe Alter  (200  Jahre)  wie  der  Elefant;  Schwein  und  Flußkrebs 
werden  etwa  20  Jahre  alt,  die  nur  faustgroße  Seeanemone  etwa 
50  Jahre.  Und  was  das  Tempo  der  Lebensprozesse  anlangt,  so 
weisen  gerade  die  schnell  lebenden  Vögel  eine  relativ  sehr  lange 
Lebensdauer  auf  und  übertreffen  darin  die  trägen  Amphibien  gleicher 
Körpergröße.      Es  müssen  somit  wohl  andere   Gesichtspunkte   als 


-     69     - 

maßgebend  für  die  Lebensdauer  in  Frage  kommen.  Worin  aber 
liegen  dieselben  ?  In  dem  Interesse  der  Art.  Dieses  allein  kommt 
bei  der  Regulierung  der  Lebensdauer  in  Betracht,  nicht  das  des 
Individuums.  Nicht  darauf  kommt  es  an,  ob  das  Individuum 
länger  oder  kürzer  sich  der  süßen  Gewohnheit  des  Daseins  erfreut, 
sondern  darauf,  daß  es  für  die  Art  das  zu  leisten  vermag,  was  für 
deren  Erhaltung  das  wichtigste  ist:  die  Hervorbringung  neuer  In- 
dividuen, die  einen  genügenden  Ersatz  darstellen  für  die  durch 
Tod  abgehenden.  Hat  es  diese  Aufgabe  erfüllt,  so  hat  es  bei  sehr 
vielen  Formen  überhaupt  seiner  Pflicht  genügt  und  kann  ,,zur 
Ruhe  gehen",  und  nur  in  den  Fällen,  wo  die  Eltern  Brutpflege  aus- 
üben, die  Kinder  beschützen,  ernähren  und  unterrichten,  behält 
ihr  Leben  auch  für  die  Art  noch  längeren  Wert.  Dem  entspricht 
es,  daß  alle  Vögel  und  Säugetiere  die  Fortpflanzungszeit  über- 
leben, während  die  meisten  Insekten  sehr  bald  nach  derselben 
zugrunde  gehen.  Damit  ist  der  große  allgemeine  Gesichtspunkt 
festgelegt,  nach  dem  den  verschiedenen  Formen  die  Lebensdauer 
zuzumessen  ist.  Wie  groß  aber  dieses  Maß  für  die  einzelnen  aus- 
fallen wird,  das  hängt  von  mancherlei  verschiedenen  Dingen  ab, 
hauptsächlich  von  der  Fruchtbarkeit  der  Art  und  von  der  Menge 
der  Schädigungen,  denen  die  Brut  und  die  erwachsenen  Formen  aus- 
gesetzt sind.  So  schloß  bei  den  Vögeln  die  Rücksicht  auf  die  Leichtig- 
keit des  Fluges  große  Fruchtbarkeit  aus  —  tatsächlich  brüten  die 
meisten  Vögel  nur  einmal  im  Jahre  und  viele  legen  jährlich  nur 
ein  Ei  — ,  dazu  kommen  die  ganz  besonders  großen  Gefahren, 
denen  die  Eier  und  die  Jungen  ausgesetzt  sind,  und  für  beides  findet 
sich  eine  notwendige  Kompensation  in  der  durchschnittlichen 
langen  Lebensdauer,  die  die  Vögel  besitzen,  und  die  sich  bei  manchen 
Formen  (Raubvögeln)  auf  loo  und  mehr  Jahre  steigern  kann. 
Im  Gegensatz  dazu  besitzen  die  kleinen  Säuger  eine  viel  größere 
Fruchtbarkeit,  ihre  Jungen  sind  außerdem  durch  die  intrauterine 
Entwicklung  gegen  Schädigungen  viel  besser  geschützt  als  die  Brut 
der  Vögel,  und  so  konnte  ihre  Lebensdauer  kürzer  festgesetzt  werden. 
In  gleicher  Weise  läßt  sich  auch  für  die  Insekten  die  Länge  der 
Lebensdauer  als  Anpassung  an  die  äußeren  Lebensbedingungen 
verstehen.  Bei  ihnen  spielt  noch  eine  besondere  Rolle  die  Menge  der 
Schädigungen,  denen  die  ausgebildeten  Tiere  ausgesetzt  sind:  ins- 
besondere die  Vernichtung  durch  so  viele  andere  Tiere,  die  geradezu 


—     70     — 

auf  die  Insekten  als  Nahrung  angewiesen  sind.  Das  Interesse  der 
Art  verlangte  unter  diesen  Umständen  eine  möglichste  Verkürzung 
des  Lebens  durch  möglichste  Beschleunigung  der  Fortpflanzung, 
da  mit  der  Länge  des  Lebens  natürlich  die  Gefahr  einer  Zerstörung 
durch  solche  Zufälligkeiten  größer  werden  muß.  So  erklärt  sich 
die  bei  den  Insekten  gewöhnliche  Kombination:  sehr  große  Frucht- 
barkeit bei  sehr  kurzem  Imagoleben,  das  gleich  nach  der  kurzen 
Fortpflanzungsperiode  sein  Ende  erreicht.  Das  äußerste  in  dieser 
Hinsicht  leisten  einige  Arten  von  Eintagsfliegen,  die  bald  nach  dem 
Ausschlüpfen  aus  der  Puppenhülle  sich  in  die  Luft  erheben,  sich 
fortpflanzen,  sich  dann  aufs  Wasser  niederlassen,  sämtliche  Eier 
auf  einmal  ausstoßen  und  nun  ihr  Imagoleben,  das  etwa  4 — 5  Stunden 
gedauert  hat,  beschließen. 

So  lassen  sich  aus  dem  Gesichtspunkte  des  Nutzens  für  die 
Art  die  Verschiedenheiten  in  der  Länge  der  Lebensdauer  als  An- 
passtmgen  an  die  äußeren  Lebensbedingungen  erklären;  der  Me- 
chanismus, durch  den  diese  Anpassungen  erfolgten,  wird  auch  hier 
in  Selektionsprozessen  zu  suchen  sein. 

Warum  aber  müssen  überhaupt  die  Organismen  sterben,  was 
bedingt  ihren  Tod,  d.  h.  natürlich  ihren  normalen  physiologischen 
Tod,  dem  früher  oder  später  jedes  Geschöpf  —  wie  es  wenigstens 
nach  der  alltäglichen  Erfahrung  scheint  —  anheimfällt,  auch  wenn 
es  vor  der  so  häufigen  Vernichtimg  durch  Zufälligkeiten  (Krank- 
heiten, Katastrophen)  bewahrt  bleibt?  Ist  es  eine  im  Wesen  des 
Lebens  begründete  Notwendigkeit,  und  war  ewige  Dauer  mit  dem- 
selben unvereinbar  ?  Weis  mann  verneint  diese  Frage.  Der  natür- 
liche Tod  ist  keine  von  vornherein  gegebene  Naturnotwendigkeit, 
sondern  ist  in  das  Organismenreich  erst  eingeführt  worden  als  eine 
zweckmäßige  nützliche  Einrichtung.  Daß  er  nicht  untrennbar  mit 
dem  Leben  verbunden  ist,  lehren  die  Einzelligen:  sie  sind  rücht 
notwendig  dem  Tode  unterworfen.  Die  später  soviel  behandelte 
Frage  von  der  ,, Unsterblichkeit  der  Einzelligen"  wird  hier  von 
Weismann  zum  ersten  Male  eingehend  erörtert.  Auch  die  Ein- 
zelligen können  vernichtet  werden,  gewiß;  aber  einen  normalen, 
physiologischen  Tod  gibt  es  für  sie  nicht.  Der  verbreiteten  Auf- 
fassung, als  ob  mit  der  Teilung  eines  einzelligen  Organismus  in 
zwei  Tochtergeschöpfe  das  Leben  des  Muttertieres  beschlossen  sei, 
und   als   ob   somit   hier   Fortpflanzung   und  Tod   zusammenfielen, 


—     71      — 

stellt  Weismann  die  Frage  gegenüber:  wo  ist  denn  die  Leiche? 
Was  stirbt  denn  ab?  Nichts  stirbt  ab,  sondern  der  Körper  des 
Tieres  zerfällt  in  zwei  nahezu  gleiche  Stücke,  die  dem  Muttertiere 
vollkommen  ähnlich  sind,  wie  dieses  weiter  leben  und  sich  später, 
wie  dieses,  wieder  in  zwei  Hälften  teilen.  Erst  mit  der  Entstehung 
der  vielzelligen  Organismen  aus  den  einzelligen  wurden  ganz  andere 
Verhältnisse  geschaffen.  Fortpflanzungs-  und  Körperzellen  trennten 
sich  voneinander;  die  Körperzellen  paßten  sich,  dem  Prinzip  der 
Arbeitsteilung  entsprechend,  unter  fortschreitender  histologischer 
Differenzierung  immer  vollkommener,  aber  auch  immer  einseitiger 
den  mannigfachen  Leistungen  an,  und  je  mehr  dies  geschah,  um 
so  mehr  ging  ihnen  die  Fähigkeit  verloren,  größere  Stücke  des 
Organismus  zu  reproduzieren,  und  um  so  mehr  konzentrierte  sich 
das  Vermögen  der  Fortpflanzung  des  Gesamtindividuums  in  den 
Keimzellen.  Jene,  die  Körperzellen,  verloren  aber  nicht  nur  die 
Fähigkeit  zur  Hervorbringung  des  ganzen  Organismus,  sondern 
auch  die,  sich  selbst  unbegrenzt  zu  vermehren.  Ihr  Vermögen, 
sich  selbst  durch  Teilung  fortzupflanzen,  wurde  auf  eine  bestimmte 
Anzahl  von  Zellgenerationen  beschränkt,  haben  sie  diese  hervor- 
gebracht, so  erlischt  ihre  Reproduktionskraft.  Das  aber  bedeutet 
den  ,,Tod"  des  Soma,  des  Individuums,  der  bei  den  vielzelligen 
Organismen  letzten  Endes  darauf  beruht,  daß  der  normale  Ersatz 
der  während  des  Lebens  fortwährend  und  massenhaft  zugrunde 
gehenden,  abgenutzten,  morphologischen  Elemente  stockt.  Wariun 
aber  verloren  die  Körperzellen  die  Fähigkeit  unbegrenzter  Ver- 
mehrung? Auch  dies  erklärt  Weismann  aus  dem  Gesichtspunkt 
des  Nutzens,  der  Zweckmäßigkeit  für  die  Art.  Von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  ist  das  Soma,  das  Individuum  wertlos,  wenn  es  der  Auf- 
gabe der  Fortpflanzung  und  gegebenenfalls  der  Brutpflege  genügt 
hat,  ja,  die  unbegrenzte  Lebensdauer  aller  Individuen  würde  sogar 
schädlich  für  die  Art  sein,  denn  sie  würde,  da  alle  Organismen  durch 
die  Berührung  mit  der  Außenwelt  fortgesetzt  Schädigungen  ihres 
Körpers  ausgesetzt  sind,  sehr  bald  zu  dem  Vorhandensein  einer 
Unmenge  krüppelhafter  Individuen  führen,  die  den  anderen  nur 
den  Platz  wegnehmen  würden.  So  war  es  also  nicht  nur  möglich, 
sondern  sogar  nützlich  und  geboten,  die  Produktivität  der  Körper- 
zellen auf  eine  bestimmte  Zahl  von  Zellgenerationen  zu  normieren 
und  damit  die  Lebensdauer  des  Soma  zu  beschränken,  d.  h.  den 


physiologischen  Tod  einzuführen.  Auch  der  Tod  ist  eine  Anpassungs- 
erscheinung, eine  Konzession  an  die  äußeren  Lebensbedingungen. 
Nur  den  Fortpflanzungszellen  durfte  die  Fähigkeit  unbegrenzter 
Vermehrung  nicht  verloren  gehen,  wenn  anders  die  Art  erhalten 
bleiben  sollte.  Sie  besitzen  wie  die  Einzelligen  potentielle  Unsterb- 
lichkeit, bilden  den  unsterblichen  Kern  innerhalb  des  sterblichen 
Soma.  Die  Frage  endlich,  wodurch  jene  Beschränkung  der  Ver- 
mehrung der  Körperzellen  auf  eine  bestimmte  festgesetzte  Anzahl 
von  Generationen  zu  denken  sei,  beantwortet  Weismann  dahin, 
daß  der  Grund  dafür  in  den  Zellen  selbst  liege,  denen  schon  vom 
Keime  her  nur  eine  beträchtliche  Vermehrungsfähigkeit  mitgegeben 
wird.  Es  geht  also  damit,  wie  mit  Entwicklungsvorgängen:  sie 
sind  letzten  Endes  auf  innere  Verhältnisse  der  Keimzelle  zurück- 
zuführen. Die  Entwicklungstendenzen,  die  von  hier  aus  den  ein- 
zelnen Zellen  mitgegeben  werden,  hören  mit  der  äußeren  Fertig- 
stellung des  Embryo  nicht  auf,  sondern  bleiben  wirksam  bis  ins 
späte  Alter,  beherrschen  die  Lebensvorgänge  und  bedingen  das 
Ende  derselben  —  den  Tod. 

In  diesen  Gedankengängen,  auf  die  Weismann  später  mehr- 
fach zurückgekommen  ist,  liegt  nicht  nur  ein  abermaliges  über- 
zeugtes Bekenntnis  zu  dem  wichtigsten  Grundprinzip  des  Dar- 
winismus, sondern  auch  der  Keim  zu  ganz  neuen  eigenen  Vor- 
stellungen. Sie  zeigen  die  Anwendbarkeit  des  Selektionsprinzipes 
auf  Erscheinungen,  in  denen  man  sein  Wirken  zunächst  nicht  er- 
wartet hätte,  —  des  Selektionsprinzipes,  das  Weismann  in  der 
Folgezeit  bis  an  die  äußersten  Grenzen  seiner  Leistungsfähigkeit 
verfolgt  hat,  und  dem  er  bis  an  sein  Lebensende  bemüht  blieb, 
die  beherrschende  Rolle  bei  allem  organischen  Geschehen  und  für 
alle  Lebenseinheiten,  die  größten  wie  die  kleinsten,  zuzuweisen; 
sie  stellen  ferner  bereits  den  scharfen  Gegensatz  zwischen  Soma- 
und  Keimzellen  auf,  auf  dem  die  ganze  Weismann  sehe  Vererbungs- 
hypothese beruht,  und  sie  verlegen  endlich  die  wichtigsten  be- 
stimmenden Faktoren  für  die  Entwicklung  wie  für  die  zellulären 
Vorgänge  bis  ans  Ende  des  Lebens  in  die  Keimzelle.  Damit  aber 
errichten  sie  die  hauptsächlichsten  Fundamente  für  die  Ver- 
erbungslehre, die  Weismann  nunmehr  als  selbständiges  Problem 
in  Angriff  nahm  und  einige  Jahre  später  vollendete. 


Vierter   Abschnitt. 

Die  Kontinuität  des  Keimplasmas  als  Grundlage  der 

Weismann  sehen    Vererbungslehre.     Die  Vererbung 

erworbener  Eigenschaften. 


I.  Vererbung:  Bedeutung,  Begriff,  stoffliche  Bedingtheit.  Darwins  Pangenesis- 
hypothese.  —  2.  Die  Kontinuität  des  Keimplasmas.  —  3.  Die  Vererbung 
erworbener  Eigenschaften.  Das  Problem.  Somatogene  und  blastogene  Eigen- 
schaften. —  Angebliche  Vererbung  von  Verletzungen  und  Verstümmelungen.  — 
Angebliche  Vererbung  von  funktionellen  Abänderungen.  ■ —  Harmonische  Anpassung 
(Koadaptation).  —  Die  Anpassungen  der  Ameisen  -  Neutra.  —  Anpassungen  der  bloß 
„passiv  wirksamen"  Teile  und  Merkmale.  —  Instinkte.  —  Geistige  Fähigkeiten,  spezi- 
fische Talente.  Der  Musiksinn.  —  Zusammenfassung.  —  Vererbung  von  Verände- 
rungen, die  durch  das  Medium  bedingt  sind.  —  Ergebnisse.  Übertragung  derselben 
auf    die    Einzelligen.    —    Die   Mnemetheorie    von    Semon;    Weismanns    Stellung    zu 

derselben. 


I.  Vererbung:    Bedeutung,    Begriff,    stoffliche   Bedingtheit. 
Darwins  Pangenesishypothese. 

,,Von  der  Vererbung  möchte  ich  reden,  diesem  Grundpfeiler 
alles  Beharrungsvermögens  der  organischen  Formen,  dem  unbe- 
fangenen Laien  so  selbstverständlich  und  keiner  besonderen  Er- 
klärung bedürftig,  der  Reflexion  so  verwirrend  durch  die  unendliche 
Mannigfaltigkeit  ihrer  Äußerungen,  und  so  rätselvoll  ihrem  eigent- 
lichen Wesen  nach"  —  mit  diesen  Worten  beginnt  die  berühmte 
Rede,  die  Weismann  am  21.  Juni  1883  bei  Übernahme  des  Pro- 
rektorates der  Universität  Freiburg  in  der  Aula  derselben  hielt. 
Sie  ist  zum  größten  Teil  der  Behandlung  einer  bestimmten  Frage 
aus  dem  Vererbungsproblem,  der  Frage  nach  der  Vererbimg  er- 
worbener Eigenschaften  gewidmet,  legt  aber  zugleich  schon  in 
großen  Zügen  die  allgemeine   Grundlage  fest,  von  der  aus,   nach 


—     74     — 

Weismanns  Überzeugung,  alle  Fragen  dieses  großen  Problemes 
behandelt  werden  müssen:  die  Lehre  von  der  sogenannten  Konti- 
nuität des  Keimplasmas. 

Auch  die  früheren  Veröffentlichungen  Weismanns  hatten 
die  Erscheinungen  der  Vererbimg  berücksichtigen  müssen.  In 
allen  Betrachtungen  über  die  Deszendenztheorie  spielt  sie  natiu:- 
gemäß  eine  Rolle,  und  insbesondere  die  Erörterungen  über  die 
Bedeutung  direkter  Mediumeinflüsse  auf  die  Umwandlung  der 
Formen,  die  an  die  Schmetterlingsexperimente  anknüpfen,  gehen 
aus  von  der  Annahme,  daß  diese  Wirkungen  erblich  sind.  Anfangs 
konnte  eben  auch  Weismann  nicht  anders,  als  sich  auf  den  Stand- 
punkt Darwins  zu  stellen,  der  die  Fähigkeit,  die  eigenen  Eigen- 
schaften auf  die  Nachkommen  weiter  zu  geben,  geradezu  als  eine 
gegebene  Grtmdeigenschaft  der  Organismen  annahm  und  daraufhin 
die  Übertragbarkeit  der  am  Einzelindividuum  aus  irgendeinem 
Gnmde  neu  auftretenden  Besonderheiten  als  sicher  betrachtete. 
,, Nicht-erbliche  Abänderungen  sind  für  uns  ohne  Bedeutimg" 
—  so  fängt  ein  Abschnitt  in  Darwins  ,, Entstehimg  der  Arten" 
an,  an  dessen  Schlüsse  es  heißt:  ,,Ja  vielleicht  wäre  die  richtigste 
Art  die  Sache  anzusehen  die,  daß  man  jedweden  Charakter  als  erb- 
lich und  die  Nichtvererbung  als  Anomalie  betrachtete"  2®) .  Damit 
war  zwar  zugegeben,  daß  es  auch  nicht-erbliche  Abänderungen 
gibt,  für  weitaus  die  meisten  Merkmale  aber,  mögen  sie  groß  oder 
klein  sein,  wurde  ihre  Vererbbarkeit  von  vornherein  vorausgesetzt. 
Eine  eingehendere  theoretische  Erörterung  des  Vorganges  lag 
Darwin  ferne,  seine  noch  zu  besprechende  Theorie  der  Pangenesis 
hat  er  selbst  nur  als  eine  ,, provisorische  Hypothese"  bezeichnet. 

Dagegen  erkannte  Weismann  allerdings  bald,  was  er  in  den 
oben  angeführten  Worten  ausspricht,  daß  die  Erscheinung  der  Ver- 
erbung, so  selbstverständlich  sie  für  die  naive  Betrachtung  sein 
mag,  der  genaueren  Überlegung  eine  Menge  unbeantworteter  Fragen 
stellt.  Auf  eine  derselben  versuchte  er  auch  schon  in  der  Rede 
von  1868  eine  Antwort  zu  geben.  Im  Gegensatz  zu  der  gewöhn- 
lichen Definition,  die  unter  Vererbungsfähigkeit  die  Fähigkeit  der 
Organismen  versteht,  ihre  Eigenschaften  auf  die  Nachkommen 
zu  übertragen,  erklärt  er  diese  Fähigkeit  dahin,  daß  dem  Keim 
des  Organismus  durch  die  Mischung  seiner  Bestandteile  eine  ganz 
bestimmte  Entwicklungsrichtung  mitgeteilt  wird,  dieselbe  Ent- 


—     75     — 

Wicklungsrichtung,  wie  sie  der  elterliche  Organismus  zu  Anfang 
besessen  hat,  so  daß  also  unter  absolut  gleichen  äußeren  Einflüssen 
auch  absolut  gleiche  Entwicklimgsstadien  vom  kindlichen  wie 
vom  elterlichen  Organismus  durchlaufen  werden  müssen.  Die 
gleiche  zunächst  mehr  physiologische  Auffassung  der  Vererbimg 
hat  er  wiederholt  ausgesprochen;  ihr  entsprechend  erblickt  er  als 
Folge  der  sexuellen  Fortpflanzung  ,,eine  Vermischung  der  Merk- 
male (genauer:  Entwicklungsrichtungen)  zweier  gleichzeitig 
lebender  Individuen  in  einem  Keime"  (1876)  und  definiert  die 
Variabilität  als  ,,die  Resultate  aus  der  ererbten  Entwicklimgs- 
richtung  und  den  äußeren  Einflüssen"  (1868)  imd  ebenso,  einige 
Jahre  später  (1880)  als  ,,eine  durch  ungleiche  äußere  Einflüsse  be- 
dingte Ablenkung  der  durch  die  Vererbung  vorgezeichneten  Ent- 
wicklungsrichtung" ^') .  Von  dieser  Auffassung  aus  konnte  dann  die 
Frage  nach  den  Ursachen,  der  stofflichen  Bedingtheit  der 
Gleichartigkeit  in  der  Entwicklungsrichtimg  des  kindlichen  und 
des  elterlichen  Organismus  in  Angriff  genommen  werden. 

Daß  die  Erscheinungen  der  Vererbung  an  die  Fortpflanzung 
geknüpft  sind,  und  daß  somit  bei  der  weitaus  häufigsten  Form 
der  letzteren,  der  Zweielternzeugung  oder  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung, in  der  Befruchtung  des  Eies  durch  die  Samenzelle  der 
Vorgang  zu  sehen  ist,  an  den  die  Vererbung  der  elterlichen  Eigen- 
schaften auf  den  Nachkommen  geknüpft  ist,  —  von  dieser  Voraus- 
setzung konnte  Weismann  schon  bei  der  Inangriffnahme  des 
Problemes  ausgehen.  Daraufhin  formulierte  er  denn  auch  die 
zwei  großen  Fragen  des  letzteren:  i.  wie  kommt  eine  einzelne  Zelle 
des  Körpers  dazu,  die  sämtlichen  Vererbungstendenzen  des  gesamten 
Organismus  in  sich  zu  vereinigen?  und  2.  durch  welche  Kräfte, 
welchen  Mechanismus  kommen  diese  Tendenzen  beim  Aufbau  des 
neuen  Organismus  zur  Entfaltung  ?  ^^) . 

Nur  ganz  allgemein  hatte  Darwin  versucht,  beide  Fragen 
zu  beantworten:  in  der  schon  genannten  Theorie  der  Pangenesis, 
die  er  aber  selbst  nur  als  eine  provisorische  Hypothese  oder  Speku- 
lation bezeichnet.  Der  Name  drückt  aus,  ,,daß  die  ganze  Organi- 
sation, und  zwar  in  dem  Sinne,  daß  hiermit  jedes  einzelne  Atom 
oder  jede  Einheit  gemeint  wird,  sich  reproduziert".  Das  sollte  in 
der  Weise  geschehen,  daß  von  allen  Zellen  des  Körpers  während 
des  Lebens  Keimchen  abgegeben  werden,  im  Körper  kreisen  und 


-     76     - 

schließlich  in  den  Geschlechtszellen  zur  Ablagerung  kommen,  um 
dann  bei  der  Entstehung  wieder  Teile  entstehen  zu  lassen,  denen 
ähnlich,  von  denen  sie  selbst  stammten.  Durch  diese  Annahme  wäre 
auch,  wie  Darwin  erörtert,  für  die  ,, Vererbung  erworbener  Eigen- 
schaften" eine  verhältnismäßig  einfache  Erklärung  gegeben  ge- 
wesen: die  Keimchen  mußten  ja  auch  Träger  aller  Verändertmgen 
sein,  die  die  betreffenden  Zellen  durch  irgendwelche  Einflüsse  be- 
trafen. Daß  sich  die  Dinge  in  Wirklichkeit  so  verhielten,  war  frei- 
lich schwer  zu  glauben;  besondere  auf  den  Nachweis  der  Keimchen 
gerichtete  Versuche  ergaben  denn  auch  ein  negatives  Resultat, 
und  von  verschiedenen  Seiten  war  die  Pangenesistheorie  bestritten 
oder  doch  stark  tungewandelt  worden.  Und  doch  ist  auch  Weis- 
mann  später,  nach  anfänglichen  Versuchen  in  anderer  Richtung, 
wieder  zu  der  Annahme  kleinster  materieller  Teilchen  als  Träger 
der  Vererbung  zurückgekehrt,  freilich  unter  bestimmter  Ablehnung 
der  Vorstellung,  daß  diese  Teilchen  etwa  von  den  Körperzellen 
abstammten  und  durch  den  Körper  zu  den  Keimzellen  transportiert 
würden.  Damit  aber  hat  er  einen  Hauptgedanken  der  Darwin- 
schen Pangenesishypothese  zu  neuem  Leben  erweckt. 

2.  Die  Kontinuität  des  Keimplasmas. 

Weismann  griff  auch  dieses  Problem  historisch  an,  er  suchte 
die  Vererbungserscheinungen  von  ihrer  Wurzel  aus  zu  verstehen, 
und  diese  Betrachtung  führte  ihn  zu  der  Aufstellung  des  Gedankens, 
der  als  Lehre  von  der  Kontinuität  des  Keimplasmas  mit 
seinem  Namen  für  alle  Zeiten  verbunden  bleiben  wird.  Mit  Recht, 
denn  wenn  es  auch  richtig  und  von  Weismann  selbst  rückhaltlos 
anerkannt  worden  ist,  daß  schon  vor  ihm  andere  Forscher 
(Galton,  Jäger,  Nußbaum  u.  a.)  zur  Aufstellung  der  gleichen 
Anschauung  gelangt  waren,  so  ist  es  doch  auch  unbestreitbar,  daß 
erst  Weismann  seine  volle  Bedeutung  erkannt,  ihn  auf  seine 
Leistungsfähigkeit  nach  allen  Richtungen  durchgearbeitet  und  ihn 
in  seiner  Tragweite  der  Wissenschaft  zum  Bewußtsein  gebracht  hat. 

Weismann  geht,  wie  gesagt,  bei  der  Betrachtung  der  Ver- 
erbungserscheinungen aus  von  ihren  Anfängen  bei  den  niedersten 
Lebewesen.  Hier,  bei  den  Einzelligen,  liegen  die  Dinge  noch  ver- 
hältnismäßig einfach  und  leichter  verständlich.  Wenn  wir  aus 
einer   Amöbe    durch  Teilung    zwei   durchaus  gleiche  Tochterindi- 


—     77      — 

viduen  entstehen  sehen,  so  begreifen  wir  bis  zu  einem  gewissen 
Grade,  daß  diese  Tochterindividuen  der  Mutter  in  ihrem  Aussehen, 
ihren  Lebensäußerungen  und  Fähigkeiten  gleichen,  —  setzen  sie 
doch  den  Körper  derselben  nur  in  einer  neuen  Form  fort.  So  muß 
sich  denn  auch  bei  jeder  von  ihnen  die  Fähigkeit  fortsetzen,  Nahrung 
aufzunehmen,  auf  Kosten  derselben  die  eigene  Lebenssubstanz  zu 
vermehren,  um  sich  dann  ebenfalls  wieder  zu  teilen.  Und  so  fort 
durch  ungezählte  Generationen:  die  stoffliche  Kontinuität 
bildet  hier  die  Grundlage  der  Vererbungserscheinungen. 
(Diese  Überlegung  hat  später  (1891),  wie  wir  sehen  werden,  eine 
geringe  Abänderung  erfahren,  indem  Weismann  sie  ,,um  eine 
Stufe  weiter  gegen  den  Anfang  des  Lebens  hin"  zurückschiebt, 
d.  h.  nur  noch  für  die  niedersten  Organismen  gelten  läßt,  bei  denen 
noch  keine  Differenzierung  in  Kern  und  Zellkörper  eingetreten  ist.) 
Eine  ganz  gleiche  stoffliche  Kontinuität  nimmt  ntm  Weis- 
mann auch  für  das  Keimplasma,  d.  i.  die  Vererbungssubstanz, 
in  den  Keimzellen  (Ei  und  Samenfaden)  bei  den  Vielzelligen  an. 
Für  die  Entstehung  der  letzteren  lagen  von  vornherein  drei  Haupt- 
möglichkeiten vor:  I.  es  könnte,  wie  es  in  der  Darwinschen  Pan- 
genesistheorie  zum  Ausdruck  kommt,  die  Keimzelle  gewissermaßen 
als  Extrakt  des  ganzen  Körpers  immer  neu  gebildet  werden,  oder 
2.  die  Substanz  der  elterlichen  Keimzelle  könnte  die  Fähigkeit  be- 
sitzen, einen  Kreislauf  von  Veränderungen  durchzumachen,  welche 
durch  den  Aufbau  des  neuen  Individuums  hindurch  wieder  zu 
identischen  Keimzellen  führt,  oder  endlich  3.  die  Keimzellen  ent- 
stehen in  ihrer  wesentlichen  und  bestimmenden  Substanz  über- 
haupt nicht  aus  dem  Körper  des  Individuums,  sondern  unmittelbar 
aus  der  elterlichen  Keimzelle.  Diese  letztere  Ansicht  hält  Weismann 
für  richtig.  Seiner  Ansicht  nach  wird  das  Material  der  Keimzelle 
nicht  erst  während  des  Lebens  gebildet  und  mit  den  Fähigkeiten 
zur  Erzeugung  eines  neuen,  dem  alten  ähnlichen  Organismus  aus- 
gestattet, sondern  es  stammt  unmittelbar  von  dem  Keimplasma 
ab,  aus  dem  der  Träger  der  Keimzelle  selbst  hervorging,  ist  geradezu 
nur  ein  unverbrauchter  Teil  desselben.  Wenn  die  befruchtete  Ei- 
zelle, so  folgert  Weismann,  sich  anschickt,  einen  neuen  Organis- 
mus aus  sich  hervorgehen  zu  lassen,  so  wird  von  vornherein  eine 
gewisse  Menge  ihrer  maßgebenden  Substanz,  ihres  Keimplasmas, 
reserviert,    wird   nicht   in   der   Ontogenese   aufgebraucht,    sondern 


-     7«     - 

als  unveränderter  Rest  in  die  Keimzellen  des  neuen  Individuums 
gebracht  und  dort  abgelagert.  Ist  dann  an  eine  dieser  Zellen  die 
Reihe  gekommen,  ein  neues  Geschöpf  entstehen  zu  lassen  —  ge- 
gebenenfalls nach  Vereinigung  mit  der  Keimzelle  eines  anderen 
Individuums  —  so  muß  dieser  neue  Organismus  notwendigerweise 
seinem  Eiterorganismus  gleichen,  da  das  ihn  erzeugende  Keim- 
plasma nur  ein  Teil  dessen  ist,  das  jenen  entstehen  ließ.  So  geht 
es  fort  durch  ungezählte  Generationen  hindurch;  nur  Assimilations- 
fähigkeit, d.  h.  die  Fähigkeit,  sich  auf  Kosten  der  Nahrung  fort- 
während zu  ergänzen  und  zu  vermehren,  müssen  wir  bei  dem  Keim- 
plasma voraussetzen,  können  es  aber  auch,  da  diese  Fähigkeit  eine 
Elementareigenschaft  aller  lebenden  Substanz  ist.  (Daß  sie  für 
sich  eins  der  schwierigsten  organischen  Grundprobleme  darstellt, 
wie  Roux  bemerkt,  kommt  dabei  hier  nicht  in  Frage.)  Im  übrigen 
aber  besitzt  das  Keimplasma  der  Vielzelligen,  wie  die  Einzelligen, 
potentielle  Unsterblichkeit  und  steht  damit  den  sterblichen 
Somazellen  gegenüber.  ,,Das  Keimplasma  einer  Art  wird  nie 
neu  erzeugt,  sondern  es  wächst  und  vermehrt  sich  nur  unaufhörlich, 
es  zieht  sich  fort  von  einer  Generation  zur  anderen,  wie  eine  lange, 
m  der  Erde  fortziehende  Wurzel,  von  der  in  regelmäßigen  Abständen 
Sprosse  emportreiben  und  zu  Pflänzchen  werden,  zu  den  Indi- 
viduen der  aufeinander  folgenden  Generationen."  Diese  Annahme 
einer  Kontinuität  des  Keimplasmas  war  kein  bloßes  Denkergebnis, 
sondern  konnte  sich  auf  tatsächliche  Beobachtimgen  stützen.  Für 
gewisse  Insekten  war  nachgewiesen,  daß  die  ersten  Zellen,  die  sich 
bei  der  Furchung  von  der  übrigen  Masse  des  Eies  trennen,  eben  die 
Geschlechtszellen  sind;  bei  anderen  Formen  erfolgt  diese  Trennung 
der  Geschlechtszellen,  wenn  auch  nicht  zu  allererst,  so  doch  in  sehr 
frühen  Stadien  der  Ontogenese.  Zu  besonders  wichtigen  Ergeb- 
nissen in  dieser  Hinsicht  war  Weis  mann  selbst  durch  seine  eigenen 
Untersuchungen  über  die  Entstehung  der  Sexualzellen  bei  den 
Hydromedusen  gelangt:  die  Geschlechtszellen  entstehen  hier  zwar 
nicht  am  Anfang  der  Ontogenese,  sondern  sehr  viel  später  und  bei 
den  verschiedenen  Formen  an  verschiedenen  Stellen,  aber  unter 
Erscheinungen,  die  darauf  hinweisen,  daß  nicht  jede  beliebige 
Körperzelle  zu  einer  Keimzelle  werden  kann,  sondern  daß  nur  be- 
stimmte Zellen  und  Zellfolgen  Träger  des  Keimplasmas  sind  und 
die  Kontinuität  desselben  durch  die  Generationen  vermitteln.     In 


—     79     — 

der  Folgezeit  ist  dann  bei  einer  ganzen  Anzahl  von  Tieren  die  ge- 
samte Zellenfolge,  die  vom  befruchteten  Ei  bis  zu  den  Keimzellen 
führt,  die  sogenannte  Keimbahn,  verfolgt  worden,  wobei  gewisse 
histologische  Merkmale,  die  alle  diese  Keimbahnzellen  auszeichnen, 
den  Anhalt  abgaben.  In  diesen  Fällen  ist  also  die  Kontinuität  des 
Keimplasmas  eigentlich  keine  Hypothese  mehr,  sondern  eine  sich 
unmittelbar  aufdrängende  Deutung  der  Beobachtungen.  Damit 
aber  ist  für  die  Annahme,  daß  bei  jeder  Ontogenese  ein  Teil  des 
Keimplasmas  imverändert  in  die  Keimzellen  des  neuen  Individuums 
transportiert  und  dort  abgelagert  wird,  ein  genügend  sicherer  Tat- 
sachenboden gegeben. 

Auf  Grundlage  der  Kontinuität  des  Keimplasmas  verstehen 
wir  es,  daß  das  Kind  seinem  Erzeuger  ähnlich  ist  und  daß  es  bei 
Zweieltemzeugung,  wo  die  Keimplasmen  zweier  Individuen  sich 
vermischen,  Charaktere  von  beiden  Eltern  in  sich  vereinigen  kann. 
Wir  haben  also  eine  erste  Grundlage  für  das  Verständnis  der  Ver- 
erbungserscheinungen. Diese  Annahme  von  der  Kontinuität  des 
Keimplasmas  ist  die  wichtigste  Grundlage  von  Weismanns  Ver- 
erbungslehre; sie  steht  im  Gegensatz  zu  der  Darwinschen  Vor- 
stellung, daß  das  Keimplasma  erst  im  Individuum  durch  Teilchen, 
die  von  den  Körperzellen  desselben  abgegeben  werden,  neu  gebildet 
wird,  imd  lehnt  auch  die  andere  Auffassung  ab,  daß  das  Keimplasma 
in  der  Ontogenese  einen  Kreislauf  diurchmachen,  d.  h.  daß  es  in 
den  Kernen  der  verschiedenen  Körperzellen  bestimmte  gesetz- 
mäßige Veränderungen  erleide,  um  schließlich  in  den  Keimzellen 
wieder  zu  Keimplasma  rückverwandelt  zu  werden. 

Unter  den  Fragen,  die  sich  im  Anschluß  hieran  aufdrängen 
müssen,  ist  wohl  die  nächstliegende  die,  in  welchem  Bestandteil 
der  Keimzellen  jene  wichtigste  Substanz,  das  Keimplasma,  zu 
sehen  ist.  Auch  diese  Frage,  die  Frage  nach  der  eigentlichen  Ver- 
erbimgssubstanz,  lag  damals  gewissermaßen  in  der  Luft,  und  so 
kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  daß  sie  fast  gleichzeitig  von  drei 
Forschern  beantwortet  wurde:  von  E.  Strasburger,  O.  Hertwig 
und  A.  Weismann.  Alle  drei  kamen  zu  dem  Schluß,  daß  jene 
Substanz  in  der  Kernsubstanz  und  zwar  besonders  in  der  chro- 
matischen Substanz  des  Kernes  zu  sehen  sei.  Die  Vorgänge  bei 
der  Zellteilung  und  bei  der  Befruchtung,  sowie  Experimente  von 
Nußbaum  und  A.  Gruber  ( —  die  des  letzteren  auf  Weismanns 


'       —     8o     — 

Veranlassung  im  Freiburger  zoologischen  Institut  unternommen  — ) 
sprachen  vornehmlich  in  jenem  Sinne.  Weis  mann  hat  denn  auch 
an  dieser  Auffassung,  der  Lehre  von  dem  ,, Vererbungsmonopol 
des  Kernes",  wie  sie  später  bezeichnet  wurde,  bis  an  sein  Lebensende 
festgehalten  und  auf  ihr  als  Grundlage  seine  Vererbungstheorie 
weiter  ausgebaut.  Bevor  wir  auf  diese  eingehen  können,  sind  noch 
einige  andere  mehr  allgemeine  Dinge  zu  behandeln. 

Fragen  mußten  sich  ja  gegenüber  der  Lehre  von  der  Keim- 
plasmakontinuität in  großer  Menge  aufdrängen;  vom  Standpunkt 
der  Deszendenzlehre  aus  waren  die  beiden  wichtigsten  wohl  die: 
I.  wie  ist  überhaupt  das  Keimplasma  des  ersten  vielzelligen  Tieres 
entstanden?  und  2.  wie  konnte  aus  diesem  Keimplasma  der  ersten 
vielzelligen  Wesen  die  vielen  tausende  Arten  verschiedener  Keim- 
plasmen entstehen,  die  den  jetzt  lebenden  Organismen  zugrunde 
liegen  ? 

Die  erste  Frage  behandelt  Weismann  imter  Hinweis  auf  die 
koloniebildenden  Einzelligen,  die  eine  Mittelstellung  zwischen  den 
isoliert  lebenden  Einzelligen  und  den  echten  Vielzelligen  einnehmen, 
gewissermaßen  einen  Übergang  von  jenen  zu  diesen  bilden.  Unter 
diesen  koloniebildenden  Einzelligen  gibt  es  solche,  die  aus  ganz 
gleichartigen  Zellen  zusammengesetzt  sind,  und  bei  denen  die  Dinge 
noch  grundsätzlich  ebenso  liegen,  wie  bei  den  isoliert  lebenden  Ein- 
zelligen: jedes  Mitglied  der  Kolonie  ist  imstande,  sich  fortzupflanzen, 
d.h.  sich  zu  teilen  und  durch  wiederholte  Teilung,  wobei  die  Tochter- 
zellen immer  in  enger  Aneinanderlagerung  verbunden  bleiben, 
eine  neue  Kolonie  entstehen  zu  lassen.  Die  Glieder  solcher  Kolonien, 
die  als  Homopiastiden  bezeichnet  werden,  sind  also  zugleich  ,, Körper- 
zellen" und  ,, Keimzellen"  der  Kolonie.  Anders  liegen  die  Dinge 
bei  jenen  Kolonien,  die  als  Heteroplastiden  bezeichnet  werden. 
Hier,  z.  B.  bei  der  Gattung  Volvox,  ist  eine  Arbeitsteilung  ein- 
getreten, eine  scharfe  Trennung  von  Körper-  und  Fortpflanzungs- 
zellen. Kleinen,  zu  vielen  Hunderten  vorhandenen  Geißelzellen, 
die  aber  auch  allen  übrigen  Funktionen  der  Lebenserhaltung  (Er- 
nährung, Sekretion,  Exkretion  usw.)  dienen,  stehen  viel  weniger 
zahlreiche  große  Keimzellen  gegenüber,  die  allein  die  Fähigkeit 
bewahrt  haben,  die  Kolonie  fortzupflanzen.  Jene,  die  kleinen 
Geißelzellen,  stellen  das  sterbliche  Soma  der  Kolonie  dar :  sie  können 
durch  Teilung  nur  ihresgleichen  erzeugen,  gehen  aber  dann  einmal 


zugrunde;  die  Keimzellen  aber  vermögen  durch  Teilung  eine  neue 
Volvoxkolonie  hervorzubringen,  also  nicht  nur  ihresgleichen,  sondern 
auch  die  somatischen  Zellen.  Wie  ist  dieser  Zustand  der  hetero- 
plastiden  Kolonien  an  den  der  homoplastiden  anzuschließen?  Die 
Antwort,  die  Weismann  darauf  gibt,  lautet  kurz  etwa  folgender- 
maßen. Unter  irgendwelchen  Einflüssen  muß  einmal  die  Strukttir 
des  Plasmas  von  Zellen  homoplastider  Kolonien  sich  derart  ge- 
ändert haben,  daß  die  Kolonie,  die  nunmehr  durch  Teilung  aus 
ihnen  hervorging,  nicht  mehr,  wie  bisher,  aus  identischen,  sondern 
aus  zweierlei  verschiedenen  Zellenarten  bestand,  von  denen  nur  die 
eine  Art  die  Fähigkeit  zur  Neuerzeugung  einer  Kolonie  beibehielt, 
die  andere  aber  die  somatischen  Funktionen  übernahm  und  durch 
Teilung  nur  noch  ihresgleichen  hervorzubringen  vermochte.  In 
die  erste  Art,  die  Keimzellen,  wurde  dabei  eine  gewisse  Menge 
dieses  veränderten  Keimplasmas  eingeschlossen,  um  dann  auch 
weiterhin  von  Generation  zu  Generation  weitergegeben  zu  werden 
und  Kolonien  gleicher  Art  zu  erzeugen.  Der  springende  Punkt  dabei 
ist  also,  daß  die  Besonderheit,  die  der  ausgebildete  Organismus 
zeigt,  —  hier  ztmächst  die  Zusammensetzung  aus  zweierlei  ver- 
schiedenen Zellenarten  —  die  Folge  ist  von  einer  primären  Ver- 
änderung des  Keimplasmas.  Diesen  Vorgang  haben  wir  uns  mm 
im  Laufe  der  Generationen  fortgesetzt  zu  denken.  Auf  primäre 
Variationen  des  Keimplasmas  ist  es  zurückzuführen,  daß  die  Zellen 
der  Kolonien  im  Laufe  der  Stammesgeschichte  noch  weiter  un- 
gleich wurden,  daß  eine  große  Menge  sehr  verschiedenartiger  Ele- 
mente, Muskel-,  Nerven-,  Drüsenzellen  usw.  entstand,  die  sich 
in  die  verschiedenen  Funktionen  des  Somas  teilten.  Diese  Arbeits- 
teilung erfolgte  also  in  der  Stammesgeschichte  nicht  an  den  ent- 
wickelten Organismen  und  wiurde  von  diesen  aus  durch  die  Keim- 
zellen den  Nachkommen  übergeben,  sondern  umgekehrt:  sie  war 
zuerst  im  Keimplasma  vorgebildet,  bedingt  diurch  gewisse  Ver- 
änderimgen  desselben,  und  wurde  auf  Grund  der  Kontinuität  des 
Keimplasmas  weiter  vererbt.  So  entstanden  die  vielzelligen  Or- 
ganismen, und  so  konnten  sie  sich  im  Laufe  der  Generationen  auch 
allmählich  verändern,  immer  auf  der  Grundlage  primärer  Keimes- 
variationen. Damit  ist  auf  die  zweite  der  oben  gestellten  Fragen 
eine  wenigstens  vorläufige  Antwort  gegeben;  eine  genauere  Er- 
örterung   des     Zustandekommens    solcher    primärer    Keimes- 

Gaupp,  Biographie  WeJsmanns.  6 


—        82        — 

Variation  brachte  erst  sehr  viel  später,  1895,  die  Lehre  von  der 
Germinalselektion.  Daß  aber  auf  der  Grundlage  primärer  Keimes- 
variationen zweckmäßige  Gestaltungen  zustande  kamen,  Or- 
ganismen, die  in  der  mannigfaltigsten  Weise  den  äußeren  Bedin- 
gungen angepaßt  sind,  das  beruht  auf  der  Zuchtwahl  im  Kampf 
ums  Dasein.  Durch  sie  wurden  die  jeweiligen  unzweckmäßigen 
Varietäten  ausgemerzt,  aus  dem  Stammbaum  der  Art  entfernt, 
die  zweckmäßigen  erhalten. 

Das  sind  wohl  die  wesentlichsten  Grundgedanken  der  Weis- 
mann sehen  Vorstellung. 

3.  Die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften. 
Das   Problem. 

Unter  den  weiteren  Fragen,  die  sich  an  diese  Vorstellung  an- 
schließen, steht  im  Vordergrunde  die  nach  den  Beziehungen  zwischen 
den  Körperzellen  und  den  Keimzellen,  insbesondere  die,  ob  Ver- 
änderungen des  Keimplasmas  durch  Einwirkung  der  Körperzellen 
hervorgerufen  werden  können,  und  vor  allem,  ob  Veränderungen 
der  Körperzellen,  des  Soma,  sich  so  den  Keimzellen  mitteilen  können, 
daß  an  den  Nachkommen  entsprechende  Veränderungen  auf- 
treten. Es  ist  kurz  gesagt,  die  Frage,  die  gewöhnlich,  wenn  auch 
nicht  zweckmäßig,  als  die  nach  der  Möglichkeit  einer  Vererbung 
erworbener  Eigenschaften  bezeichnet  wird.  Daß  Weismann 
diese  Möglichkeit  überhaupt  verneint,  ist  heutzutage  wohl  jedem 
bekannt,  der  überhaupt  Weismanns  Namen  kennt.  Und  man  mag 
über  die  Richtigkeit  seines  Standpunktes  denken  wie  man  wolle, 
—  das  Verdienst  zum  mindesten  wird  ihm  wohl  niemand  abstreiten, 
daß  erst  durch  ihn  die  ganze  Frage  dem  Bereiche  einer  mehr  laien- 
haften Behandlung  entzogen  und  wirkhch  wissenschaftlicher  Analyse 
zugeführt  worden  ist. 

Als  Weismann  an  die  Behandlung  der  Frage  herantrat, 
wurde  dieselbe  —  das  Lamarcksche  Prinzip,  wie  gewöhnlich  ge- 
sagt zu  werden  pflegt  —  sehr  allgemein  bejaht.  Es  ist  aber  klar, 
daß,  wenn  sie  wirklich  durch  Beobachtungen  einwandfrei  bewiesen 
wäre,  das  ganze  Vererbungsproblem  bei  den  Vielzelligen  erheblich 
schwieriger  und  rätselhafter  würde.  Denn  dann  müßte  wohl  ein 
dauerndes  geheimnisvolles  Abhängigkeitsverhältnis   zwischen    dem 


-     83     - 

Soma  und  den  in  seiner  Hut  befindlichen,  in  ihm  eingeschlossenen 
Keimzellen  angenommen  werden.  Darwin,  der  das  Prinzip  des 
Lamarekismus  für  die  Umbildung  der  Arten  nicht  entbehren  zu 
können  glaubte,  hatte  in  seiner  schon  besprochenen  Pangenesis- 
theorie  gezeigt,  wie  man  sich  rein  formal  jenes  Abhängigkeits- 
verhältnis denken  könne;  wenn  die  Keimzellen  erst  intra  vitam 
gebildet  und  mit  Keimchen  von  allen  Körperzellen  beladen  werden, 
so  werden  die  Zellen,  die  sie  später  mit  Hilfe  dieser  Keimchen  pro- 
duzieren, auch  die  Einzelheiten  der  Zellen  zeigen,  von  denen  die 
Keimchen  stammten.  Das  war  wenigstens,  mit  Hilfe  sonst  geläufiger 
biologischer  Vorstellungen,  einigermaßen  verständlich.  Für  Weis- 
mann aber,  für  den  es  feststand,  daß  die  Keimzellen  der  viel- 
zelligen Organismen  nicht  erst  während  des  Lebens  des  Individuums 
sich  bilden  und  mit  all  den  Kräften  ausgestattet  werden,  die  sie 
zur  Hervorbringung  des  neuen  Geschöpfes  befähigen,  —  daß  sie 
vielmehr  in  gerader  Linie  von  der  befruchteten  Eizelle,  aus  der 
das  Individuum  selbst  hervorgegangen  war,  abstammten,  mußten 
sich  aus  der  Vererbung  erworbener  Eigenschaften,  falls  sie  wirk- 
lich vorkam,  recht  beträchtliche  Schwierigkeiten  ergeben.  Denn 
um  sie  verständlich  zu  machen,  bedurfte  es  nicht  nur  eines  dauernden 
Zusammenhanges  zwischen  Körper-  und  Keimzellen,  der  ja  schließ- 
lich in  Blutgefäßen,  Nerven  und  Protoplasmabrücken  zwischen  den 
Zellen  gegeben  ist,  sondern,  was  viel  wichtiger  und  viel  schwieriger 
vorstellbar  ist,  auf  dem  Wege  dieser  Bahnen  müßte  es  erreicht 
werden,  daß  irgendwelche  Veränderungen  des  Körpers  sich  so  dem 
Keimplasma  mitteilten,  imd  dieses  so  veränderten,  daß  später, 
bei  der  Entwicklung,  am  Körper  des  neuen  Geschöpfes  genau  an 
der  gleichen  Stelle  genau  die  gleiche  Veränderung  auftritt.  Das 
ist  der  springende  Punkt  des  ganzen  Problemes.  Weismann  hat 
diurchaus  nicht,  wie  manchmal  oberflächlich  behauptet  wird,  jede 
Beeinflußbarkeit  des  Keimplasmas  durch  den  Körper  bestritten, 
diese  Möglichkeit  sogar  schon  in  dem  Aufsatz  über  Vererbung 
(1883)  ausdrücklich  zugegeben  und  erörtert;  nur  die  Möglichkeit 
einer  Beeinflußbarkeit  in  der  erwähnten  ganz  spezifischen  Weise 
hat  er  abgelehnt.  Welche  große  Schwierigkeiten  eine  solche  An- 
nahme in  der  Tat  bietet,  und  wie  viele  komplizierte  Vorgänge 
dabei  anzunehmen  waren,  hat  tmlängst  (1911)  W.  Roux  aufs  ein- 
gehendste  auseinandergesetzt^').      So  gelangte  denn   Weismann 


-     84     - 

zunächst  theoretisch  dazu,  das  Bestehen  einer  „Vererbimg  er- 
worbener Eigenschaften"  anzuzweifeln,  und  eine  Prüfung  des  Tat- 
sachenbestandes führte  ihn  dann  auch  zu  einer  entschiedenen  Ab- 
lehnimg der  ganzen  Annahme  und  zu  der  Überzeugung,  daß  die 
konkreten  Fälle,  in  denen  man  die  Vererbung  einer  erworbenen 
Eigenschaft  festgestellt  zu  haben  glaubte,  tmgenügend  und  kritiklos 
beobachtet  waren,  und  daß  ferner  die  Einrichtungen  der  Organismen, 
die  man  nach  dem  Prinzip  des  Lamarekismus  als  erblich  gewordene 
direkte  Wirkungen  der  äußeren  Einflüsse  und  der  Funktion  zu 
erklären  geneigt  war,  auf  Grund  anderer  Faktoren  erklärt  werden 
müssen.  Als  solchen  anderen  Faktor  sprach  er  zimächst  und  durch 
eine  Reihe  von  Jahren  ausschließlich  die  indirekte  Wirkung  der 
Lebensbedingungen,  vermittelt  durch  Ausleseprozesse,  an;  später, 
von  1895  ab,  gesellte  er  dieser  als  zweiten  Faktor  eine  selbständige 
innere  Gestaltungskraft,  die  Germinalselektion,  zur  Ergänzung 
und  Unterstützung  hinzu. 

Wir  wenden  uns  zunächst  der  Betrachtung  der  empirischen 
Tatsachen  und  ihrer  Auffassung  durch  Weismann  zu;  die  rein 
theoretischen  Erörterungen  werden  im  Anschluß  an  die  Deter- 
minantentheorie zu  besprechen  sein. 

Somatogene  und  blastogene  Eigenschaften. 
Vor  allem  war  es  nötig,  den  Begriff  ,, erworbene  Eigenschaft" 
genauer  zu  definieren.  Die  Diskussion,  die  sich  im  Anschluß  an 
Weismanns  Arbeiten  erhob,  zeigte  nämlich  sehr  bald,  daß  dieser 
Begriff  auch  bei  Fachleuten  durchaus  nicht  klar  war.  Weismann 
hat  daher  (1888)  die  Begriffe  ,, somatogene"  und  ,, blastogene" 
Eigenschaften  geprägt  und  damit  außerordentlich  zur  Klärung  der 
Frage  beigetragen .  Somatogene,  im  eigentlichen  Sinne  erworbene 
Eigenschaften  sind  solche,  die  nicht  als  Anlagen  schon  im  Keime 
vorhanden  sind,  sondern  erst  durch  besondere  Einwirkungen,  die 
den  Körper  oder  einzelne  Teile  desselben  treffen,  als  Reaktionen 
der  letzteren  auf  die  äußeren  Einwirkungen  entstehen;  blastogene 
Eigenschaften  sind  solche,  die  ihre  alleinige  Wurzel  in  den  Keimes- 
anlagen haben.  Auch  diese  Eigenschaften  können  bei  einem  In- 
dividuum neu  auftreten;  eine  ,,neu  auftretende"  Eigenschaft  ist 
nicht  dasselbe  wie  eine  erworbene.  Ebenso  ist  es  keine  Vererbung 
erworbener  Eigenschaften,  wenn  durch  Infektion  des  Keimes  eine 


-     85     - 

Krankheit  von  dem  Elternorganismus  auf  den  kindlichen  Organismus 
übertragen  wird,  wie  die  Pebrine  der  Seidenraupe,  oder  wenn  auf 
Grund  gleicher  schwächlicher  Anlage,  gleicher  abnormer  Disposition, 
das  Kind  wie  der  Vater  an  Tuberkulose  erkrankt.  Hier  ist  es  die 
gleiche  Disposition,  die  vererbt  wurde,  und  diese  beruht  auf  der 
Keimesbeschaffenheit.    Als  solche  aber  ist  sie  erblich. 

Von  einer  wirklichen  ,, Vererbung  einer  erworbenen  Eigen- 
schaft" kann  nach  Weismanns  Auffassimg  nur  gesprochen  werden, 
wenn  eine  Eigenschaft  zunächst  als  somatogene  bei  einem  In- 
dividuum auftritt  und  dann  erst  sekundär,  ohne  daß  die  Ursache, 
durch  die  sie  hervorgerufen  wurde,  von  sich  aus  auf  den  Keim 
wirken  konnte,  rein  vom  Soma  aus  auf  den  Keim  übertragen  wird 
und  in  diesem  eine  adäquate  Veränderung  hervorruft.  Dieser 
hypothetische  Vorgang  wird  neuerdings  (von  Detto)  als  soma- 
tische   Induktion  bezeichnet. 

Angebliche  Vererbung  von  Verletzungen  und  Verstümme- 
lungen. 

Unter  den  wirklich  erworbenen  somatogenen  Eigenschaften, 
für  die  eine  Vererbbarkeit  vielfach  behauptet  worden  ist,  büden  eine 
erste  Gruppe  die  Verletzungen  und  Verstümmelungen.  Die 
hornlos  geborenen  Kälber,  deren  Hornlosigkeit  damit  erklärt  wurde, 
daß  ihr  Vater  oder  ihre  Mutter  ihr  Hörn  durch  einen  Unglücksfall 
verloren  hatten,  —  die  schwanzlosen  Kätzchen  und  Hündchen, 
deren  Schwanzlosigkeit  daher  rühren  sollte,  daß  einem  der  Eiter- 
tiere der  Schwanz  kupiert  worden  war,  spielten  seinerzeit  selbst 
in  der  wissenschaftlichen  Literatur  eine  Rolle.  Weismann  hat 
mit  ihnen  gründlich  aufgeräumt  und  überzeugend  gezeigt,  wie 
wenig  diese  und  ähnliche  Erzählungen  Beweiskraft  zugunsten  einer 
Vererbbarkeit  erworbener  Eigenschaften  beanspruchen  können. 
Viele  Fälle  können  wegen  der  ganz  ungenauen  Angaben  von  vorn- 
herein gar  nicht  weiter  in  Frage  kommen,  andere  erklären  sich  auf 
andere  sehr  einfache  Weise.  Namentlich  bezüglich  der  schwanzlosen 
oder  richtiger  stummelschwänzigen  Kätzchen  konnte  Weismann 
darauf  hinweisen,  daß  angeborene  Stummelschwänzigkeit  bei  Katzen 
schon  lange  als  gar  nicht  seltenes  Vorkommnis  beobachtet  wird, 
und  daß  z.  B.  auf  der  Insel  Man,  aber  auch  in  Japan,  schwanzlose 
Rassen  von  Katzen  zu  Hause  sind  und  gezüchtet  werden.     Sollte 


—     86     — 

also  der  Schluß,  daß  die  Stummelschwänzigkeit  eines  Kätzchens 
mit  der  künstlichen  Schwanzverstümmeliing  der  Mutter  in  ur- 
sächlichem Zusammenhang  stehe,  berechtigt  sein,  so  müßte  zu- 
nächst ausgeschlossen  werden,  daß  einer  der  beiden  Katzeneltern 
oder  einer  der  früheren  Aszendenten  die  Stummelschwänzigkeit  als 
angeborene  Eigentümlichkeit  besaß.  Das  aber  war  in  keinem  der 
beschriebenen  Fälle  beobachtet  und  geprüft  worden.  Die  Schwanz- 
wirbelsäule der  Katzen  und  Hunde  ist  überhaupt,  wie  genauere 
Untersuchungen  gezeigt  haben,  ein  Körperteil,  der  eine  große 
Neigung  zum  Rudimentärwerden  zeigt,  und  die  spontan  auftretenden 
Stummelschwänze  sind  als  verkrüppelte,  nicht  aber  als  verkürzte 
Schwänze  aufzufassen.  Daß  diese  Überlegung  durchaus  begründet 
ist,  lehren  die  Erfahrungen  an  anderen  Tieren.  So  wird  bei  einer 
bestimmten  Schaf rasse  schon  seit  mehr  als  loo  Jahren  der  Schwanz 
aus  bestimmten  Gründen  gestutzt,  aber  trotzdem  ist  noch  niemals 
die  Geburt  eines  schwanzlosen  oder  stummelschwänzigen  Schafes 
in  dieser  Rasse  beobachtet  worden.  Das  wiegt  um  so  schwerer, 
als  bei  anderen  Schaf rassen  Fehlen  des  Schwanzes  einen  Rassen- 
charakter bildet. 

Ähnlich  steht  die  Sache  mit  einem  Beispiel  aus  der  mensch- 
lichen Anatomie:  der  kleinen  Zehe.  Die  kleine  Zehe  des  Menschen 
ist  in  Rückbildung  begriffen ;  diese  Rückbildung  ist  aber  nicht  etwa 
als  erbliche  Wirkung  des  Schuhdruckes  aufzufassen,  denn  sie  findet 
sich  auch  bei  barfuß  gehenden  Völkern. 

Andererseits  hat  sich  von  den  mancherlei  Verstümmelungen, 
die  von  vielen  Völkern  schon  seit  langer  Zeit  absichtlich  geübt 
werden,  der  Beschneidung,  der  Durchbohrung  von  Lippen,  Nase, 
Ohren,  dem  Ausschlagen  der  Zähne  usw.  noch  niemals  eine  erb- 
liche Wirkung  sicher  feststellen  lassen. 

Endlich  haben  auch  zielbewußt  angestellte  Versuche  keine 
Beweise  für  die  Vererbbarkeit  von  Verstümmelungen  ergeben. 
Weismann  selbst  hat  bei  Mäusen,  bei  denen  natürliche  Stummel- 
schwänzigkeit nicht  vorkommt,  durch  22  Generationen  hindiurch 
immer  wieder  die  Schwänze  kupiert,  aber  bei  den  1592  Jungen, 
die  von  entschwänzten  Eltern  geboren  wurden,  niemals  einen  De- 
fekt des  Schwanzes  beobachten  können.  — 

So  darf  wenigstens  diese  Frage  als  geklärt,  und  die  Vererb- 
barkeit von  Verletzungen  und  Verstümmelungen  in  das  Reich  der 


-     87     - 

Fabel  verwiesen  werden.  Wie  allgemein  das  jetzt  anerkannt  ist, 
geht  daraus  hervor,  daß  heutzutage  gelegentlich  die  Meinung  ge- 
äußert wird,  es  sei  unbegreiflich,  wie  Weismann  auf  eine  so  selbst- 
verständliche Sache  so  viel  Zeit  und  Kraft  habe  verwenden  können. 
Ein  Blick  in  die  Literatiu:  zeigt,  daß  die  Frage  durchaus  nicht  so 
selbstverständlich  war;  und  wenn  sie  heute  so  bezeichnet  werden 
kann,  ist  das  eben  das  Verdienst  Weismanns. 

Angebliche  Vererbung  von  funktionellen  Abänderungen. 
Eine  zweite  Gruppe  erworbener  Eigenschaften,  für  die  eine 
Vererbbarkeit  behauptet  worden  ist,  bilden  die  funktionellen 
Veränderungen,  die  Wirkungen  des  Gebrauches  und  des  Nicht- 
gebrauches. Sie  sind  es,  die  in  der  Entwicklungslehre  Lamarcks 
eine  so  große  Rolle  spielen.  Das  ist  auch  verständlich  genug.  Daß 
die  Muskeln  durch  Turnen  gekräftigt  werden,  das  Gedächtnis  diu^ch 
Übung  gestärkt  wird,  Fähigkeiten  der  verschiedensten  Art  durch 
Übung  ausgebildet  und  gesteigert  werden  können,  ist  eine  alltäg- 
liche Erfahrung,  ebenso  wie  die  andere,  daß  manchmal  durch  Gene- 
rationen hindiu^ch  gewisse  Talente  und  Fähigkeiten  vererbt  werden. 
Was  liegt  da  näher,  als  die  Annahme,  daß  die  innigen  Anpassungen, 
die  die  Organe  an  ihre  Funktion,  und  die  Organismen  an  ihre  Lebens- 
bedingungen zeigen,  dadurch  zu  erklären  seien,  daß  die  Übungs- 
resultate, die  in  einer  Generation  erreicht  werden,  der  nachfolgenden 
zugute  kommen,  daß  eine  Fertigkeit,  die  der  Vater  sich  während 
seines  Lebens  erwirbt,  eine  entsprechende  günstige  Ausstattung  des 
Sohnes  bedingt  ?  Vielleicht  noch  zwingender  erscheint  es,  das 
Rudimentärwerden  nutzloser  und  daher  nicht  mehr  gebrauchter 
Organe  als  erbliche  Folge  des  Nichtgebrauches,  als  erbliche  In- 
aktivitätsatrophie  aufzufassen.  Wenn  die  Augen  von  Höhlentieren 
verkümmert  gefunden  werden,  so  drängt  sich  gewiß  der  Schluß 
auf,  daß  diese  Verkümmerung  bei  den  Individuen  intra  vitam  als 
unmittelbare  Folge  des  Nichtgebrauches  auftrat  und,  nachdem  sie 
sich  durch  Generationen  immer  wiederholt  hatte,  allmählich  zu 
einer  erblichen  Eigenschaft  der  Art  wurde. 

Aber  so  nahe  auch  diese  Überlegungen  liegen,  so  läßt  sich, 
nach  Weismanns  Auffassung,  doch  kein  Fall  nachweisen,  in  dem 
sie  wirklich  zwingend  wären.  Nach  Weismann  bleiben  alle  die 
Wirkungen  des  Gebrauches  und  des  Nichtgebrauches  auf  das  In- 


—     88     — 

dividuum  beschränkt,  und  die  Fälle,  in  denen  sie  scheinbar  auf 
die  Nachkommen  übertragen  werden,  müssen  auf  andere  Weise 
erklärt  werden:  durch  Naturzüchtung  (Personalselektion,  in  Ver- 
bindung mit  Germinalselektion) .  Das  gilt  sowohl  für  die  allmähliche 
stammesgeschichtliche  Steigerung  der  Ausbildung  und  Leistungs- 
fähigkeit eines  viel  gebrauchten  Organes,  wie  für  die  allmähliche 
Rückbildung  eines  solchen,  das  nutzlos  geworden  ist  und  daher 
nicht  mehr  gebraucht  wird.  Wir  werden  später,  bei  Besprechung 
der  Personalselektion  und  der  Germinalselektion,  genauer  zu  be- 
sprechen haben,  welche  Vorgänge  Weismann  dabei  als  wirksam 
annimmt. 

Harmonische  Anpassung  (Koadaptation). 
Die  Auffassung  von  der  Nichtvererbung  funktioneller  An- 
passung ist  unter  allen  Lehren  Weismanns  die,  die  den  bestimm- 
testen Widerspruch  hervorgerufen  hat,  am  schärfsten  und  nach- 
haltigsten bekämpft  worden  ist.  Namentlich  war  es  der  englische 
Philosoph  Herbert  Spencer,  mit  dem  Weismann  deswegen  in 
eine  lebhafte  Fehde  geriet.  Unter  den  Einwürfen,  durch  die  Spencer 
die  Annahme  einer  Vererbung  funktioneller  Abänderungen  als 
notwendig  beweisen  wollte,  spielt  wohl  die  Hauptrolle  der  Hin- 
weis auf  die  Korrelationen,  die  zwischen  den  einzelnen  Teilen  des 
Organismus  bestehen,  und  die  vielfach  so  eng  und  unmittelbar  sind, 
daß  eine  Abänderung  an  einem  derselben  notwendigerweise  eine 
solche  an  anderen  im  Gefolge  haben  muß.  Dies  ist  besonders  immer 
da  der  Fall,  wo  mehrere  an  sich  verschiedenartige  Teile  doch  auf 
gemeinsames  Funktionieren  angewiesen  sind  und  daher  immer  in 
einem  bestimmten  Verhältnis  zu  einander  stehen  müssen.  Sehr 
leicht  ist  diese  harmonische  Anpassung  oder  Koadaptation 
erkennbar  in  dem  von  Spencer  angeführten  Beispiel  des  eiszeit- 
lichen Riesenhirsches  der  irischen  Torfmoore  mit  seinem  riesigen 
Geweih.  Ein  solches  hätte  sich  gar  nicht  für  sich  allein  ausbilden 
können,  sondern  erforderte  zugleich  eine  Zunahme  der  Dicke  imd 
Festigkeit  der  Schädeldecke,  eine  Verstärkung  des  Nackenbandes 
sowie  der  Hals-  und  Rückenmuskulatur  imd  der  Wirbeldornfort- 
sätze, von  denen  die  Muskeln  entspringen,  ferner  der  zugehörigen 
Nerven  imd  Gefäße,  der  vorderen  Extremitäten,  ja,  der  ganzen 
Vorderhälfte  des  Tieres.     Ohne  diese  begleitenden  Veränderungen 


-     89     - 

hätte  das  riesige  Geweih  für  das  Tier  nicht  nur  keinen  Wert,  sondern 
es  könnte  ihm  geradezu  verderbhch  werden.  TatsächUch  waren 
denn  auch  die  genannten  Veränderungen,  soweit  sich  das  aus  dem 
Skelett  entnehmen  läßt,  beim  Torfhirsch  wirklich  ausgebildet. 

Vom  Standpunkt  des  Lamarekismus  aus  läßt  sich  das  alles 
sehr  einfach  erklären:  jene  Veränderungen  erscheinen  dann  als  un- 
mittelbare vererbte  Folgen  des  stärkeren  Gebrauches,  als  sekundäre 
Folge  der  Vergrößerung  des  Geweihes.  Dagegen  ist  es  in  der  Tat, 
wie  H.  Spencer  betont,  recht  schwierig,  sie  ohne  das  Lamarcksche 
Prinzip,  etwa  durch  Züchtungsprozesse,  zu  erklären.  Denn  die 
Grundlage  für  diese  bilden  die  kleinen  individuellen  Abweichungen, 
die  die  Individuen  einer  Art  zeigen,  und  es  müßten  somit  in  jenen 
Fällen  ,, harmonischer  Anpassung"  gleichzeitig  an  allen  den  ge- 
nannten Teilen  die  entsprechenden  Veränderungen,  unabhängig 
voneinander,  aufgetreten  und  durch  Naturzüchtung  erhalten  und 
gesteigert  worden  sein.  So  viele  Züchtimgsprozesse  zugleich 
seien  aber  nicht  vorstellbar,  und  andererseits:  wenn  die  Verände- 
rungen nicht  gleichzeitig  erfolgten,  so  nützte  die  Abänderung  des 
einzelnen  Teiles  nichts. 

Anpassungen  der  Ameisenneutra. 

Diesen  in  der  Tat  sehr  bestechenden  Gedankengängen  gegen- 
über konnte  Weismann  auf  ein  Beispiel  hinweisen,  in  dem  eine 
solche  harmonische  Anpassung  verschiedener  Organe  schlechter- 
dings nicht  auf  dem  Wege  der  Vererbung  funktioneller  Abände- 
rungen entstanden  sein  kann,  da  sie  sich  bei  Formen  herausgebildet 
hat,  die  steril  sind,  die  also  gar  nichts  auf  Nachkommen  vererben 
können. 

Der  Fall,  der  von  Weismann  wiederholt  behandelt  worden 
ist,  betrifft  die  Neutra  oder  Arbeiterinnen  der  staatenbildenden 
Insekten,  vor  allem  der  Ameisen  und  Termiten.  Die  Fortpflanzimgs- 
organe  derselben  bleiben  klein  und  sind  in  vielen  Fällen  geradezu 
verkümmert  zu  nennen;  eine  Fortpflanzung  kommt  höchstens  noch 
ausnahmsweise  vor,  Sie  sind  somit  außerstande,  irgend  eine  Be- 
sonderheit ihres  Baues  auf  Nachkommen  zu  übertragen,  und  eine 
Vererbung  funktioneller  Erwerbungen  kommt  bei  ihnen  nicht  in 
Betracht.  Trotzdem  aber  weichen  sie  von  ihren  Eltern,  den  Männ- 
chen tmd  Weibchen,  in  einer  ganzen  Anzahl  von  Merkmalen  in  sehr 


—       QO       — 

charakteristischer  Weise  ab,  und  diese  Abweichungen  erscheinen  als 
Anpassungen  an  ihre  besonderen  Aufgaben,  stehen  untereinander 
in  harmonischem  Zusammenhang  und  machen  somit  ganz  wie  die 
vorhin  erwähnten  des  Torfhirsches  den  Eindruck,  als  ob  sie  unter 
dem  Einfluß  des  Gebrauches  und  des  Nichtgebrauches,  unter  Ver- 
erbung der  Wirkungen  beider,  entstanden  seien. 

Phyletisch  sind  die  Arbeiterinnen  durch  Umgestaltungen 
fruchtbarer  Weibchen  entstanden ;  die  Umbildungen  aber  sind  ihrer 
Art  nach  teils  Rückbildungen,  teils  Vorwärtsbildungen. 
Rückgebildet  sind,  bei  den  einzelnen  Arten  in  verschiedenem  Grade, 
die  Geschlechtsorgane,  und  damit  hängt  eben  ihre  Sterilität  zu- 
sammen, rückgebildet  sind  aber  auch  die  Augen  und  Flügel,  und 
in  Zusammenhang  mit  den  letzteren  die  beiden  Abschnitte  des 
Thorax,  an  denen  sonst  die  Flügel  sitzen,  dazu  die  Muskeln  der 
Flügel.  Das  steht  in  inniger  Beziehung  zu  den  Aufgaben  der  Tiere 
innerhalb  des  Ameisenstaates:  der  Aufzucht  der  Blattläuse,  Herbei- 
schaffung der  Nahrung,  Sorge  für  die  Puppen  u.  a.  Durch  diese 
Aufgabe  werden  die  Tiere  genötigt,  am  Boden  und  auch  viel  im 
Dunkeln  zu  leben  und  zu  arbeiten,  —  wodurch  die  Flügel  und  die 
Augen  überflüssig  werden.  Auf  der  anderen  Seite  werden  durch 
dieselben  Aufgaben  größere  Intelligenz  und  vielseitigere  Instinkte 
von  ihnen  verlangt,  und  damit  steht  die  stärkere  Entwicklung  des 
Gehirnes  in  Zusammenhang.  Bei  gewissen  Arten  ist  dann  noch  eine 
besondere  Kaste  der  Arbeiterinnen  als  Soldaten  ausgebildet  imd 
mit  der  Verteidigung  der  Kolonie  betraut,  und  diese  sind  aus- 
gezeichnet durch  ganz  besonders  kräftige  Kiefer,  mächtige  Kiefer- 
muskeln und  einen  dementsprechend  riesigen  Kopf.  Sie  zeigen 
also  ganz  ähnliche  harmonische  Abänderungen,  wie  wir  sie  beim 
Torfhirsch  fanden,  nur  in  geringeren  absoluten  Massen. 

Alle  diese  Veränderungen  müssen  sich  im  Laufe  der  phyletischen 
Entwicklung  bis  zu  dem  jetzigen  Grade  der  Vollkommenheit  all- 
mählich ausgebildet  haben,  in  engster  Beziehung  zu  den  Aufgaben 
der  Arbeiterinnen  im  Ameisenstaat.  Und  doch  kann  die  unmittel- 
bare Wirkung  der  Funktion  als  umwandelnder  Faktor  hier  nicht 
in  Frage  kommen,  da  diese  Wirkungen  bei  der  Sterilität  der  Tiere 
gar  nicht  übertragbar  waren.  Die  Arbeiterinnen  pflanzen  sich  nicht 
selbst  fort,  sondern  werden  von  Männchen  und  Weibchen  der  Ameisen 
immer  neu  erzeugt.     Das  Prinzip  des  Lamarekismus  versagt  also 


—        QI        — 

hier  durchaus.  Das  ist  ganz  besonders  von  Wichtigkeit  im  Hin- 
blick auf  die  harmonische  Anpassung,  aller  zum  Kieferapparat 
gehörigen  Teile  bei  den  Soldaten:  wir  sehen,  es  kann  eine  solche 
harmonische  Anpassung  sehr  verschiedenartiger  Teile  auch  erfolgen 
ohne  eine  Vererbung  funktioneller  Abänderungen.  Was  aber  bei 
den  Ameisen  möglich  war,  mußte  wohl  bei  dem  Torfhirsch  auch 
möglich  gewesen  sein.  Auf  welchem  Wege,  —  das  ist  dann  freilich 
eine  neue  Frage.  Solange  Weis  mann  nur  mit  der  Alternative 
,, Lamarekismus  oder  Selektion"  rechnete,  konnte  auch  hier  nur 
die  letztere  für  ihn  in  Betracht  kommen ;  die  Bedenken  an  der  aus- 
reichenden Leistungsfähigkeit  dieses  Prinzipes  ließen  ihn  dann 
später  noch  die  Germinalselektion  zu  Hilfe  nehmen.  Darauf  wird 
später  zurückzukommen   sein. 

Man  mag  wie  immer  über  die  Selektionstheorie  denken,  — 
an  einem  kann  wohl  nicht  gezweifelt  werden:  daß  durch  die  weit- 
gehenden Anpassungen,  die  die  Arbeiterinnen  der  Ameisen  trotz 
ihrer  Sterilität  zeigen,  das  Prinzip  des  Lamarekismus  einen  sehr 
schweren  Stoß  erleidet.  Der  daraus  notwendig  zu  ziehende  Schluß, 
daß  weitgehende  harmonische  Veränderungen  einer  ganzen  Anzahl 
von  Teilen  im  Laufe  der  Stammesgeschichte  erfolgen  können,  ohne 
daß  dabei  die  Vererbung  der  Gebrauchswirkungen  mitspielte,  also 
ohne  daß  die  Organismen  selbst  dabei  mithalfen,  indem  sie  durch 
Annahme  und  Ausübung  neuer  Gewohnheiten  die  morphologischen 
Veränderungen  einleiteten  und  weiterhin  steigerten,  dieser  Schluß 
muß  für  alle  vergleichend-anatomischen  Spekulationen  von  der 
allergrößten  Bedeutung  sein.  Wer  sich  nicht  damit  begnügen  will, 
die  Skeletteile  oder  irgend  welche  sonstigen  anatomischen  Einrich- 
tungen verschiedener  Formen  rein  morphologisch  zu  vergleichen, 
wer  sich  vielmehr  bewußt  bleibt,  daß  die  Umwandlungen  der  Formen 
und  die  damit  so  vielfach  verbundenen  Änderungen  in  der  Funktion 
einzelner  Teile  sich  nicht  an  trockenen  Sammlungsskeletten  oder 
,, Spirituskonserven",  wie  Max  Weber  einmal  sagt,  abgespielt 
haben,  sondern  an  lebenden  Wesen,  und  daß  alle  Einrichtungen 
zu  jeder  Zeit  gebrauchsfähig  sein  mußten,  der  wird  freilich  oft  genug 
glauben,  ohne  das  Prinzip  des  Lamarekismus  nicht  auskommen 
zu  können.  Um  an  eins  der  größten  Probleme  aus  der  Wirbeltier- 
morphologie, vielleicht  das  größte,  schwerste  und  bedeutungsvollste 
zu  erinnern:  die  Überführung  von  Teilen  des  Kieferapparates  der 


—       92        — 

NichtSäuger  in  den  Dienst  des  Gehörorganes  (als  Hammer  und  Am- 
boß) und  die  damit  verbundene  Ausbildung  des  neuen  Kiefergelenkes 
bei  den  Säugern  —  welch  eine  Menge  verschiedenartiger  Verände- 
rungen, die  doch  alle  ineinander  greifen,  zu  jeder  Zeit  ein  harmo- 
nisches leistungsfähiges  Ganzes  bilden  müssen,  wird  dabei  voraus- 
gesetzt! Um  sie  sich  verständlicher  zu  machen,  kann  man  kaum 
anders,  als  die  lange  Reihe  von  Generationen  sich  gewissermaßen 
nur  als  ein  einziges  Individuum,  aber  mit  unendlich  verlängerter 
Lebensdauer  und  stets  gleichbleibender  jugendlicher  Anpassimgs- 
fähigkeit  zu  denken  und  sich  an  diesem  die  morphologischen  Um- 
wandlungen in  stetem  Zusammenhang  mit  der  Funktion,  als  Folge 
der  sich  ändernden  Gewohnheiten  vorzustellen.  Nach  Lamarck- 
scher  Vorstellung  wäre  die  Vererbung  somatogener  Veränderungen 
das  wundertätige  Bindemittel,  das  eine  lange  Kette  auseinander 
hervorgehender  Einzelindividuen  zu  einem  großen  Stammesindi- 
viduum vereinigte;  in  dem  Beispiel  der  sterilen  Ameisenarbeiter- 
innen aber  fällt  dieses  Bindemittel  fort  und  damit  die  Möglichkeit, 
jenes  Bild  auch  nur  als  Bild  beizubehalten. 

Anpassungen  der  bloß  „passiv  wirksamen"  Teile 
und  Merkmale. 
Außer  den  Anpassungen  der  Ameisenneutra  gibt  es,  wie  Weis- 
mann  wiederholt  hervorgehoben  hat,  noch  eine  zweite  Gruppe  von 
Erscheinungen,  die  den  Glauben  an  eine  Vererbung  funktioneller 
Abänderungen  zu  erschüttern  geeignet  sind  oder  doch  jedenfalls 
zeigen,  daß  eine  solche  Annahme  nicht  nötig  ist,  um  die  stammes- 
geschichtliche Verbesserung  oder  Verschlechterung  eines  Teiles  zu 
erklären:  die  große  Menge  der  Einrichtungen  und  Merkmale,  die 
nur  durch  ihre  bloße  Anwesenheit,  ihr  Dasein  wirken,  dem 
stärkenden  Einfluß  des  Gebrauches  und  dem  schwächenden  des 
Nichtgebrauches  aber  entzogen  sind.  Weismann  faßt  sie  als 
passiv  wirkende  zusammen  und  rechnet  zu  ihnen:  die  Färbungen 
der  Tiere,  die  Chitinskelette  der  Gliedertiere,  die  mannigfaltigen 
Schutzvorrichtungen  bei  Pflanzen,  wie  Dornen,  Borsten,  Haare, 
Schalen  der  Nüsse,  ferner  die  Flug  Vorrichtungen  der  Samen  und 
vieles  andere.  Man  sieht,  es  sind  recht  verschiedenartige  Dinge, 
deren  Wirkimgsart  demnach  auch  sehr  verschieden  sein  wird.  Ihre 
Zusammenfassung  als  ,, passiv  wirkende"  Teile  ist  sondt  mehr  ein 


—     93     — 

Notbehelf  und  nicht  ein  besonders  glücklicher,  da  die  Bezeichnung 
„passiv  funktionierende"  Gewebe  und  Organe  von  Roux  bereits 
für  etwas  ganz  Bestimmtes,  nämlich  für  die  Gewebe  der  Stütz- 
substanzgruppe und  die  aus  ihnen  gebildeten  Organe  gebraucht 
wird.  Etwas  besser  wäre  schon  „passiv  wirksam".  Für  einige 
der  genannten  Einrichtungen  liegt  die  Richtigkeit  der  Weismann- 
schen  Überlegungen  wohl  klar  zutage.  So  für  Färbungen:  eine 
Schutzfärbung  z.  B.  wird  nicht  besser  dadurch,  daß  sie  häufig 
ihre  Aufgabe,  das  Tier  zu  verbergen,  erfüllt.  Das  gleiche  würde 
übrigens  auch  für  manche  Formbesonderheiten  gelten,  diurch  die 
Ähnlichkeiten  irgendwelcher  Art  geschaffen  oder  verstärkt  werden, 
wie  bei  den  Blattheuschrecken.  Hier  handelt  es  sich  um  Merkmale, 
die  tatsächlich  nur  eine  ,,Daseins"-Wirkung  haben,  selbst  aber 
diurchaus  vmtätig  und  jedem  Einfluß  des  Gebrauches  entzogen  sind. 
Man  könnte  sie  vielleicht  untätige  oder  apraktische  Merkmale 
nennen  (selbständige  ,,Teüe"  sind  es  gar  nicht)  2°).  Ihre  stammes- 
geschichtliche Ausbildung  zu  hoher  Vollkommenheit  kann  nicht 
als  erbliche  Wirkung  der  Funktion  erklärt  werden,  da  eine  eigent- 
liche „Fimktion"  gar  nicht  ausgeübt  wird.  Hier  muß  also  eine  andere 
Kraft  die  Ursache  der  hohen  Ausbildung  gewesen  sein:  nach  Weis- 
mann  die  Naturzüchtung,  die  die  zufällig  aufgetretenen  und  als 
nützlich  bewährten  Variationen  auswählte  und  steigerte. 

Am  nächsten  stehen  ihnen  die  verschiedenen  passiven  Schutz- 
vorrichtungen, die  aus  irgend  einem  festen  Material  gebildet  sind, 
so  die  Dornen  und  Stacheln  der  Pflanzen  und  ähnliches.  Sehr 
drastisch  bemerkt  Weismann:  ,,Eine  mit  Dornen  über  und  über 
bewaffnete  Akazie  kommt  selten  in  den  Fall,  ihre  Waffen  überhaupt 
nur  einmal  anzuwenden,  und  wenn  einmal  irgend  ein  hungriger 
Wiederkäuer  sich  an  den  Dornen  sticht,  so  sind  es  doch  immer 
nur  wenige  der  Dornen,  die  ,geübt'  werden,  die]  übrigen  bleiben 
unberührt."  Für  die  Flugvorrichtungen  der  Samen  gilt  gleiches. 
Bei  den  Chitinskeletten  der  Arthropoden,  auf  die  Weis  mann 
auch  großen  Wert  in  diesem  Zusammenhange  legt,  würde  dagegen 
wohl  genauer  zu  unterscheiden  sein,  zu  welchem  Zweck  die  Chitin- 
teile Verwendung  finden.  Weismanns  allgemeine  Überlegtmg 
geht  dahin :  Die  Chitinteile  werden  als  weiche  Massen  von  der  unter 
ihnen  gelegenen  Hypodermis  abgeschieden,  treten  aber  erst  in  Ge- 
brauch, wenn  sie  an  der  Luft  vollkommen  erhärtet  sind.    Alsdann 


—     94     — 

aber  sind  sie  unveränderlich,  nicht  mehr  plastisch;  sie  können  weder 
durch  Muskelzug,  noch  sonstwie  durch  den  Gebrauch  weiter  ver- 
dickt, sondern  höchstens  abgerieben,  verdünnt  oder  gar  verstümmelt 
werden.  Soll  etwas  Neues  an  ihnen  auftreten,  so  wird  es  bei  der 
nächsten  Häutung  von  der  unterliegenden  Hypodermis  produziert; 
es  entsteht  vor  dem  Abwerfen  der  alten  Chitinhaut,  unter  dem 
Schutze  derselben,  und  tritt  erst  in  Gebrauch,  nachdem  es  fertig 
gebildet  ist.  So  sei  es  auch  in  der  Stammesgeschichte  gewesen: 
nicht  durch  allmähliche  Umwandlung  während  des  Gebrauches, 
sondern  durch  plötzliche  geringfügige  Modifiziertmg  vor  dem  Ge- 
brauch haben  sich  die  Teile  des  Chitinskelettes  entwickelt.  Von 
dieser  allgemeinen  Erwägung  aus  erfahren  dann  die  Besonderheiten 
derselben  ihre  Deutung:  sie  sind  nicht  auf  die  Funktion,  sondern 
auf  Selektionsprozesse  zurückzuführen.  Dies  gilt  zunächst  für  die 
verschiedene  Dicke  an  den  einzelnen  Körperteilen.  Nirgends  am 
ganzen  Körper  des  Gliedertieres  kann  die  Anpassung  des  Skelettes 
in  bezug  auf  Dicke  und  Widerstandskraft  durch  die  Funktion  selbst 
geregelt  worden  sein,  sondern  überall  erfolgt  das  ,,nur  durch  Se- 
lektionsprozesse, die  jeder  Stelle  desselben  die  Dicke  zusprachen, 
die  sie  braucht,  damit  der  Teil  leistungsfähig  sei,  mag  es  sich  nun 
um  den  Widerstand  gegen  Muskelzug,  oder  um  Biegsamkeit  einer 
Gelenkfalte,  um  Härte  zum  Zerbeißen  der  Nahrtmg,  oder  zum 
Bohren  in  Holz  oder  Erde  handeln,  oder  etwa  um  bloßen  Schutz  gegen 
äußere  Schädlichkeiten".  Dasselbe  gilt  weiterhin  für  die  mannig- 
fachen, zum  Teil  sehr  komplizierten  Apparate  zum  Singen,  Schreien, 
Reinigen  der  Fühler  u.  a.,  bei  denen  zudem  immer  Veränderungen 
an  zahlreichen  Teilen  stattfinden  mußten,  die  also  sehr  schöne 
Beispiele  von  Koadaptation  abgeben.  Endlich  gilt  es  auch  für  die 
Verkümmerung  chitinöser Teile,  wenn  sie  überflüssig,  bedeutungs- 
los werden.  Derartige  Verkümmerungen  kommen  am  Hinterleib 
solcher  Krebse  und  Insekten  vor,  die  denselben  dtuch  ein  Gehäuse 
schützen  (bei  Einsiedlerkrebsen,  die  den  Hinterleib  in  Schnecken- 
schalen verbergen,  bei  den  Larven  der  Köcherfliegen,  die  ihn  in 
einem  aus  Pflanzenteilen  selbst  gefertigten  Gehäuse  verstecken  u.  a.). 
Nach  Weismanns  Auffassung  kann  auch  diese  Verkümmerung 
des  Chitinpanzers  an  den  geschützten  Körperabschnitten  nicht 
durch  das  Prinzip  des  Lamarekismus,  also  nicht  als  erbliche  Folge 
des  Nichtgebrauches  erklärt  werden,  da  ja  die  geringe  Inanspruch- 


—     95     — 

nähme  der  geschützten  Chitinteile  gerade  umgekehrt,  im  Sinne 
einer  Schonung  hätte  wirken  müssen.  So  bliebe  auch  hier  nur  die 
Naturzüchtung  als  Erklärungsprinzip  übrig. 

Diesen  Auffassungen  Weismanns  ist  entgegengehalten 
worden,  daß  unter  der  abgesonderten  Chitinschicht  die  Hypodermis 
liegt,  d.  h.  die  Zellschicht,  der  das  Chitin  seine  Entstehtmg  verdankt, 
und  daß  diese  Hypodermis  auf  Reize  der  verschiedensten  Art 
reagieren,  somit  auch  auf  stärkere  funktionelle  Beanspruchung  mit 
verstärkter  Chitinproduktion  antworten  könne.  Dieser  Einwand 
ist  gewiß  im  allgemeinen  berechtigt.  Indessen  muß  doch  wohl, 
wenn  es  sich  um  die  Frage  nach  der  Vererbbarkeit  funktioneller 
Verändertmgen  handelt,  weniger  Wert  darauf  gelegt  werden,  ob 
die  Chitinskeletteile  oder  sonstweiche  Hartgebilde  sich  funktionell 
anzupassen  imstande  sind,  als  vielmehr  darauf,  ob  auf  Grund 
ihrer  besonderen  Verwendung  dieses  Vermögen  auch  wirklich  so 
ausgiebig  in  Anspruch  genommen  wird,  daß  sich  dadurch 
—  die  Vererbung  der  Anpassungen  vorausgesetzt  —  eine  stammes- 
geschichtliche Verbesserung  erklären  ließe.  Wo  es  sich  um  bloße 
Schutzteile  handelt,  dürfte  letzteres  doch  oft  sehr  schwer  sein; 
es  werden  hier  vielfach  ähnliche  Erwägungen  Geltung  haben,  wie 
sie  Weismann  bezüglich  der  Dornen  der  Akazie  und  ihrer  funk- 
tionellen Beanspruchung  äußert.  Weismann  selbst  weist  mit 
entsprechenden  Überlegungen  auf  die  Flügeldecken  der  Käfer  hin, 
in  denen  gar  keine  Muskeln  liegen,  und  die  doch  bei  vielen  Arten 
die  dicksten  tmd  härtesten  Stellen  des  ganzen  Hautpanzers  sind. 
,,Der  Grund  liegt  nahe;  sie  schützen  die  darunter  verborgenen 
Flügel  und  die  weiche  Haut  des  Rückens,  und  an  diese  setzen 
sich  die  Muskeln  an!  ein  Verhalten,  welches  nur  durch  seine 
Zweckmäßigkeit,  nicht  aber  durch  irgend  welche  direkte  Wir- 
kimgen  zu  erklären  ist."  Auch  die  Verkümmerung  des  Panzers 
an  dem  geschützten  Hinterleib  der  Einsiedlerkrebse  tmd  Köcher- 
fliegenlarven hängt  doch  wohl  mit  dem  Geschütztsein  des  Hinter- 
leibes, nicht  mit  dem  Fortfall  funktioneller  Inanspruchnahme  des 
Panzers  zusammen.  Der  durch  den  Schutz  bedingte  Fortfall  der 
allgemeinen  Außenweltsreize,  die  sonst  die  Hypodermis  treffen, 
würde  weniger  in  das  Kapitel  des  Lamarekismus  im  engeren  Sinne, 
als  in  das  der  direkten  Medium  Wirkungen  gehören  2^). 


-     96     - 

Instinkte. 

Eine  Gruppe  von  Erscheinungen,  für  die  von  jeher  das  Prinzip 
des  Lamarekismus  ganz  besonders  als  durchaus  notwendig  zur  Er- 
klärung angesehen  wiurde  und  vielfach  auch  jetzt  noch  angesehen 
wird,  bilden  die  Instinkte.  Gewiß  liegt  es  am  nächsten,  sie  ent- 
standen zu  denken  aus  Handlungen,  die  anfangs  zweckbewußt 
ausgeführt,  dann  aber  durch  fortgesetzte  Wiederholung  im  Laufe 
der  Generationen  und  durch  Vererbung  der  Übungsresultate  zu 
fixierten  Mechanismen  geworden  sind.  Aber  auch  hier  konnte  Weis- 
mann auf  Fälle  hinweisen,  bei  denen  diese  Überlegung  versagt: 
auf  die  zahlreichen  Instinkte,  die  überhaupt  nur  einmal  im  Leben 
zur  Ausführung  gelangen,  bei  denen  also  von  erblicher  Wirkung  der 
Übung  nicht  die  Rede  sein  kann.  Hierher  gehören  der  Hochzeits- 
flug der  Bienenkönigin  mit  seinen  vielen  und  komplizierten  In- 
stinkten und  Reflexmechanismen,  ferner  die  Eiablage,  die  sich  bei 
manchen  Insekten  unter  Ausübung  der  kompliziertesten  Instinkt- 
handlungen vollzieht,  die  Anfertigung  von  Schutzhüllen  bei  der 
Verpuppung  zahlreicher  Insekten,  wie  des  höchst  kunstvollen  Ge- 
spinnstes  des  Nachtpfauenauges  u.  a.  Ist  aber  bei  diesen  nur  einmal 
im  Leben  ausgeführten  Instinkthandlungen  die  Erklärung  durch 
Annahme  einer  Vererbung  von  Übungsresultaten  immöglich,  und 
ein  anderer  Mechanismus  dafür  verantwortlich  zu  machen,  so 
liegt  kein  Grund  vor,  bei  anderen  Instinkten  etwas  anderes  voraus- 
zusetzen. 

Geistige  Fähigkeiten,  spezifische  Talente. 
Der  Musiksinn. 
In  diesem  Zusammenhang  sind  dann  endlich  auch  noch  die 
verschiedenen  geistigen  Fähigkeiten  des  Menschen  und  be- 
sonders die  spezifischen  Talente,  für  Musik,  bildende  Künste, 
Dichtkunst,  Mathematik  usw.  zu  nennen,  deren  hohe  Ausbildung 
beim  Kulturmenschen  sicherlich  auch  am  leichtesten  und  bequemsten 
auf  eine  Summierung  der  durch  Generationen  in  jedem  Einzel- 
leben erlangten  Übungsresultate  erklärt  würden.  Wiederholt  hat 
sich  Weismann  mit  diesen  Erscheinungen  beschäftigt;  namentlich 
die  Frage  nach  der  Herkunft  und  Ausbildung  des  Musiksinnes 
mußte  ihn,  der  selbst  ein  trefflicher  Musiker  war,  ganz  besonders 
zum  Nachdenken  anregen.     Ihr  ist  denn  auch  ein  besonderer  viel 


—     97     — 

besprochener  Aufsatz  vom  Jahre  1889  gewidmet,  in  dem  sich  ein 
feines  Musikverständnis,  Kenntnis  der  historischen  Entwicklung 
der  Musik  und  anderer  kultureller  Gebiete  mit  den  scharfsinnigen 
Erwägungen  des  kenntnis-  und  gedankenreichen  Naturforschers 
vereinen . 

