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Full text of "Ausgewählte Schriften"

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M. ©. Zaphir's Schriften. 


— INKATSSHIE— 


Cabinet3 - Ausgabe 
in zehn Bänden. 


Ausgewählte Schriften. 


Don 


AM. G. Vi 


Dritte Auflage. 


Fünfter Band, 


Brünn und Wien. 


Berlag von Fr. Karafiat. 
1865. 


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DC 


IYcF 
u 5% 


Drud von Georg Safll in Brünn. 


Humoriſtiſche Borlefungen. 





M. 6. Suphirs Schriften, 


—INKESHIE—— 


Cabinet3 - Ansgabe 
in zehn Bänden. 


Ausgewählte Schriften. 


Don 


3.6 J 


Dritte Auflage. 


Fünfter Band. 


Brünn und Wien. 


Berlag von Fr. Karafiat. 
1865. 
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12 


große Wahrheit annehmen, alle unfere Liebhaber fpefuliren 
entweder auf der Börfe oder auf die Börfe. Die Börfe- 
liebhaber und die Mädchenliebhaber unterjcheiden fich in 
manchen Dingen. Die Börfeliebhaber laſſen erft zurück— 
gehen und bleiben dann aus, die Mädchenliebhaber bleiben 
erft aus, und laſſen dann zurüdgehen. 

Ein Mädchenliebhaberift wie ein kurzer Athem, wenn 
er einmal ausgeblieben ift, jo kommt er nicht wieder; ein 
DBörfeliebhaber ift wie das viertägige Wieber, wenn man 
auch glaubt, er ift ausgeblieben, am dritten Tage fommt er 
wieder, es beutelt ihn ein Bischen, damit ift’8 aus. 

Man jagt: Die Liebe ift eine Himmelsleiter, es 
ift möglich, aber dann ift die Ehe auch eine Himmels- 
Leiter; auf der einen Leiter fteigt man zum Himmel hin- 
auf, auf der andern fteigt man vom Himmel herunter. 

Die Liebe ift eine Himmelsblume, ja wohl, darum ift 
fie eine fremde, eine exotifche Blume, und wird auf Erden 
nur durch künſtliche Wärme getrieben. 

Die erfte Liebe ift der einzige Schlüfjel zum weib- 
lichen Herzen, aber e8 gibt viele Nachſchlüſſel und falfche 
Sclüffel dazu. Die Frauenzimmer wiſſen gar nicht, welche 
große Unvorfichtigkeit fie begehen, wenn fie fagen: das 
ift meine erfte Liebe! In der Schöpfungs-Gefchichte heißt 
e8: „und e8 ward Abend und e8 ward Morgen, ein Tag!“ 
und nicht „der erfte Tag”, denn wo noch fein Zweites ift, 
fann fein erftes fein. Wenn aljo ein Mädchen jagt: das ift 
meine erfte Tiebe, fo muß fchon im Geiſte eine Zweite da= 
neben laufen. Die erfte Liebe ift wie der erfte Schnee, er 


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bleibt gewöhnlich nicht lange liegen; wenn er auch nicht 
weggefchaufelt wird, jo geht er von felbft weg. Ueberhaupt 
trägt die erfte Tiebe im weiblichen Herzen entweder Tanz- 
ſchuh oder Schlittfchuh, das heißt, fie folgt gewöhnlich 
denen, die fie zum Lanze oder auf's Eis führen, und nie 
denen, die fie nad) Haus führen. 

Die Liebe ift der Schlüfjel zun weiblichen Herzen, 
aber der Geliebte vergißt oft, daß Herz hinter ſich zuzu- 
Schließen, und fo bleibt e8 dann für Jedermann offen. 

Die Liebe ift der Schlüffel zum weiblichen Herzen, 
aber ein Schlüffel paßt eben nur zu der oder jener Thür; 
die Eitelfeit ift der Dietrich zum weiblichen Herzen, 
fie fchließt alle Herzen auf. 

Ein weibliches Herz ift darum leicht zu erfchließen, 
weil es blos von der Convenienz, von außen ver- 
Tchloffen ift. Die Männerherzen aber werden vom Egois- 
mus verfchloffen. Der Egoismus aber wohnt inwendig, 
und [chiebt von innen große eiferne Riegel vor, und fein 
Schlüſſel erfchliegt das egoiftifche Herz der Männer. Die 
Männer fchliegen ihr Herz nur darum fo forgfältig zu, 
damit Niemand fehe, daß nichts darinnen ift. 

Das Herz der Männer ift wie ein guter Keller, in 
ihrem Srühling und in ihrem Sommer ift es kalt darin, und 
in ihrem Herbft ift es lau. In einem weiblichen Herzen fteht 
in der Mitte ein Heiner Zoilettetifc) mit Spiegel und davor 
figt zuerft die Selbftliebe, und fieht ſich wohlgefällig an. 
An der Wand ftehen einige gepolfterte Seffel, da klopft es 
an, und hereintreten verfchiedene Herzensfreundinnen, die 


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Gefallfucht, die Eitelkeit, die Koketterie, die Flatterhaftig- 
Veit u. ſ. w., und nehmen alle Pläte ein, endlich kommt die 
Liebe mit zagendem Schritt, mit gefenftem Auge, mit Lieb- 
lichen Antlig, mit Hopfendem Herzen, um den Mund ein 
Lächeln der Wehmuth, in den Augen eine Thräne der Sehn- 
fudht, auf der Stirne den Ernft der Ewigkeit, und auf den 
Wangen die Vifitfarte der füßeften Empfindung, das Er- 
röthen, und die gefchämige Tiebe bleibt ſchüchtern an der 
Thür ftehen, und Gefallſucht und Koketterie, und Eitelkeit 
und Ylatterhaftigfeit fpringen von ihren Sefjeln auf und 
wollen fie umarmen, und die rofigen Lippen ihr küſſen, 
allein die Liebe lispelt: „Sch will allein mit Dir fein!" Da 
entfliehen Gefallfucht, Kofetterie, Eitelkeit und Slatterhaftig- 
feit vor der Gegenwart der rofigen Liebe, und die Liebe 
fpricht zur Selbftliebe: „Du bift die Selbftliebe, ich bin die 
Liebe ſelbſt.“ Ziehft Du Dein Selbſt der Liebe vor, dann 
fann Liebe nicht bei Dir verweilen! Da verläßt die Selbft- 
fuht im weiblichen Herzen ihr Selbft, nmfaßt die Liebe, 
und wird mit ihr eins, und füllt ihr ganzes Herz aus! 
Im männlichen Herzen Hingegen fteht vor Allem ein 
großer’ breiter Divan, und darauf wälzt fich bequem der 
Egoismus herum, auf den plumpen Lehnftühlen rings her- 
um liegen mehr, als fien: Die rohe Begier, der entartete 
Unglaube an alle weibliche Tugend u. f. w., da kommt die 
Liebe herein, Niemand fteht von feinem Plage auf, um ihn 
der Liebe anzubieten. Die rohe Begier will fich täppiſch an⸗ 
fafjen, die Trunkſucht will fie beraufchen, die Reitfucht will 
fie wie ein Pferd dreffiren u. f. w., da ſchaudert die Liebe 


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zufammen, ihr Wefen empört fich, fie entflieht auf ewig, und 
bringtihren Schweitern: Scham, Tugend, Sitte und Grazie 
die Nachricht, dag in dem Herzen, wo für Liebe nidjt 
Platz iſt, auch für fie ſchwerlich ſich ein Plätschen finden laſſe. 

Darum ift die Liebe weiblichen Geſchlechts, und das 
eigentliche Element der Frauen. 

Es gibt andere Leute, welche fagen: „Der Wit ift 
mein Element!” Auch fein übles Element! Das Element 
Wis Hat großes Elementarunglüd angerichtet. Mit dem 
Element Witz iſt's wie mit dem Element Waffer. Waffer- 
noth ift fo gut zu viel Waffer, als zu wenig Wafjer, und 
Witznoth ift ein Unglück ſowohl durch zu viel Wit als durch 
zu wenig Wig. — Es gibt fo viele Gattungen Wige als 
Waſſer: Brunnen-Wite, füge Wie, Fluß-Witze und 
Mineral-Wige. Es gibt Leute, welche die Wig-Cur machen, 
wie man Waffer-Curen macht; fie nehmen zum Beifpiel 
einen lahmen Gichtkranken, und gießen ihm fo viel und fo 
lange ihre Wie ein, bis er frifch und raſch aufipringt und 
davon Läuft! 

Der menfchliche Geift hat viele Werkzeuge in feiner 
Werkſtatt. Der Verftand ift der Bohrer, der bohrt feinen 
Gegenftand an; die Klugheit ift der Hammer, der trifft den 
Nagel auf den Kopf; der Scharffinn ift der Pfropfenzieher, 
er bringt Alles auf gewundenem Wege heraus; die prak—⸗ 
tiſche Bernunft ift das Stemmeifen, wenn fie ſich anſtemmt, 
bringt fie Alles zuwege; der Wit ift die Zunge, der feinen 
Gegenftand von verfchiedenen Seiten fo lange beim Schopf 
faßt, bis ex felbft beim Schopf genommen wird. 


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Der Wit läßt nichts gelten, er fragt den Geift und 
das Herz: was ift Dein? und entreißt es ihnen! Aud) darin 
gleicht das Wit-Element den andern vier Elementen, denn 
alle vier Elemente fragen mit Hohn und Spott den Menfchen; 

„Was ift Dein?“ 

Diefer Jahrhunderte alte Thurm? Ich Erde fchüttle 
mid, und er ift hin! Was ift Dein? Diefer große Palaft? 
Ic Teuer umarme ihn, und er ift dahin! Was ift Dein? 
dieſer Damm ? diefe fühngewölbte Brüde? Ich Waſſer küffe 
fie, und fie find dahin! Was ift Dein? Diefe Schiffe, diefe 
Boote, diefe Flotten? Ich Luft verſchnaube mic, und fie 
find dahin! 

Das ift die große Elementar-Schule des Lebens, das 
ift der große Elementar-Unterricht des Schickſals! Nur aus 
der Elementar-Schule des Unglücks geht der Menſch über 
in die hohe Schule der Weisheit! und nur in diefen Ele- 
mentar-Schulen wird der Menjd) weichgehämmert zur 
Dehnbarkeit für die lange Schulbank des Dafeins. 

Ja, nur unter den Hammerftreichen des jchweren 
Schidfals erkennt man den Menſchen, ob fein Wefen aus 
edlem oder gemeinem Metalle ift. Je gemeiner dieſes Metall, 
defto lauter ächzt er unter diefen Hammerſchlägen; je edler, 
je goldhaltiger fein Wefen, defto leifer und fanfter find feine 
faum hörbaren Seufzer unter den Hammerfchlägen! 


Monditorei des Fokus. 


Die Organe des Bich- Gehirnes. 
Eine Earnevalsichwant- Borlefung über die Schädellehre ber 
Schafe und Ochſen. 


Gu diefem Faſchingéſpaß Hatte der Berfaffer in einer Abendunterhaltung 
bei ſich einen Ochfen- und einen Schafstopf ganz nach Gall's Schäbellehre 
eingetheili und zu beiden Seiten während feiner Vorlefung um fich ftehen.) 


„Ich ſei, gewährt mir die Bitte, 
In eurem Bunde der Dritte‘" 


Devor Sie, meine freundliden Hörer und Hörerinnen, 
über uns drei Köpfe den Kopf ſchütteln, erlauben Sie mir 
die ganze Sache überhaupt beim Kopf anzufangen. 
Warum, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, jagt 
man „überhaupt“ und nicht „überkopf“? Wo liegt 
der Unterfchied zwischen Haupt und Kopf? Warum fagt 
man: „id) muß das behaupten,” und niht: „id muß 
das beföpfen?" Warum fagt man „köpfen“ und „ent 
haupten“, und nicht auch: „der ift gehäuptet worden 
oder entköpft?“ Warum forfcht man bei allen Dingen 
nad der Haupt-Urſache und nie nad) der Kopf-Urſache? 
Warum, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ging 
ohne Haupt Rom und Sparta zu Grunde, und warum geht 
ohne Kopf Eipeldau nicht zu Grunde? Warum hat das 
kleinſte Land feine Hauptftadt und das größte Land Feine 
Kopfftadt? Warum befommt in der Ehe blos die Frau 
M. ©. Saphirs Schriften. V. Br. 2 


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den Kopffchmud, der Mann aber einen Hauptſchmuck? 
Warum madht mau oft fopflos ein Hauptglüd? Nicht 
jeder Hauptmann ift ein Kopfmann, ein Haupt- 
quartier ift noch fein RK’ op fquartier, und wenn der Teldherr 
denn Kopf verliert, jo wird er aufs Haupt geſchlagen! 
In jeder Straße findet man eine Hauptniederlage, aber 
nirgends findet man eine Kopfniederlage; begehrt man von 
irgend einer Anftalt ein „Hauptſtück“, jo befommt man 
ein „Kopfſtück“. Beinahe jedes Land treibt eine Kopf— 
fteuer ein, um irgend einen Hauptzwed zu erreichen, 
wo treibt man aber eine Hauptfteuer ein, um einen 
Kopfzweck zu erreichen? 

Jedoch ich fürchte, meine freundlichen Hörer und Höre- 
rinnen, daß Sie von diefer Sprach-Hauptjagd bald Kopf- 
weh befommen könnten, und ftürze mid) nun über Hals und 
Kopf in mein Hauptthema über die Kopfvariationen zurüd. 

Ich habe die Ehre, Ihnen hiermit, meine freundlichen 
Hörer und Hörerinnen, die Vieh-Schädel-Lehre in „zwei 
Haupt-Abſchnitten“ vorzuführen. Eins, zwei, ich zähl' 
die Häupter meiner Lieben und fieh’, mir fehlt fein theures 
Haupt! 

Hier habe ich die Ehre, Ihnen die Büfte eines Ochſen 
vorzuftellen, der in feinem Leben viel in dem Acer des Herrn 
gearbeitet hat, ein Mann, ein Ochs will ich fagen, der in 
dem Felde, das ihm angewiefen war, das Gras wachſen 
hörte, ein Ochs, der fein Joch ertrug, wie nur irgend ein 
ehrlicher Menfch, ein Ochs, der nie mit einem fremden 
Kalbe pflügte, ein Ochs von Gewicht; allein erſt nach feinem 


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Tode wußte man ihn ganz zu ſchätzen, es war ein Gentle⸗ 

man von fiebenhundert Pfund Leibrenten! 

Woran diefer Ochs geftorben ift? An einer Ge⸗ 
müthskrankheit, denn er ftarb an den Folgen gänzlicher 
Niedergejhlagenpeit! Und wollt Ihr wiffen, für wen 
er ift geftorben? Für mich ift er geftorben! Er ftarb unter 
meiner Hand, als ich eben nah Gall's Anweifung fein 
kleines Gehirn und die Breite feines Nadens unterfuchte, 
allwo nad) Gall „die Geſellſchaftsliebe“ Liegt, welches 
ich aud) beftätigt fand, denn er war Gründer einer Gejell- 
Schaft unter dem Titel: 

Die Theater-Recenjenten, oder die gehörnten 
Brüder in der Kunft, auf Gemeinplägen zu 
weiden und immer dasſelbe wiederzufäuen. 

Als er ftarb, fagte er mir: „Fahre in deinen Unter- 
fuchungen fort, du mußt auf ochfige Entdedungen ftoßen, 
ich gebe dir meinen Kopf zum Pfand!” Damit gab er feinen 
Geiſt auf und ging den Weg alles Fleiſches durch die 
Bant —! 

Diejes, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, ift 
nun des Theuren zurüdgebliebenes Pfand. 

Öeftehen Sie ınir, es ift ein rührendes t&ete-A-tete! 

Und Hier, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, 
diefer finnige Schafskopf! Nicht jo groß wie jener, aber 
Doch ausgezeichnet in feinem Fache. 

Die Schafe, meine freundlichen Hörer und Höre— 
rinnen, find eben fo vielen Fatalitäten und Krankheiten 
ansgefegt, als die Schriftfteller: Salzmangel, Wollmangel, 

2* 


20 


Schwindel, Durchfall, Drehkrankheit, Leſer dürre, und 
trockener Schwind! Die Schafe ſind eben ſo zu benützen, 
wie die Schriftſteller, man kann ſie ſcheren, man kann ſie 
melken, und aus ihren Gedärmen und Eingeweiden 
werden die Saiten gemacht, welche mit ihrem Ton die Welt 
entzücken, aber dann müſſen Schafe und Schriftſteller die 
Bruſt erſt zerſchlitzt haben! 

Die Schafzucht, meine freundlichen Hörer und 
Hörerinnen, kommt gleid) vor der Menſchenzucht, dar- 
um haben wir fo viele Anftalten zur Beredlung der 
Schafe, und fo wenig Anftalten zur Veredlung der 
Menſchen. Die Schafe werden veredelt, damit fein Mangel 
an feinem Tuche fei, die Menfchen werden nic) t veredelt, 
damit Fein Mangel an grobem Tuche fei. 

Die Engländer erziehen ihre Schafe und ihre Men- 
chen blos für die Kammmollfabrifen. Schaf und 
Menſch gilt bei ihnen nur das, was fein Wollproduft ift. 
England zieht vierzig Millionen Schafe, und von ihren 
Schafstöpfen fiedeln fich die nur auf dem Zeftlande an, die 
nicht recht in der Wolle figen! 

Die deutfhen Schafe und die deutfchen Mienfchen 
werden aud) erzogen, aber blos zum Krempeln. Es ift 
fonderbar, in Deutſchland fteht die Schafzudht mit der 
Sprache in genauer Wechjelbeziehung, wo das veinfte 
Deutfch gefprodyen wird, find die beften Schafe. 

Was die Menfchen vor den Schafen voraus haben, 
ift die Schur. Die Schafe find entweder einfchurig oder 
zweifchurig, je nachdem fie einmal oder zweimal im 


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Jahre gefchoren werden; der Menfch allein hat deshalb 
Bernunft und Sprache vom Lieben Gott befommen, da- 
mit er alle Tage gefchoren werden kann, der Menfch allein 
ift ein ſtetsſchuriges Schaf. | 

. Die Liebe, die Sanftmuth, die Geduld, meine freund- 
lichen Hörer und Hörerinnen, find lauter Schafstugen- 
den! Haben Sie fhon ein rachſüchtiges Schaf, einen 
wißgigen Schöps, ein fatyrifhes Tamm, einen 
Humoriftifhen Hammel gefehen? Warum heißt man 
die glüdlich Tiebenden: Schäfer? Weil, wer glücklich 
Lieben will, fein Schaf immer hüten muß. Die eigent- 
lichen Schäferftunden find jet auf jene Stunden reducirt, 
in welden man fein Schäfchenins Trodene bringt. 

Die Menſchen können veden, die Schafe blöden, 
und das iſt's, was die Schafe voraus haben, denn der 
Menſch kann fid) um den Kopf reden, aber fein Schaf 
kann fih um den Kopf blöden! 

Sprade und Bernunft, meine freundlichen 
Hörer und Hörerinnen, wit diefen beiden Himmelsgaben ift 
es fonderbar beftellt. Im Sprechen ſpricht die Ber- 
nunft nicht an, und für die Bernunft ift mır das 
Schweigen ein ſprechender Beweis. 

Um aber wieder auf meinen Kopf zurückzukommen, 
ich meine auf diefen Schafskopf, jo muß ich durchaus auf 
meinem Kopfe beftehen, um die Gall'ſche Schädellehre in 
turzen Sätzen auf diefe meine beiden Köpfe anzumenden, 
Denn: „Wenn folhe Köpfe feiern, welch ein Verluft für 
mein Jahrhundert!“ 


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Tie Shädellchre beruht aufleeren Shäteln, 
und darf ſich deshalb einer großen Zerbreitung e:trenen. 
Tie Schädellehre beruht auf den Organen des Schirme, 
das Gehirn ift aber bei dem Menichen jetzt fein Organ 
mehr, fondern man genießt es nur von Tieren, ein Ochĩen⸗ 
hin, ein Schafhirn u. ſ. w. Folglich ift die Lehre von den 
Gehirnorganen nur nody bei diefen Weſen zu finden. 

Es gibt eine Heine Welt, meine freundlichen Hörer 
und Hörerinnen, und e8 gibt eine große Welt; es gikt ein 
Heines Gehirn und es gibt ein großes Gehirn. Es wäre 
alfo interefiant, zu unterjudyen, ob die große Welt das 
große Gehirn, und die Heine Welt das kleine Gehirn hat, 
oder umgefehrt. 

Im feinen Gehirn fiegt nad) Gall das Genie, im 
Heinen Gehirn ift der Sig der Zcele! Tie Seele ift ım- 
fterblih, und das ıft ein Süd, fonft müßte das kleinc 
Gehirn mit dem großen Genie Hungers fterben! 

Die Heinen und großen Erhabenheiten an den äußern 
Schädelmaffen bilden die verſchiedenen Sinne, ale: Ort⸗ 
finn, Zeitfinn, Geldfinn u. ſ. w. 

Hier diefen Ochſenkopf Habe ich ganz nach dieſem 
Syſteme eingetheilt. 

Hier, meine freundlichen Hörer und Hörerimmen, 
Tiegt die Kuhliebe, die Kälberlicebe, bie Mitochſen— 
Liebe, bei den Menſchen Geſchlechtsliebe, Kindes— 
liebe, Rädftenliebegenannt. Warum die „Frauen⸗ 
liebe” fo ganz im Naden Liegt, mag daher kommen, weil 
e8 dabei gleid) um den Kragen geht. 


23 


Die Liebe fängt da an, wo der Kopf aufhört; bei 
der Liebe hat der Kopf nichts mitzureden, fie ift wie eine 
gute Singlehrerin, fie kann die Kopfftimme nicht Leiden. 
Die Liebe liegt, nad) Gall, rüdwärts vom Kopfe. Darum 
fagt man: Die Liebeverdreht Einem den Kopf, das 
heißt, der Kopf wird zurüd auf die Liebe gedreht. Wenn 
man dann den ©egenftand feiner Tiebe heirathet, fo dreht 
diefe den Kopf wieder zurüd, und man fagt dann: Die 
rau hat ihm den Kopf zurecht geſetzt. 

Um die Augen herum, meine freundlichen Hörer 
und Hörerinnen, liegen die meiften Organe, um die 
Augen ift der Sammelplag der meiften finnlicdhen Ein- 
drüde; die Stirn ift der Sig der Erhabenheit und des Hel- 
denmuthes. 

Der „Runftfinn“, meine freundlichen Hörer und 
Hörerinnen, drüdt fi hier durch eine eigene Erhöhung 
oder Öewölbe aus. Es geht bei vielen Menſchen mit diefem 
Kunftfinn und feinem fogenannten Gewölbe wie mit 
den neueftien Modegewölben, inder Auslageift Alles, 
im Gewölbe drinnen ift gar nichts! Beiden Ochfen 
liegt der KRunftfinn gerade unter den Hörnern, denn die 
Ochſen haben nur für jene Kunft Sinn, von der man ihnen 
recht ins Horn ftößt! 

Der Sachſinn, der Ortfinn und der Er- 
ziehungsſinn liegen an der Nafenwurzel. 

Darum, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, 
wenn Iemand feine Nafe in Alles ftedt, jo ift das nichts 
als angewandter Sachſinn, undwertaufend Sachen 


21 


in Sinn bat, den muß man auf jede einzelne Sache mit 
der Nafe floßen. 

Der Ortfinn liegt an der Nafe, darum, wenn 
Einer ein Frauenzimmer bei der Nafe berumführt, jo ift 
das blos eine Probeihres Ortſinnes, darum liegen Einem 
die Naſen fehr im Sim, die man höhern Orts befommt, 
und weil der Ortfinn an der Nafe liegt, muß .der, welcher 
von einem Ortdurdhgehen will, einefeine Nafehaben. 

Der Wit offenbart ſich durch zwei fanfte Er—⸗ 
hbebungen über den Augen. 

Es ift eine feltene Sache, daß fid) der Wit durd) 
Erhebung, und nungar durch eine fanfte Erhebung, 
. anzeigt. Ich glaube, der gute Gall hat blog die Stirn von 
wigigen Menſchen unterfucht, die ji die Stirn ange- 
ſtoßen Haben, und er Hat die unjanften Beulen für 
fanfte Erhebungen gehalten! 

Dom Wig rechts Liegt die „Öutmüthi gteit« und 
inte der „Diebsfinn”, das ift eine gefährliche Nachbar- 
ſchaft. Das zeigt an, daß das Publikum auch geftohlene 
Wie gutmütbig für originelle annimmt! 

Der Witz, fagt Jean Paul, ift eine heilfame Tebens- 
gabe der Natur, das heißt, went die Natur diefe Gabe gibt, 
der hat fein ganzes Leben daran zu heilen! 

Können Sie fid) denfen, meine freundlichen Hörer 
und Hörerinnen, daß gerade über dem Wit das „Dar- 
ftellungs-Bermögen“ liegt? Das ift ein Troft für alle 
Darfteller, wenn fie witige Kritiken lefen müſſen, daß ihre 
Kunft höher liegt, als der Wit. Sie werden es aljo natürlich 


23 


finden, meine freundlichen Hörer und Hörerinnen, daß 
Hier in diefem Kreis, wo Künftlerinnen von ſolchem 
Darftellungsvermögen find, mein Wig ganz unter- 
liegen muß! 

Bei vielen Kritikern ift e8 mit dem Darftellungs- 
vermögen fonderbar; fie kritifiren eine Darftellende Perſon, 
man meint, fie zielen auf ihre Darftellung, fie zielen aber 
blos auf ihr Vermögen. 

Der „Zahlenfinn“, meine freundlichen Hörer und 
Hörerinnen, liegt ganz im Augenwintel, darum, wenn Einer 
bezahlen fol, fucht er einen Winkel, in welchem ihn 
fein Auge erblidt. 

Hierliegtder „Sewisfenhaftigleitsfinn,“ und 
weil ich dabei bin, jo will ich gewifjenhaft genug fein, Sie 
nicht länger zu langweilen, fondern meinen Kopf und diefe 
Beiden bei Zeiten zurüd zu ziehen. 

Man fagt: „Biel Köpfe viel Sinn“ ; hier waren nur 
Drei Köpfe und doch viel Sinne, 

Wir bitten gemeinfchaftlicd um Nachficht, zwei 
von uns find ſchon vor den Kopf gefchlagen, und was den 
Dritten betrifft, jo verfichert er, daß von diefem Augen- 
blide an Ihnen mehr fein Kopf nicht weh thun foll. 


- Angelnene Bariationen anf die vier Weh (W) des 
Kebens: Wein, Weiber, Witz nnd Wahrheit. 


17 mögen ungefähr ſechs Jahre fein, daß ich über das— 
felbe Thema: über Wein, Weiber, Wahrheit und 
Wir eine Vorlefung gehalten habe; allein ich Habe feit- 
dem fo viele neue alte Weine getrunfen, fo viel alte junge 
Weiber geliebt, jo viel ſchlechten Wig von mir gegeben, und 
fo viele gute Wahrheiten in mir behalten, daß ich über diefe 
vier Weh ein nagelneues Wehgefchrei erheben Fann. 

Der Wig liebt die Weiber, denn woraus befteht der 
Wis? Der Witz befteht in der Eigenfchaft, die Achnlichkeit 
an den fich widerfprechenden Dingen aufzufinden. Darum 
ſucht der Wig die Weiber, fie find die Aechnlichkeit des 
Widerſpruches, es widerſpricht fi) Eine wie die Andere, 
und das ift der Wis! 

Der Wit holt fi feinen Mann aus Hunderten her» 
aus und nimmt ihn mit, darum lieben die Weiber den Wiß, 
vielleicht holt er auch ihren Mann aus Hunderten heraus 
und nimmt ihn mit. 

Es gibt ftarfe Weine, ſtarke Weiber, ftarfe Wie und 
ftarfe Wahrheiten! Starke Weine legen ſich ins Blut, ftarfe 
Weiber legen fid) in den Magen, ſtarke Wite legen ſich in 


q 


die Rippen, und ftarfe Wahrheiten legen fich aufs Gefäng⸗ 
niß. Es gibt viel ftarfe Menfchen, die viel ſchwache Stun» 
den für ftarfe Weine haben; e8 gibt viel Schwache Menſchen, 
die viel ftarfe Stunden für ſchwache Weiber haben; aber 
es ift ein ſtarker Beweis für die Schwäche unferer Zeit, 
daß fie den ſchwächſten Witz über eine ſtarke Wahrheit nicht 
ertragen kann. 

Mit der Wahrheit kommt man weit, fagt das Sprich⸗ 
wort, das glaub’ ich, mit der Wahrheit wird man überall 
fortgejchict, fo fommt man weit. Wie weit fommt man aber 
mit der Wahrheit? Bis zum Wein; im Weine bleibt fie 
fiegen, darum finden wir alle unfere Wahrheitsfreunde nur 
in den Weinhäufern liegen; da liegt die Wahrheit im Wein 
fo lange auf dem Tiſch, biß der Wein im Wahrheitsfreund 
unter dem Tifch Liegt. Einem ſolchen Wahrheitstrinker Tiegt 
die Wahrheit ftetS auf der Zunge, allein zum Unglüd für 
die Welt nimmt fie eine verkehrte Richtung, anftatt daß er 
am Ende den Wein verfchluden und die Wahrheit von fich 
geben fol, verjchludt er die Wahrheit und gibt den Wein 
von fidh! 

Es gibt Tifchfreunde, Tiſchwahrheiten, Tifchweiber 
und Tiſchwitze; der Tifchfreund ift wie ein Tiſchwein, wenn 
der Tiſch aufgehoben wird, hebt fich die Freundſchaft aud) 
auf; ein Tiſchwitz ift wie der Tifchwein, man kann fo viel 
davon genießen, als man will, man fpürt doc) nichts im 
Kopf. 

Es gibt gute Weinjahre, Jahre, in denen der Wein 
außerordentlich gerathen ift? Hört man aber je fagen: 


28 


„Heuer iſt ein gutes Weiberjahr! Heuer iſt ein gutes 
Witzjahr!“ 

Warum kommt nicht einmal ein Komet, der ein gutes 
Frauenjahr bringt? Man hört oft einen Mann ausrufen: 
„Ich hab' aber zu Haus einen Elfer oder einen Sechziger;“ 
wie ſchön wär's, wenn man ſagen könnte: „Ich hab’ zu 
Haus eine Elferin!“ Da wüßte Yeder, die ift von dem 
Jahre, wo die Frauen fo gerathen find. Ia, man genirt ſich 
ordentlich zu jagen: „Zu Haus hab’ ich cine Sechzigerin!“ 

Die Liebe zum Wein ift viel glüdlicher, als die Liebe 
zu den Frauen; wer ein Mädchen hoffnungslos liebt, findet 
Troft im alten Weine; wer aber den Wein hoffnungslos 
liebt, findet feinen Troft in einem.alten Mädchen! Wer ein 
Mädchen Liebt, und von feinem Gegenſtande ganz voll ift, 
ift verfchloffen und. ftößt die ganze Welt zurüd; wer den 
Wein liebt, und von feinem Gegenftande ganz voll ift, der 
fließt über, und die ganze Welt gehört ihm. Es gibt Men- 
fchen, die heimlich trinken und öffentlich befoffen find; Men⸗ 
ſchen, die heimlich Lieben und öffentlich närrifch thun; 
Menſchen, die heimlich Witze ftehlen und fie öffentlich drucken 
laſſen; Menſchen, die Öffentlich Wahrheit lehren und hein- 
lich getäufcht werden. 

Der Menfch fol nichts Lieben, als fich, meine lieben 
Lefer, denn da kann er fiher auf Gegenliebe rechnen; 
nur die Dichter find unglüdlich, wenn fie fid) jelbft lieben, 
denn fie können fich felbft fchwer erhalten! 

Die Dichter find mit der Liebe übel dran, fie können 
nicht Lieben, ohne zu fingen, ſie können nicht fingen, ohne erft 


zu trinken, fie haben aber nidjts zu trinken, bis fie nicht 
früher gefungen haben; fie müſſen alfo lieben, fingen und 
trinten auf einmal, fie müfjen immer ein Tintenglas, ein 
Augenglas und ein Weinglas in der Hand haben; daher 
ihre Confufion, daher vertrinken fie die Liebe, und verlieben 
ih in Trunk, und verfingen Beides. 

Die eigentliche Liebe, die wahre Liebe kann auch nicht 
ſprechen. Die Frau verhüllt ihre Kiebe in Schweigen, der 
Mann in Gefang. Das Herz des liebenden Weibes ift ein 
Sabinets-Courier des Himmels, e8 trägt feine Sendung 
unter heiligem Siegel verfchlofjen mit fich, kaum fich feines 
fügen Inhaltes ſelbſt bewußt. Der Mann fingt von feiner 
Liebe, denn auf der Erde findet er nichts, mit dem er ſich 
vergleichen könnte, und zum Himmel kann nur der Gefang 
empor, um feine Vergleiche und feine Sterne zu holen. Die 
Liebe der Frauen ift der Aether, Geſänge diefer Liebe find 
die Blumen, und taufend Blumen trinken Thau aus einem 
Aether, und taufend Blumen faugen taufend verfchiedene 
Farben aus dieſem einerlei Aether. Der ſchweigſamſte Mann 
wird beredt, wenn er liebt, die fprachfeligfte Frau wird 
fchweigfam, wenn fie liebt. Im Herzen des Mannes ift die 
Liebe eine Erzählung, Dichtung und Wahrheit, eine Novelle 
mit Fortfegungen und Unterbredjungen; im Herzen der 
rauen ift die Liebe ein englifcher Gruß, ein Bater Unfer, 
und ihr ganzes Leben ift dann nichts, als einlanges, frommes 
Amen diefer Empfindung. 

Die Liebe ift wie eine Brenneffel; der Dann fat fie 
mit keckem Finger und hart an, und fic verlegt ihn nicht; 


30 


die Frauen erfaſſen ſie zagend, leiſe, mit Zucken, und ſie 
fühlen das brennende Gift. 

Man ſagt „unglückliche Liebe!“ Es gibt keine 
unglückliche Liebe, meine lieben Leſer, wer wahrhaft liebt, 
ift glücklich, und trodnet die Hand der Tiebe auch nicht feine 
Thräne, und tönt feinem Liebesflang auch kein Liebeston 
entgegen, er ift dennoch glüdlich, denn wer trodnet die 
Thräne der Roſe, wer erwiedert das Lied der Nachtigall, wer 
gießt Gegenliebe in die Bruft der unruhigen Sonnenblume? 
Und doch fragt fie, fo jagt die Hofe: die Thränen find mein 
Gläck, und die Nachtigall; mein Schmerzlied ift meine Wonne, 
und die Sonnenblume: meine Unruhe ift mein einzig Heil. 

Die glüdliche Liebe Hat nur Erinnerungen, die un⸗ 
glüdliche Liebe Hat Hoffnungen, und wo die glüdliche Liebe 
ihre Erinnerungen ablegt, da geftaltet unglückliche Liebe ihre 
Hoffnungen zu Erinnerungen. Glüdliche Liebe ift eine 
Jugendkrankheit, in der man aus Altersſchwäche ftirbt; 
unglüdliche Liebe ift eine zur Ruhe gefetste Wehmuth, fie 
lebt von dem Önadengehalte der Erinnerung, und jede 
Erinnerung, aud) die Schmerzlichfte, ift wie ein alter, wieder 
aufgefundener Brief von vor langen Jahren; wir gehen mit 
ihm bis zu feinem Datum zurüd, und die abgeblaßten 
Züge rufen rofige Züge aus unferer Jugendzeit zurüd. 

Es gibt nur eine glüdliche Liebe, wenn man den 
Gegenftand feiner Liebe zu feinem Glüd nicht kriegt! 

Die jetige Liebe ift wie die Mondfinfterniß, wenn 
man jagt: „fie ift durch ganz Europa ſichtbar,“ fo heißt 
dad: „man fieht gar nichts.“ 


31 


Die Claſſiker, die Alten ſagten einſt: „Liebe regiert 
die Welt!“ — Das ſagen die Alten auch jetzt noch, aber 
die Jungen ſagen's nicht mehr. 

Da ſind wir, meine lieben Leſer, auf ein fünftes 
Weh gekommen: Welt! Die Welt iſt der Inbegriff aller 
Erſcheinungen, in unſerer Welt erſcheint aber gar nichts 
mehr; wo iſt in unſerer Welt alſo die Welt? Die ſchöne 
Welt iſt häßlich, die große Welt iſt klein, die feine Welt iſt 
grob, und die ganze Welt iſt nur eine halbe Welt, — wo 
iſt die andere halbe Welt? 

Kennen Sie, meine lieben Leſer, unſer Weltſyſtem? 
Die ſchöne Welt kommt ſyſtematiſch zuſammen, und ſetzt ſich 
in einen Kreis: das iſt der Weltkreis; die jungen Herren 
ſegeln um die Frauenwelt herum, das ſind die Weltum— 
ſegler, die auch das Schickſal aller Weltumſegler haben, 
Daß fie nie in den ſtillen Ocean gelangen können. 

Zuerft dreht fich das Geſpräch der ganzen Welt ums 
Theater, das ift die Weltachſe; dann erzählt man ſich 
Geſchichten aus der Stadt, das ift die Weltgeſchichte; 
die älteften Bonmots werden neuerdings erzählt, das ift die 
alte und neue Welt; um das goldene Haupt der 
jungen Mädchen bilden die filbernen Köpfe der reife 
eine eherne Mauer, und erproben ihre eiferne Geduld, 
das find die vier Weltalter; dann fragt man ſich: haben 
Sie gehört, was für ein Gerücht verlautet? das ift das 
Weltgericht; dann ſetzt man fid) an den Spieltifch, das 
find die Weltfarten; dann taufcht man feine Neuigkeiten 
aus, das ift der Welthandel; dann erfäuft man ſich in 


32 


ein Meer von Gemeinplägen, das ift dad Weltmeer; 
dann kommt ein Schriftfteller, bringt die Gefellfchaft der 
ſchönen Welt zur öffentlichen Kunde, das ift die Welt- 
Funde; und zulegt madjt das Schidfal einen Strid) durch 
die Weltkunde, das endlich ift der Weltftrich. Sehen Sie, 
das ift das neue Weltgebände. 

Die ganze Welt fagt: die Welt muß zu Grund gehen; 
die Welt ift aber fo grundlos, daß fie nicht zu Grund gehen 
kann, und man kann wirklich fagen: daß die Welt zu Grund 
gehen fol, dazu ift fein Grund vorhanden. 

Durch Wein, Weiber, Wit und Wahrheit wird die 
Welt curios zu Grunde gerichtet, aber eine zu Grund 
gerichtete Welt mit Wein und Weibern hat die ganze 
Welt im Grund doch noch lieber, als eine nicht zu Grund 
gerichtete Welt ohne Wein und Weiber. 

Die Bühne, mein lieber Lefer, die Schaubühne, das: 
find „die Breter, die die Welt bedeuten.” — Da aber die: 
Welt jett nichts bedeutet, fo bedeuten die Breter auch nichts. 
Ta, man kann fagen: auf den Bretern, die die Welt bedeuten, 
da ift die Welt bedeutend mit Bretern verfchlagen. 

Auf diefer Welt, auf diefer Breterwelt find die vier 
Weh: Wein, Weiber, Wit und Wahrheit fehr wehleidig!! 

Unfere Theaterdichter bringen nichts als alte Witze 
und junge Weiber auf die Bühne, und anftatt reinen Wein 
ſchenken fie unreine Wahrheit ein. Die Wahrheit ift aber, 
daß fie beim Wein fchlechte Wite über die Werber machen, 
und dann diefe ihre ſchlechte Aufführung durch eine gute- 
Aufführung in die Welt ſchmuggeln. Unfere Theaterbichter 


33 


gehen mit Weiber, Wig und Wahrheit in ihren Theater- 
ftüden fonderbar um ; anftatt daß fie gefuchte Weiber, feinen 
Bort-Wig, und blanke Wahrheit haben follen, haben 
fie blante Weiber, gefuhten Wit und fein Wort 
Wahrheit! Anftatt daß fie die Weiber dem Leben abftehlen 
und ganz neue Wige hervorbringen follen, bringen fie neue 
Weiber hervor, und ftehlen den Wit von den Lebenden; und 
das ift die ganze Wahrheit bei der Sache! 

Der Wig, meine lieben Lefer, ift jegt die Hauptfache, 
von Handlung und Charakter ift gar feine Rede. Blos 
wie der Dichter um fein Honorar Handelt, dag ift die einzige 
Handlung, und wie ihm manche Direktoren ganz harafter- 
[08 davon abziehen, das ift der einzige Charalterzug. 

Der Wit wird in der ganzen Welt zur Thür Hin- 
ausgemworfen, er muß alfo auf der Straße liegen; es hat 
fi alfo aller Wis in die Straßenjungen gefchlagen, und 
diefer gefchlagene Wit fommt jet aufs Theater. 

Unfere Dichter können mehr als der Himmel; der 
Himmel hat blos aus Nichts die Welt erfchaffen, die 
Theaterdichter erfchaffen aber fogar aus einem Taugenichts 
ihre Welt, und fo ein Taugenichts ift noch lang fein Nichts, 
fo ein Taugenichts braucht erft einen Pariſer Dichter, einen 
deutfchen Ueberfeßer, ein Theater, und eine fehr gelungene 
Darftellung, bis er vollfommen Nichts ift! 

In einer Hinſicht veredeln die Dichter die Straßen 
jungen, nämlich: auf dem Theater fehen wir fie in vier 
langen, zerriffenen Aufzügen, die wirklichen Straßenjungen 
erfcheinen gewöhnlich nur in einen zerriffenen Aufzug! 

M. ©. Saphir's Schriften. V. DB». 3 


3 


Ein anderer Mebelftand aber entſteht der Kunft durch 
die. Aufführung diefer Straßenjungen. Es ift nämlich eine 
Wahrheit, jo alt, wie die Choriftinnen des ***theaters, 
und doch fo neu, wie der alte Wein bei ***: daß fein 
Menſch [ich ſelbſt beurtheilen kann — wie jollen aljo 
unſere Recenfenten diefe Straßenjungen beurtheilen ? 

- Man könnte freilich jagen: die Straßenjungen ſind 
unter der Kritik! Das kann aber nicht fein, denn die Kritik 
ift ja ter den Straßenjungen! Man kann alfo im wört- 
lichen Sinne ſagen: Straßenjungen und Kritif haben es 
unter fi felbft auszumachen! 

Sie fehen, meine lieben Leſer, daß, fo oft andy im 
Leben über gute Wahrheiten Schlechte Witte gemacht werden, 
fo trifft fi) doch, dag man mauchmal einen guten Wit 
über eine fchlechte Wahrheit machen Tann. 

Ich nenne aus Befcheidenheit meinen Wig gemach⸗ 
ten Wit Denn die vier Weh thuen Einem auch verfchieden 
weh: Die nachgemachten Weine, die davon gemachten Weiber, 
die abgemachten Wige und die. ausgeniachten Wahrheiten 
thuen Einem im Leben fehr weh. 

" Bei Wein und Weiber ift der Unterfchied: wir koften 
den Wein, und die Weiber foften ung; bei Wit und Weiber 
ift das der Unterfchied, dag wir traurig find, weun unfer 
Witz ausgeht, daß wir aber froh find, wenn unfere Weiber ein 
Bischen ausgehen; bei Wahrheit und Weiber ift der Unter» 
fchied, daß fich taufend Wahrheiten, aber nicht zmei Weiber 
miteinander vertragen; bei Wig und Werber ift der Unters 
ſchied: bei dem Wit Liegt die Anſchauung in dem Berftand, 


3 


bei den Weibern liegt der Berftand in der Anſchauung; 
der Witz ift Meifter im Zufammenfeßen, die Weiber find 
Meifter im Auseinanderfegen. — Wie glüdlich ift der 
Menſch, bei dem ein Wig den andern jagt; wie unglüd- 
lich ift der Menſch, bei dem cin Weib das andere jagt. — 
Da ich aber befürchte, dag mein Wi nicht wieder einen 
Wit, fondern die Leſer jagen könnte, fo will ic) von Wig, 
Wein, Weiber und Wahrheit abbrechen, damit Sie gar 
kein Weh mehr. haben. 


Die sarptifde Sinfterniß bei Gasbeleuchtung und 
der. Ochs in Der Katerne, 


Gine pumorififge Olla Potrida. 


G. gibt viele alte Berühmtheiten, die, wenn fie in ber 
jeßigen Zeit eriftirt hätten, nie berühmt geworden wären. 
Zum Beifpiel die „egyptifche Finſterniß“, die mag 
zu ihrer Zeit berühmt gewefen fein, aber jett finden wir 
ſolche Finfterniffe auf der Gaffe; wenn jet eine egyptifche 
Finſterniß käme, man würde fie gar nicht fehen; fo finfter 
wie eine egyptifche Finſterniß iſt's jet, Gottlob, wenn der 
ſchönſte Sommertag iſt! 

So auch die berühmten „ſieben Weiſen Grie— 
chen lands“, wenn ſie jetzt lebten, fie wären die „ſie ben 
Narren Deutſchlands!“ 

Diogenes war ein Weiſer, weil er mit der Laterne 
herumging, um einen Menſchen zu ſuchen; jetzt gibt's gar 
keinen ſolchen Narren mehr, der einen Menſchen ſucht. 

Bei dieſer Gelegenheit drängt ſich mir eine ſehr 
wichtige Frage auf; hat Diogenes in einem Weinfaſſe 
oder in einem Bierfaffe gewohnt? Diefe Frage ift von 
größerer Wichtigkeit, al8 man glaubt, denn hat Diogenes 
in einem Bierfafje gewohnt, fo hat es in Griechenland 
Bier gegeben. 


37 


Wer von Ihnen, Liebe Lejer, kann mir eines der 
zarteften Geheimnifje ber Natur, eines ber finnigften Räthſel 
des menfchlichen Geiſtes entgüllen, nämlih: „Warum 
fallen die vom Bier Betrunfenen aufden Rü— 
den, und die vom Wein Betrunkenen auf die 
Naſe?“ 

An dieſe zarte Lebensfrage knüpft ſich noch eine dritte 
Frage an: „Wenn die Bierbetrunkenen auf den Rü- 
den, und die Weinbetrunlenen auf die Naſe fallen, 
wohin fallen die von Liebe Trunkenen?“ — Die Antwort 
aufdiefezweite Frage ift ganz leicht: die von Liebe Trunkenen 
fallen jegt ganz auf die Seite. — Früher war man 
von der Liebe trunken, weil man über das Maß geliebt 
hat; jegt bleiben wir in der Liebe gleich beim erſten Pfiff 
ftehen, wo fol da die Zrunfenheit herfommen ? 

Was hat der PHilofoph Diogenes in feinem Faſſe 
voraus gehabt vor allen unjern PHilojophen? Er war 
wenigftens faßlich! — Unfere Philofophen find umgekehrte 
Diogeneſſe, anftatt daß fie wie Diogenes fich in ein Wein- 
faß ziehen, ziehen fie ein Faß Wein in fich, und werden 
Pbilofophen per fas et ne-fas! — Darum ftndirt man 
drei Jahre Philofophie; das erfte Jahr den Heurigen, 
das zweite Jahr den Borjährigen, und das dritte Jahr 
wird blos repetirt! 

Eine eben fo abgeſchmackte Berühmtheit war der große 
Roscius, ber erfte römische Künftler. Er war gewiß ein 
gewaltiger Eoulifjenreißer. Ueberhaupt, wie kann Roscius 
ein großer Künftler gewefen fein, er hat ja gar nie in Berlin 


38 


geſpielt! Sa, noch mehr, der Kerl hat ja gar Feine reine 
deutſche Ausſprache gehabt! 

Nun aber, liebe Leſer, ſehen Sie nicht ein, wie ich 
mit allen dieſen Abwegen und Abſprüngen wieder auf den 
Titel meines Auffages zurückkommen will? Das fehen Sie 
nicht? Das jehen Sie nicht? Sehen Sie, da 8 ift eben die 
egyptifche Finfternig, daß Sie es nicht fehen! das ift ja 
eben der ſichtbare Segen der Finfterniß, daß man die Leute 
ftundenlang herumführt, und daß fie dann wieder dort find, 
wo fie ausgegangen find! Ich habe Ihnen in diefer Yinfter- 
niß einen Mann mit einer Laterne mitgegeben, und dod) 
haben Site nicht gefehen, wo ich Site hinführe, geftehen Sie 
nur, daß mar eine folche Finfterniß nicht alle Tage fieht! 

Die egyptiſche Finſterniß ift die einzige egyptifche 
Mumie, die fi) ganz unverfehrt bis anf unfere Zeit er- 
halten hat. 

Die Egyptier haben es verftanden, ihre Finfternif 
einzubalfamiren, bei uns ift diefe Kunſt ganz verloren ges 
gangen, denn für unfere Finfterniß gibt c8 feinen Balfanı. 

Damit wir aber diefe egyptifche Finfterniß allgemein 
jehen können, haben wir die Gasbeleuchtung erfunden, und, 
beim Licht beobachtet, ift die Finfterniß ein wahres lumen 
mundi. Zur Beleuchtung unferer Finfterniß aber kann Fein 
anderes Licht fein, als Gas, denn die erſte Gas-Art ift 
fire Luft, und in unferer Finſterniß muß man froh fein, 
wenn man wenigftens ein Bicchen freie Luft firirt Hat. 

Wenn man alfo die Finſterniß beleuchtet, fo fieht 
man, wie glüdlicd) die Leute find, die nicht fehen. 


Die „LKiebe*, die „Gerechtigkeit“ und das 
„Gläück“, find drei glückliche Wefen, die nicht fehen; bie 
Liebe ift blind, das Glück ift blind, und die Gerechtigkeit 
ift blind. Wenn diefe drei Blinden fehen würden, jo würden 
fie Dinge fehen, daß ihnen Hören und Sehen verginge. 

Daß die Gerechtigkeit blind ift, ift längſt befannt. 

Die Tiebe, meine guten Leferinnen, ift auch blind, 
und das Gläck iſt auch blind! Es ift ein wahres Glüd, 
daß die Liebe blind ift, und es ift mir Lieb, daß das Glück 
blind ift. Wäre die Liebe allein blind und das Glüd nicht, 
fo würde das Glück fehen, daß diefe Liebe keine Liebe ift; 
wäre das Glüd allein blind und die Liebe nicht, fo würde 
die Liebe fehen, daß diefes Glück kein Gläck iſt! 

In der egyptifchen Finfternig waren lauter glüdlich 
Liebende, denn die Liebe ift nie glüclicher, als wenn fie nicht 
ſieht. 

Der Menſch ſoll über ſeinen Zorn die Sonne nicht 
untergehen laſſen; und der Menſch ſoll über ſeine Liebe 
die Sonne nie aufgehen laſſen. Man muß nicht nur nicht 
in den Tag hinein reden, ſondern auch nicht in 
den Tag hinein lieben! 

Die Liebenden ſind ganz andere Menſchen, als andere 
Menſchen. Andere Menſchen, wenn ſie genug gelebt haben, 
vertauſchen fie das Zeitliche mit dem Ewigen. Die 
Liebenden ſchwören ſich erſt ewige Treue, ſehen ſich dann 
zeitlich nach einem Andern um, und bevor Eins von ihnen 
noch das Zeitliche mit dem Ewigen vertauſcht, ver- 
tauſchen ſie einigemal das Ewige mit dem Zeitlichen! 


40 


Die Liebe ift blind, darum find die Verliebten 
ftodblind, die Berheiratheten aber blos ftaber[blind! 

Der Tag ift ein Mann, die Nacht ift ein Weib, in 
der Liebe aber ift das Weib der Dann! 

Der Zag und die Nacht, das ift ein feltenes Ehepaar, 
wie glücklich leben fie feit ewigen Zeiten, das ift auch Feine 
Kunft, wenn der Tag kommt, geht die Nacht fort, und wenn 
die Nacht fommt, ift der Tag über alle Berge! 

Bei diefem Ehepaar, Tag und Nacht, ift im Winter 
die Frau Nadıt glüdlich, denn da hält fie ihren Dann kurz, 
und im Sommer ift der Dann Tag vergnügt, denn er fieht, 
wie feine Frau alle Tage mehr abnimmt. 

Nur einmal kommen fie fich gleich unaußftehlich vor, 
wenn Tag- und Nachtgleiche ift, und um diefe Zeit 
weiß man, gibt’8 auch die gefährlichiten Stürme. 

Die Liebe hat Augen, abernichtzum Sehen, fondern 
zum Weinen, die Liebe hat eine Zunge, aber nicht zum 
Reden, fondern zum Singen, und fie hat eine Wange, 
nicht um zu blühen, fondern um zu erröthen. Die Liebe 
trägt das Gehör auf den Wangen, das Wort im Auge und 
den Blick im Herzen! 

Das menfchliche Herz hat drei Natur-Reime: Das 
Herz der Fröhlichen auf Scherz, das Herz der 
Liebenden auf Schmerz und das Herz der Vor— 
nehmen auf Erz. Wir Wiener haben noch einen vierten 
Lofal-Reim: Wir haben ein Herz wie ein Sterz, das 
ift aber ein Faſten⸗Reim, und ein Wiener Herz hat eine 


Faſten. 


4 


Der gute Appetit der Wiener gegen den ber Berliner, 
hat mir einen wichtigen Auffchluß über den Sprachunter⸗ 
fchied diefer beiden Völker gegeben. 

Der Oeſterreicher ſpricht Alles in der längſt⸗ 
vergangenen Zeit. Der Preuße Alles in der jüngft- 
vergangenen. Der Oefterreicher jagt: „id bin jpa= 
zieren gegangen.“ Der Breuße jagt: „ih ging 
Tpazieren!" Der Oefterreider fagt: „Die hab’ ich 
angegudt!® Der Preuße fagt: „Ic gudte fie 
an!“ Woher kommt diejer Unterfchied ? Der kommt vom 
Appetit her. 

Wenn der Wiener Mittags einen Faſan gegeſſen hat, 
Abends fcheint e8 ihm ſchon fo lang, daß er feinen Faſan 
gegeflen hat, daß er in der Längftvergangenen Zeit fagt: 
„3 hab’ einen Faſan gegeſſen!“ — Wenn der 
Berliner einen Faſanflügel ift, jo ift ihm vierzehn Tage 
nachher noch jo, als Hätte er ihn eben erft gegeifen, und 
er jagt in der jüngftvergangenen Zeit: „Ich aß 
ein Faſanſlügelchen!“ 

So fpricht des Wieners Herz Alles in der längftver- 
gangenen Zeit. Wenn er in der Yrüh geliebt hat, fo jagt 
er Abends: „Ich hab’ geliebt gehabt!“ 

Aber in der Liebe, verehrte Xefer, gibt e8 jet über- 
haupt nur eine längftvergangene Zeit, das heißt, die 
Zeit, wo man geliebt Hat, ift lLängft vergangen!” — 
Wenn mir Jemand feine Geliebte vorftellt und fagt: „Das 
ift meine Zukünftige;“ fo denke ic) mir immer: das ift 
feine zufünftig vergangene Zeit! 


42 


Die Liebe ift blind, die Herzen der Männer aber 
find fo hbarmherzig, daß jedes Herz feine eigene Blinden- 
Anftalt hat! 

Die Liebe ift blind, und doch fagt man: ‚Die Liebe 
und die Zigeuner ſehen im Finſtern.“ — Warum ſehen die 
Zigeuner im Finſtern? weil ſie von der egyptiſchen 

Finſterniß herſtammen. Die Finſterniß iſt alſo das Per⸗ 

ſpektiv der Liebe. Da wir jetzt eine doppelte Finſterniß 
haben, die egyptiſche und die europäiſche, fo Hat unfere 
Liebe ein ganz modernes ‘Doppel Perfpeftiv! 

Nun fehen Sie, da find wir fchon wieder bei unſerm 
Titel, bei der egyptifhen Finſterniß, und was den 
Ochſen betrifft, verlaffen Sie ſich nur auf mich. Laffen 
Sie mid) nur ein Bischen zu mir fommen, und wir werben 
gleich bein Ochſen fein. Die Egyptier haben befanntlid 
einen Ochſen angebetet; wir weichen etwas davon ab, und 
beten blos zumeilen eine Kuh an. 

Mein Gott! wie viel Mädchen beten nicht einen 
golden Dehfen, und wie viel Männer eine goldne Gans 
an? Am Ende nimmt ber goldne Ochs die goldne Gang, 
und fie feiern die goldne Hochzeit; denn es ift ihnen 
jogleih, ald hätten fie fchon fünfzig Jahre zufammen 
gelebt! — 

In der Liebe vergeht ein Jahr wie ein Tag, 
in der Ehe vergeht ein Tag wie ein Jahr, darnm rüfte 
fi) jeder Ehemann an jedem Sonntage zum fieben- 
jährigen Krieg, und an jedem Erften des Monats 
zum Dreißigjährigen Krieg! | 





u 


43 


Jedes Jahr, das man mit einer Frau zu leben hat, 
iſt ein Streich des Schickſals; wer die filberne Hochzeit 
feiert, der Hat feine fünf und zwanzig glücklich überftanden, 
und wer die goldene dodzeit feiert, der hat fünfzig 
befommen! 

Warum zündet man bei einer Hochzeit am hellen, 
lichten Tage, Hochzeitsfadeln an? Weil man ſchon bei der 
Hochzeit anfängt, finftere Oefichter zu machen? Wiederum 
eine Finſterniß, die noch älter ift, al8 die egyptifche! — 
Die Egpptier in ihrer Finſterniß hatten Recht, die Ochfen 
anzubeten, denn ein Ochs ift ein unfehlbares Mittel zur 
Aufflärung und Fichtverbreitung.- 

Sie fehen mich erftaunt an? D ich bitte Sie, be- 
trachten Sie die Ochſen aus einem freundlichern Geſichts⸗ 
punkte! 

Die Ochſen ſind reſpektabler, als die Menſchen: kein 
Ochs pflügt mit einem fremden Kalbe; jeder Ochs trägt 
redlich ſeine Haut zu Markte, und wenn der Ochs einmal 
vor den Kopf geſchlagen iſt, ſo iſt er genießbarer, 
als wenn der Menſch vor den Kopf geſchlagen iſt! 

Gibt's nicht ausgezeichnete Künftler unter den Ochfen, 
zum Beifpiel, große Horniften? Sind die Ochſen nicht 
ausgezeichnete Redacteurs, wiederfäuen fie ihre Artikel 
nicht immer und emfig! Die wirklichen Ochfen kann man 
fochen und braten, die menſchlichen Dchfen muß man roh 
genießen ! 

Wie man nun mit einem Ochſen die Finſterniß be- 
leuchten kann? Nichts Leichter, ald das. Man fchlägt den 


44 


Dchfen todt, man zapft ihm das Fett ab, man läßt das 
Bett aus, man macht aus dem Fette Lichter, man ftedt das 
Licht in die Laterne, jo ftedt der Ochs in der Laterne, und 
beleuchtet fein Sahrhundert ! 

Man verjuche aber einmal, und laſſe unſere menfch= 
lichen Ochſen aus — und wir haben viel ausgelaffene 
Ochſen — allein ihr Fett taugt nicht zum Lichtermachen, 
und könnte man aud) Lichter daraus machen, ſo wären es 
doch keine gezogenen. 

Ich glaube alſo ganz beſtimmt, daß Diogenes in 
der egyptiſchen Finſterniß gelebt hat, daß er in ſeiner Laterne 
einen Ochſen herumgetragen hat, daß er eigentlich unter 
den Menſchen einen ſolchen Ochſen geſucht hat, den er auch 
als Licht in die Laterne ſtecken könnte, und daß er keiuen 
gefunden hat. 

Somit wäre die egyptifche Finfterniß, und der Ochs 
in Ihrer Gunft gerechtfertigt, und: 

Ih fei, gewährt mir die Bitte, 
In ihrem Bunde der Dritte, 


Dorlefung eines Aurker-Rohres über den gänzlichen 
Mangel aller Romantik, gehalten in einer Geſellſchaft 
von jungen Runkel-Rüben, 


Meine ehrenwerthen Freunde und Runfel- Rüben! 


Ihr Geſchlecht fängt an, ſich nicht nur unter die ganze 
Erde, ſondern auch über die ganze Erde zu verbreiten! 
Sie tragen mit dazu bei, alle Romantik auszurotten und 
eine induſtrielle, nüchterne Proſa an ihrer Stelle zu ſub⸗ 
ſtituiren! 

Wenn die Natur Runfel-Rüben-Zuder haben will, 
fo bat fie fi) mit der Geburt von Chriftopg Columbus 
lächerlich gemacht, und Ludwig Auguft Frankl hat Uns 
recht gehabt, einen Mann zu befingen, den die Elcinfte von 
Ihnen, meine ehrenmwerthen Damen, entbehrlid) macht! 

Fa, Sie, Sie geben der romantischen Licht-Seite 
des Lebens den legten Gnadenſtoß! 

Die Aufklärung, die Reformen, die allgemeine Er- 
findungs-, Entdeckungs- und Erfparungs-Wuth hat allen 
Schimmer, alle Illuſionen von den Yittigen der Zeit ab— 
geftreift, und die Ä 

allgemeine europäiſche Civiliſation 


46 


bat die fonft romantifch-bunte, malerifche, poetifche, phan⸗ 
taftifche, ideale Berfchiedenheit der Welt in eine einzige, 
große, einförmige, afchgraue Livree geftedt, mit blanken 
Knöpfen, auf denen der monoforme Namend- Zug der 
modernen Alltäglichfeit ausgeprägt ift! 

Die Mythologie haben wir längft verfcherzt und die 
Götter Griechenlands; die Drcaden, Dryaden und Hama⸗ 
dryaden haben wir zu Schiffsballen und Kanalſchleußen 
entgöttert; die Önomen haben wir zu Steinfohlenjungen 
gemacht; Daphne's Loden flattern in Wildpret-Sancen, und 
Bulkans Athem ſchnaubt aus Dawpfröhren uns entgegen. 

Aber es blieben unſerer Phantafle noch ſchöne, große 
Domänen; unſerer Romantik blieb der ſchöne Wiweuſitz: 
Drient, diejes Land der Wunder und Yabeln. Uns blicben 
die Schönen Sultaninnen mit langen Schleiern über lange 
Wimpern; uns blieben die Houris, Peris, Odalisten aller 
fernen Zonen! Uns blieb das fabelhafte Indien, die locken⸗ 
den Bayaderen; unferer Intuition blieb Afrifa, die Kaſ⸗ 
fauben, die Dafen, die glühenden Obalisten- Augen, die 
brülleuden Löwen, die bethürmten Kameele, die Hngen 
Elephanten u. ſ. w. 

Alle diefe Güter im Reiche der Einbildungskraft hat 
uns die allgemeine Kivilifation geraubt, geplündert, ver⸗ 
wüftet! Nicht ein baarbreit phantaftifchen Boden Hat fie 
unjerer IUufion überlaffen! 

Die alte, zahnlofe, prüde, pedantijche, fleife, Eluge, 
aber abgefchmadte Gouvernante Europa hat die andern 
Welttheile an den Feufchen, aber dürren Bufen genommen, 


4 


hat fie zu klugen, artigen, gefitteten Iumgens herangezogen 
unb. herangebilbet, und da ſtehen fie nun, die drei europäi- 
firten großen Bengel, fteif, uniformirt, höflich, kalt, fad, 
umd bis zur Abgefchmadtheit unterrichtet und civilifirt! 

Aus allen drei Welttgeilen ift fein einziger Tropfen 
Romantik nieht zu prefien, Alles ift jo alltäglich civil ge= 
worden, jo durchaus europäiſch proſaiſch und farblos, daß 
ſie kaum mehr Eoftünt- Ausbeute für einen Theater-Coftümier 
abwerfen! 

Der Turban macht dem Czako Platz, der Schleier 
dem Bibi, die Mandarinen tragen Acdjelbänder, und an 
der Stelle der ſchönen Scherezade mit den fügen Märchen 
liest Madame La Bim-baſcha den unfterblichen Paul 
de Kol! Aus den Boudoirs in Algier wird wie aus denen 
zu Paris gejchrieben: 

” „Madame Fetscha-Bumba prie Mr. Pinca-Rauka 
de lui faire 'honneur de prendre le th& etc. ete.* 

Der Enkel von D'ſchingis⸗Chan verbietet da8 Opium 
tu Folge eines Mäßigkeitsvereins; das Opium, diefen phan- 
tasmagorifchen Zauberer, der den fiebenten Himmel mit 
feinen Houris, Drama und Wifchnu vor die Seele zaubert! 
Der Nimbus der Bayaderen zerfließt im Saal VBentabour! 
Die Löwen Afrika's empfangen Beſuche von den Parifer 
Grifetten, die Arra's, Lory’8 und Papageien fagen: „bon 
jour!* Der Elephant apportirt und macht den aimablen. 
Ale Affen und Mandrills, und all die bizarren Menfchen- 
Incunables der Schöpfung haben ihren Bürgerpalaft im 
jardin des plantes! 


48 


Wo fol da die Romantik noch ihre Rekruten her- 
nehmen? Woher die Bhantafte ihre Bilder fouragiren?! 

Die Univerfalbildung hat die Romantik aufgegeffen, 
die ſporadiſche Eivilifation ift eine epibemifche 
geworben, hat alle Romantik mit Haut und Haar ver- 
fhlungen, wie der Veſuv den Empedofles, und hat nichts 
von ihr übrig gelaffen, als aud) nur den ledernen Bantoffell 

Ich, das Zuckerrohr, ich ftehe nur allein noch als 
ber legte romantifche Mohilan da; meine Lpden flattern 
wie die Trauerweiden Babylons an den Ufern des Dceans, 
und ich jchüttle weinend mein Haupt herüber auf das von 
Runkel-Rüben-Proſa durchaderte Europa! 

Ich, meine ehrenwerthen Runtel-Rüben, ich Zuder- 
Rohr bin ein Edel der Mythologie! Die ſchöne Syrinr 
wurde von Ban verfolgt, fie flehte bei ihrem Vater, Majorats⸗ 
herr eines mächtigen Waffergottes, um Rettung, wurde in 
ein Rohr verwandelt, und diefes Rohr bin ih! In mir 
liegt romantifch = dramatifcher Stoff: Liebe, Verfolgung, 
Baterfluch, die Peripetie zu Zucker, und endlich die füße und 
verfühnende Auflöfung! Allein wo ift eine Mythe, welche 
bie Runfel-Rübe verfchönt, und wo ift die moralifche Ten- 
denz des Runfel-Rüben-Stoffes wie die in mir: wenn bie 
Mädchen von Liebe verfolgt werden, jo verwandeln 
fie ſich!? 

Welches Mädchen würde wünschen, in eine Runtfel- 
Rübe verwandelt zu werben? 

Mic, brauchen die Poeten zu ihren fchönften Meta- 
phern: ſchlank wie Zuder- Rohr! Allein zu welchem 


Rn 





49 


Bilde kann man die Rıinfel-Rüben, diefe Calibans unter 
den Pflanzen, gebrauhen? Kein Poet wird von einer 
Schönen fagen: „Ihr Wuchs war wie eine Runtel- 
Rübe!* 

Kotzebue's „armer Poet“ ift in meinem Schatten 
entftanden! Lorenz Kindlein gedieh unter den Schatten der 
Zuder-Röhre, unter diefen Hohen Rohrmäldern wuchs jene 
Liebe, aus jenen fchlanfen Zeugen ihrer Tiebe fchrieb fie 
jenes: „ich folgeDir, fobald ic kann!“ welches all’ 
jenen rührenden Zauber um Lorenz Kindlein legt, der nöthig 
ift, um empfindungsvolle Theater-Befucherinnen in Thränen 
zu wafchen und zu baden! Glauben Sie, daß ſolch ein Werk 
der Liebe, der reinften Liebe, der totalen Hingebung aud in 
der Atmofphäre des rothen Mangold, der Dick- und Fütter⸗ 
Rübe hätte gedeihen können? 

Und nun gar Kotzebue's „Negerfflaven.” Was 
wären die ohne Zuder-Rohr! Seßen Sie ftatt „Planta= 
gen“ Runfel- Rübenfelder, und der dramatifche Effect 
ift beim Henker! denn Seufzer, Thränen und Plantagen, 
das ift die natürliche oftindische Compagnie, die fid für 
den Erfolg diefes Stückes verbürgt; allein ſetzen fie, Seufzer- 
und Rummel-Rübe“ oder „Thränen- und Rungfels 
Rüben-Zucker-Fabrik“ und alle elegifche Stimmung 
ift im Keime erftict! 

Ic) fehe die Zeit fommen, wo ſich alle Rüben der 
Erde zu Zuder emancipiren werden! 

Bor dem Gefeß find alle Rüben gleich! wird die 
Gufel-Rübe jagen! — Warum, foll gerade aus dem 


M. G. Saphir's Schriften. V. Rd. 4 


50 


Kainshaupte der rothen Rübe Zuder geprekt werden, 
warum nicht aud) aus meinem blonden,langgelodtenHaupte? 
fo wird die gelbe Rübe fragen. Dann fommt das ganze 
Geſchlecht der Kohl-Rüben, der Mohr-Rüben, der Wafler- 
Rüben, der Sted-Rüben, der Teller-Rüben, und die ganze 
weitverbreitete Samilie der Rapunzeln, und alle werden 
wollen Zuder geben, und alle werden fchreien: „anch’ io 
son pittore!“ Alle werden fagen: Preßt nur, preßt, 
unter der Prefje gibt Kraut und Rüben aud) Zuder! 

Ale Rübenbaner werden bei ihrer Saat deflamiren: 

„zen dunflen Schooß der heiligen Erde 
Bertrauen wir die Rübenjaat, 

Ind Hoffen, daß fie erftehen werde, 

Als Zuderrohr von beſſer'm Grad!" 

Selbſt dic HleineTeltower-Rübe wird aus den Palmen- 
Wäldern um Berlin aus der Erde fteigen wie ein kleiner 
Gnom, wird nad) Berlin gehen zu Herrn Rellftab oder 
Häring, und wird fagen: „Ihr findet in jeder Natur- 
Rübe Stoff zudiden Romanen- und Teihbibliothefen- Zuder: 
warum nicht aud) in mir!" — | 

Seid nicht ftolz darauf, meine fonft chrenwerthen 
Runkel-Rüben, daß ein Centner von euch ein Pfund Zuder 
gibt, denn aus welchen Dingen wird jegt nicht Zuder ge= 
zogen? AusAehren und Mais; ja, ſogar aus Maculatur! 
Maculatur-Zuder! 

Welch ein Troſt, welch cine Ausficht für die Pflanzer 
der literarifchen Negerfllaven: für die Buchhändler! 
Zuerſt preſſen fie den Schriftfteller, dann da8 Werk, daun 


al 


die Leer, daun das Maculatur! Wie muß ihnen der Kaffee 
nit ſolchem Zuder ſchmecken?! 

E8 wird eine Zeit fommen, wo man in diefem Macu— 
Latur = Zuder fo beivandert fein wird, daß man bei jeder 
Taſſe Kaffee, die man trinkt, den Schriftfteller heraus- 
fchmeden wird, aus deſſen Maculatur er gezudert ift! 

Die Empfindfanen werden Novellen » Zuder, die 
NRomantischen Gcorge - Sand » Zuder u. j. w. haben. 

Allein, das Alles wird vergehen! Alle andern Zuder 
werden zerfließen, alle Prätendenten dieſes ſüßen Throns 
werden ihr Ende ereilen, ich allein, das legitime Zucker— 
Rohr, werde beſtehen, und in fo viel Zungen ſich auch 
die Menschheit theilen möge, c8 wird fein Menſch die 
Doppelzüngtigfeit fo weit treiben, um Zuder - Wohr- 
Zuder = Runfel - Rüben = Zuder zu adjten! 

Und fomit ende ich meine Betradhtung über diefen 
Gegenſtand; mögen Sie mir, meine chremverthen Adoptiv- 
Zucker-Stief-Kinder and) Hinter dem Rüden ein Rübchen 
Schaben, mid) entfchädigt mein innerer Schalt! Ehre, den 
Ehre gebührt: 

Boll Saft mag wohl die Runkel-Rübe fein, 

Tod Zuder wohnt im Zuder-Rohr allein!“ 


4* 


Rokettir-Novellen. 





Die Fenſter Linie. 


nd es war wieder eine Blondine! Eine wahre 
Solififchette, würde ich jagen, wenn id) nicht lie= 

Sie wänfchte, meine ehrſamen Leferinnen hätten 
den neuen Amadis nicht gelefen. 

Zange, fehr Lange, ſeidenweiche Locken fielen un beide 
Wangen üppig dicht herab, als wollten fie die Roſen diejer 
Wangen fchügen und einhüllen vor jedem Sonnenftrahl, 
vor jedem nafchenden Blid. Ein dramatifches Lächeln wohnte 
um den zartgeforınten Mund, und der ganze Ausdrud des 
Gefichtes war Charakter und entfchiedener Wille. 

Sie wohnte mir fchräg, etwas ftark ſchräg gegen- 
über, im vierten Stode, id) im zweiten. 

Empfindfame Mädchen find leicht auszumittern. Ihre 
Fenſter find ihre Charakter - Zeichen. 

Siehft Du, mein freundlicher Lefer, an einen Fenſter 
einen Blumentopf oder zwei, und daneben einen Käfig mit 
einent Bogel, fo fannft Du getroft fchliegen: „Hier wohnt 
ein Herz, das noch feinen Vogel im Käfig hat.“ 


56 


Liegt ein Heiner Hund dazwifchen, fo ganz düfter 
und halbverfchlafen, ein Mops mit einem überwadhten 
Auscultator-Geficht, oder ein fogenannter Pintſch mit der 
jtet8 beforglichen Miene, wie ein Induftrie-Papier- Spefu- 
lant, fo jei gewiß, hier wohnt eine ſehnende Witwe oder 
eine überfpielte Mamfell, die zwifchen Hoffnung und Refi- 
gnation noch hin und her getrieben wird, wie eine Sängerin, 
die feine Stimme mehr hat, zwifchen der Sehnſucht nad) 
getragenem Geſang und dem Erheben in den Triumph der 
bloßen Schule. 

Sa, bei fortgefegter Forfchluft und etwas Praktik, 
fann man aus den Blumen- und Bogel-Arten fo ziemlich 
auf den Stand der Eigenthümerin oder ihren fonftigen 
Charakter ſchließen. 

Eine rothe Pimpinel-Rofe und ein munterer Stieg=- 
lit in einem netten Käfig vor dem Tenfter, läßt faft immer 
auf eine Nähterin, Marchande de Modes-Gehilfin, Ein- 
fafjerin und Faltlerin ſchließen. E8 liegt etwas von den 
Anfangsbuchftaben des Liedes: „Freut Euch des Lebens, 
weil noch das Flämmchen glüht,“ in den Blättern der 
Pimpinell-Roſe, und ein Stieglig ift ja nichts als ein 
moderner Ged vom Wafferglaci® oder vom Bolfsgarten, 
ins Stiegligifche übertragen, er hüpft und zwitfchert; fein 
buntes Kleid, fein Halskrägelchen und fein Schöpfchen iſt 
fein Alles | 

Auf andere Infaffen aber läßt ein Kanarienvogel 
Schließen, neben welchem ein einfames Reſeda-Töpfchen 
feinen ftillen Duft wie pia desideria in die Lüfte verhaucht. 





a‘ 


57 


Da wohnen DOfficier-Witwen- Töchter, Töchter herunterge- 
fommener Rentiers, und das große Heer der Mädchen, 
denen das Schidfal die Anweifung nicht einlöste, mit welcher 
es fie in das Leben fendete. Ein Kanarienvogel erinnert 
immer an die Töne: 

„Dorthin möcht' ich ziehen!“ 
und Reſeda ift verhaltener Wunfch mit ftiller Ergebung. 

Wo ein feifter Gimpel im mefjingenen Käfig, ein 
rothwangiger Cactus oder eine bunte Belargonie am Fenſter 
prangen, da ift gut anfragen und werben, da wohnt die 
ausſteuerbekommende, ſtets bei gutem Appetit fich befindende, 
und immer etwas zu Efjen im Arbeitstifch ftehen habende 
Tochter einesreichen Fabrikanten, Brofefjioniften, gewefenen 
Lieferanten u. f. w. 

Genug, man kann nad) und nad) eine Gewißheit in 
dieſes Syftem bringen, welches, weiter auszuführen, nicht 
in den Plan diefes Kleinen Abenteuers paßt. 

Alfo, e8 war ein Kanarienvogel und ein Refeda- 
Töpfchen, welche am Fenfter prangten, und ich ſchloß mit 
großer Gelehrſamkeit auf die Infaffin, welche jedoch lange, 
und Tage lange nicht ans Tenfter kam. 

Auch als fie ſchon erfchten, und das geſchah dann 
immer in den Abendftunden zwifchen fünf und ſechs, be⸗ 
merkte fie mich lange nicht, welches ich ganz unbegreiflich 
fand: 

Ich machte die ganze Schule der Kofetterie durch. 

Denn die Koketterie ift ein großes Studium, und 
man glaube nicht, daß die Natur allein ein Talent dazu 


58 


ausbildet. Es gibt wohl hie und da Naturfofettirer, 
wie e8 Naturdichter gibt, allein es ift auch bei diefen 
wie bei jenen nur Halbheit. Die Kofettirfunft ift eine 
Mathematik, fie beruht auf Evidenz, und ihre Schlüße 
find untrüglid). Ste gewährt wie die Mathematik jene 
Sicherheit in ihren Schlüßen, welche den Berftand eben fo 
erhöht, als die Werkthätigkeit befriedigt. 

Die Grundbafis der Kofetterie ift die Geometrie 
und Trigonometrie. Manmuß die ehren von den geraden 
Winkeln und frummen Winkeln, von den fpitigen und 
ftumpfen Winkeln, von den Scheitel: und Wechjel-Winfeln 
genau fennen. Man muß das Berhältniß der eingefchloffenen 
Flächen, des Kreifes, des Kegels und des Cylinders inne 

haben. Kurz, die mathbematifche Lehre des Lichtes 
und de8 Sehens, der Natur von allen geraden, ge= 
brochenen und zurüdgeworfenen Strahlen, die Kenntniß 
der Lichtrichtung und der Sehwinkel, die Theorie 
der Gefichtsfelder und die der Schatten muß man 
vollfommen inne haben, um mit Glüd, un mit unbezwei- 
felbarer Gewißheit zu kokettiren, und die Koketterie— 
Schlußfolge mit Klarheit und Gewißheit ziehen zu 
können. 

Man lernt nie aus, ſelbſt ich, der ich die „Kunſt 
zu Fofettiren“ feit zwanzig Jahren in ben größten euro= 
päifchen Schaufpielhäufern gelernt habe, finde immer noch 
Etwas zuzulernen! 

Die zwei Haupt-Poftulate der Kokettir-Mathematik 
ind: 


59 


Erſtens: Man fann alle Frauenzimmer der Welt 
zwingen, mit uns zu fofettiren; notabene wenn fie nicht 
blind find, denn in diefem Falle gibt e8 hie und da Aus- 
nahmen. 

Zweitens: Manmuß fo kokettiren, daß die betreffende Per: 
fon eine vollkommene Gewißheit bekomme, daß es ihr 
gelte, dag man alſo auf feinen Fall lächerlich werden kann. 

Jedoch ic) will meine Geheimniffe nicht zu früh ver- 
rathen, da ich eine „angewandte Lehre der Kofet- 
tirkunſt“ herauszugeben gedenfe. 

Ich verfuchte nit meinen jchrägen vis-A-vis die erften 
Elemente meiner Xehre, aber erft jpät wurde es aufınerffam 
und feste ſich mit mir in Wechjelwirfung. 

Sie lächelte endlich einmal ganz holdfelig! Ach! das 
erfte Lächeln, welches aus einer folchen vis-a-vis-Anfdyanung 
entgegen blüht, ift nicht zu befchreiben! So muß Columbus 
zu Muthe gewejen fein, al8 ev zum erften Male „Land!“ 
rufen hörte. 

Daß ich diefes erfte Lächeln, diefes jüße Früh- und 
Schnee - Glödchen de8 Abenteuer » Frühlings, mit aller 
Wonne eines beglücten Seladons, mit meinen Augen von 
ihrem würzigen Munde pflücte, läßt fic) denken, und ich 
wendete nım die weitern Geſetze des Kokettirens an. Zuerft 
leifes Lächelns, dann Nicken mit den Kopfe, dann Spielen mit 
Blumen, oder eine Blume zerpflüden und die Blätter 
fpielend hinüberhaucdhen, dann Buchſtaben an die Tenfter- 
fheiben malen, dann ein Briefchen zwifchen dem Daumen 
und den Meittelfinger Ereifen laſſen u. f. w. 


60 


Die Holde am Yenfter fam nun regelmäßig alle 
Abend ans Fenfter, und ihre Blicke wurden immer beredter, 
und endlich gejellte fich dazu ein Lächeln und ein Niden mit 
dem holden Köpfchen, daß die blonden Schlangen fid) um 
das liebliche Antlig Füßten, und dann nod) ein Winfen mit 
der Hand, welches ich zwar mir nicht ſogleich deuten konnte, 
welches ich aber doch mit Niden, Winken und Deuten er⸗ 
wiederte, und fo ziemlich alle Geftikulationen einer ähnli- 
hen Situation durchmachte. Darauf lachte die Holde wieder 
laut, und fchlug in die Händchen, das blieb mir zwar etwas 
unklar, allein id) hoffte bald Licht zu haben. Ich war ganz 
glüdlicd über den glüdlichen Erfolg meiner Senfterlinien- 
Correſpondenz, und wünjchte nichts, als die Theure einmal 
ſprechen zu fönnen, welches id) ihr aud) mit Zeichen deutlich 
zu verftehengab, alleinfiefchiendarauffeineAntwortzugeben. 

Und dennoch, dennoch ! 

Welch ein Entzüden durchbebte mic, als fie eines 
Abends am Fenfter erfchien, mit dem Heinen Strohhütchen 
auf den Haupte, zum Ausgehen angezogen, und mit fchnellem 
Winken herüber nidte, mit dem Finger hinunter zeigte auf 
die Straße, nod) einmal Hold lächelte und das Yenfter 
zumadhte. 

Ich verftand den Wink, hinunter zu kommen, griff 
Schnell nah meinem Hute und im Nu ftand ich auf der 
Straße, vor ihrem Haufe. 

Ich mochte faum zwei oder drei Minuten geftanden 
haben, da fam fie herab, die Reizende! Ich hatte nun ihre 
ganze Seftalt gefehen, und war wonnig überrafcht, eine 


61 


junonifche Schlalt, mit den ebenmäßigften Formen und ans 
muthigften Gliedmaßen zu fehen. 

Allein, welch ein Schreden. Eine bejahrte Mlatrone, 
eine Diutter oder eine Tante ging ihr zur Seite! 

O Mißgeſchick! 

Keinen Blid ließ fie auf mid) fallen. Keine Miene 
verrieth, daß fie mich bemerkt, daß fie mic) erwartet, daß 
fie mich hieher befchied! die Fleine, doc) nur zu liebenswür- 
dige Heuchlerin! 

Ic ging ihr lange nach ; nicht die leifefte Bewegung 
des Kopfes, nicht das leiſeſte Regen der Hand, ließ mich wiffen 
oder ahnen, was vorgegangen tft, und ob fie mich bemerfte. 

Ungewißheit, Zorn, Mißmuth, und auf der andern 
Seite Entjhuldigung und Sinnen über ihr Benehmen 
theilten fich in meinem Gemüthe. Ste gingen irgendwohin 
zum Beſuch; felbft am Haufe angefommen, fah fie fich nicht 
um, machte fein Zeichen, und verfchwand! 

Was mußte vorgegangen fein? War fie böfe? Hab’ 
ich etwas begangen? Wer follte mir diefe Zweifel löjen! 

Ich war feft entfchloffen, mich an der Berrätherin zu 
rächen, und am andern Tagegarnichtamfenfter zuerfcheinen. 

Uber: 

„Was find Pläne, was find Entwürfe, 
Tie der Menſch, der vergängliche, baut!” 

Kaum ſchlug e8 am andern Nachmittage fünf Uhr, 
fo ftand ich ſchon am Fenſter, die fchräge Linie zum Fenſter 
vis-&-vis hinauffchauend, und mit Sehnfucht harrend, 

„bis die Liebliche fich zeigte!" 


6? 


Ich mochte kaum zehn Minuten vol Hangen und 
Bangen geftanden haben, als fich ihr Wenfter öffnete, und 
fie an demfelben erfchien. 

Die Falſche! Die Heuchlerin! 

Da war wieder das freundliche, holdfelige, bezau— 
bernde Lächeln! da war wieder die Miene voll Offenheit und 
Zutrauen! Da war wieder das Lächeln voll dramatifcher 
Fülle! Da war wieder der Blid vol Hiftorifeher Erinne- 
rungen! Das war wieder das Kopfniden voll draftifcher 
Wirfung! 

Keine Miene von dem geftrigen Exnft, fein Zug der 
geftrigen Kälte, feine Spur der geftrigen Apathie! 

Alles nichts als lauter Liebe-Leben, lauter Zuthun- 
lichkeit! Wieder Nicken und Winken, wieder Tächeln uud in 
die Hände Schlagen ! 

Ich machte allerlei Zeichen der Yrage, der Ver— 
wunderung, de8 Verdrußes, des Zornes 2c., id) geftikulirte 
tie ein verrüdter Telegraph, ſie aber lachte ſchalkhaft, ja, 
lachte immer mehr, und ſchlug in die Händchen vor Luft 
und Freude! Die Schadenfrohe! 

Mir aber ward das Ding doch gar zu arg! Schon 
wollte ich ein drohendes Zeichen geben, da — da erſcholl 
aus einem Wenfter neben mir, wo ein Iuftiger Student 
wohnte, ein ſchallendes Gelächter! Ich ſah mich um, und 
ansfordernd ihm ins Antlit; da aber erſcholl auch von mir 
gerade vis-A-vis am Fenſter, ebenfalls ein fchallendes Ge- 
lächter; id) war wie von Donner gerührt! Faſt aus allen 
Feuſtern der Nachbarſchaft erſcholl cin lautes Lachen! 


63 


Was war’s? 

Ic war ein Narr, meine Kokettir-Mathematik 
Hatte fid) um eine Venfterlinte verrechnet. Gerade über 
meinem Kopfe, im dritten Stode de8 Hauſes, in welchen 
ich wohnte, befand fi) aud) ein Fenſter, und in diefen: 
Fenſter befand fich eine Frenndin meiner Holden, fchräger 
vis-&-vis! Ihr galten alle die Zeichen, ihr galt das Lächeln, 
das Winken, das in die Hand fehlagen und das Hinunter- 
zeigen geftern, daß fie ausgehen wird. 

Die beiden Freundinnen hatten cine eigene Zeichen— 
ſprache, und erft jpäter entdedten fie felbft mid) und meinen 
Irrthum und machten ſich nicht wenig über meine Theater— 
Actionen und Geberben Luftig. 

Auch meine Nebenfenfter und die Fenſter vis-A-vis 
gewahrten diefen Irethum bald und hatten fich ſchon einige 
Tage an meinen Geftifulationen und an meinen Mienen=, 
Augen- und Fingerfpiel hoch ergötzt! 

Beihämt und erzürnt ſchlug id) das Fenſter zu, 
mit dem feften Entſchluße, fünftig meine Kofettirlehre mit 
cinem Kapitel: 

„Meber die Senfterlinien“ 
zu bereichern. 


Bluetten aus meiner Reife- und Sammel- Mappe. 


Liebe und Zahnweh. 


iebe und Zahnweh! Zwei unſägliche Schmerzen für die, 
welche ſie empfinden; zwei unbedeutende Dinge für die, welche 
fie nicht empfinden. „Was fehlt dem oder der?“ — „Sie 
lieben — fie haben Zahnmweh." — „Nun, wenn's weiter 
nichts ift, das Hat nichts zn bedeuten!“ 

Das find die gewöhnlichen Anfichten von Liebe und 
Zahnmeh. | 

Leidet Jemand in einem Haufe an Liebe oder an 
Zahnmweh, weiß jedes Mitglied der Familie ein anderes 
Mittel, welches untrüglich hilft. Der Papa fagt: es ift 
Rheumatismus, der gibt fid) von ſelbſt. Ein Onkel fagt: 
es ift ein Fluß, warm halten. Eine Gouvernante jagt: gar 
nicht d’ran denken ift das befte. Eine Baſe jagt: laß dir 
den herausreißen, und feß’ dir einen andern ein. Ein 
weifer Nachbar fagt: verftopfen Sie ſich die Ohren, das 
hilft gewiß. 

Kurz, e8 gibt feinen fo dummen Kerl auf der Welt, 
der nicht ein probates Mittel gegen Liebe und, Zahnweh 
müßte. 


65 


Am meiften Mittel gegen Liebe und Zahnweh wiffen 
alte Matronen und Sünder, die aus lauter verlornen Zähnen 
und verlorner Liebe felbft feinen Zahn mehr im Munde, 
und fein Herz mehr im Leibe Haben. 

Alle jene Menfchen, die ihre Zähne durch Süßigfeit 
und Unachtſamkeit, und ihr Herz durch Schwelgerei und 
Wolluft verloren und hohl haben, glauben nicht an Zahn: 
weh guter Zähne, nicht an Herz-Weh guter Herzen, und 
das natürlich, denn fie können fich felbft eben jo wenig auf 
das Herz als auf den Zahn fühlen. 

Liebe und Zahnweh haben auch das mit einander 
gemein, daß ihr Schmerz uns am meiften in der Nacht 
überfällt, daß wir dann wie wahnfinnig herumwandeln, 
und wie die Mondfüchtigen an den fteilen Wänden hinauf: 
Hettern möchten. 

Aber was ift ftärker: Liebe oder Zahnweh? 

Wenn beide zugleich einen Menfchen anfallen, welche 
Empfindung ift ftärfer ? 

Voyons! 

An der Friedrich- und Behren - Straßen - Ede in 
Berlin, im erften Stode, wohnte ein verliebter Schriftiteller, 
und der war id). 

Sie war eine verliebte Juftizrathstochter. Das ift 
Alles, was ich dem Leſer von unfern perfönlichen Berhält- 
niffen verrathen kann. 

Ic darf nur noch fo viel jagen, daß fie ſehr puß= 
ſüchtig und ſehr eiferfüchtig war; denn das ift Hiftorique 
und gehört zur Geſchichte. 


M. G. Saphir's Schriften V Br. 5 


66 


Die Putzſucht fchlägt in die Finanzkammer, die Eifer- 
ſucht aber in die Herzlammer. Die Pußfucht ift ein Pfau, 
te älter fie wird, defto ſchwächer; die Eiferfucht aber ift ein 
Krokodil, je älter fie wird, defto ftärker. 

Was ift aber ftärker, Butfucht oder Eiferfucht, wenn 
fie bei einem Individuum zufammenfchlägt ? 

Voyons! 

Meinen Wenfter gegenüber, an der andern Strafen- 
Ede, lebten alle Theaterzettel und Concertzettel. 

Sie ging nun gewöhnlich mit ihrer Mutter des 
Morgens un zehn Uhr von der Charlottenftraße nach den 
Linden, und Beide blicben an der Ede ftchen, die Theater- 
zettel zu leſen. 

Wenn fie nun fo that, al8 wollte fie der Mutter etwas 
auf den Zettel zeigen, und mit dem Finger auf die Stelle 
zeigte: 

„Anfang Sieben Uhr,“ 

fo wußte ich, der ich mit dem Fernglas hinter den Jalouſien 
meines Fenſters ftand, daß die beftinmte Stunde — fieben 
—- war. Wenn fie dabei mit der andern Hand einen Finger, 
wie ganz abfichtslos, in die Höhe hob, fo wußte ich, daß 
ein Stündchen dazu fam, und daß acht Uhr die be- 
ftinnmte Etunde ſei u. |. w. Das war an den Fingern ab- 
zunehmen. Die Tiebe macht erfinderiſch! Franklin Hat nur 
einen Dlitableiter erfunden, die Liebe erfindet alle Augen= 
blid einen andern Blitz- und Hagelableiter u. |. w. 

Es war acht Uhr, ich ftand an dem bewußten Orte, 
— aufrichtig gefagt, c8 war unter den Bäumen an der 


67 


Börfe, wo jett die Granit-Vaſe fteht, — und wartete. Ich 
wartete, fie kam nicht, ich wartete nod), fie fam nicht, ich 
würde vielleicht noch warten, wenn nicht ein Neiner Junge 
— es war der Laufburjche des Juſtizrathes — mit nod) 
einigen Collegen an mir vorbei gelärmt wäre, mit einem 
Dlid auf mid) eine Nuß zu weinen Füßen niederrollen lieh, 
und verfchwand. Ich hob fie auf, e8 war eine hohle Nuß, 
aber feine taube Nuß, denn ein Zettelchen lag in ihr: 

„Id kann nicht fommen! Die berühmte Anatole (jo 
Hieß die erfte Putzmacherin) ift heute aus Paris gekommen, 
und ich muß noch Abends Hin, bevor Alles von Andern 
ausgeklaubt worden ift. Xeb’ wohl, mein Süßer!“ | 

Ich war gewiß nicht ſüß! In diefem Augenblid ge- 
wiß nicht! 

Indeflen: „Öegen Marchandes de modes kämpft die 
Liebe felbft vergebens!“ Ic) Süßer fchnitt ſaure Gefichter, 
und ging bitter nach Haufe. 

Zwei Tage darauf Hatte ich den unbänbdigften Zahn- 
ſchmerz; ed wüthete in mir, wie mit Dolchen. Die Wange 
war aufgeſchwollen und überdedte mein linfes Auge; id) 
fah aus, wie ein ungeheurer Borftorfer-Apfel mit einer 
brandrothen Seite. Da ging fie vorüber, legte den Finger 
auf die Stelle: 


„Anfang Sieben Uhr,“ 


tupfte noch einmal, wie zur Beftätigung, mit dem Heinen 
Fingerchen darauf, und zog nut der lieben Frau Mama 
weiter. | 


5% 


68 


Ic ließ ſogleich meinen Arzt holen, und fagte: ein 
Geſchäft, ein unauffchiebbares, nöthige mich zum Ausgehen. 
Er meinte, ich dürfte durchaus nicht in die Luft, fonft be— 
kame ich dic Gefichtsrofe. 

Ih war in einer ftarfen Verzweiflung, und in 
einer gelinden Transpiration. Ich entſchloß wid, ihr zu 
ſchreiben. 

Ich ſchilderte ihr meinen doppelten Schmerz, und 
meine einfache Verzweiflung, mit den feurigſten Farben 
ſchilderte ich ihr das Feuer meiner Liebe und meiner linken 
Wange, und bat um Verzeihung, und ſendete meinen kleinen 
Berliner-Courier mit dem kleinen Briefchen ihr zu. 

Es war die Scheidungsacte! — Ich war verloren! 
— Ich hätte doch gehen ſollen! Meine geſchwollene Wange 
hätte ich ihr zu Füßen legen müſſen, mein verſchwollenes 
Auge hätte ich in ihre Hand legen müſſen, die Geſichtsroſe 
hätte ich meiner Roſe ins Geſicht zeigen müſſen, ich hätte 
kommen müſſen, hätte ich auch todt zurückgehen müſſen! 

Am andern Tage brachte der Heine Juſtiz-Laufburſche 
ein Zettelchen und ein Fläſchchen! 


„Gefühlvoller Dichter! 


„Gewiß, Zahnweh iſt ſtärker als Liebe! Was iſt eine 
brennende Sehnſucht gegen eine brennende Wange? Was 
iſt ein entzündetes Herz gegen eine entzündete Lippe? Wenn 
man ſo liebt, und ſo an Zahnweh leidet, muß man auf 
Alles reſigniren, nur nicht auf gegenwärtigen Balſam, 
den ich Ihnen ſchicke, und von dem ich wünſche, daß er alle 


69 


Ihre Leiden Heilen möge. Binden Sie ihn, auf Ihren Tiebes- 
brief geträufelt, um Ihre Wange, und bleiben Sie ewig 
»erbunden Ihrer achtungsvollen Freundin 
MN.“ 
— Bir fahen uns nicht wieder. 
Das ift Liebe und Zahnmweh! 


Der zweidentige Regenſchirm. 


Ein Abenteuer mit naffem Anfange und trodenem Enbe. 


G⸗ war einer unſerer ſchönſten Sommertage, mir klapperten 
die Glieder in den kalten Zimmern; ich hüllte mich in einen 
leichten Sommerpelz, und zog durch die Straßen Wiens. 

Ich habe ſchon oben geſagt: es war einer unſerer 
ſchönſten Sommertage, es fing alſo auch ſogleich zu regnen an. 

Ich trage ſeit langer Zeit keinen Regenſchirm mehr, 
erſtens weil ich feinen habe, zweitens, — denn es gibt Men⸗ 
ſchen, die mit dem gründlichften Grund nicht zufrieden find 
— und zweitens weil ich nicht gerne der Diener meines 
Regenſchirmes bin, der fi, wenn e8 nur ein Bischen 
Schlechtes Wetter ift, von mir tragen läßt, — Sobald ein 
Regenſchirm erfunden werden wird, der bei ſchmutzigem 
Wetter mich tragen wird, fchaffe ich mir aud) gleich einen 
an. — Der Regen fing an dermaßen in Strömen herab» 
zuftürzen, daß ich genöthigt war, in ein Hausthor zu treten, 
und mich, wie man hier fagt: unterzuftellen. 

Daß Regen und Sturm, Donner und Blig der Tiebe 
günftig find, ift eine befannte Sache. Wie hieß nur gleich 
die da? Didol richtig! | 

Sogar das proſaiſchſte Ding im Leben fann einem 
Liebesgenie zum glüdlichen Behelf werden; Zeuge defien: 


71 


der Mantel, den Leicefler über den Moraſt legte, damit 
Elifabeth darüber fpaziere; Herr Loth ift feiner Frau los 
geworden, weil fie fic) nad) einem Feuer-Regen umjah; 
kurz, das Grollen der Elemente ift der Liebe günftig, jo auch 
mir diefer Plagregen, diefer Regen und diefer Plag. 

E8 war in der — Gaſſe, der Leſer kann nicht fehlen, 
denn gerade über dem Haufe ftcht alle Abend, wenn der 
Himmel mit Wollen umzogen ift, das Sternbild: die 
Spila. 