Hier,  wie  in  dem  Vortrag  über  die  Vererbung,  von  1883,  der 
zum  ersten  Male  die  erwähnten  Erscheinungen  berührt,  sieht  sich 
Weismann  zur  Erklärimg  derselben  lediglich  auf  die  Alternative: 
,, Lamarekismus  oder  Personalselektion  als  Naturzüchtung  bzw. 
sexuelle  Züchtung"  angewiesen;  eine  selbsttätige  innere  Steigerungs- 
kraft, wie  er  sie  später  in  der  Germinalselektion  annahm,  kam  für 
ihn  damals  noch  nicht  in  Frage.  Für  die  allgemeinen  geistigen 
Fähigkeiten,  hohe  Intelligenz,  Phantasie,  Gedankenreichtum,  gutes 
Gedächtnis,  Erfindungsgabe,  dazu  aber  auch  Fleiß,  Ausdauer, 
Selbstvertrauen,  Willenskraft  .und  Tatendrang,  läßt  sich  ja  nun 
eine  Steigerung  durch  den  Kampf  ums  Dasein  im  Laufe  der  Mensch- 
heitsgeschichte recht  wohl  verstehen,  dagegen  kann  das  nicht 
gelten  für  die  spezifischen  Talente.  Natiirzüchtung  kann  sie 
nicht  gesteigert  haben,  da  von  ihrem  Vorhandensein  weder  das 
Leben  abhängt,  noch  durch  sie  die  Aussicht  auf  Fortpflanzung  ver- 
größert wird.  Sexuelle  Züchtung  aber,  durch  die  Darwin  nicht 
nur  die  musikahschen  Fähigkeiten  der  Zikaden  und  der  Vögel, 
sondern  auch  den  primitiven  Gesang  des  Urmenschen  und  die 
Steigerung  der  musikalischen  Begabung  bei  der  Menschheit  er- 
klären wollte,  könnte  vielleicht  in  einzelnen  Individuen  und  Familien 
eine  Verbesserung  des  Talentes  über  den  Durchschnitt  bedingen, 
würde  aber  nicht  imstande  sein,  die  ungeheure  Steigerung  der 
Musikanlage  zu  erklären,  die  bis  heute  stattgefunden  haben  müßte, 
wenn  wirklich  in  den  ältesten  Tagen  des  Urmenschen  zuerst  die 
Grundlage  des  Musiksinnes  gelegt  worden  wäre.  Praktisch  hat 
eine  Auslese,  auf  Grund  des  musikalischen  oder  sonst  eines  Talentes, 
in  größerem  Umfange  jedenfalls  nicht  stattgefunden.  Im  Gegenteil, 
gerade  unsere  größten  Musiker  haben  mit  den  bittersten  Ent- 
behrungen gekämpft.  So  könnte  es  scheinen,  als  ob  hoch  entwickelte 
spezifische  Talente  doch  nur  als  Ergebnis  einer  durch  Generationen 
fortgesetzten  Übung  erklärt  werden  könnten.  Indessen  läßt  sich 
auch  hiergegen  manches  einwenden,  so  vor  allem  das  gar  nicht 
seltene  scheinbar  plötzliche  Auftreten  einer  hohen  spezifischen  Be- 

Oaupp,  Biographie  Weismanns.  7 


gabting  in  einer  Familie,  in  der  die  entsprechenden  Anlagen  zwar 
vorhanden  gewesen  sein  mögen,  aber  jedenfalls  nicht  durch  besondere 
Übung  gesteigert  wurden.  Gauß,  Händel,  Tizian  werden  von 
Weis  mann  als  Beispiele  hierfür  genannt.  So  stellt  er  denn  eine 
neue  Erklärung  für  die  fraglichen  Erscheinungen  auf.  Sie  geht 
davon  aus,  daß  alle  Talente,  streng  genommen,  gar  nicht  etwas 
eigentlich  Spezifisches,  überhaupt  nichts  einfaches  sind,  daß  sie 
nicht  auf  einem  einheitlichen  Besitz,  etwa  dem  eines  besonderen 
Gehirnteiles,  beruhen,  sondern  auf  glücklicher  Kombination  ver- 
schiedener Anlagen,  die  an  sich  in  jedem  Gehirn  vorhanden,  bei 
dem  Talent  aber  besonders  und  einseitig  gesteigert  und  mit  anderen 
in  glücklicher  Weise  gemischt  sind.  Diese  Mischung  aber  ist  ztu"ück- 
zuführen  auf  Kreuzung  elterlicher  Anlagen,  entsprechend  dem  so 
oft  zitierten  Ausspruch,  in  dem  Goethe  seine  eigene  Begabung 
in  ihre  einzelnen  Komponenten  auflöst  und  diese  als  Erbteile  seiner 
verschiedenen  Aszendenten  anspricht:  ,,Vom  Vater  hab'  ich  die 
Statur,  Des  Lebens  ernstes  Führen,  Von  Mütterchen  die  Froh- 
natur, Und  Lust  zu  fabulieren"  usw.  Die  häufige  Vereinigung 
mehrerer  Talente  in  einer  Person,  das  Auftreten  verschiedener 
Talente  in  einer  Familie  (z.  B.  Mendelssohn,  Feuerbach),  sowie 
das  gehäufte  Auftreten  eines  bestimmten  Talentes  nach  der  all- 
gemeinen Geistesströmung  der  Zeit,  reden  dieser  Auffassung  das 
Wort.  Alle  jene  oben  genannten  geistigen  Besitztümer,  hohe  In- 
telligenz, Phantasie  usw.,  für  deren  Steigerung  Naturzüchtung 
recht  wohl  verantwortlich  gemacht  werden  kann,  bilden  gemeinsam 
eine  universelle  Begabung,  die  auf  verschiedenen  Gebieten  Bedeuten- 
des zu  leisten  vermöchte.  In  welcher  Richtung  und  wie  weit  sie  zur 
Betätigung  kommt,  wird  vielfach  vom  Zufall,  von  den  Einflüssen 
der  Umgebung  abhängen;  die  großartigsten  Schöpf imgen  aber,  die 
von  großen  Talenten  hervorgebracht  wurden,  wären  nicht  mög- 
lich gewesen  ohne  Hinzukommen  noch  anderer  Umstände:  der 
äußeren  Anregung,  Begünstigung  und  Lenkung  durch  Erziehung 
und  Umgebung,  der  Tradition  und  der  hoch  entwickelten  fein 
fühlenden  menschlichen  Seele.  Für  ein  Talent  wie  das  musikalische 
würde  noch  etwas  Besonderes  hinzukommen  müssen,  was  aber, 
genau  betrachtet,  doch  im  Grunde  auch  nur  ein  allgemein  mensch- 
licher Besitz,  wenn  auch  in  hoher  Ausbildung,  ist:  ein  hoch  ent- 
wickeltes Gehörorgan  nebst   entsprechend  ausgebildeten   dazu  ge 


—     99     — 

hörigen  Gehirnteilen.  Der  Musiksinn  ist  nach  Weismann  ein 
Nebenprodukt,  eine  unbeabsichtigte  Nebenleistung  des  Gehör- 
organs, wie  es  etwa  eine  Nebenleistung  unserer  Hand  ist,  Klavier 
zu  spielen.  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Kunstsinn  über- 
haupt. Den  hoch  entwickelten  Gehörapparat  aber  haben  schon 
die  Vorfahren  des  Menschen  erworben;  im  Kampfe  ums  Dasein 
ist  er  durch  Naturzüchtung  allmählich  zu  der  Höhe  gesteigert 
worden,  in  der  er  seit  den  Tagen  des  Urmenschen  gemeinsamer 
Besitz  aller  Menschen  ist,  wofern  nicht  wieder  ein  Absinken,  eine 
Rückbildung,  stattgefunden  hat.  Das  wäre  bei  Unmusikalischen 
anzunehmen.  Eine  Steigerung  dieses  schon  beim  Urmenschen 
anzunehmenden  Musiksinnes  hat  im  Laufe  der  Menschheits- 
geschichte gar  nicht  stattgefunden ;  die  ungeheuere  Steigerung  seiner 
Leistungen  aber,  von  seiner  primitiven  Betätigung  bei  den 
Naturvölkern  an  bis  zu  seinen  höchsten  Offenbarungen  etwa  in 
H-Moll-Messe  und  Matthaeuspassion,  in  Beethovens  neuen  Sym- 
phonien oder  Mozarts  Opern,  hat  sich  allmählich  vollzogen  wie  der 
Fortschritt  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften.  Stufe  um  Stufe 
hat  sich  die  Menschheit  erklommen,  indem  eine  Generation  an  die 
Errungenschaften  der  anderen  anschloß,  kraft  der  Tradition, 
der  die  Steigerung  aller  geistigen  Errungenschaften  zu  verdanken 
ist.  Der  neuzeitliche  Kulturmensch,  der  in  der  Lage  ist,  sich  diese 
Tradition  zunutze  zu  machen,  und  auf  den  ihre  Erzeugnisse  an- 
regend einwirken,  wird  dadurch  von  vornherein  auf  eine  ganz  andere 
Stute  gestellt  und  zu  ganz  anderen  Leistungen  befähigt,  als  der 
Naturmensch  oder  der  Mensch  des  Altertums.  Ein  Rückschluß 
auf  die  musikalische  Begabung  der  letzteren  ist  dadurch  aber 
nicht  ermöglicht.  Und  auch  der  Besitz  dieser  spezifisch  musikalischen 
Tradition  bei  hoher  musikalischer  Veranlagung  würde  den  Australier 
oder  Neger  noch  nicht  zu  den  Leistungen  eines  Beethoven  befähigen, 
da  ihnen  die  reiche,  große  Seele  dazu  fehlen  würde,  die  allgemeine 
Höhe  des  geistigen  Lebens,  die  die  Kulturmenschheit  erreicht  hat. 

So  wäre  also  auch  gegenüber  den  hohen  geistigen  Gaben  und 
den  spezifischen  Talenten  des  Menschen  recht  wohl  ohne  die  An- 
nahme einer  Vererbung  von  Fähigkeiten,  die  durch  Übung  er- 
worben und  gesteigert  wurden,  auszukommen. 

Zu  einer  ähnlichen  Auffassung  der  Frage  nach  der  ,, spezi- 
fischen"  Natur  des  Musiktalentes  wie  der  hier  entwickelten  hat 


—        lOO 


sich  vor  nicht  langer  Zeit  einer  der  bekanntesten  modernen  Geiger, 
Bronislaw  Hubermann,  bekannt,  dagegen  ist  ihr  von  einem 
der  erfolgreichsten  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Vererbimgslehre, 
Paul  Kammerer,  fast  in  allen  Punkten  widersprochen  worden 2^). 
Weismann  selbst  hat  sie,  wie  schon  angedeutet  wurde,  später 
(in  den  Vorträgen  über  Deszendenztheorie)  nicht  mehr  ganz  un- 
verändert beibehalten,  sondern  nunmehr  den  Musiksinn  doch  mehr 
als  etwas  Besonderes  hingestellt,  was  zwar  mit  dem  Gehörapparat 
irgendwie  in  Verbindung  steht,  aber  doch  die  Annahme  besonderer 
,, Musikdeterminanten"  rechtfertigt,  wenn  auch  nach  wie  vor  daran 
festzuhalten  ist,  daß  die  Begabung  etwa  eines  Sebastian  Bach 
oder  Beethoven  nicht  lediglich  auf  dem  hoch  entwickelten  Musik- 
sinn beruht,  sondern  eine  Kombination  desselben  mit  vielen  anderen 
hoch  entwickelten  geistigen  Gaben  zur  Voraussetzung  hat.  Eine 
besonders  hohe  Ausbildung  des  Musiksinnes  führt  Weismann 
nunmehr  auf  das  Wirken  der  im  Organismus  selbst  tätigen  Kraft 
zurück,  die  er  von  1894  an,  an  Stelle  des  aufgegebenen  Lamarck- 
schen  Übungsprinzipes,  anzunehmen  genötigt  war:  der  Germinal- 
selektion. 

Zusammenfassung. 

So  gelangt  Weis  mann  also  dazu,  eine  Vererbung  funktioneller 
Erwerbungen  des  Individuums  auf  die  Nachkommen  abzulehnen. 
Außer  den  theoretischen  Schwierigkeiten,  die  ihm  die  Annahme 
eines  solchen  Vorganges  bereitet,  findet  er,  daß  für  keine  der  beob- 
achteten Erscheinungen  jene  Annahme  notwendig  ist,  daß  es 
dagegen  eine  ganze  Anzahl  von  Erscheinungen  gibt,  in  denen  der 
Vorgang,  so  nahe  seine  Annahme  auf  den  ersten  Blick  liegt,  doch 
mit  Sicherheit  ausgeschlossen  werden  kann.  Die  allgemeine 
daraus  gezogene  Schlußfolgerung  lautet:  wenn  überhaupt  An- 
passungen der  verschiedensten  und  kompliziertesten  Art,  Vervoll- 
kommnungen und  Rückbildungen  von  Teilen  im  Laufe  der  Stammes- 
geschichte erfolgen  konnten,  ohne  daß  Vererbung  funktioneller  Ab- 
änderung dabei  im  Spiele  war,  so  liegt  keine  Notwendigkeit  vor, 
mit  letzterem  Vorgang,  der  noch  dazu  so  große  theoretische  Schwierig- 
keiten macht,  überhaupt  noch  zu  rechnen. 

Es  würde  hier  viel  zu  weit  führen,  alle  die  Einwendimgen  auch 
nur   anzudeuten,    die   gegen   diesen    Standpunkt   erhoben   worden 


lOI 


sind,  oder  die  Anhänger  der  gleichen  Anschauung  wie  ihre  Gegner 
auch  nur  mit  Namen  anzuführen.  Die  Tatsache,  daß  sich  in  beiden 
Heerlagern  führende  Forscher  finden,  zeigt  zur  Genüge  die  außer- 
ordentliche Schwierigkeit  der  Frage.  An  eingehenden  vortreff- 
lichen Darstellungen  derselben  ist  überdies  zur  Zeit  kein  Mangel. 
Eins  ist  sicher:  der  ungeheuere  Einfluß,  den  Weismanns  An- 
schauung seit  Jahrzehnten  ausgeübt  hat  und  noch  ausübt.  W.  Roux 
drückte  nur  die  Empfindung  vieler  aus,  als  er  schrieb:  ,,Für  den- 
jenigen, der  sich  die  Größe  des  Rätsels  der  angeblichen  Über- 
tragung von  Veränderungen  des  Personalteiles  auf  den  Germinal- 
teil  vorgestellt  hat,  ist  die  von  Weismann  sorgfältig  begründete 
und  neben  ihm  auch  von  Owen,  Bütschli,  Galton,  M.  Nuß- 
baum, Jul.  Sachs  u.  a.  angebahnte  Theorie  von  der  Kontinuität 
des  Keimplasma  die  Erlösung  von  einem  auf  unserem  Erkenntnis- 
vermögen lastenden  Alp"  2^). 

Vererbung  von    Veränderungen,  die  durch   das   Medium 

bedingt  sind. 
An  der  Überzeugung,  daß  Verletzungen  und  Verstümmelungen, 
sowie  angebliche  und  wirkliche  funktionelle  Abänderungen  nicht 
vererbt  werden,  sondern  mit  dem  Individuum  vergehen,  d.  h, 
passante  Veränderungen  darstellen,  hat  Weismann  bis  an  sein 
Lebensende  festgehalten.  Ganz  anders  hat  er  dagegen  von  vorn- 
herein eine  Reihe  von  Erscheinungen  betrachtet,  die  gewöhnlich 
auch,  wenn  auch  nicht  ganz  mit  Recht,  unter  den  Begriff  des 
Lamarekismus  untergeordnet  werden,  und  die  jedenfalls,  im  Sinne 
der  Weis  mann  sehen  Bezeichnungen,  den  Eindruck  einer  Ver- 
erbung erworbener  somatogener  Eigenschaften  machen:  die  Erb- 
lichkeit von  Abänderungen,  die  als  direkte  Wirkung  von  veränderten 
äußeren  Bedingungen  (Medium,  Ernährung,  Klima)  erscheinen, 
insbesondere  die  Vererbung  klimatischer  Abänderungen.  Auf  diesem 
Gebiet  hatten  sichWeismanns  erste  experimentelle  Untersuchungen 
zur  Deszendenztheorie,  die  Versuche  über  den  Saisondimorphismus 
der  Schmetterlinge  (1875)  bewegt:  sie  hatten  ihn  zu  dem  Schlüsse 
geführt,  daß  Abänderungen,  die  unter  dem  direkten  Einfluß  des 
Klimas  entstanden  sind,  im  Laufe  der  Generationen  erblich  werden. 
Auch  noch  1879,  in  den  Betrachtungen  über  die  Entstehung 
zyklischer  Fortpflanzungsarten,  deutet  Weismann  die  Vererbung 


I02        


der  durch  Klimaeinflüsse  bedingten  Abänderungen  in  dem  Sinne, 
daß  hier  ein  Fall  vorliege,  wo  die  Abänderung  des  Tieres  selbst 
eine  sekundäre  Abänderung  der  Keimzelle  nach  sich  ziehe,  oder, 
mit  anderen  Worten,  wo  die  Abänderung  der  Keimzelle  ( —  die  die 
Voraussetzung  für  die  Vererbung  der  Abänderung  auf  den  Nach- 
kommen ist  — )  durch  die  Abänderung  des  Tieres  selbst  bedingt  ist. 
Und  auch  in  dem  Vortrag  über  die  Vererbimg,  von  1883,  gesteht 
er,  für  die  erblichen  klimatischen  Variationen  der  Schmetterlinge 
keine  andere  Erklärung  als  durch  die  Annahme  einer  Vererbung 
somatogener  Abänderungen  finden  zu  können.  Aber  die  eingehendere 
Beschäftigung  mit  dem  Vererbungsproblem  ließ  ihm  einen  solchen 
Vorgang  doch  als  höchst  unwahrscheinlich  vorkommen,  und  neue 
Untersuchungen,  die  er  zur  Lösung  der  Frage  mit  dem  kleinen 
Feuerfalter  (Polyommatus  Phlaeas)  anstellte,  führten  ihn  denn 
auch  zu  einer  anderen  Auffassung  des  Sachverhaltes.  Die  Dar- 
stellung und  Erklärung  findet  sich  in  dem  ,, Keimplasma"  (1892) 
und  im  zweiten  Bande  der  ,, Vorträge  über  Deszendenztheorie", 
kurz  auch  in  der  Besprechung  von  Semons  ,,Mneme"-Theorie 
(1906).  Der  genannte  Falter  kommt  in  zwei  verschiedenen  Fär- 
bungen vor:  im  hohen  Norden  und  in  Deutschland  ist  er  auf  der 
Oberseite  rotgolden,  im  Süden  Europas  fast  ganz  schwarz.  Weis- 
mann zog  nun  aus  Eiern  der  Neapler  (dunklen)  Form  Puppen, 
die  er  gleich  nach  der  Verpuppung  niederer  Temperatur  aussetzte, 
und  erhielt  so  Schmetterlinge,  die  weniger  schwarz  als  die  Neapler, 
wenn  auch  nicht  so  rotgolden  wie  die  deutschen  war.  Umgekehrt 
ergaben  deutsche  Puppen,  höherer  Wärme  ausgesetzt,  Falter,  die 
schwärzer  waren  als  die  deutschen,  aber  freilich  nie  so  dunkel,  wie 
die  dunkelsten  südUchen  Exemplare.  Daraus  mußte  geschlossen 
werden,  daß  die  dunkle  Färbung  der  südlichen  Varietät  als 
direkte  Folge  der  erhöhten  Temperatur  entstanden  ist  und  sich 
im  Laufe  der  Generationen  crbhch  fixiert  hat.  So  scheint  auch  hier 
in  der  Tat  Vererbung  einer  erworbenen  Eigenschaft  vorzuliegen: 
man  könnte  schließen,  daß  unter  dem  direkten  Einflüsse  des  Klimas 
zuerst  die  Abänderung  am  Soma  entstand,  und  daß  diese  sich  dann 
sekimdär  den  Keimzellen  auf  irgend  einem  Wege  mitteilte,  also 
durch  ,, somatische  Induktion",  wie  man  jetzt  sagen  würde. 
Indessen  zeigte  Weismann,  daß  auch  noch  eine  andere  Deutung 
der  Versuche  denkbar  ist,  in  dem  Sinne,  wie  er  es  als  allgemein 


—      I03     — 

möglich  schon  früher  (1883,  in  dem  Vortrag  über  Vererbung;  1886 
in  dem  über  die  sexuelle  Fortpflanzung)  ausgesprochen  hatte* 
durch  die  abnorme  Temperatur  konnten  Körper  und  Keimzellen 
in  gleicher  Weise  verändert  worden  sein,  d.  h.  es  wurden  sowohl 
die  Flügelanlagen  beeinflußt,  die  in  der  Puppe  zur  Entwicklung 
bereit  waren,  als  auch  die,  die  noch  im  Keimplasma  der  Keimzellen 
sich  in  Ruhe  befanden.  Der  gleiche  Reiz —  die  abnorme  Temperatur 
—  verändert  diese  wie  jene  in  entsprechender  Weise,  und  wenn 
nun  in  der  nächsten  Generation  die  gleiche  Abänderung  wieder 
auftritt,  ohne  daß  aufs  neue  eine  gleiche  Einwirkung  statt- 
gefunden hat,  so  ist  es  nicht  die  somatische  Abänderung  selbst, 
die  sich  vererbt  hc  t,  sondern  die  ihr  entsprechende,  durch  den- 
selben äußeren  Einfluß  hervorgerufene  Abänderung  der  Anlagen  im 
Keimplasma.  Der  gleiche  Reiz  hat  gleichzeitig  und  in  ähnlicher 
Weise  die  entsprechenden  Anlagen  zweier  folgender  Generationen 
verändert,  oder,  anders  ausgedrückt:  er  hat  gleichzeitig  eine  Ver- 
änderung des  Personalteiles  und  des  Germinalteiles  hervorgerufen. 
Daß  diese  letztere  aber  vererbt  wird,  ist  nicht  weiter  wunderbar. 
Dieser  Betrachtungsweise  haben  sich  viele  Forscher  an- 
geschlossen; sie  ist  auch  angewendet  worden  zur  Erklärung  der 
Ergebnisse,  die  Standfuß,  Merifield,  E.  Fischer  durch  Ein- 
wirkung abnorm  niedriger  Temperaturen  (bis  zu — 8*^  C)  auf  frische 
Puppen  verschiedener  Schmetterlinge  erhielten.  Die  so  behandelten 
Puppen  lieferten  Falter,  die  in  bezug  auf  Färbung  und  Zeichnung 
abnorm  waren,  und  diese  ,, Kälteaberrationen"  traten  vielfach  auch 
bei  den  Nachkommen  wieder  auf,  ohne  daß  die  betreffenden  Puppen 
aufs  neue  der  Kälte  ausgesetzt  wurden.  Auch  hier  lautet  Weis- 
manns Erklärung  dahin,  daß  die  Kälte  gleichzeitig  und  in  ent- 
sprechender Weise  das  bereits  in  der  Entwicklung  begriffene  Soma 
des  Schmetterlings  wie  das  in  ihm  eingeschlossene  Keimplasma 
verändert  habe.  Dieser  Vorgang  der  gleichzeitigen  korrespondieren- 
den Beeinflussung  des  Soma  und  der  Keimzellen  durch  die- 
selben Faktoren  ist  neuerdings  (von  Detto)  als  ,, Parallel- 
induktion" oder  auch  als  Beeinflussung  von  Soma  und  Keim- 
zellen dxu-ch  ,, Simultanreize"  (Plate)  bezeichnet  worden.  Die 
hypothetischen  Prozesse,  die  dabei  im  Keimplasma  anzunehmen 
sind,    hat   Weismann    selbst   später   genauer   behandelt   und  als 


—      I04      — 

,, induzierte  Germinalselektion"  bezeichnet.  Wir  werden  auf  sie 
zurückkommen  müssen. 

Ob  man  hier  von  „Vererbung  erworbener  Eigenschaften" 
reden  soll,  oder  nicht,  würde  schließlich  auf  einen  Wortstreit  heraus- 
kommen. Gewiß  liegt  hier  der  Fall  vor,  daß  eine  Abänderung,  die 
in  der  ersten  Generation  als  somatischer  Erwerb  sich  bemerkbar 
macht,  in  der  zweiten  als  Keimbesitz  auftritt,  aber  Weismanns 
Deutung  zufolge  hat  eben  der  Keim  diesen  Besitz  vollständig  er- 
worben, während  der  Erwerb  des  Personal  teils  mit  diesem  zu- 
grunde gegangen  ist.  Auch  im  sozialen  Leben  würde  man  einen 
Besitz,  den  der  Sohn  selbständig  erworben  hat,  nicht  als  ,, ererbt" 
bezeichnen,  weil  der  Vater  gleichzeitig  einen  entsprechenden  Er- 
werb gemacht  hatte.  NatürHch  läßt  sich  gegen  diese  Betrachtungs- 
weise auch  manches  einwenden.  Der  Fortschritt  der  Kenntnisse 
und  Erfahrungen  hat  eben  hier  gezeigt,  daß  die  alte  Formel  ,, Ver- 
erbung erworbener  Eigenschaften"  nicht  genügt,  um  allen  —  tat- 
sächlich beobachteten  oder  hypothetisch  angenommenen  —  Vor- 
kommnissen gerecht  zu  werden,  und  macht  es  notwendig,  die  Dinge 
schärfer  und  bestimmter  zu  bezeichnen. 

Weismann  hat  den  hier  besprochenen  Erscheinungen :  der  Ent- 
stehung erblicher  Veränderungen  unter  dem  direkten  Einfluß  der 
äußeren  Bedingungen,  für  den  Artumwandlungsprozeß  keine  sehr 
große  Bedeutung  beigemessen;  aus  welchen  Gründen,  bleibt  später, 
bei  Erörterung  seiner  Stellung  zur  Selektionstheorie,  zu  betrachten. 
Hier  ist  nur  die  Tatsache  von  Wichtigkeit,  daß  er  die  MögUchkeit 
ihres  Vorkommens  jedenfalls  anerkannt  hat. 

Ergebnisse.  Übertragung  derselben  auf  die  Einzelligen. 
Somit  lehnt  also  Weismann  die  Vorstellung  ab,  daß  Eigen- 
schaften irgendwelcher  Art,  die  der  Organismus  an  seinem  Soma 
erwirbt,  von  diesem  aus  auf  den  Keim  übertragen  werden  können 
und  am  Nachkommen  wieder  zum  Vorschein  kommen.  Das  gilt 
in  gleicher  Weise  für  Verletzungen  und  Verstümmelungen,  wie 
für  die  Wirkungen  des  Gebrauches  und  Nichtgebrauches,  die  Re- 
sultate der  Übung,  mag  es  sich  um  solche  des  Körpers  oder  des 
Geistes  ( —  Instinkte,  geistige  Fähigkeiten  — )  handeln.  Auch  die 
Wirkungen  direkter  Einflüsse  des  Mediums  haben  für  sich  nur 
die  Bedeutung,    von  passanten  Veränderungen,  die  mit  ihrem 


—      I05     — 

Träger  zugrunde  gehen;  der  Schein  einer  Vererbung  von  solchen 
kann  aber  zustande  kommen  dadurch,  daß  ein  und  derselbe  Einfluß 
sowohl  das  Soma  als  die  in  ihm  eingeschlossenen  Keimzellen  in 
gleicher  Weise  verändert.  Oder,  unter  Verwendung  moderner 
Begriffe:  erblich  sind  nur  Eigenschaften,  die  auf  Besonderheiten 
des  Keimplasmas  beruhen;  eine  spezifische  Abänderung  desselben 
auf  dem  Wege  somatischer  Induktion  ist  nicht  möglich,  wohl 
aber  kann  auf  dem  Wege  von  Parallelinduktion  das  Soma  wie 
das  Keimplasma  in  gleicher  Weise  verändert  werden. 

Diese  Auffassungen,  in  denen  der  Gegensatz  zwischen  dem 
Soma  und  der  Keimsubstanz  ganz  besonders  scharf  zum  Ausdruck 
kommt,  waren  zunächst  für  die  vielzelligen  Organismen  entwickelt 
worden,  bei  denen  es  sich  also  um  einen  Gegensatz  von  Körper- 
und  Keimzellen  handelt.  Dagegen  hatte  Weismann,  wie  wir 
sahen,  für  die  Einzelligen  zunächst  ganz  allgemein  gefolgert,  daß 
hier  Körper  und  Keim  identisch  seien,  und  daß  Veränderungen, 
die  das  einzellige  Wesen  durch  die  Wirkung  der  äußeren  Bedingungen 
erfährt,  auf  die  aus  ihm  durch  Teilung  hervorgehenden  Tochter- 
individuen übertragen  werden  müssen,  da  diese  ja  das  Muttertier 
geradezu  fortsetzen.  Diese  Auffassung  mußte  eine  Änderung  er- 
fahren von  dem  Augenblick  an,  wo  die  Kernsubstanz  als  alleinige 
Vererbungssubstanz  angesprochen  wurde.  Denn  daraus  ergab  sich 
der  Schluß,  daß  auch  schon  bei  den  kernhaltigen  Einzelligen  ein 
Unterschied  zu  machen  sei  zwischen  dem  Zellkörper,  der  dem  ,,Soma" 
der  Vielzelligen  entspricht,  und  der  Kernsubstanz,  die  dem  ,,Keim" 
derselben  zu  vergleichen  ist.  Dementsprechend  ergab  sich  auch  eine 
Änderung  in  der  Betrachtung  der  Vererbungserscheinungen;  die 
für  die  Vielzelligen  entwickelten  Gesichtspunkte  mußten  mutatis 
mutandis  auch  auf  die  Einzelligen  übertragen  werden.  Das  heißt: 
auch  für  diese  ist  anzunehmen,  daß  alle  Variationen,  welche  infolge 
äußerer  Einflüsse  an  ihnen  auftreten,  ,,nur  dann  auf  die  Teilspröß- 
linge übertragen  werden  können,  wenn  sie  von  korrespondierenden 
Abänderungen  der  Kernsubstanz  begleitet  sind,  oder  mit  anderen 
Worten:  wir  gewinnen  die  Überzeugung,  daß  auch  hier  eine  Ver- 
erbung ,,somatogener"  Abänderungen  im  allgemeinen  nicht  statt- 
findet, nämlich  eben  nur  dann,  wenn  dieselben  von  entsprechenden 
blastogenen  Veränderungen  begleitet  sind"  (1891,  in  dem  Aufsatz 
über  Amphimixis,   S.  129).     Das  muß  Geltung  haben  ebenso  für 


—      io6     — 

Verstümmelungen  wie  für  direkte  Mediumwirkungen  und  für  Ver- 
änderungen, die  durch  Gebrauch  und  Nichtgebrauch  etwa  gesetzt 
werden  können,  und  die  ja  wenigstens  bei  den  höher  organisierten 
,,Einzenigen"  als  tatsächlich  vorkommend  anzunehmen  sind.  Als 
Wesen,  bei  denen  alle  Variationen,  die  einmal  entstanden  sind, 
einerlei  aus  welcher  Ursache,  auch  vererbt  werden,  würden  dann 
nur  solche  niedersten  Organismen  anzusprechen  '^';in.  welche  noch 
keine  Differenzierung  in  Kern  und  Zellkörper  besitzen. 

Die   Mnemetheorie  von   Semen;    Weismanns    Stellung   zu 

derselben. 

fAn  dieser  Auffassung  hat  Weis  mann  bis  an  sein  Ende  fest- 
gehalten allen  Theorien  gegenüber,  die  die  gegenteilige  Auffassung, 
die  Möglichkeit  einer  direkten  Übertragung  somatogener  Verände- 
rungen auf  das  Keimplasma  und  damit  auf  die  Nachkommen,  ver- 
treten. Auch  der  bedeutungsvollste  Versuch,  der  in  aller]  üngster 
Zeit  unternommen  worden  ist,  um  den  Lamarekismus  auf  eine  neue 
wissenschaftliche  Grundlage  zu  stellen,  Semons  Mnemetheorie,  hat 
ihn  in  dieser  Stellungnahme  nicht  beeinflussen  können,  und  in 
einem  besonderen  Aufsatz  hat  er  die  Schwächen  dieser  Theorie 
beleuchtet  und  seine  Auffassung  ihr  gegenüber  verteidigt.  Es  ist 
der  schon  1870  von  Ewald  Hering  geäußerte  Gedanke  von  dem 
Gedächtnis  als  einer  allgemeinen  Funktion  der  organisierten  Materie, 
an  den  anknüpfend  Semon  die  Vererbungserscheinungen  ver- 
ständlich zu  machen  sucht,  —  im  schärfsten  Gegensatz  zu  der  Auf- 
fassung Weismanns 2^).  Erblickt  dieser  die  Wurzel  aller  Abände- 
rungen in  der  Keimsubstanz,  so  sieht  Semon  sie  im  Soma.  Von 
diesem  aus,  von  allen  Körperzellen  her,  gelangen  im  Laufe  des 
Lebens  Reize  —  auf  dem  Wege  der  Nervenbahnen  oder,  bei  Organismen 
ohne  Nervensystem,  von  Zelle  zu  Zelle  fortgeleitet  — ,  zu  der  Keim- 
substanz, bewirken  unter  günstigen  Umständen  in  diesen  Verände- 
rungen und  füllen  sie  so  mit  Erinnerungsbildern,  ,, Engrammen", 
durch  die  dann  die  Reaktionsnormen  der  Nachkommen  verändert 
werden  können,  und  zwar  in  der  Richtimg  der  Veränderungen, 
die  bei  den  Eltern  jenen  Reiz  bewirkten.  Aber,  so  wirft  Weis- 
mann ein,  die  Nerven  sind  keine  Schienengeleise,  auf  denen  alle 
möglichen  Reize  weitertransportiert  und  irgendwo  abgeladen  werden 
können,  sondern  sie  sind  selbst  reizbare  Substanz,  deren  Reizimg 


—     I07     — 

Nervenströme  erzeugt,  —  wie  sollten  sie  da  ganz  spezifische  Reize 
immer  zu  ganz  bestimmten  Anlagen  der  Keimsubstanz  leiten  unc^ 
in  diesen  bestimmte  Engramme  erzeugen?  Die  von  Semon  vor- 
gebrachten Beweise  dafür,  daß  eine  Vererbung  somatogener  Eigen- 
schaften wirklich  vorkommt,  sind,  Weismanns  Ansicht  zufolge, 
nicht  stichhaltig,  während  es  andererseits  zahlreiche  Charaktere 
gibt,  die  in  ihrer  Entstehung  und  Ausbildung  schlechterdings  nur 
auf  primäre  Keimesabänderungen  zurückgeführt  werden  können, 
wie  viele  Instinkte  und  die  vielen  bloß  durch  ihr  Dasein  nützlichen 
Teile.  Läßt  sich  aber  eine  so  große  Anzahl  von  Charakteren  in  ihrer 
Entstehung  und  zweckmäßigen  Ausgestaltung  nur  durch  primäre 
Veränderung  der  Keimsubstanz  erklären,  so  haben  wir  keinen  Grund, 
für  andere  nach  einem  anderen  Erklärungsprinzip  zu  suchen. 


Fünfter  Abschnitt. 
Befruchtung  und  Keimzellenreifung. 

I.  Vererbung  und  Zweielternzeugung.  —  2.  Befruchtung.  Ältere  Auf- 
fassung. Entwicklung  der  Tatsachenkenntnisse.  —  Befruchtung  und  Konjugation  als 
Amphimixis  und  als  Quelle  erblicher  Variation.  —  3.  Reifung  der  Keimzellen.  — 
Bildung  und  Bedeutung  der  Richtungskörperchen,  erste  Deutung.  —  Das  Reduktions- 
problem. Frühere  Auffassung  Weismanns.  —  Spätere  Auffassung  der  Reduktions- 
vorgänge. —  Beziehungen  zu  den  Mend eischen  Vererbungserscheinungen.  —  4.  Reifung 
und  Befruchtung  als  Quellen  erblicher  Variation. 

I.  Vererbung  und  Zweielternzeugung. 

Bei  der  Inangriffnahme  des  Vererbungsproblemes  war  Weis- 
mann ausgegangen  von  den  Fortpflanzungserscheinungen, 
—  ganz  naturgemäß,  denn  die  erbhche  Übertragung  elterlicher 
Eigenschaften  auf  die  Nachkommen  erfolgt  durch  die  Fortpflanzung. 
Und  es  geschah  weiter  auch  ganz  bewußt,  daß  er  an  die  Betrachtung 
der  Verhältnisse  bei  den  Einzelligen  sofort  die  der  Fortpflanzung 
durch  Keimzellen  bei  den  Mehrzelligen  anschloß,  die  verschie- 
denen anderen  Formen  aber,  die  Vermehrung  durch  Knospung  und 
Teilung,  zunächst  beiseite  ließ.  Er  folgte  dabei  der  Auffassung, 
daß  diese  letzteren  Fortpflanzungsarten  für  die  Vielzelligen,  wo 
sie  vorkommen,  nicht  ursprüngliche,  sondern  spätere  Einrichtungen 
bedeuten,  und  daß  das  Ursprüngliche  für  diese  Formen  die  Fort- 
pflanzung durch  Keimzellen  ist.  Diese  Fortpflanzung  durch  Keim- 
zellen erfolgt  nun  aber,  wie  bekannt,  bei  weitaus  den  meisten  Formen 
auf  dem  Wege  der  sogenannten  ,, sexuellen  Fortpflanzung"  oder, 
um  den  besseren  Hae  ekel  sehen  Ausdruck  zu  gebrauchen:  der 
Amphigonie    (Zweielternzeugung).      Die   Bedeutung  dieser  für  die 


—      I  og      — 

Vererbung  im  besonderen  zu  untersuchen,  war  um  so  notwendiger 
und  selbstverständlicher,  als  gerade  damals  die  zellulären  Vorgänge 
bei  der  Befruchtung  durch  glänzende  Arbeiten  von  O,  Hertwig, 
van  Beneden  u.  a.  bekannt  worden  waren.  Hatten  doch  auch 
gerade  diese  Geschehnisse  in  erster  Linie  einen  Rückschluß  auf  die 
Natur  der  Vererbungssubstanz  möglich  gemacht.  Den  Vorgängen 
der  Befruchtung  und,  im  Anschluß  daran,  denen  der  Entwicklung 
der  Keimzellen  selbst,  namentlich  den  letzten  Stadien  derselben, 
den  Reifungserscheinungen,  hat  daher  Weismann  schon  früh  be- 
sondere Beachtung  geschenkt,  und  die  Auffassung  beider  Vorgänge 
ist  durch  ihn  wesentlich  gefördert  worden.  Allerdings  war  er  gerade 
in  diesen  Fragen  zu  einer  mehrfachen  Änderung  seiner  Auffassung 
genötigt. 

2.  Befruchtung. 

Ältere  Auffassung.     Entwicklung  der  Tatsachenkenntnisse. 

Der  Vorgang  der  Befruchtung 2^)  erschien  früher  innig  und 
untrennbar  mit  der  Fortpflanzung  verbunden,  nur  einen  durchaus 
notwendigen  Teilvorgang  derselben  auszumachen.  Der  Laien- 
erfahrung entsprechend,  die  in  dem  Begattungsakt  die  eigentliche 
,, Zeugung"  sieht,  werden  auch  die  wissenschaftlichen  Befruchtungs- 
theorien früherer  Zeiten  durch  den  Grundgedanken  beherrscht, 
daß  bei  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  gerade  die  Befruchtung 
die  Hauptsache  sei;  durch  sie  sollten  die  in  dem  Ei  schlummernden 
Kräfte  zum  Leben  und  zur  Betätigung  erweckt  werden,  sollte  eine 
„Belebung"  des  Eies  erfolgen.  Daß  dabei,  wie  aus  dem  Ergebnis 
zu  ersehen  war,  auch  eine  Vermischung  der  männlichen  und  weib- 
lichen Vererbungstendenzen  erfolgte,  trat  demgegenüber  zurück  imd 
erschien  wie  eine  gewissermaßen  unvermeidliche  Nebenwirkung  der 
Befruchtung,  neben  der  dynamischen  Hauptwirkung. 

Erst  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  vollzog  sich, 
angebahnt  durch  Kölliker  (1842),  der  Fortschritt,  durch  den 
ein  Verständnis  für  das  eigentliche  Wesen  des  Befruchtungs- 
prozesses ermöglicht  wurde:  die  1677  von  Leeuwenhoeks  Schüler 
Kam  entdeckten  Samenfäden  (Spermien),  die  man  im  18.  Jahr- 
hundert und  auch  noch  im  Anfang  des  19.  für  Parasiten  des  Samens 
gehalten  hatte,  wiu-den  in  ihrer  Bedeutung  als  umgewandelte 
Zellen,  bestehend  aus  einem  Kern-  und  einem  Plasmaanteil,  und 


I  lO 


somit  als  den  weiblichen  Eiern  gleichwertige  Gebilde  erkannt. 
An  der  Festigung  dieser  Erkenntnis  hat  Weismann  durch  seine 
Arbeit  über  die  Samenzellen  der  Daphniden  (1880),  die  die  eigen- 
tümlichen zum  Teil  sehr  großen  und  durchaus  zellenähnHchen 
Samenkörper  dieser  Tiergruppe  und  ihre  Entstehung  aus  den 
Hodenzellen  kennen  lehrte,  tätigen  Anteil  genommen.  Die  feineren 
Vorgänge  bei  der  Befruchtung  beobachtete  1875  Oskar  Hartwig 
an  durchsichtigen  Seeigeleiem:  er  sah  als  Erster  das  Eindringen 
eines  — und  nur  eines  —  Samenfadens  in  das  Ei  sowie  die,  wenigstens 
scheinbare,  Verschmelzimg  von  Ei-  und  Samenkern,  und  gelangte 
so  zu  der  Auffassung,  daß  die  Befruchtung  in  einer  Kopulation 
zweier  Kerne  beruhe.  Nach  zwei  Richtungen  gewann  diese  Ent- 
deckung, die  bald  von  verschiedenen  Seiten  (van  Beneden,  Fol, 
Nußbaum  u.  a.)  bestätigt  wurde,  grundlegende  Bedeutung:  für 
die  Vererbungslehre,  insbesondere  zur  Schaffung  einer  Vorstellung 
über  die  Substanz,  an  die  die  Vererbungstendenzen  geknüpft  sind, 
und  für  die  Auffassung  der  eigentlichen  Bedeutimg  der  Befruchtung. 
In  ersterer  Hinsicht  wies  sie  darauf  hin,  daß  als  jener  Träger  der 
Vererbungstendenzen,  als  eigentliche  Erbsubstanz,  der  Kern  an- 
zusprechen sei.  Weismanns  eigene  Beobachtungen  an  Daphniden 
(1880),  daß  bei  der  Befruchtung  nicht  nur  der  Kern  der  Samenzelle, 
sondern  auch  das  gesamte  reichlich  vorhandene  Protoplasma  der- 
selben sich  mit  der  Eizelle  vereinigt,  mußte  in  dieser  Richtung  an 
'Bedeutung  zurücktreten  gegenüber  van  Benedens  glänzender 
Entdeckung  am  Pferdespulwurm,  Ascaris  megalocephala,  daß  bei 
der  Befruchtung  der  Ei-  wie  der  Samenkern  die  gleiche  Anzahl 
von  Kernschleifen  oder  Chromosomen  bilden  und  zu  der  ersten 
Teilungsspindel  zusammentreten  lassen  (1884).  Denn  damit  war 
ein  theoretisches  Postulat  erfüllt,  das  sich  aus  den  alltäglichen 
Vererbungserscheinungen  ergab:  da  diese  lehren,  daß  an  der  Her- 
stellung des  Kindes  beide  Eltern  den  gleichen  Anteil  haben,  so 
mußte  wohl  gefordert  werden,  daß  auch  von  beiden  Seiten  die 
gleichen  Mengen  Erbsubstanz  beigetragen  werden  und  bei  der  Be- 
fruchtung zur  Vereinigung  kommen.  Beobachtung  und  Überlegung 
«sprachen  so  in  gleicher  Weise  dafür,  daß  diese  Erbsubstanz  in  den 
chromatischen  Bestandteilen  des  Kernes  gesucht  werden  müsse, 
und  diese  Schlußfolgerung  wurde  denn  auch,  wie  wir  schon  sahen, 
in  den  Jahren  1884  und  1885  von  E.  Strasburger,  O.  Hertwig 


und  Weis  mann  selbständig  ausgesprochen.  —  Auch  für  die  Auf- 
fassung des  Befruchtungsvorganges  war  damit  eine  neue   Grund- 
lage geschaffen.     Die  alte  Auffassung  der  Befruchtung  als  eines 
Lebensweckers  zu  erschüttern,   wäre  freilich,   wie  Weismann  in 
seiner  historischen  Übersicht   (1891)   ganz  richtig  bemerkt,   schon 
viel   früher  eine   wichtige   Tatsache   geeignet  gewesen:   die   durch 
Siebold  und  Leuckart  in  der  zweiten  Hälfte  der  fünfziger  Jahre 
entdeckte  Parthenogonie   (Parthenogenese)*).      ,,Als  man  erkannt 
hatte,  daß  ein  Ei  unter  Umständen  sich  auch  ohne  Befruchtung 
zum  neuen  Organismus  entwickeln  kann,  so  hätte  dies  allein  wohl 
schon  genügen  können,  um  zu  schließen,  daß  .Belebung  des  Keimes' 
nicht  der  , Zweck'  der  Befruchtung,  ich  meine  der  Grund  ihrer  Ein- 
führung in  die  Lebenserscheinungen  sein  kann."     Allein  teils  war 
die  Tatsache  der  Parthenogonie  überhaupt  nur  langsam  und  schwer 
anerkannt  worden,  teils  hatte  man  versucht,  sie  doch  mit  der  alten 
Lehre  in  Einklang  zu  bringen.     In  den  nebenher  gehenden  For- 
schungen über  die  Konjugation   der   Einzelligen  erhielt  diese 
Lehre  sogar  noch  neue  Nahrung.     Schon  seit  geraumer  Zeit  war 
in  dem  genannten  Vorgang,  der  Verschmelzung  zweier  einzelliger 
Wesen,    eine  der  Befruchtung  bei  den   Vielzelligen  entsprechende 
Erscheinung  gesehen  worden,  und  da  gewisse  Beobachtungen  dafür 
zu  sprechen  schienen,  daß  die  normale  Vermehrung  der  Einzelligen 
durch  Zweiteilung  nicht  unbegrenzt  andauern  könne,  wenn  nicht 
von  Zeit  zu  Zeit  Konjugation  stattfindet,  so  erhielt  die  alte  Be- 
lebungstheorie  eine   neue   Fassung:   die   Konjugation   erschien  als 
ein  Verjüngungsprozeß,  der  von  Zeit  zu  Zeit  die  im  Verlöschen  be- 
griffene  Fähigkeit  der  Zweiteilung  wieder  anfachen  müsse.      Die 
eingehenden  erneuten  Untersuchungen  von  Bütschli,  denen  sich  in 
der  Folge  die  von  Balbiani,  Engelmann,  A.  Gruber,  R.  Hert- 
wig,  Maupas  anschlössen,  lehrten  dann  aber  auch  bei  der  Konju- 
gation der  Einzelligen  eine  Kopulation  der  Kerne  als  wichtigsten 
Vorgang  kennen  und  führten  damit  nicht  nur  zu  einer  vollen  Be- 
stätigung der  Auffassung,  daß  die  Konjugation  bei  den  Einzelligen 
und  die  Befruchtung  bei  den  Vielzelligen  die  gleichen  Vorgänge  sind, 
«sondern  ließen  auch  aufs  neue  die  Frage  nach  der  tieferen  Bedeutung 
der  Kern  Verschmelzung  auf  werfen.  — 

*)  S.  Anm.    15. 


I  I  2 


Befruchtung    und    Konjugation    als    Amphimixis    und    als    Quelle 

erblicher  Variation. 

Noch  bevor  die  volle  Übereinstimmung  der  Konjugation  und 
der  Befruchtung  voll  erkannt  war,  hatte  Weismann  (1886)  als 
einer  der  ersten  den  Gedanken  entwickelt,  daß  der  wichtigste  Vor- 
gang bei  der  sogenannten  sexuellen  Fortpflanzung  die  Vermischung 
zweier  Vererbungstendenzen  ist.  Durch  diese  aber  werden, 
so  schloß  er  weiter,  die  elterlichen  individuellen  Verschiedenheiten 
zu  immer  neuen  Kombinationen  vereinigt  und  damit  immer  neue 
individuelle  Unterschiede  geschaffen,  die  das  Material,  die  not- 
wendige Voraussetzung,  für  die  Selektionsprozesse  abgeben.  Die 
gleiche  Auffassung  wurde  dann  bald  (1891)  auch  auf  den  Vorläufer 
der  Befruchtung,  die  Konjugation  der  Einzelligen,  übertragen. 
Die  tiefere  Bedeutung  der  Konjugation  der  Einzelligen  wie  der  Be- 
fruchtung bei  den  Vielzelligen  liegt  darnach  also  in  der  Amphi- 
mixis, der  Vermischung  der  Vererbungssubstanzen  zweier  In- 
dividuen zu  einem  neuen.  Diese  aber  ist  die  Quelle  der  erblichen 
individuellen  Variabilität,  sie  hat  das  Material  zu  schaffen,  mittelst 
dessen  Selektion  neue  Arten  hervorbringt.  Dabei  mußte  allerdings 
angenommen  werden,  daß  überhaupt  erst  einmal  individuelle  Unter- 
schiede vorhanden  waren:  diese  allererste  Wurzel  der  Variabilität 
sucht  Weismann,  wie  noch  zu  besprechen  bleibt,  bei  den  aller- 
niedersten,  kernlosen  Lebewesen,  die  noch  durch  direkte  Einwirkung 
äußerer  Einflüsse  erblich  veränderlich  sind. 

In  der  sogenannten  ,, geschlechtlichen  Fortpflanzung"  sind 
somit  zwei  ganz  verschiedene  Vorgänge  miteinander  verbunden: 
die  Amphimixis  und  die  Fortpflanzung.  Daß  dieselben  in  der  Tat 
ursprünglich  nichts  miteinander  zu  tun  haben,  lehren  die  Einzelligen, 
bei  denen  die  Amphimixis  (Konjugation)  durchaus  nicht  immer  eine 
Fortpflanzung,  d.  h.  Vermehrung  der  Individuenzahl  durch  Teilung, 
zur  Folge  hat  —  Amphimixis  ohne  Fortpflanzung  — ;  und  daß 
beide  Vorgänge  auch  bei  den  höheren  Formen  nicht  immer  not- 
wendig aneinander  gebunden  sind,  lehren  die  Erscheinungen  der 
Parthenogonie  —  :  Fortpflanzung  durch  Keimzellen  ohne  Amphi- 
mixis. Für  viele  Eier  allerdings,  namentlich  bei  den  höheren  Tieren 
und  Pflanzen,  ist  die  Befruchtung  eine  unerläßliche  Vorbedingung 
für  das  Ingangkommen  der  Entwicklung,  aber  sie  ist  nicht  eine 


—      113     — 

fundamentale  Ursache  derselben  und  war  nicht  von  vornherein 
mit  ihr  verbunden;  vielmehr  stellt  sie  einen  Vorgang  sui  generis 
dar,  dessen  erste  und  hauptsächlichste  Bedeutung  in  seinen  Be- 
ziehungen zu  den  Vererbungserscheinungen  erblickt  werden  muß. 

3.  Reifung-  der  Keimzellen. 

Bildung  und  Bedeutung  der  Richtungskörperchen,  erste  Deutung. 

Diese  Auffassung  von  der  Bedeutung  der  Befruchtung  als 
einer  Vermischung  zweier  Vererbungstendenzen  führte  auch  zu 
einer  neuen  Betrachtung  der  Vorgänge,  die  der  Befruchtung  voraus- 
gehen: der  Reifungserscheinungen  der  Geschlechtszellen. 
Schon  bei  der  ersten  Ausarbeitung  der  ,, Kontinuität  des  Keim- 
plasmas" (1885)  hatte  Weismann  der  Eireifung  sein  Interesse 
zugewandt  und  in  der  Ausstoßung  der  sogenannten  Richtungs- 
körperchen eine  Stütze  mancher  seiner  Ansichten  zu  finden  ge- 
glaubt. Über  die  morphologische  Natur  dieser  zwei  kleinen,  schon 
seit  längerer  Zeit  bekannten  Körperchen,  die  bei  der  Eireifung  auf- 
treten, war  in  der  zweiten  Hälfte  der  siebziger  Jahre,  zunächst 
durch  Bütschli  und  O.  Hertwig,  Klarheit  geschaffen  worden. 
Es  hatte  sich  gezeigt,  daß  sie  als  ,, erster"  und  ,, zweiter"  von  dem 
Ei  durch  eine  zweimalige  Teilung,  die  das  Plasma  wie  den  Kern  be- 
trifft, abgeschnürt  werden,  daß  zwar  ihr  plasmatischer  Anteil  sehr 
gering  ist  im  Verhältnis  zu  dem  des  Eies,  weshalb  sie  eben  als  kleine 
Knospen  und  nicht  als  gleichwertige  Schwesterzellen  desselben  er- 
scheinen, daß  aber  der  Kernanteil,  den  ein  jedes  von  dem  Keim- 
bläschen des  Eies  erhält,  genau  so  groß  ist  wie  der  Schwesterkern, 
der  im  Ei  zurückbleibt.  Auch  eine  nochmalige  Teilung  des  ersten 
Richtungskörperchens  war  manchmal  beobachtet  worden,  —  in 
welchen  Fällen  dann  also  im  ganzen  drei  kleine  Richtungskörperchen 
neben  dem  Ei  liegen. 

An  einer  befriedigenden  physiologischen  Deutung  dieser 
bei  aller  Kleinheit  so  konstanten  Gebilde  mangelte  es  noch,  als 
Weismann  sich  der  Frage  zuwandte.  Er  versuchte  eine  solche 
Deutung  zunächst  (1885)  vom  Standpunkte  der  Vorstellung  aus, 
daß  der  Kern  die  ganze  Zelle  beherrsche,  ihre  Gestalt  und  ihr  Leben 
bestimme,  daß  also  jede  histologisch  differenzierte  Zelle  auch  ein 
spezifisches  Kernplasma  enthalten  müsse.    Diese  Vorstellung  führte 

Oaupp,  Biographie  Weismanns.  8 


—      114     — 

ihn  zu  dem  Schlüsse,  daß  im  Kern  der  Eizelle  zwei  verschiedene 
Substanzen  enthalten  seien :  das  eigentliche  Keimplasma  und  außer- 
dem ein  histogenes  (ovogenes)  Plasma,  das  allen  den  besonderen 
Lebensvorgängen  des  sich  entwickelnden  Eies,  seinem  Wachstum, 
der  Anhäufung  von  Dottersubstanzen  usw.  vorstehe.  Dieses  histo- 
gene  Plasma  müsse  dann,  wenn  die  genannten  Vorgänge  abgeschlossen 
seien,  ausgestoßen  werden,  damit  das  Keimplasma  rein  zurückbleibt 
und  in  die  Befruchtung  und  die  Entwicklung  eintreten  könne. 
In  diesem  Sinne,  als  Träger  des  ovogenen  Kernplasmas,  faßte 
Weismann  anfangs  beide  Richtungskörperchen  auf.  Er  stellte 
diese  Ansicht  der  damals  vielfach  angenommenen  gegenüber,  daß 
die  Richtungskörperchen  den  , »männlichen  Anteil"  darstellten, 
dessen  sich  die  anfangs  zweigeschlechtliche  Eizelle  entledige,  um 
nun,  rein  weiblich  geworden,  durch  das  männliche  Spermium  be- 
fruchtet werden  zu  können.  Auch  glückte  ihm  ein  Fund,  der  gegen 
die  letztere  Ansicht  und  zugunsten  seiner  eigenen  sprach :  der  Nach- 
weis, daß  auch  bei  parthenogonisch  sich  entwickelnden  Eiern 
Richtungskörperchen  gebildet  werden.  Denn  wenn  die  letzteren 
wirklich  ein  ,, männliches  Prinzip"  waren,  das  zur  Ermöglichung 
der  nachfolgenden  Befruchtung  aus  dem  Ei  entfernt  werden  mußte, 
so  durften  pathenogonisch  sich  entwickelnde  Eier  —  bei  denen 
also  eine  Befruchtung  unterbleibt  —  keine  Richtungskörper  bilden. 
War  dagegen  die  Weismannsche  Auffassung  richtig,  so  mußten 
natürlich  auch  bei  parthenogonischen  Eiern  Richtungskörper  aus- 
treten. Weis  mann  fand  nun  einen  Richtungskörper  (1885)  bei 
parthenogonischen  Eiern  einer  Daphnide,  Polyphemus  oculus  und 
bald  darauf  in  Verbindung  mit  seinem  Schüler  Ischikawa  (1888a) 
bei  verschiedenen  anderen  Daphniden-Arten,  sowie  bei  patheno- 
gonischen  Eiern  von  Ostracoden  und  Rotatorien.  Diese  Unter- 
suchungen, die  durch  gleichzeitige  von  Blochmann  eine  Be- 
stätigung und  wertvolle  Ergänzung  erfuhren,  lenkten  aber  zugleich 
die  Aufmerksamkeit  auf  eine  merkwürdige  Tatsache:  es  erschien 
als  Regel,  daß  parthenogonisch  sich  entwickelnde  Eier  nur  einen 
Richtungskörper  bilden,  nicht  zwei,  wie  befruchtungsbedürftige 
Eier.  Durch  ausgedehnte,  mit  Ischikawa  unternommene  Unter- 
suchungen an  Eiern  der  letzteren  Art  (1888c)  erhielt  dieses  ,,Zahlen- 
gesetz  der  Richtungskörper"  eine  Bestätigung.  Daraus  zog 
dann  Weismann,  in  Abänderung  seiner  ersten  Hypothese,  1887 


—     115     — 

in  einer  besonderen  Schrift  die  Folgerung,  daß  nur  der  erste 
Richtungskörper  das  ovogene  Kernplasma  enthalte,  der  zweite 
aber  eine  engere  Beziehung  zu  der  Befruchtung  haben  müsse 
Der  Fortfall  der  letzteren  erkläre  sein  Fehlen  bei  parthenogonisch 
sich  entwickelnden  Eiern.  Welches  diese  Beziehungen  sind,  findet 
sich  ebenfalls  zum  ersten  Male  in  der  genannten  Schrift  auseinander- 
gesetzt, der  somit  eine  besondere  Bedeutung  zukommt,  indem  sie 
das  Problem  aufrollt,  das  seitdem  so  vielfach  behandelt  worden  ist 
und,  wie  so  manches  andere,  mit  Weismanns  Namen  verknüpft 
bleiben  wird:  das  Reduktionsproblem. 

Das  Reduktionsproblem.     Frühere  Auffassung  Weismanns. 

Die  Erwägungen,  die  hier  maßgebend  werden,  sind  folgende. 
Wenn  der  Befruchtungsprozeß  eine  Vermischung  zweier  Keimplasma, 
eines  väterlichen  und  eines  mütterlichen,  zur  Folge  hat,  so  müssen, 
vorausgesetzt,  daß  er  von  jeher  ohne  Störung  verlaufen  ist,  in  dem 
Keimplasma  eines  jeden  jetzt  erzeugten  Individuums  zahlreiche 
Ahnenplasmen  oder  Ide,  wie  Weismann  sie  nennt,  vorhanden 
sein.  Nehmen  wir  zwei  Keimplasmen  a  und  b,  so  werden  diese 
durch  ihre  Vermischung  bei  der  Befruchtung  das  Keimplasma 
a  4-  b  bilden.  Nach  der  Kontinuitätslehre  wird  nun  von  diesem 
Keimplasma  a  +  b  ein  Rest  in  den  Keimzellen  des  neuen  Indi- 
viduums reserviert.  Es  wird  sich  dann  bei  der  nächsten  Befruchtung 
verbinden  mit  einem  Keimplasma,  das,  in  entsprechender  Weise 
entstanden,  vielleicht  die  Zusammensetzung  c  -f-  d  hat.  So  ent- 
steht das  neue  Keimplasma  a  +  b  +  c  +  d,  und  so  wird  bei  jeder 
neuen  Befruchtung  eine  weitere  Verdoppelung  erfolgen,  das  Keim- 
plasma wird  immer  zusammengesetzter  werden,  immer  mehr  Ahnen- 
plasmen in  sich  aufspeichern  müssen.  Dadurch  würden  sich  manche 
Besonderheiten  der  Vererbungserscheinungen  erklären:  das  oft  so 
zusammengesetzte  Bild,  das  ein  Kind  seinen  Eigenschaften  nach 
darbietet,  die  Rückschläge  auf  weit  zurückliegende  Vorfahren,  aber 
auch  die  Verschiedenheiten,  die  die  Kinder  desselben  Elternpaares 
zeigen.  Man  wird  sich  dabei  nur  vorstellen  müssen,  daß  diese  ver- 
schiedenen Ahnenplasmen  sich  bei  der  Entwicklung  eines  jeden 
Individuums  in  verschiedener  Weise  zur  Geltung  bringen  können. 

Die  gleiche  Überlegung  führt  aber  auch  zu  dem  Schluß,  daß 
die   Zahl   der   in   jedem   Keimplasma   angehäuften   Ahnenplasmen 


—        IIÖ       — 

allmählich  ins  Ungeheure  steigen  müßte,  wenn  das  nicht  durch 
irgend  einen  anderen  Vorgang  verhindert  würde.  Und  als  solche 
Gegenmaßregel  gegen  die  Folgen  der  immer  wiederholten  Be- 
fruchtung sprach  nun  Weismann  von  1887  an  die  Bildung  der 
Richtungskörperchen  an,  zunächst  nur  die  des  zweiten  ( —  dem 
ersten  ließ  er  noch  die  Bedeutung  als  ovogenes  Kernplasma  — ), 
bald  aber  (1891)  die  von  allen  beiden.  (Von  dem  ,,ovogenen"  Kern- 
plasma, oder  der  ovogenen  ,, Determinante",  wie  er  später  sagte, 
ist  dann  anzunehmen,  daß  sie  im  Verlaufe  der  Ausbildung  des  Eies 
aufgebraucht  wird.)  Die  Bildung  der  Richtungskörperchen  hat 
nach  dieser  neuen  Auffassung  zum  Zweck:  eine  Reduktion  des 
Keimplasmas,  nicht  bloß  an  Masse,  sondern  vor  allem  an  Kom- 
plikation der  Zusammensetzung.  Es  sollte  dadurch  die  Hälfte  der 
Ahnenplasmen  aus  dem  Ei  entfernt,  und  so  eine  übermäßige  An- 
häufung verschiedenartiger  Ahnenplasmen  verhindert  werden,  die 
sonst  notwendig,  wie  oben  gezeigt,  durch  die  Befruchtung  statt- 
finden müßte.  Somit  handelte  es  sich  um  eine  Vorbereitung  für 
die  Befruchtung:  aus  dem  Ei  würde  zunächst  die  gleiche  Anzahl 
von  Ahnenplasmen  entfernt,  die  nachher  bei  der  Befruchtung  selbst 
durch  das  Spermium  wieder  eingeführt  wird. 

Diese  Vorstellung  führte  zunächst  zu  zwei  wichtigen  theoreti- 
schen Voraussagungen,  die  in  der  Folge  durch  die  Beobachtungen 
bestätigt  wurden. 

Zunächst  ergab  sich  der  Schluß,  daß  jener  Reduktionsvorgang 
nicht  auf  dem  Wege  der  gewöhnlichen  Kernteilung  vor  sich  gehen 
könne.  Das  Wesentliche  bei  dieser  ist  ja,  daß  zunächst  jedes  Chro- 
mosom sich  der  Länge  nach  in  zwei  spaltet,  und  dann  die  beiden 
so  entstandenen  Geschwisterchromosomen  sich  trennen,  indem  das 
eme  in  den  einen,  das  andere  in  den  anderen  Tochterkern  wandert, 
so  daß  jeder  Tochterkern  wieder  die  gleiche  Anzahl  Chromosomen 
besitzt  wie  der  Mutterkern.  Auf  Grund  der  eben  angestellten 
theoretischen  Überlegung  sind  nun,  —  und  diese  Vorstellung  ist 
von  Weismann  lange  Zeit  festgehalten  worden  — ,  die  Chromo- 
somen aus  sehr  vielen  einzelnen  Ahnenplasmen  oder  Iden  zu- 
sammengesetzt zu  denken,  die  innerhalb  eines  jeden  Chromosoms 
in  Form  linear  angeordneter  Chromatinkörper,  der  vielfach  beob- 
achteten Mikrosomen,  liegen,  und  von  denen  jedes  einzelne  die 
Anlage  eines  ganzen  Individuums  darstellt.    Bei  dieser  Anordnung 


—      117     — 

aber  müßten  durch  eine  Längsspaltung  des  ganzen  Chromosoms, 
v/ie  sie  der  gewöhnlichen  Zellteilung  vorausgeht,  auch  die  einzelne 
Ide  zunächst  halbiert,  ihre  Zahl  also  verdoppelt  werden,  und  jeder 
Tochterkern  würde  von  einem  jeden  Id  ein  Teilstück,  also  in  summa 
genau  so  viel  Ide  erhalten,  als  der  Mutterkern  besaß.  Auf  diese 
Weise  wäre  also  die  gewünschte  Reduktion  der  Id-  oder  Ahnen- 
plasmenzahl nicht  zu  erreichen.  Es  muß  demnach,  so  folgerte 
Weismann  weiter,  neben  dieser  gewöhnlichen  Teilung,  die  er  als 
Äquationsteilung  bezeichnete,  noch  eine  zweite,  eine  Reduk- 
tionsteilung, geben,  bei  der  die  Längsspaltung  der  Chromosomen 
unterbleibt,  und  einfach  die  Zahl  der  vorhandenen  Chromosomen 
zu  gleichen  Teilen  auf  die  beiden  Tochterkerne  verteilt  wird.  Die 
Forschung  der  folgenden  Jahre  hat  das  Vorhandensein  einer  solchen 
Teilung  bestätigt.  Die  Bildung  des  ersten  Richtungskörperchens 
erfolgt  nach  dem  gewöhnlichen  Schema :  die  Zahl  der  Chromosomen 
wird  zuerst  durch  Längsspaltung  der  einzelnen  verdoppelt  und 
dann  durch  die  Teilung  halbiert,  so  daß  in  dem  ersten  Richtungs- 
körperchen  wie  in  dem  Ei,  von  dem  es  sich  abschnürte,  die  ur- 
sprüngliche Zahl  von  Chromosomen  vorhanden  ist;  bei  der 
Bildung  des  zweiten  Richtungskörperchens  wird  aber  von  diesen 
letzteren  einfach  die  Hälfte  mit  dem  Richtungskörperchen  heraus- 
geschafft, so  daß  das  zurückbleibende  ,,  Reif  ei"  nun  tatsächlich  auch 
nur  die  Hälfte  der  ursprünglichen  Chromosomenzahl  behält. 

Eine  weitere  Konsequenz  der  Anschauung  von  der  Notwendig- 
keit der  Halbierung  der  Zahl  der  x\hnenplasmen  vor  der  Befruchtung 
war  das  Postulat  einer  solchen  Reduktionsteilung  auch  für  die 
Samenzellen,  und  auch  dieses  wurde  durch  die  Untersuchungen 
über  die  Reifung  der  Samenzellen,  zunächst  von  O.  Hertwig, 
als  richtig  nachgewiesen.  Nur  daß  durch  die  zwei  Reifeteilungen 
des  Eies  vier  ungleiche  Teilungsprodukte  entstehen,  nämlich 
drei  kleine  Richtungskörperchen  und  ein  großes  Reifei,  während 
bei  der  Samen  reife  alle  vier  Teilungsprodukte  gleich  groß  sind  und 
funktionsfähige  Samenfäden  geben.  Auch  die  Art,  wie  Weis  mann 
diesen  Unterschied  betrachtet,  ist  jetzt  Gemeingut  geworden:  auch 
für  die  Eizelle  ist  von  einem  früheren  Zustand  auszugehen,  wodurch 
ihre  zweimalige  Teilung  vier  funktions-,  d.  h.  befruchtungs-  und 
entwicklungsfähige  Eier  entstanden ;  erst  im  Laufe  der  phylogeneti- 
schen  Entwicklung   hat   sich  der  jetzige   Zustand   herausgebildet, 


—      ii8     — 

wo  drei  der  Teilungsprodukte  verkümmern,  und  nur  eins  zur  vollen 
kräftigen  Ausbildung  gelangt  und  das  zum  Aufbau  des  Embryo 
nötige  Nahrungsmaterial  in  sich  aufspeichert.  Der  Gedanke  ist 
dann  noch  weiter  nach  der  physiologischen  Seite  hin  verfolgt  worden : 
die  Besonderheiten  von  Ei  und  Samenzelle  sind  der  Ausdruck  der 
Arbeitsteilung  zwischen  beiden;  das  Ei  ist  der  ruhende,  passive 
Teil  der  Befruchtungselemente,  betraut  mit  der  Aufspeicherung 
des  Materials,  dessen  der  Embryo  zu  seiner  Bildung  bedarf,  die 
Samenzelle  ist  das  aktive,  aufsuchende  Element.  Darauf  beruhen 
die  Unterschiede  beider  und  auch  die  Unterschiede  ihrer  Bildung. 
Ihrem  wichtigsten  Bestandteile,  der  in  den  Chromosomen  gegebenen 
Erbmasse  nach  aber  verhalten  sie  sich  gleich:  das  reife  Ei  wie  die 
reife  Samenzelle  enthalten  gleichviel  Chromosomen,  und  zwar  der 
Zahl  nach  halb  so  viel  als  sie  im  unreifen  Zustand  besaßen.  Durch 
ihre  Vereinigung  bei  der  Befruchtung  wird  in  dem  befruchteten 
Ei  die  ursprüngliche  Zahl  der  Chromosomen  wieder  hergestellt, 
und  von  dem  letzteren  aus  wird  sie  allen  Körperzellen  mitgegeben. 
Das  gleiche  gilt  natürlich  für  die  in  den  Chromosomen  enthaltenen 
Ahnenplasmen:  auch  deren  Zahl,  die  in  den  beiderlei  Geschlechts- 
zellen durch  die  Reifeteilungen  halbiert  worden  war,  wird  durch 
die  Befruchtung  wieder  auf  den  früheren  Stand  gebracht.  — 

Mit  der  bloßen  Halbierung  der  Zahl  der  Ahnenplasmen 
und  der  dadurch  erzielten  Verhinderung  einer  übermäßigen  An- 
häufung von  solchen  im  Keimplasma  ist  aber,  Weismanns  da- 
maliger Anschauung  zufolge,  die  Bedeutung  der  Reifeteilimgen 
—  des  Eies  wie  der  Samenzellen  —  nicht  erschöpft.  Die  weitere 
theoretische  Analyse  der  Geschehnisse  ließ  in  den  Reifeteilungen 
auch  eine  neue  wichtige  Quelle  für  individuelle  Variation  er- 
kennen, für  die  Erscheinung,  daß  auch  Kinder  desselben  Eltern- 
paares, also  Erzeugnisse  der  Keimzellen  derselben  Geschlechts- 
drüsen, —  wofern  es  sich  nicht  um  den  Sonderfall  ,, identischer 
Zwillinge"  handelt  — ,  niemals  einander  ganz  ähnlich  sind,  ja, 
unter  Umständen  recht  große  Verschiedenheiten  aufweisen.  Zu 
dieser  Auffassung  führte  die  Überlegung,  daß  jene  Halbierung  der 
Chromosomenzahl  in  sehr  verschiedener  Weise  vor  sich  gehen  kann, 
und  daß  demnach  auch  aus  den  zahlreichen  Keimzellen  eines  und 
desselben  Individuums  bei  den  Reif e Vorgängen  ganz  verschiedene 
Ahncnplasmen  entfernt  werden  können.     So  würde  z.  B.  bei  einer 


—      119     — 

Form,  deren  Eikern  vor  der  Bildung  des  zweiten  Richtungskörper- 
chens  nur  vier  Chromosomen  (a,  b,  c,  d)  bildet,  zwar  bei  der  Re- 
duktionsteilung eine  Zerlegung  in  zwei  Gruppen  von  je  zwei  Chromo- 
somen erfolgen,  aber  diese  Gruppen  könnten  in  den  verschiedenen 
Zellen  schon  sechserlei  verschiedene  Zusammensetzung  haben: 
(a +b),  (a+c),  (a+d),  (b+c),  (b+d),  (c+d).  Bei  acht 
Chromosomen  wären  schon  70,  bei  16  schon  12870  Kombinationen 
möglich;  entsprechend  der  angenommenen  Zusammensetzung  der 
Chromosomen  aus  einer  großen  Menge  von  Iden  (Anlagekomplexen, 
Ahnenplasmen)  heißt  das  in  der  Sprache  der  Theorie:  die  reifen 
Keimzellen  auch  desselben  Individuums  werden  in  bezug  auf  ihre 
Zusammensetzung  aus  einzelnen  Ahnenplasmen  qualitativ  nicht 
identisch  sein;  in  der  einen  werden  sich  andere  Ahnenplasmen  zu- 
sammenfinden als  in  der  anderen.  Das  gilt  für  die  Keimzellen  beider 
Geschlechter.  Da  nun  bei  der  Befruchtung  stets  von  beiden  Seiten 
her  die  gleiche  Anzahl  von  Chromosomen  zusammentrifft,  so  \vird 
die  Zahl  der  Keimplasma  Variationen,  welche  ein  Eltempaar  mög- 
licherweise zu  liefern  imstande  ist,  eine  ganz  ungeheure  sein  müssen, 
da  sie  sich  durch  Multiplikation  der  väterlichen  mit  der  mütter- 
lichen Kombinationszahl  ergibt.  Damit  wäre  die  theoretische 
Grundlage  für  das  Verständnis  der  großen  individuellen  Verschieden- 
heiten gegeben,  die  auch  Kinder  eines  und  desselben  Elternpaares 
zeigen.  Bei  der  großen  Zahl  verschiedener  Idkombinationen  in 
den  reifen  Keimzellen  eines  Individuums  ist  auch  bei  mehrmaliger 
Amphimixis  desselben  Elternpaares  nicht  anzunehmen,  daß  sich 
jemals  die  gleichen  Kombinationen  zusammenfinden  werden,  und 
so  ergibt  sich  die  stets  wechselnde  Kombination  elterlicher  und 
vorelterlicher  Eigenschaften,  wie  sie  das  Charakteristische  der  ge- 
schlechtlichen Fortpflanzung  ist.  Nur  wo  aus  demselben  befruchteten 
Ei  zwei  Individuen  entstehen,  wird  völlige  Gleichheit  zu  erwarten 
sein  —  identische  (,, eineiige")  Zwillinge. 

Darnach  schaffen  also  die  Reifeteilimgen  fortwährend  eine 
,,Neotaxis"  oder  Neukombinierung  der  Keimplasmaelemente, 
und  dieser  Prozeß  der  Umkombinierung  der  Ide  setzt  sich  dann 
bei  der  Amphimixis  fort.  Reifeteilungen  und  Befruchtung  be- 
wirken so  eine  fast  unendliche  Zahl  von  Keimplasmamischungen 
und  vermitteln  damit  ein  Verständnis  für  die  Verschiedenheit  der 
Kinder  auch  desselben  Elternpaares,  wie  überhaupt  für  das  mosaik- 


—         I20       

artig  aus  Zügen  väterlicher  und  mütterlicher  Herkunft  zusammen- 
gesetzte Bild,  das  ein  Individuum  darbieten  kann.  Ihre  Bedeutung 
für  die  Entwicklimg  des  Organismenreiches  aber  sieht  Weis  mann 
darin,  daß  sie  Individuen  in  den  verschiedensten  Kombinationen 
individueller  Unterschiede  der  Naturzüchtimg  zur  Verfügung  stellen. 

Spätere  Auffassung  der  Reduktionsvorgänge;  Beziehungen  zu 
den   Mendel  sehen  Vererbungserscheinungen. 

In  Weismanns  Theoriengebäude  wie  überhaupt  in  der  Ver- 
erbungslehre spielen  die  Reduktionsteilungen  vom  Jahre  1887  ab 
eine  große  Rolle,  um  so  mehr,  als  ganz  entsprechende  Vorgänge 
als  Vorbereitung  für  die  Befruchtung  auch  bei  Einzelligen  und 
Pflanzen  nachgewiesen  worden  sind,  und  damit  als  sicher  gelten 
kann,  daß  ihnen  eine  wichtige  biologische  Bedeutung  zukommt. 
Weismanns  Gedankengänge,  die  die  Reduktionsteilungen  zu  den 
Vererbungserscheimmgen  in  Beziehung  brachten,  haben  dabei  die 
Richtung  gewiesen,  in  der  diese  Bedeutung  zu  suchen  ist.  Im  ein- 
zelnen freilich  haben  sich  die  Anschauungen  darüber  nicht  uner- 
heblich geändert,  und  auch  Weismann  selbst  hat  in  der  letzten 
Auflage  seiner  , »Vorträge"  (1913)  sich  eine  andere  Betrachtung 
der  Vorgänge  zu  eigen  gemacht.  Sie  geht  von  einer  veränderten 
Voraussetzung,  einer  etwas  anderen  Vorstellung  von  der  Natur 
der  Chromosomen  aus  und  sucht  den  Erscheinungen  gerecht  zu 
werden,  die  am  Anfang  dieses  Jahrhunderts  einen  gewaltigen  Auf- 
schwung der  ganzen  Vererbimgsforschung  angebahnt  und  auch  dem 
Interesse  für  das  Reduktionsproblem  einen  neuen  Impiils  gegeben 
haben:  den  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts 
durch  den  Augustinermönch  Gregor  MendeP^)  gefundenen, 
damals  aber  unbeachtet  gebliebenen  und  erst  zu  Beginn  unseres 
Jahrhunderts  von  Tschermak,  de  Vries  und  Correns  aufs  neue 
entdeckten  Gesetzmäßigkeiten  in  den  Vererbungserscheinungen  bei 
Bastarden.  Der  theoretisch  konstruierte  Zusammenhang  zwischen 
ihnen  und  dem  Reduktionsproblem  wird  am  raschesten  verständ- 
lich an  den  durch  Correns  bekannt  gewordenen  Erscheinungen 
bei  der  Kreuzung  der  rot  (tiefrosa)  blühenden  Mirabilis  Jalapa 
mit  der  weiß  blühenden.  Hier  zeigt  die  erste  Nachkommengeneration 
(erste  Filialgeneration,  F^)  die  Mischung  des  mütterlichen  und  des 


121        

väterlichen  Merkmals  durch  die  hellrosa  Färbung  der  Blüten  auch 
äußerlich  sichtbar  an,  aber  schon  die  von  diesen  rosa  blühenden 
Pflanzen  durch  Selbstbefruchtung  gewonnene  zweite  Nachkommen- 
generation (Fg)  zeigt  die  charakteristische  „Spaltung  der  Merk- 
male" der  „Mendel-Bastarde":  nur  zwei  Viertel  der  Nachkommen 
bietet  wieder  die  hellrosa  Blütenfarbe,  ein  Viertel  dagegen  blüht 
rein  rot  (tiefrosa),  das  letzte  Viertel  rein  weiß.  Und  diese  roten  und 
weißen  Individuen  bewahren  nun  auch,  durch  Selbstbefruchtung 
weiter  gezüchtet,  die  rote  und  die  weiße  Blütenfarbe  dauernd  bei: 
die  elterlichen  Merkmale  sind  bei  ihnen  wieder  rein  zur  Geltung  ge- 
kommen, rein  ,, abgespalten".  Der  gleiche  Spaltungsprozeß  wieder- 
holt sich  bei  den  zwei  Viertel  rosa  blühenden  Individuen  der  zweiten 
Nachkommengeneration:  auch  sie,  durch  Selbstbefruchtung  weiter 
gezüchtet,  geben  wieder  ein  Viertel  rot,  ein  Viertel  weiß,  und  zwei 
Viertel  rosa  blühende  Individuen.  So  geht  es  weiter;  jede  neue 
Generation,  die  aus  rosa  blühenden  Individuen  gezüchtet  wird, 
zeigt  wieder  die  drei  Farben  in  dem  Verhältnis  1:1:2.  Für  diese 
Erscheinungen  gab  Mendel  selbst  schon  die  Erklärung:  in  den 
Keimzellen  oder  Gameten  (Ei-  und  Samenzellen),  die  von  den  rosa 
blühenden  Bastarden  gebildet  werden,  werden  die  Merkmale  ,,rot" 
und  ,,weiß"  gespalten,  d.  h.  die  einen  Keimzellen  erhalten  nur  die 
Anlage  für  das  Merkmal  ,,rot",  die  anderen  nur  die  für  das  Merkmal 
,,weiß".  Werden  nun  diese  Keimzellen  zur  gegenseitigen  Befruchtung 
gebracht,  so  werden  sich  finden  können:  ,,rote"  männliche  und 
,,rote"  weibliche  Keimzelle;  oder:  ,, weiße"  männliche  und  ,, weiße" 
weibliche,  oder:  ,,rote"  männliche  und  ,, weiße"  weibliche  oder 
endlich  ,, weiße"  männliche  und  ,,rote"  weibliche.  In  den  beiden 
letzten  Fällen  wird  das  Ergebnis  gleich  sein:  rosa  Blüten;  in  den 
beiden  ersten  Fällen  entstehen  rein  und  dauernd  rote  oder  rein 
und  dauernd  weiße.  So  erfährt  das  empirisch  festgestellte  Ver- 
hältnis 1:1:2  seine  theoretische  Erklärung :  die  zwei  Viertel  hellrosa 
Individuen  sind  Heterozygoten,  d.  h.  durch  Vermischung  ver- 
schiedener Merkmalsanlagen  (rot  und  weiß)  entstanden;  die  ein 
Viertel  rot  oder  tiefrosa  gefärbten  sind  ebenso  wie  die  ein  Viertel 
weißen  Homozygoten,  d.  h.  in  ihnen  haben  sich  von  beiden  Seiten 
her  die  gleichen  Merkmalsanlagen  gefunden,  in  der  roten  die 
roten,  in  der  weißen  die  weißen. 


122 


Es  liegt  nahe,  die  Herstellung  dieser  in  bezug  auf  bestimmte 
Merkmale  „reinen  Gameten",  die  aus  den  Beobachtungen  er- 
schlossen werden,  in  Verbindung  zu  bringen  mit  den  Reifeteilungen, 
durch  die  ja  ein  Teil  der  Chromosomen,  also  der  Erbmasse,  aus 
der  Keimzelle  herausgeschafft  wird.  Für  die  Durchführung  des 
Gedankens  im  einzelnen  ist  freilich  die  frühere  Weismannsche 
Vorstellung,  daß  jedes  Chromosom  die  Gesamtanlagen  für  eine 
sehr  große  Anzahl  von  Einzelindividuen  enthält,  nicht  besonders 
geeignet;  um  so  mehr  die  andere,  hauptsächlich  durch  Boveri  be- 
gründete, nach  der  in  jedem  Chromosom  die  Anlagen  nur  für  be- 
stimmte Teile  eines  Individuums  enthalten  sind.  Diese  aus  ge- 
wissen direkten  Beobachtungen  und  experimentellen  Ergebnissen 
erschlossene  Auffassung  von  der  Ungleichwertigkeit  der  Chromo- 
somen ist  denn  auch  in  die  dritte  Auflage  von  Weismanns  Vor- 
trägen über  Deszendenztheorie  übergegangen  und  an  die  Stelle 
der  früheren  Anschauung  getreten,  nach  der  die  Chromosomen 
gleichwertige  und  nur  durch  die  individuelle  Färbung  ihrer  Ahnen- 
plasmen unterschiedene  Gebilde  seien.  So  lautet  die  jetzige  Annahme 
dahin,  daß  in  jeder  befruchteten  Eizelle  —  und  demnach  auch  in 
jeder  Keimzelle  vor  den  Reifeteilungen  —  die  Anlagen  für  ein  ganzes 
Individuum  nur  zweimal  vorhanden  sind:  einmal  vom  Vater  und 
einmal  von  der  Mutter  her.  Diese  Anlagen  sind  so  auf  sämtliche 
Chromosomen  verteilt,  daß  die  eine  Hälfte  die  väterlichen,  die 
andere  Hälfte  die  mütterlichen  Anlagekomplexe  darstellt.  Das 
Einzelchromosom  enthält  darnach  nicht  eine  große  Menge  von 
Ahnenplasmen  oder  Iden  (,,Volliden"),  ja  nicht  einmal  ein  einziges, 
sondern  nur  eine  beschränkte  Anzahl  von  Anlagen  für  ganz  be- 
stimmte Teile  des  Individuums,  und  erst  die  ganze  Menge  der 
Chromosomen  repräsentiert  zwei  ,, Vollide",  d.  h.  die  Anlagen  für 
zwei  ganze  Individuen.  Einem  jeden  väterlichen  (vom  Vater 
stammenden)  Chromosom  entspricht  ein  mütterliches;  diese  beiden 
, .homologen"  Chromosomen  enthalten  immer  den  gleichen  An- 
lagekomplex. Auf  der  Grundlage  dieser  Anschauung  erfahren 
dann  auch  die  beiden  Reifeteilungen  der  Keimzellen  eine  neue 
Deutung,  und  die  Ergebnisse  der  auf  diesem  Gebiete  ungemein 
tätigen  und  erfolgreichen  Forschung,  namentlich  die  Bildung  der 
sogenannten  ,, Vierergruppen",  gibt  die  Handhabe  zu  einer  Deutung, 
die  die  Reifungsteihmgen  zu  den  eben  kurz  berührten  Mendelschen 


—     123     — 

Vererbungserscheinungen  in  engere  Beziehung  bringt.  Sie  kommt 
in  ihrem  Endergebnis  darauf  hinaus,  in  jenen  Vorgängen  das  Mittel 
zu  sehen,  um  die  Gesamtzahl  der  Chromosomen  zunächst  zu  ver- 
doppeln —  wonach  also  dann  die  Anlagenkomplexe  für  vier  In- 
dividuen in  der  Keimzelle  liegen  würden,  zwei  aus  väterlichen, 
zwei  aus  mütterlichen  Chromosomen  bestehend,  —  und  die  so 
gewonnene  Chromosomenzahl  alsdann  auf  vier  Zellen  ( —  beim 
männlichen  Geschlecht:  auf  vier  Samenzellen,  beim  weiblichen: 
auf  ein  Reifei  und  drei  Richtungskörperchen  — )  in  der  Weise  zu 
verteilen,  daß  eine  jede  Zelle  den  ganzen  für  ein  Individuum  er- 
forderlichen Chromosomensatz  nur  einmal  enthält,  aber  in  der  ver- 
schiedensten, dem  Zufall  überlassenen  Mischung  väterlicher  und 
mütterlicher  Elemente.  Durch  die  Befruchtung  werden  dann  zwei 
solcher  Chromosomensätze  zusammengebracht;  diese  beiden  setzen 
die  Kernsubstanz  des  befruchteten  Eies  zusammen  und  beherrschen 
weiterhin  die  ganze  Ontogenese,  wie  noch  zu  besprechen  sein  wird. 
Damit  wäre,  auch  vom  Standpunkt  der  neuen  Auffassung  der 
Chromosomen  aus,  eine  Grundlage  gegeben  für  die  Verschiedenheiten 
der  Kinder  auch  eines  und  desselben  Elternpaares,  ferner  für  das 
zusammengesetzte  Bild,  das  ein  jedes  Individuum  darbietet,  end- 
lich aber  auch  für  die  eigentümliche  Merkmalsspaltung,  die  die 
Mendel  -  Bastarde  in  der  zweiten  und  den  folgenden  Bastard- 
generationen zeigen.  Denn  durch  die  Reifeteilungen  bekommt, 
dem  Gesagten  zufolge,  eine  jede  Keimzelle  die  Anlage  für  jedes 
Merkmal  nur  einmal,  entweder  vom  Vater  oder  von  der  Mutter 
—  eingeschlossen  in  ein  Chromosom  väterlicher  oder  mütterlicher 
Herkunft  — ,  und  damit  wäre  die  von  Mendel  selbst  geforderte 
Reinheit  der  Gameten  oder  Keimzellen  in  bezug  auf  ein  bestimmtes 
Merkmal  erreicht.  Freilich  ergeben  sich  dabei  auch  manche 
Schwierigkeiten,  die  Weis  mann  selbst  auch  anerkannt  hat,  so 
besonders  aus  der  bei  manchen  Formen  sehr  geringen  Zahl 
von  Chromosomen.  Denn  die  Bastardierungsversuche  mit  Formen, 
die  sich  nicht  nur  durch  ein,  sondern  durch  zwei,  drei  und  mehr 
Merkmale  unterscheiden  (Di-,  Tri-,  Polyhybriden),  haben  ja  er- 
geben, daß  diese  Merkmale  in  den  Bastardgenerationen  sich  selb- 
ständig verhalten,  aus  dem  Zusammenhang,  in  dem  sie  sich  bei 
den  Elternformen  fanden,  gelöst  werden,  und  sich  in  allen  mög- 
lichen neuen  Kombinationen  wieder  zusammenfinden  können,  und 


—        124       — 

es  wird  angenommen,  daß  das  ganz  allgemein  für  alle  Merkmale 
gilt.  Die  Unmöglichkeit,  das  mit  der  meist  nur  geringen  Zahl  der 
Chromosomen  in  Einklang  zu  bringen,  liegt  auf  der  Hand ;  sie  macht 
es  verständlich,  daß  man  sogar  an  einen  Austausch  von  Deter- 
minanten (Merkmalsanlagen)  zwischen  den  homologen  Chromo- 
somen väterlicher  tmd  mütterlicher  Herkunft  —  die  sich  vorüber- 
gehend eng  aneinander  legen  —  gedacht  hat.  Hier  ist  also  noch  sehr 
vieles  unklar.  Indessen  muß  ein  genaueres  Eingehen  auf  die  Be- 
ziehungen der  Mendel-Forschung  zu  den  Weis  mann  sehen  Vor- 
stellungen hier  unterbleiben.   — 

4.  Reifung  und  Befruchtung  als  Quelle  erblicher  Variation. 

Durch  diese  Änderung  im  einzelnen  wird  die  ursprüngliche 
allgemeine  Auffassung  von  der  Bedeutung  der  Reifungserschei- 
nungen  und  der  Amphimixis  nicht  berührt.  Auch  nach  der  neuen 
Auffassung  erscheinen  diese  beiden  Vorgänge  als  eine  unaufhörlich 
fließende  Quelle  individueller  Variation.  Die  Bedeutung  derselben 
ist  freilich  eine  Zeitlang  von  Weis  mann,  wie  er  selbst  bald  er- 
kannte, überschätzt  worden.  Was  die  Vermischung  der  Individuen 
in  Verbindung  mit  den  ihr  vorausgehenden  Reifungserscheinungen 
der  Keimzellen  leisten  kann,  ist  ja  immer  nur  eine  neue  Kombi- 
nation der  auf  beiden  Seiten  gegebenen  verschiedenen  Anlagen,  die 
Schaffung  neuer  Anlagen  komplexe;  die  Elemente  dieser  Kom- 
plexe aber,  die  Anlagen  selbst,  bleiben  dadurch  unverändert.  Der 
Zuchtwahl  gegenüber  werden  freilich  auch  diese  Komplexe  sehr 
verschieden  wertig  sein:  die  einen  brauchbar  imd  der  Erhaltung 
wert,  die  anderen  minderwertig  und  zu  verwerfen.  Aber  wenn 
dadurch  auch  das  individuelle  Bild  der  Vertreter  einer  gegebenen 
Art  verändert  werden  kann,  so  wird  das  doch  eben  nur  innerhalb  der 
Grenzen  des  Artbildes  möglich  sein;  in  bezug  auf  die  Elemente 
aber  würde  nichts  völlig  Neues  dadurch  zustande  kommen.  Hierfür 
ist  die  Annahme  einer  besonderen  Kraft  nötig,  die  wirkliche  Ver- 
änderungen der  Teile,  d.  h.  im  Sinne  der  Determinantentheorie: 
Veränderungen  der  Determinanten  hervorruft.  Weismann 
stellte  als  diese  Kraft  später  die  Germinalselektion  auf. 

Indessen  ist  die  umordnende  Bedeutung  der  Amphimixis 
einschließlich  der  vorhergehenden  Reifungserscheinungen  nicht  zu 
unterschätzen    und   auch   im    Menschenleben    spielt    sie   eine    sehr 


—     125     — 

große  Rolle.  Das  Individuum  ist  eine  Kombination,  ein  Mosaik 
aus  einer  sehr  großen  Anzahl  von  Anlagen  verschiedener  Herkunft, 
über  die  seine  Ahnentafel  Auskunft  gibt,  und  auch  die  hervor- 
stechendsten menschlichen  Erscheinungen,  Talente  und  Genies, 
sind  vor  allem  als  zufällige  glückliche  Kombinationen  günstiger 
Anlagen  zu  betrachten.  Diese  schon  von  Goethe  in  seinem  bekannten 
Verse  ausgesprochene,  von  Weismann  in  seinem  bereits  oben  ein- 
gehend behandelten  Aufsatz  über  die  Musik  und  dann  in  den  Vor- 
trägen über  Deszendenztheorie  näher  ausgeführte  Auffassung  wird 
auch  von  der  modernen  Vererbungsforschung  immer  mehr  als  zu 
Recht  bestehend  anerkannt. 


Sechster  Abschnitt. 

Weiterer  Ausbau  der  Keimplasmatheorie: 
die  Determinautentheorie. 


„Das  Keimplasma.  Eine  Tlieorie  der  Vererbung."  —  Fragestellung.  —  i.  Der  Bau 
des  Keimplasmas.  —  Vererbungssubstanz;  die  Chromosomen  als  Träger  der  Ver- 
erbungstendenzen. —  Nägelis  Idioplasma,  Umgestaltung  des  Idioplasmabegriffes  durch 
Weismann.  Biophoren  und  Determinanten.  —  Die  Ide.  Wechsel  der  Anschauung 
Weismanns  hinsichtlich  der  Natur  der  Chromosomen.  —  2.  Die  Betätigung  des 
Keimplasmas  in  der  Ontogenese.  —  Das  Problem,  —  Ontogenetische  Zerlegung 
des  Keimplasmas.  —  Kampf  der  homologen  Determinanten  untereinander;  Bedeutung 
für  die  Vererbungserscheinungen;  alternierende  Vererbung  (Mendel).  —  Beeinflussung 
der  Entwicklung  durch  äußere  Einwirkungen.  —  Neben-  (Reserve-,  Regenerations-) 
Idioplasma.  —  Erbgleiche  und  erbungleiche  Teilung.  —  3.  Allgemeine  Betrach- 
tung der  Determinantentheorie.  Die  Determinantentheorie  als  Theorie  der  Ver- 
erbung.   —    Die  Determinantentheorie   als  Theorie   der  Entwicklung.    —    Hypothetischer 

Charakter  der  Theorie. 


„Das  Keimplasma.     Eine  Theorie  der  Vererbung." 

Die  Bausteine,  die  Weismann  von  verschiedenen  Seiten  her 
zur  Vererbungslehre  herbeigeschafft  hatte,  fügte  er  1892  zum  ersten 
Male  zu  dem  Gebäude  einer  Theorie  zusammen.  ,,Das  Keimplasma. 
Eine  Theorie  der  Vererbung"  ist  der  Titel  des  Werkes,  das  Rudolf 
Leuckart  gewidmet  ist.  Die  Theorie  erscheint  hier  in  ihrer  ersten 
Form,  an  der  Weismann  später  mancherlei  geändert  hat. 

Fragestellung, 

Zu  der  schon  oben  kurz  berührten  ersten  Hauptfrage  des 
Vererbungsproblemes :  wie  kommt  eine  einzelne  Zelle  des  Körpers 
dazu,  die  sämtlichen  Vererbungstendenzen  des  gesamten  Organismus 
in  sich  zu  vereinigen  ?  —  gesellt  sich  hier  die  zweite :  durch  welche 
Kräfte,  durch  welchen  Mechanismus  kommen  diese  Tendenzen  beim 


12' 


Aufbau  des  neuen  Organismus  zur  Entfaltung  ?    Die  Beantwortung 
beider  wird  gegeben  auf  Grund  einer  im  einzelnen  durchgearbeiteten 
Vorstellung  vom  Bau  der  Vererbungssubstanz:   ihrer  Zusammen 
Setzung  aus  einzelnen   Bestimmungsstücken   oder  Determinanten. 

I.  Der  Bau  des  Keimplasmas. 

Vererbungssubstanz.  Die  Chromosomen  als  Träger  der  Ver- 
erbungstendenzen. 
Schon  in  seiner  ersten  Schrift  über  die  Vererbung,  von  1883, 
hatte  Weismann  eine  ganz  bestimmte  Vererbungssubstanz, 
einen  materiellen  Träger  der  Vererbungstendenzen,  angenommen 
und,  wie  auch  schon  1882  in  der  Schrift  über  die  Dauer  des  Lebens, 
die  Überzeugung  vertreten,  daß  in  der  befruchteten  Eizelle  selbst 
die  Faktoren  liegen,  die  über  die  Art  ihrer  Entwicklung  entscheiden. 
Diese  Annahme  konnte  durch  Versuche  von  Pflüger  (1883),  nach 
denen  die  äußeren  Bedingungen  einen  ausschlaggebenden  Einfluß 
bei  der  Entwicklung  zu  haben  schienen,  als  gefährdet  erscheinen, 
erhielt  aber  durch  Experimente  von  Roux  (1844),  die  das  Pflüger- 
sche  Ergebnis  als  unrichtig  nachwiesen,  eine  sehr  wichtige  Be- 
stätigung. 

Zunächst  galt  es  nun,  diese  Vererbungssubstanz,  für  die  Weis- 
mann die  kurze  Bezeichnung  Keimplasma  eingeführt  hat,  ihrem 
Sitze  und  ihrem  Wesen  nach  genauer  zu  bestimmen. 

Den  Sitz  des  Keimplasmas  verlegt  Weismann  in  den  Kern 
der  Keimzellen,  und  insbesondere  nimmt  er  die  chromatische  Sub- 
stanz desselben  als  Träger  der  Vererbungstendenzen  in  Anspruch, 
d.  h.  die  Substanz,  die  zur  Zeit  der  Zellteilung  in  Form  der  stäbchen- 
oder  schleifenartigen  Chromosomen  erscheint.  Die  hohe  Bedeutung 
des  Kernes  für  das  Leben  der  Zelle,  und  im  besonderen  seine  Be- 
deutung als  Vererbungssubstanz  war  von  der  Mitte  der  siebziger 
Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  an  immer  deutlicher  und  klarer 
hervorgetreten.  Die  eigentümlichen  Erscheinungen,  die  sich  bei 
der  indirekten  Zellteilung  am  Kerne  abspielen  (,,Karyokinese"), 
und  die  zuerst  von  A.  Schneider  und  Auerbach  beobachtet, 
dann  von  Bütschli,  Flemming  u.  a.  aufs  genaueste  studiert 
worden  waren,  hatten  schon  die  große  wichtige  Rolle,  die  die  chro- 
matische Substanz  des  Kernes  bei  der  Zellteilung  spielt,  erkennen 


—        128       — 

lassen;  die  gleichzeitig  daneben  herlaufenden  Untersuchungen  über 
die  Befruchtungserscheinungen  (O.  Hertwig,  Fol,  van  Beneden, 
E.  Strasburger  u.  a.)  hatten  noch  bestimmter  darauf  hingewiesen, 
daß  die  chromatischen  Substanzen  des  Kernes  die  Träger  der  Ver- 
erbimgstendenzen  seien.  Endlich  zeigten  Versuche  über  künstliche 
Teilbarkeit  der  Infusorien  (M.  Nußbaum,  A.  Gruber;  —  die 
Experimente  des  letzteren  sind  auf  Veranlassvmg  von  Weis  mann 
im  Freiburger  zoolpgischen  Institut  ausgeführt  worden  — ),  daß 
der  Kern  die  Wiederherstellung  des  verstümmelten  Tieres  leitet, 
daß  in  ihm  also  etwas  enthalten  sein  muß,  was  den  Organismus 
mit  seinen  Einzelheiten  bestimmt.  Die  Schlußfolgerung  aus  alle 
dem,  die  Lehre  vom  ,, Vererbungsmonopol  des  Kernes",  wie  man  sie 
später  genannt  hat,  wurde  denn  auch  ziemlich  gleichzeitig,  in  den 
Jahren  1884  und  1885,  von  E.  Strasburger,  O.  Hertwig  und 
A.  Weismann,  von  letzterem  in  der  ,, Kontinuität  des  Keim- 
plasmas", 1885,  ausgesprochen^').  Unter  den  Beobachtungen, 
auf  die  sie  sich  stützte,  waren  von  der  allergrößten  Bedeutung 
die  von  E.  van  Beneden  (1884;  an  Ascaris  megalocephala  an- 
gestellt), daß  bei  der  Befruchtung  der  Ei-  wie  der  Samenkern  die 
gleiche  Anzahl  von  Kernschleifen  oder  Chromosomen  bilden, 
daß  die  Kernschleifen  väterlicher  und  mütterlicher  Herkunft  ge- 
trennt bleiben,  eine  jede  sich  spaltet,  und  bei  der  Teilung  des  Eies 
eine  jede  Furchungszelle  gleich  viele  väterliche  und  mütterliche 
Spalthälften  erhält.  Daraus  mußte  geschlossen  werden,  daß  auch 
jede  Zelle  des  Körpers  zur  Hälfte  väterliche  und  zur  Hälfte  mütter- 
liche Kernschleifen  bekommt  —  ein  Schluß,  der  für  das  Verständnis 
der  Vererbungserscheinungen  von  größter  Bedeutung  sein  mußte. 
Zugleich  aber  forderten  diese  Beobachtungen  dazu  auf,  die  Formel, 
daß  der  Kern  der  Träger  der  Vererbungstendenzen  sei,  bestimmter 
dahin  zu  fassen,  daß  die  Chromosomen  die  Vererbungssubstanz 
repräsentieren.  Eine  wesentliche  Stütze  fand  diese  Auffassung  in 
der  zuerst  (1884)  von  Rabl  aufgestellten,  darauf  besonders  von 
Boveri  begründeten  und  vielfach,  wenn  auch  nicht  allgemein, 
angenommenen  Hypothese,  daß  die  Chromosomen  oder  Kern- 
schleifen nicht  vergängliche,  sondern  konstante  Gebilde  sind,  die 
während  des  sogenannten  Ruhestadiums  des  Kernes  zwar  äußerlich 
nicht  gegen  einander  abgegrenzt  werden  können,  aber  doch  ihre 
Individualität  bewahren.    In  Einklang  mit  dieser  Vorstellung  steht. 