Id ftand im Thor und fah zum Himmel empor, denn 
der Menfch richtet Leider nur dann erft feinen Blick zum 
Himmel, wenn Sturm und Ungemitter ihm droht. Da er= 
blick' ich plöglich, auf dem Wege zwifchen mir und dem 
Himmel, ein Tenfter vis-A-vis, und an dem Fenſter — ad)! 
an dem Fenſter! — Nun meint der Leſer gewiß, es 
wird heißen: „und an dem Venfter ein weibliche 
Wefenn. f. w.?“ nicht wahr, da8 meint der Xefer ? 

Es ift auch wahr, und an dem Fenſter ein weibliches 
Weſen. Ein weibliches Wefen, wie fol ic) es gleich ſchildern? 
Lieber Leſer, fchildere fie dir felbft, nach eigenen Belieben, 
ich bin mit Allem zufrieden. — Wie du fie fchilderft, fo foll 
fie gewefen fein. 

Sie faß am Fenfter und — las? Nein! Begoß 
die Blumen? Nein! Zändelte mit der Nachtigall? 
Kein! — Ich will die Lefer nicht täufchen. Ich bin in diefem 
Augenblide Hiftorifer und nicht Romantifer! Ich 
gebe hiftorifche Wahrheit! Sie faß am Fenfter und fpitte 
ſich die Nägel. 


72 


Ic jah hinauf, fie fah herab, es war richtig; wir 
ſahen ung, wir liebten uns, wir ſchwuren und ewige Treue! 
Alles durch Phyfiognomit! 

Die Scheibe! die Fenfterfcheibe! die verdammte gen. 
fterfcheibe genirte mich gewaltig. Der Menſch traue nie einer 
Senfterfcheibe! Ein Dlädchen Hinter der Fenfterfcheibe ift ein 
ganz anderes Wefen, als ohne die Fenfterfcheibe. Die Glaſer⸗ 
meifter haben die größten Illuſionen im Leben hervorge⸗ 
bradt. Ein Mädchenkopf hinter einem Yenfterglas bringt 
die größte optifche Täufchung hervor! Prima regula Juris 
est: Man verliebe fich nie, bevor ſie das Fen⸗— 
fter aufgemadt Hat! 

Sie machte das Fenfter auf! Ach, welche Schönheit! 
Sie war ſchön wie, wie, fiehe meine gefammelten und noch 
ungejammelten Schriften, Seite 17,39, 44, 67, 120, 201, 
304, 506 und fo weiter, und wähle ein Muſter — Honora= 
tioren zahlen dafür nad) Belieben. 

Sie fah zum Himmel empor und dann zu mir! Ich 
war ja aud) ihr Himmel! — Dann machte fie da8 Yenfter 
wieder zul Warum machte fie das Fenfter wieder zu? 
Weil e8 vegnete! Richtig! Die Leſer wiffen jett gleich Alles, 
man fann fie gar nicht mehr überrafchen! 

Sie fah wieder herab, auf einmal fprang fie auf, eilte 
vom Venfter weg, blieb einige Minuten weg, kam dann 
zurüd und lächelte. In diefem Augenblick fam die beflügelte . 
JIris oder, um deutlicher zu fein, ihr Stubenmäddjen, über 
die Straße gehüpft, bradjte mir einen Regenſchirm und 
fagte: „Das gnädige Fräulein fendet Ihnen hiermit einen 


73 


Regenſchirm!“ — Sagt’8 und verfchwand, indem ich ihr 
noch nachrief: „Ich werde die Ehre haben, den Schirm mit 
meinem Dank dem Fräulein felbft zu überbringen.‘ 

Man fage, was man will, die Frauen find liebens- 
würdiger, als die Männer, aud) fogar wie ich! Und fie 
wiffen mit folchem Anftand uns Gelegenheit zu geben, mit 
ihnen befannt zu werden, daß wir Herren der Schöpfung 
wahre Zölpel der Schöpfung dagegen find. 

Am andern Tage, e8 war gerade gleich den Tag 
darauf, e8 war fehr jchönes Wetter, ging ich zu ihr. 

Welch ein Unterschied: geftern und heute! Geftern 
ging ich im Regen ohne Regenfchirm, heute im Sonnen⸗ 
fchein mit einem Regenſchirm! Die Natur ift reich an ſolchen 
finnigen Contraverfen! 

Ic) ging hinauf, Tegte mein Herz an die Thüre, es 
klopfte; „Herein!“ rief eine flötenweiche Stimme, und ich 
trat hinein. Sie ſaß am Fenſter — ich nahte mid), das 
Pfand der Liebe auf dem Arın, den Regenschirm. 

„Fräulein!“ fagte ich, und corrigirte mid) ſogleich: 
„Holdes Träulein! Im Leben gewährt der Mann den 
Frauen Shut, und die Frauen den Männern Schirm!“ 
Hier wartete ich, um den Effect diefer brillanten Intro— 
duction abzuwarten. Ste machte feinen Effect. Aha, dachte 
ich, zieh’ den witigen Bramfegel cin, und pflanze den fenti=- 
mentalen Fockmaſt auf! Ich begann alfo wieder: 

„BerehrtefteHolbe! wieglüdklich, wer nachXebensflurm 
und aus des Dafeins Wolfenhimmel fich auf die glüdliche 
Sonnenterraffe eines empfindenden Herzens flüchten Tann!“ 


14 


Ich endete wieder, um die Wirkung diefes empfind- 
famen Böllers zu beobadjten. Er verhallte wirkungslos! 

Kurz, meine Schöne blieb kalt, jchroff, unzugänglid). 
Diefe Heuchelei verdroß mih! Mir den Regenſchirm zu 
ſchicken, mir fo zu fagen auf gut regenſchirmeriſch anzu= 
deuten: „Komm mit ihm wieder!” und nun fo die Spröde 
zu fpielen! 

Ich verfuchte noch einige Anläufe, Alles vergebens. 
Sie fagte: „Ic bitte Ste jehr, mic) zu verjchonen.“ 

Das war zu arg! Ich entfchuldigte meine Kühnheit 
nit der Heftigfeit meiner Leidenschaft, und ging endlich fo 
weit, ihr zu jagen: „Die Güte, mit welcher Sie mir den 
Regenschirm ſchickten, nahm id) für eine mid) beglüdende 
Einladung, mid) dann felbft bei Ihnen vorzuftellen!“ 

Sie ſprang auf, eine edle Röthe überflammte das 
holde Angeficht, und fie ſprach: „D ihr eitlen Männer! 
So wiſſen Sie denn, Ihr Anblid und Ihr Gegenüberftehen 
war mir fo unleidlich, jo zuwider, daß ich e8 vorzog, Ihnen 
je eher je lieber den Regenschirm zu fenden, um Sie nur 
recht bald von da drüben los zu werden!“ 

Daß ich bei diefer Anrede ein verteufelt dummes 
Geſicht gemacht haben muß, wird man mir leicht glauben, 
doc) rafite ich nod) alle meine Ironie zufammen, um zu 
fragen: „Aber, mein holdes Fräulein! was hat Sie denn 
genöthigt, am Tenfter zu bleiben, wenn Ihnen mein vis-A-vis 
jo verhaßt war?” — Sie niachte einen fpöttifchen Kniks, 
und fagte lachend: „Und wie, mein genialer Herr! wenn id) 
nun meinen wirklichen ®eliebten erwartet hätte? Ich empfehle 


u 


75 


mich Ihnen!“ und damit ſchlüpfte ſie in ein Nebenzimmer. 
Ich machte Rechtsum und zog ab, indem ich den zweideutigen 
Regenſchirm auf den Tiſch legte. Darauf ſchrieb ich dieſe 
erbauliche Hiſtoria nieder, zur eigenen, öffentlichen Selbſt⸗ 
geißelung, und zum moraliſchen Exempel für die Eitelkeit 
und Eigenliebe ſämmtlicher Mannsperſonenwelt. 


Die Brieftanbe. 


6; war eine Blondine. 

Gewiß ift es, ich muß in einer blonden Stunde geboren 
worden fein; entweder wenn die goldene Aurora ihr Gold- 
haar mit goldenem Kamın in die blauen Lüfte hereinfämmt, 
oder wenn Hesper feinen blonden Rundfamm um die rofigen 
Wangen der abenddämmernden Gebirge frifirt; und zu 
meiner Wiege trat eine blonde Fee, blond wie Luna, wenn 
fie mit aufgelösten Flatterlocken um die Erde wandelt, um 
ihren langweiligen, fchläferigen Liebhaber aufzufuchen, und 
fie fegnete mic) und ſprach: 

„Dein Fuß ftraudjle ftetS in blonde Netze, und das 
große Narrenfeil, welches man Liebe nennt, werde Dir ſtets 
aus goldenen, dünnen, weichen, volligen, elfigen, fonnigen 
Löckchen und Locken gedreht!“ 

Und fo geſchah's! 

Ich will damit nicht gefagt haben, daß nicht hie und 
da, dann und wann, hier und dort, aud) ein fchwarzes, 
braunes, dunkles, oder Kendree-Haar mit in das fogenannte 
Seil eingeflochten wurde} aber die Grund-Couleur blieb 
— blond! 

Blond in allen Miſchungen, Färbungen und Ab- 
ftufungen, von jenem gelbgelben Senimel-BIond, welches 
die Leibfarbe der Fadheit ift, bi8 zu jenem Hoch blond, 


77 


welches fich mit Feuerroth ſchweſterlich duzt und feine 
eigenthümlichen Reize befist. Alle Arten von blaß-, tief-, 
dunkel⸗, licht=, ſtroh⸗, marillen- und Herbftlaub=blond durch, 
die ganze Wefenleiter der Blondheit hinauf und hinab! 

Das ift nun nicht mehr Geſchmacksſache, oder 
Gufto, oder Wahl, es it Fatum, Geſchick, Prä- 
beftination, ich habe nunmehr einmal ein blondes 
Schickſal, fo wie manche Menjchen ein ſchwarzes 
Schidfal haben. 

Alfo, e8 war eine Blondine. | 

Und es begab fich zur Zeit, ald die Theater leer 
werden, die Herrichaften, Banquiers und Eigenthümer alle 
aus der Reſidenz entfliehen, und Niemand ins Theater geht, 
als „Nachtigall und Grille, die fich der Nachtluft freuen,“ 
das heißt, als Freibillete und Recenjenten; um diefe Zeit 
find die Togen nicht mit ihren Urbewohnern befett, fondern 
plombirt und wattirt mit Freunden, Belannten, Kammer⸗ 
mädchen, Zofen und jonftigen Stellvertreterinnen der eigent= 
lichen Xogenbevölferung. 

Zu jener Zeit, wo die Hiße ſehr groß und das Pu— 
blikum ſehr klein iſt, im Theater nämlich, die Stücke ſehr 
lau und die Kunſt ſehr kühl, zu jener Zeit ſaß ich im Theater, 
ich weiß nicht, warum ich im Theater ſaß, gewiß aber 
geſchah es nicht zu meinem Vergnügen, vielleicht ſpielte ein 
„Gaſt“ aus jener Welt, der noch nicht recenſirt wurde, oder 
es wurde ein ſranzöſiſches Luſtſpiel ins Ueberſetzeriſche 
übertragen, kurz, ich ſaß im Theater und ließ die Blicke umher⸗ 
Tchweifen auf alle meine Teidensgenofjen und Mitgefangenen 


18 
in dem Blocke der Sperrfiße und in dem Bajazeth⸗ Käfig 
der Logen. 

Da ſaß ſie! blond! blond! blond wie mein Schickſal, 
zum Sprechen ähnlich! Aber keine Locken, keine Schlangen, 
keine Maccaroni, keine Bretzeln, auch keine Flechten, keine 
„accrochc-coeur*, feine Semikolons „(;)“ um die Schläfe, 
fondern glatt gefämmt und in zwei einfachen Ringen um 
das Silber-Plateau der Schläfe gelegt, und aufdemScheitel- 
punkt ein gordifcher Knoten, in dem ſchon ein gold’nes 
Alerander-Schwert angebracht war. Und ein paar Augen, 
blau, verfteht fic) blau, blau wie, wie fag’ ich nur gleich, 
nicht wie Berliner-Blau, denn das ift offectirt und 
blaufäuerlich, aber wie Wiener-Blau! Ach, mein holder 
Lejer, Du kennft das Augen Wiener-Blau der Wiene- 
rinnen! In diefem Blau tummeln fi) die Augenfternlein 
jo gefhäftig und zuthunlich und wohlig herum, wie bie 
Sternlein in-dem Blau einer frifchen Juni-Nacht! 

Alfo Wiener-blaue Augen waren es! Und diefe 
Augen hatten einen Blick, einen Blid, fo tröftend und Hoff- 
nunggebend wie die Gerechtigkeit, wenn fie durch die Finger 
ficht, und dieje Augen waren befchattet von Wimpern, ach, 
Wimpern, die, lange majeftätifche Garden, den Augentempel 
bewachten, und wenn auch diefe Garden mit ihren langen 
Lanzen zu Jagen fchienen: 

„La garde meurt, mais ne se rend 2 paet 
fo wohnte gleich neben oder vielmehr bald unter diefen Gar- 
den ein Lächeln in dem rofigen, anmuthigen Kinngrübchen, 
welches zu jagen fchien: 


79 


„Tentare licet“, 
oder: 
„Der Menih muß an nichts verzweifeln.” 


Ich bin ein Menſch, das heißt: in jenen lichten Augen» 
dliden, in denen ich kein Recenſent bin, und folche lichte 
Augenblide habe ich: gerade im Theater recht viele, denn da 
fehe ich, e8 am beften ein, daß ein Menfch dem Menſchen 
immer nod) mehr nüßen kann, als ein Recenfent! 

Ich fah fie an, fie lachte gerade über den Peter in 
„Menſchenhaß und Reue“, und aus der gejprungenen 
Oranitblüthe ihres Mundes lachte mir eine Fülle weißer 
Zähne zu, wie die weißen Körner einer angefchnittenen 
rothen Zudermelone. 

Ich fegnete den Peter, und zum erften Male fand ich 
an feinen albernen Späßen Vergnügen. 

Dei dem großen, riefengroßen Wit Peters: 

„Pfeifen für uns!“ 
Lachte fie unbändig und ihr Blid fiel auf mich, und ich lachte 
gewaltig mit, und dieſes Mitlachen jchlug cine fliegende 
Brüde von mir zu ihr! 

Mir ift viel Lieber, wenn ein Mädchen über Peters 
Dummheit lacht, als wenn fie über Eulalia’8 Neue weint! 

Ueberhaupt ift ein Bischen Dummheit bei Frauen⸗ 
zimmern fo pifant, wie der große haut-gout beim Wildpret! 

Mir fagte ein geiftveicher Dichter in Paris: 

„Parbleu, je suis degoute de ces feınmes d’esprit, 
des ces faiseurs d’esprit, je m’en veis faire la cour & uno 
imbeeille !* 


80 


Der Mann hat nit ganz Unrecht! 

Unfere geiftreichen Frauen find vor lauter Geift ent= 
feglid) dumm! 

Unfere dummen Frauenzimmer dagegen, das find 
noch die Einzigen, mit denen man ein vernünftiges Wort 
ſprechen Tann! 

Alfo, fie lachte über Peters Dummheiten, ic) lachte 
mit, der Bund war geſchloſſen. 

Ich will den Leſer mit dem weitern Verlauf der 
Kokettirgeſchichte verſchonen, und um den dramatiſchen 
Gang der Sache nicht zu hemmen, zur Kataſtrophe 
ſchreiten. 

Bald wußte ich ihren Namen, wo ſie wohnte, und 
daß fie nicht böfe wäre, wenn ein Zettelchen, welches ich 
zwifchen meinen Fingern drehte, fi) bald aud) zwiſchen 
ihren Fingern befände. 

Es heißt alſo einen Liebesbrief ſchreiben! „Geſegnet 
ſei der Mann, der Schrift und Siegel für ein armes Liebes— 
paar erfand!” 

Ein Liebesbrief! 

Ach! und warum: ach? deshalb, weil der Menſch aı an 
nichts fo fehr merkt, daß er alt wird, als an feinen Liebes⸗ 
briefen; nicht an den grünen Erbſen, die er nicht mehr ſo 
gern ißt, als in ſeiner Jugend; nicht an den Stiefeln, die 
er gerne immer weiter und breiter trägt; nicht daran, daß 
man nad) und nad) immer mehr Treund von Suppen wird, 
fondern daß man immer weniger Talent verfpürt, Liebe s— 
briefe zu ſchreiben! 





— 


8 


In der Jugend ſchreibt man zehn Liebesbricfe an 
einem Tage, und alle athmen glühende Leidenschaft und 
jeder ift eine DBrandfadel, gefchleudert in eine Pulver> 
tonne! 

Welch ein Vorrath von Brand- und Feuer-Material! 

Sie fangen alle an: 

„Könnte ich meine Feder in die Sonne tauchen!“ 
oder: „Was der Thau der lechzenden Roſe, das Licht dem 
im Finftern Wandelnden, das war der Anblick u. ſ. w.“ 
oder: „Ihr Sterne da oben, du leuchtende Sonne, leiht mir 
eure Strahlen,“ oder: „Wenn Sie zürnen, ſo zürnen Sie 
über die Allmacht Ihrer Reize,” oder: „Ich habe lange ge— 
fämpft; aber hinweg nagende Geier, hinweg blutgierige 
Gedanken!" u. |. w., u. ſ. w. 

Aber wenn man einmal die Linie paſſirt, die Mittags: 
linie des Lebens, das heißt, wenn man einmal über die 
Pebenshälfte hinaus ift, und bei dem fchönen Gefchlechte 
ſchon die „Favoriten-Linie“ Hinter fich hat, da fomnten 
Einem die Liebesbriefe blutfauer an! 

Indeſſen die Praxis muß aushelfen! die erfte Be— 
dingung eines Liebesbriefes iſt: Unleferlichfeit! Ye 
weniger die Schöne von Briefe lefen kann, defto mehr Ein- 
druck macht er auf fie! Die zweite Bedingung ift: Keinen 
Nefpect- Rand! Nur feinen weißen Rand an einen Liebes- 
brief! Weder oben nod) unten! die obere Hälfte der Anfangs- 
zeile und die untere Hälfte der lebten Zeile müſſen, wo 
möglich, nod) auf dem Tiſche gefchrieben fein! Die dritte 
Dedingung ift: Wenigftens Ein Kies! Ein Kleks ift eine 

M. G. Saphir'sé Schriften. V. Bd. 6 


82 


Licentia erotica! Ein Kleks in einen Xiebesbriefe, c'est 
de rigeur! 

\ Wenn die Geliebte von den ganzen Brief auch nichts 
leſen kann, als den Kleks, fo ift das fchon genug! Ein Kleks 
ift nichts, als das Symbol überftrönmender Empfindung; 
die Klekſe gehören zu den Privilegien der Liebe. Man fehe 
einmal die Archive der Liebe durch, die letzten Briefe, die 
man von der Öeliebten befommt, find immer ärmer an 
Empfindungen und an Klekſen, und die Weltgefchichte hat 
fein Beifptel, daß ein Abjchieds- und Abſage-Brief je einen 
Kleks aufzumeifen hat! Die vierte und Hauptbedingung tft 
es endlich: er muß gefhmuggelt werden! Ein Liebes- 
brief, der auf geradem Poſtwege, und ein Xiebhaber, der zur 
offenen Thüre hereinfommt, find nicht halb fo pifant, als ein 
Brief, der auf Schleich- und Winkel- Wegen, und ein Lieb- 
haber, der zum Yenfter hereinfommt. 

Ich ſchrieb ihr alfo einen Brief, in welchem ic) eine 
kleine Veufterfarte von Klekſen anbrachte, die ihre Wirkung 
nicht verfehlen konnten. 

Mit diefem Hatti-Scherif ausgerüftet, Tief ich von 
Stapel und lavirte lange vor ihrem Haufe herum, um eine 
günftige Schiuugglerfährte für meinen Brief auszufinden. 

Da erfchien mir die erfehnte Brieftaube in der Geftalt 
des Hausmeifters! 

Die Hausmeifter, Hansmeifterinnen und Hausmeifter- ⸗ 
Töchter ſpielen in der Geſchichte der Herzen eine große Rolle, 
fie ſind oft das Medium zwiſchen Subject und Object, und 
die dritte Perſon anzeigender Art zwiſchen der 


— 


8 


erſten und der zweiten Perſon in dem unregelmäßigen 
Zeitwort der Liebe! 

Da ſtand er im Thorweg, behaglich, wie ein reicher 
Emir, in die Welt hineinſchauend, wie ein Fruchthändler 
bei langer und anhaltender Dürre. 

Ich nahte mich ihm, wie einem Mläcen, nahm meine 
freundlichſte Miene aus. meiner Wintergarderobe hervor 
und fagte fanft: y 

„Guten Morgen, mein lieber Herr Hausmeifter!“ 

Gravitätiſch und falt antwortete er: 


„Suten Morgen!” 


Es entftand eine Kleine Converſations-Pauſe, ich 
taffte aber all meinen Muth zuſammen und fteuerte mit 
vollen Segeln meiner Abficht zu. 

„Sie könnten mir eine Gefälligkeit thun, wofür ich 
Ihnen fehr dankbar fein würde — (hier ließ ich in einer 
Hand die Gefälligkeit in Geſtalt eines Briefchens und in 
der andern Hand die Dankbarkeit in Geftalt eines Zwei— 
guldenftüds cin lebendes Bild zu meiner Deklamation dar- 
ftellen) — wenn Sie dieſes Zettelchen gefälligft beftellen 
wollten.“ 

Dabei fchilderte ich ihm die Perfon, die er aud) fo- 
gleich erkannte, und ich bemerkte mit vieler Pietät, das 
Briefchen käme von einer ihrer Freundinnen, und das Ganze 
fet auf eine Ueberrafchung abgejehen, die ihren Vater zuge 
dacht ift, und von der er aljo nicht früher Wind befommen 
dürfte. 

6* 


81 
- Die hausmeifterliche Brieftaube fchien Anfangs nicht 
Luft zu bezeugen, doch bald befann er ſich eines Beflern, 
nahm mit fchlauem Lächeln Brief und Geldftüd, und ver- 
fprach feine Sache gut zu machen. 

„Wiſſen Sie was, Euer Önaden,“ fagte er endlich, 
„ich werde Ihnen was verrathen. Sie fährt jetzt um eilf 
Uhr nad) Döbling zu ihrer Zante, fegen fie fich auf der 
Freiung in den erften Wagen, dort ift ihr Platz fchon be= 
ftellt, und Sie haben die befte Gelegenheit, Sie zu ſprechen!“ 

O edle Seele des Hausmeifters! Wie entzüdteft Du 
mid) ! | 

Ic Ließ noch ein Guldenſtück in feine Hand rollen, 
mir Alles noch einmal erklären, eilte dem erften Döblinger 
Stellwagen auf der Freiung zu, bezahlte meinen Pla& und 
jeßte mich in den Taubenſchlag. Bald war es eilf Uhr. 
Kommt fie oder nicht? da8 war die Frage. Endlich fam fie, 
fie felbft, der Hausmeifter, mit einem Kleinen Badet ihr zur 
Seite, erſchien auch, um ihr dieſes Padet bis an den Wagen 
zu bringen. Wie pochte mein Herz! 

Sie ftieg ein, gerade mir vis-a-vis, ich bebte vor 
Freude! 
Als fie ſaß, ſtieg auch der Hausmeiſter ein, ich madjt: 
große Augen. Er fette ſich ihr zur Seite, id) war ganz ver— 
wirrt. Er fchien fich einige Zeit an meiner Lage zu ergögen, 
endlich jprach er, indem er mir meinen Brief und meine 
Geldſtücke Hinreichte: „Mein Herr, Sie wollten dem Vater 
diefes Mädchens eine Ueberraſchung machen, er macht 
Ihnen aus Danf aud) eine. Ic) bin ihr Vater, dem es gar: 


BR. 


8 


nicht leid ift, vor einer Stunde gerade wie ein Hausmeifter 
ausgejehen zu haben. Nehmen Sie Ihre beiden mir anver⸗ 
trauten Güter zurüd, und halten Sie in Zukunft nicht 
Jeden, der im Thorweg fteht, für den Hausmeifter!* 

Was ich bei diefer Anrede für ein Geſicht machte, 
was fie für eines machte, ic) weiß es nicht, mein Lieber 
Lefer. Der Wagen wollte gerade zum Schottenthor hinaus, 
ich war in ber gräßlichften Verlegenheit. 

„Halt! rief ic einem mir ganz unbefannten Bor- 
übergehenden zu, „halt, ich habe mit Ihnen zu reden!“ Tief 
den Wagen halten, fprang aus, bat dann den Mann um 
Bergebung, daß ich mic) verfannt hatte, und lief nad) Haufe, 
um über die verunglüdte Brieftaubenpoft ein Flägliches 
Nachdenken zu halten. 


Volksthümliche Reden und Aushängfcilder. 


I. 


„Bur [hönen Seele” 


Putz⸗ und Modewaaren » Handlung ber Frau Befcheidenheit. 





ommen Sie, meine liebenswürdigen, meine fittfa- 
Rs smen Mädchen, kommen Sie einmal mit mir in 
die reiche und herrliche Pußwaaren - Handlung: 
„gur ſchönen Seele.” 
Wenn Sie genug gefehen und bewundert haben alle 
die niedlichen, reizenden, ſchillernden, gefchmadvollen 
„Dingelden, 
Ringelchen, 
Sächelchen, 
Fächelchen, 
Miederchen, 
Fliederchen, 
Schlenderchen, 
Bänderchen, 
Mantillchen 
Und Häubchen, 
Kriſpinchen 
Und Leibchen“ 
in den wirklichen Modehandlungen, dann treten Sie einen 
Augenblidi in die Putzhandlung der Frau Befcheidenpheit: 
„zur [hönen Seele“ 


90 


Sehen Sie, meine Verehrten, es wohnen viel Leiden⸗ 
ſchaften im menfchlichen Herzen, die defto Hungriger werden, 
je mehr man ihnen Nahrung gibt, und die defto ſatter 
werden, je mehr man fie aushungert, und zu diefen Teiden- 
ſchaften gehört auch nun am allermeiften: die Putzſucht. 

Manche böfe Gelüfte find wie manche böfe Thiere 
nur durch Hunger zahm zu machen, und zu diefen wilden 
Hausthieren gehört auch: die Bugfudt! 

Ich will nicht fagen, meine Holden, daß Ihr Euch 

"nicht nett, nicht geſchmackvoll, nicht reizend Heiden follet, 
denn eben weil nur der Unfichtbare im Hinmel in das Herz 
der Menfchen fchaut, fol der Menſch für den Menfchen, 
der nur das Aeußere fchaut, auch etwas Angenehmes zur 
Schau legen, aber Ihr folt Euch ſchmücken und nit 
pugßen, Ihr folt Euch Fleiden und niht maskiren, 
Ihr folt geſchmackvoll angezogen, aber nit bunt 
behängt fein, Ihr follt nad) der Mode gefleidet 
geh’n, aber die Mode follniht nad Eud ge- 
fleidet gehn! 

Wie reich ift dic gütige Natur, wie reich ift das Herz 
im Menfchen an Zierden und Zierath, an Schmuck und 
Berfchönerung, an Reizverleihung und Schönheitserhöhun- 
gen für die weibliche Welt! Wie wenig braucht die Natur 
die Kammerdienerin Kunft ! 

Seht die Sonne an, meine Theuern, fie fteht des 
Morgens auf, bevor Ihr noch daran denkt, fie zieht die 
Borhänglein der Nacht zurüd vom Himmelsfenfter, fie 
wäfcht fic) die muntern Yeuglein Har im großen Wajchbeden 


91 


des Weltmeeres, ſie ſchlägt das flatternde Strahlen— 
haar ſchlicht zuſammen, hüllt ſich in das Rofa-Morgen- 
Neglige ihrer einfachen Sammerfrau Aurora, und wandelt 
munter und leicht ihrer Tagesbahn entgegen! Sie läßt ihre 
Perlen und Inwelen hängen an Bäumen und Gefträuchen, 
ſie läßt ihre Spiten und Schleier flattern in Nebeln und 
Wolken, fie läßt ihre Shawls und Bänder wallen in Bächen 
und Strömen, und geht, mit nichts geſchmückt, als mit dem 
Lichte ihrer eigenen Schönheit, in nichts gehüllt, als in den 
Glanz ihrer Reinheit, mit nichts behängt, als mit den 
Strahlen ihres innern Werthes, durch den großen, blauen, 
unendlichen Himmelsfaal! 

Unter den Mädchen und unter den Tauben, meine 
reizenden Leferinnen, find das die Schlimmften und die am 
wenigften für den freundlichen, häuslichen Taubenſchlag 
taugen, die ihre bunten Halsfedern am meiften auffäcdhern, 
und mit ihnen fchillern und prunken. 

Ein jeder neue Mode-Artikel, den ein Mädchen an- 
zieht, ift ein neues Tenfter, wodurch da8 Mädchen in die 
Welt fehen und von der Welt gefehen fein will; ein Frauen— 
zimmer und ein Zimmer aber, das viele Tenfter Hat, ift gut 
zum müßigen Hinausgaffen auf die Straße, aber e8 ift nicht 
wohnlich. Wo viele Fenfter in einem Herzen find, da ift 
wenig folide Wand, da ift wenig Raum für die nöthigen 
Möbel des häuslichen Glüdes, der Tiebe, der Tugend, der 
Zufriedenheit. 

Ein Mädchen fol fein, wie ein Beilchen, man foll es 
sicht früher fehen, bi8 man es auffucht, bis man fid) tief 


92 


bückt, um e8 zu pflüden; aber ein Mädchen, das alle Far- 
ben anzieht, um alle Augen anzuziehen, ift wie die duft- 
und herzloſe Zulpe, die mit ihrem Sammt- und Farben⸗ 
blatte koketirt, fid) felbft gefällt, und die bewundert, 
belächelt, aber nie in Liebe gepflüdt wird. 

Einfachheit! Das ift der erfte, faft einzige Artikel, 
in der Puswaaren = Handlung: 2. 

‚Zur ſchönen Seele.“ . 

Der Geſchmack, meine lieben Leſerinnen, ift nichts 
als das Augenmaß der Seele; ift die Seele gefund, 
hat fie Elare, Hellfehende Augen, fo ift ihr Augenmaß richtig, 
und fie wird nie gef hmadlos fein, und nur das Ein- 
fahe ift geſchmackvoll. 

Ein Mädchen, das viel Farben auf fi ch trägt, trägt 
gar feine Farbe in fich. Ein Mädchen, das hochrothe Rofen 
in Haar oder im Hute trägt, macht cine Satyre auf die 
Rofen feiner Wangen. Ein Mädchen, das goldne Franfen 
und goldne Stidereten auf feine Kleider nimmt, madıt ein 
Pasquill auf das Gold feiner Gefinnung. Ein Mädchen, 
das, wenn e8 ausgeht, durch) die Buntheit feiner Kleider die 
Augen der Menge auf fich zieht, tritt mit jedem Schritt 
feinen guten Ruf, feine befcheidene Individualität in die Erde. 

Man fagt: „das Kleid macht den Mann!“ Richtiger 
ift e8: „das Kleid madht das Mädchen!“ 

Ic will in jeder Gefellfchaft den Hauptcharakter 
jedes Mädchens aus feinem Anzuge erkennen. Die Einfachfte 
iſt die Schägenswerthefte; die Buntefte, die Ueberladendſte 
ift — gelinde gefagt — die Bemitleidenswerthefte! — 


- 


93 


Wenn Ihr wüßtet, meine theuren Mädchen, wie die 
Männer und Frauen über jede Nadel in Eurer Toilette, 
über jeden Ring Eurer Ketten berfallen, und von diefem 
auf Euch felbft, auf Euren Charafter, auf Eure Häuslichkeit, 
ja, auf die Berhältniffe Eurer Aeltern übergehen, und all 
diefen Ueberfluß, den fie an Euch bemerken, mit einem 
Mangelin Euch ausgleichen, dann, ja dann würdet Ihr 
von Euch werfen all den in die Augen ftechenden, die Blicke 
mit „Halloh“ und „Hurrah” auf fich zichenden Tand 
und Slitter, der Euch für den Augenblid einen eitlen Glanz 
verleiht, aber den Ölauben an Eure innere Bollfommenheit 
gewaltig erfchüttert. 

Wenn ihr wüßtet, daß man von der Schäßung des 
bunten Kranzes um Eure Toden, von dem Flitterwerf auf 
Euren Mantillen, Tüchern, Krifpinen u. f. w. direct zur 
Schätzung Eures Berftandes, Eures Gemüthes, Eurer 
MWünfche, ja, zur Schägung der Vermögensumftände Eurer 
Bamilten, und zur Schätzung der Zufunft Eurer fünftigen 
Männer übergeht, dann, ja dann würdet Ihr von Eud) 
werfen all diefen auffallenden, blidauffichreißgenden, feuer- 
fchreienden, Lärmfchlagenden, bunten Kleiderfram, und Euch 
einfach geſchmackvoll Kleiden, züchtiglich reizend, und Alles 
würde von Eud) jagen: die ift gefleidet aus der wahren, 
hinreißenden, unnachahmlichen Pußwaaren » Handlung: 

„Zur ſchönen Seele!“ 


LI. 


Bu den drei Laufern: „Ingend, Schönheit und Liebe.” 


Spezerei- und Deflfateffenwaaren-Hanblung bes Lebens. 


Ja, mein lieber Leſer, das ſind die drei Laufer des Lebens: 
Jugend, Schönheit und Liebe! Sie tanzen mit be— 
flügeltem Schritt vor dem Wagen des Lebens daher; ſie 
laufen im Mai unſerer Tage um die Wette nach dem preis⸗ 
geſchmückten Ziele, unter dem Zujauchzen all unſerer Sinne, 
unter dem Zulauf all unſerer Gefühle, unter dem Poſaunen⸗ 
ſtoß und Flötenklang all unſerer heftigen und zarten Leiden⸗ 
ſchaften; und fie fallen oft einen Schritt vor dem Ziele, 
oder ſchon am Ziele, oder aud) ſchon mit dem errungenen 
Preis in der Hand, athemlos, leblos, entjeelt zu Boden! 

Es ift ein Inftiges, Teichtfertiges, athemloſes Klce- 
blatt, da8 Laufer-Kleeblatt: Jugend, Schönheit und 
Liebe! 

In der Spezerei- und Delikateſſenwaaren-Handlung 
zu dieſen „drei Laufern“ ſind die tauſend ſüßen und 
gewürzten Sachen, die tauſend Näſchereien und eingeſottenen 
Früchte alle friſch, herrlich und auserleſen! Die fünf Sinne 
ſind die flinken, ſtets willigen, bereiten, gehorſamen Laden⸗ 
diener; das Herz hält ſtets offenes Buch; alle Hoffnuugen, 


% 


alle Wünfche, alle Träume, alle Luftfchlöffer Haben unbe- 
gränzten Credit! 

Die „Jugend“ bietet Euch den beften Champagne 

mousseux der Kräfte, den feurigen Ungarwein der Begeifte- 

| rung, die üppigen, vollen Knacknandeln und Granatfrüchte 
der That, den Aalfifch der Gefchmeidigfeit, das feine Tafelöl 
zur VBerfüßung aller fauern Lebend-Salate, die frifchen 
Auftern von der ftroßenden Gefühlsbank in dem tiefen 
Meere unferes Herzens, die Piftazien und Pignolli aller 
Wünfche und Hoffnungen für die Zukunft u. f. w., u. f. w. 
Die „Schönheit“ bietet uns ihren weißen Kandis⸗ 
Zuder der Lilienhaut, die Rofen-Bonbons auf den Wangen, 
die Sultanin- und Malaga-Rofinen auf den Xippen, den 
fügen Eypro in den Bliden, und das Citronat und das 
Damenbrot und den Miuscatlunelund alldie pikanten Glaces 
und Sulze des Lebens vollauf in großen und kleinen Gaben | 

Die „Liebe“ bietet uns die fügen Orangen von dem 
glühenden Baume des Lebens; den Zwieback, der zwei Herzen 
beglüdt ; den Moſt der Empfindung mit dent Lieblichen Wer- 
muth einer fteten Beforgung gemiſcht; den Ausbrud) der 
Zärtlichkeit und die Effenz aller Seligfeit! 

D, Ihr Alle, die Ihr gerne einfauft und Euern Bedarf 
holt bei den „drei Laufern“: Jugend, Schönheit um 
Liebe, kauft vafch, kauft fchnell, denn der Laden ift nur 
kurze Zeit offen, und gar zu bald wird er gejperrt, und 
das Schild wird eingezogen und herabgenommnten ! 

- Kauft vafch, kauft fehnell, aber kauft und genießt 
befonnen, und mit Auswahl, und mit Mäpigung! 


96 


Diefe „drei Laufer”, meine Tieben LXefer, hält der 
ewige, gütige, große Hausherr des Himmels und der Erde 
allen Menjchen ohne Unterfchied | Diefe „drei Laufer“ tanzen 
nicht nur vor dem goldgejchirrten Prachtgeſpann des Bevor— 
zugten einher, fondern fie Hüpfen eben fo fröhlich, eben fo 
luftig vor dem Einfpänner, als vor dem Laftwagen und 
vor dem Karren! | j 

Die „Jugend“ tanzt glühender, rafcher, glieder— 
gelenfer vor dem arınen Fußgänger einher, ald vor dem 
auf elaftifchen Federn fich ſchaukelnden Glückbegabten; die 
fromme Schwalbe „Schönheit“ baut ihr Liebliches Neft 
eben jo an der einfamen Hütte der Arınuth, wie an den 
“ Stuffaturen und Gefimfen hoher Paläfte, und die „Liebe“, 
diefer Nimmerfatt des Lebens, wohnt, wie der wirkliche 
Nimmerfatt, in dem niederftehenden Schilf und Rohr des 
Dafeins eben fo, wie in den hohen Pradjtgärten, Wäldern. 
und Iururiöfen Treibhäufern! 

Kauft raſch, Fauft ſchnell, das Schild wird bald 
eingezogen | 

Die „Jugend“ Läuft! Sie läuft, und wenn fie noch 
int fchnellen Laufe wie Atalanta die goldenen Genufäpfel 
alle auflefen will, welche das Leben ihr verführerifc) in den 
Weg wirft, verfäumt fie Zeit und Ziel! Darum kauft raſch, 
was fie bereitet. Aber feid nicht grändlich, wenn Ihr fie 
jeht, Teichtgefchürzt, fröhlich, muthwillig; mißgönnt ihr 
die flatterınden Freuden nicht; blickt nicht feheel zu ihren 
bebänderten Tanz; greift nicht finfter, ftörrig, mißgünftig 
in den Lauf der unforglichen, Iebensfrohen Jugend; denn 


97 


die „Jugend“ ift das Morgenroth des Lebens, laßt ihr 
den kurzen Schimmer, und die momentanen Strahlen, und 
das flatternde Fichtgewand, und die glänzenden Glasperlen 
und bie flimmernden Lichttropfen-Juwelen, denn fie ver⸗ 
ſchwindet bald, und macht dem heißen Tage, der brüdenden 
Schmüle, den brennenden Stunden Plat! Ihr Alle, denen 
die „Jugend“ fchon entlaufen ift, feid nicht grämlich beim 
Anblid der fröhlichen Jugend! Krittelt nicht und neftelt 
nicht und Häfelt nicht und tappt nicht lieblos und grämlich 
an und zu, wenn die Jugend ihren Yeentanz und ihren 
Zauberfreis und ihr buntes Tarbentheater vor Euch auf» 
ſchlägt! — 

Die „Schönheit“ läuft! Sie läuft, und im fchnellen 
Laufe fällt ihr eine Zitter- und FlittereNadel nad) der 
andern aus den aufgelösten Locken; jede Minute zerdrüdt 
eine Berle aus der Perlenfchnur ihrer Reize; jede Secunde 
zieht ein Blatt aus der gefüllten Zimmtrofe ihrer Wangen; 
jede Stunde fett einen Makel an die Blüte ihres Lebens, 
und bis die Schönheit am Ziele ift, hat oft die graufame 
Pfänderin Zeit ihr al ihr Bischen Schmud und all ihre 
reiches Natur-Mitgift ab» und ausgezogen und gepfändet! 

Darum, ja eben darum, weil die Schönheit ift wie 
die Roſe am Morgen, weil fie ift wie eine Blume, gemalt 
in den Sand, weil fie ift wie eine Eisblume, gehaudt an 
die Scheibe, weil fie ift wie ein Laut, gewiegt in der Luft, 
weil fie ift wie eine Wolfe, dahinzichend am Himmel, weil 
fie ift wie der Beſuch einer Tee, weil fie ift wie bie Welt 
eines Traumes, darum kauft fchnell, fauft rafch, aber kauft 

M. ©. Saphir's Schriften. V. Bd. 7 


— 


98 


mit Mäßigung ihre Gaben! Jedoch feid nicht grämlich, 
feid nicht Heinmeifterlich, feid nicht grillenfängeriſch, ſeid 
nicht mafelfuchend und fehlerflaubend, wenn die Schönheit 
vor Euch aufthut ihre Himmelsfendung, wenn die Schön- 
heit vor Euch dafteht in der Slorie ihrer Sendung, das 
Haupt geſchmückt mit des Himmels offenbarer Begünftigung! 

Wenn an Eurer Wiege nicht gelächelt Hat die Mutter 
Natur, wenn fie Euer Antlig nicht berührt hat mit: dem 
Kuße von Lilien und Rofen, wenn fie EuerAuge nicht gefüllt 
hat mit Aether und Sternenfchein, wenn fie Euch gerade nicht 
herausgepußt hat mit dem Hermelin und Purpur der Wan⸗ 
gen mit dem Königsbau der Glieder und mit den taufend 
Zierathen und Zierden des Leibes, fo [haut darum nicht 
neidvoll oder verftimmt an das auserlefene Haupt, um melches 
günftige Götter geflochten den Kranz der irdiſchen Schön- 
heit! Freut Euch des Anblicks der Schönheit, fie ift be- 
glückt, IHr feid die Befeligten! Seid nicht verdrießlich 
beim Anblid der Schönheit; zerrt nicht und zupft nicht und 
reißt nicht und bohrt nicht finfter und mißgönnend an ber 
Prachtdecke der Schönheit, wenn fie der Himmel über ein 
irdifch Wefen geworfen! Gönnt der Schönheit ihr Bischen 
Selbftliebe, ihre kurze Eitelkeit, ihr Bischen Gefallſucht, 
ihre Heinen Künfte, ihre unfchuldigen Manöver; bedenkt, 
daß jede Stunde der Schönheit ihre Sterbeftunde ift oder 
fein Tann, und greift nicht nach bittern Bemerkungen, mit 
Höhnifchen Seitenbliden, mit morofen Worten, mit fäuer- 
lichen Deoralfprüchen in die kurze Lebens und Sterbens- 
ftunde der Schönheit, die doch, wie ein Ticht, mehr da ift, 


— 


99 


um Euer Auge zu ergötzen, als um ſich zu leuchten, und 
die fi ch aufzehrt, indem fie Euch das Leben erhellt! — 

- Die „Liebe“ Läuft! Sie läuft, und in ihrem Laufe 
wirft da8 Gefihid einen Stein nad) dem andern in ihren 
Weg, aus Blumenwegen werden Dornenfelder, Abgründe 
thun fich auf und Kobolde und Wurzelmännden lauern am 
Wege, und taufend Klippen henmen ihren kurzen Lauf! 
Darum fauft raſch, fauft ſchnell! Aber ſeid nicht böfe eifter 
in dem Leben ber Liebe, feid nicht Störenfriede in dem Still- 
leben der Liebe, feid feine Bohrwürmer am der Roſe der 
Liebe! - | 

Denn eben darum, weil die Liebe ift wie eine Waife 
im Waiſenhauſe des Lebens; weil fie ift wie ein Gruß der 
Geifter von Jenſeits an diefe Welt; weil fie ift wie ein 
Seufzer der Unendlichkeit, hingeweht in die Acolsharfe in 
unferm Herzen; weil fie ift wie die Alpenblume auf den 
Höhen der Empfindung; weil fie ift wie ein Kuß von un- 
fihtbaren Lippen; weil fie ift wie cine Pilgerin durd) die 
Wüſte des Dafeins; weil fie ift wie eine Rofe, deren Thräne 
Niemand trodnct; weil fie ift wie eine einfam Sterbende, 
. mit weldjer Niemand betet, darunı, darum, habt Ehrfurdjt 
vor der Erfcheinung der. Liebe! Greift nicht mit roher Hand 
in ihre Regenbogenfarben ; zerfchlagt nicht mit ungefchlachter 
Fauſt ihre Thauperlen, ihre Thränen, ihre Seifenblafen ! 
Commentirt nit mit Gaſſenliedern ihre ftillen Seufzer, ihre 
Tchmerzzerftücdten Töne! Wägt nicht auf Eurer Heu-Wage 
ihre Träume, ihre Phantafien, ihre Klagen, ihre Hoff- 
nungen! | 

7* 


» 


mit Mäfigung ihre Gaben! Jedoch ſeid nicht grämlich, 
feid nicht kleinmeiſterlich, feid nicht grillenfängeriſch, feid 
nicht mafeljudyend und fehlerflanbend, wenn die Schönheit 
vor Euch aufthut ihre Himmelsjendung, wenn die Schön- 
heit vor Euch daſteht in der Glorie ihrer Sendung, das 
Haupt gef hmüdtmitdes Himmels offenbarer Begünftigung! 
Wenn an Eurer Wiege nicht gelächelt Hat die Mutter 
Natur, wenn fie Euer Antlig nicht berührt at mit dem 
Kuße von Lilien und Rofen, wenn fie Euer Auge nicht gefällt 
hat mit Aether und Sternenfchein, wenn fie Euch gerade nicht 
herausgepußt hat mit dem Hermelin und Burpur ber Wan- 
gen mit dem Königebau der Glieder und mit ben taufenb 
Zierathen und Zierden des Leibes, fo ſchaut darum nicht 
neidvoll oder verftiimmt an das auserleſene Haupt, umwelches 
günftige Götter geflochten den Kranz ber 33 Sqen⸗ 
heit! Freut End) des 2 
glüdt, Iprfeiddie® 
beim Anblid der Schönheit 





» 


um Euer Auge zu ergögen, als um ſich zu feuchten, und 
die ſich aufzehrt, indem fie Euch das Leben erhellt! 

Die „Liebe“ läuft! Sie läuft, und in ihrem Laufe 
wirft da8 Geſchick einen Stein nad) dem andern in ihren 
Weg, aus Blumenwegen werden Dornenfelder, Abgrlnde 
thun ſich auf und Kobolde und Wurzelmännden lauern am 
Wege, und taufend Klippen hemmen ihren furzen Yauf! 
Darum lauft raſch, fauft ſchnell! Aber ſeid nicht böfe Geiſter 
in bem Leben der Liebe, feib nicht Störenfriebe in bem Still⸗ 
leben ber Liebe, feib feine Bohrwürmer au ber Hofe der 
Liebe! . 

J Denn eben darum, weil Die Liebe ii wie eine Waiſe 
im Weiſenhauſe des Lebens; weil fie iR wie ein Gruß der 
Biker von Senfeits en Bicje Belt; weil fe ip wie cin 





100 


Und ihr Alle, denen nie beglücte Liebe wie der Be 
fuch eines Engels an die Herzens-Thüre geflopft, und Ihr 
Alle, denen nie unglüdliche Liebe wie ein großer, aber reini= 
gender Schmerz durch das Leben gegangen; o [chüttelt nicht 
mit plumpen Händen an dem Tempel der Liebe; horcht nicht 
mit entweihten oder tauben Ohren auf die Jubel» oder 
Klagelieder der Liebel Kragt nicht mit den kurzen Dachs⸗ 
füßen einer ftunpfen Empfindung an dem Götterbau der 
Liebe und mischt Euere taubftumme Seele nicht in das ‘Duo 
zweier harmonifcher Herzen! 


III. 


„Mädchenherz, Mädchenſtub' und Mädthenſchrein, 
Müſſen aufgereimt all’ dreie fein.“ 


Erlauben Sie mir, meine lieben Mädchen, daß ich dieſes 
Sprichwort ein Bischen auslege. Ihr Herz. Ihre Stube 
und Ihr Schrein, follen ſtets aufgeräumt fein! 

Ach Sott, wie erfährt man das aber? Wer fieht den 
MädheninsHerz hinein? Kaum einmal durchs Schlüffel- 
loch: durd) die Redel Und nun gar in den Schrein! Da 
gudt ein Mann gar nie hinein! Aber beim Himmel, es ift 
wahr! Tat mic) einmal einem Mädchen in ihren Schrein, 
in ihren Schrant, in ihren Schreibtifc) Hineinfchauen, 
und ic will euch auf ein Haar fagen, wie e8 in feinem 
Herzen ausfieht. 

Aufgeräumt!das ift ein Schönes Wort! Gut auf- 
geräumt! Was heißt aufgeräumt? Wenn Alles in 
Zimmer am rehten Drte fteht, wenn nichts herum 
fteHt, nichts ſchief Hängt, nichts im Wege liegt, nichts 
überladen ift, nichts zu leer ift, dann ift die Stube 
aufgeräumt! Eben fo ift es im Herzen; wenn in dem 
Herzen Alles am rechten Drt fteht, nichts [chief und nichts 
verſchoben ift, wenn weder ein Mangelnoch einlleber- 
fluß an bem nöthigen Herzensgeräth da ift, dann ift dag 
Herz aufgeräumt! 


102 


Wenn in dem Schrein die Tagskleider nicht unter 
den Nachtkleidern, die Galaſachen nicht zwifchen den All= 
tagsdingen liegen; wenn der Feiertagsſtaat nicht unter den 
Sclafröden herumfährt ; wenn alle Bänder, Ketten, Scyleier 
ihren beftimmten Bla haben, und nicht verwirrt durchein— 
ander geworfen find; wenn man auch im Finſtern Alles 
finden kann, weil man weiß, was in jedem Winfelchen wohl- 
geordnet liegt; wenn man alle Abend hübſch wieder. nac)- 
ſieht, ob Alles in Ordnung ift, damit man Morgens beim 
Erwachen wieder Alles in Ordnung finde, dann iſt der 
Schrein aufgeräumt! 
| Wenn indem Mädchenherzen diefleißigen Tages— 
gedanken nicht ſchon unter den Abenderholungsgedanten her= 
umfahren ; wenn die edlen, feierlichen Gefühle der Weiblich- 
keit nicht unter die Alltags- Empfindungen des frivolen Augen⸗ 
blicks gemiſcht ſind; wenn jedes Band ſeinen gehörigen 
Ort ausfüllt, das Band der Häuslichkeit, der Liebe, der 
Freundſchaft, der Zärtlichkeit, und keine Verwirrung unter 
ihnen ſelbſt iſt; wenn alle güldnen Ketten des Familien— 
lebens, der züchtigen Jungfräulichkeit, der ſtillen Beſcheiden— 
heit in freundlicher Ordnung, blank und lachend liegen; 
wenn in jedem Herzenswinkel das liegt, was da liegen ſoll, 
von allen den ſpielenden Pflichten und tauſenderlei ſinnigen, 
koſtbaren Zierden der Jungfräulichkeit; wenn ſo ein Mäd⸗ 
chenherz auch in den dunkeln Fällen des Lebens, aus 
Inſtinkt, aus natürlicher Sittſamkeit und Tugend Alles zu 
finden weiß, was einem Mädchenherzen noth thut, dann iſt 
das Mädchenherz aufgeräumt. 


103 


Ein Mädchen, wenn es Morgens die Augen auf- 
macht; eine Stube, wenn fie Dlorgens die Benfter aufs 
madt; ein Schrein, wenn Morgens feine Thüre anfges 
macht wird, müſſen fogleid) auf: und zufammen- geräumt 
fein und werden, fonft find Mädchen, Stube und 
Schrein nicht fonderlich Tiebenswürdig! 

Ein Deädchen muß fein wie eine Rofe, die gleich 
beim erjten Erwachen ihr einfaches Kleid für den ganzen . 
lieben Zag anzieht, und nicht wie in Sumpf-Salamans 
der, der fich bis Mittag in der alten Haut ſchlammig wälzt, 
und ſich erjt gegen Mittag häutet. Ein Mädchen fol fein 
wie eine Frühlerche, fie muß gleich) Morgens fingend und 
heiter fich zum Himmel erhebei, im Morgengebet, und dann 
immer trillernd und heiter fich niederfenfen in die grünen 
Aechren. der vollen Tagesſaat. 

Ein Mädchen fol fein wie das muntere Böglein, 
beim Erwachen ſoll fie mit den Iuftigen, unfchuldigen Aeug— 
Lein erft heiter in die Höhe Schauen, im Waffer ſich wafchen, 
und das Haupt jhlichten wie das Huge Vöglein, und dann 
munter in feinem Häuschen von einer Pflichtfproffe auf die 
andere hüpfen, und ftet8 freundlic) und munter ſchauen! 
Glauben Sie mir, meine holden Mädchen, je öfter 

ein Mädchen fich anzieht, defto feltener zieht e8 Andere 


an. Ein einziger niedergetretener Schub, mitdem . 


ein junges Weibchen den halben Tag herumgeht, hat bei 
dem jungen Dann die ganze liebe niedergetreten! Die 
nachläſſige Brofchüre, in welcher die Mädchen oft einen’ 
halben Tag lang erfcheinen, verlöfcht den Eindrud ganz, 


98 


mit Mäßigung ihre Gaben! Jedoch feid nicht grämlich, 
feid nicht Fleinmeifterlich, ſeid nicht grillenfängerifch, ſeid 
nicht mafelfuchend und fehlerflaubend, wenn die Schönheit 
vor Euch auftgut ihre Himmelsfendung, wenn die Schön= 
heit vor Euch dafteht in der Glorie ihrer Sendung, das 
Haupt geſchmückt mit des Himmels offenbarer Begünftigung! 

Wenn an Eurer Wiege nicht gelächelt hat die Mutter 
Natur, wenn fie Euer Antlig nicht berührt hat mit: den 
Rufe von Lilien und Rofen, wenn fie Euer Auge nicht gefüllt 
hat mit Aether und Sternenfchein, wenn fie Eud) gerade nicht 
herausgepugt Hat mit dem Hermelin und Purpur der Wan⸗ 
‚gen mit dem Königsbau der Glieder und mit den taufend 
Zierathen und Zierden des Leibes, fo ſchaut darum nidjt 
neidvoll oder verftimmt an das auserlefene Haupt, ummelches 
günftige Götter geflochten den Kranz der irdischen Schön- 
heit! Freut Euch des Anblids der Schönheit, fie ift be— 
glüdt, Ihr feid die Befeligten! Seid nicht verdrießlich 
beim Anblid der Schönheit; zerrt nicht und zupft nicht und 
reißt nicht und bohrt nicht finfter und mißgönnend an der 
Prachtdecke der Schönheit, wenn fie der Himmel über ein 
irdifch Wefen geworfen! Gönnt der Schönheit ihr Bischen 
Selbftliebe, ihre kurze Eitelfeit, ihr Bischen Gefallfudht, 
ihre Heinen Künfte, ihre unfchuldigen Manöver; bedenkt, 
daß jede Stunde der Schönheit ihre Sterbeftunde ift oder 
jein kann, und greift nicht nach bittern Bemerkungen, mit 
höhniſchen Seitenbliden, mit moroſen Worten, mit fäner- 
lichen Deoralfprüchen in die kurze Lebens- und Sterbens- 
ftunde der Schönheit, die doch, wie ein Licht, mehr da ift, 


99 


um Euer Auge zu ergößen, als um fich zu leuchten, und 
die ſich aufzehrt, indem fie Euch das Leben erhellt! — 

Die „Liebe“ Läuft! Sie läuft, und in ihrem Taufe 
wirft das Gefchid einen Stein nad) dem andern in ihren 
Weg, aus Blumenwegen werden Dornenfelder, Abgründe 
thun fich auf und Kobolde und Wurzelmännchen lauern am 
Wege, und taufend Klippen henmen ihren furzen Lauf! 
Darum fauft rafch, fauft ſchnell! Aber ferd nicht böfe Geifter 
in dem Leben der Liebe, feid nicht Störcnfriede in dem Still- 
leben der Liebe, feid feine Bohrwürmer an der Roſe der 
Liebe! | 

Denn eben darum, weil die Liebe ift wie eine Waife 


im Waifenhaufe des Lebens; weil fie ift wie ein Gruß der = 


Geiſter von Jenſeits an diefe Welt; weil fie ift wie ein 
Seufzer der Unendlichkeit, hingeweht in die Aeolsharfe in 
unferm Herzen; weil fie ift wie die Alpenblume auf den 
Höhen der Empfindung; weil fie ift wie ein Ruß von un= | 
fihtbaren Lippen; weil fie ift wie eine Pilgerin durd) die 
MWüfte des Dafeins; weil fie ift wie eine Rofe, deren Thräne 
Niemand trodnet; weil fie ift wie eine einfam Sterbende, 
. mit weldher Niemand betet, darum, darum, habt Ehrfurdht 
vor der Erfcheinung der. Liebe! Greift nicht mit roher Hand 
inihre Regenbogenfarben ; zerfchlagt nicht mit ungefchlachter 
Fauſt ihre Thauperlen, ihre Thränen, ihre Seifenblafen ! 
Commentirt nicht mit Gaſſenliedern ihre ftillen Seufzer, ihre 
ſchmerzzerſtückten Töne! Wägt nicht auf Eurer Heu-Wage 
ihre Träume, ihre Phantafien, ihre Klagen, ihre Hoff« 
nungen! | | 
7* 


IV. 


„Da müßt’ es gar viel. Kleiſter geben, 
Wollt’ man aller Tente Maul verkleben! 


„La calomnie en veut toujours aux gens d’esprit.“ 
j Bouileau. 


Die Verleumdung und der Blitz ſuchen ſich am lieb— 
ſten die Höhen aus, meine freundlichen Leſerinnen; wo 
etwas recht hoch ſteht, da ſchlägt der Verleumdungs⸗ 
Blitz drein, und noch obendrein oft blig-bumm! 

Meine freundlichen Leferinnen, was ift gegen Ver— 
leumdung zu thun? Nichts! Gegen Berleumdung und 
rafende Thiere gibt es nur ein Mittel: Dian legt fid) ftill, 
wie maustodt auf die Erde, hält den Athem an, und läßt 
fie über fich weglaufen. Denn die Verleumdung befänipfen ? 
„Damüßt’esgarvielKleiftergeben, wollt’man 
aller Leute Maul verkleben!“ 

Früher, meine lichen Leferinnen, hat das weibliche 
Geſchlecht ein ausfchliegliches Privilegtum gehabt, — nicht 
zu verleumden — aber — zu medifiren;da ging es nod) 
an, Die Frauenzimmer find immer gnädig und milde; wenn 
fie jo einen guten Namen zur Richtftätte führen, fo machen 
fie doch wenigftens ein mitleidiges Geficht dazu! — Während 
‚ fie fo einer ehrlichen, abwefenden Seele bie Gurgel abfchnei- 


107 


ben, verdrehen fie die füßen Acuglein und fagen: „Gott fei 
ihr gnädig.“ | 

Allein jebt, wo die verkehrte Welt ift, feitden die 
Frauen reiten und ſchreiben, feitdem fie die Federn 
vom Kopf in die Hand überpflanzten, und anftatt der 
Zügel des Haufes den des Pferdes ergreifen, jeitdem find 
die Männer Frauen geworden: fie fchminfen fich, fie 
ſchnüren fich, fie verleumden!!! | 

Beiden Frauen ift das Berleumden eine Erholung, 
eine Uebung. Man kommt zufamnen, es wird ein halbes 
Stündchen Kaffee getrunken, dann ein halbes Stündchen 
muficirt, dann cin halbes Stündchen gefpielt, dann ein 
halbes Stündchen verleumdet u. |. w. Bei unfern jegigen 
Männern ift das Berleumden ein Gefchäft, ein Amt, 
eine Anftellung! 

Was meine holden Leferinnen, ift zu thun? Wollen 
Sie fid) wehren ? Widerlegen? „Da müßt’ es garpiel 
Kleifter geben, um aller Leute Maul zu ver= 
leben!“ 

Wo wird verleumdet? Ueberall! Wann wird ver: 
leumdet ? In Einem fort!Wer wird verleumdet? Feder 
Mann, jede Frau, jedes Mädchen, Jeder, der etwas 
iſt, Jeder, der etwas hat! Warum wird verleumdet! Aus 
Müßiggang, aus Rohheit, aus Mangelangeifti- 
ger und Herzens-Bildung. | | 
Ä Kommen Sie mit, freundliche Leferinnen, ein wenig 

durch die Höhlen der VBerleumdung und durch die Gemächer 
des fogenannten Leutausrichtens, aber halten Sie ſich 


108 


ſtill, machen fie nicht den leifeften Berfuch, Jemand oder 
Etwas zu widerlegen, denn: Da müßt’ es gar viel 
Kleifter geben, wollt’ man aller Leute Maul 
verfleben!“ 

Da find wir in einen Kaffee - Zimmer. Ein paar 
Grauen aus dem Mittelalter, mit altdeutfchen Zungen, mit 
Zartichens Zungen, ein paar Mädchen, drei, vier Töchter 
des Haufes, die den Zipfel ihres Tebensfrühlings in die 
Männerwelt hineinflattern Iaffen, wie ein Noth = Signal 
von einer Feſtung, die fich auf Gnad und Ungnad ergeben 
will, ein paar Freundinnen, ein paar fchöne Freundinnen, 
die man zwar wegen ihrer Schönheit nicht leiden Tann, 
die man aber doch an ſich zieht, weil fie Diefer und Jener 
gerne fieht, und man Diejen und Ienen gern bei fid) jehen 
möchte — —; und ein paar Ölact Männer, Bal-Männer, 
echte Jaquemar'ſche-Männer, gefchmeidig, dehnbar, zäh und 
— am Ende ftet8 Ledern. Nun geht’8 los, die Frauen 
reden erft von allen Leuten Gutes; nichts als Gutes! 
Allein dann kommt das: — „Aber! — 

So ein „Aber“ fchlägt zehntaufend Tybalts todt!“ 
Es ift ein Kleines Wort, died „Aber“, aber die Grauen 
tehrendarauf um, wie ein gefhidter Kutfcher auf einer 
Suppenſchüſſel! Aber ift der gefelige Schnappgalgen, 
darauf zappelt ſich die ehrlichfte Reputation zu Tode! Aber 
ift der Wendepunft des Krebſes, von diefem „Aber“ an 
geht alles Gute, was man von Einem gejagt hat, zurüd, 
und wird zu lauter Scheren, die den lieben guten Nanıen 
zerfchneiden und zerzwiden! 


109 


Auf einem „Aber“ Schlagen die lärgften Weiber- 
zungen einen Kreifel! Weh dem ehrlichen Menschen, über 
den ein gewifjes Weiber-Aber Hinfährt, er iſt gerädert 
auf fein Lebelang! — Aber diejes „Aber“ ift Honig und 
Milch gegen die „Wenns“ der Männer! 

Dei gewifjen Frauen ift das „Aber“ romantiſch, fie 
reden Schlechtes von den unfchuldigften Menfchen, aber fie 
hüllen e8 ins Fabelhafte, fie ftellen fich, als wenn fie nicht 
dran glaubten, fie ungeben e8 miteinem: „ih fann’sgar 
nihtglauben,” — „[owilldieböfe Weltfagen,” 
— „esiftgewißübertrieben,* u. f. w. Kurz, gewiffe 
Frauen verlenmden romantisch, e8 ift ein Nibelungen» 
lied, eine Tradition; aber viele Männer betreiben es 
hiſtoriſch, fie verleumden geſchichtlich! gründlich! 
klafſiſch! Sie haben Alles ſelbſt erforſcht, ergründet, fie 
geben die Quellen an, ſie haben darüber nachgedacht, ſie 
verleumden wie die Tacituſſe. Kurz, aber bündig! Wenn 
der gute Name bei jener Romantik blos mit einigen 
blauen, Iyrifchen Flecken davon kam, fo macht ihm dieſe 
gediegene Klafficität den Garaus! Wollen Sie gegen 
diefe Romantiker, gegen diefe Klaſſiker anfämpfen? „Da 
müßt’ es gar viel Kleifter geben, wollt’ man 
aller Leute Maul verkleben!“ 

Drängen wir uns in einen „Lleinen freund— 
ihaftlichen Zirkel.“ | 

In den freundfchaftlihen Zirleln, da wird das 
tod gar zu rund! Da ift das freundliche se laisser aller, 
man läßt fich fo gehen, daß man die Welt nich t gehen läßt! 


110 


Da wird die Verleumdung in Neglige betreten! Da 
geht die Medijance mit Flappernden Pantoffeln herum! Da 
wird im engen Nathe guter Auf hingerichtet. Intime 
Hausfreunde, Öouvernanten, Haushälterinnen, 
Klavier-Lehrer u. ſ. w. „Es ift ein Kleines Stiergefedht, 
wo das Thier blos wird gehetzt!“ Da überläßt man fi 
feiner Phantafie! Man richtet Schuldige und Unfchuldige 
bin, man köpft, man rädert, man erdroffelt, man verurtheilt 
gute Namen; unter Freunden nimmt man’s nicht fo genau! 
Was wollen Sie zu den freundfchaftlichen Zirkeln ſagen? 
Wollen Sie dagegen Freundfchaftlid) proteftiren? „Da 
müßt es gar viel Kleifter geben, wollt! man 
aller Leute Maul verfleben!“ 

Drängen wir uns jegt wieder ein Bischen in ein 
„Berleumdungs-PBidnid“, das ift einwohlfeiles, 
unfchuldiges Bergnügen. Es fonımt Einem nicht 
gar zur hoch! Jeder bringt eine zugerichtete, eine gut 
zugericdhtete Berleumdung mit; und dann verzehrt 
man Alles durdjeinander! Es ift ein liebenswürdiger Spaß! 
Der Eine bringt einen heigabgefocdhten Ehemann, gejpidt 
mit erfundenen Schändlichkeiten, mit erdichteten Liebſchaften; 
der Andere bringt eine Hübfche junge Frau, recht in der 
Brühe von Berleumdung, mit allen Pfefferlörnern der 
Thändlichften Anfchuldigungen ; wieder ein Anderer bringt 
ein junges, zartes Mädchen, delicat gebraten am Spiefie 
der Berdächtigung, mürb gebraten auf den gelinden Kohlen, 
die man auf ihr zu ſchönes Haupt fammelte; der Vierte 
bringt ein pikantes Scandal von einem feiner Bufenfreunde, 


111 


mit dampfenden Trüffeln aus feiner eigenen Küche; der 
Fünfte bringt einen fricaffirten Dichter berühmten Namens, 
in den albernften Broccoli eingemadht, mit fieben Bräuten 
belegt, und mit dem Obersfaum alles edlen Geifers abge- 
quirlt; der Sechöte bringt einen italienischen Salat, von 
taufend Heinen Tritfchtratjchereien, Reputations- Aalen und 
guten Namens-Häringen, Heingefchnitten, mit Anefdoten- 
und Scandal-Dliven verfehen, und dann ſetzt man ſich 
herum und haut ungenirt ein; es geht nichts über die kleinen, 
harmloſen Bergnügungen des Lebens! Was wollen Sie 
dagegen thun? „Da müßt’ es gar viel Kleiſter 
geben, wollt’ man aller leute Maul verfleben!“ 

Sie werden fragen, meine holden Xeferinnen, woher 
jet da8 Berleumden der jungen Männer fo über- 
hand nimmt? So muß ich Ihnen erwiedern, aus dem gänz- 
Iihen Mangel au Bildung! Aus dem Mangel, den 
der größte Theil unferer männlichen Iugend an geiftiger 
und moralifher Nahrung befam, aus ihrem Unver—⸗ 
mögen, fonft cine Konverfation zu führen, aus der bejam- 
mernswerthen Verlegenheit, in welche fie gerathen, wenn fie 
in einer gebildeten, geiftigreichen Gefelfchaft mit an dem 
geößen Triebrad der allgemeinen Gefelligfeit treten ſollen, 
aus der bemitleidenswerthen Aengftlichfeit, die fie befällt, 
wenn fie ein fittjames, wohlgezogenes, feingebildetes Mäd⸗ 
chen nur fünf Minuten unterhalten ſollen, ohne vom letzten 
Ball, vom vorletzten Cotillon, und von ihrem eigenen Reit— 
pferd zu ſprechen; aus der totalen Unmöglichkeit, einem 
Frauenzimmer gegenüber, welches Sinn hatfür den geiſtigen 


112 


Kern der Eonverfation, für die edlern Beitandtheile des 
Geſprächs, für einen heitern und inhaltsvollen Ideen⸗ 
austaufc im gejelligen Kreife ſich auch nur eine Viertel« 
ftunde lang interefjant erhalten zu können. Aus diefer innern 
geiftigen Hohlheit und aus diefer moralifchen Wäfferigkeit 
ihres Ichs entfpringt das inſtinktmäßige Bedürfniß, ſich 
doch auf irgend eine Weiſe geltend zu machen, auf irgend 
eine Weiſe mit beizutragen zur Geſellſchaft, und da ſie aus 
eigenem Geiſt- und Herz-Sädel gar nichts liefern können, 
fo ſpießen fie gute Namen auf die EConverjations-Nadel, 
um fie entweder zum Spaße dir Geſellſchaft zappeln zu 
lafjen, oder um fich einen Werth geben zu wollen. Was fol 
man dagegen thun? Dan fchweigt und lächelt, denn: „Da 
müßt’ es gar viel Kleifter geben, wollt! man 
aller Teute Maul verfleben!“ | 


V. 


„Oſt oder Weſt, Ball oder Feſt, | 
Daheim in den Wef, if’s Mädchen am Beſt'!“ 


Satomon der Weife fagt: „Die Ehre der Königs: 
tochter beftcht in ihrer Häuslichkeit.“ — Was 
die EHre betrifft, meine holden Leferinnen, fo ift jedes 
Mädchen eine Königstochter, jedes Mädchen hat von 
der Natur den Hermelin der Unschuld erhalten, und die 
Krone der weiblichen Tugend macht jedes Mädchenhaupt 
zum fürftlichen, und jeden weiblichen Augapfel zum Reichs— 
apfel, und felbft die eiferne Krone des ärnften Mädchen 
hauptes zum goldenen Diadem-Keif! 

Alſo: „die Ehre der Königstochter befteht 
in ihrer Häuslichkeit!“ 

Das heimatliche Haus ift da8 geheime Cabinet 
der Mädchen; das Haus ift der ſchützende Glasfturz 
über die zarte Blume der Mädchen; das Haus ift die 
Velängerjelieber-Laube der Mädchenhaftigkeit; das 
Haus ift der Groß-Siegelbewahrer aller Mädchen- 
würde; da8 Haus ijt die keuſche Muſchel, welche die 
reine Perle der Mädchenhaftigkeit jo lange verfchliekt, bis 
der Taucher in den ftillen Ocean der Ehe fie heraushoft ; 
das Haus ift da8 grüne Gemach, in welchem die unent- 
weihte Knospe der Jungfräulichkeit Heilig jchlummert; das 

M. G. Saphir's Schriften. V. Bd. 8 


114 


Haus ift die Stiftshütte aller weiblichen Tugenden; 
darum, meine holden LXeferinnen, Oſt oder Welt, Ball 
oder Vet, daheim in dem Neft, ift’8 Mädchen 
am Beft’!“ 

Wir Männer jagen: Mädchen und Lerchen müffen, 
aus dem heimischen Nefte genommen werden, wenn fie in 
unſerm Haufe nad) und nad) heimiſch und Lieb und ange- 
nehm fein follen, und nit von Oft und Welt, nicht 
von Ball und Felt! 

Wir Männer fagen: Mädchen und edles Obſt 
müffen zu Haufe, beim Gärtner geholt werden, wenn 
wir recht Bortreffliches und Auserlefenes haben wollen, aber 
nicht auf dem Obft- und Wochenmarkte, niht von Oft und 
Weſt, niht von Ball und Fe! — Mädchen und 
Tauben find im Schlage am fchönften; ihr Gefieder 
ſchillert am lieblicäften, wenn fie gefchäftig im Schlage ſich 
bewegen; wer einen guten Schlag von Mädchen und Zau- 
ben für fic) Haben will, muß fie wieder in dem Schlage 
fuchen, und nicht unter den wilden, wandernden 
Tauben, niht „von Oft und Welt, nit von Ball 
und Felt!“ 

Liebe Mädchen, Ihr feid Königinnen in Eurem 
Haufe, und Ihr werdet Stlavinnen außer Eurem Haufe, 
in Oſt und Weft, bei Ball und Feft! Ihr habt ein 
ſchönes Land zuregieren: Euch felbft! Ihr habt 
zwei Kammern, zwei Herzenskammern; o regiert 
Euch fo, daß die Stimmen in dem Haufe der gemeinen 
Leidenjchaften nicht die Stimmen in der Kammer der Edlen 


115 


überftimmen. Ihr habt fünf Minifter: die fünf Siune, 
Laßt fie nicht die Herrfchaft über Euch gewinnen; Ihr habt 
viel Berwaltung- Zweige: viel Pflihten, fteht ihnen fo 
vor, daß die Bilance ftet8 richtig bleibt; erhaltet den Fries 
denin Eurem Reiche, befünmert Eud) wenig um die 
auswärtigen Angelegenheiten, und wenig darumı, was 
die Weltgejchichte von Euch jagt, denn: „Bon Mädchen 
und von Staaten waren ſtets das die beften und glüd- 
Lichften, von denen nich t8 die Blätter der Gefchichte füllt!“ 
Mädchen find am anbetenswertheften, wenn man nichts 
von ihnen weiß, nihts in Oft und Weſt, nichts bei 
Ball und Feft! 

Kommt Ihr aber nad) „Oft und Weft,* zu „Ball 
und Feſt,“ meine holden Mädchen, dann ſeid Ihr Stla- 
vinnen; Ihr werdet tarirt und gefchägt von den ge— 
felligen Menfchenhändlern; Euer guter Ruf, Euer 
innerfte8 Ich wird verkauft und verhandelt von den tau— 
fend Namen- und Menſchen-Mäklern, die fi) auf dem 
dffentlihen Menſchenmarkt des Lebens herumtreiben ! 

In „Oft und Wet,“ bei „Ball und Feft“ wird 
man in Euern Herzen blättern, ohne drein’ zu lejen; 
man wird auf dem Klavier Eurer Empfindungen herum- 
ftürmen, ohne harmoniſch darauf zu [pielen; manmwird 
Euch beurteilen, ohne Eud) zu fennen; manwird den 
Schimmerftaub von Eurem Seelen-Fittig abftreifen, 
ohne Euch die Seele be= oder gerührt zu haben; man 
wird Euern Leib Hundertinal zum Tanz auffordern, und 
Euern Geift ftets figen laffen; man wird an Euer 

8* 


116 


erwärmtes Herz anklopfen, und bei der Nachbarin: 
erhigte Phantafie, eintreten; man wird Eurer Eitel- 
feitden Huldigungs- Eid leiften, während den man 
gefehäftig fein wird, Euch eine Perle nad) der andern aus 
der Krone Eurer Veiblichleit zu ziehen, um fie zu 
zermürben; fo wird es Euch gehen in „Oft und Weit,“ 
bei „Ball und Feſt!“ | 
Daheim in dem Neft, iſt's Mädchen am 
Beſt'!“ Ya, zu Haufe, da ift die Arche in der Sündfluth 
unſers gejelligen Lebens, dahin kehret die Taube und das 
Mädchen immer wieder zurüd, weil fie fonft feinen Boden 
findet, den reinen Yuß darauf zu ſetzen; das Haus ift der 
wahre Iſisſchleier über das Bild der Yungfräulichkeit; im 
Haufe gilt das Mädchen das, was e8 ift, in „Oft und, 
Weft,” bi Ballund Feft“ gilt es das, was esſcheint 
und da lernt e8 feheinen, was e8 nicht ift! Zu Haufe gilt 
das Mädchen nad) feinem innern Werth; in „Oft und 
Weſt,“ bei „Ball und Feſt“ gilt e8 nad) feinem Ge— 
präge;in „Oftund Weſt,“ bei „Ballund Feft“ geht 
das Gepräge aber bald verloren, e8 wird verwiſcht, und 
das Mädchen gilt dann gar nichts mehr in „Oft und 
Wet,” bei Ball und Feſt,“ und hat auch fchon für 
das Haus an innerm Inhalt verloren! 
„Daheim in dem Neft, iſt's Mädchen am 
Beft’!" Ins Neft regnet e8 feine Zmeideutigfeiten, wie in 
„Oſt und Weft,” und bei „Ball und Feſt;“ ins Neft 
ſchlägt der Hagel und der Janhagel der Berleumdung nidjt 
hinein, wiein „Oft und Weft," und wie bei „Ballund 


117 


Feſt;“ im Neft Hängen fi) die Raupen und Kletten nicht 
an, wiein „Oſt und Weſt,“ wie bei „Ball und Feft;“ 
im Neft frißt nicht das ätzende Gift chlechter Geſellſchaft 
an dem edlen Stoffe felbft an, wie in „Oft und Weſt,“ 
wie bet „Ball und Felt!" 

Liebe Mädchen, meidet Schlechte Gejellfchaft in „DO ft 
und Weft,” bei „Ball und Feſt!“ Der reinfte Engel 
fiel in Gefelfchaft der Teufel! Die Nähe von fhlechter 
Geſellſchaft ift nicht nur contagiös, nicht nur miasmatiſch 
auftedend, jondern fympathetifch; ein Engel, der durchs 
Teuer geht, verfengt fich den Fittig! die veinfte Roſe, die 
in Dornen fällt, rigt ihr Blatt, und der veine Tropfen in 
ihrer Bruft wird erſchüttert; ganz unverfehrt bringt Fein 
Mädchen feine hohe Gemüths-Einfalt zurüd aus der Ge— 
meinfhaft mitdem Gemeinen; je zarter der Stoff des 
weiblichen Wefens ift, defto cher nimmt er Flecken au bei 
der Berührung des Böfen; der Huf eines Mädchens aber 
ift aus Seidenftoff, in undelicater Gefellfchaft bekommt ex 
gleid) Flecken, und bringt man es aud) dahin, daß der 
Fleck verfchwindet, der Stoff hat da doch feinen ange: 
ftammten Glanz auf immer verloren! Darum, liebe 
Mädchen, iſt's und bleibt’8 wahr: „Dft oder Weft, 
Balloder Felt, daheim in den Neſt, iſt s Mäd— 
hen am Beſt'!“ 


— — — — — 


VI. 


Nach Regen folgt Sonnenſthein. 


In dieſem einzigen Sprüchlein, meine freundlichen Leſer 
liegt eine große Wahrheit, eine große Weisheit, eine große 
Freude und ein tiefer Schmerz! 

Ach jal Nach Regen folgt Sonnenſchein, 
allein oftmals regnet es den ganzen lieben Lebenstag, 
wir ſehen aus unſern Augenfenſtern hinaus in die dunkle, 
wolkenverhängte Welt, wir warten den kühlen Morgen des 
Lebens und hoffen, Mittag wird die Sonne ſcheinen; der 
Mittag kommt, es regnet! Da hoffen wir, Nachmittag wird 
die Sonne ſcheinen; es kommt der heiße Nachmittag, es 
regnet! Wir vertröſten uns auf einen heitern Abend, voll 
milden Sonnenſcheins; es kommt der Abend, es regnet! 
Wir hoffen noch immer, der Regen muß aufhören! Er hört 
auch auf, allein indeſſen iſt es ſpäͤt Abends geworden, Nacht! 
Aus dem Sonnenſchein wird mattes Mondlicht, das zu 
kühl iſt, um unſere Hoffnungen zu zeitigen, unſere Wünſche 
zu röthen, unſere Thränen zu trocknen, das aber gerade hell 
genug iſt, um über die durch den Regen abgeſtreiften Blumen 
und Blüten ein trauriges Gruftlicht zu werfen. 

Nach Regen folgt Sonnenſchein! Wieder eine 
Anweiſung der Gegenwart auf die Zukunft, die von dieſer 


119 


felten acceptirt wird! Ift denn unfer ganzes Dafein etwas 
Anderes, als eine fortlaufende Reihe prolongirter Wechfel, 
die ftets fällig find und nie bezahlt werden? Die Kinder- 
jahre ftellen den Wechfel auf die Jugendjahre aus, die 
Yugendjahre auf die vollen Kraftjahre, die Kraftjahre auf 
die Altersjahre, und wenn wir endlicd) nod) im hohen Alter 
biejen Wechfel an das Schidjal zum Eincaffiren bringen, 
fo girirt ihr das Schidfal auf — jener Seite! 

Nach Regen folgt Sonnenfhein! Mit diefem 
goldnen Kügelchen plombiren wir den hohlen Zahn unferes 
Lebens! Der Menſch thut fiebzig Jahre nichts, als bei der 
Zukunft Schulden machen, um die Gegenwart zu bezahlen; 
immerfort madjt er Loch auf, Loch zu, fchlägt die Zinfen 
zum Kapital, bezahlt Zins von Zinfen, befommt von der 
Zukunft ftatt baares Geld wieder Hofinungs-Wechjel, Er- 
wartungs-Scheine, Bertröftungs-Waare und’ fo fort, bis 
fein Grabftein fein TFallitenftein wird! 

NahRegen folgt Sonnenfhein! Der Regen 
aber Hat unfern Ader überſchwemmt, unfere Saaten ver⸗ 
nichtet, unfere Heerden erfäuft; der Menſch Hat im Regen 
feine Jugendjahre, feine heigeften Wünfche, feine Freude, 
feine Liebe, fein Alles begraben, dann kommt der Sonnen= 
fein und beleuchtet den Friedhof feines Glüdes! 

Nach Regen folgt Sonnenfdein! Das ift 
eine Eintrittsfarte zum Glüds-Concert, welche erft am 
Ende giltig ift! Das ift der Schlüffel zu einem Schage, ber 
erſt auffchliegt, wenn wir den Schag nicht mehr heben 
Finnen! Das ift ein ftetes Tifchdeden und ein ewiges Faften. 


129 


Das iſt ein „ſchöner guter Morgen“ für die 
fpäte Nacht! 

Nach Regen folgt Sonnenſchein! Das tft dag 

„Ringjudhen“ im Pfündertpiel des Lebens; der Ring 
wandert, von Einem zum Andern, bis wir an Den fommen, 
der ihn hat, ift er Icon wieder weiter gemandert! Das Leben 
‘geht mit und um, wie mit Pfänderfpielern, wie mit Kindern ! 
Das Leben zeigt uns Menfchen- Kindern alle feine Schüge, 
feine reellen Güter und feine Spielereien, und wenn wir 
darnach hafchen, fo fagt das Leben: „Später, mein Kind! 
Morgen,übermorgen! EsgehörtAllesdir, aber 
ich werde es dir aufheben!” Das Leben zieht ung auf 
feinen Schooß wie ein Kind, wir müfjen buchſtabiren lernen, 
und zufammenlefen im A BC⸗Vüchlein des Dafeins, alle 
moralifchen Sprüdjlein und alle Abmagerungs-Sentenzen. 
Die Schläge und die Püffe befommen wir fogleich auf die 
Hand, die verjprochenen Bonbons, und die lebzelternen 
Reiter und die güldnen Lämmlein aber nur in der Perfpec- 
tive, Alles nur nachher! 

Nachher, wenn die Lection vorüber ift, und immer 
ſtets eine nene beginnt, mit eben benfelben baaren und 
prompten deftrafungen, mit eben denjelben hinau s⸗ 
gefchobenen, auf die lange Bank gezogenen Be- 
lohnungen! 

Nach Regen folgt Sonnenſchein! Während 
es aber geregnet hat, iſt durch das Regenwaſſer das Tuch 
unſeres Lebens um bie Hälfte eingegangen, und dann 
kommt der Sonnenschein, und wir fehen, daß unfer Leben 


121 


fein Kleid mehr gibt, weder für den Sommer, noch für den 
Winter! 

Nach Regen folgt Sounenfhein! Man frage 
aber einmal alle unfere Parapluiemacher, um wie viel 
mehr Regenfchirmegebraudt werden, als Sonnen— 
ſchirme! Man frage die Naturforſcher, ob es in der Welt 
mehr Regenwürmer oder mehr Sonnenblumen gibt! 

Nach Regenfolgt Sonnenschein! Aber wieviel 
Abwechslungen und liebensmürdige Bariationen hat 
nicht das Leben in feinem Regen, und wie einförmig ift 
fein Sonnenfhein! Das Leben hat Land-, Staub-, 
Strich und Plag- Regen! Daskebenhat Nebel- und 
Gewitter-Regen! Das Leben hat Blut-, Froſch-, 
Feuer-, Hagel- und Schwefel-Regen! aber das Leben 
Hat nur einer Sonnenfchein, ift er matt, fo trocknet er den 
Negen nicht auf, und ift er ftark, fo dürfen wir und können 
wir ihm nicht einmal recht ins Auge fchauen! 

Und dennoch, und dennoch liegt eine große Tröftung, 
eine heilige Beihwichtigung in dem Ausdrude: Nach 
Regen folgt Sonnenschein! 

Nach Regenfolgt Sonnenjdein! Schen Sie, 
meine freundlichen Lefer, es ift März, der Himntel hat feine 
Regenflagge eingezogen ; die Berge fchlagen ihre Regenkappe 
zurüd; die Ströme ſchnüren ihr Eismieder auf, daß ihr 
Bufen frei den füßenden Sonnenftrahl entgegenwalle; die 
tleinen, weißen, zerftreuten Borfrühlings: Wölkchen hüpfen 
ſchon wie junge Lämmer durd) die blaue Himmelswiefe; 
und auf den hHöchften Höhen der Berge wandeln ſchon Leichte 


122 


Frühlings-Geifter und rufen in die Thäler herab: Nach 
Regen folgt Sonnenfdein! 

Der Menfc fängt ſchon an die Fenſter aufzumadhen, 
dann bie Thüren, bann die Herzen, um ben Sonnenfchein 
einziehen zu laffen; den Sonnenfchein, diefen Senneſchal 
des Frühlings; und die Menfchen ſchlüpfen aus ben Häufern 
und bie Gefühle aus dem Bufen ; und wir gehen dem Sonnen 
fchein entgegen und erzählen ihm und Klagen ihm fo viel 
von dem vergangenen Winter, von den eingefcharrten Hoff- 
nungen und erftarrten Blüten und frofttodten Liebesblunten, 
und der Sonnenfchein lächelt ung an, und zeigt mit dem 
Strahlenfinger auf die abgelaubten Sträuche, Gebüfche 
und Bäume, die alle am Wege ftehen und warten, bis der 
Frühling einzieht, und die alle bald daftehen werden mit den 
wiedergefundenen Blättern und wiedererrungenen Blüten, 
und die alle dem einziehenden Herrn entgegenrufen werden: 
Nach Regen folgt Sonnenjdein! 


VII. 


Die KRunſt des Stchmollens. 


Jaßt ſiegrollen, laßtfietollen, wie fie wollen, 
nur nit [hmollen! 

Die Engländer find nie glüdlicher, als wenn fie un⸗ 
glücklich find; die Irländer find nie friedlicher, als wenn fie 
Krieg haben; die Ruſſen find zu Haufe, wenn fie ſich auf 
Reifen befinden; die Deutfchen find nie durftiger, als wenn 
fie trinfen; die Franzoſen find nie unwiffender, als wenn fie 
Alles gelernt haben, und die Frauenzimmer — dieje ganz 
eigene Nation — haben nie ausgefproden, als da, wo 
man vergebens denkt, daß fie ausſprechen follen! 

In der großen Waffen- und Rüftlammer der weib⸗ 
lichen, häuslichen Kriegs- und Zeughäufer, von ben leichten 
Lanzen, Stoßdegen und Dolchen der Worte nnd Reden, bis 
zum ſchweren Gefchüt der vier und zwanzig Thränen-Pfün- 
der und Ohnmachten, ift feine Waffe fo unheilbringend, als 
jene Art Gefhüß, welche man in den frühern Kriegen 
„Kammergeſchütz“ nannte, und weldes in dem Zweis 
kampf der Fiebe oder Ehe „Schmollen“ genannt wird. 

Weinen und mit den niedlichen Füßchen ftrampfen, 
find blos das Ober- und Unter- Gewehr ber Frauen. 


124 


Schreien, Zanfen, in die Haare fahren u. |. w., das ıft dag 
Heine Belagerungs-Gefhüt. Krämpfe, Ohnmachten, Mi- 
gränes, das find die Maucerbrecher, Feldichlangen und 
Karthaunen, aber „Schmollen”, Schmollen, das 
ift die Aushungerung des Yeindes! 

Man HatRegenfhirme, Lichtſchirme, Sonnenſchirme, 
MWetterableiter, Hagelableiter, Feuerverficherungsanftalten, 
aber man hat feinen Schmoll - Schirm, feinen Schmoll- 
Ableiter, Feine Schmoll - Berficherungs - Anftalten! 

Ein ſchmollendes Frauenzinmer ift eine immerwäh- 
rende Dachtraufe, welche endlich den härteften Geduldftein 
aushöhlt. 

Ein jedes Frauenzimmer fpricht andere, ein jedes 
Frauenzimmer zanft anders, ein jedes Frauenzimmer 
fchmeichelt anders, aber alle Franenzimmer ſchmollen auf 
gleiche Weife! Das Schmollen ift die einzige Univerfal- 
ſprache von den Irokeſinnen bis zu den Pariſerinnen, von 
dem Thron bis zur Hütte. 

Wenn eine rau, eine Geliebte zankt, fo zankt fie 
blos mit dem Mann, mit dem Gelichten. Wenn eine 
Frau, wenn eine Geliebte aber ſchmollt, fo ſchmollt fie 
nicht blos mit dem im Schmollen ftehenden Mann oder 
Geliebten, fondern dieſes Schmollen erftredt ſich auf alle 
leb⸗ und eınpfindungslofen Gegenftände und Umgebungen 
desjelben. Sie fchmollen mit feinem Hund, mit feinem 
Keitpferd, mit feinem Pfeifenfopf, mit feinem Schreibzeug, 
mit feinem Schlafrod, mit feinem Lieblingsgericht, mit 
feinen Pantoffeln,; wenn er ein Künftler ift, fchmollen fie 


125 


mit feinen Gemälden, mit feinen Büften, mit feinen Rollen, 
mit feinen Gedichten u. |. w. 

Sie ſchmollen nicht nur mit ihm, fie ſchmollen mit 
feinem verftorbenen Großvater, mit feinem Jugendlehrer, 
mit feinem Raſirer, mit feinem Hühneraugenarzt. Der ſchäd⸗ 
liche Einfluß diefes Schmollens erftredt fi vom Zenith 
des Mannes: von feiner Schlafmüte, bis zu feinem Nadir: 
bis zu feinen Fußſocken! | 

Wenn die Frau gewöhnlich um neun Uhr den Kopf 
aus den Yedern, und um zwölf Uhr die Federn aus dem 
Kopfe bringt, fo fteht fie an großen Schmolltagen wie an 
großen Wafchtagen um fieben Uhr auf, um nur vccht zeit- 
li ſchon zu ſchmollen. 

Wenn eine Frau in die Wochen kommt, fo trägt ge= 
wöhnlich das ganze weibliche Hausgefinde den Kopf un 
eine Spanne höher; auch wenn die Frau blitt, das Heißt, 
wenn fie laut zankt, fo wetterleuchtet da8 Stubenmädchen, 
und die Köchin fühlt ſich wie cin ferner Horizont ab: wenn 
aber die Frau fchmollt, jo bläfelt und näjelt aud) das 
Stubenmädchen Alles unter der Nafe und zwifchen den 
Zähnen durd), und auch die Köchin fpricht und antwortet 
blos in Anfangsbuchftaben und Abbreviaturen. Ja, fogar 
der Mops fcheint im magnetifchen Schmoll-Rapport mit 
der Frau zu ftehen, und Inurrt Halb unverftändlich wie ohne 
Souffleur. 

Zum Reden haben die Frauen doch nur ſech 8 Sprad) = 
Werkzeuge: Kehle, Gaumen, Zunge, Zähne, Lippen und 
Vingerfpigen; allein zum Schmollen haben fie hundert 


126 


Sprady- Werkzeuge. Sie fchmollen vermittelft der Nafen- 
ſpitze, indem fie fie Hängen lafjen, vermittelft des Ellen- 
bogeng, indem fie ihn aufſtemmen, vermittelft der Füße, 
indem fie fie in abgetretene Schuhe fteden, vermittelft der 
Haare, indem fie fie nicht glatt kämmen, und vermittelft 
anderer unzähliger Symptome von Staub und Unordnung 
an und in allen Dingen! 

Zanken und Schreien muß ein Ende nehmen, die 
ftärkfte Lunge wird müde, und der raftlofefte Mund erfchöpft 
fi, aber zum Schmollen braudyt man weder Mund nod) 
Zuüge, ſchmollen fann man immerfort. 

Im heftigften Streit, im wüthendften Wortwechel, 
wenn der Mann plößlich niest, jo jagt die Frau doc), gleich- 
fam unwillfürlid: „Zur Geneſung!“ Aber während die 
rau fchmollt. darf der Mann niefen zum Zerplaten, die 
rau ſchmollt und jagt nie: „Zur Genefung!“ 

Eine Frau, die mit ihrem Manne zankt, und wenn 
fie nod) fo laut donnert und tobt, fie läuft inzwifchen doch 
in die Küche und fieht, daß das Kraut mit den Hleinen Knack⸗ 
twürften, die er fo gern it, nicht verderben, und diefe Lucida⸗ 
Intervalla fühlen die Atmofphäre ab. Allein eine Frau, die 
ſchmollt, vergißt die zarteften Bande der Natur, welche fie 
an die Küche binden, fie vernachläffigt Gerichte, die fie unter 
Schmerzen geboren, und wo die Frau fchmollt, da raucht 
die Suppe, das Zugemüfe brandelt und der Braten leidet 
an vollfommenem Mangel an Zartheit und Empfindung. 

Einer Frau, die fchreit, kann man in die Rede fallen, 
man kann fich die Ohren zuhalten; allein wie will mar 


127 


einer Frau ins Schmollen fallen und fid) vor ihr die Ohren 
zuhalten ? 

Eine Frau, die fchreit, die fann man, wenn aud) nicht 
überzeugen, doch überfchreien; allein wie kann man 
eine ſchmollende Frau überfhmollen? 

Wenn die Frau fchreit und lärmt, fo finden wir 
Zroft darin, daß ſolche Erfchütterungen die Luft reinigen, 
und daß die Nachbarn, die diefen ewigen Lärm hören, Mit- 
leid mit ung haben; allein wenn die Frau ſchmollt, fo fegnen 
die Nachbarn die liebe, ftille, friedliche Trau, während der 
Mann unter diefer gänzlihen Windftille wie ein Schiff auf 
dent Meere auf einem Tlede zappelt!. | 

Kurz, Schmollen ift der fchredlichite der Schreden. 
Drum fage ih: „Xaßt fie grollen, laßt fie tollen, 
wie fie wollen, nur nit ſchmollen!“ ' 


VIII. 


KRälbernes mit Champignous. 


E⸗ iſt eine ſtille Uebereinkunft unter allen Speiſezettel⸗ 
Autoren: an der Spitze des „Eingemachtes“ prangt 
das „KKälbernes mit Champignons”. Es iſt eine 
fchweigend anerkannte Würdigung. Ein Ehrenplag, dem 
wahren Berdienfte angewiefen. Hier ift fein Rangftreit, es 
ift eine ftabile Berehrung: den Vortritt hat das Kälberne 
mit Champignons! 

Es ift ein edles, ein beliebtes, ein gejuchtes Eſſen: 
Kälbernes mit Champignons! Nicht das Kälberne 
ift. die Delicatefje, aber die Champignons! Die Champignons 
machen die Civilifation des Kälbernen; ein Kälbernes ohne 
Champignond wäre das, was ein Menfc ohne Franzöſiſch 
ift, e8 märe für die Gefelfchaft verloren. Die Champignons 
verleihen dem Kälbernen den Reiz, die Anmuth, die Pikan— 
terie. Kälbernes ohne Champignons wäre das, was ein 
Mädchen ohne Mitgift ift, e8 würde nicht gefucht werden, 
und wäre e8 an und für fich noch fo vortrefflich. Die Cham- 
pignong find die Ausftener des Kälbernen ; die Champignons 
find die Toilette des Kälbernen; die Champignons find die 
Flitterwochen der Kälbernes-Saifon ; die Champignons find 


129 


die geiftigen Reize, ohne welche fein ſchönes Kälbernes ge- 
fallen fann; hors des champignons point de Kälbernest 

Man komme aber einmal in unfere Gaſthöfe und 
Speifehäufer, man lefe die Speijezettel, diefe natürlichen 
Kinder der Orthographie, und wenn man durd) diefe neuen 
Schöpfungen von Dingen, erfinderifchen Kellnern in einem ’ 
fühnen Zrog gegen alle Rechtfchreibung entronnen, bis zu 
dem „Küälbernen nıit Champignons” gelangt ift, da weilt 
da8 Auge mit Wohlgefallen auf diefen Zügen. — Nachdem 
man zuerft gelefen hat: „Hudibras mit Kameleon,* 
oder: „Elternhand und Lümmelkind,“ oder: „Ya= 
fontaine mit Crebillon,“ oder: „Fieberzelt mit 
Chinarinde,“ oder: „Xiebesftoff mit Kamillen- 
thee“ u. f. w., bringt man es endlich durd) eine füße 
Ahnung heraus, indem aus unferer Jugend eine Heine Er⸗ 
innerung rege wird, daß es,Kälbernes“ heißt, „Kälbernes 
mit Champignons.” 

Alſo! Man ruft den Kellner, und fagt mit dem Flehen 
der Sehnſucht: „Rälbernes mit Champignons!* 

Worauf der Kellner fagt: „GOl eich, Euer Gnaden!” 

Und wenn die Jahrszeit günftig ift, feine Yequinoctials ' 
flürme eintreten, aud) fonft fein Elementar-Hinderniß vor⸗ 
fällt, erhält man nod) in demfelben Jahre: „Kälbernes mit 
Champignons!“ 

Sagte ich, man befommt Kälbernes mit Ch ame 
pignons? — Berzeihe, lieber Lefer, ic) habe gelogen, aber 
ich bin doch Fein Betrüger, ich bin blos, wie Nathan der 
Weife jagt: ein betrogener Betrüger! 

M. ©. Saphir's Schriften. V. Bd. 9 


130 


Man befommt fein: Kälbernes mit Cham— 
pignons! Man befonımt mehrere Duadern von dem Groß⸗ 
vater eines Centauren, der fich einbildete, ein Jüngling zu 
fein; einige Ziegel von der fogenannten „jeune Kalbſchaft“ 
Liegen vor uns, fte liegen in einer Brühe, in einer Sauce, 

"in einem Bade, ineiner Sole, in electrifirtem Gewitterregen; 
man weiß fo eigentlich nicht, in welcher „Humoriſtik“, das 
beißt, in welcher Feuchtig keit fie liegen. Man fällt nun 
mit ſtillem Entzücken her, um die Champignons zu fuchen, 
denn man hat fich ja das Kälberne blos der Champignons 
halber geben lafjen, man fängt an, die Champignons zu 
fuchen. Man dreht das erfte Stüd Kälberne um, feine 
Champignons! Man. dreht das zweite Stüd um, feine 
Champignons! Mit Zagen, und ſchwebend zwifchen Angft 
und Hoffnung, dreht man das legte um — feine Cham- 
pignons! Hier nicht und dort nicht! Man nimmt einen 
Löffel und rührt die unbelannten Fluthen auf, ob der ge- 
heimnißvolle Grund vielleicht einen Champignon birgt — 
auch nicht! Sp weit die Gabel meines Tiſches reicht, fo 
weit der Löffel feine Schifffahrt jendet, feine Champignons! 

„Und der Tag der Alles findet, | 
Die Champignons, die find't er nicht!” 

Nur am äußerften Rande des Tellers entdeckt man 
in der Gegend der atlantifchen Sauce ein fabelhaftes Wefen, 
eine dünne Scheibe, wie der Schatten eines Champignons, 
wie der Geiſt einer Fiſch-Suppe, durchſichtig, dünn, elfen= 
artig, e8 gelingt uns, diejes entkörperte Ding zu fafjen, es 
äft ganz ätherifch, und man entdedt, daß es mit Recht zu 


n % 


131 


den Beftandtheilen eines wirklichen Champignons gezählt 
werdenkönnte! Dasnenntman: „RälbernesmitChanı- 
pignong!“ 

Ein folder Speiszettel, meine lieben Leer, ift 
das Leben! — Wie oft ftreben wir nad) Etwas, blos um 
feiner Champignons wegen, und wenn wir es erlangen, 
fohabenwirblosKälbernes undleineChampignong! 

Der Menfch fol fich anf garnichts freuen, der Menſch 
joU nie etwas erwarten, dev Menſch ſoll der Erfüllung eines 
Wunſches nie entgegen fehen, ohne zu denken „KRälbernes 
nit Champignons!“ 

„Kälbernes mit Champignons! voilä ma devise!“ 

Was iſt das Leben ohne Liebesglanz? Alfo Leben 
mit Liebe; Und wir leben! Wir leben in fteter Erwartung 
der Liebe; wir drehen die ungeniegbaren Zeitquadern des 
Lebens um, wir wühlen in den Wogen der Zeit, wir fuchen 
Liebe, Menfchenliebe, Nächftenliebe, Chriftenliebe, treue 
Liebe, wir ſuchen und fuchen, wir fegen ein Stüd von unferem 
Leben um das andere dran, wir ſchiffen abwärts in den 
Steom der Zeit, es bleicht fich die Wange, es krümmt ſich 
der Rüden; e8 wird Abend, die Inmwohner des Menſchen 
machen Nacht, die Ohren fangen an zuzufchliegen, die 
Augen machen nad) und nad) die Tädchen zu, und wir haben 
feine Liebe gefunden! — Leben mit Liebe = „Käl— 
dernes mit Champignons?“ 

Was ift Liebe ohne Gegenliebe? Alfo Liebe mit 
© egenliebe! Und wir fegen unfer Alles an einen Gegen⸗ 
Stand! Wir wideln die Geliebte ein mit den innigſten 

9* 


132 


Gedanken an fie, wir umzäunen fie mit den fchönften Regen= 
bogen unferer Phantofie, wir hängen all unfer Fühlen, al 
unfer Denten, al unfer Athmen, wie eine Rojenguirlande 
um ihre Bruft; wir opfern ihr allunfer Streben und Wirken, 
und wollen nichts als Gegenliebe — und fie liebt erft ſich, 
dann fi, dann noch lange fi), dann wiederum anhaltend 
und lange fi), dann liebt fie ihre Toilette, dann einen Hut, 
dann eine Robe, dann einen Kanarienvogel, dann einen 
Ball, dann eine Soiree, dann die Huldigung von Seder- 
mann, und wir fuchen in ihrem Herzen, und wir ergründen 
die tiefen Wellen ihrer Empfindung, und fiehe da, am äußer- 
ften Rande der nördlichen Spige befindet ſich ein Heiner 
Anflug von Gegenliebe, „wenn Zeit und Umftände es er- 
lauben,* dasiftliebemit®egenliebe— „Kälbernes 
mit Champignons!" 

Was ift das Leben ohne Ruhm? Alfo Leben mit 
Ruhm! Und wir jagen dem Schattenbilde nach, und wir 
hafchen nad) Sonnenftäubchen, und wir faſſen das Wolfen- 
gebild, und wir greifen in den Regenbogenfchinmer, und. 
am Ende ift’8 eine papierne Trompete, eine Seifenblafen- 
Slorie, eine Schaum Krone, ein Nebel-König ; nichts bleibt, 
blos in einem elenden Converfations »Lerifon flickt irgend 
ein befoldeter Schuft unfere Unfterblichkeit zufammen — 
das ift leben mit Ruhm — „KälbernesmitCham- 
pignons!“ 

Was ift das Leben ohne Ehre? Alfo Leben mit 
Ehre! Was ift diefe Ehre, die uns jeder rauben Tann, der 
feine hat? Was ift diefe Ehre, die man nur aus Büdlingen 


133 


nachweiſen kann? Was ift diefe Ehre, die ein jeder Tauge⸗ 
nichts in mir zerftören fann? Was ift endlich dieje Ehre, 
die ich durch den Anfall eines Betrunfenen verlieren, und 
die ich wie ein Taſchenſpieler durch einen Piſtolenſchuß 
wieder gewinnen kann ? Wieviel von den Teuten haben Ehre, 
denen man Alles aufs Ehrenwort glauben muß? Das ift 
das Leben mit Ehre — „Kälbernes mit Cham- 
pignons!* 

Was find Zeitfchriften ohne Geift? Alfo Zeit- 
ſchriften mit Geiſt! Laßt uns ſuchen in allen den 
Blättern „von Geiſt“ — „für Geiſt“ — „zur Bil- 
dung des Geiſtes“ — „zur geiftigen Erheite- 
rung“ u. ſ. w. Finden wir andern Geift, als den Geift 
der Kleinlichkeit, der Intrigue, der Selbftfuht? Sie haben 
nicht um einen Kreuzer Geift, und erfcheinen doch für 
einige Gulden ein paar hundertmal des Jahres — das find 
Zeitfhriftenmit®ecift— „KälbernesmitCham- 
pignong!“ | | 

„KRälbernesmitChampignons!“ Daran denke 
jeder Menfch bei jeder Gelegenheit, und er wird ein großer 
Philofoph fein, er wird nichts wünfchen, nichts hoffen, nichts 
erwarten, auf nicht8 harren, auf nichts bauen, auf nichts 
fpefuliren, er wird alfo auch nie getäufcht werden, denn die 
mächtige Devife feines Lebens hieß: 

„Rälbernes mit Champignons!“ 


IX. 


Rennton und Eonverfation in den Tornlitäten der 
weiblichen Herzen. 


Meine lieben, freundlichen Mädchen! Die Zeit kommt 
heran, wo „fich die Straßeneden befleiden neu”, wo „die 
Bälle wieder fpriegen und die Adern milder fließen“, 
die Zeit der Bälle, Reunions, Converfations, Walzer, 
Galops u. f. w. Taufend Localitäten öffnen ſich, Zimmer, 
Säle, Salons, Stuben, Tanzböden. Walzer werden aus 
den Comp oniften herauswimmeln, wie Granitferne; Titel 
werden fie haben, wie die Berrüdten in China; und unfere 
Zeitungen werden ausfehen wie eine Himmelgleiter aus 
lanter Ball- und TZanz- Ankündigungen, und diefe Stridleiter 
wird Euch, meine Theuern, einladen, geradezu auf ihr in 
den Himmel der irdiſchen Seligkeit hinaufzufteigen. 

Meine Liebften, thenerften Mädchen, ich will Eud) 
auch ganz höflich einladen zu einem Balle, zu einer Reunion, 
zu einer Converfation, zu einen Walzer, in einer Tofalität, 
die Ihr vielleicht noch gar nicht kennt, in die Ihr nod) nie 
gefehen habt: in Eurem Herzen! 

Gewiß meine Theuerften, Ihr fürchtet Euch nit, 
da hinein zu fehauen, da hinein zu gehen, da drin eine 
Zeitlang Euch zu unterhalten. In Eurem Herzen gibt es 


— 


135 


eine ſchönere Beleuchtung, als in der Redoute, eine innigere 
Mufik, als im Concertfaale eine auserlefenere Geſellſchaft, 
als auf Bällen, hHerrlichere Erguidungen, als in den 
Soireen, eine erhebendere Berfammlung, als in den 
Reunionen, und ein traulicheres Geſpräch, als in den Con⸗ 
verfationen. 

Kommt mit mir ein Bischen auf die „Unterhals 
tungin Eurem Herzen“, Ihr lieben Mädchen, die Ihr 
die Unterhaltung überall fucht, wo fie Alle fuchen, wo fie 
Vederzufindenglaubt,Riemand wirklich findet, 
und am Ende Feder noch verloren zu haben glaubt, 
kommt mit mir in Euer Herz, und fuchet, welcher Stoff ba 
ift, für Kopf und Geift, für Liebe und Seele, wie viel 
Abwechslung, weld) ein Tumult, weld) ein Gedränge von 
Empfindungen, welch ein Gemiſch von Gefühlen! 

Die Eintrittsfarte in mein Herz heißt: „reines 
Gewisfen“; mit diefer Karte könnt Ihr getroft eintreten, 
Ihr werdet willkommen fein und Euch gut unterhalten. — 
Herein! Seht Ihr den fchönen, rothen Saal, er ift beleuchtet 
nit dem reinen Fichte der Unfchuld, das ift ein Licht, 
das nicht gepußt zu werden braucht; ein Licht, das nicht 
herunter brennt, jondern in die Höhe; ein Licht, das 
nicht ſchmilzt; ein Licht, das an der Dede keinen ſchwarzen 
led abfegt! — Der Boden diefes Saales ift ausgelegt 
mit dem echten Teppich der Sittfamkeit, der auf 
beiden Seiten gleid) ift; die Wände find ausgefchlagen mit 
den Tapeten der einfachen Freude und Fröhlich— 
feit. Inmitten dieſes Herz-Saales aber fpringt der 


136 


Springbrunneudesungetrübten Bewußtfeing; 
aus der Lautern Tiefe quillt er empor, und kehrt wieder 
lauter in feine eigene Tiefe zurüd. 

Die Muſik aber diefes Herz: Salons wird dirigirt 
von dem Kapellmeifter: Zartfinn, und er dirigirt mit 
dem Zactirftode des weiblichen, angebornen Tactes, und er 
mäßigt und befchleunigt die Tempos nad) einer unbewußten, 
aber untrüglichen Eingabe, und e8 ertönen die Injtrumente 
der Empfindungen, die Yeol&harfeder Religion, die 
ihre Saiten verfnüpfend ausfpannt zwischen dem Irdifchen 
und Himmliſchen, und lieblich ertönt, wenn dieleifen Seufzer 
im Gebete fich durchbrechen; dann die Harmonika der 
Liebe, die, mit Blumenfingern berührt, die zarteften Klänge 
austönt; dann die Zauberflöte der Tugend, deren 
fanftes Gelispel die wilden Sinnes-Thiere bändigt; dann 
das Forte und Piano des Mitleids; die fchmerz- 
ftillende Harfe der Hoffnung, und noch mandje andere 
Liebliche Mufil- und Stimm= Führer im weiblichen Herzen. 

: Wenn Ihr aber, meine freundlichenLeferinnen, glau⸗ 
ben und fürchten folltet, es fänden fich in biefem Herzenslofale 
feine Männergefellfchaften, keine Conrmacher, feine Tänzer 
für Euch, fo muß ic Eud), meine anmuthigen Leferinnen, 
beruhigen. Es finden fi) da Gefellfchaften, edler, finniger 
und Eud) angemefjener, al in den meiften Sälen. Da im 
Herzensſaale geſellt ſich zu Euch „Rer Glaube“, ein ernſter, 
ſinniger, tiefer Geſellſchafter, der Euch nicht blos zu einer 
Tour ausbittet und Euch dann verläßt, nein, ein Tänzer, 
der feſthält, bis der Ball des Lebens zu Ende iſt. Da iſt 


137 


aud) „der Anftand“ — „der Geiſt“ — „der Edel: 
muth“ — „der feine Ton” — „der Sinn fürs 
Edle“ u. f. w., lauter ſchätzenswerthe, vortreffliche Gefell- 
Ichafter und ausdauernde Tänzer in dem Wechfelball des 
Dafeins! 

"Die Erquidungen und Erfrifchungen aber, die in dem 
Xofale des ved)t arrangirten weiblichen Herzens angeboten 
werden, find angenehm und ſüß für Zungen, die nicht vers 
wöhnt, für Gaumen, die von den Leckereien der Eitelfeit und 
Sinnlichkeit nicht abgeftumpft find. Ein warmes, heißes 
Gefühl für das Schöne, ein frifher Trunfaus 
der Duelle des fittlih Edlen, die Mandelmild 
aus dem wahren Borne des Lebens, aus bem Borneder 
Empfindung,undeinlauterer Zug aus dem Borne 
der Liebe und des Mitgefühls. Gewiß, meine lieben 
und ſinnigen Leſerinnen, wenn Ihr Euch nur ein paarmal 
gewöhnen würdet, dieſen Ball in Eurem eigenen Herzen zu 
beſuchen, da zu lauſchen auf die eigenen Töne, welche die 
liebe Vorſehung in jedes reingeſtimmte Herz gelegt, auf- 
zuhorchen auf die Haren, wahren Stimmen, weld)e Gott 
und die Tugend aus jedem unverdorbenen Herzen reden 
läßt; wenn Ihr Hand in Hand gehen wolltet mit den 
vollen Empfindungen, mit den einfachen, aber lautern 
Gedanken, mit dem beicheidenen, aber wohlthuenden Be- 
wußtfein, welche in jedem zartgeformten Herzen auf- und 
abgehen, und es mit ftiller Freude und mit inniger Ruhe 
erfüllen, dann — dann würdet Ihr weniger Euch fehnen, 
nach dem leeren Schellengeläute der gewöhnlichen Ball= und 


138 


Tanz⸗Lokale, nad) einem Schellengeläute, welches die feier- 
lichen Glockentöne eines jungfräulichen Herzens bald über- 
tönen und unhörbar machen; dann werdet Ihr Eud) weni⸗ 
ger drängen, zu fein, wie die Schaubrote und Schaugerichte 
an öffentlichen Zafeln; dann würdet Ihr nicht fein die 
narürliden Nachfolger jeder öffentlihen Ball- 
anfündigung, nicht die Willenvollftreder jeder Einladung 
zu Zanz und Ball, wo man Euch hinſetzt ald Leimruthen, 
als Lockpfeifen, als Deforationsftücde, als Wandbilder, als 
Drangerie-Stüde, als lebende Buffets! — dann würde es 
nicht da8 Sinnen Eurer Tage, und das Träumen eurer 
Nächte fein, mit wen Ihr rechts walzen und links hopfen 
werdet, wer euch zum Eotillon wie die Domino⸗Steine er⸗ 
fehen wird, und von wen Ihr im Redovak wie die willen- 
Iofen Schubfarren im Saale vor⸗ und zurüd, und hin- und 
hergejchoben werdet werden! — 

Ya, meine Theuerften, gewöhnt Eud) an das Lokale 
Eures Herzens; Ihr glaubt gar nicht, wie beglücdt man ift, 
wie ftilvergnügt, wenn man in feinem Herzen heimifc) tft; 
wenn man fich jo recht bequem und wohnlich und comfor=- 
table in feinem Herzen findet! 

Verſucht ed nur redht oft, meine edlen Leferinnen, 
und Ihr werdet Euch recht wohl befinden. 


X, 


Srühlings- -Cur der Sommerfproffen, für deu Herbſt 
und Winter des Lebens. 


Schon wieder eine große Akademie gegeben, ſchon wieder 
eine Praterfahrt vorüber, ſchon wieder das große Loos 
nicht gewonnen, ſchon wieder einige Hoffnungen in den erſten 
April geſchickt, ſchon wieder Frühling und ſchon wieder ein 
Hundewetter! 

Bravo! Braviſſimo! 

War das der Mühe werth, ein Jahr älter zu werden, 
ſechshundert Gulden Miethe zu bezahlen, Schuh, Stiefel 
und Kleider zu zerreißen ? 

D Ledernheit, Altgebadenheit, Afchfärbigkeit, Salz⸗ 
Lofigfeit und Rückenmarkdörrigkeit der alten Leier! 

Alfo Frühling! Der Kalender ſagt's und ich will's 
glauben. Bin ich beffer wie eine Straßenlaterne? Die 
Straßenlaterne glaubt dem Kalender, daß Mondſchein ift, 
ich glaub’ ihm, daß Frühling ift, und ziehe einen Frack an; 
daß ich unter dem rad zwei Hemden und ein Flanellkleid 
trage, das geht den Kalender nichts an, das find meine 


140 


Brivatnedereien mit dem Frühling. Der Frühling felbft Hat 
fi) auch im vorigen Jahre am erften Mai im Augarten 
verfühlt, hat das Gliederreigen befommen, und geht jett 
felbft in lauter Futterbarchent! 

Alfo der Frühling ift entfchuldigt, aber mit dem 
Sommer will ich furchtbar zu Gericht gehen Er geht vor 
uni nicht aus, und doc) friert er, und ihm klappern die 
Zähne! 

Und was das Schlimmfte ift, das Unbegreiflichfte, 
die Sommer nehmen ab, aber die Sommerfproffen 
nehmen zu! 

Wo kommen alfo die Sommerfproffen ohne Sommer 
her? E8 geht den Menfchen mit den Sommerfprofjen wie 
mit den Liebesliedern, die Liebe ift dahin, die Kieder nehmen 
gräßlich überhand! 

Aber meine holden Leferinnen, glauben Sie ja nicht, 
daß die Sommerſproſſen im Sommer entftehen! Beileibe! 
Sie entftehen alle im Frühling. Sie follten alfo Frübh- 
lings-Sprofjen heißen, fo wie eigentlich auch unjere 
Alters-Shwähen aus Jugend-Schwächen her- 
ftammen! 

Ia, meine holden Mädchen, im Frühlinge, in 
Eurem und in dem Jahres- Frühling, da hütet Euch 
vor Sprofien und Yleden ! 

Eure Haut und Euren Ruf bewahrt im Früh- 
linge Eures Dafeind. Dann werden fie im Sommer, 
Herbft und Winter keine Sproffen und Feine Fleden 
haben! 


141 


Die zarte Haut der Mädchen befonmt leicht Som⸗ 
merfproffen und LXeberfleden. Der zarte Ruf der Mäbd- 
hen befommt noch leichter Promenade-Sproffen und 
Salon-Fleden! 

Der Ruf eines Mädchens ift wieihre Haut, und wie 
fie felbft, je mehr fie and Sonnenlicht fommen und gehen, 
defto mehr Sommer- Sproffen befommen alle drei! 

Der Ruf eines Mädchens ift zart, wie die zartefte 
Barbe, fie Schießen Beide ab, wenn fie viel ans Tagslicht 
fommen! 

Die Mädchen find wie die Kerzen, je mehr fie in die 
Luft kommen, defto leichter [ch melzen fie, defto früher find 
fie ausgebrannt. Die Mädchen find wie die Kerzen, je 
öfter fie gepußt werden müſſen, defto weniger find fie nuß, 
und je öfter fie ausgehen, defto weniger taugen fie fürs 
Haus! 

Die Haut und der Ruf eines Mädchens befom- 
men leicht Sleden, aber fie gehen ſchwer oder nie auß; 
und bringt man aud) mit Mühe nad) langer Zeit jo einen - 
Fleck aus, fo geht es wie mit einem Fleden in Sammt, 
bringt man auch den Fleck weg, der Glanz diejes Punktes 
ıft auf ewig dahin! 

Wiſſet Ihr denn, meine theuern Mädchen, wie die 
Sommerfprofjen entftehen? Gerade wie die Sproffen und 
Flecken im guten Ruf! 

Zuerft bilden fichinder reizbaren Haut Heine Schweiß 
tröpfchen, in diefen Tröpfchen, die nicht zufammenfließen, 
werden die Sonnenftrahlen, wie durd) ein converes Glas, 


142 


in einen Brennpunkt vereinigt, der Brennpunkt fällt auf die 
Malpighifche Netzhaut und der dadurch gejäuerte Kohlen- 
ftoff bringt diefe Sproffen hervor. 

So iſt's aud) mit dem guten Ruf; wenn fich zuerft 
auch nur ein Kleines Tröpfchen daran anfekt, die Sonnen 
ftrahlen aus allen Bliden und Torgnetten der Welt ver- 
einigen fich in diefem Brennpunkte, und finden da Kohlen 
ftoff genug zum Anſchwarzen und Sauerjehen, und verder⸗ 
ben den guten Ruf auf ewig! 

Gegen die Sonmerfproffen der Haut, meine lies 
ben Leferinnen, gibt e8 viele bewährte Mittel, die alle 
nichts helfen, zum Beispiel Wafchwafler, Molken, Seife, 
Rahm u. f. w., aber gegen die Sproſſen und Flecken im 
guten Auf eines Mädchens, gibt es kein Waſchwaſſer und 
fein Reinigungspniver ; nicht einmal die zu ſpät vergofjenen 
Thränen wajchen diefe Sproffen weg, nicht einmal der Höls 
lenftein der zu fpäten Reue ätt diefe Fleden auf! 

Es gibt Frauenzimmer, deren Haut, mit Sommer- 
ſproſſen überfäet, und fie find dennoch ſchön, liebenswürdig, 
gefucht, geliebt, gejhätt; aber ein Mädchen, welches Som⸗ 
merfproffen im Hufe hat, ift häßlich wie die Sünde, und 
wär’ es fo fchön wie ein Engel; e8 ift efelhaft wie eine 
Spinne, und wär’ es fo appetitlich wie ein Blumenftrauß; 
e8 wird von ehreliebenden Männern geflohen, und wenn fie 
es auch) liebten wie ihr Selbft! 

Gegen die Sommerfproffen in der Haut hat man 
Fächer, Hut und Sonnenſchirm, gegen die Sommer- 
fproffen in dem Rufe gibt es feinen Fächer und feinen 


143 


andern Schirm, als den Schirm der jungfräulichen Sitte, 
und die Schirmpgötter des ftillen, väterlichen Hauſes. 
Wehe dem Manne, wehe dem Jüngling, der fein Herz 
an ein Mädchen hängt, das nicht Acht gibt, daß ihr Auf 
feine Sommerfprofjen befomme, denn fie befommt die 
Sommerfproffen und er muß fein Geficht zu wafchen geben ! 
Alfo, meine lieben Mädchen, im Frühling, da be- 
wahrt Haut und Ruf vor Sommerfproffen! Hütet Euch 
vor zuviel Sonnenlicht, vor zu viel Zugluft, die zu viel 
zieht, vorden Brennftrahlen der Lorgnetten u. ſ. w.,u. ſ. w. 


XI. 


„Anſer Herrgott grüßt alle Angenblik, kein Menſch 
dankt ihm!“ 


Ha iſt eben wieder der erſte, ſüße, heilige, milde Grup. 
Gottes niedergefloffen vom blauen Himmel, der erfte Früh- 
lingöftrahl ftieg von den in durchſichtigem Flor gehüllten 
Bergen nieder zu den Menſchen, und weht fie an mit dem 
unendlichen Gruße des emigen Schöpfers, und fein Menſch 
danft ihm! 

Höchſtens werden cin paar Frühlingsdichter kommen, 
und werden fingen von dem alten „Yenz” mit feinen „Lenz= 
tänzen” und „Blumenkränzen“ und „Nachtigallen”, die 
da „ſchallen“ u. |. w. Heißt das Dank? das heißt Un— 
danf!! — 

— Da fteht ein feines, armes Mädchen an der Brüde, 
e8 bettelt nicht, aber es hält euch ein Kleines Blümchen ent- 
gegen. Das erfte Kind der verjüngten Erde duftet fo lieblich, 
die Farbe ift fo zart, und das Blümlein ift ein ftiller Dol- 
metfch des armen Kindes, und es bittet mit feinen Farben 
für das Mädchen, welches auch ift eine Blume, abgeriffen 
vom Schooße feiner Mutter und hingetragen in eine fremde 
graufame Welt, und in diefen erften Blumen des Jahres 
grüßt wieder unfer Herrgott mit feiner alten Liebe, die 


145 


immer wieder Alles auferftehen läßt, und der die verwaiste 
Erde wie den verwaisten Menfchen immer wieder mit neuen 
Gaben und Blüten bedenft und befchenkt, und er grüßt 
lächelnd und herziunig und väterlic) aus diefem zarten Blüm⸗ 
fein; aber fein Menſch dankt ihm! und die meiften gehen 
vorüber, und gar manche ftoßen noch ganz unſanft Kind 
und Blümlein von ſich! — 

— Ihr ſteht auf der Baſtei, und ſchaut hinüber in 
den Strom, der, blau und ſchillernd, wie ein gewäſſertes 
Atlasband dahinflattert, und der den Saum der Stadt 
munter küßt und die alte Fußwaſchung hält an den beleb⸗ 
ten Ufern, ſeht, da hat unſer Herrgott wieder gegrüßt, 
der der Flußnymphe das Mieder von Eis ausgezogen und 
ſanft aufgethaut hat die Froſtrinde um ihren Buſen, daß 
ſie nicht überſchwemme Euer Gut und Euch kein Leid zufüge, 
wie zuweilen in Gottes Zorn und gerechtem Grimm; habt 
Ihr daran gedacht und von dem Waſſerhimmel unten einen 
dankenden Blick emporgeſchickt zu dem Himmel oben? Ja, 
ja, unſer Herrgott grüßt alle Augenblick, und kein Menſch 
dankt ihm! — | 

— Da flattert ex hin, der Heine Schmetterling, der 
erfte warme Liebeshauch der Sonne hat ihn aus feinem 
Raupenhaus herausgelodt, und er ift einer der erfien An⸗ 
beter in der verjüngten Natur, und die furze Zeit feines 
Lebens flattert er um Euch, und auch in diefem Erftge- 
bornen der jungen Sonne grüßt Eud) der liebe Gott, der 
aus Nacht und engen Leben die Seele befreit am Tage des 
Lichtes, daf fie ſich aufſchwinge, jung, unfterblich, und die 

M. G. Saphir's Schriften. V. Br. 10 


146 


lichtgefticten Schwingen emportrage zum Hinmel; aber 
denkt Ihr je beim Anblide eines Schmetterlings an die Güte 
und Gnade des Herrn, der aus den Erdenraupen einft her- 
vorbrechen Läßt den Auroravogel de8 ewigen Morgens ? 
Ya, ja, unfer Herrgott grüßt alle Augenblid, und fein 
Menfch dankt ihm! — 

— Da ift Lißt, der Orlando furioso des Klaviers, 
und da ift Ernft, der Oſſian und Fingal der Violine, fie 
ent= und verzüden Euch, fic verdrehen Eud) Herz und Kopf, 
und Ihr feid durch und durd) aufgelöst in Wonne und Ju— 
bel, und Ihr wißt Euren Empfindungen nicht Worte zu 
geben u. ſ. w.; aber fällt e8 Euch dabei ein, an denjenigen 
Gran maestro zu denen, der folchen Wohlklang gelegt in 
ein Feines Ding von Holz, der folche Laute des Weh’s und 
der Tuft gelegt hat in dünne Saiten, und der den ſchwachen 
Geiſt des vergänglichen Menſchen hat unterrichtet in der 
Kunft, die ſchlafenden Töne zu weden, und die in todten 
Inftrumenten eingemanerten und begrabenen Götter zu er- 
wecen und aufftehen zu heißen, daß fie Euch in Herz und 
Seele tönen und klingen und Euch erregen zu Thränen der 
Luft und der Wehmuth? Ja, ja, unfer Herrgott grüßt alle 
Augenblid, und fein Menſch dankt ihm! — 

— Ihr effet alle Tage Erdäpfel in anderer Geftalt, 
und halb Europa würde Hungers fterben, wenn diefe Frucht 
nicht wäre, und fie ift die erfte und größte Wohlthäterin 
der Menfchheit, und Ihr ſchaut fie mit Gleichgiltigkeit an, 
und wißt nicht, daß auch in diefer Frucht einer der herz» 
lichften Grüße Gottes Liegt! Habet Ihr bedacht, mit welchem 


147 


riefengroßen Weltgedanten Gott die Bruft eines fterblichen 
Menſchen füllen mußte, mit welchem Aufwande von Geift, 
unfterblichen Erfindungen diefe Frucht für Eud) entdedt 
werden mußte? Welche Opfer fie gefoftet, und welche Ge- 
heimniffe der menschliche Geift erft der Natur und der 
Schöpfung mit Gottes Beiftand entreißen mußte, ehe Ihr 
einen Erdapfel zu effen befamt? Ja, ja, unfer Herrgott 
grüßt alle Augenblick‘, aber kein Menſch dankt ihm! — 
— a, ja, mein lieber Leſer, Gott grüßt alle Augen- 
bli&! Der Sang der Nachtigall und die Stimme des Echo, 
fie find nichts als Gottesgrüße! Sturm und Zephyr, Badhes- 
riefeln und Wafjerfallgebraufe find nichts als Gottesgrüße! 
Morgemröthen und Abendröthen, Blumen und Blüten, find 
nichts als Gottesgrüße! Jede Nacht ift Gottes Gruß und 
jedes Sternlein ein Zroft in diefem Gottesgruß! Jeder 
Tag ift ein Gruß Gottes und jeder Strahl eine Beleuchtung 
diefes Grußes! Das ganze Leben ift ein Gruß des gütigen 
Scöpfers, und felbft der Zod ift ein ftiller Scheidegruß 
Gottes mit dem Ausruf: „Auf Wiederjehen!“ 


. 10? 


Xu. 


„Ruf nicht eher „Fiſch, Fifdy!“ als biser anfdemZifd.“ 


Is weiß, mein lieber Tejer, daß das Afchenbrödel: Ernſt 
ein unwilllommener Saft ift, allein ein Bischen wollen wir 
uns doch einäfchern und nad) den Tagen desleeren Taumels, 
des herz⸗ und beutelausfaugenden Carnevals ein finnigeres 
Wörtchen fprechen, als immer und ewig von den Walzern 
von Strauß und Lanner, von den Maskeraden und Re- 
douten, von Concerten und finnlofen Muſiken, von Tafchen- 
fpielern und Automaten, von Statiftinnen und von duelliren- 
den Flöhen, von Amerika im Elifium und von der Quadrille, 
und von all dem leeren, fchalen, hirn=, faftlofen, herz⸗ und 
gemüthentledigten, Läppifchen und täppischen, faden, wider 
lichen, bis zum Efel abgedrofdjenen Brimborium, und von 
al dem Firlefanz und Plunder unferer gewöhnlichen Tags⸗ 
Erfheinungen, unferer Tagsnovitäten und unjeres Neuig- 
keits- und Referirungs - Tritfch = Tratfh !! 

Sage mir, mein freundlicher, befonnener Leſer, wächst 
dir nicht aus diefem Gewäſche ſchon eine Brunnenfrefje bei 
den Ohren heraus? Bift du noch nicht durch und durd) 
windelweich durchgejchrieben und in Fafern zerflojfen von 
dent ewig wiederkehrenden, immergleichen, fich ſelbſt wieder- 
gebärenden, monotonenMahlmühlengeklapper unferee Jour⸗ 
nalismus? Sage, freundlicher Leſer, efelt es dich noch nicht 


149 


an, wenn wir tagtäglich und ftundftündlich vor deine Thüre 
fommen mit unferm Novitäten-Werkel und mit unfern: 
Notizleterfaften und div von Morgen bis Abend immer 
wieder vorleiern 
„Das alte Lied, das alte Lied, 
Bon dem verjoffenen Nagelſchmied!?“ 

Bäumen fich, mein geliebter Leſer, alle deine Nerven 
und Muskeln nod) nicht im Ekelkrampfe auf und zuſammen, 
"wenn du immer und ewig wieder das alte Schiboleth vor 
deinem Ange findeft; wenn du uns immer drefchen flehft das 
taufendmal ausgedrofchene Stroh; wenn du uns immer 
wieder gadern und gludjen hörft über diefelben dotterlofen 
Windeter; wenn du uns immer wieder herumflöppeln fiehft 
auf dem albernen Holz: und Stroh- Inftruntent; wenn wir 
immer dasfelbe bis zum Verzweifeln abgeſchmackte „und 
wieder ein Sträufchen“ vor dir produeiren, und wenn wir 
immer wieder Luft füen und Wind ernten und Schatten 
fechjen und Seifenblafen fällen und Sardellen mit einem 
Aufwande von Kraft trandhiren, als wenn es lauter Hai⸗ 
fiſche wären, und auf Milben reiten mit einem Peitfchen- 
gefnalle, als ob e8 lauter Bucephale wären, und abgehülste 
Linſen zu Markte bringen mit einer Doktormiene, als ob wir 
ſybilliniſche Blätter verfauften, und die Blähungen von 
einigen trommeljüchtigen Minuten mit einer Wichtigkeit 
ausrufen und ausfchneiden, als ob wir die Riefengeburten 
einer zufunftfchwangeren Zeit zu Wehen brächten ?! 

Sage, freundlicher, Tangmüthiger, geduldiger Leſer, 
warn wirft du und endlich mit Fug und Recht zur Thür 


150 


hinauswerfen, wenn wir immer wieder fommen mit den 
abgeftumpften Hafenfchwänzen und Biberohren der platten, 
feichten Alltäglichkeit, mit dem Schmankerlbecher der nich» 
tigften, loderften und geifflofeften Zeit- und TZags- Notizen ? 

Mir, mir, mein freundlicher Lefer, ift e8 zum Efel, 
und ich bin bis zum oberften Ohrzipfel überfüllt mit inner 
lichem Widerwillen, mich immer wieder in das Tretrad 
derfelben Schreibmühle einſpannen zu laffen, und dir immer 
wieder vorzuerzählen, „das alte Lied, das alte Lied,“ von 
wandernden Mufilanten, Komödianten, Schnurranten, von 
Kränzen und Beifällen, von aufgelaufenen Primadonnen 
und durchgegangenen Helden, von fürftlich belohnten Pi- 
ronetten, und von dungernden wahren Talenten u.f.m.u.f.w.! 
Ich bin fo durd) und durch matt und efelmüde, daß ich nicht 
weiß, ob du ſchuld biſt, mein freundlicher Xefer, daß wir fo 
zu jchreiben genöthigt find, oder ob wir ſchuld find, daß du 
fo zu lefen gewohnt bift! 

Sage mir, lieber, freundlicher Leſer, und ſei auch 
nicht ein Bischen böfe, wenn ich mit altdeutfchen Schreibe- 
fäuften und Kraftwörtern darein fchlage, fage mir, bift du 
denn von Natur, von deiner primitiven Wefenheit fo ver- 
flacht, fo geiftesfindifch, jo finn- und herzblöde, daß du 
nichts willft, al8 den ewigen Abhub des Augenblids, abge- 
hoben mit dem hölzernen Schaumlöffel der Notizelei? daß 
dich nichts ergött, ald was du wie einen Zahnftocher ge= 
brauchen und Lefen kannſt zwischen Effen und Verdauen, in 
nichts dentender Behaglichkeit ? daß dich nichts angenehm 
und ſympathiſch berührt, als die journaliftifchen Korkftöpfel, 


151 


die hübſch auf der Oberfläche des geiftigen Meeres herum⸗ 
treiben, nichts als der Neffelausfchlag der Literatur, der 
mit einigen bunten Pünktchen faum die Haut des intellec- 
tuellen Lebens eintüpfelt, und in ſechs und dreißig Stunden 
wie verſchwunden iſt? daß du nur Gefallen findeft an dem 
Iiterarifchen Kürbis des Propheten Jonas, der über Nacht 
ward und über Nacht verging? Oder, was ich eher glauben 
fan, mag und will, oder find wir Fournaliften nicht 
vielmehr die unwürbigen Kindsmweiber und Journal-Ammen, 
die dich feit einem Bierteljahrhundert aufgezogen haben bei 
dem Zuderwafjer der Tlachheit, bei dem Kindskoch und 
Brei der allerſchwächſten Koft, bei der zähen Bertrams- 
wurzelnichtigerStadtbaferei, bei dem geſchmackloſen Panadel 
von artiftifchem und gefelligem Tritſch-Tratſch? Sind wir 
es nicht vielmehr, wir Sournaliften, mit unferem Ein- 
tagsfliegengedächtniß, mit unjerer Schmetterlings - Aus- 
dauer, mit unferer Maulwurfsicharffichtigfeit, mit unferem 
Eichhörndhenernft, mit unferer Wafferlinfengründlichteit, 
die wir die Beredjamfeit eines Staars verbinden mit der 
Abwechslung eines drejfirten Raben, die wir die Tiefe eines 
Regenmafjerfees verbinden mit der Schärfe eines Schaf- 
käſes, die dich, mein lieber, freundlicher Leſer, fo dazu groß=- 
gezogen haben ? Wir Journaliſten, die mit Pope's Friſeur 
die Lode in den großen Dcean tauchen, und die Hühner- 
augen der Zeit ausjchneiden mit einge Grimafje, als ob 
wir dem Weltengeift die Glieder einrichten wollten; wir, 
die wir Rechenfchaft Halten uud ablegen über die abge- 
ſchabenen und abgefchnittenen Nägel des Augenblids, und 


152 


dabei Phraſen zupfen und mit den Nüftern dawpfen, als 
ob wir eine große Jufanft heramsichnitten aus dem auf- 
getriebenen Leibe der Gegenwart! Bir, diewir eine Theater⸗ 
notiz einbaljamiren wie einen egyptijchen König; wir, die 
wir einen Triller im Triumph herumtragen wie eine eroberte 
Fahne; wir, die wir eine Pironette einjchlagen in Zorbeern 
and Unfterblichleit ; wir, die wir einen Klavierlauf überbauen 
mit Regenbogen und Sonnenftrahlen; wir, die wir dem 
unfterblichen Erfinder eines Piccicato den Cãſarſtuhl hin⸗ 
fegen neben den großen Bären; wir, die wir ein zerrifjenes 
und wieder ganz gemadhtes Taſchentuch heute mit eben jenem 
füßen Bahnfinn vergöttern, mit dem wir geftern den Sän- 
ger der Ilias vergötterten;; wir, die wir einem Affen Mam⸗ 
mof denjelben Wortkranz und diefelbe Roſenkrone aufjegen, 
die wir geftern einem Retter des Baterlandes aufſetzten; 
wir, die wir in Gottes Zorn über einen Kamm ſcheren 
den Löwen und das Schaf, den Apollo und den Harlefin, 
die Meffiade und den Gafjenhauer, die Götterlehre und die 
Miligkerzen, die Kunft und die Bierhalle, den Batriotismus 
und das Obrenfaufen, die Kritif und die Todtenliſte, den 
Humor und die neuen Häringe, die Literatur und die An⸗ 
zeige vom frifchen Rattenpulver! 

Ad, mein lieber, freundlicher Lejer, unfere Scale 
fintt, wir find die Berführer, du der Berführte, wir 
find die irrigen Wegweifer, du der irrige Nachfolger! 

Jedoch wozu das Alles? Nũützt es etwas? Wird es 
nägen? Kann e8 nũtzen? Soll es nügen? Es wird mir mit 
diefer Rede gehen, wie mit der Rede eines frommen Redner 8 


153 


an die Fiſche! Du kennſt doc diefe Sage? Nicht? um, 
weil mein Motto gerade ein Fiſch-Motto ift, jo höre, was 
du gewiß fchon oft gehört Haft! 
Die Rede an die Fiſche. 

Ein frommer Redner ftand 

An eines Ufers Rand, 

Ting an die Wort! zu mijchen, 

Sprach rührend zu den Fifchen! 


Die Fiihe kamen all’ herbei, 

Es fam der Hecht, es fam der Schlei, 
Der Karpfen kam, es famen ohne laufen 
Die Huchen und die Haufen. 


Der Stodfiih kam, gar fett und did, 
Es fan der Stör, es kam der Til, 
Und in dem Salz der Welle 

Kam Häring und Sardelle. 


Die Fröfche kamen alle nod), 

Es kam der Hai, es fam der Noch‘, 
Es kam mit langen Scheren 

Der Krebs aus allen Meeren. 


Die Rede hörten ftumm fie an, 
Und alle dachten in fi) dann: 
„Der kann zu Herzen reden, 
Das befiert einen Jeden!“ 


Sie hörten mit geftredtem Ohr 
Aus ihrem Waſſer hoch empor, 
Der Karpfen, mit bemoostem Haupte, 
Sah aus, als ob er’s glaubte! 


13 


Der Hecht auch fchien gar jehr erbaut, 
Der Stodfiih ſchluchzte tief und laut, 
Man fand die Fröſch' und Unken 

In Thränen ganz verfunten! 


Der Haifiſch fah gar fromm herauf, 
Als ob ihn reut' jein Lebenslauf, 

Der Krebs ſchien fi) e8 vorgenommen, 
Als wollt! er vorwärts fommen! 


Die Red’_war aus, die Red’ war all, 
Da rührte ſich's im Waſſerſchwall, 
Die Fifche, wie gefommen, 

So waren fie verſchwommen! 


Der Hecht, der war faum fortgereist, 
als er ſchon friſch ein Karpflein fpeist; 
Der Hai, fo ganz uud gar durchdrungen, 
Hat d’rauf den Hecht verjchlungen ! 


Der Stockfiſch, der geftredt fein Ohr, 
Blieb g’rad’ fo dumm, al® wie zuvor, 
Die Fröfche, die Hallunfen, 

Sie quadten wie die Unten! 


Sardellen auch nun allemeil, 
Sie bfieben alle wieder geil, 
Und rüdwärts zu deu andern, 
Sah man die Krebfe wandern! 


Benn je ein Menſch zum Bolke ſpricht, 
Bergeſſe er beileibe nicht, 

Die Rede zu den Fifchen, 

Im Geiſt fih aufzuſriſchen! — 


155 


Ya, mein lieber, freundlicher Leſer, e8 ift Zeit, daß 
wir unfer journaliftifches Ringelfpiel ein Bischen renoviren, 
reformiren und veredeln! Nicht immer der Ritter von der 
traurigen ©eftalt, der immer wieder hohle Novitätenfchäbdel 
auffpießt, nicht immer derfelbe zahme Türke, der ſtets nad) 
dem Dreheifen fticht, und nie den rechten Punkt trifft; nicht 
immer dasjelbe hölzerne Pferd mit dem buntangeftrichenen 
ledernen Gurt; nicht immer wieder einen großen Trompeten 
ftoß und eine Cinellenmufif, wenn fid) ein Kindlein oder 
fonft ein Reiter aufjegt auf den hölzernen Schlitten, um die 
Runde zu machen, die fie feit Jahren und Jahren zehntau- 
fendmal gemacht haben, die wir Alle mit den gleichen Trom- 
petenftoße und mit derfelben Cinellenmuſik empfangen haben ! 

Aud) wir Yournaliften rufen fo oft im voraus, eh’ 
Tiſch gededt ift: „Fiſch! Fisch!” und wenn die Tafel ange- 
richtet wird, fo ift es nicht Fisch und nicht Tleifch, und der 
Lejer wicht fi) den Mund ab! 

„Ruf nicht eher: „Fiſch, Fiſch!“ als bis 
er auf dem Tiſch!“ Das follte auf jedem Journale als 
"Motto prangen! Denn was find wir Iournaliften jett 
Anderes, als die Vorreiter jeder Gaufler-Erfeheinung, mit 
der großen Pofaune im Munde, und wir reiten durd) die 
Zeilengaffen mit Wortfchellen behängt und blafen und 
rufen die Menge an: „Hier ift zu fehen ein großes Welt- 
wunder u. |. mw.“ und das Volk verfanmelt fich, und Läuft 
zuſammen, und hinterher kommt oft nichts, ala das Gelüfte 
einer großen Erwartung! Darum rufe man nicht cher 
„Fiſch! Fiſch!“ als bis er auf den Tiſch! 


156 


Und ift e8 denn nicht in allen Dingen des menjd)- 
lichen Lebens jo, mein lieber, freundlicher Leſer!? Das Herz, 
der Geift, der Mund fchreien oft „Fiſch! Fiſch!“ umd 
auf den Tiſch fommen nichts, al8 Gräten und Floßfedern 
und Schwanzſtücke! 

„Fiſch! Fiſch!“ rufen dramatiſche Dichter und 
ihre Freunde, wenn ein neues Stück kommen ſoll; es iſt ein 
Goldfiſch, ſagt der Eine, ein Leviathan, ſagt der Andere, ein 
fliegender Fifch, fagt der Dritte. Da fammelt fich die fiſch⸗ 
liebende Welt, und bringt einen Hunger mit für einen Le⸗ 
viathan, und wenn der Tiſch angerichtet ift, da kommt ein: 
ganz gewöhnlicher Fiſch, ein Badfifch, ein Fifch, wie jeder 
Fiſch, ein Fisch, der fo das juste-milieu zwifchen Sarbelle 
und Wallfiſch ift, und die Gäfte warten ſtets auf den Le⸗ 
viathan, aufden Goldfifch, aufden fliegenden Fifch! Darum, 
mein lieber, freundlicher Leſer, ruf' nicht eher: „Sifch! 
Fiſch!“ als bis er auf dem Tisch! 

Da ift ein Wunderfnabe, ein Knabe, der herrlid) 
Klavier, Geige, Horn, Baßgeige, Flöte, Klarinette u.f. w. 
fpielt; da fommen die Tanten und Bafen, die Nachbarinnen 
und Gevatterinnen und ſchreien: „Fisch! Fiſch!“ und die 
Tante jagt: es ift ein Fifch mit Schuppen aus Unfterblich- 
feit und mit Floßfedern aus natürlichen Lorbeern, und die 
Andere fagt: aus feinem Roggen wird das Glüd der Zu— 
kunft gefchnitten, und die Andere fagt: aus feiner Milch 
wird die Nachwelt ihr Heil bereiten u. |. w., und das Fiſch⸗ 
lein wächst und wächst, und das Fifchlein wird älter, und 
aus dem Goldfifchlein wird höchſtens ein Gareißel, und aus 


157 


dem Silberfifchlein ein Weißfifch, und dieBafen und Tanten 
haben das Fifchlein mit der Fiſchbrühe ganz ausgegoſſen! 
Darum ruf nicht eher: „Fish! Fiſch!“ als bis er auf 
dem Tiſch! 

Das Karneval kommt, die Mädchen fchreien: „Fiſch! 
Fiſch!“ welches fo viel heißt, ald: „Mann! Mann!“ 
und wenn fie ein Mann auf dem Balle eine Biertelftunde 
lang mit einigen faden Complimenten fervirt, die er von 
der Pique auf, vom Küchenmädchen, Stubenmädchen, bis 
zum Fräulein auf, dienen ließ, fo fchreit das Mädchen: 
„Stich! Fiſch!“ und wenn fie Jemand zweimal zur Qua⸗ 
drille engagirt, -eben weil mit ihr zu tanzen die leichtefte 
Arbeit ift, jo fchreit das Mädchen wieder: „Fiſchl Fiſch!“ 

Und wenn ein Fant und Roue zu fo einem Mädchen 
wieder jagt: 

„Wann kommen wir uns wieder entgegen ? 
Im Sturm, im Wind oder im Regen?“ 
und fie flehet, auf die Baftei zu kommen, oder fonft wohin, 
da fchreit das Mädchen: „Fiſch! Fiſch!“ welches immer 
fo viel heißt, als: „Mann! Mann!” und wenn das Car- 
neval vorüber ift und die eigentliche Fiſchzeit da fein 
jollte, da find feine andern Fische da, als faule Fiſche, 
und an der Fiſchangel ift nichts hängen geblieben, als ein 
Stückchen von dem guten Auf des Mädchens, und an allen 
Straßeneden rufen alte Weiber ein Volkslied aus: 
„Bon den zwölftaufend Jungfern, die alle in 
dem Faſching fein übri blieben und wie der. 
Qupido über fie wane thut!“ 


158 


Darum ruft nicht eher: „Fiſch! Fisch!“ als bis er auf 
dem Tisch! | 

Wiederum, nein lieber, freundlicher Leſer, macht fich 
Jemand ein Ideal, und er fucht unter den zwölftaufend 
thörichten Mädchen und findet eine, die wie ein Paradies 
vogel die irdifchen Füße eingezogen Hat, und da fticht er 
fein Fdeal auf diefen Silbertoque der Wirklichkeit und ruft: 
„Fiſch! Fiſch!“ und er erhebt diefen Fifch gleich zu dem 
Sternbilde der Fiſche am Himmel; allein wie lange danert 
e8, da fallen dem Fiſch und ihm die Schuppen von den 
Augen, er gedachte zu fifchen, und er krebste, es ift ein Fiſch 
wie alle Fifche find, nicht befjer und fchlechter, als alle Fluß⸗ 
fifche, mit denfelben Kiemen und demfelben Blut, und der 
gute Ideal-Fiſcher fürzt von feinen Himmelsfiſchen 
herab in den gewöhnlichen Fifchbehälter irdifcher Fifche! 
Darum: rufe nicht eher „Fiſch! Fiſch!“ als bis er auf 
dem Tiſch! — 

Ja, mein lieber, freundlicher Leſer, Alles im Leben: 
Hoffnung, Glück, Liebe, Freundſchaft, das Leben ſelbſt iſt 
nichts, als ein ewiges Rufen: „Fiſch! Fiſch!“ und gar 
nichts auf dem Tiſch! Die Hoffnung ruft immer und ewig: 
„Fiſch! Fiſch!“ und kommt niezum Anrichten! Die Liebe, 
die Freundſchaft, der Enthufiasmus u. ſ. w. find 
nichts ale Fifche: in drei Tagen find fie übel- 
riechend!!! 

Das ganze Leben, mein lieber, freundlicher Leſer, iſt 
nichts, als ein permanentes Rufen: „Fiſch! Fiſch!“ An 
der Wiege fängt der Menſch an zu rufen: „Fiſch! Fiſch!“ 


159 


Die Kindheit ſchickt ihn zu der Jugend un Fische, die Ju—⸗ 
gend ſchickt ihn zum gefetten Alter um Fiſche, das geſetzte 
Alter ſchickt ihn zum Greifenalter um Fische, fo rufen ſich 
alle Menjchenalter zu: „Fiſch! Fiſch!“ bis der große 
Fiſch-Geier Tod kommt mit feinem Fifchmeffer und uns 
und alle unfere Zuftfifche in die große Pfanne haut; und 
aud) indem wir hineingehen in den dunklen Behälter, wo 
Hecht und Stocdfifh, Sardelle und Haififch ruhig neben> 
einander in der ſchwarzen Erdenfauce liegen, auch da rufen 
wir noch: „Fisch! Fiſch!“ und hoffen, wie der Talmud 
fagt, dort zu effen von dem großen Teviathan, der ein 
Fiſch ift ohne Gräten und ohne Schuppen, und der da 
fhmedt nad) allen Delicateffen der beiden Welten, und 
deffen Roggen gebraten wird an dem Urquell alles Lichtes 
und alles Lebens! 
Lieber, freundlicher Leſer, guten Appetit ! 


Genre- Bilder, 
Jokoſes und Sentimentales. 





M. ®. Saphir's Schriften. V. My. 


11 


Die Whiftparthie mit vier Houneurs, drei Rindern, 
zwei Möpfen und einer Kichtfchere, 


h war in einer jehr böfen Laune. E8 ftedte mir 

etwas in allen Gliedern, entweder eine Heine Krank⸗ 
m oder eine große Dummheit, und ich wußte nicht, 

follte ich zum Arzt, oder zum Schreibtifch gehen. 

Woher die böfe Laune fam? Das muß man eine 
fchöne Frau, einen reichen Dann und einen armen Redac- 
teur nie fragen. Diefe drei Naturreiche in dem Menfchen- 
reihe — wozu fogar der Natur-Arm.e: der Redacteur, 
gehört — find fo eigentlich dazu gemacht, ftetS böſe Yaune 
zu haben. Die fchönen Frauen, weil ein fchöner Himmel 
nie fchöner ift, al8 wenn er ein Bischen bligt und donnert, 
und weil bunte Tauben nie fchöner find, al8 wenn fie zürnend 
das bunte Gefieder auffächern. Neiche Leute überhaupt, 
weil fie an der goldnen Ader leiden. Arme Redactenrs 
endlich find die wahren Effigmütter, Schwaben-Nefter und 
Rattenkönige der üblen Laune. Erftens ſchon darum, weil 
jeder Redacteur auch ein fie, ein Femininum in fi 

11* 


164 


einfchließt: die Redaction nämlich, und alfo ſchon an und 
für fi) Yaunen, diefe Bandwürmer des fchönen Ge— 
fchlechtes, in fid) beherbergen muß. Drittens endlich — ebeır 
aus übler Laune fag’ ich nicht, wie ich follte: zweitens — 
drittens endlich, ja, drittens endlich bin ich jest in böfer 
Laune, daß ich mid) felbft genöthigt Habe, unerklärliche 
Dinge — böfe Launen nämlid, erflären zu wollen. 

Genug — id) war in böfer Laune und hatte feft be- 
fchloffen, mit ihr heute Abend allein und zu Haufe zu bleiben, 
denn mit böfen Launen und mit böjfen Frauen muß man 
nicht unter Menfchen gehen, wenn nıan nicht zu diefen Böfen 
noch ausgelacht fein will. 

Ic, fagte alfo zu meinem Joſeph: „Heute Abend 
bleib’ ich zu Haufe, du wirft Thee, Erdäpfel mit Butter 
und Häring bereiten, mir einen „Wegmweifer durd 
Wien,” eine „Karte vom Rhein,” und den „Katalog 
der Düffeldorfer Gallerie* aufden Tifch legen, und 
einen Strid zum etwaigen Aufhängen an die Mauer hän- 
gen;“ ich wollte nämlich den Spleen ein englifches Feft 
geben, er follte glauben, ich bin ein reifender Engländer, 
und ich wollte mid) eigentlic) in diefe dickſichtige, trägblutige, 
zähgeiftige, dichtnebelige Gemüthsverfaflung eindachjen und 
einbibern. | | 

Es war jchon Alles jo ſchön eingeleitet, da kam ein 
Brief. Wenn ich ſage: ein Brief, fo verftehe ich darunter ein 
papiernes Sechseck, in ſich zuſammengekrümmt, gefnittert, 
gefaltet, und ineinandergefchoben wie ein gordifcher Knoten, 
und auf dem Goldblättchen, welches diefe Blattzwiebel 


a 


165 


zufammengefiegelt hielt, fprang ein Pferd über eine Barriere 
mit der Umfchrift: „Hinderniffe muß man überwinden.“ 

Die Sendung fam von der Alfervorftadt, von der 
„Frau Randhoferin, vermwitwete Barticulirerin.* 

Der Brief enthielt nichts, als eine dringende Ein— 
dadung zu einer Parthie Whift. 

Frau Randhoferin war fucceffive Witwe zweier 
Männer geworden, und hatte aus diefem Succeffiv- Krieg 
nichts gerettet, al8 das, was jeder Sieger aus jedem Kriege 
rettet: die Tuft zu fernen Kriegen und Siegen. Siegerin 
aber blieb fie in beiden Kriegen, das heißt, fie blieb auf dem 
Plate, während die zmei Männer das Feld und das Leben 
ränmten! — ‘ 

Ihr erſter Mann war ein zurücigelegter „Zwetſchken— 
Fabrikant“, wie fie ihn gerne und mit Selbftgefälligfeit 
nannte, weil fie e8 war, die ihn vermochte, zuerft feinen 
aufblühenden Zwetfchfenhandel und dann ſich felbft an den 
Nagel zu hängen, das heißt, an fie, die ein Nagel zu feinem 
Sarge wurde. Sie hatte von diefem, den fie abwechſelnd: 
„mein feliger Erfter,” und: „mein feliger Zurüds 
gelegter“ nannte, zwei Hinterlafjene Zwetſchken: Binchen 
(Sabine) und Röschen, zwei Zwetſchken, auf denen noch 
der frifche Sugendreif lag und deren Kern aus feligen zu= 
rückgelegten zehntaufend Gulden Heirathsgut per Zwetſchke 
beftand. 

Der zweite Mann der FrauRand hoferin war einer 
jener Glücklichen, die das befte Gefchäft Haben: gar feines, 
und den nnantaftbarften Charakter: feinen; wenn man zu 


166 


diejen beiden Eigenfchaften ein ficheres Kapital von zehn- 
taufend Gulden Conventions-Münze miſcht, und Alles bei 
einer gelinden Yaulheit und einer mäßigen Selbftliebe auf - 
tochen läßt, fo hat man in kurzer Zeit einen fubftanziöfen 
„Privatier”. Ein folder Privatier Hat nichts zu thun, 
als zu liegen und zu effen, er liegt nämlid auf 
feinem Kapital und ift feine Intereffen. Ein 
folcher Glüdlicher war ihr zweiter Dann, den fie ftets nur: 
„mein feliger Zweiter,” oder: „mein feliger Pri- 
vatınann,“ oder aud) brevi manu: „mein Privatfeli- 
ger“ nannte. Auch diefer Zweite machte fic zeitig von 
hinnen, fegnete dieſes und alles Zeitliche und ging ein 
zu feinen Vätern, wovon der Eine nod) lebte und Groß⸗ 
händler war. Auch diefer „ſelige Zweite” hinterließ der 
Frau Randhoferin zwei Töchter als Coupons feines 
Privatlebens, Johanna und Dore, mit der Teftaments- 
Haujel, daß die Nutznießung des Kapitals ihr bleibe, bis 
die beiden Töchter geholt werden, und zwar von fitt- 
famen, gewerbetreibenden Männern. 

Es Tag alfo im Intereffe der Frau Randhoferin, 
um dieje zwei hinterlaſſenen Schagfäftlein von ihrem feligen 
Zweiten lauter Männer zu verfammeln, die fein Gewerbe 
treiben, zum Beifpiele Muſikanten, Dichter, Schaufpieler, 
Redacteure und anderes zweideutiges Volk. 

Für die Contumaz⸗ und Heirath8-Abjperrung der 
beiden Töchter forgte Frau Randhoferin; allein fie jelbft 
war nod) ſehr geneigt, ihre eigenen förperlichen Nefte, und 
Die ihres „erften Seligen” und „zweiten Seligen“ dazu, an 


167 


einen „dritten Unfeligen* an Hymens Altare hinzugeben. 
Sie meinte erftend: „Aller guten Dinge find drei,* 
ob fie num unter diefen „guten Dingen” die Männer . 
felbft oder den Tod diejer Männer verftand, fteht mir und 
uns nicht zu, zu beurtheilen; denn aud) ein Humorift darf 
wie ein Eivil-Richter feinen animus Injuriandi fupponiren. 
Zweitens dachte fie: „Einmal ift feinmal,“ fagt das 
Sprichwort, folglich ift: „„weimaleinmal,“ und nody 
folglicher aud) „zweimal einmal,” und einmal muß 
man doch heirathen! Dritteng, und, wie mir fcheint, 
ber triftigfte Anlaß und die ratio sufficiens ihres Ent- 
ſchlußes war ein juridifcher Scrupel über das jenfeitige 
Gericht, eine anticipirte Gewiffenhaftigkeit und Fürforge 
für ihre einftigen Richter dorten. 

Denn gefegt, wenn ihre beiden Seligen dorten befragt 
würden? „Wie war Frau Randhoferin als Gattin im 
Leben?” fo könnte e8 doch fein, daß eine Getheiltheit der 
Stimmen eintreten könnte, und wie follte da entfchieden 
werden? Alfo tres faciunt Collegium; fie müßte alſo auch 
einen dritten Seligen bei Gericht figen haben, um dem 
ſchwankenden Pol den Ausfchlag zu geben. 

Frau Randhoferinmwarnod) inden beften Jahren, 
denn die Witwen nennen ftet8 die Sabre, die zwischen den 
beiden Ehen liegen, die beften, fo wie fie es für beide Männer, 
für den vergangenen, al8 aud) für den futur conditionel 
wirklich) auch find. 

Was die perfönliche Schönheit und Geſtalt ber Frau 
Randhoferin betraf, fo erfegte die Duantitätdie Qualität 


168 


auf jeden Fall. Wenn fie zuweilen das Grab eines ihrer 
Seligen bejuchte, und das gefchah immer bei jenem, deſſen 
Töchter fie eben mißhandelte, fo glaubte man von ferne, 
es wäre die Pyramide des Orabmales. Sie war in Hinfiht 
ihrer irdischen Conftitution eine Conſervative mit zeit- 
weiligen Neuerungen! 

Es ift anzunehmen, daß — wenn fie den Gram um 
zwei geftorbene Gatten nicht gehabt hätte — fie ganz mager 
geblieben wäre. Allein, da fie jelbft ganz und gar ein Gram 
war, da fie biefen Gram ftetS nährte, und Alles, was man 
nährt, did wird, fo ift e8 fein Wunder, daß diefe Witwe 
in specie, fo wie die Witwen in genere, eine Anlage zum 
Dickwerden Hatte. 

Bei allen den: konnte man nicht fagen, daß fie das 
Haupt hoch trägt, denn es liegt vielmehr fo tief zwifchen 
den beiden Spedfchultern, wie eine halbe Mandel in der 
Fleiſchpaſtete. 

Uebrigens iſt es eine bekannte Sache, daß jedes und 
auch das häßlichſte Frauenzimmer alle Gaben und Zuthaten, 
und ſo zu ſagen dasſelbe ganze Specereigewölbe an Schön⸗ 
heitsmitteln beſitzt, wie das allerſchönſte, nur ſind ſie 
nicht am rechten Orte placirt. Zum Beiſpiel ſchwarze 
Haare, blaue Augen, rothe Lippen, weiße Zähne, 
lange Wimpern, eine gebogene Naſe, rundes 
Kinn, ſpitze Finger, breite Schultern, ſchmale 
Füße u. ſ. w. find fo die einzelnen Medicamente zu der 
Hausapothefe Schönheit. Nun aber finden fid) bei den Häß⸗ 
Lichften alle diefe Formen, Farben und Größen, nur find fie 


169 


nicht am rechten Orte, und die Natur hat in aller Eile eine 
fleine Verwirrung angerichtet; daraus entftanden nun: 
ſchwarze Zähne, blaue Lippen, rothe Augen, 
weiße Haare, runde Naſe, ſpitzes Kinn, ſchmale 
Schultern, breite Füße u. f. mw. 

Es wäre aljo Unrecht, eine Berfon häßlich zu nennen, 
die alle Zeichen der Schönheit befißt, wenn diefe aud) nicht 
geographifch und topographifch richtig angefiedelt find. 

Die hinterlafjenen Werke des „jeligen Zweiten“, 
Fohanna und Dore, waren ſich ſehr unähnlich, und nie 
find zwei, an Inhalt und Einband jo entgegengefegte Exem— 
plare aus einer Berlagshandlung in die Welt getreten, als 
diefe zwei Schweftern. Johanna war fchön, fanft, Hug, 
und hatte echt Humoriftifche Augen, das heißt, Augen, 
in denen himmelblaue ®emüthlichkeit und zuweilen eine ganze 
Herzensweltgefchichte aufleuchtete; und Dore war weder 
ſchön, noch fanft, noch Klug, fie hatte nicht nur feine hu mo⸗ 
riftifhen Augen, fondern der oberflähliche Beſchauer 
hätte fogar an die Eriftenz ihrer Augen ganz und gar ges 
zweifelt, fo in fich verfunfen, zogen fie fich aus den Wirren 
und Irren dieſes Lebens in ihre Höhlen zurüd. 

Ih war ein alter Belannter und Hausfreund des 
„leligen Zweiten“, fannte die beiden Mädchen noch 
in ihren: Flügelkleide, und nie ift Einem eine lange Be— 
kanntſchaft nachtheiliger, al8 die, welche man bei Mädchen 
aus fo früher Zeit Datirt. 

Indeſſen befuchte ich, in: meiner frommen Ge— 
müthlichfeit, die befugt, Witwen und Waifen zu lieben, 


170 


die Frau Randhoferin und ihre zwei Töchter von Zeit 
zu Zeit. 

Die Frau Randhoferin befaß eine einzige Schöne 
heit: eine ſchöne Hand; diefe Hand und die des Schick⸗ 
ſals lagen zwar lange und ſchwer auf den zwei vorausge⸗ 
ſchickten Relais-Männern, allein fie hatte doch noch wenig 
von ihrer angebornen Schönheit eingebüßt, und fie fpielte 
aljo eine Hauptrolle bei der Frau Randhoferin. 

Wenn id) kam, küßte ich ftets ihr und Johannen die 
Hände, Hände von zwei ganz verfchiedenen Jahrgängen. 

Sie, die Mutter, ließ ihre Hand, das einzige Ver- 
mächtniß ihrer gütigen Miftter Natur, lange in oder auf 
der Hand des Küffenden ruhen, und überhaupt war es immer 
die Hand, welche ſich ftet8 mit in die Converfation mifchte, 
entweder mit Tichtpugen oder mit Tifchabftauben oder mit 
Lodenzurechtfchiebung, oder am liebſten mit und beim 
Kartenſpiel. 

Beim Whiſtſpiel, da hat die Hand freie Hand, ſich 
zu produciren, beim Abheben, Miſchen, Tailliren, Stiche⸗ 
decken, Karten zuſammen nehmen u. ſ. w. 

Außer Karten geben wußte aber auch dieſe Hand 
vom Geben gar nichts, am wenigſten vom Tafel geben, 
oder vom Souper geben. 

Wenn alſo eine Einladung zu Frau Randhoferin 
zu einer Wiſtparthie kam, ſo ſtand in meiner Phantaſie ein 
vierhändiger Abend da, mit zwei alten und zwei jungen 
Händen, aber die nichts mitbringen und nicht8 in die unferen 
legen, als fich feldft, und eine Whiſtparthie mit noch zwei 


171 


Sibyllen aus der Alfervorftadt, und fonft nichts, nichts, 
gar nichts für Hunger und Durft und für fonftige uner- 
läßliche Leidenschaften des menſchlichen Lebens. 

Blos Johanna ftand mit ihren blauen Augen in 
dem Hintergrunde diefes Bildes und ſprach: 

„Zwei Blumen blühen für den weifen Finder, fie 
heißen Hoffnung und Genuß, genießen mußt du 
nichts, aber hoffe, hoffe!“ 

Und ich ging und hoffte. 

Das Sefelfchaftszimmer der Frau Randhoferin 
war beleuchtet, das heißt, auf zwei Leuchtern, die zwifchen 
Padfong und Meffing ein gelblichtes juste milieu hielten, 
brannten zwei Lichter, wovon das eine fchon geftern fein 
Licht Hatte Leuchten laſſen müſſen, und fo zu jagen, ſchon 
etwas abgeftumpft war, und das andere eben erft aus 
der Lichter-Erziehungsanſtalt in die Welt trat, und zum 
erften Mal an der atmofphärifchen Luft ſich entzündete. Da 
in jeder Gefellfchaft fich große und Heine Lichter befinden 
müffen, fo liebe ich es vorzüglich, wenn eine lange Kerze 
und ein furzes Stümpfchen nebeneinander auf dem Tiſche 
ftehen. | 

Die lange Kerze fommt mir dann immer wie eine 
Lange franzöfifche Gouvernante vor, die ihr Heines Püppchen 
bewacht, und dabei fich felbft im eigenen Feuer verzehrt und 
zerrinnend herabfchmilzt. 

Ich fügte die Randhoferiſche Hand, welche weiter 
unten, wo die Hand an den VBorderarm anfchließt, ſchon ei= 
nige Heine Randzeichnungen des großen Faltenwurfzeichners: 


172 


„Bierzigftes Jahr!“ an fi) trug, und dachte dabei 
an die Hand Johanna's, die mir eben einen Seffel 
zwifchen fi) und die Mutter Hinfchob, den ich auch ſogleich 
einnahm. 

„Wir haben ſchon auf Sie gewartet, * fprad) Madame 
Randhoferin, „hier Herr Gröbel und Madame Rigin- 
ger.“ Ic machte mein Antrittscompliment und die Parthie 
Whiſt begann. 

Herr Gröbel war einer jener auscerlefenen Men⸗ 
ſchen, die davon leben, daß fie Einem die Haut abziehen und 
den Andern damit befleiden, das heißt, er war ein Kürfchner. 
Er hatte manchem Affen einen Bären auf den Kragen ge- 
jeßt, und manchen Hafen in Fuchspelz gehüllt. Er war ein 
fehr dider Mann mit ganz Heinen, ftunpfen, fetten Fin- 
gerchen, und mit dem Sprichworte: „Ei du mein 30- 
beichen!“ 

Madame Riginger war eine Quartiervermietherin, 
und hatte weiter feine Kennzeichen, al8 daß fie etwas hart 
hörte und fehr laut fchrie. 

Mich jelbft kennt der Lefer, und fo kennt der Teer 
die ganze Whiftparthie mit allen ihren Reizen und Ans 
nehmlichfeiten. 

Tür Lefer aber, Bie mich nicht kennen, füge ich das 
Nöthigfte über mich hier bei, nämlich: daß ich die Gewohn⸗ 
beit habe, beim Whiftfpiel alle Karten laut zu nenneu, jo= 
wohl die, welche ich fpiele, al8 auch die, welche die Andern 
fpielen. Eine Gewohnheit, die eben nicht zu den Anuehmlich⸗ 
feiten des Whiſtſpielens gehört. 


173 > 


Wir faßen fo: 
Johanna 


3 


RERERERRERERR 
Gröbel & + Wandhoferin 
KRERERERRERRR 
Nihinger 

Dieſer viereckige Tiſch war die Quadratur unſeres 
kleinen Zirkels. Der Tiſch war ein rechtwinkliges 
Viereck. Für mich aber war der Winkel, wo Johanna 
zwiſchen mir und Herrn Gröbel — wie Figura zeigt — 
wie ein Vergißmeinnicht zwiſchen einer Bohnenſtange und 
einem Wolfspelz ſaß, der wahre, rechte und allerrechteſte 
Winkel. 

An beiden Enden des Tiſches ſtanden die zwei Kerzen, 
an meiner Seite Pipin der Kurze und vis-A-vis Philipp 
der Lange. 

Die Karten wurden gebradjt, und Madame Rand- 
hoferin bemächtigte ſich des Gefchäfts, fie zu mischen, um 
dabei ihre Hand mit im Spiele zu haben. Diefes Gefchäft 
war aber nicht fo leicht abgemacht, al8 man glaubt. Die 
Karten nämlich, welche nicht von unten hinauf, fondern 
von oben herab dienten, brachten den Frühling ihrer Tage, 
und fo zu fagen ihre goldne Jugend, in einem Kaffehaufe 
zu. Bon da gingen fie, wie ein bereit8 gefanntes Bonmot, 
in das populäre Teben eines Weinhaufes über, aus diefem 
Getümmel der Welt gingen auc) fie nicht ohne irdiſche 
Flecken heraus, als fie von da, durch die dritte Hand in 
die der Randhoferin Famen. 


174 


Diefe Karten aber Hatten in dem Taufe ihres wechjel- 
vollen Dafeins und eben dadurd) eine folche gegenfeitige An- 
hänglichfeit an einander gefaßt, daß man fie nur mit Mühe 
trennen fonnte, und e8 dauerte oft eine ganze Weile, bis fich 
Carreau-Bube von der Herz.’ Dame losriß. Vom Schickſal 
mürbe gemacht, verloren fie auch viel von der angebornen 
Feſtigkeit ihres Charakters, und nahmen eine Gemüthsweich⸗ 
heit und Schlaffheit an, melche beim Geben und Mifchen 
bedeutende Hemmungen hervorbrachte. 

Mit Zeit, Geduld, und mit einer Nachbarin, wie 
Johanna, überwindet man Manches! 

Endlich war das Miſchen überſtanden und das Spiel 
begann. Vorher noch ein Streit. 

Madame Ritzinger. Wie hoch ſpielen wir? 

Ich. Wie es gefällig iſt. 

Madame Ritzinger. Es iſt mir Alles Eins. 

Herr Gröbel. EidumeinZobelchen! Wie Siewollen. 

Madame Randhoferin. Nein, ſagen Sie! 

Ich. Ich hab' gar nichts zu fagen. 

Madame Ritzinger. Man ſpielt ja nicht, um 
zu gewinnen. 

Herr Gröbel (lacht bedeutend). 

Madame Randhoferin. Nicht gar zu hoch. 

IH. Nein, nicht gar zu had). 

Madame Riginger. So fagen Sie. 

Ich. Ich? DO, ich überlaffe es Ihnen. 

MadameNRandhoferin. Was meinen Sie, Herr 
Gröbel? 


175 


Herr Gröbel. IH? Ei du mein Zobelchen! ich 
meine, was Sie meinen. 

Madame Randhoferin. Was meinen Gie, 
Madame Riginger. 

Madame Riginger. Ich? Sch meine, was der 
Herr Saphir meint? Ä 

Madame Randhoferin Was meinen Sie, Herr 
Saphir? | 

Ih. O, Ich meine, was die Damen meinen. 

Madame Randhoferin. Nicht zu Hoch. 

Madame Riginger. Nein, nicht zu Ho. 

Madame Randhoferin. Ich meine, den Fifch um 
einen ſchwarzen Groſchen. Was meinen Sie, Herr Saphir? 

Ih. O ja, ic) meine, das ift ein ſehr frugales Aus— 
kommen, o ja, ein ſchwarzer Groſchen um den Fiſch, will ich 
Sagen, den Schwarzen Fifch um einen Grofchen, nein, den Fiſch 
um einen ſchwarzen Grofchen, ganz recht, vortrefflich, richtig. 

Auch das war alſo abgemacht, und das Spiel begann. 

Inzwifchen hatten fic) von Herrn Gröbel zwei junge 
Zobelchens, ein Junge von adjt und ein anderer von 
neun Iahren, und ein Mädchen der Madame Riginger, 
ein Kind von fieben Fahren, eingefunden, und hatten an den 
andern drei Tiſch-Ecken Poſto gefaßt, und in ihrer Beglei—⸗ 
tung famen ihre zwei Hausmöpſe: „Billi“ und „Fidel“, 
mit, welche fich auf dem Schooße der Madame Ritinger 
und des Herrn Oröbel anfiedelten, und mit den Vorder⸗ 
füßen auf den Tiſch Hinauffprangen, als wollten fie auf dem 
Tiſch um einen Schwarzen Grofchen mitfpielen. 


176 


Es ift noch zu wiffen nöthig, daß Madame Rand- 
hoferin kurzfichtig war, und zuerft jedesmal fragte: „Was 
ift gefpielt worden ?* dann die gefpielte Karte vom Tiſche 
nahnı, fie vor die Augen führte, fie laut benannte und wieder 
niederlegte. 

Wenn der Lefer nun den ganzen Schanplaß, bie zwei⸗ 
und vierfüßigen Helden der Whiftparthie, die Kinder und 
die Kerzen kennen gelernt hat, fo bleibt ihm nichts übrig, 
als auch noch die Lichtſchere in Augenfchein zu nehmen, 
welche diefen Kerzen beigegeben wurde. Wenn man behaupten 
wollte, fiewar aus Silber, fowürde der Eifenhändler 
mit Recht auf böswillige Kritik Hagen, den uuftreitig waren 
ihre Beftandtheile aus dem eifernen Zeitalter, obwohl fie 
ſchon die filberne Hochzeit mit dem einen Leuchter gefeiert 
bat. Ich fage: die Hochzeit, denn ſie war mit einer eifernen 
Kette an den Leuchter angefettet, fo daß man ftets, wenn 
man das zweite Licht pugen wollte, den Leuchter mitſammt 
der Kichtichere zu diefem verwickelten Gefchäfte Hinüber- 
führen mußte. 

Durch) das lange und undankbare Gefchäft etwas zur: 
Aufklärung beitragen zu wollen, war befagie Lichtfchere mit 
ihrem Gewiſſen felbft zerfallen, fie fand in fich felbft keinen 
moralifchen Halt mehr, und fiel in einen Zwieſpalt ausein⸗ 
ander, fo daß, wenn man das Licht pußte, die Schnuppe 
entweder auf das Licht, oder auf den Tifch fiel, und man 
dann noch immerdie Natur-Lichtfchere: diezwei Fin 
ger, zu Hilfe nehmen mußte, um diefe Schnuppe in ihr 
eigentliches Gemach wieder einzuführen. Dabei hatte fie in 


177 


irgend einer Affaire einen Fuß verloren, und der eine Fin- 
ger des Pugenden fand feinen Anhalt an der einbeinigen 
Lichtfchere. Und nun ift der Lejer in vollen Lichte über die 
ganze Scene! 

Das Spielbegann. Ich hatte die Vorhand. Ich fpielte 
Treff Drei aus. und rief nach meiner Gewohnheit laut dabei 
ans: „Lreff Drei!’ Madame Randhoferin fragte zu— 
gleih: „Was jpielen Sie?" nahm die Karte vor die Augen 
und rief: „Lreff Dreil* Madame Riginger rief: „Was 
jagt Madame Randhoferin?” Ich fehrie: „Sie fagt: 
Treff Drei!" — „Treff Drei?“ wiederholte Madame 
Ritinger und gab Treff Neun, worauf ich laut fagte: 
„Treff Neun!“ Herr Gröbel aber lachte: „DO du mein 
Zobelhen! Treff Neun?“ und gab Treffdame, worauf ich 
fagte:„Zreffdame?"MadameRandhoferinfragte: „Was 
ist gefpielt worden ? Treff Neun? Wer gab Treff Neun? 
Wer hat denn ausgefpielt? Darauf nahm fie alle drei 
Karten vor die Augen und fragte: „Ift die Dame zu 
nehmen?" Ich fragte ironiſch, indem ih Johanna die 
Hand drüdte: „Welhe Dame?" Madame Ritzinger 
fragte: „Was fagt Madame Randhoferin?“ Ichfchrie. 
„Db die Dame zu nehmen tft?" — Ob die Dame zu 
nehmen ift? Freilich ift die Dame zu nehmen!“ Darauf 
warf Madame Randhoferin Trefflönig zu, und wollte die 
Karten einziehen, allein auch die Heine Ritzinger wollte 
die Karten einziehen, wogegen aber feinerfeitS der Mops 
Einſpruch that, der aud) ſchon feine Pfoten nad) der Levée 
ausftredte. Endlicd) zog Madame Riginger die Levée an 

M. G. Saphir's Schriften. V. Bd. 12 


178 


fi, nachdem fie ihrem Keinen Ebenbilde einen ftarfen und 
dem Mopfe einen zarten Klaps angehängt hatte. 

So ging die Unterhaltung lebhaft und angenehm vor 
fih. Jede Levee wurde zuerft einzeln ausgerufen, bejprochen, 
hin und her gezogen, ein Kind oder eine Hand mifchte fich 
darein, und ein Klaps endigte die intereffante Debatte. 

Bon Zeit zu Zeit rief Madame Randhoferin mir 

„Putzen Sie das Licht, ich bitt' Sie!" Das war leicht 
gefagt, aber ſchwer erfüllt; ich mußte dazu meine Karten 
aus der Hand legen, den Teuchter zum andern führen, die 
unanfaßbare Tichtfchere mit Lift und Gewalt bei einem Ende 
erwifchen, und dann erft mit einem pfiffigen Manöver mid), 
die Lichtjchere und die gefallene Schnuppe aus der Affaire 
ziehen. Herr Gröbel machte, wenn e8 ihm zu dunkel wurde, 
Berfuche in der Experimental Phyfik der Natur-Tichtfchere, 
pugte das Ticht mit den Fingern, wovon oft ein ſchwar—⸗ 
zer Verdacht fodann auf die von ihm ausgeſpielte Karte 
überging. 

Id) fah den Moment kommen, ‚wo er mit feinen 
Stumpffingern das Licht auslöfchen wird, und hatie auf 
diejen Tall eine Haupt- und Staatsaction vorbereitet. 

Richtig. Madame Randhoferin hatte eben den 
Herzlönig mit dem Herzbuben eingeftochen, al8 Herr Grö— 
bel das Ticht pußte und es auslöfchte; in diefem Momente 
hatte ich auch das meinige gelöfcht, und die ganze edle und 
liebenswürdige Parthie ſaß im Stodfinftern. 

Mit Bergnügen bemerkte ich durch mein Gehörorgen, 
daß alle meine Mitjpieler zuerft darauf bedadjt waren, 


179 


ihre Kaffe in Sicherheit zu bringen, und mit der einen Hand 
fie zu bededen! Indem ich mich damit befchäftigte, meiner 
Herzdame zur Linken eine füße Levée von den Tippen zu 
pflücden, riefen alle einftimmig: „Licht! Licht!“ Die Kin⸗ 
der fingen zu fichern an, zwidten die Mlöpfe, diefe heulten, 
der Lärm dauerte eine Minute, bis Johanna, auf Befehl, 
Licht bringen mußte, und Kinder, Möpfe, Karten und Kaffe 
wieder in Ordnung gebradjt wurden. 

Wir hatten von halb fieben bis zehn Uhr richtig ganze 
zwei Robber gefpielt! Die große Zufammenrechnung kam, 
ich Hatte dreizehn Schwarze Srofchen an Madame Rand- 
hoferin, und Herr Gröbel neun Dito an Madame _ 
Ritzinger zu bezahlen, woraus erfichtlich ift, daß Kürfch- 
ner und Poeten Yebensart haben und galant gegen Frauen , 
zimmer find. 

Indeffen hatten die drei Kindlein in meinem Hute 
gekocht! Sie hatten nämlich mitunter auch Küche gefpielt, 
Brotkrumen, Waffer u. dgl. genommen, und meinen Hut 
zur Küche gemacht. Die Möpfe wollten auch) an Aufmerk— 
ſamkeit nicht zurücbleiben, und zernagten meine Handfchuh, 
die aus dem Hute auslogirtund auf die Erde geworfen wurden. 

Madame Randhoferin tröftete mich über den Ver- 
luſt von dreizehn ſchwarzen Grofchen, und fagte mit bedeu- 
tungsvollen, hoffnunggebenden Mienen: 

„Unglüd im Spiel, Glüd in der Liebe!“ 

„Ach!“ jagte ich neu belebt, „glauben Sie, daß ich 
mir in der Liebe dreizehn ſchwarze Groſchen hereinbringen 
werde? 

12* 


180 


Unterdefjen war e8 fpät geworden, ich mußte dreizehn 
ſchwarze Groſchen, fünf graue Stunden und zwei blaue 
Augen im Stiche lafien, um Madame Ritzinger nad) 
Haufe zu begleiten. E8 war ein Kagenfprung! von der 
Alfervorftadt bis nach der St. Marrer - Linie! 

Ic wollte einen Wagen nehmen, das litt fie durdh- 
aus nicht, es käme ihr gerade recht, eine Feine Bewegung 
zu machen, und fie wüßte, ich bin fehr galant! 

Das find Folgen eines guten Rufes! 

Ich brachte fie wohlbehalten in ihre Heimat und ver⸗ 
ſprach ihr, fie recht oft zu befuchen, denn fie meinte: „es fei 
cin Heiner Spaziergang!” 


Maturgefihichte der Mädchenjahre. 


1. Die Luftfchlöfferiahre.— 2. Die Kartenhäuferiahre.— 3. Die Ber: 
forgungsbausiahre. — 4. Die Strohhüttenjahre. — 5. Die Berzweif: 
Iungsjahre. — 6. Die „Hol's der Teufel!“s Jahre, 


1. Die Luftſchlöſſerjahre. 


Bis zum fechzchuten Jahre find ale Mädchen Engel. Bon 
dem Lichte, welches Umgebung und änßere VBerhältniffe in 
ihnen und um fie verbreiten, hüngt e8 ab, ob fie Engel des 
Lichtes oder Engel der Finfterniß werden. 

Ein Dann hat um diefe Zeit feine Flegeljahre, 
allein bei dent weiblichen Gejchlechte verfchmelzen diefe Jahre 
in einen Gemüthszuftand von Dämmerung, in ein Nebeln 
und Schwebeln, und das Herz eines Mädchens in diejem 
Zeitraum gleicht unfern Iyrifchen Produkten, in welchen 
Gefühl und Unfinn, hyſteriſche Bläffe und roſafarbne Dun: 
felhaftigfeit neben einander wohnen. 

Erſt mit dent fechzehnten Jahre tritt das weibliche 
Herz aus der Stiftshütte von Träumen, und aus dent 
Spinnhauſe nicht verftandener Gefühlsfäden in die Schule 
des Lebens, in eine Schule, in welcher leider das Eramen 
erft dann vor fich geht, wenn das Leben fein Diplom und 
keine Preife mehr zu vertheilen Hat. 


182 


Mit dem jcchzehnten Jahre der Tochter füngt die 
eitelfte und gefallfüdhtigfte Mutter, fo gerne fie erft felbft 
für nicht viel über fechzehn Jahre gelten möchte, doch an, 
einzugeftehen, daß „das Kind erftaunlid, groß und unbes 
greiflich früh reif“ wird. 

Bon diefen Augenblide treten die Mädchen ihre 
Luftſchlöſſerwelt an, und, indem fie von Phantafie und 
Einbildung große Summen aufnehmen, fangen. fie ihren 
Bau an, und bauen, wie die meiften Bauherren, größten 
theils anf eine Muffe von Einwohnern, bie theil8 neben=, 
theils nach einander diefe Schlöffer bewohnen follen. 

Jedes Ruhelifjen, auf das fie ihr nachdenkliches 
Köpfchen hinlegen, wird zum erften Stockwerke diefer him— 
melanfteigenden Schlöffer, und jeder Held aus dem eben 
gelefenen Roman macht die geflügelte Beſatzung diejer 
Schlöſſer aus. 

Vom fehzehnten bis zum neunzehnten Jahre 
find die Luftfchlöfferjahre. Wehe den Mann, der fich 
den Bauenden naht, wenn er nicht Demanten als Ziegel- 
fteine, Rang und Würden als Stuffatur, glänzende Aus- 
fichten als Fenfterfcheiben, und Ruhm, Größe, Glanz als 
pompejanifche Wandgemälde zu biefen Luftſchlöſſern liefern 
fann! 

Am aufgethürnten, fchwindelhohen Kuftfchloffe fitt 
die fchöne, junge, hoffnungsblühende Erbauerin, und prä— 
Iudirt und fingt: 

„sn meinem Schlößlein iſt's gar fein, 
Komm’ Nitter, Fehr’ bei mir ein. 


183 


Aber, ach, wir Haben feine Ritter mehr, wir haben 
blos Reiter; und diefe irrenden Ritter ſpringen höchſtens 
über eine zwei Fuß hohe Barriere, aber nicht über die Bar- 
rieren der Convenienz, und daher kommt es, daß kein Reiters 
Ritter in das Luftſchloß fprengt, und es von feinem Wolken⸗ 
gudguds-Heim in die wirkliche Welt herüberbaut, und die 
Erbauerin mit demfelben. So bleiben denn die fchönften 
Luftfchlöffer unbewohnt, und, meine lieben Lejerinnen, in 
einem Xuftfchloffe ift e8 kalt und öde und unheimlich 
zu wohnen, befonder8 für ein junges Mädchen, und 
ganz allein! 

Nie oft werden in diefen drei Jahren die Luftfchlöffer 
umgeändert, überbaut, mit andern Pfeilern und Säulen ver⸗ 
ziert und in andere Yuftregionen verpflanzt, aber nirgends 
will der Schloßherr aus der Erde fpringen, und feine Wirk⸗ 
lichkeit macht das Phantom bewohnbar! Endlich mit dem 
neunzehnten Jahre fängt die Phantafie an, nad) etwas 
Haltbarerem, als Yu ft- Baumaterialien zu greifen, und e8 
beginnen 

2. Die Kartenhäuferjahre. 


Diefe Häufer werden doc) nicht ganz auf Nichts ge- 
baut, wenn fie auch nicht auf feften Grund und Boden 
aufgeführt werden, fo ift es dod) ein dichter Gegenftand, 
auf dem fie errichtet werden. Die Mädchen fangen an, mehr 
in die Breite, als in die Höhe zu bauen; fie fehen fchon 
mehr auf den Platz, den fie brauchen, al& auf den 
Raum, den fie einnehmen möchten Man fügt fid 


184 


etwas williger dem Stoffe, der Einen zu Gebote ſteht. Man 
gibt Hier zu, und läßt dort nad). Es ftürzt ein Kartenhaus 
nad) dem andern ein; wenn die gejchäftige Baumeifterin zu 
hoch Hinaus will, fo hält es nicht, da8 ganze Gebäude 
fällt ineinander, und e8 müſſen andere Karten zu einem 
_ folidern Haufe geholt werden. Da lernen die Mädchen be- 
hutfamer bauen; fie jehen, daß man nirgends anſtoßen, 
nit ungeheuer von ſich blafen, und recht fachte 
und obachtſam zu Werke gehen muß, wenn man ein jolches 
Kartenhaus aufführen will! Sie laſſen ſich die Mühe nicht 
verdrießen, einen Bauplan zehn- und zwanzigmal zu er⸗ 
neuen, wenn ein Windftoß, ein böfer Yuftzug den Bau zehn- 
und zwanzigmal über den Haufen geworfen hat. So ein 
Kartenhaus ift freilich folider und wohnlicher, als ein Yuft- 
ſchloß, allein es find doch nur Kartenhäufer, wenig 
Männer werden verfucht, ihr ganzes Leben in einem Karten- 
haufe zu wohnen! Da ift wohl Glätte von augen, und 
buntes Bildwerk von innen, aber es ift nicht feft ge- 
fügt, nicht hHub- und heb=feft, nichts auf feften Grund, die 
Männer verweilen lachend einen Augenblid bei der noch 
immer ſchönen Erbauerin folder Kartenhäufer, aber fie 
werden feine Einwohner bekommen, dag dreiund- 
zwanzigfte Jahr kommt heran, und mit ihm: 


3. Die Hausmannsjahre. 


Die Tuftfchlöffer waren bei der undantbaren Welt 
nicht affecurirt, und die Kartenhäufer waren auf Sand ge— 
baut; das Leben wird aber immer forglidher, die Jahre 


185 


fälter, die Gefinnung [hwalbenmäßiger, häuslich, in den 
flatternden Zipfel der Jugend ift nur noch ein Stückchen 
Frühling mit ſparſamen rothen Fäden eingemerkt, und Alles 
ruft aus dem Mädchenherzen: „Ehe, kehr' ein, denn 
es will Abend werden!“ und da, auf dieſem Wende- 
punkt des Krebfes, fangen die Mädchen an, fi) blos Ber- 
ſorgungshäuſer zu bauen. 

Die Beforgung über die Berforgung fängt an, und 
die Bauwuth ift von der fchwindelnden, bunten Höhe der 
Luftichlöffer bis in die mausfarbene Region eines kleinen 
häuslichen Lebens verjunfen, wo eigener Herd und Küche 
den Grundriß ausmachen. 

In dieſen Jahren von fünfundzwanzig bis achtund⸗ 
zwanzig, da fangen die Paradiesvögel, die vom Thau der 
Hoffnung lebten, und ohne Füße zwiſchen Himmel und Erde 
flatterten, allmälig an, die zarten Füßchen auszuſtrecken, 
um auf der lieben, proſaiſchen Erde, wo die Männer wachſen, 
feſten Boden zu faſſen. Leider fangen in dieſen Jahren ſchon 
an, die Freierſchwalben ſich zum Abzug aus den herbſtlichen 
Tagen zu rüſten; die Männer, die eine häusliche Verſorgung 
lieben, tragen Bedenken, ob Weſen, die einige Jahre in Luft- 
Ichlöffern und einige Jahre in Kartenhäufern, möblirt mit 
dem foftbaren Gerätheihrer Einbildung, zu wohnen gewohnt 
waren, lange und reell zufrieden bleiben würden in dem ein- 
achen Berforgungshaufe eines bejcheidenen Looſes, und fo 
nahet denn oft das achtundzwanzigſte Jahr unter Zagen 
und Bangen, unter Harren und Hoffen, unter Sehnen und 
Täufchen heran, und da beginnen: 


186 


4. Die Strohhüttenjahre, 

Bom ahtundzwanzigften bis zum einund- 
dreißigften Jahre find die drei parforce-romanti- 
ſchen Jahre, wo die Mädchen endlich auf Luftſchloß, 
Kartenhaus und Berforgung verzichten, aus der 
Noth eine Tugend, und aus der Heirathfudht eine 
bloße Lieb-, Schmacht- und Sehn-Sucht madhen! Sie 
wollen nichts, als ein liebendes Herz und eine „Stroh— 
hütte!” 

In frühern Zeiten fanden ſich bei den Mädchen diefe 
Stroghütten-Phantafien nın im Barorismus des frühen 
Sugendfiebers ein. Da waren e8 blos die Schneeglöd- 
chen unter den Mädchen, die zarten Mägdlein, welche vor 
den Frühling aus der Gefühlsdede in die romantische Welt 
hineinwuchfen, die, großgezogen an Fouqué's blauflämm- 
licher Deinne, an Lafontaine's taubenfütterndem Infichfeh- 
nen, und an Clauren's butterflüßiger Dahingebung, diefes 
Sehnen und Drängen nad) dein Lande, wo die Strohhütten 
blühen, in fich verfpürten. 

Jetzt aber finden wir diefe Strohhütten nicht mehr 
am Eingange in die Mädchenjugend, jondern am Aus— 
gange, und die Mädchen flüchten fid) nur dann hinein, 
wenn fie ſchon zu lange leeres Stroh gedrojchen haben. 
Dann werden blos Herz, Gefühl, Liebe, Austaufd) der 
Gefühle, inniges Erkennen u. f. w. als die reellen Güter 
der Ehe betradjtet, und man will ja weiter nichts, als ein 
fiebendes Herz, um fih an-, und eine Strob- 
hütte, um fi einzufchließen! 


187 


Aber, ad), du mein lieber Himmel! Strohhütten findet 
man zu adtundzwanzig Jahren wohl im Nothfalle noch 
manchmal, aber liebende Herzen find in diefer Gegend fehr 
felten! Die „Liebenden Herzen“ befommt man blos am 
Morgen des Lebens auf dem Wochenmarkt der Männer! 
Liebende Herzen muß man zum Oabelfrühftüd nehmen, und 
nicht zur Abendfuppe! Und fo kommt benn das einunb- 
dreißigfte Jahr und mit ihm: ' 

5. Die Verzweiflungsjahre. 

Das Schredlichfte der Schreden ift ein Mädchen, - 
das ſchon daran verzweifelt, ob es einen Mann bekommt 
und doch & tout prix einen haben will! Wie jeder Menſch 
fürdhterlich ift, der von Menfchen oder vom Schidfal bis 
zur Berzweiflung getrieben wird. 

Sn diefen Berzweiflungsjahren muß man ihnen 
aus dem Wege gehen, wenn man nicht angefallen fein will. 
Da find fie fürdhterlich, da gilt Gewalt und Fauſtrecht und 
Ueberfall! „Ein Dann!“ ift die Loſung, das Feldgejchrei; 
was er ift, wer er ift, wie er ift, was er hat, ob er was hat, 
das thut Alles nichts zur Sache. Bon den Hilfözeitwörtern 
„Sein“ und „Haben“ ift es ihnen genug, wenn er nur 
iſt und fie ihn nur Hat. 

Ich rathe allen Männern, den Mädchen in den 
Berzweiflungsjahren nicht nahe zu kommen, denn 
anf jeden Yal fett 8 einen harten Kampf! 

Diefe VBerzweiflungsjahre dauern bis ins ſechsund— 
dbreißigfte, dann an diefem Edftein, an diefer falten, 
fteinernen, eckigen Grenzſäule aller Hoffnungen beginnen: 


180 


Unterdefien war e8 fpät geworden, ich mußte dreizehn 
ſchwarze Grofchen, fünf graue Stunden und zwei blaue 
Augen im Stiche laffen, um Madame Ritzinger nad) 
Haufe zu begleiten. E8 war ein Kagenfprung! von der 
Alfervorftadt bis nad) der St. Marrer - Linie! 

Ic wollte einen Wagen nehmen, das litt fie durdh- 
aus nicht, es käme ihr gerade redjt, eine Kleine Bewegung 
zu machen, und ſie wüßte, ich bin ſehr galant! 

Das ſind Folgen eines guten Rufes! 

Ich brachte fie wohlbehalten in ihre Heimat und ver- 
ſprach ihr, fie recht: oft zu befuchen, denn fie meinte: „es ſei 
ein Heiner Spaziergang !" 


MAaturgefhichte der Mädchenjahre. 


1. Die Luftfchlöfferiahre. — 2. Die Kartenhäuferiahre.— 3. Die Ber: 
forgungshausiahre. — A. Die Strohhüttenjahre. — 5. Die Berzweif: 
Iungsiahre. — 6. Die „Sol's der Teufel!” s Jahre. 


1. Die Luftſchlöſſerjahre. 


Bis zum fechzehnten Jahre find alle Mädchen Engel. Bon 
dem Lichte, welches Umgebung und äußere Verhältniffe in 
ihnen und um fie verbreiten, hängt es ab, ob fie Eugel des 
Lichtes oder Engel der Finfterniß werden. 

Ein Mann hat um diefe Zeit feine Slegeljahre, 
allein bei den weiblichen Geſchlechte verfchmelzen diefe Jahre 
in einen Gemüthszuftand von Dämmerung, in ein Nebeln 
und Schwebeln, und das Herz eines Mädchens in diefem 
Zeitraum gleicht unfern Igrifchen Produkten, in welden 
Gefühl und Unfinn, hyſteriſche Bläffe und rofafarbnne Dun- 
felhaftigfeit neben einander wohnen. 