—      i2g     — 

daß  die  Zahl  der  Chromosomen,  die  sich  bei  der  Kernteilung  bilden, 
für  jede  Organismenform  konstant,  d.  h.  in  allen  Zellen  derselben 
gleich  ist  (Boveri  1890). 

Alle  die  hier  kurz  berührten  Vorstellungen  und  Tatsachen 
hat  Weismann  in  seiner  Vererbungstheorie  verwertet,  die  sich 
somit  ganz  auf  der  Lehre  aufbaut,  daß  die  Vererbungssubstanz 
lediglich  in  den  Chromosomen  des  Kernes  enthalten  ist.  Daß  diese 
Grundannahme  heute  vielfach  angezweifelt,  und  von  vielen  For- 
schern auch  dem  Plasma  der  Keimzellen  —  namentlich  des  Eies  — 
eine  wichtige  Rolle  bei  der  erblichen  Übertragung  und  bei  der  Be- 
stimmung der  Ontogenese  zugewiesen  wird,  sei  nur  kurz  erwähnt. 

Nägelis  Idioplasma,  Umgestaltung  des  Idioplasmabegriffes  durch 
Weis  mann.     Biophoren  und   Determinanten. 

Für  den  weiteren  Ausbau  der  Weismannschen  Keimplasma- 
theorie wurden  von  größter  Bedeutung  die  theoretischen  Erörte- 
rungen, die  der  Münchener  Botaniker  Carl  von  Nägeli  in  seinem 
1884  erschienenen  Werk : ,, Mechanisch-physiologische  Theorie  der  Ab- 
stammungslehre" aufstellte.  Mit  den  hier  niedergelegten  Anschau- 
ungen berühren  sich  die  von  Weis  mann  in  manchen  Punkten,  in  an- 
deren aber  weichen  sie  sehr  bestimmt  ab.  Für  den  Ausbau  der  Ver- 
erbungslehre von  besonderer  Wichtigkeit  ist  der  Begriff  des  Idio- 
plasmas  geworden,  den  Nägeli  eingeführt  hat.  Das  Idioplasma 
oder  Anlagenplasma  Nägelis  {elöog  Gestalt)  ist  die  zu  imgefähr 
gleichen  Teilen  vom  Vater  und  von  der  Mutter  stammende  Ver- 
erbungssubstanz, die  den  ganzen  Organismus  des  Nachkommen 
durchsetzt  und,  obschon  in  sehr  viel  geringerer  Menge  als  die  übrige 
lebende  Substanz  des  Körpers,  das  Ernährungsplasma,  vor- 
handen, dennoch  diesen  in  seiner  Gestaltung  bestimmt.  Weis- 
mann  übernahm  den  Nägelischen  Begriff  des  Idioplasmas,  ver- 
wendete ihn  aber  etwas  anders  als  Nägeli  selbst,  indem  er  ihn 
—  wie  das  auch  von  O.  Hertwig  geschehen  war  —  auf  die  Chro- 
matinsubstanz  des  Kernes  übertrug,  entsprechend  eben  der  Auf- 
fassung, daß  in  der  Tat  diese  Kernsubstanz  bestimmend  für  den 
morphologischen  und  physiologischen  Charakter  der  Zelle  ist.  Jede 
Zelle  enthält  nach  Weis  mann  in  dem  Chromatin  ihres  Kernes 
ein  spezifisches  Idioplasma,  das  der  Zelle,  in  der  es  liegt,  den 
Stempel  aufdrückt,  sie  beherrscht.     Diese  Beherrschung  der  Zelle 

Gaupp,  Biographie  Weismanns.  9 


—     I30     — 

durch  den  Kern  dachte  sich  Weismann  anfangs  (1885),  im  An- 
schluß an  E.  Strasburger,  in  der  Weise,  daß  von  dem  Kem- 
(Idio-)plasma,  das  in  jeder  Zelle  eine  ganz  spezifische  Molekular- 
struktur habe,  sich  molekulare  Erregungen  in  das  umgebende  Zell- 
piasma  fortpflanzen  und  hier  in  spezifischer  Weise  beim  Stoffwechsel 
und  Wachstum  wirksam  werden.  Unter  Zugrundelegung  dieser  An- 
schauung versuchte  Weismann  anfangs  auch  eine  Keimplasma- 
theorie aufzustellen  (1885,  in  der  ,, Kontinuität  des  Keimplasmas"). 
An  ihre  Stelle  trat  aber  dann  später  eine  andere,  die  den  Schwer- 
punkt von  der  Struktur  auf  die  Substanz  verlegte:  die  Lehre  von 
den  Determinanten.  Darnach  denkt  sich  Weismann  nun- 
mehr, wie  auch  andere  Forscher,  alle  lebende  Substanz,  also  auch 
das  Kern-  und  das  Zellplasma,  aus  kleinsten  lebendigen  Einheiten, 
zusammengesetzt,  denen  er  den  Namen  Biophoren  gibt.  Es  sind 
die  kleinsten  Molekülgruppen,  die  noch  assimilieren,  wachsen  und 
sich  vermehren  können,  also  die  niedersten  Lebenseinheiten  über- 
haupt. Es  muß  unzählige  Biophoren-Arten  in  all  den  verschiedenen 
Teilen  der  Millionen  von  Lebensformen  geben,  die  heute  auf  der 
Erde  leben;  die  Biophoren  der  Muskelzellen  sind  anderer  Art  als 
die  der  Nerven-,  Drüsenzellen  usw. ;  nur  ein  Grundschema  des 
Baues,  an  das  ihre  Lebensfähigkeit  geknüpft  ist,  dürfte  ihnen  ge- 
meinsam sein.  Im  Anschluß  an  eine  Vorstellung  von  de  Vries  be- 
trachtet dann  Weismann  den  Kern  (das  Idioplasma)  einer  diffe- 
renzierten Zelle  als  ein  Magazin  der  Biophoren-Arten,  die  den  spezi- 
fischen Zellcharakter,  aber  auch  Größe,  Lebenskraft,  Vermehrungs- 
dauer usw.  der  Zelle  bestimmen  sollen ;  in  diesem  Magazin  liegen  sie 
aber  nicht  lose  durcheinander,  sondern  in  festem  Verbände,  ver- 
einigt zu  lebendigen  Einheiten  höherer  Ordnung,  den  sogenannten 
,, Determinanten"  (Bestimmungsstücken  der  Zelle),  in  passivem 
Zustand;  sie  werden  aktiv  und  erfüllen  ihre  Aufgabe,  indem  sie 
nach  Auflösung  der  Determinanten,  durch  die  Kernmembran  hin- 
durch in  den  Zellkörper  austreten  und  denselben  —  das  genauere 
,,Wie"  entzieht  sich  bisher  unserer  Vorstellung  —  in  ihrem  Sinne 
umgestalten.  Da  nun  letzten  Endes  jede  Zelle  des  Organismus  aus 
der  befruchteten  Eizelle,  jeder  Zellkern  aus  dem  Keimkern  hervor- 
gegangen ist,  so  müssen  auch  die  Determinanten  aller  Kerne  ur- 
sprünghch  aus  dem  Kern  der  befruchteten  Eizelle,  d.  h.  aus  dem 
Keimplasma,  stammen:  das  Keimplasma  muß  alle  die  verschieden- 


—      131      — 

artigen  Determinantensorten  für  den  ganzen  Organismus  ent- 
halten. Dabei  ist  freilich  nicht  anzunehmen,  daß  jede  einzelne  Körper 
zelle  im  Keimplasma  durch  eine  besondere  Determinante  vertreten 
ist;  das  würde  bei  den  Milliarden  von  Zellen,  die  den  vielzelligen 
Organismus  aufbauen,  eine  ungeheuerliche  Annahme  sein.  Sie  ist 
aber  auch  gar  nicht  nötig,  denn  da  die  Determinanten  lebendige 
Einheiten  sind,  so  muß  ihnen  die  Fähigkeit  der  Assimilierung  und 
Vermehrung  zugesprochen  werden,  und  so  können  wohl  die  Deter- 
minanten von  tausenden  von  Blut-  oder  Muskelzellen  von  einer 
einzigen  Determinante  oder  doch  von  deren  wenigen  im  Keimplasma 
abstammen.  Daß  indessen  andererseits  auch  nicht  etwa  alle  gleich- 
artigen Gewebszellen  nur  von  einer  einzigen  Keimplasmadeter- 
minante abstammen  können,  lehren  die  Vererbungserscheinungen. 
Von  deren  Standpunkt  aus  betrachtet,  müssen  die  einzelnen  Deter- 
minanten im  Keimplasma  nicht  bloß  ganz  allgemein  Muskel-,  Nerven- 
usw.  Determinanten  sein,  sondern  eine  nach  Spezies,  ja  nach  In- 
dividuen eigenartige  Natur  besitzen.  Von  den  elterlichen  Keim- 
plasmen stammend,  sollen  sie  die  Eigenheiten  der  elterlichen  Or- 
ganismen auch  im  kindlichen  Organismus  wieder  zum  Ausdruck 
bringen.  Dazu  aber  ist  nötig,  daß  jeder  selbständig  und  erblich 
veränderliche  Teil  des  Körpers  durch  ein  besonderes  Teilchen,  eine 
besondere  Determinante,  im  Keimplasma  vertreten  ist.  Wenn  eine 
kleine  individuelle  Besonderheit  beim  Menschen,  die  sich  nur  auf 
eine  beschränkte  Stelle  eines  Körperteiles  bezieht  ( —  ein  Grübchen 
der  Haut,  eine  besonders  gefärbte  Haarlocke  u.  a.  — )  durch  mehrere 
Generationen  hindurch  in  einer  Familie  vererbt  wird,  so  erfordert 
das  die  Annahme,  daß  für  diesen  Teil  schon  im  Keim  ein  besonderes 
Bestimmungsstück  vorhanden  ist,  dessen  Variieren  eben  jene 
Variation  des  Individuums  nach  sich  zog.  Die  Milliarden  von  Blut- 
zellen dürften  möglicherweise  von  einer  einzigen  Determinante 
des  Keimplasmas  bestimmt  werden;  die  Muskel-,  Haut-,  Drüsen- 
und  manche  anderen  Zellen  werden  vermutlich  gruppenweise  durch 
eine  Determinante  bestimmt. 

Dadurch  wird  die  Zahl  der  im  Keimplasma  anzimehmenden 
Determinanten  wesentlich  verkleinert.  Auf  der  anderen  Seite  aber 
gibt  es  eine  Anzahl  von  Erscheinungen,  die  dafür  sprechen,  daß 
vielfach  für  denselben  Teil  mehrere  etwas  verschiedene  Deter- 
minanten vorhanden  sind  —  wodurch  die  Zahl  der  anzunehmenden 


Determinanten  wieder  vergrößert  wird.  Hierauf  ist  unten,  bei 
Betrachtung  der  ,,Ide",  zurückzukommen. 

Die  Determinanten  des  Keimplasmas  sind  also  lebendige 
Teilchen,  Anlagestücke  für  bestimmte  Teile  des  Organismus,  die 
durch  sie  in  ihrer  Existenz  wie  in  allen  ihren  Besonderheiten  (also 
nicht  bloß  in  der  histologischen  Zelldifferenzierung,  sondern  auch 
in  ihrer  Größe  usw.)  bestimmt  werden.  Die  durch  sie  bestimmten 
Teile  des  fertigen  Organismus  nennt  Weismann  Determinaten, 
Vererbungsstücke.  Es  müssen  im  Keimplasma  mindestens  so 
viel  Determinanten  enthalten  sein,  als  es  selbständig  und  erblich 
variable  Bezirke  am  fertigen  Organismus  gibt,  seine  sämtlichen 
Entwicklungsstadien  mit  eingeschlossen. 

In  der  gleichen  Weise  wie  es  eben  für  die  Keimzellen  der  Viel- 
zelligen besprochen  worden  ist,  ist  auch  schon  bei  den  mit  einem 
Kern  versehenen  Einzelligen  die  gesamte  Individualität  des 
Tieres  in  dieser  Kernsubstanz  als  Anlage-  oder  Vererbungssubstanz 
enthalten.  Daher  leitet  bei  Verstümmelung  von  Infusorien  der  Kern 
die  Wiederherstellung  des  verstümmelten  Tieres.  Der  Kern  der 
Einzelligen  kann  der  Keimsubstanz,  der  Zellkörper  dem  Soma  der 
Vielzelligen  verglichen  werden.  (Von  dieser  Grundlage  aus  sind 
ja  auch,  wie  im  vorigen  Abschnitt  besprochen  wturde,  die  Ver- 
erbungserscheinungen bei  den  Einzelligen  in  gleicher  Weise  zu  be- 
trachten wie  die  bei  den  Vielzelhgen.) 

Die    Ide.     \Vechsel    der   Anschauung   Weismanns    hinsichtlich 
der  Natur  der  Chromosonien. 

Ein  Begriff,  der  in  Weismanns  Theorie  eine  große  Rolle 
spielt  und  daher  wiederholt  in  seinen  Schriften  angewendet  wird,  ist : 
,,das  Id".  Die  Bedeutung  dieses  Begriffes  hat  aber  gewechselt; 
in  der  letzten  Auflage  der  ,, Vorträge"  ist  er  in  anderem  Sinne  ge- 
braucht als  früher,  woraus  sich  eine  Schwierigkeit  bei  dem  Ver- 
gleich dieser  letzten  Darstellung  der  Theorie  mit  den  früheren  er- 
gibt. Anfangs  bedeutete  ein  ,,Id":  den  gesamten  Determi- 
nantenkomplex, der  die  Anlagen  für  ein  ganzes  Indi- 
viduum in  bestimmter  gesetzmäßiger  Anordnung  ent- 
hält. Die  anfängliche  Fassung  der  Theorie  nimmt  nun  an,  daß 
in  jedem  Keimplasma,  d.  h.  in  dem  Kern  einer  jeden  Keimzelle, 
eine  sehr  große  Anzahl  solcher  Ide  (,, Vollide")  enthalten  sei,  die 


—      133      — 

alle,  von  verschiedenen  Aszendenten  stammend  und  somit  Ahnen- 
plasmen darstellend,  eine  etwas  verschiedene  individuelle  Färbung 
besäßen.  Als  diese  Ide  wurden  die  Mikrosomen  angesprochen, 
d.  h.  die  kleinen  Körnchen,  die  bei  den  höheren  Formen  eine  jede 
Kernschleife  (jedes  Chromosom)  in  linearer  Aneinanderreihung  zu- 
sammensetzen. Letztere,  die  Chromosomen,  erhielten  daraufhin 
den  Namen  Idanten.  Das  Keimplasma  erschien  so  zusammen- 
gesetzt aus  drei  Stufen  von  Lebenseinheiten:  die  erste,  niederste, 
bilden  die  Biophoren,  die  zweite  die  Determinanten,  die  dritte 
die  Ide. 

Diese  Vorstellung,  daß  das  Keimplasma  einer  jeden  Keimzelle 
die  Anlagenkomplexe  für  eine  sehr  große  Anzahl  von  Individuen 
enthält,  aus  einer  großen  Menge  von  Ahnenplasmen  zusammen- 
gesetzt ist,  gründete  sich  auf  die  Überlegung,  daß  bei  jeder  Be- 
fruchtung zwei  Keimplasmen  miteinander  vereinigt  werden.  Das 
wurde  schon  oben  bei  Besprechung  der  Befruchtung  genauer  aus- 
einandergesetzt, und  zugleich  w^urden  die  Konsequenzen  erörtert, 
die  sich  daran  knüpften.  Aus  der  Überlegung,  daß  nach  jener  Auf- 
fassung durch  die  Befruchtung  schon  nach  wenigen  Generationen 
eine  ganz  ungeheure  Anhäufung  von  Anlagekomplexen  im  Keim- 
plasma entstehen  müßte,  ergab  sich  die  Notwendigkeit  eines  Vor- 
ganges, durch  den  die  Zahl  der  Anlagenkomplexe  oder  Ide  vor  der 
Befruchtung  auf  die  Hälfte  verkleinert,  und  dadurch  die  Keimzellen 
für  die  nachfolgende  Befruchtung  vorbereitet  würde.  Hierfür  konnte 
aber  vom  Standpunkt  der  Weis  mann  sehen  Vorstellung  aus  eine 
gewöhnliche  Kernteilung  nicht  in  Betracht  kommen.  Denn  wenn  die 
Ahnenplasmen  oder  Ide  sich  in  den  Chromosomen  in  linearer  An- 
ordnung (in  Form  der  Mikrosomen)  befinden,  so  müßte  eine  Längs- 
spaltung der  Chromosomen,  wie  sie  bei  jeder  gewöhnlichen  Zell- 
teilung erfolgt,  auch  eine  Halbierung  eines  jeden  Ids  bewirken,  und 
jedes  der  beiden  Tochterchromosomen  würde  je  eines  der  zusammen- 
gehörigen Tochteride,  der  Zahl  nach  also  genau  so  viel  Ide  erhalten 
wie  das  Mutterchromosomen.  So  ergab  sich  zunächst  theoretisch 
die  Forderung,  daß  neben  dieser  Äquationsteilung  noch  ein 
anderer  Teilungsmodus,  eine  Reduktionsteilung,  vorkommt, 
und  die  zweite  Reifeteilung  der  Keimzellen  gestattete  tatsächlich 
eine  Auffassung  in  diesem  Sinne:  denn  hier  unterbleibt  die  vor- 
herige Längsspaltung  der  Chromosomen,  und  es  wird  einfach  die 


—      134     — 

Zahl  derselben  auf  zwei  Zellen  verteilt.  Damit  würde  also  auch  die 
Zahl  der  Ide  oder  Ahnenplasmen  halbiert  werden,  und  erst  durch 
die  nachfolgende  Befruchtung,  d.  h.  die  Vereinigung  je  eines  in 
dieser  Weise  präparierten  Eies  und  Spermiums  würde  in  dem  be- 
fruchteten Ei  die  ursprüngliche  Idzahl  wiederhergestellt.  Die 
Schlüsse,  die  Weismann  auf  der  Grundlage  dieser  Auffassung  hin- 
sichtlich der  Bedeutung  der  Reifeteilungen  und  der  Befruchtung 
zog,  wurden  schon  besprochen. 

Diese  lange  Zeit  festgehaltene  Vorstellung  von  der  Zusammen- 
setzung des  Keimplasmas  aus  einer  sehr  großen  Anzahl  von  Ahnen- 
plasmen oder  Volliden  hat  Weismann,  wie  ebenfalls  schon  berührt 
wurde,  in  der  dritten  Auflage  seiner  Vorträge  (1913)  fallen  gelassen. 
Veranlassung  dazu  boten  mehrere  Umstände.  Zunächst  mag  wohl 
auch  Weis  mann  selbst  den  vielfach  erhobenen  Einwand,  daß  jene 
Annahme  dem  Vorstellungsvermögen  etwas  zu  viel  zumutet,  als 
nicht  unberechtigt  empfunden  haben.  Schon  die  einzelnen  Kern- 
stäbchen oder  Kernschleifen  sind  mikroskopisch  kleine  Gebilde, 
die  Mikrosomen  sind  noch  viel  kleiner.  Und  ein  jedes  von  diesen 
sollte  nun  noch  die  vielen  Tausende  von  Determinanten  enthalten,  die 
für  einen  ganzen  Organismus  bestimmt  waren!  Dabei  mußte  sich 
die  einzelne  Determinante  allerdings  völlig  ins  Wesenlose  ver- 
flüchtigen. Aber  zu  dieser  Erwägung  kamen  auch  verschiedene 
Beobachtungstatsachen.  Einmal  gewisse  von  verschiedenen  Seiten 
erhobene  Befunde,  die  bei  manchen  Formen  eine  Verschiedenheit 
der  einzelnen  Chromosomen  eines  Kernes,  nach  Form  und  Größe, 
kennen  lehrten,  dann  gewisse  Versuche  von  Boveri,  endlich,  und 
wohl  nicht  zum  mindesten,  die  Mendel  sehen  Vererbungserschei- 
nungen, die  zwar  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts erkannt  worden  waren,  aber  erst  zu  Beginn  dieses  Jahr- 
hunderts aufs  neue  entdeckt  wurden  und  die  Vererbungsforschung 
auf  eine  ganz  neue  wissenschaftHche  Grundlage  stellten.  Für  den 
wichtigsten  Grundgedanken  seiner  Theorie,  die  Vorstellung,  daß 
das  Keimplasma  aus  zahlreichen  verschiedenen  materiellen  Teilchen 
—  Bestimmungsstücken  oder  Determinanten  —  bestehe,  durfte 
Weismann  allerdings  gerade  in  den  Mendel  sehen  Vererbungs- 
rcgeln  eine  willkommene  Bestätigung  sehen:  die  Selbständigkeit, 
die  in  den  Mendel  sehen  Bastardierungsversuchen  die  einzelnen 
Merkmale    der    Bastardeltern    zeigten,    konnte    wohl    als    Hinweis 


—      135     — 

daraut  aufgefaßt  werden,  daß  diesen  Merkmalen  auch  selbständige 
materielle  Vererbungsstücke  entsprechen,  die  zugleich  die  sub- 
stantielle Grundlage  für  die  auch  von  der  modernen  Vererbungs- 
lehre angenommenen  ,, Faktoren"  bilden,  von  denen  die  Ausbildung 
eines  Merkmals  abhängig  gedacht  wird;  aber  jene  Anschauung  von 
der  Vielheit  von  Volliden  im  Keimplasma  war  mit  den  Mendel- 
schen  Vererbungserscheinungen  schwer  in  Einklang  zu  bringen, 
und  die  anderen  oben  angeführten  Gründe  sprachen  ebenfalls  für 
eine  andere  Auffassung  der  Chromosomen.  So  bekennt  sich  denn 
Weis  mann  in  der  letzten  Auflage  der  ,,  Vorträge"  zu  der  von 
Boveri  begründeten  Anschauung  von  der  qualitativen  Ungleich- 
wert ig  keit  der  einzelnen,  in  einem  Keimzellenkern  enthaltenen 
Chromosomen  und  schreibt  einem  jeden  derselben  nur  die  Bedeutung 
eines  Teil-  ödes  Partialides  zu,  d.  h.  eines  Komplexes  einer 
großen  Anzahl  ganz  bestimmter  Determinanten.  Die  ,, Teilide" 
sind  qualitativ  untereinander  ungleich  und  enthalten  nur  die  Deter- 
minanten für  bestimmte  Teile  des  Körpers.  Noch  ein  weiteres  Er- 
gebnis der  modernen  Zellforschung,  zu  dem  ebenfalls  Boveri, 
nebst  anderen  Forschern  (Montgomery,  Sutton)  gelangt  war, 
ist  von  Weismann  nunmehr  anerkannt  und  verwertet  worden: 
der  für  verschiedene  Formen  geführte  Nachweis,  daß  immer  je 
zwei  Chromosomen  sich  in  ihrer  Form  und  Größe  entsprechen, 
was  dahin  gedeutet  werden  konnte,  daß  immer  je  zwei  gleich  große 
und  gleich  beschaffene  Chromosomen  die  entsprechenden  homologen 
Gebilde  von  väterlicher  und  mütterlicher  Seite  her  seien  ^s). 

So  lautet  nun  die  neue  Deutung  dahin,  daß,  wenigstens  bei 
den  höheren  Tieren  und  Pflanzen,  die  Gesamtsumme  aller  Chromo- 
somen der  unreifen  Keimzelle  nur  zweimal  die  Anlage  eines  vollen 
Individuums  ausmacht.  Nur  zweimal  sind  der  Regel  nach  die  Ge- 
samtanlagen für  den  ganzen  Organismus  im  Kern  der  unreifen 
Keimzelle  enthalten,  einmal  vom  Vater  und  einmal  von  der  Mutter 
her;  diese  Gesamtanlagen  sind  auf  die  ganze  Menge  der  Chromosomen 
so  verteilt,  daß  immer  je  zwei  Chromosomen  die  entsprechenden 
(homologe,  korrespondierende)  Determinantenkomplexe  enthalten: 
je  einem  väterlichen  Komplex  entspricht  ein  mütterlicher.  Somit 
wäre  auch  die  für  jedes  Merkmal  notwendige  Determinante  stets 
zweimal  vorhanden,  einmal  vom  Vater,  einmal  von  der  Mutter. 
Dies  würde  wenigstens  als  Regel  bei  den  höheren  Organismen  zu 


—      136     — 

gelten  haben.  Öoch  dürften  auch  bei  diesen  manchmal  Ausnahmen 
vorkommen:  so  weisen  die  Erscheinungen  des  Polymorphismus  bei 
den  sozialen  Hymenopteren  darauf  hin,  daß  hier  neben  den  Teil- 
iden  noch  Vollide  in  den  Kernen  der  Geschlechtszellen  vorkommen. 
Bei  niederen  Organismen  liegen  die  Dinge  wahrscheinlich  vielfach 
anders:  so  scheinen  bei  den  Radiolarien  die,  nach  Haecker  in 
der  Zahl  von  Hundert  bis  Tausend  vorhandenen  Chromosomen 
die  Bedeutung  von  Volliden  zu  besitzen,  d.  h.  ein  jedes  dürfte  den 
ganzen  Determinantenkomplex  enthalten,  der  für  ein  ganzes  In- 
dividuum notwendig  ist.  Man  darf  annehmen,  daß  die  Chromosomen 
sich  in  der  Stammesgeschichte  erst  allmählich  differenziert  haben, 
aus  Volliden  zu  Partialiden  geworden  sind  ^^) . 

Bei  dieser  gänzlich  veränderten  Sachlage  wäre  es  vielleicht 
das  beste  gewesen,  den  Ausdruck  ,,Id"  ganz  fallen  zu  lassen.  Weis- 
mann hat  das  nicht  getan;  er  hat  den  Begriff  beibehalten  und 
ihm  nur  eine  ganz  allgemeine  Bedeutung  gegeben:  die  einer  selb- 
ständigen, in  sich  geschlossenen  Determinantengruppe,  mag  diese 
die  ganze  Erbmasse  der  Art  einschließen,  oder  nur  einen  Teil  davon. 
Die  uns  sichtbare  Form  dieser  Determinantengruppen  sind  die 
Chromosomen;  ,,Id"  und  ,, Chromosom"  sind  darnach  jetzt  identische 
Begriffe.  Für  die  höheren  Organismen  gilt  allgemein,  daß  die  als 
geschlossene  Einheiten  auftretenden  Determinantengruppen,  die 
Chromosomen,  Partialide,  also  Komplexe  einer  beschränkten 
Anzahl  von  Anlagen  darstellen,  und  somit  untereinander  ganz 
ungleichwertig  sind,  da  ein  jedes  nur  bestimmte  Determi- 
nanten enthält. 

Der  mancherlei  Schwierigkeiten,  die  sich  aus  dieser  neuen 
Betrachtungsweise  ergeben,  und  der  vielen  Unklarheiten,  die  hier 
noch  bestehen,  ist  sich  Weismann  durchaus  bewußt  gewesen. 
Es  gibt  zahlreiche  Tatsachen,  die,  wenn  man  überhaupt  Determi- 
nanten gelten  läßt,  zu  der  Annahme  nötigen,  daß  vielfach  für  den- 
selben Teil  nicht  nur  zwei,  sondern  mehrfache,  etwas  verschiedene 
Determinanten  vorhanden  sind.  So  die  Erscheinungen  des  so- 
genannten Rückschlags,  das  Wiederauftreten  alter  längst  ver- 
schwundener Ahnencharaktere.  Vom  Standpunkt  der  Determi- 
nantentheorie erklärt  Weismann  sie  ganz  allgemein  durch  die 
Annahme,  daß  vielfach  durch  Generationen  hindurch  latente  Vor- 
fahrendeterminanten im  Keimplasma  mitgeführt  werden,  die  von 


—      137     — 

der  allgemeinen  Veränderung,  die  die  Determinanten  ihresgleichen 
im  Laufe  der  Phylogenese  erlitten,  nicht  betroffen  wurden  und  ge- 
legentlich wieder  einmal  zur  Geltung  gelangen.  Unter  Zugrunde- 
legung der  ursprünglichen  Vorstellung,  daß  jedes  Keimplasma 
sich  aus  einer  sehr  großen  Menge  von  Volliden  aufbaut,  war 
das  leicht  verständlich:  in  jedem  dieser  Vollide  mußten  ja  dieselben 
homologen  Determinanten  vertreten  sein,  und  man  konnte  sie  sich 
in  jedem  Id  etwas  verschieden  denken.  Für  die  neuere  Fassung  der 
Theorie  ergibt  sich  eine  größere  Schwierigkeit,  da  nach  derselben 
die  Gesamtsumme  aller  vorhandenen  Determinanten  nur  die  An- 
lagen für  zwei  Individuen  bilden  soll.  Einen  Ausweg  ergibt  die 
schon  erwähnte  Annahme,  daß  gelegentlich,  bei  den  sozialen  Hy- 
menopteren,  außer  Teiliden  noch  Vollide  vorhanden  sind ;  ein  anderer 
liegt  in  der  Vorstellung,  daß  wir  uns  die  Determinanten  für  einen 
Teil  oder  ein  Merkmal  ,,wohl  meist  im  Plural  zu  denken  haben". 
Darnach  brauchen  Veränderungen,  die  im  Laufe  der  Phylogenese 
an  den  Determinanten  eines  Merkmals  erfolgen,  nicht  gleich  alle 
homologen  Determinanten  dieses  Merkmals  treffen,  sondern  können 
eine  mehr  oder  minder  große  Anzahl  derselben  unberührt  lassen. 
Diese  können  durch  Generationen  hindurch  in  latentem  Zustand 
mitgeführt  werden,  dann  aber  gelegentlich  sich  wieder  einmal  zur 
Geltung  bringen.  In  weiterer  Verfolgung  dieses  Gedankens  von  der 
Mehrheit  der  Determinanten  auch  für  ein  und  dasselbe  Merkmal 
hält  Weismann  es  auch  für  sehr  wohl  möglich,  daß  die  Zahl  der 
Determinanten,  die  in  zwei  homologen  Chromosomen  für  dasselbe 
Merkmal  bestimmt  sind,  gelegentlich  ungleich  ist.  In  dieser 
Ungleichheit  der  Zahl  könnte  der  Grund  für  die  Ungleichheit 
ihrer  Stärke  liegen,  und  damit  der  Grund  für  die  erwähnte  Er- 
scheinung :  daß  die  von  dem  einen  Elter  stammenden  Determinanten 
eines  Merkmals  die  des  anderen  Elters  unterdrücken.  — 

Hier  bleiben  noch  manche  Fragen  ungeklärt.  Mit  der  einfachen 
Annahme,  daß  in  jeder  befruchteten  Eizelle  die  Anlage  für  jeden 
Teil  zweimal  vertreten  sei,  einmal  vom  Vater,  und  einmal  von  der 
Mutter  her,  kommt  man  nicht  aus.  Und  auch  über  die  Verteilung 
der  Determinanten  auf  die  einzelnen  Chromosomen  ist  höchstens 
etwas  Negatives  auszusagen:  die  Vererbungserscheinungen  sprechen 
dafür,  daß  zusammengehörige  Determinanten,  z.  B.  die  der  Haare 
oder  Federn,    durchaus   nicht  immer  zusammenliegen.      Ist    doch, 


-      1^8     - 

um  gewissen  Schwierigkeiten  zu  begegnen,  selbst  an  einen  Aus- 
tausch von  Determinanten  zwischen  zwei  homologen  Chromosomen 
gedacht  worden. 

Die  Änderung  in  der  Auffassung  von  der  Natur  und  Zusammen- 
setzung der  Chromosomen,  wie  sie  in  der  3.  Auflage  der  Vorträge 
durchgeführt  ist,  erforderte  dann  auch  eine  andere  Betrachtung  der 
Vorgänge,  die  sich  bei  der  Reifung  der  Geschlechtszellen  abspielen. 
Sie  kommt,  wie  schon  im  fünften  Abschnitt  erörtert  wurde,  darauf 
hinaus,  daß  durch  die  Reifeteilungen  zunächst  die  Zahl  der  Chromo- 
somen oder  Determinantenkomplexe  verdoppelt  wird,  und  die 
Komplexe  dann  auf  die  vier  reifen  Keimzellen,  die  aus  der  einen 
unreifen  Zelle  hervorgehen,  verteilt  werden,  und  zwar  in  der  Art. 
daß  jede  der  vier  Zellen  einen  ganzen  Satz  von  Determinanten- 
komplexen, wie  er  zur  Erzeugung  eines  ganzen  Individuums  nötig 
ist,  erhält.  Wobei  es  dann  ganz  vom  Zufall  abhängig  ist,  wie  sich 
im  einzelnen  väterliche  und  mütterliche  Chromosomen  mischen. 
Jede  reife  Keimzelle  wird  so  mit  allen  für  ein  ganzes  Individuum 
nötigen  Determinanten  ausgestattet,  die  aber  zum  Teil  der  Mutter, 
zum  Teil  dem  Vater  des  Individuums  entstammen,  an  dem  die 
fragliche  Keimzelle  zur  Reife  kommt.  Die  theoretischen  Schluß- 
folgerungen, die  sich  daran  knüpfen  lassen,  insbesondere  auch  die 
Beziehungen  zu  den  Erscheinungen  der  alternierenden  oder  Mend ei- 
schen Vererbungsweise  wurden  schon  oben  besprochen.  In  Ergänzung 
des  dort  Gesagten  mag  hier  nur  noch  besonders  betont  werden, 
daß  die  Bezeichnungen:  ,, väterliche"  und  , .mütterliche  Chromo- 
somen" cum  grano  salis  zu  verstehen  sind,  und  nur  bedeuten: 
Chromosomen,  d.  h.  Determinantenkomplexe  (Partialide)  aus  der 
väterlichen  und  aus  der  mütterlichen  Aszendentenreihe.  Die  De- 
terminantenkomplexe stellen  ,, Ahnenplasma"  dar,  das  letzten  Endes 
zurückverfolgbar  ist  durch  die  Reihe  der  Vorfahren  hindurch  bis 
auf  die  ersten  Anfänge  bestimmender  Keimplasmen  überhaupt. 
Nur  sind  sie  im  Laufe  dieser  ungeheuer  langen  Zeit  nicht  unver- 
ändert geblieben,  sondern  vielfachen  Veränderungen  unterworfen 
gewesen.     Auf  diese  wird  noch  besonders  einzugehen  sein. 

Hat  nun  auch  so  die  Weis  mann  sehe  Theorie  eine  Anpassung 
an  neu  bekannt  gewordene  Tatsachen  erfahren,  so  ist  doch  ihr 
wichtigster  Hauptgedanke:  die  Lehre  von  der  Zusammensetzung 
des    Kcimplasmas   aus   materiellen    Bestimmungsstücken,    derselbe 


—     139     — 

geblieben.  Die  Keimsubstanz  verdankt  ihre  wunderbare  Ent- 
wicklungskraft nicht  bloß  ihrer  chemisch-physikalischen  Beschaffen- 
heit im  ganzen,  sondern  dem  Umstand,  daß  sie  aus  zahlreichen  und 
verschiedenartigen  ,, Anlagen"  besteht,  d.  h.  aus  Gruppen  lebendiger 
Einheiten,  die  mit  allen  Kräften  des  Lebens  ausgerüstet  sind.  Sie 
ist  nicht  ein  einfacher  Organismus,  sondern  ein  Bau  von  sehr  ver- 
schiedenen Organismen  oder  Einheiten,  ein  Mikrokosmus.  Von 
dieser  Grundlage  aus  entwickelt  denn  auch  Weis  mann  seine 
Theorie  der  Ontogenese  sowie  die  von  der  Germinalselektion,  d.  h. 
den  Vorgängen,  durch  welche  im  Laufe  der  Stammesgeschichte 
erbliche  Abänderungen  des  Keimplasmas  und  damit  der  Formen 
zustande  gekommen  sind. 

2.  Die  Betätigung  des  Keimplasmas  in  der  Ontogenese. 

Das  Problem. 

Eine  bestimmte  Antwort  auf  die  zweite  Frage  des  Vererbungs- 
problemes:  wie  kommen  bei  der  Entwicklung  die  Vererbungs- 
tendenzen zur  Entfaltung  ?  ergibt  sich  aus  der  Auffassung  vom 
Wesen  und  Bau  des  Keimplasmas.  Solange  Weis  mann  noch  der 
Ansicht  war,  daß  die  Wirksamkeit  des  Idioplasmas,  d.  h.  des  Kern- 
plasmas in  jeder  Zelle,  auf  seiner  molekularen  Struktur  beruhe, 
und  daß  somit  auch  alle  erblichen  Merkmale  in  Besonderheiten  der 
molekularen  Struktur  des  Keimplasmas  ihren  Grund  haben  müßten, 
mußte  er  auch  annehmen,  daß  während  der  Ontogenese  schritt- 
weise eine  Umwandlung  dieser  Struktur  im  Sinne  einer  Verein- 
fachung erfolge.  Nachdem  aber  diese  Strukturhypothese  durch 
die  Determinantenhypothese  ersetzt  worden  war,  mußte  auch  die 
Auffassung  vom  Wesen  der  Ontogenese  eine  andere  werden.  Aber 
auch  jetzt  waren  noch  zwei  Möghchkeiten  gegeben:  die  Annahme 
einer  gesetzmäßig  fortschreitenden  Zerlegung  der  in  dem  Keim- 
plasma enthaltenen  Anlagenmasse  in  immer  kleinere  Gruppen 
(Zerlegungstheorie),  und  die  Annahme,  daß  sämtliche  Anlagen 
zusammenbleiben  in  allen  Zellen  des  Bion,  daß  aber  jede  von  ihnen 
auf  einen  spezifischen  Reiz  abgestimmt  ist,  der  sie  allein  auslöst 
(Auslösungstheorie).  Weis  mann  entschied  sich  in  der  Haupt- 
sache für  die  Zerlegungstheorie,  doch  mit  der  Einschränkung, 
daß  für  manche  Zwecke  gewisse  Mengen  von  Keimplasma  zunächst 


—      140     — 

unzerlegt  bleiben  (zur  Ausstattung  der  Keimzellen  sowie  gewisser 
somatischer  Zellen  zwecks  Erzeugung  von  Knospen  oder  zwecks 
Regeneration),  sowie  daß  auch  den  auslösenden  Reizen  eine  Be- 
deutung tür  das  Aktivwerden  bestimmter  Determinanten  in  der 
Ontogenese  zukommt. 

Ontogenetische  Zerlegung  des  Keimplasmas. 
In  der  Hauptsache  lautet  darnach  seine  Auffassung  von  der 
Ontogenese  dahin:  es  muß  während  derselben  eine  Zerlegung  der 
Determinantenkomplexe  (Chromosomen,  Teilide)  des  Keimplasmas 
erfolgen;  diese  Komplexe  müssen  gesetzmäßig  in  der  Weise  auf- 
geteilt werden,  daß  die  Tausende  von  Determinanten,  die  in  ihnen 
vereinigt  waren,  sich  im  Laufe  der  Entwicklung  voneinander  trennen 
und  schließlich  einzeln  in  die  Zellen  gelangen,  die  sie  zu  bestimmen 
haben.  Vorbedingung  für  diesen  gesetzmäßigen  Ablauf  der  Zer- 
legung der  Chromosomen  ist,  daß  diese  selbst  eine  ganz  bestimmte 
Architektur  besitzen,  in  der  den  einzelnen  Determinanten  ganz 
bestimmte  Stellen  angewiesen  sind;  das  Mittel,  durch  das  die  Zer- 
legung erreicht  wird,  sind  die  Kernteilungen,  die  den  ontogenetischen 
Zellteilungen  vorausgehen.  Diese  Kernteilungen  müssen  ,, erb- 
ungleich" sein,  d.  h.  die  beiden  Spalthälften,  in  die  sich  ein  jedes 
Chromosom  teiJt,  und  die  dann  auseinander  rücken,  müssen,  so 
sehr  sie  äußerlich  auch  gleich  erscheinen  mögen,  doch  innerlich 
ungleich,  aus  sehr  verschiedenen  Determinantengruppen  zu- 
sammengesetzt sein.  Es  findet  also  eine  Aufteilung  der  Determi- 
nanten im  Laufe  der  Ontogenese  statt ;  die  Zahl  der  Determinanten- 
arten  m  den  Chromosomen  vermindert  sich  mit  jeder  Zellteilung, 
so  daß  schließlich  die  Kerne  hoch  differenzierter  Zellen  nur  noch 
eine  Art  von  Determinanten  enthalten.  Wenn  dabei  nicht  auch 
eine  entsprechende  Abnahme  der  Masse  der  Kernsubstanz  erfolgt, 
so  ist  das  so  zu  erklären,  daß  die  Determinanten,  als  lebende  Ein- 
heiten, die  Fähigkeit  besitzen,  zu  assimilieren  und  sich  durch  Teilung 
zu  vermehren,  so  daß  schließlich  im  Kern  einer  hoch  differenzierten 
Zelle  zwar  lediglich  Determinanten  einer  Art,  diese  aber  in  sehr 
großer  Menge,  vorhanden  sein  müssen.  Den  Vorgang  der  Entwick- 
lung hat  man  sich  so  zu  denken,  daß  ,,bei  jedem  Zellenschritt  der 
Ontogenese"  gewisse  Determinanten  aktiv  werden  und  die  Zelle 
bestimmen,  in  der  sie  sich  gerade  befinden,  während  die  anderen. 


—      141      — 

die  ( —  infolge  ihrer  besonderen  Lage  innerhalb  des  Ids!  — )  noch 
nicht  an  der  Reihe  sind,  einstweilen  noch  latent  bleiben,  während 
ihres  ganzen  Transportes  von  der  Keimzelle  bis  zu  ihrer  Endstätte 
sich  gegenüber  den  beherbergenden  Zellen  passiv,  einflußlos  ver- 
halten und  erst,  wenn  sie  an  ihrem  Ziele  angelangt  sind,  heran- 
reifen, sich  in  ihre  Biophoren  auflösen,  diese  in  den  Zellkörper 
austreten  lassen  und  so  die  spezifische  Natur  desselben  bestimmen. 

Kampf  der  homologen   Deternninanten   untereinander;    Bedeutung 
für  die  Vererbungserscheinungen;  alternierende  Vererbung 

(Mendel). 
Für  das  Verständnis  der  Vererbungserscheinungen  von  Be- 
deutung ist  dann  besonders  der  Umstand,  daß  in  dem  befruchteten 
Ei  die  für  den  Gesamtorganismus  nötigen  Determinantenkomplexe 
zweimal  —  einmal  vom  Vater  und  einmal  von  der  Mutter  her  — 
vorhanden  sind.  An  beiden  Komplexgruppen  müssen  sich  die  gleichen 
Vorgänge  der  Auseinanderlegung  der  Anlagen  abspielen:  das  aus 
einer  befruchteten  Eizelle  hervorgehende  Individuum  ist  das  Er- 
gebnis der  Entfaltung  nicht  eines  einzigen  Anlagenkomplexes, 
sondern  zweier.  Für  jedes  Organ,  jede  selbständig  variierende  Zell- 
gruppe sind  also  die  notwendigen  Determinanten  in  der  Zweizahl 
vorhanden;  jede  einzelne  Zelle  erhält  zu  gleichen  Teilen  väterliche 
und  mütterliche  Chromosomen,  und  in  diesen  auch  väterliche  und 
mütterliche  homologe  (korrespondierende)  Determinanten  oder  rich- 
tiger wohl:  Determinantengruppen.  Denn  es  wurde  ja  schon 
gesagt,  daß  die  Determinanten  die  Fähigkeit  haben,  sich  zu  ver- 
mehren, und  daß  somit  der  Begriff  ,,eine"  Determinante  nicht 
immer  buchstäblich  zu  nehmen  ist,  sondern  oft,  auch  wenn  es  sich 
um  die  Bestimmung  nur  eines  Merkmals  handelt,  eine  Gruppe 
von  Einzeldeterminanten  bezeichnen  wird.  Ein  Kampf  um 
die  Geltendmachung,  wie  er  zwischen  den  Individuen  in  der  Natur 
herrscht,  wird  sich  nun  auch  hier,  während  der  Ontogenese,  im  kleinen 
abspielen.  Dabei  kann  die  eine  der  beiden  homologen  Determinanten 
oder  Determinantengruppen  die  andere  vollständig  unterdrücken 
und  somit  bei  der  Ausbildung  der  betreffenden  Zelle  oder  Zell- 
gruppe allein  maßgebend  werden,  oder  es  kann  zwischen  den  beiden 
gewissermaßen  ein  Kompromiß  zustande  kommen.  Das  wird  ab- 
hängen von  dem  Stärke  Verhältnis  der  beiden  Gruppen,  das  wieder, 


—       142       — 

nach  der  schon  oben  erörterten  Hypothese  Weismanns,  auf  der 
verschiedenen  Anzahl  gleicher  Determinanten  in  ihnen  beruhen 
dürfte.  Im  ersteren  Fall  (völlige  Unterdrückung  einer  Determi- 
nantengruppe durch  die  andere)  erscheint  in  dem  Individuum  an 
der  betreffenden  Stelle  nur  das  eine  der  beiden  Merkmale,  die  der 
väterliche  und  der  mütterliche  Organismus  darboten,  im  zweiten 
Falle  (Kompromiß  zwischen  beiden  Gruppen)  kommt  ein  Mittel- 
ding zwischen  dem  väterlichen  und  dem  mütterlichen  Merkmal 
zustande.  Da  dieser  Kampf  der  Determinanten  sich  aber  erst  in 
den  somatischen  Zellen  abspielt,  die  von  den  Determinanten  be- 
herrscht werden,  und  nur  in  diesen,  nicht  aber  auch  zugleich  in 
dem  Anteil  des  Keimplasmas,  der  in  den  Keimzellen  reserviert  ist, 
so  ist  es  durchaus  möglich,  daß  ein  Merkmal,  das  in  einer  Generation 
unterdrückt  erscheint,  in  einer  späteren  wieder  auftaucht:  eine 
Determinantenart,  die  in  einer  Ontogenese  der  ihr  entgegenstehenden 
unterliegt,  kann  in  einer  folgenden  Generation  zur  Geltung  ge- 
langen, wenn  sie  durch  die  Befruchtung  mit  einer  anders  gearteten, 
aber  schwächeren,  oder  gar  mit  einer  gleich  gearteten  zusammen- 
kommt. 

Von  diesen  Überlegungen  aus  würden,  nach  der  letzten  Fassung 
der  Weis  mann  sehen  Theorie,  viele  Erscheinungen  der  Vererbung 
zu  erklären  sein.  Zunächst  insbesondere  die  sogenannten  Rück- 
schläge. Erste  Vorbedingung  für  dieselben  wäre,  wie  oben  ge- 
sagt, das  Vorhandensein  alter  Ahnendeterminanten,  die  von  der 
phyletischen  Umwandlvmg  der  übrigen  homologen  Determinanten 
unberührt  blieben  und  durch  die  Generationen  hindurch  fortgeführt 
wurden,  ohne  sich  gegenüber  den  übrigen,  umgewandelten,  zur 
Geltung  bringen  zu  können;  die  Bedingung  für  ihr  Wiederhervor- 
treten wäre  gegeben,  wenn  sie  durch  die  Amphimixis  mit  gleich- 
artigen, ebenfalls  unverändert  gebliebenen  zusammengebracht 
würden  und  so  das  Übergewicht  über  die  modernen,  veränderten, 
erhielten. 

Die  gleiche  Vorstellung  von  dem  Kampfe  der  homologen 
Determinanten  um  die  Geltendmachung  vermittelt  dann  auch  ein 
Verständnis  für  das  verschiedene  Aussehen  der  Bastarde  bei  Kreu- 
zung verschiedener  Rassen,  wie  es  Mendel  und  seine  Nachfolger 
kennen  gelehrt  haben.  Kreuzung  der  ungebänderten  vmd  der  ge- 
bänderten Gartenschnecke  ergab,  in  den  berühmten  Versuchen  von 


—      143      — 

A.  Lang,  in  der  ersten  Generation  stets  nur  bänderlose,  einfach 
gelbe  Nachkommen;  das  eine  Merkmal,  die  Bänderung,  war  also 
hier  unterdrückt  oder,  wie  Mendel  selbst  es  nennt,  ,, rezessiv" 
das  andere,  die  Bänderlosigkeit,  war  herrschend,  ,, dominant". 
Dagegen  ergab  die  Kreuzung  der  tiefrosa  blühenden  Wunderblume 
(Mirabilis  Jalapa)  mit  der  weiß  blühenden,  nach  Correns,  in  der 
ersten  Generation  nur  hellrosa  gefärbte  Nachkommen,  ,,inter- 
mediäre"  Bastarde  in  der  Mendel-Terminologie.  Diese  Termino- 
logie nennt  bekanntlich  das  Vereinigungsprodukt  zweier  Keimzellen 
ganz  allgemein  eine  Zygote,  und  spricht  von  Homozygoten,  wenn 
dabei  gleiche  Anlagen  (in  bezug  auf  ein  oder  mehrere  Merkmale) 
zusammenkommen,  und  von  Heterozygoten  bei  Ungleichheit  der 
Anlagen.  Das  verschiedene  Aussehen  der  Heterozygoten,  wie  es 
sich  in  den  beiden  erwähnten  Beispielen  zeigt,  erklärt  die  Weis- 
mann sehe  Theorie  in  der  angedeuteten  Weise  durch  den  Kampf 
der  homologen  Determinantengruppen,  der  in  beiden  Fällen  ver- 
schieden ausgeht.  In  dem  Beispiel  der  Gartenschnecke  siegen  die 
Determinanten  für  Bänderlosigkeit  über  die  für  Bänderung,  die 
somit  nicht  zur  Geltung  kommen;  in  dem  Beispiel  der  Mirabilis 
dagegen  würden  sich  die  Determinanten  für  tiefrosa  und  die  für 
weiß  die  Wage  halten,  und  als  Ergebnis  die  hellrosa  Färbung  der 
Bastarde  herauskommen.  Daß,  wie  Weismann  es  annimmt, 
diese  Determinantenkämpfe  sich  nur  in  den  somatischen  Zellen 
abspielen,  während  in  dem  Keimplasma  die  beiderlei  Gruppen 
friedlich  nebeneinander  bleiben  und  den  Nachkommen  übergeben 
werden,  geht  aus  dem  Verhalten  der  zweiten  Bastardgeneration 
hervor,  die  durch  Inzucht  aus  den  Individuen  der  ersten  erzielt 
wird:  hier  treten  die  Stammerkmale  bei  einer  bestimmten  Anzahl 
der  Individuen  hervor.  In  dem  Beispiel  der  Gartenschnecke  er- 
scheint also  wieder  eine  Anzahl  gebänderter  Exemplare:  die 
Determinanten  für  ,, Bänderung"  waren  also  nur  in  den  somatischen 
Zellen  unterdrückt,  aber  nicht  in  den  Keimzellen. 

Diese  Auffassung  ist  im  allgemeinen  gewiß  einleuchtend;  für 
die  weitere,  daß  das  Überwiegen  einer  Determinantengruppe  über 
die  ihr  entgegenstehende  homologe  auf  einer  größeren  Zahl  der 
Einzeldeterminanten  beruht,  ergibt  sich  allerdings  eine  Schwierig- 
keit aus  der  Gesetzmäßigkeit  der  oben  erörterten  Erscheinungen. 
Die    Bastardierungsexperimente   haben   gelehrt,    daß   die   zwei   zu 


—      144     — 

einem  Merkmalspaar  gehörigen  Merkmale,  die  in  den  Bastard- 
Generationen  wieder  auseinandergehen,  ,, gespalten  werden",  sich 
unter  allen  Umständen  in  gleicher  Weise  zueinander  verhalten. 
Ein  bestimmtes  Merkmal  ist  gegenüber  einem  bestimmten  anderen 
stets  (obligatorisch)  dominant  oder  rezessiv  oder  gleichwertig. 
Darnach  könnten  Zufälligkeiten,  wie  stärkere  Vermehrung  der 
einen  Determinante,  hier  keine  Rolle  spielen. 

Die  frühere  Auffassung  Weismanns,  die  das  Keimplasma 
aus  einer  sehr  großen  Anzahl  von  Ahnenplasmen  (Volliden)  zu- 
sammengesetzt sein  ließ,  mußte  sich  natürlich  auch  den  Ablauf  der 
Ontogenese  etwas  anders  denken.  Das  neu  entstehende  Individuum 
erschien  dabei  als  die  Resultante  aus  dem  Zusammenwirken  aller 
dieser  Ide,  die  das  Keimplasma  ausmachen,  der  Kampf  um  die 
Geltendmachung  war  nicht  zwischen  nur  zwei  Gruppen  homologer 
Determinanten  auszufechten,  sondern  zwischen  sehr  vielen.  Und 
je  nach  dem  Ergebnis  dieses  Kampfes  mußte  sich  dann  auch  das 
individuelle  Bild  des  neuen  Individuums  gestalten,  bald  als  Mischung 
väterlicher,  mütterlicher  und  der  verschiedensten  Ahnencharaktere, 
bald  mehr  einseitig  dem  einen  oder  dem  anderen  Aszendenten 
nachschlagend.  Auch  damit  war  ein  Verständnis  für  die  große 
Mannigfaltigkeit  in  der  Mischung  des  kindlichen  Körpers  aus  väter- 
lichen und  mütterlichen  Vererbungsstücken,  wie  auch  für  die  Rück- 
schläge auf  frühere  Aszendenten  gegeben;  aber  die  Gesetzmäßig- 
keiten in  den  Vererbungserscheinungen,  die  die  moderne  Erblich- 
keitsforschung namentlich  im  Anschluß  an  Mendels  grundlegende 
Versuche,  kennen  gelehrt  hat,  waren  dadurch  nicht  zu  erklären. 
Daher  ist  Weismann  von  jener  älteren  Auffassung  zurückge- 
kommen. 

Beeinflussung  der  Entwicklung  durch  äußere  Einwirkungen. 

Der  gesetzmäßige  Ablauf  der  Ontogenese  in  der  eben  an- 
gedeuteten Weise  setzt  freilich  eins  voraus:  normale  Entwicklungs- 
bedingungen. So  sehr  die  Weis  mann  sehe  Theorie  den  Schwer- 
punkt auf  das  Vorhandensein  substantieller  Anlagestücke  und  auf 
ihre  ganze  bestimmte  Anordnimg  legt,  so  leugnet  sie  doch  nicht  den 
Einfluß  der  äußeren  Einwirkungen  auf  den  Ablauf  der  Entwick- 
lung, und  angesichts  der  Ergebnisse  der  experimentellen  entwick- 
lungsmechanischen Forschung  hat  auch  Weis  mann  das  Zugestand- 


—      145     — 

nis  gemacht,  daß  Determinanten  nicht  unter  allen  Umständen 
immer  nur  ein  und  dasselbe  Gebilde  hervorbringen  müssen,  sondern 
als  lebendige  Einheiten  auch  die  Fähigkeit  haben,  auf  verschiedene 
Reize  verschieden  zu  antworten,  verschiedenen  Einflüssen  nach- 
zugeben. 

Neben-  (Reserve-,   Regenerations-)  Idioplasma, 

Aber  auch  unter  normalen  Bedingungen  können  sich  die  Dinge 
nicht  immer  in  der  geschilderten  Weise  abspielen;  nicht  jede  Kern- 
teilung in  der  Ontogenese  kann  eine  Abspaltung  nur  bestimmter 
Determinantengruppen  aus  den  verschiedenen  Iden  bedeuten. 
Innerhalb  der  Zellenfolge,  die  vom  befruchteten  Ei  zu  den  Keim- 
zellen des  neuen  Individuums  führt,  muß,  der  Lehre  von  der  Keim- 
plasmakontinuität entsprechend,  ein  unveränderter  Teil  des 
Keimplasmas  in  inaktivem,  gebundenem  Zustand  erhalten  bleiben, 
der  den  Anlagenkomplex  des  ganzen  Individuums  ( —  und  zwar 
zweimal,  zur  Hälfte  aus  den  väterlichen,  zur  Hälfte  aus  den  mütter- 
lichen Chromosomen  stammend  — )  enthält.  Dieser  Rest  gelangt 
in  die  Urkeimzellen  und  bildet  in  denselben  den  Bestand  an  Keim- 
plasma, der  bei  der  Vermehrung  dieser  Zellen  sich  ebenfalls  durch 
Assimilation  vermehren  muß,  um  für  die  Menge  der  Keimzellen 
auszureichen.  Ein  ähnlicher  Vorgang  muß  nach  Weismanns 
Auffassung  auch  angenommen  werden  zur  Erklärung  der  Knospimgs- 
und  Regenerationserscheinungen.  Wo,  wie  bei  der  Knospung  der 
Pflanzen  und  niederer  Tiere,  ein  neues  Individuum  von  irgend 
welchen  Körperzellen  eines  Mutterorganismus  aus  entsteht,  da  ist 
anzunehmen,  daß  diese  somatischen  Zellen  außer  den  sie  selbst 
bestimmenden  Determinanten  auch  noch  ein  ,,Nebenidioplasma" 
in  gebundenem  inaktivem  Zustand  enthalten,  das  unter  gewissen 
äußeren  oder  inneren  Einflüssen  aktiv  wird  und  die  Bildung  der 
Knospe  veranlaßt.  Ähnlich  wie  bei  der  Regeneration :  auch  in  den 
Körperzellen,  von  denen  aus  nach  einer  Verletzung  eine  Regeneration 
eines  ganzes  Körperteiles  erfolgt,  müssen  außer  den  spezifischen 
Determinanten  auch  noch  größere  für  eben  diesen  ganzen  Körper- 
teil bestimmte  Gruppen  von  Regenerations-  oder  Nebendetermi- 
nanten in  aktivem  Zustand  vorhanden  gewesen  sein,  bereit,  unter 
gewissen  Umständen  aktiv  zu  werden  und  den  Teil,  den  sie  be- 
stimmen, aufs  neue  hervorzubringen.  Sie  bilden  ein  Nebenidioplasma, 

Gaupp,  Biographie  Weismanns.  10 


—      146     — 

das  sich  schon  von  dem  Keimplasma  der  befruchteten  Eizelle  her 
erhält.  Diese  Erklärung,  zu  der  Weismann  wohl  ganz  selb- 
ständig gelangt  ist,  und  die  sich  ihm  aus  seiner  Keimplasmalehre 
ergab,  war  gleichwohl  nicht  ganz  neu:  in  grundsätzlich  gleichem 
Sinne  hatte  schon  1881  Roux  die  Regenerationsfähigkeit  darauf 
zurückgeführt,  daß  die  fraglichen  Zellen  ,, nicht  dmrch  und  durch 
an  ihre  spezifische  Funktion  angepaßt  sind,  sondern  daß  jede, 
sei  es  im  Kern  oder  im  Protoplasma,  noch  einen  Rest  wirklichen 
embryonalen  Stoffes  enthält,  welcher  in  Tätigkeit  tritt,  sobald 
imd  soweit  er  nicht  mehr  durch  den  Widerstand  der  physiolo- 
gischen Umgebung  daran  verhindert  wird"^).  Den  fraglichen 
Stoff  nannte  Roux  später  Reserveidioplasma  und  ließ  ihn  im 
Zellkern  lokalisiert  sein.  — 

Erbgleiche  und  erbungleiche  Teilung. 
In  den  hier  erörterten  Gedankengängen  spielt  die  wichtigste 
Rolle  die  Annahme  einer  erbungleichen  oder  differentiellen 
Teilung,  die  Weismann  als  Gegensatz  zu  der  gewöhnlichen  erb- 
gleichen  oder  integrellen  Kernteilung  aufgestellt  hat.  Die  Not- 
wendigkeit, eine  solche  anzunehmen,  hat  Weismann  schon  1885 
in  der  Schrift  über  die  Kontinuität  des  Keimplasma  erörtert:  wenn 
der  Kern  das  Wesen  der  Zelle  bestimmt,  so  müssen  verschieden 
differenzierte  Zellen  auch  spezifisch  verschiedene  Kerne  enthalten; 
da  es  mm  aber  im  Laufe  der  Entwicklung  so  und  so  oft  zu  beob- 
achten ist,  daß  aus  einer  Mutterzelle  sehr  verschiedenartige  Tochter- 
gebilde hervorgehen,  so  muß  angenommen  werden,  daß  in  solchen 
Fällen  der  Kern  der  Mutterzelle  in  zwei  qualitativ  ungleiche  Hälften 
sich  geteilt  hat,  —  so  völlig  identisch  die  beiden  Tochterkerne  und 
die  sie  zusammensetzenden  Kernschleifen  auch  äußerlich  aussehen. 
Dieser  äußerlichen  Gleichheit  wird  oft  genug  auch  eine  innere 
Wesensgleichheit  entsprechen,  in  vielen  anderen  Fällen  aber  wird 
sie  eben  nur  eine  scheinbare  sein.  Es  ist  dies  gerade  ein  Punkt  der 
Weis  mann  sehen  Anschauungen,  der  besonders  oft  und  bestimmt 
bestritten  worden  ist.  Auf  der  Annahme  einer  ,, erbungleichen" 
Teilung  beruhte  auch  schon  die  erste  Auffassung  Weismanns 
von  den  Richtungskörperchen,  die  in  diesen  das  ,,ovogene  Kern- 
plasma" sah,  das  sich  von  dem  eigentlichen  Keimplasma  abge- 
spalten habe.  — 


—     147     — 

3-   Allgemeine  Betrachtung  der  Determinantentheorie. 

Weis  man  ns  Keimplasmatheorie  ist  eine  Theorie  der  Ver- 
erbung und  der  Ontogenese. 

Die  Determinantentheorie  als  Theorie  der  Vererbung. 

Als  Vererbungstheorie  schließt  sie  sich,  mit  der  Annahme 
wirklicher  materieller  Teilchen  als  Träger  der  Vererbung,  an  Dar- 
wins Pangenesistheorie  an,  zu  der  sie  aber  in  scharfen  Gegensatz 
tritt  bezüglich  der  Auffassung  des  Verhältnisses  dieser  Keimchen 
zu  den  Körperzellen.  Während  bei  Darwin  die  Keimchen  von 
den  Körperzellen  stammen,  von  diesen  abgegeben  werden,  so  daß 
sie  vom  Zustand  der  letzteren  in  ihrer  Natur  bestimmt  werden, 
sind  bei  Weis  mann  umgekehrt  die  Teilchen  das  Bestimmende 
(Determinierende) ;  die  Eigenschaften  der  Körperzellen  aber  sind 
das  Sekundäre,  Bestimmte,  Abhängige. 

Auf  Grund  der  Determinantenlehre  ergeben  sich  nun  auch 
bestimmtere  Vorstellungen  in  bezug  auf  das  viel  umstrittene  Problem 
der  Vererbbarkeit  somatogener  Veränderungen.  Schon  auf  Grund 
der  Prüfung  des  vorliegenden  Beobachtungsmateriales  und  der 
Lehre  von  der  Kontinuität  des  Keimplasmas  war  Weismann, 
wde  ja  ausführlich  in  Abschnitt  IV  besprochen  wiurde,  zu  den  Schluß- 
folgerungen gekommen:  i.  daß  nur  Besonderheiten,  die  im  Keim- 
plasma bedingt  sind,  ,,blastogene"  Veränderungen,  vererbt  werden 
können;  2.  daß  somatogene  Veränderungen,  mögen  sie  durch  Ge- 
brauch und  Nichtgebrauch,  oder  durch  direkte  Wirkungen  äußerer 
Einflüsse  bedingt  sein,  nicht  auf  die  Nachkommen  übertragbar  sind, 
da  sie  nicht  vermögen,  das  Keimplasma,  ganz  allgemein  gesprochen, 
in  einem  entsprechenden  Sinne  zu  beeinflussen;  3.  daß  direkte  Me- 
dituneinflüsse  sowohl  das  Soma  wie  den  Keim  in  gleichem  Sinne 
zu  verändern  vermögen,  so  daß  am  Soma  passante,  und  am  Keim 
entsprechende  vererbbare  Veränderungen  entstehen,  —  wodurch 
der  Schein  einer  Vererbung  somatogener  Abänderungen  zustande 
kommt.  Durch  die  Annahme,  daß  das  Keimplasma,  das  früher  nur 
ganz  allgemein  als  eine  höchst  komplizierte  Substanz  genommen 
wurde,  aus  einer  sehr  großen  Anzahl  einzelner  Bestimmungsstücke 
besteht,  gewannen  alle  diese  Vorstellungen  eine  viel  bestimmtere 
Fassung.  Der  Vorgang  einer  wirklichen  Vererbung  einer  somatogenen 

10* 


—    148    — 

Abänderung  hätte  bei  dieser  Struktur  des  Keimplasmas  zur  Voraus- 
setzung, daß  Veränderungen  somatischer  Zellen,  die  unter  dem  Ein- 
fluß des  Gebrauches  und  Nichtgebrauches  oder  direkter  Medium- 
wirkungen entstanden,  von  sich  aus  die  entsprechenden  noch  in- 
aktiven Determinanten  des  Keimplasmas  derartig  umzuändern 
vermögen,  daß  sie  bei  ihrer  Aktivierung  auch  wieder  entsprechend 
veränderte  Determinaten  bei  dem  Nachkommen  hervorbringen. 
Weismann  hat  die  Möglichkeit  eines  solchen  Vorganges  , .soma- 
tischer Induktion"  durchaus  abgelehnt.  Andere  Forscher  sind  in 
dieser  Hinsicht  anderer  Ansicht,  ja  es  ist  sogar  gesagt  worden, 
daß  gerade  die  Determinantentheorie  die  Möglichkeit  bietet,  sich 
eine  Vererbung  somatischer,  insbesondere  funtioneller  Abänderungen 
theoretisch  vorzustellen^^).  Aber  die  Schwierigkeit,  das  muß  doch 
immer  wieder  hervorgehoben  werden,  wie  es  auch  von  Weismann 
geschehen  ist,  liegt  nicht  darin,  sich  überhaupt  eine  Beeinflussung 
des  Keimplasmas  durch  das  Soma  zu  denken,  sondern  darin,  sich 
die  ganz  bestimmte,  der  peripheren  entsprechende  Veränderung 
der  Determinanten  vorzustellen.  Auch  der  Hinweis  auf  Blutgefäße, 
Nerven,  Protoplasmabrücken  als  die  tatsächlich  vorhandenen  Wege, 
auf  denen  jene  Beeinflussung  des  Keimplasmas  durch  das  Soma 
erfolgen  kann,  gestaltet  das  Problem  nicht  leichter.  Eine  besondere 
Erörterung  der  theoretischen  Vorgänge,  die  dabei  anzunehmen 
wären,  hat,  gerade  unter  Zugrundelegung  eines  Determinanten- 
aufbaues  des  Keimplasmas,  Roux  vor  einiger  Zeit  gegeben ^2). 
Dagegen  ist  es  leichter  denkbar,  daß  durch  denselben  äußeren 
Mediumeinfluß  eine  gleichsinnige  Veränderung  sowohl  der  Determi- 
nanten erfolgt,  die  bereits  in  den  Körperzellen  aktiv  sind,  wie  derer, 
die  noch  im  Keimplasma  in  inaktivem  Zustand  verharren.  Die 
Denkbarkeit  einer  gleichsinnigen  Veränderung  des  Soma  und  des 
Keimes  durch  denselben  Einfluß,  wie  sie  Weis  mann  auf  Grund 
seiner  Schmetterlingsversuche  gefolgert  hatte  —  des  Vorganges 
der  ,, Parallelinduktion"  des  Soma  und  des  Keimes  —  wurde  jeden- 
falls durch  die  Determinantentheorie  nicht  beeinträchtigt,  im  Gegen- 
teil, eher  vergrößert.  Daß  Weismann  in  der  Folge  dazu  gelangte, 
sich  diese  Veränderung  der  Determinanten  nicht  als  direkte  Wirkung 
der  äußeren  Einflüsse,  sondern  als  auf  dem  Umweg  über  eine  Ver- 
änderung    der     Ernährungsbedingungen      der     Determi- 


—      149     — 

nanten  zu  denken,  ist  später  bei  der  Lehre  von  der  Germinal- 
selektion  genauer  zu  behandeln. 

Überhaupt  schloß  sich  ja  an  die  Determinantenlehre  auch 
gleich  die  neue  Frage  an,  auf  welchem  Wege  eine  Veränderung 
der  Determinanten  überhaupt  zustande  kommen  kann,  und  unter 
welchen  Einflüssen  dies  am  häufigsten  erfolgt :  die  ganze  Frage  nach 
der  Herkunft  und  Entstehung  erblicher  Abänderungen  der  Keim- 
substanz verlangte  vom  Standpunkt  der  Determinantentheorie  eine 
besondere  Erwägung.  Sie  folgte  in  der  im  Jahre  1895  zuerst  ent- 
wickelten Theorie  der  Germinalselektion,  mit  der  die  Deter- 
minantentheorie erst  ihren  vollen  Abschluß  erhielt. 

Hinsichtlich  der  allgemeinen  Auffassung  der  Vererbungs- 
erscheinungen kam  Weis  mann  durch  die  Annahme  von  Deter- 
minanten von  der  ursprünglichen  mehr  physiologischen  Betrach- 
tungsweise zu  einer  immer  mehr  morphologischen  Behandlung  des 
Problemes,  zu  der  sich  die  neueste  Vererbungsforschung  in  einen 
Gegensatz  stellt,  indem  sie,  von  einer  ähnlichen  Grundlage  wie 
seinerzeit  auch  Weis  mann  ausgehend,  die  morphologischen  Merk- 
male der  Organismen  als  Reaktionen  der  im  Keimplasma  gegebenen 
inneren  Konstitution  auf  die  verschiedentlich  wechselnden  Faktoren 
des  äußeren  Milieus,  der  Lebenslage,  auffaßt,  von  dieser  Grund- 
lage aus  aber  mehr  in  physiologischer  Richtung  weiterschreitet 
und  das  Vererbungsproblem  ,, chemisch-physikalisch-physiologisch" 
(Johannsen)  behandelt.  Indessen  scheidet  auch  bei  Weis  mann 
die  physiologische  Betrachtungsweise  nicht  ganz  aus,  denn  auch 
seine  Determinanten  sind  nicht  schlechtweg  Träger  der  Merkmale 
und  nicht  bloße  chemische  Molekülgruppen,  sondern  vielmehr 
lebende  Wesen,  deren  Mitwirkung  beim  Zustandekommen  eines 
bestimmten  Teiles  des  Organismus  nicht  entbehrlich  ist,  und  die 
auch  in  Wechselwirkung  mit  den  äußeren  Entwicklungsbedingungen 
arbeiten  und  sich  sogar  einer  abnormen  Gestaltung  derselben  in 
ihrer  Reaktionsart  anzupassen  vermögen.  So  ist  es  wohl  nicht  be- 
rechtigt, Weismanns  Behandlung  des  Vererbungsproblemes  als 
,, ultramorphologisch"  zu  bezeichnen,  wie  es  geschehen  ist. 

Die  Determinantentheorie  als  Theorie  der  Entwicklung. 
Als  Theorie  der  Entwicklung  betrachtet,  steht  Weismanns 
Determinantenlehre  auf  dem  Boden  der  Präformations-  oder  Evo- 


lutionslehre.  Sie  ist  eine  rein  evolutionistische  Theorie.  Freilich 
sieht  sie,  genau  betrachtet,  denn  doch  recht  anders  aus  als  die  alte 
Präformationslehre,  die  im  17.  und  18.  Jahrhundert  herrschte 
imd  sich  vor  allem  an  die  Namen  Malpighi,  Swammerdam, 
Leeuwenhoek  im  17.,  A.  v.  Haller  und  Ch.  Bonnet  im  18.  Jahr- 
hundert knüpft.  Denn  die  genannten  Forscher  nahmen  an,  daß 
eine  der  Keimzellen  —  nach  den  einen  das  Ei,  nach  den  anderen 
der  Samenfaden  —  bereits  den  ganzen  fertigen  Organismus,  nur 
in  minimalster  Ausführung,  als  Miniaturmodell,  enthielte  —  wollten 
doch  phantasiebegabte  Mikroskopiker  im  menschlichen  Samen- 
faden den  ganzen  kleinen  Menschen  erkannt  haben  — ,  und  für  sie 
bestand  somit  die  ,, Entwicklung"  in  der  Hauptsache  auf  einem 
Wachstum,  der  bloßen  Vergrößerung  der  bereits  gegebenen  Teile. 
Ganz  anders  Weismann.  Nur  in  dem  Grundgedanken,  daß  im 
Keim  der  ganze  Embryo  präformiert,  und  zwar  substantiell  prä- 
formiert ist,  schließt  er  sich  an  jene  Vorstellungen  an,  aber  der 
Keim  ist  ihm  nicht  etwa  lediglich  ein  minimales  Modell  des  fertigen 
Organismus,  und  die  Substanzteile,  aus  denen  er  besteht,  sind  den 
fertigen  Teilen  des  späteren  Organismus  nicht  im  geringsten  ähn- 
lich, sie  sind  auch  nicht  so  zu  verstehen,  daß  aus  ihnen  etwa  durch 
rein  formale  Umbildung  die  definitiven  Teile  hervorgehen,  sondern 
sie  sind  ,, Determinanten",  Bestimmungsstückc,  arbeitende  Lebens- 
teilchen, die  in  der  Ontogenese  innerhalb  der  Zellkerne  durch  zahl- 
lose Zellgenerationen  hindurchgeführt  werden,  um  dann  erst,  am 
richtigen  Orte  angelangt  —  die  einen  früher,  die  anderen  später  — 
zur  Reife  zu  gelangen  und,  von  den  Kernen  aus,  den  Zellen,  in 
denen  sie  eingeschlossen  sind,  einen  bestimmten  Charakter  auf- 
zudrücken. So  kann,  wenn  man  die  Weismannsche  Keimplasma- 
theorie als  Präformationstheorie  bezeichnet,  dies  nur  dahin  ver- 
standen werden,  daß  auch  nach  Weismann  schon  die  befruchtete 
Eizelle  ein  substantiell  außerordentlich  zusammengesetztes  Gebilde 
ist,  ein  Mikrokosmus,  bestehend  aus  einer  Unmenge  kleinster  körper- 
licher Teilchen,  die  unter  sich  durchaus  verschieden  sind  und  be- 
fähigt, alle  die  mannigfaltigen  Teile  des  späteren  Geschöpfes  unter 
Verwendung  der  Zellkörper  entstehen  zu  lassen.  Roux,  der  den 
Unterschied  der  modernen  Entwicklungstheorien  gegenüber  den 
älteren  zuerst  scharf  analysiert  und  in  erklärenden  Begriffen  aus- 
gedrückt   hat,     bezeichnet    Weismanns    Theorie    als    eine    neo- 


—     151      — 

evolutionistische,  womit  gesagt  ist,  daß  die  ganze  Menge  der 
später  bei  der  Entwicklung  sichtbar  werdenden  verschiedenen 
Teile  schon  im  Keim  vorhanden  war,  aber  unsichtbar  und  in  ganz 
anderer  Form,  so  daß  zwar  bei  der  Ontogenese  nicht  ganz  neue 
Teile  gebildet  werden,  wohl  aber  die  von  vornherein  vorhandenen 
eine  Umbildung  erfahren  und  nunmehr  in  neuer  Form  sicht- 
bar werden.  Weismanns  Keimplasmatheorie  ist  eine 
streng    neoevolutionistische  Theorie^^). 

Das  war  sie  nicht  von  vornherein.  Auch  Weismanns  Ge- 
dankengänge bewegten  sich  anfangs  in  Vorstellungen,  wie  sie  von 
Caspar  Friedrich  Wolff  zuerst  schon  1753  vertreten,  freilich 
erst  sehr  viel  später  zu  allgemeiner  Anerkennung  gelangt  waren. 
Der  alten  grobsinnlichen  und  doch,  an  den  zu  beobachtenden  Tat- 
sachen gemessen,  rein  phantastischen  Evolutionslehre  konnte  Wolff 
die  Lehre  von  der  Epigenese  entgegenstellen,  die  in  gewissenhaftem 
Anschluß  an  die  tatsächlich  zu  beobachtenden  Entwicklungsvorgänge 
das  Ei  als  ein  außerordentlich  einfaches  Gebilde  auffaßte,  aus  dem 
erst  auf  dem  lange  Wege  zahlreicher  Um-  und  Neubildungen  der 
verwickelte  Bau  des  fertigen  Geschöpfes  hergestellt  wird.  War 
mit  dieser  Hervorhebung  des  tatsächlich  Wahrnehmbaren  das  un- 
A^eräußerliche  Recht  der  Beobachtung  auf  Anerkennung  zur  Geltung 
gekommen,  so  war  doch  andererseits  außer  acht  gelassen  —  und 
mußte  von  Wolff,  bei  dem  damaligen  Stande  der  Dinge  auch 
außer  acht  gelassen  werden  —  daß  das,  was  unseren  Hilfsmitteln 
einfach  erscheint,  innerlich  doch  eine  uns  unerkennbare  Kompli- 
kation besitzen  kann.  Die  fortschreitende  Forschung  mußte  dann 
auch  notwendig  zu  der  Erkenntnis  kommen,  daß  es  immöglich  ist, 
eine  tatsächlich  ,, einfache"  Substanz  als  Ausgang  für  die  Entwick- 
lung irgend  eines  Lebewesens  anzunehmen.  Enthält  auch  die  be- 
fruchtete Eizelle  noch  nicht  das  fertige  in  minimalsten  Maßen  aus- 
geführte Modell  des  späteren  Geschöpfes,  so  muß  sie  doch  die  Anlage 
zu  demselben  enthalten  und  damit  die  Art  des  Endproduktes  be- 
stimmen, ,, determinieren".  Aus  dem  Hühnerei  kann  schlechter- 
dings nur  ein  Hiihn,  aber  kein  anderes  Tier  werden.  So  ist  die 
Epigenese  im  alten  Wolff  sehen  Sinne  ganz  ebenso  abzulehnen 
wie  die  Evolution  im  alten  Sinne.  Die  „Epigenesis"  im  Sinne 
M'^olffs  ist  nur  ein  Ausdruck  des  Beobachteten,  sie  bezeichnet, 
wie  Roux  es  ausdrückt,  bloß  das  von  Wolff  erwiesene  Geschehen, 


—      '52      — 

„die  sichtbare  formale  Produktion  von  Mannigfaltigkeit 
von  sichtbar  einfachem  Ausgange  aus".  Aber  es  war  eine  andere, 
an  die  alte  epigenetische  Vorstellung  anschließende  Auffassung  von 
den  Entwicklungs Vorgängen  denkbar,  und  Weismann  hat  sich 
lange  bemüht,  eine  Keimplasmatheorie  in  diesem  Sinne  auszudenken. 
Sie  ging  aus  von  der  Überzeugung,  daß  in  der  befruchteten  Eizelle 
der  ganze  gesetzmäßige  Ablauf  der  Entwicklung  und  damit  das  End- 
produkt derselben  präformiert  sein  muß,  suchte  aber  diese  Präfor- 
mation nicht  in  der  Zusammensetzung  des  Keimplasmas  aus  un- 
zähligen substantiell  verschiedenen  und  potentiell  verschieden- 
wertigen  Teilchen,  sondern  in  seiner  besonderen  Konstruktion 
unter  Verwendung  nur  weniger  verschiedenartiger  Stoffe;  sie  faßte 
das  Keimplasma  also  mehr  auf  als  eine  ktmstvoU  gebaute  Maschine, 
einen  Präzisionsapparat,  bei  dem  es  weniger  auf  den  verwendeten 
Stoff,  als  auf  die  Konstruktion,  die  Zusammenfügung  der  Teile 
ankommt.  In  diesem  Sinne  ist  noch  die  ,, Kontinuität  dis  Keim- 
plasmas" geschrieben,  in  der  Weismann  versucht,  die  Entwicklung 
der  Anlagen  nicht  aus  vorgebildeten  Keimchen,  sondern  aus  dem 
molekularen  Bau  des  Keimplasmas  herzuleiten.  Hier  heißt 
es  noch  (S.  371),  daß  nicht  nur  die  sämtlichen  quantitativen  imd 
quahtativen  Charaktere  der  Art,  sondern  auch  alle  individuellen 
Variationen,  soweit  dieselben  erblich  sind,  in  der  winzigen  Quantität 
von  Keimplasma,  welches  der  Kern  einer  Keimzelle  birgt,  ent- 
halten sein  müssen,  ,, nicht  als  vorgebildete  Anlagen  (Keimchen  der 
Pangenesis)  wohl  aber  als  Abweichungen  in  der  Molekularstruktur". 
Diese  Molekulatstruktur  tritt  bei  der  Ontogenese  in  Aktivität  und 
bildet  mit  Hilfe  der  plasmatischen  Zellbestandteile  alle  die  ver- 
schiedenen mannigfaltigen  Teile  des  neuen  Geschöpfes,  sie  schafft 
also  tatsächlich  neues,  vorher  nicht  dagewesenes.  Im  Sinne  der 
Roux sehen  Terminologie  war  diese  ältere  Weismannsche  Vor- 
stellung eine  Theorie  der  Neoepigenesis,  womit  gesagt  ist,  ,,daß 
von  wirklich,  nicht  bloß  von  sichtbar  Einfacherem  aus  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  der  Formen,  Strukturen  und  chemischen  Quali- 
täten des  entwickelten  Lebewesens  hervorgebracht  werde". 

Weitere  Beschäftigung  mit  dem  Problem  führte  Weismann 
indessen  zu  dem  Schlüsse,  daß  es  doch  nötig  sei,  auf  die  Darwinsche 
Annahme  kleinster  Teilchen  im  Keime  zurückzukommen,  trotz  des 
Mißverhältnisses  zwischen  der  überaus  großen  Zahl  solcher  Teilchen, 


—      '53     — 

die  anzunehmen  war,  und  der  geringen  Menge  von  Keimplasma, 
in  dem  sie  enthalten  sein  mußten.  Was  ihn  von  jenen  früheren  Ver- 
suchen wieder  abgebracht,  und  in  der  Richtung  der  Darwinschen 
Keimchenlehre  zu  der  Determinantentheorie  geführt  hat,  waren 
die  Erscheinungen  des  Auftretens  erblicher  Varietäten.  Wenn  in 
menschlichen  Familien  durch  Generationen  hindurch  gewisse  körper- 
liche Besonderheiten,  —  eine  eigentümlich  gefärbte  Haarlocke  an 
bestimmter  Stelle,  ein  Grübchen  an  einer  bestimmten  Stelle  des 
Körpers  oder  dergleichen  —  vorkommen,  so  weist  das  mit  Bestimmt- 
heit auf  eine  Besonderheit  des  Keimes  hin,  die  eben  zu  jener 
Körperstelle  in  fester  Beziehung  steht,  ihre  Ausbildung  beherrscht. 
Es  muß  irgend  ein  materielles  Substrat  in  dem  Keimplasma  vor- 
handen sein,  das  mit  diesem  vererbbar  ist,  und  dessen  von  der  Norm 
abweichende  Beschaffenheit  sich  in  einer  Abnormität  des  End- 
produktes äußert.  Diese  materiellen  Teilchen  sind  eben  Weismanns 
Determinanten.  In  den  Erscheinimgen  der  alternierenden  Ver- 
erbung, die  Mendel  kennen  gelehrt  hat,  erfuhr  ihre  Annahme  eine 
neue  Stütze.  So  sind  sie  denn  auch  unter  diesem  oder  jenem  Namen 
in  andere  Vererbungs-  und  Entwicklungstheorien  übernommen 
worden. 

Hypothetischer  Charakter  der  Theorie. 
An  scharfer  Gegnerschaft  hat  es  der  Determinantentheorie 
nicht  gefehlt.  Dieselbe  richtet  sich  gegen  die  Grundvorstellung, 
daß  die  winzige  Menge  von  Keimplasma  eine  so  unfaßbar  große 
Menge  von  Einzelanlagen  in  sich  enthalten  soll,  wie  auch  gegen 
ihre  Durchführung  im  einzelnen,  ja  gegen  das  ganze  Unterfangen, 
sich  von  der  Architektur  des  Keimplasmas  überhaupt  eine  Vor- 
stellung machen  zu  wollen.  Gewiß  ist  der  Einwand  nicht  unberech- 
tigt, daß  jeder  Versuch  dieser  Art  sich  von  dem  Boden  der  Tatsachen 
fort  und  durchaus  in  das  Gebiet  der  Spektdation  begibt,  —  wenig- 
stens im  Augenblick  noch,  bei  unseren  jetzigen  Kenntnissen.  Aber 
auch  Weismann  ist  sich  dessen  bewußt  gewesen,  daß  seine  Theorie 
nur  einen  Versuch  bedeutete,  rein  theoretisch  eine  Möglichkeit 
zu  erörtern,  wie  man  sich  überhaupt  die  Dinge  zurechtlegen  könne. 
Das  Bedürfnis  nach  einer  geschlossenen  Vorstellung  in  dieser  Hin- 
sicht entsprach  seiner  Natur,  seinem  künstlerischen  Bedürfnis  nach 
greifbaren  anschaulichen  Vorstellungen.     Daß  er  im  Gegensatz  zu 


—      154     — 

dem  vorsichtigen  Darwin,  der  seine  Pangenesistheorie  nur  eine 
„provisorische  Hypothese"  nannte,  oft  allzu  dogmatisch  auftritt, 
mag  dabei  zugegeben  werden.  Seine  Lebensarbeit  hat  die  Wissen- 
schaft so  vielfach  bereichert  und  ihr  —  auch  durch  die  Keimplasma- 
theorie —  so  mannigfache  Anregungen  gegeben  und  zur  Klärung 
der  Anschauungen  beigetragen,  daß  man  es  ihm  zugute  halten  kann, 
wenn  der  scharfsinnige  und  kühl  abwägende  Denker  in  ihm  den 
temperamentvollen,  lebhaft  empfindenden  Menschen  einmal  zu 
sehr  zu  Worte  kommen  läßt.  Darin  aber,  daß  die  Grundlagen  der 
Theorie  sich  auch  gegenüber  den  Erscheinungen  der  alternierenden 
(Mendelschen)  Vererbung  als  leistungsfähig  erwiesen,  ja  durch  diese 
geradezu  gestützt  wurden,  liegt  doch  auch  ein  Beweis  für  ihren 
Wert. 


Siebenter  Abschnitt. 

Persoiialselektioii : 
natürliche  und  gesell leclitliche  Zuchtwahl. 


Natürliche    und    geschlechtliche    Zuchtwahl,    die    zwei    Formen    der    Personalselektion.   — 

1.  Artenzüchtung  (Naturzüchtung).     Wesen  und  Begründung  der  Zuchtwahllehre. 

—  Notwendigkeit  ihrer  Prüfung.  —  Übersicht  über  "Weismanns  Stellungnahme  zu 
Darwins    Zuchtwahllehre.    —    Prüfung   der  Zuchtwahllehre   im    einzelnen,      i.  Aufgabe 

2.  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  der  Na turzüchtungs Vorgänge,  a)  Einfluß  der 
Isolierung  auf  die  Artbildung,  b)  Selektionswert  der  Anfangs-  und  Steigerungsstufen 
der  Abänderungen.  Abänderung  in  kleinen  Schritten.  Variationen  „unter  der  Grenze 
von  Gut  und  Schlecht",  c)  Freiwillig  gewählte  Änderungen  in  den  Lebensbedingungen, 
Divergente  Entwicklung  auf  demselben  Gebiete,  d)  Die  natürlichen  Beschränkungen  in 
der  Wirksamkeit  der  Naturzüchtungsvorgänge.  Beschränkungen,  die  aus  dem  Wesen 
der  Naturzüchtung  selbst  folgern:  Naturzüchtung  arbeitet  mit  gegebenen  Abänderungen, 
arbeitet  langsam,  schafft  nur  relativ  Vollkommenes.  —  Beschränkungen  der  Naturzüch- 
tung, die  in  den  Organismen  liegen.  —  Beschränkungen  der  Naturzüchtung,  die  in  den 
Verhältnissen  der  Umwelt  liegen.  —  3.  Leistungsfähigkeit  der  Selektionstheorie  für  die 
Erklärung  der  phyletischen  Entwicklung  der  Organismen,  a)  Fragestellung,  b)  Zucht- 
wahl oder  inneres  Vervollkommnungsprinzip?  Nägel is  Theorie  der  direkten  Bewirkung. 
Die  Organismen  als  Anpassungskomplexe.  Regeneration  als  Anpassungserscheinung.  Die 
Schicksale  der  Arten  als  Anpassungserscheinungen.  Mutationstheorie,  c)  Zuchtwahl  oder 
direkte  Bewirkung  durch  äußere  Einflüsse  und  Funktion?  a)  Direkt  umwandelnder 
Einfluß  der  äußeren  Bedingungen,  ß)  Direkte  Anpassung  durch  Gebrauch  und  Nicht- 
gebrauch. —  Phyletische  Vervollkommnung  eines  Teiles  durch  Personalselektion.  — 
Phyletische  Verkümmerung    nutzloser  Teile    als    Folge    von    Personalselektion;    Panmixie. 

—  Beweise  gegen  den  Lamarekismus  (phyletische  Vervollkommnung  und  Verkümmerung 
von  Teilen  bei  sterilen  Formen,  phyletische  Anpassungen  apraktischer  Merkmale,  einmal 
ausgeübte  Instinkte).  —  Funktionelle  Anpassung  (Roux).  Partialauslese.  —  4.  Ergebnis 
der  Prüfung  der  Zuchtwahllehre:  Neo  -  Darwinismus.  —  II.  Sexuelle  Züchtung 
(geschlechtliche  Zuchtwahl).  —  III.   Ergänzungsbedürftigkeit  derDarwin- 

Wallaceschen   Zuchtwahllehre. 


-      156      - 

Natürliche  und  geschlechtliche  Zuchtwahl,  die  zwei  Formen 
der  Personalselektion. 

Das  Neue,  was  der  Darwinismus  gebracht,  zugleich  das,  was 
ihm  seinen  ungeheueren  Erfolg  verschafft  und  der  Abstammungs- 
lehre zu  ihrem  Siegeslaufe  verholfen  hatte,  war  die  Lehre  von  der 
Naturzüchtung  oder  natürlichen  Zuchtwahl.  Mit  ihr  war 
durch  Darwin  und  seinen  großen  Landsmann  Wallace  das  Se- 
lektionsprinzip in  die  Naturbetrachtung  eingeführt  worden,  das 
Selektionsprinzip,  das  dann  ganz  besonders  von  Weismann  und 
Roux  in  seiner  Leistungsfähigkeit  verfolgt  und  von  dem  engeren 
Gebiet,  für  das  es  aufgestellt  worden  war,  dem  der  Personen, 
auf  alle  Lebenseinheiten,  die  größten  wie  die  kleinsten,  übertragen 
worden  ist.  Neben  die  ,, natürliche"  Zuchtwahl  oder  ,, Arten- 
züchtung", wie  Weismann  zu  sagen  vorschlägt,  hat  dann 
Darwin  noch  die  ,, geschlechtliche"  Zuchtwahl  gestellt;  auch 
sie  betrifft  die  Individuen,  die  Personen.  Artenzüchtung 
und  sexuelle  Züchtung  sind  somit  zwei  besondere  Formen  der 
Personalselektion.  Beide  Formen  verlangen  eine  besondere 
Betrachtung. 

I.   Artenzüchtung   (natürliche   Zuchtwahl,    Naturzüchtung). 

Wesen  und  Begründung  der  Zuchtwahllehre. 
Notwendigkeit  ihrer  Prüfung. 
Die  Artenzüchtung  (natürliche  Zuchtwahl,  Naturzüchtung 
kurzweg)  arbeitet,  wie  früher  gewöhnlich  gesagt  zu  werden  pflegte, 
und  wie  es  auch  Weismann  meist  ausdrückt,  mit  drei  Erschei- 
nungen: dem  Auftreten  individueller  Varietäten,  der  Erb- 
lichkeit derselben  und  der  Auslese  der  passendsten  von  ihnen 
durch  den  Kampf  ums  Dasein.  Besser  ist  es  wohl,  nur  von  zwei 
Faktoren  zu  sprechen:  dem  Auftreten  erblicher  Varietäten 
und  der  Auslese.  Es  wird  damit  von  vornherein  dem  Umstand 
Rechnung  getragen,  daß  es  auch  nichterbliche  Varietäten  gibt 
(siehe  Abschnitt  VIII).  Durch  das  Zusammenwirken  der  ge- 
nannten Formen  soH  im  Laufe  der  Generationen  eine  Umänderung 
der  Formen  erfolgen,  die  verbunden  ist  mit  einer  Anpassung  an 
die  Lebensbedingungen,  also  nicht  eine  Umänderung  schlechtweg, 
sondern  eine  solche,  die,  um  mit  Roux  zu  reden,  die  Dauerfähigkeit 


—      157     — 

der  Organismen  erhöht.  Die  Lebensbedingungen  selbst  sind  es, 
die  die  Auslese  treffen,  und  die  die  zunächst  nur  kleinen  günstigen 
oder  wie  Roux  sagt,  dauerfähigen,  ,,in  den  äußeren  Verhältnissen 
sich  bewährenden"  Varietäten  sich  häufen  lassen.  Die  Anpassung 
auf  diesem  Wege  betrifft  die  Art  und  erfolgt  im  Laufe  vieler  Ge- 
nerationen, im  Gegensatz  zu  der  direkten  Anpassung,  wie 
Lamarck  und  Geoffroy-St.-Hilaire  sie  lehrten:  der  zweck- 
mäßigen Veränderung  der  Individuen  durch  die  Funktion  und 
durch  direkte  Einwirkung  der  äußeren  Bedingungen,  unter  erb- 
licher Übertragung  der  so  bedingten  Veränderungen  auf  die  Nach- 
kommen. Nach  der  Zuchtwahllehre  hat  also  die  Umbildung  der 
Formen  in  engster  Fühlung  mit  den  Lebensbedingungen,  in  inniger 
fortgesetzter  Wechselwirkung  mit  derselben  stattgefunden,  aber 
auf  dem  Umwege  der  Konkurrenz  und  des  ,, Überlebens  des 
Passendsten".  Sie  setzt  von  vornherein  überall  Anpassungen, 
überall  Nützliches  voraus  und  gibt  eine  Erklärung  für  diese  Zweck- 
mäßigkeiten der  Organismen,  ohne  die  außernatürlich  wirkende 
Kraft  eines  Schöpfers  oder  irgend  ein  in  den  Organismen  selbst 
wirksames  teleologisches  Prinzip  annehmen  zu  müssen. 

Was  Darwin  seinerzeit  zur  Aufstellung  der  Lehre  von  der 
natürlichen  Züchtung  veranlaßt  hat,  waren,  wie  bekannt,  wesent- 
lich zwei  Dinge:  einmal  die  Tatsache,  daß  bei  allen  Arten  fort- 
während sehr  viel  mehr  Individuen  geboren  werden,  als  am  Leben 
bleiben  und  zur  Nachzucht  kommen,  und  zweitens  die  Erfolge  der 
künstlichen  Tier-  und  Pflanzenzucht.  Diese  beiden  Haupttat- 
sachen boten  wohl  genügende  Berechtigung,  um  den  Gedanken 
von  der  natürlichen  Züchtung  zu  erwägen  und  von  ihm  aus  eine 
Theorie  von  der  stammesgeschichtlichen  Entwicklung  der  Or- 
ganismen zu  versuchen.  Daß  diese  Theorie  auf  Grund  allgemeiner 
und  bekannter  Tatsachen  logisch  richtig  entwickelt  war,  ist  wohl 
kaum  angezweifelt  worden,  aber  doch  konnten  ihr  manche  Ein- 
wände gemacht  werden,  und  unter  ihnen  der  wichtigste:  daß  sich 
nämlich  die  Haupt  Voraussetzung,  von  der  sie  ausgeht,  nicht  be- 
weisen lasse.  Man  konnte,  so  drückt  es  Weismann  (1909a)  aus, 
in  keinem  Falle  der  unzähligen  Anpassungen,  die  wir  an  den  Or- 
ganismen beobachten,  nachweisen,  daß  schon  ihre  ersten  und  klein- 
sten Anfänge  von  Vorteil  für  ihren  Träger  waren,  von  solchem  Vor- 
teil nämlich,   wie  wir  ihn   mit  dem  Wort   ,,se]ektionswertig"   be- 


—      15«     — 

zeichnen,  daß  sie  somit  Vorteile  darstellten,  deren  Besitz  oder 
Nichtbesitz  unter  Umständen  über  Leben  und  Tod  ihres  Trägers 
entscheiden,  jedenfalls  sein  Überleben  in  Nachkommen  vereiteln 
können.  Die  höchste  Prüfungsinstanz  nattirwissenschaftlicher 
Theorien,  die  Beobachtung,  versagte  gegenüber  dem  wichtigsten 
Faktor,  mit  dem  die  Zuchtwahllehre  operiert,  der  Auslese  im  Kampfe 
ums  Dasein.  Diese,  das  ,, Überleben  des  Passendsten",  wie  Darwin 
es,  nicht  gerade  glücklich,  nennt,  ist  unmittelbarer  Beobachtung 
nicht  zugänglich,  und  so  konnte  die  Richtigkeit  der  Selektionstheorie 
nicht  unmittelbar  bewiesen,  sondern  nur  immer  wieder  auf  dem 
Wege  logischen  Denkens  und  an  den  Tatsachen  auf  ihre  Wahr- 
scheinlichkeit und  auf  die  Grenzen  ihrer  Leistungsfähigkeit  ge- 
prüft werden.  Das  hat  keiner  der  nächsten  Nachfolger  Darwins 
so  eingehend  getan  wie  Weis  mann.  Nicht  blinder  vorgefaßter 
Glaube  an  ein  Dogma,  sondern  Fragen  und  Zweifel  bilden  den  Aus- 
gang für  seine  Betrachtungen.  ,, Niemand  wird  glauben"  —  so 
heißt  es  in  dem  Vorwort  zu  der  Abhandlung  über  den  Einfluß  der 
räumlichen  Isolierung  auf  die  Artbildung  (1872)  —  ,,daß  mit  der 
Darwin-Wal lace sehen  Lehre  von  der  natürlichen  Züchtung  die 
Forschung  in  dieser  Richtung  abgeschlossen  sei,  ich  meine  im  Gegen- 
teil, daß  sie  damit  erst  begonnen  hat.  So  unzweifelhaft  richtig  mir 
auch  das  Prinzip  scheint,  welches  durch  diese  Lehre  zur  Geltung 
gebracht  wird,  so  sind  wir  doch  noch  sehr  weit  davon  entfernt, 
die  Grenze  auch  nur  einigermaßen  bestimmt  ziehen  zu  können, 
bis  zu  welcher  es  wirkt.  Daß  aber  eine  solche  Grenze  besteht, 
daß  nicht  alle  Charaktere  organischer  Wesen  ihre  Erklärung  in 
diesem  Prinzip  finden,  daß  somit  natürliche  Züchtung  nicht  der 
einzige  Faktor  der  Artbildung,  das  scheint  mir  ebenso  unzweifelhaft 
als  daß  natürliche  Züchtung  einer  und  zwar  einer  der  wichtigsten 
dieser  Faktoren  ist,  und  dies  ist  ja  auch  von  Darwin  selbst  an- 
erkannt worden.  Ganz  abgesehen  von  den  Momenten,  welch?  in 
der  physischen  Konstitution  der  Organismen  selbst  liegen  und 
welche  die  dunkelsten  von  allen  sind,  können  die  äußeren  Lebens- 
bedingungen noch  in  mancherlei  anderer  Richtung  und  Weise  auf 
den  Prozeß  der  Artentwicklung  einwirken,  als  durch  jenes  Über- 
leben des  Passendsten,  welches  Darwin  mit  dem  Namen  der  natür- 
lichen Züchtung  belegt  hat."  Und  in  der  Untersuchung  über  die 
Zeichnungen  der  Sphingidenraupen  ist  mit  aller  Bestimmtheit  aus- 


—      159     — 

gesprochen,  daß  der  Verfasser  nicht  zu  denjenigen  gezählt  werden 
will,  ,, welche  sich  von  vornherein  zur  Allmacht  der  Naturzüchtung 
bekennen,  wie  zu  einem  Glaubensartikel  oder  einem  wissenschaft- 
lichen Axiom".  Der  Begriff  der  ,, Allmacht  der  Naturzüchtung" 
erscheint  hier  wohl  zum  ersten  Male  in  Weismanns  Schriften; 
der  Zusammenhang,  in  dem  es  geschieht,  verdient  alle  Beachtung. 