Erſt mit den fechzehuten Jahre tritt das weibliche 
Herz aus der Stiftshütte von Träumen, und aus dem 
Spinnhaufe nicht verftandener Gefühlsfäden in die Schule 
des Lebens, in eine Schule, in welcher Leider da8 Eramen 
erft dann vor fi) geht, wenn das Teben fein Diplom und 
keine Preife mehr zu vertheilen hat. 


Meine Leiden durch die Weibertren von Weinsberg. 


Is hätte mein Lebtag nicht gedacht, daß mich die „Weiber 
von Weinsberg” je beunruhigen werden! Allein wenn 
ein Herz einmal vom Fatum beftimmt ift, durd) Frauen zu 
leiden, fo fteht die legte Gefallene aus dem Mägdekrieg auf, 
und die fromme Aehrenleferin Ruth fteigt aus ihrem Grabe, 
um und zu peinigen. 

Ich denke, dev Menſch ift zu dem ewigen Umgang 
mit Frauen geboren, denn es heißt: „Der Menſch ift zum 
Leiden geboren!“ Die Frauen find alfo wie die Dichtkunft: 
man muß dazu geboren fein! 

„Ein Kind, im Februar geboren,” — fo heißt es in 
der „Karten= und Monats-Sibylle“ — „hat ein unruhiges 
Geblüt, wird durd) Frauenvolk viel erprobt, befommt fünf 
Frauen, und erreicht Alles, was er wünfcht, anı Ende." — 
Ich bin ein Kind im Februar geboren, und wenn ich vier 
Frauen befommen fol, fo muß fid) das Schidfal fehr 
tummeln; allein für das Glüd, daß ich Alles, was ic) 
wünjche, am"Ende erreiche, küß' ic) der Frau Sibylle 
die Hand! Heift das an meinem Ende, oder am Ende 
des Wunſches? 

Aber daß ich durch „Frauenvolk“ viel erprobt wurde, 
ift notorifche, Hiftorifche Wahrheit. Kommen jetzt fogar noch 


191 


die Frauen vonder, Weibertreu“ zu Weinsberg, und rütteln 
an dem eiſernen Schlafrocke meines winterlichen Herzens! 

Die Geſchichte iſt ſo: 

Ich ſaß, und dachte an gar nichts, und ob ſich nicht 
ein gutes Luſtſpiel aus dieſem Stoff machen ließe. Am aller— 
wenigften aber dachte ich an irgend eine Fabel oder an die 
„Weibertreu". Da fällt mir ein Zeitungsblatt in die 
Hand, in welchem mitgetheilt wird, daß ſich ein Frauen- 
verein gebildet hat, um den Frauen für Weibertreu in Weins- 
berg ein Monument zu fegen: dabei ftand noc eine Art 
Bemerkung: „Daß wir vielleicht einft mehrere ftrumpf- 
ſtrickende Schriftftelerinnen in Stein ausgehauen und 
verewigt fehen werden.“ 

Ich, in meiner reinen, ſchuldloſen Seele, denke daran, 
daß es wirklich Verdienft ift, manche Schriftjtellerinnen 
auszubauen, ob nun in Stein oder Papier, das kommt 
darauf an, welches Material man cben hat, und in diefer 
patriarchalifchen Einfalt meines Herzens nehme id) meinen 
theuren Collegen, den Rothftift, den General-Redigirer 
und Herausgeber aller modernen Journale, — ftreiche diejen 
Artikel auf beiden Seiten die Wangen roth, ein röthlicher 
Fingerzeig an meinen Seger, diefen Artikel, vermöge des 
magnetifchen Rapport8 und redigirenden Handauflegeng, 
von jener Zeitung in meine Zeitung überzuzaubern; und 
vermittelft diefer einfachen Vorrichtung, die vielfache Nad)- 
ahmung findet, befand ſich jener Artifel Tags darauf im 
„Humoriften” Nr. 132, im „Bunterlei”, wo id) ihn mit 
Bergnügen felbft wieder als eine Neuigfeit las. 


192 


Id) glaubte nun der „Weibertreu“ genug gethan 
zu haben. Ich dachte des fchönen Auguſt-Tages, an welchen 
ich mit gar holden Schwäbinnen auf dem Tchönen Berge zu 
Weinsberg herummandelte, und den herrlichen Nekarkreis 
überfah, und meine Lippen flogen über von Weibertreu und 
Huldigungen, und wie die liebenswürdige KR... aus Heil- 
bronn jelbft einen leifen Zweifel über die etwaige Möglich- 
feit einer ſolchen That in unserer Zeit ausfprach, und dachte 
fo fort da — da — da — 

Da bekam ich an einem ſchönen Morgen ſpät Abends 
folgendes Schreiben von weiblicher Hand, mit dem Bemer- 
fen: „Zur Aufnahme im Humoriften.“ 


„Mein Herr Redacteur! 


„E8 mag ein wahres Glück für die Geſchichte geweſen 
fein, daß Sie in den Zeiten, Tagen und Augenbliden, als 
fih) die Weiber von Weinsberg fo treu bewährten, nicht in 
Weinsberg vermählt lebten; — faft fürchte ich, daß bie 
Frauen-Vereine von Württemberg nun feinen Anlaß gehabt 
hätten, der Treue ein Monument zu bauen, — wenigftens 
würde den die Geißel der Satyre über unfer Geſchlecht 
Ihonungslos Schwingenden Keine für das Koftbarfte ange» 
jehen haben. — Dies als kurze Erwiderung für die ungefällige 
Aufnahme der unfer Gefchleht fo fehr mißhandelnden Zeilen 
in Nr. 132 des „Humoriften”, Seite 528 des „Bunterlei”, 
und zwar um jo mehr, da es Ihnen weder an Zartheit des 
Gefühle, noch an Unterjcheidungskraft fehlt, und Sie uns 
bald in den Himmel erheben, bald in den Staub werfen, 
je nachdem Ihre Laune die Handlungen Ihrer Geliebten 
beurtheift. 

Eine für Alle” 


195 


Lieber Lefer! Setze dich in meine Stellung, un beur⸗ 
theile meine Lage! Mir das zu ſagen! 

Ich könnte, wenn ich nicht gar ſo zartfühlend wäre, 
die unbekannte Schreiberin ſehr beſchämen, wenn ich ihr auf⸗ 
richtig geſtehen wollte, daß ich eigentlich ſelbſt einer der 
Männer war, welchen die Weinsberger Weiber aus der 
Feſtung trugen. Ich erinnere mich noch recht gut, es war 
eine liebe Frau, blaue Augen, blonde Haare, und ich ſaß 
recht gut auf ihren lieben, weichen, runden, alabaſternen 
Schultern. Als fie mid) zum Stadtthore hinaustrug, fagte 
fie: „Gib Acht, Lieber Moriz, daß du dir den Kopf nicht 
anftoßeft,“ worauf ich ihr erwiederte: „Sei ruhig, Tiebe 
Afra, du weißt, e8 muß Alles nad) deinem Kopfe gehen.“ 
— Neben mir trug die Tran des Redacteurs der dazumar 
Ligen „Weinsberger Damen- Zeitung” ihren Mann auf dem 
Rüden; meine Frau fragte fie: „Wie geht’8 dir?“ und fie 
antwortete, indem fie ihtem Manne nad) dem Kopfe griff: 
„Schlimm, id) fühle gar feinen Kopf mehr!” Ich erzähle 
diefe Details blos deshalb, um meine ungenannte Eiferin 
von der Wahrheit meiner Ausfage zu überzeugen. . 

Sehen Sie, meine werthgefchätte Unbelannte, ich, 
der ich doch dabei geweſen bin, mir ſcheint noch immer, es 
war ein Feiner Mißgriff in der ganzen Sache; denn id) 
glaube mich erinnern zu können, daß mic) nicht meine 
Tran, fondern die Frau meines Nachbars, des Weinsberger 
Lotto⸗Collecteurs, auf die Schultern padte, und daß ich im 
Gedränge meine Frau fah, die den Lotto-Collecteur aufgefteckt 
hatte. Sehen Sie, fo ging’8 vielleicht mit Allen! Allein 

M. ©. Saphir’s Schriften. v. Br. 13 


194 


ich will nichts gefagt haben! Irren ift menſchlich! O, meine 
theure Unbefannte, ich könnte Ihnen noch einige Züge aus 
jener Geſchichte mittheilen, die ich al8 Augenzeuge mit an- 
ſah. Nur Eins wiffen Sie, hören Sie! — Ich ſaß gerade 
beim „güldenen Spägle* inder „Sulmgaſſe“, «8 
war 1140 um 3 Uhr Nachmittag. 

Dazumal reiste Theophraftus Paracelfus gerade 
durch unjere Stadt, mit dem Arcanum für die Weibertreu. 
Es beftand in einem einzigen großen Schlüffel, welcher eine 
zweifache Wirkung hervorbradjte: Wenn die Frau außer 
dem Haufe war, und der Mann inwendig zufperrte, fo 
tonnte ee im Haufe ruhig fein; wenn die rau im 
Haufe war, und er auswendig zujperrte, fo konnte er 
außer dem Haufe ruhig fein. — Diefes einfache 
Mittel ift jegt leider verloren gegangen. — Wir faßen aljo 
und tranken einen leichten Kannftädter. Da läßt Kaifer 
Konrad der Dritte in die Stadt hinein jagen: „Er wolle 
die Weiber ausziehen laffen, aus der Stadt nämlich, und 
jede Frau dürfte ihr Thenerftes auf dem Rüden mitnehmen.“ 

Ich hielt fogleich eine Anrede: „Ihenre Freunde! 
Laſſen wir in Gottesnamen die Frauen aus der Stadt ziehen, 
dann find wir „freie Bürger und Herren diefes Bo- 
dens!“ — Allein mein Patriotisnus fand fein Gehör! 
Alles lief durcheinander; da fagte Paracelfus: „Wit ihr 
was, nehmt Jeder das legte neue Kleid, den legten modernen 
But von eurer Frau, laft ihn um keinen Preis aus ber 
Hand, und die Frauen müſſen alfo, um ihr Theuerſtes zur 
zetten, euch felbft mittragen.“ 


195 


„Und diefes Rathes Herrlichkeit entrig ung Konrad’ 
verfolgenden Dragonern!” 
| Ein jeder Mann mwidelte fich den toftbarften Shanl, 
die Tieblingdgewänder feiner Frau um den Leib, und ließ 
nicht von ihnen, und jo mußten fich alle Frauen entfchließen, 
die Männer felbft mitzutragen! 

D, ic) könnte noch Anekdoten von der „Weinsberger 
Weibertreu“ erzählen, allein ich bin ein ruhiges Blut, id) 
lehne mic) nie gegen alte Weltgefchichten und gegen alte 
Weltweiber auf, denn die haben die Zungen von Jahrhun⸗ 
derten für ſich! 

Die geiftreiche Einfenderin möge alſo erfehen, daß 
ich, Gottlob, nicht in Weinsberg zurüdgeblieben bin. 

Wenn ich gegen die Errichtung eines Monumentes für 
die „Weibertreu“ bin, jo gejchieht das aus Achtung des 
weiblichen Geſchlechtes, und ich werde jchon wieder verkannt! 

Wem feht man ein Dentmal? Dem Auferorbent- 
fihen! Dem ungeheuer Seltenen! Man jegt Schiller ein. 
Denkmal, weil e8 feinen mehr gibt! Soll mander „Weiber> 
treu” ein Denkmal fegen, weil es feine mehr gibt? Iſt denn 
wirklich die Treue der Frauen fo felten geworden, daß man 
einem Beifpiel von Treue ein Monument fegen muß? — 
Diefe Trage ift völliger Ernft! Es liegt in der Erridh- 
tung jenes Monumentes eine wahre Anklage, eine fteinerne 
Berleumdung! Es ift erftaunlich, wie aus dem zarten Sinne 
zarter Yrauen eine ſolche Idee hervorgehen kann! 

Seit wann feßt man der Erfüllung einer Pflicht ein 
Denkmal? Seit wann wird einer That ein Dentmalerrichtet, 

| 13* 


196 


deren Unterlaffung die Menfchheit als eine Schändung ihres 
Götteradels zu betrachten ein Recht hat? 

Am Ende wird man jedem Menfchen, dem «8 aus 
befonderer Großmuth beliebig fein wird, eines ber zehn 
Gebote nicht zu übertreten, ein Denkmal fegen! 

„Die Zeit ift aus ihren Fugen getreten, wehe mir, 
daß ich geboren bin, fie einzurichten.“ 

Fürchten Sie nichts, meine Unbekannte, id) fann die 
Zeit leider nit einrichten, ich muß mich begnügen, fie 
blos auszurichten. — Sie werden alfo aus dem Ganzen 
erjehen, daß ich im Scherze wohl gerne und oft das weib- 
liche Gefchlecht mit meiner Satyre heimfuche, allein, daß, 
wo es den geharnijchten Exnft gilt, Niemand mehr Achtung. 
und Verehrung vor dem weiblichen Öefchlechte hat, als eben 
ic), und, ich fchmeichle mir, wenn wir heute einen Weins⸗ 
berger Tall erlebten, Sie, ja, Sie felbft würden mich Huke— 
put auf dem Rüden davon tragen, und austufen: „Gott⸗ 
lob, ich hab' ihn im Rücken!“ — 

Daß Sie mir ſagen, ich ſchreibe gerade ſo, wie meine 
Laune die Handlungen meiner Geliebten beurtheilt, iſt hart; 
denn meine Geliebte iſt nicht von der Handlung! 

Sie unterzeichnen: „Eine für Alle,“ aber den⸗ 
noch werde ich nie Alle für Eine vergöttern, oder Alle 
für Eine verletzen. 

Leben Sie wohl, und wenn Sie mir im Namen desgan-- 
zen nöd chlechts wieder was zu fagen haben, fo fchreiben Sie: 

Hlle für Einen. 


— 0. — — 


a’ 


Va-banque, der Visite de reconnaissance! 


Nie hat die Sitte — wir wollen einmal einen Gebrauch 
ſo nennen — etwas Abgeſchmackteres erfunden, als die 
„Visite de reconnaissance!® 

Wie überfegt man das? Ein Erkenntlichkeits— 
Beſuch? eine Dankabſtattung? ein Wirdererten- 
nungs-Beſuch? | 

Wenn man Fein Efier von Profeſſion, fein Trinker 
von Paſſion, kein Spieler von Herzen, und fein Tänzer von 
Metier ift, wozu joll man nod) eine Visite de reconngis- 
sance machen ? | 

Man wird eingeladen, um Abends zu Mittag zu 
efjen. Das foftet erft ein Paar Handſchuh, einen Wagen, 
und — entfeglicher Gedanke! — wenigftens vier Stunben 
Zeit! Bier Stunden Zeit! Was das für ein Kapital ift, 
das weiß nur der, welcher nichts befigt, als die Zeit, und 
den deshalb die Zeit nie lang wird, als nur dann, wenn 
man fie ihm ums Himmelswillen verfürzen will! 

Bier Stunden Zeit ! und wie find fie ausgefüllt und 
wattirt diefe vier Stunden! Alle Augenblick etwas Anderes 
für den Magen, und nie etwas Anderes für den Geift! 
Man wechſelt alle Beinuten die Teller und alle Stunde 


198 


einen Gedanken ans! Wil man den Mund aufmachen, um 
Etwas zu reden, fo nimmt Einen der Bediente fchnell dag 
Etwas zum Eſſen fort. Will man rechts fein Ohr auf ein 
Geſpräch neigen, jo muß man links das Salz hinreichen. 
Will man links ein trauliches Wörtchen fprechen, jo muß 
man rechts das Glas anfüllen. Will man gar nichts reden, 
fo frägt die Hausfrau um Neues, um Theater, um Concerte 
und um alle Hausunterhaltungen, die Statt gehabt haben 
und haben werden. Will man ja einmal etwas Zufammen- 
hängendes fprechen, fo wird man alle Angenblide von einem 
„Eſſen Sie doch!” — „Schenken Sie do ein!” — „IH 
bitte um die Moutarbdiere!” unterbrochen. Spricht man viel, 
fo fann man nichts effen und gilt für einen Schwäger, ſpricht 
man nichts, fo gilt man für einen faden Batron. Wenn's 
had) fommt, hat man das Glüd, ein Glas rothen Wein 
umzuftoßen, oder einen Xöffelvoll rothe Rüben auf das 
Tiſchtuch fallen zu laſſen, der Nachbarin mit dem Ellen- 
bogen die Gabel in die Zunge zu treiben, einen Schlud 
Wein unrecht in die Kehle zu befommen, eine Gräte zu 
fhluden und andere taufend Heine Tafelunfälle zu erleben, 
die man & la Camera brevi manu abmacht, die aber an 
großen Zafeln zu den allervertracteften Unglüdsfällen des 
Lebens gehören! Hat nıan endlich drei Stunden geſeſſen 
‚und den Repetir- Magen erprobt, jo fteht man auf und 
macht dreißig oder vierzig tiefere oder flachere Berbeugun- 
gen, lehnt ſich an eine Thürpfofte und verdaut in die Geſell— 
Tchaft hinein, dann macht man wieder einige Berbeugungen, 
empfiehlt fich deutſch oder Franzöfifch, fteckt mehreren Dienern 


19 


und Hadelträgern die Belohnung für das Amufement in die 
Hand, und zeichnet ſich wie Hamlet in feine Schreibtafelein: 


„Nächſten Sonntag muß ich da eine 


Visite de reconnaissance machen.“ 


Dafür, daß ich vier Stunden Zeit mid) zum Möbel 
gebrauchen ließ, daß ich dem Wirth und der Wirthin helfen 
mußte, ihre Gäſte zu unterhalten, denn eigentlich werden 
alle Säfte doc) nur wieder für die Gäfte gebeten, dafür 
muß ich einen Beſuch machen, um mid) zu bedanten! 

Und dennoch gibt e8 Menfchen, deren Lebenslauf 
nichts ift, als eine Abwechslung von einer „ Visite d’appetit* 
und einer „Visite de reconnaissance !“ 

Aber einen unendlichen Vortheil bringt biefe Sitte 
der Visite de reconnaissance: Wenn man fie nämlich ein- . 
mal verfäumt, wird man nicht mehr eingeladen! O himm— 
liſche Folge irdifcher Geſittung! 

Ich jehe aber eine Zeit fommen, wo befonders Men- 
chen von Geiſt und Kunft ſich fattfan und hoch genug 
Ihäten werden, um das Recht ihrer geiftigen Exftgeburt 
nicht un eine Schüffel Linfen hinzugeben ; wo der Austaufch- 
handel: „Gib mir Geift und Kunſt, und ich gebe dir 
Pudding und fteirifchen Kapaun!” nicht angenommen 
werden wird; wo Menſchen, die nichts Haben, als ihr Talent 
und ihren Genius, diefe nicht als Flötenuhren und Spiel» 
auffäte hinftellen werden unter die Reihe von Fafanen und 
Zrüffeln und anderen Wildpretmarkt - Delicatefjen; dann, 
dann, ja dann wird das goldne Zeitalter fommen, wo man 


200 


dafür, dag man fid) einladen lief, eine Visite de recon- 
naissance befommen muß und befommen wird! 

Allein jo lange es nod) Würdenträger des Geiftes, 
der Kunft und des Talentes gibt, die ihren Genius gerne 
hinaustreiben auf den Nafchmarkt der Socistt; die ihre 
Söttergabe als Tafelſtückchen und Bänkelfängerei und 
Schaubrote loslegen und produciren für ein pat6 de foie 
und für eine mit Wachs beleuchtete Puppengeſellſchaft, fo 
lange diefe Selbftentwürdigung noch graffirt unter ben 
Genius-Begabten, fo lange wird die „ Visite d’appetit“ und 
die „Visite de reconnaissance* ihren lächerlichen Scepter 
nod) ſchwingen. Ich aber rufe aus: 

„ Va-banque, der Visite de reconnaissance !* 


Va-banque, Stammbuc und Album! 


Stammbuch! Album! 

Das Album iſt das moderne Stammbud) : das 
Stammbud; ift das antife Album! 

Jetzt ift die Zeit der Albums! Muftkalifche, thea⸗ 
traliſche, graphikaliſche Albums! 

Eine ganze Sündflut von Albums bricht über uns 
herein! 

Schiller's Album! 

Was heißt: Schiller's Album? Ein Papier⸗ 
Schiff, in welchem ſich kleine Dichter an den Rockſchoß 
eines großen Dichters anhängen, um mit ihm in die Zus 
funft hineingefchleppt zu werden! 

Schillers Album! Eine gedrudte Ausrede der 
lebendigen Eitelfeit, um unter dem Reſpect, welchen man 
den Todten fchuldig ift, waflerdicht und feuerficher in die 
Lefewelt hineinzukutſchiren. 

Schillers Album! Ein Leichenſchmaus für Lite- 
rarifche Würmer, die fich auf diefem Feſte zu Tiſche Laden. 

Weg mit den Albuns, weg mit den Stammbüchern! 
— Va-banque! 

Ein Stammbud! 

Ich befomme Itervenzufälle, wenn ich da8 Wort höre! 

„WollenSie fich nicht inmein Stammbuch [hreiben ?“ 


202 


Das war einmal die Wuthfrage aller jentimentalen 
Mädchen, aller Gefellfchafterinnen, aller gebildeten Commis, 
aller Gejchäftsreifenden. " 

Wenn man wohin fam, wurde das Stammbud) aus= 
gepadt. 

Da ftand die Freundin, die Coufine, die Lehrerin, 
die Oroßtante, die Klaviermeifterin, der Spraclehrer, 
ein Hausfreund, ein Xeibdichter, ein Acteur, eine Mufter- 
ftiderin u, |. w. 

Da las man: 

„Wandle auf Rojen und Vergißmeinnicht.“ 


„Wenn's auch über's Kreuz ſollt' ſein, 
Mein Name muß in's Stammbuch 'nein!“ 


„Dieſes Stammbuch iſt ein ſchöner Baum, 
Gib mir als ein Blatt darauf auch Raum!“ 


„Wenn die Sonne vom Himmel geriffen, 
Wirft Du meine Freundichaft vermiffen!” 


„Die Maus in der alle, 
Die Kuh in dem Stalle, 
Das Schaf auf der Wiefe 
Blödt freudig: Louifel” 


„Un Coeur qui soupire, 
N’a pas ce qu’il desire.“ . 


„Adore un dieu, s0is sage et aime - moi!“ 


„Sii felice 
Il cuor me lo dice.* 


Und taufend andere ſolche Kraftſprüche. 


203 


Wenn man nur einen Namen fo groß hat wie eine 
Haſelnuß, fo hat man keine Kuh, bis man aud) feine Kakel⸗ 
füße in das feidne Namens-Faulbett hineingeftedt Hat. 

Und nun jetzt gar die Albums! 

Ein Sharlatan und Farceur, ein Bauchredner erbeutet 
fich niit Feuer und Schwert ein Album mit dem Namen 
berühmter Notabilitäten, läßt e8 dann drucken, und wird 
ein berühmter Schriftſteller! 

Muſikaliſches Album! Literariſches Album! 

Schrecken der Muſiker, Geißel der Literaten! — Wer 
Teufel hat alle Augenblicke ein Sonett, ein Madrigal, ein 
Impromptu bei der Hand? Wer Teufel kann Witz und Ein⸗ 
fälle aus dem Aermel ſchütteln? Ein Schriftſteller kann 
jetzt ohne ſolchen Vorrath gar nicht unter die Leute gehen! 

Wer Teufel hat ſtets eine muſikaliſche Boutade, ein 
melodiſches Epigramm, ein ſingbares Variatiönchen, ein 
tönendes Gedankchen, ein harmoniſches Sentenzchen in den 
Schreibfingern? Ohne dieſen Tajchen-Compofitions-Appa- 
rat darf ein Componiſt gar nicht mehr in Geſellſchaft gehen! 

Da liegt man in einem ſolchen Album, wie ein melan⸗ 
cholifcher Häring, man liegt wer weiß neben went, wer 
weiß nit went! 

Va-banque, Stammbuch! — Va-bangque, 
Album! 


Va-banque, den Chränen! 


G⸗ gab eine ſchöne Zeit, eine himmliſche Zeit, eine Zeit, 
wo ih an Märchen, an Knecht Ruprecht, an Liebestreu 
und an Thränen glaubte! Nur Thränen, Thränen waren mir 
die Beglaubigungs - Urkunde der Wahrheit, die beeidigten 
Zeugen der Empfindung, die Nechtsbeiftände jedes edlen 
Gefühls! 

Ach, ich wußte dazumal nicht, was Thränen ſind; ich 
glaubte, fie feien ein Borzug des wahren Schmerzes, des 
heiligen Unglücks, der innigen Liebe; ich glaubte, fie ftrömten 
gerade aus dem Herzen in die Augenwinkel; ich war ein 
Ignorant! Jetzt weiß ich aber, daß die Thränen blos aus 
der Mündung der Thränen- Röhrchen kommen, daß fie ine 
Auge treten durch Verftopfung des Thränenkanals; jetzt 
weiß ich, daß auch die Hyäne und der Schafal Thränen 
vergießen, und die Heuchelei auch, und die Bosheit aud), 
und der Neid aud), und der Wahnwig aud), und daß die 
Thränen nichts find, als willige, ftet8 dienftfertige Augen 
dienerinnen und Allerwelts = Gefchäftsträger ! 

Va-banque,den Thränen! 

Und kennt denn der Menſch, und fieht er denn jene 
Thränen, welche die echten Boten des zerdrücten Herzens, 
der eingeſunkeneu Bruft, der zermalmten Empfindung, der 
zu Grabe getragenen Hoffnungen, der ausgebrannten 


— 


208 


MWiünfche, der betrogenen Hingebungen und des vernichteten 
Schamgefühls find ?! Kennt er denn und fieht er denn jene 
Thränen, die in finfterer Nacht auf dem verfchwiegenen 
Kiffen vergoffen werden? Jene heißen, äßenden Thränen, 
die ftehender Gramı mit der hohlen Hand verhüllt?! Jene 
falzreichen Thränen, welche oft beim vollen Becher mit 
Champagnerfchaum heimlich gefchlürft werden? Jene Thrä- 
nen, die ein edler, aufbäumender Stolz im gezwungenen 
Aufgeben diejes Stolzes in der Wimper zerdrüdt? Jene 
Thränen, welche in Berborgenen die Wangen von taufend 
und abermal taufend in ihren edelften Empfindungen Ge⸗ 
täufchten die blaffen Wangen furchen? 

Nein, diefe Thränen fieht und kennt der Menſch nicht! 
Er kennt nur die Thränen, welche Leidenſchaft und Auf⸗ 
regung, naſſer Jammer und all die offenen Schäden des 
Schickſals auf dem lauten Markte des Lebens vergießen! 

Weil der Menſch aber die wahren Thränen nicht ſieht, 
und die Thränen, die er ſieht, nicht wahr ſind, darum: 

| Va-banque, den Thränen! 

Da ift ein bligendes Auge, ein Feuerrad im flammen⸗ 
den Umſchwung, es füllt ſich mit Thränen, fie ftrömen über 
das Schöne Antlig in rollenden Perlen herab! Das fchöne 
Weib weint, Sie weint entſetzlich! Sie weint unftillbart 
Warum weint fie? Der Herr Gemahl ift ein Tyrann! Er 
mißhandelt fie? Wie mißhandelt er fie? Er will ihr zu 
Weihnachten den Hut um neunzig Gulden nicht kaufen! - 

Da wiederum rinnen große Thränen über ein blühen- 
des Angeficht; die Haren Tropfen ftrömen fletd don Neuem 


206 


aus der unverfiegbaren Duelle? Weld ein Unglüd traf 
diefes lieblidye Haupt? weldy ein Jammer drüdt dieſe 
enpfindfame Bruft? Der Bater will nit, daß fie einen 
Ball befuche, auf den einige leichtfertige Säfte die fchlichte 
Zugend zum Tanz aufziehen. | 

Da perlen große Tropfen über cin erglühtes Ant- 
lie! Es find Thränen der Freude über den Korb, den eine 
Freundin erhielt! 

Da weint ein ernftr Mann, ein bejahrter Dann 
weint und knirſcht mit den Zähnen! Welch ein Unglüd muß 
dieſes Haupt ergriffen haben?! Sein Freund erhielt das 
Amt, um welches er fid) gleichzeitig beworben ! 

Hier vergießt eine Theaterprinzeffin Thränen, ganze 
Bäche rollen auf ein Zeitungsblatt in ihrer Hand herab, 
cs find „Ihränen der Wonne!* in diefem Blatte fteht: 

„Sie übertraf ſich felbft” — „Site errang die hödhfte 
Stufe" — „Sie ift die Priefterin der Diufe* u, |. w. — 

Wicderum vergießt fie Thränen, ganze Bäche rollen 
auf ein Zeitungsblatt in ihrer Hand, es find „Ihränen des 
unſäglichen Schmerzes!" in diefem Zeitungsblatte ftand: 
ihre Kunftfchwefter „errang die Palmel* u. f. w. 

Da fließen die gefalzenften Thränen auf den riefigften 
Knoten der reizendften Eravate des eleganteften Fünglings | 
Welch einen Schmerz hat diefe Bruft erfahren ? Die Köni- 
gin des Balles Hat einem andern Füngling, mit einem andern 
Knoten an einer andern Cravate den Borzug gegeben! 

Da geht gebüdt ein graues Haupt, eine langentbehrte 
Thräne preßt fi) aus feinen tiefen Augenwinkel! was mag 


\ 


207 


Diejes greife Haar für Sammer erfahren haben? Die Tän⸗ 

zerin, die geftern im Ballete ſolche reizende Birouettes machte, 

Hat den jchmachtenden Schäfer von ihrer Thüre gewieſen! 
Va-banque, den Thränen! 

Es gibt nichts jo Kleinliches, nichts fo Geringfügiges, 
nichts jo Albernes, nichts jo Heuchlerifches, nichts fo Un⸗ 
würdiges, worüber nicht Schon alle Menſchen, zu allen Zeiten, 
allerlei Thränen vergofjen haben und noch vergießen! 

Es ift nichts auf Erden jo gemißbraudht, fo fchänd- 
lich gemißbraucht worden, als eben die Thränen! Nichts 
auf Erden ift jo gleich und fo gerne und fo vollauf bereit, 
Falſchheit und Bosheit und jede leife Regung des Herzens 
mit falſchem Zeugniß zu unterftügen, al8 eben dieThränen ! 

Va-banque, den Thränen! 

Mit erheuchelten Thränen.wird das Herz des Mäch⸗ 
tigen unter Waffer gefeßt; mit echeuchelten Thränen wird 
ein großes Publitum zur Rührung geftimmt; mit erheuchel- 
ten Thränen wird das eiferne Herz, die eiferne Tugend er- 
ſchüttert; mit erheuchelten Thränen wird Bergebung und 
Berföhnung erwinfelt; mit erheuchelten Thränen wird Ent- 
ſagung und Aufopferung vorgelogen; mit erheuchelten 
Thränen wird Treue und Liebe erfäuft; mit erheuchelten 
Thränen werden Herzen und Legate gewonnen! 

Va-banque, den Thränen! 

Geht von mir, ihr Botenläufer und Lohnlakais aus 
allen Safthöfen und Schlupfwinteln der menschlichen Leiden⸗ 
ſchaften! Geht von mir, ihr Tarventräger und Komödian⸗ 
tinnen aus dem Luſt- und Trauerjpiel des Lebens! Geht 


208 


von mir, ihr Glasperlen und bunte Kügelchen aus der 
großen Salanterie- und Duingquaillerie - Handlung der 
menſchlichen Kunftempfindungen, ihr täuſcht mich nicht 
mehr, ich kenne euch, ich durchſchaue euch ! 

Va-.banque, den Thränen! 


Der deutſche Kiteratur - Wald. 


Der Wald ift did, der Wald ift groß, 
Er hegt gar viel in feinem Schooß, 
In feinen großen Räumen, 

Bon Thieren ind von Bäumen, 

Bon Bögeln und Gefträuchen, 

Nur wenig Töw'n und Eichen! 


Im Walde wird gar viel gebrummt, 
Im Walde wird gar viel gejummt, 
Bon Aeften und von Zweigen 

Will Alles laut fid) zeigen, 

Und mindeftens dünkt Jeder 

So hoch ſich wie die Zeder! 


Es raufht und braust und wirb nicht matt, 
Es raufht im Stamm, es raufcht im Blatt, 
Ein jedes Sträuchlein flüftert, 

Wenn's heil ift und wenn's düftert, 

Und glaubt in feinem Dichten 

Sei herrlich e8 wie Fichten! 


Das Moos, das an dem Boben Freut, 
Mit dünnem Sang den Wald durchkeucht, 
Singt lyriſch und pathetiſch, 

Und epiſch und auch) ethifch, 

Und zählt fi zu den Mannen, 
Gewachſen wie die Tannen! 


M. G. Saphir's Echriften. V. Bd. 14 


210 


Sein Haupt erhebt der ihlaffe Schwamm, 
Den Mund nimmt voll er aus dem Schlamm, 
Singt Lieder und Gonette 

Mit Kiedgras um die Wette, 

Und glaubt, er dufte Grazie, 

Wie Morgens die Akazie! 


Das Schilf feufzt ohne Unterlaß, 
Das Auge hat's vom Regen naß, 

Es hüftelt von Empfindung, 

Bon Schmerz- und Herz - Entbindung, 
Und wagt e8, fi) zu meſſen 

Mit klagenden Cypreſſen! 


Der Haſelſtrauch ereifert ſich 
Und hümmt fi gar erbärmlich, 
Und fpeit aus Mund und Naſen 
Die windgefüllten Phrafen, 
Um fi} hinauf zu winden 
Zum Gipfel ſchlanker Linden! 


Der Ampfer fieht gar jauer d'rein, 

Er möcht’ gar gern empfindfam fein, 
Er finget unabläſſig 

Bon feinem Liebes - Eifig, 

Bon Than und Thränen - Perlen, 

Als wär er Fürft der Erlen! 


Die Brombeer predigt gar Moral, 
Direct wächst fie im Himmels - Saal, 
Sie will mit weijen Lehren 

Die Welt ringsum beebren, 

Möcht' fih in Würde Heiden, 

Wie graues Haupt der Weiden! 


211 


Das Holz mit faulem Angeficht, 
Es dünfet fi) ein echtes Licht, 
Weil immer, wenn e8 dunfelt, 
Sein fauler Leib erfunfelt, 

Will e8 empor fih qualmen 
Zum Glanze edler Palmen! 


Und jchweigt das Moo8- und Pilz⸗-Geſchlecht, 
Dann hört man erft die Beftien recht, 

Es fingen, dichten, blafen, 

Die Dachfe, Biber, Hafen, 

Es fingen ohn' Ermatten 

Die Mäufe und die Ratten! 


Das Wiefel fchreibt die Epopö', 
Der Bud befinget Lieb’ und Eh, 
Der Hamſter ſchreibt ſatyriſch, 
Der Iltis wird gar lyriſch, 

Der Maulwurf, ſonſt fo myſtiſch, 
Wird plötzlich Humoriftifch! 


Und ift aud) dies Geſchrei verpufft, 
Dann fängt es an aus heiler Luft, 
Es ſchweigt num aud nicht Tänger 
Das wilde Heer der Sänger; 

Es ftimmen ihre Leier 

Der Oimpel und der Geier! 


Der Sudgud fingt: „ic bin! ih bin!“ 
Der Kiebik fingt, die Kiebigin, 

Der Spat dann & la Heine 

Singt: „Süße Spätzin meine!“ 

Und Rab’ mit Heif’rer Kehle 

Beipöttelt Philomele! 


14 * 


212 


D'rum weil's ſo iſt, und weil's ſo war, 

. Sind in dem Wald die Eichen rar, 
D’rum laffen fie fich fuchen, 

Die Cedern, Palmen, Buden, 

Weil fie nicht gern gedeihen, 

Wo Pilze fteh’n in Reihen! 


D’rum weil's jo war, und weil’s fo if, 
Die Nachtigall verſtummt zur Friſt, 
D’rum werden aud) ftet8 rarer 

Die Lerhen und Canarer, 

Weil fie nicht wollen weilen, 

Bo Bär und Uhu heulen! 


Soll man zu früh oder zu fpät in Geſellſchaft gehen? 


Eine Lebensfrage. 


„Man verfammelt ſich um — Uhr.” Das ift leicht | 
gejagt, aber eine diplomatische Note ift nicht fo unbeftimmt 
und läßt nicht fo viel Raum zu allenfallfigen Deutimgen, 
Erweiterungen, Reftrictionen und Refervationen, als dieſes 
„Manverfammeltfih um — Uhr!“ 

Sefest, die angegebene Berfammlungsftunde fei 
„acht Uhr”, warn iſt's dann Bonton, gentlemanlike, in die 
Geſellſchaft zu gehen? Iſt es beffer, die erfte Schwalbe zu 
fein, die noch feinen Sommer macht, aber doch das Gefühl 
erwedt: „Aha, die Schwalben kommen ſchon, nun wird’8 
bald hei werden!“ oder ift e8 rathfamer, ein nachzügeln- 
der Kranich zu fein, der einige Zeit nad) dem großen Kranich⸗ 
zug geflogen fommt, und der unbemerfbar, aber auch unge- 
nirter feinen Streifzug vollenden kann? | 

„Man verfammelt fid um acht Uhr.“ Nun 
aber verfammelt ſich eine echte Gentlemanlife-Gefelfichaft 
fortwährend, fie fängt an, um acht Uhr fi) zu verfammeln, 
und verfammelt fich ununterbrochen bis zwölf Uhr, fie ver- 
jammelt fic) fo lange zufammen, bi8 fie bereits wieder 
anfängt, fi) auseinander zu fammeln. Der Letzte, 


214 


der in die Berfammlung geht, ftößt auf der Treppe ſchon 
auf einen Dann, der aus der Berfammlung kommt; was 
Heißt alfo: „Manverfammelt fih umadt Uhr?* 

Ein wahrer, echter Gentlemanliker, — man erlaube 
mir, diefes Wort zu machen, — ein Öentlemanliter comme 
il faut, fommt immer eine Biertelftunde, nachdem er weg⸗ 
gegangen ift, und entfernt ſich eine Biertelftunde, bevor er 
gekommen ift. 

Was ift aber überhaupt ein Gentlemanliter? Wie 
muß ein deutfcher Gentlemanliker befchaffen fein? Welches 
find die Zeichen, die uns fagen, ob ex ein Gentlemanliler 
von Halbblut, Vollblut u. ſ. w. ift? 

Ein deutfcher Gentlemanliter muß zu Fuß gehen, als 
ob er reite; reiten, als ob er ſchwimme; im Wagen fiten, als 
ob er tanze; tanzen, als ob er eben in Gefellfchaft fäße, und 
in Geſellſchaft figen, als ob er fich eben aufs Bett ftreden 
wollte. 

Ein deutfcher Gentlemanliter ſpricht englifch wie 
franzöftfch, franzöſiſch wie italienisch, italienifch wie deutſch, 
und deutfch wie ſpaniſch! 

Ein dentſcher Gentlemanliker riecht vom Fuß big 
zum Knie nad) feinem Hund, vom Knie bis zur Bruft nad) 
feinem Pferde, von der Bruft bis zur Nafe nach feiner 
Pfeife, von der Nafe bis fiber die Ohren nad) feiner Amour, 
und von den Ohren bis über’8 Gehirn nad) gar nichts] 

Ein deutfcher Gentlemanliter hat immer eine Reit» 
gerte in der Hand, ein Lorgnon im Auge, eine Fadaiſe im 
Munde, fein Geld im Kopf und feinen Kopf in der Tafche. 


nn 


215 


Ein deutfcher Gentlemanliker fpricht mit Gelehrſam⸗ 
feit von feiner Eigarre, mit Selbftbewußtfein von feinem 
Salonftod, mit Salbung von feinem Schneider, und 
mit Geringſchätzung von Allem, wozu man Berfiand 
braudt. . 

Ein deutfcher Gentlemanliker zieht nie einen neuen 
Rod am Feiertage an, trägt nie ein Parapluie, und gibt 
nie dem Bedienten Etwas fürs Hinableudhten. 

Ein deutjcher Gentlemanlifer trägt immer einen zer⸗ 
Initterten Hut, und einen abgefchabten Mantel, und ſchenkt 
nie einen alten Rod an arme Lente! 

Ein deutfcher Gentlemanliker fpielt in Gefellfchaft 
nur, um auszuhelfen, tanzt nur, wenn ihn was befonders 
intereffirt, und fpricht nur, wenn er gerade nicht weiß, was 
er fagen ſoll. 

Ein deutfcher Gentlemanlifer ift nie artig gegen 
Damen, bietet nie einer Dame oder einem alten Manne 
feinen Plag an, wenn fie ftehen müffen, kommt ins Theater 
immer während des Actes, ftochert fic bei der Suppe ſchon 
die Zähne, geht fich felbft alle Tage zwei Stunden um den 
Bart, gibt nie einem Armen auf der Gaſſe Etwas, weil e8 
nicht gentlemanlife ift, auf der Straße in die Tafche zu 
greifen, Spricht von allen Künften, und verfteht gar keine, 
ift überall zu Haufe, und nur bei fich zu Haufe fremd, ift 
nie hungrig, und ſpeist immer fort, ift ein Mäcen von allen 
Künftlerinnen, und mißhandelt feine Domeftiten. 

Wenn man alfo ein Gentlemanliker fein will, wann 
muß man in Gefellfchaft gehen ? 


216 


Kommt man früh, jo zuden die Bedienten im Vor- 
gimmer die Achſel, und ſtecken Einem mit einem halben 
Lächeln die Öarderobenummer „Nr. 1“ in die Hand. Zu 
welchen Leutfeligfeiten führt diefes „Nr. 1”! Erſtens dient 
dann unfer Oberrod. oder Mantel als Unterlage zu einem 
Chimboraſſo von nachher darauf aufgethürmten Kleidern, 
und feine grämlichen Falten jagen uns noch lange nachher, 
in welchem Drude er gelebt hat. Zweitens, poenn man dann 
etwas früher. ſich entfernen will, und man gibt. dem Be- 
dienten die Marque „Nr. 1”, erbleicht er, fieht uns mit 
einem erröthenden Blid an, denn wie fol er nun dieſe Num⸗ 
mer. von allen auf fie aufgethürmten Röden, Manteln, 
Pelzen u. ſ. w. befreien! 

Nach dieſer Unannehmlichkeit kommt die, daß, wenn 
man früh kommt, uns im Hineingehen ein Bedienter mit 
einem Tiſch entgegenläuft und anſtoßt, ein zweiter nach 
einem Kandelaber greift, und uns auf den Fuß tritt, ein 
dritter noch mit dem Lichtanzunden herumwandelt, und uns 
auf den Kopf tröpfelt u. |. w. In den noch leeren Zimmern 
überfällt es uns unheimlich, der Hauswirth ift nod) damit 
befchäftigt, die Blumen zurecht zu ftellen, die Hauswirthin 
hat nod) an ihrem Boudoir zu nefteln, und nun müffen fich 
Beide ausschließlich — mit dem Neuangelommenen beichäf- 
tigen! Die Verlegenheit drüdt fich in allen drei Gefichtern 
deutlich aus. Dieſe Verlegenheit wird mit: jedem Neuein⸗ 
tretenden vermehrt! Denn fo lange die Gefellfchaft Hein ift, 
muß man vom Wirth oder von der Wirthin gegenfeitig 
vorgeftellt werden, und jede neue Borſtellung ift eine neue 


217 


Unbequemlichkeit. Und ſodann in der Converſation und im . 
Schachſpiele find die erften Züge die langweiligften, die 
nichtsfagendften! Da muß man aus allen Kräften arbeiten, 
um das liebe Gefprächsfchifflein vom Stapel laufen zu 
Laffen. Ueberdies nehmen fich eine Perſon oder zwei, drei, 
in einem großen beleuchteten Saale fehr matt und fehr 
nüchtern aus! 

Auf der andern Seite aber, weldde Fatalitäten, wenn 
man ſpät in die Geſellſchaft fomnıt! 

Im Borzimmer wimmelt e8 von Bedienten, und felbft 
diefe Domeftifen machen ſchon ihre Gloſſen; ja, einige 
zifheln: „der kommt blos zum Eſſen!“ die Hausbedienten 
find fchon in den Zimmern befchäftigt, faum kann man 
feinen Rod unterbringen, und erfährt nur mit Mühe die 
Stunde, wann der Wagen zu beftellen ift. Zritt man in den 
vollen Salon, da wenden fich plöglich Hundert Augen, mit 
und ohne Brillen, nach dem neuen Opfer der gejelligen 
Suada. Da fteden fie die Köpfe zufammen: 

„er ift denn das wieder? — Ich Fenne ihn nicht. 
— Aha, ift der au da? — Nun ift’8 complet!” — Und 
nun füllen fie die große Lücke ihrer Unterhaltung mit der 
Charpie aus dem zerzupften Hereingetretenen aus. Das ift 
aber nur der Anfang der Verlegenheit. In dem erften 
Zimmer kennt man Niemand, man fucht den Hauswirth, 
um ihn zu grüßen, wer weiß, wo der ift! Man will ſich der 
Dame vom Haufe vorftellen, die fit im fechsten Zimmer 
auf einem Sopha, umfchanzt von einem drei = vier - fachen 
Frauenzinmer-Berhau. Zuerft die alte Garde, dann die 


218 


. Gallerie des Mittelalters, dann erft die frifchen, jüng- 
ften Ausgaben der reizenden Mädchenwelt. 

Eine Regimentsfahne aus der Mitte einer feindlichen 
Schwadron zu Holen, ift nichts gegen die Aufgabe, durch 
diefe lebendigen Jericho-Mauern duch, der Dame vom 
Haufe ein anftändiges Compliment zu appliciren! 

Endlich ift e8 uns gelungen! Wir haben eine Kleine 
Brefche benügt, und haben unfere Verbeugung auf Schuf- 
weite angebracht; da ftredt die Jugend die Hälfe lang, das 
Mittelalter fieht uns inquifitorifch an, und die alte Garde 
frägt manchmal ganz laut: „qui est-il done?!“ 

Das ift noch nicht Alles! Wir finden in den Kreife 
der Damen eine Belannte, wir machen ihr eine ſtumme Ber- 
beugung, die ganze Serie der Damen neben und hinter diefer 
Dame glaubt, man grüßt fie, erwiedert e8 entweder freund= 
lic) oder vornehm verwundert, man muß nun aud) diefe 
Damen grüßen, die wieder Nachbarinnen haben, und fo ins 
Unendlicdhe, 

Iſt man endlich fertig und hat feine ftummen Com— 
plimente alle abgefeßt, fo weiß man nicht, wa8 anzufangen, 
alle Spieltifche find ſchon befett, alle Frauenzimmer abon- 
nirt! der Bediente bringt uns Thee, er ift fchon kalt; wir 
ftellen uns an einen Spieltifh, um zuzufehen, die Dame 
befonmt ſchlechte Karten, man bringt Unglüd, man ent- 
fernt ſich! | 

Kurz, Leid und Freud ift faft immer glei), man mag 
zu früh, man mag zu ſpät in Gefellfchaft gehen! 


Höchfrührender, nichts deſto minder höchſt menſchlicher, 
nnd nichts deſto minder höchſt einleuchtender Vorſchlag, 
Plan und Baurif zu einem 


„Gegen: Thierguülerei - Verein”, 
wie er fein foll im ganzen Umfange der idenlififden 
Dollkommenheit. 


Die vorwärtseilende Bildung beſchäftigt ſich nun haupt- 
fächlich mit dem „Wohl der Thierwelt!“ Das iſt ein 
gewaltiger Bildungsschritt! Denn e8 zeugt von einer um⸗ 
faffenden und geiftreichen Ein= und Anficht der Dinge, daß 
fid) unfere Zeit nicht mehr mit dem „Wohle der Men- 
ſchenwelt“ befchäftigt, und daß die 3 't ihre Zeit nicht 
vergeblich verſchwendet. 

„Man fol kein armes Thier quälen!" Diefer Sprud) 
jollte zwar von Eheherren gegen ihre Frau, von Frauen 
gegen ihre Stubenmädchen, von Directoren gegen ihr Kunft- 
perfonal und Andere gelten. Allein wir wollen von diefer 
Barmherzigkeit nur bei wirklichen Thieren, nicht bei dem 
„animal bipes implume“ Gebrauch machen, und da die 
Zeit da ift, in welcher die Männer ihren Pferden mehr Tiebe 
fhenten, al8 ihren Grauen, ihren Hunden mehr Sorgfalt 
und Menfchlichkeit angedeihenlafjen, als ihren Dienern, und 
Kunftdirectoren an Pferde, Affen, Elephanten mehr ver- 
fchwenden, als an Künftler und Künftlerinnen, fo ift ein 

„Segen-ThiergnälereisBerein“ 


3%: 


das zeitgemäßefte Unternehmen. Ich habe einige Statuten 
zu einem ſolchen Verein in feiner ausgedehnteften, ume 
faffendften Bedeutung, in feiner idealiftifhen Vollkom⸗ 
menheit entworfen, und theile einige der Hauptparagrappe 
bier mit: 

1. Bor Allem, und um bei der „Thierquälerei“ 
im engen Familienfreife anzufangen, müffen wir unfere 
Sorgfalt auf jene Heinen Thiere richten, die ung am näch— 
ften gehen, und welche oft ein defto graufameres Schidfal 
erleiden müffen, je mehr diefe Dual in den geheimften 
alten der mefchlichen Berhältniffe vor ſich geht! 

Wir reden hiervon jenen Heinen, gemüthlichen Wefen, 
welche in neuefter Zeit zuerft durd) Nicolai’3 „Reife 
in Italien“ zu einer Bedeutung gelangten, dann durch 
Goethes „Flohlehre“ berühmt, und durch Bertolotti 
endlid Mitglieder aller philofophifchen und wifjenfchaft- 
lichen Fakultäten wurden, von den — Flöhen nämlid). 

Welchen Qualen diefe Geſchöpfe ausgefett find, 
welch einen graufamen Zod fie fterben müffen, und oft gerade 
durch jene Weſen, welche das weichfte Herz haben follten, 
ift weltbefannt! Iett, da durch die Homöopathie die Blut⸗ 
egel zu Hyänen und die Ylöhe zu Blutegeln promovirt 
werden, jegt nehmen diefe Dunkel» Männer eine höhere 
Stellung ein, und müſſen in den Rechten der Menfchheit 
befchütt werden! 

Der „Segen Thierquälerei-Berein“ wird alſo 
bejonders fein Augenmerk auf die „Flöhe“ richten, und zu 
dieſem Behufe beſondere 


u 


221 


„Floh-Vögte“ 
| anſtellen, welche in allen Familien darauf zu ſehen haben, 
daß die häuslichen Flöhe nicht über die Maßen gepeinigt 
werden, welche dem weiblichen Perſonale moraliſche Vor⸗ 
ſtellungen zu machen haben, daß Strafe zwar ſein muß, 
daß aber alle Folter- und Marter-Prozeſſe abgeſchafft find, 
die Hinrichtung der Flöhe alfo, wenn fie auf frifcher That 
ertappt worden find, ohne alle Gnade ftattfinden muß, alles 
Hegen, Treiben und langſam Tödten aber verboten ift. 

Auch ift bei jedem Floh der animus injuriandi erſt 
zu beweiſen, in Fällen, wo die zarte Jugend, oder die Un⸗ 
zurechenbarkeit der Flöhe erwieſen iſt, oder andere erleich— 
ternde Nebenumſtände eintreten, muß die peine capitale, 
oder die Todesſtrafe gemildert, zum Beiſpiel in Verban⸗ 
nung.u. ſ. w. umgeändert werden. Auch werden fie Jedem, 
der fich das jus gladii eines ſolchen Gefchöpfes heraus— 
nimmt, einſchärfen, den Flöhen vor ihrem Tode fo viel Zeit 
zu gönnen, um ihre Samitienangelegenfeiten zu ordnen. 

2. In Hinficht der. 

„Mäufe und Ratten” | 
hat der Berein darauf zu Jehen, daß die Methode, fie durch 
Hunger zum Geftändniß oder zum Tode zu bringen, 
gänzlich abgejchafjt werde. Auc) das „Abfonderungs- 
Syſtem“ ift graufam; die Menjchlichkeit- erfordert, daß 
jeder Maus oder Hatte ein gejundes, Iuftiges, lichtfreies, 
Lokal angewiefen werde. Die Mäuſefallen müffen vom 
„Vereine“ unterfucht werden, ob fie feine Spigen, Nägel 
oder andere fchmerzverurfachende Dinge in fic) Haben, damit 


222 


das unfchuldige Gefchöpf nicht gequält werde. Rattengift 
ift durchaus gegen das Gefe der Milde und des Mitleids, 
und es ift jedem Hausgeſinde durch moralische Borftellungen 
einzuflößen, jede Maus oder Ratte im Betretungsfalle an 
eine feidene Schnur anzubinden, fie ins Freie zu führen, 
wenn nicht zu fchlechtes Wetter ift, und ihnen die Frei— 
heit zu ſchenken. 

3. Ein befonderes Gefeß erheifcht die 

„Bliegenwelt!“ 

Das Denkmal der Barbarei: die, Fliegenklatſche“, 
muß ganz abgeſchafft werden, und auch der Gebrauch des 
etwas menſchlichern Fliegenwedels nur in beſondern 
Fällen, bei Kranken u. ſ. w. geftattet werden. Das foge- 
nannte Fliegenfangen mit der Hand darf nur in Glace⸗ 
handſchuhen ftattfinden. Gegen Leimruthen jedoch fpricht 
dic Menjchlichfeit ganz laut. Die Fliegen find durch Ver⸗ 
nunfts Gründe und annehmbare Vorftellungen zu 
Raiſon zu bringen, und wenn einige unter ihnen fid) hals⸗ 
ftärrig und verftodt zeigen, find fie angewiefen, nad) Nord» 
Amerika auszuwandern,und zu diefemBehufe wird der, Ver⸗ 
ein” ftets ein fegelfertige8 Schiff in Hamburg liegen haben. 

4. Bejondere Rüdficht und Liebe verdienen die 

„Hunde!“ 
beſonders aber die „tollen Hunde!“ dieſe ſind nicht mehr 
todtzuſchlagen, ſondern der „Verein“ gründet ein 
„Irrenhaus für Hunde“, 
wo jeder Hund pfychifch behandelt wird; wo erft unter- 
fuht wird, an welcher Gemüthskrankheit der Hund 


223 


leidet; ob er toll aus Liebe, aus Eiferfudht, aus Zorn 
— verrüdt wurde, ob der Hund wirklich toll oder blos 
dichterifch ift, ob er melancholiſch, Hyfterifch u. f.w. 
ift. Auch das Einfangen der herrenlofen Hunde ift gegen 
das Zartgefühl aller ältern Mamfells, die mit Hunden auf 
der Straße gehen. Anftatt des Einfangens wird der „Ber 
ein” ein Mittel ausfindig machen, durch Redensarten, durch 
fanfte Muſik, durd) fchöne Zeichnungen die Aufmerkſam⸗ 
keit der herrenlofen Hunde auf fich zu ziehen, und fie der- 
geftalt dem gefelligen Berbande wiederzugeben. 

Auch wird der, „Berein“ darauf fehen, daß alle 
Möpfe, Spige, Bintfcher u. f. w., welche bei alten Mam- 
ſells Herz und Polfter ausfüllen, nicht gar zu fehr durch 
ihre Liebkofungen und Küſſe gemartert und des Lebens über- 
drüßig werden; aud) wird der „Verein“ dafür forgen, 
jedem „Schooßhund“, den das graufame Gefchid trifft, auf 
dürren und fpießfpitigen Knien ruhen zu müfjen, ein weiches 
Kiffen anzufchaffen. 

Dei „Recenfenten - Hunden” wird der „Berein“ 
darauf fehen, daß fie ftets ein Halsband mit dem Namen 
der Redaction darauf tragen, daß aber diefes Halsband 
elaſtiſch fei, da diefe Gattung Hunde einen immer weitern 
Hals befommt. 

5. In Hinficht der 

„Wanzen-Bertilgung” 
wird der „Verein“ bejonders auf das Prinzip der reinen 
Menfchlichkeit jehen, und jenes Rachegefpenft, welches mit 
Feuer und Flammen ganzfanatifch gegen diefe Blutfauger 


224 


minorum gentium zu Felde zieht, ganz zu vertilgen 
fuchen! Scheiterhaufen und auto-da-fe find nicht mehr an 
der Zeit, und aud) die Wanzen find der großen Emanci- 
pation des Herzens theilhaftig. Man fuche jede einzelne 
Wanze von der Immoralität und unäfthetijchen Befchaffen- 
. heit ihres Tebenswandels zu überzeugen, und fie zu einem 
nützlichen Mitgliede der Menſchheit zu machen, wozu ber 
Berein einen Preis von fünfzig Dufaten auf die Beant- 
wortung der Preisfrage ausfegt: 

„Die find die Wanzen von den Berirrungen ihres 
Geſchmackes und ihres Kebenswandels zurüdzubringen, 
und zu nüglichen, ehrfamen und gebildeten Weſen ir in der 
Kette der Weſen umzuſchaffen?“ 

6. In Hinſicht der 

„Krebfenfohung“ 

hat der „Verein“ befondere Mittel ergriffen. Das Leben⸗ 
dig⸗Sieden iſt grauſam und empört die menſchliche Natur. 
Es iſt daher den Krebſen vor dieſer Procedur ein betäuben⸗ 
des Mittel zu geben, oder ſie ſind zuerſt in kaltem Waſſer 
zu erſäufen, welches ihre Schmerzen mildert. | 

7. Infonders aber wird der „Brrein“ ein mitleidig- 
menschliches Augenmerk auf die gequälten 

| „Scähriftftellerthiere* 

haben. Den Buchhändlern wird alles Schinden derfelben 
mit zärtlichen VBorftellungen unterfagt, und den Nachdruckern 
wird das Sefeß der Blutfauger, der Vampyre u. . w. 
alle Tage dreimal vorgelefen. 


Die Kunſt, einzufchlafen, oder: Die Runf, fi ſelbſt 
Cangeweile zu machen. 


Os gibt eine große Kunft: fi) gut auszufchlafen; 
aber e8 gibt eine nod) größere, noch fchwierigere Kunft: 
einzufdlafen! | | 

Dasift eine Kunſt, die man, im buchftäblichen Sinne 
des Wortes, nur in Schlafe lernen kann, und wenn man 
über diefe Kunft ganze Nächte lang wacht, fo lernt man fie 
erſt nicht! j 

Die Kunft, einzuſchlafen, ift eigentlich nichts, 
als die: 

Kunſt, [ich felbft Langeweile zu machen! 

Es gibt feinen größern Beweis von der Eigenliebe 
und von der Eitelkeit der Menfchen, als wenn fie fagen: 
ihfannbeiNadhtnihteinfhlafen!Dasift nichts, 
als ein Beweis, wie gut fie fich mit fich felbft unterhalten, 
wie amufant und geiftreich jie ihre eigenen Gedanken finden. 

. Wenn man in großer Gefelfchaft ift, fo läuft man 
oft alle Augenblick Gefahr, ſogleich einzufchlafen; ift man 
aber allein, Abends, im Bette, mit Niemandem befchäftigt, 
als mit fich, hört man nichts, als das, was man fich ſelbſt 
fagt, in Gedanken oder in Monologen, da ift man entfeg- 
li) wach uud munter! O unbegreifliche Selbftliebe und 
Selbftgefallung! 
M. ©. Suphirs Schriften. v. Bd. | 15 


226 


Im Schlafe gehen die Gefchäfte des Herzens und der 
Lunge nad) wie vor fort; das Herz mag alfo des Tages 
über gute oder ſchlechte Gefchäfte gemacht Haben, der Schlaf 
ändert nichts, und dennoch kann ein bewegtes Herz e8 ſchwer 
zum Einfchlafen bringen! Allein ein ganz gefundes Herz 
ſchläft gar nicht — es ſchnarcht nur zuweilen! 

Alſo die Kunft, einzufchlafen, erfordert: Er- 
ftens,. daß man fein Herz habe, das Herz ift die Un- 
ruhe im Menfchen, und mit Unruhe in ſich kann man nidjt 
einschlafen. Zweitens, daß man nicht8 denke; denn den- 
fen ift ein Andrang von lebensschädlichen und organismus- 
zerftörenden, böfen Einflüßen nad) dem Kopfe, und zum 
Leicht und bald Einjchlafen gehört eine bequente, der geifti- 
gen und leiblichen Ruhe zuträglicheLeerheit des Kopfes. 
Drittens, daß man nichts befite, daß man weder im 
Herzen, noch im Kopfe, noch in dem Koffer etwas Habe, 
überhaupt, daß man in der ganzen Welt nichts befige; denn 
der Beſitz, jeder Belig, es fei nun der eines Dufatens, 
oder eines Haufe, oder eines Herzens, oder auch nur eines 
Talentes — diefes gefährliche Schieß- und Mordgewehr 
— hebt die freie Wirkfamfeit der Seele nad) Innen auf, . 
richtet fie auf die Außenwelt und zerftört allen Schlaf. 

Un zu jeder Zeit leicht und fchnell einschlafen zu - 
fönnen, gehört vor Allem, daß man gar fein Vermögen, 
weder in barem Geld, noch in Grundftüden habe, und dod) 
auch Fein Börfefpefulant fei; daß man nichts und Nienand 
auf der ganzen Welt liebe, für Niemand Sorge trage und 
fih um keines Menfchen Wohl und Weh zu befünmern 


Rn 


227 


Habe; daß man fid) gar feines Talentes bewußt fei, daß 
man die ſichere Ucberzengung habe: „Morgen Früh, wenn 
ich aufftche, bin ich ein fo dummer Kerl und ein fo talent- 
loſes Wefen, wie c8 nur eines unter der lieben Sonne geben 
kann,“ wenn man bei allem diefen nichtS gegeffen hat, blos 
ein Glas Zuderwafjer trank, fic leicht bedeckt, eine weiche 
Matrage hat, und — nicht leſen kann, dann fann man 
fi) der Hoffnung überlaffen, leicht einzufchlafen. 

Die viel Mittel gibt c8 nicht, und zählt nicht Scan 
Paul her, um ſchnell einzufchlafen! Die Fenfterfcheiben 
zählen, das Einmaleins lernen; die Punkte in den Tape- 
ten berechnen, eine gewiffe Melodie jo lange immer von 
Neuem fummen, mit dem Finger um das Antlik herums 
fahren, u. f. w. u. f. w. | 

Aber c8 geht diefen Mitteln wie allen Hausmitteln: 
fie find alle recht gut, aber fie nügen alle nichts! 

Es ıft ein großes Unglüd, daß ſich die Menfchen jo 
gut mit fich felbft nuterhalten! Man ift fo feelenvergnügt, 
wenn man feinen andern Zuhörer hat, ale das — Kopf: 
fiffen! Das Kopffiffen gähnt uns nicht ind Angeficht, 
das Kopffiffen Hört uns geduldig zu, und wer am beften 
zuhört, ift der befte Gefellfchafter! 

Bon was fpricht der Menfc mit dem Kopftifien ? 
Bon fi! Bon fih! Bon fih! Kann man bet einem jo 
intereffanten Geſpräche einfchlafen? Das wäre eine Belei— 
dignng an fi, und fich ſelbſt beleidigt Fein Menſch fobald! 

Ich kenne Schriftfteller, die mit dem Vorlefen ihrer 
Schriften ganze Geſellſchaften eingefchläfert haben; fie 

15* 


228 


lefen fich ihre Werfe aber felbft alle Nacht vor, und es 
kommt ihnen fein Schlummer in die Augen! Ich kenne 
Andere, die eine Sucht zum Anecdotenerzählen haben: wenn 
fie diefelben in Geſellſchaften erzählen, jo ſchlummert der 
‚auftragende Bediente im Gehen plöglidh ein, die Natur 
felbft fängt zu gähmen an, und Todesſchlaf Herrfcht rings⸗ 
um, diefelben wiederholen fich diefe Anechoten alle Nacht 
allein im Bette und unterhalten fid) dabei jo koſtlich, daß 
ſie nicht einzuſchlafen im Stande ſind! 

Ich komme alfo darauf zurück, daß die leidige Selbft=- 
liebe der Feind iſt, warum viele Menſchen nicht einjchlafen 
fönnen. 

Ic kenne Menfchen, die, wenn man ihnen auf der 
Straße begegnet, eine folche narkfotifche Einwirkung machen, 
daß man ſich an das erfte befte Haus anlehnen und [chlum- 
mern muß, bis fie vorüber find, und diefe Menjchen Hagen 
auch, daß fie nicht einfchlafen können! Sie müflen 
alfo nothwendiger Weife Nachts ganz aus ſich heraustreten 
und ſich für ein anderes Individuum halten. 

Man ſagt, um bald einzuſchlafen, müſſe man das 
Licht auslöſchen; Unſinn! In Gegenden, wo gar kein Licht 
herrſcht, hört man auch die Klage: „Ic kann gar nicht 
einfchlafen;* das Licht ift Fein Hindernig des Schlafes, 
denn der erfte Menſch ift fogleich nad) Erſchaffung des 
großen und des Heinen Lichtes eingefchlafen! Daß aber 
der erſte Menſch fo bald und fo Leicht einfchlief, it ein 
Beweis für meinen Ausſpruch: Man muß gar fein Ver— 
mögen befigen, Niemand lieben, nichts wifjen, nicht Tefen 


229 


fönnen, und — unverheirathet fein, um bald und fchnell 
einzufchlafen. ' 

Daß aber das Licht am Einfchlafen nicht ſchadet, 
beweist der Umftand, daß manche Menschen gerade in der 
Geſellſchaft der größten Lichter am eheften einjchlafen ! 
Sa, daß das Licht durchaus dem Einfchlafen zuträglidh 
ift, geht aud) daraus hervor, daß man taufend und taufend 
Dinge, Proceſſe, Unterfuchungen u. f. w., je eher einfchlafen 
läßt, je greller das Licht ift, in welchem fie erfcheinen! 

Ic) glaube, gerade im Finftern kann man gar nicht 
einschlafen, denn ſchlafen heißt die Sinnesempfindungen 
unterbrechen, aufhören machen; und gerade im Finſtern 
werden die Sinnesempfindungen am meiften wach gehalten. 

Ich, für meinen Theil, ich finde nie mehr Luft, zu 
Irhlafen, als bei einer Illumination, bei einem Feuer⸗ 
werfe, und die Feuerfprigen find an manchen Orten nie von 
einem tiefern Schlaf befallen, als bei einem hellen Brande! 

Ein Betrunfener fchläft fogleich ein, und der ift doc) 
lichterloh illuminirt! 

Je leichter die Phantafie ded Menſchen tjt, defto eher 
ſchläft er ein, je farblofer fie ift, defto weniger, darum fchläft 
die Jugend viel das Alter wenig! Ich weiß, das ift eine 
falfche Anwendung, allein ich rede jeßt aus den — Schlaf 
und will verfuchen, mich — in den Schlaf zu reden, 
denn ich fchreibe diefen Auffag nämlich im Bett. — Ich 
glaube, man fühlt es ihm an — daß id; nicht Schlafen kann! 

Ic habe doc nichts, weder Dufaten nod) Xiebe, 
befige auch Fein Talent, bin unverheirathet, kurz, ich bin 


230 


Eigenthümer aller Erforderniffe zum Schlaf, und — kann 
doc nicht ſchlafen!! 

Wie? Sollte ic) aud) Wohlgefallen an meiner eigenen 
Geſellſchaft finden? Nicht möglich! Ich habe mir etwas 
aus meinen Schriften vorgelefen und bin doc) nicht einge= 
Ichlafen! Da dacht’ ich, das find alte Sachen, die wirken 
nicht fo, friſche Mittel find wirkſamer, und fchreibe mir 
friſch dieſes Opiat. Allein, ſchon find alle Lefer um mid) 
eingefchlafen, und ich bin noch fo munter, fo wad)! Es 
ift entjeglich! Dreimal hab’ ich mir das Gefchriebene ſchon 
vorgelefen und fein Schlaf fommt in mein Auge! Ich bin 
nicht im Stande, mir Langeweile zu machen. Sch muß heute 
Naht Schon durchwachen, Du aber, lieber Lefer, eins 
gefchlafen bift Du fchon, ſchlaf' alfo gut aus! 


Seifen- Gedanken während des Rafırens. 


UN iprend des Raſirens hat man, wenn auch nicht die 
beften, doch gewiß die wahrften Gedanken; denn man 
{ft nur danı wahr, wenn einem das Meſſer an der 
Kehle figt! 


* * 
* 


Nicht nur das Herz hat fein Bewußtſein, fondern 
aud) der Kopf. Gute Gedanken wie gute Thaten, wenn fie 
aud) nichtanerfannt werden, geben ein herrliches Bewußtfein. 


* * 
* 


Jeder Wunſch, den der Menſch hat, iſt ein Flügel 
an ſeinem Herzen, er trägt ihn entweder aufwärts zum 
Himmel, oder abwärts zur Hölle. Das Unglück im Leben 
iſt, daß die Gimpel ſich Adlerflügel wachſen laſſen. 


** 
* 


Jean Paul ſagt: „Witz iſt der angeſchaute Verſtand, 
darum ſind jetzt alle unſere Journaliſten witzig; denn einen 


232 


ſchnellen Berftand kann man nicht anfchauen, den Jour⸗ 
naliſten aber bleibt der Verſtand alle Augenblicke ſtehen, da 
können fie ihn recht anſchauen!! 


* * 
%* 


Wenn man früher große Reifen machte, fo brachte 
man einen leeren Beutel und einen. vollen Kopf zurüd. Durch 
unfere Eifenbahnen wird man von der größten Reife einen 
vollen Beutel und einen leeren Kopf zurüdbringen. 


%* * 
* 


Ein Lotterielos iſt die Exercirſchule der Hoffnung 
und des Heirathens; jeder Einzelne glaubt, ſeine Nummer 
wird doch nicht immer ungezogen bleiben. 


% 
* 


Große Manner, hohe Ideen und hohe Berge ſind 
ſich darin gleich, daß, wenn wir ſie erſtiegen haben, wir 


erſt ſehen, daß ſie oben flach ſind. 


* * 
* 


Wenn man ein Kalb alle Tage ein paar Stunden 
lang auf den Schultern trägt, und damit alle Tage fort- 
fährt, fo kann man zurlett den ganzen Ochfen auch tragen; 
daher ift es begreiflich, wie fo mancher Erzieher feinen 
Zögling nod) als Mann ertragen kann. 


* * 
* 


233 


Wit und Berftand find Blutsverwandte, anfcheinlich 
Halten fie zufammen, im Stillen verfolgen fie ſich. 


* * 
* 


Unter den Mädchen ſind gewöhnlich die Engelsköpf⸗ 
chen am flatterhafteſten, ſie haben die Flügel nicht einmal 
an den Schultern, fondern ſogleich hart an den Engels⸗ 
töpfchen. 


* %* 
* 


Unfere Fournaliften haben neben dem Tintenfaß nod) 
ein Weinfaß oder Bierfaß ftehen, aus dem Tintenfaß klekt 
ihnen Alles, aus dem Bierfaß klekt ihnen gar nichts. Die 
Wahrheit jchöpfen fie aus dem Zintenfaß wie aus dem 
Bierfaß, immer nur eine — Halbe. 


* %* 
* 


Bon den Todten foll man nichts als Gutes fagen. 
Den Scriftftelern gönnt man nur darum Unfterblichkeit, 
um ihnen nie etwas Gutes nachſagen zu müſſen. 


* * 
* 


Kleine Seelen fterben an den Wunden, die ihnen 
das Schickſal Schlägt, große Seelen fterben an denNarben 
diefer Wunden, und find denn nicht am Ende die vollften 
und die füßeften Herzen, wie die vollften Traubenkörner 
am zerrifjeniten ? 


* * 
* 


234 


. Wenn bei einer Ehefrau Teuer im Dache ift, das 
heißt im Kopfe, jo find alle Bernunftgründe dagegen wie 
die Löjcheimer, fie fommen vol an und gehen leer zurüd. 


* * 
* 


Die Menſchen find wie die Zeitungen: wenn eine 
ſchlechte That gefchieht, ein Frevel, eine ſchauderhafte That, 
davon reden fie lange und ausführlich; wenn eine gute That 
gejchieht, jo wird fie faum erwähnt. 


* * 
* 


Das Licht iſt die Schweſter des Verſtandes, die 
Finſterniß die Gebieterin der Sinne, und die Dämme— 
rung die Vertraute des Herzens. 


* * 
* 


In der Ehe hat der Mann nur einen dreiſpitzigen 
weiblichen Seufzer-Reim: 
Schneider! 
Kleider! 
Leider! 
Uud die Frau einen Dito männlichen Seufzer- 
Reim: 
Ihm ift nur Werth, 
Cigarre oder Pferd 
Und — — was ihm nicht gehört! 


* * 
* 


235 


Die Satyre gehört ind Schreibzimmer, die 
Laune ins Speifezimmer, die Höflichkeit ind Be- 
fuhzimmer, der Witz ins Gefellfhaftszimmer, 
und die Wahrheit — ins Schlafzimmer! 


%* * 
* 


Kein Menſch lebt davon, daß der Andere etwas 
weiß, viel Taufende leben davon, daß die Andern nichts 
wiffen: wenn man alfo die Unwiffenheitbefördert, 
jo ift da8 nichts, als reine Nächftenliebe und Sorgfalt für 
einen großen Nahrungszweig. 


* * 
* 


„Die Falten auf der Stirne ſind Särge ohne Deckel,“ 
ſagt ein genialer Humoriſt. Ja, in jeder ſolchen Falte liegen 
theuere Todte begraben; allein die ganz kleinen Sorgen⸗ 
ſtiche, die ganz dünnen, dünnen Linien, aus dem Bauriſſe 
des Grames, auf dem menſchlichen Antlitz, erfüllen uns 
mit mehr Wehmuth, als die tiefen Furchen und Einſchnitte, 
fo wie der Anblick eines Kinderſarges uns mit mehr Weh- 
muth erfüllt, als die großen Särge der Erwachſenen. 


u Ey 


Ende des fünften Bandes. 


Inhalt 
des fünften Bandes, 


Eeite. 
m an 


Aumorififche Vorleſungen. 


Luft, Feuer, Waffer, Erde, oder: die vier Erben-Elemente. 


nnd noch ein Himmelstanfend-Element . . . . . 
Konditorei des Folus. Die Organe des Vieh⸗Gehirnes. 
Eine Carnevalsſchwank⸗Vorleſung über die Schäbel- 
lehre der Schafe und Odfen - - » 2 2 2202. 
Nagelnene Bariationen auf die vier Weh (W) bes Lebens: 
Wein, Weiber, Wis und Wahrheit... . . . 
Die egyptifche Finfterni bei Gasbelenchtung und der 
Ochs in der Laterne. Eine humoriftifche Olla Potrida 
Borlefung eines Zuder-Rohres über den gänzlichen Mangel 


aler Romantif, gehalten in einer Gefellichaft von: 


jungen RAunfel-NRübn . ». . 2: 220000. 
Rokettir - Novellen, 
Die Fenſter-Linie.... were. 
Bluetten aus meiner Reife und Sanmel- Mappe. Liebe 
und Zahnweh . . . 2»: 2 2 el. ren 
Der zweideutige Regenſchirm. Ein Abenteuer mit naffem 
Anfange und trodenem Ende -. » 2200. 
Die Brieftanbe > 2 220 mern. 


Volksthümlicdye Reden und Aushäugfdilder. 


I. „Zur ſchönen Seele.” Putz- und Modewaaren- 
Handlung der Frau Beiheidendeit . - - .- - - 


17 


238 
Seite. 
Run ut 


II. Zu den drei Laufern: „Sugend, Schönheit und 
Liebe.” Specerei- und Delifateffeniwaaren - = Hand= 


Yung des Lebens -. . 2 2 nl. 94 

III. Mädchenherz, Mädchenftub’ und Mädchenfchrein, 
müfjen aufgeräumt aM’ dreie fein! . 2.2... 101 

- IV. Da müßt! e8 gar viel Kleifter geben, wollt! man 
aller Leute Maul verlieben! . » . 2.000. 106 

V. Oft oder Welt, Ball oder Feft, daheim in dem Neft, 
iſt's Mädchen am Belt!. .. .. ren 113 
VI. Nach Regen folgt Sonnenidein . »- 2... 118 
VD. Die Kunft des Shmolen . . 2.2 2.0. .1%3 
VII. Käfbernes mit Champignons . . . 220... 128 

IX. Reunion und Converfation in den Lofalitäten Des 
weiblichen Herzend - » 2: 2 2 onen 134 

X. Frühlings-Eur der Sonmerfproffen, für den Herbft 
und Winter des lebend . :- :: 220. 139 

XI. Unfer Herrgott grüßt alle Augeublid, fein Menſch 
dankt ibm! . 2 2: Er nnn . 144 

XII. Ruf nit eher „Si Fiſch!“ als bis er auf dem 
Tiſch............... . 148 


Genre-Bilder, Iokofes und Sentimentales. 
Die Whiftparthie mit vier Honneurs, drei Kindern, zwei 


Möpfen und einer Fihtihere . . - » 2.2.2 .. 163 
Naturgeihichte der Mädchenjahre. 
1. Die Luftichlöfferjahre. . . - . ...... 181 
2. Die Kartenhäuſerjahr.. 183 
3. Die Sausmannsjahte . - 2 2200. 184 
4. Die Strohütteniahte - - - - : > 2 220 .. 186 
5. Die Berzweiflungsiabre. - - -» 2200. 187 
6. Die „Hol's der Teufel!“ Bahre . . . . 2... 188 
Meine Leiden durch die Weibertreu von Weinsberg . . . 190 
Va-banque, der Visite de reconnaissance. . . » 2. . 197 


239 


Seile. 

Va-banque, Stammbudh und Album . - ». 2.22 .. 201 

Va-banque, ben Thränen . >: 220 204 

Der deutſche Titeratur- Wa . ... . Kernen 209 
Soll man zu früh oder zu fpät in Geſellſchaft gehen? 

Eine Lebensfrage » >» > 2 213 


Höchſt rührender, nichts defto minder höchſt menſchlicher, 
und nichts defto minder höchſt einleuchtender Vor- 
ſchlag, Plan und Bauriß zu einem „egen-Thier- 
quälereisBerein”, wie er fein fol, im ganzen Umfange 


der idealiftiichen Bollfommenheit - -. - » 2... 219 
Die Knnſt, einzufchlafen, oder: Die Kunft, ſich jelbft Lange- 
weile zu mahen - 2 2 CE 225 


Seifengedanfen während des Rafirend . . 22.2... 231 


M. 6. Zaphir's Schriften. 


ö— HE HWETIH 





Eabinet3 » Ausgabe 
in zehn Bänden. 





Ausgewühlte Schriften. 


Von 


A. G. Saphir. 


Dritte Auflage. 


Sechsſster Band. 


Brünn und Wien. 


Verlag von Fr Karafiat. 
1865. 


Drud von Georg Buftl in Brünn. 


Genre-Bilder, 
Jokoſes und Sentimentales. 





Zafden-Eoder und Spruchbüchlein eines ſihlichten 
Draktikers. 


ei jeden Augenblid bereit, alle Menfchen auszu- 

lachen; denn fei überzeugt, ale Menfchen find jeden 
——— bereit, dich auszulachen, und da alle 

Menſchen um viel Menſchen mehr ſind, als du, ſo 
ſteh' alle Tage ein paar Stunden vor Tags auf, um alle 
Menſchen auszulachen. 


* * 
* 


Wenn dir ein vornehmer Mann etwas verſpricht, ſo 
lerne ein Handwerk und verlaß dich d'rauf. 


* * 
* 


Wenn du ſchön biſt, fo ſchau' alle Tage viermal in 


den Spiegel, zweimal dir zu Liebe, einmal, um zu ſehen, wie 
du ausſiehſt, wenn du in den Spiegel ſiehſt, und einmal, 


8 


weil jeder Menſch doc) einmal des Tages in den Spiegel 
fehen fol ; bift du aber häßlich, fo ſchau' alle Tage fünfs 
mal in den Spiegel, zweimal aus Buße, einmal, damit 
du nicht vergefien follft, wie du ausftehft, und wieder zwei⸗ 
mal, damit du ja nicht in VBerfuchung fommft, zu glauben, 
ein Trauenzimmer liebe dic) deines Gciftes wegen. 


* * 
* 


Wenn an einer Table d’höte die Schüffel an dic) 
fommt, fo genire dich nicht, und fuche, fo lange dur’ kannſt, 
nach dem beften Biffen; denn fei verfichert, wenn die Schüffel 
an den Nachbar kommt, fo fucht er fich gewiß den beften 
Biſſen aus. 


* * 
* 


| Wenn du viel gearbeitet haft, und fehr ermüdet bift, 
fo geh’ Abends nicht ins Theater; denn fei verfichert, du 
wirft ohnehin fchlafen. 


* 


Wenn deine Frau dir ſchmeichelt, ſo greife ſchnell in 
die Taſche; denn ſei verſichert, ſie will etwas. 


A 
* 


Wenn ein Mann dir ſchmeichelt, ſo verzeih' ihm nur 
gleich im Stillen; denn ſei verſichert, er will dich betrügen 
oder er hat dich betrogen. 


* * 
* 


9 


Wenn ein Befannter dir begegnet und laut ausruft: 
„Ad, mein Theuerfter !* fo komm' ihm nur gleich mit der 
Frage entgegen: „Ich bitt! Sie, haben Sie nidt 
fünf Gulden bei ſich? denn. jet verfichert, er wollte 
dic) um dasſelbe fragen. Ä 

* * 
% 

Denn du von einem Recenfenten gelobt fein willſt, 
fo mache ihm ein Gefchent; denn ſei verfichert, jo was 
hilft immter. 


% * 
* 


Wenn du einem Recenſenten etwas ſchenkſt, ſo ſchenke 
ihm baares Geld; denn ſei verſichert, da triffſt du ſeinen 
Guſto gewiß! | 


* * 
* 


Wenn du einen Künſtler lobſt, ſo lob' ihn nie auf 
Credit; denn ſei verſichert, wenn er einmal gelobt iſt, ver⸗ 
gißt er dich! 


* * 
* 


Wenn du den Kopf zum Fenſter hinaus ſteckſt, fo 
thue e8 nie, ohne die Obrigkeit zu preifen; denn fei ver- 
fichert, wer über dir wohnt, würde dir, wenn feine Aufficht 
wäre, gewiß gerne einen Topf Waſſer über den Kopf gießen, 
auch wenn er gar nicht weiß, wer und was du bift. 


* * 
* 


10 


Im Theater folettire immer mit fünfundzwanzig 
Brauenzimmern auf Einmal; denn fei verfichert, zehn koket⸗ 
tiren mit dir, um ſich über dich Iuftig zu machen; fünf, um 
ihre Nachbarin auf den ‚eingebildeten Laffen“ aufmerkſam 
zu machen, fünf aus Eitelkeit, zwei aus Dummheit und drei 
aus Inftinkt, alle fünfundzwanzig aber noch einmal aus 
Langeweile, und alleweil bleibt doch etwas Kleben! 


* * 
* 


Trau' der ganzen Welt ſo wie dir; denn ſei verſichert, 
der Menſch ſoll ſich ſelbſt nicht trauen. 


* * 
* 


Wenn du in der Gunſt des Publikums ſteigſt, ſo 
denke an Eulenſpiegel und weine; denn ſei verſichert, du 
wirſt wieder herunterſteigen. 


* * 
* 


Wenn dir ein Frauenzimmer ſagt: „Du haſt mein 
Herz erſchüttert!“ ſo glaub's und — bau' nicht darauf; 
denn ſei verſichert, auf einem Boden, der einmal erſchüt— 
tert iſt, ſoll man nicht bauen. 


* * 
* 


Wenn du alle Augenblicke erinnert wirſt, daß du 
eine Frau haſt, ſo thut ſie dir weh; denn ſei verſichert, man 
wird nur an jene Gliedmaßen von ſelbſt erinnert, die Einem 
weh thun! 


* * 
* 


11 


Ein gutes Gewiffen fchläft auch auf einem Baums 
ſtrunk! D’rum fchaff’ dir Feine Baumftrunfhandlung an; 
denn fei verfichert, fie bleiben dir über den Hals! 

* 

Kaufe nie Etwas zu einem „feſtgeſetzten Preis“; 
denn fei verfichert, wenn der Preis ehrlich wäre, hätte 
man ihn nicht feftgejegt. 


* % 
* 

Wenn du einem Trauenzimmer unter den Hut fehen 
willſt, und es fentt den Kopf, als ob e8 Etwas auf der Erbe 
ſuche, fo grüble nicht weiter; denn fei verfichert, wenn es 
ſchön wäre, e8 würde zum Himmel hinaufgefehen haben, 
ob e8 nicht vegnet. 


Taſchengedanken und Gedankentafdhen-Spielerei. 


Die Kunſt, zu leben, iſt nichts, als die Kunſt der Taſchen— 
ſpielerei: die Kunſt, aus andern Taſchen in ſeine zu 
ſpielen; die Kunſt, die Leute in den Sack und ihr Geld 
in die Taſche zu ſtecken. 

Die Taſchen des Menſchen ſind ſeine Laſter. Bei den 
Spartanern wurde nichts geſtohlen, und warum? Weil ſie 
feine Taſchen in ihren Kleidern hatten. Wenn die Sparta⸗ 
ner, wie wir, zwei Weftentafchen, zwei Hofentafchen, drei 
Fradtafchen und fünf Oberrodtafchen gehabt Hätten, fie 
hätten auch mehr geftohlen. Einejede Tasche ift ein genähtes 
Fragezeichen anden Schneider: „Wozu haſt du mich ge- 
macht?" ein Ausrufungszeichen an den Befiter: „Ad 
Gott!“ und ein großer Gedankenſtrich an das Schidfal, 
welcher fagt: „Das Mebrige fannft du dir denten!” 
Eine jede leere Taſche ift nichts, al8 das zueignende Für- 

wort: „Mein“ mit Leinwand überzogen, und jede volle 
Taſche ift nichts, als ein großes Bewußtfein in Tafchen- 
format! 

Mit den meiften Taſchen ift e8 wie mit dem Mond, 
fie find ale Monat einmal voll, einmal leer, und wenn 


13 


gar fein Geld, keine Münze und fein Schein in der Tafche 
ift, das find die Mondesfinfternifie, aber die fichtbaren! 

Mit den vielen Taſchen geht’8 ung jettt wie mit den 
vielen Wörterbüchern: je mehr wir haben, defto weniger 
finden wir den Artikel d’rin, den wir eigentlich fuchen. 
Ein Menfd) mit allen feinen Tafchen jeßt ift wie das Con⸗ 
verfations-Lerifon. Sucht man das Geld in der Weſten⸗ 
tasche, jagt fie: fiehe „Brufttafche*, kommt man zur Bruft- 
tafche, fagt fie: fiehe „Brieftafche“, kommt man zur Bricf- 
tafche, fo heißt's: „ein Weiteres über diefen Gegenftand 
fchlage man im Münzweſen nad)!“ Wir haben alle Hände 
voll zu thun, um die leeren Tafchen auszufüllen, mit den 
leeren Händen nämlich. oo. 

Warum trägt der reiche Mann feine Hand in der 
Taſche, und warum der arme Mann?.Bei dem reichen 
Mann bittet da8 Geld in der Taſche, e8 nicht hinauszu⸗ 
ftogen in die Welt unter Arme und Hilflofe, und da gibt 
der reiche Mann gerne die Hand daranf; — bei dem 
armen Mann bittet das fein Geld um Berfchwiegenheit 
und der arme Man ift fo gut und Hält’s unter der 
Hand! — 

Es tft eine homdopathifche Eur, wenn man einer 
leeren Tafche eine leere Hand einzunehmen gibt. 

Aber in den Tafchen feldft, welch' ein Unterfchied, 
welche Abftufungen von der Brufttafche bis zur Patron 
tafche, von der Uhrtafche bis zur Maultaſche! 

Die Brufttafche trägt der Menſch auf der linken 
Seite, gerade über dem Herzen! Wenn nur die Taſche auf 


14 


der Bruft recht voll ift, fo darf die Bruft unter der Taſche 
recht leer fein, man darf doch von der Bruft weg reden! 
das ift dann ein Leichtes Keben, wenn Einem da fo recht f chwer 
auf der Bruft ift! In der Brufttafche ift’8 gerade wie in 
der Bruft felbft! Wie vielen Menjchen liegt das Herz mehr 
in der Brufttafche, als in der Bruft felbft; man könnte fagen, 
das Herz ift ihnen aus der Bruft in die Taſche gefallen. 
Das Geld wohnt in eben fo verfchiedenen Weifen in der 
Taſche des Menfchen, als die Gefühle in der Bruſt der 
Menſchen. 

Bei manchen Menſchen zum Beiſpiel ſteht die Liebe 
als Schildwache in der Bruſt, und wartet ſehnlichſt auf 
Ablöſung, bei Andern liegt ſie als feſte Garniſon, und bei 
noch Andern ſteckt ſie blos als Baugefangene in den tiefſten 
Kaſematten; fo iſt es auch mit dem Geld in der Bruft- 
tafche: bei manchen Menfchen ift’8 al8 Tafchenfpielftüd da, 
fie find Künftler darin, das Geld Schnell verfhmwinden 
zu laffen, und bei Andern ift e8 blos lebensläng— 
licher Arreftant! In der Bruft des Menſchen, der fein 
Herz in der Brufttafche Hat, Liegt eine große Vorliebe zu 
Bruftftüden, aber fie müflen von gekrönten Häuptern und 
auf Metall geprägt fein! 

Der Menſch liebt den Menfchen überhaupt mehr als 
Bruftftüd, denn in Lebensgröße, d’rum wenn die 
Männer ein weibliches Herz gewinnen wollen, jo madjen 
fie ſich ſelbſt zu Bruchſtücken, indem fie niederfnien und fo 
die Füße einziehen. Die Frauenzimmer glauben dann, fie 
hätten gar keine Füße, und könnten ihnen nicht davon laufen. 


u 


15 


Allein die Männer knien blos deshalb lange, um dann aus⸗ 
geruhte Füße zum Davonlaufen zu haben. 

Das Erfte, was die Frauenzimmer wiffen, ift, wie 
ſchön fie find; das Erſte, was fie lernen, wie ſtark fie find; 
das Erfte, was fie erfahren, wie ſchwach fie find; das Erſte, 
woran fie vergeffen, wie alt fie find, und das Erfte, worauf 
fie fi) wieder erinnern, ift, daß fie das vergeflen haben! 

Und doc wohnen alle edlern, fanftern Gefühle nur 
im Frauenherzen; bei den Frauen ift die Liebe die Ruhe 
des Herzens, bei den Männern die Robot des Herzens! 
die männliche Wange wird nur roth durch das Wort, die 
weibliche fchon durch den Gedanden! die Frau fucht in der 
Liebe nad) Worten für ihre Empfindung, der Mann ſucht 
nad Empfindungen für feine Worte; die Frau befigt ihr 
Herz blos Einmal, und der Dann befommt das Original. 
Jeder Mann hingegen betrachtet fein Herz wie ein Memorial, 
er hat ftet8 ein Duplicat davon vorräthig. Selbft der Sturm 
des Hafjes zerftört nur Männerherzen, fo wie jeder Sturm 
blos in Wäldern Berheerungen anrichtet, nie aber in Blumen. 
Wenn der Mann feine Frau nicht liebt, fo mißhandelt er 
ihren Kanarienvogel! wenn aber die rau den Mann noch 
jo jehr haft, fo fann fie e8 doch nicht verfchmerzen, wenn 
er den Kaffee kalt werden läßt. 

Ueberhaupt ift der Rüdjchritt von Zorn und Haß, 
fo wie von jeder Verflimmung des Herzens zur reinen 
Stimmung blos bei den Frauen leicht, nicht aber bei dem 
Männern, fo wie eine Flöte leicht zu ſtimmen iſt, aber eine 
Pauke jchwer. 


16 


Betrachten wir den Umftand, wie viele Zafchen ein 
Mann in jede Gefellfchaft mitbringt, und daß die Frauen 
feine mitbringen, fo find in der Converfation, fo zu fagen, 
die Männer fchon vom Schneider angewiefen, mehr ein- 
zufteden, als die Frauen. 

Welches war in der Welt die erfte Taſche? Gewiß 
die Plaudertafche; denn diefe Taſche eriftirte Schon im 
Baradiefe, alfo noch bevor e8 gar Kleider gegeben hat. 
Hätte Eva mit der Schlange nicht geplaudert, hätte ihr die 
Schlange feinen Apfel geboten, und wir wären noch Alle 
im Paradiefe. 

Die Blaudertafchen und die Bofttafchen haben 
durch nichts fo verloren, als durch die Eifenbahnen; 
wenn man früher mit fo einer Plaudertafche von Wien nad) 
Brünn reiste, hatte fie Zeit und Muße genug, uns ihre 
ganze Lebensgefchichte zu erzählen; jeßt, auf der Eijen- 
bahn, kommt fie faum dazu, uns von ihren Kinderjahren 
zu erzählen! 

Dian fagt, das Leben ift eine Reife; ja wohl, früher 
lebte und reiste man lange, jegt reist und lebt man fchnell. 
E8 wäre recht gut, wenn das Leber eine Reife wäre, aber 
jede Frau müßte eine Boftmeifterin fein, denn dann wohnten 
fie alle eine Station aus einander, und dann wäre Ruh im 
Leben. Es gibt Dienfchen, die blos Poſtillons find, fie gehen 
nie einen Schritt weiter, als die zwei oder drei Meilen, die 
fie zu machen gepohnt find, dann gehen ſie immer wieder 
zurüd und blafen immer wieder dasfelbe Stüd! Jeder 
Menſch ift fein ganzes Leben lang ein Poftillon; er führt 


u 


17 


fi) felbft von einer Station bes Lebens zur andern, von 
einer Tiebe zur andern, von einem Wunſch zum andern, von 
einer Hoffnung zur andern; er fährt immer voll aus und 
reitet immer leer zurüd! Er verfpricht fich ſelbſt ein Trink⸗ 
geld und fagt zu fi: „Schwager, fahr’ gut!” Auf der 
Station vertrinkt er’8 und bringt nichts mit zurüd! 


M. G. Saphir's Schriften. vi. Bo. 2 


Weihnathtabend. 


Es iſt ein ſchöner, rührender, heiliger Abend! 

Die Menſchen begehen ein Feſt der Liebe! Die Men⸗ 
ſchen gönnen fich Heute gegenfeitig rende, fie überrafchen 
fich mit Freude, mit Zärtlichkeit, mit Gaben der Liebe, der 
Freundſchaft, der Imnigkeit! | 

Der liebe Bater oben hat die ganze Welt dem Men- 
[chen gegeben zu einem einzigen, flebzigjährigen Weihnachts⸗ 
feſte! Er Hat ihnen das Leben reich befegt, wie einen Weih- 
nadıtstifch. Er hat am Himmel angezündet den unendlichen 
Ehriftbaum mit goldnen Lichtern, und von dieſem flammen⸗ 
den Chriftbaum flattern herab ale®nadenbänder des Lebens: 
Liebe, Glaube, Hoffnung! Er hat den Menſchen befchert 
einen ganzen Tisch voll bunter Gaben: Abendröthen, Mor: 
genröthen, Frühlinge, Nachtigallen, Dichtungen, Thränen, 
Liebe, Freundſchaft, Neligion, Kunft, Wohlthätigkeit und 
taufend andere Dinge, die uns beglüden fünnen! Er hat 
den Meenfchen befchert eine große Herzſchachtel vol eitel 
Spielzeug, vol güldenem Schnitzwerk, voll flatternden 
Wünſchen, vol fladernden Träumen, voll gedrechfelten 


19 


Hoffnungen, kurz, der ewige Bater des großen Erden- 
Waifen - Haufes hat das ganze Menfchen Leben zu einem 
einzigen jchönen, heiligen, rührenden Weihnachtsfeſte machen 
wollen, zu einem einzigen Tiebeöfefte, zu einer einzigen lauen, 
Lieblihen, magifchen, wunderfam gemüthlichen Dämmer- 
ftunde zwifchen dem Sonnenuntergange des dies. 
feitigen, und dem Sonnenaufgange bes jenjfei- 
tigen Lebens! . | 
Der Menſch aber hat diejes einzige große Feſtge⸗ 
ſchenk des Lebens, wie ein Kind, zerbrochen und abgetheilt 
in fiebzig Feine, ausgemefjene, vorherberechnete Fefttage! — 
Er hat das Geſchenk der unendlichen, ewigen, lebensläng⸗ 
lichen Liebe zerfpaltet in Kleine Theilchen, in fiebzig Theil⸗ 
chen, und feiert alle Jahre eine kalte Decembernacht der 
Liebe, und findet fic) ab mit den Mebenmenjchen, mit den 
Hreunden, mit den Kindern, mit allen Empfindungen, und 
vertröftet fie und fich und fein Herz und alle feine Gefühle 
auf diefe einzige, Kleine, abgemefjene Liebesſtunde! 
Zwiſchen diejen fiebzig buntangeftrichenen, einzeln 
ftehenden, auseinandergerifjenen Wegweijern in das heilige 
Land der Liebe, in die verödeten Zwifchenräume diejer fiebzig 
Zubelninuten ſäet der Menfd) das’ ganze Fahr die Neſſel⸗ 
faat des Hafjes, die Stechäpfel der Lieblofigkeit, den Schier- 
ling ded Neides und taufend andere Giftpflanzen, die das 
Glück des Nebenmenſchen zerftören, aufreiben, vergiften. 
Dann, wenn er dieſen Raum ausgefüllt hat mit Haß, Ber- 
Tolgung, Lieblofigfeit, Stumpfheit, Zerftörung aller andern 
Freuden, Berhöhnung aller edlern Empfindung, dann, dann 
2% 


20 


gelangt er alle Jahre einmal an den alten, herfömmlichen, 
feit Ewigkeit Hervorgeftedten Pfahl und Wegweifer der Liebe, 
und hängt feine Laterne daran, mit feinem Augenblidslicht, 
und ftreicht diefen einzelnen Wegweifer an mit Farben und 
bunterlei Zeug, und das nennt der Menſch: den Weih— 
nachtsabend feiern! 

Vergib ihnen, Vater im Himmel! Sie wiſſen nicht, 
was ſie thun! Sie gehen wie Blinde durch den ewigen Licht⸗ 
ranım deiner Huld, fie gehen wie Taube an dem unendlichen 
Steomfall deiner Gnade, fie gehen wie Stumme neben dem 
ewigen Jubelchor deiner Schöpfung, fie gehen mit einge- 
drücter Bruft, mit kurzem Odem durd) deine hochgemwölbte, 
ätherflare Welt! 

Ic will mich wegwenden von jenen Zifchen, an denen 
die berechnende Liebe mit einer ſüßen Weihnadt: 
Stunde ihren Nebenmenfchen ein langes, bitteres 
Jahr verfüßen will; an denen Herzlofigteit, mit einem 
goldnen Geſchenke, feiner Umgebung ein langes, bleiernes 
Bahr übergolden will; an denen ein egoiftifche® Herz mit 
einem bunten Tand ein da® ganze Fahr hindurch von ihm 
graufam zerdrüdtes Gemüth entfchädigen will 1! — — IH 
will mich wegwenden von allen jenen Tiſchen, an denen die 
wahre Liebe zum Schaugericht, die echte Aelternzärtlichfeit 

zum Wlitterfchein, die wahrhaftige Nächftenliebe zum ab- 
tropfenden Kerzenflimmer, und felbft die innige Frömmig⸗ 
feit nur zum vergehenden Parorismus des Augenblides wird. 

Ich will hinausgehen und Laufchen an den Tenftern 
der Armuth, wo nichts aufbaut, als die Xiebe, wo fein anderer 


21 


Baum blüht, als der bittere Brotbaum des Elendes, wo 
feine andern Kichter brennen, als die brennenden Thränen! 

Id) will nein Ohr legen an die Thüre der Waiſen⸗ 
häuſer, wo die Kinder find ohne Bater und Mutter, ohne 
goldene Bejcherungen, ohne gepußte Chriftbäume, ohne 
Geſchenke der Zärtlichkeit, der Herzlichkeit! Ich will Hin- 
ausgehen in die falten Straßen, und will die armen, kalten, 
zitternden Kinder aufjuchen, die um Brot bitten, und die 
mit weinenden Augen hineinfchauen in die erleuchteten Säle, 
wo die glüdlihen Kinder ſchwimmen im Lichtftrome, und 
tanzen um reichbehängte Bäume und mit den glüdlichen 
Händchen jubelnd zufammenfchlagen ! 

Ich will alle jene Tauſende auffuchen, die heute, am 
heiligen, frohen, rührenden Weihnachtabend, allein figen, 
allein, verlaffen und ungeliebt! Ich will alle Jene auffuchen, 
die mit geröthetem Auge und mit blaffen Wangen einfam 
figen und weinen! Id} will Jene auffuchen, denen das Glück 
nichts gab, gar nichts, und die ihren Lieben, ihren Herz⸗ 
liebjten, ihren Kindern nichts geben können an diefem heili- 
gen Abende, gar nichts! Ich will alle Jene auffuchen, die 
bei einem Herzen voll Liebe, voll Sehnſucht, doch ungeliebt 
durch’8 Xeben gehen, die heute am heiligen Abend nicht das 
fleinfte Zeichen der Liebe erhalten, nichts, gar nichts! Ich 
will alle Jene auffuchen, die fern von dem ©egenftande 
ihrer Liebe fehnend figen, und ihm nicht zulommen laſſen 
fönnen am heiligen Abend, fein Zeichen der Liebe, Fein Wort 
der Treue, kein Blümchen, kein Papierftreifchen, nichts, 
gar nichts! 


22 


Ih will alle Jene auffucchen, die den Chriftbaun 
und die goldnen Tichter nur für Todte anzuzünden haben, 
die alles Theuere da unten haben im Schooße ber Erbe, 
und oben im Schoofe des Lichts nichts, gar nichts! 

Ale diefe möchte ich aufjuchen und fie mit mir 
nehmen, und an mein Herz legen und ihnen fagen: „Kommt 
mit mir, ich bin arım wie ihr, allein wie ihr, ungeliebt: wie 
ihr, ich habe da unten theure Schäße wie ihr, und oben fo 
wenig, ach, fo wenig; ich habe mein Brot mit Thränen ge- 
gefien wie ihr; id) Habe meinen Wein. mit Zähren vermifcht 
wie ihr; ich bin fchmerzlich und tief verlegt worden wie ihr; 
ich trage ein brennendes Sehnen im Herzen wie ihr; ich bin 
einfam wie ihr, und abgefchieden von meines Tebens Inhalt 
wie ihr; kommt mit mir, ich bin-arm, recht arın, doch bin 
ich nicht jo arm, daß ich euch nicht zu Tiſche laden könnte, 
zu dem Tiſche meines Herzens, der reich ift, fehr reich an 
Liebe, an inniger, herzlicher wahrer Liebe, ber fehr reich ift 
an Mitgefühl, ein warmes, Lebenquellendes, lauteres Mit- 
gefühl! Und aud) einen Ehriftbaum kann ich euch zeigen, 
einen großen, herrlichen, unendlichen Chriftbaum, der euch 
Alle tröften, erheben, erfreuen, ermuthigen wird ! 

Seht ihr da oben am blauen Himmel den großen, 
weitgezweigten, goldenblätterigenSternen» Ehriftbaum ? den 
hat unſer allgütiger Vater da oben allein für uns, ganz 
allein für uns errichtet; ganz allein für uns, die wir heute 
nicht figen unter blintenden Girandoles und demantnen 
Bäumen, jondern unter diefem großen, myriadenflammigen 
Ehriftbaum des ewigen Vaters. Zwiſchen diefen einzelnen 


2 


Sternen⸗Lampen fchaut der himmliſche Vater mildlächelnd 
zu feinen Kindern herunter, und mir hat er vor Bielen 
befchert das offene Auge, daß ich durch dieſe güldnen 
Zweige durch erblide die halboffene Thürfpalte des befferen 
Lebens, und durchſchaue und fehe und höre im ©eifte alle 
die flatternden Sonnen» und Freudenklänge und Engel» 
züge und Regenbogen und Rofenlauben und wallenden 
Geiſter! | 

Und diefen leuchtenden, glänzenden, fternenvollen 
Chriſtbaum hat Gott an den Himmel gepflanzt, gerade nur 
für die, fo einfam und allein zu dem Himmel emporfchanen; 
und diefe taufend und abermaltaufend Weihnachtlerzen fun⸗ 
teln und flimmern gerade nur für den, dem fonft fein anderes 
Freudenfeuer im Leben glüht, kein anderes Liebeslicht im 
Dajein brennt, und diefeTichter will ich eud) näher bringen, 
und ihre Strahlen deuten und euch jagen, wie fie herein 
ſchauen in das Leben, wie rettende Götter, wie Friedens- 
Engel, wie leuchtende Bürgen ewiger Freuden! 


Da oben hoch im Blauen, 
Da fteht der große Baum, 
Und gold’ne Zweige ſchauen 
Herab durch dunklen Raum. 


Er breitet feine Aefte 
Durch's ganze Himmelhans, 
Und Bängt zum heiligen Feſte 
Biel taufend Lampen ans. 


E 


Der Gärtner bleibt im Dunkeln, 
Der diefen Baum une gab, 
Doch feine Blätter funteln 
Mit füßem Licht herab, 


Er bat des Baumes Hallen 

Mit Lichtern voll beſchwert, 
Den Erbenlindern allen 

Hat er den Baum beichert. 


Denn taufend Gaben drängen 
Sid in der Zweige Raum, 

Denn taufend Lichter hängen 
Herunter von dem Baum. 


Der erfte Stern entbrennet 
Ganz hoch in feiner Kron'! 
Wiſſ't ihr, wie man ihn nennet? 
Den Stern der Religion! 


Aus diefes Lichtes Reinheit 
Erbfüht in unf'rer Bruft 

Der Glaube und die Einheit 
Und aller Tugend Luft! 


Ein zweiter Stern glühet 
Am Baume, lieblich friich, 
Der Stern der Liebe blühet 
Am Sternen »- Weihnachts - Tiih! 


—2 


Aus dieſem Strahlenkerne 
Wird uns das fühe Licht, 
Das in dem Angenfterne 
Nur mit dem Tode bricht! 


Ein dritter Stern funtelt, 

Der Hoffuungs- Stern genannt, 
Der, wenn das Glück verdunfelt, 

Doch tröftend ift entbrannt. 


Und diefes Licht der Gnade, . 
Das nie verblühen kann, 

Berleiht die ew’ge Gnade 
Auf Erden jedem Mann! 


Ein vierter Stern aud) leuchtet, 
Wie Mädchen - Angeficht, 
Wie Rofe, thaubefeudhtet, 
Die aus dem Neke bricht: 


Der Stern der Unſchuld glänzet, 
Erglühet wie die Braut, 
Wenn fie, das Haupt befränzet, 
Dem Bräut’gam fidh vertraut. 


Und taufend and’re Sterne 
Erblühen beilig da, 

Und fcheinen fie auch ferne, 
So find fie uns doch nah‘. 


26 


Denn wo nur eine Waiſe 
Berlafien, einfam feht, 

Wo auf der Lebens Reife 
Ein Herz ganz einfam geht: 


Wo nur ein Herz fih fammelt 
Und traut dem Sternen- Schein, 
Und wo ein Mund nur ftammelt: 
„Ad, Bater! dente mein!” 


Da werden fie vertreten 

Bon ihren Sternen fon, 
Und ihre Sterne beten 

Kür fie an Gottes Thron! 


Die falfıe Freundin 


Dos man fich auf die Freunde nicht verlaflen kann, ift 
eine betannte Sache. Mit einem Freunde darf man ed nicht 
genan nehmen; mit einem Freunde macht man keine Um⸗ 
ftände; ein Freund nimmt nichts übel; unter Freunden 
herriht kein Zwang; und noch andere gute Sprücheldhen 
geben unfern Freunden ein Recht, mit uns grob, unver 
ſchämt, wortbrüdig, fahrläffig, geringfchägig zu verfahren. 
Die Menfchen Haben alle Höflichkeit, Artigleit, Liebens⸗ 
würdigkeit nur für ihre Feinde, mit den Freunden ift man 
grob, kalt, nachläffig u. ſ. w.; denn, mein Gott, es find ja 
gute Freunde! 
Wil man Etwas ganz ficher beſtellt wiſſen, ſo laſſe 

man es nur durch keinen Freund beſtellen, denn der beſtellt 
es gewiß nicht; weil er weiß, wir ſind blos ſein guter Freund, 
was ſchadet's, wenn er's vergißt! — Will man ſich Geld 
ausborgen, nur von keinem Freund, denn der hat den Grund⸗ 
ſatz: meinen Freunden leih' ich fein Geld, das macht Miß- 
helligkeit! — Will man wo zu Mittag fpeifen, nur bei 

feinem Freund, denn der hat den Grundfag: ein guter 
Freund muß mit Wenigem vorlieb nehmen! — Will men 
Jemandem Etwas anvertrauen, nur feinem Freund, denn 


28 


aus lauter Freundfchaft fährt ihm das Geheimniß aus der 
Lippe! — Will man einen fleigigen Mitarbeiter, nur feinen 
Freund, denn ber gibt Andern das Gute und uns das 
Schlechte, denn wir nehmen’s ja auch ſchon aus Freund⸗ 
ſchaft auf. — 

Kurz, es gibt nichts, was uns im Leben mehr genirt, 
als die ſogenannten Freunde! 

Aber daß man ſich auf eine Freundin nicht ver- 
laſſen kann, das iſt neu, das iſt unerhört, das iſt zum ver⸗ 
zweifeln. Das weibliche Geſchlecht hat unter verſchiedenen 
Tugenden, die es vor dem männlichen voraus hat, gewiß 
aud) einen innigeren Sinn für Freundschaft voraus. 

“ Ein Frauenzimmer von Geift und Herz ift eine treuere, be= 
währtere Freundin, fie bringt mehr Opfer, fie fühlt mit 
und aufrihtiger und anhaltender, als cin Mann. Die 
Männer find in der Freundſchaft, wie im der Liebe, vor- 
fihtig, die Frauen find in beiden nad fichtig. Wenn id) 
fage Frauen-Freundfchaft, fo verftche ich darunter Freund⸗ 
{haft zwifchen zwei Frauenzimmern; denn von der 
Treundichaft zwifhen Männern und Frauen hab’ id) 
feine große Idee; da ift die Freundſchaft ſtets auf dem 
Sprung, denn von der Freundfchaft zur Liebe ift nur ein 
Sprung. In der Natur gibt e8 zwar feinen Sprung, jagen 
die Naturforfcher, welche jetzt alle Jahr felbit einen Sprung 
machen; allein der Sprung von Freundſchaft zur Liebe ifl 
felbft Natur! Es gibt in diefer Natur einen Borfprung 
und einen Rückſprung; ber Sprung von ber Freundjchaft 
zur Liebe ift ein Borfprung, der Sprung von der Liebe zur 


7 


29 


Treundfchaft ift ein Rückſprung. Die Männer find geborne 
Springer, fie fpringen vor und zurüd, fie find wahre 
Gymnaſtiker; die Frauenzimmer überfpringen mehr, fie 
fpringen felten in bie Freundſchaft zurüd, ſondern über 
ſie hinüber — zum Haß! 

Alſo, ich empfehle Jedem eher eine Freundin, als 
einen Freund! 

Und doch! — und doch! — doch hat ſie mich getäuſcht, 
verlaffen, in der Noth verlaſſen! — 

Ich habe ſeit langer Zeit eine theure, werthe Freun⸗ 
din, eine liebenswürdige Freundin, und jetzt, heute, heute 
verläßt ſie mich zum erſten Male! 

O, fie iſt ſchön, und reich, und jung! Zu ſchön für 
eine reiche Freundin, zu reich für eine fchöne Freundin, und 
zu jung für Beides! 

Es ift die Morgenftundel die Freundin der 
Diufen! 

Morgenftunde hat Gold im Munde ! Meine Morgen- 
ftunde hat ein ganz Kleines Mündchen, das ift eine Schöne 
heit! Sie half mir immer, wenn id) mid) in ihren Arm warf; 
fie half mir arbeiten, fie weinte, fie lachte, fie fcherzte mit 
mir! Kurz, e8 war meine Kaffeeſchweſter! — Cest 
tout dit! — 

Wenn ich Abends zu Bette ging, und nicht wußte, 
wie ich übermorgen mein Blatt druden laſſen follte, fo ver- 
ließ ic) mich auf meine Freundin, die mir morgen mit dem 
Zeitlichften ſchon Helfen wird; und fie half immer. 

Und jegt, und jett! 


30 


.. Sch wollte, der Leſer könnte mich jet fehen, mich, 

meine Schlafmüge und die Morgenſtunde, wie wir da figen 
and Maulaffen feil haben! | 

IH brauche große Schrift für den Humoriften, fage 
ich der Morgenftunde;; fie reißt da8 Maul auf — es ift fein 
Gold darin, fie gähnt! — zur Genefung! 

„Freundin!! Aurora!! Musis amica!!!: Hitf, jteh’ 
mir bei!“ 


„Kann diefer Aufſatz Wien nicht erreichen, 
So muß der Humoriſt mir erbleichen!“ 


„Nur dieſes Mal gebt mir ein Maulvoll Mufen- 
freundichaft!” 

WVergebens! Die Morgenſtunde macht ein Schafs⸗ 
geſicht! Iſt das Freundſchaft?! 

| Ic ſchenke der Morgenſtunde nun fchen die vierte 
Taſſe Kaffee ein, ich füttere fie mit den frifcheften Butter- 
bemmchen, fie ſchweigt, fie jpricht nicht, fie hat heute Fein 
Bischen Freundſchaft für mich! 

Auch du, meine Freundin Aurora ?!“ 

Ic habe fo ſchöne Auffäge angefangen: 

„Ueber die Kunft, fich aus der Ferne redt 
nah’ zu geh'n.“ — „Wann find die erftien Maul- 
würfe nad) Deutfchland gekommen?“ — „Was 
wird mit Büſchings Erdbeſchreibung gefchehen, 
wenn die Welt zu Grund geht?" — „Wenn eine 
Frau ftumm ift, wie widerfpridt fie ihrem 
Manne?" — „Ift das Cis von „Cis-cis-beo“, oder 


31 


das gis von „ghin-gis-chan* von größerm Ein: 
fluß auf bie Harmonie in der Ehe?“ u. f. w. 

Aber alle mußte ich vor der Hand unbemerkt Laffen, 
denn meine Freundin ift falſch und verläßt mid)! 

Ich muß alfo alle jene ſchönen Sachen ein anderes 
Mal zu Ende fchreiben; ob du dich aber darauf verlaffen 
fannft, mein Lieber Leſer, weiß ich nicht, denn ich bin dein 
Freund! 


Frühling und HJerbſt. 


D. ſchöne Stern Mars liebte, er liebte das Sternbild: 
die Venus. | 

Er liebte wie die Götter lieben, aber fte liebte wie 
die Menſchen lieben, menfchlich, mit allen menfchlichen Lei- 
‚den und Yreuden. | 

Sie Iuftwandelten duch den unendlichen Raum, und 
er führte fie von Geftirn zu Geftirn, und die Gluth und das 
Teuer diefer Geftirne machte ihn ftolz und ſchwellte feine 
Bruſt. Sie aber ſehnte fich nad) einem mildern Wefen, das 
nicht lodert und nicht brennt, und das die Thräne in ihrem 
Auge nit aufſaugt mit heißen Strahlen. Und fie bat den 
Mars, daß er in einem Kleinen Plätzchen des Aethers ein 
Geſtirn hervorbringe: ein Öeftirn, das blos Licht empfängt, 
wo es milde ift, wo die Luft nicht fo dünn, und wo die 
Elemente in weicher Miſchung regieren. Und Mars ſchuf 
im unendlihen Raume eine große Kugel, und nannte fie: 
Erde, und gab fie ihr zum Brautgefchent. Und die Benus 
freute fi innig, ald die junge Erde zu ihren Füßen hin- 
rollte, und als fie ihr in mildern Strahlen wiedergab ven 
Strahl der Sonne; und Venus lächelte der Erde zu, und 
auf diefes Lächeln wurde es Frühling auf der Erde; und 
Benus träumte bunte Dinge von ihrem Brantgefchenfe, 


33 


Erde, und diefe Träume wurden zu Blumen, und ſchmückten 
die Erde; und Venus lispelte fofende Worte aud dem 
Schafe, und die kofenden Worte wurden zu Nachtigallen 
und zu Lerchen und zu flatternden Schmetterlingen, und 
als fie erwachte und die Erde ſah mit ihrem Frühling, mit 
ihren Blumen, mit ihren Nachtigallen, da füllte ſich ihr 
Auge mit einer himmlifchen Thräne, und die Thräne fiel 
herab, und vermifchte fi) mit einem Körnchen Erde, und 
daraus wurde der Menſch. Und Venus kam wieder zu 
Mars, und zeigte ihm das fonderbare Wefen, mit einem 
Bart um das Kinn, mit hoher Stirne, mit ftarlen Schultern, 
und Mars warf einen Funken aus feiner Bruft herab, und 
er fiel in die Bruft des Menfchen, und da wurde ein rother 
Quell, ein glühender, ein Hopfender! 

Und Benus ſah, wie der Menſch umherirrte aufihrem 
beblümten Brautgefchent, und wie er einft jaß am hellen 
Bade und fich in der Fluth fah, und nicht begreifen fonnte, 
wie dies gejchehe und was es jet, und wie er fid) immer 
ſehnte nad) feinem Schatten Ich. Da fann die Schöne Venus 
nad), und blicte freundlich nieder auf die Erde und fah fid) 
jelber im Aether ſpiegeln, und fehuf ein zweites Wefen nad) 
ihrem eigenen Yether-Spiegelbild, ein ſchwaches, kränkliches 
Geſchöpfchen, ein füßes, ſchwaches Wefen, und als ber 
Menfd) entfchlief, legte fie das Liebliche Püppchen ihm zur 
Seite nieder. Da neigten fi) die Blumen neugierig über 
das Haupt der neugebornen Schläferin, und das junge 
Roth der Rofe, und der Schnee der Lilie blieb an ihren 
Wangen hängen ; und das Blau vom Bergigmeinnidht ftahl 

M. ©. Saphir's Schriften. VI. Pr. 3 


34 


fich durch die gefchlofjenen Wimpern; und dev Zephyr Fam, 
um das neue Gefchöpf zu begrüßen, und fein zartefter Haud) 
ftahl ſich als Seufzer in ihre Bruſt; und die Nachtigall 
kam, um fie zu begrüßen, und die Sehnfucht diefer Töne 
fenfte fich in ihr Herz ;und allefleinen Erdgeiſter wimmelten 
hervor, um ihr Haupt, und füllten e8 mit Wünfchen, Hoff- 
nungen, Begehrungen, Tändeleien, mit eitlen Gedanken, 
und mit Narrenpoffen, mit Grillen und mit Zartheiten, 
mit Lächeln und mit Thränen, und fie erwachte als 
das Weib! | | 

Der Menſch umfchlang fie, und als er den erſten 
Laut von ihren Lippen hörte, den erften, menjchlichen Laut 
don einer andern Xippe, da ſuchte feine Lippe diefe Lippe 
und — fo ward der erfte Kuß! 

Die Benus aber freute fic) über ihre beiden Puppen, 
und fie fagte: „liebt euch!” Da fingen fie an zu weinen, 
zu lachen, zu plaudern, zu ſchweigen, zu ſeufzen, zu träumen, 
närrifches Zeug zu Sprechen, zu fingen, fich zu fuchen, fid) 
zu fliehen, mit fich felbft zu reden, in den Mond zu Schauen, 
finftere Zaubgänge zu fuchen, und, mit dem Kopf auf die 
Hand geftütt, den Nachtigallen zu lauſchen; erzürnte, wenn 
fie tanzte, fie ſchmollte, wenn er fang; fie neckten fich, flohen 
fi), verfühnten ſich — und weinten die erfte Thräne! 
das war die Tiebe, und das war der Frühling! 

| Mars aber fah diefes Glüd des Mannes, und die 
Venus das Glüd der Frau, und fie wurden eiferfüd- 
tig; denn die Götter und die Geſtirne Tieben ohne Thränen, 
ohne Seufzer, ohne Sehnfucht, fie lieben ohne Eiferfudht, 


Rn. 


35 


ohne Bitterkeit, und e8 ift Liebesſüßigkeit ohne viebesbit— 
terfeit. Da fchlenderte Mars einen zweiten Funken in die 
Bruft des Menfchen, und der rothe Quell fing zu fochen 
an. Das Blut in diefer Lebens - Cifterne brodelte und 
wallte, in den Adern ram e8 glühend Heiß; die Sehnjucht 
wurde zur Begierde, der Scufzer zum Wunſch, und der 
Wunſch zur Begehrung; die zwei erften Weſen fanfen auf 
filberweiße Blumen hin, und als der Vorhang der Nacht 
von dem Blumenbeete wegflog, eriwachte da8 Weib, das 
brennende Roth war von ihren Wangen entwichen, und 
hatte fich in die Blumen gezogen, auf denen fie ruhten, und 
fo ward die erfte — brennende Liebe! 

Die himmliſche und reine Venus aber fah herab auf 
ihre Puppen, und fah daß fie fie gebrechlich ſchuf, und daß 
der Gdttertraum der Liebe von den Menſchen nicht weiter 
geträumt werden fönne, daß die Natur der Menfchenlicbe 
zu Schön ift, un cwig zu fein, und daß fie ftirbt den aroma- 
tifchen Tod durch den füßeften Duft der eigenen Blume; 
und fie trauerte tief und zog die Blumen wieder von .der 
Druft der Erde, und fchüttelte die Bäume, daß die fallen» 
den Blätter das fchambededte Antlit der Erde verdeden, 
und hieß die Nachtigallen verfiummen und weiter ziehen, 
und das war der erfte Herbft!l 

Alljährlich aber erinnert ſich Venus ihrer kleinen 
Spielfugel, der Erde, und fie wirft einen Liebenden Blid 
anf fie, und eine Thräne ber Erinnerung an die Iugenbzeit 
der Erde und an den Göttertraum der Menfchenliebe fällt 
auf die Erde und aus biefer Tiebeserneuerung gieft fich ein 

3% 


36 


feliges Leben über die Erde aus. Die Blumen jauchzen her= 
vor, die Nachtigallen jubeln, die Bäume haudyen in ſüßem 
Blüthenfchaume ihre Wonne aus, die Ströme und Bäche 
jagen wie luftige Kinder durd) die Fluren. Schmetterlinge 
und Zephyre gaufeln um die entfefjelte Bruft, und die Dien= 
chen jagen dann: Es ift wieder Frühling! Und ein 
Liebesfrühling geht auf in den Herzen, in den Augen, in 
den Blumen, in den Nachtigallen und in den Liederklängen! 


. Das erfie Concert-Beilden, 
Gin Dampf-Tubelgefhreizum Beginn der Goncerte 


Si gegrüßt, o du November, 

Die Eoncerte machſt du flott; 

Das entzüdt den Magyar Ember, . 
Das entzüdt den Hottentott! 

Du beginnft den großen Reigen, 
Heut‘ in dulei jubilo! 
Flöte, Horn, Piano, Geigen, 

Harfe, Haddret, Holz und Stroh! 


Chor. 
Gaudeamus Wunderfinder! 
Gaudeamus Kraftgenie! 
Gaudeamus Geigenſchinder! 
Gaudeamus Kikeriki! 


Seid gegrüßt, ihr Muſikanten! 
Sei gegrüßt, Concert-Billet! 
Morgens reißen Dilettanten 
Zeitlid) uns fhon aus dem Bett! 
Und auf einem blauen Zettel 
Stehen dreizehn Muſikſtuck', 
‘Leder fpielt den eig'nen Vettel, 
Und verachtet Mozart, Gluck! 


234 


Wenn bei einer Ehefrau Teuer im Dache ift, das 
heißt im Kopfe, fo find alle Bernunftgründe dagegen wie 
die Töfcheimer, fie kommen voll an und gehen leer zurüd. 


* * 
* 


Die Menfchen find wie die Zeitung n: wenn eine 
ſchlechte That gefchieht, ein Frevel, eine ſchauderhafte That, 
davon reden fie lange und ausführlich; wenn eine gute That 
gefchieht, fo wird fie faum ermähnt. 


* * 
* 


Das Licht ift die Schwefter des Berftandes, die 
Sinfterniß die Gebieterin der Sinne, und die Dämme- 
rung die Bertraute de8 Herzens. 


* * 
* 


Sm der Ehe hat dr Mann nur einen dreiſpitzigen 
weiblichen Seufzer-Reim: 
Schneiderl 
Kleider! 
Leider! 
Uud die Frau einen Dito männlichen Seufzer— 
Reim: 
| Ihm ift nur Werth, 
Cigarre oder Pferd 
Und — — mas ihm nicht gehört! 


* * 
* 


235 


Die Satyre gehört ins Schreibzimmer, die 
Laune ins Speifezimmer, die Höflichkeit ind Be- 
fuhzimmer, der Wis ins Gefellfchaftszimmer, 
und die Wahrheit — ins Schlafzimmer! 


* * 
* 


Kein Menſch lebt davon, daß der Andere etwas 
weiß, viel Tauſende leben davon, daß die Andern nichts 
wiffen: wenn man alfo die Unmwifjenhetitbefördert, 
jo ift das nichts, als reine Näcjftenliebe und Sorgfalt für 
einen großen Nahrungsziveig. 


* * 
* 


„Die Falten aufder Stirne find Särge ohne Dedel,* 
fagt ein genialer Humorift. Ya, in jeder ſolchen Falte liegen 
theuere Zodte begraben; allein die ganz Fleinen Sorgen 
ftiche, die ganz dünnen, dünnen Linien, aus dem Bauriffe 
des Grames, auf dem menfchlichen Antlig, erfüllen ung 
mit mehr Wehmuth, als die tiefen Furchen und Einfchnitte, 
fo wie der Anblid eines Kinderfarges ung mit mehr Weh- 
muth erfüllt, als die großen Särge der Erwachſenen. 


a aa 7 7 Du u vn 


Ende bes fünften Vandes. 


Inhalt 
des fünften Bandes. 


Seite. 
m Aw⸗ 


Humoxiſtiſche Vorleſungen. 


Luft, Feuer, Waſſer, Erde, oder: die vier Erden⸗Elemente 


und noch ein Himmelstaufend-Element . . . . . 
Konditorei des Jokus. Die Organe des Bieh-Gehirnes. 
Eine Carnevalsſchwank-Vorleſung über die Schädel- 
lehre der Schafe und Odhien - - » .» 2.22. . 
Nagelneue Variationen auf die vier Web (W) des Lebens: 
Wein, Weiber, Wi und Wahrheit... ... - 
Die egyptiſche Finfterniß bei Gasbeleuchtung und der 
Ochs in der Laterne. Eine humoriſtiſche Olla Potrida 
Vorlefung eines Zuder-Rohres über den gänzlichen Mangel 
aller Romantik, gehalten in einer Gefellfehaft von 
jungen Runkel-Rüben. 


Rokettir - Wovellen, 


Die Fenſter-Linie. 
Bluetten aus meiner Reife- und Sammel- Mappe. Liebe 
und Zahnweh - . 2 2 2 een. 
Der zmweideutige Regenſchirm. Ein Abenteuer mit naffem 
Anfange und trodenem Ende . .  . 222.0. 
Die Brieftaube > 2 oa oo rn 


Volksthümlicye Reden nnd Anshängfdilder. 


I. „Zur fohönen Seele.” Put- und Modewaaren- 
Handlung der Frau Beicheidenheit . . x»... - 


238 
Seite. 
Yu 


. II Zu den drei Faufern: „Sugend, Schönheit und 
Liebe.“ Specerei- und Delifateffenwanren - Hand» 


lung des Lebens . . 2 2 2 20. 94 

II. Mädchenherz, Mädcenftiub und Mädchenſchrein, 
müffen aufgeräumt al’ dreie fein! . .. 2... 101 

- IV, Da müßt! e8 gar viel Kleifter geben, wollt! man 
aller Leute Maul verkieben! . -. ». 2. 2 2 22... 106 

V. Oft oder Welt, Ball oder Feſt, daheim in dem Neft, 
is Mädchen am Bell!. ..... en 113 
VL Nach Regen folgt Sonnenfhein . ». .» ..... 118 
VD. Die Kunſt des Shmollen® . ... 2: 2... 1%3 
VII. Käfbernes mit Champignons . . . 2: 220... 128 

IX. Reunion und Converfation in den Lofalitäten des 
weiblichen Herzens : - 2 2 2 en 134 

X. Frühlings-Eur der Sommerjproffen, für den Herbft 
und Winter des lebens . - : : 2 2 000. 139 

XI. Unfer Herrgott grüßt alle Augenblid, kein Menſch 
baut Ähm! » > 22 Ko Er nne 144 

XII. Ruf’ nicht eber -Fiſch, Fiſch!“ als bis er auf dem 
Tiſch....... . 148 


Geure-Bilder, Iokofes und Sentimentales. 
Die Whiftparthie mit vier Honneurs, drei Kindern, zwei 


Möpfen und einer Fihtihere-. . - - 22... 163 
Naturgeſchichte der Mädchenjahre, 
1. Die Luftfchlöfferiahte. . - - . .» FE 181 
2. Die Kartenhäuferjahre - - - 2 20. 183 
3. Die Sausmannsjahte - - -» >» > 2200. 184 
4. Die Strohütteniahte - - - - : 2 222. 186 
5. Die Berzweiflungsiahre- - - - > 2000. 187 
6. Die „Hol's der Zeufel!"»- Jahre... .... 188 
Deine Leiden durch die Weibertreu von Weinsberg . . . 190 
Va-banque, der Visite de reconnaissance. . . .. . . 197 


239 


Seite 

Va-banque, Stammbud) und Album . -: ».. 2... 201 

Va-banque, ben Thräuen . ». » 222 220. 204 

Der deutfche Literatur-Waldd. 209 
Sol man zu früh oder zu fpät in Gefellihaft gehen? 

Eine Lebensfrag.... 213 


Höchſt rührender, nichts defto minder höchſt menfchlicher, 
und nichts defto minder höchſt einleuchtender Vor—⸗ 
ihlag, Blan und Bauriß zu einem „Gegen-Thier- 
quälereisBerein“, wie er fein fol, im ganzen Umfange 


der idealiftiichen VBollfonmenheit - » - ... . . 219 
Die Knnſt, einzufchlafen, oder: Die Kunft, fich ſelbſt Zange- 
weile zu mahen -. - 2: 2: 202 225 


Seifengedanfen während des NRafirend . -» 2»... 231 


M. ©. Suphirs Schriften. 


ö—— ů; 





Cabinets⸗Ausgabe 
in zehn Banden. 


Ausgewählte Schriften. 


Don 


M. G. Saphir. 


Dritte Auflage. 


Schöter Band, 


Brünn und Wien, 


Berlag von Fr. Karafiat. 
1865. 


Druck von Georg Guftl in Brünn. 


Genre-Bilder, 
Jokoſes und Sentimentales. 





Taſchen Coder und Spruchbüchlein eines ſihlichten 
Praktikers. 


et jeden Augenblick bereit, alle Menſchen auszu⸗ 

lachen; denn ſei überzeugt, ale Menfchen find jeden 
——— bereit, dich auszulachen, und da alle 

Menſchen um viel Menſchen mehr ſind, als du, ſo 
ſteh' alle Tage ein paar Stunden vor Tags auf, um alle 
Menjchen auszulachen. 


* * 
* 


Wenn dir ein vornehmer Mann etwas verſpricht, ſo 
lerne ein Handwerk und verlaß dich d'rauf. 


* * 
* 


Wenn du ſchön biſt, ſo ſchau' alle Tage viermal in 


den Spiegel, zweimal dir zu Liebe, einmal, um zu ſehen, wie 
du ausſiehſt, wenn du in den Spiegel ſiehſt, und einmal, 


8 


weil jeder Menſch doch einmal des Tages in den Spiegel 
fehen ſoll; bift du aber häßlich, fo ſchau' alle Zage fünf 
mal in den Spiegel, zweimal aus Buße, einmal, damit 
du nicht vergefien follft, wie du ausfiehft, und wieder zwei⸗ 
mal, damit du ja nicht in Verſuchung kommſt, zu glauben, 
ein Frauenzimmer liebe dich deines Gciftes wegen. 


% % 
* 


Wenn an einer Table d’höte die Schüſſel an did) 
fommt, fo genire dich nicht, und ſuche, To Lange dur’ Fannft, 
nach dem beften Biffen; denn fei verfichert, wenn die Schüffel 
an den Nachbar kommt, fo fucht er fi) gewiß den beften 
Biflen aus. 


% * 
* 


Wenn du viel gearbeitet haſt, und ſehr ermüdet biſt, 
ſo geh' Abends nicht ins Theater; denn ſei verſichert, du 
wirſt ohnehin ſchlafen. 


* 


Wenn deine Frau dir ſchmeichelt, ſo greife ſchnell in 
die Taſche; denn ſei verſichert, ſie will etwas. 
%° % 
* 
Wenn ein Mann dir ſchmeichelt, ſo verzeih' ihm nur 
gleich im Stillen; denn ſei verſichert, er will dich betrügen 
oder er hat dich betrogen. 


* * 
* 


J 

Wenn ein Bekannter dir begegnet und laut ausruft: 
„Ach, mein Theuerſter!“ ſo komm' ihm nur gleich mit der 
Frage entgegen: „Ich bitt' Sie, haben Sie nicht 
fünf Gulden bei ſich? denn ſei verſichert, er wollte 
dich um dasſelbe fragen. 

* * 
* 

Wenn du von einem Recenſenten gelobt ſein willſt, 
ſo mache ihm ein Geſchenk; denn ſei verſichert, ſo was 
hilft immer. 


* * 
* 


Wenn du einem Recenſenten etwas ſchenkſt, ſo ſchenke 
ihm baares Geld; denn ſei verſichert, da triffſt du ſeinen 
Guſto gewiß! | 


* * 
* 


Wenn du einen Künſtler lobſt, ſo lob' ihn nie auf 
Credit; denn ſei verſichert, wenn er einmal gelobt iſt, ver⸗ 


gißt er dich! 
* * * 


Wenn du den Kopf zum Fenſter hinaus ſteckſt, ſo 
thue es nie, ohne die Obrigkeit zu preiſen; denn ſei ver- 
fihert, wer über dir wohnt, würde dir, wenn feine Aufficht 
wäre, gewiß gerne einen Topf Waffer über den Kopf gießen, 
auc wenn er gar nicht weiß, wer und was du bift. 


* * 
* 


10 


Im Theater kokettire immer mit fünfundzwanzig 
Brauenzimmern auf Einmal; denn ſei verfichert, zehn koket— 
tiren mit dir, um fic über dich Iuftig zu machen; fünf, um 
ihre Nachbarin auf den „eingebildeten Laffen“ aufmerffan 
zu machen, fünf aus Eitelfeit, zwei aus Dummheit und drei 
aus Inftinft, alle fünfundzwanzig aber nod) einmal aus 
Langeweile, und alleweil bleibt doc) etwas Kleben! 


* * 
* 


Trau' der ganzen Welt ſo wie dir; denn ſei verſichert, 
der Menſch ſoll ſich ſelbſt nicht trauen. 


* * 
* 


Wenn du in der Gunſt des Publikums ſteigſt, ſo 
denke an Eulenſpiegel und weine; denn ſei verſichert, du 
wirſt wieder herunterſteigen. 


* * 
* 


Wenn dir ein Frauenzimmer ſagt: „Du haſt mein 
Herz erſchüttert!“ ſo glaub's und — bau' nicht darauf; 
denn ſei verſichert, auf einem Boden, der einmal erſchüt— 
tert iſt, ſoll man nicht bauen. 


* * 
* 


Wenn du alle Augenblicke erinnert wirſt, daß du 
eine Frau haſt, ſo thut ſie dir weh; denn ſei verſichert, man 
wird nur an jene Gliedmaßen von ſelbſt erinnert, die Einem 
weh thun! 


* * 
* 


11 


Ein gutes Gewiſſen fchläft auch auf einem Baums 
ſtrunk! D’rum ſchaff' dir feine Baumftrunfgandlung an; 
denn ſei verfichert, fie bleiben dir über den Hals! 

* %* 
* 

Kaufe nie Etwas zu einem „feitgefeßten Preis“; 
denn fei verfichert, wenn der Preis ehrlich wäre, hätte 
man ihn nicht feftgefegt. 


* 
* 

Wenn du einem Trauenzimmer unter den Hut fehen 
willft, und e8 fenft den Kopf, als ob e8 Etwas auf der Erde 
ſuche, fo grüble nicht weiter; denn fei verfichert, wenn es 
ſchön wäre, e8 würde zum Himmel hinaufgefehen haben, 
ob e8 nicht vegnet. 


Tafıhengedanken- und Gedankentafcyen-Spielerei. 


Die Kunſt, zu leben, iſt nichts, als die Kunſt der Taſchen— 
ſpielerei: die Kunſt, aus andern Taſchen in ſeine zu 
ſpielen; die Kunſt, die Leute in den Sack und ihr Geld 
in die Taſche zu ſtecken. 

Diie Taſchen des Menſchen find feine Laſter. Bei den 
Spartanern wurde nichts geftohlen, und warum? Weil fie 
feine Tafchen in ihren Kleidern hatten. Wenn die Sparta 
ner, wie wir, zwei Weftentafchen, zwei Hofentafchen, drei 
Bradtafchen und fünf Oberrodtafchen gehabt hätten, fie 
hätten auch mehr geftohlen. Eine jede Taſche ift ein genähtes 
Fragezeichen anden Schneider: „Wozu haftdumich ge- 
macht?” ein Ausrufungszeichen an den Befiger: „Ach 
Gott!“ und ein großer Gedankenſtrich an das Schidfal, 
welcher fagt: „Das Mebrige fannft du dir denken!“ 
Eine jede lecre Taſche ift nichts, als das zueignende Für- 

“ wort: „Mein“ mit Leinwand überzogen, und jede volle 
Taſche ift nichts, als ein großes Bewußtfein in Tafchen- 
format! 

Mit den meiften Tafchen ift e8 wie mit dem Mond, 
fie find ale Monat einmal voll, einmal leer, und wenn 


n 1 


13 


gar fein Geld, feine Münze und kein Schein in der Taſche 
iſt, das ſind die Mondesfinſterniſſe, aber die ſicht baren! 

Mit den vielen Taſchen geht's uns jetzt wie mit den 
vielen Wörterbüchern: je mehr wir haben, deſto weniger 
finden wir den Artikel d'rin, den wir eigentlich ſuchen. 
Ein Menſch mit allen feinen Taſchen jetzt iſt wie das Con⸗ 
verſations-Lexikon. Sucht man das Geld in der Weſten⸗ 
taſche, ſagt fie: ſiehe „Bruſttaſche“, kommt man zur Bruſt⸗ 
taſche, ſagt ſie: ſiehe „Brieftaſche“, kommt man zur Brief⸗ 
taſche, ſo heißt's: „ein Weiteres über dieſen Gegenſtand 
ſchlage man im Münzweſen nad!“ Wir haben alle Hände 
voll zu thun, um die leeren Taſchen auszufüllen, mit den 
leeren Händen nämlich. 

Warum trägt der reiche Mann ſeine Hand in der 
Taſche, und warum der arme Mann?.Bei dem reichen 
Mann bittet da8 Geld in der Tafche, es nicht hinauszu- 
ftoßen in die Welt unter Arne und.Hilflofe, und da gibt 
der reiche Dann gerne die Hand darauf; — bei dem 
armen Mann bittet da8 fein Geld um Berfchwiegenheit 
und der arme Man ift fo gut und hält's unter der 
Hand! — 

Es ift eine homöopathiſche Eur, wenn man einer 
leeren Tafche eine leere Hand einzunehmen gibt. 

Aber in den Taſchen felbft, welch’ ein Unterfchied, 
weldye Abftufungen von der Brufttafche bis zur Patron- 
tafche, von der Uhrtaſche bis zur Maultaſche! 

Die Brufttafche trägt der Menſch auf der linken 
Seite, gerade über dem Herzen! Wenn nur die Taſche auf 


14 


der Bruft recht voll ift, fo darf die Bruft unter der Taſche 
recht Icer fein, man darf doch von der Bruft weg reden! 
das ift dann ein leichtes Leben, wenn Einem da fo recht ſchwer 
auf der Bruft ift! In der Brufttafche iſt's gerade wie in 
der Bruft felbft! Wie vielen Menſchen liegt das Herz mehr 
in der Bruſttaſche, als in der Bruft ſelbſt; man könnte jagen, 
das Herz ift ihnen aus der Bruft in die Taſche gefallen. 
Das Geld wohnt in eben fo verfchiedenen Weifen in ber 
Taſche des Menfchen, als die Gefühle in der Bruſt der 
Menſchen. 

Bei manchen Menſchen zum Beiſpiel ſteht die Liebe 
als Schildwache in der Bruſt, und wartet ſehnlichſt auf 
Ablöſung, bei Andern liegt ſie als feſte Garniſon, und bei 
noch Andern ſteckt ſie blos als Baugefangene in den tiefſten 
Kafematten; fo iſt es auch mit dem Geld in ber Bruſt⸗ 
taſche: bei manchen Menfchen ift’8 als Zafchenfpielftüd da, 
fie find Rünftler darin, da8 Geld Schnell verſchwinden 
zu lafjen, und bei Undern ift es blos lebensläng— 
licher Arreftant! In der Bruft des Dtenfchen, der fein 
Herz in der Brufttafche Hat, Liegt eine große Vorliebe zu 
Bruftftüden, aber fie müfjen von gekrönten Häuptern und 
auf Metall geprägt fein! 

Der Menſch liebt den Menfchen überhaupt mehr ale 
Bruftftüd, denn in Lebensgröße, d’rum wenn die 
Männer ein weibliches Herz gewinnen wollen, fo machen 
fie ſich felbft zu Bruchſtücken, indem fie niederfnien und jo 
die Füße einziehen. Die Frauenzimmer glauben dann, fie 
hätten gar feine Füße, und fönnten ihnen nicht davon laufen. 


15 


Allein die Männer Enten blos deshalb lange, um dann aus⸗ 
geruhte Füße zum Davonlaufen zu haben. 

Das Erfte, was die Frauenzimmer wiſſen, ift, wie 
ſchön fie find; das Erfte, was fie lernen, wie ſtark fie find; 
das Erfte, was fie erfahren, wie ſchwach fie find; das Erfte, 
woran fie vergefien, wie alt fie find, und das Erfte, worauf 
fie fid) wieder erinnern, ift, daß fie das vergefien haben! 

Und dod) wohnen alle edlern, fanftern Gefühle nur 
im Frauenherzen; bei den Frauen ift die Liebe die Ruhe 
des Herzens, bei den Männern die Robot des Herzens! 
die männliche Wange wird nur roth durd) das Wort, die 
weibliche ſchon durd) den Gedanden! die Frau fucht in der 
Liebe nad) Worten für ihre Empfindung, der Mann ſucht 
nad) Empfindungen für feine Worte; die Frau befitt ihr 
Herz blos Einmal, und der Mann befommt das Original, 
Jeder Mann hingegen betrachtet fein Herz wie ein Memorial, 
er hat ftet8 ein Duplicat davon vorräthig. Selbft der Sturm 
des Hafjes zerftört nur Mlännerherzen, fo wie jeder Sturm 
blos in Wäldern Verheerungen anrichtet, nie aber in Blumen. 
Denn der Mann feine Srau nicht liebt, fo mißhanbelt er 
ihren Kanarienvogel! wenn aber die Frau den Mann noch 
jo jehr haft, jo kann fie e8 doch nicht verfchmerzen, wenn 
er den Kaffee kalt werden läßt. 

Ueberhaupt ift der Rüdjchritt von Zorn und Haß, 
jo wie von jeder Verſtimmung des Herzens zur reinen 
Stimmung blos bei den Frauen leicht, nicht aber bei dem 
Männern, jo wie eine Flöte Leicht zu ſtimmen ift, aber eine 


Pauke fchwer. 


16 


Betrachten wir den Umftand, wie viele Zafchen ein 
Mann in jede Gefellfehaft mitbringt, und daß die Frauen 
feine mitbringen, fo find in der Converfation, fo zu fagen, 
die Männer ſchon vom Schneider angewiejen, mehr ein- 
zufteden, als die Frauen. 

Welches war in ber Welt die erfte Taſche? Gewiß 
die Plaudertafche; denn diefe Taſche eriftirte fchon im 
Baradiefe, alfo noch bevor e8 gar Kleider gegeben hat. 
Hätte Eva mit der Schlange nicht geplaudert, hätte ihr die 
Scjlange feinen Apfel geboten, und wir wären nod) Alle 
im PBaradiefe. 

Die Plaudertafchen und die Bofttafchen haben 
durch nichts fo verloren, als durch die Eifenbahnen; 
wenn man früher mit fo einer Plaudertafche von Wien nad) 
Brünn reiste, hatte fie Zeit und Muße genug, und ihre 
ganze Lebensgefchichte zu erzählen; jetzt, auf der Eifen- 
bahn, kommt fie faum dazu, und von ihren Kinderjahren 
zu erzählen! | 

Dian fagt, das. Leben ift eine Reife; ja wohl, früher 
lebte und reiste man lange, jegt reist und lebt man fchnell. 
Es wäre recht gut, wenn das Leben eine Reife wäre, aber 
jede Frau müßte eine Poftmeifterin fein, denn dann wohnten 
fie alle eine Station aus einander, und dann wäre Ruh im 
Leben. Es gibt Menfchen, die blos Poſtillons find, fie gehen 
nie einen Schritt weiter, als die zwei oder drei Meilen, die 
fie zu machen gepohnt find; dann gehen fie immer wieder 
zurüd und blafen immer wieder dasjelbe Stüd! Jeder 
Menſch ift fein ganzes Leben lang ein Poftillon; er führt 


17 


ſich felbft von einer Station bes Lebens zur andern, von 
einer Liebe zur andern, von einem Wunſch zum andern, von 
einer Hoffnung zur andern; er fährt immer voll aus und 
reitet immer leer zurüd! Er verfpricht fich ſelbſt ein Trink⸗ 
geld und fagt zu fi: „Schwager, fahr’ gut!” Auf der 
Station vertrinkt er's und bringt nichts mit zurüd! 


M. G. Saphir's Schriften. VI. Br. 2 


Weihnadtabend. 


6, ift ein fchöner, rührender, heiliger Abend! 

Die Menfchen begehen ein Feft der Liebe! Die Dien- 
fchen gönnen fich heute gegemfeitig Freude, fie überrafchen 
fich mit Freude, mit Zärtlichfeit, mit Gaben der Liebe, der 
Vreundfchaft, der Innigkeit! 

Der Liebe Vater oben hat die ganze Welt dem Men⸗ 
ſchen gegeben zu einem einzigen, flebzigjährigen Weihnachts⸗ 
feſte! Er Hat ihnen das Leben reich befegt, wie einen Weih- 
nachtstiſch. Er hat am Himmel angezündet den unendlichen 
EHriftbaum mit goldnen Lichtern, und von diefem flammen⸗ 
den Chriftbaum flattern herab ale®nadenbänder des Lebens: 
Liebe, Glaube, Hoffnung! Er Hat den Menfchen befchert 
einen ganzen Tiſch voll bunter Gaben: Abendröthen, Mor⸗ 
genröthen, Frühlinge, Nachtigallen, Dichtungen, Thränen, 
Liebe, Freundſchaft, Religion, Kunft, Wohlthätigkeit und 
taufend andere Dinge, die uns beglüden fünnen! Er hat 
den Menfchen befchert eine große Herzichachtel voll eitel 
Spielzeug, voll güldenem Schnigwerf, voll flatternden 
Wünfchen, voll fladernden Träumen, vol gedrechjelten 


19 


Hoffnungen, kurz, der ewige Bater des großen Erden- 
Waiſen-Hauſes hat da8 ganze Menfchen-Leben zu einem 
einzigen fchönen, heiligen, rührenden Weihnachtsfefte machen 
wollen, zu einem einzigen Liebesfefte, zu einer einzigen lauen, 
Lieblichen, magifchen, wunderfam gemüthlichen Dämmer- 
ftunde zwifchen dem Sonnenuntergange des dies 
feitigen, und dem Sonnenaufgange des jenfei- 
tigen Lebens! . 
Der Menjdy aber hat diejes einzige große Feſtge⸗ 
fchent des Lebens, wie ein Kind, zerbrochen und abgetheilt 
in fiebzig Feine, ausgemefjene, vorherberechnete Fefttagel — 
Er hat das Geſchenk der unendlichen, ewigen, Tebensläng- 
lichen Liebe zerfpaltet in Kleine Theilchen, in fiebzig Theil⸗ 
chen, und feiert alle Jahre eine kalte Decembernadht der 
Liebe, und findet fic) ab mit den Mebenmenfchen, mit den 
Hreunden, mit den Kindern, mit allen Empfindungen, und 
vertröftet fie und fich und fein Herz und alle feine Gefühle 
auf diefe einzige, Heine, abgemefjene Liebesſtunde! 
Zwifchen diefen fiebzig buntangeftricyenen, einzeln- 
ftehenden, auseinandergerifjenen Wegweifern in das Heilige 
Land der Xiebe, in die verödeten Zwifchenränme diefer fiebzig 
Zubelninuten fäet der Mienfc das’ ganze Jahr die Nefjel- 
faat des Hafjes, die Stechäpfel der Lieblofigfeit, den Schier- 
ling des Neides und taufend andere Giftpflanzen, die das 
Glück des Nebenmenſchen zerftören, aufreiben, vergiften. 
Dann, wenn er diefen Raum ausgefüllt hat mit Haß, Ver⸗ 
folgung, Lieblofigfeit, Stumpfheit, Zerftörung aller andern 
Freuden, Berhöhnung aller edlern Empfindung, dann, dann 
2% 


20 


gelangt er alle Jahre einmal an ben alten, herfömmlichen, 
feit Ewigkeit hervorgeftedten Pfahl und Wegweifer der Liebe, 
und hängt feine Laterne daran, mit feinem Augenblidslicht, 
und ftreicht biefen einzelnen Wegweifer an mit Farben und 
bunterlei Zeug, und das nennt der Menſch: den Weih- 
nahtsabend feiern! 

Bergib ihnen, Bater im Himmel! Sie wifjen nidht, 
was fie tun! Sie gehen wie Blinde durch den ewigen Licht⸗ 
raum deiner Huld, fle gehen wie Tanbe an dem unendlichen 
Stromfall deiner Gnade, fie gehen wie Stumme neben dem 
ewigen Subelchor deiner Schöpfung, fie gehen mit einge- 
drüdter Bruft, mit kurzem Odem durd) deine hochgewölbte, 
ätherflare Welt! | 

Ich will mich wegwenden von jenen Tifchen, an denen 
die berechuende Tiebe mit einer ſüßen Weihnadt: 
Stunde ihren Nebenmenfhen ein langes, bitteres 
Fahr verfühen will; an denen Herzlofigleit, mit einem 
goldnen Geſchenke, feiner Umgebung ein langes, bleiernes 
Jahr übergolden will; an denen ein egoiftifche® Herz mit 
einem bunten Zand ein da® ganze Yahr hindurch von ihm 
graufam zerbrüdtes Gemüth entjchädigen will II — — Id) 
will mich wegwenden von allen jenen Tischen, an denen die 
wahre Liebe zum Schaugericht, die echte Aelternzärtlichkeit 

zum Flitterfchein, die wahrhaftige Nächftenliebe zum ab- 
tropfenden Kerzenflimmer, und jelbft die innige Frömmig⸗ 
feit nur zum vergehenden Parorismus des Augenblides wird. 

Ich will hinausgehen und laufchen an den Fenſtern 
der Armuth, wo nichts aufbaut, ala die Xiebe, wo kein anderer 


21 


Baun blüht, als der bittere Brotbaum des Elendes, wo 
feine andern Lichter brennen, als die brennenden Thränen! 

Ich will mein Ohr legen an die Thüre der Waifen- 
häuſer, wo die Kinder find ohne Bater und Mutter, ohne 
goldene Befcherungen, ohne geputte EChriftbäume, ohne 
Geſchenke der Zärtlichkeit, der Herzlichkeit! Ich will hin⸗ 
ausgehen in die kalten Straßen, und will die armen, kalten, 
zitternden Kinder aufjuchen, die um Brot bitten, und die 
mit weinenden Augen hineinſchauen in die erleuchteten Säle, 
wo die glüdlihen Kinder ſchwimmen im Lichtftrome, und 
tanzen um rveichbehängte Bäume und mit den gküdlichen 
Händchen jubelnd zuſammenſchlagen! 

Id will alle jene Tausende auffuchen, die heute, am 
heiligen, frohen, rührenden Weihnachtabend, allein ſitzen, 
allein, verlaffen und ungeliebt! Ich will alle Jene auffuchen, 
die mit geröthetem Auge und mit blaffen Wangen einfam 
figen und weinen! Ich will Iene auffuchen, denen das Glück 
nichts gab, gar nichts, und die ihren Tieben, ihren Herz⸗ 
liebjten, ihren Kindern nichts geben können an diefem heili- 
gen Abende, gar nichts! Ich will alle Jene aufſuchen, die 
bei einem Herzen voll Liebe, vol Sehnſucht, doch ungeliebt 
durch’8 Leben gehen, die heute am heiligen Abend nicht das 
kleinſte Zeichen der Liebe erhalten, nichts, gar nichts! Ich 
will alle Jene aufjuchen, die fern von dem Gegenftande 
ihrer Liebe fehnend figen, und ihm nicht zulommen laſſen 
können am heiligen Abend, kein Zeichen ber Liebe, fein Wort 
der Treue, fein Blamchen, kein Papierſtreifchen, nichts, 
gar nichts! 


22 


Ich will alle Jene auffuchen, die den Chriftbaum 
und die goldnen Lichter nur für Todte anzuzünden haben, 
die alles Theuere da unten haben im Schooße der Erde, 
und oben. im Schooße des Lichts nichts, gar nichts! 

Ale diefe möchte ich auffuchen und fie mit mir 
nehmen, und an mein Herz legen und ihnen fagen: „Kommt 
mit mir, ich bin arm wie ihr, allein wie ihr, ungeliebt wie 
ihr, ich habe da unten theure Schäße wie ihr, und oben fo 
wenig, ach, fo wenig; id) habe mein Brot mit Thränen ge- 
gefien wie ihr; ich Habe meinen Wein. mit Zähren vermischt 
wie ihr; ich bin fchmerzlich und tief verlegt worden wie ihr; 
ich trage ein brennendes Sehnen im Herzen wie ihr; ich bin 
einfam wie ihr, und abgefchieden von meines Lebens Inhalt 
wie ihr; kommt mit mir, ich bin arm, recht arın, doch bin 
ich nicht fo arm, daß ich euch nicht zu Tische laden fünnte, 
zu dem Tifche meines Herzens, der reich ift, jehr reich an 
Liebe, an inniger, herzlicher wahrer Liebe, der fehr veich ift 
an Mitgefühl, ein warmes, lebenquellendes, lauteres Mit- 
gefühl! Und aud) einen Ehriftbaum kann ich euch zeigen, 
einen großen, herrlichen, unendlichen Chriftbaum, der euc) 
Alle tröften, erheben, erfreuen, ermuthigen wird! 

Seht ihr da oben am blauen Himmel den großen, 
weitgezweigten, goldenblätterigenSternen-Chriftbaum ? den 
hat unfer allgütiger Vater da oben allein für uns, ganz 
allein für uns errichtet; ganz allein für uns, die wir heute 
nicht figen unter blintenden Girandoles und demantnen 
Bäumen, fondern unter biefem großen, myriadenflammigen 
Ehriftbaum des ewigen Vaters. Zwiſchen diefen einzelnen 


2 


Sternen⸗Lampen fchaut der himmliſche Bater mildlächelnd 
zu feinen Kindern herunter, und mir hat er vor Vielen 
befchert das offene Auge, daß ich durch diefe güldnen 
Zweige durch erblicke die Halboffene Thürfpaltedes befferen 
Lebens, und durchſchaue und fehe und höre im Geifte alle 
die flatternden Sonnen» und Freudenklänge und Engel- 
züge und Kegenbogen und Rofenlauben und wallenden 
Geiſter! 

Und dieſen leuchtenden, glänzenden, ſternenvollen 
Chriſtbaum hat Gott an den Himmel gepflanzt, gerade nur 
für die, ſo einſam und allein zu dem Himmel emporſchauen; 
und dieſe tauſend und abermal tauſend Weihnachtkerzen fun⸗ 
keln und flimmern gerade nur für den, dem ſonſt kein anderes 
Frenudenfeuer im Leben glüht, kein anderes Liebeslicht im 
Daſein brennt, und dieſe Lichter will ich euch näher bringen, 
und ihre Strahlen deuten und euch ſagen, wie ſie herein⸗ 
ſchauen in das Leben, wie rettende Götter, wie Friedens⸗ 
Engel, wie leuchtende Bürgen ewiger Freuden! 


Da oben hoch im Blauen, 
Da fteht der große Baum, 
Und gold’ne Zweige ſchauen 
Herab durch dunklen Raum. 


Er breitet feine Aeſte 
Durch's ganze Himmelhans, 
Und Hängt zum heiligen Feſte 
Biel taufend Lampen an. 


A 


Der Gärtner bleibt im Dunteln, 
Der diefen Baum une gab, 
Dod feine Blätter funteln 
Mit füßem Licht herab. 


Er hat des Baumes Hallen 
Mit Lichtern voll beſchwert, 
Den Erdenlindern allen 
Hat er den Baum bejcert. 


Denn taufend Gaben drängen 
Sid in der Zweige Raum, 

Denn tanfend Lichter hängen 
Serunter von bem Baum. 


Der erfte Stern entbrennet 
Ganz body in feiner Kron’! 
Wifft ihr, wie man ihn nennet? 
Den Stern der Religion! 


Aus diefes Lichtes Reinheit 
Erblüht in unfrer Bruſt 

Der Glaube und die Einheit 
Und aller Tugend Luft! 


Ein zweiter Stern glühet 
Am Baume, lieblich frifch, 
Der Stern der Liebe blühet 
Am Sternen »-Weibnadts- Tiich! 


—2 


Aus dieſem Strahlenkerne 
Wird uns das ſüße Licht, 
Das in dem Angenfterne 
Nur mit dem Tode bricht! 


Ein dritter Stern funtelt, 

Der Hoffnungs⸗Stern genannt, 
Der, wenn das Glüd verdunfelt, 

Doch tröftend if entbrannt. 


Und diefes Licht der Gnade, . 
Das nie verblüden kann, 

Berleiht die ew'ge Gnade 
Auf Erden jedem Mann! 


Ein vierter Stern auch leuchtet, 
Wie Mädchen- Angeficht, 
Die Rofe, thaubefeucdhtet, 
Die aus dem Nebe bricht: 


Der Stern der Unfhuld glänget, 
Erglühet wie die Braut, 

Wenn fie, das Haupt befränzet, 
Dem Bräut’gam ſich vertraut. 


Und taufend and’re Sterne 
Erbfühen Heilig da, 

Und fcheinen fie aud) ferne, 
So find fie uns doch nah‘. 


% 


Denn wo nur eine Waiſe 
Berlaflen, einfam ſteht, 

Wo auf der Lebens⸗Reiſe 
Ein Herz ganz einfam geht: 


Wo nur ein Herz fi) fammelt 
Und traut dem Sternen - Scein, 
Und wo ein Mund nur ftammelt:' 
„Ach, Vater! denke mein!” 


Da werden fie vertreten 

Bon ihren Sternen ſchon, 
Und ihre Sterne beten 

Für fie an Gottes Thron! 


Die falſche Freundin 


Dos man fich auf die Freunde nicht verlafien kann, ift 
eine befannte Sache. Mit einem Freunde darf man es nicht 
genan nehmen; mit einem Freunde macht man Feine Um⸗ 
ftände; ein Freund nimmt nichts übel; unter Freunden 
herrfcht fein Zwang; und noch andere gute Sprücdhelchen 
geben unfern Freunden ein Recht, mit und grob, unver» 
ſchämt, wortbrüdig, fahrläfftg, geringfchätig zu verfahren. 
Die Menſchen haben alle Höflichkeit, Artigkeit, Liebens⸗ 
würdigfeit nur für ihre Feinde, mit den Freunden ift man 
grob, kalt, nachläſſig u. |. w.; denn, mein Gott, es find j ja 
gute Freunde! 
Will man Etwas ganz ficher beſtellt wiſſen, fo laſſe 
man es nur durch keinen Freund beſtellen, denn der beſtellt 
es gewiß nicht; weil er weiß, wir ſind blos ſein guter Freund, 
was ſchadet's, wenn er's vergißt! — Will man ſich Geld 
ausborgen, nur von feinem Freund, dennder hat ben Grund⸗ 
fag: meinen Freunden leih' ich fein Geld, das macht Miß⸗ 
helligkeit! — Will man wo zu Mittag fpeifen, nur bei 
feinem Freund, denn der hat den Grundfag: ein guter 
Freund muß mit Wenigem vorlieb nehmen! — Will mon 
Jemandem Etwas anvertrauen, nur feinem Freund, denn 


28 


aus lauter Freundfchaft führt ihm das Geheimniß aus der 
Lippe! — Will man einen fleigigen Mitarbeiter, nur feinen 
Breund, denn der gibt Andern das Gute und uns das 
Schlechte, denn wir nehmen's ja auch ſchon aus Freund⸗ 
haft auf. — 

Kurz, e8 gibt nichts, was ung im Leben mehr genirt, 
al8 die fogenannten Freunde! 

Aber dag man fich auf eine Freundin nidht ver- 
laſſen kann, das ift neu, das iſt unerhört, das ift zum ver⸗ 
zweifeln. Das.weibliche Gefchlecht hat unter verfchiedenen 
Tugenden, die es vor dem männlichen voraus hat, gewiß 
aud) einen innigeren Sinn für Freundschaft voraus. 
Ein FFrauenzimmer von Geift und Herz ift eine treuere, be- 
währtere Freundin, fie bringt mehr Opfer, fie fühlt mit 
und aufrichtiger und anhaltender, als cin Mann, Die 
Männer find in der Freundſchaft, wie in der Liebe, vor- 
fichtig, die Frauen find in beiden nad) fichtig. Wenn id) 
fage Frauen-Freundfchaft, fo verftche ich darunter Freund- 
{haft zwifchen zwei Fraueuzimmern; denn von der 
Freundſchaft zwifchen Männern und Frauen hab’ id) 
feine große Idee; da ift die Freundſchaft ſtets auf dem 
Sprung, denn von der Freundfchaft zur Liebe ift nur ein 
Sprung. In der Natur gibt e8 zwar keinen Sprung, jagen 
die Naturforscher, welche jet alle Fahr jelbft einen Sprung 
machen; allein dev Sprung von Freundſchaft zur Liebe ift 
felbft Natur! Es gibt in diefer Natur einen Borfprung 
und einen Rückſprung; der Sprung von der Freundfchaft 
zur Siebe ift ein Borfprung, der Sprung von der Liebe zur 


29 


Freundſchaft ift ein Rüdfprung. Die Männer find geborne 
Springer, fie fpringen vor und zuräd, fie find wahre 
Gymnaftiker; die Brauenzimmer überfpringen mehr, fie 
fpringen felten in die Freundſchaft zurüdh ſondern über 
ſie hinüber — zum Haß! 

Alſo, ich empfehle Jedem eher eine Freundin, als 
einen Freund! 

Und doch! — und doch! — doch hat ſie mich getäuſcht, 
verlaſſen, in der Noth verlaſſen! — 

Ich habe ſeit langer Zeit eine theure, werthe Freun⸗ 
din, eine liebenswürdige Freundin, und jetzt, heute, heute 
verläßt ſie mich zum erſten Male! 

O, ſie iſt ſchön, und reich, und jung! Zu ſchön für 
eine reiche Freundin, zu reich für eine ſchöne Freundin, ı und 
zu jung für Beides! 

Es iſt die Morgenftundel die Freundin der 
Dufen! 

Morgenftunde hat Gold im Mundet Meine Morgen⸗ 
ſtunde hat ein ganz kleines Mündchen, das iſt eine Schön⸗ 
heit! Sie half mir immer, wenn ich mich in ihren Arm warf; 
ſie half mir arbeiten, ſie weinte, ſie lachte, ſie ſcherzte mit 
mir! Kurz, es war meine Kaffeeſchw eſter! — Cest 
tout dit! — 

Wenn ich Abends zu Bette ging, und nit wußte, - 
wie ich übermorgen mein Blatt druden laffen follte, fo ver- 
ließ ich mich auf meine Freundin, die mir morgen mit dem 
Zeitlichften ſchon Helfen wird; und fie half immer. 

Und jetzt, und jetzt! 


3 


Ich wollte, der Leſer könnte nrich jett fehen, mich, 
meine Schlafmüge und die Dlorgenftunde, wie wir da ſitzen 
und Maulaffen feil haben! 

Ich brauche große Schrift für den Humoriften, fage 
ich der Morgenſtunde; fie reißt das Maul auf — es ift kein 
Gold darin, fie gähnt! — zur Geneſung! 

„Freundin!! Aurora!! Musis amica!!!: Si fteb’ 
mir bei!“ 


„Kann diefer Aufſatz Wien nicht erreichen, 
So muß der Humorift mir erbleihen!” 


„Nur diefed Mal gebt mir ein Maulvoll Muſen⸗ 
freundfchaft!” 

‘ Bergebens! Die Morgenftunde macht ein Schafs- 
geficht! It das Freundſchaft?! 

Ich ſchenke der Veorgenftunde nun fchen die vierte 
Taſſe Kaffee ein, ich füttere fie mit den frifcheften Butter- 
bemmchen, fte ſchweigt, fie fpricht nicht, fie hat Heute kein 
Bischen Freundſchaft für mich | 

Auch du, meine Freundin Aurora ?!“ 

Ich habe fo fchöne Aufſätze angefangen: 

„Meber die Kunft, fih aus der Ferne recht 
nah’ zu geh'n.“ — „Wann find die erfien Maul: 
würfe nad Deutfchhland gelommen?" — „Was 
wird mit Büſchings Erdbefchreibung geſchehen, 
wenn die Welt zu Grund geht?" — „Wenn eine 
Frau ftumm ift, wie widerfpridt fie ihrem 
Manne?* — „It das Cis von „Cis-cis-beo*, oder 


31 


das gis von „ghin-gis-chan“ von größerm Ein—⸗ 
fluß auf die Harmonie in der Ehe?“ u. ſ. w. 

Aber alle mußte ich vor der Hand unbemerkt Laffen, 
denn meine Freundin ift falſch und verläßt mid)! 

Ich muß alfo alle jene Schönen Sachen ein anderes 
Mal zu Ende fchreiben ; ob du dich aber darauf verlaffen 
fannft, mein lieber Lefer, weiß ich uicht, denn ich bin dein 
Freund! 


Srühling und Herb. 


BD. ſchöne Stern Mars liebte, ex liebte das Sternbild : 
die Benus. 

Er liebte wie die Götter lieben, aber fie Tiebte wie 
die Menſchen lieben, menſchlich, mit allen menfchlichen Lei- 
den und Yreuden. 

Sie Iuftwandelten durch den unendlichen Raum, und 
er führte fie von Geſtirn zu Geftirn, und bie Gluth und das 
Teuer biefer Geftirne machte ihn ftolz und fchwellte feine 
Bruſt. Sie aber jehnte ſich nach einem mildern Weſen, das 
nicht lodert und nicht brennt, und das die Thräne in ihrem 
Auge nicht auffaugt mit heigen Strahlen. Und fie bat den 
Mars, daß er in einem Heinen Pläschen des Aethers ein 
Geſtirn Hervorbringe: ein Geftirn, das blos Licht empfängt, 
wo e8 milde ift, wo die Luft nicht fo dünn, und mo die 
Elemente in weicher Mifchung regieren. Und Mars fchuf 
im unendlichen Raume eine große Kugel, und nannte fie: 
Erde, und gab fie ihr zum Brautigefchent. Und die Benus 
freute fi inuig, als die junge Erde zu ihren Füßen hin- 
rollte, und als fie ihr in mildern Strahlen wiedergab den 
Strahl der Sonne; und Venus lächelte der Erde zu, und 
auf diefes Lächeln wurde es Frühling auf der Erde; und 
Venus träumte bunte Dinge von ihrem Brautgefchente, 


33 


Erde, und diefe Träume wurden zu Blumen, und ſchmückten 
die Erde; und Venus Lispelte koſende Worte aus dem 
Schlafe, und die fofenden Worte wurden zu Nachtigallen 
und zu Lerchen und zu flatternden Schmetterlingen, und 
al8 fie erwachte und die Erde fah mit ihrem Frühling, mit 
ihren Blumen, mit ihren Nadıtigallen, da füllte ſich ihr 
Auge mit einer Himmlifchen Thräne, und die Thräne fiel 
herab, und vermifchte fi) mit einen Köruchen Erde, und 
daraus wurde der Menfch. Und Benus kam wieder zu 
Mars, und zeigte ihm das fonderbare Wefen, mit einem 
Bart um das Kinn, nit hoher Stirne, mit ſtarken Schultern, 
und Mars warf einen Funken aus feiner Bruft herab, und 
er fiel in die Bruft des Mienfchen, und da wurde ein rother 
Duell, ein glühender, ein klopfender! 

Und Benus fah, wie der Menfch umherirrte aufihrem 
beblümten Brautgefchent, und wie er einft faß am hellen 
Bache und ſich in der Fluth fah, und nicht begreifen konnte, 
wie dies gefchehe und was es fei, und wie er fid) immer 
jehnte nad) feinem Schatten Ich. Da fann die ſchöne Venus 
nad), und blickte freundlich nieder auf die Erde und ſah fid) 
jelber im Aether fpiegeln, und ſchuf ein zweites Wefen nad) 
ihren: eigenen Yether-Spiegelbild, ein ſchwaches, kränkliches 
Geſchöpfchen, ein füßes, ſchwaches Wefen, und als ber 
Menſch entſchlief, legte fie das Liebliche Püppchen ihm zur 
Seite nieder. Da neigten fi) die Blumen neugierig über 
das Haupt der neugebornen Scjläferin, und das junge 
Roth der Rofe, und der Schnee der Lilie blieb an ihren 
Wangen hängen ; und das Blau vom Bergigmeinnicht ftahl 

M. ©. Saphir's Schriften. VI. Pr. 3 


34 


fich durch die gefchloffenen Wimpern; und der Zephyr kam, 
um das nene Gefchöpf zu begrüßen, und fein zartefter Haud) 
ſtahl fi) als Seufzer in ihre Bruſt; und die Nachtigall 
kam, um fie zu begrüßen, und die Sehnſucht diefer Töne 
fenfte ſich in ihr Herz ;und alleleinen Exrdgeifter wimmelten 
hervor, um ihr Haupt, und füllten es mit Wiünfchen, Hoff- 
nungen, Begehrungen, Tändeleien, mit eitlen Gedanken, 
und mit Narrenpofjen, mit Grillen und mit Zartheiten, 
mit Lächeln und mit Thränen, und fie erwachte ale 
das Weib! | 

Der Menſch umfchlang fie, und als er den erſten 
Laut von ihren Lippen hörte, den erften, menfchlichen Laut 
von einer andern Lippe, da ſuchte feine Lippe diefe Lippe 
und — fo ward der erfte Kuß! 

Die Benus aber frente fi) über ihre beiden Puppen, 
und fie fagte: „liebt euch!” Da fingen fie an zu weinen, 
zu lachen, zu plaudern, zu fchweigen, zu feufzen, zuträunten, 
närrifches Zeug zu fprechen, zu fingen, fich zu fuchen, ſich 
zu fliehen, mit fich felbft zu reden, in den Mond zu Schauen, 
finftere Laubgänge zu fuchen, und, mit dem Kopf auf die 
Hand geftütt, den Nachtigallen zu laufchen; er zürnte, wenn 
fie tanzte, fie ſchmollte, wenn er fang; fie nedten fich, flohen 
fi, verjöhnten fi) — und weinten die erfte Thräne! 

das war die Liebe, und das war der Frühling! 
| Mars aber jah diefes Glüd des Mannes, und die 
Venus das Glüd der Frau, und fie wurden eiferfücd- 
tig; denn die Götter und die Geſtirne lieben ohne Thränen, 
ohne Seufzer, ohne Sehnſucht, fie lieben ohne Eiferfudht, 


35 


ohne Bitterfeit, und e8 ift Liebesſüßigkeit ohne Yiebesbit- 
terfeit. Da fchleuderte Mars einen zweiten Funken in die 
Bruſt des Menfchen, und der rothe Quell fing zu fochen 
an. Das Blut in diefer Lebens - Cifterne brodelte und 
wallte, in den Adern rann e8 glühend heiß; die Sehnfucht 
wurde zur Begierde, der Seufzer zum Wunſch, und der 
Wunſch zur Begehrung; die zwei erften Wefen fanfen auf 
filberweige Blumen hin, und al8 der Vorhang der Radıt 
von dem Blumenbeete wegflog, erwachte das Weib, das 
brennende Roth war von ihren Wangen entwichen, und 
hatte fic in die Blumen gezogen, auf denen fie vuhten, und 
fo ward die erfte — brennende Liebe! 

Die himmliſche und veine Benus aber jah herab auf 
ihre Puppen, und fah daß fie fie gebrechlich ſchuf, und daß 
der Ödttertraum der Liebe von den Menjchen nicht weiter 
geträumt werden könne, daß die Natur der Menfchenliche 
zu Schön ift, un cwig zu fein, und daß fie ftirbt den aroma⸗ 
tiſchen Zod durch den füReften Duft der eigenen Blume; 
und fie trauerte tief und z0g die Blumen wieder von ‚der 
Bruft der Erde, und fchüttelte die Bäume, daß die fallen» 
den Blätter das fchambededte Antlig der Erde verdeden, 
und hieß die Nachtigallen verfiummen und weiter ziehen, _ 
und das war der erfte Herbft! 

Alljährlich aber erinnert ſich Benus ihrer Fleinen 
Spielfugel, der Erde, und fie wirft einen Liebenden Blick 
auf fie, und eine Thräne der Erinnerung an die Jugendzeit 
der Erde und an den Göttertraum der Menfchenliebe fällt 
auf die Erde und aus dieſer Liebesernenerung gießt fich ein 

3% 


16 


Betrachten wir den Umftand, wie viele Zafchen ein 
Mann in jede Geſellſchaft mitbringt, und daß die rauen 
feine mitbringen, fo find in der Konverfation, fo zu fagen, 
die Männer ſchon vom Schneider angewiefen, mehr ein- 
zufteden, als die Frauen. 

Welches war in der Welt die erfte Taſche? Gewiß 
die BPlaudertafche; denn diefe Zafche eriftirte ſchon im 
Paradiefe, alfo noch bevor es gar Kleider gegeben hat. 
Hätte Eva mit der Schlange nicht geplaudert, hätte ihr die 
Schlange feinen Apfel geboten, und wir wären noch Alle 
im Paradiefe. 

Die Plaudertafchen und die Pofttafchen haben 
durch nichts fo verloren, als durd) die Eifenbahnen; 
wenn man früher mit fo einer Plaudertaſche von Wien nach 
Brünn veiste, hatte fie Zeit und Muße genug, uns ihre 
ganze Lebensgeſchichte zu erzählen; jett, auf der Eifen- 
bahn, kommt fie faum dazu, uns von ihren Kinderjahren 
zu erzählen! 

Dean jagt, das Leben ift eine Reife; ja wohl, früher 
lebte und reiste man Lange, jett reist und lebt man fchnell. 
Es wäre recht gut, wenn das Leben eine Neife wäre, aber 
jede rau müßte eine Poftmeifterin fein, denn dann wohnten 
fie alle eine Station aus einander, und dann wäre Ruh im 
Leben. Es gibt Menfchen, die blos Poftillons find, fie gehen 
nie einen Schritt weiter, als die zwei oder drei Meilen, die 
fie zu machen gewohnt find; dann gehen fie immer wieder 
zurüd und blafen immer wieder dasjelbe Stüd! Jeder 
Menſch ift fein ganzes Leben lang ein Boftillon; er führt 


17 


fi) felbft von einer Station bes Lebens zur andern, von 
einer Xiebe zur andern, von einem Wunſch zum andern, von 
einer Hoffnung zur andern; er fährt immer voll aus und 
reitet immer leer zurüd! Er verfpricht fich felbft ein Trink⸗ 
geld und fagt zu fi: „Schwager, fahr’ gut!” Auf der 
Station vertrinft er's und bringt nichts mit zurüd! 


M. ©. Saphir’ Schriften. VI. Bo. 7 


38 


Chor. 
Gaudeamus Componiſten! 
Gaudeamns Notenpult! 
Gaudeamus Harfeniſten! 
Gaudeamus Roßgeduld! 


Weinend kommt die gute Mutter: 
„Heute ſpielt mein Söhnchen mit; 
Iſt noch zart wie Maienbutter, 
.Iſt fein erſter Künſtlerſchritt! 
Hat noch gar nicht alle Zähne, 
Hat auch gar noch nicht gefleckt, 
Doch, es ſagen's die Mäcene, 
Daß ein Künſtler in ihm ſteckt!“ 


Chor. 
Gaudeamus Vettern, Baſen! 
Gaudeamus Tantentratſch! 
Gaudeamus Tabak⸗Naſen! 
Gaudeamus großer Klatſch! 


„Eine Heine Tochter hätt! ih,” — 
— Fängt ein Bater darauf an. — — 
„Declamirt al8 wie die Nettich, 
Keiner ficht’8 dem Frazzen an!" -- 
Und mein eign’er Stiefelputßer, 
Sagt: „Ih hab’ ein Kind zu Haus, 
Hat 'ne Stimm’ al® wie die Lutzer, 
In's Koncert muß es hinaus!" 


39 


Chor. 
Saudeamus declanmiren! 
Gaudeamus Frazzendyor! 
Gaudeamus fiſtuliren! 
Gandeamus Kalbstenor! 


Wie ſie alle applaudiren! 

Ich erkenn' dich: Freibillet! 

Und entzückt auf allen Vieren 

Sind ſie Alle um die Wett'! 

Welch' ein Stürmen, wie die Bora! 
Und ein Stampfen wie im Stall! 
„Außa! Anßa! Fuora! Fuora! 
„Dreimal 'raus auf jeden Fall!!“ 


Chor. 
Gaudeamus Händzerreißer! 
Gaudeamus Auferei! 
Gaudeamns Kränzverfchleiger! 
Gaudeamus „Big!“ Gefchrei' 


— — en u. 


Tags darauf papier'ne Befen 
Fegen in die Leſ'welt 'nein, 

Wie das Alles gut geweſen, 
Wie man fang fo zart und rein! 
Und die großen Kritifafter 
Drüden ihren Stempel d’rauf; 
Legen ſchnell ihr Honigpflafter 
Jedem Gickſer freundlich auf. 


49 


Chor. 
Gaudeamus Lügenfchnabel! 
Gaudeamus Necenfion! 
Gaudeamus altes Babel! 
Gaudeamus Klefslegion! 


\ 


Humoriſtiſch-ſatyriſcher Bilderkaften 


und 


Minne-Geridte, 


— — — — - 


I. 


Junker Stolpernfuß von Duzenmeruns, 
| der Buellfreffer, 


unfer Stolpernfuß von Duzenmeruns, der 
Duellfreffer, weiß Alles, kann Alles und ftols 
pert über Alles ; und gibt es zufällig Etwas, was 
Junker Stolpernfuß no nicht weiß, noch nicht 
kann, und worüber er noch nicht geftolpert ift, fo ift das 
nicht feine Schuld, fondern es liegt daran, daß es ihm noch 
nicht in den Weg gekommen ift; würde es ihm in den Weg 
gefommen fein, jo würde er es fchon gewußt haben, ſchon 
gefannt haben, und fchon darüber geftolpert fein. 

Das Stolpern an und für fich ift fein-Unglüd, denn 
unter uns, mein lieber Leſer, ein gutes Pferd ftolpert auch, 
und wenn ein gutes Pferd aud) ftolpert, fo ift fein Grund 
vorhanden, warum Junker Stolpernfuß nicht aud) ftol- 
pern foll. 

Allein ein gutes Pferd ftolpert wohl einmal, aber ein 
ganzer Stall ftolpert nicht; ein gutes Pferd ftolpert wohl 





44 


auch einmal, aber ein gutes Pferd ftolpert nicht allemal. 
Aber ein Menſch muß doch vor einen Pferd mas voraus 
haben, und darum ftolpert ein gutes Pferd einmal, Junker 
Stolpernfuß aber ftolpert allemal.Voilä la difference! 

Der Menſch, mein lieber Leſer, kann aber ftolpern, 
und dennoch ein guter Bürger ein redlicher Gatte und Vater 
fein; le stolpern n’empöche pas le sentiment! Alfo ift 
Junker Stolpernfuß troß feines GStolpernd ein vor- 
treffliher Mann. 

Man beflagt fich, daß er zuweilen in ſeinen Kreuz⸗ 
und Querſtolperungen hie und da einen Spiegel einſchlägt, 
eine Etagère umſtürzt, einen Ofen zertrümmert, einen Tiſch 
mit Porzellan umwirft, allein iſt es die Schuld des Stol⸗ 
perers oder des Stolperns? Behüte, da iſt der Spiegel, 
der Tiſch und der Ofen ſchuld, wer heißt ſie ſich gerade 
. dorthin ftellen, wo Junker Stolpernfuß ſtolpert? Es 
ift eine ausgemachte Malice von dem Dfen, daß er mit 
dem Junker Stolpernfuß Händel anfängt. 

Der Ofen aber fann froh fein, daß er mit einem 
blauen Auge davon gekommen ift, es hätte ihm mit dem 
Sunfer Stolpernfuß auf Duzenmeruns, der Duell- 
freffer genannt, auf zweierlei Weife noch ſchlimmer 
gehen fönnen ; denn Junker Stolpernfuß hat drei Leiden- 
fchaften: er ftolpert gerne, er duzt fich gerne mit der halben 
Welt, und duellirt gern mit der andern halben Welt; zunı 
Süd für ihn und für die Menfchheit duzt er ſich blos 
gerne mit der Icbendigen Welt, und duellirt er fich blos 
mit der geftorbenen Welt. 


45 


Die böfe Welt — wenn ich fage: die böfe Welt, fo 
meine ich mich und Alle, die den Junker Stolpernfuß 
fennen; denn die Welt, die ihn nicht kennt, ift in diefem 
Punkte die befte Welt, — alfo die böje Welt behauptet, 
der Sunfer Stolpernfuß babe jchon beim Duzen, bei 
Wein und Bier mehr Hiebe zuwege gebradjt, als beim 
Duell. Denn Junker Stolpernfuß ift zwar fehr unvor⸗ 
fihtig mit dem Duzen, allein ſehr vorfichtig mit dem Duell, 
er fordert Niemand, von dem er nicht überzeugt ift, er ift 
geftorbei, over er liege im Sterben. Einmal ging e8 Junker 
Stolpernfuß ganz fonderbar. Er Hört, Herr So und 
So fei plötzlich geftorben; ex läuft nad) Haufe und fdhidt 
igm fogleich eine Ausforderung. Man denke fi) den 


Schhreden des Junker Stolpernfuß, als er am andern . 


Tage hört: Herr So und So war nur [heintodt! Herr 
So und So ſucht feinen Mann auf, allein diefer ftolpert 
ihn aus dem Wege. Herr Junker Stolpernfuß hat 
entjchiedenes Pech mit feinen Eifenfreffereien! Denn die 
Menfchen find wiel weniger fubtil, wenn fie fich denken: 
„mit wem und warum fol ich mich duzen?“ als wenn 
fie fi fragen: „mit wem und worüber fol ich mid) 
Schlagen?" — 0 

Da aber auf die Erklärungen des Heren Junker 
Stolpernfuß nit viel zu geben ift, nicht etwa, weil er 
ein Feind der Wahrheit ift, behüthe! fondern weil er ein 
ſchwärmeriſcher Berehrer der Lüge ift, ſo weiß die Welt 
ſchon, was daran ift, wenn Junker Stolpernfuß feine 
Ehrenhändel erzählt! 


46 


Wenn man fagt: Junker Stolpernfuß ift ein 
Lügner, fo thut man ihm Höchft urhrecht; cr ftolpert blos 
über alle Tügen. Es ift ein eigenes Malheur! Wenn Stols 
pernfuß zum Schottenthor hinausgeht, und es führt ein 
Bierwagen beim Stubenthor herein, fo ftolpert er über 
diefen Bierwagen, und wenn eine Rüge in der Teopoldftadt 
herumläuft, und Junker Stolpernfuß an der Hunds- 
thurmer Linie fpazieren geht, fo ftolpert er über jene Lüge, 
hebt fie auf, trinkt Bruderfchaft mit ihr, verräth fie dann 
jogleich, als ob fie einer feiner Freunde wäre, mit dem er 
Bruderfchaft getrunfen hat. 

Herr Stolpernfuß aber ift dabei edel, ev macht 
e8 Andern gerade fo, wie ſich jelbft; denn er lügt ſich 
jelbft eben fo an, Er, Junker Stolpernfuß, zum Beis 
ſpiel ift ein großer Freund von anonymen Briefen, er [chreibt 
anonyme Briefe an den Kellner, wo er ift, an die Köchin, 
wo er eingeladen ift, an die Frau feines Freundes, an die 
Geliebte feiner Belannten, anden Theater-Souffleur u. ſ. w. 
natürlich handelt es fid) bei anonyınen Briefen nit um 
Wahrheit, im Gegentheil blos um Lüge, Heuchelei und Ber 
läumdung, drei Dinge, mit denen ih Stolpernfuß jchon 
Lange duzt. Allein er macht's mit fich felber auch nicht beffer. 
unter Stolpernfuß fchreibt an ſich felbft inn Namen 
einer ungenannten Schönen ein leidenfchaftliches Billet, 
und beftellt fi) da und dort Hin. Er ſchickt fid) den Brief, 
er kommt nach Haufe, findet. den Brief, liest ihn. „Bon 
wen: kann der Brief fein?” fragt cr fid) jelbft. „AH, gewiß 
von der Mamſell So und Sol” ruft er aus; denn er ift feft 





47 


überzeugt, daß jedes Frauenzimmer, mit dent er einmal 
fpricht, in ihn verliebt ift; und da er Alles, wovon er über- 
zengt ift, mit allerhand Erfindungen vermehrt, fogleic Allen 
feinen Duzbrüdern insgeheim öffentlich mittheilt, und da 
feine Duzbrüder find fo viele wie Kellner in Paris, fo 
wüßten diefe Alle die Gefchichte, wenn fie nicht zugleich 
auch wüßten, daß fie erlogen ift. Alfo Junker Stolpern- 
fuß fchreibt ſich ſelbſt Antwort auf feine anonyme Liebes⸗ 
erflärung, und da man fchriftlich Logifcher lügen fann, fo 
jchreibt er fich Repliken, Duplifen, Alles felbft, und da es 
feinen Lügner auf der Welt gibt, dem nicht ein Menſch 
einmal etwas glaubt, fo glaubt fih Junker Stolpernfuß 
jelbft am Ende, daß er ein anonymes Billet-doux erhalten 
hat, und läßt e8, wenn er bei irgend andern Frauenzimmern 
ift, aus der Tafche fallen. Dieſe heben’s auf, Tefen’s, er ziert 
ſich Anfangs, endlich erzählt er: „es ſei wahrfcheinlich dieje 
und jene, cin Yränlein von ausgezeichnetem Stand, aber 
dumm u. f. w.“ Denn Junker Stolpernfuß vereinigt 
alle edlen Eigenfchaften, er geht von feinem Frauenzimmer, 
dem er noch fo gehuldigt, weg, ohne fie auszulachen, fie zu 
verleumden, und ihr nachzumachen; damit will ev aber bei- 
feibe nichts Böſes gemeint haben, im Gegenteil, er will 
ihr damit eine Schmeichelei machen, und ihr dadurch be- 
weifen, daß er fie wie feine intimften Freunde behandelt. 

So ftolpert Junker Stolpernfuß auf Duzen> 
merung, genanntber Duellfrefjer, dennangenehm und 
fröhlich durch's Leben! Er befitt das „Zalent der Fifche”, 
nämlich, ev hält fid) in jedem Haufe höchſtens zwei Tage, 


48 


dann fängt er ſchon au, anrüdjig za werden. Im Anfange 
glaubt man, er ftolpert aus Kindlichkeit, duzt Alle aus 
Naivete, wie ein Tyroler, und lügt aus Liebe zum Roman- 
tifhen. Nach und nad aber ziehen ſich Alle von Junker 
Stolpernfuß zurüd; denn einmal ftolpern, ift amüfant, 
aber toujours ftolpern! fic) mit einigen duzen, ift recht, aber 
die Menjchheit umzingeln und fie duzen, ift zweidentig; 
jeine Ehre bewahren, ift ehrenwerth, aber Stänfereien ſuchen 
und zurüdftolpern ift abgejchmadt; Lügen ift zuweilen ein 
fhönes Talent beim Märchenerzäplen u.f. w., allein lügen 
aus reiner Luft an Lüge, verleumden aus Wohlgefallen an 
Verleumdung, alle Aufrichtigkeit und Treue in Falſchheit 
und Heuchelei umkehren, blos aus Naturell zum Windfpiel, 
das wollen do am Ende die wenigften Menſchen, und fq 
ftolpert denn Junker Stolpernfuß von Duzenmerung, 
genannt der Duellfreffer, immer einfamer auf der ftol- 
perigen Bahn des Dafeins! 


II. 


Dr. Henſchel, das Mannfcript- Skelet. 


A. Henſchel hat Medicin ftudirt, das heißt, er war 
immer der Erfte, der die Zweite bekam, und Einer der Letzten, 
die am erften wieder repetirten. Er war aud) nicht ein ein 
ziges Dial gegenwärtig, wenn er eine Abfenz befam, und 
war einer der Fleißigſten, fobald die Ferien angingen, 

Durch Geduld und Zeit aber überwindet man Alles, 

Alles begreift auch zweite Elafjen, Abfenzen und Repeti- 
tionen in fih. Dr. Henſchel überwand alfo Alles, ging 
nad) Pavia, bejah die Lanze Roland in der Domkirche, 
badete in dem Ticino, und da Carl der Große gerade zu- 
fällig jo gütig war, dafelbft eine Univerfität ad usum pri- 
vatum des Herren Dr. Henſchel zu ftiften, fo machte diefer 
in der Gejchwindigfeit, in der man nicht viel gefragt 
wird und noch weniger viel, oder noch viel weniger 
zu antworten braudit, fein Rigorofum. 
v Herr Dr. Henſchel kehrte alfo, zur Freude und 
zum Augentroft Aller, die eine ftarfe Zuneigung zu Abfenzen 
und eine ftarfe Abneigung zu Frequenzen haben, als gra- 
duirter Doctor von Pavia zurüd. 

Zum Unglüd für den Herrn Dr. Henschel pflegen 
die gefunden Menfchen keinen Arzt zu rufen, und die Kran⸗ 
fen haben gefunden Menfchenverftand genug, um fich 

M. G. Saphir's Schriften. vI. Bd. 4 | 


50 


Aerzte zu vufen, die mehr berühmt durch ihr Wiffen, als 
berücdhtigt durch ihre Abfenzen und bekannt als Reifende 
nad) Pavia find. | 

Herr Dr. Henſchel fing alſo feine Praris bei eini- 
gen Patienten an, an welchen ſchon Viele mit Unglüd labo- 
rirten, nämlich bei den Muſen! 

Er ſah den Franken Zuftand unferer Mufen, und 
bejchloß, fie zu curiren! Kurz, Dr. Henſchel wurde ein 
Dichter! Der Himmel fteh’ uns bei! 

Er ſchrieb lange Gedichte auf Concept⸗ und Recept⸗ 
Papier Zum Beiſpiel: 

R. (Kann heißen „Recept“ oderaud) „Romanze.“) 
Alſo: R. Schmerz und Herz Dr. jj. 
Luft, Bruft Dr. j. 
Röthe, Flöte Une. A. 
Solv. in acq. laery. Nad) Bericht. 
Dr. 9. 

Solche Recepte bringen zwar nie einen Menfchen 
um, aber fie bringen zuweilen, wie der Wiener fagt, ein 
Vieh um! 

Bei einem Berfifer kommt es faft noch mehr auf die 
Praxis an, als bei einem Arzt. Wenn ein foldyer Verje- 
Spekulant einmal fünfzig folche Recepte gefchrieben Hat, 
jo geht das dann im buchſtäblichen Sinne des Wortes: 
wie gefchmiert. 

Herr Dr. Henſchel gehörte zu jenen ehrwürdigen 
Aerzten, die gar nichts gegen ein Conſilium haben, und fo- 
gar felbft dazu auffordern. 


u. 


51 


Die Muſen ſchienen dem Herrn Dr. Henſchel be— 
deutend krank, und er verſchrieb ihnen nicht das kleinſte 
„Wiener Trankel“ ohne Conſilium! Leider war ich immer 
derjenige, welchen er zu Rathe zog, und dem er alle ſeine 
Recepte vorlas, und ſeitdem ich das Unglück habe, auch 
„Apotheker“ zu ſein, das heißt, Redacteur eines 
Blattes, in dem er ſeine Recepte gerne machen ließe, bin 
ich der ewige und alleinige Conſulent bei ſeinen incurablen 
Patienten! 

Wenn ich nicht gerade den Schnupfen habe, ſo beſitze 
ich eine feine, wenn auch breite Naſe. Juchten und 
Manufcripte rieche ich auf zwanzig Ellen weit! und fo 
viech’ ich den Heren Dr. Henschel Schon, wenn er nod) auf 
der Treppe ift; denn Dr. Henfchel ift nicht ein Menſch, 
der ein Manuſcript mit ſich bringt; aud) nicht ein Menſch, 
der vielleicht zwei Manufcripte in der Taſche Hat; und 
auch fein Menſch, der verjfchiedene Manufcripte 
bei fich trägt; fondern Dr. Henſchel ift ein fürmliches 
Manufcripten-Stelet; ein Yormular von einem 
Menfchen, mit Manufcripten befleifcht; Alles an ihm ift 
Manufcript: Fleiſch, Haut, Adern, Sehnen, 
Nervenu.f.w. 

Wenn er fic bewegt, Eniftert’8 wie altes Pergament; 
wenn er fich niederfegt, Tnittert e8 wie eine Papyrusrolle; 
und wenn er fich bückt, fo kracht's und knackt's um alle feine 
Glieder! 

Zu allererft nimmt er ein Manuſcript aus dem 
Hut; es find Berfuche aus früherer Zeit, über die 

4% 


52 


ex meinen Rath wünfcht; dann kommt ein Dianufcript aus 
der Brufttafche: „Lyrifche Tändeleien,“ über die ich meine 
Anficht fagen fol; dann kommt aus der Hintern Rockſchoß⸗ 
tafche ein Manufcript: „Entwurf eines Yuftfpiels,* 
worüber ich meine Meinung abgeben fol; dann kommt ein 
Manufcript aus der andern ähnlichen Taſche: „Dritter 
Sefang eines Epos;“ dann kommt ein Manufcript 
aus der Weftentafche, dann ein Manufcript aus der Uhr- 
tajche, dann fommt die Brieftafche und aus ihr ein Manu- 
feript: „Epigrammatifcdye Haarnadeleien,“ und fo 
zaubert Herr Dr. Henfchel wie ein zweiter Bosco Manu— 
feripte aus fich, aus feinen TZafchen, und aus feinen Manu— 
feripten felbft wieder andere Manufcripte heraus. Mir 
ſchwindelt! Wie der Beſen von Goethe’8 Zauberlehrling, 
holt er immerfort Manufceripte um mich her; mir flimmert's 
vor den Augen, ich erwarte, daß er ein Manufcript aus 
dem Nafenloche zieht, ein Manufcript aus den hohlen 
Zähnen, ein Manufcript aus den Ohrgängen u. |. w. 

Dabei lächelt Dr. Henſchel felig und fagt nichts, 
als: „Nur noch diefe Kleinigkeit!" 


111. 


Die Bunfl geht nach ſechs Semmeln. Oder: Nidts als 
zehn kleine Rälbernes. 


Heine Kunft ift eine ſolche durftige Veidenfchaft, als die 
darftellende dramatifche. Melpomene und Thalia waren 
von jeher als mit großen und durftigen Xebern verfehene 
Perfonen bekannt. Eine noch durftigere Leidenſchaft ift die 
Muſik! Der Notenfchlüffel und der Kellerfchlüffel gehen 
Hand in Hand, und je mehr die mufikalifchen Inſtrumente 
auswendig vor aller Feuchtigkeit bewahrt werden müffen, 
defto zuträglicher dünkt diefe Feuchtigkeit dem Inſtrumen⸗ 
taliften zu fein. 