Übersicht  über  Weismanns  Stellung  zu  Darwins 
Zuchtwahllehre. 

Eine  vorläufige  Ükersicht  über  Weismanns  Stellungnahme 
zu  Darwins  Zuchtwahllehre  läßt  drei  Perioden  unterscheiden. 

Als  den  im  Anfange  der  Dreißiger  Stehenden  die  Rücksicht 
auf  seine  Augen  auf  eine  mehr  theoretische  Gedankenarbeit  ver- 
wies, und  sich  ihm  für  eine  solche  die  Darwinsche  Theorie  als 
dankbares  Gebiet  darbot,  da  konnte  er  gar  nicht  anders,  als  sich 
auf  den  Darwinschen  Standpunkt  stellen,  d.  h.  neben  der  Se- 
lektion noch  den  Lamarekismus  gelten  lassen.  Diese  Voraussetzung 
beherrscht  somit  die  erste  Periode,  von  ihr  ging  Weismanns 
kritische  Prüfung  der  Zuchtwahllehre  aus.  Ihre  erste  Frucht  war 
die  Abhandlung  über  den  Einfluß  der  Isolierung  auf  die  Artbildung, 
die  1872  erschien.  Ihr  folgten,  von  der  gleichen  Absicht  eingegeben, 
die  schon  besprochenen  Studien  über  Deszendenztheorie,  insbesondere 
die  Versuche  über  den  Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Schmetter- 
lingspuppen, sowie  die  Untersuchungen  über  die  Zeichnungen  der 
Sphingidenraupen,  die  zu  dem  überraschenden  Ergebnis  führten, 
daß  diese  Zeichnungen  recht  wohl  als  zweckmäßige  Anpassungen 
aufgefaßt  und  durch  Naturzüchtung  erklärt  werden  können.  Eine 
neue  Unterstützung  erhielt  dieses  Ergebnis  dturch  die  Arbeiten 
über  die  Generationszyklen  der  Daphnoiden,  deren  Besonderheiten 
sich  ebenfalls  in  überraschender  Weise  als  Anpassungen  an  die 
Lebensbedingungen  verstehen  und  damit  auf  Zuchtwahlprozesse 
zurückführen  ließen.  Angesichts  dieser  Ergebnisse  mußten  wohl 
die  Zweifel  an  der  Leistungsfähigkeit  des  Zuchtwahlprinzips  immer 
mehr  verstummen,  und  es  konnte  sich  die  Frage  aufdrängen,  ob 
es  überhaupt  nötig  und  berechtigt  sei,  neben  demselben  noch  das 
der  direkten  Anpassung  gelten  zu  lassen.  Die  Beantwortung  der 
Frage  ergab  sich  aus  den  Schlußfolgerungen,  zu  denen  Weis  mann 
inbetreff  der  ,, Vererbung  erv^'orbener  Eigenschaften"  gelangte.    Mit 


—      i6o      — 

der  Ablehnung  der  Vorstellung,  daß  funktionelle  Abänderungen, 
die  Wirkungen  des  Gebrauches  und  des  Nichtgebrauches,  vererbt 
werden  können,  fiel  auch  die  Annahme,  daß  die  im  Einzelleben 
erworbenen  funktionellen  Anpassungen  irgend  welche  Bedeutung  für 
die  phyletische  Umbildung  der  Formen  gehabt  haben.  So  gelangte 
Weismann  dazu,  in  der  Bewertung  der  Naturzüchtungslehre  als 
Erklärungsprinzip  noch  über  Darwin  hinauszugehen,  indem  er 
ihr  auch  Erscheinungen  unterordnete,  für  deren  Erklärung  dieser 
noch  das  Lamarcksche  Prinzip  der  Vererbung  funktioneller  Ab- 
änderungen hatte  gelten  lassen.  Das  gänzliche  Fallenlassen  dieses 
Prinzipes  kennzeichnet  die  von  Weis  mann  seitdem  vertretene 
Richtung,  den  Neo-Darwinisrnus,  -wie  man  sie  genannt  hat;  es 
ist  auch  das,  was  ihm  ganz  besonders  als  einseitige  Übertreibung 
angerechnet  worden  ist. 

Diese  entschiedene  Absage  an  den  Lamarekismus  im  engeren 
Sinne  —  die  Bedeutung  direkter  Mediumwirkungen  hat 
Weis  mann,  wenn  auch  in  engen  Grenzen,  stets  zugegeben  —  er- 
folgte mit  der  Rede  über  die  Vererbung  im  Jahre  1883 ;  sie  schließt 
die  erste  Periode  ab  und  eröffnet  eine  zweite,  die  die  nächsten 
12  Jahre  umfaßt  imd  unter  dem  Zeichen  des  begeistertsten  rück- 
haltlosen Eintretens  für  die  Darwin-Wallacesche  Lehre  steht. 
,,Ich  halte",  so  lautet  nunmehr  Weismanns  Bekenntnis  im  Jahre 
1893,  ,,die  Entdeckung  der  Naturzüchtung  für  eine  der  funda- 
mentalsten, die  auf  dem  Gebiete  des  Lebens  jemals  gemacht  worden 
ist,  eme  Entdeckimg,  die  allein  genügt,  den  Namen  Charles 
Darwin  und  Alfred  Wallace  die  Unsterblichkeit  zu  sichern, 
und  wenn  meine  Gegner  mich  als  , Ultra-Darwinisten'  hinstellen, 
der  das  Prinzip  des  großen  Forschers  ins  Einseitige  übertreibt, 
so  macht  das  vielleicht  auf  manche  ängstliche  Gemüter  Eindruck, 
welche  das  ,juste-milieu'  überall  schon  im  voraus  für  das  Richtige 
halten,  allein  mir  scheint,  daß  man  niemals  schon  a  priori  sagen 
kann,  wie  weit  ein  Erklärungsprinzip  reicht,  es  muß  erst  ver- 
sucht werden,  und  diesen  Versuch  gemacht  zu  haben,  das  ist 
mein  Verbrechen  oder  mein  Verdienst"  (1893,  S.  63).  Indessen, 
auch  in  dieser  Periode,  in  der  sogar  das  Wort  von  der  ,, Allmacht 
der  Naturzüchtung"  als  Titel  einer  besonderen  Streitschrift  er- 
scheint —  das  Wort,  das  später  so  oft  und  gern  gegen  seinen  Ur- 
heber ausgespielt  worden  ist  — ,  hat  Weis  mann  mit  der  ruhigen 


—      i6i      — 

sachlichen  Prüfung  der  Naturzüchtungslehre  nicht  aufgehört.  Das 
Ergebnis  war  denn  auch  die  Erkenntnis  der  mancherlei  Beschrän- 
kungen, dessen  die  Zuchtwahl  als  umbildender  Faktor  unterworfen 
ist,  eine  Erkenntnis,  die  schließlich  in  der  Anerkennung  einer 
selbständigen,  den  Organismen  innewohnenden  Um- 
bildungskraft ihren  Ausdruck  findet.  In  der  dritten  Periode, 
die  die  letzten  20  Jahre,  von  1895  an,  umfaßt,  steht  somit  in  Weis- 
manns theoretischen  Vorstellungen  neben  dem  Prinzip  der  natür- 
lichen Zuchtwahl  der  Personen  ein  anderes:  das  Prinzip  der  Ger- 
minalselektion,  durch  das  zwar  dem  Selektionsprinzip  an  sich 
ein  größerer  Geltungsbereich  zugesprochen  wird,  die  Darwin- 
Wallacesche  Zuchtwahllehre  aber  eine  sehr  erhebliche  Einschrän- 
kung erfährt.  — 

Prüfung  der  Zuchtwahl  im  einzelnen. 

Im  nachfolgenden  soll  nun  versucht  werden,  Weismanns 
Stellung  zu  den  Fragen  der  Zuchtwahllehre  im  einzelnen  etwas 
genauer  klarzulegen. 

I.  Aufgabe. 
Wenn  von  ,, Zuchtwahl",  „Naturzüchtung",  ,, Selektion"  und 
dergleichen  schlechtweg  gesprochen  wird,  so  geschieht  das,  wie 
schon  manchmal  gerügt  worden  ist,  bald  in  dem  einen,  bald  in  dem 
anderen  Sinne:  entweder  werden  darunter  die  natürlichen,  von  der 
Theorie  vorausgesetzten  Vorgänge  verstanden,  oder  aber  die 
Theorie  als  solche^*).  Beides  ist  auseinanderzuhalten,  nach  beiden 
Richtungen  hin  hat  sich  eine  Prüfung  zu  erstrecken,  und  nach  beiden 
Richtungen  hat  denn  Weismann  auch  tatsächlich  eine  solche 
vorgenommen.  Es  galt  also:  einmal  die  als  ,, Naturzüchtung"  zu- 
sammengefaßten angenommenen  Vorgänge  selbst  auf  ihre  Mög- 
lichkeit und  Wahrscheinlichkeit  nach  allen  Richtungen,  zu- 
gleich unter  Berücksichtigung  der  verschiedentlich  gemachten  Ein- 
wände, zu  durchdenken  und  im  Anschluß  daran  zu  erörtern,  was 
denn  füglich  von  ihnen  erwartet  werden  dürfe,  und  worin  ihre  natür- 
lichen Hemmnisse  liegen;  zweitens  aber:  die  Frage  nach  der 
Leistungsfähigkeit  der  auf  jenen  Vorgängen  aufgebauten  Zuchtwahl- 
lehre als  Erklärungsprinzip  zu  prüfen,  der  Frage  also,  wie  weit 
die  gegebenen  Erscheinimgen  der  Lebewesen,  ihr  Bau,  ihre  Lebens- 

Qaupp,  Biographie  Weismanns.  11 


—        102        — 

erscheinungen  und  ihre  Geschichte,  durch  die  Zucht  wahllehre  er- 
klärbar sind,  ob  nicht  andere  Erklärungsprinzipien  an  ihre  Stelle 
gesetzt  oder  neben  ihr  als  wirksam  anerkannt  werden  müssen. 

2.  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  der  Natur- 
züchtungsvorgänge. 
a)  Einfluß  der  Isolierung  auf  die  Artbildung. 

Einen  wichtigen  Beitrag  in  der  ersten  der  beiden  genannten 
Richtimgen,  ztu*  Prüfung  der  Richtigkeit  der  Darwinschen  Ge- 
dankengänge, gibt  gleich  die  erste,  1872  erschienene  theoretische 
Schrift,  über  den  Einfluß  der  Isolierung  auf  die  Artbildung;  sie 
hat  für  die  Klärung  einer  wichtigen,  mit  der  Lehre  von  der  Art- 
umbildung in  Verbindung  stehenden  Frage  grundlegende  Bedeutung 
gehabt.  Es  handelt  sich  in  ihr,  wie  der  Titel  sagt,  um  den  Einfluß, 
den  die  räumlich  geographische  Isolierung  bei  der  Entstehung  einer 
neuen  Art,  auf  Grund  individueller  Varietäten  einer  bereits  vor- 
handenen, besitzt.  Diese  letzteren  werden  als  gegeben  voraus- 
gesetzt. Moritz  Wagner  war  durch  vieljährige,  auf  Reisen  ge- 
wonnene Beobachtungen  über  die  geographischen  Besonderheiten 
der  Tierformen  zu  der  Auffassung  gelangt,  daß  räumliche  Isolierung 
einen  unerläßlichen  Faktor  bei  der  Artbildung  darstellt,  nicht 
nur,  weil  durch  Versetzung  in  ein  anderes  Gebiet  neue  Lebens- 
bedingungen gegeben  werden,  durch  die  die  individuelle  Veränder- 
lichkeit der  Organismen  eine  gesteigerte  Anregung  erhalten  müsse, 
sondern  vor  allem,  weil  durch  sie  eine  Rückkreuzung  der  abgeänderten 
Individuen  mit  der  Stammform  verhindert  werde.  Ohne  eine  solche 
Verhinderung  aber  sei  eine  Fixation  und  Steigerung  der  Abände- 
rungen, kurzum  die  Bildung  einer  neuen  Art,  nicht  möglich.  Durch 
das  ,, Migrationsgesetz  der  Organismen",  das  die  freiwilligen  und 
die  passiven  Wanderungen  der  Organismen  in  den  Vordergrund 
rückt,  glaubte  Wagner  zunächst  eine  wesentliche  Lücke  in 
Darwins  Transmutationstheorie  ausfüllen  und  das  Prinzip  der 
natürlichen  Zuchtwahl  durch  ein  weiteres  ergänzen  zu  können, 
um  dann  später  in  der  ,, Separationstheorie"  noch  entschiedener 
den  Faktor  der  räumlichen  Isoliertmg  an  die  Stelle  der  natür- 
lichen Zuchtwahl  zu  setzen,  —  wenigstens  für  die  höheren  Formen 
mit  getrennten  Geschlechtern.  Gegen  eine  solche  übertriebene  Be- 
wertung der  räumlichen  Isolation  wandte  sich  Weismann,  indem 


-      i63     — 

er  einerseits  den  Wagnerschen  Satz,  daß  Umbildung  der  Organismen 
ohne  räumliche  Isolierung  nicht  möglich  sei,  durch  einwandfreie 
Beispiele  und  Überlegungen  als  irrig  nachwies,  andererseits  die 
zweifellos  vorhandene  Bedeutung  der  letzteren  für  die  Entstehimg 
neuer  Arten  genauer  untersuchte.  Diese  Bedeutung  erkannte  er, 
in  verschiedentlicher  Berührung  mit  Wagners  Gedankengängen, 
einmal  darin,  daß  die  räumliche  Isolierung  die  Kreuzung  der  iso- 
lierten Individuen  mit  denen  des  Stammgebietes  verhindert 
(,,Amixie", oder  Kreuzungsverhinderung),  —  dies  betrifft  aber  nur 
,,rein  morphologische"  Charaktere  ohne  nachweisbaren  biologischen 
Nutzen  — ,  andererseits  darin,  daß  die  Versetzung  in  beinahe  immer 
veränderte  Lebensbedingungen  die  Tätigkeit  der  natürlichen  Züch- 
tung anregen  muß.  So  begünstigt  die  Isolierung  in  mehrfacher 
Weise  die  Entstehung  neuer  Arten,  aber  sie  ist  nicht  eine  notwendige 
Vorbedingung  für  eine  solche.  Vielmehr  ist  zweifellos,  daß  auch  auf 
einem  und  demselben  Wohngebiet,  ohne  alle  Beihilfe  räumlicher 
Isolierung,  eine  Art  sich  in  zwei  Formen  spalten  kann,  unter  Be- 
dingungen, wo  eine  Kreuzung  mit  der  unveränderten  Form  not- 
wendigerweise fortgesetzt  stattfinden  muß.  Einen  Beweis  dafür 
liefert  der  sexuelle  Dimorphismus  3^) ,  d.  h.  die  verschiedene  Ge- 
staltung der  Männchen  und  Weibchen  einer  und  derselben  Art, 
der  sich  ja  doch  trotz  der  fortwährenden  Kreuzung  der  beiderlei 
Formen  herausgebildet  hat  und  erhält.  So  ist  anzunehmen,  daß 
auch  die  natürliche  Zuchtwahl  durchaus  imstande  ist,  auf  dem- 
selben Wohngebiet  eine  Art  umzuwandeln,  und  aus  der  Palä- 
ontologie konnte  Weis  mann  ein  schönes  Beispiel  anführen,  das 
als  Beleg  für  diese  Auffassung  gelten  kann:  die  mannigfaltige  Um- 
wandlung der  Tellerschnecke  in  dem  beschränkten  Gebiete  des 
kleinen  Steinheimer  Seegrundes  auf  der  Rauhen  Alb. 

An  dieser  Auffassung,  die  für  die  ganze  Frage  nach  der  Be- 
deutung der  räumlichen  Isolierung  für  die  Artbildung  grundlegend 
geworden  ist,  hat  Weismann  festgehalten;  auch  der  33.  Vortrag 
im  zweiten  Bande  der  , .Vorträge  über  Deszendenztheorie",  der  sich 
mit  dem  Problem  befaßt,  geht  von  ihr  aus.  Welche  Wichtigkeit 
der  ganzen  Frage  und  den  sich  anschließenden  über  sonstige  Arten 
der  Isolation  für  die  Beurteilung  der  Darwinschen  Selektions- 
theorie zukommt,  dafür  mag  auf  das  betreffende  Kapitel  in  Plates 

11* 


—      164     — 

vortrefflichem  Handbuch  des  Darwinismus  (Selektionsprinzip  und 
Probleme  der  Artbildung)  verwiesen  werden. 

b)  Selektionswert  der  Anfangs-  und  Steigerungsstufen  der  Abände- 
rungen.   Abänderung  in  kleinen  Schritten. 

Neben  dem  Einwand,  daß  ohne  räumliche  Isolierung  eine 
Weiterzüchtung  einmal  aufgetretener  Varietäten  nicht  möglich  sei, 
ist  einer  der  wichtigsten  von  denen,  die  der  Zuchtwahllehre  ge- 
macht worden  sind,  der,  daß  es  schwer  denkbar  sei,  wie  die  ge- 
ringen individuellen  Abweichungen,  die  nach  Darwin  das  Material 
für  die  natürliche  Züchtung  abgeben  sollen,  ausschlaggebend  im 
Kampfe  ums  Dasein  werden  sollen.  Auch  diese  Frage  nach  dem 
,, Selektionswert  der  Anfangs-  und  Steigerungsstufen"  ist  nicht  durch 
direkte  Beobachtung  zu  beantworten,  volle  Klarheit  über  sie  wäre 
nur  durch  den  genauesten  Einblick  in  die  verwickelten  Lebens- 
bedingungen der  Formen,  in  ihre  Abhängigkeit  von  Klima,  un- 
belebter und  belebter  Umgebung  zu  erlangen.  Dieser  Einblick 
aber  ist  zur  Zeit  noch  recht  lückenhaft.  Bei  der  gewiß  vorhandenen 
Schwierigkeit,  geringen  individuellen  Abänderungen  eine  aus- 
schlaggebende Bedeutung  im  Wettbewerb  der  Individuen  zuzu- 
schreiben, kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  daß  wiederholt  die  An- 
sicht geäußert  worden  ist,  nicht  an  die  geringen  individuellen 
Variationen,  sondern  an  die  hin  und  wieder  plötzlich  auftretenden 
Abänderungen  stärkeren  Grades  sei  die  Umbildung  der  Formen 
geknüpft.  Diese  Abänderimgen  stärkeren  Grades  waren  auch 
Darwin  bekannt  gewesen,  und  einige  Fälle,  in  denen  solche  ,,single 
variations"  oder  ,,sports",  wie  er  sie  nannte,  den  Ausgang  für  die 
künstliche  Züchtung  neuer  Rassen  abgegeben  haben,  sind  auch 
von  ihm  behandelt  worden;  doch  schrieb  er  diesen  ,, sprungartigen" 
Abänderungen  oder  ,, diskontinuierlichen  Variationen",  wie  sie  auch 
bezeichnet  worden  sind,  schon  wegen  der  Seltenheit  ihres  Vor- 
kommens eine  nennenswerte  Bedeutung  für  die  Umbildung  der 
Formen  nicht  zu  und  hielt  daran  fest,  daß  es  die  kleinen  erblichen 
Variationen  sind,  die  für  die  Zuchtwahl  das  nötige  Auslesematerial 
liefern.  Viel  wichtiger  indessen  als  diese  Meinungsverschiedenheit 
ist  eine  andere  daran  anknüpfende:  die  Anschauung,  daß  die  Um- 
wandlung der  Formen  nicht  allmählich  in  kleinen  Schritten,  sondern 
mehr    ,, sprungartig"    vor   sich   gegangen   sei,    ist   verschiedentlich 


-      i65     - 

verbunden  worden  mit  einer  völligen  Ablehnung  der  Selektions- 
theorie und  Ersatz  derselben  durch  Annahme  einer  gesetzmäßigen 
Entwicklung  aus  inneren  Ursachen.  So  geschah  es  von  Kölliker 
in  der  „Theorie  der  heterogenen  Zeugung",  deren  Gnmdgedanke 
der  war,  daß  unter  dem  Einflüsse  eines  allgemeinen  Entwicklungs- 
gesetzes die  Geschöpfe  aus  von  ihnen  gezeugten  Keimen  andere, 
abweichende  hervorbringen'®);  auch  Eduard  von  Hartmann 
trat  für  ähnliche  Vorstellungen  ein. 

Weis  mann  hat  auch  zu  dieser  Frage  sich  vielfach  geäußert, 
zuerst  wohl  1872  in  dem  eben  besprochenen  Aufsatz  über  den  Ein- 
fluß der  Isolierung  auf  die  Artbildung,  dann  1876  in  dem  über  die 
mechanische  Auffassung  der  Natur,  im  zweiten  Bande  der  Studien 
zur  Deszendenztheorie,  und  später  noch  wiederholt,  besonders  in 
den  Vorträgen  über  Deszendenztheorie  sowie  (1909)  in  der  Schrift 
über  die  Selektionstheorie,  die  in  der  Festschrift  der  Universität 
Cambridge  zum  Gedächtnis  Darwins  erschienen  ist.  Gegen  die 
Annahme  einer  gesetzmäßigen  inneren  Entwicklungskraft  hat  er, 
wie  noch  zu  besprechen  sein  wird,  immer  geltend  gemacht,  daß 
dadurch  die  Anpassungen  der  Organismen  an  die  Lebensbedingungen 
nicht  erklärt  werden;  aber  auch  die  ganze  Grundvorstellung  einer 
diskontinuierlichen,  in  größeren  Sprüngen  erfolgten  Entwicklung 
der  Formen  —  bei  gleichzeitiger  Wirksamkeit  der  Naturzüchtung 

—  hat  er  abgelehnt.  Es  ist  ja  auch  von  anderen  Seiten  vieles  da- 
gegen vorgebracht  worden:  vor  allem  die  Erfahrung,  daß  Abweich- 
ungen größeren  Betrages,  die  plötzlich  und  sprungweise  auftreten, 
im  ganzen  recht  selten  sind  und  somit  für  die  Artbildung  schon 
aus  diesem  Grunde  kaum  eine  große  Bedeutung  besitzen  können; 

—  und  die  weitere,  daß  sie  —  z.  B.  bei  Pflanzen  —  sich  in  freier 
Natur  nicht  zu  halten  und  zu  ausdauernden  Lebensformen  zu  werden 
pflegen.  Überall  vielmehr,  wo  ausdauernde  Lebensformen  ent- 
standen sind,  finden  sich  auch  Spuren  einer  allmählichen,  schritt- 
weise erfolgten  Entstehung,  auch  da,  wo  man  anfänglich  eine  sprung- 
hafte vor  sich  zu  sehen  glaubte^').  Eine  solche  allmähliche  Ent- 
stehung unter  Auslese  der  kleinen  nützlichen  Abänderungen  ist 
auch  allein  imstande,  die  Anpassungen  zu  erklären.  Allerdings 
gibt  Weismann  unumwunden  zu,  daß  auch  ein  entschiedener 
Anhänger  der  Selektionstheorie  den  Selektionswert  der  Anfangs- 
und   Steigerungsstufen    nur   annehmen,    aber   in    keinem   einzigen 


—      i66     — 

bestimmten  Falle  beweisen  kann.  Aber  wenn  sich  auch  nicht  nach- 
weisen läßt,  daß  die  unbedeutenden  Abweichungen,  die  wir  als 
individuelle  Variationen  kennen,  wirklich  darüber  zu  entscheiden 
imstande  sind,  wer  untergehen  und  wer  überleben  soll,  so  läßt  sich 
doch  in  genug  Fällen  der  Selektionswert  auch  kleiner  Abweichungen 
sehr  wahrscheinlich  machen;  es  konnte  ferner  auf  Versuche  von 
Cesnola  und  Poulton  hingewiesen  werden,  die  den  Selektionswert 
der  fertigen  Anpassungen  deutlich  zeigten,  und  endlich  ließ  sich 
auf  einem  ganz  verwandten  Gebiete,  dem  der  sexuellen  Züchtung, 
der  Nutzen  auch  kleiner  individueller  Unterschiede  sehr  einleuchtend 
zeigen. 

So  hat  Weismann  durchaus  an  der  Darwinschen  Auf- 
fassung festgehalten:  in  kleinen  Schritten,  auf  dem  Wege  der 
individuellen  erblichen  Variation,  durch  Häufung  kleiner  Ab- 
weichungen, hat  die  Umwandlung  der  Formen  stattgefunden. 
Dagegen  räumt  er  auf  dem  Gebiete  der  sexuellen  Zuchtwahl 
allerdings  den  Spielvariationen  eine  größere  Bedeutung  ein,  wie 
sich  noch  zeigen  wird. 

Variationen  unter  der  Grenze  von  Gut  und  Schlecht. 

Bestimmter  und  eingehender  als  Darwin  hat  aber  Weismann 
einen  Gedanken  verfolgt,  der  bei  seinem  großen  Vorgänger  mehr 
im  Vorübergehen  geäußert  wird:  daß  nämlich  Abänderungen,  die 
selektionswertig  sein  sollen,  nicht  ganz  ,, minimal"  sein  dürfen, 
sondern  einen  gewissen  Betrag  besitzen  müssen,  und  daß  es  auch 
Abänderungen  gibt,  die  ihrer  Quantität  nach  ,,unter  der  Grenze 
von  Gut  und  Schlecht"  liegen,  denen  gegenüber  somit  die  Zuchtwahl 
noch  nicht  Anlaß  hat,  einzuschreiten.  Die  weitere  Verfolgung 
dieses  Gedankens  führte  ihn  dann  dazu,  nach  einer  Kraft  zu  suchen, 
die  auch  solche  minimale  Abänderungen  bis  zum  Selektionswert 
zu  steigern  vermöchte.  Es  war  das  eine  der  Überlegtmgen,  die  ihn 
zur  Aufstellung  der  Lehre  von  der  ,,Germinalselektion"  führten. 
Bei  dieser  werden  wir  jenen  ,, jenseits  von  Gut  und  Schlecht"  ge- 
legenen Merkmalen  wieder  begegnen  ^^). 

c)  FreiwiUig  gewählte  Änderungen  in  den  Lebensbedingungen. 
Divergente  Entwicklung  auf  demselben  Gebiete. 

Aus  den  vielen  Einzelerörterungen  zu  der  Frage  der  Natur- 
züchtung,  die   sich  in   Weismanns    Schriften   finden,    mag   noch 


-      t67      - 

eine  besonders  herausgegriffen  werden,  weil  sie  einen  Punkt  be- 
handelt, der  recht  oft  nicht  genügend  beachtet  wird.  Sie  findet 
sich  in  dem  Aufsatz  ,,über  den  Rückschritt  in  der  Natur" ^^). 

Die  Formel,  daß  die  Umbildung  der  Formen  im  Anschluß 
an  die  Veränderungen  der  Lebensbedingungen  vor  sich  gegangen 
sei,  wird  gewöhnlich  dahin  ausgelegt,  daß  die  Veränderung  der 
Lebensbedingungen  als  das  Primäre,  die  Anpassung  der  Organismen 
an  die  Veränderungen  aber  als  das  Sekundäre  hingestellt  wird: 
die  veränderten  Lebensbedingungen  ,, zwingen"  die  Organismen, 
sich  ihnen  anzupassen,  indem  die  Varietäten,  die  ihnen  genügen, 
erhalten  bleiben,  die  unbrauchbaren  zugrunde  gehen.  Dabei  er- 
scheinen die  Organismen  rein  passiv.  So  liegen  die  Dinge  aber  doch 
wohl  nicht  immer,  wenigstens  nicht  für  die  tierischen  Organismen. 
Weis  mann  hat  wiederholt  darauf  hingewiesen,  daß  die  Natur- 
züchtung sehr  langsam  arbeitet  und  daß  rasch  und  plötzlich  ein- 
setzende Veränderungen  der  Lebensbedingungen  zum  Aussterben 
vieler  Arten  führen,  weil  diese  den  Veränderungen  nicht  so  rasch 
in  ihren  Anpassungen  zu  folgen  vermögen.  Er  hat  aber  auch  (in 
dem  erwähnten  Aufsatz)  sehr  einleuchtend  auseinandergesetzt,  daß 
die  Veränderungen  der  ,, Lebensbedingungen"  von  einer  Art  auch 
gewissermaßen  freiwillig  gesucht  werden  können,  ohne  daß  die 
natürliche  Umgebung  sich  irgendwie  zu  verändern  braucht.  ,,Wenn 
ein  Vogel,  der  bisher  seine  Nahrung  auf  Büschen  und  Bäumen  suchte, 
am  Boden  des  Waldes  so  reichlich  Nahrung  entdeckt,  daß  er  davon 
allein  besser  als  früher  leben  kann,  so  wird  er  sich  jetzt  mehr  und  mehr 
an  das  Leben  auf  dem  Boden  gewöhnen  und  immer  weniger  mehr  auf 
Büsche  und  Bäume  fliegen.  Dadurch  allein  schon  wird  er  unter 
ganz  andere  Lebensbedingungen  versetzt  sein,  als  die  waren,  unter 
denen  er  früher  lebte;  er  wird  nun  das  Fliegen  nicht  mehr  nötig 
haben,  wird  deshalb  zuerst  weniger  als  früher  und  in  späteren 
Generationen  gar  nicht  mehr  fliegen.  Dabei  braucht  sich  der  Wald, 
in  dem  er  lebt,  das  KHma,  die  Tierwelt,  die  ihn  umgibt,  nicht  ge- 
ändert zu  haben,  es  genügt,  daß  er  selbst  eine  neue  Gewohnheit 
angenommen  hat."  Ähnlich  klar  liegen  die  Dinge  bei  der  Ent- 
stehung der  Höhlen-  oder  Tiefseefauna.  Die  Einwanderung  in  diese 
Gebiete  hat  langsam  und  allmählich  von  den  Gebietsgrenzen  aus 
stattgefunden,  und  allmählich  haben  sich  die  Organismen  den  neuen 
Bedingungen  angepaßt.     Wir  können  hinzufügen:   und  auch  hier 


—      i68     — 

wird  die  Einwanderung  nicht  unter  einem  besonderen  Zwange, 
sondern  mehr  freiwilUg,  höchstens  unter  den  allgemeineren  Be- 
dürfnissen nach  Nahrungserwerb,  Schutz  vor  Feinden  usw.  erfolgt 
sein.  Das  Gebiet  stand  offen  für  alle  Formen,  die  in  seiner  Nähe 
lebten,  auf  die  Dauer  benutzbar  war  es  aber  nur  für  die,  deren 
Organisation  dafür  irgendwie  günstige  Einrichtungen  bot.  Die, 
bei  denen  das  nicht  der  Fall  war,  gingen  entweder  wieder  hinaus 
oder,  wenn  das  aus  einem  unglücklichen  Grunde  nicht  möglich  war, 
zugrunde.  Dies  Prinzip  der  freiwillig,  selbst  gewählten  Änderung 
der  Lebensbedingungen  unter  Ausnutzung  der  eigenen  Fähigkeiten 
und  aller  vorhandenen  natürlichen  Möglichkeiten  sollte  meines  Er- 
achtens  viel  mehr  betont  werden,  als  es  geschieht.  Wo  Bäume 
waren,  war  auch  immer  die  Bedingung  zur  Entstehung  von  Kletter- 
und Flugtieren  gegeben,  und  einer  besonderen  Aufforderung, 
davon  Gebrauch  zu  machen,  bedurfte  es  nicht;  wo  Wasser  war, 
lag  fortgesetzt  für  die  Bewohner  der  angrenzenden  Ufer  die  Mög- 
lichkeit zur  Einwanderung  und  allmählichen  Anpassung  vor;  eine 
Verschiebung  der  Land-  und  Wassergrenze  durch  langsames  Vor- 
dringen des  Meeres  veränderte  im  Laufe  langer  Zeiten  die  Lebens- 
bedingungen in  einem  gegebenen  Gebiet,  konnte  aber  für  die  Einzel- 
individuen der  einzelnen  Generationen  nicht  eine  besondere  Auf- 
forderung zum  Einwandern  abgeben.  Man  braucht  sich  die  Or- 
ganismen durchaus  nicht  als  rein  passiv,  als  bloß  ,, geschoben" 
vorzustellen,  —  wie  das  der  Zuchtwahllehre  zum  Vorwurf  gemacht 
worden  ist  —  sondern  kann,  ja  muß  ihrer  eigenen  Betätigung 
(wenigstens  bei  den  Tieren)  eine  größere  Bedeutung  für  die  Umbildung 
zuerkennen,  auch  ohne  dabei  die  Vererbimg  funktioneller  Abände- 
rungen annehmen  zu  müssen^).  Denn  wenn  eine  Form  mit  einer 
selbstgewählten  neuen  Gewohnheit  oder  an  einem  selbstgewählten 
neuen  Aufenthaltsort  Erfolg  hat,  so  setzt  das  eine  gewisse  günstige 
Veranlagung  in  bestimmter  Richtung  voraus,  und  diese  wird  sich 
weiter  vererben  und  steigern  können,  lediglich  nach  dem  Zucht- 
wahlprinzip. An  dem  Tisch  der  Natur  ist  kein  Platz  unbesetzt, 
sind  alle  Existenzbedingungen  ausgenutzt ;  innerhalb  der  Organismen 
andererseits  sehen  wir  denselben  funktionellen  Zweck  auf  die  ver- 
schiedenste Weise,  durch  morphologisch  ganz  verschiedene  Ein- 
richtungen erreicht,  und  sehen  alle  morphologischen  Charaktere 
in  verschiedensten  Graden  der  Entwicklung.  —  kaum  einen,  der 


—      i6o     — 

nicht  irgendeine  Form  in  ganz  exzessiver  Weise  ausgebildet  besäße, 
der  nicht  in  all  seiner  Verwendungsmöglichkeit  ausgenutzt  wäre. 
Diese  unendliche  Mannigfaltigkeit,  diese  Ausnutzung  aller  ge- 
gebenen äußeren  und  inneren,  in  der  Umwelt  wie  in  der  Bildsamkeit 
der  Organismen  gegebenen  Bedingungen  wird  viel  verständlicher, 
wenn  man  die  Organismen  sich  eben  nicht  als  bloß  ,, geschoben" 
vorstellt,  sondern  davon  ausgeht,  daß  auch  sie  das  ihrige  zu  dieser 
Ausnutzung  aller  Bedingungen  getan  haben,  unbewußt,  unter  dem 
allgemeinen  Zwange  von  Hunger  und  Liebe,  und  zwar  schon  ,,bei 
Zeiten",  nicht  erst  dann,  wenn  eine  durchgreifende  Veränderung 
der  Umwelt  die  Bedingungen  ganz  wesentlich  umgestaltete.  Denn 
dann  dürfte  es  gewöhnlich  schon  zu  spät  gewesen  sein^^). 

Abgesehen  von  dem  Vorhandensein  eines  gewissen  Selbst- 
bestimmungsrechtes, wenigstens  bei  den  tierischen  Organismen, 
lehrt  diese  Betrachtung  auch  noch  ein  anderes:  die  Möglichkeit 
zur  Züchtung  neuer  Charaktere  und  damit  zur  Abänderung  einer 
Art,  auch  ohne  daß  die  natürlichen  Verhältnisse  des  Gebietes  tief- 
greifende Veränderungen  erfahren.  Es  ergibt  sich  daraus,  daß  die 
auf  Darwin  zurückzuführende  und  auch  von  Weis  mann  oft 
gebrauchte  Formel  vom  Überleben  des  ,, Passendsten"  nicht  sehr 
glücklich  ist;  der  Superlativ  erweckt  die  Vorstellung,  als  ob  unter 
irgendwo  gegebenen  Bedingungen  stets  nur  eine  ganz  bestimmte 
Organisation  dauerfähig  sei,  während  doch  auch  unter  gleichen  oder 
ähnlichen  Bedingungen  divergente  Entwicklung  auf  Grund  und 
unter  Ausnutzung  ganz  verschiedener  Vorzüge  denkbar  ist  und  wohl 
auch  vielfach  stattgefunden  hat.  Gute  Beispiele  bieten  die  Sinnes- 
organe, die  unter  erschwerten  Funktionsverhältnissen  entweder  auf- 
gegeben oder  bis  zur  höchsten  Leistungsfähigkeit  vervollkommnet 
werden  (Verkümmern  der  Augen  in  Hchtlosen  Grotten,  —  Aus- 
bildung von  Leuchtorganen  an  den  Augen  bei  Tief  Seefischen). 

d)  Die  natürlichen  Beschränkungen  in  der  Wirksamkeit  der  Natur- 
Zuchtungsvorgänge. 

Kehren  wir  zu  Weismann  zurück.  Immer  mehr  befestigte 
sich  diesem  im  Verlaufe  seiner  Beschäftigung  mit  der  Selektions- 
theorie die  Überzeugung,  daß  die  von  Darwin  angenommenen 
Vorgänge  der  natürlichen  Zuchtwahl  nicht  nur  in  den  Erfahrungen 
der  künstlichen  Züchter  eine  feste  Stütze  finden  und  aus  richtigen 


—      lyo     — 

Voraussetzungen  logisch  gefolgert,  sondern  auch  tatsächlich  imstande 
sind,  Umänderungen  der  Formen  mit  gleichzeitiger  Anpassung  an 
die  Lebensbedingungen  zu  bewirken  und  damit  eine  große  Anzahl 
sonst  im  verständlicher  Tatsachen  zu  erklären.  Trat  so  die  Richtig- 
keit des  Prinzipes  immer  mehr  hervor,  so  ergab  sich  auch  unmittel- 
bar die  Frage:  was  können  wir  von  diesen  Vorgängen  der  Natur- 
züchtung, wenn  wir  sie  als  tatsächlich  wirksam  annehmen,  füg- 
lich erwarten?  Und  oft  genug,  vom  ersten  Augenblick  seiner  Be- 
schäftigung mit  dem  Darwinismus  an,  hat  er  darauf  geantwortet: 
gewiß  nicht  alles  und  jedes,  nicht  unbegrenzte  Möglichkeiten;  es 
gibt  für  sie  auch  Beschränkungen  und  Unmöglichkeiten.  Sie  sind 
begründet  in  dem  Wesen  der  Naturzüchtung  selbst,  in  den 
Organismen  und  in  den  Bedingungen  der  Umwelt. 

Beschränkungen,  die  aus  dem  Wesen  der  Naturzüchtung  selbst 

folgen. 

Aus  dem  Wesen  der  Naturzüchtung  selbst,  wie  wir 
es  mit  Darwin  annehmen,  müssen  sich  mehrere  Beschränkungen 
ergeben.  Diesem  ihrem  Wesen  nach  ist  die  Naturzüchtung  nicht 
imstande,  selbst  lebende  Substanz  oder  die  Variationen  derselben 
zu  schaffen;  sie  kann  nur  an  das  Gegebene  anknüpfen,  d.  h.  an 
die  Variationen,  die  ihr  von  den  Organismen  dargeboten  werden, 
und  kann  nur  wirken,  indem  sie  die  ungünstigsten  dieser  Variationen 
verwirft,  ebenso  wie  der  Züchter  die  Träger  nichtgewollter  Merk- 
male von  der  Nachzucht  ausschließt.  Aber  indem  sie  das  eine  ver- 
wirft, erhält  sie  das  andere,  die  nützlichen  Varietäten,  und  macht 
sie  allmählich  zum  Gemeinbesitz  der  Art.  Fußend  auf  den  Er- 
fahrungen der  künstlichen  Züchtung  nimmt  die  Zuchtwahllehre 
aber  auch  an,  daß  durch  die  natürliche  Züchtung  im  Laufe  der 
Generationen  eine  Steigerung  eines  Merkmals  möglich  sei.  Fast 
alle  Teile  der  Hühner  und  Tauben  sind  durch  die  künstliche  Züch- 
tung nachweislich  bis  zum  Exzeß  verändert  worden,  unzählige 
Charaktere  künstlich  gezüchteter  Rassen  zeigen  die  Steigerungs- 
fähigkeit eines  Merkmals  durch  zielbewußt  fortgesetzte  Auslese, 
und  wenn  wir  all  die  zahllosen,  weitgehenden,  im  einzelnen  durch- 
gearbeiteten Anpassungen,  die  wir  an  den  Organismen  sehen,  im 
Darwinschen  Sinne  erklären,  nehmen  wir  auch  eine  Summation 
und   Steigerung  von  anfangs  geringfügigen  Variationen  an.     Auf 


—     I/I 


diese  Weise  schafft  die  Naturzüchtung  Neues.  Aber  frei- 
lich: bei  dem  einzigen  Mittel,  das  ihr  zu  Gebote  steht,  dem  Ausmerzen 
des  Nichtgewollten,  ist  sie  darauf  angewiesen,  daß  eine  andere  Kraft 
ihr  in  die  Hände  arbeitet,  ihr  das  Rohmaterial  liefert,  und  nicht 
nur  immer  wieder  neues,  sondern  auch  das  bereits  als  brauchbar 
Gefundene  in  weiterer  Steigerung.  Also  auch  die  Steigerung  eines 
Merkmals  durch  Naturzüchtung  setzt  das  Walten  noch  einer  anderen 
Kraft  voraus;  Personalselektion  ist  nur  die  große  Baumeisterin, 
die  die  brauchbaren  Steine  auswählt  und  in  neuen  Kombinationen 
zusammenfügt.  Die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  Formen  lehrt, 
wieviel  ,, Neues"  sie  trotzdem  zu  schaffen  vermag. 

Dieses  ihr  Schaffen  aber  braucht  Zeit,  und  darin  liegt  eine 
zweite  Beschränkung,  die  unter  Umständen  einmal  den  Organismen 
verhängnisvoll  werden  kann.  Naturzüchtung  arbeitet  langsam, 
und  so  kann  es  geschehen,  daß  sie  einmal  bei  einem  rasch  vor  sich 
gehenden  Wechsel  in  den  Lebensbedingungen  einer  Form,  wozu 
auch  das  Auftreten  eines  neuen  mächtigen  Feindes,  wie  des  Menschen, 
gehört,  nicht  zu  folgen  vermag  und  damit  diese  Form  dem  Unter- 
gang ausliefert.  Nicht  Starrheit  der  Form,  nicht  Unfähigkeit  zur 
Hervorbringung  und  Fixierung  nützlicher  Abänderungen  war  in 
diesen  Fällen  der  Grund  des  Aussterbens,  sondern  die  Langsam- 
keit des  Zuchtwahlprozesses,  der  die  Umformung  nur  in 
kleinen  Schritten  vornimmt. 

Und  nun  endlich  eine  letzte  Beschränkung,  die  nicht  wie  die 
eben  genannten  nur  in  Ausnahmefällen  in  Kraft  treten  wird,  sondern 
die  Überali,  bei  allen  Zucht wahlprozessen  Geltung  hat,  und  die  sich 
die  Naturzüchtung  selbst  setzt,  da  sie  ganz  besonders  zu  ihrem 
innersten  Wesen  gehört:  die  Relativität  der  Anpassungen. 
Das  innerste  Wesen  der  Naturzüchtung  ist  ja,  daß  sie  die  Einrich- 
tungen der  Organismen  in  Einklang  mit  den  Lebensbedingungen 
zu  bringen  strebt.  Ihr  Ziel  ist  also  ein  durchaus  relatives,  bestimmt 
durch  die  Lebensbedingungen.  Ist  die  Harmonie  mit  diesen  erreicht, 
so  hat  die  Naturzüchtung  ihre  Arbeit  getan,  ganz  gleichgültig, 
ob  das  erlangte  Ergebnis,  vom  menschlichen  Standpunkt  aus  be- 
trachtet, nun  wirklich  als  die  höchste  Steigerung  der  betreffenden 
Entwicklungsrichtung  anzusehen  ist.  Am  deutlichsten  wird  das 
aus  der  Betrachtung  der  verschiedenen  Fälle  von  ,, Nachahmung", 
auf   die  Weis  mann  wiederholt    in    diesem    Zusammenhang    hin- 


—       172       — 

gewiesen  hat.  Die  Blattähnlichkeit  auch  der  blattähnlichsten 
Schmetterlinge  ist  nur  so  groß  als  nötig  ist,  um  die  Vögel  zu  täuschen ; 
darüber  hinaus  kann  Naturzüchtung  nicht  wirken,  da  die  Bevor- 
zugung besserer  Variationen  von  dem  Augenblick  an  aufhört,  wo 
diese  Verbesserungen  nicht  mehr  nötig  sind,  weil  die  Existenz  der 
Art  von  dieser  Seite  her  nicht  mehr  stärker  zu  sichern  ist, 
d.  h.  weil  weitere  Variationen  in  der  bisher  befolgten  Richtung 
keine  Verbesserungen  mehr  sind,  auch  wenn  sie  uns  als  solche  er- 
scheinen mögen.  Das  Wesen  der  Naturzüchtung  steckt  also  der 
Vervollkommnung  der  Organismen  gewisse  Grenzen,  macht  die 
,, Vollkommenheit"  zu  einem  ganz  relativen  Begriffe.  Sehr  schön 
kommt  diese  Auffassung  zur  Geltung  in  dem  wie  ein  Glaubens- 
bekenntnis anmutenden  Ausspruch,  mit  dem  Weismann  einen 
Aufsatz  über  das  Sehen  der  Insekten  (1895)  schließt:  ,,So  finden 
wir  auf  diesem  Gebiete  des  Sehens  wie  auf  allen  anderen  Gebieten 
tierischer  Tätigkeit  immer  wieder  von  Neuem  die  Wahrheit  bestätigt, 
daß  die  Höhe  der  Leistungsfähigkeit  eines  Organs  niemals  größer 
ist,  als  durchaus  notwendig  für  die  Existenzfähigkeit  der  betreffen- 
den Art,  daß  sie  aber  auch  nie  geringer  ist,  daß  also  das  Organ  immer 
genau  so  vortrefflich  ist,  als  es  sein  muß,  damit  alle  Lebenstätig- 
keiten der  Art  erfüllt  und  ausgeübt  werden  können.  Der  Bau  einer 
Art  ist  genau  so  fein  und  so  hoch  ausgebildet,  als  es  sein  muß,  damit 
sie  bestehen  kann.  Und  so  ist  es  in  dem  ganzen  Gebiete  des  Lebens, 
ja  der  ganzen  Natur:  die  Welt  ist  genau  so  vortrefflich,  als  sie  sein 
muß,  damit  sie  Bestand  habe." 

Beschränkungen  der  Naturzuchtung,   die  in  den  Organismen  liegen. 

Eine  zweite  Quelle  für  Beschränkung  der  Naturzüchtung 
liegt  in  den  Organismen  selbst;  —  die  Objekte,  mit  denen 
und  für  die  sie  arbeitet,  bilden  zugleich  eine  Instanz,  von  der  sie 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  abhängig  ist.  Schon  in  seiner  Antritts- 
vorlesung von  1868  hat  Weismann,  wie  wir  bereits  wissen,  ganz 
bestimmt  ausgesprochen,  daß  die  Variabilität  der  Organismen  nicht 
regel-  und  ziellos,  sondern  durch  die  physische  Konstitution  des 
letzteren  gewissen  Beschränkungen  unterworfen  ist,  so  daß  das 
Varietätenmaterial,  an  dem  die  Ausleseprozesse  wirksam  werden 
sollen,  nicht  unbeschränkt,  sondern  für  jede  Form  begrenzt  ist. 
Schon  einmal  wurden  seine  Worte  angeführt:  ,,Es  beruht  auf  ein- 


—     173     — 

seitiger  Übertreibung  der  Darwinschen  Lehre,  wenn  oft  behauptet 
wird,  die  Organismen  könnten  nach  allen  möglichen  Richtungen 
hin  variieren.  Freilich  nach  allen  möglichen,  aber  auch  nur  nach 
den  möglichen,  womit  zugestanden  wird,  daß  es  auch  unmögliche 
gibt."  Aus  einem  Käfer  kann,  wie  es  später  einmal  heißt,  nicht  ein 
neues  Wirbeltier  werden,  nicht  einmal  ein  beliebiges  anderes  Insekt, 
sondern  zunächst  nur  immer  wieder  ein  Käfer,  und  zwar  der  gleichen 
Familie  und  Gattung.  Das  Neue  kann  nur  an  das  schon  Gegebene 
anknüpfen.  Diese  , .physische  Konstitution"  ist  aber  nicht  Ausfluß 
einer  selbständigen  inneren  Bildungskraft,  sondern  das  Ergebnis 
des  historischen  Entwicklungsganges,  den  eine  jede  Form  durch- 
gemacht hat;  in  der  Lehre  von  der  Germinalselektion  fand  sie  und 
die  durch  sie  bedingte  Beschränkung  der  Variationsmöglichkeit 
eine  genauere  Analyse  vom  Standpunkt  der  Determinantentheorie 
aus.  Diese  Beschränkung  der  Variationsmöglichkeit  bedingt  einer- 
seits die  Beibehaltung  bestimmter  Entwicklungsrichtungen  bei  der 
phyletischen  Entwicklung  und  kann  andererseits  unter  Umständen 
auch  einmal  zum  Untergang  einer  Art  führen,  indem  die  gegebenen 
Variationsmöglichkeiten  nicht  genügen,  um  eine  Art  veränderten 
Lebensbedingungen  anzupassen. 

Noch  nach  einer  anderen  Richtung  macht  sich  die  Natur 
der  Organismen  selbst  bei  der  Umwandlung  der  Formen  geltend. 
Alle  Teile  stehen  in  einem  bestimmten  Zusammenhang,  und  keiner 
kann  für  sich  abändern,  ohne  die  Abänderung  eines  anderen  nach 
sich  zu  ziehen.  Das  ist  das  Gesetz  der  Korrelation,  dessen  Be- 
deutung schon  von  Darwin  scharf  hervorgehoben  worden  ist. 
Auch  Weismann  ist  hier  und  da  darauf  zu  sprechen  gekommen 
und  hat  seine  Wichtigkeit  behandelt.  Für  die  natürliche  Auslese 
kann  sich  aus  ihm  eine  gewisse  Beschränkung  ergeben.  Gesetzt, 
dieselbe  richtet  ihr  Augenmerk  auf  die  Steigerung  eines  bestimmten 
nützlichen  Charakters,  so  wird  ja,  dem  Gesetz  der  Korrelation  ent- 
sprechend, auch  irgend  ein  anderer  Charakter  eine  Abänderung  er- 
fahren. Solange  diese  zweite,  begleitende  Abänderung  ihrer  Art 
oder  ihrem  Grade  nach  gleichgültig  ist,  wird  sie  ungestört  vor  sich 
gehen  können,  sowie  sie  aber  nach  irgend  einer  Richtung  schädlich 
wird,  werden  die  betreffenden  Individuen  gegenüber  den  anderen 
benachteiligt  und  ausgemerzt  werden,  und  damit  würde  denn  auch 
die  Steigerung  jener  primären,  nützlichen  Abänderung  zum  Ende 


—      174     — 

gekommen  sein.  Bildlich  ausgedrückt:  die  Naturzüchtung  wird 
zwar  ihr  Hauptaugenmerk  gewöhnlich  auf  ein  bestimmtes  Merkmal 
richten,  muß  dabei  aber  auch  auf  den  ganzen  übrigen  Organismus 
ein  wachsames  Auge  haben,  um  sich  im  gegebenen  Augenblicke 
selbst  ein  Halt  zuzurufen,  eine  Beschränkung  aufzuerlegen. 

Beschränkungen  der  Naturzüchtung,  die  in  den  Verhältnissen  der 

Umwelt  liegen. 

Endlich  kann  aber  auch,  Weismanns  Auffassung  zufolge, 
in  den  Verhältnissen  der  Umwelt  gelegentlich  einmal  das 
Walten  der  Naturzüchtung  eine  Grenze  finden.  Wenigstens  ist  der 
Fall  denkbar,  daß  unter  dem  direkten  Einflüsse  der  äußeren 
Verhältnisse  eine  Art  in  allen  Individuen  so  ungünstig  verändert 
wird,  daß  der  Naturzüchtung,  mangels  günstiger  Variationen,  keine 
Möglichkeit  geboten  ist,  ihr  aufzuhelfen.  Wir  werden  hierauf  noch 
einmal  zurückkommen  müssen  (in  dem  Abschnitt  über  die  Germinal- 
selektion). 

Somit  ist  auch  Weismann  durchaus  der  Ansicht,  daß  die 
Vorgänge  der  Naturzüchtung  ihrer  Natm:  nach  nicht  imstande  sein 
können,  jede  beliebige  Form  in  jeder  beliebigen  Weise  umzubilden, 
jedes  beliebige  Merkmal  bis  zu  jedem  beliebig  hohen  Grade  zu  steigern 
oder  jede  Art  unter  allen  Umständen  zu  erhalten  und  vor  dem  Ver- 
derben zu  schützen.  Die  Naturzüchtung,  als  personifizierte  Kraft 
genommen,  ist  nach  vielen  Richtungen  hin  beschränkt.  Das  be- 
deutet aber  nicht,  daß  die  Naturzüchtungslehre  als  Erklärungs- 
prinzip versage.  Auch  der  Arten t od  bedeutet  nicht  etwa,  wie  gesagt 
worden  ist,  einen  Bankerott  der  Selektionstheorie ;  im  Gegenteil, 
er  findet  gerade  in  ihr,  in  den  von  ihr  angenommenen  Kräften, 
seine  zureichende  Erklärung.  Die  Selektionstheorie  darf  nicht  ver- 
wechselt werden  mit  den  Kräften,  mit  denen  sie  rechnet. 

3.  Leistungfähigkeit  der  Selektionstheorie  für  die  Er- 
klärung der  phyletischen   Entwicklung  der  Organismen. 

a)  Fragestellung. 

Wie  weit  die  Zuchtwahllchre  als  Erklärungsprinzip 
im  Reiche  des  Organischen  Geltung  hat,  wie  weit  also  durch  die  Vor- 
gänge der  Naturzüchtung  die  tatsächlich  zu  beobachtenden  Er- 
scheinungen   der   Lebewesen,    ihr   Bau,    ihre     Lebensäußerungen 


-      175     — 

und  auch  ihre  Geschichte  —  ihr  Aufkommen,  ihre  Entfaltung  und 
ihr  Wiederverschwinden  von  der  Erdoberfläche  —  ihre  Erklärung 
finden,  das  ist  die  zweite  große  Frage,  die  sich  erhebt,  und  die  auch 
Weis  mann  immer  wieder  behandelt  hat.  Reicht  für  das  Verständnis 
jener  Erscheinungen  Naturzüchtung  in  der  Form  der  Personalauslese 
als  Erklärimgsprinzip  aus,  oder  müssen  statt  ihrer  oder  wenigstens 
neben  ihr  andere  Umwandlungsprinzipien  anerkannt  werden,  und 
welche?  Auch  Darwin  hatte  sich  diese  Frage  vorgelegt,  hatte  zur 
Erklärung  einer  ganzen  Anzahl  von  Merkmalen  das  Prinzip  der 
sexuellen  Auslese  neben  das  der  natürlichen  Zuchtwahl  gestellt, 
daneben  die  Vererbung  von  direkten  Mediumwirkungen  und  von 
funktionellen  Abänderungen  angenommen  und  damit  diesen  beiden 
Faktoren  eine  gewisse  Rolle  bei  der  Umwandlung  der  Formen  zu- 
gewiesen, endlich  auch  die  korrelative  Abänderung  bei  der  letzteren 
in  Rechnung  gestellt.  Unter  den  von  anderer  Seite  vertretenen 
Anschauungen  waren  die  wichtigsten  die  Annahme  einer  inneren 
zielstrebig  arbeitenden  Entwicklungskraft,  eines  großen  Gestaltungs- 
gesetzes, demzufolge  sich  die  ganze  Organismenreihe  unter  einem 
inneren  Zwange  entwickelt  habe  und  ebenso  entwickelt  haben  würde, 
auch  wenn  die  äußeren  Bedingungen  ganz  andere  gewesen  wären, 
sowie  Rouxs  Lehre  von  dem  züchtenden  Kampf  der  Teile  im  Or- 
ganismus, die  neben  die  Personalauslese  die  Partialauslese  inner- 
halb des  Organismus  stellte  und  auf  diese  die  inneren  Zweckmäßig- 
keiten der  Organismen  zurückführte.  Mit  diesen  und  anderen  An- 
schauungen galt  es  sich  abzufinden,  und  auch  hierbei  konnte,  da 
der  Vorgang  der  Naturzüchtung  nicht  unmittelbar  zu  beobachten 
ist,  die  Behandlung  immer  nur  darauf  ausgehen,  zu  zeigen,  einmal 
wie  weit  die  gegebenen  Tatsachen  sich  jenem  Erklärungsprinzip 
fügen,  und  ferner,  daß  die  von  anderer  Seite  vertretenen  Prinzipien 
unzulänglich  oder  zum  mindesten  überflüssig  sind. 

b)  Zuchtwahl  oder  inneres  Vervollkommnungsprinzip? 
Nägelis  Theorie  der  direkten  Bewirkung. 

Die  Auffassung,  daß  nicht  Nützlichkeit  und  Zufall,  wie  es  die 
Darwinsche  Theorie  annimmt,  den  Werdegang  der  Organismen 
beherrschten,  sondern  eine  innere  bestimmt  gerichtete  Entwicklungs- 
kraft, ist  vielfach  vertreten  worden.  Sie  spielt  eine  besondere  Rolle 
inderTheorie  der  direktenBewirkung  von  Carl  vonNägeli, 


—      176     — 

dem    genialsten,    bedeutendsten    Forscher,    zu    dem    Weismann 
Stellung  zu  nehmen  hatte,   und  dessen  gedankenreichem  und  in 
klassischer  Einfachheit  und  Klarheit  geschriebenen  Werke  über  die 
Abstammungslehre  (1884)  er  selbst  vielfache  Anregung  verdankte. 
Schon  1865  war  der  berühmte  Münchener  Botaniker  in  grundsätz- 
lich   wichtigen    Punkten    der    Darwinschen    Theorie    gegenüber- 
getreten und  hatte  sich  für  die  Annahme  eines  besonderen  inneren 
Vervollkommnungsprinzipes  ausgesprochen;  in  seinem  großen 
Werke  über  die  mechanische-physiologische  Theorie  der  Abstam- 
mungslehre von  1884  hatte  er  den  gleichen  Gedanken  im  Zusammen- 
hang mit  seiner  Idioplasmatheorie,  der  ersten  im  einzelnen  durch- 
gearbeiteten Vererbungstheorie,  ausführlicher  behandelt.    Ein  scharf 
ausgesprochener   Dualismus   beherrscht   die   Auffassung   Nägelis, 
soweit  sie  sich  auf  die  Entwicklung  der  Organismen  bezieht.     In 
zwei  Gruppen  werden  zunächst  die  Merkmale  derselben  eingeteilt: 
in   Organisationsmerkmale   und  in  Anpassungsmerkmale. 
Die  Organisationsmerkmale,  auch  als  ,,rein  morphologische",  das 
soll   heißen:   biologisch   bedeutungslose,   bezeichnet,   bedingen   das 
Wesentliche  der  Organisation,  auf  ihnen  beruht  die  ganze  Gliede- 
rung   der    Organismen,    in    Arten,    Gattungen,    Familien,    Ord- 
nungen usw.;  die  nützlichen  Anpassungen  bedeuten  an  dem  Ge- 
bäude nur  die  Ausführung  im  einzelnen,  die  ,, Verzierung".     Alle 
Merkmale  sind  der  Ausdruck  einer  bestimmten  Beschaffenheit  des 
Idioplasmas,  das  den  ganzen  Organismus  durchsetzt;  auf  Verände- 
rungen des  Idioplasmas  beruhen  somit  die  erblichen  Veränderungen 
der  Organismen,  beruht  die  Entwicklung  der  organischen  Reiche. 
Die  Ursachen  für  diese  erblichen  Veränderungen  des  Idioplasmas 
sind,  entsprechend  jenen  beiden  Gruppen  von  Merkmalen,  ebenfalls 
zweierlei  Art:  innere  und  äußere.   Die  inneren,  in  der  molekularen 
Zusammensetzung  des  Idioplasmas  beruhend,  sind  die  wichtigeren. 
Sie  bedingen  eine   fortschreitende  gesetzmäßige   Veränderung  des 
Idioplasmas  im  Sinne  einer  mannigfaltigeren  Gliederung  desselben 
und  dementsprechend  eine  stete  Veränderung  der  Organismen  im 
Sinne  einer  zusammengesetzteren  Organisation  und  Funktion.    Mit 
innerer  Notwendigkeit  entstehen  periodisch  neue  ,,Organisations-" 
oder  ,, Vervollkommnungsanlagen"  und  dadurch  auch  eine  stetige 
in    bestimmter    Bahn    fortschreitende    Entwicklung    der    Formen, 
eine  stetige  Vervollkommnung  der  Organisation.    Den  äußeren  Ein- 


—      177     — 

flüssen  bleibt  es  dann  nur  vorbehalten,  die  „Verzierung",  d.  h.  die 
nützlichen  Anpassungen  an  die  Außenwelt  und  damit  die  Mannig- 
faltigkeit und  spezielle  Beschaffenheit  der  Gestaltung  zu  bilden. 
Die  Wirkung  der  Außenwelt  ist  aber  nicht  im  Darwinschen  Sinne 
auf  dem  Umwege  der  Konkurrenz  und  Verdrängung  zu  denken, 
sondern  als  ,, unmittelbares  Bewirken",  in  der  Weise,  daß  unter 
lange  dauernder  —  durch  Generationen  sich  wiederholender  —  Be- 
einflussung durch  äußere  Reize  das  Idioplasma,  das  den  ganzen 
Körper  durchsetzt,  zweckentsprechend  verändert  wird,  und  diese 
primären  Idioplasmaveränderungen  dann  als  nützliche  Anpassungs- 
merkmale an  den  entwickelten  Organismen  bemerkbar  werden. 
Wie  mit  innerer  Notwendigkeit  aus  inneren  Ursachen  in  dem  Idio- 
plasma periodisch  neue  Organisations-  oder  Vervollkomm- 
nungsanlagen entfaltungsfähig  werden,  so  schaffen  die  äußeren 
Einflüsse,  ebenfalls  zwingend,  neue  Anpassungsanlagen,  und 
auf  dem  Zusammenwirken  beider  Kräfte,  des  inneren  Vervollkomm- 
nungsprinzipes  und  der  direkten  Wirkung  der  äußeren  Einflüsse, 
beruht  die  Umwandlung  der  Formen.  Diese  Umwandlung  ist 
also  von  beiden  Seiten  her  eine  ganz  bestimmt  gerichtete 
(,, Theorie  der  direkten  Bewirkung") ;  die  Selektion  erscheint 
dabei  zwar  nicht  ganz  ausgeschaltet,  aber  sie  übt  keinen  richten- 
den, ordnenden  Einfluß  aus,  sondern  kann  höchstens  das  weniger 
Existenzfähige  beseitigen;  auch  ohne  Konkurrenz  würden 
sich  alle  Organismen,  die  wir  jetzt  kennen,  gebildet 
haben. 

Das  sind  grundsätzliche  Unterschiede  gegenüber  der  Anschau- 
ung von  Darwin.  Dieser  hatte,  wie  Plate  es  einmal  ausdrückt, 
,,die  ganze  Evolution  unter  dem  Gesichtswinkel  der  Anpassungen" 
betrachtet *2) ;  für  Nägeli  dagegen  erschienen  die  Anpassungen  nur 
als  Verzierungen,  während  die  viel  bedeutungsvolleren  Organisations- 
merkmale, ihrem  inneren  Ursprung  entsprechend,  sich  gegenüber 
den  äußeren  Verhältnissen  gleichgültig  verhalten  sollten.  Für  Dar- 
win waren  ferner  die  ersten  Abänderungsstufen  der  Organismen 
richtungs-  und  regellos,  und  erst  die  äußeren  Einflüsse  trafen  aus 
ihnen  die  Auswahl  und  bestimmten  damit  die  Richtung  der  Ent- 
wicklung; für  Nägeli  war  die  Entwicklung  von  vornherein  bestimmt 
gerichtet.  In  bezug  auf  die  Ursachen  der  Umbildung  besteht  eine 
gewisse  Fühlung  zwischen  Nägeli  und  Lamarck,  der  auch  ein 

Oaupp.    Biograpliie  Weisiuaiins.  12 


-      178     - 

inneres  Umwandlungsprinzip  und  die  äußeren  Einflüsse  in  diesem 
Sinne  in  Anspruch  genommen  hat,  doch  tritt  bei  Nägeli  jenes 
innere  von  Darwin  ganz  abgelehnte  Prinzip,  der  innere  Vervoll- 
kommnungstrieb, viel  beherrschender  in  den  Vordergrund. 

In  den  Bahnen  Nägelis  wandelten  viele  Forscher,  teils  be- 
wußt, teils  unbewußt.  Mit  Bestimmtheit  vertrat  Kölliker  die 
Auflassung,  daß  der  Entstehung  der  gesamten  organischen  Natur 
ein  großer  Entwicklungsplan,  mit  anderen  Worten,  allgemeine 
Naturgesetze  zugrunde  liegen,  daß  bei  der  Umbildung  der  Formen 
nicht  der  Gesichtspimkt  der  Nützlichkeit,  gewissermaßen  von  Fall 
zu  Fall,  die  Entscheidung  über  die  Art  und  Richtung  getroffen, 
sondern  daß  sich  diese  Umbildung  mit  derselben  Gesetzmäßigkeit 
vollzogen  habe,  wie  die  Entwicklimg  des  Eies.  Askenasy  und  der 
Phüosoph  Eduard  von  Hartmann  äußerten  ähnliche  Auf- 
fassungen, deren  weite  Verbreitung  im  übrigen  auch  aus  der  Fassimg, 
in  der  die  ,, Darwinsche"  Theorie  oft  dargestellt  wird,  erhellt. 
Paßt  die  oft  gehörte  Formel,  daß  bei  der  Umbildung  der  Organismen 
zwei  Prinzipien  wirksam  gewesen  seien,  ein  konservatives,  die  Ver- 
erbung, und  ein  fortschrittliches,  die  Anpassung,  nicht  eigentlich 
viel  besser  auf  die  Nägelische  Vorstellung,  als  auf  die  Darwinsche  ? 
Von  dieser  aus  müßten  als  Umwandlungsprinzipien  genannt  werden : 
Anpassung  —  vor  allem  auf  Grund  erblicher  zunächst  richtungsloser 
Variationen,  zum  kleineren  Teil  auf  Grund  direkter  Medium- 
wirkungen und  funktioneller  Veränderungen  — ,  Vererbung  dieser 
Anpassimgen  imd  Hinzukommen  neuer.  Die  ganze  Organisation 
ist  nach  Darwin  Anpassung. 

Die  Organismen  als  Anpassungskomplexe. 

Der  Frage,  wie  weit  ein  innerer  Vervollkommnungstrieb  —  eine 
phyletische  Lebenskraft,  wie  Weismann  zu  sagen  vorschlägt  —  die 
Umbildung  der  Organismen  bestimmt  habe,  sind  die  ersten  de- 
szendenztheoretischen Arbeiten  des  jungen  Freibiuger  Forschers 
gewidmet.  Schon  die  Antrittsrede  von  1868  steht  das  Problem  scharf 
und  bestimmt  hin:  „Es  wäre  denkbar,  daß  den  Organismen  eine 
Kraft  innewohne,  mittelst  welcher  sie  im  Laufe  zahlreicher  Gene- 
rationen ihre  Gestalt  änderten  und  sich  zu  einer  neuen  Art  tun- 
wandelten.  Es  müßte  dann  mit  Notwendigkeit  aus  einer  bestimmten 
Art  nach  Ablauf  einer  gewissen  Zeit  eine  oder  mehrere  neue,  eben- 


—      179     — 

falls  ganz  fest  bestimmte  Arten  hervorgehen,  und  das  gesamte 
Tier-  und  Pflanzenreich  müßte  mit  Notwendigkeit  sich  gerade  zu 
der  Gestalt  aus  den  niedersten  Organismen  entwickelt  haben,  in 
welcher  es  uns  faktisch  entgegentritt;  die  Organismenwelt  hätte 
so  wenig  anders  ausfallen  können,  als  aus  dem  Ei  einer  Taube  etwas 
anderes  kommen  kann  als  eine  Taube!"  Aber  sofort  folgt  auch  die 
Antwort:  ,,Eine  solche  Vorstellung  ist  unstatthaft,  da  sie  im  Wider- 
spruch mit  Tatsachen  steht.  Der  Mensch  vermag  nach  seiner  Will- 
kür diurch  künstliche  Züchtung  neue  Rassen  hervorzubringen,  mit 
anderen  Worten:  er  vermag  die  Organismenwelt  umzu- 
gestalten, wenn  auch  nur  innerhalb  enger  Grenzen;  dies  könnte 
aber  nicht  der  Fall  sein,  wenn  nur  diese  organische  Welt  möglich 
gewesen  wäre,  die  wir  tatsächlich  beobachten!  Ohnehin  ist  es  nicht 
erlaubt,  eine  unbekannte  Kraft  anzunehmen,  wo  wir  mit  den  be- 
kannten Kräften  zur  Erklärung  der  Erscheinimgen  ausreichen 
oder  doch  hoffen  dürfen,  nach  weiteren  Forschimgen  einst  auszu- 
reichen." 

Daß  tmter  diesen  ,, bekannten  Kräften"  vor  allem  die  Faktoren 
der  Selektionsvorgänge  zu  verstehen  sind,  lehren  die  Arbeiten  der 
nächsten  Jahre,  die  immer  wieder  daraiif  hinzielen,  die  allerver- 
schiedensten  Einrichtungen  und  Lebenserscheinungen  der  Organismen 
als  nützliche  ,, Anpassungen"  verständlich  zu  machen.  Denn  diese 
Vorfrage  war  allerdings  zuerst  zu  erledigen:  sind  in  der  Tat,  wie 
Nägeli  meinte,  die  wichtigsten  Merkmale  der  Organismen,  die  die 
Höhe  der  Organisation  bestimmen,  biologisch  bedeutungslos,  rein 
morphologisch,  oder  sind  sie  nützliche  Einrichtungen?  Niu"  in 
letzterem  Falle  konnte  die  Erklärung  durch  das  Selektionsprinzip 
für  sie  in  Anwendung  kommen. 

Die  hier  vorliegende  Aufgabe  entsprach  der  angeborenen  Be- 
gabung Weismanns  zur  denkenden  Naturbeobachtung,  seiner 
Freude  an  den  Organismen  und  ihren  Lebensäußerungen,  die  ihn 
von  Jugend  auf  beseelt  hatte.  Aber  an  die  Stelle  der  naiven  Freude 
des  Knaben,  der  Pflanzen,  Käfer,  Schmetterlinge  gesammelt  und 
Raupen  gezüchtet  hatte,  trat  nun  die  überlegende  Betrachtung  des 
gereiften  Mannes,  der  nach  Sinn  und  Zweck  der  Einrichtungen  der 
Lebewesen  fragte.  Ihm  erschloß  sich  die  Erkenntnis,  die  bestimmend 
wurde  für  seine  Stellimgnahme  gegenüber  dem  Darwinismus:  die 
Überzeugung   von   der   tatsächlich   vorhandenen,   bis   ins   kleinste 

12* 


—     i8o     — 

gehenden  Zweckmäßigkeit  der  Organismen,  ihrer  genauesten  An- 
passung an  die  Lebensbedingungen.  Er  hat  selbst  oft  hervorgehoben, 
daß  gerade  dem  die  Natur  beobachtenden  Zoologen  diese  Anpassungen 
viel  richtiger  und  bedeutungsvoller  erscheinen  müssen,  als  dem 
Botaniker,  da  die  Anpassungen  der  Pflanzen  nicht  so  leicht  erkenn- 
bar sind,  und  hat  darauf  vor  allem  es  zurückgeführt,  daß  er  in  dieser 
Frage  zu  einer  ganz  anderen  Auffassung  gelangte  als  Nägeli*^). 
Die  vier  Abhandlungen  des  zweiten  Bandes  der  ,, Studien  zur  De- 
szendenztheorie" vom  Jahre  1876  sind  der  Erörterung  der  Frage 
nach  dem  Vorhandensein  einer  phyletischen Lebenskraft  gewidmet; 
wir  sahen  schon,  daß  das  Ergebnis  dieser  Prüfung  durchaus  negativ 
war.  Die  Zeichnungen  der  Sphingidenraupen  ließen  sich  als  An- 
passungen nach  dem  Selektionsprinzip  erklären;  ebenso  führte  die 
Betrachtung  der  selbständigen  Abänderungen  von  Raupen  und 
Schmetterlingen  sowie  die  der  Verwandlung  des  mexikanischen 
Axolotl  zu  der  Ablehnung  einer  solchen  inneren  Entwicklungskraft. 
Weitere  bedeutungsvolle  Prüfungen  der  Leistungsfähigkeit  des 
Selektionsprinzipes  an  zwei  ganz  verschiedenartigen  Gruppen  von 
Erscheinungen  folgten  wenige  Jahre  später:  1880  konnte  Weis- 
mann zeigen,  daß  die  eigentümlichen  Verschiedenheiten  in  den  Fort- 
pflanzungserscheinungen der  Daphnoiden  sich  als  Anpassimgen  an 
die  Lebensbedingungen  verstehen  lassen,  und  die  Untersuchungen 
über  die  Dauer  des  Lebens  und  über  Leben  und  Tod  lehrten  ebenso 
die  Lebensdauer  der  Arten  wie  den  natürlichen  Tod  unter  dem  gleichen 
Gesichtspunkt  betrachten.  So  kam  auch  Weis  mann  dazu,  als 
konsequenter  Jünger  Darwins  ,,die  ganze  Evolution  unter  dem 
Gesichtswinkel  der  Anpassungen"  zu  betrachten  und  —  ebenfalls 
in  Übereinstimmung  mit  Darwin  —  als  rein  morphologisch,  bio- 
logisch bedeutimgslos  nur  wenige  Merkmale  gelten  zu  lassen.  Ab- 
gelehnt hat  er  das  Vorhandensein  solcher  durchaus  nicht  —  schon 
der  Vortrag  von  1868  rechnet  mit  ihnen  und  sucht  sie  zu  erklären, 
in  den  ,, Studien  zur  Deszendenztheorie"  spielen  sie  eine  große  Rolle, 
tmd  in  der  „Germinalselektion"  gab  er  später  eine  Erklärung  für 
sie  vom  Boden  der  Determinantentheorie  aus  —  aber  er  hat  doch 
wie  Darwin  zur  Vorsicht  gemahnt  und  davor  gewarnt,  eine  bio- 
logische Bedeutung,  eine  Zweckmäßigkeit  überall  da  zu  leugnen, 
wo  sie  bisher  nicht  bekannt  ist.  Mit  Recht  konnte  er  darauf  hin- 
weisen,  wie   durch   die   fortschreitende   Forschimg   immer   wieder 


—     löl     — 


nicht  nur  auf  tierischem,  sondern  auch  auf  dem  in  dieser  Hinsicht 
schwierigeren  pflanzHchen  Gebiete  Merkmale,  die  man  früher  als 
bedeutungslos  betrachtete,  als  wichtig  erkannt  und  aus  der  Reihe 
der  ,,rein  morphologischen"  Merkmale  in  die  der  ,, Anpassungen" 
versetzt  wurden.  Alle  Formen,  das  ist  seine  oft  ausgesprochene 
Überzeugung,  sind  in  erster  Linie  Komplexe  von  Anpassungen, 
und  auch  die  meisten  sogenannten  Organisationsmerkmale 
müssen  als  Anpassungen  entstanden  gedacht  werden.  Freilich  darf 
man  —  eine  gewiß  sehr  beherzigenswerte  Warnung  —  nicht  nur 
das  als  Anpassung  gelten  lassen,  was  bei  der  Art,  die  man  gerade 
ins  Auge  faßt,  neu  erworben  wurde.  Denn  wir  setzen  doch  eine 
Entwicklung  voraus;  die  Anpassungen  von  heute  vollziehen  sich 
unter  Beibehaltung  einer  gegebenen  Grundlage,  die  aber  ihrerseits 
einmal  als  Anpassung  sich  ausbildete:  sie  schließen  sich  an  die  An- 
passungen von  gestern  und  von  der  Urzeit  her  an.  Die  Bedeutung 
dieser  alten  Anpassungen  würde  bei  den  Formen  zu  prüfen  sein, 
bei  denen  sie  zum  ersten  Male  auftraten.  Hier  harrt  noch  ein 
großes  Arbeitsgebiet  der  systematischen  Inangriffnahme.  Von 
vielen,  an  sich  längst  bekannten  und  in  allen  Lehrbüchern  auf- 
geführten Merkmalen  wissen  wir  noch  nicht,  welche  biologische 
Bedeutung  ihnen  zukommt,  aber  es  hat  sich  auch  noch  niemand 
die  Mühe  genommen,  ernstlich  darnach  zu  fragen  und  unter  Berück- 
sichtigung des  von  Weismann  so  klar  hervorgehobenen  historischen 
Gesichtspunktes  darnach  zu  forschen.  Daß  ein  Fortschritt  auf  diesem 
Gebiete  vor  allem  von  der  liebevollen  Versenkung  in  die  Lebens- 
erscheinungen kleinerer  Gruppen  von  Organismen  und  ihre  Be- 
ziehungen zur  belebten  und  unbelebten  Umwelt  zu  erwarten  sein 
wird,  ist  ein  Gedanke,  dem  Weismann  besonders  in  dem  Vorwort 
zu  der  ,, Internationalen  Revue  der  gesamten  Hydrobiologie  und 
Hydrographie"  Ausdruck  gegeben  hat,  und  aus  dem  er  eine  wichtige 
Aufgabe  der  hydrobiologischen  Forschung  herleitet. 

Diesen  Standpunkt  immer  wieder  zu  begründen,  ist  Weis- 
mann nicht  müde  geworden,  und  seine  ungewöhnlich  ausgedehnte 
Erfahrung  und  Kenntnis  von  Einzeltatsachen  setzten  ihn  in  den 
Stand,  immer  neue  Beispiele  zu  seinen  Gunsten  anzuführen.  Welche 
Fülle  von  Stoff  ist  in  dieser  Hinsicht  in  den  Vorträgen  über  De- 
szendenztheorie zusammengetragen,  nicht  nur  aus  dem  Gebiete  der 
Zoologie,  sondern  auch  aus  dem  der  Botanik,  dem  ja  Weismann 


—        l82       — 

ebenfalls  von  Jugend  auf  seine  Neigung  zugewandt  hatte.  Die 
mannigfachen  mechanischen  und  chemischen  Schutzvorrichtungen 
der  Pflanzen  gegen  große  und  kleine  Tiere,  die  wunderbaren  An- 
passungen der  fleischfressenden  Pflanzen,  —  die  Einrichtungen 
zur  Bestäubung  der  Blumen,  die  gegenseitigen  Anpassungen 
zwischen  diesen  und  den  Insekten,  Einrichtungen  so  zweckmäßiger 
Natur,  daß  sich  der  Ausspruch  rechtfertigt,  die  Pflanzen  seien  aus 
lauter  Anpassungen  entstanden  und  zusammengesetzt,  —  dann 
weiter  die  Instinkte  der  Tiere,  die  mancherlei  Färbungen  und  Zeich- 
nungen derselben,  die  als  ,, sympathische"  Färbungen  das  Tier  mit 
seiner  Umgebung  in  Einklang  bringen,  oder  als  Schreckmittel 
wirken,  und  unter  ihnen  wieder  besonders  die  schützenden  nach- 
ahmenden Färbungen:  die  Blattschmetterlinge  und  Blattheu- 
schrecken, die  Spannerraupen,  die  wie  kleine  Zweigchen  aussehen, 
und  vor  allem  die  echten  Mimikrifälle:  die  Beispiele  von  Nach- 
ahmung einer  durch  ihren  widrigen  Geschmack  geschützten  Tier- 
form durch  eine  andere  —  es  ist  ein  reiches  Gebiet  von  Tatsachen, 
bei  denen  der  Charakter  der  zweckmäßigen  Anpassungen  teils  ohne 
weiteres  in  die  Augen  springt,  teils  der  genaueren  Forschung  sich 
erschlossen  hat.  Sie  konnten  wohl  zu  der  Auffassung  führen,  daß 
auch  die  sogenannten  ,, Organisationsmerkmale"  der  Arten,  Gat- 
tungen, Familien,  Ordnimgen,  Klassen  ursprünglich  adaptive 
Bedeutung  hatten,  wenn  sich  dieselbe  auch  jetzt  nicht  mehr  immer 
erkennen  läßt.  Und  doch  gibt  es  unter  den  Tieren  Gruppen,  bei 
denen  auch  das  ganz  gut  möglich  ist.  Ein  Lieblingsbeispiel  dieser 
Art,  auf  das  Weismann  oft  zurückgekommen  ist,  bilden  die  Wale: 
in  ihrem  Organismus  ist  alles,  was  als  charakteristisch  für  die  Ord- 
nung gilt,  als  Anpassung  an  das  Wasserleben  aufzufassen,  und  nach 
Wegnahme  dieser  Anpassungen  bleibt  überhaupt  nur  das  allgemeine 
Schema  des  Säugetieres  übrig.  Aber  auch  die  Vögel,  die  Fleder- 
mäuse und  die  verschiedenen  Familien  der  parasitischen  Krebse 
sind  solche  Gruppen,  deren  Hauptcharaktere  als  Anpassungen  er- 
kennbar sind. 

Wenn  aber  die  Organismen  in  erster  Linie  Anpassungskomplexe 
sind,  —  kann  dann  noch  der  Glaube  an  ein  inneres  Vervollkomm- 
nungsprinzip, an  eine  phyletische  Lebenskraft,  die  ganz  gesetz- 
mäßig die  einzelnen  Formen  auseinander  hervorbrachte,  aufrecht 
erhalten  werden?    Wohl  kaum.    Auch  Nägeli  hatte  die  Schaffung 


-      183     - 

von  Anpassungen  seinem  „Vervollkommnungsprinzip"  nicht  zu- 
geschrieben, und  in  der  Tat  wäre  es  schwer,  sie  auf  ein  solches 
zurückzuführen.  Denn  Anpassungen,  so  folgert  Weismann,  sind 
Veränderungen,  die  den  Organismus  in  Übereinstimmung  mit  den 
Lebensbedingungen  setzen;  es  handelt  sich  also  nicht  darum,  zu 
erklären,  wie  es  kommt,  daß  überhaupt  die  Arten  sich  von  Zeit 
zu  Zeit  umwandeln,  sondern  es  ist  zu  erklären,  daß  sie  sich  gerade 
in  der  Weise  umwandeln,  wie  es  für  die  Bedingungen,  unter  denen 
sie  zu  existieren  haben,  zweckmäßig  ist.  Unter  Hinweis  auf  die 
Wale,  deren  eben  gedacht  wurde,  wird  die  Frage  gestellt:  gesetzt 
auch,  man  ließe  die  Annahme  gelten,  daß  die  charakteristischen 
Eigenschaften  eines  Organismus  alle  durch  eine  innere  Entwick- 
lungskraft ins  Dasein  gerufen  seien,  wie  solle  man  es  verstehen, 
daß  ein  nur  für  ganz  bestimmte  Lebensbedingungen  berechneter 
und  unter  anderen  Bedingungen  gar  nicht  existenzfähiger  Organis- 
mus gerade  an  der  Stelle  der  Erde  auftrat  und  zu  der  Zeit  der 
Erdentwicklung,  welche  die  geeigneten  Existenzbedingungen  dar- 
bot? Die  Anhänger  einer  inneren  Entwicklungskraft  sind,  nach 
Weismanns  Ansicht,  genötigt,  eine  Hilfspypothese  anzunehmen: 
eine  Art  von  prästabilierter  Harmonie  im  Sinne  von  Leibniz,  die 
es  mit  sich  bringt,  daß  die  Veränderungen  in  der  Organismenwelt 
Schritt  für  Schritt  parallel  gehen  mit  den  Veränderungen  der  Erd- 
rinde und  der  Lebensbedingungen  auf  ihr.  Und  selbst  das  würde 
noch  nicht  genügen,  weil  nicht  bloß  die  Zeit,  sondern  auch  der  Ort 
in  Betracht  kommt,  und  weil  es  einem  Wal  nichts  nützt,  wenn  er 
auf  dem  Trocknen  entsteht.  Es  gibt  sogar  unzählige  Fälle,  wo  ein 
Organismus  ausschließlich  einem  ganz  bestimmten  Fleckchen  der 
Erde  genau  angepaßt  ist  und  nirgends  anders  gedeihen  könnte, 
so  besonders  die  zahlreichen  Fälle  von  Nachäffung,  in  denen  ein 
Insekt  ein  anderes,  das  durch  einen  schlechten  Geschmack  geschützt 
ist,  kopiert,  oder  ein  Blatt,  eine  bestimmte  Baumrinde  nachahmt. 
Das  läßt  sich  nicht  durch  eine  innere  zielstrebige  Umwandlungskraft 
erklären.  Und  wie  passen  zu  der  Annahme  eines  nach  aufwärts 
drängenden  Entwicklungsprinzipes  die  Fälle  von  Rückbildung  von 
Organen,  wie  sie  im  größten  Umfang  bei  schmarotzenden  Formen 
zu  beobachten  sind!  Dem  Darwinschen  Erklärungsprinzip  fügen 
sich  dagegen  auch  diese  Erscheinungen  ohne  jeden  Zwang.  Sie 
zeigen,   wie   Weismann  es  einmal  in  einem  besonderen  Aufsatz 


—     184    — 

über  den  Rückschritt  in  der  Natur  (1886)  ausdrückt,  die  Kehr- 
seite der  Naturzüchtung,  zeigen,  daß  im  Interesse  des  ganzen 
Tieres  und  seiner  Anpassung  an  gegebene  Lebensbedingungen 
einzelne  Organe  unter  Umständen  sich  rückbilden  müssen,  weil 
ihnen  unter  diesen  Bedingungen  keine  Aufgabe  zu  erfüllen  bleibt. 
Durch  Beseitigung  des  entbehrlichen  Organes  wird  das  volle  Gleich- 
gewicht zwischen  dem  Bau  des  Körpers  und  seinen  Leistungen  wieder 
hergestellt,  —  der  Rückschritt  ist  ein  Teil  des  Fortschrittes. 

Auch  noch  eine  andere  Erscheinung  wird  gerade  vom  Stand- 
punkt des  Selektionsprinzipes  aus  erst  recht  verständlich :  die  schein- 
bare Unvollkommenheit  mancher  Einrichtungen  und  Merkmale, 
die  schon  oben  unter  den  Beschränkungen  der  Naturzüchtungs- 
vorgänge erwähnt  wurde.  Die  Zeichnungen  der  Sphingidenraupen, 
die  Weismann  genauer  untersuchte,  zeigen  ja,  genau  betrachtet, 
außerordentlich  unvollkommene  Ähnlichkeit  mit  Blattzeich- 
nungen, aber  sie  genügen,  um  die  Tiere  inmitten  der  Blätter  leichter 
zu  verstecken,  für  spähende  Feindesaugen  schwer  erkennbar  zu 
machen;  ebenso  fehlt  auch  den  schönsten  Blattschmetterlingen, 
wie  der  Kailima,  zur  wirklichen  Kopie  eines  Blattes  noch  sehr  viel, 
aber  gerade  darin  liegt  eben  ein  Beweis  für  den  Ursprung  dieser 
Zeichnungen  aus  Selektionsprozessen,  ,,denn  nicht  ein  botanisch 
genaues  Bild  des  Blattes  konnte  auf  diese  Weise  entstehen,  sondern 
nur  eine  Fixiertmg  solcher  Einzelheiten,  welche  die  Täuschung  er- 
höhten" **) .  Der  auslesende  Faktor  war  eben  nicht  der  Naturforscher, 
der  Blatt  und  Schmetterling  nebeneinander  vor  sich  legt  und  ver- 
gleicht, sondern  das  Auge  des  Vogels,  der  im  Fluge  sich  schwerlich 
jedes  ihm  als  Blatt  erscheinende  Gebilde  ganz  genau  darauf  ansehen 
wird,  ob  es  auch  wirklich  ganz  genau  geformt  und  gezeichnet  ist. 
Und  so  ist  es  auch  mit  den  echten  mimetischen  Anpassungen:  sie 
genügen  gerade  zur  Täuschung  des  Feindes.  Aber  auch  sonst  lehrt 
eine  genaue  Betrachtung  der  Organismen  und  ihrer  Einrichtungen 
immer  wieder  eine  nur  ,, relative  Vollkommenheit"  derselben.  Das 
ist  ohne  weiteres  verständlich,  wenn  man  sie  auf  Selektionsprozesse 
bezieht:  der  Natur  der  sie  bewirkenden  Ursachen  nach  können 
sie  nur  relativ  vollkommen  sein,  weil  die  Naturzüchtimg,  wie  wir 
schon  sahen,  nur  so  lange  wirkt,  als  eine  weitere  Verbesserung  des 
betreffenden  Charakters  noch  von  Vorteil  für  die  Existenz  der 
Art    ist.      Gerade    diese    Unvollkommenheiten    der    Anpassungen 


-      i85      - 

sprechen  dafür,    daß   die   letzteren   durch    Selektionsprozesse   ent- 
standen sind. 

Regeneration  als  Anpassungserscheinung. 

Als  Anpassungen,  die  durch  Naturzüchtung  ausgebildet 
worden  sind,  nimmt  Weismann  auch  die  Erscheinungen  der  Re- 
generation in  Anspruch.  Schon  1892  in  dem  Werke  über  das 
Keimplasma  findet  sich  diese  Auffassung  entwickelt,  die  dann  1899 
noch  in  einem  besonderen  Aufsatz  verteidigt  und  in  den  ,, Vorträgen" 
behandelt  ist.  Die  theoretischen  Erörterungen  erfahren  eine  Er- 
gänzung durch  Versuche,  die  sich  auf  die  Regeneration  innerer 
Organe  bei  Tritonen  beziehen  und  außer  an  den  genannten  Stellen 
noch  in  einer  kurzen  selbständigen  Mitteilung  von  1903  besprochen 
worden  sind.  Nach  Weismanns  Auffassung  ist  das  Regenerations- 
vermögen nicht  eine  primäre  Eigenschaft  der  lebenden  Substanz, 
sondern  eine  erst  nachträglich  geschaffene  ,, Einrichtung",  eine  An- 
passung des  Organismus  an  bestimmte  Forderungen  der  Lebens- 
bedingungen. Das  wird  gefolgert  aus  den  Verschiedenheiten  des 
Regenerationsvermögens  bei  den  einzelnen  Tierformen  und  den 
einzelnen  Organen.  Die  beiden  Bedingungen,  die  den  züchtenden 
Einfluß  ausgeübt  haben,  sind  die  Verlusthäufigkeit  und  die  Höhe 
des  Verlustschadens,  der  sich  aus  der  biologischen  Bedeutung  der 
Organe  ergibt.  Das  heißt:  Regenerationsfähigkeit  ist  bei  solchen 
Teilen  eingerichtet  oder  beibehalten,  die  von  häufigerem  Verluste 
bedroht  und  für  das  Tier  von  wichtiger  biologischer  Bedeutung  sind. 
Eine  ganze  Anzahl  von  Beispielen,  die  Weismann  gesammelt 
hat,  konnte  im  Sinne  dieser  Betrachtungsweise  gedeutet  werden. 
So  regenerieren  sich  die  Beine  der  Tritonen  sehr  rasch  und  sogar 
zu  wiederholten  Malen,  wenn  sie  abgeschnitten  werden,  während 
die  Beine  des  01m  erst  nach  ii/4  Jahren  wiedergebildet  werden. 
Aber  diese  sind  auch  normalerweise  schwach,  rudimentär,  und  zu- 
dem lebt  der  01m  geschützt  vor  Gefahren  in  dunklen  Höhlen,  während 
die  Tritonen  viel  mehr  auf  ihre  kräftigen  Beine  angewiesen  und  dazu 
viel  mehr  Gefahren  ausgesetzt  sind.  Bei  Vögeln,  deren  Regene- 
rationsvermögen sehr  gering  ist,  regeneriert  sich  doch  die  Schnabel- 
spitze, die  bei  den  Kämpfen,  namentlich  der  Männchen,  häufig 
abgebrochen  wird.  Eigene  und  von  Schülern  Weismanns  an- 
gestellte Versuche  zeigten  ferner,  daß  innere  Teile   (Lungen,   Ei- 


—      i86     — 

und  Samenleiter)  bei  Tritonen  nicht  regeneriert  werden,  —  auch 
das  konnte  in  dem  Sinne  gedeutet  werden,  daß  dieselben  in  der  Natur 
keinen  häufigeren  Verletzungen  ausgesetzt  sind  und  daß  somit 
bei  ihnen  das  Regenerationsvermögen  nicht  angezüchtet  wurde. 
Die  substantielle  Grundlage  der  Regenerationserscheinungen  sieht 
Weismann,  wie  schon  erwähnt  wurde,  in  einem  Nebenidioplasma 
mit  Ersatz-  oder  Regenerationsdeterminanten,  das  vom  Keimplasma 
stammend,  bestimmten  Zellen  beigegeben  ist,  in  den  Kernen  der- 
selben in  inaktivem  Zustand  verharrt,  um  unter  gewissen  Umständen 
aktiv  zu  werden  und  den  Teil,  den  es  bestimmt,  von  neuem  hervor- 
zubringen. — 

Die  Auffassung,  daß  die  Größe  des  Regenerationsvermögens 
in  einem  direkten  Verhältnis  zu  der  Verletzlichkeit  der  Teile  stehe, 
war  nicht  neu,  sondern  ist  schon  früher,  bereits  im  i8.  Jahrhundert 
(von  R6aumur,  Bonnet),  ausgesprochen  worden,  doch  erst  Weis- 
mann hat  den  Gedanken  konsequent  durchgeführt  und  im  weiteren 
Verfolg  die  Regenerationserscheinungen  der  Selektionstheorie  unter- 
geordnet. Von  vielen  Seiten  hat  er  darin  Zustimmung  erfahren; 
groß  aber  freilich  ist  auch  die  Zahl  derer,  die  sich  dagegen  ausge- 
sprochen haben,  und  in  der  Tat  fügen  sich  viele  Tatsachen  der 
Weismann  sehen  Betrachtungsweise  nicht.  So  ist  sie  gerade  von 
den  Forschern,  die  auf  dem  Gebiete  der  Regenerationserscheinungen 
speziell  gearbeitet  haben,  als  unbefriedigend  abgelehnt  worden, 
wenigstens  soweit  es  sich  um  die  Auffassung  handelt,  daß  das  Re- 
generationsvermögen überhaupt  erst  sekundär  angezüchtet  worden 
sei.  Doch  läßt  sich  ein  vermittelnder  Standpunkt  verteidigen, 
nach  dem  die  Regeneration  an  sich  eine  Fundamentalerscheinung 
der  Organismen  darstellt,  aber  durch  Zuchtwahlprozesse  vielfach 
beeinflußt  worden  ist,  teils  im  Sinne  einer  Steigerung,  teils  in  dem 
einer  Rückbildung.  Auch  Weismann  selbst  hat  einer  derartigen 
vermittelnden  Auffassung  vorgearbeitet,  indem  er  1892  seine  An- 
sicht in  der  ,, Vermutung"  zusammenfaßt:  ,,es  möchte  die  allgemeine 
Regenerationsfähigkeit  sämtlicher  Teile  eine  durch  Selektion  herbei- 
geführte Errungenschaft  niederer  und  einfacherer  Tierformen  sein, 
die  im  Laufe  der  Phylogenese  und  der  steigenden  Kompliziertheit 
des  Baues  zwar  allmählich  mehr  und  mehr  von  ihrer  ursprünglichen 
Höhe  herabsinkt,  die  aber  auf  jeder  Stufe  ihrer  Rückbildung  in 
bezug  auf  bestimmte,  biologisch  wichtige  und  zugleich  häufigem 


-     i87     - 

Verlust  ausgesetzte  Teile  durch  speziell  auf  diese  Teile  gerichtete 
Selektionsprozesse  wieder  gesteigert  werden  konnte. 

Die  Schicksale  der  Arten  als  Anpassungserscheinungen. 

Die  Unterordnung  der  Regenerationserscheinungen  unter  das 
Selektionsprinzip  bedeutet  ein  weiteres  Fortschreiten  auf  dem  Wege, 
den  Weismann  seinerzeit  in  den  Erörterungen  über  den  Tod  und 
die  Dauer  des  Lebens  beschritten  hatte,  einen  weiteren  Versuch, 
nicht  nur  die  morphologischen  Merkmale  der  Formen,  sondern  auch 
physiologische  Erscheinungen  als  Anpassungen,  entstanden  durch 
Personalselektion,  zu  erklären.  Daß  Weismann  dieselbe  Betrach- 
tungsweise auch  auf  die  wechselvollen  Geschicke  anwandte, 
die  die  Arten  im  Laufe  der  Stammesgeschichte  durch- 
machen, und  daß  er  auch  hier  das  Walten  einer  ,,phyle tischen 
Lebenskraft"  ableugnete,  bedarf  kaum  noch  einer  besonderen  Er- 
wähnung. Es  ist,  seiner  Ansicht  nach,  nur  ein  ,, Spielen  mit  Be- 
griffen", wenn  man  den  Arten  Geburt,  Aufblühen,  Stillstand, 
Niedergang  und  Tod  zuspricht,  anders  als  in  figürlichem  Sinne. 
Gäbe  es  eine  innere  Entwicklungskraft,  so  könnte  die  Möglichkeit  in 
der  Lebensdauer  der  Arten  keine  so  ganz  maßlose  sein;  gäbe  es 
ein  ,, Greisenalter"  und  einen  ,, natürlichen  Tod"  der  Arten,  so 
könnten  beispielsweise  nicht  die  meisten  Nautiliden  auf  die  Silur- 
zeit beschränkt  sein,  einige  aber  bis  heute  leben,  und  gäbe  es  eine 
,, Tendenz",  immer  weiter  zu  variieren,  so  könnten  solche  uralte 
und  primitive  Cephalopodenformen  wie  die  Nautilus-Arten  sich 
überhaupt  nicht  bis  auf  unsere  Tage  erhalten  haben,  sondern  müßten 
längst  in  höhere  Formen  umgewandelt  sein.  Dem  Selektionsprinzipe 
fügen  sich  dagegen  alle  diese  Erscheinungen  ohne  Mühe.  Solange 
die  Formen  ihren  Lebensbedingungen  voll  angepaßt  waren,  blieben 
sie  erhalten  und  hatten  auch  keine  Veranlassung,  sich  umzuwandeln ; 
bei  einem  merklichen  Wechsel  dieser  Bedingungen  aber  konnten 
nur  die  Arten  erhalten  bleiben,  die  unter  den  veränderten  Lebens- 
bedingungen dauerfähig  waren,  die  anderen  gingen  zugrunde.  Die 
mancherlei  Gründe  für  die  Unfähigkeit,  sich  anzupassen,  wurden 
schon  erörtert:  sie  können  im  Wesen  der  Naturzüchtungsvorgänge 
selbst,  in  den  Organismen  und  in  der  Umwelt  liegen. 

So   ist   die   phyletische   Entwicklung   der   Organismen   nicht 
nach  einem  von  vornherein  feststehenden  Naturgesetz,  auf  Grund 


einer  ihnen  innewohnenden  Entwicklungskraft,  erfolgt,  sondern  auf 
Grund  der  erblichen  individuellen  Variationen,  unter  Auswahl  der 
für  die  jeweiligen  Existenzbedingungen  nützlichen.  Nicht  aus  inneren 
Gründen  ist  die  Art  geschaffen,  sondern  sie  ist  „in  erster  Linie  ein 
Komplex  von  Anpassungen,  von  modernen,  eben  erst  erworbenen, 
und  von  ererbten  altüberkommenen,  ein  Komplex,  der  sehr  wohl 
auch  anders  hätte  sein  können,  und  der  anders  hätte  sein  müssen, 
falls  er  unter  dem  Einfluß  anderer  Lebensbedingungen  entstanden 
wäre' ' .  Nur  in  geringem  Umfang  ist  die  Art  zugleich  einVariations- 
komplex,  d.  h.  nur  gering  an  Zahl  sind  die  Merkmale,  für  die  der 
Charakter  als  ,, Anpassungen"  nicht  nachweisbar  ist.  Sie  können 
nicht  durch  Personalselektion  herausgebildet  worden  sein,  sondern 
erfordern  eine  andere  Erklärung.    Sie  ist  später  zu  geben. 

Mutationstheorie. 

Bei  dieser  scharfen  Betonung  der  Abhängigkeit  der  Arten- 
entwicklung von  den  Lebensbedingungen,  mußte  Weismann  sich 
auch  gegenüber  der  Mutationstheorie,  der  neuen  Form,  die  der 
holländische  Botaniker  de  Vries,  auf  Grund  langjähriger  aus- 
gedehnter Versuche  an  Pflanzen,  der  Selektionstheorie  gegeben 
hatte,  ablehnend  verhalten.  Auch  die  Mutationstheorie  läßt  die 
natürliche  Zuchtwahl  bis  zu  einem  gewissen  Grade  gelten,  legt 
aber  besonderen  Wert  darauf,  daß  nicht,  wie  Darwin  und  Weis- 
mann annehmen,  die  fortwährend  an  den  Organismen  auftretenden 
individuellen,  ,, fluktuierenden"  Variationen  das  Material  liefern, 
das  erst  von  den  Ausleseprozessen  zur  bleibenden  Umbildung  der 
Formen  verwertet  wird,  sondern  daß  die  neuen  Formen  bereits 
fix  und  fertig  aus  den  alten  auf  Grund  innerer  Entwicklungskräfte 
entstehen  und  sich  so  gewissermaßen  der  Naturzüchtung  zur  Be- 
gutachtung darbieten.  Die  fluktuierenden  Variationen  sind  nach 
de  Vries  nicht  erblich-konstant,  Züchtungen  auf  Grund  derselben 
Irönnten  somit  niemals  einen  dauernden  Erfolg  haben,  vielmehr 
würae  nach  Aufhören  der  Züchtung  sehr  bald  wieder  ein  Rück- 
schlag zur  Ausgangsform  erfolgen.  Ihnen  stellt  er  die  erbbeständigen 
Variationen  als  ,, Mutationen"  gegenüber.  Es  sind  Abänderungen 
kleineren,  manchmal  aber  auch  größeren  Betrages,  die  aus  inneren 
Ursachen  nur  ab  und  zu,  plötzlich,  auftreten  und,  was  eben  für  ihn 
das  wichtigste  ist,  von  vornherein  erbbeständig  sind.     Die  Muta- 


—     i8q     — 

tionen  größeren  Betrages  entsprechen  den  ,,single  variations"  oder 
„Sports"  Darwins,  den  ,,  sprungartigen"  oder  „diskontinuier- 
lichen" Variationen  vieler  Autoren  (s.  oben,  S.  164).  Im  Leben  der 
Art  wechseln  Perioden  der  Konstanz  mit  ,, Mutationsperioden" 
ab;  in  den  letzteren  erfolgt  das  Auftreten  neuer  ,, elementarer  Arten", 
d.  h.  eine  plötzliche  Spaltung  der  Art  in  mehrere  neue,  die  von  vorn- 
herein erbbeständig,  ihrer  Natur  nach  aber  teils  nützlich,  teils 
schädlich,  teils  indifferent  sind.  Die  Aufgabe  der  Selektion  ist  es 
nur,  die  schädlichen  bald  wieder  zu  vernichten.  So  hat  sich  nach 
dieser  Auffassung  die  phyletische  Entwicklung  der  Formen  nicht 
ganz  allmählich,  schrittweise,  in  Übergängen  und  im  Laufe  sehr 
langer  Zeiträume  vollzogen,  sondern  sprung-  oder  stoßweise  durch 
plötzliche  Umänderungen,  periodisch. 

Von  verschiedenen  Seiten,  so  besonders  von  L.  Plate,  ist 
hervorgehoben  worden,  daß  der  Gegensatz  der  Mutationstheorie 
zu  der  alten  Darwinschen  Selektionstheorie  im  Grunde  gar  nicht 
so  groß  ist,  wie  es  vielfach  angenommen  wird,  und  daß  insbesondere 
die  ,, Mutationen"  von  de  Vries  unter  den  Begriff  der  ,, fluktu- 
ierenden Variationen"  Darwins  fallen.  Es  sind  eben  die  , .erblichen" 
Variationen,  auf  denen  natürlich  allein  die  Umbildung  der  Formen 
beruhen  kann.  Auch  Weis  mann  hat,  bei  rückhaltloser  Bewunde- 
rung des  an  Tatsachen  und  Gedanken  reichen  de  Vries  sehen 
Werkes  doch  die  Schlußfolgerungen  desselben  nicht  als  bindend 
erachtet  und  manche  Bedenken  dagegen  erhoben.  Den  Haupt- 
wert legt  seine  Kritik  darauf,  daß  auch  die  Mutationstheorie  für  die 
Erklärung  der  die  ganze  Organismenwelt  beherrschenden  An- 
passung nicht  ausreicht.  Die  Anpassungen  können  nicht  entstanden 
gedacht  werden  im  Anschluß  an  Abänderungen,  die  aus  rein  inneren 
Gründen,  nur  selten  und  in  einem  kleinen  Prozentsatz  der  Indi- 
viduen, dazu  völlig  richtungslos  auftreten,  sondern  nur  auf  Grund 
der  fortwährend  auftretenden  kleinen  individuellen  Variationen. 
Diese  sind  auch  ihrem  Wesen  nach  gar  nicht  verschieden  von  den 
,, Mutationen";  vor  allem  sind  auch  sie  erblich,  und  wenn  auch 
eine  auf  sie  begründete  künstliche  Züchtung  nicht  gleich  eine  ,,rein 
züchtende",  konstant  bleibende  neue  Rasse  ergibt,  so  muß  doch 
damit  gerechnet  werden,  daß  dies  im  Laufe  länger  fortgesetzter 
Züchtung  endlich  erfolgt. 


—      igo     — 

c)  Zuchtwahl  oder  direkte  Bewirkung  durch  äußere  Einflüsse  und 

Funktion? 

Schärfer  und  hartnäckiger  als  der  Kampf  gegen  alle  Vor- 
stellungen, die  mit  einer  inneren,  zwangsmäßig  schaffenden  Bildungs- 
kraft rechneten,  war  aber  doch  der,  den  Weismann  gegen  den 
Lamarekismus  und  alle  Theorien,  die  an  ihn  anknüpfen,  zu  führen 
hatte.  Die  von  ihm  vertretene  Auffassung,  daß  die  Organismen 
in  erster  Linie  und  zum  größten  Betrage  Anpassungskomplexe  sind, 
sagt  ja  an  sich  noch  nichts  über  das  Wie  der  Entstehung  dieser 
Anpasstmgen.  Daß  er  sich  darüber  ganz  klar  war,  ist  selbstverständ- 
lich, wenn  er  es  auch  nicht  in  jedem  Einzelfalle  wieder  ausdrück- 
lich hervorhebt.  Für  ihn  selbst  war  die  Frage  entschieden :  eine  andere 
Möglichkeit  für  die  Entstehung  zweckmäßiger  Anpassungen  als  auf 
dem  Wege  von  Personalausleseprozessen  sah  er  nicht.  Das  spricht 
sich  deutlich  in  seiner  Ausdrucksweise  aus.  Die  Kennzeichnung 
einer  Einrichtung  als  einer  „Anpassimg"  bedeutet  bei  ihm  nicht  nur 
das  fertige  Ergebnis  eines  Vorganges,  sondern  auch  den  in  ganz  be- 
stimmter Weise  gedachten  Vorgang  selbst:  bedeutet  nicht  nur, 
daß  es  sich  hier  um  eine  Einrichtung  handelt,  die,  um  mit  Roux 
zu  reden,  die  Dauerfähigkeit  des  Besitzers  erhöht,  sondern  auch, 
daß  diese  Einrichtung  durch  Naturzüchtung  auf  dem  Wege  der 
Personalauslese  zustande  gekommen  ist,  d.  h.  als  indirekte  An- 
passung. Der  Doppelsinn,  der  in  dem  Worte  ,, Anpassung"  wie 
in  manchen  ähnlichen  Wortbildungen  liegt,  erleichterte  diese  kurze 
Ausdrucks  weise . 

An  einer  Begründung  und  Verteidigtmg  dieser  Ansicht  hat 
er  es  freilich  nicht  fehlen  lassen:  die  Fragen  nach  dem  direkt  um- 
ändernden Einfluß  der  äußeren  Bedingungen  wie  nach  der  Umwand- 
lung durch  die  Funktion,  sind  von  ihm  oft  genug  behandelt  worden. 
Seine  Stellungnahme  zu  ihnen  war  vor  allem  bestimmt  durch  die 
ablehnende  Antwort,  zu  der  er  hinsichtlich  der  wichtigsten  Vor- 
bedingung für  die  Anerkennung  jener  Einflüsse  kam:  ihrer  Erb- 
lichkeit. 

a)  Direkt  umwandelnder  Einfluß  der  äußeren  Bedingungen. 

In  der  Frage  nach  dem  direkt  umwandelnden  Einfluß 
der  äußeren  Bedingungen  ist  Weismann  von  einer  hohen 
Bewertung  dieses  Einflusses  ausgegangen.     Die  Rede  von  1868 


—         IQI        — 

führt  das  Auftreten  erblicher  Varietäten  auf  die  Wechselwirkung 
zwischen  den  äußeren  Bedingungen  und  der  physischen  Natur  der 
Organismen  zurück.  Damit  war  den  äußeren  Bedingungen  schon 
eine  ziemlich  große  Bedeutung  zugewiesen,  immerhin  verblieb  doch 
noch  dem  Kampfe  der  Individuen  die  Auslese  und  damit  die  Fixierung 
der  besten  jener  Varietäten.  Die  Schrift  über  den  Saisondimor- 
phismus der  Schmetterlinge,  von  1875,  geht  erheblich  weiter:  sie 
versucht  den  Nachweis,  ,,daß  allein  schon  durch  äußere  Einflüsse, 
wenn  sie  viele  Generationen  hindurch  in  gleicher  Weise  auf  eine 
Art  einwirken,  mehr  oder  weniger  bedeutende  Umwandlungen  der 
Form  entstehen  können".  (So  ist  das  Ergebnis  in  dem  Vorwort 
zum  zweiten  Heft  der  Studien  zur  Deszendenztheorie,  1876,  aus- 
gedrückt.) Mit  der  Vorstellung  von  der  Kontinuität  des  Keimplasmas 
und  der  Nichterblichkeit  somatogener  Abänderungen  wurde  dies 
später,  wie  schon  erörtert,  in  Einklang  gebracht  durch  die  Annahme, 
daß  durch  direkte  ümweltwirkungen  eine  korrespondierende  Be- 
einflussung sowohl  des  Soma  wie  des  Keimplasmas  erfolgen  kann. 
Indessen  kam  Weismann  in  der  Folge  dazu,  diesen  an  sich  mög- 
lichen Vorgang  als  ein  nur  seltenes  Vorkommnis  und  als  wenig 
bedeutungsvoll  für  die  Artumwandlung  gelten  zu  lassen.  In  ersterer 
Hinsicht  konnte  er  auf  gewisse  von  anderer  Seite  angestellte  Versuche 
hinweisen,  aus  denen  hervorging,  daß  bei  Pflanzen  unter  veränderten 
Lebensbedingungen  sehr  starke  Veränderungen  des  Körpers  erfolgen 
können,  die  aber  bei  Rückversetzung  der  Nachkommen  in  die  alten 
Verhältnisse  bald  wieder  rückgängig  werden,  also  keine  bemerkbare 
dauernde  Abänderimg  des  Keimplasmas  hervorrufen;  für  eine 
nur  geringe  Bedeutung  der  direkten  Medium  Wirkungen  aber 
in  bezug  auf  die  Artenimiwandlimg  sprachen  theoretische  Er- 
wägungen. In  erster  Linie  die,  daß  Abänderungen  an  sich  noch  keine 
Anpassungen  darstellen,  daß  es  also  schwer  ist  einzusehen,  wie 
durch  direkte  Wirkungen  zweckmäßige  Abänderungen  zustande 
kommen  sollen.  Wo  wir  zweckmäßige  Abänderungen  als  Wirkung 
veränderter  Lebensbedingungen  sich  ausbilden  sehen,  da  ist  viel 
mehr  daran  zu  denken,  daß  hier  indirekte  Wirkung  vorliegt, 
d.  h.  Auslese,  natürliche  oder  künstliche  Züchtung.  So  fehlt  es  an 
Beweisen  dafür,  daß  die  Veränderung  der  Behaarung  bei  Ziegen, 
Schafen,  Rindern,  Katzen,  Schäferhunden  durch  das  Klima  mancher 
Hochländer,  wie  Tibet  imd  Angora,  direkt  erzeugt  sei  imd  nicht 


—       IQ2       — 

vielmehr  durch  natürliche  oder  künstliche  Züchtung.  Gleiches  gilt 
für  die  Beurteilung  des  Pelzes  der  Polartiere,  der  als  direkte  Wirkung 
der  Kälte  angesprochen  worden  ist,  oder  für  die  starke  Entwicklung 
des  Unterhautfettgewebes  bei  Wassersäugern.  Es  ist  wenig  wahr- 
scheinlich, daß  die  zahllosen  zweckmäßigen  Einrichtungen  der  Or- 
ganismen durch  direkte  Einwirkung  von  Umweltfaktoren,  Klima, 
Nahrung  usw.  entstanden  seien.  Andererseits  ist  zu  beachten,  —  was 
sich  schon  aus  den  Versuchen  über  den  Saisondimorphismus  der 
Schmetterlinge  1875  ergeben  hatte  — ,  daß  durch  direkte  Medium- 
einflüsse, wenn  sie  überhaupt  erbliche  Abänderungen  hervorbringen 
und  Generationen  hindurch  anhalten,  alle  Individuen  einer  Art 
in  gleicher  Weise  verändert  werden  müßten.  Das  aber  könnte 
für  die  Art  leicht  verhängnisvoll  werden.  Nur  solange  jene  Abände- 
rungen qualitativ  oder  quantitativ  indifferent  wären,  würden  sie 
ohne  Schaden  in  den  Merkmalsbestand  der  Art  aufgenommen 
werden  können;  sobald  sie  aber  irgendwie  schädlich  würden,  würde 
Selektion  zwar  einsetzen  und  wenigstens  versuchen,  durch  Aus- 
merzung der  am  empfindlichsten  auf  den  Mediumreiz  reagierenden 
Individuen  die  Abänderung  einzudämmen,  aber  es  könnte  sich  dabei 
leicht  der  Fall  ergeben,  daß  die  Gewalt  der  äußeren  Einflüsse  zu 
stark  ist  und  der  Art  durch  weitere  Steigerung  der  schädlichen 
Abänderungen  den  Untergang  bereitet.  Auf  diese  Weise  sind  viel- 
leicht manche  Tierformen,  als  Opfer  der  äußeren  Einwirkungen, 
ausgestorben. 

Aus  diesen  Erwägungen  kann  gefolgert  werden,  daß  ganz  be- 
sonders sogenannte  rein  morphologische,  biologisch  bedeutungs- 
lose Merkmale  auf  die  direkte  Einwirkung  der  äußeren  Verhält- 
nisse zu  beziehen  sein  werden,  daß  aber  im  allgemeinen  solchen 
direkten  Einwirkungen  kein  großer  Spielraum  bei  der  Umwandlung 
der  Arten  eingeräumt  ist.  Es  wäre  das  auch  nicht  im  Interesse 
der  Arten  gewesen. 

Hat  somit  Weismann  dem  direkt  umwandelnden  Einfluß 
der  äußeren  Bedingungen  keine  sehr  große  Bedeutung  bei  der 
Herausbildung  der  Formen  zuerkannt,  so  muß  doch  gegenüber 
unrichtigen  Darstellungen  betont  werden,  daß  er  einen  solchen  Ein- 
fluß durchaus  zugegeben  hat.  Sogar  so  weit,  daß  er  das  Aussterben 
von  Tierformen  unter  dem  direkt  umändernden  Einfluß  von  Medium- 
wirkimgen  für  möglich  hält  —  somit  dem  Prinzip  der  direkten  Be- 


—      193      — 

Wirkung  als  Erklärungsprinzip  für  gewisse  Fälle  den  Vorrang  läßt 
gegenüber  dem  Selektionsprinzip.  Bei  der  Lehre  von  der  Germinal- 
selektion  wird  auf  diese  Frage  zurückzukommen  sein  (s.  Ab- 
schnitt VIII). 

Die  angeführten  Erwägungen  begründen  den  Gegensatz  gegen- 
über Nägelis  oben  schon  kurz  angedeuteter  Auffassung  dieser 
Frage.  In  einem  Punkte  besteht  zwischen  beiden  Forschern  Über- 
einstimmung: in  der  geringen  Bewertung  der  klimatischen  und  Er- 
nährungseinflüsse. Auch  Nägeli  betrachtet  die  unmittelbaren 
und  ersichtlichen  Wirkungen  dieser  Einflüsse  nur  als  vorüber- 
gehend, nicht  als  erblich  und  bleibend.  Aber  er  erkennt  an,  daß 
durch  äußere  Einwirkungen,  die  durch  Generationen  anhalten, 
Reize  hervorgerufen  werden,  die  als  Reaktionen  in  dem  Idioplasma 
erbliche  Veränderungen  erzeugen.  Diese  erblichen  Veränderungen 
haben  den  Charakter  von  ,, Anpassungsanlagen";  die  auf  ihnen 
beruhenden  Merkmale,  die  an  den  Organismen  sichtbar  hervortreten, 
,, befriedigen  ein  Bedürfnis",  sind  nützlich.  ,,Den  Schutz,  den  die 
Tiere  kalter  Klimate  in  ihrer  dicken  Behaarung,  und  diejenigen 
weniger  kalter  Gegenden  in  ihrem  Winterpelz  finden,  hat  ihnen 
die  Einwirkung  der  Kälte  auf  das  Hautorgan  gegeben.  Die  ver- 
schiedenen Waffen  zur  Abwehr  und  zum  Angriff,  die  die  Tiere  in 
den  Hörnern,  Krallen,  Stoßzähnen  usw.  besitzen,  sind  durch  den 
Reiz,  der  beim  Angriff  oder  bei  der  Verteidigung  auf  bestimmte 
Stellen  der  Körperoberfläche  ausgeübt  wurde,  nach  und  nach  ent- 
standen und  größer  geworden."  Weismann  lehnt  diese  Vorstellung 
ab:  Abänderungen  sind  noch  keine  Anpassungen,  und  es  ist  nicht 
ersichtlich,  wie  durch  direkte  Wirkungen  äußerer  Einflüsse  mit 
Regelmäßigkeit  nützliche  Abänderungen  im  Keimplasma  hervor- 
gebracht werden  sollen.  Zufällig  könnte  das  natürlich  einmal 
der  Fall  sein;  die  Verwertung  einer  solchen  nützlichen  Einrichtung 
und  ihre  Erhebung  zum  Gemeinbesitz  der  Art  würde  aber  immer 
der  Selektion  zufallen. 

ß)  Direkte  Anpassung  durch  Gebrauch  und  Nichtgebrauch. 

Eine  ganz  andere,  durchaus  ablehnende,  Haltung  nahm 
er  dagegen  von  1883  an  gegenüber  der  Vorstellung  ein,  daß  auch  die 
Wirkungen  des  Gebrauches  und  des  Nichtgebrauches  erbliche  Ver- 
änderungen   herbeiführen    könnten,    und    daß    Zweckmäßigkeiten, 

ü  a  u  p  p  ,  Biograpliie  Weisinaiiiis.  13 


—      194     — 

die  an  einer  Form  ererbt  auftreten,  auf  funktionelle  Abänderungen 
der  Vorfahren  zurückzuführen  seien.  Diese  funktionellen  Ab- 
änderungen hat  er  von  jenem  Jahre  ab  stets  nur  als  ,,passant", 
als  auf  das  Individuum  beschränkt  betrachtet;  alle  für  das  Gegen- 
teil ins  Feld  geführten  Beweisgründe  beruhen  nach  ihm  entweder 
auf  mangelhafter  Beobachtung  oder  sind  auf  andere  Weise,  und 
zwar  eben  durch  Personalselektion,  zu  erklären.  Letzteres  würde 
in  gleicher  Weise  betreffen  die  allmähliche  Steigerung  eines  viel 
gebrauchten  Organes  im  Laufe  der  Stammesgeschichte,  wie  die 
allmähliche  stammesgeschichtliche  Rückbildung  eines  nutzlos 
gewordenen,  nicht  mehr  gebrauchten  Organes.  Die  Anwendbarkeit 
des  Selektionsprinzipes  gegenüber  diesen  Erscheinungen,  die  schein- 
bar auf  der  Vererbung  der  Wirkungen  des  Gebrauches  und  Nicht- 
gebrauches beruhen,  ergibt  sich  aus  folgender  Überlegung. 

Phyletische  Vervollkommnung  eines  Teiles   durch    Personalselektion. 

Ein  Organ,  das  von  besonderer  Wichtigkeit  im  Kampfe  ums 
Dasein  ist,  wird  naturgemäß  von  seinem  Besitzer  durch  Übung 
in  seiner  Leistungsfähigkeit  gesteigert  werden.  Diese  Steigerung 
der  Leistungsfähigkeit  besitzt  aber  Grenzen,  die  für  jedes  Indi- 
viduum in  der  natürlichen  Veranlagung  festgesetzt  sind.  Die  Fähig- 
keiten eines  nach  irgend  einer  Richtung  mangelhaft  veranlagten 
Individuums  können  auch  durch  die  größte  Anstrengung  in  dieser 
Richtung  nicht  ins  Riesenhafte  gesteigert  werden.  So  wird  der  Grad 
der  Leistungsfähigkeit  auf  irgend  einem  Gebiete,  der  schließlich 
von  den  einzelnen  Individuen  erreicht  wird,  letzten  Endes  von  der 
natürlichen  Anlage,  also  von  einer  gegebenen  Keimesbeschaffenheit 
abhängen.  Und  wenn  dann  im  Kampfe  ums  Dasein  immer  oder 
doch  hauptsächlich  die  leisttmgsfähigsten  Individuen  erhalten 
bleiben  und  zur  Fortpflanzung  gelangen,  die  minder  leisttmgsfähigen 
aber  ausgemerzt  werden,  so  wird  schließlich  ein  höherer  Gesamt- 
durchschnitt der  Leistungsfähigkeit  der  Individuen  erreicht 
werden,  —  scheinbar  als  Folge  des  Gebrauches,  tatsächlich 
als  Folge  der  Auslese  der  besseren  Anlagen.  Der  Ausleseprozeß 
betrifft  also  letzten  Endes  nicht  das  Plus  oder  Minus  stattgehabter 
Übung,  sondern  die  verschiedenen  Anlagen,  d.  h.  die  verschiedenen 
Keimesvarietäten,  die  als  solche  natürlich  erblich  sind.  Das  enghsche 
Vollblutpferd,  das   in  seinem  ganzen  Körperbau  sich  weit  von  den 


—     195     — 

Begründern  der  Rasse  —  drei  orientalische  Hengste  —  unter- 
scheidet, hat  seine  Besonderheiten  nicht  durch  fortdauernde  Übung 
auf  der  Rennbahn  erworben,  sondern  dadurch,  daß  200  Jahre  lang 
die  für  das  Rennen  vorteilhaftesten  Variationen  von  den  Züchtern 
zielbewußt  ausgewählt  und  durch  Züchtung  gesteigert  worden  sind. 
Und  so  beruht  überall  die  Steigerung,  die  ein  Organ  im  Laufe  der 
Generationen  erkennen  läßt,  nicht  auf  einer  Summierung  der  Übungs- 
resultate des  Einzellebens,  sondern  auf  der  Summierung  günstiger 
Keimesanlagen.  — 

Daß  diese  Wirkungen  der  Naturzüchtung  nicht  unmittelbar 
beobachtet  werden  können,  hat  auch  Weismann  immer  wieder 
ausgesprochen,  aber  wie  sein  großer  Vorgänger  Darwin  konnte 
auch  er  immer  wieder  zur  Begründung  seiner  Überzeugung  die  Er- 
folge der  Pflanzen-  und  Tierzüchter  heranziehen,  über  die  er  sich 
durch  das  Studium  darauf  bezüglicher  Werke  und  durch  den  persön- 
lichen Umgang  mit  praktischen  Züchtern  auf  dem  Laufenden  zu 
halten  suchte.  Freilich  kam  er  dabei  gelegentlich  in  die  eigentümliche 
Lage,  die  Erfolge  der  Züchter  gewissermaßen  gegen  diese  selbst  ver- 
teidigen, und  als  Ergebnis  zielbewußter  Auslese  in  Anspruch  nehmen 
zu  müssen,  was  von  züchterischer  Seite  als  Ergebnis  fortdauernder 
Übimg  in  bestimmter  Richtung,  also  im  Sinne  des  Lamarekismus, 
gedeutet  wurde  (1893). 

Phyletische  Verkümmerung  nutzloser  Teile  als  Folge  von  Personal- 

seiektion. 

Aber  auch  die  phyletische  Verkümmerung  eines  nutz- 
los gewordenen,  außer  Gebrauch  gesetzten  Organes  läßt 
sich  auf  der  Grundlage  der  Selektionstheorie  verstehen. 

Zunächst  kann,  wie  das  schon  von  Darwin  geschehen,  in 
einer  Anzahl  von  Fällen  gezeigt  werden,  daß  die  Verkümmerung 
gewisser  Organe  unter  Umständen  sogar  einen  Nutzen  gewährt: 
die  Verkümmerung  der  Flügel  bei  vielen  Käfern  ozeanischer  Inseln 
erscheint  als  nützlich,  da  sie  für  die  Tiere  die  Gefahr,  durch  die  Winde 
ins  Meer  geweht  zu  werden,  vermindert ;  das  Verschwinden  der  Beine 
bei  den  Schlangen  kann  als  eine  Erleichterung  des  Kriechens  durch 
enge  Löcher  und  Spalten  angesehen  werden,  u.  dgl. 

In  anderen  Fällen  ist  ein  ausgesprochener  Vorteil  aus  der 
Verkümmerung  eines  Organes  nicht  zu  ersehen.    Hier  kommt  aber 

13* 


—      igö     — 

dann  ein  anderes  Moment  in  Frage,  das  vor  Weismann  schon  von 
Romane s  hervorgehoben  worden,  dann  aber  in  Vergessenheit 
geraten  war,  imd  auf  das  erst  Weismann  wieder  mit  Nachdruck 
hingewiesen  hat:  der  Fortfall  der  erhaltenden  Kraft  der  Natur- 
züchtung und  die  sogenannte  Panmixie.  Wenn  ein  Organ  aus 
irgend  einem  Grunde  an  Bedeutung  für  die  Art  verliert,  —  wie  etwa 
das  Auge  bei  Tieren,  die  in  Höhlen  einwandern  — ,  so  werden  auch 
die  Ausleseprozesse,  die  es  bisher  auf  seiner  Höhe  gehalten  haben, 
in  Wegfall  kommen.  Da  seine  gute  oder  weniger  gute  Leistungs- 
fähigkeit jetzt  für  die  Existenz  des  Individuums  und  somit  auch 
für  die  Erhaltung  der  Art  gleichgültig  ist,  so  werden  nunmehr  auch 
die  Individuen,  die  es  in  mangelhafter  Ausbildung  besitzen,  zur 
Fortpflanzung  kommen,  und  die  fortgesetzte  Kreuzung  guter  und 
schlechter  Anlagen  muß  schließlich  eine  Verschlechterung  des  Or- 
ganes  zur  Folge  haben.  Dieses  Nachlassen  der  konservierenden 
Wirkung  der  Naturzüchtung  hat  Weismann  eben  als  Panmixie 
bezeichnet,  insofern  dabei  alle  Individuen  zur  Fortpflanzung  ge- 
langen, sich  miteinander  vermischen,  und  nicht  bloß  die  im  ganzen 
oder  in  bezug  auf  ein  Organ  Bestausgestatteten.  Auf  Grund  dieses 
Prinzipes,  des  Mangels  einer  Kontrolle  durch  Naturzüchtung,  wäre 
auch  z.  B.  die  Kurzsichtigkeit  des  zivilisierten  Menschen  zu  erklären. 
Allerdings  hat  die  Leistungsfähigkeit  des  Prinzipes  ihre  Grenzen: 
es  macht  zwar  die  Verschlechterung  eines  Organes  im  Laufe  der 
Generationen  verständlich,  kann  aber  nicht  den  völligen  Schwund 
desselben  erklären,  wie  er  tatsächlich  in  vielen  Fällen  als  erfolgt 
anzunehmen  ist.  So  ergab  sich  auch  von  hier  aus  bei  näherem  Zu- 
sehen die  Notwendigkeit,  neben  der  Personalselektion  noch  ein 
anderes  Umbildungsprinzip  als  wirksam  anzuerkennen,  wie  es  denn 
auch  später  als  Germinalselektion  von  Weismann  aufgestellt 
worden  ist. 

Beweise  gegen  den  Lamarckismus. 

Aus  dem  Gesagten  erhellt  die  Möglichkeit,  die  phyletische 
Steigerung  oder  Verkümmerung  eines  Organes  durch  Personal- 
auslese zu  erklären.  Von  größerer  Bedeutung  für  die  Stellungnahme 
gegenüber  der  Frage:  Selektion  oder  direkte  Anpassung?  ist  es, 
daß  Weismann  auf  eine  Anzahl  von  Tatsachen  hinweisen  konnte, 
die  zwar  auf  den  ersten  Blick  den  Eindruck  machen,  als  lägen  in 


—     197     — 

ihnen  vererbte  Wirkungen  des  Gebrauches  und  des  Nichtgebrauches 
vor,  für  die  aber,  bei  genauerem  Zusehen,  das  Lamarcksche  Prinzip 
schlechterdings  nicht  in  Frage  kommen  kann.  Da  diese  Beispiele 
schon  im  vierten  Abschnitt,  bei  Besprechung  des  Problemes  der 
Vererbung  funktioneller  Abänderungen  eingehender  behandelt 
wurden,  so  genügt  hier  ein  kurzer  Hinweis,  Es  sind  wesentlich 
dreierlei  Erscheinungen:  die  phyletische  Steigerung  und  Verküm- 
merung von  Organen  bei  sterilen  Formen,  ferner  die  gleichen  Vor- 
gänge bei  funktionslosen  Merkmalen,  und  endlich  die  nur  einmal 
im  Leben  ausgeübten  Instinkte.  — 

Geradezu  als  Musterbeispiele  für  weitgehende  Anpassung  aller 
Teile  an  die  Funktion  erscheinen  die  ,, Arbeiter"  der  Ameisen.  Einige 
Teile  —  die  Geschlechtsorgane,  die  Augen,  die  Flügel,  die  Abschnitte 
des  Thorax,  an  denen  die  letzteren  sitzen  sollten,  nebst  den  Flügel- 
muskeln —  sind  rückgebildet,  andere  —  vor  allem  das  Gehirn  und 
bei  der  Kaste  der  Soldaten  auch  die  Kiefer,  die  Kiefermuskeln  und 
in  Zusammenhang  damit  der  ganze  Kopf  —  haben  eine  außerordent- 
lich hohe  Entwicklung  erfahren.  Alles  das  steht  in  innigster  Be- 
ziehung zu  der  Funktion,  die  Ausbildung  des  Kieferapparates  bietet 
noch  besonders  ein  vortreffliches  Beispiel  für  harmonische  An- 
passung mehrerer  aufeinander  angewiesener  Teile,  kurz,  alles  ent- 
spricht so  unseren  Erfahrungen  und  Vorstellungen  von  den  Wir- 
kungen des  Gebrauches,  daß  es  schwer  ist,  diese  Wirkungen  und  ihre 
Erblichkeit  hier  ganz  auszuschließen.  Und  doch  müssen  sie  aus- 
geschlossen werden,  denn  die  Arbeiter  der  Ameisen,  an  denen  sich 
alle  jene  Einrichtungen  finden,  sind  steril  und  somit  gar  nicht  im- 
stande, irgend  etwas  auf  Nachkommen  zu  übertragen!  Damit 
entscheidet  sich  die  Alternative  Selektion  oder  Lamarekismus? 
zugunsten  der  ersteren  , —  wenigstens  soweit  es  die  erblichen  Grund- 
lagen jener  Veränderungen  anlangt:  für  die  hohe  Ausbildung  im 
EinzeHndividuum  dürften  Gebrauch  und  Nichtgebrauch  immerhin 
noch  von  wichtiger  Bedeutung  sein.  Sind  aber  so  weit  gehende 
ineinander  greifende  Anpassungen  durch  Naturzüchtung  überhaupt 
möglich,  so  sind  wir  —  so  folgert  Weismann  —  zum  mindesten 
berechtigt,  sie  in  allen  Fällen  nach  diesem  Prinzip  zu  erklären. 
Zugleich  zeigt  das  Beispiel  sehr  deutlich,  daß  die  Naturzüchtung 
nur  scheinbar  mit  den  Merkmalen  der  fertigen  Organismen,  in  Wahr- 
heit aber  mit  den  in  den  Keimzellen  verborgenen  Anlagen  dieser 


—      ig8     — 

Merkmale  operiert.  Denn  in  jenem  Falle  sind  nicht  die  best  an- 
gepaßten Arbeiter  selbst  ausgewählt  worden,  sondern  die  Männchen 
und  Weibchen,  die  das  beste  Arbeiterkeimplasma  produzierten, 
und  das  auslesende  Prinzip  war  der  Nutzen,  den  die  Kolonie  von 
der  Erzeugung  besonders  gut  organisierter  Arbeiter  hatte.  Alle 
Zuchtwahl  beruht  auf  der  Auswahl  von  Keimesvariationen,  oder, 
in  der  Sprache  der  Determinantenlehre  ausgedrückt,  auf  der  Aus- 
wahl günstiger  Variationsrichtungen  der  Determinanten. 

In  gleicher  Weise  sprechen  zugunsten  des  Selektionsprinzipes 
und  gegen  den  Lamarekismus  die  allmähliche  stammesgeschicht- 
liche Steigerung  oder  Rückbildung  ,, apraktischer",  untätiger  Teile, 
die  nur  durch  ihr  Dasein  bedeutungsvoll,  einer  Beeinflussiing  durch 
Übung  aber  gar  nicht  unterworfen  sind.  Welcher  Art  sollte  die 
Übung  gewesen  sein,  die  es  bewirkte,  daß  gewisse  Schmetterlinge 
im  Sitzen  aufs  täuschendste  trocknen  Blättern  gleichen  ?  Hier  bleibt 
nur  Naturzüchtung,  Personalselektion  zur  Erklärung  übrig:  die 
Individuen,  die  die  größere  Blattähnlichkeit  zeigten,  hatten  auch 
die  größere  Aussicht,  ihren  Feinden  zu  entgehen  und  sich  fortzu- 
pflanzen, und  so  konnte  sich  jene  nützliche  Eigenschaft  vererben 
und  immer  mehr  steigern.  Umgekehrt:  die  Verkümmerung  des 
Chitinskelettes  bei  den  Einsiedlerkrebsen  und  den  Larven  der  Köcher- 
fliegen, die  ihren  Hinterleib  durch  ein  Gehäuse  schützen,  kann  nicht 
im  Sinne  einer  vererbten  ,, Atrophie  infolge  von  Nichtgebrauch" 
erklärt  werden,  da  der  Chitinpanzer  zu  den  Teilen  gehört,  bei  denen 
funktionelle  Anpassung  gar  nicht  mehr  wirksam  ist,  die  also  durch 
den  Gebrauch  nur  abgenutzt,  durch  Nichtgebrauch  aber  im  Gegen- 
teil vielmehr  geschont,  also  erhalten  werden.  So  ist  auch  hier  zu- 
nächst Personalselektion  zur  Erklärung  heranzuziehen:  der  Panzer 
wurde  überflüssig,  als  sich  bei  den  Einsiedlerkrebsen  der  Instinkt 
ausbildete,  den  Hinterleib  in  einem  schützenden  Schneckengehäuse 
zu  verbergen,  und  nunmehr  konnte  durch  Panmixie  seine  Rück- 
bildung verfolgen,  die  dann  durch  die  noch  zu  besprechenden  Vor- 
gänge der  ,,Germinalselektion"  bis  zum  völligen  Schwund  gesteigert 
wurde. 

Was  aber  für  die  funktionslosen  Teile  gilt,  warum  sollte 
das  für  die  aktiv  oder  passiv  funktionierenden  nicht  auch  gelten? 
Kommt  bei  jenen  das  Lamarcksche  Prinzip  nicht  in  Frage,  so 
liegt  zum  mindesten  keine  Notwendigkeit  vor,  es  für  diese  gelten 


—      199     — 

zu  lassen,  und  wenn  durch  Selektion  die  Schwanzfedern  der  Hähne 
außerordentlich  verlängert  werden  konnten,  bei  denen  doch  eine 
,, Übung"  und  dadurch  bedingte  Steigerung  ganz  fortfällt,  so  dürfte 
wohl  auch  in  dem  englischen  Rennpferd  mit  seinen  mancherlei  ge- 
schätzten Eigenschaften  lediglich  das  Ergebnis  der  tatsächlich  durch 
Generationen  hindurch  stattgehabten  Auslese,  und  nur  scheinbar 
ein  Erfolg  der  wiederholten  Übung  auf  der  Rennbahn  zu  sehen  sein. 
Und  so  ist  denn  endlich,  nach  Weismanns  Überzeugung, 
auch  für  die  Ausbildung  der  Instinkte  Personalselektion  verant- 
wortlich zu  machen.  Das  klingt  freilich  unglaubwürdig  genug  und 
ist  denn  auch  bis  in  die  neueste  Zeit  mit  manchen  guten  Beobach- 
tungen bekämpft  worden.  Aber  so  nahe  es  liegt,  gerade  in  den  oft 
so  komplizierten  Instinkthandlungen  die  erblich  fixierten  Resultate 
einer  durch  Generationen  fortgesetzten  Wiederholung  von  Hand- 
lungen zu  sehen,  die  ursprünglich  einmal  zweckbewußt  ausgeführt 
wurden,  so  sprechen  die  von  Weismann  hervorgehobenen  Fälle 
der  nur  einmal  im  Leben  ausgeführten  Instinkte  wieder  entschieden 
gegen  das  Lamarcksche  Prinzip  und  zugunsten  des  Selektions- 
prinzipes.  Als  solche  wurden  schon  genannt  der  Hochzeitsflug  der 
Bienenkönigin,  mit  seinen  vielen  Reflexmechanismen,  die  Eiablage, 
die  oft  von  höchst  komplizierten  Instinkthandlungen  begleitet  ist, 
die  Herstellung  von  Schutzhüllen  bei  der  Verpuppung.  Hier  ist 
von  einer  Übung  überhaupt  nicht  die  Rede,  und  es  bleibt,  wenn  man 
nicht  auf  eine  Erklärung  überhaupt  verzichten  will,  von  allen  zur 
Verfügung  stehenden  Erklärungsprinzipien  nur  das  der  Natur- 
züchtung übrig.  Auf  Naturzüchtung  müssen  dann  auch  die  von 
Weismann  in  einem  besonderen  kleinen  Aufsatz  behandelten 
Fälle  zurückgeführt  werden,  in  denen  sich  bestimmte  Instinkt- 
handlungen zu  bestimmten  Färbungen  hinzugesellen  und  mit  diesen 
zu  besonders  wirkungsvollen  Schutzmitteln  vereinen.  So  die  ,, Trutz- 
stellung" des  Abendpfauenauges,  die  das  bedrohte  Tier  dadurch 
zustande  bringt,  daß  es  statt  wegzufliegen  plötzlich  die  Augenflecke 
zeigt  und  wippende  Bewegungen  des  Rumpfes  ausführt,  die,  dem 
Stoßen  eines  Bockes  ähnlich,  einen  bevorstehenden  Angriff  auf 
den  Gegner  vortäuschen.  Für  die  schützende  Bedeutung  dieser 
Trutzstellung  gegenüber  angreifenden  Vögeln  haben  Versuche  von 
Standfuß  den  vollen  Beweis  erbracht.  Das  Interessante  in  diesem 
und  ähnlichen  Fällen  ist  die  Häufung  einer  ganzen  Anzahl  nütz- 


200        


lieber  Besonderheiten,  teils  rein  somatischer,  wie  der  Augenflecke, 
teils  funktioneller,  wie  der  komplizierten  Bewegungen,  und  der 
Unterdrückung  des  Fluchttriebes,  die  sich  dem  Nervensystem  des 
Tieres  so  fest  eingeprägt  haben,  daß  sie  auf  einen  Reiz  stets  in  der- 
selben gesetzmäßigen  Reihenfolge  ablaufen.  Sie  alle  sind  als  durch 
Naturzüchtung  entstanden  zu  denken. 

Auf  diese  wären  dann  auch  die  hoch  entwickelten  geistigen 
Eigenschaften  allgemeiner  Natur  bei  dem  Kulturmenschen  —  hohe 
Intelligenz,  Phantasie,  gutes  Gedächtnis,  Willenskraft,  Fleiß  usw.  — 
zurückzuführen,  während  sie  für  die  Erklärung  der  spezifischen 
Talente,  wie  im  vierten  Abschnitte  gezeigt  wurde,  nicht  aus- 
reicht. Diese  erfordern  vielmehr  außer  der  auf  die  Steigerung  der 
allgemeinen  Geisteskräfte  gerichteten  Tätigkeit  der  Personal- 
selektion noch  die  selbständig  steigernde  Wirkung  der  Germinal- 
selektion  und  die  Amphimixis,  die  die  an  sich  guten  Anlagen  zu 
glücklicher  Mischung  vereinigt. 

Funktionelle  Anpassung  (Roux).    Partialauslese. 

In  der  ablehnenden  Haltung  gegen  den  Lamarekismus  ist 
Weismann  auch  nicht  wankend  geworden  durch  die  ganz  neue 
vertiefte  Behandlung,  die  die  Lehre  von  den  Wirkungen  des  Ge- 
brauches und  des  Nichtgebrauches  als  Lehre  von  der  ,, funktio- 
nellen Anpassung"  durch  Wilhelm  Roux  erfahren  hat,  eine 
Behandlung,  die  allerdings  geeignet  erscheinen  konnte,  für  den 
Lamarekismus  eine  wertvolle  Stütze  zu  bilden,  und  die  anfangs 
wenigstens  auch  von  ihrem  Urheber  selbst  in  diesem  Sinne  gedacht 
war.  Eingehend  erörtert  wurde  sie  von  Roux  zuerst  1881  in  dem 
,, Kampf  der  Teile  im  Organismus",  dem  Epoche  machenden  Werke, 
das  Darwin  selbst  als  eine  der  bedeutungsvollsten  Erscheinungen 
auf  dem  Gebiete  der  Entwicklung  bezeichnet  hat;  in  zahlreichen 
Schriften  hat  Roux  ihre  maßgebenden  Gedanken  auch  späterhin 
verfolgt  und  an  Tatsachen  auf  ihre  Leistungsfähigkeit  geprüft  ^^). 

Gleich  die  erste  Erwägung,  von  der  Roux  ausgeht,  richtet 
sich  gegen  die  Darwin-Wallacesche  Zuchtwahllehre:  sie  legt 
als  unbestreitbare  Tatsache  fest,  daß  diese  Lehre,  die  mit  einer 
Auslese  der  Personen  rechnet,  zwar  imstande  ist,  die  gröberen  An- 
passungen der  Organismen  an  die  äußeren  Bedingungen  verständ- 
lich zu  machen,  nicht  aber  die  feineren  und  feinsten  zweckmäßigen 


20I 


Einrichtungen  im  Innern,  die  zweckmäßigen  Strukturen  der  Organe, 
Gewebe  und  Zellen.  Die  aufs  genaueste  der  Funktion,  d.  h.  der 
Beanspruchung  angepaßte  Anordnung  der  Knochenblättchen  in 
der  Spongiosa  der  Knochen  oder  der  Bindegewebsfasern  des  Trommel- 
felles und  so  viele  andere  Bildungen  im  Knochen-,  Binde-,  Muskel- 
gewebe usw.  können  nicht  durch  Personalauslese  auf  Grund  zu- 
fälliger Einzelvariationen  entstanden  sein,  da  ja  schon  Tausende 
derartig  zweckmäßig  angeordneter  Bälkchen  oder  Fasern  nötig 
gewesen  wären,  um  für  das  Individuum  einen  Vorteil  im  Kampfe 
ums  Dasein  zu  bedeuten,  der  durch  Personenauslese  hätte  gezüchtet 
werden  können.  Hier  findet  also  die  Dar win-Wallace sehe  Lehre 
eine  Grenze  ihrer  Leistungsfähigkeit  und  verlangt  eine  Ergänzung 
durch  ein  anderes  Prinzip,  das  imstande  ist,  in  direkterer  Weise 
das  Zweckmäßige  hervorzubringen.  Roux  sieht  dasselbe 
eben  in  der  direkten  Wirkung  des  Gebrauches  und  des  Nicht- 
gebrauches, oder,  wie  er  dafür  kürzer  zu  sagen  vorschlägt:  in  der 
funktionellen  Anpassung,  d.  h.  der  Anpassung  an  die  Funktion 
durch  Ausübung  der  Funktion  (und  an  das  Ausbleiben  der 
Funktion).  Dem  neuen  Namen,  —  der  übrigens,  wie  das  Wort 
, .Anpassung"  überhaupt,  nicht  nur  für  den  Vorgang,  sondern  auch 
für  das  Ergebnis  desselben  verwendbar  ist  —  gesellt  sich  sofort 
die  neue  Betrachtungsweise  des  Problemes  hinzu,  eine  in  die  Tiefe 
dringende  Analyse  der  Geschehnisse,  die  bis  dahin,  als  aus  der  all- 
täglichen Erfahrung  ganz  geläufig,  einfach  als  gegeben  hingenommen 
und  einer  solchen  genaueren  Untersuchung  nicht  unterworfen  worden 
waren. 

Von  den  Ergebnissen,  soweit  sie  hier  in  Betracht  kommen, 
ist  zunächst  das  wichtigste,  grundlegende  die  Lehre  von  der  trophi- 
schen  Wirksamkeit  der  funktionellen  Reize.  Die  aus  der  täglichen 
Erfahrung  geläufige  Erscheinung,  daß  der  Gebrauch  ein  Organ 
kräftigt,  der  Nichtgebrauch  es  schwächt,  hat  darnach  ihren  Grund 
nicht,  wie  man  früher  meinte,  darin,  daß  zu  dem  arbeitenden  Organ 
mehr  Blut  strömt,  während  das  untätige  schlechter  durchblutet 
wird,  sondern  darin,  daß  die  Funktion  selbst  die  in  Anspruch  ge- 
nommenen Gewebselemente  zur  vermehrten  Nahrungsaufnahme 
anregt,  ihre  Lebensprozesse  steigert.  Der  funktionelle  Reiz  —  oder 
richtiger:  die  Vollziehung  der  Funktion  selbst,  was  aber  wenigstens 
bei  den  Stützorganen  auf  eins  herauskommt  —  wirkt  als  trophischer 


202         — 


Reiz:  die  Aktivitätshypertrophie  ist  eine  Folge  der  Stärkung  der 
Assimilationskraft  durch  jenen,  die  zur  Überkompensation  des 
Verbrauches  führt,  wie  die  Inaktivitätsatrophie  eine  Folge  der 
Schwächung  der  Assimilationsfähigkeit,  bei  Ausbleiben  des  funktio- 
nellen Reizes,  darstellt.  Damit  ist  also  die  erste  Gruppe  der  Er- 
scheinungen, die  unter  den  Begriff  der  funktionellen  Anpassungen 
fallen:  die  Veränderung  der  Größe  der  Organe  unter  dem  Einfluß 
gesteigerter  oder  verringerter  Inanspruchnahme  —  Aktivitäts- 
hypertrophie und  Inaktivitätsatrophie  —  als  unmittelbare  Folge 
der  Wirksamkeit  jenes  Prinzipes  erkannt. 

Das  gleiche  Prinzip  erweist  sich  aber  auch  als  leistungsfähig 
zur  Erklärung  der  zweiten  Gruppe  funktioneller  Anpassungen:  der 
zweckmäßigen,  ,, funktionellen",  inneren  Strukturen  der  Or- 
gane. Hier  schiebt  sich  aber  vermittelnd  ein  Vorgang  des  Kampfes, 
der  Konkurrenz,  ein.  Kennzeichnend  für  die  durch  das  Maß  des 
Gebrauches  regulierte  Vergrößerung  oder  Verkleinerung  eines  Or- 
ganes  ist  es,  daß  diese  nicht  in  allen  Dimensionen  erfolgen,  sondern 
nur  in  den  stärker  in  Anspruch  genommenen :  es  besteht  dimensional 
beschränkte  Aktivitätshypertrophie  und  ebenso  dimensional  be- 
schränkte Inaktivitätsatrophie.  Und  so  werden  auch  innerhalb 
eines  Organes,  z.  B.  eines  Knochens,  die  stärker  gebrauchten  Stellen 
in  den  bestimmten  stärker  beanspruchten  Dimensionen  stärker 
vergrößert;  die  hier  gelagerten  Elemente  nehmen  den  anderen 
weniger  stark  in  Anspruch  genommenen  den  funktionellen  Reiz 
mit  seiner  trophischen  Wirkung  fort.  So  besteht  in  den  Organen 
eine  Konkurrenz  der  sie  zusammensetzenden  Elemente  um 
den  funktionellen  Reiz",  die  zur  Herstellung  einer  zweckmäßigen 
,, funktionellen"  inneren  Struktur  des  Organes  führt.  Größe  wie 
funktionelle  Struktur  eines  Organes  sind  damit  in  letzter  Instanz 
Wirkungen  desselben  Prinzipes:  der  Abhängigkeit  der  Gewebe  von 
ihren  funktionellen  Reizen. 

Diese  Abhängigkeit  der  Gewebe  von  ihren  funktionellen  Reizen 
ist  somit  die  Voraussetzung  für  die  Vorgänge  der  funktionellen  An- 
passung, die  im  Individuum  das  Zweckmäßige  durch  Selbst- 
gestaltung, also  auf  kürzestem  Wege,  hervorbringen.  Sie  ist,  Rouxs 
Auffassung  zufolge,  in  der  Phylogenese  gezüchtet  worden,  auf  Grund 
von  zufällig  —  d.  h.  aus  unbekannten  Ursachen  —  aufgetretenen 
Variationen  unter  den  Zellen  desselben  Gewebes,  aber  auch  unter 


—       203       — 

den  lebenstätigen  Zelltcilen,  also  jedenfalls  unter  gleichartigen 
Lebenscinheiten,  die,  mit  jener  glücklichen  Qualität  ausgestattet, 
sich  zunächst  im  Kampf  der  Teile  um  Nahrung  und  Raum  innerhalb 
der  Einzelindividuen  die  Alleinherrschaft  errangen,  alsdann  aber 
eine  solche  Begünstigung  der  betreffenden  Individuen  bedeuteten, 
daß  sie  weiterhin  im  Kampfe  der  Individuen  zum  Gemeinbesitz 
aller  Organismen  herausgezüchtet  wurden.  Neben  dieser  Form  des 
Kampfes  der  Teile  innerhalb  des  Organismus  gibt  es  noch  eine 
andere,  so  insbesondere  die  zwischen  ungleichartigen  Teilen  (z.  B. 
verschiedenen  Organen),  auf  deren  Bedeutung  aber  hier  nicht  ein- 
zugehen ist. 

Unter  der  von  Roux  begründeten  Betrachtungsweise  er- 
scheint somit  das  Prinzip  der  funktionellen  Anpassung  zwar  dem 
Dar  win-Wallace  sehen  Prinzip  der  Personalauslese  entgegen- 
gesetzt, indem  es  auf  einem  viel  direkteren  Wege,  durch  funk- 
tionelle Selbstgestaltung,  das  Zweckmäßige  hervorbringt,  aber 
doch  dem  großen  Prinzip  der  Auslese  überhaupt  subsummiert. 
Auch  bei  ihm  handelt  es  sich  um  eine  Auslese,  doch  nicht  um  eine 
solche  der  Personen  oder  Individuen,  sondern  um  eine  solche  der 
feineren  und  feinsten  Teile,  um  Partial-  oder  Teilauslese.  Durch 
den  züchtenden  Kampf  um  Nahrung  und  Raum  und  um  den  funk- 
tionellen Reiz  sind  innerhalb  des  Organismus  die  Teile  zur  Herr- 
schaft gelangt,  die  die  Fähigkeit  besitzen,  durch  den  funktionellen 
Reiz  trophisch  erregt  zu  werden ;  auf  dem  Wege  der  Konkurrenz  um 
den  funktionellen  Reiz  bilden  sie  dann  die  einzelnen  zweckmäßigen 
funktionellen  Anpassungen.  So  bringt  der  Kampf  der  Teile  die 
Zweckmäßigkeit  im  Innern  der  Organismen  hervor,  der  gleichzeitige 
Kampf  der  Individuen  die  Zweckmäßigkeit  nach  außen,  das  in  den 
äußeren  Existenzbedingungen  Dauerfähige.  Damit  gelangt  das 
Selektionsprinzip,  von  dessen  kritischer  Betrachtung  die  ganze 
Erörterung  ausgegangen  war,  wieder  zu  Ehren ;  nur  wird  es  aus  dem 
Bereiche  der  Personen,  auf  dem  sich  die  Grenzen  seiner  Leistungs- 
fähigkeit herausgestellt  hatten,  auf  die  Lebenseinheiten  aller  In- 
stanzen innerhalb  des  Organismus  übertragen  und  in  dieser  neuen 
Verwendung  mit  Erfolg  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  in  An- 
spruch genommen,  die  es  bei  seiner  ursprünglichen  Anwendung 
unerklärt  lassen  mußte. 

Für  das  Individuum  bedeutet  die  Fähigkeit  zur  funktionellen 


—       204       — 

Anpassung  einen  Besitz  von  unschätzbarem  Werte:  sie  ermöglicht 
es  ihm,  gleichzeitig  in  vielen,  ja  in  allen  Organsystemen  beliebig 
viele  zweckmäßige  Einrichtungen  in  kurzer  Zeit  hervorzubringen 
und  zwar  auch  Anpassungen  an  solche  Verhältnisse,  die  erst  während 
des  Individuallebens  neu  an  das  Individuum  herantreten.  Darin 
aber  ist  die  Partialauslese  dem  Darwinschen  Prinzip  der  Personen- 
auslese weit  überlegen.  Ihre  Bedeutung  für  die  stammesgeschicht- 
liche Entwicklung  der  Organismen  müßte  eine  ungeheure  sein, 
wenn  ihre  Ergebnisse  erblich  wären.  Die  Überzeugung,  daß  sie 
das  sind,  ist  denn  auch  von  vielen  Seiten  immer  wieder  vertreten, 
ja  geradezu  als  notwendige  zwingende  Folgerung  aus  Rouxs  Kritik 
an  der  Leistungsfähigkeit  des  Prinzips  der  Personenauslese,  —  für 
die  Erklärung  der  inneren  Zweckmäßigkeiten,  der  funktionellen 
Strukturen,  —  ausgesprochen  worden. 

Auch  Weis  mann  hat  die  große  Bedeutung  der  von  Roux 
angestellten  und  durch  ein  reiches  Beobachtungsmaterial  begründeten 
Erörterungen  rückhaltlos  anerkannt ;  für  die  phyletische  Umbildung 
der  Formen  vermochte  er  indessen  den  Vorgängen  der  Partialauslese 
oder,  wie  er  selbst,  nicht  gerade  sehr  glücklich,  zu  sagen  vorschlägt: 
der  Histonalselektion  (Gewebsauslese),  keinen  Einfluß  zuzu- 
erkennen, aus  dem  uns  bereits  bekannten  Grunde,  weil  er  die  Er- 
gebnisse dieser  Auslese,  die  funktionellen  Anpassungen,  nicht  für 
erblich  hielt.  In  letzterer  Hinsicht  hat  auch  Roux  selbst  seine  an- 
fängliche, im  ,, Kampf  der  Teile"  vertretene  Auffassung  geändert: 
während  er  damals  die  Wirkungen  der  funktionellen  Anpasstmg 
durch  die  vorliegenden  Beobachtimgen  für  gesichert  annahm,  ist 
er  später,  nachdem  die  Kritik  Weismanns  in  dieser  Hinsicht  ein- 
gesetzt hatte,  zu  einer  sehr  vorsichtigen  Stellungnahme  gekommen 
und  hat  immer  wieder  die  ,, Größe  des  Rätsels  der  angeblichen  Über- 
tragung von  Veränderungen  des  Personalteiles  auf  den  Germinal- 
teil"  hervorgehoben,  ohne  auf  der  anderen  Seite  doch  die  Nicht- 
vererbbarkeit  erworbener  Eigenschaften  bereits  als  ganz  sicher  er- 
wiesen zu  halten.  Für  Weis  mann  aber  war  diese  Nichtvererb- 
barkeit  eine  sichere  Tatsache,  tmd  so  besitzen  auch  seiner  Ansicht 
nach  die  Vorgänge  der  Partialauslese  zwar  eine  sehr  große  Bedeutung 
für  das  Individuum,  für  die  zweckmäßigen  Ausgestaltungen  im 
Inneren  desselben,  ihre  Wirkungen  bleiben  aber  auf  dasselbe  be- 
schränkt und  gehen  mit  ihm  zugrunde.     Soweit  die  zweckmäßigen 


—      205      — 

Einrichtungen  erblich  sind,  beruhen  sie  auf  Keimesvariationen  und 
Personalauslese.  Und  ebenso  ist  das  Substrat,  an  das  die  Vorgänge 
der  funktionellen  Anpassung  geknüpft  sind,  die  Verschiedenheit 
der  histologischen  Elemente,  ihre  Differenzierung  nach  dem  Prinzip 
der  Arbeitsteilung  in  Muskel-,  Nerven-,  Drüsenzellen  usw.  ihre 
Fähigkeit,  auf  den  adäquaten  Reiz  mit  vermehrter  Nahrungsauf- 
nahme und  Überkompensation  des  Verbrauchten  zu  reagieren 
durch  Personalselektion  gezüchtet.  Histonalselektion  tritt  auf  Grund 
dieses  Substrates  nur  in  Wirksamkeit  im  konkreten  Falle,  an  einer 
gegebenen   Stelle,  unter  gegebenen  Bedingungen. 

Daß  Personalauslese  überhaupt  imstande  ist,  selbst  kleinste 
histologische  Elemente  in  ihrer  Ausgestaltung,  Zahl  und  Form  zu 
beeinflussen,  wofern  damit  niu:  ein  wirklicher  Nutzen  für  die  Art 
verbunden  ist,  dafür  konnte  Weis  mann  auf  ein  besonderes  schönes 
und  einleuchtendes  Beispiel  hinweisen:  die  von  ihm  festgestellten 
und  in  ihrer  Bedeutung  zum  ersten  Male  eingehender  behandelten 
Samenzellen  der  Daphnoiden.  Nach  Form,  Größe  und  Zahl  zeigen 
diese  Elemente  bei  den  einzelnen  Arten  außerordentlich  bedeutende 
Verschiedenheiten,  wobei  besonders  auffallen  muß,  daß  manchmal 
Arten,  die  ganz  verschiedenen  Familien  angehören,  sehr  ähnliche, 
und  andererseits  nahe  verwandte  Arten  sehr  verschiedenartige 
Samenzellen  besitzen.  Das  hängt,  wie  sich  zeigen  ließ,  damit  zu- 
sammen, daß  die  Besonderheiten  der  Samenzellen  aufs  zweckmäßigste 
den  Besonderheiten  der  Begattungsbedingungen  entsprechen,  diesen 
angepaßt  sind.  So  sind  sie  bei  manchen  Arten  sehr  klein,  aber  in 
ungeheuerer  Zahl  vorhanden,  bei  anderen  sehr  groß  und  viel  weniger 
zahlreich.  Jenes  findet  sich  bei  Formen,  deren  Weibchen  einen 
geräimngen,  aber  schlecht  verschlossenen  Brutraiun  besitzen,  bei 
denen  also  mit  einem  bedeutenden  Verlust  von  Samenelementen 
bei  der  Begattung  gerechnet  werden  muß;  dieses,  der  Besitz  spär- 
licher großer  Samenzellen,  zeichnet  die  Formen  mit  geschlossenem 
Brutraum  aus.  Am  größten  und  am  wenigsten  zahlreich  sind  die 
Samenzellen  der  Formen,  deren  Männchen  ein  Begattungsorgan 
besitzen,  bei  denen  somit  jeder  Verlust  von  Samenzellen  aus- 
geschlossen ist.  Die  Annahme  einer  inneren  Bildungskraft  versagt 
hier,  wenn  man  nicht  hinter  ihr  geradezu  eine  bewußt  schaffende 
Intelligenz  gelten  läßt,  aber  auch  direkte,  funktionelle  Anpassung 
der  Samenzellen  kann  nicht  in  Frage  kommen.    Es  bleibt  von  den 


—      2o6      

bisher  aufgestellten  Bildungsprinzipien  nur  das  der  Selektion,  und 
zwar  das  der  Personenauslese,  zur  Erklärung  brauchbar:  nur  die 
Individuen,  deren  Samenzellen  infolge  ihrer  günstigen  Beschaffen- 
heit zur  Befruchtung  gelangten,  hatten  Nachkommen  und  konnten 
die  Art  fortführen,  die  anderen  starben  ohne  Nachkommen  ab. 

Hat  aber  Weis  mann  auch  so  eine  Bedeutung  der  Partial- 
auslese  unter  den  somatischen  Elementen  für  die  phyletische  Um- 
bildung der  Formen  abgelehnt,  so  hat  doch  gerade  er  den  all- 
gemeinen von  Roux  zuerst  ausgesprochenen  und  begründeten  Ge- 
danken, daß  nicht  nur  zwischen  den  Personen,  sondern  zwischen 
den  Lebenseinheiten  aller  Instanzen  ein  Kampf  besteht,  mit  be- 
sonderer Zustimmung  ergriffen  und  denselben  später  in  der  Lehre 
von  der  Germinalselektion  auf  die  letzten  hypothetischen  Elemente 
des  Keimplasmas,  die  Determinanten,  ausgedehnt,  —  bei  denen, 
eben  weil  es  sich  um  Keimesbestandteile  handelt,  auch  mit  einer 
Vererbbarkeit  der  Kampfesergebnisse  gerechnet  werden  konnte. 

4.  Ergebnis  der  Prüfung  der  Zuchtwahllehre: 
Neo-Darwinismus. 

So  sind  nach  Weis  mann  aUe  zweckmäßigen  Einrichtungen 
der  Organismen,  alle  Anpassungen,  alle  irgendwie  wertvollen  Besitz- 
tümer der  Organisation  auf  Selektionsprozesse  zurückzuführen; 
das  Prinzip  der  direkten  Anpassung  im  Sinne  Lamarcks  ist  fallen 
gelassen.  Damit  ist  der  ,, Neo-Darwinismus"  gekennzeichnet, 
als  dessen  Hauptvertreter  Weis  mann  genannt  werden  muß. 

Der  Einfluß,  den  diese  scharfe  Hervorhebung  der  Bedeutung 
der  Personalauslese  auf  das  biologische  Denken  der  letzten  De- 
zennien und  darüber  hinaus  auf  die  Behandlung  der  verschiedensten 
Probleme  gehabt  hat,  insbesondere  auch  auf  die  Bestrebungen, 
die  auf  eine  Verbesserung  des  Menschengeschlechtes  hinzielen, 
kann  kaum  überschätzt  werden.  Daß  Weismanns  Schriften 
daran  einen  besonderen  Anteil  gehabt  haben,  ist  zweifellos;  aber 
es  wäre  eine  Beleidigung  zahlreicher  ernst  und  gründlich  denkender 
Männer,  anzunehmen,  daß  dabei  die  Art  der  Darstellung,  ,, gewandte 
Dialektik",  den  Ausschlag  gegeben  hätte.  Es  war  die  Kraft  der 
von  Weismann  vorgebrachten  Tatsachen,  die  diesen  Erfolg  be- 
dingte. Eine  wie  große  Bedeutung  der  Ausbaugedanke  auf  dem 
Gebiete   der   zuletzt   genannten   Bestrebungen   der    Eugenik   oder 


207       — 

Rassehygiene  nachgerade  gewonnen,  darüber  gibt  die  Literatur 
über  dies  Gebiet  Aufschluß;  das  bekannte  verdienstvolle  Werk 
von  Schallmayer  zeigt  es  auf  jeder  Seite.  Mit  lebhafter  Anteil- 
nahme hat  Weismann  auch  diese  Bestrebungen  verfolgt;  wenn  er 
selbst  nicht  besonders  agitatorisch  dafür  eingetreten  ist,  so  lag  der 
Grund  dieser  Zurückhaltung  wohl  in  seiner  ganzen  Geistesrichtung, 
der  es  mehr  auf  das  Erkennen  als  auf  das  praktische  Verwerten 
ankam.  Aber  es  war  gewiß  voll  berechtigt,  daß  die  Gesellschaft 
für  Rassehygiene  ihn  zu  ihrem  Ehrenmitgliede  ernannte. 

II.  Sexuelle  Züchtung  (geschlechtliche  Zuchtwahl). 

Hat  sich  W  e  i  s  m  a  n  n  mit  seiner  Ablehnung  des  L  a  m  a  r  c  k  sehen 
Prinzips  von  dem  erblich  verändernden  Einfluß  des  Gebrauches 
und  Nichtgebrauches  von  Darwin  getrennt,  so  hat  er  sich  diesem 
dagegen  in  der  Frage  der  sexuellen  Züchtung  oder  geschlecht- 
lichen Zuchtwahl  in  allen  wesentlichen  Punkten  angeschlossen. 
Natürliche  Züchtung  und  sexuelle,  geschlechtliche  Züchtung  bringen 
beide  das  Selektionsprinzip  zur  Geltung;  ihre  Annahme  beruht  auf 
ähnlichen  Überlegungen,  nur  der  auslesende  Faktor,  der  an- 
genommene „Züchter"  ist  in  beiden  Fällen  verschieden.  Bekanntlich 
hat  Darwin  in  einem  besonderen  Werke  1871  das  Prinzip  der  ge- 
schlechtlichen Zuchtwahl  neben  das  der  natürlichen  gestellt  und  mit 
seiner  Hilfe  zahlreiche  Merkmale  erklärt,  die  durch  das  letztere 
nicht  verstanden  werden  können,  da  sie  für  die  Erhaltung  der  Art 
bedeutungslos  sind:  so  insbesondere  einen  Teil  der  sogenannten 
sekundären  Geschlechtscharaktere,  die  bei  manchen  Formen  der- 
artig in  die  Augen  springend  sind,  daß  man  von  einem  Geschlechts- 
dimorphismus sprechen  kann.  Die  hierher  gehörigen  Merkmale 
lassen  sich  in  drei  Gruppen  bringen.  Es  sind  erstens  wirkliche  An- 
griffs- oder  Verteidigungswaffen  für  die  Kämpfe  der  Männchen  um 
die  Weibchen  (Geweihe,  Mähnen,  Sporn  der  Hähne),  dann  Organe 
zum  Aufspüren,  Fangen  und  Festhalten  des  Weibchens,  endlich 
Schmuckbildimgen  und  sonstige  Auszeichnungen  verschiedenster 
Art  (prächtige  Färbungen,  musikalische  Fähigkeiten,  Düfte  und  dgl.). 
Die  Merkmale  der  beiden  ersten  Gruppen  sind,  nach  dem  Darwin- 
schen Prinzip,  von  unmittelbarem  Nutzen  für  das  Männchen  zwecks 
Erreichung  der  Fortpflanzung;  ihre  besondere  Ausbildung  wird 
dem  betreffenden  Männchen  ein  Übergewicht  in  der  Konkurrenz 


208       — 

mit  Rivalen  verleihen,  während  die  Weibchen  selbst  dabei  sich  passiv 
verhalten.  Anders  bei  der  dritten  Gruppe ;  den  Schmuckbildungen, 
im  weitesten  Sinne.  Diese  sollen,  nach  Darwins  Vorstellimg, 
auf  das  Unterscheidungsvermögen  und  den  Geschmack  des  be- 
gehrten Weibchens  wirken  und  die  Wahl  desselben  auf  den  Träger 
der  hervorstechendsten  Auszeichnung  lenken;  —  bei  ihnen  wird 
also  ein  aktives  Eingreifen  des  Weibchens  vorausgesetzt.  Alle  aber 
bilden  für  die  Männchen  Mittel,  um  zur  Fortpflanzung  zu  gelangen; 
je  besser  sie  ausgeführt  sind,  um  so  leichter  wird  ihr  Besitzer  zum 
Ziele  kommen  und  damit  zugleich  seine  auszeichnenden  Vorzüge 
auf  Nachkommen  übertragen.  Im  Laiife  der  Generationen  muß 
sich  dadurch,  wie  bei  der  natürlichen  Zuchtwahl,  eine  Steigerung 
der  Güte  der  Merkmale  ergeben. 

So  allgemein  angenommen  die  Darwinsche  Auffassung  von 
der  Bedeutung  der  wirklichen  Kampfwaffen  sowie  der  Spür-  und 
Fangeinrichtungen,  so  bestritten  ist  seine  Vorstellung  von  der  Gatten- 
wahl durch  die  Weibchen  und  der  Entstehung  von  Schmuckfedern, 
musikalischen  Fähigkeiten  und  ähnlichen  auszeichnenden  Merk- 
malen durch  geschlechtliche  Auslese,  und  vielfach  wird  dieselbe 
durchaus  abgelehnt,  auch  von  solchen,  die  die  Naturzüchtung 
gelten  lassen.  Weismann  hat  sich  mehrfach  zu  dieser  Frage  ge- 
äußert, so  schon  kurze  Zeit  nach  dem  Erscheinen  des  Darwinschen 
Buches,  in  seiner  Schrift  über  die  Bedeutung  der  Isolierung  für  die 
Artbildung  (1872,  —  in  der  er,  wie  es  scheint,  den  Begriff  ,, sexueller 
Dimorphismus"  eingeführt  hat  — ),  in  der  Arbeit  über  die  Schmuck- 
farben der  Daphnoiden,  zusammenfassend  endlich  in  der  Gedächtnis- 
schrift für  Darwin  (1909a)  sowie  in  einem  besonderen  Kapitel 
seiner  Vorträge  über  Deszendenztheorie.  Von  Anfang  an  imd  bis 
zum  Ende  ist  er  für  die  allgemeine  Richtigkeit  der  Darwinschen 
Auffassung  eingetreten,  doch  hat  er  hier  und  da  Abänderungen 
an  ihr  angebracht,  sie  teils  erweitert,  teils  eingeschränkt,  besonders 
auch  das  Verhältnis  der  sexuellen  Selektion  zu  der  Artselektion, 
das  mannigfache  Ineinandergreifen  beider  erörtert.  Es  gibt,  wie 
Weis  mann  ausführt,  sekundäre  Geschlechtsmerkmale,  die  ledig- 
lich durch  natürliche  Zuchtwahl  (Artselektion)  erklärt  werden 
müssen,  wie  die  zwerghafte  Kleinheit  der  Männchen  mancher 
schmarotzender  Krebse,  einiger  Würmer  und  Rädertierchen,  andere, 
bei  deren  Ausbildung  Artselektion   und   sexuelle    Selektion   inein- 


—      2oq      — 

andergreifend  zu  denken  sind,  wie  die  wirklichen  Waffen,  die  ja  doch 
auch  eine  Verbesserung  der  Art  im  Kampfe  ums  Dasein  (nicht 
nur  in  dem  der  Männchen  untereinander)  bedeuten,  oder  Einrich- 
tungen zum  Festhalten  der  Weibchen  bei  manchen  Formen,  —  Ein- 
richtungen, ohne  deren  Vorhandensein  die  Fortpflanzung  der  Art 
überhaupt  in  Frage  gestellt  wäre,  deren  bessere  Ausbildung  aber 
doch  auch  dem  einzelnen  Männchen  einen  Vorteil  gegenüber  seinem 
Rivalen  verleiht  — ,  endlich  aber  auch  musikalische  Betätigungen, 
die  vielfach  nicht  nur  Werbemittel  der  Männchen  sind,  sondern 
auch  dazu  dienen,  daß  die  Artgenossen  sich  zusammenfinden. 
Damit  schränkt  sich  die  Zahl  der  Einrichtungen,  die  rein  auf  ge- 
schlechtliche Auslese  zurückgeführt  werden  müssen,  erheblich  ein. 
Unter  diesen  ist  auch  wieder  eine  Anzahl  solcher,  deren  Besitzwert 
in  bezug  auf  die  Fortpflanzung  ohne  weiteres  in  die  Augen  springt, 
und  denen  gegenüber  die  Weibchen  sich  lediglich  passiv  verhalten: 
die  besonders  gut  ausgebildeten  Geruchsorgane  bei  den  Männchen 
vieler  Schmetterlinge,  Käfer  und  niederer  Krebse,  deren  Vervoll- 
kommnung leicht  darauf  zurückgeführt  werden  kann,  daß  immer 
die  besseren  Riecher  und  Spürer  am  leichtesten  und  raschesten 
das  Weibchen  zu  wittern  imstande  waren;  ferner  gewisse  Fang- 
organe, mit  denen  die  Männchen  mancher  niederen  Krebse  die 
Weibchen  einfangen  und  festhalten.  Der  Umstand,  daß  gegenüber 
diesen  Einrichtungen  den  Weibchen  eine  selbständige  Wahl  nicht 
zufällt,  erleichtert  es,  hier  ähnliche  Züchtungsprozesse  anzunehmen, 
wie  bei  der  natürlichen  Zuchtwahl  —  wenigstens  für  den,  der  über- 
haupt an  der  Wirksamkeit  von  Selektionsprozessen  glaubt.  So 
bleibt  denn  endlich  die  Gruppe  der  reinen  Auszeichnungen,  ,, Orna- 
mente", die  nach  Darwins  Auffassung  zunächst  anziehend  auf 
die  Weibchen  wirken  und  daraufhin  bei  ihnen  die  Auswahl  eines 
Gatten  anregen  sollen:  die  prächtigen  Farben  mancher  Vogel- 
und  Schmetterlingsmännchen,  der  Gesang  der  Vogelmännchen 
und  andere  musikalische  Fähigkeiten,  die  merkwürdigen  Düfte, 
die  manche  Schmetterlingsmännchen  von  ihren  Flügeln  ausströmen 
lassen.  Weismann  hat  auch  für  diese  die  Darwinsche  Erklärung 
angenommen,  freilich  mit  einer  kleinen  Abänderung:  während 
Darwin  jene  Vorzüge  auf  das  ästhetische  Empfinden  der  Weibchen 
wirken  läßt,  hält  Weismann  dafür,  daß  sie  mehr  unmittelbar 
als  sexuelle  Erregungsmittel  in  Betracht  kommen,  manche  schon 

O  a  u  p  p  ,  Biographie  Weismaniis.  14 


—       2IO       — 

an  und  für  sich,  wie  etwa  die  Farben  und  Düfte  mancher  Schmetter- 
lingsmännchen, andere,  indem  sie  als  Äußerungen  des  erregten 
männlichen  Geschlechtstriebes  die  gleiche  Empfindung  beim  Weib- 
chen auslösen,  wie  Locktöne  oder  die  Liebestänze,  die  das  Pfauen- 
männchen, unter  Entfaltung  aller  seiner  Reize,  um  das  Weibchen 
ausführt.  Aus  Locktönen,  die  ursprünglich  nur  dem  Weibchen 
die  Anwesenheit  eines  Männchens  ankündigten,  ist  durch  weitere 
Steigerung  der  Vogelgesang  entstanden  zu  denken,  der  nun  die 
Bedeutung  eines  Werbe-  und  Erregungsmittels  hat.  Ähnlich  mag 
es  mit  den  Düften  sein,  die  manche  männliche  Tiere  zur  Brunst- 
zeit ausströmen.  Auch  sie  mögen  zuerst  nur  die  Nähe  des  anderen 
Geschlechtes  angezeigt,  dann  aber  durch  Ausleseprozesse  eine  Steige- 
rung zu  einem  Erregungsmittel  erfahren  haben.  Unter  ihnen  haben 
die  an  Blimien  erinnernden  Wohlgerüche,  die  von  manchen  männ- 
lichen Schmetterlingen  ausgehen  und  nach  der  Entdeckung  von 
Fritz  Müller  auf  eigentümlichen  Duftschuppen  beruhen.  Weis- 
mann ganz  besonders  beschäftigt  und  zu  Untersuchungen  angeregt, 
die  zu  dem  Nachweis  führten,  daß  der  Duftstoff,  ein  ätherisches 
Öl,  wahrscheinlich  von  Hautzellen  der  Flügel  (die  nach  früherer 
Anschauung  zugrunde  gehen  sollten)  erzeugt  wird.  Nicht  ver- 
gessen seien  auch  die  Ausführungen  Weismanns  über  die  Häu- 
fung sekundärer  Geschlechtsmerkmale  bei  manchen  Formen,  über 
die  Unterschiede  der  auf  sexuelle  Zuchtwahl  ziuückführbaren 
Färbungen  und  Zeichnungen  gegenüber  denen,  für  die  die  natür- 
liche Auslese  verantwortlich  zu  machen  ist,  über  die  Entstehung 
komplizierter  Farbenmuster  auf  den  Flügeln  der  Schmetterlinge. 
Von  diesen  nimmt  er  an,  daß  sie  einer  wie derholtenFarbengebung 
ihre  Entstehung  verdanken*®).  Denn  der  Wettbewerb  innerhalb 
eines  Geschlechtes  hört  nie  auf,  und  wenn  eine  Farbenkombination 
sich  völlig  fixiert  hat  und  allen  Individuen  in  fast  gleicher  Weise 
zukommt,  so  wird  nur  noch  eine  ganz  neue  Variation  ihrem  Träger 
Vorteil  gewähren.  Es  wird  dann  gewissermaßen  eine  ,,neue  Mode" 
aufkommen.  Der  ersten  Farbengebung  folgte  so  eine  zweite,  dritte 
usw.,  und  durch  diesen  vielfachen  Wechsel  der  Farben  konnten  die 
ungemein  feinen  und  komplizierten  Zeichnungen  der  Schmetter- 
linge entstehen. 

Noch  nach  manchen  anderen   Richtungen  hat  Weismann 
die  Darwinsche  Vorstellung  von  der  Wirksamkeit  der  sexuellen 


21  I 


Auslese  weiter  geführt  und  zur  Erklärung  auffallender  Erschei- 
nungen verwertet.  Die  sexuelle  Züchtung  ist  ihm  eine  wichtige  Er- 
gänzung, zugleich  aber  auch  eine  Bestätigung  der  Natturzüchtung, 
da  es  in  einfachen  Fällen  möglich  ist,  den  Selektionswert  kleiner 
Verbesserungen  eines  Merkmals  zu  verstehen;  sie  hat  aber  auch, 
wie  er  (in  der  Arbeit  über  die  Schmuckfarben  der  Daphnoiden) 
besonders  erörtert  und  übrigens  für  manche  Fälle  auch  schon  von 
Darwin  selbst  angenommen  worden  ist,  vielfach  nicht  nur  zu  einer 
Umgestaltung  des  einen,  und  zwar  gewöhnlich  des  männlichen 
Geschlechtes  geführt,  sondern  auch  eine  solche  der  ganzen  Art 
eingeleitet,  indem  die  zunächst  bei  den  Männchen  herangezüchteten 
Charaktere  sich  mehr  oder  weniger  vollständig  auf  die  Weibchen 
übertragen.  So  erfolgte  ein  ,, Aufrücken  sekundärer  Geschlechts- 
charaktere zu  Artcharakteren".  In  dem  Umstand,  daß  sie  die  Art 
nicht  widerstandsfähiger  machen  im  Kampfe  ums  Dasein,  unter- 
scheiden sich  diese  Merkmale  von  denen,  die  auf  Naturzüchtung 
zurückzuführen  sind.  — 

Von  allgemeiner  Wichtigkeit  ist  endlich  noch  der  Gedanke, 
daß  sexuelle  Abzeichen  gelegentlich  in  sprungweise  aufge- 
tretenen Variationen  ihre  erste  Wurzel  gehabt  haben  können. 
Ein  wichtiger  Einwand  gegen  die  sexuelle  Selektion  wird  beseitigt, 
wenn  man  annimmt,  daß  die  Sexualabzeichen  von  vornherein  als 
auffällige  Variationen  größeren  Betrages  auftraten. 

So  hat  Weis  mann  die  Lehre  von  der  geschlechtlichen  Zucht- 
wahl verschiedentlich  weiter  geführt  und  hat  auch  hier  gezeigt, 
wie  es  ihm  stets  darum  zu  tun  war,  die  Einzeltatsachen  unter  großen 
allgemeinen  Gesichtspunkten  zu  verstehen,  zugleich  aber  auch  die 
Theorie  immer  wieder  an  den  Tatsachen  zu  prüfen.  Diese  Prüfung 
führte  ihn  dazu,  auch  die  Lehre  von  der  Gattenwahl  der  Weibchen 
auf  Grund  auszeichnender  Ornamente  für  richtig  zu  halten,  —  die 
Lehre,  die  zur  Zeit  von  vielen  Seiten  als  unmöglich,  von  anderen 
als  ein  Notbehelf  hingestellt  wird,  der  lediglich  mangels  besserer 
Erklärungen  einstweilen  beizubehalten  ist.  Weis  mann  hat  sich 
rückhaltlos  zu  ihr  bekannt  und  von  der  weiteren  Ausbreitung  der 
Tatsachenkenntnis  ihre  allgemeinere  Anerkennung  erwartet.  Wie 
weit  er  mit  diesem  Optimismus  Recht  gehabt,  kann  erst  die  Zu- 
kunft lehren  ^<^'''). 

14* 


2  12 


III.   Ergänzungsbedürftigkeit    der    Darwin- Wall ac eschen 

Zuchtwahllehre. 

Indem  Weismann  so  bestrebt  war,  die  Darwin-Wallacesche 
Zuchtwahllehre  in  ihren  beiden  Formen,  als  Art-  und  sexuelle 
Selektion,  von  allen  Seiten  zu  beleuchten,  sie  zu  vertiefen  und 
auszubauen,  kam  er  doch  auch  zu  der  Erkenntnis,  daß  nicht 
alle  Erscheinungen,  die  wir  an  den  Organismen  wahrnehmen,  durch 
Naturzüchtung  erklärt  werden  können,  und  daß  der  so  bezeich- 
nete Vorgang  nicht  allein  in  der  ,, Auslese"  (im  engeren  Sinne)  be- 
steht, sondern  zunächst  das  Vorhandensein  eines  auslesefähigen 
Materiales  zur  Voraussetzung  hat,  das  durch  irgendeine  andere 
Kraft  geschaffen  und  beeinflußt  wird.  An  die  Stelle  der  Frage 
nach  der  Causa  summandi(Roux),  nach  der  Ursache  der  Auslese 
und  Häufung  der  Variationen,  einer  Frage,  die  allein  von  der  Se- 
lektionstheorie behandelt  worden  war,  trat  nun  die  nach  der  wirk- 
lichen Bildungsursache,  der  Causa  efficiens.  Die  Annahme  noch 
eines  neben  der  eigentlichen  Auslese  wirksamen  Entwicklungs- 
prinzipes  erwies  sich  als  notwendig.  Darwin  und  nach  ihm  viele 
andere  Forscher  hatten  die  gleiche  Notwendigkeit  empfimden  und 
eine  Umwandlung  der  Formen  unter  dem  direkten  Einfluß  der 
äußeren  Bedingungen  sowie  durch  den  Gebrauch  und  Nichtgebrauch 
der  Organe  gelten  lassen.  Die  letztere  lehnte  Weismann  für  die 
phyletische  Entwicklung  ab,  die  erstere  gab  er  nur  innerhalb  enger 
Grenzen  zu.  Damit  aber  fiel  für  eine  ganze  Anzahl  von  Erschei- 
nungen die  Erklärungsmöglichkeit  fort,  und  es  war  notwendig, 
irgendein  anderes  wirkliches  Bildungsprinzip  an  die  Stelle  des  auf- 
gegebenen zu  setzen.  Es  blieb  noch  die  Möglichkeit,  dasselbe  in 
inneren  Vorgängen  zu  suchen,  und  in  dieser  Richtung  fand  denn 
auch  Weis  mann  eine  Lösung  der  Frage  —  freilich  anderer  Art, 
als  die  von  Nägeli,    KöUiker  u.  a.  gegebene  es  war. 

Die  wichtigsten  jener  von  Weismann  anerkannten,  ein 
selbständiges  inneres  Entwicklungsprinzip  verratenden  Erschei- 
nungen, —  auf  die  zum  Teil  schon  hingedeutet  wurde  —  dürften 
die  folgenden  sein. 

Wenn  Abänderungen,  auch  nützlicher  Art,  nur  bei  vereinzelten 
Individuen  auftreten,  so  wird,  wofern  nicht  besondere  Umstände, 
wie  Isolierung  oder  sexuelle  Züchtung,  unterstützend  hinzukommen, 


—      213      — 

indem  sie  die  Rückkreuzung  mit  der  Stammform  erschweren,  wenig 
Aussicht  auf  ihre  Erhaltung  sein.  So  sind  wir  zu  der  Annahme  ge- 
nötigt, daß  vielfach  von  Anfang  an  zahlreiche  Individuen  die 
Anfangsstufen  der  nützlichen  Abänderung  hervorgebracht  haben. 
Das  aber  weist  darauf  hin,  daß  die  Variationen  schon  bei  ihrem 
ersten  Auftreten  nicht,  wie  Darwin  meinte,  regel-  und  richtungslos, 
sondern  entweder  durch  die  äußeren  Verhältnisse  oder  durch  innere, 
d.  h.  in  den  Organismen  selbst  gelegene  Kräfte  bedingt  sind*'). 
Eine  solche  Abhängigkeit  der  Variationen  von  bestimmten 
Gesetzen,  insbesondere  das  Walten  einer  Kraft,  die  ein  variierendes 
Merkmal  in  der  einmal  eingeschlagenen  auf-  oder  absteigenden 
Variationsrichtung  festzuhalten  vermag,  ein  besonderes  ,,Stär- 
kungs"-  und  ,,Schwächungs"-Prinzip,  muß  dann  aber  auch, 
wie  schon  angedeutet,  bei  jedem  Zuchtwahlprozeß  angenommen 
werden.  Das  ist  ja  der  Sinn  der  Zuchtwahllehre,  daß  ein  Merkmal, 
das  zuerst  in  kleinem  Betrage  auftritt,  allmählich  gesteigert,  daß 
also  das  Mittel,  um  das  herum  die  individuellen  Schwankungen 
stattfinden,  alimählich  nach  aufwärts  verschoben  wird.  Das  kann 
durch  ,, Auslese"  allein  nicht  erreicht  werden,  sondern  setzt  eine 
Kraft  voraus,  die  von  sich  aus  eine  solche  Verschiebung  des  Mittels 
bewirkt  und  der  Auslese  das  betreffende  Merkmal  in  immer  höherer 
Ausbildung  anbietet.  Diese  Steigerungsfähigkeit  eines  Merk- 
mals, mit  der  die  Lehre  von  der  natürlichen  Zuchtwahl  rechnet, 
wird  durch  die  Erfolge  der  künstlichen  Züchtung  bewiesen.  Durch 
die  im  individuellen  Leben  erfolgende  Übung  der  betreffenden 
Einrichtung  würde  eine  solche  Steigerung  leicht  zu  erklären  sein 
—  wofern  man  die  Wirkungen  derselben  als  erblich  ansehen  könnte, 
was  Weismann  aber  ablehnte.  Zudem  könnte  auch  dieses  Prinzip 
nicht  überall  in  Frage  kommen;  es  scheidet  von  vornherein  aus  bei 
den  ,, apraktischen",  nur  durch  ihr  Dasein  bedeutungsvollen  Merk- 
malen, die  nicht  eigentlich  ,, funktionieren",  und  bei  denen  somit 
auch  eine  ,, funktionelle  Anpassung",  deren  Wirkungen  etwa  ver- 
erbt werden  könnten,  gar  nicht  in  Frage  kommt.  Wenn  der  japanische 
Züchter  Hähne  mit  sechs  Fuß  langen  Schwanzfedern  züchten  konnte, 
so  weist  das  darauf  hin,  daß  durch  irgendeine  Kraft  die  Schwanz- 
federn sich  überhaupt  in  einer  anhaltenden  aufwärts  gerichteten 
Variationsbewegung  befanden,  die  vom  Züchter  ausgenutzt  wurde, 
indem  er  immer  die  Tiere  mit  den  am  stärksten  verlängerten  Federn 


—       214       — 

zur  Nachzucht  auswählte.  Und  doch  kann  Personalselektion  offen- 
bar das  Voranschreiten  einer  Variationsrichtung  nicht  direkt  be- 
wirken, sondern  ihr  nur  freien  Lauf  lassen,  indem  sie  die  Träger 
entgegenstehender  Variationen  von  der  Nachzucht  ausschließt. 
Was  war  aber  dann  die  eigentliche  Ursache  dieser  Steigerung, 
dieses  Fortschreitens  in  einer  bestimmten  Variationsrichtung? 
Es  bleibt  auch  hier  kaum  etwas  anderes  übrig,  als  die  Annahme  einer 
inneren  Kraft,  die  den  Variationen  bestimmte  Richtungen  vor- 
schreibt. 

Ist  das  schon  zur  Ergänzung  der  Ausleseprozesse  notwendig, 
so  wird  es  in  noch  höherem  Maße  gefordert  durch  die  Erscheinungen, 
bei  denen  solche  Prozesse  überhaupt  nicht  in  Frage  kommen,  also 
zur  Erklärung  der  notwendig  anzunehmenden  Steigerungsfähigkeit 
von  Merkmalen,  die  der  Zuchtwahl  nicht  unterworfen 
sind,  und  zwar  nach  der  positiven  wie  nach  der  negativen  Seite 
hin.  —  Abänderungen,  die  Selektionswert  haben  sollen,  müssen 
eine  gewisse  Größe  besitzen;  bevor  sie  diese  erreicht  haben,  d.  h. 
solange  sie  ,, unter  der  Schwelle  von  Gut  und  Schlecht"  bleiben, 
haben  sie  keine  Bedeutung  für  die  Zuchtwahl  und  können  somit 
von  dieser  auch  nicht  gesteigert  werden.  So  ergibt  sich  die  Not- 
wendigkeit, nach  einer  anderen  Ursache  zu  forschen,  die  imstande 
ist,  solche  noch  indifferenten  Abänderungen  in  der  gleichen  Richtung 
weiter  zu  steigern  und  bis  zum  Selektionswert  emporzuheben. 

Diese  mehr  theoretische  Erwägung  erfährt  eine  sehr  kräftige 
Unterstützung  durch  eine  Gruppe  von  Erscheinungen,  die  man 
ganz  besonders  gern  dem  Selektionsprinzip  entgegengehalten,  und 
denen  auch  Weismann  immer  ganz  besondere  Beachtimg  geschenkt 
hat:  die  biologisch  wertlosen,  rein  morphologischen  Merkmale. 
Wir  sahen  ja  schon  (S.  i76ff.),  daß  Nägeli  und  mit  und  nach  ihm 
viele  andere  Forscher  alle  ,, Organisationsmerkmale",  also  alle  für 
die  großen  Gruppen  des  Systems  (Klassen,  Ordnungen,  Familien, 
Gattungen)  maßgebenden  Erkennungsmerkmale  als  solche  rein 
morphologische  Merkmale  betrachteten  und  den  ,, Anpassungen" 
nur  den  Wert  von  ,, Verzierungen"  zugestanden.  Hiergegen  hat 
Weismann  freilich  immer  sehr  bestimmt  Stellung  genommen 
und  die  Ansicht  vertreten,  daß  auch  die  größte  Menge  der  ,, Or- 
ganisationsmerkmale" als  Anpassungen  entstanden  sind,  aber  daß 
,rein    morphologische"    Merkmale    ohne    nachweisbare    biologische 


—      215      — 

Bedeutung  tatsächlich  vorkommen,  hat  er  stets  zugegeben.  Schon 
seine  Antrittsrede  von  1865  behandelt  sie  und  sucht  sie  zu  erklären, 
und  oft  genug  ist  er  später  auf  sie  zurückgekommen.  Der  im  Eifer 
des  Kampfes  ihm  öfter  entschlüpfte  Ausruf  ,, alles  ist  Anpassung" 
erfährt  doch,  namentlich  in  den  letzten  20  Jahren  seines  Lebens, 
auch  immer  wieder  eine  Einschränkung,  und  in  den  ,, Vorträgen 
zur  Deszendenztheorie"  ist  es  ganz  offen  ausgesprochen:  ,,Aber 
freilich  sind  die  Arten  nicht  lediglich  Anpassungskomplexe, 
sondern  zugleich  auch  bloße  Variationskomplexe,  deren  ein- 
zelne Bestandteile  nicht  alle  Anpassungen  sind,  nicht  alle  also  die 
Grenze  von  Gut  und  Schlecht  erreichen"**).  Freilich  ist  ihre  Zahl 
nicht  sehr  groß  anzunehmen;  das  meiste,  was  die  Organismen  dar- 
bieten, hat  Anpassungswert,  wenn  auch  seine  jetzige  Bedeutung 
eine  andere  ist,  als  die  war,  auf  Grund  deren  es  durch  Selektion 
in  den  Merkmalbestand  der  Art  aufgenommen  wurde.  Immerhin 
gibt  es  biologisch  bedeutimgslose  Merkmale,  die  teils  mehr  indi- 
vidueller Art  sind  und  nur  für  einige  Generationsfolgen  beibehalten 
werden,  teils  konstante  Artmerkmale  bilden  (z.  B.  Zahl  und  Stellung 
der  Blütenblätter  bei  Pflanzen).  Die  Formel,  daß  sie  durch  die 
,, Korrelation  der  Teile"  zu  erklären  seien,  wie  Weismann  anfangs 
meinte,  konnte  auf  die  Dauer  nicht  befriedigen;  abgesehen  davon, 
daß  solche  Korrelationen  durchaus  nicht  immer  erkennbar  waren, 
blieb  die  Formel  selbst  ja  noch  erklärungsbedürftig.  So  verlangten 
also  auch  die  rein  morphologischen  Merkmale  und  die  Steigerung 
in  der  Ausbildung,  die  sie  in  manchen  Fällen  zeigen,  die  Annahme 
eines  Entwicklungsprinzipes,  das  in  den  Organismen  selbst  in  be- 
stimmter Richtung  tätig  ist. 

Die  Notwendigkeit,  nach  einer  solchen  inneren  Entwicklungs- 
kraft zu  suchen,  ergab  sich  endlich  aus  der  Unmöglichkeit,  das  völlige 
Schwinden  funktionslos  gewordener  Organe  durch  das  Selektions- 
prinzip zu  erklären.  Daß  ein  nutzlos  gewordenes  Organ  von  der  Höhe 
seiner  Leistungsfähigkeit  herabsinkt,  war  wohl  vom  Boden  der 
Zuchtwahllehre  aus  verständlich  (durch  den  Fortfall  der  kon- 
servierenden Kraft  der  Naturzüchtung,  s.  S.  196),  aber  was  bewirkte, 
nachdem  es  einmal  funktionslos  geworden  war,  seinen  völligen 
Schwund  ?  Konnte  die  dadurch  bewirkte  Ersparnis  an  Material 
und  Raum  irgendwie  nützlich  und  sogar  ausschlaggebend  im  Kampf 
ums  Dasein  sein?    Konnte  es,  wie  Herbert  Spencer  schon  gefragt 


—        2  I  6        — 

hatte,  bei  den  vielen  Zentnern,  die  das  Gewicht  eines  Wales  aus- 
machen, noch  von  einem  Nutzen  sein,  daß  die  hinteren  Extremitäten 
vollständig  verschwanden,  statt  etwa  auf  der  Stufe  rudimentärer 
Anhängsel  stehen  zu  bleiben  ?  Auch  hier  versagt  das  Prinzip  der 
Personalselektion,  und  es  war  nötig,  nach  einer  anderen  Erklärung 
zu  suchen. 

Alle  diese  Erwägungen  verlangten  somit  die  Annahme  noch 
einer  besonderen,  neben  der  natürlichen  Zuchtwahl  tätigen  inneren 
Bildungskraft.  Weismann  erkannte  sie  in  der  Germinalselek- 
tion,  in  Vorgängen  des  Kampfes,  die  er  zwischen  den  Determinanten 
des  Keimplasmas  annimmt.  Diese  im  Keimplasma  sich  abspielenden 
Vorgänge,  die  wir  in  ihrem  Wesen  noch  genauer  kennen  lernen 
werden,  können  —  wenn  auch  vielleicht  nicht  gerade  häufig  —  an- 
geregt werden  durch  Mediumeinflüsse  und  vermitteln  so  das  Auf- 
treten erblicher  Abänderungen  unter  der  direkten  Einwirkung  von 
Klima,  Ernährung  usw.  Vor  allem  aber  sind  sie  die  Folge  von  noch 
nicht  genauer  anzugebenden  Vorgängen  innerhalb  des  Organismus 
und  schaffen,  durch  diese  angefacht,  die  kleinen  individuellen 
Varietäten,  mit  denen  die  Personalselektion  arbeitet,  und  die  die 
ersten  Stufen  der  Umwandlungen  darstellen.  Ihrer  Natur  nach 
haben  sie  das  Bestreben,  in  der  einmal  eingeleiteten  Richtung  weiter 
zu  gehen,  somit  eine  angebahnte  Veränderung  in  gleicher  Richtung 
fortschreiten  zu  lassen,  so  lange,  bis  ihnen  durch  eine  höhere  In- 
stanz ein  Halt  zugerufen  wird.  Diese  höhere  Instanz  ist  aber  nach 
wie  vor:  Personalselektion.  Sie  läßt  die  Germinalselektion  gewähren, 
solange  die  durch  sie  beschaffenen  Veränderungen  für  das  Wohl 
des  Individuums  gleichgültig,  ,, jenseits  von  Gut  und  Schlecht" 
sind,  läßt  so  die  ,,rein  morphologischen",  biologisch  bedeutungslosen 
Merkmale  sich  ausbilden,  oder  Organe  zugrunde  gehen,  wenn  die- 
selben für  die  Art  infolge  der  augenblicklichen  Bedingungen,  unter 
denen  dieselbe  lebt,  wertlos  sind;  sie  greift  aber  ein,  wenn  die  Ab- 
änderungen, die  die  Germinalselektion  schafft,  nach  der  guten 
oder  der  schlechten  Seite  bedeutungsvoll  werden,  Selektionswert 
erlangen.  Dann  merzt  sie  die  ungünstigen  Variationen  aus,  be- 
fördert die  günstigen,  und  modelt  so  die  Organismen  im  Sinne  der 
Anpassung  um.  So  schafft,  wie  Weismann  es  einmal  ausdrückt, 
die  Germinalselektion  die  Bausteine,  aus  denen  die  Personalselektion 
ihre  Tempel  und  Paläste  aufbaut:  die  Anpassungen. 