Diedramatifche Kunft beruht Hauptfächlicd) auf Nach⸗ 
bildung der Natur, und der Durft ift, wie Galen behauptet, 
die eıfte Stimme der Natur! 

Starte Muskelbewegung erregt den Durft, daher 
aud) die Helden, vulgo Couliſſenreißer, mehr Durft haben, 
als die zärtlichen Alten u. f. w., obwohl man auch Beis 
fpiele hat, daß legtere Gatturig Bedentendes im Durftfache 
leiftete. Der dramatische Durft erftredt fi) von Bier, Wein 
und Branntwein bis auf Lob und Lobfalm. 

Alle tragischen Rollen find eigentlich nichts, als perio- 
difche, hitzige Leberfranktheiten. Die Sympathie 
zwifchen Xeber und Gehirn ift befannt. Je mehr eine 


54 


Role ftudirt wird, defto angegriffener wird die Leber. Man 
kann alfo an der Bogenzahl der Rolle, die Seitelzahl des 
Getränkes ermitteln, die zu ihr aufgebraucht wird. Eines 
der erften Symptome einer folchen dramatifchen Reberent- 
zündung ift, wie bei der wirklichen, ein ftarkes Stechen in 
den Schultern, wodurch das heftige Arm- und Schulter> 
fpiel herfommt, fo aud) das ſtarke Athemholen, in der Kunft- 
ſprache: „Mufengeheul“ genannt, und das Herumwerfen 
von der rechten auf die linke Seite und umgekehrt. 

Seltner ift der Hunger bei der dramatischen Kunft, 
und er übertrifft felten den eines fimplen Menſchen, defjen 
Magen und Nerven nicht fo veizbar find, als die der 
. Kunftwelt. 

Indefjen gibt e8 Individuen, die vor, nach und in 
der dramatifchen Thätigkeit, mit folcher Nerventraft nad 
ihrem Magen-OÖbject verlangen, daß diefe in Heißhun—⸗ 
ger, Hundeshunger oder Bulimie übergeht. Diefer 
Heißhunger ift fo ftark, daß er zuweilen dem Rollenhun- 
ger gleich kommt. 

Herr Bartolomeo Dampffiger ift ein folcher 
Künftler, er frißt zuerft alle Rollen, verfchludt dann erft 
alle Endfilben der ganzen Rolle, frißt den Souffleur mit 
den Ohren auf, und geht erft dann in das Gaſthaus zum 
„filbernen Bonzen*, um etwas zu efjen. 

Allein was ißt Herr Bartolomeo Dampffiger? 
Es ift nicht der Mühe werth, davon zu reden! Nichts als 
ein „kleines Kälbernes”, das ift: eine halbe Portion 
Kalbfleifch! 


55 


Was ift ein „FleinesKälbernes* für einen großen 
Schaufpieler? Er tritt auf und es ift geweſen! Er läßt 
fi) alfo nad) fünf Minuten vom Kellner des „filbernen 
Bonzen“ nod) ein „Eleines Kälberües“ geben, mit einer 
„refhen Semmel“. Allein was find zwei „kleine Käl- 
bernes* für einen Künftler, dem erft ein ganzes Kälbernes 
und ein ganzes Stüd im Magen, und eine Rolle von adht 
Bogen im Rüden liegen? Nichts? Aflavit et dissipati 
sunt! 

Herr Bartolomeo Dampffiger entſchließt ſich alfo, 
den Kellner nod) einmal zu rufen und ihm zu fagen: 

„Sch weiß nicht, ich habe heute gar feinen rechten 
Appetit, ich werde es verfuchen, bringen Sie mir ein „Eleines 
Kälbernes”, aber ohne Saft und mit Exrdäpfeln.“ 

Drei „Kleine Kälbernes“ zählen wirklich gar nichts 
in den Annalen der Kunft, und Herr Bartolonıeo Dampf- 
iger fühlt fich zu Größrem berufen! Er ruft den Kellner 
und ſpricht: 

„Ohne Saft ift das Ding dod) nicht zu genichen, 
alfo bitt’ ic) Sie, geben Sie mir ein „Eleines Kälbernes“ 
mit Saft und ein Bischen geröftete Erdäpfeln dazu.“ 

Inzwifchen hat Herr Bartolomeo feine Rolle von 
morgen aus der Taſche gezogen, und ift das vierte „Kleine 
Kälbernes“ mit Saft, geröfteten Erdäpfeln und Rollen- 
Scnitten. 

In jeinem Berufsgefchäft ganz vertieft, ruft er, halb 
wie im Somnambulismus, den Kellner, und fagt im zer- 
ftreuten Ton, wie aus dem Schlafe: 


56 

„Bringen Sie mir einmal fo ein — ad), wie heißt 
ed doch — ja, bringen Sie mir einmal fo ein „Lleines 
Kälbernes“, aber vom Anfchnitt, etwas braun, mit 
Eſſigkren.“ | 

In den „Kleinfälbernen - Zwifchenacten“ verzehrt 
Herr Bartolomeo einige vazirende Semmel; aber weiß er, 
daß er Semmel it? Bewahre! Er ift die Semmel nicht! 
Die Kunft in ihm ißt alle diefe Semmel, er ift ja ganz zer= 
freut. In der Hitze feiner Aufgabe hat fich auch das „braune 
Meines Kälbernes* in den Magen hineinmemorirt, und 
einmal im Zuge, dem Fluge der entbrannten Phantafie 
folgend, ruft er den Kellner und fagt: 

„Run möcht’ ich doch einmal ein recht weiches „Fleine8 
Kälbernes", aber mit Meinen Gurken, die reizen den 
Magen ein wenig.“ 

Während dem diefes weiche „Eleines Kälbernes“ 
von ihm verzehrt wird, deklamirt er mit der Tinten 
Hand, und fcheint ganz bewußtlos. Endlich ruft er dem 
Kellner: 

„Haben Sie mir denn fchon ein weiches „Lleines 
Kälbernes“ mit Gurken gebracht?" 

Der Kellner bejaht es, worauf er ganz erjtaunt 
ausruft: 

„Das muß ich in Gedanken gegefien Haben! Es ift 
auch eine gar zu fchwierige Rolle! Man vergigt ganz aufs 
Effen. Seien Sie fo gut und bringen Sie mir ein „Eleines 
Kälbernes“ ohne etwas dazu, aber fo etwas mit Knor⸗ 
pelwerf.“ 


 \ 


57 


Dem fiebenten „Eleines Kälberncs" folgt ein 
achtes und ein neuntes, und die ſechſte Semmel ift dazu 
abgefchlachtet. 

Nachdem Herr Bartolomeo für jede Mufe ein „klei— 
nes Kälbernes“ gegefien hat, denft er: Apollo will doch 
auch nicht vernacdhläfftgt fein, ruft den Kellner und jagt: 

„Es ift curios, mir fchmedt heute das „Lleines 
Kälbernes“ nicht recht, und ich eſſe es doch fonft jo gerne. 
Sagen Sie dod) der Köchin, fie möchte mir doc) ein recht 
appetitliches, wohlfchmedendes „Kleines Kälbernes“ 
fchiden, ich kann dod) mit dem leeren Magen nicht ins Bett 
gehen, inſonders nad) einer folchen Vieharbeit.“ Dabei zeigt 
er auf feine Rolle. | 

Der Kellner fommt, ein zehntes „Kleines Kälber- 
nes“ wandelt den Weg aller „Eleinen Kälbernes“ in 
die große Familiengruft des Künftlermagens hinein. Es ift 
Mitternadht, die Gäfte find ſchon alle nach Haufe gegangen, 
da fieht er fih um und ruft verwundert aus: „Schon fo 
fpät?! Wie die Zeit beim Studiren vergeht! Kellner! be= 
zahlen! Zehn Heine Kälbernes, ſechs Semmel u. ſ. w. Ic) 
muß doc) etwas für den Magen einnehmen! Gute Nacht!“ 

Am andern Abend figt Bartolomeo Dampffiger 
nach dem Theater wieder beim „filbernen Bonzen”, ftudirt 
feine Rolle und legt nichts in fich hinein, als ſechs Sem- 
mel und zehn „Kleine Kälbernes!“ | 


— — — — 


IV. 


Bie unbegreifliche Gaſtfreundſchaft. 


Es⸗ war in einer jener nord⸗deutſchen Städte, wo die Natur 
fehr viel Sand und ſehr wenig Gemüth gedeihen ließ, und 
wo daher auch die Mohr, weißen, Waſſer⸗ und Sted-Rüben 
beffer und häufiger gepflegt wurden, als Herzlichkeit, Innig⸗ 
feit, Freigebigkeit und Gaftfreundfchaft. 

In diefer Stadt Hatte der Liebe Himmel den Ban⸗ 
quier X. gefegnet mit Geld und Gut, und damit er in feinem 
irdischen Glücke nicht übermüthig werbe, fegnete er ihn auch 
mit einer Frau und fieben Töchtern. 

Töchter haben, ift an und für ſich ein geborner 
Hang zur Schwermuth, fieben Töchter haben, ift ein natür= 
licher Beruf zur incurablen Melancholie. 

Indefien: die Töchter waren fchön, der Vater reic) 
und die Mutter Furzfichtig, drei Umftände, weldye ganz ge— 
eignet waren, den Beſuch in diefem Haufe zur dem ange— 
nehmften zu machen, und fo fanden fi) denn immer junge 
Schäfer genug ein, welche die fieben fetten Kühe auf die 
große Weide des Cour-Machens austrieben und mit ihnen 
abweideten die ganze Wieje der Galanterie. 

Unter diefen Schäfern war aud) ich; nicht etwa um 
eine jener Kühe am Abende des Courmachens heimzutreiben 
in meinen Stall, denn ich hatte feinen eigenen Stall, und 


RR 


59 


auch fonft gar nichts von jenen fetten Heu- und Gras- 
Gaben der Natur, die nöthig find, um mid) für eine appetit- 
liche Ehe-Wiefe zu halten; allein der Winter im Norden 
ift ſehr kalt, das Holz fehr theuer, in dem Geſellſchafts⸗ 
und Speife - Zimmer des Banquier X. war e8 immer fo 
ſchön warm, und in der Gefellfchaft diefes Siebengeftirng 
befand man fi) immer in einer Art von angenehmer und 
der Gefundheit zuträglicher Transfpiration. | 

Es ift befannt, daß die Mufen viel Rojen und Ber- 
gigmeinnicht, aber wenig Brennholz abwerfen, und daß die 
Mufenjöhne die heieften Herzen und die fälteften Füße 
haben. 
| Da ic) von dem Speife- und Geſellſchafts— 
Zimmer des Banquiers &. fprad), jo muß ich dabei be- 
merken, daß das identische Begriffe und diefelben Perfonen 
waren, man fpeiste im Gefelfchafts- Zimmer, und gejell= 
Ichaftete im Speije- Zimmer. 

Wenn ich fagte „man fpeiste“, jo muß ie wieder 
dabei bemerken, daß ich nicht aus Hiftorifchen Quellen 
ſchöpfte, ſondern aus Traditionen, aus Sagen, bie fid) 
mündlich im Publikum fortpflanzten. Augenzeuge war nie 
Jemand, ob bei dem Herrn Banquier X. je gegeflen wurde, 
und was gegefjen wurde. Die Familie betrieb diefes Geſchäft 
im Geheimen, gehüllt im tiefften Schleier, nie war eine 
freinde Perfon Zeuge diefes Schaufpiel®, nie wurde ein 
Uneingeweihter zu diefen Myfterien zugelaffen. 

Was das ift, „einen Gaſt zu Tiſche bitten,“ kannte 
die Familie nur dem Hörenfagen nad). Herr &. hatte.ben 


60 


Grundſatz: „nur der ift gaftfrei, der frei von allen 
Gäſten ift!“ 

Herr und Madame &., fieben Töchter, vier Söhne 
und eine alte Tante, welche zugleic, Erzieherin der fetten 
Plejaden war, fie festen fi) ewig und immer ganz allein 
an den Eßtiſch, und fo lange der Mond die gehörnte Sichel 
in den glänzenden Scheiben der diden Wangen der fleben 
Töchter abjpiegelte, hat kein fremder Mund fich in ihr ftilles 
Geſchäft am Tische gemiſcht. 

Ih war immer willfommen im Haufe, denn die 
Mutter hielt mich für ganz ungefährlich, die Töchter wollten 
ſich immer zu Tod lachen über meine poffirlichen Einfälle, 

- und der Vater, glaube ich immer, duldete mich gerade diefes 
letten Umftandes halber. 

Ich kam immer eine Stunde vor Tiſche, ent- 
weder Abends oder Mittags, nie, nie fagte Jemand zu mir: 
„Bleiben Sie zum Efjen da.“ Je näher die große Abfütte- 
rungs-Stunde kam, defto beforglicher wurden alle Mienen. 
Herr und Madame X. fcharrten mit den Füßen, wie Schweis 
zer⸗Vieh, wenn ein Gewitter in den Firnen ftedt. Die fieben 
Töchter gingen unruhig im Kreiſe herum, als ob fie Kolik 
hätten. Die Luft felbft wurde ſchwül, bis ich mich erhob, 
um zu gehen, und wenn ich fagte: „Sie wollen wohl efjen? 
jett geh’ ich!“ glänzte das Antlig des Herrn X., wie ein 
Seidenhut nad) dem Regen. Madame X.lächelte freundlich, 
wie eine gefnidte Schmalzblume, und die fieben Töchter 
wimmelten felig untereinander, wie fieben Del - Tettaugen 
auf einem Eifigfalat. 


61 


Zwei Jahre nacheinander befuchte ich die fieben 
Töchter des Herrn X. ich wurde dadurd) nicht fetter, und 
fie nicht magerer, nie wurde ich zum Effen eingeladen, und 
wenn mich nicht zuweilen am Abend, wenn ich hinkam, ein 
Zugemüfeduft, der noch von dem geheimen Mittagsopfer 
im Zimmer herumzog, wie eine Weihrauchwolfe, und ein 
Nachglanz auf den vierzehn Wangen der Töchter, der lieb- 
lich leuchtete, wie der belohnte Hunger, überzeugt hätten, 
daß hier gegeffen wurde, gegeflen mit Frakturzähnen, fo 
würde ich immer mehr geglaubt haben, daß man in diefem 
Haufe gar nicht an die Eriftenz de8 Magens glaube. 

Id kam zulegt auf den Gedanken, diefe Familie effe 
gar nicht mit dem Munde. Bielleicht, dachte ich bei mir, 
gab ihnen die Natur andere Aufjaugungs: und Einfaugungs- 
Theile. Die Bäume efjfen mit den Blättern, die Blumen 
aud) mit den Staubfäden, vielleicht fpeist diefe Familie 
mit den Poren, mit den Augen=-Brauen, mit dem Ohr⸗ 
Läppchen; wer kennt alle Capricen der in ihren Schöpfuns= 
gen fo bizarren Natur?! Falſche Scham hält diefe Familie 
zurüd, je vor andern Leuten zu eſſen! So dachte id). 

Eines Tages, e8 war im Jahre 1826, am 15. Decem⸗ 
ber, fam id) wie gewöhnlid) um zwölf Uhr Mittag. Ich 
blieb immer, bi8 ſich dieder Abfütterung vorgehenden Symp⸗ 
tome einzuftellen pflegten, nämlid) allgemeine Bewegung, 
auf die Uhr fehen, in die Ohren zifcheln u. |. w. Heute fam 
nichts von allem dem. Eine befondere Zuthunlicjkeit der 
ganzen Familie drängte fid) an mich, fie war nie fo freunde 
lich geweſen; die ficben Zöchter ſchwammen um mich herum 


62 


wie fieben Karpfen um einen Semmelbroden. Die Mutter 
blinzelte mit den Aeırglein wie eine Eidechfe, wenn man ihr 
auf den Schwanz tritt, und Herr X. ſah fo fchlau aus wie 
eine Charade, welcher die Auflöfung vorgedrudt ift. 

Mir wurde unheimlich; ich ahnte, daß was Unge—⸗ 
wöhnliches vorgehe; ich griff eilig nad) dem Hut, darauf 
fagte ich mein Troſtſprüchlein auf: 

„Sie wollen wohl eſſen? Jetzt geh’ ich.“ Allein 
Himmel! Welche Begebenheit! Das Unerhörtefte ift geſche⸗ 
hen! Nicht möglich und doch gefchehen! Herr &. fuhr auf 
nich zu: „Wollen Sie nicht einen Löffel Suppe mit uns 
eſſen?“ — Ich blieb ſprachlos ftehen. Hatt’ ich recht gehört ? 
„Eifen?" „Miteffen?" „Mit uns effen?“ 

Es mußte etwas Ungeheueres vorgegangen fein! 

Ich war ftarr vor Erftaunen und konnte fein Wort 
bervorbringen. Madame X. angelte mit der Hand nad) mir 
wie eine Angel nach einem Weißfiſch. „Ad ja, Sie find 
heute unfer Gaſt!“ — Ich rieb mir die Augen, die Ohren, 
die Nafe, ic) wußte nicht, ob ic) träume, wache. Die fieben 
Töchter unwingten mid) auch und aus allen Sieben ertönte 
ed auf einmal wie aus fieben Bierflafchen, von denen der 
Stöpfel zu gleicher Zeit losging: „Ach ja, Sie eſſen Heute 
Mittag bei uns!“ 

Dabei nahm man mir Hut, Stod und Handichuh 
aus der Hand, und ich blieb faft willenlos. Gewiß, es lag 
eine große Urfache, ein unerforfchliches®eheimniß zu Grunde, 
und id) befchloß, e8 zu erforfchen, und wenn ed mein Leben 
koſten follte. 


63 


Man fpeisie, man fpeiste gut, mit Fleiß und Aus- 
dauer, mit aller deutfchen Biederfeit und jener gelehrten, 
zähen Unermüdlichfeit, die man an deutjcher Philofophie 
und Efluft gewohnt ift. Die Familie aß wie alle Menfchen, 
nirgends eine Abnormität! Die fieben Töchter, freilich die 
aßen jedes Gericht dreimal: erſt verfchlangen fie e8 mit den 
Augen, dann verfchlangen fie e8 mit der Nafe, und dann 
erft mit dem Munde; dafür gejchah diefes Letzte aber aud) 
fo Schnell, dafür wurde das Gericht mit einer folchen Bliges- 
jchnelle von der Zunge zum Magen übergeführt, daß es 
nicht einmal Zeit hatte, ein kleines Legat an die Zähne 
auszuwerfen. Dies Effen war zu Ende, Alles in Ordnung, 
man war fröhlich und guter Dinge, nirgends konnte id) die 
Urſache diefer unerhörten Safteinladung erforfchen. 

Ich nahın gerührt Abjchied von der ganzen Familie, 
jie war freundlich und lieb bis zum legten Augenblide. 

Ic ging, in Gedanken damit befchäftigt, die Urfache 
diefer außerordentlichen Erfcheinung aufzufpüren. 

Im Vorzimmer gab mir das Stubenmädchen meinen 
Mantel unt. 

Diefer Moment war immer einer der intereffanteften 
bei dem Banquier X. Es war ein allerliebftes Wefen, und 
jo konnte fein Lebendes Weſen den Mantel nach den Wind’ 
und um die Schultern hängen, als fie. Da ich ihr beim 
MWeggehen ftet8 entweder die Hand felbft, oder etwas in die 
Hand drüdte, welches Kette mehr Eindruck auf fie zu 
machen jehien, war fte mir fehr gewogen, und fchüttete 
mandjes Familien-Geheimniß in meinen Bufen und in 


64 


meinen Mantel aus. Heute lächelte dieſes Stubenmädchen 
ein Lächeln, in welchem viel „Drolliges“ lag, aber Drolliges 
friſch und luſtig, nicht alt und abgeſchmackt. 

Ic gewahrte das, drüdte ihr die Hand beträchtlich 
und etwas Beträchtliches in die Hand. 

Meine Drudkoften wurden reichlich belohnt. „Wiffen 
Sie, Herr Doctor,” fagte fie, „warum Sie heute hier 
jpeisten ?" — „Ad, Engel! fage e8 mir doch!” erwiederte 
ih. — „Nun,“ fagte fie, „die alte Tante ift Frank, und 
konnte nicht zu Tiſche kommen. Die Familie ift ungeheuer 
abergläubig, ohne die Tante wären fie dreizehn bei Zifche 
geweſen, und, ihrer Meinung nach, hätte Jemand von ihnen 
- fterben müffen, Sie mußten alfo den Bierzehnten machen !” 


— — — —— 


v. 
Dr. Eifenkorn, das Zanfendfapperment- Talent. 


Talentvolle Menſchen haben gewöhnlich nur zu Dieſem 
oder Jenem Talent. Niemand hat zu Allem Talent. Es gibt 
aber Menſchen ohne alles Talent, die zu Allem Talent zu 
haben glauben, die ſich an Alles wagen, in Allem verſuchen, 
in jedem Genre zu jeder Zeit für Jedermann zu arbeiten 
bereit find; kurz, es gibt Menſchen mit einem Tanfend- 
fapperments - Talent. 

Dr. Eifentorn ift ein folches Univerſal-Talent. 
Er arbeitet mit jedem der zehn Finger für eine andere Un— 
fterblichkeit! Er fchligt fich wie ein Pelikan die Bruft auf, 
und tränkt mit feiner Herztinte alle feine literariſchen Kin— 
der. Er ift Mitarbeiter an allen beftchenden Zeitfchriften, 
Correſpondent in allen Journalen, intim mit allen Schrift- 
ftellern, in genauer Berbindung mit den ausgezeichnetften 
Zeitgenoffen, Bertrauter und NRathgeber aller Kunft- und 
Theater=Divectionen, unzertrennlicher Geführte und Haus- 
freund aller Künftler, Sänger, Tänzer, Tänzerinnen u. ſ. w. 

Wenn er auffteht, fo raucht er eine Cigarre, und 
ichreibt eine Dde an das Morgenroth; dann frühftüdt er, 
und fchreibt eine Humoresfe über den Kaffee; dann wäfcht 
er das Geficht mit der linken Hand, und fchreibt mit der 
rechten eine Satyre; dann wäfcht er das Geficht mit der 

M. ©. Saphir's Schriften. vi. Mb. 5 


66 


rechten Hand, und jchreibt mit der linfen ein Sonett; dann 
Itest er die Theaterzettel, und fcehreibt ein Trauerfpiel; dann 
läßt er fich rafiren, und dictirt cine Novelette; dann zieht 
er feinen Schlafrod an, und fchreibt ein Epigramm; dann 
geht er auf und ab, und fehreibt eine Charade; dann wirft 
er ſich in den Schreibfefjel, und fchreibt Tiebeslieder; dann 
ftopft ex ſich eine Pfeife, und fchreibt eine Ballade, kurz, er 
ſchreibt Alles für Alle, an Alle, auf Alle; dann ſchickt er 
die Charade an jene Redaction, die Ballade an eine zweite, 
die Dde an eine dritte, das Sonett an eine vierte u. |. w. 
Dann fliegen die Briefe nah Oſt, Weft, Süd, Nord, und 
immer heißt e8: „Zwar fann ich meine Zeit nur felten zu 
literariſchen Werken verwenden, allein den Heinen Raub 
an meiner Zeit bin id) fo frei u. |. wm.” 

Daranf geht Dr. Eiſenkorn aus. 

Die Thätigfeit und Bielfeitigkeit, die er in feinem 
Zimmer à la camera entfaltete, ift nichts, ift ein einfeitiges 
Ding gegen die ungeheure, raftlofe und alle Gegenftände 
umfafjende Rüftigfeit und Allfeitigkeit, die er nicht nur in 
den Befuchen zı allen Redactionen, Directionen, Ambitionen, 
Hiftrionen u. |. w. entwidelt, fondern aud) in den frucht- 
baren Streifzügen, die er auf der Straße, im Gehen, en 
passant zu Wege bringt! 

Auf dem Hauptplage begegnet er einem Redacteur: 
„Ad, mein Liebfter! für Sie hab! ich ein Föftliches Auf- 
ſätzchen! Nicht gar groß, fo in zehn, zwölf Yortfegungen 
Herr N. N., Redacteur des So und So, wollt’ es haben, 
allein Sie wiffen, ich geb’ es lieber in Ihr Blatt u. ſ. w.“ 


67 


Zehn Schritte weiter begegnet ihm N. N., der Redac⸗ 
teur des So und So, er umarmt ihn: „So eben dacht’ ich 
an Sie, mein edler Freund, ic) hab’ für Sie ein köſtliches 
Auffäschen! Ein epifches Gedicht in ganz neuer Form, noch 
gar nicht dagewefen ! Nicht groß, gar nieht groß, fünfund- 
zwanzig zwölfzeilige Stangen, Herr P. P., Redacteur von 
So und So, hat’8 zufällig bei mir gefehen, und wollt’ e8 
mit Gewalt einfteden, allein ich hab's einmal Ihnen be⸗ 
ftinımt: ich mag dem PB. P. nichts geben u. f. w.“ 

Um die Ede herum, ftößt er auf P. P., ſchüttelt ihm 
die Hand: „Grad redht, mein Theurer, für Sie hab’ ich 
was, ein Föftliches Auffäschen! „Humoriftifche Lebens 
gefchichte einer Lederbirne,“ nicht gar zu groß, fechzehn Heine 
Kapitelhen. Ich hab's geftern in einer Geſellſchaft gelefen, 
wo auh 3. 3., der Kedacteur de8 So und So, war; 
der hätt’ mic) bald infultirt, daß ich es ihm nicht geben 
wollte u. |. w.“ 

In der nächſten Gaſſe ftoßt er auf den Balletmeifter 
der großen Oper: „Zu Ihnen wollte ich eben, mein Ver⸗ 
ehrter, ich habe ein Föftliches Progranım zu einem roman⸗ 
tischen Ballete: „Terpſichorens Triumph,” oder: 
„Die geheilte Xeberverhärtung.” Das ift ein 
höchſt romantiſches Sujet; ich Habe darin eine Gruppe 
von Allopathen und Homöopathen tanzen laſſen, die außer⸗ 
ordentlich pittoresk ift u. ſ. w.“ 

Der Balletmeifter empfiehlt fi) danfend und Dr. 
Eiſenkorn jegt feinen Zug fort; da fommt ihn der Kapell⸗ 
meifter der großen Oper in den Wurf: „Ad, guten Morgen 

5 * 


68 


ein gutes Vorzeichen! Hören Sie, mein Hochgeſchätz⸗ 

ter, für Sie habe id) einen köſtlichen Operntert! heroifch- 

romantisch: 

„Mutter und Elephant,* oder: „Wahre Liebe 
überwältigt Beſtien.“ 

Da find Gemüths-Scenen! Affecte! Abwechslung! 
Sie mit Ihrem Talente und diefer Text, ohne mir zu 
fchmeicheln, da8 wird was ganz Neues u. f. w.“ 

Kaum hat fich der beglückte Kapellmeifter aus feinen 
Armen gerifjen, fo führt der boshafte Gott des Zufalls ihm 
einen Director eines Bolfstheaters zu: „Ach, himmlifch ! 
mein Berehrtefter! heute Hätte ich Sie auf jeden Fall noch 
gefprochen! Ich Habe etwas Köftliches für Sie! Noch gar 
nie da gewejen! Eine ganz neue Idee, eine neue Seftaltung 
der Lokalpoſſe, ein Stüd in drei Acten, mit einem Vorjpiel, 
zwei Nachfpielen, und drei Zwifchen - Act- Spielen, unter 

dem Titel: | 
„Hi⸗Hi! — Mi-Mi! — Bi-Bi! lauter Allegorie!” 
oder: „Das bezauberte Grieszweckerl.“ 


Eine nichtparodirende Barade-Parodie, in willfür- 

lichen Aufzügen. Das macht Ihnen wenigftens ein paar 
. Hundert volle Häufer, ohne alle Ausftattung, blos das 
Stüd, blog das Stüd u. f. w.“ 

Der Director umarmtihn ganz erfchroden, empfiehlt 
ſich, und ftehe da, Herr Eiſenkorn hängt ſchon wieder an 
einem berühmten Schauspieler: „Guten Morgen, mein 
Befter, ich dachte eben an Sie, ich höre, Sie wollten im 


69 


nächſten Soncert deflamiren? Da hab’ ich was Köftliches 

- für Siel Eine Ballade, voll Effect! | 

„Die große Baufe der Natur nad) dem Unter- 
gange der Welt!“ 

Da haben Sie Gelegenheit, Gefühl, Herz und Runge 
zu zeigen! Da find Stellen, Stellen, wo ich zerjprungene 
Geuerberge vedend einführe, und wo das ausgetrodnete 
Weltmeer nah einem Tropfen Wafler lechzt, das muß 
Furore maden u. f. w.“ 

Kaum wendet fi) der betroffene Schaufpieler zum 
Abſchiede un, jo Hat Herr Eiſenkorn ſchon wieder einen 
Theater-Director erwifcht: „Ergebenfter Diener! Für Sie 
hab’ ich was Köftliches! Da hab’ ich diefe Woche in einer 
müßigen Stunde fünfundfedyzig neue Stüde aus dem 
Franzöſiſchen überſetzt, eigentlich nicht überfegt, ich über- 
jege nicht, bearbeitet, frei bearbeitet; eigentlich nicht be= 
arbeitet, blo8 mitgetheilt, mitgeteilt; eigentlich nicht 
mitgetheilt, ich mittheile nicht, fondern blo8 nach der 
Idee, nad) der Idee, nad fünfundſechzig Ideen f 
Sie werden alle gewiß fehr gefallen u. f. w.“ 

Noch bei dem legten Worte ſtürzt Herr Eiſenkorn 
auf einen andern Mann zu, es ift ein Lieder⸗Compoſiteur: 
„Ach, nein Charmanteſter, für Sie hab’ ich was Köſtliches! 
ganz für die Muſik! ganz Igrifch, echt muſikaliſch: 
„Schnupfen und Seufzer, eine Serenade im. 

Schneegeftöber.* 
Id ſag' Ihnen, das ſingt ſich von jelbft; das werben Sie 
bimmlifch componiren! u. f. w. 


70 


Kurz, Dr. Eiſenkorn iſt überall zu leſen, zu finden, 
zu ſehen, gedruckt in großen, kleinen und mittlern Lettern, 
über und unter ſeinen Aufſätzen, mit deutſchen, lateiniſchen 
und gothiſchen Buchſtaben; er ſchreibt „Geſammeltes“ 
— „Gefundenes“ — „Erbeutetes“ — „Aufge— 
ſchnapptes“ — „Fuſammengetragenes“ — „Frem⸗ 
des und Eigenes“ — „Steinchen“ — „Buntes“ 
— „Scherben — „Späne“ — „Splitter" — 
„Zahnſtocher“ — „Curioſa“ — „Körner" — 
„Pillen“ — „Fidibus“ u. ſ. w. und unter jedem Worte 
breit und Har: Dr. Eiſenkorn. 

Er jchreibt als Anekdote: 

„Berthold Schwarz Hat das Pulver erfunden.“ 

Dr. Eifentorn. 

As Miscelle: 

„Horaz bat gejagt, man ſoll erſt nad neun 
Jahren fein Werk druden laffen.“ 

Dr. Eifenforn. 

Als Aphorisme: 

„Hamlet fagt: Sein oder nicht fein, das ift die 
Fragel“ Dr. Eiſenkorn. 

Als Gedankenkäſtlein: 

„Bevor Dr. Jenner das Impfen entdeckte, gab es 
mehr Menſchen mit Blatternarben, als jetzt.“ 
Dr. Eiſenkorn. 

Als Eingeholtes: 

„Shakeſpeare iſt alt und doch neu!“ 

Dr. Eiſenkorn. 


21 


als Nüffe für [höne Zähne: 
Räthjel: „Wo Haben die erften Menjchen den 
Löffel angefaßt?“ 
Auflöfung: „Beim Stiel! Ha! ha! ha! 
Dr. Eifenforn. 

Und dennod), dennoch), — o unbegreifliches Wunder 
der Lefewelt! — bleibt Dr. Eiſenkorn der Leſewelt un=- 
befannt! 

Es ift ein Unglüd, ein Talent zu Allem, ein Unte 
verfals Talent zu haben! 


VL 


Herr Schuiffelfeld, der Naturforfder. 


Der: Scniffelfeld pflegt mich zumeilen zu befucchen. 
Wenn ich fage, er pflegt mich zu befuchen, jo verftche ich 
darunter, daß er zumeilen alle meine Mobilien, meine Bil- 
der, meine Bücher, meine Büften, meine Porte-Bijour u. |. w. 
unterfucht, ergründet, und die Naturgefchichte aller meiner 
liegenden, hängenden und herumfahrenden Effecten ftudirt ! 

Herr Schniffelfeld kommt ind Zimmer; mit dem 
erften Entrechat fagt er: „AH, guten Morgen, wie geht’8?* 
und nit dem zweiten Schritte ift er an meinem Mitteltiſche, 
ergreift ein da liegendes Manufeript, fchlägt den Titel auf, 
und nun beginnt die Naturforjcheret: 

Er. Bon wen ift dies Luftfpiel? 

Id. Ja! von einem Ungenannten. 

Er. Wird e8 aufgeführt werden ? 

Ih. Kann fein. 

Er. Iſt das des Berfaffers Handjchrift? 

Ih. Ich weiß wahrlich nicht. 

Er. Hübſch gefchrieben. 

IH. Recht hübſch. 

Er. Und ſchönes Papier. 

Ich. Recht Schön, u. ſ. w. 


73 


Nach diefer Unterfuchung ftürzt fi) Herr Schniffel- 
Teld auf einen ausgeftopften Nußhäher, der eine Feder im 
Munde hat. Er fängt die Naturforjcherei an: „Das tft 
ein Nußhäher!“ Ich nide fchweigend: Ja. — „Die 
Augen find eingefegt.‘ Id) nide fchweigend: Ja. — 
„Die Feder ift recht hübſch angebracht!” Ich lächle 
Holdfelig. — „Eine gute Idee!’ Ich fage: Pafjirt! Er 
fährt fort: „Sie ftopfen jeßt recht gut aus!“ und 
Hat fchon mein Siegel in der Hand: „Hübfch geftochen!“ 
Da id) daraufnichts erwiedere, drückt indefjen Herr Schnif- 
felfeld an meine Zündmafcjine und fagt: „Sie geht 
recht gut! das ift mit Phosphor!” Dann zündet er 
meinen Wahsftod an, nicht ohne dabei zu fagen: „Ein 
tüchtiger Kerlvoneinem Wachsſtock!“ nimmt mein 
Siegellad, liest darauf: „Patent-Lack,“ reibt e8 am Tuch- 
Aermel, dann ninmt er Papier, läßt das Siegelwachs 
Schmelzen, drückt mein Siegel darauf, führt e8 an die Augen 
und fagt: „Das drückt ſich rehtdeutlid aus!” — 
Kaum ift Herr Schniffelfeld mit diefen Erperiment 
fertig, fo ſtürzt fich feine naturforfchende Wißbegier von der 
Wappenfunde auf die Blumiſtik. Er ergreift ein Glas mit 
Blumen, das auf meinem Zijche fteht, führt es mit einem 
genialen Schwunge an die Naſe und fagt: „Vortrefflich 
trieben fie!” Dann reibt er eine Reſede zwiſchen feinen 
Vingern, und führt diefe wieder an feine Nafe, indem er 
felbftzufrieden, Lächelnd fagt: „Die Blumen haben ger 
wiß was zu bedeuten!“ Ich lächle ganz aufgelöst. In» 
deſſen geht die unermüdliche Unterfuchungsluft des Herrn 


74 


Schniffelfeld von der Blumiftif wieder zur Mineralogie 
über. Er ergreift meine Uhrkette mit den Petfchaften, dreht 
fie Hin und her, haucht fie an, läßt fie im Lichte fpielen und - 
ruft aus: „Das ift ein Rubin pald, und das ein 
Carneol.“ Darauf liest er, was auf ihnen geftochen ift: 
„Rehtfinnig! Stiefind ein Vocativus!“ Ich lächle 
wicder wie nad) einer Ramillen = Infufion. „Der Carneol 
ift nicht ganz rein! Ich Habe auch einen, der ift hübſcher!“ 
— und, bums! auf einmal ift er über meinen Wandforb 
gerathen! — „Der ſcheint gehäfelt zu fein? oder 
tambourirt? Ich glaube, e8 ift Seiden-Toque; die Idee iſt 
nicht übel: ich möchte wiffen, 06 es ſelbſt gemacht, oder ob 
e8 gefauft iſt?“ — Ich geftehe meine Unwifjenheit, und Herr 
Schniffelfeld ftürzt fich auf die Fiſchtunde, er macht 
ſich über mein Glas mit Goldfiſchen, nimmt das kleine Netz 
und fährt hinein: „Ach, die lieben Thierchen! da iſt 
ein geflecktes! Die müſſen alle Tage Waſſer bekommen? 
Haben Sie ſie geſchenkt bekommen? gekauft? Halten ſie ſich 
lange? Wie lange haben Sie fie ſchon?“ Er hört aber meine 
Antwort gar nicht an, fondern er hat ſich ichon meines Per= 
fpective8 bemächtigt, zieht e8 aus, macht das Fenſter auf, 
und verſucht es: „Das ift ein gutes Glas. Ich hab’ auch 
eins; aber auf diefem jeh’ ich beſſer. Es hat keine Farben—⸗ 
Ränder. Ein gutes Glas ift ein Glück! Da drauf fehen 
Sie die Schaufpieler durch und durch!“ Darauf lacht er 
ungeheuer naturforfcherlich, und ic) begleite dieſes Gelächter 
mit einem discreten weinfäuerlichen Lächeln. Plöglich dreht. 
ſich Herr Schniffelfeld zu meinem Büſten-⸗Schrank, und 


75 


ruft aus: „Oyps!“ dann faßt er Goethe beim Hals, Schiller 
bei der Nafe, Mozart läßt er auf der freien Hand ftchen, 
Haydn trägt er zum Wenfter hin, dem Sopholles gudt er 
von unten in die Luftröhre hinein, und dem Apollo vom 
Belvedere bläst er den Staub aus den Augenwinfeln. Uns 
glüdlicher Weife hängt auf dem Kopfe einer bronzenen Niobe 
ein nettes, blaues Käppchen, und — hier ift Stoff zu Unter- 
fuchungen, zu Forfchungen, zu Meinungen! ‚Ein allerlieb- 
ftes Räppchen! blau und weiß! Ha, Treue und Unfchuld? 
Ha ha ha! Und auf der Niobe! Das hat was zu bedeuten! 
Ja, bei Ihnen ift Alles mit Beziehung! Niobe! Ein Käpp- 
hen! Ein Käppchen auf der Niobe! Eine bronzene Niobe 
mit einem blauen Käppchen! Curios! recht curios! Warum 
grad’ auf der Niobe! ſonderbar!“ Herr Schniffelfeld 
wäre noch nicht fertig, wenn nicht plöglich ein geftictes Ta⸗ 
bleau mit der Unterfchrift: „Die Masfe,am8, Februar,“ 
feinen Eifer und feine Wißbegier aufgeregt Hätte! ‚Die 
Maske? die Maste? Welche Maste? Aha, eine Maske! 
am 8. Februar? Was ift denn am 8. Februar? Wiffen 
Sie, von wen e8 ift? Wann haben Sie’8 befommen? Was 
ftellt e8 eigentlich vor? Die Maske! Am 8. Februar! Hum! 
curios! Ber Ihnen fieht man curiofe Sachen!“ — Darauf 
greift er nach meinem Hut, nimmt die Handfchuh heraus, 
dreht fie um, und liest: „Iaquemar! Ya, Daquemar! Ic) 
trag’ auch Jaquemar! — Aha, da find fle aufgeriffen; Sie 
müſſen erft hinein blafen, bevor Sie fie anziehen, jehen Sie, 
fo — nun bläst er in die Handfchuh, wirft fie dann weg, 
un nad) meinem Stode zu greifen: „Ein fpanifches Rohr! 


76 


ein hübſcher Stod! der Knopf oben recht Hübfch! echtes 
Gold oder vergoldet? recht maffiv! Etwas ſchwer! aber 
recht ftattlich!" Darauf gibt er fic wieder eine fühne Wen- 
dung an meinen Schreibtifch, ergreift das Federmeſſer und 
jagt: „Eineechtenglifche Klinge! Schneidet fie gut?” Dann 
nimmt er eine Feder und probirt es; plöglich Fällt ihm ein: 
„SH muß doch jehen, ob ich mit Ihren Federn fchreiben 
kann!“ Er nimmt meine Feder, ſetzt fid) in meinen Arbeits- 
jeffel, ergreift meine Feder, und ſchreibt, nachdem er erft 
da8 Papier unterfuht Hat, und fand, daß es Whatmann 
fei, auf mein Papier einigemal feinen Namen, und dann: 
„Komm, weiße Dame, komm, weiße Dame, fonını, weiße 
Dame!* Dann lacht er, und jagt: „Ihre Federn find zu 
fpit! zu ſpitz! zu ſpitz!“ Ungeheures Gelächter von 
- feiner Seite, ein fanftfeliges Lächeln von meiner Seite. 

Zum guten Glüd meldet mein Diener einen Beſuch, 
Herr Schniffelfeld empfiehlt fich, indem er im Abgehen 
nod) ſchnell den bei der Thür ftehenden Regenſchirm in die 
Höhe hebt, anfchaut, biegt uud fagt: „Recht fein, recht leicht, 
aber etwas Hein, nur für eine Perfon! Verſtehen Sie mid) ? 
Nur für eine Perfon!! Ha! Ha! 


v2. 


Winter- Opfer und Gefellfcyafts - Geißeln. 


Der tanzende Nachtlöhner. n 


dAenn man ein Bischen darüber nachdenkt, woher es 
kommt, daß zuweilen die ſittſamſten Mädchen in ſchlechten 
Ruf kommen, daß die unſchuldigſte Frau in üble Nachrede 
geräth, ſo kommt man auf eine der Haupturſachen: ſchlecht 
gewählte, leichtſinnige Geſellſchaft, und der Hang zu dieſen 
hirnloſen und geiſtloſen Geſellſchaften entſteht aus den drei 
Suchten der weiblichen Welt: Putzſucht, Gefallſucht, 
Tanzſucht, das ift der Poſitiv, Comparativ und Super- 
lativ de8 Zugrundegehens aller bejjern Frauen-Natur. 

Ich brauche zu meinen heutigen Bilde nur die Tanz— 
ſucht aleın. 

Viele Acltern leiden an einem einfachen Uebel, 
an einer Tochter, die fie gerne verheirathen möchten, oder 
an einem doppelten Uebel, an zwei Töchtern, oder an einem 
dreifachen, an drei Töchtern u. ſ. w. Ä 

Segen diefes Heirathsübel werden, wie .gegen alle 
Örtliche Uebel, gegen Gicht u. |. w., Badecuren umd 
Schweißcuren gebraudt. — Im Sommer geht man auf 
Badeorte, Karlsbad, Pyrmont, Aachen u. f. w., vielleicht 


18 


gießt ein unfchuldiger Freier das Bad mit dem fchönen 
Kinde aus, und Heirathet es; im Winter aber braucht man 
Schweißcuren, die fogenannten Jourfir, oder Hausbälle, 
oder Picknicks, wo die armen Kandidatinnen des Eheftandes 
ſich im Schweiße ihres Angefichtes einen Dann ertanzen 
follen. Zum SHeirathen gehören aber Freier, zum Tanzen 
Tänzer! Die Mädchen können ſich nicht untereinander hei- 
rathen, die Mädchen können nicht untereinander tanzen ! 

Die Tänzer find aber jett fo rar, wie die Freier! 
Den Hof wollen die Männer jett den Mädchen machen, 
aber fein Haus machen fie ihnen dazu; aufziehen thun 
fie die Mädchen fleißig, aber nicht zum Tanz! 

„Tänzer! Tänzer! Im Gotteswillen Tän- 
zer!“ Das ift der Noth- und Hilferuf aller albernen Mütter! 

Der Mann jammert: „Kann ich Tänzer aus der 
Erde ftampfen? Wächst mir ein Tanz - Anführer in der 
flachen Hand?" Aber das Schredlichfte der Schreden ift 
eine Mutter in ihrem Wahn! 

„Zänzer! der gute Auf meiner Töchter für einen 
Tänzer!” 
| Jeder Bekannte wird alfo auf Tänzer- Raub aus- 

gefhict. Ein Feder darf einen Tänzer bringen; ob diefer 

Tänzer nun veich oder arm, Flug oder dumm, gefittet oder 
lafterhaft, geachtet oder verrufen ift, das gilt gleich, ift er 
doch ein Tänzer! 

Diefe Hausfreunde zerftreuen ſich nun in Kaffee— 
häuſern, in Bierkneipen, an Straßeneden, in Theatern, und 
rufen: „Iſt kein Tänzer unter Euch?“ Iſt einer da, fo 


79 


wird er gefragt: „Tanzen Ste? Tanzen Sie viel?* Dann 
“wird mit dem armen Schlachtopfer ein Pact gefchloffen, er 
wird ale Nachtlöhner gemiethet, ev muß Alles tanzen, 
mit Allen tanzen, die ganze Nacht tanzen! 

Das tanzende Opferlamm wird Abends ſchwarz an= 
gezogen, eine Rofe in fein Knopfloch geftedt, gelbe Hand- 
ſchuhe befommt er, und nun wird er in die Gefellfchaft, die 
er nicht, die ihm nicht Fennt, geführt. Er präfentirt fein 
Creditiv al8 Tänzer, und weder Mutter noch Tochter, 
noch die eilfhundert thörichten Sungfrauen, die eingeladen 
find, fragen: „Wer ift das, was ift er?” Mag es der uns 
geſchlachteſte Bengel, der Hirnlojefte Sant, der fittenlofefte 
Roue fein, was thut da8? Er ift ein Tänzer! 

„Dies eine Wort erfchlägt zehntaufend Rückſichten!“ 

Über dafür muß der arme Mann aud) arbeiten! Wie 
ein Laftthier Feucht er unter feinem unfterblichen Beruf! 

Er muß die Paare ftellen, den Kotillon anführen, die 
Zouren arrangivren u. |. io. ; feinen Augenblick darf der Arme 
raften, er muß ein perpetuum mobile feitt. 

Will er einen Augenblic figen, fo kommt die Haus- 
frau: „Ach, ich bitte Sie, tanzen Sie doch mit der dien 
Frau 3. ein Bischen, es fordert fie Niemand auf!“ und 
der arme tanzende Nachtlöhner geht hin und fordert daß 
lebendige Rondeau auf, und 

„Zanzet herauf, und tanzet hernieder, 
Bis ihm Inaden die zerbrochenen Glieder!“ 

Erſchöpft lehnt er fid) an eine Stuhllehne, da kommt 
Das Hausfräulein: „Ic bitte Sie, Fiebfter, ziehen Sie dod) 


80 


das kleine Fräulein dort ein Bischen zum Tanze auf, ſie 
iſt ſchon beleidigt.“ Mit ſchmerzlicher Reſignation geht das 
Opferlamm hin, zieht das kleine Fräulein auf, und walzt 
wieder wie eine Windsbraut um den Saal herum, läßt ſie 
dann in ihren Seſſel hineinfallen, und lehnt ſich athemlos 
in die Fenſtervertiefung; allein, nein, noch iſt dir keine Ruhe 
beſchieden, du weiſes, thätiges, menſchenfreundliches Haupt! 
Die Frau kommt wieder: „Das Fräulein X. will eine 
Mazurka tanzen, Sie thuen mir die Freundſchaft!“ 

Und der tanzende Nachtlöhner rafft ſich zuſammen, 
und rafft eine Mazurka zuſammen, und gekocht wie ein 
Krebs, aber deshalb nicht minder roh, hat er vollendet! 

In einer ſeligen Minute will er ſeinen heißen Gram 
an dem Buſen eines Gefrornen ausſchütten, da wird zum 
Cotillon geblaſen! 

Auf, auf, mein Tänzer, zu Pferd, zu Pferd!” 

Da fteht er wieder, verlaffen hat er fein Eis, feine 
Mandelmild), und neuerdings tanzt er eine Stunde herab. 

Wenn die Nacht zu Ende if, wenn die Tichter aus— 
gebrannt find, die Mädchen blaß, die Friſuren zerriffen, und 
Alles geht, ftreicht der lendenlahme, abgehette Nachtlöhner 
feinen Danf ein und erhäft die dringende Einladung, ja 
zum nädjften Tanz wieder zu kommen. Wie er fort ift, frägt 
man fich: „Wer ift denn das?“ Kein Menfch weiß es. Die 
Hausfrau fragt: „Wer hat ihn denn gebradt?” Es ift 
faum zu ermitteln. 

Ein paar Tage fpäter geht ein liebes, fittfanes, uns 
Schuldiges Mädchen über die Straße; ein verrufener, als 


Bin 


81 


ſittenlos bekannter junger Mann grüßt fie ganz vertraulich; 
die Leute, die e8 bemerken, zuden die Achfel, — und er 
fagt zu feinem Begleiter: „Mit der fteh’ ich auf einem 
curioſen Fuß!“ 

Das Mädchen war auf jenem Hausball, und der 
Begrüßende war der tanzende Nachtlöhner! 

„Das ift der Fluch der böfen That, daß fie fortzeugend 
innmer Böfes muß gebären!“ 


M. G. Saphir's Schriften. VI. Bd. 6 


VIII. 


Ein Löffel Polenta! 


Herr Hummerfutterer hat nur eine Leidenſchaft, er 
ladet ſich gerne manchmal einen Freund auf einen Löffel 
Polenta“ ein. Frau Hummerfutterer hat aud) nur 
eine Leidenfchaft, fie gibt nicht gerne Femanden einen Löffel 
Polenta, und Fräulein Migi Hummerfutterer hat 
auch nur eine Leidenschaft, fie ißt nämlich felbft gar zu gerne 
einen Töffel Polenta, aber immer denjenigen Löffel, 
den ein Anderer befommen fol. 

Ich war dazıı beftimmt, zwifchen diefen dreier fich 
freuzenden Löffel-Teidenfchaften graufan in die Mitte ge- 
worfen zu werden. 

„Eilen Sie doh Mittwoch einen Löffel Polenta 
bei mir!“ fagte Herr Hummerfutterer, und ich fagte: 
„Ja!“ — Mittwod) Früh erfchien der Bebiente von Herrn 
Hummerfutterer mit einer Empfehlung der Yrau von 
Hummerfutterer, und es thäte ihr ſehr leid, aber fie 
habe fich geftern Abends erfältigt, Tiegeim Bette, und würde 
fi) da8 Vergnügen ein Andermal erbitten, Zwei Stunden 
darauf traf ich Frauvon HummerfuttereraufderSeiler- 
ſtatt, wo ſie einen Sack Polenta-Mehl einkaufte. Sie ſah 


33 


mid) nicht; aus Malice ging ich auf fie zu: „Ich ſchätze 
mich glücklich gnädige Fran! Sie ſchon außer Bett zu fehen ; 
wie geht's, meine Verehrte?“ — „Ach,“ erwiderte fie, „ich 
habe mid) gewaltfam aus dem Bette geriffen, und muß mich 
gleich wieder niederlegen; wie ſehr bedaure ich. Aber ver» 
jprechen Sie mir, daß Sie nädjften Diontag einen „Xöffel 
Polenta“ mit uns effen!“ — Ich verfpradh e3. 

Montag Früh Fam der Bediente des Herrn von 
Hummerfutterer, „fein Herr fühle fi) ganz unglüd- 
lich, allein Fräulein Hummerfutterer habe plößlich zu 
einer todtkranfer Freundin nad) Baden müffen, und fie wollte 
das Vergnügen meiner Gefellfchaft doc) auch genießen!” — 
Ic bedauerte fehr. 

Nachmittag ging ich zu Guerra's, und kam gerade 
neben Frau und Fräulein von Hummerfutterer zufigen. 
„Stellen Sie fich vor,” fagte Frauvon Hummerfutterer, 
„eben wollte ſich meine Mitt auf den Wagen fegen, da be- 
fommen wir die Nachricht, daß ihre Freundin, dem Himmel 
ſei's geklagt, geftorben ift! — Ich habe doppelt bedauert! 
Allein jetzt verfprechen Sie mir, daß Sie fünftigen Frei— 
tag ficher auf einen „Xöffel Polenta“ kommen!“ — Id 
verſprach. 

Donnerstag Abends erhielt ic) folgende Zeilen 
von Herrn von Hummerfutterer: „Es ift wirflich tra⸗ 
gifh! Zum dritten Mal muß ich mit Xeidwefen auf Ihre 
Öegenwart verzichten. — Meine Frau hat vergefien, 
daß wir fchon feit vierzehn Lagen auf Morgen eingeladen 
find, u. f. wm." — 

6* 


81 


Am Freitag Morgens begab ich mid) zufällig felbft 
auf den Wildpretmarkt, weil ich zu einem vorgenommenen 
Pidnid zwei Faſanen zu faufen hatte. Als id) in den La— 
den eintrat, fteht, mit bem Rücken zu mir gewendet, Herr 
Hummerfutterer, weldher einige Schnüre „Feine Bögerl* 
in der Hand wiegt, und zu der Wildprethändlerin fagt: 
„Aber Sie müſſen fie mir fogleich ſchicken, denn wir brauchen 
fie zur Polenta, und wir eſſen ſchon um Ein Uhr!“ 

Ich Lopfte dem Herrn Hummerfutterer ſachte 
auf die Schulter: „Suten Morgen, liebfter Herr von 
Hummerfutterer! wie befinden fie ſich? Kaufen fie 
„Keine Vögerl?“ 

„3a, ” ftammelteer ganz blaß, „MeineBögerl bloß." — 

— „Über zur Polenta wahrſcheinlich?“ — 

— „Sa wohl, aber, aber blos für meine Kinder; ich 
und meine Trau find bei ***, — Was fagen Sie zu meinem 
Unglüd! Aber nächſten Dienstag entgehen Sie mir nicht 
mehr. Da eſſen Sie einmal einen „Löffel Bolenta* bei 
mir. Geben Sie mir ihr Ehrenwort!“ 

Ic wendete mich darauf zur Wildprethändlerin, und 
fagte ihr ganz laut: Schiden Sie mir dod) nächſten Diens⸗ 
tag Früh ein Paar Krammetsvögel zu mir, ich will fie 
Mittags eſſen.“ — Und mit einem derben Händedrud, in 
dem eine ganze Refignation aller Bolenta lag, trennte id) 
mid) von Herrn Hummerfutterer. 

Der verhängnißvolle Dienstag kam; ed wurde acht, 
neun, zehn, eiff, zwölf Uhr, kein Diener und kein Brief fam, 
welche bedauerten. 


nn" 


85 


Es follte alfo endlid) einmal realifirt werden, das 
große Unternehmen, ich follte bei Hummerfutterers. 
einen „Xöffel Bolenta” efjen! 

Ic) fand den Tiſch ſchon gededt, die Familie Hum- 
merfutterer fchon fchlagfertig. Die Frau kam mir jogleich 
entgegen, und fagte, ic) müßte vorlieb nehmen, es fei fein 
Diner, blos eine „Wurzelfuppe“, blos cin „Löffel Po- 
Lenta.” — Wir fegten uns zu Tifche, e8 waren noch zwei 
junge Hummerfutterer da, Knaben von adjt bis zehn 
Jahren. Die Wurzelfuppe fam. Frau von Hummerfut- 
terer gab mir zuerft; allein fie verfuhr fo oberflächlid), 
wie eine Kinder-Örammatil. Sie ließ die Wurzelmwörter 
alle fallen, und gab mir nur die Derivativa, die abgeleitete 
Suppe, die zwar ein lauteres Gewiſſeu befaß, aber fid) 
fonft weder durch Färbung des Stils, nod) buch Kraft 
des Ausdrucks auszeichnete! Defto tiefer aber drang ſodann 
Fränlein Migi in die Wurzehvelt cin! Sie fuhr nit den 
Löffel in die Schüffel, al8 wollte fie felbe entwurgeln! Auch 
die zwei fleinen Hummerfutterer befamen ihre Portion, 
daß fie da fagen wie die Wurzelmännchen. Ic) dankte der 
Hausfrau für die ungemeine Klarheit ihrer Mittheilung, 
indem ich ihr verficherte, daß das Andenken daran in nreinem 
Innern fortwurzeln wird. Fräulein Mitzi hatte indeffen 
folhe botanifche Biffen gemacht, daß ihr aufgefchnittener 
Magen gewiß ein wohlafjortirtes Line'ſches Kräutermaga— 
zin abgegeben hätte. Ich neigte mich zuihr und fagte: „Mein 
holdes Fräulein, Sie ſcheinen eine Vorliebe für das Pfau 
zenfyften zu haben?“ 


86 


„Ad, ja,“ fagte fie ganz unbefangen, „es ift eine 
Biutreinigung, befördert die Ausdünftung und fäubert den 
Körper!” 

Ich war entzüdt über diefe delicate, naive Natur | 
Inzwiſchen warenFifche gekommen. Es waren junge Forellen 
von einen Gareißen und einem Weißfifch, in einer Butter: 
fauce von Baumöl. Es waren blos Köpfe und Schweif- 
ftüde. Ich fagte zu Herrin Hummerfutterer: „joldhe 
Fiſche find doch gerade wie Dichter, blos Kopf, und 
es ıft merkwürdig, wie fie fid) fo ohne ale Mittel 
erhalten ! 

Frau von Hummterfutterer hatte mir indefjen 
einen Kopf auf den Zeller gelegt, allein fie ließ ihn über 
den Zeller ihres Mannes die Reife machen, und gerade in 
dem Scheitelpunfte diefes Tellers verlor der Kopf feinen 
ganzen Anhang aus der Fifchwelt, und zu mir gelangte nur 
die äufßerfte Spitze diefes Kopfes. Ich machte dem Herrn 
Dummerfutterer wieder dieBemerfung, daß mein Fiſch 
eine gute Haut jei, die noch obendrein es gewiß nicht 
fauftdied hinter den Ohren hat. — 

Da id) nichts Anderes zu beifen hatte, jo machte ich 
beigende Bemerkungen. Mißi hatte indeffen auf ihren Teller 
die ausgezeichnetften Köpfe ihrer Zeit verfammelt. Nach 
dieſer Wurzeljuppe, nachdem fie, jo zu fagen, fo fehr ins 
Gras gebifien hat, hätte ich nicht gedacht, daß fie noch fo 
viel beißen wird. Ich war begierig, aus welchen Gefund- 
heitögründen fie Fifche effe, und welche officinelle Kraft 
diefelben hätten. 


8 


„Mein holdes Fräulein, fcheinen eine Vorliebe für 
das Fiſch-Syſtem zu haben?” — 

„Ad ja, fie verdünnen die Säfte, und machen feinen 
Schleim!" — 

$c wendete mid) zu meinem Kopfe, indem id) dachte: 
„wenn folche Köpfe feiern, welch ein Berluft für mein Jahr» 
Hundert!” 
Kurſchsplzcher! — Mitzi Hatte eine Gräte gejchludt. 
— Kochtsratſcher! — „ER ein Stüdchen Rinde!” jagte 
die Mutter, und reichte ihr einen halben Laib Brot Hin. 
Migi war indefjen an mein Herz gejunfen und röchelte. 
Da fprang der Herr Hummerfutterer auf, verfegte ihr 
plößlid) einen folchen Puff in den Rüden, daß die gefchludte 
Sräte einen Salto Mortale in die Höhe machte, und mir 
gerade auf meinen Teller ſprang. E8 war eine ganze Hirn 
ſchale! Mitzi nahm auf diefen Schreden noch einige 
obligate Köpfe zu fich, und der Kern der Mahlzeit, die Po- 
lenta, fam! 

Es war ein Kleiner, gelber Berg, in welchem „die 
feinen Vögerl“ als Poftmeifter aufgeftellt waren, denn fie 
wohnten alle wenigftens eine Poftftation auseinander. _ 

Hear Hummerfutterer begann vor Freude zu 
wetterleuchten, und Mitzi zu bligen; die jungen Hummer- 
futterers donnerten, und die Frau von Hummerfut- 
terer flug mit großem Gekrache ein! — Der Löffel fiel 
wie ein DBlisftrahl auf den Bolenta = Berg! 

Die Schlacht begann! Löffel in Arm! Marſch! Vor— 
wärts! Haut ein! 


88 


Es war einefurchtbare Schlacht! Es lösten ſich alle 
Bande der Natur! Die kindliche Ehrfurdht wid; Mutter- 
liebe wurde zur Megäre, und der Hausfreund war vergefien! 

Herr von Hummerfutterer hatte fi) eine Heine 
Brühl aus Polenta auf feinem Teller angelegt und auf 
der Spige einen Kleinen Hußarentempel. — Mir legte Frau 
von Hummerfutterer eine Heine Bortion vor, indem fie 
fagte: „Ich weiß, fie eſſen jo was nicht gerne, und nur une 
zu Liebe.“ Auch die Schatten einiger feinen Bögerl ſchwebten 
über meinen Zeller, aber fie felbft Ließen fich, wie die Wachtel 
in der MWüfte, auf Mitzi's Teller nieder. 

Meine Wißbegierde wurde wieder wach), und ich 
fonnte dem Drange nicht widerfiehen, zu erfahren, aus 
welchen diätetifchen Gründen Fräulein Migi ganze Po- 
lenta⸗Berge ebnet. 

„Mein holdes Fräulein fcheinen eine Vorliebe des 
Polenta-Syftems zu haben?" — 

— „Ah ja, fie nähret fehr, und erweichet die 
Gedärme.“ 

Ic bewunderte die angewandte Zartheit ihrer prak⸗ 
tischen Arznei-Seelenlehre, und fah mit ftiller Ehrfurcht 
dem unermüdfichen Yleiße der Polenta-Enthufiaften zu: 


" „Hünf Löffel fieht man ab und auf 
In Eine Schüffel fteigen, 
Und ſchwebt der Eine voll herauf, 
Muß fih der And're neigen. 
Sie wandern raftlos hin umd ber, 
Abmwechjelnd voll und wieder leer, 


8 


Und trägt Einer diefen an den Mund, 
Stedt jener in der Schüffel Grund, 
Doc wollen fie mit ihren Gaben 
Den Saft allein nur gar nidjt laben.“ 

Ich Hatte bald keine Bolenta, und indem ich meinen 
Löffel beobachtete, der allein ruhte, wo Alles arbeitete, wußte 
ich nicht, ob ich Herr Hummerfutterer auf einen 
„Löffel Bolenta”,oder auf einen „Bolenta-Löffel“ 
eingeladen hatte, und wäre faft verfucht geweſen, ihn 
einzufteden. 

Endlich war das große Werk gethan, ringsum war 
nichts mehr zu ſehen; da fagte Frau von Hummer: 
futterer: „Sie haben aber gar nichts gegefjen!“ 

Ic) aber fagte: „Ach, gnäbige Frau, ich hab’ wirklich 
genug!” 

Herr Hummerfutterer fand ganz vergnügt auf, 
Tchüttelte mirdie Hand, und fagte: „Nun, Freunden, wann 
möchten Ste wieder einmal bei mir einen „Xöffel Po— 
lenta“, efjen!“ | 

Ich Hätte ihm auch gerne erwiedert: „Am liebften 
jogleih!" — 

Ich empfahl mich, Frau von Hummerfutterer 
bat mich, e8 nicht übel zu nehmen, wenn die Polenta nicht 
nad) meinem Wunfche gewefen ift; ich ging und fagte: 

„Polenti non fit injuria!* 


Beantwortungen bon Minnegerichts - Fragen. 


J. 


Beantwortung der Frage: „Wer hat wahrhafter 
geliebt, der durch Die Liebe ein Weiſer, oder der 
durch Die Liebe ein Narr geworden if!" 


Omnia vincit amor, et nos cedamus amoti. 
Virgil. Eclog. 10, 69. 


Die Liebe beſiegt Alles, ſogar Metalliques! Die Liebe über- 
windet Alles, ſogar Hausbälle! Die Liebe bezwingt Alles, 
ſogar Recenſenten! Die Liebe begeiſtert Alles, die Liebe 
humaniſirt Alles! | 

Und foll ich weiter reden von der Liebe? und von 
welcher Liebe? Bon der ſpor adiſchen, wie fie in einzelnen 
Fallen vorlommt, und Menfchen, das heißt Unmenfchen, 
das heißt Verliebte, Hinrafft? Dder von der epidemi- 
ſchen, afiatifchen, wie fie in unferer Zeit graffirt, und 
Zaufende im Xeben, das heißt in der Fabel, das heißt in 
Romanen und in Romans Köpfen niederwürgt ? 

Was ift Kiebe? Was Heift Liebe? Wo wohnt die 
Liebe? 

Fragt den Millionär, und er wird Euch fagen: „Da, 
wo ſich die Fingerfpigen mit dem Gelde an der atmoſphäri— 
chen Luft verbinden.” Fragt den Naturforfcher, und er wird 


9 


Euch jagen: „Wo fich das organiſche und fortpflanzende 
Leben entzündet.“ Fragt den Schwärmer, und er wird Eud) 
jagen: „Da, wo der Mondftrapl die fenfzende Knospe küßt.“ 
Fragt den Luftfpieldichter, und er wird Eud) jagen: „Da, 
wo der Knoten, zur Ueberraſchung des Publitums, ganz 
anders gelöst wird, als der geſunde Menjchenverftand es 
erwartet.” Fragt einen unferer Formenſchmiede und fubjec- 
tiven Lyriker, und er wird eud) fagen: „Es ift 

— — Entfagen nur und Trauern 

Und ein verlornes ®rollen (?) und Bedauern.“ 

Fragt unfere Jünglinge, und fie werden Euch fagen: „Sie 
wohnt in der Nothwendigkeit, eine reiche Partie zu machen.“ 
ragt unfere jungen Mädchen, und fie werden Euch jagen: 
„Sie wohnt da, wo fich die Eitelkeit in die Verjorgungs- 
jucht ergießt.“ Fragt endlich mich, undich werde Euch jagen: 
„Sie wohnt in dem Herzen, das für eine Perfon zu enge 
ift und. nur für zwei Perfonen weit genug ift!“ 

Liebe hat aber nicht nur ihren Drt, jondern aud) 
ihre Zeit. Bei Pflanzen und Menjchen ift die Jugend 
die Zeit der Liebe! | | 

Blumen und Herzen haben ihre Flitterwochen ; nad) 
den Flitterwochen hört die Blume auf zu bligen, das Herz 
zu glühen, die Zweige ſchweigen, der Schmetterling ſenkt 
den Fittig, das Leuchtfäferchen verliert feinen Phosphor ! 
Nur feltene Menfchen und feltene Herzen haben einen 
langen Frühling und eine lange Jugend! Aber jene 
. jeltenen Blumen und jene jeltenen Herzen wurzeln zwar in 
der Erdenmelt, allein fie trinken Leben aus den Aether des 


92 


Himmels und das Einathmen des Ueberirdijchen macht fie 
zum lieblichften, heiligften Wunder der Natur! 

Was die Kunft für die äußern Sinne ift, das 
ift die Lie be fürdeninnerenSinn: eine Sehnſucht nad) 
dem Idealen, nad) der Urfchönheit, die in einem endlichen 
Weſen ihm taufendftrahlig aftgegen leuchtet! 

Liebe, Du begeifternde Improvifation eines liebetrun⸗ 
fenen Herzens, Du kühne Muſik einer enflammten Empfin- 
dung, id) fage von Dir, was ein großer Dichter von einem 
andern Gegenſtande fagt: 

„Das ich ohne Dich wäre, ic) weiß es nicht, aber 
mir graut, feh’ ich, was Laufende ohne Di find!“ 

Ach Gott! ja, mir ſchaudert die Haut und dieSeele, 
feh’ ich das Gefchlecht der menſchlichen Mollusten und 
Polypen, die ohne Liebe leben, ihnen fehlt die Entwidlung 
ihres Wefens, ihnen fehlt die Entfaltung ihres Seins; fie 
vernehmen nichts von der Harmonie der Schöpfung, die 
nur in der Liebe ihr Maifeft auf Erden feiert; fie jehen 
nichts von dem Widerfchein des Göttlichen, das aus dem 
Spiegel der Liebe zurüdftrahlt: fie ahnen den aufgehenden 
Frühling nicht, der zwei Herzen überbaut mit den zu 
Dlumen gewordenen Mythen der Sympathie; fie wandeln 
lihtlo8 unter dem Strahlen- und Funkenfalle des allbeleben- 
den, allerwärmenden, allbefeligenden Centralfeuers! 

Ach, faget nicht, daß der Tiebende fid) täufche! “Die 
Liebe täufcht fi fo wenig, wie die Poefte, die Poeſie fo 
wenig, wie die Kunft! Es ift Götterwahrheit in jeder 
Liebe, in jeder Poeſie, in jeder Kunft; und wie die Wahrheit 


un. 


93 


in ber wahren Kunft, fo liegt die Oeliebtenliebe in jeder 
wahren Liebe, fo ift jede Täuſchung der Liebe unmöglich! 

Und foldh eine Empfindung follte den Menfchen zum 
Narren machen? Eine ſolche Empfindung follte die menfch- 
lihe Natur nicht zur Bervolllommnung emportragen? 
Eine folche Empfindung ſollte den Geift nicht verklären, 
den Sinn nicht veredeln, das Herz nicht heiligen und den 
Berftand nicht erhöhen und nicht Läutern? 

Wer nad) feiner glüdlichen oder unglüdlichen Liebe 
ein Narr ift, der ift Feiner geworden, der ift einer 
geblieben, mit erhöhtem Charafter. M 


II. 


Beantwortung der Frage: „Kann ein geiſtreicher 

Mann ein geiſtloſes Frogenzimmer, nud kann ein 

geiftreihhes Frauenzimmer reinen geiflofen Mann 
innig und dauernd lieben?" 


WMar die Statue geiſtreich, in die ſich Pygmalion ver- 
liebte? — War der ſchlafende Endimion geiftreic, 
in den Diana fich verliebte? — War der Stier geiftreich, 
von dem fich die Prinzeffin Europa entführen lieg? — 

Alfo die Mythologie ift gegen den Geift! 

Wenn wir alle Xiebesbriefe der BVerliebten Lefen, 
fo ergibt fi, daß auch die Orthographie gegen den 
Geiſt ift! 

Und die Weltgefhichte? Die Weltgefchichte jagt 
mit tanfend Beifpiel- Zungen, daß die geiftreichften Männer 
die dümmſten Frauen geheirathet, und die geiftreichften 

Mädchen die dümmſten Männer geliebt haben. — 
Wie foll ich nun gegen die Mythologie, gegen die 
Drthographie, und gegen die Weltgefchichte ſtromauf 
fhwimmen ? 

Was heit Geift, geiftreich? Welchen Einfluß übt 
der Geiſt aufden Mann, welchen aufdas Frauenzimmer aus? 

Unter zwanzig geiftreihen Männern gibt es neunzehn 
gemüthliche, durch ben Geiſt veredelte, durch den 


9. 


Geift geläuterte,durd) den Öeift geftählte und 
erprobte Herzen. — Unter zwanzig geiftreihen Frauen⸗ 
zimmern find neunzehn Kantipen, neunzehn durch 
den Geiftzerftüdelte, Durch den Geiſt entmweib- 
lichte, durch den Geiftentfärbte Herzen. 

Der Geift bei dem Manne ift ein zweiſchneidiges 
blanfes Schwert, mit dem er für Necht und Wahrheit, für 
feine Lleberzeugung ficht, mit dem er gegen die Unholde des 
Lebens, gegen die Drachen, die den Schat des Daſeins 
neidifch überwachen, zu Felde zieht. Der Geift bei den 
Vrauenzimmern ift eine Batent-Gartenfchere, mit welcher 
fie die Blüten des Gemüthes, die Nofen der Empfindung, 
und jegliche Blume der Weiblichkeit aus ihrem und unferm 
Lebensgarten ausfchneiden. | 

Nur in den Schriften der mittelmäßigen Schrift- 
ſtellerinnen fliegt Milch, Meth und Honig; in den Schriften 
der wirflich geiftrei cd) en Schriftftellerinnen rinnt Hyänen- 
Blut durch die Zeilenadern, ftrömt kochendes Gift, ätende 
Schärfe, freffende Lauge, verheerende, verfengende Lava! 

Die Frau wurde aus der Rippe des Mannes ge- 
macht, und nicht aus feinem Ohr noch aus feiner Stirne; 
die Gegend des Herzens ift ihr Geburtsort, und nicht 
die Gegend des Kopfes; fie fol dem Mann zum Her- 
zen gehen, wie fie ihm vom Herzen ging. Das Herz aber 
bedarf feines Geiftes, e8 bedarf des Gemüthes; das Herz 
ift kein Salongefchöpf, e8 braucht keine Räthfel und Cha- 
raden aufzugeben, e8 braucht feine Cirkel zu unterhalten, es 
braucht feine jeux d’esprit zu arrangiren, es braucht feine 


% 


wigigen Repliquen zu geben, und keine. leuchtenden Worte 
fpiele zu machen. Wenn zwei Herzen zufamnıenfommen, fo 
fprechen fie nicht vom Theater, nicht von der romantischen 
Schule, nicht von den neueften Mufen-Almanadjen, nit 
von der Cachucha, und nicht von Stadt-Begebenheiten. 

Was fucht der Mann beim Frauenzimmer? 

Der geiftlofe Mann fuht brillante Eigen- 
ſchaften, aber gerade der geiftreiche Mann ſucht ftille 
Eigenfchaften. Der geiftlofe Mann wird bei einem 
Frauenzimmer das Radfchlagen und die Pfauen - Augen 
eines jchillernden Geiftes, die Kuallerbjen eines Converſa⸗ 
tions⸗Feuerwerkes, den Zickzack eines flammenden Geiſtes⸗ 
Nordlichts lieben, er wird ſich darin gefallen, ſich wie ein 
kleiner Junge unter dieſe Geiſt-Cascade mit ihren hohlen 
Waſſerperlen zu ſtellen, ſich von ihr überſtäuben zu lafſen, 
und zu denken: er glänze in dieſem leeren Waſſerſtaub-Fall! 
— Der geiftlofe Mann, weil ihn jelbft geiftig friert, 
fucht er fremde Wärme, Strohfener, Colophoniumblige; 
weil bei ihm in feinem Geiftesftübchen kein Feuerofen ift, 
fo ſucht er die Meißner'ſche Luftheizung des weiblichen 
Geiftes auf. Der geiftreiche Mann hingegen, der fi) am 
eigenen Strahle wärmt, dem die Flamme im eigenen Geift 
[odert, der fucht bei dem weiblichen Wejen Kühle, Schat⸗ 
ten, Zabung. — Der geiftreihe Mann jucht bei der 
Frau gefunden Verftand, gefundes Herz, gefundes Blut. 

Klingt das profaifc ? Das kann fein, aber es ift wahr. 

Der gefunde Berftand wird die Sprache des Geiftes 
verftehen, ohne fie felbft zu jprechen, und das ift gerade 


5% 


97 


genug für den geiftreichen Mann; das gefunde Herz wird 
bald verkünden, ob e8 den geiftreihhen Mann blos feines 
Geiftes halber, oder feines eigenen Ichs halber Liebt, und 
darnad) feine Liebe erwiedern; und das gefunde Blut wird 
in feiner Rojenfarbe, durch eine gleichförmige Circulation 
das gefunde Herz ſtets in jener jchönen, gleichförmigen 
Walung lafjen, die zu einem gleichförmigen, ftillen Herzens⸗ 
glücke nöthig ift. 

Der geiftreihe Mann ſucht im Frauenzimmer eine 
Dlume, die er fi) ans Herz Heftet, und feine farbige Ko— 
farde, um fie auf den Hut zu fteden; er jucht den Au 8- 
taufch der Empfindung, und nicht den Austauſch 
geiftiger Intereffen; fie jo feinen Geift begreifen, 
ihn achten, zu ihm emporfchauen, wie der Epheu zu der 
Baunıfrone; aber fie braucht nur bis an fein Herz zu reichen 
und ihn da wie Ephen, fanft und feſt und für inumer zu 
umſchlingen. 

Anders iſt es mit dem Frauenzimmer, das einen 
Mann liebt! Die Weltgeſchichte erzählt von vielen Frauen, 
die dumme Männer geliebt haben. — — Ja, aber die Welt- 
geſchichte jagt nicht, was aus foldyer Liebe, aus jolcher Ehe 
geworden; fie enthält nur die Anzeige, aber nicht die 
Geſchichte diefer Liebe, die Folgen nid. 

Wo eine geiftreiche rau einen dummen Mann heis 
vathet, wird entweder fie unglüdlich, oder er läch er— 
lich; und es kann für eine wahrhaft geiftreiche Frau fein 
größeres Unglüd geben, als einen lächerlichen Mann zu 
haben. — Se kleiner fein Geiſt neben dem ihrigen erjcheint, 

N. G. Saphir's Schriften. VI. Bd. 7 


98 


defto größer ift die moralifche Berdächtigung, die fie, und 
ihren Entſchluß, ihn zu heirathen, trifft! 

Es gibt Frauen, die dumme Männer fuchen, um fie 
dann zu beherrfchen; von folchen moralifchen Mißgeburten 
ſpricht man nicht, fie find der Verachtung der Welt, und 
der Nichtigkeit ihres eigenen Gemüthes verfallen. 

Aber ein Frauenzimmer, das mit hellem ©eifte ein 
unverdorb’nes Herz verbindet, wird und kann nur jenen 
Mann innig und dauernd lieben, der durch Geift 
und Bildung hoch über ihr fteht, wenn feine moralifche 
Beichaffenheit feinem Geiſte gleichen Rang hält. — Das 
wahrhaft gebildete Frauenzimmer will den Mann nicht nur 
lieben, es will ihn hochachten, verehren, es lebt und 
athmet gerne in dem Doppelſtrahl des Geiſtes und des 
Gemüthes, in den Schweſterflammen von Kopf und Herz. 
Der Geiſt des Mannes ganz allein iſt der Geiſt, in dem die 
Liebe des Weibes ewig jung erhalten wird; er iſt die ver— 
jüngende Gaſtein⸗-⸗Quelle, in welcher die Roſe der Neigung 
nie verblüht ; der Geift allein bewirkt durch fein magiſches 
Handanflegen, daß die blinden Herzen fehend werden, und 
die gelähmte Empfindung regfam wird und bleibt; der Geift 
des Mannes ift der kryſtallene Glasfturz über den geflocd)- 
tenen Blumenftrauß der Liebe, über den geheiligten Kranz 
der Ehe; der Geift de8 Mannes allein heißt den wandeln- 
den Mond weiblicher Neigung feft ftehen, und die Sonne 
der Treue nicht finfen; der Geift des Mannes allein ift der 
Gärtner, der die Rebe der Liebe ins weibliche Herz pflanzt, 
der Thau, der fie mit Süßigkeit füllt, die Sonne, die fie 


99 


veift, der Winzer, der fie feltert, und das güld’ne Gefäß, in 
dem fich die gefelterte Gluth und Süßigkeit erhält, und mit 
der Zeit edler, milder, ftärfer und wohltguender wird! 

Ihr lächelt? Sch bemitleide Euch, daß Ihr nicht 
glaubt an die befjere Richtung, an die fchönere Empfindung, 
an das höhere Fühlen der weiblichen Herzen! Ich bemit- 
leide Euch, daß Ihr in dem täglichen Berfchlemmen in ver- 
fälfchten, gemachten und verkünftelten Wirthshausweinen, 
den Glauben au die Eriftenz des echten, edlern, reinen 
Göttertrankes nicht mehr glaubt! Ich bemitleide Euch, daß 
Euer Sinn fo verflacht, Euer Geift jo ausgeblafen, Euer 
Herz fo ausgeblättert, Euer Denken jo entwürdigt, und Euer 
Empfinden fo entadelt ift, daß Ihr in dem weiblichen Ges 
Schlechte nichts fehet, als einen Taſchenſpiegel, aus dem Euch 
Euer eigenes, hohles, nichtsfagendes, nichtsfühlendes und 
nichts bedeutendes Narciffen-Geficht geiftig leer und mora⸗ 
liſch matt entgegenlächelt! 


70 


11I. 


Beantwortung der Frage: „Was if ſchmerzlicher: Die 

gegebenen Geſchenke unferer kiebe zurück zu erhalten, 

sder die empfangenen Geſthenke der Liebe yurürk- 
gefordert zu ſehen ?“ 


Die Witterung, mein IuftigerXefer, ift der Beantwortung 
diefer Trage ſehr ungünftig! Wenn ich fage Witterung, fo 
verftehe ich daunter die Zeit, und unter der Zeit verfteh 
ihdas Carneval! — Im Carneval von Liebehandeln, 
heißt mit einem Tollen von Kant's „Kritik der reinen Ver⸗ 
nunft“ ſprechen! 

Unſere meiſten Frauenzimmer kennen in dieſer Zeit 
leinen andern „Amor“, als höchſtens den auf dem Graben, 
der ftatt Pfeil und Bogen, Band und Shaw! im Schilde 
füßrt; feine andere Sehnſucht, ald nad) Lannoi, Polborn 
und Reichmann, dem Kleeblatt der heißeften Frauen⸗Liebe; 
feinen andern Zug, als zu Beer, und finden wir ja eine 
„Srifeldis”, jo ift fie die auf der Freiung! 

Unfere meiften Frauenzimmer lieben im Frühling fich 
und die Zandparthien, im Sommer fid) und die Badereifen, 
in Herbfte fi) und die Winterftoffe, und im Winter fi 
und die Moden: Handlungen! 


101 


Liebe!? Pudelnärrifches Ding! Keine Erfindung 
unferer Satyriler! Hampelmann für Teihbibliothefen-Lejer | 
Romantifher Krampus! 

Liebe? — Wo wohnt fie? wer hat fie gefehen? wer 
weiß, bei wem fie fi) aufhält? 

Wenn wir fie austrommeln laffen, wenn wir ihr 
Stedbriefe nachſchicken, wenn wir einen Preis auf ihren 
Kopf fegen, fie ift nicht ausfindig zu machen! 

Liebe ift keine europätfche Leidenſchaft mehr! Sucht 
fie am Dronofo, wo feine Romane gedrudt werden; ſucht 
fie am Ohio, wo keine Afterbildung ift; fucht fie am Miffi- 
fippi, wo feine Hausbälle find ; fucht fie am Ganges, wo 
feine Putzhandlungen find; fucht fie am Cap Caleimer, wo 
feine Equipagen blühen! 

Hatfich ja ein Bischen Liebe in einen Winkel Europa’8 
gerettet, fo fucht fie in Ketfchlemet und in Debregzin, aber 
jelten in der Stadt, felten in der Refidenz! 

Wie hätten wir hier Zeit, zu lieben! Wir müffen uns 
den ganzen Tag anziehen, um den ganzen Abend modern 
angezogen zu fein; wir müſſen ftets in den Spiegel fehen, 
um unfer Selbft nicht zu hefchauen; wir müflen in alle 
Unterhaltungen gehen, nur um nicht in uns zu geben; wir 
müſſen den ganzen Abend matt zubringen, um die ganze 
Nacht müde zu fein; wir müffen den albernen Geſprächen 
nnferer Stußer horchen, um unfere innere Stimme nieht zu 
hören; wir müffen unfer Herz betäuben, um feine Leere 
nicht zu fühlen; wir müffen tanzen, bis fi Alles um uns 
dreht, damit wir nicht gewahr werden, daß wir uns flet6 


102 


um Nichts drehen; wir müffen uns behängen mit Stoffen, 
‚ Gefchmeiden und Geweben, damit man unſere Stofjlofig- 
keit und unfer nichtiges innere Gewebe nicht gewahre! 

Wie kann bei diefer claffifchen Beſchäftigung der 
Mehrzahl unferer Frauenzimmer Zeit zu Lieben bleiben?! 

Lieben und Neujahrwünſchen, das läßt man jeßt den 
Domeftifen über. Unfer Leben ift die Enthebungstarte für 
unfer Lieben! 

Ein Frauenzimmer hat jet zwar taufend Gründe, zu 
lieben: Langeweile, Eitelkeit, Neugier, Uebermuth u. ſ. w.— 
Allein da die Frauenzimmer nie das thun, wozu fie Gründe 
haben, fo ift da8 Grund genug, daß fie aus Gründen nicht 
lieben! 

Ich bin überzeugt, wir würden mehr Liebe finden, 
wenn die „Liebe“ in einer Pushandlung zu faufen wäre. 
Da würde die Tochter nach Haufe fomnıen, und die Mutter 
quälen: „Liebe Mutter, auf dem Graben, bei der Jungfrau 
von Orleans hängt eine fo prächtige Tiebe heraus, weiß ge- 
füttert, mitRofafchleifen, kauf’ mir dieſe Liebe!“ Sie würde 
diefer Liebe doch menigftens eine Zeit lang treu fein, fle in 
Gefellfchaft mitnehmen u. ſ. w. 

Ih kann e8 mir ordentlich denken, wenn man 
die Tiebe fo in Sammt und Atlas hätte, die Frauen⸗ 
zimmer würden dann eine Liebe faft eben fo lange tragen, 
als. jet ! 

Und wo follen nad) allem dem „Geſchenke der 
Liebe“ herkommen? Höchftens fagt Eines zum Andern: 
„Ich hen! Dir Deine Liebe!“ 


103 


Geſchenke derfiebezurüdgeben!zurüdenpfans 

gen! Was Heift das? Was bezeichnet das? Was foll das 
bedeuten ?! 
Was die Liebe, die wahre Tiebe gegeben hat, das 
fann nihtzurüdgenommen, nit zurüdgegeben 
werden! Heißt den Strom rüdwärts fließen ; jagt der Sonne, 
fie fol die Bahn nicht gemacht haben, die fie gemacht Hat; 
befehlt der Wolfe, fie fol die Luft nicht gefurcht haben, die 
fie durchſchiffte; ſagt dem Geftern, daß es zurüdffehre in den 
Scooß der Zeit; heißt dem gedachten Gedanken, daß er 
zurüdwandere in die Werkftätte des Denkens; wenn ihr das 
könnt, dann, dann Könnt ihr zurüdfordern, zurüds 
geben, was die Liebe gab, was die Liebe empfing! 

Wenn ihr eine Raute zurüdfordert, die ihr mir ge= 
ſchenkt Habt, könnt ihr die füßen Töne zurüdfordern, die ich 
ihr entlodt, und mit.denen fie meine Stunden beglüdte? 
Wenn ihr eine Blume zurüdfordert, dieihr für mich gepflüdt, 
könnt ihr den balfamifchen Duft zurüdfordern, mit dem fie 
im füßen Athmen ihres Lebens mich beglückte? 

Wenn ihr mir eine Nachtigall gebt und fie zurüde 
begehrt, könnt ihr die füßen Lieder alle zurüdfordern, die 
fie mir mit Wonne und Wehmuth fang? 

Und Liebe follte zurüctnehmen fönnen ihre Liebesboten, 
die find wie Laute, Rofe und Nachtigall, die ausgeftrahlt 
und ausgeduftet und ausgetönt haben für mid) die himm⸗ 
Lifchen Töne und den füßeften Weihrauch und die heimlich- 
ften Lieder der Erinnerung, der Sehnſucht, des Angedenkens 
und der heimlichen Sympathie? 


104 


Kann Liebe den namenlojen Zauber des erften Blickes 
zurädnehmen, der wie Than aus Maienhimmel uns in die 
Seele fiel? Kann Liebe die magnetiſche Süßigfeit des erften 
Handdrudes zurücknehmen, der uns durchbebte in wonniger 
Magie? Kaun Liebe die Süßigkeit des erfien Kufſes zurüd- 
nehmen, die von ihren Lippen in unfer Weſen träufelte? 
Kaum Liebe den verbebendgn, zitternden, vergehenden Ton 
des erften Geſtändniſſes zurücknehmen, der unfer Ohr be- 
ſchlich wie Engelgruß, und fortbebt in uns fo lange wir 
eben ? Kann Liebe zurüdnchmen alledie Heinen Süßigkeiten 
und Wonnen und Zwifchenfälle von Seufzern und Thränen, 
von Zerfall und Wiederfinden, von Gehen und Scheiben 
und Kommen, von Krieg und Berföhnung, von Berjagen 
und Gewähren, von Beiprechen und Berathen, von Hoffen 
und Sehnen, von Berftändnig und Errathen, und alle die 
taufend und abermal taufend befeligenden Ab- und Zufälle, 
Spielereien, Räthfel und wonnigen Kinderſpiele der Liebe ? 

Wenn fie das nicht Tann, fo Laßt fie zurüdnehmen 
und zurüdgeben alle Geſchenke und Sächelchen und Dingel- 
hen, laßt fie zurüdnehmen den goldgeftidten Frühling und 
die feidnen Bergigmeinnichte, und die Todenfchlangen und 
alle Heinen Symbole des heiligen Tempeldienftes. Der 
Tempel im Herzen bleibt doch, und das Götterbild im 
Tempel Tann nicht entführt werden, und der Frühling in 
unferer Bruft, der Frühling, den der Erinnerungshaud, 
fchafft, bleibt doc, und das VBergigmeinnicht im Herzen 
behält fein ewiges Blau, und die Ewigfeit der wahren Liebe 
legt ihren Schlangenreif um unfer ganzes Dafein! 


IV. 


Beantwortung der Frage: „Iſt grünzenloſes Vertrauen 
oder grünzenloſe Eiferſucht mehr Beweis von Ciebe %* 
2 in einem Herzen ein Romeo Platz genommen 

at, da ftelle man nur fogleich einen Seflel 4. thello 


in. — Kein Menſch acceptire eine Liebe, wenn ſie auf 
der andern Seite nicht von der Eiferfucht girirt iſt. 


Saphir. 


Die Eiferſucht geht als Morgenſtern vor dem Tag der 
Liebe, die Eiferſucht geht als Abendſtern vor der Nacht der 
Liebe her, und den ganzen Tag der Liebe über wandelt ſie 
mit ihr, durch den Himmel ihrer Bahn, durch den tiefen 
Aether, durch die klingenden Wolken, durch ‘die fliegenden 
Stürme, durd) die flammenden Blige, durd) den grollenden 
Donner! 

Eiferfucht ift das Salz in dem Dcean der Liebe; 
Eiferfucht ift der Weder in dem Schlummer der Tiebe; 
Eiferſucht ift die Pulsader der Liebe; Eiferfucht ift die 
Waſſer- und Teuerprobe der Liebe! 

Bertrauen? Ift denn Vertrauen der Gegenſatz 
zu Eiferſucht? Hebt Vertrauen Eiferfucht auf? Nein, nicht 
im Geringften. — Man kann unbegränzte Achtung vor 
feiner Geliebten haben, man kann felfenfeftes Vertrauen auf 


1086 


ihre Tugend, auf ihren Character fegen, und dennoch eifer= 
ſüchtig, namenlos eiferſüchtig, raſend eiferfüchtig fein! 

Gränzenloſes Vertrauen heißt nichts, als überzeugt 
ſein, meine Geliebte iſt keiner Untreue fähig. Ihr nennt 
Eiferſucht Egoismus? — Iſt dieſes gränzenloſe 
Vertrauen nicht mehr, nicht größerer, nicht gem ei— 
nerer Egoismus? 

Wo der Gedanke an eine Untreue in uns leben kann, 
da iſt keine Eiferſucht mehr, denn da hört die Liebe auf! 
Auf ein Weſen, von dem wir nur im Entfernteſten den Ver⸗ 
dacht einer wirklichen Untreue faſſen koͤnnen, find wir nicht 
mehr eiferfüchtig, denn wir reißen es mit allen feinen Wur⸗ 
zelfafern und Widerhafen aus unfern Herzen heraus, und 
fönnen wir das nicht, fo verbluten wir, aber das Weſen 
felbft ift für uns todt, rein todt. 

Allein gerade wenn wir ein Wefen lieben, das wir 
achten, von defien Sittenreinheit, hoher Tugend wir ganz 
durchdrungen find, wo alfo die Liebe, vereint mit der höchſten 
Achtung, ihre Gewalt über uns ausübt, da beginnt die Eifer=- 
ſucht ihr dornenvolles, ihr flürmifches, ihr ftachelvolles 
Reich. Je volllommener der Öegenftand unferer Liebe, defto 
gränzenlofer ift unfere Eiferfucdht! 

Je höher wir die Geliebte beiten in da8 Grahams⸗ 
bett unferer Berehrung, je erhabener wir ihr Bild empor⸗ 
tragen zu dem fledenlojen Himmel, defto ängftlicher bewachen 
wir fie vor jedem Erdenftäubchen, defto ſchmerzlicher möchten 
wir jede Communicationebrüde zwifchen ihr und andern 
Sterblichen abbrechen. 


107 


Eiferfucht allein ift Beweis von Liebe, und die Eifer- 
fucht ber Liebe hat feine Gränzen, wie die Tiebe ſelbſt feine 
Gränzen bat. 

Die Eiferfucht reißt den werdenden Gedanken der 
Geliebten aus der Wiege des Denkens; die Eiferfucht ver⸗ 
folgt den Pfeil ihres Bliddes, wenn er vom Bogen des Auges 
ſchnellt; die Eiferſucht fragt ihr Leifeftes Rächeln: woher? 
und ihre leifefte Lippenbewegung: wohin? Die Eiferfucht 
fieht, wie fich der Gedanke auf der Stirne der Geliebten 
bildet; fie hört den Blick wachfen unter dem bededenden 
Liede; fie kennt die Richtung ihres Fühlens im voraus, 
wenn es erft als Schaumbläschen in ihrem Innern ſich 
bildet; fie gräbt den Traum der Geliebten aus feinem Grabe, 
um Rechenschaft von ihm ihm zu fordern; fie ftellt die Zer- 
ftreuung der Geliebten vor ein Gottesgericht; fie zerſetzt 
das Rofenroth ihrer Freude in feine Beftandtheile, und 
wiegt das Körnchen ihres Unmuthes auf der großen Wage 
bes Argwohns; und diefes Alles nur aus Liebe! Nur 
allein aus Tiebe, aus wahrer, inniger, unbegräuzter Liebe! 

Die Perjon, die wir lieben und die uns liebt, die ge- 
hört ung, fie ift unfer Selbft, unfer eigenes Ich, und unfer 
Ic ſoll nichts denken, nichts fühlen, als uns. Iſt diefes 
Egoismus,fo ift e8 Egoismus für unjer IS, das ſi ie iſt, 
nicht für unſer Ich, das wir ſind! 

Ich bin eiferſüchtig auf den Vater, der ſie küßt, auf 
die Schweſter, die ſie umarmt, auf die Freundin, die ſie herzt, 
auf das Kind, welches ſie liebkoſet, auf die Roſe, die ſie 
pflückt auf den Zephyr, der ſie umweht, auf die Welle, 


108 


die fie umfpielt, auf die Muſik, die ihr Ohr entzüdt, auf 
die Farbe, bie ihrem Auge fchmeichelt, auf den Einfall, der 
fie lächeln macht, auf die Thräne, die ihr Auge befchleicht, 
anf den Traum, der fie umfängt, auf den Spiegel, der ihr 
fhmeichelt, auf die Hoffnung, die fie wiegt, auf das Gedicht, 
das ihr gefällt, auf dieLandfchaft, die fie mit Wohlgefallen 
betrachtet, furz auf Alles, was ihr Freude macht; aber 
nicht aus Egoismus, nicht aus dem Grunde, als follte fie 
feine andere Freude haben, als mid), fondern darum, weil 
es mir fchmerzlich ift, daß ich nicht felbft ihr alle diefe 
Freude gewähren kann; daß ich nicht felbft zugleich auch 
bin Freundin, Rofe, Wolke, Traum, Landfchaft, Lied und 
Zephyr, um felbft ihr alle diefe Freuden zu fchaffen. Es 
ift Eiferfucht, aber edle, wehmüthige Eiferfucht, Eiferfucht 
der Beicheidenheit, Eiferfucht des Bewußtſeins, dag man 
jo wenig ift, um die Geliebte zu beglüden, und daß es fo 
viele Dinge gibt, die fie erfreuen, ohne mein Zuthun! Der 
wahrhaft Liebende möchte, daß alle Freuden der Geliebten 
nur von ihm ausgingen, daß er allein ihr öffnen könnte 
alle Freudenporen der bejeelten und unbefeelten Schöpfung, 
und daß jeder erquidende Zug, den fie aus dem Kelche des 
Lebens trinkt, ihr fredenzt werde von der Hand feiner liebe! 

Das ift Eiferfucht, und ift diefe Eiferfucht nicht der 
alleinige Beweis von wahrer Liebe ?1 

Wir können unfere Geliebte mit gränzenloſem Ber- 
trauen in die größte Gefellfchaft gehen laſſen, und mit dabei 
fein, und unbejorgt fröhlich fein, aus Vertrauen; ift das 
ein Beweis von Liebe? Aber, wenn wir, felbft mit diefem 


109 


Bertrauen, jene Geſellſchaft fliehen, weil wir wiffen, daß 
wir dennod) mit taufend und abermal taufend brennenden 
Qualen gemartert werden, und daß eine ewige Hyder in 
unferm Herzen nagt, wenn wir fie in Gefellichaft fehen, 
und lieber wegbleiben, um uns diefe Dual zu erfparen : das 
ift Eiferſucht, Eiferfucht mit Vertrauen, das ift ein Beweis 
von wahrer Liebe! 

Wer lieben fann ohne Eiferfudt, der kann auch 
leben ohne Liebe, Beides ift gleich. Eiferfucht ift die Bürg- 
ſchaft für die Unfterblichkeit der Liebe ; wenn die Liebe [ch ein- 
todtift, die Eiferfucht erwedt fie, und felbft wenn fieganz 
todtift, fo figt noch) die Eiferfucht auf ihrem Grabe, und 
weint ihr lange nad). 

Ic Hätte gränzenlofes Vertrauen in meine Geliebte, 
wenn fie gränzenlos eiferfüchtig wäre, und wäre gränzenlo® 
eiferfüchtig, wenn fie gränzenlojes Vertrauen zu mir hätte. 


Didnskalien 


und 


Kritiſcher Sektions-Saal. 


Mer Selbfiguäler. 


Shuraftergemälde von C. v. Bauernfelb. 