—     2  17      — 

Mit  der  Aufstellung  der  Lehre  von  der  Germinalselektion 
im  Jahre  1895  schließt  für  Weismann  eine  Epoche  ab,  die  Epoche 
des  allzu  weit  gehenden  Glaubens  an  die  Leistungsfähigkeit  der 
Zuchtwahllehre  von  Darwin  und  Wallace.  Sie  war  eingeleitet 
gewesen  durch  die  Absage  an  den  Lamarekismus  und  gipfelte  in 
dem  oft,  namentlich  oft  vonWeismanns  Gegnern  mit  überlegener 
Geste  wiederholten  Wort  von  der  ,, Allmacht  der  Naturzüchtung". 
Es  war  keine  glückliche  Stunde,  als  Weismann  dieses  Wort  zum 
Titel  einer  besonderen  Streitschrift  machte  (1893).  Schlagworte 
sind  in  der  Wissenschaft  immer  mißlich;  die  schlagende  Wirkung, 
die  von  ihnen  verlangt  wird,  kann  oft  genug  nur  durch  Einseitigkeit 
und  Übertreibung  erreicht  werden.  So  ist  es  hier.  Daß  Weismann 
sich  dessen  durchaus  bewußt  gewesen  ist,  geht  daraus  hervor,  daß 
er  selbst  jenes  Wort  später  (1909)  als  ein  ,, starkes"  bezeichnet  und 
gewissermaßen  damit  entschuldigt  hat,  daß  er  es  einem  Gegner 
gegenüber  gebrauchte,  der  von  der  Unzulänglichkeit  (inadequacity) 
der  Naturzüchtung  gesprochen  hatte.  Vor  allen  Dingen  aber  hat 
er  durch  die  Aufstellung  der  Germinalselektion  anerkannt, 
daß  von  einer  ,,  All  macht  der  Naturzüchtung",  wenn  man  das  Wort 
wirklich  genau  nimmt,  nicht  gesprochen  werden  kann.  Unumwunden 
und  klarer  kann  das  nicht  ausgedrückt  werden,  als  es  von  Weis  mann 
selbst  geschehen  ist  in  dem  Vorwort  zu  der  ersten  Auflage  der  Vor- 
träge über  Deszendenztheorie:  ,,An  der  Determinantenlehre  aber 
hängt  dann  weiterhin  auch  die  Germinalselektion,  und  ohne  diese 
bleibt  der  große  Gedanke  der  Leitung  des  Umwandlungs- 
ganges der  Lebensformen  durch  Auslese  unter  Ver- 
werfung des  Unzweckmäßigen  und  Bevorzugung  des 
Besseren  nach  meiner  Überzeugung  ein  Torso,  ein  Baum 
ohne  Wurzel."  Das  bedeutet  eine  freimütige  Absage  an  die  ,, All- 
macht" der  Naturzüchtung  im  Sinne  von  Darwin  und  Wallace, 
von  der  auch  die  Gegner  Weis manns  Kenntnis  nehmen  sollten '''') . 


Achter  Abschnitt. 

Herkunft  erblicher  individueller  Variationen. 
Germinalselektion. 


Variabilität  der  Organismen.  Erbliche  und  nichterbliche  Abänderiingen.  —  Die  erb- 
lichen individuellen  Variationen,  ihre  Ursache  und  Art.  —  Variabilität  als  Folge  der 
Wechselwirkung  der  äußeren  Einflüsse  und  der  physischen  Natur  der  Organismen.  — 
Variabilität  als  Folge  der  Vermischung  der  Individuen  (Amphimixis).  —  Variabilität  als 
Folge  von  Germinalselektion.  —  Die  verschiedene  Ernährung  der  Determinanten  als 
Grund  für  ihre  Veränderung.  —  Beibehaltung  der  eingeschlagenen  Variationsrichtung; 
Grenzen  der  Schwankungen ;  Korrelation  der  Determinanten.  —  Wesen  der  Deter- 
minantenveränderungen;  Wirkungen  auf  das  Soma  (die  Determinaten).  —  Ursachen  der 
Ernährungsschwankungen.  Spontane  und  induzierte  Germinalselektion.  —  Germinalselek- 
tion und  Personalselektion.  —  Bedeutung  der  Lehre  von  der  Germinalselektion.  —  Er- 
weiterung der  Machtsphäre  des  Selektionsprinzipes  durch  die  Lehre  von  der  Germinal- 
selektion. —  Die  verschiedenen  Formen  der  Auslese. 


Variabilität  der  Organismen.  Erbliche  und  nichterbliche  Ab- 
änderungen. 
Der  wichtigste  Grundpfeiler  der  Darwinschen  Lehre  ist  die 
Variabilität  der  Organismen.  Nicht  zwei  Individuen  einer 
Art  gleichen  einander  völlig,  sie  alle  zeigen  gewisse  Unterschiede, 
deren  Erblichkeit  Darwin  als  Regel  ansah.  Nichterbliche  Abände- 
rungen ließ  er  zwar  gelten,  aber:  ,,sie  sind  für  uns  ohne  Bedeutung". 
Neuerdings  wird  der  Unterschied  zwischen  erblichen  Varietäten 
und  nichterblichen  oder  ,,passanten",  wie  Weismann  sie  nennt, 
schärfer  betont,  und  die  erbhchen  haben  durch  die  Benennung  als 
,, Mutationen"  eine  besondere  Kennzeichnung  erhalten.  Niu:  sie 
kommen  hier  in  Frage  ^). 


2  \g 


Die    erblichen    individuellen  Variationen,   ihre  Ursache    und    Art. 

Die  Tätigkeit  der  Selektionsprozesse  setzt  das  Vorhandensein 
solcher  erblicher  individueller  Variationen  voraus,  diese  sind  somit 
die  ersten  Stufen  der  Abänderung;  sie  werden  von  der  Zuchtwahl 
ausgelesen,  kombiniert,  gesteigert,  aber  nicht  geschaffen.  Ohne  sie 
würde,  nach  Darwinscher  Auffassung,  eine  Umwandlung  der 
Formen  nicht  stattgefunden  haben  und  überhaupt  nicht  stattfinden 
können.  So  spitzt  sich  die  Frage  nach  den  Ursachen  der  Formen- 
umwandlung zu  einer  solchen  nach  den  Ursachen  der  indi- 
viduellen erblichen  Variationen  zu.  Und  neben  ihr  stehen 
andere:  die  nach  der  für  die  Zuchtwahl  notwendigen  Größe  der 
Abänderungen,  die  schon  im  vorigen  Abschnitt  besprochen  wurde, 
und  vor  allem  die  nach  der  Art  der  Variationen.  Darwin  nahm 
ihre  Richtungs-  und  Regellosigkeit  an;  andere  Autoren,  wie  E.  v. 
Hartmann  und  Askenasy  dagegen  rechneten  mit  einer  ,, bestimmt 
gerichteten  Variation",  die  der  Ausfluß  einer  unbekannten  inneren 
Entwicklungskraft  sein  sollte.  Damit  war  aber  ein  metaphysisches 
Prinzip  zugegeben,  das  in  die  mechanistische  Naturauffassung  des 
Darwinismus  nicht  hineinpaßte.  So  gewinnt  die  Frage  nach  der 
Herkunft  und  der  Art  der  Variationen  noch  eine  allgemeinere  Wichtig- 
keit, die  Weismann  einmal  ausdrückt  in  den  W^ orten:  ,,Eine 
theoretische  Definition  der  Variabilität  ist  es,  ohne  welche  die 
Selektionslehre  allerdings  noch  immer  dem  Einschmuggeln  einer 
zwecktätigen  Kraft  die  Türe  offen  läßt.  Eine  mechanische  Erklärung 
der  Variabilität  muß  die  Grundlage  dieser  Seite  der  Selektions- 
theorie bilden"  ^^). 

In  klarer  Erkenntnis  dieser  Sachlage  hat  Weismann  die 
Frage  nach  der  Variabilität  in  ihren  verschiedenen  Beziehungen 
vom  ersten  Augenblick  seiner  Beschäftigung  mit  dem  Darwinismus 
an  ins  Auge  gefaßt,  und  vielleicht  spiegelt  nichts  so  deutlich  das 
allmähliche  Werden  seiner  theoretischen  Anschauimgen  wieder,  als 
die  drei  Phasen,  die  seine  Stellungnahme  zu  der  Variabilitätslehre 
durchlaufen  hat,  und  denen  man  mit  kurzen  Kennworten  etwa  die 
Überschriften  geben  könnte:  Variabilität  als  Folge  der  Wechsel- 
wirkung der  äußeren  Einflüsse  und  der  physischen  Natur  der  Or- 
ganismen, Variabilität  als  Folge  der  Vermischung  der  Individuen 
(Amphimixis) ,  Variabilität  als  Folge  von  Germinalselektion.  — 


220 


Variabilität  als  Folge  der  Wechselwirkung  der  äußeren  Einflüsse 
und  der  physischen   Natur  der  Organismen. 

Schon  die  Rede  von  1865  erörtert  auch  die  Variabilitätsfrage 
und  bringt  wichtige  Gesichtspunkte  zu  ihr  herbei.  Die  Vererbung, 
so  wird  hier  geschlossen,  bedeutet  Übertragung  einer  bestimmten 
Entwicklungsrichtung,  die  für  den  elterlichen  Organismus 
gegolten  hat,  auf  den  Keim,  der  sich  zum  kindlichen  Organismus 
entfalten  soll;  die  Variabilität  kommt  dadurch  zustande,  daß 
diese  Entwicklungsrichtung  durch  die  verschiedenen  äußeren  Ein- 
flüsse bald  hierhin,  bald  dorthin  abgelenkt  wird ;  sie  ist  die  Resultante 
aus  der  ererbten  Entwicklungsrichtung  und  den  äußeren  Einflüssen. 
Dagegen  lehnte  Weismann  damals  schon  die  Vorstellung  ab, 
daß  eine  innere  Ursache  —  Nägelis  ,, Vervollkommnungsprinzip"  — 
die  Organismen  zwinge,  im  Laufe  der  Zeit  ihre  Gestalt  gesetzmäßig 
zu  ändern  und  sich  in  eine  neue  Art  umzuwandeln.  Eingehender, 
aber  in  gleichem  Sinne,  spricht  er  darüber  in  dem  Aufsatz  über  die 
mechanische  Auffassung  der  Natur  (1876),  der  für  die  allmähliche 
Entwicklung  seiner  theoretischen  Vorstellungen  ein  so  besonders 
wertvolles  Zeugnis  darstellt.  Alle  Ungleichheit  der  Organismen, 
so  heißt  es  hier,  muß  darauf  beruhen,  daß  im  Laufe  der  Entwick- 
lung der  organischen  Natur  ungleiche  äußere  Einflüsse  die 
einzelnen  Individuen  getroffen  haben,  sie  ist  der  Ausdruck  ungleicher 
Beeinflussung  an  und  für  sich  gleicher  Entwicklungsrichtungen. 
Dabei  ist  aber  zweierlei  auseinanderzuhalten,  nämlich  einm.al  die 
ungleichen  Einflüsse,  denen  die  Keime  vom  ersten  Augenblick 
ihrer  Entwicklung  an  ausgesetzt  sind,  und  zweitens  eine  schon 
vorher  gegebene  Ungleichheit  der  Keime  selbst,  die  darauf  zurück- 
zuführen ist,  daß  schon  die  Muttertiere  und  deren  Vorfahren  un- 
gleichen äußeren  Einflüssen  ausgesetzt  waren.  Ja,  es  muß  sogar 
als  wahrscheinlich  gelten,  daß  das  organische  Leben  einmal  nicht  mit 
einem  Urorganismus  begann,  sondern  daß  von  vornherein  deren 
mehrere  durch  Urzeugung  entstanden,  die  dann  ebenfalls  nicht  ab- 
solut gleich  gedacht  werden  können,  da  die  Umstände,  unter  denen 
sie  ins  Leben  traten,  nicht  absolut  identisch  gewesen  sein  können. 
Weismann  steht  bei  dieser  ganzen  Betrachtung  noch  durchaus 
auf  dem  Boden  der  Annahme  einer  Vererbung  erworbener  Eigen- 
schaften, er  geht  von  der  Voraussetzung  aus,  daß  die  individuellen 


22  I 


Verschiedenheiten  der  Vorfahrenreihe,  die  auf  der  ungleichen  Be- 
einf hissung  durch  die  äußeren  Einflüsse  beruhen,  auch  bei  un- 
geschlechtlicher Fortpflanzung  Minimalverschiedenheiten  der  auf 
das  Ei  übertragenen  Entwicklungsrichtung  bedingen  müssen.  Somit 
ist  die  Variabilität  nicht  etwas  dem  Begriff  des  Organismus  Im- 
manentes, sondern:  ,,die  Verschiedenheit  der  Individuen  gleicher 
Abstammung  beruht  in  letzter  Instanz  lediglich  auf  der  Ungleich- 
heit der  äußeren  Einflüsse,  und  zwar  einerseits  derjenigen,  welche 
die  Entwicklung  der  Vorfahren,  andererseits  derjenigen,  welche 
das  betreffende  Individuum  selbst  von  dem  eingeschlagenen  Wege, 
d.  h.  von  der  durch  Vererbung  übertragenen  Entwicklungsrichtung, 
um  ein  Geringes  ablenken.  Dabei  ist  weiter  damit  zu  rechnen, 
daß  die  individuellen  Verschiedenheiten  einer  und  derselben  Vor- 
fahrenreihe die  erzeugten  Keime  in  verschiedener  Weise  beeinflussen 
werden,  so  daß  auch  bei  gleicher  Vorfahrenreihe  eine  Ungleichheit 
der  Keime  zustande  kommt,  die  nicht  erst  etwa  durch  ungleiche 
Ernährung  dieser  selbst  bedingt  ist,  sondern  auf  ungleicher  Ver- 
erbung der  individuellen  Verschiedenheiten  der  Vorfahrenreihe  be- 
ruht, eine  Quelle  der  Ungleichheit,  die  bei  der  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung noch  ungleich  stärker  fließen  muß,  als  bei  der  ungeschlecht- 
lichen. Wie  aber  hier  eine  Vermischung  der  Merkmale  (genauer: 
Entwicklungsrichtungen)  zweier  gleichzeitig  lebender  Individuen 
in  einem  Keime  stattfindet,  so  wird  bei  jeder  Art  der  Fortpflanzung 
eine  Mischung  der  Merkmale  einer  ganzen  Sukzession  von  Individuen 
(der  Ahnenreihe)  in  demselben  Keim  zusammentreffen,  von  denen 
sich  freilich  die  entferntesten  nur  selten  in  merklicher  Weise  geltend 
machen."  Damit  taucht  ein  Gedanke  auf,  der  dann  später  be- 
stimmtere Form  erhalten  sollte :  die  Anschauung  von  der  Bedeutung 
der  sexuellen  Fortpflanzung  für  die  Entstehung  von  individuellen 
Varianten. 

Durch  seine  Versuche  über  den  Saisondimorphismus  der 
Schmetterlinge  hatte  Weis  mann  den  direkten  abändernden  Ein- 
fluß der  äußeren  Bedingungen  experimentell  nachgewiesen;  die  Er- 
örterungen über  die  verschiedenen  Formen  des  Generationswechsels, 
in  seiner  Daphnoidenmonographie,  gaben  ihm  Anlaß,  diese  Tatsache 
nochmals  scharf  zu  betonen  und  allgemein  zu  erklären,  daß  auch 
die  Keimesänderungen,  mit  denen  die  Naturzüchtung  operiert, 
und  die  die  Ursache  angeborener  erblicher  Abänderungen  der  In- 


222        — 


dividuen  sind,  in  letzter  Instanz  auf  direkter  Wirkung  äußerer 
Einflüsse  beruhen  ^^). 

In  der  Frage  nach  der  Qualität  der  durch  diese  Einflüsse 
bedingten  Abänderungen  nahm  Weismann  von  vornherein  einen 
von  Darwin  abweichenden  Standpunkt  ein.  In  der  Antrittsrede 
von  1865  ist  vielleicht  der  wichtigste  eigene  Gedanke  der,  daß  ein 
gegebener  Organismus  nicht  regellos  nach  allen  beliebigen  Rich- 
tungen hin  variieren  kann,  sondern  daß  seine  spezifische  Natur, 
die  eigentümliche  chemische  und  physikalische  Zusammensetzung 
seines  Körpers,  seiner  Variationsfähigkeit  Grenzen  steckt  und  be- 
stimmte Richtungen  vorschreibt.  Zahl  und  Art  der  möglichen 
Variationen  sind  durch  die  eigentümliche  Natur  einer  jeden  Art 
fest  bestimmt;  die  Abänderung  der  Formen  ist  eng  verknüpft  auch 
mit  einer  Abänderung  ihrer  Variationsfähigkeit,  und  je  weitläufiger 
die  Verwandtschaft  zweier  Arten  ist,  um  so  verschiedener  muß 
ihre  Variationsfähigkeit  sein,  da  ihre  gemeinsamen  Stammeltern 
um  viele  Generationsreihen  hinter  ihnen  zurückliegen,  und  die 
Variationsfähigkeit,  die  jenen  eigen  war,  von  den  folgenden  Gene- 
rationen in  verschiedener  Weise  abgeändert  wurde.  Eine  Katze 
variiert  anders  als  ein  Hund  oder  gar  als  ein  Infusorium.  So  sind 
denn  auch  die  Bahnen,  in  denen  sich  die  Entwicklung  des  Organismen- 
reiches vollzogen  hat,  nicht  regel-  und  richtungslos,  nicht  reine 
Sache  des  Zufalls  gewesen,  sondern  haben  sich  mit  Notwendigkeit 
ergeben  aus  dem  Zusammenwirken  der  äußeren  Einflüsse  und  der 
physischen  Natur  der  Organismen.  Der  gleiche  Standpunkt  wird 
in  dem  mehrfach  genannten  Aufsatz  über  die  mechanische  Auf- 
fassung der  Natur  vertreten :  letzten  Endes  sind  es  immer  die  äußeren 
Einflüsse,  die  die  Abänderungen  der  Organismen  hervorrufen, 
aber  die  Art,  wie  die  letzteren  auf  die  Abänderungsreize  reagieren, 
ist  abhängig  von  der  physischen,  historisch  gewordenen  Konstitution 
des  Organismus,  und  Organismen  verschiedener  Art  reagieren  ver- 
schiedenartig, wenn  sie  von  den  gleichen  Abänderungsreizen  ge- 
troffen werden.  So  besteht  allerdings  eine  ,, bestimmt  gerichtete 
Variation",  aber  nicht  im  Sinne  Askenasys  und  Hartmanns 
als  Ausfluß  eines  unbekannten  inneren  Entwicklungsprinzips, 
sondern  als  notwendige  Folge  der  ungleichen  physischen  Natur 
der  Arten:  die  Annahme  eines  Variierens  in  bestimmter  Richtung 
schließt   keineswegs  die   Anerkennung  eines  metaphysischen   Ent- 


—        223       — 

wicklungsprinzipes  ein,  sondern  läßt  sich  als  Restdtat  der  physischen 
historisch  bedingten  Zusammensetzung  der  Organismen  sehr  wohl 
begreifen. 

Von  diesen  Überlegungen  aus  läßt  sich  auch  die  Entstehung 
einer  neuen  Form,  lediglich  unter  dem  direkten  Einflüsse  der 
äußeren  Bedingungen  (ohne  das  Eingreifen  von  Ausleseprozessen), 
verstehen.  Eine  größere  Individuengruppe  derselben  Art,  von  den 
gleichen  Einflüssen  getroffen,  wird  in  nahezu  gleicher  Weise  variieren 
müssen,  und  wenn  diese  Einflüsse  Generationen  hindurch  wirksam 
sind,  so  werden  sich  ihre  Wirkungen  durch  Vererbung  häufen  und 
aus  jener  Individuengruppe  eine  neue  Form  schaffen.  So  könnten 
klimatische  Varietäten  ihre  Erklärung  finden.  Freilich,  ungleich 
wirksamer  wird  die  Häufung  individueller  Abweichungen  durch 
Hinzutreten  von  Selektionsprozessen  zustande  kommen,  wenn  sich 
also  zu  der  direkten  Wirkung  der  äußeren  Einflüsse  noch  die 
indirekte  hinzugesellt. 

Dies  der  ursprüngliche  Standpunkt  Weismanns,  gekenn- 
zeichnet durch  eine  starke  Bewertung  der  äußeren  Einflüsse  und 
Rückführung  aller  Variabilität  auf  diese,  bei  Annahme  der 
Vererbungsmöglichkeit  der  durch  sie  bedingten  Varia- 
tionen. 

Variabilität  als  Folge  der  Vermischung  der  Individuen 
(Amphimixis). 

Nun  aber  folgte  die  eingehende  Inangriffnahme  der  Vererbungs- 
frage, wobei  die  anfangs  mehr  physiologische  Betrachtungsweise 
der  Vererbungsvorgänge  —  ,, Vererbung  ist  Übertragung  gleicher 
Entwicklungsrichtungen"  —  einer  morphologischen  weichen  mußte; 
es  folgte  die  Aufstellung  der  Lehre  von  der  Kontinuität  des  Keim- 
plasmas und  seiner  Zusammensetzung  aus  Determinanten  oder 
,, Bestimmungsstücken"  der  einzelnen  Merkmale,  und  damit  ergab 
sich  eine  bestimmtere  Fassung  auch  der  Frage  nach  dem  Wesen 
der  Variation,  allerdings  auch  eine  größere  Schwierigkeit  ihrer 
Beantwortung.  Insbesondere  die  Voraussetzung  einer  ,, Konti- 
nuität" des  Keimplasmas  erschwerte  die  Betrachtung.  War  das 
Keimplasma  ausschlaggebend  und  bestimmend  für  das  neue  In- 
dividuum in  allen  seinen  Einzelheiten,  so  mußten  individuelle 
Varietäten,  wenigstens  soweit  sie  sich  als  erblich  erwiesen,  ihren 


—        224       — 

Grund  in  einer  gewissen  Verschiedenheit  der  erzeugenden  Keim- 
plasmen haben,  das  Keimplasma  einer  Art  mußte  trotz  seiner 
,, Kontinuität"  veränderlich  sein.  Und  ebenso:  wenn  sich  die  Formen 
auseinander  entwickelt  und  doch  dabei  im  Laufe  der  Generationen 
umgewandelt  haben,  so  mußte  das  Keimplasma  im  Laufe  der  Zeit 
erbliche  Veränderungen  erfahren  haben.  Die  Quelle  dieser  Ver- 
änderungen aufzudecken,  war  und  ist  für  die  Kontinuitätshypothese 
eine  der  wichtigsten  Aufgaben,  vielleicht  die  allerwichtigste.  In 
den  Erörterungen  über  die  Vererbbarkeit  erworbener  Eigenschaften 
(1883)  kam  die  Frage  aufs  neue  zur  Behandlung,  nun  aber  mit 
größerem  Skeptizismus  gegenüber  der  Bedeutung  direkter  Ein- 
flüsse. Das  Ergebnis  war  eine  bestimmte  Ablehnung  der  Vorstellung, 
daß  Verletzungen,  Verstümmelungen,  funktionelle  Veränderungen 
des  ausgebildeten  Somas  eine  adäquate  erbliche  Veränderung  des 
Keimplasmas  bewirken  könnten  —  ein  Ergebnis,  das  durch  die 
spätere  Ausführung  der  Determinantentheorie  auch  vom  rein 
theoretischen  Standpunkte  aus  nur  eine  Bekräftigung  erfahren 
konnte.  Denn  da  die  Determinanten  etwas  ganz  anderes  sind  als 
die  Teile  selbst,  so  müßten  sie  sich  auch,  falls  jener  Vorgang  mög- 
lich wäre,  in  ganz  anderer  Weise  verändern,  als  diese  sich  verändert 
hatten,  etwa  wie  wenn  ein  deutsches  Telegramm  nach  China  dort 
gleich  in  chinesischer  Sprache  ankäme  ^^).  Auch  gegenüber  den 
direkten  Einflüssen  der  äußeren  Bedingungen  ergab  sich  nun  eine 
andere  Stellungnahme,  eine  vorsichtigere  und  zurückhaltendere 
Beurteilung.  Die  Ergebnisse  der  eigenen  Schmetterlingsversuche 
Weismanns  blieben  freilich  zu  Recht  bestehen:  sie  zwangen  nach 
wie  vor  dazu,  in  direkten  Mediumeinflüssen  eine  Quelle  erblicher 
Abänderungen  zu  sehen,  und  dies  Ergebnis  ließ  sich  ja  auch  mit 
der  Kontinuitäts-  und  Determinantentheorie  in  Einklang  bringen 
durch  die  Annahme,  daß  verschiedenartige  äußere  Einflüsse  nicht 
nur  das  fertige  oder  in  Entwicklung  begriffene  Individuum  selbst, 
sondern  auch  die  in  demselben  eingeschlossenen  Keimzellen  treffen 
und  den  Determinantenkomplex  ihres  Keimplasmas  verändern 
können.  Indessen  konnte  diese  Quelle  erblicher  Abänderungen 
jetzt  nicht  mehr  als  sehr  wichtig,  geschweige  denn  als  ausschließ- 
lich erscheinen.  Prüfung  der  Tatsachen,  insbesondere  auch  der 
auf  pflanzlichem  Gebiete  gemachten  Beobachtungen,  führten  zu 
dem  Schlüsse,  daß  die  äußeren  Einflüsse  viel  häufiger  und  in  erster 


—        225       — 

Linie  nur  passante  Veränderungen  hervorrufen,  die  auf  das  In- 
dividuum beschränkt  bleiben,  aber  nicht  auf  die  Nachkommen  über- 
gehen, und  die  immerhin  zuzugebenden,  auf  direkte  Mediumeinflüsse 
zurückzuführenden  erblichen  Abänderungen  mußten  bei  genauerer 
Betrachtung  viel  von  ihrer  früher  angenommenen  Bedeutung  für 
die  Transmutationsvorgänge  einbüßen,  auch  abgesehen  davon, 
daß  sie  nur  als  Ausnahmen  in  Frage  kamen.  Denn  einerseits  könnten 
sie,  so  folgerte  Weismann  jetzt^*),  bei  dem  großen  Beharrungs- 
vermögen des  Keimplasmas  nur  sehr  langsam  und  in  sehr  kleinen 
Schritten  vor  sich  gehen,  und  andererseits  müßten  sie  sich  bei  allen 
von  den  Einwirkungen  betroffenen  Individuen  stets  in  gleichem 
Sinne  äußern.  Daraus  aber  würde  folgen,  daß  sie  wohl  die  Quelle 
zu  allmählicher  Abänderung  aller  Individuen  einer  Art  werden 
können,  wenn  dieselben  lange  Generationsfolgen  hindurch  von  den 
gleichen  verändernden  Einflüssen  getroffen  würden,  nicht  aber  die 
Quelle  der  stets  hin-  und  herschwankenden,  in  tausend  und  aber- 
tausend von  Kombinationen  wechselnden  individuellen  Ab- 
weichungen, die  für  die  Darwin-Weismannsche  Auffassung  die 
unentbehrliche  Voraussetzung  aller  Selektionsprozesse  sind.  In 
dieser  aber  und  in  dem  durch  sie  vermittelten  indirekten  Ein- 
fluß der  äußeren  Bedingungen  hatten  Darwin  und  Wallace  den 
wichtigsten  Faktor  für  die  Umwandlung  der  Formen  kennen  ge- 
lehrt, dem  gegenüber  der  direkt  umwandelnde  Einfluß  der  Um- 
gebung nur  eine  untergeordnete  Rolle  beanspruchen  konnte,  —  eine 
Anschauung,  der  sich  Weismann  wenigstens  hinsichtlich  der 
höheren  Formen  von  vornherein  mit  Überzeugung  angeschlossen 
hatte,  und  die  ihm  selbst  nur  immer  klarer  wurde.  So  mußte  er 
denn  nach  einer  besonderen  Quelle  gerade  für  diese  individuelle 
Variabilität  suchen,  und  er  glaubte  dieselbe  eine  Zeitlang  in  der 
Amphimixis,  der  Vermischung  der  Individuen  bei  der  sexuellen 
Fortpflanzung  (der  Befruchtung  in  Verbindung  mit  den  vorher- 
gehenden Reduktionsteilungen  der  Keimzelle)  gefunden  zu  haben. 
Durch  diese  sollte  eine  fortgesetzte  Vermischung  und  Umkombi- 
nierung  der  individuellen  Vererbungstendenzen  und  damit  jene 
,,proteusartige"  individuelle  Variabilität  der  Formen  zustande 
kommen,  die  die  Voraussetzung  aller  Selektionsprozesse  ist  (1891). 
Eins  war  dabei  freilich  vorausgesetzt:  es  mußten  überhaupt  erst 
einmal  individuelle  Unterschiede  vorhanden,  es  mußte  ein  erster 

Gaupp,   Biügrapliie  Weisniaiiiib.  li> 


226       

Anfang  für  die  Variabilität  gegeben  sein.  Diesen  „Urquell"  der 
individuellen  Ungleichheit  sucht  Weismann  bei  den  niedersten 
Organismen,  anfangs  (1886)  bei  den  Einzelligen,  dann  (von  1891  an) 
noch  tiefer,  bei  den  kernlosen  Lebewesen,  deren  Körper  noch, 
wie  das  an  anderer  Stelle  ausgeführt  wurde,  durch  direkte  Wirkung 
äußerer  Einflüsse  veränderlich  ist  und  diese  Änderungen  auf  seine 
Teilsprößlinge  unmittelbar  zu  übertragen  vermag,  weil  Elter  und 
Kind  in  gewissem  Sinne  noch  ein  und  dasselbe  Wesen  sind.  Der 
letzte  Urgrund  aller  erblichen  individuellen  Unterschiede  würde 
somit  allerdings  in  den  äußeren  Einflüssen,  die  den  Organismus 
direkt  verändern,  zu  sehen  sein;  aber  nicht  auf  jeder  Organisations- 
höhe kann  auf  diese  Weise  erbliche  Variabilität  entstehen,  sondern 
nur  auf  der  allernicdersten.  Nachdem  aber  hier  einmal  die  Ungleich- 
heit der  Individuen  gegeben  war,  vererbte  sie  sich  auf  die  ,, höheren" 
Organismen  —  worunter  schon  die  kernhaltigen  Einzelligen  sowie 
die  Vielzelligen  zu  verstehen  wären  —  und  wurde  bei  diesen  durch 
die  amphigone  Fortpflanzung,  der  die  Konjugation  bei  den  Ein- 
zelligen entspricht,  erhalten  und  immer  weiter  vervielfacht. 

Die  Jahre  von  1886 — 1894  stehen  unter  dem  Zeichen  dieser 
Auffassung,  die  an  anderer  Stelle,  bei  Betrachtung  der  Befruchtung 
und  ihrer  Bedeutung,  schon  etwas  eingehender  besprochen  wurde. 

Variabilität  als  Folge  von  Germinalselektion. 

Indessen  ließ  sich  die  hohe  Meinung,  die  Weismann  in  dieser 
Hinsicht  von  der  Amphimixis  hegte,  auf  die  Dauer  nicht  aufrecht 
erhalten.  Gewiß  ist  in  der  Halbierung  der  Chromosomenzahl  und 
der  dadurch  bedingten  Neukombinierung  der  Chromosomen  (Ide, 
Determinantenkomplexe)  bei  den  Reifeteilungen  der  Geschlechts- 
zellen, sowie  in  der  folgenden  Vereinigung  zweier  solcher  halbierten 
Keimplasmen,  die  zwei  verschiedenen  Individuen  entstammen 
(bei  der  Befruchtung),  eine  Quelle  individueller  Verschiedenheit 
gegeben,  aber  doch  eben  nur  so  weit,  als  es  sich  dabei  um  eine  stets 
sich  wiederholende  Umkombinierung  der  individuell  gefärbten 
homologen  Determinanten  handelt;  eine  wirkliche  Veränderung  der 
Determinanten  kann  dadurch  niemals  erreicht  werden.  Und  doch 
muß  schlechterdings  eine  solche  im  Laufe  der  Zeit  stattgefunden 
haben.  Die  Determinanten  eines  Wurmes  der  Vorwelt  könnten 
nicht  unverändert  heute  das  Keimplasma  eines  Elefanten  zusammen- 


227        

setzen,  auch  wenn  es  ganz  sicher  wäre,  daß  die  Säugetiere  von 
Würmern  abstammen.  Die  Ide  müssen  sich  seither  unzählige  Male 
umgestaltet  haben,  die  Determinanten,  aus  denen  die  Ide  des 
Elefantenkeimplasma  bestehen,  müssen  durchaus  andere  sein,  als 
die  des  Wurmkeimplasma.  Diese  Veränderungen  könnten  niemals 
durch  den  Befruchtungsvorgang  erklärt  werden,  der  nur  einen 
Austausch  der  Ide  bewirkt,  diese  nur  zu  immer  neuen  Kombinationen 
zusammenstellt.  Die  auf  diesem  Wege  zustande  kommenden 
Varianten  werden  sich  durchaus  innerhalb  der  Grenzen  des  Art- 
bildes halten  müssen,  aber  nie  etwas  wirklich  Neues  zeigen  können. 
Hierfür  ist  eine  wirkliche  Veränderung  der  Ide  anzunehmen. 
Es  ist  bei  diesen  Überlegungen  ganz  gleich,  ob  unter  ,,Id"  ein 
,,Vollid",  im  Sinne  der  älteren  Weis  mann  sehen  Vorstellung  ver- 
standen wird,  oder  ein  ,,Partialid",  entsprechend  der  späteren 
Änderung  der  Auffassung. 

Die  beiden  wichtigsten  Fragen,  die  sich  aus  diesen  Überlegungen 
ergeben  mußten,  sind:  unter  welchen  Einflüssen  können  wir  uns 
diese  Veränderungen  der  Ide  entstanden  denken,  und  in  welcher 
Weise  haben  wir  uns  dieselben  vorzustellen  ?  Die  Antwort  auf  diese 
Fragen  mußte  zugleich  rechnen  mit  den  im  vorigen  Abschnitt 
besprochenen  Erscheinungen,  die  eine  Ergänzung  der  Lehre  von  der 
Personalselektion  durch  die  Annahme  von  innerhalb  der  Organismen 
selbst  sich  abspielenden  Vorgängen  forderten.  Diese  inneren  Vor- 
gänge mußten  die  Ursache  der  Variabilität  sein,  diese  letztere  aber 
zugleich  bestimmten  Gesetzen  unterwerfen. 

Alle  diese  Fragen  beantwortet  Weismann  mit  der  Aufstellung 
der  Lehre  von  der  Germinalselektion,  die  die  Keimplasma- 
theorie erst  vollständig  zum  Abschluß  brachte  und  eine  bis  dahin 
fühlbar  gewesene  Lücke  derselben  ausfüllte.  Denn  die  Frage  der 
Variabilität  steht  nun  einmal  am  Anfang  der  ganzen  Artumwand- 
lungslehre Darwins.  Ihrem  Wesen  nach  steht  diese  letzte  Be- 
antwortung der  Variationsfrage  in  fast  diametralem  Gegensatz  zu 
der  ersten.  Diese  hatte  (1876)  gelautet:  ,,Der  lebende  Organismus 
enthält  in  sich  selbst  kein  Prinzip  der  Veränderlichkeit,  er  ist  das 
statische  Moment  in  dem  Entwicklungsprozesse  der  organischen 
Welt  und  würde  stets  nur  wieder  genaue  Kopien  seiner  selbst  liefern, 
wenn  nicht  die  Ungleichheit  der  äußeren  Einflüsse  ein  jedes  neu- 
entstehende Individuum  in  seiner  Entwicklungsrichtung  ablenkte; 

15* 


—       22! 


diese  Einflüsse  sind  also  das  dynamische  Element  des  Pro- 
zesses." Dabei  war  dem  Organismus  selbst  und  seiner  physischen 
Natur  nur  ein  Richtung  gebender  und  beschränkender  Einfluß 
auf  die  Variationen  zugesprochen.  Nunmehr  wird  der  Grund 
für  alle  Variationen  in  Vorgängen  gesucht,  die  sich  nicht  nur  fort- 
während in  den  Organismen  —  und  zwar  in  den  Keimzellen  der- 
selben —  abspielen,  sondern  auch  zum  weitaus  größten  Teil  inner- 
halb des  Einzelorganismus  selbst  ihre  Ursache  haben,  und  nur 
zu  einem  kleinen  Teil  von  den  äußeren  Verhältnissen  angeregt 
werden.  Die  direkte  Bedeutung  der  letzteren  tritt  damit  ganz 
zurück,  und  es  wird  nun  ausdrücklich  betont ^^) :  ,, Darin  gerade  liegt 
die  hohe  Bedeutung  dieses  Kräftespiels  im  Keimplasma,  daß  er 
ganz  unabhängig  von  den  Beziehungen  des  Organismus 
zur  Außenwelt  Variationen  schafft."  Es  wird  sich  indessen 
zeigen,  daß  vom  rein  abstrakten  theoretischen  Standpunkt  aus  der 
Widerspruch  nicht  ganz  so  scharf  ist,  als  er  auf  den  ersten  Blick 
erscheint.  Denn  gleich  geblieben  ist  die  Grundanschauung,  daß 
die  Keimsubstanz  sich  nicht  infolge  einer  immanenten  inneren 
Kraft  umwandelt,  sondern  durch  äußere  Einflüsse  dazu  veranlaßt 
wird.  In  einem  anderen  Punkte  aber  bringt  auch  diese  letzte  Be- 
handlung der  Variationsfrage  Weismanns  früheren  Standpunkt 
zur  Geltung:  die  Auffassung,  daß  die  Variationen  nicht  richtungs- 
und  regellos  sind,  kommt  nunmehr  zum  Abschluß,  die  Schrift 
„Über  Germinalselektion"  führt  den  Untertitel:  ,,Eine  Quelle  be- 
stimmt gerichteter  Variation". 

Die    verschiedene  Ernährung  der  Determinanten    als    Grund    für 

ihre  Veränderung. 
Die  Gedankengänge  der  Lehre  von  der  Germinalselektion  sind 
von  Weismann  zum  ersten  Male  in  einer  schon  Ende  1894  ge- 
schriebenen, aber  erst  1895  veröffentlichten  Abhandlung:  ,,Neue 
Gedanken  zur  Vererbungsfrage"  in  der  Hauptsache  festgelegt, 
später  dann  in  einer  besonderen  Schrift  (1890)  und  in  den  Vorträgen 
über  Deszendenztheorie  ausführlicher  entwickelt  worden.  Sie  be- 
ruhen auf  der  von  W.  Roux  in  die  Wissenschaft  eingeführten  Über- 
tragung des  Selektionsprinzipes  auf  die  Teile  innerhalb  des  Or- 
ganismus imd  nehmen  den  ,, Kampf  der  Teile"  (Roux)  auch  inner- 
halb des  Keimplasmas  an,  das  eben  nach  Weismann  nicht  eine 


—      22g     — 

homogene  Masse,  sondern  aus  zahlreichen  Lebenseinheiten  ver- 
schiedener Grade  zusammengesetzt  ist.  Hier  im  Keimplasma, 
und  zwar  in  jedem  einzelnen  Id,  muß  nach  Weismanns  Auffassung 
während  der  Vermehrung  der  Keimzellen,  die  ja  mit  einer  Vermehrung 
der  Masse  des  Keimplasmas  verbunden  ist,  ein  Heranwachsen  und 
eine  Vermehrung  der  Determinanten  stattfinden,  auf  Kosten  des 
Nahrungsstromes,  der  zwischen  sie  eindringt.  Dabei  wird  es  nun 
durch  Zufälligkeiten  oder  unter  der  Einwirkung  erkennbarer  und 
dauernd  wirksamer  äußerer  Einflüsse  zu  Ungleichheiten  und  Un- 
regelmäßigkeiten in  diesem  Säftestrom  kommen  können,  der  den 
bisher  bestehenden  Gleichgewichtszustand  zwischen  den  Determi- 
nanten eines  Chromosoms  stören  muß.  Die  einen  werden  mehr 
Nahrung  erhalten,  infolge  dessen  stärker  wachsen  und  sich  stärker 
vermehren,  während  die  anderen,  die  unter  ungünstige  Ernährungs- 
verhältnisse geraten  sind,  schwächer  bleiben  und  sich  langsamer 
vermehren.  Ist  eine  solche  Schwankung  erst  einmal  eingeleitet, 
so  wird  sie  sich  mit  einer  gewissen  Gesetzmäßigkeit  bei  den  weiteren 
Teilungen  der  Keimzellen  leicht  in  der  gleichen  Richtung  fortsetzen, 
da  durch  die  bessere  oder  schlechtere  Ernährung  die  Determinanten 
selbst  in  ihrer  Assimilationskraft  gestärkt  oder  geschwächt  werden 
müssen,  so  daß  nun  auch  die  Verschiedenheit  der  aktiven  Er- 
nährung in  dem  gleichen  Sinne  weiter  wirkt.  So  wird  sich  also  hier 
im  Keimplasma  ein  ähnlicher  Selektionsprozeß  im  Kleinsten  ab- 
spielen, wie  er  zwischen  den  Individuen  besteht;  die  ,, Personal- 
selektion" findet  ihr  Analogon  in  der  ,,Germinalselektion".  (Germina 
d.h.  Keime,  bedeutet  dabei  die  Determinanten)  ^^) .  Die  Veränderung 
der  Determinanten  muß  sich  dann  bei  der  Entwicklung  in  Ver- 
änderungen der  groben  Teile,  der  Determinaten,  bemerkbar  machen. 
Auf  diesem  Kräftespiel  im  Keimplasma  während  der  Teilung  und 
Entwicklung  der  Keimzellen  beruhen  letzten  Endes  alle  erblichen 
individuellen  Variationen. 

Betrachten  wir  zunächst  dieses  Kräftespiel  und  seine  Wir- 
kungen noch  etwas  genauer. 

Beibehaltung    der    eingeschlagenen    Variationsrichtung;    Grenzen 
der  Schwankungen;    Korrelation  der  Determinanten. 
Ein  Umstand,   auf  den  Weis  mann  besonderen  Wert  legt, 
und  der  in  der  Tat  das  prinzipiell  Wichtigste  darstellt,  ist,  daß  durch 


—       230      — 

den  Prozeß  der  Germinalselektion  die  Beibehaltung  einer  einmal 
eingeschlagenen  Variationsrichtung  seitens  des  Keimplasmas,  auch 
ohne  Eingreifen  von  Personalselektion,  verständlicher  wird.  Es 
geht  das  aus  dem  bereits  Gesagten  schon  hervor.  Wird  durch  eine 
zufällige  auch  nur  vorübergehende  Steigerung  der  Nahrungszufuhr 
eine  Determinante  besser  ernährt,  so  steigert  sich  zugleich  ihre 
Assimilationskraft,  und  daraus  wird  sich  wieder  eine  weitere  Ver- 
besserung der  Ernährungsbedingungen  ergeben,  d.  h.  die  aufwärts 
gehende  Variation  wird  sich  im  Laufe  der  weiteren  Teilungen  der 
Geschlechtszellen  fortsetzen,  ja  auch  in  den  Geschlechtszellen  der 
nächsten  Generation,  die  ja  einen  Teil  des  so  veränderten  Keim- 
plasmas, der  Kontinuitätslehre  entsprechend,  überliefert  bekommen. 
So  kann  also  während  der  Entwicklung  der  Geschlechtszellen  eines 
Individuums  eine  Veränderung  des  Keimplasmas  erfolgen,  die  an 
sich,  wofern  sie  nicht  durch  das  Eingreifen  von  Personalselektion 
gestört  wird,  die  Tendenz  hat,  sich  in  den  Abkömmlingen  dieses 
Keimplasmas  in  den  folgenden  Generationen  in  gleichem  Sinne  fort- 
zusetzen. Freilich  ist  nicht  anzunehmen,  daß  eine  jede  Schwankung 
einer  Determinante  nach  aufwärts  oder  abwärts  sich  unbegrenzt 
fortsetzen  muß:  es  müßten  ja  dann  alle  Teile  des  Organismus  sich 
in  fortwährender  Unruhe  befinden. 

Bei  den  meisten  nur  geringen  Schwankungen  wird  man 
an  eine  Selbstkorrektion  des  Keimplasmas  denken  können,  die  den 
ursprünglichen  Gleichgewichtszustand  bald  wiederherstellt.  Daher 
wohl  die  Konstanz  der  Arten  unter  normalen  Bedingungen,  und 
das  Wiederverschwinden  vieler  kleiner  individueller  Besonderheiten, 
z.  B.  beim  Menschen.  Einigermaßen  größere  Schwankungen  aber 
werden  sich  zunächst  fortsetzen.  Handelt  es  sich  dabei  um  eine 
Abänderung  einer  Determinante  in  aufsteigender  Richtung,  so  wird 
dieselbe,  wenn  auch  nach  längerer  Zeit  (im  Laufe  zahlreicher  Keim- 
zellengenerationen), doch  schließlich  einmal  schon  aus  inneren 
Verhältnissen  zu  einem  Ende  kommen:  teils  infolge  der  begrenzten 
Nahrungsmenge,  die  innerhalb  eines  Chromosoms  zirktdiert,  teils 
infolge  des  Widerstandes  der  Nachbardeterminanten ;  dagegen  wird 
es  für  die  Veränderung  in  absteigender  Richtung  keine  innerlich 
bedingte  Grenze  geben,  d.  h.  die  fortschreitende  Schwächung  der 
Determinante  muß  schließlich  zu  ihrem  vollständigen  Schwund, 
ihrer  Ausmerzung  aus  dem  Keimplasma  führen.    Beide  Vorgänge, 


—      231       — 

die  aufsteigende  wie  die  absteigende  Veränderung  einer  Determinante 
oder  Determinantengruppe,  werden  aber  endlich  auch  von  Einfluß 
auf  Nachbardeterminanten  sein ;  zwischen  den  Elementen  des  Keim- 
plasmas ist  ,,ein  ganzes  Heer  von  Beziehungen  und  Beeinflussungen" 
anzunehmen,  im  Keimplasma  liegt  auch  die  Quelle  aller  korre- 
lativen Abänderungen. 

In  der  Germinalselektion  ist  also  ein  orthogenetisches 
Prinzip  anerkannt,  d.  h.  ganz  im  allgemeinen  Sinne  ein  Prinzip, 
das  damit  rechnet,  daß  eine  einmal  eingeschlagene  Entwicklimgs- 
richtung  geradlinig  [ooßoc:)  gerade)  beibehalten  wird.  Indessen 
geht  Weis  mann  nicht  so  weit,  zu  behaupten,  daß  die  Entwicklung 
in  der  einen  Richtung  schlechterdings  unaufhaltsam  weitergehen 
müsse;  er  nimmt  vielmehr  an,  daß  immer  noch  Schwankungen 
der  Determinanten  vorkommen,  und  daß  es  somit  an  sich  möglich 
wäre,  auf  dem  Wege  der  Auslese  durch  ,, Sammlung"  der  relativ 
schwächeren  Determinanten  das  Fortschreiten  in  der  eingeschlagenen 
Richtung  aufzuhalten  und  sogar  die  Richtung  wieder  mnzukehren. 
Nur  würde  dazu  sehr  lange  Zeit  gehören.  Praktisch  wird  es  somit 
nicht  oft  in  Frage  kommen.  Denn  die  einzige  Kraft,  die  jene 
,, Sammlung"  der  schwächeren  Determinanten  vornehmen  könnte, 
ist  Personalselektion;  diese  arbeitet  aber  sehr  langsam  und  wird 
nicht  immer  die  nötige  Zeit  zur  Verfügung  haben,  um  eine  bedroh- 
lich werdende  Entwicklungsrichtung  aufzuhalten  oder  umzukehren. 
So  können  denn  auch  einseitig  hoch  gesteigerte,  exzessive  Bil- 
dungen gelegentlich  einmal  zum  Aussterben  einer  Art  führen.  Die 
Entwicklung  in  der  einen  Richtung  wird  hierbei  zunächst  so  lange 
weitergehen ,  als  das  Restdtat  nützlich  ist  —  die  Germinalselektion 
wird  dabei  durch  Personals elektion  unterstützt  werden  —  und 
kann  so  zu  einer  exzessiven  Bildung  führen;  bei  einem  rasch  ein- 
tretenden Wechsel  der  Lebensbedingungen  könnte  dieselbe  aber 
auf  einmal  ihren  Wert  verlieren,  ja  sogar  geradezu  verhängnisvoll 
werden,  und  dann  würde  die  langsam  arbeitende  Personalselektion 
nicht  imstande  sein,  die  Art  von  ihr  zu  befreien:  die  Art  würde  aus- 
sterben. Fälle  dieser  Art,  in  denen  exzessive  Bildungen  den  offen- 
baren Anlaß  zum  Aussterben  einer  Art  abgegeben  haben,  sind  von 
Paläontologen  vielfach  namhaft  gemacht  und  zur  Aufstellung 
orthogenetischer  Theorien  verwertet  worden.  Nach  Weismann- 
scher  Auffassung  sind  sie  in  der  Tat  auf  ein  orthogenetisches  Prinzip, 


—      -^32      — 

die  Germinalselektion,  zurückzuführen,  indessen  wäre,  nach  eben 
dieser  Auffassung,  es  doch  wohl  nicht  die  Germinalselektion  selbst, 
die  in  solchen  Fällen  einer  Art  den  Untergang  bereitet,  ,, sondern  das 
Unvermögen  der  Personalselektion,  rascheren  Wendungen  der 
Lebensbedingungen  zu  folgen  und  exzessive  Bildungen  in  kurzer 
Zeit  um  ein  Beträchtliches  herabzusetzen".  Die  Germinalselektion 
erscheint  so  als  ein  Prinzip  der  Orthogenese  mit  beschränkter  Wirk- 
samkeit. 

Wesen  der  Determinantenveränderungen;    Wirkungen    auf  das 
Soma  (die  Determinaten). 

Das  Wesen  der  angenommenen  Veränderungen  der  Determi- 
nanten und  ihre  Wirkungen  auf  das  Soma  (die  Determinaten) 
denkt  sich  Weis  mann  folgendermaßen.  Zwei  Möglichkeiten  der 
Determinantenvariation  liegen  nach  seiner  Auffassung  überhaupt 
nur  vor:  gewisse  Determinanten  oder  Gruppen  von  solchen  werden 
durch  die  angenommenen  Ernährungsschwankungen  innerhalb  des 
Einzelchromosoms  entweder  besser  oder  schlechter  ernährt 
werden.  Die  dadurch  bedingten  Variationen  werden  in  letzter 
Instanz  alle  quantitativer  Art  sein,  d.  h.  sich  in  einer  Zu-  oder  Ab- 
nahme der  lebenden  Teilchen  (Biophoren)  oder  ihrer  Konstituenten, 
der  Moleküle,  äußern. 

So  gibt  es  also  letzten  Endes  nur  zwei  Variationsrichtungen: 
eine  nach  Plus  und  eine  nach  Minus  vom  Durchschnitt  gerichtete. 
Diese  Plus-  und  Minusvariation  der  kleinsten  Teilchen,  aus  denen 
die  Determinanten  bestehen,  wird  dann,  wenn  sie  gleichmäßig  alle 
Teilchen  betrifft,  für  die  Determinanten  selbst  einfach  eine  Ver- 
größerung oder  eine  Verkleinerung  bedeuten,  wofern  sie  aber  die 
Konstituenten  ungleich  betrifft,  eine  qualitative  Veränderung  der 
Determinanten  bedingen.  Es  darf  angenommen  werden,  daß  sich 
auch  an  den  durch  die  Determinanten  bestimmten  Organen,  den 
Determinaten,  entsprechende  Veränderungen  zeigen  werden. 
Indem  so  der  Ausgang  für  alle  Veränderungen  in  die  kleinsten 
lebenden  Teilchen,  ja  in  ihre  zusammensetzenden  Moleküle,  ver- 
legt wird,  ergibt  sich  eine  Möglichkeit,  nicht  nur  Größenschwankungen 
der  Teile,  sondern  auch  qualitative  Änderungen  derselben,  auf  Ver- 
änderungen rein  quantitativer  Natur  zurückzuführen.  Was  uns 
im  großen   als    Qualitätsänderimg   erscheint,   beruht  eben   letzten 


—      233      — 

Endes   auf    quantitativen  Änderungen   in   den  kleinsten  Teilchen, 
die  das  große  Ganze  aufbauen. 

Indessen  braucht  nicht  jede  Veränderung  einer  Determinante 
oder  Determinantengruppe  sich  auch  wirklich  in  einer  entsprechenden 
Veränderung  der  Determinate,  also  am  Soma,  bemerkbar  zu 
machen.  Denn  der  Weis  man  nschen  Auffassung  zufolge  ist  ja 
bei  allen  Formen  mit  „geschlechtlicher"  Fortpflanzung  in  dem  Kern 
der  heranwachsenden  Keimzelle  die  gleiche  Determinantenart 
mindestens  zweimal  vorhanden,  einmal  in  dem  väterlichen  und  ein- 
mal in  dem  homologen  mütterlichen  Chromosom,  wie  das  im  sechsten 
Abschnitt  auseinandergesetzt  wurde.  Ob  eine  bestimmte  Abänderung 
einer  Determinante  später  —  bei  der  Ontogenese  —  Geltung  er- 
langen wird,  wird  somit  noch  von  einigen  Zufälligkeiten  abhängen: 
von  dem  Ergebnis  der  Reduktionsteilung  ( —  die  ja  das  betreffende 
Chromosom  herausbefördern  kann  — )  und  von  der  folgenden  Am- 
phimixis,  die  in  dem  homologen  Chromosom  der  kopulierenden  Zelle 
eine  gleich-  oder  entgegengesetztgerichtete  Variante  derselben 
Determinante  zuführt.  Die  Möglichkeit,  daß  zwei  entsprechend  ge- 
artete Varianten  einer  Determinante  sich  wiederholt  (zur  Bildung 
einer  ,, Homozygote")  zusammenfinden,  und  damit  eine  bestimmte 
Richtung  der  Variation  wirklich  beschritten  wird,  wird  ohne  weiteres 
dann  gegeben  sein,  wenn  die  Ursache  der  Ernährungsschwankungen 
und  damit  der  Veränderungen  der  Determinanten  in  allgemeinen 
äußeren,  z.  B.  klimatischen  Veränderungen  liegt  (s.  unten),  sie  wird 
aber  auch  bei  spontanen,  auf  reinen  Zufälligkeiten  beruhenden  Ab- 
änderungen oft  genug  vorliegen,  da  es,  wie  erörtert,  überhaupt  nur 
zwei  Variationsrichtimgen  der  Determinanten  gibt :  eine  aufsteigende 
und  eine  absteigende.  Kommen  aber  durch  die  Amphimixis  zwei 
etwas  verschieden  geartete  homologe  Determinanten  ( —  in  einer 
,, Heterozygote"  — )  zusammen,  etwa  die  unveränderte  und  die 
nach  Plus  oder  Minus  abgeänderte,  oder  die  Plus-  und  die  Minus- 
variante, so  wird  zwischen  beiden  bei  der  Ontogenese  jener  Wett- 
bewerb um  die  Geltendmachung  einsetzen,  den  wir  im  sechsten  Ab- 
schnitt bei  Besprechung  der  Determinantentheorie  kennen  lernten. 
Der  Ausgang  desselben  wird  dann  davon  abhängen,  welche  der  beiden 
Determinanten  die  kräftigere  ist.  Diese  wird  sich  in  der  Ontogenese 
zur  Geltung  bringen  und  der  Determinate,  dem  fertigen  ,, Merk- 
mal", ihren  Stempel  aufdrücken;  die  andere  wird  latent  bleiben. 


—      234      — 

Doch  wird  auch  diese,  der  Lehre  von  der  Kontinuität  des  Keim- 
plasmas zufolge,  von  der  Keimzelle  aus  den  folgenden  Generationen 
mitgegeben  und  kann  sich,  wenn  sie  bei  den  Reduktionsteilungen 
dem  Schicksal  des  Entferntwerdens  entgeht,  aber  immer  wieder 
mit  kräftigeren  andersgearteten  homologen  Determinanten  zu- 
sammenkommt, viele  Generationen  hindurch  forterhalten,  ohne  am 
Soma  in  die  Erscheinung  zu  treten  —  bis  der  Zufall  sie  mit  einer 
gleichgearteten  zusammenführt  und  ihr  dadurch  wieder  einmal 
zur  Geltung  verhilft.  So  können  unveränderte  Ahnendetermi- 
nanten Generationen  hindurch  in  den  Abkömmlingen  eines  Keim- 
plasmas latent  mitgeführt  werden,  um  dann  gelegentlich  wieder 
einmal  manifest  zu  werden.  Die  Erscheinungen  des  sogenannten 
Rückschlags  würden  auf  diese  Weise,  vom  Standpunkt  der  Determi- 
nantentheorie aus,  ihre  Erklärung  finden  (s,  oben,  S.  142).  —  Die 
frühere  Vorstellung  Weismanns,  die  in  jedem  Keimplasma  eine 
sehr  große  Menge  von  Volliden,  somit  auch  eine  sehr  große  Menge 
homologer  Determinanten  annahm,  machte  an  Stelle  der  hier  er- 
örterten Gedankengänge  einige  andere  notwendig.  Damit  eine 
Determinantenabänderung  Geltung  erlangte,  war  es  nötig,  daß  sie 
in  gleichem  Sinne  in  einer  Majorität  von  Iden  auftrat,  aber 
nicht  etwa  nur  auf  ein  Id  oder  auf  deren  wenige  beschränkt  blieb. 
Darin  aber  lag  entschieden  eine  größere  Schwierigkeit  der  Theorie. 
Dagegen  war  die  alte  Fassung  derselben  zur  Erklärung  der  Rück- 
schlagserscheinungen bequemer:  wenn  in  jedem  Keimplasma  eine 
sehr  große  Menge  homologer  Determinanten  angenommen  wird, 
so  ist  leicht  damit  zu  rechnen,  daß,  während  einige  derselben  sich 
verändern,  andere  unverändert  bleiben  und  in  unverändertem 
Zustand  lange  Zeit  weitergegeben  werden,  bis  sie  einmal  auf  dem 
Wege  der  Amphimixis  durch  andere  unveränderte  verstärkt  werden 
und  dadurch  Geltung  erlangen.  — 

Ursachen  der  Ernährungsschwankungen.  Spontane  und  indu- 
zierte Germinalselektion. 
Was  endlich  die  Ursachen  der  angenommenen  Ernährungs- 
schwankimgen  anlangt,  so  kommen  dafür,  wie  schon  angedeutet 
wurde,  in  Betracht:  i.  ,, Zufälligkeiten"  der  Nahrungszufuhr  zu 
den  Determinanten,  und  2.  Veränderungen  in  den  äußeren  Lebens- 
bedingungen, namentlich  klimatischer  Art.     Die  auf  Zufälligkeiten 


—     23,5     — 

beruhende  Form  der  Germinalselektion  nennt  Weismann  die 
spontane,  die  durch  äußere  Einflüsse  angeregte  die  induzierte; 
zwischen  beiden  müssen  mehrere  Unterschiede  bestehen.  Schwan- 
kungen der  Ernährung,  die  ledigHch  auf  ZufälHgkeiten  beruhen, 
werden  demzufolge  auch  lediglich  lokaler  Natur  sein,  auf  ein  be- 
stimmtes Chromosom  beschränkt  bleiben,  nicht  leicht  aber  in  den 
beiden  homologen  Chromosomen  zugleich  in  gleicher  Weise  auf- 
treten, und  somit  auch  nicht  leicht  die  homologen  Determinanten 
beider  gleichsinnig  treffen  und  verändern,  noch  weniger  in  allen 
Individuen  einer  Art  eintreten.  Dagegen  werden  Veränderungen 
der  äußeren  Lebensbedingungen  in  allen  davon  betroffenen  In- 
dividuen ähnliche  Veränderungen  der  keimplasmatischen  Er- 
nährung bedingen,  d.  h.  alle  homologen  Determinanten  —  in  den 
verschiedenen  Individuen  — ,  sofern  sie  überhaupt  für  die  betreffende 
Ernährungsänderung  empfindlich  sind,  in  ähnlicher  Weise  verändern. 
Ferner  besteht  zwischen  den  beiden  Formen  der  Germinalselektion 
ein  Unterschied  hinsichtlich  ihres  Verhaltens  zur  Pcrsonalselektion 
und  damit  hinsichtlich  ihrer  Bedeutung  für  die  Artbildung.  Spon- 
tane Variationen  werden,  als  durch  Zufallsschwankungen  bedingt, 
sich  durch  Germinalselektion  allein  nur  so  lange  steigern,  bis  sie 
dem  Leben  des  Individuums  nützlich  oder  schädlich  werden,  als- 
dann wird  die  Personalselektion  über  ihr  weiteres  Schicksal  ent- 
scheiden; sie  geben  also  die  Grundlage  und  den  Ausgang  für  die 
Selektionsprozesse  höherer  Ordnung  ab;  induzierte  Variationen 
dagegen  werden,  solange  der  äußere  Einfluß  zu  wirken  anhält, 
sich  steigern,  bis  das  Maximum  der  Veränderung  erreicht  ist,  das 
der  Natur  dieses  Einflusses  und  der  der  betreffenden  Determinanten 
entspricht,  auch  ohne  Eingreifen  der  Naturzüchtung.  Dem  Wirken 
der  letzteren  wären  gegenüber  der  ,, induzierten"  Germinalselektion 
überhaupt  Grenzen  gezogen.  Sie  würde  bei  nützlichen  Abänderungen 
mithelfen  können,  die  höchste  Steigerungsstufe  der  letzteren  rascher 
zu  erreichen;  bei  schädlichen  Abänderungen  aber  nur  versuchen 
können,  durch  Bevorzugung  der  auf  den  wirksamen  Reiz  weniger 
stark  reagierenden  Individuen  die  allgemeine  Abänderung  der  Art 
in  der  schädlichen  Richtung  aufzuhalten.  Wäre  die  Reaktions- 
fähigkeit bei  allen  Individuen  gleich  groß,  so  würde  die  Naturzüchtung 
keine  Handhabe  zum  Eingreifen  finden,  und  die  Art  müßte  aus- 
sterben. 


—      236     — 

Für  die  Umbildung  der  Formen  besitzt  somit  die  spon- 
tane Germinalselektion  die  weitaus  größere  Bedeutung.  Auf  sie 
ist  das  ganze  Heer  individueller  Variationen  zurückzuführen,  die 
das  Material  für  die  Personalselektion  abgeben,  und  an  die  sich 
unter  der  Mitwirkung  dieser  die  Umbildung  der  Arten  knüpft. 
Wie  sie  mit  der  Personalselektion  zusammenwirkt,  aber  auch  neben 
derselben  als  selbständige  Kraft  in  orthogcnetischem  Sinne  tätig 
ist,  wird  noch  besonders  zu  besprechen  sein. 

In  der  induzierten  Germinalselektion  andererseits  ist  zu- 
nächst der  Grund  zu  sehen  für  die  seit  Darwin  bekannte  er- 
höhte allgemeine  Variabilität  domestizierter  Tiere  und 
Pflanzen:  dieselbe  ist  ein  Ausdruck  der  Strömung,  in  die  das  alt- 
ererbte Gleichgewicht  des  Keimplasmas  unter  dem  Einfluß  ver- 
änderter Existenzbedingungen  gerät;  weiterhin  ist  in  ihr  der  Me- 
chanismus gegeben  für  die  Entstehung  erblicher  Abänderungen 
unter  dem  direkten  Einflüsse  der  äußeren  Bedingungen,  wie  Klima, 
Nahrung  usw.  Es  wurde  an  anderer  Stelle  schon  (Abschnitt  IV 
und  V)  besprochen,  daß  Weismann  ihnen  für  die  Umwandlung 
der  Arten  keine  sehr  große  Bedeutung  beimißt.  Die  direkten  Medium- 
einflüsse auf  das  Keimplasma,  die  erbliche  Abänderungen  er- 
zeugen, stehen  denen  auf  das  Soma,  die  nur  passante  Abände- 
rungen bewirken,  bedeutend  nach.  Auf  induzierte  Germinalselektion 
werden  viele  biologisch  gleichgültige,  rein  morphologische, 
Merkmale  zu  beziehen  sein,  ganz  besonders  aber  wohl  auch  die 
sogenannten  Spielvariationen  oder  sprunghaften  Abände- 
rungen, d.  h.  Abänderungen  größeren  Betrages,  die  namentlich 
bei  in  Kultur  befindlichen  Pflanzen  beobachtet  werden  und  sich 
von  vornherein  als  erbbeständig  erweisen.  Sie  deuten  auf  stärkere 
Störungen  des  Gleichgewichtes  innerhalb  des  Determinantensystems 
hin,  auf  eine  länger  dauernde,  intensive  gleichartige  Beeinflussung, 
die  eben  am  leichtesten  auf  die  Einwirkung  der  äußeren  Bedingungen 
zu  beziehen  ist.  Ihre  plötzliche  Entstehung  ist  nach  Weismann 
nur  scheinbar:  sie  besitzen  ein  ,, unsichtbares  Vorspiel"  im  Keim- 
plasma, d.  h.  sie  sind  von  langer  Hand  her  durch  Selektionsprozesse 
im  Keimplasma  vorbereitet,  treten  aber,  scheinbar  unvermittelt 
und  sprungweise,  erst  dann  in  die  Erscheinung,  wenn  die  germinalen 
Abänderungen  unter  dem  fortgesetzten  Einfluß  der  äußeren  Be- 
dingungen  und   infolge   von   Amphimixis  gleichsinnig   veränderter 


—     237     — 

homologer  Determinanten  eine  gewisse  Höhe  erreicht  haben.  Weis- 
mann greift  dabei  auf  die  im  sechsten  Abschnitt  besprochene  An- 
nahme zurück,  daß  die  Determinanten  vermehrungsfähig,  und  daß 
daher  vielfach  eine  ganze  Anzahl  homologer  (für  ein  Merkmal 
bestimmter)  Determinanten  in  ein  und  demselben  Id  (Chromosom) 
vorhanden  ist.  Werden  diese  alle  oder  doch  in  einer  größeren  Ma- 
jorität gleichsinnig  verändert,  so  würde  daraus  eine  Varietät 
hervorgehen,  die  von  vornherein  mehr  Aussicht  auf  Erbbeständig- 
keit hätte.  Das  wäre  bei  den  Spielvariationen  anzunehmen,  bei 
denen  im  übrigen  wohl  gleich  an  mehreren  Determinantenarten 
Veränderungen  vorauszusetzen  sind.  Die  Bedeutung  der  Spiel- 
varietäten wird,  wie  wir  schon  im  siebenten  Abschnitt  sahen,  für 
die  Umbildung  der  Arten  von  Weis  mann  nicht  sehr  hoch  ein- 
geschätzt und  nur  für  die  Erklärimg  der  sekundären  Geschlechts- 
merkmale etwas  höher  bewertet  ^^). 

Germinalselektion  und  Personalselektion. 

In  den  erörterten  entoplasmatischen  Vorgängen  ist  nun  eine 
Kraft  gegeben,  die  selbständig,  für  sich,  Abänderungen  der  Formen 
anbahnt  und  sie  in  gleicher  Richtung  zu  steigern  vermag,  eine  im 
Organismus  wirksame  orthogenetische  Entwicklungskraft,  die  sich 
neben  die  Personalselektion  stellt,  mit  dieser  die  Umwandlung  der 
Formen  leitet  und  die  Mannigfaltigkeit  derselben  schafft.  Das  Ver- 
hältnis der  beiden  Kräfte  zueinander  kann  sich  dabei  etwas  ver- 
schieden gestalten.  Stets  zwar  vollzieht  sich  die  Arbeit  der  Germinal- 
selektion unter  der  fortwährenden  Aufsicht  der  Personalselektion, 
aber  es  sind  dabei  doch  noch  zwei  Möglichkeiten  gegeben.  In  der 
Mehrzahl  der  Fälle  arbeitet  die  Germinalselektion  geradezu  für 
die  Personalselektion,  bietet  dieser  nützliche  und  schädliche  Ab- 
änderungen zur  Verwendung  an;  innerhalb  enger  Grenzen  aber 
darf  sie  auch,  gewissermaßen  für  sich  selbst,  bleibende  Abänderungen 
schaffen,  freilich  nur  so  weit,  als  ihre  Erzeugnisse  die  Schwelle  von 
Gut  und  Schlecht  nicht  überschreiten.  Nur  so  weit  läßt  die  Personal- 
selektion sie  gewähren;  ist  aber  diese  Schwelle  überschritten,  so 
greift  jene  imterstützend  oder  hemmend  ein. 

Das  ist  leicht  verständlich.  Ist  die  Variationsrichtung  einer 
Determinante  oder  Determinantengruppe  nützlich,  so  wird  das 
Keimplasma,  in  dem  sie  auftrat,  bei  dem  Wettbewerb  der  Individuen 


—     238     — 

untereinander  gegenüber  anderen  Keimplasmen  der  gleichen  Art 
im  Vorteil  sein,  die  Auslese  der  Personen  wird  den  Keimplasmen 
mit  den  günstig  variierenden  Determinanten  zur  größeren  Geltung 
verhelfen  und  damit  die  Umwandlung  im  Sinne  der  letzteren  be- 
schleunigen. Dagegen  werden  die  Träger  tmgünstig  variierender 
Determmanten  durch  Personalselektion  aus  dem  Stammbaum  der 
Art  entfernt,  und  es  wird  damit  dieser  Variationsrichtung  ein  Ziel 
gesetzt  werden.  So  werden  die  entoplasmatischen  Vorgänge  durch 
Kombination  mit  den  Prozessen  der  Personalselektion  in  verschieden- 
ster Weise  reguliert,  zum  Besten  der  Art  ausgenutzt  und  gesteigert, 
oder  in  ihren  etwaigen  schädlichen  Folgen  eingeschränkt  und  auf- 
gehoben werden.  Solange  aber  die  durch  die  Germinalselektion 
bewirkten  Abänderungen  indifferent  sind,  hat  die  Personalselektion 
keine  Veranlassung  einzugreifen,  und  die  entoplasmatischen  Vor- 
gänge werden  gemäß  dem  ihnen  innewohnenden  Beharrtmgsvermögen 
ihren  Fortgang  nehmen,  bis  die  inneren  Verhältnisse,  die  Bezieh- 
ungen der  Determinanten  untereinander,  ihnen  ein  Halt  zurufen. 
Durch  die  inneren  umwandelnden  Vorgänge,  die  in  der  Ger- 
minalselektion gegeben  sind,  erklären  sich  dann  auch  alle  die  Er- 
scheinungen, die  durch  die  Faktoren  der  Darwinschen  Zuchtwahl- 
lehre allein  nicht  erklärbar  sind,  und  die  wir  oben  (Abschnitt  VII) 
kennen  lernten. 

1.  Da  das  Kräftespiel  im  Keimplasma  fortwährend  vor  sich 
geht,  imd  da  für  jede  Determinante  nur  zwei  Schwankungsrichtungen 
bestehen,  so  liegt  zunächst  die  Möglichkeit  vor,  daß  die  Anfangs- 
stufen einer  nützlichen  Abänderung  von  Anfang  an  bei  zahlreichen 
Individuen  auftreten,  was  für  ihre  erfolgreiche  Verwertvmg  durch 
die  Personalselektion  wünschenswert,  ja  bei  Fehlen  einer  Unter- 
stützung durch  besondere  Umstände,  wie  Isolierung,  geradezu 
notwendig  ist. 

2.  Das  Beharrungsvermögen  in  den  Vorgängen  der  Germinal- 
selektion eröffnet  dann  weiterhin  ein  Verständnis  für  die  Steige- 
rung eines  bestimmten  Merkmals,  wie  sie  im  Verlaufe  künst- 
licher Züchtungsprozesse  beobachtet  und  für  die  natürlichen  dem- 
nach auch  vorausgesetzt  wird.  Die  Schwanzfedern  der  lang- 
schwänzigen  Haushähne,  die  langen  und  die  kiuzen,  die  geraden 
und  die  krummen  Schnäbel  der  Tauben,  die  Vermehrung  der  Schwanz- 
federn bei  der  Pfauentaube  und  unzählige  andere  solche  künstlich 


—     239     — 

gezüchtete  Merkmale  —  bei  denen  ,, Übung"  und  , .Vererbung  von 
Übungsresultaten"  ganz  ausscheiden  —  zeigen,  daß  einmal  vor- 
handene, durch  Germinalselektion  entstandene  Richtungen  der  Ab- 
änderung beliebiger  Teile  scheinbar  unbegrenzt  weiter  gehen,  wenn 
man  ihnen  freien  Lauf  läßt,  indem  man  die  Träger  entgegengesetzter 
Variationen  von  der  Nachzucht  ausschließt.  Erst  wenn  die  weitere 
Steigerung  die  Harmonie  der  Teile  dauernd  und  unwiderbringlich 
zerstören  würde,  würde  Naturzüchtung  Halt  gebietend  eingreifen;  — 
daß  aber  auch  dann  der  innere  Umbildungsprozeß  noch  nicht  be- 
endet zu  sein  braucht,  lehren  jene  künstlich  gezüchteten  Tauben- 
rassen, deren  Schnäbel  so  klein  und  so  weich  sind,  daß  sie  die  Ei- 
schale nicht  mehr  zu  sprengen  vermögen  und  der  Nachhilfe  des 
Züchters  bedürfen.  Im  Naturzustand  hätte  eine  solche  Rasse  sich 
nicht  herausbilden  können;  Personalselektion  hätte  früher  oder 
später  den  Prozeß  der  Germinalselektion  imterbrochen  und  sein 
Fortschreiten  bis  zu  einem  so  exzessiven  Grade  verhindert. 

3.  Ganz  dieselben  Überlegungen  lassen  in  der  Germinalselektion 
auch  die  Kraft  erkennen,  die  imstande  ist,  ein  Merkmal,  das  zu- 
nächst zu  unbedeutend  ist,  um  Selektionswert  zu  haben,  auch  ohne 
Hinzutreten  von  Personalselektion  —  und  ohne  daß  Steigerung 
diu^ch  die  Funktion  in  Betracht  kommen  kann  —  bis  zum  Se- 
lektionswert zu  steigern.     Und  damit  ist  dann 

4.  auch  ein  Verständnis  der  sogenannten  rein  morphologi- 
schen Charaktere  angebahnt,  bei  denen  ein  besonderer  Nutzen 
nicht  einzusehen  ist,  und  deren  Konstanz  somit  durch  Naturzüchttmg 
nicht  erklärt  werden  kann.  Mag  ihre  Zahl  auch  gering  sein,  und  mag 
vieles  als  bedeutungslos  gelten,  was  tatsächlich  einen  ganz  bestimmten 
Nutzen  hat,  so  ist  doch  damit  zu  rechnen  und  auch  von  Weis  mann 
zugegeben  worden,  daß  es  Merkmale,  auch  konstante  Artmerkmale 
gibt,  die  ,, unter  der  Schwelle  von  Gut  und  Schlecht"  stehen,  wie 
die  Zahl  der  Blütenblätter  bei  Pflanzen,  manche  Färbimgen  und 
anderes.  Für  die  Herausbildung  solcher  Merkmale  vermittelt  die 
Germinalselektion  ebenfalls  ein  Verständnis:  kraft  der  entoplasma- 
tischen  Vorgänge  geht  die  Entwicklung  in  einer  bestimmten  Richtung 
weiter,  auch  wenn  Naturzüchtung  gleichgültig  und  teünahmslos 
dabeisteht.  Ganz  besonders  wird  für  die  Herausbüdung  von  rein 
morphologischen  Merkmalen,  wie  schon  erwähnt,  induzierte 
Germinalselektion  in  Frage  kommen. 


—      240     — 

In  diesen  Zusammenhang  gehören  auch  manche  Merkmale 
domestizierter  Rassen,  die  den  Formen  selbst  weder  nützlich  noch 
schädlich  sind  (z.  B.  die  gespaltene  Nase  bei  Doggen  und  Möpsen). 
Die  Darwinsche  Erklärung,  daß  sie  auf  Korrelation  zu  beziehen 
seien,  mag  zutreffen,  wäre  aber  dahin  zu  erläutern,  daß  es  sich  um 
korrelative  Abänderung  von  Teilchen  im  Keimplasma  handelt,  um 
eine  Verschiebung  im  ganzen  Determinantengebäude,  die  durch 
die  künstliche  Züchtung  einzelner  Charaktere  angeregt  war. 

Vor  allem  aber  würde  ein  orthogenetisches  Prinzip,  wie  es 
die  Germinalselektion  darstellt,  ein  besseres  Verständnis  für  zahl- 
reiche Erscheinungen  vermitteln,  die  beim  Menschen  als  Erzeug- 
nisse der  Kiiltiu:  erscheinen:  die  spezifischen  Talente,  für  Musik, 
Malerei,  Mathematik  usw.,  sowie  die  moralischen  Tugenden  des 
zivilisierten  Menschen,  vor  allem  die  Selbstlosigkeit.  Sie  wären 
unbeabsichtigte  Nebenwirkungen  der  germinalen  Umwandlungs- 
vorgänge, die  unter  dem  Einfluß  der  Kultur  vor  sich  gehen.  Daß 
bei  den  ,, spezifischen  Talenten"  auch  Amphimixis  durch  Kombi- 
nation verschiedener  Geistesgaben  eine  Rolle  spielt,  wurde  an  ariderer 
Stelle  besprochen   (Abschnitt  IV). 

5.  Endlich  aber  sieht  Weismann  in  der  Germinalselektion 
auch  einen  Weg,  der  zu  einem  Verständnis  für  die  Rückbildung  von 
Merkmalen  imd  für  das  schließliche  völlige  Schwinden  fimktionslos 
gewordener  Organe  führt.  Das  Rudimentärwerden  von  Organen, 
die  aus  irgendeinem  Grimde  funktionslos  geworden,  hatte  Weis- 
mann, wie  wir  sahen,  imter  Ablehnung  des  Lamarckschen  Prin- 
zipes  erklärt  aus  dem  Fortfall  der  konservierenden  Tätigkeit  der 
Naturzüchtung,  aus  der  ,,Panmixie",  der  Erhaltung  und  Vermischung 
aller  Individuen,  auch  der  Träger  von  Minusvarietäten  des  betreffen- 
den ürganes.  Indessen  würde  dieser  Nachlaß  der  Personalselektion 
wohl  die  Verschlechterung  eines  Organes  verständlich  machen, 
aber  nicht  seine  stetige  Verkleinerung  bis  zum  völligen  Schwund. 
Hier  tritt  nun  die  Lehre  von  der  Germinalselektion  ergänzend  ein, 
indem  sie  zeigt,  daß  ein  Mechanismus  denkbar  ist,  der  eine  der  Rück- 
bildung anheimgefallene  Determinante  in  dieser  Richtung  festhält 
bis  zu  ihrem  völligen  Schwunde,  wenn  nicht  Natiurzüchtimg  ein- 
greift. Das  aber  ist  eben  bei  funktionslos,  wertlos  gewordenen 
Teilen  der  Fall;  der  Verschlechterung  z.  B.  der  Augen  bei  Tieren 
in  lichtlosen  Höhlen  steht  die  Naturzüchtung  gleichgültig  gegen- 


—       241        — 

über,  und  so  werden  auch  die  Minusvarietäten  aller  für  das  Auge 
bestimmten  Determinantengruppen  fortgepflanzt,  und  gemäß  jenem 
Beharrungsvermögen  werden  sich  die  germinalcn  Rückbildungs- 
vorgänge an  diesen  Determinanten  fortsetzen  bis  zum  völligen 
Schwund  derselben.  Und  dieser  Mechanismus,  eine  Kombination 
von  Germinalselektion  und  Panmixie,  muß  in  gleicher  Weise  für 
die  Determinanten  von  aktiv  und  passiv  funktionierenden  Teilen 
Geltung  haben,  wie  für  solche  von  Charakteren,  die  lediglich  eine 
Daseinswirkung  haben  (z.  B.  von  Schutzfärbungen) ;  er  bietet 
weiterhin  auch  eine  Erklärung  für  das  allmähliche  Rudimentär- 
werden von  funktionslosen  Organen  bei  sterilen  Formen  —  also 
in  den  Fällen,  bei  denen  das  Lamarcksche  Prinzip  der  Vererbung 
funktioneller  Abänderungen  von  vornherein  nicht  in  Frage  kommen 
kann.  Kombination  von  Germinalselektion  mit  Panmixie  wäre 
somit  auch  für  die  mannigfachen  Mängel  des  heutigen  Kultur- 
menschen, schlechte  Zähne,  Kurzsichtigkeit,  Muskelschwäche,  Ver- 
schlechterung der  Milchdrüsen  u.  a.  verantwortlich  zu  machen, 
und  nicht  minder  für  gewisse  negative  Merkmale  unserer  Haustiere, 
wie  die  Zahmheit.  Weismann  führt  diese  auf  Verkümmerung 
von  Instinkten,  hier  des  ,, Instinktes  der  Wildheit",  zurück. 

So  wäre  also  die  letzte  Wurzel  aller  erblichen  Variation  in 
Schwankungen  des  Gleichgewichts  des  Determinantensystems  zu 
sehen,  Schwankungen,  deren  Richtung  zunächst  in  den  meisten 
Fällen  durch  den  Zufall  bestimmt  ist,  die  aber  dann,  einmal  ein- 
geleitet, die  Tendenz  haben,  diese  Richtung  fortzusetzen.  Durch 
sie  erfolgt  eine  wirkliche  Veränderung  der  Determinanten  selbst, 
eine  Veränderung  des  Keimplasmas,  wie  sie  der  Umwandlung  der 
Formen  zugrunde  gelegen  haben  muß.  In  der  hinzutretenden  zwei- 
elterlichen Fortpflanzung  ist  dann  ein  Mittel  gegeben,  durch  das 
die  so  veränderten  Determinantengruppen  zu  immer  neuen  Kom- 
binationen zusammengebracht  werden.  Diese  wechselnden  Kom- 
binationen werden  der  Personalselektion  angeboten,  die  als  höhere 
Instanz  das  Wirken  der  Germinalselektion  kontrolliert.  Sie  wacht 
darüber,  begünstigt  die  nützlichen  Varietäten,  merzt  die  schädlichen 
aus  —  mögen  sie  in  exzessiven,  die  Harmonie  des  Ganzen  störenden, 
oder  in  minderwertigen  Bildungen  eines  Teiles  beruhen  —  und  ver- 
wertet so  das  von  der  Germinalselektion  gelieferte  Varietäten- 
material im  Interesse  der  Art.     Damit  aber  wirkt  sie  auch  wieder 

Gaupp,  Biographie  Weismanns.  16 


—      24-      — 

auf  die  Germinalselektion  zurück  und  zwingt  dieselbe  gewissermaßen, 
die  günstigen  Varietäten  in  immer  höherer  Steigerung  hervor- 
zubringen. Wo  aber  die  Personalselektion  nicht  eingreift,  wie  gegen- 
über den  Minusvariationen  bei  funktionslosen  Teilen  oder  gegenüber 
an  sich  gleichgültigen  Abänderungen  irgendwelcher  Teile,  da  setzen 
sich  die  entoplasmatischen  Vorgänge  ungehemmt  in  der  einmal 
eingeschlagenen  Richtung  fort  und  führen  dort  zum  völligen  Schwund 
ganzer  Teile,  hier  zur  Schaffung  konstanter  Artmerkmale,  die  an 
sich  biologisch  gleichgültig  sind  und  die  somit  durch  Personal- 
selektion nicht  erklärt  werden  könnten.  —  So  leistet  die  Germinal- 
selektion einerseits  eine  Vorarbeit  für  die  Personalselektion  und 
andererseits  auch  eine  selbständige  ergänzende  Arbeit  neben  der- 
selben . 

Bedeutung  der  Lehre  von  der  Germinalselektion. 

Die  Bedeutung,  die  der  Aufstellung  der  Lehre  von  der 
Germinalselektion  zukommt,  kann  gar  nicht  hoch  genug  angeschlagen 
werden.  Schon  oben  (Abschnitt  VI)  wurde  gesagt,  daß  mit  dieser 
Aufstellung  im  Jahre  1895  für  Weismann  die  Epoche  des  allzu- 
weit gehenden  Glaubens  an  die  Leistungsfähigkeit  der  Zuchtwahl- 
lehre von  Wallace  und  Darwin  abschließt.  In  der  Tat  tritt  ja 
nun  neben  dieselbe  ein  ganz  anderes  Prinzip,  welches  versucht, 
die  Umwandlung  der  Formen  in  ihrer  letzten  Wurzel  zu  begreifen. 
Von  der  Zuchtwahl,  die  mit  gegebenen  individuellen  Abänderungen 
arbeitet  und  sie  summiert,  richtet  sich  jetzt  der  Blick  auf  die  Kraft, 
die  diese  Abänderungen  zuerst  schafft,  in  klarer  Erkenntnis,  daß 
sie  die  wichtigere  ist,  und  daß  ohne  sie  eine  Zuchtwahl  überhaupt 
unmöglich  ist.  ,,Alle  Abänderungen  müssen  innere  Ursachen  haben, 
und  ihr  Verlauf  muß  von  gesetzmäßig  wirkenden  Kräften  geleitet 
werden  ^^) .  Diese  Tatsache  an  sich :  die  Verlegung  des  Schwerpunktes 
der  ganzen  Betrachtung  von  der  causa  summandi,  wie  Roux 
sagt,  auf  die  wirkliche  causa  efficiens,  auf  die  eigentliche  Bildungs- 
kraft, die  die  Abänderungen  schafft,  und  deren  Erzeugnisse  sich 
innerhalb  gewisser  Grenzen  sogar  unbeeinflußt  von  Selektions- 
prozessen halten  können,  muß  unterschieden  werden  von  der  be- 
sonderen Vorstellung,  die  sich  Weis  mann  über  das  Zustande- 
kommen dieser  Kraft  gebildet  hat.  Letztere  ist  vielfach  angegriffen, 
als  zu  roh,  zu  grob  bezeichnet  worden.     Sei  dem,  wie  ihm  wolle; 


—     243     — 

jedenfalls  wird  eins  zugegeben  werden  müssen:  daß  nämlich  die 
Lehre  von  der  Germinalselektion  sich  folgerichtig  an  die  Determi- 
nantentheorie anschließt  und  nicht  bloß  äußerhch  deren  Schluß- 
stein bildet.  Sie  ist  durchaus  aus  derselben  hervorgewachsen,  ge- 
hört ihrem  ganzen  Gedankengange  nach  so  mit  ihr  zusammen, 
daß  man  fast  die  Behauptung  wagen  möchte:  wenn  Weis  mann 
sie  nicht  selbst  aufgestellt  hätte,  so  hätte  das  von  anderer  Seite 
geschehen  müssen.  Wenn  überhaupt  Determinanten  vorhanden 
sind  und  das  Wesen  aller  Teile  bestimmen,  so  müssen  auch  Verände- 
rungen dieser  Determinanten  die  letzte  Quelle  aller  erblichen  Va- 
riation sein,  —  und  die  Vorstellung  über  das  Zustandekommen 
dieser  Determinantenabänderungen  ist  ja  nur  eine  Übertragung 
der  für  die  großen  Lebenseinheiten  gültigen  Gesetze  auf  die  kleinsten. 
Die  Lehre  von  der  Germinalselektion  bedeutet  aber  auch 
ihrer  Tendenz  nach  nur  zu  einem  Teil  etwas  ganz  Neues,  zu  einem 
anderen  lediglich  einen  Versuch,  Erscheinungen,  die  Weismann 
schon  von  Anfang  an  als  zu  Recht  bestehend  anerkannt  hatte, 
theoretisch,  und  zwar  vom  Standpunkt  der  Determinantentheorie 
aus,  zu  fassen  und  zu  verstehen.  Denn  damals  schon,  1868  und  in 
den  siebziger  Jahren,  hat  ja  Weismann  sich  von  der  Zufallstheorie 
Darwins  entfernt,  indem  er  immer  wieder  betont,  daß  die  Va- 
riationen nicht  richtungs-  und  regellos,  sondern  beschränkt,  an 
bestimmte  Richtungen  gebunden  sind,  daß  aber  diese  bestimmt 
gerichtete  Variabilität  nicht  der  Ausdruck  einer  der  lebenden  Sub- 
stanz innewohnenden  Entwicklungskraft  ist,  sondern  in  der  ,, phy- 
sischen Natur"  der  Organismen,  d.  h.  in  ihrer  gegebenen  Konsti- 
tution und  der  davon  abhängigen  besonderen  Variations- 
fähigkeit, ihren  Grund  hat.  Diese  ,, physische  Natur"  wird  jetzt 
schärfer  gefaßt  als  ,, Determinantenkomplex  des  Keimplasmas", 
dessen  einzelne  Determinanten  eine  bestimmte  historisch  gewordene 
Zusammensetzung  besitzen  und  eben  dadurch  in  ihren  Variations- 
möglichkeiten beschränkt  sind.  Auch  in  bezug  auf  die  Frage  nach 
den  Faktoren,  die  den  Anstoß  zu  der  Veränderung  der  ,, physischen 
Natur",  d.  h.  des  Determinantenkomplexes  geben,  weicht  die  neue 
Vorstellung  weniger  rein  theoretisch,  als  sozusagen  mehr  praktisch 
von  der  früheren  ab.  Von  jeher  (s.  oben,  S.  190)  sah  Weismann 
diesen  Anstoß  nicht  in  einer  der  lebenden  Substanz  immanenten, 
vorwärts  drängenden  Entwicklungskraft,  sondern  in  ,, äußeren  Ein- 

16* 


—      244      — 

Aussen",  wobei  dieser  Begriff  allerdings  ganz  bestimmt  gefaßt  war 
und  die  natürliche  Umgebung  des  Gesamtorganismus 
bedeutete.  In  der  Lehre  von  der  Germinalselektion  erhält  er  eine 
andere  Fassung:  die  „äußeren  Einflüsse"  sind  jetzt  zunächst  die, 
die  die  kleinsten  Teilchen,  die  Determinanten  treffen,  ausgelöst 
durch  die  Ernährungsverhältnisse  innerhalb  des  Keimplasmas. 
Sie  sind  in  ihrer  Bedingtheit  einstweilen  nicht  weiter  zu  bestimmen, 
höchstens  nach  der  negativen  Seite:  traumatische  und  funktionelle 
Veränderungen  des  Soma  kommen  dafür  nicht,  und  die  direkten 
Einflüsse  der  äußeren  Umgebung  des  Gesamtorganismus  nur  in 
beschränktem  Umfangein  Betracht .  Darin  liegt  also  ein  Unter- 
schied gegenüber  der  früheren  Auffassung,  die  gerade  die  direkte 
Wirkung  der  äußeren  Einflüsse  auf  den  Gesamtorganismus  als 
wichtigsten  umwandelnden  Faktor  annahm.  Der  Anstoß  zur  Um- 
wandlung wird  jetzt  vor  allem  in  den  Organismus,  ja  in  das  Keim- 
plasma verlegt,  ohne  daß  aber  damit  der  lebenden  Substanz  selbst 
—  die  hier  durch  die  Determinanten  und  Biophoren  repräsentiert 
wird  —  der  innere  Trieb  zur  gesetzmäßigen  Weiterveränderung 
zuerkannt  würde.  Nur  die  Möglichkeit  zur  Umwandlung  wird 
ihr  nach  wie  vor  zugesprochen,  die  Fähigkeit,  auf  Veränderungen 
der  äußeren  Bedingungen  zu  reagieren. 

Neu  hinzugekommen  ist  aber  die  Vorstellung,  daß  einmal 
eingeleitete  Variationen  sich  in  gleichem  Sinne  fortzusetzen 
streben,  daß  also  auch  bei  gleich  bleibenden  Bedingungen  der  Um- 
welt die  im  Organismus  sich  abspielenden  Vorgänge  wirksam  sind 
imd  eine  einmal  begonnene  Umwandlung  weiter  zu  führen  und 
zu  steigern  vermögen.  Theorien,  die  in  dieser  Richtung  sich  bewegen, 
d.  h.  die  Entwicklung  in  bestimmten  vorgezeichneten  Bahnen  aus 
inneren  Kräften  heraus  sich  vollziehen  lassen,  werden,  wie  schon 
gesagt,  als  ,,orthogenetische"  bezeichnet  und  vielfach  in  ver- 
schiedenen Formen  vertreten  (besonders  von  Eimer,  aber  auch  von 
paläontologischer  Seite);  Weis  mann  hat  sich  früher  ablehnend 
gegen  sie  verhalten,  mit  der  Aufstellung  der  Germinalselektion 
aber  doch  auch  ein  orthogenetisches  Element  bei  der  Umbildung 
der  Formen  anerkannt,  freilich  in  engster  Verbindung  und  Wechsel- 
wirkung mit  der  natürlichen  Zuchtwahl  im  Sinne  von  Darwin 
und  Wallace.  Die  Entfernung  von  Dar  wins  reiner  „Zufallstheorie" 
aber  hat  damit  nur  noch  zugenommen. 


—     245     — 

Indessen  auch  darin  liegt  noch  nicht  die  Anerkennung  einer 
gesetzmäßig  vorwärts  drängenden  phyletischen  Entwicklungskraft, 
wie  Nägeli  sie  annahm,  vielmehr  erfährt  jenes  Fortschreiten  der 
Variation  eine  Erklärung  und  Begründung  durch  Grundeigenschaften 
der  lebenden  Substanz:  Ernährung,  Wachstum,  Fortpflanzung, 
die  auch  für  die  kleinsten  Lebenseinheiten,  die  Biophoren  und 
Determinanten,  vorausgesetzt  werden.  Und  so  basiert  letzten  Endes 
die  Lehre  von  der  Germinalselektion  auf  physiologischen  Vor- 
stellungen, auf  der  Überzeugung,  daß  auch  die  kleinsten  Bestand- 
teile des  Keimplasmas,  die  Träger  der  Vererbungstendenzen,  lebende 
Wesen  sind.  Indem  sie  dabei  bis  auf  die  molekulare  Zusammen- 
setzung der  Determinanten  zurückgeht,  deutet  sie  zugleich,  wenn 
auch  nur  in  blassen  Strichen,  den  Versuch  an,  die  unendliche  Fülle 
qualitativer  Verschiedenheit  in  der  organischen  Welt  letzten  Endes 
auf  quantitative  Veränderungen  zurückzuführen. 

Auf  der  konsequenten  Durchführung  dieses  physiologischen 
Gedankens  beruht  denn  auch  ein  Gegensatz  der  neuen  Auffassung 
gegenüber  der  älteren,  auf  den  auch  noch  kurz  hingewiesen  sei. 
Wenn  in  den  früheren  Schriften  Weismanns  von  einem  direkt 
verändernden  Einfluß  der  äußeren  Bedingungen,  z.  B.  des  Klimas, 
auf  das  Soma  oder  auf  dieses  und  zugleich  auf  die  Keimzellen 
(,, Parallelinduktion",  s.  S.  103)  die  Rede  ist,  so  ist  das  wohl 
so  gemeint,  daß  durch  die  fraglichen  Einwirkungen  die  lebende 
Substanz  direkt  in  bestimmter  Weise  —  in  ihrer  molekularen  Zu- 
sammensetzung —  verändert  wird.  Die  Ergebnisse  der  Schmetter- 
lingsexperimente, die  zunächst  für  eine  Vererbung  von  direkten 
Mediumeinwirkungen  zu  sprechen  schienen,  wurden,  wie  wir  sahen, 
später  von  Weismann  dahin  gedeutet,  daß  der  abändernde  Ein- 
fluß, hier  die  Temperatur,  in  jedem  Individuum  zugleich  die  Flügel- 
anlage, also  einen  Teil  des  Somas,  und  das  Keimplasma  der  in  dem 
Tier  enthaltenen  Keimzellen  trifft.  ,,In  der  Flügelanlage  verändert 
er  dieselben  Determinanten,  wie  in  den  Keimzellen,  nämlich 
diejenigen  der  betreffenden  Flügelschuppen."  Die  Lehre  von  der 
Germinalselektion  deutet  das  nun  dahin,  daß  die  abnorme  Tempe- 
ratur nicht  etwa  direkt  eine  Veränderung  in  der  Konstitution  der 
Determinanten  oder  ihrer  Biophoren  zur  Folge  hat,  sondern  zunächst 
nur  eine  solche  der  Ernährungsverhältnisse  (der  Qualität  der  die 
Determinanten  ernährenden  Säfte),  die  dann  ihrerseits  erst  wieder 


—     246     — 

den  Wettbewerb  unter  den  kleinsten  Einheiten  der  lebenden  Sub- 
stanz anfachen  und  damit  deren  Veränderung  einleiten.  So  wäre 
jetzt,  streng  genommen,  von  einem  ,, direkt  verändernden  Einfluß" 
der  äußeren  Bedingungen  auf  die  lebende  Substanz  überhaupt  nicht 
mehr  zu  reden;  dieser  Einfluß  würde  stets  erst  vermittelt  durch 
die  entstandenen  Veränderungen  der  Ernährungs Verhältnisse.  Auch 
die  Biophoren  unterliegen  nicht  passiv,  wie  anorganische,  chemische 
Körper  dem  umwandelnden  Einfluß  der  äußeren  Bedingungen, 
sondern  reagieren  nur  als  Lebewesen  auf  die  Veränderungen,  die 
durch  die  letzteren  geschaffen  werden.  Mit  dieser  feineren  Analyse 
der  Mediumwirkungen  ist  Weismann  in  merkwürdiger  Weise 
wenigstens  in  diesem  einen  Punkte  zu  engerer  Annäherung  an  den 
von  ihm  am  meisten  befehdeten  Deszendenztheoretiker,  Lamarck, 
gelangt:  auch  dieser  lehnte  den  Gedanken  an  eine  direkte  Ab- 
änderung der  tierischen  Organisation  durch  die  äußeren  Verhält- 
nisse ab  und  ließ  dieselbe  nur  durch  Vermittlung  eines  anderen 
Faktors  vor  sich  gehen.  Freilich  ist  dieser  Faktor  ein  anderer  als 
bei  Weis  mann:  Annahme  neuer  Gewohnheiten  bei  Lamarck, 
Entfachung  des  Determinantenkampfes  bei  Weis  mann. 