=, babe mich nie fo fehr gefreut, daß ich budhfta= 
Sn und leſen kann, als heute. Denn hätte ich 
nicht leſen Tönnen, jo Hätte ich auf dem Zettel 
> nicht leſen Finnen: „Charaftergemälde,” und 
ich) Hätte in meiner Dummheit glauben können, e8 müffe 
ein Quftfpiel fein, oder ich hätte mich an einen gro= 
Ben Selehrten halten müflen, der mir mit eben fo vieler 
Weisheit als unergründlicher Selbftgefälligfeit gefagt hätte, 
das heißt: „Charaftergemälde,“ der mid) unmwifjenden 
Menſchen mit fingerdider Naivetät aufmerkſam gemacht 
hätte, was eigentlich ein „Charaftergemälde* ift. Frei— 
lich könnte man mic) fragen: Wie, du weißt nicht, was ein 
Charaktergemälde ift, du, der du nach Iffland lebft ? 
Hat nit Herr Bauernfeld felbft ſchon „Charakter⸗ 
gemälde” gefchrieben, die das Publikum gütig aufgenommen 
M. ©. Saphir's Schriften. VI. Bd. 8 


114 


bat, zum Beifpiel „Helene“, „der Bater” u. f. w.? — 
Das Alles wäre der Fall, wenn ich nicht Lefen könnte; 
da ich aber, leider, ja lejen kann, und noch leiderer, wirklich 
feldft leje, und am leiderften, fogar felbft Lefen muß, 
fo fallen alle obigen Plattituden fort. Ich fagte mir felbft, 
als id) die Ankündigung las: „Charakftergemälde,“ 
das ift fein Yuftjpiel, fondern ein Charakftergemälde, wie 
fie Iffland, Kotzebue und viele Andere gefchrieben 
haben, und es wunderte mich nicht ein Bischen, denn Herr 
Bauernfeld ift ein Dann von Talent, und bewegt fich 
in verfchicdenem Genre mit Gefchie. Ich hätte gewiß nicht 
nur „Komiſches“ geſucht, fondern tiefe Beziehung, Blicke 
ins menfchliche Herz, große Humanitätslehren; ich Hätte 
nicht geglaubt, ich) werde blos „Herzlich Lächeln“, denn 
e8 gibt fein herzliches Lächeln, fondern nur ein herzliches 
Lachen. Ich brauchte mich gar nicht im Voraus zu bear- 
beiten, und mir den Standpunft von einem Freund oder 
Gevatter anweiſen zu laflen, von dem aus ich in ein Cha— 
raftergemälde zu gehen habe, das ift der Triumph der 
Kunft, jelbft lefen zu fönnen!! 

Wenn der Leſer fragen follte: Wozu diefer Introitus? 
Wozu diefe VBor-Intrada ? fo Habe ich die Ehre, zu erwie> 
dern, daß ic) einige Furcht und einige Augft über den Erfolg 
meiner erſt nachzukommenden Kritik habe, und ich bin alfo 
zu mir felbft, al8 zu meinem beften Freund gekommen, und 
ich gebe als mein befter Freund dent geehrten Lefer den 
Standpunft an, von dem aus er meine Beurtheilung zu 
beurtheilen Habe; denn ich Habe eine neue Gattung Kritik 


115 


geſchaffen: eine Charafter-Kritif. Ich bitte von dieſem 
Geſichtspunkte aus in meine Kritif zu gehen, und id) fage 
im Boraus, lachen wird Nientand in diefer Kritik, aber 
es ift Charakter in ihr, Wahrheit, und was nod) mehr ift: 
Gedachtes! | 

Id) kann dem Leſer Feine Auszüge machen, und and) 
den Inhalt kann ich nicht erzählen, denn es ift ein Cha- 
raftergemälde, ein Charakter aber läßt fich nicht ab- 
fchreiben, und ein Gemälde nicht erzählen. 

Herr von Malrepos ift ein Selbftquäler. Das ift 
die Dido-Haut, weldje, in Kleinen Streifen ausgejchnitten, 
das Erdreich von drei Acten, und die Bevölkerung derfel- 
ben, nicht bedeckt, aber doch einfaßt, umgibt Er 
heirathet Annette, quält fie bald mit Zorn, bald mit Liebe, 
bald mit Zollheit und Unfinn, fie aber ift nachgiebig, befänf- 
tigt ihn, und als er endlich fo weit geht, ſich von ihr ſcheiden 
zu wollen, weil er, wie er jagt, weiß, daß er ihrer unwür— 
dig ift, befänftigt fie ihn durch unendliche Nachfichtigkeit, 
er nimmt fie an, fagt: „Stark ift der Haß, doch ftärfer ift 
die Liebe!“ umarmt fie, und der Borhang fällt. 

Ich habe mid) felbft ‚geprüff, und gefragt, und auf 
die Folter eines Selbft-Inguifitoriums gelegt, und mich 
ausgeholt, ob Vorurtheile mein Urtheil beftechen. Ic war 
lange ein Selbftquäler, id) bin, was id) nie that, zu 
der zweiten Borflellung noch einmal ins Theater gegan⸗ 
gen, ich habe meinem Urteil vierundzwanzig Stumden Zeit 
gegeben, fich zu. bedenken, und nad) allen diefem kann ich 
mit vollem Bewußtfein meine Ueberzeugung, 

8+ 


116 


meine reine, fritifhe Anſicht, mein in mir zur 
Klarheit gereiftes Urtheit fällen. 

Dieſer Selbftquäler ift durchaus fein neuer, ift 
durchaus gar fein Charakter, und das Ganze ift fein 
ChHaraftergemälde, fondern ein Charakter-Genrebild- 
chen, flüchtig gezricdhnet, ohne einen Kern, ohne Lebens⸗ 
wahrheit, ohne in fi bedingte Zeitigung und Beendigung. 
Wir fehen Herren Malrepos im erften Acte zürnen über 
einen Verwalter, der um dreißig Kreuzer mehr auffchrribt, 
einen groben Wirth zum Fenſter Hinausmwerfen, einen Be- 
dienten Dummktopf heißen u. f. w.; das find lauter Dinge, 
mit welchen er Andere quält, und nicht fich jelbft. Er 
will Geline heirathen, weil er Annette liebt. Da er aber 
hört, ein Anderer wollte Annette heirathen, jo heirathet er 
fie felbft! Nun aber geht er mit ſich zu Rathe, wie feine 
rau nad) der Hochzeit zu behandeln ſei, und befchliegt: 
fie zu prüfen! Ein Percival mit einer Allonge= Perrüde, 
beſchließt er, fie mit Liebe und Härte jo lange zu quälen, 
„talt und fremd” zu thun, dann, wenn fie nun noch 
duldfam ift, will er „zärtliher”, doch nicht „zu zärt⸗ 
Lich” werden, denn fie foll nur „ahnen, nie wiſſen“, 
daß er fie liebe! — Iſt das Selbftquälerei? Das ift 
Menfhenguälerei, an fein Sheuerftes, an fein Weib 
ausgeübt! Ift das ein Charakterzug? Das ift ein 
Karilaturzug, da ift feine Wahrheit darin! Gäbe es 
einen folchen Dienfdyen, fo wäre er zu bejammern, als 
ein Geiftesirrer zu beweinen! Im ganzen zweiten Acte 
ift feine Selbftquälerei, fondern blos Gattinquälerei: 


117 


ift fie unnmuthig, jo nimmt er es für Widerwillen, ift fie 
zuvorkomniend, hält er es für Heuchelei. Wo ift da Selbſt— 
qual? Wir fehen nur die Frau gequält: Er ſchmäht 
fiel Im dritten Acte kommt die Reue gerade auf diefelbe 
Weife, wie jie im erften gegen den Wirth fam. Er befchließt 
nun, ein Selbftquälerzu werden! Er will fi) beftra- 
fen, er will fi) von Annetten trennen. Sie aber will nidht, 
fie will feinen Schmerz theilen, fie will feine Magd fein, 
und er läßt fich befchwichtigen, und ſchließt fiein feine Arme, 

In diefem ganzen Manne liegt gar fein Charafter. 
Diefer „Selbflquäler“ leidet an allen Mängeln feines Urbil- 
0.8: d08 „Mifantrope* von Molitre, ohne feine Schön- 
heiten zu theilen. Die Handlung ift monoton, die vorkom⸗ 
menden Berfonen find unnöthig, befonders der Marquis 
und die Marquifin, welche wahre Kogebue’fche Kleinftädtler- 
Figuren in den Zeitungen Ludwigs XIV. find, und die endliche 
Auflöfung läßt den Zufchauer nicht nur Falt, fondern ganz 
unbefriedigt; denn wir nehmen die volllommene Ueber— 
zeugung mit, daß, wenn jet der Vorhang zu einem - 
vierten Acte in die Höhe gezogen würde — Herr Malrepos 
feine Oattin gewiß wieder neuerdings quälen und ſinnreich 
martern würdel 

Malrepos ift durchaus kein Ennftorganifches Gan- 
zes. Es ift feine Ruhe in der Anlage, welches in Kunft 
und Natur die höchfte Spike ift. Es ift Fein Bordringen 
des Ganzen zur Höhe und Mitte, ein Bordringen, welches 
wie das Licht die Natur durchftrömt, auch jedes Kunftpro= 
dukt durchdringen muß, und durch diefe Durdjdringung des 


118 


Genüthes und des Momentes, eine Geftalt rund und feft, 
und doch Mar und durchſichtig Hervorbringt. We ift in 
diefem Stüde die Eoncntration auf einen Punkt, worin fi} 
da8 Spiel des Lebens und der Secle abgefpiegelt zeigt? 
Wo ift der natürliche Ein= und Zwifchenwurf, in den ſich 
die getrennten, fonderbaren, abftoßenden Elemente und 
Atome diejes Charakters zufammenfügen? Was bleibt von 
dem pfychofogifchen Charafterffelet übrig, wenn wir den 
lebendigen Leib des komiſchen ?Fleifches und die friſche 
Hant des Spiels abziehen? Wohin endlich geht tie, in 
einem jeden Charaktergemälde jo nothwendig von Innern 
auf Zeit und Sitte übergehende Anwendung und Beifpiel= 
Gebung? Molière's „Zartuffe* fand taufend Abbilder 
im Leben; fein „Mifantrope” hatte im Schaufpielhaufe 
manches Spiegelbild, feine „pr&cieuses ridieules“ faßen in 
Logen und Gittern, fein „Avare* gudte von der Gallerie 
herab, fein „Etourdi* (orgnettirte in Parquet u. f. w. 
Wo im weiten Weltall aber findet fid) ein Jemand, der 
durch den Anblid dieſes Selbftgquälers ſich getroffen 
fühlt? Die Menfchheit hat, in ihrem gefunden Zuftande, 
fein ſolches Weſen; und wo dag Urbild fehlt, da kann fein 
Porträt oder jedes ähnlich und gut gefunden werden. Ein 
Luftfpiel fann auch vorübergehende Tächerlichkeiten, 
auch unmwahrfcheinlihelebertreibungen, convere Cya- 
raftere und concave fchildern, aber ein Charalter- 
gemälde muß nad) der Natur copiren, ed muß den phy- 
fiognomifchen Zug der reinen Wahrheit, des mienfchlichen 
Normal-Charakters an fi) tragen! Diefr Malrepos 


119 


aber findet fein Original im Leben, und eben deshalb kann 
und wird er nie — wie wohl die Moliere’fchen Charak⸗ 
tere ale — ein Bild abwerfen von feiner Zeit, von ihren 
Sitten und Gebredhen, denn er trägt feinen Stempel irgend 
einer Zeit, irgend einer Sitte an fich, weil ihm der Stem- 
pel der menfchlichen Naturmahrheit fehlt. 

Es ift mir daher aud) unbegreiflic, was den Ber- 
faffer bewog, die Handlung in die Zeiten der Reifröcke und 
Marchal= Frifuren zu verlegen! Gab es dazumal ſolche 
Menſchen, und jett nicht? dann hätte dazumal ein folches 
Gemälde gefchrieben werden follen. Der Theaterdichter fol 
feine Zeit, feine Menschen fhildern, damit er nicht nur 
jeßt unterhalte und beffere, fondern dem künftigen For— 
[cher zur Belehrung, zum lebendigen Spiegel feiner Zeit 
diene! Wenn jener Zeithintergrund gewählt worden ift, um 
über Moliere eben das zu jagen, was er über fi in 
feiner befannten Selbftkritif fagt, fo war das für eine 
©eringfügigfeit zu viel geopfert. Ach Gott, wir wiſſen es 
ja ohnehin, daß wir keinen Molidre haben; man gebe 
uns nur unfere Moliedre’s, und die Anerfenung, und 
bie belohnenden Fürften werden wahrhaftig nicht ausbleiben. 

Dos Stüd iſt in Berfen, von denen manche recht 
flüßig, manche recht holprig, mandje recht ſchön, manche 
recht mittelmäßig find. Sie erheben fich zuweilen ins Beffere, 
nie ins Poctifche, nie ind Sublime, Ic will von dem, 
was die Journale ſchon als Mufter ausgezogen, wieder 
einige Stellen ausziehen, das ift gewiß nicht böswillig und 
geſucht. | 


120 


Annette jagt hier: 

„Wenn Du mit ihr zum Abendmahl Ti ſetzeſt, 
Gleich hungrig zum Effen wie zum Reden, — 

Das ift ein Anderes — nicht? -- Du denfft au Weiteres, 
Doc, wie ihr Männer feid, nicht an’s Nöthige. 

Dir fehlt das Winterfleid zur rechten Zeit, 

Du ißt und trinfft, was Dir fohaden kann, 

Du ſcheueſt weder Froft noch Sonnengluth — 

Nun wirſt Du krank, wer aber ſoll Dich pflegen? 
Ihr könnt wohl Bücher ſchreiben, Schlachten liefern 
Wollt für die Welt, für das Jahrhundert wirken, 
Doch And're warten, das verſteht ihr nicht! 

Es haßt der Mann den Mann am Krankenbette. 

Du lächelſt? Iſt's nicht wahr? Du denkſt an Dubois, 
Der ſchon in folder Page Dir zuwider, 

Ja, unerträglid war. Werde nur krank — 
Dann folft Du mich erft feinen lernen,“ u. |. w. 


Das ift ungefähr, was die Prinzeffin von Taſſo fagt, 
aber wie anders, wie ganz anders! Und hören wir e8 gern, 
wenn ein Weib uns jagt, wie e8 Annette vom Wanne jagt: 

„Er braucht auch Aeußeres, mehr, als man glaubt. 
Wir Weiber aber find fürs Aeußerliche.“?! 

Veberhaupt paßt die Diction ganz wenig für den 
Rahmen der Zeit und des Ortes, in denen diefes Gemälde 
eingerahmt ift. Es mangelt die Grazie, die rojenrothe 
Farbe, die chevaleresfe Galanterie, der hohe Auftand und 
vor Allem der durchlaufende, aber Tiebenswürdige Sarkas⸗ 
mus, in welchem jene Periode, wie in ihrem Yuftelemente 
ſchwamm. Wir fehen von dem geiftigen Fluidum jener Zeit 
nichts, nichts als die Reifröcde und die Allongen. Eine eben 


121 


jo überflüßige Figur ft der Diener Dubois, ein Nachbild 
der Moliere’fchen Diener. Aber er hat weder Springfedern 
an der Sohle, nod) an der Seele. Er ift mehr ein Ueber- 
bein, eine Figur, die blos kommt, weil eben niemand 
Anderer fommt, und die bios ſpricht, damit die Andern 
ſich verfchnauben können. 

Der einzige ganze, durchgebildete Charakter iſt 
Annette, — fie ift Etwas, fie thut Etwas, fie ſpricht. Sie 
allein weiß, was fie will, warum fie e8 will, wodurch fie 
cs will. Sie ift ein zartes, edles, liebevolles Mädchen, ein 
zartes, edles, liebevolles Weib, feft, fich jelber und ihrem 
Gefühle treu, ganz Weiblichkeit, füße, innige, milde Weib- 
lichkeit. Ich fage e8 zur Ehre unferer Zeit, und zur Ehre 
dc8 Herrn Bauernfeld, cr mag im Leben eher ein fol» 
ches Weib wie Annette, ale einen ſolchen Mann wie 
Malrepos gefunden haben, und darum hat er jene mit 
Wahrheit, mit Liebe, mit aller Kraft feines Talents begabt; 
und er hat gezeigt, mit welcher Schönheit und mit welcher 
Wahrheit er zu zeichnen verfteht, wo fein Gegenftand 
Wahrheit ift. So prägt fid) in dieſem Stüde, jo entjchieden 
ic) mic) auch gegen die Genrefärbung desjelben ausſprechen 
muß, doch wieder das feltne Talent des Herrn Bauern- 
Teld aus, die Beherrſchung feines Stoffes, die Gewandt- 
heit, den dünnen Faden fo fein auszufpinnen, einzelne 
herrliche Zwiſchenfälle von echt draftifchen Momenten, und 
zuweilen eine faft poetifche Elevation der Gefinnung. 


Auge und Ohr. 


Quftfpielin drei Aufzügen. 


Die Zeit hat ihre Epochen, die politifche, die literariſche, 
die ſittliche. Alles, was ſich in der Peripherie dieſer Epochen, 


das heißt einer Epoche bewegt, trägt einen Charakter, 


einen Grundton, eine Grundfarbe, wenn auch in der 
Nuancirung verſchieden, und zwar um ſo verſchiedener, je 
mehr bei den Einzelnheiten das Superficielle prävalirt. — 
Ueber dieſe Epoche hinaus acclimatiſirt ſich fein Kind der— 
ſelben in einer andern. Es iſt daher ſehr richtig, daß die 
Plagiariuffe nur in einer Epoche mit ihren Plagiate täu— 
[chen können; wie fie diefen Zeitraum überfchreiten, trägt 
dasfelbe fchon einen jolchen Eontraft mit dem neuen Pflanz= 
und Wurzelboden, e8 ftoßt fo an Sitte, Gefinnung und 
Gefühlsweiſe an, es fcheint fo altfränkifch, überreif und 
ausgelagert, daß es ſich jogleich als das Erzeugniß vor- 
zeitlicher Epoche, einer abgetragenen Zeit, einer eingefargs 
ten Fühlungsart fekdft zu erfennen gibt, and alſo Niemand 
mit dem Anfirich von Neuheit zu täufchen vermag. 

Wenn ich es auch nicht wüßte, daß das vor ung lie- 
gende Ruftfpiel: „Auge und Ohr,” den Spanifchen in 
der Örund- und Haupt-Idee wenigftens nachgebildet ift, — 
und zwar dem heroifchen Schaufpiele Mioreto’8: „Lo que 


123 


puede la aprehension“ (die Gewalt der Einbildungstraft) 
— fo würde uns eben die Subtilität, das phantaftifhe 
piychologifche Balancirfpiel, die Grund⸗Idee ſogleich gefagt 
haben, daß fie einer fremden Epoche, einer uns entrücdten 
und unverftändlid) gewordenen Epoche, einer Zeitund einem 
Bolfe angehört, welche die zwei zarteften Intereſſen des 
Lebens: Ehre und Liebe idealifirten, fublimatifirten, 
und ihren dichterifchen und theatralifchen Ehren- und 
Liebesdienſt, zu einem Ceremoniell, mit faft Lächerlichen 
Ettifeten und Formalitäten und Kleinlichkeitsjägerei ver- 
richteten; einem Volke, das bet feinem glühenden und tief- 
gefühlten Begriffe von Liebe und Ehre, fie doch oft gleich 
einem Gaukelſpiele, gleid) einen Wett- und Wig- Rennen, 
gleich einer Gedanken- und Bilder-Fagd, gleich Findifchen 
Spielen und zerbrechlichen Filigrain-Dingelchen von ihren 
größten und beften Dichtern auf die Bühne gebracht fah. 

Der Lefer mag aus der Grund= "dee, die ic) ihn, 
ohne Inhalts-Salbaderei, im Ertracte hier mittheile, ent- 
nehnten, in wiefern fie ihm oder unferer Zeit und unferer 
Sefühlsart zufagt. Es handelt fi) nämlich darum, daß 
ein Graf Richard fich in eine Dame: Miß Anna, verliebt, 
und zwar durd) das DO Hr, welches, vorläufig gejagt, durch 
das Gehör heißen fol. Er verliebt fi) nämlich in ihren _ 
Geſang. Er Hört fie blos fingen, liebt fie. Als er fie 
fieht, weiß er nicht, daß fie die Sängerin ift, fondern er 
hält eine Andere dafür, die er deshalb liebt. Miß Anna 
liebt ihn, und fie ift nicht zufrieden, daR er feinem Auge, 
das heißt feinem Schen eine andere Richtung gibt, fie ift 


1224 


fo zu fagen auf fid) als gehörte Geliebte und als 
gefehene Nidhtgeliebte ciferjüchtig. 

Die aus diefem metaphufifchen Luftgebäude hervor 
gehenden Irrthünter bilden die Befleiſchung diefes Steletes. 
- Man fieht aljo, daß unſer fpanifcher Dichter ſchon 
den Keim der Vernichtung in fein Werk legte. Denn die 
Idee beruht nicht nur auf einer Spielerei, auf einer aus 
unhaltbarer Luft gewobenen Geftaltung, fondern auf einer 
phyfifchen, moralifchen und pfgchifhen Unwahrheit. Und 
eben weil Jeder fogleich, entweder bewußt oder unbemußt, 
die Mare Unwahrheit des Stoffes in fich erfaßt, kann er 
unmöglich aud) nur mit dent geringften Glauben den 
unmwahrfcheinlichen Folgen einer Unmwahrheit mit Intereſſe 
folgen. 

Alle, die Lieben und nicht Lieben, werden Richard, 
gelinde gejagt, für einen Bhantaften, wo nicht für etwas 
Schlimmeres halten, und Richard war eher eine Aufgabe 
für einen Gemüthsarzt, als für einen Luftfpieldichter. Man 
liebt die Stin:me der ©elichten, o ja, man iſt von ihr 
bezaubert, o ja, aber man muß fie erft lieben! Diefe Frage 
wäre allenfalls eine Frage fir die Tändeleien einer Cour 
d’amour gewefen. Seten wir aber den Fall, e8 verliebte 
fi) Jemand in die Stimme, in die abgezogene, in Tüften 
fchwebende, auf Sonnenftäubchen tanzende Stimnie, in den 
transcendentalen Ton, in den zu einem Gegenſtande gewor- 
denen Klang, in die Incarnation des wejenlojen Schalles; 
in diefem Falle ift er zurunbegreiflichen geiftigen Anſchauung 
dlefer Stimme gelangt; wie ift aber dann denkbar, daß er 


125 


mit derfelben Person oft und lange fpricht, ohne aud) nur 
‚ein einziges Mal von den Ton derfelben ergriffen oder 
angenehm berührt zn werden? Ift der Gefang denn etwas 
Anderes, als ein Fluß der einzelnen Tontropfen? Kann 
ung der Gefang einer Berfon zur höchſten Leidenschaft ent- 
flammen, und ihre Sprache, mit denfelben Zönen, mit 
denjelben einzelnen und zufammenflingenden Zönen, fo 
durchaus unberührt laffen ? — Die Thorheit hat ihre Eon- 
ſequenz, der Traum feine Logik, der Wahnfinn feine Methode, 
die Totteriezahlen ihre Berechner, das Roulct feine Mar- 
tingale, und nur das Wunder der Liebe, das höchfte Wunder 
der höchften Empfindung, follte fo in fich felbft ohne Folge, 
ohne Uebereinftinnmung mit der eigenen Wunderkraft jein? 
Die Macht der Stimme follte im Gefanre das Aller- 
außerordentlichfte, und in ber Rede nicht einmal das 
Allergewöhnlichfte hervorbringen ?! 
| An diefer, von allen Kritifern auf eine kaum begreif- 
liche Weife unbemerften Klippe allein fchon, zerjchellt der 
Brandungsschaum der ganzen Idee. Man fieht, Richard 
iſt krank, fein Gelüfte ift ein frankhaftes, uud aus krank⸗ 
haften Prämiſſen kann kein gefunder logifcher Sat gefol- 
gert werden. 

Der ungenannte Bearbeiter fann alfo die Schuld des 
Driginal-Berfafjers nicht tragen; höchſtens können wir es 
als verfehlt bezeichnen, daß er gleichjam wie ein medicini= 
ches Experiment e8 verfuchte, einen Krankheitsftoff der 
frühern Zeit an der unferigen zu verfuchen, um zu fehen, 

wie ihre Gefundheit ihn ſogleich kräftig ausicheiden wird. 


126 


Was mir nod, befremdend bleibt, ift der Unıftand, daß der 
umſichtliche und verdienftliche Bearbeiter Zeit und Ort fo 
untgeftaltete und modernifirte. Eine frühere, vomantifchere 
Zeit wäre ein paffenderer Hintergrund geweſen, und ein 
Land der Töne und Serenaden, der Mandolinen, Lauten 
und Guitarren, wo die Ritter, mit der Zither, im Monden- 
flitter, vor dem Gitter, fingen, feufzen, givren, ift ein natür= 
licherer Boden für Jemand, der ſich in die Mutter der Echo 
verlicht, al8 das Nebel: und Trier- Klima des heifern 
Schottlands. Bei dem beften Willen fann id) auch über 
den Dialog fein günftiges Urtheil fällen, und auch die 
Situationen find gedehnt und zu fehr verworren. 

Es drängt fi) mir bet diefer Gelegenheit wiederum 
die Frage auf, warum die Kuflfpieldichter nicht unfere 
Zeit, unfer Leben, unfere Gefühlsweife in Au- 
genſchein nehmen, oder mit einem fpanifchen Dichter zu 
veden: „Lanzadles una fuerte mirada,* auf uns und 
unfern Verkehr. 

Der Lefer mag mir hier eine Kleine Abfchweifung zu 
gute halten, die nicht ganz ohne Intereſſe ift. Wer blos 
„X heater-Recenfionen* leſen will, für den ift fie hier zu 
Ende, und er kann in Gottesnamen wieder nad) einer 
andern greifen. — Ein paar ernftere Lefer werden mir noch 
einige Minuten fchenten, wenn ich ihmen bei diefer Gele: 
genheit eine Stelle aus einem neuen Madrider Blatt über 
cin nenes fpanifched Schaufpiel überfege, da es ungefähr 
eben dieſe meine Gefinnung ausfpricht. Eines ber neueften 
fpanischen Schaufpiele ift: „Los amantes de Teruell“ 


Rn 


127 


(en 5 actos en prosa y versos, su autor D. Juan Her- 
zembusch). Das „Eco del Commerecio“ nennt es eine 
„einfame Blume aufden wüjten Felde unferer Literatur." — 
Es kann nichts Schöneres geben, als die Verſe, welche 
angeführt werden: 

Mi nombre es Diego Marsilla 

y cuna Teruel me dio, 

ciudad que ayer se fundö 

del furia en la fresca orilla, 

cuyos muros entre honores 

de Guerra atroz levantados etc. etc. 


Die „Revista nacional* fagt alio bei diejer Beran- 
Laffung wörtlid) überjett Folgendes: 

„Aber warum reißen unfere Dichter, welche einer 
Societät, die Hinter uns Liegt, die Rinde nehmen, um 
das gejunde oder faule Mark des Stammes vor unferen 
Augen Hinzuftellen, warum reißen fie nicht unferm Jahr— 
Hundert, unferer Societät, unferer Liebe, unferer Ehre, 
unferer Sitte die weiße, blendende, heuchleriſche Rinde, ab, 
um das zerbrannte, zermorjchte, ſchwarze Innere zu zeigen ? 
Der Dichter, der dies im wahrhaftigen Sinne des Wortes 
ift, der feine Aufgabe kennt, und den Muth hat, den ftupiden 
Bliden des Egoismus zu trogen, ift berufen, nicht um in 
der Aſche ausgebrannter Jahrhunderte zu wühlen, fondern 
wen der Funke ergriffen hat, höre auf Chronift zu fein, 
und werde Prophet! Wir wurden zu dieſer Abfchweifung 
veranlaßt ducch den Anblid von Talenten, die mit Hilfe 
von Archiven, von verfchollenen Thefen entfernter und ver- 
Hungener Zeiten, die Sitten und Ideen der Vorzeit fo 


128 


emſig umgraben, ohne c8 der Mühe werth zu halten, eim 
einziges Blatt des großen Buches, das vor uns aufgefchla- 
gen liegt, und deſſen Zeilen wir felbft bilden, zu leſen, 
und daraus der hörenden Welt vorzulefen! Und wenn fie 
daraus oder darin lefen, fo gefchieht es, un c8 mit inficirten 
Worten in diegemeinfte Sprache zu überfegen“ u. ſ. w. u. ſ. w. 

In diefen Worten liegt eine große Wahrheit, die 
nicht genug zu beherzigen ift, und die, meiner Anficht nach, 
hiev nicht am unpaffenden Orte ift. 


Chavigo. 


Zwiſchen den Iffland'ſchen Thränen-Zwiebeln, den 
Kotzebue'ſchen Tugendpilzen, den franzöſiſch-modernen 
Sinnpflanzen, den Raupach'ſchen Geſchichtsflechten und 
den ſonſtigen neuern Luſtſpiel-Waſſerrüben, die ſich im 
Luſt- und Jammer-Thale der alltäglichen Intriguen fo breit 
machen, wie die Palmen des Morgenlandes, bleibt ung doch 
dann und wann die Zuflucht zu den Schatten der Scil- 
ler'ſchen Cedern, und in die Marmorgalerie dev Goſethe'⸗ 
ſchen blutlofen Drama - Helden. 

Es beftätigt ſich täglich, auf allen Bühnen, bei 
jedeut Publikum, unter allen Geftaltungen, daß die Schil- 
ler'ſchen Dramen felbft beinur halbwegs mundredhter Dar= 
ftellung ftet8 ihr Theaterglüd machen; die Goethe'ſchen 
hingegen felbft bei vollendeter Aufführung nur theil= und 
deflamationsweife gefallen. 

Ale Schillerfcher Helden wollen das, was die. 
menſchliche Natur, die Folgerichtigkeit des Charakters, nad) 
feiner Eigenthümlichkeit erheifchen; fie fiegen oder fie erlicgen 
dur) ihren Charakter, dadurd), daß fie das find, was fie 
find; die Goethe'ſchen Helden find immer nur Maſchi— 
nen von Berhältnifjen, Thermometer von Zu— 
ftänden, dramatifche Öleihungen zwifchen ihrem 

M. G. Saphir's Schriften. VI Bo 9 





130 


Charakter und den Kreifen der fie umgebenden 
Melt. | 

Sie find nit tragifch, weil fie weder mit dem 
Schickſal, nod) mit dem Herzen, nod) mit der Tugend 
kämpfen, fiegen oder untergehen; fie ftehen nur immer im 
Conflicte mit gemachten Zeit: und Familien: Ber- 
hältniffen, fie ringen mit Sagungen und Formen, 
und das einzige Tragifche ift dabei, daß ein folcher Cha- 
rakter in eine Epoche oder eine Krife hineinfällt, wo die 
Veränderung der Dinge und der Zuftände mit dem Inhalte 
diefes Charakters nicht mehr zufammenftimmt. Ich Habe 
ed fchon einmal gejagt, daß „Götz von Berlidingen“ ein 
folder Charakter ift. Ein einzelner feudaliſtiſcher Stamm 
knöcherner NRitterlichkeit, fteht fein Charakter da, aber um 
diefen Stamm Hat ſich der Zuftand des deutschen Reichs— 
mwaldes verwandelt, und diefe Verwandlung der Zuftände 
um ihn kehrt auch feinen Charakter um. 

Egmont ftirbt, woran ftirbt Egmont? Stirbt er für 
feinen Charakter ? Nein, er ftirbt, weil er vertraut, weil 
er nicht genug weiß, wie fich die Dinge und die Menfchen 
und die Berhältnifje geändert haben. Egmont ift Egmont 
geblieben, aber die Niederlande find nicht mehr die Nie— 
derlande. 

In „Taſſo“, in der „natürlichen Tochter”, in den 
„Geſchwiſtern“ u.f. w., find es immer und immer Gewalt 
der Verhältniſſe, Zweifel und Mafelder Geburt, 
Abftufung und fpröde Trennung ber Tebens- 
Sphären, welche dent Charakter gegenüber ftehen, und 


® 


131 


immer bleibt die Mittelpunktperfon ftehen, während ſich 
das Diorama der Figuren um fie drehet, und fle dadurd) 
ihre Stellung als von fi) ausgehend verändert be= 
trachtet. 

In „Clavigo“ iſt der flüßige Eharakter durchaus zu 
keiner dramatiſchen Feſtigkeit gekommen, und das Publikum 
würde dieſes Trauerſpiel, ohne die pietätiſche Geduld für 
den Namen des Autors, unbedingt in die Reihe jener 
haltloſen Charaktergemälde rangiren, in denen eben nichts, 
als die Charakterloſigkeit den Inhalt des Charakters 
ausmacht. 

Clavigo's amphibiſches Weſen, Halb auf dem trode- 
nen Boden bürgerlicher Familienſtille fußend, und halb mit 
der neuangeſchloſſenen, politiſchen Schwimmhaut in den 
unabſehbaren Ocean gränzenloſer Weltenplane einer von 
ihm ſelbſt nur geahnten Zukunft hinſegelnd, geht dadurch 
zu Grunde, daß er beide Elemente vereinen möchte, im 
Grunde aber weder ſchlicht genug für jenes, noch groß 
genug für dieſes iſt. 

Goethe hat mit beſonderer Vorliebe immer dar—⸗ 
zuftellen gefucht, wie eigentlich Familienleben, ftille Liebe, 
alle edlen, aber ftillen Freuden der Liebe, des häuslichen 
Glückes, der Gewalt ſogenannter Weltgefchichte und höhern 
Berufungen weichen, und ihr, felbft zu Grunde gehend, 
den Borrang einräumen müffen!! So geht auch Egmont 
mit feinem Weltgefchiefchritt über Gretchens Liebe, fie 
zerknickend, hin, und fo vernichtet Clavigo's leere Schwung- 
fucht, der hoffärtige Gedanke, wie ein Schidjal über die 

9% 


132 


Geſchicke gewöhnlicher Menſchenkinder Hinzufchreiten, die 
unglüdlihe Marie und das Stil» Leben einer ganzen 
Familie. 

Es iſt eine perfide Spitzfindigkeit, daß in dem Ster- 
ben für das Wohl von Hunderttauſenden Entſchuldigung 
für die frevelhafte und nichtswürdige Vernichtung Einzelner 
zu finden mwüre. 

Bei Clavigo aber gefellt fid) zu der Seıchtswürdigfeit 
diefes Sophismus auch noch der faft lächerliche Umftand, 
daß alle die Weitgürtel-Gedanken uno Clanzhöhen nur 
Heine Fernpunkte, ganz und gar nod) im Nebel der Zukunft 
liegende Hoffnungsatome find ; daß alle diefe großen Sorgen 
für Welt, Größe, Glück und Menſchheit nur no kaum 
ausgebrütete Selbfthoffnungen find, von denen wir aud) 
noch nicht den kleinſten Umriß anders entworfen fehen, als 
in dem phantasmagorifchen Prophetenfieber des menjchen- 
feindlichen Carlos. 

Ganz durch und duch und bis ins Tiefſte des Her- 
zens muß e8 und mit Grimm und Unwillen erfüllen, daß 
der Dichter den Clavigo nicht blos darftellt, als von Carlos 
irregeleitet, al8 von einem außer ihm liegenden und anre- 
genden Dämon verlodt und angefpornt, Marie zu verlaſſen, 
fondern, daß er felbft das alles fühlt, zwar zu ſchwach ift, 
fi diefer Fühlung hinzugeben, aber in fich felbft fühlt, - 
- daß feine Liebe eine Hemmkette an dem Wagen feiner 
himärifchen Plane ift, und fi ihrer gerne entlaftet, 
alſo halbwegs ein Zugeftändnig gemacht wird, daß die 
Liebe wirklich einer folchen Empfindung fähig ift, und 


133 


diefes, unter befonderen Umftänden, zu Gunften einiger 
zum Glanz Auserkornen nicht fo ganz zu tadeln jeil 

Wir fehen endlich Clavigo getödtet am Sarge 
Mariens. Seine Sorge um ihren Bruder, feine ausgelaf- 
jenen Klagen haben feinen Glauben bei uns, denn wir 
ſahen ihn mit eben diefer Zerknirſchung, mit eben dieſem 
Ineinanderfturz femer Seele zu Marie zurüdtehren, um 
ihre Vergebung auf den Knieen zu erwinfeln, umd eine 
Minute darauf gefteht er Carlos, daß ihn in ihren Armen 
ein Schauder der Reue ergriff. 

Der Degenftoß des Bruders in Clavigo's Herz ift 
blos das phyſiſche Hinderniß, daß Clavigo nicht mit eben 
diefen elenden Gefinnungen eine Stunde nad) Mariens 
. Beerdigung vor ung erfcheint. Wir haben feine Gewähr für 
die Echtheit feiner Belehrung beit Marien’s Leichnam. 

Marien’s Leichnam aber wird ung nur im vierten 
Acte im Conduct vorgeführt, indeffen fie eigentlich ſchon 
vom Anfange des Stüdes Leichnam iſt. Marie fommt 
gleich im Anfang des Stüdes todt auf die Bühne, und 
erft im fünften Acte wird fie begraben, nicht ohne durd) 
die vier Acte hindurch einen beträchtlichen Moderduft um 
fi) verbreitet zu haben. An und für fich fiech, felbft im 
Glücke der Liebe ſchwindſüchtig, wie Carlos fagt, und vom 
Angenblide an, als Clavigo fie verließ, mit gebrochenem 
Herzen volllommen todt, jo erfcheint fie; und wir fehen, 
wie vier Acte hindurch von dem todten Mädchen vermittelft 

dramatischer Batterien und theatralifch galvanifcher Säulen, 
nod) einige Regungen und Zudungen erpreßt werden. 


134 


Und wahrhaftig, es ift ihr Glüd, dag wir fie als 
eine Todte Betrachten, einer Lebenden hätten wir es nie 
verziehen, daß fie einem folchen Verräther vergibt und on 
wieder annimmt, denn die Lebende würde dadurch beweifen, 
daß fie nicht da8 Glück des Geliebten, fondern nur 
das eigene will. Eine innere Stimme muß ihr jagen und 
jagt ihr, daß Elavigo ihr feiner Natur nach nicht angehört, 
‚und nicht angehören Tann, und nur einer Todten fünnen 
wir diefen materialiftiichen Egoismus, mit dem fie nad 
ihm hafcht, verzeihen. 

Wir finden auch darin, daß Marie fo uninters 
effant, fo farblos, fo unliebenswürdig, fo wie ein ganz 
gemöhnliches Mädchen gefchildert ift, unfere Anficht noch 
mehr beftärkt, daß der Dichter den Treubruch Clavigo's 
gerne und gleichſam miteinftimmend befchönigt, und ung 
glauben machen möchte, ein gewöhnlihes Mädchen 
dürfte verrätherijch zu runde gerichtet werden, wenn 
ein Trieb nah) Größe, nah Rang den Geliebten er⸗ 
füllt. Die moralische, äfthetifche und dramatische Verwerf⸗ 
lichkeit diefer Herzlofen Refervation braucht nicht erft 
nachgewiefen zu werden, 

Wenn man nun zu Beaumardais kommt, jo fteht 
der Romödienbruder wie er leibt und lebt vor uns, der 
fih von jedem andern Komödienbruder nur darin unter⸗ 
fcheidet, daß er weiß, was ein Komddienbruder ift, und 
jagt, er ſei keiner; allein es ift nicht Jeder frei, der 
feiner Ketten fpottet, und nicht jeder Betrunfene ift 
nüchtern, der fagt, er fei nicht betrunfen. Beaumardhais 


135 


handelt durchaus ganz wie ein Komödienbruder, aber wie 
ein Komödienbruder mit Confequenz. Iſt e8 Liebe zu 
feiner Schwefter, die all fein Thun beftimmt? Nein, 
denn er bringt die Todte ſchonungslos nocd einmal um; 
er ift blos der Rachegeift der Familie, der die Fa⸗ 
milienſchmach rächen will. 

Nur Carlos ganz allein hat die Dichtigkeit in feinem 
Charakiergewebe, er ift ein Schachſpieler, ein Kempelen⸗ 
ſches Automat, alle Menſchen find wie Steine, die man 
da und dort Hinfegt, bläst, wegwirft, um einem Ziele: 
dem Gewinn der Parthie nachzuſtreben. Die ganze 
Gefühlswelt, alles Herzensglüd, die Ehrfurcht vor Men- 
ſchenwohl, die Scheu vor Tugend, Liebe, Ehre u. f. w., 
find ihm nichts, fie müffen alle in den Hintergrund treten, - 
wenn im Vordergrunde eines glänzenden Lebens eine große 
Rolle, eine Magnatur zu fpielen ift, Die Liebe, mit welcher 
Goethe gerade dieſen Carlos mit aller rednerifchen Dialektik 
und verführerifchen Syllogismen ausftattete, ließe faft wäh⸗ 
nen, er habe bei Clavigo, dem Genie, welches fich Durch Kraft, 
Drang und unabläffiges Streben zu den höchften Höhen 
erhob, zuweilen an fich ſelbſt gedacht, und dabei erklären 
wollen, wie e8 denn einer Mufe auf folchem Gipfelpunft 
gerathen -und rathſam zuzumuthen fei, die Intereffen von 
Menfchenglüd und bürgerlicher Wohlfahrt dem höhern 
Beruf von Glanz, Würden und Ehrenzeichen unterzuord- 
nen. Carlos ſoll dem Clavigo begreiflich machen, daß die 
Heinlichen Berhältniffe gewöhnlicher Menſchen, die natur 
gemäßen Neigungen, Wünfche, Gefühle der glanzlojen 


136 


Menge als Hleinlih und unbeahtenswerth erfcheinen 
gegen hohe Zwede, gegen Plane von irbifcher 
Größe, deren Erlangung als das einzig Bünf chenswerthe 
im Leben daſteht!!! — 

So würde Clavigo, wenn er am Leben geblieben 
und Staatsmann und Schriftſteller zugleich geworden wäre, 
jenen literariſchen Machiavellismus in ſeinen Schriften vor⸗ 
getragen haben, und die Sache der Menſchheit ſtets kalt 
und berechnend den Rückſichten der Stellung und der Zwecke 
aufgeopfert haben! Darum ſehen wir den Carlos weder 
als Böfewicht, noch als Intriguant geſchildert, ſondern als 
einen klugen, warmen, wahrhaften Freund Clavigo's! Wir 
ſollen ihm recht geben. Schon Tieck ſagt in ſeinen drama— 
turgiſchen Blättern, daß Carlos kein Intriguant iſt, ſondern 
ein enthuſiaſtiſcher Freund Clavigo's. 

In dem endlichen Ausgange des Stückes, in dem 
dramatiſchen Schlußgericht ſehen wir offenbar der Sache 
eines gewaltſamen und aufgebauſchten Hanges nach eitler 
Größe, ein höheres Recht eingeräumt, als der Sache des 
menschlichen Rechtes, der gemißhandelten Herzen, der ges 
mordeten Xiebe. Der Tod Clavigo's ift cin Lohn, das 
Lebenbleiben Beaumarchais' ift eine Strafe! Cla— 
vigo geht gefühnt aus der Welt, während Beau— 
marchais verdammt in ihr bleibt! Ein Berliner Kri- 
tifer, ich glaube Franz Horn, fagte: „Die Raheder 
Tamilietreffeam Ende nur Carlos, der felbft 
Beaumarchais, weldher feinen Freund tödtete, 
retten muß.“ 


137 


Es ift kaum glaublich, daß eine ſolche Oberflädhlich- 
feit gefagt werden kann! Ift denn Beaumarchais gerettet? 
Was nennt man gerettet? Daß ihn vor unfern Augen 
nicht die Häfcher ergreifen und aufs Blutgerüft fchleppen ? 
Heißt da8 gerettet, daß er, als halbwegs Urſache an 
dem Tod der Schwefter — fo befhuldigt ihn wenigſtens 
Sophie Guilbert — und als ganzer Mörder Clavigo's 
entrinnen kann, mit allen Gewiffenspfeilen im eiternden 
Bufen, mit dem Donnerruf: „Zwiefaher Mörder!” 
in den zerfleifchten Ohren? Seine Rettung tft eine grau 
fame, lebenslängliche, peinliche Folter, eriift, wie die früheren 
Verbrecher, an den gehetten Hirſch feines jagenden Gewif- 
ſens gefchmiedet, welcher ihn durch alle Dornen und Klippen 
feines feruern Leben fchaudererregend fchleift! 

Wie beneidenswerth ift dagegen Clavigo's Ende, der 
auf dem Sarge feiner Geliebten fein Leben, durch feinen 
Tod gefühnt, aushaucht, und fo mit ihr vereint da erfchei- 
nen fann, wo fie Beaumarchais, der gerettete Mörder, 
nie erreichen kann. 

Wir erfehen alfo am Ende die Nothwendigkeit ber 
. weltlichen Macht und die Verbrechen ihrer Größe ſiegend 
hervorgehen über die zertretenen Rechte des bürgerlichen 
Familienlebens, und die geheiligten der Menſchheit und 
der Liebe. 


Burükfetung. 


Schaufpiel in vier Aufzügen. Bon Dr. C. Töpfer. 


« 

Dieſes Stück heißt im Franzöſiſchen: „Preférence d'une 
möre,“ von Madame Ancelot. Herr Dr. Töpfer gibt 
nie an, daß feine Stücke Ueberjegungen find, welches am 
Ende doch jedes Kind in der Literarifchstheatralifchen Welt 
weiß. Ich würde aud) nichts darüber jagen, allein ich bin 
genöthigt, e8 zu thun, um dadurch anzuzeigen, daß ich 
e8 bei meinem Urtheile über dieſes Stüd durchaus nicht 
mit Heren Dr. Töpfer, fondern mit dem franzöſiſchen 
Berfaffer des Driginals zu thun habe und haben will. 

Es gibt viele Meberjeger, die am Ende glauben, das 
überjette Stüd fei wirklich von ihnen verfaßt! Sie neh- 
men fich den oft gerechten Tadel des Stüdes fo and adoptiv⸗ 
väterliche Herz, find fo troftlos über die Rügen, die man 
dem Kindlein macht, als hätten fie das Kindlein nicht aus 
dem Dietionnaire, jondern aus dem Gehirne geboren, 
und befchuldigen oft die Kritif der perfönlichen Parteilich⸗ 
feit gegen fich, da der Kritiker im Grunde e8 doch nur 
einzig und allein mit dem Erfinder des Stüdes, mit 
dem wahren Berfaffer, mit dem franzöfifhen 
Autor zu thun hat. Dixi et salvavi! 


139 


Eine Tochter, die von ihrer Mutter nicht geliebt, 
und gegen eine jüngere, geliebtere zurüdgefegt wird, des⸗ 
halb dem Tode entgegenfiecht, endlich durch einen Ontel, 
welcher ſich darein mifcht, zum Glauben gebracht wird, 
die Mutter fei ihre Stiefmutter, und eben dadurd), daß fie 
nun der Mutter fi) als eine Fremde gegenüberftellt, die 
Liebe diefer Mutter gewinnt, und auch den Dann, den fie 
fiebte, aber ihrer Schwefter aufopferte, glüdlich heirathet, 
und vom Grabesrand wieder frifch und gefund zurückkehrt, 
das ift der Bruſtkern dieſes franzöfifhen Luſt- oder 
Schau-Spiels, | 

Als Affietten und hors d’oeuvres find nod) da: eine 
jüngere Schwefter, welche fehr luftig und Braut des Gelieb⸗ 
ten der ältern, melancholiſchen Schwefter ift, und ein alter 
Zunggefelle, welcher die traurige Helden des Stüdes heira- 
then foll, und am Ende leer abzieht. 

Die Mipliebigkeit des ganzen Stüdes hat der fran- 
zöfifche Autor ſchon durch die unangenehme, abftogende 
Unnatur der Mutter, Frau von Lobek, in das Stüd ein- 
geimpft, und an diefem Hauptgebrechen fiecht e8 feine bit- 
terfüße Eriftenz durchaus hin. 

Die Spartaner, glaub’ ich, hatten kein Geſetz über 
Batermord, denn ihrer Meinung nad, kann diefes Ver⸗ 
brechen natürlicherweije nicht begangen werden. Die dra« 
matifche Kunft ſollte billigerweife folche ſpartaniſche Geſetze 
haben. Für entartete, widernatürliche Mütter, die ihr Kind, 
das Kind ihres Herzens, ihrer Zärtlichkeit, das Kind, das 
fie mit Thränen und Wonnen aufgezogen, das Kind, das 


140 


noch obendrein Ichön, reizend, tugendhaft, liebreicdh, kurz, 
ein Engel, und noch obendrein ein weiblicher Engel, eine 
Tochter if, nicht liebt, ja ji mit Widerwillen davon 
abgeitogen fühlte, für jolche Abnormitäten der menfchlicdhen 
Natur jollte das Drama fein Forum haben, und es nie 
und nimmer aus dem Reiche einer erfinderifchen Unphantafie 
zur Beſchauung an das moralifche Tageslicht ziehen. 

Eine Rindesmödrderin iſt eine entfegliche, unge- 
heure Berbredherin, die Natur empört fi, Erde und 
Hinmel zürnen und donnern über dem Haupte der unfelt- 
gen Ihäterin, und wenn es denn jein muß, fo mag der 
dramatische Dichter fammt der Erde und Himmel zürnen 
und donnern! Eine Kindesquälerin aber ift eine wider- 
liche, verädhtlicdhe Creatur, Erde und Himmel wenden fidh 
mit Widerwillen ab, und mit ihnen der dramatische Dichter, 
der rühren, erheben, erſchüttern will, aber nicht 
abftoßen, Haß erregen! — Frau von Lobek Haft 
ihr Kind ohne Urfache, fie ift aber tefto unheilbarer, 
da fie, wie Schuldner, die fich ſelbſt ſtets mahnen, nie 
bezahlen, ftets jich jelbft Vorwürfe mad, und die Heilige 
Schuld an ihr Kind doch nie bezahlt! Durch drei lange 
Acte jehen wir ein junges Mädchen moraliſch erdunger n, 
weil ihın die Mutter die einzige Nahrung! Liebe, 
nach der es lechzt, nicht reicht, und dabei immer weint, 
da fie ihr diefe Nahrung nicht reicht! Unſer Herz wird 
nicht gerührt, nicht zum Mitleid beiwogen, jondern es 
wird unwillig, fajt erbost, und der Eindrud wird ein 
peinlicher. 


141 


Ein nit minder unwahrer Charalter ift Clara, 
die zurüdigefeßte. Krank ift fie, das kann fein, aber ein 
Drama wird nicht für Aerzte gefchrieben. Gewiß ift e8 ein 
Tchmerzliches, ein ungeheuer ſchmerzliches Gefühl, ſich von 
einer Mutter nicht geliebt zu wiflen, und der Kummer 
darüber ift ein ganz natürlicher, Allein fterben thut man 
nit daran! Vollkommen unmwahr ift diefes krankhafte, 
frampfhafte Spielen mit Tod und Grab und Bermwefung. 
Vollkommen unwahr ift diefe mondfcheinhafte Zerflofjenheit, 
diefe jenfeitsfüchtige Hinfälligkeit, diefes Wehmuthsgeſäuſel 
und diefe Teichentraumphantafien, diejes ewige, haltlofe, 
ſchweigſame Aufopfern und aufopfernde Schweigen. 

Wenn wir und nun zum Wendepunkt des Krebſes 
diefer Drama-Welt begeben, fo ftoßen wir auf eine foge- 
nannte Kataftrophe oder Beripetie, die das Ding nicht durch 
ein natürliches Mittel zu Ende führt, fondern durch ein 
gewagtes, glüdlicherweife aber gelungenes Kunftftüd! 
Es ift alfo blos ein glüdlicher Zufall, der die Kataftrophe 
ausmadıt. Der Onkel, Herr von Lobek, un Clara zu retten, 
macht ihr glauben, ihre Mutter fei ihre Stiefmutter. 
Dadurch wird Clara froh und gejund, denn nun hat fie 
eine Mutter im Himmel, die fie liebt. Sie nimmt von der 
Stiefmutter Abjchied, wie von einer Fremden, dadurd) 
ſpringt plöglid) die Eisrinde von dem Herzen der Mutter, 
und rinnt in aufgelösten Thränenbächen über das Haupt 
des auf einmal heißgeliebten Kindes hin! Clara, von diefem 
in heißen Zähren aufgethauten Gletſcher, erfährt, daß es 
doch ihre Mutter ift, daß fie nun Mutterliebe empfängt, 


142 


und ift glüdlich, indem fie noch als Schmerzensgeld und 
Prozeßkoſten den Geliebten ihrer Seele zum Manne bekommt. 

Diefe Krifis, welche Madame Ancelot ſehr fcharfs 
finnig herbeiführt, ift gelungen und glücklich g erathen, 
aber nur darum, weil Madame Ancelot als Verfaſſerin des 
Stüdes, und als inwohnende Natur ihrer Patienten, diefe 
Kriſis zur materia medicatrix machen konnte. Allein es 
wäre gefährlich, diefes Mittel bei jedem ähnlichen Tal 
anzuwenden, wo die Natur der Kranken nicht von dent 
dramatischen Selbftwillen der Madame Ancelot abhängt! — 
Wir haben letthin in einer medicinifchen Zeitung gelefen, 
dag ein Nervenkranker, den alle Aerzte aufgegeben, in feiner 
Raferei vom dritten Stode auf die Straße fprang, und — 
das Nervenfieber war curirt. Würde deshalb ein Arzt fei- 
nem Nervenkranken als letztes Mittel verordnen: vom 
dritten Stode auf die Straße zu fpringen? Was aber in 
einem dramatischen Werke als Beweggrund, als morali- 
ches Heilmittel u. j. w. angebracht wird, muß auf allges 
meine Wirkung berechnet fein, muß auf jeden Fall, 
für jedes Individuum ein Specificum fein, fonft ift 
es ein casus fortuitus, ein individueller Fall, und gehört 
in die Reihe der Curtofitäten und Raritäten, aber 
nicht in die allgemein moralifche Heilkunde! 

Noch unwahrfcheinlicher, als daß Clara durch diefen 
Wahn fo ganz und gar plötlich heiter und geſund wird, 
ift das, daß die Mutter gerade dadurd), daß ihr Kind fie 
wie eine Fremde behandelt, plötzlich in Liebe zu ihr zerfließt! 
Das ift plötzliche Mutterliebe aus Luft am Widerfpruch ! 


143 


Meutterliebe aus Caprice, aus Bizarrerie! Wer bürgt und 
für die Dauer, für die Haltbarkeit und Echtheit einer Mut⸗ 
terliebe, die zwanzig Jahre in einem Todesſchlummer lag, 
plöglic) von einem Erdbeben erweckt wird, die Augen gewaltig 
groß aufreißt und ausruft: „Ich bin Mutterliebe?* Wird 
ſich diefer bleierne Schlaf nicht der gewaltfam aufgerifjenen 
Augenlieder wieder bemäcdhtigen? Wird bei einem folchen 
Nature, wie diefe Mutter entwidelte, fein Recidiv⸗Fall 
eintreten, da das Mittel ein Gewalt- und Momentans, 
aber fein Radical» und Präfervativ-Mittel war ? 

Ich weiß e8 nicht, aber eben weilich es nicht weiß, kann 
ic Mutter und Tochter nicht für curirt halten, und fie als 
vollfommen geneſen aus diejer Alienation-Anftalt entlaffen. 

Ic Habe mic mehr bei diefen zwei Perfonen aufge- 
halten, weil fie eigentlich die beiden Strebepfeiler find, auf 
denen das ganze Gebäude beruht. — Die zweite Schweſter, 
Mathilde, fol ein Contraſt gegen Clara fein, ift aber 
nicht8 weniger, als das. Sie fol ein heiteres, unbefangenes, 
herzliches Geſchöpf fein, ıft aber nichts, als eine geift- und 
Herzlofe Kofette, oder, um den Ausfpruc zu mildern: „eine 
moderne Ruftfpielgeftalt!“ 

In diefer Mathilde jehen wir wieder einen Typus 
von weiblichen Geftalten, wie fie ung unfere Luftfpieldichter 
als Normalgeftalten der Jetztzeit aufbringen wollen; Icer, 
nichtig, oberflächlich, mit der Empfindung witelnd, das 
Gefühl an ein Bonmot verkaufend, die Liebe ald eine Mode 
an ſich bringend, und die Ehre als eine chose convenue 
mitmachend! 


144 


Mathilde iſt Braut von Baron von Heeren, und als 
der Onkel ihr ſagt: „Der Baron liebe Clara und würde 
auch Clara heirathen,“ lacht ſie und ſagt: „Ich habe ihn ſo 
nicht geliebt, und habe ihn blos deshalb heirathen wollen, 
weil ich glaubte, die Leute hätten von uns geſagt: „das 
ift ein ſchönes Paar!“ 

Und das will man und als einen. C harakter 
verkaufen 7 

Ich bitte, meine Leſer, darauf aufmerkſam zu ſein, 
wie alle unſere Luſtſpieldichter die Baſis ihrer Frauengeſtal⸗ 
ten auf gänzliche Entadeligung des weiblichen Weſens 
gründen, daß ſie als Salon-Ton, als moderne Ge— 
fühlsweiſe das darzuſtellen ſuchen, was im Grunde 
nichts iſt, als gänzliche Blaſirtheit und durchgehende Fäden⸗ 
ſcheinigkeit einer zerriſſenen und zerzupften Ver- und Hyper⸗ 
Bildung! 

Sie überſetzen die Roue's aus den Spielſälen Fras— 
cati's und die Gefühlsſpötter aus den Wein-⸗ und Kaffee— 
häufern ins Weibliche, und nennen fie: moderne weib- 
liche Charaktere! Sie laffen ihre Mädchen und Frauen 
mit Empfindungen fchalen Witz treiben, fic) über die hei— 
ligften Gefühle moquiren, jede zarte Regung über die Klinge 
eines Bonmots fpringen und fagen: „hier hab’ ich einen 
modernen weiblichen Charakter gefchaffen!“ 

Wenn die modernen Frauen fo wären, wie fie die 
modernen Dichter fchildern, fo wollen wir in Gottesnamen 
Antiquen lieben, und unfere Frauen aus den Gräbern und 
Glyptotheken holen! 





145 


Auch der Baron von Heeren ift ein dubiofer Charaf- 
ter; liebt Clara, verliebt fi) in Mathilde, kehrt zu Clara 
zurüd, wird abgewiefen, verlobt fich darauf mit Mathilde 
und heirathet am Ende Clara! Wahrlich, Pietro Bono 
macht ſolche Vor- und Rüdjprünge faum auf dem Seile, 
die ber Herr Baron auf dem dünnen Faden der Liebe madıt. 
Der alte Onkel und der alte Götze find ſchon dagemwefene 
Charaktere, und bringen nichts Neues mit. 

Uebrigens ift das Stüd echt franzöfifch, wirkſam, 
hat frappante Situationen, ift voll Effect und gefchidt 
gebaut und gegliedert, ſowohl die Tafchentücher als das 
Zwerchfell finden in bdiefer echten Comédie larmoyante 
vollauf Beichäftigung, und e8 erfreute fich in diefer Hinficht 
mit Recht einer entſchieden günftigen Aufnahme. 


M. ©. Saphir's Schriften. vi. Br. 10 


Weh' dem, der lügt. 
Luſtſpiel in fünf Aufzügen. Don Franz Grillparzer. 


Motto: 
„Wehe dem, der Lüge!“ Luftfpiel. 


„Wehe dem, der die Wasrcheit fagt!" Trauerſpiel. 
„Wohl dem, ber ſchweigen kann!““ Bantomime. 


WMie eine weiße Taube unter Krähen, wie ein Schwan 
unter Waſſerenten, wie ein Veilchen unter Brunnenkreſſe, 
wie Ambra unter Nießpulver, wie Liebeslied unter Unkenruf, 
fo erfcheint Grillparzer in dem Schiboleth unferer Luſt⸗ 
Ipiel = Scheune! 

Bon der disharmonifchften Zeit zum harmonifchiten 
Geſchäfte angeregt; von dem Falten, anfechtenden Gefchlecht 
zur heißeften, edelften Anfchauung impulfixt; von der ver- 
nichtenden Nüchternheit der allgemeinen Bildung zur höchften 
abgejchloffenenBegeifterung zurüdgedrängt; vondem hohlen, 
oberflächlichen und gefchäumigen Zeitgefhmad zurüdge- 
ſchreckt in fein tiefftes, poetifches Selbft; von der Hohlheit, 
Zerfallenheit und leeren Parteifchwindelet feiner Zeit, wie 
die zarteSenfitive krampfhaft feine geiftige Blume zufammen- 
ſchließend; zugleich aber auch von eigener VBerftimmung 
und felbftgefchaffenemn Mißmuth widernatürlich umftridt, 
fo fehen wir diefe edle Trauerweide unferer Literatur, das 
grüne Haupt in den Bach der Zeit ſenken, um fchmeigend 
und finnend in ihm ſich und feine Trauer wieder zu erbliden ; 


147 


darum flieht diefer Geift die frifchen Geftalten, welche die 
Settwelt ihm bietet, um mit der Vorwelt Schatten um= 
zugehen, und fie zu fich zu bringen; darum zieht er gerne 
die wirklichen, vahren Lehren der Menſchheit und 
des Lebens ausdem Dunkel-und Dämmer-Reich der 
Träume und des phantaftifchen Gewebes aus Ge— 
ſchichtlichem und Fabelhaftem. 

Die Poeſie iſt ſo ganz und gar, ſo mit Haut und 
Haar, ſo ohne Raſt und Ziel, ſo mit Stumpf und Stiel 
aus dem Reiche des Luſtſpiels gewichen, daß ſchon der 
Verſuch eines Grillparzer, ein Luſtſpiel zu ſchreiben, 
ein neues poetiſches Roth auf das freudig überraſchte Antlitz 
Thaliens aufblühen macht. 

Sehen wir alle unſere Luſtſpiele an, ſie haben Alle, 
Alle eine große Familien-Aehnlichkeit, es iſt eine einzige 
große Kalmüken-Familie, Alle mit derſelben plattgedrückten 
Nafe, Alle dieſelben Kleinen, blinzelnden Liebesäuglein, Alle 
diefelben aufgeworfenen, hervorbrechenden, finnlichen Lip- 
pen, Alle dasselbe fraufe, wollige, rollige, ftruppigeDialogen= 
haar, Alle die glatte, aber ſchweißige Haut, tätowirt mit 
denfelben ‘Blattituden, mit denjelben Equivoquen, mit den= 
felben Gemeinplägen, mit demfelben Häffel und Quäkſel 
von Redensarten, mit demjelben Alltags - Gatel, Oefrage 
und ©eantworte. 

Bei der erften Scene aller unferer Luftfpiele fieht 
jeder Menſch ſchon durch den langen Corridor der Handlung 
das Ende hereinfpazieren; alle Berfonen find durchfichtig, 
man gudt ihnen fogleic) durch alle Rippen durch, und wer 

10* 


148 


nur zweimal in einem Salon von ber volee financiere war, 
der weiß immer ſchon voraus, was A zu Bfagenund Can D 
antwortenwirb. Nirgends iſt die Gegenwart des Geiſtes, 
nirgends Erhebung der Seele, nirgends Beredlung 
der Anſchauung! Gewöhnliche Intriguen ins Unerträg« 
liche ausgefponnen, geledte und gefchniegelte, aber immerhin 
Iofe Form, alles Inhaltes entbehrend, alle Idealität im. der 
Materie erftidend, und alle Poefte mit buntem Spaß nieder⸗ 
haltend, da8 ungefähr ift der Staturpaß unferer modernen 
Thalia! 

Sn diefer Zeit, wo allen unfern Ruftfpielen 
der äußerliche Mittelpunkt in der Haupthband- 
fung, und allen unferen Luftfpiel- Characteren ber in- 
nerliche Mittelpunkt ihres Dafeins fehlt, und das 
Poetifheund Geiſtvolle foganz vondem fonnigen Ge⸗ 
biete der heiteren Muſe ausgefchloffen ift, ift e8 eine wahre 
Wohlthat, wenn ein wahrer Dichter, wie®rillparzer, 
diefen Boden betritt, und den fruchtbaren Samen in das 
empfängliche, aber mißbearbeitete Erdreich ftrent. 

Ein Ruftfpielift nur dann etwas werth, wenn 
das Ganze eine Schönheit für fid) enthält. Eine Schön- 
heit in der Idee, eine Schönheit im Gedanken, eine Schön- 
heit in der Tendenz. Diefe Schönheit mit poetifchem Geifte 
zu befruchten, fie mit Wig und Annehmlichkeit zu befeelen, 
ift die untergeordnete, aber auch Höchft wichtige Anforderung. 
Da aber nur das ſchön erfcheint, was im moraliſchen 
Sinne vollfommen ift, fo ift die ſittliche Tendenz 
das einzige Eriterium eines Luſtſpiels. 


a 


149 


Alle diefe Abgefchmadtheiten von Liebesintriguen, 
von Berfennungen, von Berwechslungen, von Mißverftänd- 
niffen, von Belenntniffen, von Ertappungen, von Abenteuern, 
mit dem ganzen Brimborium der Zofen, Diener, der Ver⸗ 
kleidungen, Irrungen, Behorchungen u. |. w. find efelhaft, 
albern, wiberlich, weil fie auf ihren hohlgehenden Wogen, 
die von dem matten Odem des Alltagslebens gekräuſelt find, 
nicht eine edle Öefinnung, nicht eine erhebende Empfin⸗ 
dung, nicht eime lautere Anficht, nicht einen ftärkenden, 
tröftenden, wohlthätigen Gedanken oder Ausſpruch an den 
Zuſchauerſtrand hinfpülen. 

Einem Grillparzer aber ift die höch ſte Schön- 
heit der Idee fo zur Natur geworden, wie dem Mandel- 
baum feine Blüte, wie der fülligen Granate ihr innerfter 
Kern; und die Poefte, die Duftigleit des Geiftes, die Lieb- 
lichkeit der Empfindung befeelt und durchgeiftert feine Idee 
jo durch und duch, und diefe Idee ift jo ganz in Poeſie 
and Begeifterung verſenkt, wie die Biene in den geöfjneten 
Duftkelch der Roſe ſich einſenkt und einbaut. 

Dieſe Idee: die Schönheit der Wahrheit, mit 
allen ihren Schwierigkeiten und Gefahrniffen darzuftellen, 
äft geroiß der edelfte Vorwurf der Muſe, und gewiß aud) 
der Luftfpiels Mufe; denn Alles, was mit unferer geiftigen 
Erregbarkeit harmonirt, erwedt in uns ein Gerast von 
Luſt und geiftiger Freude. 

Das Erlennen einer moralifden Größe — 
wie bier zum Beifpiel das Erkennen des Werthes der 
Wahrheit — erwedt in ung eine ſüße Empfindung. Diefe 


150 


füße Empfindung ift an und für ſich angenehm, allein fie 
erhält einen höhern, einen gediegenern Werth dadurch, daß 
fie zu einem Begehren wird, zu einem Begehren dar-. 
nad; in dem Begehren darnad Liegt unfere innere Vers. 
edlung, unfere moralifche Beflerung, und in dem Allen liegt 
die glüdlichfte Löfung, das feligfte Endziel des höheren 
Luftipiels, des Luſtſpiels wie es fein fol. | 

Grillparzer hat dem Publitum einen andern 
Standpunkt angemwiefen, er traut ihm zu, nicht blos über 
Lappalien von Liebeleien, überGamilien-Abgefchmadtheiten, 
über Meinliche Collifionen, beifällig, abfällig, oder kopf⸗ 
fhüttelnd abzuurtheilen, fondern er traut dem Publikum 
das Höchſte zu, das Richteramt in den feinften 
moraliichen Schwankungen, das höchfte Unterfcheidungs= 
Bermögen in den Collifionsfällen von Wahrheit, Wahr⸗ 
haftigfeit, Unwahrheit, Züge, Nothlüge und allen den 
Zwifchenfällen, in welche ung der Widerpart der gebieteri= 
chen und tyrannifchen Lebensverhältniffe gegen die lauterftert 
und alleredelften Bebungen und Entjchlüße, fo oft und fo 
zweifchnetdig entjcheidend, bringt. 

Das Wohlgefallen an der Wahrheit ift doppel⸗ 
artig, denn jede Wahrheit fann Doppeltes. enthalten, 
entweder eine Lehre oder eine Schönheit; im erften 
Valle wirkt fie auf das moralifche, im zweiten Yalle 
auf das äfthetifche Gefühl, und fo ift das Wohlge- 
fallen und die Luft, die aus dem Kampfe und Sieg der 
Wahrheit hervorgeht, eine moralifche oder äfthetifche 
Freude. 


151 


Diefe Betrachtungen mögen darthun, daß das be- 
denfliche und fuperfluge Kopfwiegen und mit weifer Miene 
ausrufen: „Wehe dem,der lügt?“ Wie kann das ein 
Luftfpiel fein?” eine Oberflächlichfeit ift, die unter dem 
Strahle der eindringenderen Kritik wie Butter zerfließt. 

Die Aufgabe, die fich der finnige Dichter ftellte, 
war vortrefflich, die Idee eben fo erhaben als reich an 
Stoff für Gemüth, und zugleich an Stoff für die Heiter> 
feit. Aber von der Konception der Idee bis zum Aufzug 
des Vorhangs ift ein langer, langer und breiter Weg! E8 
kann die glüdlichfte, finnigfte Idee, ald Minerva mit der 
Aegis gerüftet, aus dem fchöpferifchen Geifte eines großen 
Dichters entfpringen, und fie kann dod) als ganz ſchwaches 
Mütterhen auf Stelzen und Krüden über den ſchmalen 
Abgrund zwifchen Podium und PBarterre zu uns herüber- 
hinten. 

Wenn Heine Geifter ivren und das Moosgeſchlecht 
der gewöhnlichen Dichter auf Abwege geräth, fo ift nichts 
daran zu bedauern, nichts daran zu verwundern; wenn 
große Dichter irren, fo ift in diefem Irrthum felbft eine 
Erhabenheit des Anblids; wenn einem Grillparzer 
Etwas nicht geräth, fo bleibt Allen dabei noch etwas zu 
lernen, zu erlernen! 

Grillparzer, in feiner edlen dichteriſchen Offen⸗ 
heit, hat den Maskenſtreich verſchmäht, ſein Luſtſpiel 
ein „Charactergemälde“ zu nennen, welches vielleicht 
eine andere Erwartung, als man billigerweiſe mitbrachte, 
hervorgebracht hätte. Erſtens ſchon darum, weil er weiß, 


152 


daß, wenn man von einem dDramatifchen Werke jagt: „C H.a= 
ractergemälde”, diefes ein folcher Unfinn ift, als wenn 
man von Muſik jagen wollte: TZon-Mufil, oder von 
einem Gemälde: Farbengemälde, oder von einem 
Menſchen: Gliedermenſch! Gibt es Muſik ohne Ton, 
ein Gemälde ohne Farben, einen Menſchenohne 
Glieder, und gibt e8 ein dramatifhes Wert, in 
dem Fein Character gemalt ift, das heißt in dem 
eigentlich fein Character gemalt fein follte? Das ift ja 
eben der Fluch unferer Zuftfpiele, da fie nicht find, wie fie 
fein müßten: „Charactergemälde!" Wiefehr ſchätzens⸗ 
werth und liebenswürdig zeigt ſich wieder die klare, poetifche 
Individualität unferes Grillparzer darin, daß er den 
nnmwürdigen Hebel an die öffentliche Meinung nicht voraus 
anlegte, und nicht von mattblafenden Vorreitern erft aus⸗ 
trompeten ließ: „diefen neuen Weg hab’ ich eingejchlagen, 
ich bitte, meine Herren, habt Acht, daß diefer Weg wicht 
jener Weg ift! habt Nachſicht u. |. w.’ Ein®rillparzer 
braucht weder eine Vor-Entſchuldigung, noch eime 
Bor-Empfehlung; nnfer Publikum des Hofburgthea- 
ters ift vollkommen äfthetifch-reif, und weiß feinen beften 
Dichter zu ſchätzen; das beweist der allgemeine Beifall, den 
die Allufionen, welche im Prologe auf ihn anfpielten, im 
ganzen Haufe erregten; und wie fehr erhöht e8 die liebens⸗ 
würdige Befcheidenheit diefes edlen Sängers, daß er ſich 
fo ohne Widerftreben bei biefem ihn liebenden Publikum 
anempfehlen und um Nachſicht anfuchen ließ. Das ift die 
Demuth der wahren Dichterfeele. — Im Voraus waren 


153 


wir mit Liebe in das Stüd gegangen, wir brachten jene 
gute Stimmung mit, welche die Mufe Grillparzers 
bei uns ftet8 vorausfegen darf; und wenn auch der Erfolg 
diefe Stimmung bedeutend dämpfte, wenn man bei aller 
Borliebe für den Dichter ſich unverhohlen geftand, daß die 
Erwartung getäufcht wurde, fo kann man dod) behaupten, 
daß eine wohlthätige Erfchütterung in dem allgemeinen 
Krankpeitszuftande der Luftfpielmufe hervorgebracht wurde, 
und da8 allein ift fhon Gewinn! Eine Krifis war nöthig | 
Grillparzer fah den bald ſtheniſchen und bald afthe- 
nifchen Zuftand der rettungslos erkrankten Thalia, und 
pflanzte die Erregungs- Theorie von der Natur: Philofophie 
und Humoral-Pathologie in diedramaturgifche Klinik über! 
Die Natur heilt keine Krankheit, fondern die Berändes 
rung des Berhältniffes der Reize; die Reize 
des Tuftfpiels, feine Erregungen mußten in ein ander 
res Verhältniß gebracht werden. Eine totale Umftim- 
mung der Nerven ift ihm vor Allem nöthig, und das 
tonnte nur durch den Verſuch, das Luſtſpiel auf einen ganz 
andern Boden überzupflanzen, bewerfftelligt werden. 

Grillparzer hat alfo den Verſuch gemadjt, es aus 
dem ſchlammigen Sumpfe der volllommenen Degeneration, 
in welcher es jegt fortlaicht, auf einmal, ohne Leber- 
gang, auf die höchfte Spige einer rein moralifchen — 
Subtilität hinaufzuftimmen. 

Diefer umgekehrte leufadifche Sprung von dem Ab- 
grund auf die Höhe, den der Dichter feine, von alten 
Liebeleien und Intriguen lebensmüdeSappho- Thalia machen 


154 


ließ, fo edel er im Beweggrund, fo nothwendig bedingt im 
der moralifchen Opportunität, fo heilfam er aud) für die 
künftige Tebenszeit derfelben jein mag, mußte aber 
vor unfern Augen um fo unglüdlicher ausfallen, als wir. 
leider eben nichts, als den Beweggrund bes Spruns 
ges, die Schnellfraft des Entfhlußes, und dem 
freien, muthigen Anlauf zum Sprunge jelbft zu 
loben haben, und die Höhe, auf die der Sprung führen 
follte; die Ausführung felbft aber, die That, der 
Sprung felbft fo mißlich ausfiel, daß die nnglüdliche 
Sappho⸗Thalia im Sprunge ſelbſt fich einigemal unglüdlidy 
überfchlug, oben köpflings zu fallen fam, und von der 
Höhe auß gerade den auf den Kopf geftellten, ver= 
kehrten Anfhauungspunft gewährt! 

Da uns fein Manufecript früher zu Inhaltsanzeigen 
und Auszügen zu Gebote ftand und fteht, ich es aud) nicht 
liebe, dem Lefer die verdichtete Gallerte de8 Inhalts zäh 
auszufochen, fo mag zur Berftändlichung meiner Anficht 
in Kurzem nur Folgendes mitgetheilt werden. 

Der Domvogt von Chalons, defjen Neffe Attalus 
als Geißel bei den Heiden ift, hat einen Küchenjungen, 
Leon. Diefer will diefen Neffen befreien. Der Domvogt 
erlaubt es, gibt ihm aber die Warnung mit: „Weh' dem, 
der lügt.“ Alfo ohne Lüge, ohne Trug, ohne Täuſchung 
foll Leon die Befreiung bewerkftelligen. Diefe beginnt nun 
fogleich damit, daß Leon einem Pilger, der bis zu dem 
Rheingrafen Kattwald geht — bei dem Attalus gefangen 
ift — fi felber ſchenkt, mit dem Beding, daß er ihn 


155 


als Koch an Kattwald verkaufe. Dies gefchieht; und nun 
beginnt cine Reihe von Refervationen, Subtilitäten, Halb- 
lügen, Ausflüchten u. ſ. w., e8 geht ohne Hehl, ohne Täu⸗ 
ſchung durchaus nicht; endlich entführt Leon den Attalus. 
Die Tochter Kattwalds, Edrita, die den Halblügen und 
Pfiffen und Beſchönigungen Leons unter die Arme greift, 
halb Blödheit und halb Naturphilofophin ift, wird mit 
entführt, oder vielmehr fie entführt ſich jelbft; die Flücht⸗ 
linge werden vor den Thoren von Metz, welches in den 
Händen der Heiden ift, eingeholt, allein e8 kommt der Deus 
ex machina, die Thore Öffnen fich, und der Domvogt Gre⸗ 
gor tritt Heraus, in der Nacht wurde Me von den Ehriften 
genommen; Edrita wird Chriftin, und heirathet den Küchen- 
jungen Leon. 

Wie aus dieſer Begebenheit das „Weh' dem, der . 
fügt,“ als Endrefultat und Bruftfaft herausgeholt wer« 
den fol, wird nicht leicht Kar. 

Wir fehen weder einen Menfchen, welcher dadurch, 
daß er gelogen hat, beftraft wird, noch viel weniger 
einen Menfchen, der dadurch, daß er durchaus wahr gewes 
fen ift, eingeht in den Tempel der Berflärung. Leon beginnt 
feine Bahn mit einer Lüge: er ſchenkt fich dem Pilger, daß 
er ihn als Koch verfaufe; das ift eine Spikfindigfeit, ein 
Kniff, der eben einen folchen Grundgefchmad hat, wie die 
Lüge. AU fein Thun und Treiben bei Kattwald ift ein 
Gewebe von faft talmudifhen Dredfeleien, fi nur 
mit fein Lügen wort zu verfangen, während fein Sinn 
durchaus Lügenhaft ift. Die Lüge aber befteht nicht blos im 


156 


Werke, und eine reservatio mentalis ift — vor dem dra= 
matifchen und moralifchen Richtſtuhl — aud) eine Lüge, 
und faft eine böfere Lüge, weil fie noch heuchleriſcher ift. 
Leon würzt die Speifen und die Sulze, damit die Schloß 
Bewohner Durft befommen, fid) einen Rauſch trinfen, dann 
will er dem fchlafenden Kattwald den Thorſchlüſſel ftehlen. 
Ic fragte: ift das nicht doppelte Lüge, und Lüge in 
ihrer häßlichſten Geftalt? Wenn ich Jemanden eine Lüge 
ins Geficht fage, welcher feiner Sinne mächtig, fo ift zum 
wenigften Muth dabei, wenn er Hug ift, fann er merken, 
es iſt eine Rüge; wenn ich ihn aber erft wehrlos made, 
wenn ich ihmi feine Fünf Sinne erft ftehle, und ihn 
dann mit einer Lüge überfalle, heit e8 da nicht: „Weh' 
dem, der Lügt?” Freilich, als Kattwald erwacht, befennt 
er ihm fein Berfahren, weil er fich erinnert: „Weh’ dem, 
der lügt!“ Allein, fo wie die Not hläge feine Lüge ift, 
fo ift die Nothwahrheit feine Wahrheit; fo wie es 
nur der unglaubliche Stumpffinn Katwalds begreiflich 
macht, daß fich diefer wieder beruhigt jchlafen legt, ohne 
zu fragen: was war der Zweck? 

Nehme man aber audy an, Leon habe Alles, Alles 
durch reine Wahrheit, durch Wahrheit, von feinem Hauch 
befledt, vollbracht; woher geht der Sieg dieſer Wahrheit 
hervor, da diefe weder in ber Peripetie der Charactere be= 
dingt ift, noch weniger aber aus der Kraft und der ſegens⸗ 
zeichen Folge der Wahrheit felbft als Wahrheit hervor⸗ 
geht, fondern Lediglich und ganz allein durd; einen 
Zufall, durch den Theatercoup, daß Meg bei Nacht 


en‘ 


157 


eingenommen wurde, bewerkftelligt wird! DieferHieb zerhaut 
freilich den materiellen Knoten, aber der moralifche, oder 
beffer: metaphufifche Knoten bleibt ungelöst und unzer- 
fhnitten, und wir wiffen am Ende nicht, ob wir darüber 
mit der menfchlichen Beftimmung hadern follen, daß fie 
entweder die Lüge als Erftgeborne in uns immer fo fituirt, 
daß fie den Zwillingsbruder Wahrheit bei der Ferſe faßt, 
und ihm den Bortritt ftreitig macht, oder ob wir und am 
Ende der vernichtenden Troftlofigfeit anheimgeben 
müfjen, weil Nichts und Niemand ohne Lüge und 
Trug beftehen Tann! Die Ausführung des Ganzen fteht 
alfo mit der Tendenz — infoferne ich fie zu erkennen 
glaube — im Harften Widerfprud). Denn unmöglid) kann 
der finnige Dichter uns haben jagen wollen, daß der 
Menſch gerade da mit Beirrung, Selbfttäufhung 
und Begriffflauberei zufammenfällt, wo er fidh feft 
vornimmt, durchaus wahr zu fein! Ein foldes anato- 
mifh-dramatifhesPräparatdesmenfchlichenGrund« 
und Erb⸗Uebels, oder der menschlichen Beftimmungs-Gebre- 
hen, gehört wie gewiffe Wachspräparate von heimlichen 
Naturgefchäften, in das Dunkel der verborgenften Unter- 
fuhung, Hinter den geheiligten Schleier, den nur Wenige 
lüften follen; aber nicht auf das Bretergerüfte der öffents 
lichen Befchauung, denn der allgemeine Sinn lernt nicht 
die Heilkunde daraus, fondern die troftlofe Verzweiflung 
an dein eigenen Zuftand, an der Organifation des menſch⸗ 
lichen pfychifchen Lebens, und an der Harmonie feines inner= 
ften Weſens. 


158 


Ic) kenne gar nichts, was mid) fo heruntergeftürzt 
hätte in den Pfuhl einer apathifchen Gleichgiltigkeit gegen 
Tüge und Wahrheit, als die legten Worte des Domvogts: 

„Alle vedeten wahr, und doch logen Alle!“ 

Das ift das unbarmberzigfte Profruftes - Bett, in 
welches je ein decapitirter und amputirter Grundſatz einges 
zwängt wurde! Diefe letzte Rede des Domvogts löst das 
Ganzevollflommeninzerftäubende Atome auf! 

Leider mag es eine juridifche Wahrheit fein, daß der 
ftarreRechtsbegriff von Wahrheit vor dem Unterſuchungs⸗ 
richter der wirklichen Kriminal-Juſtiz nicht ohne Zahnfpur 
der Tügenfchlangen befunden wird ; allein wir Menfchen, die 
wir weder Unterfuchungs- nod) Strafrichter find, uns follte 
man den Ölauben an eine unbefledte Wahrheit nicht rauben, 
ung follte man die Einfeitigfeit diefer ſchöͤnen Tugend nit 
begreiflich machen wollen, uns ſollte man die ungetheilte 
Freude in dem Anblid der Wahrheitsroje nicht dadurch 
verleiden, daß man ihre Blätter vor uns metaphufifch aus- 
preßt, und uns zeigt, daß in ihr Honig- und G©ifttheile 
wohnen, und daß die Gifttheile wie die Honigtheile eben 
die Totalität der Roſe ausmachen. Wie leicht flürzt nicht 
der leichtfinnige Hörer den Sag: 

„Alle redeten wahr, und doc logen Alle“ 
um, und citirt in halber Vergeßlichkeit: 
„Alle Togen, und redeten doch wahr?“ 

Da es fid) bei der Beurtheilung diefes Stüdes mehr 
denn je um Wahrheit, auc) in der Kritik, Handelt, da der 
Leſer jeden Augenblid mir zurufen kann: 

„Wehe bem, der Lügt!“ 


m % 


159 


werbe ich noch weiter gehen, und aus den Worten felbft zu 
entnehmen trachten, welchen BegriffvonWahrheit der 
hochgeehrte Berfaffer vorführte, 

Gleich in dem erften Monologe hören wir: 
„Wahr ift der Wolf, der brüllt (?), eh’ er verfchlingt, 
Wahr ift der Donner, drohend, wenn es blitt, 
Wahr ift bie Flamme, die fhon von ferne fengt. 
Wahr find fie, weil fie find — weil Dafein Wahrheit,“ 

Wie ift aber die Natter, die nicht droht, wenn fie 
fticht; der Arfenik, der gerade jo ausfieht wie Zuder, wenn 
er tödtet, fie find Lüge — find fie wahr, weil fie da find ? 
Ihr Dafein ift Wahrheit, aber fie find nit wahr! 
Eriftenz ift phyfifches Sein, phyſiſche Wahrheit aber ift 
von der moralifchen weit verfchieden! 

In demfelben Monolog heißt e8: 

„Ein Teufel bift du, der allein ift Lügner, 
Und du ein Teufel, infofern du Tügft!” 

Wenn aber Dafein Wahrheit ift, der Teufel 
aber aud) da ift, folglich wäre der Teufel Wahrheit! 

Es ergibt fich alſo ſchon aus diefem Monolog, daß 
wir die. Wahrheit aus ihrem Standpunkt verrüdt haben! 

Gehe ich nun von der Wahrheit der Wahrheits- 
Darftellung auf die Wahrheit der einzelnen Charaf- 
tere über, da fteht denn wieder das Wort vor mir: 

„Beh dem, der lügt!” 

und ich muß den meiften Charafteren, zu meinem größten 
Teidwefen, die Wahrheit ihres eigenen Charakters 
abfprechen. 


16 


Leon, der Küchenjunge, ift durchaus unwahr, in= 
fofern unwahr, als feine Worte mit feinem Eharalier in 
feiner Harmonie find. Wir finden diefen Leon ungeſchlacht, 
Täppifch, grob, roh, kurz ein Küchenjunge di primo eartello. 
Er führt aber zuweilen neben dem albernfien Geſchwätz 
hohe, metaphufiihe Reden: „Braben ift ein abelig Ge⸗ 
ſchäft“ u. f. w., und wirft die feinften Philofophien von 
fi). Ueberhaupt fehe ich die Nothwendigkeit nicht ein, 
warum gerade ein Kücjenjunge zum Scildträger der 
Wahrheit auserforen wurde? 

Id kann und mag e8 durchaus nidht leiden, wenn 
man, ohne innere Nothwendigkeit, bie äfthetifchen 
Würbenträger und die dramatiſch-moraliſchen Prioritäten 
in der Schurzfell- Sociste des Lebens ſucht. Das ift die 
kränkelnde Bizarrerie der franzöfifchen Romantiker; allein 
in Frankreich wollen die Dichter dadurch eine gewifle Sym⸗ 
pathierege machen und Anflänge erweden, die bei unsGottlob 
weber eriftiren, nohAnflang finden. Ich kann mir nun einmal 
einen Straßenjungen nidt ala Adler denken, den 
Jupiter mit dem Blig feiner Tugend unter die Menfchen 
fendet, und ich kann mir feinen Kühenjungen denken, den 
Zeus zum Ganymed beſtellte, um durch ihn Wahrheits- 
Nektar tredenzen zu lafien. Champagner muß man 
nicht ohne befonderes, tieferliegendes Motiv aus 
ledernen Schläuchen trinken laffen; eine Perle bleibt zwar 
immer Perle, aber fie fit im Golde beffer denn im plumpen 
Blei. Was nöthigte unfern gefeierten Dichter, gerade eine 
Küchenjungen zum Lichtträger feiner Idee zu machen? 


a 


161 


Wahrheitsliebe ift eine Tugend, und zwar eine 
ethiſche; ethifche Tugend kann nur da ftattfinden, 
wo eine volllommene, freie Thätigfeit der Ber- 
nunft waltet; die Vernunft, die ausgebildete, zum Unter- 
fheidungs-Bermödgen gelangte Vernunft, muß den 
reinen, innern Werth der Wahrheit erfennen, fie ale 
unerläßlich zur Harnionie der Seele begehren. Dietiebe 
zur Tugend ift von dee Furcht vor dem after him- 
melmweit unterfchieden, und ein Knecht, der nicht ‚net 
weil ftet3 die Drohung feines Herrn: 
„Weh' dem, der lügt!“ 

und nicht einmal: „Wohl dem, der die Wahrheit 
ſagt!“ ihm vor Augen fchwebt, iſt und kann durchaus 
kein Träger der Wahrheits-Apotheoſe ſein! Leon iſt nicht 
die Muſchel, in welche die Wahrheit wie ein Himmels⸗ 
tropfen fiel, und fic) da abrundete, und kernig zur ‘Perle 
ausbildete, fondern es ift ein zufällig aufgelöstes Futteral, 
in welchem fein Gebieter die Berle aufbewahrt; das Futte- 
vol fteht mit der Perle, und Leon wit der Wahrheit in 
gleicher Cohäſion. 

Wenn daher am Ende Leon die blöde Grafentochter 
als Siegestrophäe heimführt, ſo iſt dieſes ein großmüthi— 
ges, willkürliches Geſchenk des Dichters, aber keine dra- 
matifche Geredtigfeit, es ift durchaus Feine ihm 
gebührende Trophäe, denn wenn man klar und befonnen 
unterfucht, wie Leon die Wahrheit aufnimmt, wie fid) 
ftets feine Bernunft, feine Anficht und fein Begeh- 
ven gegen die Wahrheit fträubt, wie er vom Domvogt ftet3 

M. ©. Saphir's Schriften. VI. Br. 11 


162 


eine Lügen-Permiſſion erhandeln will, fo liegt eher eine 
Art Aberglaube in feinem phyfifchen Erfchreden, wenn 
er fi) an die Drohung feines Herren: „Weh’ dem, der 
Lügt!” erinnert, al8 innere Neberzeugung, als gött- 
liche, freiwillige Hinneigung zur Wahrheit! Es Liegt durch⸗ 
aus etwas Knechtifches in feinem Reſpect vor der Wahrheit, 
es ift Furcht vor der Strafe Kurz, Leon ift eine 
SKapjel, in welche der Domvogt die Wahrheit einſchloß, 
und weil die Kapfel ihre Schuldigkfeit gethan hat, Heirathet 
fie eine Gräfin Edrita! 

Ganz unrichtig ift der Charakter des Attalus; ftör- 
riſch, unwerth, undankbar, faul, verdroſſen ift er, des 
Aufhebens unmwerth, da8 man für und über ihn macht, und 
auch bei ihm ift es nicht abzufehen, wozu ihn der Dichter 
jo gezeichnet, und in welcher Contraſtirung er etwa erfchei- 
nen fol? Soll er vielleicht etwa blos daftchen, um den 
Abſtand der bevorzugten Welt von der gewöhnlichen zu 
zeigen? Wozu das? Und wie fol das ein Mitbehelf zu 
unferem dramatifchen Zwede fein? 

Edrita ift Halb ein blödfinniges, halb ein begeiftertes 
Weſen! Bald wie eine Stumpffühlende bricht fie in ein 
blödes Gelächter aus, wenn ihr Bräutigam mit der 
Brücke in die Tiefe ftürzt, bald träufeln ihre Tippen Honig 
von dem Hymet der höchften Weisheit und des höchften 
Edelmuthes. Selbft am Ende ift Ihr Eingang ins Licht 
nicht recht Har, fie fagt, einen Grund verfchweige fie, aber 


man kann denken: weil ihr der Rückzug abgejperrt ift, weil 


fie Leon liebt, bleibt fie, and das fchmälert die Berherrlichung 


163 


- der Idee am Ende bedeutend. Mit dem dummen Galomir 
weiß ich nun vollends nichts anzufangen! Er ift ein Eretin, 
. der aber weder durch pofjenhaftes Element, noch durd) 
geifterhafte Unheimlichkeit irgend einen Effect machen fann. 
Er verhält fi zum Shakeſpeare'ſchen Caliban, wie 
Kaspar Haufer zu Droll und Pud, und zu den ironifchen, 
tieffinnigen und tollbedeutfamen Gnomen und Elfen allen, 
die, ausgerüftet mit dem .höchften Sarkasmus und der 
finnigften Naivetät, in jenen Wundergärten zwifchen den 
poetifchen Geſtalten gaufeln und jurren. 

Das Poffenhafte in diefem Luftfpiele ift nicht wie 
bei Calderon, Shafefpeare,ein Humoriftifcher Gegen— 
fchlag, ein hineingeworfener Lebens-Schlagfchatten, als 
Contraft zu den hellen Tichtern, weder ein ſub- noch ein 
coordinirtes Element, fondern e8 ſchwimmt fo wie einzelne 
Stüde Treibeis in dem abrinnenden Handlungsftrom. Selbft 
in der Diction hat der Dichter fich zurüdgehalten, und nur 
felten erkennen wir unfern edlen, poetifchen, geläuterten 
Sänger des „Sappho“ ; nur felten den energifchen, glü- 
henden, kraftftroßenden Dichter von „Traum ein Xeben“. 
Auch den Wit, diefen erften und alleinigen dienftthuenden 
Rammerheren des Luſtſpiels, verfchmähte er, als ob ber 
Wit das äfthetifche Gebiet nicht Hand in Hand mit der 
Wahrheit durchwandeln könnte. Ya, e8 jagt, glaub’ ich, ein . 
großer Denker, oder hat e8 gejagt, oder könnte es fagen, 
gerade der Wit beweist, daß die Wahrheit verfchieden- 
artig reizen kann, und noch anders als die mathematifche - 
Wahrheit, als die logarithmifche. Der Wit beweist, daß, 

11? 


164 


die Wahrheit Hand in Hand mit Schönheit gehen muß, 
dag fich die Wahrheit erft reizend vor uns verfleden muß, 
um a8 Schönes, Erhabeucs, oder wenigftens als etwas 
UVeberrafhendes und zu gefallen und zu gewinnen! 

Wenn es aljo vollflommen in der verfehlten Aus⸗ 
führung der herrlichen Idee lag, daß das Stüd jenen 
Eindruck nicht madjte, den man fi) von dem beliebten 
Namen Grillparzer madıte, jo wird der gefeierte Dichter 
daraus erfchen, weldye Erwartungen das Publitum von 
feinem gefeierten Liebling hatte. An die hohe Kraft legt 
man den hohen Maßſtab an. 


Ein weiblidhes Her. 


Dramatijches Gedicht in fünf Aufzügen. Bon Theodor Stamm. 


His Zuftfpiel, nicht Schaufpiel, nit Trauer— 
fpiel, niht Drama, fondern dramatiſches Gedicht. 

Wenn die Dichter ſich in allerlei Titel fteden, um 
der Kritik e& Schwer zu machen, den rechten Mafftab an 
das Stüd zu legen, fo muß fid) die Kritik am Ende aud) 
eine Zitulatur erfinden, die zugleich auf Kritik ud Nicht- 
Kritik, auf Urtheil und bloßen Ausſpruch, auf Er- 
faffen des Gegenftandes und auf bloßes Balan- 
ciren hindeutet. Warum follten wir nicht: „kritiſches 
Gedicht,” oder „poetifche Kritik,“ oder „Iyrifche 
Recenfion,* oder „Fentimentales Urtheils-Ge— 
mälde” und dergleichen erfinden und fchreiben? Warum 
nicht einen Kritiktitel erfinden, der den Boden für ſich 
vindicirt, aber die Rechtſame und Obligationen, 
die auf dem Boden ruhen, durch eine fpißfindige Benen- 
nung der Yurisdiction entzieht? 

Es waltet ein. eigenes Berhängniß über die deutſche 
Dramatif! Sie mar lange Zeit eine Zufammenfchüttlung 


166 


der drei dramatifchen Ingredienzien des fpanifchen, engli⸗ 
ſchen und franzöfiichen Theaters. Bis zu Goethe’ und 
Schil ler's Zeiten waren es bald Calderon'ſche Maximen⸗ 
Motive und ſpaniſche Gloſſen-Aufgaben mit dem ewigen 
weichen Refrain, oder Shakeſpeare'ſche dunkelblutige, 
ſelbſtverſtrickeriſche Schickſalsſtücke in einem gerechtern 
Sinn, als in dem griechiſchen, oder endlich franzöfifche 
Salculftüde mit dem Ariftoteliichen Kubikfuß von Furcht 
und rauen. Mit Goethe und Schiller begann die 
eigentliche National - Dramatif Deutjchlauds, diefen folgte 
der lange Zroß von Nachahmern, die das Kind mit dem 
Bade ausjchütteten, danıı famen die Gräuelmänner, die 
aus dem Schidfalsfaden einen Galgenftrid machten, aus 
Mißmuth Lebenselend, aus Zweifeln Sußangeln, und aus 
dramatifcher Gerechtigkeit ein hochnothpeinliches Hals- und 
Standgeridt. 

Die ganz neue Zeit ift ganz abgejprungen, eine gewiſſe 
Subtilitäts- Dramatik ift Mode geworben, Igrifcher Frieſel 
begleitet und erſchwert die dramatijche Kriſe; eine Kränk⸗ 
lichleit, eine blafje Selbftquälerei wird allen Helden ange 
hüftelt, anſtatt des Allgemeinen wirddas Individuun 
zum Ausgangspunkt der ganzen Handlung! 

Früher war e8 die Epik, welche in die Dramaturgie 
hineinwudjerte und fie mit ihren breiten Aeften erdrüdte, 
jetzt ift e8 die Tyrif, ein poetifches Teid- und Schmerz- 
thunı, welches fie umftridt, verfüßlicht und entnervt. Es 
gilt darıım von der neuern Tragödie, was von der neuern 
Lyrik zu fagen ift: fie ift eine Yeibeigeneder Subjettivität, 


167 


des Concret-Öültigen; fie hat alles Gemein-®ül- 
tige, Objective aufgegeben, und fo alle Bollgültigfeit, 
alle Erfolgsherrſchaft verloren! 

Lange Zeit hat fi) die Dramaturgie inihrem Gebiete 
behauptet, hat fie ihre Weſenheit gerettet, ihre Geſetzgebung 
erhalten. Nun bat fie fi) aber emancipirt, und damit 
leider nichtE gewonnen, als einen größeren Raum, aber was 
fie an Raum zur Architeltonif im Drama gewann, das 
verlor fie an der Entfeelung der Form, an geiftigem Mark, 
an der Gültigkeit der Idee. 

E8 ift ducchaus Fein Brennpunkt mehr in den neuen 
Tragödien, aus welchem die Ausftrahlungen der menſch— 
lichen Natur, der innerfien Wefenheit des Menfchen, der 
Zeit, der Jahrhunderte, dev Gefchichte erleuchten, entflams 
men und entzünden: fie ftellen nicht mehr die wichtigften 
Aufgaben des Herzens, der Seele, der Menfchheit, der 
Bölfer und ihr gegenfeitige® Verhältnig dar, nein, man 
löst fic von allen diefen Feſtlanden [o8, um wie ein Paras 
diespogel mit eingezogenen Füßen in der Tuft zu vagabon- 
diren; die Bagantin fegt fi anftatt Adlersſchwingen 
Schmetterlingsdeden an, fpielt mit Sonnenftäubchen, badet 
den jchillernden Hals in Flimmer und Schimmer, ergeht 
fi) in Subtilitäten, Contraften, Antithefen, Tiebesftrahlen 
und jentimentalen Spisfindigfeiten. Ein Herz anatomiſch 
auf der Folterbank der Eiferſucht, ein anderes zappelnd an 
dem Schwebebalfen des Ehrgeizes, eine Nachtigall, die 
unter einem Erdbeben flötet, eine Turteltaube, die unter 
dem Gewitter girrt, zwei ſchnäbelnde Spagen unter einem 


168 


brennenden Dache, eine Abzehrung unter Lerchengefang, ein 
MWahnfinniger mit Sc)halmeibegleitung, ein gebrochenes Herz 
nit Igrifchem Roſaband, das find die Aufgaben der neuern 
Tragödie. 

Menfhennatur und Menfhengefgie, diefe 
zwei ftamefifchen Zmilling-Seelen des Drama’s, haben die 
neuern Dramatiker zu Schwefelhölzchen ausgezündelt, als 
Menfhencapricen und Menfheneigenheiten mit 
fentimentalem Krimskram ummidelt, mit Thränen und 
Sentenzen eingefalgen, und fo die Schnörfel des Men— 
ſchenherzens als fein Fundament behandelt. 

Wir werden fogleich fehen, daß das jett in Rede 
ftehende Trauerfpiel, nein, „dramatifche Gedicht,“ 
eben auch an der Verſchwimmung aller Tendenzen, an der 
Iururiöfen Ueberfülle des Wortes, des Gedankens und der 
Reflerion leidet, und dadurch undramatifch, breit, verworren 
und ermüdend wird. 

Seit Müllners fataler Fatum-,Schuld“ gab es 
ſchwerlich ein Stück, bei dem eine Inhaltsanzeige ſo ſchwer, 
fo laſtend auf dem Erſtatter liegt, als in dieſem Stüde. 
Die Expoſition kommt ſtückweiſe, in jedem Acte, nach und 
nach, und Dolores holt noch im fünften Acte einen Theil 
nach. Don Cäſar Lara hat einmal eine ſchöne Jüdin, 
Rebekka, geliebt, und dadurch hat er feinem Bruder Fer⸗— 
nando, der ihm von feinem Vater zur Obhut anvertraut 
war, allein gelafjen, und diefer ift von Corfaren geraubt 
worden, worüber ihm fein Bater fluchte — und ftarb. 
Das ift eine Schuld. Dann hat er noch ein Mädchen 


169 


geliebt, wir kennen fie als Dolores und erfahren im fünften 
Acte, daß fie die Tochter feines Wafjenträgers Geronimo- 
ift. Er verließ fie; zweite Schuld. Im Kriege gegen die 
Mauren gerät) er an den Vazyr Abdallah von Malaga 
und entführt ihm feine Schwefter Zaida und bringt fie bei 
einem caftilifchen Juden Cleazar, unter. Diefer Jude ift 
ein zweiter Nebentreffer im Stüde. Er ift ein Yandesver- 
räther, indem er Caſtilien an Abdallah verräth, und zwar 
durd) feinen Sohn Adar. Er ift auch Arzt, veradjtet und 
geſchimpft, gerade wie Shylof, mit dem er alle Familien 
ähnlichkeit hat. Adar aber, fo erklärt es fich endlich, ift 
nicht fein Sohn, fondern der von den Corfaren geraubte 
Hernando Lara, den Eleazar von den Corfaren kaufte, um 
fi) an deffen Bruder Cäſar zu rächen, denn.er ift Rebekka's 
Bater, welche ein Opfer von Cäſars Liebe war. Unterdeffen 
erfährt der König von Eaftilien die ganze Gefchichte, Cäfar 
wird befchuldigt, im Kriege gefehlt, eine Zauberin bei 
einem Buben untergebracht zu haben, und fie zu Tieben. 
Er wird verbannt, und der Iude hingerichtet, welcher 
Cäſar entdect, dag Adar fein Bruder ift. Nun ſtürmt das 
Volk die Hütte des Juden, Adar und Zaida find in der= 
felben, allein Dolores, der Genius der Liebe, überall 
fihtbar, fommt, nöthigt fie zur Flucht und bleibt, in Zaida's 
Schleier gehüllt, an ihrer Statt zurüd, wird aber fpäter 
wieder von Geronimo auch befreit. Nun finden wir Cäſar 
auf der Flucht, in Verbannung, er findet, wie Belifar, 
einen Haufen Räuber, macht fie zu Soldaten, befiegt den 
eben hereinbrechenden Abdallah, und wird von feinem König 


170 


wieder begnadigt. Seine Rache kehrt fid) gegen Abdallah, 
er greift ihn an, und wird von ihm erftochen. Dolores 
fommt dazu, er erkennt feine ehemalige Geliebte, welche 
Untreue, Kummer und Alles vergaß, um nur ihn glücklich 
zu fehen, und ftirbt lang und renig. Dolores wird vom 
Schmerz überwältigt, und ftirbt auf Eäjars Teiche. Zaida 
kommt, verföhnt fi) mit ihrem Bruder, nachdem Käfer 
fterbend ihm fagte: „du erhältft fie rein aus meiner Hand 
zurüd,“ worauf Zaida im Abgehen fagt: „ich heiße nun 
Dolores, mein Name ift Schmerz“ u. ſ. w. und der Bor- 
bang fällt. 

Der Lefer fieht aus diefem Ertract, daß der Dichter 
in dem erjten Drganisınus des Stücdes ſchon das ver— 
fehlte, was freilic) die ſchwerſte Kunft ift: die Kunft 
der Fabelbefhränfung. Der Dichter hat zu viel 
erfunden, die Dinge ftoßen ſich aneinander, ohne ausein= 
ander zu folgen. Die Handlung ift zerftüdt, eine Perſon 
handelt neben der andern, und feine Einzige durch bie 
andere. Ein Hauptgebrechen ift e8, daß feine Charaktere 
da find, fondern blos Individualitäten. Bei dem trüben 
Lichte der Reflerion ſehen wir den Mangel aller plaftifchen 
Naturwahrheit um. defto deutlicher. Wer ift Cäfar ? weldye 
Kraft, welche Größe, welche Natur ift in ihm? In wie 
ferne nimmt er unfer Interefje in Anfprud) ? gar nicht. Er 
leidet nidjt, weil er etwas gethan, gehandelt hat, 
fein Shidfal ift nicht die Srudht feiner Thaten, 
wie dies die erfte Bedingung des höhern Drama’s ift, 
jondern er thut und handelt etwas, weil er leidet, feine 


171 


Thaten find die Früchte feines Schickſals. Er ges 
räth in einen Strudel von Thatfächlichkeiten hinein, die ihn 
nöthigen, etwas zu thun. Sein Charakter ift matt, farblos, 
unmännlich, er entführt eine Heidin, bringt fie bei einem 
Juden unter, und zum Dank nöthigt er den Bruder des 
Mädchens zu einem Duelle. Er ift ein echter Alltagsmenſch 
und nichts als ein guter Soldat. Er intereffirt und gar 
nicht, und dennoch bedauern wir ihn, daß er für nichts 
ftirbt. Was ift feine Schuld, daß er fterben muß? Daß 
er ein Mädchen geliebt und verlaffen? daß ihm Corfaren 
den Bruder geraubt? Wo ift da die tiefe, blutige, nur durd) 
den Tod zu fühnende ungeheure tragifche Schuld ? Und wo 
ift in diefent Tode Die Sühne, die Hellwerdung der Tinfter- 
niß, der Eingang aus Kampf und Schmerz zu Sieg und 
Wonne? Ä 
Und nun Dolores? Zaide? „Ein weiblides 
Herz” ift der Titel, welche von beiden befigt dieſes ver- 
meinte weibliche Herz? Wahrfcheinlich Dolores. Zaide 
zerfällt in ihrer moralifhen und äfthetifchen Nihilation. 
Wie Corona von Saluzzo aus einer Amozone zur Schäfer 
rin verwandelt, den wilden Hornfchnabel der Kriegerin in 
das Zurteltanbengejchnäbel nmwandelnd, entläuft fie ihrem 
Bruder, abenteuert mit Cäfar herum, und fagt zulett wieder 
zu dem guten alten Komödienbruder : ich gehe wieder mit 
dir,“ denn Cäſar ift todt. Im ganzen Stüde fehen wir fie 
als ein unwirſches, übermüthiges, verzogenes Geſchöpf, 
welches felbft nicht weiß, was c8 will, bald eine Gurli, 
bald eine Johanna ift, und deffen weibliches Herz“ feinen 


172 


Funken Adel, keinen unten jener hohen, himmlifchen 
Weiblichkeit in und an fid) trägt, die auch einem heid- 
nifhen Herzen poetifch nicht zu entwinden ift! 

Es muß alfo Dolores die Befiterin des angegebenen 
„weiblichen Herzens“ fein, und allerdings befigt fie 
ein gutes, trenes, liebevolles und aufopferndes den Aber 
was heißt das: 


„Ein weibliches Serz⸗⸗ 


doch nichts Anderes, als: So iſt das weibliche Herz, ſo 
fühlt es, ſo ſchwärmt es, ſo handelt es, ſo ſind ſeine 
Schläge, ſo pocht es, ſo ſtürmt es, ſo ſchwelgt es, und 
ſo — bricht es. Dieſes weibliche Herz zu erkennen, 
ſeine Kraft und ſeine Schwächen, ſeine Fehler und ſeine 
Tugenden, feine Schwäche und ſeine Rieſigkeit, feine Selig— 
keit und ſeine Zerriſſenheit, ſeine Unbändigkeit und ſeine 
Hingebung, ſeine Starrheit und ſeine Zerſchloſſenheit, ſeine 
SBöllen⸗ und Himmelſichtigkeit, feine. Ueppigkeit und feine 
Dedigkeit, feine irdifche Menfchlichkeit und feine überirdifche 
Söttlichkeit, dazu müßte und die ganze Entftehung 8- 
gefhichte eines liebenden, beglüdten und wün— 
ſchenden, kämpfenden, unterliegenden, fih auf— 
richtenden und endlich im völligen Untergang 
verklärten weiblichen Herzens gegeben werden, ein 
Herz, das in allen Phaſen des Glückes und des Elendes, 
in allen Regungen der Schwäche und der Tugend, in allen 
Zuckungen der Seligkeit und der Verdammniß, in allen 
Strahlen der glorreichen Erhebungen und Sühnungen vor 


173 


uns da liegt und auseinander geht, und das zwar durd) 
mächtige Gefchide, dur) ungeheure Schmerz» und Wonne- 
griffe des Schickſals in ihr zart- und reichbefaitetes Leben. 
Diefe Dolores aber ift nichts, als der Scylußpunft des 
weiblichen Lebens, der ſchmale Saum eines weiblichen 
Herzens, fie ift nur der Refrain einer Empfindung, nichts 
als ein Endreim eines verflungenen Gedichtes, nichts als 
der Zipfel, der thränennaffe Zipfel eines Herzens, das wir 
fonft nicht kennen. Das Leben eines weiblichen Herzen 
gibt uns ein Bild des Herzens, aber nicht fein Ster- 
ben; nicht aus dem Abend wird der Tag erkannt, nicht 
ans dem legten Vermächtniß der Charakter des 
Lebens. 

Dolores iſt ein edles Weſen, ein Weſen, wie es 
wenige gibt, ſie vergibt dem Treuloſen, ſie wacht für ſeine 
Liebe, ſie opfert ſich für ſeine Geliebte, das iſt Alles recht 
ſchön, aber es iſt noch nicht das Prototyp des weiblichen 
Herzens, das iſt noch nicht die Trägerin einer großen Idee, 
noch nicht die Grundidee einer tragiſchen Welt! 

Es iſt in dieſer Dolores recht viel Glaube, Liebe, 
Hoffnung, Fühlen, Sehnen, Schwärmen, Wogen, Wallen, 
allein der Gedanke fehlt, der tiefe Schmerz, die hohe 
Freude, es iſt viel Luft, ſchöne Luft, warme, ſchwüle 
Luft, Lichtſtreifen in dieſer Luft, aber oben fehlt der 
Himmel, und unten fehlt die Erde. Das Bild iſt da, 
aber der Lebensſpiegel nicht, in dem es ſich rückſpiegelt, 
es iſt ein Meer von Empfindungen, aber die Wellen 
fehlen, die einzelnen greifbaren Wellen; ſie geht in dieſen 


174 


Meere unter, aber wer bezeichnet die Welle, die ihr noth- 
wendig den Tod gab? 

Jedoch ich, vergefie, daß ich blos ein Urtheil abges 
ben, und kein Brotofoll aufnehmen will. In der Kürze 
nur noch fo viel, daß auch die anderen Charaktere zu Feiner 
Beftimmtheit, zu feiner Tüchtigkeit famen. Adar ift ein 
guter Knabe, mehr nit; Don Iuan von Caftilien ein 
echter Fürft aus Hamlets „Mäufefalle”. Eleazar kaun uns 
nicht intereffiren. Die Klagen diefer Nation find ſchon zu 
oft über die Breter gegangen, und am Ende kann td) die 
offene, wenn auch hündifche Graufamfeit eines Shylof 
mit feinem Nationalhaß zum Kleinen Theil natürlich finden, 
und einige Theilnahme für ihn verfpüren, aber nie und 
nimmermehr mic, für einen Verrät her intereffiren, für 
einen Spionvater, nie für den, der das allerabfcheulichfte 
Gewerbe treibt. 

Das Refultat des Geſammten geht aljo dahin: daß 
das Dramatifche an dem „Dramatifchen Gedicht“ 
gänzlich verfehlt ift, und alfo keine Wirkung machen konnte. 
- Wenn wir und hingegen zu dem „Gcdicht” in dem 
„Bramatifchen Gedichte“ wenden, thut es uns wohl, 
dem bei allen Mängeln dennoch jo fichtlich talentvollen 
Autor auch einige vecht Herzliche und frifche Blumen winden 
zu können, um den leider und durch Wahrheit und 
Beruf aufgenöthigten Dornenbüfchel des Tadels. Dichter—⸗ 
kraft ift fo viel in dem Stüde, daß es die Dramakraft 
überwuchert und erftidt. Reichtum an Bildern, Glanz 
der Sprache, fchöne Phantafie, edle Diction, eine wahryaft 


175 


poetifche Sefinnung athmet in vielen und vielen Stellen 
und oft veißt ein wahrhaft Igrifcher Schwung zur Bewun⸗ 
derung bin. Ganz unbejchreiblich ſchön ift die Scene 
zwifchen Cäſar und Zaide in Eleazars Hütte, und fo 
mehrere Scenen, die vortrefflich find. Leider hat die Fülle 
von Diction den Autor in ein ſolches Wortfnäul hinein- 
geftrickt, daR er fich oft verwidelt, aud) in fcenifcher Hinficht 
wird oft ein recht geſchickter Tact fichtbar;; fo ift der Schluß 
des vierten Actes vortvefflich, meifterhaft; allein 
wir find an feiner Bildung fo reich, wir find fo über- 
gefittet, daß cin unigefallener Lanzenknopf uns in eine 
fo Fröhliche Laune bringt, daß wir darüber Drt, Situation, 
Dichtung und Alles vergeflen, um und einem veizenden 
Gelächter zu überlafjen! Ein Statift, der ftolpert, ift 
unferem geiftreichen und aufmerffamen Sinn genug, um 
den Eindrud der fchönften Scene zu verwifchen. Ja, wir 
nehmen an gründlicher Stegreifbeurtheilung jo zu, und 
werden fo.improvifatorifch urtheilfeft, daß eine Couliſſe, 
die fchief fteht, eine Wolke, die in das Zimmer hereinhängt, 
ung genügt, unfere Aufmerkſamkeit vom Stüd aufdie große 
Begebenheit zu lenken, und wir. haben fo in Sitte und 
Anftand zugenommen, daß wir fo überzeugt find, eine 
mißglücte Comparferie fei hinreichend, um das Schidfal 
einer Scene zu entfcheiden, daß wir lachen und unanftändig 
poltern, wo weniger ©ebildete und Raffinirte fich Höchftens 
mit einem — anftändigen Stillſchweigen begnügten. 

Ber diefer Art und Weife, fein Mißfallen zu er- 
kennen zu geben, bleibt nichts zu bedanern, als der Unftand, 


176 


daß unfer Theater-Benehnen immer ruder und frivoler 
wird, und dag ein erfier Berfud, der, wenn aud 
mangelhaft, do von überwiegendem Talente 
zeugt, mit einer Lieblofigleit behandelt wird, die den mit 
Hecht verftinnmten Autor von jedem feruern Verſuch, der 
gewiß befier würde, abhält. 


— . — nn — — 


Teichtfinn und feine Folgen. 


Schaufpiel In fünfAufzügen. Aus dem Trauzöfitchen des Alexander Dumas. 


S cribe ift der Großmarſchall des franzöfifchen Luftipiels, 
Hugo der Groß - Septembrifeur der dramatifchen Tragö— 
die, Dumas der Siegelbewahrer des Drama's vom 
Boulevard, 

Sein Weg von „Tour de Nesle” über „An- 
gelo“ u. ſ. w. bis zu diefer „Mademoifelle de Belle- 
Isle“ ift mit theatralifchen Siegen und Porte St. Mar- 
tinsLorbeern überfäet. Aber er hat vielleicht von feinem 
„Saligula” gelernt, allen fittlichen und moralijchen 
Principien mit einem Effectmefjer alle Köpfe auf einmal 
abzubauen, und zu dem Tempel Plutu’3 und Pluto’8 durd) 
die pontinifchen Sümpfe der Demoralifation und Sitten= 
verderbniß zu gehen. 

Alerander Dumas ift geiftreich, aber Herzarın, 
äfthetifch corrupt, aber dramatiſch gental, feine Stüde find 
leer von aller und jeder Sittlichfeit, aber fie find voll von 
ſchlagenden Effecten und hinreigenden Situationen. 

Die Franzofen haben alle Empfindungen, alle Tugen— 
den, alle Moralgrößen nivellirt; fie find von der Lauheit 
für die Tugend zur Kälte, von der Kälte zur Erftarrung 

M. ©. Saphir Echriften. vi Bd. 12 


178 


übergegangen; fie haben mit der Senfe der fcharfen Ver— 
nunft, gejchliffen am Steine des Egoismus, aus dem 
Herzen weggemäht die Rofe mit der Nefjel, die Aehre mit 
dem Dünkel, die Sonnenblume mit der Diftel, die wahre 
Empfindung mit der Affectation, den Glauben mit dem 
Unglauben, die Tugend mit der Hcuchelei, die Liebe mit 
der Begierde, die Moralität mit der Prüberie. Sie haben 
nicht8 mehr, was fie gefund macht, entweder Ueberreiz 
oder Erſchlaffung, Stupor oder Parorysmus, Lahmung 
oder epileptiſche Zuckung. 

Unter der zerlegenden und zerſetzenden Beobachtung 
und Unterſuchung des Egoismus, unter der tödtenden Manie, 
alle politiſche, moraliſche und ſentimentale Weſenheit in 
ihre Urbeſtandtheile und Endtheile aufzulöſen, alle Conglo- 
merate des Herzens und des Geiftes in ihre legten Grund⸗ 
lagen zu zerlegen, und unter dem vernichtenden Grundſatz, 
dag nichts in Xeben, nichts von allen Pflichten und Redh- 
ten in der Ewigkeit und Nothwendigkeit des Daſeins be- 
gründet ift, mußten uatürlich viele Ideen und Begriffe, die 
das Heiligfte im Leben ausmachen, als: Glaube, Liebe, 
Ehe, Geſetz, Sittlichfeit u. f. mw. aufgefafert und locker 
gezupft werden. Darum fehen wir in Frankreich das Con- 
tagium aus dem Leben in das Drama übergetragen, und 
von da wieder zurüd ins Leben eingreifen. 

Im franzöftfchen Drama fchreiten wir nach und nad) 
vom Unäfthetifchen zum Widernatürlichen, vom Unmorali- 
Shen zum Sittlih-Verwerflichen, vom Berwerflichen zum 
Berdamnilichen, vom Berdanmlichen zum Häfßlichen, vom 





% 


179. 


Häßlichen zum Scändlichen! Im franzöfifchen Dranıa 

- schreiten wir vom Spieltifch zum Selbftmord, vom Selbft- 
mord zur Morgue, von der Morgue in die Yolterfammer! 
Im franzöfifhen Drama zündet man eine Kirche an, um 
ein Ei mit Effect daran zu braten; man deftituirt eine 
Gottheit, um an ihrem Pla eine Hohnparodie vorzuneh— 
wen; man begeht einen Mord, um einen wirkſamen Ausruf 
dabei anzubringen, und man beißt aller Schain den Kopf 
ab, um dabei eine erfchütternde Grimaſſe fchneiden zu 
fönnen. Die Franzoſen fehen das an, fie drängen ſich dazu, 
fie hören Gebet und Blasphemie, Sentenz und Täfterung 
nur aus dem UÜrtheildpunft an: Wie wird es gefagt? Iſt 
es geiftreich, pilant, erfchütternd, ergreifend, fo 
ift das, wie es gedacht und gefchehen ift, Nebenfache. 
Der Franzoſe ftatuirt blos aus gewiffen Cultur- 
principien verſchiedene Satzungen der Liebe, der Ehe, 
der Religion, der Politik, der Moral, des focialen Lebens, 
der Raufmannswelt, der literarifchen Kreife u, f. w., aber 
fie dünfen ihm Alle blos nothwendige Polizei» und Vor- 
ſichts-Maßregeln, aber von ihrer Harmonie im Wejen der 
Sefammtheit, von ihrem ewigen Zuſammenhange mit der 
Wahrheit und den Götterfinn, von ihrer geheiligten Com⸗ 
bination unter fich zum unfterblichen Ganzen will er feine 
Idee Haben, und daher fieht er der Proftitution aller diefer 
einzelnen Rechts- und Zugendbegriffe aufder Bühne miteben 
der Sleichgiltigkeit zu, mit welcher ex die „Perruques“ und 
„Mayeux*, das „ancien regime“ und die Friſur „Ala mare- 
chal!“ parodirt, perfifflirt und auf die Bühne gebracht fieht. 

12* 


180 


Anders aber geftaltet fid) Gottlob die Sache bei ung 
Deutſchen, oder doch wenigftens bei einem großen Theile 
von un! 

Wir hafjen nun einmal jede Nudität, ſowohl die 
phyſiſche, als die geiftige und moralifche. So wie ein 

* Schweigen über dem germanifchen Urwald liegt, jo liegt 
über dem Gemüth des Deutfchen ein Schweigen über gewiffe 
Gegenſtände des Lebens, und über gewiſſe Tiefen in feinem 
Herzen, ein Schweigen, welches er nicht gerne durch rai- 
fonnirendes Grübeln und heraushegendes Anfprechen 
unterbrechen läßt, 

Es ift von anerkannter und ausgefprochener Wahr- 
heit, daß dem deutjchen Volke nichts fo im Grunde feiner 
Wefenheit zuwider ift, als jede Enthüllung des weib- 
lichen Wefens, des Weſens der Liebe und der Ehe, und 
des Weſens feiner fittlichen Keujchheit überhaupt. Diefe 
Züdhtigfeit des deutſchen Charakters, die ſich faft zu pedan= 
tifch) von dem Verhüllten auf das Berhüllende und von der 
dee auf das Symbol ’erftredt, follten unfere dramatischen 
Dichter — von den Novelliften will ich hier gar nicht 
reden, obwohl auch fie reif find — ehren, und nicht es mit 
den fescennifchen Tönen und Liedern aus der laren Eultur= 
Zotalität Frankreichs unterbredjen. 

Unfere dramatiſche Muſe — wenn man fie fo nennen 
kann — läuft das ganze Jahr alle Tage auf den Parifer 
Wochenmarkt, un die deutjche Küche zu beftelen. Die 
Tranzofen find feine Narren. Sie haben aus der deutichen 
Literatur PHilofophie, Idealität, Tiefe und Erhabenheit 





181 


geholt. Wir holen zum Austaufch frivole Baudevilles, 
fteinzermalmende Tragödien, und lare, inhaltlofe, unfitte 
liche Dramen! 

- Wir wollen einen Augenblid bei der Mamfell von 
Belle - Isle verweilen. 

Zergliedern wir diefes Schauspiel, fo finden wir 
außer einigen einzelnen Scenen, die blos theatralifch, 
aber nicht einmal dramatifch find, gar nichts, was uns 
für die Srivolität des Stüdes entfchädigen könnte, wenn 
wir aud) zugeben wollten, was wir aber nicht können, daß 
irgend eine Bortrefflichleit der Ausführung aud 
nur im Mindeften die Wahl des Stoffes entfchuldigen kann. 

Wir haben die Anefoote, die diefem Drama zu 
Grunde liegt, ſowohl die Wette, als das Würfelduell, 
in irgend einer der chroniques scandaleuses von Frankreich 
gelefen, fönnen aber nicht mehr fagen, ob in den vielen Memoi⸗ 
ren von alten Cottillons, ob in den Schartelen des Oeil 
de Boeuf, oder fonft in den volumindfen Unfterblichfeits- 
behältern franzöfifcher Sittenlofigfeit. Ein Mann wettet, 
mir nichts dir nichts, ohne alle Motivirung, und bei den 
Haaren herbeigezogen, daß er von jedem weiblichen fremden 
Wefen, Frau oder Mädchen, binnen vierundzwanzig Stun- 
den ein Rendez-vous befommt. Der Herzog glaubt das 
Rendezvous erhalten zu haben, wirft einen Zettel aus ihrem 
Tenfter, um dem Bräutigam des Mädchens zu beweifen, 
dar er fpät Abends in ihrem Zimmer ift. 

Die Marguife von St. Prie, die frühere Geliebte 
des Herzogs, weiß fid) felbft an die Stelle des Mädchens 


182 


(Mademoifelle Belle: Isle) zu bringen, empfängt den Herzog 
und er ift und bleibt in den Wahn, er habe ein Rendezvous 
mit der Belle⸗Isle gehabt. Abgefehen von der fingerdiden 
Unwahrfcheinlichfeit einer folcdyen Täufchung, Liegt in dent 
Detragen der Marquife, wenn wir alle Ruchloſigkeit der 
ganzen Entreprife überfeben wollen, etwas Widerliches, 
welches die innerfte Seele empört. Der Herzog felbft, ein 
Roue, wie felbft fein entadelfes Zeitalter Leinen gejehen 
bat, ift wohl Liftig genug, um zu ahnen, daß die Marquiſe 
das Rendezvous Billet ſchrieb, ift aber nachher fo einfältig 
und fo arglos, daß er bei allem Befremdlichen und bei 
allen Schwüren Belle-Isle's nicht auf den jo ganz nahe 
liegenden Gedanken kommt, die von ihm gefränfte, verlafjene 
und intriguante Marquiſe könnte ihm einen Poſſen gefpielt 
haben. Nach dem zweiten Acte beginnt die Sache langweilig 
zu werden. Die hereingewürfelte alte. Würfelduellgefchichte 
bringt nur eine matte, momentane Aufregung in die ſchlep— 
pende Handlung, und endlic) fommt ein wahrer Komddien- 
Coup, ein deus ex machina, eine plögliche Minifterverhafe 
tung, der den Knoten ſtramm zerhaut, und die Sache hübſch 
ausgleicht, nicht al8 ob es fich um das Lebensglüd des 
d'Aubigny, oder un die Eriftenz von niehreren Menfchen 
gehandelt hätte, fondern als ob eine Salon» Tracafferie, 
oder eine Schmoll- und Maul-Scene gut zu machen ge= 
weſen wäre. | 

Das Stüd ift gut gemacht in feinen Einzelnheiten, 
aber e8 fteht durchaus nicht gegliedert da, es ift feine 
Seele des Ganzen, es fchlottert aneinander, und nur der 


183 


fünfte Act ift ergreifend, erfchütternd, durch die Scene 
zwifchen Belle-Isle und dD’Aubigny, und im Oanzen find 
wohl hie und da Funken von Geiſt und Spuren eines 
großen glänzenden Talentes. 

Das Ding erfchüttert, ja! Es ſpannt unfer Intereffe, 
ja! Wir folgen mit offenem Munde und aufgerifjenem 
Auge, ja! Wir halten den Athem an und werden über- 
vafcht, durchzuckt, ja! 

Aber wie? wodurch? Es ift nicht alles Eins, ob 
man von einer ſchönen Empfindung erjchüttert wird, oder 
von einer Pulver-Erplofion! Es ift nicht gleich, wie man 
erhoben wird, ob von einer großen Idee, oder von einem 
Salgen! Es ift nicht dasſelbe Refultat, wie man uns 
Thränen entlodt, ob durch eine rührende Nede, oder durch 
fünfundzwanzig Stodprügel! Es ift nicht gleich, wie wir 
geſpannt werden, ob durd) die Regung des Herzens oder 
durch die Dehnleiter! 

In dieſem Stücke iſt keine Handlung, denn es ge⸗ 
ſchieht blos Alles; es iſt eine Geſchichte, die ſich Kaffee⸗ 
ſchweſtern, und nur die älteſten, ganz ſachte und leiſe 
in die Ohren ziſcheln. Von Character iſt keine Spur da; 
der Herzog, dieſer Frauen-Nimrod, dieſer Unwiderſtehliche, 
dem kein Herz zu feſt, und keine Tugend zu unzugänglich 
fein fol, durch welche Gaben hat ihn der Verfaſſer aus- 
geftattet, um diefen Zauber zu rechtfertigen ?! Weder Geift 
noch Tiebenswürdigfeit, weder Adel der Gefinnung, wenn 
auch nur erheuchelt, nod) des Wites und der Nede- Zauber; 
nichts ift an ihm, als ein reichgeftictes Kleid, und der 


184 


offene, unverhohlen zur Schau getragene Unglaube an 
Unschuld und Tugend und Trauenehre! Ift das ein Cha— 
rafter? Und die Marguife von St. Prie? Eine Herzlofe 
Kokette, die fogar alles weiblichen Stolzes bar ift, jenes 
Stolzes, der jelbft in dem vermworfenften Weibe wohnen 
muß, wenn fie nicht äfthetifch efelhaft fein fol. Sie 
gebraucht eine Intrigue, um ſich die größte Erniebrigung 
jelbft zuzufügen, ihr ganzes Selbft der eigenen Verachtung 
preiszugeben, und zu welchem Zwede ? dasiſt nicht befannt! 
Was wäre denn nun daraus erfolgt, wenn die Sachen eine 
andere Wendung genommen hätten? Wie wäre der Herzog 
beftraft? Und Demoifelle Belle-Isle? Ift fie ein Charak- 
ter? Nein! Sie ift ein ganz gewöhnliches Mädchen, ein 
tugendhaftes zwar, aber ein paffives, an ihrer Tugend 
ift nichts Dramatifches, fie leidet, weint, weint und 
leidet, und heirathet endlich! Und H’Aubigny? If das 
ein Charakter? Nun ja, er ift nicht charalterlos, aber 
mehr aud nicht um ein Haar. Ein Bräutigam, der 
wähnt, daß Iemand von feiner Braut ein Rendezvous 
erhalten und fie verläßt, ift eine Alltagserfcheinung, der 
fi) deshalb mit feinem vermeinten Nebenbuhler ſchlägt 
oder fchlagen will, ift eben fo Rococo. Die Würfel- 
geichichte Scheint harafteriftifch zu fein, ift aber 
ein bloßer Theater- Coup, denn der Begriff von wahrer 
Ehre verträgt ſich mit diefem Streich nicht, die Ehre 
ift fein Goldftüd, das man auf Würfel fest, und ein 
point d’honneur ift fein point, das mit einem Paſch 
abgemacht wird. 


185 


Und das will man ung als „Xeichtfinn“ verfaufen? 
Teihtfinn,wennderÖlaubeanweiblihetugend, 
diefer Grundpfeiler aller foctalen Seligfeit, in völlige Ne— 
gation geftellt wird? Leichtfinn, wenn mit Frauen— 
tugend, mit Brautglüd, mit den heiligften Gefühlen 
des Dafeins, ein frevelhaftes, entwürdigendes Spiel getrie- 
ben wird? Leichtſinn, wenn der Herzog den Ruf und 
die Tugend eines Mädchens um fünfhundert Ducaten ver=. 
wettet? Leichtſinn, wenn ein Weib die edelfte Empfin- 
dung: die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater, zu ihrem 
Frevel mißbraucht, und dann noch ausruft: „Es tft doch 
hön, eineedle Thatzubegehen!?" Wahrlich, wenn 
das Alles „Leichtſinn“ ift, fo hat die Entartung der Natur 
nichts in ihrem Reich, was dagegen mit dem Ausdrud: 
Rafter belegt werden kann! und wo find die abfchredenden 
„Bolgen* diefes „Leichtſinnes“? Es geht ja Alles fo, 
wie man ein Haar aus der Milch zieht, Alles fo gut und 
felig am Ende, daß der Herr Herzog die Erfahrung mit: 
nehmen kann, folche Streiche gleicht das Schickſal gutmüthig 
und ohne alle böfen Folgen aus! 

Im Dialog ift weder Schönheit des Ausdruds noch 
Fülle des Gedanfens, feine einzige Rede, in welcher irgend 
einer Empfindung oder einer Erhebung, oder auch nur einer 
Erheiterung das Wort geredet würde. 

So viel zu Alerander Dumas als deutfcher Kri=- 
tifer zun franzöfifchen Dramenfabrifanten. 

Die Bearbeitung für die hiefige Bühne ift gefchidt, 
zeigt von einer bühnenfundigen Hand, und läßt jehen, daß 


186 


auch die Abänderungen mit tiefer Einfiht und mit glüd- 
lichem Erfolge gefchehen find. Das Stüd erfreute fi) am 
Ende langen und lauten Beifalls. 

Geſpielt wurde vortrefflih. Wir nennen zuerft 
Demoifele Peche, welche herrlich deutſch fpielte, 
und Demoifele Müller, welche Herrlich franzöſiſch 
jpielte. 

Man erlaube ung bei diefer Gelegenheit, eine Bemer— 
fung zu madjen, die vieleicht nicht ganz ohne Grund ifl. 
Unſere deutfchen Schaufpieler ſpielen ganz anders in einem 
deutfhen Stüde und ganz anders in einem franzö- 
fifhen Stüde. 

Im deutſchen Stüde hat der Darfteller blos feine 
Individualität zu verleugnen, die Darftellerin hat blos 
zu fehen, daß fie eine Gräfin, eine Baronin, eine Herzogin 
darftelle. Im franzöfifchen Stüd muß die darftellende Per— 
fon fi) zweimal verleugnen, erftens ihre Indivi— 
dualität, zweitens ihre Nationalität, fie muß nicht 
nur einen Örafen oder eine Gräfin, fondern fogar einen 
franzöſiſchen ©rafen und eine franzöſiſche Gräfin 
vorftellen u. |. w. — 

Wenn nun unfer Darfteller einen deut ſchen Mit- 
menschen darftellen ſoll, fo reflectirt er über ihn, abftra= 
hirt und addirt von feinem Mitmenfchen nach Belieben, 
und gibt feinem Charakter am Ende eine Art von allge 
meiner®eltung, hilft fi) in befondern Verlegenheiten 
mit dem Gefühl der Gleichheit, mit welcher die ihm von 
Geburt aus verfnüpften Naturen neben an ftchen, und 


187 


bringt, jelbft wenn im Galop Hineingefpielt wird, eine 
Figur zufammen, die in Ton=, Gang- und Haltweife fo 
ziemlich) dem beabfichtigten Driginale gleich ficht oder 
ähnelt. 

Unders aber wird e8, wenn die deutfchen Darftelfer 
franzöfifche Perfönlichkeiten präfentiven ſollen. Da fängt 
bei den meiften die mue-turtle-Suppe an! E8 gilt nicht 
nur, einen andern Charakter, fondern einen andeın Typus, 
ein anderes Naturell anzunehmen! Da haben die Män— 
ner befjev Spiel. Wir fennen fie in Deutſchland zum Theil 
perjönlich, die faubern Helden des franzöfifchen Drama's! 
Sie find feit 1793 bis 1840 genug zu ung gekommen 
und haben genug unter uns ſich felbft geſpielt. Da 
fonnten unfere Schaufpieler ftudiren, Modelle abreigen 
und die franzöfifhe Schauſpielkunſt lernen, näm— 
lid) die Kunft, mit ein Bischen naiver oder drafti=- 
ſcher Perfönlichfeit al die Anforderungen des Publi- 
fums in Parterre, Stalles und Togen zu bezahlen. Aber 
unfere Schaufpielerinnen, wo lernen fie all die 
frivolen Grifettes, all die blafirten Salon - Damen, und 
all das radfchlagende Manege der taufend bonnes enfants 
und enfants perdues zu erfafjen, zu ergründen und dar= 
zuftelen? Wie fie e8 auch anftellen, es bleibt immer 
ein fremder Accent in der Darftelung. Der Schwer: 
punkt, den der franzöfifche Darfteller franzöfifcher Cha— 
raftere. in fich ſelbſt findet, ift nicht da, und wo 
diefer fehlt, überftürzt fi) die Darftelung entweder 
ins Geſpreizte, oder ins Ercentrifche! Was dort 


188 


Beweglichkeit ift, wird bier ein Herummerfen, 
was dort Entwidelung ift, wird hier eine in Eden 
und Winfel geworfene Unnatur, und was dort Effect, 
-Schlaglidt ift, wird hie Grimaſſe, Uebertrei— 
bung, Lamentoſo, Dolorofo, Jammerſchrei. 


Ein mildes Urtheil, 
Trauerfpiel in fünf Aufzügen. Don Friedrich Halm. . 


Dautt! Blut! Das ift die Loſung des Trauerſpieles. Blut 
ift Leben, Blut ift der Menſch und Blut ift das eigentliche 
ZTrauerfpiel! Es gibt Menfchen, die fein Blut fehen fünnen, 
die find zum Soldaten und zum Zrauerfpieldichter verdor- 
ben. Allein, ift alles Blut tragifch ? Und ift wirklich Blut, 
und Blut allein dasunerläßliche Lebenseliriv der Tragödie, 
oder ift e8 nicht ein eben folches albernes, ſchändliches 
Borurtheil, al8 das, daß die Juden zum Ofterfeft Chri- 
ftenblut brauchen ? 

Wir müſſen alfo in der Tragödie vorzüglich) und 
hauptſächlich darauf fehen, daß fein Blut vergebens ver- 
gofjen werde; die weiſe Kritik fagt, wie die weife Portia 
im „Kaufmann von Benedig” zu dem tragifchen Shylof: 
„Da fchneide dein Pfund Fleiſch aus, aber vergieße feinen 
Tropfen Blut, der dir nicht verfchrieben ift.” 

Wir verlangen von allem Dramatifhen — ob 
Drama oder Trauerfpiel Alles Eins — daß ein erhabe- 
ner, ein erfhütternder Gedanke mitdurdgreis- 
fender Nothwendigkeit als allgemeines Geſetz 
über die ganze Entwidlung, über den Ausgang, 
— ob auf dem naffen Blutweg oder nicht, Alles Eins — 
und über die Sühnung fid) ausdehne. 


1% 


Die einzige große Aufgabe der Tragödie ift es, 
die Menſchennatur, welche im Fieber- oder Leidenſchaftwahn 
fich felbft mit Untergang und Vernichtung bedroht, mit, 
und in ſich felbjt auszugleichen, zu verföhnen, und zwar 
nicht auf eine Weife, die vom Menfchen felbft oder gar 
vom Autor oder Zufall abhängt, fondern aus einem 
andern, höhern runde, aus dem Grunde der ewigen 
Gerechtigkeit nämlich), vor welcher alle ſub- und objectiven 
Intereſſen und Tendenzen zerftieben und ganz aufgehen. 

Fehlt diefer höhere Grund, fehlt, ic) möchte jagen, 
die Religion, der höchſte Glaube, das Erfennen und 
Heraufführen des reinften- Lichtes über diefe Erden- und 
Zeidenfchaftsfinfterniffe, fo fann die Tragödie alle Mittel 
aufbieten, fie fann alles das, was die Menfchennatur und 
das Leben glaubt, Hofjt, wünjcht, liebt, haft, anbetet, 
verabjcheut, zu Kämpfern und Bermittlern, zu Siegern und 
zu Befiegten hinab= oder heraufbejchwören, fie wird immer 
nur eine Kriſis hervorbringen, aber in diefer Krifis wird 
das Leben mit dem Tode ringen, untergehen, das Leben 
wird enden, die Leidenſchaft verſtummen, das Blut aus— 
rinnen und erftarren, die Tragödie wird zu Ende, aber 
das erwünfchte tragifche Ziel wird doch nicht erreicht 
fein! Der Stoff haucht feine Scele in dem Arnıe der Tra— 
gik aus, aber an dem Sterbebette desjelben fteht neben dent 
Todesengel fein Lichtengel, und es thut fid) blos die Erde 
zu einer ©rablegung, und nicht der Himmel zu einer 
Himmelfahrt auf, wie c8 doc das Ende der Tragödie 
haben will. 


191 


Sehen wir, ob das vorliegende Trauerſpiel den 
vorangefchieten Betrachtungen entſpricht. 

Editha wird von ihrem Gemal Godwin, Than auf 
MWedmor, bei einem Rendezvous, nächtlich im Garten, mit 
Grafen Elmar überrafcht. Er läßt den Verräther entfliehen, 
fagt: „Milde foll mein Urtheil fein“ und bringt 
Editha, welche verfichert, „unverlegt fer ihre Ehre," zu 
ihrem Vater Osbert zurüd, indem er fagt: „Der®edante 
ift fo viel mwiedie That!“ Elmar, Neffe des Königs, 
und heimlicher Rebell gegen denfelben, hat, ohne Wiſſen 
Godwins, früher einen Verräther des Königs heimlich mit 
Hilfe Editha’8 in Godwins Schloß verftedt. Der König 
hält Godwin, den er ohnehin haft, für fehuldig, und will 
ihn verurtheilen. Und num beginnen die Dual- und Marter- 
prozefje Editha's. 

In tiefer Reue über ihre Schuld, von ihm verftoßen, 
begibt fie fi) zum König, um ihren Mann zu retten, und 
fi) al8 die Schuldige anzugeben. König Edmund ift ein 
wilder, unwirfcher Mann, der eigentlich nicht weiß, was er 
will, fie fol „ihre Schuld tragen” und will, „Godwin fol 
fie zurücknehmen.“ Er traut Godwin durchaus nicht, er 
traut auch Elmar nicht, allein er thut gar nichts, um die 
Gefahr von fich abzuwenden, obfchon er gewarnt ift. Editha, 
welche fieht, daß der König Argwohn gegen Elmar hat, 
fchreibt diefem, cr fol entfliehen, aber dadurd) wird Elmar 
zum Verrath angefpornt, und Godwin, da er Editha nicht 
zurüdnehmen will, wird vom König nad) Wedmor verbannt 
und geächtet. Editha Hat alfo wieder Alles verjchlimmert, 


192 


ftatt gutgemacht. Nun ift fie bei ihrem Bater, und Godwin 
auf Wedmor. Elmar ift offener Nebel, fengt und brennt, 
überfält aucd) Osberts Schloß und findet Editha. Sie 
fürdhtet, er ziehe gegen Wedmor und wolle Godwin erinorden. 
Diefes abzuwenden, fügt fie ſich anjcheinlicd) in Elmars 
Wünſche, ihn zu lieben und fein zu werden, verjpricht, 
ihn durch einen nur ihr befannten unterivdifchen Gang 
ins Schloß Wedmor zu führen, und ihm dasfelbe fo in die 
Hände zu fpielen, Dies gefchieht. Im Schlofje Wedmor 
angekommen, verlöfcht fie die Lampe, ſperrt Elmar ein, 
eilt hinaus, fchlägt Lärnı. Die Truppen oder die Befagung 
Wedmors — e8 ift nicht recht klar, woher die Hilfe fommt 
— werden von ihr gegen den einbrechenden Feind geführt 
und fo wird Wedimor gerettet. Indeſſen ift Godwin ins 
Zimmer gedrungen, wo Elmar eingefperrt ift, fieht den 
heimlichen Gang offen, zweifelt feine Minute, dag Editha 
auch diefen Berrath, beging, und, nachdem er Elmar im 
Kampfe erftochen, fpricht er einen gräßlichen Fluch aus! 
Allein, da fommt die Befaßung, es wird klar, daß Editha 
die Ketterin war; fie ıft im Gefecht verwundet worden, 
wird hereingebracht, Godwin ruft aus: „Set wieder nıein 
Weib!“ allein fie ftirbt in den Armen Godwins und ihres 
Vaters. | 

Das Erfte, was fid) uns zur kritifchen Reflexion 
aufdrängt, iſt: welche Grundidee hat der Berfafler in 
diefer Tragödie verherrlichen wollen? dann: wie ift fie ins 
dramatiiche Leben gebracht worden? und dann: wie ift fie 
uud ihre Berherrlichung manifeftirt worden; wie ift durch 


19 


tragifche Vernichtung und Sühnung die Harmonie in ber 
zerriffenen Menfchennatur wieder hergeftellt worden ? 

Unbedingt fcheint es uns blos, der Dichter wollte 
darthun, da, wie [yon Schiller fagt: „das der Fluch 
der böfen That ift, daß fie fortzeugend immer 
Böfes muß gebären!” Wenigftens jagt Osbert feiner 
Tochter diejelben Worte in einem vierzeiligen Vers, den 
wir wörtlich nicht behalten haben. Allein unfer Dichter ift 
weiter gegangen, er jagt: „das ift der Fluch dcs böfen 
Gedankens, daß er fortzeugend immer Böfes muß gebä- 
renl“ und das ift ein gräßlicher Ausfpruch, ein Ausspruch, 
der ein Recht gäbe, mit der ewigen Vorfehung zu hadern! 
Zwiſchen der „Schuld” und der „That“ Hat der Autor ein 
Drittes gebracht und ein Viertes: „die Schuld des Ge- 
dankens“ und „ven Öcdanfen der That”. Editha ift, 
fo fagt fie, fo fagt Godwin, nur eine Gedankenſchuldige, 
denn wie viel vom Gedanken That geworden ift, oder wie 
viel davon That geworden wäre, wenn Godwin nicht 
dazwifchen trat, das wiffen wir nicht, und darin liegt cben 
der fatale Umftand, dag wir nicht Far wilfen, ob Editha 
ſchuldig ift oder nicht. 

Nun fragen wir aber, wenn eine Gedanken— 
ſchuldige jo gequält, fo gefoltert, fo vom Bater verftoßen 
und verflucht, fo vom Manne verftoßen und verflucht, fo 
langjanı gemartert wird, und am Ende, ohne höhere Juſtiz, 
gemordet wird, welche Strafe, welche Buße, welches Ende ift 
der vollendeten Verbrecherin, der Thatfchuldigen 


aufbewahrt ? und wenn folche Leiden, ein ſolches fortlaufendes 
M. G. Saphir's Schriften. VI. Bd. 13 


194 


Gewebe von Meartern, welche Editha fünf lange Acte 
hindurch erduldet, ein „mildes Urtheil“ ift, wie hätte ein 
„hartes Urtheil“ beichaffen fein müflen? Welch ein 
Ürtheil kann ein Mann über die Schuld des Gedankens 
feiner Frau fallen, welches Härter, graufamer und unmenſch⸗ 
licher wäre, als dieſes?! Dder, ich will alle Fälle erfchöpfen, 
bezieht fi) das „milde Urtheil* nicht auf Editha, fon 
dern auf Elmar, fo dringt fi) uns eine andere Frage auf: 
inwiefern findet diejeg „milde Urtheil”, nämlich: den 
Dann, den ich bei meiner Frau nächtlich im Garten bei 
einem Rendezvous ertappe, ungeftraft entkommen zu laffen, 
die äfthetifche und dramatifche Sympathie? Ein folches, 
vielleicht durch das Alter Godwins allein zur erflärende, 
phlegmatifche Urtheil verdient alles Xob im bürgerlichen 
Geſetzwege, aber es ift durchaus auf dem Theater, im 
Gefühlsleben, im Wege des Herzens und der Empfindungen 
nicht halt- und nit brauchbar. 

Wir wollen aber noch weiter gehen und aud) da nod) 
nachjehen, wir wollen aus der höhern Sphäre kritifcher An— 
forderung herunterfteigen und uns fo verftändlich machen, 
daß ung die Kinder begreifen können. Geſetzt alfo, das 
wäre wirflid ein „mildes Urtheil“, was follen wir 
alfo daraus lernen: fol man milde urtheilen oder nicht ? 
Denn aus diefen milden Urtheil find lauter unheilvolle 
Thaten entiprungen. Hätte Godwin den Elmar nieder- 
geftochen, jo wäre keine Revolution, feine Berheerung gewe— 
fen, und Editha lebte noch; oder wäre Godwin ftrenger mit 
Editha geweſen, hätte er fie in fagranti erftochen, oder in 


u’ 


195 


das tieffte Burgverließ Webmors gebracht, e8 wäre ihr 
und Allen ebenfalls befjer gewefen! Es ift alfo nicht 
ar, warum diefes ein mildes Urteil ift, und noch 
weniger, ob man daraus mild oder ftreng zu urtheilen ler: 
nen fol. | 
Wenn wir und zu Godwin wenden, fo fragen wir: 
wie unterfcheidet fi) Godwin von Meinau in „Menfchen- 
haß und Reue”, vom „Arzt feiner Ehre” und vom Manne 
in „geheime Rache für geheimen Schimpf” (scgreta ven- 
ganza y segreto aggravio)? Obſchon in Veranlaffung und 
That und Schuld verfchieden, ift doch das Grundprincip 
dasselbe, und wenn wir die fpanifche Subtilität im Punkte 
der Ehre mit der zu jener Zeit in England herrfchenden 
Sitte vergleichen und in Abſchlag bringen, fo ift es dod) 
immer das Element „verlegter Ehre durch Treulofig- 
feit feiner Tran. Wir begreifen nicht, wie Kotzebue 
Hat feine Eulalia leben laſſen fünnen, und nicht, wie der 
Autor diefes Stüdes — Editha hat fterben laſſen können. 
Freilich Spricht für Kotzebue, daß Eulalia Kinder hat, 
denen man die Mutter nicht rauben kann. Ueberhaupt ift die 
„Reue“ eben fo wenig eine dramatiſche Tugend, als 
der „Menſchenhaß“. Die Reue ift die Reconvales— 
cenz der Tugend, dramatifch aber ſind nur Laſter 
oder Tugend, da, wo ſie wirkend, handelnd, er— 
haben oder abſcheulich auftreten. 

Spüren wir unſerm vorangeſchickten Augenmerkweiter 
nad, jo zerfällt hier auch die Idee: „Das Böſe muß 
Böfesgebären,” im ſich. Denn beide ſchlimme Folgen, 

13* 


196 


erftend: daß der König Godwin verbannt, weil er Editha 
nicht zurüdnehmen will, und zweitens: daß Elmar gerade 
durch Editha's Ermahnung zur Flucht erft recht zum Auf- 
ruhr gereizt wird, alles Beides find Folgen der Unfinnigfeit, 
der unbegreiflichen Wildheit und Rohheit des Königs und 
Elmars, fie entfpringen aber niht nothwendig aus 
Editha's Benehmen, noch weniger aus ihrer Unschuld, 
wenn aud) eine foldye angenommen werden fünnte. Ueber- 
haupt ift der König blos da, un noch als cin Folterwerk⸗ 
zeug Editha's da zu fein, denn er greift weder unmittelbar 
noch mittelbar mit in den Organismus des Ganzen ein, 
e8 gejchieht weder etwas durch ihn, noch mit ihm. 

Wenn wir die Editha näher betrachten, fo hat fie 
etwas von der Grijeldis an ſich; fie leidet durch eine fire 
„dee des Mannes; fie wird gequält, der Dichter häuft alle 
Erfindungen der Situation, ja ale Launen des Zufalls 
zufammen, um fie recht zu peinigen. Wie Grifeldis, darf 
auch fie nicht in die Arme des Gemals zurüdkehren, nur 
mag es bei Grifeldis weniger weh thun, weil wir fo zu 
fagen von Anfang an mit dem Dichter einverftanden find, 
und glauben, daß e8 gut endet. Hier aber werden wir mit 
ihr gequält. Wir fönnen den fo talentvollen und reichbegab> 
ten Dichter nicht genug darauf aufmerffam machen, daf 
diefes tragifche Quälen eines weiblichen Gemüths, blos 
um eine Flinifche Praktik zu erproben oder zu befunden, ein 
großer Irrſchritt iſt. Die Tragödie verhängt Leiden, 
Schmerzen, Duldung, Untergang, aber nicht 
Quälerei, Peinigung, Stachelei und Tödtung! 


& 


% 





197 


Ic) berufe mich auf die Natur des Menfchen, dem 
fittlichen, dem äfthetifchen, dein empfindfamen Xeben gegen- 
über, und dann erft auf die Berechtigung der dramatifchen 
Kunft, ob e8 dramatifch erlaubt ift, in entjeglicher Stufen 
folge ein weibliches Herz mit dem Gräßlichiten zu belaften, 
blo8 um zu fehen, wie e8 ſich dabei benimmt!! Mancher 
fönnte vielleicht noch weiter gehen und jagen: Editha's Tod 
fei fein dramatifcher, er ſei zufällig, indem fie im Gefecht 
geblieben fet, allein diefer Vorwurf wäre nicht haltbar. In 
der Welt der Tragödie, in der Negion des höheren Welt- 
gerichts gibt es feinen Zufall, der Zufall ift eben nur 
die Form, in welche fi dasinnerlih Nothwendige 
hüllt. So ift auch Edmund's Tod im „Lear“, obſchon er 
blos im Zweifampf fällt, nicht zufällig, fondern noth- 
wendig, und hier tritt der Zweikampf als Gottes- 
urtheil auf. So ift auch der Tod Johanna's in der 
„Jungfrau von Drleans“, obwohl durch die Schlacht, doch 
nothwendige Strafe ihres momentanen Abfalles vom 
Himmlifchen. In dem großen Gefchide der tragifchen Welt- 
ordnung tritt faft jede einzelne That im Gewande des 
Zufalles an die äußere Erfcheinung. 
| Bon Elmar nur fo viel, daß er durchaus fein In- 
tereffe erregt, indem es ein ganz alltäglicher, wahrer 
Ritter-Komoödien-Böſewicht ift, der am Ende zum Jubel 
der Maſſen niedergedolcht wird. 

Wenn wir nun das Ganze überfchauen, fo fehlt ung 
bei diefen Bemerfungen über die Grundidee, und vielleicht 
eben deshalb auch noc der durchgehende Nero des 


198 


Organismus, kurz, jene hochwallende, entzündende, energifch 
waltende Anerkennung der göttlichen Energie, welche bie 
Unschuld zum beginnenden Kampfe, vom Kampfe zur völ- 
figen Sicherheit des Ausganges, und von der völligen 
und nothwendigen Sicherheit des Ausganges zur poetifchen 
und göttlichen Gerechtigkeit, Beruhigung und in ihren 
Schauern jo füße als wehmüthige Sühnung führt. 

Wenn wir unfere Meinung fo unummwunden ausge= 
fprochen haben, jo. dürften wir es mit defto größerer Unbe- 
fangenheit, als die geehrten Leſer ſich zu erinnern wiffen, 
welche volle Anerkennung wir dem reichen und blühenden 
Talente diefes verdienten vaterländifchen Dichters haben 
angedeihen laffen, mit welcher Fülle von Freudigfeit wir 
anderfeitige Broducte desfelben empfingen, empfanden und 
beurtheilten, und eben diefe Achtung vor einem foldhen 
eminenten Talente legt uns Wahrheit als doppelte Pflicht 
auf. Auch in diefem Stüde ift ein hervorragendes Talent 
unverfennbar. Die erften drei Acte find reich an herrlichen 
Situationen, an höchſt wirffamen Momenten, manche 
Stellen erheben ſich, troß der trochäifchen Versart, zu 
Igrifchen Figuren, und überall fprudelt dichterifche Fülle 
empor. Die legten zwei Acte find etwas zu ritterftüdartig, 
die deshalb aud) den Schlußeffect vermindert haben. 


u’ 


- Dis verhängnißvolle Faſchingsnacht. 
Lokalpoſſe in drei Aufzügen. 
‚Schon zu lang hab’ ich gefhwiegen, fie follen 
meine Stimme hören." 
Ballenftein. 


Von dem Erhabenen zum Läherlichen ift nur ein 
Sprung: die meiften unferer früheren Lokal- und Bolfs- 
pofjens Dichter waren ſtets auf diefem Sprung vom Erha= 
benen zum Lächerlichen, — in welchem eigentlich der 
Wirkungskreis der parodiftifchen Poſſe liegt — und es 
gelang ihnen meift Alles oder Vieles. | 

Die meiften jetigen fogenannten Volfsdichter find 
auf dem Rückſprunge, fie wollen nämlich von dem Lächer— 
lichen auf das Erhabene fpringen, und das ift eine 
phyſiſche und geiftige Unmöglichkeit. 

Tragödie und Poſſe, dag find die zwei End- 
ſchwerkugeln an der dramatifchen Baguette. Wer vermag 
es, den Stab zum Ring zu biegen und die Pole zu einen? 

Wohl läßt fi) manchmal der Goldfafan der Tra— 
gödie hie und da mit den Erdäpfelſchnitten des Niedrig- 
fomifchen ausfüllen und ſpicken, aber nicht umgekehrt. 

Eine völlige und gänzliche Berfennung und Mißfen- 
nung des Wefens der Lofalpofje und der Bolksftüde ſpricht 
fi in der Mehrzahl aller neuen Producte diefer Gattung 
aus, und die Lokalmuſe ift eine Witwe von drei Männern, 


200 


ein Dann ift ihr geftorben: Raimund, und zwei Män« 
ner haben fie verlaffen: Bäuerle und Meist. 

Ich werde fpäter darauf zurückkommen, wie eigentlich 
Bäuerle mit feinem entfehiedenen Talente für dieſes Fach, 
nit feiner ewig frifchen, ftroßenden Laune, an der Spite 
aller Bolksdichter ftand; wie Meislihm an KedHeit der 
Laune und an Gliedergelenfigfeit des Spaſſes und der der- 
ber Komik nachſtand, ihn aber an innerer Confequenz, on 
Planbildung und Kenntniß überflügelte, und wie Rai— 
mund, diefe jchöne, fchlanfe Bappel anı Iuftigen Teich der 
Lokalpoſſe, die fich Leider einvedete, eine Trauerweide an 
einem Thränenſee zu fein, diefe gezwiefpaltete Natur, die 
von einer Sehnfucht überwältigt wurde, der Feine Stilung 
folgen konnte, weil die Kraft den Sehnen nicht Wage hielt, 
diefes edle, friſchgrüne Gemüth, das nach) Liebe und Poefie 
rang, und feinen befriedigenden Gegenklang fand, und an 
der großen Diffonanz, die das Leben feinen Beruf wieders 
gab, Hinüberfchlummerte, wie dieſes herrliche Talent fich, 
das Leben, die Tiebe, feinen eigenen Genius und den der 
Boltsmufe verfennend, den erften Wegweifer zur Ver— 
irrung und Abirrung aller, ihm Feuchend und ohnmächtig 
nachringenden Bolksdichter (!) machte. 

Unter den meiften jegigen Erzeugern der Volksbühnen⸗ 
Producte fteht Neftroy da, wie ein Maibaum zwiſchen 
Hopfenftangen. Neftroy ift weder Volksdichter, noch 
Tofalpofjendichter, er ift eine eigene Öattung, er 
ift der einzige: Primo Buffo assoluto der draſtiſchen 
Bollsnatur-Didter. 


20 


Es kann fid) Niemand von den jegigen Volksſtück— 
Fabrikanten mit ihm meſſen; es ift gar fein Berhältniß 
zwifchen ihnen, fie gleichen fich in gar nichts. Das ſchlech— 
tefte Neftroy’fche Stüd verfchlingt noch, wie Pharao's 
magere Kuh, fieben der fetteften und beften Stüde vieler 
anderer feiner gleichzeitigen Rivalen. 

Schon der Grad der Willkür, mit welcher Neftroy 
feinen Stoff behandelt, und wie er in diefer zügellofen, oft 
‚zu tadelnden Willfür dennoch Herr und Meifter feines 
unbändigen Renners bleibt, gibt ihm das Zeugniß einer 
fougeufen, kecken, kräftigen Keiter-Natur, vie ich fie liebe, 
und wie fie allein nur, felbft in ihren Abwegen, Tüchtiges 
Ichaffen kann. 

Sch liebe Neftroy deshalb fo fehr, weil er ſich gibt, 
wie er ift, und feine Gefichter bei feinen Producten fchnei- 
det — ich Yede immer nur vom Verfaſſer und nie vom 
Darfteller— er fehneidetnieein vornehmes Geſicht, 
wenn er uns das Gemein-Komifche darftellt; er will 
nie die höchſten Wolken reiten, wenn er uns in die Arena 
der Thorheiten führt; er affectirt nie eine hüftelnde, frö- 
ftelnde Ideenſucht, wo er nichts will, als das Keinlächer- 
liche, und er zieht feinem ergöglichen Charivari und feinen 
drolligen Karikaturen feine Shafesfpeare'fhen Ten- 
denz-Perrüden, keine Goethe’fchen Lebens- und Jenſeits⸗ 
Tioreen an, mit poetifchen Treffen und mit fententiöfen 
Rauſchgoldkragen! 

Daß neben fo vielen Vorzügen auch Schatten ang 
Licht treten, werde ich weiter unten darthun, denn jet will 


202 


ich nur mit wenigen Worten diefe „verhängnißvolle 
Faſchingsnacht“ erwähnen. 

Zergliedern und eingehen mag id) nicht in die Ein= 
zelheiten, e8 wird meinen verehrten Lefern genügen, wenn 
ih fage, daß feit Iahren fein Stüd in diefem. Genre 
erfchien, welches fich einer folchen gefunden Conftruction, 
eines fo ſchönen Baues, einer fo gerundeten Haltung erfreut, 
und feit langen Jahren feines, welches fo üppig komiſch, 
jo gefpicdt mit Ferngefunden, rothwangigen, lippenfrifchen 
und perlzähnigen Witen, Späffen, Einfällen, Drolerien 
ausgefüllt ift, und welches fo frei von allen nicht genug zu 
verdammlichen Frirolitäten tft, als dieſes. 

Es kann feinen ſchlagendern Beweis für die Leicht- 
fertigfeit unferer Kritik geben, al8 wenn man . vielleicht 
gerade aus dem, worin Neftroy in diefem Stüde fein unge 
heures Talent entwidelte, einen Tadel marhen wollte!. 
Gerade darin, daß er aus dem tragifchen Borbild (Hole 
tei's „Zrauerfpiel in Berlin“) ein Stüd fchuf, welches 
beidlebig in dem Elemente der Rührung und des Scherzes 
lebt, daß er befonders im Schluße des zweiten Actes den 
faft nicht zu vermeidenden Ueberjchlag in das Tragifche mit 
jo feinem Tacte umging, gerade in dem meifterhaften 
Gewebe aus dunklen und hellen Täden, gerade in dem 
Talente, da8 Herz und das Zwerchfell zu erſchüt— 
tern, hat Neſtroy in diefem Stüde einen Riejfenfchritt 
gemacht und gezeigt, daß er nicht nur producirendes 
Talent, fondern aud) ein Haves, anfchauungsreihes Au f- 
faffungstalent befigt, und vollfommen Herr und Meifter 


203 


im Empfang, im Berbrauh und im Berfmez feines 
Stoffes ift! — 

Das eben ift auch eine große Kunft, an ein Gege- 
benes fih anzufchmiegen, an dem Angefchmiegten 
aber dennoch als ein volllommen Selbſiſtändiges und 
Anderes zu erſcheinen! 

Die einzige Stelle, in welcher Neſtroy als Lorenz 
darüber lamentirt, daß er von „halb Acht bis Viertel 
auf Eins” vergebens auf die Sepherl wartete, ſchlägt 
fünfzig unferer neueften Lofalftüde todt. Da ift mehr als 
Spaß, da ift großartiger, tiefer Spaßhumor darin! Eben 
jo find vigle einzelne Einfälle ganze Bände von Ironie und 
Satyre. 

Noch ein Verdienſt mag dieſes Stück haben, daß es 
uns den Scholz in einer andern Geſtalt, als in der eines 
ewigen Bedienten und Thäddädl vorführt, und ihm Gele— 
genheit gibt, zu zeigen, daß er auch in Charakterzeichnung 
komiſch und wahr ſein kann. Bei dieſer Gelegenheit iſt es 
dem Verdienſte des Herrn Neſtroy, freilich willenlos, 
zuzuſchreiben, daß er ein halbſchlummerndes Talent zum 
völligen Erwachen brachte, nämlich das der Demoifelle 
Condoruſſi. Ich glaube, die Gelegenheit lernt uns 
oft erſt die wahre Richtung eines Talentes erkennen. Ich 
war freudig überraſcht von dem plötzlichen Hervorbrechen 
eines ſolchen glücklichen und gedrungenen Talentes, wie es 
Demoiſelle Condoruſſi hier auf einmal entwickelte. Es 
dürfte ſchwerlich eine Darſtellerin auf den Vorſtadttheatern 
geben, oder, meines Wiſſens, gegeben haben, die 


204 


diefe Rolle fo zu fpielen vermöchte. Wahrheit, Innigfeit, 
Ausdrud und Kraft machten diefe Leiftung in diefer Mit- 
telfärbung, vom Hochtragifchen zum Einfahrührenden, 
zu einer der vorzüglichften, und wenn Demoifelle Condo— 
ruſſi fo fortfährt, und nun vielleicht erft die eigentliche 
Richtung ihres Strebens erkennt und ausbildet, fo dürfen 
‘wir der Bühne zu einer foldhen Erfcheinung Glück wünfchen. 
Würde man unfere Experimental = Kritiker fragen: 
„Was ift denn eigentlich „Poſſe“ überhaupt, und 
„Lokal-Poſſe“ insbefondere ?“ 
fo würden die Antworten vielleicht Stoff zu einer Lokal— 
poſſe geben, und höchſtens würden fie zwifchen Sulzer 
und Kaltfchmidt warfen, denn der Erfte führt die Poffe 
nur im verächtlichen Sinne und der Zweite nur in dem 
edelften Sinne an; beide Bedeutungen find nicht er— 
Thöpfend, ja faum richtig. 
Eben fo unerfchöpfend und nur das bereit8 Ange- 
deutete wiederholend fpricht das 
„Aeſthetiſche Lexikon“ 
in dem Artikel: „Poſſe.“ Das „äſthetiſche Lexikon“ 
ſagt: „Poſſe iſt ein derber bis an die Grenze, ja beinahe 
bis an das Gebiet des Gemeinen ſtreifender Scherz,“ und 
meint damit ganz gewiß nur, daß die Poſſe zwar faſt immer 
das Gemeine zum Gegenſtand ihres Muthwillens 
nimmt, aber nie felbft gemein wird. Eben fo meint das 
„äſthetiſche Lexikon“: „Eine zu einer ganzen Handlung 
verbundene Reihe ſolcher derbfomifcher Scherze bildet im 
©egenfage des feinern Luſtſpiels die Poffe, Farce.“ Nun 


m 


205 


will das „äfthetifche Lexikon“ gewiß beiweitem nicht Jagen: 
„daß eine Reihe verbundener Derbfcherze” ſchon eine Poſſe 
ausmacht, denn felbft die Bofje darf nur zum Schein die 
innere Folgegeredhtigfeit an Handlung, Situation und Cha⸗ 
rakter verlegen, und die Derbſcherze ſind nur die Gewürze 
des dramatiſchen Körpers, der ſelbſt in der Poſſe — die 
nicht gleichbedeutend mit Farce iſt — anatomiſche Ganz— 
heit haben muß. 

Man muß von der Poſſe in der Natur auf die Poſſe 
in der Kunſt übergehen. 

Die Natur iſt erhaben und dennoch zuweilen eine 
Poſſenreißerin, zum Beiſpiel: 

„Der Affe gar poſſierlich iſt, IF 
Zumal, —* Fass ft dp Fe 

Das iſt eine Boffe der Natur; fo auch, wenn wir 
Eichhörnchen, wie die Menſchen, an Nüſſen knabbern ſehen, 
wenn Kaninchen, Haſen u. ſ. w. aufrecht ſitzen und uns wie 
Perſonen anſchauen, das nennen wir poſſierlich, pof- 
ſenhaft, und ſo Alles, was in der Aeußerung der Thiere 
an die der Menſchen erinnert und ihr gleich kommt. 

Aber das Natur-Poſſenartige muß frei fein, will: 
fürlih, ungezwungen, fonft hört es auf, lächerlich 
zu fein. Bei einem Affen- und Hunde» Theater, diejen 
Thierpoffen, fommt unsnur das poffterlich und 
lächerlich vor, wenn die Affen und Hunde, gegen den 
Willen ihres Abrichters, der freien Entwicklung ihrer poffier- 
lichen Natur nad) Handeln, den Teller fallen laſſen, das Eſſen 
ſelbſt aufefjen u. ſ. w. kurz der Gegenſatz der thieriſchen 


206 


Willkür zum dirigirenden Tyrannen macht das Lächer- 
liche aus, 

So äußert fich auch der angeborne Hang zum Poffen= 
haften im Menſchen, fein Naturtrieb zum Burlesken, in der 
derben, aber freien Entwidlung feiner Spradye, feiner 
©efinnung, feiner Geberden, und von den fomifchen Tänzen 
der Wilden, alle Nationalfefte, Bachanalien, Orgien, 
Mummereien, Efelsfefte durch, bis zu unferm Thaddädl, 
äußert fi) nichts als das Poſſige oder Putzige der 
fich alles Zwanges eutbindenden Scherz= und Lad: Natur 
der Menfchen. | 

Die eigentliche Bofje in der Kunft, das Poffen- 
fpiel inder Schaufpielfunft, dag Quodlibet in 
der Muſik, die Karikatur inder Malerei, ift eine 
jede Fünftlerifche Darftellung des Nicdrig- 
Stomifchen. 

Allein in allen diefen Künften zerfällt die Poſſe in 
eine äfthetifche und unäfthetifche, in eine feine und 
gemeine, dann wird das Poffenfpiel zum Farce— 
und Zoten-Stüd, das Duodlibetzum Charivari, 
die Karikatur zur Frazze, der Mimiker zum Gri— 
macier, der Komiker zum Hanswurftund Boffen- 
reißer! — 

Nun fällt die Poſſe in das Gebiet der Dichtkunft, Der 
Lyriker wird zum Schwänkeſchmied, der Epifer 
zum Schnurrenfchreiber, und der Dramatiker zum 
Poffen- Dichter; die Lyrik fallt in Die Hände der 
Parodie, die Epifin die Hände der Traveſtie, und 





Lo 


207 


Die Dramatif in die Hände des fatyrifch - fomifchen 
Hofnarren der dramatifchen Deufe: des Poſſenſpiel— 
Dichters, | 

Die Bosse alfo im engen Wortfinne ift die drama⸗ 
tische Darftelung lächerlider Sitten, Handlungen, Thor⸗ 
Heiten, Charaktere, Situationen, Dialekte, aus der Sphäre 
des niedern und gemeinen Volkslebens aufgefaßt, und 
mit freier Laune, mit willfürlicher Weberfchreitung aller 
Grenzen des Xuftfpiels, alle Zäune und Pferchftäbe der 
fonftigen geregelten Dramatik überfpringend, ja fogar fie 
höhnend, fie verlahend, fie verwundend. 

Wo fid) aber die Poſſe anders geftaltet, wo fie die 
ihr gejtellte Sreiheit zur Frechheit, die ihr zugeftandene 
Willkür zum widerfinnigen Kunterbunter umwandelt, 
da verſinkt fie in das Täppifche, Widerliche, Frazzenhefte, 
Ekelhafte, Verwerfliche. 

Die Lokalpoſſe iſt nun nichts weiter alse ein Poſſen⸗ 
ſpiel, welches die beabſichtigte, willkürliche und freie Lächer— 
lichmachung der Thorheiten oder Zeitunbilde, in der Sphäre 
eines Ort-Dialektes, in den Sitten und Eigenheiten eines 
beftimmten Ausjchnittes aus dem großen Geſelligkeitszirkel 
beſchränkt, und feine Sphäre nur auf die Abfpieglung feiner 
Umgebung ausdehnt. 

Einer der erften und gravirendften Fehler aller un- 
feree Boffendichter ift die Ausdehnung, welche fie dem 
Umfange ihrer Producte geben, indem fie diefen über den 
Des Tuftfpieles erweitern, und nicht bedenken, daß das Fein⸗ 
komiſche lang ergött, das blos Lächerliche aber feiner 


208 


Natur und Wefenheit nach, nur kurzes Teben in uns anregt 
und in der Länge ermüdet, 

Ein zweites Unglüd aller Poſſendichter — und Hier 
will ic) auch Herrn Neftroy im Auge haben — ift, daß 
fie ihren Geſchmack nicht genug bilden. 

Schon Home jagt mit Recht: „Das Talent zum 
Läherlichen ift felten mit Gefhmad und Delika— 
tefje verbunden.” 

Bon Home bis zu uns aber hat fic jo Manches ge- 
ändert, und gerade das Talent zum Lächerlichen hat 
fi des Geſchmackes: diefes Augenmaßes des Gei- 
ſtes — volllommen bemeiftert, und eben die angeftrengte 
Scarffichtigfeit, mit welcher e8 die Contraſte aufdedt, die 
Widerjpiele auffucht, die Unanftändigkeiten auffängt, Hat 
diefes Augenmaß geübt, geftärft. 

Nur bei den Boffendichtern veriniffen wir faft durch— 
gehende Gefhmad und Delifateffe. 

Es gibt Schöne Frauen, elegante Männer, die fi} 
jtet8 ganz nad) der neueften Mode Heiden, aber ihnen fehlt 
das Augenmaßdes Gciftes: „der Geſchmack“; es lebt 
nichts an ihnen, fie find gepußt und nicht gekleidet, 
ausgestattet und nit angezogen, fie willen ſich 
nahderModezurichten, aber fie bringen es nie dahin, 
die Mode zugleich nad ſich zu richten. So ift e8- 
mit vielen Poſſendichtern, wenn fie auch) Talent zum 
Läherlihen, Wiß, Spaß, Anſchauung, Drolligkeit u. ſ. w. 
befigen; e8 fehlt ihnen der Geſchmack, fid) darin zu kleiden, 
furz, fie haben, fo was man fagt: feinen Kleider-Leib. 


a) 





209 


Sie hängen ſich Alles um und auf, aber fie find nicht 
volllommen ftattlicd) equipirt, fie find nicht ganz zeit- 
gefhmadvoll. 

Aus diefer Erbjünde unferer Kachtalente entfteht nun, 
folgerecht nicht nur, fondern nothwendig, der Geburts- 
fehler und das Tebensgebrechen der Pofjen, nämlih: daß 
das Lächerliche inihr diefittlihe Wefenheitdes 
Menſchenund desLebens verletzt, und dadurch nicht 
nur das lautere Luſtgefühl in uns aufgehoben, ſondern 
unſer Geſchmack verletzt wird, und ſich alſo unſere beſſere 
Natur dabei in ihr innerſtes Schneckenhaus zurückzieht. 


M. G. Saphir's Schriften. VI. Bd. 14 





Die Todter des Waldes. 


Original-Schauſpiel in vier Arten, Bon Otto Prechtler. 


Gegen wir in den Wald! Broden wir Natur! Gehen 
wir auf allen Bieren! Grafen wir Natur! 

Süße, Heilige Natur! 

Laff uns geh'n auf deiner Spur! 

Leite uns an deiner Patſche 

In vier Acten Mitjche-Matiche! 

Die „Lochter des Waldes”! Das beginnt wie ein 
Kindermärchen, fährt fort wie eine Ammengefchichte und 
endet wie ein Heiraths-Bureau! 

Man könnte aud) als „Kritifer des Waldes" erzäh- 
len: Es war einmal ein Wald, der Wald heirathete eine 
Waldin und zeugte mit ihr männliche und weibliche Wald- 
lein, Rehlein und Waldtöchterlein. Jedoch wir wollen 
heute den Kritiker ganz abftreifen, wir wollen ganz Sohn 
der Zahmheit fein, nicht Fritifiren, nicht urtheilen, blos 
erzählen, erzählen, was aus dem Wald zu und heraus 
und von und in den Wald hinein hallt. 

Es ift unferer Zeit Hier fchade um jedes Wort 
„Urtheil“ —, Vernunft“ — „Anficht“ — „Gedanke“ u. ſ. w. 
Jammerſchade! Alſo erzählen wir blos, was in der „Tochter 


211 


des Waldes” vorgeht, was gejchieht, gejagt, gethan 
wird; gibt e8 noch aufmerkſame Lefer, fo werden fie aus der 
Erzählungsmeife fich ihr und unfer Urtheil herausbilden. 

Die Tochter des Waldes heit Maly. Maly Hat 
neben dem Papa Wald nod) einen Bater, einen Paftor- 
bruder ; diefer Vater gibt feine Tochter dem Paftor Eſchen— 
born zur Erziehung nad) Gleichenrhein in Thüringen. 

Sm erften Act find wir im „Papa“, das heißt im 
Wald. Der Revierjäger Wolfgang erwifcht einen Wild- 
ſchütz und fpricht ihn in feiner Baterfprache, das heißt 
in der Waldfpradhe an: „Du altes Waldwetter! Du 
Scyandfled nıeines Waldes! Du Aas!“ Herr Wolfgang ift 
auch bilderreich und moraliſch, er jagt dem Wildſchütz 
einen Fluch: „Der Schweiß der gemordeten Rehmütter 
fol Dir vonder Schläfe bluten und die trauernden Augen 
des verendenden Edelhirfches follen Dich anglogen!" — 
Huldem Wildfhüg wird gruslig! Da fonınıt la fille du 
Wald: Mally, mit dem Paftor; fie jagt zu Wolfgang. 
„Laß ihn los!“ Er fagt: „Du mwillft es?" und läßt 
ihn los. — Ich weiß nicht, ob der Leſer mich nicht für zu 
jpisfindig hält, wenn ich aus diefer Scene fchließe, der 
Wolfgang habe ein Auge auf die Tochter von feinem 
Hausherren, dem Wald. 

Der Wildfchütz will danken, aber die Mally fagt: 
er riecht nach) Mord! denn „er hat den braunen 
Kindern des Waldesihre Mutter erfchoffen!“ 

Ich weiß nicht, ob mich der Leſer für zu fpigfindig 
hält, wenn id) glaube, die „braunen Kinder“ find Rehlein 

14* 


212 


und Hirj chlein, und ihre Mutter ift Madame la Rehin oder 
Madame la Hirſchin. 

Sie gibt dem Wildſchütz ein Geldſtück und fagt: 
„Thu' meinen Kindern nichts mehr zu Leide!” — Ich weiß 
nicht, ob mid) die Xefer für zu fpikfindig Halten, wenn ich 
meine, fie meint unter „meinen Kindern” aud) die Rehelein 
und Hirfchelein, die fie, da ihre Mutter erfhoffen 
worden, an Kindesftatt annimmt, denn ich habe doch 
nicht Urfache, zu glauben, daß Mally andere „meine 
Kinder” hat. Das ift blos Waldfpracdhe, find blos vier=- 
füßige Naturlaute. 

Der Paftor riecht Lunte, nämlich, daß Wolfgang die 
Mutter ihrer gemeinfchaftlichen braunen Kinder liebt. Er 
merkt aud), daß das Waldtöchterlein etwas im Herzen 
fteden hat; fie will allein bleiben, ev geht, fie jagt „mecha- 
nifch, doch mild": „Leb' wohl!“ Eine einfache Wald- 
mechanik. — Da fie allein fein will, fommt Alfons; fie 
fagt, ihn erfennend, im höchſten Entzüden: „Alfons!* — 
er fagt: „Wir müfjen ſcheiden!“ Er erzählt ihr, er ift ein 
Sohn einer vornehmen Frau und diefe wird wahrfcheinlich 
nicht einwilligen. Darauf ftürzt fi) Mally in Verzweif- 
lung — an feine Bruft. Da ficht Wolfgang vom Yelfen 
oben zu und geht in den Wald, — Ich weiß nicht, ob mich 
der Leſer für fpisfindig hält, wenn id) glaube, der Wolfe 
gang hat „was gefpannt” und wird noch verjchiedene 
Wolfsgänge in dem Stüd gehen. 

Alfons beftimmt Maly zu einer geheimen Heirath 
mit Einwilligung ihres Onfels. Er befitt ein einfames 


a: 


213 


- 


Schloß, natürlich Alles im Wald, dort führt er fie, feine 
Frau, hin, hin, und fie verfpricht, unter Feiner Bedingung 
etwas davon zu fagen. | 

Im zweiten Acte befinden wir uns in dem Schloſſe 
der Alfons-Mutter, der Reichsgräfin von Haldenruf. Da 
find niehrere Savaliere, die und und das Stüd nicht im 
geringften geniven; fie haben zwar nichts zu thun, allein, 
lieber Leſer, können wir einer Reichsgräfin vorfchreiben, 
wen fie auf ihr Schloß einladen fol? 

Als ein ganz ausgezeichnetes Gewächs muß ich Dir, 
lieber Lefer, den Herrn v. Düftele vorftellen; es ift ein 
rares Eremplar, eigentlich eine Spidfigur, welche durd) das 
Stüc als komischer Sped geht. Ich will Dir, Lieber Leſer, 
über diefe hHumoriftifche Geſtalt nichts fagen, ich bin nei— 
difch, ein mißgünftiger Kerl auf alle Leute, die wigiger und 
amufanter fein wollen, als ich! Diefes Gift kann ich ein— 
mal nicht aus mir herausbringen, und ich ſage über Herrn 
v. Düftele nichts aus Brotneid! 

Die Reichsgräfin kommt mit Alfone und enthüllt 
ih, daß ſoeben feine ihm beftimmte Braut Florence an— 
fommt. Alfons jucht fich zu faffen. Herr v. Düftele kommt 
und läßt feine zwei Teibwige los: „Stern, „Erbärmliche 
Erde!“ Florence kommt, von Robert geführt. Robert ift 
der Bruder von Alfons. 

Robert führt Florence in die Arme feiner Mutter 
und fagt: „Du haft den Bruder wohl lieber als mich — —“ 
Ich weiß nicht, ob der Leer mich für zu fpikfindig halten 
wird, wenn ich hier über. die Idee ftolpere, daß Robert die 


214 


Vlorenze „heuern” wird, und fo dem Lefer die Heberra- 
{hung vor der Naſe wegftolpere! 

Alfons und Robert bleiben allein. Der Humor Dü- 
ftele jagt noch): „Die erbärmliche Erde“ und düftelt ab. 
Alfons gefteht Robert, daß er — Alfons — Florence nicht 
liebe; fondern daß er — Robert — fie liebe, und läßt 
Robert allein. Da kommt der Wolf des Ganges, Wolf- 
gang, gegangen den Gang des Wolfes, und hält Robert 
für den, welchen er im Walde ſah mit Mally, und begleitet 
fie zurüd, unbefchädigt und uneruirt. Er jagt, fie ift ein - 
herrlicher Charakter, nur „kennt fie die Welt nicht”, — fo 
find ale Herrlichen Charaktere! Es klärt fid) endlich 
anf, Robert nimmt Wolfgang das Verſprechen ab, nichts 
zu thun und fich auf ihn zu verlaffen. Da fonımt der Haus⸗ 
hofmeifter der Reichsgräfin und ladet den Robert zu einer 
Ueberraſchung ein. Sie ſchenkt nämlicd, das Waldſchloß 
Roberts, wo die Waldtochter in der Einſamkeit als Alfonfin 
wohnt, an Florence. Es ift fonderbar, daß Alfons feine 
wirfliche eheimfrau' auf fein Waldſchloß führt, welches 
feine Mama, ihn überrafchend, verfchenkt. Da gerade Schluß 
des Actes ift, fo können wir über diefe fonderbare Bege- 
benheit nachdenten. N 

Im dritten Acte find wir im Waldſchloß. Mally, 
die Frau Mlfons’, lebt da als Witwe Doris und als 
„Burgfrau-Stellvertreterin*, eineeigend von Herrn 
Prechtler zu dramatifchen Zweden creirte Stelle. Mally 
ſchmückt das Haus mit Blumen, mit Kränzen, mit Fahnen, 
denn er fol ja kommen, er! Die Töchter des Waldes 





Bi 


215 


haben auch ihre „Er“! wie die fefcheften Stadtmamſels! 
Die Schloßleute helfen ihr mit Freuden, und der Schaffner 
Walpurgis fagt: „Es ift ja eine Braut, die fommt!” 
und der Sartenjunge fragt, ob fie mit den Blumen zufrieden 
ift, fie fagt: „Und wiel” darauf „feufzt er und geht ab.“ 

Warum der Gartenjunge abgeht, das kann ic) mir 
denken: einmal muß er ja abgehen, aljo was der Menjd) 
thun muß, fol er gleich thun, — aber warum er „feufzt“, 
das krieg’ ich nicht Heraus. Schilt mic) deshalb nicht dumm, 
lieber Leſer, vielleicht fällt's mir noch ein, dann fchreib’ ic) 
Dir extra. 

Mally bleibt fo lange allein, als fie braudjt, um 
fi) zu fafen, dann kommt er, Alfons Er fagt ihr 
„bewegt”: „Meine Mutter fommt mit einer Braut.” Hier 
wäre jede andere Tochter etwas frappirt geweſen, aber 
eine Tochter des Waldes ift naturfräftig und hält einen 
Schickſalspuff phlegmatifch aus. Sie fragt, ob fie ſchön 
ift, die Brant, Alfons jagt: „Haft wie Du,” darauf jagt 
fie „ſchelmiſch entſchieden“: „Dann muß ich fie jehen!“ 
So find fie, die Töchter Eva’8 und des Waldes! 

Alfons ift ein rarer Gefel! Er möcht, fie fol ſich 
verjteden; fie fagt aber „feft und begeiftert”: „Schweiß, 
daß ich Dein Weib bin!’ Nun, fie muß das aud) am beften 
wiffen! Sie will al8 Dienerin fich ber Geſellfchaft zeigen! 
Alfons, der rare Dann, gibt das auch ohne viel Herz= und 
Gewiſſensſkrupel zu und die Tochter bes Waldes geht „auf 
ihren Poſten“. Der ganze Brautzug fommt, auch unfer 
lieber Düftele! | 


216 


Die Reihsgräfin fragt: „Wer ift die Frau dort ?* 
(Mally.) Alfons, der eine ftarke Natur hat, jagt: „Das 
ift Doris, die Beſchließerin.“ Die Reichsgräfin fagt: 
„Ste, Beſchließerin, werden der Florence die Schlüffel 
des Haufes überreichen.“ Die Beſchließerin befchließt zu 
gehorchen. Darauf fol Mally der Florence die Hand Füßen, 
fie thut's, Alfons fieht zu, zwar „er beherrſcht fich ſchwer“, 
aber er beherrjcht fich doch und läßt höchſt dramatifch feine 
Frau Dienftboten-Gefchäfte verrichten. Auch ein feſcher 
Sharafter! Sie gehen Alle ab, denn von der Waldfeite 
fonımt wieder der Lupusgang in fabula, der Wolfgang. 
Er jagt, er weiß nicht, was er thun fol, darum geht „er 
in die Schänfe, da hört fich immer was, das man brauchen 
kann!“ Auch ein fefcher Charakter! Er geht auf einen: 
andern Waldweg ab, er fam blos, um uns zu jagen, daß 
man in der Schänfe immer was hört, das man brauchen 
kann! Wir werden und dahin begeben, um etwas zu hören, 
was wir fehr brauchen, nämlich Nachricht, was die ganze 
Baftete ift: mo die Handlung ift, die Neuheit des Gedan⸗ 
fens, die Idee, die Diction, die Moral, wo da ein Charakter 
ift, eine Situation u. f. w. 

Alfons und Robert fommen. Die Brüder erflären 
ſich gegenfeitig. Alfons klopft auf den Buſch, der Buſch ift 
Roberts Herz; er Hopft auf den Buſch, ob Florence nicht 
herausfommt. Sie gehen ab, denn Florence und Mally 
kommen. 

Florence trägt ein „Album“! Ich bin ſchon er— 
ſchrocken, ich fürchtete jeden Augenblick, Florence kommt 


217 


und fagt: „Schreiben Ste mir was in mein Album!“ Aber 
fo arg ift’8 nicht, fie fett fich blos zum Zeichnen, fie will 
für Alfons das Schloß, das Portal und die „Befchließerin“ 
zeichnen. Ausgezeichnet! — Mally wird geſprächig und 
ſchwärmt der Florence einen Auszug vor don dem, was 
fi) ihr Vater, der Wald, erzählt; fie erinnert fich wieder 
ihrer „braunen Kinder”, der Nehe, fie „kennt fie alle“, 
und die „Rehe kennen fie”. Die Tochter des Waldes fpricht 
epiſch-lyriſch-matthiſſoniſch, Florence fommt auch in eine 
Dictiond-Transipiration, endlich fchildert fich das einfache 
Waldtöchterchen und nennt ſich eine „Lerche, fo die Flügel 
brach und ſich im Graſe verblutet“. Sie will fortftürzen, 
da fommen fie Alle, Alle, auch unfer lieber Düftele.. Mally 
„faßt fi gewaltfam und ſchnell, ihre Ruhe bald 
wieder gewinnend.“ 

Es foll ein Feft gegeben werden und Mally fol ein 
„Waldmärchen” vorteagen. Gut ausgefonnen; wenn das 
nicht padt, dann hat Alfons ein ledernes Herz, — er hat 
e8 auch und Sagt: „Ich bittel” und Mally „fpricht in 
ſich und zu fich“ uud nicht im Tone des „Vortrags für 
Andere”, allein ein Kritiker ift ein indiscreter Patron, er 
hört fo oft die Deflamatricen blos „in fi) und zu ſich“ 
fprechen und muß es doch hören. Mally erzählt, daß ein 
Kind, „geboren im Wald“, oft gefchlafen hat „in der 
Rehmutter Schooß“. Romantifchedramatifche Schlaf- 
ftelel Die Bögel haben das Kind fingen gelehrt, e8 Hat 
dem Wald Treu’ gefchworen, aber e8 wurde treulos — 


das Kind, — na ch Yahren „Lam’s heim“ — das Kind, — . 


218 


„da lag im Sterben das Reh“ — o weh!” — Nur „zwis 
hen den Stämmen ift eine Öeftalt!” — Hier ift 
die Effectfpige: während Mally von der „Seftalt zwi- 
jhenden Stämmen” fpridht, zeigt fic) der Wolfgang, 
der ſtämmige Wolfgang, zwifchen den Stämmen des Wal- 
des! — Hi! Schauderlih! — Mally finkt ſchon, Alfons 
will ihr beiftehen, die Reichsgräfin Hält ihn feſt: „Mein 
Sohn?” worauf der Borhang fällt. 

Nachdem wir und von der großen, wunderfamen 
Emotion und abfonderlich von den tiefen Erfchütterun: 
gen diefer Albums-Situation erholt Haben, beginnt der 
vierte Act. 

Ich bitte den Lefer, er möge mich nicht für zu fpik- 
findig Halten, wenn ich meine, muthmaßlichft glauben zu 
dürfen, daß das nicht des Wolfgangs letter Gang war, 
und daß wir ihn nod) im vierten Acte zu ſehen bekommen 
werden, welches um fo mehr Wahrjcheinlichkeit erhält, da 
fein fünfter Act kommt. 

Florence und Robert fprechen ein Geſpräch, woraus 
wir weniger erfahren, al8 aus den angezeigten Bewegun- 
gen: er einmal: „heiter und lächelnd“, fie: „ihreBewegung 
durd) den Ton verbergend” und „mild und weid) und zart“, 
dann er: „innig und ernſt“, fie: „Tanft ohne alle Koketterie“, 
er: „feine Bewegung niederfämpfend”. Dann geht er durch 
„die Mittelthüre” ab und fie „rechts“ — und ich glaube, 
der Leſer wird mich nicht für zu fpisfindig halten, wenn 
ic) muthmaße: wer jetzt fommt, kommt durch die Thüre 
lint8, 


u 





219 


Richtig! Ich bin ein Mordkerl! Die Reichsgräfin 
unt der Kaftellan, — dann — dann Wolfgang! Er erzählt 
ihr Alles: Alfons hat fie verführt! Er will fie zurüd haben. 
Sie verſpricht ihm, die „Sache auszufpähen”. 

Nun kommt Afons. Mutter und Sohn erklären fich, 
Die Mutter jpricht Hohe Worte und will, er ſoll ſich mit 
denn Mädchen abfinden! Er geht „ruhig ab“. Da fommt 
Maly; nun gibt’8 eine Scene, und die Reichsgräfin genirt 
fi) nicht, in Gegenwart von beinahe 1500 Perfonen zu 
jagen: fie will fie ausftatten reichlich, fie fol, was gefchehen 
ift, vergeffen und den wadern BurfchenWolfgang)heirathen. 
Mally will nicht, die Reichsgräfin wird jehr unangenehm, 
da fommt Alfons, fchlingt feinen Arm um „Mally's Nacken“ 
und zieht fie an fein Herz. A tempo kommt Robert und 
Ülorence, — e8 ift wunderbar, wie Alles fonımt! — Flo— 
rence „legt Maly in Alfons’. Arm”, was gewiß gut 
angelegt ift, und gleich darauf fagt fie: „Ach Robert, mein 
Robert!” — Der Saphir hat’8 gleich gefagt! — 

Alfons und Mally treten zur Mutter! Sic vergibt, 
verzeiht, doch kann fie nicht vergefjen! Die dramatifche 
Gerechtigkeit fonımt mit einer ganz neuen Crinoline: fie 
verurtheilt die Beiden „in die Einſamkeit“!! morauf 
der Vorhang über eine „entſprechende Gruppe“ fällt, 
und wir gehen in die Schänke, um fo Manches zu hören, 
zum Beifpiel: Warum „Zocdhter des Waldes”? Könnte 
fie nit eben fo gut eine Tochter des Meierhofes, eine 
Tochter des Gemüfeladıns fein? Was Hat der Wald mit 
der Sache zu fchaffen wegen der paar braunen Rehelein ? 


220 


Dann möchten wir aud) hören, was die Idee ift? Dann 
haupt fächlichft möchten wir hören, wo unfer lieber Wolf- 
gang bleibt, und was mit ihm gefchehen ift? Ich Bitte 
den Lefer, mic nicht für zu fpisfindig zu halten, wenn 
ich glaube, der Wolfgang wird an dem Wildſchütz fein 
Müthchen Fühlen, den er am Anfang des Stüdes 1o8- 
gelaffen hat! Einer muß das Bad ausgießen. 


a DS 


Endedeg fehsten Bandes 


Inhalt . 
des jechsten Bandes, 


Genre-Bilder, Jokoſes und Sentimentales, 
Zajhen-Eoder und Spruchbüchlein eines fhlichten Praf- 
tikers... 
Taſchengedanken- und Gedankentaſchen-Spielerei. . . . 
Weihnachtabendd.. 
Die falſche Freundin... Hrn 
Frühling und Herbſt. rennen. 
Das erfte Concert Beilden. Ein Dampf Jubelgefchrei 
zum Beginn der Eoncerte. . » 2 22000 


Humoxiſtiſch -Jatyrifcher Bilderkaften und 
Minne- Gerichte. 

1. Junker Stolpernfuß von Duzenmerung, der Duell- 
freier - > 2 2 0 nen een 
H. Dr. Henſchel, da8 Manufcript-Stelet. . . . . . 
IH. Die Kunft geht nad) ſechs Semmeln, oder: Nichts 
als zehn Heine Kälbernes. . . 2 

IV. Die unbegreiflihe Oaftfreundihaft - -. - » ...» 
V. Dr. Eifentorn, da8 Taufendfapperment- Talent. . 
VI. Herr Schniffelfeld, der Naturforfcher . . - . . . 
VO. Winter-Opfer und Gefellihafts-Geißeln. Der tan- 
zende Nachtlöhner... 2 nenn 
VII. Ein Löffel Bolenta ». 2 2 2200. 


Eeite. 
m u) 


222 


Seite. 
— | 


I. Beantwortung der Frage: „Wer hat wahrhafter 
geliebt, der durch die Liebe ein Weiler, oder ber 
durch die Liebe ein Narr geworben iſt?“ . . . 90 

II. Beantwortung der Frage: „Kann ein geiſtreicher 
Mann ein geiſtloſes Frauenzimmer, und kann ein 
geiſtreiches Frauenzimmer einen geiſtloſen Mann 
innig und dauernd lieben?“.... 222.0. 94 

III. Beantwortung der Frage: „Was ift fchmerzlicher: 
die gegebenen Geſchenke unferer Liebe zurüd zu 
erhalten, oder die empfangenen Geſchenke der Liebe 
zurüdgefordert zu jehen?" . 2.2. 2 2220. 100 
IV. Beantwortung der Frage: „Iſt gränzenlofes Ber- 
trauen oder gränzenloje Eiferfuht mehr Beweis 
von ehe?" 2. 2 on 105 


Didaskalien und Kritiſcher Sektions -Saal. 


Der Selbftquäler - : >: 22 rn 113 
Auge und Ohr . > > 22 ren 122 
Mavigo > > 2 129 
Zurückſetzung... 138 
Weh' dem, ber lügt..... en nen ... 146 
Ein weiblihes Ser 22. 165 
Leichtfinn und feine Folgen. . » > 2 2: en nen 177 
Ein mildes Urtheill - 2 2 Co onen 189 
Die verhängnißvolle Falhingsnadtt. -. . - -» 2... 199 


Die Tocher des Waldess.. .. 210 








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Stanford University Libraries 
Stanford, California 





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