So  ergänzt  die  Lehre  von  der  Germinalselektion  die  Determi- 
nantentheorie. Diese  gab  anfangs  nur  eine  ,, Morphologie  des 
Keimplasmas",  eine  Vorstellung  von  seiner  Zusammensetzung; 
die  Germinalselektion  versucht  über  die  Lebenserscheinungen  der 
Determinanten  Vorstellungen  zu  gewinnen,  sie  gibt  gewissermaßen 
eine  ,, Physiologie  des  Keimplasmas"  und  sieht  in  den  elemen- 
taren Lebenserscheinungen  der  Determinanten  die  Ursache  der 
Veränderungen  der  Organismen.  Wichtiger  als  diese  Vorstellung 
ist  die  von  den  Faktoren,  die  jene  Lebenserscheinungen  beeinflussen 
und  stören.  Hier  liegt  wohl  der  Hauptangriffspunkt  der  Theorie. 
Denn  bei  weitem  die  größte  Bedeutimg  für  die  Störung  des  Gleich- 
gewichtes innerhalb  des  Determinantenkomplexes  wird  ja  den 
,, zufälligen  Ernährungsschwankungen"  innerhalb  des  Keimplasmas 
zugeschrieben,  und  es  ist  schwer,  dem  Zufall  bei  der  Umbildung 
der  Organismen  so  viel  Macht  einzruäumen  und  seine  Regulierung, 
seine  zweckmäßige  Verwertung  ganz  der  nachfolgenden  Fersonal- 
selektion  zu  überlassen.  Aber  Zufall  ist  ein  ganz  relativer  Begriff; 
die  Ernährungsschwankungen  im  Id  mögen  für  dieses  einen  Zu- 
fall bedeuten,  an  sich  werden  sie  in  jedem  Einzelfalle  mit  unerbitt- 


—     247     — 

lieber  Logik  aus  bestimmten  bedingenden  Ursachen  folgen.  Und 
damit  ist  auch  dem  Gedanken  Raum  gelassen,  daß  jene  „zufälligen" 
Ernährungsschwankungen  letzten  Endes  doch  in  den  Einwirkungen 
der  Umwelt  oder  in  funktionellen  Veränderungen  des  Organismus 
ihren  Grund  haben  könnten  5^).  So  bietet  nicht  nur  die  Determi- 
nantenlehre an  sich  eine  Möghchkeit,  ja  eine  Voraussetzung  für  die 
erbliche  Übertragung  „erworbener"  Eigenschaften,  wie  das  schon 
Plate  betont,  sondern  auch  die  Auffassung  von  den  Lebenserschei- 
nungen der  Determinanten,  wie  Weismann  sie  in  der  ,,Germinal- 
selektion"  entwickelt,  würden  für  jene  Annahme  eine  brauchbare 
theoretische  Grundlage  abgehen. 

Bei  der  Leitung  endlich  der  phyletischen  Entwicklung 
stellt  sich  die  Germinalselektion  als  mindestens  gleichwertige  Kraft 
neben  die  Personalselektion,  die  Zuchtwahl  im  Sinne  von  Darwin 
und  Wallace.  Die  inneren  Kämpfe  um  die  Nahrung,  die  sich  im 
Keimplasma  abspielen,  stellen  eine  innere  Triebkraft  dar,  frei- 
lich nicht  in  dem  Sinne,  daß  darin  eine  die  Entwicklung  der  gesamten 
Organismenwelt  in  bestimmte  Bahnen  lenkende  Kraft  zum  Aus- 
druck käme,  aber  doch  eine  Triebkraft,  die  für  die  einzelnen  Determi- 
nanten die  Richtung  bestimmt.  Dadurch  aber,  und  da  sie  immer 
in  einem  bestimmten,  gegebenen  Keimplasma  wirksam  ist,  gewinnt 
sie  allerdings  auch  einen  gewissen  Einfluß  auf  die  Gesamtentwicklung. 
Nicht  jedes  Keimplasma  kann  jede  beliebige  Variation  liefern; 
sein  Determinantengehalt  bedingt  es,  welche  möglich  und  welche 
unmöglich  ist.  Darin  aber  liegt  eine  Beschränkung  für  die  Tätig- 
keit der  Naturzüchtung,  und  bis  zu  einem  geringen  Betrag  auch 
eine  steuernde,  richtungsbestimmende  Kraft  der  inneren  Trieb- 
feder, der  Germinalselektion.  Die  Variationen  sind  nicht,  wie 
Darwin  meinte,  von  Hause  aus  zufällig  und  richtungslos  und  durch 
Naturzüchtung  nur  steigerungsfähig,  sondern  die  Naturzüchtung 
findet  schon  Variationsrichtungen  vor,  die  auch  aus  inneren 
Gründen  sich  zu  steigern  streben  und  von  der  Naturzüchtung  dabei 
nur  unterstützt  oder  gehemmt  werden  können.  Ja,  gegenüber  den 
Determinantenvariationen,  die  unter  dem  direkten  zwingenden 
Einfluß  veränderter  äußerer  Bedingungen  auftreten,  kann  die 
Naturzüchtung  unter  Umständen  sogar  machtlos  sein,  d.  h.  außer- 
stande, jene  Wirkungen  zu  neutralisieren.  Damit  ist  die  Wirkungs- 
sphäre der  ,, Naturzüchtung"  —  im  alten  eigentlichen  Sinne  —  ein- 


—      248      — 

geschränkt.  Die  Lehre  von  der  Germinalselektion  trägt  den  vielen 
Erscheinungen  Rechnung,  die  darauf  hinweisen,  daß  bei  den  Ver- 
änderungen der  Organismen  einmal  eingeschlagene  Richtungen 
auch  ohne  Zutun  der  Personalselektion,  aus  inneren  Kräften  heraus, 
beibehalten  werden. 

Erweiterung   der  Machtsphäre   des  Selektionsprinzips   durch   die 
Lehre  von  der  Germinalselektion. 

So  ist  mit  der  Aufstellung  der  Lehre  von  der  Germinalselektion 
anerkannt,  daß  die  Vorgänge  der  Naturzüchtung,  im  Sinne  von 
Darwin  und  Wallace,  in  mancher  Hinsicht  in  ihrer  Wirkung  be- 
schränkt sind.  Dem  allgemeinen  Prinzip  aber,  das  in  der  alten 
Zuchtwahllehre  zur  Geltung  kam,  dem  Selektionsprinzip  an 
sich,  ist  dadurch  eine  bedeutend  erweiterte  Machtsphäre  zugewiesen 
worden.  Freilich  ist  zu  beachten,  daß,  wenn  auch  der  von  Weis- 
mann selbst  gewählte  Name  ,, Germinalselektion"  den  Schwer- 
punkt auf  die  Ähnlichkeit  der  so  bezeichneten  Vorgänge  mit  denen 
der  Personalselektion  legt,  diese  Ähnlichkeit  nicht  ganz  vollständig 
ist.  Denn  es  wird  ja,  nach  der  Theorie,  der  erste  Anstoß  zur 
Störung  des  Gleichgewichtszustandes  innerhalb  des  Keimplasmas 
durch  äußere  Beeinflussung  (ungleiche  Ernährung)  der  Determinanten 
gegeben  und  es  werden  dadurch  überhaupt  erst  die  Ungleichheiten 
in  der  aktiven  Assimilationsfähigkeit  der  Determinanten  geschaffen, 
auf  Grund  deren  sich  Selektionsprozesse  anbahnen  können.  Außer- 
dem mag  noch  besonders  darauf  hingewiesen  werden,  daß  es  sich 
bei  den  Vorgängen  der  Germinalselektion  um  Kämpfe  zwischen 
den  verschiedenen  Determinanten,  also  ganz  ungleichartigen  Ge- 
bilden handelt,  während  bei  dem  Begriff  ,, Personalselektion"  ge- 
wöhnlich zuerst  an  die  Vorgänge  gedacht  wird,  die  sich  zwischen 
den  Variationen  der  Individuen  einer  Art,  also  gleichartigen  Lebe- 
wesen abspielen  und  dadurch  die  dauerfähigsten  dieser  Variationen 
züchten.  Freilich  ist  gleich  hinzuzufügen,  daß  Darwin  selbst  den 
Begriff  des  ,,  Kampf  es  ums  Dasein"  in  ganz  weitem  Sinne  genommen 
hat,  nicht  nur  als  Konkurrenz  gleichartiger  Individuen,  und  daß 
auch  der  Kampf  verschiedenartiger  Individuen  Selektionsprozesse 
einleiten  kann. 

Mit  der  Aufstellung  der  Lehre  von  der  Germinalselektion 
hat  Weis  mann  das  Selektionsprinzip  auf  einem  neuen  weiteren 


—       24Q       — 

Gebiet  zur  Anwendung  gebracht.  Ein  anderer  Forscher,  Wilhelm 
Roux,  war  ihm  darin  vorangegangen,  hatte  die  Lehre  vom  Daseins- 
kampfe auf  alle  Teile  des  Organismus  übertragen,  hatte  insbesondere 
aus  dem  Kampf  gleichartiger  Teile  (der  Zellen  desselben  Gewebes, 
der  Teilchen  innerhalb  der  Zelle)  um  Nahrung,  Raum  und  den  funk- 
tionellen Reiz  die  Züchtung  der  Gewebsqualitäten  abgeleitet, 
auf  deren  Grundlage  dann  im  Individuum  die  einzelnen  funktionellen 
Anpassungen  zustande  kommen.  Weis  mann  ergriff  diesen  Ge- 
danken der  Histonal-  oder  Gewebeauslese,  wie  er  selbst 
die  berührten  Vorgänge  nannte,  mit  freudiger  Zustimmung,  frei- 
hch,  wie  wir  sahen,  mit  dem  Vorbehalt,  daß  er  den  Resultaten 
dieser  Ausleseprozesse,  den  Wirkungen  des  Gebrauches  und  Nicht- 
gebrauches, nur  für  das  Individuum  selbst  eine  Bedeutung  zuer- 
kannte, ihre  Vererbbarkeit  und  damit  eine  Bedeutung  für  die  Um- 
bildung der  Formen  aber  leugnete.  Dagegen  erweiterte  er  selbst  die 
Machtsphäre  des  Selektionsprinzipes  aufs  neue,  indem  er  ihm  auch 
die  Vorgänge  innerhalb  des  Keimplasmas  unterordnete,  es  als  Ger- 
minalselektion  das  Schicksal  der  kleinsten  hypothetischen  Lebens- 
einheiten beherrschen  läßt.  Und  gerade  diesen  Ausleseprozessen 
auf  dem  kleinsten  Gebiete,  unter  den  kleinsten  Lebenseinheiten, 
schreibt  er  die  allergrößten  Wirkungen  zu:  auf  ihnen  beruht  alle 
Variation,  beruht  letzten  Endes  die  ganze  Entwicklungsfähigkeit 
der  organischen  Welt. 

Die  verschiedenen  Formen  der  Auslese. 

So  wird  das  Selektionsprinzip  zu  dem  großen  allgemeinen 
Bildungsprinzip,  das  überall  im  Reiche  des  Organischen  Geltung 
hat.  Unter  den  Lebenseinheiten  aller  Stufen,  den  größten  wie  den 
kleinsten,  herrschen  dieselben  Gesetze  des  Kampfes  ums  Dasein, 
des  Kampfes  um  Nahrung  und  Vermehrung;  auf  ihnen  beruht  aller 
Fortschritt.  Man  müßte,  streng  genommen,  so  viel  Arten  von  Se- 
lektionsprozessen unterscheiden,  als  es  Kategorien  von  Lebens- 
einheiten gibt  ;  entsprechend  den  Hauptstufen  und  Hauptbedingungen 
der  Lebenseinheiten  schlägt  Weis  mann  vor,  deren  vier  auseinander 
zuhalten:  Germinalselektion,  Histonalselektion,  Personal- 
selektion und  Kormalselektion.  Letztere  bedeutet  den  Aus- 
leseprozeß, der  die  Anpassung  der  Tier-  und  Pflanzenstöcke  (Kormen) 
bewirkt  und  der  auf  dem  Kampf  der  Stöcke  untereinander  beruht. 


—       -250      — 

Unter  solcher  Erweiterung  der  Selektionslehre  bekennt  sich 
Weis  mann  auch  noch  in  der  letzten  Auflage  seiner  „Vorträge" 
zu  dem  Ausspruch,  —  der  allerdings  früher  eine  andere  Bedeutung 
hatte  — :  es  beruht  alles  auf  Anpassung,  und  alles  wird  geregelt 
durch  Selektionsprozesse.  Und  nur  wenn  das  Wort ,, Naturzüchtung" 
in  ganz  allgemeinem  Sinne  genommen,  und  darunter  überhaupt 
nur  das  Wirken  natürlicher  Ausleseprozesse  unter  den  Lebensein- 
heiten aller  Stufen  verstanden  wird,  würde  es  auch  jetzt  noch 
berechtigt  sein.  Weis  mann  als  Vertreter  der  ,,  Allmacht  der  Natur- 
züchtung" zu  bezeichnen  —  eine  Bezeichnung,  mit  der  auch  heute 
noch  vielfach  die  alte  Bedeutung  verbunden  wird,  die  ihr  seit  Auf- 
stellung der  Germinalselektion,  also  seit  mehr  als  20  Jahren,  nicht 
mehr  zukommt. 


Neunter  Abschnitt. 
Entwicklung  des  Organismenreiches.     Schluß. 

Variabilität,  Vererbung,  Auslese  —  das  sind  die  drei  großen 
Fragen,  die  von  Weismann  besonders  behandelt  worden  sind; 
wir  wissen,  es  sind  die  drei  Fundamente,  auf  denen  die  Darwinsche 
Abstammungslehre  beruht,  die  drei  Faktoren,  die  Darwin  ganz 
besonders  für  die  Umbildung  der  Formen  und  ihre  Anpassung  an 
die  Lebensbedingungen  in  Anspruch  genommen  hatte.  Von  der 
Überzeugung,  daß  eine  historische  Entwicklung  der  Formen  aus- 
einander unter  gleichzeitiger  Umbildung  stattgefunden  hat,  war 
Weis  mann  ausgegangen,  an  sie  knüpfte  er  seine  Fragestellungen 
an,  zu  ihr  kehrte  er  nach  allen  Streifzügen  wieder  zurück.  Für  den 
Deszendenzgedanken  einzutreten  ist  er  nicht  müde  geworden; 
auch  seine  Theorie  der  Vererbung  und  Ontogenese,  die  ,, Keimplasma- 
theorie", entwickelte  er  in  stetem  Hinblick  auf  die  großen  Gesichts- 
punkte der  Phylogenese,   als  eine  Teilfrage  der  Deszendenzlehre. 

Nach  seiner  Stellungnahme  zu  diesen  Fragen  lassen  sich  un- 
schwer drei  Perioden  unterscheiden.  Die  erste  reicht  bis  zum 
Anfang  der  achtziger  Jahre  und  ist  gekennzeichnet  dadurch,  daß 
Weismann  hier  noch  im  wesentlichen  auf  altem  Darwinistischen 
Standpunkt  steht,  also  neben  der  Naturzüchtung  auch  die  Ver- 
erbung erworbener  Eigenschaften  gelten  läßt.  Personalselektion 
und  Lamarekismus  ist  ihr  Leitsatz.  Eine  Abweichung  von  der 
Darwinschen  Auffassung  bahnt  sich  aber  bereits  an:  die  Erkenntnis, 
daß  die  Variationen,  auf  denen  die  Umbildung  der  Arten  beruht, 
nicht  richtungs-  und  regellos  sind,  sondern  durch  die  ,, physische 
Natur"    der   Organismen   eine   Beschränkung   und   eine    Lenkung 


—       252       — 

in  bestimmter  Richtung    erfahren.      Die    genauere    Beschäftigung 
mit  dem  Vererbungsproblem  führt  dann  im  Anfang  der  achtziger 
Jahre  zu  der  bestimmten   Überzeugung,   daß  Verletzungen,   Ver- 
stümmelungen    und    funktionelle    Veränderungen    nicht    vererbt 
werden,  und  damit  zu  einer  bestimmten  Ablehnung  des  Lamarckis- 
mus.     Die  berühmte  Rede  über  die  Vererbung,  von  1883,  stellte 
weithin    sichtbar   diesen    Grundsatz    auf   und    eröffnet    damit    die 
zweite    Periode,  die  bis  zur  Mitte  der  neunziger  Jahre  reicht. 
Es  ist  die  arbeitsfreudigste:  die  Ausarbeitung  der  Lehre  von  der 
Kontinuität    des    Keimplasmas    und    von    der    Zusammensetzung 
desselben   aus   Determinanten,   die   theoretische   Verknüpfung   der 
Vererbungs-,  Befruchtungs-,  Fortpflanzungserscheinungen  mit  den 
Ergebnissen    der    zu    gewaltigem    Aufschwung    gelangenden    zyto- 
logischen  Forschung  vollzieht  sich  in  ihr,  vor  allem  aber  ist  sie  ge- 
kennzeichnet durch  den  Kampf  für  die  Zuchtwahllehre  von  Wallace 
und   Darwin,   durch  den   stets  erneuten   Versuch,   die   stammes- 
geschichtliche Entwicklung  des  Organismenreiches  nunmehr,  nach 
Verabschiedung  des  Lamarckschen  Prinzipes,  allein  mit  Hilfe  der 
Faktoren  der  Zuchtwahllehre:  Variabihtät,  Vererbung  der  blasto- 
genen    Abänderungen,    Personalauslese    im    Kampfe    ums    Dasein, 
zu  erklären.     An  die  Stelle  der  alten  Annahme:  ,, Personalauslese 
und  Lamarekismus"  ist  nun  die  Frage  getreten:  ,, Personalauslese 
oder  Lamarekismus?"  —  mit  der  Antwort:  nur  Personalauslese. 
Das  starke  Wort  von  der  ,, Allmacht  der  Naturzüchtung"  drückt 
den  Überschwang  persönlicher  Hingabe  aus,  mit  der  Weis  mann 
in  dieser  Zeit  für  die  Zuchtwahllehre  und  gegen  ihre  Angreifer  ein- 
trat.   Aber  dieser  Kampf  führte  ihn  auch  selbst  dahin,  der  Erschei- 
nung, auf  der  alle  Zuchtwahl  beruht,  dem  Auftreten  individueller 
Varietäten,  größere  Beachtung  zu  schenken  und  in  ihm  das  Wirken 
eines  Prinzips  zu  erkennen,  das  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch 
unabhängig  von  dem  Eingreifen  der  Auslese  bleibende  Umgestal- 
tungen schafft.    Wo  Auslese  stattfinden  soll,  muß  Auslese material 
in  Form  individueller  Verschiedenheiten  vorhanden  sein;  der  Per- 
sonalauslese  muß   eine   andere   Kraft   vorarbeiten,   die   eigentliche 
Umbildungskraft,  die  j ene  Verschiedenheiten  schafft ,  und  manche 
Tatsachen  zwangen  dazu,   ihr  eine  gewisse    Selbständigkeit,   oder 
richtiger :  eigene  Arbeitsregeln  zuzusprechen.   So  trat,  gewissermaßen 
an    die    Stelle    des   aufgegebenen    Lamarckschen    Umwandlungs- 


—     253     — 

prinzipes,  ein  anderes,  orthogenetisches,  die  Germinalselektion; 
ihre  Aufstellung  im  Jahre  1895  beginnt  eine  dritte  Periode  in 
Weismanns  deszendenztheoretischen  Anschauungen,  mit  der  De- 
vise: Germinalselektion  und  Personalselektion.  Mit  der 
Aufstellung  dieses  neuen  Prinzipes  ist  die  Lücke  ausgefüllt,  die 
bisher  in  jenen  Anschauungen  bestanden  hatte,  ist  die  elementare 
gestaltende  Urkraft,  die  als  notwendig  vorauszusetzen  ist,  genauer 
festgelegt  und  analysiert.  Diese  Kraft  wird  in  den  Organismus  ver- 
legt und  hergeleitet  aus  dem  Kräftespiel  der  kleinsten  lebenden 
Teilchen  innerhalb  des  Keimplasmas,  einem  Kräftespiel,  das  in 
seinen  Ursachen  zurückgeführt  wird  zum  kleineren  Teil  auf  die 
Einwirkungen  der  Umwelt,  die  den  Organismus  umgibt,  zum 
größeren  Teil  auf  Einflüsse,  die  innerhalb  des  Organismus  selbst 
entstehen  und  die  vom  Zufall  bedingt  werden.  Nicht  ein  besonderes 
vitalistisches  Prinzip  wird  damit  aufgestellt,  sondern  es  werden 
nur  Erscheinungen,  die  an  den  großen  Lebensprozessen  unmittel- 
bar zu  beobachten  sind,  auf  die  kleinsten,  unsichtbaren  übertragen : 
es  ist  der  allgemeine  Kampf  um  die  Nahrung,  um  das  Recht  auf 
Wachstum  und  Vermehrung,  der  jene  umbildende  Kraft  zustande 
bringt.  Das  Selektionsprinzip  ist  aus  dem  Gebiet,  auf  dem  es  auf- 
gestellt worden  war,  dem  der  Personen,  herausgeführt  und  auf  die 
kleinsten  Lebenseinheiten  übertragen.  Nach  der  in  dieser  letzten 
Periode  vertretenen  Anschauung  Weismanns  wirken  somit  zur 
Umbildung  der  Lebewesen  vor  allem  drei  Faktoren  zusammen: 
I.  eine  innere  Bildungskraft,  ausgelöst  durch  im  Innern  des  Keim- 
plasmas sich  abspielende  Vorgänge:  die  Germinalselektion, 
das  eigentliche  Gestaltungsprinzip,  von  dem  auch  die  Erscheinungen 
der  Korrelation  beherrscht  werden;  2.  die  Amphimixis  mit  den 
vorbereitenden  Reifungsvorgängen,  die  fortwährende  Kreuzung, 
Umkombinierung  der  Anlagen;  3.  die  Personalselektion  in  den 
beiden  Formen  der  natürlichen  und  der  sexuellen  Zuchtwahl.  Nach 
wie  vor  wird  ihr  eine  hohe  Bedeutung  zugesprochen;  von  einer 
,, Allmacht  der  Naturzüchtimg"  kann  aber  nicht  mehr  geredet 
werden,  wofern  wenigstens  der  Begriff  ,, Naturzüchtung"  in  seiner 
ursprünghchen  Bedeutung  genommen  wird.  Statt  ihrer  tritt  das 
innere  Bildungsprinzip  der  Germinalselektion  in  den  Vordergrund. 
Die  Entwicklung  des  Organismenreiches  gestaltet  sich  für 
Weismann  nun  etwa  in  folgender  Weise.    Als  logische  Notwendig- 


-      254     — 

keit  fordert  er  die  Annahme  einer  Urzeugung;  wie  alles  Lebendige 
als  Organisches  völlig  vernichtet  und  in  anorganische  Körper  ver- 
wandelt werden  kann,  so  muß  es  auch  einmal  aus  anorganischer 
Substanz  entstanden  sein.  Weismann  bekennt  sich  damit,  und 
hat  sich  stets  bekannt,  zu  einer  ,, materialistischen"  Naturauffassung, 
die  auch  zwischen  der  organischen  und  der  anorganischen  Welt 
keine  wirkliche  unüberbrückbare  Kluft  gelten  läßt  und  die  Lebens- 
erscheinungen letzten  Endes  auf  chemisch-physikalische  Prozesse 
zurückführt.  Vitalistische  Bestrebungen,  die  Annahme  einer  be- 
sonderen ,, Lebenskraft",  hat  er  stets  abgelehnt^").  —  Weit  unter 
der  Grenze  des  Sichtbaren,  uns  unerkannt  und  ewig  unerkennbar, 
müssen  die  ersten  einfachsten  Lebenseinheiten  gedacht  werden, 
die  irgendwo  und  zu  irgendeiner  Zeit  einmal  durch  den  Zusammen- 
tritt bestimmter  chemischer  Moleküle  sich  gebildet  haben. 

,,Die"  ersten  Lebenseinheiten,  —  denn  es  ist  anzunehmen, 
daß  nicht  ein  Urorganismus,  sondern  deren  zahlreiche  durch 
Urzeugung  entstanden,  die  auch  schon  von  vornherein  nicht  als 
absolut  gleich  gedacht  werden  können,  da  die  Umstände,  unter 
welchen  sie  ins  Leben  treten,  nicht  absolut  identisch  gewesen  sein 
können.  Mit  den  ersten  Lebewesen  war  zugleich  der  erste  Grund 
für  die  Verschiedenheiten  der  Organismen  gegeben;  unter  den 
Verschiedenartigkeiten  der  äußeren  Bedingungen,  unter  die  die 
Nachkommen  jener  Urorganismen  gerieten,  mußten  sich  jene  ersten 
Verschiedenheiten  nur  immer  weiter  steigern.  Die  Vielgestaltigkeit 
der  Organismen  begann  schon  mit  der  Entstehung  der  ersten  Or- 
ganismen selbst,  die  als  Biophoriden  ein  selbständiges  Dasein 
führten.  Und  diese  waren  nicht  nur  von  vornherein  schon  ver- 
schieden, sondern  sie  erhielten  auch  schon  bei  ihrer  Entstehung 
die  Fähigkeit  mit,  veränderten  äußeren  Einflüssen  nachgeben  zu 
können,  auch  weiterhin  variabel  zu  sein.  Anhäufung  von  Biophoriden 
führte  nunmehr  zur  Bildung  von  Biophoriden kolonien,  in  denen 
dann  nach  dem  Prinzip  der  Arbeitsteilung  eine  Differenzierung 
eintrat,  wodurch  die  einzelne  Biophoride  ihre  Bedeutung  als  selb- 
ständiges Wesen  aufgab,  als  Biophore  zu  einem  bestimmt  diffe- 
renzierten Teil  einer  höheren  Einheit  wurde.  Die  hypothetische 
kernlose  Monere  Haeckels  repräsentiert  diesen  Zustand  einer 
Biophorenkolonie.  Ihrem  gleichförmigen  Körper  müssen  wir  noch 
die    Fähigkeit    zusprechen,    durch   direkte    Wirkung    äußerer 


—     255     — 

Einflüsse  verändert  zu  werden  und  diese  Veränderungen  auf  die 
durch  Teilung  entstehenden  Nachkommen  zu  übertragen. 

Mit  der  Differenzierung  verschiedener  Arten  von  Biophoren 
innerhalb  des  Komplexes  geht  die  ursprüngliche  Gleichförmigkeit 
desselben  verloren,  und  nun  erhebt  sich  auch  das  Lebewesen  auf 
die  nächste  Stufe  der  Vervollkommnung  durch  Bildung  eines  Kernes, 
er  charakterisiert  die  Zelle.  In  dem  Kern  aber  ist  ein  Reserve- 
depot von  Biophoren  all  der  verschiedenen  Differenzierungen  zu 
sehen,  dazu  bestimmt,  daß  aus  ihm  bei  der  Teilung  des  einzelligen 
Wesens  den  beiden  Teilungshälften  die  Biophorenkomplexe  zur 
Erzeugung  der  Teile  mitgegeben  werden,  die  auf  dem  Wege  der 
einfachen  mechanischen  Teilung  des  Körpers,  wegen  zu  bedeutender 
Differenzierung  desselben,  ihnen  nicht  überliefert  werden  können. 
Jene  Reservebiophoren  stellen  also  Anlagen  gewisser  Teile  dar; 
sie  sind  gruppenweise  zu  besonderen  Anlagestücken  oder  Deter- 
minanten vereinigt,  die  ihrerseits  wieder  die  Chromosomen  des 
Kernes  zusammensetzen.  Die  Chromosomen  stellen  die  Anlagen- 
träger dar. 

Die  Bildung  des  Kernes  bedeutet  die  erste  Sonderung  einer 
Körper-  und  einer  Keim-  oder  Anlagensubstanz,  und  damit  einen 
sehr  wichtigen  Schritt  auf  dem  Wege  der  Vervollkommnung  der 
Organisation.  An  die  im  Kern  zusammengedrängte  Keimsubstanz 
(das  Keimplasma)  sind  von  jetzt  ab  die  Vererbungserscheinungen 
geknüpft. 

An  die  Einzelligen  schließen  sich  die  Kolonien  von  solchen 
an,  und  zwar  zunächst  solche,  in  denen  die  einzelnen  ZelHndividuen 
noch  gleichartig  sind,  und  ein  jedes  durch  mehrfache  Teilung  wieder 
eine  ganze  Kolonie  erzeugen  kann  (homoplastide  Kolonien),  und 
dann  —  der  nächste  bedeutungsvolle  Schritt  —  solche,  in  denen  eine 
Differenzierung  der  Individuen  stattgefunden  hat  in  Körper-  und 
Geschlechtszellen  (heteroplastide  Kolonien).  Nunmehr  besitzen 
nur  noch  die  Geschlechtszellen  die  Fähigkeit,  die  ganze  Kolonie 
neu  zu  erzeugen,  nur  sie  enthalten  in  ihren  Kernen  das  dazu  nötige, 
aus  sämtlichen  Determinanten  zusammengesetzte  Keimplasma 
und  geben  dies  auf  die  folgenden  Generationen  weiter,  so  eine 
Kontinuität  des  Keimplasmas  herstellend  und  selbst  eine 
potentielle  Unsterblichkeit  bewahrend,  wie  sie  die  Einzelligen  be- 
saßen.   Die  Körperzellen  dagegen  übernahmen  mannigfache  andere 


—    256    — 

Funktionen,  sie  werden  dementsprechend  auch  morphologisch 
differenziert  und  bewahren  auch  in  ihren  Kernen  nur  noch  ein 
spezifisches  Idioplasma,  das  ledighch  noch  für  ihre,  der  Körper- 
zellen, charakteristischen  Merkmale  die  nötigen  Reservedetermi- 
nanten enthält  und  zugleich  in  seiner  Reproduktionskraft  beschränkt 
ist,  d.  h.  nur  für  eine  beschränkte  Anzahl  von  Zellfolgen  ausreicht. 
Damit  ist  für  die  Körperzellen  eine  neue  Eigenschaft  eingeführt, 
die  den  Lebewesen  von  vornherein  nicht  zukam:  sie  unterliegen 
dem  Tode,  werden  sterblich. 

Das  Prinzip  der  Arbeitsteilung  waltet  auch  bei  der  Erreichung 
der  nächsten  Stufe:  der  Herausbildung  der  vielzelligen  Or- 
ganismen aus  den  Kolonien,  und  bei  der  Entfaltung  derselben 
zu  immer  höheren,  komplizierter  gebauten,  in  unendlicher  Form- 
mannigfaltigkeit auseinandergehenden  Organismen. 

Frühzeitig  wohl  wurde  aber  noch  eine  andere  Einrichtung 
eingeführt,  die  den  Nachteil  der  weitgehenden  Differenzierung  in 
etwas  milderte:  die  Regenerationsfähigkeit,  geknüpft  an  ge- 
ringe Mengen  von  Reservekeimplasma,  das  gewissen  Körperzellen 
je  nach  Bedarf  noch  neben  ihrem  spezifischen  Idioplasma  mitgegeben 
wurde  und  sie  in  den  Stand  setzte,  nötigenfalls  nicht  nur  ihresgleichen, 
sondern  ganze  Körperteile,  ja  den  ganzen  Organismus  zu  regenerieren. 

Die  Voraussetzungen,  unter  denen  sich  alle  diese  Umwand- 
lungen vollziehen,  ändern  sich  nach  Weis  mann  scher  Auffassung 
von  dem  Augenblick  an,  wo  ein  Kern  und  damit  die  erste  Sonderung 
einer  Keim-  und  einer  Körpersubstanz  auftritt.  Während  vorher, 
bei  den  kernlosen  Lebensformen,  damit  gerechnet  werden  konnte, 
daß  alle  Veränderungen  des  ganzen  Lebewesens  sich  auch  unmittel- 
bar auf  die  Nachkommen  übertragen,  also  erblich  sind,  ist  von  diesem 
Augenblick  an  jede  erbliche  Übertragung  durchaus  an  die  Keim- 
substanz geknüpft.  Diese  allein  bestimmt  durch  ihre  Zusammen- 
setzung das  Wesen  des  Nachkommen;  eine  Veränderung  des 
Keimplasmas  bedingt,  daß  das  unter  seiner  Herrschaft  und  Leitung 
entstehende  Soma  ebenfalls  eine  Veränderung  gegenüber  der  früheren 
Generation  aufweist.  Somit  setzt  nunmehr  auch  jede  erbliche 
Variation  und  damit  alle  dauernde  Umbildung  der  Formen  eine 
primäre  Veränderung  des  Keimplasmas  voraus.  Solche  primären 
Veränderungen  des  Keimplasmas  waren  die  Ursache  für  die  mannig- 
fachen  Differenzierungen  der  Einzelligen,   sie  bedingten,   daß  aus 


—     257     — 

Einzelligen  die  homoplastiden,  und  aus  diesen  die  heteroplastiden 
Zellkolonien  entstanden,  sie  waren  endlich  die  Ursache  für  die 
Weiterbildung  der  heteroplastiden  Kolonien  zu  vielzelligen  Or- 
ganismen und  für  die  Ausbildung  der  letzteren  in  unendlicher 
Mannigfaltigkeit , 

Mit  den  Voraussetzungen  für  die  Umbildungen  ändern  sich 
von  dem  Auftreten  eines  Kernes  an,  aber  auch  Art  und  Weise 
ihres  Zustandekommens  sowie  ihre  Ursachen.  Jene  Um- 
wandlungen vollziehen  sich  nicht  nach  einem  bestimmten,  von  vorn- 
herein festgelegten  Schöpfungsplan,  auch  nicht  auf  Grund  eines 
der  lebenden  Substanz  innewohnenden  Entwicklungstriebes,  sondern, 
ganz  allgemein  gesprochen,  im  engsten  Anschluß  an  die  äußeren 
Bedingungen,  unter  denen  sich  die  einer  erblichen  Veränderung 
fähigen  elementaren  Lebenseinheiten  befinden.  Bei  den  niedersten 
kernlosen  Lebensformen  fallen  diese  Bedingungen  zusammen  mit 
denen,  unter  denen  sich  das  Lebewesen  selbst  befindet.  Der  Einfluß 
der  äußeren  Bedingungen  vermag  auf  sie  unmittelbar  umgestaltend 
zu  wirken,  und  die  so  bewirkten  Veränderungen  übertragen  sich 
unmittelbar  auf  die  Nachkommen,  so  kommt  er  zugleich  als  die 
Wurzel  dauernder  Umgestaltung  der  Formen  in  Betracht.  Das 
ändert  sich  aber  mit  dem  Augenblick,  wo  die  für  die  Anbahnung 
erblicher  Veränderungen  maßgebende  Substanz  sich  als  Keim- 
plasma konzentriert  und  sich  in  das  Innere  eines  Soma  zurück- 
zieht. Wie  konnte  nun  überhaupt  eine  Veränderung  dieser  Keim- 
substanz erfolgen  ?  Auf  diese  Frage  antwortet  die  Lehre  von  der 
Germinalselektion.  Sie  lehnt  auch  für  das  Keimplasma  eine  zwangs- 
mäßig in  bestimmter  Richtung  ablaufende,  durchaus  schon  durch 
die  Struktur  bedingte  Umbildung  desselben,  eine  phyletische  Prä- 
formation, ab  und  greift  auf  die  allgemeinen  Erscheinungen  des 
Stoffwechsels  zurück.  Tief  im  Innern  des  Organismus,  in  der  engen 
Werkstätte  des  Keimplasmas,  kämpfen  ihr  zufolge  die  kleinsten 
hypothetischen  Lebenseinheiten,  die  Biophoren  und  die  aus  ihnen 
zusammengesetzten  Determinanten  und  Determinantengruppen  um 
die  Nahrung,  deren  Zufuhr  mannigfachen  Veränderungen  unter- 
worfen ist,  und  verändern  sich  dadurch  selbst  quantitativ  und 
qualitativ.  Die  einen  werden  kräftiger,  die  anderen  schwächer; 
ihre  chemische  Zusammensetzung  erleidet  Abänderungen.  Und 
was  hier  im  Keim  an  den  Anlagen,  den  Determinanten,  sich  an- 

Gaupp,  Biographie  Weismanns  17 


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bahnt,  tritt  dann  an  dem  entwickelten  Organismus  in  den  Merk- 
malen, den  Determinaten,  in  die  Erscheinung.  So  spielen  sich 
im  Keime,  am  Keimplasma,  die  Vorgänge  ab,  die  die  Umwandlungen 
der  Formen  anbahnen ;  sie  bilden  den  Mechanismus,  durch  den  diese 
Umwandlungen  zustande  kommen. 

Ihre  unmittelbare  Ursache  sind  Ernährungsschwankungen, 
also  auch  wieder  Bedingungen,  die  außerhalb  der  Lebensteilchen 
sich  finden.  Als  Ursache  dieser  Schwankungen  kommen  aber  nun 
nur  noch  in  sehr  geringem  Maße  die  äußeren  Bedingungen,  die  den 
ganzen  Organismus  umgeben,  in  Betracht,  in  weit  höherem  Maße 
die  innerhalb  des  Organismus  sich  abspielenden  Vorgänge,  die 
nur  für  die  Determinanten  des  Keimplasmas  als  ,, äußere"  zu  gelten 
haben,  und  die,  da  sie  sich  unserer  Einsicht  entziehen,  als  ,, Zufällig- 
keiten" zu  bezeichnen  sind.  Sie  vor  allem  bedingen  jene  Ernährungs- 
schwankungen und  regen  damit  jenes  Kräftespiel  im  Keimplasma 
an,  das  die  eigentliche  causa  efficiens  der  Umbildung  der  Formen 
abgibt.  Ihnen  gegenüber  spielen  die  äußeren  Verhältnisse,  die  den 
ganzen  Organismus  umgeben  und  auf  ihn  wirken,  wie  Klima,  Er- 
nährung u.  dgl.  eine  untergeordnete  Rolle  für  die  Umwandlung 
der  Formen.  Sie  wirken  zunächst  und  vor  allem  auf  die  Körper- 
substanz, und  die  durch  sie  bedingten  Veränderungen  des  Soma 
sind  ebensowenig  erblich  wie  die,  die  an  dem  letzteren  durch  Übung 
oder  Nichtgebrauch  eines  Organes  zustande  kommen.  Es  sind  nur 
passante  Veränderungen,  die  nicht  zu  dauerndem  Besitz  der  Art 
werden.  Immerhin  kann,  wenn  auch  in  seltenen  Fällen,  doch  ge- 
legentlich einmal  auch  durch  die  äußeren  Einflüsse  der  Umgebung 
jenes  Kräftespiel  im  Keimplasma  angeregt,  und  damit  zugleich 
mit  dem  Soma  auch  das  in  ihm  eingeschlossene  Keimplasma  gleich- 
sinnig verändert  werden,  so  daß  dann  bei  dem  Nachkommen  wieder 
die  gleiche  Veränderung  des  Soma  hervortritt,  die  der  Elternorganis- 
mus zeigte,  und  so  der  Schein  einer  Vererbung  direkter  Medium- 
einflüsse auch  bei  höheren  Formen  zustande  kommt.  Diese  Über- 
legungen gelten  sowohl  für  die  Einzelligen,  bei  denen  das  Soma 
nur  durch  den  Zellkörper,  und  die  Keimsubstanz  durch  den  Kern 
dargestellt  wird,  wie  für  die  Vielzelligen,  bei  denen  das  Soma  aus 
einer  sehr  großen  Menge  von  Zellen  besteht,  und  die  Keimsubstanz 
in  Form  der  Keimzellenkerne  in  ihm  eingeschlossen  ist. 

Die  Abänderung  der  Formen,  die  auf  die  eben  geschilderte 


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Weise  eingeleitet  wird,  erfährt  eine  weitere  Steigerung  durch  eine 
Einrichtung,  die  ebenfalls  schon  auf  einer  tiefen  Stufe  des  Organismen- 
reiches, jedenfalls  schon  bei  den  Einzelligen,  in  Wirksamkeit  trat: 
die  Amphimixis,  die  Vermischung  zweier  Individuen.  Ihre  Be- 
deutung liegt  in  einer  Vermischung  der  Keimplasmen  und  damit 
der  Anlagekomplexe  zweier  Individuen.  Anfangs,  d.  h.  auf  der 
niederen  Stufe  der  Organisation,  nachdem  sich  eine  Keim-  und  eine 
Körpersubstanz  eben  erst  gesondert  hatten,  war  jene,  das  Keim- 
plasma, nur  einwertig,  d.  h.  es  enthielt  den  Anlagekomplex  für  nur 
ein  Individuum;  durch  den  Vorgang  der  Amphimixis  wurden  zwei 
solcher  Komplexe  zu  dauernder  gemeinsamerWirksamkeit  zusammen- 
geführt, und  damit  die  Möglichkeit  geschaffen,  daß  das  aus  dem 
neu  zustande  gekommenen  zweiwertigen  Keimplasma  hervorgehende 
Geschöpf  Merkmale  zweier  Organismen,  —  seiner  beiden  Eltern  — 
in  sich  vereinigt.  Freilich  schiebt  sich  hier  zunächst  wieder  ein 
Kampf  ein:  ein  Kampf  eben  dieser  beiden  Anlagekomplexe  —  d.  h. 
ihrer  einzelnen  Determinanten  mit  den  entsprechenden  der  anderen 
Herkunft  —  die  nach  ihrer  Vereinigung  darnach  streben,  sich  bei 
der  Entfaltung  des  neuen  Individuums  zur  Geltung  zu  bringen. 
Erst  auf  dem  Wege  dieses  Wettbewerbes  entsteht  aus  dem  zwei- 
wertigen Keimplasma  ein  Geschöpf,  das  Merkmale  beider  Eltern- 
organismen in  sich  vereinigt.  So  wird  diese  Einrichtung  zu  einer 
neuen  Quelle  für  Verschiedenheiten  der  Organismen,  zwar  nicht 
hinsichtlich  der  einzelnen  Merkmale  selbst,  wohl  aber  hinsichtlich 
der  Kombination  derselben  zu  einem  Ganzen,  zu  einem  Merkmals- 
komplex. Sie  führte  in  der  Folge  zu  einer  weiteren  Differenzierung 
im  Sinne  einer  Arbeitsteilung:  zu  der  Ausbildung  männlicher  und 
weiblicher  Geschlechtszellen,  ja,  männlicher  und  weiblicher  In- 
dividuen, die  nun  bei  der  Vereinigung  als  väterliche  und  mütterliche 
in  Betracht  kommen. 

Eine  weitere  Einrichtung,  die  ebenfalls  im  Sinne  der  Ver- 
mehrung individueller  Verschiedenheiten  wirksam  werden  mußte, 
gesellte  sich  als  Folge  der  erstmaligen  Amphimixis  hinzu:  die  einer 
jeden  folgenden  Amphimixis  vorausgehende  Reduktion  der  An- 
lagen im  Keimplasma  auf  die  Hälfte.  Durch  sie  wurde  erreicht, 
daß  auch  neue  Vermischungen  im  Laufe  der  Generationen  die  Zahl 
der  Anlagekomplexe  innerhalb  eines  Keimplasmas  doch  nie  größer 
als  zwei  werden  ließen,  und  eine  Anhäufung  von  ,, Ahnenplasmen" 

17* 


20O       — 


im  Keimplasma  verhindert  wurde.  Die  beiden  vereinigten  Anlage- 
komplexe — der  väterliche  und  der  mütterliche  —  aus  denen,  nachdem 
einmal  die  Amphimixis  eingeführt  war,  jedes  Individuum  hervorgeht, 
und  von  denen  unverbrauchte  Reste  auch  in  jeder  seiner  Keimzellen 
deponiert  werden,  werden  zur  Vorbereitung  für  eine  Amphimixis 
wieder  zerlegt,  und  ihre  einzelnen  Anlagen  atjf  zwei  Zellen  verteilt, 
und  erst  eine  so  wieder  einwertig  gewordene  Keimzelle  vermag 
mit  einer  anderen  in  gleicher  Weise  präparierten  sich  zu  vereinigen. 
Dabei  bleibt  es  aber  dem  Zufall  überlassen,  in  welcher  Weise  jene 
Verteilung  erfolgt;  die  Anlagenträger  väterlicher  und  mütterlicher 
Herkunft  werden  in  neuer  Weise  zusammengestellt.  So  war  denn 
auch  die  Möglichkeit  eröffnet,  daß  auch  bei  wiederholter  Amphimixis 
eines  und  desselben  Elternpaares  von  beiden  Seiten  doch  immer 
wieder  verschieden  zusammengesetzte  Anlagenkomplexe  zusammen- 
kamen: der  geschilderte  Reduktionsvorgang  wurde  zu  einer  neuen 
Quelle  individueller  Variabilität. 

Alle  die  aus  der  gemeinsamen  Quelle  der  Amphimixis  und 
der  sie  vorbereitenden  Prozesse  fließenden  Verschiedenheiten  be- 
treffen aber,  um  es  noch  einmal  zu  betonen,  nur  die  Kombination 
der  Merkmale  zu  neuen  Komplexen;  die  Veränderung  der  elemen- 
tarsten Komponenten  derselben  bleibt  den  Vorgängen  innerhalb 
des  Keimplasmas  überlassen. 

Alle  die  genannten  Faktoren  wären  aber  noch  nicht  imstande 
gewesen,  das  Organismenreich  in  der  Gliederung,  die  wir  kennen, 
und  vor  allem  mit  der  innigen  Anpassung  an  die  äußeren  Verhält- 
nisse, die  wir  bewundern,  hervorzubringen,  wenn  nicht  diese  äußeren 
Verhältnisse  selbst  regulierend  eingegriffen  hätten.  Die  erblichen 
Abänderungen  der  Formen  erfolgen  in  kleinen  Schritten,  sie  treten 
als  individuelle  Variationen  in  die  Erscheinung.  Sie  sind  zwar  nicht 
ganz  ziel-  und  richtungslos,  sondern  streben  zufolge  ihrer  Entstehung 
darnach,  die  einmal  eingeschlagene  Richtung  beizubehalten,  aber 
doch  sind  sie  recht  mannigfaltiger  Art  und  für  die  Individuen,  an 
denen  sie  auftreten,  von  sehr  verschiedenem  Werte.  Sie  bedeuten 
für  diese,  wenigstens  in  ihrer  großen  Mehrheit,  Vorteile  oder  Nach- 
teile, machen  sie  mehr  oder  weniger  leistungsfähig  in  den  Wett- 
bewerben, die  sie  mit  ihresgleichen  und  mit  ganz  anderen  Formen 
um  die  notwendigsten  Lebensbedingungen  zu  führen  haben,  er- 
höhen oder  schwächen  ihre  Widerstandskraft  gegen  die  Einflüsse 


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der  unbelebten  und  belebten  Umgebung,  vermehren  oder  vermindern 
ihre  Fähigkeit,  die  von  ihrer  Umgebung  ihnen  gebotenen  Existenz- 
bedingungen auszunutzen,  —  kurzum,  machen  sie  mehr  oder  weniger 
,,dauerlahig"  (Roux)  in  all  den  vielen  Beziehungen,  die  seit  Darwin 
unter  der  Bezeichnung  ,, Kampf  ums  Dasein"  zusammengefaßt 
werden.  Diese  neue  Instanz  des  Kampfes,  der  Kampf  zwischen 
den  Individuen  oder  Personen,  führt  automatisch  zu  einer  Aus- 
lese, einem  Erhaltenbleiben  und  einer  Häufung  der  sich  am  meisten 
,, bewährenden"  Qualitäten  und  züchtet  dieselben  im  Laufe  der 
Generationen  zu  festen  dauernden  Merkmalen  der  Arten,  durch 
Ausmerzung  der  weniger  günstig  veranlagten  Individuen.  So  ent- 
stehen die  Merkmale  der  Organismen  in  Anpassung  an  die  Lebens- 
bedingungen: die  Organismen  sind  in  erster  Linie  Anpassungs- 
komplexe. Dazu  gesellen  sich,  aber  in  geringerem  Umfang,  Merk- 
male, die  in  gleicher  Weise  entstanden,  aber  biologisch  bedeutungs- 
los sind  und  somit  in  den  Merkmalsbestand  der  Art  eingefügt  werden, 
ohne  deren  Dauerfähigkeit  zu  erhöhen:  ,,rein  morphologische" 
Merkmale.  — 

Die  Instanzen  des  Kampfes  und  der  dadurch  bedingten  Aus- 
lese, die  im  Leben  und  Werdegang  der  Organismen  bestimmend 
wirken,  sind  aber  damit  noch  nicht  erschöpft.  Auch  während  seiner 
eigenen  individuellen  Lebensdauer  ist  der  Organismus  der  Schau- 
platz solcher  Kämpfe,  d.  h.  solcher  Vorgänge  des  Wettbewerbes, 
die  sich  zwischen  seinen  einzelnen  Teilen,  insbesondere  innerhalb 
der  Gewebe  zwischen  den  Elementen  derselben  abspielen.  Diese 
Kämpfe  führen  innerhalb  des  Individuums  zum  alleinigen  Er- 
haltenbleiben der  zweckmäßigen  dauerfähigen  Qualitäten ;  sie  haben 
insbesondere  Anteil  gehabt  an  der  stammesgeschichtlichen  Heraus- 
bildung einer  der  allerwert vollsten  Eigenschaften,  die  daher  auch 
zum  Allgemeingut  aller  Organismen  wurde:  der  Fähigkeit  zur 
funktionellen  Anpassung  (Roux),  d.  h.  zu  all  den  zweckmäßigen 
Veränderungen,  die  die  Organismen  in  ihren  einzelnen  Teilen  durch 
Gebrauch  oder  Nichtgebrauch  erleiden.  Aber  die  Bedeutung  dieser 
Kämpfe  und  auch  die  Bedeutung  der  funktionellen  Anpassungs- 
fähigkeit ist  beschränkt:  sie  führen  zwar  die  zweckmäßige  Aus- 
gestaltung des  Individuums  bis  in  die  letzten  Feinheiten  seines 
Baues  durch,  aber  ihre  Wirkungen  bleiben  auf  das  Individuum  be- 
schränkt, sie  vermögen  nicht  eine  korrespondierende  Veränderung 


2b2       — 

auch  des  Keimplasmas  zu  erzeugen,  die  ihnen  die  ErbUchkeit 
sicherte.  Die  Wurzel  aller  erblichen  Abänderungen  und  damit 
aller  Umbildungen  der  Formen  liegt  in  jenen  primären  Verände- 
rungen des  Keimplasmas;  über  Bestand  und  Erhaltung  der  Ab- 
änderungen entscheidet  ihre  Brauchbarkeit,  begutachtet  durch  die 
äußeren  Lebensbedingungen. 

Eine  ganze  Reihe  von  Kämpfen,  sowie  von  Ausleseprozessen, 
die  auf  ihnen  beruhen,  leitet  so  die  Entwicklung  des  Einzelindivi- 
duums und  der  gesamten  Lebe  weit.  Sie  spielen  sich  ab  zwischen 
den  Lebenseinheiten  aller  Kategorien.  Im  Keimplasma,  bei  der 
Entwicklung  jeder  Geschlechtszelle,  kämpfen  die  verschiedenen 
Determinanten  miteinander  um  die  Nahrung,  —  auf  diesen  Kämpfen 
und  ihrem  Ergebnis,  der  Germinalselektion,  beruht  letzten 
Endes  die  Umwandlung  der  Formen.  Zweimal  greift  dann  der  ,, Zu- 
fall" ein:  bei  der  endgültigen  Reifung  der  Geschlechtszelle  und  bei 
ihrer  Vereinigung  mit  einer  anderen.  Mannigfaltige  Kombinationen 
der  gegebenen  elementaren  Anlagen  sind  die  Folge.  Nunmehr 
tritt  wieder  der  Kampf  in  seine  Rechte:  bei  der  Entwicklung  des 
Individuums  wetteifern  die  beiden  vereinigten  Determinanten- 
komplexe um  die  Geltendmachung,  unter  den  durch  die  äußeren 
Verhältnisse  gegebenen  Bedingungen.  Die  überlegenen  Determi- 
nanten setzen  sich  durch ;  sie  bestimmen  in  Wechselwirkung  mit  den 
äußeren  Verhältnissen  die  Merkmale  der  Individuen.  Diese,  die 
Individuen  oder  Personen,  kämpfen  dann  in  all  den  verwickelten 
Beziehungen  des  Kampfes  ums  Dasein  um  ihre  Geltendmachung, 
um  Durchsetzung :  Personal-  oder  Individualauslese  ist  das  Ergebnis. 
Es  kommt  nicht  nur  den  für  erhaltenswert  befundenen  Individuen 
selbst  zugute,  sondern  auch  dem  Keimplasma,  das  in  ihnen  ein- 
geschlossen ist,  als  Rest  dessen,  dem  sie  selbst  ihre  Entstehung  ver- 
danken. So  reicht  die  Bedeutung  der  Personalauslese  weit  über  die 
Grenze  des  individuellen  Lebens  hinaus:  das  Dauerfähige,  was 
sich  in  den  äußeren  Verhältnissen  bewährt  hat,  stirbt  nicht  not- 
wendig mit  seinem  Träger,  sondern  hat  Aussicht,  in  Nachkommen 
fortzuleben.  Aber  auch  das  Individuum  selbst  ist  der  Schauplatz 
noch  weiterer  Kämpfe :  der  Kämpfe  seiner  Teile.  Seine  Ausgestaltung 
im  einzelnen  nach  der  Seite  der  Zweckmäßigkeit  hin  ist  hier  das 
Ergebnis.  Aber  dies  Ergebnis  kommt  den  Nachkommen  nur  un- 
mittelbar zugute,  niu  dadurch,  daß  es  seinem  Besitzer  die  Waffen 


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in  den  äußeren  Kämpfen  schärft;  diese  Waffen  selbst  weiter  zu 
vererben,  ist  diesem  versagt. 

So  vollzieht  sich  die  Entwicklung  des  Organismenreiches 
von  der  ersten  Entstehung  des  Lebens  an  zwar  nicht  nach  einem 
von  vornherein  festgelegten  Plan,  aber  nach  einem  festen  Mechanis- 
mus, d.  h.  ohne  daß  fortwährend  irgendeine  außerhalb  stehende 
Kraft  ordnend  und  richtend  eingriffe.  Bestimmend  und  Richtung 
gebend  sind  nur  die  äußeren  Bedingungen.  Darin  liegt  der  große 
grundsätzliche  Unterschied  zwischen  der  Entwicklung  eines  Einzel- 
wesens aus  dem  Ei  und  der  Entwicklung  des  Organismenreiches. 
Jene  läuft  mit  absoluter  Zielstrebigkeit  ab:  aus  dem  Ei  des  Huhnes 
wird  unter  allen  Umständen  wieder  ein  Huhn,  vielleicht  ein  un- 
vollkommenes, verkrüppeltes,  aber  doch  nicht  etwas  ganz  anderes; 
aus  den  ersten  einfachsten  Lebewesen  aber  hätte  ganz  gut  auch 
eine  ganz  andere  Kette  von  Organismen  werden  können,  wenn  die 
Bedingungen  andere  gewesen  wären.  Diese  bestimmten,  was  er- 
halten bleiben  sollte,  und  so  kam  die  Harmonie  zwischen  den  Or- 
ganismen und  ihren  Lebensbedingungen  zustande,  die  wir  bewundern. 
—  Aber  diese  mechanistische  Natur  auf  fassung  führt  nicht  not- 
wendig zu  einer  materialistischen  Welt  auf  fassung,  sondern 
gestattet,  ja  fordert  durchaus  die  Annahme  einer  teleologischen 
zwecksetzenden  Kraft  hinter  diesem  Mechanismus,  an  dem  Anfang 
der  Dinge.  Diesen  Gedanken,  daß  das  Prinzip  der  Teleologie  mit 
dem  der  mechanistischen  Auffassung  verbunden  werden  könne 
und  müsse,  entwickelt  Weismann  schon  1876  in  einem  besonderen 
Aufsatz.  Ein  teleologisches  Prinzip,  wie  es  Carl  Ernst  von  Baer 
und  Eduard  von  Hartmann  fordern,  ist  anzuerkennen,  nur 
darf  man  sich  die  zwecktätige  Kraft  nicht  fortwährend  in  den  Me- 
chanismus der  Welt  direkt  mit  eingreifend  vorstellen,  sondern  viel- 
mehr hinter  demselben  als  letzte  Ursache  dieses  Mechanismus, 
wie  der  Uhrmacher  den  IMechanismus  der  Uhr  herstellt,  aber  den 
einmal  in  Gang  gebrachten  sich  selbst  überläßt.  Kausale  und  teleo- 
logische Kräfte  wirken  nicht  gleichzeitig  zusammen,  aber  doch 
schließen  Mechanismus  und  Teleologien  einander  nicht  aus,  sondern 
bedingen  sich  gegenseitig :  ohne  Teleologie  wäre  kein  Mechanismus, 
sondern  ein  wirres  Durcheinander  roher  Kräfte,  und  ohne  Mechanis- 
mus keine  Teleologie,  denn  wie  sollte  dieselbe  ihre  Zwecke  aus- 
führen?     So  ist  denn  nach  Weismanns  Überzeugung  auch  die 


—      264      — 

Befürchtung  unberechtigt,  daß  durch  die  neueren  Naturanschau- 
ungen den  Menschen  das  Beste  abhanden  kommen  könne,  was  sie 
besitzen:  Sitthchkeit  und  echt  humane  Geisteskultur.  ,,Wer  mit 
Baer  die  Naturgesetze  als  die  , permanenten  Willensäußerungen 
eines  schaffenden  Prinzips'  ansieht,  für  den  ist  es  klar,  daß  ein 
weiterer  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  dieser  Gesetze  den  Menschen 
nicht  von  der  Bahn  fortschreitender  Vervollkommnung  ablenken, 
sondern  ihn  fördern  muß,  daß  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  un- 
möglich einen  Rückschritt  bedeuten  könne,  möge  dieselbe  nun 
lauten  wie  sie  wolle.  Man  stelle  sich  kühn  auf  den  Boden  der  neuen 
Erkenntnis  und  ziehe  die  richtigen  Konsequenzen  aus  ihr,  und  wir 
werden  weder  Sittlichkeit,  noch  das  beruhigende  Gefühl,  einem 
harmonischen  Weltganzen  als  notwendiges,  entwicklungs- 
fähiges und  einem  Ziele  zustrebendes  Glied  eingefügt 
zu  sein,  aufgeben  müssen."  Die  mechanische  Natur  auf  fassung 
kann  nicht  nur,  sondern  muß  mit  einer  teleologischen  Welt- 
auffassung verbunden  werden.  In  dieser  bestimmten  Weise  hat  sich 
Weismann  hierüber  später  nicht  wieder  ausgesprochen ;  die  Schluß- 
worte der  „Vorträge"  enthalten  aber  doch  ähnliche  Gedanken: 
die  ausdrückliche  Feststellung,  daß  nur  die  eine  Hälfte  der  Welt, 
die  uns  zugängliche,  Gegenstand  der  Erforschung  für  uns  ist,  der 
Erforschung  ihres  wundersamen  Mechanismus  mit  seinem  harmo- 
nischen Ineinandergreifen  der  zahllosen  Räder,  daß  wir  aber  trotz 
aller  Fortschritte  dieser  Erkenntnis  vor  der  Welt  als  Ganzem  immer 
noch  wie  vor  einem  großen  Rätsel  stehen.  Hier  fängt  das  Gebiet 
des  Glaubens  an.  Auch  die  Lehre  von  der  Entwicklung  kann  den 
Glauben  nicht  enttronen,  das  Bedürfnis  einer  ethischen  Welt- 
anschauung, einer  Religion,  nicht  zerstören;  nur  wird  diese  Religion 
ihre  Formen  wechseln  müssen,  entsprechend  dem  Voranschreiten 
unseres  Wissens  von  der  Welt.  Die  Erkenntnis  von  den  diesem 
Wissen  gesteckten  Grenzen  braucht  uns  aber  nicht  zur  Resignation 
zu  führen,  denn  die  uns  zugängliche  Welt  bietet  uns  einen  so  un- 
erschöpflichen Reichtum  an  Erscheinungen  und  einen  so  hohen, 
nie  versagenden  Genuß,  daß  ihre  Erforschung  wohl  wert  ist,  unser 
Leben  auszufüllen.  ,,Auch  brauchen  wir  nicht  zu  fürchten,  daß  es 
uns  jemals  an  neuen,  noch  zu  lösenden  Fragen  und  Problemen  fehlen 
könnte.  Wäre  es  selbst  der  Menschheit  vergönnt,  noch  jahrhunderte- 
lang in  Ruhe  und  in  der  vielseitigen  und  rastlosen  Weise  weiter  zu 


—     265     — 

forschen,  wie  es  in  dem  verflossenen  Jahrhundert  zum  ersten  Male 
seit  Menschengedenken  der  Fall  gewesen  ist,  so  würde  doch  jede 
neue  Lösung  wieder  neue  Fragen  bringen,  und  nach  oben  wie  nach 
unten,  in  den  unendlichen  Räumen  des  Sternhimmels  wie  in  der 
Welt  mikroskopischer  und  ultramikroskopischer  Kleinheit  wird 
uns  immer  wieder  neue  Einsicht  aufgehen,  wird  uns  neue  Befriedi- 
gung bringen,  und  unsere  Begeisterung  über  die  Wunder  dieses  so 
unbegreiflich  verwickelten  und  doch  in  so  herrlicher  Klarheit  sich 
abwickelnden  Weltmechanismus  wird  nie  erlöschen,  sondern  immer 
wieder  von  neuem  emporflammen  und  unser  Leben  erwärmen  und 
erleuchten." 

Mit  diesen  tiefempfundenen  Worten  wollen  wir  Abschied 
nehmen  von  Weismanns  Lebenswerk,  von  der  gewaltigen, 
fruchtbaren  und  bewundernswert  schönen  Arbeit  eines  großen 
Forschers,  der  zugleich  ein  großer  Mensch  gewesen. 


Schluß. 

Alles  in  allem  dürfen  wir  in  Weismann  einen  der  bedeutend- 
sten Biologen  der  letzten  Jahrzehnte  sehen.  Das  tragische  Schick- 
sal, das  ihn  zwang,  seine  trotz  aller  Kürze  ungemein  erfolgreiche 
Arbeit  auf  dem  Gebiete  der  Spezialforschung  vor  der  Zeit  zu  unter- 
brechen, wurde  dank  seiner  außerordentlichen  Energie  zu  einem 
Teil  jener  Kraft,  die  das  Böse  will  und  das  Gute  schafft.  Unter  dem 
Zwange  dieses  Schicksals  kam  neben  der  Begabung  Weismanns 
zur  Naturbetrachtung  auch  seine  besondere  Veranlagung  für 
theoretisches  Durchdenken  der  Einzeltatsachen  zur  vollen 
Entfaltung  und  zeitigte  Früchte  von  bleibender  Bedeutung.  Denn 
in  Weis  mann  vereinigten  sich,  was  ja  durchaus  nicht  immer  der 
Fall  ist,  eben  diese  beiden  Fähigkeiten  zur  Beobachtung  und  zur 
zusammenfassenden  geistigen  Verarbeitung  der  Einzelbeobachtungen, 
die  in  der  Naturforschung  Hand  in  Hand  gehen  sollen,  in  glücklichster 
Weise.  Die  Bedingung,  daß  der  Naturforscher  in  erster  Linie  Natur- 
beobachter sein  soll,  hat  Weis  mann  in  vollstem  Maße  erfüllt. 
Seine  zahlreichen  und  zum  Teil  sehr  umfangreichen  Arbeiten  legen 
davon  ein  unanfechtbares  Zeugnis  ab;  er  selbst  hat  auch  ganz  be- 
stimmt ausgesprochen,  wie  hoch  er  die  empirische  Spezialforschung 
bewertete.    Er  hatte  sich  auf  botanischem,  physikalischem,  chemi- 


—     266      - 

schem  Gebiet  eingehend  betätigt  und  chemische  Arbeiten  veröffent- 
Hcht,  ehe  er  sich  der  zoologisch-anatomischen  Forschung  zuwandte. 
Hier  kam  ihm  zunächst  seine  Vorbildung  und  Schulung  als  Mediziner 
zugute.  Er  gehörte  zu  den  nicht  wenigen  bedeutenden  Zoologen, 
die  ursprünglich  Mediziner  waren,  und  bezeugte  so  mit  vielen  anderen 
die  außerordentlich  große  Bedeutung,  die  es  für  jeden  Biologen 
haben  muß,  einen  Organismus  ganz  gründlich  zu  kennen,  nicht  nur 
in  seinem  groben,  feinen  und  feinsten  Bau,  sondern  auch  in  seinen 
normalen  Lebensäußerungen  und  unter  pathologischen  Verhältnissen. 
So  ist  denn  auch  seine  Betätigung  auf  dem  Gebiete  der  biologischen 
Forschung  außerordentlich  vielseitig,  hinsichtlich  der  Probleme 
wie  der  Methodik.  Ihm  verdanken  wir  eingehende  Beschreibungen 
ganzer  Tierformen  und  ihrer  Baueigentümlichkeiten  mit  Rücksicht 
auf  deren  funktionelle  Bedeutung ;  in  großem  Umfang  hat  er  histo- 
logische und  embryologische  Untersuchungen  angestellt.  Schon 
die  Vermehrung  der  Kenntnis  des  empirischen  Tatsachenmateriales, 
die  ihm  zu  danken  ist,  würde  vollauf  berechtigen,  ihm  einen  ge- 
achteten Platz  unter  den  Naturforschern  seiner  Zeit  anzuweisen. 
Trotz  seiner  empfindlichen  Augen  verfügte  er  über  eine  ausgedehnte 
Anschauung  und  Kenntnis  von  Tatsachen,  und  in  seinen  Arbeiten 
wie  in  seinem  umfangreichen  Werke  über  die  Deszendenztheorie 
spricht  er  nicht  leicht  über  Dinge,  die  ihm  nicht  aus  eigener  Er-, 
fahrung  bekannt  waren. 

Aber  freilich,  das  bloße  Sammeln  zusammenhangloser  Tat- 
sachen, das  planlose  Beobachten  aufs  Geratewohl  war  nicht  seine 
Sache.  Denn  ,,der  Wert  und  die  Bedeutung,  welche  wir  einer  Tat- 
sache beilegen",  ist  ja  ,, immer  nur  ein  relativer  und  kann  einzig 
und  allein  gemessen  werden  nach  dem  Maße  von  Einsicht,  von  neuer 
Erkenntnis,  welches  sie  uns  gewährt".  So  hielt  er  wenig  von  den 
Beobachtungen,  die  ohne  leitende  Gesichtspunkte  angestellt  werden: 
,, vieles  daran  kann  gut  und  richtig  sein,  aber  es  fehlt  oft  gerade  das, 
worauf  es  bei  der  wissenschaftlichen  Untersuchung  vor  allem  an- 
kam",—  das  wurde  ihm  selbst  fühlbar,  als  er  seine  Arbeit  über  die 
Zeichnung  der  Sphingidenraupen  unternahm  und  auch  hier  ge- 
nötigt war,  sich  das  nötige  Tatsachenmaterial  durch  eigene  Be- 
obachtung selbst  zu  verschaffen.  So  sind  denn  auch  seine  ,, de- 
skriptiven" Arbeiten  durchaus  nicht  rein  deskriptiv,  sondern  be- 
handeln alle  Einzelbeobachtungen  von  einem  großen  allgemeinen 


—      267      — 

Gesichtspunkte  aus  und  ordnen  sie  diesem  unter.  Den  Grundsatz, 
daß  die  Einzelarbeit  die  großen  allgemeinen  Gesichtspunkte  nicht 
außer  acht  lassen  darf  und  erst  im  Zusammenhang  mit  diesen  ihre 
volle  Bedeutung  erlangt,  hat  Weismann  auch  seinen  Schülern 
stets  zu  eigen  zu  machen  gesucht. 

Noch  schärfer  spricht  sich  diese  Orientierung  der  Arbeit  auf 
die  großen  Gesichtspunkte  in  den  experimentellen  Arbeiten 
aus.  Sie  gehen  ja  von  einer  ganz  bestimmten  Fragestellung  aus 
und  fordern  von  der  Natur  die  Antwort  auf  diese.  Es  berührt 
wunderbar,  wenn  in  einer  modernen  Geschichte  der  biologischen 
Theorien  Weismann  ausdrücklich  unter  den  ,, klassischen  Dar- 
winisten" genannt  wird,  die  keine  Experimentatoren  waren *^). 
Im  Gegenteil:  Weismann  war  einer  der  ersten  Experi- 
mentatoren auf  dem  Gebiete  der  Abstammungs-  und 
Vererbungslehre.  Nach  Dorfmeister  war  er  der  erste,  der 
Versuche  über  den  Einfluß  der  Temperatur  auf  Schmetterlings- 
puppen anstellte  und  so  Abänderungen  der  Formen  durch  künst- 
liche Eingriffe  erstrebte;  ihm  verdanken  wir  ausgedehnte  Experi- 
mente über  den  Generationswechsel  der  Daphnoiden,  die  berühmten 
Versuche  über  die  Umwandlung  des  Axolotl  in  das  Amblystoma, 
die  von  Frl.  v.  Chauvin  erfolgreich  zu  Ende  geführt  wurden,  die 
an  30  Generationen  von  Mäusen  vorgenommenen  Versuche,  die 
über  die  Vererbung  von  Verstümmelungen  Aufschluß  geben  sollten, 
die  Versuche  über  Regenerationsfähigkeit  innerer  Organe  bei 
Tritonen.  Etwa  vom  Jahre  1869  an  bis  in  seine  letzte  Lebenszeit 
hat  er  immer  wieder  experimentiert,  hat  damit  Ergebnisse  von 
bleibendem  Werte  erzielt  und  zu  weiteren  Versuchen  angeregt. 

Von  so  breiter  und  fester  Grundlage  aus  konnte  er  sich  an 
die  höchste  Aufgabe  wagen :  die  spekulative  Zusammenfassung 
der  Einzeltatsachen  und  die  Ermittelung  der  ihnen  zu- 
grunde liegenden  allgemeinen  gesetzmäßigen  Vorgänge. 
Er  wurde  der  bedeutendste  Theoretiker  der  Abstammungs- 
lehre. Die  reiche  Anlage,  die  er  auch  für  diese  Aufgabe  mitbrachte, 
entfaltete  sich  unter  den  besonderen  Umständen  seines  Lebens  zu 
höchster  Leistungsfähigkeit.  Ihm  war  es  vergönnt,  die  ausgedehnte 
Fülle  der  Tatsachen,  über  deren  Kenntnis  er  verfügte,  mit  einem 
vortrefflichen  Gedächtnis  zusammenzuhalten,  mit  genialem  Blick 
zu  überschauen,  aus  ihnen  das  Gemeinsame  herauszulesen  und  in 


—     268     — . 

anschaulicher  Darstellung  zu  gestalten.  Goethes  ,, Naturgeheimnis 
werde  nachgestammelt"  steht  als  Motto  vor  dem  Werke  über  das 
Keimplasma.  Die  großen  Probleme  der  Abstammungslehre,  die 
in  der  zweiten  Hälfte  des  verflossenen  Jahrhunderts  eine  Erre- 
gung der  Geister  hervorriefen,  wie  sie  die  Menschheitsgeschichte 
kaum  wieder  gesehen  hat,  und,  in  engem  Zusammenhang  damit, 
die  Vererbungslehre,  wurden  die  Gebiete,  auf  denen  er  der  Natur 
ihre  Geheimnisse  abztdauschen  suchte.  Auf  beiden  hat  er  bahn- 
brechend, aufstörend,  antreibend  gewirkt  und  Bleibendes  geschaffen, 
und  die  Spuren  seines  Wirkens  werden  für  lange  Zeiten  nicht  ver- 
wischt werden.  Darwin  war  kein  Embryolog  oder  Histolog  gewesen, 
die  Medizin  hatte  ihn  kühl  gelassen,  die  Anatomie  abgestoßen. 
So  mußten  ihm  später,  trotz  aller  Arbeit  an  sich  selbst,  manche 
Lücken  in  der  biologischen  Durchbildung  bleiben,  und  seine  Betrach- 
tung bei  dem  mehr  unmittelbar  Sinnfälligen,  Groben  der  Erschei- 
nungen Halt  machen.  Weis  mann  konnte  vermöge  seiner  viel- 
seitigen Schulung  weiter  gehen,  die  Frage  nach  den  zellulären  Vor- 
gängen bei  der  Vererbung,  der  Entstehung  der  Variabilität,  auf- 
werfen und  in  Anknüpfung  an  die  glänzenden  Entdeckungen  seiner 
Zeit  auf  dem  Gebiete  der  Zellen-,  Befruchtungs-,  Eireifungslehre 
( —  von  Flemming,  O.  Hertwig,  v.  Beneden,  Bütschli, 
Boveri  u.  a.  — )  eine  Theorie  ausarbeiten,  die  die  verschiedensten 
Probleme  unter  einheitlichen  Gesichtspunkten  und  unter  der  An- 
nahme weniger,  wirksamer  Faktoren  vereinigt.  Die  Erörterung 
über  die  verschiedenen  Probleme  der  Abstammungslehre  erweitert 
zu  haben,  indem  er  sie  auf  das  Gebiet  der  feineren  Vorgänge  über- 
trug, für  diese  neue  Betrachtung  klar  und  bestimmt  die  wichtigsten 
Fragen  festgelegt  und  im  Anschluß  an  die  vorliegenden  Beobach- 
tungen ihre  Beantwortung  versucht  zu  haben,  das  ist  wohl  sein 
größtes,  besonderstes  Verdienst.  Und  wie  auch  der  Einzelne  über 
den  Wert  dieser  Antworten  denken,  und  wie  viel  oder  wie  wenig 
auch  sich  als  dauernd  von  seinen  theoretischen  Vorstellungen  er- 
halten möge  —  die  große  Bedeutung,  die  sie  für  die  Klärung  in  den 
verschiedensten  Fragen  gehabt  haben,  wird  wohl  niemand  leugnen 
wollen.  Gar  manches  von  dem,  was  erst  Weismann  in  stets  er- 
neuter Gedankenarbeit  behandelt  hat,  ist  uns  heute  ganz  geläufig 
geworden  und  beherrscht  letzten  Endes  auch  Vorstellungen,  die  sich 
äußerlich  in  einen  Gegensatz  zu  ihm  stellen  möchten.    Die  Lehre 


—     269    — 

von  der  Kontinuität  des  Keimplasmas,  der  Begriff  der  Determinanten, 
die  scharfe  Betonung  des  Gegensatzes  zwischen  Soma  und  Keim- 
zellen —  das  sind  Weismann  sehe  Vorstellungen,  die  sich  als  un- 
gemein fruchtbar  erwiesen  haben,  und  deren  Wirksamkeit  allent- 
halben in  den  Vererbungstheorien  zu  spüren  ist.  Ja,  noch  mehr: 
gerade  die  neuere  experimentelle  Forschung  ist  in  manchen  Punkten, 
in  der  Annahme  von  Vererbungseinheiten,  in  der  Auffassung  des 
Befruchtungsvorganges  und  anderen,  in  überraschender  Weise  zu 
ähnlichen  Vorstellungen  gekommen  wie  Weis  mann  auf  dem  Wege 
der  theoretischen  Spekulation.  Und  für  viele  empirische  und  ex- 
perimentelle Forschungen  hat  er  die  Fragestellung  vorbereitet, 
die  Gedankengänge  vorgedacht.  Auf  dem  Gebiete  der  Abstammungs- 
lehre begegnet  sein  Versuch,  die  ganze  Umbildung  der  Formen 
unter  Ausschaltung  des  Lamarekismus,  d.  h.  unter  Ausschaltung 
einer  Vererbung  funktioneller  Abänderungen  zu  verstehen,  auch  jetzt 
noch  starkem  Widerspruch,  ja  dieser  Widerspruch  wird  gerade  in 
neuerer  Zeit  immer  stärker  und  allgemeiner,  —  immerhin  kann  wohl 
nicht  behauptet  werden,  daß  die  Frage  schon  für  Lamarck  end- 
gültig entschieden  wäre,  und  selbst,  wenn  das  einmal  der  Fall  wäre, 
würde  es  immer  eine  bewundernswerte  Tat  bleiben,  daß  Weismann, 
unbeirrt  von  der  Tagesmeinung,  mit  scharfer  Kritik  auf  diesem  Ge- 
biete einsetzte,  mit  einer  Menge  leichtgläubig  überlieferter  Er- 
zählungen aufräumte  und  den  Mut  hatte,  das,  was  er  nach  gewissen- 
hafter Prüfung  als  nichtvorhanden  ablehnen  mußte,  nun  auch  wirk- 
lich aus  der  Rechnung  auszuschalten.  Wie  er  selbst  dabei  dann 
zu  dem  Schlüsse  kam,  daß  durch  ,, Naturzüchtung"  allein  die  Um- 
wandlung der  Formen  nicht  erklärt  werden  kann,  und  wie  er  an 
Stelle  des  entthronten  Lamarekismus  sein  selbsttätiges  in  den  Or- 
ganismen wirksames  Umbildungsprinzip  aufstellte,  wurde  ausführ- 
lich besprochen. 

Alle  diese  Ergebnisse  flogen  ihm  nicht  zu  und  waren  nicht 
aus  der  Luft  gegriffen,  sondern  in  ernster  Gedankenarbeit  erlangt. 
In  der  erzwungenen  Beschränkung  des  Verkehres  mit  der  sichtbaren 
Außenwelt  entfaltete  sich  die  ganze  ihm  als  Deutschen  innewohnende 
Kraft  zum  grüblerischen  Sichversenken  in  die  Erscheinungen,  zum 
geistigen  Durchdenken  und  Verarbeiten  der  Tatsachen.  Ebensowenig 
wie  die  zusammenhanglose  Einzeltatsache  vermochte  er  den  nur  flüch- 
tig gefaßten  und  ausgesprochenen  Gedanken  schon  an  sich  als  be- 


—      270     — 

sonders  wertvoll  für  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  zu  achten; 
das  kann  er  erst  werden,  wenn  er  „soweit  irgend  möghch  durchgedacht 
und  auf  seine  Durchführbarkeit  geprüft"  worden  ist.  Darnach  hat 
er  mit  deutscher  Gründhchkeit  gehandelt,  und  er  hat  sich  nicht 
gescheut,  es  einzugestehen,  wenn  beim  wiederholten  Durchdenken 
eines  Gedankens  —  wie  das  nicht  zu  verwundern  war  —  ihm  eine 
frühere  Schlußfolgerung  als  unrichtig  und  unhaltbar  erschien, 
oder  wenn  neue  Tatsachen  sich  mit  einer  Vorstellung  nicht  in  Ein- 
klang bringen  ließen.  Freilich,  so  ohne  weiteres  war  er  nicht  um- 
zustimmen, das  Recht  der  Kritik  wahrte  er  sich,  und  für  rasch  fertige, 
einem  beschränkten  Kreis  von  Kenntnissen  entspringende  Urteile 
hatte  er,  der  von  hoher  Warte  ein  weites,  großes  Tatsachengebiet 
überschaute,  nur  scharfe  Zurückweisung. 

Die  Kenntnis  eines  ausgedehnten  Tatsachenmateriales  be- 
rechtigte ihn  dazu,  aus  den  Tatsachen  allgemeine  Gesetze  abzu- 
leiten, sie  ließ  ihn  auch  seine  theoretischen  Vorstelltmgen  im  steten 
Anschluß  an  dieselben  entwickeln.  Seine  Vorträge  zur  Deszendenz- 
theorie zeigen  diese  innige  Verbindung  von  Theorie  und  praktischer 
Nutzanwendung,  oder  richtiger  von  tatsächhcher  Grundlage  und 
theoretischer  Abstraktion  auf  jeder  Seite.  Sein  Denken  blieb  so- 
weit als  irgend  möglich,  ,, gegenständlich",  um  den  bezeichnenden 
Ausdruck,  den  Goethe  so  schätzte,  zu  gebrauchen.  Und  wo  er  über 
das  Bereich  der  sichtbaren  Erscheinungen  hinausgehen  mußte, 
da  blieb  doch  die  künstlerische  Begabung,  die  ihm  von  der  Mutter 
her  geworden,  seine  Führerin,  trieb  ihn  seine  Phantasie  immer  wieder, 
nach  greifbaren  anschaulichen  Vorstellungen  zu  suchen,  sich  die 
Gebilde,  zu  deren  Annahme  er  gelangte,  möglichst  konkret  zu  denken. 

Aus  dem  mehr  unbestimmten  Idioplasmabegriff  Nägelis 
wurde  in  seiner  Hand  das  Keimplasma,  als  Keimsubstanz  der 
Keimzellen  ohne  weiteres  sichtbar  und  in  seinem  Verhalten  in  der 
Form  der  Chromosomen  bei  der  Befruchtung  und  bei  den  Zellteilungen 
zu  verfolgen,  eine  Substanz  von  ganz  bestimmter  gesetzmäßiger 
Architektur,  zusammengesetzt  aus  Determinanten  und  Biophoren, 
die  zwar  jenseits  der  Grenze  des  Sichtbaren  liegen,  aber  doch  nicht 
als  wesenlose  Begriffe,  sondern  als  real  vorhandene  Teilchen  zu 
denken  sind.  W^enn  durchaus  nach  Schwächen  seiner  Theorie  ge- 
sucht werden  soll  —  bei  welcher  Theorie  wären  die  nicht  zu  finden !  — 
so  wäre  es  höchstens  die,  daß  sie  nach  zu  großer  Anschaulich- 


—       271       — 

keit  strebt.  Ihn  aber  unter  die  „phantasielosen  Beweismänner" 
zu  rechnen,  wie  es  ein  moderner  Historiker  der  Biologie  tut,  dürfte 
wohl  nicht  berechtigt  sein.  Gerade  die  Vereinigung  scharfen  Denkens 
mit  künstlerischer  Phantasie  befähigte  ihn  zur  Aufstellung  seiner 
Theorie,  wie  sie  ihn  befähigte,  seine  Gedanken  nicht  nur  logisch 
und  überzeugend  zu  entwickeln,  sondern  auch  in  klarer  Form  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  Darauf  beruht  ja  auch  der  starke  Erfolg, 
der  seinen  Schriften  zuteil  geworden  ist. 

Daß  Weismann  sich  für  seine  Ideen  immer  mit  voller  Energie 
eingesetzt  hat,  ist  selbstverständlich;  nur  dadurch  war  es  ja  möglich, 
ihre  Leistungs-  und  Dauerfähigkeit  zu  erproben.  Daß  ihre  wo 
immer  vorhandenen  Schwächen  von  anderen  mit  der  genügenden 
Schärfe  hervorgehoben  werden  würden,  darum  brauchte  er  nicht 
zu  sorgen.  Seine  theoretischen  Vorstellungen  aber  etwa  als  der  Weis- 
heit letzten  Schluß  hinstellen  zu  wollen,  das  ist  ihm  nicht  entfernt 
eingefallen.  Auf  den  gegen  ihn  gerichteten  Ausspruch  eines  Kri- 
tikers, es  scheine,  die  Naturphilosophie  sei  noch  nicht  tot,  erwiderte 
er  (1899):  ,, Hoffentlich  nicht!  Und  hoffentlich  wird  sie 
es  auch  niemals  sein,  denn  zu  allen  Zeiten  wird  der  Fortschritt 
in  unserer  Erkenntnis  von  der  philosophischen  Verarbeitung  der 
uns  bekannten  Tatsachen  abhängen,  da  wir  dadurch  uns  neue  Ziele 
der  Beobachtung  zu  stecken,  neue  Tatsachen  zu  finden  vermögen, 
die  tiefere  Einsicht  geben.  Wenn  aber  unter  ,, Naturphilosophie" 
nur  die  Ausartungen  einer  philosophischen  Naturbetrachtung  ge- 
meint sind,  wie  sie  Oken,  Schelling  u.  a.  am  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts übten,  so  sollte  doch  der  unterschied  nicht  verkannt 
werden,  der  zwischen  diesen  Begriffsspielereien  und  Konstruktionen 
der  Natur  aus  freier  Hand  und  meinen  Versuchen  besteht,  die  Tat- 
sachen unter  gemeinsamen  Gesichtspunkten  zusammenzufassen. 
Das  eine  sind  Phantasien,  aus  denen  niemals  etwas  Festes  hervor- 
gehen konnte,  das  andere  sind  gewissermaßen  Zentralstellen  für 
wissenschaftliche  Aufgaben,  welche  dem  Forscher  vorläufige  An- 
nahmen zur  Bestätigung  oder  Widerlegung  überliefern,  oder  auch 
ihm  biologische  Formeln  oder  Symbole  in  die  Hand  geben,  die  zwar 
für  jetzt  nicht  weiter  aufzulösen  sind,  die  aber  mit  Vorteil  in  die 
Rechnung  gewisser  Probleme  eingesetzt  werden."  Als  solche  ,, Sym- 
bole" hat  er  selbst  die  Biophoren  und  Determinanten  bezeichnet. 

Die  Überzeugung,  daß  auf  einem  so  verwickelten  schwierigen 


—     272     — 

Gebiet,  wie  es  das  der  Vererbung  ist,  eine  von  brauchbarer  Grund- 
lage ausgehende,  konsequent  durchgearbeitete  Theorie  unter  allen 
Umständen  von  großem  Werte  für  den  Fortschritt  der  Erkenntnis 
sein  müsse,  schon  weil  sie  bestimmte  Fragestellungen  anregen  muß, 
ließ  ihn  auch  leichter  über  die  vielen  Angriffe  hinwegkommen, 
denen  nicht  nur  seine  theoretischen  Vorstellungen,  sondern  auch 
seine  Person  ausgesetzt  waren,  und  die  in  den  mancherlei  Änderungen, 
die  er  im  Laufe  der  Zeit  an  seinen  Auffassungen  vornehmen  mußte, 
Nahrung  fanden.  Daß  er  selbst  sich  nicht  gescheut  hat,  diese  Ände- 
rungen vorzunehmen,  wo  es  ihm  nötig  schien,  wurde  schon  betont, 
es  ist  im  übrigen  selbstverständlich  bei  einer  so  durchaus  ehrlichen 
und  aufrichtigen,  nach  Wahrheit  strebenden,  kraftvollen  Persön- 
lichkeit. Der  Vervollkommnungstrieb,  den  er  als  allgemeines  Ent- 
wicklungsprinzip in  der  organischen  Natur  ablehnte,  wirkte  um 
so  mehr  in  ihm  selbst  und  veranlaßte  ihn  zur  Arbeit  an  sich  und  an 
seiner  Theorie.  Darüber  aber,  daß  seine  beiden  Hauptannahmen, 
die  Annahme  einer  Kontinuität  des  Keimplasmas  und  die  von  der 
Zusammensetzung  des  letzteren  aus  substantiellen  lebendigen  Be- 
stimmungsstücken, brauchbar  seien,  um  auf  ihnen  als  Grundlagen 
den  Aufbau  einer  Theorie  der  Vererbung  zu  versuchen,  kann  wohl 
nach  den  Ergebnissen  der  neueren  Vererbungsforschung  kein  Zweifel 
herrschen.  Jedenfalls  mußte  die  Frage  einmal  von  diesen  Grund- 
lagen aus  durchgearbeitet  werden;  dadurch  allein  war  ihre  Trag- 
fähigkeit zu  erproben.  Daß  Weismann  diese  Durcharbeitung  offen 
und  ehrlich  und  mit  Selbstverleugnung  vorgenommen  hat,  sollten 
auch  seine  sachlichen  Gegner  anerkennen. 

Als  Weis  mann  sich  im  Jahre  1863  für  Zoologie  habilitierte, 
da  geschah  es  in  der  medizinischen  Fakultät,  in  der  die  Zoologie 
von  dem  Physiologen  als  Nebenfach  vertreten  wurde.  Seitdem 
haben  sich  die  Zeiten  gewaltig  verändert.  Die  Zoologie  ist  selbständig 
geworden,  und  in  Freiburg  war  es  Weismann  selbst,  für  den  das 
erste  zoologische  Ordinariat  gegründet  wurde.  Von  der  medizinischen 
Fakultät  wurde  sie  dabei  herausgenommen  und  der  philosophischen 
eingefügt.  Hier  und  da,  so  in  Freiburg  selbst,  ist  sie  seitdem  auch 
von  der  philosophischen  Gesamtfakultät  entfernt  und  mit  den 
übrigen  Naturwissenschaften  zusammen  in  einer  naturwissenschaft- 
lichen Fakultät  vereinigt  worden.  Deutlich  spricht  sich  darin  der 
ungeheuere  Aufschwung  aus,  den  sie  selbst  und  mit  ihr  die  gesamten 


—      273     — 

Naturwissenschaften  in  dem  letzten  halben  Jahrhundert  genommen. 
Mit  Recht  konnte  bei  Weismanns  70.  Geburtstag  der  Dekan  der 
philosophischen  Fakultät,  der  Physiker  Heimstedt,  dem  Jubilar 
aussprechen:  ,,An  diesem  gewaltigen  Aufschwünge,  den  die  Zoologie 
in  den  letzten  Dezennien  genommen  hat,  nicht  nur  mitgearbeitet 
zu  haben,  sondern  als  einer  der  ersten,  als  einer  der  vornehmsten 
Führer  die  Ziele  gesteckt  und  die  Wege  zu  sieghaftem  Vordringen 
gewiesen  zu  haben,  das  wird  von  Ihren  Fachgenossen  neidlos,  als 
unvergängliches  Verdienst  Ihnen  zugesprochen."  Insbesondere  die 
gewaltige  Bedeutung,  die  die  Gedanken  der  Entwicklung  und  der 
Auslese  im  Wettbewerbe  um  die  Daseinsbedingungen  in  dieser 
Zeit  auf  allen  Gebieten  des  Lebens  gewonnen  haben,  ist  zu  einem 
sehr  großen  Teile  dem  Wirken  Weismanns  zuzuschreiben.  Und 
wenn  sie  je,  wie  manche  meinen,  sich  als  völlig  falsch  und  unbe- 
gründet erweisen  sollten  —  wozu  aber  wohl  noch  ein  weiter  Weg 
ist  —  würde  der  Historiker  einer  späteren  Zeit  an  der  Anerkennung 
der  Tatsache  nicht  vorbeikommen,  einen  wie  ungeheueren  belebenden 
und  befruchtenden  Einfluß  diese  Gedanken  auf  allen  Gebieten 
und  auf  dem  der  organischen  Naturwissenschaften  insbesondere 
gehabt  haben.  Und  in  Zusammenhang  damit  wird  auch  Weismanns 
Name  als  der  eines  der  rastlosesten  Vorkämpfer  und  folgerichtigsten, 
unerschrockensten  Vertreter  jener  Gedanken  genannt  werden. 
Die  Überzeugung,  daß  zwischen  allen  Lebenseinheiten  ein  Kampf 
besteht  und  bestehen  muß,  wenn  das  Leistungsfähigste  zur  dauern- 
den Geltung  kommen  soll,  ist  der  Hauptgedanke,  für  den  er  sich 
eingesetzt  hat,  mit  Gedanken  und  Worten,  aber  auch  mit  der  persön- 
lichen Tat:  im  Kampfe  gegen  ein  schweres  persönliches  Geschick, 
im  Kampfe  für  seine  Wissenschaft  und  seine  Überzeugung.  Mit 
ganz  besonderem  Rechte  gilt  für  Weis  mann  das  Wort  seines  großen 
Frankfurter  Landsmannes,  daß  er  ein  Mensch  gewesen,  ,,und  das 
heißt,  ein  Kämpfer  sein". 


Oaupp,  Biographie  Weismanns.  18 


Anmerkungen. 


i)  zu  S.  5.  Außer  den  im  Vorwort  erwähnten  Mitteilungen  habe  ich  für  die 
Darstellung  des  Lebens  und  der  Persönlichkeit  Weismanns  vor  allem  noch  benutzt : 

1.  Bericht  über  die  Feier  des  70.  Geburtstages  von  August  Weismann 
am  17.  Januar  1904  in  Freiburg  i.  Br.  Herausgegeben  von  dem 
Komitee  zur  Stiftung  der  Weismann-Büste.     Jena  1904. 

2.  Das  Curriculum  vitae,  das  Weismann  selbst  seinem  Gesuch  um  Zu- 
lassung zur  Habilitation  für  das  Fach  der  Zoologie  in  der  medizinischen 
Fakultät  zu  Freiburg  i.  Br.  beigefügt  hat.  Das  Gesuch  ist  datiert:  Frank- 
furt a.  M.,   II.   Januar  1863. 

3.  Doflein,  F.,  August  Weismann  zum  80.  Geburtstag.  Akademische  Mit- 
teilungen. Organ  f.  d.  gesamten  Interessen  der  Studentenschaft  an  der 
Albert-Ludwigs-Universität  in  Freiburg  i.  Br.,  N.  F.,  XV.  Sem.,  Nr.  7, 
7.  Januar  1914,  S.  47 — 48  (Freiburg  i.  Br.,  herausg.  v.  Hans  Speyer, 
Universitätsbuchhändler) . 

4.  Ders.,  Weismann  als  Forscher.     Ebenda,    N.  F.,  XVH.   Sem.,    Nr.  6, 
15.  Dezember  1914,  S.  27. 
5.  Himstedt,  F.,  August  Weismann  (Nachruf  am  Grabe).    Ebenda,  N.  F., 
XVII.  Sem.,  Nr.  6,  15.  Dezember  1914,   S.  25 — 26. 

2)  zu  S.  5.  Der  Name  ist  Weismann  (mit  einem  s)  zu  schreiben.  Gegen  die 
Schreibweise  mit  ss  hat  Weismann  selbst,  wenn  er  sie  in  den  Testierbüchern  der 
Studierenden  antraf,  wiederholt  sehr  bestimmten  Einspruch  erhoben.  Auffallend 
ist  die  falsche  Schreibweise  in  der  Überschrift  zu  der  Arbe't  über  den  Salzgehalt 
der  Ostsee,  im  Mecklenburgischen  Archiv  für  Landeskunde ;  man  kann  nur  annehmen, 
daß  die  Überschrift  dem  Verfasser  der  Arbeit  nicht  zur  Korrektur  vorgelegen  hat. 

3)  zu  S.  5.  Folgende  genealogische  Angaben  sind  mir  von  Frau  Regierungsrat 
Schepp  freundlichst  zur  Verfügung  gestellt  worden. 

Männliche  Aszendenz. 

I.  Valentin  W.,  Bürger  in  Weierburg,  Oberösterreich,  in  der  ersten  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts,  starb  als  Märtyrer  in  Wien.  In  einer  Schrift,  die 
zur  Leichenfeier  seines  Enkels,  des  Prälaten  und  Abtes  in  Maulbronn, 
Ehrenreich  W.,  herausgegeben  ist,  wird  berichtet,  daß  Valentin  W.  unter 
Kaiser  Ferdinand  III.  bei  Nacht  unvermutet  gefangen  und  nach  Wien 
geschleppt  wurde,  wo  er  im  Stadtgraben  bei  grausamer  Zwangsarbeit 
sein  Leben  ließ.  Dies  muß  in  den  letzten  Jahren  des  Dreißigjährigen 
Krieges   gewesen   sein. 


—     275     — 

2.  Johannes  W.,  Pfleger  bei  Baron  von  Teuffei  in  Weierburg,  Oberöster- 
reich. Als  Protestant  vertrieben,  kam  1856  nach  Northeim  i.  Württem- 
berg, wo  er  Lehrer  wurde.    OO  mit  Christine   Berger. 

3.  Ehrenreich  (Erichs)  W.,  •  Weierburg  1641,  j"  1717.  OO  mit  Maria 
Elisabeth  Canstetter.  Prälat  und  Abt  in  Maulbronn.  Warerstii  Jahre 
in  Preßburg,   kam   1656  nach  Heilbronn. 

4.  Johann  Ehrenreich  W.,  Kirchenratssekretär  in  Stuttgart.  OO  mit 
Christine  Juliane  Maria  Steinmark,  fürstl.  Hoftrompeterstochter. 
(Sein  Bruder  Eberhard  W.  war  Professor  der  Theologie  in  Tübingen. 
•f  kinderlos.) 

5.  Christoph  Tobias  Friedrich  W.,  Amtspfleger  und  Bürgermeister 
in  Alpirsbach,    00  mit  Friederike   Margarete   Zahn. 

6.  Immanuel  Gottlob  Friedrich  W.,  *  Alpirsbach  1773,  f  1852.  OO  mit 
Juliane  Deimling  aus  Karlsruhe.  Kam  als  Kaufmann  nach  Frank- 
furt a.  M. 

7.  Johann  Konrad  W.,  *  Frankfurt  a.  M.,  31.  Oktober  1804,  j  1880. 
Gymnasialprofessor  in  Frankfurt  a.  M. 

8.  August  W. 

Mütterliche  Aszendenz. 

1.  Chr.  Leopold    Lübbren,    *  1766,    f  1851.    OO  mit Römhild, 

Pfarrerstochter  aus  der  Nähe  von  Bremen.    War  Bürgermeister  und  Land- 
rat in  Stade. 

2.  Elise  Lübbren,  Tochter  der  vor.,  *  Stade,  1803.  OO  mit  Johann  Kon- 
rad   Weismann,  dem  Vater  August  Weismanns. 

4)  zu  S.  6.  Der  Titel  der  Doktordissertation  lautet  nach  Weismanns  eigener 
Angabe:  De  acidi  hippurici  in  corpore  humano  generatione.  Diss.  inaug.  Franco- 
furti  1857.  I^iß  Dissertation  selbst  zu  erlangen,  ist  mir  nicht  möglich  gewesen;  auch 
die  Kgl.  Universitätsbibliothek  in  Göttingen,  in  der  sie,  wenn  irgendwo,  doch  wohl 
am  ersten  zu  erwarten  war,  besitzt  sie  nicht  und  konnte  sie  auch  bibliographisch 
nicht  ermitteln.  In  dem  mir  von  dort  gewordenen  Bescheid  ist  die  Vermutung  aus- 
gesprochen, daß  sie  wie  viele  Dissertationen  jener  Zeit  gar  nicht  im  Druck  erschienen 
ist.  Das  ,,Francofurti  1857"  spricht  allerdings  gegen  diese  Vermutung.  Inhalthch 
steht  sie  mit  der  in  dem  gleichen  Jahre  vollendeten  Preisarbeit  offenbar  in  engstem 
Zusammenhang,  auch  dürfte  sie  im  wesentlichen  in  der  Arbeit  „Über  die  Bildung 
der  Hippursäure  beim  Menschen",  die  1858  in  der  Zeitschrift  für  rationelle  Medizin 
erschienen  ist,  enthalten  sein.  Vorhanden  sind  in  der  Göttinger  Bibliothek  das 
Doktordiplom  Weismanns,  ausgefertigt  am  9.  Juli  1856  ,,post  adprobatam  examine 
egregiam  scientiam  et  disputationem  publice  habitam",  sowie  die  von  Weismann 
eingereichten:  ,,Theses  quas  gratiosi  medicorum  ordinis  auctoritate  atque  consensu 
in  Academia  Georgia  Augusta  pro  summis  in  medicina,  chirurgia  arteque  obstetricia 
honoribus  rite  obtinendis  die  IX.  M.  Julii  A.  MDCCCLVI  publice  defendet  Augustus 
Weismann  Moeno  -  Francofurtensis,  opponentibus :  Ottone  Heusinger,  Med.  Dd. 
Alexandro  Spiess,  Med.  Dd.  Die  Thesen  lauten:  I.  Nulla  hodie  sine  chemia  patho- 
logia.     II.  In  necrosi  phosphore  causata  secretio  acidi  phosphorici  per  renes  non 

18* 


—     276     — 

aucta  est.  III.  Glutinum  praeformatum  in  corpore  humano  est,  non  solum  coctione 
telae  cellulosae  ovitur.  IV.  Lupus  aptissime  Kali  caustico  sanatur.  V.  Chloroformum 
in  partibus  normalibus  aptum  esse  nego. 

5)  zu  S.  6.  Das  Titelblatt  der  Preisschrift  enthält  auf  der  Rückseite  folgenden 
Vermerk : 

Die  medizinische  Fakultät  hatte  am  4.  Juni  1856  zum  zweiten  Male  die  Auf- 
gabe gestellt: 

Accurata  investigatione  chemica  respondeatur  ad  quaestionem,  num 
eae  plantae,  quibus  animalia  herbivora,  imprimis  equi  et  boves,  plerumque  ves- 
cuntur,  prae  ceteris  igitur  gramina  pratorum,  acidum  benzoicum  vel  con- 
junctionem  benzoylicam  contineant,  unde  derivari  possit  acidum  hippuricum, 
quod  in  illorum  animalium  urina  constanter  apparere  solet. 

Urteil    der    Fakultät. 

Der  Hauptaufgabe,  diese  Frage  durch  Versuche  und  Beobachtungen  zu  be- 
antworten, ist  von  dem  Verfasser  auf  befriedigende  Weise  entsprochen  worden. 
Er  hat  eine  große  Reihe  von  eigenen  mühsamen  Versuchen  und  chemischen  Opera- 
tionen vorgenommen,  aus  denen  mit  Sicherheit  das  wissenschaftlich  wertvolle 
Resultat  hervorgegangen  ist,  daß  die  Futterkräuter  der  Pflanzenfresser  keine  eigent- 
liche Benzoylverbindung,  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes,  enthalten,  aus  der 
die  Entstehung  der  Hippursäure  auf  die  Weise  abgeleitet  werden  könnte,  wie  sie 
erfahrungsgemäß  nach  dem  Genüsse  von  Benzoesäure  und  deren  Durchgang  durch 
das  Blut  stattfindet.  Der  Verf.  sucht  zu  zeigen,  daß  dennoch  die  Erzeugung  der 
Säure  in  bedeutendem  Maße  von  der  Pflanzennahrung  abhängig  sei,  und  nimmt, 
freilich  nur  vermutungsweise  und  nicht  hinreichend  auf  Beobachtungen  gestützt 
an,  daß  sie  vorzugsweise  aus  der  inkrustierenden  Zellensubstanz,  dem  soge- 
nannten Lignin,  entstehe. 

Wenn  auch  für  die  Entstehungsweise  der  Hippursäure  durch  diese  Arbeit 
keine  entscheidende  positive  Erklärung  gegeben  worden  ist,  - — ■  eine  Frage,  die  über- 
haupt mit  der  noch  ungelösten,  so  schwierigen  Aufgabe  der  exakten  Erklärung 
der  chemischen  Vorgänge  bei  der  Reproduktion  und  dem  Stoffwechsel  im  lebenden 
Organismus  zusammenfällt,  —  so  ist  dadurch  doch  die  eigentliche  Frage  genügend 
beantwortet  worden,  und  es  verdienen  der  Fleiß  und  die  Beharrlichkeit,  mit  denen 
diese  zum  Teil  recht  schwierige  und  selbst  kostspielige  Arbeit  durchgeführt  wurde, 
die  große  Mühe,  die  mit  der  Ausführung  der  sehr  zahlreichen  Versuche  verbunden 
war,  die  gründlichen  chemischen  und  physiologischen  Kenntnisse  und  die  Bekannt- 
schaft mit  der  richtigen  Methode  der  Forschung  in  den  Naturw^issenschaften  und 
mit  der  Literatur  über  diesen  Gegenstand,  welche  der  Verfasser  an  den  Tag  gelegt 
hat,  die  vollste  Anerkennung. 

6)  zu  S.  7.  Die  genaueren  Angaben  über  Weismanns  Rostocker  Tätigkeit 
verdanke  ich  den  Nachforschungen  des  Herrn  Privatdozenten  Dr.  R.  Wegner 
in  Rostock.  Derselbe  fand  nach  sehr  mühseligem  Suchen  unter  den  Quittungsbelegen 
für  das  Stadtkrankenhaus  die  Angabe  (Kassenbelege,  Band  1856  —  ad  99c  und 
99 d),  daß  Dr.  Weismann  ab  Johannis  (24.  Juni  1856)  als  akademischer  Assistenz- 
arzt am  Krankenhause  angestellt  wurde  (Reskript  des  Vizekanzlers  Dr.   v.   Both 


—      277     — 

vom  21.  Juli  1856).  Er  verließ  diese  Stellung  mit  dem  i.  April  1857.  Direktor  dieses 
Krankenhauses  war  Obermedizinalrat  Prof.  C.  F.  Strempel,  der  die  medizinisch- 
chirurgische  Klinik  1830 — 1872  leitete.  Neben  ihm  wirkte  gleichfalls  als  Ordinarius 
Obermedizinalrat  Prof.  Spitta  (1825 — 1860).  Aus  dem  Universitätsarchiv  ließ  sich 
weiter  feststellen,  daß  Weismann  von  Ostern  1857  bis  Ostern  1858  als  Studiosus 
chemiae  immatrikuliert  war;  das  Personalverzeichnis  führt  für  das  S.-S.  1857  und 
das  W.-S.  1857/58  den  Dr.  A.  Weismann  aus  Frankfurt  an  (Mitt.  der  Bibliothek  in 
Rostock).  Er  wohnte  im  chemischen  Institut  am  Blücherplatz,  dessen  Direktor 
Franz  Schulze  war.  In  den  Kollegiengeldbüchern  desselben  findet  sich  Weismann 
nicht  verzeichnet,  er  hat  also  keine  Gebühren  für  dessen  Vorlesungen  bezahlt  und 
ist  somit  wohl  eine  Art  Volontärassistent  bei  Schulze  gewesen.  Ein  offizielles  Ge- 
halt hat  er,  wie  sich  aus  den  Belegen  der  Universitätskasse  nachweisen  läßt,  nicht 
bezogen,  da  ein  anderer  Assistent  genannt  wird,  und  nur  für  diesen  eine  Remuneration 
überhaupt  vorgesehen  war.  —  Die  Arbeit  über  den  Salzgehalt  der  Ostsee  ist  ver- 
öffentlicht im  Mecklenburgischen  Archiv  für  Landeskunde;  als  selbständige  Schrift 
ist  sie  in  der  Universitätsbibliothek  in  Rostock,  —  nach  Mitteilung  derselben,  — 
nicht  vorhanden,  und  die  Anmerkung,  die  sich  im  Archiv  für  Landeskunde  findet, 
läßt  darauf  schließen,   daß  sie  selbständig  nicht  erschienen  ist. 

7)  zu  S.  9.  Sein  Gesuch  um  Zulassung  zur  Habilitation  ist  datiert:  Frank- 
furt a.  M.,  II.  Januar  1863;  am  17.  Januar  1863,  also  an  seinem  Geburtstag,  be- 
schloß die  medizinische  Fakultät  nach  dem  Bericht  des  damaligen  Dekans,  des  be- 
rühmten Botanikers  Anton  de  Bary,  den  Dr.  med.  Weismann  zur  Habilitation  für 
das  Fach  der  Zoologie  zuzulassen.  Am  27.  Januar  1863  gab  das  Großh.  Ministerium 
seine  Genehmigung  dazu,  und  im  Mai  1863  erfolgte  die  Habilitation.  Schon  am 
4.  September  1865  wurde  er  a.  o.  Professor  der  Zoologie  und  provisorischer  Mit- 
direktor des  zoologischen  Institutes  (mit  Otto  Funke,  dem  physiologischen  Or- 
dinarius, der  die  Zoologie  nebenbei  vertrat).  Am  4.  April  1867  erfolgte  die  Ernennung 
zum  etatsmäßigen  a.  o.  Professor  der  Zoologie,  mit  definitiver  Übertragung  der  Lehr- 
kanzel, als  welcher  er  am  7.  Juli  1868  seine  Antrittsrede  über  die  Berechtigung 
der  Darwinschen  Theorie  hielt.  Zum  ordentlichen  Professor  in  der  philosophischen 
Fakultät  wurde  er  am  4.  April  1873  ernannt,  womit  überhaupt  der  erste  ordentliche 
zoologische  Lehrstuhl  in  Freiburg  errichtet  wurde.  Die  philosophische  Fakultät 
Freiburg  verlieh  ihm  am  16.  Mai  1879  die  Würde  eines  Dr.  phil.  h.  c. 

8)  zu  S.  13.  E.  Rddl  in  seiner  gewiß  sehr  verdienstvollen  ,, Geschichte  der 
biologischen  Theorien"  (II.  Teil,  Leipzig  1909,  S.  410  u.  ff.)  hat  es  fertig  gebracht, 
über  Weismann  in  einem  Tone  zu  reden,  daß  der,  der  Weismann  nicht  kennt,  not- 
wendig zu  dem  Schluß  kommen  muß,  es  hier  mit  einem  Charlatan  zu  tun  zu  haben, 
der  von  vornherein  gar  nicht  ernst  zu  nehmen  ist.  Noch  niemals  dürfte  über 
einen  anerkannten  Forscher  mit  so  viel  giftiger  Bosheit  gesprochen  worden  sein, 
wie  es  hier  geschieht.  ,,Ein  bekanntes  Gesellschaftsspiel  besteht  darin,  daß  einem 
Mitglied  der  Gesellschaft  ein  Thema  aufgegeben  wird,  über  welches  er  angenehm 
und  geistreich  eine  Rede  halten  muß."  Dieses  Mitglied  der  Gesellschaft  ist  Weismann, 
ein  ,, geistvoller  Causeur" ;  das  Thema,  das  die  Gesellschaft  für  ihn  bestimmte, 
lautet:  ,,Das  Keimplasma".  ,,Eine  wirklich  schwierige  Aufgabe,  aus  diesem  leeren 
Worte,  das  überdies  nicht  dem  eigenen  Geiste  entstammt,  eine  Rede  zu  entwickeln, 


—      278      — 

die  die  Welt  befriedigen  soll."  Aber  Weismann  wagt  es  und  redet;  —  „schließlich 
scheint  er  sich  in  seine  Ideen  zu  heftig  hineingeredet  zu  haben,  und  sich  nicht  mehr 
von  ihnen  losreißen  zu  können;  die  Gesellschaft  beginnt  zu  murren  —  die  Sache 
ernst  zu  nehmen,  war  ja  nicht  abgemacht".  —  ,, Glücklicher  Causeur!  Glückliche 
Gesellschaft!  Was  gehen  sie  Menschen  an,  welche  in  trüber  Einsamkeit  alle  Kräfte 
anspannen  müssen,  um  ihrem  Geiste  eine  lebendige  Idee  abzuringen,  welche  den 
Leser  nötigen,  einen  ebenso  harten  Kampf  mit  ihrem  Werk  zu  bestehen;  was  gehen 
sie  Menschen  an,  welche  ihr  feuriger  Glaube  an  eine  neue  Wahrheit  in  den  schmutzigen 
Kampf  des  wirklichen  Lebens  treibt,  um  der  Idee  die  ganze  Welt  zu  unterjochen  ?" 
Sollte  man  das  für  möglich  halten  gegenüber  einem  Manne,  der  wie  wenige  sein 
ganzes  Leben  hindurch  seine  Kräfte  bis  zum  Äußersten,  bis  zur  schweren  Schädigung 
seiner  Gesundheit,  im  Dienste  der  Forschung,  im  Ringen  um  lebendige  Ideen  und 
im  Kampfe  für  dieselben,  angespannt  hat  ?  Im  übrigen  hat  Weismann  stets  auch 
in  der  Form  die  Würde  der  Wissenschaft  hoch  gehalten;  und  auch  Gegnern  gegen- 
über ist  er  niemals  in  den  Ton  journalistischer  Effekthascherei  verfallen,  wie  er 
hier  ihm  gegenüber  angewendet  wird.  Wenn  Rädl  die  Anschauungen  Weismanns 
nicht  teilt,  so  ist  das  sein  gutes  Recht;  die  Arbeiten  über  Insektenentwicklung, 
über  die  Daphnoiden,  die  Hydromedusen  und  so  viele  andere  hätten  aber  ihren 
Urheber  wohl  davor  schützen  können,  daß  man  ihm  den  wissenschaftlichen  Ernst 
abspricht  und  ihn  lächerlich  zu  machen  sucht.  Freilich  scheint  Rädl  von  Weismanns 
Arbeiten  nicht  allzuviele  zu  kennen;  so  sind  ihm,  wie  aus  einer  Bemerkung  auf 
S.  548  seines  Werkes  hervorgeht,  die  vielen  experimentellen  Arbeiten  desselben 
unbekannt  geblieben.    Es  lohnt  wirklich  nicht,  im  Einzelnen  auf  Rädl  einzugehen. 

9)  zu  S.  13.  Weismanns  Kinder  sind:  i.  Therese,  *  1868,  verh.  mit  (j") 
Regierungsrat  Schepp;  2.  Hedwig,  *  1870,  verh.  mit  Prof.  W.  N.  Parker  in  Cardiff; 
3.  Elise,  *  1871,  verh.  mit  Prof.  Dr.  Heinrich  Riese,  Direktor  des  Kreiskranken- 
hauses Lichterfelde;  4.  Bertha,  *  1873,  verh.  mit  Oberbürgermeister  Dr.  Hans  Riese 
in  Eisleben  (Bruder  des  vorigen) ;  5.  Meta,  *  1875,  "f  1876;  6.  Julius,  ♦  1879,  Kom- 
ponist in  Schachen  am  Bodensee. 

10)  zu  S.  23.  Im  zweiten  Beitrag  zur  Naturgeschichte  der  Daphnoiden  (Über 
die  Eibildung  bei  den  Daphnoiden).     1877. 

11)  zu  S.  34.  Das  geht  hervor  aus  einer  Bemerkung  auf  S.  669  der  Arbeit 
von   1895   (Neue  Versuche  zum   Saisondimorphismus  der   Schmetterlinge). 

12)  zu  S.  39.  In  den  hier  angeführten  Worten  (1876,  S.  75)  erscheint  zum 
ersten  Male  der  Begriff  ,, Allmacht  der  Naturzüchtung",  aber  nicht  als  Kennwort 
eines  Bekenntnisses,  sondern  als  Bezeichnung  eines  Problemes. 

13)  zu  S.  42.  Die  Arbeit  von  Weismann  selbst  ist  1875  erschienen  und  ent- 
hält einen  kurzen  Bericht  über  die  Versuche,  von  Frl.  v.  Chauvin,  sowie  Erörte- 
rungen wesentlich  theoretischer  Art,  von  Weis  mann;  die  ausführUche  Darstellung 
der  Versuche  hat  Frl.  von  Chauvin  selbst  1876  gegeben  (in  der  Zeitschrift  f.  wiss. 
Zoologie,  Bd.  XXVII).  In  diesem  letzteren  Jahr  erschien  dann  auch  der  zweite 
Abdruck  der  Weismannschen  Arbeit  im  zweiten  Heft  der  ,, Studien  zur  Deszendenz- 
theorie". 

14)  zu  S.  46.  Weismann  schreibt:  Daphnoiden  und  braucht  diese  Bezeichnung, 
im   alten    Sinne,   als  gleichbedeutend   mit   dem   jetzt   gebräuchlicheren   Ausdruck: 


—     279     — 

Cladocera.  Gemeint  ist  also  damit  die  ganze  Unterordnung  der  Phj'llopoden, 
die  die  Familien  der  Daphnidae,  Polyphemidae,  Sididae,  Lynceidae  umfaßt.  Das 
ist  zu  beachten  angesichts  der  Tatsachen,  daß  jetzt  gewöhnlich  von  der  „Natur- 
geschichte der  Daphniden"  gesprochen  und  damit  der  Eindruck  erweckt  wird, 
als  ob  es  sich  nur  um  die  Familie  handelt,  die  jetzt  als  Daphnidae  bezeichnet  wird 
(vgl.  den  zweiten  Beitrag,  in  der  Zeitschrift  f.  wiss.  Zoologie,  Bd.  XXVIII,  1877, 
S.  93,  Anm.)  Weismann  teilt  dort  die  Ordnung  der  Daphnoidea  oder  Cladocera 
nur  in  zwei  Familien,  ,,Daphnida"  und  ,,Polyphemida"  ein;  daß  er  diesen  aber  auch 
die  Sididae  und  Lynceidae  einordnet,  geht  aus  den  Arbeiten  selbst  hervor.) 

15)  zu  S.  47.  Der  historisch  begründete  und  überall  eingebürgerte  Name  ist 
,, Parthenogenese" ;  im  Interesse  einer  einheitlichen  Nomenklatur  wäre  aber 
,,Parthenogonie"  vorzuziehen.  Denn  in  allen  neueren  Zusammensetzungen  mit 
yivEotg  (Ontogenese,  Phylogenese,  Histo-,  Chondro-,  Osteo-,  Spermio-,  Oogenese  usw.) 
bedeutet  dieses:  ,, Entwicklung",  ,, Bildung",  und  der  jeweilige  Zusatzbegriff  ist 
im  Sinne  des  Genetivs,  =  des  sich  Entwickelnden,  aufgefaßt  (Chondrogenese  = 
Bildung  des  Knorpels  usw.),  während  in  den  Zusammensetzungen  mit  yovia  dieses 
die  Bedeutung  ,, Zeugung"  hat,  und  durch  den  Zusatz,  der  meist  ein  Substantiv- 
stamm, aber  auch  manchmal  ein  Adverbium  ist,  der  Erzeuger  oder  die  Art  der 
Erzeugung  bezeichnet  wird  (Tokogonie,  Amphigonie,  Monogonie,  Antagonie,  Gamo-, 
Sporo-,  Schizogonie  usw.).  Wenn  ,, Elternzeugung"  ,, Tokogonie"  genannt  wird, 
so  ist  ,,  Jungfernzeugung"  ,,Parthenogonie"  zu  nennen.  Tokogenese,  Parthenogenese 
usw.  würden  nach  dem  oben  festgestellten  Sprachgebrauch  etwas  ganz  anderes  be- 
deuten. Ganz  entsprechend  sollte  man  aber  auch  Metagonie  und  Paedogonie  (nicht, 
wie  gebräuchlich,  Metagenese  und  Paedogenese)  sagen.  Die  verschiedenen  Formen 
kombinierter  Fortpflanzung  (Metagonie,  Heterogonie  und  den  primitiven  Ge- 
nerationswechsel bei  Sporozoen)  könnte  mann  unter  dem  Namen  Cyclogonie 
zusammenfassen. 

16)  zu  S.  74.  Darwin,  Entstehung  der  Arten.  Deutsche  Übersetzung  von 
J.  V.  Carus.  7.  Aufl..   Stuttgart,   1884,   S.   33. 

17)  zu  S.  75.  Die  drei  angeführten  Stellen  finden  sich  in:  Studien  zur  De- 
szendeztheorie,  IL,  1876,  S.  306;  Über  die  Berechtigung  der  Darwinschen  Theorie. 
1868,  S.  25;  Beiträge  zur  Naturgeschichte  der  Daphnoiden,  VII,  1879  (1880),  S.  251. 

18)  zu  S.  75.     Kontinuität  des  Keimplasmas,  1885,  S.  4. 

19)  zu  S.  83.  Roux,  Wilhelm,  Über  die  bei  der  Vererbung  blastogener 
und  somatogener  Eigenschaften  anzunehmenden  Vorgänge.  Verhandlungen  des 
naturforschenden  Vereins  in  Brunn,  Bd.  XLIX,   191 1,   S.   269 — 323. 

20)  zu  S.  93.     ,, Nützliche    Teile"  und  ,, Nutzlose    Teile". 

1.  Eupraktisch. 

a)  aktiv  funktionierend, 

b)  passiv  funktionierend, 

2.  Apraktisch. 

Zwischen  nützlichen  und  nutzlosen  stehen  solche,  die  unter  erschwerten 
Bedingungen  wirksam  sind,  z.  B. :  oberflächlicher  Hohlhandbogen  des  Fußes. 
Rudimentärwerden  ist  auch  an  Funktionsbehinderung  geknüpft. 


—      28o      — 

In  dem  ,, Kampf  der  Teile"  unterscheidet  Roux: 
S.   145  passiv     fungierende     Organe     (Stützsubstanzen:      Bindegewebe,     Knorpel, 

Knochen)    und  aktiv  tätige  Organe  oder  Arbeitsorgane   (Muskeln,    Drüsen, 

Nerven,    Ganglienzellen  und   Sinneszellen), 
S.   162  zwei  Hauptgruppen  von  Organen, 
S.  204  Organe,  die  keine  aktive  oder  passive  Funktion  haben,  sondern  blof3  durch 

ihre  Anwesenheit,  ihr  Sichtbarsein  nach  außen  nützen. 

21)  zu  S.  95.  Übrigens  ließen  sich  ähnliche  Erwägungen  wie  für  die  chitinigen 
Skeletteile  der  Arthropoden  auch  für  die  knöchernen  der  Wirbeltiere  anstellen, 
die  doch  gewiß  eine  hohe  funktionelle  Anpassungsfähigkeit  besitzen.  Für  die  Aus- 
gestaltung der  Teile  des  Innenskeletts  mit  ihren  vielfachen  statisch-mechanischen 
Beanspruchungen  würde  das  Lamarcksche  Prinzip,  wenn  es  Geltung  hätte,  gewiß 
auf  Schritt  und  Tritt  Verwendung  finden  können,  wie  aber  steht  es  mit  den  Teilen 
des  Exo  Skelettes,  den  oberflächlich  in  der  Haut  sich  bildenden  Knochenpanzern, 
den  kleinen  und  großen  Schuppen  der  Fische,  den  breiteren  Knochenplatten,  den 
Deckknochen,  die  etwa  auf  dem  Primordialkranium  der  Ganoiden  als  Verstärkungen 
des  weicheren  Knorpels  sich  bilden,  und  von  denen  die  Schädeldeckenknochen 
der  übrigen  Formen  abgeleitet  werden  ?  Durch  ihr  bloßes  Vorhandensein  bilden 
sie  sicherlich  einen  für  das  Tier  sehr  nützlichen  Schutz,  aber  welches  ist  neben  dieser 
bloßen  ,, Daseinswirkung"  noch  die  besondere  Inanspruchnahme,  die  ihre  weitere 
Ausbildung  auf  Grund  funktioneller  Anpassung  verständlich  machen  könnte  ? 
Auch  hier  kann  das  Prinzip  des  Lamarckismus  wohl  nicht  für  die  stammesgeschicht- 
liche Entwicklung  in  Anspruch  genommen  werden.  Der  Hinweis  läßt  übrigens  auch 
deutlich  erkennen,  daß  mit  den  „passiv  wirkenden  Teilen"  Weismanns  etwas  ganz 
anderes  gesagt  sein  soll,  als  mit  den  ,, passiv  funktionierenden  Organen"  von  Roux. 

22)  zu  S.  100.  Der  Vortrag  von  Hubermann,  der  mir  nicht  zugänglich 
war,  hat  nach  Kammerer  den  Titel:  ,, Meine  Kunst"  und  ist  im  Neuen  Wiener 
Tageblatt,  So.,  22.  Januar  1911,  Nr.  22,  S.  7  erschienen.  Kammerers  Schrift 
betitelt  sich:  ,,Über  Erwerbung  und  Vererbung  des  musikalischen  Talentes"  und 
ist  erschienen  bei  Theod.  Thomas  in  Leipzig,  1912.  Kammerer  knüpft  an  den  Vor- 
trag von  Hubermann  an,  in  dem  die  Ansicht  vertreten  wird,  daß  es  eine  spezielle 
Begabung  nicht  gibt,  also  auch  keine  musikalische.  ,,Es  gebe  nur  verschiedene 
Grade  einer  allgemeinen  Begabung,  und  das  Gebiet,  auf  welchem  sie  ihre  be- 
sonderen Leistungen  entfaltet,  sei  völlig  abhängig  von  dem,  was  wir  Zufall  nennen, 
zumeist  also  von  der  äußeren  Lebenslage,  die  den  Beruf  entscheidet."  Gegenüber 
dieser  Ansicht,  die  durch  ihren  Gewährsmann  von  Interesse  ist  und  sich  mit  der 
anfänglichen  von  Weismann  nahe  berührt,  vertritt  Kammerer  die  Auffassung, 
daß  allerdings  eine  solche  allgemeine  Begabung,  die  nur  durch  sekundäre  Umstände 
in  eine  bestimmte  Bahn  gelenkt  wird,  existiert,  und  daß  vielleicht  gerade  Huber- 
mann sie  besitzt,  daß  aber  außerdem  auch  eine  spezifisch  musikalische  Be- 
gabung besteht,  die  durch  Übung  im  Laufe  der  Generationen  gesteigert  werden 
kann.  Kammerer,  einer  der  energischsten  modernen  Verfechter  des  Lamarckschen 
Prinzipes,  betont,  daß  ,, musikalisches"  und  im  allgemeinen  gutes,  scharfes  Gehör 
durchaus  nicht  identische  Dinge  sind,  er  weist  auf  den  Wandel  und  die  Anpassungs- 
fähigkeit hin,  die  das  musikalische  Empfinden  im  Laufe  der  Musikgeschichte  zeigt. 


—       28l       — 

auf  die  so  oft  hervorgehobene  Tatsache,  daß  das  Beethovcnsche  Orchester  von  den 
Zeitgenossen  lärmend  genannt  wurde,  während  dem  modernen  Publikum  gegenüber 
erst  eine  doppelte  Besetzung,  namentlich  in  den  Bläsern,  die  ergreifendste  Wirkung 
hervorzurufen  vermag;  ja  er  sagt  geradezu:  ,,Die  heute  auf  die  Welt  kommenden 
Generationen  bedürfen  keiner  besonderen  Gewöhnung  mehr,  um  in  einer  Beet- 
hovenschen  Symphonie,  ja  in  sämtlichen  Bühnenwerken  R.  Wagners  sofort 
die  gewaltigste,  ergreifendste  Melodik  und  durchsichtigste  Klarheit  aller  Stimmen 
zu  erkennen,  vorausgesetzt,  daß  die  betreffenden  Individuen  halbwegs  musikalisch 
eindrucksfähig  sind."  So  glaubt  er  denn  auch,  daß  Musikausübung  seitens  des 
Vaters  dem  Sohne  durch  Vererbung  zugute  kommen  könne:  wenn  der  junge  Wolf- 
gang Amandus  Mozart  als  dreijähriges  Kind  ganz  ohne  vorausgegangene  Übung 
Melodien  spielen  konnte  und  mit  wunderbar  wenig  Übung  das  Pianoforte  vollends 
meistern  lernte,  so  hieße  es,  Kammerers  Ansicht  zufolge,  ,, wahrlich  den  Tatsachen 
Gewalt  antun,  wollte  man  auch  hier  annehmen,  daß  diese  phänomenale  Fähigkeit 
ohne  erblichen  Einfluß  seitens  des  ebenfalls  pianistisch  tätigen  Vaters  Leopold 
Mozart  zustandegekommen  sei";  ja,  er  hält  es  sogar  für  möglich,  daß  der  Müller- 
beruf des  ältesten  Stammvaters  der  Familie  Bach  ,,für  Erweckung  des  rhythmischen 
Sinnes  von  höchster  Bedeutung  gewesen"  sei,  und  setzt  hinzu:  ,,ich  wäre  versucht, 
den  Einfluß  hiervon  noch  in  Werken  von  Joh.  Seb.  Bach  ausfindig  zu  machen, 
müßte  ich  nicht  fürchten,  daß  hier  die  Phantasie  mit  nüchternen  Wahrnehmungen, 
wie  sie  dem  Naturforscher  ziemen,  ihr  Spiel  treiben  könnte."  Schärfer  kann  die 
Überzeugung  von  dem  Fortwirken  persönlicher  Eindrücke  auch  auf  die  Nachkommen 
kaum  ausgesprochen  werden.  Ein  näheres  Eingehen  darauf  ist  hier  nicht  am  Platze; 
doch  mag  bezüglich  des  Stammvaters  der  Bache  die  Angabe  von  Weismann  erwähnt 
sein:  ,,Auch  der  obengenannte  Ahnherr  der  Familie  Bach  spielte  viel  auf  einem 
Cythringen,  einem  guitarreartigen  Instrument,  das  er  von  seinen  Wanderjahren 
mit  in  seine  Mühle  gebracht  hatte,  und  ,das  ist  gleichsam  der  Anfang  zur  Musik 
bei  seinen  Nachkommen  gewesen',  sagt  Sebastian  Bach  von  ihm."  Jedenfalls  ist 
darnach  eins  sicher:  daß  nämlich  schon  jener  Stammvater  Bach  musikalisch  war, 
woraus  wir,  entsprechend  dem  bekannten  Musikerworte  ,,Am  Anfang  war  der 
Rhythmus",  wohl  auch  schließen  dürfen,  daß  ihm  der  Sinn  für  Rhythmus  nicht  erst 
durch  das  Klappern  seiner  Mühle  erweckt  zu  werden  brauchte.  Mit  seiner  Auf- 
fassung hinsichtlich  der  Unterscheidung  einer  ,, universellen"  und  einer  ,, spezifisch 
musikalischen"  Begabung  dürfte  Kammerer  ebenso  im  Rechte  sein,  wie  mit  der 
Betonung,  daß  ausgezeichnete  Hörschärfe  und  musikalisches  Gehör  noch  etwas 
verschiedenes  sind.  Hinsichtlich  des  ersten  Punktes  wäre  es  von  Interesse,  nach 
dem  Urteil  von  Hubermann  einmal  das  von  anderen  Geigern  zu  hören,  die,  man 
möchte  sagen,  besonders  ,, violinistisch"   veranlagt  sind. 

23)  zu  S.  loi.  Rouxin:  Ergebnisse  der  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte, 
Bd.   II,   1892,   Artikel:  Entwicklungsmechanik,   S.   419. 

24)  zu  S.  106.  Semon,  R.  Die  Mneme  als  erhaltendes  Prinzip  im  Wechsel 
des  organischen  Geschehens,   II.   Aufl.     Leipzig  1908. 

25)  zu  S.  109.  Die  für  das  Folgende  in  Betracht  kommenden  Darstellungen 
sind  hauptsächhch  der  Vortrag  über  die  Bedeutung  der  sexuellen  Fortpflanzung 
für  die  Selektionstheorie  (1886)  und  der  Aufsatz  über  die  Amphimixis  (1891). 


—        282       — 

20)  ZU  S.  I20.  Gregor  Mendel,  Versuche  über  Pflanzenhybriden.  Zwei 
Abhandlungen  (1865  und  1869).  Herausg.  v.  Erich  Tschermak.  Ostwalds  Klassiker 
der  exakten  Naturwissenschaften,  Nr.  121.    Leipzig  1901. 

Es  sei  hingewiesen  auf:  Bateson,  W.,  Mendels  Principles  of  Heredity. 
Cambridge  1913   (auch  Deutsch). 

Baur,  E.,  Einführung  in  die  experimentelle  Vererbungslehre.  2.  Aufl. 
Berlin  igoo. 

Goldschmidt,   R.,  Einführung  in  Vererbungswissenschaft.     Leipzig  1911. 

Haecker,  V.,  Allgemeine  Vererbungslehre.     2.  Aufl.     Braunschweig  1912. 

Johannsen,  W.,  Elemente  der  exakten  Erblichkeitslehre.  Mit  Grund- 
zügen der  biologischen  Variationsstatistik.  Zweite  deutsche,  neubearbeitete  und 
sehr  erweiterte  Ausgabe  in  30  Vorlesungen.     Jena  1913. 

Plate,  L.,  Vererbungslehre.  (Handbücher  der  Abstammungslehre,  Bd.  IL) 
Leipzig  191 3. 

27)  zu  S.  128.  Die  Ansicht,  daß  die  Vererbungssubstanz  im  Chromatin  des 
Kernes  zu  suchen  ist,  hat  Weismann  zuerst  in  der  Kontinuität  des  Keim- 
plasmas  (1885)  mit  Bestimmtheit  ausgesprochen,  erst  nach  Strasburger  und 
Hertwig.  Es  ist  aber  sicherlich  berechtigt,  wenn  er  darauf  hinweist  (Vorträge  über 
Deszendenztheorie,  IIL  Aufl..  1913,  Bd.  I,  S.  285,  Anm.),  daß  seine  früheren  Schriften 
ihm  die   Selbständigkeit  des   Gedankens  bezeugen. 

28)  zu  S.  135.  Die  Änderung,  die  Weismann  an  seinen  Vorstellungen  bezüg- 
lich der  Zusammensetzung  des  Keimplasmas  aus  einer  Mehrzahl  von  Volliden  vor- 
genommen hat,  läßt  die  Frage  aufwerfen,  ob  denn  in  den  früheren  (oben,  auf  S.  132) 
angeführten)  Gedankengängen,  die  doch  zur  Annahme  einer  sehr  großen  Zahl 
von  Volliden  im  Keimplasma  führten,  etwa  ein  Fehler  steckte.  Die  Frage  liegt 
folgendermaßen.  Nach  Weismanns  Auffassung  erfolgt  bei  der  Reifung  der  Geschlechts- 
zellen durch  die  Reduktionsteilungen  eine  Halbierung  der  Zahl  der  Ide,  durch  die 
darauf  folgende  Befruchtung  wird  die  ursprüngliche  Zahl  der  Ide  wiederhergestellt. 
So  wäre  also  in  der  Tat,  vorausgesetzt,  daß  die  Reduktion  von  jeher  der  Befruchtung 
vorausging,  eine  Vermehrung  der  Idzahl  im  Laufe  der  Stammesgeschichte  aus- 
geschlossen gewesen.  (Natürlich  kann  es  sich  hier  nur  handeln  um  eine  Häufung 
von  Iden,  die  nach  Herkunft  und  individueller  Färbung  verschieden  sind;  —  eine 
bloße  Zahlvermehrung,  etwa  durch  Selbstteilung  von  Iden,  kommt  hier  nicht  in 
Frage.)  Die  Annahme  einer  Vielheit  der  Ide  im  Keimplasma  enthielt  somit  zugleich 
die  stillschweigend  gemachte  Voraussetzung,  daß  die  Reduktionsteilung  erst  ein- 
geführt wurde,  nachdem  die  Amphimixis  schon  eine  Zeitlang  ohne  eine  solche  im 
Gange  war  und  so  die  Zahl  der  Ide  auf  eine  beträchtliche  Höhe  gesteigert  hatte. 
Weismann  deutet  dies  selbst  in  dem  Aufsatz  über  Amphimixis  an  (S.  18  der  Sonder- 
ausgabe). Eine  Schlußfolgerung  —  die  Weismann  selbst  allerdings  nicht  gezogen 
hat  —  mußte  dann  die  sein,  daß  von  diesem  Augenblick  der  Einführung  der  Re- 
duktionsteilung an  die  Zahl  der  Ide  bei  allen  Formen  konstant  blieb:  es  müßte, 
wofern  dieser  Vorgang  nur  einmal,  an  einer  ganz  bestimmten  Stelle  der  phyletischen 
Entwicklung  erfolgte,  bei  allen  Formen,  bei  denen  heutzutage  Amphimixis  und 
Reduktionsteilung  bestehen,  —  und  das  sind  ja  sogar  schon  Einzellige!  —  die  ganz 
gleiche  Zahl  von  Iden  im  Keimplasma  vorhanden  sein.    Eine  Schlußfolgerung,  die 


-      283     - 

bei  der  sehr  verschiedenen  Anzahl  von  Chromosomen  bei  den  cinzehien  Arten  recht 
unwahrscheinlich  erscheinen  muß,  die  allerdings  vermieden  werden  könnte,  durch 
die  Annahme,  daß  die  Reduktionsteilung  zu  verschiedenen  Malen,  bei  verschiedenen 
Formen  selbständig  eingeführt  worden  ist.  Diesen  mancherlei  Bedenken  geht  die 
neue  Auffassung,  daß  die  Anlagen  zu  einem  Individuum  nur  zweimal  im  Keimplasma 
enthalten  seien,  aus  dem  Wege ;  sie  gestattet  die  Annahme,  die  wohl  die  natürlichste 
und  nächstliegende  ist:  daß  die  Reduktionsteilung  schon  im  Anschluß  an  die  erst- 
malige Amphimixis  eingeführt  wurde.  Somit  ist  die  Frage  nach  dem  Zeitpunkt  der 
phyletischen  Entwicklung,  zu  dem  die  Reduktionsteilung  eingeführt  wurde,  der 
Punkt,  der  von  dem  Wechsel  der  Anschauungen  Weismanns  ganz  besonders  be- 
troffen wird.  Die  neue  Auffassung  erlaubt  es  auch  leichter,  sich  mit  der  Tatsache  der 
ungleichen  Chromosomenzahl  bei  verschiedenen  Formen  abzufinden,  einem  Art- 
merkmal, das  als  solches  ebenso  wie  andere  Artmerkmale  der  Veränderlichkeit 
unterworfen  scheint.  In  manchen  Beziehungen  bietet  sie  freilich  größere  Schwierig- 
keiten als  die  alte  Vorstellung. 

29)  zu  S.  136.  Die  Begründung  für  die  Notwendigkeit,  die  frühere  Auffassung 
zu  ändern,  und  zugleich  die  Begründung  für  die  neue  Auffassung  findet  sich  im 
zweiundzwanzigsten  der  ,, Vorträge  zur  Deszendenztheorie",  der  in  der  3.  Auflage 
neu  hinzugekommen  ist.  Hier  sind  die  Chromosomen  —  wenigstens  für  die  höheren 
Organismen  —  als  ,, Teilide"  definiert  und  die  Mendelschen  Vererbungserschei- 
nungen unter  Zugrundelegung  dieser  neuen  Auffassung  behandelt.  Dort  ist  auch  die 
Möglichkeit  erörtert,  daß  in  gewissen  Fällen  (z.  B.  bei  den  sozialen  Hymenopteren) 
neben  den  Teiliden  auch  noch  Vollide  im  Kern  weiter  bestehen.  Die  Auffassung, 
daß  für  jedes  Merkmal  die  Determinante  doppelt  vorhanden  ist,  wird  mehrfach 
ausdrücklich  ausgesprochen  und  der  Betrachtung  zugrunde  gelegt  (Vorträge,  3.  Aufl., 
Bd.  II,  S.  56,  115,  117,  122,  127  und  an  anderen  Orten).  Die  Hilfsvorstellung,  daß 
vielfach  für  dasselbe  Merkmal  eine  Vielheit  von  Determinanten  in  demselben  Id 
vorhanden  ist,  wird  vor  allem  begründet  im  24.  Vortrag  (Vorträge,  Bd.  II,  S.  58): 
,,Ob  nun  freilich  die  Zahl  der  in  zwei  Iden  liegenden  homologen  Determinanten 
stets  die  gleiche  ist,  so  etwa,  wie  die  Zahl  der  Ide  in  homologen  Zellen  derselben 
Art  stets  die  gleiche  ist,  das  läßt  sich  nicht  sehen  und  ich  möchte  es  auch  für  wahr- 
scheinlich halten.  Es  kann  recht  gut  sein,  daß  die  Determinanten  in  dem  einen 
der  homologen  Ide  zahlreicher  als  im  anderen  sind  und  wenn  wir  das  annehmen, 
•SO  ließe  sich  daraus  eine  Ursache  der  ungleichen  Stärke  homologer  De- 
terminanten ableiten;  es  könnte  die  größere  Stärke  einfach  der  Ausdruck  einer 
größeren  Anzahl  gleicher  Determinanten  auf  der  einen  Seite  sein.  Das 
liegt  um  SO  näher,  als  wir  uns  die  Determinanten  wohl  meist  im  Plural  zu  denken 
haben.  Bestimmt  doch  ,eine  Determinante'  meist  nicht  eine  Einheit,  sondern  eine 
Vielheit  gleicher  Teile,  seien  es  Blumenblätter,  Finger  oder  Haare;  das  Bestimmende 
muß  sich  also  nach  Bedarf  vermehren  können;  diese  Vermehrung  wird  aber  um  so 
rascher  und  intensiver  geschehen,  je  größer  die  Determinantenzahl  schon  von  An- 
fang war.  Da  hätten  wir  also  eine  Erklärung  für  die  Tatsache  der  Dominanz  oder 
Rezessivität,  die  sich  noch  durch  mancherlei  bestätigen  läßt;  vor  allem  durch  die 
Erscheinungen  des  Rückschlages,  zu  dem  wir  uns  jetzt  wenden  wollen." 
In  den  nun  folgenden  Auseinandersetzungen  über  Rückschlag  bezieht  sich  Weismann 


—     284    — 

aufs  neue  auf  die  Hypothese,  nach  der  die  Dominanz  nicht  nur  auf  der  An-  oder  Ab- 
wesenheit einer  Determinante,  sondern  auch  auf  der  Quantität,  in  welcher  sie 
vorhanden  ist,  beruht.  Die  gleiche  Vorstellung  von  der  Vielheit  der  Determinanten 
für  ein  Merkmal  findet  sich  auch  an  anderen  Stellen  verwertet,  so  bei  der  Erklärung 
der  Spielvarietäten.  Vortage,  II,  S.  130:  ,,denn  solche  sprungweise  auftretenden 
Spielvariationen  sind  bei  Pflanzen,  die  aus  dem  Samen  gezogen  wurden,  meist  samen- 
beständig, und  pflanzen  sich,  mit  eigenem  Pollen  befruchtet,  rein  fort,  ein  Beweis, 
daß  die  gleichen  Veränderungen  an  einer  ganzen  Gruppe  homologer  Determinanten 
im  Id  eingetreten  sein  müssen.  Denn  wir  haben  schon  frü  hergesehen,  daß  wir  uns 
die  Determinanten  meist  als  ein  Mehrfaches  vorzustellen  haben."  Hier  ist  also  aus- 
drücklich von  einer  ganzen  Gruppe  homologer  Determinanten  innerhalb  eines  Ides 
(Chromosoms)  gesprochen,  und  damit  jedes  Mißverständnis  ausgeschlossen.  Ebenso 
S.  131:  die  Fortpflanzung  der  Knospenvariationen  durch  Samen  ist  ein  Beweis 
dafür,  ,,daß  auch  hier  eine  gewisse  Zahl  von  Determinanten  der  gleichen  Art  sich 
verändert  haben  müssen,  vielleicht  nicht  immer  alle  homologen  Determinanten 
des  Ids,  aber  doch  eine  Überzahl  von  ihnen".  Die  Annahme  einer  Vielheit  von  De- 
terminanten für  dasselbe  Merkmal  wird  eben  von  manchen  Erscheinungen  gefordert, 
und  nachdem  die  alte  Vorstellung  von  der  Vielheit  der  Vollide  im  Keimplasma 
fallen  gelassen  worden  war,  blieb  nichts  anderes  übrig,  als  die  Vielheit  der  Deter- 
minanten innerhalb  des  Einzelides  zu  suchen.  —  Übrigens  finden  sich,  wie  schon 
in  der  biographischen  Skizze  gesagt  wurde,  in  der  3.  Auflage  der  ,, Vorträge"  mehrere 
Stellen,  die  aus  den  früheren  Auflagen  unverändert  übernommen  worden  sind, 
trotzdem  sie  inhaltlich  nicht  mehr  berechtigt  sind,  da  in  ihnen  noch  die  frühere  An- 
schauung herrscht,  daß  das  Keimplasma  in  jeder  Keimzelle  aus  einer  sehr  großen 
Anzahl  von  ,,Volliden"  zusammengesetzt  ist.  Solche  Stellen  sind:  Teil  I,  S.  319, 
von  Abschnitt  2  an  bis  zum  Schlüsse  der  Vorlesung;  Teil  II,  S.  142,  die  beiden  letzten 
Abschnitte;  S.  284  und  S.  285  (Unterschied  zwischen  fluktuierender  Variabilität 
und  Mutation)  u.  a. 

30)  zu  S.  146.    Roux,  W.,  Der  Kampf  der  Teile  im  Organismus,  1881,  S.  178. 

31)  zu  S.  148.  Plate,  L.,  Selektionsprinzip  und  Probleme  der  Artbildung. 
Ein  Handbuch  des  Darwinismus,  4.  Aufl.,  Leipzig  191 3,  S.  450  u.  ff. 

32)  zu  S.  148.    Roux,  s.  Anm.  19  zu  S.  43. 

33)  zu  S.  151.    S.  die  vorige  Anm. 

34)  zu  S.  161.  Rä.dl,  E.,  Geschichte  der  biologischen  Theorien.  Teil  II, 
Leipzig  1909.  S.  371:  ,, Innerhalb  des  ganzen  Darwinismus  wiederholt  sich  diese 
logische  Eigentümlichkeit,  daß  die  Begriffe  sowohl  logische  Abstraktionen,  als  auch 
Namen  für  ein  Geschehen  oder  für  eine  Erscheinung  bedeuten.  Die  Bedeutung  der 
Worte  , Zoologie'  und  .Tierreich',  die  Wissenschaft  und  ihr  Objekt  zu  verwechseln, 
ist  nicht  möglich;  im  Darwinismus  aber  bedeuten  die  Worte  ,Phylogenie',  ,Ontogenie' 
eine  Wissenschaft  und  zugleich  auch  ihr  Objekt;  ebenfalls  bedeuten  die  Worte 
, natürliche  Zuchtwahl'  sowohl  einen  Begriff  als  auch  ein  Geschehen."  Das  ist  in 
der  Tat  ganz  richtig,  und  dieser  Doppelgebrauch^der  Worte  hat  manche  Irrtümer 
verschuldet.  Auch^Weismann  braucht^das^Wort  ,, Naturzüchtung"  bald  für  das 
Erklärungsprinzip,  bald  für  die  hypothetisch  angenommene  Kraft;  in  dem' jedes 
maligen  Zusammenhang  kann  es  aber  wohl  nie  zweifelhaft  sein,  was  gemeint  ist. 


-     285     - 

35)  zu  S.  163.  Der  Begriff  sexueller  Dimorphismus  ist  von  Weismann 
gebildet  worden.    Einfluß  der  Isolierung  usw.,  1873,  S.  17. 

36)  zu  S.  165.  Kölliker  1864  (Über  die  Darwinsche  Schöpfungstheorie. 
Zeitschrift  f.  wissensch.  Zoologie,  Bd.  XIV,  1864)  und  1872  (Anatomisch-systematische 
Beschreibung  der  Alcyonarien.  Erste  Abteilung:  Die  Pennatuliden,  Schluß;  in  den 
Schlußbemerkungen  von   S.   206  an). 

37)  zu  S.  165.  Hierüber  und  über  das  Folgende  s.  besonders  den  Aufsatz 
über  die  Selektionstheorie  von  1909. 

38)  zu  S.  166.  Darwin  spricht  über  diese  biologisch  gleichgültigen  Abände- 
rungen nur  beiläufig,  z.  B.  in  der  ,, Entstehung  der  Arten"  (7.  Aufl.  der  deutschen 
Übersetzung  von  J.  V.  Carus,  1884,  S.  100):  ,, Abänderungen,  welche  weder  vorteil- 
haft noch  nachteilig  sind,  werden  von  der  natürlichen  Zuchtwahl  nicht  berührt 
und  bleiben  entweder  ein  schwankendes  Element,  wie  wir  es  vielleicht  in  den  so- 
genannten polymorphen  Arten  sehen,  oder  werden  endlich  fixiert  infolge  der  Natur 
des  Organismus  oder  der  Natur  der  Bedingungen." 

39)  zu  S.  167.    Über  den  Rückschritt  in  der  Natur,  1886,  S.  5. 

40)  zu  S.  168.  Dieser  Einwurf  wird  sehr  scharf  ausgesprochen  von  E.  Rädl 
(Geschichte  der  biologischen  Theorie,  Bd.  II,  Leipzig  1909,  S.  373):  ,,Eine  andere 
Eigentümlichkeit  der  Zuchtwahllehre  ist  der  Gedanke,  daß  der  Fortschritt  für  sie 
ein  bloßes  Passivum  bedeutet.  Seit  je  verstand  man  unter  .Leben'  eine  Tätigkeit, 
eine  Entwicklung  zur  Macht,  eine  Wirkung  auf  die  Umgebung;  von  dem  Fortschritte 
in  der  Welt  glaubte  man  und  ist  man  noch  immer  überzeugt,  daß  es  durch  ein 
Streben,  durch  einen  Kampf  für  Ideale,  durch  eigene  Kraft  vor  sich  geht.  Diese 
Auffassung  wird  von  Darwin  indirekt  bekämpft;  das  Leben  vermag  nach  ihm  nichts, 
sondern  ist  nur  ein  Spielzeug  in  den  Händen  der  verschiedensten  äußeren  Faktoren; 
es  gibt  bei  Darwin  keinen  Fortschritt,  sondern  nur  einen  Fortschub  (,du 
glaubst  zu  schieben  und  du  wirst  geschoben'),  denn  wenn  ein  Organismus  irgend 
einen  Vorzug  vor  anderen  hat,  so  verschafft  er  ihm  die  gehörige  Geltung  und  Ver- 
tiefung kemeswegs  durch  eigenes  Bemühen:  mit  seinem  Tode  werden  alle  seine 
Ideale  hinfällig;  nur  derjenige  hat  Hoffnung  auf  Sieg,  der  viel  Kinder  erzeugt  —  das 
ist  der  Sinn  der  Zuchtwahltheorie."  Wie  jemand  das  als  ,,Sinn"  aus  der  Zuchtwahl- 
theorie herauslesen  kann,  einer  Theorie,  die  gerade  von  der  verschiedenen  Qualität 
auch  der  kleinsten  individuellen  Abweichungen  ausgeht,  und  für  die  die  Quantität  der 
Nachkommen  sehr  wenig,  die  Qualität  alles  ist,  ist  mir  unverständlich.  Was  aber 
die  Geltendmachung  der  Vorzüge  anlangt,  so  meine  ich,  daß  wenigstens  die  tierischen 
Organismen  dazu  durch  eigenes  Bemühen  recht  wohl  beitragen  können,  und  wenn 
sie  das  tun,  so  brauchen  ihre  ,, Ideale"  durchaus  nicht  mit  dem  Tode  hinfällig  zu 
werden,  sondern  haben  Aussicht,  in  Nachkommen  weiter  zu  leben.  Das  ist  wohl 
mit  größerem  Recht  als  ,,Sinn  der  Zuchtwahltheorie"  zu  bezeichnen. 

41)  zu  S.  169.  Ich  habe  diesen  Punkt  hier  herausgegriffen,  nicht  als  ob  er 
zuerst  oder  ausschließlich  von  Weismann  hervorgehoben  worden  wäre,  sondern 
lediglich,  weil  die  angeführte  Stelle  bei  Weismann  guten  Anlaß  gibt,  ihn  einmal 
schärfer  zu  betonen,  als  das  gewöhnlich  geschieht.  Die  landläufigen  Darstellungen 
des  Darwinismus  erwähnen  ihn  meist  gar  nicht.  Sehr  klar  spricht  sich  Plate  dar- 
über aus  (Selektionsprinzip  und  Probleme  der  Artbildung,  4.  Aufl.,  1913,  S.  227): 


—      286      — 

,, —  denn  hierin  liegt  nur  das  Divergenzprinzip  der  natürlichen  Zuchtwahl,  daß 
nämlich  diejenigen  Individuen,  welche  von  ihren  Genossen  und  Eltern  möglichst 
verschieden  sind,  die  meiste  Aussicht  haben,  unbenutzte  Plätze  im  Haushalt  der 
Natur  anzutreffen,  es  fehlt  aber  darin  der  wichtigere  Hinweis  auf  die  Anpassungen, 
und  außerdem  genügt  zur  Anwartschaft  auf  das  Überleben  nicht  jede  Veränderung, 
sondern  nur  eine  solche,  die  entweder  eine  Verbesserung  einer  schon  vorhandenen 
Bildung  darstellt  oder  neue  unbesetzte  Plätze  durch  eine  Neubildung  ausnützt." 
S.  auch  Weismann,  Vorträge,   3.  Aufl.,  Teil  II,  S.  326. 

42)  zu  S.  177.    Plate,  Selektionsprinzip  usw.,  4.  Aufl.,  1913,  S.  175. 

43)  zu  S.  180.  Z.  B.  in  dem  Aufsatz  über  die  Bedeutung  der  sexuellen  Fort- 
pflanzung (S.  8  u.  ff.),  der  von  den  späteren  Schriften  wohl  am  ausführlichsten  auf 
die  Nägelische  Theorie  eingeht. 

44)  zu  S.  184.     Die  Selektionstheorie,   1909,   S.   151. 

45)  zu  S.  200.  Roux,  W.,  Der  Kampf  der  Teile  im  Organismus.  Ein  Bei- 
trag zur  Vervollständigung  der  mechanischen  Zweckmäßigkeitslehre.  Leipzig  1881. 
Neu  abgedruckt  und  mit  Anmerkungen  und  Zusätzen  versehen  unter  dem  Titel: 
,,Der  züchtende  Kampf  der  Teile"  oder  die  ,, Teilauslese"  im  Organismus.  Zugleich 
eine  Theorie  der  ,, funktionellen  Anpassung";  in:  ,, Gesammelte  Abhandlungen 
über  Entwicklungsmechanik  der  Organismen",  Bd.  I,  Leipzig  1895  (Nr.  4).  Außer- 
dem seien  von  den  späteren  Schriften  genannt:  ,, Beiträge  zur  Morphologie  der  funk- 
tionellen Anpassung".  I.  Struktur  eines  hoch  differenzierten  bindegewebigen  Or- 
ganes  (der  Schwanzflosse  des  Delphin).  Arcliiv  f.  Anatomie  u.  Physiologie,  Anatom. 
Abteil.,  1883,  I  Taf.  u.  4  Textfig.  — •  sowie:  Anpassungslehre,  Histomechanik  und 
Histochemie.  Mit  Bemerkungen  über  die  Entwicklung  und  Formgestaltung  der 
Gelenke.  Berichtigungen  zu  R.  Thomas  gleichnamigem  Aufsatz.  Virchows  Archiv 
f.  pathologische  Anatomie  u.  Physiologie  u.  f.  klinische  Medizin  1912,  Bd.  CCIX. 

46)  zu  S.  210.    1878,  in  der  Arbeit  über  die  Schmuckfarben  der  Daphnoiden. 
46a)  zu  S.  211.     Einen  neuen,  wie  es  scheint,  sehr  fruchtbaren  Gedanken 

zu  ihrer  Weiterbildung  hat  Weismanns  Schüler  K.  Günther  ausgesprochen.  (,,Zur 
geschlechtlichen  Zuchtwahl",  Arch.  f.  Rassen-  und  Gesellschaftsbiologie,  Bd.  II, 
S.  321.)  Er  erklärt  die  Steigerung  vieler  männlichen  Sexualcharaktere,  wie  Barte, 
Kämme,  Schweife,  Stimme  usw.  mit  der  ,, Auslese  des  stärker  Scheinenden" 
Männchens. 

47)  zu  S.  213.    Die  Selektionstheorie,  1909,  S.  14. 

48)  zu  S.  215.     Vorträge,  II,   S.  267. 

49)  zu  S.  217.  Das  Wort  von  der  Allmacht  der  Naturzüchtung,  das,  wie  schon 
S.  160  bemerkt  worden  ist,  bereits  1876  im  zweiten  Teil  der  Studien  zur  Deszendenz- 
theorie auftaucht,  ist  gelegentlich  auch  falsch  verstanden  worden.  Es  ist  ihm  der 
Untergang  so  vieler  Tierformen  im  Laufe  der  Erdgeschichte  entgegengehalten 
worden,  als  Beweis,  daß  es  mit  dieser  ,, Allmacht"  vielfach  sehr  schlecht  bestellt 
war,  da  sie  jenen  Untergang  nicht  zu  verhindern  vermochte.  Darin  liegt  aber  wohl 
ein  Mißverständnis,  beruhend  auf  dem  Doppelsinn  des  Wortes  ,, Naturzüchtung", 
auf  den  schon  oben  (S.  161)  aufmerksam  gemacht  wurde.  ,, Allmacht  der  Natur- 
züchtung' '  soll  doch  wohl  nicht  bedeuten,  daß  die  Naturzüchtung,  als  personifizierte 
Krait  genommen,  alles  zu  leisten,  insbesondere  jede  Art  über  alle  Schwierigkeiten 


-     287      - 

hinwegzuführen  imstande  sei,  sondern:  daß  das  Erklärungsprinzip  der  Natur- 
züchtung alle  Erscheinungen  im  Organismenreich  zu  erklären  vermag.  Auch  in 
diesem  Sinne  aufgefaßt,  ist  das  Wort  nicht  richtig,  ist  es  zu  vielsagend,  aber  das 
Aussterben  ganzer  Arten  gehört  nicht  zu  den  Erscheinungen,  denen  gegenüber  es 
versagt.  Weismann  hat  sich  auch  darüber  oft  genug  ausgesprochen  und  in  den 
,, Vorträgen"  dem  ,, Artentod"  mehrere  Seiten  gewidmet.  Er  hat  hier  ganz  ausdrück- 
lich die  Ansicht  bekämpft,  als  gebe  es  ein  ,, Greisenalter"  und  einen  ,, physiologischen 
Tod  der  Art"  aus  inneren  Ursachen,  wie  es  ein  Altern  und  einen  natürlichen  Tod 
des  Individuums  gibt,  und  hat  demgegenüber  das  Aussterben  der  Arten  darauf  zurück- 
geführt, daß  die  Lebensbedingungen,  denen  sie  angepaßt  waren,  sich  änderten, 
und  daß  es  ihnen  aus  irgend  einem  Grunde  nicht  möglich  war,  sich  den  neuen  Be- 
dingungen anzupassen.  Das  ist  also  eine  Erklärung  durchaus  nach  dem  Natur- 
züchtungsprinzip. 

50)  zu  S.  218.  Über  vererbbare  und  passante  Veränderungen  findet  sich 
eine  beachtenswerte  Äußerung  in  dem  Aufsatz  Weismanns  über  die  Bedeutung 
der  sexuellen  Fortpflanzung  (1886,  S.  30):  ,, Denken  wir  uns  eine  Art,  deren  Indi- 
viduen völlig  gleich  sind,  so  werden  auch  ihre  Nachkommen  durch  beUebig  viele 
Generationen  gleich  bleiben  müssen,  wenn  wir  absehen  von  jenen  passanten 
Unterschieden,  wie  sie  durch  verschiedene  Ernährung  usw.  hervorgerufen  werden, 
ohne  aber  vererbbar  zu  sein.  Die  Individuen  dieser  Art  würden  also  tatsächlich 
zwar  verschieden  sein  können,  virtuell  aber  dennoch  identisch  sein;  die  Keime 
aller  müßten  genau  dieselben  Vererbungstendenzen  enthalten,  und  wenn  es  mög- 
lich wäre,  sie  unter  genau  denselben  Einflüssen  sich  entwickeln  zu  lassen,  so  müßten 
sie  auch  völlig  identische  Individuen  aus  sich  hervorgehen  lassen."  Diese  letzten 
Sätze  enthalten  einen  Gedanken,  der  in  der  neuesten  Erblichkeitslehre,  von  Jo- 
hannsen  (Elemente  der  exakten  [s.  Anm.  26]),  grundlegende  Bedeutung  erlangt 
hat:  die  scharfe  Unterscheidung  des  ,,Phaenotypus"  und  des  ,,Genotypus"  (Jo- 
hannsen),  von  denen  der  erste  die  sichtbare,  feststellbare  Beschaffenheit  eines  ge- 
gebenen Organismus,  seine  ,, persönlich  realisierten  Eigenschaften",  d.  h.  die  Re- 
aktionen seiner  inneren  Konstitution  auf  die  wechselnden  Faktoren  der  Lebenslage 
bedeutet,  während  der  zweite  (Genotypus)  die  Summe  der  Elemente  dieser  seiner 
inneren   Konstitution  ausdrückt. 

51)  zu  S.  219.  In  dem  Aufsatz  über  die  mechanische  Auffassung  der  Natur 
(1876,   S.   304). 

52)  zu  S.  222.    1880,  S.  250/251. 

53)  zu  S.  224.     Vorträge  (3.  Aufl.,  II,  S.  68  und  103). 

54)  zu  S.  225.  Die  hier  erörterten  Gedanken  finden  sich  vornehmlich  in  den 
Aufsätzen  über  die  Bedeutung  der  sexuellen  Fortpflanzung  (1886)  und  die  Am- 
phimixis  (1891). 

55)  zu  S.  228.  In  den  Vorträgen  zur  Deszendenztheorie  (3.  Aufl.,  Bd.  II, 
S.    113)- 

56)  zu  S.  229.  Germina  ist  der  Plural  von  germen,  Keim,  und  bezeichnet 
somit  die  Determinanten;  Germinalselektion  bedeutet  die  zwischen  den  Germina 
stattfindende  Auslese,  wie  Personalselektion  die  Auslese  zwischen  den  Personen 
bedeutet.     Es  ist  somit  nicht  ganz  richtig,  wenn  Weismann  von  einem  ,,intra"- 


germinalen  Nahrungsstrom  oder  von  ,,intra"-germinalen  Schwankungen  der  Er- 
nährung usw.  spricht;  es  müßte  ,,inter"-germinal  heißen.  Ich  habe  dafür  ento- 
plasmatisch  gebraucht.  Im  übrigen  wäre  für  die  Determinantenauslese  ein  anderer 
Ausdruck  statt  Germinalselektion,  vielleicht  Gemmalselektion,  wohl  besser 
gewesen.  Die  Bezeichnung  Germinalselektion  hätte  dann  für  die  Auslese  unter 
den  verschiedenen  Keimplasmen  zweckmäßig  Verwendung  finden  können. 
Denn  wenn  auch  nach  Weismanns  Auffassung  die  „Person"  (das  Soma)  nur  der 
Wirt  ist,  der  das  Keimplasma  beherbergt,  ohne  von  sich  aus  einen  unmittelbaren 
umwandelnden  Einfluß  auf  dasselbe  ausüben  zu  können,  und  wenn  auch  Weismann 
selbst  wiederholt  betont,  daß  die  Personalauslese  nur  dadurch  eine  Bedeutung  für 
die  Fortbildung  der  Art  besitzt,  daß  sie  in  den  Personen  bestimmte  Keimplasmen 
auswählt,  so  sind  doch  ,, Personalauslese"  und  ,, Keimplasmenauslese"  nicht  ohne 
weiteres  identisch.  Denn  die  Personen,  unter  denen  die  Auslese  erfolgt,  sind  schon 
Phaenotypen  im  Sinne  Johannsens,  Produkte  aus  den  Keimplasmen  und  den 
besonderen  Bedingungen,  unter  denen  sich  diese  entfalten  konnten,  sie  geben 
also  von  den  eigentlichen  Anlagen  nicht  immer  ein  deutliches  und  zutreffendes 
Bild.  Daß  durch  Personalauslese,  die  doch  nun  einmal  nur  mit  den  Phaenotypen 
rechnen  kann,  auch  einmal  eine  unrichtige  unerwünschte  Keimauslese  getroffen 
werden  kann,  ist  eine  Überlegung,  die  z.  B.  Fanatiker  der  Rassenhygiene  bedenken 
sollten.  So  wäre  es  also  ganz  erwünscht,  einen  besonderen  Ausdruck  für  Keim- 
plasmaauslese zu  haben,  und  als  solcher  wäre  Germinalselektion  (von  germen. 
Keim,  ßXaarog)  sehr  brauchbar  gewesen.  Personal-,  Germinal-,  Gemmalselektion 
wären  dann  die  drei  für  die  Umbildung  der  Formen  wichtigen  Ausleseprozesse. 
Durch  die  Bedeutung,  die  Weismann  dem  Begriff  Germinalselektion  untergelegt 
hat,  ist  die  Verwendung  in  dem  genannten  Sinne  nun  nicht  möglich,  und  die  Schaffung 
eines  Begriffes  für  die  ,,KeimplasiTienauslese"   bleibt  Desiderat. 

57)  zu  S.  237.  Auf  Grund  der  älteren  Auffassung,  daß  in  dem  Keimplasma 
jeder  Zelle  die  Anlagenkomplexe  (,, Vollide")  für  eine  sehr  große  Anzahl  von 
Individuen  vorhanden  seien,  erklärte  Weismann  früher  das  Auftreten  von  ,,  Spiel- 
varietäten", d.  h.  von  Varietäten  größeren  Betrages,  die  von  vornherein  erbbeständig 
sind,  durch  die  Annahme  der  gleichen  intensiven  Veränderung  homologer  De- 
terminanten in  den  meisten  jener  Vollide.  Nach  der  neueren  Form  der  Theorie 
muß  dafür  die  Fassung  eintreten,  daß  es  sich  um  gleichsinnige  Veränderung  homo- 
loger Determinanten  innerhalb  desselben  Ids  (Chromosoms)  handelt.  Daß  in  der 
3.  Auflage  der  Vorträge  bei  Besprechung  der  Mutationstheorie  (Teil  II,  S.  284  und 
285)  noch  die  alte  Erklärung  beibehalten  und  von  einer  ,, Majorität  von  Iden"  die 
Rede  ist,  kann  nur  auf  einem  Irrtum  beruhen. 

58)  zu  S.  242.     Vorträge,  II,   S.  259. 

59)  zu  S.  247.  In  den  Vorträgen  zur  Deszendenztheorie  (3.  Aufl.,  II,  S.  239) 
heißt  es:  ,,Die  Möglichkeit  einer  Abänderung  auch  des  Keimplasmas  durch  solche 
direkte  Wirkung  äußerer  Einflüsse  soll  aber  damit  keineswegs  in  Abrede  gestellt 
werden.  A  priori  schon  muß  man  eine  solche  annehmen,  wenn  man,  wie  wir  es  ge- 
tan haben,  die  individuelle  erbliche  Variation  auf  die  Schwankungen  in  der  Er- 
nährung der  einzelnen  Determinanten  des  Keimplasmas  bezieht.  Es  ist  von  vorn- 
herein   wahrscheinlich,     daß    manche    allgemeine    Ernährungsabänderungen    oder 


—      28q     — 

klimatische  Faktoren  auch  das  Keimplasma  treffen,  und  es  ist  durchaus  nicht  un- 
denkbar, daß  sie  hier  zuweilen  nicht  alle,  sondern  nur  ganz  bestimmte  Deter- 
minanten allein  verändern".  Damit  ist  theoretisch  die  Möglichkeit  zugegeben, 
daß  auch  die  ,, spontane"  Germinalselektion  Folge  der  das  Individuum  treffenden 
äußeren  Einflüsse  ist,  und  der  Gegensatz  zwischen  ,, spontaner"  und  ,, induzierter" 
Germinalselektion  würde  nur  darin  zu  sehen  sein,  daß  die  Einflüsse,  die  die  ,, spon- 
tane" Germinalselektion  anregen,  nicht  so  grober  Natur  sind,  feiner,  unmerklicher 
und  daher  einstweilen  unserer  Kenntnis  und  genaueren  Analyse  entzogen. 

60)  zu  S.  254.  Schon  1876  erschien  als  vierter  Aufsatz  des  zweiten  Heftes 
der  Studien  zur  Deszendenztheorie  die  Abhandlung  ,,Über  die  mechanische  Auf- 
fassung der  Natur",  die  durchaus  für  eine  solche  Auffassung  eintritt  und  die  Annahme 
einer  besonderen  Lebenskraft  auch  auf  dem  Gebiete  der  Stammesgeschichte  für 
ebenso  grundlos  erklärt  wie  für  die  Erklärung  des  individuellen  Lebens. 

61)  zu  S.  267.  Diese  Behauptung  findet  sich  bei  Rädl  (Geschichte  der  bio- 
logischen Theorien)  auf  S.  548:  ,,Der  Darwinismus  war  dem  auf  Experimente  sich 
stützenden  Konstruieren  der  Natur  abhold  und  wollte  die  Natur,  wie  sie  ist,  erkennen. 
Zwar  experimentierte  auch  Darwin  (obwohl  seine  Versuche  sehr  elementar  zu  sein 
pflegten) ;  aber  die  klassischen  Darwinisten,  Haeckel,  Huxley ,  Wallace,  Galton, 
Weismann,  waren  keine  Experimentatoren;  nur  hier  und  da  wurde  ein  schüchternes 
Experiment  angestellt  (von  Romanes,  Preyer,  Pflüger),  aber  kaum  beachtet; 
erst  als  der  Darwinismus  den  Höhepunkt  überschritten  hat,  nahm  man  das  Experi- 
mentieren energischer  in  Angriff."  Das  ist  im  großen  ganzen  richtig;  die  Nennung 
von  Weismanns  Namen  in  diesem  Zusammenhang  ist  aber  falsch. 


Gaupp,  Biographie  Weismanns.  19 


Verzeichnis  der  Schriften  Weismanns. 

1857.  Weismann,  August,  De  acidi  hippurici  in  corpore  humano  generatione. 
(Göttingen.)     Disertatio  inauguralis.     Francofurti  1857. 

—  —  Über  den  Ursprung  der  Hippursäure  im  Harn  der  Pflanzenfresser.  Eine 
von  der  medizinischen  Fakultät  der  Georgia  Augusta  am  13.  Juni  1857  ge- 
krönte Preisschrift.     Göttingen  1857. 

1858.  —  Über  die  Bildung  der  Hippursäure  beim  Menschen.  Zeitschrift  für  rationelle 
Medizin,  3.  Reihe,  Bd.  II,   S.  331—344.     1858. 

—  —  Untersuchungen  über  den  Salzgehalt  der  Ostsee.  Archiv  für  Landeskunde 
in  den  Großherzogthümern  Mecklenburg.  8.  Jahrg.,  S.  289 — 304.  1858.  (Der 
Name  ist  fälschlich  ,, Weissmann"  geschrieben.  Die  Arbeit  trägt  folgende 
Bemerkung:  Die  nachstehende  Abhandlung  ist  der  philosophischen  Fakul- 
tät der  Universität  Rostock  als  Konkurrenzschrift  zu  dem  im  rorigen  Jahre 
gestellten  Preise  überreicht  und  ist  dem  Verfasser  solcher  unter  der  Ver- 
pflichtung zuerkannt  worden,  dieselbe  im  ,, Archiv  für  Landeskunde"  zu  ver- 
öffentlichen.    D.  Red.) 

—  Analysen  des  Ostseewassers.  Archiv  für  Landeskunde  in  den  Großherzog- 
thümern Mecklenburg,  8.  Jahrg.,  S.  437 — 444.  1858.  (Ohne  Angabe  des  Ver- 
fassers.) Die  Einleitung  lautet:  ,,Die  nachfolgenden  Analysen  des  Ostsee- 
wassers sind  zum  Zweck  der  im  vorigen  Hefte  des  Archiv  mitgeteilten  Arbeit 
über  den  Salzgehalt  der  Ostsee  von  Dr.  Weis  mann  unter  spezieller  Leitung 
des  Herrn  Prof.  Dr.  Schulze  zu  Rostock  ausgeführt.  Wir  teilen  sie  als  Nach- 
trag zu  jener  Abhandlung  mit,  weil  wenige  derartige  mit  Genauigkeit  an- 
gestellte Analysen  vorhanden  sind  und  die  nachstehenden  daher  ein  um  so 
größeres  wissenschaftliches  Interesse  haben." 

1859.  —  Über  Nervenneubildung  in  einem  Neurom.  Zeitschrift  für  rationelle  Me- 
dizin, 3.  Reihe,  Bd.  VII,  1859,  S.  209—218.     i  Taf. 

1861.  —  Über  das  Wachsen  der  quergestreiften  Muskeln  nach  Beobachtungen 
am  Frosch.  Zeitschrift  für  rationelle  Medizin,  3.  Reihe,  Bd.  X,  1861,  S.  263 
bis  284.    2  Taf. 

—  —  Über  den  feineren  Bau  des  menschlichen  Nabelstranges.  Zeitschrift  für 
rationelle  Medizin,  3.  Reihe,  Bd.  XI,  1861,  S.  140 — 166.    3  Taf. 

—  —  Über  die  Verbindung  der  Muskelfasern  mit  ihren  Ansatzpunkten.  Zeit- 
schrift für  rationelle  Medizin,  3.  Reihe,  Bd.  XII,  1861,  S.  126 — 144.    3  Taf. 

—  —  Über  die  Neubildung  quergestreifter  Muskelfasern.  Eine  Erwiderung  an 
Herrn  Prof.  Budge.  Zeitschrift  für  rationelle  Medizin,  3.  Reihe,  Bd.  XII, 
1861,  S.  354—359- 


—     291     — 

i86i.  —  Über  die  Muskulatur  des  Herzens  beim  Menschen  und  in  der  Tierreihe. 
Archiv    für    Anatomie,    Physiologie    und   wissenschaftüche    Medizin,    Jahrg. 

1861,  S.  41 — 63.     3  Taf. 

1862.  —  Über  die  zwei  Typen  kontraktilen  Gewebes  und  ihre  Verteilung  in  die 
großen  Gruppen  des  Tierreichs,  sowie  über  die  histologische  Bedeutung  ihrer 
Formelemente.  Zeitschrift  für  rationelle  Medizin,  3.  Reihe,  Bd.  XV,  1862, 
S.  60 — 103.     5  Taf. 

—  — -  Nachtrag  zu  der  Abhandlung:  ,,Über  die  zwei  Typen  kontraktilen  Gewebes 
und  ihre  Verteilung  in  die  großen  Gruppen  des  Tierreichs,  sowie  über  die 
histologische  Bedeutung  ihrer  Formelemente."  Die  Bildung  der  Muskeln 
im  Ei  der  Insekten.     Zeitschrift  für  rationelle  Medizin,  3.  Reihe,   Bd.   XV, 

1862,  S.  279 — 282.     5  Fig. 

1863.  —  Über  die  Entstehung  des  vollendeten  Insekts  in  der  Larve  und  Puppe. 
Ein  Beitrag  zur  Metamorphose  der  Insekten.  Abhandlungen,  herausg.  v.  d. 
Senckenbergischen  Naturforschenden  Gesellschaft,  Bd.  IV,  1862 — 63.  3  Taf. 
Habilitationsschrift  der  medizinischen  Fakultät  Freiburg  i.  B.     1863. 

—  —  Die  Entwicklung  der  Dipteren  im  Ei,  nach  Beobachtungen  an  Chironomus 
spec,  Musca  vomitoria  und  Pulex  Canis.  Zeitschrift  für  wissenschaftliche 
Zoologie,  Bd.  XIII,   1863,  S.  107—220.     7  Taf. 

1864.  —  Die  nachembryonale  Entwicklung  der  Museiden  nach  Beobachtungen 
an  Musca  vomitoria  und  Sarcophaga  carnaria.  Zeitschrift  für  wissenschaft- 
liche Zoologie,  Bd.  XIV,   1864,   S.   187 — 336.     7  Taf. 

—  Zur  Embryologie  der  Insekten.     Archiv  für  Anatomie,  Physiologie  und 
wissenschaftliche  Medizin,   Jahrg.  1864,   S.  265 — 277.     i  Taf. 

1865.  —  Zur  Histologie  der  Muskeln.  Zeitschrift  für  rationelle  Medizin,  3.  Reihe, 
Bd.  XXIII,  1865,   S.  26 — 45.     (Abgedr.  in  Jenaische  Zeitschrift,  Bd.  II.) 

—  Die    Metamorphose    der   Corethra    plumicornis.     Zeitschrift  für  wissen- 
schaftliche Zoologie,   Bd.   XVI,   1866,   S.  45—127.    5  Taf. 

1868.  —  Über  die  Berechtigung  der  Darwinschen  Theorie.  Ein  akademischer 
Vortrag  gehalten  am  8.  Juli  1868  in  der  Aula  der  Universität  zu  Freiburg 
im  Breisgau.  Leipzig  1868,  W.  Engelmann.  (Mit  einem  Anhang:  Über  den 
Einfluß  der  Wanderung  und  räumlichen  Isolierung  auf  die  Artbildung.) 

1872.  —  Über  den  Einfluß  der  Isolierung  auf  die  Artbildung.  Leipzig  1872,  W.  Engel- 
mann. 

1874.  —  Über  Bau  und  Lebenserscheinungen  von  Leptodora  hyalina  Lillgeborg. 
Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie,  Bd.  XXIV,  1874,  S.  348 — 418. 
6  Taf. 

1875.  —  Studien  zur  Deszendenztheorie.  I.  Über  den  Saisondimorphismus  der 
Schmetterlinge.  2  Taf.  Leipzig  1875.  (Sonderabdruck  aus  den  Annali  del 
Museo  Civico  di  Storia  Naturale  di  Genova,  Bd.  VI,   1874.) 

—  —  Über  die  Umwandlung  des  mexikanischen  Axolotl  in  ein  Amblystoma. 
Zeitschrift  für  wissenschafthche  Zoologie,  Bd.  XXV,  Supplementband,  1875, 
S.  297—334- 

1876.  —  Studien  zur  Deszendenztheorie.  IL  Über  die  letzten  Ursachen  der  Trans- 
mutationen.   (I.  Die  Entstehung  der  Zeichnung  bei  den  Schmetterlingsraupen. 

19* 


292        — 

II.  Über  den  phyletischen  Parallelismus  bei  metamorphischen  Arten.  III.  Über 
die  Umwandlung  des  mexikanischen  Axolotl  in  ein  Amblystoma.  IV.  Über 
die  mechanische  Auffassung  der  Natur.)     5  Taf.     Leipzig  1876. 

1876.  —  Das  Tierleben  im  Bodensee.  Schriften  des  Vereins  für  Geschichte 
des  Bodensees  und  seiner  Umgebung,  Heft  7,  1876,  S.  132 — 161.  5.  Abb. 
(Einige  Bemerkeungen  zu  der  Frage  nach  dem  Auf-  und  Absteigen  der  pe- 
lagischen  Crustaceen  finden  sich  in  der  Diskussion  zu  einem  Vortrag  von 
Forel  in:  „Amtlicher  Bericht  der  50.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher 
und  Ärzte  in  München,  1877,  S.  172.) 

—  —  Zur  Naturgeschichte  der  Daphnoiden.  I.  Über  die  Bildung  von  Winter- 
eiern bei  Leptodora  hyalina.  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie, 
Bd.  XXVII,  1876,  S.  51 — 112.  3  Taf.  (Die  gesamten  Abhandlungen  sind  als 
,,  Bei  träge  zur  Naturgeschichte  der  Daphnoiden"  als  selbständige  Monographie 
bei  W.  Engelmann  in  Leipzig  erschienen.  Leipzig  1876 — 1879.)  Weismann 
faßt  unter  Daphnoidea  die  beiden  Familien  der  Daphnida  und  Polyphemida 
zusammen.  Daphnoidea  =  Ordnung  der  Wasserflöhe,  der  gebräuchlichere 
Name  an  Stelle  des  neueren  ..Cladocera"  (Zeitschrift  für  wissenschaftliche 
Zoologie,  Bd.  XXVIII,  1877.) 

1877.  —  Über  die  Fortpflanzung  der  Daphnoiden.  Amtücher  Bericht  über  die 
50.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  in  München  vom 
17. — 22.   September  1877,   S.   178. 

—  —  Diskussionsbemerkung  zu  dem  Vortrag  von  A.  Forel:  Über  den  Ursprung 
der  verschiedenen  Faunen  unserer  Süßwasserseen.  Amtlicher  Bericht  über 
die  50.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  in  München  vom 
17. — 22.  September  1877,  S.  172. 

—  —  und  Gruber,  August,  Über  einige  neue  oder  unvollkommen  gekannte 
Daphniden.  Abhandlungen  der  Naturforschenden  Gesellschaft  zu  Frei- 
burg i.  B.,  1877. 

—  Weismann,  August,  Beiträge  zur  Naturgeschichte  der  Daphnoiden. 
II.  Die  Eibildung  bei  den  Daphnoiden.  III.  Die  Abhängigkeit  der  Embryonal- 
entwicklung vom  Fruchtwasser  der  Mutter.  IV.  Über  den  Einfluß  der  Be- 
gattung auf  die  Erzeugung  von  Wintereiern.  Zeitschrift  für  wissenschaft- 
liche Zoologie,  Bd.  XXVIII,  1877,  S.  93—254.     5  Taf. 

1878.  —  Rechtfertigung.  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie,  Bd.  XXX, 
1878,   S.   194 — 202. 

—  —  Über  die  Schmuckfarben  der  Daphnoiden.  Zeitschrift  für  wissenschaft- 
liche Zoologie,  Bd.  XXX,  Suppl.,  1878,  S.  123—165.     i  Taf. 

—  —  Über  Duftschuppen.     Zoologischer  Anzeiger,   Jahrg.   i,   1878,   S.  98 — 99. 

—  —  und  Wiedersheim,  R.,  Aus  dem  zoologischen  und  anatomischen  Institut 
der  Universität  Freiburg  i.  Br.   Zoologischer  Anzeiger,  Jahrg.  i,  1878,  S.  6 — 7. 

1879  (1880).  Weismann,  Beiträge  zur  Naturgeschichte  der  Daphnoiden.  Ab- 
handlung VI  und  VII.  (VI.  Samen  und  Begattung  der  Daphnoiden. 
VII.  Die  Entstehung  der  zyklischen  Fortpflanzung  bei  den  Daphnoiden.) 
Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie,  Bd.  XXXIII,  Heft  i  und  2,  1879 
(Jahreszahl  des  Bandes:  1880),  S.  55 — 270.    6  Taf. 


—      293      — 

i88o.  —  Zur  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Geschlechtszellen  bei  den  Hydroiden. 
Zoologischer  Anzeiger,   Jahrg.  3,   1880,   S.  226 — 233. 

—  —  Über  den  Ursprung  der  Geschlechtszellen  bei  den  Hydroiden.  Zoologischer 
Anzeiger,   Jahrg.  3,   1880,   S.  367 — 370. 

—  —  Parthenogenese   bei   den   Ostracoden.      Zoologischer   Anzeiger,    Jahrg.   3, 

1880,  S.  82 — 84. 

1880/81.  —  Observations  sur  l'origine  des  cellules  sexuelles  des  Hydroides.  Annales 
des  Sciences  naturelles,  Tome  XI. 

1881.  —  Beobachtungen  an  Hydroid-Polypen.  I.  Pulsieren  des  Körperschlauchs. 
II.  Selbständige  Bewegungen  des  Ektoderms.  III.  Die  Entstehung  der  Eizellen 
in  der  Gattung  Endendrium.  Zoologischer  Anzeiger,  Jahrg.  4,  1881,  S.  61 
bis  64;   S.   III — 114. 

—  —  Über  die  Dauer  des  Lebens.  Tageblatt  der  54.  Versammlung  Deutscher 
Naturforscher  und  Arzte  in  Salzburg  vom  18. — 24.  September  1881,  S.  98 
bis  114.  (Vortrag,  gehalten  in  der  II.  allgemeinen  Sitzung  am  21.  September 
1881.) 

—  (1882).  —  Über  eigentümliche  Organe  bei  Endendrium  racemosum  Cav. 
Mitteilungen  aus  der  zoologischen  Station  zu  Neapel,  Bd.  III,  Heft  i  und  2, 

1881,  S.  I — 14.    I  Taf.    (Jahreszahl  des  Bandes:  1882.) 

1882.  —  Über  die  Dauer  des  Lebens.  Jena  1882.  (Erweiterte  Form  des  in  Salz- 
burg gehaltenen  Vortrages.) 

—  —  Beiträge  zur  Kenntnis  der  ersten  Entwicklungsvorgänge  im  Insektenei. 
Beiträge  zur  Anatomie  und  Embryologie,  als  Festgabe  Jacob  Henle  zum 
4.  April  1882  dargebracht  von  seinen  Schülern.  Bonn  1882.  S.  80 — m. 
3  Taf. 

1883.  —  Die  Entstehung  der  Sexualzellen  bei  den  Hydromedusen.  Zugleich  ein 
Beitrag  zur  Kenntnis  des  Baues  und  der  Lebenserscheinungen  dieser  Gruppe. 
Mit  Atlas  von  24  Tafeln.    Jena  1883. 

—  —  Über  die  Vererbung.  Jena,  G.  Fischer.  (Vortrag,  gehalten  bei  der  Feier 
der  Übergabe  des  Prorektorates  in  Freiburg  i.  Br.,  21.  Juni  1883.) 

—  —  Über  die  Ewigkeit  des  Lebens.  Akademisches  Programm  der  Albert- 
Ludwigs-Universität  zur  Feier  des  Geburtstages  S.  Kgl.  H.  des  Großherzogs 
Friedrich.    Freiburg  i.  Br.  1883. 

1884.  —  Über  Leben  und  Tod.  Eine  biologische  Untersuchung.  Mit  2  Holzschnitten. 
Jena  1884.  (Erweiterte  Form  der  Programmschrift  ,,Über  die  Ewigkeit  des 
Lebens.) 

1884.  (1885).  —  Die  Entstehung  der  Sexualzellen  bei  den  Hydromedusen.  (Auto- 
referat.) Biologisches  Zentralblatt,  Bd.  IV,  Nr.  i,  1884,  S.  12 — 31.  (Jahres- 
zahl des  Bandes:  1885.) 

1885.  —  Zur  Frage  nach  der  Unsterblichkeit  der  Einzelligen.  Biologisches  Zentral- 
blatt, Bd.  IV,  1885,  S.  651—665;  S.  677—691. 

—  —  Die  Kontinuität  des  Keimplasmas  als  Grundlage  einer  Theorie  der  Ver- 
erbung.     Jena  1885. 

—  —  Über  die  Bedeutung  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  für  die  Selektions- 
theorie.   Tageblatt  der  59.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher  und  Arzte 


—     294     — 

in  Straßburg,  i8. — 23.  September  1885.  Straßburg  1885.  S.  42 — 56.  (Vor- 
trag, gehalten  in  der  i.  allgemeinen  Sitzung  der  Versammlung,  ig.  September 
1885.) 

1885.  —  Diskussionsbemerkung  zu  dem  Vortrag  von  Virchow:  Über  Akklimati- 
sation. Tageblatt  der  58.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte 
in  Straßburg,  18. — 23.  September  1885.  S.  550 — 551.  (Behandelt  die  Ver- 
erbung erworbener  Eigenschaften  und  die  Frage,  was  unter  ,, erworbener 
Eigenschaft"  zu  verstehen  sei.  Direkte  Klimaeinwirkungen  sind  nicht 
erblich,  doch  kann  Akklimatisation  unter  dem  Einfluß  des  Klimas  durch 
Selektion  erfolgen.) 

1886.  —  Zur  Annahme  einer  Kontinuität  des  Keimplasmas.  Berichte  der  Natur- 
forschenden Gesellschaft  zu  Freiburg  i.  Br.,  Bd.  I,  1886,  S.  89 — 99. 

—  —  Die  Bedeutung  der  sexuellen  Fortpflanzung  für  die  Selektionstheorie. 
Jena  1886. 

1886  (1887).  —  Über  den  Rückschritt  in  der  Natur.  Berichte  der  Naturforschenden 
Gesellschaft  zu  Freiburg  i.  Br.,  Bd.  II,  Heft  i.  1886,  S.  1—30.  (Jahreszahl 
des  Bandes:  1887.) 

1886.  —  Zur  Geschichte  der  Vererbungstheorien.    Zoologischer  Anzeiger,  Jahrg.  9, 

1886,  s.  344—350- 

—  —  Richtungskörper  bei  parthenogenetischen  Eiern.  Zoologischer  Anzeiger, 
Jahrg.  9,   1886,   S.  570—573- 

—  —  Zur  Frage  nach  der  Vererbung  erworbener  Eigenschaften.  Biologisches 
Zentralblatt,  Bd.  VI,  Nr.  2(15.  März  1886),  S.  33 — 48.  (Jahreszahl  des  Bandes: 
1887.) 

1887.  —  Über  die  Zahl  der  Richtungskörper  und  über  ihre  Bedeutung  für  die  Ver- 
erbung.    Jena  1887. 

—  —  On  the  signification  of  the  polar  globules.  Nature.  Vol.  XXXVI,  1887. 
(Paper  read  by  Prof.  August  Weismann  before  the  Brit.  Assoc.  at  Man- 
chester.) 

1888.  (a)  —  und  Ischikawa,  C,  Über  die  Bildung  der  Richtungskörper  bei 
tierischen  Eiern.  Berichte  der  Naturforschenden  Gesellschaft  zu  Freiburg  i.  Br., 
Bd.  III,  1888,  S.  I — 44.  4  Taf.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  um  ein  Auto- 
referat, da  es  mit  Weismann  unterzeichnet  ist. 

—  (b) Über    die    Befruchtungserscheinungen    bei    den    Dauereiern    von 

Daphniden.     Biologisches  Zentralblatt,   Bd.  VIII,   1888,   S.   430 — 436. 

—  Weismann,  August,  Botanische  Beweise  für  eine  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften.  Biologisches  Zentralblatt,  Bd.  VIII  (1888 — 1889),  S.  65—79, 
S.  97 — 109. 

—  —  Das  Zahlengesetz  der  Richtungskörper  und  seine  Entdeckung.  Morpho- 
logisches Jahrbuch,  Bd.  XIV,  i888,  S.  490 — 506. 

—  (1889).  —  und  Ischikawa.  Weitere  Untersuchungen  zum  Zahlengesetz 
der  Richtungskörper.  Zoologische  Jahrbücher,  Abteilung  für  Anatomie 
und  Ontogenie  der  Tiere.  Bd.  III,  Heft  3,  1888,  S.  575—610.  4  Taf.  (Jahres- 
zahl des  Bandes:  1889.) 


—     ^95     — 

i889- Über  partielle  Befruchtung.  Berichte  der  Naturforschenden  Gesell- 
schaft zu  Freiburg  i.  Br.,  Bd.  IV,  1889,  S.  51 — 53.  (Das  Manuskript  ist  schon 
am  12.  Dezember  1887  eingereicht;  eine  „Nachschrift"  trägt  das  Datum 
21.  Mai  1888.) 

— Nachtrag  zu  der  Notiz  über  „partielle  Befruchtung".     Berichte  der 

Naturforschenden  Gesellschaft  zu  Freiburg  i.  Br.,  Bd.  IV,  1889,  S.  55 — 58. 

—  Weismann,  August,  Über  die  Hypothese  einer  Vererbung  von  Verletzungen. 
Vortrag,  gehalten  am  20.  September  1888  auf  der  Naturforscherversammlung 
zu  Köln.  Jena  1889. 

—  —  und  Ischikawa,  C,  Über  die  Parakopulation  im  Daphnidenei,  sowie 
über  Reifung  und  Befruchtung  desselben.  Zoologische  Jahrbücher,  Abteilung 
für  Anatomie  und  Ontogenie  der  Tiere,  Bd.  IV,  Heft  i,  1889,  S.  155 — 196. 
7  Taf.     (Jahreszahl  des  Bandes:  1891.) 

—  Weismann,  August,  Gedanken  über  Musik  bei  Tieren  und  beim  Menschen. 
Deutsche  Rundschau,  Oktober  1889,  Bd.  LXI,  S.  50 — 79.  (Vortrag,  gehalten 
im  März  1889  in  der  Gesellschaft  für  Kunst  und  Wissenschaft  zu  Hamburg.) 

1890.  —  Bemerkungen    zu    einigen    Tagesproblemen.       Biologisches    Zentralblatt, 

Bd.  X,  1890,  S.  I — 12;  S.  33 — 44. 
1981.  —  Amphimixis  oder:  Die  Vermischung  der  Individuen.     Jena  1891. 
1890.  —  Bemerkungen  zu  Ischikawas  Umkehrungsversuchen  an  Hydra.    Archiv 

für  mikroskopische  Anatomie,  Bd.  XXXVI,  1890,  S.  627 — 638.    8  Fig. 

1892.  —  Aufsätze  über  Vererbung  und  verwandte  biologische  Fragen.  Mit  19  Abb. 
im  Text.  Jena,  G.  Fischer.  (Enthält  11  der  von  1882 — 1891  erschienenen 
Aufsätze.)  (Englische  Ausgabe,  übersetzt  von  Poulton  und  Shipley, 
Oxford  1892.   Französische  Ausgabe,  übersetzt  von  de  Varigny.   Paris  1892.) 

—  —  Das  Keimplasma.  Eine  Theorie  der  Vererbung.  (Englische  Ausgabe, 
übersersetzt  von  W.  N.  Parker  und  Harriet  Roennefeldt.   London  1893.) 

1893.  —  Die  Allmacht  der  Naturzüchtung.  Eine  Erwiderung  an  Herbert  Spencer. 
Jena  1893.     (Englische  Ausgabe.     London  1893.) 

1894.  —  Äußere  Einflüsse  als  Entwicklungsreize.  Jena,  G.  Fischer,  1894.  (Ver- 
dankt seine  Entstehung  der  Aufforderung  der  Universität  Oxford,  die  ,,Ro- 
manes-Lecture"  zu  halten.  Enthält  im  Vorwort  Erinnerungsworte  auf 
Romanes.)     (Englische  Ausgabe.     London  und  Oxford  1894.) 

1895.  —  Neue  Gedanken  zur  Vererbungsfrage.  Eine  Antwort  an  Herbert  Spencer. 
Jena  1895. 

—  —  Neue  Versuche  zum  Saisondimorphismus  der  Schmetterlinge.  Zoologische 
Jahrbücher,  Abteilung  für  Systematik,  Bd.  VIII,  1895,  S.  611 — 684.  (Englische 
Ausgabe,   übersetzt  von  W.  E.  Nicholson.     London  1895.) 

—  —  Wie  sehen  die  Insekten?  Deutsche  Rundschau,  Bd.  LXXXIII,  1895, 
S-  434—452- 

1896.  —  Über  Germinalselektion,  eine  Quelle  bestimmt  gerichteter  Variation. 
Jena  1896.  (Nach  einem  Vortrag  auf  dem  internationalen  Zoologischen 
Kongreß  in  Leyden,  16.  Sept.  1895.) 

1899.  —  Tatsachen  und  Auslegungen  in  bezug  auf  Regeneration.  Anatomischer 
Anzeiger,  Bd.  XV,  1899,  S.  445 — 474.   (Englische  Übersetzung.   London  1899.) 


—      2g6      — 

1900.  —  Über  die  Parthenogenese  der  Bienen.  Anatomischer  Anzeiger,  Bd.  XVIII, 
1900,  p.  492 — 499. 

1902.  1904.  —  Vorträge  über  Deszendenztheorie,  2  Bände.  Jena  1902.  —  II.  Aufl. 
1904.     {III.  Aufl.  1913.) 

1903.  —  Versuche  über  Regeneration  bei  Tritonen.  Anatomischer  Anzeiger, 
Bd.  XXII,   1903,   S.  425 — 431.     3  Abb. 

1906.  —  Richard  Semons  ,,Mneme"  und  die  , .Vererbung  erworbener  Eigen- 
schaften".   Archiv  f.  Rassen-  u.  Gesellschaftsbiologie,  Jahrg.  3,  1906,  S.  i — 27. 

1908.  —  Eine  hydrobiologische  Einleitung.  Internationale  Revue  der  gesamten 
Hydrobiologie  und  Hydrographie,   Bd.   I,   1908,   S.   i — 9. 

1909  (a).  —  Die  Selektionstheorie.  Eine  Untersuchung,  i  Taf.  und  3  Textfig. 
Jena  1909.  (Ist  eine  weitere  Ausführung  eines  Aufsatzes,  den  Weismann 
für  die  Festschrift  der  Universität  Cambridge  zum  100. Geburtstag  von  Darwin 
verfaßt  hat,  und  der  in  dieser  [Darwin  and  modern  science.  Cambridge, 
at  the  University  Press.  1909]  erschienen  ist.) 

—  (b).  —  Carles  Darwin  und  sein  Lebenswerk.  Festrede,  gehalten  zu  Frei- 
burg i.  Br.  am  12.  Februar  1909.     Jena,  G.  Fischer,  1909. 

—  —  Über  die  Trutzstellung  des  Abendpfauenauges.  Naturwissenschaftliche 
Wochenschrift,  N.  F.,  Bd.  VIII  (der  ganzen  Reihe  24.  Band),  1909,  Nr.  46, 
S.  721 — 726.     4  Fig. 

191 3.  —  Vorträge  über  Deszendenztheorie.  Gehalten  an  der  Universität  Frei- 
burg i.  Br.     III.  verb.  Aufl.     Jena  1913. 

Biographisches   über  Weismann. 

Folgende  biographische  Notizen  und  Nekrologe  sind  dem  Herausgeber  be- 
kannt geworden  —  der  Krieg  hat  es  verhindert,  daß,  wie  es  sonst  wohl  der  Fall 
gewesen  wäre,  deren  Zahl  ein  Vielfaches  der  hier  verzeichneten  geworden  ist.  Aus 
dem  feindlichen  Ausland  sind,  falls  Nachrufe  erschienen  sind,  hier  keine  bekannt 
geworden  außer  dem  von  E.  P.  P.,  dessen  Aufführung  hier  der  Herausgeber  aus 
Schonung  für  den  Autor,  den  Oxforder  Professor  E.  P.  Poulton,  sich  lange  über- 
legte. Er  möge  aber  ruhig  genannt  sein  als  Zeuge  des  augenblicklichen  geistigen 
Zustandes  auch  hochstehender  Engländer,  bringt  er  es  doch  fertig.  Weismann 
»U  Bek&mpfer  des  preußischen  Militarismus  hinzustellen.  —  E.  F. 

1904.  ,  Bericht  über  die  Feier  des  70.  Geburtstages  von  August  Weis- 

m&nn    am    17.    Januar   1904  in   Freiburg  i.   Br.      Herausgegeben  von  dem 
Comit6  zur  Stiftung  der  Weismann-Büste.     Jena  1904. 

1909.  Kühn,  A.,  August  Weismann  (mit  einer  Kunstbeilage),  ,,Neue  Welt- 
anschauung" (Red.  Dr.  Breitenbach),  Heft  6,  Stuttgart  1909. 

1914.  Doflein,  F.,  August  Weismann  zum  80.  Geburtstag.  Akademische  Mit- 
teilungen, N.  F.,   15.   Sem.,  Nr.  7.     Freiburg,   Januar  1914. 

—  Himstedt,  F.,  August  Weismann  (Nachruf  am  Grabe).  Akademische 
Mitteilungen,  N.  F.,   17.   Sem.,  Nr.  6.     Freiburg  1914. 

—  Doflein,  F.,  Weismann  als  Forscher,  Akademische  Mitteilungen,  N.  F., 
17.  Sem.,  Nr.  6.     Freiburg  1914. 


—     297      - 

igi4 Geheimrat   A.   Weismann.     Frciburger  Zeitung,  Nr.  304,  6.  No- 
vember  1914. 

—  Teich  mann,    E.      Zu   August    Weis  man  ns   Tod.      Frankfurter   Zeitung, 
Nr.  309  (Abendbl.),  7.  November  1914. 

—  0    (=   Otto    Amnion),    August    Weismann  -f.      Schwäbisclie   Clvronik, 
des  Schwab.  Merkurs,  2.  Abt.,  Nr.  521,  1914. 

—  J.  K.,    August   Weismann.     Berhner  Tageblatt  (Morgenausgabe),  7.  No- 
vember 19 14. 

—  Strohl,    J.,    August   Weismann.     Neue  Züricher  Zeitung,  Nr.   1528  und 
1532  (13.,  14.  November),  1914. 

—  Mauthner,     Fritz,     Kleine   Erinnerungen    an    A.    Weismann.      Berliner 
Tageblatt   (2.   Beiblatt),   6.   Dezember   1914. 

1915.   Ziegler,  H.  E.,  August  Weismann.    Neue  Rundschau,  Januar-Heft  1915. 

—  V.  Hanstein,  R.,    August  Weismann.     Naturwissenschafthche  Wochen- 
schrift, N.  F.,  Bd.  XIV  (Bd.  XXX),  Nr.  8,   1915. 

igi6.  E.   P.   P.,    August    Friedrich    Leopold    Weismann.      Obituary  Notice 
from  the  Proceed.    of  the  Royal  Soc.    B.    Vol.  LXXXIX.    1916. 


Berichtigung. 
Seite  74,  Zeile  21   muß  es  ^^)  statt  '^®)  heißen. 


Druck  von  Ant.  Kämpfe  in  Jena. 


l  Gaupp,  Ernst 

1^43  August  V/eisraann 

V/4.G3 


^AScL 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


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